Ich sagte: »Du machst Witze.«

Ares schnippte mit den Fingern. Die hintere Klappe des LKW öffnete sich. »Gratisfahrt gen Westen, Missgeburt. Also jammer nicht rum. Und hier ist ein kleiner Finderlohn für den Schild.«

Er zog einen blauen Nylonrucksack von seinem Lenker und warf ihn mir zu.

In dem Rucksack fand ich saubere Kleidung für uns alle, zwanzig Dollar, einen Beutel voller Drachmen und eine Tüte Schokokekse.

Ich sagte: »Ich will deine blöden …«

»Danke sehr, Herr Ares«, fiel Grover mir ins Wort und bedachte mich mit seinem besten Warnblick. »Vielen Dank.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Es war vermutlich eine tödliche Beleidigung, die Gabe eines Gottes zu verschmähen, aber ich wollte nichts, was Ares angefasst hatte. Widerwillig warf ich mir den Rucksack über die Schulter. Ich wusste, dass meine Wut durch die Nähe des Kriegsgottes ausgelöst wurde, aber ich hätte ihm noch immer zu gern eins auf die Nase gegeben. Er erinnerte mich an alle Quälgeister, die mir je über den Weg gelaufen waren: Nancy Bobofit, Clarisse, Gabe den Stinker, sarkastische Lehrer … an jeden Mistkerl, der mich in der Schule als dumm bezeichnet oder gelacht hatte, wenn ich gefeuert wurde.

Ich schaute mich nach dem Imbiss um, in dem jetzt nur noch einige wenige Gäste saßen. Die Kellnerin, die uns bedient hatte, schaute besorgt aus dem Fenster, sie schien zu befürchten, dass Ares uns etwas tun könnte. Sie zerrte den Koch aus der Küche, damit der ihn sich ebenfalls ansah. Dann sagte sie etwas zu ihm. Er nickte, hob eine kleine Einmalkamera hoch und machte ein Bild von uns.

Klasse, dachte ich. Dann sind wir morgen wieder in der Zeitung.

Ich stellte mir die Schlagzeile vor: ZWÖLFJÄHRIGER ROWDY SCHLÄGT WEHRLOSEN MOTORRADFAHRER ZUSAMMEN.

»Du bist mir noch etwas schuldig«, sagte ich zu Ares und versuchte, meine Stimme ganz ruhig klingen zu lassen. »Du wolltest mir etwas über meine Mutter sagen.«

»Sicher, dass du das vertragen kannst?« Er trat sein Motorrad an. »Sie ist nicht tot.«

Der Boden unter mir schien zu schwanken. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass sie von dem Minotaurus weggerissen wurde, ehe sie sterben konnte. Sie wurde in einen goldenen Regen verwandelt. Das ist eine Metamorphose. Kein Tod. Sie wird aufbewahrt.«

»Aufbewahrt. Warum?«

»Du solltest dich mit der Kriegskunst vertraut machen, Missgeburt. Geiseln. Du brauchst Leute, um andere Leute zu kontrollieren.«

»Mich kontrolliert niemand.«

Er lachte. »Ach ja? Bis die Tage, Kleiner.«

Ich ballte die Fäuste. »Du bist verdammt selbstgefällig für einen Typen, der vor Cupidostatuen wegläuft, Herr Ares.«

Hinter seiner Sonnenbrille glühte das Feuer. Ein heißer Wind fuhr durch meine Haare. »Wir sehen uns wieder, Percy Jackson. Und wenn du das nächste Mal in einen Kampf gerätst, dann sieh dich vor!«

Er wendete seine Harley, dann dröhnte er über die Delancy Street davon.

Annabeth sagte: »Das war nicht gerade clever, Percy.«

»Mir egal.«

»Aber einen Gott zum Feind zu haben ist nicht lustig. Schon gar nicht, wenn es sich um diesen Gott handelt.«

»He, Leute«, sagte Grover. »Ich unterbrech euch ja nicht gern, aber …«

Er zeigte auf den Imbiss. Gerade bezahlten die letzten Gäste, zwei Männer in identischen schwarzen Overalls mit einer weißen Aufschrift auf dem Rücken, die aussah wie die auf dem TIERLIEBE INTERNATIONAL-Wagen.

»Wenn wir den Zoo-Express nehmen wollen«, sagte Grover, »dann sollten wir uns beeilen.«

Mir war gar nicht wohl dabei, aber wir hatten keine andere Wahl. Und von Denver hatte ich nun wirklich genug gesehen.

Als Erstes bemerkte ich den Gestank. Es roch wie das größte Katzenklo aller Zeiten.

Im Wagen war es stockdunkel, bis ich die Kappe von Anaklysmos drehte. Die Schwertschneide zeigte uns in ihrem schwachen Bronzeschein einen überaus traurigen Anblick. In verdreckten Metallkäfigen saßen drei der elendesten Zootiere, die ich jemals gesehen hatte: ein Zebra, ein Albinolöwe und ein seltsames Antilopentier, dessen Namen ich nicht wusste.

Irgendwer hatte dem Löwen einen Sack voll Rüben hingeworfen, den der offenbar nicht fressen mochte. Sowohl Zebra als auch Antilope hatten einen Styroporbehälter mit Hackfleisch bekommen. Die Mähne des Zebras war mit Kaugummi verklebt, als ob irgendwer sich seine Freizeit damit vertrieben hätten, es auszuspucken. An einem Horn der Antilope war ein blödsinniger silberner Luftballon festgebunden, auf dem »Über die Hügel« stand.

Offenbar hatte niemand sich dicht genug an den Löwen herangetraut, um auch ihm irgendeine Gemeinheit anzutun, aber der arme Kerl lief auf verdreckten Decken in einem viel zu kleinen Käfig hin und her und schnappte in der stickigen Hitze des LKW nach Luft. Fliegen summten um seine rosa Augen herum und durch sein weißes Fell waren seine Rippen zu sehen.

»Das soll Tierliebe sein?«, schrie Grover. »Humane Tiertransporte?«

Er wollte sofort wieder aussteigen, um die LKW-Besatzung mit seiner Rohrflöte zu verprügeln, und ich hätte ihm gern geholfen, aber in diesem Moment erwachte der Motor brüllend zum Leben und wir mussten uns setzen, wenn wir nicht hinfallen wollten.

Wir drückten uns in der Ecke auf ein paar angeschimmelten Säcken zusammen und versuchten, den Gestank und die Hitze und die Fliegen zu ignorieren. Grover redete mit einem Schwall Ziegengemecker auf die Tiere ein, aber die starrten ihn nur traurig an. Annabeth schlug vor, die Käfige aufzubrechen und die Tiere sofort freizulassen, aber ich war der Meinung, dass das nicht sehr viel helfen würde, solange der LKW nicht anhielt. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass wir dem Löwen wesentlich appetitlicher vorkamen als die Rüben.

Ich fand einen Krug mit Wasser und füllte die Trinknäpfe der Tiere, dann zog ich mit Hilfe von Anaklysmos das Futter aus den Käfigen. Der Löwe bekam das Hackfleisch, das Zebra und die Antilope die Rüben.

Grover beruhigte die Antilope, während Annabeth mit ihrem Messer den Ballon von ihren Hörnern schnitt. Sie wollte auch das Kaugummi aus der Zebramähne schneiden, aber es war doch zu gefährlich, weil der Wagen ziemlich holprig fuhr. Wir baten Grover, den Tieren zu versprechen, dass wir ihnen am Morgen helfen würden, dann machten wir uns bereit für die Nacht.

Grover rollte sich auf einem Rübensack zusammen, Annabeth öffnete unsere Tüte mit den Schokokeksen und knabberte halbherzig daran herum und ich versuchte mich mit dem Gedanken aufzuheitern, dass wir schon den halben Weg nach Los Angeles geschafft hatten. Den halben Weg zu unserem Ziel. Es war erst der 14. Juni. Und die Sommersonnenwende war am 21. Wir hatten also noch jede Menge Zeit.

Andererseits wusste ich absolut nicht, womit wir als Nächstes rechnen mussten. Die Gottheiten spielten offenbar mit mir. Immerhin hatte Hephaistos den Anstand besessen, das ganz offen zu tun – er hatte Kameras aufgebaut und mich als Unterhaltungsfuzzi vermarktet. Aber auch ohne laufende Kameras hatte ich das Gefühl, dass mein Einsatz beobachtet wurde. Ich war für die Gottheiten eine Quelle der Erheiterung.

»He«, sagte Annabeth. »Tut mir leid, dass ich im Wasserpark so durchgeknallt bin, Percy.«

»Schon gut.«

»Es war nur …«, ihr schauderte noch immer. »Spinnen.«

»Wegen der Sache mit Arachne«, tippte ich. »Sie wurde in eine Spinne verwandelt, weil sie deine Mom zu einem Wettweben herausgefordert hatte, stimmt’s?«

Annabeth nickte. »Seither haben Arachnes Kinder sich immer wieder an Athenes Kindern gerächt. Wenn es im Umkreis von einem Kilometer irgendwo eine Spinne gibt, dann findet sie mich bestimmt. Ich hasse diese kleinen Viecher! Jedenfalls bin ich dir großen Dank schuldig.«

»Wir sind doch ein Team?«, fragte ich. »Und die Flugnummer hat ja Grover hingelegt.«

Ich hatte gedacht, er sei eingeschlafen, aber er murmelte aus seiner Ecke: »Ich war ganz schön toll, was?«

Annabeth und ich lachten.

Sie brach einen Keks durch und reichte mir die eine Hälfte. »Bei der Iris-Message … hat Luke wirklich nichts gesagt?«

Ich kaute auf meinem Keks herum und dachte über eine passende Antwort nach. Dieses Regenbogentelefonat belastete mich nun schon den ganzen Abend. »Luke hat gesagt, dass er dich schon ewig kennt. Er hat auch gesagt, dass Grover diesmal nicht versagen wird. Niemand wird in eine Fichte verwandelt, sagt er.«

Im trüben Bronzelicht der Schwertschneide war es schwer, die Gesichter der anderen zu erkennen.

Grover stieß ein trauriges Meckern aus.

»Ich hätte dir von Anfang an die Wahrheit sagen müssen.« Seine Stimme zitterte. »Aber ich dachte, wenn du wüsstest, was ich für ein Versager bin, würdest du mich nicht mitnehmen wollen.«

»Du warst der Satyr, der versucht hat, Thalia zu retten, die Tochter des Zeus.«

Er nickte düster.

»Und die anderen beiden Halbblute, mit denen Thalia sich angefreundet hatte, die beiden, die unversehrt im Camp angekommen sind …« Ich schaute Annabeth an. »Das waren du und Luke, nicht wahr?«

Sie legte ihre Kekshälfte weg. »Wie du selbst gesagt hast, Percy, ein sieben Jahre altes Halbblut wäre allein nicht sehr weit gekommen. Athene hat mir den Weg zu Leuten gezeigt, die mir helfen konnten. Thalia war zwölf. Luke war vierzehn. Beide waren von zu Hause weggelaufen, so wie ich. Sie wollten mich nur zu gern mitnehmen. Sie waren … umwerfend im Kampf gegen die Ungeheuer, und das ohne Training. Wir sind von Virginia aus ohne genauen Plan nach Norden gereist und haben zwei Wochen lang Ungeheuer abgewehrt. Dann hat Grover uns gefunden.«

»Eigentlich sollte ich Thalia ins Camp bringen«, sagte er schniefend. »Nur Thalia. Das hatte Chiron mir extra eingeschärft: Ich sollte nichts machen, was das Rettungsunternehmen aufhalten könnte. Wir wussten, dass Hades es auf sie abgesehen hatte, aber ich konnte doch Luke und Annabeth nicht alleinlassen. Ich dachte … ich dachte, ich könnte alle drei in Sicherheit bringen. Es war meine Schuld, dass die Wohlgesinnten uns eingeholt haben. Ich fror. Ich hatte Angst, als wir auf dem Rückweg zum Camp waren, und hab mich einige Male im Weg geirrt. Wenn ich nur ein wenig schneller gewesen wäre …«

»Hör auf«, sagte Annabeth. »Niemand macht dir einen Vorwurf. Auch Thalia hat dir keinen Vorwurf gemacht.«

»Sie hat sich geopfert, um uns zu retten«, jammerte Grover. »Ich war schuld an ihrem Tod. Das hat der Rat der behuften Älteren auch gesagt.«

»Weil du die beiden anderen Halbblute nicht zurücklassen wolltest?«, fragte ich. »Das ist nicht fair.«

»Percy hat Recht«, sagte Annabeth. »Wenn du nicht gewesen wärst, dann säße ich heute nicht hier, Grover. Und Luke wäre auch nicht mehr am Leben. Uns ist es egal, was der Rat sagt.«

Grover schniefte noch immer. »Ich hab eben immer Pech. Ich bin der lahmste Satyr aller Zeiten und ich finde die beiden mächtigsten Halbblute des Jahrhunderts, Thalia und Percy.«

»Du bist nicht lahm«, erklärte Annabeth. »Du hast mehr Mut als irgendein anderer Satyr, der mir je begegnet ist. Nenn mir nur zwei, die es wagen würden, in die Unterwelt zu gehen. Ich wette, Percy ist richtig froh darüber, dass du hier bei uns bist.«

Sie versetzte mir einen Tritt gegen das Schienbein.

»Ja«, sagte ich und das hätte ich auch ohne den Tritt getan. »Das war kein Zufall, dass du Thalia und mich gefunden hast, Grover. Du hast das größte Herz, das je ein Satyr besessen hat. Du bist von Natur aus ein Sucher. Und deshalb wirst du auch derjenige sein, der Pan findet.«

Ich hörte ein tiefes, zufriedenes Aufatmen. Ich wartete darauf, dass Grover etwas sagte, aber er atmete nur immer schwerer. Als er dann anfing zu schnarchen, ging mir auf, dass er eingeschlafen war.

»Wie schafft er das nur?«, fragte ich erstaunt.

»Ich weiß nicht«, sagte Annabeth. »Aber da hast du ihm wirklich etwas Nettes gesagt.«

»Das war auch so gemeint.«

Wir fuhren eine Weile schweigend weiter und wurden auf den Futtersäcken hin und her geschleudert. Das Zebra knabberte an einer Rübe. Der Löwe leckte sich die letzten Hackfleischreste von den Lippen und schaute mich hoffnungsvoll an.

Annabeth rieb die Perlen an ihrem Halsband zwischen den Fingern und schien tiefe strategische Gedanken zu hegen.

»Diese Fichtenperle«, sagte ich. »Stammt die aus deinem ersten Jahr?«

Sie schaute auf. Sie hatte nicht einmal gemerkt, was sie da tat.

»Ja«, sagte sie. »Jeden August wählen die Berater das wichtigste Ereignis des Sommers aus und malen es auf die aktuelle Tonperle. Ich habe Thalias Fichte, ein griechisches Ruderboot, das brennt, einen Zentauren im Ballkleid – das war wirklich ein seltsamer Sommer …«

»Und der Collegering stammt von deinem Vater?«

»Das geht dich nichts …« Sie unterbrach sich. »Ja. Ja. Tut er.«

»Das brauchst du mir nicht zu erzählen.«

»Nein … ist schon gut.« Sie holte Luft. »Mein Dad hat ihn mir in einem Brief geschickt, im vorletzten Sommer. Der Ring war sozusagen seine wichtigste Erinnerung an Athene. Ohne sie hätte er niemals in Harvard seinen Doktor machen können … Das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls hat er geschrieben, ich sollte ihn jetzt haben. Er bat um Entschuldigung dafür, dass er sich so mies benommen hatte, und er behauptete, mich zu lieben und mich zu vermissen. Und er wollte, dass ich nach Hause komme und bei ihm lebe.«

»Das klingt doch gar nicht schlecht.«

»Nein, aber … das Problem war, dass ich ihm geglaubt habe. Ich habe versucht, während des Schuljahrs zu Hause zu wohnen, aber meine Stiefmutter hatte sich nicht verändert. Sie wollte ihre Kinder nicht durch das Zusammenleben mit einer Missgeburt gefährden. Ungeheuer griffen an. Wir stritten uns. Ungeheuer griffen an. Wir stritten uns. Ich hab es nicht mal bis zu den Weihnachtsferien ausgehalten. Ich habe Chiron Bescheid gesagt und bin nach Camp Half-Blood zurückgekehrt.«

»Meinst du, du wirst je wieder versuchen, bei deinem Dad zu leben?«

Sie mochte mir nicht in die Augen schauen. »Ich bitte dich. Ich steh doch nicht auf Selbstquälerei.«

»Du solltest nicht aufgeben«, riet ich ihr. »Du solltest ihm einen Brief schreiben oder so.«

»Danke für den guten Rat«, sagte sie kühl. »Aber mein Vater hat entschieden, mit wem er zusammenleben will.«

Wir schwiegen abermals.

»Wenn die Götter kämpfen«, sagte ich, »werden die Fronten dann so sein wie im Trojanischen Krieg? Athene gegen Poseidon, meine ich?«

Sie lehnte den Kopf an den Rucksack, den Ares uns gegeben hatte, und schloss die Augen. »Ich weiß nicht, wie meine Mom sich verhalten wird. Ich weiß nur, dass ich neben dir kämpfen werde.«

»Warum?«

»Weil du mein Freund bist, Algenhirn. Weitere blöde Fragen?«

Darauf fiel mir keine Antwort ein. Glücklicherweise brauchte ich ihr auch keine geben. Annabeth war eingeschlafen.

Es fiel mir schwer, ihrem Beispiel zu folgen, da Grover schnarchte und der Albinolöwe mich hungrig anstarrte, aber am Ende machte ich doch die Augen zu.

Mein Albtraum begann mit etwas, das ich schon eine Million Mal geträumt hatte: Ich musste eine Klausur schreiben, während ich eine Zwangsjacke trug. Alle anderen waren schon in die Pause gegangen und der Lehrer sagte immer wieder: Na los, Percy. Du bist doch nicht blöd. Nimm schon deinen Bleistift.

Aber dann änderte der Traum sich.

Ich schaute zum Nachbartisch hinüber und da saß ein Mädchen, ebenfalls in einer Zwangsjacke. Sie war in meinem Alter und hatte eine wilde schwarze Punkfrisur, dunkle Tusche um ihre wütenden grünen Augen und jede Menge Sommersprossen auf der Nase. Aus irgendeinem Grund wusste ich, wer sie war. Sie war Thalia, die Tochter des Zeus.

Sie wehrte sich gegen ihre Zwangsjacke, starrte mich in ihrem Frust wütend an und fauchte: Na, Algenhirn? Einer von uns muss hier raus.

Da hat sie Recht, dachte mein Traum-Ich. Ich gehe zurück in die Höhle. Und da werd ich Hades mal ordentlich die Meinung geigen.

Die Zwangsjacke schmolz. Ich fiel durch den Boden des Klassenzimmers. Die Stimme des Lehrers veränderte sich mehr und mehr und wurde schließlich kalt und gemein und hallte aus den Tiefen eines Abgrunds wider.

Percy Jackson, sagte sie. Ja, der Austausch hat geklappt, wie ich sehe.

Ich stand wieder in der dunklen Höhle und um mich herum waberten die Geister der Toten. Das unsichtbare Monster in der Grube sprach, aber diesmal war ich nicht gemeint. Die betäubende Kraft seiner Stimme schien sich an jemand anderen zu richten.

Und er hat wirklich keinen Verdacht?, fragte er.

Eine andere Stimme, die mir bekannt vorkam, antwortete dicht hinter mir: Nein, hoher Herr. Er weiß ebenso wenig wie die anderen.

Ich schaute mich um, aber da war niemand. Der Sprecher war unsichtbar.

Trug um Trug. Das Ding in der Grube schien laut zu denken. Hervorragend.

In der Tat, hoher Herr, sagte die Stimme neben mir. Ihr werdet nicht umsonst als der Gerissene bezeichnet. Aber war das wirklich nötig? Ich hätte Euch sofort das bringen können, was ich gestohlen habe …

Du?, fragte das Ungeheuer verächtlich. Du hast uns doch deine Grenzen schon gezeigt. Du hättest total versagt, wenn ich nicht eingegriffen hätte.

Aber hoher Herr …

Schweig, kleiner Knecht. Unsere sechs Monate haben uns viel gebracht. Zeus’ Zorn ist gewachsen. Poseidon hat seine verzweifeltste Karte ausgespielt. Und jetzt werden wir sie gegen ihn verwenden. Bald wirst du die gewünschte Belohnung erhalten und außerdem deine Rache. Sowie beide Gegenstände in meinen Händen liegen … aber warte. Er ist hier.

Was? Der unsichtbare Knecht klang plötzlich angespannt. Ihr habt ihn gerufen, hoher Herr?

Nein. Die geballte Aufmerksamkeit des Ungeheuers richtete sich auf mich und ich erstarrte. Verflucht sei das Blut seines Vaters – er ist zu veränderlich, zu unvorhersagbar. Der Junge ist von selbst hergekommen.

Unmöglich!, rief der Knecht.

Für einen Schwächling wie dich vielleicht, fauchte das Monster. Dann wandte es seine kalte Macht wieder mir zu. Also … du möchtest von deinem Auftrag träumen, junges Halbblut? Den Wunsch will ich dir erfüllen.

Der Schauplatz wechselte.

Ich stand in einem riesigen Thronsaal mit schwarzen Marmorwänden und Bronzeboden. Der leere, entsetzliche Thron bestand aus Menschenknochen, die miteinander verschmolzen waren. Vor der Throntreppe stand meine Mutter, erstarrt in schimmerndem goldenem Licht, mit ausgebreiteten Armen.

Ich wollte auf sie zugehen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Ich streckte die Hände nach ihr aus und sah, dass von ihnen nur noch die Knochen übrig waren. Grinsende Skelette in griechischer Rüstung drängten sich um mich zusammen, hüllten mich in Seidengewänder und wanden Lorbeerkränze um meine Stirn, die vor Chimärengift dampften und sich in meine Kopfhaut einbrannten.

Die böse Stimme brach in Gelächter aus. Heil dir, siegreicher Held!

Ich fuhr hoch.

Grover hatte meine Schulter gepackt. »Wir haben angehalten«, sagte er. »Wir glauben, dass sie gleich nach den Tieren sehen werden.«

»Verstecken«, zischte Annabeth.

Sie hatte gut reden. Sie setzte einfach ihre Tarnkappe auf und war verschwunden. Grover und ich mussten uns hinter die Futtersäcke fallen lassen und konnten nur hoffen, dass wir aussahen wie Rüben.

Die LKW-Türen wurden quietschend geöffnet. Sonnenlicht und Hitze strömten herein.

»Mann!«, sagte einer der LKW-Fahrer und schwenkte die Hand vor seiner hässlichen Nase. »Ich wünschte, wir hätten Waschbecken geladen.« Er stieg ein und goss Wasser aus einem Eimer in die Näpfe der Tiere.

»Ist dir heiß, Großer?«, fragte er den Löwen und kippte ihm den restlichen Inhalt des Eimers ins Gesicht.

Der Löwe brüllte wütend auf.

»Ist ja schon gut«, sagte der Mann.

Grover erstarrte neben mir unter den Rübensäcken. Für einen friedliebenden Gemüsefresser sah er verdammt mordlustig aus.

Der Mann warf der Antilope eine zerdrückte Happy-Meal-Tüte hin. Er feixte das Zebra an. »Na, wie sieht’s aus, Streifi? Immerhin werden wir dich hier los. Findest du Zaubershows toll? Die hier wird dir bestimmt gefallen. Da werden sie dich in Stücke sägen.«

Das Zebra schaute mir ins Gesicht. Es war außer sich vor Angst.

Alles blieb still, aber trotzdem hörte ich genau, wie es sagte: Rette mich, Herr. Bitte.

Ich war zu verblüfft, um zu reagieren.

Dann wurde dreimal ganz laut an die Seitenwand geklopft.

Der Mann, der bei uns im LKW stand, brüllte: »Was ’n los, Eddie?«

Eine Stimme draußen – sicher die von Eddie – brüllte zurück: »Maurice? Was haste gesagt?«

»Wieso klopfst ’n so?«

Klopf, klopf, klopf.

Draußen schrie Eddie: »Ich klopf doch nicht!«

Unser Freund Maurice verdrehte die Augen, stieg aus dem Wagen und verfluchte den blöden Eddie.

Eine Sekunde darauf tauchte Annabeth neben mir auf. Offenbar hatte sie geklopft, um Maurice aus dem Wagen zu locken. Sie sagte: »Dieser Transport kann doch unmöglich legal sein.«

»Sicher nicht«, sagte Grover. Er unterbrach sich und schien auf etwas zu lauschen. »Der Löwe sagt, diese Typen seien Tierschmuggler.«

Genau, hörte ich die Stimme des Zebras.

»Wir müssen sie befreien«, sagte Grover. Er und Annabeth sahen mich an. Sie warteten darauf, dass ich die Führung übernahm.

Ich hatte das Zebra sprechen hören, den Löwen aber nicht. Vielleicht war das auch eine Lernbehinderung … dass ich nur Zebras verstehen konnte? Dann dachte ich: Pferde. Was hatte Annabeth noch darüber gesagt, dass Poseidon die Pferde erschaffen hatte? Und war ein Zebra vielleicht eine Art Pferd? Konnte ich es deshalb verstehen?

Das Zebra sagte: Mach meinen Käfig auf, Herr. Danach komm ich allein zurecht.

Draußen brüllten Eddie und Maurice sich an, aber es war klar, dass sie jeden Augenblick wieder hereinkommen und die Tiere quälen könnten. Ich packte mein Schwert und zerschlug das Schloss vom Zebrakäfig.

Das Zebra kam herausgestürmt. Es drehte sich zu mir um und verbeugte sich. Danke, Herr.

Grover hob die Hände und sagte etwas in Ziegensprache, es klang wie ein Segen.

Als Maurice wieder hereinschaute, um festzustellen, woher der Lärm kam, sprang das Zebra über ihn hinweg und jagte durch die Straße davon. Wir hörten Geschrei und Gebrüll und das Hupen von Autos. Wir stürzten zur Wagentür und konnten gerade noch sehen, wie das Zebra über einen breiten Boulevard voller Hotels, Kasinos und Neonschilder davonstürmte. Wir hatten soeben in Las Vegas ein Zebra freigelassen.

Maurice und Eddie rannten hinterher, gefolgt von ein paar Polizisten, die riefen: »He! Dafür brauchen Sie aber eine amtliche Erlaubnis!«

»Jetzt wäre ein guter Moment zum Aufbruch«, sagte Annabeth.

»Erst die anderen Tiere«, sagte Grover.

Ich zerschlug die Schlösser mit meinem Schwert. Grover hob die Hände und sprach noch einmal den Segen, den er dem Zebra mit auf den Weg gegeben hatte.

»Viel Glück«, sagte ich. Antilope und Löwe sprangen aus ihren Käfigen und verschwanden zusammen auf der Straße.

Einige Touristen schrien auf. Die meisten traten einfach einen Schritt zurück und machten Fotos, sie hielten das alles vermutlich für den Werbegag irgendeines Kasinos.

»Werden die Tiere das denn schaffen?«, fragte ich Grover. »Ich meine, die Wüste und überhaupt …«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich habe sie unter den Satyrnschutz gestellt.«

»Was bedeutet?«

»Was bedeutet, dass sie unversehrt die Wildnis erreichen werden«, sagte er. »Sie werden Wasser, Futter, Schatten haben, alles, was sie brauchen, bis sie einen sicheren Ort zum Leben gefunden haben.«

»Warum kannst du uns nicht auch auf diese Weise segnen?«, fragte ich.

»Das klappt nur bei wilden Tieren.«

»Also hätte nur Percy etwas davon«, überlegte Annabeth.

»He!«, protestierte ich.

»Sollte ein Witz sein«, sagte sie. »Also los. Raus aus dieser verdreckten Karre.«

Wir stolperten hinaus in den Wüstennachmittag. Es waren mindestens vierzig Grad und wir sahen bestimmt aus wie frittierte Vagabunden, nur interessierte sich alle Welt viel zu sehr für die wilden Tiere, um überhaupt auf uns zu achten.

Wir kamen vorbei am Monte Carlo und am MGM. Wir kamen vorbei an Pyramiden, einem Seeräuberschiff und der Freiheitsstatue, die eine ziemlich kleine Kopie war, bei deren Anblick ich aber trotzdem Heimweh bekam.

Ich wusste nicht so recht, was wir eigentlich suchten. Vielleicht einfach eine Möglichkeit, für ein paar Minuten der Hitze zu entkommen, einen Sandwich zu essen und ein Glas Limo zu trinken und uns zu überlegen, wie wir nun weiterreisen sollten.

Wir waren aber offenbar falsch abgebogen, denn wir landeten in einer Sackgasse vor dem Lotos Hotel und Kasino. Der Eingang war eine riesige Neonblume, die Blütenblätter blinkten. Niemand ging ins Haus oder kam heraus, aber die glitzernden Chromtüren standen offen und ließen klimatisierte Luft nach draußen strömen, die nach Blumen roch – vielleicht nach Lotosblüten. Ich hatte noch nie an einer gerochen, deshalb wusste ich das nicht so recht.

Der Türsteher lächelte uns an. »He, Kids. Ihr seht müde aus. Wollt ihr euch nicht einen Moment setzen?«

In der vergangenen Woche hatte ich gelernt, misstrauisch zu sein. Schließlich konnte ja jeder ein Ungeheuer oder ein Gott sein. Man wusste es einfach nicht. Aber dieser Typ war normal. Das sah ich auf den ersten Blick. Außerdem war es so eine Erleichterung, dass jemand mitfühlend klang, also nickte ich und sagte, dass wir schrecklich gern hereinkommen würden. Drinnen sahen wir uns um und Grover sagte: »Boah!«

Das Hotelfoyer war ein einziger riesiger Saal voller Spiele. Und ich rede hier nicht von langweiligen alten Pacman-Spielen oder Spielautomaten. Es gab eine Wasserrutschbahn, die sich um den gläsernen Fahrstuhl wand, der mindestens vierzig Stockwerke hochfuhr. Auf der einen Seite waren eine Kletterwand und eine Bungee-Anlage angebracht. Es gab Virtual-Reality-Anzüge mit funktionierenden Lasergewehren. Und Hunderte von Videospielen, jedes von der Größe eines Großbildfernsehers. Im Grunde gab es einfach alles. Ein paar Kinder spielten hier, aber viele waren es nicht. Nirgendwo sah ich Warteschlangen. Überall gab es Kellnerinnen und Imbissstände, wo alles serviert wurde, was man sich überhaupt nur vorstellen konnte.

»He«, sagte plötzlich ein Hotelpage. Dafür hielt ich ihn zumindest. Er trug ein weites gelbes Hawaiihemd mit Lotosblütenmuster, Shorts und Flipflops. »Willkommen im Lotos Kasino. Hier ist euer Zimmerschlüssel.«

Ich stotterte: »Äh, aber …«

»Nein, nein«, sagte er lachend. »Die Rechnung ist bezahlt. Keine zusätzlichen Gebühren, kein Trinkgeld. Fahrt einfach nach ganz oben, Zimmer 4001. Wenn ihr etwas braucht, Extrablasen für den Whirlpool oder Munition für das Schießgelände oder was auch immer, dann meldet euch einfach an der Rezeption. Hier sind eure Lotos Cash Cards. Die gelten in den Restaurants und bei allen Spielen und Geräten.«

Er reichte uns drei grüne Plastikkarten.

Ich wusste, dass hier ein Missverständnis vorlag. Offenbar hielt er uns für die Kinder irgendwelcher Milliardäre. Aber ich nahm die Karten und fragte: »Und wie viel ist darauf?«

Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Ich meine, wann ist sie leer?«

Er lachte. »Ach, das sollte ein Witz sein. Klasse. Amüsiert euch.«

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben und sahen uns unser Zimmer an. Es war eine Suite mit drei Schlafzimmern und einer Bar voller Süßigkeiten, Getränke und Chips. Haustelefon für den Zimmerservice. Weiche Handtücher und Wasserbetten mit Daunenkissen. Ein Großbildfernseher mit Satellitenempfang und High-Speed-Internet. Auf dem Balkon gab es einen Whirlpool und außerdem eine Tontaubenanlage und ein Gewehr, man konnte Tontauben über Vegas fliegen lassen und sie dann abknallen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das erlaubt war, aber ich fand es ziemlich cool. Der Blick über den Sunset Strip und die Wüste war umwerfend, auch wenn ich nicht glaubte, dass wir viel Zeit haben würden, den Blick zu genießen.

»Meine Güte«, sagte Annabeth. »Das ist doch …«

»Super«, sagte Grover. »Einfach super.«

Im Schrank lagen Kleider, und sie passten mir. Ich runzelte die Stirn. Das war dann doch ein wenig seltsam.

Ich warf Ares’ Rucksack in den Mülleimer. Den würde ich nicht mehr brauchen, wenn wir aufbrachen, konnte ich mir ja einfach im Hotelladen einen neuen holen.

Ich duschte, was nach einer Woche Reisedreck ein wunderbares Gefühl war. Ich zog frische Kleidung an, aß eine Tüte Chips, trank drei Cokes und fühlte mich wohler als seit langer Zeit. Aber irgendwo in meinem Hinterkopf setzte mir ein kleines Problem zu. Ich hatte etwas geträumt … Ich musste mit meinen Freunden sprechen. Aber das hatte sicher noch Zeit.

Ich verließ mein Schlafzimmer und stellte fest, dass auch Annabeth und Grover geduscht und sich umgezogen hatten. Grover stopfte sich mit Kartoffelchips voll und Annabeth schaute sich im Fernsehen eine Sendung auf National Geographic an.

»Wir haben Unmengen von Sendern«, sagte ich zu ihr. »Und du suchst dir National Geographic aus. Spinnst du eigentlich?«

»Das ist interessant.«

»Mir geht’s gut«, sagte Grover. »Hier ist es wunderbar.«

Er merkte gar nicht, dass die Flügel aus seinen Schuhen schossen, ihn dreißig Zentimeter hochhoben und wieder absetzten.

»Und was jetzt?«, fragte Annabeth. »Schlafen?«

Grover und ich wechselten einen Blick und grinsten. Wir hielten unsere grünen Plastikkarten hoch.

»Jetzt wird gespielt«, sagte ich.

Ich wusste nicht, wann ich zuletzt so viel Spaß gehabt hatte. Ich kam aus einer ziemlich armen Familie. Wir hatten schon das Gefühl, über die Stränge zu schlagen, wenn wir bei Burger King aßen und uns ein Video liehen. Ein Fünfsternehotel in Las Vegas? Wäre nie drin gewesen.

Ich machte an der Rezeption fünf oder sechs Bungeesprünge, rutschte auf der Wasserrutschbahn, war mit dem Snowboard auf der künstlichen Skipiste unterwegs und spielte Virtual-Reality-Laserschütze und FBI-Scharfschütze. Ab und zu sah ich Grover, er lief von einem Spiel zum anderen. Ihm gefiel diese umgekehrte Jägerei – wo das Wild loszieht und die Jäger abknallt. Ich sah Annabeth bei einem Quiz und anderen Hirnispielen. Es gab so ein riesiges 3-D-Spiel, wo man eine eigene Stadt bauen konnte und auf dem Display auch wirklich sah, wie die Häuser als Hologramme entstanden. Ich fand es doof, aber Annabeth war hin und weg.

Ich weiß nicht so recht, wann mir zum ersten Mal aufging, dass hier etwas nicht stimmte.

Vermutlich als ich den Typen sah, der bei den Virtual-Reality-Scharfschützen neben mir stand. Er war vielleicht dreizehn und komisch angezogen. Ich hielt ihn für den Sohn eines Elvis-Doppelgängers. Er trug eine unten ganz weite Hose und ein rotes T-Shirt mit schwarzen Nähten und hatte mit Pomade vollgeschmierte Dauerwellen wie ein Mädchen aus New Jersey beim Schulball.

Wir spielten zusammen eine Runde Scharfschützen und er sagte: »Dufte, Mann. Bin seit zwei Wochen hier und die Spiele werden besser und besser.«

Dufte?

Als wir uns weiter unterhielten, sagte ich was von »krass« und er schaute mich irgendwie verwirrt an, als ob er diesen Ausdruck noch nie gehört hätte.

Er stellte sich als Darrin vor, aber als ich dann anfing, ihm Fragen zu stellen, fand er das langweilig und wollte zum Computer zurück.

Ich sagte: »Du, Darrin?«

»Was?«

»Welches Jahr haben wir?«

Er runzelte die Stirn. »Im Spiel?«

»Nein. Im echten Leben.«

Darüber musste er nachdenken. »1977.«

»Nein«, sagte ich und bekam ein wenig Angst. »In echt.«

»He, Mann, nerv nicht. Ich hab hier ein Spiel am Laufen.«

Und danach war ich Luft für ihn.

Ich fing an, mit anderen Leuten zu reden, aber das war nicht leicht. Sie klebten an ihren Bildschirmen, an den Videospielen, an ihrem Essen oder woran auch immer. Ich fand einen Typen, der behauptete, es sei 1985. Ein anderer war für 1993. Alle behaupteten, noch nicht lange hier zu sein, nur ein paar Tage oder höchstens ein paar Wochen. Sie wussten es nicht so genau und es war ihnen auch egal.

Da kam mir ein Gedanke: Wie lange war ich wohl schon hier? Es kam mir vor wie ein paar Stunden, aber stimmte das?

Ich versuchte mich daran zu erinnern, warum wir hier waren. Eigentlich waren wir unterwegs nach Los Angeles. Dort sollten wir den Eingang zur Unterwelt finden. Meine Mutter … eine schreckliche Sekunde lang konnte ich mich nicht an ihren Namen erinnern. Sally. Sally Jackson. Ich musste sie finden. Und ich musste Hades daran hindern, den Dritten Weltkrieg loszutreten.

Ich fand Annabeth, die noch immer ihre Stadt baute.

»Komm jetzt«, sagte ich zu ihr. »Wir müssen weg hier.«

Keine Reaktion.

Ich schüttelte sie. »Annabeth!«

Sie schaute genervt hoch. »Was?«

»Wir müssen los.«

»Los? Was redest du denn da? Ich hab gerade die Türme …«

»Das hier ist eine Falle.«

Sie reagierte erst, als ich sie noch einmal schüttelte. »Was?«

»Hör zu. Die Unterwelt! Unsere Aufgabe!«

»Ach, hör doch auf, Percy. Nur noch ein paar Minuten.«

»Annabeth, hier sind Leute von 1977. Kinder, die nicht gealtert sind. Wenn du erst mal hier reingeraten bist, dann bleibst du für immer.«

»Na und?«, fragte sie. »Kannst du dir einen besseren Aufenthaltsort vorstellen?«

Ich packte ihre Handgelenke und zerrte sie von ihrem Spiel fort.

»He!« Sie schrie und schlug nach mir, aber niemand achtete auf uns. Sie waren beschäftigt.

Ich zwang sie, mir in die Augen zu schauen. Ich sagte: »Spinnen. Große, behaarte Spinnen.«

Das rüttelte sie auf. Ihre Augen wurden klarer. »Himmel«, sagte sie. »Wie lange sind wir …«

»Ich weiß nicht, aber wir müssen Grover finden.«

Wir machten uns auf die Suche und fanden ihn in die Jägerjagd vertieft.

»Grover!«, brüllten wir beide.

Er sagte: »Stirb, Mensch! Stirb, du blödes Umweltschwein!«

»Grover!«

Er richtete sein Plastikgewehr auf mich und drückte ab, als sei ich einfach nur eine Figur auf seinem Bildschirm.

Ich sah Annabeth an und dann packten wir Grover an den Armen und zogen ihn mit uns. Seine fliegenden Schuhe erwachten zum Leben und wollten seine Beine in die Gegenrichtung zerren und er schrie: »Nein! Ich hatte gerade eine neue Ebene erreicht! Nein!«

Der Page kam angerannt. »Na, seid ihr reif für Platinkarten?«

»Wir gehen«, sagte ich.

»Wie schade«, sagte er und ich hatte das Gefühl, dass er das wirklich so meinte, dass es ihm das Herz brechen würde, wenn wir jetzt gingen. »Wir haben eben ein neues Stockwerk voller Spiele für die Inhaber von Platinkarten eröffnet.«

Er hielt uns die Karten hin und ich wollte eine haben. Ich wusste, wenn ich eine nähme, würde ich diesen Ort nie verlassen. Ich würde hier bleiben, auf ewig glücklich, auf ewig mit Spielen beschäftigt, und bald würde ich meine Mom und meine Aufgabe und vielleicht sogar meinen Namen vergessen haben. Ich würde bis in alle Ewigkeit mit dem duften Disco-Darrin virtuelles Schießen veranstalten.

Grover streckte die Hand nach der Karte aus, aber Annabeth riss seinen Arm zurück und sagte: »Nein, danke.«

Während wir auf die Tür zugingen, schienen der Duft des Essens und die Geräusche der Spiele immer einladender zu werden. Ich dachte an unser Zimmer oben. Wir könnten einfach über Nacht bleiben, dieses eine Mal in einem echten Bett schlafen …

Dann liefen wir aus dem Lotos Kasino und den Bürgersteig entlang. Ich hatte das Gefühl, dass es der Nachmittag des Tages war, an dem wir das Kasino betreten hatten, aber das konnte nicht sein. Das Wetter war komplett umgeschlagen. Es war stürmisch und draußen über der Wüste zuckten Blitze.

Ich hatte noch immer Ares’ Rucksack über der Schulter hängen – seltsam, dabei war ich sicher, dass ich ihn auf Zimmer 4001 in den Mülleimer geworfen hatte. Aber im Moment hatte ich wirklich andere Probleme.

Ich rannte zum nächsten Zeitungskiosk und suchte zuerst die Jahreszahl. Den Göttern sei Dank, dachte ich, es war noch dasselbe Jahr. Dann sah ich das Datum: 20. Juni.

Wir hatten fünf Tage im Lotos Kasino verbracht.

Uns blieb nur noch ein Tag bis zur Sommersonnenwende. Ein Tag, um unseren Auftrag auszuführen.


Wir sehen uns Wasserbetten an

Es war Annabeths Idee.

Sie zwängte uns auf die Rückbank eines Taxis, als ob wir Geld hätten, und sagte zum Fahrer: »Los Angeles, bitte.«

Der Taxifahrer kaute auf seiner Zigarre herum und musterte uns. »Das sind über dreihundert Kilometer. Da müsst ihr im Voraus blechen.«

»Nehmen Sie Kasinokarten?«, fragte Annabeth.

Er zuckte mit den Schultern. »Einige. Is’ wie mit Kreditkarten. Muss sie erst mal durchziehen.«

Annabeth reichte ihm ihre grüne Lotos Cash Card.

Er musterte sie skeptisch.

»Ziehen Sie sie durch«, bat Annabeth.

Das tat er.

Sofort tickte sein Apparat los. Die Lichter blinkten. Schließlich tauchte neben dem Dollarzeichen das Symbol für unendlich auf.

Ihm fiel die Zigarre aus dem Mund. Er drehte sich zu uns um und machte große Augen. »Wohin in Los Angeles … äh, Eure Hoheit?«

»Zum Pier in Santa Monica.« Annabeth setzte sich ein wenig gerader. Ich merkte, dass ihr das mit der Hoheit gefiel. »Wenn es schnell geht, können Sie den Rest behalten.«

Vielleicht hätte sie das nicht sagen dürfen.

Während der ganzen Fahrt durch die Mojavewüste fiel der Tacho nie unter hundertfünfzig.

Unterwegs hatten wir Zeit genug zum Reden. Ich erzählte Annabeth und Grover von meinem letzten Traum, aber je mehr ich versuchte, mich zu erinnern, umso vager wurden die Details. Das Lotos Kasino schien in meinem Gedächtnis einen Kurzschluss ausgelöst zu haben. Ich wusste nicht mehr, wie die Stimme des unsichtbaren Knechts sich angehört hatte, aber ich war sicher, dass ich ihn kannte. Der Knecht hatte das Ungeheuer in der Grube nicht nur »hoher Herr« genannt, er hatte auch einen besonderen Namen oder Titel verwendet.

»Schweigender«, schlug Annabeth vor. »Reicher? Beides sind Beinamen für Hades.«

»Kann sein«, sagte ich, aber keiner dieser Namen hörte sich richtig an.

»Dieser Thronsaal scheint wie der von Hades zu sein«, sagte Grover. »Jedenfalls wird er normalerweise so beschrieben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Irgendwas stimmt nicht. Der Thronsaal war nicht so wichtig in meinem Traum. Und die Stimme aus der Grube … ich weiß nicht. Sie klang einfach nicht wie die Stimme eines Gottes.«

Annabeth riss die Augen auf.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Ach … nichts. Nur … nein, es muss einfach Hades sein. Vielleicht hat er diesen Dieb geschickt, den wir nicht kennen, um den Herrscherblitz zu holen, und dann ist irgendwas schiefgegangen …«

»Zum Beispiel?«

»Ich … ich weiß nicht«, sagte sie. »Aber wenn er das Machtsymbol des Zeus vom Olymp gestohlen hat und wenn die Götter Jagd auf ihn machen, dann kann eben sehr viel schiefgehen. Der Dieb musste den Blitz verstecken. Vielleicht hat er ihn auf irgendeine Weise verloren. Jedenfalls hat er ihn nicht zu Hades bringen können. Das hat die Stimme in deinem Traum doch gesagt, oder? Der Typ hat versagt. Und das erklärt, was die Furien bei ihrem Angriff im Bus gesucht haben. Vielleicht dachten sie, wir hätten den Blitz schon zurückgeholt.«

Ich wusste nicht, was mit ihr los war. Sie sah bleich aus.

»Aber wenn ich den Blitz schon geholt hätte«, sagte ich, »warum sollte ich dann die Unterwelt aufsuchen?«

»Um Hades zu bedrohen«, schlug Grover vor. »Um ihn zu bestechen oder zu erpressen, damit du deine Mom zurückbekommst.«

Ich stieß einen Pfiff aus. »Für eine Ziege hast du eine ganz schön fiese Fantasie.«

»Ja, danke.«

»Aber das Ding in der Grube hat gesagt, dass es auf zwei Gegenstände wartet«, sagte ich. »Wenn der Herrscherblitz der eine ist, was ist dann der andere?«

Grover schüttelte den Kopf und schien das alles überaus rätselhaft zu finden.

Annabeth sah mich an, als wüsste sie schon, was ich jetzt fragen würde, und wollte mich bitten, es nicht zu tun.

»Du ahnst, was da in der Grube sitzt, nicht wahr?«, fragte ich sie. »Ich meine, wenn es nicht Hades ist?«

»Percy … reden wir nicht davon. Denn wenn es nicht Hades ist … nein. Es muss Hades sein.«

Wir fuhren durch die Wüste. Wir kamen an einem Schild vorbei, auf dem stand: KALIFORNIEN 20 KILOMETER.

Ich hatte das Gefühl, dass mir ein simples, wichtiges Stück Information fehlte. Es war wie in den Momenten, wenn ich ein ganz normales Wort anstarrte, das ich eigentlich kennen müsste, dem ich aber keinen Sinn entnehmen konnte, weil ein oder zwei Buchstaben umhertanzten. Je mehr ich über meine Aufgabe nachdachte, umso sicherer wurde ich, dass die Begegnung mit Hades nicht die eigentliche Lösung sein würde. Es ging noch um etwas anderes, etwas, das noch gefährlicher war.

Das Problem war: Wir jagten mit hundertfünfzig Kilometern in der Stunde auf die Unterwelt zu und setzten ganz und gar darauf, dass Hades den Herrscherblitz hatte. Wenn wir bei ihm ankamen und feststellten, dass wir uns geirrt hatten, würde keine Zeit mehr sein, einen neuen Plan zu machen. Der Stichtag Sommersonnenwende wäre gekommen und der Krieg würde beginnen.

»Die Antwort liegt in der Unterwelt«, versicherte Annabeth mir. »Du hast die Geister der Toten gesehen, Percy. Und das kann nur einen einzigen Ort bedeuten. Wir machen das Richtige.«

Sie versuchte uns aufzumuntern, indem sie kluge Strategien entwickelte, wie wir ins Reich des Todes gelangen könnten, aber ich war nicht mit dem Herzen bei der Sache. Es gab einfach zu viele unbekannte Faktoren. Es war wie das Büffeln für eine Klausur, deren Thema man nicht weiß. Und glaubt mir, das hatte ich oft genug gemacht.

Das Taxi jagte westwärts. Jeder Windstoß im Death Valley hörte sich an wie ein Totengeist. Immer wenn hinter einem LKW die Bremsen ächzten, erinnerte mich das an Echidnas Reptilienstimme.

Bei Sonnenuntergang setzte das Taxi uns in Santa Monica am Strand ab. Der sah genauso aus wie im Film, nur dass er stank. Auf der Pier gab es allerlei Buden, am Straßenrand standen Palmen, Penner schliefen in den Dünen und blöde Surfer warteten auf die perfekte Welle.

Grover, Annabeth und ich gingen bis ans Wasser.

»Und jetzt?«, fragte Annabeth.

Der Pazifik färbte sich im Sonnenuntergang golden. Ich dachte darüber nach, wie lange es schon her war, dass ich am Strand von Montauk gestanden hatte, am anderen Ende des Landes, an einem anderen Meer.

Wie konnte ein Gott das alles unter Kontrolle halten? Was hatten wir im Naturkundeunterricht gelernt – dass zwei Drittel der Erdoberfläche von Wasser bedeckt sind? Wie war es möglich, dass ich der Sohn eines dermaßen mächtigen Wesens war?

Ich trat in die Brandung.

»Percy?«, fragte Annabeth. »Was machst du da?«

Ich ging weiter ins Wasser, bis zur Taille, bis zur Brust.

Sie rief hinter mir her: »Weißt du, wie verdreckt das Wasser hier ist? Da drin gibt es alle Arten von Giften …«

Mein Kopf war unter Wasser.

Zuerst hielt ich den Atem an. Es ist schwer, ganz bewusst Wasser einzuatmen. Endlich konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich schnappte nach Luft. Und natürlich konnte ich ganz normal atmen.

Ich ging weiter. Durch den vielen Schlamm hindurch hätte ich eigentlich nichts sehen dürfen, aber irgendwie wusste ich, wo alles war. Ich konnte den Sandboden spüren. Ich konnte Sandbänke und Wellen und Sandwürmer im Boden ahnen. Ich konnte sogar die Strömungen sehen, warmes und kaltes Wasser, das umeinanderwirbelte.

Ich spürte, dass sich etwas an meinem Bein rieb. Ich schaute nach unten und wäre fast wie eine Kanonenkugel aus dem Wasser geschossen. Neben mir glitt ein zwei Meter langer Makohai dahin.

Aber er griff mich nicht an. Er streichelte mich. Rieb sich an mir wie ein Hund. Vorsichtig berührte ich seine Rückenflosse. Er machte eine Art Buckel und schien mich auffordern zu wollen, fester zuzupacken. Ich fasste die Flosse mit beiden Händen. Der Hai schwamm los und zog mich mit sich. Er zog mich in die Dunkelheit nach unten und brachte mich zum Rand des eigentlichen Ozeans, wo die Sandbank in einen tiefen Abgrund abfiel. Ich kam mir vor wie um Mitternacht am Rand des Grand Canyon; ich konnte nicht viel sehen, wusste aber, dass unter mir die Schlucht klaffte.

Die Wasseroberfläche schimmerte vielleicht fünfzig Meter über mir. Ich wusste, dass mich der Wasserdruck eigentlich zerquetschen müsste. Aber ich dürfte ja eigentlich auch nicht atmen können. Ich fragte mich, ob es wohl eine Grenze dafür gab, wie tief ich gehen, oder ob ich bis auf den Grund des Pazifiks sinken könnte.

Dann sah ich in der Dunkelheit unter mir etwas funkeln, es wurde größer und heller, als es auf mich zukam. Eine Frauenstimme, wie die meiner Mutter, rief: »Percy Jackson!«

Als sie näher kam, konnte ich sie deutlicher erkennen. Sie hatte wogende schwarze Haare und ein Kleid aus grüner Seide. Licht umflackerte sie und ihre Augen waren so hinreißend schön, dass ich kaum das Seepferd registrierte, auf dem sie saß.

Sie stieg ab. Seepferd und Hai verzogen sich und vertieften sich in ein Spiel, das aussah wie Fangen. Die Unterwasserdame lächelte mich an. »Du bist weit gekommen, Percy Jackson. Gut gemacht.«

Ich wusste nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte, deshalb verbeugte ich mich. »Du bist die Frau, die im Mississippi mit mir gesprochen hat.«

»Ja, Kind. Ich bin eine Nereide, ein Meeresgeist. Es war nicht leicht, so tief im Flussinneren zu erscheinen, aber die Najaden, meine Süßwasserkusinen, haben mir geholfen, meine Lebenskräfte zu erhalten. Sie ehren den Herrn Poseidon, auch wenn sie nicht zu seinem Hof gehören.«

»Aber … du gehörst zu Poseidons Hof?«

Sie nickte. »Es ist schon viele Jahre kein Kind des Meeresgottes mehr geboren worden. Wir haben dich mit großem Interesse beobachtet.«

Plötzlich fielen mir Gesichter in den Wellen vor Montauk ein, die ich gesehen hatte, als ich klein war, Bilder lächelnder Frauen. Wie bei so vielen seltsamen Dingen in meinem Leben hatte ich bisher nicht weiter darüber nachgedacht.

»Wenn mein Vater so großes Interesse an mir hat«, sagte ich, »warum ist er nicht hier? Warum spricht er nicht mit mir?«

Eine kalte Strömung kam aus der Tiefe herauf.

»Urteile nicht zu streng über den Herrn des Meeres«, sagte die Nereide. »Er steht am Rande eines Krieges, den er nicht wünscht. Er hat zu viel zu tun. Außerdem darf er dir nicht auf direktem Wege helfen. Die Götter dürfen niemanden bevorzugen.«

»Nicht einmal ihre Kinder?«

»Vor allem die nicht. Die Götter können nur durch indirekten Einfluss tätig werden. Deshalb soll ich dir eine Warnung und ein Geschenk bringen.«

Sie streckte die Hand aus. Drei weiße Perlen funkelten auf ihrer Handfläche.

»Ich weiß, dass du ins Reich des Hades unterwegs bist«, sagte sie. »Nur wenige Sterbliche haben das bisher gewagt und überlebt: Orpheus, der große musikalische Fähigkeiten besaß, Herkules, der überaus stark war, Houdini, der sogar den Tiefen des Tartarus entkommen konnte. Besitzt du eine dieser Gaben?«

»Äh … nein, Ma’am.«

»Ah, aber du besitzt etwas anderes, Percy. Du hast Talente, die du gerade erst entdeckst. Die Orakel haben für dich eine große und entsetzliche Zukunft vorausgesagt, wenn du bis zum Mannesalter überlebst. Poseidon will nicht, dass du stirbst, ehe deine Zeit gekommen ist. Deshalb nimm dieses Geschenk und zerbrich vor deinen Füßen eine Perle, wenn du in Not gerätst.«

»Was passiert dann?«

»Das«, sagte sie, »kommt auf die Notlage an. Aber denk daran: Was dem Meer gehört, wird immer zum Meer zurückkehren.«

»Und die Warnung?«

In ihren Augen flackerte grünes Licht. »Folge der Stimme deines Herzens, sonst wirst du alles verlieren. Hades ernährt sich von Zweifeln und Hoffnungslosigkeit. Er wird versuchen dich auszutricksen, er wird dafür sorgen, dass du deinem eigenen Urteil misstraust. Wenn du dich erst einmal in seinem Reich befindest, wird er dich freiwillig nicht mehr gehen lassen. Verlier nicht den Mut. Viel Glück, Percy Jackson.«

Sie winkte ihr Seepferd herbei und ritt auf den Abgrund zu.

»Warte!«, rief ich. »Im Fluss hast du gesagt, ich dürfte Geschenken nicht trauen. Was für Geschenken?«

»Leb wohl, junger Held«, rief sie zurück und ihre Stimme verhallte in der Tiefe. »Du musst auf dein Herz hören!« Sie wurde zu einem glühenden grünen Fleck und war verschwunden.

Ich wollte ihr hinab in die Dunkelheit folgen. Ich wollte Poseidons Hof sehen. Aber ich schaute hinauf in den Sonnenuntergang, der die Wasseroberfläche dunkler werden ließ. Meine Freunde warteten. Wir hatten so wenig Zeit …

Ich stieß mich ab und schwamm nach oben.

Als ich den Strand erreichte, war meine Kleidung sofort trocken. Ich erzählte Grover und Annabeth, was passiert war, und zeigte ihnen die Perlen.

Annabeth schnitt eine Grimasse. »Jedes Geschenk hat seinen Preis.«

»Die haben nichts gekostet.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »›Ein Essen umsonst gibt es nicht!‹ Das ist ein altgriechisches Sprichwort, das auch heute noch stimmt. Es wird seinen Preis haben. Warte nur.«

Mit diesem glücklichen Gedanken kehrten wir dem Meer den Rücken zu.

Wir fuhren mit dem Bus nach West Hollywood und bezahlten mit Münzen aus Ares’ Rucksack. Ich zeigte dem Fahrer den Adressaufkleber, den ich aus Tante Ems Gartenzwerg-Emporium mitgenommen hatte, aber er hatte noch nie von den DOA-Studios gehört.

»Du erinnerst mich an jemanden, den ich im Fernsehen gesehen habe«, sagte er. »Bist du ein Kinderstar oder so was?«

»Äh … ich bin Double … für allerlei Kinderstars.«

»Ach. Na, dann.«

Wir dankten ihm und stiegen an der nächsten Haltestelle schnell aus.

Dann gingen wir Kilometer um Kilometer zu Fuß und suchten die DOA-Studios. Kein Mensch schien zu wissen, wo sie lagen. Im Telefonbuch waren sie nicht verzeichnet.

Zweimal verschwanden wir in Seitenstraßen, um Streifenwagen auszuweichen.

Vor einem Ladenfenster erstarrte ich, denn dort lief in einem Fernseher ein Interview mit jemandem, der mir sehr bekannt vorkam – mit meinem Stiefvater, Gabe dem Stinker. Er unterhielt sich mit Barbara Walters – wie ein echter Promi. Sie interviewte ihn in unserer Wohnung, mitten in einer Pokerrunde, und neben ihm saß eine junge Blondine und streichelte seine Hand.

Auf seiner Wange glitzerte eine Krokodilsträne. »Ehrlich, Ms Walters, ohne Sugar, meine Trauertherapeutin, wäre ich ein Wrack. Mein Stiefsohn hat mir alles genommen, was mir wichtig war. Meine Frau … meinen Camaro … verzeihen Sie, ich kann einfach nicht darüber reden.«

»Da hast du es, Amerika.« Barbara Walters wandte sich der Kamera zu. »Ein gebrochener Mann. Ein Junge mit ernsthaften Problemen. Wir bringen jetzt noch einmal das letzte bekannte Foto dieses gestörten jungen Flüchtlings, das vor einer Woche in Denver aufgenommen wurde.«

Der Bildschirm zeigte ein unscharfes Foto von mir, Annabeth und Grover vor dem Imbiss in Colorado, wir sprachen gerade mit Ares.

»Wer sind die anderen Kinder auf dem Foto?«, fragte Barbara Walters dramatisch. »Wer ist dieser Mann? Ist Percy Jackson ein Verbrecher, ein Terrorist oder vielleicht das einer Gehirnwäsche unterzogene Opfer eines entsetzlichen neuen Kults? Nach dem Werbespot werden wir uns mit führenden Kinderpsychologen unterhalten. Bleib dran, Amerika!«

»Los«, sagte Grover. Er zog mich weg, ehe ich das Ladenfenster einschlagen konnte.

Es wurde dunkel und ziemlich übel aussehende Typen bevölkerten die Straße. Versteht das jetzt nicht falsch. Ich bin aus New York. Ich fürchte mich nicht so schnell. Aber die Szene hier in L. A. war ganz anders als die in New York. Zu Hause war mir alles vertraut. Egal wie groß die Stadt auch war, man konnte sich einfach nicht verlaufen. Straßenmuster und U-Bahn-Linien ergaben einen Sinn. Alles hatte sein System. Ein Kind war da sicher, solange es sich nicht blöd verhielt.

L. A. war nicht so. Es war unübersichtlich, chaotisch, unwegsam. Es erinnerte mich an Ares. L. A. reichte es nicht, groß zu sein, es musste sich das auch noch beweisen, indem es laut und fremdartig und unwirklich war. Ich hatte keinen Schimmer, wie wir bis zum nächsten Tag, der Sommersonnenwende, den Eingang zur Unterwelt finden wollten.

Wir gingen vorbei an brutalen Schlägertypen, Pennern und Straßendieben, die uns musterten, als fragten sie sich, ob wir die Mühe eines Überfalls lohnten.

Als wir an einer Seitenstraße vorüberliefen, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit: »He, du.«

Wie ein Blödmann blieb ich stehen.

Ehe ich mich’s versah, waren wir umzingelt. Eine Bande von Jugendlichen drängte sich um uns zusammen. Sie waren sechs – weiße Jungs mit teuren Kleidern und gemeinen Gesichtern. Wie in der Yancy Academy: reiche Blödmänner, die böse Buben spielen.

Instinktiv drehte ich die Kappe von meinem Schwert.

Als das Schwert aus dem Nichts auftauchte, wichen die Typen zurück, nur ihr Anführer war entweder strohdoof oder ungeheuer tapfer, denn er kam mit einem Springmesser auf mich zu.

Ich war dumm genug, das Schwert zu schwingen.

Der Junge schrie auf. Aber er war offenbar durch und durch sterblich, denn die Schneide lief einfach durch seine Brust. Er schaute an sich hinunter. »Was zum …«

Ich nahm an, dass mir wohl drei Sekunden blieben, ehe sein Schock in Wut umschlug. »Lauft«, schrie ich Annabeth und Grover an.

Wir stießen zwei Jungen beiseite und rannten die Straße entlang, ohne zu wissen, wohin. Wir bogen um eine scharfe Kurve.

»Da!«, rief Annabeth.

Nur ein Laden weit und breit sah geöffnet aus, seine Fenster waren neonerleuchtet. Über der Tür stand so in etwa: CRSTUYS WASSRE BTTE ALPAST.

»Crustys Wasserbettpalast?«, übersetzte Grover.

Das klang wie ein Ort, den ich nur im Notfall aufsuchen würde, aber das war ja wirklich einer.

Wir stürzten durch die Tür und warfen uns hinter ein Wasserbett. Gleich darauf stürmte draußen die Bande vorbei.

»Ich glaube, wir haben sie abgeschüttelt«, keuchte Grover.

Hinter uns rief eine dröhnende Stimme: »Wen denn?«

Wir fuhren zusammen.

Hinter uns stand ein Typ, der aussah wie ein Schwerverbrecher im Freizeitanzug. Er war mindestens zwei Meter zehn und total kahl, hatte graue, lederartige Haut, Augen mit schweren Lidern und ein kaltes Reptilienlächeln. Er kam langsam auf uns zu, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich bei Bedarf auch sehr schnell bewegen konnte.

Sein Anzug hätte aus dem Lotos Kasino stammen können. Er gehörte in die siebziger Jahre, hundertpro. Sein Seidenhemd mit Paisleymuster war bis zur Hälfte seiner behaarten Brust aufgeknöpft. Das Revers seiner Samtjacke war breit wie eine Landebahn. Und die Silberketten um seinen Hals – die konnte ich gar nicht zählen.

»Ich bin Crusty«, sagte der Mann mit mayonnaisegelbem Lächeln.

Ich widerstand dem Drang zu sagen: »So sehen Sie auch aus.«

»Tut uns leid, so reinzuplatzen«, sagte ich. »Wir wollten uns nur mal, äh, umsehen.«

»Du meinst, euch vor diesen Tunichtguten verstecken«, knurrte er. »Die lungern jeden Abend hier rum. Ich krieg durch sie ganz schön Kundschaft. Also, wollt ihr euch ein Wasserbett ansehen?«

Ich wollte schon »Nein danke« sagen, aber er legte mir seine Pranke auf die Schulter und schob mich weiter in den Laden hinein.

Dort gab es alle Arten von Wasserbetten, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, aus verschiedenem Holz, mit verschiedenen Mustern, Queensize, Kingsize, Kaiser-des-Universums-Size.

»Das ist mein beliebtestes Modell.« Crusty breitete stolz seine Arme aus über einem Bett mit schwarzer Satinwäsche und eingebauten Lavalampen am Kopfende. Die Matratze vibrierte und sah aus wie öliger Wackelpudding.

»Die Massage der Millionen Hände«, erklärte Crusty. »Na, probiert es doch einfach mal aus. Macht ein Nickerchen, ist mir doch egal. Heute kann ich ja doch keine Geschäfte mehr machen.«

»Äh«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass …«

»Die Massage der Millionen Hände!«, rief Grover und ließ sich fallen. »Ach, Leute, ist das cool!«

»Hmmmm«, sagte Crusty und streichelte sein ledernes Kinn. »Fast, fast.«

»Fast was?«, fragte ich.

Er schaute Annabeth an. »Tu mir den Gefallen und probier das hier mal aus, Herzchen. Könnte passen.«

Annabeth sagte: »Aber was …«

Er streichelte beruhigend ihre Schulter und führte sie zum Safari-de-luxe-Modell mit eingeschnitzten Teaklöwen und Nackenrolle mit Leopardenmuster. Als Annabeth sich nicht hinlegen wollte, versetzte Crusty ihr einen Stoß.

»He«, protestierte sie.

Crusty schnippte mit den Fingern. »Ergo!«

Riemen schnellten von den Bettseiten hoch, schlossen sich um Annabeth und fesselten sie an die Matratze.

Grover wollte aufspringen, doch auch sein schwarzes Satinbett hatte Riemen, die ihn festhielten.

»Nicht gerade cool!«, schrie er und seine Stimme vibrierte von der Massage der Millionen Hände. »Überhaupt nicht cool!«

Der Riese schaute Annabeth an, dann drehte er sich zu mir um und sagte grinsend: »Fast, verflixt.«

Ich wollte zurückweichen, aber seine Hand schnellte vor und schloss sich um meinen Nacken. »Aber, Kleiner. Keine Sorge. Wir finden gleich eins für dich.«

»Lassen Sie meine Freunde frei.«

»Klar doch. Aber zuerst müssen sie passend gemacht werden.«

»Wie meinen Sie das?«

»Alle Betten sind genau eins achtzig lang, klar? Deine Freunde sind zu kurz. Muss sie passend machen.«

Annabeth und Grover zappelten noch immer.

»Kann unvollkommene Maße nicht leiden«, murmelte Crusty. »Ergo.«

Neue Riemen lösten sich von Kopf-und Fußende der Betten und wickelten sich um Annabeths und Grovers Knöchel und dann um ihre Arme. Die Riemen spannten sich und zerrten aus beiden Richtungen an ihnen.

»Keine Sorge«, sagte Crusty zu mir. »Sie werden nur gedehnt. So zehn Zentimeter etwa. Vielleicht überleben sie das sogar. Und jetzt suchen wir uns ein Bett für dich, ja?«

»Percy!«, schrie Grover.

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich wusste, dass ich mit diesem riesigen Wasserbettenverkäufer allein nicht fertig werden könnte. Er würde mir den Hals umdrehen, noch ehe ich mein Schwert ziehen könnte.

»Sie heißen in Wirklichkeit gar nicht Crusty, oder?«, fragte ich.

»Offiziell heiße ich Prokrustes«, gab er zu.

»Der Strecker«, sagte ich. Ich kannte die Geschichte von dem Riesen, der versucht hatte, Theseus auf dem Weg nach Athen mit übermäßiger Gastfreundschaft umzubringen.

»Ja«, sagte der Verkäufer. »Aber wer kann sich das schon merken? Schlecht fürs Geschäft. Crusty dagegen prägt sich leicht ein.«

»Da haben Sie Recht. Das klingt richtig gut.«

Seine Augen leuchteten auf. »Findest du?«

»Ja, unbedingt«, sagte ich. »Und die Betten sind Meisterwerke.«

Er grinste strahlend, aber sein Zugriff um meinen Nacken lockerte sich nicht. »Das werde ich der Kundschaft erzählen. Jedes Mal. Niemand macht sich die Mühe, sich die Verarbeitung wirklich anzusehen. Ich meine, wie viele eingebaute Lavalampen hast du in deinem Leben schon gesehen?«

»Nicht viele.«

»Ja, eben.«

»Percy!«, schrie Annabeth. »Was machst du da?«

»Achten Sie nicht auf sie«, sagte ich zu Prokrustes. »Sie ist einfach unmöglich.«

Der Riese lachte. »Das sind meine Kunden alle. Nie genau eins achtzig groß. So rücksichtslos. Und dann beklagen sie sich, wenn sie passend gemacht werden.«

»Was machen Sie, wenn sie größer sind als eins achtzig?«

»Ach, das kommt auch dauernd vor. Da hab ich eine einfache Technik.«

Er ließ meinen Nacken los, doch ehe ich reagieren konnte, griff er auch schon hinter einen in der Nähe stehenden Tresen und holte eine Messingaxt mit Doppelschneide hervor. »Ich leg sie, so gut es geht, in die Mitte und hacke alles ab, was über die Kante hängt.«

»Ah«, sagte ich und schluckte. »Vernünftig.«

»Es freut mich wirklich, einen intelligenten Kunden zu treffen.«

Die Seile rissen immer schlimmer an meinen Freunden. Annabeth war schon ganz bleich. Grover stieß gurgelnde Geräusche aus, wie eine Gans, die erwürgt wird.

»Also, Crusty«, sagte ich und versuchte, mich ganz lässig anzuhören. Ich schaute zu dem Preisschild auf dem herzförmigen Flitterwochenbett. »Hat das da wirklich dynamische Stabilisatoren, um die Wellenbewegung zu stoppen?«

»Aber sicher doch. Probier mal.«

»Ja, gleich. Aber funktioniert das auch bei einem Brocken wie dir? Gar keine Wellen?«

»Garantiert.«

»Gibt’s nicht.«

»Gibt’s.«

»Zeig’s.«

Er setzte sich auf das Bett und streichelte die Matratze. »Keine Wellen. Siehst du?«

Ich schnippte mit den Fingern. »Ergo.«

Seile schnellten hervor und fesselten Crusty an die Matratze.

»He!«, schrie er.

»Legt ihn schön in die Mitte«, sagte ich.

Auf diesen Befehl hin zurrten die Seile Crusty fest. Sein Kopf schaute oben über das Bett hinaus, die Füße unten.

»Nein!«, sagte er. »Warte! Das war doch nur ein Test!«

Ich drehte die Kappe von meinem Schwert. »Eine ganz einfache Technik …«

Ich verspürte keinerlei Gewissensbisse bei dem, was ich jetzt vorhatte. Wenn Crusty ein Mensch war, konnte ich ihn ja überhaupt nicht verletzen. Und wenn er ein Ungeheuer war, dann hatte er es verdient, für eine Weile zu Staub zu zerfallen.

»Du bist ja wirklich ein harter Verhandlungspartner«, sagte er. »Ich lass dir ausgesuchte Vorführmodelle für dreißig Prozent weniger.«

»Ich glaube, ich fange oben an.« Ich hob mein Schwert.

»Ohne Anzahlung. Keine Zinsen in den ersten sechs Monaten!«

Ich schwang das Schwert. Crusty hörte auf, Angebote zu machen.

Ich zerschnitt die Riemen der anderen Betten. Annabeth und Grover sprangen auf, sie stöhnten und jammerten und verfluchten mich wütend.

»Ihr seht größer aus«, sagte ich.

»Zum Totlachen«, sagte Annabeth. »Vielleicht machst du nächstes Mal ein bisschen schneller.«

Ich schaute mir die Pinnwand hinter Crustys Tresen an. Ich sah eine Werbung für den Hermes-ÜberNacht-Expressversand und eine für das neue Nachschlagewerk für die Ungeheuer des Bezirks L. A. – »Das einzige Monsterbranchenbuch, das Sie jemals benötigen werden!« Darunter hing ein leuchtend orangefarbener Prospekt der DOA-Aufnahmestudios mit Angeboten für Helden: »Wir sind ständig auf der Suche nach neuen Talenten!« Gleich darunter die DOA-Adresse und ein Stadtplan.

»Na los«, sagte ich zu den anderen.

»Lass uns einen Moment Zeit«, beschwerte Grover sich. »Wir sind fast zu Tode gedehnt worden.«

»Dann seid ihr ja bereit für die Unterwelt«, sagte ich. »Es ist nur eine Straße weiter.«


Annabeth wird Hundetrainerin

Wir standen auf dem Valencia Boulevard und schauten hoch zu goldenen, in schwarzen Marmor gravierten Buchstaben: DOA-AUFNAHMESTUDIOS.

Darunter auf den Glastüren stand: KEINE ANWÄLTE. KEIN HERUMLUNGERN. KEINE LEBENDEN.

Es war fast Mitternacht, aber die Rezeption war hell erleuchtet und es wimmelte von Leuten. Hinter dem Sicherheitsschalter saß ein ziemlich brutal aussehender Wächter mit Sonnenbrille und einem Ohrstöpsel.

Ich drehte mich zu den anderen um. »Na gut. Ihr kennt den Plan.«

»Den Plan«, sagte Grover gepresst. »Ja. Supertoller Plan.«

Annabeth sagte: »Was machen wir, wenn der Plan nicht funktioniert?«

»Sei nicht so pessimistisch.«

»Na gut«, sagte sie. »Wir betreten das Reich des Todes, aber wir sollen nicht pessimistisch sein.«

Ich zog die Perlen aus meiner Tasche, die drei milchigen Kugeln, die die Nereide mir in Santa Monica gegeben hatte. Sie versprachen nicht gerade, eine Hilfe zu sein, wenn etwas schiefging.

Annabeth legte mir die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, Percy. Du hast Recht, wir schaffen das schon. Wird schon klappen.«

Sie versetzte Grover einen Rippenstoß.

»Aber klar doch«, sagte auch der. »Wir sind so weit gekommen. Wir werden den Herrscherblitz finden und deine Mom retten. Kein Problem.«

Ich sah die beiden an und war zutiefst dankbar. Nur wenige Minuten zuvor wäre ich fast daran schuld gewesen, dass sie auf De-luxe-Wasserbetten zu Tode gedehnt wurden, aber jetzt versuchten sie, mir zuliebe tapfer zu sein, einfach damit ich mich besser fühlte.

Ich ließ die Perlen wieder in meine Tasche gleiten. »Und jetzt treten wir in irgendeinen Unterwelthintern.«

Wir betraten die Lobby der DOA.

Aus verborgenen Lautsprechern strömte leise Musik. Teppich und Wände waren stahlgrau. In den Ecken ragten schmale Kakteen auf wie Skeletthände. Die Möbel waren aus schwarzem Leder und jeder Platz war besetzt. Leute saßen auf Sofas, Leute standen herum, Leute starrten aus dem Fenster oder warteten auf den Fahrstuhl. Niemand bewegte sich, redete, machte überhaupt etwas. Aus dem Augenwinkel konnte ich sie alle sehr gut sehen, aber wenn ich mich auf jemanden konzentrierte, dann war er sofort … durchsichtig. Ich konnte einfach durch diese Körper hindurchblicken.

Der Schalter des Sicherheitstypen befand sich auf einer Art Podium, deshalb mussten wir zu ihm hochblicken.

Er war groß und elegant, er hatte schokoladenbraune Haut und ganz kurz geschorene, gebleichte blonde Haare. Er trug eine Sonnenbrille aus Schildpatt und einen italienischen Seidenanzug, der zu seiner Haarfarbe passte. Eine schwarze Rose war unter dem silbernen Namensschild an seinem Revers befestigt.

Ich las das Namensschild und schaute ihn dann verwirrt an. »Sie heißen Chiron?«

Er beugte sich über seinen Tisch vor. Ich konnte in seiner Sonnenbrille nur mein eigenes Spiegelbild sehen, sein Lächeln aber war süß und kalt, wie das einer Pythonschlange in dem Moment, ehe sie ihr Opfer verschlingt.

»Was für ein köstlicher kleiner Knabe.« Er sprach mit einem seltsamen Akzent – britisch vielleicht, es klang aber auch, als sei Englisch nicht seine Muttersprache. »Sag mal, Kumpel, seh ich vielleicht aus wie ein Zentaur?«

»N-nein.«

»Sir«, fügte er zuckersüß hinzu.

»Sir«, sagte ich.

Er berührte sein Namensschild und ließ einen Finger unter den Buchstaben dahinwandern. »Kannst du lesen, Kumpel? Hier steht C-H-A-R-O-N. Sprich mir nach: Cha-ron.«

»Charon.«

»Erstaunlich! Und jetzt: Mr Charon.«

»Mr Charon«, sagte ich.

»Gut gemacht.« Er ließ sich zurücksinken. »Ich finde es schrecklich, mit diesem alten Pferdekerl verwechselt zu werden. Und jetzt sag mal, wie kann ich euch kleinen Toten helfen?«

Seine Frage traf mich im Bauch wie ein scharf getretener Ball. Ich schaute Annabeth hilfesuchend an.

»Wir möchten in die Unterwelt«, sagte sie.

Charons Lippen zuckten. »Na, das ist doch erfrischend.«

»Wirklich?«

»Offen und ehrlich. Kein Geschrei. Kein ›Nein, das muss ein Irrtum sein, Mr Charon!‹.« Er musterte uns. »Und wie seid ihr bitte gestorben?«

Ich stieß Grover an.

»Äh«, sagte er. »Na ja … ertrunken … in der Badewanne.«

»Alle drei?«, fragte Charon.

Wir nickten.

»Große Badewanne.« Charon wirkte ein wenig beeindruckt. »Ich nehme an, ihr habt keine Münzen für die Überfahrt. Wenn ihr erwachsen wärt, könnte ich eure Kreditkarte belasten oder die Kosten auf eure letzte Telefonrechnung aufschlagen. Aber Kinder … leider sind die nie auf den Tod vorbereitet. Ich nehme an, ihr werdet ein paar Jahrhunderte warten müssen.«

»Aber wir haben Münzen.« Ich legte drei goldene Drachmen auf den Tresen, Geld, das ich in Crustys Büro gefunden hatte.

»Du meine Güte …« Charon leckte sich die Lippen. »Echte Drachmen. Echte goldene Drachmen. Die hab ich ja seit …«

Seine Finger schwebten gierig über den Münzen.

Wir waren so dicht vor dem Ziel.

Dann sah Charon mich an. Das kalte Starren hinter seiner Sonnenbrille schien mir ein Loch in die Brust zu bohren. »Hör mal«, sagte er. »Du hast meinen Namen nicht richtig lesen können. Bist du etwa Legastheniker, Knabe?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin tot.«

Charon beugte sich vor und roch an mir. »Du bist nicht tot. Hätt ich mir ja denken können. Du bist ein Götterspross.«

»Wir müssen in die Unterwelt«, drängte ich.

Charon knurrte ganz tief in der Kehle.

Sofort sprangen alle Leute im Foyer auf, liefen aufgeregt hin und her, steckten sich Zigaretten an, fuhren sich mit der Hand durch die Haare, schauten auf ihre Armbanduhren.

»Haut lieber ab, solange es noch geht«, sagte Charon zu uns. »Ich nehme die hier und vergesse, dass ich euch jemals gesehen habe.«

Er wollte nach den Münzen greifen, aber ich schnappte sie ihm vor der Nase weg.

»Kein Service, kein Trinkgeld.« Ich versuchte mutiger zu klingen, als ich mich fühlte.

Wieder knurrte Charon – es war ein tiefer Ton, der mir das Blut gefrieren ließ. Die Geister der Toten fingen an, gegen die Fahrstuhltüren zu hämmern.

»Wirklich schade.« Ich seufzte. »Wir hätten nämlich noch mehr.«

Ich hielt den Beutel hoch, den wir von Crusty mitgenommen hatten. Ich nahm eine Hand voll Drachmen heraus und ließ die Münzen durch meine Finger gleiten.

Charons Knurren klang jetzt eher wie das Schnurren eines Löwen. »Glaubst du, ich wäre käuflich, Götterspross? Äh … nur aus purer Neugier, wie viel hast du da eigentlich?«

»Viel«, sagte ich. »Ich wette, Hades bezahlt Sie nicht gut genug für Ihre harte Arbeit.«

»Ach, du hast ja keine Ahnung. Würde es dir gefallen, Tag für Tag den Babysitter für diese Geister spielen zu müssen? Immer ›Bitte, machen Sie, dass ich nicht tot bin‹ oder ›Bitte, setzen Sie mich gratis über‹. Ich hab seit dreitausend Jahren keine Lohnerhöhung mehr gesehen. Und meinst du vielleicht, solche Anzüge sind billig?«

»Sie hätten etwas Besseres verdient«, sagte ich. »Wertschätzung. Respekt. Gute Bezahlung.«

Bei jedem Wort legte ich eine goldene Münze auf den Tresen.

Charon starrte sein seidenes italienisches Jackett an und schien sich vorzustellen, wie er in einem noch teureren Fummel aussehen würde. »Ich muss schon sagen, Knabe, du klingst doch gar nicht so unvernünftig. Jedenfalls nicht mehr so sehr.«

Ich legte weitere Münzen dazu. »Ich könnte die Lohnerhöhung erwähnen, während ich mich mit Hades unterhalte.«

Er seufzte. »Das Boot ist ohnehin schon fast voll. Ich könnte euch drei dazustecken und losfahren.«

Er erhob sich, sackte unser Geld ein und sagte: »Na dann.«

Wir drängten uns durch die vielen wartenden Geister, die sofort nach unserer Kleidung zu greifen versuchten und Dinge flüsterten, die ich nicht verstehen konnte. Charon schob sie aus dem Weg und knurrte: »Schnorrer.«

Er begleitete uns in den Fahrstuhl, in dem es von toten Seelen schon wimmelte; jede hielt eine grüne Boarding Card in der Hand. Charon schnappte sich zwei Geister, die mit uns hineinschlüpfen wollten, und stieß sie zurück ins Foyer.

»So. Und jetzt keine Dummheiten machen, bis ich zurückkomme«, rief er in die Menge. »Und wenn noch mal irgendwer die Sender an meinem Radio verstellt, dann sorg ich dafür, dass ihr noch tausend Jahre hier warten müsst. Klar?«

Er schloss die Türen, schob eine Schlüsselkarte in einen Schlitz und dann ging es nach unten.

»Was passiert mit den Geistern im Foyer?«, fragte Annabeth.

»Nichts«, sagte Charon.

»Wie lange?«

»Für immer oder bis ich gerade meinen großzügigen Moment habe.«

»Ach«, sagte sie. »Das ist … fair.«

Charon hob eine Augenbraue. »Und wer hat behauptet, der Tod sei fair, junge Dame? Warte ab, bis du an die Reihe kommst. Da, wo du hingehst, wirst du bald genug tot sein.«

»Wir kommen hier lebend wieder raus«, sagte ich.

»Ha.«

Mir wurde plötzlich schwindlig. Es ging jetzt nicht mehr abwärts, sondern vorwärts. Die Luft füllte sich mit Nebel. Die Geister um mich herum veränderten ihr Aussehen. Ihre moderne Kleidung flimmerte und verwandelte sich in graue Kutten mit Kapuzen. Der Boden des Fahrstuhls schwankte.

Ich kniff die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, war Charons italienischer Anzug einem langen schwarzen Umhang gewichen. Die Schildpattbrille war verschwunden. Wo seine Augen hätten sitzen sollen, klafften leere Höhlen – wie bei Ares, nur waren Charons einfach schwarz, erfüllt von Nacht und Tod und Verzweiflung.

Er bemerkte meinen Blick und sagte: »Is’ was?«

»Nichts«, brachte ich heraus.

Ich dachte zuerst, er grinst, aber das tat er nicht. Das Fleisch in seinem Gesicht wurde durchsichtig und ich konnte seine Schädelknochen sehen.

Der Boden schwankte noch immer.

Grover sagte: »Ich glaube, ich werde seekrank.«

Als ich meine Augen das nächste Mal aufmachte, war der Fahrstuhl kein Fahrstuhl mehr. Wir standen in einem hölzernen Kahn. Charon setzte uns mit einer langen Stange über einen düsteren, öligen Fluss, in dem Knochen, tote Fische und allerlei seltsame Gegenstände schwammen – Plastikpuppen, zerdrückte Nelken, triefnasse Diplome mit Goldrand.

»Der Fluss Styx«, murmelte Annabeth. »Der ist ganz schön …«

»Verdreckt«, sagte Charon. »Seit Tausenden von Jahren schmeißt ihr Menschen nun schon alles rein, was ihr gerade zur Hand habt – Hoffnungen, Träume, Wünsche, die sich nie erfüllt haben. Unverantwortliche Müllverwertung, wenn ihr mich fragt.«

Nebel stieg aus dem verdreckten Wasser auf. Über uns in der Dunkelheit hingen Stalaktiten. Das in der Ferne vor uns gelegene Ufer schimmerte in einem grünlichen Licht, in der Farbe von Gift.

Vor Panik war meine Kehle wie zugeschnürt. Was machte ich hier? Diese Leute hier um mich herum … die waren tot!

Annabeth griff nach meiner Hand. Unter normalen Umständen wäre mir das peinlich gewesen, aber ich wusste, wie ihr zu Mute war. Sie brauchte die Sicherheit, dass außer ihr auf diesem Boot noch jemand am Leben war.

Ich ertappte mich dabei, dass ich ein Gebet murmelte, auch wenn ich nicht recht wusste, zu wem ich betete. Hier unten war nur ein Gott wichtig und zu diesem einen war ich unterwegs.

Jetzt sahen wir die Küste der Unterwelt deutlicher. Gezackte Felsen und schwarzer vulkanischer Sand zogen sich an die hundert Meter bis zu einer hohen Mauer, die sich, so weit das Auge reichte, in beide Richtungen ausbreitete, ins Land hinein. Irgendwo in unserer Nähe erklang ein Geräusch in der grünlichen Finsternis und hallte von den Felsen wider – das Geheul eines großen Tieres.

»Das alte Dreigesicht hat Hunger«, sagte Charon. Sein Lächeln sah in dem grünlichen Licht aus wie das eines Skeletts. »Pech für euch, Götterkinder.«

Der Boden unseres Bootes streifte über den schwarzen Sand. Die Toten begannen mit dem Ausstieg. Eine Frau hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Ein alter Mann und eine alte Frau humpelten Arm in Arm davon. Ein Junge, der kaum älter war als ich, schlurfte in seiner grauen Kutte schweigend weiter.

Charon sagte: »Ich wünsch dir Glück, Kumpel, aber so was gibt’s hier unten nicht. Und vergiss nicht, meine Lohnerhöhung zu erwähnen.«

Er zählte unsere goldenen Münzen und steckte sie in seinen Geldbeutel, dann griff er nach seiner Stange. Er trällerte etwas, das sich anhörte wie ein Stück von Barry Manilow, als er den leeren Kahn über den Fluss zurückstakte.

Wir folgten den Geistern einen ausgetretenen Pfad entlang.

Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte – Perlentore oder ein großes schwarzes Fallgitter oder so was. Aber der Eingang zur Unterwelt sah aus wie eine Mischung aus der Sicherheitskontrolle auf einem Flughafen und dem Jersey Turnpike, der Straße, die quer durch den Staat New Jersey führt.

Es gab drei verschiedene Eingänge unter einem riesigen schwarzen Bogen mit der Aufschrift HIERMIT BETRETEN SIE EREBOS. In jedem Eingang gab es einen Metalldetektor und Sicherheitskameras. Dahinter standen Zollhäuschen, die mit Geistern in schwarzen Gewändern wie Charons besetzt waren.

Das Geheul des hungrigen Tieres war jetzt richtig laut, aber ich konnte nicht feststellen, woher es kam. Der dreiköpfige Hund, Zerberus, der Hades’ Tor hütete, ließ sich nicht sehen.

Die Toten stellten sich vor den drei Eingängen auf; über zwei Türen hing ein Schild mit der Aufschrift SCHALTER BESETZT, über der dritten stand DIREKTER TOD. Die Schlange vor diesem Durchgang bewegte sich rasch vorwärts, bei den anderen ging es im Schneckentempo weiter.

»Was meinst du?«, fragte ich Annabeth.

»Die rasche Schlange geht sicher direkt in den Asphodeliengrund«, sagte sie. »Keine Prüfung. Sie wollen kein Gerichtsurteil riskieren, weil es zu ihrem Nachteil ausfallen könnte.«

»Es gibt ein Gericht für Tote?«

»Ja. Drei Richter. Die arbeiten im Rotationsverfahren. König Minos, Thomas Jefferson, Shakespeare – solche Leute. Manchmal sehen sie sich ein Leben an und beschließen, dass dieser Mensch eine besondere Belohnung verdient hat – die Elysischen Felder. Manchmal legen sie eine Bestrafung fest. Aber die meisten Menschen, na ja, die haben einfach nur gelebt. Da gibt’s nichts Besonderes, weder Gutes noch Böses. Und deshalb landen sie im Asphodeliengrund.«

»Und was machen sie da?«

Grover sagte: »Stell dir vor, du stehst in Kansas in einem Kornfeld. Für immer.«

»Bitter«, sagte ich.

»Nicht so bitter wie das da«, murmelte Grover. »Sieh dir das an.«

Einige schwarz gewandete Gestalten hatten einen Geist aus der Schlange gefischt und durchsuchten ihn jetzt am Sicherheitsschalter. Das Gesicht des Toten kam mir irgendwie bekannt vor.

»Das ist der Prediger, der neulich in den Nachrichten war, weißt du noch?«, fragte Grover.

»O ja.« Jetzt konnte ich mich an ihn erinnern. Wir hatten ihn im Schlafsaal der Yancy Academy einige Male im Fernsehen gesehen. Er war ein nerviger Fernsehprediger aus New York, der Millionen von Dollars für Waisenhäuser gesammelt hatte und dann dabei erwischt worden war, dass er sich für dieses Geld einen Landsitz eingerichtet hatte, mit goldenen Toilettensitzen und einer Hallengolfanlage. Er war bei der Verfolgung durch die Polizei ums Leben gekommen, als sein »Lamborghini für den Herrn« von einem Felsen gestürzt war.

Ich fragte: »Und was machen sie mit ihm?«

»Sonderstrafe von Hades«, tippte Grover. »Die wirklich schlechten Menschen nimmt er sich persönlich vor, sowie sie hier eintreffen. Die Fu… die Wohlgesinnten werden sich eine ewige Folter für ihn ausdenken.«

Bei der Erwähnung der Furien bekam ich eine Gänsehaut. Mir ging auf, dass ich mich jetzt auf ihrem Territorium aufhielt. Die alte Mrs Dodds leckte sich sicher schon erwartungsvoll die Lippen.

»Aber wenn er ein Prediger ist«, sagte ich. »Und wenn er an eine andere Hölle glaubt …«

Grover zuckte mit den Schultern. »Wir wissen doch nicht, ob er alles hier so sieht, wie wir es sehen. Menschen sehen, was sie sehen wollen. Ihr seid überaus stur in dieser Hinsicht – ich meine, hartnäckig.«

Wir näherten uns den Toren. Das Geheul des Hundes war jetzt so laut, dass es den Boden unter meinen Füßen beben ließ, aber ich konnte immer noch nicht feststellen, woher es kam.

Dann, ungefähr fünfzig Meter von uns entfernt, leuchtete der grüne Nebel auf. Und genau an der Stelle, wo der Weg sich dreiteilte, stand ein riesiges schattenhaftes Ungeheuer.

Ich hatte es bisher nicht gesehen, weil es ziemlich durchscheinend war, wie die Toten. Solange es sich nicht bewegte, verschmolz es mit seinem Hintergrund. Nur seine Augen und Zähne machten einen handfesten Eindruck. Und jetzt starrte es mir ins Gesicht.

Mir klappte das Kinn herunter. Ich brachte nur einen Satz heraus: »Das ist ja ein Rottweiler.«

Ich hatte mir Zerberus immer als großen schwarzen Mastiff vorgestellt. Aber er war offenbar ein reinrassiger Rottweiler, abgesehen natürlich davon, dass er ungefähr doppelt so groß war wie ein zottiges Mammut, dass er mehr oder weniger unsichtbar war und dass er drei Köpfe hatte.

Die Toten gingen direkt auf ihn zu – ohne jede Spur von Angst. Die SCHALTER BESETZT-Schlangen teilten sich vor ihm. Die DIREKTER TOD-Leute liefen zwischen seinen Vorderpfoten und unter seinem Bauch durch und dabei brauchten sie nicht einmal die Köpfe einzuziehen.

»Ich kann ihn jetzt besser sehen«, murmelte ich. »Woran liegt das?«

»Ich glaube …« Annabeth schluckte. »Ich fürchte, das liegt daran, dass wir uns dem Totsein nähern.«

Der mittlere Kopf des Hundes wandte sich uns zu. Er schnüffelte in der Luft herum und knurrte.

»Er kann alles riechen, was lebt«, sagte ich.

»Aber das macht doch nichts«, sagte Grover, der zitternd neben mir stand. »Wir haben ja einen Plan.«

»Richtig«, sagte Annabeth. Ich hatte ihre Stimme noch nie so kleinlaut gehört. »Einen Plan.«

Wir gingen auf das Ungeheuer zu.

Der mittlere Kopf knurrte uns an, dann bellte er so laut, dass seine Augäpfel klirrten.

»Kannst du ihn verstehen?«, fragte ich Grover.

»Aber sicher«, sagte er. »Ich kann ihn verstehen.«

»Was sagt er?«

»Ich glaube nicht, dass die Menschen einen Fluch haben, der das alles ausdrücken kann.«

Ich zog den Knüppel aus meinem Rucksack – einen Bettpfosten, den ich von Crustys Safari-de-luxe-Modell abgebrochen hatte. Ich hielt ihn hoch und versuchte, glückliche Hundegedanken auf Zerberus einströmen zu lassen – Hundefutterreklame, niedliche Hundebabys, Hydranten. Ich versuchte zu lächeln, als ob ich nicht gleich sterben müsste.

»Hallo, Bello«, rief ich nach oben. »Mit dir wird bestimmt nicht viel gespielt.«

»GRRRRRRWWWWWLLLL!«

»Braver Junge«, sagte ich matt.

Ich schwenkte meinen Knüppel. Der mittlere Hundekopf folgte der Bewegung. Die anderen beiden wandten sich mir zu und hatten kein Auge mehr für die Toten. Ich besaß Zerberus’ ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich wusste nicht recht, ob das ein Vorteil war.

»Hol das Stöckchen!« Ich warf den Knüppel in die Finsternis, ein richtig guter Wurf. Ich hörte, wie er klatschend im Styx landete.

Zerberus glotzte mich ununterbrochen an. Seine Augen waren tückisch und kalt.

Damit war unser Plan gelaufen.

Zerberus knurrte jetzt anders, tiefer und kehliger.

»Ähem«, sagte Grover. »Percy?«

»Ja?«

»Ich dachte nur, das könnte dich interessieren.«

»Ja?«

»Zerberus … er sagt, dass wir zehn Sekunden haben, um zum Gott unserer Wahl zu beten. Danach … na ja … er hat Hunger.«

»Warte!«, sagte Annabeth und fing an, in ihrem Rucksack zu wühlen.

Oha, dachte ich.

»Fünf Sekunden«, sagte Grover. »Rennen wir jetzt los?«

Annabeth zog einen roten Gummiball von der Größe einer Pampelmuse heraus. Darauf stand WATERLAND DENVER. Ehe ich sie daran hindern konnte, hob sie den Ball hoch und ging auf Zerberus zu.

Sie brüllte: »Siehst du den Ball? Willst du den Ball, Zerberus? Sitz!«

Zerberus sah genauso verblüfft aus wie wir.

Seine drei Köpfe flogen zur Seite. Sechs Nasenlöcher blähten sich.

»Sitz!«, rief Annabeth noch einmal.

Ich war sicher, dass sie sich jeden Augenblick in den größten Hundekeks aller Zeiten verwandeln würde.

Aber stattdessen leckte Zerberus sich seine drei Mäuler, bewegte seinen Hinterleib und setzte sich, wobei er ein Dutzend Geister zerquetschte, die gerade unter ihm durchgehen wollten. Die Geister zischten, als sie sich auflösten, wie Reifen, aus denen die Luft entweicht.

Annabeth sagte: »Braves Hündchen.«

Sie warf Zerberus den Ball zu.

Der fing ihn mit seinem mittleren Maul. Der Ball war kaum groß genug, dass er darauf herumkauen konnte, und die anderen Köpfe schnappten danach und wollten das neue Spielzeug an sich bringen.

»Fallen lassen!«, befahl Annabeth.

Zerberus’ Köpfe hielten inne und schauten sie an. Der Ball steckte zwischen zweien seiner Zähne wie ein Stück Kaugummi. Er jaulte laut und beängstigend, dann ließ er den schleimigen, zerbissenen Ball vor Annabeths Füße fallen.

»Braves Hündchen.« Sie hob den Ball hoch und achtete nicht auf die Monsterspucke, die daran klebte.

Sie drehte sich zu uns um. »Los jetzt. Die DIREKTER TOD-Schlange, das geht schneller.«

Ich sagte: »Aber …«

»Jetzt«, befahl sie im selben Tonfall, in dem sie mit dem Hund sprach.

Grover und ich schlichen vorsichtig weiter.

Zerberus fing an zu knurren.

»Hiergeblieben«, befahl Annabeth. »Wenn du den Ball willst, dann bleibst du hier.«

Zerberus fiepte, blieb aber sitzen.

»Was ist mit dir?«, fragte ich Annabeth, als wir an ihr vorübergingen.

»Ich weiß, was ich tue, Percy«, murmelte sie. »Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher.«

Grover und ich gingen unter den Beinen des Ungeheuers hindurch.

Bitte, Annabeth, flehte ich in Gedanken. Mach, dass er sich nicht wieder setzt.

Wir schafften es. Von hinten sah Zerberus nicht weniger beängstigend aus.

Annabeth sagte: »Braves Hündchen.«

Sie hob den zerbissenen roten Ball hoch und kam vermutlich zum selben Schluss wie ich – wenn sie Zerberus jetzt seine Belohnung gäbe, dann hätte sie nichts mehr in der Hand.

Sie warf den Ball trotzdem. Das linke Maul des Ungeheuers fing ihn auf, wurde aber sofort vom mittleren Kopf angegriffen, während der rechte wütend knurrte.

Während das Monster abgelenkt war, lief Annabeth unter seinem Bauch hindurch und holte uns vor dem Metalldetektor ein.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich sie überrascht.

»Hundekurs«, sagte sie atemlos und zu meiner Überraschung sah ich Tränen in ihren Augen. »Als ich klein war und bei meinem Dad gewohnt habe, hatten wir einen Dobermann …«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Grover und zupfte an meinem Hemd. »Los jetzt.«

Wir wollten schon die DIREKTER TOD-Sperre durchqueren, als Zerberus aus allen drei Mäulern jammervoll losheulte. Annabeth blieb stehen.

Sie fuhr herum und sah den Hund an, der sich umgedreht hatte, um uns zu suchen.

Zerberus keuchte erwartungsvoll, der rote Ball lag zerfetzt in einer Speichelpfütze zu seinen Füßen.

»Braves Hündchen«, sagte Annabeth, aber ihre Stimme klang traurig und unsicher.

Die Köpfe des Ungeheuers drehten sich zur Seite, als sei es ihretwegen besorgt.

»Ich bring dir bald einen neuen Ball«, versprach Annabeth mit schwacher Stimme. »Das möchtest du doch, oder?«

Das Monster fiepte. Ich brauchte die Hundesprache nicht zu verstehen, um zu begreifen, dass Zerberus auf den Ball wartete.

»Braves Hündchen. Ich komm bald wieder. Ver… versprochen.« Annabeth wandte sich zu uns um. »Los jetzt.«

Grover und ich liefen durch den Metalldetektor, der sofort losheulte und rote Lampen aufleuchten ließ. »Unerlaubte Gegenstände. Magie-Meldung.«

Zerberus fing an zu bellen.

Wir brachen durch das DIREKTER TOD-Tor, was noch mehr Alarmglocken losschrillen ließ, und rannten in die Unterwelt.

Einige Minuten später versteckten wir uns atemlos im verfaulten Stamm eines riesigen schwarzen Baumes, während Sicherheitsgeister vorüberjagten und nach Verstärkung durch die Furien schrien.

Grover murmelte: »Na, Percy, was haben wir heute gelernt?«

»Dass dreiköpfige Hunde lieber mit Gummibällen spielen als mit Stöckchen?«

»Nein«, sagte Grover. »Wir haben gelernt, wie leicht deine Pläne ins Wasser fallen.«

Ich war mir nicht so sicher. Ich dachte, dass Annabeth und ich vielleicht beide auf die richtige Idee gekommen waren. Sogar hier in der Unterwelt brauchten alle – selbst die Ungeheuer – ab und zu ein wenig Zuwendung.

Ich dachte weiter darüber nach, während wir warteten, bis die Luft rein war. Ich gab vor, nicht zu sehen, wie Annabeth sich eine Träne von der Wange wischte, als sie aus der Ferne Zerberus’ jammernden Klagegesang hörte, mit dem er nach seiner neuen Freundin rief.


Wir finden die Wahrheit, irgendwie

Stellt euch das größte Konzertpublikum vor, das ihr je gesehen habt, oder ein Fußballstadion, in dem sich eine Million Fans drängen.

Und jetzt stellt euch ein Feld vor, das eine Million Mal so groß ist und auf dem Menschen dicht an dicht stehen, und dann stellt euch vor, dass der Strom ausfällt, dass es kein Geräusch gibt, kein Feuerzeug, keinen Gummiball, der über der Menge herumhüpft. Hinter der Bühne ist irgendetwas Schreckliches passiert. Flüsternde Menschenmassen stehen im Dunkeln herum und warten auf ein Konzert, das niemals beginnen wird.

Wenn ihr euch das vorstellen könnt, dann habt ihr schon mal einen ziemlich guten Eindruck vom Asphodeliengrund. Das schwarze Gras war über Äonen platt getrampelt worden. Ein warmer, feuchter Wind wehte, wie über einem Sumpfgelände. In kleinen Gruppen wuchsen hier und da schwarze Bäume – Grover sagte, es handele sich um Pappeln.

Die Decke der Höhle war so hoch über uns, dass wir sie für zusammengeballte Sturmwolken hätten halten können, wenn da nicht die Stalaktiten gewesen wären, die in dumpfem Grau leuchteten und gefährlich spitz aussahen. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass sie uns jeden Moment auf den Kopf fallen könnten, aber es lagen überall Stalaktiten, die heruntergefallen waren und sich in das schwarze Gras gebohrt hatten. Ich ging davon aus, dass es den Toten im Grunde egal sein konnte, ob sie auch noch von Stalaktiten in der Größe von Abwehrraketen zerschmettert wurden.

Annabeth, Grover und ich versuchten mit der Menge zu verschmelzen und hielten dabei Ausschau nach den Sicherheitsmonstern. Ich musste einfach unter den Geistern von Asphodel nach bekannten Gesichtern suchen, aber es ist schwer, die Toten anzusehen. Ihre Gesichter schimmern. Alle wirken wütend oder verwirrt. Sie kommen auf einen zu und reden, aber ihre Stimmen klingen wie wirres Geplapper, wie das Zwitschern von Fledermäusen. Wenn sie dann begriffen haben, dass man sie nicht verstehen kann, runzeln sie die Stirn und wenden sich ab.

Die Toten sind nicht unheimlich. Sie sind einfach nur traurig.

Wir kamen langsam voran und folgten der Schlange der Neuankömmlinge, die sich vom Haupteingang zu einem schwarzen zeltähnlichen Pavillon hinzog, vor dem ein Transparent verkündete:

URTEILE FÜR ELYSIUM UND EWIGE VERDAMMNIS

Willkommen, frisch Verstorbene!

Zwei viel kürzere Schlangen verließen den Pavillon auf seiner Rückseite.

Auf der linken Seite wurden die Geister von Sicherheitsmonstern einen felsigen Pfad hinunter zu den Feldern der Bestrafung getrieben, die in der Ferne glühten und rauchten; es war eine riesige, zerklüftete Wüste mit Flüssen aus Lava und Minenfeldern und Kilometern von Stacheldraht, der die unterschiedlichen Folterbereiche voneinander trennte. Noch aus der Ferne konnte ich erkennen, wie Leute von Höllenhunden gejagt, auf Scheiterhaufen verbrannt, nackt durch Kaktuspflanzungen getrieben oder dazu gezwungen wurden, sich Opern anzuhören. Ich konnte sogar einen winzigen Hügel erkennen, vor dem ein ameisengroßer Sisyphos sich damit abmühte, seinen Felsblock nach oben zu rollen. Und ich sah noch schlimmere Foltern – Dinge, die ich einfach nicht beschreiben will.

Die Leute, die aus dem rechten Ausgang des Gerichtspavillons kamen, waren viel besser dran. Sie wurden zu einem kleinen, ummauerten Tal geführt – einem umzäunten Wohnbereich, bei dem es sich um den einzigen glücklichen Teil der Unterwelt zu handeln schien. Hinter dem Sicherheitstor lagen Wohnviertel mit wunderschönen Häusern aus jeder geschichtlichen Periode, römische Villen, mittelalterliche Burgen und viktorianische Herrensitze. Silberne und goldene Blumen blühten auf den Rasenflächen. Das Gras wogte in allen Farben des Regenbogens. Ich konnte Gelächter hören und Barbecues riechen.

Das Elysium.

In der Mitte des Tales funkelte ein blauer See mit drei kleinen Inseln, die aussahen wie Ferienorte auf den Bahamas. Die Inseln der Seligen, reserviert für diejenigen, die sich für eine dreimalige Wiedergeburt entschieden und es jedes Mal ins Elysium geschafft hatten. Sofort wusste ich, wohin ich nach meinem Tod gelangen wollte.

»Darum geht es doch überhaupt nur«, sagte Annabeth, die meine Gedanken gelesen zu haben schien. »Das ist der richtige Aufenthaltsort für Heldinnen oder Helden.«

Aber ich dachte daran, wie wenige Menschen es im Elysium gab, wie winzig es im Vergleich zu dem Asphodeliengrund oder der Strafabteilung war. So wenige Menschen taten Gutes in ihrem Leben. Es war deprimierend.

Wir verließen den Gerichtspavillon und gingen weiter in den Asphodeliengrund hinein. Es wurde dunkler. Die Farben unserer Kleidung verblassten. Die Gruppen wispernder Geister wurden kleiner.

Nach einigen Kilometern hörten wir in der Ferne ein vertrautes Kreischen. Am Horizont ragte ein Palast aus funkelndem schwarzem Obsidian auf. Über der Brüstung kreisten drei dunkle fledermausartige Figuren: die Furien. Ich hatte das Gefühl, dass sie auf uns warteten.

»Ich nehme an, es ist zu spät zum Umkehren«, sagte Grover sehnsüchtig.

»Wir schaffen das schon.« Ich versuchte, mich zuversichtlich anzuhören.

»Vielleicht sollten wir uns erst woanders umsehen«, schlug Grover vor. »Zum Beispiel im Elysium …«

»Komm schon, Ziegenknabe.« Annabeth packte ihn am Arm.

Grover jammerte. Seine Turnschuhe bekamen Flügel und seine Beine schossen vorwärts und zogen ihn von Annabeth weg. Schließlich fiel er rücklings ins Gras.

»Grover«, tadelte Annabeth. »Jux hier nicht rum.«

»Aber ich hab doch gar nicht …«

Er schrie auf. Seine Schuhe flatterten jetzt wie verrückt. Sie hoben vom Boden ab und zogen ihn von uns fort.

»Maia«, schrie er, aber dieses Zauberwort schien hier keine Wirkung zu haben. »Maia noch mal! 110! Hilfe!«

Ich überwand meine Verblüffung und wollte Grovers Hand packen, kam aber zu spät. Er wurde immer schneller und rutschte den Hang hinunter wie ein Schlitten.

Wir rannten hinterher.

Annabeth brüllte: »Zieh dir die Schuhe aus!«

Das war eine gute Idee, aber vermutlich nicht ganz leicht, wenn die Schuhe einen im Affenzahn mit den Füßen nach vorn durch die Luft jagen lassen. Grover versuchte sich aufzusetzen, kam aber nicht an die Schnürsenkel heran.

Wir rannten weiter hinter ihm her und versuchten, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, während er im Zickzack durch die Beine der Geister flog, die ihm aufgebracht nachzischelten.

Ich war sicher, dass Grover durch die Tore in Hades’ Palast hineinbrettern würde, aber plötzlich bogen seine Schuhe scharf nach rechts ab und zogen ihn in die Gegenrichtung.

Der Hang wurde steiler. Grover wurde schneller. Annabeth und ich mussten ziemlich die Beine in die Hand nehmen, um mit ihm Schritt zu halten. Die Wände der Höhle kamen auf beiden Seiten näher und mir ging auf, dass wir eine Art Tunnel erreicht hatten. Kein schwarzes Gras und keine Bäume waren mehr zu sehen, es gab nur Felsboden unter uns und den trüben Schimmer der Stalaktiten über uns.

»Grover!«, schrie ich und meine Stimme hallte wider. »Halt dich irgendwo fest!«

»Was?«, schrie er zurück.

Er kratzte über die Steine, aber nichts war groß genug, um ihn aufzuhalten.

Der Tunnel wurde dunkler und kälter. Die Haare auf meinen Armen sträubten sich. Hier unten stank es entsetzlich. Ich musste dabei an Dinge denken, von denen ich eigentlich keine Ahnung haben dürfte – an Blut, das auf einem uralten Steinaltar vergossen wurde, an den stinkenden Atem eines Mörders.

Dann sah ich, was vor uns lag, und fuhr zurück.

Der Tunnel weitete sich zu einer neuen, riesigen Höhle, in deren Mitte ein Abgrund von der Größe eines Wohnblocks klaffte.

Und Grover hielt auf den Abgrund zu.

»Los, Percy«, schrie Annabeth und zerrte an meinem Handgelenk.

»Aber das ist …«

»Ich weiß«, brüllte sie. »Das hast du in deinem Traum gesehen. Aber Grover wird hineinstürzen, wenn wir ihn nicht erwischen.« Sie hatte natürlich Recht. Grovers Notlage setzte mich wieder in Bewegung.

Er schrie, kratzte über den Boden, aber die geflügelten Schuhe zogen ihn auf den Abgrund zu, und es kam uns unmöglich vor, ihn noch rechtzeitig zu erreichen.

Was ihn schließlich rettete, waren die Schuhe.

Die fliegenden Turnschuhe waren ihm immer ein wenig zu weit gewesen, und endlich schlitterte Grover gegen einen hohen Felsen und der linke Schuh flog ihm vom Fuß. Er jagte in die Dunkelheit hinab und verschwand im Abgrund. Der rechte Schuh zog Grover zwar weiter, aber nicht mehr so stark. Grover konnte sich an den Felsen klammern und ihn als Anker nutzen.

Er war wenig mehr als drei Meter vom Abgrund entfernt, als wir ihn packen konnten und den Hang wieder hochzogen. Der zweite geflügelte Schuh löste sich von selbst, umkreiste uns wütend und trat uns empört vor den Kopf, ehe er zu seinem Zwillingsbruder in den Abgrund flog.

Wir ließen uns erschöpft auf den Obsidiankies fallen. Meine Glieder kamen mir bleischwer vor. Sogar mein Rucksack schien schwerer geworden zu sein, als habe ihn irgendwer mit Steinen gefüllt.

Grover war ziemlich übel zerschrammt. Seine Hände bluteten. Seine Augen hatten jetzt ziegenhafte Strichpupillen, wie immer, wenn er schreckliche Angst hatte.

»Ich weiß nicht, wie …«, keuchte er. »Ich hab doch nicht …«

»Warte«, sagte ich. »Hört mal.«

Ich hörte etwas – ein tiefes Flüstern in der Finsternis.

Nach einigen Sekunden sagte Annabeth: »Percy, das hier …«

»Pst!« Ich sprang auf.

Das Geräusch wurde jetzt lauter, eine murmelnde, böse Stimme, die von tief, tief unter uns kam. Aus dem Abgrund.

Grover setzte sich auf. »W-was ist das für ein Geräusch?«

Annabeth hörte es jetzt auch. Das konnte ich ihren Augen ansehen. »Tartarus. Der Eingang zum Tartarus.«

Ich drehte die Kappe von Anaklysmos.

Das Bronzeschwert dehnte sich aus, es schimmerte in der Dunkelheit und die böse Stimme schien zu zögern, nur für einen Moment, dann nahm sie ihren Singsang wieder auf.

Ich konnte die einzelnen Wörter jetzt fast verstehen, es waren alte, uralte Wörter, älter noch als Griechisch. Als ob …

»Zauber«, sagte ich.

»Wir müssen weg hier«, sagte Annabeth.

Mit vereinten Kräften zogen wir Grover auf die Hufe und stiegen den Tunnel wieder hoch. Meine Beine wollten sich nicht schnell genug bewegen. Mein Rucksack behinderte mich. Die Stimme hinter uns wurde lauter und zorniger und wir rannten los.

Keinen Moment zu früh.

Ein kalter Windstoß riss an uns, die ganze Grube schien Atem zu holen. Für einen entsetzlichen Moment verlor ich den festen Boden unter den Füßen, meine Schuhe rutschten im Kies ab. Wenn wir auch nur ein wenig näher am Rand gewesen wären, wären wir in den Abgrund gesaugt worden.

Wir mühten uns weiter vorwärts und am Ende erreichten wir den Ausgang des Tunnels, wo der Gang sich zum Asphodeliengrund erweiterte. Der Wind legte sich. Wütendes Geheul erhob sich aus der Tiefe des Tunnels. Irgendetwas war kein bisschen entzückt darüber, dass wir entkommen waren.

»Was kann das nur gewesen sein?«, keuchte Grover, als wir uns in der relativen Sicherheit eines Pappelwäldchens auf den Boden geworfen hatten. »Ein Schmusetier von Hades?«

Annabeth und ich wechselten einen Blick. Ich sah ihr an, dass sie eine Ahnung hatte, vermutlich die, die ihr schon auf der Taxifahrt nach L. A. gekommen war, aber sie hatte zu große Angst, darüber zu sprechen. Und das allein hätte mich fast in Panik versetzt.

Ich drehte die Kappe auf mein Schwert und schob den Kugelschreiber wieder in die Tasche. »Weiter jetzt.« Ich sah Grover an. »Kannst du gehen?«

Er schluckte. »Ja, sicher. Und diese Schuhe konnte ich eigentlich noch nie leiden.«

Er versuchte sich mutig anzuhören, aber er zitterte ebenso sehr wie Annabeth und ich. Was immer da unten in der Grube gesessen hatte, ein Schmusetier war das nicht. Es war unaussprechlich alt und mächtig. Nicht einmal Echidna hatte mir dieses Gefühl gegeben. Ich war fast erleichtert, als ich dem Tunnel den Rücken zukehren und zum Palast des Hades weiterwandern konnte.

Fast.

Die Furien kreisten über der Brüstung, hoch oben im Zwielicht. Die äußeren Festungswände glitzerten schwarz und die sechs Meter hohen Bronzetore standen weit offen.

Aus der Nähe sah ich, dass in die Tore Todesszenen eingraviert waren. Einige stammten aus moderner Zeit – eine Atombombe explodierte über einer Stadt, in einem Schützengraben kauerten Soldaten mit Gasmasken, eine lange Schlange von Opfern einer Hungersnot in Afrika wartete mit leeren Schalen –, aber alle sahen aus, als seien sie schon vor Jahrtausenden in Bronze geritzt worden. Ich hätte gern gewusst, ob ich hier Weissagungen sah, die sich bewahrheitet hatten.

Auf dem Innenhof gab es den seltsamsten Garten, den ich je gesehen hatte: Pilze in vielen Farben, giftige Sträucher und seltsame, leuchtende Pflanzen, die alle ohne Sonnenlicht heranwuchsen. Statt Blumen gab es hier kostbare Juwelen, Rubinhaufen, groß wie meine Faust, Klumpen von Rohdiamanten. Überall verteilt, wie erstarrte Festgäste, standen die Statuen der Medusa, versteinerte Kinder, Satyrn und Zentauren, alle mit groteskem Lächeln.

Mitten im Garten sahen wir eine Gruppe von Granatapfelbäumen, ihre orangefarbenen Blüten wirkten in der Dunkelheit neongrell. »Der Garten der Persephone«, sagte Annabeth. »Geht weiter.«

Ich begriff, warum sie nicht stehen bleiben wollte. Der würzige Duft der Granatäpfel war einfach überwältigend. Mich überkam das plötzliche Verlangen, sie zu essen, aber dann fiel mir Persephones Geschichte ein. Ein Bissen unterirdische Kost und wir würden hier niemals wieder wegkommen. Ich zog Grover mit mir, damit er sich keine dicke, saftige Frucht pflücken konnte.

Wir stiegen die Treppe zum Palast hoch, gesäumt von schwarzen Säulen, und traten durch einen schwarzen Marmortorbogen in das Haus des Hades. Die Eingangshalle hatte einen polierten Bronzeboden, der im Licht der Fackeln zu brodeln schien. Es gab keine Decke, nur hoch über uns das Dach der Höhle. Ich nahm an, dass sie sich hier unten wegen Regen keine Sorgen zu machen brauchten.

Auf jeder Seite des Torbogens standen Skelette in Militäruniform. Einige trugen griechische Rüstungen, andere britische Rotröcke, wieder andere Tarnanzüge und zerfetzte US-Flaggen auf den Schultern. Sie hielten Speere, Musketen und Maschinengewehre in der Hand. Keiner machte sich die Mühe, uns aufzuhalten, aber ihre leeren Augenhöhlen folgten uns, als wir durch die Halle gingen, auf die riesigen Türen auf der anderen Seite zu.

Zwei Skelette von den U. S. Marines, bewaffnet mit Granatwerfern mit Raketenantrieb, bewachten die Türen. Sie grinsten auf uns herab.

»Wisst ihr was?«, murmelte Grover. »Ich wette, Hades hat nie Ärger mit Staubsaugervertretern.«

Mein Rucksack schien jetzt eine Tonne zu wiegen. Ich begriff einfach nicht, wieso. Ich hätte ihn gern aufgemacht, um nachzusehen, ob ich irgendwie eine verirrte Bowlingkugel aufgelesen hatte, aber dafür war jetzt nicht der richtige Moment.

»Na los, Leute«, sagte ich. »Wir sollten vielleicht … anklopfen?«

Ein heißer Wind fegte durch den Gang und die Türen öffneten sich. Die Wächter traten beiseite.

»Ich nehme an, das bedeutet, immer hereinspaziert«, sagte Annabeth.

Der Saal hinter der Tür sah aus wie in meinem Traum, nur war Hades’ Thron diesmal besetzt.

Er war der dritte Gott, dem ich begegnete, aber der erste, der mir wirklich göttlich vorkam.

Er war mindestens drei Meter groß und trug schwarze Seidengewänder und eine Krone aus geflochtenem Gold. Seine Haut war albinohaft weiß, sein Haar schulterlang und rabenschwarz. Er war kein Muskelprotz wie Ares, strahlte aber Macht aus. Er saß auf seinem Thron aus Menschenknochen und sah geschmeidig, elegant und gefährlich aus, wie ein Panther.

Ich hatte sofort das Gefühl, dass er hier die Befehle erteilen müsste. Er wusste mehr als ich. Er müsste mein Herr sein. Dann riss ich mich zusammen.

Hades’ Aura schlug mich in den Bann wie schon die von Ares. Der Herr des Todes hatte Ähnlichkeit mit Bildern, die ich von Adolf Hitler oder Napoleon gesehen hatte oder von Terroristenführern, die Selbstmordbomber losschickten. Hades hatte den gleichen intensiven Blick, die gleiche Art von hypnotischem, bösem Charisma.

»Es ist wirklich mutig von dir herzukommen, Sohn des Poseidon«, sagte er mit salbungsvoller Stimme. »Nach allem, was du mir angetan hast, ist das sogar sehr, sehr tapfer. Aber vielleicht bist du ja auch nur sehr töricht.«

Meine Glieder fühlten sich taub an und ich hätte mich gern hingelegt, um zu Hades’ Füßen ein Nickerchen zu machen. Mich hier zusammengerollt, um für immer zu schlafen.

Ich kämpfte gegen dieses Gefühl an und trat vor. Ich wusste, was ich sagen musste: »Mein Herr und Onkel, ich komme mit zwei Bitten.«

Hades hob eine Augenbraue. Als er sich auf seinem Thron vorbeugte, tauchten in den Falten seines schwarzen Gewandes schattenhafte Gesichter auf, gequälte Gesichter, als sei das Gewand mit gefangenen Seelen von den Feldern der Bestrafung bestickt, die nach einem Fluchtweg suchten. Der ADHD-Teil in mir fragte sich so ganz nebenbei, ob seine restliche Kleidung wohl auch so aussah. Welche entsetzlichen Taten musste man in seinem Leben wohl begehen, um in die Unterwäsche von Hades eingewebt zu werden?

»Nur zwei Bitten?«, fragte Hades. »Arrogantes Kind. Als ob du nicht schon genug genommen hättest. Aber sprich nur. Es amüsiert mich, dich nicht sofort totzuschlagen.«

Ich schluckte. Die Sache lief ungefähr so glatt, wie ich das befürchtet hatte.

Ich warf einen Blick auf den leeren, kleineren Thron neben dem des Hades. Er war geformt wie eine schwarze Blume und mit Gold überzogen. Ich wünschte, Königin Persephone wäre da gewesen. Ich wusste aus den Sagen noch vage, dass sie die Launen ihres Gatten besänftigen konnte. Aber es war Sommer. Und Persephone weilte jetzt natürlich oben in der Welt des Lichtes bei ihrer Mutter, der Erdgöttin Demeter. Ihre Besuche ließen die Jahreszeiten entstehen, nicht die Drehungen der Erde.

Annabeth räusperte sich. Ihre Finger bohrten sich in meinen Rücken.

»Hoher Herr Hades«, sagte ich. »Seht mal, Sir, unter den Göttern darf es keinen Krieg geben. Das wäre … nicht gut.«

»Überhaupt nicht gut«, fügte Grover hilfsbereit hinzu.

»Gebt mir den Herrscherblitz des Zeus zurück«, sagte ich. »Bitte, Sir. Lasst ihn mich zum Olymp bringen.«

Hades’ Augen wurden gefährlich hell. »Du wagst es, diese Lüge aufrechtzuerhalten, nach allem, was du getan hast?«

Ich schaute mich zu meinen Freunden um. Sie wirkten ebenso verwirrt wie ich.

»Äh, Herr Onkel«, sagte ich. »Ihr redet immer wieder von dem, ›was ich getan habe‹. Aber was habe ich denn nun eigentlich getan?«

Der Thronsaal bebte dermaßen, dass es vermutlich noch oben in Los Angeles zu spüren war. Splitter fielen von der Höhlendecke. Überall an den Wänden sprangen Türen auf und Kriegerskelette marschierten herein, Hunderte von ihnen, aus allen Zeiten und Nationen der abendländischen Zivilisation. Sie stellten sich an den Wänden des Saales auf und versperrten die Ausgänge.

Hades brüllte: »Glaubst du vielleicht, ich will einen Krieg, Göttersohn?«

Ich hätte gern gesagt: Na ja, diese Typen sehen nicht gerade aus wie Friedensaktivisten. Aber ich dachte, diese Bemerkung würde sicher nicht auf fruchtbaren Boden fallen.

»Ihr seid der Herr des Todes«, sagte ich vorsichtig. »Ein Krieg würde Euer Königreich doch vergrößern, nicht wahr?«

»Typisch für meine Brüder, so was zu sagen. Meinst du vielleicht, ich brauche noch mehr Untertanen? Hast du das Gewühl draußen im Asphodeliengrund gesehen?«

»Na ja …«

»Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie sehr mein Königreich allein im vergangenen Jahrhundert gewachsen ist, wie viele Unterabteilungen ich eröffnen musste?«

Ich machte den Mund auf, um zu antworten, aber Hades hatte sich jetzt in Rage geredet.

»Noch mehr Wachmonster«, stöhnte er. »Verkehrsprobleme am Gerichtspavillon. Doppelte Überstunden für die Angestellten. Früher einmal war ich ein reicher Gott, Percy Jackson. Ich kontrolliere alles Edelmetall unter der Erdoberfläche. Aber was das kostet!«

»Charon wünscht sich eine Lohnerhöhung«, rutschte es mir heraus, es war mir eben gerade eingefallen. Aber kaum hatte ich es gesagt, da hätte ich mir die Zunge abbeißen können.

»Komm mir hier bloß nicht mit Charon«, schrie Hades. »Der ist einfach unmöglich, seit er italienische Anzüge entdeckt hat. Nichts als Probleme und um alles muss ich mich selber kümmern. Allein die Zeit, die ich brauche, um vom Palast zu den Toren zu kommen, treibt mich in den Wahnsinn. Und es kommen einfach immer neue Tote. Nein, Götterspross. Ich brauche wahrlich keine neuen Untertanen. Ich habe nicht um diesen Krieg gebeten.«

»Aber Ihr habt den Herrscherblitz des Zeus gestohlen!«

»Gelogen!« Noch mehr Beben. Hades erhob sich von seinem Thron und ragte auf wie ein Torpfosten beim Football. »Dein Vater kann vielleicht Zeus an der Nase herumführen, Knabe, aber ich bin nicht so blöd. Ich durchschaue seinen Plan.«

»Seinen Plan?«

»Du warst der Dieb zur Wintersonnenwende«, sagte er. »Dein Vater wollte dich als sein kleines Geheimnis behalten. Er hat dich in den Thronsaal auf dem Olymp geschleust. Du hast den Herrscherblitz und meinen Helm gestohlen. Wenn ich nicht meine Furie geschickt hätte, um dich an der Yancy Academy ausfindig zu machen, dann hätte Poseidon es vielleicht geschafft, seinen Plan geheim zu halten und einen Krieg vom Zaun zu brechen. Aber jetzt bist du aufgeflogen. Du wirst als Dieb in Poseidons Diensten entlarvt werden und ich bekomme meinen Helm zurück.«

»Aber …«, sagte Annabeth. Ich spürte, wie ihre Gedanken sich in wildem Wirbel überschlugen. »Hoher Herr Hades, ist denn auch Euer Helm der Finsternis verschwunden?«

»Spiel hier nicht das Unschuldslamm, Mädel. Du und der Satyr, ihr habt diesem Helden geholfen – ihr seid zweifellos hergekommen, um mich im Namen von Poseidon zu bedrohen, um mir ein Ultimatum zu stellen. Meint Poseidon wirklich, mich durch Erpressung auf seine Seite bringen zu können?«

»Nein!«, sagte ich. »Poseidon hat nicht … ich hab nicht …«

»Ich habe nichts über das Verschwinden des Helms verlauten lassen«, fauchte Hades, »weil ich mir nicht eingebildet habe, dass ich von irgendwem auf dem Olymp auch nur einen Hauch von Gerechtigkeit, eine Spur von Hilfe erwarten könnte. Und ich kann es mir nicht leisten, dass sich herumspricht, dass meine mächtigste Waffe der Angst verschwunden ist. Also habe ich mich selbst auf die Suche nach dir gemacht, und als klar war, dass du herkommen würdest, um mich zu bedrohen, habe ich nichts unternommen, um dich davon abzuhalten.«

»Ihr habt nicht versucht, uns davon abzuhalten? Aber …«

»Gib jetzt meinen Helm her oder ich werde den Tod aufheben«, drohte Hades. »Das ist mein Gegenvorschlag. Ich werde die Erde öffnen und die Toten zurück in die Welt strömen lassen. Ich werde eure Länder in Albträume verwandeln. Und du, Percy Jackson – dein Skelett wird meine Armee aus dem Hades führen.«

Die Skelettsoldaten traten einen Schritt vor und präsentierten ihre Waffen.

Jetzt hätte ich vor Angst wirklich außer mir sein müssen. Seltsamerweise aber war ich beleidigt. Nichts ärgert mich mehr, als wenn mir Dinge vorgeworfen werden, die ich nicht getan habe. Und damit kannte ich mich wirklich aus.

»Ihr seid genauso schlimm wie Zeus«, sagte ich. »Glaubt Ihr wirklich, ich hätte Euch bestohlen? Und habt Ihr mir deshalb die Furien auf den Hals gehetzt?«

»Natürlich«, sagte Hades.

»Und die übrigen Ungeheuer?«

Hades verzog die Lippen. »Mit denen hatte ich nichts zu tun. Ich hatte keinen raschen Tod für dich vorgesehen – ich wollte dich lebend hier haben und dir jede Folter auf den Feldern der Bestrafung demonstrieren. Was glaubst du wohl, warum du so leicht in mein Königreich gelangt bist?«

»Das soll leicht gewesen sein?«

»Gib mir mein Eigentum zurück.«

»Aber ich habe Euren Helm nicht. Ich bin gekommen, um den Herrscherblitz zu holen.«

»Den du bereits hast«, brüllte Hades. »Du bist doch damit hergekommen, du kleiner Trottel, und hast gedacht, du könntest mich bedrohen!«

»Das stimmt nicht!«

»Dann mach deinen Rucksack auf.«

Mich überkam ein entsetzliches Gefühl. Das Gewicht in meinem Rucksack, wie eine Bowlingkugel. Das konnte doch nicht …

Ich riss mir den Rucksack von der Schulter und öffnete ihn. Er enthielt einen sechzig Zentimeter langen Zylinder, der an beiden Enden verschlossen war und vor Energie geradezu summte.

»Percy«, sagte Annabeth. »Wie …«

»Ich … ich weiß es nicht. Ich verstehe das nicht.«

»Ihr Helden seid doch alle gleich«, sagte Hades. »Euer Stolz macht euch töricht und dann glaubt ihr, mit einer solchen Waffe vor mich treten zu können. Ich habe nicht um Zeus’ Herrscherblitz gebeten, aber da er nun schon einmal hier ist, wirst du ihn mir überlassen. Ich bin sicher, er wird ein wunderbares Handelsobjekt sein. Und jetzt … mein Helm. Wo ist er?«

Ich war sprachlos. Ich hatte keinen Helm. Ich hatte keine Ahnung, wie der Herrscherblitz in meinen Rucksack geraten war. Ich wollte glauben, dass Hades mir irgendeinen Streich spielte. Hades war hier der Schurke. Aber plötzlich geriet die Welt aus den Angeln. Mir ging auf, dass mit mir gespielt worden war. Zeus, Poseidon und Hades waren von jemand anderem gegeneinander aufgewiegelt worden. Der Herrscherblitz hatte in diesem Rucksack gelegen und den Rucksack hatte ich von …

»Hoher Herr Hades, wartet«, sagte ich. »Das ist alles ein Missverständnis.«

»Ein Missverständnis?«, brüllte Hades.

Die Skelette legten ihre Waffen an. Hoch oben hörte ich das Flattern von Lederflügeln, die drei Furien ließen sich fallen und hockten sich auf die Rückenlehne des Throns ihres Herrn. Die mit Mrs Dodds’ Gesicht grinste mich boshaft an und ließ ihre Peitsche knallen.

»Es gibt kein Missverständnis«, sagte Hades. »Ich weiß, warum du gekommen bist – ich kenne den wahren Grund, warum du mir den Blitz gebracht hast. Du willst um sie verhandeln.«

Hades ließ eine goldene Feuerkugel aus seiner Hand rollen. Die Kugel explodierte vor mir auf den Stufen und ich sah meine Mutter, erstarrt in einem goldenen Regen, so wie in dem Moment, als der Minotaurus sie zu Tode quetschen wollte.

Ich konnte nichts sagen. Ich streckte die Hand nach ihr aus, aber das Licht war glühend heiß.

»Ja«, sagte Hades zufrieden. »Ich habe sie mir geholt. Ich wusste, Percy Jackson, dass du irgendwann kommen würdest, um mit mir zu verhandeln. Gib mir meinen Helm zurück, dann lasse ich sie vielleicht frei. Sie ist nicht tot, weißt du? Noch nicht. Aber wenn du mein Missfallen erregst, dann wird sich das ändern.«

Ich dachte an die Perlen in meiner Tasche. Vielleicht könnten sie mir aus dieser Lage helfen. Wenn ich nur meine Mom befreien könnte …

»Ah, die Perlen«, sagte Hades und mein Blut gefror. »Ja, mein Bruder und seine kleinen Tricks. Zeig sie doch mal, Percy Jackson.«

Meine Hand bewegte sich, obwohl ich das gar nicht wollte, und zog die Perlen hervor.

»Nur drei«, sagte Hades. »Was für eine Schande. Du musst wissen, dass jede nur eine einzige Person beschützen kann. Also versuch nur, deine Mutter hier rauszuholen, kleiner Götterspross. Aber wen von deinen Freunden willst du dann für alle Ewigkeit bei mir zurücklassen? Na los. Triff deine Wahl. Oder gib mir den Rucksack und akzeptier meine Bedingungen.«

Ich sah Annabeth und Grover an. Sie machten grimmig entschlossene Gesichter.

»Wir sind in die Falle gelockt worden«, sagte ich. »Ausgetrickst.«

»Ja, aber warum?«, fragte Annabeth. »Und die Stimme in der Grube …«

»Das weiß ich noch nicht«, sagte ich. »Aber ich werde danach fragen.«

»Entscheide dich, Knabe!«, brüllte Hades.

»Percy.« Grover legte mir die Hand auf die Schulter. »Du darfst ihm den Blitz nicht geben.«

»Das weiß ich.«

»Lass mich hier«, sagte er. »Nimm die dritte Perle für deine Mom.«

»Nein!«

»Ich bin ein Satyr«, sagte Grover. »Wir haben keine Seelen wie die Menschen. Er kann mich quälen, bis ich sterbe, aber er wird mich nicht für immer bekommen. Ich werde einfach als Blume oder so wiedergeboren. Das ist die beste Lösung.«

»Nein.« Annabeth zog ihr Bronzemesser. »Ihr beiden macht weiter. Grover, du musst Percy beschützen. Du musst deine Lizenz bekommen und dich auf die Suche nach Pan machen. Bringt seine Mom von hier fort. Ich decke euch. Ich werde kämpfend untergehen.«

»Nichts da«, sagte Grover. »Ich bleibe hier.«

»Überleg es dir gut, Ziegenknabe«, sagte Annabeth.

»Hört auf!« Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz in Stücke gerissen wurde. Beide hatten mit mir zusammen so viel durchgemacht. Ich dachte daran, wie Grover im Garten mit den Statuen die Medusa im Sturzflug angegriffen und wie Annabeth uns vor Zerberus gerettet hatte; wir hatten Hephaistos’ Falle im Wasserpark überlebt, den Brückenbogen in St. Louis, das Lotos Kasino. Ich hatte mich Tausende von Kilometern gegrämt, weil ich von einem Freund verraten werden würde, wie es mir vorausgesagt worden war, aber diese beiden würden das niemals über sich bringen. Sie hatten mich immer wieder gerettet und jetzt wollten sie ihr Leben für meine Mom opfern.

»Ich weiß, was wir machen«, sagte ich. »Nehmt die hier.«

Ich reichte Annabeth und Grover je eine Perle.

Annabeth sagte: »Aber Percy …«

Ich drehte mich um und sah meine Mutter an. Ich hätte mich so schrecklich gern geopfert und ihr die letzte Perle gegeben, aber ich wusste, was sie sagen würde. Sie würde es niemals zulassen. Ich musste den Blitz auf den Olymp bringen und Zeus die Wahrheit sagen. Ich musste den Krieg verhindern. Sie würde mir nie verzeihen, wenn ich stattdessen sie rettete. Ich dachte an die Weissagung, die, wie mir schien, vor einer Million Jahren auf Half-Blood Hill gemacht worden war. Und du versagst just dort, wo es betrifft dein Herz.

»Tut mir leid«, sagte ich zu ihr. »Ich komme wieder. Ich werde einen Weg finden.«

Das selbstzufriedene Lächeln wich von Hades’ Gesicht. Er fragte: »Götterspross …?«

»Ich werde Euren Helm finden, Onkel«, sagte ich zu ihm. »Ich bringe ihn zurück. Und denkt an Charons Lohnerhöhung.«

»Wag ja nicht, mir zu trotzen …«

»Und es wäre auch nicht schlecht, ab und zu mal mit Zerberus zu spielen. Rote Gummibälle findet er toll.«

»Percy Jackson, ich verbiete dir …«

Ich rief: »Jetzt, Leute!«

Wir schleuderten die Perlen auf den Boden. Für einen entsetzlichen Moment passierte gar nichts.

Hades schrie: »Macht sie fertig!«

Die Skelettarmee stürzte los, mit gezückten Schwertern und klickenden automatischen Waffen. Die Furien knallten mit ihren flammenlodernden Peitschen.

Als die Skelette gerade das Feuer eröffneten, barst die Perle vor meinen Füßen zu grünem Licht und frischem Seewind. Ich wurde von einer milchigen weißen Hülle umgeben, die langsam vom Boden abhob.

Annabeth und Grover befanden sich dicht hinter mir. Speere und Kugeln prallten von den Perlenblasen ab, während wir aufwärtsstiegen. Hades brüllte vor Wut so laut, dass die gesamte Festung bebte, und ich wusste, dass L. A. keine friedliche Nacht bevorstand.

»Nach oben schauen!«, schrie Grover. »Gleich werden wir aufgespießt!«

Und wirklich rasten wir auf die Stalaktiten zu und ich fürchtete, sie würden unsere Blasen zum Platzen bringen und uns durchbohren.

»Wie lenkt man diese Kapseln?«, rief Annabeth.

»Ich glaube, gar nicht«, brüllte ich zurück.

Wie schrien auf, als die Blasen gegen die Decke stießen und … Dunkelheit.

Waren wir tot?

Nein. Ich spürte, dass wir uns bewegten. Wir stiegen auf, durch den harten Felsen, so leicht wie eine Luftblase im Wasser. Das war die Macht der Perlen, wie mir jetzt aufging – was dem Meer gehört, wird immer zum Meer zurückkehren.

Einen Moment lang konnte ich außer den glatten Wänden meiner Kapsel nichts sehen, dann durchbrach meine Perle den Meeresboden. Die beiden anderen milchigen Umrisse, Annabeth und Grover, waren neben mir, als wir durch das Wasser nach oben jagten. Und dann, ka-wumm!

Wir explodierten an der Wasseroberfläche, mitten in der Los Angeles Bay, und warfen einen Surfer von seinem Brett. »Idiot!«, schrie er wütend.

Ich packte Grover und zerrte ihn zu einer Rettungsboje. Ich bekam Annabeth zu fassen und zog sie ebenfalls zu uns. Ein neugieriger Hai umkreiste uns, ein großer weißer, der über drei Meter lang war.

Ich sagte: »Zieh Leine.«

Der Hai drehte ab und verschwand.

Der Surfer schrie etwas von verdorbenen Pilzen und paddelte, so schnell er konnte, davon.

Aus irgendeinem Grund wusste ich, wie spät es war: Es war der frühe Morgen des 21. Juni, der Tag der Sommersonnenwende.

In der Ferne brannte Los Angeles, überall in der Stadt stiegen Rauchsäulen auf. Die ganze Nacht hatte die Erde gebebt und daran war Hades schuld. Vermutlich schickte er jetzt gerade seine Totenarmee hinter mir her.

Aber im Augenblick war nicht die Unterwelt mein größtes Problem.

Ich musste ans Ufer gelangen. Ich musste Zeus’ Blitzstrahl zurück auf den Olymp bringen. Und vor allem musste ich ein ernstes Gespräch mit dem Gott führen, der mich in die Falle gelockt hatte.


Ich kämpfe gegen die durchgedrehte Verwandtschaft

Ein Boot der Küstenwache fischte uns auf, aber sie hatten zu viel zu tun, um uns lange festzuhalten oder sich darüber zu wundern, wie drei Jugendliche in Straßenkleidung in die Bucht geraten waren. Sie mussten sich um eine Katastrophe kümmern. Ihre Funkgeräte quollen über von Notrufen.

Sie setzten uns am Pier von Santa Monica ab, legten uns Handtücher um die Schultern und gaben uns Wasserflaschen mit der Aufschrift NACHWUCHS FÜR DIE KÜSTENWACHE, dann jagten sie davon, um weitere Überlebende zu retten.

Unsere Kleidung triefte vor Nässe, sogar meine. Als das Boot der Küstenwache aufgetaucht war, hatte ich in Gedanken gebetet, dass sie mich nicht in strohtrockenem Zustand aus dem Wasser fischen sollten, denn das hätte doch zu einigem Stirnrunzeln geführt. Also hatte ich meinen ganzen Willen darauf gerichtet, nass zu werden. Und mein üblicher Wasser abwehrender Zauber hatte mich tatsächlich verlassen. Außerdem war ich barfuß, weil ich meine Schuhe Grover gegeben hatte. Sollte die Küstenwache sich lieber darüber wundern, dass einer von uns barfuß war, als dass einer von uns Hufe hatte.

Nachdem wir das trockene Land erreicht hatten, stolperten wir über den Strand und sahen zu, wie die Stadt vor einem wunderschönen Sonnenaufgang weiter brannte. Ich hatte das Gefühl, soeben von den Toten zurückgekehrt zu sein – und das war ich ja auch. Mein Rucksack, in dem der Herrscherblitz des Zeus lag, war noch immer schwer. Aber mein Herz war noch schwerer, weil ich meine Mutter gesehen hatte.

»Ich glaub es nicht«, sagte Annabeth. »Wir sind den ganzen Weg gegangen …«

»Das war ein Trick«, sagte ich. »Eine Strategie, wie sie nur eine Athene ersinnen kann.«

»Vorsicht«, warnte sie.

»Du kapierst das doch, oder?«

Sie schlug die Augen nieder und ihr Zorn verflog. »Ja, ich kapiere.«

»Also, ich nicht«, beschwerte Grover sich. »Könnte vielleicht irgendwer …«

»Percy«, sagte Annabeth. »Das mit deiner Mutter tut mir leid. Es tut mir so leid …«

Ich stellte mich taub. Wenn ich jetzt über meine Mutter redete, würde ich losheulen wie ein kleines Kind.

»Die Weissagung stimmt«, sagte ich. »Ich bin nach Westen gegangen, zu dem Gott, der sich gewendet. Aber das war nicht Hades. Hades will keinen Krieg zwischen den Großen Dreien. Den Diebstahl hat jemand anders in die Wege geleitet. Irgendwer hat Zeus’ Herrscherblitz und Hades’ Helm gestohlen und mir die Sache in die Schuhe geschoben, weil Poseidon mein Vater ist. Poseidon wird von beiden Seiten angeklagt werden. Und heute bei Sonnenuntergang bricht ein Dreifrontenkrieg aus. An dem ich schuld sein werde.«

Grover schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber wer könnte so tückisch sein? Und wer könnte sich einen so schrecklichen Krieg wünschen?«

Ich blieb stehen und schaute über den Strand. »Ja, hmm, lasst mich nachdenken.«

Und da stand er. Er wartete auf uns, in seinem Ledermantel und mit seiner Sonnenbrille und mit einem Baseballschläger aus Aluminium über der Schulter. Sein Motorrad dröhnte neben ihm, der Scheinwerfer färbte den Sand rot.

»Na, Kleiner«, sagte Ares und schien sich über meinen Anblick von Herzen zu freuen. »Du solltest doch sterben.«

»Du hast mich ausgetrickst«, sagte ich. »Du hast den Helm und den Herrscherblitz gestohlen.«

Ares grinste. »Na ja, das war ich nicht persönlich. Gottheiten, die sich gegenseitig ihre Machtsymbole klauen – das ist nun wirklich streng verboten. Aber du bist nicht der einzige Held auf der Welt, der sich zum Laufburschen eignet.«

»Wen hast du benutzt? Clarisse? Die war bei der Wintersonnenwende dabei.«

Die Vorstellung schien ihn zu belustigen. »Spielt keine Rolle. Worum es geht, Kleiner, ist, dass du die Kriegspläne behinderst. Hör mal, du hast in der Unterwelt zu sterben. Dann ist der alte Seetang stocksauer auf Hades, weil der dich abgemurkst hat. Leichenhauch hat Zeus’ Herrscherblitz, also ist Zeus sauer auf ihn. Und Hades sucht noch immer das hier …«

Er zog eine Skimütze aus der Tasche, eine Hasskappe, wie Bankräuber sie tragen, und legte sie auf den Lenker seines Motorrads. Sofort verwandelte die Mütze sich in einen reich verzierten Kriegshelm.

»Der Helm der Finsternis«, sagte Grover und schnappte nach Luft.

»Genau«, sagte Ares. »Aber wo war ich gerade? Ach ja. Hades ist stocksauer auf Zeus und Poseidon, weil er nicht weiß, wer das Ding hat. Und schon bald haben wir dann ein nettes kleines Schützenfest mit drei Teilnehmern.«

»Aber das sind doch deine Verwandten«, sagte Annabeth entsetzt.

Ares zuckte mit den Schultern. »Das ist doch der netteste Krieg. Und immer der blutigste. Nichts ist so lustig, wie zuzusehen, wie die Verwandtschaft sich fetzt, sag ich immer.«

»Du hast mir schon in Denver den Rucksack gegeben«, sagte ich. »Und der Herrscherblitz hat die ganze Zeit darin gesteckt.«

»Ja und nein«, sagte Ares. »Vermutlich kann dein kleines sterbliches Gehirn mir nicht folgen, aber der Rucksack ist das Behältnis für den Herrscherblitz, wir haben ihn nur ein wenig anders aussehen lassen. Der Blitz ist damit verbunden, das ist ungefähr so wie bei deinem Schwert, Kleiner. Das kehrt doch auch immer in deine Tasche zurück, oder?«

Mir war nicht ganz klar, woher Ares das wusste, aber ich nehme an, ein Kriegsgott muss einfach alles über Waffen wissen.

»Egal«, sagte Ares, »ich habe ein wenig an der Magie gedreht, damit der Blitz erst dann in sein Behältnis zurückkehrt, wenn du die Unterwelt erreicht hast. Du stehst vor Hades und … bingo, Post für dich. Wenn du unterwegs gestorben wärst – auch nicht schlimm, dann hätte ich ja immer noch den Blitz.«

»Aber warum behältst du ihn nicht einfach selbst?«, fragte ich. »Warum schickst du ihn an Hades?«

Ares’ Wangenmuskel zuckte. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass er einer anderen Stimme lauschte, tief in seinem Kopf. »Warum ich nicht … ja … also diese Art Feuermacht …«

Er blieb eine Sekunde in Trance … noch eine …

Ich wechselte nervöse Blicke mit Annabeth.

Ares’ Gesicht entspannte sich wieder. »Ich wollte mir den Ärger ersparen. Besser, du würdest mit dem Ding auf frischer Tat ertappt.«

»Du lügst«, sagte ich. »Es war nicht deine Idee, den Blitz in die Unterwelt zu schicken, stimmt’s?«

»O doch!« Rauch stieg von seiner Sonnenbrille auf, als habe sie gerade Feuer gefangen.

»Du hast den Diebstahl nicht befohlen«, tippte ich. »Irgendwer hat einen Helden diese beiden Gegenstände stehlen lassen. Und dann, als Zeus dich geschickt hat, diesen Helden zu finden, hast du den Dieb gefangen. Aber du hast ihn nicht Zeus ausgeliefert. Irgendetwas hat dich dazu gebracht, ihn laufen zu lassen. Du hast die Sachen behalten, bis dann ein anderer Held kam und die Zustellung übernehmen konnte. Du erhältst deine Befehle von dem Ding in der Grube.«

»Ich bin der Gott des Krieges! Niemand erteilt mir Befehle! Ich habe keine Träume!«

Ich zögerte. »Wer hat denn was von Träumen gesagt?«

Ares sah erregt aus, versuchte aber, das mit einem Feixen zu überspielen.

»Kümmern wir uns doch lieber wieder um das aktuelle Problem, Kleiner. Du lebst. Ich kann nicht zulassen, dass du den Blitz zum Olymp bringst. Du könntest diese sturen Trottel noch dazu veranlassen, auf dich zu hören. Also muss ich dich umbringen. Ist nicht persönlich gemeint.«

Er schnippte mit den Fingern. Der Sand zu seinen Füßen explodierte und ein wilder Eber brach daraus hervor, er war noch größer und hässlicher als der, dessen Kopf in Camp Half-Blood über der Tür von Hütte 7 hing. Das Vieh scharrte im Sand und glotzte mich aus stechenden Augen an, während es seine rasierklingenscharfen Stoßzähne senkte und auf den Befehl zu töten wartete.

Ich trat in die Brandung. »Kämpf lieber selbst mit mir, Ares.«

Er lachte, aber ich hörte da einen Unterton in seinem Lachen … Nervosität. »Du hast ein einziges Talent, Kleiner, nämlich wegzulaufen. Du bist vor der Chimäre weggelaufen. Du bist aus der Unterwelt weggelaufen. Dir fehlt der Mumm.«

»Angst, Ares?«

»In deinen Teenieträumen!« Aber seine Sonnenbrille wurde durch die Hitze seiner Augen zum Schmelzen gebracht. »Kein direktes Eingreifen. Tut mir leid, Kleiner. Aber du bist nicht auf meinem Niveau.«

Annabeth sagte: »Lauf, Percy.«

Der riesige Eber grunzte.

Aber ich wollte nicht mehr vor Ungeheuern davonlaufen. Oder vor Hades oder Ares oder sonst wem.

Als der Eber auf mich zukam, drehte ich die Kappe von meinem Kugelschreiber und trat zur Seite. Ich riss das Schwert nach oben. Der rechte Stoßzahn des Ebers fiel mir vor die Füße und das desorientierte Tier rannte ins Wasser.

Ich brüllte: »Welle!«

Sofort erhob sich aus dem Nirgendwo eine Welle und umhüllte den Eber wie eine Decke. Das Tier schrie einmal auf vor Angst. Dann war es verschwunden, verschlungen vom Meer.

Ich drehte mich zu Ares um. »Willst du jetzt mit mir kämpfen?«, fragte ich. »Oder willst du dich hinter noch so einem Schmuseschwein verstecken?«

Ares’ Gesicht wurde lila vor Zorn. »Pass auf, Kleiner. Sonst verwandele ich dich in …«

»Eine Kakerlake«, sagte ich. »Oder einen Bandwurm. Aber klar doch. Das würde dich davor bewahren, dass dir deine göttliche Haut gegerbt wird, was?«

Flammen tanzten über den Rand seiner Sonnenbrille. »O Mann, du bettelst ja geradezu darum, in einen Fettfleck verwandelt zu werden.«

»Wenn ich verliere, dann verwandle mich in was immer du willst und du hast den Blitz. Wenn ich gewinne, gehören Blitz und Helm mir und du musst hier verschwinden.«

Ares schnaubte.

Er riss sich den Baseballschläger von der Schulter. »Wie möchtest du zu Brei geschlagen werden, klassisch oder modern?«

Ich zeigte ihm mein Schwert.

»Okay, toter Knabe«, sagte er. »Also klassisch.« Der Baseballschläger verwandelte sich in ein riesiges Schwert. Der Griff war ein großer silberner Schädel mit einem Rubin im Mund.

»Percy«, sagte Annabeth. »Lass das. Er ist ein Gott.«

»Er ist ein Feigling«, sagte ich.

Sie schluckte. »Dann nimm wenigstens das. Als Glücksbringer.«

Sie nahm ihr Halsband mit den fünf Perlen und dem Ring ihres Vaters ab und legte es mir um.

»Versöhnung«, sagte sie. »Athene und Poseidon gemeinsam.«

Mein Gesicht fühlte sich ein wenig heiß an, aber ich brachte doch ein Lächeln zu Stande. »Danke.«

»Und nimm das«, sagt Grover. Er reichte mir eine platt gedrückte Blechdose, die er vermutlich seit tausend Kilometern in seiner Tasche aufbewahrt hatte. »Die Satyrn stehen hinter dir.«

»Grover … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Er streichelte meine Schulter. Ich stopfte die Dose in meine Hosentasche.

»Abschied genommen?« Ares kam auf mich zu, sein schwarzer Ledermantel schleifte hinter ihm her, sein Schwert funkelte im Sonnenaufgang wie Feuer. »Ich kämpfe seit einer Ewigkeit, Kleiner. Meine Kraft kennt keine Grenzen und ich kann nicht sterben. Wie sieht’s bei dir aus?«

Ich habe ein kleineres Ego, dachte ich, sagte aber nichts. Ich blieb mit den Füßen in der Brandung und wich zurück, bis das Wasser meine Knöchel überspülte. Ich dachte daran, was Annabeth in dem Imbiss in Denver gesagt hatte, vor langer Zeit. Ares ist stark. Mehr aber auch nicht. Und sogar Stärke muss der Weisheit manchmal unterliegen.

Er zielte mit dem Schwert auf meinen Kopf, aber ich war nicht da.

Mein Körper dachte für mich. Das Wasser schien mich in die Luft zu drücken, ich wurde wie von einem Katapult auf ihn geschleudert und schlug zu, als ich auf ihn fiel. Aber Ares war ebenso schnell. Er fuhr herum, und der Hieb, der ihn im Rückgrat hätte treffen sollen, wurde von seinem Schwertgriff abgelenkt.

Er grinste. »Nicht schlecht, nicht schlecht.«

Wieder schlug er zu und ich musste ans Ufer springen. Ich versuchte zur Seite zu treten, wieder ins Wasser zu gelangen, aber Ares schien diesen Wunsch durchschaut zu haben. Er trickste mich aus, setzte mir dermaßen zu, dass ich mich voll und ganz darauf konzentrieren musste, nicht in Scheiben geschnitten zu werden. Ich wich immer weiter von der Brandung zurück. Ich fand keine Angriffsmöglichkeiten. Sein Schwert hatte zudem eine Reichweite, die die von Anaklysmos um mehr als einen Meter übertraf.

Geh dicht heran, hatte Luke mir einmal im Schwertunterricht gesagt. Wenn du die kürzere Klinge hast, dann geh dicht heran.

Ich sprang vor, aber darauf hatte Ares schon gewartet. Er trat mir die Klinge aus der Hand und versetzte meiner Brust einen Tritt. Ich flog in die Luft – sieben, vielleicht auch zehn Meter hoch. Ich hätte mir das Rückgrat gebrochen, wenn ich nicht auf den weichen Sand einer Düne aufgeschlagen wäre.

»Percy«, schrie Annabeth. »Bullen!«

Ich sah doppelt. Meine Brust schien soeben von einem Rammbock getroffen worden zu sein, aber es gelang mir, wieder auf die Füße zu kommen.

Ich durfte meinen Blick nicht von Ares abwenden, aus Angst, er könnte mich mittendurch schneiden, aber aus dem Augenwinkel sah ich auf der Küstenstraße rote Blinklichter. Autotüren wurden zugeknallt.

»Da drüben«, schrie jemand. »Sehen Sie das?«

Eine grobe Bullenstimme antwortete: »Sieht aus wie der Kleine aus den Nachrichten … ja, verflixt …«

»Der Typ ist bewaffnet«, sagte ein anderer Polizist. »Hol Verstärkung.«

Ich rollte zur Seite und Ares’ Klinge schnitt durch den Sand.

Ich rannte zu meinem Schwert, riss es an mich und zielte auf Ares’ Gesicht, doch abermals wurde meine Klinge abgelenkt.

Ares schien genau zu wissen, was ich vorhatte, und zwar noch bevor ich mein Vorhaben ausführte.

Ich trat zurück in die Brandung und zwang ihn damit, mir zu folgen.

»Sieh’s ein, Kleiner«, sagte Ares. »Du hast keine Chance. Ich spiel nur mit dir.«

Meine Sinne liefen auf vollen Touren. Ich begriff jetzt, was Annabeth damit gemeint hatte, dass ADHD uns in einem Kampf das Leben retten könnte. Ich war hellwach und mir fiel jedes kleinste Detail auf.

Ich konnte sehen, wann Ares angespannt war. Ich wusste, in welche Richtung er schlagen würde. Zugleich registrierte ich, dass Annabeth und Grover zehn Meter links von mir standen. Ich sah einen zweiten Streifenwagen vorfahren, hörte die heulende Sirene. Zuschauer, Leute, die vom Erdbeben auf die Straße getrieben worden waren, scharten sich zusammen. In der Menge glaubte ich auch einige zu sehen, die den seltsamen trottenden Gang von verkleideten Satyrn hatten. Es gab schimmernde Umrisse von Geistern, als seien die Toten aus dem Hades gekommen, um sich den Kampf anzusehen. Und irgendwo über mir hörte ich das Flattern lederner Flügel.

Noch mehr Sirenen.

Ich ging weiter ins Wasser hinein, aber Ares war schnell. Seine Schwertspitze zerfetzte meinen Ärmel und kratzte über meinen Unterarm.

Eine Polizistenstimme sagte ins Megafon: »Lasst die Gewehre sinken. Legt sie auf den Boden. Sofort.«

Gewehre?

Ich schaute Ares’ Waffe an. Sie schien zu flackern, manchmal sah sie aus wie ein Gewehr, manchmal wie ein zweihändiges Schwert. Ich wusste nicht, was die Menschen in meinen Händen sahen, war aber ziemlich sicher, dass es mich ihnen nicht sympathisch machte.

Ares drehte sich um und starrte die Zuschauer wütend an und das verschaffte mir eine Atempause. Jetzt standen fünf Streifenwagen dort und hinter ihnen knieten die Polizisten und richteten ihre Pistolen auf uns.

»Das ist eine Privatangelegenheit«, schrie Ares. »Verschwindet.«

Er bewegte die Hand und eine rote Flammenwand rollte auf die Streifenwagen zu. Die Polizisten hatten kaum die Zeit, in Deckung zu gehen, als ihre Fahrzeuge auch schon explodierten. Die Menge hinter ihnen lief schreiend auseinander.

Ares brüllte vor Lachen. »Na, kleiner Held. Und jetzt kommst du auf den Grill.«

Er schlug zu. Ich lenkte seine Klinge ab. Ich kam dicht genug an ihn heran, um zu schlagen, ich versuchte ihn durch eine Finte zu täuschen, aber mein Schlag wurde abgewehrt. Die Wellen trafen mich in den Rücken. Ares stand bis zu den Oberschenkeln im Wasser und kam hinter mir her.

Ich spürte den Rhythmus der See, die Wellen wurden höher mit der Flut und plötzlich kam mir eine Idee. Kleine Wellen, dachte ich. Das Wasser hinter mir schien sich zurückzuziehen. Ich hielt die Flut durch meine Willenskraft zurück, aber dabei staute sich Spannung auf wie Kohlensäure hinter einem Korken.

Ares kam mit zuversichtlichem Grinsen auf mich zu. Ich ließ die Klinge sinken, als sei ich zu erschöpft, um weiterzumachen. Moment noch, bat ich das Meer. Der Druck warf mich fast um. Ares hob sein Schwert. Ich ließ der Flut ihren Lauf, sprang los und wurde auf einer Welle über Ares hinweggeschleudert.

Eine fast zwei Meter hohe Wasserwand traf ihn voll im Gesicht und er spuckte fluchend Seetang. Wasser spritzte, ich landete hinter ihm und tat so, als zielte ich auf seinen Kopf, wie ich das schon einmal getan hatte. Er drehte sich rechtzeitig um, um sein Schwert zu heben, aber diesmal war er verwirrt und sah nicht voraus, was ich vorhatte. Ich änderte meine Richtung, zielte seitwärts, bohrte mein Schwert ins Wasser und traf mit der Spitze in die Ferse des Gottes.

Das darauf folgende Gebrüll ließ Hades’ Erdbeben wie eine Kleinigkeit aussehen. Die See wurde zurückgeschleudert und hinterließ einen über fünfzehn Meter breiten feuchten Kreis im Sand.

Ichor, das goldene Blut der Götter, floss aus einem Loch im Stiefel des Kriegsgottes. Sein Gesichtsausdruck zeigte weit mehr als Hass. Er enthielt Schmerz, Schock und die absolute Weigerung zu glauben, dass er verwundet worden war.

Er kam auf mich zugehumpelt und murmelte altgriechische Verwünschungen.

Etwas hielt ihn auf.

Eine Wolke schien sich vor die Sonne zu schieben, aber es war noch schlimmer. Das Licht wurde schwächer. Geräusche und Farben verschwanden. Etwas Kaltes, Drückendes wehte über den Strand, ließ die Zeit langsamer werden, drückte die Temperatur auf den Gefrierpunkt und gab mir das Gefühl, das Leben sei hoffnungslos, ein Kampf sinnlos.

Die Dunkelheit hob sich.

Ares machte ein verdutztes Gesicht.

Hinter uns brannten Streifenwagen. Die Zuschauermenge war geflohen. Annabeth und Grover standen schockiert am Strand und sahen zu, wie das Wasser wieder um Ares’ Füße spülte und wie sein glühend goldener Ichor sich in der Flut auflöste.

Ares ließ sein Schwert sinken.

»Du hast dir einen Feind gemacht, Göttersohn«, sagte er. »Du hast dein Schicksal besiegelt. Wann immer du im Kampf dein Schwert erheben wirst, wann immer du auf Erfolg hoffen wirst, wirst du meinen Fluch spüren. Hüte dich, Perseus Jackson. Hüte dich.«

Sein Körper fing an zu glühen.

»Percy!«, schrie Annabeth. »Nicht hinsehen.«

Ich wandte mich ab, als der Gott Ares seine wahre unsterbliche Gestalt annahm. Irgendwie wusste ich, dass ich zu Asche zerfallen würde, wenn ich hinschaute.

Das Licht erlosch.

Ich schaute mich um. Ares war verschwunden. Die Flut zog sich zurück und gab Hades’ bronzenen Helm der Finsternis frei. Ich hob ihn auf und ging zu meinen Freunden.

Doch ehe ich sie erreicht hatte, hörte ich das Flattern lederner Schwingen. Drei Großmütter mit gemeinen Gesichtern, Spitzenhäubchen und flammenden Peitschen glitten vom Himmel und landeten vor mir.

Die mittlere Furie, die früher einmal Mrs Dodds gewesen war, trat vor. Ihre Krallen waren ausgefahren, aber diesmal wirkte sie nicht bedrohlich. Eher sah sie enttäuscht aus, als habe sie mich zum Abendessen verschlingen wollen und nun erkannt, dass sie sich damit arge Verdauungsstörungen einhandeln würde.

»Wir haben alles gesehen«, zischte sie. »Also … du warst es wirklich nicht?«

Ich warf ihr den Helm zu, den sie überrascht auffing.

»Bringt das zu Herrn Hades«, sagte ich. »Sagt ihm die Wahrheit. Sagt ihm, er soll den Krieg abblasen.«

Sie zögerte, dann fuhr ihre gespaltene Zunge über ihre grünen, ledernen Lippen. »Leb wohl, Percy Jackson. Werde zu einem wahren Helden. Denn wirst du das nicht und fällst du mir jemals wieder in die Krallen …«

Sie kicherte gackernd; offenbar gefiel ihr diese Vorstellung. Dann erhoben sie und ihre Schwestern sich mit ihren Fledermausflügeln, flatterten in den raucherfüllten Himmel auf und waren verschwunden.

Ich ging zu Grover und Annabeth, die mich verblüfft anstarrten.

»Percy«, sagte Grover. »Das war so unglaublich …«

»Beängstigend«, sagte Annabeth.

»Cool«, sagte Grover.

Ich fühlte mich überhaupt nicht beängstigend. Ich fühlte mich auf keinen Fall cool. Ich war erschöpft, gerädert und hatte keinen Hauch von Energie mehr.

»Habt ihr das gefühlt … was immer es gewesen sein mag?«, fragte ich.

Beide nickten besorgt.

»Das waren bestimmt die Furien«, sagte Grover.

Aber ich war mir nicht sicher. Irgendetwas hatte Ares daran gehindert, mich umzubringen, und was immer es gewesen war, es musste sehr viel stärker sein als die Furien.

Ich sah Annabeth an und merkte, dass wir dasselbe dachten. Ich wusste jetzt, was sich in der Grube befand, was vom Eingang zum Tartarus aus zu uns gesprochen hatte.

Ich ließ mir von Grover meinen Rucksack geben und schaute hinein. Der Herrscherblitz war noch immer da. Ein so kleiner Gegenstand – und er hätte fast den Dritten Weltkrieg ausgelöst.

»Wir müssen zurück nach New York«, sagte ich. »Wir müssen heute Abend dort sein.«

»Das ist unmöglich«, sagte Annabeth. »Falls wir nicht …«

»Fliegen«, fügte ich hinzu.

Sie starrte mich an. »Fliegen, in einem Flugzeug, etwas, das du auf jeden Fall lassen solltest, damit Zeus dich nicht vom Himmel fegt, dazu mit einer Waffe, die vernichtender ist als eine Atombombe?«

»Ja«, sagte ich. »So ungefähr. Los geht’s.«


Ich rechne ab

Es ist witzig, wie Menschen alles umdeuten und ihrer eigenen Version der Wirklichkeit anpassen. Das hatte Chiron mir ja schon gesagt. Aber wie immer ging mir erst viel später auf, wie weise seine Worte gewesen waren.

Den örtlichen Nachrichten zufolge hatte ein verrückter Kidnapper, der mit einem Gewehr auf einen Streifenwagen gefeuert hatte, eine Explosion am Strand von Santa Monica ausgelöst. Er hatte aus Versehen eine Gasleitung getroffen, die während des Erdbebens geborsten war.

Dieser verrückte Kidnapper (auch bekannt als Ares) war just der, der mich und zwei andere Jugendliche aus New York entführt und in einer zehn Tage langen Odyssee des Schreckens quer durchs Land geschleppt hatte.

Der arme kleine Percy Jackson war eben doch kein Krimineller von Weltrang. Er hatte das Gefecht im Bus verursacht, weil er versucht hatte, seinem Entführer zu entkommen (und es gab jetzt auch Zeugen, die beschwören konnten, den Mann in der Lederkluft im Bus gesehen zu haben – »Wieso fällt mir das bloß jetzt erst ein?«). Der Verrückte war auch für die Explosion im Brückenbogen von St. Louis verantwortlich. Schließlich hätte kein Kind das schaffen können. Eine besorgte Zeugin in Denver hatte gesehen, wie der Mann vor ihrem Imbiss die Entführungsopfer bedroht hatte, sie hatte einen Kollegen ein Foto machen lassen und die Polizei informiert. Und in Los Angeles hatte der tapfere Percy Jackson (langsam mochte ich den Jungen wirklich) seinem Entführer endlich ein Gewehr abgenommen und ihm am Strand eine Schießerei geliefert. Die Polizei war gerade noch rechtzeitig eingetroffen. Aber durch eine aufsehenerregende Explosion waren fünf Streifenwagen in Flammen aufgegangen und der Entführer war entkommen. Tote waren nicht zu beklagen. Percy Jackson und seine beiden Freunde befanden sich in der sicheren Obhut der Polizei.

Das alles erzählten uns die Presseleute. Wir nickten brav, weinten und wirkten erschöpft (was gar nicht schwer war) und spielten für die Kameras die armen kleinen Opfer.

»Ich will doch nur«, sagte ich mit tränenerstickter Stimme, »meinen lieben Stiefvater wiedersehen. Immer wenn ich im Fernsehen gesehen habe, wie er mich als verbrecherische Missgeburt bezeichnet hat, wusste ich … irgendwie … dass alles wieder gut werden würde. Und ich weiß, er wird jedem Menschen in dieser wunderschönen Stadt Los Angeles als Belohnung irgendeinen teuren Apparat aus seinem Laden schenken wollen. Hier ist seine Telefonnummer.« Polizei und Presse waren so gerührt, dass sie einen Hut rumgehen ließen und so das Geld für drei Flugtickets nach New York zusammenbrachten.

Ich wusste, dass mir nichts anderes übrig blieb, als zu fliegen. Ich hoffte, dass Zeus unter diesen Umständen fünf gerade sein lassen würde. Aber es fiel mir doch schwer, mich an Bord des Flugzeugs zu zwingen.

Der Start war ein Albtraum. Jede kleine Turbulenz war beängstigender als ein griechisches Ungeheuer. Ich löste meine Hände erst von den Armlehnen, als wir sicher am Flughafen La Guardia gelandet waren. Vor der Sicherheitsschranke wartete die lokale Presse auf uns, aber der konnten wir entgehen, weil Annabeth sie mit ihrer Tarnkappe auf dem Kopf ablenkte, indem sie schrie: »Sie sind da drüben beim Joghurteis! Los!«, um sich dann bei der Gepäckausgabe wieder zu uns zu gesellen.

Wir trennten uns am Taxistand. Ich sagte Annabeth und Grover, sie sollten nach Half-Blood Hill fahren und Chiron alles berichten. Sie protestierten und es fiel mir schwer, sie ziehen zu lassen, nach allem, was wir durchgemacht hatten, aber ich wusste, ich musste den Rest meines Auftrags allein durchführen. Wenn alles schiefginge, wenn die Götter mir nicht glaubten … ich wollte, dass Annabeth und Grover überlebten und Chiron die Wahrheit erzählen könnten.

Ich setzte mich in ein Taxi und fuhr nach Manhattan.

Dreißig Minuten später betrat ich das Foyer des Empire State Building.

Ich sah mit meiner zerfetzten Kleidung und meinem zerschrammten Gesicht sicher aus wie ein Straßenkind. Und ich hatte seit mindestens vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen.

Ich ging zum Sicherheitsbeamten an der Rezeption und sagte: »Sechshundertster Stock.«

Er las in einem dicken Buch mit dem Bild eines Zauberers auf dem Umschlag. Ich hatte nicht viel Ahnung von Fantasy, aber es war sicher ein gutes Buch, denn der Mann schaute erst nach einer ganzen Weile auf: »Gibt’s nicht, Kleiner.«

»Ich brauche eine Audienz bei Zeus.«

Er lächelte vage. »Bitte?«

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe.«

Ich wollte gerade beschließen, dass ich es mit einem gewöhnlichen Sterblichen zu tun hatte, und abhauen, ehe er nach der Zwangsjacke schrie, als er sagte: »Ohne Termin keine Audienz, Kleiner. Der hohe Herr Zeus empfängt nicht unangemeldet.«

»Ach, ich glaube, heute macht er mal eine Ausnahme.« Ich streifte den Rucksack ab und zog den Reißverschluss auf.

Der Sicherheitsmann schaute sich den Metallzylinder an und begriff nicht sofort, was er da vor sich hatte. Dann erbleichte er. »Das ist doch nicht …«

»Doch, das ist er«, sagte ich. »Soll ich ihn rausnehmen und …«

»Nein! Nein!« Er sprang auf, wühlte auf seinem Tisch nach einer Schlüsselkarte und reichte sie mir. »Steck die in den Sicherheitsschlitz. Und sorg dafür, dass du allein im Fahrstuhl bist.«

Ich tat wie mir geheißen. Als sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten, schob ich sofort die Karte in den Schlitz. Sie verschwand und auf dem Schaltbrett tauchte ein neuer Knopf auf, ein roter mit der Nummer 600.

Ich drückte darauf und wartete und wartete.

Musik ertönte. »Raindrops keep falling on my head …«

Und dann endlich: ding. Die Türen öffneten sich. Ich trat hinaus und hätte fast einen Herzinfarkt erlitten.

Ich stand auf einer schmalen Steinbrücke mitten in der Luft. Unter mir lag Manhattan, wie aus dem Flugzeug gesehen. Vor mir führte eine weiße Wendeltreppe aus Marmor durch eine Wolke hinauf in den Himmel. Meine Augen wanderten die Treppe entlang nach oben, während mein Gehirn einfach nicht aufnehmen konnte, was es da sah.

Noch mal hinschauen, sagte mein Gehirn.

Wir schauen, erklärten meine Augen. Es ist wirklich so, wie es aussieht.

Oben aus den Wolken ragte ein schneebedeckter Berggipfel hervor. An den Berghang klammerten sich Dutzende von Palästen mit vielen Stockwerken – eine Stadt aus Palästen –, alle mit weißen Säulengängen, vergoldeten Terrassen und bronzenen Feuerbecken, in denen tausend Feuer glühten. Straßen schlängelten sich in Serpentinen um den Gipfel, wo der höchste Palast vor dem Schnee glühte. In gefährlich schräg hängenden Gärten blühten Olivenbäume und Rosensträucher. Ich konnte einen Marktplatz mit bunten Buden sehen, ein steinernes Amphitheater am Hang und eine Pferderennbahn. Es war eine altgriechische Stadt, nur lag sie nicht in Trümmern. Sie war neu und sauber und bunt, so wie Athen vor fünfundzwanzig Jahrhunderten ausgesehen haben muss.

Das kann nicht sein, sagte ich mir. Dieser Gipfel soll wie ein Asteroid von einer Milliarde Tonnen über New York City hängen? Wie könnte so etwas über dem Empire State Building schweben, vor den Augen von Millionen von Menschen, und nicht bemerkt werden?

Aber es war da. Und ich war da.

Meinen Weg durch den Olymp legte ich wie in Trance zurück. Ich kam an kichernden Waldnymphen vorbei, die mich mit Oliven aus ihrem Garten bewarfen. Straßenhändler wollten mir Eis am Stiel verkaufen oder einen neuen Schild oder eine echte Kopie des Goldenen Vlieses, mit eingewebten Glitzerfäden, wie es im Hephaistos-TV zu sehen war. Die neun Musen stimmten ihre Instrumente für ein Konzert im Park, wo eine kleine Menge sich sammelte – Satyrn und Najaden und allerlei gut aussehende Teenager, bei denen es sich um mindere Gottheiten handeln musste. Niemand schien sich Sorgen wegen eines bevorstehenden Krieges zu machen. Alle schienen vielmehr zum Feiern aufgelegt zu sein. Einige drehten sich um, als ich vorüberkam, und tuschelten miteinander.

Ich stieg die Hauptstraße hoch, auf den großen Palast ganz oben zu. Er war das genaue Gegenstück des Palastes in der Unterwelt. Dort war alles schwarz und bronzefarben gewesen. Hier funkelte alles in Weiß und Silber.

Mir ging auf, dass Hades sicher einen Palast gewollt hatte, der so aussah wie dieser. Er war nur zur Wintersonnenwende im Olymp willkommen, deshalb hatte er sich seinen eigenen unterirdischen Olymp gebaut. Trotz meiner schlechten Erfahrungen mit ihm tat er mir ein wenig leid. Es war einfach unfair, dass er von hier verbannt worden war. Da wäre doch jeder sauer geworden.

Eine Treppe führte zu einem zentralen Innenhof. Dahinter lag der Thronsaal.

Aber selbst das Wort Saal ist nicht großartig genug. Im Vergleich zu diesem Raum wirkte die Grand Central Station wie eine Besenkammer. Massive Säulen trugen eine gewölbte Decke, die mit beweglichen Sternbildern geschmückt war.

Zwölf Thronsessel, errichtet für Wesen von der Größe des Hades, waren in Hufeisenform aufgestellt, wie die Hütten im Camp Half-Blood. In der Feuerstelle in der Mitte knisterte ein gewaltiges Feuer. Nur die beiden Thronsessel in der Mitte waren besetzt, der rechte Hauptthron und der unmittelbar daneben. Niemand brauchte mir zu sagen, welche beiden Gottheiten dort saßen und meinem Näherkommen entgegensahen. Ich ging mit zitternden Knien auf sie zu.

Die Gottheiten waren so riesengroß wie Hades, aber ich konnte sie kaum ansehen, ohne ein Prickeln zu verspüren; mein ganzer Körper schien Feuer zu fangen. Zeus, der Herr der Götter, trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug und saß auf einem schlichten Thron aus Platin. Er hatte einen gepflegten Bart, in dem sich Grau und Weiß mischten wie in einer Gewitterwolke. Sein Gesicht war stolz, schön und grimmig, seine Augen regengrau. Als ich auf ihn zuging, knisterte die Luft und roch nach Ozon.

Der Gott neben ihm war zweifellos sein Bruder, war aber ganz anders gekleidet. Er erinnerte mich an einen Strandpenner aus Key West. Er trug Ledersandalen, khakifarbene Bermudashorts und ein mit Kokosnüssen und Papageien bedrucktes Hawaiihemd. Seine Haut war tiefbraun, seine Hände narbig wie die eines alten Fischers. Seine Haare waren dunkel wie meine. Sein Gesicht zeigte die grüblerische Miene, die mir immer den Ruf eines Aufsässigen eingebracht hatte. Aber seine Augen, meergrün wie meine, waren umgeben von Fältchen, die mir verrieten, dass er auch gern lächelte.

Sein Thron sah aus wie der Sitz eines Hochseefischers. Es war ein schlichter drehbarer Sessel mit schwarzem Ledersitz und eingebautem Gestell für eine Angelrute. Statt einer Angel steckte darin jedoch ein Dreizack, dessen Spitzen von grünem Licht umflackert wurden.

Die Götter bewegten sich nicht, sie sagten nichts, aber in der Luft hing eine Spannung, als ob sie eben erst eine Auseinandersetzung beendet hätten.

Ich näherte mich dem Thron des Fischers und fiel davor auf die Knie. »Vater.« Ich wagte nicht aufzuschauen. Mein Herz hämmerte wie wild. Ich spürte die Energie, die die beiden Götter ausstrahlten. Wenn ich hier das Falsche sagte, könnten sie mich zweifellos zu Staub zerfallen lassen.

Zeus zu meiner Linken sagte: »Solltest du dich nicht zuerst an den Hausherrn wenden, Knabe?«

Ich hielt den Kopf gesenkt und wartete.

»Friede, Bruder«, sagte schließlich Poseidon. Seine Stimme rief meine frühesten Erinnerungen wach, Erinnerungen an ein warmes Glühen, das ich als Baby gespürt hatte, daran, wie sich die Hand des Gottes auf meiner Stirn anfühlte. »Der Junge ehrt seinen Vater. Das ist nur gut und richtig so.«

»Du bekennst dich also noch immer zu ihm?«, fragte Zeus mit drohender Stimme. »Du bekennst dich zu diesem Kind, das du trotz unseres geheiligten Eides gezeugt hast?«

»Ich habe meine Missetat eingestanden«, sagte Poseidon. »Jetzt möchte ich hören, was er zu sagen hat.«

Missetat.

Ich spürte einen Kloß im Hals. War ich denn nur das? Die Folge einer Missetat? Das Ergebnis eines göttlichen Fehltritts?

»Ich habe ihn schon einmal verschont«, knurrte Zeus. »Dass er es gewagt hat, durch mein Herrschaftsgebiet zu fliegen … ha! Für diese Unverschämtheit hätte ich ihn vom Himmel pusten müssen!«

»Um dabei deinen Herrscherblitz zu gefährden?«, fragte Poseidon gelassen. »Lass ihn jetzt sprechen, Bruder.«

Zeus knurrte deutlich hörbar. »Ich werde zuhören«, beschloss er dann. »Dann werde ich entscheiden, ob ich diesen Knaben vom Olymp werfen will oder nicht.«

»Perseus«, sagte Poseidon. »Sieh mich an.«

Das tat ich, aber ich wusste nicht recht, was ich in seinem Gesicht sah. Es gab keinen deutlichen Hinweis auf Liebe oder Wertschätzung. Nichts, was mich ermutigen konnte. Ich hätte auch den Ozean anschauen können. An manchen Tagen wusste man, in welcher Stimmung er war. An den meisten Tagen jedoch war er unergründlich, rätselhaft.

Ich hatte das Gefühl, dass Poseidon nicht wusste, was er von mir halten sollte. Er wusste nicht, ob er sich darüber freute, dass ich sein Sohn war, oder nicht. Irgendwie war ich froh darüber, dass Poseidon so distanziert war. Wenn er versucht hätte, sich zu entschuldigen, wenn er behauptet hätte, mich zu lieben, oder wenn er auch nur gelächelt hätte, wäre mir das falsch vorgekommen. Wie ein menschlicher Vater, der eine schwache Entschuldigung dafür vorbringt, dass er nie da ist, wenn sein Kind ihn braucht. Mit seiner Distanz konnte ich leben. Ich wusste ja auch noch nicht, was ich von ihm zu halten hatte.

»Sprich zum Herrn Zeus, Knabe«, befahl mir Poseidon. »Erzähl ihm deine Geschichte.«

Also erzählte ich Zeus alles, so wie es passiert war. Ich zog den Metallzylinder hervor, der in Anwesenheit des Himmelsgottes Funken sprühte, und legte ihn zu seinen Füßen nieder.

Ein langes Schweigen folgte, unterbrochen nur vom Knistern des Kaminfeuers.

Zeus öffnete die Hand. Der Blitzstrahl flog hinein. Als er die Faust ballte, loderten die Spitzen elektrisch auf, bis er etwas in der Hand hielt, das schon eher aussah wie ein klassischer Blitzstrahl: ein über sechs Meter langer Wurfspeer voller zischender, knisternder Energie, die meine Haare zu Berge stehen ließ.

»Ich spüre, dass der Knabe die Wahrheit spricht«, murmelte Zeus. »Aber dass Ares so etwas tun konnte … Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.«

»Er ist stolz und impulsiv«, sagte Poseidon. »Das liegt in der Familie.«

»Herr?«, fragte ich.

Beide sagten: »Ja?«

»Ares war nicht allein. Jemand anderes – etwas anderes – hat die Idee gehabt.«

Ich beschrieb meine Träume und das Gefühl, das ich am Strand gehabt hatte, diesen kurzen Hauch des Bösen, der die Welt anzuhalten schien und der Ares daran gehindert hatte, mich umzubringen.

»In meinen Träumen«, sagte ich, »hat die Stimme mir befohlen, den Blitzstrahl in die Unterwelt zu bringen. Ares hat angedeutet, dass auch er solche Träume hat. Ich glaube, dass er ebenso wie ich benutzt werden sollte, um einen Krieg auszulösen.«

»Du machst also doch Hades verantwortlich?«, fragte Zeus.

»Nein«, sagte ich. »Also, Herr Zeus, was ich sagen will, ist, ich war bei Hades. Das Gefühl am Strand war anders. Es war genau das, was ich auch gespürt habe, als ich vor dem Abgrund stand – am Eingang zum Tartarus, nicht wahr? Etwas Mächtiges und Böses bewegt sich dort unten … etwas, das noch älter ist als die Gottheiten.«

Poseidon und Zeus wechselten einen Blick. Sie führten eine kurze, intensive Diskussion auf Altgriechisch. Ich verstand nur ein Wort. Vater.

Poseidon schlug etwas vor, aber Zeus wehrte ab. Poseidon wollte widersprechen. Zeus hob erzürnt die Hand. »Wir reden nicht mehr darüber«, sagte Zeus. »Ich muss diesen Blitzstrahl eigenhändig in den Quellen von Lemnos läutern, um die Besudelung durch Menschenhand zu tilgen.«

Er erhob sich und sah mich an. Seine Miene wurde ein ganz klein wenig freundlicher. »Du hast mir einen Dienst erwiesen, Knabe. Nur wenige Helden hätten das schaffen können.«

»Ich hatte Hilfe, Sir«, sagte ich. »Grover Underwood und Annabeth Chase …«

»Um dir meine Dankbarkeit zu beweisen, werde ich dein Leben schonen. Ich traue dir nicht, Percy Jackson. Es gefällt mir nicht, was dein Erscheinen für die Zukunft des Olymps bedeutet. Aber um des Familienfriedens willen werde ich dich am Leben lassen.«

»Äh … danke, Sir.«

»Aber versuch ja nicht noch mal zu fliegen. Und lass dich bei meiner Rückkehr hier nicht mehr von mir erwischen. Sonst bekommst du diesen Blitzstrahl zu kosten. Und das wird dann das Letzte sein, was du jemals wahrnimmst.«

Donner ließ den Palast erbeben. Mit einem blendenden Blitz war Zeus verschwunden.

Ich war mit meinem Vater allein im Thronsaal.

»Dein Onkel«, sagte Poseidon seufzend, »hatte immer schon einen Sinn für dramatische Abgänge. Ich glaube, auch als Gott des Theaters hätte er sich gut gemacht.«

Ein unbehagliches Schweigen folgte.

»Sir«, sagte ich. »Was war das in der Grube?«

Poseidon sah mich an. »Hast du es nicht erraten?«

»Kronos«, sagte ich. »Der König der Titanen.«

Sogar im Thronsaal auf dem Olymp, weit entfernt vom Tartarus, verdüsterte der Name Kronos den Raum und das Feuer hinter mir kam mir nicht mehr ganz so warm vor.

Poseidon griff nach seinem Dreizack. »Im Ersten Krieg, Percy, hat Zeus unseren Vater Kronos in tausend Stücke gehackt, so wie Kronos das mit seinem eigenen Vater, Uranos, gemacht hatte. Zeus hat die Überreste des Kronos in die tiefste Grube des Tartarus geworfen. Die Titanenarmee wurde zerschlagen, ihre Bergfestung auf dem Ätna zerstört, die mit ihnen verbündeten Ungeheuer in die abgelegensten Winkel der Erde vertrieben. Aber Titanen können ebenso wenig sterben wie Götter. Was immer von Kronos übrig ist, lebt auf irgendeine entsetzliche Weise fort, ist sich noch immer seiner ewigen Qualen bewusst, hungert noch immer nach Macht.«

»Er ist auf dem Weg der Besserung«, sagte ich. »Er wird zurückkehren.«

Poseidon schüttelte den Kopf. »Von Zeit zu Zeit, im Laufe der Äonen, hat Kronos sich immer wieder bewegt. Er dringt in die Albträume der Menschen und haucht ihnen böse Gedanken ein. Er erweckt ruhelose Ungeheuer aus den Tiefen. Aber zu glauben, er könne aus seiner Grube entweichen, ist etwas ganz anderes.«

»Das hat er aber vor, Vater. Das hat er gesagt.«

Poseidon blieb lange stumm. Dann sagte er:

»Der Herr Zeus hat die Diskussion über diese Angelegenheit beendet. Er will nicht über Kronos sprechen. Du hast deine Aufgabe ausgeführt, Kind. Mehr wird von dir nicht erwartet.«

»Aber …« Ich verstummte. Widerspruch hätte mir nicht geholfen. Ich könnte damit nur den einzigen Gott erzürnen, der auf meiner Seite stand. »Wie … wie du wünschst, Vater.«

Ein leichtes Lächeln kräuselte seine Lippen. »Gehorsam ist nicht gerade deine starke Seite, was?«

»Nein … Sir.«

»Ich bin da wohl nicht ganz ohne Schuld. Das Meer lässt sich nicht gern bändigen.« Er erhob sich zu seiner vollen Größe und griff nach seinem Dreizack. Dann leuchtete er auf, nahm die Größe eines normalen Mannes an und stand plötzlich direkt vor mir. »Jetzt musst du gehen, Kind. Aber zuerst sollst du noch wissen, dass deine Mutter zurückgekehrt ist.«

Ich starrte ihn sprachlos vor Verblüffung an. »Meine Mutter?«

»Du wirst sie zu Hause finden. Hades hat sie gehen lassen, als du seinen Helm gefunden hattest. Sogar der Herr der Finsternis begleicht seine Schulden.«

Mein Herz hämmerte. Ich konnte es nicht glauben. »Hast du … würdest du …«

Ich wollte fragen, ob Poseidon mit mir zu ihr gehen wollte, aber dann wurde mir klar, dass diese Frage lächerlich wäre. Ich stellte mir vor, wie ich den Meeresgott in ein Taxi verfrachtete und mit ihm in die Upper East Side fuhr. Wenn er in all den Jahren Lust gehabt hätte, meine Mom zu sehen, dann hätte er sie aufgesucht. Und da war ja auch noch Gabe der Stinker.

Poseidons Augen sahen ein bisschen traurig aus. »Wenn du nach Hause kommst, Percy, musst du eine wichtige Entscheidung treffen. Du wirst in deinem Zimmer ein Paket finden.«

»Ein Paket?«

»Du wirst alles verstehen, wenn du es siehst. Niemand kann deinen Weg für dich wählen, Percy. Die Entscheidung liegt bei dir.«

Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was er meinte.

»Deine Mutter ist eine Königin unter den Frauen«, sagte Poseidon sehnsüchtig. »Mir ist seit tausend Jahren keine solche sterbliche Frau mehr begegnet. Aber trotzdem … es tut mir leid, dass du geboren worden bist, Kind. Ich habe dir das Schicksal eines Helden beschert und ein solches Schicksal ist niemals glücklich. Es ist immer nur tragisch.«

Ich versuchte mich nicht verletzt zu fühlen. Mein eigener Vater bereute, dass ich geboren worden war. »Das ist mir egal, Vater.«

»Im Moment vielleicht«, sagte er. »Im Moment. Aber meinerseits war es ein unverzeihlicher Fehler.«

»Dann gehe ich wohl besser.« Ich machte eine unbeholfene Verbeugung. »Ich werde dich nicht wieder belästigen.«

Ich hatte schon fünf Schritte zurückgelegt, als er rief: »Perseus!«

Ich fuhr herum.

In seinen Augen schimmerte ein neues Licht, eine Art feuriger Stolz. »Du hast deine Sache gut gemacht, Percy. Missversteh mich nicht. Was immer du auch unternehmen magst, vergiss nicht, dass du mein Sohn bist. Du bist der wahre Sohn des Meeresgottes.«

Als ich durch die Stadt der Götter zurückging, verstummten die Gespräche. Die Musen unterbrachen ihr Konzert. Menschenähnliche Wesen und Satyrn und Najaden drehten sich zu mir um und ihre Gesichter waren voller Achtung und Dankbarkeit. Sie knieten nieder, als sei auch ich eine Art Gottheit.

Fünfzehn Minuten darauf, noch immer wie in Trance, stand ich wieder auf den Straßen von Manhattan.

Ich fuhr mit einem Taxi zur Wohnung meiner Mutter, klingelte – und da war sie, meine wunderschöne Mutter, die nach Pfefferminz und Lakritz duftete, und Erschöpfung und Sorge verschwanden bei meinem Anblick sofort aus ihrem Gesicht.

»Percy! Ach, Gott sei Dank. O mein Kleiner!«

Sie drückte mich so, dass alle Luft aus mir entwich. Wir standen in der Diele und sie weinte und fuhr mir mit den Händen durch die Haare.

Ich gebe es ja zu – auch meine Augen wurden ein wenig feucht. Ich zitterte, so erleichtert war ich, als ich sie sah.

Sie erzählte mir, sie sei an diesem Morgen in der Wohnung aufgetaucht und habe Gabe einen Wahnsinnsschrecken eingejagt. Sie konnte sich an nichts erinnern, was nach der Sache mit dem Minotaurus passiert war, und wollte es nicht glauben, als Gabe ihr erzählte, ich sei ein gesuchter Verbrecher, der quer durch das Land zog und Nationaldenkmäler in die Luft sprengte. Sie war den ganzen Tag vor Sorge außer sich gewesen, weil sie nichts von mir gehört hatte. Gabe hatte sie gezwungen, zur Arbeit zu gehen, weil sie einen Monat lang keinen Lohn nach Hause gebracht habe und sich jetzt wirklich ranhalten müsse.

Ich schluckte meinen Zorn hinunter und erzählte ihr meine Geschichte, wobei ich versuchte, alles viel weniger gefährlich klingen zu lassen, als es gewesen war. Ich war gerade bei meinem Kampf mit Ares angekommen, als Gabes Stimme aus dem Wohnzimmer erscholl und mich unterbrach: »He, Sally, sind die Buletten endlich fertig?«

Sie schloss die Augen. »Er wird nicht gerade glücklich sein, wenn er dich sieht, Percy. Im Laden sind heute eine halbe Million Anrufe aus Los Angeles eingegangen … irgendwas wegen Gratisgeräten.«

»Ach ja. Also, das …«

Sie brachte ein müdes Lächeln zu Stande. »Mach ihn nicht noch wütender, ja? Los, komm.«

In dem Monat, seit ich zuletzt hier gewesen war, hatte die Wohnung sich in Gabeland verwandelt. Ich watete bis zu den Knöcheln durch Abfall. Das Sofa war mit Bierdosen gepolstert. Schmutzige Socken und Unterwäsche hingen von den Lampen.

Gabe und seine drei großen lauten Kumpels saßen am Tisch beim Poker.

Als Gabe mich sah, fiel ihm die Zigarre aus dem Mund. Sein Gesicht wurde röter als Lava. »Traust du dich noch her, du kleine Missgeburt. Ich dachte, die Polizei …«

»Er ist eben doch nicht durchgebrannt«, schaltete meine Mom sich ein. »Ist das nicht wunderbar, Gabe?«

Gabe ließ seinen Blick zwischen uns hin-und herwandern. Er schien meine Heimkehr kein bisschen wunderbar zu finden.

»Schlimm genug, dass ich das Geld für deine Lebensversicherung zurückzahlen musste, Sally«, grummelte er. »Bring mir das Telefon. Ich ruf die Bullen an.«

»Gabe, nein!«

Er hob die Augenbrauen. »Hast du eben ›nein‹ gesagt? Glaubst du wirklich, ich lass mir diese Missgeburt noch mal aufs Auge drücken? Ich kann ihn immer noch dafür vor Gericht bringen, dass er meinen Camaro ruiniert hat.«

»Aber …«

Er hob die Hand und meine Mutter zuckte zusammen.

Jetzt wurde mir endlich alles klar. Gabe hatte meine Mutter geschlagen. Ich wusste nicht, wann und wie oft. Aber ich war sicher, dass er es getan hatte. Vielleicht jahrelang, wenn ich nicht in der Nähe gewesen war.

In meiner Brust breitete sich wilder Zorn aus. Ich ging auf Gabe zu und zog instinktiv den Kugelschreiber aus meiner Tasche.

Er lachte nur. »Is’ was, du Missgeburt? Willst du was auf mir schreiben? Fass mich nur einmal an, dann endest du für immer im Knast, ist das klar?«

»Hör mal, Gabe«, schaltete sein Freund Eddie sich ein. »Das ist doch nur ein Kind.«

Gabe starrte ihn beleidigt an und äffte ihn mit Fistelstimme nach: »Nur ein Kind!«

Seine anderen Freunde lachten wie die Blöden.

»Aber ich will hier mal Gnade vor Recht ergehen lassen.« Gabe zeigte mir seine tabakgelben Zähne. »Ich geb dir fünf Minuten, um deinen Kram zu packen und von hier zu verschwinden. Danach ruf ich die Polizei!«

»Gabe«, bettelte meine Mutter.

»Er ist abgehauen«, sagte Gabe zu ihr. »Soll er doch wegbleiben.«

Es juckte mir in den Fingern, mein Schwert zu ziehen, aber seine Klinge hätte einen Menschen ja doch nicht verwunden können. Und Gabe war, wenn man nicht zu genau hinsah, eben doch ein Mensch.

Meine Mutter nahm meinen Arm. »Bitte, Percy. Komm jetzt. Wir gehen in dein Zimmer.«

Ich ließ mich von ihr wegziehen, aber meine Hände zitterten vor Wut.

Mein Zimmer war vollgestopft mit Gabes Müll. Ich sah Stapel von Autobatterien und einen verfaulenden Blumenstrauß mit einer Beileidskarte von irgendwem, der ihn in der Sendung von Barbara Walters gesehen hatte.

»Gabe ist im Moment nicht ganz er selbst, Schatz«, sagte meine Mutter zu mir. »Ich spreche später mit ihm. Bestimmt findet sich dann alles.«

»Mom, das wird sich niemals finden. Nicht solange Gabe hier ist.«

Sie rang verzweifelt die Hände. »Ich kann … du kannst für den Rest des Sommers mit mir zur Arbeit kommen. Im Herbst finden wir dann vielleicht ein neues Internat …«

»Mom.«

Sie schlug die Augen nieder. »Ich geb mir doch Mühe, Percy. Nur … ich brauche Zeit.«

Auf meinem Bett tauchte ein Paket auf. Jedenfalls hätte ich schwören können, dass es eben noch nicht dort gelegen hatte.

Es war ein verschlissener Karton, in den genau ein Basketball gepasst hätte. Die Paketkarte war in meiner eigenen Handschrift beschrieben:

AN DIE GÖTTER


Berg Olymp


600. Stock


Empire State Building


New York, NY


Mit besten Grüßen


Percy Jackson

Oben standen mit schwarzem Edding in deutlicher Männerschrift unsere Adresse und die Mitteilung ZURÜCK AN ABSENDER.

Und plötzlich begriff ich, was Poseidon auf dem Olymp zu mir gesagt hatte.

Ein Paket. Eine Entscheidung.

Was immer du auch unternehmen magst, vergiss nicht, dass du mein Sohn bist. Du bist der wahre Sohn des Meeresgottes.

Ich sah meine Mutter an. »Mom, möchtest du Gabe los sein?«

»Percy, so einfach ist das nicht. Ich …«

»Mom, sag es mir einfach. Der Mistkerl hat dich geschlagen. Willst du ihn los sein oder nicht?«

Sie zögerte, dann nickte sie fast unmerklich. »Ja, Percy, das will ich. Und ich versuche den Mut aufzubringen, es ihm zu sagen. Aber das kannst du mir nicht abnehmen. Du kannst meine Probleme nicht lösen.«

Ich sah den Karton an.

Ich konnte ihr Problem sehr wohl lösen. Ich hätte den Karton gern aufgerissen, ihn auf den Pokertisch gestellt und seinen Inhalt herausgeholt. Ich hätte mir einen Garten voller Statuen anlegen können, direkt dort im Wohnzimmer.

Das hätte ein griechischer Held in einer Sage gemacht, dachte ich. Und Gabe hätte es verdient.

Aber die Heldengeschichten endeten immer tragisch. Das hatte Poseidon mir gesagt.

Mir fiel die Unterwelt ein. Ich dachte an Gabes Geist, wie er für immer über den Asphodeliengrund schwebte oder hinter dem Stacheldraht der Felder der Bestrafung zu einer entsetzlichen Qual verurteilt werden würde – zu einer ewigen Pokerrunde, bei der er bis zur Hüfte in siedendem Öl saß und sich Opern anhören musste. Hatte ich das Recht, jemanden dorthin zu schicken? Selbst, wenn dieser Jemand Gabe war?

Einen Monat zuvor hätte ich nicht gezögert. Jetzt aber …

»Ich kann es«, sagte ich zu meiner Mom. »Er braucht nur einen Blick in diesen Karton zu werfen und er wird dich nie wieder belästigen.«

Sie sah das Paket an und schien sofort zu begreifen. »Nein, Percy«, sagte sie und trat zurück. »Das kannst du nicht tun.«

»Poseidon hat dich eine Königin genannt«, sagte ich. »Er sagt, dass er seit tausend Jahren keine Frau wie dich getroffen hat.«

Ihre Wangen wurden rot. »Percy …«

»Du hast etwas Besseres verdient als dieses Leben, Mom. Du müsstest aufs College gehen, deinen Abschluss machen. Du könntest deinen Roman schreiben, vielleicht einen netten Typen kennenlernen, in einem schönen Haus wohnen. Du brauchst mich nicht mehr zu beschützen, indem du bei Gabe bleibst. Bitte, lass mich dafür sorgen, dass er verschwindet.«

Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Du hörst dich so sehr an wie dein Vater«, sagte sie. »Der wollte einmal für mich die Flut aufhalten. Er wollte mir auf dem Meeresgrund einen Palast bauen. Er glaubte, mit einer einzigen Handbewegung all meine Probleme lösen zu können.«

»Was wäre daran so schrecklich?«

Ihre Augen mit den vielen Farben schienen etwas in mir zu suchen. »Ich glaube, das weißt du, Percy. Ich glaube, du bist mir ähnlich genug, um zu verstehen. Wenn mein Leben irgendeinen Sinn haben soll, dann muss ich es selbst leben. Ich kann mir nicht von einem Gott alles abnehmen lassen … oder von meinem Sohn. Ich muss … ich muss selbst den Mut aufbringen. Das hat dein Abenteuer mir klargemacht.«

Wir hörten Fluchen und Kartenknallen aus dem Wohnzimmer. Und dazu den Lärm des Fernsehers.

»Ich lass den Karton hier«, sagte ich. »Wenn er dich bedroht …«

Sie wurde blass, nickte aber. »Wohin gehst du, Percy?«

»Half-Blood Hill.«

»Für den Sommer … oder für immer?«

»Das kommt wohl darauf an.«

Wir schauten einander an und ich spürte, dass wir uns verstanden hatten. Wir würden die Lage nach dem Sommer neu überdenken.

Sie küsste mich auf die Stirn. »Du wirst ein Held werden, Percy. Der größte von allen.«

Ich schaute mich ein letztes Mal in meinem Zimmer um. Ich hatte das Gefühl, dass ich es niemals wiedersehen würde. Dann ging ich mit meiner Mutter zur Wohnungstür.

»Gehst du schon, Missgeburt?«, rief Gabe hinter mir her. »Fort mit Schaden!«

Ich verspürte einen letzten Zweifel. Konnte ich wirklich die perfekte Möglichkeit, uns von ihm zu befreien, ungenutzt lassen? Ich ging weg, ohne meine Mutter zu retten.

»He, Sally«, schrie er. »Was ist denn jetzt mit den Buletten?«

Zorn flackerte in den Augen meiner Mutter auf und ich dachte, vielleicht, ganz vielleicht ließ ich sie ja doch in guten Händen zurück. Ihren eigenen.

»Die kommen gleich, Schatz«, rief sie Gabe zu. »Überraschungsbuletten.«

Sie schaute mich an und zwinkerte.

Bevor die Tür zufiel, sah ich meine Mutter Gabe anstarren und überlegen, wie er sich wohl als Gartenstatue machen würde.


Die Weissagung geht in Erfüllung

Wir waren seit Luke die ersten Helden, die lebendig nach Half-Blood Hill zurückkehrten, weshalb uns natürlich alle Welt behandelte, als ob wir im Fernsehen einen Reality Contest gewonnen hätten. Der Camptradition zufolge trugen wir Lorbeerkränze auf dem großen Fest, das zu unseren Ehren vorbereitet wurde, und wir führten eine Prozession zum Freudenfeuer an, wo wir die Leichenhemden verbrannten, die unsere Hütten während unserer Abwesenheit für uns angefertigt hatten.

Annabeths Hemd war wunderschön – graue, mit Eulen bestickte Seide – und ich sagte ihr, es sei eine Schande, sie darin nicht beerdigen zu können. Worauf sie mir einen Stoß versetzte und erwiderte: »Halt die Klappe.«

Ich, der Sohn des Poseidon, war ja allein in meiner Hütte, deshalb hatte die Areshütte angeboten, mein Leichenhemd herzustellen. Sie hatten ein altes Bettlaken genommen und es am Rand mit Smileys bemalt, die Augen der Smileys hatten sie mit großen X ausgestrichen und in der Mitte stand ganz dick das Wort »Versager«.

Es machte Spaß, dieses Leichenhemd zu verbrennen.

Während Apollos Hütte den Rundgesang leitete und Marshmallows mit Schokolade röstete, saß ich bei meinen alten Mitbewohnern aus der Hermeshütte, Annabeths Freundinnen aus der Athenehütte und Grovers Kumpeln von der Satyrfraktion, die die nagelneue Suchlizenz bewunderten, die er vom Rat der behuften Älteren erhalten hatte. Der Rat hatte Grovers Leistung bei unserem Einsatz als »Mutig bis zur Verdauungsstörung« bezeichnet. »Mehrere Hörner-und-Bart-Klassen über allem, was wir in der Vergangenheit gesehen haben.«

Die Einzigen, die nicht in Partystimmung waren, waren Clarisse und die anderen aus ihrer Hütte; ihre giftigen Blicke verrieten mir, dass sie niemals verzeihen würden, dass ich ihren Dad lächerlich gemacht hatte.

Aber damit konnte ich leben.

Nicht einmal Dionysos’ Willkommensrede konnte meiner guten Laune einen Dämpfer verpassen. »Ja, ja, hat der kleine Bengel sich also nicht umbringen lassen und wird die Nase jetzt noch höher tragen. Na, darauf rufen wir doch hussa. Ansonsten wird bekannt gegeben, dass es am Sonntag kein Kanurennen geben wird …«

Ich wohnte jetzt wieder in Hütte 3, fühlte mich dort aber nicht mehr so einsam. Tagsüber konnte ich mit meinen Freunden trainieren. Nachts lag ich wach und horchte auf das Meer und wusste, dass mein Vater dort war. Vielleicht wusste er noch immer nicht so recht, was er von mir halten sollte, vielleicht hatte er wirklich nicht gewollt, dass ich geboren wurde, aber er behielt mich im Auge. Und bisher war er stolz auf das, was ich geleistet hatte.

Meine Mutter hatte eine Chance auf ein neues Leben bekommen. Eine Woche nach meiner Rückkehr ins Camp traf ein Brief von ihr ein. Sie erzählte, Gabe sei auf unbegreifliche Weise verschwunden – er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Sie hatte ihn bei der Polizei als vermisst gemeldet, hatte aber das seltsame Gefühl, dass die ihn niemals finden würde.

Die andere Mitteilung hatte damit gar nichts zu tun: Sie hatte ihre erste lebensgroße Skulptur verkauft, das Werk »Die Pokerpartie«, und zwar über eine Kunstgalerie in SoHo an einen Sammler. Dafür hatte sie so viel Geld bekommen, dass sie die Kaution für eine neue Wohnung bezahlen konnte und nun im ersten Semester an der Universität von New York studierte. Die Galerie in SoHo schrie nach weiteren Werken, die dort als »ein großer Fortschritt im superhässlichen Neorealismus« bezeichnet wurden.

Aber mach dir keine Sorgen, schrieb meine Mom. Mit Skulpturen bin ich durch. Ich habe auch den Karton mit dem Werkzeug weggegeben, den du hiergelassen hattest. Es wird Zeit, mich dem Schreiben zuzuwenden.

Unter den Brief hatte sie ein PS geschrieben: Percy, ich habe hier in der City eine gute Privatschule gefunden. Ich habe für dich ein Depositum bezahlt, für den Fall, dass du dort in die siebte Klasse gehen magst. Dann könntest du zu Hause wohnen. Aber wenn du lieber das ganze Jahr in Half-Blood Hill bleiben möchtest, dann kann ich das auch verstehen.

Ich faltete den Brief sorgfältig zusammen und legte ihn auf meinen Nachttisch. Ich las ihn jeden Abend vor dem Einschlafen und versuchte zu entscheiden, was ich antworten sollte.

Am 4. Juli versammelte das ganze Camp sich am Strand, weil Hütte 9 ein Feuerwerk veranstalten wollte. Als Kinder des Hephaistos wollten sie sich nicht mit ein paar öden blau-weiß-roten Explosionen zufriedengeben. Sie hatten im Wasser ein Boot verankert und es mit Raketen von der Größe von Patriot Missiles beladen. Annabeth, die das alles schon mal gesehen hatte, erzählte, die Explosionen würden so dicht aufeinander folgen, dass sie wie Comicfilme über den Himmel flammten. Als Finale sollte ein mehrere hundert Meter großer spartanischer Krieger über dem Ozean zum Leben erwachen, einen Kampf ausfechten und sich dann in eine Million Farben auflösen.

Als Annabeth und ich eine Picknickdecke ausbreiteten, tauchte Grover auf, um sich von uns zu verabschieden. Er trug wie üblich Jeans, T-Shirt und Turnschuhe, aber seit ein paar Wochen sah er älter aus, fast schon nach High School. Sein Kinnbart war kräftiger geworden. Er hatte zugenommen. Seine Hörner waren mindestens zwei Zentimeter gewachsen, deshalb musste er jetzt immer seine Rastamütze tragen, um als Mensch durchgehen zu können.

»Ich breche auf«, sagte er. »Ich wollte nur sagen … na ja, ihr wisst schon.«

Ich versuchte, mich für ihn zu freuen. Schließlich erhielt nicht jeden Tag ein Satyr die Erlaubnis, sich auf die Suche nach dem großen Gott Pan zu machen. Aber der Abschied fiel mir schwer. Ich kannte Grover erst seit einem Jahr, aber trotzdem war er mein ältester Freund.

Annabeth umarmte ihn. Sie ermahnte ihn, ja seine Fußattrappen zu tragen.

Ich fragte ihn, wo er mit der Suche beginnen werde.

»Ist eine Art Geheimnis«, sagte er und sah verlegen aus. »Ich wünschte, ihr könntet mitkommen, aber Menschen und Pan …«

»Alles klar«, sagte Annabeth. »Hast du genug Blechdosen für unterwegs?«

»Ja.«

»Und hast du an deine Rohrflöten gedacht?«

»Himmel, Annabeth«, meckerte er. »Du bist wie eine alte Ziegenmama.«

Aber er hörte sich nicht wirklich genervt an.

Er packte seinen Wanderstab und warf sich einen Rucksack über die Schulter. Er sah aus wie ein ganz normaler Tramper auf einem Highway in den USA – überhaupt nicht wie der kleine Junge, den ich vor den Schlägern auf der Yancy Academy beschützt hatte.

»Na dann«, sagte er. »Wünscht mir alles Gute.«

Er drückte Annabeth noch einmal an sich. Dann klopfte er mir auf die Schulter und verschwand in den Dünen.

Über uns explodierte das Feuerwerk. Herkules erschlug den Nemeischen Löwen, Artemis jagte den Eber, George Washington (der übrigens ein Sohn der Athene war) überschritt den Delaware.

»He, Grover«, rief ich.

Er war schon am Rand des Waldes, als er sich umdrehte.

»Wo du auch hingehst – ich hoffe, da gibt’s gute Enchiladas!«

Grover grinste, dann war er verschwunden und der Wald schloss sich um ihn.

»Wir sehen ihn wieder«, sagte Annabeth.

Ich versuchte daran zu glauben. Die Tatsache, dass in zweitausend Jahren kein Sucher jemals zurückgekehrt war … Na ja, ich beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Grover würde der erste sein. Das musste er einfach.

Der Juli verging.

Ich verbrachte meine Zeit damit, mir neue Strategien für die Flaggeneroberung auszudenken und mich mit anderen Hütten zu verbünden, damit die Flagge nicht in Ares’ Hände fallen konnte. Ich erreichte zum ersten Mal den Gipfel der Kletterwand, ohne von Lava verbrannt zu werden.

Ab und zu ging ich am Hauptgebäude vorüber, schaute zu den Mansardenfenstern hoch und dachte an das Orakel. Ich versuchte mir einzureden, dass seine Weissagung sich bereits erfüllt hatte.

Du gehst gen Westen, zu dem Gott, der sich gewendet.

Dort gewesen, alles erledigt – auch wenn sich Ares als der Verräter erwiesen hatte, nicht Hades.

Das, was gestohlen, legst du in die richt’gen Hände.

Abgehakt. Ein Herrscherblitz war abgeliefert worden. Der Helm der Finsternis zurück auf Hades’ pomadisiertem Kopf.

Ein Freund begeht an dir Verrat, der bitter schmerzt.

Diese Zeile machte mir noch immer zu schaffen. Ares hatte sich als mein Freund ausgegeben und mich dann verraten. Sicher hatte das Orakel das gemeint …

Und du versagst just dort, wo es betrifft dein Herz.

Ich hatte meine Mom nicht gerettet, aber nur um es ihr zu ermöglichen, sich selbst zu retten, und ich wusste, dass das richtig so gewesen war.

Warum also machte ich mir noch immer Sorgen?

Viel zu schnell war der letzte Abend des Sommers gekommen.

Wir aßen ein letztes Mahl zusammen. Wir opferten einen Teil unseres Essens den Gottheiten. Am Feuer überreichten die Berater uns unsere Tonperlen.

Ich erhielt mein Lederhalsband, und als ich die Perle für meinen ersten Sommer sah, war ich froh, dass das Licht des Lagerfeuers mein Erröten verbarg. Die Perle war pechschwarz, in der Mitte funkelte ein meergrüner Dreizack.

»Das wurde einstimmig beschlossen«, sagte Luke. »Diese Perle soll an den ersten Sohn des Meeresgottes hier im Camp erinnern und an den Auftrag, der ihn in den finstersten Teil der Unterwelt geführt hat, um einen Krieg zu verhindern.«

Alle sprangen auf und applaudierten. Sogar Ares’ Hütte fühlte sich dazu verpflichtet. Die aus Athenes Hütte schoben Annabeth nach vorn, damit auch sie am Applaus teilhaben konnte.

Ich weiß nicht, ob ich mich jemals so glücklich und traurig zugleich gefühlt habe wie in diesem Moment. Endlich hatte ich eine Familie gefunden, Menschen, denen ich wichtig war und die glaubten, dass ich etwas richtig gemacht hatte. Und am Morgen würden die meisten von ihnen für ein Jahr das Camp verlassen.

Am nächsten Morgen fand ich auf meinem Nachttisch einen Formbrief.

Ich wusste, dass Dionysos ihn ausgefüllt hatte, denn er schaffte es noch immer nicht, sich meinen Namen zu merken.

Lieber Peter Johnson,


falls du ganzjährig im Camp Half-Blood bleiben möchtest, musst du bis heute Mittag um zwölf das Haupthaus darüber informieren. Wenn diese Meldung ausbleibt, gehen wir davon aus, dass du deine Hütte geräumt hast oder eines entsetzlichen Todes gestorben bist. Bei Sonnenuntergang werden Putzharpyien ihre Arbeit aufnehmen. Sie sind befugt, alle nicht registrierten Campbewohner zu verschlingen. Alle persönlichen Besitztümer, die sich noch in der Hütte befinden, werden in der Lavagrube eingeäschert.


Einen schönen Tag noch.


Mr D (Dionysos)


Campleiter, Olympischer Rat #12

Auch das gehört zu ADHD. Fristen kommen mir ganz unwirklich vor, solange sie mir nicht ins Gesicht springen. Der Sommer war zu Ende, aber ich hatte weder meiner Mutter noch dem Camp gesagt, ob ich bleiben wollte. Und jetzt hatte ich nur noch wenige Stunden, um mich zu entscheiden.

Die Entscheidung hätte mir eigentlich nicht schwerfallen dürfen. Ich meine, neun Monate Heldentraining oder neun Monate Herumsitzen in einem Klassenzimmer – meine Fresse.

Aber ich musste auch an meine Mom denken. Zum ersten Mal hatte ich die Möglichkeit, ein ganzes Jahr bei ihr zu wohnen, ohne Gabe. Ich hatte die Möglichkeit, nach Hause zu fahren und mich nach Herzenslust in der Stadt herumzutreiben. Ich dachte an das, was Annabeth mir vor langer Zeit, während unseres Auftrags, gesagt hatte: Die wirkliche Welt ist da, wo die Ungeheuer sind. Da erfährst du, ob du etwas taugst oder nicht.

Ich dachte an das Schicksal von Thalia, der Tochter des Zeus. Ich fragte mich, wie viele Ungeheuer mich angreifen würden, wenn ich Half-Blood Hill verließ. Wenn ich das ganze Schuljahr hindurch an einem Ort ohne Chiron oder meine Freunde verbrachte, die mir helfen könnten, würden meine Mutter und erst recht ich bis zum nächsten Sommer überleben? Falls mich Rechtschreibklausuren und Erlebnisaufsätze nicht vorher umbrachten. Ich beschloss, in die Arena zu gehen und ein wenig Schwertkampf zu trainieren. Vielleicht würde ich dabei einen klaren Kopf bekommen.

Das Camp lag verlassen da, es flimmerte in der Augusthitze. Alle Bewohner waren in ihren Hütten und packten oder rannten mit Besen und Mopps durch die Gegend, um alles für die letzte Inspektion vorzubereiten. Argus half einigen Kindern der Aphrodite dabei, ihre Guccitaschen und Make-up-Koffer über den Hügel zu schleppen, wo der Bus des Camps schon wartete, um sie zum Flugplatz zu bringen.

Denk noch nicht an den Aufbruch, sagte ich mir. Trainier einfach.

Ich ging zur Arena der Schwertkämpfer und stellte fest, dass Luke dieselbe Idee gehabt hatte. Seine Trainingstasche lag am Rand des Platzes. Er war allein und schlug mit einem Schwert, das ich noch nie gesehen hatte, auf Pappkameraden ein. Offenbar besaß dieses Schwert eine echte Stahlschneide, denn er köpfte die Pappkameraden mühelos und durchbohrte ihre mit Stroh ausgestopften Wänste. Sein orangefarbenes Tutorenhemd triefte vor Schweiß. Er sah so konzentriert aus, als schwebte er wirklich in Lebensgefahr. Ich sah fasziniert zu, wie er die ganze Reihe von Pappkameraden ausweidete – er hackte ihnen die Glieder ab und reduzierte sie zu einem Haufen aus Stroh und Rüstungsresten.

Es waren nur Pappkameraden, aber trotzdem bewunderte ich Lukes Geschick. Er war ein unglaublicher Kämpfer und wieder fragte ich mich, wie es möglich sein konnte, dass er bei seinem Auftrag versagt hatte.

Endlich sah er mich und hielt mitten in einem Schlag inne. »Percy.«

»Äh, tut mir leid«, sagte ich verlegen. »Ich wollte nur …«

»Schon gut«, sagte er und ließ sein Schwert sinken. »Nur eine letzte Runde Training.«

»Diese Pappkameraden können jedenfalls niemandem mehr etwas tun.«

Luke zuckte mit den Schultern. »Wir basteln jeden Sommer neue.«

Da sein Schwert jetzt nicht mehr durch die Luft wirbelte, sah ich seine Besonderheit. Die Klinge war aus zwei verschiedenen Metallen geschmiedet, die eine Schneide war aus Bronze, die andere aus Stahl.

Luke fing meinen Blick auf. »Ach, das? Neues Spielzeug. Das ist Rückenbeißer.«

»Rückenbeißer?«

Luke drehte die Schneide ins Licht und sie funkelte boshaft auf. »Die eine Seite ist aus himmlischer Bronze. Die andere aus gehärtetem Stahl. Wirkt bei Unsterblichen und Sterblichen gleichermaßen.«

Ich dachte daran, was Chiron mir vor Beginn meines Auftrags eingeschärft hatte – dass ein Held Sterbliche nur verletzen sollte, wenn es wirklich gar nicht anders geht.

»Ich wusste nicht, dass sie solche Waffen herstellen können.«

»Sie können das vermutlich auch nicht«, sagte Luke. »Das ist ein Einzelstück.«

Er lächelte kurz und schob das Schwert in die Scheide. »Hör mal, ich wollte dich schon suchen. Lass uns ein letztes Mal in den Wald gehen und nach etwas Ausschau halten, mit dem wir kämpfen können.«

Ich weiß nicht, warum ich zögerte. Ich hätte erleichtert sein müssen, dass Luke so nett war. Seit ich von meinem Auftrag zurückgekehrt war, hatte er sich ein wenig distanziert verhalten. Ich hatte schon Angst, er könnte mir die viele Aufmerksamkeit verübeln, die mir zuteilgeworden war.

»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte ich. »Ich meine …«

»Ach, komm schon.« Er wühlte in seiner Sporttasche und zog sechs Cokes heraus. »Ich geb die Getränke aus.«

Ich starrte die Cokes an und fragte mich, wo zum Henker er die wohl herhatte. Im Campkiosk gab es keine Sterblichen-Getränke. Und man konnte auch keine einschmuggeln, wenn man nicht einen Satyrn überredet hatte.

Natürlich füllten die magischen Kelche beim Essen sich mit allem, was man sich wünschte, aber es schmeckte doch nicht wie echte Cola direkt aus der Dose.

Zucker und Koffein. Meine Willenskraft ließ nach.

»Na gut«, sagte ich. »Warum nicht?«

Wir gingen in den Wald und hielten Ausschau nach einem Ungeheuer, gegen das wir kämpfen könnten, aber es war zu heiß. Alle Monster, denen auch nur ein Rest Vernunft verblieben war, hielten sicher in ihren schönen kühlen Höhlen Siesta.

Загрузка...