Klasse, dachte ich. Ich verpass den ganzen Spaß, wie immer.
Dann hörte ich ganz in der Nähe ein Geräusch, das mir eine Gänsehaut machte: ein leises Hundeknurren.
Ich hob instinktiv meinen Schild; ich hatte das Gefühl, dass sich etwas an mich heranschlich.
Dann verstummte das Knurren. Ich spürte, wie dieses Etwas sich zurückzog.
Am anderen Bachufer schien das Unterholz zu explodieren. Fünf Areskrieger brachen grölend und schreiend aus der Dunkelheit.
»Haut ihn zu Brei!«, kreischte Clarisse.
Ihre hässlichen Schweinsaugen starrten mich durch die Schlitze in ihrem Helm an. Sie schwenkte einen ein Meter fünfzig langen Speer, dessen metallene Spitze rötlich flackerte. Ihre Geschwister hatten nur die üblichen Bronzeschwerter – was mir allerdings kein Trost war.
Sie jagten über den Bach. Nirgendwo war Hilfe zu sehen. Ich konnte davonlaufen. Oder mich gegen die halbe Areshütte verteidigen.
Ich konnte dem ersten Schlag ausweichen, aber diese Leute waren nicht so blöd wie der Minotaurus. Sie umzingelten mich und Clarisse stieß mit ihrem Speer nach mir. Mein Schild ließ die Spitze abgleiten, aber ich spürte im ganzen Leib ein schmerzhaftes Brennen. Meine Haare sträubten sich. Mein Schildarm verlor jegliches Gefühl. Die Luft brannte.
Elektrizität. Ihr bescheuerter Speer war elektrisch geladen. Ich wich zurück.
Ein anderer Arestyp traf meine Brust mit seinem Schwertknauf und ich landete im Dreck.
Sie hätten mich zu Gelee zertreten können, wenn sie nicht so sehr mit Lachen beschäftigt gewesen wären.
»Verpass ihm eine neue Frisur«, sagte Clarisse. »Pack ihn an den Haaren.«
Ich kam irgendwie auf die Beine. Ich hob mein Schwert, aber Clarisse schob es mit ihrem Speer beiseite und dabei stoben die Funken nur so. Jetzt waren meine Arme beide betäubt.
»Ach herrje«, sagte Clarisse. »Was hab ich eine Angst vor dem Kerl. Eine Höllenangst!«
»Die Flagge ist dahinten«, sagte ich zu ihr. Ich wollte mich wütend anhören, aber ich hatte das unangenehme Gefühl, dass mir das nicht gelang.
»Ja«, sagte eins von ihren Geschwistern. »Aber weißt du was, die Flagge ist uns ganz egal. Was uns nicht egal ist, ist so ein Typ, der unsere Hütte blöd aussehen lässt.«
»Das schafft ihr auch ohne meine Hilfe«, sagte ich daraufhin. Was vermutlich nicht gerade ein weiser Spruch war.
Zwei von ihnen kamen auf mich zu. Ich wich zum Bach zurück und versuchte meinen Schild zu heben, aber Clarisse war zu schnell. Ihr Speer traf meine Rippen. Wenn ich keinen gepanzerten Brustharnisch getragen hätte, hätte sie Schaschlik aus mir gemacht. So schüttelte die elektrische Speerspitze mir nur fast die Zähne aus dem Mund. Einer von ihren Mitbewohnern zog sein Schwert über meinen Arm. Es hinterließ eine ziemlich große Wunde.
Beim Anblick meines Blutes wurde mir schwindlig, heiß und kalt zugleich.
»Verstümmeln ist verboten«, konnte ich herausbringen.
»Huch«, sagte der Typ darauf. »Da wird mir vermutlich der Nachtisch gestrichen.«
Er stieß mich in den Bach und ich fiel klatschend ins Wasser. Alle lachten. Es sah so aus, als müsste ich sterben, wenn sie sich ausreichend amüsiert hätten. Aber dann passierte etwas. Das Wasser schien meine Sinne zu wecken, so als ob ich soeben eine Tüte von den Doppelespresso-Bonbons meiner Mom verzehrt hätte.
Clarisse und ihre Mitbewohner stiegen in den Bach, um mich fertigzumachen, aber ich war schon aufgesprungen. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich schlug mit der flachen Seite meines Schwertes nach dem Kopf des ersten Typen und fegte ihm den Helm vom Schopf. Ich traf ihn so hart, dass ich sehen konnte, wie seine Augen zitterten, als er ins Wasser fiel.
Hässlich Nr. 2 und Hässlich Nr. 3 kamen auf mich zu. Ich traf einen mit meinem Schild im Gesicht und nahm mein Schwert, um dem anderen die Helmzier vom Helm zu rasieren. Beide wichen schnell zurück. Hässlich Nr. 4 schien keine große Lust zum Angriff zu haben, aber Clarisse ließ nicht locker. Ihre Speerspitze knisterte vor Energie. Als sie zuschlug, fing ich den Speer zwischen meinem Schild und meinem Schwert und zerbrach ihn wie einen Zweig.
»Ah!«, schrie sie. »Du Idiot! Du Leichenwurm!«
Sie hätte vermutlich noch schlimmere Dinge gesagt, aber ich traf sie mit dem Schwertknauf zwischen den Augen und sie taumelte rückwärts ans Ufer.
Dann hörte ich laute, begeisterte Schreie und sah Luke, der, die Flagge des roten Teams hoch erhoben, auf die Grenze zurannte. Er wurde von zwei Hermestypen gedeckt, und einige Apollos hinter ihm schlugen die Kinder des Hephaistos zurück. Die Aresleute kamen auf die Beine und Clarisse murmelte eine benommene Verwünschung.
»Ein Trick!«, brüllte sie. »Das war ein Trick!«
Sie wankten hinter Luke her, aber es war zu spät. Alles strömte am Bach zusammen, als Luke unser Territorium erreichte. Unsere Seite jubelte los. Das rote Banner schimmerte und verwandelte sich in Silber. Eber und Speer mussten einem riesigen Caduceus weichen, dem Symbol von Hütte 11. Die Leute vom blauen Team hoben Luke auf ihre Schultern und trugen ihn umher. Chiron kam aus dem Wald getrabt und stieß in das Muschelhorn.
Der Kampf war zu Ende. Wir hatten gesiegt.
Ich wollte mich schon den Feiernden anschließen, als neben mir im Bach Annabeths Stimme sagte: »Gar nicht so schlecht, Held.«
Ich sah mich nach ihr um, aber sie war nicht da.
»Wo zum Henker hast du so gut kämpfen gelernt?«, fragte sie. Die Luft schimmerte und nun wurde Annabeth sichtbar, sie hielt eine Baseballmütze mit dem Emblem der Yankees in der Hand und schien sie sich eben erst vom Kopf genommen zu haben.
Ich merkte, wie ich wütend wurde. Nicht einmal die Tatsache, dass sie sich unsichtbar machen konnte, interessierte mich jetzt. »Du hast mich ins offene Messer laufen lassen«, sagte ich. »Du hast mich hier eingesetzt, weil du gewusst hast, dass Clarisse es auf mich abgesehen hatte, und deshalb hast du Luke um die Flanke herumgeschickt. Du hattest dir das genau überlegt.«
Annabeth zuckte mit den Schultern. »Das hab ich dir doch gesagt. Athene hat immer einen Plan.«
»Einen Plan, um Hackfleisch aus mir zu machen?«
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ich wollte mich gerade einschalten, aber …« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Du hast ja gar keine Hilfe gebraucht.«
Dann sah sie die Wunde an meinem Arm. »Wie hast du das gemacht?«
»Schwerthieb«, sagte ich. »Was hast du denn gedacht?«
»Nein. Das war mal ein Schwerthieb. Sieh es dir doch an.«
Das Blut war verschwunden. Wo die rote Wunde geklafft hatte, war jetzt eine lange weiße Narbe und auch die wurde blasser. Vor meinen Augen verwandelte sie sich in einen Strich und war dann nicht mehr zu sehen.
»Das … das kapier ich nicht«, sagte ich.
Ich konnte förmlich sehen, wie Annabeth sich den Kopf zerbrach, wie es in ihrem Hirn ratterte. Sie starrte meine Füße an, dann Clarisse’ zerbrochenen Speer und dann sagte sie: »Komm aus dem Wasser, Percy.«
»Wieso …«
»Mach es einfach.«
Ich trat aus dem Bach und war sofort todmüde. Meine Arme wurden wieder gefühllos. Der Adrenalinkick verflog. Ich wäre fast hingefallen, aber Annabeth hielt mich fest.
»Ach, beim Styx«, fluchte sie. »Das ist überhaupt nicht gut. Ich wollte nicht … Ich dachte, es wäre Zeus …«
Ehe ich sie fragen konnte, was sie meinte, hörte ich wieder das Hundeknurren, diesmal viel näher als vorhin. Ein Heulen lief durch den Wald.
Sofort verstummte der Jubel der Campbewohner. Chiron rief etwas auf Altgriechisch und mir ging erst später auf, dass ich ihn sehr gut verstanden hatte: »Macht euch bereit! Mein Bogen!«
Annabeth zog ihr Schwert.
Auf den Felsen, unmittelbar über uns, stand ein schwarzer Hund von der Größe eines Rhinozeros, mit lavaroten Augen und Reißzähnen wie Dolchen.
Er schaute direkt auf mich herab.
Niemand bewegte sich. Annabeth schrie: »Percy! Lauf!«
Sie versuchte vor mich zu treten, aber der Hund war zu schnell. Er sprang über sie hinweg – ein riesiger Schatten mit Zähnen –, und als er mich traf, als ich rückwärtstaumelte und spürte, wie seine rasierklingenscharfen Zähne meine Rüstung zerfetzten, hörte ich ein lautes Knistern, als ob vierzig Blatt Papier nacheinander zerrissen würden. Ein Büschel Pfeile ragte aus dem Hals des Hundes. Das Ungeheuer fiel tot vor meine Füße.
Durch irgendein Wunder war ich noch immer am Leben. Ich wollte nicht sehen, wie es unter den Resten meiner Rüstung aussah. Meine Brust fühlte sich heiß und nass an und ich wusste, dass ich ernstlich verletzt war. Noch eine Sekunde und das Monster hätte mich in hundert Pfund Hackfleisch verwandelt.
Chiron trat mit grimmigem Gesicht neben uns, den Bogen in der Hand.
»Bei den Göttern«, sagte Annabeth. »Das ist ein Höllenhund von den Feldern der Bestrafung. Sie dürfen nicht … die sollten eigentlich nicht …«
»Irgendwer hat ihn gerufen«, sagte Chiron. »Irgendwer hier im Camp.«
Luke kam zu uns herüber, die Flagge in seiner Hand war vergessen, sein Triumph verflogen.
Clarisse schrie: »Percy ist an allem schuld! Percy hat ihn gerufen!«
»Sei still, Kind«, sagte Chiron zu ihr.
Wir sahen zu, wie der Leichnam des Höllenhundes sich in Schatten auflöste, mit dem Boden verschmolz und dann verschwunden war.
»Du bist verletzt«, sagte Annabeth zu mir. »Schnell, Percy, ins Wasser mit dir.«
»Mir geht es gut.«
»Nein, tut es nicht«, sagte sie. »Chiron, sieh dir das an.«
Ich war zu erschöpft, um zu widersprechen. Ich trat zurück in den Bach und alle aus dem Lager umringten mich.
Sofort ging es mir besser. Ich spürte, wie die Wunden in meiner Brust sich schlossen. Einige der Umstehenden schnappten nach Luft.
»Hört mal, ich – ich weiß nicht, wieso …«, sagte ich, wie um mich zu entschuldigen. »Tut mir leid …«
Aber sie sahen überhaupt nicht auf meine heilenden Wunden. Sie starrten etwas über meinem Kopf an.
»Percy«, sagte Annabeth und zeigte nach oben. »Äh …«
Als ich aufschaute, verblich das Zeichen bereits, aber ich konnte das grün leuchtende, wirbelnde und funkelnde Hologramm noch immer erkennen: einen Speer mit drei Spitzen, einen Dreizack.
»Dein Vater«, murmelte Annabeth. »Das ist wirklich nicht gut.«
»Es ist entschieden«, verkündete Chiron.
Alle Umstehenden fielen auf die Knie, sogar die aus der Areshütte, obwohl ihnen das gar nicht zu gefallen schien.
»Mein Vater?«, fragte ich total verwirrt.
»Poseidon«, sagte Chiron. »Welterschütterer, Sturmbringer, Vater der Pferde. Heil dir, Percy Jackson, Sohn des Meeresgottes.«
Mir wird eine Aufgabe angeboten
Am nächsten Morgen befahl Chiron mir, in Hütte 3 umzuziehen.
Die brauchte ich mit niemandem zu teilen. Ich hatte jede Menge Platz für meine Habseligkeiten: das Minotaurushorn, eine Garnitur Unterwäsche und meine Toilettentasche. Ich bekam beim Essen einen Tisch für mich allein, konnte selbst entscheiden, was ich machen wollte, »Licht aus« rufen, wann immer es mir passte, und brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen.
Ich fühlte mich einfach durch und durch elend.
Als ich gerade angefangen hatte, das Gefühl zu haben, dass ich akzeptiert wurde, in Hütte 11 ein Zuhause hatte und ein normaler Junge war – so normal, wie das für ein Halbblut eben möglich ist –, war ich ausgesondert worden wie jemand mit einer seltenen Krankheit.
Niemand erwähnte den Höllenhund, aber ich hatte das Gefühl, dass hinter meinem Rücken alle darüber redeten. Der Angriff hatte allen Angst gemacht. Er hatte zwei Dinge klargestellt: erstens, dass ich der Sohn des Meeresgottes war, und zweitens, dass die Ungeheuer alles versuchen würden, um mich zu töten. Sie konnten sogar in ein Camp eindringen, das bisher immer als sicher gegolten hatte.
Die anderen im Lager schienen mir so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Hütte 11 mochte nicht mehr zum Schwertunterricht kommen, nach allem, was ich im Wald mit den Aresleuten angestellt hatte, deshalb musste ich im Unterricht immer nur gegen Luke antreten. Er nahm mich härter in die Mangel denn je und es schien ihn nicht zu stören, wenn ich total zerschunden aus einer Stunde kam.
»Du wirst so viel Training brauchen, wie du überhaupt nur kriegen kannst«, sagte er, als wir mit Schwertern und lodernden Fackeln arbeiteten. »Und jetzt versuchen wir noch mal den Schlangenköpfschlag. Fünfzigmal.«
Annabeth gab mir morgens weiterhin Griechischunterricht, aber sie wirkte dabei zerstreut. Wenn ich etwas sagte, starrte sie mich wütend an, als ob ich ihr gerade einen Schlag zwischen die Augen verpasst hätte.
Nach dem Unterricht murmelte sie im Weggehen immer: »Aufgabe … Poseidon? … verdammt mies … brauch einen Plan …«
Sogar Clarisse ging mir aus dem Weg, auch wenn ihre giftigen Blicke keinen Zweifel daran ließen, dass sie mich gern umgebracht hätte, weil ich ihren Zauberspeer zerbrochen hatte. Ich wäre froh gewesen, wenn sie mich angebrüllt oder geschlagen hätte oder was auch immer. Lieber wäre ich jeden Tag gegen sie zum Kampf angetreten, als ignoriert zu werden.
Ich wusste, dass irgendjemand im Lager mich nicht leiden konnte, denn eines Abends fand ich in meiner Hütte eine Zeitung der Sterblichen, die New York Daily News, deren Lokalseiten aufgeschlagen waren. Ich brauchte fast eine Stunde, um den Artikel zu lesen, denn je wütender ich wurde, umso wilder wirbelten die Wörter über die Seite.
MUTTER UND SOHN NACH RÄTSELHAFTEM
AUTOUNFALL NOCH IMMER VERMISST
Von Eileen Smythe
Sally Jackson und ihr Sohn Percy werden eine Woche nach ihrem mysteriösen Verschwinden noch immer vermisst. Der völlig ausgebrannte 78er-Camaro der Familie wurde vergangenen Samstag auf einer Landstraße im Norden von Long Island gefunden, das Dach war abgerissen und die Vorderachse gebrochen. Der Wagen war offenbar mehrere hundert Meter geschlingert und dann explodiert.
Mutter und Sohn hatten das Wochenende in Montauk verbringen wollen, ihr Ferienhaus dort aber überstürzt und unter ungeklärten Umständen verlassen. Im Wagen und in der Nähe des Wracks wurden Blutspuren gefunden, andere Spuren der vermissten Jacksons gibt es jedoch nicht. Die Anwohner der ländlichen Umgebung geben an, zur Zeit des Unfalls nichts Besonderes gesehen oder gehört zu haben.
Ms Jacksons Ehemann, Gabe Ugliano, bezeichnet seinen Stiefsohn Percy Jackson als gestörtes Kind, das bereits von mehreren Internaten verwiesen worden ist und in der Vergangenheit durchaus gewalttätige Tendenzen gezeigt hat.
Die Polizei will nicht mitteilen, ob Percy der Mithilfe beim Verschwinden seiner Mutter verdächtigt wird, aber es kann nicht ausgeschlossen werden, dass hier ein Verbrechen vorliegt. Erstmals veröffentlichen wir hier aktuelle Fotos von Sally Jackson und Percy. Die Polizei bittet jeden, der irgendwelche Hinweise liefern kann, die folgende gebührenfreie Telefonnummer anzurufen.
Die Nummer war schwarz eingekreist.
Ich knüllte die Zeitung zusammen und warf sie weg, dann ließ ich mich mitten in der leeren Hütte auf mein Bett fallen.
»Licht aus«, befahl ich mir niedergeschlagen.
In dieser Nacht hatte ich meinen bisher schrecklichsten Traum.
Ich rannte bei Sturm über den Strand. Diesmal lag hinter mir eine Stadt, aber es war nicht New York. Sie sah anders aus, die Gebäude standen weiter auseinander, in der Ferne sah ich Palmen und niedrige Hügel.
Ungefähr hundert Meter weiter, unten am Wasser, kämpften zwei Männer gegeneinander. Sie sahen aus wie Catcher im Fernsehen, muskulös mit Bärten und langen Haaren. Beide trugen wehende griechische Kittel, einer war blau bestickt, der andere grün. Sie rangen miteinander, rauften, traten, stießen sich mit den Köpfen, und wenn sie aufeinandertrafen, dann brachen Blitze los, der Himmel verdüsterte sich und der Wind wurde stärker.
Ich musste sie aufhalten. Ich wusste nicht, warum. Aber je schneller ich lief, umso mehr drängte der Wind mich zurück, bis ich auf der Stelle trat und meine Fersen sich hilflos in den Sand bohrten.
Durch das Tosen des Sturms konnte ich den Mann im blauen Kittel dem im grünen zurufen hören: Gib’s her! Gib es zurück! Wie ein Kind im Kindergarten, dem ein Spielzeug geklaut worden ist.
Die Wellen wurden höher, brachen sich am Strand und besprühten mich mit salziger Gischt.
Ich schrie: Aufhören! Hört auf zu kämpfen!
Die Erde bebte. Irgendwo in ihrem Inneren ertönte Gelächter und ich hörte eine so tiefe und gemeine Stimme, dass mein Blut zu Eis gefror.
»Komm runter, kleiner Held«, säuselte die Stimme. »Komm runter.«
Unter mir stob der Sand auf und es öffnete sich ein Spalt, der ins Erdinnere hinunterführte. Meine Füße rutschten ab und die Dunkelheit verschlang mich.
Ich erwachte und war sicher, dass ich noch immer stürzte.
Aber ich lag in meinem Bett in Hütte 3. Mein Körper sagte mir, dass es Morgen sei, aber draußen war es dunkel und Donner rollte über die Hügel. Ein Sturm braute sich zusammen, das hatte ich nicht geträumt.
Ich hörte vor meiner Tür ein klapperndes Geräusch, dann klopfte ein Huf auf die Schwelle.
»Herein.«
Grover trat ein, er sah besorgt aus. »Mr D möchte mit dir sprechen.«
»Warum?«
»Zum Töten von … äh, lass dir das lieber von ihm erzählen.«
Ich zog mich an und folgte Grover; ich war ganz sicher, dass mir richtiger Ärger bevorstand.
Seit Tagen hatte ich schon damit gerechnet, ins Haupthaus gerufen zu werden. Nun, da ich zum Sohn des Poseidon erklärt worden war, eines der Drei Großen Götter, die keine Kinder haben durften, nahm ich an, dass bereits meine bloße Existenz ein Verbrechen war. Die anderen Gottheiten hatten vermutlich diskutiert, wie sie mich am besten bestrafen könnten, und jetzt würde Mr D mir ihr Urteil verkünden.
Über der Meerenge von Long Island sah der Himmel aus wie Tintensuppe, kurz bevor sie den Siedepunkt erreicht. Ein dunstiger Regenvorhang kam auf uns zu. Ich fragte Grover, ob wir einen Regenschirm brauchen würden.
»Nein«, sagte er. »Hier regnet es nur, wenn wir das wollen.«
Ich zeigte auf die Tintensuppe. »Und was ist das da?«
Er schaute nervös zum Himmel hoch. »Das wird an uns vorüberziehen. Das tun Unwetter immer.«
Mir ging auf, dass er Recht hatte. In der ganzen Woche, die ich nun schon hier war, war der Himmel niemals bedeckt gewesen. Die wenigen Regenwolken, die ich gesehen hatte, waren rechts und links am Tal vorübergezogen.
Aber dieser Sturm … der war schon gewaltig.
Auf dem Volleyballgelände lieferten sich die Kinder aus der Apollohütte ihren Morgenkampf mit den Satyrn. Dionysos’ Zwillinge liefen durch die Erdbeerfelder und ließen die Pflanzen wachsen. Alle waren in ihre normalen Beschäftigungen vertieft, wirkten aber angespannt. Sie starrten immer wieder zu den Sturmwolken hinüber.
Grover und ich gingen zu der Veranda vor dem Haupthaus. Dionysos saß in seinem Hawaiihemd mit den Tigerstreifen und seiner Cola light vor seinem Spieltisch wie an meinem ersten Tag. Chiron in seiner Rollstuhlattrappe saß ihm gegenüber. Sie spielten gegen unsichtbare Gegner – zwei Hände voll Karten, die in der Luft schwebten.
»Sieh an, sieh an«, sagte Mr D, ohne aufzuschauen. »Unsere kleine Berühmtheit.«
Ich wartete.
»Tritt näher«, sagte Mr D, »und erwarte jetzt bloß nicht, dass ich mich vor dir zu Boden werfe, Sterblicher, nur, weil der alte Muschelbart dein Vater ist.«
Ein Netz aus Blitzen zerriss die Wolken. Donner rüttelte an den Fenstern im Haus.
»Meck – meck – meck«, sagte Dionysos.
Chiron täuschte Interesse an seinen Spielkarten vor. Grover lungerte vor dem Geländer herum und klapperte nervös mit den Hufen.
»Wenn es nach mir ginge«, sagte Dionysos, »dann würde ich deine Moleküle in Flammen aufgehen lassen. Wir würden die Asche zusammenfegen und hätten uns eine Menge Ärger erspart. Aber Chiron meint offenbar, das wäre ein Verstoß gegen meine Aufgabe in diesem verdammten Camp: euch Bälger sicher und unversehrt durchzubringen.«
»Spontanes Verbrennen ist eine Form der Versehrung, Mr D«, warf Chiron dazwischen.
»Unsinn«, sagte Dionysos. »Der Junge würde doch gar nichts merken. Aber egal, ich hab ja gesagt, dass ich mich zusammennehmen werde. Ich hätte Lust, dich in einen Delfin zu verwandeln und deinem Vater zurückzuschicken.«
»Mr D …«, mahnte Chiron.
»Ja, schon gut«, lenkte Dionysos ein. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Aber die ist eine tödliche Torheit.« Er erhob sich und die Karten der unsichtbaren Spieler fielen auf den Tisch. »Ich muss zu einer Krisensitzung auf den Olymp. Wenn der Knabe bei meiner Rückkehr immer noch da ist, dann verwandele ich ihn doch in einen Delfin, ist das klar? Und, Perseus Jackson, wenn du auch nur einen Funken Grips hast, dann wirst du einsehen, dass das eine viel vernünftigere Wahl wäre als das, was Chiron mit dir vorhat.«
Dionysos hob eine Spielkarte hoch, drehte sie um und sie verwandelte sich in ein Plastikrechteck. Eine Kreditkarte? Nein, eine Dienstmarke.
Er schnippte mit den Fingern.
Die Luft schien sich um ihn zu falten und sich über ihn zu beugen. Er wurde zu einem Hologramm, dann zu einem Wind, dann war er verschwunden und hinterließ nur den Duft von frisch gepressten Trauben.
Chiron lächelte mich an, sah aber müde und überanstrengt aus. »Setz dich, Percy, bitte. Und Grover auch.«
Das taten wir.
Chiron legte seine Karten auf den Tisch, lauter Trümpfe, die er nicht hatte ausspielen können.
»Nun, Percy«, sagte er, »wie erklärst du dir die Sache mit dem Höllenhund?«
Schon bei dem Wort bekam ich eine Gänsehaut.
Chiron wollte sicher gern etwas hören wie: Ach, interessiert mich nicht. Höllenhunde schmier ich mir doch aufs Frühstücksbrot. Aber ich wollte nicht lügen.
»Er hat mir Angst gemacht«, sagte ich. »Wenn Sie ihn nicht erschossen hätten, wäre ich jetzt tot.«
»Dir werden noch schlimmere Dinge begegnen, Percy. Viel schlimmere, ehe du fertig bist.«
»Fertig … womit?«
»Mit deiner Aufgabe natürlich. Wirst du sie annehmen?«
Ich schaute zu Grover hinüber, der Daumen drückte.
»Hm, Sir«, sagte ich. »Sie haben mir noch nicht gesagt, wie diese Aufgabe aussieht.«
Donner rollte über das Tal. Die Sturmwolken hatten jetzt den Strand erreicht. Ich hatte den Eindruck, dass Himmel und See zusammen hochkochten.
»Poseidon und Zeus«, sagte ich. »Sie kämpfen um etwas Wertvolles … etwas, das gestohlen worden ist, oder?«
Chiron und Grover tauschten einen Blick.
Chiron beugte sich in seinem Rollstuhl vor. »Woher weißt du das?«
Mein Gesicht glühte. Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten. »Seit Weihnachten ist das Wetter so seltsam, als ob Meer und Himmel miteinander kämpfen. Ich habe mit Annabeth gesprochen und sie hat etwas von einem Diebstahl aufgeschnappt. Und … ich habe eben auch Träume.«
»Ich hab’s ja gewusst«, sagte Grover.
»Still, Satyr«, befahl Chiron.
»Aber das ist seine Aufgabe.« Grovers Augen leuchteten vor Aufregung. »So muss es sein!«
»Das kann nur das Orakel entscheiden.« Chiron strich sich den struppigen Bart. »Aber wie auch immer, Percy, du hast Recht. Dein Vater und Zeus sind schlimmer aneinandergeraten als seit Jahrhunderten. Sie kämpfen um einen Wertgegenstand, der gestohlen worden ist. Um genau zu sein: um einen Blitzstrahl.«
Ich lachte nervös. »Um was?«
»Nimm das nicht auf die leichte Schulter«, mahnte Chiron. »Ich rede hier nicht von einem mit Alufolie beklebten Zickzackdings aus dem Schultheater. Ich rede von einem sechzig Zentimeter langen Zylinder aus hochwertiger himmlischer Bronze, der an beiden Seiten mit Sprengstoff auf Götterniveau verschlossen ist.«
»Ach.«
»Zeus’ Herrscherblitz«, fügte Chiron hinzu. Er redete sich langsam in Rage. »Das Symbol seiner Macht, dem alle anderen Blitze nachgebildet sind. Die erste Waffe, die die Zyklopen für den Krieg gegen die Titanen geschmiedet hatten, der Blitzstrahl, der den Gipfel des Ätna gekappt und Kronos vom Thron geworfen hat, der Herrscherblitz, in dem eine Kraft steckt, die Wasserstoffbomben der Sterblichen wie Chinaböller wirken lässt.«
»Und der ist verschwunden?«
»Er wurde gestohlen«, sagte Chiron.
»Von wen?«
»Von wem«, korrigierte Chiron. Einmal Lehrer, immer Lehrer. »Von dir.«
Mir klappte das Kinn runter.
»Jedenfalls«, Chiron hob eine Hand, »glaubt Zeus das. Zur Wintersonnenwende, beim letzten Götterrat, sind Zeus und Poseidon aneinandergeraten. Über den üblichen Quatsch: ›Mutter Rhea hat immer dich vorgezogen … Sturmkatastrophen machen mehr her als Seekatastrophen …‹ und so weiter. Danach merkte Zeus dann, dass sein Herrscherblitz verschwunden war, er war vor seiner Nase aus dem Thronsaal gestohlen worden. Sofort machte er Poseidon Vorwürfe. Allerdings darf ein Gott nicht selbst das Machtsymbol eines anderen an sich reißen – das verbietet das älteste aller göttlichen Gesetze. Aber Zeus glaubt, dass dein Vater einen menschlichen Helden überredet hat, das zu tun.«
»Aber ich habe doch nicht …«
»Hab Geduld und hör zu, Kind«, sagte Chiron. »Zeus hat guten Grund für sein Misstrauen. Die Schmieden der Zyklopen liegen auf dem Meeresgrund, und deshalb hat Poseidon einen gewissen Einfluss auf die Leute, die die Blitze seines Bruders herstellen. Zeus glaubt, dass Poseidon den Herrscherblitz an sich gerissen hat und jetzt in aller Heimlichkeit von den Zyklopen einen Vorrat an Raubkopien herstellen lässt, mit denen er vielleicht Zeus vom Thron stürzen will. Das Einzige, was Zeus nicht wusste, war, welcher Held für Poseidon den Blitz gestohlen hat. Jetzt hat Poseidon dich offiziell als seinen Sohn anerkannt. Du warst in den Weihnachtsferien in New York. Du hättest dich mit Leichtigkeit auf den Olymp schleichen können. Zeus glaubt, dass er seinen Dieb gefunden hat.«
»Aber ich war doch nie in meinem Leben auf dem Olymp. Zeus spinnt!«
Chiron und Grover schauten nervös zum Himmel hoch. Die Wolken schienen sich nicht über uns teilen zu wollen, wie Grover das versprochen hatte. Sie zogen sich über unserem Tal zusammen und riegelten es ab, wie ein Sargdeckel.
»Äh, Percy …?«, sagte Grover. »Wir benutzen solche Wörter nicht, wenn es um den Herrn des Himmels geht.«
»Paranoid könntest du ihn vielleicht nennen«, schlug Chiron vor. »Aber andererseits wäre es nicht Poseidons erster Versuch, Zeus zu entmachten. Ich glaube, das war Frage 38 in deiner letzten Klausur …« Er sah mich an, als erwarte er wirklich, dass ich mich an Frage 38 erinnern könnte.
Wie konnte irgendwer mir unterstellen, die Waffe eines Gottes gestohlen zu haben? Ich konnte ja nicht einmal bei Gabes Pokerrunden ein Stück Pizza klauen, ohne erwischt zu werden. Chiron wartete auf eine Antwort.
»War das etwas mit einem goldenen Netz?«, riet ich. »Poseidon und Hera und einige andere Gottheiten … die haben Zeus sozusagen gefangen genommen und wollten ihn erst wieder freilassen, wenn er versprochen hätte, ein besserer Herrscher zu werden, oder?«
»Richtig«, sagte Chiron. »Und Zeus hat Poseidon seither immer misstraut. Natürlich leugnet Poseidon, dass er den Herrscherblitz gestohlen hat. Er war überaus beleidigt über diesen Vorwurf. Die beiden streiten sich schon seit Monaten und drohen mit Krieg. Und jetzt bist du aufgetaucht – sozusagen als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.«
»Aber ich bin doch noch ein Kind!«
»Percy«, schaltete Grover sich ein. »Wenn du Zeus wärst und glauben würdest, dass dein Bruder Intrigen spinnt, um dich zu entmachten, und wenn dein Bruder dann plötzlich zugeben müsste, dass er den heiligen Eid gebrochen hat, den er nach dem Zweiten Weltkrieg abgelegt hat, und dass er einen neuen Sterblichen gezeugt hat, der sich vielleicht als Waffe gegen dich einsetzen lässt … würde dir das nicht auch die Petersilie verhageln?«
»Aber ich habe doch nichts getan! Poseidon – mein Vater –, der hat diesen Herrscherblitz doch gar nicht stehlen lassen, oder?«
Chiron seufzte. »Die meisten vernünftigen Beobachter würden zustimmen, dass Diebstahl nicht gerade Poseidons Art ist. Aber der Meeresgott ist zu stolz, um Zeus davon zu überzeugen. Zeus hat verlangt, dass Poseidon den Blitz bis zur Sommersonnenwende zurückbringt. Also bis zum 21. Juni, in zehn Tagen. Poseidon verlangt bis dahin eine Entschuldigung dafür, dass er als Dieb bezeichnet worden ist. Ich hatte gehofft, dass sich die Sache mit Diplomatie lösen ließe, dass Hera oder Demeter oder Hestia die beiden Brüder zur Vernunft bringen würden. Aber dein Auftauchen hat Zeus wieder in Zorn versetzt. Und jetzt will keiner von beiden nachgeben. Falls also nicht irgendwer eingreift, falls der Herrscherblitz nicht gefunden und vor der Sonnenwende zu Zeus zurückgebracht wird, dann gibt es Krieg. Und kannst du dir vorstellen, wie ein solcher Krieg aussehen würde, Percy?«
»Schlimm?«, fragte ich.
»Stell dir eine ins Chaos gestürzte Welt vor. Natur, die gegen sich selber kämpft. Gottheiten, die sich zwischen Zeus und Poseidon entscheiden müssen. Vernichtung. Blutbäder. Millionen von Toten. Die abendländische Zivilisation verwandelt sich in ein Schlachtfeld, so groß, dass der Trojanische Krieg sich dagegen ausnimmt wie eine Kissenschlacht.«
»Schlimm«, sagte ich noch einmal.
»Und du, Percy Jackson, würdest Zeus’ Zorn als Erster zu spüren bekommen.«
Es fing an zu regnen. Die Volleyballspielenden unterbrachen ihre Partie und starrten verdutzt zum Himmel hoch.
Ich hatte diesen Sturm nach Half-Blood Hill geholt. Zeus bestrafte meinetwegen das gesamte Camp. Ich war wütend.
»Also muss ich diesen blöden Blitz finden«, sagte ich. »Und zu Zeus zurückbringen.«
»Welche bessere Friedensgabe könnte es geben«, sagte Chiron, »als dass Poseidons Sohn Zeus sein Eigentum zurückbringt?«
»Aber wenn Poseidon das Ding nicht hat, wo steckt es dann?«
»Ich glaube, ich weiß es.« Chiron machte ein düsteres Gesicht. »Das ist Teil einer Weissagung vor einigen Jahren … also, einige der Zeilen ergeben jetzt für mich einen Sinn. Aber ehe ich mehr sagen kann, musst du ganz offiziell die Aufgabe auf dich nehmen. Du musst den Rat des Orakels einholen.«
»Warum kannst du mir nicht vorher sagen, wo der Blitz steckt?«
»Weil du dann zu große Angst haben würdest, die Herausforderung anzunehmen.«
Ich schluckte. »Klingt überzeugend.«
»Du nimmst also an?«
Ich sah Grover an und der nickte ermutigend.
Er hatte gut reden. Ich war schließlich derjenige, den Zeus umbringen wollte.
»Na gut«, sagte ich. »Immer noch besser, als in einen Delfin verwandelt zu werden.«
»Dann solltest du jetzt das Orakel befragen«, sagte Chiron. »Geh nach oben, Percy Jackson, in die Mansarde. Wenn du wieder runterkommst und dann noch bei Verstand bist, reden wir weiter.«
Vier Treppen führten zu einer grünen Falltür.
Ich zog am Seil. Die Tür öffnete sich und eine grüne Leiter fiel klappernd heraus.
Die warme Luft oben roch nach Schimmel und faulem Holz und nach etwas anderem … ein Geruch, an den ich mich aus dem Biologieunterricht erinnern konnte. Reptilien. Der Gestank von Schlangen.
Ich hielt den Atem an und kletterte nach oben.
Auf dem Dachboden wimmelte es nur so von griechischem Heldenmüll: Mit Spinngewebe überzogene Gestelle für Rüstungen standen herum, ehemals funkelnde und jetzt von Rost zerfressene Schilde, alte lederne Seekisten, übersät mit Aufklebern von Ithaka, Circes Insel, dem Land der Amazonen. Ein langer Tisch war bedeckt mit Gläsern voller eingelegter Dinge – abgetrennte haarige Krallen, riesige gelbe Augen und andere Körperteile von Monstern. Eine eingestaubte, an der Wand angebrachte Trophäe sah aus wie ein riesiger Schlangenkopf, hatte jedoch Hörner und ein Haifischgebiss. Auf dem Schild darunter stand: Hydrakopf # 1, Woodstock, NY, 1969.
Vor dem Fenster saß auf einem hölzernen Dreifuß das Grausigste von allem: eine Mumie. Es war nicht die mit Binden umwickelte Sorte, sondern ein winzig klein geschrumpfter Frauenkörper. Sie trug ein Sommerkleid mit Batikmuster, jede Menge Ketten aus bunten Perlen und um ihre langen schwarzen Haare ein Stirnband. Ihre Gesichtshaut spannte sich dünn und ledern um ihren Schädel und ihre Augen waren glasige weiße Spalten, so als seien die echten Augen durch Murmeln ersetzt worden. Sie war schon sehr, sehr lange tot.
Bei ihrem Anblick liefen mir kalte Schauer über den Rücken. Und zwar noch ehe sie sich auf ihrem Stuhl gerade gesetzt und den Mund aufgemacht hatte. Grüner Nebel quoll aus ihrem Mund und rollte und wogte über den Boden, wobei er zischte wie zwanzigtausend Schlangen. Ich fiel über meine eigenen Füße, als ich versuchte, die Falltür zu erreichen, aber die knallte zu. In meinem Kopf hörte ich eine Stimme, sie glitt in mein Ohr hinein und wickelte sich dann um mein Gehirn: Ich bin der Geist von Delphi, die Stimme der Weissagungen des Phoebus Apollo, der den mächtigen Python erschlagen hat. Tritt näher, Suchender, und frage.
Ich hätte gern gesagt: Nein, ’tschuldigung, hab mich in der Tür geirrt, wollte nur zur Toilette. Aber ich zwang mich dazu, tief Luft zu holen.
Die Mumie lebte nicht. Sie war eine Art schreckliches Gefäß für etwas anderes, für die Kraft, die jetzt in dem grünen Nebel um mich herumwirbelte. Aber ihre Anwesenheit kam mir nicht gefährlich vor, nicht wie die meiner dämonischen Mathelehrerin Mrs Dodds oder des Minotaurus. Sie kam mir eher vor wie die drei Moiren, die vor der Obstbude auf dem Highway ihr Garn verstrickt hatten. Uralt, mächtig und eindeutig nicht menschlich. Aber auch nicht sonderlich interessiert an meinem Tod.
Ich brachte den Mut auf zu fragen: »Was ist mein Schicksal?«
Der Nebel wurde noch dicker und schloss sich vor mir um den Tisch mit den eingemachten Monsterteilen. Plötzlich saßen an diesem Tisch vier Karten spielende Männer. Ihre Gesichter wurden deutlicher. Es waren Gabe der Stinker und seine Kumpel.
Ich ballte die Fäuste, obwohl ich wusste, dass es keine echte Pokerpartie sein konnte. Es war eine Illusion, aus dem Nebel erschaffen.
Gabe drehte sich zu mir um und sagte mit der schnarrenden Stimme des Orakels: Du gehst gen Westen, zu dem Gott, der sich gewendet.
Sein Kumpel zur Rechten schaute hoch und sagte mit derselben Stimme: Das, was gestohlen, legst du in die richt’gen Hände.
Der Typ links warf zwei Karten ab. Ein Freund begeht an dir Verrat, der bitter schmerzt.
Und schließlich lieferte Eddie, unser Hausmeister, die schlimmste Zeile: Und du versagst just dort, wo es betrifft dein Herz.
Dann lösten die Gestalten sich wieder auf. Zuerst war ich zu verblüfft, um überhaupt etwas zu sagen, doch als der Nebel sich zurückzog, zu einer langen grünen Schlange wurde und wieder in den Mund der Mumie glitt, rief ich: »Warte! Wie meinst du das? Was für ein Freund? Und wobei werde ich versagen?«
Der Schwanz der Schlange verschwand im Mumienmund. Die Mumie lehnte sich wieder an die Wand. Sie presste die Lippen aufeinander, als seien sie seit hundert Jahren nicht mehr geöffnet worden. Der Dachboden war wieder stumm, verlassen, nichts als ein Raum voller Erinnerungsstücke.
Ich hatte das Gefühl, dass ich hier stehen bleiben könnte, bis auch ich von Spinngeweben eingehüllt würde, ohne dabei noch mehr zu erfahren.
Mein Audienz beim Orakel war zu Ende.
»Na?«, fragte Chiron.
Ich ließ mich am Spieltisch in einen Sessel fallen. »Sie hat gesagt, dass ich das Gestohlene zurückholen werde.«
Grover beugte sich vor und kaute aufgeregt auf den Überresten einer Coladose herum. »Das ist doch toll!«
»Was genau hat das Orakel gesagt?«, drängte Chiron. »Das ist wichtig.«
In meinen Ohren hallte noch immer die Reptilienstimme wider. »Sie … sie hat gesagt, dass ich nach Westen gehen werde, zu einem Gott, der sich gewendet hat. Und dass ich das Gestohlene finde und sicher zurückbringe.«
»Ich hab’s ja gewusst«, sagte Grover.
Chiron schien nicht zufrieden zu sein.
»Sonst noch was?«
Ich wollte es ihm nicht sagen.
Welcher Freund würde mich verraten? Besonders viele hatte ich schließlich nicht.
Und die letzte Zeile – da, wo es mein Herz betraf, würde ich versagen. Was war das nur für ein Orakel, das mich ausziehen ließ, um eine Aufgabe zu erfüllen, und das dann sagte: »Ach, übrigens, du wirst versagen«?
Wie hätte ich das zugeben können?
»Nein«, sagte ich. »Das war es so ungefähr.«
Er musterte mein Gesicht. »Na gut, Percy. Aber du musst wissen: Die Worte des Orakels haben meistens mehrere Bedeutungen. Zerbrich dir nicht zu sehr den Kopf darüber. Die Wahrheit tritt oft erst im Laufe der Ereignisse klar hervor.«
Ich hatte das Gefühl, dass er wusste, dass ich ihm etwas Schlimmes verschwieg, und dass er mich trösten wollte.
»Na gut«, sagte ich, denn ich wollte dringend das Thema wechseln. »Aber wohin gehe ich jetzt? Wer ist der Gott im Westen?«
»Ach, denk doch mal nach, Percy«, sagte Chiron. »Wenn Zeus und Poseidon sich einander in einem Krieg schwächen, wer profitiert dann davon?«
»Irgendwer, der dann die Herrschaft übernehmen will?«, tippte ich.
»Ja, genau. Irgendwer, der ihnen grollt, der mit seinem Geschick hadert, seit vor Äonen die Welt aufgeteilt wurde, dessen Königreich durch den Tod von Millionen viel mächtiger werden würde. Jemand, der seine Brüder hasst, weil sie ihm den Eid aufgezwungen haben, keine Kinder mehr zu zeugen, einen Eid, den beide inzwischen gebrochen haben.«
Ich dachte an meine Träume, an die boshafte Stimme, die aus dem Erdinneren zu mir gesprochen hatte. »Hades.«
Chiron nickte. »Der Herr der Toten ist die einzige Möglichkeit.«
Aus Grovers Mund fiel ein Stück Aluminium. »He, Moment mal. W-was?«
»Eine Furie war hinter Percy her«, erinnerte Chiron ihn. »Sie hat ihn beobachtet, bis sie sich seiner Identität sicher war, dann hat sie versucht ihn umzubringen. Und Furien gehorchen nur einem Herrn: Hades.«
»Ja, aber – aber Hades hasst alle Helden«, warf Grover ein. »Vor allem, wenn er herausgefunden hat, dass Percy ein Sohn von Poseidon ist …«
»Ein Höllenhund ist in den Wald eingedrungen«, sagte Chiron ungerührt. »Und Höllenhunde können nur aus dem Hades geholt werden, und zwar von jemandem, der sich im Camp aufhält. Hades muss hier also einen Spion haben. Er muss annehmen, dass Poseidon versuchen wird, Percy zu benutzen, um seinen Namen reinzuwaschen. Hades würde dieses junge Halbblut also sehr gern umbringen, ehe Percy sich an die Aufgabe machen kann.«
»Klasse«, murmelte ich. »Dann wollen mich jetzt schon zwei Obergötter umbringen.«
»Aber eine Aufgabe dieser Art …« Grover schluckte. »Ich meine, könnte der Herrscherblitz nicht auch zum Beispiel nach Maine gebracht worden sein? In Maine ist es sehr nett um diese Jahreszeit.«
»Hades hat einen seiner Anhänger geschickt, um den Herrscherblitz zu stehlen«, widersprach Chiron. »Er hat ihn in der Unterwelt versteckt, weil er nur zu gut weiß, dass Zeus Poseidon verantwortlich machen wird. Ich will nicht behaupten, dass ich die Motive des Herrn der Toten so ganz verstehe oder weiß, warum er ausgerechnet jetzt einen Krieg vom Zaun brechen will, aber eins steht fest: Percy muss in die Unterwelt gehen, den Herrscherblitz holen und die Wahrheit ans Licht bringen.«
In meinem Bauch brannte ein seltsames Feuer. Und das Komische war: Angst war das nicht. Sondern Ungeduld. Und Rachedurst. Hades hatte bisher dreimal versucht mich umzubringen, durch die Furie, den Minotaurus und den Höllenhund. Er war daran schuld, dass meine Mutter in einer Kugel aus Licht verschwunden war. Jetzt wollte er mir und meinem Vater einen Diebstahl in die Schuhe schieben, den wir nicht begangen hatten.
Ich war bereit, es mit ihm aufzunehmen.
Und außerdem, wenn meine Mutter sich in der Unterwelt aufhielt …
Mensch, überleg doch mal, sagte der kleine Teil meines Gehirns, der noch bei Verstand war. Du bist ein Kind. Hades ist ein Gott.
Grover zitterte. Inzwischen fraß er Spielkarten, als wären es Kartoffelchips.
Der arme Kerl musste mit mir den Auftrag ausführen, um seine Suchlizenz zu erhalten, was immer das sein mochte. Aber wie konnte ich ihn dazu auffordern mitzukommen, wenn doch das Orakel schon gesagt hatte, dass ich versagen würde? Das wäre ja Selbstmord.
»Aber wenn wir doch wissen, dass es Hades war«, sagte ich zu Chiron, »warum können wir das den anderen Göttern nicht einfach sagen? Dann könnten Zeus oder Poseidon selbst in die Unterwelt gehen und ein paar Köpfe einschlagen.«
»Vermuten und wissen ist nicht dasselbe«, sagte Chiron. »Und selbst, wenn die übrigen Gottheiten Hades in Verdacht haben – und ich glaube, dass das bei Poseidon der Fall ist –, dann können sie den Blitz trotzdem nicht selbst zurückholen. Götter können nur auf persönliche Einladung hin das Territorium eines anderen Gottes betreten. Auch das ist eine uralte Regel. Helden dagegen besitzen bestimmte Privilegien. Sie können überallhin, sie können herausfordern, wen sie wollen, wenn sie nur kühn und stark genug sind. Kein Gott kann für die Taten eines Helden verantwortlich gemacht werden. Warum, glaubst du, lassen die Gottheiten immer Menschen für sich handeln?«
»Sie sagen also, dass ich benutzt werde.«
»Ich sage, es ist kein Zufall, dass Poseidon sich gerade jetzt zu dir bekannt hat. Es ist ein ziemlich riskantes Manöver, aber er befindet sich in einer verzweifelten Lage. Er braucht dich.«
Mein Vater brauchte mich.
In mir kullerten die Gefühle durcheinander wie Glasstückchen in einem Kaleidoskop. Ich wusste nicht, ob ich sauer sein sollte oder dankbar oder glücklich oder wütend. Zwölf Jahre lang hatte Poseidon mich ignoriert. Und jetzt brauchte er mich plötzlich.
Ich sah Chiron an. »Sie haben die ganze Zeit gewusst, dass ich Poseidons Sohn bin, oder?«
»Ich hatte so meinen Verdacht. Wie gesagt … auch ich habe mit dem Orakel gesprochen.«
Ich hatte das Gefühl, dass er mir einiges verschwieg, was diese Weissagung anging, aber ich beschloss, mir im Moment darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Schließlich hatte ich ihm auch nicht alles gesagt.
»Also, im Klartext«, sagte ich. »Ich soll in die Unterwelt gehen und den Herrn der Toten zur Rede stellen.«
»Genau«, sagte Chiron.
»Die mächtigste Waffe des Universums finden.«
»Genau.«
»Und sie rechtzeitig vor der Sommersonnenwende in zehn Tagen auf dem Olymp abliefern.«
»So in etwa.«
Ich schaute Grover an, der gerade ein Herz-Ass hinunterwürgte.
»Hab ich schon erwähnt, dass Maine um diese Jahreszeit sehr schön ist?«, fragte er verzweifelt.
»Du musst nicht mitkommen«, sagte ich. »Das kann ich nicht von dir verlangen.«
»Ach …« Er scharrte mit den Hufen. »Nein … es ist bloß, weißt du, Satyrn und unterirdische Orte … na ja …«
Er holte tief Luft, dann erhob er sich und wischte sich Spielkartenreste und Aluminiumstücke vom T-Shirt. »Du hast mir das Leben gerettet, Percy. Wenn … wenn du mich wirklich dabeihaben willst, dann werde ich dich nicht im Stich lassen.«
Ich war so erleichtert, dass ich am liebsten geweint hätte, obwohl das wohl nicht gerade heroisch gewesen wäre. Grover war der einzige Freund, den ich länger als zwei Monate gehabt hatte. Ich wusste nicht so recht, was ein Satyr gegen die Mächte des Todes ausrichten könnte, aber es war mir doch ein Trost, dass Grover mitkommen würde.
»Große Klasse, G-Man.« Dann wandte ich mich an Chiron. »Wohin gehen wir also? Das Orakel hat vom Westen gesprochen.«
»Der Eingang zur Unterwelt liegt immer im Westen. Er wandert im Laufe der Zeitalter, wie der Olymp. Im Moment liegt er also in den USA.«
»Und wo genau?«
Chiron machte ein überraschtes Gesicht. »Ich hatte gedacht, das sei ja wohl selbstverständlich. Der Eingang zur Unterwelt befindet sich in Los Angeles.«
»Ach«, sagte ich. »Natürlich. Also setzen wir uns einfach in ein Flugzeug …«
»Nein!«, kreischte Grover. »Percy, was redest du da? Bist du überhaupt schon einmal geflogen?«
Ich schüttelte verlegen den Kopf. Meine Mom hatte immer gesagt, wir könnten uns das nicht leisten. Außerdem waren ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.
»Percy, überleg doch mal«, sagte Chiron. »Du bist der Sohn des Meeresgottes. Der erbittertste Rivale deines Vaters ist Zeus, der Herr des Himmels. Deine Mutter war schlau genug, dich nie einem Flugzeug anzuvertrauen. Damit würdest du dich in Zeus’ Gefilden aufhalten. Du würdest nie im Leben lebendig wieder nach unten kommen.«
Über uns zischten Blitze. Der Donner grollte.
»Na gut«, sagte ich, entschlossen, den Sturm keines Blickes zu würdigen. »Also auf dem Landweg.«
»Richtig«, sagte Chiron. »Und du kannst zwei Begleiter mitnehmen. Grover ist der eine. Eine mögliche Begleiterin hat sich bereits angeboten, wenn du bereit bist, ihre Hilfe zu akzeptieren.«
»Meine Güte«, sagte ich. »Wer könnte denn blöd genug sein, sich freiwillig zu so einem Einsatz zu melden?«
Die Luft hinter Chiron schimmerte.
Annabeth wurde sichtbar und stopfte ihre Yankees-Mütze in die Hosentasche.
»Ich warte schon sehr lange auf einen Auftrag, Algenhirn«, sagte sie. »Athene ist kein Fan von Poseidon, aber wenn du schon die Welt retten willst, dann kann ich bestimmt am ehesten verhindern, dass du ein Chaos anrichtest.«
»Wenn du meinst«, sagte ich. »Ich nehme an, du hast schon einen Plan, Neunmalklug?«
Ihre Wangen färbten sich. »Willst du meine Hilfe nun oder nicht?«
Tatsache war, ich wollte. Ich brauchte alle Hilfe, die ich kriegen konnte.
»Ein Trio«, sagte ich. »Das muss doch klappen.«
»Hervorragend«, meinte Chiron. »Heute Nachmittag können wir euch zum Busbahnhof in Manhattan bringen. Danach müsst ihr selber sehen, wie ihr fertig werdet.«
Blitze jagten über den Himmel. Regen ergoss sich über Wiesen, die von solchem Unwetter eigentlich verschont bleiben sollten.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Chiron. »Ich finde, ihr solltet jetzt packen.«
Ich ruiniere einen voll funktionsfähigen Bus
Ich brauchte nicht lange zum Packen. Ich beschloss, das Minotaurushorn in meiner Hütte zu lassen, und so blieben mir nur meine zweite Garnitur Unterwäsche und eine Zahnbürste für den Rucksack, den Grover mir gebracht hatte.
Der Campkiosk lieh mir einhundert Dollar in sterblicher Währung und dazu zwanzig goldene Drachmen. Die Drachmen waren so groß wie Schokotaler und zeigten auf der einen Seite Bildnisse diverser griechischer Gottheiten und auf der anderen das Empire State Building. Die antiken sterblichen Drachmen waren aus Silber gewesen, erzählte uns Chiron, die olympischen Gottheiten aber benutzten immer nur reines Gold. Chiron sagte, die Drachmen könnten uns bei nichtsterblichen Transaktionen helfen, was immer er damit meinte. Er gab Annabeth und mir jeweils einen Kanister mit Nektar und einen Beutel voll viereckiger Ambrosia-Stücke, die wir nur im Notfall benutzen durften, zum Beispiel bei ernsthaften Verletzungen. Es handelte sich um ganz einzigartige Mittel, schärfte Chiron uns noch einmal ein. Sie könnten fast alle Wunden heilen, aber für Sterbliche wären sie tödlich. Zu viel davon könnte einem Halbblut arges Fieber bescheren. Und eine Überdosis würde uns einfach verbrennen.
Annabeth nahm ihre Tarnkappe mit dem Yankees-Emblem mit; ihre Mutter hatte sie ihr zum zwölften Geburtstag geschenkt, erzählte sie. Sie packte außerdem ein auf Altgriechisch geschriebenes Buch über berühmte klassische Architekturdenkmäler ein, in dem sie lesen wollte, wenn sie sich langweilte. Und sie versteckte in ihrem Hemdsärmel ein langes Bronzemesser. Ich war sicher, dass dieses Messer uns auffliegen lassen würde, sobald wir einen Metalldetektor passieren müssten.
Grover trug seine falschen Füße und seine Hose, um als Mensch durchzugehen. Auf dem Kopf hatte er eine grüne Rastamütze, denn bei Regen legten seine Locken sich flach und dann waren die Spitzen seiner Hörner zu sehen. Sein leuchtend orangefarbener Rucksack war vollgestopft mit Metallschrott und Äpfeln zum Knabbern. In seiner Tasche steckte eine Rohrflöte, die sein Vater für ihn geschnitzt hatte, auch wenn er nur zwei Stücke konnte, Mozarts Klavierkonzert Nr. 12 und »So Yesterday« von Hilary Duff. Beides klang auf der Rohrflöte ziemlich schrecklich.
Wir winkten den anderen Campbewohnern zum Abschied zu, warfen einen letzten Blick auf die Erdbeerfelder, den Ozean und das Haupthaus, dann wanderten wir den Half-Blood Hill hinauf zu der hohen Fichte, die früher einmal Thalia gewesen war, die Tochter des Zeus.
Chiron erwartete uns in seinem Rollstuhl. Neben ihm stand der affige Surfer, den ich gesehen hatte, als ich im Krankenzimmer zu mir gekommen war. Grover hatte erzählt, dieser Typ sei der Sicherheitschef im Camp. Er hatte angeblich überall am Körper Augen, weshalb er niemals überrascht werden konnte. An diesem Tag trug er eine Chauffeuruniform, weshalb ich nur die Extraglupscher an seinen Händen, in seinem Gesicht und in seinem Nacken sehen konnte.
»Das ist Argus«, sagte Chiron. »Er wird euch in die Stadt fahren und, äh, alles im Auge behalten.«
Ich hörte Schritte hinter uns.
Luke kam den Hügel hochgerannt, er hielt ein Paar Basketballschuhe in der Hand.
»He«, keuchte er. »Gut, dass ich euch noch erwischt hab.«
Annabeth wurde rot, wie immer, wenn Luke in der Nähe war.
»Wollte euch nur schnell alles Gute wünschen«, sagte Luke zu mir. »Und ich dachte, na ja … vielleicht könntest du hiermit was anfangen.«
Er reichte mir die Schuhe, die ziemlich normal aussahen. Sie rochen sogar normal.
Luke sagte: »Maia.«
Weiße Flügel wuchsen aus den Hacken hervor, was mich dermaßen überraschte, dass ich die Schuhe losließ. Sie flatterten auf dem Boden herum, dann falteten die Flügel sich zusammen und waren verschwunden.
»Bemerkenswert«, sagte Grover.
Luke lächelte. »Die haben mir bei meinem Auftrag sehr geholfen. Geschenk von meinem Alten. Im Moment benutze ich sie natürlich nicht sehr oft …« Sein Gesicht sah traurig aus.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fand es toll, dass Luke gekommen war, um sich von uns zu verabschieden. Ich hatte befürchtet, er könnte sauer sein, weil sich in den letzten Tagen alle Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hatte. Und jetzt machte er mir auch noch ein magisches Geschenk … Ich lief fast ebenso rot an wie Annabeth.
»O Mann«, sagte ich. »Danke«.
»Hör mal, Percy.« Luke schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Auf dich werden so große Hoffnungen gesetzt. Also … bring für mich ein paar Ungeheuer mit um, ja?«
Wir reichten uns die Hände. Luke streichelte Grover zwischen seinen Hörnern den Kopf, dann umarmte er Annabeth, die kurz vor einer Ohnmacht zu stehen schien.
Als Luke verschwunden war, sagte ich zu ihr: »Du hyperventilierst.«
»Tu ich nicht.«
»Du hast ihn beim Flaggenerobern gewinnen lassen, stimmt’s?«
»Himmel … wieso will ich überhaupt mit dir irgendwohin, Percy?«
Sie rannte auf der anderen Seite den Hügel hinunter. Unten am Straßenrand wartete ein weißer Geländewagen. Argus lief hinterher und ließ dabei die Wagenschlüssel klirren.
Ich hob die fliegenden Schuhe auf und hatte plötzlich ein schlechtes Gefühl. Ich sah Chiron an. »Die darf ich gar nicht benutzen, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Luke hat es gut gemeint, Percy. Aber in der Luft zu schweben … das wäre nicht klug von dir.«
Ich nickte enttäuscht, dann kam mir eine Idee. »He, Grover, Lust auf was Magisches?«
Seine Augen leuchteten auf. »Ich?«
Wir steckten seine Fußattrappen in die Turnschuhe und schon war der erste fliegende Ziegenknabe der Welt bereit zum Abheben.
»Maia!«, rief er.
Er stieg problemlos auf, dann aber kippte er zur Seite und sein Rucksack schleifte durch das Gras. Die geflügelten Schuhe sprangen mit ihm auf und ab wie kleine Mustangs.
»Training«, rief Chiron hinter ihm her. »Du brauchst einfach Training.«
»Aaaah!« Grover jagte wie ein besessener Rasenmäher seitwärts den Hügel hinunter und auf den Wagen zu.
Ehe ich hinterherlaufen konnte, packte Chiron mich am Arm. »Ich hätte dich besser trainieren müssen, Percy«, sagte er. »Wenn ich nur die Zeit gehabt hätte. Herkules, Jason – alle konnten viel länger trainieren.«
»Ist schon gut. Ich wünschte nur …«
Ich unterbrach mich, weil ich das Gefühl hatte, mich wie ein verzogenes Gör anzuhören. Ich hätte mir gewünscht, mein Dad würde mir irgendein cooles magisches Teil mit auf meinen Einsatz geben, etwas wie Lukes fliegende Schuhe oder Annabeths Tarnkappe.
»Wo bin ich denn bloß mit meinen Gedanken!«, rief Chiron. »Ohne das hier kann ich dich doch nicht losgehen lassen!«
Er zog einen Kugelschreiber aus der Manteltasche und reichte ihn mir. Es war ein ganz normaler Wegwerfkugelschreiber, schwarz, mit abnehmbarer Kappe. Hatte vermutlich dreißig Cent gekostet.
»Klasse«, sagte ich. »Danke.«
»Percy, das hier ist ein Geschenk von deinem Vater. Ich bewahre es seit Jahren auf. Ich wusste nicht, dass du derjenige bist, auf den ich warte. Aber jetzt habe ich die Weissagung verstanden. Du bist es.«
Ich dachte an unseren Ausflug ins Metropolitan Museum of Art, als ich Mrs Dodds in Dampf hatte aufgehen lassen. Damals hatte Chiron mir einen Kugelschreiber zugeworfen, der sich in ein Schwert verwandelt hatte. Konnte das hier …?
Ich drehte die Kappe ab und der Kugelschreiber in meiner Hand wuchs und wurde schwerer. Nach einer halben Sekunde hielt ich ein schimmerndes Bronzeschwert mit doppelschneidiger Klinge, einem mit Leder umwickelten Griff und einem flachen, mit Goldnägeln besetzten Heft in der Hand. Es war die erste Waffe, die mir wirklich gut in der Hand zu liegen schien.
»Dieses Schwert hat eine lange und tragische Geschichte, auf die wir jetzt nicht näher eingehen wollen«, sagte Chiron. »Es heißt Anaklysmos.«
»Springflut«, übersetzte ich und staunte darüber, wie leicht mir das Altgriechische fiel.
»Benutz es nur im absoluten Notfall«, sagte Chiron. »Und nur, wenn du es mit Ungeheuern zu tun hast. Kein Held sollte Sterbliche verwunden, außer natürlich im äußersten Notfall, aber dieses Schwert könnte ihnen ohnehin nichts anhaben.«
Ich musterte die ungeheuer scharfe Klinge. »Wieso könnte es Sterblichen nichts anhaben? Wie könnte sich das vermeiden lassen?«
»Dieses Schwert ist aus himmlischer Bronze. Geschmiedet von Zyklopen, im Berg Ätna gehärtet, im Fluss Lethe abgekühlt. Es ist tödlich für Ungeheuer und überhaupt für alle Geschöpfe aus der Unterwelt, falls sie dich nicht vorher umbringen. Aber durch Sterbliche wird die Klinge hindurchgleiten wie eine Illusion. Sie sind einfach nicht wichtig genug, als dass das Schwert sie töten würde. Und ich muss dich warnen: Als Demigottheit kannst du mit himmlischen und mit normalen Waffen umgebracht werden. Du bist doppelt verletzlich.«
»Gut zu wissen.«
»Und jetzt dreh die Kappe wieder drauf.«
Ich berührte die Schwertspitze mit der Kappe und sofort schrumpfte meine Waffe wieder zu einem Kugelschreiber zusammen. Ich steckte ihn in die Tasche, ein wenig besorgt, weil ich in der Schule meine Kugelschreiber immer verloren hatte.
»Das kannst du nicht«, sagte Chiron.
»Was kann ich nicht?«
»Du kannst den Kugelschreiber nicht verlieren«, sagte er. »Er ist verzaubert. Er wird immer wieder in deiner Tasche auftauchen. Versuch es mal.«
Ich war skeptisch, warf den Kugelschreiber aber, so weit ich konnte, den Hügel hinunter und sah ihn im Gras verschwinden.
»Es kann einen Moment dauern«, sagte Chiron. »Aber jetzt schau mal in deiner Tasche nach.«
Und wirklich, da steckte der Kugelschreiber.
»Okay, das ist wirklich klasse«, gab ich zu. »Aber was passiert, wenn ein Sterblicher sieht, wie ich ein Schwert ziehe?«
Chiron lächelte. »Nebel ist schon etwas Mächtiges, Percy.«
»Nebel?«
»Ja. Lies die Ilias. Da ist dauernd die Rede von Nebel. Wann immer göttliche oder monströse Wesen mit der Welt der Sterblichen zu tun haben, produzieren sie Nebel und das trübt die Sicht der Menschen. Du wirst die Dinge so sehen, wie sie sind, weil du ein Halbblut bist, aber Menschen werden alles ganz anders interpretieren. Es ist wirklich bemerkenswert, wie weit Menschen gehen, um die Dinge ihrer Version der Wirklichkeit anzupassen.«
Ich steckte Anaklysmos in meine Tasche.
Zum ersten Mal kam mir mein Auftrag real vor. Ich war dabei, Half-Blood Hill zu verlassen. Ich war unterwegs nach Westen, ohne von Erwachsenen beaufsichtigt zu werden, ohne Krisenplan, sogar ohne Mobiltelefon. (Chiron hatte mir gesagt, Monster könnten solche Telefone aufspüren, eins zu benutzen wäre also schlimmer, als ein Signalfeuer anzuzünden.) Ich hatte keine Waffe, die stärker war als ein Schwert, um damit Ungeheuer abzuwehren und ins Totenreich zu gelangen.
»Chiron«, sagte ich. »Als Sie gesagt haben, dass die Götter unsterblich sind … Ich meine, auch vor ihnen hat es schon eine Zeit gegeben, nicht wahr?«
»Natürlich. Davor war die Zeit der Titanen, die manchmal als Goldenes Zeitalter bezeichnet wird, was einwandfrei falsch ist. Unsere Zeit, das Zeitalter der abendländischen Zivilisation und der Herrschaft des Zeus, ist das fünfte.«
»Aber wie war es damals … vor den Göttern?«
Chiron schob die Lippen vor. »Nicht einmal ich bin alt genug, um mich daran erinnern zu können, Kind, aber ich weiß, dass es für die Sterblichen eine Zeit der Finsternis und der Barbarei war. Kronos, der Herr der Titanen, bezeichnete sein Zeitalter als golden, weil die Menschen in Unschuld und ohne jegliches Wissen lebten. Aber das war pure Propaganda. Den Titanenkönig interessierte deine Gattung nur als Appetithäppchen oder als Quelle für billige Vergnügungen. Erst zu Beginn der Herrschaft des Zeus, als Prometheus, der gute Titan, den Menschen das Feuer gebracht hat, fing deine Gattung überhaupt an, Fortschritte zu machen, und selbst damals wurde Prometheus als Anarchist beschimpft. Zeus hat ihn hart bestraft, das weißt du sicher. Natürlich haben die Götter sich irgendwann doch mit den Menschen angefreundet und das war der Beginn der abendländischen Zivilisation.«
»Aber die Gottheiten können jetzt nicht sterben, oder? Ich meine, solange die abendländische Zivilisation lebt, leben sie auch. Also … selbst, wenn ich versage, könnte nichts passieren, das so schlimm wäre, dass es alles ruiniert, nicht wahr?«
Chiron lächelte traurig. »Niemand weiß, wie lange das Zeitalter des Abendlandes noch dauern wird, Percy. Die Gottheiten sind unsterblich, ja. Aber das waren die Titanen auch. Sie existieren noch immer, sie stecken in allerlei Gefängnissen und müssen endlose Qualen und Strafen erdulden. Ihre Macht haben sie verloren, aber sie sind noch überaus lebendig. Mögen die Moiren verhindern, dass den Göttern jemals ein solch schreckliches Schicksal widerfährt oder dass wir jemals in die Finsternis und das Chaos der Vergangenheit zurückfallen. Alles, was wir tun können, Kind, ist, unserem Schicksal zu folgen.«
»Unser Schicksal … falls wir denn wissen, wie das aussieht.«
»Ganz ruhig bleiben«, sagte Chiron. »Klaren Kopf behalten. Und nicht vergessen, vielleicht kannst du den größten Krieg in der Geschichte der Menschheit verhindern.«
»Ganz ruhig bleiben«, wiederholte ich. »Ich bin ganz ruhig.«
Als ich unten am Hügel angekommen war, schaute ich mich um. Unter der Fichte, die einstmals Thalia gewesen war, die Tochter des Zeus, stand Chiron in seiner Pferdemenschengestalt und hob als Abschiedsgruß seinen Bogen. Ein ganz normaler Abschiedsgruß eines ganz normalen Zentauren in einem ganz normalen Sommercamp.
Argus fuhr mit uns über Land und dann durch das westliche Long Island. Es kam mir seltsam vor, wieder auf einem Highway unterwegs zu sein. Annabeth und Grover saßen neben mir, als sei das eine ganz normale Autofahrt. Nach zwei Wochen in Half-Blood Hill kam die wirkliche Welt mir vor wie eine Fantasie. Ich ertappte mich dabei, dass ich jeden McDonald’s anstarrte, jedes Kind, das hinten im Auto seiner Eltern saß, jede Reklamewand und jede Ladenpassage.
»So weit, so gut«, sagte ich zu Annabeth. »Zehn Kilometer und kein einziges Monster.«
Sie schaute mich genervt an. »Es bringt Unglück, so zu reden, Algenhirn.«
»Sag mal – warum hasst du mich eigentlich so?«
»Ich hasse dich doch nicht.«
»Hätte ich dir fast abgenommen.«
Sie faltete ihre Tarnkappe zusammen. »Hör zu … Es gehört sich eben nicht, dass wir uns verstehen, okay? Unsere Eltern sind Rivalen.«
»Wieso denn?«
Sie seufzte. »Wie viele Gründe soll ich dir nennen? Meine Mom hat Poseidon einmal mit seiner Freundin in ihrem Tempel erwischt, was eine gewaltige Beleidigung ist. Ein andermal wetteiferten Poseidon und Athene um das Amt der Schutzgottheit der Stadt Athen. Dein Dad hat als Geschenk irgendeine blöde Salzwasserquelle erfunden. Meine Mom dagegen den Olivenbaum. Die Leute sahen, dass ihr Geschenk das bessere war, und deshalb haben sie die Stadt nach ihr benannt.«
»Die haben offenbar gern Oliven gegessen.«
»Ach, vergiss es.«
»Also, wenn sie die Pizza erfunden hätte – das könnte ich noch verstehen.«
»Vergiss es, hab ich gesagt.«
Argus auf dem Vordersitz lächelte. Er sagte nichts, aber ein blaues Auge in seinem Nacken zwinkerte mir zu.
Im Verkehr von Queens wurden wir langsamer. Als wir Manhattan erreichten, ging die Sonne unter und es fing an zu regnen.
Argus setzte uns am Busbahnhof auf der Upper East Side ab, nicht weit entfernt von unserer Wohnung. An einem Briefkasten klebte ein regennasses Flugblatt mit meinem Foto: WER HAT DIESEN JUNGEN GESEHEN?
Ich riss es herunter, ehe Annabeth und Grover es bemerkt hatten.
Argus lud unser Gepäck aus, sah zu, wie wir Busfahrkarten kauften, und fuhr dann los. Das Auge auf seinem Handrücken öffnete sich und er beobachtete uns, als er den Parkplatz verließ.
Ich dachte daran, wie nah unsere alte Wohnung war. An einem normalen Tag wäre meine Mom jetzt schon von der Arbeit zu Hause gewesen. Vermutlich saß Gabe oben, spielte Poker und vermisste sie nicht einmal.
Grover schulterte seinen Rucksack. Er schaute die Straße hinunter, in die Richtung, in die auch ich blickte. »Willst du wissen, warum sie ihn geheiratet hat, Percy?«
Ich starrte ihn an. »Kannst du meine Gedanken lesen?«
»Nur deine Gefühle.« Er zuckte mit den Schultern. »Hab wohl vergessen, dir zu erzählen, dass Satyrn das können. Du hast an deine Mom und deinen Stiefvater gedacht, oder?«
Ich nickte und fragte mich, was Grover mir wohl noch zu erzählen vergessen hatte.
»Deine Mom hat Gabe deinetwegen geheiratet«, sagte Grover jetzt. »Du findest, er stinkt, aber du hast ja keine Ahnung. Dieser Kerl hat eine Aura … uääääh. Ich kann ihn von hier aus riechen. Ich rieche ihn noch immer an dir und dabei warst du schon seit Wochen nicht mehr in seiner Nähe.«
»Danke«, sagte ich. »Wo ist die nächste Dusche?«
»Du solltest dankbar sein, Percy. Dein Stiefvater stinkt dermaßen widerlich menschlich, dass er die Anwesenheit jeder Demigottheit tarnen könnte. Sowie ich einmal an seinem Camaro geschnuppert hatte, wusste ich: Gabe hat seit Jahren deinen Geruch überlagert. Wenn du nicht jeden Sommer bei ihm gewohnt hättest, dann hätten dich die Ungeheuer sicher schon längst aufgespürt. Deine Mom ist bei ihm geblieben, um dich zu beschützen. Das war clever von ihr. Sie muss dich sehr geliebt haben, wenn sie sich mit diesem Typen abgefunden hat – vielleicht fühlst du dich jetzt besser.«
Das tat ich nicht, ich zwang mich aber, es nicht zu zeigen. Ich werde sie wiedersehen, dachte ich. Sie ist nicht tot.
Ich fragte mich, ob Grover wohl noch immer meine Empfindungen lesen könnte, so verwirrt, wie ich war. Ich war froh darüber, dass er und Annabeth bei mir waren, aber ich fühlte mich auch schuldig, weil ich ihnen gegenüber nicht ehrlich gewesen war. Ich hatte ihnen nicht den wirklichen Grund genannt, warum ich diesen Auftrag angenommen hatte.
Tatsache war: Es interessierte mich einen Dreck, ob ich Zeus’ Blitzstrahl finden oder die Welt retten oder sogar meinem Vater aus der Patsche helfen könnte. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr ärgerte ich mich darüber, dass Poseidon mich nie besucht, dass er meiner Mom nicht geholfen, dass er nicht wenigstens einen blöden Unterhaltsscheck geschickt hatte. Er hatte sich nur zu mir bekannt, weil ich etwas für ihn erledigen sollte.
Ich interessierte mich ausschließlich für meine Mom. Es war nicht fair, dass Hades sie sich geholt hatte, und Hades würde sie wieder hergeben müssen.
Ein Freund begeht an dir Verrat, der bitter schmerzt, flüsterte das Orakel in meinen Gedanken. Und du versagst just dort, wo es betrifft dein Herz.
Halt die Klappe, sagte ich.
Es regnete noch immer.
Wir konnten nicht stillsitzen, während wir auf den Bus warteten, und spielten deshalb mit einem von Grovers Äpfeln. Annabeth war unglaublich. Sie konnte den Apfel auf ihrem Knie auftitschen lassen, auf ihrem Ellbogen, ihrer Schulter, überall. Ich war auch nicht schlecht.
Das Spiel war zu Ende, als ich Grover den Apfel zuwarf und er ein wenig zu nah an seinem Mund vorbeiflog. Mit einem einzigen riesigen Ziegenhaps verschwand unser Wurfgeschoss – mit Kerngehäuse, Stiel und allem Drum und Dran.
Grover wurde rot. Er wollte sich entschuldigen, aber Annabeth und ich schüttelten uns vor Lachen.
Endlich kam der Bus. Als wir vor der Tür Schlange standen, fing Grover an, sich umzusehen und in der Luft herumzuschnüffeln, so wie er früher in der Schulmensa sein Lieblingsessen erschnüffelt hatte – Enchiladas.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte er angespannt. »Vielleicht gar nichts.«
Aber ich merkte, dass es nicht »gar nichts« war. Auch ich sah mich jetzt immer wieder um.
Ich war erleichtert, als wir endlich an Bord waren und ganz hinten Sitze nebeneinander bekamen. Wir verstauten unsere Rucksäcke. Annabeth schlug sich nervös mit ihrer Yankees-Mütze auf den Oberschenkel.
Als die letzten Fahrgäste einstiegen, umklammerte Annabeth mit ihrer Hand mein Knie. »Percy.«
Soeben war eine alte Dame in den Bus gestiegen. Sie trug ein zerknittertes Samtkleid, Spitzenhandschuhe und einen unförmigen orangefarbenen Strickhut, der ihr Gesicht überschattete; in der Hand hielt sie eine große Handtasche mit Paisleymuster. Als sie den Kopf hob, funkelten ihre schwarzen Augen und mein Herz setzte einen Schlag aus.
Es war Mrs Dodds. Älter, runzliger, aber eindeutig dasselbe gemeine Gesicht.
Ich rutschte tiefer in meinen Sitz.
Hinter ihr kamen noch zwei alte Damen; eine mit einem grünen, eine mit einem lila Hut. Ansonsten sahen sie genauso aus wie Mrs Dodds – die gleichen knotigen Hände, die gleiche Paisleytasche, das gleiche zerknitterte Kleid. Eine dreifache dämonische Großmutter.
Sie setzten sich nach vorn, gleich hinter den Fahrer. Die beiden auf den Sitzen zum Gang kreuzten ihre Beine in der Mitte zu einem X. Es sah ganz lässig aus, aber die Botschaft war klar: Hier kommt niemand raus.
Der Bus startete und wir fuhren durch die eleganten Straßen von Manhattan. »Die ist ja nicht lange tot geblieben«, sagte ich und versuchte, meine Stimme nicht zittern zu lassen. »Hast du nicht gesagt, sie könnten für ein ganzes Leben aufgelöst werden?«
»Ich habe gesagt, wenn du Glück hast«, erwiderte Annabeth. »Und das hast du offenbar nicht.«
»Alle drei«, jammerte Grover. »Di immortales!«
»Schon gut«, sagte Annabeth und dachte ganz offensichtlich scharf nach. »Die Furien. Die drei übelsten Ungeheuer aus der Unterwelt. Kein Problem. Kein Problem. Wir lassen uns ganz einfach aus dem Fenster fallen.«
»Die Fenster lassen sich nicht öffnen«, stöhnte Grover.
»Ein Hinterausgang?«, schlug sie vor.
Es gab keinen. Und wenn es einen gegeben hätte, dann hätte uns das auch nicht geholfen. Wir hatten jetzt die Ninth Avenue erreicht und hielten auf den Lincoln-Tunnel zu.
»Vor Zeugen greifen sie uns sicher nicht an«, sagte ich. »Oder?«
»Sterbliche haben keine guten Augen«, erinnerte Annabeth mich. »Ihr Gehirn kann nur verarbeiten, was sie durch den Nebel sehen.«
»Sie werden drei alte Damen sehen, die uns umbringen, oder?«
Sie überlegte. »Schwer zu sagen. Aber wir können nicht mit der Hilfe von Sterblichen rechnen. Vielleicht ist im Dach eine Notluke?«
Wir erreichten den Lincoln-Tunnel und im Bus wurde alles dunkel, abgesehen von den Lichtern auf dem Boden des Mittelgangs. Ohne das Rauschen des Regens war alles unheimlich still.
Mrs Dodds stand auf. Mit tonloser Stimme, als ob sie es einstudiert hätte, teilte sie dem ganzen Bus mit: »Ich muss zur Toilette.«
»Ich auch«, sagte ihre Schwester.
»Ich auch«, sagte die dritte.
Alle drei gingen den Mittelgang entlang.
»Ich hab’s«, sagte Annabeth. »Percy, nimm meine Mütze.«
»Was?«
»Die haben es auf dich abgesehen. Mach dich unsichtbar und geh den Mittelgang hoch. Lass sie an dir vorbei. Vielleicht kannst du nach vorn gelangen und fliehen.«
»Aber was ist mit euch …«
»Es besteht die Chance, dass sie uns gar nicht bemerken«, sagte Annabeth. »Du bist der Sohn von einem der Großen Drei. Vielleicht überlagert dein Geruch alles andere.«
»Ich kann euch doch hier nicht sitzen lassen.«
»Mach dir keine Sorgen um uns«, sagte Grover. »Los.«
Meine Hände zitterten. Ich kam mir vor wie ein Feigling, nahm aber die Yankees-Mütze und setzte sie auf.
Als ich an mir herabschaute, war mein Körper nicht mehr vorhanden.
Langsam schlich ich mich durch den Mittelgang. Ich kam zehn Sitzreihen weit, dann duckte ich mich in einen leeren Sitz, als die Furien an mir vorbeiliefen.
Mrs Dodds blieb stehen, sie schnüffelte und sah mir ins Gesicht. Mein Herz hämmerte.
Offenbar sah sie nichts. Sie und ihre Schwestern gingen weiter.
Ich war frei. Ich stand jetzt vorn im Bus. Der Lincoln-Tunnel lag schon fast hinter uns. Ich wollte gerade die Notbremse ziehen, als ich von hinten entsetzliches Geheul hörte.
Die alten Damen waren keine alten Damen mehr. Sie hatten noch dieselben Gesichter – ich vermute, die konnten einfach nicht noch hässlicher werden –, aber ihre Körper waren zu ledrigen braunen Hexenleibern geschrumpft, mit Fledermausflügeln und Händen und Füßen wie die Krallen von Wasserspeiern. Ihre Handtaschen hatten sich in lodernde Peitschen verwandelt.
Die Furien drängten sich um Annabeth und Grover, ließen ihre Peitschen knallen und zischten: »Wo steckt es? Wo?«
Die anderen Fahrgäste schrien und duckten sich in ihren Sitzen. Irgendetwas sahen sie also auf jeden Fall.
»Er ist nicht hier!«, schrie Annabeth. »Er ist weg!«
Die Furien hoben ihre Peitschen.
Annabeth zog ihr Bronzemesser. Grover fischte eine Blechdose aus seinem Rucksack und machte sich bereit zum Wurf.
Das, was ich als Nächstes tat, war so spontan und gefährlich, dass ich zum hyperaktiven Kind des Jahres hätte ernannt werden können.
Der Busfahrer war abgelenkt und versuchte im Rückspiegel zu sehen, was hinten vor sich ging. Noch immer unsichtbar, griff ich nach dem Lenkrad und riss es nach links. Alle schrien auf, als sie nach rechts geschleudert wurden, und ich hoffte, dass der Knall, den ich hörte, von drei gegen die Fenster knallenden Furien herrührte.
»He!«, schrie der Fahrer. »He – Mann!«
Wir rangen um das Lenkrad. Der Bus schrammte an der Tunnelwand entlang, metallische Funken wurden meterweit nach hinten geschleudert.
Wir schlingerten aus dem Tunnel hinaus und landeten wieder im Regen. Menschen und Monster wurden im Bus herumgewirbelt und Autos wie Kegel durcheinandergeworfen.
Irgendwie erreichte der Fahrer eine Ausfahrt. Wir schossen vom Highway hinunter, überfuhren ein halbes Dutzend Ampeln und landeten dann auf einer Landstraße in New Jersey. Es ist kaum zu glauben, dass es gleich auf der anderen Seite des Hudson, gegenüber von New York, so viel Nichts geben kann. Links von uns befand sich ein Wald, rechts floss der Hudson und der Fahrer schien auf den Fluss zuzuhalten.
Die nächste großartige Idee: Ich zog die Notbremse.
Der Motor heulte auf, der Bus drehte sich auf dem nassen Asphalt einmal um sich selbst und knallte gegen die Bäume. Notlichter gingen an. Die Tür öffnete sich. Der Fahrer sprang als Erster hinaus, die Fahrgäste stürzten schreiend hinterher. Ich trat vor den Fahrersitz und ließ sie vorbei.
Die Furien waren wieder auf die Beine gekommen. Sie ließen vor Annabeth ihre Peitschen knallen. Die hatte ihr Messer gezückt und schrie auf Altgriechisch, sie sollten sie in Ruhe lassen. Grover warf mit Blechdosen.
Ich sah zu der offenen Tür. Ich hätte weglaufen können, aber ich wollte meine Freunde nicht im Stich lassen. Ich riss mir die Tarnkappe vom Kopf. »Heda!«
Die Furien fuhren herum und bleckten ihre gelben Zähne. Abzuhauen erschien mir plötzlich eine hervorragende Idee. Mrs Dodds kam durch den Mittelgang auf mich zu, wie früher in der Schule, wenn sie mir meine misslungene Matheklausur zurückgeben wollte. Jedes Mal, wenn sie ihre Peitsche knallen ließ, tanzten rote Flammen über das zerschundene Leder der Sitze.
Ihr beiden hässlichen Schwestern sprangen auf die Sitze neben ihr und krochen wie zwei große fiese Eidechsen auf mich zu.
»Perseus Jackson«, sagte Mrs Dodds mit einem Akzent, der einwandfrei von weiter her stammte als Georgia. »Du hast die Gottheiten beleidigt. Du wirst sterben.«
»Als Mathelehrerin haben Sie mir besser gefallen«, sagte ich zu ihr.
Sie knurrte.
Annabeth und Grover bewegten sich vorsichtig hinter den Furien her und warteten auf eine Gelegenheit, sie zu überholen.
Ich zog den Kugelschreiber aus der Tasche und drehte die Kappe ab. Springflut wuchs zu einem schimmernden zweischneidigen Schwert heran.
Die Furien zögerten.
Mrs Dodds hatte diese Klinge schon einmal zu spüren bekommen. Sie freute sich offenbar nicht über dieses Wiedersehen.
»Ergib dich«, zischte sie. »Dann wirst du keine ewigen Qualen erleiden müssen.«
»Netter Versuch«, entgegnete ich.
»Percy, aufpassen«, rief Annabeth.
Mrs Dodds ließ ihre Peitsche um meine Hand knallen, mit der ich das Schwert hielt, während die Furien von der Seite auf mich zusprangen.
Meine Hand schien in geschmolzenes Blei getaucht worden zu sein, aber es gelang mir trotzdem, das Schwert nicht fallen zu lassen. Ich traf die linke Furie mit dem Schwertgriff und sie kippte auf einen Sitz. Ich fuhr herum und durchbohrte die rechte Furie. Kaum hatte die Klinge ihren Hals berührt, schrie sie auf und explodierte zu einer Staubwolke. Annabeth hatte Mrs Dodds mit einem Catchergriff gepackt und riss sie nach hinten, während Grover ihr die Peitsche aus der Hand wand.
»Au!«, schrie er. »Au! Heiß! Heiß!«
Die Furie, die ich mit dem Schwertgriff getroffen hatte, kam wieder auf mich zu, die Krallen ausgefahren, aber ich zückte mein Schwert und sie zerfiel wie ein Kartenhaus.
Mrs Dodds versuchte, Annabeth abzuschütteln. Sie trat und schlug um sich, zischte und biss, aber Annabeth ließ nicht los, während Grover Mrs Dodds’ Beine mit ihrer eigenen Peitsche fesselte. Endlich schoben sie sie rückwärts in den Mittelgang. Mrs Dodds versuchte aufzustehen, aber sie hatte nicht genug Platz, um ihre Fledermausflügel auszubreiten, und fiel immer wieder um.
»Zeus wird dich vernichten«, versprach sie. »Hades holt sich deine Seele!«
»Bracas meas vescimini!«, schrie ich.
Ich wusste nicht, woher ich diesen lateinischen Satz kannte. Ich glaube, er bedeutete »Fresst meine Hosen!«.
Donner schüttelte den Bus. In meinem Nacken sträubten sich die Haare.
»Raus!«, schrie Annabeth mich an. »Sofort!« Weitere Aufforderungen brauchte ich nicht.
Wir stürzten aus dem Bus. Draußen taumelten die anderen Fahrgäste benommen umher, stritten sich mit dem Fahrer oder liefen im Kreis und schrien: »Wir müssen sterben!« Ein Tourist mit Kamera und Hawaiihemd knipste ein Bild von mir, ehe ich mein Schwert wieder zum Kugelschreiber machen konnte.
»Unser Gepäck!«, fiel Grover ein. »Wir haben unser …«
BUMMMMMM!
Die Busfenster explodierten und die Fahrgäste gingen in Deckung. Ein Blitz riss einen großen Krater ins Dach, aber ein wütendes Heulen von drinnen teilte mir mit, dass Mrs Dodds noch nicht tot war.
»Weg hier«, sagte Annabeth. »Sie ruft nach Verstärkung. Wir müssen weg hier!«
Wir verschwanden im Wald, über uns der strömende Regen, hinter uns der brennende Bus, vor uns tiefe Finsternis.
Wir besuchen das Emporium der Gartenzwerge
Eigentlich ist es nett zu wissen, dass es da draußen irgendwo griechische Götter gibt. Dann haben wir doch wenigstens jemanden, den wir verantwortlich machen können, wenn etwas schiefgeht. Wenn man zum Beispiel einen Bus verlässt, der soeben von Hexen aus der Unterwelt angegriffen und von Blitzen in die Luft gejagt worden ist, und wenn es dann auch noch regnet, dann sind die meisten Leute sicher geneigt, das für eine echte Pechsträhne zu halten; ein Halbblut dagegen begreift, dass irgendeine göttliche Macht ihm so richtig den Tag versauen will.
Da standen wir nun, Annabeth, Grover und ich. Wir gingen durch die Wälder an der Küste von New Jersey, hinter uns färbten die Lichter von New York City den Nachthimmel gelb und der Hudson stank.
Grover zitterte und meckerte. Seine großen Ziegenaugen waren zusammengekniffen, in ihnen stand Angst. »Drei Wohlgesinnte. Alle drei auf einmal.«
Auch ich stand ziemlich unter Schock. Die Explosion der Busfenster hallte mir noch immer in den Ohren wider. Aber Annabeth zog uns weiter und sagte: »Na los. Je weiter wir wegkommen, desto besser.«
»Unser ganzes Geld war im Bus«, sagte ich. »Proviant und Kleider. Alles.«
»Na, wenn du nicht beschlossen hättest, dich in den Kampf einzumischen …«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Euch umbringen lassen?«
»Du hättest mich nicht zu beschützen brauchen, Percy. Ich hätte das auch so geschafft.«
»Sie wäre zerschnitten worden wie ein Toastbrot«, warf Grover ein. »Aber sie hätte es geschafft.«
»Halt die Klappe, Ziegenknabe«, sagte Annabeth.
Grover meckerte klagend. »Blechdosen … ein ganzer Rucksack voll Blechdosen!«
Wir schleppten uns über sumpfigen Boden, vorbei an seltsam krummen Bäumen, die stanken wie alte Socken.
Nach einigen Minuten ließ Annabeth sich von mir einholen. »Hör mal, ich …« Ihre Stimme versagte. »Ich find es toll, dass du zu uns zurückgekommen bist, okay? Das war wirklich tapfer.«
»Wir sind ein Team, klar?«
Sie schwieg einige Schritte lang. »Aber wenn du gestorben wärst … Abgesehen davon, dass das für dich echt blöd gewesen wäre, wäre unser Einsatz dann auch beendet gewesen. Und vielleicht ist dies meine einzige Chance, die wirkliche Welt zu sehen.«
Das Gewitter hatte sich endlich gelegt. Die Lichter der Stadt blieben hinter uns zurück und um uns herrschte fast vollständige Finsternis. Ich konnte von Annabeth nur das Schimmern ihrer blonden Haare sehen.
»Du hast Camp Half-Blood nicht mehr verlassen, seit du mit sieben dorthin gekommen bist?«, fragte ich.
»Nein … nur zu kurzen Ausflügen. Mein Dad …«
»Der Geschichtsprofessor.«
»Ja. Ich konnte zu Hause einfach nicht leben. Also, ich meine, natürlich ist Camp Half-Blood mein Zuhause.« Die Wörter sprudelten jetzt nur so aus ihrem Mund, als befürchte sie, irgendwer könnte sie am Reden hindern. »Im Camp wird eben die ganze Zeit trainiert. Und das ist ja auch gut und schön, aber die wirkliche Welt ist da, wo die Ungeheuer sind. Da lernt man, ob man etwas taugt oder nicht.«
Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, in ihrer Stimme Zweifel gehört zu haben.
»Du kannst mit deinem Messer ziemlich gut umgehen«, sagte ich.
»Meinst du?«
»Ich finde es ziemlich gut, wenn jemand auf einer Furie huckepack reiten kann.«
Ich konnte es nicht sehen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie lächelte.
»Weißt du«, sagte sie, »vielleicht sollte ich es dir sagen … vorhin im Bus, da war etwas Komisches …«
Was immer sie hatte sagen wollen, wurde von einem schrillen »Schuhuhuuuu« unterbrochen; es hörte sich an wie eine Eule, die gefoltert wird.
»Ha, meine Rohrflöte funktioniert noch«, rief Grover. »Wenn ich mich jetzt noch an eine Pfadfindermelodie erinnern könnte, dann würden wir vielleicht aus diesem Wald herausfinden.«
Er blies einige Noten, aber noch immer klang das Lied verdächtig nach Hilary Duff.
Statt einen Pfad zu finden, knallte ich gegen einen Baum und trug eine ziemlich große Beule davon.
Noch etwas, das auf die Liste der Fähigkeiten gehörte, die ich nicht besaß: Infrarotsicht.
Nachdem ich noch etwa einen Kilometer weitergestolpert war und geflucht und mich ganz einfach nur mies gefühlt hatte, sah ich vor uns ein Licht: die Farben einer Neonreklame. Ich konnte Essen riechen. Gebratenes, fettiges, wunderbares Essen. Mir ging auf, dass ich seit meinem Eintreffen in Half-Blood Hill, wo es nur Trauben, Brot, Käse und von Nymphen zubereitetes extra mageres Barbecuefleisch gab, nichts Ungesundes mehr gegessen hatte. Hier war ein doppelter Cheeseburger angesagt.
Wir gingen weiter, bis ich durch die Bäume eine verlassene zweispurige Straße sehen konnte. Auf der anderen Straßenseite entdeckte ich eine stillgelegte Tankstelle, ein zerfetztes Reklameplakat für einen Film aus den neunziger Jahren und einen Laden, der geöffnet war und von dem das Neonlicht und der köstliche Duft stammten.
Es war aber kein Imbiss, wie ich gehofft hatte. Es war einer von diesen seltsamen Kramläden an Landstraßen, in denen Flamingos für den Garten, hölzerne Indianer, Grizzlybären aus Zement und solche Dinge verkauft werden. Das Verkaufsgebäude war ein langes, niedriges Lagerhaus auf einem großen Grundstück voller Statuen. Ich konnte die Neonreklame über dem Eingang nicht entziffern, denn wenn es für meine Legasthenie etwas noch Schlimmeres gibt als normales Englisch, dann Englisch in roten, kursiven Neonbuchstaben.
Für mich sah es aus wie ATNET MES GTERAN WZRGE MEPROIUM.
»Was steht denn da?«, fragte ich.
»Weiß ich nicht«, sagte Annabeth
Sie las so gern, dass ich total vergessen hatte, dass sie ebenfalls Legasthenikerin war.
Grover übersetzte: »Tante Ems Garten Zwerg Emporium.«
Neben dem Eingang standen denn auch zwei Gartenzwerge aus Zement, hässliche, bärtige kleine Wichte, die lächelten und winkten, als könnten sie jeden Moment fotografiert werden.
Ich lief über die Straße, dem Geruch der Hamburger entgegen.
»He …«, rief Grover warnend.
»Da drinnen brennt Licht«, sagte Annabeth. »Vielleicht haben sie geöffnet.«
»Imbiss«, sagte ich hoffnungsvoll.
»Imbiss«, pflichtete sie mir bei.
»Spinnt ihr eigentlich?«, fragte Grover. »Hier stimmt doch irgendwas nicht!«
Wir achteten nicht auf ihn.
Vor dem Haus erhob sich ein Wald aus Statuen: Zementtiere, Zementkinder, sogar ein Zementsatyr mit einer Zementflöte, was Grover einfach fertigmachte.
»Meck-meck-meck!«, rief er. »Sieht aus wie mein Onkel Ferdinand!«
Wir blieben vor der Tür zum Lagerhaus stehen.
»Nicht klopfen«, flehte Grover. »Ich rieche Ungeheuer.«
»Die Furien haben deine Nase verwirrt«, meinte Annabeth. »Ich rieche nur Burger. Hast du keinen Hunger?«
»Fleisch«, sagte er verächtlich. »Ich bin Vegetarier.«
»Du isst Enchiladas und Blechdosen«, erinnerte ich ihn.
»Das ist Gemüse. Kommt jetzt. Gehen wir. Diese Statuen sind … Sie sehen mich an.«
Da öffnete sich quietschend die Tür und vor uns stand eine hochgewachsene Frau aus dem Nahen Osten – das glaubte ich zumindest, denn sie trug ein langes schwarzes Gewand, das außer ihren Händen ihren gesamten Körper bedeckte, und ihr Kopf war ganz und gar verschleiert. Ihre Augen funkelten hinter einem Vorhang aus schwarzem Musselin, aber mehr konnte ich beim besten Willen nicht sehen. Ihre kaffeebraunen Hände sahen alt aus, waren aber gepflegt und elegant, ich stellte mir also vor, dass ich es mit einer Großmutter zu tun hatte, die früher einmal eine schöne Frau gewesen war.
Auch ihr Akzent klang irgendwie arabisch. Sie sagte: »Kinder, es ist zu spät, um noch ganz allein unterwegs zu sein. Wo sind eure Eltern?«
»Die sind … äh …«, sagte Annabeth.
»Wir sind Waisen«, sagte ich.
»Waisen?«, fragte die Frau. Das Wort klang fremd in ihrem Mund. »Aber ihr Armen! Das kann doch nicht sein!«
»Wir haben unseren Wohnwagen verloren«, sagte ich. »Unseren Zirkuswohnwagen. Der Zirkusdirektor wollte bei der Tankstelle auf uns warten, wenn wir uns verirren, aber vielleicht hat er das vergessen oder vielleicht hat er eine andere Tankstelle gemeint. Auf jeden Fall haben wir uns verirrt. Riecht es hier wirklich nach Essen?«
»Aber ihr Lieben«, sagte die Frau. »Ihr müsst hereinkommen, ihr armen Kinder. Ich bin Tante Em. Geht nach hinten ins Lager, bitte. Da gibt es einen Imbissbereich.«
Wir bedankten uns und gingen ins Haus.
Annabeth flüsterte mir zu: »Zirkuswohnwagen?«
»Immer eine Strategie zur Hand haben, war es nicht so?«
»Du hast doch nur Algen im Kopf.«
Im Lagerhaus gab es noch mehr Statuen – Menschen in allen möglichen Haltungen, alle waren unterschiedlich gekleidet und hatten unterschiedliche Gesichtsausdrücke. Ich überlegte, dass man einen ganz schön großen Garten haben müsste, um auch nur eine von diesen Statuen aufzustellen, denn sie waren allesamt lebensgroß. Vor allem aber dachte ich an Essen.
Ihr könnt mich gern als Trottel bezeichnen, weil ich einfach so in den Laden einer fremden Frau gegangen bin, nur weil ich Hunger hatte, aber manchmal handele ich eben so impulsiv. Und ihr habt noch nie Tante Ems Burger gerochen. Der Duft war wie Lachgas, wenn man beim Zahnarzt auf dem Stuhl sitzt – er vertrieb alles andere. Ich achtete kaum noch auf Grovers nervöses Jammern oder darauf, dass die Blicke der Statuen mir zu folgen schienen, oder die Tatsache, dass Tante Em die Tür hinter uns abgeschlossen hatte.
Ich wollte jetzt nur noch den Imbissbereich finden. Und da war er auch schon, hinten im Lagerhaus, ein Tresen mit einem Grill, mit Limohähnen, einem Brezelofen und einem Nachokäsespender. Alles, was man sich wünschen konnte, und davor einige stählerne Gartentische.
»Bitte, setzt euch«, sagte Tante Em.
»Wahnsinn«, sagte ich.
»Äh«, sagte Grover widerstrebend. »Wir haben kein Geld, Ma’am.«
Ehe ich ihm einen Rippenstoß versetzen konnte, sagte Tante Em: »Nicht doch, Kinder. Kein Geld. Das hier ist ein Sonderfall, nicht wahr? Ich lade euch gern ein, ihr armen Waisenkinder.«
»Danke, Ma’am«, sagte Annabeth.
Tante Em erstarrte, als hätte Annabeth etwas falsch gemacht, aber gleich darauf wirkte die alte Dame wieder ganz locker, und deswegen nahm ich an, dass ich es mir nur eingebildet hatte.
»Gern geschehen, Annabeth«, sagte sie. »Was hast du nur für schöne graue Augen, Kind.« Ich fragte mich erst später, woher sie Annabeths Namen kannte. Wir hatten uns gar nicht vorgestellt.
Unsere Gastgeberin verschwand hinter dem Tresen und machte sich ans Werk. Ehe wir pieps sagen konnten, brachte sie uns Plastiktabletts, die übervoll waren mit doppelten Cheeseburgern, Vanilleshakes und riesigen Pommesportionen.
Ich hatte meinen Burger schon halb auf, ehe ich zum ersten Mal Atem holte.
Annabeth schlürfte ihren Shake.
Grover stocherte in seinen Pommes herum und starrte auf das Wachspapier, mit dem das Tablett belegt war, als wolle er sich lieber darüber hermachen, sah aber noch immer zu nervös zum Essen aus.
»Was ist das für ein Zischen?«, fragte er.
Ich horchte, hörte aber nichts. Annabeth schüttelte den Kopf.
»Zischen?«, fragte Tante Em. »Vielleicht hörst du das Öl in der Fritteuse. Du hast scharfe Ohren, Grover.«
»Ich nehme Vitamine. Für meine Ohren.«
»Das ist wirklich lobenswert«, sagte sie. »Aber bitte, entspannt euch doch.«
Tante Em aß nichts. Sie hatte nicht einmal beim Grillen ihren Schleier abgenommen und jetzt beugte sie sich vor, verschränkte die Hände und sah uns beim Essen zu. Es machte mich ein wenig nervös, so von ihr angestarrt zu werden, wo ich doch ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber ich war nach dem Burger so zufrieden, wenn auch ein bisschen schläfrig, dass ich fand, ich müsste zumindest den Versuch machen, mit unserer Gastgeberin zu plaudern.
»Sie verkaufen also Zwerge«, sagte ich und versuchte mich interessiert anzuhören.
»O ja«, sagte Tante Em. »Und Tiere. Und Menschen. Alles für den Garten. Auf Bestellung. Solche Statuen sind sehr beliebt, musst du wissen.«
»Ist hier auf der Straße viel los?«
»Nicht mehr so recht. Seit der Highway gebaut worden ist … Die meisten Autos kommen nicht mehr hier vorbei. Da muss ich mich um jeden Kunden bemühen.«
Mein Nacken prickelte, als sehe irgendwer mich an. Ich drehte mich um, aber da stand nur die Statue eines jungen Mädchens mit einem Korb. Sie war ungeheuer detailliert modelliert, viel genauer, als man das bei den meisten Statuen sieht. Aber mit ihrem Gesicht stimmte etwas nicht. Sie sah verwirrt, wenn nicht sogar verängstigt aus.
»Ach«, sagte Tante Em traurig. »Ihr seht schon, einige von meinen Werken sind nicht so geglückt. Sie lassen sich nicht verkaufen. Beim Gesicht kann man so leicht etwas falsch machen. Immer beim Gesicht.«
»Sie machen diese Statuen selbst?«, fragte ich.
»Aber sicher. Früher hatte ich zwei Schwestern, die mir dabei geholfen haben, aber die sind nicht mehr da und Tante Em ist allein. Ich habe nur meine Statuen. Deshalb stelle ich sie her, wisst ihr. Sie sind meine Gesellschaft.« Die Traurigkeit in ihrer Stimme schien so tief und echt zu sein, dass ich einfach Mitleid mit ihr haben musste.
Annabeth hatte aufgehört zu essen. Sie beugte sich vor und fragte: »Zwei Schwestern?«
»Es ist eine schreckliche Geschichte«, sagte Tante Em. »Eigentlich nichts für Kinder. Weißt du, Annabeth, vor langer Zeit, als ich jung war, war eine böse Frau eifersüchtig auf mich. Ich hatte einen … einen Freund, du weißt schon, und diese böse Frau wollte uns unbedingt auseinanderbringen. Sie verursachte ein entsetzliches Unglück. Meine Schwestern blieben bei mir. Sie teilten mein trauriges Schicksal, solange sie konnten, aber dann ging es eben nicht mehr. Sie sind nicht mehr da. Ich allein habe überlebt, aber um welchen Preis! Um welchen Preis!«
Ich wusste nicht genau, was sie meinte, aber sie tat mir sehr leid. Meine Augenlider wurden immer schwerer, mein voller Bauch machte mich müde. Die arme alte Dame! Wie konnte jemand einer so lieben Frau etwas antun wollen?
»Percy?« Annabeth schüttelte mich. »Vielleicht sollten wir gehen. Ich meine, der Zirkusdirektor wartet doch auf uns.«
Ihre Stimme klang angespannt. Ich wusste nicht so recht, warum. Grover aß jetzt das Wachspapier von seinem Tablett, aber falls Tante Em das seltsam fand, dann verlor sie jedenfalls kein Wort darüber.
»Was für schöne graue Augen«, sagte Tante Em noch einmal zu Annabeth. »Ach, ich habe schon sehr lange keine grauen Augen wie deine mehr gesehen.«
Sie streckte die Hand aus, wie um Annabeths Wange zu streicheln, aber Annabeth sprang auf.
»Wir müssen jetzt wirklich los.«
»Ja!« Grover schluckte das letzte Stück Wachspapier hinunter und stand auf. »Der Zirkusdirektor wartet. Genau.«
Ich wollte nicht gehen. Ich war satt und zufrieden. Tante Em war so nett. Ich wollte noch eine Weile bei ihr bleiben.
»Bitte, ihr Lieben«, bat Tante Em. »Ich bin so selten mit Kindern zusammen. Ehe ihr geht, wollt ihr mir nicht wenigstens kurz sitzen?«
»Sitzen?«, fragte Annabeth misstrauisch.
»Für ein Foto. Ich nehme es dann als Vorlage für neue Statuen. Kinder sind so beliebt, wisst ihr? Alle lieben Kinder.«
Annabeth trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich glaube, das geht nicht, Ma’am. Komm jetzt, Percy …«
»Natürlich geht das«, sagte ich. Es ärgerte mich, dass Annabeth mich herumkommandieren wollte und dass sie so unhöflich zu einer alten Dame war, die uns eben erst zum Essen eingeladen hatte. »Es ist doch nur ein Foto, Annabeth. Was kann das schon schaden?«
»Genau, Annabeth«, schnurrte die alte Dame. »Was kann das schaden?«
Ich merkte, dass Annabeth das alles gar nicht behagte, aber sie ging mit uns hinter Tante Em her, zurück zur Eingangstür und dann in den Garten mit den Statuen.
Tante Em führte uns zu einer Parkbank neben dem steinernen Satyrn. »So«, sagte sie. »Jetzt muss ich euch nur noch richtig hinsetzen. Die junge Dame in die Mitte, finde ich, und die Herren auf beiden Seiten neben ihr.«
»Ist es nicht zu dunkel für ein Foto?«, fragte ich.
»Nicht doch«, sagte Tante Em. »Solange wir uns noch gegenseitig sehen können?«
»Wo ist Ihre Kamera?«, fragte Grover.
Tante Em trat zurück, wie um die Szene zu bewundern. »Das Gesicht ist wirklich das Schwierigste. Bitte, würdet ihr alle einmal für mich lächeln? Ein freundliches Lächeln?«
Grover betrachtete den Zementsatyrn neben sich und murmelte: »Der sieht wirklich aus wie Onkel Ferdinand.«
»Grover«, sagte Tante Em tadelnd. »Hierherblicken, Lieber.«
Sie hielt noch immer keine Kamera in der Hand.
»Percy«, sagte Annabeth.
Irgendein Instinkt sagte mir, ich solle auf Annabeth hören, aber ich kämpfte noch immer gegen meine Schläfrigkeit, gegen die behagliche Müdigkeit, die durch das Essen und die Stimme der alten Dame hervorgerufen wurde.
»Es dauert nur einen Moment«, sagte Tante Em. »Wisst ihr, durch diesen verflixten Schleier kann ich euch nicht so gut sehen und …«
»Percy, hier stimmt etwas nicht«, sagte Annabeth eindringlich.
»Etwas stimmt nicht?«, wiederholte Tante Em und hob die Hand, um sich von ihrem Schleier zu befreien. »Aber nicht doch, Liebes. Ich habe heute Abend dermaßen vornehme Gesellschaft. Was soll denn da nicht stimmen?«
»Das ist Onkel Ferdinand«, keuchte Grover.
»Seht sie nicht an!«, rief Annabeth. Sie setzte sich die Yankees-Mütze auf den Kopf und war verschwunden. Ihre unsichtbaren Hände stießen Grover und mich von der Bank.
Ich lag auf dem Boden und starrte Tante Ems Sandalen an.
Ich konnte hören, wie Grover in die eine Richtung davonlief und Annabeth in die andere. Ich war zu benommen, um mich zu bewegen.
Dann hörte ich über mir ein seltsames, scharrendes Geräusch. Meine Blicke wanderten zu Tante Ems Händen hoch, die jetzt knotig und mit Warzen besetzt waren und scharfe Bronzekrallen hatten, wo vorher die Fingernägel gewesen waren.
Ich hätte fast noch weiter nach oben geblickt, aber irgendwo zu meiner Linken schrie Annabeth: »Nicht! Nicht hinschauen!«
Noch mehr Scharren – und das Zischen winziger Schlangen, genau über mir, von … von dort, wo eigentlich Tante Ems Kopf sitzen müsste.
»Lauf«, meckerte Grover. Ich hörte, wie er über den Kiesweg rannte und dabei »Maia« schrie, um seine fliegenden Turnschuhe anzuwerfen.
Ich konnte mich nicht bewegen. Ich starrte Tante Ems knotige Krallen an und versuchte, gegen den benommenen Zustand anzukämpfen, in den die alte Frau mich versetzt hatte.
»Wie schade, so ein hübsches junges Gesicht zerstören zu müssen«, sagte sie mit sanfter Stimme zu mir. »Bleib bei mir, Percy. Du brauchst bloß nach oben zu sehen.«
Ich kämpfte gegen den Drang zu gehorchen. Ich schaute zur Seite und sah eine dieser Glaskugeln, die es in vielen Gärten gibt, eine Kristallkugel. Ich konnte im orangefarbenen Glas Tante Ems dunkles Spiegelbild sehen; ihr Schleier war verschwunden und entblößte ihr Gesicht, einen schimmernden bleichen Kreis. Ihre Haare bewegten sich, sie wanden sich wie Schlangen.
Tante Em.
Tante »M«.
Wie hatte ich nur so dumm sein können?
Nachdenken, ermahnte ich mich. Wie ist Medusa im Mythos gestorben?
Aber ich konnte nicht denken. Mir war, als habe Medusa in der Sage geschlafen, als sie von meinem Namensvetter Perseus angegriffen worden war. Jetzt schlief sie aber ganz und gar nicht. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie sofort ihre Krallen ausfahren und mein Gesicht zerfleischen können.
»Das hat die Grauäugige mir angetan, Percy«, sagte Medusa und hörte sich überhaupt nicht wie ein Ungeheuer an. Ihre Stimme bat mich, aufzuschauen, Mitleid mit einer armen alten Oma zu haben. »Annabeths Mutter, die verfluchte Athene, hat mich aus einer schönen Frau in das hier verwandelt.«
»Hör nicht auf sie!«, brüllte Annabeths Stimme irgendwo zwischen den Statuen. »Lauf, Percy!«
»Still!«, fauchte Medusa. Dann wurde ihre Stimme wieder zu einem schmeichelnden Schnurren. »Du wirst doch einsehen, dass ich dieses Mädchen vernichten muss, Percy. Sie ist die Tochter meiner Feindin. Ich werde ihre Statue zu Staub zerschlagen. Aber du, mein lieber Percy, du brauchst nicht zu leiden.«
»Nein«, murmelte ich. Ich versuchte meine Beine zu bewegen.
»Willst du den Gottheiten denn wirklich helfen?«, fragte Medusa. »Weißt du, was dich bei diesem törichten Einsatz erwartet, Percy? Was passieren wird, wenn du in der Unterwelt eintriffst? Lass dich von den Olympiern nicht zur Spielfigur machen, mein Lieber. Als Statue wärst du besser dran. Weniger Schmerzen. Weniger Schmerzen.«
»Percy!« Hinter mir hörte ich ein Brummen, wie von einer zweihundert Pfund schweren Hummel im Sturzflug. Grover schrie: »Duck dich!«
Ich fuhr herum und da sah ich ihn, Grover, vor dem Nachthimmel, er kam mit flatternden Schuhen angeflogen und hatte einen Ast in der Größe eines Baseballschlägers in der Hand. Er hatte die Augen zusammengekniffen und sein Kopf wackelte hin und her. Er navigierte allein nach Geruch und Gehör.
»Runter«, schrie er noch einmal. »Ich hol sie mir!«
Das ließ mich endlich aktiv werden. Ich kannte Grover und wusste, dass er Medusa verpassen und mich aufspießen würde. Ich presste mich auf den Boden.
Twack!
Zuerst dachte ich, Grover sei gegen einen Baum geknallt. Dann schrie Medusa wütend auf.
»Du mieser kleiner Satyr«, brüllte sie. »Du kommst in meine Sammlung!«
»Das war für Onkel Ferdinand!«, schrie Grover zurück.
Ich kroch davon und versteckte mich zwischen den Statuen, während Grover zum nächsten Angriff ansetzte.
Ka-wack!
»Argh!«, kreischte Medusa und ihre Schlangenhaare zischten und spuckten.
Gleich neben mir sagte Annabeths Stimme: »Percy!«
Ich fuhr so schnell hoch, dass meine Füße fast einen Gartenzwerg vom Sockel gefegt hätten. »Mensch! Lass das!«
Annabeth nahm ihre Yankees-Mütze ab und wurde wieder sichtbar. »Du musst ihr den Kopf abhacken.«
»Was? Spinnst du? Komm, wir machen, dass wir wegkommen!«
»Medusa ist eine Gefahr. Sie ist böse. Ich würde sie ja selbst umbringen, aber …« Annabeth schluckte, als ob ihr dieses Eingeständnis schwerfiele. »Aber du hast die bessere Waffe. Und ich würde nicht an sie herankommen. Sie würde mich zerfleischen, wegen dieser Sache mit meiner Mutter. Du … du hast eine Chance.«
»Was? Ich kann doch nicht …«
»Willst du denn, dass sie noch mehr unschuldige Menschen in Statuen verwandelt?«
Sie zeigte auf das Standbild eines Liebespaares, eines Mannes und einer Frau, die die Arme umeinandergelegt hatten und die von dem Ungeheuer in Stein verwandelt worden waren.
Annabeth schnappte sich eine grüne Glaskugel von einem nahe stehenden Sockel. »Ein polierter Schild wäre besser.« Sie musterte die Kugel kritisch. »Die Konvexität wird zu einer gewissen Verzerrung führen. Die Größe des Spiegelbildes müsste um einen Faktor von …«
»Kannst du bitte eine Sprache sprechen, die ich verstehe?«
»Tu ich doch!« Sie warf mir die Glaskugel zu. »Schau sie nur im Glas an. Du darfst ihr niemals ins Gesicht blicken.«
»He, Leute«, rief irgendwo über uns Grover. »Ich glaube, sie hat das Bewusstsein verloren!«
»Grrrrrrr!«
»Vielleicht doch noch nicht«, berichtigte Grover sich. Er machte sich für einen weiteren Angriff mit seinem Ast bereit.
»Beeil dich«, sagte Annabeth. »Grover hat einen tollen Geruchssinn, aber am Ende wird er doch einen Unfall bauen.«
Ich zog meinen Kugelschreiber heraus und drehte die Kappe herunter. Die Bronzeschneide wuchs in meiner Hand.
Ich folgte dem Zischen und Spucken der Medusenhaare.
Ich starrte die ganze Zeit in die Glaskugel, um nur das Spiegelbild zu sehen, nicht die echte Medusa. Und dann erblickte ich sie in dem getönten Glas.
Grover unternahm einen weiteren Angriff, aber diesmal flog er ein wenig zu niedrig. Medusa packte den Ast und riss ihn zur Seite. Grover taumelte durch die Luft und knallte mit einem schmerzhaften »Ummphhh« gegen einen steinernen Grizzlybären.
Medusa wollte sich schon über ihn hermachen, da schrie ich: »Heda!«
Ich näherte mich ihr, was nicht leicht war, weil ich doch ein Schwert und eine Glaskugel in den Händen hielt. Wenn sie mich angegriffen hätte, wäre mir die Verteidigung schwergefallen.
Aber sie ließ mich herankommen – sechs Meter, drei.
Jetzt konnte ich das Spiegelbild ihres Gesichts sehen. So hässlich war sie gar nicht. Sicher verzerrte es die grüne Kugel und ließ es schlimmer aussehen, als es war.
»Du würdest einer alten Frau doch nichts antun, Percy«, säuselte sie. »Ich weiß, dass du dazu nicht fähig wärst.«
Ich zögerte, fasziniert von dem Gesicht, das sich im Glas widerspiegelte – den Augen, die durch das Grün zu brennen schienen und meine Arme schwach werden ließen.
Von dem Zementgrizzly her stöhnte Grover: »Percy, nicht auf sie hören!«
Medusa krächzte: »Zu spät!«
Sie griff mich mit ihren Krallen an.
Ich riss mein Schwert hoch, hörte ein scheußliches »Schlock!«, dann ein Zischen, wie Wind, der durch einen Spalt entweicht – so hört es sich an, wenn ein Monster sich in Luft auflöst.
Etwas fiel vor meinen Füßen auf den Boden. Ich musste all meine Willenskraft aufwenden, um nicht hinzusehen. Ich konnte eine heiße Flüssigkeit spüren, die in meine Socken sickerte, und winzige sterbende Schlangen zupften an meinen Schnürsenkeln.
»Igitt«, sagte Grover. Er kniff die Augen noch immer zu, aber ich konnte mir denken, dass er das Gurgeln und Zischen hörte. »Superigitt.«
Annabeth trat neben mich und starrte zum Himmel hoch. Sie hielt den schwarzen Schleier der Medusa in der Hand. Sie sagte: »Nicht bewegen.«
Ganz, ganz vorsichtig, ohne nach unten zu schauen, ging sie in die Knie und wickelte den Kopf des Ungeheuers in das schwarze Tuch, dann hob sie es hoch. Grüne Flüssigkeit tropfte heraus.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Ja«, entschied ich, obwohl ich gern meinen doppelten Cheeseburger ausgekotzt hätte. »Warum hat … warum hat der Kopf sich nicht in Dampf aufgelöst?«
»Sowie du ihn abgehackt hast, wird er zu einer Kriegsbeute«, sagte sie. »Wie dein Minotaurushorn. Aber du darfst den Kopf bloß nie auswickeln. Der kann dich noch immer zu Stein erstarren lassen.«
Grover stöhnte, als er von dem Grizzlybären kletterte. Auf seiner Stirn prangte eine dicke Beule. Seine grüne Rastamütze baumelte an einem seiner kleinen Ziegenhörner und er hatte seine Fußattrappen verloren. Die Zauberturnschuhe kreisten ziellos um seinen Kopf.
»Der Rote Baron«, sagte ich. »Gute Arbeit, Mann.«
Er brachte ein verlegenes Grinsen zu Stande. »Das war wirklich nicht lustig. Na ja, sie mit dem Ast zu schlagen, das hat schon Spaß gemacht. Aber gegen einen Betonbären zu knallen? Absolut unlustig.«
Er fing die Schuhe aus der Luft. Ich drehte die Kappe auf mein Schwert. Dann stolperten wir drei auf das Lagerhaus zu.
Wir fanden einige alte Plastiktüten hinter dem Tresen und wickelten den Medusenkopf hinein. Dann legten wir ihn auf den Tisch, an dem wir gegessen hatten, und setzten uns dazu; wir waren zu erschöpft, um etwas sagen zu können.
Endlich fragte ich: »Für dieses Ungeheuer können wir uns also bei Athene bedanken?«
Annabeth schaute mich wütend an. »Nein, bei deinem Dad. Schon vergessen? Medusa war mit Poseidon befreundet. Sie hatten sich im Tempel meiner Mutter verabredet. Deshalb hat Athene sie in ein Ungeheuer verwandelt. Medusa und ihre beiden Schwestern, die ihr geholfen hatten, in den Tempel zu gelangen, wurden zu den drei Gorgonen. Deshalb wollte Medusa mich zerfetzen, aber dich hätte sie gern als hübsche Statue behalten. Sie ist noch immer scharf auf deinen Dad. Vermutlich hast du sie an ihn erinnert.«
Mein Gesicht glühte. »Ach, jetzt bin ich also daran schuld, dass wir Medusa über den Weg gelaufen sind.«
Annabeth setzte sich gerade hin. Sie ahmte meine Stimme ziemlich schlecht nach, als sie sagte: »Es ist doch nur ein Foto, Annabeth. Was kann das schon schaden?«
»Vergiss es«, sagte ich. »Du bist unmöglich.«
»Du bist unausstehlich.«
»Du bist …«
»He!«, schaltete Grover sich ein. »Davon krieg ich Migräne und dabei können Satyrn gar keine Migräne kriegen. Was machen wir jetzt mit dem Kopf?«
Ich starrte das Ding an. Eine kleine Schlange lugte aus einem Loch in der Plastiktüte. Auf der Tüte stand aufgedruckt: Vielen Dank für Ihren Einkauf!
Ich war wütend, nicht nur auf Annabeth und ihre Mutter, sondern auf alle Götter, über diesen Auftrag und darüber, dass wir schon am ersten Tag durch eine Explosion von der Straße vertrieben und in zwei heftige Kämpfe verwickelt worden waren. Wenn das so weiterging, würden wir L. A. niemals lebendig erreichen, schon gar nicht bis zur Sommersonnenwende.
Was hatte die Medusa gesagt?
Lass dich von den Olympiern nicht zur Spielfigur machen, mein Lieber. Als Statue wärst du besser dran.
Ich sprang auf. »Bin gleich wieder da.«
»Percy«, rief Annabeth mir nach. »Was hast du vor?«
Ich suchte hinten im Lagerhaus, bis ich Medusas Büro gefunden hatte. Ihr Rechnungsbuch zeigte die letzten sechs Verkäufe, allesamt per Versand in die Unterwelt, als Dekorationen für Hades’ und Persephones Garten. Der Rechnung zufolge war die Unterwelt über die DOA-Studios, West Hollywood, Kalifornien, zu erreichen. Ich faltete die Rechnung zusammen und steckte sie in die Tasche.
In der Kasse fand ich zwanzig Dollar, einige goldene Drachmen und Verpackungsmaterial für den Hermes-ÜberNacht-Expressversand, an jedem Karton hing ein kleiner Lederbeutel für Münzen. Ich wühlte im Büro herum, bis ich eine Schachtel in der passenden Größe gefunden hatte.
Dann ging ich zurück zum Picknicktisch, packte den Medusenkopf ein und füllte den Lieferschein aus:
AN DIE GÖTTER
Berg Olymp
600. Stock
Empire State Building
New York, NY
Mit besten Grüßen
Percy Jackson
»Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte Grover warnend. »Sie werden dich für unverschämt halten.«
Ich legte einige goldene Drachmen in den Lederbeutel. Als ich ihn schloss, glaubte ich eine Kasse klingeln zu hören. Das Paket rutschte vom Tisch und verschwand mit einem »Plopp«.
»Ich bin unverschämt«, sagte ich.
Ich schaute Annabeth an und wartete auf ihren Widerspruch.
Aber sie schwieg. Sie schien sich mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass ich ein großes Talent hatte, den Göttern auf die Nerven zu gehen. »Los jetzt«, murmelte sie. »Wir brauchen einen neuen Plan.«
Ein Pudel gibt uns gute Ratschläge
In dieser Nacht ging es uns verdammt schlecht.
Wir übernachteten im Wald, an die hundert Meter von der Hauptstraße entfernt, auf einer sumpfigen Lichtung, wo Leute aus dem Ort offenbar Partys gefeiert hatten. Überall lagen platt gedrückte Getränkedosen und Hamburgertüten herum.
Wir hatten uns aus Tante Ems Laden Essen und Decken mitgenommen, wagten aber nicht, ein Feuer zu machen, um unsere nassen Kleider zu trocknen. Die Furien und die Medusa hatten für genug Aufregung an nur einem Tag gesorgt. Mehr Ärger wollten wir uns wirklich nicht einbrocken.
Wir beschlossen abwechselnd zu schlafen. Ich meldete mich für die erste Wache.
Annabeth rollte sich auf den Decken zusammen und schnarchte los, sowie ihr Kopf den Boden berührte. Grover flatterte mit seinen fliegenden Schuhen auf den untersten Ast eines Baumes, lehnte seinen Rücken an den Stamm und starrte in den Nachthimmel hoch.
»Jetzt schlaf schon«, sagte ich zu ihm. »Ich weck dich, wenn es Ärger gibt.«
Er nickte, schloss aber die Augen noch immer nicht. »Das macht mich traurig, Percy.«
»Was denn? Die Tatsache, dass du dich für diesen blödsinnigen Auftrag gemeldet hast?«
»Nein. Das hier macht mich traurig.« Er zeigte auf den vielen Müll auf dem Boden. »Und der Himmel. Du kannst ja nicht mal die Sterne sehen. Sie haben sogar den Himmel verschmutzt. Es ist schrecklich, heutzutage ein Satyr zu sein.«
»Klar. Hätt ich mir ja denken können, dass du ein Umweltschützer bist.«
Er starrte mich wütend an. »Nur ein Mensch schafft es, keiner zu sein. Deine Gattung müllt die Welt dermaßen schnell zu, dass … ach, egal. Es hat doch keinen Sinn, einem Menschen Vernunft predigen zu wollen. Aber wenn das so weitergeht, werde ich Pan niemals finden.«
»Pam? Wie das Herdreinigungsspray?«
»Pan!«, schrie er wütend. »P-A-N! Den großen Gott Pan! Was glaubst du denn, weshalb ich mir eine Suchlizenz wünsche?«
Ein seltsamer Wind ließ die Bäume rascheln und vertrieb für einen Moment den Gestank von Müll und Schlamm. Dieser Wind brachte den Duft von Beeren und Wiesenblumen und sauberem Regenwasser, Dingen, die es vielleicht früher einmal in diesem Wald gegeben hatte. Plötzlich hatte ich Heimweh nach etwas, das ich nie gekannt hatte.
»Erzähl mir von dieser Suche«, bat ich.
Grover musterte mich misstrauisch, er schien zu fürchten, ich wollte mich über ihn lustig machen.
»Der Gott der Wildnis ist vor zweitausend Jahren verschwunden«, erzählte er mir. »Ein Seemann hörte vor der Küste von Ephesos am Strand eine geheimnisvolle Stimme rufen: ›Sag ihnen, dass der große Gott Pan tot ist!‹ Als die Menschen das hörten, glaubten sie es. Seither haben sie Pans Königreich immer wieder ausgeplündert. Für uns Satyrn aber war Pan der Herr und Meister. Er hat uns und die unberührten Orte auf dieser Welt beschützt. Wir weigern uns zu glauben, dass er tot ist. In jeder Generation setzen die tapfersten Satyrn ihr Leben ein, um Pan zu finden. Sie suchen überall auf der Erde, erforschen die wildesten Gegenden, in der Hoffnung, sein Versteck zu finden und ihn aus seinem Schlaf zu wecken.«
»Und du willst dich auf diese Suche machen.«
»Das ist der Traum meines Lebens«, sagte er. »Mein Vater war Sucher. Und mein Onkel Ferdinand … die Statue, die du vorhin gesehen hast …«
»Ja, richtig, tut mir leid.«
Grover schüttelte den Kopf. »Onkel Ferdinand wusste, was er riskierte. Und mein Vater auch. Aber ich werde es schaffen. Ich werde der erste Sucher sein, der lebend zurückkehrt.«
»Moment mal – der erste?«
Grover zog seine Rohrflöte aus der Tasche. »Bisher ist kein Sucher je zurückgekehrt. Wenn sie erst einmal losgezogen sind, dann verschwinden sie. Und werden nie wieder lebend gesehen.«
»Kein einziges Mal in zweitausend Jahren?«
»Nein.«
»Und dein Vater? Du hast keine Ahnung, was ihm zugestoßen ist?«
»Nein.«
»Aber du willst trotzdem losziehen«, sagte ich verblüfft. »Glaubst du wirklich, dass ausgerechnet du Pan finden wirst?«
»Das muss ich glauben, Percy. Das glaubt jeder Sucher. Nur dieser Glaube rettet uns vor der Verzweiflung, wenn wir sehen, was die Menschen der Welt angetan haben. Ich muss glauben, dass Pan noch geweckt werden kann.«
Ich starrte den orangefarbenen Himmel an und versuchte zu begreifen, wie Grover einen so hoffnungslosen Traum verfolgen konnte. Aber war ich auch nur eine Spur anders?
»Wie werden wir in die Unterwelt gelangen?«, fragte ich ihn. »Welche Chance haben wir überhaupt gegen die Gottheiten?«
»Weiß ich nicht«, gab er zu. »Aber bei Medusa, als du ihr Büro durchsucht hast, da hat Annabeth mir gesagt …«
»Ach, wie konnte ich das vergessen. Annabeth hat natürlich schon einen Plan.«
»Sei nicht so streng mit ihr, Percy. Sie hat ein schweres Leben gehabt, aber sie ist in Ordnung. Sie hat mir sogar verziehen …« Seine Stimme versagte.
»Was meinst du?«, fragte ich. »Was hat sie dir verziehen?«
Plötzlich schien es Grover sehr wichtig zu sein, seiner Flöte Töne zu entlocken.
»Moment mal«, sagte ich. »Deinen ersten Posten als Hüter hattest du vor fünf Jahren. Annabeth ist seit fünf Jahren im Camp. Sie war nicht … ich meine … dein erster Einsatz, der schiefgegangen ist?«
»Ich kann nicht darüber reden«, sagte Grover, und seine zitternde Unterlippe deutete an, dass er in Tränen ausbrechen würde, wenn ich ihn unter Druck setzte. »Aber wie gesagt, vorhin, bei der Medusa, haben Annabeth und ich uns überlegt, dass bei diesem Auftrag irgendetwas seltsam ist. Irgendetwas ist nicht so, wie es aussieht.«
»Ist ja wohl klar. Ich soll einen Blitzstrahl geklaut haben, den in Wirklichkeit Hades hat.«
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Grover. »Die Fu… die Wohlgesinnten haben sich in gewisser Weise zurückgehalten. Wie Mrs Dodds in der Yancy Academy … Warum hat sie so lange damit gewartet, dich zu töten? Und vorhin im Bus, da waren sie nicht so aggressiv wie sonst.«
»Mir hat es auch so schon gereicht.«
Grover schüttelte den Kopf. »Sie haben uns angeschrien: ›Wo steckt es? Wo?‹«
»Und damit war ich gemeint«, sagte ich.
»Vielleicht … Aber Annabeth und ich hatten das Gefühl, dass es ihnen nicht um eine Person ging. Sie haben gefragt: Wo steckt es? Als ob sie einen Gegenstand meinten.«
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Weiß ich. Aber wenn wir bei diesem Auftrag etwas falsch verstanden haben und uns nur noch neun Tage bleiben, um den Herrscherblitz zu finden …« Er schaute mich an, als hoffe er auf Antworten, aber ich wusste keine.
Ich dachte daran, was Medusa gesagt hatte: dass die Götter mich benutzten. Was mir bevorstand, war schlimmer als Versteinerung. »Ich war nicht ehrlich zu dir«, sagte ich zu Grover. »Der Herrscherblitz ist mir eigentlich egal. Ich habe mich bereit erklärt, in die Unterwelt zu gehen, weil ich meine Mutter zurückholen will.«
Grover spielte auf seiner Flöte einen sanften Ton. »Das weiß ich, Percy. Aber bist du sicher, dass das der einzige Grund ist?«
»Ich mach es nicht, um meinem Vater zu helfen. Der interessiert sich nicht für mich. Und ich interessiere mich nicht für ihn.«
Grover schaute von seinem Ast auf mich herab. »Hör mal, Percy. Ich bin nicht so intelligent wie Annabeth. Ich bin nicht so tapfer wie du. Aber Gefühle kann ich ziemlich gut lesen. Du freust dich darüber, dass dein Vater noch lebt. Du freust dich darüber, dass er sich zu dir bekannt hat, und irgendwie willst du, dass er stolz auf dich ist. Deshalb hast du den Medusenkopf an den Olymp geschickt. Du willst, dass er weiß, was du getan hast.«
»Ach ja? Na, vielleicht funktionieren bei Satyrn die Gefühle anders als bei Menschen. Denn das ist Quatsch. Mir ist es egal, was er denkt.«
Grover zog seine Füße hoch auf den Ast. »Na gut, Percy. Wie du meinst.«
»Außerdem hab ich nun wirklich nichts getan, womit ich prahlen könnte. Wir haben gerade erst New York verlassen und jetzt sitzen wir hier ohne Geld und wissen nicht, wie wir in den Westen kommen sollen.«
Grover schaute zum Nachthimmel hoch und schien über diese Frage nachzudenken. »Soll ich vielleicht doch die erste Wache übernehmen und du schläfst eine Runde?«
Ich wollte widersprechen, aber dann spielte er Mozart, sanft und süß, und ich drehte mich mit brennenden Augen um. Nach einigen Takten des Klavierkonzertes Nr. 12 schlief ich tief und fest.
In meinem Traum stand ich in einer dunklen Höhle vor einer klaffenden Grube. Graue Nebelgeschöpfe drängten sich um mich zusammen, flüsternde Dampffetzen, von denen ich auf irgendeine Weise wusste, dass es sich um die Geister der Toten handelte.
Sie zupften an meiner Kleidung, versuchten mich zurückzuhalten, aber ich fühlte mich gezwungen, bis an den Rand der Grube weiterzugehen.
Als ich hinunterschaute, wurde mir schwindlig.
Die Grube klaffte so weit und war so durch und durch schwarz, dass ich wusste, dass sie keinen Boden haben konnte. Und doch hatte ich das Gefühl, dass etwas versuchte, sich tief unten zu erheben, etwas Riesiges und Böses.
Der kleine Held, rief eine hallende Stimme unten in der Dunkelheit belustigt. Zu schwach, zu jung, aber vielleicht schaffst du es doch.
Die Stimme kam mir uralt vor – kalt und schwer. Sie wickelte sich um mich wie Häute aus Blei.
Sie haben dich in die Irre geführt, Knabe, sagte die Stimme. Mach einen Handel mit mir. Ich gebe dir, was du willst.
Ein schimmerndes Bild schwebte über dem Abgrund: meine Mutter, erstarrt in dem Moment, in dem sie sich in goldenes Licht aufgelöst hatte. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, als drücke der Minotaurus ihr noch immer den Hals zu. Ihre Augen schauten mir ins Gesicht und schienen zu bitten: Geh!
Ich wollte aufschreien, aber meine Stimme gehorchte mir nicht.
Kaltes Lachen hallte in der Grube wider.
Eine unsichtbare Kraft zog mich weiter. Sie würde mich in den Abgrund reißen, wenn ich nicht standhalten konnte.
Hilf mir, mich zu erheben, Knabe. Die Stimme klang hungrig. Bring mir den Blitzstrahl. Versetz den verräterischen Göttern einen Schlag!
Die Geister der Toten um mich herum flüsterten: Nein! Wach auf!
Das Gesicht meiner Mutter wurde undeutlicher. Das Wesen in der Grube verstärkte seinen unsichtbaren Griff um mich.
Mir ging auf, dass es mich gar nicht nach unten ziehen wollte. Es wollte sich selbst an mir nach oben ziehen.
Gut, murmelte es. Gut.
Wach auf!, flüsterten die Geister der Toten. Wach auf!
Irgendetwas schüttelte mich.
Ich machte die Augen auf und es war heller Tag.
»Sieh an«, sagte Annabeth. »Der Zombie lebt.«
Ich zitterte noch wegen meines Traums. Ich konnte noch immer den Griff des Wesens in der Grube um meine Brust spüren. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Lange genug, damit ich Frühstück machen konnte.« Annabeth warf mir eine Tüte Maischips mit Nachogeschmack aus Tante Ems Imbiss zu. »Und Grover hat sich die Gegend angesehen. Sieh mal, er hat einen Freund gefunden.«
Ich konnte kaum klar sehen.
Grover saß mit verschränkten Beinen auf einer Decke und auf seinem Schoß hatte er etwas Wuscheliges, ein schmutziges, unnatürlich rosafarbenes ausgestopftes Tier.
Nein. Es war kein ausgestopftes Tier. Es war ein rosa Pudel.
Der Pudel kläffte mich misstrauisch an. Grover sagte: »Nein, das tut er nicht.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Du redest … du redest mit diesem Ding?«
Der Pudel knurrte.
»Dieses Ding«, sagte Grover vorwurfsvoll, »ist unsere Fahrkarte nach Westen. Sei nett zu ihm.«
»Du kannst mit Tieren sprechen?«
Grover ignorierte die Frage. »Percy, das ist Gladiola. Gladiola, Percy.«
Ich starrte Annabeth an und nahm an, sie werde sich jetzt ausschütten vor Lachen, weil sie mir einen Streich gespielt hatten, aber sie machte ein ernstes Gesicht.
»Ich werde keinen rosa Pudel begrüßen«, sagte ich. »Vergiss es.«
»Percy«, sagte Annabeth. »Ich hab den Pudel begrüßt. Du wirst den Pudel begrüßen.«
Der Pudel knurrte.
Ich begrüßte den Pudel.
Grover erzählte, dass er Gladiola im Wald begegnet sei und sie ins Gespräch gekommen waren. Der Pudel war einer reichen Familie in der Nähe weggelaufen, die 200 Dollar Finderlohn für ihn ausgesetzt hatte. Gladiola wollte eigentlich nicht zurück zu dieser Familie, war aber bereit dazu, wenn er Grover damit helfen konnte.
»Woher weiß Gladiola von dem Finderlohn?«, fragte ich.
»Er hat die Plakate gelesen«, sagte Grover. »Dussel.«
»Natürlich«, sagte ich. »Blöd von mir.«
»Also bringen wir Gladiola zurück«, sagte Annabeth mit ihrer besten Strateginnenstimme. »Wir kriegen das Geld und kaufen uns Fahrkarten nach Los Angeles. Ganz einfach.«
Ich dachte an meinen Traum – an die flüsternden Stimmen der Toten, an das Wesen im Abgrund, an das Gesicht meiner Mutter, das sich schimmernd in Gold auflöste. Das alles wartete vielleicht im Westen auf mich.
»Nicht wieder mit dem Bus«, sagte ich vorsichtig.
»Nein«, stimmte Annabeth mir zu.
Sie zeigte den Hang hinunter, auf Schienen, die ich nachts in der Dunkelheit nicht hatte sehen können. »Einen Kilometer in dieser Richtung liegt ein Bahnhof. Und Gladiola sagt, dass der Zug nach Westen um zwölf Uhr fährt.«
Ich stürze mich in den Tod
Wir verbrachten zwei Tage im Zug und fuhren westwärts, durch Gebirge, über Flüsse, vorbei an bernsteingelben Getreidefeldern.
Wir wurden kein einziges Mal angegriffen, aber ich blieb doch angespannt. Ich hatte das Gefühl, in einer Vitrine zu reisen, von oben und vielleicht auch von unten beobachtet zu werden, während irgendetwas auf die richtige Gelegenheit wartete.
Ich versuchte mich im Hintergrund zu halten, denn mein Name und mein Bild tauchten in mehreren Ostküstenzeitungen auf. Die Trenton Register-News brachte ein Foto, das ein Tourist gemacht hatte, als ich aus dem Bus gesprungen war. Ich schaute mit wildem Ausdruck um mich. Mein Schwert war ein metallisches Funkeln in meinen Händen. Es hätte sich auch um einen Baseballschläger oder einen Lacrosse-Stock handeln können.
Unter dem Bild stand:
Der 12-jährige Percy Jackson, der im Zusammenhang mit dem Verschwinden seiner Mutter vor zwei Wochen auf Long Island gesucht wird, flieht hier aus dem Bus, in dem er mehrere ältere weibliche Fahrgäste belästigt hat. Der Bus ist im Osten von New Jersey am Straßenrand explodiert, als Jackson gerade verschwunden war. Aufgrund von Augenzeugenberichten nimmt die Polizei an, dass der Junge möglicherweise mit zwei gleichaltrigen Komplizen unterwegs ist. Sein Stiefvater, Gabe Ugliano, hat eine Geldsumme für alle Informationen ausgesetzt, die zu seiner Festnahme führen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Annabeth. »Sterbliche Polizei wird uns nie und nimmer finden.« Aber sie hörte sich nicht recht überzeugt an.
Den Rest des Tages lief ich entweder im Zug hin und her (weil mir das Stillsitzen schwerfiel) oder ich schaute aus dem Fenster.
Einmal sah ich eine Zentaurenfamilie über ein Weizenfeld galoppieren, die Bogen in der Hand, als machten sie Jagd auf ihr Mittagessen. Ihr kleiner Sohn, der so groß war wie ein Zweitklässler auf einem Pony, fing meinen Blick auf und winkte mir zu. Ich schaute mich im Wagen um, aber niemand außer mir hatte etwas bemerkt. Alle erwachsenen Fahrgäste waren über Laptops oder Zeitschriften gebeugt.
Ein andermal, gegen Abend, sah ich etwas Riesiges, das sich durch den Wald bewegte. Ich hätte schwören können, dass es sich um einen Löwen handelte, nur gibt es in Amerika keine wilden Löwen und dieses Wesen war noch dazu so groß wie ein Panzer. Sein Fell funkelte golden im Abendlicht. Dann sprang es durch die Bäume und war verschwunden.
Der Finderlohn für Gladiola brachte uns nur bis Denver. Es gab keine freien Plätze mehr im Schlafwagen und deshalb nickten wir auf unseren Sitzen ein. Ich bekam einen steifen Nacken. Ich versuchte nicht zu sabbern, weil Annabeth neben mir saß.
Grover schnarchte und meckerte und weckte mich immer wieder auf. Einmal scharrte er mit den Hufen und verlor dabei einen Fuß. Annabeth und ich mussten ihn rasch wieder feststecken, ehe die anderen Fahrgäste etwas bemerkten.
»Also«, fragte Annabeth mich, als wir Grovers Huf wieder in den Schuh gesteckt hatten. »Wer braucht deine Hilfe?«
»Wie meinst du das?«
»Eben im Schlaf hast du gemurmelt: ›Ich helfe dir nicht.‹ Von wem hast du da geträumt?«
Ich wollte nichts sagen. Zum zweiten Mal hatte ich von der bösen Stimme in der Grube geträumt. Aber der Traum machte mir dermaßen zu schaffen, dass ich es ihr doch erzählte.
Annabeth schwieg sehr lange. »Das klingt nicht nach Hades. Der sitzt immer auf einem schwarzen Thron und lacht nie.«
»Er hat mir im Tausch meine Mutter angeboten. Wer könnte das sonst tun?«
»Schwer zu sagen … Vielleicht hat er gemeint: ›Hilf mir, mich aus der Unterwelt zu erheben!‹ Weil er Krieg mit den Olympiern will. Aber warum sollte er dich um den Herrscherblitz bitten, wenn er ihn doch längst hat?«
Ich schüttelte den Kopf und wünschte, ich wüsste die Antwort. Ich dachte an das, was Grover mir erzählt hatte, über die Furien im Bus, die offenbar etwas gesucht hatten.
Wo steckt es? Wo?
Vielleicht nahm Grover meine Empfindungen wahr. Er schnaubte im Schlaf, murmelte etwas über Gemüse und drehte den Kopf zur Seite.
Annabeth rückte seine Mütze gerade, damit sie seine Hörner bedeckte. »Percy, mit Hades kannst du nicht feilschen. Das weißt du, oder? Er ist tückisch, herzlos und gierig. Es ist mir egal, ob die Wohlgesinnten diesmal nicht so aggressiv waren …«
»Diesmal?«, fragte ich. »Soll das heißen, dass sie dir schon einmal über den Weg gelaufen sind?«
Sie hob die Hand zu ihrem Halsband und betastete eine glasierte weiße Perle, auf die eine Fichte gemalt war, eines ihrer Abzeichen. »Sagen wir einfach, ich liebe den Herrn des Todes nicht gerade. Du kannst keinen Handel um deine Mutter abschließen.«
»Was würdest denn du machen, wenn es um deinen Dad ginge?«
»Ganz einfach«, sagte sie. »Ihn verfaulen lassen.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst?«
Annabeth richtete ihre grauen Augen auf mich. Sie sah so aus wie damals im Wald, als sie ihr Schwert gegen den Höllenhund gezogen hatte. »Mein Vater lehnt mich seit meiner Geburt ab, Percy«, sagte sie. »Er wollte überhaupt kein Kind. Als ich bei ihm abgeliefert wurde, hat er Athene aufgefordert, mich zu holen und auf dem Olymp großzuziehen, weil seine Arbeit ihm wichtiger sei. Sie war entsetzt. Sie hat ihm gesagt, dass Kinder wie wir vom sterblichen Elternteil aufgezogen werden müssen.«
»Aber wie … ich meine, du bist vermutlich nicht in einem Krankenhaus geboren worden, oder?«
»Ich bin in einer goldenen Wiege auf der Türschwelle meines Vaters aufgetaucht. Zephyr, der Westwind, hat mich vom Olymp hinuntergetragen. Man könnte doch meinen, dass das für meinen Dad wie ein Wunder aussehen musste, oder? Und dass er vielleicht ein paar Fotos gemacht hätte oder so! Aber er hat über mein Eintreffen immer geredet, als sei ihm niemals etwas so ungelegen gekommen. Als ich fünf war, hat er geheiratet und Athene total vergessen. Er hat jetzt eine normale sterbliche Frau und zwei normale sterbliche Kinder und er versucht meine Existenz zu ignorieren.«
Ich starrte aus dem Zugfenster. Die Lichter einer schlafenden Stadt zogen vorüber. Ich hätte Annabeth gern getröstet, aber ich wusste nicht, wie.
»Meine Mom hat einen wirklich schrecklichen Kerl geheiratet«, erzählte ich ihr. »Grover sagt, sie habe mich damit beschützen, mich im Geruch einer normalen Familie verstecken wollen. Vielleicht wollte dein Dad das auch.«
Annabeth spielte weiter an ihrem Halsband herum. Sie schloss die Finger um den goldenen Collegering, der zwischen den Perlen hing. Sicher stammte der Ring von ihrem Vater. Ich hätte gern gewusst, warum sie den Ring trug, wenn sie ihren Vater so sehr hasste.
»Ich bin ihm egal«, sagte sie. »Seine Frau – meine Stiefmutter – hat mich behandelt wie eine Missgeburt. Ich durfte nie mit ihren Kindern spielen. Mein Dad hat nicht eingegriffen. Wann immer etwas Gefährliches passierte – du weißt schon, irgendwas mit Ungeheuern –, schauten sie mich beide ganz vorwurfsvoll an, so als wollten sie sagen: ›Wie kannst du unsere Familie in Gefahr bringen?‹ Und irgendwann hab ich’s kapiert. Sie wollten mich nicht. Also bin ich weggelaufen.«
»Wie alt warst du?«
»So alt, wie ich war, als ich ins Camp gekommen bin. Sieben.«
»Aber … du kannst doch unmöglich allein den ganzen Weg nach Half-Blood Hill geschafft haben.«
»Nicht allein, nein. Athene hat über mich gewacht, hat mich dahin gelenkt, wo es Hilfe gab. Ich habe auch unerwartet Freunde gefunden, die sich um mich gekümmert haben, für eine kurze Zeit jedenfalls.«
Ich hätte gern gewusst, was passiert war, aber Annabeth schien ganz ihren traurigen Erinnerungen nachzuhängen. Also hörte ich Grover beim Schnarchen zu und schaute aus den Zugfenstern, während die dunklen Felder von Ohio vorüberrasten.
Gegen Ende des zweiten Tags im Zug, am 13. Juni, acht Tage vor der Sommersonnenwende, fuhren wir über einige goldene Hügel, dann überquerten wir den Mississippi und hatten St. Louis erreicht.
Annabeth reckte den Hals, um den Brückenbogen zu sehen, der wie ein riesiger Henkel über der Stadt aufzuragen schien.
»Das möchte ich auch«, sagte sie seufzend.
»Was denn?«, fragte ich.
»So was bauen. Hast du schon mal den Parthenon gesehen, Percy?«
»Nur auf Bildern.«
»Irgendwann will ich ihn sehen. Ich werde das größte Monument für die Götter bauen, das die Welt je gesehen hat. Etwas, das tausend Jahre überdauert.«
Ich lachte. »Du? Architektin?«
Ich weiß nicht, warum, aber das fand ich witzig, die bloße Vorstellung, dass Annabeth den ganzen Tag still dasaß und zeichnete.
Ihre Wangen wurden rot. »Ja, Architektin. Athene erwartet, dass ihre Kinder Dinge erschaffen, statt sie zu zerstören, anders als das ein bestimmter Gott der Erdbeben tut, den ich hier erwähnen könnte.«
Ich schaute nach unten ins wilde braune Wasser des Mississippi.
»Tut mir leid«, sagte Annabeth. »Das war gemein.«
»Können wir nicht ein bisschen zusammenarbeiten?«, bat ich. »Haben Athene und Poseidon das nie gemacht?«
Annabeth musste überlegen. »Ich glaube … bei der Kutsche«, sagte sie nachdenklich. »Meine Mom hat sie erfunden, aber Poseidon hat dann aus Wellenschaum Pferde gemacht. Also mussten sie wohl zusammenarbeiten, um dieses Werk zu vollenden.«
»Dann können wir das auch, oder?«
Wir fuhren in die Stadt hinein und Annabeth sah zu, wie der Brückenbogen hinter einem Hotel verschwand.
»Ja, glaub schon«, sagte sie endlich.
Wir hielten im Bahnhof. Eine Lautsprecherstimme kündigte drei Stunden Aufenthalt an, ehe es nach Denver weiterging.
Grover reckte sich. Noch ehe er richtig aufgewacht war, sagte er: »Essen.«
»Komm jetzt, Ziegenknabe«, sagte Annabeth. »Sightseeing.«
»Sightseeing?«
»Der Brückenbogen«, sagte sie. »Vielleicht bekomme ich nie wieder die Gelegenheit hochzufahren. Kommt ihr mit oder nicht?«
Grover und ich sahen uns an.
Ich wollte nein sagen, aber ich dachte, wenn Annabeth unbedingt hinwollte, könnten wir sie nicht alleinlassen.
Grover zuckte mit den Schultern. »Wenn es da einen Imbiss ohne Monster gibt!«
Der Bogen war ungefähr einen Kilometer vom Bahnhof entfernt. Spät, wie es schon war, gab es keine Warteschlangen. Wir wanderten durch das unterirdische Museum und sahen uns Planwagen und anderen Müll aus dem neunzehnten Jahrhundert an. Es war nicht gerade aufregend, aber Annabeth erzählte uns lauter interessante Dinge aus der Zeit, in der der Bogen errichtet worden war, und Grover gab mir immer wieder Gummibärchen, also konnte ich mich nicht beklagen.
Ich schaute mir die anderen Leute im Museum an. »Riechst du irgendwas?«, fragte ich Grover leise.
Er hob seine Nase gerade lange genug aus der Gummibärchentüte, um einmal zu schnüffeln. »Untergrund«, sagte er angeekelt. »Untergrundluft riecht immer nach Monstern. Hat vermutlich nichts zu bedeuten.«
Aber ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich hatte das Gefühl, dass wir nicht hier sein dürften.
»Leute«, sagte ich. »Kennt ihr die Symbole der Götter für Macht?«
Annabeth hatte gerade etwas über die Baumaschinen gelesen, die bei der Errichtung des Brückenbogens verwendet worden waren, aber sie schaute auf. »Ja?«
»Also, Hade…«
Grover räusperte sich. »Nicht in der Öffentlichkeit … Du meinst unseren Freund unten?«
»Äh, richtig«, sagte ich. »Unser Freund ganz unten. Hat er nicht so eine Mütze wie Annabeth?«
»Du meinst die Hadeskappe, den Helm der Finsternis?«, fragte Annabeth. »Ja, das ist sein Machtsymbol. Ich hab ihn zur Wintersonnenwende auf der Ratsversammlung neben seinem Sessel liegen sehen.«
»Er war also da?«, fragte ich.
Sie nickte. »Er darf nur an diesem einen Tag den Olymp besuchen – am dunkelsten Tag des Jahres. Aber sein Helm ist viel mächtiger als meine Tarnkappe, wenn das, was ich gehört habe, stimmt …«
»Er kann damit zur Finsternis werden«, bestätigte Grover. »Er kann mit den Schatten verschmelzen oder durch Mauern gleiten. Er kann nicht berührt oder gesehen oder gehört werden. Und er kann so starke Angst ausstrahlen, dass sie dich in den Wahnsinn treiben oder dein Herz zum Stillstand bringen kann. Warum, glaubst du, fürchten sich alle vernunftbegabten Wesen vor der Dunkelheit?«
»Aber … woher wollen wir dann wissen, dass er nicht hier ist und uns beobachtet?«, fragte ich.
Annabeth und Grover tauschten einen Blick.
»Das können wir nicht wissen«, sagte Grover.
»Danke, das ist mir ein großer Trost«, sagte ich. »Gibt’s noch blaue Gummibärchen?«
Ich hatte meine blanken Nerven fast unter Kontrolle gebracht, als ich den winzigen Fahrstuhl sah, mit dem wir nach oben in den Bogen fahren sollten, und da wusste ich, dass es Ärger geben würde. Ich hasse enge Räume. Sie machen mich wahnsinnig.
Wir wurden zusammen mit einer fetten Frau und ihrem Hund in den Fahrstuhl gequetscht, einem Chihuahua mit strassbesetztem Halsband. Ich stellte mir vor, dass es vielleicht ein Chihuahua mit magischem Blick war, weil kein Museumswächter ein Wort dazu gesagt hatte, dass ein Hund im Museum war.
Dann ging es nach oben in den Bogen. Ich war noch nie mit einem Fahrstuhl gefahren, der eine Kurve beschrieb, und mein Magen fand das gar nicht lustig.
»Keine Eltern?«, fragte uns die fette Frau.
Sie hatte Augen wie Glasperlen, spitze Zähne mit Kaffeeflecken und trug einen schlaffen Hut aus Jeansstoff und ein Jeanskleid, das sich überall ausbeulte und sie wie einen Jeanskloß aussehen ließ.
»Die warten unten«, sagte Annabeth. »Höhenangst.«
»Ach, die armen Herzchen!«
Der Chihuahua knurrte. Die Frau sagte: »Aber, aber, Söhnchen, benimm dich.« Der Hund hatte Perlenaugen wie seine Besitzerin, intelligent und tückisch.
Ich sagte: »Heißt er wirklich Söhnchen?«
»Nein«, antwortete die Frau.
Sie lächelte, als sei damit alles erklärt.
Die oben im Bogen gelegene Aussichtsplattform kam mir vor wie eine Konservendose mit Teppichen. Viele kleine Fenster schauten auf der einen Seite auf die Stadt und auf der anderen auf den Fluss. Der Ausblick war schon in Ordnung, aber wenn ich etwas noch mehr hasse als enge Räume, dann sind das enge Räume hundertfünfzig Meter hoch in der Luft. Ich wollte ganz schnell wieder nach unten.
Annabeth redete unablässig über Stützpfeiler und dass sie größere Fenster eingebaut und einen durchsichtigen Bogen entworfen hätte. Sie hätte sicher stundenlang hier oben bleiben können, aber zu meinem Glück teilte der Museumswächter nun mit, dass die Aussichtsplattform in wenigen Minuten geschlossen werden würde.
Ich lotste Grover und Annabeth zum Ausgang, schob sie in den Fahrstuhl und wollte gerade einsteigen, als mir aufging, dass darin schon zwei Fahrgäste standen. Für mich war kein Platz mehr.
Der Museumswächter sagte: »Nimm den nächsten.«
»Wir steigen aus«, sagte Annabeth. »Wir warten mit dir.«
Aber das hätte alles durcheinandergebracht und noch mehr Zeit gekostet und deshalb sagte ich: »Nö, schon gut. Wir sehen uns unten.«
Grover und Annabeth sahen nervös aus, aber sie blieben im Fahrstuhl, als sich die Tür schloss. Die Kabine verschwand hinter der Rampe.
Die einzigen Besucher auf der Aussichtsplattform waren jetzt ich, ein kleiner Junge und seine Eltern, der Museumswächter und die fette Frau mit dem Chihuahua.
Ich lächelte die fette Frau unsicher an. Sie lächelte auch und ihre gespaltene Zunge spielte zwischen ihren Zähnen.
Moment.
Gespaltene Zunge?
Ehe ich recht wusste, ob ich das tatsächlich gesehen hatte, sprang der Chihuahua von ihrem Arm und wollte nach mir schnappen.
»Aber, aber, Söhnchen«, sagte die Frau. »Hältst du das für den richtigen Moment? Es sind doch noch all diese netten Leute hier.«
»Hündchen«, sagte der kleine Junge. »Hündchen.«
Seine Eltern zogen ihn zurück.
Der Chihuahua bleckte seine Zähne und Geifer tropfte von seinen schwarzen Lefzen.
»Nun, mein Sohn«, sagte die fette Frau seufzend. »Wenn du darauf bestehst.«
In meinem Magen bildete sich ein Eisklumpen. »Äh, haben Sie diesen Chihuahua eben als Ihren Sohn bezeichnet?«
»Chimäre, mein Lieber«, korrigierte die fette Frau. »Nicht Chihuahua. Aber das ist ja leicht zu verwechseln.«
Sie krempelte ihre Ärmel hoch und entblößte die schuppige, grüne Haut ihrer Arme. Als sie lächelte, sah ich ihre Giftzähne. Ihre Pupillen waren schmale Striche, wie bei Reptilien.
Der Chihuahua bellte lauter und bei jedem Bellen wuchs er. Zuerst wurde er so groß wie ein Dobermann, dann wie ein Löwe. Sein Bellen wurde zum Gebrüll.
Der kleine Junge schrie. Seine Eltern zogen ihn zum Ausgang und stießen mit dem Museumswächter zusammen, der wie gelähmt dastand und das Ungeheuer anstarrte.
Die Chimäre war jetzt so groß, dass ihr Rücken gegen die Decke stieß. Sie hatte einen Löwenkopf mit blutverschmierter Mähne, Rumpf und Hufe einer riesigen Ziege und als Schwanz eine Schlange, die drei Meter lang aus ihrem zottigen Hinterteil herauswuchs. Das mit Strass besetzte Halsband hing noch immer um ihren Hals und jetzt war die riesige Hundemarke leicht zu lesen: CHIMÄRE – TOLLWÜTIG, FEUERSPEIEND, GIFTIG – WENN GEFUNDEN, BITTE TARTARUS ANRUFEN – ANSCHLUSS 954.
Mir ging auf, dass ich noch nicht einmal die Kappe von meinem Schwert gedreht hatte. Ich stand drei Meter von der blutigen Mähne der Chimäre entfernt und ich wusste, bei der geringsten Bewegung würde das Ungeheuer mich anspringen.
Die Schlangenfrau stieß ein zischendes Geräusch aus, bei dem es sich um ein Lachen handeln könnte. »Du solltest dich geehrt fühlen, Percy Jackson. Herr Zeus gestattet es mir nur selten, meine Brut an einem Helden zu testen. Denn ich bin die Mutter der Ungeheuer, die entsetzliche Echidna!«
Ich starrte sie an. Mir fiel nur die Frage ein: »Ist das nicht eine Art Ameisenfresser?«
Sie heulte auf und ihr Reptiliengesicht färbte sich vor Zorn braun und grün. »Ich hasse es, mir das anhören zu müssen. Ich hasse Australien! Dass sie dieses alberne Viech nach mir getauft haben! Aber dafür, Percy Jackson, wird mein Sohn dich vernichten!«
Die Chimäre stürzte los und bleckte dabei die Zähne. Ich konnte beiseitespringen und ihrem Biss ausweichen.
Ich landete neben der Familie und dem Museumswächter; alle schrien jetzt und versuchten, die Türen zu den Notausgängen aufzureißen.
Ich konnte nicht zulassen, dass sie verletzt würden. Ich drehte die Kappe von meinem Schwert, rannte auf die andere Seite der Aussichtsplattform und rief: »Hierher, Chihuahua!«
Die Chimäre drehte sich schneller um, als ich es für möglich gehalten hätte.
Ehe ich mein Schwert heben konnte, riss sie das Maul auf, ließ einen Gestank wie vom größten Schlachthof der Welt herausquellen und schoss eine Flammensäule auf mich ab.
Ich tauchte unter den Flammen durch. Der Teppichboden brannte, es war so heiß, dass meine Augenbrauen versengt wurden.
Wo ich eben noch gestanden hatte, klaffte jetzt ein gezacktes Loch im Brückenbogen, an dessen Rändern schmelzendes Metall qualmte.
Klasse, dachte ich. Wir haben soeben ein Nationaldenkmal abgefackelt.
Mein Schwert lag nun als leuchtende Bronzeklinge in meiner Hand, und als die Chimäre sich umdrehte, zielte ich auf ihren Hals.
Das war mein großer Fehler. Die Klinge prallte vom Hundehalsband ab, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich versuchte das Gleichgewicht zurückzugewinnen, war dabei aber dermaßen darauf konzentriert, mich vor dem feuerspeienden Löwenschlund in Acht zu nehmen, dass ich mich an den Schlangenschwanz erst erinnerte, als die Chimäre herumfuhr und ihre Schlangenzähne in meine Wade schlug.
Mein Bein brannte wie Feuer. Ich versuchte der Chimäre mein Schwert in den Schlund zu rammen, aber der Schlangenschwanz wickelte sich um meine Knöchel und riss mich zu Boden. Das Schwert flog mir aus der Hand, wirbelte durch das Loch im Brückenbogen und stürzte hinab in den Mississippi.
Ich kam mit Mühe auf die Beine, wusste aber, dass ich verloren war. Ich war entwaffnet. Ich konnte spüren, wie das tödliche Gift in meine Brust hochfloss. Mir fiel ein, dass Chiron gesagt hatte, Anaklysmos werde immer zu mir zurückkehren, aber in meiner Hosentasche war kein Kugelschreiber. Vielleicht war das Schwert schon zu weit von mir fort. Oder vielleicht kehrte es nur zurück, wenn es gerade seine Kugelschreibergestalt angenommen hatte. Ich wusste es nicht und ich würde nicht mehr lange genug leben, um es herauszufinden.
Rückwärts näherte ich mich dem Loch in der Wand. Die Chimäre rückte vor, sie knurrte und Rauch stieg von ihren Lippen auf. Die Schlangenfrau, Echidna, kicherte gackernd. »Die Helden sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, was, Söhnchen?«
Das Ungeheuer knurrte. Es schien mich jetzt, wo ich geschlagen war, ganz schnell erledigen zu wollen.
Ich schaute zu dem Wächter und der Familie hinüber. Der kleine Junge versteckte sich hinter den Beinen seines Vaters. Ich musste diese Menschen beschützen. Ich konnte nicht einfach … sterben. Ich versuchte zu überlegen, aber ich war total benommen. Mein ganzer Körper brannte. Ich hatte kein Schwert. Ich stand vor einem gewaltigen, feuerspeienden Ungeheuer und seiner Mutter. Und ich war außer mir vor Angst.
Ich hatte keinen anderen Ausweg, deshalb trat ich dicht vor das Loch. Tief, tief unter mir glitzerte der Fluss.
Wenn ich starb, würden die Monster dann verschwinden? Würden sie die Menschen in Ruhe lassen?
»Wenn du wirklich Poseidons Sohn wärst«, zischte Echidna, »hättest du keine Angst vor dem Wasser. Spring, Percy Jackson. Zeig mir, dass Wasser dir nichts anhaben kann. Spring und hol dir dein Schwert zurück. Zeig uns, von wem du abstammst.«
Ja, genau, dachte ich. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man ebenso gut auf soliden Asphalt springen könnte wie aus dieser Höhe ins Wasser. Ich würde beim Aufprall zerschmettert werden. Der Schlund der Chimäre glühte rot und heizte sich für den nächsten Flammenwurf auf.
»Du hast keinen Glauben«, sagte Echidna. »Du hast kein Vertrauen zu den Gottheiten. Und ich kann dir da keinen Vorwurf machen, du kleiner Feigling. Besser, du stirbst jetzt gleich. Die Gottheiten sind treulos. Das Gift ist in deinem Herzen.«
Sie hatte Recht: Ich war schon fast tot. Ich spürte, wie mein Atem langsamer wurde. Mich konnte niemand mehr retten, nicht einmal die Götter.
Ich hob den Kopf und schaute auf das Wasser hinab. Ich dachte an das warme Glühen im Lächeln meines Vaters, als ich noch ganz klein gewesen war. Er musste mich gesehen haben. Er musste mich besucht haben, als ich noch in der Wiege lag.
Ich dachte an den wirbelnden grünen Dreizack, der in der Nacht, als wir die Flagge erobert hatten und Poseidon mich als seinen Sohn anerkannt hatte, über mir am Himmel aufgetaucht war.
Aber das hier war nicht das Meer. Es war der Mississippi, mitten in den USA. Hier gab es keinen Meeresgott.
»Stirb, Ungläubiger!«, schnarrte Echidna und die Chimäre spie mir eine Flammensäule ins Gesicht.
»Vater, hilf mir«, betete ich.
Ich drehte mich um und sprang. Meine Kleider brannten, Gift jagte durch meine Adern und ich stürzte dem Fluss entgegen.
Ich werde zum prominenten Flüchtling
Ich würde euch gern erzählen, dass ich auf dem Weg nach unten tiefe Erkenntnisse hatte, dass ich mich mit meiner Sterblichkeit versöhnte, dass ich dem Tod ins Gesicht lachte und überhaupt.
Aber in Wahrheit? In Wahrheit dachte ich nur:
Aaaaarrrrgggghhhh!
Der Fluss kam mit der Geschwindigkeit eines LKW auf mich zu. Wind riss mir den Atem aus der Lunge. Kirchtürme und Wolkenkratzer und Brücken taumelten in mein Blickfeld und verschwanden wieder.
Und dann: Flaaa-bummm!
Weiße Leere voller Blasen. Ich sank durch trübes Wasser, überzeugt davon, dass ich unter einer dreißig Meter dicken Schlammschicht begraben werden und für immer verschwunden bleiben würde.
Aber der Aufprall auf das Wasser hatte nicht wehgetan. Ich fiel jetzt langsamer, Blasen quollen zwischen meinen Fingern hindurch. Lautlos traf ich auf den Boden des Flusses auf. Ein Wels von der Größe meines Stiefvaters verzog sich in die Dunkelheit. Wolken aus Schlammpartikeln und allerlei widerlicher Müll – Bierflaschen, alte Schuhe, Plastiktüten – stoben in meiner Umgebung hoch.
Und dann gingen mir einige Dinge auf: Erstens, ich war nicht zu einem Pfannkuchen zermatscht worden. Ich war nicht gegrillt worden. Ich spürte nicht einmal mehr das Chimärengift in meinen Adern. Ich lebte und das war schon mal gut.
Zweite Erkenntnis: Ich war nicht nass. Das heißt, ich merkte natürlich, wie kalt das Wasser war. Ich konnte an meinen Kleidern sehen, wo die Flammen gelöscht worden waren. Aber als ich mein Hemd anfasste, fühlte es sich knochentrocken an.
Ich betrachtete den vorübertreibenden Müll und schnappte mir ein altes Feuerzeug.
Kann ja nicht klappen, dachte ich.
Ich knipste das Feuerzeug an. Es brannte. Eine winzige Flamme leuchtete auf, unten auf dem Grund des Mississippi.
Ich fischte eine durchnässte Hamburgertüte aus der Strömung und sofort trocknete das Papier. Ich konnte es problemlos anzünden. Als ich es losließ, erloschen die Flammen. Die Tüte verwandelte sich wieder in einen glitschigen Fetzen. Seltsam.
Aber das Merkwürdigste ging mir ganz zuletzt auf: Ich atmete. Ich befand mich unter Wasser, atmete aber ganz normal.
Ich stand bis zur Taille im Schlamm. Meine Beine zitterten. Meine Hände bebten. Ich hätte eigentlich tot sein müssen. Die Tatsache, dass ich das nicht war, kam mir vor wie … na ja, wie ein Wunder. Ich glaubte, eine Frauenstimme zu hören, eine Stimme, die ein wenig wie die meiner Mutter klang: Percy, was sagt ein braver Junge?
Ähem … danke. Unter Wasser klang ich wie eine Tonbandaufnahme, wie ein viel älterer Junge. Danke … Vater.
Keine Antwort. Nur der Abfall, der flussabwärts trieb, der riesige Wels, der vorüberglitt, das Glitzern des Sonnenuntergangs an der Wasseroberfläche hoch über mir, der alles in die Farbe von weichem Toffee tunkte.
Warum hatte Poseidon mich gerettet? Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr schämte ich mich. Ein paarmal vorher hatte ich schon Glück gehabt. Aber gegen ein Wesen wie die Chimäre hätte ich im Leben keine Chance gehabt. Die armen Leute oben im Brückenbogen waren vermutlich in Toast verwandelt worden. Ich hatte sie nicht beschützen können. Ich war kein Held. Vielleicht sollte ich einfach hier unten bei dem Wels bleiben und auf dem Grund des Flusses meine Nahrung suchen.
Fump-fump-fump. Über mir drehte sich die Schiffsschraube eines Flussdampfers und wirbelte Dreck und Schlamm auf.
Und dann sah ich, keine zwei Meter von mir entfernt, mein Schwert. Der funkelnde Bronzegriff ragte aus dem Schlamm.
Wieder hörte ich die Frauenstimme: Percy, nimm das Schwert. Dein Vater glaubt an dich. Diesmal wusste ich, dass die Stimme nicht meiner Fantasie entstammte. Ich hatte sie wirklich gehört. Die Worte schienen von überall her zu kommen, sie durchdrangen das Wasser wie Schallwellen von Delfinen.
»Wo bist du?«, rief ich laut.
Und dann sah ich sie – eine Frau in der Farbe des Wassers, ein Geist in der Strömung, sie schwebte über dem Schwert. Sie hatte lange wogende Haare und ihre kaum sichtbaren Augen waren grün wie meine.
Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich fragte: »Mom?«
Nein, Kind, nur eine Botin, auch wenn das Schicksal deiner Mutter nicht so hoffnungslos ist, wie du glaubst. Geh zum Strand von Santa Monica.
»Was?«
So wünscht es dein Vater. Ehe du in die Unterwelt hinabsteigst, musst du zum Strand von Santa Monica gehen. Bitte, Percy, ich kann nicht lange hier bleiben. Dieser Fluss ist viel zu schmutzig.
»Aber …« Ich war so sicher, dass es sich bei dieser Frau um meine Mutter handelte oder wenigstens um ihre Erscheinung. »Wer – wie bist du …«
Ich wollte so viele Fragen stellen, aber sie blieben mir im Hals stecken.
Ich kann nicht bleiben, du Tapferer, sagte die Frau. Sie streckte die Hand aus und ich spürte, wie die Strömung meine Wange liebkoste. Du musst nach Santa Monica gehen! Und, Percy, vertraue den Geschenken nicht …
Ihre Stimme verhallte.
»Den Geschenken?«, fragte ich. »Welchen Geschenken? Warte!«
Sie machte noch einen Versuch zu sprechen, aber es war nichts mehr zu hören. Ihr Bild löste sich auf. Wenn es meine Mutter gewesen war, dann hatte ich sie abermals verloren.
Ich hätte mich ertränken mögen. Das Problem war nur: Das war mir unmöglich.
Dein Vater glaubt an dich, hatte sie gesagt.
Und sie hatte mich tapfer genannt … falls sie damit nicht den Wels gemeint hatte.
Ich watete zu meinem Schwert und packte den Griff. Die Chimäre mit ihrer fetten Schlangenmutter konnte ja noch immer da oben auf mich warten, um mich endgültig zu erledigen. Auf jeden Fall aber würde die sterbliche Polizei warten und wissen wollen, wer das Loch in den Brückenbogen gesprengt hatte. Wenn sie mich fänden, würden sie mir sicher einige Fragen stellen wollen.
Ich drehte die Kappe auf das Schwert und verstaute den Kugelschreiber in meiner Tasche. »Danke, Vater«, sagte ich noch einmal in das trübe Wasser hinein.
Dann stieß ich mich im Schlamm ab und schwamm an die Wasseroberfläche.
Ich ging neben einem McDonald’s auf einer Pontonbrücke an Land.
Einen Block weiter hatten sich alle Einsatzfahrzeuge von St. Louis um den Brückenbogen versammelt. Polizeihubschrauber schwebten darüber. Die Schar der Zuschauer erinnerte mich an den Times Square zu Silvester.
Ein kleines Mädchen sagte: »Mama! Der Junge da ist aus dem Fluss gekommen!«
»Wie hübsch, Herzchen«, sagte die Mutter und reckte den Hals, um die Krankenwagen sehen zu können.
»Aber er ist trocken!«
»Wie hübsch, Herzchen.«
Eine Nachrichtenreporterin sprach in die Kamera: »Vermutlich kein Terrorangriff, wird uns mitgeteilt, aber Genaues ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Der Schaden ist, wie Sie sehen können, beträchtlich. Wir versuchen, mit einigen Überlebenden zu sprechen, um die Bestätigung von Augenzeugenberichten zu erhalten, dass jemand aus dem Brückenbogen gestürzt ist.«
Überlebende. Eine Welle der Erleichterung überkam mich. Vielleicht hatten der Wächter und die Familie sich in Sicherheit bringen können. Ich hoffte, dass es Annabeth und Grover gut ging.
Ich versuchte, mich durch die Menge zu drängen, um zu sehen, was hinter der Polizeiabsperrung passierte.
»Ein Junge«, sagte ein anderer Reporter. »Wie unser Sender erfahren hat, zeigen die Überwachungskameras einen Jungen von vielleicht zwölf Jahren, der auf der Aussichtsplattform Amok läuft und auf irgendeine Weise eine Explosion auslöst. Schwer zu glauben, John, aber das wird uns hier erzählt. Meldungen von Todesfällen sind bisher nicht bestätigt worden …«
Ich wich zurück und zog den Kopf ein. Ich musste einen großen Bogen um die Polizeiabsperrung machen. Überall wimmelte es von uniformierten Beamten und Presseleuten.
Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, Annabeth und Grover jemals wiederzufinden, als eine vertraute Stimme meckerte: »Perr-cy!«
Ich fuhr herum und war gefangen in Grovers Bärenumarmung – oder eher Ziegenumarmung. Er sagte: »Wir dachten schon, du hättest dich auf die brutale Weise zu Hades auf den Weg gemacht.«
Annabeth stand hinter ihm, sie versuchte, ein wütendes Gesicht zu machen, aber sogar sie wirkte erleichtert über meinen Anblick. »Dich kann man auch keine fünf Minuten alleinlassen! Was ist passiert?«
»Ich bin irgendwie gefallen.«
»Percy! Hundertfünfzig Meter?«
Hinter uns schrie ein Bulle: »Platz machen!« Die Menge teilte sich und zwei Sanitäter kamen gelaufen, sie trugen eine Bahre mit einer Frau. Ich erkannte sie sofort als die Mutter des kleinen Jungen von der Aussichtsplattform. Sie sagte: »Und dann war da so ein riesiger Hund, ein riesiger feuerspeiender Chihuahua …«
»Alles klar, Ma’am«, sagte der eine Sanitäter. »Jetzt beruhigen Sie sich erst mal. Ihre Familie ist unversehrt. Und gleich setzt die Wirkung der Medikamente ein.«
»Ich bin nicht verrückt! Der Junge ist durch das Loch gesprungen und danach war das Ungeheuer verschwunden!« Dann fiel ihr Blick auf mich. »Da ist er! Das ist der Junge!«
Ich fuhr herum und zog Annabeth und Grover hinter mir her. Wir tauchten in der Menge unter.
»Was ist eigentlich los?«, wollte Annabeth wissen. »Hat sie den Chihuahua aus dem Fahrstuhl gemeint?«
Ich erzählte ihnen die ganze Geschichte von der Chimäre, von Echidna, von meinem Sprung und von der Botschaft, die die Unterwasserdame mir übermittelt hatte.
»Meine Güte«, sagte Grover. »Dann müssen wir dich nach Santa Monica schaffen. Eine Aufforderung deines Dads darfst du nicht ignorieren.«
Noch ehe Annabeth etwas dazu sagen konnte, kamen wir an einem weiteren Reporter vorbei, und ich wäre fast zu Stein erstarrt, als er sagte: »Percy Jackson. Genau, Dan. Wie Channel Twelve soeben erfährt, scheint es sich der Beschreibung nach bei dem Jungen, der möglicherweise diese Explosion ausgelöst hat, um einen jungen Mann zu handeln, den die Behörden schon wegen eines schweren Busunfalls in New Jersey vor drei Tagen suchen. Es wird angenommen, dass dieser Junge unterwegs nach Westen ist. Für unsere Zuschauer zeigen wir jetzt ein Foto von Percy Jackson.«
Wir schlichen mit eingezogenen Köpfen um den Übertragungswagen herum und verschwanden in einer Seitenstraße.
»Zuallererst«, sagte ich zu Grover, »müssen wir weg hier.«
Irgendwie gelangten wir unerkannt zurück zum Bahnhof. Wir konnten gerade noch in den Zug nach Denver springen, da fuhr er auch schon los. Der Zug ratterte westwärts, während es dunkler wurde und die Scheinwerfer der Polizei noch immer über der Silhouette von St. Louis hinter uns zu erkennen waren.
Ein Gott lädt uns zu Cheeseburgern ein
Am nächsten Nachmittag, am 14. Juni, sieben Tage vor der Sommersonnenwende, fuhr unser Zug in den Bahnhof von Denver ein. Wir hatten am Abend zuvor zuletzt gegessen, im Speisewagen irgendwo in Kansas. Geduscht hatten wir seit Half-Blood Hill nicht mehr und das war uns garantiert anzusehen.
»Versuchen wir, Kontakt zu Chiron aufzunehmen«, sagte Annabeth. »Ich würde ihm gern von deiner Unterredung mit dem Flussgeist erzählen.«
»Wir können aber nicht telefonieren, oder?«
»Davon rede ich auch gar nicht.«
Wir wanderten eine halbe Stunde durch die Stadt und ich wusste nicht, wonach Annabeth eigentlich suchte. Es war trocken und heiß, ganz ungewohnt für uns, nachdem es in St. Louis so schwül gewesen war. Egal wohin ich blickte, immer schienen die Rocky Mountains mich anzustarren, wie eine Flutwelle, die sich jeden Moment über die Stadt ergießen konnte.
Endlich fanden wir eine leere Autowaschanlage. Wir liefen zu der Waschbox, die am weitesten von der Straße entfernt war, und hielten dabei die ganze Zeit Ausschau nach Streifenwagen. Wir waren drei Jugendliche, hatten kein Auto und lungerten trotzdem an einer Waschanlage herum; jeder Bulle, der nur ein bisschen Grips hatte, würde sich denken können, dass wir nichts Gutes im Schilde führten.
»Was genau machen wir eigentlich hier?«, fragte ich, als Grover zum Schlauch griff.
»Das kostet fünfundsiebzig Cent«, murrte er. »Ich hab bloß zweimal fünfundzwanzig. Annabeth?«
»Falsche Adresse«, sagte sie. »Der Speisewagen hat mich in den Bankrott getrieben.«
Ich fischte meine letzten Münzen heraus und reichte Grover ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück; es blieben mir noch zwei Zehn-Cent-Stücke und eine Drachme aus der Kasse der Medusa.
»Hervorragend«, sagte Grover. »Eine Spraydose wäre natürlich auch eine Möglichkeit, aber da ist die Verbindung nicht so gut und das Drücken macht meinen Arm lahm.«
»Wovon redest du eigentlich?«
Er warf die Geldstücke ein und legte den Hebel auf »feiner Nebel«.
»Von I-M.«
»Instant Message?«
»Iris-Message«, korrigierte Annabeth. »Die Regenbogengöttin Iris übermittelt Botschaften für die Götter. Wenn du weißt, wie du sie darum bitten kannst, und wenn sie nicht zu viel zu tun hat, macht sie das auch für Halbblute.«
»Man ruft die Göttin mit einem Wasserschlauch an?«
Grover hob die Düse in die Luft und Wasser zischte als dicker weißer Nebel heraus. »Es sei denn, du kennst eine einfachere Methode, einen Regenbogen zu produzieren.«
Und in dem Moment fiel das Licht des späten Nachmittags durch den Nebel und spaltete sich in Farben auf.
Annabeth hielt mir die Hand hin. »Drachme, bitte.«
Ich reichte sie ihr.
Sie hob die Münze über ihren Kopf. »O Göttin, nimm unser Opfer an!«
Sie warf die Drachme in den Regenbogen. Sie verschwand in einem goldenen Funkeln.
»Half-Blood Hill«, bat Annabeth.
Einen Moment lang passierte gar nichts.
Dann schaute ich durch den Nebel auf Erdbeerfelder und sah in der Ferne die Meerenge von Long Island. Wir hätten auf der Veranda des Haupthauses stehen können. Vor dem Geländer, mit dem Rücken zu uns, stand ein Typ mit sandfarbenen Haaren, der Shorts und ein ärmelloses, orangefarbenes Hemd trug. Er hielt ein Bronzeschwert in der Hand und schien etwas unten auf der Wiese anzustarren.
»Luke!«, rief ich.
Er fuhr herum und machte große Augen. Ich hätte schwören können, dass er einen knappen Meter vor mir im Nebel stand, aber ich konnte natürlich nur den Teil von ihm sehen, der im Regenbogen auftauchte.
»Percy!« Sein narbiges Gesicht grinste. »Ist Annabeth auch da? Den Göttern sei gedankt! Geht’s euch gut, Leute?«
»Uns … äh … geht’s gut«, stammelte Annabeth. Sie gab sich alle Mühe, ihr schmutziges T-Shirt gerade zu ziehen und sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen. »Wir dachten … Chiron … ich meine …«
»Der ist unten bei den Hütten.« Lukes Lächeln verblasste. »Wir haben da ein paar Probleme mit den Campbewohnern. Hör mal, läuft bei euch alles, wie es soll? Alles in Ordnung mit Grover?«
»Ich bin hier«, rief Grover. Er hielt die Düse zur Seite und trat in Lukes Blickfeld. »Was denn für Probleme?«
In diesem Moment kam ein riesiger Lincoln Continental angefahren, aus dessen Anlage überlauter Hip-Hop dröhnte. Als der Wagen vor der nächsten Box zum Stillstand kam, wummerte der Bass dermaßen, dass das Pflaster bebte.
»Chiron musste – was ist das denn für ein Krach?«, schrie Luke.
»Das erledige ich schon«, schrie Annabeth zurück und schien sehr erleichtert darüber zu sein, sich mit dieser Entschuldigung aus Lukes Blickfeld entfernen zu können. »Grover, komm mit.«
»Was?«, fragte Grover. »Aber …«
»Gib Percy den Schlauch und komm mit.«
Grover murmelte etwas wie, Mädchen seien schwerer zu begreifen als das Orakel von Delphi, dann reichte er mir den Schlauch und lief hinter Annabeth her.
Ich hielt den Schlauch gerade, damit der Regenbogen weiter bestand und ich Luke sehen konnte.
»Chiron musste in einen Kampf eingreifen«, brüllte Luke mich durch die laute Musik an. »Die Lage hier ist ziemlich angespannt, Percy. Die Sache mit der Zeus-Poseidon-Kiste hat sich rumgesprochen. Wir wissen immer noch nicht, wie – vermutlich war es derselbe Arsch, der den Höllenhund gerufen hat. Und jetzt beziehen die Campbewohner Stellung. Sieht aus wie ein neuer Trojanischer Krieg. Aphrodite, Ares und Apollo halten mehr oder weniger zu Poseidon. Athene hält zu Zeus.«
Ich bekam eine Gänsehaut bei der Vorstellung, dass Clarisse’ Hütte zu meinem Vater halten könnte. Von nebenan hörte ich, wie Annabeth und irgendein Typ sich miteinander stritten, dann wurde die Musik um einiges leiser gedreht.
»Und wie sieht’s bei euch aus?«, fragte Luke. »Es wird Chiron sehr leidtun, dass er euch verpasst hat.«
Ich erzählte ihm so ziemlich alles, auch meine Träume. Es tat so gut, ihn zu sehen, für ein paar Minuten das Gefühl zu haben, wieder im Camp zu sein, dass ich gar nicht wusste, wie lange ich schon geredet hatte, als die Schlauchanlage klingelte und mir aufging, dass in einer Minute das Wasser abgestellt werden würde.
»Ich wünschte, ich könnte bei euch sein«, sagte Luke. »Von hier aus können wir euch nicht sehr viel helfen, fürchte ich … Hör mal, bestimmt hat Hades den Herrscherblitz geklaut. Er war doch zur Wintersonnenwende auf dem Olymp. Ich hab damals die Exkursion geleitet und ihn gesehen.«
»Aber Chiron sagt doch, dass die Götter sich nicht gegenseitig ihre magischen Dinge wegnehmen können.«
»Stimmt schon«, sagte Luke mit besorgter Miene. »Aber trotzdem … Hades hat seinen Helm der Finsternis. Und wie sollte sich sonst jemand in den Thronsaal schleichen und den Herrscherblitz stehlen? Da müsste man doch unsichtbar sein!«
Wir schwiegen beide, dann ging Luke auf, was er gerade gesagt hatte.
»Moment«, rief er sofort. »Ich rede hier nicht von Annabeth. Sie und ich kennen uns seit ewigen Zeiten. Sie würde nie im Leben … ich meine, sie ist doch für mich wie eine kleine Schwester.«
Ich fragte mich, ob Annabeth diese Darstellung wohl zu schätzen wissen würde. In der Box nebenan verstummte die Musik jetzt vollständig. Ein Mann schrie vor Angst auf, Autotüren knallten und der Lincoln jagte aus der Waschstraße.
»Sieh lieber mal nach, was da los ist«, sagte Luke. »Hör mal, trägst du eigentlich die fliegenden Schuhe? Mir wäre schon wohler, wenn ich wüsste, dass ich wenigstens ein wenig helfen kann.«
»Öh … oh, ja!« Ich versuchte nicht zu klingen wie ein ertappter Lügner. »Ja, die sind wirklich nützlich.«
»Echt?« Er grinste. »Sie passen, und überhaupt?«
Das Wasser versiegte. Der Nebel löste sich auf.
»Na dann, gebt da unten in Denver gut acht auf euch«, rief Luke. Seine Stimme wurde leiser. »Und sag Grover, dass diesmal alles besser laufen wird. Niemand wird in eine Fichte verwandelt, wenn er nur …«
Aber der Nebel war verschwunden und Lukes Bild löste sich in nichts auf. Ich stand allein auf einem nassen, leeren Autowaschplatz.
Annabeth und Grover kamen lachend um die Ecke, blieben aber stehen, als sie mein Gesicht sahen. Annabeths Lächeln verflog. »Was ist los, Percy? Was hat Luke gesagt?«
»Nicht viel«, log ich und mein Magen fühlte sich so leer an wie eine Hütte der Großen Drei. »Los, treiben wir was zu essen auf.«
Einige Minuten darauf saßen wir in einer Nische eines chromglänzenden Imbisses. Überall in unserer Umgebung aßen Familien Burger und tranken Shakes und Limos.
Endlich kam die Kellnerin zu uns herüber. Sie hob skeptisch die Augenbrauen. »Na?«
Ich sagte: »Äh, wir würden gern was zu essen bestellen.«
»Habt ihr denn Geld zum Bezahlen?«
Grovers Unterlippe zitterte. Ich hatte schon Angst, er könnte losmeckern oder, schlimmer noch, das Linoleum annagen. Annabeth schien vor Hunger jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.
Ich versuchte gerade, mir für die Kellnerin eine tränentriefende Geschichte auszudenken, als ein Dröhnen das Gebäude erzittern ließ. Ein Motorrad von der Größe eines Elefantenbabys war auf den Bordstein gefahren.
Alle Gespräche im Lokal verstummten. Der vordere Scheinwerfer des Motorrads glühte rot. Sein Benzintank war mit Flammen bemalt, auf jeder Seite war ein Holster angebracht, in dem Pistolen steckten. Der Sitz war aus Leder – aber das Leder sah aus wie … na ja, wie helle Menschenhaut.
Der Typ auf dem Motorrad hätte jeden Profiringer dazu bringen können, nach seiner Mama zu rufen. Er trug ein rotes Muskelshirt, schwarze Jeans und einen schwarzen Ledermantel, an seinen Oberschenkel hatte er sich ein Jagdmesser geschnallt. Er hatte eine rote Panoramasonnenbrille auf und das gemeinste, brutalste Gesicht, das ich je gesehen hatte – er sah zwar irgendwie gut aus, aber fies –, und er hatte ölige, kurz geschorene Haare und von vielen Kämpfen zernarbte Wangen. Das Komische war, dass ich das Gefühl hatte, dieses Gesicht schon mal irgendwo gesehen zu haben.
Er betrat den Imbiss und ein heißer, trockener Wind fegte durch das Lokal. Alle sprangen wie hypnotisiert auf, aber der Motorradfahrer bewegte nur lässig die Hand und schon sanken alle auf ihre Sitze und nahmen ihre Gespräche wieder auf. Die Kellnerin zwinkerte, als ob eben irgendwer den Rückspulknopf für ihr Gehirn betätigt hätte. Sie fragte uns noch einmal: »Habt ihr denn Geld zum Bezahlen?«
Der Motorradfahrer sagte: »Das geht auf mich.« Er glitt in unsere Nische, die viel zu eng für ihn war, und presste Annabeth gegen das Fenster.
Er schaute zu der Kellnerin auf, die ihn mit offenem Mund anstarrte, und fragte: »Immer noch hier?«
Dann zeigte er mit dem Finger auf sie und sie erstarrte, wirbelte herum und verschwand in der Küche.
Der Motorradfahrer blickte mich an. Ich konnte seine Augen hinter der roten Sonnenbrille nicht sehen. Alle möglichen negativen Gefühle kochten in mir hoch. Wut, Rachedurst, Verbitterung. Ich hätte am liebsten gegen eine Wand geschlagen. Ich wollte Streit. Für wen hielt dieser Typ sich eigentlich?
Er grinste mich boshaft an. »Du bist also der Kleine vom alten Seetang, ja?«
Ich hätte überrascht oder verängstigt sein müssen, aber ich hatte eher das Gefühl, meinem Stiefvater Gabe gegenüberzusitzen. Ich hätte dem Typen gern den Kopf abgerissen. »Was geht dich das an?«
Annabeths Augen leuchteten auf. »Percy«, sagte sie warnend, »das ist …«
Der Motorradfahrer hob die Hand.
»Schon gut«, sagte er. »Ein bisschen Selbstvertrauen find ich gar nicht schlecht. Solange ihr nicht vergesst, wer der Boss ist. Du weißt doch, wer ich bin, kleiner Vetter?«
Und dann wusste ich, warum der Typ mir so bekannt vorkam. Er feixte genauso gemein wie einige von den Leuten aus Camp Half-Blood, nämlich die aus Hütte 5.
»Du bist der Vater von Clarisse«, sagte ich. »Ares, der Gott des Krieges.«
Ares grinste und nahm seine Sonnenbrille ab. Statt Augen hatte er nur leere Höhlen, in denen Feuer glühten wie kleine Atomexplosionen. »Richtig, du Missgeburt. Ich hab gehört, dass du Clarisse’ Speer zerbrochen hast.«
»Das hatte sie nicht anders verdient.«
»Kann ich mir denken. Coole Sache. Ich trage nicht die Kämpfe meiner Kinder aus, weißt du? Weshalb ich gekommen bin – ich habe gehört, dass ihr hier in der Stadt seid. Ich hab einen kleinen Vorschlag für euch.«
Die Kellnerin brachte voll beladene Tabletts: Cheeseburger, Pommes, Zwiebelringe und Schokoshakes.
Ares reichte ihr einige goldene Drachmen.
Sie schaute die Münzen nervös an. »Aber das ist kein …«
Ares zog sein langes Messer und fing an, sich die Fingernägel zu reinigen. »Irgendwelche Probleme, Süße?«
Die Kellnerin schluckte und steckte die Drachmen ein.
»Das geht doch nicht«, sagte ich zu Ares. »Du kannst die Leute nicht einfach mit dem Messer bedrohen.«
Ares lachte. »Machst du Witze? Ich liebe dieses Land. Seit Sparta hat’s keinen besseren Aufenthaltsort gegeben. Hast du keine Waffe, du Missgeburt? Solltest du aber. Gefährlich da draußen. Und damit wäre ich bei meinem Vorschlag. Du musst mir einen Gefallen tun.«
»Und was könnte ich einem Gott für einen Gefallen tun?«
»Es geht um etwas, wofür einem Gott die Zeit fehlt. Keine große Sache. Ich habe meinen Schild in einem stillgelegten Wasserpark hier in der Stadt vergessen. Ich hatte da ein … ein kleines Date mit meiner Freundin. Und dabei sind wir gestört worden. Ich hab meinen Schild vergessen. Und den sollst du jetzt für mich holen.«
»Und warum machst du das nicht selbst?«
Das Feuer in seinen Augenhöhlen glühte ein wenig mehr.
»Warum verwandele ich dich nicht in einen Kojoten und überfahre dich mit meiner Harley? Weil ich keine Lust habe. Ein Gott gibt dir die Möglichkeit, dich selbst zu beweisen, Percy Jackson. Willst du dich als Feigling blamieren?« Er beugte sich vor. »Oder traust du dich nur zu kämpfen, wenn du in einen Fluss tauchen kannst, wo dein Daddy dich beschützt?«
Ich hätte diesem Typen gern eine gescheuert, aber ich wusste, dass er nur darauf wartete. Ares’ Macht brachte mich in Rage. Er wäre glücklich gewesen, wenn ich ihn angegriffen hätte. Aber diese Freude wollte ich ihm nicht machen.
»Das interessiert uns nicht«, sagte ich. »Wir haben schon einen Auftrag.«
In Ares’ feurigen Augen sah ich Dinge, die ich nicht sehen wollte – Blut und Rauch und Tote auf einem Schlachtfeld. »Ich weiß alles über euren Auftrag, du Missgeburt. Als dieses Dings gestohlen worden war, hat Zeus seine besten Leute auf die Suche danach geschickt: Apollo, Athene, Artemis und mich natürlich. Wenn ich eine dermaßen mächtige Waffe nicht ausfindig machen kann …« Er leckte sich die Lippen, als mache ihn schon der bloße Gedanke an den Herrscherblitz hungrig. »Na ja … wenn ich sie nicht finden konnte, dann besteht für dich keine Hoffnung. Aber warten wir ruhig ab, man weiß ja nie. Dein Dad und ich aber haben uns schon immer verstanden. Immerhin hab ich ihm von meinem Verdacht in Bezug auf den alten Leichenhauch erzählt.«
»Du hast ihm gesagt, dass Hades den Blitz gestohlen hat?«
»Sicher. Irgendwen beschuldigen, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Ältester Trick überhaupt. Hab ich sofort begriffen. In gewisser Hinsicht kannst du dich für deinen kleinen Auftrag also bei mir bedanken.«
»Danke«, murmelte ich.
»Nicht doch, ich bin ja großzügig. Tu mir den kleinen Gefallen, dann helf ich dir weiter. Ich werd die Tour nach Westen für dich und deine Freunde arrangieren.«
»Wir kommen sehr gut allein zurecht.«
»Ja, das seh ich. Kein Geld. Kein Fortbewegungsmittel. Keine Ahnung, was euch bevorsteht. Hilf mir, dann erzähl ich dir vielleicht etwas, das du wissen solltest. Etwas über deine Mom.«
»Meine Mom?«
Er grinste. »Jetzt hörst du also zu! Der Wasserpark liegt eineinhalb Kilometer westlich von hier in Richtung Delancy. Ihr könnt ihn nicht verpassen. Sucht den Liebestunnel.«
»Was hat dein Date denn gestört?«, fragte ich. »Hat dir irgendwas Angst gemacht?«
Ares zeigte seine Zähne, aber diese Drohgebärde kannte ich schon von Clarisse. Sie wirkte irgendwie unecht, fast als wäre er nervös.
»Du hast Glück, dass ich dir begegnet bin, Missgeburt, und kein anderer Olympier. Die nehmen Unhöflichkeiten nicht so gelassen hin wie ich. Wir treffen uns hier, wenn ihr fertig seid. Und enttäuscht mich nicht.«
Danach bin ich offenbar in Ohnmacht oder in eine Trance gefallen, denn als ich meine Augen wieder öffnete, war unsere Nische leer. Ich dachte, vielleicht war alles nur ein Traum, aber die Gesichter von Annabeth und Grover erzählten mir etwas anderes.
»Nicht gut«, sagte Grover. »Ares hat dich aufgesucht. Das ist nicht gut.«
Ich schaute aus dem Fenster. Das Motorrad war verschwunden.
Wusste Ares wirklich etwas über meine Mom oder spielte er nur mit mir? Jetzt, wo er verschwunden war, war mein ganzer Zorn verflogen. Mir ging auf, dass Ares offenbar gern die Gefühle anderer verwirrte. Darin bestand seine Macht – er brachte unsere Leidenschaften dermaßen in Wallung, dass das Denkvermögen gestört wurde.
»Sicher irgendein Trick«, sagte ich. »Vergessen wir Ares. Machen wir, dass wir fortkommen.«
»Das geht nicht«, sagte Annabeth. »Hör mal, ich hasse Ares genauso wie du, aber du kannst die Götter nicht ignorieren, wenn du dir keinen richtig üblen Ärgern einhandeln willst. Die Drohung, dich zu verwandeln, hat er wirklich ernst gemeint.«
Ich starrte meinen Cheeseburger an, der plötzlich gar nicht mehr verlockend aussah. »Warum braucht er uns?«
»Vielleicht handelt es sich um ein Problem, bei dem Intelligenz gefordert ist«, sagte Annabeth. »Ares ist stark. Mehr aber auch nicht. Und sogar Stärke muss der Weisheit manchmal unterliegen.«
»Aber dieser Wasserpark … er schien ja fast Angst zu haben. Was könnte einen Kriegsgott in die Flucht schlagen?«
Annabeth und Grover tauschten einen nervösen Blick.
Annabeth sagte: »Das werden wir herausfinden müssen, fürchte ich.«
Die Sonne versank hinter den Bergen, als wir den Wasserpark gefunden hatten. Dem Plakat vor dem Eingang nach hatte er früher einmal WATERLAND geheißen, aber jetzt waren einige Buchstaben verschwunden und es hieß nur noch WAT R A D.
Der Haupteingang war verrammelt und mit Stacheldraht bewehrt. Drinnen gab es überall hohe trockene Rutschbahnen und Rohre und Tunnel, die in leere Becken führten. Alte Eintrittskarten und Reklamezettel flogen auf dem Asphalt herum. Jetzt, bei Anbruch der Dunkelheit, sah hier alles traurig und gespenstisch aus.
»Wenn Ares sich hier mit seiner Freundin trifft«, sagte ich und starrte zum Stacheldraht hoch, »dann möchte ich lieber nicht wissen, wie sie aussieht.«
»Percy«, mahnte Annabeth. »Nicht so respektlos.«
»Wieso? Ich dachte, du hasst Ares.«
»Er ist trotzdem ein Gott. Und seine Freundin hat sehr viel Temperament.«
»Sag also lieber nichts Beleidigendes über ihr Aussehen«, fügte Grover hinzu.
»Aber wer ist sie denn nun? Echidna?«
»Nein, Aphrodite«, sagte Grover irgendwie entrückt. »Die Göttin der Liebe.«
»Ist die nicht mit irgendwem verheiratet?«, fragte ich. »Mit Hephaistos?«
»Ja, und?«, fragte er.
»Ach.« Plötzlich wollte ich gern das Thema wechseln. »Wie kommen wir also rein?«
»Maia!« An Grovers Schuhen wuchsen Flügel.
Er flog über den Zaun, schlug in der Luft ungeplant einen Purzelbaum und kam dann auf der anderen Seite stolpernd zum Stehen. Er klopfte sich den Staub von der Jeans und gab vor, das sei alles geplant gewesen. »Kommt ihr?«
Annabeth und ich mussten auf altmodische Weise klettern. Als wir oben angekommen waren, hielten wir füreinander den Stacheldraht auseinander.
Die Schatten wurden lang, als wir durch den Park wanderten und uns die Attraktionen ansahen. Es gab eine Knöchelbeißerinsel, ein Kopfüber in den Spalt und Dussel, wo ist meine Badehose?.
Kein Ungeheuer griff uns an. Wir hörten nicht das leiseste Geräusch.
Wir stießen auf einen Andenkenladen, der offen stand. Noch immer lag Krimskrams in den Regalen: Schneekugeln, Kugelschreiber, Postkarten und jede Menge …
»Klamotten«, sagte Annabeth. »Saubere Klamotten.«
»Ja«, sagte ich. »Aber wir können doch nicht einfach …«
»Ach nein?«
Sie schnappte sich einen ganzen Arm voll Sachen und verschwand in der Umkleidekabine. Einige Minuten darauf erschien sie in Waterland-Shorts mit Blumenmuster, einem weiten roten Waterland-T-Shirt und Waterland-Surfschuhen. Ein Waterland-Rucksack hing über ihrer Schulter und den hatte sie offenbar mit weiteren Kostbarkeiten vollgestopft.
»Was soll’s?«, sagte Grover und zuckte mit den Schultern. Bald sahen wir alle drei aus wie wandelnde Reklametafeln für den stillgelegten Vergnügungspark.
Wir suchten den Liebestunnel. Ich hatte das Gefühl, dass der ganze Park den Atem anhielt. »Ares und Aphrodite«, sagte ich, um nicht daran denken zu müssen, dass es bald ganz dunkel sein würde, »die haben also was miteinander?«
»Das ist doch uralter Klatsch, Percy«, sagte Annabeth. »Dreitausend Jahre alter Klatsch.«
»Und was ist mit Aphrodites Mann?«
»Na ja«, sagte sie, »Hephaistos. Der Schmied. Er wurde als Baby zum Krüppel, als Zeus ihn vom Olymp geworfen hat. Also sieht er nicht gerade gut aus. Sehr geschickt, klar, aber Aphrodite steht nun mal nicht auf Grips und Geschicklichkeit, weißt du.«
»Sie mag Motorradfahrer.«
»Scheint so.«
»Weiß Hephaistos Bescheid?«
»Klar doch«, sagte Annabeth. »Er hat sie einmal zusammen erwischt. Ich meine, er hat sie gefangen, in einem goldenen Netz, und dann hat er alle anderen Götter eingeladen, sie sich anzusehen und auszulachen. Hephaistos versucht immer, sie lächerlich zu machen. Deshalb treffen sie sich an abgelegenen Orten wie …«
Sie verstummte und starrte vor sich hin. »So wie hier.«
Vor uns lag ein leeres Becken, das wunderbar zum Skateboarden geeignet gewesen wäre. Es war fast fünfzig Meter breit und geformt wie eine Schüssel.
Am Rand standen etwa ein Dutzend Standbilder des Cupido, mit ausgebreiteten Flügeln und schussbereitem Bogen. Auf der gegenüberliegenden Seite klaffte ein Tunnel, vermutlich strömte dort Wasser hinein, wenn das Becken gefüllt war. Über dem Tunnel stand: ERREGENDE LIEBESTOUR: DAS IST KEIN LIEBESTUNNEL, WIE EURE ELTERN IHN GEKANNT HABEN!
Grover kroch auf den Rand zu. »Schaut mal, Leute.«
Unten im Becken lag ein gestrandetes zweisitziges Boot mit einem Baldachin, das über und über mit kleinen Herzen bemalt war. Auf dem linken Sitz blitzte Ares’ Schild im letzten Tageslicht, es war eine polierte Bronzescheibe.
»Das ist zu einfach«, sagte ich. »Wir gehen einfach hin und holen ihn uns, oder was?«
Annabeth fuhr mit den Fingern über den Sockel des nächststehenden Cupido.
»Hier steht ein griechischer Buchstabe«, sagte sie. »Eta. Ich frage mich …«
»Grover«, sagte ich. »Riechst du irgendwelche Monster?«
Er schnüffelte in den Wind. »Nichts.«
»Nichts wie im Brückenbogen, wo du Echidna nicht riechen konntest, oder wirklich nichts?«
Grover sah verletzt aus. »Ich hab doch gesagt, unter der Erde funktioniert es nicht.«
»Schon gut, tut mir leid.« Ich holte tief Atem. »Ich steig jetzt runter.«
»Ich komm mit.« Grover hörte sich nicht gerade begeistert an, aber ich hatte das Gefühl, dass er die Sache in St. Louis wiedergutmachen wollte.
»Nein«, sagte ich. »Du bleibst mit deinen fliegenden Schuhen hier oben. Du bist der Rote Baron, klar? Ich verlasse mich auf deine Hilfe, falls irgendwas schiefgeht.«
Grover blies seine Brust ein wenig auf. »Klar. Aber was könnte denn schiefgehen?«
»Keine Ahnung. Nur so ein Gefühl. Annabeth, komm mit …«
»Machst du Witze?« Sie schaute auf mich herab, als sei ich soeben vom Mond gefallen. Ihre Wangen waren leuchtend rot.
»Was ist denn jetzt schon wieder los?«, fragte ich.
»Ich soll mit dir zum … zur erregenden Liebestour? Das ist doch oberpeinlich! Wenn mich hier irgendwer sieht?«
»Wer soll dich denn sehen?« Aber jetzt glühte auch mein Gesicht. Mädchen machen eben alles kompliziert. »Gut«, sagte ich. »Dann mach ich’s allein.« Aber als ich ins Becken klettern wollte, kam sie hinterher und murmelte etwas davon, dass Jungs eben immer alles kompliziert machen müssten.
Wir erreichten das Boot. Der Schild lag auf dem einen Sitz, auf dem anderen lag ein Damenschal aus Seide. Ich versuchte, mir Ares und Aphrodite hier vorzustellen, Gott und Göttin in einem schrottigen Vergnügungspark. Warum? Dann fiel mir etwas auf, das ich vom Beckenrand her nicht gesehen hatte. Überall am Beckenrand gab es Spiegel. Wir konnten uns sehen, egal in welche Richtung wir blickten. Das musste es sein. Während Ares und Aphrodite hier mit Knutschen beschäftigt waren, konnten sie die betrachten, die sie am meisten liebten: sich selbst.
Ich hob den Schal hoch. Er schimmerte rosa und sein Parfüm war unbeschreiblich: Es roch nach Rosen oder Berglorbeer. Nach etwas Gutem. Ich lächelte verträumt und wollte mir schon mit dem Schal über die Wange streichen, als Annabeth ihn mir aus der Hand riss und in die Tasche stopfte. »Nein, das tust du nicht. Hände weg von diesem Liebeszauber.«
»Was?«
»Nimm den Schild, Algenhirn, und dann machen wir, dass wir wegkommen.«
In dem Moment, in dem ich den Schild berührte, wusste ich, dass jetzt der Ärger losging. Meine Hand durchbrach etwas, das den Schild mit dem Schaltpult des Bootes verbunden hatte. Spinngewebe, dachte ich, aber dann sah ich eine Faser auf meiner Hand, eine Art Metallfaden, so dünn, dass er fast unsichtbar war. Ein Stolperdraht.
»Warte«, sagte Annabeth.
»Zu spät.«
»Hier steht noch ein griechischer Buchstabe, hier auf dem Boot. Noch ein Eta. Das ist eine Falle.«
Um uns herum brach Tumult aus. Eine Million Gangschaltungen schienen betätigt zu werden, als verwandele das gesamte Becken sich in eine riesige Maschine.
Grover schrie: »He, ihr!«
Die Cupidos am Beckenrand hoben die Bogen. Noch ehe ich »In Deckung!« rufen konnte, schossen sie, aber nicht auf uns. Sondern aufeinander, quer über das Becken hinweg. An den Pfeilen, die über das Becken flogen und sich bei der Landung verankerten hingen Seidenfäden, die einen großen goldenen Stern formten. Dann verwoben sich dünnere Metallfäden mit den Hauptsträhnen und bildeten so ein Netz.
»Wir müssen raus hier«, sagte ich.
»Was du nicht sagst«, sagte Annabeth.
Ich packte den Schild und wir rannten los, aber es war nicht so leicht, aus dem glatten Becken zu klettern wie hinein.
»Los jetzt«, brüllte Grover.
Er versuchte ein Loch im Netz für uns offen zu halten, aber wann immer er es berührte, wickelten die goldenen Fäden sich um seine Hände.
Die Köpfe der Cupidos öffneten sich. Videokameras kamen darin zum Vorschein. Überall um das Becken herum wurden Scheinwerfer ausgefahren, die uns mit ihrem Licht blendeten, und eine Lautsprecherstimme schrie: »Live zum Olymp in einer Minute … neunundfünfzig Sekunden, achtundfünf…«
»Hephaistos!«, schrie Annabeth. »Was bin ich blöd. Eta ist sein Anfangsbuchstabe. Er hat eine Falle gebaut, um seine Frau mit Ares zu erwischen. Jetzt werden wir live auf den Olymp übertragen und stehen wie die Vollidioten da!«
Wir hatten den Beckenrand fast erreicht, als die Spiegel aufsprangen und Tausende von winzigen Metall…dingen herausfielen.
Annabeth schrie auf.
Es war eine Armee aus Aufziehkriechern: Bronzerümpfe, Spinnenbeine, winzige Zangenmünder, und sie kamen wie eine Woge aus klirrendem, klapperndem Metall auf uns zu.
»Spinnen«, sagte Annabeth. »Sp… Sp… aaah!«
Ich hatte sie noch nie so erlebt. Sie fiel vor Entsetzen rückwärts um und wäre fast von den Spinnenrobotern überrannt worden. In letzter Sekunde konnte ich sie auf die Füße und zurück zum Boot ziehen.
Die Spinnen kamen jetzt von überall her, es waren Millionen, und alle strömten auf die Beckenmitte zu und hatten uns im Nu umzingelt. Ich sagte mir, dass sie vermutlich nicht auf Töten programmiert waren, sie sollten uns einfach nur umstellen und kneifen und blöd aussehen lassen. Aber diese Falle war für Gottheiten bestimmt. Und wir waren keine.
Annabeth und ich kletterten ins Boot. Ich trat nach den Spinnen, die hinter uns herkamen. Ich brüllte Annabeth an, sie solle mir helfen, aber sie war dermaßen außer sich vor Angst, dass sie nur schreien konnte.
»Dreißig, neunundzwanzig«, rief der Lautsprecher.
Die Spinnen spuckten Metallfäden aus, um uns damit zu fesseln. Zuerst war es leicht, die Fäden zu zerreißen, aber es waren so viele und die Spinnen wurden immer mehr. Ich trat eine von Annabeths Wade und ihre Zangen rissen ein Stück aus meinem neuen Turnschuh.
Grover schwebte in seinen fliegenden Schuhen über dem Becken und versuchte, das Netz wegzuziehen, aber das bewegte sich nicht.
Denk nach, sagte ich mir. Denk nach.
Der Eingang zum Liebestunnel befand sich unter dem Netz. Wir hätten ihn als Ausgang benutzen können, nur war er von einer Million Spinnenrobotern blockiert.
»Fünfzehn, vierzehn«, rief der Lautsprecher.
Wasser, dachte ich. Woher kommt hier das Wasser?
Und dann sah ich sie: riesige Wasserrohre hinter den Spiegeln, aus denen die Spinnen gekommen waren. Und über dem Netz, gleich neben einem Cupido, befand sich ein Verschlag mit Glasfenstern, in dem sicher früher der Aufseher gesessen hatte.
»Grover«, schrie ich. »In den Verschlag. Such den Schalter für das Wasser!«
»Aber …«
»Mach schon!« Es war verrückt, aber es war unsere einzige Chance. Die Spinnen wimmelten jetzt überall im Boot herum. Annabeth schrie verzweifelt. Ich musste uns hier rausholen.
Grover stand im Verschlag und schlug auf die Knöpfe ein.
»Fünf, vier …«
Grover schaute mich hoffnungslos an. Er hob die Hände, um mir mitzuteilen, dass er auf jeden Knopf gedrückt hatte, dass aber trotzdem nichts passierte.
Ich schloss die Augen und dachte an Wellen, an fließendes Wasser, an den Mississippi. Ich spürte ein vertrautes Ziehen in meinem Bauch. Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich den Ozean bis nach Denver zog.
»Zwei, eins, null!«
Wasser schoss aus den Rohren. Es dröhnte in das Becken und fegte die Spinnen weg. Ich zog Annabeth neben mich auf den Sitz und konnte gerade noch ihren Sicherheitsgurt schließen, dann erfasste die Flutwelle unser Boot, schlug über uns zusammen und durchnässte uns ganz und gar, aber immerhin kenterten wir nicht. Das Boot drehte sich um sich selbst, wurde von der Welle hochgehoben und wirbelte durch das Becken.
Im Wasser wimmelte es von Spinnen mit Kurzschluss. Einige knallten mit solcher Wucht gegen den Beckenrand aus Beton, dass sie platzten.
Die Scheinwerfer leuchteten auf uns herab. Die Cupidcams bewegten sich, sie übertrugen live zum Olymp.
Ich musste mich darauf konzentrieren, das Boot unter Kontrolle zu behalten. Ich wollte es mit der Strömung treiben lassen, fort von der Wand. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber das Boot schien zu reagieren. Zumindest zerbrach es nicht in eine Million Stücke. Wir drehten uns ein letztes Mal um uns selbst, und das Wasser stand jetzt fast hoch genug, um uns an dem Netz aus Metall zu zerreiben. Da drehte das Boot seinen Bug dem Tunnel zu und wir jagten hinein in die Dunkelheit.
Annabeth und ich klammerten uns aneinander, wir kreischten beide, als das Boot um die Kurven schoss und an Bildern von Romeo und Julia und anderem Valentinskram vorbeischrammte.
Dann lag der Tunnel hinter uns, die Nachtluft pfiff durch unsere Haare und das Boot raste auf den Ausgang zu.
Wenn alles richtig funktioniert hätte, dann wären wir auf einer Rampe zwischen goldenen Liebestoren gelandet und wohlgeborgen wieder im Ausgangsbecken angekommen. Aber es gab ein Problem. Die Liebestore waren mit einer Kette verschlossen. Zwei Boote, die vor uns aus dem Tunnel gespült worden waren, lagen vor dem Tor – das eine unter Wasser, das andere in zwei Teile zerbrochen.
»Mach deinen Gurt los«, schrie ich Annabeth an.
»Spinnst du?«
»Oder willst du zerschmettert werden?« Ich schnallte mir Ares’ Schild an den Arm. »Wir müssen abspringen.«
Meine Idee war schlicht und irrsinnig. Wenn das Boot gegen das Tor prallte, würden wir es als Sprungbrett nutzen können und hinüberspringen. Ich hatte von Leuten gehört, die auf diese Weise Autounfälle überlebt hatten, wobei sie dreißig Meter und mehr von der Unfallstätte fortgeschleudert worden waren. Mit etwas Glück würden wir im Becken landen.
Annabeth schien verstanden zu haben. Sie griff nach meiner Hand, als das Tor näher kam.
»Wenn ich los sage«, sagte ich.
»Nein, wenn ich los sage.«
»Was?«
»Simple Physik!«, rief sie. »Kraft und Absprungwinkel …«
»Schon gut«, brüllte ich. »Wenn du los sagst.«
Sie zögerte … zögerte … dann schrie sie: »Los!«
Krack!
Annabeth hatte Recht gehabt. Wenn wir in dem Moment gesprungen wären, den ich für richtig gehalten hatte, wären wir in das Tor geknallt. Ihre Berechnung verschaffte uns ein Maximum an Hubkraft.
Leider sogar etwas mehr, als wir brauchten. Unser Boot knallte gegen das Tor und wir flogen los, über das Tor, über das Becken und weiter in Richtung Asphalt.
Etwas packte mich von hinten.
Annabeth schrie.
Grover!
Er schoss durch die Luft und packte mein Hemd und Annabeths Arm, um uns vor dem Aufprall zu retten, aber wir hatten zu viel Schwung.
»Ihr seid zu schwer!«, schrie Grover. »Wir sacken ab!«
Wir näherten uns dem Boden und Grover gab sich alle Mühe, unseren Fall zu verlangsamen.
Wir knallten gegen eine Fotowand. Grovers Kopf bohrte sich in das Loch, durch das Parkbesucher ihre Gesichter hielten um sich als Nunu, der freundliche Wal, ablichten zu lassen. Annabeth und ich krachten zu Boden, zerschlagen, aber am Leben. Ares’ Schild hing locker an meinem Arm.
Als wir wieder zu Atem gekommen waren, zogen Annabeth und ich Grover aus der Fotowand. Wir dankten ihm, dass er uns das Leben gerettet hatte. Ich schaute zurück zum Liebestunnel. Das Wasser sank wieder. Unser Boot war am Tor zerborsten. Hundert Meter weiter, am Eingangsbecken, filmten die Cupidos immer noch. Die Statuen hatten sich gedreht, damit ihre Kameras uns einfangen konnten, und die Scheinwerfer leuchteten uns ins Gesicht.
»Ende der Vorstellung«, schrie ich. »Vielen Dank. Gute Nacht!«
Die Cupidos drehten sich zurück in ihre Ausgangsposition. Die Lichter erloschen. Der Park war wieder still und dunkel, abgesehen vom sanften Plätschern des Wassers, das in das Becken am Ende des Tunnels sickerte. Ich hätte gern gewusst, ob der Olymp jetzt einen Werbeblock einschob und ob wir eine gute Einschaltquote erzielt hatten.
Ich fand es schrecklich, dermaßen hereingelegt worden zu sein. Ich fand es schrecklich, an der Nase herumgeführt worden zu sein. Und ich verfügte über ausreichend Erfahrung mit Typen, die das versucht hatten. Ich zurrte den Schild an meinem Arm fester und drehte mich zu den anderen um. »Und jetzt reden wir mal eine Runde mit Ares.«
Wir bringen ein Zebra nach Vegas
Der Kriegsgott wartete auf dem Parkplatz vor dem Imbiss auf uns.
»Sieh an, sieh an«, sagte er. »Ihr habt ja überlebt.«
»Du hast gewusst, dass das eine Falle war«, sagte ich.
Ares grinste fies. »Der Krüppelschmied hat sicher nicht schlecht gestaunt, als ihm zwei blöde Kinder ins Netz gegangen sind. Ihr habt euch in der Glotze richtig gut gemacht.«
Ich schob ihm den Schild hin. »Mistkerl.«
Annabeth und Grover hielten den Atem an.
Ares schnappte sich den Schild und ließ ihn durch die Luft wirbeln wie Pizzateig. Der Schild änderte seine Form und verwandelte sich in eine kugelsichere Weste. Ares warf sie über seinen Rücken.
»Seht ihr den LKW dahinten?« Er zeigte auf einen Lastwagen mit achtzehn Reifen, der auf der anderen Straßenseite stand. »Mit dem fahrt ihr. Der bringt euch direkt nach L. A., mit kurzem Halt in Vegas.«
Der LKW hatte hinten eine Aufschrift, die ich nur lesen konnte, weil sie in Spiegelschrift und weiß auf schwarz dastand, eine gute Kombination für einen Legastheniker: TIERLIEBE INTERNATIONAL: HUMANER TIERTRANSPORT. WARNUNG: LEBENDE WILDE TIERE!