8. Tasch kommt

Im Schatten der Bäume gegenüber der Lichtung bewegte sich etwas sehr langsam. Auf den ersten Blick konnte man es für Rauch halten, für grauen, durchsichtigen Rauch. Aber der Totengeruch war kein Rauchgeruch. Auch behielt das rätselhafte Ding seine Gestalt, anstatt zu wogen und sich zu kräuseln. Es hatte annähernd die Gestalt eines Mannes, aber den Kopf eines Vogels, irgendeines Raubvogels mit einem grausamen, gebogenen Schnabel. Es hatte vier Arme, die es hoch über seinem Kopf hielt und nach Norden ausstreckte, als ob es ganz Narnia mit einem einzigen Griff an sich reißen wollte. Seine Finger – alle zwanzig – waren gebogen wie ein Schnabel und hatten anstelle von Nägeln lange, zugespitzte Vogelkrallen. Anstatt zu gehen, schwebte das Ungeheuer über das Gras, und das Gras schien unter ihm zu verdorren.

Als der Esel die scheußliche Gestalt sah, stieß er einen gellenden Schrei aus und stürzte in den Turm. Sogar Jutta, die kein Feigling war, schlug ihre Hände vor das Gesicht, um diesen Anblick zu vergessen. Die anderen konnten das seltsame Ding nur kurz betrachten. Es schwebte zwischen die dicht stehenden Bäume und verschwand. Dann kam die Sonne wieder hervor, und die Vögel begannen von neuem zu singen.

Langsam atmeten alle wieder leichter und wagten sich zu bewegen.

»Was war denn das?« fragte Eugen flüsternd.

»Ich habe es früher schon einmal gesehen«, sagte Tirian. »Aber damals war es in Stein geschnitten, mit Gold ausgelegt und hatte als Augen echte Diamanten. Ich war nicht älter als du und Gast an Tisroks Hof. Er nahm mich in den großen Tempel des Tasch mit. Dort sah ich es über dem Altar eingemeißelt.«

»Dann war das schreckliche Wesen am Ende Tasch selbst?« fragte Eugen.

Aber statt zu antworten, schlang Tirian seinen Arm um Juttas Schulter und fragte: »Wie geht es, edles Fräulein?«

»Ganz … ganz gut«, sagte Jutta, nahm die Hände von ihrem blassen Gesicht und versuchte zu lächeln. »Mir geht es gut. Es hat mich nur für einen Augenblick durcheinandergebracht.«

»Tasch gibt es also wirklich?« fragte das Einhorn erstaunt.

Der Zwerg nickte. »Dieser Narr von einem Affen, der nicht an Tasch glaubt, ihn aber trotzdem herbeirief, wird noch sein blaues Wunder erleben.«

»Wo ist denn – wo ist das gräßliche Ding hin?« fragte Jutta.

»Nach Norden, ins Herz von Narnia«, sagte Tirian, »um bei uns zu wohnen.«

»Ho, hoho!« kicherte der Zwerg in sich hinein und rieb seine dunkelbehaarten Hände. »Das wird eine schöne Überraschung für den Affen. So ein Kerl sollte nicht nach bösen Geistern rufen, wenn es ihm nicht ernst ist.«

»Wer weiß, ob Tasch sich überhaupt dem Affen zeigt«, meinte Kleinod.

»Wo steckt denn Grauohr?« fragte plötzlich Eugen.

Sie riefen den Esel. Jutta ging um den Turm herum zur anderen Seite. Sie wollte nachsehen, ob sich Grauohr vielleicht dort versteckt hatte. Und richtig: Da lugte sein großer grauer Kopf vorsichtig aus dem Türspalt, und Grauohr fragte: »Ist das gräßliche Ding endlich weg?« Es war schwer, ihn aus dem Turm herauszulocken. Er zitterte noch immer wie ein Hund beim Gewitter.

»Ich war wirklich ein ganz böser Esel«, gestand Grauohr. »Niemals hätte ich auf Kniff hören sollen. Wer konnte aber auch ahnen, daß das solche Folgen hat.«

»Hättest du doch nicht immer gesagt, ich bin nicht klug, und statt dessen versucht, so klug zu sein wie du nur irgend konntest…«, fing Eugen an, aber Jutta unterbrach ihn.

»Laß doch den armen alten Grauohr in Ruhe«, sagte sie. »Das war doch alles ein Irrtum, nicht wahr, Grauohr?« Sie küßte ihn auf die Nase.

Der Schrecken steckte zwar noch in ihren Gliedern, aber sie setzten sich wieder und fuhren in ihrem Gespräch fort.

Kleinod hatte ihnen wenig zu erzählen. Während seiner Gefangenschaft war er fast immer an der Rückwand des Stalles angebunden gewesen und hatte nichts von den Plänen der Feinde gehört. Er hatte genug Fußtritte bekommen und hätte nur zu gern zurückgetreten. Man hatte Kleinod geschlagen und gedroht, ihn zu töten. Er hatte nicht glauben wollen, daß es Aslan war, den man aus dem Stall herausgebracht und jede Nacht im Schein des Feuers vorgezeigt hatte. Kleinod sollte hingerichtet werden, aber gerade an diesem Morgen wurde er befreit. Was mit dem vorlauten Lamm geschehen war, wußte er nicht.

Sie fragten sich, was zu tun sei. Sollten sie in dieser Nacht wieder auf den Stallberg gehen? Man könnte Grauohr vorzeigen und damit der Menge beweisen, wie man sie betrogen hatte. Oder sollten sie sich lieber wegschleichen? Sie könnten sich mit Runwitt dem Zentauren treffen, der aus Otterfluh Hilfskräfte heranholte, um gemeinsam gegen den Affen und die Kalormenen zu kämpfen.

Tirian hätte gern den ersten Plan durchgeführt. Er wollte den Affen keinen Augenblick länger das Volk unterdrücken lassen. Die Art, wie die Zwerge sich letzte Nacht benommen hatten, war eine deutliche Warnung. Wie mochte das Volk es aufnehmen, wenn er ihm Grauohr zeigte? Und dann mußte man noch mit den kalormenischen Soldaten rechnen. Pogge meinte, es wären etwa dreißig. Tirian glaubte sicher, wenn die Narnianen sich alle auf seine Seite stellten, könnten er und Kleinod, Jutta, Eugen und Pogge (Grauohr zählte ja nicht mit) die Kalormenen besiegen. Aber wie, wenn die Hälfte der Narnianen – alle Zwerge eingeschlossen – untätig blieb und dem Kampf zuschaute? Oder wenn sie sogar gegen ihn kämpften? Das Wagnis war zu groß. Und was war mit Tasch? Was würde er tun?

Außerdem, so meinte Pogge, konnte man den Affen mit seinen eigenen Schwierigkeiten ruhig ein oder zwei Tage allein lassen. Er hatte jetzt keinen Grauohr mehr im Stall, um ihn als Aslan auszugeben. Deshalb mußten Kniff oder Rotschopf eine neue Geschichte erfinden, und das war nicht leicht. Wenn die Tiere Nacht für Nacht Aslan sehen wollten und kein Aslan kam, mußten sogar die Dümmsten mißtrauisch werden.

Schließlich waren alle dafür, daß man sich mit Runwitt traf. Als sie sich endlich entschieden hatten, wurde jedem froher zumute. Man fühlt sich immer wohler, wenn man sich über etwas klargeworden ist.

Tirian meinte, sie sollten nun ihre Verkleidung ablegen. Sie wollten ja nicht mehr für Kalormenen gehalten und vielleicht von einigen treuen Narnianen angegriffen werden, denen sie begegneten. Der Zwerg machte eine abscheulich aussehende Mischung aus Herdasche und Schmiere zurecht. Dann nahmen sie ihre kalormenischen Waffen ab und gingen zum Fluß hinunter. Die widerliche Mischung bildete überraschenderweise einen ordentlichen Schaum wie milde Seife. Welch ein erfreulicher und friedlicher Anblick: Tirian und Jutta und Eugen knieten am Wasser, schrubbten sich Rücken und Hals oder prusteten und bliesen, wenn sie den Seifenschaum abspülten. Dann kehrten sie mit geröteten, glänzenden Gesichtern zum Turm zurück und sahen nett aus – wie Leute, die sich vor einem Fest ganz besonders gut gewaschen haben. Sie bewaffneten sich wieder echt narnianisch mit geraden Schwertern und dreieckigen Schilden.

»Das finde ich besser«, sagte Tirian. »Ich fühle mich wieder als ehrlicher Mann.«

Grauohr bat flehentlich, ihm doch endlich das lästige Löwenfell abzunehmen. Er sagte, es sei zu heiß, und so, wie es auf seinem Rücken hinge, verrutscht und zerknittert, wäre es ihm unbequem; außerdem sehe er damit ganz albern aus. Aber sie erklärten ihm, daß er es noch eine Weile tragen müsse, weil sie ihn noch den anderen Tieren zeigen wollten. Zuerst aber wollten sie Runwitt treffen.

Von dem Tauben- und Kaninchenfleisch war kaum etwas übriggeblieben, deshalb aßen sie Zwiebäcke. Dann verschloß Tirian die Turmtür.

Kurz nach zwei Uhr am Nachmittag brachen sie auf, an dem ersten wirklich warmen Frühlingstag. Seit gestern waren die jungen Blätter viel weiter hervorgekommen. Es gab keine Schneespuren mehr, und Schlüsselblumen trieben vereinzelt aus der Erde. Die Sonne schien schräg durch die Bäume, Vögel sangen, und immer hörten sie ein Geräusch von rinnendem Wasser, das ihnen ständig unsichtbar blieb. Jutta und Eugen fühlten: das war das wirkliche Narnia. Sogar Tirian wurde es leichter ums Herz, wie er so vor ihnen herging. Er summte ein altes Marschlied aus Narnia mit dem Kehrreim:

Ho, rumbum, rumwidebum, rumbum, dröhnen die Trommeln rundum.

Hinter dem König gingen Eugen und Pogge der Zwerg. Pogge nannte alle Namen der Bäume und Pflanzen und Vögel in Narnia, die Eugen noch nicht kannte. Dafür erzählte Eugen, wie das alles in unserer Welt hieß.

Hinter ihnen kam Grauohr und nach ihm Jutta und Kleinod dicht nebeneinander. Jutta hatte sich, wie man so sagt, geradezu in das Einhorn verliebt. Sie dachte – und sie hatte nicht ganz unrecht damit –, daß es das bezauberndste, taktvollste und anmutigste Wesen wäre, das sie je getroffen hatte. Wie fein und sanft es im Sprechen war! Wer es nicht wußte, hätte es kaum geglaubt, wie schrecklich es in der Schlacht sein konnte.

»Ist das nicht schön«, rief Jutta, »so zu wandern? Schade, daß sich in Narnia immer so viel Schlimmes ereignet.«

Aber das Einhorn erklärte ihr, sie sei im Irrtum. Sie dürfe nicht denken, daß es hier so aufregend wäre und ständig Aufruhr und Umsturz herrschten. Hunderte und Tausende von Jahren hätte es immer nur friedliche Könige und glückliche Zeiten gegeben. Es wäre wirklich schwer, sie alle genau in die Geschichtsbücher einzutragen. Kleinod erzählte Jutta von der schönen Königin Schwanenweiß, die vor den Tagen der Weißen Hexe und des Ewigen Winters gelebt hatte. Wenn die schöne Schwanenweiß in einen Waldsee hineingeblickt hätte, sei noch ein Jahr danach die Spiegelung ihres Antlitzes im Wasser zu sehen gewesen, und das Bild hätte gestrahlt wie ein Stern bei Nacht. Kleinod erzählte auch von Mondholz, dem Hasen mit den wunderbaren Ohren, der, am Kesselteich unter dem großen Wasserfall sitzend, trotz des Donnergetöses hören konnte, was sich Menschen in Otterfluh zuflüsterten. Kleinod sprach von Jahrhunderten, in denen ganz Narnia so fröhlich gewesen sei, daß man sich später nur noch an Bälle, Feste und Spiele erinnerte.

Als Kleinod so erzählte, sah Jutta deutlich das Bild all dieser glücklichen Jahre, als ob sie von einem hohen Hügel herabschaute auf eine reiche, liebliche Ebene voller Wälder, Gewässer und Kornfelder, die sich weit, weit ausbreiteten, bis sie sich in der Ferne langsam aufzulösen schienen. Sie sagte:

»Ich hoffe sehr, wir können den Affen bald festnehmen und zu diesen sagenhaften Zeiten zurückkehren. Und dann, so hoffe ich, werden sie für immer und ewig so bleiben. Unsere Welt wird eines Tages zu Ende sein. Diese aber wohl nicht. O Kleinod, wäre es nicht herrlich, wenn Narnia immer so bliebe, so, wie es vor vielen, vielen Jahren war?«

»Nein, Schwester«, antwortete Kleinod, »alle Welten gehen einmal zu Ende, außer dem Land, in dem Aslan lebt.«

»Nun gut, so hoffe ich wenigstens, daß das Ende dieser Welt Millionen und aber Millionen von Jahren entfernt ist. Hallo! Warum halten wir denn?«

König Tirian, Eugen und der Zwerg starrten zum Himmel hinauf. Jutta erschauerte und erinnerte sich sofort wieder an die schreckliche Gestalt, die sie noch vor kurzem gesehen hatten. Aber diesmal war es etwas anderes; es war kleiner und hob sich schwarz ab vom hellen Blau des Himmels.

»Nach seinem Flug zu urteilen«, sagte das Einhorn, »ist es ein sprechender Vogel.«

»Das glaube ich auch«, erwiderte der König. »Aber ist er unser Freund oder ein Spion des Affen?«

»Ich glaube, Majestät«, sagte der Zwerg, »es ist Weitsicht, der Adler.«

»Sollen wir uns unter den Bäumen verstecken?« fragte Eugen.

»Nein«, antwortete Tirian. »Am besten bleiben wir still wie Felsen stehen. Wenn wir uns bewegen, sieht er uns ganz bestimmt.«

»Schaut doch! Er schwenkt ein, er hat uns schon gesehen«, sagte Kleinod, »er kommt in weiten Kreisen herab.«

»Pfeil an die Sehne, meine Dame!« rief Tirian Jutta zu. »Aber auf keinen Fall schießen, bevor ich es befehle. Es kann ja ein Freund sein.«

Mit welcher Anmut und Leichtigkeit der große Vogel herabglitt! Er setzte nah bei Tirian auf einer felsigen Klippe auf, beugte seinen buschigen Kopf und sagte mit seiner eigenartigen Adlerstimme: »Gruß dir, König Tirian!«

»Sei gegrüßt, Weitsicht«, dankte Tirian. »Da du mich König nennst, muß ich annehmen, daß du kein Gefolgsmann des Affen und seines falschen Aslan bist. Ich bin froh, daß du kommst.«

»Majestät«, sprach der Adler, »wenn du meine Neuigkeiten vernimmst, bist du trauriger über mein Kommen als über das größte Leid, das dich je getroffen hat.«

Bei diesen Worten schien es, als höre Tirians Herz auf zu schlagen. Aber er biß die Zähne zusammen und bat: »Erzähl nur!«

»Zweimal habe ich Tieftrauriges erlebt«, sagte Weitsicht. »Otterfluh ist mit toten Narnianen und lebenden Kalormenen angefüllt. Tisroks Banner weht auf deinen königlichen Zinnen, und deine Untertanen fliehen aus der Stadt in die weiten Wälder. Otterfluh wurde vom Meer aus eingenommen. Zwanzig große kalormenische Schiffe legten dort vorgestern bei dunkler Nacht an.«

Keiner konnte auch nur ein Wort sprechen.

»Nur fünf Meilen vor Otterfluh lag Runwitt der Zentaur tot da, mit einem kalormenischen Pfeil in seiner Flanke. In seiner letzten Stunde war ich bei ihm, und er gab mir diese Botschaft an Euer Majestät: ›Denk daran, daß jede Welt einmal zu Ende geht, und daß ein edler Tod ein Schatz und keiner zu arm ist, ihn zu bezahlen.‹«

Nach langem Schweigen sagte der König leise: »Nun gibt es kein Narnia mehr.«

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