15. Weiter hinein und weiter hinauf!

»Wisset, o kriegerische Könige«, sagte der Kalormene, »und Ihr, werte Damen, deren Schönheit das Weltall schmückt, daß ich Emeth bin, der siebente Sohn von Harpa Tarkhan aus der Stadt Tehischban, westlich hinter der Wüste. Ich kam spät nach Narnia mit neunundzwanzig andern, unter der Führung von Rischda Tarkhan, ich hörte, daß wir nach Narnia marschieren sollten, und freute mich. Über Euer Land hatte ich viel gehört und wünschte mir, Euch in der Schlacht zu begegnen. Aber als ich begriff, daß wir als Kaufleute verkleidet gehen mußten, (was für eine schmachvolle Verkleidung für einen Krieger und den Sohn eines Tarkhans) und mit Lügen und Betrügereien arbeiten sollten, da verlor ich alle Lust. Wir mußten sogar auf einen Affen warten, der es wagte zu sagen, Tasch und Aslan seien eins. Da wurde die Welt in meinen Augen dunkel. Denn immer, schon als Knabe, diente ich Tasch. Mein großer Wunsch war, mehr von ihm zu wissen und wenn möglich sein Angesicht zu schauen. Aber der Name Aslan war mir verhaßt.

Wir Ihr gesehen habt, wurden wir außerhalb des strohgedeckten Stalles zusammengerufen, Nacht für Nacht. Das Feuer wurde entzündet, und der Affe brachte aus dem Stall etwas auf vier Beinen heraus, aber das konnte ich nicht genau sehen. Menschen und Tiere verneigten sich und taten ihm Ehre an. Ich dachte mir, der Affe betrügt doch den Tarkhan, denn das Ding aus dem Stall ist weder Tasch noch irgendein anderer Gott. Als ich aber des Tarkhans Gesicht beobachtete und mir jedes Wort merkte, das er zu dem Affen sagte, da änderte ich meine Meinung. Ich sah, daß der Tarkhan selbst nicht daran glaubte. Da verstand ich, daß er überhaupt nicht an Tasch glaubte. Hätte er an ihn geglaubt, wie konnte er ihn dann verspotten?

Als ich alles begriff, packte mich die helle Wut, und ich wunderte mich, daß der echte Tasch nicht beide, den Affen und den Tarkhan, mit Feuer vom Himmel niederstreckte. Ich verbarg meinen Zorn, hütete meine Zunge und wartete gespannt, wie es enden würde. Aber in der letzten Nacht, wie Ihr wohl wißt, brachte der Affe kein gelbes Ding heraus. Nun sprach er von Taschlan, denn so mischten sie die beiden Worte Tasch und Aslan, um vorzutäuschen, daß beide eins seien. Er sagte, ›alle, die Taschlan sehen wollen, müssen einer nach dem andern in den Stall gehen‹. Das war doch, wie mir schien, eine neue Betrügerei.

Dann ging der Kater hinein und kam, von Entsetzen gepackt, wieder heraus. Da meinte ich, sicher ist nun der echte Tasch, den sie ohne wahren Glauben anriefen, zu uns gekommen und will sich rächen. Mein Herz zitterte vor der Größe und der Gewalt des Tasch, aber mein Verlangen war doch größer als meine Furcht. Ich bezwang meine Knie, daß sie aufhörten zu zittern, und meine Zähne, daß sie nicht mehr klapperten. Ich wollte Tasch ins Angesicht sehen, obwohl er mich töten konnte. So erbot ich mich, in den Stall zu gehen; und der Tarkhan, obgleich unwillig, erlaubte es mir.

Kaum war ich zur Tür herein, da kam auch schon das erste Wunder. Ich befand mich im hellen Sonnenlicht (wie wir alle jetzt). Dabei hatte doch die Innenseite des Stalles von draußen dunkel ausgesehen. Aber ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern. Ich mußte sofort gegen einen unserer eigenen Männer um meinen Kopf kämpfen. Sobald ich den Mann sah, verstand ich, daß der Affe und der Tarkhan ihn dorthin gestellt hatten. Er sollte jeden erschlagen, der hereinkam, wenn er nicht in ihr Geheimnis eingeweiht war. Auch dieser Mann war ein Lügner und Spötter und kein treuer Diener des Tasch. Ich erschlug den Schurken und warf ihn hinter mir zur Tür hinaus.

Dann blickte ich um mich und sah den Himmel und die weiten Länder und atmete ihren Wohlgeruch. Ich sagte mir: ›Bei den Göttern, welch schöne Gegend! Bin ich vielleicht in das Land des Tasch gekommen?‹ So zog ich in dem fremden Land umher, um ihn zu suchen.

Ich ging über Gras und Blumen und zwischen allen möglichen Arten von heilsamen und wunderlichen Bäumen, bis ich zu einem schmalen Platz zwischen zwei Felsen kam. Da begegnete mir ein gewaltiger Löwe, schnell wie ein Strauß und groß wie ein Elefant. Seine Mähne glich reinem Gold, und die Helle seiner Augen war wie flüssiges Gold im Schmelzofen. Er war schrecklicher als der flammende Berg von Lagur, und an Schönheit übertraf er alles in der Welt, so wie die Rose in der Blüte den Staub der Wüste übertrifft.

Da fiel ich vor ihm nieder und dachte, das ist meine Todesstunde, denn der Löwe (aller Ehren wert) wird schon wissen, daß ich immer Tasch gedient habe und nicht ihm. Aber ist es nicht besser, den Löwen zu sehen und dann zu sterben, als der Tisrok der Welt zu sein und zu leben, ohne ihn zu sehen?

Der Ruhmreiche beugte sein goldenes Haupt und berührte meine Stirn mit seiner Zunge und sagte, ›Sohn, sei mir willkommen!‹

Aber ich erwiderte Aslan: ›Du Gewaltiger, ich bin nicht dein Sohn, sondern der Diener des Tasch!‹

Er antwortete: ›Kind, allen Dienst, den du Tasch geleistet hast, rechne ich dir als Dienst an, der mir galt.‹

Da überwand ich meine Furcht, weil ich nach Weisheit und Verstehen dürstete, und ich fragte den Ruhmreichen: ›Herr, ist es denn wahr, wie der Affe sagte, daß du und Tasch eins sind?‹

Da brüllte der Löwe so, daß die Erde bebte (aber sein Zorn galt nicht mir), und er sagte: ›Das ist falsch. Nicht weil Tasch und ich eins sind, sondern weil wir Gegenspieler sind, nehme ich die Dienste, die du ihm geleistet hast, für mich an. Wenn jemand bei Tasch schwört und hält seinen Eid um des Eides willen, so hat er wahr geschworen, obgleich er es nicht weiß, und ich belohne ihn dafür. Wenn jemand in meinem Namen etwas Grausames tut, dann dient er, obwohl er den Namen Aslan nennt, doch dem Tasch, und Tasch nimmt seine Tat an. Verstehst du das, Kind?‹

Ich erwiderte: ›Herr, du weißt, wieviel ich verstehen Aber ich sagte auch (denn die Ehrlichkeit drängte mich): ›lmmer habe ich Tasch gesucht.‹

›Geliebter‹, sagte der Ruhmreiche, ›ohne dein Verlangen nach mir hättest du niemals so gesucht. Denn alle finden, was sie getreulich suchen.‹

Dann hauchte er mich an und nahm mir das Zittern der Glieder, so daß ich wieder auf meinen Füßen stehen konnte. Dann sprach er nicht mehr viel; er sagte, wir würden uns wiedersehen und ich müsse gehen, weiter hinein und weiter hinauf. Dann drehte er sich um mit Sturm und Gestöber von Gold und war plötzlich gegangen.

Seitdem, Ihr Könige und hohen Damen, wandere ich, um ihn zu finden, und mein Glück ist so groß, daß es mich schwächt wie eine Wunde. Denn das ist das Wunder der Wunder, daß er mich Geliebter nannte, mich, der ich schlechter als ein Hund bin.«

»Was soll das denn?« knurrte einer der Hunde.

»Mein Lieber«, beruhigte ihn Emeth, »das ist nur so eine Redensart bei uns in Kalormen.«

»Die mag ich aber gar nicht«, bellte der Hund.

»Er meint es nicht böse«, sagte ein älterer Hund. »Wir nennen ja auch unsere Welpen ›Jungens‹, wenn sie sich nicht anständig benehmen.«

»Schaut nur!« sagte Jutta plötzlich.

Furchtsam kam ihnen etwas entgegen: ein anmutiges Geschöpf auf vier Füßen und ganz silbergrau. Zehn Sekunden lang starrten sie darauf, bevor mehrere Stimmen zugleich riefen: »Ach, das ist ja der alte Grauohr!«

Sie hatten ihn nicht mehr bei Tageslicht ohne Löwenhaut gesehen, und das war doch ein großer Unterschied. Grauohr war jetzt er selbst: ein schöner Esel mit einem weichen silbergrauen Fell und einem ruhigen, ehrlichen Gesicht. Hätte man ihn gesehen, so hätte man wohl auch das getan, was Jutta und Luzie taten – sie stürzten auf ihn zu, legten ihre Arme um seinen Hals, küßten seine Nase und streichelten seine Ohren.

Als sie ihn fragten, wo er gewesen sei, erklärte Grauohr, er sei zur Tür hereingekommen, mitten unter den anderen Geschöpfen. Er hätte sich möglichst aus Aslans Weg gehalten, denn der Anblick des wahren Löwen habe ihn so beschämt, daß er nicht gewußt hätte, wie er noch jemandem in die Augen schauen sollte. Aber dann hätte er gemerkt, daß seine Freunde nach Westen gegangen seien. Nachdem er ein Maul voll Gras gefressen (»in meinem ganzen Leben habe ich nie so ein gutes Gras gekostet«, sagte Grauohr), hätte er seinen ganzen Mut zusammengenommen und sei ihnen gefolgt. »Aber was ich tue, wenn ich wirklich Aslan treffe, das weiß ich noch nicht«, fügte er hinzu.

»Du wirst schon merken, es geht alles in Ordnung, wenn du ihn triffst«, sagte Königin Luzie.

Dann gingen sie alle zusammen vorwärts, immer nach Westen. Diese Richtung hatte Aslan wohl gemeint, als er rief: ›Weiter hinein und weiter hinauf!‹ Viele Geschöpfe trotteten gemächlich denselben Weg; aber dieses grüne Land war weit, und es gab kein Gedränge.

Die Luft war morgenfrisch. Sie hielten wiederholt an, um sich umzusehen und hinter sich zu blicken, weil es so schön war, aber auch, weil es da etwas gab, was sie nicht verstanden.

»Peter«, fragte Luzie, »wo ist denn, was du meintest?«

»Ich weiß nicht«, überlegte König Peter. »Das Land hier erinnert mich an etwas, aber ich kann es nicht beim Namen nennen. Könnte es irgendwo sein, wo wir Ferien machten, als wir ganz klein waren?«

»Es müssen fröhliche Ferien gewesen sein«, sagte Eugen. »ich wette, es gibt kein Land wie dieses Land in unserer irdischen Welt. Seht ihr die Farben? Ihr habt in unserer Welt kein Blau wie dieses Blau auf jenen Bergen.«

»Ist das denn nicht Aslans Land?« fragte Tirian.

»Jedenfalls sieht es nicht aus wie Aslans Land auf dem Gipfel des Gebirges jenseits des östlichen Endes von Narnia«, meinte Jutta. »Da bin ich nämlich gewesen.«

»Wenn ihr mich fragt«, erklärte Edmund, »so sind wir irgendwo in Narnia. Schaut auf die Berge vor uns und auf die großen Eisberge jenseits davon, sie sehen alle aus wie die Berge von Narnia, ich meine wie die Berge oben über dem Wasserfall beim Laternendickicht.«

»Ja, so ist es«, sagte Peter. »Diese Berge hier sind nur etwas größer.«

»Ich glaube nicht, daß jene Berge genauso sind wie die Berge in Narnia«, sagte Luzie. »Aber seht dort!« Sie zeigte südwärts zu ihrer Linken, und alle standen still und wandten sich um. »Diese Hügel«, fragte Luzie, »die schönen bewaldeten und dahinter die blauen – gleichen sie nicht den südlichen Grenzen von Narnia?«

»Ganz gleich!« rief Edmund nach einem Augenblick des Schweigens. »Wirklich, sie sind ganz gleich. Schaut, da ist unser Berg, der Gabelkopf, und da ist der Paß zum Archenland.«

»Aber sie sind nicht gleich«, sagte Luzie. »Sie sind anders. Sie sind farbiger und sehen weiter entfernt aus, als ich mich erinnere. Sie sind mehr … mehr … ja, ich weiß nicht…«

»Mehr als das Wirkliche«, sagte Lord Digor sanft.

Plötzlich spreizte Weitsicht der Adler seine Schwingen, stieg zehn oder zwölf Meter in die Luft auf, kreiste herum und setzte dann leicht wieder auf dem Boden auf.

»Könige und Königinnen«, rief er, »wie sind wir doch alle blind gewesen! Jetzt erst fangen wir an zu sehen, wo wir sind. Von oben habe ich alles erblickt: Ettonsmur, Biberdamm, den Großen Fluß und Otterfluh, das noch am Rande der östlichen See liegt. Narnia ist nicht tot. Das hier ist Narnia.«

»Aber wie kann das sein?« fragte Peter. »Aslan sagte uns doch, wir älteren Menschen kehrten niemals mehr nach Narnia zurück, und doch sollen wir in Narnia sein?«

»Ja«, erwiderte Eugen, »wir sahen doch, wie Narnia zerstört und die Sonne ausgelöscht wurde.«

»Alles ist hier auch so anders«, stellte Luzie fest.

»Der Adler hat recht«, erklärte Lord Digor. »Hör zu, Peter. Als Aslan sagte, du könntest nie mehr nach Narnia zurückkehren, meinte er das Narnia, an das du dachtest. Aber das war gar nicht das richtige Narnia. Das hatte einen Anfang und ein Ende. Es war nur ein Schatten oder ein Abklatsch des wirklichen Narnia, das immer hier gewesen ist und sein wird – genauso wie unsere eigene Welt, unser Land und alles übrige nur ein Schatten ist oder ein Abklatsch von etwas in Aslans wirklicher Welt. Du brauchst um Narnia nicht zu trauern, Luzie. Alles, was noch zum alten Narnia gezählt hat, all die lieben Geschöpfe sind durch die Tür in das wirkliche Narnia gezogen. Natürlich ist es anders, ebenso verschieden wie ein wirkliches Ding von einem Schatten. So verschieden, wie wirkliches Leben sich von einem Traum unterscheidet.« Als er diese Worte sprach, klang seine Stimme allen wie eine Posaune. Flüsternd fügte er hinzu: »Ihr findet das alles schon bei dem Philosophen Platon, alles steht schon bei Platon. Du meine Güte, was wird uns alles in den Schulen gelehrt!«

Da lachten die älteren. Genauso hatte Digor schon vordem in der irdischen Welt gesprochen, als sein Bart noch grau war statt golden. Er wußte, warum sie lachten, und er stimmte selbst in das Lachen mit ein. Aber sehr schnell wurden wieder alle ernst. Man weiß ja, es gibt eine Art Glück, die einen ernst stimmt. Sie ist zu gut zum Scherzen.

Worin dieses sonnenbeschienene Land sich von dem alten Narnia unterschied, ist ebenso schwer zu erklären, als wenn man erläutern wollte, wie die Früchte dieses Landes schmecken. Vielleicht bekommt man eine Ahnung davon, wenn man so denkt:

Man stellt sich einen Raum vor mit nur einem Fenster. Durch das Fenster kann man auf eine liebliche Bucht am Meer hinaussehen oder auf ein grünes Tal zwischen Bergen. In der Wand dieses Raumes, dem Fenster genau gegenüber, hängt ein Spiegel. Wenn man sich vom Fenster abwendet, dann erblickt man plötzlich das Meer oder das Tal in diesem Spiegel. Das Meer oder das Tal im Spiegel zeigen jedoch das wirkliche Meer oder das wirkliche Tal vor dem Fenster mehr wie Orte in einer Geschichte. Die Wirklichkeit draußen vor dem Fenster ist aber viel tiefer und wunderbarer.

Der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Narnia war ebenso. Das neue Narnia war ein Land mit tieferem Sinn: jeder Felsen, jede Blume und jeder Grashalm sahen so aus, als ob sie noch mehr bedeuteten.

Man kann es nicht besser beschreiben als so. Kommt jemand dorthin, wird er wissen, was gemeint ist. Das Einhorn faßte zusammen, was jeder fühlte. Mit dem rechten Vorderfuß stampfte es den Boden, wieherte laut und rief dann:

»Nun bin ich doch noch nach Hause gekommen! Das ist meine wahre Heimat. Hier gehöre ich hin. Nach diesem Land habe ich mich mein ganzes Leben lang gesehnt. Aber das wußte ich bis jetzt nicht. Warum liebten wir das alte Narnia? Weil es manchmal ein bißchen wie dieses Land hier aussah. Brii – hü – hü! Kommt weiter, weiter hinein und weiter hinauf.«

Kleinod schüttelte seine Mähne und sprang in vollem Galopp vorwärts, in einem Einhorngalopp, der ihn in unserer Welt in wenigen Minuten aus dem Blickfeld aller getragen hätte. Aber nun kam etwas Spaßiges. Jeder begann zu rennen, und zu ihrem Erstaunen konnten sie Schritt halten mit Kleinod, nicht nur die Hunde und Menschen, sogar der kleine Grauohr und der kurzbeinige Zwerg Pogge. Die Luft blies ihnen ins Gesicht, als ob sie in einem schnellfahrenden Auto ohne Windschutzscheibe säßen. Das Land flog an ihnen vorüber, als ob sie es aus den Fenstern eines Schnellzuges sähen. Schneller, immer schneller rannten sie, aber keinem wurde heiß, keiner wurde müde, keiner kam außer Atem.

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