In diesem Moment gehen die restlichen Fallschirme hoch.

25

Wahr oder nicht wahr? Ich stehe in Flammen. Feuerbälle sind aus den Fallschirmen durch die schneegesättigte Luft geschossen, sie haben den Betonwall überwunden und sind über der Menge niedergegangen. Ich wollte mich gerade abwenden, da wurde ich getroffen, eine brennende Zunge lief über meinen Rücken und hat mich in etwas Neues verwandelt. Ein Geschöpf, so unauslöschlich wie die Sonne.

Eine Feuermutation kennt nur eine Empfindung: Todesqual. Nichts sehen, nichts hören, nichts spüren außer dem erbarmungslosen Brennen von Fleisch. Unterbrochen von Phasen der Bewusstlosigkeit, aber was spielt das für eine Rolle, wenn ich darin keine Zuflucht finde? Ich bin Cinnas Vogel, brennend, panisch umherflatternd, auf der Flucht vor etwas, dem man nicht entfliehen kann. Flammenfedern wachsen aus meinem Körper. Das Flügelschlagen facht die Glut nur noch mehr an. Ich verbrenne, es nimmt kein Ende.

Endlich gerät das Flattern ins Stocken, ich verliere an Höhe, und die Schwerkraft zieht mich in ein schäumendes Meer, das die Farbe von Finnicks Augen hat. Ich treibe auf dem Rücken, der auch unter Wasser noch brennt, aber die Todesqual verwandelt sich nach und nach in Schmerz. Während ich hilflos auf den Wellen treibe, kommen sie. Die Toten.

Die ich liebte, fliegen über mir wie Vögel am Himmel. Sie schießen hinauf, vollführen Kapriolen, rufen mich, ich solle mich zu ihnen gesellen. Wie gern würde ich ihnen folgen, doch das Meerwasser hat meine Flügel schwer gemacht, ich kann sie nicht heben. Die ich hasste, sind ins Wasser gegangen, schreckliche geschuppte Wesen, die mit nadelspitzen Zähnen mein salziges Fleisch herausreißen. Immer und immer wieder beißen sie hinein. Ziehen mich nach unten.

Der kleine weiß-rosa Vogel taucht hinab und schlägt die Krallen in meine Brust, versucht mich oben zu halten. »Nein, Katniss! Nein! Du darfst nicht gehen!«

Doch die ich hasste, behalten die Oberhand, und wenn sie sich weiter an mich klammert, wird auch sie verloren sein. »Lass los, Prim!« Und endlich tut sie es.

Tief unten im Wasser bin ich von allen verlassen. Nur das Geräusch meines Atems, die enorme Anstrengung, das Wasser einzuatmen und aus der Lunge zu pressen. Ich möchte nicht mehr, möchte den Atem anhalten, aber das Meer drängt sich gewaltsam hinein und hinaus, gegen meinen Willen. »Lasst mich sterben. Lasst mich den anderen folgen«, bitte ich die Macht, die mich festhält. Niemand antwortet mir.

Gefangen für Tage, Jahre, Jahrhunderte vielleicht. Tot, ohne sterben zu dürfen. Am Leben, aber so gut wie tot. So allein, dass alles, jeder willkommen wäre, egal wie abscheulich. Als endlich ein Besucher kommt, ist er süß. Morfix. Es strömt durch meine Adern, lindert den Schmerz, macht meinen Körper so leicht, dass er wieder aufsteigt und auf den Schaumkronen bleibt.

Schaum. Ich treibe wirklich auf Schaum. Ich fühle ihn unter den Fingerspitzen, meinen nackten Körper wiegend. Durch den starken Schmerz dringt so etwas wie Realität. Meine Kehle wie Sandpapier. Der Geruch der Brandwundensalbe aus der ersten Arena. Die Stimme meiner Mutter. All das macht mir Angst, deshalb versuche ich, in die Tiefe zurückzukehren, um mir einen Reim darauf zu machen. Aber es gibt kein Zurück. Allmählich muss ich akzeptieren, wer ich bin. Ein Mädchen mit schweren Verbrennungen und ohne Flügel. Ohne Feuer. Ohne Schwester.

Im grellweißen Krankenhaus des Kapitols vollbringen die Ärzte wahre Wunderwerke an mir. Umhüllen meinen rohen Körper mit neuen Hautbahnen. Bringen die Zellen dazu, sich mir zugehörig zu fühlen. Manipulieren meine Körperteile, beugen und strecken die Gliedmaßen, damit alles gut passt. Immer wieder bekomme ich zu hören, wie viel Glück ich gehabt habe. Meine Augen sind verschont geblieben. Der größte Teil meines Gesichts ist verschont geblieben. Meine Lunge spricht auf die Behandlung an. Ich werde so gut wie neu sein.

Als meine zarte Haut fest genug ist, um den Druck von Betttüchern auszuhalten, kommen weitere Besucher. Das Morfix öffnet die Tür zu den Lebenden und den Toten gleichermaßen. Haymitch, gelbgesichtig und ernst. Cinna, der an einem neuen Hochzeitskleid näht. Delly, die davon schwärmt, wie nett hier alle sind. Mein Vater singt die vier Strophen des »Henkersbaums« und ermahnt mich, dass meine Mutter - die zwischen zwei Schichten auf einem Stuhl in meinem Zimmer schläft - das nicht wissen darf.

Eines Tages wache ich wie vorgesehen auf und weiß, dass man mir nicht erlauben wird, weiter in meinem Traumland zu leben. Ich muss essen. Meine Muskeln bewegen. Auf Toilette gehen. Ein kurzer Besuch von Präsidentin Coin entscheidet die Sache.

»Keine Sorge«, sagt sie. »Ich habe ihn für dich reserviert.«

Die Ärzte fragen sich zunehmend verwirrt, warum ich nicht sprechen kann. Tests werden gemacht, doch die festgestellten Schäden an meinen Stimmbändern sind nicht die Ursache. Schließlich äußert Dr. Aurelius, ein Psychodoktor, die Theorie, dass ich vielleicht nicht physisch, wohl aber seelisch zum Avox geworden bin. Dass mein Schweigen auf ein emotionales Trauma zurückzuführen sei. Zig Behandlungen werden ihm vorgeschlagen, aber er sagt nur, man solle mich einfach in Ruhe lassen. Während ich also nach nichts und niemandem frage, bringen die Besucher mir immer neue Informationen. Über den Krieg: Das Kapitol fiel noch an dem Tag, als die Fallschirme explodierten, Panem wird jetzt von Präsidentin Coin geführt, und Truppen wurden ausgesandt, um die letzten Widerstandsnester auszuschalten. Über Präsident Snow: Er wurde gefangen genommen und wartet nun auf seinen Prozess und die fast sichere Hinrichtung. Über meine Attentäterbande: Cressida und Pollux sind in die Distrikte geschickt worden, um über die Kriegsschäden zu berichten. Gale, der bei einem Fluchtversuch zwei Kugeln abbekommen hat, säubert Distrikt 2 von Friedenswächtern. Peeta liegt wie ich mit Verbrennungen auf der Intensivstation. Hat er es also auch auf den Großen Platz geschafft. Über meine Familie: Meine Mutter begräbt ihren Kummer unter Arbeit.

Da ich keine Arbeit habe, begräbt mein Kummer mich. Was mich am Leben hält, ist Coins Versprechen. Dass ich Snow töten kann. Wenn das vollbracht ist, wird nichts mehr übrig sein.

Irgendwann werde ich aus dem Krankenhaus entlassen und bekomme ein Zimmer im Präsidentenpalast zugewiesen, das ich mir mit meiner Mutter teile. Sie ist fast nie da, sie isst und schläft auf der Arbeit. Es fällt Haymitch zu, nach mir zu schauen und sicherzustellen, dass ich esse und meine Medikamente nehme. Keine leichte Aufgabe. Ich greife meine alten Gewohnheiten aus Distrikt 13 wieder auf. Wandere unbefugt durch den Palast. Betrete Schlafzimmer und Büros, Festsäle und Bäder. Suche nach absonderlichen kleinen Verstecken. Ein Wandschrank mit Pelzmänteln. Ein Bücherschrank in der Bibliothek. Eine in Vergessenheit geratene Badewanne in einem Raum mit ausrangierten Möbeln. Schummrige, stille Plätze, wo ich unauffindbar bin. Ich rolle mich zusammen, mache mich ganz klein, versuche zu verschwinden. Eingehüllt in die Stille, drehe ich das Armband mit der Aufschrift GEISTIG VERWIRRT immer und immer wieder um mein Handgelenk.

Ich heiße Katniss Everdeen. Ich bin siebzehn Jahre alt. Meine Heimat ist Distrikt 12. Distrikt 12gibt es nicht mehr. Ich bin der Spotttölpel. Ich habe das Kapitol gestürzt. Präsident Snow hasst mich. Er hat meine Schwester getötet. Jetzt werde ich ihn töten. Und dann sind die Hungerspiele zu Ende …

In regelmäßigen Abständen finde ich mich in meinem Zimmer wieder und weiß nicht, ob es aus dem Bedürfnis nach Morfix heraus geschah oder ob Haymitch mich aufgestöbert hat. Ich esse, nehme meine Medikamente und muss mich waschen. Das Wasser macht mir nichts aus, nur der Spiegel, in dem sich der nackte Körper einer Feuermutation zeigt. Die transplantierten Hautstücke sind noch immer so rosig wie bei einem Neugeborenen. Die geschädigte Haut, die man noch retten konnte, sieht rot aus, heiß und stellenweise geschmolzen. Flecken meines alten Ichs leuchten weiß und blass. Ich bin wie eine Patchworkdecke aus Haut. Teile meines Haars wurden vollständig versengt; die Reste wurden ohne große Umstände abgeschnitten. Katniss Everdeen, das Mädchen, das in Flammen stand. Es wäre mir egal, brächte der Anblick meines Körpers nicht die Erinnerung an den Schmerz zurück. Und an den Grund, warum ich diese Schmerzen aushalten musste. Und daran, was geschah, bevor die Schmerzen einsetzten. Und wie ich mit ansah, wie meine kleine Schwester zur menschlichen Fackel wurde.

Es nützt nichts, wenn ich die Augen schließe. Im Dunkeln lodert das Feuer heller.

Ab und zu kommt Dr. Aurelius vorbei. Ich mag ihn, weil er kein dummes Zeug redet, dass ich außer Gefahr sei zum Beispiel oder dass ich, auch wenn ich es mir jetzt nicht vorstellen könne, eines Tages wieder glücklich sein werde, oder gar, dass jetzt in Panem alles besser wird. Er fragt mich nur, ob ich reden möchte, und wenn ich keine Antwort gebe, schläft er auf seinem Stuhl ein. Tatsächlich glaube ich, dass seine Besuche zu einem Gutteil dem Umstand geschuldet sind, dass er einfach mal die Augen zumachen muss. Ein Arrangement, das uns beiden entgegenkommt.

Der Zeitpunkt rückt näher, obwohl ich nicht sagen könnte, wie viele Stunden und Minuten es noch sind. Präsident Snow wurde der Prozess gemacht und er wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Haymitch sagt es mir, und ich höre die Wachen darüber sprechen, wenn ich hinter ihrem Rücken durch die Flure schleiche. Mein Spotttölpelkostüm wird aufs Zimmer gebracht. Mein Bogen ebenfalls, er sieht tadellos aus, allerdings fehlen Köcher und Pfeile. Entweder weil sie beschädigt sind oder, und das ist wahrscheinlicher, weil ich keine Waffen bei mir tragen darf. Ich frage mich flüchtig, ob ich mich nicht irgendwie auf das Ereignis vorbereiten sollte, aber mir fällt nicht ein, wie.

An einem Spätnachmittag stehe ich, nachdem ich lange an einem bequemen Fensterplatz hinter einem bemalten Paravent gesessen habe, auf und wende mich nach links statt nach rechts wie sonst immer. Ich gehe durch einen fremden Teil des Palasts und verliere sofort die Orientierung. Anders als der Trakt, in dem ich untergebracht bin, scheint hier niemand zu sein, den man fragen kann. Mir gefällt’s hier trotzdem. Schade, dass ich ihn nicht früher entdeckt habe. Es ist so ruhig hier, dicke Läufer und schwere Wandteppiche schlucken alle Geräusche. Sanfte Beleuchtung. Gedeckte Farben. Friedlich. Bis ich die Rosen rieche. Schnell verstecke ich mich hinter Vorhängen, zittere zu stark, um wegzurennen, und warte auf die Mutationen. Schließlich wird mir klar, dass keine Mutationen kommen werden. Was rieche ich dann? Echte Rosen? Bin ich vielleicht in der Nähe des Gartens, wo die fiesen Dinger wachsen?

Während ich den Flur entlangschleiche, wird der Geruch übermächtig. Nicht ganz so heftig wie bei echten Mutationen vielleicht, aber unverfälschter, weil er sich nicht gegen Abwasser und Pulverdampf durchsetzen muss. Ich biege um eine Ecke und stehe zwei überraschten Wachen gegenüber. Keine Friedenswächter natürlich. Es gibt keine Friedenswächter mehr. Allerdings auch keine ordentlichen, grau uniformierten Soldaten aus 13. Diese beiden, ein Mann und eine Frau, tragen die zerrissene, zusammengewürfelte Kleidung der echten Rebellen. Ausgemergelt, mit verbundenen Wunden, bewachen sie die Tür zu den Rosen. Als ich hindurchgehen will, kreuzen sie vor mir ihre Gewehre.

»Da können Sie nicht rein, Fräulein«, sagt der Mann.

»Soldat«, korrigiert ihn die Frau. »Sie können da nicht rein, Soldat Everdeen. Befehl der Präsidentin.«

Ich stehe da und warte geduldig darauf, dass sie die Gewehre sinken lassen. So will ich ihnen vermitteln, ohne es aussprechen zu müssen, dass sich hinter dieser Tür etwas befindet, was ich unbedingt brauche. Nur eine Rose. Eine einzige Blüte. Um sie Snow ans Revers zu stecken, bevor ich ihn erschieße. Meine Anwesenheit scheint die Wachen zu verwirren. Sie diskutieren miteinander, ob sie Haymitch benachrichtigen sollen, da ertönt hinter mir eine Frauenstimme: »Lasst sie hinein.«

Ich kenne die Stimme, kann sie jedoch nicht gleich zuordnen. Nicht Saum, nicht 13, ganz sicher nicht Kapitol. Ich wende den Kopf und stehe Paylor gegenüber, der Rebellenführerin aus Distrikt 8. Sie sieht noch mitgenommener aus als damals im Lazarett, aber wer nicht?

»Auf meine Verantwortung«, sagt Paylor. »Sie hat ein Recht auf alles, was sich hinter dieser Tür befindet.« Das sind ihre Soldaten, nicht die von Coin. Gehorsam senken sie die Waffen und lassen mich durch.

Am Ende eines kurzen Gangs drücke ich Glastüren auf und trete ein. Der Geruch ist jetzt so stark, dass er weniger intensiv wirkt, als könnte meine Nase nicht mehr aufnehmen. Die feuchte, milde Luft tut gut auf meiner heißen Haut. Und die Rosen sind fantastisch. Reihe um Reihe üppiger Blüten, in opulentem Rosa, Sonnenuntergangsorange und sogar Hellblau. Ich gehe durch die Beete mit den sorgfältig beschnittenen Pflanzen und schaue, fasse aber nichts an, denn ich habe schmerzlich erfahren müssen, wie tödlich diese Schönheiten sein können. Auf einmal stehe ich vor ihr. Wie eine Krone prangt sie auf einem schlanken Stock. Eine prachtvolle weiße Rose, die sich gerade zu öffnen beginnt. Damit meine Haut nicht mit ihr in Berührung kommt, ziehe ich den linken Ärmel über die Hand, nehme eine Gartenschere und setze sie am Stiel an, als er plötzlich spricht.

»Ein schönes Exemplar.«

Ich zucke zusammen, die Schere schnappt zu und durchtrennt den Stiel.

»Farben sind schön, natürlich, aber nichts ist so perfekt wie Weiß.«

Ich kann ihn immer noch nicht sehen, doch seine Stimme scheint von einem nahen Beet mit roten Rosen zu kommen. Während ich den Stiel mit der Knospe vorsichtig durch den Stoff meines Ärmels festhalte, gehe ich um die Ecke. Da sitzt er auf einem Stuhl nahe bei der Wand. Er ist so gepflegt und gut gekleidet wie immer, trägt aber Hand-und Fußfesseln und Aufspürer. Im hellen Licht ist seine Haut grünlich bleich. Er hält ein Taschentuch in der Hand, das mit frischem Blut befleckt ist. Selbst in diesem heruntergekommenen Zustand leuchten seine Schlangenaugen hell und kalt. »Ich hatte gehofft, du würdest den Weg in mein Quartier finden.«

Sein Quartier. Ich bin in sein Zuhause eingedrungen, so wie er sich letztes Jahr in meins eingeschlichen und mir mit blutigem Rosenatem Drohungen zugezischt hat. Dieses Treibhaus gehört zu seinen Räumen, vermutlich ist es sein Lieblingsort; in besseren Zeiten hat er die Pflanzen vielleicht sogar selbst gepflegt. Aber nun ist es Teil seines Gefängnisses. Deshalb haben die Wachen mir den Weg versperrt. Und deshalb hat Paylor mich eingelassen.

Ich hatte vermutet, er werde im tiefsten Kerker verwahrt, den das Kapitol zu bieten hat. Doch Coin hat ihm den Luxus gelassen. Vermutlich, um einen Präzedenzfall zu schaffen. Sollte dereinst sie selbst einmal in Ungnade fallen, wäre es ganz selbstverständlich, dass Präsidenten - selbst die verabscheuungswürdigsten - eine besondere Behandlung verdient haben. Denn wer weiß, vielleicht schwindet ihre eigene Macht ja auch einmal.

»Es gibt so vieles, was wir bereden sollten, aber mein Gefühl sagt mir, dass das nur ein kurzer Besuch sein wird. Also das Wichtigste zuerst.« Er beginnt zu husten, und als er das Taschentuch vom Mund nimmt, ist es noch röter. »Ich möchte dir sagen, wie leid mir das mit deiner Schwester tut.«

26

Selbst in meinem abgestumpften, betäubten Zustand versetzt mir das einen Stich. Und erinnert mich daran, dass seine Grausamkeit grenzenlos ist. Und dass er noch auf dem Weg ins Grab versuchen wird, mich zu zerstören.

»So sinnlos, so unnötig. Zu dem Zeitpunkt wusste doch jeder, dass das Spiel aus war. Tatsächlich wollte ich gerade eine offizielle Kapitulationserklärung herausgeben, als sie diese Fallschirme abwarfen.« Sein Blick klebt förmlich an mir, unverwandt, als wollte er kein Fitzelchen meiner Reaktion verpassen. Aber was er sagt, ergibt keinen Sinn. Als sie die Fallschirme abwarfen? »Du hast doch nicht allen Ernstes gedacht, ich hätte den Befehl dazu gegeben, oder? Hast du etwa die offensichtliche Tatsache außer Acht gelassen, dass ich mich, hätte ich ein flugtüchtiges Hovercraft zur Verfügung gehabt, natürlich unverzüglich aus dem Staub gemacht hätte? Aber davon einmal abgesehen, wozu hätte das gut sein sollen? Wir beide wissen, dass es nicht unter meiner Würde ist, Kinder zu töten, aber ich bin kein Verschwender. Wenn ich ein Leben nehme, dann aus ganz bestimmten Gründen. Ich hatte aber keinen Grund, einen Pferch voller Kinder in die Luft zu sprengen. Nicht den geringsten.«

Ich frage mich, ob der nun folgende Hustenanfall gespielt ist, damit ich Zeit habe, seine Worte zu verarbeiten. Er lügt. Natürlich lügt er. Aber da ist auch etwas, das sich von der Lüge zu befreien versucht.

»Wie dem auch sei, ich muss gestehen, es war ein Meisterstück von Coin. Die Vorstellung, dass ich unsere eigenen hilflosen Kinder bombardieren lasse, zerstörte unverzüglich den Rest an Loyalität, den meine Untertanen mir noch entgegenbrachten. Danach gab es keinen echten Widerstand mehr. Wusstest du, dass es live übertragen wurde? Daran erkennt man Plutarchs Handschrift. Und an den Fallschirmen. Tja-ja, diese Denkweise sollte ein Oberster Spielmacher doch auch mitbringen, nicht?« Snow betupft sich die Mundwinkel. »Sicher hatte er es nicht auf deine Schwester abgesehen, aber so was passiert.«

Ich bin nicht mehr bei Snow. Ich bin wieder in 13 in der Abteilung Geheimwaffen, zusammen mit Gale und Beetee. Sehe mir die Zeichnungen an, die auf Gales Fallen beruhen. Die auf menschliche Instinkte bauen. Die erste Bombe tötet die Opfer. Die zweite die Retter. Ich erinnere mich an Gales Worte.

»Beetee und ich halten uns an dieselben Vorschriften wie Präsident Snow, als er Peeta eingewebt hat.«

»Mein Versäumnis«, fährt Snow fort, »war es, dass ich Coins Plan nicht schnell genug durchschaut habe. Das Kapitol und die Distrikte einander zerstören zu lassen und dann einzumarschieren und die Macht zu übernehmen, während 13 kaum einen Kratzer abbekommen hat. Täusch dich nicht, sie wollte von Anfang an meinen Platz einnehmen. Das dürfte mich nicht überraschen. Schließlich war es Distrikt 13, der die Rebellion, die in die Dunklen Tage mündete, angezettelt und dann die anderen Distrikte sich selbst überlassen hat, als das Blatt sich gegen sie wendete. Aber ich habe nicht auf Coin geschaut. Ich habe auf dich geschaut, Spotttölpel. Und du hast auf mich geschaut. Ich fürchte, wir sind beide an der Nase herumgeführt worden.«

Ich weigere mich anzuerkennen, dass er die Wahrheit spricht. Manches kann nicht mal ich ertragen. Ich spreche die ersten Worte seit dem Tod meiner Schwester aus. »Ich glaube Ihnen nicht.«

In gespielter Enttäuschung schüttelt Snow den Kopf. »Ach, mein liebes Fräulein Everdeen. Ich dachte, wir hätten ausgemacht, einander nicht zu belügen.«

Draußen im Flur steht Paylor noch an der gleichen Stelle wie vorher. »Und? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragt sie.

Als Antwort halte ich die weiße Knospe hoch und stolpere dann an ihr vorbei. Irgendwie muss ich es zurück in mein Zimmer geschafft haben, weil ich kurz darauf im Bad ein Glas mit Wasser fülle und die Rose hineinstelle. Knie mich auf dem eisigen Boden hin und schaue die Blume mit zusammengekniffenen Augen an, denn in dem kahlen fluoreszierenden Licht ist ihr Weiß kaum zu erkennen. Ich fahre mit dem Finger unter mein Armband und drehe daran wie an einem Druckverband, bis das Gelenk wehtut. Vielleicht hält der Schmerz mich in der Wirklichkeit, so wie die Handschellen Peeta. Ich muss durchhalten. Ich muss die Wahrheit herausfinden.

Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist es so, wie ich bisher gedacht habe: Das Kapitol hat das Hovercraft geschickt, die Fallschirme abgeworfen und das Leben seiner Kinder geopfert, weil es wusste, dass die nahenden Rebellen ihnen zu Hilfe eilen würden. Dafür gäbe es Beweise: das Wappen des Kapitols auf dem Hovercraft, der unterbliebene Versuch, den Feind abzuschießen, sowie die lange Tradition, im Kampf gegen die Distrikte Kinder als Geiseln einzusetzen. Oder aber Snows Darstellung ist korrekt. Ein mit Rebellen bemanntes Hovercraft des Kapitols hat die Kinder bombardiert, um den Krieg möglichst rasch zu beenden. Aber warum hat das Kapitol dann nicht auf den Feind geschossen? Waren sie zu überrascht? Hatten sie keine Luftabwehr mehr? Für Distrikt 13 sind Kinder besonders wertvoll, zumindest hatte es immer den Anschein. Na ja, mich vielleicht ausgenommen. Als ich meine Schuldigkeit getan hatte, war ich auf einmal entbehrlich. Allerdings dürfte es lange her sein, dass man mich in diesem Krieg als Kind betrachtet hat. Aber warum hätten sie das tun sollen, wo sie doch davon ausgehen mussten, dass ihre eigenen Sanitäter zu Hilfe eilen und von der zweiten Explosion getötet werden würden? Es ist ausgeschlossen, dass sie das getan haben. Snow lügt. Er versucht mich doch nur wieder zu manipulieren. Er hofft, mich zum Feind der Rebellen zu machen und sie womöglich zu vernichten. Ja. Natürlich.

Warum nagt es dann so an mir? Zuerst diese zeitversetzt explodierenden Bomben. Möglich, dass auch das Kapitol über solche Waffen verfügt hat, von den Rebellen weiß ich es ganz sicher. Gales und Beetees Erfindung. Hinzu kommt die Tatsache, dass Snow, obwohl er so ein Überlebenskünstler ist, keinen Fluchtversuch unternommen hat. Kaum anzunehmen, dass er nicht irgendwo einen Unterschlupf gehabt haben soll, irgendeinen Bunker voller Vorräte, wo er den Rest seines hinterhältigen Lebens unbehelligt hätte verbringen können. Und schließlich seine Einschätzung von Coin. Es stimmt, was er gesagt hat. Sie hat Kapitol und Distrikte in den Kampf geschickt, und als die sich verausgabt hatten, ist sie einfach hereinspaziert und hat die Macht übernommen. Aber selbst wenn sie das von Anfang an so geplant hätte, muss sie noch lange nicht die Fallschirme abgeworfen haben. Sie hatte den Sieg doch schon in der Hand. Alles hatte sie in der Hand.

Außer mir.

Mir fällt ein, was Boggs erwidert hat, als ich sagte, ich hätte mir noch keine großen Gedanken über Snows Nachfolger gemacht. » Wenn du nicht spontan Coin sagen kannst, bist du eine Bedrohung. Du bist das Gesicht der Rebellion. Möglicherweise hast du mehr Einfluss als jeder andere. Nach außen hin hast du Coin bisher allenfalls toleriert, mehr nicht.«

Plötzlich denke ich an Prim, die noch nicht vierzehn war, noch nicht alt genug, um Soldat zu sein, die aber trotzdem an vorderster Front gekämpft hat. Wie konnte das passieren? Dass meine Schwester selbst dorthin wollte, daran habe ich keinen Zweifel. Und es steht auch fest, dass sie fähiger war als viele Ältere. Trotzdem hätte es der Genehmigung einer sehr hochgestellten Persönlichkeit bedurft, damit eine Dreizehnjährige in den Kampf ziehen kann. Hat Coin diese Genehmigung erteilt, in der Hoffnung, dass Prims Verlust mich vollends in den Wahnsinn treiben oder mich wenigstens zu ihrer Verbündeten machen würde? Ich hätte es nicht mal persönlich miterleben müssen. Auf dem Großen Platz standen zahllose Kameras. Die den Augenblick für immer eingefangen hätten.

Nein, ich werde ja total verrückt, ich leide schon unter Verfolgungswahn! Es gäbe doch viel zu viele Mitwisser. Irgendetwas würde durchsickern. Oder vielleicht nicht? Wer müsste denn eingeweiht sein außer Coin, Plutarch und einer kleinen Schar loyaler oder gefügiger Gefolgsleute?

Ich brauche unbedingt jemanden, mit dem ich darüber reden kann, nur dass alle, denen ich vertraue, tot sind. Cinna. Boggs. Finnick. Prim. Peeta ist noch da, aber er könnte auch nicht mehr tun als spekulieren, und außerdem weiß ich nicht, in welchem Geisteszustand er sich befindet. Bliebe nur noch Gale, und der ist weit weg. Aber selbst wenn er hier bei mir wäre - könnte ich ihm trauen? Was könnte ich sagen, wie könnte ich es formulieren, ohne gleichzeitig zu sagen, dass es seine Bombe war, die Prim getötet hat? Weil diese Vorstellung so absolut unmöglich ist, muss Snow einfach die Unwahrheit sagen.

Letztendlich bleibt nur ein Mensch, an den ich mich wenden kann, der vielleicht weiß, was geschehen ist, und der noch auf meiner Seite steht. Es ist ein Risiko, das Thema überhaupt anzuschneiden. Ich bin zwar der Meinung, dass Haymitch in der Arena mit meinem Leben gespielt hat, aber dass er mich an Coin verrät, glaube ich nicht. Egal, welche Probleme wir miteinander haben, unsere Konflikte klären wir untereinander.

Ich rappele mich hoch, renne aus dem Badezimmer und über den Flur zu seinem Zimmer. Niemand antwortet auf mein Klopfen, deshalb mache ich selbst die Tür auf. Igitt! Unglaublich, wie schnell er einen Raum verwüsten kann. Halb leer gegessene Teller, zertrümmerte Schnapsflaschen und demoliertes Mobiliar zeugen von einem Wutanfall in betrunkenem Zustand. Ungekämmt und ungewaschen liegt Haymitch besinnungslos in einem Knäuel aus Laken auf dem Bett.

»Haymitch«, sage ich und rüttele an seinem Bein. Natürlich reicht das nicht. Ich versuche es trotzdem noch ein paarmal, ehe ich ihm den Wassereimer übers Gesicht kippe. Nach Luft schnappend, kommt er zu sich und sticht blindlings mit seinem Messer nach mir. Offenbar bedeutet Snows Ende nicht das Ende seiner Schrecken.

»Ach. Du«, sagt er. An seiner Stimme erkenne ich, dass er immer noch betrunken ist.

»Haymitch«, hebe ich an.

»Sieh an. Der Spotttölpel hat seine Stimme wiedergefunden.«

Er lacht. »Na, da wird Plutarch sich aber freuen.« Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Warum bin ich eigentlich so nass?« Unauffällig lasse ich den Eimer hinter mich in einen Stapel Schmutzwäsche fallen.

»Ich brauche deine Hilfe«, sage ich.

Haymitch rülpst und füllt die Luft mit Schnapsausdünstungen. »Was ist denn los, Süße? Wieder Stress mit den Jungs?« Ich weiß nicht, warum, aber damit verletzt Haymitch mich so wie nur selten. Es muss mir anzusehen sein, denn selbst in seinem betrunkenen Zustand versucht er zurückzurudern. »Okay, war nicht witzig.« Ich bin schon an der Tür. »Nicht witzig! Komm zurück!« Ich höre, wie er auf dem Boden aufschlägt, und daran merke ich, dass er mir wohl nachlaufen wollte. Ein aussichtsloses Unterfangen.

Ich renne kreuz und quer durch den Palast und verschwinde in einem Schrank. Reiße die Seidenkleider darin vom Haken und lasse mich in den entstandenen Haufen sinken. Im Futter meiner Tasche finde ich eine einsame Morfix-Tablette und schlucke sie trocken hinunter, um die aufkeimende Hysterie abzuwenden. Doch es reicht nicht, um alles wiedergutzumachen. Aus der Ferne höre ich Haymitch rufen, aber in seinem Zustand wird er mich nicht finden. Besonders nicht in diesem neuen Versteck. Eingehüllt in Seide, fühle ich mich wie eine Raupe im Kokon, die auf die Metamorphose wartet. Etwas, das ich mir immer als friedlichen Zustand vorgestellt hatte. Anfangs ist es das auch. Doch mit fortschreitender Nacht fühle ich mich immer mehr in der Falle, erstickt von den seidigen Tüchern, unfähig herauszukommen, bevor ich mich in etwas Schönes verwandelt habe. Ich winde mich, versuche meinen zerstörten Körper abzustoßen und hinter das Geheimnis zu kommen, wie mir makellose Flügel wachsen könnten. Aller Anstrengung zum Trotz bleibe ich ein hässliches, von Brandbomben entstelltes Wesen.

Die Begegnung mit Snow öffnet die Türen zu meinem alten Repertoire an Albträumen. Als wäre ich erneut von den Jägerwespen gestochen worden. Schreckliche Bilder folgen in Wellen aufeinander, dazwischen eine kurze Atempause, die ich mit Wachsein verwechsele, nur um gleich darauf von einer neuen Welle zurückgestoßen zu werden. Als die Wachen mich endlich finden, sitze ich auf dem Boden des Schranks in einem wirren Knäuel Seide und schreie mir die Seele aus dem Leib. Erst wehre ich mich, bis sie mich überzeugen, dass sie mir nur helfen wollen, die würgenden Kleider zu entfernen, und mich zurück in mein Zimmer geleiten. Unterwegs kommen wir an einem Fenster vorbei und ich sehe einen grauen, verschneiten Morgen über dem Kapitol dämmern.

Ein reichlich verkaterter Haymitch wartet mit einer Handvoll Pillen und einem Tablett Essen, auf das weder sein noch mein Magen Appetit hat. Er unternimmt einen halbherzigen Versuch, mich wieder zum Sprechen zu bringen, doch als er sieht, dass es zwecklos ist, schickt er mich in die Badewanne, die jemand hat einlaufen lassen. Die Wanne ist tief und hat drei Stufen. Ich lasse mich ins warme Wasser gleiten, und so, bis zum Hals in Schaum, sitze ich da und hoffe, dass die Medikamente bald wirken. Ich starre auf die Rose, die über Nacht aufgegangen ist und die dampfende Luft mit ihrem kräftigen Duft schwängert. Ich stehe auf und will ein Handtuch nehmen, um ihn zu ersticken, als es zaghaft klopft. Die Badezimmertür wird geöffnet und drei vertraute Gesichter kommen zum Vorschein. Sie versuchen, mich anzulächeln, doch selbst Venia kann nicht verbergen, wie geschockt sie über meinen verwüsteten Mutationskörper ist. »Überraschung!«, quiekt Octavia, dann bricht sie in Tränen aus. Ich frage mich, weshalb sie hier auftauchen, bis mir klar wird, dass heute der Tag sein muss. Der Tag der Hinrichtung. Sie sollen mich für die Kameras herrichten. Mich auf Beauty Zero bringen. Kein Wunder, dass Octavia heult. Die Aufgabe ist unmöglich.

Sie trauen sich kaum, den Flickenteppich meiner Haut zu berühren, aus Angst, sie könnten mir wehtun, deshalb dusche und trockne ich mich selbst ab. Ich beruhige sie, dass ich kaum noch Schmerzen habe, aber Flavius schreckt trotzdem zurück, als er mir einen Umhang umlegt. Im Schlafzimmer wartet noch eine Überraschung auf mich. Aufrecht sitzt sie auf einem Stuhl, von der Goldmetallic-Perücke bis zu den Lacklederpumps auf Hochglanz poliert, ein Klemmbrett in der Hand. Bemerkenswert unverändert, bis auf den leeren Blick in ihren Augen.

»Effie«, sage ich.

»Hallo, Katniss.« Sie steht auf und küsst mich auf die Wange, als wäre seit unserer letzten Begegnung am Abend vor dem Jubel-Jubiläum nichts vorgefallen. »Tja, sieht aus, als hätten wir wieder einen großen, großen, großen Tag vor uns. Fangt ihr doch schon mit der Vorbereitung an, ich gehe auf einen Sprung rüber und kontrolliere die Arrangements, ja?«

»Okay«, sage ich zu ihrem Rücken.

»Es heißt, Plutarch und Haymitch hätten mit allen Mitteln dafür gekämpft, dass sie am Leben bleibt«, flüstert mir Venia zu. »Nach deiner Flucht war sie als Mitwisserin eingesperrt worden, das hat sie gerettet.«

Effie Trinket eine Rebellin. Das ist ziemlich weit hergeholt. Aber ich möchte nicht, dass Coin sie umbringt, deshalb nehme ich mir vor, sie als solche darzustellen, falls danach gefragt wird. »So gesehen, war es auch gut, dass Plutarch euch drei gekidnappt hat.«

»Wir sind das einzige Vorbereitungsteam, das noch am Leben ist. Auch alle Stylisten vom Jubel-Jubiläum sind tot«, sagt Venia. Sie sagt nicht, wer sie getötet hat. Ich frage mich langsam, ob das überhaupt noch eine Rolle spielt. Behutsam nimmt sie meine vernarbte Hand und inspiziert sie. »Hm, was meinst du? Die Nägel rot oder lieber rabenschwarz?«

Flavius vollbringt ein Wunder mit meinem Haar, zaubert einen gleichmäßigen Pony und überdeckt mit ein paar der längeren Locken die kahlen Stellen am Hinterkopf. Mein von den Flammen verschontes Gesicht birgt nur die üblichen Herausforderungen. Sobald ich in Cinnas Spotttölpelkostüm geschlüpft bin, sieht man nur noch die Narben an Hals, Unterarmen und Händen. Octavia befestigt die Spotttölpelbrosche über meinem Herzen, und wir treten einen Schritt zurück, um mich im Spiegel anzuschauen. Ich kann kaum glauben, wie normal ich dank ihrer äußerlich aussehe, wo ich innerlich doch eine Wüste bin.

Es klopft und Gale kommt herein. »Hast du kurz Zeit?«, fragt er mich. Im Spiegel betrachte ich mein Vorbereitungsteam. Sie sind unschlüssig, wohin sie gehen sollen, deshalb laufen sie ein paarmal ineinander und schließen sich dann im Badezimmer ein. Gale tritt hinter mich und wir mustern das Spiegelbild des anderen. Ich suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann, etwas von dem Mädchen und dem Jungen, die sich vor fünf Jahren zufällig im Wald getroffen haben und unzertrennlich wurden. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn die Hungerspiele dieses Mädchen nicht weggeholt hätten. Hätte es sich in den Jungen verliebt, ihn vielleicht sogar geheiratet? Wären sie irgendwann später, wenn die Geschwister groß geworden wären, in den Wald geflohen und hätten Distrikt 12 für immer hinter sich gelassen? Wären sie glücklich geworden in der Wildnis oder hätte sich die dunkle, tiefe Trauer zwischen ihnen auch ohne Zutun des Kapitols ausgebreitet?

»Ich habe dir was mitgebracht.« Gale hält einen Köcher hoch. Ich nehme ihn und sehe, dass er nur einen einzigen, gewöhnlichen Pfeil enthält. »Es soll ein symbolischer Akt sein. Du feuerst den letzten Schuss dieses Krieges ab.«

»Und wenn ich danebenschieße?«, frage ich. »Holt Coin den Pfeil wieder und bringt ihn mir? Oder schießt sie Snow dann einfach selbst in den Kopf?«

»Du wirst nicht danebenschießen.« Gale hängt mir den Köcher um die Schulter.

Wir stehen uns gegenüber, ohne uns in die Augen zu schauen. »Du hast mich nicht in der Krankenstation besucht.« Er antwortet nicht, deshalb spreche ich es irgendwann einfach aus. »War das deine Bombe?«

»Ich weiß nicht. Und Beetee auch nicht«, sagt er. »Spielt das eine Rolle? Du wirst sowieso immer daran denken.«

Er wartet darauf, dass ich es abstreite; ich würde es gern abstreiten, aber es ist die Wahrheit. Selbst jetzt kann ich den Blitz sehen, der sie erfasst, kann die Hitze der Flammen fühlen. Und es wird mir nie mehr möglich sein, diesen Augenblick von Gale zu lösen. Mein Schweigen ist meine Antwort.

»Ich hatte es mir fest vorgenommen. Auf deine Familie aufzupassen«, sagt er. »Nicht danebenschießen, okay?« Er berührt meine Wange und geht. Ich möchte ihn zurückrufen und ihm sagen, dass ich mich geirrt habe. Dass ich einen Weg finden werde, wie ich meinen Frieden mit dieser Sache mache. Indem ich mich an die Umstände erinnere, unter denen er die Bombe schuf. Meine eigenen unentschuldbaren Verbrechen bedenke. Herauszufinden versuche, wer die Fallschirme wirklich abgeworfen hat. Beweise, dass es nicht die Rebellen waren. Ihm verzeihe. Aber es geht nicht, und da ich es nicht kann, werde ich mit dem Schmerz leben müssen.

Effie kommt herein, um mich zu irgendeinem Meeting zu begleiten. Ich nehme meinen Bogen und erinnere mich im letzten Augenblick an die strahlende Rose in ihrem Wasserglas. Als ich die Tür zum Bad öffne, sitzt mein Vorbereitungsteam in einer Reihe auf dem Wannenrand, gebeugt und besiegt. Mir wird bewusst, dass ich nicht die Einzige bin, deren Welt zerstört ist. »Los, kommt«, sage ich. »Die Zuschauer warten.«

Ich habe eine Besprechung zum Ablauf erwartet, bei der Plutarch mir Anweisungen gibt, wo ich stehen soll, und mir das Stichwort nennt, auf das hin ich Snow erschießen soll. Stattdessen werde ich in einen Raum geschickt, in dem sechs Leute um einen Tisch sitzen. Peeta, Johanna, Beetee, Haymitch, Annie und Enobaria. Alle tragen die grauen Rebellenuniformen aus 13. Keiner sieht besonders fröhlich aus. »Was soll das?«, frage ich.

»Wir wissen es nicht«, antwortet Haymitch. »Scheint eine Art Versammlung der verbliebenen Sieger zu sein.«

»Nur wir sind noch übrig?«, frage ich.

»Der Preis des Ruhms«, sagt Beetee. »Beide Seiten haben uns unter Beschuss genommen. Das Kapitol hat die Sieger getötet, die es für Rebellen hielt. Und die Rebellen haben diejenigen getötet, von denen sie dachten, sie seien Verbündete des Kapitols.«

Johanna guckt mürrisch zu Enobaria. »Und was macht sie dann hier?«

»Sie ist durch etwas geschützt, das wir den Spotttölpel-Deal nennen«, sagt Coin, die in diesem Moment hereinkommt, hinter mir. »In welchem Katniss Everdeen zugestimmt hat, im Tausch gegen die Straffreiheit für die gefangenen Sieger die Rebellen zu unterstützen. Katniss hat ihren Teil der Vereinbarung eingehalten und wir werden es ebenso tun.«

Enobaria schenkt Johanna ein Lächeln. »Bild dir ja nichts darauf ein«, sagt Johanna. »Wir werden dich so oder so töten.«

»Setz dich bitte, Katniss«, sagt Coin und schließt die Tür. Ich setze mich zwischen Annie und Beetee und stelle Snows Rose vorsichtig auf den Tisch. Wie üblich kommt Coin sofort zur Sache. »Ich habe euch hergebeten, weil ich etwas mit euch besprechen muss. Heute werden wir Snow hinrichten. In den vergangenen Wochen sind Hunderte seiner Komplizen, die an der Unterdrückung Panems beteiligt waren, verurteilt worden, auch sie warten auf ihre Hinrichtung. Doch das Leiden in den Distrikten war so groß, dass diese Maßnahmen den Opfern als ungenügend erscheinen. Tatsächlich fordern viele die vollständige Vernichtung aller Kapitolbewohner. Dem können wir allerdings nicht entsprechen, im Interesse einer nachhaltigen Bevölkerungspolitik.«

Durch das Wasser im Glas sehe ich verzerrt Peetas Hand. Die Narben der Verbrennungen. Wir sind jetzt beide Feuermutationen. Mein Blick wandert hinauf zu der Stelle, wo die Flammen über seine Stirn geleckt und die Brauen versengt, die Augen jedoch verschont haben. Dieselben blauen Augen, mit denen er einst in der Schule in meine sah und dann ganz schnell wegschaute. Genau wie jetzt.

»Nun denn, es liegt eine Alternative auf dem Tisch. Da meine Kollegen und ich zu keiner gemeinsamen Haltung finden können, sind wir übereingekommen, dass wir die Sieger entscheiden lassen. Wenn vier dafür sind, ist der Plan angenommen. Keiner darf sich enthalten«, sagt Coin. »Der Vorschlag lautet: Statt die gesamte Bevölkerung des Kapitols zu eliminieren, veranstalten wir ein letztes Mal symbolische Hungerspiele, an denen die Kinder, Neffen, Nichten und Enkel derjenigen teilnehmen, die die meiste Macht innehatten.«

Wir fahren herum. »Was?«, sagt Johanna.

»Wir werden noch einmal Hungerspiele mit Kindern aus dem Kapitol veranstalten«, sagt Coin.

»Machen Sie Witze?«, fragt Peeta.

»Durchaus nicht. Eins sollte ich noch erwähnen: Falls diese Hungerspiele stattfinden, werden wir bekannt machen, dass es mit eurer Zustimmung geschah, wobei das individuelle Abstimmungsverhalten zu eurer eigenen Sicherheit geheim gehalten wird«, erläutert Coin uns.

»War das Plutarchs Idee?«, fragt Haymitch.

»Es war meine«, erwidert Coin. »Es scheint mir ein guter Kompromiss zwischen dem Rachebedürfnis und den geringstmöglichen Verlusten an Leben. Ihr dürft jetzt abstimmen.«

»Nein!«, bricht es aus Peeta heraus. »Ich stimme natürlich mit Nein! Es darf keine weiteren Hungerspiele geben!«

»Warum eigentlich nicht?«, kontert Johanna. »Ich finde das nur fair. Snow hat doch auch eine Enkelin. Ich stimme mit Ja.«

»Ich auch«, sagt Enobaria fast gleichgültig. »Wir zahlen es ihnen mit gleicher Münze heim.«

»Aber genau dagegen haben wir uns aufgelehnt! Wisst ihr nicht mehr?« Peeta sieht uns an. »Annie?«

»Ich stimme wie Peeta mit Nein«, sagt sie. »Finnick hätte sich auch so entschieden, wenn er hier wäre.«

»Er ist aber nicht hier, weil Snows Mutationen ihn getötet haben«, erinnert Johanna sie.

»Nein«, sagt Beetee. »Es wäre ein schlimmer Präzedenzfall. Wir müssen aufhören, einander als Feinde zu betrachten. In unserer Lage ist Einigkeit von fundamentaler Bedeutung für unser Überleben. Nein.«

»Dann fehlen noch Katniss und Haymitch«, sagt Coin.

Ob es damals genauso war? Vor fünfundsiebzig Jahren? Hat da auch eine Gruppe von Leuten zusammengesessen und darüber abgestimmt, Hungerspiele zu veranstalten? Gab es unterschiedliche Meinungen? Haben manche an das Mitgefühl der anderen appelliert und wurden von denen überstimmt, die den Tod der Kinder aus den Distrikten forderten? Der Duft von Snows Rose windet sich durch meine Nase in meine Kehle und schnürt sie zusammen. Es ist hoffnungslos. So viele Menschen, die ich geliebt habe, sind tot, und wir diskutieren über die nächsten Hungerspiele als Maßnahme, nicht noch mehr Leben zu verschwenden. Nichts hat sich geändert. Nichts wird sich je ändern.

Sorgsam wäge ich die Möglichkeiten ab, durchdenke alles genau. Den Blick auf die Rose, sage ich: »Ich stimme mit Ja … für Prim.«

»Haymitch, nun ist es an dir«, sagt Coin.

Peeta bestürmt Haymitch, er könne sich doch nicht an solchen Gräueltaten beteiligen, aber ich spüre, wie Haymitch mich ansieht. Jetzt endlich stellen wir fest, wie ähnlich wir uns sind und wie gut er mich versteht.

»Ich folge dem Spotttölpel«, sagt er.

»Hervorragend. Damit steht das Ergebnis fest«, sagt Coin. »Und jetzt ist es höchste Zeit, dass wir unsere Plätze für die Hinrichtung einnehmen.«

Als sie an mir vorbeigeht, halte ich das Glas mit der Rose hoch. »Wäre es möglich, dass Snow sich die ansteckt? Direkt über dem Herzen?«

Coin lächelt. »Natürlich. Und ich werde dafür sorgen, dass er von den Spielen erfährt.«

»Danke«, sage ich.

Jetzt kommen lauter Leute in den Raum und machen sich an mir zu schaffen. Ein letztes Mal pudern, Plutarchs Anweisungen, während ich zum Haupteingang des Präsidentenpalasts geführt werde. Der Große Platz quillt über, die Leute werden in die Seitenstraßen gespült. Die anderen nehmen draußen ihre Plätze ein. Wachen. Funktionäre. Rebellenführer. Sieger. Jubelrufe verkünden, dass Coin auf dem Balkon erschienen ist. Plötzlich tippt Effie mir auf die Schulter und ich trete hinaus in die kalte Wintersonne. Unter dem ohrenbetäubenden Lärmen der Menge nehme ich meine Position ein. Weisungsgemäß drehe ich mich zur Seite, damit sie mein Profil sehen können, und warte. Als Snow aus der Tür geführt wird, rast das Publikum. Er wird mit den Händen an einen Pfahl gebunden, was gar nicht nötig wäre. Er wird nicht fliehen. Es gibt keinen Ort, an den er fliehen könnte. Dies ist nicht die geräumige Bühne vor dem Trainingscenter, sondern die schmale Terrasse vor dem Präsidentenpalast. Jetzt verstehe ich, warum niemand verlangt hat, dass ich ein bisschen übe. Er steht keine zehn Meter entfernt.

Ich spüre den Bogen in meiner Hand vibrieren. Greife nach hinten und ziehe den Pfeil. Lege ihn ein, ziele auf die Rose, schaue ihm aber ins Gesicht. Er hustet und blutiger Speichel rinnt ihm über das Kinn. Seine Zunge fährt rasch über die aufgedunsenen Lippen. In seinen Augen suche ich nach dem leisesten Anzeichen irgendeiner Regung - Angst, Reue, Groll. Aber ich sehe nur den gleichen amüsierten Ausdruck, mit dem unsere letzte Unterhaltung endete. Als würde er den Satz noch einmal sagen. »Ach, mein liebes Fräulein Everdeen. Ich dachte, wir hätten ausgemacht, einander nicht zu belügen.« Stimmt. Das hatten wir.

Ich reiße die Spitze meines Pfeils nach oben. Lasse die Sehne los. Und Präsidentin Coin stürzt über die Balkonbrüstung und knallt auf den Boden. Tot.

27

In dem verblüfften Aufschrei der Menge höre ich Snows Gelächter. Ein schreckliches gurgelndes Gegacker, gefolgt von einem Hustenanfall und einem Schwall schaumigen Bluts. Er beugt sich vor und spuckt sein Leben aus, dann versperren mir seine Bewacher die Sicht.

Während graue Uniformen von allen Seiten auf mich zustürzen, sehe ich meine Zukunft als Mörderin der neuen Präsidentin Panems vor mir. Das Verhör, vermutlich unter Folter, danach eine öffentliche Hinrichtung. Wieder einmal Abschied nehmen von den wenigen Menschen, an denen mir noch etwas liegt. Die Aussicht, meiner Mutter gegenübertreten zu müssen, die nun bald ganz allein auf der Welt sein wird, gibt den Ausschlag.

»Gute Nacht«, flüstere ich dem Bogen in meiner Hand zu, und er wird still. Ich hebe den linken Arm und beuge den Hals, um die Pille mit den Zähnen aus der Ärmeltasche zu befreien. Aber statt in Stoff bohren sich meine Zähne in Fleisch. Verwirrt zucke ich zurück und starre in Peetas Augen, nur dass sie meinem Blick jetzt standhalten. Blut tritt aus den Abdrücken meiner Zähne auf seiner Hand, die er über die Nachtriegel-Pille gelegt hat. »Lass mich los!«, fauche ich ihn an und versuche meinen Arm zu befreien.

»Ich kann nicht«, sagt er. Ich werde fortgeschleift und kriege nur noch mit, wie die Tasche vom Ärmel abgerissen wird. Die lila Pille, Cinnas letztes Geschenk, fällt auf den Boden und wird unter dem Stiefel einer Wache zermalmt. Ich verwandele mich in ein wildes Tier, trete um mich, kratze, beiße und tue alles, um mich aus dem Netz der zahllosen Hände zu befreien, die nach mir greifen. Die Wachen heben mich hoch, und während ich über die Köpfe der wütenden Menge hinweg davongetragen werde, schlage ich weiter um mich. Ich schreie Gales Namen, kann ihn unter all den Menschen nicht ausmachen, aber er wird sich denken können, was ich will. Einen sauberen Schuss, der dem Ganzen ein Ende bereitet. Doch es kommt kein Pfeil, keine Kugel. Kann es sein, dass er nicht sieht, was mit mir geschieht? Nein. Über uns, auf den riesigen Bildschirmen, die rings um den Großen Platz hängen, kann jeder verfolgen, was los ist. Er sieht es, er weiß es, aber er schafft es nicht. Wie ich, als er gefangen genommen wurde. Schöne Jäger und Freunde sind wir, alle beide.

Ich bin auf mich allein gestellt.

Im Palast bekomme ich Handschellen und eine Augenbinde angelegt. Über lange Flure werde ich halb fortgeschleift, halb getragen, fahre mit Aufzügen hinauf und hinunter und werde schließlich auf einem Teppichboden abgesetzt. Die Handschellen werden mir abgenommen, hinter mir schlägt eine Tür zu. Als ich die Augenbinde hochschiebe, sehe ich, dass ich in meinem alten Zimmer im Trainingscenter bin. Wo ich die letzten kostbaren Tage vor den ersten Hungerspielen und dem Jubel-Jubiläum verbracht habe. Auf dem Bett liegt nur die nackte Matratze, der Schrank steht offen und ist gähnend leer, aber ich würde den Raum immer wiedererkennen.

Ich habe Mühe, auf die Füße zu kommen und mein Spotttölpelkostüm abzulegen. Ich habe starke Prellungen, vielleicht sind auch ein paar Finger gebrochen, doch meine Haut hat den Kampf mit den Wachen am teuersten bezahlt. Die rosa Ersatzhaut ist in Fetzen zerrissen wie ein Papiertaschentuch und aus den im Labor gezüchteten Zellen sickert Blut. Kein Sanitäter lässt sich blicken, und da ich viel zu erschöpft bin, krieche ich einfach nur auf die Matratze und warte darauf, dass ich verblute.

Wieder kein Glück. Gegen Abend gerinnt das Blut, ich liege steif und wund und klebrig da, aber ich lebe. Ich humpele unter die Dusche und wähle die sanfteste Einstellung, an die ich mich erinnern kann, ohne Seife oder Haarshampoo. Die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen, hocke ich mich unter den warmen Strahl.

Ich heiße Katniss Everdeen. Warum bin ich nicht tot? Ich müsste doch tot sein. Es wäre für alle das Beste, wenn ich tot wäre …

Ich stelle mich auf die Badematte und lasse meine zerfetzte Haut im heißen Luftstrom trocknen. Es ist keine saubere Kleidung da. Nicht mal ein Handtuch, in das ich mich wickeln könnte. Das Spotttölpelkostüm ist verschwunden. An seiner Stelle liegt da eine Art Morgenmantel aus Papier. Aus der geheimnisvollen Küche haben sie mir eine Mahlzeit nach oben geschickt, ein Schälchen Medikamente als Dessert. Ich esse, nehme die Pillen, verarzte meine Haut mit Salbe. Dann versuche ich darüber nachzudenken, wie ich mich umbringen soll.

Ich kauere mich wieder auf der blutbefleckten Matratze zusammen. Unter dem dünnen Papier auf meinem zarten Fleisch ist mir nicht kalt, aber ich fühle mich so nackt. In den Tod springen scheidet aus - die Fensterscheibe ist bestimmt dreißig Zentimeter dick. Im Knüpfen von Schlingen bin ich Experte, doch es ist nichts da, woran ich mich aufhängen könnte. Ich könnte meine Pillen horten und dann eine tödliche Dosis nehmen, aber bestimmt werde ich rund um die Uhr beobachtet. Auch in diesem Augenblick dürfte ich live zu sehen sein, während die Kommentatoren darüber spekulieren, was mich bewogen haben könnte, Coin zu töten. Die Überwachung schließt praktisch jeden Selbstmordversuch aus. Das Privileg, mein Leben zu nehmen, gebührt dem Kapitol. Wieder einmal.

Ich kann nur aufgeben. Ich beschließe, einfach liegen zu bleiben und weder Essen noch Trinken oder Medikamente zu mir zu nehmen. Ich könnte das, einfach sterben. Wenn da nicht die Entzugserscheinungen wären. Anders als auf der Krankenstation in 13 wird das Morfix jetzt ja nicht nach und nach abgesetzt. Kalter Entzug. Ich muss auf einer ziemlich hohen Dosis gewesen sein, denn wenn das Verlangen einsetzt, begleitet von Zittern, stechenden Schmerzen und unerträglichem Schüttelfrost, wird mein Entschluss zermalmt wie eine Eierschale. Ich kauere auf den Knien, harke mit den Fingern durch den Teppich und suche verzweifelt nach den kostbaren Pillen, die ich in einem Moment der Stärke weggeschleudert habe. Mein Selbstmordplan lautet daher jetzt: langsamer Tod durch Morfix. Zum gelbhäutigen Klappergestell mit riesigen Augen werden. Ein paar Tage halte ich den Plan durch und mache gute Fortschritte, als etwas Unerwartetes geschieht.

Ich fange an zu singen. Am Fenster, unter der Dusche, im Schlaf. Stundenlang singe ich Balladen, Liebes-und Berglieder. All die Lieder, die mein Vater mir beigebracht hat, bevor er starb, denn seither hatte die Musik in meinem Leben natürlich nur noch wenig Platz. Ich wundere mich, wie deutlich ich mich daran erinnere. Die Melodien, die Texte. Meine Stimme, anfangs rau und brüchig in den höheren Lagen, findet sich nach und nach. Eine großartige Stimme, bei der die Spotttölpel erst verstummen und sich dann überschlagen würden, um einzustimmen. Tage vergehen, Wochen. Ich sehe zu, wie der Schnee aufs Fensterbrett fällt. Und in all der Zeit ist meine Stimme die einzige, die ich höre.

Was machen die bloß? Warum dieser Stillstand da draußen? Es kann doch nicht so schwer sein, die Hinrichtung einer jungen Mörderin zu arrangieren. Ich setze die Selbstzerstörung fort. Mein Körper ist dünner denn je und mein Kampf gegen den Hunger so erbittert, dass der animalische Teil in mir manchmal die Oberhand gewinnt und der Versuchung von Butterbroten oder gebratenem Fleisch nachgibt. Doch nur manchmal. Ein paar Tage lang geht es mir so schlecht, dass ich denke, jetzt verlasse ich bald dieses Leben, da merke ich plötzlich, dass die Morfix-Tabletten kleiner werden. Sie versuchen, mich zu entwöhnen. Aber wieso? Einen betäubten Spotttölpel kann man doch bestimmt leichter vor einer Menge dirigieren. Dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn sie mich gar nicht töten wollen? Wenn sie noch etwas mit mir vorhaben? Eine neue Art, mich herzurichten, zu trainieren und zu benutzen?

Das mache ich nicht mit. Wenn ich mich nicht in diesem Raum umbringen kann, nutze ich eben die erste Gelegenheit draußen, um es hinter mich zu bringen. Sie können mich mästen. Sie können meinen ganzen Körper aufpolieren, mich einkleiden und wieder schön machen. Sie können Traumwaffen designen, die in meinen Händen lebendig werden, aber mein Gehirn werden sie nie wieder so manipulieren können, dass ich diese Waffen unbedingt benutzen muss. Ich empfinde keinerlei Verpflichtung mehr gegenüber diesen Monstern, die man Menschen nennt und von denen ich selbst eines bin. Vermutlich stimmt Peetas Theorie, dass wir uns alle gegenseitig vernichten, um einer anständigeren Art Platz zu machen. Denn ein Geschöpf, das seine Kinder opfert, um Konflikte auszutragen, ist gewaltig auf dem Irrweg. Man kann es drehen, wie man will. Snow hielt die Hungerspiele für ein wirksames Kontrollinstrument. Coin dachte, die Fallschirme würden den Krieg verkürzen. Und wem hat es letztendlich genützt? Keinem. Die Wahrheit ist, dass es keinem nützt, in einer Welt zu leben, wo so etwas passiert.

Nachdem ich zwei Tage auf der Matratze gelegen habe, ohne zu essen, zu trinken oder auch nur eine Morfix-Tablette einzunehmen, wird die Tür geöffnet. Jemand tritt ans Bett, in mein Gesichtsfeld. Haymitch. »Dein Prozess ist zu Ende«, sagt er. »Los, wir fahren nach Hause.«

Nach Hause? Was redet er da? Mein Zuhause gibt es nicht mehr. Und selbst wenn es möglich wäre, an diesen imaginären Ort zu gehen, ich wäre zu schwach dazu. Fremde tauchen auf. Hängen meinen ausgedörrten Körper an den Tropf und füttern mich. Baden und kleiden mich. Einer hebt mich hoch wie eine Puppe und trägt mich hinauf aufs Dach, in ein Hovercraft, wo er mich auf einem Sitz festschnallt. Gegenüber sitzen schon Haymitch und Plutarch. Im nächsten Augenblick heben wir ab.

Ich habe Plutarch noch nie so gut gelaunt gesehen. Er strahlt vor Begeisterung. »Du musst tausend Fragen haben!« Ich sage nichts, er gibt aber trotzdem Antworten.

Nach Coins Ermordung brach die Hölle los. Als sich der Tumult beruhigt hatte, entdeckten sie Snows leblosen Körper, der immer noch an den Pfahl gebunden war. Ob er an seinem Lachen erstickt ist oder von der Menge erdrückt wurde, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es interessiert aber auch niemanden so recht. Eine provisorische Wahl wurde abgehalten und Paylor zur Präsidentin gewählt. Plutarch wurde zum Minister für das Kommunikationswesen ernannt und ist seitdem für die Programmgestaltung verantwortlich. Das erste große Fernseh-Event war mein Prozess, in dem er als Zeuge einen Starauftritt hatte. Um mich zu verteidigen, natürlich. Der wichtigste Entlastungszeuge war allerdings Dr. Aurelius, der sich für seine Nickerchen offenbar dadurch revanchiert hat, dass er mich als hoffnungslose, vom Krieg neurotisierte Geisteskranke darstellte. Eine Bedingung für meine Freilassung ist, dass ich mich bei ihm in Behandlung begebe, was allerdings nur über Telefon geht, weil er niemals an einem so verlassenen Ort wie Distrikt 12 leben würde, wohin ich bis auf Weiteres verbannt bin. Fakt ist, dass jetzt, da der Krieg zu Ende ist, keiner so genau weiß, was man mit mir anfangen soll. Falls doch noch mal ein Krieg ausbrechen sollte, würden sie aber bestimmt eine Rolle für mich finden, sagt Plutarch und muss herzlich lachen. Es scheint ihm nie etwas auszumachen, wenn kein anderer seine Witzchen lustig findet.

»Bereitet ihr euch denn auf einen neuen Krieg vor?«, frage ich.

»Ach, im Moment nicht. Jetzt befinden wir uns in der angenehmen Phase, in der alle der Meinung sind, dass sich die jüngsten Schrecken nie wiederholen dürfen«, sagt er. »Aber eine solche Einigkeit ist gemeinhin kurzlebig. Wir sind wankelmütig, dumme Wesen mit schwacher Erinnerung und einem großen Drang zur Selbstzerstörung. Obwohl - wer weiß? Vielleicht ist das jetzt der entscheidende Moment, Katniss.«

»Inwiefern?«, frage ich.

»Vielleicht hat es diesmal Klick gemacht. Vielleicht werden wir Zeuge einer Evolution der Menschheit. Denk mal darüber nach.« Und dann fragt er, ob ich nicht in seinem neuen Musikformat auftreten möchte, das in ein paar Wochen auf Sendung geht. Irgendwas Fröhliches singen. Er werde mir ein Team ins Haus schicken.

Wir machen einen kurzen Zwischenstopp in Distrikt 3 und setzen Plutarch ab. Er will sich dort mit Beetee treffen, um die Sendetechnik auf Vordermann zu bringen. Zum Abschied sagt er noch: »Lass von dir hören!«

Als wir wieder in den Wolken schweben, schaue ich zu Haymitch. »Und wieso gehst du zurück nach 12?«

»Offenbar war für mich im Kapitol auch kein Platz zu finden«, sagt er.

Zuerst nehme ich das so hin. Aber bald kommen mir Zweifel. Haymitch hat niemanden ermordet. Er ist ein freier Mann. Wenn er nach 12 zurückgeht, dann, weil man es ihm befohlen hat. »Du sollst auf mich aufpassen, nicht wahr? Als mein Mentor?« Er zuckt die Achseln. Jetzt wird mir klar, was das bedeutet. »Meine Mutter kommt nicht zurück.«

»Nein«, sagt er. Er zieht einen Umschlag aus der Jackentasche und reicht ihn mir. Ich betrachte die zarte, vollkommene Handschrift. »Sie arbeitet beim Aufbau eines Krankenhauses in Distrikt 4 mit. Sie möchte, dass du sie gleich nach unserer Ankunft anrufst.« Mein Finger fährt über den anmutigen Schwung der Buchstaben. »Du weißt, warum sie nicht zurückkann.« Ja, ich weiß, warum. Weil dieser Ort zu schmerzlich für sie ist, wegen meines Vaters, wegen Prim, wegen der Asche. Für mich ist er das offensichtlich nicht. »Möchtest du wissen, wer sonst noch nicht da sein wird?«

»Nein«, sage ich. »Ich lasse mich überraschen.«

Ganz der große Mentor, fordert Haymitch mich auf, ein belegtes Brot zu essen, und tut dann so, als glaubte er, ich würde den Rest der Reise verschlafen. Er ist unheimlich umtriebig, sucht in jedem Winkel, findet schließlich den Schnaps und stopft ihn sich in die Tasche. Als wir auf der Rasenfläche im Dorf der Sieger landen, ist es Nacht. In der Hälfte der Häuser, einschließlich Haymitchs und meinem, brennt Licht. In Peetas nicht. Jemand hat in meiner Küche ein Feuer angezündet. Ich setze mich in den Schaukelstuhl davor, in der Hand den Brief meiner Mutter.

»Tja, dann bis morgen«, sagt Haymitch.

»Das wage ich zu bezweifeln«, murmele ich, während das Klirren der Schnapsflaschen in seiner Tasche verklingt.

Ich komme nicht mehr aus dem Stuhl raus. Der Rest des Hauses rückt kalt und leer und dunkel näher. Ich lege mir einen alten Schal über und starre in die Flammen. Ich muss eingeschlafen sein, denn kurz darauf ist es Morgen und Greasy Sae macht sich geräuschvoll am Herd zu schaffen. Sie brät mir Eier mit Toast und setzt sich zu mir, bis ich alles aufgegessen habe. Wir reden nicht viel. Ihre kleine Enkelin, die in ihrer eigenen Welt lebt, nimmt sich ein hellblaues Garnknäuel aus dem Strickkorb meiner Mutter. Greasy Sae sagt ihr, sie solle es zurücklegen, aber von mir aus kann sie es haben. In diesem Haus gibt es niemanden mehr, der strickt. Nach dem Frühstück spült Greasy Sae das Geschirr und geht, doch abends kommt sie wieder und sorgt dafür, dass ich etwas esse. Ob sie nur gute Nachbarschaft demonstrieren will oder ob die Regierung sie dafür bezahlt, weiß ich nicht, jedenfalls lässt sie sich zweimal am Tag blicken. Sie kocht, ich esse. Ich versuche mir vorzustellen, was ich als Nächstes mache. Es gibt nichts mehr, was mich daran hindern würde, mir das Leben zu nehmen. Doch irgendwie scheine ich auf etwas zu warten.

Manchmal klingelt das Telefon, klingelt und klingelt, doch ich gehe nicht dran. Haymitch kommt nie zu Besuch. Vielleicht hat er es sich anders überlegt und ist abgereist, aber vermutlich ist er einfach nur zu betrunken. Niemand besucht mich, außer Greasy Sae und ihrer Enkelin. Nach monatelanger Einsamkeit kommen sie mir vor wie eine Menschenmenge.

»Frühling liegt in der Luft. Du solltest rausgehen«, sagt Greasy Sae. »Geh jagen.«

Ich habe das Haus kein einziges Mal verlassen. Nicht mal die Küche habe ich verlassen, außer um in das kleine Bad zu gehen, ein paar Schritte weiter. Ich trage noch dieselben Sachen wie an dem Tag, als ich das Kapitol verließ. Ich tue nichts anderes, als am Feuer zu sitzen. Starre auf die ungeöffneten Briefe, die sich auf dem Kaminsims stapeln. »Ich habe keinen Bogen.«

»Schau mal hinten im Flur nach«, erwidert sie.

Nachdem sie gegangen ist, überlege ich, ob ich in den Flur gehen soll. Verwerfe die Idee. Nach ein paar Stunden gehe ich trotzdem, auf Socken, als wollte ich die Geister nicht wecken. Im Arbeitszimmer, wo ich mit Präsident Snow Tee getrunken habe, steht ein Karton mit der Jagdjacke meines Vaters, unserem Pflanzenbuch, dem Hochzeitsfoto meiner Eltern, dem Zapfhahn, den Haymitch uns geschickt hatte, und dem Medaillon, das Peeta mir in der letzten Arena geschenkt hat. Auf dem Tisch liegen die beiden Bogen und ein Köcher mit Pfeilen, gerettet von Gale in der Nacht der Bombardierung. Ich ziehe die Jagdjacke über, die anderen Sachen rühre ich nicht an. Im eigentlichen Wohnzimmer schlafe ich auf dem Sofa ein.

Ein schrecklicher Albtraum kommt: Ich liege auf dem Grund eines tiefen Grabs, und jeder Tote, den ich beim Namen kenne, tritt heran und wirft eine Schaufel Asche auf mich. Angesichts der vielen Namen wird es ein langer Traum, und je tiefer ich eingegraben werde, desto schwerer fällt mir das Atmen. Ich versuche zu rufen, bitte sie aufzuhören, doch die Asche setzt sich in Mund und Nase, und ich bringe keinen Laut hervor, während die Schaufel immer weiter schrappt, schrappt und schrappt …

Plötzlich wache ich auf. Bleiches Morgenlicht fällt durch die Jalousien. Das Schrappen der Schaufel geht weiter. Noch halb im Albtraum, laufe ich den Flur hinunter, durch die Vordertür hinaus, am Haus entlang, denn jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass ich die Toten anschreien kann. Als ich ihn dann vor mir sehe, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Sein Gesicht ist gerötet, er gräbt den Boden unter den Fenstern um. In einer Schubkarre warten irgendwelche Pflanzen.

»Du bist wieder da«, sage ich.

»Dr. Aurelius wollte mich bis gestern nicht aus dem Kapitol rauslassen«, sagt er. »Übrigens meinte er, ich soll dir sagen, er könne nicht ewig nur so tun, als würde er dich behandeln. Du musst schon mal den Hörer abnehmen.«

Er sieht gut aus. Abgemagert und mit Brandwunden übersät wie ich, aber seine Augen haben diesen umwölkten, gequälten Blick verloren. Er mustert mich und runzelt die Stirn. Ich unternehme einen halbherzigen Versuch, mein Haar aus den Augen zu streichen, und da erst merke ich, dass es völlig verfilzt und verknotet ist. Ich fühle mich unsicher. »Was machst du da?«

»Ich bin heute Morgen auf die Weide gegangen und habe die Dinger hier ausgegraben. Für sie«, sagt er. »Ich hab gedacht, wir könnten sie neben das Haus setzen.«

Ich betrachte die Blumen, die Erdklumpen an den Wurzeln und halte den Atem an. Erst will mir das Wort nicht einfallen, aber dann. Primel. Die Blume, nach der meine Schwester benannt wurde. Ich nicke, dann laufe ich zurück ins Haus und schließe die Tür hinter mir. Doch das Schlimme kommt von innen, nicht von außen. Vor Schwäche und Angst zitternd, haste ich die Treppe hoch. An der letzten Stufe bleibe ich hängen und schlage der Länge nach hin. Ich zwinge mich, aufzustehen und in mein Zimmer zu gehen. Der Geruch ist nur noch schwach, hängt aber immer noch in der Luft. Da steht sie. Die weiße Rose zwischen den vertrockneten Blumen in der Vase. Ausgedörrt und zerbrechlich, doch immer noch mit einem Anflug der Vollkommenheit aus Snows Treibhaus. Ich nehme die Vase, stolpere hinunter in die Küche und werfe den Inhalt in die Glut. Die Blumen lodern auf, eine blaue Stichflamme umschließt die Rose und verzehrt sie. Feuer schlägt Rose, noch einmal. Zur Sicherheit schmeiße ich die Vase auf den Boden.

Wieder oben, reiße ich das Schlafzimmerfenster auf, um zu vertreiben, was von Snows Gestank noch übrig ist. Aber er hängt noch immer an meinen Kleidern, in meinen Poren. Als ich mich ausziehe, bleiben spielkartengroße Hautfetzen an dem Stoff hängen. Ich meide den Spiegel, gehe unter die Dusche und schrubbe mir die Rosen aus Haaren, Körper und Mund, bis meine Haut knallrosa ist und kribbelt. Dann suche ich mir etwas Sauberes zum Anziehen. Eine halbe Stunde dauert es, bis ich meine Haare gekämmt habe. Greasy Sae kommt ins Haus. Während sie Frühstück macht, stecke ich die Kleider, die ich ausgezogen habe, ins Feuer. Auf ihre Anregung hin schneide ich mir mit einem Messer die Fingernägel.

Während ich die Eier esse, frage ich sie: »Wo ist Gale hin?«

»Er ist in Distrikt 2. Hat da einen netten Job bekommen. Ich sehe ihn ab und zu im Fernsehen«, sagt sie.

Ich grabe in mir, suche nach Groll, Hass, Sehnsucht. Das Einzige, was ich finde, ist Erleichterung.

»Ich gehe heute jagen«, sage ich.

»Hm, gegen ein bisschen frisches Fleisch zusätzlich hätte ich nichts einzuwenden«, antwortet sie.

Ich bewaffne mich mit Pfeil und Bogen und mache mich auf den Weg zur Weide. In der Nähe des Platzes entdecke ich Trupps mit Handschuhen und Atemschutzmasken und von Pferden gezogenen Karren. Sie sieben aus, was unter dem Schnee dieses Winters lag. Sammeln die Überreste ein. Einer der Karren steht vor dem Haus des Bürgermeisters. Ich erkenne Thom, Gales alten Kollegen. Er hält kurz inne, um sich mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ich erinnere mich, dass ich ihn in Distrikt 13 gesehen habe, aber er ist offensichtlich zurückgekommen. Er grüßt, und das gibt mir den Mut zu fragen: »Habt ihr da drin jemanden gefunden?«

»Die ganze Familie. Und die beiden Hausangestellten.«

Madge. Still und freundlich und tapfer. Das Mädchen, das mir die Brosche schenkte, durch die ich meinen Namen bekam. Ich muss schlucken. Und ich frage mich, ob sie sich heute Nacht zu den anderen in meinen Albträumen gesellen und mir Asche in den Mund schaufeln wird. »Ich hatte gedacht, wo er doch der Bürgermeister war …«

»Ich glaube nicht, dass es ein Glück war, Bürgermeister von 12 gewesen zu sein«, sagt Thom.

Ich nicke und gehe weiter, wobei ich darauf achte, ja nicht auf die Ladefläche zu schauen. Überall in der Stadt und im Saum das gleiche Bild. Die Ernte der Toten. Wo früher unser altes Haus stand, drängen sich die Karren auf der Straße. Die Weide gibt es nicht mehr, besser gesagt, sie hat sich auf dramatische Weise verwandelt. Eine tiefe Grube wurde ausgehoben, in die reihenweise die Knochen gelegt werden, ein Massengrab für mein Volk. Ich gehe um das Loch herum und betrete den Wald an der gleichen Stelle wie immer. Was eigentlich gar nicht mehr nötig wäre. Der Zaun steht nicht mehr unter Spannung, lange Äste sollen ihn stützen und die Raubtiere fernhalten. Aber alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht ablegen. Ich überlege, ob ich zum See gehen soll, doch ich bin so schwach, dass ich es kaum bis zu meinem alten Treffpunkt mit Gale schaffe. Ich setze mich auf den Stein, auf dem Cressida uns gefilmt hat, doch ohne Gale neben mir ist er zu breit. Mehrmals schließe ich die Augen und zähle bis zehn, in der Annahme, wenn ich sie wieder öffne, steht er plötzlich lautlos vor mir, wie so oft. Ich rufe mir in Erinnerung, dass Gale in Distrikt 2 einen netten Job hat und vermutlich die Lippen einer anderen küsst.

Es ist einer der Lieblingstage der alten Katniss. Vorfrühling. Der Wald erwacht nach dem langen Winter. Aber der Energieschub, der mit den Primeln begann, lässt nach. Als ich zum Zaun zurückkehre, bin ich so matt, und mir ist so schwindelig, dass Thom mich in seinem Leichenkarren nach Hause fahren und mir aufs Sofa im Wohnzimmer helfen muss, wo ich zusehe, wie die Staubteilchen in den schmalen Streifen der Nachmittagssonne durcheinanderwirbeln.

Bei dem Fauchen fahre ich herum, aber es dauert länger, bis ich begreife, dass er es wahrhaftig ist. Wie hat er es bloß bis hierher geschafft? Ich betrachte die Narben, die ein wildes Tier ihm mit den Klauen zugefügt hat, die Hinterpfote, die er kaum heben kann, die hervortretenden Schädelknochen. Er muss den ganzen Weg aus 13 zu Fuß hergekommen sein. Vielleicht hat man ihn rausgeschmissen, vielleicht hielt er es ohne sie einfach nicht mehr dort aus und kam nachschauen.

»Den Weg hättest du dir sparen können. Sie ist nicht hier«, erkläre ich ihm. Butterblume faucht noch einmal. »Sie ist nicht hier. Da kannst du fauchen, solange du willst. Du wirst Prim nicht finden.« Bei ihrem Namen horcht er auf. Spitzt die angelegten Ohren. Fängt an, hoffnungsfroh zu miauen. »Hau ab!« Er weicht dem Kissen aus, das ich nach ihm werfe. »Geh weg! Hier ist für dich nichts mehr zu holen!« Plötzlich zittere ich vor Wut. »Sie kommt nicht zurück! Sie wird nie mehr wiederkommen!« Ich greife wieder nach einem Kissen und stehe auf, um besser zielen zu können. Aus dem Nichts beginnen mir die Tränen über die Wangen zu laufen. »Sie ist tot.« Ich habe die Arme um mich geschlungen, um den Schmerz zu lindern. Sinke auf die Fersen, wiege das Kissen, weine. »Sie ist tot, du dummer Kater. Sie ist tot.« Ein neuer Laut, halb Weinen, halb Singen, kommt aus meinem Körper, gibt meiner Verzweiflung eine Stimme. Butterblume fängt ebenfalls an zu wimmern. Egal, was ich tue, er lässt sich nicht vertreiben. Er umkreist mich, gerade außerhalb meiner Reichweite, während die Schluchzer in Wellen durch meinen Körper fahren, bis ich irgendwann das Bewusstsein verliere. Aber er muss es verstanden haben. Er muss verstanden haben, dass das Undenkbare geschehen ist und er Undenkbares tun muss, wenn er überleben will. Denn Stunden später, als ich ins Bett gehe, liegt er da im Mondlicht. Neben mir kauernd, mit wachsamen gelben Augen, schaut er mich aus der Nacht heraus an.

Am Morgen bleibt er stoisch sitzen, während ich seine Wunden säubere, nur als ich ihm einen Dorn aus der Pfote ziehe, maunzt er wie ein Kätzchen. Wieder müssen wir beide weinen, aber diesmal trösten wir uns gegenseitig. Dadurch gestärkt, öffne ich den Brief meiner Mutter, den Haymitch mir damals gegeben hat, wähle die Nummer und weine auch mit ihr. Greasy Sae kommt in Peetas Begleitung, der unterm Arm einen warmen Laib Brot trägt. Sie bereitet uns ein Frühstück und ich verfüttere all meinen Speck an Butterblume.

Langsam, mit vielen verlorenen Tagen, finde ich ins Leben zurück. Ich versuche die Anweisung von Dr. Aurelius zu befolgen, einfach weiterzumachen, und wundere mich, wenn irgendwas plötzlich wieder eine Bedeutung bekommt. Ich erzähle ihm von meiner Idee mit dem Buch, und mit dem nächsten Zug aus dem Kapitol trifft eine große Kiste Pergamentpapier ein.

Das Pflanzenbuch der Familie hat mich auf die Idee gebracht. In dem wir alles festhielten, was wir vor dem Vergessen bewahren wollten. Jede Seite dieses neuen Buches beginnt mit einem Bild der jeweiligen Person. Ein Foto, falls vorhanden. Ansonsten eine Zeichnung von Peeta. In meiner besten Handschrift folgen sodann all die Einzelheiten, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Wie Lady Prims Wange leckt. Das Lachen meines Vaters. Peetas Vater mit den Plätzchen. Die Farbe von Finnicks Augen. Was Cinna aus einem Stück Seide machen konnte. Boggs, der das Holo umprogrammiert. Rue, auf den Zehenspitzen balancierend, die Arme leicht angehoben, wie ein Vogel, der gleich abhebt. Und immer weiter. Wir versiegeln die Seiten mit Tränen und dem Versprechen, gut zu leben, damit ihr Tod nicht vergeblich war. Auch Haymitch gesellt sich zu uns und trägt die Tribute aus den dreiundzwanzig Jahren bei, in denen er gezwungen war, den Mentor zu spielen. Irgendwann werden die Einträge weniger. Ab und zu noch eine alte Erinnerung, die auftaucht. Eine späte Primel, die wir zwischen den Seiten aufbewahren. Seltene Momente der Freude, wie das Foto von Finnicks und Annies neugeborenem Sohn.

Wir lernen, wieder unseren Beschäftigungen nachzugehen. Peeta backt. Ich jage. Haymitch trinkt, bis der Schnaps alle ist, dann züchtet er Gänse, bis der nächste Zug eintrifft. Zum Glück können die Gänse ganz gut selbst für sich sorgen. Wir sind nicht allein. Ein paar Hundert andere kommen zurück, denn was immer passiert ist, dies ist unsere Heimat. Da die Bergwerke geschlossen wurden, pflügen sie die Asche unter und bauen Nahrungsmittel an. Baumaschinen aus dem Kapitol bereiten den Boden für eine neue Fabrik, in der Arzneimittel hergestellt werden sollen. Die Weide wird wieder grün, obwohl dort niemand gesät hat.

Peeta und ich nähern uns wieder an. Es gibt immer noch Augenblicke, da muss er sich an einer Stuhllehne festhalten, bis die Schatten der Vergangenheit vorbeigezogen sind. Ich erwache aus Albträumen von Mutationen und verlorenen Kindern. Aber seine Arme sind wieder da, um mich zu trösten. Und schließlich auch seine Lippen. Nachts empfinde ich wieder diesen Hunger, der mich damals am Strand überrascht hat, und ich weiß, dass es so oder so passiert wäre. Dass ich zum Überleben nicht Gales Feuer, das von Zorn und Hass genährt wird, brauche. Feuer habe ich selbst genug. Was ich brauche, ist der Löwenzahn im Frühling. Das leuchtende Gelb, das für die Wiedergeburt steht und nicht für Zerstörung. Ein Versprechen, dass das Leben weitergeht, ungeachtet unserer Verluste. Dass es wieder gut werden kann. Und das kann nur Peeta mir geben.

Und wenn er mich fragt: »Du liebst mich. Wahr oder nicht wahr?«, dann antworte ich: »Wahr.«

Epilog

Sie spielen auf der Weide. Das tanzende Mädchen mit dem dunklen Haar und den blauen Augen. Der Junge mit den blonden Locken und den grauen Augen, der auf seinen pummeligen Kleinkindbeinen mit seiner Schwester Schritt zu halten versucht. Es hat fünf, zehn, fünfzehn Jahre gedauert, bis ich eingewilligt habe. Doch Peeta wollte sie unbedingt. Als ich das erste Mal spürte, wie sie sich in mir bewegt, packte mich ein Schrecken, der so alt ist wie das Leben selbst. Nur die Freude, sie in meinen Armen zu halten, konnte ihn bändigen. Bei ihm fiel es mir dann schon ein wenig leichter.

Langsam kommen auch die Fragen. Die Arenen sind völlig zerstört worden, Gedenkstätten errichtet, es gibt keine Hungerspiele mehr. Aber im Schulunterricht wird darüber gesprochen, und das Mädchen weiß, dass wir eine Rolle darin hatten. Der Junge wird es in ein paar Jahren erfahren. Wie kann ich ihnen von dieser Welt erzählen, ohne sie zu Tode zu erschrecken? Meine Kinder, die den Text des Liedes für bare Münze nehmen:

Auf dieser Wiese unter der Weide,

Ein Bett aus Gras, ein Kissen wie Seide.

Dort schließe die Augen, den Kopf lege nieder,

Wenn du erwachst, scheint die Sonne wieder.

Hier ist es sicher, hier ist es warm,

Hier beschützt dich der Löwenzahn.

Süße Träume hast du hier und morgen erfüllen sie sich.

An diesem Ort, da lieb ich dich.

Meine Kinder, die nicht wissen, dass sie auf einem Friedhof spielen.

Peeta sagt, dass alles gut wird. Wir haben uns. Und das Buch. Wir können es ihnen irgendwie so begreiflich machen, dass sie gestärkt daraus hervorgehen. Eines Tages jedoch werde ich ihnen von meinen Albträumen erzählen müssen. Woher sie kommen. Warum sie nie mehr ganz verschwinden werden.

Ich werde ihnen erzählen, wie ich es überlebe. Ich werde ihnen sagen, dass es mir an schlechten Tagen morgens unmöglich erscheint, mich an irgendetwas zu erfreuen, weil die Angst, es zu verlieren, übermächtig ist. Dann mache ich mir eine Liste im Kopf und verzeichne darauf jeden Akt der Güte, den ich je erlebt habe. Es ist wie ein Spiel. Immer das gleiche. Fast ein bisschen langweilig nach über zwanzig Jahren.

Aber es gibt viel schlimmere Spiele.

ENDE

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