»Was soll das heißen, ich soll nicht ins Kapitol? Ich muss dahin! Ich bin der Spotttölpel!«, sage ich.

Coin blickt kaum von ihrem Bildschirm auf. »Und als Spotttölpel hast du dein vorrangiges Ziel, die Distrikte gegen das Kapitol zu vereinen, erfüllt. Keine Sorge - wenn alles gut läuft, fliegen wir dich zur Kapitulation ein.« Zur Kapitulation?

»Das ist zu spät! Dann verpasse ich ja den ganzen Kampf. Ihr braucht mich - ich bin der beste Schütze, den ihr habt!«, rufe ich. Normalerweise prahle ich damit nicht, aber jetzt kann es nicht schaden. »Gale geht doch auch.«

»Gale ist jeden Tag zum Training erschienen, wenn er keine anderweitigen Verpflichtungen hatte. Wir sind zuversichtlich, dass er sich in der Schlacht bewährt«, sagt Coin. »Was schätzt du, wie viele Trainingsstunden du mitgemacht hast?«

Null. Nicht eine einzige. »Aber ich hab doch ab und zu gejagt. Und … ich hab mit Beetee bei den Geheimwaffen geübt.«

»Das ist nicht dasselbe, Katniss«, sagt Boggs. »Wir alle wissen, dass du geschickt und mutig und ein guter Schütze bist. Aber in der Schlacht brauchen wir Soldaten. Du hast überhaupt keine Ahnung davon, wie man einen Auftrag ausfuhrt, und körperlich bist du auch nicht gerade auf der Höhe.«

»Als ich in Distrikt 8 war, hat Sie das auch nicht weiter gestört. Und in 2 auch nicht«, sage ich.

»In beiden Schlachten warst du eigentlich nicht befügt zu kämpfen.« Plutarch bedeutet mir mit einem Blick, bloß nicht zu viel preiszugeben.

Nein, der Kampf gegen die Bomber in 8 und meine Intervention in 2 waren spontan, unüberlegt und eindeutig unbefugt.

»Und beide Male wurdest du verwundet«, sagt Boggs. Auf einmal sehe ich mich mit seinen Augen. Ein kleines siebzehnjähriges Mädchen, das nicht richtig durchatmen kann, weil seine Rippen noch nicht ganz verheilt sind. Ungepflegt. Undiszipliniert. Angeschlagen. Kein Soldat, sondern jemand, um den man sich kümmern muss.

»Aber ich muss ins Kapitol«, sage ich.

»Warum?«, fragt Coin.

Ich kann kaum sagen, dass es mir um meine persönliche Rache an Snow geht. Oder dass es unerträglich wäre, hier in 13 zu bleiben, wenn Peeta so ist, wie er jetzt ist, und Gale in den Kampf zieht. Aber ich habe noch mehr Argumente. »Wegen Distrikt 12. Weil sie meinen Distrikt zerstört haben.«

Darüber denkt Coin einen Augenblick nach. Schaut mich prüfend an. »Na gut, ich gebe dir drei Wochen. Das ist nicht lange, aber du kannst mit dem Training anfangen. Wenn die Einsatzkommission dich für tauglich erklärt, werden wir deinen Fall noch einmal überdenken.«

Das war’s. Mehr kann ich nicht erhoffen. Das habe ich mir wohl selbst zuzuschreiben. Ich habe meinen Tagesplan nie eingehalten, außer wenn es mir gerade in den Kram passte. Es erschien mir nicht besonders reizvoll, mit einem Gewehr über den Platz zu laufen, wenn es so viel anderes gab. Und jetzt muss ich für meine Unzuverlässigkeit büßen.

Als ich wieder in die Krankenstation komme, treffe ich Johanna, die sich in derselben Lage befindet wie ich. Sie ist stocksauer. Ich berichte ihr von meinem Gespräch mit Coin. »Vielleicht kannst du ja auch trainieren.«

»Gut. Ich werde trainieren. Aber ich gehe in das verdammte Kapitol, und wenn ich eine Besatzung umbringen und das Hovercraft selbst hinfliegen muss«, sagt Johanna.

»Vielleicht erwähnst du das beim Training lieber nicht«, sage ich. »Jedenfalls gut zu wissen, dass ich eine Mitfluggelegenheit habe.«

Johanna grinst, und ich merke, dass sich in unserem Verhältnis etwas verändert hat, ein klein wenig nur und doch bedeutsam. Ich weiß nicht, ob wir richtige Freundinnen sind, aber das Wort Verbündete trifft es möglicherweise. Das ist gut. Ich werde eine Verbündete brauchen.

Als wir am nächsten Morgen um 7.30 Uhr zum Training antreten, schlägt mir die Realität ins Gesicht. Wir sind einer Gruppe von Anfängern zugeteilt worden, Vierzehn-bis Fünfzehnjährige, was schon etwas beleidigend ist, bis sich zeigt, dass ihre Kondition weit besser ist als unsere. Gale und die anderen, die für das Kapitol ausgewählt wurden, sind in einer weit fortgeschritteneren Trainingsphase. Nach den schmerzhaften Dehnübungen machen wir mehrere Stunden lang Krafttraining, ebenfalls schmerzhaft, und dann einen Fünf-Kilometer-Lauf, der mich fast umbringt. Obwohl Johanna mich mit gezielten Beschimpfungen antreibt, muss ich nach einem Kilometer aufgeben.

»Es ist wegen meiner Rippen«, erkläre ich der Trainerin, einer nüchternen Frau mittleren Alters, die wir Soldat York nennen sollen. »Die sind noch geprellt.«

»Tja, Soldat Everdeen, bei so was dauert der Heilungsprozess mindestens einen Monat, kann ich dir sagen.«

Ich schüttele den Kopf. »Einen Monat kann ich nicht warten.«

Sie mustert mich genau. »Haben die Ärzte dir keine Behandlung angeboten?«

»Gibt es denn eine?«, frage ich. »Mir haben sie gesagt, das muss von selbst heilen.«

»Das sagen sie immer. Aber wenn ich es empfehle, können sie den Prozess beschleunigen. Doch ich warne dich, das ist kein Spaß«, sagt sie.

»Bitte. Ich muss ins Kapitol«, flehe ich.

Soldat York sagt nichts dazu. Sie kritzelt etwas auf einen Notizblock und schickt mich direkt in die Krankenstation. Ich zögere. Ich will nicht schon wieder das Training verpassen. »Zum Nachmittagsunterricht bin ich wieder da«, verspreche ich. Sie presst nur die Lippen aufeinander.

Vierundzwanzig Nadelstiche in den Brustkorb später liege ich in meinem Krankenbett und beiße die Zähne zusammen, damit ich nicht um eine Morfix-Infusion bettele. Sie liegt neben meinem Bett bereit, damit ich mir bei Bedarf eine Dosis nehmen kann. Ich habe sie nicht benutzt, aber ich bewahre sie für Johanna auf. Heute haben sie mein Blut untersucht, um sicherzugehen, dass es keine Spuren des Schmerzmittels mehr enthält. Die beiden Medikamente zusammen - Morfix und das Zeug, das mir die Rippen verbrennt - hätten eine gefährliche Wirkung haben können. Sie haben keinen Hehl daraus gemacht, dass ich ein paar harte Tage vor mir habe. Aber ich habe gesagt, sie sollen loslegen.

Es ist eine schlimme Nacht in unserem Zimmer. An Schlaf ist nicht zu denken. Ich bilde mir ein, regelrecht riechen zu können, wie das Fleisch auf meiner Brust brennt, und Johanna hat mit Entzugserscheinungen zu kämpfen. Als ich mich dafür entschuldige, dass ich ihr keine neue Morfix-Ration besorgt habe, winkt sie erst noch ab und sagt, dass es ja sowieso irgendwann sein musste. Aber um drei Uhr morgens wirft sie mir alle Schimpfwörter an den Kopf, die Distrikt 7 zu bieten hat. Im Morgengrauen zerrt sie mich aus dem Bett, entschlossen, zum Training zu gehen.

»Ich glaube nicht, dass ich das packe«, gestehe ich.

»Doch, du packst das. Wir packen es beide. Wir sind Sieger, schon vergessen? Wir überleben alles, womit sie uns malträtieren«, sagt sie barsch. Sie ist grün im Gesicht und zittert wie Espenlaub. Ich ziehe mich an.

Wir müssen wirklich Sieger sein, um diesen Morgen zu überstehen. Als wir sehen, dass es draußen in Strömen gießt, denke ich schon, dass Johanna nicht mehr kann. Sie wird aschfahl und scheint nicht mehr zu atmen.

»Das ist nur Wasser, das bringt uns nicht um«, sage ich. Sie beißt die Zähne zusammen und stapft hinaus in den Matsch. Wir werden triefnass, als wir uns in Bewegung setzen und uns über die Laufstrecke quälen. Nach einem Kilometer muss ich wieder aufgeben, und am liebsten würde ich mein Hemd ausziehen, damit das kalte Wasser meine Haut löscht. Zur Mittagspause zwinge ich mir meine Ration pappigen Fisch und Rote-Bete-Eintopf rein. Johanna isst ihre Schüssel halb leer, dann kommt alles wieder hoch. Am Nachmittag lernen wir, unsere Gewehre auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen. Mir gelingt es, aber Johanna kann ihre Hände nicht richtig ruhig halten. Als York uns den Rücken zudreht, helfe ich ihr, die Teile zusammenzusetzen. Obwohl der Regen nicht nachlässt, läuft es am Nachmittag besser, denn da sind wir auf dem Schießplatz. Endlich etwas, das ich kann. Ich muss mich erst mal vom Bogen auf das Gewehr umstellen, aber am Ende des Tages bin ich die Beste in der Gruppe.

Wir sind kaum durch die Tür der Krankenstation, als Johanna verkündet: »Das muss aufhören. Dieses Leben in der Krankenstation. Alle betrachten uns als Patienten.«

Für mich ist es kein Problem, ich kann in unsere Familieneinheit einziehen. Doch Johanna ist keine zugeteilt worden. Als sie um ihre Entlassung bittet, wollen sie nicht erlauben, dass sie allein wohnt, selbst wenn sie einen täglichen Termin mit dem Psychiater vereinbart. Sie denken sich wohl ihren Teil, was das Morfix angeht, und glauben nicht daran, dass sie stabil ist. »Sie wird nicht allein sein«, sage ich. »Sie kann mit mir zusammenwohnen.« Es gibt noch einige Einwände, aber Haymitch stärkt uns den Rücken, und am Abend haben wir eine Einheit gegenüber von Prim und meiner Mutter, die sich bereit erklärt, auf uns aufzupassen.

Nachdem ich geduscht habe und Johanna sich mit einem feuchten Lappen gewaschen hat, nimmt sie den Raum in Augenschein. Als sie die Schublade mit meinen wenigen Besitztümern öffnet, macht sie sie schnell wieder zu. »Entschuldige.«

Ich denke daran, dass Johanna in ihrer Schublade nichts hat als die Kleider, die ihr vom Distrikt zugeteilt wurden. Dass sie überhaupt nichts auf der Welt hat, was sie ihr Eigen nennen kann. »Schon gut, du kannst dir meine Sachen ruhig angucken, wenn du magst.«

Johanna klappt mein Medaillon auf und betrachtet die Fotos von Gale, Prim und meiner Mutter. Sie öffnet den silbernen Fallschirm, zieht den Zapfhahn heraus und streift ihn auf den kleinen Finger. »Ich krieg schon Durst, wenn ich den nur sehe.« Dann stößt sie auf die Perle, die Peeta mir geschenkt hat. »Ist die …?«

»Ja«, sage ich. »Die hat irgendwie überlebt.« Ich möchte nicht über Peeta sprechen. Das Beste am Training ist, dass ich dabei nicht an ihn denken muss.

»Haymitch meint, dass es ihm immer besser geht«, sagt sie.

»Kann schon sein. Aber er hat sich verändert«, sage ich.

»Du doch auch. Und ich. Und Finnick und Haymitch und Beetee. Von Annie Cresta ganz zu schweigen. Die Arena hat uns alle ganz schön fertiggemacht, nicht? Oder bist du immer noch dieselbe, die damals für ihre Schwester eingesprungen ist?«, fragt sie.

»Nein«, antworte ich.

»Das ist das Einzige, womit der Psychodoktor vielleicht recht hat. Es gibt kein Zurück. Also können wir ebenso gut weiterleben.« Sie packt meine Andenken ordentlich zurück in die Schublade und legt sich in das Bett neben meinem. Im selben Moment gehen die Lichter aus. »Hast du keine Angst, dass ich dich heute Nacht umbringe?«

»Als ob ich es nicht mit dir aufnehmen könnte«, antworte ich. Dann lachen wir, weil wir beide so fertig sind, dass es ein Wunder wäre, wenn wir am nächsten Tag aufstehen könnten. Aber wir schaffen es. Und das jeden Morgen. Und am Ende der Woche fühlen sich meine Rippen fast an wie neu und Johanna kann ihr Gewehr ohne Hilfe zusammenbauen.

Als wir Feierabend machen, wirft Soldat York uns beiden einen anerkennenden Blick zu. »Gut gemacht, Soldaten.«

Kaum sind wir außer Hörweite, murmelt Johanna: »Die Spiele zu gewinnen, war einfacher.« Aber ihre Miene verrät, dass sie sich freut.

Als wir in den Speisesaal kommen, wo Gale auf mich wartet, haben wir beinahe gute Laune. Und eine Riesenportion Rindereintopfist auch nicht zu verachten.

»Ist heute Morgen eingetroffen«, sagt Greasy Sae. »Echtes Rind aus Distrikt 10. Keiner von euren wilden Hunden.«

»Kann mich nicht erinnern, dass du die je verschmäht hättest«, gibt Gale zurück.

Wir setzen uns zu einer Gruppe mit Delly, Annie und Finnick. Finnick ist seit seiner Heirat völlig verwandelt. Aus dem dekadenten Schwarm im Kapitol, den ich beim Jubel-Jubiläum kennengelernt habe, dem mysteriösen Verbündeten in der Arena und dem gebrochenen jungen Mann, der mir geholfen hat durchzuhalten, ist jemand geworden, der nur so sprüht vor Leben. Zum ersten Mal sehe ich, wie anziehend er ist mit seinem leisen Humor und der lässigen Art. Er lässt Annies Hand keinen Augenblick los. Nicht, wenn sie gehen, nicht mal, wenn sie essen. Ich glaube auch nicht, dass er das je wieder tun will. Sie scheint auf einer Wolke des Glücks dahinzuschweben. Es gibt immer noch Momente, in denen man ihr ansieht, dass sich irgendetwas in ihre Gedanken schiebt und sie in eine andere Welt abtaucht. Doch ein paar Worte von Finnick reißen sie wieder heraus.

Delly, die ich schon seit meiner Kindheit kenne, aber nie weiter beachtet habe, ist in meiner Achtung gestiegen. Sie hat mit angehört, was Peeta an dem Abend nach der Hochzeit zu mir gesagt hat, aber sie hat es nicht herumerzählt. Haymitch sagt, wenn Peeta sich über mich auslässt, ist sie meine beste Verteidigerin. Sie ergreift immer für mich Partei und schiebt seine negative Wahrnehmung auf die Foltermethoden des Kapitols. Sie hat größeren Einfluss auf ihn als alle anderen, denn er kennt sie wirklich. Auch wenn sie mich besser darstellt, als ich bin - ich weiß das zu schätzen. Ein bisschen Schönreden kann ich, ehrlich gesagt, gut brauchen.

Ich habe einen Bärenhunger, und der Eintopf ist so köstlich - Rind, Kartoffeln, Rüben und Zwiebeln in einer dicken Suppe -, dass ich mich zwingen muss, langsam zu essen. Überall im Speisesaal kann man beobachten, wie wohltuend eine gute Mahlzeit wirken kann. Die Menschen werden freundlicher, lustiger, optimistischer, und sie erinnern sich wieder daran, dass es nicht so verkehrt ist weiterzuleben. Besser als jede Medizin. Also versuche ich, die Sache auszudehnen, und beteilige mich an der Unterhaltung. Tunke Brot in den Eintopf und knabbere daran, während ich Finnick zuhöre, der eine alberne Geschichte von einer Wasserschildkröte erzählt, die mit seinem Hut weggeschwommen ist. Lache und merke gar nicht, dass er da steht. Direkt mir gegenüber, hinter dem freien Platz neben Johanna. Und mich beobachtet. Das Brot mit dem Eintopf bleibt mir im Hals stecken.

»Peeta!«, sagt Delly. »Wie schön, dich zu sehen … und nicht mehr im Bett.«

Zwei große Wärter stehen hinter ihm. Unbeholfen balanciert er sein Tablett auf den Fingerspitzen, weil seine Handgelenke aneinandergekettet sind.

»Was sind das denn für schicke Armbänder?«, fragt Johanna.

»Man kann mir noch nicht richtig trauen«, erklärt Peeta. »Ich darf noch nicht mal ohne eure Erlaubnis hier sitzen.« Er macht eine Kopfbewegung zu seinen Wärtern.

»Klar kann er hier sitzen. Wir sind doch alte Freunde«, sagt Johanna und klopft auf den freien Platz neben ihr. Die Wärter nicken und Peeta setzt sich. »Im Kapitol hatte Peeta die Zelle neben meiner. Er kennt meine Schreie und ich kenne seine.«

Annie, die zu Johannas anderer Seite sitzt, hält sich die Ohren zu und steigt aus der Wirklichkeit aus. Finnick legt einen Arm um sie und schaut Johanna böse an.

»Was ist? Mein Psychodoktor sagt, ich soll meinen Gedanken freien Lauf lassen. Das ist Teil der Therapie«, sagt Johanna.

Jetzt ist unsere kleine Gesellschaft nicht mehr so lustig. Finnick redet Annie leise beruhigend zu, bis sie die Hände langsam von den Ohren nimmt. Dann bleibt es lange still, während alle so tun, als ob sie essen.

»Annie«, sagt Delly fröhlich, »wusstest du, dass Peeta eure Hochzeitstorte dekoriert hat? In seiner Heimat hatten seine Eltern eine Bäckerei und er war für die Glasuren zuständig.«

Annie schaut vorsichtig an Johanna vorbei. »Danke, Peeta. Die Torte war wunderschön.«

»War mir ein Vergnügen, Annie«, sagt Peeta, und seine Stimme hat den vertrauten liebenswürdigen Klang, den ich für immer verloren glaubte. Zwar gilt er nicht mir. Aber immerhin.

»Wenn wir noch einen Spaziergang machen wollen, müssen wir jetzt los«, sagt Finnick zu Annie. Er stapelt ihr Tablett und seins so, dass er beide mit einer Hand tragen kann, während er mit der anderen Annie ganz fest hält. »War schön, dich zu sehen, Peeta.«

»Sei nett zu ihr, Finnick. Sonst könnte ich noch auf die Idee kommen, sie dir auszuspannen.« Das könnte witzig gemeint sein, wenn er es nicht so kalt gesagt hätte. Alles daran ist daneben. Das offene Misstrauen gegenüber Finnick, die Andeutung, dass Peeta ein Auge auf Annie geworfen hat, dass Annie Finnick verlassen könnte und dass es mich überhaupt nicht gibt.

»Pass bloß auf, Peeta«, sagt Finnick leichthin. »Sonst tut es mir noch leid, dass ich dich wiederbelebt habe.« Er schaut mich besorgt an und führt Annie davon.

Als sie weg sind, sagt Delly vorwurfsvoll: »Er hat dir das Leben gerettet, Peeta. Mehr als einmal.«

»Um ihretwillen«, sagt er mit einer Kopfbewegung zu mir. »Für die Rebellion. Nicht meinetwegen. Ich bin ihm nichts schuldig.«

Ich dürfte nicht darauf anspringen, aber ich kann es nicht lassen. »Vielleicht nicht. Aber Mags ist tot und du bist noch hier. Das sollte doch etwas wert sein.«

»Ja, es gibt vieles, was etwas wert sein sollte, auch wenn es nicht den Anschein hat, Katniss. Ich habe ein paar Erinnerungen, die ich nicht einordnen kann, und ich glaube nicht, dass das Kapitol sie angetastet hat. Viele Nächte im Zug zum Beispiel«, sagt er.

Schon wieder so eine Andeutung. Dass im Zug mehr passiert sei. Das, was wirklich passiert ist - in diesen Nächten, in denen ich nur deshalb nicht durchgedreht bin, weil er mich in den Armen hielt -, zählt nicht mehr. Alles ist Lüge, als hätte ich ihn nur ausgenutzt.

Peeta macht eine kleine Geste mit dem Löffel zu Gale und mir. »Seid ihr beide jetzt offiziell ein Paar oder reiten sie immer noch auf der Geschichte von dem tragischen Liebespaar herum?«

»Letzteres«, sagt Johanna.

Peetas Hände zucken so, dass er sie zu Fäusten ballen und dann auf groteske Weise spreizen muss. Würde er mir jetzt am liebsten an die Gurgel gehen? Ich spüre, wie Gale neben mir die Muskeln anspannt, und fürchte eine Auseinandersetzung. Doch Gale sagt: »Ich würde es nicht glauben, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen.«

»Was?«, fragt Peeta.

»Dich«, sagt Gale.

»Das musst du genauer erklären«, sagt Peeta. »Was ist mit mir?«

»Dass sie dich gegen eine böse Mutation deiner selbst ausgetauscht haben«, sagt Johanna.

Gale trinkt seine Milch aus. »Bist du fertig?«, fragt er mich. Ich stehe auf und wir bringen unsere Tabletts weg. An der Tür hält mich ein alter Mann auf, weil ich das Brot immer noch fest in der Hand halte. Irgendetwas an meinem Gesichtsausdruck, vielleicht auch die Tatsache, dass ich keine Anstalten mache, es zu verbergen, lässt ihn nachsichtig sein. Ich darf mir das Brot in den Mund stopfen und weitergehen. Erst als wir schon fast bei unserer Wohneinheit angekommen sind, sagt Gale wieder etwas. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass er mich hasst«, sage ich.

»Aber die Art, wie er dich hasst. Die ist mir so vertraut. So ging es mir auch immer«, gesteht er. »Wenn ich auf dem Bildschirm gesehen hab, wie du ihn küsst. Allerdings war mir immer bewusst, dass ich ein bisschen ungerecht war. Das sieht er nicht.«

Jetzt sind wir an meiner Tür. »Vielleicht sieht er mich einfach so, wie ich wirklich bin. Ich muss jetzt schlafen.«

Bevor ich verschwinden kann, hält Gale mich am Arm fest. »Das denkst du also?« Ich zucke die Schultern. »Katniss, glaub mir als deinem ältesten Freund: Er sieht dich nicht so, wie du wirklich bist.« Er gibt mir einen Kuss auf die Wange und geht.

Ich setze mich aufs Bett und versuche, mir Stoff aus dem Buch über Kriegstaktiken reinzupauken, doch immer wieder durchkreuzen Erinnerungen an die Nächte mit Peeta im Zug meine Gedanken. Nach etwa zwanzig Minuten kommt Johanna herein und wirft sich auf das Fußende meines Betts. »Du hast das Beste verpasst. Delly ist ausgeflippt, weil Peeta dich so mies behandelt hat. Ihre Stimme wurde ganz piepsig. Es war, als würde jemand eine Maus immer wieder mit der Gabel piksen. Der ganze Speisesaal war hin und weg.«

»Und Peeta?«, frage ich.

»Der hat mit sich selbst geredet, als wäre er zwei Personen. Die Wärter mussten ihn wegbringen. Das Gute daran war, dass keiner mitgekriegt hat, wie ich seinen Eintopf aufgegessen hab.« Johanna reibt sich den vollen Bauch. Ich schaue auf ihre schwarzen Fingernägel und frage mich, ob sich die Leute in Distrikt 7 je richtig waschen.

Wir verbringen einige Stunden damit, uns gegenseitig militärische Fachausdrücke abzuhören. Dann gehe ich für eine Weile zu meiner Mutter und Prim hinüber. Als ich wieder in meiner Einheit bin, geduscht habe und in die Dunkelheit starre, frage ich schließlich: »Johanna, hast du wirklich gehört, wie er geschrien hat?«

»Das gehörte dazu«, sagt sie. »Wie die Schnattertölpel in der Arena. Nur dass es echt war. Und es hat nicht nach einer Stunde aufgehört. Tick, tack.«

»Tick, tack«, flüstere ich zurück.

Rosen. Wolfsmutationen. Tribute. Zuckergussdelfine. Freunde. Spotttölpel. Stylisten. Ich.

Heute Nacht schreit alles in meinen Träumen.

18

Mit aller Macht stürze ich mich ins Training. Ich sauge alles auf - Konditionstraining, Exerzieren, Waffenübungen, Vorträge über Taktik. Ich werde mit einer Handvoll Leute in eine eigene Gruppe eingeteilt, und das gibt mir Hoffnung, dass ich eine Kandidatin für den Kampfeinsatz bin. Die Soldaten nennen diese Gruppe den Block, aber in meinen Arm sind die Buchstaben S. N. tätowiert, das steht für »Simulierter Nahkampf«. Mitten in Distrikt 13 wurde ein künstlicher Häuserblock des Kapitols nachgebaut. Der Ausbilder teilt uns in Gruppen zu acht Personen ein, und wir versuchen Aufträge auszuführen - eine Stellung erobern, ein Zielobjekt zerstören, einen Unterschlupf suchen -, als müssten wir uns wirklich durchs Kapitol kämpfen. Das Ganze ist so aufgebaut, dass alles schiefgeht, was nur schiefgehen kann. Ein falscher Schritt löst eine Landmine aus, ein Scharfschütze taucht auf einem Dach auf, das Gewehr klemmt, das Weinen eines Kindes lockt uns in einen Hinterhalt, der Staffelführer - bei dieser Übung nur eine Stimme - wird von einem Minenwerfer getroffen, und wir müssen uns überlegen, was wir ohne Befehle machen. Wir wissen natürlich, dass wir nur so tun, als ob, und dass wir nicht wirklich getötet werden können. Wenn man eine Landmine auslöst, hört man die Explosion und dann muss man umfallen und sich tot stellen. Aber es fühlt sich doch ziemlich echt an - die feindlichen Soldaten in der Uniform der Friedenswächter, das Durcheinander nach einer Rauchbombe. Selbst mit Giftgas greifen sie uns an. Johanna und ich schaffen es als Einzige, rechtzeitig die Masken aufzusetzen. Der Rest unserer Gruppe ist zehn Minuten lang ohnmächtig. Und das angeblich harmlose Gas, von dem ich ein paar Züge eingeatmet habe, beschert mir für den Rest des Tages hartnäckige Kopfschmerzen.

Cressida und ihr Team filmen Johanna und mich auf dem Schießplatz. Auch Gale und Finnick werden gefilmt. Das gehört zu einer neuen Serie von Propos, in der gezeigt wird, wie die Rebellen sich auf den Einmarsch ins Kapitol vorbereiten. Im Großen und Ganzen läuft alles recht gut.

Da taucht Peeta plötzlich bei unserem morgendlichen Training auf. Die Handschellen sind ab, aber noch immer wird er auf Schritt und Tritt von zwei Wärtern begleitet. Nach dem Mittagessen sehe ich ihn weiter hinten auf dem Platz, wie er mit einer Gruppe von Anfängern exerziert. Ich weiß nicht, was die sich denken. Wenn ein Streit mit Delly schon dazu führt, dass er mit sich selbst redet - wieso bringen die ihm dann bei, wie man ein Gewehr zusammensetzt?

Als ich Plutarch darauf anspreche, versichert er mir, das sei nur für die Kamera. Sie haben Bildmaterial von Annies Hochzeit und von Johanna, wie sie mit dem Gewehr auf Ziele schießt, aber ganz Panem fragt sich, was mit Peeta ist. Sie sollen sehen, dass er für die Rebellen kämpft, nicht für Snow. Und wenn sie vielleicht ein paar Aufnahmen von uns beiden bekommen könnten … Wir müssen uns ja nicht unbedingt küssen, aber man sollte uns ansehen, dass wir froh sind, gemeinsam wieder da zu sein …

In diesem Moment breche ich das Gespräch ab. Dazu wird es nicht kommen.

Wenn ich einmal Leerlauf habe, was selten vorkommt, beobachte ich gespannt die Vorbereitungen für den Einmarsch. Ausrüstungen und Proviant werden vorbereitet und Divisionen zusammengestellt. Alle, die für einen Auftrag eingeteilt werden, bekommen einen ganz kurzen Haarschnitt verpasst, das Zeichen, dass man in die Schlacht zieht. Es wird viel über die Eröffnungsoffensive gesprochen, die darauf abzielt, die Eisenbahntunnel hinauf ins Kapitol zu sichern.

Nur wenige Tage bevor die ersten Truppen ausrücken sollen, teilt York Johanna und mir überraschend mit, dass sie uns für die Prüfung empfohlen hat und dass wir uns sofort melden sollen. Die Prüfung besteht aus vier Teilen: einem Hindernisparcours zum Feststellen der Kondition, einem schriftlichen Test über Taktik, einem Test in Waffenbeherrschung und einer simulierten Kampfsituation im Block. Bei Teil eins bis drei habe ich nicht mal Zeit, nervös zu werden, und bestehe alles gut. Im Block gibt es dann so etwas wie einen Rückstau, weil erst ein technischer Defekt behoben werden muss. Wir tauschen Informationen aus. Es scheint so zu sein, dass man allein hindurch muss. Keiner weiß, was uns erwartet. Ein Junge sagt leise, er habe gehört, die Prüfung ziele auf die persönlichen Schwächen jedes Einzelnen ab.

Meine Schwächen? Das ist eine Tür, an der ich nicht rütteln möchte. Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen und liste meine Schwächen auf. Die Liste ist deprimierend lang. Zu wenig Körperkraft. Kaum Training. Und meine herausragende Stellung als Spotttölpel ist auch nicht gerade von Vorteil in einer Situation, in der sie versuchen, ein eingeschworenes Team aus uns zu machen. Sie könnten mich mit allem Möglichen schikanieren.

Johanna wird drei vor mir aufgerufen und ich nicke ihr ermutigend zu. Ich hätte lieber ganz oben auf der Liste gestanden, denn jetzt habe ich noch mehr Zeit, um alles zu überdenken. Als ich an der Reihe bin, weiß ich nicht, was für eine Strategie ich wählen soll. Zum Glück macht sich, sobald ich im Block bin, das Training doch bemerkbar. Ich habe es mit einem Hinterhalt zu tun. Fast sofort tauchen die Friedenswächter auf, und ich muss mich zu einem Treffpunkt begeben, wo ich mich mit meiner versprengten Truppe versammeln soll. Langsam schleiche ich durch die Straße und strecke unterwegs Friedenswächter nieder. Zwei vom Dach zu meiner Linken, einen im Eingang vor mir. Es ist anspruchsvoll, aber nicht so schwer wie erwartet. Mich beschleicht das nagende Gefühl, dass es zu einfach ist, dass da noch etwas kommt. Ich bin nur noch wenige Häuser von meinem Ziel entfernt, als sich die Lage zuspitzt. Ein halbes Dutzend Friedenswächter kommt angriffsbereit um die Ecke. Sie sind mir waffenmäßig überlegen, aber da bemerke ich etwas. Ein Fass Benzin, das nachlässig im Graben liegt. Das ist es. Meine Prüfung. Ich soll kapieren, dass ich meinen Auftrag nur erfüllen kann, wenn ich das Fass in die Luft sprenge. Gerade als ich loslegen will, höre ich die leise Stimme meines Staffelführers, der bis jetzt nicht viel zustande gebracht hat. Er befiehlt mir, mich auf den Boden zu werfen. Alles in mir schreit danach, die Stimme zu ignorieren, auf den Abzug zu drücken und die Friedenswächter in die Luft zu jagen. Und auf einmal wird mir klar, was nach Ansicht der Armee meine größte Schwäche ist. Vom ersten Augenblick in den Spielen an, als ich auf den orangefarbenen Rucksack zugestürmt bin, über das Feuergefecht in Distrikt 8 bis zu meinem unbesonnenen Spurt über den Platz in Distrikt 2. Ich kann keine Befehle befolgen.

Ich werfe mich so schnell und heftig auf den Boden, dass ich mir noch eine Woche lang Steinchen aus dem Kinn pulen werde. Ein anderer sprengt das Benzinfass. Die Friedenswächter sterben. Ich erreiche den Treffpunkt. Als ich den Block auf der anderen Seite verlasse, beglückwünscht mich ein Soldat, stempelt mir die Gruppennummer 451 auf die Hand und sagt, ich solle mich in der Kommandozentrale melden. Berauscht von meinem Erfolg, renne ich durch die Flure, schlittere um die Ecken und hüpfe die Treppe hinunter, weil mir der Aufzug zu langsam ist. Ich platze in den Raum, als mir bewusst wird, wie komisch die Situation ist. Ich dürfte gar nicht in der Kommandozentrale sein, ich müsste jetzt eigentlich die Haare geschoren bekommen. Die Leute hier sind keine frischgebackenen Soldaten, sondern die, die das Sagen haben.

Boggs lächelt und schüttelt den Kopf, als er mich sieht. »Zeig mal.« Plötzlich unsicher, zeige ich ihm meine Hand mit der Nummer. »Du bist mir zugeteilt. Scharfschützen-Spezialeinheit. Geh zu deiner Gruppe.« Er macht eine Kopfbewegung zu den Leuten, die sich in einer Reihe an der Wand aufgestellt haben. Gale. Finnick. Fünf andere, die ich nicht kenne. Meine Gruppe. Ich bin nicht nur dabei, ich darf sogar unter Boggs arbeiten. Mit meinen Freunden. Am liebsten würde ich vor Freude hüpfen, doch ich zwinge mich, mit ruhigen, soldatischen Schritten zu den anderen zu gehen.

Wir scheinen wichtig zu sein, denn wir sind in der Kommandozentrale, und das nicht, weil ein gewisser Spotttölpel dabei ist. Plutarch beugt sich über den Tisch, auf dem eine breite Tafel liegt. Er erzählt etwas über die Probleme, auf die wir im Kapitol stoßen werden. Gerade denke ich, was für ein miserabler Vortrag das ist, weil ich selbst auf Zehenspitzen nicht erkennen kann, was auf der Tafel steht, als er einen Knopf drückt. Das Hologramm eines Straßenabschnitts im Kapitol ersteht vor uns.

»Hier sehen wir beispielsweise die Umgebung einer Baracke der Friedenswächter. Nicht uninteressant, allerdings sicher kein zentrales Ziel. Doch seht einmal hier.«

Auf einer Tastatur gibt Plutarch eine Art Code ein und Lichter fangen an zu blinken. Sie blinken unterschiedlich schnell und in verschiedenen Farben. »Jedes dieser Lichter bezeichnet eine Kapsel. Die Kapseln stehen für unterschiedliche Hindernisse, von einer Bombe bis zu einer Meute Mutationen ist alles denkbar. Ihr dürft keinen Fehler machen, sonst geht ihr in die Falle oder werdet getötet. Einige Kapseln existieren schon seit den Dunklen Tagen, andere wurden im Laufe der Jahre entwickelt. Offen gestanden, habe ich selbst eine beträchtliche Anzahl geschaffen. Dieses Programm, das sich einer von uns unter den Nagel gerissen hat, als wir das Kapitol verließen, ist unsere aktuellste Information. Sie wissen nicht, dass wir es haben. Es ist aber wahrscheinlich, dass in den letzten Monaten neue Kapseln aktiviert worden sind. Damit müsst ihr rechnen.«

Ich merke gar nicht, wie ich mich auf den Tisch zubewege, bis ich nur noch wenige Zentimeter von dem Hologramm entfernt bin. Ich strecke die Hand aus und lege sie auf ein schnell blinkendes grünes Licht.

Jemand kommt zu mir, er steht unter Hochspannung. Finnick natürlich. Denn nur ein Sieger kann sehen, was ich sofort erfasst habe. Die Arena. Übersät mit Kapseln, die von den Spielmachern gesteuert werden. Finnick liebkost mit den Fingern ein rotes Lämpchen über einem Eingang. »Meine Damen und Herren …«

Seine Stimme ist leise, doch meine schallt durch den Raum: »… mögen die sechsundsiebzigsten Hungerspiele beginnen!«

Ich lache. Schnell. Bevor jemand Zeit hat zu begreifen, was hinter diesen Worten steckt. Bevor Augenbrauen hochgezogen werden, Widerspruch geäußert, eins und eins zusammengezählt wird und alle zu dem Schluss kommen, dass man mich möglichst nicht in die Nähe des Kapitols lassen sollte. Denn ein wütender, eigenständig denkender Sieger mit einer so harten, undurchdringlichen Schale ist wohl das Letzte, was man in seiner Gruppe haben will.

»Die Mühe, Finnick und mich zu trainieren, hätten Sie sich sparen können, Plutarch«, sage ich.

»Wir sind doch schon die beiden bestausgerüsteten Soldaten, die ihr habt«, fügt Finnick großspurig hinzu.

»Als ob mir das entgangen wäre«, sagt Plutarch mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Jetzt marsch, zurück ins Glied, Soldaten Odair und Everdeen! Ich möchte meinen Vortrag beenden.«

Wir begeben uns wieder auf unsere Plätze und achten nicht auf die fragenden Blicke der anderen. Ich gebe mich sehr konzentriert, als Plutarch weiterspricht, lege den Kopf schräg, ändere die Haltung, um besser sehen zu können, und sage mir die ganze Zeit, dass ich durchhalten muss, bis ich in den Wald laufen und schreien kann. Oder fluchen. Oder heulen. Vielleicht auch alles zugleich.

Falls das ein Test war, haben Finnick und ich ihn beide bestanden. Als Plutarch fertig ist und die Versammlung für geschlossen erklärt, erfahre ich zu meinem Schrecken, dass ein Sonderbefehl auf mich wartet. Doch es geht nur darum, dass ich von dem Militärhaarschnitt ausgenommen bin. Der Spotttölpel soll bei der Kapitulation des Kapitols möglichst so aussehen wie das Mädchen in der Arena. Für die Kameras natürlich. Ich zucke die Achseln, zum Zeichen, dass nichts mir gleichgültiger ist als die Länge meiner Haare. Ohne weiteren Kommentar werde ich entlassen.

Im Flur laufe ich Finnick in die Arme. »Was soll ich bloß Annie erzählen?«, sagt er leise.

»Nichts«, antworte ich. »Dasselbe, was meine Mutter und meine Schwester von mir erfahren werden.« Schlimm genug zu wissen, dass wir wieder in eine richtige Arena zurückmüssen. Es ist sinnlos, unsere Liebsten damit zu belasten.

»Wenn sie das Hologramm sieht …«, setzt er an.

»Wird sie aber nicht. Ist doch Geheimsache. Muss es sein«, sage ich. »Außerdem ist es ja nicht genau das Gleiche wie die Spiele. Es können mehrere überleben. Wir reagieren nur deshalb so heftig, weil … na ja, du weißt schon, warum. Du gehst aber trotzdem, oder?«

»Klar. Ich will Snow genauso fertigmachen wie du.«

»Es wird nicht so sein wie bei den anderen Spielen«, sage ich entschieden, denn ich will mich selbst überzeugen. Dann dämmert mir der eigentliche Reiz der Situation. »Diesmal spielt auch Snow mit.«

Bevor wir noch etwas sagen können, taucht Haymitch auf. Er war nicht auf der Versammlung, er hat andere Sorgen. »Johanna ist wieder auf der Station.«

Ich hatte gedacht, Johanna hätte wie ich ihre Prüfung bestanden und wäre nur nicht den Scharfschützen zugeteilt worden. Ihre Stärke ist das Axtschleudern, mit dem Gewehr dagegen ist sie nur durchschnittlich. »Wieso, was ist los? Hat sie sich verletzt?«

»Es ist im Block passiert. Ihr wisst ja, dort versuchen sie, die Schwächen eines Soldaten herauszukitzeln. Bei ihr haben sie die Straße geflutet«, sagt Haymitch.

Das verstehe ich nicht. Johanna kann doch schwimmen. Jedenfalls meine ich mich daran zu erinnern, dass sie beim Jubel-Jubiläum ein bisschen geschwommen ist. Natürlich nicht wie Finnick, aber mit ihm kann sich keiner von uns messen. »Na und?«

»So wurde sie im Kapitol gefoltert. Sie haben sie nass gemacht und dann mit Elektroschocks gequält«, sagt Haymitch. »Und im Block hatte sie dann eine Art Dejá-vu. Vor lauter Panik wusste sie nicht mehr, wo sie war. Sie bekommt jetzt wieder Beruhigungsmittel.« Finnick und ich stehen nur da, es hat uns die Sprache verschlagen. Jetzt fällt mir ein, dass Johanna nie duscht. Und wie sie sich einmal bei den Übungen zwingen musste, hinaus in den Regen zu gehen, als käme nicht Wasser, sondern Säure vom Himmel. Und ich hatte das auf den Morfix-Entzug geschoben.

»Es wäre gut, wenn ihr beide sie besuchen würdet«, sagt Haymitch. »Wenn sie überhaupt so etwas wie Freunde hat, dann euch zwei.«

Was für eine schreckliche Vorstellung. Ich weiß ja nicht, was für ein Verhältnis Finnick zu Johanna hat. Ich jedenfalls kenne sie kaum. Keine Verwandten. Keine Freunde. Nicht mal ein Andenken aus 7, das sie zu der Einheitskleidung in ihre anonyme Schublade legen könnte. Nichts.

»Ich geh mal lieber gleich zu Plutarch und erzähle es ihm«, sagt Haymitch. »Das wird ihm gar nicht gefallen. Er möchte für die Kameras möglichst viele Sieger im Kapitol haben. Das macht sich im Fernsehen besser, meint er.«

»Kommst du auch mit, und Beetee?«, frage ich.

»Möglichst viele junge, attraktive Sieger«, verbessert sich Haymitch. »Soll heißen: Nein, wir bleiben hier.«

Finnick marschiert sofort hinunter zu Johanna, während ich noch ein paar Minuten draußen herumstehe und auf Boggs warte. Ich unterstehe jetzt seinem Kommando, also muss ich mich wohl an ihn wenden, wenn ich irgendwelche Extrawünsche habe. Als ich ihm erzähle, was ich vorhabe, stellt er mir eine Ausgangserlaubnis aus, mit der ich während der Besinnungsstunde in den Wald darf, vorausgesetzt, dass ich in Sichtweite der Wachen bleibe. Schnell laufe ich in meine Wohneinheit, überlege, ob ich den Fallschirm mitnehmen soll, aber es hängen zu viele schreckliche Erinnerungen daran. Stattdessen gehe ich über den Flur und nehme eine der großen weißen Kompressen, die ich aus 12 mitgebracht habe. Quadratisch, reißfest, genau das, was ich brauche.

Im Wald suche ich eine Kiefer und streife mehrere Handvoll Nadeln von den Zweigen. Nachdem ich einen ordentlichen Haufen auf der Kompresse gesammelt habe, hebe ich sie an den Seiten hoch, verdrehe die Ecken miteinander und binde sie mit einer Ranke zusammen, sodass ich ein apfelgroßes Bündel habe.

An der Tür des Krankenzimmers bleibe ich einen Augenblick in der Tür stehen und betrachte Johanna. Mir wird bewusst, dass sie hauptsächlich durch ihre schroffe Art so aggressiv wirkt. Dahinter verbirgt sich eine zerbrechliche junge Frau, die mit weit aufgerissenen Augen gegen die betäubende Wirkung der Medikamente kämpft. Voller Angst davor, was der Schlaf bringen könnte. Ich gehe zu ihr und reiche ihr das Bündel.

»Was ist das?«, fragt sie heiser. Ihre Haare sind feucht und stehen über der Stirn wie Stacheln ab.

»Das hab ich für dich gemacht. Etwas, das du in deine Schublade legen kannst.« Ich lege es ihr in die Hände. »Riech mal.«

Sie hält das Bündel an die Nase und schnuppert vorsichtig. »Riecht nach zu Hause.« Tränen steigen ihr in die Augen.

»Das hatte ich gehofft. Wo du doch aus 7 stammst«, sage ich. »Weißt du noch, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben? Da warst du ein Baum. Jedenfalls für kurze Zeit.«

Plötzlich packt sie mit eisernem Griff mein Handgelenk. »Katniss, du musst ihn töten.«

»Keine Sorge.« Ich widerstehe dem Impuls, mich zu befreien.

»Schwör es. Bei etwas, das dir wichtig ist«, sagt sie.

»Ich schwöre es. Bei meinem Leben.« Doch sie lässt meinen Arm nicht los.

»Beim Leben deiner Familie«, verlangt sie.

»Beim Leben meiner Familie«, sage ich. Von meinem Überlebenswillen ist sie wohl nicht richtig überzeugt. Jetzt lässt sie mich los und ich reibe mir das Handgelenk. »Was glaubst du denn, weshalb ich da unbedingt hinwill, du Dummchen?«

Da lächelt sie sogar ein bisschen. »Ich musste es einfach hören.« Sie drückt sich das Bündel mit Kiefernnadeln an die Nase und schließt die Augen.

Die restlichen Tage vergehen wie im Flug. Nach einem kurzen morgendlichen Aufwärmprogramm verbringe ich den ganzen Tag mit meiner Gruppe auf dem Schießplatz. Meistens übe ich mit dem Gewehr, doch eine Stunde am Tag ist für das Training mit den Spezialwaffen vorgesehen. Das heißt, ich kann mit meinem Spotttölpelbogen üben und Gale mit seinem schweren, für militärische Zwecke umfunktionierten Bogen. Der Dreizack, den Beetee für Finnick entwickelt hat, besitzt zahlreiche Sonderfunktionen, aber das Beste ist, dass Finnick ihn werfen und wieder zurückholen kann, indem er auf einen Knopf an einer Metallmanschette drückt, die er am Handgelenk trägt.

Manchmal schießen wir auf Friedenswächter-Puppen, um uns mit den Schwächen ihrer Schutzausrüstung vertraut zu machen. Mit den wunden Punkten sozusagen. Trifft man ungeschützte Haut, spritzt das unechte Blut nur so. Unsere Puppen sind rot getränkt.

Es ist beruhigend zu sehen, wie treffsicher alle aus unserer Gruppe sind. Außer Finnick und Gale gehören noch fünf Soldaten aus 13 dazu. Jackson, eine Frau mittleren Alters und Boggs’ Stellvertreterin, wirkt etwas schwerfällig, trifft jedoch Ziele, die wir anderen ohne Zielfernrohr nicht einmal sehen. Sie ist weitsichtig, wie sie sagt. Dann sind da die Schwestern Leeg, beide in den Zwanzigern, die wir Leeg 1 und Leeg 2 nennen. In Uniform sehen sie sich so ähnlich, dass ich sie nicht auseinanderhalten kann, bis mir auffällt, dass Leeg 1 eigenartige gelbe Flecken in den Augen hat. Zwei ältere Männer, Mitchell und Homes, reden nicht viel, können einem jedoch aus fünfzig Metern Entfernung den Staub von den Schuhen schießen. Ich sehe andere Gruppen, die auch ziemlich gut sind, und verstehe nicht ganz, warum wir einen Sonderstatus haben. Bis zu dem Morgen, an dem Plutarch zu uns kommt.

»Gruppe vier-fünf-eins, ihr seid für einen Sonderauftrag ausgewählt worden«, sagt er. Ich beiße mir auf die Lippe, in der verrückten Hoffnung, dass es der Auftrag ist, Snow zu töten. »Wir haben jede Menge Scharfschützen, Kamerateams dagegen sind recht knapp. Deshalb haben wir euch acht dazu auserkoren, unser Star-Trupp zu sein. Ihr werdet die Gesichter auf dem Bildschirm sein, die den Einmarsch begleiten.«

Enttäuschung, Schock und schließlich Wut machen sich in der Gruppe breit. »Soll das heißen, dass wir am eigentlichen Kampf gar nicht beteiligt sind?«, fragt Gale schroff.

»Ihr werdet kämpfen, aber vielleicht nicht immer an vorderster Front. Falls man bei einem solchen Krieg überhaupt eine Front ausmachen kann«, sagt Plutarch.

»Das will keiner von uns.« Auf Finnicks Bemerkung folgt zustimmendes Gemurmel, nur ich bleibe still. »Wir werden kämpfen.«

»Ihr werdet der Sache auf bestmögliche Weise dienen«, sagt Plutarch. »Und es ist entschieden worden, dass ihr uns im Fernsehen am meisten nützt. Denkt daran, was für eine Wirkung Katniss hatte, als sie in ihrem Spotttölpelkostüm herumlief. Das hat der Rebellion überhaupt erst den richtigen Dreh gegeben. Merkt ihr, dass sie die Einzige ist, die sich nicht beschwert? Weil sie nämlich die Macht der Bildschirme begreift.«

In Wirklichkeit beschwert Katniss sich nicht, weil sie nicht vorhat, beim »Star-Trupp« zu bleiben, jedoch erkannt hat, dass sie erst mal ins Kapitol muss, bevor sie irgendeinen anderen Plan verfolgen kann. Doch wenn ich jetzt zu nachgiebig bin, könnte das auch verdächtig sein.

»Aber wir tun nicht nur so, als ob, oder?«, frage ich. »Das war echte Talentverschwendung.«

»Keine Sorge«, sagt Plutarch. »Es wird genügend echte Ziele geben, auf die ihr schießen könnt. Aber lasst euch nicht in die Luft jagen. Ich habe genug um die Ohren, auch ohne euch ersetzen zu müssen. Jetzt ab ins Kapitol, und zeigt, was ihr könnt!«

An dem Morgen, als wir ausrücken, verabschiede ich mich von meiner Familie. Zwar erzähle ich nicht, wie sehr die Abwehr des Kapitols an die Waffen in der Arena erinnert, aber allein dass ich in den Krieg ziehe, ist schrecklich genug. Meine Mutter hält mich lange Zeit ganz fest. Ich spüre die Tränen auf ihrer Wange; als ich damals in die Spiele ziehen musste, hat sie sie zurückgehalten. »Mach dir keine Sorgen. Mir kann gar nichts passieren. Ich bin ja noch nicht mal ein richtiger Soldat. Nur eine von Plutarchs Fernsehmarionetten«, beruhige ich sie.

Prim bringt mich bis zur Tür der Krankenstation. »Wie geht es dir?«

»Besser, jetzt, wo du hier bist und Snow dir nichts anhaben kann«, sage ich.

»Wenn wir uns das nächste Mal sehen, sind wir von ihm befreit«, sagt Prim entschlossen. Dann schlingt sie mir die Arme um den Hals. »Pass auf dich auf.«

Ich überlege, ob ich mich noch von Peeta verabschieden soll, komme aber zu dem Schluss, dass es uns beiden nicht guttun würde. Dafür stecke ich die Perle in die Tasche meiner Uniform. Ein Andenken an den Jungen mit dem Brot.

Ein Hovercraft bringt uns ausgerechnet nach Distrikt 12, wo ein provisorischer Verladebahnhof außerhalb des Kampfgebiets errichtet wurde. Diesmal keine Luxuszüge, sondern ein Güterwaggon, rappelvoll mit dunkelgrau uniformierten Soldaten, die mit dem Kopf auf ihren Rucksäcken schlafen. Nach mehreren Reisetagen steigen wir in einem der Tunnel aus, die durch die Berge zum Kapitol führen, und marschieren dann noch sechs Stunden zu Fuß, wobei wir darauf achten, immer auf der grünen Leuchtlinie entlangzugehen, die den sicheren Weg nach oben kennzeichnet.

Wir kommen am Feldlager der Rebellen heraus, das sich über zehn Straßenabschnitte vor dem Bahnhof erstreckt, an dem Peeta und ich auch früher schon angekommen sind. Dort wimmelt es schon von Soldaten. Unserer Gruppe wird eine Stelle zugewiesen, wo wir unsere Zelte aufschlagen können. Schon seit über einer Woche halten die Rebellen dieses Areal. Sie haben die Friedenswächter vertrieben, was Hunderte Menschenleben gekostet hat. Die Truppen des Kapitols haben sich zurückgezogen und weiter im Zentrum der Stadt neu formiert. Zwischen uns liegen, leer und einladend, die Straßen mit den versteckten Sprengladungen. Bevor wir weiter vorrücken können, werden wir erst mal alle Kapseln vernichten müssen.

Mitchell fragt nach Hoverplane-Bombardements, denn wir fühlen uns ziemlich nackt hier auf offenem Feld, aber Boggs sagt, damit sei nicht zu rechnen. Die Luftflotte des Kapitols hier und in Distrikt 2 wurde bei dem Einmarsch größtenteils zerstört. Wenn sie überhaupt noch Hoverplanes haben, werden sie nicht riskieren, dass sie abgeschossen werden. Sie brauchen sie, damit Snow und seine Vertrauten notfalls im letzten Moment in einen Präsidentenbunker flüchten können. Unsere eigenen Hoverplanes wurden nicht mehr eingesetzt, nachdem die Luftabwehr des Kapitols die ersten Angriffswellen stark dezimiert hatte. Dieser Krieg wird auf der Straße geführt werden, er wird hoffentlich nur oberflächlichen Schaden an Verkehrswegen und Gebäuden anrichten und nicht allzu viele Menschenleben fordern. Die Rebellen wollen das Kapitol, so wie das Kapitol seinerzeit Distrikt 13 wollte.

Nach drei Tagen laufen wir in Gruppe 451 Gefahr, vor Langeweile zu desertieren. Cressida und ihr Team filmen uns beim Schießen. Wir gehörten zum Desinformationsteam, erzählen sie uns. Würden die Rebellen Plutarchs Kapseln gezielt abschießen, würde das Kapitol schon nach zwei Minuten merken, dass wir das Hologramm haben. Wir verbringen also viel Zeit damit, Unwichtiges zu zerstören, um sie abzulenken. Hauptsächlich schießen wir Regenbogenglas von den bonbonfarbenen Gebäudefassaden herab. Ich habe den Verdacht, dass sie diese Bilder mit der Zerstörung bedeutender Ziele im Kapitol zusammenschneiden. Ab und zu ist dann doch mal ein richtiger Scharfschütze gefragt. Acht Hände fahren hoch, aber nie fällt die Wahl auf Gale, Finnick oder mich.

»Selber schuld, warum hast du auch so ein Kameragesicht«, sage ich zu Gale. Wenn Blicke töten könnten.

Ich glaube, die wissen nicht so recht, was sie mit uns dreien anfangen sollen, speziell mit mir. Ich habe mein Spotttölpelkostüm dabei, aber bisher haben sie mich nur in Uniform gefilmt. Manchmal schieße ich mit dem Gewehr, manchmal bitten sie mich, Pfeil und Bogen zu benutzen. Es kommt mir so vor, als wollten sie ihren Spotttölpel nicht ganz verlieren, meine Rolle jedoch auf die eines Infanteristen reduzieren. Da es mir egal ist, finde ich es eher amüsant, mir die Diskussionen vorzustellen, die in Distrikt 13 darüber geführt werden.

Während ich mich lauthals beklage, weil wir keine richtigen Einsätze haben, bin ich insgeheim mit meinen eigenen Plänen beschäftigt. Jeder von uns hat einen Stadtplan vom Kapitol bekommen. Die Stadt bildet ein fast vollkommenes Quadrat. Der Plan ist durch Linien in ein Gitternetz aus kleineren Quadraten unterteilt, mit Buchstaben am oberen Rand und Zahlen am linken Seitenrand. Ich schaue es mir ganz genau an, präge mir jede Kreuzung und jede Seitenstraße ein, aber das ist läppisch im Vergleich zu dem, was die Kommandanten machen. Sie arbeiten Plutarchs Hologramm ab. Jeder von ihnen hat einen Handapparat, Holo genannt, der Bilder produziert, wie wir sie in der Kommandozentrale gesehen haben. Sie können jede Stelle in dem Netz heranzoomen und sehen, was für Kapseln dort auf sie warten. Das Holo ist ein rechnerunabhängiges Gerät, eigentlich nur ein besserer Stadtplan, denn es kann weder Signale senden noch empfangen. Aber meiner Papierversion ist es doch haushoch überlegen.

Das Holo wird eingeschaltet, indem ein bestimmter Kommandant seinen Namen nennt. Einmal in Betrieb genommen, reagiert es auch auf die anderen Stimmen in der Truppe. Wenn Boggs also zum Beispiel getötet oder außer Gefecht gesetzt würde, könnte jemand sein Holo übernehmen. Sagt einer aus der Gruppe dreimal hintereinander das Wort Nachtriegel, explodiert das Holo und jagt alles im Umkreis von fünf Metern in die Luft. Das ist eine Sicherheitsmaßnahme für den Fall, dass wir besiegt werden. Es versteht sich von selbst, dass wir sie alle ohne Zögern anwenden würden.

Ich brauche also nur Boggs’ Holo zu klauen, wenn es eingeschaltet ist, und damit zu verschwinden, ehe er es merkt. Aber wahrscheinlich wäre es einfacher, ihm die Zähne zu klauen.

Am vierten Morgen trifft Soldat Leeg 2 eine falsch markierte Kapsel. Sie setzt keinen Schwarm mutierter Mücken frei, worauf die Rebellen vorbereitet sind, sondern lässt einen Pfeilregen niedergehen. Einer der Pfeile trifft Leeg 2 in den Kopf. Noch ehe die Ärzte bei ihr sind, ist sie tot. Plutarch verspricht schnellen Ersatz.

Am nächsten Abend trifft das neue Mitglied unserer Gruppe ein. Ohne Handfesseln und ohne Wärter. Kommt aus dem Bahnhof geschlendert, sein Gewehr schlenkert an dem Gurt, den er über der Schulter trägt. Wir reagieren mit einer Mischung aus Schock, Verwirrung, Abwehr, aber auf Peetas Handrücken prangt ein frischer Stempelaufdruck mit der Nummer 451. Boggs nimmt ihm die Waffe ab und geht telefonieren.

»Das wird nichts ändern«, sagt Peeta zu uns. »Coin selbst hat mich euch zugeteilt. Sie findet, die Propos müssten ein bisschen aufgepeppt werden.«

Das mag schon sein. Doch wenn Coin Peeta hergeschickt hat, dann findet sie auch noch etwas anderes. Dass ich ihr tot mehr nütze als lebendig.

Teil 3

Das Attentat


19

Ich habe Boggs noch nie wütend gesehen. Nicht, als ich seine Befehle missachtet, nicht, als ich ihn voll gekotzt habe. Nicht einmal, als Gale ihm die Nase gebrochen hat. Aber als er von dem Telefongespräch mit Coin zurückkommt, ist er wütend. Als Erstes weist er seine Stellvertreterin Jackson an, zwei Leute abzustellen, die rund um die Uhr auf Peeta aufpassen. Dann nimmt er mich mit auf einen Spaziergang. Wir gehen im Zickzack um die Zelte unseres Lagers herum, bis wir weit genug von der Gruppe entfernt sind.

»Er wird so oder so versuchen, mich zu töten«, sage ich. »Gerade hier. Wo es so viele schlimme Erinnerungen gibt, die etwas in ihm auslösen können.«

»Ich werde ihn in Schach halten, Katniss«, sagt Boggs. »Wieso will Coin auf einmal meinen Tod?«, frage ich. »Sie bestreitet das«, sagt er.

»Aber wir beide wissen, dass es so ist«, sage ich. »Zumindest eine Theorie haben Sie doch, oder?«

Boggs sieht mich lange und fest an, ehe er antwortet. »Ich sag dir, was ich weiß. Coin kann dich nicht leiden. Von Anfang an nicht. Sie wollte, dass Peeta aus der Arena gerettet wird, aber niemand war ihrer Meinung. Als du sie gezwungen hast, den anderen Siegern die Straffreiheit zuzusichern, hat das alles nur noch schlimmer gemacht. Aber selbst das wäre angesichts deiner tollen Auftritte zu vernachlässigen.«

»Was ist es dann?«, frage ich.

»Irgendwann in naher Zukunft wird der Krieg zu Ende sein. Und dann wählen wir ein neues Oberhaupt«, sagt Boggs.

Ich verdrehe die Augen. »Boggs, es glaubt ja wohl niemand, dass ich das sein werde.«

»Stimmt«, sagt er. »Aber du wirst einen Kandidaten unterstützen. Wäre das Präsidentin Coin? Oder jemand anders?«

»Ich weiß nicht. Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht«, sage ich.

»Wenn du nicht spontan Coin sagen kannst, bist du eine Bedrohung. Du bist das Gesicht der Rebellion. Möglicherweise hast du mehr Einfluss als jeder andere«, sagt Boggs. »Nach außen hin hast du Coin bisher allenfalls toleriert, mehr nicht.«

»Also will sie mich umbringen, um mich mundtot zu machen.« Kaum habe ich es ausgesprochen, weiß ich auch schon, dass es sich genau so verhält.

»Sie braucht dich jetzt nicht mehr als zentrale Figur der Bewegung. Deine vorrangige Aufgabe, die Distrikte zu einen, ist erfüllt, das hat sie ja gesagt«, erinnert Boggs mich. »Die Propos, die zurzeit gedreht werden, würden auch ohne dich über die Bühne gehen. Du kannst nur noch eins tun, um die Rebellion neu anzufachen.«

»Sterben«, sage ich ruhig.

»Ja. Uns einen Märtyrer geben, für den wir kämpfen können«, sagt Boggs. »Aber solange ich etwas zu sagen habe, wird das nicht passieren, Soldat Everdeen. Ich habe ein langes Leben für dich geplant.«

Wer so denkt, handelt sich nur Schwierigkeiten ein. »Warum? Sie sind mir doch nichts schuldig.«

»Du hast es verdient«, sagt er. »Und jetzt geh wieder zu deiner Gruppe.«

Ich müsste es zu schätzen wissen, dass Boggs den Kopf für mich hinhält, aber ich bin nur frustriert. Wie soll ich ihm jetzt das Holo klauen und desertieren? Auch ohne seine persönliche Unterstützung fand ich es schwer genug, ihn zu hintergehen. Ich bin ihm ja schon zu Dank verpflichtet, weil er mir das Leben gerettet hat.

Als ich sehe, wie der, dem ich den ganzen Schlamassel zu verdanken habe, in aller Seelenruhe sein Zelt aufschlägt, werde ich wütend. »Um wie viel Uhr hab ich Wache?«, frage ich Jackson.

Sie schaut mich zweifelnd an, oder vielleicht kneift sie die Augen auch nur zusammen, um mich besser sehen zu können. »Ich hab dich nicht eingeteilt.«

»Wieso nicht?«, frage ich.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du Peeta wirklich erschießen könntest, wenn es nötig wäre«, sagt sie.

Ich spreche laut und deutlich, damit alle mich hören können. »Ich würde ja nicht Peeta erschießen. Den gibt es nicht mehr. Johanna hat recht. Ich würde nur eine Mutation des Kapitols erschießen.« Nach all den Demütigungen, die ich seit seiner Rückkehr erfahren habe, ist es ein gutes Gefühl, in aller Öffentlichkeit etwas Schreckliches über ihn zu sagen.

»Also, mit der Aussage empfiehlst du dich auch nicht gerade«, sagt Jackson.

»Teil sie für die Wache ein«, sagt Boggs hinter mir.

Jackson schüttelt den Kopf und notiert etwas. »Von Mitternacht bis vier. Mit mir zusammen.«

Der Pfiff zum Abendessen ertönt und Gale und ich stellen uns an der Feldküche auf. »Soll ich ihn umbringen?«, fragt er geradeheraus.

»Dann würden sie uns beide auf jeden Fall zurückschicken«, sage ich. Obwohl ich stinkwütend auf Peeta bin, erschreckt mich Gales Grausamkeit. »Ich werd schon mit ihm fertig.«

»So lange, bis du dich absetzt, meinst du? Mit deinem Stadtplan und einem Holo, falls du eins zu fassen kriegst?« Es ist Gale also nicht entgangen, was ich im Schilde führe. Hoffentlich ist es für die anderen nicht auch so offensichtlich. Aber niemand kennt meine Gedanken so wie er. »Du hast ja wohl nicht vor, ohne mich abzuhauen, oder?«, fragt er.

Bis jetzt hatte ich das vor. Doch es scheint mir nicht verkehrt, meinen Jagdgefährten als Deckung dabeizuhaben. »Als deine Kampfgefährtin muss ich dir dringend raten, bei deiner Gruppe zu bleiben. Aber zwingen kann ich dich nicht, oder?«

Er grinst. »Nein. Es sei denn, du willst, dass ich die ganze Armee alarmiere.«

Gruppe 451 und das Fernsehteam besorgen sich aus der Feldküche etwas zu essen und versammeln sich zum Abendbrot in einem engen Kreis. Erst denke ich, Peeta ist der Grund für das allgemeine Unbehagen, aber am Ende der Mahlzeit bemerke ich unfreundliche Blicke in meine Richtung. So schnell kann die Stimmung kippen. Als Peeta aufgetaucht ist, hat sich die ganze Mannschaft noch Sorgen gemacht, er könnte für uns alle eine Gefahr bedeuten, insbesondere für mich. Erst als ich einen Anruf von Haymitch bekomme, begreife ich.

»Was soll das? Willst du ihn dazu treiben, dass er angreift?«, fragt er.

»Quatsch. Ich will nur, dass er mich in Ruhe lässt«, sage ich.

»Das kann er aber nicht. Nicht nach dem, was das Kapitol ihm angetan hat«, sagt Haymitch. »Vielleicht hat Coin ihn wirklich in der Hoffnung hergeschickt, dass er dich umbringt. Aber Peeta weiß das nicht. Er begreift nicht, was ihm zugestoßen ist. Du kannst ihm nicht die Schuld in die Schuhe schieben …«

»Tu ich ja gar nicht!«, sage ich.

»Doch! Du bestrafst ihn immer wieder für etwas, das außerhalb seiner Macht liegt. Das heißt nicht, dass du nicht rund um die Uhr eine geladene Waffe griffbereit haben solltest. Aber stell dir die Situation einfach mal umgekehrt vor. Wenn du vom Kapitol festgehalten und eingewebt worden wärst und dann versucht hättest, Peeta umzubringen - würde er dich so behandeln wie du ihn jetzt?«, fragt Haymitch.

Darauf sage ich nichts. Auf keinen Fall würde er mich so behandeln. Er würde mit aller Macht versuchen, mich zurückzubekommen. Würde mich nicht ausschließen und im Stich lassen und mir nicht bei jeder Gelegenheit feindselig begegnen.

»Du und ich, wir hatten abgemacht, ihn zu retten. Weißt du noch?«, sagt Haymitch. Als ich nicht antworte, sagt er schroff: »Vergiss das nicht«, und unterbricht die Verbindung.

Der Herbsttag ist jetzt nicht mehr frisch, sondern kalt. Die meisten aus der Gruppe verkriechen sich in ihrem Schlafsack. Manche schlafen unter freiem Himmel, nah an dem Heizofen in der Mitte des Lagers, andere begeben sich in ihr Zelt. Leeg 1 ist über dem Tod ihrer Schwester schließlich zusammengebrochen, ihr gedämpftes Schluchzen dringt durch die Zeltwand. Ich kuschele mich in mein Zelt und denke über Haymitchs Worte nach. Begreife voller Scham, dass ich über der fixen Idee, Snow umzubringen, eine viel schwierigere Aufgabe übersehen habe: Peeta aus der Schattenwelt zu befreien, in die er eingewebt wurde. Ich weiß nicht, wie ich ihn dort finden, geschweige denn herausholen soll. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie man das anstellen könnte. Dagegen ist die Aufgabe, eine präparierte Arena zu durchqueren, Snow aufzuspüren und ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, das reinste Kinderspiel.

Um Mitternacht krieche ich aus dem Zelt und setze mich in der Nähe des Heizofens auf einen Feldstuhl, um mit Jackson Wache zu halten. Boggs hat Peeta befohlen, so zu schlafen, dass wir ihn alle im Blick haben. Doch er schläft nicht. Stattdessen sitzt er da, den Schlafsack bis zur Brust hochgezogen, und versucht ungeschickt, Knoten in ein kurzes Seil zu machen. Das Seil kenne ich nur zu gut, Finnick hat es mir in jener Nacht im Bunker geliehen. Es jetzt in Peetas Händen zu sehen, ist so, als würde Finnick dasselbe sagen wie Haymitch vorhin: dass ich Peeta im Stich lasse. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, um es wiedergutzumachen. Wenn ich nur wüsste, was ich sagen soll. Aber mir fällt nichts ein. Also sage ich nichts. Ich lausche nur dem Atem der Soldaten in der Nacht.

Nach etwa einer Stunde fängt Peeta an zu reden. »Die letzten beiden Jahre waren bestimmt anstrengend für dich. Immer wieder zu überlegen, ob du mich umbringen sollst oder nicht. Hin und her, hin und her.«

Das finde ich völlig ungerecht, und ich bin drauf und dran, eine bissige Antwort zu geben. Aber dann denke ich wieder an das Gespräch mit Haymitch und mache einen ersten vorsichtigen Schritt auf Peeta zu. »Ich wollte dich noch nie umbringen. Außer, als ich dachte, du willst den Karrieros dabei helfen, mich zu töten. Danach hab ich dich immer als … als Verbündeten betrachtet.« Das Wort ist schön ungefährlich. Es impliziert keine gefühlsmäßige Bindung, aber auch keine Bedrohung.

»Verbündete«, sagt Peeta langsam, als wollte er das Wort ausprobieren. »Freundin. Geliebte. Siegerin. Feindin. Verlobte. Zielscheibe. Mutation. Nachbarin. Jägerin. Tribut. Verbündete. Das kommt auf meine Liste von Wörtern, mit denen ich versuche, dich einzuordnen.« Immer wieder lässt er das Seil durch die Finger gleiten. »Das Problem ist, dass ich nicht mehr weiß, was wahr ist und was erfunden.«

Das Atmen um uns ist nicht mehr gleichmäßig, und das heißt, dass die Leute entweder aufgewacht sind oder gar nicht richtig geschlafen haben. Ich vermute Letzteres.

Aus einem Knäuel in der Dunkelheit ist Finnicks Stimme zu hören. »Dann solltest du fragen, Peeta. So macht Annie es auch.«

»Wen denn?«, sagt Peeta. »Wem kann ich trauen?«

»Na, uns zum Beispiel. Wir sind deine Truppe«, sagt Jackson.

»Ihr seid meine Bewacher«, sagt er.

»Das auch«, sagt sie. »Aber du hast in Distrikt 13 vielen das Leben gerettet. So etwas vergessen wir nicht.«

In dem Schweigen, das folgt, versuche ich mir vorzustellen, ich könnte Realität und Einbildung nicht auseinanderhalten. Wie es wäre, wenn ich nicht wüsste, ob Prim und meine Mutter mich lieben. Ob Snow mein Feind ist. Ob der Mensch am Heizofen mich gerettet oder geopfert hat. Im Nu verwandelt sich mein Leben in einen Albtraum. Auf einmal möchte ich Peeta in allen Einzelheiten erzählen, wer er ist und wer ich bin und wie wir hierhergekommen sind. Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Nutzlos. Ich bin nutzlos.

Um kurz vor vier wendet Peeta sich wieder an mich. »Deine Lieblingsfarbe … ist das Grün?«

»Ja.« Dann überlege ich, was ich noch sagen könnte. »Und deine ist Orange.«

»Orange?« Er wirkt nicht überzeugt.

»Kein knalliges Orange. Ein gedecktes Orange. So wie der Sonnenuntergang«, sage ich. »Das hast du mir jedenfalls mal erzählt.«

»Ach so.« Er schließt kurz die Augen, vielleicht versucht er einen Sonnenuntergang heraufzubeschwören, dann nickt er. »Danke.«

Dann purzeln noch mehr Wörter aus meinem Mund. »Du bist ein Maler. Du bist ein Bäcker. Du schläfst gern bei geöffnetem Fenster. Du trinkst deinen Tee ohne Zucker. Und du machst immer einen Doppelknoten in deine Schnürsenkel.«

Dann verschwinde ich in meinem Zelt, bevor ich womöglich noch anfange zu heulen oder so was Dummes.

Am Morgen ziehen Gale, Finnick und ich los, ein bisschen Glas von den Gebäuden schießen für die Kameras. Als wir zurück zu unserem Lager kommen, sitzt Peeta im Kreis mit den Soldaten aus 13, die zwar bewaffnet sind, aber offen mit ihm sprechen. Jackson hat ein Spiel erfunden, um Peeta zu helfen -»Wahr oder nicht wahr«. Er erwähnt etwas, wovon er glaubt, dass es seiner Meinung nach passiert ist, und sie sagen ihm, ob es wahr ist oder nur eingebildet, gefolgt von einer kurzen Erklärung.

»Die meisten Menschen aus Distrikt 12 sind in den Flammen umgekommen.«

»Wahr. Keine neunhundert konnten sich nach Distrikt 13 retten.«

»Ich war schuld an dem Feuer.«

»Nicht wahr. Präsident Snow hat Distrikt 12 zerstört, so wie er damals 13 zerstört hat, als Botschaft an die Rebellen.«

Ich finde die Idee gut, bis mir klar wird, dass ich diejenige bin, die das meiste bestätigen oder verneinen kann, was ihm auf der Seele liegt. Jackson teilt uns in Wachen ein. Sie ordnet Finnick, Gale und mich jeweils einem Soldaten aus 13 zu. So kann Peeta sich immer an jemanden wenden, der ihn besser kennt. Es wird nicht die ganze Zeit geredet. Peeta braucht lange, um selbst kleinste Informationen zu verarbeiten, zum Beispiel, wo die Leute zu Hause Seife gekauft haben. Gale erzählt ihm eine Menge über Distrikt 12, Finnick ist Experte, was die beiden Spiele angeht, bei denen Peeta dabei war, denn im ersten war er Mentor und im zweiten Tribut. Aber da sich Peetas größte Verwirrung um mich dreht - und nicht alles so einfach erklärt werden kann -, sind unsere Gespräche schmerzlich und belastet, obwohl wir nur oberflächliche Details berühren. Welche Farbe mein Kleid in Distrikt 7 hatte. Dass ich so gern Käsebrötchen esse. Wie unser Mathelehrer in der Schule hieß. Es ist quälend, seine Erinnerung an mich zu rekonstruieren. Vielleicht geht es ja auch gar nicht, nach allem, was Snow ihm angetan hat. Aber es fühlt sich richtig an, ihm bei dem Versuch zu helfen.

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages erfahren wir, dass die ganze Gruppe für einen etwas vertrackteren Propo gebraucht wird. In einem Punkt hat Peeta recht: Coin und Plutarch sind unzufrieden mit der Qualität des Bildmaterials, das sie vom Star-Trupp bekommen. Sie finden es öde und wenig originell. Als Folge müssen wir andauernd mit unseren Gewehren rummachen. Aber es geht ja nicht darum, dass wir uns verteidigen sollen, sondern dass wir ein brauchbares Produkt liefern. Heute ist ein ganzer Straßenzug für Filmaufnahmen abgesperrt worden. In dem Gebiet gibt es sogar zwei aktive Kapseln. Die eine löst ein Artilleriefeuer aus. Die andere fängt den Angreifer in einem Netz und hält ihn fest, entweder zum Verhör oder zur Hinrichtung, je nachdem, wie der Fänger es gern hätte. Aber es ist nur ein unwichtiges Wohnviertel, strategisch unbedeutend.

Das Fernsehteam will mit Rauchbomben und Schussgeräuschen die Spannung steigern. Wir alle, selbst die Fernsehleute, ziehen schwere Schutzausrüstung an und begeben uns mitten hinein ins Kampfgebiet. Wer Spezialwaffen besitzt, darf sie zusätzlich zum Gewehr mitnehmen. Boggs gibt auch Peeta sein Gewehr zurück, macht ihn aber für alle vernehmlich darauf aufmerksam, dass es nur mit Platzpatronen geladen ist.

Peeta zuckt bloß die Achseln. »Ich bin sowieso kein guter Schütze.« Er ist ganz damit beschäftigt, Pollux zu beobachten, so sehr, dass es ein wenig beunruhigend wird. Schließlich fällt ihm etwas ein, und er sagt ganz aufgeregt: »Du bist ein Avox, stimmt’s? Das sehe ich daran, wie du schluckst. Mit mir waren zwei Avoxe im Gefängnis, Darius und Lavinia. Die Wärter nannten sie meist nur die Rotschöpfe. Im Trainingscenter waren sie unsere Diener, deshalb wurden sie auch verhaftet. Ich habe mit angesehen, wie sie zu Tode gefoltert wurden. Das Mädchen hatte Glück. Die hatten zu viel Volt eingestellt, ihr Herz hat sofort versagt. Aber bei ihm hat es Tage gedauert, bis er tot war. Sie haben ihn geschlagen, ihm Körperteile abgeschnitten. Haben ihm immer wieder Fragen gestellt, aber er konnte ja nicht antworten, er hat nur diese schrecklichen animalischen Laute ausgestoßen. Sie wollten gar nicht wirklich was von ihm wissen, versteht ihr? Sie wollten nur, dass ich es sehe.«

Peeta schaut erwartungsvoll in unsere geschockten Gesichter. Als keine Antwort kommt, fragt er: »Wahr oder nicht wahr?«

Niemand sagt etwas und da wird er aufgebracht. »Wahr oder nicht wahr?«, will er wissen.

»Wahr«, sagt Boggs. »Jedenfalls, soweit ich weiß … wahr.«

»Das dachte ich mir. Die Erinnerung hatte nichts … Leuchtendes.« Peeta entfernt sich von der Gruppe und murmelt dabei irgendwas von Fingern und Zehen.

Ich gehe zu Gale und lege die Stirn an seine Brust, nur dass da jetzt die Rüstung ist. Er nimmt mich fest in die Arme. Jetzt wissen wir, wie das Mädchen hieß, das damals vom Kapitol aus den Wäldern von Distrikt 12 verschleppt wurde, jetzt kennen wir das Schicksal des befreundeten Friedenswächters, der Gale das Leben retten wollte. Das ist nicht der richtige Moment, um in schönen Erinnerungen zu schwelgen. Ich setze die beiden auf meine persönliche Liste von Opfern, angefangen mit der ersten Arena, Tausende sind es inzwischen. Als ich aufschaue, sehe ich, dass Gale es anders aufgenommen hat. Seine Miene sagt, dass es gar nicht genug Berge zum Zerstören gibt, nicht genug Städte zum Zerbomben. In seinem Blick steht Rache.

Mit Peetas grausigem Bericht im Kopf und knirschenden Scherben unter unseren Füßen gehen wir zu dem Straßenzug, den wir erobern sollen. Wir scharen uns um Boggs und schauen uns die Projektion der Straße auf dem Holo an. Jetzt haben wir wenigstens eine echte, wenn auch kleine Aufgabe. Die Kapsel mit dem Artilleriefeuer befindet sich im ersten Drittel der Straße, knapp über der Markise einer Wohnung. Es dürfte uns gelingen, sie mit Kugeln zu aktivieren. Die Kapsel mit dem Netz ist weiter hinten, fast schon an der nächsten Straßenecke. Dafür brauchen wir jemanden, der den Bewegungsmelder auslöst. Alle erklären sich bereit, bis auf Peeta, der anscheinend nicht so richtig weiß, worum es geht. Ich werde nicht genommen. Sie schicken mich zu Messalla, der mich für eventuelle Großeinstellungen schminkt.

Die Gruppe stellt sich nach Boggs’ Anweisungen auf, und dann müssen wir darauf warten, dass Cressida den Kameramännern sagt, wo sie stehen sollen. Sie sind beide links von uns, Castor weit vorn und Pollux ganz hinten, damit sie sich nicht gegenseitig filmen. Messalla zündet für die Atmosphäre ein paar Rauchgranaten. Da es sich hier sowohl um einen Einsatz als auch um einen Dreh handelt, will ich schon fragen, wer das Kommando hat, der Kommandant oder die Regisseurin, aber da ruft Cressida: »Action!«

Langsam gehen wir durch die diesige Straße, genau wie bei einer Übung im Block. Jeder muss mindestens eine Reihe Fensterscheiben wegpusten, aber das eigentliche Ziel ist Gale zugeteilt worden. Er schießt die Kapsel ab, und wir gehen in Deckung - ducken uns in Eingänge, legen uns flach auf die hübschen Pflastersteine in Hellorange und Rosa -, während ein Kugelhagel über unsere Köpfe fliegt. Nach einer Weile befiehlt uns Boggs weiterzugehen.

Cressida hält uns zurück, weil sie ein paar Großaufnahmen braucht. Abwechselnd spielen wir unsere Reaktion noch einmal nach. Wir lassen uns fallen, verziehen das Gesicht, springen in eine Nische. Wir wissen, dass es eine ernste Angelegenheit ist, aber es kommt uns ein bisschen albern vor. Vor allem, als sich herausstellt, dass ich gar nicht die schlechteste Schauspielerin in unserer Gruppe bin. Bei Weitem nicht. Wir lachen so sehr über Mitchells Versuch, den Verzweifelten zu mimen, inklusive Zähneknirschen und geblähten Nüstern, dass Boggs uns zurechtweisen muss.

»Vier-fünf-eins, zusammenreißen!«, sagt er streng. Aber er muss ein Grinsen unterdrücken, während er die nächste Kapsel noch einmal gegencheckt. Das Holo so hält, dass er in der rauchgeschwängerten Luft etwas erkennen kann. Den Blick immer noch uns zuwendet, während er den linken Fuß auf den orangefarbenen Pflasterstein setzt. Und die Mine auslöst, die ihm die Beine wegsprengt.

20

Es ist, als würde in einem einzigen Augenblick ein bemaltes Fenster zersplittern und den Blick auf die hässliche Welt dahinter freigeben. Lachen wird zu Schreien, Blut befleckt die pastellfarbenen Steine, echter Rauch verdunkelt den künstlichen.

Eine zweite Explosion scheint die Luft zu zerreißen, mir klingeln die Ohren. Aber ich weiß nicht, aus welcher Richtung sie gekommen ist.

Ich bin als Erste bei Boggs, versuche aus dem zerfetzten Fleisch, den fehlenden Gliedmaßen schlau zu werden, suche nach etwas, womit ich das Blut stoppen kann, das aus seinem Körper schießt. Homes schiebt mich beiseite und öffnet hektisch ein Erste-Hilfe-Set. Boggs umklammert mein Handgelenk. Sein Gesicht, grau vom Sterben und von der Asche, scheint zu verschwimmen. Doch die Worte, die er sagt, sind ein Befehl. »Das Holo.«

Das Holo. Ich taste um mich herum, wühle in zerborstenen, blutbefleckten Pflastersteinen, schaudere, als ich warme Fleischfetzen berühre. Dann habe ich es, zusammen mit Boggs’ Stiefeln hat es sich in einem Treppenschacht verklemmt. Ich nehme es an mich, wische es mit bloßen Händen trocken und reiche es meinem Kommandeur.

Homes hat den Stumpf von Boggs’ linkem Oberschenkel mit einer Staubinde umschlossen, aber sie ist schon völlig durchweicht. Jetzt versucht er, eine weitere Staubinde über dem rechten Knie anzulegen. Der Rest der Gruppe hat sich in einer schützenden Formation um uns und das Team herum aufgestellt. Finnick versucht, Messalla wiederzubeleben, der durch die Explosion gegen eine Wand geschleudert worden ist. Jackson blafft in ein Funksprechgerät und versucht, das Lager zu erreichen, damit sie Sanitäter schicken, doch ich sehe, dass es zu spät ist. Als Kind habe ich meiner Mutter oft bei der Arbeit zugeschaut, und ich weiß: Wenn eine bestimmte Menge Blut geflossen ist, gibt es keine Rettung mehr.

Ich knie mich neben Boggs und bin darauf eingestellt, dieselbe Rolle zu spielen wie bei Rue und der Morfixerin aus Distrikt 6, ich will ihm Halt geben, während er aus dem Leben geht. Aber Boggs macht sich mit beiden Händen an dem Holo zu schaffen. Er tippt einen Befehl ein, presst den Daumen auf den Bildschirm, um sich zu identifizieren, spricht eine Folge von Buchstaben und Zahlen als Antwort auf eine Eingabeaufforderung. Ein grüner Lichtstrahl kommt aus dem Holo und beleuchtet sein Gesicht. Er sagt: »Befehlsuntauglich. Übertrage die Oberste Sicherheitsprüfung an Gruppe vier-fünf-eins, Soldat Katniss Everdeen.« Mit letzter Kraft hält er mir das Holo vors Gesicht. »Sag deinen Namen.«

»Katniss Everdeen«, sage ich in den grünen Strahl. Plötzlich bin ich in dem Licht gefangen. Ich kann mich nicht bewegen, nicht mal blinzeln, während blitzschnell Bilder vor meinen Augen flackern. Werde ich gescannt? Aufgenommen? Geblendet? Das Licht verschwindet, und ich schüttele den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen. »Was haben Sie da gemacht?«

»Bereit machen zum Rückzug!«, brüllt Jackson.

Finnick schreit irgendwas zurück und zeigt zum anderen Ende des Straßenabschnitts, wo wir hergekommen sind. Schwarzes öliges Zeug spritzt wie aus einem Geysir aus der Straße, quillt zwischen den Gebäuden empor und bildet eine undurchdringliche dunkle Wand. Es scheint sich weder um eine Flüssigkeit noch um ein Gas zu handeln, weder um etwas Künstliches noch um etwas Natürliches. Mit Sicherheit ist es tödlich. Dorthin, woher wir gekommen sind, können wir nicht zurück.

Ohrenbetäubende Schüsse, als Gale und Leeg 1 das andere Ende des Straßenabschnitts ins Visier nehmen. Erst weiß ich nicht, was sie vorhaben, bis zehn Meter entfernt eine weitere Bombe hochgeht und ein Loch in die Straße reißt. Da begreife ich, dass es ein verzweifelter Versuch ist, die Straße von Minen zu räumen. Homes und ich packen Boggs und schleifen ihn hinter Gale her. Im Todeskampf fängt er an zu schreien, und ich will stehen bleiben, um nach einer anderen Möglichkeit zu suchen, aber die schwarze Masse erhebt sich über die Häuser, wölbt sich und rollt wie eine Welle auf uns zu.

Da werde ich nach hinten gerissen, muss Boggs loslassen, knalle auf die Steine. Vor mir steht Peeta. Er schaut auf mich herab, mit irrem Blick, zurückgeschleudert in das Land der Eingewebten. Er hat das Gewehr erhoben, jetzt stößt er es hinab, um mir den Schädel zu zertrümmern. Ich rolle mich weg, höre, wie der Kolben auf die Straße kracht, sehe aus dem Augenwinkel zwei kämpfende Körper, als Mitchell Peeta packt und ihn am Boden festhält. Doch Peeta, der immer schon stark war und jetzt befeuert ist durch den Wahn des Wespengifts, bekommt die Füße unter Mitchells Bauch und stößt ihn ein Stück die Straße hinunter.

Mit einem lauten Geräusch schnappt die Falle zu. Vier Draht seile, die an Schienen an den Gebäudewänden befestigt sind, durchbrechen die Steine und ziehen das Netz hoch, das Mitchell einhüllt. Im nächsten Augenblick ist er blutüberströmt, und erst als wir die Widerhaken an dem Draht erkennen, in dem er gefangen ist, verstehe ich, warum. Und ich verstehe auch, was das für ein Draht ist: der Stacheldraht, der auf dem Zaun von Distrikt 12 war. Ich rufe Mitchell zu, er solle sich nicht bewegen, und da muss ich würgen von dem Geruch des schwarzen Zeugs, dick und teerartig. Die Welle hat ihren Scheitelpunkt erreicht und senkt sich langsam.

Gale und Leeg 1 schießen das Schloss der Eingangstür des Eckgebäudes kaputt und zielen dann auf die Drahtseile, an denen das Netz mit Mitchell hängt. Andere halten jetzt Peeta in Schach. Ich stürze zurück zu Boggs, und Homes und ich ziehen ihn in die Wohnung, durch ein Wohnzimmer in rosa und weißem Samt, auf den Marmorboden einer Küche. Dort brechen wir zusammen. Castor und Pollux schleppen einen sich windenden Peeta herein. Irgendwie schafft Jackson es, ihm Handschellen anzulegen, aber das macht ihn nur noch wilder, und es bleibt ihnen nicht anderes übrig, als ihn in einen Wandschrank zu sperren.

Draußen wird eine Tür zugeschlagen, laute Rufe sind zu hören. Dann stapfen Schritte durch den Flur, während die schwarze Welle an dem Haus vorbeirauscht. Von der Küche aus hören wir die Fenster ächzen und klirren. Der giftige Teer schwängert die Luft. Finnick trägt Messalla herein. Leeg 1 und Cressida kommen taumelnd und hustend hinter ihnen her.

»Gale!«, schreie ich.

Da ist er, knallt die Küchentür hinter sich zu und stößt mit Mühe ein einziges Wort aus: »Dämpfe!« Castor und Pollux schnappen sich Handtücher und Schürzen und stopfen sie in die Ritzen, während Gale sich in ein knallgelbes Waschbecken übergibt.

»Mitchell?«, fragt Homes. Leeg 1 schüttelt nur den Kopf.

Boggs drückt mir das Holo mit Gewalt in die Hand. Er bewegt die Lippen, aber ich kann nicht erkennen, was er sagt. Ich halte das Ohr an seinen Mund, um sein raues Flüstern zu verstehen. »Trau ihnen nicht. Kehr nicht zurück. Töte Peeta. Tu das, wofür du hergekommen bist.«

Ich beuge mich zurück, sodass ich sein Gesicht sehen kann. »Was meinen Sie? Boggs? Boggs?« Seine Augen sind offen, aber ohne Leben. In meiner Hand, mit seinem Blut verklebt, halte ich das Holo.

Das Trampeln von Peetas Füßen gegen die Schranktür durchbricht unser Keuchen. Während wir lauschen, scheint seine Kraft nachzulassen. Das Trampeln wird zu einem unregelmäßigen Trommeln. Dann nichts mehr. Ich frage mich, ob er jetzt auch gestorben ist.

»Ist er tot?«, fragt Finnick mit einem Blick auf Boggs. Ich nicke. »Wir müssen hier raus. Sofort. Wir haben gerade sämtliche Kapseln in der Straße ausgelöst. Garantiert haben sie uns mit der Überwachungskamera erfasst.«

»Davon kannst du ausgehen«, sagt Castor. »Die Straßen sind voller Überwachungskameras. Ich wette, dass sie die schwarze Welle von Hand ausgelöst haben, als sie sahen, dass wir den Propo aufnehmen.«

»Unsere Funkgeräte haben den Geist aufgegeben. Vermutlich durch einen elektromagnetischen Impuls. Aber ich bringe uns zurück zum Lager. Gib mal das Holo her.« Jackson streckt die Hand danach aus, doch ich drücke es an die Brust.

»Nein. Boggs hat es mir gegeben«, sage ich.

»Mach dich nicht lächerlich«, sagt sie barsch. Sie denkt natürlich, dass es ihr zusteht. Sie ist Boggs’ Stellvertreterin.

»Es stimmt«, sagt Homes. »Er hat die Oberste Sicherheitsprüfung auf sie übertragen, als er im Sterben lag. Ich war dabei.«

»Weshalb hätte er das tun sollen?«, fragt Jackson.

Ja, weshalb? Mir schwirrt der Kopf von den entsetzlichen Ereignissen der letzten fünf Minuten - Boggs verstümmelt, sterbend, tot, Peetas brutale Raserei, Mitchell blutüberströmt, im Netz gefangen und von der widerlichen schwarzen Welle verschluckt. Ich drehe mich zu Boggs um, gerade jetzt brauchte ich ihn so dringend. Auf einmal bin ich überzeugt, dass er, und vielleicht nur er, voll und ganz auf meiner Seite war. Ich denke an seine letzten Befehle …

»Trau ihnen nicht. Kehr nicht zurück. Töte Peeta. Tu das, wofür du hergekommen bist.«

Was hat er gemeint? Wem soll ich nicht trauen? Den Rebellen? Coin? Den Leuten, die mich jetzt anschauen? Zurückkehren werde ich nicht, aber er muss wissen, dass ich Peeta nicht einfach eine Kugel in den Kopf jagen kann. Oder doch? Sollte ich das tun? Hat Boggs geahnt, dass ich eigentlich hergekommen bin, um zu desertieren und Snow im Alleingang umzubringen?

Ich komme hier einfach nicht weiter, also beschließe ich, erst mal Befehl Nummer eins und zwei auszuführen: niemandem zu trauen und weiter ins Kapitol vorzudringen. Aber wie soll ich das den anderen erklären? Wie bringe ich sie dazu, dass ich das Holo behalten kann?

»Weil ich im Sonderauftrag von Präsidentin Coin unterwegs bin. Ich glaube, Boggs war der Einzige, der darüber Bescheid wusste.«

Das kann Jackson nicht überzeugen. »Und was für ein Sonderauftrag soll das sein?«

Warum nicht einfach die Wahrheit sagen? Sie ist nicht unglaubwürdiger als alles, was ich mir ausdenken könnte. Aber es muss nach einem echten Auftrag aussehen, nicht nach einer Racheaktion. »Präsident Snow zu töten, bevor die Verluste durch diesen Krieg nicht wiedergutzumachen sind.«

»Das nehme ich dir nicht ab«, sagt Jackson. »Als dein derzeitiger Kommandant befehle ich dir, die Oberste Sicherheitsprüfung auf mich zu übertragen.«

»Nein«, sage ich. »Damit würde ich gegen den Befehl von Präsidentin Coin verstoßen.«

Die Gewehre sind im Anschlag, die eine Hälfte ist auf Jackson gerichtet, die andere Hälfte auf mich. Es sieht so aus, als müsste eine von uns sterben, aber da meldet sich Cressida zu Wort. »Es stimmt. Deshalb sind wir hier. Plutarch will es aufzeichnen. Er denkt sich, wenn wir filmen können, wie der Spotttölpel Snow tötet, wird der Krieg zu Ende sein.«

Das lässt sogar Jackson zögern. Dann zeigt sie mit ihrem Gewehr zum Wandschrank. »Und warum ist er dann hier?«

Eins zu null für sie. Mir fällt kein vernünftiger Grund ein, weshalb Coin einen so labilen Jungen, der darauf programmiert ist, mich zu töten, herschicken sollte, wenn es um einen derart entscheidenden Auftrag geht. Wieder springt Cressida mir bei. »Die beiden Interviews mit Caesar Flickerman nach den letzten Spielen wurden doch in Präsident Snows Privatquartier aufgenommen. Deshalb meint Plutarch, Peeta könnte uns als Führer nützlich sein. Wir kennen uns dort ja nicht aus.«

Ich würde Cressida gern fragen, weshalb sie für mich lügt, weshalb sie dafür kämpft, dass wir mit meinem angeblichen Auftrag weitermachen können. Aber dafür ist jetzt nicht der richtige Moment.

»Wir müssen los!«, sagt Gale. »Ich folge Katniss. Wenn ihr nicht wollt, geht zurück zum Lager. Aber bewegt euch!«

Homes schließt den Wandschrank auf und schwingt sich den bewusstlosen Peeta über die Schulter. »Ich bin bereit.«

»Was ist mit Boggs?«, fragt Leeg 1.

»Wir können ihn nicht mitnehmen. Er würde das verstehen«, sagt Finnick. Er macht Boggs’ Gewehr los und hängt es sich um die Schulter. »Geh voran, Soldat Everdeen!«

Ich weiß nicht, wie man vorangeht. Ich schaue auf das Holo, damit es mir die Richtung weist. Es ist immer noch eingeschaltet, aber ich kann so wenig damit anfangen, dass es genauso gut ausgeschaltet sein könnte. Ich habe jetzt keine Zeit, auf die Knöpfe zu drücken und herumzuprobieren, wie es funktioniert. »Ich weiß nicht, wie man damit umgeht. Boggs hat gesagt, Sie würden mir helfen«, sage ich zu Jackson. »Er hat gesagt, ich könne auf Sie zählen.«

Jackson guckt finster, reißt mir das Holo aus der Hand und tippt ein Kommando ein. Eine Kreuzung erscheint. »Wenn wir hinten zur Küchentür hinausgehen, kommen wir auf einen kleinen Hof, dann zur Rückseite eines weiteren Eckgebäudes. Wir haben hier eine Übersicht über die vier Straßen, die sich an der Kreuzung treffen.« Ich versuche, mich zu orientieren, während ich auf die Abbildung der Kreuzung schaue, wo an allen Ecken Kapseln blinken. Und das sind nur die Kapseln, von denen Plutarch weiß. Das Holo hat nicht angezeigt, dass die Stelle, die wir gerade verlassen haben, vermint war, dass es einen schwarzen Geysir gab und dass das Netz aus Stacheldraht bestand. Außerdem könnten uns Friedenswächter in die Quere kommen, jetzt, da sie unseren Standort kennen. Ich beiße mir auf die Lippe, aller Augen sind auf mich gerichtet. »Setzt die Masken auf. Wir gehen raus, wie wir reingekommen sind.«

Heftiger Widerspruch. Ich versuche die anderen zu übertönen. »Wenn die Welle so stark war, hat sie vielleicht die anderen Kapseln auf unserem Weg ausgelöst und geschluckt.«

Die anderen denken nach. Pollux macht seinem Bruder Zeichen. »Vielleicht hat sie auch die Kameras unbrauchbar gemacht«, übersetzt Castor. »Die Linsen verschmutzt.«

Gale stellt einen Stiefel auf die Anrichte und untersucht den schwarzen Spritzer auf der Spitze. »Ätzend ist das Zeug nicht. Ich glaube, sie wollten uns entweder ersticken oder vergiften.«

»Wahrscheinlich unsere größte Chance«, sagt Leeg 1.

Die Masken werden aufgesetzt. Finnick setzt Peeta die Maske auf das reglose Gesicht. Cressida und Leeg 1 stützen den benebelten Messalla.

Ich warte darauf, dass sich jemand an die Spitze stellt, bis mir klar wird, dass das jetzt meine Aufgabe ist. Ich drücke gegen die Küchentür, die mühelos aufgeht. Eine zentimeterhohe Schicht des schwarzen Zeugs hat sich vom Wohnzimmer aus über zwei Drittel des Wegs bis zum Flur ausgebreitet. Als ich es vorsichtig mit der Stiefelspitze teste, stelle ich fest, dass es eine gelartige Konsistenz hat. Ich hebe den Fuß, da zieht es sich leicht und nimmt dann wieder die alte Form an. Ich mache drei Schritte in dem Gel und schaue mich um. Keine Fußspuren. Das ist das erste Gute, was heute passiert. Während ich das Wohnzimmer durchquere, wird das Gel etwas dicker. Vorsichtig mache ich die Haustür auf und erwarte, dass das Zeug literweise hereinströmt, aber auch draußen ist es fest.

Der zuvor orange-rosafarbene Straßenabschnitt sieht so aus, als hätte man ihn in schwarzen Lack getaucht und dann zum Trocknen ausgebreitet. Pflastersteine, Häuser, selbst die Dächer sind mit dem Gel bedeckt. Eine große Träne hängt über der Straße. Zwei Gebilde ragen aus der Träne heraus. Ein Gewehrlauf und eine menschliche Hand. Mitchell. Ich bleibe auf dem Gehweg stehen und starre hinauf, bis die ganze Gruppe bei mir ist.

»Wenn jemand zurückgehen will, aus welchem Grund auch immer, dann ist jetzt der richtige Moment«, sage ich. »Es wird keine Fragen geben und keine Vorwürfe.« Niemand scheint den Rückzug antreten zu wollen. Also marschiere ich weiter in das Kapital hinein, wir haben nicht viel Zeit. Hier ist das Gel höher, über zehn Zentimeter. Jedes Mal, wenn man den Fuß hebt, macht es ein saugendes Geräusch, aber wir hinterlassen immer noch keine Spuren.

Die Welle muss gewaltig gewesen sein, mehrere Straßenabschnitte vor uns sind betroffen. Ich trete ganz vorsichtig auf, aber ich glaube, dass ich recht hatte; es wurden weitere Kapseln ausgelöst. An einer Stelle ist die Straße mit toten goldenen Jägerwespen gesprenkelt. Bestimmt sind sie sofort in den Dämpfen umgekommen. Ein Stück weiter ist ein ganzer Wohnblock eingestürzt, ein großer Schutthaufen, bedeckt von Gel. An den Kreuzungen hebe ich die Hand, zum Zeichen für die anderen, dass sie warten sollen, dann renne ich los und prüfe die Lage. Doch offenbar hat die Welle die Kapseln besser entschärft, als jede Rebellentruppe es vermocht hätte.

Von der fünften Querstraße an lassen die Auswirkungen der Welle allmählich nach. Hier ist das Gel nur noch zwei Zentimeter hoch und an der nächsten Kreuzung sehe ich schon die babyblauen Dächer hindurchschimmern. Das Licht des Nachmittags schwindet langsam, wir müssen unbedingt einen Unterschlupf finden und das weitere Vorgehen planen. Ich entscheide mich für einen Wohnblock etwas weiter unten in der Straße. Homes bricht das Schloss auf und ich befehle den anderen hineinzugehen. Ich bleibe noch einen Moment vor der Tür stehen, schaue zu, wie die letzten Fußspuren verschwinden, dann gehe auch ich hinein und schließe die Tür.

In unsere Gewehre sind Taschenlampen eingebaut, die jetzt ein großes Wohnzimmer erleuchten. Die verspiegelten Wände reflektieren bei jeder Bewegung unsere Gesichter. Gale überprüft die Fenster, sie sind unbeschädigt, und er nimmt die Maske ab. »Hier geht es. Man kann es riechen, aber nicht so stark.«

Die Wohnung ist genauso geschnitten wie die erste, in die wir uns geflüchtet hatten. Wegen des Gels kommt von vorn kein Tageslicht herein, doch die Rollläden in der Küche lassen etwas hindurch. Vom Flur gehen zwei Schlafzimmer mit Bad ab. Eine gewundene Treppe führt vom Wohnzimmer hinauf in den ersten Stock, der aus einem offenen Raum besteht. Oben gibt es keine Fenster, doch das Licht brennt noch, vermutlich mussten die Leute die Wohnung überstürzt verlassen. Ein riesiger Fernseher, der schwach leuchtet, nimmt eine ganze Wand ein. Plüschsessel und -sofas sind locker im Raum verteilt. Dort versammeln wir uns, lassen uns in die Polster sinken, versuchen zu Atem zu kommen.

Jackson hält das Gewehr auf Peeta gerichtet, obwohl er immer noch bewusstlos und in Handschellen ist. Homes hat ihn auf einem tiefblauen Sofa abgelegt. Was soll ich bloß mit ihm machen? Und mit dem Team? Mit allen, wenn ich ehrlich sein soll, außer Gale und Finnick? Denn die beiden hätte ich schon gern dabei, wenn ich Snow ausfindig mache. Aber selbst wenn ich mit dem Holo umgehen könnte, würde es mich überfordern, zehn Leute auf angeblicher Geheimmission durchs Kapital zu führen. Hätte ich sie zurückschicken sollen, als es noch möglich war? Oder wäre das zu gefährlich gewesen? Für sie wie auch für mein Vorhaben? Vielleicht hätte ich nicht auf Boggs hören sollen, möglicherweise war er schon nicht mehr ganz bei sich. Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich jetzt einfach die Wahrheit sage, aber dann würde Jackson das Kommando übernehmen und wir würden zurück zum Lager gehen. Und dort müsste ich Coin Rede und Antwort stehen.

Das Chaos, in das ich die anderen mit hineingezogen habe, wird meinem Kopf gerade zu viel, da lässt eine Reihe von Explosionen in der Ferne den Raum vibrieren.

»Das war ziemlich weit weg«, meint Jackson. »Bestimmt vier oder fünf Querstraßen weiter.«

»Wo wir Boggs zurückgelassen haben«, sagt Leeg 1.

Obwohl niemand den Fernseher berührt hat, flackert er plötzlich auf. Ein hoher Pfeifton erklingt und einige springen auf.

»Keine Panik!«, ruft Cressida. »Das ist nur eine Sondersendung. Alle Fernseher im Kapital schalten sich automatisch ein.«

Die Kameras zeigen uns, kurz nachdem Boggs von der Mine erwischt wurde. Ein Kommentator erzählt aus dem Off, was zu sehen ist, während wir versuchen, uns neu zu formieren und auf das schwarze Gel zu reagieren, und alles aus dem Ruder läuft. Wir schauen uns das Durcheinander an, das folgt, bis die Welle alles verdunkelt. Als Letztes sehen wir, wie Gale, allein auf der Straße, die Drahtseile zu durchschießen versucht, die Mitchell halten.

Der Kommentator nennt Gale, Finnick, Boggs, Peeta, Cressida und mich beim Namen.

»Keine Luftaufnahmen. Boggs hatte anscheinend recht, was ihre Hovercrafts angeht«, sagt Castor. Mir wäre das gar nicht aufgefallen, aber ein Kameramann merkt so etwas wahrscheinlich sofort.

Der Bericht wird fortgesetzt aus dem Hof hinter der Wohnung, in der wir Unterschlupf gefunden hatten. Friedenswächter säumen das Dach des gegenüberliegenden Hauses. Granaten werden auf die Häuserreihen abgefeuert, es sind die Explosionen, die wir gehört haben, und das Gebäude zerfällt zu Schutt und Asche.

Jetzt schalten sie live zu dem Geschehen. Eine Reporterin steht zusammen mit den Friedenswächtern auf dem Dach. Hinter ihr das brennende Wohnhaus. Feuerwehrleute versuchen die Flammen mit Wasserschläuchen unter Kontrolle zu bringen. Wir werden für tot erklärt.

»Endlich haben wir mal Glück«, sagt Homes.

Er hat recht. Das ist auf jeden Fall besser, als wenn das Kapitol hinter uns her wäre. Aber ich stelle mir vor, wie die Sendung in Distrikt 13 läuft. Wo meine Mutter und Prim, Hazelle und ihre Kinder, Annie, Haymitch und viele andere glauben, dass sie uns soeben haben sterben sehen.

»Mein Vater. Gerade hat er meine Schwester verloren, und jetzt …«, sagt Leeg 1.

Sie zeigen die Bilder immer wieder. Schwelgen in ihrem Sieg, vor allem über mich. Die aktuelle Berichterstattung wird unterbrochen und ein Zusammenschnitt über den Aufstieg des Spotttölpels als Rebellenführerin eingespielt - das haben sie sicher schon lange vorbereitet, es wirkt ziemlich perfekt. Danach gibt es wieder eine Liveschaltung und einige Reporter äußern sich zu meinem wohlverdienten Ende. Später, so versprechen sie, wird Snow eine offizielle Stellungnahme abgeben. Der Bildschirm schaltet sich ab und leuchtet nur noch schwach, wie zuvor.

Die Rebellen haben keinen Versuch unternommen, die Sendung zu unterbrechen, also glauben sie wohl, dass der Bericht der Wahrheit entspricht. Wenn es so ist, sind wir wirklich auf uns allein gestellt.

»Und was machen wir als Nächstes, jetzt, wo wir tot sind?«, fragt Gale.

»Das liegt doch auf der Hand.« Niemand hatte bemerkt, dass Peeta wieder zu sich gekommen ist. Ich weiß nicht, wie lange er zugeschaut hat, doch nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hat er mitbekommen, was auf der Straße passiert ist. Dass er ausgerastet ist, mir den Kopf einschlagen wollte und Mitchell in die Kapsel gestoßen hat. Unter Schmerzen richtet er sich auf und sagt zu Gale:

»Als Nächstes … töten wir mich.«

21

Das ist das zweite Mal innerhalb einer Stunde, dass jemand Peetas Tod fordert.

»Sei nicht albern«, sagt Jackson.

»Aber ich habe doch gerade einen von uns ermordet!«, ruft Peeta.

»Du hast ihn von dir fortgestoßen. Du konntest ja nicht wissen, dass das Netz ausgerechnet an dieser Stelle ausgelöst wird«, versucht Finnick ihn zu beruhigen.

»Na und? Er ist tot, oder?« Tränen laufen Peeta übers Gesicht. »Ich habe das nicht geahnt. Ich habe mich so noch nie erlebt. Katniss hat recht. Ich bin das Monster. Ich bin die Mutation. Snow hat mich in eine Waffe verwandelt!«

»Du kannst nichts dafür, Peeta«, sagt Finnick.

»Ihr könnt mich nicht mitnehmen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich den Nächsten umbringe.« Peeta schaut in unsere unschlüssigen Gesichter. »Ihr findet es vielleicht menschlicher, mich einfach zurückzulassen. Damit ich mich irgendwie durchschlage. Aber dann könnt ihr mich gleich dem Kapitol ausliefern. Denkt ihr, ihr tätet mir einen Gefallen, wenn ihr mich zu Snow zurückschickt?«

Peeta. Wieder in Snows Hand. Gefoltert und gequält, bis sein früheres Ich endgültig zerstört ist.

Aus irgendeinem Grund kommt mir die letzte Strophe vom »Henkersbaum« in den Sinn. Wo der Mann seine Geliebte lieber tot wissen will, als dass sie das Böse in der Welt mit ansehen muss.

Kommst du, kommst du,

Kommst du zu dem Baum,

Ein Seil als Kette, Seite an Seite mit mir?

Seltsames trug sich hier zu.

Nicht seltsamer wäre es,

Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.

»Bevor das passiert, töte ich dich«, sagt Gale. »Versprochen.«

Peeta zögert, als wollte er abwägen, ob er darauf vertrauen kann, dann schüttelt er den Kopf. »Das bringt nichts. Was, wenn du gerade nicht da bist? Ich möchte eine Giftpille, so eine, wie ihr alle habt.«

Nachtriegel. Eine ist noch im Lager, in der Geheimtasche meines Spotttölpelkostüms. Eine weitere trage ich in der Brusttasche meiner Uniform. Interessant, dass sie Peeta keine gegeben haben. Vielleicht befürchtet Coin, er könnte sie nehmen, bevor er die Gelegenheit bekommt, mich zu töten. Es ist nicht klar, was Peeta damit vorhat: Will er sich jetzt gleich umbringen, damit wir ihn nicht töten müssen, oder möchte er sie nur sicherheitshalber, für den Fall, dass das Kapitol ihn erneut gefangen nimmt? Was angesichts seines Zustands früher oder später garantiert passieren würde. Und was es für uns andere natürlich leichter machen würde. Dann müssten wir ihn nicht erschießen. Das Problem, wie wir mit seinen gemeingefährlichen Anfällen umgehen, wäre dadurch jedenfalls gelöst.

Ob es an den Sprengkapseln liegt, an der Angst oder daran, dass ich Boggs habe sterben sehen - jedenfalls komme ich mir wieder vor wie in der Arena. Als hätte ich sie nie verlassen. Und wieder kämpfe ich nicht nur um mein eigenes Überleben, sondern auch um Peetas. Wie befriedigend, wie amüsant es für Snow wäre, wenn er mich dazu bringen könnte, Peeta zu töten. Sodass ich ihn für den kleinen Rest meines Lebens auf dem Gewissen hätte.

»Es geht nicht um dich«, sage ich. »Wir haben einen Auftrag. Und dafür brauchen wir dich.« Ich schaue zu den anderen. »Meint ihr, wir finden hier was zu essen?«

Abgesehen von dem Erste-Hilfe-Set und den Kameras besitzen wir nur unsere Uniformen und unsere Waffen.

Die eine Hälfte bleibt da, um Peeta zu bewachen und den Fernseher wegen weiterer Auftritte Snows im Auge zu behalten, während die anderen auf die Jagd nach Essbarem gehen. Messalla erweist sich als besonders nützlich, denn er hat in einem ganz ähnlichen Apartment gelebt und weiß, wo die Leute ihre Nahrungsmittel versteckt haben könnten. Zum Beispiel in dem Stauraum hinter dem Schlafzimmerspiegel oder hinter dem leicht zu öffnenden Gitter vor dem Belüftungsschacht im Flur. Die Küchenregale sind zwar leer, aber dank Messalla finden wir gut dreißig Konserven und mehrere Schachteln Kekse.

Die Soldaten aus 13 sind empört. »Ist es nicht illegal, Lebensmittel zu horten?«, fragt Leeg 1.

»Im Gegenteil, im Kapitol gilt man als Dummkopf, wenn man es nicht tut«, erwidert Messalla. »Selbst vor dem Jubel-Jubiläum haben die Leute Vorräte von knappen Gütern angelegt.«

»Während andere nichts abbekamen«, sagt Leeg 1. »Richtig«, antwortet Messalla. »So läuft das hier.«

»Gott sei Dank, sonst hätten wir jetzt kein Abendessen«, wirft Gale ein. »Nehmt euch jeder eine Dose.«

Ein paar unserer Begleiter zögern, aber eigentlich spricht nichts dagegen. Ich habe jetzt wirklich keine Lust, alles in elf gleiche Portionen aufzuteilen, gemäß Alter, Gewicht und körperlicher Belastung. Ich greife in den Dosenhaufen und will mir schon eine Dose Kabeljausuppe nehmen, da hält Peeta mir eine andere hin: »Hier, für dich.«

Ich nehme sie, obwohl ich nicht weiß, was es ist. Dann schaue ich auf das Etikett. LAMMEINTOPF.

Sofort kommen die Erinnerungen hoch an den Regen, der durch das Gestein tropft, an meine unbeholfenen Flirtversuche und an den Duft meiner Leibspeise aus dem Kapitol in der kalten Luft, und ich presse die Lippen zusammen. Ein bisschen davon muss also noch in Peetas Gehirn übrig sein. Wie glücklich wir waren, wie hungrig und einander so nah, als dieser Picknickkorb vor unserer Höhle heruntergesegelt kam. »Danke.« Ich öffne den Deckel. »Sogar mit Trockenpflaumen.« Ich biege den Deckel zu einem provisorischen Löffel zurecht und schaufele mir einen Happen in den Mund. Jetzt schmeckt dieser Ort sogar wie die Arena.

Während wir eine Schachtel Kekse mit Cremefüllung herumreichen, fängt es wieder an zu piepen. Das Wappen von Panem erstrahlt auf dem Bildschirm und bleibt dort für die Dauer der Hymne. Dann zeigen sie die Bilder der Toten, wie damals in der Arena die der gefallenen Tribute. Zuerst die vier Gesichter unseres Fernsehteams, gefolgt von Boggs, Gale, Finnick, Peeta und mir. Bis auf Boggs interessieren sie sich nicht für die Soldaten aus Distrikt 13, entweder weil sie keine Ahnung haben, wer sie sind, oder weil sie denken, dass sie den Zuschauern sowieso nichts sagen. Dann erscheint er höchstpersönlich, am Schreibtisch sitzend, hinter sich die Flagge, die frische weiße Rose am Revers. Offenbar hat er eine weitere Schönheitsoperation hinter sich, denn seine Lippen sind noch aufgedunsener als sonst. Und sein Vorbereitungsteam sollte wirklich etwas sparsamer mit dem Rouge umgehen.

Snow beglückwünscht die Friedenswächter zu ihrer Großtat, er ehrt sie, weil sie das Land von der Bedrohung durch den Spotttölpel befreit haben. Mein Tod wird die Wende in diesem Krieg sein, prophezeit er, denn die demoralisierten Rebellen haben nun niemanden mehr, dem sie folgen können. Und wer war ich auch schon? Ein armes, labiles Mädchen, das ein bisschen mit Pfeil und Bogen umgehen konnte. Kein großer Denker, nicht der Stratege der Rebellion, nur ein Gesicht, das herausgepickt wurde, weil ich mit meinen Eskapaden während der Spiele die Aufmerksamkeit der Nation auf mich gelenkt hatte. Aber absolut notwendig, weil die Rebellen keinen richtigen Führer haben.

Irgendwo in Distrikt 13 legt Beetee einen Schalter um, denn plötzlich ist es nicht mehr Präsident Snow, der zu uns spricht, sondern Präsidentin Coin. Sie stellt sich den Zuschauern von Panem vor, gibt sich als Kopf der Rebellion zu erkennen und hebt zu einer Lobrede auf mich an. Lobt das Mädchen, das den Saum und die Hungerspiele überlebt und ein Land der Sklaven in eine Armee von Freiheitskämpfern verwandelt hat. »Tot oder lebendig, Katniss Everdeen wird das Gesicht der Rebellion bleiben. Solltet ihr je in eurer Entschlossenheit schwanken, denkt an den Spotttölpel, denn in ihm werdet ihr die Stärke finden, die ihr braucht, um Panem von seinen Unterdrückern zu befreien.«

»Wusste gar nicht, dass ich ihr so viel bedeute«, sage ich und ernte damit Gelächter von Gale und fragende Blicke von den anderen.

Ein stark bearbeitetes Foto von mir wird eingeblendet: eine wilde Schönheit vor einem Hintergrund aus lodernden Flammen. Kein Text. Kein Slogan. Im Moment brauchen sie nur mein Gesicht.

Beetee überlässt das Ruder wieder Snow, der sehr gefasst wirkt. Aber ich spüre, dass der Präsident den Notkanal für unangreifbar gehalten hat, und deshalb wird heute Abend jemand sterben müssen. »Morgen früh, wenn wir Katniss Everdeens Körper aus den Trümmern ziehen, werden wir genau sehen, wer der Spotttölpel ist. Ein totes Mädchen, das niemanden retten konnte, nicht mal sich selbst.« Wappen, Hymne, aus.

»Nur dass ihr sie nicht finden werdet«, sagt Finnick zu dem leeren Bildschirm und spricht aus, was wir wohl alle denken.

22

Die Galgenfrist wird kurz sein. Sobald sie sich durch die Trümmer gegraben haben und dahinterkommen, dass elf Körper fehlen, werden sie wissen, dass wir entkommen sind.

»Immerhin haben wir einen Vorsprung«, sage ich. Plötzlich bin ich unheimlich müde. Ich möchte mich nur noch auf das grüne Plüschsofa da drüben legen und einschlafen. Mich in eine Decke aus Kaninchenfell und Gänsedaunen einwickeln. Stattdessen ziehe ich das Holo hervor und bestehe darauf, dass Jackson mir eine Einführung gibt, wie man die Koordinaten des nächsten Kartennetzschnittpunkts eingibt, damit ich halbwegs mit dem Apparat umgehen kann. Als das Holo unsere Umgebung zeigt, rutscht mir das Herz in die Hose. Wir müssen ganz in der Nähe von zentralen Zielen sein, denn die Zahl der Kapseln hat beträchtlich zugenommen. Wie sollen wir je in diesen Strauß aus blinkenden Lichtern vordringen, ohne entdeckt zu werden? Es geht nicht. Und wenn es nicht geht, sind wir gefangen wie Vögel in einem Netz. Ich werde vor diesen Leuten lieber nicht die Überlegene spielen. Zumal mein Blick immer wieder zu dem grünen Sofa wandert. Also sage ich: »Hat einer eine Idee?«

»Lasst uns erst mal sammeln, was alles nicht geht«, meint Finnick. »Die Straße scheidet aus.«

»Dasselbe gilt für die Dächer«, sagt Leeg 1.

»Vielleicht können wir uns zurückziehen und den Weg nehmen, den wir gekommen sind«, sagt Homes. »Aber damit wäre unser Auftrag gescheitert.«

Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, schließlich habe ich besagten Auftrag frei erfunden. »Es war nie geplant, dass so viele weitergehen sollten. Ihr hattet nur das Pech, bei mir zu sein.«

»Ach, das ist doch eine müßige Diskussion. Jetzt sind wir eben bei dir und basta«, erwidert Jackson. »Hier können wir jedenfalls nicht bleiben. Nach oben können wir nicht. Zur Seite können wir nicht. Damit haben wir nur noch eine Option, denke ich.«

»Den Untergrund«, sagt Gale.

Den Untergrund. Den ich hasse. So wie Minen und Tunnel und Distrikt 13. Ich fürchte mich davor, im Untergrund zu sterben, was natürlich töricht ist, denn selbst wenn ich über der Erde sterbe, komme ich anschließend unter die Erde.

Das Holo zeigt sowohl die oberirdischen als auch die unterirdischen Kapseln an. Unter der Erde sind die sauberen, verlässlichen Linien des Straßenplans mit einem Gewirr aus Tunneln verschlungen. Dafür gibt es dort dem Anschein nach weniger Kapseln.

Laut Holo befindet sich zwei Türen weiter ein senkrechter Schacht, der unsere Apartmentreihe mit den Tunneln verbindet. Um in das Apartment mit dem Schacht zu gelangen, werden wir uns durch einen Versorgungsschacht quetschen müssen, der über die gesamte Länge des Gebäudes verläuft. In diesen Schacht gelangen wir durch die Rückwand eines Einbauschranks im Obergeschoss.

»Also dann. Erst mal alle Spuren beseitigen«, sage ich. Wir machen uns ans Werk. Die leeren Dosen werfen wir in einen Müllschlucker, die vollen stecken wir für später ein, blutverschmierte Sofakissen werden umgedreht, Schmierspuren von den Fliesen gewischt. Das Türschloss lässt sich nicht reparieren, doch wir legen einen zweiten Riegel vor, sodass die Tür wenigstens nicht gleich bei der kleinsten Berührung aufschwingt.

Bleibt nur noch Peeta, mit dem wir fertigwerden müssen. Er sitzt auf dem blauen Sofa und rührt sich nicht vom Fleck. »Ich komme nicht mit. Entweder würde ich eure Position verraten oder jemanden verletzen.«

»Hier werden Snows Leute dich finden«, sagt Finnick.

»Dann lasst mir eine Pille da. Ich werde sie nur nehmen, wenn es sein muss«, sagt Peeta.

»Schlag dir das aus dem Kopf. Komm jetzt«, sagt Jackson.

»Und wenn nicht? Erschießt ihr mich dann?«, fragt Peeta.

»Wir werden dich bewusstlos schlagen und mitschleppen«, sagt Homes. »Und das wird uns langsamer machen und zusätzlich gefährden.«

»Spart euch den Edelmut! Es ist mir egal, wenn ich sterbe!« Flehentlich wendet er sich an mich. »Katniss, bitte. Siehst du nicht, dass ich von euch weg will?«

Ich sehe es durchaus, das ist ja das Problem. Warum kann ich ihn nicht einfach gewähren lassen? Ihm eine Pille geben, auf den Abzug drücken? Vielleicht, weil er mir einfach zu viel bedeutet? Oder weil ich Snow den Sieg nicht gönne? Ist Peeta zu einer Figur in meinen privaten Spielen geworden? Das wäre abscheulich, aber ich kann es nicht ausschließen. Falls es sich so verhält, wäre es gütiger, Peeta hier und jetzt zu töten. Doch Güte ist nicht das, was mich antreibt. »Wir verlieren hier nur Zeit. Kommst du jetzt freiwillig mit oder müssen wir dich bewusstlos schlagen?«

Peeta vergräbt kurz das Gesicht in den Händen, dann steht er auf.

»Sollen wir ihm die Handschellen abnehmen?«, fragt Leeg 1.

»Nein!«, knurrt Peeta sie an und presst die gefesselten Hände an seinen Körper.

»Nein!«, sage auch ich. »Aber ich möchte den Schlüssel.« Jackson reicht ihn mir wortlos. Ich stecke ihn in die Hosentasche, wo er gegen die Perle Wickert.

Als Homes die kleine Eisentür zum Versorgungsschacht öffnet, stehen wir vor einem neuen Problem. Er ist zu eng für die Insektenpanzer. Castor und Pollux setzen sie ab und lösen die Ersatzkameras für den Notfall. Sie haben die Größe eines Schuhkartons und erfüllen ihren Zweck wahrscheinlich genauso. Messalla weiß nicht, wo wir die sperrigen Gehäuse verschwinden lassen könnten, deshalb verstecken wir sie einfach im Wandschrank. Es ärgert mich, dass wir eine so leicht auffindbare Spur hinterlassen, aber was bleibt uns anderes übrig?

Im Gänsemarsch gehen wir hintereinanderher, Gepäck und Ausrüstung tragen wir vor uns her. Trotzdem ist es sehr beengt. Wir lassen das erste Apartment links liegen und kommen im zweiten wieder zum Vorschein. In einem der Schlafzimmer entdecken wir eine Tür mit der Aufschrift VERSORGUNG. Dahinter befindet sich der Raum mit dem Einstieg in den Schacht zum Tunnelsystem.

Während Messalla stirnrunzelnd auf die große runde Abdeckung blickt, kehrt er einen Augenblick lang in seine alte Pingelwelt zurück. »Deshalb will keiner die Mitteleinheit haben. Ständig kommen Arbeiter und ein zweites Bad gibt es auch nicht. Dafür ist die Miete aber beträchtlich niedriger.« Er bemerkt Finnicks amüsierten Gesichtsausdruck und fügt hinzu: »Ach, egal.«

Die Abdeckung lässt sich leicht entriegeln. Eine breite Leiter mit Gummiprofilen auf den Sprossen ermöglicht einen problemlosen Abstieg ins Innere der Stadt. Am Fuß der Leiter sammeln wir uns und warten, bis sich unsere Augen an die matten Lichtstreifen gewöhnt haben. Die Luft hier unten ist eine Mischung aus Chemikalien, Schimmel und Abwässern.

Pollux ist ganz blass, er schwitzt und muss sich an Castors Handgelenk festhalten. Als würde er gleich umkippen.

»Mein Bruder hat hier unten gearbeitet, nachdem er zum Avox wurde«, sagt Castor. Natürlich. Wer sonst würde ihnen diese nasskalten, übel riechenden Passagen instand halten, die auch noch mit Kapseln vermint sind? »Es hat fünf Jahre gedauert, bis wir ihn freikaufen konnten. In dieser Zeit hat er nicht ein Mal die Sonne gesehen.«

Unter günstigeren Umständen, an einem Tag mit weniger Schrecken und mehr Ruhe, wüsste sicher gleich einer die angemessenen Worte darauf. So aber stehen wir alle eine gute Weile da und suchen nach einer Antwort.

Schließlich wendet sich Peeta an Pollux. »Na, dann bist du soeben zu unserem wertvollsten Mitstreiter geworden.« Castor lacht und auch Pollux bringt ein Lächeln zustande.

Erst als wir die Hälfte des ersten Tunnels hinter uns haben, wird mir bewusst, was an dieser Antwort so bemerkenswert war. Peeta klang wie sein altes Ich, das stets die richtigen Worte fand, wenn es sonst niemand konnte. Ironisch, aufmunternd, ein bisschen lustig, aber nie auf Kosten anderer. Ich schaue mich rasch nach ihm um, wie er zwischen seinen Bewachern Gale und Jackson voranstapft, den Blick starr nach unten gerichtet, die Schultern vorgebeugt. Unheimlich mutlos. Doch einen Augenblick lang ist er wirklich hier gewesen.

Peeta hat recht. Pollux ist besser als zehn Holos. Es gibt hier ein einfaches Grundnetz aus breiten Tunneln, die den wichtigsten Haupt-und Querstraßen folgen und praktisch eine exakte Kopie des Straßenverlaufs über der Erde darstellen. Dieses Netz heißt Transfer, es kann von Kleinlastern befahren werden, die in der ganzen Stadt Waren anliefern. Tagsüber sind die vielen Kapseln deaktiviert, aber nachts ist es das reinste Minenfeld. Daneben gibt es Hunderte von weiteren Verbindungen, Versorgungsschächten, Gleisanlagen und Abwasserrohren, die das Ganze zu einem Labyrinth auf mehreren Ebenen machen. Pollux kennt sich hervorragend aus und warnt uns vor Gefahren, die für Ortsfremde katastrophal wären. Er sagt uns, in welchem Seitengang man Gasmasken braucht oder wo man auf Stromleitungen und die bibergroßen Ratten trifft. Er warnt uns vor dem in regelmäßigen Abständen hervorschießenden Wasser in den Kanälen, berechnet, wann die Avoxe Schichtwechsel haben, führt uns in feuchte, dunkle Rohre, um den fast lautlos vorbeifahrenden Frachtzügen auszuweichen. Vor allem aber weiß er, wo die Kameras sind. Außer im Transfer gibt es zwar nicht allzu viele an diesem finsteren, dunstigen Ort. Trotzdem gehen wir ihnen wohlweislich aus dem Weg.

Unter Pollux’ Führung kommen wir schnell voran, verglichen mit unserer Reise über der Erde sogar bemerkenswert schnell. Nach etwa sechs Stunden übermannt uns die Müdigkeit. Es ist drei Uhr morgens, ich gehe davon aus, dass es noch ein paar Stunden dauert, bevor das Fehlen unserer Leichen bemerkt wird. Schließlich müssen sie die Trümmer des ganzen Straßenzugs durchsuchen, bis sie Gewissheit haben, dass wir durch die Schächte entkommen sind, dann beginnt die Jagd.

Ich schlage eine Rast vor und keiner erhebt Einwände. Pollux findet einen kleinen, warmen Raum, in dem mit Hebeln und Messuhren bestückte Maschinen summen. Er hält die Finger hoch, um anzuzeigen, dass wir in vier Stunden wieder verschwunden sein müssen. Jackson teilt die Wachen ein, und da ich nicht zur ersten Schicht gehöre, quetsche ich mich zwischen Gale und Leeg 1 und bin sofort eingeschlafen.

Als Jackson mich wach rüttelt und sagt, dass ich jetzt mit der Wache dran bin, kommt es mir vor, als wären erst wenige Minuten vergangen. Es ist sechs Uhr, in einer Stunde müssen wir weiter. Jackson sagt, ich soll mir eine Dose nehmen und Pollux im Auge behalten, der darauf bestanden hat, die ganze Nacht aufwache zu sein. »Er kann hier unten sowieso nicht schlafen.« Ich hieve mich in einen Zustand relativer Aufmerksamkeit, esse eine Dose Kartoffel-Bohnen-Eintopf, setze mich an die Wand und schaue zur Tür. Pollux wirkt hellwach. Wahrscheinlich hat er die ganze Nacht lang noch einmal diese fünf Jahre des Eingesperrtseins durchlebt. Ich hole das Holo hervor, gebe unsere Netzkoordinaten ein und scanne die Tunnel. Wie erwartet, sind die Kapseln zum Zentrum hin immer dichter gestreut. Eine Weile klicken Pollux und ich auf dem Holo herum und schauen uns an, wo sich welche Fallen verbergen. Als mir langsam der Kopf schwirrt, reiche ich ihm das Gerät und lehne mich wieder gegen die Wand. Ich schaue auf die schlafenden Soldaten, Fernsehleute und Freunde und frage mich, wie viele von uns je die Sonne wiedersehen werden.

Plötzlich merke ich, dass Peeta, dessen Kopf gleich bei meinen Füßen liegt, wach ist. Ich wünschte, ich könnte seine Gedanken lesen, mich in sein Hirn einschleichen und das Gestrüpp aus Lügen entwirren. Aber ich begnüge mich mit etwas, das ich kann.

»Hast du schon gegessen?«, frage ich. Er schüttelt unmerklich den Kopf. Ich öffne eine Dose Hühnersuppe mit Reis und reiche sie ihm, behalte aber den Deckel, falls er sich womöglich die Pulsadern aufschneiden will. Er setzt sich auf, führt die Dose zum Mund und schüttet sich den Inhalt in den Hals, fast ohne zu kauen. Am Dosenboden spiegeln sich die Lämpchen der Maschinen, und da fällt mir etwas ein, das mir seit gestern im Unterbewusstsein herumschwirrt. »Peeta, als du gefragt hast, was mit Darius und Lavinia passiert ist, und Boggs antwortete, dass deine Erinnerung stimmt, da hast du doch gesagt, das hättest du dir schon gedacht. Weil da nichts Leuchtendes dran gewesen sei. Was hast du damit gemeint?«

»Ach, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll«, sagt er. »Anfangs war alles ein völliges Durcheinander. Mittlerweile kann ich manches wieder ordnen. Ich erkenne ein Muster. Die Erinnerungen, die durch das Jägerwespengift manipuliert wurden, sind irgendwie komisch. Als wären sie zu intensiv oder die Bilder wacklig. Weißt du noch, wie es sich anfühlte, als wir gestochen wurden, damals in der Arena?«

»Ja. Die Bäume erbebten. Ein bunter Riesenschmetterling tauchte auf. Und ich bin in eine Grube mit orangefarbenen Blasen gefallen. Leuchtende orangefarbene Blasen.«

»Genau. Aber im Zusammenhang mit Darius und Lavinia gab es nichts dergleichen. Deshalb glaube ich nicht, dass sie mir da schon das Gift injiziert hatten«, sagt er.

»Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«, sage ich. »Wenn du das auseinanderhalten kannst, dann kannst du doch feststellen, was wahr ist und was nicht.«

»Ja, und wenn ich Flügel hätte, könnte ich fliegen. Aber den Menschen wachsen keine Flügel«, sagt er. »Wahr oder nicht wahr?«

»Wahr«, erwidere ich. »Aber Menschen können auch ohne Flügel überleben.«

»Spotttölpel vielleicht.« Er isst die Suppe zu Ende und gibt mir die Dose zurück.

In dem fluoreszierenden Licht sehen die Ringe unter seinen Augen aus wie Blutergüsse. »Es ist noch Zeit. Du solltest ein wenig schlafen.« Gehorsam legt er sich wieder hin und starrt auf die hin und her zuckende Nadel einer Messuhr. Langsam, wie bei einem verletzten Tier, strecke ich die Hand aus und streiche ihm eine Haarlocke aus der Stirn. Bei meiner Berührung erstarrt er, zuckt aber nicht zurück. Also streiche ich weiter sanft über sein Haar. Es ist das erste Mal seit der letzten Arena, dass ich ihn freiwillig anfasse.

»Du versuchst immer noch, mich zu beschützen. Wahr oder nicht wahr?«, flüstert er.

»Wahr«, antworte ich. Irgendwie verlangt das nach weiteren Erklärungen. »Das tun wir beide, du und ich. Einander beschützen.« Eine Minute später ist er eingeschlafen.

Kurz vor sieben wecken Pollux und ich die anderen. Alle gähnen und seufzen. Aber zwischen all den Aufwachgeräuschen schnappen meine Ohren noch ein anderes Geräusch auf. Eine Art Zischen. Vielleicht Dampf, der aus einem Rohr entweicht, oder das ferne Rauschen eines Zugs …

Ich gebiete den anderen zu schweigen, damit ich genauer hinhören kann. Da ist es, ein anhaltendes Zischen, ja, aber es ist nicht nur ein einzelner gedehnter Laut. Eher so, als ob viele Münder ausatmen und dabei Wörter bilden würden. Ein einziges Wort. Das durch die Tunnel hallt. Ein Wort. Ein Name. Immer und immer wieder.

»Katniss.«

Die Galgenfrist ist zu Ende. Offenbar hat Snow die ganze Nacht hindurch graben lassen. Sobald das Feuer gelöscht war. Sie haben Boggs’ verstümmelte Leiche gefunden und sich kurz in Sicherheit gewiegt, doch als die Stunden vergingen und sie keine weiteren Trophäen fanden, wurden sie langsam misstrauisch. Es dämmerte ihnen, dass sie hinters Licht geführt worden sind. Präsident Snow kann aber nicht zulassen, dass es so aussieht, als hätte man ihn zum Narren gehalten. Ob sie erst unsere Flucht ins zweite Apartment verfolgt oder gleich vermutet haben, dass wir in den Untergrund gegangen sind, spielt keine Rolle. Sie wissen jetzt, dass wir hier unten sind, und sie haben etwas von der Leine gelassen. Vermutlich eine Meute Mutationen, die darauf abgerichtet sind, mich zu finden.

»Katniss.« Die Stimme ist so nah, dass ich auffahre und hektisch nach der Quelle suche, mit gespanntem Bogen, auf der Suche nach einem Ziel. »Katniss.« Peetas Lippen bewegen sich kaum, aber kein Zweifel, der Laut kam von dort. Gerade als ich dachte, dass es ihm ein bisschen besser geht, als ich dachte, er könnte Stück für Stück wieder zu mir zurückkehren, da bekomme ich den Beweis geliefert, wie tief Snows Gift eingedrungen ist. »Katniss.« Peeta ist darauf programmiert, mit dem zischenden Refrain mitzugehen, sich an der Jagd zu beteiligen. Jetzt bewegt er sich. Ich habe keine Wahl. Ich richte meinen Pfeil auf seinen Kopf, um sein Hirn zu durchbohren. Er wird kaum etwas spüren. Plötzlich setzt er sich auf, mit schreckgeweiteten Augen, ganz außer Atem. »Katniss!« Er macht eine ruckartige Bewegung auf mich zu, scheint aber meinen Bogen und den abschussbereiten Pfeil nicht zu bemerken. »Katniss! Verschwinde von hier!«

Ich zögere. Seine Stimme klingt alarmiert, aber nicht wahnsinnig. »Warum? Woher kommt dieses Geräusch?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es dich töten soll«, sagt Peeta. »Lauf weg! Verschwinde! Mach schon!«

Nachdem ich den kurzen Moment der Verwirrung überwunden habe, komme ich zu dem Schluss, dass ich Peeta nicht töten muss. Ich entspanne die Bogensehne. Schaue in die besorgten Gesichter rings um mich. »Was immer es ist, es ist hinter mir her. Vielleicht sollten wir uns jetzt wirklich trennen.«

»Aber wir sind deine Leibwache«, sagt Jackson.

»Und dein Kamerateam«, fügt Cressida hinzu.

»Ich lasse dich nicht allein«, sagt Gale.

Ich betrachte das Team, das nur mit Kameras und Klemmbrettern bewaffnet ist, Finnick mit seinen zwei Gewehren und dem Dreizack. Ich schlage vor, dass er ein Gewehr Castor gibt, das leere Magazin in Peetas Gewehr durch ein geladenes ersetzt und damit Pollux bewaffnet. Gale und ich haben die Bogen, deshalb geben wir unsere Gewehre an Messalla und Cressida weiter. Wir können ihnen nur schnell zeigen, wie man zielt und den Abzug betätigt, aber im Nahkampf mag das genügen. Besser, als wehrlos zu sein. Jetzt ist Peeta der Einzige, der unbewaffnet ist. Aber einer, der zusammen mit einer Meute Mutationen meinen Namen flüstert, braucht sowieso keine Waffe.

Wir brechen auf und lassen nur unseren Geruch im Raum zurück. Im Moment gibt es keine Möglichkeit, ihn auszulöschen. Ich nehme an, gerade dadurch finden die zischenden Viecher unsere Fährte, sichtbare Spuren haben wir nämlich kaum hinterlassen. Wahrscheinlich ist der Geruchssinn der Mutationen äußerst fein, und vielleicht lassen sie sich von der Tatsache, dass wir durch ein Abwasserrohr gerobbt sind, ja ein bisschen aus dem Konzept bringen.

Ohne das Summen des Raums wird das Zischen deutlicher. So kann man auch besser einschätzen, wo die Mutationen sich befinden. Sie sind hinter uns, ein gutes Stück entfernt. Wahrscheinlich hat Snow angeordnet, sie in der Nähe der Stelle loszulassen, wo Boggs’ Leiche gefunden wurde. Theoretisch müssten wir einen ordentlichen Vorsprung haben, auch wenn sie mit Sicherheit viel schneller sind als wir. Ich muss an die wolfsähnlichen Kreaturen in der ersten Arena zurückdenken, an die Affen beim Jubel-Jubiläum und an all die Ungeheuer, die ich über die Jahre im Fernsehen miterlebt habe, und ich frage mich, welche Gestalt diese Mutationen haben mögen, aber ich kenne die Antwort schon: jene, von der Snow denkt, dass sie mir am meisten Angst einjagt.

Pollux und ich haben eine Route für die nächste Etappe unserer Reise ausgearbeitet, und da sie von dem Zischen wegführt, sehe ich keinen Grund, sie zu ändern. Wenn wir schnell genug sind, erreichen wir Snows Amtssitz vielleicht, bevor die Mutationen uns einholen. Aber vor lauter Eile werden wir auch nachlässig: ein Stiefel, der so unachtsam aufgesetzt wird, dass es platscht, das unbeabsichtigte Scheppern eines Gewehrs gegen ein Rohr, meine zu lauten Kommandos.

Durch ein Überlaufrohr und eine verwahrloste Gleisstrecke legen wir weitere drei Straßenzüge zurück. Da hören wir die Schreie. Heiser und kehlig hallen sie von den Tunnelwänden wider.

»Avoxe«, sagt Peeta sofort. »Genau so hat Darius geschrien, als er gefoltert wurde.«

»Die Mutationen müssen sie gefunden haben«, meint Cressida.

»Dann sind sie also nicht nur hinter Katniss her«, sagt Leeg 1.

»Vermutlich töten sie jeden. Und sie werden nicht aufhören, ehe sie Katniss erwischen«, sagt Gale. Nach dem, was er bei Beetee gelernt hat, hat er vermutlich recht.

Das alte Lied. Menschen müssen meinetwegen sterben. Freunde, Verbündete, Fremde, die mich nie gekannt haben - alle müssen für den Spotttölpel ihr Leben lassen. »Ich gehe allein weiter. Ich führe sie in die Irre. Das Holo gebe ich Jackson. Führt ihr den Auftrag zu Ende.«

»Da macht doch keiner mit!«, ruft Jackson empört.

»Wir vergeuden nur Zeit!«, sagt Finnick.

»Hört mal«, flüstert Peeta.

Die Schreie sind verstummt, und nun hallt erneut mein Name durch die Tunnel, alarmierend nahe. Unter uns und hinter uns jetzt. »Katniss.«

Ich stupse Pollux gegen die Schulter und wir rennen los. Eigentlich wollten wir auf eine tiefere Ebene, aber das können wir uns jetzt abschminken. Als wir zu den Stufen gelangen, die hinabführen, suchen Pollux und ich im Holo nach einer Alternative. Plötzlich muss ich würgen.

»Masken aufsetzen!«, befiehlt Jackson.

Aber wir brauchen keine Masken. Denn auch wenn alle die gleiche Luft einatmen, bin ich die Einzige, die sich übergeben muss, weil nur ich auf diesen Geruch reagiere. Er steigt aus dem Treppenhaus auf. Überlagert sogar den Abwassergestank. Rosen. Ich fange an zu zittern.

Um dem Geruch zu entkommen, trete ich zur Seite und taumele plötzlich hinaus auf den Transfer. Glatte, pastellfarben geflieste Straßen, genau wie die oben, nur von weißen Ziegelmauern begrenzt anstatt von Häusern. Eine Fahrbahn, auf der bequem Lieferfahrzeuge fahren können, ohne die Straßen im Kapitol zu verstopfen. Jetzt ist sie verlassen, bis auf uns. Ich reiße den Bogen hoch und sprenge mit einem Pfeil die erste Kapsel mitsamt dem darin befindlichen Nest fleischfressender Ratten in die Luft. Dann renne ich zur nächsten Kreuzung, obwohl ich weiß, dass ein falscher Schritt genügt, damit der Boden unter unseren Füßen nachgibt und wir einem Ding zum Opfer fallen, das mit FLEISCHWOLF beschriftet ist. Ich rufe den anderen zu, dass sie unbedingt bei mir bleiben sollen. Mein Plan ist, um die nächste Ecke zu biegen und dann den Fleischwolf auszulösen, doch da ist noch eine Kapsel - eine, die nicht verzeichnet ist.

Es geht ganz still vonstatten. So still, dass ich es gar nicht bemerkt hätte, wenn Finnick mich nicht zurückreißen würde. »Katniss!«

Ich fahre herum, mit schussbereitem Pfeil, aber was kann ich tun? Zwei von Gales Pfeilen liegen bereits, ohne dass sie etwas ausrichten konnten, neben dem breiten goldenen Lichtstrahl, der von der Decke bis zum Boden reicht. Reglos wie eine Statue steht Messalla darin, auf einem Fußballen balancierend, den Kopf nach hinten gekippt, vom Strahl gebannt. Ich weiß nicht, ob er schreit, aber sein Mund ist weit aufgerissen. Völlig hilflos schauen wir zu, während das Fleisch von seinem Körper tropft wie Kerzenwachs.

»Ihr könnt ihm nicht helfen!«, ruft Peeta und stößt uns weiter. »Seht das doch ein!« Eigenartigerweise hat er sich als Einziger noch so weit unter Kontrolle, dass er uns antreibt. Warum er das tut, weiß ich nicht, eigentlich müsste er doch ausrasten und mir den Kopf einschlagen. Obwohl - das kann jeden Augenblick passieren. Als ich den Druck seiner Hand auf meiner Schulter spüre, wende ich mich von dem grausigen Etwas ab, das einmal Messalla gewesen ist; ich befehle meinen Füßen weiterzulaufen, schnell, so schnell, dass ich vor der nächsten Kreuzung gerade noch rechtzeitig stehen bleibe.

Plötzlich lässt eine MG-Salve einen Schauer aus Putz niederregnen. Ruckartig schaue ich hin und her, suche nach einer Kapsel, bis ich endlich den Trupp Friedenswächter bemerke, der über den Transfer auf uns zugestampft kommt. Da uns der Fleischwolf den Rückweg abschneidet, bleibt uns nur, das Feuer zu erwidern. Sie sind doppelt so viele wie wir, aber wir haben immer noch sechs Originalmitglieder des Star-Trupps, und die versuchen nicht, gleichzeitig zu rennen und zu schießen.

Leichte Beute, denke ich, da bekommen ihre weißen Uniformen plötzlich rote Flecken. Im Nu liegen drei Viertel tot am Boden, und aus einem einmündenden Tunnel kommen noch mehr hervor - genau aus dem Tunnel, durch den ich vorhin diesem Geruch entflohen bin, dem Geruch nach …

Das da sind keine Friedenswächter.

Sie sind zwar weiß, haben vier Gliedmaßen und etwa die Größe eines Erwachsenen, aber damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Nackt, mit langen Reptilienschwänzen, gekrümmten Rücken und nach vorn ragenden Köpfen. Sie fallen über die Friedenswächter her, die lebenden und die toten, verbeißen sich in ihre Nacken und reißen die behelmten Köpfe ab. Offenbar nützt einem die Herkunft aus dem Kapitol hier genauso wenig wie in Distrikt 13. Innerhalb weniger Sekunden sind die Friedenswächter enthauptet. Die Mutationen lassen sich auf alle viere fallen und jagen auf uns zu.

»Hier entlang!«, rufe ich den anderen zu. Ich bleibe dicht an der Mauer und biege dann scharf rechts ab, um der Kapsel auszuweichen. Als alle wieder bei mir sind, schieße ich in die Kreuzung, und der Fleischwolf tritt in Aktion. Riesige mechanische Zähne brechen durch die Straße und zermalmen die Fliesen zu Staub. Eigentlich dürfte es den Mutationen damit unmöglich sein, uns zu folgen, aber wer weiß? Die Wolfs-und Affenmutationen seinerzeit konnten unglaublich weit springen.

Das Zischen brennt sich in meine Ohren und von dem Rosengestank wird mir ganz schwindelig.

Ich packe Pollux am Arm. »Vergiss den Auftrag. Wie kommen wir am schnellsten an die Oberfläche?«

Wir haben keine Zeit, auf das Holo zu schauen. Wir folgen Pollux etwa zehn Meter über den Transfer, dann geht es durch eine Tür. Ich registriere, dass die Fliesen von Beton abgelöst werden, dass wir durch ein enges, stinkendes Rohr kriechen, bis es an einem etwa dreißig Zentimeter breiten Vorsprung endet. Einen Meter unter uns fließt der Hauptabwasserkanal, eine giftige, brodelnde Brühe aus menschlichen Exkrementen, Müll und chemischen Abwässern. An manchen Stellen brennt die Wasseroberfläche, an anderen steigen unheilvoll aussehende Dampfwolken auf. Wer da hineinfällt, kommt nie wieder heraus, das sieht man auf den ersten Blick. So schnell es irgend geht, laufen wir über den glitschigen Vorsprung bis zu einer schmalen Brücke und überqueren sie. Pollux klatscht mit der Hand auf eine Leiter, die in einer Nische steht, und zeigt nach oben. Das ist er. Unser Weg nach draußen.

Ein rascher Blick auf unsere Schar zeigt mir, dass jemand fehlt. »Wartet! Wo sind Jackson und Leeg 1?«

»Beim Fleischwolf, die Mutationen aufhalten«, sagt Homes.

»Was?« Niemanden würde ich diesen Monstern überlassen. Ich stürze zurück zur Brücke, aber Homes reißt mich zurück.

»Lass sie nicht vergeblich gestorben sein, Katniss. Für die beiden ist es sowieso zu spät. Schau!« Homes nickt zum Rohr hin, wo die ersten Mutationen über den Vorsprung schlittern.

»Aus dem Weg!«, ruft Gale. Er schießt seine Sprengpfeile ab und reißt das hintere Ende der Brücke aus der Verankerung. Genau in dem Moment, als die Mutationen die Brücke erreichen, versinkt sie vollständig in der brodelnden Kloake.

Zum ersten Mal kann ich die Viecher genauer betrachten. Eine Mischung aus Mensch und Echse und wer weiß was noch. Weiße, straffe Reptilienhaut, verschmiert mit geronnenem Blut, klauenbewehrte Hände und Füße, groteske Gesichter. Sie zischen meinen Namen, kreischen ihn jetzt fast, während ihre Körper sich vor Wut winden. Sie schlagen mit Klauen und Schwänzen um sich, reißen sich im wahnsinnigen Verlangen, mich zu zerstören, gegenseitig oder selbst mit aufgerissenen, schäumenden Mäulern riesige Stücke aus dem Leib. Mein Geruch muss für sie so unerträglich sein wie ihrer für mich. Sogar noch schlimmer, denn plötzlich springen die Mutationen eine nach der anderen in den fauligen Abwasserkanal - ungeachtet des Gifts.

Vom anderen Ufer aus eröffnen wir das Feuer. Wahllos schieße ich meine Pfeile in die Körper der Mutationen, die gewöhnlichen und die mit Feuer-und Sprengspitzen. Sie sind tödlich, aber es ist knapp. Kein natürliches Wesen könnte sich mit zwei Dutzend Kugeln im Leib auf den Beinen halten. Irgendwie schaffen wir es, sie zu töten, doch es sind so unglaublich viele, die immer weiter aus dem Rohr strömen und sich ohne Zögern ins giftige Wasser stürzen.

Aber nicht ihre schiere Masse lässt meine Hände so stark zittern.

Es gibt keine guten Mutationen. Sie sind alle dazu da, Schaden anzurichten. Manche trachten einem nach dem Leben, wie die Affen. Andere sollen den Verstand ausschalten, wie die Jägerwespen. Doch am grausamsten und furchterregendsten sind die, die mit einem perversen psychologischen Trick ausgestattet sind. Die Wolfsmutationen mit den Augen der toten Tribute. Die Schnattertölpel, die Prims gefolterte Stimme nachahmten. Der Geruch von Snows Rosen, vermischt mit dem Blut der Opfer. Dieser Geruch weht jetzt über den Abwasserkanal herüber. Verbreitet sich trotz des Fäulnisgestanks. Lässt mein Herz rasen, meine Haut zu Eis erstarren, hindert meine Lunge daran, Luft aufzunehmen. Als würde Snow mir direkt ins Gesicht atmen, weil es Zeit ist zu sterben.

Die anderen rufen, doch ich kann nicht antworten. Und während ich einer Mutation den Kopf wegpuste, die nach meinem Knöchel greifen wollte, werde ich plötzlich von starken Armen gepackt und gegen die Leiter gestoßen. Jemand legt meine Hände auf die Sprossen. Befiehlt mir zu klettern. Meine hölzernen Puppenarme gehorchen. Durch die Bewegung komme ich langsam zur Besinnung. Über mir erkenne ich Pollux. Peeta und Cressida folgen mir. Wir erreichen eine Plattform. Erklimmen eine zweite Leiter. Der allgegenwärtige Schimmel und unser Schweiß machen die Sprossen glitschig. Als wir die nächste Plattform erreichen, ist mein Kopf wieder klar, und schlagartig wird mir bewusst, was geschehen ist. Hektisch ziehe ich die Leute herauf, die nach mir kommen. Peeta. Cressida. Das sind alle.

Was habe ich getan? In welcher Lage habe ich die anderen zurückgelassen? Ich will wieder nach unten klettern, doch da trete ich mit dem Stiefel auf eine Hand.

»Hochklettern!«, brüllt Gale. Im Nu bin ich wieder oben und hieve ihn hoch. Ich starre in die Finsternis, ob noch mehr kommen. »Nein.« Gale zieht mein Gesicht zu sich und schüttelt den Kopf. Seine Uniform ist zerfetzt. Seitlich am Hals hat er eine klaffende Wunde.

Von unten hört man einen Menschen schreien. »Da lebt noch jemand«, flehe ich.

»Nein, Katniss. Von denen kommt keiner mehr nach«, sagt Gale. »Nur die Mutationen.«

Ich weigere mich, das zu akzeptieren, und leuchte mit dem Licht an Cressidas Gewehr in den Schacht. Ganz unten erkenne ich Finnick, der sich verzweifelt gegen drei Mutationen wehrt, die an ihm zerren. Als eine seinen Kopf nach hinten reißt, um den tödlichen Biss zu setzen, geschieht etwas Seltsames. Es ist, als wäre ich Finnick und ließe Bilder aus seinem Leben an mir vorüberziehen. Der Mast eines Boots, ein silberner Fallschirm, die lachende Mags, ein rosa Himmel, Beetees Dreizack, Annie im Hochzeitskleid, Wellen, die sich an den Felsen brechen. Dann ist es vorbei.

Ich löse das Holo von meinem Gürtel und sage mit letzter Kraft »Nachtriegel, Nachtriegel, Nachtriegel«. Lasse es in den Schacht fallen. Ducke mich mit den anderen gegen die Wand, während die Explosion die Plattform erschüttert und Fleischfetzen von Mutationen und Menschen durch das Rohr geschossen kommen und auf uns herabregnen.

Pollux lässt den Deckel auf das Rohr krachen und verschließt ihn. Pollux, Gale, Cressida, Peeta und ich. Mehr sind nicht übrig. Die menschlichen Regungen werden später kommen. Jetzt verspüre ich nur das animalische Bedürfnis, die verbleibenden Mitglieder unserer Schar zu retten. »Hier können wir nicht bleiben.«

Jemand reicht einen Verband. Wir wickeln ihn um Gales Hals. Helfen ihm auf. Nur einer kauert noch immer an der Wand. »Peeta«, sage ich. Keine Antwort. Ist er nicht bei Sinnen? Ich hocke mich vor ihn und ziehe seine gefesselten Hände vom Gesicht weg. »Peeta?« Seine Augen sind wie schwarze Teiche, die Pupillen so geweitet, dass die blaue Iris beinahe nicht mehr zu sehen ist. Die Muskeln seiner Handgelenke sind steinhart.

»Lass mich«, flüstert er. »Ich kann nicht mehr.«

»Doch. Du kannst!«, sage ich.

Peeta schüttelt den Kopf. »Ich drehe durch. Ich werde wahnsinnig. Wie sie.«

Wie die Mutationen. Wie eine tollwütige Bestie, die mir um jeden Preis die Kehle herausreißen will. Und hier, an diesem Ort, unter diesen Umständen, werde ich ihn nun wirklich töten müssen. Und Snow wird gewinnen. Heißer, bitterer Hass durchströmt mich. Snow hat heute schon zu oft gewonnen.

Es ist ein großes Risiko, vielleicht ist es Selbstmord, trotzdem tue ich das Einzige, was mir einfallt. Ich beuge mich vor und küsse Peeta auf den Mund. Sein ganzer Körper erbebt, aber ich presse meine Lippen auf seine, bis ich wieder Luft holen muss.

Umfasse seine Hände. »Du darfst nicht zulassen, dass er dich mir wegnimmt.«

Peeta keucht schwer, während er gegen die Albträume in seinem Kopf ankämpft. »Nein, ich möchte nicht …«

Ich umklammere seine Hände so fest, dass es wehtut. »Bleib bei mir.«

Seine Pupillen verengen sich zu kleinen Punkten, weiten sich schnell wieder und nehmen dann so etwas wie Normalgröße an. »Immer«, flüstert er.

Ich helfe Peeta hoch und wende mich an Pollux. »Wie weit ist es bis zur Straße?« Er deutet an, dass sie gleich über uns ist. Ich klettere die letzte Leiter hoch, stoße den Deckel auf und blicke in den Haushaltsraum eines Hauses. Während ich mich aufrichte, öffnet eine Frau die Tür. Sie trägt einen leuchtend türkisfarbenen Morgenrock aus Seide, der mit exotischen Vögeln bestickt ist. Ihr magentafarbenes Haar ist aufgeplustert wie eine Wolke und mit vergoldeten Schmetterlingen verziert. Ihr Lippenstift ist verschmiert von dem Fett der halb gegessenen Wurst, die sie in der Hand hält. Ich sehe ihr an, dass sie mich wiedererkennt. Sie öffnet den Mund, um nach Hilfe zu rufen.

Ohne Zögern schieße ich ihr ins Herz.

23

Wen die Frau rufen wollte, bleibt ein Geheimnis, denn als wir das Apartment durchsuchen, stellen wir fest, dass sie allein war. Vielleicht wollte sie einen Nachbarn alarmieren, vielleicht hat sie nur aus Angst geschrien. Jedenfalls ist niemand hier, der sie hätte hören können.

Dieses Apartment wäre das perfekte Versteck für uns, aber diesen Luxus können wir uns nicht leisten. »Was meint ihr, wie lange es dauert, bis sie darauf kommen, dass ein paar von uns überlebt haben?«, frage ich.

»Sie können jeden Moment hier sein«, antwortet Gale. »Sie wussten, dass wir auf dem Weg nach oben waren. Wahrscheinlich wird die Explosion sie kurz aus dem Konzept bringen, aber dann werden sie sofort versuchen herauszufinden, wo wir durchgeschlüpft sind.«

Ich spähe durch die Jalousien eines Fensters, das auf die Straße hinausgeht, und kann zwar keine Friedenswächter entdecken, dafür aber eine Menge Leute, die ihren Geschäften nachgehen. Auf unserer Reise durch den Untergrund haben wir die evakuierten Gebiete weit hinter uns gelassen und sind in einem belebten Teil des Kapitols wieder aufgetaucht. Die Menschenmenge ist unsere einzige Chance zu entkommen. Ich habe zwar kein Holo mehr, dafür habe ich Cressida. Sie tritt zu mir ans Fenster und bestätigt, dass sie weiß, wo wir sind, nicht sehr weit vom Präsidentenpalast entfernt. Das höre ich gern.

Ein kurzer Blick auf meine Gefährten sagt mir allerdings, dass ein Überraschungsangriff auf Snow zurzeit nicht infrage kommt. Gale verliert nach wie vor Blut aus der Wunde an seinem Hals, die wir nicht einmal säubern konnten. Peeta sitzt auf einem mit Samt bezogenen Sofa und hat die Zähne in ein Kissen geschlagen, entweder um den Wahnsinn abzuwehren oder um einen Schrei zurückzuhalten. Pollux lehnt mit dem Rücken zu uns an einem Deko-Kamin und weint. Cressida steht entschlossen neben mir, aber sie ist leichenblass, selbst aus ihren Lippen ist das Blut gewichen. Mich treibt nur der Hass an. Sollte der abebben, bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen.

»Lasst uns die Schränke durchsuchen«, sage ich.

In einem der Schlafzimmer finden wir Hunderte Frauenkleider, Mäntel, Schuhe und Perücken in allen Farben sowie genug Make-up, um ein Haus damit anzumalen. In dem Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs gibt es die gleiche Ausstattung für Herren. Vielleicht gehört sie ihrem Ehemann, vielleicht einem Liebhaber, der das Glück hat, heute Morgen aushäusig zu sein.

Ich rufe die anderen herbei, damit sie sich verkleiden. Beim Anblick von Peetas blutigen Handgelenken krame ich in den Taschen nach dem Schlüssel für die Handschellen, aber er wendet sich schnell ab.

»Nein«, sagt er. »Tu das nicht. Die sorgen dafür, dass ich nicht völlig durchdrehe.«

»Vielleicht wirst du deine Hände brauchen«, wirft Gale ein.

»Wenn ich merke, dass ich abdrifte, grabe ich meine Hände in das Metall. Der Schmerz hilft mir, mich zu konzentrieren«, sagt Peeta. Ich lasse die Handschellen, wo sie sind.

Zum Glück ist es draußen kalt, sodass wir unsere Uniformen und Waffen großenteils unter wallenden Mänteln und Capes verbergen können. Die Stiefel hängen wir uns an den Senkeln um den Hals, tarnen sie und ziehen stattdessen affige Schühchen an. Die größte Herausforderung sind natürlich die Gesichter. Cressida und Pollux könnten Bekannten in die Arme laufen, Gale könnte man aus Propos und Nachrichten wiedererkennen, und Peeta und mich kennt in Panem sowieso jeder. Hastig helfen wir einander, eine dicke Schicht Make-up aufzutragen, und setzen Perücken und Sonnenbrillen auf. Cressida wickelt Peeta und mir noch Schals über Mund und Nase.

Ich spüre, dass uns nicht viel Zeit bleibt, und stopfe mir nur noch schnell die Taschen mit Lebensmitteln und Erste-Hilfe-Sets voll. »Zusammenbleiben«, schärfe ich den anderen ein, bevor wir die Wohnung verlassen. Dann gehen wir hinaus auf die Straße. Schneeflocken rieseln herab. Aufgeregte Leute schwirren um uns herum, unterhalten sich im affektierten Akzent des Kapitols über Rebellen und Hunger und mich. Wir überqueren die Straße, passieren weitere Wohnungstüren. Als wir um die Ecke biegen, laufen drei Dutzend Friedenswächter vorbei. Wir springen zur Seite, wie die richtigen Bürger, und warten, bis die Menge weiterwogt. »Cressida«, flüstere ich. »Hast du eine Idee, wohin?«

»Ich überlege fieberhaft«, antwortet sie.

Als wir die nächste Querstraße hinter uns haben, beginnen die Sirenen zu heulen. Durch ein Wohnungsfenster sehe ich einen Sonderbericht und Bilder unserer Gesichter. Sie haben noch nicht festgestellt, wer aus unserer Gruppe bereits tot ist, denn auch Castors und Finnicks Gesicht sind dabei. Bald wird jeder Passant für uns so gefährlich sein wie ein Friedenswächter. »Und, Cressida?«

»Es gibt einen Ort. Er ist nicht ideal. Aber wir können es versuchen«, sagt sie. Wir folgen ihr ein paar Querstraßen weiter und biegen durch ein Tor in ein offenbar privates Anwesen. Es ist aber nur eine Art Abkürzung, denn nachdem wir den gepflegten Garten durchquert haben, gelangen wir durch ein zweites Tor in eine kleine Gasse, die zwei Hauptstraßen miteinander verbindet. Ein paar winzige Läden sind zu sehen - einer kauft Gebrauchtwaren auf, ein anderer bietet falschen Schmuck an. Die wenigen Leute, die sich hier aufhalten, beachten uns nicht. Cressida plappert plötzlich in schrillem Ton über Fellunterwäsche, wie unverzichtbar sie in diesen kalten Monaten doch sei. »Und erst die Preise! Glaubt mir, hier zahlt ihr höchstens halb so viel wie in den Läden an der Hauptstraße!«

Vor einem schmuddeligen Schaufenster mit Puppen in Fellunterwäsche halten wir an. Es sieht eigentlich nicht so aus, als hätte der Laden geöffnet, doch Cressida stürmt unverdrossen durch die Eingangstür, wobei sie eine verstimmte Melodie auslöst. In dem engen, dunklen, von Warenregalen gesäumten Geschäft steigt mir der Geruch von Pelzen in die Nase. Der Laden scheint nicht besonders zu laufen, denn wir sind die einzigen Kunden. Cressida geht schnurstracks auf eine gebeugte Gestalt zu, die im hinteren Teil des Ladens sitzt. Während ich ihr folge, fahre ich mit den Fingern über die weichen Kleidungsstücke.

Hinter dem Tresen hockt die seltsamste Person, die ich je gesehen habe. Sie ist ein extremes Beispiel für misslungene Schönheitsoperationen, ein solches Gesicht findet man wohl nicht mal im Kapitol schön. Die Haut wurde straff nach hinten gezogen und mit schwarzen und goldenen Streifen tätowiert. Die Nase ist so flach, dass sie kaum noch vorhanden ist. Ich habe schon Schnurrhaare in Kapitolgesichtern gesehen, aber so lange noch nie. Das Ergebnis ist eine groteske, halb katzenartige Maske, die uns jetzt argwöhnisch mustert.

Cressida zieht ihre Perücke ab und zeigt ihre Rankentattoos. »Tigris«, sagt sie. »Wir brauchen Hilfe.«

Tigris. Tief in meinem Hirn klingelt es. Sie - beziehungsweise eine jüngere, weniger verstörende Version ihrer selbst - gehörte zum festen Repertoire der ersten Hungerspiele, an die ich mich erinnern kann. Eine Stylistin, wenn ich mich recht entsinne. Für welchen Distrikt, weiß ich nicht mehr. 12 war es jedenfalls nicht. Dann hat sie wohl eine Operation zu viel machen lassen und danach sah sie so abstoßend aus.

Das ist also die Endstation für Stylisten, die nicht mehr gebraucht werden. Trostlose Spezialunterwäsche-Läden, in denen sie auf den Tod warten. Von der Öffentlichkeit vergessen.

Ich starre ihr ins Gesicht und frage mich, ob ihre Eltern sie Tigris genannt und ihr diese Entstellung damit schon in die Wiege gelegt haben oder ob sie erst das Outfit entworfen und sich dann entsprechend umbenannt hat.

»Plutarch meinte, wir könnten dir vertrauen«, fügt Cressida hinzu.

Großartig, sie gehört zu Plutarchs Leuten. Das bedeutet, dass sie uns entweder gleich dem Kapitol ausliefert oder aber Plutarch, und damit auch Coin, über unseren Aufenthaltsort informiert. Nein, Tigris’ Laden ist bestimmt nicht ideal. Aber im Augenblick haben wir nichts anderes. Vorausgesetzt, sie hilft uns. Ihr Blick pendelt zwischen einem alten Fernseher auf dem Tresen und uns hin und her, als wollte sie uns einordnen. Damit sie es leichter hat, ziehe ich den Schal herunter, nehme die Perücke ab und trete näher, sodass das Bildschirmlicht auf mein Gesicht fällt.

Tigris knurrt leise, in etwa so, wie Butterblume mich begrüßen würde. Sie gleitet von ihrem Stuhl und verschwindet hinter einem Regal mit pelzgefütterten Leggings. Wir hören ein schleifendes Geräusch, dann taucht ihre Hand auf und winkt uns heran. Cressida sieht mich an, als wollte sie fragen: Meinst du wirklich? Aber was bleibt uns anderes übrig? Unter diesen Umständen zurück auf die Straße zu gehen, würde mit Sicherheit Gefangennahme oder Tod bedeuten. Ich schiebe die Pelze beiseite. Tigris hat ein Brett am Fuß der Wand entfernt. Dahinter kommt eine steile Steintreppe zum Vorschein. Sie bedeutet mir hinabzusteigen.

Alles an dieser Situation schreit: Falle! Panik steigt in mir hoch, ich schaue Tigris in die gelbbraunen Augen. Warum tut sie das? Sie ist kein Cinna, kein Mensch, der bereit ist, sich für andere zu opfern. Diese Frau hat all die Seichtigkeit des Kapitals verkörpert. Sie war einer der Stars der Hungerspiele, bis … bis sie es nicht mehr war. Ist es das? Verbitterung? Hass? Rachsucht? Irgendwie beruhigt mich die Vorstellung. Der Wunsch nach Rache kann lang und heiß brennen. Besonders, wenn jeder Blick in den Spiegel ihn neu nährt.

»Hat Snow dich von den Spielen verbannt?«, frage ich. Sie starrt nur zurück. Irgendwo zuckt ihr Tigerschwanz missmutig. »Ich werde ihn nämlich töten, musst du wissen.« Ihr Mund verzieht sich zu etwas, das ich als Lächeln deute. Beruhigt, dass das hier jetzt nicht der völlige Wahnsinn ist, krieche ich in das Loch.

Auf halber Höhe der Treppe stoße ich mit dem Gesicht gegen eine herunterhängende Kette. Als ich daran ziehe, wird das Versteck von einer flackernden Leuchtstofflampe erhellt. Es ist ein kleiner Keller ohne Türen oder Fenster. Niedrig und lang gestreckt. Vermutlich nur ein Streifen zwischen zwei richtigen Kellerräumen. Leuten, die kein gutes Auge für Abmessungen haben, könnte er glatt verborgen bleiben. Der Raum ist kalt und feucht und die Pelzstapel darin haben wahrscheinlich seit Jahren kein Tageslicht gesehen. Solange Tigris uns nicht verrät, wird uns hier bestimmt niemand finden. Als der letzte meiner Gefährten auf der Treppe ist, wird das Brett zurückgeschoben. Ich höre, wie der Unterwäscheständer auf quietschenden Rollen an seinen Platz gerückt wird und Tigris sich wieder auf ihren Stuhl setzt. Ihr Laden hat uns verschluckt.

Das wurde auch höchste Zeit, denn Gale sieht aus, als würde er gleich zusammenklappen. Aus Pelzen machen wir ihm ein Bett, nehmen ihm Waffen und Panzer ab und helfen ihm, sich auf den Rücken zu legen. Am Ende des Kellerraums befindet sich ein Wasserhahn mit Abfluss. Ich drehe am Hahn und nach langem Spucken und jeder Menge Rost kommt klares Wasser herausgeflossen. Während wir Gales Halsverletzung säubern, wird mir klar, dass es mit Verbinden nicht getan sein wird. Die Wunde muss genäht werden. In den Erste-Hilfe-Sets finden sich eine sterile Nadel und Faden, aber was uns fehlt, ist ein Heiler. Ich überlege, Tigris damit zu beauftragen. Als Stylistin müsste sie wissen, wie man mit einer Nadel umgeht. Aber dann wäre niemand im Laden und wir haben sie sowieso schon genug beansprucht. Vermutlich bin ich diejenige, die am besten für den Job qualifiziert ist. Also beiße ich die Zähne zusammen und mache ein paar gezackte Nähte. Nicht hübsch, aber sie erfüllen ihren Zweck. Anschließend schmiere ich Salbe drauf, verbinde das Ganze und gebe ihm Schmerzmittel. »Jetzt ruh dich aus. Hier sind wir sicher«, sage ich. Gale ist sofort weg.

Während Cressida und Pollux für jeden ein Lager aus Fellen bereiten, kümmere ich mich um Peetas Handgelenke. Behutsam spüle ich das Blut ab, gebe ein Antiseptikum darauf und lege unter den Handschellen einen Verband an. »Du musst achtgeben, dass kein Schmutz darankommt, sonst könnten sie sich entzünden, und …«

»Ich weiß, was eine Blutvergiftung ist, Katniss«, sagt Peeta. »Obwohl meine Mutter keine Heilerin ist.«

Schlagartig bin ich in eine andere Zeit versetzt, bei einer anderen Wunde, anderem Verbandszeug. »Dasselbe hast du bei den ersten Hungerspielen zu mir gesagt. Wahr oder nicht wahr?«

»Wahr«, sagt er. »Und du hast dein Leben riskiert, um die rettende Arznei zu kriegen, stimmt’s?«

»Stimmt«, sage ich schulterzuckend. »Aber dir hatte ich zu verdanken, dass ich am Leben und überhaupt dazu in der Lage war.«

»Ach ja?« Der Kommentar verwirrt ihn. Offenbar kämpft eine leuchtende Erinnerung um seine Aufmerksamkeit, denn sein Körper verkrampft sich, und die frisch verbundenen Gelenke reißen an den Handschellen. Plötzlich weicht alle Energie aus seinem Körper. »Ich bin so müde, Katniss.«

»Leg dich schlafen«, sage ich. Aber er tut es erst, nachdem ich die Handschellen zurechtgerückt und ihn an eine der Treppenstützen gefesselt habe. Es kann nicht sehr bequem sein, so dazuliegen, mit den Armen über dem Kopf. Trotzdem ist auch er nach ein paar Minuten eingeschlafen.

Cressida und Pollux haben Betten für uns gemacht und unsere Essens-und Medikamentenvorräte ausgebreitet. Jetzt fragen sie mich, ob wir eine Wache aufstellen sollen. Ich schaue in Gales leichenblasses Gesicht und auf Peetas Fesseln. Pollux hat seit Tagen kein Auge zugemacht und Cressida und ich hatten höchstens ein paar Stunden Schlaf. Falls ein Trupp Friedenswächter durch diese Tür kommen sollte, säßen wir wie die Ratten in der Falle. Wir sind vollkommen einer altersschwachen Tigerfrau ausgeliefert, die einen hoffentlich alles verzehrenden Wunsch hat: Snow tot zu sehen.

»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass eine Wache etwas bringen würde. Lasst uns lieber versuchen zu schlafen«, sage ich. Sie nicken benommen und wir alle vergraben uns in unseren Pelzen. Das Feuer in mir ist erloschen und mit ihm meine Kraft. Ich ergebe mich den weichen, muffigen Fellen und dem Vergessen.

Ich kann mich nur an einen Traum erinnern. Einen langen, ermüdenden Traum, in dem ich versuche, nach Distrikt 12 zu gelangen. Das Zuhause, das ich suche, ist unzerstört, die Leute leben noch. Effie Trinket, deutlich erkennbar an ihrer pinkfarbenen Perücke und dem Designerkostüm, begleitet mich. Ich versuche, ihr zu entwischen, aber unerklärlicherweise taucht sie immer wieder an meiner Seite auf und beharrt darauf, sie als meine Betreuerin sei dafür verantwortlich, dass wir den Zeitplan einhalten. Nur dass der Zeitplan ständig wechselt, weil es zu Verzögerungen kommt durch den fehlenden Stempel eines Beamten oder einen abgebrochenen Absatz Effies. Tagelang kampieren wir auf einer Bank im grauen Bahnhof von Distrikt 7, wo wir auf einen Zug warten, der nie kommt. Als ich aufwache, fühle ich mich noch erschöpfter als nach meinen gewohnten nächtlichen Ausflügen in Blut und Schrecken.

Cressida, die als Einzige wach ist, sagt, dass es später Nachmittag ist. Ich esse eine Dose Rindereintopf und spüle ihn mit viel Wasser hinunter. Dann lehne ich mich an die Kellerwand und gehe die Ereignisse des vergangenen Tages noch einmal durch. Bewege mich von Tod zu Tod. Zähle sie an den Fingern ab. Eins, zwei - Mitchell und Boggs, verloren auf der Straße. Drei - Messalla, in einer Kapsel geschmolzen. Vier, fünf - Leeg 1 und Jackson, die sich im Fleischwolf opfern. Sechs, sieben, acht - Castor, Homes und Finnick, die von den nach Rosen stinkenden Echsenmutationen enthauptet wurden. Acht Tote in vierundzwanzig Stunden. Ich weiß, dass es passiert ist, und doch fühlt es sich unwirklich an. Bestimmt schläft Castor dort unter dem Pelzstapel, kommt Finnick gleich die Treppe heruntergepoltert, wird Boggs mir seinen Fluchtplan unterbreiten.

An ihren Tod zu glauben, bedeutet zu akzeptieren, dass ich sie getötet habe. Na gut, Mitchell und Boggs vielleicht nicht - sie sind in Ausübung ihrer Pflichten gestorben. Aber die anderen haben ihr Leben verloren, als sie mich in Ausführung eines Auftrags beschützten, den ich mir nur ausgedacht habe. Mein Plan, Snow zu töten, kommt mir jetzt nur noch dumm vor. Unglaublich dumm, während ich hier fröstelnd in diesem Keller sitze, unsere Verluste nachrechne und an den Troddeln der kniehohen Silberstiefel nestele, die ich aus dem Haus der Frau gestohlen habe. Oh, das habe ich ganz vergessen. Sie habe ich auch getötet. Jetzt bringe ich schon unbewaffnete Zivilisten um.

Es ist an der Zeit, dass ich den anderen reinen Wein einschenke.

Als schließlich alle wach sind, gestehe ich. Wie ich mir den Auftrag ausgedacht habe, wie ich mit meinem Rachedurst alle gefährdet habe. Als ich fertig bin, folgt langes Schweigen. Dann sagt Gale: »Katniss, wir alle wussten, dass die Sache mit Coins Auftrag, Snow umzubringen, gelogen war.«

»Ihr vielleicht. Aber die Soldaten aus Distrikt 13 bestimmt nicht«, sage ich.

»Glaubst du wirklich, Jackson hat dir abgenommen, du hättest einen Befehl von Coin?«, fragt Cressida. »Natürlich nicht. Aber sie hat Boggs vertraut, und er wollte ganz klar, dass du weitermachst.«

»Aber mit Boggs habe ich doch nie über meine Pläne gesprochen«, sage ich.

»Du hast es jedem im Kommando erzählt!«, sagt Gale. »Es war eine deiner Bedingungen, damit du den Spotttölpel gibst: >Ich töte Snow.<«

Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun: mit Coin über das Privileg zu feilschen, wer nach Kriegsende Snow hinrichten darf, und diese nicht genehmigte Flucht durchs Kapitol. »Auf jeden Fall nicht so«, sage ich. »Es ist die reinste Katastrophe geworden.«

»Ich würde es im Gegenteil als höchst erfolgreiche Mission bezeichnen«, sagt Gale. »Wir sind ins feindliche Zentrum eingedrungen und haben damit gezeigt, dass die Verteidigungsanlagen des Kapitols nicht unverletzlich sind. Wir haben es geschafft, unsere Aufnahmen in die Nachrichtensendungen des Kapitols einzuschmuggeln. Die Suche nach uns hat die ganze Stadt ins Chaos gestürzt.«

»Plutarch ist begeistert, das kannst du mir glauben«, fügt Cressida hinzu.

»Weil es Plutarch egal ist, ob einer stirbt«, sage ich. »Solange nur seine Spiele zum Erfolg werden.«

Cressida und Gale reden immer weiter auf mich ein. Pollux nickt bekräftigend. Nur Peeta sagt nichts dazu.

»Wie denkst du darüber, Peeta?«, frage ich schließlich.

»Du … du machst dir immer noch keine Vorstellung. Von deiner Wirkung auf andere.« Er schiebt die Handschellen an der Treppenstütze hoch und setzt sich auf. »Die Leute, die wir verloren haben, waren keine Idioten. Sie wussten, was sie taten. Sie sind dir gefolgt, weil sie dir zugetraut haben, Snow zu töten.«

Ich weiß nicht, warum seine Stimme mich erreicht, während alle anderen an mir abprallen. Aber wenn er recht hat, und das glaube ich, dann schulde ich den anderen etwas, das ich nur auf eine Weise zurückzahlen kann. Mit neuer Entschlossenheit hole ich den Stadtplan aus der Uniformtasche und breite ihn auf dem Boden aus. »Wo sind wir, Cressida?«

Tigris’ Laden liegt fünf Querstraßen vom Großen Platz und dem Präsidentenpalast entfernt. Ein leichter Fußmarsch durch ein Gelände, in dem die Kapseln zur Sicherheit der Bürger deaktiviert sind. Mithilfe unserer Verkleidung, ergänzt um ein paar Accessoires aus Tigris’ Fellbeständen, könnten wir unbemerkt dorthin gelangen. Aber was dann? Snows Amtssitz wird garantiert schwer bewacht und rund um die Uhr von Kameras observiert und ist mit Kapseln gespickt, die jederzeit auf Knopfdruck aktiviert werden können.

»Wir müssen ihn dazu bringen, sich draußen zu zeigen«, meint Gale. »Dann könnte einer von uns ihn erledigen.«

»Tritt er überhaupt noch in der Öffentlichkeit auf?«, fragt Peeta.

»Glaube ich kaum«, antwortet Cressida. »Jedenfalls hat er sämtliche Reden, die ich in letzter Zeit gesehen habe, vom Palast aus gehalten. Schon bevor die Rebellen kamen. Und seit Finnick seine Verbrechen öffentlich gemacht hat, ist er garantiert noch mehr auf der Hut.«

Stimmt. Denn jetzt hassen ihn nicht nur Leute wie Tigris, sondern alle, die nun wissen, was er ihren Freunden und Familien angetan hat. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn wir ihn aus dem Palast herauslocken könnten. Da brauchten wir schon …

»Für mich käme er hundertprozentig heraus«, sage ich. »Wenn ich gefangen genommen würde. Das hätte er bestimmt gern so öffentlich wie möglich. Er würde mich auf den Stufen zu seinem Palast hinrichten lassen.« Ich lasse meine Worte wirken. »Dann könnte Gale ihn aus dem Publikum heraus erschießen.«

»Nein«, entgegnet Peeta kopfschüttelnd. »Der Plan könnte auch ganz anders ausgehen. Zum Beispiel könnte Snow dich erst foltern, um an Informationen zu kommen. Oder er lässt dich hinrichten, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Oder er tötet dich im Palast und stellt draußen nur noch deinen toten Körper zur Schau.«

»Gale?«, frage ich.

»Ich finde den Vorschlag zu extrem, um sich gleich dafür zu entscheiden«, sagt er. »Wenn alles andere schiefgeht, vielleicht. Lasst uns weiter nachdenken.«

In der nun folgenden Stille hören wir Tigris’ leise Schritte über uns. Feierabend. Sie schließt den Laden, legt wohl auch die Riegel vor. Kurz darauf wird das Brett oben an der Treppe beiseitegeschoben.

»Kommt rauf«, sagt sie schnurrend. »Ich habe euch etwas zu essen gemacht.« Es sind die ersten Worte, die sie zu uns sagt. Ob von Natur aus oder aufgrund jahrelanger Übung, weiß ich nicht, jedenfalls hat ihre Stimme etwas Katzenhaftes.

Während wir die Treppe hochsteigen, fragt Cressida: »Hast du Kontakt zu Plutarch aufgenommen, Tigris?«

»Unmöglich«, erwidert Tigris achselzuckend. »Er wird sich schon denken, dass ihr irgendwo untergekommen seid. Keine Sorge.«

Keine Sorge? Mir fällt ein Riesenstein vom Herzen, als ich erfahre, dass ich keine direkten Befehle aus 13 bekomme - und missachten muss. Keine Ausreden zu erfinden brauche für all die Entscheidungen, die ich in den letzten Tagen getroffen habe.

Auf dem Ladentisch liegen ein paar alte Kanten Brot, eine Ecke verschimmelter Käse und eine halbe Flasche Senf. Nicht jeder im Kapitol hat dieser Tage einen vollen Bauch. Ich fühle mich verpflichtet, Tigris von unseren Essensvorräten zu erzählen, aber sie wischt meine Einwände mit einer Handbewegung beiseite. »Ich esse so gut wie gar nichts«, sagt sie. »Und wenn, dann nur rohes Fleisch.« Ich finde, jetzt übertreibt sie ihre Rolle etwas, aber ich enthalte mich jeden Kommentars. Ich kratze den Schimmel vom Käse und teile das Essen unter uns auf.

Während wir kauen, schauen wir die neuesten Nachrichten des Kapitols. Die Regierung hat uns fünf als überlebende Rebellen identifiziert. Für Hinweise, die zu unserer Ergreifung führen, sind riesige Belohnungen ausgesetzt. Es wird betont, dass wir gefährlich sind. Man sieht, wie wir uns eine Schießerei mit Friedenswächtern liefern, aber nicht, wie die Mutationen ihnen die Köpfe abreißen. In rührseliger Weise wird über die Frau berichtet, die noch immer so daliegt, wie wir sie zurückgelassen haben, mit meinem Pfeil in ihrem Herzen. Für die Kameras wurde allerdings ihr Make-up aufgefrischt.

Die Übertragung läuft ungestört. »Haben die Rebellen heute eine Erklärung verlesen?«, frage ich Tigris. Sie schüttelt den Kopf. »Coin weiß wohl nicht, was sie mit mir anfangen soll, jetzt, da ich noch am Leben bin.«

Tigris gibt ein kehliges Gekicher von sich. »Keiner weiß, was er mit dir anfangen soll, Mädel.« Dann drängt sie mir ein Paar von ihren Pelzleggings auf, obwohl ich sie nicht bezahlen kann. Das ist so ein Geschenk, das man einfach annehmen muss. Außerdem ist es in dem Keller auch ziemlich kalt.

Nach dem Abendessen steigen wir wieder hinunter und zerbrechen uns den Kopf darüber, wie es weitergehen soll. Keiner hat eine zündende Idee, aber wir sind uns einig, dass wir nicht länger als Fünfergruppe hinausgehen können und dass wir erst einmal versuchen sollten, auf andere Weise in den Präsidentenpalast zu gelangen, ehe ich mich als Köder anbiete. Um Streit zu vermeiden, stimme ich zu. Falls ich beschließe, mich zu opfern, treffe ich diese Entscheidung sowieso allein, ohne die Erlaubnis oder Hilfe anderer.

Wir wechseln die Verbände, fesseln Peeta wieder an seine Treppenstütze und legen uns schlafen. Ein paar Stunden später wache ich auf und werde Zeuge einer leisen Unterhaltung. Peeta und Gale. Es ist unmöglich, nicht zu lauschen.

»Danke für das Wasser«, sagt Peeta.

»Nicht der Rede wert«, antwortet Gale. »Ich wache sowieso jede Nacht zehnmal auf.«

»Um sicherzugehen, dass Katniss noch da ist?«, fragt Peeta. »So was in der Art«, gibt Gale zu.

Es folgt eine lange Pause, dann spricht Peeta weiter. »Das war lustig, was Tigris gesagt hat. Dass keiner weiß, was er mit ihr anfangen soll.«

»Tja, wir jedenfalls nicht«, sagt Gale.

Sie lachen. Es ist wirklich komisch, sie so reden zu hören.

Fast, als wären sie Freunde. Sie sind aber keine. Waren nie welche. Wobei, richtige Feinde sind sie auch nicht.

»Sie liebt dich, weißt du?«, sagt Peeta. »Das hat sie mir mehr oder weniger deutlich gesagt, als du ausgepeitscht wurdest.«

»Glaub ich nicht«, entgegnet Gale. »So, wie sie dich beim Jubel-Jubiläum geküsst hat … also, mich hat sie nie so geküsst.«

»Das gehörte doch zur Show«, sagt Peeta, obwohl ein Hauch von Zweifel in seiner Stimme liegt.

»Nein, du hast sie rumgekriegt. Du hast alles für sie aufgegeben. Vielleicht ist das der einzige Weg, sie zu überzeugen, dass du sie liebst.« Wieder eine lange Pause. »Ich hätte bei den ersten Spielen freiwillig an deiner Stelle gehen sollen. Dann hätte ich sie beschützt.«

»Konntest du aber nicht«, wendet Peeta ein. »Das hätte sie dir nie verziehen. Du musstest für ihre Familie sorgen. Ihre Familie bedeutet ihr mehr als ihr Leben.«

»Was soll’s, das Problem löst sich ja bald von selbst. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir alle drei das Ende dieses Kriegs erleben werden. Und selbst wenn, ist es eher Katniss’ Problem. Wen sie erwählt.« Gale gähnt. »Wir sollten noch ein bisschen schlafen.«

»Ja.« Peetas Handschellen rutschen an der Stütze herunter, er hat sich wieder hingelegt. »Ich frage mich, wie sie ihre Entscheidung treffen wird.«

»Das ist nicht so schwer«, höre ich Gale noch durch eine Schicht Pelze murmeln. »Katniss wird den nehmen, von dem sie denkt, dass sie ohne ihn nicht überleben kann.«

24

Mich schaudert. Bin ich wirklich so kalt und berechnend? Gale hat nicht gesagt: »Katniss wird den nehmen, bei dem es ihr das Herz bricht, wenn sie ihn aufgeben muss«, oder gar »ohne den sie nicht leben kann«. Das hätte immerhin vorausgesetzt, dass ich irgendwie von Leidenschaft geleitet wäre. Doch mein bester Freund prophezeit, dass ich den nehmen werde, von dem ich denke, dass ich »ohne ihn nicht überleben kann«. Er hält es für ausgeschlossen, dass ich von Liebe oder Verlangen oder auch nur der Frage, wer am besten zu mir passt, getrieben sein könnte. Gales Meinung nach werde ich kühl kalkulieren, welcher meiner potenziellen Gefährten mir mehr zu bieten hat. Als ginge es nur um die Frage, ob mir ein Bäcker oder ein Jäger ein längeres Leben verspricht. Es ist schrecklich, dass Gale so etwas sagt. Und dass Peeta nicht widerspricht. Wo mir doch all meine Gefühle vom Kapitol oder von den Rebellen genommen und ausgeschlachtet wurden. In diesem Augenblick fiele mir die Wahl leicht. Ich kann prima ohne die beiden überleben.

Am nächsten Morgen habe ich weder Kraft noch Zeit, mich um verletzte Gefühle zu kümmern. Zum Frühstück, das aus Leberpastete und Feigenkeksen besteht und das wir noch vor dem Morgengrauen einnehmen, versammeln wir uns vor Tigris’ Fernseher und warten darauf, dass Beetee sich einschaltet. Es gibt neue Entwicklungen im Kriegsverlauf. Offenbar inspiriert von der schwarzen Welle, ist den Rebellenkommandeuren die Idee gekommen, die zurückgelassenen Automobile der Leute zu konfiszieren und sie als unbemannte Vorhut durch die Straßen zu schicken. Jede Kapsel lösen die Autos zwar nicht aus, aber die meisten natürlich schon. Mithilfe dieser Taktik haben die Rebellen seit dem frühen Morgen damit begonnen, drei getrennte Schneisen ins Zentrum des Kapitols zu schlagen - schlicht als Linie A, B und C bezeichnet. So können sie ohne nennenswerte Verluste einen Straßenzug nach dem anderen erobern.

»Das kann nicht so weitergehen«, sagt Gale. »Es wundert mich, dass es überhaupt so lange funktioniert hat. Das Kapitol wird sich darauf einstellen und manche Kapseln deaktivieren und erst dann manuell auslösen, wenn die eigentlichen Ziele in Reichweite sind.« Schon wenige Minuten später können wir genau das auf dem Bildschirm mitverfolgen. Eine Rebelleneinheit schickt ein leeres Auto über die Straße und löst dadurch vier Kapseln aus. Der Weg scheint frei. Drei Aufklärer folgen dem Wagen und gelangen heil ans Ende der Straße. Doch als eine Gruppe von zwanzig Rebellensoldaten ihnen folgt, wird sie auf der Höhe eines Blumenladens, vor dem mehrere mit Rosen bepflanzte Töpfe explodieren, in Stücke gerissen.

»Bestimmt leidet Plutarch wie ein Hund, dass er jetzt nicht an den Knöpfen sitzt«, sagt Peeta.

Beetee schaltet wieder um auf das Kapitolprogramm, wo eine Sprecherin mit grimmigem Gesicht verkündet, welche Straßenabschnitte von den Bewohnern zu evakuieren sind. Anhand dieser Angaben und der Bilder zuvor kann ich die aktuellen Stellungen der gegnerischen Armeen auf meinem Stadtplan einzeichnen.

Draußen sind Schritte zu hören. Ich laufe zum Fenster und spähe durch einen Spalt im Rollladen. Im Dämmerlicht werde ich Zeuge eines seltsamen Schauspiels. Flüchtlinge aus den eroberten Straßenzügen strömen vorbei, dem Zentrum zu. Die Panischen noch in Schlafanzug und Pantoffeln, die anderen, die besser vorbereitet waren, mit mehreren Schichten Kleidung übereinander. Sie schleppen alles Mögliche mit, vom Schoßhündchen bis zu Schmuckkästchen und Topfpflanzen. Ein Mann im Bademantel hat nur eine überreife Banane dabei. Schlaftrunkene Kinder stolpern hinter ihren Eltern her, die meisten zu erstaunt oder verwirrt, um zu weinen. In Ausschnitten ziehen sie an meinem Sichtstreifen vorbei. Schreckgeweitete braune Augen. Ein Arm, der die Lieblingspuppe umfasst. Nackte, blau gefrorene Füße, die über das unebene Pflaster tappen. Der Anblick erinnert mich an die Kinder aus Distrikt 12, die auf der Flucht vor den Brandbomben gestorben sind. Ich trete vom Fenster zurück.

Tigris bietet an, sich tagsüber ein wenig umzusehen. Ein guter Vorschlag, denn sie ist die Einzige, auf deren Kopf keine Belohnung ausgesetzt ist. Nachdem wir wieder im Versteck sind, geht sie hinaus, um die Lage zu peilen.

Ich renne ununterbrochen auf und ab und mache die anderen im Keller ganz verrückt. Etwas sagt mir, dass es ein Fehler wäre, den Flüchtlingsstrom nicht auszunutzen. Können wir uns eine bessere Deckung wünschen? Andererseits bedeutet jeder obdachlose Flüchtling, der auf den Straßen umherirrt, ein weiteres Augenpaar, das nach den fünf flüchtigen Rebellen sucht. Aber noch mal: Was bringt es uns hierzubleiben? In den vergangenen Stunden haben wir doch nur unsere kleinen Essensvorräte verbraucht und darauf gewartet … ja, worauf? Darauf, dass die Rebellen das Kapitol einnehmen? Das könnte noch Wochen dauern, und ich bin mir nicht sicher, was ich dann tun würde. Bestimmt nicht ins Freie rennen und ihnen zujubeln. Bevor ich dreimal »Nachtriegel« sagen könnte, hätte Coin mich zurück nach Distrikt 13 geschickt. Ich bin nicht den ganzen Weg gegangen, habe nicht so viele Leute verloren, um mich dieser Frau auszuliefern. Ich töte Snow. Abgesehen davon, ist in den letzten Tagen verdammt vieles passiert, was ich nicht so einfach erklären könnte. Einiges würde die Abmachung über die Straffreiheit der Siegertribute vermutlich hinfällig machen. Dabei habe ich das Gefühl, dass ein paar von ihnen diese Immunität dringend brauchen werden. Peeta zum Beispiel. Der, egal wie man es dreht, dabei gefilmt wurde, wie er Mitchell in die Netzkapsel stößt. Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche Schlüsse Coins Kriegstribunal daraus ziehen würde.

Am späten Nachmittag werden wir langsam unruhig, weil Tigris so lange fortbleibt. Wir wägen die Chancen ab, dass sie verhaftet und eingesperrt worden ist, uns freiwillig angezeigt hat oder schlicht in der Flüchtlingswelle verletzt worden ist. Gegen sechs Uhr kommt sie dann doch zurück. Erst hören wir eine Zeit lang oben Schritte, dann löst sie endlich das Brett. Wunderbarer Bratenduft erfüllt die Luft. Tigris hat uns eine Pfanne mit Schinkenwürfeln und Kartoffeln zubereitet. Es ist die erste warme Mahlzeit seit Tagen, und während ich warte, dass ich an der Reihe bin, läuft mir fast der Speichel aus dem Mund.

Beim Kauen versuche ich, Tigris zuzuhören, die erzählt, wie sie an das Essen gekommen ist, aber ich bekomme nur mit, dass Fellunterwäsche zurzeit eine begehrte Tauschware ist. Besonders bei Leuten, die ihre Wohnung spärlich bekleidet verlassen haben. Viele halten sich noch immer unter freiem Himmel auf und suchen nach einem Unterschlupf für die Nacht. Die Bewohner der Luxuswohnungen in der Innenstadt haben nicht etwa bereitwillig ihre Türen geöffnet, um die Obdachlosen aufzunehmen. Im Gegenteil, die meisten haben die Türen verrammelt und die Rollläden heruntergelassen und tun so, als wären sie nicht da. Deshalb ist der Große Platz im Zentrum voller Flüchtlinge, und die Friedenswächter gehen von Tür zu Tür und weisen Gäste zu - wenn es sein muss, mit Gewalt.

Im Fernsehen sehen wir den Obersten Friedenswächter, der mit knappen Worten eine neue Regelung verkündet, wie viele Menschen jeder Wohnungsbesitzer entsprechend der Größe des Apartments bei sich aufnehmen muss. Heute Nacht, ruft er den Bewohnern des Kapitols in Erinnerung, würden die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken; in diesen Krisenzeiten erwarte der Präsident von allen, nicht nur willige, sondern begeisterte Gastgeber zu sein. Dann werden ziemlich gestellt wirkende Szenen eingeblendet, die besorgte Bürger bei der Aufnahme dankbarer Flüchtlinge in ihrer Wohnung zeigen. Der Präsident persönlich, fährt der Oberste Friedenswächter fort, habe befohlen, dass ein Teil seines Palastes hergerichtet wird, um ab morgen ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen. Und schließlich sollten auch Geschäftsleute sich darauf einstellen, auf Anordnung ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.

»Das könnte dich betreffen, Tigris«, sagt Peeta. Gut möglich. Falls die Zahl der Flüchtlinge weiter zunimmt, könnte selbst dieser enge Schlauch von Laden beschlagnahmt werden. Und dann säßen wir hier im Keller buchstäblich in der Falle, in ständiger Gefahr, entdeckt zu werden. Wie viele Tage haben wir noch? Einen? Vielleicht zwei?

Jetzt ist wieder der Oberste Friedenswächter zu sehen. Er gibt der Bevölkerung weitere Instruktionen. Offenbar ist es diesen Abend zu einem bedauerlichen Zwischenfall gekommen, in dessen Verlauf die Menge einen jungen Mann totgeprügelt hat, der Peeta ähnlich sah. Von nun an muss es, wenn jemand einen Rebellen sichtet, unverzüglich den Behörden gemeldet werden, die die Identifizierung und Verhaftung des Verdächtigen vornehmen. Ein Foto des Opfers wird eingeblendet. Abgesehen von den offensichtlich gebleichten Locken, sieht er Peeta nicht ähnlicher als ich.

»Die Leute drehen allmählich durch«, murmelt Cressida.

Aus der kurzen Einblendung der Rebellen im Anschluss erfahren wir, dass heute weitere Straßenabschnitte eingenommen worden sind. Ich zeichne die Kreuzungen in meine Karte ein. »Linie C ist nur vier Querstraßen entfernt«, verkünde ich. Irgendwie erfüllt mich diese Erkenntnis mit größerer Sorge als die Vorstellung von Friedenswächtern, die nach Unterkünften suchen. Auf einmal werde ich ganz hilfsbereit. »Heute spüle ich mal das Geschirr.«

»Ich helfe dir«, sagt Gale sofort und sammelt die Teller ein.

Ich spüre Peetas Blick auf uns, als wir den Raum verlassen. In der engen Küche im hinteren Teil von Tigris’ Laden fülle ich das Spülbecken mit heißem Wasser und schütte Spülmittel hinein. »Glaubst du das?«, frage ich. »Dass Snow Flüchtlinge in seinen Palast lässt?«

»Ich denke, ihm bleibt keine andere Wahl, zumindest für die Kameras«, antwortet Gale.

»Dann mache ich mich morgen früh auf den Weg«, sage ich.

»Ich komme mit«, sagt Gale. »Was machen wir mit den anderen?«

»Pollux und Cressida könnten nützlich sein. Sie sind gute Führer«, sage ich. Doch Pollux und Cressida sind nicht das eigentliche Problem. »Aber Peeta ist zu …«

»… unberechenbar«, beendet Gale den Satz. »Glaubst du, er würde immer noch zustimmen, dass wir ihn zurücklassen?«

»Zur Begründung könnten wir sagen, dass er uns gefährdet«, sage ich. »Wenn wir überzeugend wirken, bleibt er vielleicht hier.«

Peeta reagiert einigermaßen vernünftig auf unseren Vorschlag. Stimmt uns zu, dass seine Anwesenheit uns gefährden könnte. Wenn’s nach mir ginge, kann er den Krieg einfach hier in Tigris’ Keller aussitzen, überlege ich. Doch da verkündet er plötzlich, dass er auf eigene Faust rausgehen will.

»Wozu?«, fragt Cressida.

»Das weiß ich noch nicht genau. Ich könnte vielleicht ein Ablenkungsmanöver veranstalten. Ihr habt doch gesehen, was mit dem Mann passiert ist, der so aussah wie ich«, sagt er.

»Und was, wenn du … die Beherrschung verlierst?«, frage ich.

»Wenn ich zur Mutation werde, meinst du? Tja, wenn ich das merke, werde ich versuchen, hierher zurückzukommen«, versichert er.

»Und wenn Snow dich wieder schnappt?«, fragt Gale. »Du hast nicht mal ein Gewehr.«

»Ich muss einfach auf mein Glück vertrauen«, sagt Peeta. »So wie ihr.« Die beiden wechseln einen langen Blick, dann fasst Gale in seine Brusttasche. Er drückt Peeta seine Nachtriegel-Pille in die Hand. Peeta lässt sie in der offenen Hand liegen, unschlüssig, ob er sie annehmen oder ablehnen soll. »Und was ist mit dir?«

»Keine Sorge«, sagt Gale. »Beetee hat mir gezeigt, wie ich meine Sprengpfeile per Hand zum Explodieren bringe. Falls das nicht klappt, habe ich noch mein Messer. Und Katniss.« Er lächelt. »Sie wird ihnen nicht die Genugtuung gönnen, mich lebend zu schnappen.«

Bei dem Gedanken, wie die Friedenswächter Gale mit sich schleppen, höre ich wieder das Lied …

Kommst du, kommst du,

Kommst du zu dem Baum …

»Nimm sie, Peeta«, sage ich gepresst. Ich strecke die Hand aus und schließe seine Finger über der Pille. »Es wird keiner da sein, der dir hilft.«

Die Nacht verläuft unruhig, einer weckt den anderen mit seinen Albträumen, in den Köpfen schwirren die morgigen Pläne herum. Ich bin erleichtert, als es fünf Uhr wird und wir endlich den Tag angehen können, was immer er für uns bereithält. Zum Frühstück brauchen wir die restlichen Essensvorräte - Dosenpfirsiche, Cracker und Schnecken - auf und lassen nur eine Dose mit Lachs für Tigris übrig, ein dürftiges Dankeschön für alles, was sie getan hat. Die Geste scheint sie zu berühren. Ihr Gesicht nimmt einen eigenartigen Ausdruck an und sie wird auf einmal ganz geschäftig. Eine Stunde braucht sie, um uns alle fünf auszustaffieren. Sie kleidet uns so ein, dass unsere Uniformen gänzlich von gewöhnlichen Kleidungsstücken verdeckt werden, noch bevor wir Mäntel und Umhänge übergezogen haben. Sie bedeckt unsere Soldatenstiefel mit einer Art Fellslipper. Befestigt die Perücken mit Nadeln. Wischt die grellen Farbreste ab, die wir uns vor ein paar Tagen hastig ins Gesicht geschmiert haben, und schminkt uns neu. Drapiert unsere Mäntel so, dass die Waffen verborgen sind. Dann gibt sie uns Handtaschen und irgendwelchen Tand, den wir bei uns tragen sollen. Schließlich sehen wir genauso aus wie die Flüchtlinge auf den Straßen.

»Man soll nie die Macht eines erstklassigen Stylisten unterschätzen«, sagt Peeta. Ich glaube, unter ihren Streifen errötet Tigris sogar ein bisschen.

Das Fernsehen bringt keine hilfreichen Neuigkeiten, doch die Straße ist noch immer voller Flüchtlinge, so wie gestern Morgen. Unser Plan sieht vor, dass wir uns in drei Gruppen in den Menschenstrom einreihen. Erst Cressida und Pollux, die vorangehen und uns führen. Danach wollen Gale und ich versuchen, uns unter die Flüchtlinge zu mischen, die heute im Präsidentenpalast untergebracht werden sollen. Zuletzt Peeta, der uns folgen wird, jederzeit bereit, bei Bedarf einen Tumult zu verursachen.

Tigris späht durch den Rollladen und wartet auf den richtigen Moment, dann entriegelt sie die Tür und nickt Cressida und Pollux zu. »Pass auf dich auf«, sagt Cressida, dann sind sie fort.

Wir sollen eine Minute später folgen. Ich ziehe den Schlüssel hervor, schließe die Handschellen auf und stecke sie in die Tasche. Peeta reibt sich die Handgelenke. Dehnt sie. Ein Gefühl der Verzweiflung steigt in mir auf. Es ist wie damals beim Jubel-Jubiläum, als Beetee Johanna und mir die Drahtrolle reichte.

»Hör zu«, sage ich. »Keine Dummheiten, ja?«

»Nein. Nur wenn sich’s nicht vermeiden lässt. Absolut«, sagt er.

Ich schlinge die Arme um seinen Hals, merke, wie er zögert und mich dann doch in die Arme schließt. Nicht so fest wie früher, aber immer noch warm und stark. Tausend Momente durchströmen mich. All die Male, als diese Arme meine letzte Zuflucht auf der Welt waren. Damals habe ich diese Momente vielleicht nicht richtig zu schätzen gewusst, aber in meiner Erinnerung sind sie so süß - und jetzt für immer vergangen. »Also dann.« Ich lasse ihn los.

»Es wird Zeit«, sagt Tigris. Ich küsse sie auf die Wange, zurre mein rotes Kapuzencape fest, ziehe den Schal über die Nase und folge Gale hinaus in die kalte Luft.

Eisige Schneeflocken stechen in meine ungeschützte Haut. Die aufgehende Sonne versucht die Finsternis zu durchdringen, aber ohne großen Erfolg. Das Licht reicht gerade aus, um die eingemummelten Gestalten in unmittelbarer Nähe zu erkennen, viel mehr nicht. Wirklich optimale Bedingungen, nur dass ich Cressida und Pollux leider auch nicht ausmachen kann. Gale und ich lassen die Köpfe sinken und schlurfen mit den Flüchtlingen davon. Was ich gestern durch Rollläden und Fenster nicht hören konnte, bekomme ich nun mit. Weinen, Klagen, schwerfälliges Atmen. Und, nicht allzu weit entfernt, Schüsse.

»Wohin gehen wir, Onkel?«, fragt ein schlotternder Junge einen Mann, der unter der Last eines kleinen Safes ächzt.

»Zum Präsidentenpalast. Dort wird man uns eine neue Wohnung zuweisen«, schnauft der Mann.

Wir biegen in eine der Hauptstraßen ein. »Rechts gehen!«, befiehlt eine Stimme. Überall in der Menge sind Friedenswächter zu sehen, die den Menschenstrom regeln. Verängstigte Gesichter starren durch die Schaufensterscheiben der Geschäfte, in denen sich schon die Flüchtlinge drängen. Wenn das so weitergeht, wird Tigris spätestens um die Mittagszeit neue Gäste bekommen. Gut für alle Beteiligten, dass wir uns zum Aufbruch entschlossen haben.

Es ist jetzt heller, trotz des andauernden Schneefalls. Dreißig Meter vor uns entdecke ich Cressida und Pollux, die mit der Menge trotten. Ich recke den Hals auf der Suche nach Peeta, sehe ihn aber nicht. Dafür errege ich die Aufmerksamkeit eines misstrauisch dreinschauenden kleinen Mädchens in einem zitronengelben Mantel. Ich stupse Gale an und verringere meine Geschwindigkeit unmerklich, sodass sich zwischen uns eine Mauer aus Menschen bildet.

»Vielleicht müssen wir uns trennen«, flüstere ich ihm zu. »Das kleine Mädchen da …«

Plötzlich peitschen Schüsse in die Menge, in unmittelbarer Nähe sinken die Leute zu Boden, man hört Schreie. Eine zweite Salve mäht noch mehr Menschen hinter uns nieder. Gale und ich lassen uns zu Boden fallen und kriechen die zehn Meter zu einem Schuhgeschäft hinüber, wo wir hinter einem Verkaufstisch mit Pumps Deckung suchen.

Gale kann nichts sehen, weil eine Reihe mit Federn dekorierter Schuhe ihm die Sicht versperrt. »Von wo kommt das? Kannst du was sehen?«, fragt er. Durch eine Reihe abwechselnd lavendel-und minzefarbener Stiefel hindurch sehe ich nur die mit Leichen übersäte Straße. Das kleine Mädchen, das mich eben noch angestarrt hat, kniet kreischend neben einer reglos daliegenden Frau und versucht, sie wach zu rütteln. Die dritte Salve erwischt das Mädchen auf Brusthöhe und färbt seinen gelben Mantel rot. Es kippt nach hinten weg. Ich starre auf die kleine zusammengesunkene Gestalt und bin einen Moment lang unfähig, etwas zu sagen. Gale stößt mich mit dem Ellbogen an. »Katniss?«

»Die Schüsse kommen vom Dach über uns«, sage ich. Ich sehe noch mehr weiße Uniformen, die auf die verschneiten Straßen strömen. »Sie zielen auf die Friedenswächter, aber sie sind nicht besonders treffsicher. Es müssen die Rebellen sein.« Ich empfinde keinen Triumph, obwohl meine Verbündeten offenbar den Durchbruch geschafft haben. Ich bin ganz gebannt von dem zitronengelben Mantel.

»Wenn wir jetzt schießen, war’s das«, sagt Gale. »Dann weiß alle Welt, dass wir es sind.«

Das ist wahr. Wir haben nur unsere berühmten Bogen. Ein Pfeil würde beiden Seiten signalisieren, dass wir hier sind.

»Nein«, sage ich energisch. »Wir müssen Snow kriegen.«

»Dann machen wir uns lieber aus dem Staub, bevor die ganze Straße in die Luft fliegt«, sagt Gale. Wir halten uns dicht an der Häuserwand. Nur dass die Wand hauptsächlich aus Schaufenstern besteht, an die sich schwitzende Handflächen und gaffende Gesichter drücken. Ich ziehe mir den Schal über die Wangenknochen. Hinter einem Verkaufstisch mit gerahmten Porträts von Snow stoßen wir auf einen verwundeten Friedenswächter, der an einer Ziegelmauer lehnt. Er bittet uns um Hilfe. Gale rammt ihm das Knie gegen die Schläfe und nimmt sein Gewehr an sich. An der Kreuzung erschießt er einen zweiten Friedenswächter, jetzt haben wir beide Feuerwaffen.

»Und wen sollen wir jetzt darstellen?«, frage ich.

»Verzweifelte Bürger des Kapitols«, sagt Gale. »Die Friedenswächter werden denken, dass wir auf ihrer Seite stehen, und die Rebellen haben hoffentlich interessantere Ziele.«

Ob das so schlau ist, frage ich mich, während wir über die Kreuzung sprinten. Doch als wir die andere Seite erreichen, spielt es keine Rolle mehr, wer wir sind. Wer überhaupt jemand ist. Denn auf Gesichter achtet hier niemand. Die Rebellen sind schon da. Sie strömen auf die Straße, suchen Deckung in Hauseingängen und hinter Fahrzeugen, Gewehrfeuer blitzt auf, heisere Stimmen rufen Kommandos, sie bereiten sich darauf vor, eine Armee aus Friedenswächtern anzugreifen, die auf uns zumarschiert. Mittendrin sitzen die Flüchtlinge in der Falle, unbewaffnet, orientierungslos, viele verletzt.

Vor uns geht eine Kapsel los und setzt einen Dampfstrahl frei, der jeden, der davon getroffen wird, augenblicklich verbrüht. Die Opfer sind im Nu rosa wie Eingeweide und mausetot. Danach ist das letzte bisschen Ordnung dahin. Die Dampfkringel werden eins mit den Schneeflocken und meine Sicht reicht kaum noch bis zum Ende meines Gewehrlaufs. Friedenswächter, Rebell, Bürger - wer weiß? Alles, was sich bewegt, gibt ein Ziel ab. Die Leute schießen reflexhaft und ich bilde keine Ausnahme. Mit klopfendem Herzen und voller Adrenalin sehe ich in jedem einen Feind. Nur nicht in Gale. Mein Jagdgefährte, der Einzige, dem ich vertraue. Uns bleibt nichts anderes übrig, als vorzurücken und jeden zu töten, der unseren Weg kreuzt. Schreiende Menschen, blutende Menschen, tote Menschen überall. Als wir die nächste Ecke erreichen, erstrahlt der ganze Straßenzug vor uns in einem leuchtend violetten Glanz. Wir ziehen uns zurück, verschanzen uns in einem Treppenaufgang und blinzeln in den Lichtschein. Mit denen, die von dem Licht erfasst werden, geschieht etwas. Sie werden angegriffen, aber wovon? Von einem Geräusch? Einer Welle? Einem Laser? Sie lassen die Waffen fallen, schlagen die Hände vors Gesicht, während aus allen sichtbaren Körperöffnungen - Augen, Nase, Mund, Ohren - Blut spritzt. In weniger als einer Minute sind alle tot und der Glanz erlischt. Ich beiße die Zähne zusammen und renne los, springe über die Leichen, rutsche in den Blutlachen aus. Der Wind treibt die Schneeflocken in Wirbeln zusammen, die mir die Sicht nehmen, doch er übertönt nicht das Getrampel einer neuen Welle von Stiefeln, die uns entgegenkommen.

»Runter!«, zische ich Gale zu. Wir lassen uns sofort fallen. Mein Gesicht landet in einer noch warmen Blutlache, aber ich tue so, als wäre ich tot, rühre mich nicht, während die Stiefel über uns hinwegpoltern. Manche versuchen, nicht auf die Leichen zu treten. Andere trampeln auf meiner Hand, meinem Rücken herum, streifen im Vorbeigehen meinen Kopf. Als die Stiefel vorüber sind, öffne ich die Augen und nicke Gale zu.

Hinter der nächsten Querstraße stoßen wir auf noch mehr verschreckte Flüchtlinge, dafür sind kaum Soldaten zu sehen. Gerade als es so aussieht, als könnten wir ein wenig verschnaufen, ist ein Knacken zu hören, wie von einem Ei, das am Schüsselrand aufgeschlagen wird, nur tausendmal lauter. Wir bleiben stehen und suchen nach der Kapsel. Es ist keine da. Plötzlich spüre ich, wie sich die Spitzen meiner Stiefel ganz leicht neigen. »Lauf!«, schreie ich Gale zu. Es bleibt keine Zeit für Erklärungen, binnen Sekunden wird die Natur dieser Kapsel sowieso für jeden offensichtlich. Auf halber Höhe des Straßenabschnitts hat sich ein Riss aufgetan. Die gepflasterte Straße klappt nach unten auf, und langsam kippen die Leute in … was immer dort unten sein mag.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich auf kürzestem Weg zur nächsten Kreuzung rennen oder mein Glück lieber bei einem der Tore, die sich auf die Straße öffnen, versuchen und durch ein Gebäude entkommen soll. Die Folge ist, dass ich nicht den kürzesten Weg nehme, sondern mich wie auf einer Diagonale bewege. Je weiter sich die Klappen öffnen, desto schwieriger wird es, auf den glitschigen Steinen nicht abzurutschen. Es ist, als liefe ich quer über einen vereisten Hang, der mit jedem Schritt steiler wird. Als meine beiden Ziele - die Kreuzung und das Gebäude - schon fast zum Greifen nah sind, geben die Klappen abrupt nach. Jetzt kann ich mich nur noch zum Rand retten. Während ich mich an einer Kante festkralle, kippen die Klappen nach unten weg. Meine Füße baumeln in der Luft, finden nirgendwo Halt. Aus der Tiefe, fünfzehn Meter unter mir, steigt ein widerlicher Gestank auf, wie verwesende Körper in der Sommerhitze. Schwarze Gestalten kriechen im Halbschatten umher und bringen alle zum Schweigen, die den Sturz überlebt haben.

Ich stoße einen erstickten Schrei aus. Niemand kommt mir zu Hilfe. Lange werde ich mich nicht mehr an der eisigen Kante festhalten können, doch da erkenne ich, dass die Ecke mit der Kapsel nur zwei Meter entfernt ist. Zentimeter für Zentimeter hangele ich mich dorthin vor und versuche dabei, die schrecklichen Geräusche von unten auszublenden. Als ich die Ecke erreiche, schwinge ich den rechten Fuß über eine Seite hinauf. Ich finde Halt und ziehe mich vorsichtig auf die Straße. Keuchend und zitternd krieche ich weiter zu einem Laternenpfahl und umschlinge ihn mit den Armen wie einen Anker, obwohl der Boden hier vollkommen eben ist.

»Gale?«, rufe ich in den Abgrund. Es ist mir egal, ob ich entdeckt werde. »Gale?«

»Ich bin hier!« Verwundert schaue ich nach links. Die Klappe hat sich direkt entlang der Häuserwand geöffnet. Etwa ein Dutzend Leute haben es bis dorthin geschafft und halten sich nun an allem fest, was Halt gibt. Klinken, Türklopfer, Briefschlitze. Drei Türen weiter klammert Gale sich an die schmiedeeiserne Verzierung einer Wohnungstür. Wäre sie offen, könnte er problemlos eintreten. Doch niemand kommt ihm zu Hilfe, ungeachtet seiner verzweifelten Tritte gegen die Tür.

»Geh in Deckung!«, rufe ich und lege das Gewehr an. Er wendet sich ab, und ich schieße mehrmals auf das Schloss, bis die Tür nach innen auffliegt. Gale schwingt sich hinein und landet der Länge nach auf dem Boden. Einen Augenblick lang schwelge ich im Hochgefühl seiner Rettung. Dann wird er von weiß behandschuhten Händen gepackt.

Unsere Blicke treffen sich, er formt Worte mit den Lippen, aber ich verstehe nicht. Weiß nicht, was ich tun soll. Zurücklassen kann ich ihn nicht, zu ihm aber auch nicht. Wieder bewegt er die Lippen. Ich schüttele den Kopf, um ihm meine Verwirrung zu zeigen. Jeden Augenblick wird ihnen aufgehen, wen sie da gefangen genommen haben. Jetzt zerren ihn die Friedenswächter nach drinnen. »Lauf.«, höre ich ihn schreien.

Ich drehe mich um und renne los, weg von der Kapsel. Ganz allein jetzt. Gale ist gefangen. Cressida und Pollux könnten schon zehnmal tot sein. Und Peeta? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir Tigris’ Laden verlassen haben. Ich klammere mich an die Vorstellung, dass er vielleicht dorthin zurückgegangen ist. Dass er einen Anfall nahen fühlte und sich in den Keller zurückgezogen hat, solange er sich noch im Griff hatte. Dass er gemerkt hat, dass kein Tumult notwendig war, nachdem das Kapitol selbst für so viel Tumult gesorgt hat. Kein Grund, den Lockvogel zu spielen und die Nachtriegel-Pille einzunehmen - die Nachtriegel-Pille! Gale hat keine mehr. Da kann er lange davon reden, den Sprengpfeil manuell auszulösen, er wird keine Gelegenheit bekommen. Die Waffen werden ihm die Friedenswächter bestimmt als Erstes abnehmen.

Ich lasse mich in einen Durchgang fallen, Tränen schießen mir in die Augen. Erschieß mich, wollte er sagen. Ich hätte ihn erschießen sollen! Das wäre meine Aufgabe gewesen. Das war das stumme Versprechen, das wir uns gegeben haben, einer dem anderen. Aber ich hab’s nicht getan und jetzt wird das Kapitol ihn töten oder foltern oder ihn einweben … In meinem Innern öffnet sich eine Naht, droht mich zu zerreißen. Ich habe nur eine Hoffnung. Dass das Kapitol fällt, seine Waffen niederlegt und seine Gefangenen freilässt, bevor sie Gale etwas antun. Aber solange Snow am Leben ist, ist das nicht sehr wahrscheinlich.

Zwei Friedenswächter rennen vorbei und achten kaum auf das Mädchen aus dem Kapitol, das da an der Tür kauert und vor sich hin wimmert. Ich schlucke die Tränen hinunter, wische die, die schon heruntergekullert sind, vom Gesicht, bevor sie dort festfrieren, und reiße mich wieder zusammen. Letzten Endes bin ich immer noch ein anonymer Flüchtling. Oder haben die Friedenswächter, die Gale gefangen genommen haben, mich gesehen, als ich davonlief? Ich ziehe den Mantel auf links, sodass statt der roten Außenseite das schwarze Futter zu sehen ist. Die Kapuze drapiere ich so, dass sie mein Gesicht verbirgt. Das Gewehr fest gegen die Brust gedrückt, begutachte ich den Häuserblock. Nur ein paar verstört wirkende Nachzügler sind zu sehen. Ich hänge mich an zwei alte Männer, die keine Notiz von mir nehmen. Niemand wird mich bei alten Leuten vermuten. An der nächsten Kreuzung halten sie plötzlich an, sodass ich fast in sie hineinlaufe. Wir stehen vor dem Großen Platz. Jenseits der weiten kreisförmigen Fläche, die von mächtigen Gebäuden umstanden ist, liegt der Präsidentenpalast.

Der Platz ist voller Leute, die umherlaufen, weinen oder einfach nur dasitzen und sich einschneien lassen. Genau die richtige Umgebung. Ich schlängele mich durch die Menge in Richtung Präsidentenpalast, stolpere über zurückgelassene Besitztümer und erfrorene Gliedmaßen. Auf halber Strecke sehe ich den Wall aus Betonbrocken. Er ist gut einen Meter hoch und bildet ein großes Rechteck vor dem Palast. Man könnte meinen, darin sei niemand, doch das abgesperrte Gelände ist voller Flüchtlinge. Vielleicht ist das die Gruppe, die auserwählt wurde, im Palast Zuflucht zu finden? Doch als ich näher komme, fällt mir noch etwas auf. Hinter dem Wall sind nur Kinder. Vom Säugling bis zum Teenager. Verängstigt und verfroren. In Gruppen zusammengedrängt oder benommen auf dem Boden sitzend. Man lässt sie nicht in den Palast. Sie sind dort eingepfercht und werden auf allen Seiten von Friedenswächtern bewacht. Mir ist sofort klar, dass das nicht zu ihrem Schutz geschieht. Wenn das Kapitol sie in Sicherheit hätte bringen wollen, dann wären sie irgendwo in einem Bunker. Aber sie sollen Snow beschützen. Die Kinder bilden einen menschlichen Schutzschild für ihn.

Unruhe kommt auf und die Menge wogt nach links. Kräftigere Leute überholen mich, drängen mich zur Seite, bringen mich vom Kurs ab. Von allen Seiten ertönen Rufe: »Die Rebellen! Die Rebellen!« Offenbar haben sie den Durchbruch geschafft. Ich werde gegen einen Fahnenmast gedrückt und halte mich daran fest. Mithilfe des herunterhängenden Seils ziehe ich mich aus dem Gedränge. Jetzt kann ich die Rebellenarmee sehen, die auf den Großen Platz strömt und die Flüchtlinge zurück in die Hauptstraßen drängt. Ich suche die Gegend nach Kapseln ab, die bestimmt gleich hochgehen werden. Aber nichts dergleichen geschieht. Es geschieht etwas anderes.

Über den eingeschlossenen Kindern erscheint ein Hovercraft mit dem Wappen des Kapitols. Zahllose silberne Fallschirme regnen auf sie herab. Selbst in diesem Chaos wissen die Kinder, was die Fallschirme enthalten. Essen. Medikamente. Geschenke. Eifrig sammeln sie sie auf, die erfrorenen Finger kämpfen mit den Schnüren. Das Hovercraft verschwindet, fünf Sekunden vergehen, dann explodieren etwa zwanzig der Fallschirme gleichzeitig.

Ich höre Schreie aus der Menge. Der Schnee ist rot, überall liegen kleine Körperteile herum. Viele Kinder sind auf der Stelle tot, andere liegen sterbend auf dem Boden. Manche taumeln stumm umher, starren auf die noch heilen Fallschirme in ihren Händen, als enthielten sie immer noch etwas Wertvolles. An der Art, wie die Friedenswächter die Barrikaden wegreißen und den Kindern einen Weg öffnen, erkenne ich, dass sie nicht wussten, was kommen würde. Noch eine Schar weißer Uniformen rennt durch die entstandene Öffnung. Keine Friedenswächter diesmal. Es sind Sanitäter. Sanitäter der Rebellen. Diese Uniformen würde ich überall erkennen. Mit Verbandsets ausgestattet, verteilen sie sich in der Kinderschar.

Zuerst erkenne ich den blonden Zopf, der über ihren Rücken fällt. Als sie den Mantel auszieht, um ein wimmerndes Kind zuzudecken, bemerke ich den Entenschwanz, den ihr herausgerutschtes Hemd bildet. Ich reagiere genauso wie an dem Tag, als Effie Trinket bei der Ernte ihren Namen verlas. Alle Kraft muss aus mir gewichen sein, denn plötzlich kauere ich am Fuß des Fahnenmasts und weiß nicht, was in den vergangenen Sekunden geschehen ist. Dann rappele ich mich auf und dränge mich durch die Menge, wie vorher. Versuche ihren Namen zu rufen, den Lärm zu übertönen. Als ich fast da bin, fast an der Betonmauer, meine ich, dass sie mich hört. Denn einen kurzen Augenblick lang erblickt sie mich, ihre Lippen formen meinen Namen.

Загрузка...