Nachdem Caesar und Peeta ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht haben, kommt Caesar darauf zu sprechen, dass ich angeblich in Propos für die Distrikte auftrete.

»Offenbar benutzen sie Katniss«, sagt Peeta, »um die Rebellen anzustacheln. Ich bezweifle, dass sie überhaupt weiß, was im Krieg genau vor sich geht. Was da auf dem Spiel steht.«

»Möchtest du ihr irgendetwas mitteilen?«, fragt Caesar.

»Ja«, sagt Peeta. Er schaut genau in die Kamera, genau in meine Augen. »Sei nicht dumm, Katniss! Gebrauch deinen Verstand! Sie wollen dich als Waffe einsetzen, um die Menschheit zu zerstören. Wenn du wirklich Einfluss hast, nutze ihn, um diese Sache zu stoppen! Stopp den Krieg, bevor es zu spät ist! Frag dich selbst, ob du den Leuten, für die du arbeitest, auch wirklich trauen kannst! Weißt du überhaupt, was vor sich geht? Wenn nicht … versuch, es herauszufinden.«

Der Bildschirm wird schwarz. Das Wappen von Panem. Ende der Sendung.

Finnick greift zur Fernbedienung und schaltet das Gerät aus. Gleich werden Leute kommen, um die Wirkung von Peetas schlechter Verfassung und dem, was er gesagt hat, auf mich zu entschärfen. Ich werde mich von seinen Worten distanzieren müssen. Dabei stimmt es, ich traue den Rebellen, Plutarch und Coin wirklich nicht. Ich weiß nicht genau, ob sie mir die Wahrheit sagen. Und das werde ich nicht verbergen können. Schritte kommen näher.

Finnick packt mich an den Armen. »Wir haben das nicht gesehen.«

»Was?«, frage ich.

»Wir haben Peeta nicht gesehen. Nur den Propo über Distrikt 8. Dann haben wir den Fernseher ausgeschaltet, weil die Bilder dich so mitgenommen haben. Klar?« Ich nicke. »Iss dein Abendessen auf!« Ich reiße mich zusammen, und als Plutarch und Fulvia hereinkommen, esse ich gerade etwas Kohl und Brot. Finnick spricht davon, wie gut Gale in dem Film rübergekommen sei. Wir gratulieren ihnen zu dem Propo. Und lassen durchblicken, dass wir danach sofort ausgeschaltet haben, weil die Eindrücke zu stark waren. Sie sehen erleichtert aus. Sie glauben uns.

Niemand erwähnt Peeta.

Ich versuche zu schlafen, aber nachdem ich immer wieder von entsetzlichen Albträumen geweckt werde, gebe ich auf. Wenn jemand kommt und nach mir sieht, liege ich still da und atme möglichst gleichmäßig. Am Morgen werde ich entlassen mit der Anweisung, es ruhig angehen zu lassen. Cressida bittet mich, ein paar Sätze für einen neuen Spotttölpel-Propo zu sprechen. Beim Mittagessen warte ich darauf, dass jemand Peetas Auftritt erwähnt, aber niemand sagt etwas. Es ist ausgeschlossen, dass keiner außer Finnick und mir das Interview gesehen hat.

Anschließend habe ich Training, und weil Gale mit Beetee an den Waffen arbeiten muss, darf ich Finnick mit in den Wald nehmen. Wir streifen ein wenig umher, dann werfen wir unsere Funkgeräte unter einen Busch. In sicherer Entfernung setzen wir uns hin und sprechen über das Interview mit Peeta.

»Zu mir hat kein Mensch was darüber gesagt. Zu dir?«, sagt Finnick. Ich schüttele den Kopf. Nach einer Weile fragt er: »Nicht mal Gale?« Ich klammere mich an die Hoffnung, dass Gale nichts davon weiß. Aber ich habe ein ungutes Gefühl. »Vielleicht wartet er auf den richtigen Moment, um es dir unter vier Augen zu erzählen.«

»Vielleicht«, sage ich.

Wir schweigen so lange, dass ein unaufmerksamer Rehbock auf Reichweite herankommt. Ich erlege ihn mit einem Pfeil. Finnick schleppt ihn zum Zaun.

Zum Abendessen gibt es Eintopf mit Rehfleischeinlage. Nach dem Essen begleitet Gale mich zur Wohneinheit E. Als ich ihn frage, was heute los war, sagt er wieder kein Wort von Peeta. Sobald meine Mutter und meine Schwester eingeschlafen sind, nehme ich die Perle aus der Schublade und verbringe eine weitere schlaflose Nacht, die zweite mit der Perle in der Hand. Immer wieder gehen mir Peetas Worte durch den Kopf. Fraß dich selbst, ob du den Leuten, für die du arbeitest, auch wirklich trauen kannst. Weißt du überhaupt, was vor sich geht? Wenn nicht… versuch es herauszufinden. Versuch es herauszufinden. Aber was? Und von wem? Und wie kann Peeta irgendetwas wissen außer dem, was das Kapitol ihm erzählt? Es ist nur ein Kapital-Propo. Heiße Luft. Aber wenn Plutarch der Meinung ist, dass es bloß ein Trick des Kapitals ist, wieso hat er mir dann nichts davon erzählt? Wieso hat niemand Finnick und mich informiert?

Wichtige Überlegungen, doch der wahre Grund für meine Verzweiflung verbirgt sich dahinter: Peeta. Was haben sie ihm angetan? Und was tun sie ihm in diesem Moment an? Natürlich hat Snow uns die Geschichte, dass Peeta und ich von der Rebellion nichts wussten, nicht abgekauft. Und dass ich als Spotttölpel aufgetaucht bin, hat ihn in seinem Argwohn bestärkt. Was die Taktik der Rebellen angeht, kann Peeta nur Vermutungen anstellen oder sich Geschichten ausdenken, um seinen Peinigern irgendetwas zu erzählen. Wenn herauskäme, dass er gelogen hat, würden sie ihn hart bestrafen. Wie verlassen er sich fühlen muss. In seinem ersten Interview hat er mich und auch die Rebellen vor dem Kapitol zu schützen versucht. Ich dagegen habe nicht nur darin versagt, ihn zu beschützen, ich habe alles noch viel schlimmer für ihn gemacht.

Als es Morgen wird, stecke ich den Arm in die Wand und starre erschöpft auf den Tagesplan. Gleich nach dem Frühstück habe ich einen Termin in der TV-Produktion. Während ich im Speisesaal mein warmes Getreide mit Milch und Rote-Bete-Brei verschlinge, entdecke ich an Gales Handgelenk eine Mailmanschette. »Wann hast du das Teil zurückgekriegt, Soldat Hawthorne?«, frage ich.

»Gestern. Wenn ich mit dir auf dem Schlachtfeld bin, sollte ich sicherheitshalber ein Kommunikationsmittel dabeihaben, meinen sie«, antwortet Gale.

Mir hat noch nie jemand eine Mailmanschette angeboten. Ich frage mich, ob ich eine bekommen würde, wenn ich darum bitten würde. »Ja, einer von uns muss ja kommunikativ sein«, sage ich mit scharfem Unterton.

»Was willst du damit sagen?«, fragt er.

»Nichts. Ich wiederhole nur deine Worte«, sage ich. »Und ich bin auch ganz deiner Meinung, dass du der Kommunikative von uns beiden sein sollst. Ich hoffe nur, dass du auch mit mir noch kommunizierst.«

Unsere Blicke treffen sich, und ich merke, wie wütend ich auf ihn bin. Keinen Augenblick habe ich geglaubt, dass er Peetas Propo nicht gesehen hat. Ich fühle mich verraten, weil er mir nichts davon erzählt hat. Wir kennen uns so gut, er kann meine Stimmung sofort deuten, und er kann sich auch denken, woher sie kommt.

»Katniss …«, setzt er an. Ich höre, dass er ein schlechtes Gewissen hat.

Ich schnappe mir mein Tablett, gehe zur Geschirrrückgabe und knalle das Tablett auf die Ablage. Im Flur holt er mich ein.

»Warum hast du nichts gesagt?«, fragt er und nimmt meinen Arm.

»Ich?« Ich reiße mich los. »Warum hast du nichts gesagt, Gale? Außerdem hab ich doch was gesagt, als ich dich gestern Abend gefragt habe, was los war!«

»Es tut mir leid, okay? Ich war hin und her gerissen. Ich hätte es dir gern gesagt, aber alle hatten Angst, dass du es nicht verkraften würdest, Peetas Propo zu sehen«, sagt er.

»Da hatten sie recht. Es war wirklich schlimm. Aber noch schlimmer ist die Tatsache, dass du mich für Coin angelogen hast.« In dem Moment piepst seine Mailmanschette. »Da ist sie ja schon. Beeil dich lieber. Du hast ihr was zu berichten.«

Einen Moment lang ist ihm anzusehen, dass ich ihn verletzt habe. Dann verwandelt sich sein Gesichtsausdruck in kalte Wut. Er macht auf dem Absatz kehrt und geht. Vielleicht war ich zu gehässig, habe ihm nicht lange genug zugehört. Vielleicht wollen sie mich mit ihren Lügen nur schützen. Aber das ist mir egal. Ich bin es leid, dass die Leute mich zu meinem vermeintlichen Besten anlügen. In Wirklichkeit ist es nämlich vor allem zu ihrem eigenen Besten. Sagt Katniss bloß nicht die Wahrheit über die Rebellion, damit sie keine Dummheiten macht. Schickt sie ahnungslos in die Arena, damit wir sie rausholen können. Erzählt ihr nichts von Peetas Propo, das macht sie nur fertig, und es ist so schon schwer genug, sie vernünftig vor die Kamera zu kriegen.

Ich bin wirklich fertig. Am Boden zerstört. Und zu müde für einen Tag in der Produktion. Aber jetzt stehe ich schon vor der Tür zum Erneuerungsstudio, also gehe ich hinein. Ich erfahre, dass es heute noch einmal nach Distrikt 12 geht. Cressida möchte spontane Interviews mit Gale und mir machen, in denen es um unsere zerstörte Heimat gehen soll.

»Falls ihr euch das zutraut«, sagt Cressida und schaut mich prüfend an.

»Ich bin dabei«, sage ich. Unkommunikativ und steif wie eine Schaufensterpuppe stehe ich da, während das Vorbereitungsteam mich anzieht, frisiert und schminkt. Ganz dezent, gerade so, dass die Ringe unter meinen schlaflosen Augen nicht sofort auffallen.

Boggs begleitet mich hinunter in den Hangar, aber wir grüßen uns nur und reden nicht weiter miteinander. Ich bin froh darüber, nicht schon wieder über meinen Ungehorsam in Distrikt 8 reden zu müssen, zumal seine Maske wirklich unbequem aussieht.

Gerade noch rechtzeitig denke ich daran, meiner Mutter Bescheid zu geben, dass ich Distrikt 13 verlasse, und ihr zu versichern, dass es nicht gefährlich ist. Die kurze Strecke nach Distrikt 12 legen wir mit dem Hovercraft zurück. Plutarch, Gale und Cressida sind schon an Bord und beugen sich über einen Tisch mit einer Landkarte. Selbstzufrieden zeigt Plutarch mir auf der Karte, was für eine Wirkung die ersten Propos bereits gezeitigt haben. Die Rebellen, die in manchen Distrikten kaum Fuß fassen konnten, haben sich wieder gefangen. Sie haben die Distrikte 3 und 11 eingenommen - 11 ist besonders wichtig, weil dort ein Großteil der Nahrungsmittel von Panem erzeugt wird - und sind in mehrere andere Distrikte eingefallen.

»Es sieht gut aus, sehr gut sogar«, sagt Plutarch. »Heute Abend wird Fulvia den ersten Schwung der >In Memoriam<-Spots fertigstellen, dann können wir die einzelnen Distrikte mit ihren Toten konfrontieren. Finnick ist unglaublich.«

»Es tut richtig weh, ihm zuzusehen«, sagt Cressida. »Er hat so viele persönlich gekannt.«

»Deshalb wirkt es ja auch so überzeugend«, sagt Plutarch. »Es kommt aus dem Herzen. Ihr macht das alle ganz toll. Coin ist begeistert.«

Dann hat Gale es ihnen also nicht gesagt. Dass ich nur so getan habe, als hätte ich Peetas Interview nicht gesehen, und sauer bin, weil sie mir etwas vormachen. Trotzdem, es ist zu wenig und zu spät, um mich zu versöhnen. Egal. Er redet sowieso nicht mit mir.

Erst als wir auf der Weide landen, fällt mir auf, dass Haymitch nicht bei uns ist. Als ich Plutarch darauf anspreche, schüttelt er nur den Kopf und sagt: »Er würde es nicht durchstehen.«

»Haymitch und etwas nicht durchstehen? Der wollte wohl eher einen Tag frei haben«, sage ich.

»Wörtlich hat er, glaube ich, gesagt: >Ohne eine Flasche würde ich es nicht durchstehen<«, sagt Plutarch.

Ich verdrehe die Augen. Ich habe schon längst die Geduld mit meinem Mentor verloren, mit seiner Schwäche fürs Trinken und damit, was er ertragen kann und was nicht. Aber schon nach fünf Minuten in Distrikt 12 hätte ich selbst gern einen Drink. Ich dachte, ich hätte mich mit dem Untergang von 12 abgefunden - ich hatte davon gehört, hatte den Distrikt von oben gesehen und war sogar durch die Asche gestiefelt. Warum ist der Schmerz jetzt wieder ganz frisch? War ich vorher so neben der Spur, dass ich den Verlust meiner Welt nicht richtig erfassen konnte? Oder liegt es an Gales Gesichtsausdruck, während er durch die Ruinen wandert, dass es sich anfühlt, als wäre das Schreckliche gerade erst passiert?

Cressida erklärt dem Kamerateam, sie sollen vor meinem alten Haus mit mir beginnen. Ich frage, was ich machen soll. »Was du willst«, sagt sie. Als ich in unserer Küche stehe, will ich überhaupt nichts. Ich schaue in den Himmel - das einzige Dach -, weil zu viele Erinnerungen auf mich einstürzen. Nach einer Weile sagt Cressida: »Das reicht schon, Katniss. Los, gehen wir weiter.«

Gale kommt bei seinem alten Zuhause nicht so leicht davon. Cressida filmt ihn ein paar Minuten lang stumm, doch gerade als er das einzige Überbleibsel seines früheren Lebens aus der Asche zieht - ein verbogenes Schüreisen -, fragt sie ihn nach seiner Familie aus, nach seiner Arbeit, dem Leben im Saum. Er muss die Nacht der Brandbomben noch einmal durchleben und alles nachstellen, erst vor seinem Haus, dann geht es über die Weide und durch den Wald bis zum See. Ich folge der Filmcrew und den Bodyguards unwillig und finde insgeheim, dass sie mit ihrer Anwesenheit meinen geliebten Wald entweihen. Das ist ein intimer Ort, eine Zufluchtsstätte, wenn auch bereits verdorben vom Kapitol. Auch nachdem wir die verkohlten menschlichen Überreste am Zaun hinter uns gelassen haben, stolpern wir noch über verwesende Leichen. Aber müssen wir das für alle Welt filmen?

Als wir am See ankommen, scheint Gale seine Sprache verloren zu haben. Alle sind schweißüberströmt, vor allem Castor und Pollux in ihren Insektenpanzern, und Cressida bittet um eine Pause. Ich schöpfe mit den Händen Wasser aus dem See, am liebsten würde ich hineinspringen und allein wieder auftauchen, nackt und unbeobachtet. Eine Weile gehe ich am See entlang. Als ich wieder zu dem kleinen Haus aus Beton gelange, bleibe ich im Eingang stehen und sehe, wie Gale das verbogene Schüreisen, das er gerettet hat, an die Wand neben dem Kamin lehnt. Ganz kurz habe ich das Bild eines einsamen Fremden vor Augen, irgendwo weit in der Zukunft, der sich in der Wildnis verirrt hat und zu diesem kleinen Zufluchtsort kommt, zu dem Stapel Brennholz, dem Kamin und dem Schüreisen. Und sich fragt, wie das alles dorthin gekommen ist. Gale dreht sich um, unsere Blicke treffen sich, und ich weiß, dass er an unsere letzte Begegnung hier denkt. Als wir darüber gestritten haben, ob wir fliehen sollten oder nicht. Wenn wir geflohen wären, würde es Distrikt 12 dann noch geben? Ich glaube, ja. Aber dann würde das Kapitol immer noch über Panem herrschen.

Es werden Käsebrote herumgereicht und wir essen sie im Schatten der Bäume. Ich habe mich absichtlich an den Rand der Gruppe gesetzt, neben Pollux, damit ich nicht reden muss. Wir reden alle nicht viel. In der relativen Stille kehren die Vögel zurück. Ich stoße Pollux an und zeige auf einen kleinen schwarzen Vogel mit einer Haube. Er hüpft auf einen jungen Zweig, breitet kurz die Flügel aus und zeigt seine weißen Flecken. Pollux deutet auf meine Brosche und zieht fragend die Augenbrauen hoch. Ich nicke: Ja, es ist ein Spotttölpel. Ich hebe einen Finger, um zu sagen: Warte, ich beweise es dir, und mache eine Vogelstimme nach. Der Spotttölpel legt den Kopf schräg und pfeift direkt zurück. Da pfeift Pollux zu meiner Überraschung selbst ein paar Töne. Der Vogel antwortet sofort. Pollux sieht entzückt aus und pfeifend unterhält er sich eine Weile mit dem Vogel. Bestimmt ist es sein erstes Gespräch seit Jahren. Spotttölpel fühlen sich von Musik angezogen wie Bienen von Blüten und in kürzester Zeit sitzt ein halbes Dutzend Artgenossen in den Ästen über unseren Köpfen. Pollux tippt mir an den Arm und schreibt mit einem Stöckchen ein Wort in die Erde: Singen ?

Normalerweise mache ich das nicht, aber Pollux kann ich den Wunsch unmöglich abschlagen. Außerdem würde ich die Singstimmen der Spotttölpel selbst gern wieder einmal hören. Und ehe ich recht weiß, was ich da tue, singe ich Rues Melodie, die vier Töne, mit denen sie in Distrikt 11 immer das Ende des Arbeitstages verkündete. Die Melodie, die schließlich zur Hintergrundmusik ihres grausamen Todes wurde. Die Vögel wissen das nicht. Sie greifen die einfache Tonfolge auf und lassen sie spielerisch hin und her wandern. Genau wie in der Arena, bevor plötzlich die Mutationen zwischen den Bäumen auftauchten, uns auf das Füllhorn jagten und Cato langsam in eine blutige Masse verwandelten …

»Wollt ihr mal ein richtiges Lied hören?«, platze ich heraus. Alles würde ich tun, um diese Erinnerungen zu verscheuchen. Schon springe ich auf, gehe zu den Bäumen und lege eine Hand an den rauen Stamm des Ahorns, auf dem die Vögel hocken. Das Lied vom Henkersbaum habe ich seit zehn Jahren nicht mehr laut gesungen, denn es ist verboten, aber ich weiß noch jedes Wort. Ich beginne langsam und zärtlich, wie mein Vater es immer gesungen hat.

Kommst du, kommst du,

Kommst du zu dem Baum,

Wo sie hängten den Mann, der drei getötet haben soll?

Seltsames trug sich hier zu.

Nicht seltsamer wäre es,

Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.

Sobald die Spotttölpel merken, dass ich ihnen etwas Neues anbiete, ändern sie ihr Lied.

Kommst du, kommst du,

Kommst du zu dem Baum,

Wo der tote Mann zu seiner Liebsten rief: Lauf.

Seltsames trug sich hier zu.

Nicht seltsamer wäre es,

Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.

Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit der Vögel. Noch eine Strophe, dann haben sie die Melodie aufgeschnappt, denn sie ist einfach und wird mit nur kleinen Variationen viermal wiederholt.

Kommst du, kommst du,

Kommst du zu dem Baum,

Wohin ich dir riet zu fliehen und uns zu befreien?

Seltsames trug sich hier zu.

Nicht seltsamer wäre es,

Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.

Jetzt ist es ganz still in den Bäumen. Nur die Blätter rascheln im Wind. Aber keine Vögel sind zu hören, weder Spotttölpel noch andere. Peeta hat recht. Wenn ich singe, verstummen sie. Genau wie bei meinem Vater.

Kommst du, kommst du,

Kommst du zu dem Baum,

Ein Seil als Kette, Seite an Seite mit mir?

Seltsames trug sich hier zu.

Nicht seltsamer wäre es,

Träfen wir uns bei Nacht im Henkersbaum.

Die Vögel warten darauf, dass ich weitersinge. Doch das Lied ist zu Ende. Das war die letzte Strophe. In der Stille erinnere ich mich daran, wie es war an jenem Tag. Mein Vater und ich kamen aus dem Wald nach Hause. Prim, die damals noch ein Kleinkind war, und ich saßen auf dem Boden und sangen das Lied vom Henkersbaum. Flochten uns Ketten aus altem Seil, wie es in dem Lied heißt, ohne den eigentlichen Sinn der Worte zu verstehen. Es war eine einfache Melodie, leicht zu lernen, und damals konnte ich mir nach ein-bis zweimaligem Hören fast jede Melodie merken. Plötzlich riss meine Mutter uns die Ketten aus den Händen und schrie meinen Vater an. Ich fing an zu weinen, weil meine Mutter sonst nie schrie, dann heulte Prim, und ich lief hinaus, um mich zu verstecken. Weil ich nur ein einziges Versteck hatte - auf der Weide unter einem Geißblatt -, fand mein Vater mich sofort. Er beruhigte mich und sagte, es sei alles gut, aber dieses Lied sollten wir lieber nicht mehr singen. Meine Mutter wollte, dass ich es einfach vergaß. Und deshalb brannte sich mir natürlich jedes Wort unwiderruflich ins Gedächtnis ein.

Wir sangen das Lied dann nicht mehr, mein Vater und ich, und sprachen auch nicht mehr davon. Nach seinem Tod fiel es mir oft wieder ein. Als ich älter wurde, verstand ich allmählich den Text. Am Anfang hört es sich so an, als ob ein Junge seine Freundin überreden will, ihn heimlich in der Nacht zu treffen. Aber es ist ein seltsamer Ort für ein Stelldichein, ein Henkersbaum, an dem ein Mann für einen Mord gehängt wurde. Die Liebste des Mörders muss etwas mit dem Mord zu tun haben, oder vielleicht soll sie einfach nur so bestraft werden, jedenfalls ruft seine Leiche ihr zu, sie solle weglaufen. Das mit der sprechenden Leiche ist natürlich seltsam, aber erst in der dritten Strophe wird das Lied unheimlich. Da wird klar, dass es von dem toten Mörder selbst gesungen wird. Er hängt immer noch im Henkersbaum. Und obwohl er seine Liebste auffordert zu fliehen, bittet er sie, ihn zu treffen. Am beklemmendsten ist die Stelle Wohin ich dir riet zu fliehen und uns zu befreien. Erst denkt man, sie solle fliehen, damit sie in Sicherheit wäre, aber dann fragt man sich, ob er vielleicht meint, sie solle zu ihm laufen. In den Tod. In der letzten Strophe ist es dann eindeutig, dass er genau darauf wartet. Dass seine Liebste mit einem Seil als Kette tot neben ihm am Baum hängt.

Früher fand ich den Mörder wirklich gruselig. Jetzt, nach zwei Ausflügen zu den Hungerspielen, würde ich nicht mehr so schnell über ihn urteilen. Vielleicht war seine Liebste bereits zum Tode verurteilt und er wollte es ihr leichter machen. Vielleicht wollte er ihr sagen, dass er auf sie wartet. Oder er fand, dass der Ort, an dem er sie zurückließ, noch schlimmer war als der Tod. Wollte ich Peeta nicht auch mit der Spritze töten, um ihn vor dem Kapitol zu bewahren? War das der einzige Ausweg? Wahrscheinlich nicht, aber damals habe ich keinen anderen gesehen.

Meine Mutter muss wohl der Meinung gewesen sein, dass das Lied für eine Siebenjährige nicht geeignet war. Schon gar nicht für eine, die sich selbst Ketten aus Seil knüpft. Wir kannten den Tod durch den Strang ja nicht nur aus Geschichten. In Distrikt 12 wurden viele Menschen auf diese Weise hingerichtet. Ganz sicher wollte meine Mutter nicht, dass ich das Lied im Musikunterricht vorsang. Wahrscheinlich würde es ihr auch nicht gefallen, dass ich es jetzt Pollux vorsinge, aber wenigstens werde ich nicht - Moment, da habe ich mich getäuscht. Als ich zur Seite schaue, sehe ich, dass Castor mich gefilmt hat. Alle gucken mir gebannt zu. Pollux laufen Tränen über die Wangen, bestimmt hat mein verrücktes Lied irgendein schreckliches Ereignis in seinem Leben wieder hochkommen lassen. Na super. Seufzend lehne ich mich an den Baumstamm. Und da singen die Spotttölpel ihre Version vom »Henkersbaum«. Aus ihren Kehlen klingt es ganz schön. Ich bin mir bewusst, dass ich gefilmt werde, und stehe still da, bis Cressida ruft: »Schnitt!«

Lachend kommt Plutarch auf mich zu. »Wo hast du das denn her? Hätten wir das so geplant, niemand würde es dir abnehmen!« Er nimmt mich in die Arme und gibt mir einen Schmatz auf den Kopf. »Du bist Gold wert!«

»Ich hab das nicht für die Kamera gemacht«, sage ich.

»Umso besser, dass sie eingeschaltet war«, sagt er. »Los jetzt, alle, es geht zurück in die Stadt!«

Der Rückweg durch den Wald führt uns zu einem Felsen, und wie zwei Hunde, die mit dem Wind eine Fährte wittern, wenden Gale und ich den Kopf in dieselbe Richtung. Cressida merkt es und fragt, was da ist. Ohne uns abzusprechen, geben wir zu, dass wir uns an der Stelle früher immer zur Jagd getroffen haben. Wir sagen ihr, dass da nichts Besonderes ist, aber sie möchte die Stelle trotzdem sehen.

Nur ein Ort, an dem ich glücklich war, denke ich.

Unser Felsvorsprung, von dem aus man das Tal überblickt. Vielleicht nicht so grün wie sonst, doch die Brombeersträucher hängen voll. Hier begannen zahllose Tage, an denen wir jagten und Fallen stellten, fischten und sammelten, gemeinsam durch den Wald streiften und, während wir die Jagdtaschen füllten, unsere Herzen erleichterten. Es war die Tür zu unserem leiblichen und seelischen Wohl. Und wir waren der Schlüssel zur Tür des jeweils anderen.

Jetzt gibt es keinen Distrikt 12 mehr, aus dem man fliehen könnte, keine Friedenswächter, die es zu überlisten gälte, keine hungrigen Mäuler, die gestopft werden müssten. Das alles hat uns das Kapitol genommen, und jetzt bin ich nahe dran, auch noch Gale zu verlieren. Was uns all die Jahre so zusammengeschweißt hat, dass wir aufeinander angewiesen waren, das schmilzt dahin. Zwischen uns ist jetzt kein Licht, nur dunkle Schatten. Wie ist es möglich, dass wir heute, angesichts des Untergangs von Distrikt 12, so zerstritten sind, dass wir nicht mal miteinander reden können?

Gale hat mich mehr oder weniger angelogen. Das finde ich unmöglich, selbst wenn es ihm um mein Wohl ging. Aber seine Entschuldigung wirkte aufrichtig. Und ich habe darauf mit einer gehässigen Bemerkung reagiert, die ihn verletzen sollte. Was ist mit uns los? Warum haben wir ständig Streit, warum ist alles so verfahren? Irgendwie spüre ich, dass mein Verhalten die Wurzel des Übels ist. Will ich ihn etwa vertreiben?

Ich pflücke eine Brombeere und rolle sie sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Unvermittelt wende ich mich zu ihm und werfe ihm die Brombeere zu. »Und möge das Glück …«, sage ich. Ich werfe sie so hoch, dass er genügend Zeit hat, zu entscheiden, ob er sie wegschlagen oder annehmen will.

Gale schaut zu mir, nicht zu der Beere, doch im letzten Moment macht er den Mund auf und schnappt sie. Er kaut, schluckt und erst nach einer langen Pause sagt er: »… stets mit euch sein.« Aber er sagt es.

Cressida lässt uns in einer Ecke zwischen den Felsen hinsetzen, wo wir uns unmöglich nicht berühren können, und lenkt das Gespräch auf die Jagd. Was uns in den Wald getrieben habe, wie wir uns kennengelernt hätten, besondere Momente, an die wir uns erinnerten. Wir tauen auf, lachen ein wenig, als wir von kleinen Katastrophen mit Bienen, wilden Hunden und Stinktieren erzählen. Cressida fragt, was es für ein Gefühl war, unser Geschick im Umgang mit Waffen gegen die Bomber in Distrikt 8 einzusetzen, und ich verstumme. Gale sagt nur: »Das war lange überfällig.«

Als wir auf den Marktplatz kommen, naht schon der Abend. Ich führe Cressida zu den Trümmern der Bäckerei und bitte sie, dort etwas zu filmen. Ich bringe kein Gefühl mehr zustande, nur noch Erschöpfung. »Peeta, das hier ist dein Zuhause. Von deiner Familie fehlt seit der Bombardierung jede Nachricht. Distrikt 12 gibt es nicht mehr. Und du forderst einen Waffenstillstand?« Ich schaue in das Nichts. »Hier ist niemand, der dich hören könnte.«

Als wir vor dem Metallklumpen stehen, der einmal der Galgen war, fragt Cressida, ob einer von uns gefoltert worden sei. Anstelle einer Antwort zieht Gale sein Hemd hoch und dreht den Rücken zur Kamera. Ich starre auf die Narben von den Peitschenhieben und höre wieder das Zischen der Peitsche, sehe, wie er blutüberströmt und bewusstlos an den Handgelenken hängt.

»Ich bin fertig«, verkünde ich. »Wir treffen uns im Dorf der Sieger. Ich will da … was für meine Mutter holen.«

Ich muss zu unserem Haus gelaufen sein, aber ich kann mich nicht dran erinnern. Ich sitze vor den Küchenschränken auf dem Fußboden. Packe Tonkrüge und Glasflaschen fein säuberlich in eine Kiste. Lege Baumwollverbände zum Schutz dazwischen. Binde Sträuße aus Trockenblumen.

Da fällt mir die Rose auf meiner Kommode wieder ein. War sie wirklich da? Und wenn ja, ist sie immer noch da oben? Ich unterdrücke den Drang nachzusehen. Wenn sie noch da ist, versetzt mich das nur wieder in Angst und Schrecken. Ich beeile mich mit dem Packen.

Als die Schränke leer sind und ich mich umdrehe, steht plötzlich Gale in der Küche. Es ist unheimlich, wie lautlos er auftauchen kann. Er stützt sich auf den Tisch, die Finger auf der Holzmaserung weit gespreizt. Ich stelle die Kiste zwischen uns ab. »Weißt du noch?«, fragt er. »Hier hast du mich geküsst.«

Obwohl wir ihm nach der Auspeitschung eine hohe Dosis Morfix verabreicht haben, ist die Erinnerung nicht aus seinem Bewusstsein gelöscht. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das noch weißt«, sage ich.

»Müsste schon tot sein, um das zu vergessen. Vielleicht nicht mal dann«, sagt er. »Vielleicht bin ich wie der Mann in dem Lied vom Henkersbaum. Der immer noch auf eine Antwort wartet.« Gale, den ich noch nie habe weinen sehen, hat Tränen in den Augen. Bevor sie ihm über die Wangen laufen können, beuge ich mich vor und lege meine Lippen auf seine. Wir schmecken nach Hitze, Asche und Unglück. Ein überraschender Geschmack für einen so zarten Kuss. Gale löst sich als Erster und lächelt mich schief an. »Ich wusste, dass du mich küssen würdest.«

»Wie das?«, frage ich. Ich selbst habe es nämlich nicht gewusst.

»Weil ich leide«, sagt er. »Nur so bekomme ich Zuwendung von dir.« Er hebt die Kiste hoch. »Keine Sorge, Katniss. Das geht schon vorüber.« Bevor ich etwas sagen kann, ist er draußen.

Ich bin zu müde, um mir über seinen Vorwurf den Kopf zu zerbrechen. Den kurzen Flug zurück nach Distrikt 13 verbringe ich zusammengerollt auf einem Sitz. Ich versuche Plutarch auszublenden, der sich über eines seiner Lieblingsthemen ausbreitet - Waffen, die der Menschheit nicht mehr zur Verfügung stehen. Hoch fliegende Flugzeuge, militärische Satelliten, Zellzersetzer, Drohnen, biologische Waffen mit begrenzter Haltbarkeit. Unschädlich gemacht durch die Zerstörung der Atmosphäre, mangelnde Ressourcen oder moralische Zimperlichkeiten. Man hört das Bedauern eines Obersten Spielmachers heraus, der von solchen Spielzeugen nur träumen kann und sich jetzt mit Hovercrafts, Boden-Boden-Raketen und läppischen Gewehren zufriedengeben muss.

Nachdem ich mein Spotttölpelkostüm abgelegt habe, gehe ich, ohne zu essen, ins Bett. Trotzdem muss Prim mich am nächsten Morgen wach rütteln. Ich pfeife auf meinen Tagesplan und halte nach dem Frühstück ein Nickerchen im Wandschrank des Materialraums. Als ich wieder zu mir komme und zwischen den Kisten von Kreide und Stiften hervorkrabbele, ist es schon Zeit zum Abendessen. Ich bekomme eine extragroße Portion Erbsensuppe und werde wieder zur Wohneinheit E geschickt. Dort fängt Boggs mich ab.

»In der Kommandozentrale ist eine Versammlung. Vergiss deinen Tagesplan«, sagt er.

»Schon geschehen«, sage ich.

»Hast du ihn heute überhaupt befolgt?«, fragt er verärgert. »Wer weiß? Ich bin geistig verwirrt.« Ich halte mein Handgelenk hoch, um ihm mein medizinisches Armband zu zeigen, aber es ist nicht mehr da. »Siehst du? Ich kann mich nicht mal daran erinnern, dass sie mir das Armband abgenommen haben. Was soll ich in der Kommandozentrale? Hab ich irgendwas verpasst?«

»Ich glaube, Cressida wollte dir die Propos aus Distrikt 12 zeigen. Aber die siehst du dann ja, wenn sie ausgestrahlt werden«, sagt er.

»Dafür könnte ich mal einen Plan brauchen. Für die Sendezeiten der Propos«, sage ich. Er sieht mich scharf an, verkneift sich jedoch eine weitere Bemerkung.

In der Kommandozentrale drängen sich schon alle, aber sie haben mir einen Platz zwischen Finnick und Plutarch frei gehalten. Die Bildschirme auf den Tischen sind schon ausgefahren, es laufen die offiziellen Nachrichten aus dem Kapitol.

»Was ist los? Wollten wir nicht die Propos aus 12 sehen?«, frage ich.

»Oh nein«, sagt Plutarch. »Das heißt kann schon sein. Ich weiß nicht genau, welche Aufnahmen Beetee verwenden will.«

»Beetee glaubt, eine Möglichkeit gefunden zu haben, wie wir in das landesweite Nachrichtenübermittlungssystem eindringen können«, sagt Finnick. »Dann wären unsere Propos auch im Kapitol zu sehen. Er ist gerade in der Waffenabteilung und arbeitet an dem Problem. Heute Abend gibt es eine Livesendung. Einen Auftritt von Snow oder so. Ich glaub, jetzt geht es los.«

Das Wappen des Kapitols erscheint, begleitet von der Nationalhymne. Dann schaue ich direkt in die Schlangenaugen von Präsident Snow, der die Nation grüßt. Er ist hinter seinem Rednerpult verschanzt, doch die weiße Rose an seinem Revers ist gut zu sehen. Die Kamera fährt zurück, und jetzt ist auch Peeta im Bild, hinter ihm eine Karte von Panem. Er sitzt auf einem erhöhten Stuhl, die Füße hat er auf eine Metallstange gestützt. Mit dem Fuß seines künstlichen Beins klopft er einen merkwürdigen unregelmäßigen Rhythmus. Durch die Puderschicht auf seinem Gesicht sind Schweißperlen auf Oberlippe und Stirn sichtbar. Aber am meisten erschreckt mich sein Blick, unstet und voller Zorn.

»Es geht ihm schlechter«, flüstere ich. Finnick nimmt meine Hand, damit ich mich an etwas festhalten kann.

Aufgebracht spricht Peeta von der Notwendigkeit eines Waffenstillstands. Er betont, dass in mehreren Distrikten die Infrastruktur zerstört worden sei. Während er spricht, werden bestimmte Teile der Karte erleuchtet und Bilder der Zerstörung eingeblendet. Ein gebrochener Damm in Distrikt 7. Ein entgleister Zug mit einer Ladung Giftmüll, die aus den Kesselwagen läuft. Ein Getreidespeicher, der bei einem Brand einstürzt. All das schreibt er den Rebellen zu.

Zack! Da bin ich plötzlich im Bild, wie ich in den Trümmern der Bäckerei stehe.

Plutarch springt auf. »Ha! Beetee hat es geschafft!«

Alle in der Kommandozentrale sind aus dem Häuschen. Aber da ist Peeta wieder zu sehen, er sieht verwirrt aus. Er hat mich auf dem Monitor gesehen. Er versucht, mit seinem Beitrag fortzufahren, als Nächstes ist die Bombardierung einer Kläranlage dran, da wird er von einem Film verdrängt, in dem Finnick über Rue spricht. Und jetzt versuchen die führenden Techniker des Kapitols, Beetees Attacke abzuwehren, es kommt zur reinsten Sendeschlacht. Das Kapitol ist unvorbereitet, und Beetee, der offenbar schon ahnte, dass er nicht fortlaufend würde senden können, hat eine Reihe von Fünf-bis Zehn-Sekunden-Spots auf Lager, die er einspielen kann. Wir werden Zeuge, wie die offizielle Präsentation in sich zusammenbricht, als sie mit Ausschnitten aus den Propos beschossen wird.

Plutarch ist außer sich vor Begeisterung, und alle jubeln Beetee zu, nur Finnick neben mir bleibt reglos und stumm. Ich schaue zu Haymitch auf der anderen Seite des Raums, sein Blick spiegelt meine eigene Angst wider. Wir beide wissen, dass Peeta uns mit jedem Jubelruf mehr entgleitet.

Im Fernsehen ist jetzt wieder das Wappen des Kapitols zu sehen, begleitet von einem monotonen Studiogeräusch. Erst nach etwa zwanzig Sekunden erscheinen Snow und Peeta wieder auf dem Bildschirm. Das Studio sieht chaotisch aus. Aus dem Regieraum ist hektischer Wortwechsel zu hören. Snow stürzt nach vorn, er sagt, nun versuchten die Rebellen offenbar, die Verbreitung belastender Informationen zu stören, doch am Ende würden Wahrheit und Gerechtigkeit siegen. Sobald die Sicherheit wiederhergestellt sei, werde die Sendung fortgesetzt. Er fragt Peeta, ob er Katniss Everdeen noch etwas Abschließendes mitteilen wolle.

Als Peeta meinen Namen hört, verzieht er angestrengt das Gesicht. »Katniss … was meinst du, wo das alles hinführen soll? Was wird am Ende übrig bleiben? Alle sind in Gefahr. Im Kapitol und in den Distrikten. Und ihr … in Distrikt 13 …« Er atmet scharf ein, als könnte er kaum Luft bekommen, der Wahnsinn spricht aus seinem Blick. »… noch vor Tagesanbruch tot!«

Aus dem Off ist Snow zu hören, wie er ruft: »Ausschalten!« Beetee sorgt für Chaos, indem er alle drei Sekunden ein Standbild von mir vor dem Lazarett einblendet. Aber zwischen den Einblendungen werden wir Zeugen des Geschehens im Studio. Wie Peeta versucht weiterzusprechen. Wie die Kamera heruntergerissen wird und die weißen Bodenfliesen filmt. Schritte von Stiefeln. Dann ein heftiger Schlag, vermischt mit Peetas Schmerzensschrei.

Und sein Blut, das auf die Fliesen spritzt.

Teil 2

Der Angriff

10

Der Schrei entsteht ganz unten, wandert meinen Körper hoch und bleibt mir im Hals stecken. Ich bin stumm wie ein Avox, ersticke an meinem Schmerz. Selbst wenn ich die Muskeln im Hals loslassen könnte, den Schrei hinausließe, würde ihn jemand hören? Im Raum hat sich ein Tumult erhoben. Fragen und Forderungen werden laut, während alle versuchen, Peetas Worte zu entschlüsseln. »Und ihr… in Distrikt 13 … noch vor Tagesanbruch tot!« Doch niemand fragt nach dem Überbringer der Nachricht, dessen Blut durch ein Grieselbild ersetzt wurde.

Da ruft jemand: »Ruhe!« Aller Augen richten sich auf Haymitch. »So ein großes Rätsel ist das nicht! Der Junge sagt uns, dass ein Angriff auf uns geplant ist. Hier, in 13.«

»Woher will er das wissen?«

»Warum sollten wir ihm trauen?«

»Woher weißt du das?«

Haymitch knurrt genervt. »Während wir hier quatschen, schlagen die ihn zusammen. Was wollt ihr noch? Katniss, hilf mir doch mal!«

Ich muss mich schütteln, damit die Worte hinauskönnen. »Haymitch hat recht. Ich weiß nicht, woher Peeta die Information hat. Oder ob es stimmt, was er sagt. Aber er glaubt es auf jeden Fall. Und sie …« Ich kann nicht laut aussprechen, was Snow ihm antut.

»Sie kennen ihn nicht«, sagt Haymitch zu Coin. »Wir schon. Rufen Sie Ihre Leute zusammen.«

Coin wirkt nicht erschrocken, nur ein wenig verdutzt über diese Wendung. Sie denkt über die Worte nach und tippt mit einem Finger leicht gegen den Rand der Schalttafel vor sich. Dann sagt sie mit ruhiger Stimme zu Haymitch: »Natürlich haben wir für ein solches Szenario unsere Vorkehrungen getroffen. Obwohl seit Jahrzehnten ausgemacht scheint, dass sich das Kapital mit weiteren direkten Angriffen auf Distrikt 13 nur selbst schaden würde. Atomraketen würden Strahlen in die Atmosphäre schicken, mit unvorhersehbaren Folgen für die Umwelt. Aber auch ein konventioneller Angriff könnte unsere Waffenarsenale, auf die sie es abgesehen haben, empfindlich beschädigen. Und natürlich riskieren sie einen Gegenschlag. Möglich, dass sie in Anbetracht unseres Bündnisses mit den Rebellen nun doch bereit sind, all das in Kauf zu nehmen.«

»Meinen Sie wirklich?«, sagt Haymitch, eine Spur zu ernsthaft, aber die Feinheiten der Ironie kommen in 13 selten an.

»Ja. So oder so ist eine Luftschutzübung der Stufe fünf überfällig«, sagt Coin. »Fahren wir mit der Abriegelung fort.« Sie hackt etwas in die Tasten und gibt die entsprechende Anweisung aus. Als sie den Kopf wieder hebt, geht es auch schon los.

Seit ich in Distrikt 13 bin, hatten wir zwei Übungen auf niedriger Stufe. An die erste kann ich mich kaum noch erinnern. Ich lag auf der Intensivstation, und die Patienten waren wohl von der Teilnahme befreit, denn der Aufwand, uns für eine Übung wegzuschaffen, hätte in keinem Verhältnis zum Nutzen gestanden. Ich erinnere mich dunkel an eine mechanische Stimme, die alle anwies, sich in den gelben Zonen zu versammeln. Bei der zweiten Übung, einer Übung der Stufe zwei für den kleineren Krisenfall - zum Beispiel eine vorübergehende Quarantäne, um die Bewohner auf Grippeviren zu testen -, sollten wir uns in unsere Quartiere begeben. Ich versteckte mich hinter einem Rohr im Wäscheraum, ignorierte das pulsierende Tuten der Alarmanlage und schaute einer Spinne zu, die ein Netz webte. Nichts hat mich auf die ohrenbetäubenden, entsetzlichen Sirenen vorbereitet, die Distrikt 13 jetzt durchdringen. Dieses Geräusch kann man nicht ignorieren, es soll offenbar die ganze Bevölkerung in Panik versetzen. Aber wir sind hier in Distrikt 13, da passiert so etwas nicht.

Boggs führt Finnick und mich aus der Kommandozentrale, durch den Flur zu einem Durchgang und dann auf eine breite Treppe. Menschenströme vereinigen sich zu einem Fluss, der einfach nur abwärtsfließt. Es wird nicht geschrien und nicht gedrängelt. Selbst die Kinder fügen sich. Stockwerk um Stockwerk gehen wir tiefer, schweigend, denn kein Wort würde den Sirenenlärm durchdringen. Ich halte nach meiner Mutter und Prim Ausschau, aber außer den Menschen in meiner unmittelbaren Nähe kann ich niemanden erkennen. Sie arbeiten heute Abend beide auf der Krankenstation, also können sie die Übung nicht verpassen.

Ich habe Druck auf den Ohren und meine Augenlider werden schwer. Wir sind tief unter der Erde, wie in einem Kohlebergwerk. Das hat den einzigen Vorteil, dass die Sirenen nicht mehr ganz so schrill klingen. Als sollten sie uns physisch vom Erdboden vertreiben, und so ist es wohl auch gedacht. Gruppen von Menschen schieben sich durch gekennzeichnete Durchgänge, und Boggs fuhrt mich immer weiter nach unten, bis die Treppe schließlich vor einer riesigen Höhle endet. Ich will direkt hineingehen, doch Boggs sagt, ich müsse erst meinen Tagesplan vor einen Scanner halten, um mich auszuweisen. Garantiert wird die Information an irgendeinen Computer weitergeleitet, damit niemand verloren geht.

Die Höhle ist teils natürlich, teils von Menschenhand geschaffen. An einigen Stellen sind die Wände aus Stein, an anderen sieht man Stahlträger und Zement als Verstärkung. In die Felswände sind Schlafkojen gehauen. Es gibt eine Küche, Toiletten, eine Erste-Hilfe-Station. Alles ist für einen längeren Aufenthalt ausgelegt.

Um die Höhle herum sind in regelmäßigen Abständen weiße Schilder mit Buchstaben oder Zahlen angebracht. Boggs erklärt Finnick und mir gerade, dass wir uns an dem Schild aufstellen sollen, das unserem Quartier entspricht - in meinem Fall E für Wohneinheit E -, als Plutarch zu uns kommt. »Ach, hier seid ihr«, sagt er. Die Ereignisse der letzten Stunden scheinen ihn nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Er ist immer noch hocherfreut über Beetees gelungenen Medienangriff. Er hat den Wald im Blick, nicht die Bäume. Dass Peeta misshandelt wird und Distrikt 13 demnächst in die Luft fliegt, scheint nebensächlich. »Katniss, ich weiß, dass das für dich nicht einfach ist, diese Schlappe für Peeta, aber du darfst nicht vergessen, dass du beobachtet wirst.«

»Was?«, sage ich. Ich fasse es nicht, dass er Peetas schreckliche Lage als Schlappe abtut.

»Die anderen im Bunker werden sich an dich halten. Wenn du ruhig und tapfer bist, nehmen sie sich daran ein Beispiel. Wenn du in Panik gerätst, könnte sich das ausbreiten wie ein Lauffeuer«, schärft Plutarch mir ein. Ich starre ihn nur an. »Es brennt sozusagen«, fährt er fort, als wäre ich etwas begriffsstutzig.

»Am besten tue ich einfach so, als stünde ich vor der Kamera, oder?«, sage ich.

»Ja! Perfekt. Vor Publikum ist man immer viel tapferer«, sagt er. »Wir haben ja gerade gesehen, wie viel Mut Peeta aufgebracht hat.«

Am liebsten würde ich ihm eine reinhauen.

»Ich muss vor der Abriegelung wieder bei Coin sein. Du machst weiter so!«, sagt er und geht davon.

Ich begebe mich zu dem großen E an der Wand. Unser Platz besteht aus vier Quadratmetern, die auf dem Steinboden markiert sind. Zwei Kojen sind in die Wand gehauen - einer muss auf dem Boden schlafen -, unten gibt es ein quadratisches Fach für Vorräte. An der Wand hängt ein weißes Blatt in Plastikfolie mit der Überschrift REGELN FÜR DEN BUNKER. Ich starre die kleinen schwarzen Striche auf dem Papier an. Zuerst werden sie von den Blutstropfen überlagert, die ich einfach nicht aus dem Kopf kriege. Dann werden sie langsam zu Buchstaben und Wörtern. Der erste Absatz trägt die Überschrift Bei der Ankunft.

1. Stellen Sie sicher, dass alle Mitglieder Ihrer Wohneinheit anwesend sind.

Meine Mutter und Prim sind noch nicht da, aber ich bin auch als eine der Ersten im Bunker angekommen. Wahrscheinlich sind die beiden noch damit beschäftigt, Patienten zu verlegen.

2. Gehen Sie zur Versorgungsstelle und sichern Sie jedem Mitglied Ihrer Wohneinheit einen Kucksack. Bereiten Sie Ihr Lager vor. Geben Sie die Kucksäcke wieder ab.

Ich schaue mich in der Höhle um, bis ich die Versorgungsstelle gefunden habe, einen tiefen Raum, der durch eine Theke abgetrennt ist. Ein paar Leute stehen dahinter, aber es ist noch nicht viel los. Ich gehe hin, nenne den Buchstaben unserer Wohneinheit und verlange drei Rucksäcke. Ein Mann überprüft die Angaben, zieht die für uns bestimmten Rucksäcke aus dem Regal und legt sie mit Schwung auf die Theke. Ich setze mir einen auf den Rücken und nehme die anderen beiden in die Hände. Als ich mich umdrehe, hat sich hinter mir eine Menschenansammlung gebildet. »Entschuldigung«, sage ich, während ich mich mit den Vorräten durch die Leute zwänge. Ist das nur Zufall? Oder hat Plutarch recht? Orientieren sich die Leute an mir?

In unserem Lager öffne ich einen Rucksack. Ich finde eine dünne Matte, Bettzeug, graue Kleidung zum Wechseln, eine Zahnbürste, einen Kamm und eine Taschenlampe. In den anderen beiden Rucksäcken befindet sich das Gleiche, zusätzlich zu der grauen jedoch auch weiße Kleidung. Die ist bestimmt für meine Mutter und Prim gedacht, für den Fall, dass ihr medizinischer Einsatz gefragt ist. Nachdem ich die Betten gemacht, die Kleidung verstaut und die Rucksäcke wieder abgegeben habe, kann ich nichts weiter tun, als die letzte Regel zu befolgen.

3. Warten Sie auf weitere Anweisungen.

Also setze ich mich im Schneidersitz auf den Boden und warte. Immer mehr Menschen strömen in die Höhle, nehmen ihre Lager in Beschlag und holen ihre Vorräte ab. Es dauert nicht lange, da ist die Höhle voll. Ich frage mich, ob meine Mutter und Prim die Nacht an dem Ort verbringen, an den man die Patienten gebracht hat. Aber nein, das glaube ich nicht. Sie standen ja auf der Liste. Ich fange schon an, mir Sorgen zu machen, als meine Mutter endlich kommt. Allein, mitten unter Leuten, die ich nicht kenne. »Wo ist Prim?«, frage ich.

»Ist sie nicht hier?«, sagt meine Mutter. »Sie wollte direkt von der Krankenstation herkommen. Sie ist zehn Minuten vor mir los. Wo ist sie? Wohin könnte sie gegangen sein?«

Ich kneife die Augen zu, um sie aufzuspüren, als wäre ich auf der Jagd. Ich sehe sie vor mir, wie sie auf die Sirene reagiert, wie sie sich hastig um die Patienten kümmert, wie sie nickt, als man sie auffordert, in den Bunker zu gehen. Auf der Treppe zögere ich mit ihr. Bin einen Moment lang hin und her gerissen. Warum nur?

Ich reiße die Augen auf. »Der Kater! Sie holt den Kater!«

»Oh nein«, sagt meine Mutter. Wir wissen beide, dass ich recht habe. Wir schieben uns gegen den Strom, versuchen aus dem Bunker hinauszukommen. Oben machen sie sich daran, die Flügel der schweren Eisentür zu schließen. Langsam drehen sie die Stahlräder auf beiden Seiten nach innen. Wenn die Tür erst einmal geschlossen ist, das weiß ich, wird nichts auf der Welt die Soldaten dazu bringen, sie wieder zu öffnen. Vielleicht stünde es auch gar nicht in ihrer Macht. Ich dränge die Leute zur Seite, während ich den Soldaten zurufe, dass sie warten sollen. Der Abstand zwischen den Flügeln schrumpft auf einen Meter, einen halben Meter, nur noch ein paar Zentimeter sind übrig, bloß meine Hand passt noch durch den Spalt.

»Machen Sie auf. Lassen Sie mich raus!«, schreie ich.

Die Soldaten sind unschlüssig, dann schieben sie die Flügel ein Stück zurück. Nicht so weit, dass ich hindurch kann, aber so weit, dass ich mir nicht die Finger klemme. Ich nutze die Gelegenheit, um mich mit einer Schulter in die Öffnung zu zwängen. »Prim!«, brülle ich nach oben. Meine Mutter spricht begütigend auf die Wachen ein, während ich mich immer weiter durch den Spalt quetsche. »Prim!«

Da höre ich es. Leise Schritte auf der Treppe. »Wir kommen!«, ruft meine Schwester.

»Halt die Tür auf!« Das war Gale.

»Sie kommen!«, sage ich zu den Wachen, woraufhin sie die Tür ein kleines Stück weiter aufmachen. Aber vor lauter Angst, dass sie uns alle aussperren, wage ich mich nicht zu rühren, bis Prim da ist, die Wangen rot vom Rennen, Butterblume auf dem Arm. Ich ziehe sie in die Höhle, Gale kommt hinterher und zwängt noch eine Menge Gepäck durch die Öffnung. Mit einem lauten und endgültigen Knall geht die Tür zu.

»Was hast du dir bloß gedacht?« Aufgebracht schüttele ich Prim, dann umarme ich sie und zerdrücke Butterblume fast.

Prim hat die Erklärung bereits parat. »Ich konnte ihn nicht zurücklassen, Katniss«, sagt sie. »Nicht schon wieder. Du hättest sehen sollen, wie er durchs Zimmer gelaufen ist und gemaunzt hat. Er würde auch zurückkommen, um uns zu retten.«

»Ja, ja, schon gut.« Ich atme ein paarmal tief durch, gehe einen Schritt zurück und packe Butterblume im Nackenfell. »Ich hätte dich ertränken sollen, als es noch nicht zu spät war.« Er legt die Ohren an und hebt eine Pfote. Ich fauche ihn an, bevor er es tut. Das ärgert ihn, er findet, Fauchen sollte ihm vorbehalten sein. Im Gegenzug maunzt er wie ein hilfloses kleines Kätzchen und meine Schwester springt ihm sofort zur Seite.

»Ach, Katniss, ärgere ihn nicht.« Sie nimmt ihn wieder in die Arme. »Er ist doch so schon außer sich.«

Bei der Vorstellung, dass ich die zarten Gefühle dieses Mistkaters verletzt habe, kriege ich schon wieder Lust, ihn zu ärgern.

Aber Prim ist wirklich verzweifelt. Also stelle ich mir nur vor, wie sein Fell ein Paar Handschuhe ziert, ein Bild, das mir über die Jahre geholfen hat, ihn zu ertragen. »Na gut, tut mir leid. Wir sind unter dem großen E an der Wand. Such ihm lieber ein Plätzchen, bevor er ausrastet.« Eilig geht Prim weg und jetzt stehe ich Gale direkt gegenüber. In den Händen hält er den Arzneikasten aus unserer Küche in Distrikt 12. Wo unser letztes Gespräch stattfand, unser letzter Kuss, unser letzter Streit, egal. Er trägt meine Jagdtasche über der Schulter.

»Wenn Peeta recht hat, hätten die Sachen nicht überlebt«, sagt er.

Peeta. Blut wie Regentropfen am Fenster. Wie feuchte Erde an den Stiefeln.

»Danke für … alles.« Ich nehme die Sachen. »Was hast du in unseren Räumen gemacht?«

»Nur noch mal alles kontrolliert«, sagt er. »Wir sind in siebenundvierzig, falls du mich brauchst.«

Als die Tür geschlossen wurde, haben sich fast alle auf ihre Plätze verzogen, und jetzt schauen mir mindestens fünfhundert Leute zu, wie ich mich zu unserem neuen Zuhause begebe. Um meine Panikaktion von vorhin wiedergutzumachen, versuche ich jetzt, besonders ruhig und besonnen zu wirken. Als könnte ich irgendjemandem etwas vormachen. Ein tolles Vorbild bin ich. Aber was soll’s? Die Leute halten mich sowieso alle für verrückt. Ein Mann, den ich vermutlich umgestoßen habe, fängt meinen Blick auf und reibt sich empört den Ellbogen. Am liebsten würde ich ihn auch anfauchen.

Prim hat Butterblume auf die untere Koje gesetzt und in eine Decke gewickelt, sodass nur sein Kopf herausguckt. So hat er es gern bei Gewitter, das Einzige, wovor er sich richtig furchtet. Meine Mutter stellt ihren Arzneikasten sorgfältig in das quadratische Fach. Mit dem Rücken zur Wand kauere ich mich hin und schaue mir an, was Gale alles in meine Jagdtasche gepackt hat. Das Pflanzenbuch, meine Jagdjacke, das Hochzeitsfoto meiner Eltern und die persönlichen Sachen aus meiner Schublade. Meine Spotttölpelbrosche steckt jetzt ja immer an dem Kostüm, das Cinna für mich gemacht hat, aber da sind das goldene Medaillon und der silberne Fallschirm mit dem Zapfhahn und Peetas Perle. Ich verknote die Perle im Zipfel des Fallschirms und stecke sie ganz tief in meine Tasche, als wäre sie Peetas Leben und niemand könnte sie wegnehmen, solange ich darauf aufpasse.

Das ferne Geräusch der Sirenen bricht abrupt ab. Über die Lautsprecher des Distrikts ist Coins Stimme zu hören, sie dankt uns allen für eine vorbildliche Evakuierung der oberen Stockwerke. Sie betont, dass es sich nicht um eine Übung handele, da Peeta Mellark, der Sieger aus Distrikt 12, im Fernsehen vor einem Angriff auf 13 gewarnt habe, der möglicherweise heute Nacht bevorstehe.

In diesem Moment fällt die erste Bombe. Erst gibt es einen heftigen Schlag, gefolgt von einer Detonation, die in meinem Innersten nachhallt, in meinen Eingeweiden, im Knochenmark, in den Zahnwurzeln. Wir werden alle sterben, denke ich. Mein Blick wandert nach oben, ich rechne damit, gewaltige Risse in der Decke zu sehen, dicke Gesteinsbrocken, die auf uns herabregnen, aber der Bunker bebt nur ein wenig. Die Lichter gehen aus, und ich erlebe, wie orientierungslos man in völliger Dunkelheit ist. Die Laute der Menschen, die keine Worte für das Geschehen haben - spontane Schreie, unregelmäßiges Atmen, das Wimmern von Babys, der Fetzen eines irren Lachens -, tanzen in der aufgeladenen Atmosphäre umher. Dann das Summen eines Generators, ein schwaches Flackern, so ganz anders als die grelle Beleuchtung, die in Distrikt 13 üblich ist. Es ist fast wie damals zu Hause in Distrikt 12, beim schwachen Schein von Kerzen und Kaminfeuer in einer Winternacht.

Im Zwielicht strecke ich den Arm nach Prim aus, halte mich an ihrem Bein fest und ziehe mich zu ihr hinüber. Mit fester Stimme spricht sie beruhigend auf Butterblume ein. »Schon gut, Kleiner, alles ist gut. Hier unten kann uns nichts passieren.«

Meine Mutter nimmt uns in die Arme. Einen Augenblick lang gestehe ich mir zu, mich klein zu fühlen, und lege den Kopf auf ihre Schulter. »Nichts im Vergleich zu den Bomben in Distrikt 8«, sage ich.

»Wahrscheinlich eine Bunkerbombe«, sagt Prim. Dem Kater zuliebe spricht sie immer noch mit sanfter Stimme. »Bei der Einführungsveranstaltung für Neubürger haben wir davon gehört. Sie dringen tief in die Erde ein, bevor sie losgehen. Weil es ja schon lange keinen Grund mehr gibt, die Oberfläche von 13 zu bombardieren.«

»Atombomben?«, frage ich und merke, wie es mich kalt durchläuft.

»Nicht unbedingt«, sagt Prim. »Manche enthalten nur eine Menge Sprengstoff. Aber … es könnte wohl beides sein.«

In dem Dämmerlicht ist die schwere Stahltür am Ende des Bunkers kaum zu erkennen. Würde sie uns vor einem atomaren Angriff schützen? Und selbst wenn sie, was sehr unwahrscheinlich ist, die Strahlung zu hundert Prozent abschirmen würde, könnten wir dann je wieder hier raus? Die Vorstellung, den Rest meines Lebens in dieser Gruft zu verbringen, ist entsetzlich.

Ich verspüre den Drang, wie eine Verrückte zur Tür zu rennen und zu verlangen, dass sie mich rauslassen, was auch immer mich dort erwartet. Aber es ist zwecklos. Sie würden mich nie hinauslassen und ich würde womöglich eine Massenpanik auslösen.

»Wir sind so tief unter der Erde, bestimmt sind wir hier sicher«, sagt meine Mutter matt. Denkt sie an meinen Vater, der im Bergwerk in Stücke gerissen wurde? »Aber das war knapp. Gut, dass Peeta das Nötige getan und uns gewarnt hat.«

Das Nötige. Eine harmlose Umschreibung für alles, was nötig war, um Alarm zu schlagen. Das Wissen, die Gelegenheit, der Mut. Und noch etwas anderes, das ich nicht benennen kann. Peeta schien mit sich ringen zu müssen, er musste sich überwinden, die Botschaft zu äußern. Warum? Die Leichtigkeit, mit der er Worte verdrehen kann, ist sein größtes Talent. War die Anstrengung eine Folge der Folter? Oder mehr als das? Eine Art Wahnsinn?

Coins Stimme, vielleicht etwas härter als sonst, erfüllt den Bunker, die Lautstärke flackert ebenso wie das Licht. »Offenbar war Peeta Mellarks Information korrekt und wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Die Messinstrumente zeigen an, dass das erste Geschoss eine große Sprengkraft hatte, jedoch nicht gestrahlt hat. Wir rechnen damit, dass weitere folgen werden. Für die Dauer des Angriffs haben die Bewohner in ihren zugewiesenen Bereichen zu bleiben, solange keine anderslautenden Anweisungen erfolgen.«

Ein Soldat teilt meiner Mutter mit, dass sie in der Erste-Hilfe-Station gebraucht wird. Sie lässt uns ungern allein, obwohl sie nur dreißig Meter entfernt sein wird.

»Uns passiert schon nichts«, sage ich. »Glaubst du, an dem käme jemand vorbei?« Ich zeige auf Butterblume, der mich so halbherzig anfaucht, dass wir alle ein wenig lachen müssen. Selbst ich habe Mitleid mit ihm. Nachdem meine Mutter weg ist, sage ich zu Prim: »Warum steigst du nicht mit ihm in die Koje?«

»Ich weiß, dass es albern ist … aber ich hab Angst, dass das Ding beim nächsten Einschlag über uns zusammenkracht«, sagt sie.

Wenn die Kojen zusammenkrachen, bricht der ganze Bunker zusammen und begräbt uns, doch diese Logik ist jetzt wohl wenig hilfreich. Anstatt etwas zu sagen, räume ich das Vorratsfach frei und bereite Butterblume darin ein Bett. Davor lege ich für meine Schwester und mich eine Matte.

Wir dürfen in kleinen Grüppchen die Toilette benutzen und uns die Zähne putzen, Duschen ist für heute allerdings gestrichen. Ich kuschele mich mit Prim auf die Matte. Die Decken nehmen wir doppelt, denn in der Höhle ist es feucht und kalt. Butterblume, der unglücklich ist, obwohl Prim sich die ganze Zeit um ihn kümmert, kauert im Vorratsfach und stößt mir seinen Katzenatem ins Gesicht.

Trotz der misslichen Umstände bin ich dankbar für die Zeit mit meiner Schwester. Seit ich hier bin - nein, seit den ersten Spielen -, war ich so wahnsinnig beschäftigt, dass ich mich kaum um sie kümmern konnte. Ich habe nicht so auf sie aufgepasst wie nötig, nicht so wie früher. Schließlich war es Gale, der unsere Wohneinheit durchgesehen hat, nicht ich. Das muss ich wiedergutmachen.

Ich habe sie noch nicht mal gefragt, wie sie den Schock verkraftet hat, dass es sie hierher verschlagen hat. »Und, Prim, wie gefällt es dir in Distrikt 13?«, frage ich.

»Jetzt gerade?«, fragt sie zurück. Wir müssen lachen. »Manchmal habe ich fürchterliches Heimweh. Aber dann fällt mir ein, dass es nichts mehr gibt, wonach ich Heimweh haben könnte. Hier fühle ich mich sicherer. Wir müssen keine Angst mehr um dich haben. Na ja, jedenfalls nicht mehr so wie früher.« Sie schweigt eine Weile, dann umspielt ein scheues Lächeln ihre Lippen. »Ich glaube, sie wollen mich zur Ärztin ausbilden.«

Davon höre ich zum ersten Mal. »Na klar. Sie wären schön blöd, wenn sie das nicht machen würden.«

»Sie haben mich beobachtet, als ich auf der Krankenstation ausgeholfen habe. Ich besuche bereits die Sanitätskurse. Das ist nur für Anfänger. Einiges davon weiß ich schon von zu Hause. Trotzdem gibt es noch viel zu lernen«, sagt sie.

»Das ist ja toll«, sage ich. Prim als Ärztin. Davon hätte sie in Distrikt 12 nicht mal träumen können. Etwas Kleines, Stilles erhellt die Finsternis in meinem Innern, wie ein Streichholz, das angezündet wird. So eine Zukunft könnte die Rebellion uns bringen.

»Was ist mit dir, Katniss? Wie kommst du zurecht?« Ganz leicht und zärtlich bewegt sie die Fingerspitzen zwischen Butterblumes Augen. »Und sag jetzt nicht, dass es dir gut geht.«

Sie hat recht. Mir geht es alles andere als gut. Also erzähle ich ihr von Peeta, dass ich im Fernsehen zuschauen konnte, wie sein Zustand immer schlechter wurde, und dass sie ihn womöglich gerade umbringen. Butterblume muss eine Weile allein klarkommen, denn jetzt wendet Prim sich ganz mir zu. Sie zieht mich fest an sich, streicht mir mit den Fingern die Haare hinter die Ohren. Ich habe aufgehört zu reden, weil es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt und weil dort, wo sich mein Herz befindet, ein bohrender Schmerz ist. Vielleicht habe ich sogar einen Herzanfall, aber es lohnt nicht, davon zu sprechen.

»Katniss, ich glaube nicht, dass Präsident Snow Peeta umbringt«, sagt sie. Natürlich sagt sie das, sie will mich beruhigen. Aber dann sagt sie etwas Überraschendes. »Sonst hätte er keinen mehr, an dem dir etwas liegt. Dann könnte er dir nicht mehr wehtun.«

Da muss ich auf einmal an ein anderes Mädchen denken, an eine, die alles Böse gesehen hat, was das Kapitol zu bieten hat. Johanna Mason, Tribut aus Distrikt 7, in der letzten Arena. Ich habe sie davon abzuhalten versucht, in den Dschungel zu gehen, wo die Schnattertölpel die Stimmen unserer Lieben nachahmten, die gefoltert wurden, aber sie hat mich nur beiseitegestoßen und gesagt: »Die können mir nichts anhaben. Ich bin nicht wie ihr. Von meinen Lieben ist keiner mehr da.«

Prim hat recht. Snow kann es sich nicht leisten, Peetas Leben zu vergeuden, schon gar nicht jetzt, da der Spotttölpel solch ein Chaos anrichtet. Snow hat bereits Cinna getötet. Mein Zuhause zerstört. Meine Familie, Gale und sogar Flaymitch sind außerhalb seiner Reichweite. Peeta ist alles, was ihm bleibt.

»Was glaubst du dann, was sie mit ihm machen?«, frage ich.

Jetzt klingt Prim, als wäre sie tausend Jahre alt. »Was nötig ist, um dich zu brechen.«

11

Was wird mich brechen?

Das ist die Frage, die mich in den nächsten drei Tagen quält, während wir darauf warten, dass wir aus unserem sicheren Gefängnis entlassen werden. Was wird mich in unzählige Stücke zerbrechen, sodass ich nicht wieder heil werden kann, nicht mehr zu gebrauchen bin? Ich spreche mit niemandem darüber, aber es verschlingt meine wachen Stunden und durchzieht meine Albträume.

In dieser Zeit werden vier weitere Bunkerbomben abgefeuert, alle gewaltig, jedoch ohne gravierende Wirkung. Die Bomben sind über mehrere Stunden verteilt, und gerade wenn wir denken, jetzt ist es vorbei, jagt uns eine erneute Detonation Schockwellen durch die Eingeweide. Offenbar geht es ihnen eher darum, uns hier unten festzuhalten, als darum, Distrikt 13 zu schwächen. Den Distrikt lahmlegen, ja. Die Leute damit beschäftigen, ihn wieder funktionsfähig zu machen. Aber ihn zerstören? Nein. In diesem Punkt hatte Coin recht. Das, worauf man es abgesehen hat, zerstört man nicht. Ein vordringliches Ziel besteht sicher darin, die Medienangriffe zu stoppen und zu verhindern, dass ich noch mal im Fernsehen von Panem auftrete.

Wir erhalten kaum Informationen, unsere Bildschirme schalten sich nie ein. Durch die Lautsprecher klärt Coin uns nur kurz über die Beschaffenheit der Bomben auf. Die Kriegshand hingen sind bestimmt noch nicht vorbei, aber über den Stand der Dinge werden wir im Dunkeln gelassen.

Im Bunker ist Zusammenarbeit das Gebot der Stunde. Für alles gibt es einen strikten Plan, Mahlzeiten, Waschen, Bewegung und Schlafen. Hin und wieder dürfen wir zusammenkommen, damit die Untätigkeit erträglicher wird. Unser Lager ist sehr beliebt, weil die Kinder und auch die Erwachsenen von Butterblume fasziniert sind. Mit seinem abendlichen Spiel »Der verrückte Kater« ist er ein richtiger Star. Ich habe es vor ein paar Jahren zufällig erfunden, als wir im Winter einen Stromausfall hatten. Man schwenkt eine Taschenlampe durch den Raum und Butterblume jagt dem Strahl hinterher. Fies, wie ich bin, habe ich meinen Spaß daran, weil ich finde, dass er dabei so dämlich aussieht. Aus unerklärlichen Gründen finden alle anderen hier ihn klug und niedlich. Für das Spektakel bekomme ich sogar neue Batterien zugeteilt - was für eine Verschwendung. Die Bewohner von 13 gieren wirklich nach Unterhaltung.

In der dritten Nacht finde ich während unseres Spiels die Antwort auf die Frage, die mich so quält. Der verrückte Kater wird zur Metapher für meine Situation. Ich bin Butterblume, und Peeta, den ich unbedingt retten will, ist das Licht. Solange Butterblume das Gefühl hat, er könne das trügerische Licht mit den Pfoten festhalten, ist er voller Angriffslust. (So war ich, als ich aus der Arena herauskam und erfuhr, dass Peeta lebt.) Wenn das Licht ganz ausgeht, ist Butterblume zunächst verstört und verwirrt, doch nach kurzer Zeit fängt er sich wieder und beschäftigt sich mit etwas anderem. (Das würde passieren, wenn Peeta sterben würde.) Doch was Butterblume wirklich fertigmacht, das ist, wenn ich die Taschenlampe eingeschaltet lasse, den Strahl aber hoch an die Wand halte, außer Reichweite, sodass er nicht mal springen kann. Dann geht er an der Wand hin und her, maunzt und lässt sich weder trösten noch ablenken. Erst wenn ich die Taschenlampe ausschalte, ist er wieder zu etwas zu gebrauchen. (Das versucht Snow jetzt mit mir zu machen, nur dass ich nicht weiß, welche Formen das Spiel annimmt.)

Vielleicht will Snow ja nur, dass ich das begreife. Es war schlimm genug zu glauben, dass er Peeta in der Hand hat und ihn foltert, um etwas über die Rebellen herauszubekommen. Aber zu denken, dass er ihn foltert, um mich außer Gefecht zu setzen, ist unerträglich. Und unter der Last dieser Erkenntnis fange ich tatsächlich an zu brechen.

Nach dem »Verrückten Kater« ist Schlafenszeit. Mal haben wir Strom, mal nicht; manchmal brennen die Lampen ganz hell, dann wieder blinzeln wir einander im Dämmerlicht an. Zur Schlafenszeit drehen sie das Licht fast völlig runter und schalten in jedem Lager Notleuchten an. Prim, die jetzt überzeugt ist, dass die Wände halten, kuschelt sich mit Butterblume in die untere Koje. Meine Mutter liegt in der oberen. Ich biete an, mich in eine der Kojen zu legen, aber die beiden bestehen darauf, dass ich auf der Matte am Boden schlafe, weil ich in der Nacht immer so wild um mich schlage.

Jetzt schlage ich nicht um mich, meine Muskeln sind starr, weil ich mich mit aller Kraft zusammenreiße. Der Schmerz in meinem Herzen ist wieder da, und ich stelle mir vor, wie sich von dort aus kleine Fissuren in meinem Körper ausbreiten. Sie wandern durch meinen Oberkörper und von dort in die Arme und Beine, über mein Gesicht, bis es von Rissen übersät ist. Eine ordentliche Erschütterung durch eine Bunkerbombe und ich würde in eigentümliche, messerscharfe Scherben zersplittern.

Als die meisten Leute eingeschlafen sind, schäle ich mich vorsichtig aus meiner Decke und gehe auf Zehenspitzen durch die Höhle, bis ich Finnick gefunden habe. Aus irgendeinem Grund spüre ich, dass er mich verstehen wird. Er sitzt unter der Notleuchte in seinem Lager und macht Knoten in sein Seil, er tut nicht mal so, als würde er schlafen. Während ich ihm zuflüstere, wie Snow mich brechen will, dämmert es mir. Für Finnick ist diese Strategie überhaupt nichts Neues. Genau so haben sie ihn gebrochen.

»Das Gleiche tun sie dir mit Annie an, stimmt’s?«, sage ich.

»Sie haben sie jedenfalls nicht gefangen genommen, weil sie ihnen Informationen über die Rebellen beschaffen könnte«, erwidert er. »Sie wussten, dass ich es nie riskiert hätte, ihr davon zu erzählen. Weil ich sie damit in Gefahr gebracht hätte.«

»Oh, Finnick. Es tut mir so leid«, sage ich.

»Nein, mir tut es leid. Dass ich dich nicht gewarnt habe«, sagt er.

Plötzlich taucht eine Erinnerung auf. Ich, wie ich an mein Bett gefesselt bin, außer mir vor Wut und Kummer nach der Rettung. Finnick versucht mich wegen Peeta zu trösten. Die werden bald merken, dass er nichts weiß. Und sie werden ihn nicht töten, solange sie denken, sie können ihn gegen dich einsetzen. »Du hast mich doch gewarnt. Auf der Krankenstation. Aber als du gesagt hast, sie würden Peeta gegen mich einsetzen, da dachte ich, du meinst, als Köder. Um mich ins Kapitol zu locken«, sage ich.

»Nicht mal das hätte ich sagen sollen. Es war zu spät, um dir zu helfen. Wenn ich dich schon nicht vorher, vor dem Jubel-Jubiläum, gewarnt habe, hätte ich mir auch den Hinweis darauf sparen können, wie Snow vorgeht.« Finnick reißt am Ende seines Seils und ein komplizierter Knoten löst sich auf. »Aber damals, als ich dich kennenlernte, da hab ich es nicht kapiert. Nach euren ersten Spielen dachte ich, die Liebesgeschichte wäre von deiner Seite aus nur Theater. Wir sind alle davon ausgegangen, dass du diese Taktik weiterverfolgen würdest. Erst als Peeta das Kraftfeld berührt hat und fast gestorben wäre, da wusste ich …« Finnick zögert.

Ich denke zurück an die Arena. Wie ich geschluchzt habe, als Finnick Peeta wiederbelebte. Sein verwirrter Gesichtsausdruck. Und wie er mein Benehmen entschuldigt und es auf die angebliche Schwangerschaft geschoben hat. »Was wusstest du da?«

»Da wusste ich, dass ich dich falsch eingeschätzt hatte. Dass du ihn liebst. Auf welche Art, weiß ich nicht. Vielleicht weißt du das selbst nicht. Aber jeder, der dich beobachtet hat, konnte sehen, wie viel er dir bedeutet«, sagt er sanft.

Jeder? Als Snow mich vor der Tour der Sieger besucht hat, hat er von mir verlangt, jeden Zweifel an meiner Liebe zu Peeta auszulöschen. »Überzeuge mich«, hat er gesagt. Unter dem heißen rosa Himmel, als Peetas Leben an einem seidenen Faden hing, scheint mir das schließlich gelungen zu sein. Und indem es mir gelungen ist, habe ich Snow die Waffe zur Verfügung gestellt, die er braucht, um mich zu brechen.

Lange sitzen Finnick und ich schweigend da, schauen den Knoten zu, wie sie entstehen und sich wieder auflösen, bis ich die Frage über die Lippen bringe: »Wie hältst du das aus?«

Finnick schaut mich ungläubig an. »Ich halte es nicht aus, Katniss! Natürlich nicht. Jeden Morgen quäle ich mich aus Albträumen, um festzustellen, dass das Erwachen keine Erleichterung bringt.« Etwas in meinem Blick lässt ihn verstummen. »Am besten gar nicht erst nachgeben. Sich wieder zusammenzuflicken, dauert zehnmal so lange, wie zu zerbrechen.«

Er muss es ja wissen. Ich hole tief Luft und zwinge mich dazu, ganz zu bleiben.

»Versuch dich abzulenken, das ist das Beste«, sagt er. »Morgen besorgen wir dir als Erstes ein eigenes Seil. Bis dahin kannst du meins haben.«

Den Rest der Nacht sitze ich auf meiner Matte und mache wie besessen Knoten, die ich dann Butterblume zeige. Wenn einer verdächtig aussieht, fängt er ihn aus der Luft und beißt ein paarmal hinein, damit er auch ganz sicher tot ist. Am nächsten Morgen habe ich wunde Finger, aber ich mache weiter.

Nachdem es vierundzwanzig Stunden ruhig geblieben ist, verkündet Coin schließlich, dass wir den Bunker verlassen können. Unsere alten Quartiere sind ausgebombt worden. Alle bekommen ganz genaue Anweisungen, wo sich die neuen Wohneinheiten befinden. Wie angeordnet, räumen wir unsere Lager und stellen uns gehorsam vor der Tür auf.

Ehe ich angekommen bin, taucht Boggs auf und zieht mich aus der Schlange. Er gibt Gale und Finnick ein Zeichen, zu uns zu kommen. Die anderen lassen uns durch. Einige lächeln mich sogar an, durch das Spiel mit dem »Verrückten Kater« habe ich offenbar gepunktet. Zur Tür hinaus und die Treppe hoch, durch den Flur und zu den multidirektionalen Aufzügen, die uns in die Waffenabteilung bringen. Unterwegs haben wir keine Zerstörungen gesehen, aber wir sind auch noch immer tief unter der Erde.

Boggs führt uns in einen Raum, der fast genauso aussieht wie die Kommandozentrale. Coin, Plutarch, Haymitch, Cressida und alle anderen am Tisch sehen erschöpft aus. Irgendwer hat endlich den Kaffee rausgeholt - wenn auch garantiert nur als Aufputschmittel -, und Plutarch hat beide Hände fest um die Tasse gelegt, als könnte sie ihm gleich wieder weggeschnappt werden.

Präsidentin Coin kommt sofort zur Sache. »Wir brauchen euch vier in voller Montur über der Erde. Ihr habt genau zwei Stunden Zeit, um Bildmaterial zu sammeln, das erstens die Zerstörung durch die Bomben zeigt, zweitens beweist, dass die Militäreinheit von 13 nicht nur funktioniert, sondern übermächtig ist, und vor allem, drittens, dass der Spotttölpel noch lebt. Fragen?«

»Können wir einen Kaffee bekommen?«, fragt Finnick.

Dampfende Tassen werden verteilt. Voller Abscheu schaue ich auf die glänzende schwarze Flüssigkeit. Ich war noch nie ein großer Freund von dem Zeug, aber vielleicht kann ich mich damit besser auf den Beinen halten. Finnick kippt mir etwas Sahne in meine Tasse und langt in das Zuckerschälchen. »Möchtest du ein Stück Zucker?«, fragt er mit seiner alten Verführerstimme. So haben wir uns kennengelernt, Finnick bot mir Zucker an. Umgeben von Pferden und Wagen, kostümiert und geschminkt für die Massen. Bevor wir Verbündete wurden. Bevor ich eine Ahnung hatte, wie er tickt. Bei der Erinnerung daran muss ich tatsächlich lächeln. »Hier, damit schmeckt es besser«, sagt er mit seiner normalen Stimme und lässt drei Stück Zucker in meinen Kaffee fallen.

Als ich mich umdrehe, um mein Spotttölpelkostüm anzuziehen, sehe ich, wie Gale unglücklich zu Finnick und mir schaut. Was soll das jetzt? Denkt er etwa, da läuft was zwischen uns?

Vielleicht hat er mitgekriegt, dass ich letzte Nacht bei Finnick war. Auf dem Weg zu ihm bin ich wahrscheinlich am Lager der Hawthornes vorbeigekommen. Das ist ihm wohl gegen den Strich gegangen. Dass ich Finnicks Nähe gesucht habe und nicht seine. Na, wennschon. Meine Finger brennen vom Knotenmachen, ich kann die Augen kaum offen halten, ein Kamerateam wartet darauf, dass ich irgendwas Geniales zustande bringe, und Snow hat Peeta in seiner Gewalt. Soll Gale doch denken, was er will.

Noch ehe der Kaffee abgekühlt ist, hat mein Vorbereitungsteam mich in dem neuen Erneuerungsstudio in der Waffenabteilung in mein Spotttölpelkostüm gesteckt, frisiert und dezent geschminkt. Zehn Minuten später begeben sich die Darsteller und das Team des nächsten Propos über die vielen gewundenen Treppen nach draußen. Unterwegs schlürfe ich meinen Kaffee, der durch Sahne und Zucker deutlich gewinnt. Als ich den Kaffeesatz runterkippe, der sich in der Tasse abgesetzt hat, merke ich, dass ich mich leicht berauscht fühle.

Nach einer letzten Treppe betätigt Boggs einen Hebel und eine Falltür öffnet sich. Frische Luft strömt herein. Ich atme tief durch, und erst jetzt kann ich mir in Gänze eingestehen, wie grässlich ich es im Bunker fand. Wir kommen in den Wald und ich lasse die Hände durch die Blätter über meinem Kopf gleiten. Einige fangen schon an, sich zu verfärben. »Der Wievielte ist heute?«, frage ich niemand Bestimmten. Boggs antwortet, dass nächste Woche der September anfängt.

September. Dann hat Snow Peeta jetzt schon fünf oder sechs Wochen in seinen Klauen. Ich schaue auf meine Hand und sehe, dass sie zittert. Ich schaffe es nicht, das Zittern zu unterdrücken. Ich schiebe es auf den Kaffee und konzentriere mich darauf, langsamer zu atmen, denn für das Tempo, in dem ich gehe, atme ich viel zu schnell.

Je weiter wir vordringen, desto mehr Trümmer liegen auf dem Waldboden verstreut. Wir sehen den ersten Bombenkrater, dreißig Meter breit, wie tief er ist, weiß ich nicht. Sehr tief. Boggs sagt, wahrscheinlich wäre jeder auf den obersten zehn Ebenen getötet worden. Wir gehen um die Vertiefung herum und marschieren weiter.

»Kann man das wiederaufbauen?«, fragt Gale.

»Nicht in nächster Zeit. Die Bombe hier hat kaum Schaden angerichtet. Nur ein paar Ersatzgeneratoren und eine Geflügelfarm«, sagt Boggs. »Wir sperren den Krater einfach ab.«

Als wir den Zaun hinter uns lassen, gibt es keine Bäume mehr. Die Krater sind von einer Mischung aus altem und neuem Schutt umringt. Vor der Bombardierung war nur ein kleiner Teil von Distrikt 13 oberirdisch. Ein paar Wachstationen. Das Übungsgelände. Etwa ein halber Meter der obersten Etage unseres Trakts - wo Butterblumes Fenster hinausging - und darüber ein paar Meter Stahl. Selbst das war nicht dafür gebaut, mehr als einem oberflächlichen Angriff standzuhalten.

»Wie viel Zeit hattet ihr durch Peetas Warnung?«, fragt Haymitch.

»Ungefähr zehn Minuten später hätte unser Alarmsystem die Geschosse identifiziert«, sagt Boggs.

»Aber es hat was gebracht, oder?«, frage ich. Ich ertrage es nicht, wenn er jetzt Nein sagt.

»Auf jeden Fall«, antwortet Boggs. »Die Zivilbevölkerung konnte vollständig evakuiert werden. Bei einem Angriff zählt jede Sekunde. Zehn Minuten bedeuten, dass viele Leben gerettet wurden.«

Prim, denke ich. Und Gate. Sie waren nur wenige Minuten vor der ersten Bombe im Bunker. Möglicherweise hat Peeta die beiden gerettet. Zwei Namen auf der Liste der Dinge, für die ich ihm ewig dankbar sein werde.

Cressida schlägt vor, mich vor den Ruinen des alten Justizgebäudes zu filmen - eine witzige Idee, denn es diente dem Kapitol jahrelang als Kulisse für gefälschte Nachrichten. Sie wollten damit zeigen, dass Distrikt 13 nicht mehr existiert. Seit dem letzten Angriff klafft etwa zehn Meter vom Justizgebäude entfernt ein Bombenkrater.

Als wir auf den einst prächtigen Eingang zugehen, zeigt Gale plötzlich auf etwas, und wir alle halten inne. Erst weiß ich nicht, was los ist, dann sehe ich, dass der Boden mit lauter rosa und roten Rosen übersät ist. »Nicht anfassen!«, schreie ich. »Die sind für mich!«

Der widerlich süße Geruch dringt mir in die Nase und das Herz hämmert mir gegen die Brust. Also habe ich es mir doch nicht eingebildet. Die Rose auf meiner Kommode. Vor mir liegt Snows zweite Lieferung. Langstielige rosa und rote Schönheiten, genau die gleichen, mit denen das Studio dekoriert war, in dem Peeta und ich nach dem Sieg interviewt wurden. Blumen, die nicht für eine Person gedacht sind, sondern für zwei Liebende.

Ich erkläre es den anderen, so gut ich kann. Bei näherer Untersuchung stellt sich heraus, dass sie genetisch verändert, aber harmlos sind. Zwei Dutzend Rosen. Leicht verwelkt. Vermutlich nach der Bombardierung hier verstreut worden. Eine Mannschaft in Spezialanzügen sammelt sie ein und karrt sie weg. Doch ich bin mir sicher, dass sie nichts Besonderes daran finden werden. Snow weiß genau, was er mir antut. Es ist genau so, wie als Tribut im Glaszylinder zu stehen und zuzusehen, wie Cinna zusammengeschlagen wird. Es soll mich aus der Fassung bringen.

Wie damals versuche ich, mich zu fangen und mich zu wehren. Aber als Cressida Castor und Pollux ruft, spüre ich die Angst in mir hochsteigen. Ich bin so müde und angespannt, und seit ich die Rosen gesehen habe, kann ich nur noch an Peeta denken. Der Kaffee war ein Riesenfehler. Wenn ich eins nicht gebraucht habe, dann etwas Aufputschendes. Ich zittere am ganzen Körper und kann nicht richtig atmen. Nach Tagen im Bunker muss ich blinzeln, egal, in welche Richtung ich schaue, das Licht tut mir in den Augen weh. Trotz der kühlen Brise läuft mir der Schweiß übers Gesicht.

»Was genau wollt ihr noch mal von mir?«, frage ich.

»Nur ein paar Worte, die zeigen, dass du lebst und immer noch Kampfgeist hast«, sagt Cressida.

»Na gut.« Ich mache mich bereit, dann starre ich in das rote Licht. Starre und starre. »Es tut mir leid. Mir fällt nichts ein.«

Cressida kommt zu mir. »Geht es dir gut?« Ich nicke. Sie nimmt ein kleines Tuch aus der Tasche und tupft mir das Gesicht ab. »Wie wär’s mit dem guten alten Frage-und-Antwort-Spiel?«

»Ja. Ich glaub, das war besser.« Ich verschränke die Arme, damit das Zittern nicht so auffällt. Schaue zu Finnick, der den Daumen hochhält. Aber er sieht selbst ganz schön zittrig aus.

Cressida nimmt ihre Position wieder ein. »Also, Katniss. Du hast die Bombardierung von Distrikt 13 durch das Kapitol überlebt. Wie war das im Vergleich zu dem, was du in Distrikt 8 über der Erde erlebt hast?«

»Wir waren diesmal so tief unten, dass keine richtige Gefahr bestand. Distrikt 13 ist wohlauf und das bin …« Mit einem hohen, trockenen Ton erstickt meine Stimme.

»Versuch den Satz noch mal«, sagt Cressida. »Distrikt 13 ist wohlauf und das bin ich auch.«

Ich atme tief durch, versuche Luft in mein Zwerchfell zu pressen. »Distrikt 13 ist wohlauf und das …« Nein, so nicht.

Ich habe immer noch den Duft der Rosen in der Nase.

»Katniss, nur diesen einen Satz, dann hast du es für heute geschafft. Versprochen«, sagt Cressida. »Distrikt 13 ist wohlauf und das bin ich auch.«

Ich schüttele die Arme aus, um lockerer zu werden. Stemme die Fäuste in die Seiten. Lasse die Arme sinken. Die Spucke läuft mir im Mund zusammen und ich spüre einen Brechreiz im Hals. Ich schlucke schwer und öffne den Mund, damit ich den blöden Satz sagen und mich im Wald verstecken kann und … in dem Moment fange ich an zu weinen.

Ich kann nicht mehr der Spotttölpel sein. Kann noch nicht mal diesen einen Satz sagen. Denn jetzt weiß ich, dass Peeta unter allem, was ich sage, unmittelbar zu leiden hätte. Dass sie ihn wieder foltern würden. Töten werden sie ihn nicht, nein, so gnädig sind sie nicht. Snow wird schon dafür sorgen, dass Peetas Leben viel schlimmer ist als der Tod.

»Schnitt«, höre ich Cressida ruhig sagen.

»Was hat sie denn?«, fragt Plutarch leise.

»Sie hat begriffen, wie Snow Peeta benutzt«, sagt Finnick.

Die Leute, die in einem Halbkreis vor mir stehen, stoßen so etwas wie einen kollektiven Seufzer des Bedauerns aus. Weil ich es jetzt weiß. Weil es mir nie mehr möglich sein wird, es nicht zu wissen. Weil es nicht nur unter militärischen Gesichtspunkten einen Nachteil bedeutet, einen Spotttölpel zu verlieren, sondern weil ich darüber hinaus gebrochen bin.

Viele wollen mich umarmen. Aber ich will mich nur von einem trösten lassen, von Haymitch, weil auch er Peeta liebt. Ich strecke die Arme nach ihm aus und sage seinen Namen, und dann ist er da, hält mich fest und tätschelt mir den Rücken. »Schon gut. Alles wird gut, Süße.« Er setzt mich auf eine umgestürzte Marmorsäule und hält den Arm um meine Schultern, während ich schluchze.

»Ich kann das nicht mehr«, sage ich.

»Ich weiß«, sagt er.

»Ich kann nur daran denken … was er Peeta antun wird … weil ich der Spotttölpel bin!«, stoße ich hervor.

»Ich weiß.« Haymitch nimmt mich fester in den Arm.

»Hast du das gesehen? Wie verrückt er sich benommen hat? Was machen sie nur mit ihm?« Zwischen den Schluchzern schnappe ich nach Luft, und am Ende bringe ich noch einen Satz heraus: »Ich bin schuld!« Und dann werde ich richtig hysterisch, ich spüre einen Nadelstich im Arm und die Welt entgleitet mir.

Es muss etwas Starkes sein, was sie mir da gespritzt haben, denn es dauert einen ganzen Tag, bis ich wieder zu mir komme. Aber ich hatte keinen friedlichen Schlaf. Es fühlt sich so an, als würde ich aus einer unheimlichen, dunklen Welt auftauchen, in der ich allein herumgereist bin. Haymitch sitzt auf dem Stuhl neben meinem Bett, seine Haut wächsern, die Augen blutunterlaufen. Ich denke an Peeta und fange wieder an zu zittern.

Haymitch drückt mir die Schulter. »Es wird alles gut. Wir versuchen Peeta rauszuholen.«

»Was?« Ich verstehe überhaupt nichts.

»Plutarch schickt eine Rettungsmannschaft aus. Er hat Leute da drin. Er glaubt, wir können Peeta lebend rausholen«, sagt er.

»Warum haben wir das nicht schon vorher gemacht?«, frage ich.

»Weil es verlustreich wird. Aber alle sind sich einig, dass wir es tun müssen. Die gleiche Entscheidung haben wir damals in der Arena getroffen. Alles zu tun, damit du weitermachen kannst. Wir können es uns jetzt nicht leisten, den Spotttölpel zu verlieren. Und du kannst deine Rolle nur spielen, wenn du weißt, dass Snow Peeta nichts anhaben kann.« Haymitch reicht mir eine Tasse. »Hier, trink mal was.«

Langsam setze ich mich auf und trinke einen Schluck Wasser. »Was meinst du mit verlustreich?«

Er zuckt die Achseln. »Es werden Leute auffliegen. Manche bezahlen vielleicht mit dem Leben. Aber vergiss nicht, dass jeden Tag welche draufgehen. Und wir wollen nicht nur Peeta rausholen, sondern auch Annie für Finnick.«

»Wo ist er?«, frage ich.

»Hinter dem Vorhang, schläft sein Beruhigungsmittel aus. Gleich nachdem wir dir die Spritze verpasst hatten, ist er ausgeklinkt«, sagt Haymitch. Ich lächele ein wenig, jetzt komme ich mir nicht mehr ganz so schwach vor. »Ja, das war wirklich ein toller Dreh. Ihr beide mit Nervenzusammenbruch und Boggs allein vor der Aufgabe, Peetas Befreiung zu organisieren. Wir strahlen jetzt Wiederholungen aus.«

»Wenn Boggs sich um die Sache kümmert, ist das ja schon mal gut«, sage ich.

»Oh ja, er hat alles im Griff. Sie haben Freiwillige gesucht, aber meine Hand hat er sicherheitshalber übersehen«, sagt Haymitch. »Siehst du? Damit hat er doch schon ein gutes Urteilsvermögen bewiesen.«

Irgendwas stimmt da nicht. Haymitch versucht ein bisschen zu sehr, mich aufzuheitern. Das sieht ihm so gar nicht ähnlich. »Und wer hat sich noch gemeldet?«

»Ich glaube, es waren insgesamt sieben«, sagt er ausweichend.

Ich habe ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. »Wer, Haymitch?«

Schließlich gibt er das Theater auf. »Das weißt du doch, Katniss. Du weißt, wer als Erster vorgetreten ist.«

Natürlich weiß ich es.

Gale.

12

Heute könnte ich sie beide verlieren. Ich versuche mir eine Welt vorzustellen, in der sowohl Gales als auch Peetas Stimme verstummt sind. Die Hände reglos. Die Augen starr. Ich stehe vor ihren Körpern, schaue sie ein letztes Mal an, verlasse den Raum, in dem sie liegen. Doch als ich die Tür öffne und in die Welt hinaustrete, ist da nur eine riesengroße Leere. Meine Zukunft ein blassgraues Nichts.

»Sollen sie dich betäuben, bis es vorbei ist?«, fragt Haymitch. Das ist kein Scherz. Er hat jahrelang an der Flasche gehangen und versucht, sich gegen die Verbrechen des Kapitols zu betäuben. Bestimmt hatte der sechzehnjährige Junge, der einst das zweite Jubel-Jubiläum gewonnen hat, Menschen, die er geliebt hat - Verwandte, Freunde, vielleicht eine Liebste - und zu denen er zurückwollte. Wo sind sie jetzt? Wie kommt es, dass es, bis er Peeta und mich am Bein hatte, niemanden in seinem Leben gab? Was hat Snow mit ihnen gemacht?

»Nein«, sage ich. »Ich will mit ins Kapitol. Ich will bei der Rettungsmission dabei sein.«

»Sie sind schon weg«, sagt Haymitch.

»Wann sind sie aufgebrochen? Ich könnte sie einholen. Ich könnte …« Was? Was könnte ich tun?

Haymitch schüttelt den Kopf. »Kommt nicht infrage. Du bist zu wertvoll und zu angreifbar. Es stand zur Debatte, dich in einen anderen Distrikt zu schicken, um das Kapital während der Rettungsaktion abzulenken. Aber wir hatten alle das Gefühl, dass es dich überfordern würde.«

»Bitte, Haymitch!« Jetzt flehe ich ihn an. »Ich muss irgendwas machen. Ich kann nicht hier rumsitzen und abwarten, ob sie sterben. Es muss doch irgendwas geben, was ich tun kann!«

»Na gut. Ich rede mit Plutarch. Du rührst dich nicht vom Fleck.« Aber das ist unmöglich. Haymitchs Stimme hallt noch im Flur, als ich durch den Spalt im Vorhang zum Nachbarbett schlüpfe. Finnick liegt ausgestreckt auf dem Bauch, die Hände ins Kopfkissen vergraben. Obwohl es feige ist und auch grausam, ihn aus dem schemenhaften, gedämpften Land der Drogen in die harte Wirklichkeit zu holen, wecke ich ihn, weil ich es allein nicht ertragen kann.

Als ich ihm unsere Situation erkläre, legt sich seine anfängliche Aufregung seltsamerweise. »Verstehst du nicht, Katniss? Jetzt wird sich alles entscheiden. So oder so. Heute Abend sind sie entweder tot oder bei uns. Das ist… das ist mehr, als wir uns erhoffen konnten!«

Das ist wirklich eine entspannte Sicht auf die Lage. Und doch liegt etwas Beruhigendes in dem Gedanken, dass diese Qual bald ein Ende haben könnte.

Der Vorhang wird zur Seite gerissen. Haymitch. Wenn wir uns zusammenreißen, hat er eine Aufgabe für uns. Es wird immer noch Bildmaterial von Distrikt 13 nach der Bombardierung gebraucht. »Wenn wir das in den nächsten Stunden kriegen, kann Beetee es während der Rettungsaktion ausstrahlen und das Kapital damit möglicherweise ablenken.«

»Ja, ein Ablenkungsmanöver«, sagt Finnick.

»Wir brauchen etwas, das die Leute so fesselt, dass selbst Präsident Snow sich nicht losreißen kann. Hättet ihr da was auf Lager?«, fragt Haymitch.

Jetzt, mit einer Aufgabe, die für die Rettungsaktion vielleicht wichtig ist, kann ich mich wieder konzentrieren. Während ich mein Frühstück herunterschlinge und zurechtgemacht werde, überlege ich, was ich sagen könnte. Präsident Snow fragt sich bestimmt, wie der blutbespritzte Fußboden und seine Rosen auf mich gewirkt haben. Wenn er mich kaputt haben will, muss ich eben heil sein. Aber es wird bestimmt nicht genügen, ein paar trotzige Phrasen in die Kamera zu brüllen. Außerdem würde die Rettungsmannschaft dadurch keine Zeit gewinnen. Ausbrüche sind schnell vorbei. Geschichten dagegen brauchen ihre Zeit.

Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird, aber als das Fernsehteam oben versammelt ist, bitte ich Cressida, mich nach Peeta zu fragen. Ich setze mich auf die umgestürzte Marmorsäule, wo ich meinen Zusammenbruch hatte, und warte auf das rote Licht und Cressidas Frage.

»Wie hast du Peeta kennengelernt?«, fragt sie.

Und dann mache ich das, was Haymitch sich schon bei meinem ersten Interview gewünscht hat, ich öffne mich. »Als ich Peeta kennenlernte, war ich elf Jahre alt und halb tot.« Ich erzähle von dem schrecklichen Tag, als ich versuchte, im Regen Babysachen zu verkaufen, wie Peetas Mutter mich vom Eingang der Bäckerei verjagt hat und wie er Prügel dafür bezog, dass er mir die Brote besorgte, die meiner Familie und mir das Leben retteten. »Wir haben kein Wort miteinander gewechselt. Das erste Mal habe ich mit Peeta gesprochen, als wir zusammen im Zug zu den Spielen saßen.«

»Aber da war er schon in dich verliebt«, sagt Cressida.

»Kann gut sein.« Ich gestatte mir ein kleines Lächeln.

»Wie kommst du mit der Trennung zurecht?«, fragt sie.

»Nicht gut. Ich weiß, dass Snow ihn jeden Moment umbringen könnte. Vor allem, seit Peeta Distrikt 13 vor der Bombardierung gewarnt hat. Es ist entsetzlich, damit zu leben«, sage ich. »Aber weil sie ihm so etwas antun, gibt es für mich auch keinen Grund mehr, mich zurückzuhalten. Ich kann jetzt alles daransetzen, das Kapitol zu zerstören. Endlich bin ich frei.« Ich schaue nach oben und sehe einen Bussard am Himmel fliegen. »Präsident Snow hat mir einmal gestanden, das Kapitol sei wacklig. Damals wusste ich nicht, was er damit meinte. Ich konnte nicht klar denken, weil ich solche Angst hatte. Jetzt habe ich keine Angst mehr. Das Kapitol ist wacklig, weil es in jeder Hinsicht von den Distrikten abhängig ist. Lebensmittel, Energie, selbst die Friedenswächter, die uns in Schach halten. Wenn wir unsere Freiheit verkünden, bricht das Kapitol zusammen. Präsident Snow, Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich heute offiziell meine Freiheit verkünden kann.«

Ich war ganz gut, vielleicht sogar umwerfend. Die Geschichte mit dem Brot finden alle unheimlich toll. Und meine Botschaft an Präsident Snow hat in Plutarchs Kopf etwas in Gang gesetzt. Schnell ruft er Finnick und Haymitch zu sich, und sie haben ein kurzes, intensives Gespräch, mit dem Haymitch offenbar nicht glücklich ist. Plutarch scheint sich durchzusetzen - Finnick ist blass, doch schließlich nickt er.

Als Finnick sich anschickt, meinen Platz vor der Kamera einzunehmen, sagt Haymitch zu ihm: »Du musst nicht.«

»Doch. Wenn es ihr hilft.« Finnick knüllt das Seil in seiner Hand zusammen. »Ich bin so weit.«

Ich weiß nicht, was jetzt kommt. Eine Liebesgeschichte über Annie? Ein Bericht über die Missstände in Distrikt 4? Doch Finnick Odair schlägt eine ganz andere Richtung ein.

»Präsident Snow hat mich … verkauft … genauer gesagt meinen Körper«, erzählt er ausdruckslos, distanziert. »Ich war nicht der Einzige. Wenn ein Sieger als begehrenswert gilt, benutzt der Präsident ihn als Belohnung oder bietet ihn für eine große Summe an. Weigert man sich, tötet er jemanden, den man liebt. Also macht man mit.«

Das ist die Erklärung. Finnicks Parade von Geliebten im Kapitol. Sie waren nie richtige Geliebte. Nur solche Menschen wie unser früherer Oberster Friedenswächter Cray, der sich verzweifelte Mädchen kaufte, um sie zu benutzen und wegzuwerfen, weil er es sich leisten konnte. Am liebsten würde ich den Dreh unterbrechen und Finnick um Verzeihung dafür bitten, dass ich ihn so falsch eingeschätzt habe. Aber wir müssen unseren Auftrag ausführen, und ich merke, dass Finnicks Beitrag weitaus wirkungsvoller sein wird als meiner.

»Ich war nicht der Einzige, aber ich war der Beliebteste«, sagt er. »Vielleicht auch der Hilfloseste, weil die Menschen, die ich liebte, so hilflos waren. Die, die das Bett mit mir teilten, beschenkten mich mit Geld oder Schmuck, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Aber ich entdeckte eine viel wertvollere Form der Bezahlung.«

Geheimnisse, denke ich. Finnick hat mir erzählt, dass seine Geliebten ihn damit bezahlten, nur dass ich annahm, er hätte dieses Arrangement freiwillig gewählt.

»Geheimnisse«, sagt er, ein Echo meiner Gedanken. »Und hier bleiben Sie lieber dran, Präsident Snow, denn so viele dieser Geheimnisse handelten von Ihnen. Aber zunächst ein paar von den anderen.«

Finnick webt einen Teppich, der mit so vielen Details geschmückt ist, dass man nicht an seiner Echtheit zweifeln kann. Geschichten von ungewöhnlichen sexuellen Vorlieben, von Untreue, maßloser Gier und blutigen Machtspielchen. Geheimnisse, die des Nachts im Rausch auf feuchten Kopfkissen geflüstert wurden. Finnick wurde gekauft und verkauft. Ein Sklave aus einem Distrikt. Ein gut aussehender zwar, doch im Grunde harmlos. Wem hätte er schon etwas erzählen sollen? Und wer hätte ihm geglaubt? Aber manche Geheimnisse sind zu köstlich, um sie nicht weiterzuerzählen. Ich kenne die Leute nicht, die Finnick erwähnt - alle scheinen wohlbekannte Bewohner des Kapitols zu sein -, doch durch das Geplapper meines Vorbereitungsteams weiß ich, wie viel Aufmerksamkeit bereits der kleinste Fauxpas erregen kann. Wenn man sich schon über einen misslungenen Haarschnitt stundenlang das Maul zerreißen kann, was werden dann erst Vorwürfe von Inzest, Verrat, Erpressung und Brandstiftung auslösen? Und während Schock und Schuldzuweisungen das Kapitol bereits erschüttern, warten die Menschen dort, genau wie ich jetzt, gespannt darauf, was es über den Präsidenten zu erzählen gibt.

»Und jetzt zu unserem guten Präsidenten Coriolanus Snow«, sagt Finnick. »So ein junger Mann, als er an die Macht kam. Und so schlau, an der Macht zu bleiben. Gewiss fragen Sie sich, wie er das geschafft hat? Ein Wort. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Gift.« Finnick ruft den Zuschauern Snows politischen Aufstieg in Erinnerung, von dem ich nichts weiß, wie er sich zum Präsidenten hochgearbeitet hat und wie seine politischen Gegner und, schlimmer noch, seine Verbündeten, sobald sie zur Bedrohung wurden, einer nach dem anderen auf mysteriöse Weise ums Leben kamen. Wie Menschen auf einem Fest plötzlich tot umfielen oder langsam und unerklärlich über Monate hinweg zum Schatten ihrer selbst wurden. Man schob es auf verdorbene Schalentiere, schwer nachweisbare Viren oder eine unentdeckte Schwäche der Hauptschlagader. Wie Snow selbst aus der vergifteten Tasse trank, um den Verdacht zu zerstreuen. Aber ein Gegengift wirkt nicht immer. Man sagt, dass er deshalb die parfümierten Rosen trägt. Sie sollen den Blutgeruch übertünchen, der von den offenen Wunden in seinem Mund herrührt. Man sagt, man sagt, man sagt … Snow habe eine Liste, und niemand weiß, wer als Nächstes dran ist.

Gift. Die perfekte Waffe für eine Schlange.

Ich habe eine so niedrige Meinung vom Kapitol und seinem feinen Präsidenten, dass mich Finnicks Anschuldigungen nicht sonderlich schockieren. Auf die vertriebenen Rebellen aus dem Kapitol, auf mein Team und Fulvia scheinen sie einen weitaus größeren Effekt zu haben - selbst Plutarch wirkt hin und wieder überrascht, vielleicht fragt er sich, wie ihm die eine oder andere Pikanterie entgehen konnte. Als Finnick fertig ist, lassen sie die Kameras einfach laufen, bis er schließlich selbst sagen muss: »Schnitt!«

Das Team verschwindet schnell, um das Material zu schneiden, und Plutarch nimmt Finnick für ein kleines Gespräch beiseite. Vermutlich will er herauskriegen, ob er noch mehr Geschichten auf Lager hat. Ich bleibe mit Haymitch in den Trümmern zurück und frage mich, ob ich eines Tages das gleiche Schicksal erlitten hätte wie Finnick. Warum nicht? Für das Mädchen, das in Flammen stand, hätte Snow einen guten Preis erzielen können.

»Hast du das auch durchmachen müssen?«, frage ich Haymitch.

»Nein. Meine Mutter und mein kleiner Bruder. Mein Mädchen. Zwei Wochen nachdem ich zum Sieger gekrönt wurde, waren sie alle tot. Wegen meiner waghalsigen Aktion mit dem Kraftfeld«, sagt er. »Es gab niemanden mehr, den Snow gegen mich hätte einsetzen können.«

»Erstaunlich, dass er dich nicht einfach umgebracht hat«, bemerke ich.

»Oh nein. Ich war das abschreckende Beispiel. Mich konnte man den jungen Finnicks und Johannas und Cashmeres vorhalten. Damit sie sahen, was mit einem Sieger passiert, der Probleme macht«, sagt Haymitch. »Aber er hatte nichts, womit er mich unter Druck setzen konnte.«

»Bis Peeta und ich ins Spiel kamen«, sage ich leise. Er zuckt noch nicht mal mit den Schultern.

Nachdem Finnick und ich unseren Auftrag erledigt haben, können wir nur noch warten. Wir versuchen uns die zähen Minuten in der Waffenabteilung zu vertreiben. Knoten unsere Seile. Schieben unser Mittagessen in den Schalen hin und her. Ballern auf dem Schießplatz alles weg. Von der Rettungsmannschaft gibt es wegen der Entdeckungsgefahr keinerlei Nachricht. Um 15 Uhr, zur festgelegten Zeit, stehen wir angespannt und stumm hinten in einem Raum voller Bildschirme und Computer und schauen zu, wie Beetee versucht, die Herrschaft über den Äther zu gewinnen. Seine zappelige Art ist einer Entschlossenheit gewichen, wie ich sie bei ihm noch nie erlebt habe. Der größte Teil meines Interviews kommt nicht rüber, aber jedenfalls sieht man, dass ich lebe und nach wie vor kämpferisch bin. Finnicks obszöner und blutrünstiger Bericht ist die Nachricht des Tages. Wird Beetee immer geschickter? Oder sind seine Gegenspieler im Kapitol so fasziniert, dass sie Finnick gar nicht abschalten wollen? Während der folgenden sechzig Minuten wechselt das Programm des Kapitols zwischen den üblichen Nachrichten am Nachmittag, Finnicks Insiderbericht und Versuchen, alles abzuschalten. Aber die Techniker der Rebellen wehren sogar das ab und schaffen es in einem regelrechten Coup, fast die gesamte Passage über Präsident Snow auszustrahlen.

»Schluss jetzt!«, sagt Beetee, hebt die Hände und überlässt das Programm wieder dem Kapitol. Er wischt sich das Gesicht mit einem Tuch ab. »Wenn sie jetzt nicht wieder draußen sind, sind sie alle tot.« Er dreht sich in seinem Stuhl herum, weil er sehen will, wie Finnick und ich auf seine Worte reagieren. »Aber der Plan ist richtig gut. Hat Plutarch ihn euch erläutert?«

Natürlich nicht. Beetee nimmt uns mit in einen anderen Raum und zeigt uns, wie die Mannschaft mit der Hilfe von Verbindungsleuten der Rebellen im Kapitol versuchen wird - versucht hat -, die Sieger aus einem unterirdischen Gefängnis zu befreien. Zu dem Plan gehören offenbar die Einleitung von Betäubungsgas durch die Lüftungsanlage, ein Stromausfall, das Zünden einer Bombe in einem Regierungsgebäude, mehrere Kilometer vom Gefängnis entfernt, und zu guter Letzt die Störung des Fernsehens. Beetee freut sich, dass wir den Plan nicht richtig nachvollziehen können: Dann wird es unseren Feinden genauso gehen.

»Wie deine Stromfalle in der Arena?«, frage ich.

»Genau. Und die hat ja super funktioniert, oder?«, sagt Beetee.

Ja … unheimlich, denke ich.

Finnick und ich wollen in die Kommandozentrale, wo die Nachrichten über die Rettungsaktion als Erstes eingehen werden, doch sie lassen uns nicht hinein, weil dort wichtige Kriegsangelegenheiten besprochen werden. Wir weigern uns, die Waffenabteilung zu verlassen, und warten schließlich im Kolibriraum auf Neuigkeiten.

Machen Knoten. Noch mehr Knoten. Kein Wort. Noch mehr Knoten. Tick, tack. Nur eine Uhr. Nicht an Gale denken. Nicht an Peeta denken. Knoten machen. Wir möchten kein Abendessen. Finger rau und blutig. Finnick gibt schließlich auf und kauert sich hin wie bei dem Angriff der Schnattertölpel in der Arena. Ich perfektioniere meine kleine Schlinge. Jetzt habe ich wieder den »Henkersbaum« im Kopf. Gale und Peeta, Peeta und Gale.

»Hast du dich in Annie sofort verliebt, Finnick?«, frage ich.

»Nein.« Er schweigt lange, bevor er hinzufügt: »Sie hat sich in mich eingeschlichen.«

Ich durchforste mein Herz, aber im Moment ist der Einzige, den ich heranschleichen fühle, Präsident Snow.

Es muss schon Mitternacht sein, es muss schon der nächste Tag sein, als Haymitch die Tür aufmacht. »Sie sind zurück. Wir werden auf der Krankenstation gebraucht.« Ich öffne den Mund zu einem Schwall von Fragen, doch er schneidet mir das Wort ab. »Mehr weiß ich nicht.«

Ich will losrennen, aber Finnick benimmt sich so merkwürdig, als könnte er sich auf einmal nicht mehr bewegen, also nehme ich seine Hand und führe ihn wie ein kleines Kind. Durch die Waffenabteilung, in den Aufzug, der hierhin und dorthin fährt, dann weiter zum Krankenhaustrakt. Dort herrscht Chaos, Ärzte rufen sich Anweisungen zu und Verwundete werden durch die Flure zu ihren Betten geschoben.

Eine Trage streift uns, auf der eine bewusstlose junge Frau liegt, ausgezehrt und mit rasiertem Kopf. Ihr Körper ist mit Blutergüssen und eitrigen Wunden bedeckt. Johanna Mason. Sie kannte Geheimnisse über die Rebellen, jedenfalls das eine über mich. Und so hat sie dafür bezahlt.

Durch eine Tür erhasche ich einen Blick auf Gale, nackt bis zur Taille. Der Schweiß läuft ihm über das Gesicht, während ein Arzt ihm mit einer langen Pinzette etwas unter dem Schulterblatt entfernt. Er ist verwundet, aber er lebt. Ich rufe ihn, will zu ihm gehen, doch eine Krankenschwester schiebt mich zurück und macht mir die Tür vor der Nase zu.

»Finnick!« Ein Schrei zwischen Schreck und Freude. Eine reizende, wenn auch etwas schmutzige junge Frau - dunkles wirres Haar, meergrüne Augen - läuft, nur in ein Laken gewickelt, auf uns zu. »Finnick!« Und auf einmal scheint es nur noch diese beiden auf der Welt zu geben, die aufeinander zufliegen. Sie umarmen sich, verlieren das Gleichgewicht und krachen gegen die Wand. Dort bleiben sie, halten sich so fest, dass sie eins sind. Unzertrennlich.

Ich spüre einen Stich der Eifersucht. Nicht auf Finnick oder Annie, sondern auf ihre Gewissheit. Niemand, der sie sieht, könnte an ihrer Liebe zweifeln.

Boggs, der ziemlich fertig aussieht, aber unverletzt ist, entdeckt Haymitch und mich. »Wir haben alle rausgeholt. Außer Enobaria. Aber sie ist aus Distrikt 2, bestimmt wird sie nicht festgehalten. Peeta ist am Ende des Flurs. Die Wirkung von dem Gas lässt gerade nach. Am besten bist du bei ihm, wenn er aufwacht.«

Peeta.

Wohlbehalten - oder jedenfalls am Leben. Weg von Snow. Außer Gefahr. Hier. Bei mir. Gleich kann ich ihn anfassen. Sein Lächeln sehen. Sein Lachen hören.

Haymitch grinst mich an. »Komm schon«, sagt er.

Mir ist ganz schwindelig. Was soll ich sagen? Ach, ist doch egal, was ich sage. Peeta wird überglücklich sein, ganz gleich, was ich mache. Wahrscheinlich wird er mich sowieso küssen. Ich frage mich, ob seine Küsse sich so anfühlen werden wie die letzten Küsse am Strand in der Arena, über die ich bis jetzt nicht gewagt habe nachzudenken.

Peeta ist schon wach, er sitzt auf dem Bettrand und sieht verwirrt aus, während drei Ärzte ihn zu beruhigen versuchen, ihm in die Augen leuchten, seinen Puls fühlen. Ich bin enttäuscht, dass mein Gesicht nicht das erste war, das er nach dem Aufwachen gesehen hat, aber jetzt sieht er es. In seiner Miene lese ich Unglauben und eine stärkere Regung, die ich nicht richtig einordnen kann. Verlangen? Verzweiflung? Bestimmt beides, denn er stößt die Ärzte zur Seite, springt auf und kommt auf mich zu. Mit ausgebreiteten Armen laufe ich ihm entgegen. Auch er streckt die Hände nach mir aus, bestimmt, um mein Gesicht zu streicheln.

Meine Lippen formen gerade seinen Namen, da schließt er die Hände um meine Kehle.

13

Mit der kalten Halskrause, die an meinem Hals scheuert, kann ich das Zittern noch schlechter kontrollieren. Wenigstens stecke ich nicht mehr in der klaustrophobischen Röhre, umgeben von tickenden und surrenden Maschinen und einer körperlosen Stimme, die mir befiehlt stillzuhalten, während ich mich davon überzeuge, dass ich noch atmen kann. Selbst jetzt, mit der Gewissheit, dass ich keine bleibenden Schäden davontragen werde, lechze ich nach Luft.

Die größten Sorgen der Ärzte - Schädigung des Rückenmarks, der Luftwege, Adern und Arterien - konnten zerstreut werden. Blutergüsse, Heiserkeit, wunder Kehlkopf, dieses merkwürdige Hüsteln - das ist alles nicht dramatisch. Das geht vorüber. Der Spotttölpel wird seine Stimme nicht verlieren. Kann bitte mal ein Arzt feststellen, ob ich den Verstand verliere? Aber im Moment soll ich nicht sprechen. Ich kann noch nicht mal Boggs danken, als er mich besucht. Er schaut mich genau an und sagt, wenn die Soldaten Würgegriffe übten, komme es manchmal zu viel schlimmeren Verletzungen.

Es war Boggs, der Peeta mit einem einzigen Hieb bewusstlos geschlagen hat, bevor er größeren Schaden anrichten konnte. Haymitch hätte mich gerettet, das weiß ich, wäre er nicht völlig unvorbereitet gewesen. Es kommt nicht oft vor, dass jemand sowohl mich als auch Haymitch überrascht. Aber wir waren beide so darauf aus gewesen, Peeta zu retten, und hatten so sehr darunter gelitten, ihn in den Händen des Kapitols zu wissen, dass wir vor Erleichterung, ihn zurückzuhaben, blind waren. Hätte ich mich mit Peeta allein getroffen, hätte er mich umgebracht. Jetzt, da er geisteskrank ist.

Nein, nicht geisteskrank, erinnere ich mich. Eingewebt. Ich habe gehört, wie das Wort zwischen Plutarch und Haymitch hin-und herging, während ich im Flur an ihnen vorbeigeschoben wurde. Eingewebt. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.

Prim, die kurz nach Peetas Angriff aufgetaucht ist und mir seitdem nicht von der Seite weicht, legt noch eine Decke über mich. »Sie nehmen dir die Halskrause bestimmt bald ab, Katniss. Dann ist dir nicht mehr so kalt.« Meine Mutter, die bei einer komplizierten Operation assistiert hat, weiß immer noch nicht, was passiert ist. Prim nimmt meine Hand, die ich zur Faust geballt habe, und massiert sie, bis ich sie öffne und das Blut wieder durch meine Finger fließt. Sie macht sich an die andere Faust, dann kommen die Ärzte, nehmen die Halskrause ab und verpassen mir eine Spritze gegen die Schmerzen und die Schwellungen. Ich halte den Kopf still, wie verordnet, damit die Verletzungen am Hals nicht schlimmer werden.

Plutarch, Haymitch und Beetee haben im Flur gewartet, jetzt lassen die Ärzte sie zu mir. Ich weiß nicht, ob sie es Gale erzählt haben - vermutlich nicht, sonst wäre er sicher auch hier. Plutarch schickt die Ärzte hinaus und versucht, auch Prim loszuwerden, aber sie sagt: »Nein. Wenn Sie mich wegschicken, gehe ich sofort in die Chirurgie und erzähle alles meiner Mutter. Und ich warne Sie, von einem Spielmacher, der über Katniss’ Leben bestimmt, hält sie garantiert nicht viel. Schon gar nicht, wenn er so schlecht auf sie aufpasst.«

Plutarch sieht beleidigt aus, aber Haymitch kichert. »Gib’s lieber auf, Plutarch«, sagt er. Und Prim bleibt.

»Katniss, Peetas Zustand hat uns alle erschreckt«, fährt Plutarch fort. »Bereits in den letzten beiden Interviews deutete sich an, dass sein Zustand sich sehr verschlechtert hat. Es war offensichtlich, dass er misshandelt worden war, und wir haben seine psychische Verfassung darauf geschoben. Jetzt glauben wir, dass es nicht nur das war. Sondern dass das Kapitol ihn einer ungewöhnlichen Technik ausgesetzt hat, die als Einweben bekannt ist. Beetee?«

»Es tut mir leid, Katniss«, sagt Beetee, »aber ich kann es dir nicht in allen Details erklären. Die Einzelheiten über diese Art der Folter hält das Kapitol streng geheim, und ich glaube, die Ergebnisse sind mal so, mal so. Folgendes wissen wir: Es handelt sich um eine Art Angstkonditionierung. Das Wort weben führt uns zu der Wespe, die >die Webende< genannt wurde. Wir vermuten, dass dieser Begriff gewählt wurde, weil das Gift der Jägerwespe eingesetzt wird. Du bist in deinen ersten Hungerspielen ja von einer gestochen worden, also hast du die Wirkung des Gifts am eigenen Leib erlebt.«

Panik. Halluzinationen. Albtraumhafte Visionen, meine Liebsten zu verlieren. Denn das Gift zielt auf die Region des Gehirns, in der die Angst beheimatet ist.

»Bestimmt weißt du noch, wie furchterregend das war. Hast du in der Folge auch unter geistiger Verwirrung gelitten?«, fragt Beetee. »Hattest du Schwierigkeiten, zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu unterscheiden? Die meisten Menschen, die gestochen wurden und es überlebt haben, berichten von dergleichen.«

Ja. Die Begegnung mit Peeta. Selbst als ich wieder klar denken konnte, war ich mir nicht sicher, ob er es mit Cato aufgenommen hatte, um mir das Leben zu retten, oder ob ich mir das nur eingebildet hatte.

»Ereignisse können nur schwer wieder abgerufen werden, weil die Erinnerungen beeinflusst worden sind.« Beetee tippt sich an die Stirn. »Sie werden ins Bewusstsein geschoben, manipuliert und in der veränderten Form wieder gespeichert. Angenommen, du sollst dich an etwas erinnern - entweder fordere ich dich dazu auf, oder ich spiele dir eine Aufnahme des Ereignisses vor -, und während das Erlebnis aufgefrischt wird, verabreiche ich dir eine Dosis Jägerwespengift. Nicht genug, um dich drei Tage bewusstlos zu machen. Nur so viel, dass die Erinnerung von Angst und Zweifel durchdrungen wird. Und so wird sie dann in deinem Langzeitgedächtnis abgelegt.«

Allmählich wird mir schlecht. Prim stellt die Frage, die mir auf der Zunge liegt. »Haben sie das mit Peeta gemacht? Seine Erinnerungen an Katniss so verzerrt, dass sie beängstigend geworden sind?«

Beetee nickt. »So beängstigend, dass er Katniss als lebensbedrohlich betrachtet. Und versucht, sie umzubringen. Ja, das ist unsere aktuelle Theorie.«

Ich vergrabe das Gesicht in den Armen, weil das einfach nicht wahr sein darf. Es ist unmöglich. Peeta vergessen lassen, dass er mich liebt … das können sie nicht machen.

»Aber man kann es wieder rückgängig machen, oder?«, fragt Prim.

»Hm … darüber ist bisher wenig bekannt«, sagt Plutarch. »Genau genommen gar nichts. Falls schon einmal versucht wurde, jemanden wieder zu entweben, haben wir darüber keine Aufzeichnungen.«

»Aber ihr werdet es versuchen, oder?«, beharrt Prim. »Ihr werdet ihn nicht in eine Gummizelle sperren und ihn seinem Schicksal überlassen?«

»Natürlich werden wir es versuchen, Prim«, sagt Beetee. »Wir wissen nur nicht, in welchem Maß wir Erfolg haben. Wenn überhaupt. Ich vertrete die These, dass furchterregende Ereignisse am schwierigsten auszulöschen sind. An sie erinnern wir uns naturgemäß am besten.«

»Und wir wissen ja auch noch nicht, was sie noch manipuliert haben, von seinen Erinnerungen an Katniss einmal abgesehen«, sagt Plutarch. »Wir stellen ein Team aus Psychiatern und Militärspezialisten zusammen, damit sie eine Gegenstrategie erarbeiten. Ich persönlich bin optimistisch, dass er wieder ganz gesund wird.«

»Ach ja?«, sagt Prim bissig. »Und was glaubst du, Haymitch?«

Ich hebe den Arm etwas, damit ich durch die Lücke seinen Gesichtsausdruck sehen kann. Erschöpft und mutlos gesteht er: »Ich glaube, dass Peeta sich etwas erholen wird. Aber … ich glaube nicht, dass er wieder der Alte wird.« Ich schiebe die Arme wieder zusammen, schließe die Lücke, will keinen sehen.

»Wenigstens ist er am Leben«, sagt Plutarch, als ob er langsam die Geduld mit uns verliert. »Heute Nacht hat Snow Peetas Stylistin und sein Vorbereitungsteam vor laufender Kamera hinrichten lassen. Wir haben keine Ahnung, was mit Effie Trinket passiert ist. Peeta ist angeschlagen, aber er ist hier. Bei uns. Und das ist eine klare Verbesserung gegenüber der Situation vor zwölf Stunden. Daran wollen wir denken, okay?«

Plutarchs Versuch, mich aufzumuntern, gewürzt mit der Nachricht von vier, möglicherweise auch fünf weiteren Morden, geht nach hinten los. Portia. Peetas Vorbereitungsteam. Effie. Vor lauter Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten, fängt es in meinem Hals an zu pochen, bis ich nach Luft ringe. Schließlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als mich wieder zu betäuben.

Als ich aufwache, frage ich mich, ob ich jetzt nur noch schlafen kann, wenn sie mir Drogen in den Arm jagen. Ich bin froh, dass ich die nächsten Tage nicht sprechen darf, denn ich will gar nichts sagen. Ich möchte auch nichts tun. Ich bin eine richtig vorbildliche Patientin, meine Lethargie wird als Zurückhaltung verstanden, als Gehorsam gegenüber den Anweisungen der Ärzte. Jetzt ist mir nicht mehr zum Weinen zumute. Ich klammere mich an einen einzigen Gedanken - an das Bild von Snows Gesicht, dazu ein Flüstern in meinem Kopf: Ich werde dich töten.

Meine Mutter und Prim pflegen mich abwechselnd und überreden mich dazu, etwas weiche Nahrung zu mir zu nehmen. Von Zeit zu Zeit besuchen mich Leute und halten mich über Peetas Zustand auf dem Laufenden. Die hohe Konzentration des Jägerwespengifts in seinem Körper lässt allmählich nach. Er wird ausschließlich von Fremden behandelt, Bewohnern von Distrikt 13. Niemand aus seiner Heimat oder aus dem Kapitol darf ihn sehen, damit keine gefährlichen Erinnerungen hochkommen. Ein Spezialistenteam arbeitet intensiv an einer Strategie für seine Heilung.

Gale kann mich nicht besuchen, weil er mit seiner verwundeten Schulter das Bett hüten muss. Aber am dritten Abend, nachdem ich meine Medikamente bekommen habe und das Licht gedimmt ist, schlüpft er in mein Zimmer. Er sagt nichts, streicht nur mit den Fingern über die Würgemale an meinem Hals, eine Berührung, so zart wie Mottenflügel, drückt mir einen Kuss auf die Stirn und verschwindet wieder.

Am nächsten Morgen werde ich entlassen, mit der Auflage, mich vorsichtig zu bewegen und nicht mehr zu sprechen als nötig. Ich habe keinen Tagesplan auferlegt bekommen, also laufe ich ziellos herum, bis Prim von ihren Pflichten auf der Krankenstation entbunden wird, um mich zu unserer neuen Wohneinheit zu begleiten. Nummer 2212. Exakt genau so wie die andere, nur ohne Fenster.

Butterblume bekommt jetzt eine tägliche Ration Futter zugeteilt und im Bad steht für ihn eine Schale mit Sand unter dem Waschbecken. Als Prim mich ins Bett bringt, springt er auf mein Kopfkissen und buhlt um ihre Aufmerksamkeit. Sie nimmt ihn in den Arm, schaut jedoch mich an. »Katniss, ich weiß, dass die Geschichte mit Peeta entsetzlich für dich ist. Aber vergiss nicht, dass Snow ihn wochenlang bearbeitet hat, und wir haben ihn erst ein paar Tage hier. Es kann sein, dass der alte Peeta, der dich liebt, immer noch in ihm drin ist. Und zu dir zurückkommen will. Gib ihn nicht auf.«

Ich sehe meine kleine Schwester an und denke, dass sie die besten Eigenschaften in sich vereint, die unsere Familie zu bieten hat: die heilenden Hände meiner Mutter, den kühlen Kopf meines Vaters und meinen Kampfgeist. Und noch etwas ist da, etwas, das nur ihr gehört. Die Fähigkeit, das Durcheinander des Lebens zu betrachten und die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Kann es sein, dass sie recht hat? Könnte Peeta zu mir zurückkommen?

»Ich muss jetzt wieder auf die Station«, sagt Prim und setzt Butterblume neben mich aufs Bett. »Ihr beide leistet einander Gesellschaft, ja?«

Butterblume springt vom Bett und läuft ihr nach bis zur Tür, und als sie ohne ihn weggeht, beschwert er sich lautstark. Einen Dreck leisten wir einander. Nach ungefähr dreißig Sekunden weiß ich, dass ich es in dieser unterirdischen Zelle nicht länger aushalte, und überlasse Butterblume sich selbst. Nachdem ich mich ein paarmal verlaufen habe, finde ich den Weg hinunter zur Waffenabteilung. Alle, an denen ich vorbeikomme, starren meine Würgemale an, und ich fühle mich so unwohl dabei, dass ich den Kragen bis zu den Ohren hochziehe.

Auch Gale ist offenbar heute Morgen entlassen worden, ich treffe ihn mit Beetee in einem der Forschungsräume. Die beiden sind ganz vertieft in eine Zeichnung, sie haben die Köpfe darübergebeugt und messen etwas ab. Mehrere Versionen der Zeichnung liegen auf Tisch und Fußboden verstreut. An den Pinnwänden und auf den Computerbildschirmen sind weitere Zeichnungen. Eine erkenne ich als Rohskizze von Gales Schwippgalgenfalle. »Was ist das denn?«, frage ich heiser, und sie schauen von dem Blatt auf.

»Ah, Katniss, jetzt bist du uns auf die Schliche gekommen«, sagt Beetee fröhlich.

»Wieso? Ist das ein Geheimnis?« Ich weiß, dass Gale hier oft mit Beetee arbeitet, aber ich dachte immer, sie wären mit Bogen und Pistolen zugange.

»Eigentlich nicht. Aber ich hatte schon ein schlechtes Gewissen. Weil ich dir Gale andauernd entführe«, sagt Beetee.

Da ich die meiste Zeit in Distrikt 13 entweder desorientiert, besorgt oder wütend war und mich hauptsächlich zurechtmachen oder in der Krankenstation behandeln lassen musste, kann ich nicht sagen, dass ich Gale sonderlich vermisst hätte. Unser Verhältnis war ja auch nicht gerade harmonisch. Aber ich lasse Beetee in dem Glauben, er wäre mir etwas schuldig. »Ich hoffe, du hast seine Zeit gut genutzt.«

»Komm und sieh es dir an«, sagt er und winkt mich zu einem Computerbildschirm herüber.

Jetzt sehe ich, was sie machen. Sie nutzen die Ideen, die in Gales Fallen stecken, und bauen daraus Waffen, die man gegen Menschen einsetzen kann. Vor allem Bomben. Es geht weniger um die Mechanik der Fallen als um die Psychologie dahinter. Einen Sprengsatz an einem Ort zu verstecken, der für den Gegner etwas Lebenswichtiges bereithält. Wasser oder Nahrung. Die Opfer so zu erschrecken, dass sie fliehen und sich selbst ins Verderben stürzen. Sprösslinge in Gefahr zu bringen, um an das eigentliche Ziel des Angriffs, die Eltern, heranzukommen. Das Opfer in einen vermeintlich sicheren Hafen zu locken - wo der Tod wartet. Irgendwann haben Gale und Beetee sich von der Wildnis verabschiedet und sich auf menschliche Impulse konzentriert. Wie zum Beispiel Mitleid. Eine Bombe geht hoch. Man lässt den Menschen Zeit, den Verwundeten zu Hilfe zu eilen. Und dann werden sie von einer zweiten, noch stärkeren Bombe getötet.

»Dass ihr damit eine gewisse Grenze überschreitet, wisst ihr, oder?«, sage ich. »Dann ist jetzt also alles erlaubt?« Die beiden starren mich an - Beetee zweifelnd, Gale feindselig. »Offenbar gibt es keine Vorschriften dafür, was man einem anderen Menschen auf keinen Fall antun darf.«

»Natürlich gibt es die. Beetee und ich halten uns an dieselben Vorschriften wie Präsident Snow, als er Peeta eingewebt hat«, erklärt Gale.

So hart es ist, es stimmt. Ohne ein weiteres Wort mache ich auf dem Absatz kehrt. Ich muss sofort hier raus, sonst raste ich aus, aber ich bin immer noch in der Waffenabteilung, als Haymitch mich abfängt. »Komm mit«, sagt er. »Wir brauchen dich oben in der Krankenstation.«

»Wofür?«, frage ich.

»Sie wollen bei Peeta was ausprobieren«, sagt er. »Wollen ihm die harmloseste Person aus Distrikt 12 schicken, die sie auftreiben können. Jemanden, mit dem Peeta möglicherweise Kindheitserinnerungen teilt, der jedoch nicht zu eng mit dir in Verbindung steht. Sie gehen jetzt die einzelnen Leute durch.«

Das dürfte gar nicht so einfach sein, denn wer Peetas Kindheitserinnerungen teilt, kommt sehr wahrscheinlich aus der Stadt, und fast niemand dort hat die Flammen überlebt. Doch sie haben jemanden gefunden. Sie sitzt in dem Raum, der in ein Arbeitszimmer für Peetas Genesungsteam verwandelt wurde, und plaudert mit Plutarch. Delly Cartwright. Wie immer lächelt sie mich an, als wäre ich ihre allerbeste Freundin. So lächelt sie jeden an. »Katniss!«, ruft sie.

»Hi, Delly«, sage ich. Ich hatte schon gehört, dass sie und ihr jüngerer Bruder überlebt haben. Ihre Eltern, die das Schuhgeschäft in der Stadt besaßen, haben es nicht geschafft. Sie sieht älter aus, sie hat die eintönigen Klamotten aus Distrikt 13 an, die niemandem stehen, und die langen blonden Locken trägt sie nicht offen, sondern in einem praktischen Zopf. Sie ist etwas dünner, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie war eine der wenigen in Distrikt 12, die ganz gut genährt waren. Das Essen hier, der Stress, die Trauer um ihre Eltern, all das hat seine Spuren hinterlassen. »Wie geht es dir?«, frage ich sie.

»Ach, das waren ein bisschen zu viele Veränderungen auf einmal.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Aber hier in 13 sind alle wirklich nett, findest du nicht auch?«

Delly meint es ernst. Sie ist ein richtiger Menschenfreund. Sie mag alle Menschen, nicht nur ein paar Auserwählte, für die man sich nach jahrelanger Überlegung entschieden hat.

»Sie geben sich Mühe, damit wir uns willkommen fühlen«, sage ich. Ich glaube, so kann man das ausdrücken, ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. »Haben sie dich ausgesucht, damit du Peeta triffst?«

»Ich glaub schon. Armer Peeta. Und du Arme. Ich werde das Kapitol nie verstehen«, sagt sie.

»Vielleicht auch besser so«, sage ich.

»Delly kennt Peeta schon lange«, sagt Plutarch.

»Oh ja!« Dellys Gesicht leuchtet auf. »Wir haben von klein auf zusammen gespielt. Ich hab immer allen erzählt, er wäre mein Bruder.«

»Was meinst du?«, fragt Haymitch mich. »Gibt es da irgendwas, das Erinnerungen an dich wachrufen könnte?«

»Wir sind alle in dieselbe Klasse gegangen. Aber wir hatten nicht besonders viel miteinander zu tun«, erkläre ich.

»Katniss war immer so toll. Nicht im Traum dachte ich, dass sie mich bemerken würde«, sagt Delly. »Wie sie jagte und auf den Hob ging und so. Alle haben sie bewundert.«

Haymitch und ich schauen sie skeptisch an. Soll das ein Witz sein? Delly stellt es so dar, als hätte ich nur deshalb kaum Freunde gehabt, weil ich so außergewöhnlich war und die anderen damit eingeschüchtert habe. Stimmt aber nicht. Es lag daran, dass ich unfreundlich war. Aber soll Delly mich doch in den Himmel heben, wenn sie will.

»Delly denkt immer nur das Beste von den Menschen«, erkläre ich. »Ich glaube nicht, dass Peeta im Zusammenhang mit ihr irgendwelche negativen Erinnerungen haben kann.« Da fällt mir etwas ein. »Moment mal. Im Kapitol. Als ich geleugnet habe, das rothaarige Avox-Mädchen zu kennen. Da ist Peeta mir zur Seite gesprungen und hat gesagt, sie sähe Delly ähnlich.«

»Ja, ich erinnere mich«, sagt Haymitch. »Aber es stimmte ja nicht und Delly war nicht dabei. Ich glaube nicht, dass das gegen jahrelange Kindheitserinnerungen ankommt.«

»Schon gar nicht mit einer so netten Spielkameradin wie Delly«, fügt Plutarch hinzu. »Los, wir wagen mal einen Versuch.«

Plutarch, Haymitch und ich gehen in den Beobachtungsraum neben dem Zimmer, in dem Peeta eingesperrt ist. Darin sitzen schon zehn Mitglieder seines Genesungsteams, alle mit Klemmbrett und Stift bewaffnet. Durch den Einwegspiegel können wir Peeta unbemerkt beobachten, und ein Mikrofon überträgt alles, was gesprochen wird. Er liegt auf dem Bett, seine Arme sind angeschnallt. Zwar versucht er nicht, sich zu befreien, doch seine Hände sind die ganze Zeit in Bewegung. Sein Gesichtsausdruck ist nicht mehr so wirr wie in dem Moment, als er mich angegriffen hat, aber er ist immer noch fremd.

Als die Tür leise aufgeht, weiten sich seine Augen vor Schreck, dann sieht er verstört aus. Delly geht auf ihn zu, zögernd zunächst, doch als sie bei ihm ist, lächelt sie ganz selbstverständlich. »Peeta? Ich bin’s, Delly, von zu Hause.«

»Delly?« Der Nebel scheint sich ein wenig zu lichten. »Delly. Du bist es.«

»Ja«, sagt sie, offensichtlich erleichtert. »Wie geht es dir?«

»Miserabel. Wo sind wir? Was ist passiert?«, fragt Peeta. »Jetzt kommt’s«, sagt Haymitch.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll auf keinen Fall Katniss oder das Kapitol erwähnen«, sagt Plutarch. »Wir wollen nur sehen, wie viele Erinnerungen an die Heimat sie wachrufen kann.«

»Tja … wir sind in Distrikt 13. Hier leben wir jetzt«, sagt Delly.

»Das haben die Leute auch gesagt. Aber ich verstehe das nicht. Wieso sind wir nicht zu Hause?«, fragt Peeta.

Delly beißt sich auf die Lippe. »Es gab … einen Unfall. Ich habe auch großes Heimweh. Gerade musste ich daran denken, wie wir immer mit Kreide auf die Steine gemalt haben. Du konntest so toll zeichnen. Weißt du noch, als du in jeden Pflasterstein ein anderes Tier gemalt hast?«

»Ja. Schweine und Katzen und so«, sagt Peeta. »Du hast was … von einem Unfall gesagt?«

Ich sehe Schweiß auf Dellys Stirn glänzen, sie versucht die Frage zu umgehen. »Das war schlimm. Keiner … konnte dableiben«, sagt sie stockend.

»Halte durch, Mädchen«, sagt Haymitch.

»Aber hier wird es dir bestimmt gefallen, Peeta. Alle sind so freundlich zu uns. Es gibt immer was zu essen und saubere Kleider und in der Schule ist es viel interessanter als zu Hause«, sagt Delly.

»Warum hat meine Familie mich noch nicht besucht?«, fragt Peeta.

»Das geht nicht.« Jetzt ist Delly wieder den Tränen nahe. »Viele haben es nicht geschafft, aus 12 rauszukommen. Wir müssen uns hier jetzt ein neues Leben aufbauen. Einen guten Bäcker können sie hier garantiert brauchen. Weißt du noch, als wir bei deinem Vater Mädchen und Jungen aus Teig machen durften?«

»Es hat gebrannt«, sagt Peeta unvermittelt.

»Ja«, flüstert sie.

»12 ist abgebrannt, oder? Und sie ist schuld«, sagt er wütend. »Katniss ist schuld!« Er reißt an seinen Fesseln.

»Oh nein, Peeta. Sie konnte nichts dafür«, sagt Delly.

»Hat sie dir das gesagt?«, zischt er sie an.

»Holt sie da raus«, sagt Plutarch. Sofort wird die Tür geöffnet und Delly geht langsam rückwärts.

»Das brauchte sie gar nicht. Ich hab …«, setzt Delly an.

»Weil sie lügt! Sie ist eine Lügnerin! Glaub ihr kein Wort! Sie ist eine Mutation, die das Kapitol erschaffen hat und jetzt gegen uns einsetzt!«, ruft Peeta.

»Nein, Peeta. Das ist sie nicht …«, versucht Delly es erneut.

»Trau ihr nicht über den Weg, Delly«, sagt Peeta außer sich. »Ich hab ihr vertraut, und sie hat versucht, mich umzubringen. Sie hat meine Freunde umgebracht. Meine Familie. Geh nicht in ihre Nähe! Sie ist eine Mutation!«

Eine Hand schiebt sich durch die Tür, Delly wird hinausgezogen, dann geht die Tür zu. Peeta schreit immer weiter. »Eine Mutation! Sie ist eine widerliche Mutation!«

Nicht nur, dass er mich hasst und umbringen will, er glaubt gar nicht mehr, dass ich ein Mensch bin. Das ist noch schmerzhafter, als gewürgt zu werden.

Die Mitglieder des Genesungsteams um mich herum kritzeln wie verrückt, sie halten jedes Wort fest. Haymitch und Plutarch fassen mich an den Armen und schieben mich aus dem Raum. Sie lehnen mich an eine Wand im Flur, wo nichts zu hören ist. Aber ich weiß, dass Peeta hinter der Tür und dem Glas immer noch schreit.

Prim hat sich geirrt. Peeta kann nicht geheilt werden. »Ich kann hier nicht mehr bleiben«, sage ich wie betäubt. »Wenn ihr wollt, dass ich der Spotttölpel bin, müsst ihr mich wegschicken.«

»Wo willst du hin?«, fragt Haymitch.

»Ins Kapitol.« Das ist der einzige Ort, an dem ich etwas ausrichten könnte.

»Ausgeschlossen«, sagt Plutarch. »Nicht, bevor alle Distrikte sicher sind. Die gute Nachricht ist, dass die Kämpfe fast überall vorüber sind, außer in Distrikt 2. Aber der ist eine harte Nuss.«

Genau. Erst die Distrikte. Dann das Kapitol. Und dann bringe ich Snow zur Strecke.

»Gut«, sage ich. »Dann schickt mich nach 2.«

14

Distrikt 2 ist erwartungsgemäß groß, er besteht aus mehreren verstreuten Bergdörfern. Ursprünglich gehörte jedes Dorf zu einem Bergwerk oder Steinbruch, doch in diesen Zeiten haben sich viele darauf verlegt, Friedenswächter zu beherbergen und auszubilden. Da die Rebellen Luftunterstützung aus Distrikt 13 haben, stellen die Dörfer kein Problem dar. Eine Herausforderung gibt es aber doch: Im Zentrum des Distrikts befindet sich ein nahezu undurchdringlicher Berg, in dem das militärische Herz des Kapitals schlägt.

Seit ich Plutarchs Spruch von der »harten Nuss«, die wir knacken müssen, an die müden und entmutigten Rebellenführer weitergegeben habe, nennen wir den Berg nur noch »die Nuss«. Er wurde gleich nach den Dunklen Tagen errichtet, als das Kapital Distrikt 13 verloren hatte und dringend einen neuen unterirdischen Stützpunkt brauchte. Ein Teil der Streitkräfte war zwar in den Randgebieten des Kapitals stationiert - Atomraketen, Flugzeuge, Kampftruppen -, aber ein beachtlicher Teil befand sich jetzt in der Hand des Feindes. Distrikt 13 zu kopieren, stand nicht zur Debatte, denn der Aufbau war die Arbeit von Jahrhunderten gewesen. Da boten sich die alten Bergwerke des nahe gelegenen Distrikts 2 förmlich an. Aus der Luft sah die Nuss aus wie ein gewöhnlicher Berg mit mehreren Zugängen. Doch im Innern fanden sich riesige Höhlen, aus denen der Stein in Platten gebrochen, zutage gefördert und über schmale, rutschige Wege fortgeschafft worden war, um irgendwo weit entfernt Gebäude daraus zu erbauen. Es gab sogar eine unterirdische Bahnstrecke, auf der die Bergarbeiter von der Nuss bis in den Hauptort des Distrikts gebracht wurden. Sie führte direkt zu dem Platz mit dem Justizgebäude, auf dessen breiter Marmortreppe Peeta und ich damals während der Tour der Sieger gestanden und es vermieden hatten, allzu genau zu den trauernden Familien von Cato und Clove zu sehen, die versammelt vor uns standen.

Das Gelände war nicht gerade ideal, immer wieder wurde es von Erdrutschen, Überschwemmungen und Steinlawinen heimgesucht. Doch die Vorteile überwogen. Die Arbeiter hatten sich tief in die Berge hineingewühlt und große Pfeiler und Wände aus Stein hinterlassen, die die Schächte abstützten. Das Kapitol ließ sie verstärken und begann dort einen neuen Stützpunkt zu errichten. Es wurden Computer aufgestellt, Besprechungszimmer, Kasernen und Waffenlager errichtet. Die Zugänge wurden erweitert, damit die Hovercrafts aus der Flughalle herauskonnten, Raketenabschussvorrichtungen wurden installiert. Äußerlich wurde der Berg weitgehend so belassen, wie er war. Ein raues, felsiges Gewirr aus Bäumen und Wildnis. Eine natürliche Festung zum Schutz des Kapitols vor seinen Feinden.

Im Vergleich zu den anderen Distrikten wurden die hiesigen Einwohner regelrecht gepäppelt. Man brauchte die Rebellen von Distrikt 2 nur anzuschauen, um zu sehen, dass sie als Kinder gut ernährt und versorgt worden waren. Manche wurden Arbeiter in den Steinbrüchen und Bergwerken. Andere wurden für Tätigkeiten in der Nuss ausgebildet oder in den Rang eines Friedenswächters erhoben. Schon frühzeitig wurden sie hart für den Kampf trainiert. Die Hungerspiele boten die einzigartige Gelegenheit, zu Ruhm und Wohlstand zu gelangen. Die Leute in Distrikt 2 schluckten die Propaganda des Kapitols natürlich leichter als wir anderen und machten sich die Gebräuche des Kapitols zu eigen. Aber letztendlich waren sie doch Sklaven. Und wenn es auch jenen, die Friedenswächter wurden oder in der Nuss arbeiteten, nicht bewusst war, die Steinmetze begriffen es sehr wohl, und sie bildeten den Kern des Widerstands.

Ich bin jetzt zwei Wochen hier und die Lage ist unverändert. Die am Rande gelegenen Dörfer sind in der Hand der Rebellen, die Stadt ist geteilt und die Nuss ist unerreichbar wie eh und je. Die wenigen Eingänge sind stark befestigt, das Herzstück ist sicher in den Berg eingebettet. Während sich alle anderen Distrikte frei gekämpft haben, bleibt Distrikt 2 weiterhin zu einem Gutteil in der Gewalt des Kapitols.

Jeden Tag tue ich, was ich kann, um zu helfen. Ich besuche die Verwundeten. Nehme mit meinem Kamerateam kurze Propos auf. Richtig mitkämpfen darf ich nicht, aber ich darf beim Kriegsrat dabei sein, und das ist schon viel mehr als in Distrikt 13. Meine Situation hier ist viel besser. Ich habe mehr Freiheiten, keinen Tagesplan auf dem Arm, weniger Verpflichtungen. Ich wohne oberirdisch in den Dörfern der Rebellen oder in den Höhlen der Umgebung. Aus Sicherheitsgründen muss ich das Quartier häufig wechseln. Ich habe die Erlaubnis, tagsüber zu jagen, solange ich eine Leibwache mitnehme und mich nicht zu weit entferne. Aus der dünnen, kalten Bergluft strömt wieder ein wenig Energie in meinen Körper, der Nebel in meinen Gedanken lichtet sich. Allerdings begreife ich mit dieser Klarheit noch deutlicher, was sie Peeta angetan haben.

Snow hat ihn mir weggenommen, bis zur Unkenntlichkeit verbogen und mir dann zum Geschenk gemacht. Boggs, der mit mir nach Distrikt 2 gekommen ist, meint, dass unser Plan zwar gut war, dass es aber doch auch verdächtig einfach gewesen sei, Peeta zu befreien. Er glaubt, sie hätten ihn mir so oder so geliefert. Hätten ihn in einem Kriegsgebiet ausgesetzt oder vielleicht in Distrikt 13 selbst. Mit Schleifen verschnürt, ein Schild mit meinem Namen daran. Programmiert, mich zu töten.

Erst jetzt, da sie ihn zerstört haben, weiß ich den echten Peeta richtig zu schätzen. Mehr noch, als wenn er gestorben wäre. Seine Güte, seine Zuverlässigkeit, die Wärme, hinter der sich ein ungeahntes Feuer verbarg. Wie viele Menschen auf der Welt, abgesehen von Prim, meiner Mutter und Gale, könnten mich bedingungslos lieben? Jetzt wohl keiner mehr. Wenn ich allein bin, hole ich manchmal die Perle aus der Tasche und versuche mich an den Jungen mit dem Brot zu erinnern, an seine starken Arme, mit denen er mich im Zug vor den Albträumen beschützte, an die Küsse in der Arena. Damit ich einen Namen für das finde, was ich verloren habe. Aber wozu? Es ist weg. Er ist weg. Was immer da zwischen uns war, es ist verloren. Mir ist nur die Aussicht geblieben, Snow zu töten. Das sage ich mir zehn Mal am Tag.

In Distrikt 13 machen sie mit Peetas Behandlung weiter. Ohne dass ich nachfrage, hält Plutarch mich am Telefon auf dem Laufenden. »Gute Neuigkeiten, Katniss!«, sagt er zum Beispiel. »Ich glaube, wir haben ihn bald davon überzeugt, dass du keine Mutation bist!« Oder: »Heute durfte er schon selbst Pudding essen!«

Wenn ich danach mit Haymitch spreche, gibt er zu, dass es Peeta kein bisschen besser geht. Der einzige vage Hoffnungsschimmer kommt von meiner Schwester. »Prim hatte die Idee, das Einweben rückgängig zu machen«, erzählt Haymitch. »Die verzerrten Erinnerungen an dich heraufzubeschwören und ihm dann eine hohe Dosis Beruhigungsmittel zu verabreichen, Morfix oder so was. Wir haben es erst an einer Erinnerung ausprobiert. Die Aufnahme von euch beiden in der Höhle, als du ihm erzählt hast, wie Prim die Ziege bekam.«

»Irgendeine Verbesserung?«, frage ich.

»Na ja, wenn extreme Verwirrung gegenüber extremer Panik eine Verbesserung darstellt, dann schon«, sagt Haymitch. »Aber ich bin mir nicht so sicher. Er konnte mehrere Stunden lang nicht mehr sprechen. Ist in eine Art Starre verfallen. Als sie sich legte, war das Einzige, wonach er fragte, die Ziege.«

»Aha«, sage ich.

»Wie läuft es bei dir?«, fragt er.

»Bis jetzt geht es nicht vorwärts«, sage ich.

»Wir schicken für den Berg eine Mannschaft zu Hilfe, Beetee und ein paar von den anderen«, sagt er. »Du weißt schon, die Experten.«

Es wundert mich nicht, dass Gale darunter ist. Ich dachte mir schon, dass Beetee ihn mitnehmen würde, nicht wegen seines technologischen Fachwissens, sondern in der Hoffnung, ihm würde etwas einfallen, wie man einem Berg eine Falle stellt. Gale hatte ursprünglich angeboten, mich nach Distrikt 2 zu begleiten, aber ich wollte ihn nicht aus seiner Arbeit mit Beetee herausreißen. Ich sagte ihm, er solle sich gedulden und dort bleiben, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Was ich nicht sagte, war, dass es mir in seiner Gegenwart noch schwerer gefallen wäre, um Peeta zu trauern.

Wir treffen uns an einem Spätnachmittag direkt nach ihrer Ankunft. Am Rand des Dorfes, in dem ich gerade wohne, sitze ich auf einem Holzklotz und rupfe eine Gans. Zu meinen Füßen liegen ungefähr ein Dutzend weiterer Gänse. Große Schwärme sind seit meiner Ankunft hier durchgezogen und sie sind leicht zu erlegen. Wortlos lässt Gale sich neben mir nieder und nimmt sich auch eine Gans. Wir sind fast fertig, als er fragt: »Kriegen wir was davon ab?«

»Ja. Die meisten gehen in die Feldküche, aber ein paar muss ich den Leuten abgeben, bei denen ich heute übernachte«, sage ich. »Zum Dank.«

»Ist die Ehre nicht genug?«, fragt er.

»Sollte man meinen. Aber es hat sich herumgesprochen, dass Spotttölpel gesundheitsschädlich sein können.«

Eine Weile rupfen wir schweigend weiter. Dann sagt er: »Gestern hab ich Peeta gesehen. Durch die Glasscheibe.«

»Und?«, frage ich.

»Ich hatte einen egoistischen Gedanken«, sagt Gale.

»Dass du jetzt nicht mehr eifersüchtig auf ihn sein musst?« Ich mache eine heftige Handbewegung und die Federn fliegen in einer Wolke um uns herum.

»Nein. Genau das Gegenteil.« Gale pflückt eine Feder aus meinem Haar. »Ich dachte … dass ich dagegen niemals ankommen werde. Und wenn ich noch so leide.« Er dreht die Feder zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wenn er nicht wieder gesund wird, habe ich keine Chance. Du wirst ihn nie loslassen können. Es würde dir immer verkehrt vorkommen, mit mir zusammen zu sein.«

»Genau so, wie es sich immer verkehrt angefühlt hat, ihn zu küssen, weil es dich gibt«, sage ich.

Gale schaut mir fest in die Augen. »Wenn das wahr wäre, könnte ich das andere fast ertragen.«

»Es ist wahr«, sage ich. »Aber ebenso wahr ist das, was du über Peeta gesagt hast.«

Gale stößt einen Laut der Verzweiflung aus. Doch als wir mit den Gänsen fertig sind und in den Wald gehen wollen, um Reisig für das Abendfeuer zu sammeln, finde ich mich in seiner Umarmung wieder. Seine Lippen streifen die verblassten Blutergüsse an meinem Hals, wandern hoch zu meinem Mund. Trotz meiner Gefühle für Peeta akzeptiere ich in diesem Moment tief im Innern, dass er nie zu mir zurückkommen wird. Und dass ich nie zu ihm zurückkehren werde. Ich bleibe hier, bis wir Distrikt 2 erobert haben, dann gehe ich ins Kapitol, töte Snow und das war es dann mit mir. Peeta wird geistig verwirrt und voller Hass auf mich sterben. Und so schließe ich im Zwielicht die Augen und küsse Gale, um alle Küsse wiedergutzumachen, die ich ihm vorenthalten habe, und weil es keine Rolle mehr spielt und weil ich so unerträglich einsam bin.

Gales Berührungen, sein Geschmack und seine Wärme erinnern mich daran, dass wenigstens mein Körper noch lebendig ist, und für den Augenblick ist das ein willkommenes Gefühl. Ich denke nichts mehr und lasse die Empfindung durch meinen Körper strömen, genieße es, mich ganz zu verlieren. Als Gale leicht zurückweicht, dränge ich mich an ihn, um die Lücke zu schließen, doch da spüre ich seine Hand unter meinem Kinn. »Katniss«, sagt er. In dem Moment, als ich die Augen öffne, scheint die Welt aus den Fugen geraten zu sein. Das hier sind nicht unsere Bäume, nicht unsere Berge, das ist nicht unser Weg. Automatisch berühre ich die Narbe an meiner linken Schläfe, die ich mit Verwirrung assoziiere. »Jetzt küss mich.«

Verunsichert, mit unverwandtem Blick stehe ich da, während er sich vorbeugt und seine Lippen kurz auf meine drückt. Er schaut mich prüfend an. »Was geht in dir vor?«

»Ich weiß nicht«, flüstere ich.

»Dann ist es, als würde ich eine Betrunkene küssen. Das gilt nicht«, sagt er mit einem schwachen Versuch zu lachen. Er hebt ein Bündel Reisig hoch und legt es mir in die Arme. Jetzt bin ich wieder bei mir.

»Woher weißt du das?«, frage ich, hauptsächlich, um meine Verlegenheit zu überspielen. »Hast du schon mal eine Betrunkene geküsst?« Ich glaube, damals in Distrikt 12 hätte Gale jede küssen können. Interessentinnen gab es jedenfalls genug. Bisher habe ich mir darüber keine großen Gedanken gemacht.

Er schüttelt nur den Kopf. »Nein. Aber es ist nicht schwer, sich das vorzustellen.«

»Dann hast du nie irgendwelche anderen Mädchen geküsst?«, frage ich.

»Das hab ich nicht behauptet. Du warst ja erst zwölf, als wir uns kennenlernten. Und außerdem eine echte Nervensäge. Du wirst es nicht glauben, aber ich hatte ein Leben außerhalb der Jagd mit dir«, sagt er, während er Brennholz aufsammelt.

Auf einmal bin ich richtig neugierig. »Wen hast du geküsst? Und wo?«

»Zu viele, um sie alle zu behalten. Hinter der Schule, auf der Bergehalde, weiß der Henker«, sagt er.

Ich verdrehe die Augen. »Und wann bin ich was Besonderes geworden? Als sie mich ins Kapitol gekarrt haben?«

»Nein. Ungefähr ein halbes Jahr vorher. Kurz nach Silvester. Wir waren auf dem Hob und haben bei Greasy Sae Suppe gegessen. Und Darius neckte dich damit, dass er ein Kaninchen gegen einen Kuss tauschen würde. Da hab ich gemerkt … dass es mir was ausmacht«, sagt er.

Ich erinnere mich an den Tag. Bitterkalt und schon um vier Uhr nachmittags dunkel. Wir waren auf der Jagd gewesen, aber ein heftiger Schneesturm hatte uns zurück in die Stadt getrieben. Der Hob war voller Leute, die Zuflucht vor dem Wetter suchten. Greasy Saes Suppe, die aus dem Sud der Knochen eines wilden Hundes gekocht war, den wir eine Woche zuvor geschossen hatten, war nicht so gut wie sonst. Aber immerhin war sie heiß, und ich löffelte sie mit Heißhunger aus, während ich im Schneidersitz auf ihrem Tresen saß. Darius lehnte am Pfosten des Marktstands, kitzelte mir mit dem Ende meines Zopfs die Wange, und ich schlug seine Hand weg. Er erklärte mir, ein Kuss von ihm sei ein Kaninchen, vielleicht sogar zwei wert, da alle wüssten, dass rothaarige Männer besonders männlich seien. Und Greasy Sae und ich lachten, weil er so albern und aufdringlich war und uns eine Frau nach der anderen zeigte, die angeblich weit mehr als ein Kaninchen für die Wonne seiner Küsse bezahlt hätten. »Siehst du? Die da mit dem grünen Schal? Geh hin und frag sie. Wenn du unbedingt einen Beweis brauchst.«

Das ist eine Million Meilen von hier passiert, vor einer Milliarde Tagen. »Darius hat doch nur rumgeflachst«, sage ich.

»Kann sein. Aber wenn nicht, wärst du die Letzte, die es mitkriegen würde«, sagt Gale. »Guck Peeta an. Oder mich. Selbst Finnick. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, er hätte auch ein Auge auf dich geworfen, doch jetzt scheint er ja wieder auf Kurs zu sein.«

»Wenn du denkst, Finnick könnte mich lieben, kennst du ihn schlecht«, sage ich.

Gale zuckt die Achseln. »Ich weiß, dass er verzweifelt war.

Wenn die Leute verzweifelt sind, machen sie die verrücktesten Sachen.«

Ich bin mir fast sicher, dass das auf mich gemünzt ist.

Am nächsten Morgen versammeln sich die Experten in aller Frühe, um die Nuss zu knacken. Ich werde zu der Versammlung dazugebeten, obwohl ich nicht viel beitragen kann. Abseits vom Konferenztisch hocke ich auf dem breiten Fensterbrett, das einen guten Blick auf den fraglichen Berg bietet. Die Kommandantin von 2, eine Frau mittleren Alters namens Lyme, begibt sich mit uns auf eine virtuelle Rundreise durch die Nuss und ihre Befestigungen und berichtet von den gescheiterten Versuchen, sie einzunehmen. Lyme ist mir seit meiner Ankunft schon ein paarmal kurz begegnet, und jedes Mal hatte ich das Gefühl, sie von früher zu kennen. Jedenfalls ist sie ein Mensch, den man nicht so leicht vergisst, über einen Meter achtzig groß und sehr muskulös. Aber erst, als ich einen Filmausschnitt von ihr an der Front sehe, wie sie einen Angriff auf den Hauptzugang zur Nuss anführt, erkenne ich sie wieder. Lyme, Tribut aus Distrikt 2, vor über einer Generation Siegerin der Hungerspiele. Zur Vorbereitung auf das Jubel-Jubiläum hatte Effie uns, neben anderen, auch ihr Video geschickt. Wahrscheinlich habe ich sie irgendwann sogar mal bei den Spielen gesehen, aber sie hat sich wohl im Hintergrund gehalten. Nachdem ich erfahren habe, wie Haymitch und Finnick behandelt worden sind, frage ich mich automatisch: Was hat das Kapitol ihr nach dem Sieg angetan?

Als Lyme mit der Präsentation fertig ist, sind die Experten mit ihren Fragen dran. Viele Stunden lang, unterbrochen nur durch das Mittagessen, versuchen sie einen realistischen Plan auszutüfteln, wie man die Nuss erobern könnte. Beetee meint, er könne sich in die Computersysteme einhacken, und es wird darüber beratschlagt, ob man die Handvoll Spione einsetzen sollte, die zur Verfügung stehen, doch keiner hat eine zündende Idee. Irgendwann kehrt das Gespräch zurück zu einer Strategie, die schon des Öfteren ausprobiert wurde - die Eingänge zu stürmen. Lyme wirkt immer frustrierter, denn dieser Plan ist in so vielen Varianten bereits gescheitert und sie hat schon so viele Soldaten dabei verloren. Schließlich platzt sie heraus: »Der Nächste, der vorschlägt, die Eingänge zu stürmen, sollte besser auch eine geniale Idee liefern, wie, denn er darf die Mission dann selbst anführen!«

Gale, der zu unruhig ist, um stundenlang am Tisch zu sitzen, läuft entweder herum, oder er sitzt bei mir auf dem Fensterbrett. Er hat Lymes Behauptung, die Eingänge könnten nicht gestürmt werden, sofort akzeptiert und sich aus der Diskussion völlig ausgeklinkt. Seit einer Stunde sitzt er schweigend und mit gerunzelter Stirn da und starrt durchs Fenster zu der Nuss. In der Stille, die auf Lymes Drohung folgt, meldet er sich zu Wort. »Ist es eigentlich zwingend notwendig, dass wir die Nuss erobern? Oder würde es auch genügen, sie zu blockieren?«

»Das könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein«, sagt Beetee. »Worauf willst du hinaus?«

»Stellen wir uns vor, das Ding wäre ein Bau mit wilden Hunden«, fährt Gale fort. »Dann würden wir ja nicht versuchen, dort einzudringen. Wir hätten zwei Möglichkeiten. Die Hunde da drin einzusperren oder sie hinauszuscheuchen.«

»Wir haben versucht, die Eingänge zu bombardieren«, sagt Lyme. »Doch sie sind so tief in den Fels gehauen, dass sie kaum nachgeben.«

»Daran habe ich auch nicht gedacht«, sagt Gale. »Ich dachte daran, dass wir uns den Berg zunutze machen.« Beetee steht auf und geht zu Gale ans Fenster, angestrengt schaut er durch seine schlecht sitzende Brille. »Verstehst du? Die Wände zum Abrutschen bringen.«

»Lawinenzüge«, sagt Beetee leise. »Das wäre aber kompliziert. Wir müssten die Abfolge der Detonationen ganz genau planen. Wenn sie einmal in Gang gesetzt sind, können wir nicht mehr eingreifen.«

»Wir brauchen nicht einzugreifen, wenn wir uns von der Vorstellung verabschieden, wir müssten die Nuss besitzen«, sagt Gale. »Wir machen sie einfach dicht.«

»Du schlägst also vor, dass wir Steinlawinen auslösen und die Zugänge blockieren?«, fragt Lyme.

»Genau«, sagt Gale. »Den Feind einsperren und von der Versorgung abschneiden. Sodass sie ihr Hovercraft nicht aussenden können.«

Während alle über den Plan nachdenken, blättert Boggs stirnrunzelnd einen Stapel mit Skizzen von der Nuss durch. »Damit riskierst du aber, dass alle da drin umkommen. Schau dir das Belüftungssystem an. Das ist bestenfalls in Ansätzen vorhanden. Nichts im Vergleich zu unserem in 13. Es ist vollständig davon abhängig, dass von den Bergwänden Luft hereingepumpt wird. Sind die Lüftungsschächte blockiert, ersticken alle, die in der Falle sitzen.«

»Sie könnten durch den Eisenbahntunnel zum Platz flüchten«, sagt Beetee.

»Nicht, wenn wir ihn sprengen«, sagt Gale schroff. Jetzt wird seine Absicht deutlich. Gale hat kein Interesse daran, dass diejenigen, die in der Nuss sind, überleben. Kein Interesse daran, die Beute für späteren Gebrauch gefangen zu nehmen.

Das ist eine seiner Todesfallen.

15

Nach und nach dämmert uns, was Gales Vorschlag bedeutet. In den Gesichtern spiegeln sich die unterschiedlichsten Reaktionen. Von Begeisterung bis Entsetzen, von Betroffenheit bis Genugtuung ist alles vertreten. »Die meisten Arbeiter stammen aus Distrikt 2«, sagt Beetee. »Na und?«, sagt Gale. »Denen können wir nie wieder trauen.«

»Sie sollten zumindest die Chance haben, sich zu ergeben«, sagt Lyme.

»Dieser Luxus war uns nicht vergönnt, als sie die Brandbomben auf 12 abgeworfen haben. Aber das Kapitol fassen wir doch lieber mit Samthandschuhen an«, sagt Gale. Lyme sieht so aus, als würde sie ihn am liebsten erschießen oder ihm zumindest eine reinhauen. Wahrscheinlich wäre sie mit ihrer Ausbildung sogar im Vorteil. Aber ihre Reaktion macht Gale nur wütend, er schreit: »Wir haben gesehen, wie Kinder verbrannt sind, und wir konnten nichts tun!«

Die Erinnerung durchfährt mich und ich muss die Augen einen Moment schließen. Der gewünschte Effekt bleibt nicht aus. Ich will alle im Berg tot sehen. Bin kurz davor, es auszusprechen. Aber … Ich bin nicht Präsident Snow, sondern ein Mädchen aus Distrikt 12. Ich kann nicht aus meiner Haut. Ich kann niemanden so sterben lassen, wie Gale es vorschlägt. »Gale«, sage ich möglichst ruhig und fasse ihn am Arm. »Die Nuss ist ein altes Bergwerk. Das wäre so, als würdest du ein riesiges Minenunglück auslösen.« Diese Worte würden jeden aus Distrikt 12 nachdenklich stimmen.

»Nur nicht so plötzlich wie das Unglück, bei dem unsere Väter umgekommen sind«, kontert er. »Ist das etwa euer Problem? Dass unsere Feinde vielleicht noch ein paar Stunden Zeit haben, über ihren bevorstehenden Tod nachzudenken, anstatt einfach begraben zu werden?«

Als wir noch Kinder waren, die jenseits des Zauns von Distrikt 12 auf die Jagd gingen, hat Gale auch schon solche und schlimmere Sachen gesagt. Aber damals waren es nur Worte. Hier werden sie zu Taten, die nie wieder rückgängig gemacht werden können.

»Du weißt doch gar nicht, wie diese Leute aus Distrikt 2 in der Nuss gelandet sind«, sage ich. »Vielleicht hat man sie gezwungen. Vielleicht werden sie gegen ihren Willen dort festgehalten. Unsere eigenen Spione sind auch darunter. Willst du die auch umbringen?«

»Ich würde ein paar opfern, ja. Um die anderen zu erledigen«, antwortet er. »Und wenn ich ein Spion da drin wäre, würde ich sagen: Los, setzt die Lawinen in Gang!«

Ich weiß, dass er die Wahrheit sagt. Dass er sein Leben für die Sache opfern würde - niemand zweifelt daran. Vielleicht würden wir das alle tun, wenn wir Spione wären und vor der Wahl stünden. Ich wahrscheinlich schon. Aber eine solche Entscheidung für andere und ihre Angehörigen zu treffen, ist hartherzig.

»Du hast gesagt, wir haben zwei Möglichkeiten«, sagt Boggs. »Sie einzusperren oder rauszutreiben. Ich schlage vor, wir lösen die Lawinen aus, tasten den Eisenbahntunnel jedoch nicht an.

Dann können die Menschen auf den Platz flüchten und da nehmen wir sie in Empfang.«

»Schwer bewaffnet, will ich doch hoffen«, sagt Gale. »Denn sie werden es sein, darauf kannst du wetten.«

»Schwer bewaffnet. Wir nehmen sie gefangen«, stimmt Boggs zu.

»Gut, dann weihen wir jetzt Distrikt 13 ein«, schlägt Beetee vor. »Präsidentin Coin soll sagen, was sie dazu meint.«

»Garantiert will sie den Tunnel blockieren«, sagt Gale zuversichtlich.

»Ja, wahrscheinlich. Aber in einem hatte Peeta recht mit dem, was er in seinen Propos gesagt hat. Über die Gefahr, dass wir uns womöglich selbst zerstören. Ich habe mal ein bisschen mit Zahlen herumgespielt. Wenn man die Verluste einbezieht und die Verwundeten und … Ich finde, man sollte wenigstens darüber reden«, sagt Beetee.

Nur eine Handvoll Leute dürfen bei dieser Unterredung dabei sein. Gale und ich werden mit den anderen hinausgeschickt. Ich nehme ihn mit auf die Jagd, damit er ein bisschen Dampf ablassen kann, doch er redet nicht viel. Ist wohl zu sauer auf mich, weil ich ihm widersprochen habe.

Schließlich fällt die Entscheidung, und am Abend stehe ich bereit - in meinem Spotttölpelkostüm, den Bogen über der Schulter. Über ein Headset bin ich mit Haymitch in Distrikt 13 verbunden, für den Fall, dass sich die Gelegenheit für einen guten Propo ergibt. Wir warten auf dem Dach des Justizgebäudes. Von dort aus haben wir unser Ziel im Visier.

Anfangs werden unsere Hoverplanes von den Kommandanten in der Nuss ignoriert, denn in der Vergangenheit konnten sie kaum mehr ausrichten als Fliegen, die einen Honigtopf umschwirren. Doch nach den ersten beiden Angriffswellen gegen die höheren Lagen des Berges ist ihre Aufmerksamkeit geweckt. Und als die Flugabwehrkanonen des Kapitols in Aktion treten, ist es bereits zu spät.

Die Auswirkung der Lawinen übertrifft alle Erwartungen. Beetee hatte recht damit, dass sie, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr aufzuhalten sein würden. Die Bergwände sind an sich schon instabil, doch jetzt, durch die Detonationen geschwächt, scheinen sie sich fast zu verflüssigen. Ganze Teile der Nuss brechen vor unseren Augen zusammen, alle Spuren, die darauf hinweisen, dass dieser Ort je von Menschen betreten wurde, sind ausgelöscht. Sprachlos stehen wir da, klein und unbedeutend, während das Gestein in Wellen den Berg hinunterdonnert. Unter Tonnen von Fels werden die Zugänge begraben. Eine Wolke aus Dreck und Geröll wirbelt auf und verdunkelt den Himmel. Die Nuss hat sich in ein Grab verwandelt.

Ich stelle mir das Inferno im Innern des Berges vor. Heulende Sirenen. Lichter, die erst flackern, dann verlöschen. Erstickender Staub in der Luft. Die Schreie der Eingeschlossenen, die panisch nach einem Ausgang suchen und feststellen, dass die Zugänge, die Abschussrampe, die Lüftungsschächte mit Erde und Steinen verstopft sind, die ins Innere drängen. Frei schwingende Stromleitungen, Feuer. Vertraute Wege werden durch Trümmer zum Labyrinth. Schubsende, drängelnde Menschen, die aufgescheucht umherkrabbeln wie Ameisen, wenn der Haufen einsinkt und ihren fragilen Panzer zu zerdrücken droht.

»Katniss?« Ich habe Haymitchs Stimme im Ohr. Ich versuche, ihm zu antworten, aber ich habe beide Hände fest auf den Mund gepresst. »Katniss!«

An dem Tag, als mein Vater starb, gingen die Sirenen während der Mittagspause in der Schule los. Niemand wartete die Erlaubnis ab zu gehen, und das wurde auch nicht erwartet. Nicht einmal das Kapitol konnte uns vorschreiben, wie wir uns bei einem Minenunglück zu verhalten hatten. Ich rannte zu Prims Klasse. Ich weiß noch, wie sie dasaß, sieben Jahre alt und winzig, ganz blass, die Hände brav auf dem Tisch gefaltet. So wartete sie darauf, dass ich sie abholte, wie ich es versprochen hatte, für den Fall, dass die Sirenen je losgehen sollten. Sie sprang auf, hielt sich am Ärmel meines Mantels fest, und dann zwängten wir uns durch die Menge der Leute, die auf die Straßen strömten und sich am Haupteingang des Bergwerks versammelten. Wir fanden unsere Mutter, die das Seil umklammerte, das schnell als Absperrung gespannt worden war. Im Nachhinein denke ich, dass ich schon in diesem Moment hätte wissen müssen, dass mit ihr etwas nicht stimmte, denn wieso sonst mussten wir sie suchen, wo es doch umgekehrt hätte sein sollen?

Die Förderkörbe quietschten, sausten die Kabel hoch und runter, als sie die verrußten Bergarbeiter ans Tageslicht beförderten. Bei jeder Gruppe gab es Schreie der Erleichterung, Angehörige tauchten unter der Absperrung hindurch, um ihre Ehemänner, Frauen, Kinder, Eltern, Geschwister in Empfang zu nehmen. Wir standen in der Kälte des Nachmittags, während sich der Himmel zuzog, staubfeiner Schnee bedeckte die Erde. Die Förderkörbe bewegten sich jetzt langsamer und spuckten nicht mehr so viele Leute aus. Ich kniete mich hin und grub die Hände in die Schlacke, wie gern hätte ich meinen Vater heraufgezogen. Hilfloser kann man sich wohl nicht fühlen, als wenn man jemanden erreichen will, der unter der Erde eingesperrt ist. Die Verletzten. Die Toten. Das Warten die ganze Nacht hindurch. Decken, die Fremde einem um die Schultern legen. Ein Becher mit einem heißen Getränk, das man nicht trinkt. Und dann schließlich, bei Tagesanbruch, der bekümmerte Ausdruck auf dem Gesicht des Bergwerkleiters, der nur eines bedeuten kann.

Was haben wir da gerade getan?

»Katniss! Bist du da?« Haymitch lässt mir jetzt in Gedanken wahrscheinlich schon eine Kopffessel anpassen. Ich lasse die Hände sinken. »Ja.«

»Geh rein. Nur für den Fall, dass das Kapitol mit seiner verbliebenen Luftwaffe einen Gegenangriff startet.«

»Ja«, sage ich wieder. Bis auf die Soldaten, die an die Maschinengewehre gehen, begeben sich alle auf dem Dach nach drinnen. Auf dem Weg die Treppe hinunter lasse ich die Finger an der makellosen weißen Marmorwand entlanggleiten. So kalt und so schön. Selbst im Kapitol haben sie nichts, was es mit der Pracht dieses alten Gebäudes aufnehmen könnte. Doch die Oberfläche gibt nicht nach - meine Haut dagegen ist weich, kühlt ab. Stein siegt immer über Menschen.

Ich sitze am Fuß einer riesigen Säule in der großen Eingangshalle. Durch die Tür sehe ich den weißen Marmor der Treppe, die zum Platz führt. Ich weiß noch, wie schlecht es mir an dem Tag ging, als Peeta und ich hier die Gratulationen zum Sieg bei den Spielen entgegennahmen. Erschöpft von der Tour der Sieger, gescheitert bei dem Versuch, die Distrikte zu beschwichtigen, den Erinnerungen an Clove und Cato ausgesetzt, vor allem an Catos langsamen, grausamen Tod durch die Mutationen.

Boggs kauert sich neben mich, hier im Schatten sieht er blass aus. »Den Eisenbahntunnel haben wir nicht bombardiert. Einige werden wahrscheinlich herauskommen.«

»Und sobald sie sich blicken lassen, erschießen wir sie?«, frage ich.

»Nur wenn es sein muss«, antwortet er. »Wir könnten Züge reinschicken. Die Verletzten evakuieren«, sage ich.

»Nein. Es wurde beschlossen, ihnen den Tunnel zu überlassen. Auf diese Weise können sie die Leute rausschaffen«, sagt Boggs. »Außerdem gewinnen wir dadurch Zeit, unsere übrigen Soldaten auf dem Platz zu versammeln.«

Noch vor wenigen Stunden war der Platz Niemandsland, hier verlief die Front zwischen den Rebellen und den Friedenswächtern. Als Coin ihre Zustimmung zu Gales Plan gab, griffen die Rebellen erbittert an und trieben die Truppen des Kapitols einige Straßenzüge zurück, damit wir während des Untergangs der Nuss den Bahnhof kontrollieren konnten. Und jetzt ist sie untergegangen. Langsam haben es alle begriffen. Die Überlebenden werden auf den Platz flüchten. Ich höre wieder das Flakfeuer, sicher versuchen die Friedenswächter, sich hineinzukämpfen, um ihre Kameraden zu retten. Und unsere Soldaten sollen das verhindern.

»Du frierst«, sagt Boggs. »Ich schau mal, ob ich eine Decke finde.« Bevor ich widersprechen kann, ist er schon weg. Ich will keine Decke, obwohl der Marmor mir die Wärme aus dem Körper saugt.

»Katniss«, höre ich Haymitch in meinem Ohr.

»Bin immer noch da«, sage ich.

»Interessante Wendung mit Peeta heute. Dachte mir, das willst du bestimmt wissen«, sagt er. Interessant ist nicht gut. Nicht besser. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzuhören. »Wir haben ihm das Band gezeigt, auf dem du das Lied vom Henkersbaum singst. Das wurde nie ausgestrahlt, deshalb konnte das Kapital es nicht benutzen, als er eingewebt wurde. Er hat gesagt, er kennt das Lied.«

Mein Herz macht einen Hüpfer. Doch dann wird mir klar, dass das bestimmt wieder nur auf die Verwirrung durch das Jägerwespengift zurückzuführen ist. »Unmöglich, Haymitch. Er hat nie gehört, wie ich das Lied gesungen habe.«

»Nicht du. Dein Vater. Peeta hat es ihn einmal singen hören, als er in die Bäckerei kam, um etwas zu tauschen. Da war Peeta noch klein, vielleicht sechs oder sieben, aber er weiß es noch, weil er genau gelauscht hat, um zu hören, ob die Vögel aufhörten zu singen«, sagt Haymitch. »Wahrscheinlich haben sie aufgehört.«

Sechs oder sieben. Das muss gewesen sein, bevor meine Mutter das Lied verboten hat. Vielleicht sogar zu der Zeit, als ich es gerade lernte. »War ich auch dabei?«

»Ich glaube nicht. Jedenfalls hat er dich nicht erwähnt. Aber es ist die erste Verbindung zu dir, die keinen Zusammenbruch ausgelöst hat«, sagt Haymitch. »Besser als nichts, Katniss.«

Mein Vater. Er scheint heute überall zu sein. Wie er im Bergwerk gestorben ist. Wie er sich in Peetas wirres Bewusstsein gesungen hat. Und jetzt erkenne ich ihn in Boggs’ Blick, als der mir fürsorglich die Decke um die Schultern legt. Ich vermisse ihn so sehr, dass es wehtut.

Das Artilleriefeuer draußen wird lauter. Gale läuft mit einer Gruppe von Rebellen vorbei, die es nicht abwarten können zu kämpfen. Ich frage nicht, ob ich dabei sein darf. Sie würden es sowieso nicht erlauben, vor allem aber ist mir nicht danach, ich brenne nicht dafür. Ich sehne Peeta herbei, den alten Peeta, denn er könnte in Worte fassen, weshalb es verkehrt ist, aufeinander zu schießen, während Menschen, egal welche, sich aus dem Berg zu kämpfen versuchen. Oder bin ich überempfindlich wegen meiner eigenen Geschichte? Sind wir nicht im Krieg? Ist das nicht nur eine von vielen Methoden, unsere Feinde zu töten?

Die Nacht kommt schnell. Riesige Scheinwerfer werden eingeschaltet und tauchen den Platz in grelles Licht. Bestimmt brennen auch im Bahnhof alle Lichter mit voller Kraft. Obwohl ich mich auf der anderen Seite des Platzes befinde, kann ich ihn durch die Scheibe des langen, flachen Gebäudes gut einsehen. Die Ankunft eines Zuges, selbst einer einzelnen Person wäre unübersehbar. Doch Stunden vergehen und niemand kommt. Mit jeder Minute wird es unwahrscheinlicher, dass jemand den Angriff auf die Nuss überlebt hat.

Es ist schon nach Mitternacht, als Cressida auftaucht und mir ein Mikrofon an mein Kostüm klemmt. »Wozu soll das gut sein?«, frage ich.

Haymitch meldet sich, um es zu erklären. »Ich weiß, es wird dir nicht gefallen, aber du musst eine Rede halten.«

»Eine Rede?«, sage ich, und sofort wird mir mulmig.

»Ich flüstere es dir ein, Satz für Satz«, versichert er. »Du musst mir nur nachsprechen. Aus dem Berg kommt kein Lebenszeichen. Wir haben gewonnen, doch der Kampf geht weiter. Deshalb dachten wir uns, wenn du dich auf die Treppe des Justizgebäudes stellst und es verkündest - allen sagst, dass die Nuss besiegt ist und dass das Kapitol in Distrikt 2 keine Macht mehr hat -, dann kannst du vielleicht ihre restlichen Truppen dazu bringen, sich zu ergeben.«

Ich schaue angestrengt in die Dunkelheit hinter dem Platz. »Ich kann ihre Truppen nicht mal sehen.«

»Dafür hast du ja das Mikro«, sagt er. »Deine Stimme wird durch ihre Notfunkanlage übertragen und dein Bild wird auf allen Bildschirmen zu sehen sein.«

Ich weiß, dass es auf dem Platz ein paar riesige Bildschirme gibt. Während der Tour der Sieger habe ich sie gesehen. Es könnte funktionieren, wenn ich in so etwas gut wäre. Aber das bin ich nicht. Bei den ersten Versuchen mit den Propos haben sie mir meinen Text auch vorgesagt und es war ein Reinfall.

»Du könntest damit viele Leben retten, Katniss«, sagt Haymitch.

»Na gut. Ich versuche es«, sage ich.

Es ist merkwürdig, so im Scheinwerferlicht auf der Treppe zu stehen, ohne sichtbares Publikum, an das ich meine Rede richten könnte. Als würde ich eine Vorstellung für den Mond geben.

»Bringen wir es schnell hinter uns«, sagt Haymitch. »Du hast keine Deckung.«

Mein Fernsehteam, das mit Spezialkameras auf dem Platz steht, gibt mir ein Zeichen, dass es losgehen kann. Ich sage Haymitch, er soll anfangen, dann schalte ich das Mikrofon ein und höre genau zu, während er mir den ersten Satz meiner Rede vorsagt. Ich erscheine in Großaufnahme auf einem der Bildschirme auf dem Platz. »An alle Menschen in Distrikt 2, hier spricht Katniss Everdeen. Ich spreche zu euch von der Treppe eures Justizgebäudes aus, wo …«

In diesem Moment fahren zwei Züge gleichzeitig in den Bahnhof ein. Als die Türen aufgehen, stolpern die Menschen in einer Rauchwolke heraus, die sie aus der Nuss mitgebracht haben. Sie müssen zumindest eine Ahnung haben, was sie hier erwarten würde, denn sie suchen sofort Deckung. Die meisten legen sich flach auf den Boden und ein Kugelhagel im Bahnhof lässt alle Lichter erlöschen. Wie Gale prophezeit hat, sind sie bewaffnet, aber sie sind auch verwundet. In der Stille der Nacht ist ihr Stöhnen zu hören.

Irgendjemand schießt das Licht auf der Treppe aus, sodass die Dunkelheit mir Schutz bietet. Im Bahnhof lodert eine Flamme auf - einer der Züge scheint zu brennen -, und dichter schwarzer Rauch quillt gegen die Glaswand. Jetzt bleibt den Leuten nichts anderes übrig, als auf den Platz hinauszudrängen, sie husten, schwenken jedoch herausfordernd die Gewehre. Schnell schaue ich zu den Dächern der Häuser, die den Platz umgeben. Auf jedem befindet sich ein MG-Nest der Rebellen. Das Mondlicht spiegelt sich in den polierten Gewehrläufen.

Ein junger Mann kommt taumelnd aus dem Bahnhof, mit einer Hand hält er sich ein blutiges Tuch an die Wange, mit der anderen schleppt er ein Gewehr. Als er stolpert und auf das Gesicht fällt, sehe ich die Brandstellen an der Rückseite seines Hemdes und das rote Fleisch darunter. Und plötzlich ist er nur noch ein Brandopfer bei einem Minenunglück.

Ich fliege die Treppe hinunter und renne zu dem Mann hin. »Halt!«, rufe ich den Rebellen zu. »Nicht schießen!« Die Worte hallen über den Platz und darüber hinaus, das Mikrofon verstärkt meine Stimme. »Halt!« Ich bücke mich, um dem Mann zu helfen, als er sich plötzlich auf die Knie stützt und mit dem Gewehr auf meinen Kopf zielt.

Instinktiv gehe ich ein paar Schritte zurück und halte den Bogen in die Höhe, um zu zeigen, dass ich in friedlicher Absicht gekommen bin. Jetzt, da er beide Hände am Gewehr hat, sehe ich das klaffende Loch in seiner Wange, wo etwas - ein herabgefallener Stein vielleicht - das Fleisch durchdrungen hat. Er riecht nach verbrannten Haaren und verbranntem Fleisch. Sein Blick ist irre vor Schmerz und Angst.

»Nicht bewegen«, flüstert Haymitchs Stimme in meinem Ohr. Ich befolge seine Anweisung, und mir wird schlagartig klar, dass uns der gesamte Distrikt 2 zuschaut, vielleicht sogar ganz Panem. Der Spotttölpel in der Gewalt eines Mannes, der nichts zu verlieren hat.

Ich kann ihn kaum verstehen. »Gib mir einen Grund, weshalb ich dich nicht erschießen sollte.«

Der Rest der Welt rückt in den Hintergrund. Nur ich bin noch da, wie ich in das unglückliche Gesicht des Mannes schaue, der mich nach einem Grund fragt. Mir sollten tausend Gründe einfallen. Doch ich sage: »Das kann ich nicht.«

Logischerweise müsste der Mann jetzt auf den Abzug drücken. Aber er ist verwirrt, versucht meine Worte zu begreifen. Als mir klar wird, wie wahr das ist, was ich gerade gesagt habe, bin ich selbst durcheinander, und Verzweiflung tritt an die Stelle des noblen Impulses, der mich auf den Platz getrieben hat. »Ich kann es nicht. Das ist das Problem, nicht wahr?« Ich lasse den Bogen sinken. »Wir haben euer Bergwerk in die Luft gesprengt. Ihr habt meinen Distrikt abgebrannt. Wir haben allen Grund, einander zu töten. Also tu es. Mach das Kapitol glücklich. Ich habe genug davon, ihre Sklaven für sie zu töten.« Ich lasse den Bogen fallen und trete ihn mit dem Stiefel weg. Er schlittert über den Steinboden und bleibt vor den Knien des Mannes liegen.

»Ich bin nicht ihr Sklave«, murmelt er.

»Ich schon«, sage ich. »Deshalb habe ich Cato getötet… und deshalb hat er Thresh getötet … und der wiederum Clove … die versucht hat, mich zu töten. So geht es immer weiter und wer gewinnt? Nicht wir. Nicht die Distrikte. Immer das Kapitol. Aber ich habe es satt, eine Figur in ihren Spielen zu sein.«

Peeta. Auf dem Dach in der Nacht vor unseren ersten Hungerspielen. Ihm war das alles schon klar, ehe wir auch nur einen Fuß in die Arena gesetzt hatten. Ich hoffe, dass er jetzt zuschaut und sich an jene Nacht erinnert und mir vielleicht vergibt, wenn ich sterbe.

»Sprich weiter. Erzähl ihnen davon, wie es war, zuzuschauen, als der Berg eingestürzt ist«, sagt Haymitch.

»Als ich heute Abend den Berg einstürzen sah, da dachte ich … dass sie es schon wieder geschafft haben. Schon wieder haben sie mich dazu gebracht, euch zu töten - die Menschen in den Distrikten. Aber warum habe ich es getan? Distrikt 12 und Distrikt 2 haben keinen Streit miteinander - außer dem, den das Kapitol uns aufgezwungen hat.« Der junge Mann blinzelt mich verständnislos an. Ich lasse mich vor ihm auf die Knie sinken und spreche leise und eindringlich. »Und warum kämpft ihr gegen die Rebellen auf den Dächern? Gegen Lyme, die euer Sieger war? Gegen Leute, die eure Nachbarn, vielleicht sogar Verwandte waren?«

»Ich weiß nicht«, sagt der Mann. Aber das Gewehr hält er noch immer auf mich gerichtet.

Ich stehe auf und drehe mich langsam herum, wende mich zu den Maschinengewehren. »Und ihr da oben? Ich komme aus einer Bergarbeiterstadt. Seit wann verurteilen Bergarbeiter andere Bergarbeiter zu einem solchen Tod und halten sich dann bereit, diejenigen zu töten, die sich aus den Trümmern befreien können?«

»Wer ist der Feind?«, flüstert Haymitch.

»Diese Leute«, ich zeige auf die Verwundeten auf dem Platz, »sind nicht euer Feind!« Schnell drehe ich mich zurück zum Bahnhof. »Die Rebellen sind nicht euer Feind! Wir alle haben nur einen Feind, und das ist das Kapitol! Jetzt haben wir die einmalige Chance, seiner Macht ein Ende zu bereiten, aber dafür brauchen wir jeden Einzelnen in den Distrikten!«

Die Kameras sind fest auf mich gerichtet, als ich die Hände zu dem Mann ausstrecke, zu dem Verwundeten, zu den zögernden Rebellen in ganz Panem. »Bitte! Schließt euch uns an!«

Meine Worte bleiben in der Luft hängen. Ich schaue zum Bildschirm und hoffe, mit anzusehen, wie eine Welle der Versöhnung durch die Menge geht.

Stattdessen sehe ich live im Fernsehen, wie ich erschossen werde.

16

»Immer.«

Peeta flüstert das Wort im Dämmerzustand des Morfix und ich begebe mich auf die Suche nach ihm. Es ist eine verschwommene Welt in Violetttönen, ohne scharfe Konturen und mit vielen möglichen Verstecken. Ich bahne mir einen Weg durch Wolkenwände, folge den schwachen Fährten, schnappe einen Hauch Zimt auf, dann Dill. Einmal spüre ich seine Hand an meiner Wange und versuche sie festzuhalten, doch sie gleitet mir wie Nebel durch die Finger.

Als ich langsam in einem sterilen Krankenzimmer in 13 wieder auftauche, kommt die Erinnerung. Ich stand unter dem Einfluss von Schlafsirup. Ich war auf einen Ast geklettert und über den Elektrozaun zurück in Distrikt 12 gesprungen und dabei hatte ich mir die Ferse verletzt. Peeta brachte mich ins Bett, und als ich wegdämmerte, bat ich ihn, bei mir zu bleiben. Er flüsterte etwas, das ich nicht richtig verstand. Aber irgendein Teil meines Gehirns hatte dieses eine Wort, seine Antwort auf eine Frage von mir, festgehalten und ließ es jetzt durch meine Träume geistern und mich verspotten. »Immer.«

Morfix nimmt allen Gefühlen die Spitze, deshalb spüre ich jetzt keinen stechenden Schmerz, sondern nur Leere. Eine Mulde mit welkem Gestrüpp, wo zuvor Blumen geblüht haben. Leider habe ich nicht mehr genug von der Droge im Blut, um den Schmerz auf der linken Seite meines Körpers zu ignorieren.

Dort hat die Kugel mich getroffen. Meine Hände betasten den dicken Verband um meine Rippen, und ich frage mich, was ich hier überhaupt noch mache.

Er war es nicht, der Mann, der vor mir auf dem Platz kniete, der Verbrannte aus dem Berg. Er hat nicht auf den Abzug gedrückt. Es war jemand weiter hinten in der Menge. Das Eindringen der Kugel habe ich kaum gespürt, nur einen Schlag wie mit dem Vorschlaghammer. Alles nach diesem Moment ist wirr, von Schüssen durchlöchert. Ich versuche mich aufzusetzen, bringe jedoch nur ein Stöhnen zustande.

Der weiße Vorhang, der mein Bett vom Nachbarbett trennt, wird zur Seite gezogen, und Johanna Mason starrt mich an. Im ersten Moment fühle ich mich bedroht, weil sie mich in der Arena angegriffen hat. Ich muss mir erst sagen, dass sie mir damit das Leben gerettet hat. Es gehörte zum Komplott der Rebellen. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie mich nicht verachtet. Vielleicht war ihr Verhalten mir gegenüber ja nur Theater für das Kapitol?

»Ich lebe«, sage ich mit rauer Stimme.

»Was du nicht sagst, du Dummchen.« Johanna kommt zu mir und lässt sich so heftig auf mein Bett plumpsen, dass es schmerzhaft in meiner Brust sticht. Sie grinst nur, und da weiß ich, dass wir hier kein freudiges Wiedersehen feiern. »Immer noch ein bisschen empfindlich?« Mit einer geschickten Bewegung zieht sie die Morfix-Infusion aus meinem Arm und steckt sie in den Venenkatheter in ihrer Armbeuge. »Seit ein paar Tagen fahren sie meine Dosis runter. Damit ich nicht so werde wie diese beiden Irren aus 6 seinerzeit. Da dachte ich mir, sobald die Luft rein ist, schnorre ich mal bei dir. Hast ja hoffentlich nichts dagegen.«

Ob ich etwas dagegen habe? Wie sollte ich, wo sie doch nach dem Jubel-Jubiläum von Snow fast zu Tode gefoltert wurde? Ich habe kein Recht, mich zu beschweren, und das weiß sie auch.

Johanna seufzt, als das Morfix in ihren Blutkreislauf strömt.

»Vielleicht war das gar nicht so verkehrt, was die aus 6 gemacht haben. Sich komplett zudröhnen und dann den Körper mit Blumen bemalen. Gar kein so schlechtes Leben. Jedenfalls machten die zwei einen glücklicheren Eindruck als alle anderen.«

In den Wochen, seit ich Distrikt 13 verlassen habe, hat sie etwas zugenommen. Auf ihrem kahl rasierten Kopf ist zarter Flaum nachgewachsen, der die Narben ein wenig verdeckt. Doch wenn sie etwas von meinem Morfix abzwackt, hat sie offenbar immer noch zu kämpfen.

»Jeden Tag kommt so ein Psychodoktor vorbei, der mir helfen soll. Als ob ein Typ, der sein Leben in diesem Labyrinth zugebracht hat, mich heilen könnte. So ein Vollidiot! Mindestens zwanzig Mal pro Sitzung erinnert er mich daran, dass ich außer Gefahr bin.« Ich ringe mir ein Lächeln ab. Wirklich idiotisch, so etwas zu sagen, vor allem zu einem Sieger. Als ob es einen solchen Zustand überhaupt geben könnte. »Und du, Spotttölpelchen? Hast du das Gefühl, dass du außer Gefahr bist?«

»Ja, klar. Jedenfalls, bis auf mich geschossen wurde«, sage ich.

»Ich bitte dich. Die Kugel hat dich nicht mal berührt. Dafür hat Cinna gesorgt«, sagt sie.

Ich denke an die schusssicheren Schichten in meinem Spotttölpelkostüm. Aber irgendwoher muss der Schmerz ja gekommen sein. »Hab ich Rippen gebrochen?«

»Nicht mal das. Nur ziemlich geprellt. Durch die Wucht der Kugel ist deine Milz gerissen. Die konnten sie nicht zusammenflicken.« Sie winkt ab. »Keine Sorge, die braucht man nicht. Und selbst wenn, für dich würden sie schon eine finden, was? Sind ja alle darum bemüht, dein Leben zu retten.«

»Hasst du mich deshalb?«, frage ich.

»Zum Teil«, gibt sie zu. »Sicher spielt auch Eifersucht hinein. Ich finde dich einfach schwer zu ertragen. Mit deiner kitschigen Liebesgeschichte und deiner Show als Schutzpatronin der Hilflosen. Nur dass es gar keine Show ist, was dich noch unerträglicher macht. Das darfst du jetzt gern persönlich nehmen.«

»Du müsstest der Spotttölpel sein. Dir brauchte keiner den Text einzuflüstern«, sage ich.

»Stimmt. Aber mich kann niemand leiden«, sagt sie.

»Aber sie haben dir vertraut. Um mich rauszuholen«, erinnere ich sie. »Und sie haben Angst vor dir.«

»Hier vielleicht. Im Kapitol bist du es, die sie fürchten.« Gale erscheint in der Tür und schnell macht Johanna sich los und schließt mich wieder an den Morfix-Tropf an. »Dein Cousin hat keine Angst vor mir«, raunt sie mir zu. Sie steht hastig auf und geht zur Tür. Im Vorbeigehen stößt sie Gale mit der Hüfte ans Bein. »Wie geht’s, Hübscher?« Wir hören ihr Lachen noch, als sie schon im Flur ist.

Ich schaue ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und er nimmt meine Hand. »Oh, jetzt habe ich aber Angst!«, sagt er fast unhörbar. Ich lache, aber dann zucke ich vor Schmerzen zusammen. »Langsam.« Er streichelt mein Gesicht, während der Schmerz nachlässt. »Du musst mal damit aufhören, dich immer in Gefahr zu bringen.«

»Ich weiß. Nur, da hatte jemand einen Berg in die Luft gejagt«, sage ich.

Anstatt zurückzuweichen, beugt er sich näher zu mir und schaut mich prüfend an. »Du hältst mich für herzlos.«

»Ich weiß, dass du das nicht bist. Aber in Ordnung finde ich es trotzdem nicht.«

Jetzt weicht er zurück, fast ungeduldig. »Katniss, ist es nicht das Gleiche, ob wir unsere Feinde in einem Bergwerk vernichten oder ob wir sie mit einem von Beetees Pfeilen vom Himmel schießen? Im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus.«

»Ich weiß nicht. Erstens wurden wir in Distrikt 8 angegriffen. Das Lazarett wurde angegriffen«, sage ich.

»Ja, und die Hoverplanes kamen aus Distrikt 2«, sagt er. »Indem wir sie ausgeschaltet haben, haben wir weitere Angriffe verhindert.«

»Aber mit dieser Logik könntest du es immer rechtfertigen, jemanden zu töten. Dann könntest du es auch rechtfertigen, junge Leute in die Hungerspiele zu schicken, um zu verhindern, dass die Distrikte aus dem Ruder laufen«, sage ich.

»Das glaube ich einfach nicht«, sagt er. »Ich schon«, sage ich. »Muss wohl an den Ausflügen in die Arena liegen.«

»Also schön. Im Streiten sind wir wirklich große Klasse«, sagt er. »Das waren wir schon immer. Vielleicht ist das gut so. Ganz im Vertrauen, Distrikt 2 gehört jetzt uns.«

»Wirklich?« Ganz kurz verspüre ich Triumph. Dann denke ich an die Menschen auf dem Platz. »Gab es noch Widerstand, nachdem ich angeschossen wurde?«

»Kaum. Die Arbeiter aus der Nuss sind auf die Soldaten des Kapitols losgegangen. Die Rebellen haben nur dagesessen und zugeschaut«, sagt er. »Im Grunde hat das ganze Land nur dagesessen und zugeschaut.«

»Ja, das können sie richtig gut«, sage ich.

Man sollte meinen, dass man sich nach dem Verlust eines wichtigen Organs erst mal ein paar Wochen ausruhen dürfte, aber aus irgendeinem Grund wollen die Ärzte, dass ich so schnell wie möglich aufstehe und mich bewege. Selbst unter Morfix sind die inneren Schmerzen an den ersten Tagen heftig, aber dann lassen sie deutlich nach. Die geprellten Rippen dagegen tun noch länger weh. Allmählich bereue ich es, dass ich Johanna von meinem Morfix abgebe, trotzdem lasse ich es weiterhin zu, dass sie sich bedient.

Gerüchte über meinen Tod haben die Runde gemacht, deshalb schickt man ein Kamerateam an mein Krankenbett. Ich prahle mit meinen genähten Wunden und den beeindruckenden Prellungen und gratuliere den Distrikten zu ihrem erfolgreichen Kampf für die Einheit. Dann kündige ich dem Kapitol an, dass sie bald mit uns rechnen können.

Zu meiner Rehabilitation gehören kleine Spaziergänge an der frischen Luft. Eines Nachmittags gesellt sich Plutarch dazu und klärt mich über die aktuelle Lage auf. Jetzt, da Distrikt 2 sich mit uns verbündet hat, gönnen sich die Rebellen eine Verschnaufpause vom Krieg, um sich neu zu formieren. Sie sichern die Nachschublinien, pflegen die Verwundeten, ordnen ihre Truppen neu. Wie Distrikt 13 während der Dunklen Tage ist jetzt das Kapitol von fremder Hilfe völlig abgeschnitten und droht den Feinden mit einem Nuklearangriff. Im Gegensatz zu 13 damals ist das Kapitol nicht in der Position, sich neu zu erfinden und autark zu werden.

»Ach, die Stadt wird sich schon eine Weile durchschlagen«, sagt Plutarch. »Bestimmt haben sie Vorräte für den Notfall gebunkert. Der entscheidende Unterschied zwischen 13 und dem Kapitol liegt in den Erwartungen der Bevölkerung. Distrikt 13 war an Entbehrungen schon lange gewöhnt, während sie im Kapitol nur Panem et Circenses kennen.«

»Was heißt das?« Ich habe nur Panem verstanden.

»Das ist ein Spruch, der schon Tausende Jahre alt ist, verfasst in einer Sprache namens Latein über eine Stadt namens Rom«, erklärt er. »Panem et Circenses kann man übersetzen als >Brot und Spiele<. Der Verfasser wollte damit ausdrücken, dass das Volk im Tausch gegen einen vollen Bauch und Unterhaltung seine politische Verantwortung und damit seine Macht hergegeben habe.«

Ich denke an das Kapitol. Den Überfluss. Und die ultimative Unterhaltung. Die Hungerspiele. »Dafür sind die Distrikte also da. Um Brot und Spiele zu liefern.«

»Ja. Und solange das hereinkam, konnte das Kapitol sein kleines Reich beherrschen. Jetzt aber wird keins von beiden mehr geliefert, jedenfalls nicht in dem Maß, wie die Leute es gewohnt sind«, sagt Plutarch. »Wir dagegen haben zu essen, und ich werde einen Unterhaltungspropo inszenieren, der bestimmt gut ankommt. Eine Hochzeit gefällt schließlich jedem.«

Ich erstarre. Bei dem Gedanken daran, was er da vorschlägt - eine perverse Hochzeit zwischen Peeta und mir zu veranstalten -, wird mir ganz elend. Seit ich zurück bin, habe ich es noch nicht über mich gebracht, vor den Einwegspiegel zu treten, und ich habe darum gebeten, dass nur Haymitch mich über Peetas Zustand auf dem Laufenden hält. Er erzählt mir sehr wenig. Sie probieren verschiedene Methoden aus. Sie werden Peeta niemals ganz heilen können. Und jetzt wollen sie, dass ich ihn für einen Propo heirate?

Plutarch beeilt sich, mich zu beruhigen. »Aber Katniss! Doch nicht deine Hochzeit. Die von Finnick und Annie. Du brauchst nur zu kommen und so zu tun, als würdest du dich für die beiden freuen.«

»Da brauche ich ausnahmsweise gar nicht so zu tun, als ob«, sage ich.

Die nächsten Tage stehen ganz unter dem Zeichen des bevorstehenden Ereignisses und sind dementsprechend hektisch. Durch das Ereignis werden die Unterschiede zwischen dem Kapitol und Distrikt 13 erst richtig deutlich. Wenn Coin »Hochzeit« sagt, meint sie damit, dass zwei Menschen ein Formular unterschreiben und eine neue Wohneinheit zugewiesen bekommen. Plutarch dagegen schwebt vor, dass Hunderte von Menschen in schönen Kleidern ein dreitägiges Fest feiern. Es ist lustig, wie sie über die Einzelheiten zanken. Plutarch muss um jeden Gast, jedes Musikstück feilschen. Nachdem Coin Abendessen, Unterhaltung und Alkohol abgelehnt hat, brüllt Plutarch: »Wozu sollen wir einen Propo machen, wenn sich niemand amüsiert!«

Es ist schwierig, einen Spielmacher zum Sparen anzuhalten. Doch selbst eine stille Feier sorgt für Aufruhr in Distrikt 13, wo es überhaupt keine Feiertage zu geben scheint. Als es heißt, es würden Kinder gesucht, die das Hochzeitslied von Distrikt 4 singen sollen, melden sich fast alle. Auch beim Basteln der Dekoration mangelt es nicht an Freiwilligen. Im Speisesaal gibt es kein anderes Gesprächsthema als die bevorstehende Hochzeit.

Vielleicht geht es nicht nur um das Fest. Vielleicht sehnen wir uns einfach alle bloß danach, dass etwas Schönes passiert, und wollen daran teilhaben. Das würde erklären, weshalb ich - als Plutarch beim Thema Brautkleid ausflippt - mich bereit erkläre, Annie mit zu meinem Haus in Distrikt 12 zu nehmen, wo in einem großen Wandschrank im Erdgeschoss mehrere von Cinnas Abendkleidern hängen. Die vielen Hochzeitskleider, die er für mich entworfen hat, sind wieder im Kapitol gelandet, doch von den Kleidern, die ich auf der Tour der Sieger getragen habe, sind noch ein paar da. Ich bin in Annies Gegenwart etwas auf der Hut, denn ich weiß über sie eigentlich nur, dass Finnick sie liebt und alle sie für verrückt halten. Während des Flugs komme ich jedoch zu dem Schluss, dass sie eher labil ist als verrückt. Sie lacht an unpassenden Stellen und bricht das Gespräch zerstreut ab. Mit ihren grünen Augen starrt sie so intensiv auf einen Punkt, dass man sich fragt, was sie dort in der Luft sieht. Manchmal hält sie sich ohne Grund die Ohren zu, als wollte sie ein schmerzhaftes Geräusch ausblenden. Merkwürdig ist sie tatsächlich, aber wenn Finnick sie liebt, reicht mir das.

Ich durfte mein Vorbereitungsteam mitnehmen, muss also in Modefragen keine Entscheidungen treffen. Als ich den Wandschrank öffne, verschlägt es uns allen die Sprache. Cinnas Gegenwart ist in den fließenden Stoffen deutlich zu spüren. Octavia sinkt auf die Knie, streicht sich mit dem Saum eines Rocks über die Wange und bricht in Tränen aus. »Es ist so lange her«, stößt sie hervor, »dass ich etwas Schönes gesehen habe.«

Obwohl Coin die Hochzeit zu extravagant findet und Plutarch zu glanzlos, wird sie ein Riesenerfolg. Die dreihundert handverlesenen Gäste aus Distrikt 13 und die vielen Flüchtlinge tragen ihre Alltagskleider, die Dekoration ist aus Herbstblättern gebastelt, und die Musik wird von einem Kinderchor besorgt, begleitet von einem einsamen Geigenspieler, der mit seinem Instrument aus Distrikt 12 fliehen konnte. Nach den Maßstäben des Kapitols ist es eine schlichte, bescheidene Feier. Aber das spielt keine Rolle, denn die Schönheit des Paars ist unvergleichlich. Nicht wegen ihres Aufzugs - Annie trägt das grüne Seidenkleid, das ich in Distrikt 5 anhatte, Finnick einen von Peetas Anzügen, der geändert worden ist. Doch wer könnte an den strahlenden Gesichtern zweier Menschen vorbeisehen, denen dieser Tag einmal unerreichbar schien? Die Zeremonie wird von Dalton, dem Viehzüchter aus Distrikt 10, geleitet, da die Bräuche von 4 und seinem Distrikt ähnlich sind. Aber manches ist auch ganz einmalig in 4. Ein aus langen Grashalmen gewebtes Netz, das die beiden während des Heiratsversprechens bedeckt, das Berühren der Lippen des anderen mit Salzwasser und das alte Hochzeitslied, in dem die Ehe mit einer Schiffsreise verglichen wird.

Nein, ich brauche nicht nur so zu tun, als würde ich mich für sie freuen.

Nach dem Kuss, der den Bund besiegelt, den Hochrufen und dem Umtrunk mit Apfelwein spielt der Geiger eine Melodie, die alle Köpfe aus 12 herumfahren lässt. Wir waren zwar der kleinste und ärmste Distrikt von Panem, aber tanzen können wir. Offiziell ist an dieser Stelle nichts geplant, doch Plutarch, der von der Regie einen Propo haben will, drückt bestimmt die Daumen. Tatsächlich nimmt Greasy Sae Gale bei der Hand, zieht ihn in die Mitte und stellt sich ihm gegenüber. Andere Paare strömen auf die Tanzfläche, machen es den beiden nach und bilden zwei lange Reihen. Und dann beginnt der Tanz.

Ich stehe am Rand und klatsche den Rhythmus mit, als mich eine knochige Hand über dem Ellbogen anstößt. Johanna sieht mich böse an. »Willst du dir die Gelegenheit entgehen lassen, dass Snow dich tanzen sieht?« Sie hat recht. Was könnte den Sieg lauter verkünden als ein Spotttölpel, der fröhlich zu der Musik herumwirbelt? In der Menge entdecke ich Prim. An den Winterabenden hatten wir immer viel Zeit zum Üben, deshalb tanzen wir ganz gut zusammen. Ich wische ihre Bedenken wegen meiner Rippen beiseite und wir stellen uns in der Reihe auf. Das Tanzen tut zwar weh, aber im Vergleich zu der Genugtuung, dass Snow mich mit meiner kleinen Schwester tanzen sieht, erscheint alles andere nichtig.

Der Tanz verwandelt uns. Wir bringen den Gästen aus Distrikt 13 die Schritte bei. Bestehen auf einem bestimmten Stück für Braut und Bräutigam. Fassen uns an den Händen und bilden einen großen wirbelnden Kreis, in dem wir zeigen, was wir können. So lange hat es nichts vergleichbar Albernes, Lustiges, Vergnügtes gegeben. Es könnte die ganze Nacht so weitergehen, wäre da nicht noch etwas in Plutarchs Propo vorgesehen. Ich habe nichts davon mitbekommen, aber es sollte ja auch eine Überraschung sein.

Aus einem Nebenraum schieben vier Leute eine riesige Hochzeitstorte herein. Die meisten Gäste weichen zur Seite, sie machen Platz für dieses Wunder, diese umwerfende Kreation mit blaugrünen, schaumgekrönten Zuckergusswellen, in denen sich Fische und Segelboote, Robben und Seeanemonen tummeln. Ich zwänge mich durch die Menge, um die Bestätigung für das zu bekommen, was ich auf den ersten Blick erkannt habe. So sicher, wie die Stickerei auf Annies Kleid von Cinna gefertigt wurde, so sicher stammen die Zuckergussverzierungen von Peeta.

Das mag eine Kleinigkeit sein, aber es spricht Bände. Haymitch hat mir eine ganze Menge verheimlicht. Der Peeta, den ich vor Wochen zuletzt gesehen habe, der sich die Seele aus dem Leib schrie und seine Fesseln zu sprengen versuchte, hätte das nie zustande gebracht. Hätte sich niemals so konzentrieren, die Hände so ruhig halten und etwas so Vollkommenes für Finnick und Annie entwerfen können. Als hätte er meine Reaktion schon vorausgesehen, ist Haymitch an meiner Seite.

»Wir zwei müssen uns mal unterhalten«, sagt er.

Draußen im Flur, abseits der Kameras, frage ich: »Was ist los mit ihm?«

Haymitch schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht. Wir wissen es alle nicht. Manchmal ist er fast vernünftig und dann rastet er ohne jeden Grund wieder aus. Das mit der Torte war eine Art Therapie. Er hat tagelang daran gearbeitet. Wenn man ihm dabei zusah, konnte man meinen, er wäre fast wieder der Alte.«

»Dann darf er sich jetzt frei bewegen?«, frage ich. Die Vorstellung macht mich in mehr als einer Hinsicht nervös.

»Oh nein. Während er den Zuckerguss gemacht hat, wurde er streng bewacht. Er ist immer noch hinter Schloss und Riegel. Aber ich habe mit ihm gesprochen«, sagt Haymitch.

»Persönlich?«, frage ich. »Und er ist nicht durchgedreht?«

»Nein. War ziemlich sauer auf mich, allerdings zu Recht. Weil ich ihm nichts von dem Komplott der Rebellen gesagt hatte und was weiß ich noch alles.« Haymitch hält kurz inne, als wäre er unschlüssig. »Er sagt, er würde dich gern sehen.«

Ich stehe auf einem Segelboot aus Zuckerguss, schwankend in blaugrünen Wellen, und das Deck kippt unter meinen Füßen. Ich presse die Hände gegen die Wand, um sicheren Halt zu haben. So hatten wir nicht gewettet. In Distrikt 2 hatte ich Peeta abgeschrieben. Als Nächstes wollte ich ins Kapitol, Snow töten und mich selbst umbringen lassen. Dass ich angeschossen wurde, war nur ein kurzzeitiger Rückschlag. Die Worte Er sagt, er würde dich gern sehen kamen in meinem Plan nicht vor. Aber jetzt, da ich sie gehört habe, kann ich nicht Nein sagen.

Um Mitternacht stehe ich vor der Tür zu seiner Zelle. Seinem Krankenzimmer. Wir mussten noch auf Plutarch warten, der seine Hochzeitsaufnahmen haben wollte. Obwohl, wie er sagt, der Glamour fehlt, ist er sehr zufrieden. »Ein Gutes hat es ja, dass das Kapitol Distrikt 12 all die Jahre praktisch ignoriert hat - ihr habt euch eine gewisse Spontaneität bewahrt. Damit packt man das Publikum. So wie damals, als Peeta verkündet hat, dass er in dich verliebt ist, oder als ihr den Trick mit den Beeren gebracht habt. So macht man gutes Fernsehen.«

Ich würde mich mit Peeta gern allein treffen. Doch die zuschauenden Ärzte haben sich schon mit ihren Klemmbrettern und gezückten Stiften hinter dem Einwegspiegel versammelt. Als Haymitch mir über das Headset das Signal gibt, öffne ich langsam die Tür.

Sofort schaut er mich mit diesen blauen Augen an. An jedem Arm ist er an drei Stellen fixiert, und durch einen Schlauch kann ihm, falls er ausrastet, jederzeit ein starkes Narkotikum verabreicht werden. Er versucht aber gar nicht, sich zu befreien, beobachtet mich nur mit dem wachsamen Blick eines Menschen, der immer noch nicht recht weiß, ob er sich in der Gegenwart einer Mutation befindet. Ich gehe auf ihn zu, bis ich etwa einen Meter neben seinem Bett stehe. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen, deshalb verschränke ich die Arme vor der Brust, bevor ich etwas sage. »Hallo.«

»Hallo«, sagt er. Das klingt wie seine Stimme, fast seine Stimme, nur dass etwas Neues darin liegt. Eine Spur von Misstrauen und Vorwurf.

»Haymitch hat gesagt, du willst mit mir sprechen«, sage ich.

»Erst mal anschauen, für den Anfang.« Als wartete er darauf, dass ich mich vor seinen Augen in ein geiferndes Zwischending aus Wolf und Mensch verwandele. Er starrt mich so lange an, bis ich verstohlen zu dem Einwegspiegel schaue und auf irgendeine Anweisung von Haymitch hoffe, doch mein Headset bleibt stumm. »Du bist nicht sehr kräftig, was? Und auch nicht besonders hübsch.«

Ich weiß, dass er durch die Hölle gegangen ist, aber diese Bemerkung geht mir gegen den Strich. »Tja, du hast auch schon mal besser ausgesehen.«

Haymitchs Rat zurückzuweichen wird von Peetas Lachen übertönt. »Und freundlich bist du schon gar nicht. So was zu sagen, nach allem, was ich durchgemacht habe.«

»Wir haben alle eine Menge durchgemacht. Und du warst ja immer schon der Nette von uns beiden.« Ich mache alles falsch. Ich weiß nicht, warum ich so bockig bin. Er ist gefoltert worden! Er ist eingewebt worden! Was ist mit mir los? Auf einmal habe ich das Gefühl, dass ich ihn anschreien könnte, und ich weiß noch nicht mal, weshalb. Ich beschließe, den Raum zu verlassen. »Hör mal, mir geht es nicht so gut. Vielleicht komme ich morgen noch mal vorbei.«

Ich bin gerade an der Tür, als seine Stimme mich zurückhält. »Katniss. Ich erinnere mich an die Sache mit dem Brot.«

Das Brot. Die einzige richtige Verbindung, die es vor den Hungerspielen zwischen uns gab.

»Dann haben sie dir die Aufnahme gezeigt, in der ich davon erzähle«, sage ich.

»Nein. Gibt es eine Aufnahme, in der du davon erzählst? Wieso hat das Kapitol die nicht gegen mich verwendet?«, fragt er.

»Ach ja, die wurde erst an dem Tag gemacht, als du gerettet wurdest«, sage ich. Wie ein Schraubstock windet sich der Schmerz in meiner Brust um meine Rippen. Ich hätte nicht tanzen sollen. »Woran erinnerst du dich da?«

»An dich. Im Regen«, sagt er leise. »Du hast unsere Abfalleimer durchsucht. Ich hab das Brot anbrennen lassen. Meine Mutter hat mich geschlagen. Ich hab das Brot raus zu dem Schwein gebracht, aber dann hab ich es dir gegeben.«

»Ja, das stimmt. So ist es gewesen«, sage ich. »Am nächsten Tag nach der Schule wollte ich dir danken. Aber ich wusste nicht, wie.«

»Nach Schulschluss haben wir uns draußen gesehen. Ich suchte deinen Blick. Du hast weggeschaut. Und dann … hast du aus irgendeinem Grund eine Löwenzahnblüte gepflückt.« Ich nicke. Er weiß es noch. Ich habe noch nie über diesen Augenblick gesprochen. »Ich muss dich sehr geliebt haben.«

»Ja.« Meine Stimme stockt, und ich tue so, als müsste ich husten.

»Und hast du mich geliebt?«, fragt er.

Ich schaue immer noch auf die Bodenfliesen. »Das sagen alle. Alle sagen, deshalb hätte Snow dich gefoltert. Um mich zu brechen.«

»Das ist keine Antwort«, sagt er. »Bei einigen Filmaufnahmen weiß ich nicht, was ich davon halten soll. In der ersten Arena hat es so ausgesehen, als ob du mich mit den Jägerwespen umbringen wolltest.«

»Ich wollte euch alle umbringen«, sage ich. »Ihr hattet mich auf den Baum gejagt.«

»Später dann all die Küsse. Von deiner Seite aus wirken die nicht besonders echt. Hast du mich gern geküsst?«, fragt er.

»Manchmal«, gebe ich zu. »Weißt du, dass wir in diesem Moment beobachtet werden?«

»Ich weiß. Was ist mit Gale?«, fragt er weiter.

Jetzt werde ich wieder ärgerlich. Peetas Genesung hin oder her - das geht die Leute hinter der Scheibe nichts an. »Der küsst auch nicht schlecht«, sage ich kurz angebunden.

»Und das war für ihn und mich in Ordnung? Dass du noch einen anderen geküsst hast?«, fragt er.

»Nein. Das war für keinen von euch in Ordnung. Aber ich hab euch nicht um Erlaubnis gefragt«, sage ich.

Wieder lacht Peeta, kalt und abschätzig. »Du bist ein richtiges Biest, was?«

Haymitch erhebt keinen Einspruch, als ich hinauslaufe. Den Flur entlang. Durch das Gewirr von Wohneinheiten. In einem Wäscheraum verstecke ich mich hinter einer warmen Rohrleitung. Es dauert lange, bis ich dahinterkomme, weshalb ich so aufgebracht bin. Als ich es begreife, schäme ich mich fast zu sehr, um es mir einzugestehen. Die Zeit, in der ich es für selbstverständlich nehmen konnte, dass Peeta mich anhimmelt, ist vorbei. Endlich sieht er mich so, wie ich wirklich bin. Brutal. Misstrauisch. Eigennützig. Lebensgefährlich.

Und das nehme ich ihm richtig übel.

17

Völlig überrumpelt. So komme ich mir vor, als Haymitch es mir in der Krankenstation sagt. Ich sause die Treppe zur Kommandozentrale hinunter, meine Gedanken überschlagen sich und ich platze mitten in eine Kriegsbesprechung hinein.

Загрузка...