Suzanne Collins

Die Tribute von PANEM

Flammender Zorn

Deutsch von Sylke Hachmeister und Peter Klöss




Teil 1

Die Asche

1

Ich stehe da und schaue zu, wie sich eine dünne Ascheschicht auf meine abgetragenen Lederschuhe legt. Hier war das Bett, das ich früher einmal mit meiner Schwester Prim geteilt habe. Da drüben stand der Küchentisch. Die Ziegel des Kamins, der eingestürzt ist und nun als verkohlter Haufen daliegt, dienen mir als Orientierung im Haus. Wie sollte ich mich sonst in dieser grauen Wüste zurechtfinden?

Von Distrikt 12 ist praktisch nichts mehr übrig. Vor einem Monat haben die Brandbomben des Kapitols die armseligen Häuser der Minenarbeiter im Saum ausradiert, die Geschäfte in der Stadt, selbst das Gerichtsgebäude. Nur das Dorf der Sieger blieb von der Vernichtung verschont. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, damit es als Unterkunft für den einen oder anderen dient, der vom Kapitol hergeschickt wird. Ein einsamer TV-Reporter zum Beispiel. Oder eine Expertengruppe, die den Zustand der Kohleminen beurteilen soll. Ein Trupp Friedenswächter, der nach heimkehrenden Flüchtlingen sucht.

Doch niemand ist zurückgekommen, außer mir. Und das auch nur kurz. Die Regierenden von Distrikt 13 waren dagegen, dass ich noch mal herkomme. Sie sahen darin ein kostspieliges und sinnloses Wagnis, denn mindestens ein Dutzend unsichtbare Hovercrafts schwirren zu meinem Schutz über mir, und neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten. Aber ich musste es einfach sehen. So sehr, dass ich das zur Bedingung dafür gemacht habe, bei ihren Plänen mitzuwirken.

Schließlich gab Plutarch Heavensbee, der Oberste Spielmacher, der die Rebellenorganisation im Kapitol angeführt hat, sich geschlagen: »Lasst sie doch hinfahren. Lieber einen Tag verlieren als noch einen Monat. Vielleicht braucht sie die kleine Tour nach 12 einfach, um sich davon zu überzeugen, dass wir auf derselben Seite stehen.«

Dieselbe Seite. Ein stechender Schmerz durchzuckt meine linke Schläfe, ich presse die Hand dagegen. Es ist die Stelle, wo Johanna Mason mich mit der Drahtrolle getroffen hat. Die Erinnerungen verschwimmen, während ich versuche herauszufinden, was wahr ist und was falsch. Welche Abfolge von Ereignissen hat dazu geführt, dass ich hier in den Ruinen meiner Heimatstadt stehe? Keine leichte Frage, denn die Gehirnerschütterung klingt noch immer nach, und noch immer neigen meine Gedanken dazu, durcheinanderzugeraten. Und die Medikamente, die sie mir geben, um Schmerzen und Stimmung zu regulieren, führen manchmal dazu, dass ich Dinge sehe. Glaube ich wenigstens. So ganz bin ich immer noch nicht davon überzeugt, dass es eine Halluzination war, als sich der Boden der Krankenstation neulich nachts in einen Teppich aus sich windenden Schlangen verwandelte.

Ich wende die Technik an, die einer der Arzte mir empfohlen hat. Ich fange mit den einfachen Dingen an, von denen ich weiß, dass sie wahr sind, und arbeite mich dann zu den komplizierten vor. In meinem Kopf gehe ich die Liste durch …

Ich heiße Katniss Everdeen. Ich bin siebzehn Jahre alt. Meine Heimat ist Distrikt 12. Ich war in den Hunger spielen. Ich bin geflohen. Das Kapitol hasst mich. Peeta wurde gefangen genommen. Man geht davon aus, dass er tot ist. Höchstwahrscheinlich ist er tot. Es wäre für alle das Beste, wenn er tot ist…

»Katniss. Soll ich zu dir runterkommen?« Durch das Headset, auf dem die Rebellen bestanden haben, dringt Gales Stimme zu mir. Gale ist mein bester Freund. Er sitzt oben in einem Hovercraft und wacht über mich, bereit zum Sturzflug, falls irgendwas nicht stimmen sollte. Erst jetzt merke ich, dass ich auf dem Boden kauere, Ellbogen auf den Oberschenkeln, Kopf zwischen den Händen. Vielleicht sehe ich so aus, als ob ich gleich zusammenbreche. Aber das darf ich nicht. Nicht jetzt, da sie endlich die Medikamente absetzen wollen.

Ich richte mich auf. »Nein. Mir geht’s gut«, sage ich. Zur Bekräftigung kehre ich meinem alten Haus den Rücken zu und gehe in Richtung Stadt. Gale wollte zusammen mit mir in Distrikt 12 abgesetzt werden, aber als ich seine Gesellschaft ablehnte, hat er nicht weiter darauf bestanden. Er versteht, dass ich heute niemanden in meiner Nähe haben möchte. Nicht mal ihn. Manche Wege muss man allein gehen.

Der Sommer war glühend heiß und knochentrocken. Die Aschehaufen, die der Angriff hinterlassen hat, blieben nahezu unberührt von Regentropfen. Meine Schritte lassen sie einstürzen und an anderer Stelle wiedererstehen. Kein Windstoß zerstreut sie. Ich hefte den Blick fest auf die Straße, die in meiner Erinnerung hier einmal verlaufen ist. Vorhin, als ich auf der Weide gelandet bin, habe ich nicht aufgepasst und bin gegen einen Stein gestoßen. Nur dass es kein Stein war, sondern ein Totenschädel. Er kullerte davon und blieb mit dem Gesicht nach oben liegen, und lange konnte ich den Blick nicht von den Zähnen wenden, die ganze Zeit fragte ich mich, wem sie wohl mal gehört haben. Meine würden unter solchen Umständen wohl ganz ähnlich aussehen.

Aus Gewohnheit bleibe ich auf der Straße, aber das ist keine gute Idee, denn überall liegen Überreste der Menschen, die versucht haben zu fliehen. Einige wurden vollständig eingeäschert. Andere, die wahrscheinlich im Qualm erstickt sind, entkamen der schlimmsten Feuersbrunst und liegen nun in unterschiedlichen Stadien der Verwesung da und stinken vor sich hin, bedeckt mit Fliegen, Beute für die Aasfresser. Ich habe dich getötet, denke ich, während ich an den Haufen vorbeigehe. Und dich. Und dich.

Denn das habe ich. Es war mein Pfeil, abgeschossen auf den wunden Punkt im Kraftfeld um die Arena, der diesen Feuersturm der Vergeltung verursacht, ganz Panem ins Chaos gestürzt hat.

In meinem Kopf hallen die Worte von Präsident Snow nach, die er an dem Morgen sprach, als die Tour der Sieger begann: »Katniss Everdeen, das Mädchen, das in Flammen stand - von dir ist ein Funke ausgegangen, der sich, wenn wir uns nicht darum kümmern, zu einem Inferno auswachsen könnte, das Panem zerstört.« Man sieht, er hat nicht übertrieben oder geblufft, um mich einzuschüchtern. Vielleicht wollte er mich wirklich nur einbinden, meine Hilfe gewinnen. Aber das, was ich in Gang gesetzt hatte, ließ sich nicht mehr kontrollieren.

Feuer, immer neues Feuer, denke ich benommen. In der Ferne stoßen die Brände in den Kohleminen schwarzen Rauch aus. Doch es ist niemand mehr da, der sich darum kümmern könnte. Neunzig Prozent der Bevölkerung im Distrikt sind tot. Die verbliebenen etwa achthundert Menschen leben als Flüchtlinge in Distrikt 13 - was, soweit es mich betrifft, im Grunde bedeutet, heimatlos zu sein.

So dürfte ich nicht denken, ich weiß. Ich müsste dankbar dafür sein, wie wir - krank, verletzt, hungernd und mit leeren Händen - dort aufgenommen wurden. Trotzdem kann ich einfach nicht verdrängen, dass Distrikt 13 an der Zerstörung von 12 maßgeblich beteiligt war. Das nimmt mir bestimmt nicht meine Schuld - ich habe viel Schuld auf mich geladen. Aber ohne die Rebellen wäre ich nicht Teil eines größeren Plans zum Sturz des Kapitols geworden, ich hätte gar nicht die Mittel dazu gehabt.

Die Bürger von Distrikt 12 besaßen keine eigene organisierte Widerstandsbewegung. Sie hatten mit alldem nichts zu tun. Sie hatten nur das Pech, dass sie mich hatten. Manche der Überlebenden sind glücklich, endlich weg zu sein aus Distrikt 12, in Freiheit. Den ewigen Hunger und die Unterdrückung hinter sich gelassen zu haben, die gefahrvollen Minen, die Peitsche von Romulus Thread, dem letzten Obersten Friedenswächter von Distrikt 12. Sie betrachten es als Wunder, dass sie überhaupt ein neues Zuhause haben, denn bis vor Kurzem wussten wir nicht mal, dass es Distrikt 13 überhaupt noch gibt.

Das Verdienst der Flucht gebührt nach einhelliger Meinung Gale, obwohl er sich sträubt, das zu akzeptieren. Sobald das Jubel-Jubiläum vorbei war - das heißt, sobald ich aus der Arena gezogen worden war -, wurde in Distrikt 12 der Strom abgestellt, die Bildschirme wurden schwarz, und im Saum wurde es so still, dass die Leute den Herzschlag ihres Nachbarn hören konnten. Niemand regte sich, um zu protestieren oder das Geschehen in der Arena zu bejubeln. Trotzdem tauchten binnen einer Viertelstunde am Himmel Hoverplanes auf und es hagelte Bomben.

Gale hatte die Idee mit der Weide, einem der wenigen Orte im Distrikt, die nicht mit alten, in Kohlenstaub eingebetteten Holzhäusern bebaut waren. Dorthin trieb er so viele Leute, wie er konnte, einschließlich meiner Mutter und Prim. Er stellte eine Gruppe zusammen, die den Zaun niederriss - der nun, da der Strom fehlte, nur noch aus harmlosem Maschendraht bestand -, und führte die Menschen in den Wald. Er brachte sie an den einzigen Ort, der ihm einfiel: den See, den mein Vater mir als Kind gezeigt hat. Von dort aus schauten sie zu, wie in der Ferne die Flammen alles, was sie von der Welt kannten, verschlangen.

Als der Morgen graute, waren die Bomber längst wieder verschwunden, die Feuer erstarben, die letzten Nachzügler waren eingesammelt. Meine Mutter und Prim hatten ein Krankenlager eingerichtet und versuchten, die Verletzten mit dem zu behandeln, was sie im Wald fanden. Gale besaß zwei Ausrüstungen mit Pfeil und Bogen, ein Jagdmesser sowie ein Fischernetz, und damit mussten er und diejenigen, die kräftig genug waren, mehr als achthundert verschreckte Menschen ernähren. Drei Tage hielten sie so durch. Dann tauchte plötzlich aus heiterem Himmel ein Hovercraft auf und brachte sie nach Distrikt 13, wo es zahllose saubere weiße Wohneinheiten, ausreichend Kleidung und drei Mahlzeiten am Tag gab. Die Wohneinheiten hatten den Schönheitsfehler, dass sie unterirdisch angelegt waren, die Kleidung war für alle gleich und das Essen schmeckte praktisch nach nichts, doch die Flüchtlinge aus Distrikt 12 kümmerte das alles nicht. Sie waren in Sicherheit. Jemand sorgte sich um sie. Sie waren am Leben und wurden überschwänglich willkommen geheißen.

Diese Begeisterung wurde allgemein als Freundlichkeit interpretiert. Doch ein Mann namens Dalton, ein Flüchtling aus Distrikt 10, der es ein paar Jahre zuvor zu Fuß nach 13 geschafft hatte, verriet mir das wahre Motiv. »Sie brauchen uns. Dich, mich, uns alle. Vor einer Weile hatten sie hier eine Pockenepidemie oder so, der viele zum Opfer gefallen sind, und die meisten der Überlebenden wurden unfruchtbar. Neues Zuchtvieh, das sind wir für sie.« Dalton hatte in seinem Heimatdistrikt auf einer Rinderfarm gearbeitet und die genetische Vielfalt der Herde gesichert, indem er den Kühen tiefgefrorene Embryonen einpflanzte. Ich vermute stark, er hat recht mit Distrikt 13, denn Kinder sieht man dort so gut wie keine. Aber was soll’s? Wir leben ja nicht eingepfercht, wir werden angelernt, um zu arbeiten, die Kinder gehen zur Schule. Die über Vierzehnjährigen wurden in die Armee aufgenommen und werden respektvoll mit »Soldat« angesprochen. Jeder Flüchtling hat automatisch die Staatsbürgerschaft von Distrikt 13 bekommen.

Trotzdem, ich hasse sie. Aber inzwischen hasse ich ja fast alle. Am meisten mich selbst.

Der Boden unter meinen Füßen wird auf einmal hart und unter dem Ascheteppich spüre ich die Pflastersteine des Platzes. Ringsum, wo einst die Geschäfte standen, sieht man eine flache Begrenzung aus Trümmern. Ein rußgeschwärzter Schutthaufen erhebt sich dort, wo einmal das Gerichtsgebäude war. Ich gehe weiter zu der Stelle, wo die Bäckerei von Peetas Familie gestanden haben muss. Es ist kaum mehr davon übrig als ein geschmolzener Klumpen, da, wo früher der Ofen stand. Peetas Eltern, seine beiden älteren Brüder - keiner von ihnen hat es nach 13 geschafft. Kaum ein Dutzend derjenigen, die in Distrikt 12 einmal als die Wohlhabenden galten, sind dem Feuer entkommen. Es wäre also sowieso nichts mehr da, wohin Peeta zurückkommen könnte. Außer mir …

Ich gehe weiter und stoße gegen etwas, verliere das Gleichgewicht und sitze plötzlich auf einem Metallbrocken, den die Sonne erwärmt hat. Ich grübele, was es gewesen sein könnte, dann fällt mir ein, dass Thread den Platz bei seinem Amtsantritt hat umgestalten lassen. Pfähle, Pranger und das hier, die Galgen - oder was davon übrig geblieben ist. Schlecht. Ganz schlecht. Das ruft wieder die Flut der Bilder hervor, die mich quälen, ob ich wach bin oder schlafe. Peeta, der gefoltert wird - ertränkt, verbrannt, zerfleischt, mit Stromstößen gequält, verstümmelt, geschlagen -, während das Kapitol versucht, Informationen über die Rebellion aus ihm herauszuholen, die er gar nicht hat. Ich mache die Augen ganz fest zu und versuche, ihn über die vielen Hundert Meilen hinweg zu erreichen, ihm meine Gedanken zu übertragen, um ihm zu sagen, dass er nicht allein ist. Aber er ist es. Und ich kann ihm nicht helfen.

Schnell weg. Fort von dem Platz, an den einzigen Ort, den das Feuer nicht zerstört hat. Ich gehe an der Ruine des Bürgermeisterhauses vorbei, wo meine Freundin Madge einst lebte. Keine Nachricht über ihren Verbleib oder den ihrer Familie. Wurden sie dank der Position ihres Vaters ins Kapitol evakuiert oder hat man sie den Flammen überlassen? Aschewolken wirbeln rings um mich auf und ich ziehe mir den Hemdkragen über den Mund. Es ist nicht die Frage, was ich einatme, die mir die Kehle zuschnürt, sondern wen.

Der Rasen ist versengt, der graue Schnee ist auch hier gefallen, doch die zwölf schönen Häuser im Dorf der Sieger sind unversehrt. Ich stürze in das Haus, in dem ich das ganze letzte Jahr über gelebt habe, schlage die Tür hinter mir zu und lehne mich dagegen. Alles scheint unberührt. Sauber. Gespenstisch still. Wieso bin ich nach Distrikt 12 zurückgekehrt? Wie sollte dieser Besuch mir dabei helfen, die Frage zu beantworten, der ich nicht ausweichen kann?

»Was soll ich tun?«, flüstere ich den Wänden zu. Ich weiß es wirklich nicht.

Die Leute reden auf mich ein, sie reden, reden, reden. Plutarch Heavensbee. Seine berechnende Assistentin, Fulvia Cardew. Eine bunte Truppe von Anführern aus den Distrikten. Militärs. Ausgenommen Alma Coin, die Präsidentin von Distrikt 13, die alles bloß beobachtet. Sie ist um die fünfzig, das graue Haar fällt ihr wie ein Tuch auf die Schultern. Ihre Haare faszinieren mich irgendwie, sie sind so gleichförmig, ohne Makel, ohne Strähnen, kein einziges ist gespalten. Auch Coins Augen sind grau, aber nicht so wie die Augen der Leute aus dem Saum. Sondern blass, fast als wäre alle Farbe aus ihnen gewichen. Die Farbe von Schneematsch, der nur dazu da ist wegzutauen.

Ich soll die Rolle spielen, die sie sich für mich ausgedacht haben. Das Symbol der Revolution. Der Spotttölpel. Was ich in der Vergangenheit getan habe - dem Kapitol bei den Spielen die Stirn zu bieten und damit alle vereint zu haben -, das ist nicht genug. Jetzt soll ich der tatsächliche Anführer werden, das Gesicht, die Stimme, die Verkörperung der Revolution. Die Figur, die den Distrikten - von denen sich die meisten inzwischen im offenen Krieg mit dem Kapitol befinden - den Weg zum Sieg weist. Aber nicht nur ich allein. Ein ganzes Team steht bereit, das mich umsorgen, einkleiden, meine Ansprachen verfassen, meine Auftritte planen soll - so schrecklich vertraut klingt das -, ich selbst muss nur meine Rolle spielen, so überzeugend wie möglich. Manchmal höre ich ihnen zu, manchmal betrachte ich auch nur die perfekte Linie von Coins Haar und grübele über der Frage, ob sie wohl eine Perücke trägt. Irgendwann verlasse ich den Raum, weil ich Kopfschmerzen bekomme oder weil es Essenszeit ist oder weil ich gleich anfange zu schreien, wenn ich nicht ans Tageslicht komme. Ich mache mir nicht die Mühe eines Kommentars. Ich stehe einfach auf und gehe hinaus.

Gestern Nachmittag, als sich die Tür hinter mir schloss, hörte ich Coin sagen: »Ich habe euch ja gesagt, wir hätten zuerst den Jungen retten sollen.« Sie meint Peeta. Da bin ich ganz ihrer Meinung. Er hätte ein vorzügliches Sprachrohr abgegeben.

Und wen haben sie sich stattdessen aus der Arena geangelt? Mich, aber ich kooperiere nicht. Dazu noch Beetee, einen älteren Erfinder aus Distrikt 3, den ich nur selten sehe, weil er in die Waffenabteilung verfrachtet wurde, kaum dass er wieder aufrecht sitzen konnte. Sie haben ihn buchstäblich im Krankenbett auf irgendein Topsecret-Gelände gekarrt und seitdem lässt er sich nur gelegentlich zu den Mahlzeiten blicken. Er ist sehr intelligent und sehr willig, sich in den Dienst der Sache zu stellen, aber ein Agitator ist er sicher nicht. Dann ist da noch Finnick Odair, das Sexsymbol aus dem Fischereidistrikt, der in der Arena dafür gesorgt hat, dass Peeta überlebte, als ich dazu nicht in der Lage war. Finnick wollen sie auch in einen Rebellenführer verwandeln, aber erst müssen sie es hinkriegen, dass er länger als fünf Minuten wach bleibt. Und selbst wenn er bei Bewusstsein ist, muss man ihm alles dreimal sagen, damit es zu ihm durchdringt. Die Ärzte meinen, das kommt von dem Stromschlag, den er in der Arena abbekommen hat, aber ich weiß, dass es so einfach nicht ist. Ich weiß, dass Finnick sich auf nichts in Distrikt 13 konzentrieren kann, weil er unbedingt wissen muss, was das Kapitol mit Annie anstellt, dem verrückt gewordenen Mädchen aus seinem Heimatdistrikt, dem einzigen Menschen auf Erden, den er liebt.

Meinen Vorbehalten zum Trotz habe ich Finnick schließlich verziehen, dass er in die Verschwörung, deretwegen ich hier gelandet bin, eingeweiht war. Er hat wenigstens eine Ahnung davon, was ich durchmache. Außerdem hält man es kaum durch, jemandem böse zu sein, der die ganze Zeit weint.

Wie ein Jäger, um ja kein Geräusch zu machen, schleiche ich mich durchs Erdgeschoss. Ich nehme ein paar Andenken mit: ein Foto meiner Eltern am Tag ihrer Hochzeit, ein blaues Haarband für Prim, das Familienbuch über Ess-und Arzneipflanzen. Das Buch öffnet sich auf einer Seite mit gelben Blumen, und ich schlage es sofort wieder zu, denn die Zeichnung stammt von Peetas Pinsel.

Was soll ich tun ?

Hat es überhaupt einen Sinn, irgendwas zu tun? Meine Mutter, meine Schwester und Gales Familie sind endlich in Sicherheit. Was den Rest aus Distrikt 12 betrifft, so sind die Leute entweder tot, woran ich auch nichts mehr ändern kann, oder in Distrikt 13. Bleiben noch die Rebellen in den anderen Distrikten. Natürlich hasse ich das Kapitol, aber ich glaube nicht daran, dass es denen, die für seinen Sturz kämpfen, irgendetwas bringt, wenn ich der Spotttölpel bin. Wie kann ich den Distrikten helfen, wenn jeder meiner Schritte nur dazu führt, dass andere leiden oder ihr Leben verlieren? Der alte Mann in Distrikt 11, der erschossen wurde, weil er eine Melodie gepfiffen hat. Das brutale Vorgehen in Distrikt 12, nachdem ich gegen die Auspeitschung von Gale eingeschritten bin. Mein Stylist Cinna, den sie unmittelbar vor Beginn der Spiele blutig geschlagen und bewusstlos aus dem Star träum geschleift haben. Plutarchs Informanten vermuten, dass er bei einem Verhör getötet wurde. Der geniale, geheimnisvolle, liebenswerte Cinna ist tot, und das nur meinetwegen. Ich schiebe den Gedanken weg, er ist zu schmerzlich, und wenn ich länger bei ihm verweile, könnte mir die Kontrolle über die Situation ganz entgleiten. Was soll ich tun ?

Wenn ich der Spotttölpel werde - könnte der Schaden, den ich damit anrichte, durch irgendetwas aufgewogen werden? An wen könnte ich mich mit dieser Frage wenden? Bestimmt nicht an die Truppe aus Distrikt 13. Jetzt, da meine und Gales Familie in Sicherheit sind, könnte ich eigentlich auch einfach davonlaufen. Es gibt allerdings eine unbekannte Größe in der Rechnung. Peeta. Wenn ich ganz sicher wüsste, dass er tot ist, könnte ich einfach in den Wald verschwinden und nie mehr zurückkehren. Aber so sitze ich hier fürs Erste fest.

Ein Fauchen lässt mich herumfahren. In der Küchentür steht der hässlichste Kater der Welt, er macht einen Buckel und legt die Ohren an. »Butterblume!«, rufe ich. Tausende sind gestorben, doch er hat überlebt und sieht sogar wohlgenährt aus. Wie hat er das gemacht? Durch ein Fenster in der Speisekammer, das wir immer angelehnt gelassen haben, konnte er nach Belieben rein und raus. Bestimmt hat er sich von Feldmäusen ernährt. An anderes mag ich nicht denken.

Ich gehe in die Hocke und strecke die Hand aus. »Komm her, alter Junge.« Höchst unwahrscheinlich, dass er das tut. Er schmollt, weil er sich selbst überlassen wurde. Außerdem biete ich ihm nichts zu fressen an, und nur dass ich ab und zu einen Brocken für ihn hatte, ließ mich vor seinen Augen bestehen. Eine Zeit lang trafen wir uns im alten Haus, weil wir beide das neue nicht mochten, und da sah es fast so aus, als würden wir uns ein bisschen näherkommen. Aber diese Zeiten sind eindeutig vorbei. Er blinzelt mit seinen hässlichen gelben Augen.

»Möchtest du Prim sehen?« Beim Klang dieses Namens wird der Kater aufmerksam. Neben seinem eigenen Namen ist dies das einzige Wort, das für ihn eine Bedeutung hat. Er gibt ein eingerostetes »Miau« von sich und kommt näher. Ich hebe ihn hoch, streichle sein Fell, gehe hinüber zum Wandschrank, wo ich meinen Beutel für die Jagdbeute aufbewahre, und stopfe ihn kurzerhand hinein. Es gibt keinen anderen Weg, ihn ins Hovercraft zu befördern, und meiner Schwester bedeutet er alles. Ihre Ziege Lady, ein Tier von praktischerem Nutzen, hat sich leider noch nicht blicken lassen.

Gale meldet sich über das Headset und sagt, dass wir fortmüssen. Aber der Jagdbeutel hat mich noch an etwas anderes erinnert. Ich hänge den Gurt an eine Stuhllehne und springe die Treppe hinauf in mein Schlafzimmer. Im Schrank dort hängt die Jagdjacke meines Vaters. Ich habe sie vor den Jubiläumsspielen aus dem alten Haus mitgebracht, weil ich dachte, sie könnte meiner Mutter und meiner Schwester nach meinem Tod ein wenig Trost spenden. Gott sei Dank, sonst wäre sie jetzt Asche.

Das weiche Leder fühlt sich wohltuend an, und einen Augenblick lang beruhigen mich die Erinnerungen an die Stunden, in denen ich mich darin eingehüllt habe. Völlig grundlos werden meine Handflächen plötzlich schwitzig. Ein komisches Gefühl kriecht über meinen Rücken bis in den Nacken. Ich fahre herum, aber der Raum ist leer. Aufgeräumt. Alles an seinem Platz. Es war kein Geräusch, das mich in Alarm versetzt hat. Was dann?

Meine Nase zuckt. Es ist der Geruch. Süßlich, künstlich. Aus der Vase mit den vertrockneten Blumen auf meiner Kommode schaut ein weißer Farbklecks. Vorsichtig gehe ich näher heran.

Dort, halb verdeckt von ihren konservierten Schwestern, prangt eine weiße Rose. Vollkommen, bis in den letzten Dorn und das letzte seidige Blatt.

Ich weiß sofort, wer sie mir geschickt hat.

Präsident Snow.

Von dem Gestank wird mir übel, ich weiche zurück und verlasse den Raum. Wie lange steht sie schon da? Einen Tag? Eine Stunde? Bevor ich hineindurfte, haben die Rebellen das Dorf der Sieger sicherheitshalber nach Sprengstoff, Wanzen und anderen verdächtigen Sachen abgesucht. Vielleicht haben sie der Rose keine Bedeutung geschenkt? Ich schon.

Unten schnappe ich mir den Jagdbeutel und schleife ihn achtlos über den Boden, bis mir siedend heiß einfällt, dass ja jemand darin ist. Vom Rasen vor dem Haus aus winke ich wild dem Hovercraft, während Butterblume heftig strampelt. Ich verpasse ihm einen Schlag mit dem Ellbogen, aber das macht ihn erst richtig wütend. Das Hovercraft kommt näher, eine Leiter wird herabgelassen. Ich steige auf, und der Strom bannt mich, bis ich an Bord gezogen bin.

Gale hilft mir von der Leiter herunter. »Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja«, sage ich und wische mir mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht.

Er hat mir eine Rose dagelassen!, würde ich am liebsten schreien, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Information wirklich loswerden will, solange jemand wie Plutarch dabei ist. Weil es sich anhören würde, als wäre ich übergeschnappt. Als hätte ich mir das entweder nur eingebildet, was ja durchaus möglich ist, oder als würde ich überreagieren, und dann würden sie mich wieder in das Traumland des Drogenrauschs schicken, dem ich unbedingt entkommen möchte. Niemand wird verstehen, wieso das nicht einfach nur irgendeine Blume und auch nicht nur irgendeine Blume von Präsident Snow ist, sondern ein Racheversprechen. Denn niemand außer mir hat mit ihm in dem Arbeitszimmer gesessen, damals, vor der Tour der Sieger, als er mir drohte.

Die schneeweiße Rose auf meiner Kommode ist eine persönliche Botschaft an mich. Sie weist auf eine offene Rechnung hin. Sie flüstert: Ich kann dich finden. Ich kann dich erreichen. Vielleicht beobachte ich dich genau in diesem Augenblick.

2

Kommen jetzt die Hoverplanes des Kapitols angeschossen, um uns vom Himmel zu fegen? Während wir über Distrikt 12 hinweggleiten, suche ich beklommen nach Anzeichen für einen Angriff, aber niemand verfolgt uns. Nach ein paar Minuten entnehme ich einer Unterhaltung zwischen dem Piloten und Plutarch, dass der Luftraum frei ist, und entspanne mich ein wenig.

Gale nickt zu dem Gemaunze hin, das aus dem Beutel kommt. »Jetzt verstehe ich, warum du noch mal zurückmusstest.«

»Die Chance war nun wirklich gleich null.« Ich pfeffere den Beutel auf einen Sitz, von dem aus das abscheuliche Tier ein tiefes, kehliges Knurren ausstößt. »Ach, sei still«, sage ich zu dem Beutel, während ich mich gegenüber in einen gepolsterten Fensterplatz sinken lasse.

Gale setzt sich neben mich. »Ziemlich schlimm da unten, was?«

»Schlimmer geht es kaum«, antworte ich. Ich schaue ihm in die Augen und sehe meinen eigenen Kummer darin gespiegelt. Unsere Hände finden sich, sie halten einen Teil von Distrikt 12 fest, den Snow nicht hat zerstören können. Den Rest des Fluges nach Distrikt 13, der nur eine Dreiviertelstunde dauert, sitzen wir einfach so da. Zu Fuß würde es eine Woche dauern. Bonnie und Twill, die ich letzten Winter im Wald traf, nachdem sie aus Distrikt 8 geflohen waren, waren eigentlich gar nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt. Aber offenbar haben sie es trotzdem nicht geschafft. Als ich in Distrikt 13 nach ihnen fragte, schien niemand zu wissen, von wem ich redete. Vermutlich im Wald gestorben.

Von oben sieht es in 13 mehr oder weniger genauso einladend aus wie in 12. Anders, als das Kapitol es im Fernsehen zeigt, rauchen die Trümmer zwar nicht mehr, aber oberirdisch gibt es so gut wie kein Leben. In den fünfundsiebzig Jahren seit den Dunklen Tagen - als Distrikt 13 im Krieg zwischen dem Kapitol und den Distrikten angeblich ausgelöscht wurde - wurde fast nur noch unter der Erde gebaut. Schon vorher hatte es hier ausgedehnte unterirdische Anlagen gegeben, die über die Jahrhunderte errichtet worden waren, entweder als geheimer Schutzraum für die Regierenden in Kriegszeiten oder als letzte Zuflucht für die Menschheit, falls über der Erde kein Leben mehr möglich wäre. Entscheidend für die Menschen in 13 war, dass das Kapitol hier sein Atomprogramm entwickelte. In den Dunklen Tagen entrissen die Rebellen den Regierungstruppen die Kontrolle über die Atomwaffen, richteten sie auf das Kapitol und trafen dann ein Abkommen: Sie würden so tun, als wären sie tot, und im Gegenzug würde das Kapitol sie in Ruhe lassen. Im Westen besaß das Kapitol noch weitere Atomwaffen, aber bei einem Einsatz gegen 13 hätte es mit Vergeltung rechnen müssen. Also musste es dem Abkommen zustimmen. Das Kapitol zerstörte die sichtbaren Überreste des Distrikts und kappte sämtliche Verbindungen zur Außenwelt. Vielleicht rechneten die Führer im Kapitol damit, dass Distrikt 13 ohne Hilfe bald von allein zugrunde gehen würde. Manchmal war es auch fast so weit, aber durch strenge Rationierung der Ressourcen, eiserne Disziplin und ständige Wachsamkeit gegenüber erneuten Angriffen des Kapitols kamen die Menschen in 13 immer wieder davon.

Nun leben die Bewohner fast ausschließlich unter der Erde. Wer Sport treiben oder ein bisschen Sonne tanken will, darf nach oben, aber nur zu genau festgelegten Zeiten im jeweiligen Tagesplan. Der Tagesplan muss unbedingt eingehalten werden. Jeden Morgen muss man den rechten Arm in eine Vorrichtung in der Wand halten. Dort wird auf die weiche Innenseite des Unterarms mit fieser lila Tinte der tägliche Stundenplanaufgedruckt. 7.00 Uhr-Frühstück. 7.30 Uhr-Küchendienst. 8.30 Uhr - Unterrichtscenter, Raum 17. Und so weiter. Die Tinte ist unauslöschlich bis 22.00 Uhr - Baden. Was immer die Tinte beständig macht, um diese Zeit verliert es seine Wirkung, und der Tagesplan wird weggespült. Das Erlöschen des Lichts um 22.30 Uhr zeigt an, dass jeder, der keine Nachtschicht hat, jetzt im Bett liegen soll.

Anfangs, als ich todelend in der Krankenstation lag, musste ich mich nicht bedrucken lassen. Nachdem ich zu meiner Mutter und meiner Schwester in Einheit 307 umgezogen war, wurde erwartet, dass ich an dem Programm teilnehme. Doch abgesehen von den Essenszeiten ignoriere ich die Anweisungen auf meinem Arm weitgehend. Ich gehe einfach wieder in unsere Einheit zurück, streife durch Distrikt 13 oder lege mich an einem versteckten Ort wieder schlafen. In einem Luftschacht, der außer Betrieb ist. Hinter den Wasserrohren in der Wäscherei. Im Unterrichtscenter gibt es einen prima Wandschrank, der offenbar nicht für Lehrmittel benötigt wird. Hier wird so sparsam mit den Dingen umgegangen, dass Verschwendung fast schon als Verbrechen gilt. Zum Glück sind die Leute aus Distrikt 12 noch nie verschwenderisch gewesen. Aber als Fulvia Cardew einmal ein Blatt Papier zusammenknüllte, auf dem nur ein paar Wörter standen, haben die anderen sie angestarrt, als hätte sie jemanden ermordet. Sie wurde puterrot, was die Silberblumen, die ihre prallen Wangen zieren, noch mehr hervorhob. Ein Sinnbild der Ausschweifung. Zu meinen wenigen Freuden in Distrikt 13 gehört es zu beobachten, wie schwer es den paar verhätschelten »Rebellen« aus dem Kapitol fällt, sich einzufügen.

Ich weiß nicht, wie lange sie mir die völlige Missachtung ihrer heiligen Pünktlichkeit noch durchgehen lassen. Im Moment lassen sie mich noch in Ruhe, weil ich als geistig verwirrt gelte - so steht es zumindest auf meinem ärztlichen Plastikarmband - und alle mein Herumstreunen dulden müssen. Aber das kann nicht ewig so weitergehen. Und auch ihre Geduld in Sachen Spotttölpel wird bald ein Ende haben.

Vom Landeplatz gehen Gale und ich die vielen Treppen hinunter zu Einheit 307. Wir könnten auch den Aufzug nehmen, aber das erinnert mich einfach zu sehr an den Aufzug, der mich in die Arena befördert hat. Ich kann mich sowieso kaum daran gewöhnen, so viel Zeit unter Tage zu verbringen. Aber jetzt, nach der unwirklichen Begegnung mit der Rose, gibt mir das Hinuntersteigen zum ersten Mal ein Gefühl der Sicherheit.

An der Tür zu Nummer 307 halte ich inne und bereite mich auf die Fragen meiner Familie vor. »Was soll ich ihnen über Distrikt 12 erzählen?«, frage ich Gale.

»Ich glaube nicht, dass sie Einzelheiten wissen wollen. Sie haben die Brände gesehen. Wahrscheinlich ist ihre größte Sorge, wie du damit fertig wirst.« Gale berührt meine Wange. »Und meine auch.«

Ich lege kurz mein Gesicht in seine Hand. »Ich werd’s überleben.«

Dann hole ich tief Luft und öffne die Tür. Meine Mutter und meine Schwester sind zu Hause: 18.00 Uhr - Besinnung, eine halbe Stunde der Muße vor dem Abendessen. Die Sorge steht ihnen ins Gesicht geschrieben, sie versuchen, meinen Seelenzustand zu erraten. Bevor irgendwer etwas fragen kann, leere ich meinen Jagdbeutel aus und ändere das Programm um in 18.00 Uhr - Großes Katergekuschel, Prim sitzt, Rotz und Wasser heulend, auf dem Boden und wiegt ihren grässlichen Kater in den Armen, der sein Schnurren hier und da unterbricht, um mich anzufauchen. Und als Prim ihm das blaue Band um den Hals bindet, bedenkt er mich mit einem Blick, den man nur als selbstzufrieden bezeichnen kann.

Meine Mutter drückt das Hochzeitsfoto fest an die Brust und stellt es dann zusammen mit dem Pflanzenbuch auf unsere von der Regierung gestellte Kommode. Ich hänge die Jacke meines Vaters über eine Stuhllehne. Einen Augenblick lang wirkt der Raum fast wie ein Zuhause. Der Ausflug nach 12 war also nicht völlig sinnlos.

18.30 Uhr - Abendessen. Wir sind auf dem Weg hinunter in den Speisesaal, als Gales Mailmanschette piepst. Sie sieht aus wie eine überdimensionale Uhr, empfängt aber geschriebene Nachrichten. Eine Mailmanschette ist ein besonderes Privileg und steht nur jenen zu, die wichtig für die Sache sind. Gale hat sich diesen Status durch die Rettung der Flüchtlinge aus Distrikt 12 erworben. »Sie möchten, dass wir beide in die Kommandozentrale kommen«, sagt er.

Ich tapere hinter Gale her und versuche mich innerlich auf die nächste Spotttölpelsitzung einzustellen, die mich jetzt wohl erwartet. Ich bleibe im Eingang zur Kommandozentrale stehen, dem Hightech-Konferenz- und Kriegsratsraum, der mit computerisierten sprechenden Wänden, elektronischen Karten der Truppenbewegungen in den verschiedenen Distrikten sowie einem gigantischen rechteckigen Tisch mit Kontrollhebeln ausgestattet ist, die ich auf keinen Fall berühren darf. Doch niemand beachtet mich, alle haben sich am anderen Ende des Raums um einen Fernsehschirm versammelt, der rund um die Uhr das Programm des Kapitolsenders zeigt. Ich will die Gelegenheit nutzen, um mich davonzuschleichen, als Plutarch, dessen massige Gestalt den Bildschirm verdeckt hat, mich erblickt und energisch heranwinkt. Widerwillig trete ich näher und versuche mir vorzustellen, was es da für mich Interessantes zu sehen geben könnte. Es ist immer das Gleiche. Kriegsbilder. Propaganda. Wiederholungen der Bombardierung von Distrikt 12. Eine Unheil verkündende Botschaft von Präsident Snow. Deshalb ist es fast angenehm, Caesar Flickerman, den ewigen Moderator der Hungerspiele, mit seinem geschminkten Gesicht und dem glitzernden Anzug zu sehen, der sich auf ein Interview vorbereitet. Angenehm, ja - bis die Kamera plötzlich zurückzoomt und ich sehe, wer sein Gast ist. Peeta.

Ein Laut entfährt meiner Kehle, eine Mischung aus Stöhnen und dem Schnappen nach Luft, wie wenn man unter Wasser ist und der Mangel an Sauerstoff unerträglich wird. Ich bahne mir einen Weg durch die Leute, bis ich genau vor ihm stehe und meine Hand auf den Bildschirm legen kann. Ich suche nach Anzeichen von Verletzungen in seinem Blick, einem Widerschein der Folterqual. Aber da ist nichts. Peeta sieht gesund aus, geradezu kräftig. Seine Haut leuchtet makellos, wie nach einer Ganzkörperpolitur. Er wirkt ernst und gefasst. Ich kann diesen Anblick nicht mit dem zerschundenen, blutenden Jungen in Einklang bringen, der mich in meinen Träumen heimsucht.

Caesar macht es sich in seinem Sessel gegenüber Peeta bequem und sieht ihn eine Weile an, bevor er spricht. »Tja … Peeta … Herzlich willkommen mal wieder.«

Peeta lächelt schmal. »Schätze, Sie haben gedacht, Sie hätten mich zum letzten Mal interviewt, Caesar.«

»Ich gestehe es, ja«, sagt Caesar. »Am Abend vor dem Jubel-Jubiläum … Mensch, wer hätte gedacht, dass wir dich noch einmal wiedersehen würden?!«

»War auch nicht geplant, das können Sie mir glauben«, antwortet Peeta finster.

Caesar beugt sich ein wenig vor. »Ich glaube, jeder hier weiß, was du geplant hattest. Du wolltest dich in der Arena opfern, damit Katniss Everdeen und dein Kind überleben.«

»So ist es. Ganz einfach.« Peeta fährt mit den Fingern das Muster auf der gepolsterten Sessellehne nach. »Aber da hatten auch andere Leute ihre Pläne.«

Ja, da hatten auch andere Leute ihre Pläne, denke ich. Hat Peeta sich zusammengereimt, dass die Rebellen uns wie Schachfiguren benutzt haben? Dass meine Rettung von Anfang an geplant war? Und dass nicht zuletzt unser Mentor, Haymitch Abernathy, uns beide für eine Sache verraten hat, die ihn angeblich überhaupt nicht interessierte?

In der Stille, die folgt, bemerke ich, dass sich auf Peetas Stirn eine Falte gebildet hat. Er hat es erraten oder irgendwer hat es ihm gesagt. Trotzdem hat das Kapitol ihn weder getötet noch bestraft. Im Moment übersteigt das meine kühnsten Hoffnungen. Ich schwelge in dem Hochgefühl, dass er körperlich und geistig unversehrt ist. Es wirkt auf mich wie das Morfix, das sie mir auf der Krankenstation verabreichen, um den Schmerz der letzten Wochen zu betäuben.

»Warum erzählst du uns nicht ein bisschen von der letzten Nacht in der Arena?«, schlägt Caesar vor. »Hilf uns, die Dinge zu verstehen.«

Peeta nickt, wartet aber eine Weile, bis er zu sprechen anfängt. »Die letzte Nacht… ich soll Ihnen von der letzten Nacht erzählen … Nun ja, zunächst müssen Sie sich vorstellen, wie es sich in der Arena anfühlte. Man kam sich vor wie ein Insekt, das unter einer Glocke voll dampfender Luft gefangen ist. Und um einen herum nichts als Dschungel … grün und lebendig und tickend. Diese riesige Uhr, die das Leben wegtickt. Jede Stunde bringt neuen Horror. Sie müssen sich vorstellen, dass innerhalb von zwei Tagen sechzehn Menschen gestorben waren - manche von ihnen bei dem Versuch, mich zu beschützen. Ich konnte mir ausrechnen, dass bei dem Tempo auch die letzten acht am nächsten Morgen tot sein würden. Bis auf einen. Den Sieger. Und nach meinem Plan wäre das nicht ich gewesen.«

Bei der Erinnerung bricht mir der Schweiß aus. Meine Hand rutscht am Bildschirm ab und hängt schlaff herunter. Peeta braucht keinen Pinsel, um Bilder von den Spielen erstehen zu lassen. Er kann das mit Worten genauso gut.

»Wenn Sie erst einmal in der Arena sind, rückt die übrige Welt in weite Ferne«, fährt er fort. »Alle Menschen und Dinge, die Sie lieben und die Ihnen etwas bedeuten, existieren praktisch nicht mehr. Der rosafarbene Himmel, die Monster im Dschungel und die Tribute, die nach Ihrem Blut trachten, werden zur endgültigen Wirklichkeit, der einzigen, die je gezählt hat. Egal, wie elend Sie sich dabei fühlen, Sie werden töten müssen, denn in der Arena haben Sie nur noch ein Ziel. Und das kostet nun mal.«

»Es kostet dein Leben«, sagt Caesar.

»Oh nein. Es kostet viel mehr als mein Leben. Unschuldige Menschen zu töten?«, sagt Peeta. »Das kostet alles, was uns ausmacht.«

»Alles, was uns ausmacht«, wiederholt Caesar leise.

Stille senkt sich über das Studio, und ich spüre, wie sie sich über ganz Panem ausbreitet. Eine Nation, die sich zu den Bildschirmen vorbeugt. Niemand hat je davon erzählt, wie es in der Arena wirklich ist.

Peeta spricht weiter. »Also klammern Sie sich an Ihr Ziel. Und ja, in dieser letzten Nacht war es mein Ziel, Katniss zu retten. Aber obwohl ich nichts von den Rebellen wusste, war es irgendwie eigenartig. Es war alles zu kompliziert. Auf einmal bereute ich es, dass ich an diesem Tag nicht mit ihr davongelaufen war, so wie sie es vorgeschlagen hatte. Jetzt gab es keinen Ausweg mehr.«

»Weil du in Beetees Plan eingebunden warst, den Salzsee unter Strom zu setzen?«, fragt Caesar.

»Weil ich zu beschäftigt damit war, so zu tun, als wäre ich mit den anderen verbündet. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass sie uns trennen!«, bricht es aus Peeta heraus. »Denn dabei habe ich sie aus den Augen verloren.«

»Du meinst, als du bei dem Gewitterbaum geblieben bist, während Katniss und Johanna Mason sich mit der Drahtrolle auf den Weg zum Wasser machten«, erläutert Caesar.

»Ich wollte das nicht!«, ruft Peeta erregt. »Aber ich konnte mich nicht mit Beetee streiten, ohne zu verraten, dass wir das Bündnis aufkündigen wollten. Und als dann der Draht durchgeschnitten wurde, ging plötzlich alles drunter und drüber. Ich kann mich nur bruchstückhaft erinnern. Wie ich nach ihr suchte. Wie Brutus Chaff tötete. Wie ich Brutus tötete. Ich weiß auch noch, dass sie nach mir rief. Aber dann schlug der Blitz in den Baum ein und das Kraftfeld rings um die Arena … flog in die Luft.«

»Katniss hat es in die Luft fliegen lassen, Peeta«, sagt Caesar. »Du hast die Videoaufnahmen gesehen.«

»Sie wusste nicht, was sie tat. Keiner von uns konnte Beetees Plan durchschauen. Man sieht doch, dass sie gar nicht richtig weiß, was sie mit dem Draht machen soll«, sagt Peeta wütend.

»Na gut. Aber es wirkt schon verdächtig«, sagt Caesar. »Als wäre sie die ganze Zeit in die Pläne der Rebellen eingeweiht gewesen.«

Peeta springt auf und geht ganz nah an das Gesicht seines Interviewers heran, die Hände fest auf Caesars Armlehnen gestemmt. »Tatsächlich? Und gehörte es auch zu ihrem Plan, dass Johanna sie fast umbringt? Dass der Stromschlag sie lähmt? Dass ihr Heimatdistrikt bombardiert wird?« Jetzt brüllt er. »Sie hat nichts davon gewusst, Caesar! Keiner von uns beiden wusste irgendwas, wir haben nur alles dafür getan, dass der andere überlebt!«

Caesar legt die Hände auf Peetas Brust, eine Geste, die zugleich abwehren und beschwichtigen soll. »Okay, Peeta, ich glaube dir.«

»Gut.« Peeta lässt von Caesar ab. Er fährt sich mit den Händen durchs Haar, wodurch er die sorgsam gestylten blonden Locken durcheinanderbringt. Aufgelöst lässt er sich in seinen Sessel zurückfallen.

Caesar mustert Peeta einen Augenblick. »Was ist mit eurem Mentor, Haymitch Abernathy?«

Peetas Miene verhärtet sich. »Ich weiß nicht, wie viel Haymitch gewusst hat.«

»Meinst du, er war Teil der Verschwörung?«, fragt Caesar. »Er hat nie etwas erwähnt«, entgegnet Peeta. Caesar bohrt nach. »Aber was sagt dir dein Gefühl?«

»Ich hätte ihm nicht vertrauen sollen«, sagt Peeta. »Das ist alles.«

Ich habe Haymitch nicht mehr gesehen, seit ich mich im Hovercraft auf ihn gestürzt und ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt habe. Ich weiß, dass er harte Zeiten durchmacht. In Distrikt 13 sind Herstellung und Konsum berauschender Getränke nämlich streng verboten, sogar der Reinigungsalkohol in der Krankenstation wird weggeschlossen. Damit ist Haymitch endlich gezwungen, nüchtern zu bleiben, ohne sich die Entwöhnung durch Geheimvorräte oder selbst gebrauten Fusel erträglicher gestalten zu können. Solange er nicht ganz trocken ist, bleibt er aus dem Verkehr gezogen; für öffentliche Auftritte gilt er als noch nicht geeignet. Er muss entsetzliche Qualen leiden, aber mein Mitleid für Haymitch ist restlos aufgebraucht, seit mir klar geworden ist, wie er uns getäuscht hat. Ich hoffe, dass er diese Sendung jetzt sieht, dann weiß er, dass auch Peeta sich von ihm losgesagt hat.

Caesar legt Peeta eine Hand auf die Schulter. »Wenn du möchtest, machen wir hier Schluss.«

»War denn noch was?«, fragt Peeta sarkastisch.

»Ich wollte dich noch nach deinen Gedanken zum Krieg fragen, aber wenn du zu aufgewühlt bist …«, hebt Caesar an.

»Oh nein, ich bin nicht zu aufgewühlt, um auf diese Frage zu antworten.« Peeta holt tief Luft und blickt direkt in die Kamera. »Ich möchte, dass Sie alle - ob Sie nun für das Kapitol sind oder für die Rebellen - einen Moment lang innehalten und darüber nachdenken, was dieser Krieg bedeuten könnte. Für die Menschen. Wir haben uns schon einmal an den Rand der Ausrottung gebracht. Diesmal sind wir noch viel weniger. Unsere Lage ist noch prekärer. Wollen wir das wirklich? Uns allesamt umbringen? In der Hoffnung, dass - was? Dass irgendeine vernunftbegabte Art die rauchenden Trümmer der Erde erbt?«

»Ich weiß wirklich nicht … Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann …«, sagt Caesar.

»Wir dürfen uns nicht bekriegen, Caesar«, erklärt Peeta. »Es werden nicht genug übrig bleiben, um weiterzumachen. Wenn nicht alle die Waffen niederlegen, und zwar bald, dann ist sowieso alles vorbei.«

»Du … du forderst also zu einem Waffenstillstand auf?«, fragt Caesar.

»Ja. Ich fordere zum Waffenstillstand auf«, sagt Peeta müde. »Wieso sagen wir jetzt nicht den Wachen, dass sie mich zurück in mein Quartier bringen sollen, damit ich noch ein paar Hundert Kartenhäuser bauen kann?«

Caesar dreht sich zur Kamera. »In Ordnung. Ich denke, das war’s. Damit schalten wir zurück zum Vormittagsprogramm.«

Musik ertönt, dann werden die beiden ausgeblendet, und man sieht eine Frau, die die Liste der erwarteten Rationierungen für das Kapitol verliest - frisches Obst, Solarzellen, Seife. Ich tue so, als wäre ich ganz in ihren Anblick versunken. Ich weiß, dass alle darauf warten, wie ich auf das Interview reagiere. Aber ich kann das alles unmöglich so schnell verarbeiten - einerseits die Freude darüber, dass Peeta lebt und unversehrt ist, dass er mich gegen alle Vorwürfe verteidigt, gemeinsame Sachen mit den Rebellen gemacht zu haben, und andererseits seine unleugbare Komplizenschaft mit dem Kapitol, denn nur so ist zu erklären, warum er zum Waffenstillstand aufruft. Gewiss, er hat es so klingen lassen, als ob er beide Kriegsparteien verurteilte. Doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da die Rebellen erst kleine Siege errungen haben, würde ein Waffenstillstand nichts anderes bedeuten als die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand. Wenn nicht Schlimmeres.

Hinter mir höre ich, wie Vorwürfe gegen Peeta laut werden. Die Worte Verräter, Lügner und Feind hallen durch den Raum. Da ich die Empörung der Rebellen weder teilen noch zurückweisen kann, halte ich es für das Beste, einfach zu gehen. Als ich die Tür erreiche, übertönt Coins Stimme alle anderen. »Du bist noch nicht entlassen, Soldat Everdeen.«

Einer von Coins Männern legt mir die Hand auf den Arm. Wahrhaftig keine aggressive Geste, aber nach der Arena reagiere ich auf jede fremde Berührung mit Abwehr. Ich reiße mich los und renne den Flur hinunter. Hinter mir höre ich Gerangel, aber ich bleibe nicht stehen. In Windeseile gehe ich meine kleinen Verstecke durch und entscheide mich für den Wandschrank im Unterrichtscenter, wo ich mich an eine Kiste mit Kreide kauere.

»Du lebst«, flüstere ich, während ich meine Hände gegen die Wangen drücke und das Lächeln fühle, das so breit ist, dass es aussehen muss, als würde ich grinsen. Peeta lebt. Und er ist ein Verräter. Aber im Moment ist es mir egal, was er sagt und in wessen Auftrag. Für mich zählt nur, dass er überhaupt noch sprechen kann.

Kurz darauf geht die Tür auf und Gale schlüpft herein. Er lässt sich neben mir auf den Boden sinken, aus seiner Nase tropft Blut.

»Was ist passiert?«, frage ich.

»Ich bin Boggs in die Quere gekommen«, antwortet er schulterzuckend. Mit dem Ärmel wische ich ihm die Nase ab. »Pass doch auf!«

Ich versuche, sanfter zu sein. Tupfen statt wischen. »Wer von denen ist das?«

»Ach, du weißt schon. Coins Lakai. Der, der versucht hat, dich aufzuhalten.« Er stößt meine Hand weg. »Lass das! Sonst verblute ich noch.«

Das Tropfen ist zu einem steten Rinnsal geworden. Ich stelle meine Erste-Hilfe-Aktion ein. »Du hast dich mit Boggs geprügelt?«

»Nein, ich hab mich nur in die Tür gestellt, als er dir folgen wollte. Sein Ellbogen hat mich an der Nase getroffen«, erwidert Gale.

»Wahrscheinlich wirst du jetzt bestraft«, sage ich.

»Schon passiert.« Er hält sein Handgelenk hoch. Verdutzt starre ich darauf. »Coin hat mir die Mailmanschette abgenommen.«

Ich versuche krampfhaft, ernst zu bleiben. Aber es ist einfach zu lächerlich. »Das tut mir aber leid, Soldat Gale Hawthorne.«

»Muss es nicht, Soldat Katniss Everdeen.« Er grinst. »Ich bin mir damit sowieso wie ein Trottel vorgekommen.« Wir prusten los. »Das sollte wohl eine Degradierung sein.«

Das ist eins der wenigen guten Dinge an Distrikt 13. Dass ich Gale wiederhabe. Nachdem die Anspannung wegen meiner arrangierten Hochzeit mit Peeta vorbei war, haben wir unsere Freundschaft neu entdeckt. Er forciert es nicht weiter, versucht nicht, mich zu küssen oder über Liebe zu sprechen. Entweder weil ich zu krank war oder weil er mir jetzt mehr Freiraum lassen kann oder weil er weiß, dass mich die Geschichte mit Peeta, der vom Kapitol gefangen gehalten wird, einfach zu sehr mitnimmt. Jedenfalls habe ich jetzt wieder jemanden, dem ich meine Geheimnisse anvertrauen kann.

»Was sind das bloß für Leute?«, frage ich.

»So wären wir auch. Wenn wir Atombomben statt der paar Brocken Kohle gehabt hätten«, antwortet er.

»Ich würde ja gern daran glauben, dass Distrikt 12 damals in den Dunklen Tagen die anderen Rebellen nicht im Stich gelassen hätte«, sage ich.

»Wahrscheinlich hätten wir es doch getan, bei der Alternative, aufzugeben oder einen Atomkrieg anzuzetteln«, sagt Gale. »Irgendwie ist es schon bemerkenswert, dass sie überhaupt überlebt haben.«

Vielleicht liegt es daran, dass meinen Schuhen immer noch die Asche meines eigenen Distrikts anhaftet, aber zum ersten Mal erweise ich den Leuten aus Distrikt 13 etwas, das ich ihnen bisher verwehrt habe: Anerkennung. Weil sie allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt haben. Die ersten Jahre müssen schrecklich für die Menschen gewesen sein, zusammengedrängt in unterirdischen Kammern, nachdem ihre Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden war. Die Bevölkerung dezimiert, nirgends ein Verbündeter, an den man sich um Hilfe hätte wenden können. Im Lauf der vergangenen fünfundsiebzig Jahre haben sie gelernt, genügsam zu sein, haben aus den Bewohnern eine Armee aufgebaut und ohne jede Hilfe eine neue Gesellschaft errichtet. Und hätte nicht diese Pockenepidemie ihre Geburtenrate gegen null sinken lassen, wären sie noch mächtiger. Nur deshalb sind sie nun so versessen auf einen neuen Genpool und neue Erzeuger. Sie mögen militaristisch, übermäßig kontrolliert und etwas humorlos sein. Aber sie sind hier. Und sie sind bereit, es mit dem Kapitol aufzunehmen.

»Trotzdem, es hat lange gedauert, bis sie sich gezeigt haben«, sage ich.

»Das war halt nicht so einfach. Sie mussten erst eine Rebellenbasis im Kapitol aufbauen und den Untergrund in den Distrikten organisieren«, sagt Gale. »Und dann brauchten sie noch jemanden, der den Stein ins Rollen bringt. Sie brauchten dich.«

»Peeta brauchten sie auch, aber das scheinen sie vergessen zu haben«,sage ich.

Gales Miene verdüstert sich. »Peeta hat heute Abend möglicherweise eine Menge Schaden angerichtet. Die meisten Rebellen werden das, was er gesagt hat, natürlich umgehend ablehnen. Doch es gibt Distrikte, in denen der Widerstand wackelt. Das mit dem Waffenstillstand ist eindeutig die Idee von Präsident Snow. Aber wenn sie aus Peetas Mund kommt, klingt sie unheimlich vernünftig.«

Ich habe Angst vor Gales Antwort, aber ich frage trotzdem: »Warum, glaubst du, hat er das gesagt?«

»Vielleicht haben sie ihn gefoltert. Oder überredet. Ich persönlich glaube, er ist irgendeinen Handel eingegangen, um dich zu beschützen: Er bringt die Idee eines Waffenstillstands aufs Tapet, wenn Snow im Gegenzug erlaubt, dass Peeta dich als verwirrtes schwangeres Mädchen darstellt, das völlig ahnungslos war, als es von den Rebellen gefangen genommen wurde. Damit bestünde immer noch die Aussicht auf Milde für dich, falls die Distrikte verlieren. Und falls du mitspielst.« Ich muss völlig perplex aussehen, denn den nächsten Satz spricht Gale sehr langsam aus. »Katniss … er versucht immer noch, dich zu retten.«

Mich zu retten? Und dann begreife ich. Die Spiele dauern noch immer an. Wir sind zwar nicht mehr in der Arena, aber da Peeta und ich nicht getötet wurden, hat sein letztes Ziel, also mein Leben zu retten, weiterhin Bestand. Seine Idee ist, dass ich mich versteckt halte, eingesperrt bleibe, solange der Krieg tobt. Dann hätte eigentlich keine der Seiten einen Grund, mich zu töten. Und Peeta? Wenn die Rebellen gewinnen, sieht es übel für ihn aus. Wenn das Kapitol gewinnt, wer weiß … Falls ich schön mitspiele, dürfen wir vielleicht beide am Leben bleiben - und zusehen, wie die Spiele weitergehen …

Bilder tauchen auf: der Speer in der Arena, der Rues Körper durchbohrt; Gale, der bewusstlos am Pranger hängt; die mit Leichen übersäte Wüstenlandschaft meiner Heimat. Und wozu das alles? Wozu? Je erregter ich werde, desto mehr Erinnerungen kommen hoch. Der erste flüchtige Hinweis auf den Aufstand in Distrikt 8. Die Sieger Hand in Hand am Abend vor Beginn der Spiele zum Jubel-Jubiläum. Und das ganz und gar nicht zufällige Abschießen meines Pfeils ins Kraftfeld um die Arena. Und wie sehr ich mir wünschte, ihn tief ins Herz meines Feindes zu versenken.

Ich springe auf, wobei ich eine Schachtel voll mit Stiften umkippe und sie auf dem Boden verstreue.

»Was ist los?«, fragt Gale.

»Es darf keinen Waffenstillstand geben.« Ich bücke mich, taste nach den dunkelgrauen Grafitstäben und versuche sie zurück in die Schachtel zu stopfen. »Wir dürfen nicht nachgeben.«

»Ich weiß.« Gale klaubt eine Handvoll Stifte zusammen und klopft sie auf dem Boden zurecht.

»Was immer Peeta bewogen hat, solche Sachen zu sagen, er irrt sich«, sage ich. Die blöden Stifte wollen nicht in die Schachtel und vor Ungeduld breche ich mehrere ab.

»Ich weiß.« Gale nimmt mir die Schachtel aus der Hand und füllt sie mit geschickten Bewegungen. »Gib her. Du machst sie ja alle kaputt.«

»Peeta weiß nicht, was sie mit Distrikt 12 gemacht haben. Wenn er gesehen hätte, wie es dort unten aussieht …«, sage ich.

»Katniss, ich will nicht mit dir streiten. Wenn ich einen Knopf drücken und jeden, der mit dem Kapitol zusammenarbeitet, töten könnte, ich würd’s tun. Ohne zu zögern.« Er legt den letzten Stift in die Schachtel und macht sie zu. »Die Frage ist, was wirst du tun?«

Jetzt wird mir klar, dass es auf die Frage, die so lange an mir genagt hat, die ganze Zeit nur eine mögliche Antwort gab. Trotzdem bedurfte es Peetas Auftritt, damit ich es einsehe.

Was soll ich tun ?

Ich hole tief Luft. Ich hebe sacht die Arme - wie ein Nachhall der schwarz-weißen Schwingen, die Cinna mir verliehen hat - und lasse sie wieder sinken.

»Ich werde der Spotttölpel sein.«

3

Butterblume liegt in Prims Armbeuge - es war immer seine Aufgabe, Prim vor der Nacht zu beschützen. In seinen Augen spiegelt sich das matte Glimmen des Sicherheitslichts über der Tür. Prim hat sich an meine Mutter gekuschelt, und wie sie so schlafend daliegen, sehen sie aus wie vor einem Jahr, am Morgen der Ernte, die mich in meine ersten Hungerspiele katapultierte. Ich habe ein Bett für mich allein, weil ich noch nicht richtig gesund bin und weil sowieso niemand mit mir in einem Bett schlafen kann, bei den Albträumen und dem dauernden Hin-und-her-Gewälze.

Nachdem ich mich stundenlang von einer Seite auf die andere geworfen habe, akzeptiere ich schließlich, dass es eine schlaflose Nacht wird. Unter Butterblumes wachsamem Blick schleiche ich auf Zehenspitzen über den kalten Fliesenboden zur Kommode.

Die mittlere Schublade enthält die mir zugeteilten Kleidungsstücke. Jeder hier trägt die gleiche graue Hose und das gleiche graue Hemd, das in den Hosenbund gesteckt wird. Unter der Kleidung verwahre ich die wenigen Dinge, die ich bei mir trug, als ich aus der Arena geholt wurde. Die Brosche mit dem Spotttölpel. Das Andenken von Peeta, ein goldenes Medaillon mit Fotos: meine Mutter, Prim und Gale. Ein silberner Fallschirm, in den ein Hahn zum Zapfen von Baumsaft eingewickelt ist, sowie die Perle, die Peeta mir geschenkt hat, kurz bevor ich das Kraftfeld in die Luft gejagt habe. Die Tube mit der Salbe hat Distrikt 13 ebenso konfisziert wie meinen Bogen und die Pfeile, denn nur die Wachen haben die Erlaubnis, Waffen zu tragen. Sie liegen jetzt im Arsenal.

Ich betaste den Fallschirm und fasse hinein, schließe die Finger um die Perle. Dann setze ich mich im Schneidersitz aufs Bett und fahre mit der zart irisierenden Perle über meine Lippen. Aus irgendeinem Grund tröstet mich das. Ein kühler Kuss von dem, der sie mir geschenkt hat.

»Katniss?«, flüstert Prim. Sie ist aufgewacht und späht durch die Dunkelheit zu mir herüber. »Was ist los?«

»Nichts. Hab nur schlecht geträumt. Schlaf weiter.« Ein Automatismus. Prim und meine Mutter heraushalten, um sie zu schützen.

Vorsichtig, damit sie meine Mutter nicht weckt, steigt Prim aus dem Bett, schnappt sich Butterblume und setzt sich neben mich. Sie berührt meine Hand, die sich um die Perle geschlossen hat. »Du frierst ja.« Sie zieht die Wolldecke vom Fußende des Bettes herauf und wickelt uns alle drei hinein. Jetzt bin ich in ihre Wärme und in Butterblumes pelzige Hitze eingehüllt. »Du kannst es mir ruhig sagen, weißt du. Ich kann ein Geheimnis für mich behalten. Sogar vor Mutter.«

Jetzt ist es endgültig verschwunden. Das kleine Mädchen mit der herausgerutschten Bluse, deren Zipfel aussieht wie ein Entenschwanz; dem man bei den Tellern helfen musste, weil es noch nicht so hoch kam, und das so lange bettelte, bis ich mit ihm die verzierten Kuchen im Schaufenster der Bäckerei anschauen ging. Zeit und Schicksalsschläge haben Prim notgedrungen älter werden lassen, zu schnell für meinen Geschmack, und jetzt ist sie eine junge Frau, die blutende Wunden zusammennäht und weiß, dass man unserer Mutter nicht so viel zumuten kann.

»Morgen früh werde ich mich bereit erklären, der Spotttölpel zu sein«, vertraue ich ihr an.

»Weil du es willst oder weil du es musst?«, fragt sie.

Ich lache kurz auf. »Beides, glaube ich. Nein, ich will es. Ich muss, wenn es den Rebellen hilft, Präsident Snow zu besiegen.« Ich drücke die Perle in meiner Faust noch fester. »Wenn nur er nicht wäre … Peeta. Ich habe Angst, dass die Rebellen ihn hinrichten, wenn sie gewinnen, weil sie ihn für einen Verräter halten.«

Prim denkt darüber nach. »Ich glaube, dir ist nicht klar, wie wichtig du für die Sache bist, Katniss. Wichtige Leute bekommen gewöhnlich, was sie wollen. Wenn du willst, dass Peeta von den Rebellen verschont wird, dann kriegst du das auch hin.«

Es stimmt wohl, dass ich wichtig bin. Sie haben eine Menge Scherereien in Kauf genommen, um mich zu retten. Sie haben mir sogar erlaubt, noch mal Distrikt 12 zu besuchen. »Du meinst … ich könnte verlangen, dass sie Peeta Straffreiheit zusichern? Und dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als Ja zu sagen?«

»Ich meine, du könntest so ziemlich alles verlangen, und ihnen würde nichts anderes übrig bleiben, als Ja zu sagen.« Prim runzelt die Stirn. »Die Frage ist nur, wie du sicher sein kannst, dass sie Wort halten.«

All die Lügen fallen mir ein, die Haymitch Peeta und mir aufgetischt hat, damit wir taten, was er wollte. Was sollte die Rebellen davon abhalten, sich einfach nicht an den Deal zu halten? Ein mündlich hinter verschlossenen Türen gegebenes Versprechen, selbst eine schriftliche Erklärung, könnte sich nach Kriegsende allzu leicht in nichts auflösen, ihre Existenz oder Gültigkeit geleugnet werden. Zeugen, die dem Kommandostab angehören, bringen auch nichts. Im Gegenteil, vermutlich wären sie diejenigen, die Peetas Todesurteil unterschreiben. Ich brauche viel mehr Zeugen. So viele, wie ich kriegen kann.

»Es muss öffentlich passieren«, sage ich. Butterblume zuckt mit dem Schwanz, was ich als Zustimmung nehme. »Ich werde dafür sorgen, dass Coin es vor der gesamten Bevölkerung von Distrikt 13 verkündet.«

Prim lächelt. »Das ist gut. Eine Garantie ist es zwar immer noch nicht, aber so wird es wenigstens viel schwieriger für sie werden, von ihrem Versprechen abzurücken.«

Ich bin erleichtert. Erleichtert, weil wir die Lösung gefunden haben. »Ich sollte dich öfter mal aufwecken, kleine Ente.«

»Von mir aus jederzeit«, sagt Prim. Sie gibt mir einen Kuss. »Versuch jetzt wieder zu schlafen, ja?« Ich folge ihrem Rat.

Am Morgen sehe ich, dass der Programmpunkt 7.00 Uhr - Frühstück direkt gefolgt wird von 7.30 Uhr - Kommando, was mir sehr entgegenkommt. Ich kann die Kugel auch jetzt gleich ins Rollen bringen. Im Speisesaal halte ich meinen Tagesplan, auf dem irgendeine ID-Nummer steht, vor einen Sensor. Ich ziehe mein Tablett über die Metallablage vor den Behältern mit dem Essen und sehe, dass es mehr oder weniger das Gleiche zum Frühstück gibt wie immer - eine Schale Getreidebrei, eine Tasse Milch und eine kleine Portion Obst oder Gemüse. Heute zur Abwechslung mal Rübenmus. Alle Speisen stammen von den unterirdischen Farmen des Distrikts. Ich setze mich an den Tisch, der den Everdeens, den Hawthornes und einigen weiteren Flüchtlingen zugewiesen wurde, und schaufele das Frühstück in mich rein. Ich hätte gern einen Nachschlag, aber einen Nachschlag gibt es nie. Sie haben hier ein rein technisches Verhältnis zum Essen. Man bekommt gerade so viele Kalorien verabreicht, dass man bis zur nächsten Mahlzeit durchhält, nicht mehr und nicht weniger. Die Ration hängt ab von Alter, Größe, Körperbau, Gesundheit sowie dem Arbeitspensum, das der Tagesplan verlangt. Wir aus Distrikt 12 bekommen sowieso schon etwas größere Portionen als die Einheimischen, damit wir Gewicht zulegen. Magere Soldaten machen zu schnell schlapp, schätze ich. Aber es funktioniert. Schon nach einem Monat sehen wir deutlich gesünder aus, besonders die Kinder.

Gale stellt sein Tablett neben mir ab. Ich versuche, nicht allzu mitleiderregend auf seine Rüben zu starren, denn ich hätte wirklich gern mehr und er würde mir sein Essen jederzeit überlassen. Obwohl ich mich also hingebungsvoll dem Falten meiner Serviette widme, schwappt ein Löffel voll Rübenmus in meine Schale.

»Du musst damit aufhören«, sage ich, nicht recht überzeugend, da ich das Zeug bereits in mich reinlöffele. »Echt. Wahrscheinlich ist das sogar verboten.« Was das Essen angeht, sind die Regeln hier sehr streng. Man darf zum Beispiel nicht einfach etwas aus dem Speisesaal mitnehmen, um es für später aufzubewahren. Wahrscheinlich haben die Leute in früheren Zeiten Lebensmittel gehortet. Gale und mir, die wir unsere Familien über Jahre mit Nahrung versorgt haben, passt das natürlich gar nicht. Wir sind daran gewöhnt, hungrig zu sein, aber nicht daran, dass man uns sagt, wie wir mit unseren Vorräten umzugehen haben. In gewisser Weise übt Distrikt 13 noch mehr Kontrolle aus als das Kapitol.

»Was hab ich schon zu befürchten? Meine Mailmanschette haben sie ja schon«, erwidert Gale.

Während ich meine Schale auskratze, kommt mir eine Idee. »Hey, vielleicht sollte ich das ja zur Bedingung machen, damit ich den Spotttölpel spiele!«

»Dass ich dich mit Rüben füttern darf?«, fragt er.

»Nein, dass wir jagen dürfen.« Jetzt ist sein Interesse geweckt. »Wir müssten zwar alles in der Küche abliefern, aber immerhin könnten wir …« Ich brauche den Satz nicht zu beenden, er weiß es sowieso. Wir könnten über Tage sein. Draußen im Wald. Wir könnten wieder wir selbst sein.

»Gute Idee«, sagt er. »Und jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt dafür. Du könntest das Unmögliche verlangen und sie müssten es irgendwie beschaffen.«

Er kann nicht wissen, dass ich schon das Unmögliche verlange, indem ich fordere, dass sie Peeta verschonen. Bevor ich mich entscheiden kann, ob ich es ihm sage, klingelt es und die Essensschicht ist zu Ende. Die Vorstellung, Coin allein gegenüberzutreten, macht mich nervös. »Was sagt dein Plan?«

Gale schaut auf seinen Unterarm. »Unterricht in Atomargeschichte. Wo man übrigens deine Abwesenheit bemerkt hat.«

»Ich muss in die Kommandozentrale. Kommst du mit?«, frage ich.

»Ist gut. Aber nach der Szene gestern werfen sie mich vielleicht gleich wieder raus.« Während wir unsere Tabletts zurückgeben, sagt er: »Hör mal, Butterblume setzt du am besten auch noch auf die Liste deiner Forderungen. Ich glaube nicht, dass die hier Sinn für nutzlose Haustiere haben.«

»Ach, die finden schon einen Job für ihn. Und verpassen ihm dann jeden Morgen ein Tattoo auf seine Pfote«, erwidere ich. Aber ich nehme mir vor, ihn ebenfalls auf die Liste zu setzen, Prim zuliebe.

Als wir in die Kommandozentrale kommen, sind Coin, Plutarch und die ganze Truppe schon da. Bei Gales Anblick runzeln einige die Stirn, aber niemand setzt ihn vor die Tür. Die Liste der Bedingungen, die ich im Geist immer wieder aufsage, ist völlig durcheinandergeraten, deshalb lasse ich mir erst mal ein Blatt Papier und einen Stift geben. Dass ich so offensichtlich Interesse am Ablauf zeige - zum ersten Mal, seit ich hier bin -, sorgt für Verwunderung. Blicke werden gewechselt. Wahrscheinlich hatten sie eine ganz besondere Standpauke für mich vorbereitet. Nun aber reicht Coin persönlich mir das Gewünschte, und alle warten schweigend, während ich mich an den Tisch setze und meine Liste hinkritzele. Butterblume. Jagen. Peetas Straffreiheit. Öffentlich verkünden.

Das hier ist vermutlich meine einzige Chance zu verhandeln. Also, denk nach. Was willst du noch? Ich spüre ihn in meinem Rücken. Gale, schreibe ich auf die Liste. Ich glaube nicht, dass ich es ohne ihn schaffen werde.

Ich bekomme Kopfschmerzen, meine Gedanken verheddern sich. Ich schließe die Augen und fange an, still herunterzubeten.

Ich heiße Katniss Everdeen. Ich bin siebzehn Jahre alt. Meine Heimat ist Distrikt 12. Ich war in den Hunger spielen. Ich bin geflohen. Das Kapitol hasst mich. Peeta wurde gefangen genommen. Er lebt. Er ist ein Verräter, aber er lebt. Ich muss ihn retten …

Die Liste. Irgendwie sieht sie immer noch zu kurz aus. Ich muss in größerem Maßstab denken, über die gegenwärtige Situation hinaus, wo ich von größter Bedeutung bin, in die Zukunft, wenn ich vielleicht gar nichts mehr wert bin. Sollte ich nicht noch mehr verlangen? Für meine Familie? Für die Überlebenden aus meinem Heimatdistrikt? Ich spüre wieder die Asche der Toten auf meiner Haut. Wieder stoße ich mit dem Schuh gegen den Totenschädel. Und wieder sticht mir der Geruch von Blut und Rosen in die Nase.

Der Stift bewegt sich von allein über das Blatt. Ich öffne die Augen und sehe die krakeligen Buchstaben. ICH TÖTE SNOW. Wenn er gefangen genommen wird, möchte ich dieses Vorrecht.

Plutarch hüstelt diskret. »So weit fertig?« Ich blicke kurz auf und sehe zur Uhr. Zwanzig Minuten sind vergangen. Finnick ist nicht der Einzige, der Probleme mit der Konzentration hat.

»Ja«, sage ich. Meine Stimme klingt heiser, ich räuspere mich. »Ja, also: Das ist die Abmachung. Ich werde euer Spotttölpel sein.«

Ich halte inne, damit sie erleichtert aufseufzen, einander gratulieren und auf die Schulter klopfen können. Nur Coin bleibt wie immer gelassen und sieht mich unbeeindruckt an.

»Aber nur unter ein paar Bedingungen.« Ich streiche die Liste glatt und beginne zu lesen. »Meine Familie darf den Kater behalten.« Schon meine geringste Forderung löst eine Diskussion aus. Die Rebellen aus dem Kapitol sehen darin kein Problem - selbstverständlich kann ich mein Haustier behalten -, während die aus Distrikt 13 die großen Schwierigkeiten zu bedenken geben, die das mit sich brächte. Schließlich einigen sie sich darauf, dass wir in die oberste Ebene umziehen, die den Luxus eines kleinen Fensters über Tage bietet. Da kann Butterblume kommen und gehen, wann er will. Er muss sich allerdings selbst ernähren. Wenn er die Sperrstunde verpasst, wird er ausgeschlossen und muss draußen übernachten. Sollte er irgendwelche Sicherheitsprobleme verursachen, wird er unverzüglich abgeschossen.

Das klingt okay. Viel anders hat er seit seiner Ankunft hier sowieso nicht gelebt. Bis auf das Abgeschossenwerden. Wenn er zu sehr abmagert, kann ich wohl ein paar Innereien für ihn abzwacken - vorausgesetzt, meiner nächsten Bitte wird entsprochen.

»Ich will jagen. Zusammen mit Gale. Draußen im Wald«, sage ich. Allgemeines Schweigen.

»Wir werden nicht weit gehen. Wir benutzen unsere eigenen Bogen. Und das Fleisch bekommt ihr für die Küche«, ergänzt Gale.

Bevor irgendjemand Nein sagen kann, rede ich schnell weiter. »Ich … ich kann einfach nicht atmen, wenn ich so eingeschlossen bin … Ich würde schneller werden, besser, wenn ich … jagen könnte.«

Plutarch hebt an, um uns die Nachteile darzulegen, die Gefahren, die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, das Risiko einer Verletzung, doch Coin unterbricht ihn. »Nein. Lasst sie. Zieht von ihrer Trainingszeit täglich zwei Stunden ab. Vierhundert Meter Radius. Mit Funkgeräten und Aufspürringen an den Knöcheln. Was noch?«

Ich überfliege meine Liste. »Gale. Ich brauche ihn an meiner Seite.«

»Wie, an deiner Seite? Abseits der Kameras? Die ganze Zeit? Möchtest du ihn als deinen neuen Geliebten präsentieren?«, fragt Coin.

Ich spüre keine Niedertracht in ihrer Stimme - im Gegenteil, ihre Worte sind geradezu nüchtern. Aber mir klappt trotzdem die Kinnlade runter. »Was?«

»Ich denke, wir sollten die Romanze so laufen lassen wie bisher. Wenn seine Geliebte sich so schnell von Peeta abwendet, könnten die Zuschauer sie weniger sympathisch finden«, sagt Plutarch. »Zumal sie ja glauben, dass sie sein Kind im Leib trägt.«

»Einverstanden. Und bei den Fernsehauftritten kann man Gale einfach als Gefolgsmann der Rebellen darstellen. Ist das in Ordnung?«, fragt Coin. Ich starre sie nur an. Ungeduldig wiederholt sie ihre Frage. »Was Gale betrifft. Reicht das?«

»Wir können ihn problemlos als deinen Cousin einbauen«, meint Fulvia.

»Wir sind aber keine Cousins«, sagen Gale und ich gleichzeitig.

»Das wissen wir, aber um den Schein zu wahren, sollten wir vor der Kamera weiter so tun, als ob«, sagt Plutarch. »Sobald die Kameras aus sind, gehört er dir allein. Noch was?«

Der Verlauf der Unterhaltung hat mich völlig verunsichert. Die Interpretation, dass ich Peeta so bereitwillig loswerden will, dass ich in Gale verliebt bin, dass alles nur geschauspielert war. Meine Wangen brennen. Allein die Vorstellung, dass ich unter den gegebenen Umständen einen einzigen Gedanken daran verschwenden könnte, wer als mein Geliebter präsentiert werden soll, ist erniedrigend. Ich bin so verärgert, dass ich mit der größten Forderung herausplatze. »Wenn der Krieg vorbei ist, also wenn wir gewonnen haben, dann wird Peeta begnadigt.«

Totenstille. Ich merke, wie Gales Körper sich verkrampft. Vermutlich hätte ich ihm doch vorher Bescheid sagen sollen, aber ich war mir nicht sicher, wie er darauf reagiert hätte. Weil es ja um Peeta ging.

»Es wird keine Strafe gegen ihn verhängt«, fahre ich fort, und dabei kommt mir ein neuer Gedanke. »Das Gleiche gilt für die anderen gefangenen Tribute, Johanna und Enobaria.« Ehrlich gesagt ist Enobaria, meine grausame Gegnerin aus Distrikt 2, mir herzlich egal. Ich kann sie nicht leiden, aber ich finde es trotzdem nicht richtig, sie außen vor zu lassen. »Nein«, sagt Coin kategorisch.

»Doch«, schieße ich zurück. »Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr sie in der Arena zurückgelassen habt. Wer weiß, was das Kapitol mit ihnen anstellt?«

»Sie werden wie alle Kriegsgefangenen vor Gericht gestellt und entsprechend ihrem Urteil behandelt«, sagt sie.

»Ihr werdet ihnen Straffreiheit garantieren!« Ich springe auf und spreche mit kräftiger, tönender Stimme. »Und Sie persönlich werden das vor der gesamten Bevölkerung von Distrikt 13 und den Überlebenden aus 12 zusichern. Bald. Noch heute. Und das wird für spätere Generationen aufgezeichnet. Sie und Ihre Regierung werden persönlich für die Sicherheit der Tribute garantieren oder Sie können sich einen anderen Spotttölpel suchen!«

Einen Augenblick lang hängen meine Worte in der Luft.

»Bingo!«, raunt Fulvia Plutarch zu. »Genau so brauchen wir sie. Dann noch das Kostüm, Geballer im Hintergrund, ein bisschen Qualm.«

»Ja, genau so wollen wir sie haben«, flüstert Plutarch zurück.

Am liebsten würde ich ihnen einen wütenden Blick zuwerfen, aber ich spüre, dass es ein Fehler wäre, Coin aus den Augen zu lassen. Sie kalkuliert still die Kosten meines Ultimatums, wiegt sie gegen meinen möglichen Wert ab.

»Was meinen Sie, Präsidentin?«, fragt Plutarch. »Sie könnten einen offiziellen Gnadenerlass verkünden angesichts der Umstände. Der Junge … er ist nicht mal volljährig.«

»Einverstanden«, sagt Coin schließlich. »Aber dann spielst du auch mit.«

»Ich spiele mit, sobald Sie die Sache verkündet haben«, erwidere ich.

»Beruft heute während der Besinnung die Nationale Sicherheitsversammlung ein«, ordnet Coin an. »Dort werde ich die Sache verkünden. Steht sonst noch was auf deiner Liste, Katniss?«

Das Blatt liegt jetzt zerknüllt in meiner rechten Faust. Ich streiche es auf dem Tisch glatt und lese die krakeligen Buchstaben. »Eins noch. Ich töte Snow.«

Zum ersten Mal überhaupt sehe ich die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen der Präsidentin. »Wenn es so weit ist, werfen wir eine Münze.«

Vielleicht hat sie recht. Ich bin bestimmt nicht die Einzige, die Anspruch auf Snows Leben hat. Und dass Coin das auch hinkriegen würde, davon kann ich wohl ausgehen. »Von mir aus.«

Coin wirft einen schnellen Blick auf ihr Handgelenk, die Uhr. Auch sie hat einen Zeitplan, den sie einhalten muss. »Ich überlasse sie jetzt Ihnen, Plutarch.« Mit diesen Worten verlässt sie den Raum, ihre Mannschaft im Schlepptau. Plutarch, Fulvia, Gale und ich bleiben allein zurück.

»Ausgezeichnet. Ausgezeichnet.« Plutarch sinkt zusammen, die Ellbogen auf dem Tisch, und reibt sich die Augen. »Wisst ihr, was mir hier am meisten fehlt? Mehr als alles andere? Kaffee. Ist es denn zu viel verlangt, dass man etwas kriegt, um Haferschleim und Rüben runterzuspülen?«

»Wir hätten nicht gedacht, dass es hier so streng zugeht«, ergänzt Fulvia, während sie Plutarch die Schultern massiert. »Zumindest nicht in den oberen Rängen.«

»Wenn wenigstens die Aussicht auf kleine Nebenerwerbungen bestünde«, sagt Plutarch. »Sogar in Distrikt 12 gab es einen Schwarzmarkt, oder?«

»Ja, den Hob«, sagt Gale. »Da haben wir unser Fleisch verkauft.«

»Da, seht ihr? Selbst ihr, die ihr so anständig seid! Buchstäblich unkorrumpierbar!« Plutarch seufzt. »Was soll’s, Kriege dauern nicht ewig. Jedenfalls freue ich mich, dass ihr mitmacht.« Er greift zur Seite, wo Fulvia ihm ein großes, in schwarzes Leder eingebundenes Skizzenbuch hinhält. »Du weißt im Groben, was wir von dir wollen, Katniss. Mir ist bewusst, dass du mit gemischten Gefühlen an die Sache herangehst. Vielleicht wird dir das hier helfen.«

Plutarch schiebt das Skizzenbuch zu mir herüber. Einen Augenblick lang mustere ich es misstrauisch. Aber dann siegt meine Neugier. Ich schlage das Buch auf und entdecke ein Bild von mir, aufrecht und stark, in einer schwarzen Uniform, die auf den ersten Blick völlig zweckmäßig aussieht, sich auf den zweiten aber als wahres Kunstwerk offenbart. Nur ein Mensch kann dieses Outfit entworfen haben. Der Schwung des Helms, die Wölbung der Brustplatte, die leichte Fülle der Ärmel, die die weißen Falten unter den Armen erkennen lässt. In seinen Händen bin ich erneut ein Spotttölpel.

»Cinna«, flüstere ich.

»Ja. Ich musste ihm versprechen, dir dieses Buch erst zu zeigen, nachdem du dich aus freien Stücken entschlossen hast, der Spotttölpel zu sein. Ich war ganz schön in Versuchung, glaub mir«, sagt Plutarch. »Mach weiter. Geh es durch.«

Langsam blättere ich die Seiten um und betrachte die Uniform in allen Details. Die sorgfältig geschneiderten Schichten der Panzerung, die verborgenen Waffen in Stiefeln und Gürtel, die besonderen Verstärkungen über dem Herzen. Auf der letzten Seite, unter einer Darstellung meiner Spotttölpelbrosche, hat Cinna geschrieben: Ich wette immer noch auf dich.

»Wann hat er …« Die Stimme versagt mir.

»Schwer zu sagen. Irgendwann nach der Verkündung des Jubel-Jubiläums. In den Wochen vor den Spielen vielleicht? Die Zeichnungen sind nicht alles. Wir haben auch die Uniformen. Ach ja, und Beetee hat etwas ganz Besonderes, das unten im Arsenal auf dich wartet. Aber ich verrate noch nichts«, sagt Plutarch.

»Du wirst der bestgekleidete Rebell aller Zeiten sein«, sagt Gale und lächelt. Plötzlich wird mir bewusst, wie erleichtert er ist. Wie Cinna hat er von Anfang an gehofft, dass ich mich so entscheide.

»Wir planen eine Attacke auf ihr Sendezentrum«, erklärt Plutarch. »Wir wollen eine Serie von Propaganda-Spots einspielen - Propos, wie wir sie nennen - und sie der gesamten Bevölkerung von Panem zeigen.«

»Aber wie? Das Kapitol kontrolliert die Sender«, sagt Gale.

»Wir haben doch Beetee. Vor etwa zehn Jahren hat er das unterirdische Leitungsnetz, über das die Sendungen übertragen werden, von Grund auf neu gestaltet. Er ist guter Hoffnung, dass wir es schaffen. Aber natürlich brauchen wir erst mal etwas, das wir senden können. Und deshalb, Katniss, wartet jetzt das Studio auf dich.« Plutarch wendet sich an seine Assistentin. »Fulvia?«

»Plutarch und ich haben lange überlegt, wie wir es am besten angehen, und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir dich, unsere Rebellenführerin, von außen nach innen aufbauen. Das heißt, dass wir zunächst einen möglichst aufregenden Spotttölpel-Look finden und danach dann deine Persönlichkeit so herausarbeiten, dass du seiner auch würdig bist!«, sagt sie strahlend.

»Ihr habt ihre Uniform doch schon«, wirft Gale ein.

»Ja, aber ist sie abgerissen und blutverschmiert? Glimmt darin das Feuer der Rebellion? Wie schmuddelig darf sie sein, ohne dass die Leute sich angewidert abwenden? So oder so, sie muss etwas verkörpern. Denn das«, Fulvia tritt rasch auf mich zu und rahmt mit den Händen mein Gesicht ein, »das allein wird es kaum bringen.« Reflexhaft ziehe ich den Kopf zurück, aber da ist sie schon dabei, ihre Sachen zusammenzuraffen. »Wir haben noch eine weitere kleine Überraschung für euch. Kommt, kommt.«

Fulvia winkt uns zu sich, und Gale und ich folgen ihr und Plutarch in den Flur.

»Gut gemeint, aber echt taktlos«, flüstert Gale mir ins Ohr.

»Willkommen im Kapitol«, forme ich mit den Lippen. Doch Fulvias Worte lassen mich kalt. Ich halte mich lieber an das Skizzenbuch und gestatte mir ein wenig Optimismus. Es muss die richtige Entscheidung sein. Wenn Cinna es so wollte.

Wir betreten einen Aufzug und Plutarch geht seine Notizen durch. »Mal sehen. Einheit drei-neun-null-acht.« Er drückt auf einen Knopf mit einer 39 darauf, aber nichts passiert.

»Du brauchst den Schlüssel«, sagt Fulvia.

Plutarch zieht einen Schlüssel an einer dünnen Kette unter dem Hemd hervor und steckt ihn in einen Schlitz, der mir zuvor nicht aufgefallen war. Die Türen schließen sich. »Aha, jetzt aber!«

Der Aufzug fällt zehn, zwanzig, dreißig Ebenen nach unten.

Dass Distrikt 13 so tief reicht, habe ich nicht gewusst. Die Türen öffnen sich auf einen weiträumigen weißen Korridor mit einer Reihe roter Türen, die im Vergleich zu den grauen der oberen Geschosse fast dekorativ wirken. Jede ist deutlich mit einer Zahl beschriftet. 3901, 3902, 3903 …

Ich schaue rasch zurück auf den sich schließenden Aufzug und sehe, wie sich ein Metallgitter vor die Türen schiebt. Als ich wieder nach vorn blicke, ist plötzlich ein Wachmann aus einem der Räume am anderen Ende des Korridors aufgetaucht. Während er auf uns zumarschiert, schließt sich irgendwo hinter ihm unhörbar eine Tür.

Plutarch geht ihm entgegen und hebt die Hand zum Gruß, wir anderen folgen. Mir ist unwohl hier unten. Nicht nur wegen der doppelt gesicherten Aufzugtüren oder der Platzangst, die einen so weit unter der Erde beschleicht, oder wegen des beißenden Gestanks nach Desinfektionsmittel. Ein Blick in Gales Gesicht bestätigt mir, dass er genauso empfindet.

»Guten Morgen, wir suchen …«, hebt Plutarch an.

»Sie haben sich im Stockwerk geirrt«, sagt der Wachmann schroff.

»Tatsächlich?« Plutarch sieht noch einmal in seinen Unterlagen nach. »Aber ich habe hier doch drei-neun-null-acht stehen. Vielleicht könnten Sie mal anrufen und …«

»Ich fürchte, ich muss Sie bitten, sofort zu gehen. Für Unstimmigkeiten bei der Nummerierung ist das Hauptbüro zuständig«, sagt der Wachmann.

Raum 3908 liegt direkt vor uns. Nur ein paar Schritte entfernt. An der Tür - eigentlich an allen Türen - scheint etwas zu fehlen. Die Klinke. Vermutlich handelt es sich um eine Schwingtür wie die, aus der der Wachmann eben gekommen ist.

»Wo war das noch mal?«, fragt Fulvia.

»Das Hauptbüro befindet sich auf Ebene 7«, sagt der Wachmann und breitet die Arme aus, um uns zurück zum Aufzug zu treiben.

Aus Raum 3908 dringt ein Geräusch. Kaum hörbar. Ein Laut, wie ihn vielleicht ein verängstigter Hund machen würde, der nicht geschlagen werden will - nur viel zu menschlich und vertraut. Ich tausche einen kurzen Blick mit Gale, aber er ist lang genug, wenn zwei Menschen so miteinander vertraut sind wie wir. Unter Mordsgetöse lasse ich dem Wachmann Cinnas Skizzenbuch vor die Füße fallen. Sobald er sich danach bückt, bückt sich auch Gale, und zwar so, dass sie mit den Köpfen zusammenstoßen. »Oh, das tut mir leid«, sagt Gale und lacht auf, während er sich Halt suchend an den Armen des Wachmanns festhält und ihn von mir wegdreht.

Das ist die Gelegenheit. Ich husche hinter dem abgelenkten Wachmann vorbei, drücke die Tür mit der 3908 auf und stehe vor ihnen.

Halb nackt, zerschrammt und an die Wand gekettet. Die Mitglieder meines Vorbereitungsteams.

4

Ein Gestank nach ungewaschenen Körpern, altem Urin und Eiter sticht durch die Wolke aus Desinfektionsmitteln. Die drei Gestalten sind nur an ihren auffälligen Modeaccessoires zu erkennen: Venias goldene Gesichtstattoos, Flavius’ orangefarbene Korkenzieherlocken, Octavias immergrüne Haut, die nun ganz schlaff herabhängt wie die Hülle eines Ballons, der langsam die Luft verliert.

Als sie mich bemerken, pressen sich Flavius und Octavia gegen die gefliesten Wände, als würden sie nichts Gutes von mir erwarten, dabei habe ich ihnen nie etwas zuleide getan. Zwar habe ich sie manchmal mit unfreundlichen Gedanken bedacht, aber die habe ich immer für mich behalten. Warum schrecken sie bloß vor mir zurück?

Der Wachmann befiehlt mir herauszukommen, aber dem nun folgenden Gerangel entnehme ich, dass Gale ihn irgendwie zurückhält. Ich will wissen, was hier los ist. Vor Venia, die immer die Stärkste war, gehe ich in die Hocke und ergreife ihre eisigen Hände, die sich wie Schraubzwingen um meine schließen.

»Was ist passiert, Venia?«, frage ich. »Was macht ihr hier?«

»Sie haben uns mitgenommen. Aus dem Kapitol«, sagt sie mit heiserer Stimme.

Plutarch betritt den Raum. »Was um alles in der Welt geht hier vor?«

»Wer hat euch mitgenommen?«, dränge ich. »Leute«, sagt Venia vage. »In der Nacht, als du ausgebrochen bist.«

»Wir dachten, es wäre dir ein Trost, wenn du dein gewohntes Team um dich hättest«, sagt Plutarch hinter mir. »Cinna wollte es so.«

»Das hat Cinna gewollt?«, fauche ich ihn an. Wenn ich eins weiß, dann das: Cinna ist den dreien immer freundlich und geduldig begegnet, niemals hätte er gutgeheißen, dass sie misshandelt werden. »Warum werden sie wie Verbrecher behandelt?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.« So, wie er es sagt, muss ich ihm glauben, und Fulvias bleiches Gesicht ist die Bestätigung. Plutarch wendet sich an den Wachmann, der mit Gale im Schlepptau erscheint: »Ich wusste nur, dass man sie eingesperrt hat. Weshalb wurden sie auf diese Weise bestraft?«

»Weil sie Essen gestohlen haben. Es gab eine heftige Auseinandersetzung um Brot und da mussten wir sie in die Schranken weisen«, sagt der Wachmann.

Venia zieht die Brauen zusammen, als könnte sie es immer noch nicht begreifen. »Keiner hat uns was gesagt. Wir hatten solchen Hunger. Sie hat nur eine einzige Scheibe genommen.«

Octavia schluchzt in ihre zerlumpte Tunika. Ich weiß noch, wie sie mir damals, als ich zum ersten Mal aus der Arena herauskam, heimlich unter dem Tisch ein Brötchen zugesteckt hat, weil sie meinen Hunger nicht mit ansehen konnte. Ich krabbele zu ihr. »Octavia?« Als ich ihren zitternden Körper berühre, zuckt sie zusammen. »Octavia? Es wird alles gut. Ich hol euch hier raus, ja?«

»Das geht entschieden zu weit«, sagt Plutarch.

»Und das alles nur, weil sie eine Scheibe Brot geklaut hat?«, fragt Gale aufgebracht.

»Es war nicht das erste Mal. Man hat sie gewarnt. Aber sie haben immer weiter Brot gestohlen.« Der Wachmann hält kurz inne, als könnte er unsere Begriffsstutzigkeit nicht begreifen. »Brot stehlen ist verboten.«

Ich kann Octavia nicht dazu bewegen, mich anzuschauen, aber immerhin hebt sie den Kopf ein wenig. Die Ketten an ihren Handgelenken rutschen etwas herunter, man sieht das rohe Fleisch. »Ich bringe euch zu meiner Mutter«, sage ich, und zu dem Wachmann gewandt: »Mach sie los.«

Der Wachmann schüttelt den Kopf. »Dazu bin ich nicht befugt.«

»Mach sie los! Sofort!«, brülle ich.

Da ist es mit der Selbstsicherheit des Wachmanns auf einmal vorbei. Gewöhnliche Bürger sprechen ihn so nicht an. »Ich habe keinen Befehl, sie freizulassen. Und Sie sind nicht befugt …«

»Aber ich bin befugt«, schaltet sich Plutarch ein. »Wir wollten die drei sowieso mitnehmen. Wir brauchen sie, Waffenabteilung. Ich übernehme die volle Verantwortung.«

Der Wachmann geht weg, um zu telefonieren. Als er zurückkommt, hat er ein Schlüsselbund bei sich. Die drei mussten so lange in verkrampfter Körperhaltung ausharren, dass sie kaum laufen können. Gale, Plutarch und ich müssen sie stützen. Flavius’ Fuß bleibt im Metallgitter über einer kreisrunden Öffnung im Boden hängen, und als ich mir vorstelle, wozu ein Raum einen solchen Abfluss braucht, zieht sich mir der Magen zusammen. Dort lässt man die Flecken menschlichen Elends verschwinden, die man von den weißen Fliesen gespritzt hat …

In der Krankenstation suchen wir meine Mutter. Sie ist die Einzige, der ich die Gefangenen anvertrauen mag. In dem Zustand erkennt meine Mutter sie nicht gleich. Ich bemerke ihren konsternierten Blick, und ich weiß, dass er nicht von dem Anblick misshandelter Körper herrührt - das war für sie in Distrikt 12 Alltag -, sondern von der Erkenntnis, dass es solche Dinge auch in Distrikt 13 gibt.

In der Krankenstation hat man meine Mutter willkommen geheißen, auch wenn man in ihr, trotz ihrer lebenslangen Erfahrung als Heilerin, eher eine Krankenschwester sieht als eine Ärztin. Aber niemand mischt sich ein, als sie das Trio in ein Behandlungszimmer führt, um die Wunden zu untersuchen. Ich setze mich auf eine Bank im Flur vor dem Eingang zur Krankenstation und warte auf ihre Diagnose. Meine Mutter besitzt die Fähigkeit, an einem Körper die Qualen abzulesen, die er erlitten hat.

Gale setzt sich neben mich und legt mir den Arm um die Schultern. »Deine Mutter kriegt sie wieder hin.« Ich nicke und frage mich, ob er wohl an seine eigene brutale Auspeitschung in Distrikt 12 zurückdenken muss.

Plutarch und Fulvia setzen sich auf die Bank gegenüber, äußern sich aber nicht zum Zustand meines Vorbereitungsteams. Offenbar wussten sie nichts von der Bestrafung. Es muss ihnen peinlich sein, dass Präsidentin Coin sie ohne ihr Wissen angeordnet hat. Ich beschließe, ihnen aus der Klemme zu helfen.

»Das dürfte ein dezenter Hinweis an uns alle sein«, sage ich.

»Was? Nein. Was willst du damit sagen?«, fragt Fulvia.

»Dass die Bestrafung meines Vorbereitungsteams eine Warnung ist«, erläutere ich. »Nicht nur für mich. Auch für euch. Um uns daran zu erinnern, wer hier das Sagen hat und was mit denen passiert, die nicht gehorchen. Und falls ihr euch der Illusion hingegeben habt, ihr hättet Macht, dann solltet ihr euch jetzt davon verabschieden. Eure Herkunft aus dem Kapitol schützt euch hier nicht. Vielleicht ist sie sogar eher hinderlich.«

»Du willst doch nicht Plutarch, den Organisator beim Ausbruch der Rebellen, mit diesen drei Kosmetikheinis vergleichen?«, sagt Fulvia eisig.

Ich zucke die Achseln. »Wie du meinst. Aber was, wenn ihr bei Coin in Ungnade fallt, Fulvia? Mein Vorbereitungsteam wurde gekidnappt, sie haben wenigstens noch die Hoffnung, dass sie eines Tages ins Kapitol zurückkehren. Gale und ich können im Wald leben. Aber du und Plutarch? Wohin solltet ihr beide zurückgehen?«

»Vielleicht sind wir doch ein bisschen wichtiger für den Krieg, als du annimmst«, erwidert Plutarch zuversichtlich.

»Natürlich seid ihr das. Aber die Tribute sind auch wichtig für die Spiele gewesen. Bis sie es irgendwann nicht mehr waren«, sage ich. »Und dann waren wir auf einmal sehr entbehrlich - stimmt’s, Plutarch?«

Damit ist das Gespräch beendet. Schweigend warten wir, bis meine Mutter zu uns kommt. »Sie werden wieder auf die Beine kommen«, sagt sie. »Keine bleibenden körperlichen Schäden.«

»Gut. Wunderbar«, sagt Plutarch. »Wie lange wird es dauern, bis sie wieder einsatzbereit sind?«

»Warten wir bis morgen«, antwortet sie. »Nach allem, was sie durchgemacht haben, müssen wir mit einer gewissen emotionalen Labilität rechnen. Nach dem Leben, das sie im Kapitol führten, hat sie das alles hier völlig unvorbereitet getroffen.«

»Gilt das nicht für uns alle?«, sagt Plutarch.

Weil mein Vorbereitungsteam außer Gefecht gesetzt ist, entbindet Plutarch mich für den Rest des Tages von meinen Pflichten als Spotttölpel. Vielleicht auch, weil ich so angespannt bin. Jedenfalls gehen Gale und ich hinunter zum Mittagessen, wo uns heute ein Bohnen-Zwiebel-Eintopf, eine dicke Scheibe Brot sowie eine Tasse Wasser serviert werden. Nach Venias Geschichte bleibt mir das Brot allerdings im Hals stecken und ich schiebe den Rest auf Gales Tablett rüber. Während des Essens reden wir nicht viel, doch als unsere Schüsseln leer sind, krempelt Gale seinen Ärmel hoch und zeigt auf seinen Tagesplan. »Ich hab als Nächstes Training.«

Ich halte meinen Arm neben seinen. »Ich auch.« Im selben Augenblick fällt mir ein, dass Training jetzt Jagen heißt.

Der Wunsch, in den Wald zu entfliehen, und sei es nur für zwei Stunden, ist größer als meine Sorgen. In Laub und Sonnenlicht einzutauchen, könnte mir helfen, meine Gedanken zu ordnen.

Als wir draußen auf dem Hauptkorridor sind, laufen Gale und ich wie die Schulkinder los zum Arsenal, und als wir ankommen, bin ich atemlos und benommen. Ein Indiz dafür, dass ich noch nicht ganz die Alte bin. Die Wachleute händigen uns unsere Waffen sowie Messer und einen Jutebeutel aus, der zur Aufbewahrung der Beute dient. Ich sträube mich nicht, als der Aufspürer um meinen Knöchel gelegt wird, und mache ein aufmerksames Gesicht, als uns die Funktionsweise des Handfunkgeräts erklärt wird. Bei mir bleibt nur hängen, dass es eine Uhr besitzt und wir unbedingt zur festgesetzten Zeit zurück sein müssen, wenn wir nicht riskieren wollen, dass uns das Jagdprivileg wieder entzogen wird. Diese eine Regel werde ich nach Kräften befolgen.

Wir gehen hinaus auf das weitläufige eingezäunte Übungsgelände am Waldrand. Wachmänner öffnen kommentarlos die gut geölten Tore. Diesen Zaun auf eigene Faust zu überwinden, wäre alles andere als ein Kinderspiel: Er ist zehn Meter hoch, man hört das Sirren des Stroms, und den Abschluss bilden rasiermesserscharfe Stahlrollen. Wir gehen durch den Wald, bis wir den Zaun nicht mehr sehen. Auf einer kleinen Lichtung bleiben wir stehen und legen die Köpfe zurück, um das Licht der Sonne zu genießen. Ich breite die Arme aus und drehe mich im Kreis, langsam, damit mir nicht schwindelig wird.

Die Trockenheit, die mir schon in Distrikt 12 aufgefallen ist, hat auch hier die Pflanzen geschädigt, das dürre Laub bildet einen Teppich unter unseren Füßen. Wir ziehen die Schuhe aus. Meine passen sowieso nicht richtig, denn ganz im Sinne des Sparsamkeitsethos in Distrikt 13 hat man mir gebrauchte gegeben, aus denen der Vorbesitzer herausgewachsen war. Einer von uns muss einen merkwürdigen Gang haben, denn sie sind ganz komisch eingelaufen.

Gale und ich jagen wie in alten Zeiten. Schweigend, denn wir brauchen keine Worte, um uns zu verständigen, hier im Wald bewegen wir uns wie ein einziges Wesen. Wir ahnen den nächsten Schritt des anderen, geben uns gegenseitig Deckung. Wie lange ist das her, seit wir diese Freiheit zuletzt hatten? Acht Monate? Neun? Es ist nicht das Gleiche, wegen allem, was seither passiert ist, wegen der Aufspürer an unseren Knöcheln und der Tatsache, dass ich öfter mal eine Pause einlegen muss. Aber näher am Glück als in diesem Moment kann ich augenblicklich nicht sein.

Die Tiere hier sind nicht sehr scheu. Sie brauchen einen Moment zu lange, um unseren Geruch einzuordnen, und das bedeutet für sie den Tod. Nach anderthalb Stunden haben wir ein Dutzend Tiere erlegt, Kaninchen, Eichhörnchen und Truthähne. Wir beschließen, Feierabend zu machen und die verbleibende Zeit an einem Teich zu verbringen, der offenbar von einer unterirdischen Quelle gespeist wird, denn das Wasser ist kühl und süß.

Gale bietet an, die Tiere auszunehmen, und ich protestiere nicht. Ich lege mir ein paar Pfefferminzblätter auf die Zunge, schließe die Augen und lehne mich gegen einen Felsen. In dieser Haltung nehme ich die Geräusche in mir auf, genieße die heiße Nachmittagssonne auf der Haut und bin fast zur Ruhe gekommen, als Gales Stimme den Frieden unterbricht. »Wieso liegt dir eigentlich so viel an deinem Vorbereitungsteam, Katniss?«

Ich öffne die Augen, weil ich wissen will, ob er Witze macht, doch er blickt konzentriert auf das Kaninchen hinunter, dem er gerade das Fell abzieht. »Wieso denn nicht?«

»Tja. Weil sie das letzte Jahr damit verbracht haben, dich fürs Abschlachten schön zu machen, vielleicht?«, sagt er.

»So einfach ist das nicht. Ich kenne sie. Sie sind nicht böse oder grausam. Sie sind nicht mal besonders helle. Sie sind wie Kinder. Sie begreifen nicht … Ich meine, sie wissen nicht …« Ich verheddere mich in meinen Worten.

»Was wissen sie nicht, Katniss?«, fragt er. »Dass die Tribute - die in den Spielen doch die wahren Kinder sind - gezwungen werden, sich bis auf den Tod zu bekämpfen? Dass du in die Arena geschickt wurdest, damit die Leute ihren Spaß haben? War das im Kapitol ein großes Geheimnis?«

»Nein. Aber sie sehen das nicht so wie wir«, sage ich. »Sie sind damit groß geworden und …«

»Willst du sie deswegen auch noch in Schutz nehmen?« Mit einer schnellen Bewegung zieht er dem Kaninchen das Fell ab.

Das trifft mich, denn, so lächerlich es ist, genau das tue ich. Verzweifelt suche ich einen logischen Standpunkt. »Ich würde jeden in Schutz nehmen, der wegen einer Scheibe Brot so behandelt wird. Wahrscheinlich hat es mich einfach daran erinnert, was man wegen eines Truthahns mit dir gemacht hat!«

Aber er hat trotzdem recht. Es ist wirklich seltsam, dass ich mir solche Sorgen um mein Vorbereitungsteam mache. Eigentlich müsste ich sie doch hassen und am liebsten hängen sehen. Aber sie sind so unbedarft, außerdem gehörten sie zu Cinna, und der war doch auf meiner Seite, oder?

»Ich will mich wirklich nicht streiten«, sagt Gale. »Aber ich glaube nicht, dass Coin dich warnen wollte, indem sie die Typen dafür bestrafte, die hiesigen Regeln verletzt zu haben. Wenn überhaupt, dachte sie wahrscheinlich eher, dass sie dir damit einen Gefallen tut.« Er stopft das Kaninchen in den Beutel und steht auf. »Wir müssen los, wenn wir rechtzeitig zurück sein wollen.«

Ich ignoriere seine ausgestreckte Hand und komme wackelig auf die Füße. »Prima.« Auf dem Rückweg sagt keiner ein Wort, aber nachdem wir das Tor passiert haben, kommt mir ein neuer Gedanke. »Während der Vorbereitungen zum Jubel-Jubiläum mussten Octavia und Flavius ihre Arbeit abbrechen, weil sie die ganze Zeit darüber weinten, dass ich noch mal in die Arena musste. Und Venia konnte kaum Auf Wiedersehen sagen.«

»Ich versuch, dran zu denken, wenn sie dich … neu stylen«, sagt Gale.

»Tu das«, erwidere ich.

Wir gehen in die Küche und händigen das Fleisch Greasy Sae aus. Sie fühlt sich in Distrikt 13 wohl, auch wenn die Köche es für ihren Geschmack ein wenig an Erfindungsgeist mangeln lassen. Eine Frau, die aus wildem Hund und Rhabarber einen schmackhaften Eintopf zubereitet, muss sich hier vorkommen, als wären ihr die Hände gebunden.

Erschöpft von der Jagd und vom Schlafmangel, gehe ich zurück in unsere Wohneinheit. Sie ist leer, und erst da fällt mir wieder ein, dass wir wegen Butterblume ja umquartiert worden sind. Also fahre ich ins oberste Stockwerk und mache mich auf die Suche nach Einheit E. Es sieht dort genauso aus wie in Einheit 307, nur dass es in der Mitte der Außenwand ein Fenster gibt - sechzig Zentimeter breit und zwanzig Zentimeter hoch. Dieses Fenster wird durch eine schwere Metallplatte gesichert, doch jetzt steht es offen, und der Kater ist nirgendwo zu sehen. Ich lege mich aufs Bett und genieße den nachmittäglichen Sonnenstrahl, der auf mein Gesicht fällt. Und dann weiß ich nichts mehr, bis meine Schwester mich weckt: 18.00 Uhr - Besinnung.

Prim erzählt mir, dass beim Mittagessen die Versammlung angekündigt wurde. Abgesehen von jenen, die unabkömmlich sind, ist die gesamte Bevölkerung angewiesen, ihr beizuwohnen. Wir folgen den Hinweisschildern zur Versammlungshalle, einem Saal, der so groß ist, dass er die Tausende, die herbeiströmen, problemlos aufnimmt. Man sieht, dass er für noch größere Versammlungen errichtet wurde, wie sie vor der Pockenepidemie vielleicht auch stattgefunden haben. Prim weist schweigend auf die unübersehbaren Folgen der Katastrophe hin - die Pockennarben auf den Körpern, die leicht entstellten Kinder. »Die haben hier viel gelitten«, sagt sie.

Nach dem heutigen Morgen empfinde ich kein besonderes Mitleid mit Distrikt 13. »Nicht mehr als wir in Distrikt 12«, sage ich. Meine Mutter fuhrt eine Schar Patienten herein, die selbst gehen können. Sie tragen Nachthemden und Bademäntel der Krankenstation. Finnick ist unter ihnen, er sieht benommen aus und doch schön wie immer. In seinen Händen hält er ein Stück dünne Schnur, die mit ihren knapp dreißig Zentimetern Länge selbst für ihn zu kurz wäre, um daraus eine ausreichend große Schlinge zu knüpfen. Seine Finger bewegen sich schnell, unwillkürlich knüpfen und lösen sie verschiedene Knoten, während er starr vor sich hin blickt. Wahrscheinlich gehört das zu seiner Therapie. Ich gehe zu ihm und sage: »Hallo, Finnick.« Er scheint es nicht zu bemerken, deshalb stupse ich ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Finnick! Wie geht’s dir?«

»Katniss«, sagt er und greift nach meiner Hand. Er ist wohl erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen. »Warum versammeln wir uns hier?«

»Ich hab zugestimmt, für Coin den Spotttölpel zu spielen. Dafür muss sie mir versprechen, dass die anderen Tribute nach dem Sieg der Rebellen straffrei ausgehen«, erkläre ich. »Und zwar öffentlich, damit es viele Zeugen gibt.«

»Ah. Gut. Ich mache mir nämlich Sorgen wegen Annie. Dass sie unbewusst etwas sagt, was als verräterisch ausgelegt werden könnte«, erwidert Finnick.

Annie. Oje. Die habe ich ganz vergessen. »Keine Sorge, für sie gilt es auch.« Ich drücke Finnicks Hand und gehe zum Podium an der Stirnseite des Raums. Coin, die gerade noch einmal ihre Erklärung überfliegt, hebt die Augenbraue. »Annie Cresta muss auch noch auf die Liste derjenigen, die straffrei ausgehen«, sage ich zu ihr.

Die Präsidentin runzelt die Stirn. »Wer ist das?«

»Sie ist die …« Ja, was? Ich weiß wirklich nicht, als was ich sie bezeichnen soll. »Sie ist eine Freundin von Finnick Odair. Aus Distrikt 4. Auch eine Siegerin. Sie wurde verhaftet und ins Kapitol verschleppt, als die Arena in die Luft flog.«

»Ach, die Verrückte. Das ist wirklich nicht nötig«, sagt sie. »Wir pflegen keine Schwachen zu bestrafen.«

Ich muss an die Szene von heute Morgen denken. An Octavia, die sich an die Wand kauert. Coin und ich müssen völlig unterschiedliche Begriffe davon haben, was Schwäche bedeutet. Aber ich sage nur: »Nicht? Na, dann dürfte es doch kein Problem sein, Annie mit draufzusetzen.«

»Einverstanden«, sagt die Präsidentin und schreibt Annies Namen dazu. »Möchtest du hier oben neben mir stehen, wenn ich die Erklärung verlese?« Ich schüttele den Kopf. »Das dachte ich mir. Dann geh und misch dich unter die Menge. Ich fange jetzt an.« Ich kehre zu Finnick zurück.

Selbst mit Worten gehen sie in Distrikt 13 sparsam um. Coin bittet die Anwesenden um Aufmerksamkeit und teilt ihnen mit, dass ich zugestimmt habe, der Spotttölpel zu sein, vorausgesetzt, die anderen Sieger - Peeta, Johanna, Enobaria und Annie - werden nicht bestraft, und zwar unabhängig davon, ob sie der Sache der Rebellen Schaden zufügen oder nicht. In der Menge rumort es. Wahrscheinlich sind alle davon ausgegangen, dass ich unbedingt der Spotttölpel sein will. Deshalb bringt es sie auf, dass ich einen Preis nenne - und noch dazu einen, der mögliche Feinde verschont. Ich stehe einfach da und lasse die feindseligen Blicke an mir abprallen.

Die Präsidentin gestattet ein paar Augenblicke der Unruhe, dann macht sie auf ihre kurz angebundene Art weiter. Nur dass das, was sie jetzt verkündet, neu für mich ist. »Als Gegenleistung für diese beispiellose Forderung hat Soldat Everdeen versprochen, sich für unsere Sache zu opfern. Daraus folgt, dass jedes Abweichen von ihrer Mission in Wort oder Tat als Verstoß gegen diese Übereinkunft betrachtet wird. In einem solchen Fall würde die Straffreiheit widerrufen und das Schicksal der vier Sieger dem Gesetz von Distrikt 13 unterworfen. So wie ihr eigenes auch. Danke.«

Mit anderen Worten: Ein Fehltritt, und wir sind alle tot.

5

Noch ein Druck, mit dem ich fertigwerden muss. Noch ein mächtiger Spieler, der beschlossen hat, mich als Figur zu benutzen, obwohl die Dinge doch nie laufen wie geplant. Zuerst waren da die Spielmacher, die einen Star aus mir machen wollten und dann ihre liebe Not damit hatten, aus der Sache mit den giftigen Beeren wieder herauszukommen. Als Nächstes Präsident Snow, der mit meiner Hilfe die Flammen der Rebellion austreten wollte und doch nur erreichte, dass sie mit jedem meiner Schritte höher loderten. Dann die Rebellen, die mich mit einem stählernen Greifer aus der Arena zogen, damit ich ihr Spotttölpel werde, und die dann erfahren mussten, dass ich die Flügel vielleicht gar nicht haben wollte. Und jetzt Coin mit ihren kostbaren Atomraketen und ihrem gut geölten Distrikt, die feststellen muss, dass es noch schwieriger ist, einen Spotttölpel aufzubauen, als ihn einzufangen. Immerhin hat sie vor allen anderen erkannt, dass ich meinen eigenen Kopf habe und man mir nicht trauen sollte. Sie ist die Erste, die mich öffentlich als Bedrohung bezeichnet hat.

Ich tauche die Finger in den dicken Schaum. Diese Grundreinigung in der Badewanne ist nur ein erster Schritt, bevor sie meinen neuen Look festlegen. Mein Vorbereitungsteam wird mich so wiederherstellen, dass man die verätzten Haare, die sonnenverbrannte Haut und die hässlichen Narben nicht mehr sieht. Sie werden mich schön machen, um mich dann erneut zu ramponieren, zu verbrennen und zu entstellen, aber so, dass es gut aussieht.

»Bringt sie erst mal auf Beauty Zero«, hat Fulvia heute Morgen angeordnet. »Dann legen wir los.« Beauty Zero entspricht dem Aussehen eines Menschen, der frisch dem Bett entsteigt, makellos, aber natürlich. Die Nägel gefeilt, aber nicht lackiert. Das Haar weich und schimmernd, aber nicht frisiert. Die Haut zart und sauber, aber ungeschminkt. Entfernt die Körperbehaarung mit Wachs und tilgt die schwarzen Ringe unter den Augen, aber unterlasst jede augenfällige Verschönerung. Cinna hat bestimmt die gleichen Anweisungen gegeben, als ich das erste Mal als Tribut im Kapitol eintraf. Nur dass ich damals ein Wettkampfteilnehmer war. Als Rebell, hätte ich gedacht, darf ich mehr wie ich selbst aussehen. Doch ein Fernsehrebell muss offenbar anderen Standards genügen.

Ich brause den Schaum ab und steige aus der Wanne. Octavia wartet schon mit einem Handtuch. Sie ist so anders als die Frau, die ich im Kapitol kennengelernt habe, keine auffälligen Kleider, kein starkes Make-up, keine Tönungen, kein Strass oder sonstiger Nippes, mit dem sie früher ihr Haar schmückte. Ich weiß noch, wie sie eines Tages mit pinkfarbenen Zöpfen ankam, in die sie bunte blinkende Plastikmäuse eingeflochten hatte. Sie hielt mehrere Mäuse als Haustiere, erzählte sie mir. Damals stieß mich das ab, denn Mäuse gelten bei uns als Ungeziefer, außer gekocht. Aber Octavia mochte sie vermutlich, weil sie klein, weich und piepsig waren. Wie sie selbst. Während sie mich trocken tupft, versuche ich mich mit der Distrikt-13-Octavia vertraut zu machen. Ihr Haar ist in Wirklichkeit von einem schönen Kastanienbraun. Ihr Gesicht ist gewöhnlich, aber nicht ohne Anmut. Sie ist jünger, als ich dachte. Anfang zwanzig vielleicht. Ihre Finger, die ohne die sieben Zentimeter langen künstlichen Nägel etwas stummelig wirken, zittern die ganze Zeit. Ich würde ihr gern sagen, dass alles in Ordnung ist, dass ich dafür sorgen werde, dass Coin ihr nie wieder wehtut. Doch die vielfarbigen Blutergüsse unter ihrer grünen Haut erinnern mich daran, wie machtlos ich bin.

Auch Flavius wirkt ohne den lila Lippenstift und die leuchtenden Klamotten wie ausgewaschen. Immerhin hat er seine orangefarbenen Ringellocken halbwegs wieder hingekriegt. Venia hat sich am wenigsten verändert. Ihr einst stacheliges blaues Haar liegt platt am Kopf und man sieht den grauen Haaransatz. Aber das Auffälligste an ihr waren schon immer die Tattoos und die sind so golden und schockierend wie immer. Sie geht zu Octavia und nimmt ihr das Handtuch ab.

»Katniss wird uns nicht wehtun«, sagt sie ruhig, aber bestimmt zu Octavia. »Katniss wusste gar nicht, dass wir hier sind. Jetzt wird alles besser.« Octavia nickt kaum merklich, aber sie traut sich immer noch nicht, mir in die Augen zu schauen.

Trotz des ausgeklügelten Arsenals an Produkten und Apparaten, die Plutarch in weiser Voraussicht aus dem Kapitol mitgenommen hat, ist es keine leichte Aufgabe, mich auf Beauty Zero zu bringen. Doch mein Vorbereitungsteam kommt gut voran - bis sie sich die Stelle an meinem Unterarm vornehmen, wo Johanna den Aufspür er herausgerissen hat. Als die Ärzte die klaffende Wunde zusammenflickten, haben sie sich nicht darum gekümmert, wie das hinterher aussehen mag. Und so prangt dort jetzt eine wulstige, unregelmäßige Narbe von der Größe eines Apfels. Normalerweise wird sie vom Ärmel bedeckt, doch die Ärmel von Cinnas Spotttölpelkostüm enden knapp über dem Ellbogen. Die Sache ist so wichtig, dass Fulvia und Plutarch zurate gezogen werden. Beim Anblick der Narbe muss Fulvia unwillkürlich würgen. Für die Assistentin eines Spielmachers ist sie ganz schön empfindlich. Vermutlich bekommt sie die unerfreulichen Dinge sonst nur auf dem Bildschirm zu sehen.

»Weiß doch jeder, dass ich an dieser Stelle eine Narbe habe«, sage ich mürrisch.

»Es zu wissen und es zu sehen, sind zwei verschiedene Paar Schuh«, sagt Fulvia. »Die Narbe ist zu abstoßend. Plutarch und ich werden uns in der Mittagspause etwas überlegen.«

»Das kriegen wir schon hin«, erklärt Plutarch mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Vielleicht ein Armband oder so was.«

Angewidert ziehe ich mich an, damit ich in den Speisesaal kann. Mein Vorbereitungsteam steht dicht gedrängt am Ausgang. »Wird euch das Essen hierher gebracht?«, frage ich.

»Nein«, sagt Venia. »Wir sollen in irgendeinen Speisesaal gehen.«

Bei der Vorstellung, mit den dreien im Schlepptau den Speisesaal betreten zu müssen, seufze ich still auf. Aber was soll’s, die Leute starren mich sowieso immer an. Viel schlimmer kann es nicht werden. »Ich zeig euch den Weg«, sage ich. »Kommt mit.«

Normalerweise gibt es verstohlene Blicke und leises Gemurmel, wenn ich auftauche. Aber der bizarre Anblick meines Vorbereitungsteams löst heftigere Reaktionen aus. Den Leuten bleibt der Mund offen stehen, sie zeigen mit dem Finger auf uns, Rufe werden laut. »Einfach ignorieren«, weise ich mein Team an. Mit gesenkten Blicken folgen sie mir mechanisch zur Warteschlange, nehmen Schalen mit gräulichem Fisch und Okraschoteneintopf und Tassen mit Wasser in Empfang.

Wir setzen uns an meinen Tisch, neben eine Gruppe aus dem Saum. Sie reagieren ein wenig zurückhaltender als die Leute aus 13, vielleicht sind sie aber auch nur verlegen. Leevy, die in Distrikt 12 in der Nachbarschaft wohnte, begrüßt die drei aus dem Kapitol schüchtern, und Gales Mutter Hazelle, die über ihre Gefangenschaft Bescheid wissen dürfte, hält den Löffel mit dem Okrabrei hoch. »Keine Angst«, sagt sie. »Schmeckt besser, als es aussieht.«

Aber erst Posy, Gales kleine Schwester, bricht das Eis. Sie rutscht über die Bank zu Octavia und berührt zaghaft ihre Haut. »Du bist grün. Bist du krank?«

»Das ist modisch, Posy. Wie wenn man sich die Lippen anmalt«, sage ich.

»Es soll schöner machen«, flüstert Octavia, und ich sehe die Tränen, die jeden Moment überlaufen können.

Posy denkt darüber nach und sagt nüchtern: »Ich glaube, du siehst mit jeder Farbe hübsch aus.«

Die winzige Andeutung eines Lächelns erscheint auf Octavias Lippen. »Danke.«

»Wenn du Posy richtig beeindrucken möchtest, dann solltest du dich pink färben«, sagt Gale und lässt sein Tablett neben meins krachen. »Das ist ihre Lieblingsfarbe.« Posy kichert und rutscht zurück zu ihrer Mutter. Gale nickt zu Flavius’ Schale hin. »Ich würde das lieber nicht kalt werden lassen. Die Konsistenz wird nicht besser.«

Alle fangen an zu essen. Der Gemüseeintopf schmeckt nicht schlecht, aber das leicht schleimige Gefühl im Mund ist schwer erträglich. Als müsste man jeden Happen dreimal hinunterschlucken, bevor er wirklich unten ist.

Gale, der beim Essen normalerweise nicht viel spricht, versucht die Unterhaltung in Gang zu halten und fragt mich, wie es beim Styling war. Ein Versuch, gut Wetter zu machen, das ist mir klar. Gestern Abend haben wir uns nämlich wieder mal gestritten. Er meinte, ich hätte Coin keine Wahl gelassen: Auf meine Forderung nach Straffreiheit für die Siegertribute hätte sie mit eigenen Garantieforderungen reagieren müssen. »Sie ist es, die diesen Distrikt regiert, Katniss. Es darf nicht so aussehen, als würde sie deinem Willen einfach so nachgeben.«

»Du meinst wohl eher, dass sie keine abweichende Meinung ertragen kann, selbst wenn sie begründet ist«, entgegnete ich.

»Ich meine, du hast sie in eine dumme Lage gebracht. Sie musste Peeta und den anderen zu einem Zeitpunkt Straffreiheit gewähren, da wir noch gar nicht wissen, welchen Schaden sie vielleicht anrichten werden.«

»Ich hätte also einfach mitmachen und die anderen Tribute ihrem Schicksal überlassen sollen? Aber was soll’s, das tun wir ja sowieso schon die ganze Zeit!« Und damit schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu. Beim Frühstück habe ich mich an einen anderen Platz gesetzt, und als Plutarch Gale am Vormittag zum Training geschickt hat, habe ich mich nicht von ihm verabschiedet. Ich weiß, dass er nur aus Sorge um mich so redet, aber ich brauche ihn auf meiner Seite, nicht auf Coins. Das muss ihm doch klar sein!

Nach dem Mittagessen sieht der Tagesplan für Gale und mich einen Besuch unten bei Beetee in der Waffenabteilung vor. Im Aufzug sagt Gale schließlich: »Du bist immer noch sauer.«

»Und dir tut es immer noch nicht leid«, erwidere ich.

»Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Soll ich dich etwa anlügen?«, fragt er.

»Nein, du sollst noch mal darüber nachdenken und zu dem richtigen Schluss gelangen«, sage ich. Aber da lacht er nur. Ich muss mich damit abfinden. Gale lässt sich nicht vorschreiben, was er denken soll. Und ehrlich gesagt, vertraue ich ihm gerade deshalb.

Die Waffenabteilung befindet sich eine Ebene über dem Kerker, wo wir mein Vorbereitungsteam gefunden haben. Ein Gewirr aus zahllosen Räumen voller Computer, Labors, Forschungsausrüstung und Testeinrichtungen.

Wir fragen nach Beetee und werden durch das Labyrinth geschickt, bis vor eine riesige Glasscheibe. Dahinter befindet sich die erste schöne Sache, die ich in Distrikt 13 bisher gesehen habe: die Nachbildung einer Wiese mit echten Bäumen, blühenden Pflanzen und lebendigen Kolibris. Beetee sitzt reglos in einem Rollstuhl in der Mitte der Wiese und schaut einem frühlingsgrünen Vogel zu, der, in der Luft stehend, aus einer großen orangefarbenen Blüte Nektar saugt. Als der Vogel wegfliegt, schaut Beetee ihm hinterher, und da sieht er uns und winkt uns freundlich herein.

Die Luft ist unerwartet kühl und angenehm, gar nicht feucht und schwül. Von allen Seiten hört man das Surren winziger Flügel, das ich im ersten Augenblick mit dem Gesumme der Insekten in unserem Heimatwald verwechsele. Welchem Glücksfall es wohl zu verdanken ist, dass hier so etwas Schönes entstehen konnte?

Beetee ist immer noch sehr blass, doch die Augen hinter der schlecht sitzenden Brille leuchten vor Begeisterung. »Sind die nicht umwerfend? Distrikt 13 hat hier jahrelang das Flugverhalten der Kolibris erforscht. Vorwärts-und Rückwärtsflug, Geschwindigkeiten bis zu hundert Stundenkilometern. Ach, könnte ich dir solche Flügel konstruieren, Katniss!«

»Ich bezweifle, dass ich damit zurechtkäme, Beetee«, sage ich lachend.

»In der einen Sekunde hier, in der nächsten dort. Kannst du einen Kolibri mit dem Pfeil treffen?«, fragt er.

»Ich hab’s noch nie versucht. Ist nicht viel dran an den Dingern«, antworte ich.

»Nein. Und zum Spaß tötest du nicht«, sagt er. »Ich wette, du würdest sie nicht erwischen.«

»Mit einer Falle könnte es gehen«, sagt Gale. Sein Gesicht nimmt diesen abwesenden Ausdruck an, wie immer, wenn er etwas austüftelt. »Man brauchte ein sehr feinmaschiges Netz. Damit müsste man ein größeres Areal einfassen und nur eine etwa einen Quadratmeter große Öffnung lassen, die mit Nektarblüten bestückt wird. Während die Vögel daran saugen, wird die Öffnung geschlossen. Von dem Geräusch würden sie sofort wegfliegen und sich im Netz verfangen.«

»Du meinst, das würde funktionieren?«, fragt Beetee.

»Ich weiß nicht. Nur so eine Idee«, sagt Gale. »Vielleicht wären sie auch zu clever.«

»Gut möglich. Du baust auf ihren natürlichen Fluchtinstinkt. Denke wie deine Beute … und du findest ihre Schwachstelle«, sagt Beetee.

Mir fällt etwas ein, an das ich mich nicht gern erinnere. Damals bei der Vorbereitung auf das Jubel-Jubiläum habe ich in der Aufzeichnung einer früheren Ausgabe der Hungerspiele gesehen, wie Beetee, damals noch ein Junge, zwei Drähte miteinander verband. Der Stromschlag tötete die anderen Tribute, die hinter ihm her waren. Ihre zuckenden Körper, der groteske Ausdruck in ihren Gesichtern. Und Beetee, der nunmehrige Sieger, sah ihnen beim Sterben zu. Es war nicht seine Schuld.

Reiner Selbstschutz. Wir alle haben versucht, uns selbst zu schützen …

Plötzlich möchte ich nur noch raus aus dem Raum mit den Kolibris, bevor irgendjemand auf die Idee kommt, eine Falle aufzustellen. »Plutarch meinte, du hättest was für mich, Beetee.«

»Richtig, habe ich. Deinen neuen Bogen.« Er drückt einen Knopf auf der Rollstuhllehne und fährt hinaus. Während wir ihm durch die verschachtelten Gänge der Abteilung folgen, erklärt er uns, was es mit dem Rollstuhl auf sich hat. »Ich kann schon wieder ein bisschen gehen. Aber ich ermüde schnell. Es ist einfacher, wenn ich mich damit fortbewege. Wie geht’s Finnick?«

»Er … er hat Konzentrationsprobleme«, antworte ich. Ich möchte nicht herumerzählen, dass er einen richtigen Nervenzusammenbruch gehabt hat.

»Konzentrationsprobleme, was?« Beetee lächelt grimmig. »Wenn du wüsstest, was Finnick in den letzten Jahren durchgemacht hat, dann wüsstest du auch, wie bemerkenswert es ist, dass er überhaupt noch unter uns weilt. Aber sag ihm doch, ich hätte einen neuen Dreizack für ihn entwickelt, ja? Vielleicht lenkt ihn das eine Zeit lang ab.« Ablenkung scheint mir zwar das Letzte, was Finnick nötig hat, aber ich verspreche trotzdem, die Botschaft zu überbringen.

Vier Soldaten bewachen den Eingang zu einer Halle mit der Kennzeichnung GEHEIMWAFFEN. Als Erstes werden die Tagespläne auf unseren Unterarmen kontrolliert, aber das ist nur der Anfang. Fingerabdrücke, Iris und DNA-Sequenzen werden ebenfalls geprüft und dann werden wir noch durch spezielle Metalldetektoren geschickt. Beetee muss seinen Rollstuhl draußen lassen, bekommt aber einen anderen, sobald wir den Sicherheitscheck hinter uns haben. Ich finde das alles ziemlich seltsam, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer, der in Distrikt 13 aufgewachsen ist, eine Bedrohung darstellt, vor der sich die Regierung schützen müsste. Oder wurden diese Maßnahmen als Reaktion auf den jüngsten Zustrom von Flüchtlingen eingerichtet?

Am Eingang zum Arsenal müssen wir uns erneut umfassend ausweisen - als hätte sich mein Erbgut in der Zeit, die wir für die zwanzig Meter Flur benötigt haben, verändert - und dürfen dann endlich die Waffensammlung betreten, bei der es mir, das muss ich zugeben, den Atem verschlägt. Reihe um Reihe Schusswaffen, Raketenwerfer, Sprengstoff, gepanzerte Fahrzeuge. »Die Luftwaffe ist natürlich woanders untergebracht«, erläutert Beetee.

»Natürlich«, sage ich, als läge das auf der Hand. Ich frage mich, wo unter all diesem Hightech-Gerät mein schlichter Pfeil und Bogen eingeordnet worden sein mag, bis wir auf eine Wand mit den tollsten Bogenwaffen stoßen. Im Vorfeld der Spiele habe ich viel mit den Waffen des Kapitals trainiert, aber keine davon war für den Kriegseinsatz entwickelt worden. Ich konzentriere mich auf einen tödlich aussehenden Bogen, der so mit Zielvorrichtungen und sonstigem Zubehör befrachtet ist, dass ich ihn bestimmt nicht hochheben und noch viel weniger damit schießen kann.

»Möchtest du vielleicht mal einen davon ausprobieren, Gale?«, fragt Beetee.

»Im Ernst?«, erwidert Gale.

»Zum Kämpfen bekommst du natürlich irgendwann ein Gewehr. Aber in den Propos, wenn du als Mitglied von Katniss’

Team in Erscheinung trittst, wäre so einer vielleicht ein bisschen auffälliger. Ich dachte, du möchtest dir vielleicht einen aussuchen, der zu dir passt«, erklärt Beetee.

»Und ob.« Gales Hand schließt sich um den Bogen, der kurz zuvor meine Aufmerksamkeit erregt hat. Er hievt ihn sich auf die Schulter, schaut durchs Visier und zielt im Raum umher.

»Das scheint mir nicht sehr fair gegenüber dem Hirsch«, sage ich.

»Auf Hirsche würde ich damit auch kaum schießen, oder?«, antwortet er.

»Bin gleich wieder da«, sagt Beetee. Er tippt einen Nummerncode in ein Bedienfeld ein und eine schmale Tür öffnet sich. Ich schaue ihm nach, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hat.

»Das könntest du so einfach? Damit auf Menschen schießen?«, frage ich.

»Das habe ich nicht gesagt.« Gale lässt den Bogen sinken. »Aber wenn ich eine Waffe gehabt hätte, mit der ich das, was ich in Distrikt 12 gesehen habe, hätte beenden können … Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, mit der ich dich vor der Arena hätte bewahren können … ich hätte sie benutzt.«

»Ich auch«, gebe ich zu. Doch ich weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, wie es hinterher ist, nachdem man einen Menschen getötet hat. Dass man die Toten nie mehr loswird.

Beetee kommt zurückgerollt. Zwischen der Fußstütze und seiner Schulter balanciert er mehr schlecht als recht einen großen schwarzen Kasten. Er hält vor mir an und lässt ihn auf mich zukippen. »Für dich.«

Ich lege den Kasten auf den Boden und öffne die Verschlüsse an der Seite. Lautlos klappt der Deckel auf. Darin liegt auf einem Bett aus weinrotem Knautschsamt ein fantastischer schwarzer Bogen. »Oh«, flüstere ich voller Ehrfurcht. Vorsichtig hebe ich ihn heraus, um die Harmonie der Form, das elegante Design und den Schwung der Arme zu bewundern, die an die Schwingen eines fliegenden Vogels erinnern. Da ist noch etwas. Ich muss ganz stillhalten, um sicherzugehen, dass ich es mir nicht nur einbilde. Nein, der Bogen lebt in meinen Händen. Ich drücke ihn gegen die Wange und spüre das leise Summen in meinen Gesichtsknochen. »Was macht er da?«, frage ich.

»Er sagt Guten Tag«, erklärt Beetee grinsend. »Er hat deine Stimme gehört.«

»Er erkennt meine Stimme?«, frage ich.

»Nur deine Stimme«, erläutert Beetee. »Eigentlich sollte ich bloß einen Bogen entwerfen, der gut aussieht. Als Teil deines Kostüms, weißt du? Aber ich dachte mir die ganze Zeit: So eine Verschwendung! Was, wenn du ihn mal gebrauchen musst? Nicht nur als modisches Accessoire, meine ich. Also habe ich sein Äußeres eher schlicht gestaltet und meine Fantasie auf sein Innenleben gerichtet. Am besten lässt sich das in der Praxis erklären. Wollt ihr sie mal ausprobieren?«

Gesagt, getan. Eine Zielscheibe für uns hängt schon da. Die Pfeile, die Beetee entworfen hat, sind genauso ungewöhnlich wie der Bogen. Ich kann damit auf hundert Meter punktgenau treffen. Die unterschiedlichen Eigenschaften der Pfeile - rasiermesserscharf, entzündlich, explosiv - verwandelten den Bogen in eine Mehrzweckwaffe. Die jeweilige Eigenschaft erkennt man an der Färbung des Schafts. Ich kann die Pfeile jederzeit durch einen Befehl stoppen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wieso ich das tun sollte. Um den Bogen zu deaktivieren, muss ich nur »Gute Nacht« sagen. Dann geht er schlafen, bis ihn meine Stimme wieder weckt.

Als ich Beetee und Gale zurücklasse und mich auf den Weg zu meinem Vorbereitungsteam mache, bin ich bester Laune. Geduldig lasse ich die Schminkprozedur über mich ergehen und ziehe mein Kostüm an, das nun um einen blutigen Verband über der Narbe an meinem Unterarm ergänzt ist: Er soll darauf hinweisen, dass ich frisch vom Schlachtfeld komme. Venia steckt mir die Spotttölpelbrosche über dem Herzen an. Ich nehme meinen Bogen und den Köcher mit den normalen Pfeilen aus Beetees Produktion, denn mit den Spezialpfeilen würde man mich hier niemals herumspazieren lassen. Anschließend gehen wir ins Filmstudio, wo ich stundenlang dastehe, während sie Make-up, Beleuchtung und Rauchdichte einrichten. Irgendwann werden die Kommandos, die über eine Gegensprechanlage von unsichtbaren Personen in dem geheimnisvollen verspiegelten Kabuff gegeben werden, weniger und weniger. Fulvia und Plutarch schauen mich jetzt bloß noch an und müssen kaum mehr Anweisung zum Nachbessern geben. Schließlich wird es still am Set. Volle fünf Minuten lang werde ich nur gemustert. Dann sagt Plutarch: »So wird’s gehen, denke ich.«

Ich werde zu einem Monitor gewinkt. Dort sind die letzten fünf Minuten zu sehen und ich betrachte die Frau auf dem Bildschirm. Ihr Körper wirkt größer, imposanter als meiner. Ihr Gesicht ist schmutzig, aber sexy. Die Brauen schwarz und in einem trotzigen Winkel nachgezeichnet. Aus der Kleidung steigen kleine Rauchfahnen und suggerieren, dass die Frau entweder eben erst gelöscht wurde oder im nächsten Augenblick in Flammen aufgeht. Ich kenne diese Person nicht.

Finnick, der sich schon seit Stunden am Set herumtreibt, tritt hinter mich und sagt in einem Anflug seines alten Humors: »Entweder wollen sie dich töten oder küssen oder du sein.«

Alle sind so aufgekratzt, so zufrieden mit ihrem Werk. Eigentlich ist es bald Zeit fürs Abendessen, aber sie bestehen darauf, dass wir weitermachen. Morgen werden wir uns auf die Reden und Interviews konzentrieren, in denen ich behaupte, Seite an Seite mit den Rebellen zu kämpfen. Heute brauchen sie nur einen Slogan, eine Zeile, die sie in einen kurzen Propo einbauen und Coin vorführen können.

»Volk von Panem, wir kämpfen, wir wagen, wir wollen endlich Gerechtigkeit!« So lautet der Text. An der Art, wie sie ihn präsentieren, kann ich erkennen, dass sie Monate, vielleicht Jahre daran gefeilt haben und richtig stolz darauf sind. Aber auf mich wirkt er wie ein Zungenbrecher. Und steif dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, so etwas im echten Leben zu sagen - höchstens ironisch, mit Kapitolakzent. Wie damals, als Gale und ich Effie Trinkets Standardspruch »Möge das Glück stets mit euch sein!« nachgeäfft haben. Doch jetzt stellt Fulvia sich vor mich hin und erzählt mir von der Schlacht, die ich gerade geschlagen habe, meine Kameraden liegen allesamt tot da, und ich soll mich der Kamera zuwenden und meinen Text aufsagen, um die Lebenden um mich zu scharen!

Ich werde zurück an meinen Platz gezerrt, die Rauchmaschine wird eingeschaltet. Ruhe wird geboten, die Kameras laufen, dann ruft jemand: »Action!« Ich halte den Bogen über meinen Kopf und brülle, so zornig ich kann: »Volk von Panem, wir kämpfen, wir wagen, wir machen unserem Hunger nach Gerechtigkeit ein Ende!«

Stille senkt sich über das Set. Und es bleibt still. Totenstill.

Schließlich krächzt es in der Gegensprechanlage und Haymitchs ätzendes Lachen hallt durchs Studio. Er muss so lachen, dass er Mühe hat, den Satz herauszubringen: »Und damit, Freunde, wäre die Revolution gestorben!«

6

Der Schock gestern, Haymitchs Stimme zu hören, die Erkenntnis, dass er nicht nur wieder im Einsatz ist, sondern in gewissem Maß erneut über mein Leben bestimmt, hat mich wahnsinnig wütend gemacht. Ich bin schnurstracks aus dem Studio gerannt, und heute habe ich mich erst mal geweigert, seine Kommentare aus dem Kabuff zu beherzigen. Obwohl ich sofort wusste, dass er recht hat, was meinen Auftritt betrifft.

Den ganzen Vormittag hat es gebraucht, bis er die anderen davon überzeugt hatte, dass meine Möglichkeiten begrenzt sind. Dass ich es nicht hinkriege. Ich kann nicht geschminkt und verkleidet und in einer künstlichen Rauchwolke in einem Fernsehstudio stehen und die Distrikte auf den Sieg einschwören. Es ist schon irre, dass ich überhaupt so lange vor der Kamera bestanden habe. Dieses Verdienst gebührt natürlich Peeta. Allein kann ich nicht der Spotttölpel sein.

Wir versammeln uns um den großen Tisch in der Kommandozentrale. Coin und ihre Leute. Plutarch, Fulvia und mein Vorbereitungsteam. Haymitch, Gale und ein paar andere aus 12, deren Anwesenheit ich mir nicht recht erklären kann, wie Leevy und Greasy Sae. Kurz bevor es losgeht, schiebt Finnick Beetee herein, begleitet von Dalton, dem Viehzuchtexperten aus Distrikt 10. Diese seltsame Gesellschaft hat Coin wohl einberufen, damit sie mein Scheitern bezeugt, denke ich.

Doch dann ist es Haymitch, der die anderen begrüßt und ihnen dankt, dass sie seiner Einladung gefolgt sind. Zum ersten Mal, seit ich ihm das Gesicht zerkratzt habe, sitzen wir gemeinsam in einem Raum. Ich vermeide es, ihn direkt anzusehen, aber auf einer der polierten Schalttafeln an der Wand erhasche ich sein Spiegelbild. Seine Haut sieht gelblich aus, und er hat viel Gewicht verloren, wodurch er geschrumpft wirkt. Auf einmal habe ich Angst, er könnte nicht mehr lange leben, aber sofort sage ich mir, dass mir das egal sein kann.

Zunächst zeigt Haymitch noch einmal die Aufnahmen, die wir gestern gemacht haben. Unter Plutarchs und Fulvias Anleitung habe ich ganz offensichtlich einen neuen Tiefpunkt erreicht. Stimme und Körper wirken fahrig, unkoordiniert, wie eine Puppe, die von unsichtbaren Kräften gelenkt wird.

»Möchte einer der Anwesenden die Meinung vertreten, dass uns das dabei hilft, den Krieg zu gewinnen?«, fragt Haymitch, als es vorbei ist. Keiner möchte. »Gut. Das spart Zeit. Dann lasst uns jetzt einen Moment innehalten. Ich möchte, dass jeder von euch in sich geht und an ein Ereignis zurückdenkt, bei dem Katniss Everdeen euch wirklich berührt hat. Nicht, weil sie so eine tolle Frisur hatte oder weil ihr Kleid in Flammen aufging oder weil sie passabel einen Pfeil abgeschossen hat. Nicht, weil Peeta euch dazu gebracht hat, sie zu mögen. Mich interessieren die Momente, in denen sie ein echtes Gefühl bei euch ausgelöst hat.«

Es wird still, und ich denke schon, diese Stille wird nie enden, als Leevy das Wort ergreift. »Bei der Ernte, als sie freiwillig vortrat, um an Prims Stelle in die Arena zu gehen. Weil ich sicher war, dass sie dachte, sie würde sterben.«

»Gut. Hervorragendes Beispiel«, sagt Haymitch. Mit einem lila Filzstift schreibt er Meldet sich freiwillig für Schwester bei Ernte auf einen Block und schaut in die Runde: »Der Nächste.«

Es überrascht mich, dass sich als Nächster Boggs meldet. Ich hatte ihn für einen muskelbepackten Roboter gehalten, der nur dazu da ist, Coins Befehle auszuführen. »Als sie das Lied sang. Während das kleine Mädchen starb.« Irgendwo in meinem Kopf steigt ein Bild auf: Boggs, der einen kleinen Jungen auf der Hüfte trägt. Im Speisesaal, glaube ich. Vielleicht ist er gar kein Roboter.

»Wen hätte das kaltgelassen, was?«, sagt Haymitch und schreibt es auf.

»Als sie Peeta betäubte, damit sie Medikamente für ihn besorgen konnte, und ihm einen Abschiedskuss gab, da musste ich weinen!«, platzt Octavia heraus. Dann schlägt sie sich die Hand vor den Mund, als wäre ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie einen schlimmen Fehler gemacht hat.

Doch Haymitch nickt nur. »Ach ja. Betäubt Peeta, um sein Leben zu retten. Sehr schön.«

Jetzt erinnern sich alle wild durcheinander an solche Momente. Als ich Rue zur Verbündeten nahm. Chaff am Abend der Interviews die Hand hinstreckte. Mags zu tragen versuchte. Und immer wieder, als ich diese Beeren hochhielt - ein Akt, der ganz unterschiedlich gedeutet wird: als Liebe zu Peeta. Als Weigerung, in aussichtsloser Lage nachzugeben. Als Widerstand gegen die Unmenschlichkeit des Kapitols.

Haymitch hält seinen Block hoch. »Die Frage ist jetzt, was haben all diese Momente gemeinsam?«

»Sie gehörten Katniss«, sagt Gale ruhig. »Niemand hat ihr gesagt, was sie tun oder sagen soll.«

»Improvisiert, ja!«, ruft Beetee. Er greift nach meiner Hand und tätschelt sie. »Vielleicht sollten wir dich einfach in Ruhe machen lassen, was?«

Ein paar lachen. Ich lächele sogar ein wenig mit.

»Nun, das ist ja alles schön und gut, aber es hilft uns nicht weiter«, sagt Fulvia gereizt. »Hier in Distrikt 13 sind die Gelegenheiten für sie, toll dazustehen, leider ziemlich begrenzt. Also, falls hier keiner vorschlägt, dass wir sie mitten im Kampfgebiet aussetzen …«

»Genau das ist mein Vorschlag«, unterbricht Haymitch sie. »Stellt sie aufs Schlachtfeld und haltet mit der Kamera drauf.«

»Aber die Leute denken doch, sie wäre schwanger«, wirft Gale ein.

»Wir streuen einfach das Gerücht, sie hätte das Baby durch den Stromschlag in der Arena verloren«, entgegnet Plutarch. »Ein tragisches Unglück. Zu traurig.«

Die Idee, mich ins Schlachtgetümmel zu schicken, löst eine heftige Diskussion aus. Doch Haymitchs Vorschlag ist bestechend. Wenn ich nur unter echten Bedingungen gut bin, dann sollte ich mich genau dahinein begeben. »Jedes Mal, wenn wir sie coachen oder ihr Texte vorgeben, können wir allenfalls hoffen, dass es ganz okay wird. Es muss aus ihr selbst herauskommen, darauf springen die Leute an.«

»Egal, wie vorsichtig wir sind, wir können für ihre Sicherheit nicht garantieren«, wendet Boggs ein. »Sie wird eine Zielscheibe für jeden …«

»Ich mache es«, unterbreche ich ihn. »Hier bin ich den Rebellen keine Hilfe.«

»Und wenn du getötet wirst?«, fragt Coin.

»Seht zu, dass ihr es auf Film kriegt. Dann könnt ihr ja das benutzen«, entgegne ich.

»Schön«, sagt Coin. »Aber eins nach dem anderen. Wir versuchen die am wenigsten gefährliche Situation zu finden, die spontan etwas in dir auslöst.« Sie tritt vor die erleuchteten Landkarten der Distrikte, die die Truppenbewegungen in diesem Krieg zeigen, und studiert sie. »Heute Nachmittag setzen wir sie in Distrikt 8 ab. Am Morgen hat es dort schwere Bombardements gegeben, aber die Angriffe scheinen vorbei zu sein. Sie geht bewaffnet und mit einem Trupp Leibwächter als Begleitung, Kamerateam am Boden. Haymitch, du bleibst im Hovercraft und hältst von dort den Kontakt. Schauen wir mal, wie’s läuft. Irgendwelche Anmerkungen?«

»Sie soll sich das Gesicht waschen«, sagt Dalton. Alle drehen sich zu ihm herum. »Ihr lasst sie wie fünfunddreißig aussehen, dabei ist sie doch noch ein Mädchen. Das fühlt sich verkehrt an. So was würde das Kapitol tun.«

Als Coin die Sitzung aufhebt, bittet Haymitch darum, unter vier Augen mit mir reden zu dürfen. Alle verlassen den Raum, bis auf Gale, der unschlüssig an meiner Seite bleibt. »Worüber machst du dir Sorgen?«, fragt Haymitch ihn. »Wenn hier einer einen Leibwächter braucht, dann ich.«

»Ist schon okay«, sage ich zu Gale, und da geht auch er. Jetzt hört man nur noch das Summen der Instrumente, das Schnurren der Belüftung.

Haymitch setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. »Sieht so aus, als müssten wir wieder zusammenarbeiten. Also los. Spuck’s aus.«

Ich denke an unseren handgreiflichen Meinungsaustausch neulich im Hovercraft. An die Verbitterung, die folgte. Aber ich sage nur: »Ich verstehe nicht, warum du Peeta nicht gerettet hast.«

»Ich weiß«, erwidert er.

Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Und ich meine nicht die fehlende Entschuldigung. Wir waren ein Team. Wir hatten die Abmachung, Peeta zu retten. Eine alkoholgeschwängerte, unrealistische Abmachung, getroffen in finsterer Nacht, aber eine Abmachung. Und tief in mir spüre ich, dass wir beide versagt haben.

»Jetzt du«, fordere ich ihn auf.

»Ich verstehe nicht, wieso du ihn in der Nacht aus den Augen gelassen hast«, sagt Haymitch.

Ich nicke. Darum geht’s. »Immer wieder gehe ich es durch. Was ich hätte tun können, damit wir zusammenbleiben und trotzdem nicht das Bündnis aufkündigen müssen. Aber mir fällt nichts ein.«

»Du hattest keine Wahl. Und selbst wenn ich in dieser Nacht Plutarch dazu hätte bewegen können, dazubleiben und Peeta zu retten, hätte es den Verlust des ganzen Hovercrafts bedeutet. Wir sind sowieso nur mit knapper Not da rausgekommen.« Endlich sehe ich Haymitch in die Augen. Augen des Saums. Grau und tiefliegend und mit den Ringen schlafloser Nächte. »Er ist noch nicht tot, Katniss.«

»Das Spiel geht weiter.« Ich versuche, optimistisch zu klingen, doch meine Stimme versagt.

»Das Spiel geht weiter. Und ich bin immer noch dein Mentor.« Haymitch deutet mit seinem Filzstift auf mich. »Wenn du nachher da unten bist, denk dran, ich bin über dir. Ich habe den besseren Überblick, also tu, was ich dir sage.«

»Mal sehen«, gebe ich zurück.

Ich gehe wieder in den Ankleideraum, rubbele mir das Make-up vom Gesicht und schaue zu, wie die farbigen Schlieren im Abfluss verschwinden. Die Frau im Spiegel sieht fertig aus, mit unebener Haut und müden Augen, aber immerhin sieht sie aus wie ich. Ich reiße das Armband ab und lege die hässliche Aufspürernarbe frei. Da. Das sieht auch nach mir aus.

Beetee hilft mir mit der Rüstung, die Cinna für mich entworfen hat. Ein Helm aus gewebtem Metall, der den Kopf eng umschließt und so geschmeidig ist, dass ich ihn wie eine Stoffkapuze zurückstreifen kann, falls ich ihn nicht die ganze Zeit aufhaben will. Eine Weste als zusätzlicher Schutz über den lebenswichtigen Organen. Ein kleines weißes Headset, das über Kabel mit dem Kragen verbunden ist. An meinem Gürtel befestigt Beetee eine Maske, die ich aber nur im Fall eines Gasangriffs benutzen soll. »Setz sie sofort auf, wenn du mitbekommst, dass jemand ohne ersichtlichen Grund zu Boden geht«, schärft er mir ein. Schließlich schnallt er mir einen Köcher mit drei Fächern für die Pfeile auf den Rücken. »Denk dran: rechte Seite, Feuer. Linke Seite, Sprengstoff. Mitte, normal. Ich glaube nicht, dass du sie brauchen wirst, aber sicher ist sicher.«

Boggs erscheint, um mich hinunter zu den Flugzeugen zu bringen. Gerade als sich die Aufzugtür öffnet, kommt Finnick aufgeregt angelaufen. »Katniss, die lassen mich nicht mit! Es geht mir gut, hab ich gesagt, aber sie wollen mich nicht im Hovercraft mitfliegen lassen!«

Ich mustere Finnick - seine nackten Beine, die zwischen Bademantel und Schlappen hervorschauen, sein wirres Haar, die Schnur mit den Knoten zwischen seinen Fingern, der wilde Blick -, und mir wird bewusst, dass jedes Bitten meinerseits sinnlos sein wird. Ich halte es ja selbst für keine gute Idee, ihn mitzunehmen. Deshalb schlage ich mir mit der Hand gegen die Stirn, als wäre mir grad was eingefallen, und sage: »Fast hätte ich es vergessen! Blöde Gehirnerschütterung aber auch. Ich sollte dir von Beetee ausrichten, dass du dich bei den Geheimwaffen melden sollst. Er hat einen neuen Dreizack für dich entwickelt.«

Bei dem Wort Dreizack kommt der alte Finnick zum Vorschein. »Echt? Inwiefern neu?«

»Ich weiß es nicht. Aber wenn es so was ist wie mein Pfeil und Bogen, dann wirst du begeistert sein«, sage ich. »Allerdings musst du erst damit trainieren.«

»Stimmt. Natürlich. Dann schaue ich mal besser gleich unten bei Beetee vorbei«, sagt er.

»Finnick?«, sage ich. »Wie wär’s mit einer Hose?«

Er schaut an seinen Beinen herunter, als würde er seinen Aufzug erst jetzt bemerken. Dann reißt er sich den Bademantel vom Leib und steht nur noch in Unterhose da. »Wieso? Findest du das hier«, er wirft sich in eine alberne Pose, »etwa zu aufreizend?«

Das ist so lustig, dass ich lachen muss, und besonders lustig ist es, weil Boggs so unangenehm berührt wirkt. Außerdem bin ich froh, dass Finnick endlich wieder so klingt wie der, den ich beim Jubel-Jubiläum kennengelernt habe.

»Ich bin auch nur ein Mensch, Odair.« Ich schlüpfe in den Aufzug, die Tür schließt sich. »Tut mir leid«, sage ich zu Boggs.

»Kein Problem. Ich denke, du … du hast das gut hingekriegt«, sagt er. »Jedenfalls besser, als wenn ich ihn verhaftet hätte.«

»Ja«, sage ich. Ich werfe ihm einen schnellen Blick von der Seite zu. Er ist ungefähr Mitte vierzig, hat kurz rasiertes graues Haar und blaue Augen. Unglaubliche Statur. Er hat heute zweimal Dinge gesagt, die mich glauben lassen, dass wir eher Freunde als Feinde werden könnten. Vielleicht sollte ich ihm eine Chance geben. Allerdings ist er voll auf Coin gepolt …

Plötzlich klickt es mehrmals laut. Der Aufzug hält kurz an und bewegt sich dann nach links. »Fährt der zur Seite?«, frage ich.

»Ja. Es gibt hier ein ganzes Netz von unterirdischen Aufzugwegen«, antwortet Boggs. »Dieser hier verläuft oberhalb der Transportspeiche zur fünften Luftbrückenplattform. Er führt zum Hangar.«

Der Hangar. Die Kerker. Die Waffenabteilung. Irgendwo werden Nahrungsmittel angebaut. Wird Energie erzeugt. Werden Luft und Wasser gereinigt. »Distrikt 13 ist viel größer, als ich dachte.«

»Das meiste ist nicht auf unserem Mist gewachsen«, sagt Boggs. »Im Grunde haben wir hier fast alles geerbt. Wir mussten es nur noch am Laufen halten.«

Erneut klickt es. Für kurze Zeit fahren wir wieder hinunter, nur ein paar Ebenen, dann öffnet sich die Tür zum Hangar.

»Oh«, entfährt es mir unwillkürlich beim Anblick der Flotte. Reihenweise Hovercrafts verschiedener Typen. »Habt ihr die auch geerbt?«

»Manche haben wir selbst gebaut. Andere gehörten zur Luftwaffe des Kapitols. Aber die wurden natürlich auf den neuesten Stand gebracht«, sagt Boggs.

Wieder empfinde ich diesen Anflug von Hass gegen Distrikt 13. »Und obwohl ihr die alle hattet, habt ihr die anderen Distrikte schutzlos dem Kapitol überlassen.«

»So einfach ist es nicht«, entgegnet er. »Bis vor Kurzem waren wir noch nicht in der Lage zurückzuschlagen. Wir hatten selbst Mühe zu überleben. Nachdem wir die Leute des Kapitals gestürzt und hingerichtet hatten, wusste gerade mal eine Handvoll von uns, wie man die Dinger fliegt. Wir hätten Atomraketen auf sie abfeuern können, das ja. Aber da stellt sich natürlich immer die Frage: Wenn wir einen Atomkrieg gegen das Kapital anzetteln, würde es danach überhaupt noch Menschen geben?«

»Jetzt redest du schon fast wie Peeta. Und den habt ihr einen Verräter genannt«, erwidere ich.

»Weil er einen Waffenstillstand gefordert hat«, sagt Boggs. »Wie du vielleicht bemerkt hast, hat keine der Seiten Atomwaffen abgefeuert. Wir erledigen die Sache auf die altmodische Art. Da geht’s rein, Soldat Everdeen.« Er deutet auf eins der kleineren Hovercrafts.

Ich steige die Stufen hinauf und treffe auf das Kamerateam samt Ausrüstung. Alle anderen tragen die dunkelgrauen Militäroveralls aus Distrikt 13, selbst Haymitch, obwohl ihm der Kragen offensichtlich unbequem ist.

Fulvia Cardew kommt angerannt und stöhnt, als sie mein gesäubertes Gesicht sieht. »Die ganze Arbeit für die Katz. Ich mache dir keinen Vorwurf, Katniss. Aber es gibt nur ganz wenige Menschen, die mit einem Kameragesicht geboren werden. Er hier zum Beispiel.« Sie schnappt sich Gale, der sich gerade mit Plutarch unterhält, und schiebt ihn zu uns. »Sieht er nicht toll aus?«

Gale sieht wirklich ziemlich gut aus in seiner Uniform. Aber die Bemerkung bringt uns beide in Verlegenheit. Ich überlege, wie ich die Situation geschickt retten kann, als Boggs einwirft:

»Sie können nicht erwarten, dass uns das umhaut - wir haben soeben Finnick Odair in Unterhose gesehen.« Ich beschließe, mir einen Ruck zu geben und Boggs zu mögen.

Aus dem Lautsprecher kommt die Warnung, dass wir gleich starten werden, und ich schnalle mich auf dem Platz neben Gale fest, gegenüber von Haymitch und Plutarch. Wir gleiten durch ein Tunnellabyrinth, das sich auf eine Plattform öffnet. Eine Art Aufzug hebt das Fluggerät langsam durch die Ebenen. Plötzlich befinden wir uns draußen auf einem großen Feld, das von Bäumen umstanden ist, wir heben ab und werden von Wolken eingehüllt.

Jetzt, da die hektische Aktivität, die zu dieser Mission geführt hat, vorbei ist, wird mir schlagartig bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was mir auf diesem Trip nach Distrikt 8 blüht. Ich weiß nämlich so gut wie nichts über den bisherigen Kriegsverlauf. Oder darüber, wie man diesen Krieg gewinnen könnte. Oder was passieren würde, wenn wir ihn gewinnen.

Plutarch versucht es mir in einfachen Worten darzulegen. Sämtliche Distrikte befinden sich im Kriegszustand mit dem Kapitol, außer Distrikt 2, dessen Bewohner trotz der Teilnahme an den Hungerspielen seit jeher ein positives Verhältnis zu unseren Feinden gehabt haben. Sie hatten mehr zu essen und bessere Lebensbedingungen. Nach den Dunklen Tagen und der vermeintlichen Zerstörung von Distrikt 13 wurde Distrikt 2 zur neuen Waffenschmiede des Kapitols. Offiziell wurde er als Heimat der nationalen Steinbrüche präsentiert, so wie Distrikt 13 für Grafitförderung stand. In Distrikt 2 werden nicht nur Waffen produziert, er stellt auch viele Friedenswächter und bildet sie aus.

»Du meinst … manche der Friedenswächter sind in Distrikt 2 geboren?«, frage ich. »Ich dachte, sie kämen alle aus dem Kapitol.«

Plutarch nickt. »Das solltest du auch denken. Viele stammen ja auch von dort. Aber das Kapitol hat gar nicht so viele Einwohner, um solch eine starke Streitmacht zu unterhalten. Außerdem haben sie Probleme, genügend Leute zu finden, die im Kapitol aufgewachsen und trotzdem bereit sind, ein ödes Leben voller Entbehrungen in den Distrikten auf sich zu nehmen. Sie müssen sich bei den Friedenswächtern auf zwanzig Jahre verpflichten und dürfen weder heiraten noch Kinder kriegen. Manche sehen darin eine Ehre, andere willigen ein, um einer Bestrafung zu entgehen. Wer zu den Friedenswächtern geht, dem werden zum Beispiel die Schulden erlassen. Im Kapitol versinken viele in ihren Schulden, aber nicht alle eignen sich für den Militärdienst. Um zusätzliche Truppen anzuwerben, greifen wir deshalb auf Distrikt 2 zurück. Der dortigen Bevölkerung bietet sich so ein Weg, der Armut und einem Leben in den Steinbrüchen zu entkommen. Sie wachsen mit einer kriegerischen Mentalität auf. Du hast ja gesehen, wie sich die Kinder darum reißen, Tribut zu werden.«

Cato und Clove. Brutus und Enobaria. Ich habe ihren Eifer gesehen und ihre Mordlust auch. »Aber alle anderen Distrikte stehen auf unserer Seite?«, frage ich.

»Ja. Unser Ziel ist es, die Distrikte einen nach dem anderen einzunehmen, zuletzt Distrikt 2, und das Kapitol auf diese Weise von der Versorgung abzuschneiden. Wenn es erst mal ausreichend geschwächt ist, beginnen wir mit dem Einmarsch«, erläutert Plutarch. »Das wird eine ganz andere Herausforderung werden. Aber wenn es erst mal so weit ist, werden wir diesen Schritt gehen.«

»Und wenn wir gewinnen, wer würde dann die Regierung bilden?«, fragt Gale.

»Alle«, antwortet Plutarch. »Wir werden eine Republik gründen, in der die Einwohner jedes Distrikts einschließlich des Kapitals ihre eigenen Vertreter wählen können, damit diese in der Zentralregierung für sie sprechen. Schau nicht so skeptisch! Das hat früher auch schon mal funktioniert.«

»In Büchern«, brummt Haymitch.

»In Geschichtsbüchern«, sagt Plutarch. »Und wenn unsere Vorfahren das konnten, dann können wir das auch.«

Mit unseren Vorfahren sollten wir eigentlich nicht so angeben, finde ich. Wenn man sieht, was sie uns hinterlassen haben, die Kriege, den zerstörten Planeten. Offensichtlich haben sie sich keine Gedanken über die Leute gemacht, die nach ihnen kamen. Trotzdem, die Idee mit der Republik klingt verlockend im Vergleich zu unserer jetzigen Regierung.

»Und wenn wir verlieren?«, frage ich.

»Wenn wir verlieren?« Plutarch schaut durch das Fenster in die Wolken und ein sarkastisches Lächeln spielt um seine Lippen. »Dann dürften die nächsten Hungerspiele ziemlich unvergesslich werden. Apropos …« Er holt ein Fläschchen aus seinem Gewand, schüttet ein paar dunkellila Pillen in seine Hand und reicht sie uns. »Wir haben sie Nachtriegel genannt, dir zu Ehren, Katniss. Im Interesse der Rebellen können wir es uns jetzt nicht mehr leisten, dass einer von uns in Gefangenschaft gerät. Aber es ist völlig schmerzlos, das verspreche ich.«

Ich nehme eine der Pillen, weiß aber nicht, wo ich sie hintun soll. Plutarch tippt an eine Stelle an meiner Schulter, vorn am linken Ärmelansatz. Ich sehe mir die Stelle näher an und entdecke eine winzige Tasche, in der ich die Pille verstecken kann. Selbst mit gefesselten Händen könnte ich mich nach vorn beugen und die Tasche mit den Zähnen aufreißen.

Wie es aussieht, hat Cinna alle Eventualitäten bedacht.

7

Mit einem kurzen Schlenker abwärts landet das Hovercraft in den Außenbezirken von Distrikt 8. Im nächsten Augenblick öffnet sich die Tür, die Treppe fährt aus und wir werden auf dem Asphalt abgesetzt. Sobald der Letzte draußen ist, wird die Treppe wieder eingefahren, das Hovercraft hebt ab und verschwindet. Da stehe ich mit meiner Leibwache Gale, Boggs und zwei weiteren Soldaten. Das Fernsehteam besteht aus zwei stämmigen Kameraleuten aus dem Kapitol, deren Körper von den schweren tragbaren Kameras wie von Insektenpanzern eingeschlossen werden, einer Regisseurin namens Cressida mit grünen Rankentattoos auf dem kahl rasierten Kopf sowie ihrem Assistenten Messalla. Messalla ist ein schlanker junger Mann mit mehreren Reihen Ohrringen und einem Zungenpiercing in Form einer murmelgroßen silbernen Kugel.

Boggs scheucht uns sofort weg von der Straße, hin zu einer Ansammlung von Lagerhäusern. Gleich darauf landet ein zweites Hovercraft, das Kisten mit Arzneimitteln sowie ein sechsköpfiges Ärzteteam absetzt, wie ich an der auffälligen weißen Kleidung sehe. Wir folgen Boggs in die Gasse zwischen zwei düsteren grauen Lagerhäusern, deren verschrammte Metallwände nur ab und zu von Leitern unterbrochen werden, die aufs Dach führen. Als wir an der nächsten Straße wieder herauskommen, ist es, als hätten wir eine andere Welt betreten. Die Verletzten der Bombardements von heute Morgen werden herbeigebracht. Auf selbst gemachten Tragen, in Schubkarren, auf Leiterwagen, gestützt auf Schultern, von Armen gehalten. Blutend, verstümmelt, bewusstlos. Von verzweifelten Menschen zu einem Lagerhaus getrieben, über dessen Eingang flüchtig ein rotes Kreuz gemalt wurde. Eine Szene, wie ich sie aus unserer alten Küche kenne, wo meine Mutter die Sterbenden versorgte, nur um den Faktor zehn, fünfzig, hundert gesteigert. Ich hatte ausgebombte Gebäude erwartet, stattdessen werde ich mit zerstörten Körpern konfrontiert.

Und hier soll ich gefilmt werden? Ich wende mich an Boggs. »Das wird nicht funktionieren«, sage ich. »Hier wird das nichts.«

Vermutlich sieht er die Panik in meinem Blick, denn er hält kurz inne und legt mir die Hände auf die Schultern. »Du machst das schon. Sie sollen dich nur sehen. Damit kannst du mehr für sie tun als alle Ärzte der Welt.«

Eine Frau, die den eintreffenden Patienten Plätze zuweist, bemerkt uns, muss noch mal hingucken. Dann kommt sie energisch auf uns zu. Ihre dunkelbraunen Augen sind vor Erschöpfung geschwollen, sie riecht nach Metall und Schweiß. Der Verband um ihren Hals hätte schon vor Tagen gewechselt werden müssen. Der Riemen des Maschinengewehrs, das sie auf dem Rücken trägt, ist ein Stück nach hinten gerutscht und schnürt sie ein. Sie bewegt die Schulter, um ihn wieder zurechtzurücken. Mit dem Daumen weist sie die Ärzte an, ins Lagerhaus zu gehen. Sie gehorchen anstandslos.

»Das ist Commander Paylor aus Distrikt 8«, sagt Boggs. »Commander, darf ich Ihnen Soldat Katniss Everdeen vorstellen?«

Für einen Commander sieht sie jung aus. Anfang dreißig.

Aber ihre Stimme hat einen gebieterischen Klang, an dem man merkt, dass ihre Ernennung nicht willkürlich erfolgt sein kann. Neben ihr komme ich mir in meinem funkelnagelneuen Aufzug, geschrubbt und glänzend, vor wie ein frisch geschlüpftes Küken, das erst lernen muss, wie man sich in der Welt bewegt.

»Ich weiß, wer das ist«, sagt Paylor, und dann, zu mir gewandt: »Du lebst also. Wir waren uns nicht ganz sicher.« Irre ich mich oder schwingt da ein Vorwurf mit?

»Ich bin mir selbst noch nicht ganz sicher«, erwidere ich.

»Krankenstation.« Boggs tippt sich an den Kopf. »Üble Gehirnerschütterung«, sagt er und senkt kurz die Stimme: »Fehlgeburt. Aber sie wollte unbedingt herkommen und eure Verwundeten sehen.«

»Na, davon haben wir mehr als genug«, sagt Paylor.

»Haltet ihr das für eine gute Idee?«, fragt Gale und blickt stirnrunzelnd auf das Lazarett. »Alle eure Verwundeten auf einem Haufen?«

Insgeheim pflichte ich ihm bei. Eine ansteckende Krankheit würde sich an diesem Ort rasend schnell ausbreiten.

»Auf jeden Fall besser, als sie sterben zu lassen, denke ich«, sagt Paylor.

»Das habe ich nicht gemeint«, entgegnet Gale.

»Im Moment ist das nun mal die einzige Alternative. Aber wenn ihr eine andere Idee habt und Coin damit einverstanden ist - ich bin ganz Ohr.« Paylor winkt mich herein. »Tritt ein, Spotttölpel. Und bring doch deine Freunde mit.«

Ich werfe einen Blick hinter mich auf meine skurrile Begleiterschar und folge ihr ins Lazarett, auf das Schlimmste gefasst. Ein schwerer Industrievorhang hängt auf ganzer Länge des Gebäudes herunter und trennt einen ziemlich breiten Gang ab, in dem Seite an Seite tote Körper liegen. Der Vorhang streicht über ihre Köpfe, weiße Bandagen verbergen die Gesichter. »Etwas westlich von hier haben wir ein Massengrab ausgehoben, aber ich habe im Moment nicht genug Leute, um sie rüberzuschaffen«, sagt Paylor. Sie findet einen Schlitz im Vorhang und schlägt ihn beiseite.

Ich klammere mich an Gales Handgelenk. »Lass mich hier bloß nicht allein«, flüstere ich ihm zu.

»Ich bin bei dir«, antwortet er leise.

Ich trete durch den Vorhang und erlebe einen Anschlag auf meine Sinne. Mein erster Impuls ist es, mir die Nase zuzuhalten, um den Gestank nach schmutzigen Laken, verfaulendem Fleisch und Erbrochenem abzuwehren, der von der Hitze, die im Lagerhaus herrscht, ins Unerträgliche gesteigert wird. Die Luken hoch oben im Metalldach stehen offen, doch die frische Luft vermag den Dunst darunter nicht aufzulösen. Die schwachen Sonnenstrahlen bilden die einzige Lichtquelle, und als meine Augen sich ans Zwielicht gewöhnt haben, sehe ich Reihe um Reihe von Verletzten, auf Feldbetten, Strohsäcken und auf dem Boden - so viele, dass nirgends ein freier Platz ist. Das Summen der schwarzen Fliegen, das Stöhnen der leidenden Menschen und das Schluchzen ihrer Angehörigen verbinden sich zu einem herzzerreißenden Chor.

In den Distrikten gibt es keine richtigen Krankenhäuser. Wir sterben zu Hause, was bei dem Anblick, der sich mir hier bietet, eine annehmbare Alternative darstellen würde. Dann wird mir bewusst, dass die meisten Leute hier nach den Bombardements wahrscheinlich kein Zuhause mehr haben.

Der Schweiß läuft mir nur so herunter und sammelt sich in meinen Handflächen. Damit ich den Gestank nicht so stark wahrnehme, atme ich durch den Mund. Schwarze Flecken wandern über mein Gesichtsfeld, mir ist, als könnte ich auf der Stelle ohnmächtig werden. Aber da merke ich, dass Paylor mich scharf beobachtet. Sie will herausfinden, aus was für einem Holz ich geschnitzt bin und ob sie alle zu Recht gedacht haben, sie könnten auf mich zählen. Ich lasse Gale los und zwinge mich, weiter ins Lagerhaus vorzudringen, den schmalen Durchgang zwischen den Liegenden zu betreten.

»Katniss?«, krächzt eine Stimme irgendwo links von mir und übertönt den allgemeinen Lärm. »Katniss?« Durch den Dunst fasst eine Hand nach mir. Ich greife danach wie nach einem rettenden Strohhalm. Die Hand gehört zu einer jungen Frau mit verletztem Bein. Der schwere Verband ist blutgetränkt und von Fliegen bedeckt. In ihrem Gesicht spiegelt sich der Schmerz, aber auch etwas anderes, etwas, das überhaupt nicht zu ihrer Lage zu passen scheint. »Bist du das?«

»Ja«, stoße ich hervor.

Sie freut sich. Man sieht es in ihrem Gesicht. Beim Geräusch meiner Stimme hellt es sich auf, für kurze Zeit wird das Leiden überdeckt.

»Du lebst! Wir waren uns nicht sicher. Es ging das Gerücht, aber wir wussten es nicht!«, sagt sie erregt.

»Ich war ziemlich angeschlagen. Aber jetzt geht es mir wieder gut«, sage ich. »Und du wirst auch wieder gesund.«

»Das muss ich meinem Bruder erzählen!« Die Frau setzt sich mühsam auf und ruft jemanden, der ein paar Betten weiter liegt. »Eddy! Eddy! Sie ist hier! Das ist Katniss Everdeen!«

Ein etwa zwölfjähriger Junge dreht sich zu uns hin. Er hat das halbe Gesicht bandagiert. Die Seite seines Mundes, die ich sehen kann, öffnet sich, als wollte er etwas rufen. Ich gehe zu ihm, streiche ihm die nassen braunen Locken aus der Stirn. Murmele einen Gruß. Er kann nicht sprechen, aber mit seinem gesunden Auge starrt er mich so intensiv an, als wollte er sich jede Einzelheit meines Gesichts einprägen.

Ich höre, wie mein Name durch die heiße Luft ins ganze Lazarett weitergetragen wird. »Katniss! Katniss Everdeen!« Die Schmerzens-und Klagelaute werden leiser, weichen Rufen gespannter Erwartung. Von allen Seiten rufen mich Stimmen herbei. Ich gehe weiter, drücke Hände, die mir entgegengestreckt werden, berühre die unverletzten Glieder derjenigen, die Arme und Beine nicht bewegen können, sage »Hallo«, »Wie geht’s?«, »Schön, Sie kennenzulernen«. Nichts Bedeutendes, keine sonderlich inspirierten Worte. Aber das macht nichts. Boggs hat recht. Mein Anblick genügt. Dass ich lebe, ist Inspiration genug.

Gierige Finger greifen nach mir, wollen mein Fleisch befühlen. Als ein geschwächter Mann mein Gesicht in seine Hände nimmt, schicke ich Dalton meinen stillen Dank für den Tipp, mir das Make-up abzuwaschen. Wie lächerlich, wie pervers würde ich mir vor diesen Leuten mit der angemalten Maske des Kapitols vorkommen. Narben, Erschöpfung, Makel. Daran erkennen sie mich, deshalb bin ich eine von ihnen.

Trotz des umstrittenen Interviews mit Caesar fragen viele nach Peeta und versichern mir, sie wüssten, dass er unter Zwang gehandelt habe. Ich gebe mir alle Mühe, unsere gemeinsame Zukunft positiv darzustellen, doch als sie erfahren, dass ich das Baby verloren habe, sind die Leute aufrichtig erschüttert. Ich würde gern mein Gewissen erleichtern und einer Frau, die in Tränen ausbricht, sagen, dass es nur ein Schwindel war, ein Schachzug. Aber Peeta als Lügner zu entlarven, wäre seinem Image sicher nicht förderlich. Oder meinem. Oder der Sache.

Langsam begreife ich die großen Anstrengungen, die die Menschen unternehmen, um mich zu beschützen. Was ich für die Rebellen bedeute. Bei meinem ständigen Kampf gegen das Kapitol, der sich oft so angefühlt hat wie eine einsame Reise, war ich nicht allein. Ich hatte Abertausende Menschen in den Distrikten an meiner Seite. Ich war ihr Spotttölpel, lange bevor ich die Rolle akzeptiert habe.

Ein neues Gefühl reift in mir heran. Aber erst als ich auf einem Tisch stehe und dem heiseren Chor, der meinen Namen ruft, zum Abschied zuwinke, kann ich es fassen. Macht. Ich habe eine Macht, von der ich bisher nichts wusste. Snow wusste es von dem Augenblick an, da ich diese Beeren in die Kamera hielt. Plutarch wusste es, als er mich aus der Arena rettete. Und Coin weiß es jetzt auch. So genau, dass sie ihr Volk öffentlich daran erinnern muss, dass nicht ich die Führung habe.

Als wir wieder draußen sind, lehne ich mich gegen die Wand des Lagerhauses, ringe nach Atem und nehme nur zu gern die Feldflasche mit Wasser an, die Boggs mir reicht. »Du warst großartig«, sagt er.

Na ja, ich bin nicht ohnmächtig geworden und musste mich auch nicht übergeben oder schreiend hinausrennen. Die meiste Zeit bin ich nur auf der Welle der Gefühle geschwommen, die durch die Halle ging.

»Das Material ist top«, sagt Cressida. Ich schaue zu den Insektenmännern, die unter ihrer Kameraausrüstung schwitzen. Messalla macht sich Notizen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie mich gefilmt haben.

»Ich hab wirklich nicht viel gemacht«, sage ich.

»Du kannst dir ruhig ein paar Lorbeeren anstecken für das, was du in der Vergangenheit getan hast«, sagt Boggs.

Was habe ich denn in der Vergangenheit getan? Ich denke an die Spur der Verwüstung, die ich hinter mir herziehe - meine Knie geben nach und ich rutsche in eine sitzende Position. »Ziemlich gemischt, meine Bilanz.«

»Tja, perfekt bist du bestimmt nicht. Aber so, wie die Zeiten nun mal sind, müssen wir mit dir vorliebnehmen«, sagt Boggs.

Gale hockt sich neben mich und schüttelt den Kopf. »Unglaublich, dass du dich von all diesen Leuten hast anfassen lassen! Ich hätte gedacht, du machst auf der Stelle kehrt und rennst raus.«

»Ach, sei bloß still«, sage ich lachend.

»Deine Mutter wird sehr stolz auf dich sein, wenn sie die Aufnahmen sieht«, sagt er.

»Meine Mutter wird mich gar nicht bemerken. Sie wird viel zu entsetzt sein über die Zustände da drin.« Ich wende mich an Boggs und frage: »Sieht es in allen Distrikten so aus?«

»Ja. Die meisten werden angegriffen. Wir versuchen, wo immer es geht, Hilfe zu schicken, aber es reicht nicht.« Er unterbricht sich und lauscht auf eine Botschaft in seinem Headset. Erst da wird mir klar, dass ich Haymitchs Stimme nicht hören kann. Ich frage mich, ob mein Headset vielleicht kaputtgegangen ist, und fummele daran herum. »Wir sollen zum Landeplatz gehen. Sofort«, sagt Boggs und zieht mich mit einer Hand hoch. »Es gibt ein Problem.«

»Was für ein Problem?«, fragt Gale.

»Bomber im Anflug«, sagt Boggs. Er greift in meinen Nacken und stülpt mir Cinnas Helm über. »Schnell weg hier!« Ich habe keine Ahnung, was los ist. Mit den anderen renne ich an der Vorderseite des Lagerhauses entlang zu der Gasse, die zum Landeplatz führt. Unmittelbar bedroht fühle ich mich nicht. Am Himmel nichts als reines, wolkenloses Blau. Die Straße ist leer bis auf die Leute, die die Verwundeten ins Lazarett karren. Kein Feind, kein Alarm. Dann beginnen die Sirenen zu heulen. Innerhalb von Sekunden erscheint über uns eine tief fliegende V-Formation von Hoverplanes aus dem Kapitol, Bomben fallen. Die Druckwelle reißt mir den Boden unter den Füßen weg und ich werde gegen die Wand des Lagerhauses geschleudert. Ich spüre einen brennenden Schmerz über der rechten Kniekehle. Auch am Rücken bin ich von irgendwas getroffen worden, aber offenbar hat die Weste gehalten. Als ich mich aufrappeln will, stößt Boggs mich wieder nach unten und schirmt meinen Körper mit seinem ab. Bombe auf Bombe fällt aus den Hoverplanes und explodiert, bis der Boden unter mir zu wogen scheint.

Reglos gegen die Wand gepresst zu sein, während es Bomben hagelt, ist ein schreckliches Gefühl. Wie hat mein Vater das noch genannt, wenn man leichte Beute machen konnte? Als würde man auf Fische in einem Fass schießen. Wir sind die Fische, die Straße ist das Fass.

»Katniss!« Haymitchs Stimme in meinem Ohr schreckt mich auf.

»Was? Ja, was? Ich bin hier!«, antworte ich.

»Hör zu! Solange die bombardieren, können wir nicht landen, aber sie dürfen dich unter keinen Umständen entdecken«, sagt er.

»Wissen die gar nicht, dass ich hier bin?« Ich war davon ausgegangen, dass meine Anwesenheit mal wieder die Ursache für die Bestrafungsaktion war.

»Die Aufklärung meint, nein. Der Angriff war schon vorher geplant«, sagt Haymitch.

Jetzt höre ich Plutarchs Stimme, ruhig und doch eindringlich. Die Stimme eines Obersten Spielmachers, der gewohnt ist, unter Druck die Führung zu übernehmen. »Ein paar Gebäude weiter steht ein hellblaues Lagerhaus. In dessen äußerster Nordecke befindet sich ein Bunker. Schafft ihr es bis dahin?«

»Wir geben unser Bestes«, antwortet Boggs. Plutarch muss für jeden zu hören sein, denn meine Leibwächter und das Kamerateam stehen sofort auf. Instinktiv schaue ich mich nach Gale um. Er ist auf den Beinen, augenscheinlich unversehrt.

»Ihr habt maximal fünfundvierzig Sekunden bis zur nächsten Welle«, sagt Plutarch.

Als ich mein Bein belaste, stöhne ich auf, aber ich laufe trotzdem los. Keine Zeit, die Verletzung zu untersuchen. Am besten überhaupt nicht hinschauen. Zum Glück habe ich die von Cinna entworfenen Schuhe an: Sie haften bei Kontakt am Asphalt fest und lösen sich beim Abheben wieder. Hätte ich noch das schlecht sitzende Paar Schuhe, das Distrikt 13 mir zugeteilt hat, wäre ich verloren. Boggs läuft vor, sonst überholt mich keiner. Stattdessen passen sie sich an meine Geschwindigkeit an, decken meine Flanken, meinen Rücken. Während die Sekunden ticken, zwinge ich mich zu einem Zwischenspurt. Wir lassen das zweite Lagerhaus hinter uns und laufen an einem schmutzig braunen Gebäude entlang. Weiter vorn erkenne ich eine blassblaue Fassade. Dort befindet sich der Bunker. Wir haben gerade die letzte Gasse erreicht, die uns vom Eingang trennt, als die nächste Bombenwelle anrollt. Instinktiv hechte ich in die Gasse und lasse mich auf die blaue Wand zurollen. Jetzt wirft Gale sich auf mich und bildet eine weitere Schutzschicht zwischen mir und den Bomben. Diesmal scheint es länger zu dauern, dafür sind wir weiter weg.

Ich drehe mich auf die Seite und schaue Gale direkt in die Augen. Einen Augenblick lang weicht die Welt zurück, nur sein gerötetes Gesicht ist noch da, die pochenden Schläfen, seine leicht geöffneten Lippen, während er wieder zu Atem zu kommen versucht.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt er. Seine Worte gehen fast in einer Explosion unter.

»Ja. Ich glaube nicht, dass sie mich gesehen haben«, antworte ich. »Sie verfolgen uns nicht.«

»Nein, sie hatten was anderes im Visier«, sagt Gale.

»Ich weiß, aber hier ist doch gar nichts außer …« Erst jetzt begreifen wir.

»Das Lazarett.« Gale springt auf und ruft den anderen zu: »Sie bombardieren das Lazarett!«

»Das ist nicht euer Problem«, sagt Plutarch bestimmt. »Macht, dass ihr zum Bunker kommt.«

»Aber da sind doch nur Verwundete!«, sage ich.

»Katniss.« Ich höre den warnenden Unterton in Haymitchs Stimme und weiß, was jetzt kommt. »Schlag dir den Gedanken gleich wieder aus dem Kopf…!« Ich reiße mir das Headset aus dem Ohr und lasse es am Kabel baumeln. Jetzt, da ich nicht mehr abgelenkt werde, höre ich ein anderes Geräusch. Maschinengewehrfeuer, das vom Dach des schmutzig braunen Lagerhauses auf der anderen Seite der Gasse kommt. Jemand erwidert das Feuer. Bevor irgendwer mich aufhalten kann, stürme ich auf eine Leiter zu und steige hinauf. Klettern. Wenn ich eins kann, dann das.

»Nicht stehen bleiben!«, höre ich Gale hinter mir sagen.

Dann das Geräusch seines Stiefels in irgendeinem Gesicht. Falls es das von Boggs war, wird Gale später teuer dafür bezahlen müssen. Ich erreiche das Dach, wuchte mich auf die Teerpappe und helfe Gale hoch. Dann rennen wir los, hin zu den MG-Nestern an der Straßenseite des Lagerhauses. Jedes wird offenbar von mehreren Rebellen besetzt. Wir werfen uns in eins der Nester und ducken uns hinter die Schutzwand.

»Weiß Boggs, dass ihr hier oben seid?« Links von mir hockt Paylor hinter einem der MGs und sieht uns skeptisch an.

Ich suche nach einer ausweichenden Antwort, ohne sie direkt anzulügen. »Kein Problem, er weiß, wo wir sind.«

Paylor lacht auf. »Bestimmt. Haben sie euch gezeigt, wie man damit umgeht?«, fragt sie und schlägt auf den Schaft ihres Gewehrs.

»Mir ja. Ich hab’s in Distrikt 13 gelernt«, sagt Gale. »Ich würde aber lieber meine eigene Waffe benutzen.«

»Ja, wir haben unsere Bogen dabei.« Ich halte meinen Bogen hoch und merke im selben Augenblick, wie niedlich er wirken muss. »Er ist gefährlicher, als er aussieht.«

»Das will ich hoffen«, erwidert Paylor. »Gut. Wir erwarten mindestens noch drei weitere Wellen. Bevor sie die Bomben fallen lassen, müssen sie den Sichtschutz ausschalten. Das ist unsere Chance. Bleibt unten!« Ich knie nieder und mache mich schussbereit.

»Als Erstes die Brandpfeile«, sagt Gale.

Ich nicke und ziehe einen Pfeil aus dem rechten Köcher. Falls wir danebenzielen, werden die Pfeile irgendwo landen, wahrscheinlich auf dem Lagerhaus gegenüber. Ein Feuer kann man löschen, aber der Schaden, den ein Sprengpfeil anrichtet, könnte irreparabel sein.

Plötzlich tauchen sie auf, zwei Blocks weiter unten, etwa hundert Meter über uns. Sieben kleine Bomber in V-Formation. »Gänse!«, schreie ich Gale zu. Ich bin sicher, er weiß sofort, was ich meine. Im Herbst, als wir Jagd auf Zugvögel machten, haben wir ein System entwickelt, wie wir die Vögel unter uns aufteilen, damit wir nicht beide auf dieselben zielen. Ich übernehme den fernen Schenkel des V, Gale den nahen, und den ersten Vogel ganz vorne beschießen wir abwechselnd. Es ist keine Zeit für weitere Absprachen. Ich berechne die Flugzeit des Pfeils und schieße. Der Pfeil trifft einen Flügel nah am Rumpf und setzt ihn in Brand. Gale verfehlt den Anführer. Auf dem leeren Dach eines Lagerhauses gegenüber steigt eine Stichflamme empor. Er flucht leise.

Das Hoverplane, das ich getroffen habe, schert aus der Formation aus, wirft aber weiter Bomben. Immerhin wird es nicht unsichtbar. Und auch das andere nicht, das wohl von MG-Feuer getroffen worden ist. Offenbar verhindern die Treffer, dass der Sichtschutz reaktiviert wird.

»Guter Schuss«, sagt Gale.

»Den hatte ich gar nicht im Visier«, brumme ich. Ich hatte auf den davor gezielt. »Die sind schneller, als man denkt.«

»In Position!«, ruft Paylor. Schon kommt die nächste Hoverplanewelle.

»Feuer bringt’s nicht«, sagt Gale. Ich nicke und wir legen Pfeile mit Sprengspitzen ein. Die Lagerhäuser auf der anderen Straßenseite sehen sowieso verlassen aus.

Als die Hoverplanes lautlos heranschießen, fasse ich noch einen Entschluss. »Ich stelle mich hin!«, rufe ich Gale zu und stehe auf. In dieser Position kann ich am besten zielen. Ich justiere neu und reiße dem Anführer ein Loch in den Rumpf. Gale schießt einem anderen das Heck ab. Das Hoverplane kippt und stürzt auf die Straße, wo seine Fracht explodiert.

Ohne Vorwarnung taucht ein drittes Geschwader auf. Diesmal landet Gale einen Volltreffer beim Anführer. Ich schieße dem zweiten Bomber einen Flügel ab, sodass er sich in das nachfolgende Hoverplane hineindreht. Beide krachen in das Dach des Lagerhauses gegenüber dem Lazarett. Die MGs holen ein viertes vom Himmel.

»Okay, das war’s wohl«, sagt Paylor.

Flammen und dichter schwarzer Qualm aus den Wracks nehmen uns die Sicht. »Haben sie das Lazarett getroffen?«

»Vermutlich«, sagt sie finster.

Als ich zu den Leitern am anderen Ende des Lagerhauses renne, kommen zu meiner Überraschung Messalla und einer der Insektenmänner hinter einem Lüftungsschacht hervor. Ich hatte gedacht, sie würden noch unten in der Gasse kauern.

»Die wachsen mir allmählich ans Herz«, sagt Gale.

Ich klettere eine Leiter hinunter. Unten warten ein Leibwächter, Cressida und der zweite Insektenmann auf mich. Ich bin auf Vorwürfe gefasst, doch Cressida scheucht mich nur Richtung Lazarett. »Das ist mir egal, Plutarch!«, brüllt sie. »Nur fünf Minuten!« Ohne die Erlaubnis abzuwarten, renne ich los, auf die Straße.

»Oh nein!«, entfährt es mir leise beim Anblick des Lazaretts. Beziehungsweise dessen, was einmal das Lazarett gewesen ist. Ich haste an den Verwundeten vorbei, an den brennenden Wracks der Hoverplanes, und habe nur Augen für die Katastrophe vor mir. Menschen schreien, rennen wild durcheinander, unfähig zu helfen. Die Bomben haben das Dach des Lazaretts zum Einsturz gebracht und das Gebäude in Brand gesteckt. Jetzt sitzen die Patienten in der Falle. Eine Gruppe von Rettern hat sich zusammengeschart und versucht sich einen Weg ins Innere zu bahnen. Aber ich weiß schon, was sie dort vorfinden werden. Wenn die Insassen nicht durch herabstürzende Trümmer oder Flammen den Tod gefunden haben, dann durch den Rauch.

Gale steht jetzt hinter mir. Die Tatsache, dass er nichts unternimmt, bestätigt meine Vermutung. Bergleute verlassen einen Unglücksort erst, wenn keine Hoffnung mehr besteht.

»Los, Katniss. Haymitch sagt, sie können jetzt ein Hovercraft für uns schicken«, sagt er. Aber mir ist, als könnte ich mich nicht rühren.

»Warum haben sie das getan? Warum haben sie die Menschen bombardiert, obwohl sie schon im Sterben lagen?«, frage ich.

»Um andere abzuschrecken. Damit die Verwundeten keine Hilfe suchen«, sagt Gale. »Die Leute, die du heute besucht hast, waren verzichtbar. Jedenfalls für Snow Wenn das Kapitol gewinnt, was soll es mit einer Horde kriegsversehrter Sklaven anfangen?«

Ich denke an die vielen Jahre im Wald zurück, als ich Gale auf das Kapitol habe schimpfen hören und nicht weiter darauf geachtet habe. Damals habe ich mich eher gefragt, warum er sich überhaupt die Mühe machte, die Beweggründe des Kapitals zu analysieren: Was sollte es bringen, wie unser Feind zu denken? Heute hätte es eindeutig etwas gebracht. Als Gale die Existenz des Lazaretts hinter fragte, dachte er nicht an eine mögliche Epidemie, sondern an das hier. Weil er die Grausamkeit unserer Gegner niemals unterschätzt.

Langsam drehe ich dem Lazarett den Rücken zu und finde mich Cressida gegenüber, die ein paar Meter vor mir steht, neben sich die Insekten. Seelenruhig. Geradezu cool. »Katniss«, sagt sie, »Präsident Snow hat veranlasst, dass die Bombardierung live gezeigt wird. Dann trat er vor die Kamera und sagte, das sei seine Art, den Rebellen eine Botschaft zu schicken. Was ist mit dir? Möchtest du den Rebellen etwas sagen?«

»Ja«, flüstere ich. Das rote Blinklicht auf der Kamera bannt meine Aufmerksamkeit. Ich weiß, dass ich jetzt gefilmt werde. »Ja«, sage ich etwas energischer. Alle treten zur Seite - Gale, Cressida, die Insekten - und überlassen mir die Bühne. Aber ich starre nur auf das rote Licht. »Ich möchte den Rebellen sagen, dass ich am Leben bin. Ich stehe hier in Distrikt 8, wo das Kapitol soeben ein Lazarett mit unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern bombardiert hat. Keiner da drin wird überleben.« Der Schock, der mich gelähmt hat, weicht langsam dem Zorn. »Euch allen möchte ich sagen: Solltet ihr auch nur eine Sekunde lang glauben, dass das Kapitol uns im Fall einer Waffenruhe fair behandeln würde, dann macht ihr euch etwas vor. Ihr wisst, wer sie sind und was sie tun.« Meine Hände heben sich automatisch, als wollten sie auf all das Grauen um mich herum deuten. »Das tun sie! Und wir müssen zurückschlagen!«

Angetrieben von meinem Zorn, gehe ich auf die Kamera zu. »Präsident Snow sendet uns eine Botschaft? Hier habe ich eine für ihn. Sie können uns quälen und bombardieren und unsere Distrikte niederbrennen, aber sehen Sie das hier?« Die Kamera folgt meinem ausgestreckten Arm, der auf die brennenden Hoverplanes auf dem Dach des Lagerhauses gegenüber deutet. Das Wappen des Kapitols auf einem Flügel leuchtet deutlich durch die Flammen. »Das Feuer breitet sich aus!«, schreie ich jetzt, damit Snow auch ja kein Wort verpasst. »Und wenn wir brennen, brennen Sie mit!«

Meine letzten Worte hängen in der Luft. Die Zeit scheint stillzustehen. Ich fühle mich emporgetragen von einer Hitzewolke, die nicht von außen kommt, sondern aus mir selbst.

»Schnitt!« Cressidas Stimme reißt mich zurück in die Wirklichkeit, löscht mich. Sie nickt anerkennend. »Das war’s!«

8

Boggs kommt zu mir und packt mich fest am Arm, dabei will ich gar nicht weglaufen. Ich schaue zum Lazarett, sehe gerade noch, wie der Rest des Gebäudes einstürzt, und mein Kampfgeist erlischt. All die Menschen, Hunderte Verletzte, ihre Verwandten, die Sanitäter aus Distrikt 13, alle sind tot. Ich drehe mich zu Boggs um, sehe die Schwellung in seinem Gesicht, die Gales Stiefel hinterlassen hat. Höchstwahrscheinlich ist seine Nase gebrochen, man muss kein Experte sein, um das zu sehen. Aber als er etwas sagt, klingt es eher resigniert als wütend. »Alles zurück zum Startplatz.« Gehorsam mache ich einen Schritt vorwärts und zucke zusammen, mein rechtes Knie tut höllisch weh. Der Adrenalinstoß, der den Schmerz überlagert hatte, ist abgeebbt, und jetzt klagen meine Körperteile um die Wette. Ich bin verletzt, ich blute, und in meinem Schädel scheint jemand zu sitzen, der mir mit einem Hammer gegen die linke Schläfe haut. Boggs untersucht rasch mein Gesicht, dann hebt er mich hoch und läuft mit mir zum Startplatz. Auf halbem Weg kotze ich ihm auf die kugelsichere Weste. Ich glaube, er seufzt, aber er ist so außer Atem, dass es kaum zu hören ist.

Ein kleines Hovercraft, nicht das, mit dem wir gekommen sind, wartet auf dem Startplatz. Kaum bin ich mit meinem Team eingestiegen, heben wir auch schon ab. Keine bequemen Sitze diesmal, keine Fenster. Wir befinden uns offenbar in einer Art Transporter. Boggs versorgt die lebensgefährlich Verletzten notdürftig, damit sie bis zur Landung in Distrikt 13 durchhalten. Ich würde gern die Weste ausziehen, denn die hat auch eine ordentliche Ladung von meinem Erbrochenen abbekommen, aber daran ist bei der Kälte nicht zu denken. Ich strecke mich auf dem Boden aus und lege den Kopf in Gales Schoß. Ich nehme so eben noch wahr, wie Boggs mich mit ein paar Leinensäcken zudeckt.

Als ich aufwache, liege ich in meinem alten Krankenbett. Die Wunden sind versorgt und ich habe es warm. Meine Mutter ist gekommen, um zu sehen, ob ich noch lebe. »Wie geht es dir?«

»Bin ein bisschen zerschunden, aber sonst ganz gut«, sage ich.

»Keiner hat uns gesagt, dass du weggehst! Auf einmal warst du verschwunden«, sagt sie.

Ich habe ein schlechtes Gewissen. Zwei Mal hat meine Familie mit ansehen müssen, wie ich in die Hungerspiele geschickt wurde, da hätte ich das nicht vergessen dürfen. »Tut mir leid. Der Angriff kam ganz überraschend. Ich sollte nur die Patienten besuchen«, erkläre ich. »Nächstes Mal sollen sie das mit dir absprechen.«

»Katniss, mit mir spricht niemand irgendwas ab«, sagt sie.

Das ist wahr. Ich ja auch nicht. Jedenfalls nicht seit dem Tod meines Vaters. Warum so tun, als ob? »Na ja, dann sage ich ihnen wenigstens, sie sollen … dir Bescheid geben.«

Auf dem Nachttisch liegt der Granatsplitter, den sie aus meinem Bein geholt haben. Die Ärzte haben vor allem Sorge, mein Gehirn könnte durch die Explosionen Schaden genommen haben, die Gehirnerschütterung war ja noch gar nicht ganz ausgeheilt. Aber ich sehe nicht doppelt und kann einigermaßen klar denken. Seit gestern Nachmittag habe ich geschlafen und jetzt verspüre ich einen Bärenhunger. Das Frühstück ist enttäuschend klein. Nur ein paar Brocken Brot in warmer Milch. Sie haben mich zu einem morgendlichen Treffen in die Kommandozentrale bestellt. Als ich aufstehen will, bedeuten sie mir, dass sie mich im Krankenbett dorthin schieben wollen. Ich würde lieber laufen, aber sie lassen mich nicht. Als Kompromiss bekomme ich einen Rollstuhl. Mir geht es wirklich gut. Nur mein Kopf tut weh und das Bein und die Prellungen und seit dem Frühstück ist mir irgendwie übel. Vielleicht ist die Idee mit dem Rollstuhl gar nicht so verkehrt.

Ich lasse mich schieben, und allmählich wird mir mulmig bei dem Gedanken an das, was mich erwartet. Gale und ich haben gestern die Befehle missachtet, Boggs’ Verletzung ist der Beweis. Das kann nicht folgenlos bleiben, aber wird es so weit kommen, dass Coin unser Abkommen über die Straffreiheit der Sieger bricht? Habe ich Peeta das bisschen Schutz genommen, das ich ihm bieten konnte?

In der Kommandozentrale warten bereits Cressida, Messalla und die Insektenmänner, sonst ist keiner da. Messalla strahlt und sagt: »Da kommt ja unser kleiner Star!«, und die anderen lächeln so herzlich, dass ich einfach zurücklächeln muss. Ich war schwer beeindruckt, als sie während der Bombardierung von Distrikt 8 Plutarchs Anweisungen ignoriert haben und mir aufs Dach gefolgt sind, um an das Filmmaterial zu gelangen. Sie machen nicht einfach nur ihre Arbeit, sie sind auch stolz darauf. Wie Cinna.

Auf einmal denke ich: Wenn wir zusammen in der Arena wären, würde ich sie als Verbündete nehmen. Cressida, Messalla, und … und … »Ich will euch nicht mehr Insektenmänner nennen«, sage ich unvermittelt zu den beiden Kameraleuten. Ich erkläre ihnen, was es damit auf sich hat, dass ich ihre Namen nicht kenne und ihre Anzüge mich an einen Insektenpanzer erinnern. Sie wirken nicht beleidigt. Auch ohne die Kameraausrüstung sehen sie einander sehr ähnlich. Beide haben rotblonde Haare, blaue Augen und einen roten Bart. Der Kameramann mit den abgekauten Fingernägeln stellt sich als Castor vor und den anderen, seinen Bruder, als Pollux. Ich warte darauf, dass Pollux etwas sagt, aber er nickt nur. Erst halte ich ihn für schüchtern oder schweigsam. Aber seine Lippen und sein schweres Schlucken erinnern mich an etwas, und noch ehe Castor es ausspricht, weiß ich Bescheid. Pollux ist ein Avox. Sie haben ihm die Zunge herausgeschnitten und er wird nie wieder sprechen können. Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu fragen, weshalb er sein Leben riskiert hat, um das Kapitol zu stürzen.

Während der Raum sich füllt, mache ich mich auf einen unfreundlichen Empfang gefasst. Aber nur von Haymitch, der sowieso immer mürrisch ist, und von der sauertöpfischen Fulvia Cardew geht eine unangenehme Stimmung aus. Boggs’ Gesicht ist von der Oberlippe bis zur Stirn mit einer hautfarbenen Maske bedeckt - ich hatte also recht mit der gebrochenen Nase -, deshalb lässt sich seine Miene kaum deuten. Coin und Gale sind in ein Gespräch vertieft, das regelrecht freundlich wirkt.

Als Gale sich kurz darauf auf den Platz neben meinem Rollstuhl setzt, sage ich: »Na, Freundschaft geschlossen?«

Sein Blick huscht zu Coin und wieder zurück. »Einer von uns muss ja kommunikativ sein.« Er berührt mich leicht an der Schläfe. »Wie geht es dir?«

Zum Frühstück gab es offenbar irgendwas mit Knoblauch. Je mehr Leute hereinkommen, desto stärker werden die Ausdünstungen. Mir dreht sich der Magen um und das Licht ist mir auf einmal zu grell. »Ein bisschen wacklig auf den Beinen«, sage ich. »Und du?«

»Mir geht’s gut. Ein paar Granatsplitter. Nichts Wildes«, sagt er.

Coin erklärt die Sitzung für eröffnet. »Unser Medienangriff hat offiziell begonnen. Für alle, die gestern um 20 Uhr die Ausstrahlung unseres ersten Propos verpasst haben - und auch die siebzehn Wiederholungen, die Beetee seitdem gesendet hat -, werden wir ihn hier noch einmal zeigen.« Noch einmal zeigen? Dann haben sie also aus dem brauchbaren Filmmaterial schon einen ersten Propo zusammengeschustert und mehrfach ausgestrahlt. Bei der Vorstellung, mich selbst im Fernsehen zu sehen, bekomme ich feuchte Hände. Wenn ich nun immer noch so schlecht rüberkomme? Wenn ich immer noch so steif und dilettantisch wirke wie im Studio und sie nichts Besseres hingekriegt haben? Mehrere Bildschirme werden aus dem Tisch gefahren, das Licht wird leicht gedimmt, die Gespräche verstummen.

Zuerst ist der Bildschirm vor mir schwarz. Dann flackert in der Mitte ein winziger Funke auf. Er wird größer und heller, verdrängt das Schwarz, bis das ganze Bild von einem so echten, intensiven Feuer ausgefüllt ist, dass ich die Hitze zu spüren meine. Rotgoldglühend erscheint meine Spotttölpelbrosche. Dann ertönt die tiefe, hallende Stimme, die mich immer im Traum verfolgt. Claudius Templesmith, der Moderator der Hungerspiele, sagt: »Katniss Everdeen, das Mädchen, das in Flammen stand, brennt immer noch.«

Statt des Spotttölpels bin plötzlich ich zu sehen, wie ich in Distrikt 8 vor den Flammen und dem Rauch stehe. »Ich möchte den Rebellen sagen, dass ich am Leben bin. Ich stehe hier in Distrikt 8, wo das Kapitol soeben ein Lazarett mit unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern bombardiert hat. Keiner da drin wird überleben.« Dann Schnitt zum einstürzenden Lazarett, zur Verzweiflung der Umstehenden, die machtlos zusehen müssen, während ich aus dem Off weiterrede. »Euch allen möchte ich sagen: Solltet ihr auch nur eine Sekunde lang glauben, dass das Kapitol uns im Fall einer Waffenruhe fair behandeln würde, dann macht ihr euch etwas vor. Ihr wisst, wer sie sind und was sie tun.« Dann wieder Schnitt auf mich, ich hebe die Hände und zeige auf das Grauen um mich herum. »Das tun sie! Und wir müssen zurückschlagen!« Jetzt kommt eine großartige Montage von Aufnahmen der Schlacht. Wie die ersten Bomben fallen, wie wir wegrennen, zu Boden gefegt werden - eine Großaufnahme von meiner Wunde, richtig schön blutig -, wie wir aufs Dach klettern, in die MG-Nester springen, dann einige beeindruckende Treffer der Rebellen. Gale, aber vor allem ich, ich und wieder ich, wie ich die Hoverplanes vom Himmel schieße. Ein harter Schnitt zurück zu mir, wie ich auf die Kamera zugehe. »Präsident Snow sendet uns eine Botschaft? Hier habe ich eine für ihn. Sie können uns quälen und bombardieren und unsere Distrikte niederbrennen, aber sehen Sie das hier?« Die Kamera zoomt die Hoverplanes heran, die auf dem Dach des Lagerhauses brennen. Nahaufnahme vom Wappen des Kapitols auf einem Flügel, Überblendung zu meinem Gesicht, wie ich den Präsidenten anschreie. »Das Feuer breitet sich aus! Und wenn wir brennen, brennen Sie mit!« Wieder füllen die Flammen den Bildschirm. Darüber wird in fetten schwarzen Buchstaben eingeblendet:

WENN WIR BRENNEN,

BRENNEN SIE MIT!

Die Worte fangen Feuer, und die ganze Bildfläche verbrennt, bis alles schwarz ist.

Wir genießen jeder für sich den Moment, dann folgt Applaus, und Rufe nach einer Wiederholung werden laut. Gutmütig drückt Coin die Wiedergabetaste, und da ich jetzt schon weiß, was kommt, stelle ich mir vor, ich würde den Film auf unserem Fernseher zu Hause im Saum sehen. Ein Manifest gegen das Kapitol. So etwas hat es noch nie im Fernsehen gegeben. Jedenfalls nicht, seit ich lebe.

Als das Bild ein zweites Mal verbrennt, will ich mehr erfahren. »Ist das in ganz Panem gezeigt worden? Haben sie es im Kapitol gesehen?«

»Im Kapitol nicht«, sagt Plutarch. »Wir haben es bisher nicht geschafft, in ihr System einzudringen, aber Beetee arbeitet daran. In den Distrikten ist der Film gelaufen. Sogar in 2 und der ist zu diesem Zeitpunkt vielleicht mehr wert als das Kapitol.«

»Ist Claudius Templesmith auf unserer Seite?«, frage ich.

Darüber muss Plutarch herzlich lachen. »Nur seine Stimme. Aber an die sind wir leicht rangekommen. Wir mussten sie nicht mal bearbeiten. Genau diesen Satz hat er bei deinen ersten Spielen gesagt.« Er schlägt mit der Hand auf den Tisch. »Und jetzt noch mal einen Applaus für Cressida, für ihr großartiges Team und natürlich für unser Talent vor der Kamera!«

Ich klatsche mit den anderen, bis mir klar wird, dass ich das Talent vor der Kamera bin - vielleicht gehört es sich nicht, sich selbst zu beklatschen? Aber niemand achtet darauf. Mir fällt auf, wie angestrengt Fulvia aussieht. Es muss schlimm für sie sein zu sehen, wie erfolgreich Haymitchs Idee unter Cressidas Regie ist, nachdem ihre eigene Studioversion so ein Flop war.

Coin hat jetzt genug von der Selbstbeweihräucherung. »Alles gut und schön. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Aber ich muss mich doch wundern, dass ihr ein solches Risiko in Kauf genommen habt. Ich weiß, der Angriff kam überraschend. Doch unter den gegebenen Umständen halte ich es für geboten, dass wir über die Entscheidung sprechen, Katniss mitten ins Gefecht zu schicken.«

Entscheidung? Mich ins Gefecht zu schicken? Dann weiß sie also gar nicht, dass ich einfach die Befehle missachtet, mir das Headset vom Kopf gerissen und die Leibwächter abgehängt habe? Was hat man ihr noch alles verheimlicht?

»Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen«, sagt Plutarch und runzelt die Stirn. »Aber wir waren uns schnell einig, dass wir kein vernünftiges Material bekommen, wenn wir sie bei jedem Schuss in einen Bunker sperren.«

»Und du warst damit einverstanden?«, fragt Coin.

Erst als Gale mir unter dem Tisch einen Fußtritt verpasst, merke ich, dass ich gemeint bin. »Ach so! Ja, voll und ganz. Ich war froh, dass ich endlich mal was tun konnte.«

»Meinetwegen, aber ich finde, sie sollte sich trotzdem nicht so unvorsichtig in der Öffentlichkeit zeigen. Vor allem jetzt, da das Kapitol weiß, wozu sie imstande ist«, sagt Coin. Zustimmendes Gemurmel am Tisch.

Keiner hat Gale und mich verpfiffen. Nicht Plutarch, dessen Befehlsgewalt wir missachtet haben. Nicht Boggs mit seiner gebrochenen Nase. Nicht die Insektenmänner, die wir in die Schusslinie geführt haben. Und auch Haymitch nicht - obwohl, Moment mal. Haymitch lächelt mich eisig an und sagt zuckersüß: »Nein, wir wollen unseren kleinen Spotttölpel ja nicht verlieren, jetzt, wo er endlich angefangen hat zu singen.«

Ich nehme mir vor, mich nicht allein mit ihm in ein Zimmer zu begeben, denn er hat eindeutig Rachegelüste wegen dieses blöden Headsets.

»Was habt ihr noch alles geplant?«, fragt Coin.

Plutarch nickt Cressida zu, die auf ihr Klemmbrett schaut. »Wir haben ganz fantastisches Bildmaterial von Katniss im Lazarett von Distrikt 8. Das müsste einen weiteren Propo hergeben unter dem Motto: >Ihr wisst, wer sie sind und was sie tun.< Im Mittelpunkt steht Katniss, wie sie sich um die Patienten kümmert, vor allem um die Kinder, und anschließend zeigen wir die Bombardierung des Lazaretts und die Trümmer. Messalla schneidet das gerade zusammen. Außerdem denken wir an ein Stück über den Spotttölpel. Katniss’ beste Momente, zusammengeschnitten mit Szenen vom Aufstand der Rebellen und Bildmaterial vom Krieg. Den Film nennen wir >Das Feuer breitet sich aus<. Und dann hatte Fulvia noch eine geniale Idee.«

Vor Schreck vergisst Fulvia einen Moment lang, sauertöpfisch zu gucken, doch sie erholt sich schnell wieder. »Na ja, ob sie wirklich so genial ist, weiß ich nicht, aber ich dachte, wir könnten eine Serie von Propos unter dem Titel >In Memoriam< bringen. In jeder Folge kann ein gefallener Tribut im Mittelpunkt stehen. Die kleine Rue aus 11 oder die alte Mags aus 4. So könnten wir jeden Distrikt mit einem ganz persönlichen Beitrag ansprechen.«

»Ein Tribut an unsere Tribute sozusagen«, sagt Plutarch.

»Das ist wirklich genial, Fulvia«, sage ich begeistert. »Besser kann man den Leuten nicht in Erinnerung rufen, wofür sie kämpfen.«

»Es könnte funktionieren«, sagt Fulvia. »Ich dachte mir, Finnick könnte die Intros zu den Spots machen und sie begleitend kommentieren. Wenn Interesse daran besteht.«

»Meiner Meinung nach können wir gar nicht genug solcher >In Memoriam<-Propos haben«, sagt Coin. »Kannst du heute noch damit anfangen?«

»Aber ja«, sagt Fulvia, offenbar besänftigt durch die positive Resonanz.

Die Wogen in der Abteilung der Kreativen haben sich also wieder geglättet. Mit ihrem Lob für Fulvia hat Cressida dafür gesorgt, dass sie mit ihrer eigenen Darstellung des Spotttölpels weitermachen kann. Interessanterweise ist Plutarch nicht darauf aus, an der Anerkennung teilzuhaben. Er will nur, dass der Medienangriff funktioniert. Aber er ist ja auch der Oberste Spielmacher, er gehört nicht zur Crew. Er ist nicht Teil der Spiele. Die Einzelheiten interessieren ihn nicht. Ihm geht es um den Gesamterfolg der Produktion. Erst wenn wir den Krieg gewinnen, wird Plutarch sich bejubeln lassen. Und eine Belohnung erwarten.

Präsidentin Coin schickt alle an die Arbeit und Gale schiebt mich zurück in die Krankenstation. Wir lachen ein bisschen darüber, wie wir Coin hinters Licht geführt haben. Gale meint, sie wollten einfach nicht zugeben, dass sie nicht gut genug auf uns aufgepasst haben. Ich bin etwas gnädiger und sage, sie wollten nicht riskieren, dass wir kaltgestellt werden, jetzt, wo sie endlich brauchbare Aufnahmen haben. Vermutlich kommt beides zusammen. Gale muss nach unten zu den Geheimwaffen, wo er sich mit Beetee trifft, also schlafe ich ein bisschen.

Es kommt mir so vor, als hätte ich die Augen nur ganz kurz geschlossen. Als ich sie wieder öffne, zucke ich zusammen - da sitzt Haymitch, nur einen halben Meter von meinem Bett entfernt. Er wartet. Möglicherweise schon seit Stunden, wenn die Uhr richtig geht. Ich überlege, ob ich nach einem Zeugen rufen soll, aber früher oder später muss ich mich Haymitch doch stellen.

Er beugt sich vor und lässt etwas an einem dünnen weißen Kabel vor meiner Nase baumeln. Ich kann es nicht richtig erkennen, aber ich glaube, ich weiß, was es ist. Er lässt es aufs Bett fallen. »Das ist dein Headset. Ich gebe dir noch eine allerletzte Chance, es zu tragen. Wenn du es noch mal absetzt, lasse ich dir das hier verpassen.« Er hält etwas hoch, das so aussieht wie eine kieferorthopädische Apparatur aus Metall. Ich bezeichne es im Stillen als Kopffessel. »Das ist ein akustisches Gerät, das um deinen Schädel befestigt und unter dem Kinn verschlossen wird. Es lässt sich nur mit einem Schlüssel öffnen. Und den einzigen Schlüssel habe ich. Falls es dir irgendwie gelingt, das Gerät auszuschalten«, Haymitch wirft die Kopffessel aufs Bett und zückt einen winzigen silbernen Chip, »werde ich Anweisung geben, dir diesen Sender ins Ohr zu implantieren, damit ich vierundzwanzig Stunden am Tag mit dir sprechen kann.«

Haymitch rund um die Uhr in meinem Ohr. Der absolute Horror. »Ich werde das Headset aufbehalten«, murmele ich.

»Wie bitte?«, fragt er.

»Ich werde das Headset aufbehalten!«, sage ich so laut, dass wahrscheinlich die halbe Krankenstation aufwacht.

»Bestimmt? Mir ist es nämlich egal, für welche der drei Möglichkeiten du dich entscheidest«, erwidert er.

»Bestimmt«, sage ich. Ich schließe die Hand um das Kabel des Headsets. Mit der anderen Hand schmeiße ich Haymitch die Kopffessel ins Gesicht, doch er fängt sie mühelos auf. Wahrscheinlich hatte er schon damit gerechnet. »Sonst noch was?«

Haymitch erhebt sich. »Während ich gewartet habe … hab ich dein Mittagessen gegessen.«

Mein Blick fällt auf die leere Suppenschüssel und das Tablett auf meinem Nachttisch. »Das werde ich melden«, murmele ich in mein Kopfkissen.

»Mach das, Süße.« Unbekümmert verlässt er das Zimmer. Er weiß, dass ich nicht petze.

9

Ich versuche wieder einzuschlafen, aber ich bin zu unruhig. Die Bilder des gestrigen Tages drängen sich in mein Bewusstsein. Die Bombardierung, die Hoverplanes, wie sie abstürzen und in Flammen aufgehen, die Gesichter der Verwundeten, die es nicht mehr gibt. Tod von allen Seiten. Der letzte Moment, bevor die Granate einschlägt, die Tragfläche, die von dem Hoverplane abgerissen wird, der schwindelerregende Senkrechtsturz ins Nichts, das Dach des Lagerhauses, das über mir zusammenbricht, während ich hilflos auf meiner Pritsche liege. Alles, was ich gesehen habe, live oder aufgezeichnet. Alles, was ich mit meinen Pfeilen ausgelöst habe. All das ist für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.

Zum Abendessen kommt Finnick mit seinem Tablett zu mir ans Bett, damit wir den neuesten Propo gemeinsam im Fernsehen anschauen können. Er hat ein Quartier auf meiner alten Ebene zugewiesen bekommen, aber er bricht so oft zusammen, dass er immer noch mehr oder weniger auf der Krankenstation lebt. Die Rebellen strahlen Messallas »Ihr wisst, wer sie sind und was sie tun«-Propo aus. Zwischen den einzelnen Aufnahmen werden kurze Studio-Clips eingespielt, in denen Gale, Boggs und Cressida den Vorfall erläutern. Es ist kaum auszuhalten, meinen Empfang im Lazarett von Distrikt 8 anzusehen, mit dem Wissen, was gleich kommt. Als die Bomben auf das Dach niedergehen, vergrabe ich mein Gesicht im Kopfkissen und schaue erst am Schluss wieder hoch. Da sind alle Opfer tot und ich bin noch einmal zu sehen.

Wenigstens klatscht und jubelt Finnick nicht, als der Film zu Ende ist. Er sagt nur: »Die Leute sollen wissen, was passiert ist. Und jetzt wissen sie es.«

»Komm, wir schalten aus, bevor sie es noch mal zeigen«, sage ich. Doch als er nach der Fernbedienung greift, rufe ich: »Warte mal!« Das Kapitol strahlt eine Sondersendung aus und irgendetwas daran kommt mir bekannt vor. Ja, das ist Caesar Flickerman. Und ich ahne schon, wen er zu Gast hat.

Ich bin entsetzt, wie sehr Peeta sich verändert hat. Der gesunde Junge mit dem klaren Blick, den ich noch vor wenigen Tagen gesehen habe, hat mindestens fünf Kilo abgenommen. Seine Hände zittern nervös. Er wirkt immer noch gepflegt. Aber unter dem Make-up, das die Ringe unter seinen Augen nicht kaschieren kann, und den eleganten Kleidern steckt ein schwer angeschlagener Mensch. Man sieht, dass ihm jede Bewegung Schmerzen bereitet.

Meine Gedanken rasen, ich versuche mir einen Reim darauf zu machen. Ich habe ihn doch neulich erst gesehen! Vor vier - nein, fünf Tagen. Wie konnte sein Zustand sich so schnell verschlechtern? Was können sie ihm in so kurzer Zeit angetan haben? Auf einmal kapiere ich es. Ich lasse sein erstes Interview mit Caesar noch einmal Revue passieren und überlege, ob es einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Aufnahme gibt. Nein. Theoretisch kann das Interview ein oder zwei Tage nachdem ich die Arena gesprengt habe, geführt worden sein, und seitdem können sie ihm alles Mögliche angetan haben. »Oh, Peeta …«, flüstere ich.

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