Nachdem sich Selana wieder in einen Sperling verwandelt hatte, versteckte sie sich und sah zu, wie Balkom von einem Sims vor seinem Fenster sprang. Das Armband an seinem Handgelenk war deutlich zu erkennen. Offenbar mit Hilfe eines Flugzaubers schwebte er dicht über die Baumwipfel im Norden des Dorfes davon und verbarg sich dann in den grauen Wolken, die seit dem Morgen tief am Himmel standen. Anscheinend wollte er tiefer in die Berge hinein, wobei er dem Ufer des großen Gebirgsflusses folgte, der die Klamm zwischen dem Schloß und dem stillen Örtchen Tantallon geformt hatte.
Selana wartete zwei Minuten, dann flog sie ihm hinterher, wobei sie einen Abstand ließ, der sie hoffentlich außerhalb der Reichweite eines möglichen Erkenntniszaubers hielt.
So nah! Sie hatte das Armband in den Zähnen gehalten! Beim Gedanken daran blutete ihr das Herz.
Die Meerelfin fühlte einen Anflug von Schuld, weil sie Flint und Tanis im Gefängnis zurückließ. Der Zwerg, der von der väterlichen Sorte war, schien – trotz seiner gelegentlichen Knurrigkeit – einer der nettesten Leute zu sein, die sie kennengelernt hatte, seit sie an Land war. Sie nahm an, daß viel von dem Gemaule nur Getue und Schau war, denn er bemühte sich offenbar wirklich darum, das Armband wiederzubeschaffen. Es tat ihr leid, ihn seinem Schicksal überlassen zu müssen.
Der Halbelf war etwas anderes… So jemanden hatte sie noch nie zuvor kennengelernt. Feuer und Eis. Aufreizend. Ungeduldig. Fesselnd… Eine mächtige Flamme, die aus seiner Seele genährt wurde, brannte in seinen Augen. Er war ein junger Mann, der von Extremen getrieben wurde, von den besten und den schlimmsten Leidenschaften. Aus irgendeinem, für sie unerklärlichen Grund schien sie das Schlimmste in ihm zu wecken, was sie traurig machte.
Sie wußte, ihre Verantwortung galt ihrem Bruder und ihrem Königreich, und wenn sie Balkom nicht sofort folgte, ehe die Wirkung des Tranks zu Ende war, würde der böse Magier entkommen, und das, wofür sie alle gekämpft hatten, würde verloren sein.
Mit etwas Glück würde es dem Kender gelingen, seine Freunde zu retten. Er schien jedenfalls zu der Sorte zu gehören, die immer auf den Füßen landete, egal wie aussichtslos die Situation wirken mochte. Der Kender war erfinderisch und unerschrocken, auch wenn dem noch etwas entgegenstand. Unverantwortlich war nicht ganz das richtige Wort, dachte sie. Er ließ sich leicht ablenken. Sie hoffte, er würde seinen Freunden helfen können, und sie fand, daß sie in dieser Hinsicht kaum etwas anderes tun konnte als hoffen.
Hoffnung schien auch der Hauptbestandteil ihrer augenblicklichen Strategie zu sein. Denn hoffentlich hielt ihr Trank lange genug an, um Balkom zu folgen. Hoffentlich würde sie vor Ablauf der Wirkung rechtzeitig genug gewarnt, damit sie den Erdboden ohne Schaden erreichen konnte. Hoffentlich war Balkom sich nicht darüber im klaren, daß er verfolgt wurde. Und hoffentlich konnte sie ihm das Armband auch abnehmen und damit entkommen.
Unterwegs schienen sie ständig demselben Tal zu folgen. Sie waren noch nicht von dem Hauptstrom des Flusses durch Tantallon abgewichen. Wenn ich ihn aus irgendeinem Grund verliere, beschloß Selana, dann werde ich diesem Fluß weiter folgen. Balkom scheint sich daran zu orientieren, und so verirre ich mich wenigstens nicht.
Sie konnte währenddessen die Berge kaum aus den Augen lassen. Selana hatte noch nie solche Gipfel gesehen. In ihrem Heimatreich konnte jeder leicht über die Unterwassergebirge hinwegschwimmen, aber die waren ziemlich trostlos, und ihre Spitzen und Kanten waren von der unermüdlichen Bewegung des Wassers rundgewaschen. Diese hier hingegen waren kühn zerklüftet und voller Leben. Dennoch erinnerte sie dieser interessante Flug mehr an ihr Zuhause als alles andere, seit sie das Meer verlassen hatte.
Burg Tantallon lag vielleicht dreißig Minuten zurück, als Selana sich allmählich merkwürdig schwer fühlte und ihr Blickfeld verschwamm. Der Trank. Wahrscheinlich ließ seine Wirkung nach. Mit klopfendem Herzen senkte die Meerelfin sofort ihren Kopf, legte die Flügel an und schoß direkt zur moosbedeckten Erde hinunter.
Sie hätte es fast geschafft.
Hinter den obersten Zweigen der Fichten und der knospenden Espen, genau über einem grasbewachsenen Abhang am Flußufer verwandelte sich der Sperling wieder in eine Meerelfin. Sie stürzte über acht Fuß tief ab, wobei ihr blauer Mantel um sie herumflatterte, und landete unsanft in einem großen, stacheligen Dickicht.
Mit einem durchdringenden Schmerzensschrei sprang Selana aus den Büschen, doch ihre Robe verfing sich in den spitzen Dornen. Tränen traten ihr in die Augen, während sie fast hysterisch an ihrem Umhang zerrte. Jetzt war das gute Stück, das schon bei dem Satyren und der Hetzjagd durch Tantallon arg gelitten hatte, völlig zerrissen. Sie zog an dem zerrissenen Stoff und heulte vor Enttäuschung und vor Erschöpfung nach all den Strapazen der vergangenen Tage, dem wenigen Schlaf, dem wenigen Essen. Das kleine Stück von dem Umhang, das noch um ihren Hals lag, riß sie ab und warf es wütend in den Busch, was ihren Ärger etwas besänftigte.
Ihr blaßsilbernes Haar war zerzaust und hing ihr in losen Strähnen um das verschwitzte, schmutzige, zerkratzte Gesicht. Mit nichts bekleidet als ihrer dünnen, gelblichen, wadenlangen Tunika sank die Prinzessin der Dargonesti-Elfen auf die Knie und weinte bitterlich.
»Was soll ich jetzt bloß machen?« schluchzte sie den Himmel an. Balkom war längst nicht mehr zu sehen, und sie hatte nur eine unklare Vorstellung von seinem Ziel: ein Versteck flußaufwärts, das jedoch meilenweit entfernt sein konnte. Zu einer Kugel zusammengerollt, hielt Selana sich mit den zerkratzten Händen den Kopf und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte und eine unheimliche Ruhe sie überkam.
Sie hatte keinen Proviant, keinen Unterschlupf und keine magischen Sprüche mehr übrig. Da sie todmüde war, mußte sie schlafen, bevor sie wieder zaubern konnte. Um Balkom überhaupt noch zu erreichen, bevor es zu spät war, das Armband zurückzuholen oder Rostrevor zu retten, würde sie zu Fuß über Land ziehen müssen. Diese Aussicht war fast unerträglich für sie. Wütend nahm Selana eine große Handvoll Kieselsteine und schleuderte sie vor lauter Zorn in den Fluß.
Fern von ihrem Volk und noch weiter weg von allem, was ihrem Leben im Meer ähnelte, fühlte sich die junge Meerelfin mutterseelenallein.
Selana berührte mit ihrer Zunge eine salzige Träne, die über ihre Lippen rann, und lächelte traurig, denn sie dachte an schöne Zeiten, die sie mit ihrer Familie – besonders mit ihrem großen Bruder – im Meer verbracht hatte. Semunel neckte sie furchtbar gern. Wenn sie ihm beim Fangenspielen nah kam, verwandelte er sich einfach in einen Delphin, eine Gestalt, die alle Dargonesti von Natur aus annehmen können, die jedoch meist nur auf der Flucht vor räuberischen Feinden benutzt wurde. Er schwamm schneller als sie, tauchte durch die Korallenriffe und die vielen Schiffswracks, mit denen der Meeresboden übersät war, und war ihr dabei immer nur eine Länge voraus, so daß sie ihn nicht packen konnte.
Als sie noch ganz klein war, hatte sie geweint und sich bei ihrem Vater, der Stimme der Monde, beschwert, der Semunel dann zurechtwies.
»Alle Mitglieder des Königshauses der Dargonesti müssen darüber stehen, jemanden lächerlich zu machen oder besiegen zu wollen, selbst untereinander«, sagte er in solchen Fällen streng.
Hinterher kniff Semunel sie, wenn ihr Vater nicht hinsah. »Du bist eine verzogene Prinzessin, Schwesterchen. Eines Tages wird Vater nicht dasein, um deine Kämpfe für dich durchzustehen«, schalt er. Und wenn sie dann vor Wut fast verrückt wurde, grinste er und schloß sie fest in die Arme und sagte: »Aber ich werde immer für dich da sein, Selana.«
Selanas Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Vielleicht hat Semunel recht – vielleicht bin ich ein klein bißchen dickköpfig und zu verwöhnt«, murmelte sie nachdenklich. »Ich wünschte, er wäre jetzt hier und könnte mir helfen.«
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm die Anweisungen zur Herstellung des Armbands gezeigt hatte, die sie gefunden hatte. Als sie ihm erzählt hatte, was sie für ihn tun wollte, hatte er ihr regelrecht befohlen, den Plan zu vergessen.
»Halte dich von den Landbewohnern fern; die machen nur Ärger«, sagte er und drohte ihr wirklich mit dem Finger. »Wir lösen dieses Problem auch alleine.«
Sein herablassender Ton hatte sie verletzt, und sie hatte seine Einwände verworfen und war nachts fortgelaufen, um die Sache auf ihre Weise zu erledigen. Zu ihrem Leidwesen mußte sie jetzt zugeben, daß er recht gehabt hatte, was die Landbewohner anging.
Seufzend setzte sich Selana im Schneidersitz ans Flußufer, wo sie in einem ruhigen, flachen Teich hinter einem umgestürzten Baum ihr Spiegelbild betrachtete.
»Wie konntest du eigentlich annehmen, eine solche Reise alleine zu schaffen?« stöhnte sie das mitgenommene, blasse Gesicht im unbewegten Wasser an. Welcher Wahn hatte aus einer einst unbeschwerten, jungen Prinzessin ein geschlagenes, heulendes Dummchen in einer abgelegenen Bergkette gemacht? Sie gehörte in ihre geliebte Heimat, wo sie sich an den schönen Wellen erfreuen könnte. Wenn sie doch nur wieder schwimmen könnte…
Plötzlich bekam Selana große Augen. Sie betrachtete den brausenden Fluß. Ob er tief genug war? Wenn die Strömung nun zu stark war und sie flußabwärts trieb? Das Wasser würde auf jeden Fall viel kälter sein als das, an das sie gewöhnt war. Und es war Süßwasser, kein Salzwasser, doch darin konnte sie lange überleben.
Trotz ihrer Zweifel hatte sich die Meerelfenprinzessin bereits entschlossen. Sie glühte vor Verlangen, sich vom vertrauten Wasser umgeben zu lassen, egal was daraus erwachsen würde. Kühn stand sie auf und zog einen von ihren weichen Lederstiefeln aus, um mit dem großen Zeh die Wassertemperatur zu prüfen – es fühlte sich an wie frisch geschmolzener Schnee. Als sie den Stiefel wieder anzog, zitterte sie, doch nicht nur wegen der Kälte. Sie erinnerte sich daran, daß es sich nicht so eisig anfühlen würde, wenn sie erst in ihrer dicken, blaugrauen Delphinhaut stecken würde.
Selana schloß ihre großen, meerfarbenen Augen. Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sie ihre Füße, sie in das schnell fließende, eiskalte Wasser zu tragen. Jede Faser ihres Körpers schrie vor Protest gegen diese Zumutung für ihr zartes, blasses Fleisch. Dann stand sie bis zum Bauch im Wasser, das sie bis auf die Haut durchnäßte. Das Geräusch des fließenden Wassers, das den Berg hinunterströmte, beruhigte ihre Nerven. Während sie mit gekonnter Leichtigkeit die Arme ausbreitete, holte sie tief Luft, hielt sie an und tauchte unter.
Selana rief sich eine Kindheitserinnerung ins Gedächtnis und konzentrierte sich darauf. Auf der Stelle fühlte sich das Wasser, das über sie hinwegströmte, nicht mehr eisig an. Sie spürte das vertraute »Verschmelzen« – anders konnte sie das Gefühl kaum beschreiben, wie sich ihre Beine in einen kräftigen Schwanz verwandelten, wie ihre Arme zu kleinen Flossen wurden und sich ihr Blickfeld erweiterte, wie ihr eine flaschenförmige Schnauze wuchs und die Augen weit auf beide Seiten auseinanderwichen.
Sie fühlte sich frei!
Mit Schlägen ihrer Schwanzflosse wandte sie sich flußaufwärts, während sie gleichzeitig die Tiefe des Flußbetts auslotete. Als sie zum ersten Mal atmen mußte, konnte sie der gefährlichen Versuchung nicht widerstehen, in einem anmutigen Bogen herauszuspringen und dabei nach Luft zu schnappen wie Fische nach Fliegen. Sie rollte sich einmal herum, dann noch einmal – einer der ersten Tricks, die sie als Delphin gelernt hatte. Noch einmal sprang Selana aus dem Wasser hoch in die Luft, wobei sie in einer trotzigen Geste mit neuem Selbstvertrauen ihren mächtigen Schwanz schwang.
Befriedigt schwamm sie weiter. Bald würde sie sich nach dem Versteck umsehen müssen, auch wenn ihr gar nicht richtig klar war, wonach sie suchen sollte. Würde es ein Haus sein wie die in der Stadt? Sie streckte ihre Schnauze aus dem Wasser und schwamm im Zickzack, während ihre schwarzen Augen das Ufer nach Balkom absuchten.
Die größte Schwierigkeit stellten die unberechenbaren Strömungsänderungen dar. Manchmal dehnte sich der Fluß plötzlich auf die doppelte Breite aus, wurde seicht und floß ruhig dahin. Ebenso plötzlich verwandelte sich der Fluß wieder in ein reißendes Gewässer.
Je höher sie in die Berge kam, desto mehr wichen die hohen Fichten und Espen kleineren Pinien und Büschen. So weit flußaufwärts mußte sie großen, scharfkantigen Eisschollen ausweichen, die vom Ufer abbrachen. Um die Sache noch weiter zu erschweren, änderte der Fluß zwar immer wieder seine Breite, doch die Tiefe nahm ständig ab. Selana wußte, wenn sie Balkoms Versteck nicht bald fand, würde sie nicht weiterschwimmen können. Als Delphin brauchte sie einfach ein paar Fuß Wassertiefe.
Als sie in einem schnell fließenden Abschnitt mit der starken Strömung kämpfte, fiepte Selana plötzlich vor Schmerz, als ihre linke Flosse an einem scharfen Felsen unter Wasser entlangratschte. Sie hörte und fühlte, wie die feste Haut riß. Das eisige Wasser verstärkte den Schmerz, und in Panik schlug die Meerelfin nur noch um sich. Auf der Stelle sank ihr der Mut, als ihr klar wurde, daß sie in der starken Strömung mit nur einer Flosse unmöglich lenken konnte. Schnell stieß sie sich mit dem Schwanz zum Ufer, wobei sie nur mit der rechten Flosse steuerte.
Noch bedrückender war die Erkenntnis, daß sie nicht einfach am Flußufer liegenbleiben konnte, bis ihre Wunde heilte. Sie brauchte ihre Hände, um sich zu verbinden, und mußte schlafen, um wieder denken zu können. Wenn sie als Delphin in dieser Strömung einschlief, würde sie unweigerlich ertrinken. Da sie wirklich keine Wahl hatte, seufzte Selana niedergeschlagen und nahm wieder ihre menschenähnliche Gestalt an.
Das Wasser rann ihr von den Brüsten, während sie so dastand. Die fingerlange, knochentiefe Wunde unter dem Ärmel ihrer triefenden Tunika begann sofort, unerträglich weh zu tun. Ein pulsierender, dicker, roter Blutstrahl spritzte heraus. Während sie darum kämpfte, bei Besinnung zu bleiben, zog sie sich mit ihrem heilen Arm die Böschung hoch. Dort angekommen, lag sie auf dem gefrorenen Boden und zitterte im eisigen Wind.
Selana konnte es kaum glauben, aber sie war jetzt tatsächlich schlimmer dran als vorher. Die Temperatur im Fluß war nahezu konstant geblieben, doch die Luft war in dieser Höhe viel kälter als das Wasser. Jetzt war sie ernsthaft verletzt, jedoch noch immer ohne Essen oder Schutz. Ihr wurde klar, daß sie leicht tot sein konnte, ehe die Sonne wieder aufging.
Ich muß trocken werden, dachte Selana erschöpft, obwohl ihr von dem Blutverlust schwindelig war. Indem sie ihren ganzen Willen zusammennahm, nutzte sie den allerletzten Zauber aus ihrem Gedächtnis: einen Zaubertrick, eigentlich nur etwas zum Üben, der so unscheinbar war, daß er praktisch nicht zählte. Wenn man sie jedoch einmal beherrschte, waren Zaubertricks ungeheuer flexibel, und darauf setzte Selana jetzt. Es strengte sie sehr an, doch mit Hilfe des Zaubertricks gelang es ihr, das eisige Wasser aus ihrer dünnen Tunika zu wringen und sie trockenzublasen. Diese Anstrengung schwächte sie jedoch noch mehr.
Sie riß einen Streifen Tuch vom zerfetzten Saum ihrer Tunika ab und verband damit fest die brennende, blutende Wunde, um die Verletzung zu schließen und die Blutung zu stoppen. Der zusätzliche Druck der Bandage schmerzte zwar, gab Selana jedoch gleichzeitig ein beruhigendes Gefühl.
»Du mußt dich ein wenig ausruhen«, murmelte sie laut, weil sie hoffte, daß der Klang einer Stimme – und wenn es nur ihre eigene war, sie wachhalten würde. »Such dir eine windgeschützte Stelle.« Stolpernd taumelte Selana auf einen auffällig weißen Felsvorsprung am Berghang zu. Bestimmt konnte sie dort ein Eckchen finden, wo sie sich vor den gnadenlosen Böen des Bergwinds verstecken konnte.
Schließlich fand sie eine kleine, niedrige Höhle, die gerade für ihren zierlichen Körper ausreichte. Sie rollte sich – an den kalten Granit gedrängt – zusammen. Während sie ihre zerrissene Tunika fest um sich zog, blinzelte sie mit verschleierten Augen in die trostlose Landschaft vor sich.
Sie wußte mit erschreckender Klarheit, daß sie sterben würde… Unter dem heulenden Wind würde sie ins ewige Vergessen fortgleiten und niemals wieder erwachen – wenn sie nicht den Klerikern glaubte, die behaupteten, daß es ein Leben nach dem Tode gäbe, sofern man an die wahren Götter glaubte (wer die auch waren). Doch das tat sie nicht. Sie dachte, sie hätte eine Bewegung gesehen, und zwang sich, die Augen offenzuhalten. Vielleicht ein Ast, der heruntergefallen war? Oder eine Halluzination? Sie verwarf den Gedanken, denn was auch immer sie gesehen hatte, es war viel größer als ein Ast und verschmolz perfekt mit dem grauen Granit der Bergwand. Sie glaubte, einen riesigen Minotaurus zu sehen, eine wilde Mischung aus Mensch und Rind, doch der hier bestand aus poliertem, weißem Granit. Er sprang über den Fluß und kam auf sie zu.
Ich habe wirklich Halluzinationen, dachte sie. Ich mache einfach die Augen zu und schlafe, und wenn ich aufwache, ist er weg. Aber als sie die Augen schloß, hörte sie keuchendes Atmen und böses Schnauben. Ich halte mir einfach auch die Ohren zu, dachte sie dämmrig. Mit fest zugepreßten Augen und den Fingern in den Ohren wartete sie.
Da ergriffen zwei große Hände, die genauso kalt waren wie Granit, Selana an den Schultern und hoben sie in die Luft. Kurz vor der Ohnmacht schlug Selana noch einmal die Augen auf und sah wieder den erschreckenden Granitminotaurus mit den Hörnern auf dem Kopf.
Einen letzten, kurzen Moment lang dachte sie fast dankbar, daß sie bestimmt schon tot war.
Flint verzog das Gesicht und kratzte sich am Bart. »Das ganze Viehzeug krieg’ ich nie wieder raus«, knurrte er Tanis an. »Kein Wunder, daß Vögel keine Haare haben.«
»Und kein Wunder, daß du keine Flügel hast«, antwortete der Halbelf. »Aus lauter Angst um deinen kostbaren Bart würdest du sie nie benutzen. Paß bei dem Geröll auf, das ist locker.«
Genau in dem Moment, wo er diese Warnung aussprach, rutschte Tanis ein melonengroßer Stein unter dem Fuß weg und kullerte den steinigen Hang hinunter. Flint wich zur Seite aus. Dicht hinter ihm knallte er gegen einen Felsen und sprang über die Köpfe von Tolpan und den drei Phaetonen hinweg, die das Schlußlicht der Gruppe bildeten. Er verschwand unter ihnen in der Finsternis, aber wiederholtes Krachen ließ sie deutlich jeden Aufschlag hören, als der Stein bis zum dreihundert Schritt tiefer gelegenen Ende des Hangs hinabpolterte.
»Wieder daneben, Tanis. Das war das zweite Mal«, sagte Tolpan, der wieder zu klettern begann.
»Aller guten Dinge sind drei«, murmelte Flint.
Nanda Lokir, der die Gruppe anführte, drehte sich zu den anderen um. »Wir nähern uns dem Grat. Seid jetzt still und paßt auf. Oben ist der Hang steiler.«
Sie waren so nah zu Balkoms Höhle geflogen, wie die Phaetone es wagten. Leider wirkten ihre Flammenflügel im Dämmerlicht wie Leuchtkugeln, so daß sie es für besser hielten, hinter einem Berg zu landen, der sie vom Eingang zur Höhle abschirmte.
Nanda, Hoto, Cele und die anderen vier Phaetone, die die Gruppe begleiteten, waren an das Gelände und die Höhe gewöhnt. Ihre Stiefel mit den festen Sohlen eigneten sich gut dazu, über Geröll zu klettern. Tolpan, Flint und Tanis hatten Mühe und keuchten vor Anstrengung, weil die Luft in dieser Höhe schon ziemlich dünn war. Flint trug wenigstens eisenbeschlagene Stiefel. Tanis und Tolpan hatten einiges auszustehen, während sie über die Steine stolperten, die durch ihre dünnbesohlten Mokassins stachen, welche eher für grasbewachsene Ebenen und staubige Straßen gemacht waren.
Alle atmeten auf, als sie einer nach dem anderen oben ankamen und kurz vor dem Grat eine Pause einlegten. Die andere Seite war lange nicht so steil. Zehn Gesichter spähten in die Dämmerung.
Etwa vierhundert Schritt entfernt war am gegenüberliegenden Hang der Eingang zu einer Höhle zu sehen. Von innen strömte ein einladendes Licht heraus, das einen warmen Glanz über die verkrüppelten Bäume um den Eingang warf. Ein Bach, der sich tief in die Erde eingeschnitten hatte, trennte die Gruppe von der Höhle. Auf beiden Seiten fielen die Hänge allmählich ab und waren mit Gestrüpp bedeckt: Dornenbüsche und kleine Bäume.
»Ich kann es zwar kaum glauben, aber der Eingang sieht nicht bewacht aus«, stellte Tanis fest.
Flint war skeptisch. »Dann glaub’ es lieber nicht, Junge. Du hast Balkom doch kennengelernt. Er ist ein gewiefter Zauberer und obendrein ein schlauer Fiesling. Der läßt nicht einfach die Tür offen stehen.«
»Er weiß, daß wir ihm auf den Fersen sind«, fügte Tolpan hinzu. »Wir wissen nicht, was er aus Selana herausgequetscht hat.« Tanis erschauerte, weil ihm bei diesen Worten sein eigenes Verhör einfiel.
Nanda warf einen Blick an den Himmel. Jetzt funkelten Sterne in der Dunkelheit. Im Osten, wo die Berge zum Neumeer hin abfielen, ging Lunitari, der schnelle Mond, auf, der auf seinem unentwegten Lauf über den Himmel eilte. Darüber stand Nuitari, der unsichtbare Mond. Nur Zauberer, die die schwarze Robe des Bösen anlegten, konnten diesen Trabanten wirklich sehen. Aufmerksame Augen konnten ihn in Nächten wie dieser als schwarze Scheibe erkennen, die die Sterne hinter sich verdeckte. »Seht nach oben, Freunde. In der nächsten Stunde wird Lunitari Nuitari überholen. Hoto sagt, daß dieser Balkom seinen Zauber sprechen wird, wenn sie zusammenstehen. Uns bleibt nur noch wenig Zeit.«
»Ob es noch einen anderen Eingang gibt?« fragte Tanis.
Alle Augen wandten sich Hoto zu, der geschwiegen hatte, seit sie das Turmdorf der Phaetonen verlassen hatten. Wie gewöhnlich antwortete er erst nach einer Weile. »Es gibt noch eine Öffnung, doch dies ist kein guter Eingang. Es ist eine Art Schornstein, der in den Fels gemeißelt wurde. Ich beobachte die Gegend seit Jahren und habe festgestellt, daß dieser Schornstein in den Raum führt, in dem der Zauberer seine Riten vollzieht. So kann er während der Zeremonie die Monde sehen.«
»Ist er so breit, daß man hinunterklettern kann?« fragte Tanis.
»Zu breit«, erwiderte Hoto. »Die Wände sind glatt, steil und mehr als zwei Armlängen voneinander entfernt. Ohne Seile würdet ihr nicht hinunterkommen.«
Tanis spürte, daß Hoto auf etwas hinauswollte. »Aber ein Phaeton mit Flügeln könnte doch runterfliegen?«
»Ja, wenn er vorsichtig ist und keine schwere Last trägt.«
Flint warf Tanis einen Blick zu. »Denkst du, was ich denke, was du denkst?«
Der Halbelf nickte. »Sieben von uns gehen am Haupteingang rein. Dort wird der Widerstand wahrscheinlich am stärksten sein, und wir müssen dort ebenfalls stark sein. Nanda, drei von deinen Leuten sollen diesen Kamin suchen und dort warten. Wenn wir Balkoms Zeremonienraum erreichen, muß er sich auf uns konzentrieren.
Dann kommt die Überraschung durch den Schornstein. Mit etwas Glück erwischt ihn einer von hinten.«
Nanda überlegte sich den Vorschlag. Er warf Hoto einen Blick zu. »Du bist nicht unser Anführer, Urgroßvater, aber unser weisester Ratgeber. Hört sich Tanis’ Plan erfolgversprechend an?«
»Jedenfalls ist er nicht schlechter als andere.« Hoto sah Tanis direkt ins Gesicht. Dem Halbelfen fiel zum ersten Mal auf, wie die Augen des Mannes in der Dunkelheit glühten. »Auch wenn der Erfolg seinen Preis haben wird. Wie der Zwerg schon sagte, euer Feind ist ein mächtiger Zauberer. Heute nacht wird er mehr als einen von uns töten. Ist diese Elfenfrau einen solchen Preis wert, Nanda Lokir?«
Nanda hatte gewußt, daß diese Frage kommen würde, und seine Antwort kam ohne Zögern. »Nein, Urgroßvater, die Frau selbst ist für uns ohne Bedeutung. Aber das Böse in diesem Mann kann unsere Familien bedrohen. Das ist es, was wir verhindern müssen.«
Der Alte schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein.
Nanda wandte sich den anderen Phaetonen in der Gruppe zu. »Cele, nimm Jito und Satba mit zum Schornstein. Hoto wird euch beschreiben, wo das ist. Dort wartet ihr, bis wir kommen. Wir anderen gehen zum Haupteingang. Ich gehe voraus, dann kommt Hoto, dann Kelu, Tanis, Tolpan und Flint, zum Schluß Baji. Wir rücken so schnell und still wie möglich vor.«
Plötzlich stand Tolpan neben Nanda. »Laß mich vorgehen, Nanda. Ich bin der Kleinste, und ich habe so was schon eher mal gemacht.«
»Nein. Du bleibst hinter Tanis und Flint. Alle mir nach.« Auf der Stelle war der Anführer der Phaetonen auf den Beinen und schlich über den Grat. Er verschmolz mit den Büschen und suchte sich vorsichtig einen Weg durch das dornige Gestrüpp. Die Gruppe brauchte fast zwanzig Minuten, um das Tal hinter sich zu bringen, doch schließlich erreichten sie zerkratzt und verschwitzt den Höhleneingang.
»Kann jemand diese Zeichen lesen?« fragte Nanda.
Tanis suchte den weißen Fels um den Eingang ab und bemerkte zum ersten Mal, daß wirklich eine Art Schrift in den Stein eingemeißelt war. Er hatte keine Ahnung, was sie bedeutete, oder auch nur, welche Sprache es war.
Wieder schob Tolpan sich nach vorne. »Das ist eine religiöse Inschrift, eine Art rituelles Gebet. Ich habe genau so etwas schon einmal über einer Tempeltür südlich von Shalost an der Grenze zu Silvanesti gesehen, kurz bevor die Elfen den Tempel niederbrannten. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber es sind dieselben Zeichen. Das hier, an der Spitze«, er deutete mit seinem Hupak hin, »ist das Siegel von Hiddukel.«
Flint fingerte unsicher an seiner Axt herum und fragte: »Was war das für ein Tempel, der bei Shalost?«
»Der gehörte einem Seelenkannibalenkult.«
Die Gruppe schwieg einen Moment lang, bis Tanis sagte: »Na schön, das paßt zu dem, was du mit Selana in Balkoms Labor belauscht hast. Gehen wir rein.«
Geduckt, als würde er in starken Gegenwind laufen, drang Nanda in die Höhle ein. Der Rest der Gruppe folgte in einer Reihe hintereinander.
Baji, der als letzter der Phaetonen eintrat, warf schnell einen Blick über die Schulter. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß ihnen niemand folgte, drehte er sich wieder um und schloß mit Flint auf.
Hätte er den Eingang etwas länger beobachtet, so hätte er vielleicht gesehen, wie zwei weiße Steinkörper in Gestalt von Minotauren mit pulsierenden, roten Adern sich aus dem Fels beiderseits der Höhle lösten, langsam zum Eingang liefen und den Eindringlingen folgten.
Nanda führte die Gruppe langsam den Gang hinunter. Obwohl es eine natürliche Höhle war, sah man, daß manches daran bearbeitet war. Wände und Boden waren teilweise geglättet oder eingeebnet. Von weiter vorne drang ein schwaches Licht in den Tunnel, das lange Schatten zum Eingang hin warf.
Der Anführer ging vorsichtig vor und tastete den Boden vor sich mit seinem Stab ab. Sekunden später klickte und zischte etwas, und Nanda brach auf dem Boden zusammen. Alle aus der Gruppe blieben erst wie erstarrt stehen. Dann rannten Kelu und Tanis zu dem Getroffenen.
Ein Eisenpfeil ragte zwei Fingerbreit aus seiner Hüfte, und darum breitete sich eine Blutlache aus. Kelu nahm ihn vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte ganz sanft, ihn aus der Wunde zu ziehen. Nandas Halsmuskeln spannten sich an, weil er dagegen kämpfte, laut aufzuschreien.
Kelu schüttelte den Kopf. »Er steckt im Knochen, Nanda.«
»Und hat wahrscheinlich auch Widerhaken«, fügte Tanis hinzu. »Um den sicher herauszubekommen, brauchen wir Magie. Kannst du überhaupt noch gehen?«
Der bleiche Anführer der Phaetonen nickte und murmelte: »Ich glaube schon.« Die beiden Männer halfen ihm auf und stützten ihn. Tolpan hob den Stab auf, den Nanda fallengelassen hatte, und gab ihn zurück. Wenn er sich auf den Stab stützte, konnte Nanda eigenständig weiterhumpeln, doch jeder konnte sehen, wie er unter Schmerzen litt.
Tolpan tippte Nanda an die Schulter und sagte wieder: »Das hätte ich bestimmt entdeckt. Laß mich vorgehen.« Als er das Zögern in Nandas Augen sah, beharrte er: »Ich kann so was. Ist eine Art Hobby.«
Nanda sah Tanis fragend an. Der Halbelf erklärte: »Ich kenne ihn nicht viel länger als du, aber er scheint wirklich sehr geschickt darin zu sein, irgendwo rein und wieder raus zu kommen, wo Besucher unerwünscht sind. In dieser Hinsicht hat er uns bisher immer gut geführt.«
Nanda schlug die Augen nieder und winkte mit der Hand.
»Geh vor«, sagte Tanis. »Nanda kann deinen Platz zwischen Flint und mir einnehmen.«
Etwas erleichtert, weil jemand anders ihm die Verantwortung abnahm, stützte sich Nanda schwer auf seinen Stab, um dem verwundeten Bein möglichst viel Gewicht abzunehmen.
Tolpan grinste von einem Ohr zum anderen, während er seine Beutel und Taschen zurechtrückte und sagte: »Beste Entscheidung, die du je getroffen hast. Guckt gut zu!« Er drehte sich um und ging leichtfüßig bis zu der Stelle zurück, wo Nanda gestürzt war. »Ich bin fertig, ihr auch, Tanis?« Ohne ein Zeichen abzuwarten, ging er an die Arbeit.
Bevor er weiter den Tunnel hinunterlief, nahm sich der Kender die Zeit, den Auslösemechanismus der Falle zu untersuchen, die Nanda verletzt hatte. Er stocherte nur ein paar Sekunden mit dem Dolch in dem rauhen Steinboden herum, bevor er murmelte: »Aha!« Einer der größeren Steine verschob sich etwas und gab dabei ein hörbares Klicken von sich. Tolpan sah ihn sich noch ein paar Sekunden an, bevor er die gegenüberliegende Wand absuchte. Rasch fand er das kleine Loch für den Pfeil und nickte anerkennend.
»Hier hat jemand wirklich erstklassige Arbeit geleistet«, sagte er über die Schulter, doch ein ganzer Chor von »Psst!« erinnerte Tolpan daran, wo er war.
Nachdem er jetzt die richtige Vorstellung davon hatte, was vor ihm lag, nahm Tolpan seine Suche wieder auf. Er ging den Tunnel nur wenige Schritte weiter hinunter, bevor er stehenblieb, die Hand hob und die anderen anhalten ließ. Er zeigte an die Decke, wo Spinnweben und Staub wie eine haarige Decke am Fels klebten. Als alle nach oben schauten, stach er mit dem Ende seines Hupaks in ein Moospolster am Boden.
Mehrere Phaetone japsten auf, als ein scheinbarer Deckenteil in einer Staubwolke herunterfiel. Ein festes Netz, das mit kopfgroßen Steinen beschwert war, krachte auf den Boden. Der Staub hatte sich noch nicht gelegt, als Kelu nach vorne kam, um sich das genauer anzusehen, doch Tolpan versperrte ihm schnell mit seinem Hupakstock den Weg. Sekunden später drang ein lautes »Pling« durch den Tunnel, denn sechzehn Metallspitzen, jede einen Fuß lang und mit Widerhaken am Schaft, sprangen aus dem Boden und bohrten sich nach oben durchs Netz.
Tolpan nahm den Hupak herunter. »Jeder, der da drunter gewesen wäre, wäre vom Gewicht des Netzes auf den Boden gedrückt worden, und dann hätten ihm die Spieße den Garaus gemacht. Teuflisch«, erklärte Tolpan, der sich anhörte wie ein Philosoph vor seinen Schülern. »Ihr bleibt lieber auf den Zehenspitzen, falls ich etwas übersehe«, meinte er, um dann bescheiden hinzuzufügen, »so unwahrscheinlich das auch ist.«
Mit alarmierender Unbekümmertheit suchte sich Tolpan einen Weg durch die Spitzen und das Netz. Obwohl sie alle Gefahren gewöhnt waren, mußten die Phaetone und besonders Nanda heftig schlucken angesichts des gräßlichen Schicksals, dem der Kender so leichtherzig ausgewichen war.
Nur wenige Schritte hinter der Falle mündete der Gang in einem runden Raum. Wände und Boden waren aus poliertem, korallenrotem Granit, der von grauen Adern durchzogen war. Drei magische Lichtquellen leuchteten gleichmäßig an den Wänden und erfüllten den Raum mit weißem Licht. Alle, die eintraten, sahen Tolpan in der Mitte des Raums stehen und mit seinem langen Pferdeschwanz spielen.
Tanis und Flint gingen zu dem Kender hin, der sie fragte: »Was sagt ihr dazu?« Mit einer Armbewegung zeigte er auf die Wände der Kammer. Sie waren in jeder Hinsicht völlig unauffällig, bis auf eins.
»Es gibt keinen Ausgang«, stellte Tanis verwundert fest. Die Wände zeigten keinerlei Fugen. Die einzige Tür war die, durch die die Gruppe gerade eingetreten war.
»Keinen, den wir sehen können, meinst du«, stellte Tolpan richtig. »Ich wette um Flints Bart, daß es mindestens einen Ausgang gibt, abgesehen von dem, durch den wir reingekommen sind. Wahrscheinlich sogar noch mehr. Wir müssen sie nur finden.« Rasch machte sich der Kender an die Arbeit und suchte nach Geheimtüren. Er tastete Wände, Boden und Decke ab, stocherte, fühlte, klopfte, drehte und zog.
Als er gegen scheinbar festen Granit drückte, fiel Tolpan auf einmal hindurch, so daß nur noch seine Füße aus der Wand guckten. Was wie eine einfache Wand ausgesehen hatte, schimmerte und verblaßte und zeigte jetzt einen offenen Torbogen. Der Kender, der genauso überrascht war wie alle anderen, rappelte sich wieder auf. Flint strahlte.
»Das ist einer, aber wie ich schon sagte, es gibt bestimmt noch mehr. Nachdem wir jetzt wissen, wonach wir suchen müssen, sollten wir schnell den Rest aufstöbern.«
Eine knappe Minute später hatten sie zwei weitere Zugänge entdeckt. Alle drei führten in Gänge, nicht in Räume. Zwei waren glattpoliert wie die Kammer, in die alle Gänge mündeten. Der dritte, der nach links führte, war uneben wie der Gang, durch den sie vom Eingang hergekommen waren.
Nanda wandte sich an seinen Urgroßvater. »Hoto, hast du eine Ahnung, wo diese Gänge hinführen?«
Der Alte schüttelte nur seine weiße Mähne. »Ich bin noch nie hier drin gewesen, und ich bin es nicht gewohnt, unter der Erde zu sein. Mein Orientierungssinn ist hier unten ziemlich schlecht.«
»Meiner ist bestens«, sagte der Zwerg, der in den unterirdischen Tunneln aufgewachsen war, die die Vorberge des Kharolis-Gebirges durchzogen. »Wenn man von der Stelle ausgeht, wo deiner Beschreibung nach der Schornstein liegen soll, müßte einer der beiden polierten Gänge dorthin führen. Wohin der dritte führen mag, bleibt jedem selbst überlassen.«
»Da beide gleich gut möglich sind«, sagte Tanis, »schlage ich vor, daß wir den hier nehmen.« Er zeigte auf den Gang ganz rechts und ging ein paar Schritte darauf zu.
»Warte mal«, wies Tolpan ihn an. Indem er sich so weit wie möglich reckte, nahm er eine der magischen Lampen aus ihrer Wandhalterung und drängelte sich dann vor Tanis in den unerforschten Gang. »Okay, alles bereit.«
Langsam folgten sie dem Gang, bis Tolpan auf einmal stehenblieb und die anderen heranwinkte. Tanis wollte gerade fragen, was los war, als er es auch schon sah. Es stand im Schatten und wurde von Tolpans Licht nur teilweise erleuchtet, doch Tanis hatte nicht die Absicht, es sich genauer anzusehen.
»Vater der Schöpfung!« rief Flint aus, als er hinter Tanis vortrat. »Was zur Hölle ist das?«
Das Wesen vor ihnen, das einige Schritte weiter im Gang wartete, war einst ein Mensch gewesen. Jetzt war sein Fleisch vertrocknet, eingesunken und aufgesprungen. Braune Knochen waren durch die zerrissene Haut zu sehen. In steifer Habacht-Stellung stand es in der Mitte des Durchgangs, bekleidet mit einer hinreißenden Kettenrüstung. Nicht einmal die vielen Löcher und das im Laufe vieler Jahre angelaufene Metall konnten die Pracht der Rüstung schmälern. Der große Schild am linken Arm des Skelettwesens war von oben zur Mitte hin gespalten. Ein knappes Dutzend abgeknickter Pfeilschäfte ragte in merkwürdigen Winkeln aus dem Schild, und von jeder verrosteten, eisernen Pfeilspitze lief ein brauner Streifen herunter.
In der rechten Hand des Wesens baumelte lose ein Bastardschwert. Der gepolsterte Lederhandschuh und der zerfallende Ledergriff des Schwerts waren zu einem einheitlichen, schimmligen Klumpen geworden, doch das Schwert war nur an wenigen Stellen angerostet. Der größte Teil seiner drei Fuß langen Klinge war immer noch glänzend und scharf. In Tolpans Kehle bildete sich ein unangenehmer Klumpen, als er erkannte, daß der Rost auf der Klinge Blutflecken waren, die nie abgewischt worden waren.
»Das ist nicht bloß ein weiterer Zombie«, meinte Tolpan.
»Er hat sich noch nicht bewegt. Vielleicht ist er ja nichts weiter als ein Toter«, schlug Kelu vor.
Tolpan wußte, daß das nicht stimmte. Weil er kleiner war als alle anderen, konnte er etwas sehen, was sie nicht sahen: Die Augenschlitze im Helm des Monsters. Unter diesen Stahlrändern lagen zwei schwarze Höhlen, und in jeder leuchtete ein stecknadelkopfgroßes, flackerndes Licht.
Mit einem markerschütternden Knirschen hob das Wesen seinen Kopf und richtete die bösartig funkelnden Augen auf die Eindringlinge. Knochen rieben aneinander, als es Schild und Schwert erhob. Da Tolpan die schwankende Gangart erwartete, die für die meisten Untoten typisch war, war er sprachlos vor Entsetzen, als das Monster geschmeidig auf sie zusprang. Die schwere, blitzende Klinge pfiff in Halshöhe durch die Luft. Der Kender warf sich auf den Boden und rollte direkt auf das Monster zu, um so an ihm vorbeizukommen.
Der Tod hatte die Reflexe des Wesens nicht langsamer gemacht. Der Skelettkrieger wich aus und trat Tolpan mit seinem stahlbewehrten Fuß derb in den Magen. Der unglückliche Kender kullerte über den glatten Boden zurück und blieb wegen der Wucht des Tritts benommen und nach Luft schnappend liegen. Ein hinterhältiger Schlag des großen Schwerts hätte ihn halbiert, doch der tödliche Hieb wurde von Flints Axt abgewehrt. Tolpan merkte, wie die Hände seiner Freunde ihn wegzogen, aber seine Rippen schmerzten, und in seinen Ohren hallte der Aufprall nach.
Jetzt mußte sich Flint dem Wesen stellen. Er hielt seine schwere Axt wieder kampfbereit, während der Krieger ihn mit seinen kalten Augen musterte. Dem stämmigen Zwerg waren weder lebensgefährliche Zweikämpfe noch untote Monster etwas Neues, aber das hier war etwas, dem er noch nie begegnet war. Er war sich keineswegs sicher, ob seine einfache Waffe diesen offensichtlich magischen Gegner überhaupt verletzen konnte.
Der Skelettkrieger streckte ihm die Spitze seines Schwerts entgegen, während er seinen Schild eine halbe Armlänge vor sich hielt. Flint begriff, daß er nicht zum ersten Mal gegen Axtträger kämpfte, und sein offenbar noch vorhandenes untotes Gehirn konnte noch nachdenken und sich erinnern. Die Art, wie er Tolpan angegriffen hatte, zeigte seine Kampferfahrenheit.
Der kräftige Zwerg richtete seine Augen fest auf das Visier des Wesens, als er vorsprang und seine schwere Doppelaxt gegen das Schwert schwang. Der uralte Stahl fuhr unter einem Funkenschauer und Splitterregen in die Wand, und Flint merkte, wie seine Axt abprallte, da er sie nicht mehr kontrollieren konnte. Zu spät erkannte er, daß das Monster ihn geködert hatte, weil es wußte, daß sein Schwert den Schlag vertragen konnte. Der Schild fuhr nach vorn auf die Axt zu, traf die zurückprallende Klinge von der Seite und fing sie dadurch ein wie der Baumstumpf die Axt des Holzhackers. Der Schild drehte ab und riß Flint den Schaft aus den Händen. Dann sauste das Schwert durch die muffige Luft. Seine Spitze durchtrennte sauber den gehärteten Lederpanzer über Flints linker Schulter. Ein größer werdender Fleck verdunkelte das Hemd unter der beschädigten Rüstung.
Flint taumelte rückwärts und hielt sich den verwundeten Arm.
Der Skelettkrieger sprang vor, um den Angriff fortzuführen, doch jetzt sackte sein Schild vom Gewicht von Flints darin eingebetteter Axt herunter. Das war die Blöße, auf die Tanis gewartet hatte. Der Halbelf feuerte dem Untoten einen rasiermesserscharfen Pfeil genau in die ungedeckte Brust. Der Pfeil durchschlug Vorder- und Rückseite des Kettenhemds und traf die Wand dahinter, während Teile der Kettenrüstung auf den Boden rieselten. Das schmerzunempfindliche Wesen schien die Wunde nicht zu bemerken.
Kelu, der die Gefahr für Flint erkannte, riß Nandas Stab an sich und schoß nach vorn. Mit kalter Treffsicherheit traf er das Monster zweimal mit voller Kraft gegen den Helm, doch das Bastardschwert des Skelettkriegers blitzte nur einmal auf, anscheinend ohne überhaupt die Richtung seines Angriffs zu ändern, und trennte dem Phaeton den rechten Arm am Ellenbogen ab. Als Kelu entsetzt und schockiert seinen Arm anstarrte, schlitzte ihm ein zweiter Schlag quer den Bauch auf, und ein dritter riß ihn vom Schlüsselbein bis zum Nabel auf. Der verstümmelte Körper des Phaetons sank in eine sich ausbreitende, tiefrote Lache am Boden.
Während Tanis entgeistert die Leiche anstarrte, riß der Skelettkrieger die Axt aus seinem Schild und schleuderte sie zur Seite. »Alles zurück, den Gang hoch!« schrie der Halbelf, wobei er den Stab aufhob und ihn Nanda zurückgab. »Das hier können wir nicht bekämpfen. Es ist zu gefährlich.« Als die Überlebenden eilig wieder auf die Kammer zuliefen, legte Tanis einen Pfeil auf und deckte ihren Rückzug, obwohl er sich fragte, was ein weiterer Pfeil helfen mochte, falls das Monster beschloß, ihnen zu folgen.
Es verfolgte sie nicht, sondern nahm wieder seine Wache in dem grauenvollen Gang auf.
Tanis’ Erleichterung über ihren leichten Rückzug wurde durch einen Schrei von hinten beendet. Als er herumfuhr, sah er, daß sie schon fast an der Kammer waren. Doch die Tür wurde von einem riesigen Golem verstellt, einer lebenden Steinstatue aus reinweißem Granit, der von einem Netz aus pulsierenden, roten Adern durchzogen war. Die Statue ähnelte einem Minotaurus, denn sie hatte einen Stierkopf auf einem Menschenkörper. Ein Golem blockierte den Ausgang, und ein weiterer stand hinter ihm in der Kammer.
Den Schrei hatte Baji ausgestoßen, der gerade in den mächtigen Armen des Golems zerquetscht wurde. Seine Füße baumelten mehr als zwei Fuß hoch über dem Boden, und der Golem überragte ihn immer noch um einen vollen Kopf. Mit jedem Schrei wurde der Griff des Golems fester, so daß der verängstigte Phaeton nicht mehr einatmen konnte.
Tanis stand hilflos da. Er hatte einen schußbereiten Bogen in der Hand, konnte aber nicht schießen, weil er Angst hatte, Baji zu treffen. Nanda schlug mit seinem Stab auf das Wesen ein, doch die Holzwaffe konnte gegen Stein nichts ausrichten. Augenblicke später war Bajis Kampf zu Ende, und er fiel wie eine Marionette schlaff zu Boden. Im gleichen Moment traf Tanis’ Pfeil den Golem in den Hals, prallte aber ab, wobei er die Oberfläche kaum ankratzte. Ein zweiter Pfeil traf die Stirn und zerbrach.
Tanis legte gerade einen dritten Pfeil auf, als jemand ihn aus seinen Händen riß. Tolpan stand vor ihm. »Die können wir auch nicht bekämpfen, Tanis. Sie sind zu stark. Du verschwendest bloß Pfeile. Wir müssen irgendwie aus diesem Gang raus.«
Tanis ließ den Bogen sinken. »Wenn wir alle auf einmal dieses Skelettdings angreifen, müßten wenigstens zwei oder drei von uns durchkommen. Ich glaube kaum, daß es uns alle umbringen kann. Das ist kein überzeugender Plan, aber…«
Hoto, der den Minotaurus mit krachenden Schlägen durch seinen Knüppel in Schach gehalten hatte, rief über die Schulter: »Vielleicht kann ich das tote Ding da aus dem Gang entfernen. Laßt mich vorgehen.« Als er zurückwich und den Gang hinunterkam, senkte der Minotaurengolem den Kopf und drang in den Korridor ein. Mit weit ausgestreckten Armen langte er nach allem, was er erwischen konnte, doch die Phaetone und ihre Verbündeten hatten bereits einen guten Vorsprung.
Als sie sich dem Platz des Skelettkriegers näherten, sah Tolpan, wie dieser erneut die glitzernde Klinge und den mitgenommenen Schild zum Kampf hob. Er fragte sich, was ein alter Phaeton mit einem Stock und einem Messer wohl ausrichten konnte. Hoto wies die anderen an, zurückzubleiben, als er sich dem Monster näherte.
»Der Golem kommt näher«, brüllte Tanis. »Wir können ihn nicht lange hinhalten.«
Nanda packte Tanis am Arm. »Es wird nicht lange dauern. Bedeck dein Gesicht und die Augen.«
»Was ist mit dem Golem?« wollte Flint wissen. Er umklammerte immer noch ächzend die verletzte Schulter im Versuch, die Wunde zusammenzudrücken. Sein Ärmel war dunkel und verklebt. Er wußte, daß es sie nur noch mehr in Gefahr bringen würde, wenn er zum Verbinden anhalten würde, bevor sie einen halbwegs sicheren Ort erreicht hatten.
»Ich kann den Golem aufhalten«, behauptete Nanda, der im Gang zurückhumpelte. Tolpan wollte dem verletzten Phaeton gerade nachlaufen, als der schwach erleuchtete Gang plötzlich in Flammen stand. Brüllende Hitze und Licht strömten von Hotos Platz, aber auch von hinten aus, wo Nanda dem Golem gegenüberstand. Der Kender merkte, wie sich seine Augenbrauen vor Hitze kräuselten – und das war nur ein sehr schwacher Hinweis darauf, welche Gewalt gegen die Steinminotauren und den Skelettkrieger aufgebracht wurde.
Zwischen den Fingern hindurch spähte Tolpan nach vorne in den Tunnel. Hoto stand in einem Inferno. Er hatte seine hinreißenden Flammenflügel vor sich ausgestreckt, sie um den Krieger geschlungen und zog ihn zu einer tödlichen Umarmung an sich. Der Krieger schlug skrupellos auf eine Schwinge ein, mußte jedoch zusehen, wie sein Schwert, ohne Schaden anzurichten, durch die Flamme fuhr. Augenblicklich erkannte das Monster, daß es nutzlos war, die Flügel anzugreifen, und stürzte sich kopfüber auf Hoto. Tolpan hätte sich fast abgewandt, weil er nicht sehen wollte, wie der heldenhafte Phaeton durchbohrt wurde, doch dann fiel ihm etwas auf, was er vorher übersehen hatte: Hoto stand nicht, sondern schwebte, von seinen Flügeln getragen, etwa eine Handbreit über dem Boden. Als das Schwert nach vorne zuckte, wich er sofort zur Seite aus. Der Untote stürzte durch die Wucht seines Angriffs genau in den Flammenflügel und saß nun zwischen beiden Flügeln fest.
Das Wesen schlug wild um sich, als es sich von Flammen umgeben sah. Dabei schrie es schauerlich und markerschütternd. Das Schwert traf Hoto ins Bein und fuhr dann über seinen Rücken, doch das festgenagelte Monster hatte kaum noch Kraft. Innerhalb weniger Sekunden begann das mumifizierte Fleisch zu rauchen und rollte sich an den glühenden Knochen auf, bevor es in Flammen aufging. Das Monster wehrte sich noch, bis Bänder und Knorpel verbrannt waren. Der versperrte Gang füllte sich mit übelriechendem Qualm. Schließlich lagen nur noch geschwärzte Knochen und die geschmolzene Kettenrüstung als Häufchen auf dem Boden. Der Schild war ein vager Schemen aus Asche, und das Schwert glühte sanft im schwachen Licht.
Der verwundete und erschöpfte Phaetonenälteste löschte seine Flügel und sank zu Boden. Er taumelte kurz und wäre wohl zusammengebrochen, doch Tolpan rannte hin und stützte Hoto mit der Schulter. Gemeinsam stolperten sie durch den verrauchten Gang weiter. Tolpan schaute nach unten, als sie über die verkohlten Überbleibsel des Kriegers stiegen, und sah zu seinem Entsetzen, daß immer noch zwei winzige Lichtpünktchen in den Augenhöhlen glühten. Er trat den Schädel weg, der in Stücke brach, als er über den Boden kullerte.
Ein Stück hinter Kelus Körper war eine Tür. Tolpan half Hoto, sich an der Wand anzulehnen, und untersuchte dann eilends die Tür auf Anzeichen einer Falle hin. Während er beschäftigt war, holte Flint seine Axt und schloß dann zu Tanis, Nanda und dem Kender auf. Tolpan stieß die Tür auf und starrte staunend in den dahinterliegenden Raum.
In der Mitte standen drei schwere Tische. Die Wände waren voller Regale. Bechergläser, Flaschen, Karaffen, Schalen, Bücher, Schriftrollen, und eine Unmenge von Sachen, die Tolpan nicht einmal benennen konnte, bedeckten Tische und Regale. Eine zweite Tür an der linken Wand war geschlossen.
Ohne Umschweife betrat er den Raum und begann sofort alle Sachen zu befingern, in zugedeckte Schalen zu schauen, Lösungen umzurühren, Fläschchen zu schütteln und überhaupt alles und jedes zu untersuchen.
Tanis lief hinterher und packte den neugierigen Kender am Kragen. »Willst du uns alle umbringen? Faß das Zeug nicht an. Es könnte gefährlich sein.« Als er sah, daß alle im Raum waren, fügte er hinzu: »Hilf mir, die Tür zu verrammeln. Die Golems kommen immer noch hinter uns her.«
»Aber Tanis«, wandte Tolpan ein, »es könnte hier etwas geben, das uns weiterhelfen kann.«
»Dann sollen Flint oder Hoto oder Nanda es finden. Du und ich sind die einzigen, die nicht verwundet sind.«
Widerstrebend stellte Tolpan die verkorkte Phiole zurück, die er herumgeschwenkt hatte, und trottete zur Tür. Tanis lehnte sich schon mit der Schulter dagegen, um für den Angriff der Golems bereit zu sein.
Tolpan sah die Tür abschätzig an. »Sag mal, Tanis, das ist doch eine gute, solide Tür. Warum schließen wir nicht einfach zu?«
»Ich habe keinen Schlüssel.«
»Wer braucht denn einen Schlüssel?« fragte Tolpan. »Du bist aber manchmal wirklich begriffsstutzig.« Er sah durchs Schlüsselloch. »Oho, diese Golems kommen aber ganz schön schnell. Ich würde mich lieber bereitmachen, wenn ich du wäre, Tanis.«
»Wieso hilfst du mir nicht?«
»Ich helfe dir doch.« Die Tür erzitterte unter einem schweren Schlag. »Ich hab’ sie gleich im Handumdrehen abgeschlossen.« Während Tolpan ein Stück gebogenen Draht in das Schloß schob, erschütterte ein zweiter Schlag die Tür. Er zog den Draht zurück, runzelte die Stirn und strich den Draht dann sorgfältig wieder glatt. »Kannst du sie nicht besser stillhalten?«
»Ich kann sie fast gar nicht mehr halten!«
Leise vor sich hin fluchend, drängelte sich Flint an Tolpan vorbei und stemmte seine unverletzte Schulter gegen die Tür. Tolpan wartete noch den nächsten Schlag ab und fädelte dann wieder den Draht ins Schloß. Nachdem er ein paar Sekunden herumgestochert hatte, kam endlich das befriedigende Klacken des Riegels. Die Golems hämmerten weiter gegen die Tür, und jeder Schlag riß einen weiteren Nagel heraus, aber die Tür würde noch mindestens einige Minuten halten.
»Jetzt sollten wir uns umsehen. Nirgends ist es so aufregend wie im Labor eines Zauberers«, sagte Tolpan.
»Dazu haben wir jetzt keine Zeit«, tadelte Tanis den Kender. »Zuerst müssen wir Selana und Balkom finden.«
»Nur eine Minute, Tanis; ich garantiere dir, es lohnt sich.«
Tanis sah Hoto fragend an, und der nickte.
Begeistert machte sich Tolpan an die Arbeit. Er lief eilig an den Regalen entlang, und las dabei Aufschriften der Gefäße: Krähenauge, Rauchquarzstaub, Häretikerasche, Fingernagel von Gehängten, Quecksilber, Hanf, zerstoßene Wellhornschneckenschale, Riesenheuler – das fiel ihm besonders auf – und so weiter. Gelegentlich schnappte er sich ein Fläschchen und steckte es in die Tasche.
Schließlich – die Minute war längst um – nahm er einen hohen Hocker und rannte zu der verschlossenen Tür zurück. Er schob den Hocker dicht vor die Tür und stellte vier Phiolen darauf. Als er sich zu Tanis umdrehte, verkündete er: »Ich bin soweit. Das sollte uns Bescheid geben, wenn die Gebrüder mit den Krampfadern durch die Tür kommen, und ihnen auch eine kleine Überraschung bereiten.« Nach dieser Schlußbemerkung klopfte er auf seine Westentasche.
»Dann wollen wir mal sehen, wo die andere Tür uns hinführt«, sagte Flint. Tanis hatte dem Zwerg unterdessen die Schulter verbunden, was die Blutung deutlich stillte, während Nanda sich um Hotos Verletzungen gekümmert hatte.
Sie versammelten sich vor der seitlichen Tür. Flint hielt seine Axt bereit, und Tanis legte einen Pfeil auf. Dann riß Nanda die Tür auf – die in einen weiteren dunklen Gang aus polierten Steinen führte.
Tanis senkte den Bogen. »Geh vor, Tolpan, und denk dran, die Zeit läuft uns weg.«
Der Kender trabte los und suchte Boden und Wände so sorgsam ab, wie es bei dem Tempo möglich war. Nach ein paar Dutzend Schritten knickte der Gang leicht ab, und Tolpan konnte an der äußeren Wand Licht flackern sehen, was ihm verriet, daß der Weg weiter vorne von Fackeln erhellt wurde. Er blieb kurz vor dem Knick stehen und lauschte. Er hörte eine Stimme sprechen und in den Pausen sehr, sehr leise eine zweite, obwohl sich Tolpan da nicht sicher war.
Dicht am Boden hockend, schob Tolpan langsam den Kopf um die Ecke. Nur wenige Schritte weiter mündete der Gang in eine Höhle. Fackellicht tanzte über die grellrosafarbenen Granitwände. Eine spiralenförmige Säule versperrte ihm größtenteils den Blick durch die Tür. Er konnte nicht abschätzen, wie groß die Höhle war, doch aufgrund des Klangs und des Echos der wiederkehrenden Stimme vermutete er, daß sie größer war als alle, die sie bis jetzt gesehen hatten.
Auf Händen und Knien kroch Tolpan auf die Öffnung zu. Je näher er kam, desto mehr war er davon überzeugt, daß sie das Ziel ihrer Suche erreicht hatten. Jetzt konnte er die zweite Stimme besser hören, und es handelte sich unverkennbar um die Stimme von Hiddukel, der durch Balkoms Münze sprach!
Tolpan drehte sich um und winkte Tanis heran. Bald hatte sich die Gruppe kurz vor dem Eingang versammelt. Noch schirmte die Säule sie ab. Wieder kroch Tolpan vor, diesmal in die Kammer. Er verließ sich darauf, daß die unregelmäßigen Windungen der Säule seinen Körper verbergen würden, als er vorsichtig an ihr vorbeispähte.
Am jenseitigen Ende der Kammer stand Balkom, genau wie Tolpan es erwartet hatte. Der Magier wendete der Kammer den Rücken zu. Er stand vor einem Steintisch oder Altar und versperrte Tolpan so den Blick auf das, was auf dem Tisch lag. Zauberer und Altar waren in Mondlicht gebadet, das durch ein Portal in der Decke hereinströmte. Links von Balkom stand eine schöne, weißhaarige Frau in einem meerblauen Kleid. Ihre Hände waren gefesselt, und auf ihren Wangen glänzten Tränen, doch sie hielt königlich stolz den Kopf erhoben. Tolpan erschrak: Es war Selana.
Schnell huschte er zurück und erzählte flüsternd, was er gesehen hatte. Flint sagte zu Tanis: »Das ist deine Chance, Junge – setz allem mit einem Schuß ein Ende. Von dort hinter der Säule kannst du ihm einen Pfeil direkt zwischen die Schultern jagen.«
Mit grimmigem Gesicht stand Tanis auf und legte einen Pfeil auf. Die anderen bereiteten sich darauf vor, notfalls zum Altar zu stürmen und die Sache so zu beenden. Tanis schob sich um die Säule, zielte sorgfältig und schoß.
Der Pfeil landete genau im Ziel. Er traf Balkom mit Wucht in den oberen Rücken, und der Schaft drang bis zu den Federn ein. Tanis hielt den Atem an, weil er auf das Plumpsen des zusammenbrechenden Körpers wartete. Statt dessen hörte er Gelächter und Selanas Warnschrei: »Das ist eine Falle!«
Als Tanis die Augen aufschlug, sah er Balkom immer noch reglos wie zuvor am Altar stehen. Dann sah er Balkom lachend an der Seite hinter einer Säule hervortreten. Der Balkom vor dem Altar schimmerte, wurde durchsichtig und verschwand. Tanis’ Pfeil fiel klirrend auf den Steinboden.
»Ihr habt doch wohl nicht geglaubt, daß es so einfach sein würde? Ihr beleidigt mich!« Balkoms Lachen erstarb, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer finsteren Grimasse. »Habt ihr so schnell vergessen, hinter was ihr her seid? Ein Armband, das die Zukunft vorhersagt! Ich wußte schon vor Stunden, daß ihr kommt, vielleicht schon bevor ihr es wußtet.«
Tolpan schlug sich an den Kopf, während Flint die Augen verdrehte – nur Hoto handelte. Er fachte seine Flügel an, brüllte den Kriegsschrei der Phaetonen und schoß durch die Kammer. Balkom blieb stehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Auf Hotos Zeichen hin entzündeten auch die drei Phaetone, die über dem Steinkamin warteten, ihre Flügel und fegten in die Höhle, direkt auf den Zauberer zu.
Als sie fast über ihm waren, zog Balkom einen Beutel feinen Sand aus seiner Robe und warf diesen in hohem Bogen durch die Luft. Gleichzeitig beschrieb seine daumenlose Rechte einen Bogen quer zur Richtung der Phaetonen, wobei er rief: »Ast tasarak sinuralan krynawi.«
Die Flügel aller vier Angreifer verschwanden, und sie stürzten unsanft bewußtlos auf den Boden. Hoto hatte soviel Schwung, daß sein Körper über den glatten Boden rutschte und erst vor Balkoms Füßen zum Halten kam, wo er mit einem verächtlichen Lachen empfangen wurde.
Da Balkom sich bewußt war, in welcher Gefahr er schwebte, dauerte sein Hohn nur einen Augenblick. Tanis legte bereits einen neuen Pfeil auf, und Flint wollte auf den Zauberer losstürmen, als dieser mit einem kleinen, geraden Eisenstück auf sie zeigte. Er murmelte: »Patcia et matahant!«
Plötzlich konnten Tanis, Flint und Nanda sich nicht mehr bewegen. Sie konnten noch hören und sehen wie zuvor, doch ihre Körper waren am Platz festgefroren. Tanis starrte auf seinen gespannten Bogen, der genau auf Balkoms Hals zielte, konnte jedoch nicht loslassen. Flint und Nanda hatten den Zauberer gerade angreifen wollen, wurden jedoch mitten in der Bewegung aufgehalten.
Hinter der Säule saß Tolpan mit geschlossenen Augen und leckte sich die letzten Tropfen eines Tranks von den Lippen. Er hatte ihn eben erst aus Balkoms Labor mitgehen lassen, weil er die Aufschrift Handlungsfreiheit trug. Er hatte keine Ahnung, wozu der Trank gut war, aber er klang nützlich, und er konnte ihn genausogut gleich ausprobieren. Als er zur Seite sah, sah er, daß seine Freunde mitten in der Bewegung eingefroren waren. Nicht schlecht, dachte er, und betrachtete das Flaschchen, aber es war nicht genug für alle da. Er steckte die leere Phiole in seinen Beutel zurück.
Was jetzt? Er lauschte einen Augenblick; Balkoms Lachen ebbte ab. Ob der Magier noch in seine Richtung sah? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Tolpan streckte den Kopf um die Säule. Als stolzer Sieger spazierte Balkom zwischen den zusammengesunkenen Phaetonenkörpern hindurch, die um seinen Altar lagen.
Hiddukels Stimme riß den Zauberer aus seinen Gedanken. »Einen hast du nicht erwischt, Zauberer.« Erst da bemerkte Tolpan die Münze mit den zwei Gesichtern, die auf dem Altar zwischen zwei eindrucksvollen Rubinen auf dem Rand stand. Gleichzeitig blickte Balkom auf und sah den Kender. Seine Miene verfinsterte sich beträchtlich.
»So, bist du also doch mit deinen Freunden gekommen? Du kannst genausogut rauskommen, so daß ich dich sehen kann. Diese Säule beschützt dich auch nicht, wenn ich beschließe, dir etwas zu tun.«
Tolpan richtete sich auf und trat in den Raum. Die rechte Hand steckte in seinem Beutel. Er wußte, daß er im Labor unter anderem mindestens eine Phiole mit der Aufschrift Großer Knall mitgenommen hatte.
Balkom neigte den Kopf etwas zur Seite. »Also du bist die andere Maus. Es gefällt mir gar nicht, wie deine Hand da in deinem Beutel steckt, kleine Maus. Halte deine Hände so, daß ich sie sehen kann.«
Da sich seine Finger noch nicht über die verbliebenen drei Tränke geeinigt hatten, schüttelte Tolpan den Kopf. »Nein, danke, lieber nicht.«
»Wie du willst«, entgegnete Balkom. Wieder zog er etwas aus seiner Robe, hielt es gestreckt zwischen den Fingern und murmelte Worte, die Tolpan nicht hören konnte. Sofort entstand ein riesiges Netz zwischen den beiden Säulen rechts und links des Kenders, das ihn mit seinen Fäden einfing.
Tolpan war klar, das war derselbe Zauber, den Balkom in der Zombiekammer der Burg benutzt hatte, und er erinnerte sich daran, wie furchtbar klebrig das Netz gewesen war. Als er sich jetzt jedoch bewegen wollte, merkte er, wie das Netz leicht von ihm abglitt. In der Annahme, daß auch dies eine Wirkung des Tranks war, trat er schnell vor und ließ die Stricke einen Schritt hinter sich.
Balkom war einen Moment lang ausgesprochen überrascht, dann riß ihm endgültig der Geduldsfaden. Der Augenblick der Übergabe wäre gleich gekommen, und der Zauberer konnte sich keine Ablenkungen mehr leisten. Er hob die Hände und konzentrierte sich auf einen Blitzschlag, der den Kender töten sollte.
Tolpan brauchte keine zweite Aufforderung. Er holte eines der Fläschchen aus seinem Beutel und schleuderte es auf den Altar, wo es am Stein zerbrach. Ein ohrenbetäubender Angst- und Schmerzensschrei hallte durch die Kammer, hallte zwischen den Säulen nach und ließ die Fackeln flackern. Der Schrei wurde leiser und stieg dann zu lautem Schluchzen an, das lauter und entsetzlicher war, als alles was Tolpan je gehört hatte. Balkom, der nur wenige Fuß von der Lärmquelle entfernt stand, sank an die Wand, obwohl er sich mit den Händen die Ohren zuhielt.
Plötzlich erinnerte sich Tolpan. Der Riesenheuler, den er seiner Meinung nach doch auf dem Hocker vor der verschlossenen Tür von Balkoms Labor gelassen hatte. Einen Augenblick lang wunderte er sich, welchen Zauber er wohl auf den Hocker gestellt hatte.
Genau in diesem Augenblick erbebte die Erde. Tolpan geriet ins Taumeln, als Teile der Decke um ihn herunterpolterten. Ein paar Sekunden herrschte Stille; dann stürzte eine der Säulen neben dem Altar mit einem gewaltigen Krachen um, als es erneut bebte. Ein dritter Knall brachte die Wand, die Tolpan gegenüberlag, zum Einsturz.
Durch den Staub und das Geröll der Wand raste eine riesige Gestalt. Als sie aus dem Schutt hochkam, erkannte Tolpan einen dreckverkrusteten Hügelriesen in Lumpen, dessen Hände aufgerissen und blutig waren, weil er damit die Steinwand durchbrochen hatte.
Mit vor Schreck weit offenem Mund erhob Balkom abwehrend die Hände und befahl: »Zurück, Blu!«
Blu entdeckte Balkom und raste auf den Altar zu. »Balkom Blu reinlegen!« brüllte der turmhohe Riese, während er Felsbrocken wie kleine Steinchen aus dem Weg trat. Plötzlich zögerte er, weil er sah, daß Selana dicht neben ihm an der Wand angekettet war.
In dieser kurzen Atempause ließ Balkom den Blitzschlag los, den er vor Blus Auftauchen für Tolpan vorbereitet hatte. Der Blitz aus roher, weißer Energie traf den Riesen direkt in seine gewaltige Brust und erfüllte die Luft mit dem Geruch von versengtem Fleisch.
»Blu!« schrie Selana und riß an ihren Ketten. Blu heulte vor Schmerz, stolperte, fiel aber nicht hin. Er taumelte gegen den Altar, woraufhin die Rubine und Hiddukels Münze auf den Boden rollten. Rostrevors Stein zersprang in tausend Stücke, und der verblüffte Knappe war plötzlich frei.
Der hellhaarige Jüngling mit dem dünnen, blonden Schnurrbart sah sich um und versuchte, sich zu orientieren. Er nahm die bewußtlosen Phaetone wahr, den reglosen Zwerg und den Halbelfen auf der anderen Seite, den Kender neben ihnen und die verführerisch gekleidete weißhaarige Elfin.
Schließlich wandte er den Blick dem Zauberer seines Vaters zu. »Balkom?« fragte er den einzigen Menschen, den er hier kannte. »Was geht hier vor? Wieso bin ich hier?«
»Er hat dich in dem Stein eingesperrt!« schrie Tolpan.
Selana sah, wie der Knappe den Kender zweifelnd musterte. »Es ist wahr, Rostrevor. Hilf uns!«
»Sie lügen, Rostrevor«, sagte der Magier mit schmeichelnder Stimme.
Doch Rostrevor hatte den Zauberer seines Vaters noch nie gemocht und vertraute ihm nicht. Er griff sich einen Brocken der eingestürzten Wand und schleuderte ihn nach Balkom.
Da er Rostrevors Stein ausweichen mußte, sah Balkom nicht, wie der verwundete Riese mit seiner großen, haarigen Faust ausholte, bevor er auf dem Boden zusammenbrach. Der Schlag warf Balkom japsend und halb ohnmächtig an die Wand. Er erholte sich jedoch schnell wieder, doch der Aussetzer reichte, um Tanis, Flint und Nanda aus dem Griff seines Zaubers zu erlösen.
Augenblicklich zielte Tanis neu und schoß. Der Pfeil flog wie zuvor im Bogen durch den Raum und traf den zusammengesunkenen Zauberer unter den Rippen. Diesmal schrie der echte Balkom auf, mehr vor Wut als vor Schmerz. Ungläubig starrte er auf den gefiederten Schaft, der aus seiner Seite ragte. Seine rechte Hand fuhr auf den Rücken und entdeckte die bluttriefende Pfeilspitze. Mit einem kräftigen Zug riß er den Pfeil sauber heraus, um ihn dann trotzig zu zerbrechen.
Doch der Körper des Zauberers war nicht so stark wie sein Wille. Er sank auf ein Knie. Tanis legte einen weiteren Pfeil auf und zielte. Balkom entdeckte den Seelenstein, den er für die Meerelfin vorbereitet hatte. Erstaunlicherweise war der noch heil und wartete darauf, die Essenz einer Person aufzunehmen. Vielleicht konnte er noch in den Stein entkommen…
Als Tanis schoß, warf sich Balkom auf den Stein. Der Pfeil schoß oberhalb des Knochens durch die Schulter des Zauberers und traf dann die Wand dahinter.
Rote Lichtstrahlen brachen aus Balkoms Körper und erfüllten die Kammer mit gleißendem Licht. Alle wandten sich von dem blendenden Schauspiel ab und bedeckten schutzsuchend ihre Augen. Augenblicke später ließ die gleißende Helligkeit nach. Als sie wieder hinsahen, war Balkom verschwunden.
»Wo ist er denn hin?« fragte Tolpan augenzwinkernd. Vorsichtig näherten sich Tolpan, Flint und Tanis dem Altar. Tolpan suchte rechts und links und vorne und hinten nach dem verderbten Zauberer. Außer Blutspuren und zwei zerbrochenen Pfeilen war von Balkom nichts mehr zu entdecken.
»Sieht so aus, als ob wir versagt hätten und der Gegner entkommen ist«, knurrte Flint verärgert. »Ich hätte ihn nur zu gern zu seinem üblen Gott geschickt.«
»Ich glaube, wir haben Glück, daß so viele von uns überlebt haben«, sagte Tanis. Mürrisch stimmte Flint nickend zu, während er Selana losmachte.
Die Meerelfin kniete sich neben den verkohlten Körper des Riesen, doch Blu war tot. Der Blitzschlag des Zauberers hatte ihn umgebracht. Nachdem sie sich eine Träne aus den Augen gewischt hatte, berührte sie mit dem benetzten Finger seine Stirn – eine alte Dargonesti-Geste, um einem gefallenen Krieger die letzte Ehre zu erweisen. Neben seinem Körper sah sie das Kupferarmband liegen, das für ihren Bruder gemacht worden war, und sie schob es sich über das Handgelenk.
In der Zwischenzeit hatte Tolpan die Phaetone geweckt. Während sich die anderen auf den Aufbruch vorbereiteten, stöberte Tolpan noch in den Trümmern um den Altar herum. Er hob die doppelgesichtige Münze auf, die jetzt schwieg. Dann nahm er den Rubin, einen der größten, die er je gesehen hatte. Es kam ihm beinahe so vor, als könnte er hinter seiner facettierten Oberfläche etwas sehen…
Selana führte sie zum Haupteingang der Kammer, wodurch sie sich Balkoms Labor und die Steinminotauren ersparten. Als alle der Reihe nach die Kammer verließen, sah Flint sich noch einmal um und merkte, daß der Kender ganz versunken am Altar stand. »Laß das alles liegen, du Dummkopf! Willst du dich umbringen?« erregte sich der Zwerg.
»Immer mit der Ruhe«, rief Tolpan. »Was ist denn so schlimm?«
»Das ist böse, du Türknauf!«
»Oh, stimmt. Gutes Argument«, gab Tolpan zu. Rasch legte er den Rubin in die Einlassung auf dem Altar und wandte sich gerade zum Gehen, als ein Strahl Mondlicht den Edelstein berührte.
Tolpan glaubte, er hätte einen dünnen Schrei gehört, dem ein fernes, boshaftes Lachen folgte. Als er sich umsah, war da nichts. Achselzuckend folgte er den anderen.
Minuten später hatten sie die Höhle verlassen. Plötzlich ließ eine unterirdische Explosion den Hügel erzittern, und aus dem Höhleneingang drang Rauch.
Tolpan lächelte, weil ihm das fehlende Fläschchen einfiel. »Ich glaube, jetzt haben diese Golems die verschlossene Tür eingeschlagen.«
Tolpan streckte sich unter einem kleinen Nachttisch aus, leckte sich die Pfoten und strich sein Fell glatt. Sein Schwanz fuhr gelassen hin und her. Das war ein angenehmes Gefühl, und er bedauerte es direkt ein wenig, daß Kender keine Schwänze hatten.
Er konnte immer noch nicht glauben, was er und Selana im Labor mitangesehen hatten. Eine sprechende Münze, die den bösen Gott Hiddukel darstellte! Er konnte es kaum erwarten, Tanis und Flint davon zu erzählen, besonders jetzt, wo Selana weggeflogen war. Sie hatte ihm noch eine telepathische Botschaft zukommen lassen, bevor sie durch den Luftschlitz in der Kammer des Magiers verschwunden war.
»Tolpan, ich folge ihm und hole mir mein Armband zurück«, hatte sie gesagt; Tolpan hatte es ihr nicht mehr ausreden können, denn sofort danach war sie nicht mehr zu sehen und außer Reichweite gewesen.
Also war Tolpan in einer richtigen Mäuschenpanik aus dem Labor des bösen Zauberers gehuscht, den Gang etwas hinuntergelaufen und dann unter der ersten Tür durchgeschlüpft, an der er vorbeikam. Er fand sich in einem Schlafzimmer wieder. Wahrscheinlich ein unbenutzter Raum, wie er beschloß, denn der Kamin war kalt, und in den Ecken wirbelten zahlreiche Blätter herum, wenn ein Windstoß durch das winzige Fenster drang. Dennoch machten die paar Teppiche auf dem Boden das Zimmer behaglich, und es schien ein gutes Plätzchen zu sein, um ein Pauschen zu machen und zu entscheiden, was er jetzt machen sollte.
Tolpans erste Entscheidung war, seine Mäusegestalt gegen etwas einzutauschen, wonach der Zauberer nicht Ausschau halten würde. Da die meisten Menschen anscheinend Katzen mochten, gab es in Tantallon jetzt eine weiß-braun-türkisblaue Katze mit einem ungewöhnlich langen Haarschopf am Hinterkopf.
Außerdem fand er es angebracht, noch eine oder zwei Minuten zu warten, bevor er allzuweit herumlief, nur für den Fall, daß jemand den Gang beobachtete. Tolpan putzte sich nach Katzenart, wobei er sich ununterbrochen fragte, ob er bei der Rückverwandlung in seine normale Gestalt auch wirklich sauberer sein würde.
Kurz darauf begann er, seine Lage genau zu überdenken. Kender sind tatsächlich zu analytischem Denken fähig, was allerdings nur wenigen Leuten klar ist. Unter den richtigen Bedingungen sind sie sogar recht gut darin, weil sie aber so leicht abzulenken sind, schaffen sie es selten, einen Gedankengang bis zu einer logischen Schlußfolgerung fortzuführen. Jedenfalls war es dem klaren Denken förderlich, wenn man pfotenleckend und friedlich schnurrend unter einem Nachttisch lag.
Er stellte sich selbst eine Frage: Wenn ich ein böser Zauberer und mit Hiddukel im Bunde wäre und mich in dieser Lage befände, was würde ich machen? Der Magier würde das Armband jetzt hüten, soviel stand fest. Und sie hatten einen großen Vorteil verspielt, indem sie ihm gezeigt hatten, daß sie das Armband wollten und daß sie ihre Gestalt verändern konnten.
Tolpan mußte sich also etwas anderes überlegen. Es war Selana und ihm nicht gelungen, das Armband wiederzubekommen, aber Flint und Tanis saßen immer noch irgendwo im Schloß gefangen. Die Gefangenen hatten unter der Burg Dinge gesehen – den Zombie zum Beispiel –, die der Zauberer zweifellos zumindest den Ritter nicht wissen lassen wollte. Damit waren der Zwerg und der Halbelf in echter Gefahr. Tolpan war sicher, eine bessere Gelegenheit, die beiden zu retten als jetzt, während der Trank noch wirkte, würde er nicht bekommen. Also mußte er sich beeilen.
Selana und er hatten nach dem Verschwinden des Schattenmonsters gesehen, wie der Magier vom Kerker zur Burg gelaufen war. Demnach wurden Flint und Tanis wahrscheinlich dort festgehalten.
Tolpan beendete seine Katzenwäsche, stand auf, streckte sich und lief auf leisen Sohlen zur Tür. Als er den Spalt darunter beäugte, schätzte er dessen Höhe ab. Als Maus war er problemlos hindurchgeschlüpft, aber warum sollte er wieder eine Maus werden, wenn es so viele andere, unterhaltsame Formen gab, die er noch ausprobieren mußte.
Einen Augenblick später hatte er sich auch schon in eine zwei Fuß lange, grau-braun-goldene Schlange verwandelt. Der Steinboden unter seinem Bauch fühlte sich angenehm kühl an. Tolpan züngelte versuchsweise ein paarmal, um dann den Kopf unter der Tür hindurchzustecken und langsam in beide Richtungen zu blicken. Der Gang war frei.
Sein erster Versuch vorwärtszukommen, war das Gegenteil von erfolgreich. Sein Körper verrenkte sich, zuckte und überschlug sich, so daß er sich den Kopf an der Türkante stieß, aber nicht vorwärtskam. Das ist gar nicht so einfach, wie es bei Schlangen aussieht, befand Tolpan. Nach einigen weiteren vergeblichen Kriechversuchen schaffte er es, sich wieder auf die richtige Seite zu rollen, war aber immer noch nicht im Flur.
Scheinbar machte er es vom Ansatz her falsch. Zum Krabbeln braucht man Arme und Beine. Statt dessen mußte er herausfinden, wie man schlängelt. Er dachte darüber nach, wie eine Schlange sich durch eine Wiese windet, und ohne wirklich zu begreifen, wie es ihm gelang, kam er auf einmal zügig seitlich und vorwärts zugleich voran, bis er unter der Tür durch war und sich draußen im Gang befand.
Tolpans Neugier, was Schlangen anging, war schnell befriedigt – außerdem erschrecken die meisten Leute fürchterlich, wenn sie auf eine Schlange stoßen, und versuchen, sie in zwei Teile zu schlagen –, darum verwandelte er sich gleich weiter, nachdem er unter der Tür durch war. Diesmal entschied er sich für einen Spaniel mit orange-cremeweißem Fell. Mit hoch erhobenem Schwänzchen trottete er den Gang hinunter, witterte unter Türen durch, sprang eine Wendeltreppe hinunter und durch eine offene Tür in den Hauptgang. Der Weg nach draußen schloß sich gleich rechts an.
Tolpan rannte zum Ausgang und sprang hoch, um beide Vorderpfoten an die Tür zu legen. Er stieß den Riegel mit der Nase hoch, und die Tür schwang auf. Sobald er draußen war, lief Tolpan geradewegs zum Gefängnis. Die Eingangstür stand offen, und er tapste einfach hinein.
Zwei Soldaten hatten es sich auf einer Bank im Vorraum bequem gemacht und würfelten. Tolpan wußte gleich, daß er am richtigen Ort war, denn er erkannte hinter ihnen auf dem Boden Tanis’ Bogen und Flints Axt.
Auf der anderen Seite des Raums führte eine Gittertür zu den Gefängniszellen. Die Abstände zwischen den Stangen waren groß genug, daß Tolpan durchschlüpfen konnte, aber um Flint und Tanis herauszulassen, mußte die Tür aufgeschlossen werden.
Während seiner Reisen war Tolpan nur auf wenige Schlösser gestoßen, die er mit seinem Werkzeug nicht aufbekam. Und aus Erfahrung wußte er, daß die meisten Gefängniszellen keine besonders guten Schlösser hatten. Aber nur für alle Fälle sah er sich nach einem Schlüsselring um. Einer hing an einem großen Haken an der Wand hinter den zwei Würfelspielern.
Der ältere der beiden schien zu gewinnen, denn der Stoß Kupfermünzen vor ihm war deutlich größer als der des anderen Soldaten. Sie waren so in ihr Spiel versunken, daß Tolpan einfach so an ihnen vorbei zur Eisentür stromern konnte. In diesem Augenblick mußte der verlierende Spieler einen besonders schlechten Wurf gemacht haben, denn er fluchte lauthals und schmiß die Würfel durch den Raum. Beide Wachen schauten direkt auf Tolpan.
»Was ist das denn für ein Hund?« fragte der ältere Wächter. »Den hab’ ich noch nie gesehen.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte der zweite, »aber er hat jedenfalls eine komische Farbe. Und guck dir mal diesen lächerlichen Haarschopf auf seinem Kopf an. Gib mal dein Messer her, Dunkan. Ich will ihn mal abschneiden.«
Dunkan holte ein kleines Messer aus einer Scheide in seinem Gürtel und reichte es seinem Kumpel, doch ein drohendes Knurren ließ sie beide innehalten. Dunkan bemerkte: »Ich glaube, deine Idee gefällt ihm nicht, Julius.«
»Ich bin sicher, er hat nicht die leiseste Ahnung, wovon wir reden.« Julius nahm das Messer.
»Rrrr, wuff!« Tolpan fletschte die Zähne.
Julius und Dunkan betrachteten den Hund stirnrunzelnd. Beide Wachen behielten Tolpan im Blick, während Julius Dunkan sein Messer zurückgab. Tolpan wedelte mit dem Schwanz und lächelte, so gut er konnte. Dunkan reichte Julius das Messer erneut, und Tolpan knurrte wieder.
Dunkan grinste breit. »Der ist schlau. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich wetten, er versteht jedes Wort.«
Tolpan bellte und kam heran. Beide Männer tätschelten ihn freundlich, und Julius zog sogar einen Streifen Trockenfleisch aus der Tasche und bot ihn dem Hund an. Tolpan hatte eine ganze Weile nichts mehr gegessen und schlang es hungrig hinunter. Überrascht merkte er, daß der Geschmack auf seiner langen Hundezunge nicht so kräftig war, wie er bei seinen empfindlichen Kendergeschmacksnerven gewesen wäre. Nach einer neuerlichen Streichelrunde holten die Wachen ihre Würfel zurück und nahmen ihr Spiel wieder auf.
Der Kenderspaniel lag unter der Bank auf dem Boden. Dort blieb Tolpan ein oder zwei Minuten lang, bis er sicher war, daß die Wachen wieder in ihr Spiel vertieft waren. Dann stand er auf, tat so, als wollte er den Raum untersuchen, und schlüpfte durch die Eisentür.
Sofort sah Tolpan, daß der hintere Teil des Kerkers fünf Zellen hatte. Jede wurde durch eine schwere, mit Eisenbändern verstärkte Holztür verschlossen. Durch ein kleines, vergittertes Fenster in jeder Tür konnten die Wachen in die Zellen schauen. Je zwei Zellen lagen auf beiden Seiten des Gangs und eine fünfte am Ende.
Langsam streunte Tolpan an den Türen vorbei, wobei er überall nach bekannten Stimmen lauschte. Hinter der zweiten hörte er Flint maulen. »Dieser Zauberer ist absolut bösartig. Nach allem, was wir gesehen haben, wird der uns nicht lebend hier rauslassen. Glaubst du, daß Tolpan und Selana diesem scheußlichen Schattending entkommen sind?«
Guter, alter Flint, dachte Tolpan und wedelte glücklich mit dem Schwanz. Er prüfte die Lücke zwischen Tür und Boden. Die Steine auf dem Boden waren rauh und uneben, wodurch stellenweise größere Löcher klafften. Er warf einen Blick über die Schulter: Julius und Dunkan waren immer noch mit ihrem Spiel beschäftigt. Spontan verwandelte sich Tolpan in einen Einsiedlerkrebs. Das dürfte lustig werden, dachte er, als er unter der Tür durchkrabbelte.
Flint Feuerschmied schaute zur Tür, als er ein Geräusch aus dieser Richtung bemerkte. Ein Krebs auf dünnen Beinchen mit klackenden Scheren war nicht gerade das, was er erwartet hatte. »Große Götter! Was, bei Reorx’ Schmiede, ist denn das für ein scheußliches Vieh?«
Tanis, der mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden hockte, war sachlicher. »Sieht mir aus wie ein alter Krebs, aber wenn du ihn in Ruhe läßt, stört er uns wahrscheinlich nicht.« Dennoch sah Tolpan zu seinem Vergnügen, wie Tanis aufstand.
»Der stört mich jetzt schon«, grummelte Flint. »Jedenfalls werde ich nicht mit ihm spielen. Ich werde ihn zertreten.« Als der Zwerg näherkam, blieb Tolpan stehen und rannte dann mit hoch erhobenen Scheren wild klickend auf ihn zu. Der überraschte Zwerg sprang zu Tanis zurück. »Hast du das gesehen? Er hat mich angegriffen!« Beide Männer starrten den Krebs sprachlos an.
»Das reicht. Ich laß mich doch nicht von so einem dicken Krabbelvieh herumscheuchen, heute schon gar nicht. Geh zur Tür rüber, Tanis, und schneide ihm den Weg ab, falls er versucht zu fliehen.«
Als Flint näherkam und dabei versuchte, immer einen eisenbeschlagenen Stiefel erhoben zu halten, um jederzeit zutreten zu können, konzentrierte sich Tolpan eiligst darauf, wieder ein Kender zu sein. Doch das gelang ihm nur noch gerade so eben. Mit einem bunten Wirbel verwandelte sich der kleine Krebs in Tolpan Barfuß, der auf dem Rücken lag und so lachte, daß er sich die Seiten halten mußte.
»Puh, Flint, du hättest dein Gesicht sehen müssen, als ich dich angegriffen habe! Das war dein gesamtes Gewicht in Stahl wert!«
Flint fand das nicht sehr lustig. Er packte Tolpan an der Jacke und riß ihn auf seine wackligen Beine. »Was ist hier los, Kender? Was für faule Tricks hast du vor?«
»Keine Tricks, Flint. Ich bin gekommen, um euch hier rauszuholen.« Tolpan strich sich seine verknitterte Jacke glatt und wich zurück. »Wie gefiel euch mein Auftritt?«
Tanis spähte durch das Fenster in der Tür, um festzustellen, ob die Wachen etwas von dem Lärm mitbekommen hatten, aber draußen rührte sich nichts. Er drehte sich wieder zu Tolpan um. »Was geht hier vor, Tolpan? Wie hast du das gemacht?«
»Selana hatte so einen Zaubertrank, und den haben wir geteilt, damit man uns nicht erkennt.« Tolpan wischte sich die letzte Lachträne aus dem Auge. »Das ist wirklich toll. Ihr solltet es bei Gelegenheit mal ausprobieren. Ich war schon ein Vogel und eine Fliege und eine Maus und alles mögliche.«
»Wo ist Selana denn überhaupt?« fragte Tanis, der wieder durch das kleine Fenster in der Tür blickte, als wenn sie gleich dort auftauchen würde.
Tolpan wurde ernst. »Das ist eine lange Geschichte, aber wir wurden getrennt, und jetzt ist sie unterwegs in die Berge, hinter dem Magier her – weil, der hat das Armband. Ich würde es euch ja genauer erzählen, aber ich weiß nicht, wie lange der Trank noch wirkt. Wir sollten uns erst in Sicherheit bringen. Ich erzähle euch die ganze Geschichte später, wenn wir unterwegs sind, um Selana zu retten.«
Tanis und Flint nickten. »Hast du einen Plan?« fragte Flint.
»Guckt einfach zu.« Wieder war Tolpan von wirbelnden Lichtern umgeben und verwandelte sich in den orange-creme-weißen Spaniel zurück. Er lief zur Tür, wo er bellte, winselte und an dem schweren Holz kratzte.
Dunkan und Julius im Vorraum unterbrachen ihr Spiel und sahen sich um, weil sie nach dem Hund suchten. »Klingt, als wäre er hinten bei den Zellen, Julius. Sieh doch mal nach, was los ist, und bring ihn hierher.« Der jüngere Wächter stand widerstrebend auf, nicht ohne zuerst die wenigen, übrigen Kupferstücke in einen kleinen Beutel zu füllen und diesen in den Gürtel zu stecken. Mit dem Schlüsselring von der Wand schloß Julius die Eisentür auf und ging nach hinten in den Zellentrakt. Kurz darauf blickte er durch die Zellentür und kratzte sich am Kopf.
»He, ihr beiden, wie ist denn der Hund zu euch reingekommen?«
Flint sagte: »Der ist unter der Tür durchgekrochen.« Tanis nickte, und Tolpan bellte einfach weiter.
»Das ist unmöglich«, stellte Julius fest. »Der Hund kann auf keinen Fall unter der Tür durchgekommen sein. Der Spalt ist überhaupt nicht breit genug.«
Flint kniff die Augen zusammen und machte eine Handbewegung zur Tür hin. »Du und ich, wir wissen beide, daß die Tür abgeschlossen ist, also erzähl du mir, wie er hier reingekommen ist.«
Dunkan ging zu Julius nach hinten. »Wie zum Teufel ist der Hund da reingekommen?« fragte er sich laut, als er in die Zelle sah.
»Haben wir doch gesagt, unter der Tür durchgekrochen«, wiederholte Tanis.
Flint fügte hinzu: »Holt ihn hier raus, ja? Er macht einen Heidenlärm.«
»Wenn er reingekrochen ist, warum kriecht er dann nicht einfach wieder raus?« fragte Julius.
»Das ist ein Hund, kein Studierter – vielleicht hat er nicht daran gedacht«, knurrte Flint. »Jedenfalls will er offenbar genausowenig hier drin sitzen wie ich. Könnt ihr ihn nicht rauslassen, damit wir hier mal ein bißchen schlafen können?«
»Ah, doch.«
Julius griff nach dem Schlüssel, doch Dunkan hielt ihn zurück. Der ältere Wächter zog sein Schwert und stellte sich gegenüber der Zellentür auf. »Jetzt laß ihn raus.«
Bis zu diesem Punkt hatten Tanis und Flint keine klare Vorstellung gehabt, was Tolpan vorhatte, doch sie wußten, daß es nicht so günstig war, sich auf zwei bewaffnete Männer in Rüstung zu stürzen. Als die Tür aufging, standen sie geduldig da, während Tolpan in den Gang lief. Julius schlug die Tür zu, und während er sie verschloß, trat Dunkan nah ans Fenster und sagte: »Jetzt habt ihr eure Ruhe, Jungs.«
Während alles sich auf die Tür konzentrierte, bemerkte Tanis einen blassen Lichtblitz hinter den Wachen. Ein rascher Blick zu Flint verriet dem Halbelfen, daß sein Freund ihn auch gesehen hatte.
Als Julius und Dunkan wieder in den Vorraum gehen wollten, bestätigten zwei Aufschreie, denen ein lautes Knurren folgte, Tanis’ Vermutung. Er rannte zur Tür und blickte durchs Fenster. Links sah er Julius und Dunkan an der hintersten Zellentür kauern, ihre zitternden Kurzschwerter nach vorn gestreckt. Rechts sah er einen der schrecklichsten Anblicke von Krynn: einen riesigen, grünen, sabbernden Troll mit hängenden Schultern. Schwarze Haare hingen in fettigen Klumpen über sein warzenübersätes Gesicht und die lange, spitze Nase. Zwei Glubschaugen glühten wie schwarze Kohlen. Von den gelben Reißzähnen, die für den Mund des Untiers zu lang waren, tropfte Geifer.
Das alptraumhafte Wesen streckte einen überlangen, dicken Arm aus und nahm Julius den Schlüsselring aus seiner weißen Hand. Einen Augenblick lang fummelte es mit den Schlüsseln herum, wobei seine langen, schwarzen Fingernägel an das Metall klackten. Als es gefunden hatte, was es suchte, schloß es die Tür zu den Gefangenen auf. Flint und Tanis schlüpften auf den Gang. Der Troll zeigte fauchend auf die Zelle, woraufhin die beiden Wachen sofort hineinrannten. Dann schlug der Troll hinter ihnen die Tür zu und schloß ab.
Tanis und Flint rannten in den Vorraum. Der Troll trottete hinterher, wobei er sich mit seinem riesigen Körper ducken mußte, damit er durch die Tür paßte. Nachdem er um die Ecke war, wo er von der Zelle aus nicht mehr gesehen werden konnte, verwandelte sich Tolpan erneut, diesmal wieder in seine wahre Gestalt. Die Eisentür war verschlossen, und die Schlüssel hingen brav an ihrem Haken an der Wand.
»Hier«, sagte Tolpan und holte ihre Waffen hinter der Bank hervor. Mit zufriedenem Seufzer hängte Tanis sich seinen Bogen über die Schulter. Flint steckte seine bewährte Axt in die Schlinge an seinem Gürtel und tätschelte sie zärtlich, als wäre sie endlich wieder zu Hause.
Tanis schlich sich vor und warf einen Blick durch die Eingangstür. »Alles frei. Wir sollten versuchen, nicht so auszusehen, als wären wir gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen. Und, Tolpan, grins nicht so.«
Die drei traten mit den Händen in den Taschen in die Sonne hinaus. Geschwind gingen sie über den Hof direkt auf das Tor zum inneren Burghof zu und von da aus zum äußeren Haupttor. Nach wenigen Minuten hatten sie die Brücke überquert und machten sich zu den Bergen auf.
Tolpan, du Riesentürknauf!« donnerte Flint, der am verschneiten Ufer flußabwärts stapfte und dabei Büschen, Felsen und Schlaglöchern auswich. »Was machst du denn auf der Eisscholle? Du treibst in die falsche Richtung! Auf der Stelle kommst du runter und hierher!«
»Würde ich ja gern«, schrie Tolpan über das Tosen des Wassers, »aber mir ist nicht so klar, wie ich das anstellen soll.« Er hüpfte auf dem kleinen Stück Eis hin und her, blickte über den Rand und maß mit den Augen die Wassertiefe und die Entfernung zum Ufer, während er weiter den Fluß hinuntertrieb.
Während sie dem Fluß in die Berge gefolgt waren, war das frühlingshafte Grün der Landschaft allmählich winterlichem Eis und Schnee gewichen. Tolpan war zum Flußufer gelaufen, um sich schnell einen Schluck Wasser zu schöpfen, aber das Land unter seinen Füßen hatte sich als schneebedecktes Eis erwiesen. Das fand er jedoch erst heraus, als es unter lautem Ächzen und Knirschen vom Ufer abgebrochen war.
»Zu dumm, daß ich nichts mehr von Selanas Trank habe, ihr wißt schon, den Trank, mit dem ich mich in einen Vogel verwandeln konnte. Dann könnte ich zu euch rüberfliegen«, rief Tolpan ihnen unbekümmert zu. »Habe ich euch schon erzählt, wie ich eine Fliege war und mich dann in eine Maus verwandelt habe und aus dem Netz gefallen bin, als mich diese riesige, haarige Spinne gejagt hat?« Bei der Erinnerung rieb sich Tolpan die Hüfte.
»Der Verwandlungstrank. Das hast du uns erst tausendmal erzählt«, keuchte Flint, der sich anstrengen mußte, nicht von einer Schneebank zu rutschen, während er auf gleicher Höhe neben dem treibenden Eisstück herlief. »Ich mein’s ernst, Tolpan. Hör auf mit dem Unfug und komm da runter.«
»Flint«, rief Tanis, der leichtfüßig hinter dem Zwerg her durch den fast knietiefen Schnee sprang, »ich glaube nicht, daß Tolpan diesmal Unfug macht.« Dann fügte er mit leiser Stimme an Flint hinzu: »Er merkt es vielleicht gar nicht, weil er vor nichts Angst hat, aber er ist wirklich in Gefahr.«
»Großer Reorx«, schimpfte der alte Zwerg, blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sollten ihn einfach zurücklassen, so viel Scherereien wie er uns schon gemacht hat.«
Tanis blieb ebenfalls stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Zum Beispiel, als er uns aus dem Gefängnis befreit hat?« fragte er gereizt.
Flint sah ihn finster an. »Ich dachte mehr an die Male, wo er das Armband gestohlen hat, womit dieser ganze Alptraum angefangen hat, aber ich gebe zu, daß er hin und wieder ganz nützlich war«, sagte er. Dann senkte er den Kopf. »Was sollen wir jetzt also machen?«
Sie sahen zu dem Kender rüber, dessen Eisscholle sich gerade in einem Haufen alter Zweige in der Mitte des Flusses verfangen hatte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Tanis und kratzte sich am Kopf, »aber uns sollte lieber bald etwas einfallen, weil der Fluß weiter unten immer breiter wird, und ich meine, ich kann mich an einen kleinen Wasserfall etwa an der Schneegrenze erinnern.«
Flint sah Tanis erschrocken an.
Der Halbelf schnippte mit den Fingern. »Ich hab’s! Wir suchen einen langen Ast. Den halten wir ihm hin und ziehen ihn an Land.« Flint nickte zustimmend und schloß sich Tanis sofort bei seiner hastigen Suche nach einem langen, festen Ast an.
Was Tolpan anging, so war der nicht gerade auf »Unfug« aus, aber er war auch nicht allzu unglücklich über das, was mit ihm geschah. Auf der tanzenden, schwankenden Eisscholle entlangzutreiben, erinnerte ihn an das Türenreiten von früher, einen sehr beliebten Wintersport der furchtlosen Kenderrasse. In seiner Heimatstadt Kenderheim hatten die Kender damals beim ersten, ausreichenden Schnee die Haustüren ausgehängt und waren auf ihnen – ob alt oder jung – im Stehen die verschneiten Hänge heruntergerutscht. Unternehmungslustigere Kender fuhren auf den Türen gern schneebedeckte Treppen hinunter, denn vielen Häusern in Kenderheim fehlten Dach oder Wände, so daß auch innen eine dicke Schneedecke lag. Die mutigsten Kender waren sogar dafür bekannt, daß sie mehrstöckige Gebäude mit Schrägdächern hinabschossen. Diese Methode war aber nicht gern gesehen, weil so viele Passanten – ganz zu schweigen von den Türenreitern – umgefahren und verletzt wurden und die Nachbargebäude unweigerlich Schaden nahmen.
Bei der Erinnerung an einen Kindheitsfreund, der mit wehendem Haarknoten von einem Haus gesegelt war, seufzte Tolpan nostalgisch. Er war jahrelang nicht mehr zu Hause gewesen, ob zum Türenreiten oder zu anderen Anlässen. Und diese Eisscholle war zwar etwas Ähnliches, kam aber doch erheblich langsamer vorwärts als eine gewachste Tür an einem Steilhang.
»Tolpan, halt dich an dem Ast fest, dann ziehen wir dich an Land«, rief Flint. Tolpan sah den Zwerg ein Stück flußabwärts am linken Ufer hocken. Er streckte ihm einen langen, dünnen Ast hin. Tanis stand hinter dem Zwerg, um jederzeit mitanpacken zu können.
»Mach schnell, bevor du an mir vorbeitreibst!« sagte Flint. »Außerdem kann ich diesen Ast nicht ewig halten!«
Tolpan kroch zum Rand der Scholle und streckte seine Hand so weit aus, wie er es wagte, aber ihn trennten immer noch mehrere Fuß von dem Halt. Angestrengt streckte er seine Finger nach der dünnen Astspitze aus. Die Strömung trieb seine Scholle näher. Wenn er nur die Spitze berühren könnte… Er drehte den Kopf zur Seite, um eine größere Reichweite zu haben, und lauerte aus den Augenwinkeln auf seine Chance.
Er spürte glatte Rinde an den Fingerspitzen! Aufgeregt legte Tolpan seine Hand um den Zweig und hielt sich fest. Flint und Tanis jubelten.
»Laß nicht los, Tolpan«, sagte Flint, der den Ast jetzt Hand um Hand zu sich her zog.
»Bestimmt nicht!«
Plötzlich gab der Boden unter dem sich abmühenden Zwerg nach und brach vom Ufer ab. Bei dem unerwarteten Ruck riß der Zwerg an dem Zweig. Das Holz, das nach einem Winter auf dem Waldboden alt und trocken war, brach in zwei ungleiche Stücke. Tolpan, der auf das plötzliche, zusätzliche Gewicht nicht vorbereitet war, ließ den Ast in den Fluß fallen, wo er zwischen den beiden Schollen unterging. Flint schaffte es, seinen Teil festzuhalten, aber leider war ihm nur ein nutzloser Stummel geblieben.
Gestikulierend rief Tanis vom Ufer aus: »Flint, der Wasserfall!«
Der Zwerg, der jetzt hilflos mit dem Kender flußabwärts trieb, sah nach vorn zu dem nahenden Wasserfall. Er konnte das Wasser unten schon tosen hören. »Völlig nutzlos!« schrie er, während er wütend seinen gebrochenen Ast hinwarf. Wasser war einfach nie zu etwas gut, dachte er verbittert.
Tanis legte beide Hände trichterförmig um den Mund und brüllte dem Zwerg und dem Kender, die auf dem Eis standen, über das donnernde Wasser hinweg zu: »Flint, Tolpan, legt euch auf den Bauch und haltet euch am Rand der Scholle fest!« Der Halbelf wußte, daß sie damit nur eine kleine Chance hatten, nicht an den Felsen zerschmettert zu werden, aber eine kleine war besser als gar keine.
»Was?« schrie Tolpan, der sein spitzes Ohr Tanis am verschneiten Ufer zuwandte.
»Ich habe gesagt – ach, guck einfach her!« Tanis warf sich auf den Bauch und breitete die Arme aus, um es vorzumachen.
Der Wasserfall war nur noch zehn Fuß entfernt.
Flint lag bereits auf dem Eis, als Tolpan plötzlich begriff. Rasch legte er sich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Bauch, doch dann sah er etwas hinter Tanis’ Kopf schweben. Er blinzelte verwirrt. Flammen? Riesige Flammenzungen! Wieso stand Tanis in Flammen?
Da sah Tolpan etwas, was selbst er nur mit Mühe glauben konnte: drei kleine, menschenähnliche Wesen in einfachen Tunikas, Hosen und Stiefeln, jedes mit Flammenflügeln am Rücken. Er zwinkerte zweimal und sah wieder hin. Sie waren immer noch da.
»He!« schrie der Kender aufgeregt, sprang auf und hüpfte auf der Eisscholle herum, während er auf sie zeigte. »Tanis, Flint, dreht euch mal um! Da ist – aua!«
Tolpan wurde buchstäblich das Wort abgeschnitten, denn er biß sich vor Überraschung schmerzhaft auf die Zunge. Kräftige, kleine Hände hoben ihn an den Achseln hoch und trugen ihn in dem Moment von der Scholle fort, als diese über den Rand des Wasserfalls trieb. Als der Kender an seinen baumelnden Füßen vorbeiblickte, sah er die Eisscholle unten auf den Felsen zerschellen und dann im brodelnden Wasser verschwinden. Er merkte, daß er immer höhergetragen wurde, bis er über den Baumwipfeln flog. Daß er gerade noch dem Tod entgangen war, hatte er vor lauter Begeisterung über den Flug schon fast wieder vergessen.
Schließlich sah Tolpan nach oben. Dort erblickte er ein verkniffenes, kleines Gesicht mit Mandelaugen unter kupferroten Locken. Die Ohren liefen schön spitz zu. Tolpans Augen wanderten in sprachloser Faszination zu den auf und ab schlagenden, knisternden Flammenflügeln über den schmalen, feinknochigen Schultern des Wesens.
»Was bist denn du?« fragte Tolpan, und seine Augen funkelten vor Neugier. »Sind das echte Flügel, oder ist das nur Feuer? Wenn du in Flammen stehen würdest, hättest du ja bestimmt keine Zeit, andere Leute von Eisschollen zu retten, stimmt’s? Ich habe auch schon mal gebrannt«, fuhr er fort.
»Meine kleine Schwester hat mir nämlich den Schuh angezündet. Ich konnte zwar nicht fliegen, aber ich muß sagen, ich bin mächtig schnell gerannt, bis es mir jemand löschen konnte. Aber das ist doch irgendwie was anderes, oder?«
Tolpan wartete auf eine Antwort von dem rötlichen Kerl, aber der sagte nichts. Sein Gesicht verriet nur Konzentration, während er mit seiner Last auf ein unbekanntes Ziel zusteuerte.
»Kannst wohl keine Gemeinsprache, hm?« folgerte Tolpan. »Macht nichts. Nicht jede Rasse ist intelligent genug dafür. Dann weiß ich allerdings nicht, wie wir uns unterhalten sollen. Immerhin spreche ich etwas Troglodytisch – fast fließend«, erklärte der Kender stolz, »auch wenn ich bestimmt kein Wort lesen könnte.« Er runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, daß man Troglodytisch schreiben kann.«
Der Gesichtsausdruck des Wesens wurde noch verkniffener. »Ich beherrsche sechs Sprachen in Wort und Schrift, wie alle Phaetone«, sagte er schließlich gestelzt, »auch wenn das Pfeifen und Schmatzen, das der armseligen Rasse der Troglodyten als Sprache dient, nicht dazugehört.« Damit machte der Phaeton seinen Mund wieder fest zu.
»Wo wollen wir denn hin?« fragte Tolpan unschuldig. Er bemerkte, daß nicht weit entfernt ein weiteres Flügelwesen Tanis über die Baumspitzen trug und unter ihnen zwei den beleibten Zwerg schleppten, der gegen ihren Griff anzukämpfen schien – was Tolpan ziemlich dumm vorkam. Tolpans Phaeton ließ sich weder durch Anstacheln noch durch Beleidigungen dazu bewegen, weitere Informationen preiszugeben.
Mit fremder Kraft zu fliegen, war lange nicht so angenehm, wie selbst zu fliegen, dachte Tolpan, als er diesen Ausflug mit jenem verglich, wo er selbst der Vogel gewesen war. Als Kender konnte er nicht so scharf sehen wie als Sperling, auch wenn ihm seine eigenen Augen vertrauter waren. Eines war sicher – fast alles konnte besser sehen als eine Fliege.
Sie stiegen höher in die Berge auf, dorthin, wo der Schnee tief war und nur noch wenige Bäume standen. Ein eisiger Wind pfiff an Tolpans Ohren vorbei, der ihn an den Atem eines Frostriesen denken ließ. Er vermischte sich mit dem Geräusch angefachter Flammen, das sich so anhörte, als wenn ein Tuch in starkem Wind knatterte.
Tolpans Achseln schmerzten allmählich, weil sein Gewicht ihn in den Händen des Phaetons nach unten zog. Er bewegte sich etwas und wollte das Gewicht verlagern, doch das Flügelwesen griff nur noch fester zu und blickte finster auf den Kender hinunter.
Nach einer Weile, die dem ungeduldigen Kender wie eine Ewigkeit vorkam, näherten sie sich einer Bergwand. Tolpan erwartete, daß sie aufsteigen, langsamer werden und auf einer Lichtung landen würden, doch der Phaeton machte keine Anstalten, langsamer zu fliegen. Mit einer Geschwindigkeit, die selbst der furchtlose Kender gewagt fand, raste er auf den zerklüfteten Berg zu. Wo wollte er denn bloß landen? Hier gab es nichts als scharfe Felsspitzen, so weit Tolpan sehen konnte. Wollte der Phaeton ihn etwa gegen die Felsen schmettern? Tolpan verwarf diese Möglichkeit, denn dann hätte ihn das Wesen schon längst fallen lassen oder gleich auf dem Eis lassen können. Schließlich konnte Tolpan nicht länger an sich halten.
»Vorsicht, du Sohn eines Ziegenmelkers! Du rammst uns noch gegen den Felsen!«
In allerletzter Sekunde schwang sich der Phaeton nach oben und über den Gipfel des zerklüfteten Bergs. Auf der anderen Seite bot sich ihnen ein Panorama, wie Tolpan es noch nie gesehen hatte. Vor ihnen lagen Hunderte von Türmen aus orangebraunem Fels, deren Spitzen durch weiße und graue Wolken ragten. Tolpan sah hinunter und entdeckte tief unten ein saftiges, grünes Tal mit sorgfältig angelegten Feldern, die sich an den Fundamenten der Steintürme entlangzogen. Die Seiten der Türme waren bis auf einen Abstand von hundert Fuß unter der Spitze mit Kletterpflanzen bewachsen. Dort beulte sich jedes dieser natürlichen Minarette plötzlich zu einer hohlen Zwiebelform aus, in deren runder Oberfläche sich Öffnungen befanden – Fenster und Türen, nahm Tolpan an.
Tolpans Phaeton brauste an einer ganzen Reihe Türme vorbei, bis er einen erreichte, der höher war als die meisten anderen. Er stand auf einer Klippe. Mit verlangsamtem Flügelschlag näherte sich der Phaeton und flog mit seiner unbequemen Last vorsichtig durch einen Türbogen. Schließlich senkte der Phaeton Tolpan durch Anlegen seiner Flügel ab, bis die Füße des Kenders den Boden berührten. Dann landete der Phaeton.
»Hui! Was für ein Flug! Das ist unglaublich! Lebt ihr hier oben? Sind das wirklich Wolken oder nur Nebelschwaden? Wie weit ist es bis zum Boden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann Tolpan sofort, seine Umgebung zu inspizieren.
Er stand in einem kleinen, halbkreisförmigen Vorraum. Die Wände waren vollständig mit einfachen Sprüchen und flachen Reliefs bedeckt, die Tolpan als flügellose Phaetone bei unterschiedlichen Arbeiten interpretierte: säen, das Land bestellen, Wasser schleppen, ernten und alles, was in einem Dorf an Aufgaben anfällt.
In der geraden Wand des Vorraums gab es zwei Türen, und beide standen offen. Eine führte in einen großen, offenen Raum mit einer Feuerstelle in der abgerundeten Außenwand. Dort brannte ein kleines Feuer, davor stand Steingutgeschirr sowie ein paar Holzstühle und Hocker. Links war eine Reihe kleiner Schränke, die dem Verlauf der Wand folgten. Die zweite Tür führte in einen kleineren Raum, wo zahlreiche dicke Federkissen symmetrisch auf dem Boden ausgebreitet waren.
Tolpan betrat den Raum mit dem Herd. Auch die Wände dieses Zimmers waren voller Reliefs, doch diese zeigten Szenen, in denen von Flammenflügeln getragene Phaetone scheußliche Geschöpfe bekämpften, wie Tolpan sie weder aus eigener Erfahrung noch vom Hörensagen kannte.
»Warte hier«, sagte der Phaeton. Er trat durch die Außentür ins Leere und verschwand aus Tolpans Blickfeld. Der Kender sprang an eins der kleinen Fenster und sah mit erneutem Erstaunen, wie aus dem gefiederten Rücken des Phaetons Flammen in Form von Flügeln barsten und wie er erschreckend rasch abtauchte. Tolpan sah ihm nach, bis der Geflügelte in den Wolken zwischen den Türmen verschwand.
Warte hier. ›Wo soll ich schon hin?‹, dachte der Kender ironisch. Draußen gab es nur Luft und Wolken. Die einzige Art, den Erdboden zu erreichen, war Springen, und das würde viel Dreck machen. Also stützte er seine Ellbogen aufs Fensterbrett und starrte auf das grüne Tal – oder das, was er durch die dahintreibenden Wolken davon sehen konnte – Hunderte, vielleicht Tausende von Fuß tiefer.
Hinter sich hörte Tolpan plötzlich Flammen in der Luft knistern und danach leise Schritte. Als er herumfuhr, sah er, daß vier fremde Phaetone eingetroffen waren. Einer war eine Frau in lockersitzenden Hosen und einer Tunika. Sie trug eine bunte Schärpe um den Bauch und war anscheinend die Mutter des kleinen Mädchens mit den langen, roten Locken, das hinter ihr stand und an ihrem Bein vorbei scheue Blicke auf Tolpan warf. Der dritte Phaeton, offenbar der Vater, war ein erwachsener Mann, der schützend vor den anderen stand. Er war so angezogen wie derjenige, der Tolpan hergebracht hatte, sah aber älter aus. Seine Haut war röter und wettergegerbter. Mit beiden Händen hielt er einen knorrigen Stab, und in seinem Gürtel steckte ein großes Messer.
Der vierte Phaeton, falls er wirklich einer war, sah so aus, als wäre er bei weitem der Älteste von ihnen. Er achtete kaum auf die anderen oder auf Tolpan, sondern setzte sich heiter an den leise brennenden Herd. Wie die anderen Phaetone, die Tolpan gesehen hatte, hatte er kurze, wellige Haare, aber bei ihm waren sie schlohweiß anstatt rot. Sein tiefgefurchtes Gesicht war kupferrot, und seine Augen waren tiefschwarz – man konnte nicht einmal die Pupillen erkennen.
»Was bist du?« fragte der Vater ohne Umschweife.
»Ich bin ein Kender, was sonst?« Tolpan trat freimütig vor und streckte die Hand aus. »Tolpan Barfuß, stets zu Diensten. Ich hätte da ein paar Fragen. Zum Beispiel habe ich noch nie im Leben von Phaetonen gehört.« Er musterte sie alle eindringlich. »Ihr seht so aus wie zu klein geratene Halbelfen. Denkt ihr das auch oder seht ihr Halbelfen eher als zu groß geratene Phaetone?« Da fiel Tolpan plötzlich etwas ein.
»Apropos Halbelfen, wo sind eigentlich meine Freunde? Kommen die nicht?« Er rannte wieder zum Fenster und sah nach draußen. »Himmel, der Flug über die Berge hat mich so in Bann gezogen, daß ich sie ganz vergessen habe. Ein paar von euch haben auch sie gerade rechtzeitig aus dem Fluß geholt – vielen Dank übrigens.« Er kicherte. »Flint mußten sie zu zweit tragen.«
»Deine Freunde sind in Sicherheit«, sagte der Mann, der in mittlerem Alter war. »Wir haben gleichfalls ein paar Fragen.« Damit ging die Mutter zum Herd und holte einen kleinen Topf, der über dem Feuer geköchelt hatte. Sie füllte einen irdenen Becher mit dampfender Flüssigkeit aus dem Topf und gab ihn ihrem Mann, der ihn seinerseits Tolpan anbot.
»Trink das.«
Tolpan schnupperte an dem Gebräu, verzog die Nase und senkte den Kopf. »Ich habe wirklich etwas Durst, danke, aber ich hätte lieber etwas Kaltes, wenn das geht.«
Der Vater drückte Tolpan den Becher an die Lippen. »Trink.« Der weißhaarige Phaeton starrte Tolpan mit seinen schwarzen Augen an.
»Wenn ihr drauf besteht«, erwiderte Tolpan hastig. »Etwas Warmes ist vielleicht ganz gut. Was ist das? Gift?« Wie gewöhnlich war der Kender eher fasziniert als erschrocken bei dem Gedanken, wie es sich anfühlen würde, wenn sich warmes Gift langsam in seinen Adern ausbreiten würde. Bekäme seine Zunge dann eine lila Färbung? Träten seine Augen hervor? Würde er gleich tot umfallen, oder würde es etwas dauern, so daß er noch um einen letzten –
»Das ist Tee«, unterbrach der Phaeton seine sich überschlagenden Gedanken. »Der wird dir helfen, unsere Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten.«
»Meine Güte«, sagte Tolpan, der aber doch etwas erleichtert war. »So etwas braucht ihr nicht, damit ich die Wahrheit sage. Ich erzähle euch gerne alles, was ihr wissen wollt.«
Der Phaeton runzelte die Stirn. »Trotzdem würden wir es vorziehen, wenn du den Tee trinkst. Er wird dir nichts tun« – er faßte seinen Stab fester – »ebensowenig wie wir, wenn du nichts zu verbergen hast.«
»Verbergen? Ich doch nicht«, sagte Tolpan. »Allerdings, einmal – ich trink’ ja schon«, sagte er eilig. Tolpan hob den warmen Becher hoch und nahm einen langen Zug von der dampfenden, blaßgrünen Flüssigkeit. Dann gingen seine Augenbrauen erstaunt hoch. Der Wahrheitstee war nicht annähernd so heiß, wie man vom Dampf her annehmen konnte, und er schmeckte ungefähr so, wie Gras wohl schmecken würde, wenn man es stundenlang vor sich hinköcheln lassen würde – stark, bitter, aber trotzdem erfrischend.
»Wer bist du, und woher kommst du?«
Aus reiner Neugier beschloß Tolpan, den Tee auf die Probe zu stellen, indem er eine Lüge erzählte. »Mein wahrer Name ist Lippenschmatzer Triefeimer – der andere ist nur ein Deckname.« Die Phaetone starrten ihn ungerührt an. »Ich bin der Kronprinz von Solamnia.« Immer noch keine Reaktion, weder von den Phaetonen, noch vom Tee.
Er schüttelte den Kopf. »Ich muß sagen, ich glaube nicht, daß dieser sogenannte ›Wahrheitstee‹ besonders gut wirkt«, gestand Tolpan. »Ich habe gerade ein paar faustdicke Lügen erzählt, und es ist nichts passiert – ich habe mich nicht verschluckt, und meine Nase ist auch nicht lang geworden wie in diesem Märchen.« Um Verwirrung zu vermeiden, entschied er sich für die Wahrheit.
»Ich bin nicht Lippenschmatzer Triefeimer«, bekannte er. »In Wirklichkeit bin ich Tolpan Barfuß. Und ich bin auch nicht mit der königlichen Familie von Solamnia verwandt, falls es eine gibt.« Nachdem er die Wahrheit gesagt hatte, fühlte sich der Kender irgendwie besser, auch wenn er nicht so recht wußte, weshalb.
Mit immer noch unbewegtem Gesicht zeigte der Phaetonenmann auf einen der Stühle am Feuer und wies Tolpan an, sich hinzusetzen, was der dankbar tat. Dem Kender kam es so vor, als wenn diese Phaetone die Angewohnheit hatten, ein bißchen zu viel zu starren, und das gab ihm das Gefühl, in Gefahr zu sein. Normalerweise gefiel ihm das, doch diesmal fühlte er sich dabei unbehaglich.
Der Phaetonenmann zog einen Stuhl vor Tolpan und sah dem Kender tief in die Augen. »Ich möchte wissen, warum du hier bist.«
»Tja, das wüßte ich selber gern«, erwiderte Tolpan. »Ihr habt mich schließlich hergebracht – wie wär’s, wenn ihr mich mal aufklärt?« Erwartungsvoll schaute er von einem Gesicht zum anderen, aber keiner schien ihm irgendwelche Erklärungen geben zu wollen. Das kleine Phaetonenmädchen kicherte, doch die Mutter brachte es mit einem strengen Blick zum Schweigen.
»Ich werde diese Frage noch mal stellen«, sagte der Mann. »Warum bist du in die Berge gekommen?«
Tolpan lächelte begreifend. »Ach, ihr meint nicht ›hier‹ hier, sondern ›hier‹ überhaupt. Das ist ein bißchen kompliziert, und ich sollte wirklich bald wieder bei meinen Freunden sein, darum werde ich es so kurz wie möglich machen.
Meine Freunde und ich – nämlich Tanis und Flint und Selana, bloß ist Selana nicht bei uns, weil sie hier irgendwo herumläuft und einen kahlköpfigen Zauberer mit einem Armband sucht –, aber zurück zu dem Armband, das Flint gemacht hat. Wir brauchen es für Selanas Bruder, bloß hat es der Zauberer genommen, wie ich schon sagte, und er will Rostrevors Seele Hiddukel vorwerfen – kann mir nicht vorstellen, wie das schmecken soll. Jedenfalls hat der Zauberer das Armband diesem Zombie abgenommen, bloß da war er noch kein Zombie, sondern nur ein Mann namens Delbridge, der nicht sehr ehrlich war – ›Dieb‹ wäre wohl das richtige Wort für ihn –, und der hat es von Gäsil, der ein ganz anständiger Kerl war, bloß würde ich ungern aus Versehen im Haus seiner Frau landen. Die scheint eine richtige Schreckschraube zu sein. Und der hatte es von mir, weil ich es zufällig hatte, nachdem wir das Gasthaus ›Zur Letzten Bleibe‹ verlassen hatten. Flint muß es wiederhaben, damit er es Selana geben kann, damit die es Semunel geben kann, weil der es braucht, weil er nicht die Zukunft vorhersehen kann.« Tolpan holte Luft. »So, ich glaube, das war’s so ungefähr.« Er schmatzte mit den Lippen und sah sich um. »Habt ihr noch mehr von dem Tee?«
»Nein!« sagte der Phaetonenmann schnell. Die beiden erwachsenen Phaetone beugten sich dicht zu dem weißhaarigen hin und berieten sich mit gedämpften Stimmen. Tolpan hörte sehr wenig, und was er aufschnappte, war in einer Sprache, die er nicht verstand.
»Du bist komisch«, sagte das kleine Mädchen zu Tolpan, zupfte an seiner Tunika und lächelte scheu.
»Oh, danke«, sagte Tolpan leicht verwirrt. Er erinnerte sich gar nicht daran, Witze erzählt zu haben. Aber wer wußte schon, was Phaetone zum Lachen brachte?
Er nickte zu den drei Erwachsenen hinüber. »Was reden sie da?«
Das kleine Mädchen zuckte mit den Schultern. »Sie überlegen, ob du am Leben bleiben darfst oder nicht.« Sie kam etwas näher und flüsterte: »Eindringlinge dürfen das normalerweise nicht, aber ich glaube, deine Chancen stehen besser als üblich.«
Tolpan schluckte langsam angesichts des hitzigen Disputs. Der weißhaarige Phaeton wirkte beunruhigt und schüttelte nach jeder Bemerkung der beiden anderen den Kopf. Sie schienen ihn von etwas überzeugen zu wollen. Schließlich schlug der jüngere Mann mit entschlossener Miene die Faust in die Handfläche. Der Alte schüttelte ein letztes Mal den Kopf und schaute aus dem Fenster, als ob er sich von aller Schuld freisprechen wollte. Der Jüngere drehte sich um und ging mit ebenso ungerührtem Gesicht wie zuvor zu Tolpan.
Er legte eine Hand auf seine Brust. »Ich bin Nanda Lokir, Oberhaupt unserer Siedlung. Das hier« – er zeigte auf den Weißhaarigen, – »ist Hoto Lokir-Ulth, in eurer Sprache mein Urgroßvater. Meine Frau und Beraterin, Cele Lokir, und unsere Tochter, Zeo.«
Tolpan nahm die Vorstellung als gutes Zeichen.
»Du bist ein sehr glücklicher Kender. Eigentlich richten wir jeden hin, der beim Verhör lügt.
Wir sind eine friedliebende Rasse, aber wir schätzen Ehrlichkeit und Zurückgezogenheit über alles. Die Wahrheit scheint dir wenig wert zu sein, und in Hotos Augen spricht das stark gegen dich, aber wir alle glauben, daß du und deine Freunde uns einen wichtigen Dienst erweisen können. Ich habe sie holen lassen, damit sie sich uns anschließen.«
Nanda ging zur Kochstelle. »Hast du vielleicht Hunger?«
Tolpan nickte eifrig. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal gegessen hatte. Bevor sie nach Tantallon gekommen waren? Als er mit Selana über den Markt gerannt war? Nandas Frau, Cele, öffnete einen kleinen Vorratsschrank links von dem Herd. Sie zog ein hölzernes Brettchen mit einem goldbraunen, knusprigen runden Brotlaib hervor. Dann reichte sie Nanda eine große Schüssel mit einer Art Suppe. Er stellte sie zum Erhitzen in die Kohlen. Aus einem anderen Schrank nahm sie ein Stück frischer, sahnig weißer Butter. Nachdem sie das Brot aufgeschnitten hatte, in das ganze, leckere Körner eingebacken waren, bestrich sie es mit Butter und gab dem Kender eine Scheibe. Der riß die Augen auf.
»Das ist köstlich!« murmelte er, während er sich einen großen Bissen in den Mund stopfte. »Aber wenn man so weit oben wohnt, wo bekommt man dann die frische Butter oder auch nur die Kuh für die Milch her?«
»Wir schlafen und kochen in unseren hohen Häusern«, erklärte Cele, »aber wir arbeiten unten im Tal. Wir wollen uns nicht mit anderen Kulturen vermischen, darum versorgen wir uns selbst und stellen keine Waren zum Handeln her. Wir bauen Getreide, Obst und Gemüse an, züchten Schafe und Ziegen und halten Hühner und Kaninchen, auch wenn Zeo dauernd Kuscheltiere aus ihnen machen will.« Cele lächelte ihre kleine Tochter liebevoll an und streichelte ihr die langen Locken.
Nanda nahm die Schüssel mit der jetzt heißen Suppe vom Herd und füllte einen Teller mit reichlich orangeroten Möhren, grünen Zuckererbsen, ganzen Perlzwiebeln und kleinen Stückchen zartem Fleisch in leckerer, brauner Soße.
Tolpan fühlte sich wie im Himmel. Er hielt sich für einen echten Feinschmecker und war auch selbst ein ganz passabler Koch. Nach jedem Löffel schloß der Kender die Augen und genoß den köstlichen Geschmack, für den die genau richtige Menge frischer Kräuter sorgte.
»Hätte ich mir gleich denken können, daß er am Essen ist«, knurrte eine tiefe, vertraute Stimme. Tolpan schlug die Augen auf und sah Flint und Tanis mit drei weiteren Phaetonen in der Tür stehen. Der offensichtlich erleichterte Ausdruck in seinen Augen strafte die harten Worte des Zwergs Lügen. Nach dem neuerlichen Flug zupfte er seine Kleider zurecht.
»Ich freue mich, daß bei dir alles in Ordnung ist, Tolpan«, sagte Tanis, der zögernd von Tolpan zu den neben ihm stehenden Phaetonen schaute. Nanda nickte den Fliegern zu, und sie breiteten die Flügel wieder aus und flogen davon.
»Ihr könnt euch frei bewegen. Kommt, gesellt euch zu eurem Freund am Tisch«, sagte Nanda, der Tanis und Flint aus dem kleinen Vorraum in das Zimmer mit dem Herd winkte. Lächelnd legte Tanis dem Kender die Hand auf die Schulter, während Flint seinem Oberarm stirnrunzelnd einen leichten Puff versetzte.
»Ich bin Nanda Lokir«, sagte der Anführer der Phaetonen, der Tanis die rechte Hand entgegenstreckte. Der Halbelf reichte ihm die seine, doch der Herrscher schob die eigene Hand daran vorbei und ergriff den Oberarm des Halbelfen. Tanis begriff schnell und umfaßte seinerseits den Arm des Phaetons.
»Tanis, der Halbelf«, sagte er und nickte dann zu dem Zwerg hin. »Flint Feuerschmied.« Flint streckte die Hand aus, und Nanda stellte seine Familie vor. Der Alte hielt sich zurück, ignorierte ihre ausgestreckten Hände und nahm sie alle kaum zur Kenntnis. Tolpan bemerkte, wie Tanis und Flint sich verwirrt ansahen.
»Normalerweise töten sie Eindringlinge«, erklärte der Kender leise hinter vorgehaltener Hand, »aber bei uns machen sie eine Ausnahme. Nanda will, daß wir ihm irgendwie helfen, und ich habe den Eindruck, daß der Alte mit der ganzen Situation nicht glücklich ist.«
Der Halbelf wandte sich an Nanda. »Wir sind euch äußerst dankbar, daß ihr uns aus dem Fluß gerettet habt«, fing er an, »aber könntet ihr uns bitte sagen, warum wir festgehalten werden?«
»Und zwar ohne unsere Waffen?« fügte Flint hinzu. Tolpan merkte jetzt erst, daß sein Hupak und sein Dolch wie weggezaubert waren. Auch Tanis’ Bogen und Flints Axt fehlten.
Mit verschränkten Armen nickte Nanda. »Das werdet ihr alles zur rechten Zeit erfahren. Jetzt eßt erst mal. Ihr seid schwach vor Hunger.«
Obwohl sie verunsichert waren, konnten der ausgehungerte Halbelf und der Zwerg das nicht abstreiten. Sie griffen nach den Tellern, die Cele ihnen anbot, und aßen, während die Phaetone zusahen. Das leckere Essen spülten sie mit einem dunklen, vollmundigen Bier herunter, das so süß wie Milch schmeckte.
»Allerbestes Bier, nur noch von Zwergenschnaps zu übertreffen«, sagte Flint, als er seinen leeren Teller mit einem Rülpser zurückschob, der seinen Schnurrbart aufplusterte und die Krümel wegblies. Nachdem sie Cele gedankt hatten, sahen die drei aus Solace erwartungsvoll Nanda an.
»Wir leben sehr zurückgezogen«, begann das Oberhaupt der Familie und der Siedlung. »Bei den Phaetonen gilt das Gesetz, aus einer Gruppe Eindringlinge einen zu entführen und ihm einen Wahrheitstrunk zu verabreichen, um von ihm die Herkunft, das Ziel und das Vorhaben einer Gruppe zu erfahren. Wenn uns die Antworten mißfallen oder wenn wir Unwahrheiten darin entdecken, werden die Eindringlinge normalerweise getötet.
Mit dem Wahrheitstee enthüllte uns der Kender eine so schwindelerregend verwickelte Geschichte, daß wir wußten, daß sie nicht erfunden sein konnte. Außerdem hat er unser Tal überhaupt nicht erwähnt, sondern statt dessen gesagt, ihr wärt auf der Suche nach einer jungen Frau und einem Zauberer.« Um seine Worte wirken zu lassen, machte Nanda eine Pause. »Wir wissen, wo die beiden sind, und glauben, daß die junge Frau in großer Gefahr schwebt.«
»Ihr habt sie gesehen?« fragte Tanis, der sich besorgt vorbeugte.
»Hoto hat sie gesehen«, sagte Nanda mit einem Blick auf seinen Urgroßvater mit der Kupferhaut, der sich von der Gruppe fernhielt.
»Zuerst muß ich euch etwas erklären. Urgroßvater Hoto ist Verda, ein Ältester. Aus Gründen, die wir nicht verstehen, sterben manche Phaetone nicht an Altersschwäche. Statt dessen überkommt sie mit ungefähr neunzig Jahren – unserer normalen Lebenserwartung – der Wunsch, zur Sonne zu fliegen. Sie steigen immer höher und höher, bis entweder Erschöpfung oder Sauerstoffmangel oder beides sie das Bewußtsein verlieren läßt. Wenn sie wieder nach Krynn zurückfallen, findet eine wundersame Verwandlung statt. Sobald sie – immer noch viele tausend Fuß über der Erde – ihre Sinne wiedererlangen, entdecken sie, daß sie zu Verda geworden sind. Sie sind gewachsen, ihr Haar ist schneeweiß, die Spannweite ihrer Flammenflügel, ihre Beweglichkeit und ihre Ausdauer sind größer, während sie gleichzeitig weniger Nahrung, Wasser und Schlaf brauchen. Dann werden sie oft dreihundert Jahre alt.
Da sie von Natur aus Einzelgänger sind und abseits der Siedlung leben, dienen uns die Verda als Wachposten. Das erzähle ich euch, weil Urgroßvater Hoto den kahlköpfigen Zauberer schon seit Jahren einmal im Monat in die Berge fliegen sieht. Sein Ziel liegt genau vor der Grenze unseres Tals. Hoto ist schon lange davon überzeugt, daß er böse Absichten verfolgt.
Da er wußte, daß die Zeit für das Kommen des Zauberers nahte, hat Hoto gestern auf ihn gewartet. Bei Anbruch der Dunkelheit überraschte ihn der Anblick eines sehr großen, ungewöhnlichen Fisches, der denselben Fluß hochschwamm, aus dem ihr gerettet wurdet. Unter Hotos Augen verletzte sich der Fisch anscheinend ernsthaft, denn er zog plötzlich lange Blutspuren hinter sich her. Und was noch erstaunlicher war, der Fisch wurde vor seinen Augen zu einer geisterhaft blassen, hellhaarigen, jungen Frau, die aus dem Fluß an Land stieg!«
»Das war Selana!« rief Tolpan.
»Diese Selana hatte eine ernsthafte Wunde an der Seite«, fuhr Nanda fort, »und sie trug eigentlich nur noch Fetzen am Körper, die in der kalten Luft rasch gefroren. Hoto brach schnell auf, um sie zu retten, aber sie war sehr weit entfernt. Bevor er bei ihr war, geschah etwas noch Merkwürdigeres. Aus dem Nichts erschien ein Wesen. Hoto behauptet, es hätte wie ein Minotaurus ausgesehen, aber es war kein richtiges Lebewesen. Es war eine monströse Schöpfung aus belebtem, weißem Stein. Dieses Ding hob die Frau auf und trug sie in den Berg, und zwar dorthin, wo der Zauberer jeden Monat hingeht.«
»Das ist perfekt«, erklärte Tolpan. »Wir haben Balkom, das Armband und Selana alle zusammen am selben Ort. Sogar Rostrevor, der Knappe, ist ganz sicher da. Da können wir alle auf einmal retten.«
Zum ersten Mal sprach Hoto zu der Gruppe. Er bewegte sich nicht, sondern saß weiter auf seinem Hocker und starrte ins Feuer. »Alle, die ihr retten wollt, müssen heute noch gerettet werden.«
Tanis drehte sich mit gerunzelter Stirn zu Nanda um. Die Gesellschaftsstruktur der Phaetonen war ihm völlig fremd, aber sie hatten offenbar eine strenge Hierarchie. Er wollte bestimmt als letztes die Leute beleidigen, die seine besten Verbündeten sein konnten. Nanda verstand Tanis’ schweigende Bitte und redete ihn an. »Sprich, Tanis Halbelf, aber halte dich bei allem, was du sagst, an die Wahrheit.«
»In Anbetracht von Hotos Feststellung«, fing Tanis an, »schlage ich vor, daß wir Balkoms Versteck heute nacht angreifen. Wir haben diesen Mann bisher wenig erfolgreich bekämpft, aber wenn wir ihn überraschen, können wir ihn vielleicht schlagen.«
»Heute nacht ist zu spät. Heute abend ist vielleicht schon zu spät. Es geht nur jetzt.« Die Stimme des alten Phaetons enthielt keine Schärfe, keinen Sarkasmus, keine Kritik. Mit Ausnahme der Stimme der Sonne hatte Tanis noch nie erlebt, daß jemand eine Tatsache mit so schlichter Überzeugung aussprach.
Tanis wollte den alten Phaetonen nicht beleidigen, indem er diese Information anzweifelte, doch er erinnerte sich noch lebhaft an den Kampf mit Balkom in Burg Tantallon. Der Gedanke, sich einfach so ohne Planung oder Vorbereitung in den nächsten Kampf zu stürzen, erschreckte ihn.
Wieder spürte Nanda Tanis’ Unbehagen. »Du darfst Hoto befragen, wenn du willst. Denk jedoch daran, daß Fremden diese Freiheit fast nie erlaubt wird. Denk auch daran, daß er die absolute Wahrheit sagt. Wenn Hoto sagt, es ist so, dann ist das so. Du kannst ihn bitten, sich klarer auszudrücken.«
Diese Beschränkungen schienen Fragen überflüssig zu machen, dachte Tanis, aber er konnte wenigstens ein paar weitere Informationen bekommen. »Warum ist Eile geboten?« fragte er.
»Gestern nacht hat Nuitari seinen Höchststand erreicht. Dieser Mann führt seine Rituale immer dann durch, wenn Nuitari am höchsten steht. Heute nacht stehen Nuitari und Lunitari zusammen, wodurch die Zeit für mächtige Magie geeignet ist. Diese Kombination kehrt erst in dreiunddreißig Tagen wieder. Ich beobachte diesen Mann seit Jahren und kenne seine Gewohnheiten. Er wird sein Ritual heute nacht durchführen. Nach dem Ritual ist keiner mehr da, den man retten könnte.«
Tolpan konnte nicht länger an sich halten. »Er hat völlig recht. Ich weiß nicht, warum alle noch zögern. Ich habe Balkom gehört, wie er Rostrevors Seele angepriesen hat, und der ist nur ein Rittersohn. Denk doch mal nach, was er jetzt vorhaben muß, wo er eine echte Prinzessin gefangen hat! Ich bin dafür, daß wir sofort aufbrechen.«
Tanis schüttelte den Kopf. »Wir stimmen gar nicht ab, Tolpan. Ich glaube, unsere Gastgeber werden die Entscheidung für uns treffen.«
Nanda sah ihnen der Reihe nach in die Augen. »Die Frau, Selana, ist für uns unwichtig. Wir würden sie beschützen, wenn wir könnten, wie Hoto es versucht hat, aber sie geht uns eigentlich nichts an.
Der Zauberer, Balkom, jedoch kann ein Problem werden. Wir wissen, daß er in den Bergen seine bösen Machenschaften vor den Menschen in Tantallon verbirgt. Das allein geht uns eigentlich auch nichts an, denn, was er auch tut, seine Handlungen haben unserem Land bisher keinen Schaden zugefügt. Wir wissen aus Erfahrung, daß sich das unter Umständen ändern kann. Selbst wenn er diese Gegend verläßt und nie wieder kommt, zieht sein leeres Versteck Monster an, die versuchen werden, uns aufzulauern. Am besten beseitigen wir ihn, bevor er uns Schwierigkeit bereitet.
Wenn euch das hart vorkommt, dann müßt ihr einfach einsehen, daß wir so sind. Auf diese Weise haben wir uns seit Tausenden von Jahren vor der Außenwelt geschützt, und wir werden damit fortfahren, solange es sein muß. Im Augenblick haben wir die gleichen Interessen, und wir können zusammenarbeiten. Eure Waffen sind heraufgebracht worden. Macht euch fertig, dann können wir sofort aufbrechen.«
Tanis, Tolpan und Flint drehten sich um und sahen Phaetone, die während Nandas Rede eingetreten waren und ihre Waffen hielten. Flint nahm seine Doppelaxt mit dem langen Griff und sein Messer und steckte sich beide in den Gürtel. Tanis warf den Köcher mit Pfeilen über die eine Schulter, schlang den langen Riemen, an dem die Scheide für sein Kurzschwert hing, über die andere und hob seinen Bogen auf, wobei er den geölten Ledergriff und die weiche Krümmung des Holzes rieb. Tolpan schnappte sich seinen Hupak und den Dolch und stopfte sich mehrere Scheiben von Celes köstlichem Brot in die Taschen. Einen Augenblick später waren sie alle bereit.
Nanda wies Tanis, Tolpan und Flint an, zur Tür zu gehen. Hinter jeden von ihnen stellte sich ein Phaeton, der seine Arme um den Passagier schlang. Bevor dann einer Zeit zu Protest oder Angst hatte, kippten alle drei Phaetone nach vorn und stießen sich mit ihrer lebenden Last von der Plattform ab. Die Luft pfiff Tolpan um die Ohren, und seine Locken flatterten ihm ins Gesicht, als er auf die Erde zufiel, doch dann hörte er das typische Geräusch, als die Flügel seines Phaetons Feuer fingen, und fühlte, wie sein Gewicht in den Armen des Fliegers lastete, als sie aufstiegen. So sehr Tolpan Selana retten wollte, er hoffte doch, daß Balkoms Versteck weit entfernt war.
Selana erwachte im Geruch von brennendem Mist. Die Flammen zuckten dicht vor ihrem Gesicht. Dennoch zitterte sie in der feuchten Kälte. Sie schlug die vor Erschöpfung matten, blaugrünen Augen zögernd auf.
Die Meerelfin saß allein auf dem schmutzigen Boden einer großen, rechteckigen Höhle, die nur von dem herabgebrannten Feuer aus Mist und Brennholz in der Mitte erhellt wurde. Für eine so große Höhle war die Decke niedrig, nur ungefähr zwölf Fuß hoch. In dem schwachen Licht konnte sie gerade eben die Umrisse enger Öffnungen weit rechts und weit links am Rande ihres Blickfelds erkennen.
›Wo bin ich?‹ fragte sie sich. ›Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist Schwimmen… in eiskaltem Wasser… ich habe mich geschnitten… und habe wieder Elfengestalt angenommen‹.
Selana wimmerte, als sie sich an die Riesenwunde in ihrem linken Arm erinnerte – sie war vor Schmerz und Kälte und Nässe ohnmächtig geworden. Überrascht stellte sie fest, daß die Wunde nicht mehr weh tat. War sie so lange bewußtlos gewesen, daß sie verheilt war? Sie versuchte, die Wunde zu berühren und festzustellen, wie groß sie war, merkte aber, daß sie ihre Hände nicht bewegen konnte.
Erst da wurde sich Selana bewußt, daß kaltes, schweres Metall um ihre Handgelenke lag. Sie sah, daß ihre Arme in Handschellen an zwei Fuß langen Ketten steckten, die an den rauhen, pinkfarbenen Granitwänden befestigt waren. Vage erinnerte sie sich an eine Halluzination mit einem Steinminotaurus, bei dem rote Adern seinen menschenartigen Körper und den viehischen Stierkopf gezeichnet hatten. War das Wesen Wirklichkeit gewesen? Etwas hatte sie hergebracht. Wo war es jetzt?
Selana verrenkte sich erfolglos, war jedoch erleichtert, daß sie sich mit den Ketten wenigstens hinstellen konnte. Bei den Göttern, sie wünschte, sie würde begreifen, in welcher Lage sie sich befand, aber sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was passiert war, nachdem sie sich zwischen die Felsen am Strom gekauert hatte. Ihr verletzter Arm war irgendwie geheilt, aber jeder Muskel im Körper tat ihr weh.
Plötzlich hörte die Meerelfin, wie an der engen Öffnung links etwas Schweres kratzte und zerrte. Dazu ertönte ein leises, kehliges Gestammel. Ihr Herz raste vor Angst. Mit gebundenen Händen fühlte sie sich furchtbar verletzlich und suchte verzweifelt einen Weg, wie sie sich verteidigen konnte. Sie konnte nur mit den Füßen treten, und auch das nicht sehr weit. Die ersten Silben eines Schutzzaubers gingen ihr durch den Kopf, aber sie war zu ausgepumpt, um sich an den ganzen Spruch erinnern zu können.
Das kratzende, schlurfende Geräusch hörte auf, und aus der Öffnung kam ein riesiger Kopf, der sich umschaute und in das Dämmerlicht blinzelte. Schwarze Augen blieben an Selana hängen. Das Wesen kroch weiter.
Die Meerelfin konnte sehen, daß es ein enormes, menschenähnliches Geschöpf war – ein Riese. Er konnte sich kaum durch die Öffnung quetschen. Auch in der Höhle konnte er sich nicht ganz aufrichten, sondern mußte sich ducken. Selana schätzte, daß er aufgerichtet mindestens sechzehn Fuß groß sein mußte und bestimmt mehrere tausend Pfund wog. Mit unsicherem, schwankendem Gang wackelte er langsam auf die Meerelfin zu, wobei seine langen Arme über den Boden schleiften. Unwillkürlich kauerte sich die Elfin zusammen, doch der Riese blieb fünf Fuß vor ihr stehen, weil die Höhle dort noch niedriger wurde und der Riese nicht näher kommen konnte.
Jetzt konnte sie auch erkennen, daß es ein männlicher Riese war. In der Hocke betrachtete er die blaßhäutige Meerelfin, wobei über sein hellbraunes Gesicht mit den pechschwarzen Augen ein enormes, zahnlückiges Lächeln glitt. Die Muskeln an seinen hängenden Schultern und am Hals waren stärker als Selana selbst. Die Elfin wurde sich des Gestanks nach verfaultem Essen und Dreck bewußt, doch ob das von seinem ungewaschenen Körper, den schwarzen Zähnen oder den verfilzten Häuten ausging, die er anhatte, konnte sie nicht feststellen. Sie atmete durch den Mund, damit ihr nicht übel wurde.
Die Meerelfenprinzessin wußte wenig über Riesen, nur daß es viele verschiedene Arten gab, so wie es viele Elfenrassen gab.
»Essen«, polterte er plötzlich und streckte ihr einen angeschlagenen Teller hin, der in seiner gewaltigen, narbenreichen Hand wie ein Spielzeug aussah. Seine Nägel waren gerissen und schmutzig; stellenweise bluteten sie.
Selana sah die undefinierbaren, gebratenen Fleischstücke an, aus denen halbe Knochen hervorstaken, ohne zu wissen, was sie tun sollte. Sie hatte keine Hand frei, um selbst zu essen, falls sie dieses Zeug überhaupt essen würde. Obwohl sie am Verhungern war, hatte die Prinzessin der Dargonesti nicht vor, ihr Gesicht wie ein Tier auf den Teller zu drücken.
Der Riese bemerkte ihr Zögern. »Nicht essen, Blu kriegen Ärger«, grunzte er, während er nach Worten suchte. »Balkom nicht lassen Blu gehen.«
Balkom! Die Meerelfin war gleichzeitig erschrocken und aufgeregt bei dem Gedanken, daß sie unwissentlich über den Schlupfwinkel des Magiers in den Bergen gestolpert war.
»Ist das dein Name? Blu?« fragte sie den Riesen.
Er nickte und zeigte dabei seine faulen Zähne.
»Und du arbeitest für Balkom?« fragte sie weiter.
Der Riese schien in seinem immensen Schädel nach der Antwort zu suchen. »Balkom sagen, wenn Blu finden viele glänzende Steine in Loch« – er zeigte auf die Öffnung, aus der er gekommen war – »Balkom machen Blu ganz kleinwinzig, und Blu gehen aus Höhle und zurück zu Hügelriesenhaus.« Als wenn er es zeigen wollte, zog er einen großen, scharfkantigen Stein aus den Tiefen seiner verdreckten Häute. Mitten in dem Brocken aus gewöhnlichem Gestein war ein matter, rötlicher Streifen aus glasartigem Stein – ein roher Rubin.
»Wie lange schürfst du schon für Balkom nach Edelsteinen?«
Der Riese zuckte mit seinen hängenden Schultern. »Balkom bringen Klein-Blu hierher für Arbeiten vor viel langer Zeit. Blu finden Steine, Minotaure bringen Essen. Blu arbeiten viel, aber er schlecht und werden viel groß.« Das Gesicht des Riesen nahm einen trübsinnigen Ausdruck an, und er schlug sich ärgerlich an den Kopf. »Jetzt sitzen fest.« Sehnsüchtig sah Blu sie an. »Blu vermissen Zuhause und Hügelriesenfreunde.«
»Wo ist Balkom jetzt?« fragte sie übergangslos.
Blu zuckte wieder mit den Schultern und sah zu der rechten Öffnung. »Er kommen von da. Manchmal Blu hören Sachen«, sagte er und zeigte auf die gegenüberliegende Höhlenwand zwischen den Öffnungen rechts und links.
Natürlich, sagte sie sich. Der Riese ist zu groß, um diese Höhle zu verlassen, und weiß nicht, was jenseits davon liegt, bis auf vage Erinnerungen an sein Zuhause. Die nächsten Worte wählte sie sorgfältig, damit sie möglichst viel Eindruck bei dem etwas dummen Riesen erzielten.
»Es ist nicht deine Schuld, daß du hier drin gefangen sitzt, Blu. Balkom hat dich angelogen, damit du weiter arbeitest. Er nimmt die Edelsteine, die du findest, um Seelen einzusperren« – viel zu kompliziert, dachte sie – »für sehr böse Sachen. Jetzt nimmt er gerade einen von den Steinen, die du gesucht hast, um einem Menschenknappen etwas sehr Schlimmes anzutun. Der Knappe ist in dem Stein gefangen, und Balkom will ihn einem bösen Gott geben, damit er dafür, tja – « Es würde ihr nie gelingen, dem Riesen zu erklären, was Balkom machte.
Selana änderte ihre Taktik. »Er ist ein böser Zauberer«, sagte sie einfach, während sie versuchte, den Blick des Riesen festzuhalten. »Er steckt Leute in die Edelsteine und läßt sie nie wieder raus.«
»Sie können nicht raus? Blu können auch nicht raus. Aber Balkom lassen mich viel bald raus, wenn Blu gut arbeiten und finden viele Steine.«
»Nein, das wird er nicht«, sagte Selana mit einem Kopfschütteln. »Er wird dich nie gehenlassen, Blu. Am Ende wird er dich auch umbringen.«
Blus Augen verdüsterten sich vor Zorn, und er schüttelte stumm den Kopf. »Balkom gut.«
»Er ist ein böser Zauberer!« beharrte sie, während sie gegen ihre Handschellen kämpfte. »Warum wäre ich sonst hier mit angeketteten Händen?«
»Balkom sagen, Frau gemein.«
Die zarte Meerelfin breitete die Arme so weit aus, wie es die Ketten erlaubten. »Sehe ich so aus, als wenn ich jemandem weh tun könnte, der so groß ist wie Balkom?«
Verwirrt watschelte der Riese rückwärts, schlug sich mit der Hand vor den Kopf und schluchzte.
»Blu«, sagte sie freundlich, aber mit Nachdruck. »Ich kann dir helfen. Wenn du mich nur losmachst, kann ich dich freilassen. Du brauchst nicht mehr im Dunkeln zu arbeiten, und du kannst deine Familie wiedersehen.« Sie streckte ihm die Handgelenke entgegen. »Tu’s einfach, Blu.« Mit klopfendem Herzen sah sie zu dem rechten Eingang. »Schnell!«
Blu war furchtbar aufgeregt. Er stieß mit dem Kopf gegen die Höhlendecke und wimmerte vor sich hin. Dann griff er nach Selanas Hals, als wollte er ihn wie bei einem Hühnchen brechen. Ihr stockte der Atem, und sie sagte sich, daß der Tod aus den gewaltigen Händen des Riesen ein weit besseres Schicksal sein würde, als das, was der Magier mit ihr vorhatte. In letzter Sekunde wich der unentschlossene Blu jedoch verwirrt schluchzend zurück und trat mit seinen riesigen, dicken Zehen mitten ins Feuer. Sein erschrecktes Aufheulen hallte durch die Höhle.
Da gefror ihm auf einmal sein langes Gesicht, und er legte den Kopf schief, um auf etwas zu lauschen. Seine Augen füllten sich mit Angst. »Sie kommen!« schrie er. Auf den Knien fuhr er herum und flüchtete mit rauchenden Füßen in den Tunnel, aus dem er gekommen war.
Weil sie nicht wußte, was sie zu erwarten hatte, schaute Selana nach rechts zum Eingang. Sekunden nach Blus Flucht hörte sie ein stampfendes Geräusch, woraufhin zwei Minotauren den Raum betraten. Von den Hörnern bis zu den Zehen waren sie weiß und mit einem Netz pulsierender, roter Adern überzogen.
Die Untiere näherten sich ihr wie mechanisch, ohne nach rechts oder links zu sehen. Ihr wurde klar, daß es überhaupt keine Tiere waren, sondern magische Steingebilde, Golems. Mit ausgestreckten Armen und unbewegten Steinaugen marschierten sie direkt auf sie zu. Als der erste herankam, nahm Selana allen Mut und alle Kraft zusammen, setzte ihm den rechten Fuß auf den Bauch und trat mit aller Gewalt. Der Golem reagierte überhaupt nicht, sondern packte Selana und hielt ihre Arme fest. Das andere Gebilde nahm die Ketten in die Fäuste und riß sie so leicht auseinander, wie Selana einen Faden durchgerissen hätte.
Der Automat, der Selana hielt, warf sie sich mit dem Gesicht nach unten über die Schulter und schlang einen Arm fest um ihre Beine.
»Was macht ihr?« schrie sie. »Wohin bringt ihr mich? Laßt mich los!« Sie trat und trommelte wütend auf seinen Rücken ein, aber dabei tat sie sich nur selbst weh. Der Minotaurus trug sie durch den Tunnel zu einer annähernd kreisförmigen Kammer. Ungläubig sah Selana zu, wie die Wesen sich umdrehten und geradewegs auf ein ebenes Stück Wand zuhielten. Gerade als sie dachte, sie würden mit dem Fels zusammenstoßen, gingen sie mitten durch. Sie befanden sich in einem weiteren Tunnel.
Während sie den Gang hinunterliefen, bemerkte Selana ein schwaches Licht, das langsam stärker wurde, bis sie und ihre Begleiter den Eingang zu einem weiteren Raum erreicht hatten. Der war jetzt nicht mehr mit Blus verkommener, unfertiger Höhle zu vergleichen. Die Wände des eiförmigen Raums waren aus poliertem, rosa Granit. Säulen, offenbar natürliche Bestandteile dieser Höhle, wanden sich rund, spiralförmig vom Boden bis zur Decke. An jeder steckte eine brennende Fackel in einem Fackelhalter. In der Mitte war die Decke am höchsten und fiel an allen Seiten geschwungen ab. Ganz hinten im Raum war ein schön gearbeitetes Tischpodest aus dem Granit des Bergs gemeißelt.
Der Golem trug sie in die Mitte des Raums, wo er sie auf dem Boden abstellte.
»Hallo, meine kleine Zaubermaus.«
Die schleppende, tiefe Baritonstimme triefte von Verachtung. Selana schloß einen Augenblick niedergeschlagen die Augen, bevor sie nach rechts sah, wo die Stimme hergekommen war.
Der Magier trat hinter einer Säule hervor. Jetzt trug er eine schwarze Robe anstelle der roten, und auf seinem Kopf fehlte die Kappe mit dem Widderschädel. Eine schwarze, seidene Augenklappe bedeckte seine gräßlich vernarbte Augenhöhle.
»Willkommen in meinem – hmm«, hielt er inne und suchte nach dem rechten Wort.
»Schlupfwinkel?« spie sie aus, während sie darum kämpfte, das Zittern in ihrer Stimme zu beherrschen. »Ich sehe, Ihr habt Euch entschieden, die roten Roben nicht mehr zu verspotten. Wenigstens tragt Ihr jetzt eine Farbe, die besser zu Eurem verschlagenen Wesen paßt.«
Er lachte gackernd und ging auf sie zu. Die Absätze seiner Stiefel klackten auf dem kalten, glatten Steinboden und hallten in dem starren Raum nach. »Ich würde meinen, eine Frau in bedrängter Lage könnte etwas mehr Ergebenheit zeigen«, sagte er unbeeindruckt. Er langte mit der daumenlosen Hand nach vorn und fuhr über ihre zerrissenen Kleider. Seine Finger verharrten an der Stelle ihres blassen Halses, wo ihr Puls klopfte. Voller Abscheu fuhr die Meerelfenprinzessin zurück. Balkom lächelte nur.
»Mit etwas Wasser und Seife und einem anständigen Kleid wärst du direkt vorzeigbar«, sagte er, während er ihre schlanke Gestalt in der zerfetzten Kleidung betrachtete. »Genau besehen sind diese Lumpen auf primitive Art und Weise beinahe verführerisch.«
Selana schrak zurück, konnte aber weder seinem Blick noch seinen tastenden Händen entkommen.
»Du hast mir noch nicht dafür gedankt, daß ich deine Wunde geheilt habe«, sagte der Zauberer, während seine Fingerspitzen die frische, rosa Narbe an der Innenseite ihres linken Oberarms nachzufahren versuchten. Sie wich zur Seite, aber die Bewegung war schwerfällig und schmerzhaft, weil an ihren Handgelenken immer noch die Enden der schweren Ketten hingen. Balkom lachte wieder, was Selana vor stiller Wut zittern ließ.
Er lief vor ihr hin und her. Den rasierten Kopf hatte er gedankenverloren gesenkt, die Hände steckten in den glockenförmigen Ärmeln seiner schwarzen Robe. »Es erstaunt mich doch, daß ich noch immer nichts über deinen Begleiter weiß, die andere Maus, oder besser: den kleinen Kender.« Er sah sie durchdringend an. »Oder deinen Namen… Prinzessin.« Zu seiner großen Befriedigung zuckte sie zusammen.
Er verzog die roten vollen Lippen zu einem Lächeln. »Eine schlaue Vermutung meinerseits. Ich freue mich doch, daß sie wahr ist. Der Spruch, mit dem ich dein Armband untersucht habe, hat mir viel verraten, auch über dich. Am interessantesten war seine elfische Herkunft, auch wenn ich damals das Königreich noch nicht feststellen konnte. Das wurde natürlich klarer, sobald ich dich ohne Schal und Mantel gesehen hatte.«
Balkom stand genau außerhalb ihrer Reichweite und schob jetzt den Ärmel seiner rechten Hand hoch, um das Kupferarmband vorzuzeigen. Er neigte es zu den niedrigen Fackeln hin. »Hübsch, wie die Bernsteine das Licht des Feuers einfangen, nicht wahr? Für mich ist das eigentlich nur Tand, aber es wird mir Spaß machen, so ein schönes Stück zu besitzen – hat doch wohl der grauhaarige Zwerg gemacht? Wie schade, daß ein so geschickter Künstler nicht mehr arbeiten wird.« Balkom schüttelte mit spöttischem Bedauern seinen kahlen Kopf.
Mit der Wut der Besiegten versuchte Selana, das Armband zu erwischen, aber ihr Arm war viel zu kurz. Während sie das für Semurel gemachte Armband zum ersten Mal aus der Nähe sah, bildete sich in Selanas Hals ein dicker Kloß. Sie war enttäuscht. Balkoms Gestalt verschwamm vor ihren Augen, als sie vergeblich gegen die Tränen ankämpfte.
Du hattest recht, Sem, sagte sie sich. Ich bin für so etwas nicht geschaffen. Ich bin nicht stark genug. Zumindest was das angeht, konntest du doch die Zukunft vorhersehen…
»Komm schon, Prinzessin«, Balkoms ungeliebte Stimme drängte sich in ihre Gedanken. »Haben dich die Widrigkeiten der letzten Zeit etwa weich und weinerlich gemacht? Ich habe deinen Kampfgeist so bewundert. Die Sprüche zum Beispiel, mit denen du unter Burg Tantallon gekämpft hast, waren zwar in ihrer Macht begrenzt, aber genial ausgesucht. Ich bin schon sehr lange keinem mehr begegnet, der eine Herausforderung dargestellt hat.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Irgendwie schade, daß du nie mehr zaubern wirst. Wenn ich dich nicht so dringend und unwiderruflich für etwas anderes brauchte, könnte ich dich in meiner neuen Stellung als Lehrmädchen annehmen.« Wieder wartete Balkom auf ihre Reaktion, doch Selana zeigte nur Verwirrung.
Balkom ärgerte sich. Er warf sich in die Brust und verkündete mit hochmütiger Stimme: »Wie du mit deinen Mäuseohren mitbekommen hast, werde ich heute nacht Ladonnas Platz in der Versammlung der Zauberer einnehmen.«
Die Meerelfin lachte.
Balkom schlug zu.
Selana taumelte gegen eine Säule und glitt auf den Boden, wo sie sich mit dem Handrücken ein dünnes Rinnsal Blut von den Lippen wischte. Obwohl sie zunächst überrumpelt war, fühlte sich die Meerelfenprinzessin jetzt stärker. Sie hatte einen Riß in Balkoms Rüstung entdeckt.
»Ach, das«, sagte sie leichthin. »Wenn ich mich recht erinnere, schien mir doch, daß Hiddukel Euch nichts zugesagt hat, außer daß er sich den Vorschlag überlegen will.« Sie lächelte herablassend. »Seht es doch ein, Balkom. Es wird nie soweit kommen. Hiddukel sprengt doch nicht die ganze Versammlung für eine armselige Knappenseele, egal wie rein die ist.«
Balkoms abstoßendes Gesicht wurde finster vor Wut, und er sah so aus, als wollte er Selana noch einmal schlagen. Dicht vor ihrer Wange hielt er inne und verzog das Gesicht plötzlich zu einem unheimlichen Grinsen. »Vielleicht nicht, Prinzessin. Darum bekommt er auch noch eine weitere, noch wertvollere Seele.«
Fast zärtlich nahm Balkom mit dem Finger einen Tropfen Blut von ihrem Mundwinkel ab. Während er mit offensichtlichem Vergnügen Selanas entsetzten Gesichtsausdruck betrachtete, leckte er sich den Finger ab und genoß den Geschmack. »Blut ist äußerst delikat, nicht wahr? Ich glaube, das Salzige daran gefällt mir am besten. Aber ich verschwende meine Zeit.«
Mit einem regelrecht gelangweilten Seufzer nahm er ihren schlanken Arm mit eisenhartem Griff und zog die stolpernde, schluchzende Elfin zum Tisch. Sie trat nach ihm, doch er wehrte den halbherzigen Angriff leicht ab. »Versuch doch, etwas königliche Würde zu wahren, Prinzessin«, spottete er.
»Wenn wir schon dabei sind, wir können dich natürlich nicht wie ein Straßenmädchen vor Hiddukel, den Seelenhändler, treten lassen.« Balkom murmelte ein Wort, und schon waren Selanas zerrissene Kleider durch ein elegantes Gewand aus Gaze in derselben ungewöhnlichen blaugrünen Farbe wie ihre Augen ersetzt. Ihre auf magische Weise gewaschenen und gekämmten Locken umspielten ihr blasses Gesicht. Sie zitterte in der feuchten Luft.
Balkom betrachtete ihr neues Erscheinungsbild und lächelte, wobei er traurig mit der Zunge schnalzte. »Wie schade. Du warst eine bezaubernde Prinzessin.«
Die verängstigte Meerelfin schloß die Augen, damit ihr vielleicht ein letzter Zauber – egal welcher – einfiele, der ihr bei der Flucht helfen könnte, aber ihre Zauberkräfte waren erschöpft.
Balkom griff in die Tiefen seiner schwarzen Robe und zog einen großen Rubin hervor. Als sie in dessen Facetten blickte, kam es Selana fast so vor, als könnte sie das schöne Gesicht des jungen Knappen, Rostrevor, erkennen.
Der Zauberer legte den großen Edelstein auf den Tisch. Dann sah er zu einem Loch in der Decke hoch, das etwa sechs Fuß Umfang hatte und durch das gedämpftes Mondlicht auf eine ovale Vertiefung in der Größe des Edelsteins fiel, die in den Granit eingelassen war. »Du kannst Nuitari nicht sehen, Prinzessin, aber schon bald wird er genau über uns in Konjunktion mit Lunitari treten. Wenn das geschieht, wirst du in diesen prächtigen Rubin eingeschlossen werden, genau wie Rostrevor in seinem steckt. Ich kann mir vorstellen, daß es ein angenehmes Gefängnis ist – alles schimmert in zahllosen Rotschattierungen. Viel angenehmer jedenfalls als das, was dich in Hiddukels zärtlicher Umarmung erwartet.«
Er schob erneut die Hand in seine Robe, hielt dann inne und betrachtete das Handgelenk mit dem Armband. Die Haut unter dem Kupferband wurde plötzlich unangenehm warm. Er rieb sich das Handgelenk, aber die Haut fühlte sich bei der Berührung nicht heiß an. Dennoch war das Hitzegefühl unbestreitbar da.
Balkom wollte das Armband gerade abziehen, als ihn etwas leicht am Hinterkopf traf. Er taumelte kurz und fuhr dann zu dem Angreifer herum. Anstatt jemanden hinter sich zu sehen, sah er mehrere Leute, darunter den Kender, den Zwerg und den Halbelfen, durch die Tür zu seinem Zaubererlabor eintreten. Als sie auf ihn zustürmten, sprangen drei weitere Personen durch die Öffnung über dem Altar und griffen ihn von hinten an.
Mit pochenden Schläfen hatte Balkom fast einen Verteidigungszauber gesprochen, als ihm klar wurde, daß keine Angreifer da waren. Er blinzelte einige Male. Bis auf ihn selbst, Selana und seine Golems war der Raum leer. Die anderen waren Hirngespinste gewesen, nur… Vision.
Fast augenblicklich erkannte er: Das Armband hatte ihm tatsächlich einen Blick in die Zukunft gestattet.
Selana hatte sein Gesicht nicht aus den Augen gelassen! »Was ist los? Was habt Ihr gesehen?«
Schnell warf er ein einfaches Festhalten über die Meerelfin.
»Danke für das Armband, Prinzessin«, sagte er. »Es hat mich gerade auf etwas aufmerksam gemacht, gegen das ich leicht Vorkehrungen treffen kann. Auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie deine Freunde aus Tantallon entkommen sind, haben sie sich anscheinend zu einer Rettungsaktion entschlossen.«
Er nahm das Armband ab, damit es ihn nicht beim Zaubern störte, und legte es auf den Altar.
»Ich muß ein paar ungebetene Gäste willkommen heißen.«