TEIL II

7 Der Wilde Eber

Der beleibte Mann, der vor etwa fünfunddreißig Jahren unter dem Namen Waldo Didelbaum geboren worden war, war stolz auf seine Fähigkeit, Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen. Man denke nur an seinen neusten Beruf, den er erst seit zwölf Stunden ausübte – Wahrsager. Eigentlich hatte der viel mit seinem letzten Beruf als Barde zu tun, den er zwei Wochen lang ausgeübt hatte.

In beiden Berufen lag die Möglichkeit für hohes Ansehen und einen entsprechenden Lebensstil. Manchmal sicherten sie einem einen reichen Auftraggeber oder eine Stellung am Hof. Zumindest aber konnte man damit in den Straßen und Wirtshäusern bei den einfachen Leuten reichlich Geld verdienen. Ein bequemes Leben war alles, was Waldo sich wünschte. War das schließlich nicht sein gutes Recht?

Der habsüchtige ehemalige Taschendieb-Gaukler-Ziegelmacher-Seemann-Erpresser war vor kurzem ins Bardengeschäft eingestiegen, nachdem er in Burg Thelgaard im Norden gesehen hatte, wie ein fein gekleideter Barde zu rauschendem Beifall und für viel Geld eine Vorstellung gegeben hatte. Waldo hatte dort gerade erst eine Stellung als dritter Haushofmeister angetreten (und fand sich bei aller Bescheidenheit unterschätzt). Er sah diese Stellung als kurzfristigen Rückschritt. Angetreten hatte er sie, weil seine Karriere als Erpresser mit wenig Erfolg zu Ende gegangen war – er hatte versucht, den Bürgermeister von Clonnisburg wegen einer romantischen Affäre zu erpressen, und hatte dabei herausgefunden, daß der Mann auch der Anführer des skrupellosesten Schmugglerrings von Solamnia war. Weil er noch etwas länger leben wollte, hatte Waldo alles stehen- und liegengelassen und war nach Thelgaard geflohen.

Er hatte immer mit Neid die Ehrerbietung beobachtet, die Adligen gewährt wurde. Wenn er sich kleidete und redete wie ein Edelmann, würde er wohl den Respekt bekommen, den er begehrte, doch leider füllt Respekt einem Mann nicht den leeren Magen. Berufliches Ansehen jedoch, das mit hohen Einkünften einherging, würde Waldo seiner Meinung nach alles bieten, was er sich vom Leben erhoffte.

Auffällige Kleider, ein hochgestochener Name und ein, zwei Geschichten waren gewiß die einzigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Laufbahn als Bänkelsänger. Noch in derselben Nacht wurde Sir Delbridge Fidington geboren, und der Name, den er als Bediensteter getragen hatte, Hektor Schmidsen, war für immer vergessen.

Mit Hilfe gewisser Fähigkeiten aus einem seiner früheren Berufe erleichterte Waldo seinen Arbeitgeber um ein paar feine Kleider, einschließlich der grünen Jacke und der Hosen, die er gerade trug. Er hatte auch eine Reihe kostbarer Dinge aus dem Herrenhaus mitgehen lassen, weil er wußte, daß der Erlös aus dem Verkauf es ihm gestatten würde, gut zu leben, bis er sich als Barde etabliert hatte.

Leider dauerte das länger, als er erwartet oder geplant hatte. Er wiederholte die Geschichten, die er bei dem Barden in Burg Thelgaard gehört hatte, wenn er sie vortrug, kamen sie einfach nicht so gut an. Die Schuld dafür lag natürlich bei seinem Publikum. Die Bauern und der sonstige Pöbel, den er unterhalten sollte, waren sicher nicht gebildet genug, um diese Geschichten zu verstehen, die die Adligen in Burg Thelgaard belustigt hatten. Trotzdem vertraute er darauf, daß der Erfolg sich schon einstellen würde, sobald es ihm gelang, die richtige Geschichte vor dem richtigen Publikum zu bringen.

In den letzten Tagen hatte Waldo allerdings langsam geargwöhnt, daß das Leben eines Barden doch nicht so einfach war, wie es aussah. Vielleicht brauchte man wirklich eine Begabung; und vielleicht fehlte ihm die. Oder vielleicht stank er ja. Nicht einmal in einem Bierzelt in einem Kaff wie Solace bekam er Applaus.

Und dann hatte er wie ein Geschenk des Himmels diesen Kesselflicker mit dem magischen Armband und der lockeren Zunge getroffen.

Nachdem er den Kesselflicker letzte Nacht niedergeschlagen hatte, hatte Waldo Solace eilends verlassen, war im Mondlicht die fünf Meilen nach Osten Richtung Que-kiri gewandert, wo er am Nordrand des Dorfes am Weg gelagert hatte. Dann war er früh aufgestanden, um den nächsten Hafen am Neumeer anzusteuern, damit er eine möglichst große Strecke zwischen sich und den übertölpelten Kesselflicker legen konnte. Aber der erste Bauer, der ihn mitnahm, fuhr nicht zum Meer. Statt dessen war er auf dem Weg in sein Heimatdorf, einen abgelegenen Ort namens Tantallon, der hoch im Ostwall-Gebirge lag und – wenig überraschend – auch das Ende der Straße darstellte.

Weil Waldo Segelschiffe nicht besonders liebte – sie machten ihm nämlich angst –, fand er, daß ein abgelegenes Dorf sich ebensogut wie jeder andere Ort für einen Wahrsager eignete, der ein bequemes Leben und Anonymität wollte, zumindest vorerst. Außerdem lautete sein Grundsatz »Schlag nie etwas aus, was du umsonst bekommst«, und Mitfahren gehörte dazu.

Auf der Vorderbank des Wagens war nur Platz für einen, darum saß Waldo hinten zwischen Jutesäcken voller Kohlrüben. Trotz des unbequemen Lagers umklammerte er das glückbringende Kupferarmband und dachte zufrieden: »Ich glaube, mein Glück wird sich wenden.« Er schob das Armband zur Sicherheit in seinen Packsack. Während er sich zwischen die Rüben zurücklehnte, dankte er im stillen dem unglücklichen Kesselflicker für sein neues Glück.

Eine holprige Stunde später ratterte der Karren in ein kleines Dorf.

»Rabental«, rief der Bauer, als der Wagen vor dem Gemüseladen am Dorfplatz hielt.

Delbridge sprang ab, um seine kurzen Beine auszustrecken. Während er sich den Straßenstaub von seiner grünen Jacke abwischte, fragte er: »Wie weit ist es noch bis nach Tantallon?«

Der Bauer kniff die Augen zusammen, während er sich einen Rübensack auf die Schultern lud. »Weiß nicht genau. Acht – nein, wahrscheinlich zehn Meilen nach Norden. Von hier an wird der Weg etwas beschwerlich, und man kommt langsamer voran.« Damit betrat der Bauer das Geschäft, um mit dem Gemüsehändler einen Preis für seine Ware auszuhandeln.

Beim Anblick der frischen Lebensmittel knurrte Delbridge der Magen, und er schmatzte mit seinen dicken Lippen. Weil ihm sein Lieblingsmotto in den Sinn kam – »Kaufe nie, was du stehlen kannst« –, sah er sich schnell um und schnappte sich eine Ecke gelben Käse von einem Verkaufskarren vor dem Geschäft. Nachdem er sich den aromatisch riechenden Käse genußvoll unter seiner Knollennase entlanggezogen hatte, steckte er ihn in sein weniges Gepäck, um ihn unterwegs zu verzehren. Dazu nahm er noch zwei glänzende, rote Gutlandäpfel und schlang beide mit je drei hungrigen Bissen herunter.

Nicht lange darauf kam der Bauer aus dem Laden und kletterte wieder auf den Bock. Delbridge ließ sich auf dem etwas kleineren, aber immer noch harten Haufen Rübensäcke nieder, um über seine nähere Zukunft nachzudenken, während sie nordwärts aus dem Ort rumpelten. Argwöhnisch blickte Delbridge das an, was der Bauer optimistisch eine Straße genannt hatte; man hätte sie leicht mit einem Ziegenpfad verwechseln können.

Als erstes würde Delbridge sich in Tantallon neu einkleiden. Wahrsager trugen bunte, fließende Roben und diese komischen, kleinen Hüte, die eigentlich nur um den Kopf gewickelte Tücher waren.

Wahrsager hatten auch ungewöhnlich klangvolle Namen wie Omardicar oder Hosni. Er entschied sich für Omardicar. Omardicar, der Allwissende.

Die Bäume saßen voller Knospen. Kleine, grüne Blätter sprossen aus den Ästen, die vom Winter noch kahl und grau waren. Die Vorberge zum Ostwall-Gebirge waren überwiegend mit weiß-rosa Holzapfelbäumen und Pflaumenbäumen, die schon in voller Blüte standen, bepflanzt. Ihre flauschig wirkenden Äste kratzten an den Seiten des Holzkarrens, der über den schmalen Pfad rumpelte, und duftende Blütenblätter in vielen Farben rieselten auf Delbridge und die Rübensäcke herunter.

Für ländliche Idylle war Delbridge nicht zu haben. Eingelullt von der warmen Frühlingssonne auf seinem Gesicht und dem Schwanken und Holpern des Wagens auf dem unebenen Weg, lehnte sich der zum Wahrsager gewordene Barde in die schmutzigen Säcke zurück und schlief ein.

Einige Zeit später wurde er unsanft geweckt, als die harten Räder gegen einen besonders großen Stein auf der Straße stießen, wodurch der Karren noch mehr als sonst holperte. Delbridge fuhr herum, um nach vorne zu starren, konnte aber nur den Hinterkopf des Bauern sehen. Mit Mühe kniete er sich zwischen den Säcken hin.

Sie hatten die Vorberge hinter sich gelassen und waren mitten im Gebirge. Unter ihnen schmiegte sich ein Ort ungefähr von der Größe von Solace in einem kleinen Tal schon in die Schatten der umliegenden Berge. Obwohl es noch nicht dunkel war, blinkten schon Laternen durch die Bäume, und der Wind trug den Geruch von Rauch von den Herdfeuern heran. Ein schneller, kalter Fluß kam von Westen herunter, wo die höchsten Berge dieser Kette lagen.

Und dort erhob sich majestätisch auf einem Felsen hinter dem Fluß ein imposantes Schloß, dessen hohe Mauern, Türme und Verteidigungsanlagen im schwindenden Licht tiefrot leuchteten.

»Was ist denn das?« rief Delbridge dem Bauern zu, der die Pferde auf dem Weg in Serpentinen ins Tal hinunter lenkte.

»Burg Tantallon.«

Delbridge war wie gebannt. »Wer wohnt dort?«

»Es heißt«, sagte der Bauer, der Lust zum Schwatzen bekam, »daß sie einem Ritter von Solamnia gehört, dessen Familie – wenn man den Geschichten glauben darf, die so erzählt werden – Solamnia im Norden kurz nach der Umwälzung verlassen hat, als die Ritterverfolgung losging.

Unsere Provinz, Abanasinia, war damals, wie du vielleicht noch aus dem Geschichtsunterricht weißt, ebenfalls im Aufruhr. Als dann der Vorfahre des heutigen Ritters und seine Begleiter hier ankamen, brachten sie ein bißchen Recht und Gesetz mit. Die Überlebenden der Umwälzung, die sie vorfanden, waren gut organisiert, so daß die Familie und alle, die ihr dienten, gut zurechtkamen. Selbst in harten Zeiten konnte das Familienvermögen zusammengehalten werden.«

Der Bauer strahlte vor Stolz auf die Geschichte seiner Heimat. »Die Curstons leben seitdem ohne Zwischenfälle in dem Kastell über der Stadt, das der erste Lord Curston vor über dreihundert Jahren erbauen ließ.«

Als sie jetzt in die Stadt einfuhren, war Delbridge überrascht, wie ein dermaßen abgelegener Flecken so wohlhabend sein konnte. Die Straßen waren kunstvoll gepflastert, und kein Stück Unrat lag herum. Die Häuser waren weiß gekalkt, die Steine fest gemauert und die Strohdächer dick und in gutem Zustand. Nur die wenigsten Geschäfte und Häuser hatten Ölpapier vor den Fenstern – teures – farbiges oder farbloses – Glas war die Regel. Es sah aus wie im Märchen. So viel Wohlstand konnte nur ein gutes Omen sein, fand Delbridge.

Unvermittelt kam der Wagen am Südrand der Stadt vor einem einladend wirkenden Gasthaus zum Halten, dessen Schild es als den »Wilden Eber« auswies: Ein großer, schnaubender Eber durchbrach ein Gatter, während ein Mann friedlich auf seinem Rücken schlummerte. Frisch bepflanzte Blumenkästen schmückten die beiden Fenster, deren Innenseiten von gerafften, weißen Vorhängen eingerahmt wurden.

»Endstation«, rief der Bauer.

Delbridge bedankte sich und sprang vom Wagen, um einen Blick auf das Gasthaus zu werfen. An diesem Ort konnte man sicher herausfinden, was in Tantallon so los war, und Delbridge brauchte zudem etwas zu essen und einen Schlafplatz. Aber während die Leute Informationen oft bereitwillig preisgaben, kosteten Essen und Unterkunft Geld.

Es war auch ein guter Ort, um das Armband auszuprobieren, fand er, was er auf jeden Fall tun mußte, bevor er Geld in eine neue Ausstattung investierte. Er griff in seinen abgenutzten Beutel und zog das Armband heraus. Dann preßte er seine Hand zusammen und quetschte sich das dünne Kupferband mit viel Kraft über die Finger aufs Handgelenk. »Für wen war denn das bestimmt, für einen Feenkobold?« knurrte er, da es in sein weiches Fleisch einschnitt. Er brauchte sich keine Sorgen machen, daß er es verlieren könnte, denn er bezweifelte, es je wieder von seinem Handgelenk abziehen zu können.

Als er die Tür aufmachte, blieb er stehen, um ein offenbar noch nicht sehr altes Stück Pergament anzusehen, das an die Tür genagelt war. Es war eine öffentliche Bekanntmachung. Delbridge trat näher, um sie im nachlassenden Licht zu lesen.

Audienztag

Am dritten Yurthgrün 344 wird seine Lordschaft, Sir Curston, die Anliegen, Bitten und Gesuche seiner treuen Untertanen anhören und beurteilen. Jeder, der eine Audienz bei Seiner Lordschaft wünscht, soll in den Stunden zwischen Sonnenaufgang und dem Beginn der Nachtwache vorsprechen.

»Geh mal aus der Tür raus, du rücksichtsloser Kerl. Kommst du nun oder gehst du?«

Delbridge trat erschrocken zurück. Er sah sich einem ärgerlichen Mann mit Hakennase gegenüber, der eine schneeweiße Schürze trug; offenbar der Wirt.

»Wie? Das heißt… Verzeihung, aber ich habe nur das Ding da an der Tür gelesen«, stammelte Delbridge.

Der Wirt runzelte die Stirn. »Gut, dann mach sie jetzt zu. Ich heize nicht für draußen.«

Delbridge riß sich zusammen. »Bitte um Vergebung, edler Herr.« Er richtete sich auf und strich die ausgebeulte Vorderseite seiner Samtjacke glatt, doch der Mann war bereits an seine Arbeit zurückgekehrt.

Delbridge watschelte hinein, bevor die Tür ganz zuging. Der Raum war warm und gemütlich. Rauch hing in der Luft. Acht Gäste saßen an verschiedenen Tischen. Die meisten schienen Arbeiter oder Handwerker zu sein, aber zwei waren offenbar Soldaten. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Alle acht unterbrachen ihre Gespräche und betrachteten den Neuankömmling.

Der Wirt war gerade erst hinter seinen Tresen zurückgekehrt, als er aufblickte und den Mann, den er gerade im Eingang getroffen hatte, auch schon vor sich stehen sah. Er sah zur Tür zurück, um dann Delbridge zu mustern. »Was willst du, Fremder?«

»Ganz bestimmt nichts«, erwiderte Delbridge, wobei er Überraschung heuchelte. »Ich wollte nur ein kleines Geschäft mit Euch besprechen.«

»Bei mir gibt es keine Zimmer umsonst.« Nachdem die Sache damit erledigt war, kehrte der Wirt an seine Arbeit hinter dem Tresen zurück.

Delbridge legte die Hand an die Brust. »Um Himmelswillen, ich habe noch nie etwas umsonst verlangt! Habe ich denn ›umsonst‹ gesagt? Ich glaube kaum. Nein, was ich vorschlage, ist ein ganz normales Geschäft. Ich bekomme etwas, und Ihr bekommt etwas. Wie Ihr so klug erraten habt, möchte ich nur ein Abendessen und ein Zimmer für die Nacht. Aber Ihr… bekommt meine Dienste für heute abend.«

Der Wirt rümpfte die Nase. »Und was kannst du? Warte, laß mich raten. Singen? Tanzen? Geschichten erzählen? Und dafür soll ich jemanden füttern und unterbringen, der frißt wie ein Schwein und schnarcht wie eine Belagerungsmaschine.«

Er putzte sich mit dem Saum seiner weißen Schürze die Nase. »Tut mir leid, Fremder, wir brauchen keine Unterhaltung. Warum versuchst du’s nicht im Wirtshaus ›Zur Stolpernden Gans‹ weiter unten an der Straße?«

Einige der anderen Gäste lachten bei den Grobheiten des Wirts laut los, doch Delbridge machte sich nichts daraus. Anstatt einzuschnappen, plusterte er sich so groß wie möglich auf.

»Ich bin kein gewöhnlicher Künstler. Ich bin ein Orakel. Ich sehe die Zukunft vorher und sage sie voraus.«

Allgemeines Gekicher und Gepruste ging durch den Raum. Der Wirt beugte sich dicht herüber und sagte: »Ich kann dir auch die Zukunft vorhersagen, Fremder. Ich sage, wenn du deinen dreisten, fetten Hintern nicht gleich hier rausschaffst, dann wirst du rausgeworfen.« Das Gelächter schwoll an, und Delbridge bemerkte erstmals, daß es einen wirklich unangenehmen Beiklang hatte.

Armband hin, Armband her, Delbridge wußte, daß es jetzt Zeit war, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. In der Vergangenheit hatte diese Art Druck, wenn es ums Ganze ging, immer ausgezeichnet seine Sinne geschärft. Er schloß die Augen, legte eine Hand an die Stirn und hielt sich mit der anderen am Tresen fest. Sein Verstand richtete sich auf die Zukunft aus und suchte nach irgendeiner vagen Voraussage, die er machen und kurz darauf beweisen konnte.

Er hatte Glück, daß er eine Hand am Tresen hatte, denn sonst wäre er umgekippt, als die Bilderflut über ihn hereinbrach. So jedoch taumelte er nur zur Seite und konnte einen Sturz gerade noch verhindern, indem er sich automatisch am Tresen festklammerte.

Im Geiste sah Delbridge einen der anderen Gäste, einen schon etwas kahlen, mittelalten Herrn mit gichtigen Händen, der einen Riesenbissen gebackene Forelle in den Mund schob. Augenblicklich begann er zu husten und nach Luft zu schnappen. Seine Augen quollen hervor, die Hände fuhren zur Kehle, und seine Zunge schwoll gräßlich an, bis er Augenblicke später von der Bank auf den Boden fiel. Dort trat er um sich und wälzte sich noch ein paar Mal herum, bevor er reglos liegenblieb.

Taumeln war nicht das, was Delbridges Spötter erwartet hatten. Jetzt beobachteten sie ihn mit echter Neugier und fragten sich, was dieser offenbare Hochstapler von einem Künstler als nächstes probieren würde. Als er wieder fest stand und sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte, sah er, wie sie ihn halb belustigt, halb befremdet anstarrten.

Wenn das auf das Armband zurückzuführen war, dachte Delbridge, dann neigte der Kesselflicker, von dem er es gestohlen hatte, zu grober Untertreibung. Aber, erinnerte er sich mit Stolz, jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, eine Gelegenheit zu ergreifen, wo immer sie sich bot. Zögern war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte.

Mit aller ihm möglichen Würde ging Delbridge zwei kühne Schritte vom Tresen weg, um dann den Arm zu erheben und auf die Gäste zu zeigen. »Ich habe gesehen, was geschehen wird. Der Tod lauert in diesem Raum und ist bereits hinter einem von euch her. Ich könnte euch sagen, wer es ist – oder ich kann meinen Mund halten und den Mann sterben lassen, weil mir sowieso keiner glaubt.« Er ließ den Arm wieder herabsinken und sah sie traurig an. »Ihr tut mir leid.«

Mehrere Zuschauer erblaßten, was Delbridge enorm befriedigte. Der Mann, der in der Vision aufgetaucht war, winkte mit dem Arm, als wolle er Delbridge verjagen und sich wieder seinem Essen widmen. Mit einer Mischung aus Frohlocken und Entsetzen sah Delbridge, daß er tatsächlich einen Teller mit gebackener Forelle vor sich hatte!

Einer der Soldaten meldete sich: »Na los, Orakel, sag uns wenigstens, wer es ist. Ich wüßte gerne, wer von uns über die Klinge springen wird, damit ich ihm vorher noch einen ausgeben kann.«

Auch ohne diese spaßige Einladung hätte Delbridge gehandelt. Als der Mann aus der Vision die Gabel mit Fisch zum Mund führte, sprang Delbridge hin und hielt ihn am Handgelenk fest. Der Gast fuhr zornig auf und versuchte, seinen Arm zu befreien. Delbridge stieß den Teller des Mannes weg und warf dann die Gabel samt Fisch auf den Tisch. Anschließend bat er den Nachbarn auf der Bank, während er innerlich inständig betete, daß das der tödliche Bissen war: »Bitte, untersuch das gründlich und sag uns, was du findest.«

Der Mann sah seine Begleiter um Unterstützung heischend an und nahm dann achselzuckend die hingeworfene Gabel, mit der er in dem Fischbrocken auf dem Tisch herumstocherte. Schon einen Moment später hatte er etwas gefunden. Mit den Fingern zog er einen Knochensplitter von der Länge seines Fingernagels heraus, der zu einer Spitze geformt und geschärft worden war. Es war das abgebrochene Stück eines selbstgemachten Angelhakens. Mit erstauntem Blick hielt ihn der Mann in der Handfläche hoch, so daß ihn jeder sehen konnte.

Der Mann, in dessen Mahlzeit der Knochenhaken gesteckt hatte, schluckte hörbar. »Ich glaube, wir brauchen kein Orakel, um zu wissen, was geschehen wäre, wenn ich das geschluckt hätte.« Die übrigen Anwesenden schwiegen. Delbridge gab sich Mühe, angemessen selbstbewußt auszusehen.

Der Mann, dem er das Leben gerettet hatte, wandte sich an den Wirt. »Shanus, ich weiß nicht, ob du diesem Mann ein Zimmer gibst, aber ich lade ihn zum Essen ein. Was willst du haben, mein Freund?«

Delbridge zögerte nicht. »Egal, bloß keinen Fisch«, erwiderte er, worauf im Raum herzlich gelacht wurde.

Als er sich nach dem Essen in seinem kostenlosen Zimmer ausruhte, fand Delbridge endlich Zeit zum Nachdenken. Er war kein besonders weiser Mann, aber er war auch nicht dumm. Daß hier Magie im Spiel war, war eindeutig, und genauso sicher wußte er, daß es der Einfluß des Armbands gewesen war. Das war wirklich das Tollste, was er je in die Finger bekommen hatte.

Er hatte keine Vorstellungen von den Fähigkeiten oder Grenzen des Armbands, aber die Möglichkeiten, es gewinnbringend zu nutzen, waren enorm. Wenn er erst einmal wußte, wie er das Ding beherrschen konnte, würde er leicht eine Vorstellung auf die Beine stellen können.

Beherrschung war allerdings ein Problem. Delbridge wußte praktisch gar nichts über Magie. Er wußte, daß ein angesehener Zauberer eine hohe Gebühr für die Untersuchung des Armbands fordern würde, und es kam gar nicht in Frage, es zu einem Zauberer von zweifelhaftem Ruf zu bringen. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als selbst herumzuexperimentieren und seine Eigenschaften durch Versuch und Irrtum herauszufinden. Dieser Pfad erschien steinig, doch Delbridge sah zunächst keine andere Möglichkeit.

Inzwischen würde sich die Nachricht, was an diesem Abend geschehen war, wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten. Und was noch besser war, die beiden Soldaten, die während seiner Kostprobe in der Wirtsstube gesessen hatten, würden die Geschichte wahrscheinlich in die Garnison im Schloß tragen, wo sie vielleicht sogar dem Ritter – wie hieß er noch? Curston? – zu Ohren kommen würde.

Delbridge setzte sich auf. Daraus konnte viel mehr werden als aus einer umherziehenden Gauklerschau. Die Dienste eines fähigen Sehers wären für einen Herrscher unbezahlbar. Vielleicht würde er bei Hof angestellt werden, und dann würde Delbridge endlich bekommen, was er sich immer ersehnt hatte: Müßiggang, Ansehen, Würde und Reichtum.

Delbridge fiel der Zettel an der Wirtshaustür wieder ein. Morgen war Audienztag! Er beschloß, um eine Unterredung mit dem Ritter zu bitten und ihm seine Dienste anzubieten. Aber damit blieb ihm nur sehr wenig Zeit, das Armband zu untersuchen.

Er hatte eine lange Nacht vor sich.

8 Gerichtstag

»Einfach die Straße hier hoch«, sagte Shanus und zeigte mit dem Daumen in die Richtung. »Dann nehmt Ihr die erste rechts, bis zum Geschäft des Putzmachers, danach geht’s scharf links. Ihr könnt gar nicht falsch laufen, Meister Omardicar – «

»Omardicar reicht.«

»Ja, mein Herr. Es ist die erste Zugbrücke über den Fluß.«

Schon jetzt, dachte Delbridge, verhielten sich die Menschen ihm gegenüber anders. Um für den heutigen Tag vorbereitet zu sein, hatte er einen Laufburschen vom Gasthaus losgeschickt, der neue Kleider holen mußte, die besser zu einem Wahrsager paßten: einen langen, lila Umhang, der mit weißem Kaninchenpelz besetzt und mit allen möglichen Symbolen bedeckt war, dazu einen hohen Hut aus Kaninchenpelz. Shanus hatte Delbridge angeboten, ihm das Geld vorzuschießen. Er könnte es ihm nach seiner Audienz beim Ritter zurückzahlen.


Wohlgemut eilte Delbridge rechts die Straße hoch und dann zum Fluß. Eine große Steinbrücke spannte sich über das Wasser. Dahinter reckte sich die Burg in der Vormittagssonne hoch in die Luft.

Delbridges Schritte auf der Brücke wurden von dem tosenden, rasch fließenden Wasser unter ihm übertönt.

Wieder zog Delbridge seine Kleider zurecht, bevor er seine Hand einer Wache entgegenstreckte. »Omardicar, der Allwissende, Hellseher, zu Euren Diensten. Vielleicht habt Ihr schon von mir gehört?« Die Wache, die ihrem langen Schnurrbart nach dem solamnischen Orden angehörte, verzog keine Miene und sagte nichts. »Nun, also, ich möchte um eine Audienz bei Lord Curston bitten. Führt mich doch bitte zum richtigen Saal, guter Mann.«

Die Wache musterte Delbridge abschätzig, schnaubte dann zweifelnd und schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr früher gekommen wärt, hättet Ihr mit allen anderen gehen können. Hört gut zu, weil ich nichts wiederholen werde. Ihr seid jetzt am äußeren Südtor. Geht geradeaus weiter und dann durch den äußeren Burghof zum inneren Südtor. Von dort aus wird Euch jemand den Weg durch das Vorzimmer zum kleinen Burgsaal neben dem Westflügel zeigen.«

Delbridges Kopf schwirrte bei dieser komplizierten Beschreibung. »Tantallon sieht doch ganz friedlich aus. Wozu soviel Aufwand zur Verteidigung?«

»Tantallon hat Frieden, weil das Schloß gut befestigt ist und weil wir immer wachsam sind«, erklärte die Wache mit offensichtlichem Stolz. »Lord Curston will immer auf alles vorbereitet sein. Er beschäftigt viele Leute aus dem Ort, um immer wieder die Verteidigungsanlagen zu verbessern. Seine jüngste Errungenschaft, an der dreißig Handwerker gearbeitet haben, sind die Steinsoldaten auf den Zinnen. Sie stehen da, um feindliche Kundschafter glauben zu machen, daß wir eigentlich viel mehr Leute sind.«

Die Ausgaben des Ritters für die Verteidigung erklärten den Wohlstand im Ort, dachte Delbridge. Wollen wir hoffen, daß der Mann auch mir einen Teil seines Reichtums zugesteht.

»Ihr solltet Euch aber lieber sputen«, sagte die Wache mit dem Schnurrbart. »Es sind schon einige vor Euch dran.«

Delbridge dankte der Wache und ging eilig weiter. Nachdem er den äußeren Burghof durchquert hatte, erreichte er wie angewiesen das innere Torhaus, doch das war nicht besetzt.

Achselzuckend betrat Delbridge den inneren Burghof auf eigene Faust. In dem außerordentlich geräumigen Hof waren Hunderte gepflegter Marktstände, viele davon aus Holz oder Flechtwerk auf Dauer angelegt, richtig mit Strohdach und Fensterläden. Gegenüber lagen die Soldatenunterkünfte und Exerzierplätze.

Aus den großen Küchen, die das Schloß versorgten, drangen köstliche Düfte auf den Platz. Dazwischen mischten sich die Gerüche von den Ställen und den kleinen Ständen mit Lebensmitteln, so daß die Umgebung mit nichts zu vergleichen war, was Delbridge je zuvor gesehen hatte. Räudige Hunde und Kinder rannten frei zwischen den Karren in dem gepflasterten Innenhof herum, wobei sie entrüstet gackernde Hühner aufscheuchten.

Delbridge versuchte, sich an die Wegbeschreibung der Wache zu erinnern. Wenn er sich recht entsann, war der Eingang zur Burg neben dem Westflügel. Er sah nach links über die Marktstände hinweg, wo die Händler wegen der bevorstehenden Mittagspause bereits Fenster und Türen schlossen. Vor ihm im hellen Sonnenlicht lag der Wohnflügel der Burg, den er jetzt zum ersten Mal in seiner vollen Pracht betrachten konnte.

Die Burg war mindestens fünf Stockwerke hoch. An allen vier Ecken standen runde Türme, die jeweils eine Fensterreihe hatten. Schießscharten und Mauerzacken umrahmten wie auf den Außenmauern das Dach, aus dem ein ganzer Wald von Schornsteinen ragte. Vor den höheren Fenstern im zweiten Stock gab es gelegentlich einen Balkon.

Delbridge trat durch den Eingangsbogen an die geschnitzte Teakholztür und schob sie auf. Obwohl sie doppelt so hoch war wie er und vielleicht fünfmal so schwer, schwang sie an ihren gut geölten, schwarzen Eisenscharnieren leicht auf.

Auf der Stelle nahm Delbridge den vertrauten Duft wahr, den er nicht mehr gerochen hatte, seit er Burg Thelgaard verlassen hatte, ein Geruch nach Reichtum und dem Schweiß der anderen: Es war Zitronenölwachs, mit dem man gewöhnlich die Unmengen von teurem Holz polierte, die in reichen Häusern zu finden waren.

Delbridge kannte das; er hatte Stunden damit verbracht, die glitschige, beißende Paste in die Treppengeländer von Thelgaard zu reiben, wenn er seinen Aufgaben als dritter Hilfshaushofmeister nachgekommen war. Nachdem er diese Tortur hinter sich gebracht hatte, konnte er nicht einmal mehr den Duft von Bienenwachspolitur ausstehen.

Als seine Augen sich an das schwache Fackellicht gewöhnt hatten, merkte er, daß er in einer hohen Vorhalle stand, die sich über zwei Stockwerke erstreckte. Unten waren die Wände mit ausgestellten Rüstungen aller Art gesäumt, vom Lederharnisch über Kettenrüstungen bis hin zu kompletten Plattenpanzern. Darüber hingen die Wände bis zur Decke voller Waffen, und zwar so dicht, daß diese sich fast berührten (was bei diversen, zu Rosetten aufgehängten Schwertern auch der Fall war). Langschwerter, Kurzschwerter, Spieße, Speere, Hellebarden, Äxte, Bögen, Armbrüste, Dolche, Morgensterne und ein Haufen anderer Waffen, die Delbridge überhaupt nicht kannte, schmückten die Halle. Alles schien aus edlem Stahl zu sein, und wenn das stimmte, war schon das ein Zeichen, daß dieser Ritter ein Vermögen besaß. Ganz abgesehen davon, konnte er mit den ausgezeichneten Waffen in diesem Raum eine umfangreiche Armee ausrüsten. Delbridge beneidete den Mann immer mehr.

Gegenüber tauchte ein runzliges, altes Gesicht unter einem grauen Haarschopf hinter einem Vorhang aus Goldbrokat auf. Der Mann trug die Livree eines Gefolgsmanns der Curstons, auch wenn diese schlaff um seine geschrumpfte Gestalt hing. Nach einem Blick auf Delbridge schimpfte er mit altersschwacher Fistelstimme: »Ihr ganz allein? Wenn Ihr wegen der Audienz gekommen seid, dann kommt, kommt. Sie warten schon auf Euch. Sagt mal«, meinte er mit einem stirnrunzelnden Blick auf Delbridges Aufzug, »Ihr seid doch nicht zufällig dieser Wahrsager, von dem wir gehört haben?« Delbridge verneigte sich tief. »Nun, dann kommt mal mit.«

Delbridge hatte Schwierigkeiten, sich mit seiner noblen Robe angemessen würdevoll unter dem Vorhang hindurchzubewegen; auf der anderen Seite mußte er der gebückten Gestalt deshalb durch einen langen, mit glänzendem Marmor ausgelegten Gang hinterherhasten. Auch hier war die Decke zwei Stockwerke hoch, und auf kunstvollen Säulen erhob sich auf jeder Seite des Gangs eine Galerie. Hinter den Säulen lagen auf jeder Seite in gleichmäßigen Abständen drei Türbogen, zwischen denen schöne und kostbare Wandbehänge hingen.

Mehrere Dutzend Leute warteten in unterschiedlich respektvoller Haltung auf ihre Audienz beim Ritter.

Der krumme alte Mann huschte geradewegs an ihnen vorbei und schlüpfte durch einen Vorhang am hinteren Ende des Gangs. Er hielt den mit goldenen Tressen besetzten Rand für Delbridge zurück, während er mit schlecht unterdrückter Ungeduld mit dem Fuß tappte.

»Na, kommt schon.«

Delbridge konnte sich ein hochmütiges Lächeln nicht verkneifen, als er an den anderen Leuten vorbeimarschierte, die ihm neugierig nachstarrten. Der Seher in seiner Robe trat direkt in einen großen, mit Teppichen ausgelegten Raum, der bis auf drei gereizt wirkende Männer fast leer war, die am jenseitigen Ende, mindestens sechzig Fuß vom Eingang entfernt, an einem langen Tisch saßen.

»Eure Lordschaft«, verkündete der alte Mann, »Omardicar, der Allwissende, der Seher aus der Taverne.«

Delbridge neigte sich dicht zu dem Alten hin und flüsterte: »Wer sind die Männer?«

Das Faktotum verdrehte bei dieser Zumutung die Augen. »Hinter dem Tisch auf dem Samtstuhl sitzt Lord Curston. Der neben ihm ist sein Sohn, der junge Rostrevor. Und der da« – der Gefolgsmann zeigte auf einen großen Mann mit Glatze, der einen roten Umhang über seiner kräftigen Gestalt trug und rechts neben dem Stuhl des Lords stand – »das ist Balkom, Zauberer und erster Ratgeber von Lord Curston.«

Mit diesem Mindestmaß an Informationen schritt Delbridge voller Zutrauen nach vorn, wo er sich vor dem langen Tisch aufbaute. Er wartete keine Einleitung oder Einladung zum Sprechen ab.

»Lord Curston, ich habe ein äußerst wertvolles Angebot für einen Ritter von so eindrucksvoller Macht und solchem Reichtum wie Euch.« Delbridge hörte seine Worte in dem fast leeren Raum nachhallen.

Einst mußte der Ritter ein starker Mann gewesen sein, doch inzwischen war er weich geworden. Er trug eine Seidentunika und eine Kappe auf seinem ergrauenden Kopf, und auf seinem faltenreichen, wettergegerbten Gesicht lag ein gelangweilter Ausdruck. Sein Sohn, ein fast hübsch zu nennender Bursche mit hellblondem Haarschopf, war vielleicht zwanzig Jahre alt. Er stand links neben dem sitzenden Ritter und hatte eine Hand frech in die Hüfte gestemmt. Ein dünner blonder Schnurrbart zeigte an, daß er Ritter werden wollte. Der Anblick des komisch gekleideten fetten Mannes schien ihn mehr zu erheitern als die anderen.

Aus der Nähe betrachtet fand Delbridge, daß man vor dem Zauberer am meisten auf der Hut sein mußte. Von der Tür aus hatte Delbridge es nicht bemerkt, doch der Mann hatte eine gräßliche Narbe über der rechten Gesichtshälfte, und sein rechtes Auge fehlte. Das Lid war von Narbengewebe verschlossen, doch es war so eingesunken, daß Delbridge leicht sah, daß kein Auge mehr in der Augenhöhle ruhte. Sein linkes Auge starrte ihn finster an, ohne jeden Anflug von Wärme oder auch nur Interesse. Sein Kopf war nicht von Natur aus kahl, sondern rasiert. Kurze, farblose Stoppeln warfen einen grauen Schatten über die sichtbaren blauen Adern. Die einzigen etwas längeren Haare bildeten seinen schwarzen Schnurr- und Spitzbart, der seine fleischigen, rotbraunen Lippen komplett umrahmte.

Da sich Delbridge unter dem durchdringenden Blick des Zauberers entschieden unwohl fühlte, konzentrierte er sich wieder auf den Ritter.

»Wir haben von Euch gehört, und ich muß zugeben, ich bin neugierig«, sagte der Ritter schließlich mit leiser, gebildeter Stimme. »Aber faßt Euch kurz. Ich habe heute schon viele Gesuche angehört und bin allmählich müde.«

Delbridge holte eindrucksvoll mit dem Arm aus, damit seine Ärmel sich aufblähen konnten. »Ich habe eine Gabe, Herr, die mir bei meiner Geburt von den Sternen verliehen wurde. Es ist ganz einfach die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen. Ich bin bereit, Euch diese Gabe zur Verfügung zu stellen. Ihr könntet rechtzeitig vor Gefahren gewarnt werden, die Euch, Eure Familie und Eure Untertanen betreffen.«

Der Ritter runzelte die Stirn. »Ich habe bereits einen Zauberer, der fast genau diese Aufgabe hat.«

»Und das will ich auch nicht anzweifeln oder geringschätzen«, warf Delbridge rasch ein, »aber selbst die Sprüche der größten Zauberer können nur beschränkt die Zukunft vorhersagen und sind auf eine bestimmte Anzahl pro Tag beschränkt. Meine Macht unterliegt nicht den normalen Begrenzungen der Magie. Sie wirkt ständig, wann immer ich sie ausüben möchte.«

»Tu das nicht einfach so ab, Vater«, riet der Junge mit einem Blick auf den Magier. »Seine Worte klingen wohlüberlegt.« Er sah Delbridge mit seinen blauen Augen an. »Vielleicht wäre eine kleine Demonstration angebracht, Herr –?«

»Omardicar, der Allwissende, junger Herr«, half Delbridge eilig nach.

»Auch ich würde mir eine Demonstration wünschen«, sagte Balkom mit ungerührtem Blick in leisem, gleichgültigem Ton.

»Die werde ich Euch mit Vergnügen bieten«, sagte Delbridge. »Allerdings solltet Ihr wissen, daß meine Gabe ihre Eigenarten hat. Ich muß mich auf ein spezielles Ereignis oder eine Person konzentrieren, und wenn irgend etwas Ungewöhnliches oder Interessantes in ihrer Zukunft geschehen wird, bekomme ich eine entsprechende Vision. Wenn es nichts Interessantes gibt – « Er zuckte mit den Achseln.

»Wie einfach und bequem«, sagte Balkom. »Meint Ihr, daß Seine Lordschaft Eure Worte einfach glaubt und Euch in Dienst und Brot nimmt?«

»Er hat gesagt, er würde es versuchen«, sagte Rostrevor.

Balkom neigte leicht den Kopf.

Mit neuerlichem Stirnrunzeln sah Lord Curston von Rostrevor zu Balkom. »Ich wünschte wie immer, daß mein geliebter Sohn und mein engster Berater nicht ständig aneinander geraten würden«, seufzte er.

»Wir geraten gar nicht aneinander, Herr«, sagte der Magier. »Wir wünschen beide eine Demonstration der angeblichen Macht dieses Mannes. Wir sind bloß nicht einer Meinung darüber, wie streng eine solche Prüfung sein sollte.«

Gespannte Stille machte sich breit. Weil er spürte, daß diese Spannung seinen Chancen nur schaden konnte, sagte Delbridge: »Mit Eurer Erlaubnis werde ich so viel zeigen, wie mir in diesem Moment möglich ist, und Ihr könnt hinterher beschließen, ob vielleicht eine zusätzliche Probe wünschenswert wäre.«

Also schloß Delbridge die Augen und streichelte unwillkürlich das Armband mit den Fingern seiner linken Hand, während er sich nacheinander auf die Menschen vor ihm konzentrierte. Zuerst nahm er den Ritter. Plötzlich drehte sich ihm der Magen um, und sein Kopf tat weh. Er kam sich vor, als würde er durch unglaublich dichten Nebel waten. Dann war es, als wäre der Nebel wie weggehext. Dieses Gefühl wich einer Vision von dem alten Ritter, der in einem Zimmer der Burg kniete. Dunkle Vorhänge hingen an den Wänden. Der einst stoische Mann weinte und schluchzte vor grenzenloser Verzweiflung bei etwas, was wie eine Beerdigung aussah, obwohl es weder eine Totenbahre noch einen Leichnam gab.

Das tragische Bild versetzte Delbridge einen solchen Schrecken, daß ihm ein leiser Aufschrei von den Lippen kam und seine Augen aufflogen. Ohne Ankündigung fand die Vision ihr Ende.

»Was war das?« fragte der Ritter und lehnte sich nach vorne. Der unsichere, mitleidige Ausdruck in Delbridges Augen wunderte ihn. »Was habt Ihr gesehen?«

»Ich – nichts«, sagte Delbridge rasch verlegen. Er konnte doch einem Herrscher und Ritter von Solamnia schlecht erzählen, daß er gesehen hatte, wie dieser heulte wie ein Baby! »Ich habe gar nichts gesehen.«

Schnell wechselte er das Thema. »Als nächstes konzentriere ich mich auf den jungen Knappen.«

Delbridge dachte an Rostrevors sommersprossenübersätes, jungenhaftes Gesicht mit den blaßgelben Haaren darüber. Wieder umschloß ihn der Nebel und huschte vorbei. Ihm kam die Galle hoch, und er kämpfte gegen das Gefühl, sich erbrechen zu müssen, als der Nebel sich auflöste.

Was er sah, ließ ihn zurücktaumeln. Wieder sah er statt des Audienzsaals einen kerzenerhellten Raum irgendwo im Schloß. Der Sohn des Ritters, Rostrevor, lag in seinem Bett. Aber plötzlich erschien über ihm ein rotes, wirbelndes Licht, das solange wuchs, bis es den jungen Mann einschließen konnte. Dann fiel er. Schreiend, entsetzt und voller Schmerzen wurde er ins Zentrum des Lichts gesogen. Schließlich kauerte der Knappe an einer pochenden, roten Wand, wo er vor etwas zurückschrak, das Delbridge nicht sehen konnte. Er fühlte nur, daß es vor Bosheit loderte.

Delbridge riß die Augen auf und schnappte nach Luft. Auf der Stelle verschwand die Vision, doch sein Herz klopfte immer noch wie wild, und ihm rann beißender Schweiß in die Augen. Vergeblich versuchte er, seine zitternden Finger zu beugen, wobei er allerdings mitbekam, daß das Armband unerträglich heiß geworden war. Vor Ärger und Furcht schlug er die brennende Hand gegen seine Hüfte. Wie Nadelstiche lief der Schmerz seinen Arm hoch und ließ ihn einen Jammerlaut ausstoßen.

Rasch wurde ihm klar, daß Rostrevor vor ihm stand, ihn an den Schultern festhielt und sachte schüttelte. »Ist mit Euch alles in Ordnung? Jetzt reißt Euch zusammen und faßt Euch wieder.«

Delbridge wischte sich mit dem Ärmel seiner Robe das Gesicht ab, atmete mehrmals tief durch und fing an, seine Hand zu massieren. Der Knappe war zu seinem Platz hinter seinem Vater zurückgekehrt, der Delbridge neugierig ansah. Balkom hingegen wirkte nach wie vor ungerührt.

Lord Curston beugte sich wieder etwas vor. »Ihr könnt mir nicht erzählen, daß Ihr eben nichts gesehen habt. Wenn Ihr etwas gesehen habt, was meinen Sohn betrifft, dann will ich wissen, was das war. Redet!«

Wie konnte er ihnen erzählen, was er gesehen hatte?

Delbridge schluckte gewaltig. »Herr, ich weiß wohl, daß Ihr mich sowieso schon weitgehend als Scharlatan abgetan habt, aber was ich gerade gesehen habe, kann ich kaum beschreiben. Es war mit nichts zu vergleichen, was ich je erlebt habe. Andere Visionen waren kurz und präzise; sie zeigten mir, was tatsächlich geschehen würde. Aber das hier war wie… ein Alptraum. Als ob ich Zeichen oder Symbole von dem sehen würde, was sich zutragen wird, aber nicht das Ereignis selbst. Ich bitte Euch, mir zu glauben, daß ich nicht versuche, Euch Angst einzujagen, aber der Knappe Rostrevor schwebt in großer Gefahr.«

Delbridge erzählte eilig, was er gesehen hatte, einschließlich der vorherigen Vision des trauernden Ritters. »Ich kann es nicht genauer erklären, aber ich weiß, daß es wahr ist«, schloß er.

Zu Delbridges Überraschung rümpfte nur Rostrevor die Nase. »Das ist Unsinn, Vater. Von einem roten Licht entführt! Ich bin viel zu stark – du hast mich schließlich persönlich ausgebildet –, als daß ich so etwas zulassen würde. Außerdem ist die Familie bei unseren Untertanen sehr beliebt, besonders du. Wer würde so etwas tun?«

Das Gesicht des alten Ritters verriet Besorgnis. »Es gibt immer Unruhestifter, die vielleicht mich durch dich verletzen wollen. Ich habe lange gelebt und mir für den Rest meines Lebens mehr als genug Feinde geschaffen.«

Mit finsterem Gesicht trat der junge Ritter um den Tisch herum und faßte Delbridge fest am Arm. »Ich finde, Ihr habt genug von meines Vaters Zeit verschwendet. Geht!«

»Wartet!« warf Balkom ein, der beschwörend die Hand hob. »Was hat dieser Mann zu gewinnen, wenn er eine betrügerische Vorhersage von solcher Tragweite macht? Ich gebe zu, ich habe Vorbehalte, aber wenn er sich diese Geschichte ausgedacht hat, wird die Zeit rasch zeigen, ob er recht hat.« Der rotgewandete Magier musterte Delbridge mit seinem einen Auge. »Ist es eine unmittelbare Gefahr?«

»Ich glaube schon, doch«, platzte Delbridge heraus. »So funktioniert meine Gabe.« Weil er sich etwas unsicher fühlte – wie eine Wanze unter dem Vergrößerungsglas –, kratzte sich Delbridge an der Wange.

»Dann empfehle ich doch, daß wir uns auf die sichere Seite schlagen, Herr«, sagte Balkom mit seiner wohlklingenden Stimme, »indem Rostrevor zumindest heute abend sein Zimmer nicht verläßt und damit außer Gefahr ist. Stellt Wachen an die Türen und Fenster. Ich werde mit magischen Siegeln und Schutzstäben an den Türen und Fenstern für zusätzliche Sicherheit sorgen. Keiner wird den Raum körperlich oder sonstwie betreten können, ohne meine Zauber auszulösen, und Rostrevor wird unmöglich zu entführen sein. Wenn wir verschwiegen sind, wird jedoch keiner außer den hier Anwesenden wissen oder annehmen, daß ein magisches Siegel von mir die Türen verschließt.«

Der alte Ritter sprang gleich darauf an. »Ausgezeichnete Idee! Damit vereiteln wir auf jeden Fall jeden Entführungsversuch, ob direkt oder durch Zauberei.«

»Aber Vater – « protestierte Rostrevor.

Lord Curston tat die Proteste seines Sohnes mit einer Handbewegung ab. »Laß du nur einen alten Mann gewähren, der seinen einzigen Sohn über alles liebt.«

Der junge Ritter war wütend. »Aber wenn wir schon den Versuch eines Anschlags vereiteln, wie sollen wir dann wissen, ob überhaupt jemand je so etwas vorhatte?«

»Wir werden Omardicar als Gast hierbehalten. Wenn nichts Entsprechendes geschieht, kann er noch ein zweites Mal versuchen, seine Begabung zu beweisen. In der Zwischenzeit gehen wir kein Risiko ein. Rostrevor, du bleibst bis morgen früh in deinem Zimmer. Wir werden auf der Stelle mit Balkom hochgehen und dich dort sicher unterbringen.« Mit entschlossener Miene stand der Ritter auf, stöhnte aber leise, weil die Gicht ihn in den Beinen schmerzte.

»Fröder!« rief er durch zusammengepreßte Zähne. Der weißhaarige, alte Gefolgsmann eilte am anderen Ende des Raums durch den Vorhang. »Die Audienz ist für heute vorbei. Bitte entschuldige mich bei allen, die noch draußen warten, und sag ihnen, daß es einen neuen Termin geben wird. Danach bringst du diesen Mann in der Burg unter. Ihr versteht sicher, Omardicar, daß ich Euch in Euren Räumen wissen möchte, bis wir genau erfahren haben, was los ist. Fröder, darum kümmerst du dich.« Damit ließ sich der Mann aus dem Raum helfen, wobei er sich schwer auf seinen resignierten Sohn stützte. Balkom folgte ihnen in angemessener Entfernung. Er hatte seine Hände in die weiten Ärmel seiner Tunika gesteckt, und seine Miene war so ungerührt wie die ganze Zeit vorher.

Delbridge, der mit Fröder zurückblieb, schüttelte verwundert den Kopf. Die Sache entwickelte sich recht gut, aber anders, als er gedacht hatte. Trotzdem, wer konnte Einwände gegen ein reichliches Abendbrot an einem Kaminfeuer erheben, das nur zu seinem Wohlbefinden angezündet wurde, wenn man anschließend noch tief und fest in einem sauberen Daunenbett schlafen konnte?

Ein leises Kitzeln an Delbridges Handgelenk erregte seine Aufmerksamkeit. Er legte eine Hand über das Kupferarmband. Das Metall war ziemlich warm. Delbridge war heute nicht mehr in der Verfassung für weitere Visionen, besonders nicht vor Fröder. Er versuchte, das Armband abzustreifen, aber es saß zu fest. Nach viel Ziehen und Zerren konnte er es schließlich mühsam von seinem dicken Handgelenk schieben, wobei er sich die Hand zerkratzte. Er steckte das Armband in seinen Beutel. Jetzt, wo er mit sich selbst so richtig zufrieden war, folgte er dem ungeduldigen Gefolgsmann aus dem Audienzsaal in die luxuriös ausgestattete Burg und freute sich auf den Lohn seiner Mühen.

Vielleicht hatte er endlich seine wahre Lebensstellung erreicht.


Delbridge erwachte, weil eine Hand ihn unsanft an den Schultern rüttelte.

»Omardicar, der Allwissende?«

»Wer? Oh, ja«, murmelte er nach kurzer Verwirrung. Während er zwinkernd ins Licht einer Lampe starrte, erinnerte sich Delbridge langsam wieder daran, wer er war und wo er war. Er setzte sich langsam auf, wobei eine leere Weinflasche vom Vorabend von seiner Brust rollte und auf dem Steinboden zerschellte. »Wer bist du, und was willst du?«

Der bullige Mann in Kettenrüstung über ihm lachte, so daß sein dicker, roter Bart und der Schnurrbart im flackernden Lichtschein tanzten. »Ich beantworte keine Fragen von Halunken. Du bist verhaftet.« Ein zweiter Soldat zog die Vorhänge vom Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raums zurück, womit er schwaches Dämmerlicht hereinließ. Der rotbärtige Mann nahm Delbridge am Oberarm und zerrte ihn aus dem Bett.

»Was redest du da?« kreischte Delbridge, während er versuchte, den starken Fingern des Mannes zu entkommen. »Ich bin Lord Curstons Gast! Es wird ihm sehr mißfallen, wie unhöflich ihr mich behandelt. Ich will ihn auf der Stelle sprechen!«

Der Feldwebel hielt ihn weiter fest, sagte aber kein Wort.

Delbridge wußte, daß er am Abend zuvor zuviel getrunken hatte, aber er war die ganze Zeit in diesem Zimmer gewesen und konnte demnach unmöglich irgend etwas verbrochen haben.

»Vielleicht brauchst du einen kleinen Anreiz«, gab Delbridge dem Mann zu verstehen, während er zum Tisch langte, wo ein kleiner Haufen Münzen lag, doch die Wache riß seinen Arm zurück.

»Versuch bloß keinen von deinen magischen Tricks bei mir, du Schweinehund.« Der Soldat zog Delbridge hinter sich her, aus seiner Schlafkammer im ersten Stock eine schmale Treppenstiege hinunter, und dann aus dem Osteingang der Burg heraus. Zwei weitere Wachen mit Piken schlossen sich ihnen an, als sie den Burghof überquerten und auf einen Torbogen mit der Aufschrift »Kerker« zusteuerten.

Delbridge lachte regelrecht hysterisch. »Merkt ihr’s denn nicht? Ihr habt mich mit jemand anderem verwechselt, kann ja leicht vorkommen bei so vielen Fremden am Audienztag.« Er versuchte, sich seinen Häschern zu entwinden. »Wenn ihr mich jetzt einfach gehen laßt, werde ich die Sache auf sich beruhen lassen.«

Statt dessen wurde er noch fester gepackt. Die Soldaten mußten Delbridge hinter sich her schleifen, als sie die Schwelle überschritten und den dunklen, kalten, faulig stinkenden Kerker betraten. Der rothaarige Feldwebel öffnete eine schwere, verriegelte Holztür, die mit quietschenden Angeln aufschwang. Obwohl Delbridge schluchzend seine Unschuld an jedwedem Verbrechen beteuerte, wurde er durch die Tür gestoßen und landete auf den Knien, in einer nassen, lichtlosen Zelle. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und die Wachen gingen davon.

Das Quietschen der rostigen Angeln hallte lange in der Finsternis nach.

9 Tanz im Wald

Die schmale junge Frau war in einen dunkelblauen Mantel feinster Machart gehüllt. Sie hatte sich einen kornblumenblauen Seidenschal um den Kopf gelegt, der sich unter dem Kinn kreuzte und ihr über die Schultern bis zur Taille hing. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, doch ihre vollen Lippen wirkten wegen der Blässe ihres etwas kantigen Gesichts ungewöhnlich rot.

»Wenn ich es nicht besser wüßte, Meister Feuerschmied«, sagte sie mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme, »dann würde ich glauben, daß Ihr mir aus dem Weg geht.« Ihre meergrünen Augen, die so groß waren wie zwei Stahlmünzen, fixierten seine niedergeschlagenen Augen.

Flint sah auf. Seine Wangen waren knallrot. »Aber bestimmt nicht… Ach, großer Reorx«, fluchte er, »auch durch Lügen kann ich meine Seele nicht retten. Ich bin Euch aus dem Weg gegangen, aber nicht aus den Gründen, die Ihr vielleicht vermutet.«

Tanis bemerkte, daß auf der Brücke Fußgänger stehenblieben und die exotische Frau und den aufgeregten Zwerg anstarrten. »Laßt uns doch drinnen reden«, schlug er eilig vor, wobei er Flint und Tolpan vor sich her in sein Haus schob. Die Frau folgte ihnen in majestätischer Haltung. Angesichts ihrer Schönheit stockte Tanis der Atem.

In Tanis’ Baumhaus plumpste Flint mutlos auf den Schaukelstuhl aus gebogener Weide, den Tanis extra für ihn an den jetzt kalten Kamin gestellt hatte. Er legte seinen zottigen Kopf in beide Hände. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll…«

»Du könntest doch damit anfangen, uns vorzustellen«, flötete Tolpan. Ohne abzuwarten, stellte er seinen Hupak in eine Ecke und streckte seine kleine Hand aus. »Tolpan Barfuß, stets zu Diensten.« Die Frau sah seine Hand an, als wüßte sie nicht, was sie damit machen sollte, schließlich schüttelte sie sie doch.

In diesem Moment kam Tanis mit vier Gläsern und einer staubigen Flasche gesüßtem Bier herein. Er lächelte die Frau an und sagte: »Tanis, der Halbelf.«

Sie musterte seine schönen Gesichtszüge, die leicht mandelförmigen Augen und die Andeutung von Spitzen an den Ohren unter seinen dichten, rotbraunen Haaren. »Ich fand gleich, daß Ihr zu grob für einen reinen Elfen, aber zu schön für einen Menschen ausseht…«, überlegte sie.

Jetzt errötete Tanis. »Von Euch kennen wir nur den Namen, den Flint uns gesagt hat«, meinte er hastig. »Selana, nicht wahr?« Er bot ihr ein Glas an. Sie streckte ihre schlanke, fast durchscheinende Hand danach aus, die leicht zitterte, als Tanis das helle Bier in das Gefäß goß.

»Ja, ich heiße Selana.« Sie nahm rasch einen Schluck von dem Bier, hustete aber schon beim Schlucken. Tolpan klopfte ihr auf den Rücken. »Ich dachte, es wäre Wasser«, keuchte sie.

»Wasser?« Der Kender klatschte sich vor Lachen auf die Knie. »Puh, höchstens ein Oger würde Wasser trinken, das wie Sumpfsaft aussieht.«

»Tolpan.« Tanis sprach seine Warnung leise aus, nachdem er Selanas beschämten Gesichtsausdruck gesehen hatte. Zögernd nahm sie einen weiteren Schluck Bier. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie hustete nicht noch einmal. Mit entschlossener Miene wandte sie sich Flint zu, der in seinem Schaukelstuhl saß.

»Flint Feuerschmied, ich komme wegen meines Armbands. Ich bin nicht so dumm, daß ich nicht sehe, daß etwas schiefgegangen ist. Konntet Ihr es nicht fertigstellen? Vielleicht würdet Ihr mir das endlich verraten?«

Flint schüttelte den Kopf. »Doch, ich habe es gemacht, alles ganz richtig, und es war – nein, ist – ein wunderschönes Armband«, fiel er sich hastig selbst ins Wort, während er sich verzweifelt am Kinn rieb und überlegte, wie er ihr alles am besten erklären konnte.

Tolpan ließ sich auf dem Boden nieder, wo er im Schneidersitz Selana zu Füßen saß. »Seht mal, die ganze Sache war meine Schuld. Na ja, nicht nur meine Schuld. Es war einfach eine dumme, seltsame Laune des Schicksals, durch die das Armband beim ersten Mal an meinem Handgelenk gelandet ist. Natürlich wußte ich, wieviel es Flint bedeutete, nachdem er beim ersten Mal so wütend geworden war, weil er es verloren hatte, darum wußte ich auch, daß er ganz verzweifelt und zornig sein würde, als er merkte, daß er es fahrlässigerweise ein zweites Mal verloren hatte.«

»Das reicht!« brüllte Flint den Kender an. »Deine Art Hilfe brauch ich nicht.« Der Zwerg erzählte nach und nach die Ereignisse der letzten Tage, von der Herstellung des Armbands über sein Verschwinden – mit Tolpans Hilfe – bis zu dem Diebstahl aus dem Wagen des Kesselflickers.

»Wir wollten gerade aufbrechen, um diesen diebischen Barden zu suchen und Euer Armband zurückzuholen, als wir, äh, Euch draußen trafen. Mir hat noch nie etwas so leid getan«, sagte Flint und ließ den Kopf hängen. »Und auch wenn ich diesen Kender am liebsten erwürgen würde«, raunzte der Zwerg mit zusammengebissenen Zähnen und schmalen Schlitzaugen, »bin trotzdem ich selbst für dieses ganze, verdammte Mißgeschick verantwortlich. – Ich würde Euch gern Euer Geld zurückgeben, wenn ich es könnte, aber das habe ich bereits für Reiseproviant ausgegeben«, fügte er betreten hinzu.

»Das Geld will ich nicht«, sagte die junge Frau. »Es ist das Armband, das ich brauche, und ich bestehe darauf, daß Ihr es auf der Stelle wieder beschafft.«

Bei ihrem herrischen Tonfall wurde Flint vor Scham noch röter, doch der Halbelf ärgerte sich. »Natürlich hätte das Armband nicht herumliegen dürfen«, sagte Tanis kalt, »aber es würde Euch nichts schaden, wenn Ihr etwas Geduld und Verständnis aufbringen könntet. Flint hat Euch erklärt, daß er sich bemüht hat, es zurückzuholen.«

»Weißt du, Flint, ich habe nachgedacht«, mischte sich der Kender ein. »Es ist doch ganz gut, daß ich damals vorbeigekommen bin. Reorx allein weiß, wer es da mitgenommen hätte, wo du es sorgloserweise liegengelassen hast, wenn ich es nicht gleich in Sicherheit gebracht hätte.«

»Sorgloserweise liegengelassen?« bellte Flint und sprang auf. »Das Armband lag sicher aufbewahrt in meinem Schaukasten! Und du hast nur versucht, es zu stehlen, du diebischer, kleiner – «

»Dieb!« schrie Tolpan beleidigt, als er sich mit geballten Fäusten vor den kochenden Zwerg stellte. »Ich hab’s endgültig satt, immer die Schuld für die Nachlässigkeit anderer Leute zu kriegen. Hör mal zu, du alter – aua, Tanis!« Tolpan funkelte den Halbelfen an, der sich zwischen sie gestellt hatte und den Kender in die rechte Schulter kniff.

»Schluß damit, ihr beide«, ermahnte Tanis sie. »Das hilft uns auch nicht, das Armband zu finden.« Er drehte sich zu der blassen Frau um, die während des heftigen Wortwechsels geschwiegen hatte und deren Gesicht jetzt alle Schattierungen zwischen Verärgerung und Sorge zeigte. »Wenn Ihr das Armband wollt, warum kann Flint nicht einfach ein neues machen?«

»Ihr begreift gar nichts!« schrie Selana, wobei sie unwirsch mit dem Fuß aufstampfte. »Selbst wenn die Zeit dazu reichen würde, diese besonderen Materialien waren einzigartig. Ihr habt keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, um sie zu bekommen.« Bei der Erinnerung schluchzte sie auf.

»Warum erzählt Ihr es uns nicht?« beharrte Tanis. Ihre Reaktion bestätigte seinen wachsenden Verdacht, daß es hier um mehr ging, als um ein fehlendes Armband. »Wenn Ihr schon dabei seid, warum sagt Ihr uns nicht, warum ein zartes Mädchen ein magisches Armband braucht, das die Zukunft vorhersagen kann?«

Ihre schlanke Hand flog vor den Mund. »Ihr wißt es?«

Tanis schüttelte den Kopf. »Bis jetzt hatten wir nur das Geschwätz eines abergläubischen Kesselflickers und Tolpans Verdacht.«

Wütend verfinsterten sich ihre Augen von Meergrün zu Orkanschwarz. »Mit welchem Recht wollt Ihr das wissen? Ihr habt mich reingelegt!« Sie hob die Hand und wollte ihn ohrfeigen.

Mit zusammengekniffenen Mandelaugen fing Tanis ihre Hand ab. »Nicht mehr als Ihr, als Ihr bei Flint ein ›gewöhnliches‹ Armband in Auftrag gegeben habt. Ihr solltet wissen, wie sehr Zwerge der Magie mißtrauen. Welches Recht hattet Ihr, die magischen Eigenschaften des Armbands vor ihm zu verheimlichen?«

»Ich habe nie behauptet, daß es ›gewöhnlich‹ wäre«, gab sie zurück. »Ich habe einen bekannten Handwerker aufgesucht, der mir eine Arbeit erledigen sollte, für die er großzügig bezahlt wurde. Erzählt Ihr dem Schneider, der Euren Rock macht, auf welchem Fest Ihr tanzen geht?«

»Das ist nicht dasselbe!« schnappte Tanis.

Diesmal war es Flint, der zwischen die zwei Streitenden trat. Tanis ließ Selanas Handgelenk los, als Flint ihn böse ansah. »Was ist in dich gefahren? Was das Armband auch ist oder war, ich war dafür verantwortlich. Ich hätte es nicht aus den Augen lassen dürfen. Jetzt muß ich es zurückholen – und zwar egal wie!«

Seine beruhigend gemeinte Feststellung rief nur einen Schreckenslaut bei Selana hervor. »Wie lange wird das dauern?«

Flint wirkte überrascht. »Wenn dieser Delbridge nach Norden gegangen ist, und falls wir ihn finden« – er zuckte mit den Schultern – »drei Tage, mit etwas Glück weniger, mit Pech vielleicht eine Woche.«

»Und wenn Ihr ihn nicht findet? Oder wenn er das Armband irgendwo verloren hat? Was dann?« Ihre bisher leise Stimme wurde laut vor Aufregung.

»Warum ist dieses Armband so wichtig, Selana?« fragte Tanis müde. »Wer seid Ihr, daß Ihr Euch so verhüllen müßt?« Obwohl Tränen in ihren hübschen, vor Wut schmalen Augen glänzten, wehrte sie sich nicht, als er die Hände ausstreckte und den blauen Schal von ihrem Gesicht zog. Das Tuch flatterte zurück und legte sich in weichen Falten um ihre Schultern.

»Eine Meerelfin!« schluckte Tanis, als schimmerndes, silberweißes Haar in weichen Wellen um ihr Gesicht floß. Er kannte die zurückgezogen lebenden Meerelfen nur vom Hörensagen. Es waren entfernte Verwandte seines Volkes in Qualinesti. Man hatte ihm erzählt, daß ihre Haut so durchscheinend war, daß sie blau wirkte, doch Selanas war milchigweiß. Ihre Augen waren kugelrund und sehr groß, anders als die Mandelaugen der Elfen an Land. Obwohl sie eine menschenähnliche Gestalt hatten, lebten Meerelfen unter Wasser. Tanis hatte noch nie davon gehört, daß einer das Meer verlassen hatte und über Land gezogen war.

Ungewollt sammelten sich Tränen in Selanas Augen. Verstimmt wischte sie sie weg. »Ja, ich bin eine Dargonesti-Elfin.« Sie nahm das Ende ihres Schals und zwirbelte es sorgenvoll, während sie auf und ab zu laufen begann.

Flint vergaß seine eigene Schande, als väterliche Sorge für das offensichtlich verängstigte Mädchen aufkeimte. »Wollt Ihr uns nicht erzählen, was Euch so zu schaffen macht, daß Ihr deswegen das Wasser verlaßt?«

Selana blieb stehen, um die Gesichter der drei in dem kleinen Raum zu betrachten und dann resigniert zu seufzen. »Verzeiht mir, aber ich vertraue Fremden nicht so leicht. Bisher habe ich nämlich ein behütetes Leben geführt und nur sehr wenig Fremde kennengelernt.«

Sie hielt den Kopf erhoben. »In der Sprache der Dargonesti würde mein Name für Euch unaussprechlich klingen. In Eurer Sprache lautet mein Name Selana-von-den-Riffen-wo-der-Seetang-tanzt-und-die-Aale-herumflitzen-, Haijägerin, Lach-im-Mondlicht.« Sie hielt inne, sah aber nur verständnislose Blicke. »Prinzessin Selana Sonluanaau. Mein Vater war Salunatuaau, die Stimme der Monde.«

Sie ließ ihnen Zeit, erstaunt nach Luft zu schnappen, bevor sie fortfuhr: »Ich sage, er war, weil er beim letzten Vollmond ganz plötzlich gestorben ist.« Die mitleidigen Blicke tat sie mit einer Handbewegung ab. »Auch wenn ich ihn schrecklich vermisse – er hat ein erfülltes Leben gehabt. Es war an der Zeit für ihn. So ist das bei uns.«

Sie trocknete die Tränen mit dem Handrücken. »Es ist bei uns auch so, daß der Herrscher unseres Volkes von Natur aus die Fähigkeit besitzen muß, die Zukunft vorherzusehen. Mein Vater konnte es. Er wußte, daß er sterben würde, auch wenn er es geheimgehalten hat, bis es zu spät war.«

»Jetzt versteh ich!« rief Tolpan. »Ihr braucht das Armband, damit Ihr Königin werden könnt!«

Selana sah den Kender stirnrunzelnd an und schüttelte dann den schillernden Kopf. »Nein, ich will die Krone nicht für mich, sondern für meinen älteren Bruder.«

Tolpan zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen. »Jetzt bin ich aber wirklich durcheinander. Wenn er von Natur aus in die Zukunft sehen kann, wozu braucht Ihr dann ein Armband?«

Ein unendlich verzweifelter Ausdruck legte sich über das schöne Gesicht der Meerelfin. »Mein Bruder Semunel ist gut und stark und weise, aber aus Gründen, die nur der großmütige Gott Habbakuk kennt«, sie seufzte, »besitzt er diese Gabe nicht. Semunel wird gut und lange herrschen, aber nur wenn er den Thron besteigen kann. Das kann er nur, wenn er den Regenten aus dem Haus des Gesetzes beweist, daß er die Fähigkeit besitzt zu sehen, was sein wird. Ohne das Armband wird er die Prüfung auf keinen Fall bestehen.«

Selana fing wieder an, hin und her zu laufen. »Semunels Versagen war ein Geheimnis, das nur mein Vater, mein Bruder und ich kannten – nicht einmal meine Mutter wußte davon. Es gibt Leute, die gern das Ende des Hauses Sonluanaau sehen würden.«

Um ihre aufgewühlten Emotionen zu beruhigen, betrachtete die Prinzessin eines der Bücher in dem Regal und fuhr mit den Fingern über seinen Rücken. »Wir hatten gehofft, daß die Fähigkeit vielleicht nur in ihm schlummerte und sich irgendwann zeigen würde, aber das ist nicht geschehen… Jetzt ist Vater tot, und wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«

Tanis räusperte sich. »Ohne unverschämt wirken zu wollen, aber ist es nicht unehrenhaft, die Regenten – und damit das Volk – zu täuschen, wenn Euer Bruder die Fähigkeit nicht besitzt, die Eure Bräuche fordern? Vielleicht hatte Habbakuk einen Grund, warum er Semunel die Fähigkeit versagt hat.«

Bei Tanis’ Unterstellung schob Selana das Buch ins Regal zurück. »Ist es falsch, wenn ich will, daß das Volk gerecht regiert wird und daß die Herrschaft nicht an solche fällt, die diese Macht mißbrauchen würden?« In diesem Augenblick fand sie den Halbelfen mit seinen einfachen Kleidern und dem struppigen Haar bäurisch. Die Meerelfin sagte verächtlich: »Was weißt du schon von Politik und Hofintrigen, Halbelf?«

Tanis lachte verbittert. »Mehr als mir lieb ist, meine liebe Prinzessin«, sagte er trocken. Tanis’ Gesicht glühte vor Wut, als er in die Küche ging.

»Huch, was ist denn mit dem los?« fragte Tolpan.

Flint bemerkte den erstaunten Ausdruck auf Selanas Gesicht. Nur er kannte den Grund für Tanis’ heftige Reaktion, doch sie hatte nicht ahnen können, welchen wunden Punkt sie mit ihren Worten berührt hatte. Flint fand, daß es nicht seine Aufgabe war, der Meerelfin zu erklären, daß niemand sich in Hofintrigen besser auskannte als Tanis, der ihnen vor langer Zeit einmal zum Opfer gefallen war.

Das Halbblut hatte als persönliches Mündel der Stimme der Sonne eine qualvolle Jugend am Hof von Qualinesti durchlebt. Viele, viele Jahre waren vergangen, seit der Zwerg den unglücklichen, jungen Elfen dort kennengelernt hatte. In ihm hatte er einen Seelenbruder gefunden, einen, der auch nicht in aller Ruhe bei seinem Volk leben konnte. Tanis hatte einen schrecklichen Zusammenstoß mit seinem Vormund gehabt – genauer gesagt, er war des Mordes angeklagt worden. Obwohl seine Unschuld bewiesen wurde, hatte Tanis beschlossen, daß er als einziger Halbelf mit dem einzigen Zwerg, Flint, besser in das Menschenstädtchen Solace paßte.

»Tanis – oder Tanthalas, wie er bei den Qualinesti-Elfen heißt – hat viel mehr erlebt, als es den Anschein hat«, war die einzige Erklärung des alten Zwergs.

Selana wirkte beschämt. »Es tut mir leid, wenn ich ihn beleidigt habe, aber ich bin so damit beschäftigt, mein Armband zu finden, und ich kenne Eure Sitten nicht.« Sie strich ihre blaue Robe glatt und ging zur Tür. »Aber jetzt würde ich gerne mit unserer Suche nach diesem Barden anfangen.«

»Au ja, mir wird’s auch zu langweilig. Gehen wir«, sagte Tolpan, sprang auf und lief zur Tür.

Vor Verblüffung erstickte Flint beinahe an seinem letzten Schluck. »Prinzessin, ich glaube, Ihr versteht nicht, was wir vorhaben. Das Leben auf der Straße ist hart, unbequem und schmutzig – völlig unzivilisiert«, fügte er hinzu, um hoffentlich das Richtige zu treffen. »In Solace habt Ihr es viel bequemer und sicherer, während wir losziehen und das Armband zurückholen.«

»Absolut nicht«, sagte sie. »Ich bin weder hilflos noch unerfahren«, verteidigte sie sich. »Ich bin schließlich auch ganz allein bis Solace gekommen.«

Flint schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin sicher, daß Ihr die Reise gut überstehen würdet, aber wenn wir ihn erst einmal finden, haben wir es mit einem in die Enge getriebenen Dieb zu tun.«

Tanis, der von der Küche aus zugehört hatte, fügte hinzu: »Ihr würdet uns nur aufhalten, Prinzessin. Überlaßt diese Sache einfach uns.«

»Wenn Ihr mich doch bitte beide für voll nehmen würdet«, sagte sie steif. Dann wandte sie sich an Flint. »Ohne Euch beleidigen zu wollen, Meister Feuerschmied, aber ich habe einmal jemand anderem etwas überlassen, und das tue ich nicht ein zweites Mal.« Selana bemerkte Flints beschämte Miene. »Ich gehe mit oder ohne Euch.«

Flint kannte sie noch nicht lange, aber er hatte oft genug Karten gespielt, um einen Bluff zu erkennen, wenn er einen sah, und die dickköpfige Prinzessin Selana bluffte nicht. Er konnte sie nicht allein herumsuchen lassen. Mit einem langen, tiefen Seufzer gab er nach. »Na schön, Ihr habt gewonnen.«

Selana gestattete sich ein Lächeln. »Ihr werdet schon sehen. Ich kann Euch durchaus behilflich sein.«

Tanis, der mit verschränkten Armen auf der Schwelle zur Küche stand, lachte ungläubig.

Flint klatschte in die Hände und setzte sich eine Mütze auf seine von Grau durchzogenen Haare. »Na dann«, sagte er, ohne Tanis zu beachten, »worauf warten wir?«Es wurde für keinen von ihnen ein angenehmer Tag, nicht einmal für Tolpan. In den hügeligen Vorbergen des Ostwall-Gebirges machten sie Rast. Selana saß abweisend auf einem trockenen Baumstumpf; Tanis hockte ihr zu Füßen auf dem Boden und lehnte sich an den Stumpf an. Flint lief verärgert vor dem Kender hin und her, der bäuchlings auf der weichen Erde lag, den Kopf in die Hände stützte und die Karte betrachtete, die vor ihm lag.

»Woher wissen wir denn, daß das kein neuer Berg ist?« fragte er trotzig. »Du weißt doch, während der Umwälzung sind sie rechts und links und geradeaus nur so emporgeschossen – man wußte gar nicht mehr, wo man hintreten sollte. Meine Karte ist jedenfalls völlig in Ordnung.« Der Kender schlug bekräftigend auf die Karte.

Als sie vor ihrem Aufbruch in Solace eine von Tolpans vielen Karten betrachtet hatten, hatten die Gefährten gesehen, daß es im Norden nur drei erwähnenswerte Orte gab: Que-taw, Rabental und Tantallon. Die einzige größere Straße nach Norden führte viel weiter nach Osten als nötig, bevor sie wirklich nach Norden abknickte.

Sie hatten sich überlegt, daß sie Zeit sparen würden, indem sie querfeldein gingen und dann das Gelände in Richtung Osten durchquerten, das auf Tolpans Karte offen und eben aussah. Daher waren sie von Solace aus am Ostufer des Krystallmirsees entlang nach Norden gezogen und dann durch eine Gegend gewandert, die unter dem Namen ›Nahe Felder‹ bekannt war. Den ganzen Nachmittag waren sie bei bewölktem Himmel am Fuß des Ostwall-Gebirges nach Norden gelaufen und hatten auf die Stelle gewartet, wo der Bergkamm aufhörte, damit sie nach Osten durchstoßen konnten. Der Karte nach waren sie längst über den Punkt hinaus, wo die Berge hätten enden sollen.

»Tolpan«, setzte Flint geduldig an, »mal ehrlich, bist du je zuvor in dieser Gegend gewesen? Hast du diese Karte selbst gemacht?«

Tolpan machte ein verlegenes Gesicht. »Nicht richtig. Eines Tages habe ich sie sozusagen in meinem Sack gefunden, daher weiß ich nicht so genau, wo sie herkommt.« Er zog nachdenklich die Augenbrauen hoch und holte aus der Tasche Tintenfläschchen und Federkiel. »Ich habe sie aber ergänzt, und jetzt wäre es doch an der Zeit, den Rest dieser Bergkette einzuzeichnen, nicht wahr?« Er kratzte mit der Feder über das Papier, wobei er konzentriert an seiner Lippe nagte.

»Vorwürfe helfen uns auch nicht weiter, Flint«, sagte Tanis müde, während er dem Zwerg einen Kanten Brot und ein Stück Trockenfleisch reichte. »Laß uns einfach etwas essen und dann weiterlaufen.«

Flint nahm das Essen, ließ sich ins Gras fallen und kaute. Er blickte in das nachlassende Sonnenlicht. »Wir können genausogut hier das Nachtlager aufschlagen. Außerdem dürften Selanas Füße jetzt dick geschwollen sein, nachdem sie zehn Minuten gesessen hat.«

Alles blickte zu der zerschundenen Prinzessin, die an ihrem Stück Brot herumknabberte, nachdem sie das angebotene Fleisch mit verächtlichem Naserümpfen abgelehnt hatte.

Selana hatte es zweifellos am schwersten. Sie war unterwegs so oft ausgerutscht oder über ihr Kleid gestolpert und gestürzt, daß ihr Gesicht eine richtige Dreckkruste aufwies. Ihr schöner blauer Umhang war am Saum gerissen, weil sich darin dauernd dorniges Gestrüpp verhakt hatte. Ihre weichen Lederstiefel waren von oben bis unten voll Schmutz und konnten die Unebenheiten des Geländes überhaupt nicht abfedern. All das hatte sie sehr gereizt gemacht, und sie hielt sich abseits und redete nur, wenn man direkt eine Frage an sie richtete. Hilfe jedweder Art lehnte sie jedoch ab.

»Es geht schon, wirklich«, protestierte sie schwach. »Ich bin bloß das viele Laufen nicht gewöhnt.«

»Ja, richtig!« rief Tolpan aus. »Wahrscheinlich schwimmt sie normalerweise, wenn man bedenkt, wo sie herkommt. Aber lauft ihr denn niemals auf dem Meeresboden entlang?«

Selana warf einen Blick in sein neugieriges Gesicht und wurde hochmütig.

»Manchmal«, erwiderte sie schnippisch.

»Ich bin froh, daß du das Thema aufgebracht hast, weil ich eine Reihe äußerst wichtiger Fragen habe«, sagte der Kender, der seine Feder schreibbereit hielt. »Gibt es unter Wasser Sonnenlicht? Ich wette, nicht, aber wie seht ihr dann etwas? Werden eure Finger und Zehen auch ganz schrumpelig? Gibt es Türen oder überhaupt Häuser? Und wenn nicht, wie verhindert ihr dann, daß Sachen gestohlen werden?

Und wie ist das mit dem Reden? Immer wenn ich versuche, unter Wasser etwas zu sagen, gibt es nur Geblubber, und ich habe den ganzen Mund voll Wasser. Damit müßt ihr ja wahrscheinlich die ganze Zeit fertig werden. Und dann frage ich mich wirklich, wie ihr das unter Wasser mit dem Atmen macht. Vielleicht kannst du mir das mal in einem Eimer Wasser zeigen?«

»Tolpan!« rief Tanis entgeistert.

»Was denn?« fragte der Kender mit großen, unschuldigen Augen.

Anstatt beleidigt zu sein, lachte Selana zum ersten Mal. »Ich kann es Tolpan nicht verübeln, daß er jemanden ausfragt, der anders ist – ich gebe zu, daß ich selbst neugierig bin, was die Landbewohner angeht«, sagte sie zu Tanis, bevor sie sich dem Kender zuwandte. »Ich weiß nicht, ob das mit dem Eimer so geht, aber ich werde dir gern deine Fragen beantworten, wenn du meine beantwortest und mir hilfst, eure Sitten zu verstehen.«

»Mit Vergnügen!« Strahlend bot Tolpan ihr seinen Arm an, um die Meerelfenprinzessin von dem Baumstumpf zu einem geschützteren Platz bei einem blühenden Holzapfelbaum zu führen. »Laßt uns ungestört weiterreden.« Über die Schulter schnitt er Tanis eine Grimasse.

Flint und Tanis sahen den beiden nach.

»Na, wenn das nicht dreist ist.« Tanis blickte ihnen finster nach. »Ich stelle ein paar intelligente Fragen – verteidige noch ihre Privatsphäre, zum Kuckuck –, und schon bin ich ein unverschämter Hund, der am besten gar nicht geboren wäre.« Der beleidigte Halbelf deutete in Richtung des Kenders, der glücklich neben der Meerelfin saß und plauderte. »Der beleidigt sie ganz ungeniert, und die beiden werden die besten Freunde. Wahrscheinlich findet sie seine Dreistigkeit niedlich oder so.«

»Du bist doch wohl nicht eifersüchtig auf einen Kender?« neckte Flint, der den Halbelfen aus dem Augenwinkel beobachtete.

»Bestimmt nicht!« knurrte Tanis. »Ich wüßte bloß gerne die Regeln, mehr nicht.«

Nach einem letzten verwirrten Blick auf Selana ging Tanis los, um Feuerholz zu suchen. Weil ihm plötzlich kalt war, sah er zum dunkler werdenden Himmel hoch und krempelte die Ärmel seiner Wildlederjacke herunter.

Aber der Halbelf wußte, daß diese Kälte nichts mit dem Wetter zu tun hatte.

Zwei Stunden später gab es Abendbrot, das aus geschmortem Schweinesteak, in Bratensaft eingeweichten und dann gekochten Trockenerbsen und wiederum Brot bestand. Flint saugte mit seinem Brot den Rest der leckeren Soße auf, stopfte es in den Mund und schluckte es in einem Stück herunter. Dann lehnte er sich an einen Felsbrocken an, den sie ans Feuer gerollt hatten, tätschelte seinen vollen Bauch und rülpste zufrieden.

»Keiner kann behaupten, du wärst kein guter Koch, Tolpan«, sagte er. Der Zwerg verschränkte die Finger hinter dem Kopf. »Will nicht einer eine Geschichte erzählen?«

Tanis hob abwehrend die Hände. »Meine hast du alle schon tausendmal gehört.«

»Selana hat eine gute«, platzte Tolpan heraus.

Die Meerelfin wurde rot. »Die wollen sie bestimmt nicht hören.« Sie sah Tanis an.

»Bestimmt wollen sie!« rief Tolpan. »Sag ihr, daß du sie hören willst, Tanis!«

Flint bemerkte den verdrossenen Ausdruck im Gesicht des Halbelfen. »Wir sind an allen Geschichten über Euer Volk interessiert, die Ihr uns freiwillig erzählt«, sagte er entgegenkommend.

»Ich höre immer gern von fremden Bräuchen und Völkern«, brachte Tanis schließlich heraus. Grinsend wandte er sich an den Kender. »Da du die Geschichte bereits kennst, Tolpan, finde ich, daß jetzt du an der Reihe bist, Feuerholz zu holen.«

»Außerhalb des Feuerscheins ist es dunkel«, sagte Selana. »Hier, nimm das, Tolpan.« Sie griff tief in ihre Robe und zog eine kleine, gebogene Muschel heraus. »Das ist eine besondere Schneckenmuschel. Halt sie so fest« – sie legte Tolpans Hand auf das abgerundete Ende – »und richte sie auf das, was beleuchtet werden soll.« Tolpan und die anderen sahen überrascht, wie gedämpftes, gelbes Licht aus der Öffnung der Muschel strömte.

»Hui! Wie macht sie das?« fragte Tolpan. »Seht ihr so unter Wasser?«

»Nein, das ist meine eigene Erfahrung«, gab die Meerelfin zu, ohne das weiter zu erklären.

»Ihr meint, sie ist magisch«, warf Tanis ein. »Ihr habt nie gesagt, daß Ihr eine Zauberin seid.«

»Ich kann eine gewisse Anzahl Sprüche, ja«, gestand Selana. »Ihr habt nie gefragt. Außerdem habe ich nach Eurem Kommentar in Solace gedacht, Flint würde sich dadurch unwohl fühlen.«

»Ihr habt gedacht, er würde Euch nicht mitnehmen!«

»Ich habe sowieso nicht geglaubt, daß er mich mitnehmen würde«, sagte sie ohne Umschweife. »Ich habe ihm gesagt, daß ich mit ihm oder ohne ihn gehen würde.«

»Könntet ihr zwei wohl aufhören, über mich zu reden, als ob ich gar nicht da wäre?« unterbrach Flint. »Ich geb’s ja zu, Tanis, ich halte nicht viel von Zauberei, aber bis jetzt hat es dadurch noch keine Probleme gegeben.«

»Wird es auch nicht«, erklärte Selana fest. »Ich hatte mich sowieso schon gefragt, wie ich das Thema aufbringen sollte. Ich habe nämlich bereits Gegenstand finden auf Tolpans Karte gesprochen und dabei festgestellt, daß das Armband in Tantallon ist. Das sollte uns die Sache erleichtern.«

Flint und Tanis wechselten einen Blick. Das war eine gute Nachricht – Tantallon war nicht weit entfernt. Dorthin konnten sie mit und ohne Tolpans Karte finden. Aber Zauberei machte sie nervös, und beide schwiegen.

Weil sie gern das Thema wechseln wollte, wandte sich Selana an den Kender, der die Muschel fasziniert immer wieder an und aus machte.

»Wenn du in Not bist, Tolpan«, sagte Selana, »dann blas einfach in die Muschel.« Die Meerelfin machte vor, wie er die Lippen an die Muschel legen sollte. Neugierig machte Tolpan es ihr nach und brachte einen lauten Ton heraus.

»Das ist phantastisch!« krähte der Kender glücklich. »Klingt genau wie eine Trompete!« Er wollte noch einmal hineinblasen, aber Flints Hand zog die Muschel von seinen Lippen.

»Denk dran, Tolpan, du sollst nur reinblasen, wenn du in Not bist. Und glaub mir, du wirst wirklich Hilfe brauchen, wenn ich dich dabei erwische, daß du aus Spaß tutest.« Der Zwerg war sich nicht ganz sicher, ob seine Warnung angekommen war, denn der Kender machte sich ganz unbekümmert in den dichten Wald auf, um außerhalb des Feuerscheins Holz zu sammeln und vor allem, um die Reichweite des Lichts auszuprobieren.

Tanis machte es sich wieder bequem und gab sich umgänglicher. »Ihr habt einen interessanten Namen, Prinzessin. Was bedeuten die Ehrentitel – ›Haijägerin‹ und ›Lachen-im-Mondlicht‹?«

Selana sah Tanis einen Augenblick lang durchdringend an, als ob sie überlegte, ob seine Frage ernst gemeint oder eine Art Trick war.

»Jedes Dargonesti-Kind bekommt zwei besondere Namen, die Ihr gerade als Ehrentitel bezeichnet habt, einen von der Mutter, den anderen vom Vater. Nur Familienmitglieder benutzen sie, auch wenn sie jeder kennt.

Lachen-im-Mondlicht stammt von meiner Mutter und ist ein ziemlich häufiger Name. In hellen Nächten, wenn der Mondschein durch die Wellen nach unten dringt, haben die kleinen Kinder ihren Spaß daran, den Strahlen nachzujagen, bis die Eltern sie ins Bett schicken.

Haijägerin nannte mich mein Vater. Er hat mir den Namen gegeben, als ich vierzehn war, und ich bin sehr stolz darauf.«

Während sich Selana für das Thema erwärmte, entspannte sie sich allmählich. »Der Tag der Rückkehr«, erzählte sie weiter, »ist für mein Volk ein sehr hoher Feiertag. Er erinnert an den Tag, wo Nakaro Silberwache, einer unserer größten Helden, seine Aufgabe erfüllte, das verlorene Schwert Flutbrecher zurückzugewinnen. Es war die Waffe von Drudarch Takalurion, dem Begründer unserer Nation und der allerersten Stimme der Monde. Nakaro mußte tief ins Reich der Koalinth und Lacedone reisen – der Meereshobgoblins und Meeresghule – und sich vielen Gefahren stellen, um das verlorene Schwert zurückzuholen. Diesen großen Tag feiern wir jedes Jahr mit Festessen und Ausflügen.

Als ich vierzehn war, ist meine Familie zur Feier des Tages der Rückkehr nach Armach uQuoob gereist, zum ›Trockenen Land im Meer‹. Eure Vorfahren kannten die Stadt unter dem Namen Hoorward; bevor die Umwälzung sie im Meer versenkte, lag sie auf der Insel Kosketh Minor. Vor langer, langer Zeit war sie unsere Hauptstadt, aber in meiner Kindheit war es nur noch ein Außenposten an der Grenze unseres Landes. Dort hielten wir Wache gegen die bösen Seewesen, die in unser Reich einzudringen drohten: Koalinth, Lacedone und ihre Verbündeten, die Knochigen, Riesenpolypen und Haie. Als Landbewohner glaubt Ihr vielleicht, das wären nur Tiere, aber da irrt Ihr Euch. In den Tiefen der Ozeane sind sie intelligent und schlau, und in ihren dunklen Höhlen und versunkenen Ruinen schmieden sie böse Ränke gegen mein Volk.«

Während dieser Einleitung war Tolpan mit einem Armvoll Holz zurückgekehrt, wobei er mit dem Licht durch die Bäume leuchtete und das Horn spielerisch an die Lippen setzte. Er schmiß das Holz ohne weitere Umstände auf den Boden und ließ sich dann neben Flint auf einem Holzklotz nieder. Dann zog er die Knie eng an die Brust, schlang die Arme darum und legte das Kinn auf die Knie. »Hör nicht meinetwegen auf«, sagte er. »Ich hör zu.«

Das Feuer knisterte, und Funken flogen durch die Luft, während Selana ihre Geschichte fortsetzte. »An diesem Tag der Rückkehr hatten wir uns auf der Sandebene vor der Stadt zu Zeremonien und Festlichkeiten versammelt. Ich sollte neben meinem Vater auf dem Korallenschlitten sitzen, wenn er die Bürger begrüßte. Aber als es soweit war, war ich nirgends zu finden. Mein Vater konnte den Festakt nicht verschieben, obwohl er über meine Pflichtvergessenheit wütend war. Darum schickte er den Hauptmann seiner Leibwache los, um mich zu suchen.«

Mit großen Augen platzte Tolpan heraus: »Wo warst du denn? Ich wette, du warst in Gefahr!«

Selana lächelte versonnen. »Ja, aber nicht so sehr wie mein Vetter Trudarqqo. Er war erst acht und war vor der Zeremonie auf eigene Faust losgezogen. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, war sehr in Sorge und hatte mich gebeten, ihr suchen zu helfen. Das war ein paar Stunden vorher. Wir haben ihn überall auf den Korallenbänken gesucht, wo er immer spielte, aber wir haben ihn nicht gefunden. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus bin ich in die Stadt zurückgeschwommen, in eine verlassene Gegend, die uns verboten war. Wie alle Kinder zieht so ein verbotener Ort natürlich auch junge Dargonesti-Elfen an. Und da fand ich ihn. Er hat alles ausgekundschaftet und gespielt, er wäre Nakaro Silberwache auf seiner langen Suche.«

Tanis hörte gefesselt zu. Selana erinnerte ihn sehr an Laurana, die Tochter der Stimme der Sonne, mit der er aufgewachsen war. Wie sie besaß Selana ein herzliches Wesen, das sich hinter ihrem hochmütigen, selbstsüchtigen Auftreten versteckte.

»Ich wußte, daß der Festakt inzwischen angefangen hatte und daß mein Vater mich ausschimpfen würde. Darum wollten wir eilig zurück, aber als wir an einem verlassenen Haus vorbeikamen, roch ich den unverkennbaren Gestank der Haie, unserer Todfeinde.

Ich spähte hinein und entdeckte drei große, weiße Monster, die sich zweifellos versammelt hatten, um ein paar Dargonesti-Elfen aufzulauern, sie zu töten und uns das Fest zu verderben. Und sie hatten Trudarqqo bemerkt und stießen voller Mordlust aus ihrem Versteck hervor.

Mit ihren schrecklichen Zähnen schnappend, schossen die Riesenviecher durch die Wellen und jagten dem entsetzten Kind nach. Mich hatten sie nicht gesehen, und dadurch hatte ich einen Vorteil. Mit meinem mächtigsten Zauberspruch erschuf ich sechs Abbilder von mir und umringte die Haie. Ich ließ mich so wild wie möglich aussehen und tat, als wenn ich sie angreifen wollte. Weil sie glaubten, sie wären zahlenmäßig unterlegen, flohen die Haie – direkt zum Festplatz!

Ich habe sie die ganze Zeit gejagt, und als sie auf dem Festplatz auftauchten, war dort die Hölle los. Mein Volk ist nicht kriegerisch, und die Haie suchten in ihrer Panik Schutz in der Menge. Zum Glück ist die Leibwache meines Vaters gut ausgebildet, und die hat sofort eingegriffen. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie die Haie aus der Menge getrieben und getötet. Niemand wurde ernstlich verletzt.

Nachdem die Körper unserer Feinde in die Küchen geschleppt worden waren, fuhr mein Vater mit dem Festakt fort. Während seiner Ansprache gab er mir öffentlich den Beinamen ›Haijägerin‹. Das war der schönste Augenblick in meinem Leben.«

»Hui, was für eine Geschichte! Siehst du es nicht vor dir, Tanis?« Tolpan platzte fast vor Aufregung. »Die Haie rasen in die Menge, während die Soldaten näherkommen, und überall flitzen Bilder von Selana herum. Das hätte ich gern gesehen.«

»Bestimmt, Tolpan«, stimmte Tanis zu und reckte sich. »Ihr seid wirklich abenteuerlustig, Prinzessin.«

Obwohl es im flackernden Licht des Feuers und wegen Selanas Blässe schlecht zu erkennen war, kam es Tanis so vor, als ob die Meerelfenprinzessin errötete. »Das Leben im Meer ist schön und voller Kraft, aber oft auch rauh.«

Es kam eine kurze, fast unangenehme Stille auf, bis Tanis anbot: »Ich übernehme die erste Wache.« Die Nacht war warm, aber ein leichter Frühlingswind von den immer noch schneebedeckten Bergen im Osten kühlte die Luft ab. Tolpan kletterte auf die untersten Äste einer Espe und schlief in seiner Pelzweste schnell ein, wobei er seinen Hupak fest umklammerte. Flint rollte sich am Feuer zusammen. Den zotteligen Kopf legte er auf einen bemoosten Felsen und zog sich die Kappe über den Kopf. Selana wandte allen den Rücken zu, zog ihren Umhang um sich und schlief in einer schützenden Haltung im Schneidersitz ein, die furchtbar unbequem aussah. Tanis legte sich seine Decke um die Schultern und hielt Wache.

Zwei Stunden später, als der Mond fast direkt über ihnen stand, warf Tanis eine Handvoll Kieselsteine gegen den Baum, um den Kender zu wecken. Tolpan schreckte hoch und rutschte gutgelaunt vom Baum, um seinerseits über die Gruppe zu wachen.

Wieder zwei Stunden später erwachte Flint weniger fröhlich, und der Rest der Nacht verlief ereignislos.

Während sie morgens weitermarschierten, wurde wenig geredet. Tanis kam es so vor, als wäre Selana noch zurückhaltender als bisher. Er hatte gehofft, daß sie sich mehr der Gruppe zugehörig fühlen würde, nachdem sie letzte Nacht ihre Geschichte erzählt hatte, aber sie schien noch weniger dazu geneigt, irgend etwas mitzuteilen, als würde sie sich für ihre Enthüllungen schämen. Obwohl er wußte, daß das endlose Laufen sie anstrengte, fand der Halbelf ihre hochnäsige Art aufreizend.

Als sie zum Mittagessen Rast machten, setzte sich Selana wortlos mehrere Schritte abseits.

»Verzeiht, Prinzessin«, rief Tanis ungehalten, »aber meint Ihr, Ihr könntet Euch dazu aufraffen, uns ein bißchen Wasser zum Essen zu holen?«

»Wenn ich mich mit etwas auskenne, dann mit Wasser«, gab sie zurück. Wütend riß sie ihm den kleinen Topf aus der Hand und ging halb stampfend, halb hinkend dem Geräusch von fließendem Wasser nach.

Flint legte dem Halbelfen die Hand auf den Unterarm. Graue Augen musterten das bedrängte Gesicht des jungen Elfen. »Was ist in dich gefahren, Tanis? Du hast doch sonst keine Schwierigkeiten, mit anderen auszukommen. Zu der Prinzessin warst du schon einige Male richtig grob.«

Tanis schüttelte den Kopf. »Ich weiß, Flint, aber manchmal erinnert sie mich so an Laurana und ihre eingebildete Art.«

Wie Flint wußte, war Laurana die Tochter von Tanis’ Vormund, Solostaran. Ihre selbstsüchtige Liebe zu Tanis war der Anlaß gewesen, warum er Qualinost verlassen hatte, wo er geboren war. »Nach all den Jahren überrascht es mich, daß diese Art von Frauen mich immer noch aufregt.« Er rieb sich müde das Gesicht.

»Eines Tages wirst du dein Problem mit Laurana lösen«, sagte Flint voraus. »Selana und Laurana haben wirklich viel gemeinsam, vor allem natürlich ihre aristokratische Elfenerziehung«, stimmte er zu. »Aber laß nicht die eine für die Fehler der anderen büßen.«

Zwanzig Minuten später war das Essen fertig, und sie warteten, doch Selana war noch nicht zurück. Nach weiteren zwanzig Minuten war Tanis verstimmt, der alte Zwerg jedoch machte sich Sorgen.

»Es ist sicher alles in Ordnung, Flint«, sagte Tanis. »Sonst würde sie in ihre Muschel stoßen.«

Tolpan, der in der warmen Sonne mit seinen Karten beschäftigt war, hob den Kopf. »Ähm, das würde sie bestimmt, wenn sie sie hätte. Ich wollte sie ihr ja wirklich gestern abend zurückgeben, aber dann sind wir alle eingeschlafen, und es ist mir einfach entfallen. Ich geb sie ihr gleich wieder, wenn ich sie sehe.«

»Wenn einer von uns sie je wiedersieht«, murmelte Flint, der unablässig die Umgebung mit den Augen absuchte. »So lange braucht man nicht zum Wasserholen. Los, wir müssen sie suchen.«

»Wahrscheinlich ist sie an den Fluß gekommen und konnte der Versuchung nicht widerstehen, schwimmen zu gehen«, meinte Tanis trocken und wollte sich damit selbst beruhigen. Er trottete neben Flint und Tolpan über das unebene, hügelige Gras, während sie dem Geräusch von fließendem Wasser nachgingen. »Ist euch nicht aufgefallen, wie sie sich immer das Gesicht mit Wasser aus ihrem Weinschlauch bespritzt?«

Sie eilten durch stachlige Büsche und kamen am Flußufer heraus. Selana war nirgends zu sehen.

»Vielleicht ist sie an einer anderen Stelle rausgekommen«, meinte Flint. Ohne abzuwarten, rannte Tolpan am Fluß ein Stück weiter nach rechts hoch, während Tanis sich nach links aufmachte. Als sie zu Flint zurückkamen, hatten sie beide nichts gesehen.

Der Zwerg untersuchte auf einem Bein kniend den weichen Boden am Fluß. »Seht euch das an«, sagte er und zeigte darauf. »Das sind Fußabdrücke in Selanas Größe.«

»Und was ist das?« fragte Tolpan und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Haufen tierischer Fußabdrücke, die ihre umgaben. »Das sieht aus wie Hufe von…« Verwundert sah er auf. »Ziegen? Ist Selana mit einer Herde Ziegen weggelaufen?«

Flint und Tanis sahen sich wissend an. »Keine Ziegen. Satyre. Sie mögen Elfen und Frauen und besonders Elfenfrauen.«

Gleichzeitig hörten sie etwas weiter weg das melancholische Lied einer Rohrflöte. Tanis wollte noch warnend die Hände über die Ohren legen, doch zu spät. Der Ton der Satyrflöte hatte ihn schon verzaubert.

»Was ist das für eine wunderbare Musik, und wo kommt sie her?« fragte der Halbelf mit glasigen Augen.

Mit heiterem Lächeln zeigte Flint, der seine scharfen Zwergenohren spitzte, mit seinem dicken Finger auf einen Espenhain, der flußabwärts am Ufer wuchs. »Ich glaube, die Musik kommt von da drüben.«

»Also, los!« brach Tolpan strahlend los, der die drei Gefährten anführte, als sie wie Kinder dem klagenden Klang der Flöten nach durch das erwachende Land hüpften. Kreischend vor Entzücken, pflückte Tolpan eine Pusteblume und blies Flint ihre gefiederten Samen ins Gesicht. Kichernd versetzte der rotgesichtige Zwerg dem Kender einen spielerischen Schubs, und Tolpan kugelte lachend den Hang hinunter. Mit zurückgeworfenem Kopf hob Tanis den hilflosen Tolpan kichernd auf und warf ihn sich auf die breiten Schultern.

Allesamt hielten sie auf den Hain zu.

Nachdem sie durch den Baumring getaumelt waren, erblickten sie Selana, deren Umhang offenstand und darunter eine enge, wadenlange Tunika enthüllte. Fröhlich hüpfte sie in der Mitte eines Kreises aus sechs Ziegenmännern herum. Einer davon kippte ihr eine Mischung aus weißem und rotem Wein in den offenen Mund, die sie glücklich herunterschluckte.

Als sie die anderen sahen, winkten die ausgelassenen Halbmenschen oder Halbziegen sie freudig mit ihren Menschenarmen herbei und traten dabei mit den Hufen aus. Kurz darauf hatten sich die drei Reisenden dem Spaß angeschlossen und sprangen Arm in Arm mit ihren Gastgebern durch den Wald.

»Tolpan, Flint, Tanis, meine lieben Freunde!« rief Selana und umarmte sie alle. Mit einer Handbewegung bezog sie die Satyre mit ein. »Ich will euch meine neuen Freunde vorstellen: Enfeld, Bomaris, Gillam, Pendenis, Kel und Monaghan! Ist ihre Musik nicht zauberhaft?« fragte sie mit verträumtem Gesicht. »Spielt das kleine Willkommenslied noch mal«, bettelte sie.

»Für dich tun wir alles, liebe Prinzessin«, brummte der Satyr namens Enfeld mit seiner klangvollen Baßstimme. Wie auf Kommando senkten die versammelten sechs Ziegenmenschen die Köpfe mit den kurzen Hörnern und hielten Holzflöten an die Lippen. Ein schwungvoller Tanz ging los.

Glücklich und hingerissen griff Flint nach einem angebotenen Becher Wein, hob ihn hoch und trank schmatzend, wobei die Hälfte in seinen Bart lief. Dann gab er den Becher an Tanis weiter, der ihn Tolpan reichte.

Pendenis schlug dem Kender auf die Schulter. »Das Leben ist zu kurz, um ernst zu sein, nicht wahr, kleiner Freund? Komm, kletter auf meinen Rücken, dann zeig ich dir, welche Freuden uns im Herzen des Waldes erwarten.«

»Gehen wir doch alle!« rief Flint, der sich auf Kels Rücken schwang. Obwohl er normalerweise jedes Tier nur mit Mißtrauen bestieg, konnte sich der Zwerg in diesem Moment nichts Schöneres vorstellen. Gillam duckte sich, griff Tanis spielerisch von hinten an und warf sich den lachenden Halbelfen auf sein Ziegenhinterteil. Selana ritt auf Enfelds Rücken voraus.

Während sie alle ungehörigen Lieder sangen, die sie kannten, vergnügten sie sich sorglos und ungehemmt wie Kinder im Garten der Natur. Tanzend, trinkend und herumtollend wie nie zuvor, tauchten sie in die glückliche Welt der Satyre ein, wo es weder Reue noch Schuld noch Gewissen gab. Der sie umgebende Wald verdeckte gnädig alles weitere.


Tanis erwachte als erster in der Stille des Hains. In den Feuergruben rauchte noch die Asche, und der Himmel im Osten glühte rosarot. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was er hier machte, aber irgend etwas hier kam ihm sehr, sehr verkehrt vor.

Zum einen fühlte sich sein Kopf so matschig an wie eine überreife Tomate. Zum anderen lag Tolpan quer über seinen Beinen.

Vorsichtig rüttelte der Halbelf den Kender wach. Tolpan plapperte nur etwas im Schlaf, wälzte sich zur Seite und schmiegte seinen zarten Körper an einen dicken Stein.

Mehrere Fuß weiter lag der Zwerg laut schnarchend auf dem Rücken. Ein leerer Weinschlauch baumelte von seinen bärtigen Lippen. »Flint!« zischte Tanis.

Flint erwachte schnaubend und spuckte den Schlauch aus. »Huch? Wer ist da?« Jammernd legte er eine Hand an die Schläfe und schloß die Augen wieder. »Wer du auch bist, bitte säg mir den Kopf ab, aber mach schnell!«

»Ich mein’s ernst!« schimpfte Tanis.

»Wer macht denn Witze?« grollte Flint, der endlich doch die Augen aufschlug und sich hinsetzte. »Was ist passiert? Wo sind wir?«

Tanis schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Nachdenklich kniff er die Augen zusammen und sagte dann langsam: »Der Sonne nach ist es Morgen, auch wenn ich nicht weiß, wieviel Zeit vergangen ist. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie wir nachmittags am Wasser standen. Wir haben Selana gesucht und fanden – «

»Hufspuren von Satyren!« stöhnte Flint. »Ihre Flöten haben uns verhext!« Erschrocken sah er sich im Hain um und entdeckte den zusammengerollten Körper des Kenders. »Da ist Tolpan, aber wo ist die Prinzessin? Meinst du, sie haben sie entführt?«

Die beiden Männer sprangen auf und rannten herum, bis sie die Meerelfenprinzessin hinter einem Strauch fanden. Sie atmete noch und lächelte sogar selig im Schlaf. Ihr blauer Umhang war unter ihr ausgebreitet. Die Tunika hatte sie verkehrt herum an, und ihr Haar war völlig durcheinander. Kleine Stöckchen und trockenes Gras hatten sich darin verwickelt.

»Den Göttern sei Dank, da ist sie«, seufzte Flint.

Tanis rieb sich träge das Gesicht. »Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.« Er warf einen Blick auf die schlafende Prinzessin. »Wir sollten sie lieber wecken und uns auf den Weg machen. Nur die Götter wissen, wieviel Zeit wir verloren haben.«

»Zeit ist nicht das einzige, was wir verloren haben«, piepste Tolpan, der plötzlich hinter ihnen stand. »Guckt mal eure Taschen nach. Selanas Lichtmuschel ist weg.«

Tanis und Flint drehten beide ihre Taschen um und machten ihre Beutel auf: leer. »Verdammt!« schrie der Zwerg. Er sah das Messer an Tanis’ Hüfte und merkte, daß die Axt noch an seinem Gürtel hing, woraufhin er einen resignierten Seufzer von sich gab. »Wenigstens haben sie uns unsere Waffen gelassen.«

»Mit diesen magischen Flöten brauchen sie sich wahrscheinlich kaum zu verteidigen«, sagte Tanis, als er seinen Bogen und den Köcher voller Pfeile in den tiefhängenden Ästen eines Baums wiederfand.

Komischerweise war es der Kender, dessen Beutel mit Wertsachen nicht angetastet worden war, der vor Wut kochte. Er stampfte mit dem Fuß auf. »Schon, vielleicht wissen sie ja zu feiern«, erregte er sich, »aber ansonsten beeindrucken mich diese Satyre nicht besonders, das kann ich euch sagen! Das muß man sich mal vorstellen, da nehmen die sich einfach etwas, was ihnen gar nicht gehört!«

»Das muß man sich mal vorstellen«, trällerte Flint leise.

10 Der letzte Verrat

Was Delbridge an der winzigen Zelle, in der er saß, am meisten störte, war der faulig-feuchte Gestank, den nicht einmal frisches Stroh überdecken konnte. Eine Zeitlang versuchte er, durch den Mund zu atmen, was auch half, ihm aber einen rauhen Hals machte.

Außerdem haßte er Langeweile. Die Zelle war finster, denn es gab kein Fenster und nicht einmal einen Türspalt, so daß er schon längst jedes Zeitgefühl verloren hatte. Eine Weile hatte er sich damit beschäftigt, die Steinblöcke des Bodens zu zählen, indem er sie mit den Fingern abtastete, aber dabei hatte er auch so viele andere Dinge gefunden – Dinge, die ihn schon bei der ersten Berührung entsetzten –, daß er bei dreiunddreißig mit dem Zählen aufgehört hatte. In der Ferne hörte er Wasser tropfen und zählte auch die Tropfen, aber bei neunhundertzweiundsiebzig gab er auf, weil es zu regnen anfing und das Tropfen in ein gleichmäßiges Rauschen überging.

Irgendwann öffnete jemand die dicke Holztür, aber Delbridges Augen waren so an die Dunkelheit gewöhnt, daß er im hellen Eingang nur einen vagen, menschengroßen Umriß ausmachen konnte. Er versuchte, mit der Person zu sprechen und zu ihr hin zu kriechen, aber der Unbekannte knurrte nur, warf etwas auf den Boden und schlug Delbridge die Tür vor der Nase zu. Auf den kalten Steinblöcken fand er ein Stück altes Brot und einen Wasserschlauch, dessen Inhalt wie das Innere des Tiers roch, aus dem der Behälter gemacht war.

Zu seiner Hauptbeschäftigung wurde es, die Kleinigkeiten im Auge zu behalten, die ihn störten, denn sonst hätte er über wirklich wichtige Dinge nachdenken müssen, wie zum Beispiel seine prekäre Lage. Seine völlige Hilflosigkeit brachte ihn an den Rand der Panik. Noch nie war er in einer Lage gewesen, aus der er sich nicht durch Lügen, Betrügen oder Stehlen hatte herauswinden können. Er wußte einfach nicht, wie er mit einer solchen Krise wie dieser umgehen sollte.

Wann würde jemand kommen, dem er diesen schrecklichen Irrtum erklären konnte? Am Vortag war er vor Lord Curston aufgetreten und hatte gesehen, daß dem einzigen Sohn des Ritters eine Katastrophe drohte. Seine Gefangenschaft mußte etwas damit zu tun haben, denn seit seiner Ankunft in Tantallon hatte er sonst nichts getan.

Warum wurde er bestraft? Wenn Delbridges Vision abgewendet worden war, müßten alle glücklich sein; sie müßten ihn mit Belohnungen überschütten. Und wenn nichts geschehen war, das Lord Curstons Sohn bedrohte, sollten sie noch glücklicher sein. Er wurde doch bestimmt nicht so behandelt, weil man ihn für einen Scharlatan hielt?

Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß es noch eine dritte Möglichkeit gab. Wenn dem Knappen Rostrevor nun etwas Unaussprechliches zugestoßen war? Delbridge schluckte. Diese Möglichkeit war ihm gestern so abwegig erschienen. Der Junge war doch zwischen den Wachen des Ritters und den Sprüchen des Zauberers Balkom vor allem geschützt gewesen, was ihn bedrohen mochte.

Aber wenn nicht? In der Vision hatte ihn eindeutig etwas erwischt. Vielleicht war die Vision wahr geworden, und jetzt saß Delbridge im Gefängnis.

Sie glaubten, daß er etwas damit zu tun hatte! Das war die einzige logische Erklärung. Der Junge war verschwunden, und der Ritter gab Delbridge die Schuld. Er sank auf den Steinboden der Zelle und schlang die Arme um den Kopf. Was sollte er mit dem Jungen wollen? Er hatte schon genug Probleme damit, für sich selbst zu sorgen.

Selbst wenn er die Tat nicht selbst begangen hatte, sah es natürlich so aus, als wenn er alles von Anfang an gewußt hätte.

Delbridge versuchte es mit etwas zuversichtlicheren Gedanken. Vielleicht war seine Vision nur so etwas Ähnliches wie das, was Rostrevor passiert war. Vielleicht konnte er noch einmal betonen, daß er das Unheil nur vorhergesehen, nicht aber verursacht hatte. Die Tragödie war geschehen, weil Curston und sein Magier den Jungen nicht angemessen beschützt hatten. Vielleicht konnte er ja jemanden überzeugen, falls jemals einer mit ihm reden würde. Er seufzte.

Delbridge sah zur Tür. Wann würde sie sich wieder öffnen?

An diesem ganzen Mist war nur das verdammte Armband schuld! Delbridge fuhr mit der Hand in die Tasche, holte das kalte Metall ganz unten heraus und riß dabei den Saum der Tasche auf. »Was für ein vermaledeites Unglücksding«, fluchte er und warf das Armband an die Steinmauer der stinkenden Zelle, wo es mit einem Rascheln im Stroh landete. Delbridge steckte seine Hände in die Manteltaschen und lief hin und her.

Wenn Lord Curston ihn nicht umbrachte, würde die Warterei das übernehmen.

Irgendwann suchte er sich ein trockenes Eckchen Stroh und schlief ein. Eine Weile später weckte ihn Licht, das durch die geöffnete Tür fiel.

»Nimm deinen ekligen Fraß wieder mit«, murmelte der Gefangene, ohne aufzusehen oder aufzustehen. »Den Abfall, den du vorhin gebracht hast, habe ich nicht gegessen, und den, den du jetzt bringst, werde ich auch nicht essen, du ungewaschener, ungebildeter Affe von Türsteher.« Während er sich mühsam aufrichtete, beschloß Delbridge, einfach sein Glück zu versuchen. »Ich bestehe darauf, sofort denjenigen zu sehen, der für meine irrtümliche Gefangennahme verantwortlich ist!«

»In Eurer Lage könnt Ihr auf gar nichts bestehen«, grollte eine Baritonstimme. »Vielleicht ist Euch nicht klar, welch schwere Anklage gegen Euch besteht.«

»Genau das ist es! Ich weiß nicht einmal, wie die Anklage lautet!« heulte Delbridge, der völlig sein hochmütiges Gehabe vergaß. »Wer bist du überhaupt? Ich kann dein Gesicht nicht sehen. Könnten wir nicht hier drin Licht machen, vielleicht eine Fackel? Oder, warum gehen wir nicht lieber gleich woanders hin – «

»Skala delarz.«

Delbridge sprang zurück, als vor seinen Augen Flammen hochschossen und seine Augenbrauen versengten. Als er wieder sehen konnte, entdeckte er zu seinem Entsetzen, daß die Flammen aus der linken Hand des Mannes loderten. Aber noch erstaunlicher war, daß der Kerl Delbridge ganz ruhig betrachtete, während er seine brennende Hand wie eine Fackel hochhielt. Instinktiv griff Delbridge hin und wollte das Feuer löschen. Mit einem Wink des brennenden Arms hielt ihn der Mann zurück.

»Faßt mich nicht an. Ich habe einen einfachen Feuerzauber gesprochen, damit es hell wird. Das finde ich weniger lästig, als eine Fackel mitzuschleppen.« Er drehte seine Hand bewundernd hin und her. »Macht ziemlich viel Eindruck, nicht wahr?«

»Ja, allerdings…« Delbridge trat zurück und sah den Mann im Licht des unnatürlichen Feuers mißtrauisch an.

Er erkannte, daß es Balkom war, der Zauberer, den er am Vortag als Lord Curstons Berater kennengelernt hatte. Aus der Nähe fiel Delbridge auf, daß er zu Balkom aufblicken mußte, weil der Mann überdurchschnittlich groß war. Er trug einen langen, glänzendroten Umhang mit Kapuze, der über den kräftigen, breiten Schultern schwarz abgesetzt war. Der Umhang wurde von einer großen Brosche mit einem Edelstein zusammengehalten. Die Gesichtshaut des Zauberers wirkte fast durchsichtig und papierdünn, wie das Fleisch einer reifen Honigmelone. Unter der unnatürlich glatten Oberfläche pulsierten blaue Adern. Im Gegensatz zum Vortag trug er heute eine dunkelrote, bestickte Augenklappe aus Seide über dem rechten Auge.

Während er angesichts von Delbridges Unbehagen leise in sich hineinlächelte, blies der Mann die Flammen aus und zog dann – mit immer noch rauchender Hand – einen dünnen Stab aus seinem Gewand. Ein geflüsterter Befehl ließ ein schwaches Licht aus dem Stab strömen, das den Raum sanft erleuchtete.

»Ihr habt uns da gestern eine interessante Geschichte aufgetischt«, sagte Balkom plaudernd in seiner gleichmäßigen Baritonstimme.

»Danke. Ich freue mich sehr, daß Ihr das so seht«, antwortete Delbridge sarkastisch.

»Vielleicht könntet Ihr so gut sein, mir zu verraten, warum ich dann eingesperrt wurde.«

Der Magier verschränkte die Arme und wippte auf den Absätzen. »Alles zu seiner Zeit. Eure Geschichte hat bei Lord Curston großen Eindruck hinterlassen. Wie habt Ihr sie erfahren?«

Da Delbridge eine Gelegenheit sah, wie er sich retten und für sich werben konnte, ließen Angst und Unsicherheit nach, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Er richtete sich zu seiner ganzen, wenig eindrucksvollen Größe von etwas über fünf Fuß auf. »Das war eine wirkliche Vision. Ich habe Euch ja gesagt, ich bin ein Orakel, ein Seher. Wenn meine Fähigkeit mir eine Stellung am Hof verschafft hat, muß ich sagen, daß mir die Art, wie Ihr mir diese Neuigkeit mitteilt, nicht gefällt. Vielleicht muß ich die Sache ja noch einmal überdenken – oder wenigstens meine Gehaltsvorstellungen.« Delbridge deutete auf die Zelle. »Diese kleine Farce hier, die mich offenbar auf die Probe stellen soll, ist nicht lustig.«

»Das ist weder eine Prüfung, noch soll es lustig sein.«

Die Stimme des Magiers klang wie schwere, zuschlagende Eisentüren. Balkom begann, langsam und gelassen herumzulaufen. Der Saum seiner Robe raschelte leise, als er über den kalten Steinboden glitt. Dann blieb Balkom stehen und betrachtete Delbridge und legte den Finger nachdenklich an die Lippen.

»Omardicar… Der Name sagt mir nichts. Ihr seid nicht von hier, nicht wahr?«

Delbridge schüttelte den Kopf. »Ich bin nur zur Burg Tantallon gekommen, um Lord Curston meine Dienste anzubieten. Ich bin aus« – Delbridge erinnerte sich an seinen unrühmlichen Abgang von Burg Thelgaard – »sagen wir mal, ich reise viel herum.«

»Der Sohn eines Edelmanns, entführt und irgendwo gefangengehalten, weggehext, um sich etwas unendlich Bösem zu stellen, die Familie in Trauer und Sorge zurückgeblieben… Was für ein tragisches Schicksal.« Balkom fischte etwas aus einer Tasche und spielte in der Handfläche damit. »Ist das alles, was Ihr wißt, oder habt Ihr in dieser ›Vision‹ noch mehr gesehen?«

Delbridge ließ sich nicht gern an die Bilder erinnern. Seine Schultern sackten wieder herab. »Nein. Ich habe Euch alles gesagt.« Die Wendung, die das Gespräch nahm, gefiel ihm gar nicht.

Die Augen des Gefangenen wurden schmal. Er beschloß, ein letztes Mal zu versuchen, herauszubekommen, was eigentlich los war. »Ich beantworte anscheinend sehr viele Fragen, erfahre selbst aber nur wenig. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich hier bin. Warum sollte ich Euch irgend etwas erzählen?«

Der Magier fummelte abwesend an seinem Stab und dem anderen Ding in seiner Hand herum. Jetzt erkannte Delbridge, daß es ein großer, blauer Edelstein war. Dann sah Balkom Delbridge wieder an. »Ihr solltet mir beantworten, wonach ich frage, weil ich derjenige bin, der Euch verhört. Wenn Ihr meine völlig berechtigte Neugierde zufriedenstellt, kann ich Eure Freilassung bewirken. Wenn nicht – wenn Ihr statt dessen neue Fragen stellt oder beunruhigende Zweifel an Euren Absichten und Motiven aufkommen laßt –, dann könntet Ihr feststellen, daß Ihr eine lange, lange Zeit hierbleiben müßt.« Indem er sich näher zu Delbridge herunterbeugte, fügte er hinzu: »Oder – noch schlimmer – eine sehr kurze Zeit.«

Mit unverbindlicher Miene richtete sich der Magier wieder auf. »In jedem Fall solltet Ihr meiner Meinung nach vielleicht wissen, warum Ihr hier seid. Ich werde es Euch erzählen, damit wir beide auch wirklich über dieselbe Sache reden.«

Während er den blauen Stein zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, lief er hin und her. »Als wir heute morgen das Zimmer des Knappen Rostrevor aufmachten, war es leer. Der Knappe war fort – spurlos verschwunden. Da die Wachen und meine magischen Schutzvorkehrungen an ihrem Platz waren, konnte nichts, was ich kenne, den Raum unbemerkt betreten oder verlassen haben. Dennoch war der Knappe nicht mehr da.«

Delbridges Augen quollen vor Überraschung hervor. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet: Knappe Rostrevor war wirklich entführt worden, und man gab ihm die Schuld daran.

Der einäugige Magier blieb vor Delbridge stehen. »Nur jemand, der über unseren Plan Bescheid wußte, hätte sich so kühn hineinschleichen können.«

Delbridge zitterte wie Espenlaub. Er hatte für jemand anderen eine Tragödie vorhergesehen und wurde nun deren Opfer.

Diese trübsinnigen Gedanken wurden durch Balkoms weiche Stimme unterbrochen. »Ihr seid natürlich ganz böse in die Sache verwickelt. Wenn Ihr mir sagt, was aus dem Knappen geworden ist und wie das Verbrechen ausgeführt wurde, wird Eure Hinrichtung gnädig ausfallen.«

»Hinrichtung!« Die Todesdrohung weckte Delbridge wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich habe nichts mit dem Verschwinden des Jungen zu tun! Bis zu meiner gestrigen Audienz wußte ich doch nicht einmal, daß Lord Curston einen Sohn hat. Wie hätte ich ihn entführen sollen? Wozu hätte ich ihn entführen sollen?«

»Genau das will ich herausfinden.«

Selbst in seiner Panik erkannte Delbridge die Aussichtslosigkeit der Sache. Zweifellos war da schwarze Magie im Spiel, etwas viel Dunkleres als das Armband. Solche Hexenjagden hatte er schon miterlebt. Wenn das hier so ablief, wie er befürchtete, würde er um so schuldiger wirken, je weniger Beweise man gegen ihn hatte. Gleichzeitig wagte er nicht, irgend etwas zu sagen, was als Geständnis oder Schuldbekenntnis ausgelegt werden konnte.

»Gnädiger Herr, ich bitte Euch zu bedenken, wessen Ihr mich anklagt. Wenn ich daran beteiligt wäre, warum hätte ich meine Absicht, dieses Verbrechen zu begehen, dann vorher ankündigen sollen?«

Balkom steckte seinen leuchtenden Stab vorsichtig in einen Riß in der Wand und nahm dann den Edelstein zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Er hielt ihn hoch, so daß das Licht seines Stabes reflektiert wurde und winzige Lichtflecken über die Zellenwände tanzten. »Ein ungeschliffener Edelstein ist etwas Seltsames. Habt Ihr je einen gesehen?«

Delbridge schüttelte teilnahmslos den Kopf, doch Balkom fuhr fort: »Man sieht ihnen überhaupt nichts von der endgültigen Schönheit an, die wir so schätzen. Rauh, dunkel, formlos. Ein ungeübtes Auge würde ein unbezahlbares Juwel als wertlosen Stein abtun. Aber das geübte Auge, das sich mit Edelsteinen auskennt, sieht in dem unschuldigen Stein das, was er ist, wie gern er auch seine wahre Natur verbergen möchte.«

Er ließ den Edelstein in seine rechte Handfläche fallen und schloß die Finger darum. Delbridge erinnerte sich unklar daran, daß ihm aufgefallen war, daß dem Mann der rechte Daumen fehlte. »Wie bei einem ungeschliffenen Edelstein sind die Motive böser Menschen niemals klar und eindeutig.«

»Wie hätte ich Curstons Sohn wegzaubern sollen?« brachte Delbridge gequält heraus. »Ich bin kein Zauberer. Eure Magie hatte ich nie überwinden können.«

»Kommt schon«, entgegnete Balkom herablassend, »wir sind doch nicht dumm. Ganz sicher hattet Ihr Komplizen. Wenn Ihr selbst nicht gestehen wollt, dann sagt mir einfach ihre Namen. Eure Hilfsbereitschaft wird berücksichtigt werden, wenn das Urteil gefällt wird.«

»Ich bin unschuldig!« kreischte Delbridge, der an der Steinmauer herunterrutschte. »Wie soll ich mich verteidigen? Wenn ich etwas gestehe, dann glaubt Ihr mir, und ich bin verloren. Wenn ich sage, ich bin unschuldig, dann sagt Ihr, ich lüge. Warum seid Ihr überhaupt hier? Um mich zu quälen? Ich habe nichts Böses getan!«

Balkom stand ungerührt da und sah zu, wie Delbridge seine Knie umklammerte und sich auf den kalten Steinen vor und zurück wiegte.

»Ich bin hier, weil Lord Curston mich geschickt hat.« Delbridge sah den Magier ängstlich an, sagte aber nichts.

»Und ich bin auch hier, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Offenbar war irgendeine Art von Magie im Spiel. Das geht mich auch etwas an.«

Balkom streichelte seinen Spitzbart. »Nehmen wir einmal an, Ihr hattet wirklich nichts mit dieser Untat zu tun. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß Ihr unschuldig seid, gibt es noch offene Fragen. Die Hauptfrage ist, woher wußtet Ihr, was geschehen wurde, bevor es eintrat? Wenn Ihr diese Frage zu meiner Zufriedenheit beantworten konntet, wurden sich Eure Chancen erheblich verbessern.

Wenn Ihr mir jedoch weiter trotzt und meinen Fragen ausweicht, dann kann ich genausogut auf der Stelle gehen und meinem Lehnsherrn Bericht erstatten. Welcher sehr nachteilig für Euch ausfallen wird.«

Delbridge hatte natürlich nicht vorgehabt, so zu tun, als wenn er in dieser Sache Oberwasser hatte, aber jetzt blieb ihm keine Wahl. Dieser Zauberer hatte nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen, wenn er Delbridge dieses Verbrechen anhängte, egal was sich tatsächlich abgespielt hatte.

»Ich habe Euch gesagt, was ich weiß«, seufzte er. »Ich habe die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen. Es ist wirklich eine wundersame Gabe, und ich habe mich immer bemüht, sie nicht zu meinem Vorteil auszunutzen. Statt dessen habe ich Menschen geholfen, so gut ich konnte. Gestern habe ich versucht, Eurem Lord Curston zu helfen.«

Der untersetzte Mann drehte nervös einen Ring an seinem Finger. »Was ich gestern erzählt habe, war das, was ich gesehen habe. Ich war mir nicht sicher, wie es zu deuten war. Es war so lebhaft und erschreckend. Und ich hatte bestimmt keine Ahnung, daß die Kräfte, die da am Werk waren, selbst Eure Macht überstiegen.«

Delbridge arbeitete sich zäh weiter. »Wenn ich meine Kraft nur richtig unter Kontrolle hätte! Ich bin sicher, daß ich unendlich viel Gutes – «

»Das reicht«, unterbrach ihn Balkom. Sein grimmiger Blick schnitt Delbridge das Wort ab. Balkom faltete die Hände hinter dem Rücken und lief durch die Zelle. Der Pseudozauberer hingegen verlor langsam jedes bißchen Zuversicht.

Nachdem er die Zelle zehn- oder zwölfmal durchmessen hatte, blieb Balkom direkt vor Delbridge stehen und sah ihm ins Gesicht. Etwas erschrocken merkte der Gefangene, daß Balkom gefährlich nah bei dem Armband stand, das im verfaulten Stroh verborgen lag.

»Ich glaube, daß manches an Eurer Geschichte der Wahrheit entspricht«, fing Balkom an. »Nicht der größte Teil, noch nicht einmal ein Drittel davon, aber manches. Zum Beispiel glaube ich, daß Ihr Fetzen der nahen Zukunft wahrnehmen könnt. Ich glaube auch, daß Ihr Schwierigkeiten hattet zu begreifen, was Ihr da erfahrt.

Der Rest Eurer Geschichte… nein, davon glaube ich gar nichts. Zum Beispiel glaube ich nicht, daß es eine angeborene Fähigkeit ist, die Ihr schon immer besessen habt. Wenn das so wäre, solltet Ihr inzwischen damit umgehen können. Ich glaube Euch auch nicht, daß Ihr sie je zum Nutzen von irgend jemand außer Euch selbst eingesetzt habt.

Fangen wir also noch einmal von vorne an und sehen wir mal, ob wir der Wahrheit etwas näherkommen. Erzählt mir genau, was Ihr in Eurer Vision ›gesehen‹ habt. Vor allem, ob Ihr irgendeine Ahnung habt, wer hinter dem Verschwinden des Knappen steckt.«

Diese Art von Verhör war viel mehr nach Delbridges Geschmack. Zum ersten Mal im Leben überlegte er, ob er vielleicht die Wahrheit sagen sollte. Leider befürchtete er, daß seine Antworten Balkom enttäuschen würden.

»Als ich gestern vor Euch stand, habe ich zum ersten Mal etwas von dieser Sache erfahren.« Delbridges Stimme zitterte, weil er es nicht gewohnt war, die Wahrheit zu sagen. »Ich stand da und war völlig unvorbereitet. Ich hatte mir nichts zurechtgelegt, was ich sagen wollte. Ich habe einfach auf die rechte Eingebung gehofft und gedacht, mir würde schon etwas kommen. Bloß auf das, was kam, war ich nicht vorbereitet.«

Balkom hatte Delbridges Bericht genau zugehört. Jetzt trat er zurück, als wäre er beleidigt. »Das ist alles? Weiter nichts, keine Namen, keine Gesichter, keine Motive?«

»Nein, Herr«, entschuldigte sich Delbridge.

»Das ist nicht viel.«

Balkom stand am Eingang und ließ sich Delbridges Geschichte durch den Kopf gehen. Im Licht von dem Stab sah sein blasses Fleisch grau und unnatürlich aus. Einen Moment lang kam es Delbridge so vor, als stünde der Tod im Raum. Rasch schüttelte er diesen Gedanken ab, indem er sich daran erinnerte, daß dieser Mann seine einzige Hoffnung auf Rettung war.

Als Balkom schließlich redete, fixierte sein eines Auge kalt und starr den Gefangenen. »Wenn ich Lord Curston diese Geschichte erzähle, wird er nicht überzeugt sein. Sie hört sich zwar durchaus wahr an, ist aber durch nichts zu beweisen. Für einen Mann wie Curston ist es viel einfacher zu glauben, er wäre das Opfer einer Verschwörung, als daß Euch irgendeine großzügige, magische Kraft ohne ersichtlichen Grund heimsucht.«

Während er sprach, veränderte sich der Tonfall des Magiers. Er war kein Ankläger oder Inquisitor mehr, sondern klang vielmehr wie ein vertrauter Berater. Wieder lief er hin und her. »Lord Curston ist ein Ritter von Solamnia. Er glaubt an die Macht des Schwerts. Er versteht und glaubt an Dinge, die er berühren kann, Dinge, die er mit seinem Schwert verteidigen kann. Was er nicht berühren kann – wie zum Beispiel die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen –, dem wird er nicht lange trauen. Vielleicht glaubt er von so einer Geschichte von vornherein kein Wort.

Wenn es noch irgend etwas gibt, was Eure Fähigkeit angeht, dann solltet Ihr es mir jetzt sagen, denn wenn ich Lord Curston berichte, was Ihr mir gesagt habt, wird er auf der Stelle das Urteil fällen.«

Balkom drehte sich zur Zellentür um und stand mit dem Rücken zu Delbridge. »Ich bin sicher, das Urteil lautet: Hängen.«

Delbridge wog ab, welche Wahl er hatte. Er erinnerte sich vage daran, wie ihm ein alter Soldat in einer Taverne einst erzählt hatte, daß die unmittelbare Todesdrohung seine Sinne gewaltig schärfte – nur deshalb hätte er solange überlebt. Delbridge hatte das selbst hin und wieder erlebt. Jetzt herrschte in seinem Kopf ein einziges Durcheinander.

Auf seiner Stirn bildete sich Schweiß, der ihm beißend in die Augen rann. Seine Gedanken schweiften ab. Wieder mußte er an das Armband denken. Das war die Ursache für den ganzen Ärger. Wenn er es los wurde, war er womöglich auch seine Probleme los.

»Würde Lord Curston mir glauben, wenn er einen Beweis sehen würde? Wirklich etwas berühren könnte? Ich habe einen Beweis. Den könntet Ihr ihm zeigen.«

Balkom drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen wieder zu Delbridge um. »Was für einen Beweis?«

»Ein magischer Gegenstand«, blökte Delbridge, »ein Kupferarmband. Ich weiß nicht, wo es herkommt. Ich habe es erst vor zwei Tagen von einem Kesselflicker bekommen… oder waren es drei?«

»Wo ist dieses Armband?« wollte Balkom wissen. »Habt Ihr es noch?«

Eine zitternde Hand wies in die Richtung, wo Delbridge das Kupferarmband hingeschleudert hatte. Balkom nahm den leuchtenden Stab von der Mauer und ging in die Ecke. Er stieß das feuchte, schwarze Stroh mit dem Fuß beiseite, bis er etwas glitzern sah. Langsam bückte er sich und hob das Armband auf. Die kostbaren Steine fingen das Licht aus Balkoms Stab ein und warfen es in hundert Pünktchen zurück, die über die rauhen Wände tanzten.

Balkom untersuchte es genauer, legte es aber nicht an. Mit dem Armband in den Fingern drehte er sich zu Delbridge um. »Wenn dieses Ding wirklich das kann, was Ihr sagt, dann gibt es sicher eine Chance, daß Lord Curston Euch gegenüber nachsichtiger urteilt. Ich werde ein gutes Wort für Euch einlegen.«

Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, klopfte Balkom mit seinem Lichtstab an die Zellentür, die behäbig und mit protestierenden Angeln aufschwang. Als der Magier hinausging, legte sich Dunkelheit über den Raum, und die Tür fiel mit einem Knall zu.


Das Klicken eines Türbolzens und kreischende Angeln weckten Delbridge. Angesichts des hellen Fackellichts, das durch den Türrahmen hereinströmte, rollte er sich wie eine Schlange zusammen und starrte zunächst einmal benommen an die Rückwand seiner Zelle. Als er richtig wach wurde, fiel ihm ein, wo er war.

Während er sich langsam umdrehte und dabei immer noch eine Hand über die Augen hielt, blinzelte er zur Tür hin. Dort stand jemand vor einer brennenden Fackel. Delbridge sah den Umriß eines spitzen Helms und eines senkrecht gehaltenen Speers.

»Los, komm schon, du hast eine Verabredung mit Lord Curston.« Die Stimme war barsch und voller Sarkasmus.

Delbridge schrak zurück und kauerte sich in die Ecke. »Was soll das? Läßt er mich holen? Werde ich freigelassen?«

»Ich bin nicht hier, um Fragen zu beantworten. Los, ich habe keine Lust, dich hier rauszuschleifen.«

Eine zweite Gestalt trat ins Licht. »Na gut, Toseph, warte im Gang«, sagte sie leise und dann lauter: »Du da, Gefangener, hoch mit dir. Es wird Zeit, daß du Lord Curston unter die Augen trittst.«

»Bin ich begnadigt? Wo ist Balkom?«

Beide Wachen ignorierten seine Fragen. Langsam erhob sich Delbridge von den Knien und ging zögernd zur Tür. Mittlerweile hatten sich seine Augen an das Fackellicht gewöhnt. Im Gang sah er drei weitere Soldaten, die offenbar alle darauf warteten, ihn zu Lord Curston zu begleiten. Beim Überschreiten der Schwelle taumelte er etwas.

Als Delbridge in den Gang trat, nahmen ihn die Soldaten in die Mitte. Wortlos schritten sie durch lange Gänge, an geschlossenen Türen und offenen Torbögen vorbei unter dem Schloß entlang. Schließlich stiegen sie eine lange, steinerne Wendeltreppe hoch und gingen durch eine Holztür.

Da er erwartet hatte, in einen Innenraum zu gelangen, war Delbridge völlig sprachlos, als er sah, daß er sich draußen im Burghof befand. Der Himmel war kalt und tiefrosa und von dünnen, drohend schwarzen Wolken durchzogen. Der Hof war in graues Licht getaucht, denn die aufgehende Sonne war noch hinter den dicken Befestigungsmauern verborgen.

Delbridge sah sich entsetzt um. Weder von Curston noch von Balkom, dem Zauberer, war irgend etwas zu sehen. Der Hof war zweigeteilt; die eine Hälfte gehörte den Händlern und Handwerkern mit ihren Ständen, die andere war für das Militär der Burg reserviert. Delbridge und seine Eskorte gingen zwischen einer Kaserne und der Händlerzone hindurch, und er sah, daß sie auf einen großen, offenen Platz zuhielten. Als sie um die Ecke bogen, wurden Delbridge die Knie weich.

Die Morgensonne begann gerade, einen Galgen zu beleuchten.

Zwei Soldaten ergriffen seine herabsinkenden Arme und hielten ihn aufrecht, während sie ihn halb stützten, halb vorwärts zerrten. Delbridge kniff fest die Augen zusammen. Seine Füße schleiften willenlos über den Boden.

Vor einer Reihe Bewaffneter in Habt-acht-Stellung blieb der Trupp stehen. Dahinter waren mindestens hundert Bürger aus der Stadt versammelt, und wiederum dahinter, in Sichtweite des Galgens, aber außer Hörweite, saß rechts vom Burgtor Lord Curston auf einem mächtigen, kastanienbraunen Hengst. In seiner solamnischen Rüstung sah der alte Ritter prachtvoll aus. Den Helm hatte er über den Sattelknauf gestülpt. Neben Curston saß etwas weiter hinten Balkom auf einer schwarzen Stute.

Mit unbewegter Stimme verkündete der Hauptmann der Wache: »Omardicar, der Allwissende, Ihr steht vor diesem Gericht, weil Ihr des Verrats, der Entführung und der bösen Hexerei angeklagt seid. Ihr habt in allen Punkten Eure Unschuld beteuert. Wollt Ihr diese Aussage jetzt, vor Seiner Lordschaft, Sir Curston von Tantallon, widerrufen?«

Delbridge zwang sich, die Augen aufzuschlagen. Obwohl sein Blick von aufsteigenden Tränen verschleiert wurde, konnte er den Ritter sehen, der dort hinten mit verhärmtem, hartem Gesicht auf seinem Pferd die Dinge verfolgte. Delbridge bewegte den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Nach mehreren Augenblicken krächzte er mehr, als daß er sprach, die einzigen ihm möglichen Worte: »Ich bin unschuldig.«

Die Augen des Hauptmanns blickten kalt und ohne Gnade auf den Verurteilten hinunter. Mit klarer Stimme sagte er: »Dann spricht Lord Curston Euch schuldig.«

Er sah die vor ihm stehenden Soldaten an. »Wachen, tut eure Pflicht.«

Die Leute aus der Stadt jubelten. Delbridge kämpfte gegen die Wachen, die ihn festhielten, und rief dem fernen Zauberer zu: »Balkom! Ihr habt versprochen, mir zu helfen!« Aber durch das Geschrei der Menge verstanden nicht einmal die Leute neben ihm seine Worte.

Delbridges Beine sackten ihm völlig weg, als er zum Galgen geschleift und eine Leiter hochgeschleppt wurde. Als man ihm den Strick um den Hals legte, drehte er sich erneut nach Balkom um. Mit vor Angst rauher Stimme kreischte er zum letzten Mal: »Das Armband! Was ist mit dem Armband?«

Delbridges letzte Wahrnehmung, bevor die Soldaten die Leiter wegstießen, war, wie Balkom lächelnd durch seinen Spitzbart strich, an seinem Handgelenk etwas kalt und kupferrot in der Morgensonne blitzte.

11 Endlich gefunden

»Bist du sicher, daß deine Sprüche richtig funktionieren? fragte Tolpan, der gegen das Sonnenlicht, das über Selanas Schultern schien, die Augen zusammenkniff. Er selbst saß im Schneidersitz und blickte wieder auf sein Spiel »Kreuze gegen Kreise«, das er in den Sand gemalt hatte. »Ich meine, wir haben in der ganzen Stadt und in der Burg gefragt, und niemand weiß etwas von diesem Delbridge.« Mit dem Finger malte der Kender das dritte Kreuz in einer Reihe und erklärte sich zum Sieger seines Spiels gegen sich selbst.

»Ich weiß, daß mein Armband irgendwo in dieser Burg ist«, sagte Selana störrisch, die ihre Arme vor ihrer vorne zerrissenen und schmutzigen dunkelblauen Robe verschränkt hatte. Ihr Gesicht unter dem lockersitzenden hellblauen Schal war zerkratzt und von der Sonneneinstrahlung rot verbrannt.

»Mein erster Spruch hat gezeigt, daß Delbridge nach Tantallon unterwegs war, und der, den ich gerade gezaubert habe, sagt unmißverständlich, daß das Armband hier ist.« Die Meerelfin richtete den Blick auf die riesige, rechteckige Burg aus fußlangen, geriffelten Granitblöcken.

Tanis, der auf einer steinernen Tränke saß, lehnte sich an die kalte Mauer der kleinen Pumpe auf dem Dorfplatz und legte träge ein Bein über das andere. Mit einer Hand schöpfte er kaltes Wasser aus der Tränke, wusch sich damit sein verschwitztes, verdrecktes Gesicht und trocknete es an seinem Ärmel ab. Dann schloß er die Augen und hielt sein Gesicht in die Spätnachmittagssonne.

Neben ihm auf dem Boden schnarchte der Zwerg leise in seine Zipfelmütze. Wie er seinem Freund, dem Halbelfen, immer wieder mitteilte, war er nicht mehr der Jüngste. Auch wenn sein Kopf sich an nichts mehr von der Nacht erinnerte, die sie unter dem Zauber der Satyre mit wer weiß was für Unfug verbracht hatten, sein Körper spürte sie noch in allen Knochen. Flints faßförmiger Körper zitterte vor Schmerzen.

Die Stimmung in der kleinen Gruppe war noch angespannter, seit sie vor vielleicht acht Stunden zwischen den Resten des Satyrlagers aufgewacht waren. Falls das überhaupt möglich war, hatte diese Begegnung die Meerelfin noch dickköpfiger und entschlossener gemacht, noch mehr darauf versessen, ihr Armband wiederzubekommen und damit zum Meer zurückzukehren.

Besonders demütigend war, daß die Satyre jedem fast alles Wertvolle abgenommen hatten – außer Tolpan. Der Kender war richtig beleidigt gewesen, daß sie seinen Tintenstopfen aus Alabaster und das kleine, gravierte Porträt seiner Eltern übersehen hatten, und sie hatten nicht eine einzige von seinen Karten genommen. Der armselige Viererhaufen hatte nicht einmal mehr genug Geld für eine Kohlsuppe, wobei dieses schlichte Gericht aus Kohl und Kartoffeln sowieso keiner von ihnen mochte.

»Also?«

Überrascht schlug Tanis ein Auge auf. »Also, was?«

»Sollte nicht jemand hingehen und fragen, ob dieser Delbridge da drin ist?«

Tanis lachte. »Das ist kein Wirtshaus, Selana«, sagte er. »Da drin wohnt der einflußreichste Mensch dieses Ortes, und für den sind wir nur Fremde. Vielleicht ist unser Dieb sein Gast. Da kann man nicht einfach aufkreuzen und sagen: ›Her mit dem dicken Betrüger in der grünen Jacke!‹«

»Wieso nicht?« fragte Tolpan.

Flint, der im Halbschlaf zugehört hatte, wurde vor Lachen wach.

»Ich bin kein kleiner Tölpel vom Meer, Tanis Halbelf«, sagte Selana, deren finsterer Blick den Zwerg zum Schweigen brachte. »Ich sage ihnen einfach die Wahrheit, daß ich lange unterwegs war, um einen Dieb zu suchen, der mir ein wertvolles Armband gestohlen hat, und daß ich glaube, daß er irgendwo in dieser Burg ist. Curston ist Ritter von Solamnia, also bestimmt ein ehrenwerter Mann. Er wird mir unvoreingenommen zuhören.«

Tanis nickte; er war überraschenderweise derselben Meinung wie Selana.

Tolpan sprang auf. »Ich komme mit, Selana«, bot er an, denn sein Spiel langweilte ihn langsam, weil er immer gewann.

Flint riß ihn zurück.

»Mir mißfällt es, sie allein zur Tür zu schicken«, sagte er, während er seinen zottigen, grauen Kopf schüttelte, »aber wenn man das Mißtrauen der Ritterschaft gegenüber allen Nichtmenschen bedenkt, wird sie schon genug Probleme haben, ohne daß ein Kender, ein Zwerg oder ein Halbelf neben ihr stehen. Mach wenigstens deinen Schal wieder fest«, riet er Selana, wobei er väterlich ihre Hand tätschelte.

Die Meerelfin runzelte die Stirn, wickelte sich jedoch gezwungenermaßen ihren schmutzigen Seidenschal wieder kunstvoll um den Kopf. Während sie durch das geschwungene Portal schritt, überlegte sie sich ein paar Sätze und ging dann zu der mit Schnitzereien verzierten Tür. Dort nahm sie den Messingring fest in die Hand und schlug ihn wiederholt gegen die Metallscheibe an der festen Tür.

Auf einmal lugte ein runzliges Gesicht um die Türkante, dessen Haare eine seltsame Mischung aus Rattengrau und Maisgelb zeigten. Seine des Alters wegen trüben Augen waren rotgerändert. Nachdem der Mann seine Überraschung über das ungewöhnliche Aussehen der Meerelfin verwunden hatte, schob er sich in den Türspalt. Selana konnte sehen, daß er ein schwarzes Band um den dünnen, rechten Oberarm trug.

»Entschuldigt mich, Sir«, begann sie so lieblich, wie sie konnte. »Mein Name ist Selana, und ich suche nach einem Menschen namens Delbridge Fid-«

»Nie gehört. Geht weg.« Der alte Diener mit den hängenden Schultern wollte sich zurückziehen.

»Wartet!« rief Selana. »Es ist sehr wichtig, daß ich ihn finde, und ich habe gute Gründe zu der Annahme, daß er in der Burg ist. Könnte ich vielleicht Lord Curston sprechen?« Sie klimperte niedlich mit den Wimpern.

»Versucht so was nicht bei mir, junge Dame«, sagte der Alte schroff. »Seine Lordschaft empfängt niemanden. Jetzt geht weg.«

Selana steckte die Hand durch die Tür und legte sie auf den Türrahmen. »Vielleicht macht er ja doch eine kleine Ausnahme.«

Der Mann schüttelte traurig den Kopf. Seine Bissigkeit war anscheinend verflogen. »Ich fürchte, nicht einmal für Takhisis persönlich. Der junge Rostrevor ist verschwunden, vor zwei Tagen direkt unter seines Vaters Nase aus dem Schlafzimmer entführt. Die ganze Burg ist in Aufruhr, und ich habe strengsten Befehl, Lord Curston nicht zu stören.«

Der Diener wirkte wieder aufgewühlt. »Ich bin ein trauriger, alter Mann, der mehr gesagt hat, als er sollte. Überlaßt uns unserer Trauer.«

Selana schüttelte stumm den Kopf. »Ich – verzeiht mir, das habe ich nicht gewußt«, brachte sie schließlich leise heraus, während sie die Stufen wieder hinunterging. Zurück bei ihren Begleitern, berichtete die Meerelfin rasch, was sie erfahren hatte.

»Ziemliches Pech und ein ungünstiger Zeitpunkt für uns«, sagte Tanis.

»Wirklich?« warf Flint eilig ein, der sich gedankenvoll den Bart kratzte. »Ein gewiefter Schwindler kommt in die Stadt, der Sohn des Ritters wird entführt, und dann sind beide spurlos verschwunden, aber das Armband ist irgendwo in der Burg. Zufall?«

»Glaubst du vielleicht, dieser Möchtegern-Barde, den Gäsil uns beschrieben hat, hat aus irgendeinem merkwürdigen Grund den Sohn des Ritters entführt und dann aus einem gleichermaßen unerklärlichen Grund das Armband liegengelassen?« fragte Tanis ungläubig.

Der Zwerg ignorierte die Zweifel seines Freundes und zupfte sich am Bart. »Ich sage nur, ich habe da so eine Ahnung; diese zwei ungewöhnlichen Ereignisse könnten etwas miteinander zu tun haben, mehr nicht.«

Tanis runzelte bestürzt die Stirn. Die Eingebungen des Zwergs trafen oft genau den Punkt. Wenn das Armband irgend etwas mit dem Verschwinden des jungen Mannes zu tun hatte, dann würde diese ganze Expedition noch schwieriger werden. Dann mußten sie nicht bloß Delbridge finden und das gestohlene Schmuckstück aus ihm herausschütteln.

»Nun«, sagte Selana, »hier draußen finden wir das Armband jedenfalls nicht.«

»Und noch etwas steht fest«, erklärte Tolpan mit einem Blick auf die geschlossene Holztür. »Man wird uns nicht einladen, drinnen zu suchen.«

»Wenn du daran denkst, dich heimlich reinzuschleichen«, sagte Flint, »dann müssen wir den Schutz der Dunkelheit abwarten.«

»Das glauben alle«, fing Tolpan mit erhobenem Zeigefinger an, »aber ich habe da andere Erfahrungen. Ich weiß, ihr werdet mir nicht glauben, aber auf meinen Reisen habe ich immer wieder plötzlich aufgesehen und gemerkt, daß ich ganz woanders war, als ich dachte. Dabei denke ich vor allem an diesen Zauberring, der mich in die Schatzkammer von ein paar Riesen teleportiert hat, aber das waren besondere Umstände. Jedenfalls«, fuhr er fort, während er die Geschichte mit dem Ring mit einer wegwerfenden Bewegung abtat, »das Komische ist, wenn man so aussieht, als wenn man irgendwo hingehört, dann glauben die Leute meistens, es wäre wirklich so. Das Hingehören, meine ich.«

»Meinst du etwa, wir sollten einfach durch die Vordertür reinlaufen?« brachte Flint ungläubig heraus.

Tolpan zuckte mit den Schultern, während er nachlässig seinen Pferdeschwanz zwirbelte. »Wenn es dir lieber ist, könnten wir uns ja einen Seiteneingang suchen. Ich habe immer noch mein Werkzeug, also könnte ich diese Schlösser einfach so« – er schnipste mit den Fingern – »aufmachen.«

»Knacken, meinst du«, seufzte Tanis, der sich erschöpft mit der Hand durch die dichten Haare fuhr. »Ich hasse den Gedanken, mich zu Einbrechern zählen zu müssen. Das stellt uns auf eine Stufe mit diesem diebischen Delbridge.«

»Wer redet denn von Dieben?« erregte sich Tolpan. »Bloß weil wir uns selber reinlassen?«

»Das erniedrigt uns nicht!« stimmte Selana mit einem Naserümpfen zu. »Er hat etwas gestohlen, und wir holen uns einfach zurück, was rechtmäßig uns gehört.«

Tanis hielt in gespielter Verteidigung die Hände hoch und winkte dann alle vor. »Du gehst voran, Tolpan.«

Tolpan trat strahlend aus dem Schatten der Pumpe und blieb dann mit den Händen in den Hüften stehen und begutachtete die Burg. Neben ihm trat Flint unruhig von einem Bein aufs andere, umklammerte nervös seine Axt und sah sich über die Schulter um. Selana und Tanis standen dahinter. In Sekundenschnelle hatte Tolpan gefunden, was er suchte, und eilte hurtig auf die Burg zu, während seine Freunde ihm folgten.

An dem Punkt, den Tolpan ausgewählt hatte, grenzte ein kleineres Haus an die Burg. Wo die beiden Gebäude aneinanderstießen, führte ein tief zurückgesetzter Eingang in den Turm. Der Kender hielt geradewegs darauf zu und verschwand regelrecht in den Schatten. Die Tür lag sechs oder sieben Fuß tief in der Außenmauer der Burg, so daß alle vier sich leicht in den Eingang drücken konnten.

Selana sah fasziniert zu, wie Tolpan ein in Öltuch eingeschlagenes Bündel aus seinem Beutel zog. Er holte einen gebogenen Draht und eine Messerklinge ohne Griff heraus, in die tiefe Kerben eingeritzt waren. Augenblicke später verriet allen ein kräftiges »Klack«, daß das Schloß offen war.

»Nach euch«, sagte Tolpan, der die Tür aufstieß und beiseite trat. Die drei drangen in einen engen Gang ein, der kurz vom Sonnenlicht erhellt wurde, bis Tolpan leise die Tür zumachte.

Nachdem Tolpan ein paar Sekunden abgewartet hatte, ob sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sagte er: »Ich kann hier drin überhaupt nichts sehen.«

»Wir können es nicht wagen, Licht zu machen«, flüsterte Tanis, und Selana und Flint stimmten leise zu.

»Klar, Zwerge und Elfen können im Dunkeln sehen. Aber was ist mit mir? Hier drin ist es stockfinster.«

»Du mußt einfach das beste draus machen«, sagte Tanis. »Halt dich einfach an demjenigen vor dir fest. Ich gehe vor, dann kommt Selana, dann du, und Flint hinten. Was hältst du von diesem Ort, Flint?«

Der Zwerg spähte in die Dunkelheit und benutzte dabei seine angeborene Fähigkeit, im Finstern Umrisse erkennen zu können. »Ich kann wenig sagen, Tanis. Sieht aus wie das Ende eines Korridors: Keine Türen oder Verbindungsgänge in Sicht, allerdings kann ich nicht sehen, was über zwanzig Fuß entfernt los ist. Das Ding scheint nach links abzubiegen und ist mächtig eng.«

Tanis stimmte zu. »Wir können soweit gehen, bis wir an eine Kreuzung kommen.«

Langsam schlichen sie den Gang entlang, während ihre Schritte in der feuchten Luft leise nachhallten. Tolpan stolperte hinter Selana her, eine Hand an der rauhen Steinmauer und die andere am Ende von Selanas Schal.

»Wo sollen wir als erstes suchen?« flüsterte Tolpan niemand Bestimmtem zu. »Sag mal, wenn wir schon dabei sind, warum sagst du eigentlich nicht nochmal deinen Spruch, Selana? Du weißt schon, den, der dir verrät, wo das Armband ist.«

»Der funktioniert nicht wie eine Wünschelrute, Tolpan«, erklärte die Meerelfin. »Er gibt mir nur ungefähre Anhaltspunkte, auch wenn man die durch die richtigen Fragen schon ziemlich genau eingrenzen kann. Aber ich kann diesen Spruch nur einmal am Tag anwenden, und heute habe ich das schon getan.«

Flint räusperte sich leise hinter ihnen. »Der Alte am Tor hat gesagt, daß der Rittersohn aus seinem Schlafzimmer entführt worden ist. Ich schlage vor, daß wir dort suchen. Wenn Delbridge für sein Verschwinden verantwortlich sein sollte, hat er das Armband vielleicht in der Eile fallen lassen.«

»Das einzige Problem bei diesem Vorschlag ist«, flüsterte Tanis, »daß dieser Gang sich anscheinend nicht nach oben, sondern immer weiter nach unten windet, und wenn wir umdrehen, landen wir nur bei der Ausgangstür, durch die wir hereingekommen sind.«

Flint, der sich vergeblich bemühte, in seinen schweren, eisenbeschlagenen Lederstiefeln leise über den Steinboden zu laufen, knuffte Tolpan an die Schulter. »Saubere Arbeit, Türknauf. Wahrscheinlich hast du die einzige Tür in dieser Burg geknackt, die nicht in die Burg führt. Statt dessen trampeln wir in diesem endlosen Korkenziehergang weiß Gott wohin. Hab’ bis jetzt noch keine einzige Tür entdeckt.«

»Wir sind drinnen, oder?« gab Tolpan zurück. »Außerdem habe ich nichts davon gesehen – «

Tanis hielt sich die spitzen Ohren zu. »Das reicht!« fauchte er, als er herumfuhr. Selana wich ihm eilig aus. »Euer Geplapper könnte einem Halbelfen den Kopf platzen lassen, ganz zu schweigen davon, daß man es auf hundert Schritt hören kann.«

Zwerg und Kender fielen in betretenes Schweigen.

»Ist das da vorne links eine Tür?« fragte Selana, die über die Schulter des Halbelfen nach vorne zeigte.

Tanis blinzelte und sah etwa zwanzig Fuß weiter den Gang hinunter einen unscharfen Umriß. Nach ein paar schnellen Schritten streckte er die Hand aus, um die hölzerne Oberfläche zu berühren. Er tastete an der linken Seite nach einer Klinke.

»Warte!« flüsterte Tolpan, der Selana mit dem Ellenbogen beiseite stieß, um sich neben Tanis zu stellen. »Man geht doch nicht einfach hin und rüttelt an einer fremden Tür, schon gar nicht an einem Ort wie diesem. Es könnte eine Falle dran sein, oder du löst einen Alarm aus oder sonstwas.« Der Kender tastete in einem Beutel herum, wo er schnell fand, was er brauchte, um sich dann an die gefährliche Aufgabe zu machen, nach Schnappern, Drähten, Riegeln, kleinen Nadeln und einem Dutzend anderer Gefahren zu suchen, die seine Gefährten kaum erahnen konnten.

Tanis war dankbar für die Dunkelheit, denn er wurde rot vor Scham. Er war einfach nur darauf aus gewesen, irgendwohin zu gelangen, und dabei hatte er jegliche Vorsicht außer acht gelassen. Nur ein blutiger Anfänger rannte unter so widrigen Umständen einfach durch eine Tür.

»Ich glaube, sie ist sicher«, erklärte Tolpan schließlich, »aber sie war abgeschlossen. Man kann einfach nicht vorsichtig genug sein. Der älteste Sohn vom ältesten Bruder meiner Mutter nämlich, der alte Onkel Schloßknacker – eigentlich wäre er dann doch mein Cousin, oder? Wieso sagen wir denn dann Onkel zu ihm? Jedenfalls, der alte Onkel Schloßknacker – nicht Onkel Fallenspringer, der war viel zu schlau für so was –, Onkel Schloßknacker war eines Tages beim Türaufmachen zu unvorsichtig. Das war’s! So was braucht einem natürlich nur einmal zu passieren.«

»Mach die Tür auf, Tolpan«, wies Tanis ihn ausdruckslos an.

»Aber klar doch.« Tolpan stieß sie auf und trat ein. »Bis er starb, war der alte Onkel Schloßknacker groß im Ratschlägeverteilen. ›Schlag deine Mutter nie mit einer Schaufel‹, hat er immer zu mir gesagt. ›Das hinterläßt bei ihr einen tiefen Eindruck.‹« Von der Erinnerung bewegt, schüttelte Tolpan seinen Pferdeschwanz. »Der arme Onkel Schloßknacker. Verrückt wie ein Grottenschrat, wißt ihr.«

Hinter der Tür war ein kleiner Raum, höchstens zehn mal fünfzehn Fuß groß, bei dessen niedriger Decke sogar der Zwerg überlegte, ob er nicht besser den Kopf einziehen sollte. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine weitere, kleinere Tür. Der Raum war fast völlig leer bis auf ein paar große Urnen und einen Rest Feuerholz, das in einer Ecke sorgfältig aufgeschichtet war. Außerdem stand da noch eine roh gezimmerte, verschlossene Kiste von der Größe eines sehr dicken Baumstamms in der Ecke bei der anderen Tür.

Selana verzog die Nase vor Abscheu. »Das stinkt, als wenn hier drin etwas verendet ist.«

»Ratten wahrscheinlich«, sagte Tanis, dessen Atem in feuchten, weißen Schwaden vor ihm stand.

Selana rückte unwillkürlich etwas näher an den Halbelfen heran, »Bes schedal«, flüsterte sie, woraufhin sofort ein schwacher Schein praktisch aus dem Nichts erschien und den Raum mit gelblich trübem Licht erhellte. Die Meerelfin erschauerte unter ihrem dünnen Umhang, während sie den Boden nach Bewegungen absuchte. »Wir müssen ziemlich weit unter der Erde sein.«

Flint erschauerte ebenfalls, wenn auch nicht wegen der Kälte oder dem Gedanken an Nagetiere. »Hier bekomme ich Gänsehaut«, bekannte er. »Das Armband ist ganz sicher nicht hier unten, also sollten wir – «

»Großer Reorx!«

Bei Tolpans Fluch zuckten Tanis, Flint und Selana zusammen. Als sie herumfuhren, sahen sie ihn an der Holzkiste. Seine Hand lag an dem jetzt halb geöffneten Deckel.

»Da kommt der gräßliche Gestank her.« Während er mit der Schulter weiterschob, mühte sich der Kender ab, den Deckel ganz hochzudrücken.

»Warte, Tolp-«, setzte Tanis an, doch die Warnung kam zu spät.

Mit angestrengtem Grunzen warf Tolpan den Holzdeckel zurück und blickte in die Kiste. Seine Augen wurden vor Staunen erst ganz groß und tränten dann von dem Gestank.

»Ein Körper!« hustete er. »Junge, ist das eklig, ganz blau und aufgedunsen. Kommt mal her und guckt.«

Flint und Tanis sahen beide Selana an, die sich den Magen hielt und noch blasser als gewöhnlich aussah.

»Tolpan, mach den Deckel zu. Wir verschwinden hier auf der Stelle«, befahl der Halbelf, während er Selana am Arm nahm und sie zur Tür zurückschob.

Tolpan guckte sich den Körper in der Kiste genau an. »Irgendwas an dem Kerl hier kommt mir sehr bekannt vor, Tanis«, murmelte er. »Klein, dick, Knubbelnase – «

Flint, der den Kender gerade gehörig ausschimpfen wollte, erkannte die Beschreibung. Er holte tief Luft, hielt den Atem an und trat auf drei Schritte an die stinkende Kiste heran, um dann hineinzusehen und nachdrücklich zu nicken. »Ich wette um meine Lieblingsaxt, daß das unser Mann ist.«

Trotz ihrer Übelkeit spitzte Selana die Ohren. »Jemand muß das Armband suchen!«

Tolpan beugte sich eifrig in die Kiste.

»Oh, nein, du nicht«, warnte Flint gedämpft. Er nahm den Kender am Arm und führte ihn zu der Tür zurück, durch die sie den Raum betreten hatten. »Du faßt dieses Armband nicht wieder an, falls ich hier irgend etwas zu sagen habe. Und das habe ich. Du bleibst hier hinten außer Reichweite und hältst mit Selana Wache.« Er würgte, bevor er hinzufügte: »Tanis und ich untersuchen die Leiche.«

Flint und Tanis näherten sich wachsam der Kiste. Sie stellten sich auf beide Seiten und blickten voller Abscheu hinein.

»Ich hatte die ganze Zeit erwartet, daß er uns noch zu schaffen macht, wenn wir ihn endlich finden, aber jetzt hat er wirklich den Spieß umgedreht, was, Tanis?«

Tanis grinste angesichts des schwarzen Humors seines Freundes. »Er sieht das vielleicht nicht ganz so. Bringen wir’s hinter uns.« Tanis hockte sich auf ein Knie und griff in die Kiste. Dann zog er die Hand wieder heraus und wischte sie vergeblich an seiner Lederhose ab. Verärgert griff er wieder zu, wobei er diesmal den linken Hemdsärmel des Toten erwischte. Er zog, aber die Hand war verdreht und steckte unter dem Körper. Er zog fester und zerrte sie heraus. Der Arm war an der Schulter steif abgeknickt. Mit beiden Händen schob Tanis den Ärmel vom Handgelenk hoch, sah aber nur aufgedunsenes, aschgraues Fleisch.

Flint, der mit dem rechten Arm beschäftigt war, hatte ebensowenig Glück. »Was meinst du, woran unser Freund hier gestorben ist?« fragte er sich und blickte Tanis an. »Ich kann keine Wunde erkennen.«

In diesem Moment holte Tanis erschreckt tief Luft. Flint sah wieder in die Kiste, und ihm stockte fast das Blut in den Adern.

Die Hand des Toten, an deren grauen Fingern Ringe blitzten, hatte sich um Tanis’ linken Unterarm geschlossen. Seine leblosen Augen waren weit offen, wenn auch blicklos. Der Körper richtete sich zum Sitzen auf, und sein bleicher Kopf baumelte gräßlich an einem überlangen Hals herunter, als wäre der jetzt nur eine überspannte, gebrochene Feder.

»Ein Zombie!« schrie der Halbelf, der verzweifelt mit seiner rechten Hand nach dem Dolch an seiner linken Hüfte tastete. Er riß die Waffe heraus und setzte sie an Delbridges kaltem, totem Unterarm an, doch der Zombie reagierte kaum, als die Klinge seine Haut durchstieß.

Flint war blitzschnell zur Stelle und hackte bereits mit seiner Axt auf den Arm ein. Tanis taumelte von der Kiste zurück, als der Zombie – ohne seine linke Hand – zurückfiel. Die abgetrennte, zuckende Hand des Toten hielt den Halbelfen weiter fest, doch Tanis löste die beringten Finger einen nach dem anderen mit seiner Klinge, bis die Hand zu Boden fiel und dumpf aufprallte. Ohne zu zögern oder gar aufzuschreien, mühte sich der Zombie weiter ab, mit seinem triefenden Stumpf den Rand der Kiste zu erwischen.

Flint war bereit. Der beherzte Zwerg hob die Axt hoch und ließ sie wie ein geübter Holzhacker immer wieder im Takt heruntersausen, ohne auf das Blut zu achten, das bei jedem Schlag aufspritzte, oder wenigstens auf Tanis, der neben ihm mit seinem Messer zustach. Er wußte, daß ein Zombie nie von seinem Ziel abließ, bis er zerstört, von einem Priester vertrieben oder von seinem Herrn zurückgerufen wurde.

»Ich glaube, du kannst jetzt aufhören, Flint«, keuchte Tanis neben ihm, wobei er den Zwerg an der Schulter berührte. Der Untote – oder das, was von ihm übrig war – zuckte noch zweimal reflexartig und lag dann still.

In Flints Ohren rauschte donnernd sein eigenes Blut, während sich seine grausig verschmierten Hände immer wieder um den Stiel seiner mörderischen Axt schlossen.

Selana und Tolpan hatten entsetzt zugesehen. In dem Raum, der immer noch in das gelbliche Licht des Zaubers der Elfin getaucht war, hörte man nur noch das Keuchen des Zwergs und des Elfen.

Fast teilnahmslos beobachtete Tolpan eine kleine, rote Motte, die zwischen den Deckenbalken tanzte. Sie schien vor seinen Augen zu wachsen und wurde zu einem wirbelnden Gewebe aus unzähligen Rottönen, bis sie schließlich die Größe seines Kopfes erreicht hatte.

Inzwischen hatten auch die anderen die schwirrende, wachsende Motte entdeckt, und ihnen war klar: Ein Raum mit einem Zombie konnte nichts Gutes bedeuten.

»Weg hier!« schrien Tanis und Flint wie aus einem Mund.

Aber bevor sich noch irgend jemand regen konnte, zuckte in dem winzigen Raum ein Blitz durch die Luft, der Flint den Bart und Tolpan den Haarknoten ansengte und eine stickige, ölige Rauchwolke hinterließ.

Zwischen den Rauchschwaden stand eine mehr als sechs Fuß große, breite Gestalt. Beim Anblick des gehörnten Kopfes und der dunklen, ledrigen Flügel schrie Selana auf, doch dann rief Tolpan neben ihr: »Das ist ein Mensch, kein Monster!« Sie erkannte, daß die Hörner eine Kappe aus einem Widderkopf und die Flügel ein Umhang waren, der hinter seinen Schultern von einem Gestell gestützt wurde.

Eine riesige Narbe verlief über seine rechte Gesichtshälfte und durch eine leere Augenhöhle. Das verbliebene Auge funkelte vor Mut.

»Wen haben wir denn da?« Der Zauberer starrte den rothaarigen Halbelfen und den Zwerg an, die über dem zerhackten Zombie standen, und dann den staunenden Kender und die zitternde Frau an der anderen Seite der Katakombe. »Was habt ihr denn mit dem armen Omardicar, dem Allwissenden, gemacht?«

Sein Tonfall war leichthin und spöttisch, doch sein linkes Auge glitzerte hart und zornig, als er den Blick wieder Tanis und Flint zuwandte. Blitzschnell hob der Zauberer die Arme und murmelte ein einziges, unverständliches Wort. Ein riesiges Spinnennetz, das vom Boden bis zur Decke ging, erschien aus dem Nichts und wickelte sich um Tanis und Flint. Von den Strängen tropfte klebrige Flüssigkeit, die an den zappelnden Opfern hängenblieb. Je mehr sie sich darum bemühten, sich zu befreien, desto fester legte sich das Netz um sie, bis sie sich kaum noch bewegen konnten und schließlich auf dem Boden zusammenbrachen.

Dann wendete der Zauberer seine Aufmerksamkeit den beiden an der Tür zu. Wieder murmelte er das magische Wort, und die verdrehten Stränge wollten Tolpan und Selana umschlingen. Doch anstatt sich um sie zu wickeln, traf das Netz auf eine unsichtbare Barriere und glitt auf den Boden, wo es kurz aufleuchtete und dann verschwand. Selana grinste ihren Gegner finster an.

»Du überraschst mich, Frau«, sagte der Magier in seiner eindrucksvollen Baritonstimme, wobei auf seinem häßlichen Gesicht eine Mischung aus Bewunderung und Ärger stand, »aber das gelingt Euch kein zweites Mal.«

Selana bereitete schon ihren nächsten Spruch vor, der genau dem Zweck diente, Balkom zu überraschen. Mit ausgebreiteten Fingern streckte die Meerelfin ihre Hände aus und rief: »Dasen filinda

Ein bunter Farbenschwall drang aus ihren Fingern, spritzte über den Zauberer, lief seinen Körper entlang und drehte ihn halb um. Als er rückwärts gegen die Wand taumelte, stolperte er über ein gebrochenes Brett und fiel auf den schmutzigen Boden. Die scheußliche Widderschädelkappe rutschte ihm vom Kopf und rollte in eine dunkle Ecke, das Flügelgestell des Umhangs zerbrach. Die schwirrenden Farben umzuckten seinen um sich schlagenden Körper weiterhin, während er versuchte, den ruinierten Umhang abzustreifen.

»Leg dich bloß nicht mit Selana an, sonst verwandelt sie dich in eine Wanze!« krähte Tolpan und rannte mit der Meerelfin los, um Tanis und Flint zu befreien. Aber Balkoms Netz war fest und klebrig. Tolpan riß den Dolch aus seinem Hosenbein und säbelte genug Stränge durch, um Tanis’ Messerhand zu befreien. Während der Elf sich selbst weiter herausschnitt, widmete Tolpan sich Flint.

»Schnell, der Spruch hält nicht lange an«, drängte Selana. Aber die klebrigen Netzteile wickelten sich um ihre Messerklingen und hingen fest an Tanis’ und Flints Armen und Beinen.

»Ich hatte viel Glück, daß meine Sprüche bei ihm gewirkt haben«, flüsterte sie dem Halbelfen zu. »Wer er auch ist, er ist viel mächtiger als ich. Ich habe keine Sprüche und auch keine Kräuter mehr.«

Noch während sie sprach, stieß Balkom seine daumenlose rechte Faust durch den Farbenwirbel in die Luft. Ein Ring an seinem Finger glühte.

»Weg!« schrien sowohl Flint als auch Tanis gleichzeitig. Balkoms Hände malten Muster in die Luft, als er – immer noch auf dem Rücken liegend – etwas murmelte. Funken sprühten um ihn herum, und seine Hände wurden heiß und rot.

Sobald Tolpan seinen Dolch von den klebrigen Netzsträngen befreit hatte, sprang er vor und stach nach dem Zauberer. Doch die Klinge ging dicht an der Kehle des Zauberers vorbei, als hätte eine unsichtbare Hand sie weggestoßen. Mit einem teuflischen Grinsen griff Balkom nach Tolpans Arm, wobei blaue Funken wie winzige Blitze über seine Finger liefen.

Tolpan sprang zur Seite und konnte der glühenden Hand knapp ausweichen. Dabei prallte er gegen die Urne in der Ecke. Mit beiden Händen kippte er sie auf Balkom und trat den Magier dann kräftig in den Magen. Die Urne zerbrach, als Balkoms Hand sie berührte, und Tolpans Tritt glitt genauso ab wie zuvor der Dolch, doch immerhin hatte der Magier das Gleichgewicht verloren.

Tanis schrie: »Lauf, Tolpan, und bleib bloß nicht stehen!«, während Flint fluchend mit dem Netz kämpfte.

Instinktiv schnappte der Kender Selana an der Taille und stieß sie zur Tür. Dort blieb er einen Moment stehen und blickte in den schwach erleuchteten Raum zurück. Balkom schüttelte bereits die Scherben ab und bereitete einen neuen Spruch vor. Der Kender sah zu Tanis und Flint hin, die immer noch mit dem verhedderten Netz kämpften.

»Kümmer dich nicht um uns, du Türknauf! Bring bloß Selana in Sicherheit!«

Tolpan drehte sich um und rannte hinter Selana durch den dunklen Gang. Plötzlich löste sich aus Balkoms Fäusten ein Blitz. Entsetzlich donnernd, zuckte er durch den engen Korridor hinter den Fliehenden her. Mit einem Blick über die Schulter sah Tolpan das gleißend blaue Licht im Zickzack zwischen den Wänden hinter sich herrasen, wobei es bei jedem Aufschlag riesige Brocken aus der Wand riß. Er hatte Selana inzwischen fast eingeholt, und mit einem weiten Satz warf er sie auf den kalten Boden. Der magische Blitz sauste an ihnen vorbei und bedeckte sie mit Mörtel und Steinchen aus den Wänden. Einen Augenblick später war Tolpan schon wieder auf den Beinen und zerrte Selana weiter.

Als Balkom um die Ecke spähte, war nur noch Geröll zu sehen, das den engen Gang herunterkullerte. Beißender Ozongeruch drang ihm, mit Staub vermischt, in die Nase, doch den charakteristischen Gestank von verbranntem Fleisch roch er nicht.

Hämisch grinsend, kehrte der aufgebrachte Magier zu den beiden Gefangenen im Netz zurück. »Eure Freunde sind erst mal entkommen. Aber es wäre besser für sie, wenn sie im Tunnel gestorben wären.«

Balkom zog eine Schriftrolle aus den Tiefen seines Umhangs. Nachdem er das Wachssiegel aufgebrochen und sie entrollt hatte, las er laut vor, verdrehte die Zunge und gab unnatürliche, magische Laute von sich. Beim Rezitieren ringelten sich Rauchfähnchen von der Schriftrolle hoch. Tanis konnte sehen, wie sich braune Flecken bildeten, als ob große Hitze das Pergament von der anderen Seite her verbrannte. Nachdem er am Ende des Zaubers angelangt war, ließ Balkom die Schriftrolle los, so daß sie zu Boden flatterte. Bevor sie auch nur einen Fuß gefallen war, ging sie in Flammen auf, und puderfeine Asche rieselte zu Boden. Der Raum wurde sehr heiß und still, bis ein gewaltiger Windstoß Flint und Tanis Staubwolken ins Gesicht trieb und Balkoms Umhang erfaßte. Der Zauberer stand ungerührt da und starrte geradeaus.

Tanis sträubten sich die Haare, als ein schwarzer Punkt im Raum erschien, wirbelnd größer wurde, schreckliche Gestalt annahm und sich dann wieder auflöste, nur um etwas noch Größeres und Scheußlicheres zu werden. Als er seine volle Größe erreicht hatte, stand das Monster Balkom Auge in Auge gegenüber. Es war eine Art Riesenkatze, ein Panther oder Puma, aber es war nicht wirklich. Für Tanis sah es aus, als wäre es aus verfestigtem Schatten, der sich in einem seltsamen, inneren Rhythmus bewegte und veränderte.

Balkom sprach zu der unheimlichen Gestalt: »Ein männlicher Kender und eine Elfin haben mir Ärger gemacht. Töte sie.« Er warf einen bösen Seitenblick auf seine Gefangenen.

Ein seltsam wischendes Geräusch hallte durch den Raum und verschwand dann im Tunnel, als das Schattenwesen seiner Beute nachjagte.

Tolpan riß die Tür am Ende des aufsteigenden Gangs auf, und er und Selana stürzten in den geschützten Eingang, wo sie in die helle Sonne blinzelten.

»Wo können wir uns verstecken?« rief Selana, die sich Staub und Schmutz vom Gesicht wischte.

»Nirgends«, antwortete Tolpan, »jedenfalls jetzt noch nicht. Dieser Zauberer ist bestimmt hinter uns her. Wir müssen weit weg sein, bevor wir uns ausruhen können. Schnell weiter.«

Er versuchte, Selana wieder auf die Beine zu zerren, doch die junge Elfin wehrte sich. »Wohin?«

»Zum Marktplatz. Auf einem Marktplatz häng’ ich jeden ab, besonders, wenn etwas los ist.« Er zog Selana auf die Beine, und schon rannten beide zum Markt.

Da hörten sie es hinter sich krachen. Als sie sich umschauten, sahen sie, daß die Tür, aus der sie gerade herausgekommen waren, aus den Angeln gerissen war und über die Erde schlidderte. Riesige Klauen hatten sie zerfetzt, und die Monsterhände zerbrachen jetzt die dicken Holzbretter und schlitzten sogar ein verstärkendes Eisenband auf. Dann brach es aus dem Schatten, ein gewaltiges, magisches Phantom, das in großen Sätzen auf sie zusprang.

»Was ist das?«

»Ein Problem!« schrie Tolpan, während er die vor Angst erstarrte Meerelfin voranstieß. Mit dem Mut der Verzweiflung rannten Kender und Prinzessin über den offenen Platz in den überfüllten Basar. Als Tolpan einen Blick nach hinten wagte, sah er die schwarze Gestalt unaufhaltsam näherkommen, wobei sie eine wehende Staubfahne hinter sich her zog.

Sie rannten um eine Ecke und stießen gegen einen Bauernkarren, der mit Frühlingszwiebeln und Knoblauch beladen war. Tolpan ging auf die Knie und kroch darunter; Selana folgte seinem Beispiel.

Keuchend fragte Selana: »Was ist das? Hat sich der Zauberer in dieses Wesen verwandelt?«

»Ganz bestimmt nicht. Ich vermute, daß er irgendein magisches Monster beschworen hat, so was wie einen unsichtbaren Pirscher, nur den hier kann man als Schatten sehen. Die Zauberer holen sie von anderen Ebenen, damit sie ihnen dienen. Es sind grauenvolle Biester, die aber ein kurzes Leben haben. Wir müssen einfach in Bewegung bleiben.« Tolpan suchte die engen Gassen ab und wählte rasch den besten Fluchtweg aus. Sobald Selana wieder stand, waren sie auf und davon.

Hinter ihnen zerbarst der Wagen mit den Zwiebeln. Das Untier war hineingeknallt und zerfetzte ihn, wobei es in der ganzen Umgebung Zwiebeln und Knoblauch regnete. Das Geschrei und Gebrüll der Händler vermischte sich mit dem entsetzlichen Brüllen des Biests, das zwischen den Überresten des Wagens kurz innehielt, um die Leute, die im Weg standen, zu verjagen.

Die Flüchtlinge verschwendeten keine Zeit. In einem schwindelerregenden Zickzackkurs rannten sie durch den Basar, mal rechts, dann links, dann wieder links, bis Selana jede Vorstellung davon verloren hatte, in welche Richtung sie rannten. Vor lauter Herzklopfen konnte sie kaum noch Tolpans Anweisungen verstehen, während er ihnen den Weg kreuz und quer durch die Gassen suchte.

Selana japste nach Luft und ihr wurde vor Seitenstechen fast schwindelig, da endlich blieb Tolpan in einer engen Gasse stehen. »Ich glaube, wir haben das Schattenmonster abgehängt«, keuchte er, während er sich mit den Händen auf den Knien abstützte, »vorläufig…«

Selanas Brust keuchte nur, sie konnte noch nicht wieder sprechen. Sie sah Tolpan an und brachte schließlich heraus: »Du glaubst nicht, daß es schon aus ist mit ihm?«

»Nein, wir sind noch nicht einmal halb so lange gerannt, wie es sich anfühlt. Ich vermute, es ist immer noch irgendwo in der Gegend.«

»Was kann ein Schatten uns antun?« fragte sie.

»Du bist eine Zauberin und fragst solche Sachen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe vor allem Respekt, was von anderen Ebenen herbeigerufen wird.«

Stöhnend wollte Selana gerade zu Boden sinken, als Tolpan sie am Arm packte. »Riechst du das?« Er blickte sie durchdringend an. »Knoblauch und Zwiebeln…«

Nachdem sie einander entsetzt angestarrt hatten, sahen sie sich beide um. Plötzlich spähte ein dunkler, verschwommener Kopf um die Ecke. Eine geisterhafte Pranke schlug zu, und Selana schrie auf. Wieder ging es weiter. Tolpan hielt Selana am Ärmel fest, während das Untier ihnen nachjagte.

Tolpan machte eine Kurve nach der anderen, bis er sich umschaute. Da entdeckte er – das Schattenmonster, aber keine Selana! Er hielt immer noch einen Fetzen von ihrem Ärmel in der Hand, aber sie hing nicht dran.

Den Panther dicht auf den Fersen flitzte Tolpan durch die auseinanderspringenden Zuschauer. Als er um eine weitere Ecke bog, stolperte er über einen Stapel Körbe. Er rutschte über einen Teppich voller Stiefel und Schuhe und knallte gegen einen Pfosten. Der Aufprall preßte ihm die Luft aus den Lungen, und er japste nach Luft. Während er versuchte, den Schmerz unter Kontrolle zu bekommen, krabbelte er auf die Beine. Über den Korbstapel spähte das Schattenmonster, dessen schwarze Zähne unter seinen schwarzen Augen leuchteten. Hinter ihm war zu Tolpans Entsetzen nur eine Sackgasse. Die Dorfbewohner brachten sich eilig in Sicherheit, und Tolpan hörte, wie die wenigen Türen und Fenster in der Sackgasse verriegelt und verrammelt wurden.

Mit aufgeregt klopfendem Herzen stellte sich Tolpan dem Monster. Er machte einen schnellen, aber vergeblichen Versuch, die Reste des magischen Netzes an einem Holzpfosten von der Klinge seines Dolches abzukratzen. Während er die verklumpte Waffe vor sich hielt, erwartete er den Angriff.

Das Schattenmonster duckte sich, fauchte und schlug mit seinem tintenschwarzen Schwanz. Dann sprang es los und überwand die Entfernung zu Tolpans Platz mit einem Satz. Obwohl er wußte, daß seine Reflexe dem magischen Untier weit unterlegen waren, warf sich Tolpan zur Seite, weil er hoffte, so dem eigentlichen Angriff zu entgehen.

Eine Klaue fuhr heraus und schmiß den Kender in einen Stapel Häute. Er rollte sich zur Seite und sprang auf, weil er erwartete, zu Salat verarbeitet zu werden, doch es kam kein Angriff. Das Schattentier zuckte und flackerte, um sich dann in zahlreiche, schnell schrumpfende, dunkle Fäden aufzulösen.

Zerschlagen und keuchend warf Tolpan mit einem Triumphschrei die Arme hoch. Der Spruch des Zauberers war abgelaufen! Der jubelnde Kender schlug mit dem Knauf seines Messers an Türen und Fensterläden und schrie: »Ich hab’s besiegt! Heda! Ihr könnt jetzt rauskommen!«

Tanzend und hüpfend, machte er sich durch die verstreuten Waren zurück zur Hauptstraße auf. Langsam kamen die Leute wieder aus ihren Häusern.

Wo war Selana, fragte der Kender sich plötzlich. Keuchend stieg Tolpan aus der engen Gasse auf eine größere Straße. Während er gleichmäßig dahintrabte, sah er den unbewachten Verkaufsstand eines Bäckers. Ein langer, heller, knuspriger Brotlaib stach ihm ins Auge. Er griff zu und steckte ihn sich unter den Arm, während er weiterlief und immer nach Selanas blauer Robe Ausschau hielt.

»Bißchen komisch, einen Wagen voll Essen einfach so stehenzulassen«, murmelte er vor sich hin, »aber was für ein Glück für mich! Ich habe in letzter Zeit etwas wenig Geld. Ich muß dran denken, diesen Bäcker zu finden und zu bezahlen, sobald ich dazu komme.«

Tolpan sah sich um, falls Selana zufällig hinter ihm aus einer Gasse treten würde. Doch da erblickte er niemanden außer einer alten Frau, die ihre verstreuten Waren aufsammelte. Er bog um eine weitere Ecke.

Plötzlich umklammerte eine Hand verzweifelt seinen Oberarm. Er fuhr herum, und weitere Finger legten sich über seinen Mund, woraufhin er in die Schatten eines zurückgesetzten Eingangs gerissen wurde. Auf der Stelle biß Tolpan fest in die Finger und rammte seinem Angreifer den Ellbogen in den Magen, während er seinen Arm losriß. Als er sich umdrehte, sprang er mit hoch erhobenem Brot kampfbereit in Verteidigungsstellung.

»Selana!«

Stöhnend lag die Meerelfin auf den Knien, hielt sich den schmerzenden Bauch und versuchte zwischendurch, das Blut zu stillen, das von ihren verletzten Fingern tropfte. Beschämt zog der Kender eine Baumwollbinde aus seinem Gepäck und machte sich daran, ihr die Hand zu verbinden.

»Bei den Göttern, Selana, das tut mir furchtbar leid. Ich wußte nicht, daß du das warst«, murmelte der Kender. »Das ist aber auch keine gute Idee, einem auf die Art aufzulauern. Ich hätte dich umbringen können!« Er half ihr dann auf die Beine. »Es geht doch schon wieder, oder?«

Die Meerelfin war eindeutig schwer mitgenommen. Ein Arm lag immer noch über ihrem Magen. Mit großer Anstrengung stellte sie sich aufrecht hin und nickte dann. »Ich hatte da hinten beschlossen, einen anderen Weg zu nehmen, weil es nur einem von uns folgen konnte«, brachte sie pfeifend heraus, denn das Atmen fiel ihr immer noch schwer.

Tolpan schlug die Arme übereinander und reckte sein Kinn in die Luft. »Ich hätte dich beschützt«, sagte er beleidigt. »Jetzt ist es jedenfalls weg.«

Der Meerelfin war ihr kornblumenblauer Schal von den Schultern gerutscht, den sie jetzt ängstlich wieder über ihr helles Haar zog. »Was machen wir jetzt?«

Da er nicht zu denen gehörte, die im Kampf lieber davonrannten, merkte der Kender, daß er angesichts ihrer mißlichen Lage wütend wurde. Er zeigte mit dem langen Brotlaib auf Selana. »Wir haben Freunde in der Burg zurückgelassen. Wir können Tanis und Flint nicht einfach da sitzenlassen. Ich würde sagen, wir gehen sofort zurück und holen sie.« Tolpan trat auf die Straße, doch Selanas Hand erwischte den Riemen seines Schulterbeutels und zog ihn zurück. »Laß mich los!« fauchte er, während er sich grob aus ihrem Griff wand.

»Denk doch mal nach, Tolpan!« Selanas Augen funkelten, und zum ersten Mal sah Tolpan sie so, wie sie bei sich zu Hause sein mußte – kein verwirrter, dummer Dickkopf, sondern königlich und befehlend. Er hörte zu.

»Jeder in der Burg muß gesehen haben, wie wir von diesem Monster gejagt wurden«, sagte sie. »Wenn du es schaffst, unbemerkt bis zur Burg zu kommen, was sagst du dann? Daß wir im Keller der Burg herumgeschnüffelt haben, einen Zombie fanden und von einem Zauberer verjagt wurden – ihrem Zauberer? Das bringt dir nur ein, daß du selbst verhaftet wirst, und das hilft überhaupt keinem, am wenigsten Tanis und Flint.«

Tolpan steckte seine Hände unter die Achseln und zog die Schultern bis zu den Ohren hoch. »Wir können Tanis und Flint nicht da drin lassen«, sagte er finster.

Selana sah ihn wütend an. »Natürlich nicht.« Die Meerelfin knabberte stirnrunzelnd an ihrem Fingernagel, während sie nachdachte. »In der Burg gehen seltsame Dinge vor, und ich glaube, wir sind mitten hineingestolpert. Wenn wir nur noch einmal dort reingehen und ein bißchen herumforschen könnten…«

»Ich wünschte, ich hätte noch meinen magischen Transportring«, warf Tolpan ein. »Dann könnten wir einfach überall auftauchen, wo wir wollen. Hab’ ich dir schon von meinem Ring erzählt?«

Natürlich hatte er das. Tolpan erzählte jedem, den er traf, irgendwann von diesem höchst erstaunlichen Gegenstand. Aber diese Bemerkung brachte Selana auf eine andere Idee. Mit geschürzten Lippen griff sie in ihre bauschige Robe, fummelte herum und zog ein langes, dünnes Gefäß aus glattem, lila Glas heraus, das von einem wolkigen Kristallstopfen in Form eines Seetangwedels verschlossen war. Sie hielt es nachdenklich hoch und traf dann eine spontane Entscheidung.

»Wir trinken das hier!«

12 Vögel aus einer Feder

Was ist das? wollte Tolpan wissen und griff instinktiv nach dem kleinen, lila Gefäß, das Selana in der Hand hatte.

Die Meerelfin drehte sich rasch um, um seinem Griff auszuweichen. »Ein Trank.«

»Was bewirkt er?«

»Es ist ein Verwandlungstrank«, erwiderte sie, während sie ihn immer noch schützend festhielt. Tolpans Gesicht verzog sich erstaunt. »Verwandlung?«

»Ja. Wer ihn trinkt, kann jede beliebige Gestalt annehmen.«

»Du meinst, man kann dick oder dünn oder klein oder groß werden oder seine Haarfarbe ändern oder so?« fragte Tolpan. »Dann erkennt uns keiner. Wir könnten schnurstracks in die Burg marschieren.«

Selana lächelte. »Man kann all das tun und noch viel mehr. Du kannst dich sogar in etwas ganz anderes verwandeln – in einen Hund zum Beispiel oder in ein Pony oder sogar in einen Fisch.«

Tolpan riß die Augen vor Staunen weit auf, als er die schlanke Phiole anstarrte und ungeahnte Möglichkeiten durch seinen Kopf zuckten. »Worauf warten wir dann?« Wieder griff er spontan nach dem Trank, doch Selana schob ihn zurück.

»Sei vorsichtig«, schimpfte sie. »Mehr hab’ ich nicht.«

Tolpan wich verlegen zurück, doch seine Augen wichen nicht von dem Trank in Selanas Hand. »Ich mein’ ja nur, je eher wir loskommen, desto eher können wir Tanis und Flint rausholen.«

»Und desto eher bekomme ich mein Armband. Es gibt da nur ein Problem«, fuhr Selana langsam fort. »Es ist nur diese eine Portion. Ich fürchte, daß nur ich sie benutzen sollte.«

Tolpans Gesicht war enttäuscht. »Du kannst mich nicht zurücklassen! Du wirst meine Hilfe brauchen. Du weißt überhaupt nichts über Schlösser. Diese Burg ist ein unglaublicher Irrgarten, nicht zu vergessen all die Ecken und Winkel in den Nebengebäuden. Ich kann dir helfen, dich dort zurechtzufinden.«

Selana zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, ich kann nichts machen, Tolpan. Ich habe nur den einen Trank.«

»Aber wenn du mich hierläßt, schickt dieser Zauberer bestimmt seine Schläger los, die mich fangen und foltern und mich dazu bringen, ihnen von dir und dem Trank zu erzählen. Überleg doch, in welcher Gefahr du dann schwebst!«

Die Meerelfin unterdrückte ein amüsiertes Lächeln.

»He, ich hab’ eine Idee«, redete Tolpan weiter. »Was würde passieren, wenn wir den Trank teilen?«

Selana überlegte eine Weile, bevor sie die Frage beantwortete. Sie wußte, daß der Kender bestimmt etwas Unüberlegtes tun und gefangen werden würde, wenn man ihn sich selbst überließ. Und darüber hinaus war sie bisher nur in einem einzigen Schloß gewesen, und das war während der Umwälzung ins Meer gesunken und inzwischen zur Ruine verfallen. Schon die normalen Häuser der Landbewohner waren ihr fremd; wie erschreckend würde dann erst eine Burg sein? Vielleicht würde sie Tolpans Hilfe wirklich brauchen.

»Wenn wir den Trank teilen«, sagte sie langsam, »dann hält er bei uns beiden nur halb so lange an. Ich weiß, wenn ihn einer ganz austrinkt, wirkt er vier oder fünf Stunden, je nach Gewicht, und wir sind beide ziemlich leicht.«

Selana sah dem Kender direkt in die Augen. »Ich will dir eine wichtige Frage stellen, Tolpan. Glaubst du ehrlich, daß wir beide in weniger als zwei Stunden einen Weg durch die Burg finden, Flint und Tolpan suchen und befreien, mein Armband finden und wieder verschwinden können?«

Tolpan plusterte sich auf. »Ich weiß, daß ich es könnte. Ich war in Dutzenden von Burgen vom Blutmeer bis zum Düsterwald. Ich hab’ den Trick raus, wie ich da rein und wieder raus komme. Wenn du mich dabei hast, wird das so einfach, wie einen Fisch in der Pfütze zu erlegen.«

»Ich wünschte, wir könnten zum Schloß laufen und den Trank erst in letzter Minute trinken«, murmelte sie, »aber wir können es nicht riskieren, daß man uns sieht. Wir müssen eine Gestalt annehmen, die schnell vorwärtskommt.«

»Ein Pferd, meinst du?« schlug Tolpan vor.

»Ich meine, etwas Unverdächtiges.« Selana nagte wieder an ihrem Fingernagel, während sie nachdachte. »Ein Vogel vielleicht.«

»Toll!« schrie Tolpan. »Ich wollte schon immer mal fliegen. Ein Falke – oder wie wär’s mit einem Kondor? Die sind wirklich stark. Oder vielleicht ein Riesenziegenmelker?«

»Ich weiß nicht mal, was das ist. Schau mal, Tolpan«, erklärte Selana überaus geduldig, »wir wollen doch nicht gesehen werden. Wir müssen einen ganz gewöhnlichen Vogel nehmen, damit wir nicht auffallen.«

Genau in diesem Moment landete ein kleiner, graubrauner Vogel in ihrem Eingang, wo er nach Krümeln suchte. »So wie der da«, fügte Selana hinzu.

»Ein Sperling? Die sind schrecklich klein und wenig beeindruckend«, schmollte Tolpan.

»Dann sind sie perfekt«, sagte Selana und entkorkte das Gefäß. Sie setzte es an die Lippen, doch bevor sie schluckte, warf sie einen forschenden Blick auf das eifrige Gesicht des Kenders. Bevor Selana an Land gegangen war, hatte sie noch nie etwas von Kendern gehört. Tolpan, der einzige Kender, den sie kannte, wirkte zwar ehrlich und offen, aber unberechenbar. Sie hielt inne. »Das hier ist kein Spiel, Tolpan. Was wir vorhaben, könnte gefährlich werden. Versprich mir, daß du dicht bei mir bleibst und keine Zeit verschwendest.«

»Wer verschwendet hier Zeit?« fragte der Kender beleidigt, während er ungeduldig mit dem Fuß tappte.

Selana verdrehte die Augen, neigte das Gefäß dann wieder und trank etwas weniger als die Hälfte. Nachdem sie abgeschätzt hatte, wieviel noch übrig war, nahm sie einen letzten, kleinen Schluck, bevor sie den Trank Tolpan gab.

Mit kugelrunden Augen legte der Kender achtlos das Brot beiseite und kippte ohne Zögern den Rest des scharfen Tranks herunter.

»Ich merke keinen Unterschied«, sagte er sofort, während er zur Bestätigung mit den Händen über seinen schlanken Körper fuhr. Dann begann seine Kehle zu jucken, als wenn ihm die Zunge einschliefe. Dieses Gefühl breitete sich rasch durch den Hals in den Magen aus, um dann durch jeden Teil seines Körpers zu sausen, bis es mit einem leisen »Plopp« in seinen Fingern und Zehen ankam. Danach war das Kitzeln vorbei, und er fühlte sich plötzlich hellwach.

»Mir geht’s phantastisch! Was machen wir jetzt?«

»Denk einfach, du wärst ein Vogel«, sagte Selana. »In eurer Sprache kann man es leider nicht besser erklären. Du mußt dich entspannen und es dir einfach vorstellen. Wenn du dich zu sehr bemühst, klappt es nicht.«

Tolpan sah staunend zu, wie zarte, glitzernde, gelbe Fäden Selana umschwirrten. Eine Sekunde später war die Meerelfin verschwunden, und an ihrer Stelle flatterte ein kleiner Vogel mit ungewöhnlich großen Augen herum.

»Selana?« fragte Tolpan mit seinem breitesten Grinsen. »Das war wirklich sauber! Ich – «

Der kleine Vogel landete auf Tolpans Schulter und zirpte ungeduldig.

»Ja, verstanden, ich beeil’ mich schon«, sagte der Kender. Während er die Augen fest zumachte, um sich zu konzentrieren, versuchte er, sich vorzustellen, wie seine Arme sich mit Federn bedeckten und an seinen Seiten flatterten. Als er ein Auge aufschlug, schnappte er angesichts der graugefleckten Flügel, die dort waren, wo seine Arme sein müßten, nach Luft. Als er an sich herunterblickte, sah er – Füße! Er war kein Vogel, er war nur ein Kender mit Flügeln! Etwas piepste und flatterte wild um seinen Kopf. Ohne darauf zu achten, ob vielleicht jemand zusah, schloß Tolpan wieder die Augen. Er rief sich Selanas Hinweis ins Gedächtnis, atmete tief durch und stellte sich einen Sperling vor.

Nachdem er ganz in diesem Vorhaben versunken war, fiel Tolpan plötzlich auf, daß die Welt größer klang und voller Echos war, daß seine Nase sich mit Gerüchen füllte, die er vorher nie bemerkt hatte – Steine und Erde und Pollen, vermischt mit summenden Insekten und donnernden Schritten. Ein plötzlicher, kräftiger Wind erfaßte ihn und warf ihn um. Überrascht schlug er die Augen auf. Die Welt hatte alle Farben verloren, war nur noch schwarz und weiß.

»He, Selana!« wollte er sagen, doch es kam nur Zirpen und Piepsen aus seinem Mund. Während er über den Plattenweg flatterte, warf er einen Blick auf seine Nase und erkannte den Grund: Er hatte einen Schnabel! Er streckte die Arme aus und fühlte, wie die Federn den Wind einfingen. Das ist noch besser als Teleportieren, dachte er.

Tolpan breitete die Flügel aus und düste nach oben. Er neigte einen Flügel und fegte über die kleine Veranda, verschätzte sich mit der Entfernung und streifte mit der Flügelspitze an der Ziegelmauer entlang. Während er ins Freie steuerte, um sich zu fangen, lernte er eifrig, seinen neuen Körper zu beherrschen, indem er dessen Besonderheiten ausprobierte. Als er gerade fand, jetzt hätte er alles begriffen, fegte der Wind um eine Hauswand und wirbelte ihn wie ein Blatt herum.

»Tolpan, kämpf nicht gegen die Strömung«, sagte eine Stimme, die sich entfernt nach Selana anhörte, aber einen komischen Akzent hatte. Tolpan suchte herum, bis er die in einen Sperling verwandelte Meerelfin entdeckt hatte, die mehrere Dutzend Schritt entfernt kreiste. Ihre Stimme hatte sich allerdings viel näher angehört, überlegte er.

»Ja, du hörst wirklich mich«, sagte der kleine Vogel, dessen Federkrönchen wippte, »aber ich rede nicht richtig. Ich habe einen Zauber benutzt, der es uns gestattet, miteinander zu ›denken‹, sonst könnten wir uns gar nicht verständigen. Falls Vögel sich unterhalten, weiß ich nicht wie, und wir haben keine Zeit, das herauszufinden. Wir haben auch keine Zeit zum Spielen«, fuhr ihre leise Stimme in Tolpans Kopf fort. »Nutze die Strömungen – laß dich von ihnen tragen. Es ist ganz ähnlich wie Schwimmen.«

Tolpan fand diesen Vergleich wenig hilfreich, denn in seinen achtzehn Jahren war er fast so wenig geschwommen wie geflogen. Dennoch befolgte er den Rat und stellte fest, daß die Luftströmungen ihm weniger Probleme bereiteten.

Selana ließ ihn noch ein paar Minuten lang ausprobieren, bevor sie fragte: »Fühlst du dich schon sicher genug, um zur Burg aufzubrechen? Wir müssen uns wirklich beeilen.«

Tolpan nickte eifrig mit dem gefiederten Kopf. Während sie Tolpan mit einem Flügelschlag aufforderte, ihr zu folgen, schoß Selana in den Himmel hoch über den einfachen Straßen von Tantallon. Dicht hinter ihr flatterte Tolpan, der sich doch sehr wie ein Jungvogel auf seinem ersten Ausflug aus dem Nest vorkam.

Ah, die Welt sah durch Vogelaugen ganz anders aus, sagte sich Tolpan. Er sah alles in lebhaften Grautönen – viel mehr Grautöne, als er sich je vorgestellt hätte. Sein Blick war so scharf, daß er sogar Käfer auf den Blättern tief unter sich erkennen konnte. Besonders eine Raupe stach ihm ins Auge, weil sie so fett und saftig aussah, und Tolpan merkte, wie er kreisend zurückflog und sich den Leckerbissen schon vorstellte. Nur Sekunden, bevor er auf die arme Raupe herunterschoß, um sie mit seinem hungrigen Schnabel zu vertilgen, fiel Tolpan auf, was er da gerade vorhatte. Er schüttelte sich und sträubte die Federn.

»Igitt! Selana, ich hätte fast eine Raupe gefressen!« jaulte er.

Als sie sein erschüttertes, braunschwarzes Gesicht sah, sprach Selana wieder direkt in seinem Kopf. »Du handelst aus Instinkt«, erklärte sie ihm. »Denk dran, du bist jetzt ein Vogel.«

»Wie könnte ich das vergessen?« sagte er. Fliegen war viel aufregender, als er sich je vorgestellt hatte, und er hatte sich in seinem kurzen Leben schon viel vorgestellt. Immer wenn er in der Vergangenheit darüber nachgedacht hatte, hatte er jedoch seinen eigenen Körper gesehen, der mit den Armen flatterte. Oder er sah sich in Gestalt eines majestätischen Raubvogels, einer Eule zum Beispiel.

Plötzlich fühlte er sich schwerer und dicker. Der Wind hatte sich nicht verändert, aber er warf ihn viel weniger herum. Seine Flügel hatten enorme Kraft, und sein Blick war unglaublich geschärft. Er sah eine Maus zwischen ein paar Fässern in einer Gasse herumhuschen und beobachtete, wie das kleine Nagetier seinen Geschäften nachging, ohne zu merken, daß es belauert wurde.

Ein Schrei in seinem Kopf ließ Tolpan herumfahren. Beim Aufblicken sah er Selana herbeisausen.

»Tolpan! Sei nicht albern und konzentrier dich auf Spatzen!«

Plötzlich verstand Tolpan, warum er sich anders fühlte. Er war zur Eule geworden. Er schlug zweimal mit seinen ausgebreiteten Schwingen und schoß vorwärts, um dann auf einer Säule Warmluft aufwärts zu kreisen. Die Kraft und Geschmeidigkeit dieses Körpers waren berauschend. »Laß mich so bleiben, Selana, nur bis wir im Schloß sind.« Tolpans Stimme bettelte in Selanas Kopf.

»Dann bemerkt man uns auf jeden Fall«, erwiderte sie zornig. »Sperling!«

Widerstrebend konzentrierte sich Tolpan wieder auf die kleinere Vogelgestalt. Sofort fühlte er sich wieder leichter.

»So ist es gut«, hörte er Selana sagen. »Schau nach unten, dann siehst du, daß wir schon den Fluß überquert haben.« Und wenig später waren sie über die Befestigungsmauern mit den Steinsoldaten hinweg.

»Ich habe uns so weit gebracht, wie mein Wissen vermag«, sagte Selana. »Was machen wir jetzt?«

Tolpan hatte bereits ein Gebäude mit der Aufschrift »Kerker« entdeckt. Er vermutete, daß der Magier Flint und Tanis dorthin gebracht hatte, weil es sicherer war. Dennoch konnte es nie schaden, sich umzusehen und die Burganlage zu untersuchen. »Los, komm«, sagte er und winkte Selana neben sich herunter, als er knapp über das Zinnendach eines Wachturms fegte, der im hinteren Teil des Hofes stand, damit man das Kommen und Gehen in der Burg verfolgen konnte.

Tolpan ließ sich neben ein paar anderen Vögeln nieder – größtenteils weitere Spatzen mit ein paar fetten Tauben dazwischen, die allesamt instinktiv argwöhnisch zur Seite rückten. Die warme Sonne auf seinen Federn tat ihm gut, und Tolpans Augen klappten lethargisch zu.

»Schlaf hier bloß nicht in der Sonne ein«, warnte ihn seine Begleiterin mit ihrer inneren Stimme. Sie pickte ihn leicht mit dem Schnabel an.

»Aua!« Tolpans dunkle Perlenaugen flogen auf. »Hab’ ich doch gar nicht gemacht! Ich hab’ nur geblinzelt, um in dieser Helligkeit besser sehen zu können.« Er plusterte sein Gefieder auf und rutschte eine Vogelbreite beiseite.

»Nicht schlimm«, antwortete Selana. »Wo müssen wir jetzt hin?«

»Siehst du das Gebäude, wo ›Kerker‹ dran steht?« fragte er. Es stieß an die Außenmauer an und war mit der Burg über einen Kreuzgang verbunden, einem an den Seiten offenen, überdachten Weg. »Wenn wir Glück haben, hat man sie dorthin gebracht. Wenn nicht, sind sie immer noch tief unter der Erde, wo wir viel schwieriger rein und wieder raus kommen.« Tolpan suchte das Verlies nach vogelgroßen Eingängen ab. »Laß uns mal zu dem hohen Fenster an der Rückwand fliegen. Von da aus kommen wir rein.«

Sekunden später hatten sie den Platz überquert und hockten auf dem Fenstersims. Tolpan spähte ins Dunkle und war überrascht, wie schnell sich seine Augen an das Dämmerlicht anpaßten. Der Raum war offenbar eine Zelle. Eine schwere, metallbeschlagene Holztür verschloß den Eingang. Das Fenster, wo sie saßen, war zu schmal, als daß ein Mensch hindurchgepaßt hätte, und wäre selbst für Tolpan in seiner normalen Größe eng gewesen.

»Hier ist niemand«, dachte Selana. »Wie viele Räume wie der hier werden wohl noch da sein?«

»Wahrscheinlich zwei oder drei«, erwiderte Tolpan und legte den Kopf schief. Ein dicker Käfer krabbelte die Steine am Rand des Fensters hoch und hielt auf eine kleine Ritze im Mörtel zu. Tolpan sah ihn sich genau an, was den Käfer offensichtlich erschreckte, denn er rannte schneller auf die sichere Ritze zu.

Tolpan breitete die Flügel aus. »Wir bleiben am besten in Bewegung.«

»Warte!«

Selanas Warnung erwischte Tolpan mitten im Abflug. Als er versuchte, anzuhalten, wurde er statt dessen schneller und taumelte vom Sims ins Gefängnis hinein. Nach vergeblichem Geflatter landete er sanft auf einem schimmligen Strohhaufen auf dem Boden.

»Schnell!« schrie Selana, »das mußt du sehen!«

Immer noch mit Stroh in den Federn und ziemlich verärgert, huschte Tolpan auf den Sims zurück. »Was ist los?«

Selanas Stimme bebte immer noch vor Aufregung, obwohl sie direkt in Tolpans Kopf erklang. »Da unten in den Gängen zum Hauptturm. Der kahlköpfige Mann in Rot. Das ist der Zauberer! Und siehst du, was er am Handgelenk hat?«

Tolpans scharfe Augen fanden den Mann sofort. Er hatte eine warme Jacke über seine Robe gezogen.

»Wahrscheinlich hat er gerade Flint und Tanis ins Gefängnis gesteckt«, murmelte Tolpan. Der Blick des Kender-Vogels wanderte zum Arm des Mannes. Der mitschwingende Ärmel rutschte zurück und enthüllte ein kupfernes Band.

»Du hast recht! Das ist wirklich das Armband!« schrie Tolpan. Selbst auf die Entfernung war er ganz sicher, daß es das Schmuckstück war, das Flint für die Meerelfin gemacht hatte. Er konnte jede Rille und jeden Stein daran erkennen. »Wir fliegen rüber und holen es uns!«

»Wie?«

Tolpan dachte nur eine Sekunde nach. »Wir verwandeln uns in Bären und beißen ihm die Hand ab!«

Selana schüttelte sich. »Das ist abscheulich. Und gefährlich. Wir werden zwar wie Bären aussehen, aber wir haben trotzdem nur die Kraft einer Meerelfin und eines Kenders, und wir wären gezwungen, mit vielen Wachen zu kämpfen, ganz zu schweigen von dem Zauberer selbst.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir müssen ihm folgen und einen anderen Weg finden, wie wir ihm das Armband abnehmen können, an einem einsameren Ort vielleicht.« Selana hatte keine Ahnung, wo der sein mochte oder wie sie das machen sollten, besonders da die Wirkung des Tranks jederzeit nachlassen konnte.

»Wir können in der Burg nicht einfach weiter herumfliegen«, wandte Tolpan ein. »Dann würde man versuchen, uns zu fangen oder uns rauszuscheuchen.« Er warf einen Blick auf den Magier dort unten, der bald verschwunden sein würde. »Wir sollten uns lieber schnell etwas ausdenken.«

»Mach dasselbe wie ich«, wies ihn Selana schnell an. »Und daß du mir nicht einmal daran denkst, mich zu fressen.« Mit einem winzigen lila Funkenschauer verwandelte sich der Spatz in eine Fliege.

»Auf die Idee wäre ich nie gekommen!« rief Tolpan aus. Könnte interessant sein, sagte er sich. Der Kender-Vogel schloß fest die Augen und konzentrierte sich. Funken stoben, und plötzlich kam er sich wirklich sehr klein vor. Als er die Augen wieder aufschlug, wurde ihm schwindelig, denn er sah Dutzende von Bildern vor sich. Wenn ihn nicht sechs Beine gehalten hätten, wäre er vielleicht getaumelt. Er brauchte eine Weile, bis er sich an diese neue Sehweise gewöhnt hatte. Das erste, was er klar sehen konnte, war Selana, die in die Richtung davonsummte, die der Magier eingeschlagen hatte. Der Wind warf ihn herum, als er sich in die Luft erhob.

»Langsam, Selana«, beschwerte sich Tolpan, der Mühe hatte, sie nicht aus den Augen zu verlieren. »Ich kann kaum sehen, wo ich hinfliege, und auf jeden Fall sehe ich nicht sehr weit.«

»Mit dem Sichtproblem habe ich nicht gerechnet«, gab Selana zu. »Wahrscheinlich müssen wir uns daran gewöhnen. In der Zwischenzeit versuchst du, bei mir zu bleiben. Und was du auch machst, denk jetzt bloß nicht daran, etwas anderes zu sein.«

»Na gut, aber wenn wir ihn nicht bald einholen, verlieren wir ihn in der Burg.«

Das dicke, zentrale Steingebäude, das für Tolpan nichts als ein dunkler Fleck im Hintergrund war, wurde immerhin ständig größer. Plötzlich löste sich der unscharfe, graue Umriß in Steine auf. »Wir sind zu weit links«, schrie Selana. »Die Tür zum Kreuzgang ist da drüben, rechts von uns.« Die beiden Fliegen bogen scharf nach rechts ab und flogen an der Mauer entlang, die sie in Sichtweite behielten.

Tolpan bekam heraus, daß er, wenn er genau geradeaus guckte – anscheinend die einzig mögliche Blickrichtung –, die Mauer links von sich sehen konnte, Selana vor sich und die verschwommenen Umrisse von Kerker und Hof rechts. Er konnte sich auf jeden Teil dieses Blickfelds konzentrieren, ohne den Kopf oder die Augen zu drehen. »Wenn man es erst einmal raus hat, ist es gar nicht so schlecht«, sagte er sich.

Dann begann er sich zu fragen, was er mit seinen Beinen machen sollte. Als Vogel war es ihm ganz natürlich vorgekommen, sie unter seinem Körper einzuziehen. Im Moment baumelten alle sechs Beine nutzlos unter ihm herum. Tolpan zog sie fest an seinen Bauch. Nein, dachte er, das fühlt sich auch nicht richtig an. Er beschloß, in Zukunft mehr auf fliegende Insekten zu achten.

»Bitte, laß das«, flehte Selana. »Du lenkst mich furchtbar ab. Vergiß nicht, alles, was du denkst, höre ich auch in meinem Kopf.«

»Huch, entschuldige, daß ich denke«, murmelte Tolpan, dem erst zu spät einfiel, daß auch dieser Kommentar zu Selana gesendet wurde.

»Hast du bemerkt, wie schnell wir vorwärtskommen?« Jetzt, wo er sich an der Wand gut orientieren konnte, war Tolpan verblüfft, wie schnell sie flogen. Bevor Selana antworten konnte, merkte der Kender, daß sie schon im Kreuzgang waren, gleich rechts von der Tür, auf die der Zauberer zugegangen war.

»Sie ist zu«, dachte Selana. »Können wir uns an der Seite oder unten durchquetschen?«

»Brauchen wir nicht. Guck mal nach hinten.«

Aus der verschwommenen Ferne kam ihr Feind, kahl und in seiner Robe. Tolpan erschauerte beim gräßlichen Anblick des fehlenden rechten Auges des Zauberers und dessen vernarbter Höhle.

»Wir haben ihn überholt!« jauchzte der Kender. »Wir waren noch viel schneller, als ich dachte. – Schnell, zur Mauer an der Tür. Wenn er aufmacht, schlüpfen wir auch hindurch.«

Beide Fliegen setzten sich in Bauchhöhe auf die Steinmauer, kurz bevor die schwere Tür aufgezogen wurde. Ein Schwall kalter Luft erwischte sie, dann war der Magier schon vorbei und durch die Tür verschwunden. Beide Fliegen huschten hinein. Selana stieß mit der Robe des Mannes zusammen, als dieser stehenblieb und sich umdrehte, um die Tür zuzuziehen. Mit einem Bums sperrte sie das Licht aus, und die drei befanden sich in einem schwach beleuchteten Gang.

Selana summte hin und her, um den schweren Falten der Zaubererrobe zu entkommen. Schließlich konnte sie sich befreien, hielt sich aber außen fest und ließ sich unbemerkt mittragen, während der Mensch den Gang entlang und an Türen vorbei eilte, an deren Seiten tropfende Kerzen hingen. Tolpan summte allein hinterher und versuchte dabei, unterwegs die Türen zu zählen, falls er diesen Weg noch einmal nehmen mußte.

Sein Zählen wurde von Selanas gedanklichem Drängen unterbrochen. »Tolpan, setz dich auf seinen Rücken. Dann kannst du uns nicht verlieren.«

Obwohl dem Kender das wie eine gute Idee vorkam, merkte er schnell, daß es viel leichter gesagt als getan war. Der Körper einer Fliege war lange nicht so geschickt wie der eines Spatzen, und der Rücken des Magiers war ständig in Bewegung. Seine Kleider hoben und senkten sich bei jedem Schritt. Tolpans erster Anlauf ging mehrere Fingerbreit daneben. Beim zweiten Versuch knallte er auf die sich bewegende Oberfläche und wurde zurückgestoßen. »Das ist zu schwierig«, protestierte er. »Und ich verzähle mich mit den Türen.«

Der Zauberer trat über eine Schwelle und auf eine Treppe, die links nach oben führte. Beim Hochsteigen wurde Tolpan bewußt, wie müde er schon war. Anscheinend, dachte er, haben Fliegen nicht viel Ausdauer. Seine Flügel taten weh, und er war sehr hungrig. Dieser Hunger, stellte er fest, war etwas Neues. Fliegen mußten Nahrung furchtbar schnell verbrennen. Er überlegte, ob er nach etwas Eßbarem Ausschau halten sollte, aber als er sich daran erinnerte, was Fliegen so fraßen, änderte er schnell seine Meinung. Er beschloß zu warten, bis etwas Genießbares auftauchte. Dann würde er sich augenblicklich in etwas verwandeln, das es essen konnte.

Jetzt kamen sie am oberen Ende der Treppe an. Der Magier trat durch den offenen Ausgang und ging nach links. Als Tolpan ihm nachsauste, stieß er mit etwas Unsichtbarem zusammen und blieb hängen. Er versuchte, seine Flügel zu bewegen, doch der rechte klebte fest. Der linke surrte vergeblich, bis auch er gegen etwas stieß und festhing.

Selanas Stimme erklang in seinem Kopf. »Was ist los? Warum hast du angehalten?«

»Ich weiß nicht genau«, antwortete Tolpan. »Ich hänge irgendwo fest, aber… oh je!«

»Was ist denn?«

Tolpans Stimme klang sorgenvoll. »Es ist ein Spinnennetz, und ich bin total verstrickt. Meine Arme und Beine hängen fest, und je mehr ich strampel’, desto mehr verheddere ich mich.«

»Warte.« Selana erhob sich vom Rücken des Magiers und eilte wieder zu dem Durchgang zurück. Kaum sah sie das Netz, da hörte Tolpan, der sich bemühte, seine Beine zu befreien, das geistige Gegenstück zu einem Schrei. »Über dir, Tolpan – die Spinne!«

Der Kender sah gerade noch rechtzeitig, wie ein braunes, haariges, mörderisches Ungetüm mit giftbewehrten Fängen über das klebrige Netz auf ihn zu raste. Bevor er etwas tun konnte, war sie über ihm und spann Fäden, während sie die gefangene Fliege zwischen ihren Hinterbeinen herumwarf. Mit jeder Umdrehung fühlte Tolpan, wie die Fäden enger wurden.

Er hatte keine Angst – das haben Kender selten –, aber die Lage sah doch ernst aus. Gleichzeitig war er fasziniert. Er bestaunte die Zielstrebigkeit und das Tempo der Spinne. Jedes Mal, wenn sie ihn umdrehte, konnte er sehen, wie sich sein eigenes, dunkles Gesicht in den facettenreichen Augen der Spinne spiegelte.

Selana summte hilflos hinter dem Netz herum, denn sie hatte einerseits zu viel Angst, um näher heranzukommen, und war andererseits zu verstört, um klar denken zu können. Die Spinnweben legten sich allmählich über Tolpans Gesicht. Die unbewegten Augen der Spinne hingen über Tolpans Hals und zielten, um ihre lähmenden Fänge in die Beute zu schlagen. Tolpan machte schnell die Augen zu und entspannte sich. Einen Augenblick später wurde aus der Fliege unter winzigen, blinkenden Blitzen eine kleine, braune Maus. Die Spinnweben, die ihn einschnürten, platzten, das Netz selbst zerriß, und Tolpan plumpste als Maus auf den Boden, nicht ohne sich noch in der Luft zu drehen, um auf allen Vieren zu landen. Die Spinne fiel von ihm ab, fing sich jedoch an einem eiligst gesponnenen Faden, an dem sie so schnell wie möglich zur sicheren Decke hochkletterte.

Mit vor Erleichterung fast hysterischem Lachen landete Selana neben Tolpan und verwandelte sich ebenfalls in eine Maus. Mit zitternden Beinen stand sie da, während Tolpan seine geschundenen Glieder reckte.

»Warum hast du nicht gleich daran gedacht?« fragte sie.

»Ich habe nicht gehört, wie du mir den Gedanken vorgeschlagen hast«, gab er zurück. »Auf jeden Fall ist ja alles gutgegangen. Warum bist du so verstört?«

Selana ignorierte seine Frage.

»Da ist ja unser altes Einauge«, sagte Tolpan. Sie sahen ihren Gegner vor einer Tür am Ende eines langen, kerzenerleuchteten Korridors stehen. Die beiden Mäuse flitzten den Gang hinunter, wobei sie sich dicht an der Mauer und in den Schatten hielten, bis sie gegenüber der Tür waren. Der Magier machte die unauffällige Holztür auf und trat ein. Tolpan, der vor Selana war, konnte sehen, daß dahinter ein Raum lag, kein weiterer Gang. Aber die Tür ging zu, ehe sie sie erreichen konnten.

Die beiden Mäuse näherten sich vorsichtig der Tür. Ihre scharfen Mäuseohren konnten hören, wie der Zauberer auf der anderen Seite herumlief. Der untere Rand der Tür war mindestens einen Fingerbreit vom Steinboden entfernt, womit die beiden Mäuse genug Platz hatten, sich durchzuquetschen.

»Nach dir«, dachte Tolpan und zeigte mit seiner bärtigen Schnauze hin. Selana schlüpfte lautlos unter der Tür durch, gefolgt von dem Kender, während sich beide fragten, was sie auf der anderen Seite erwarten würde.

13 Zwei Seiten der Medaille

Mit einem Spatel löffelte Balkom etwas Eichhörnchengehirn in eine Steingutschüssel. Sein Labor grenzte an seine Gemächer in Schloß Tantallon, und er arbeitete an einem bauchhohen Holztisch. Der Raum war für ein Zaubererlabor klein, aber im Vergleich zu den anderen Räumen der Burg recht groß. Ein schmaler Spalt in der Außenmauer ließ etwas Licht herein, doch zusätzlich brannten noch einige Fackeln.

Stirnrunzelnd leckte er die letzten, bitteren Tropfen aus der Porzellanschale in seiner rechten Hand. Der Zaubertrank aus einer schneeweißen Perle und einer Eulenfeder schärfte seine Sinne auf unangenehme Weise. Geräusche bekamen einen mißtönenden Beiklang und hallten ungedämpft in seinem Kopf nach; Gerüche verwirrten den Sinn für Zeit und die Abfolge vergangener Ereignisse beunruhigend; am schlimmsten aber waren die Farben und Formen, die deutlicher hervortraten, als wenn sie nicht länger zusammengehörten, sondern unabhängig voneinander wären und einzeln untersucht werden könnten. Genau darum ging es natürlich. Das Elixier verlieh ihm die Macht, die Eigenschaften eines magischen Gegenstands zu erkennen. Er konnte die magischen Fähigkeiten buchstäblich sehen, fühlen, hören und riechen. Augenblicklich untersuchte er das Kupferarmband an seinem Handgelenk.

Balkom fuhr mit den Fingern über das Armband, wie man eine Geliebte berühren würde. Er mochte das Gefühl von schwerem Schmuck und hatte an manchen Stücken fast sinnliches Vergnügen. Das hier war in dieser Hinsicht besonders aufregend, weil es zusätzlich noch mit Edelsteinen besetzt war. Er liebte geschliffene Steine aller Art.

Balkom konnte erkennen, daß das Armband seinem Besitzer durch Visionen die Zukunft zeigte, genau wie der erbärmliche, kleine Schwindler gesagt hatte. Viel interessanter jedoch war seine Herkunft. Es schien von einem Zwerg zu stammen, trug aber auch die unverwechselbaren Zeichen elfischer Handwerkskunst. Aus welchem Elfenreich es stammte, konnte er nicht herausfinden, doch er war sich sicher, daß es weder Silvanesti noch Qualinesti waren. Ein leichter, aber hartnäckiger Salzgeruch, dem er noch nie zuvor begegnet war, haftete daran. Vielleicht kam es von der Insel Sankrist, vielleicht von einem noch weiter entfernten Ort.

Unabhängig von seinem Ursprung, vermutete Balkom, daß ein geübter Besitzer innerhalb von vierundzwanzig Stunden jeweils Antworten auf eine bestimmte Anzahl gezielter Fragen über die nahe Zukunft erhalten würde. In den Händen eines erfahrenen Benutzers barg es enorme Möglichkeiten, doch seine Beherrschung würde viel Übung erfordern. Er beschloß, es irgendwann in der nächsten Woche einen ganzen Tag lang zu tragen, doch jetzt war er zu müde, um damit herumzuexperimentieren, darum streifte er das Armband mühsam von seinem Handgelenk, denn es saß ziemlich eng. Schließlich hatte er es sich von der Hand gewunden und legte es auf den Tisch.

Der Magier ließ die Schultern erschöpft sinken. Für diesen Zauberspruch brauchte man zehn Stunden Zeit. Die ersten acht Stunden nahm allein die Reinigung des Armbands in Anspruch, das erforderte die Identifikation. Außerdem mußte man alle Einflüsse ausschalten, die seine magische Empfindungsfähigkeit beeinträchtigen oder verändern konnten. Gerade, als er diese Arbeit hatte abschließen wollen, war sein neuester Zombie, der frühere Omardicar, im Kerker erwacht und hatte ihn unterbrochen.

Balkom dachte an die beiden Gefangenen, die sicher hinter Schloß und Riegel saßen. Da sie weit intelligenter und aufmerksamer gewesen waren als der Seher, hatten sie für den Magier eine weit größere Herausforderung dargestellt. Er hatte sie eingehend verhört, hatte schließlich auch magische Mittel zu Hilfe genommen, doch der Zwerg war von Natur aus gegen Magie resistent, und mit dem Halbelf, der selbst magische Fähigkeiten hatte, war der Erfolg nicht größer geworden.

Sie hatten eine starke Verbindung zu dem, den sie Delbridge nannten, Balkoms kurzlebigem Zombie. Allerdings behaupteten sie, ihn nie zuvor gesehen zu haben, was ein Lügen entdecken von Balkom als wahr bestätigte. Gegen Ende des Verhörs war sich Balkom ziemlich sicher, daß sie nichts von seiner Beteiligung an Rostrevors Verschwinden ahnten.

Sie würden ausgezeichnete Zombies abgeben.

Sehnsüchtig erwartete er die Nachricht, daß die beiden, die entkommen waren, die merkwürdig blasse, junge Frau und der Kender, durch sein Schattenmonster den Tod gefunden hatten. Er wollte kein Risiko mehr eingehen, jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war.

Balkom gähnte und blinzelte mit den schweren Lidern. Die Vorbereitung des Zaubers hatte ihn körperlich erschöpft, doch die Ereignisse im Verlies und im Gefängnis hatten seinen Verstand aufgerüttelt. Er mußte sich unbedingt entspannen. Von einem Regal nahm er eine blaue Schale und das einfache Rasiermesser, mit dem er sich gewöhnlich den Kopf rasierte. Er trug beides zu einer Tür, durch die er in sein luxuriöses, mit vielen Teppichen ausgelegtes Schlafzimmer gelangte. Dort machte er es sich auf einem mit malvenfarbenem Samt bezogenen Diwan bequem und lehnte sich in einen Haufen Federkissen zurück.

Balkom stellte die Schale auf den Boden. Dann hielt er seinen linken Arm über den Rand des Diwans und über die Schüssel, klappte das Rasiermesser auf und legte seine Schneide in seine Handfläche. So verharrte er mehrere Augenblicke, um die Vorfreude auf das nun Folgende zu genießen. Parallel zu der glänzenden Klinge verlief ein zartes Gitter haarfeiner Narben. Mit einem irren Ausdruck in den Augen drückte er die Klinge gerade so weit in seine Hand, daß in seiner Handfläche eine leichte Kerbe zu sehen war. Dann zog er das Messer mit gepreßtem Lächeln langsam heraus. Ein dünner Blutstrahl drang unter dem Messer hervor, lief warm über seine gekrümmte Handfläche und tropfte in die Schale auf dem Boden. Der Blutstrahl pulsierte mit seinem Herzschlag, und sein Kopf nickte zu dem beruhigenden Rhythmus. Bald liefen dünne Blutstreifen kreuz und quer über seine Hand, denn sie folgten dem zarten Netzwerk der eingeritzten Linien. Ein paar Augenblicke später war seine Handfläche bereits blutüberströmt und wurde klebrig, weil die rote Flüssigkeit zu gerinnen begann.

Die Entdeckung, daß der Anblick seines eigenen Blutes ihn beruhigte und das Gefühl eigener Schmerzen ihn erregte, hatte er in einer schauerlichen Nacht vor zehn langen Jahren gemacht. In jener feuchten, monderhellten Nacht hatte ein gebrochener Jungzauberer am Rande des Abgrunds getaumelt, nur um zuletzt doch noch dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem er einen Pakt mit dem Teufel schloß.

Seither hatte Balkom viel gelernt. Der einstige Adept hatte sich eine Stellung als Hofzauberer bei einem entrechteten Ritter von Solamnia gesichert, der mit seinem Verfolgungswahn in einen vergessenen Winkel von Abanasinia ausgewandert war.

Er konnte in aller Ruhe – sogar gegen Bezahlung – seine magischen Fähigkeiten in luxuriöser Umgebung verfeinern, ohne daß sich jemand einmischte oder unerwünscht seine Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Und er konnte in aller Ruhe die Flammen seines Hasses auf diejenigen nähren, die er für sein Versagen bei der Prüfung im Turm verantwortlich machte: die Versammlung der Zauberer, die ihm seine Aufgabe gestellt hatte und die ihn nun für tot hielt.

Er konnte sich nicht entscheiden, welchen der drei Orden er am meisten haßte. Das Oberhaupt der Versammlung, Par-Salian, war ein mächtiger Zauberer der Weißen Roben. Beim einzigen Mal, als Balkom ihn getroffen hatte – von ihm hatte er seinen ersten Auftrag als Lehrling erhalten –, hatte der mittelalte Erzmagier des Guten den Neuling auf Distanz gehalten. Balkom hielt es für wahrscheinlich, daß Par-Salian sich auch die Prüfungsaufgabe ausgedacht hatte.

Erst kurz vor Balkoms Prüfung war Justarius zum Oberhaupt der Roten Roben ernannt worden, jenem Orden, dem sich Balkom hatte anschließen wollen. Jetzt fand Balkom die Neutralität dieses Ordens nervtötend, besonders da sie Justarius wahrscheinlich davon abgehalten hatte, während der Prüfung zugunsten von Balkom einzutreten.

Damit blieb nur noch Ladonna. Die Zauberin mit dem eisengrauen Haar war ebenfalls in mittlerem Alter und Oberhaupt des Ordens der Schwarzen Roben. Über sie wußte Balkom weniger als über die anderen, weil er während seiner eigentlichen Ausbildung nie daran gedacht hatte, die Schwarze Robe zu tragen. Wegen ihrer Neigung zum Bösen gab er ihr eigentlich am wenigsten die Schuld.

Deshalb wollte er ihren Platz in der Versammlung.

Wie konnte er sich besser an Par-Salian und Justarius rächen als dadurch, daß sie Balkom, der in ihrer unmöglichen Prüfung versagt hatte, als Gleichrangigen akzeptieren mußten? Er würde weit größere Macht erlangen, als er sich bei seiner ersten Reise in den Wald von Wayreth je erträumt hatte.

Wenn nur Hiddukel seinen Teil des Handels einhielt.

Seit er die Abmachung getroffen hatte, hatte Balkom gelernt, wie man verhandeln mußte. Zehn Jahre und zahllose Seelen nachdem er in der Finsternis des Walds von Wayreth den Pakt mit dem bösen Gott geschlossen hatte, hatte der Zauberer einen Plan, der ihm helfen würde, sein Ziel zu erreichen und seinen Vertrag mit Hiddukel ein für allemal zu erfüllen. Er würde dem Gott der Abmachungen und Seelenmakler eine so unberührte, kostbare Seele anbieten, daß der Gott freiwillig seinen mündlichen Kontrakt mit Balkom auflösen würde, nur um sie zu bekommen.

Aber Balkom wollte einen noch höheren Preis rausschlagen. Hiddukel hatte ihm vor langer Zeit sowohl Macht als auch Rache zugesagt. Das erste hatte sich erfüllt, denn Balkom war der mächtigste Zauberer der Gegend. Jetzt würde er auch seine Rache bekommen, wenn er Ladonnas Platz in der Versammlung übernahm.

Während er überlegte, wie er das Thema dem Gott gegenüber anschneiden sollte, drückte Balkom auf die Wunde in seiner Handfläche, bis der Blutstrom verebbte. Dann umwickelte er ihn fest mit einem sauberen Stück Seide aus einem emaillierten Kästchen neben dem Diwan. Mit der kleinen Schale kehrte er in sein Labor zurück. Dort vermischte er das gerinnende Blut mit süß duftenden Pülverchen zu einer Paste. Die setzte er über einem rotglühenden Kohlebecken auf und steckte dann den Kopf in die Rauchwolke, die aus der Schale aufstieg. Dieser widerliche Dunst ließ die Erschöpfung der letzten zehn Stunden verschwinden, so daß Balkom sich wieder frisch und wach fühlte.

Er hatte dieses Ritual unzählige Male durchgeführt, bevor er Hiddukel beschwor. Jede Begegnung mit dem scharfzüngigen Gott war ein Duell des Willens. Hiddukel war der unsterbliche Herr der Verträge. Alles, was während einer Unterhaltung mit ihm gesagt wurde, ganz gleich, wie unbedeutend es scheinen mochte, konnte einen auf ewig binden. Balkom hatte schon vor langer Zeit erkannt, daß jede erdenkliche Vorsicht angebracht war, wenn man mit einem solchen Wesen verhandelte.

Nachdem er sich klar und gestärkt fühlte, ging Balkom von seinem Arbeitstisch zu einem reich verzierten Schrank in der Ecke. Dieser enthielt oben und unten symmetrisch angeordnete Fächer und dazwischen eine Unmenge kleiner Schubladen. Der Zauberer wählte eine Schublade aus und zog sie vollständig heraus. Dann griff er dahinter ins Leere und holte ein kleines Kästchen aus glänzend poliertem, grauem Schiefer hervor. Jede Seite war nur ungefähr zwei Finger breit. Er zog eine zweite Schublade ganz heraus und ließ flink ein verborgenes Fach an der Rückseite aufschnappen, aus dem er einen winzigen Bronzeschlüssel zog. Er wandte sich wieder dem Schieferkästchen zu, drehte es in den Händen, bis er die Seite gefunden hatte, die er suchte. Vorsichtig zog er den Bronzeschlüssel über diese Seite des Kästchens, und dann erschien eine Vertiefung in der Größe des Schlüssels. Balkom drückte den Schlüssel in die Kerbe, und sofort ging das Kästchen auf; ein kleiner, tiefblauer Samtbeutel lag darin.

Vorsichtig faltete Balkom den Beutel auf, der zunächst leer erschien. Das Erstaunlichste daran waren die sechs winzigen Stahlhände, die die Beutelöffnung fest geschlossen hielten. Der Zauberer sprach die Worte: »Buldi vetivich«, und entließ damit die magischen Hüter, die das Täschchen schützten. Die sechs Händchen verschwanden.

Vor Aufregung zitternd, kippte Balkom den scheinbar leeren Beutel um, und heraus kullerte ein perfekt geschliffener, faustgroßer Rubin. Obwohl Balkom den Stein ins Licht einer der vielen Kerzen im Raum hielt, konnte er das verängstigte, junge Gesicht tief in den weinfarbenen Facetten des Steins kaum erkennen, das hin und her blickte und vergeblich die Dinge außerhalb seines magischen Gefängnisses zu erkennen suchte.

Sie hatten es ihm so leichtgemacht, der Ritter und sein Sohn und besonders der nichtsahnende Delbridge, der durch die Enthüllung des geheimen Plans allen außer sich selbst ein Alibi verschafft hatte. Es war ein Kinderspiel gewesen, den Edelstein zwischen Rostrevors Laken zu schieben, während er die Umgebung angeblich magisch versiegelte. In dem Moment, wo der Knappe den Stein berührte, wurde er hineingezogen und saß wie ein Flaschengeist gefangen. Als Balkom den Raum am Morgen öffnete, mußte er nur noch den Edelstein unbemerkt einstecken. Alle anderen waren viel zu sehr mit dem unerklärlichen Verschwinden des Knappen beschäftigt gewesen.

Aber eine Seele einzufangen war kein leichtes Unterfangen, nicht einmal für einen so mächtigen Zauberer wie Balkom. Zuerst brauchte der Zauberer ein Behältnis, das ein Edelstein von unschätzbarem Wert sein mußte, weil er sonst zerspringen würde, wenn man die Seele hineinzwang. Dann war es notwendig, den Stein zu bezaubern, damit er überhaupt für Magie aufnahmefähig wurde. Anschließend mußte der Magier ein Zauberlabyrinth innerhalb des Edelsteins erschaffen, das als Gefängnis für eine Seele dienen konnte. All diese Schritte waren vor dem Zauber erforderlich, der die Seele letztendlich einfing, und mußten wie ein Ritual jedes einzelne Mal nacheinander befolgt werden, wenn Balkom ein Opfer brauchte, um Hiddukels Hunger zu stillen.

Hunger war vielleicht das falsche Wort. Balkom fragte sich, wie so oft, welchen Nutzen Hiddukel aus den Seelen zog, die er von seinen Anhängern erhielt. Ernährte er sich von ihnen, oder war er über jegliches Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme hinaus? Vielleicht wurden sie Sklaven in irgendeinem alptraumhaften Reich, das sich kein Sterblicher vorstellen könnte. Oder – was Balkom noch reizvoller fand – vielleicht waren die Seelen für Hiddukel eine Art Währung, wenn er mit Wesen verhandelte, die noch abscheulicher waren als er selbst. Letzten Endes war es Balkom egal, was aus den Seelen wurde; seine Neugier war rein akademisch.

Balkom zögerte, während er minutenlang den riesigen, schauerlichen Edelstein anstarrte, ehe er in die Tiefen seiner schwarzen Robe langte. Er haßte Unterredungen mit Hiddukel. Dennoch konnte er nur so erlangen, was er sich erträumte.

Die Fingerspitzen des Zauberers fanden den feinen, kaum zu entdeckenden Saum direkt über seiner linken Brust. Er klopfte viermal dagegen – zweimal schnell, dann zweimal langsam. Die Geheimtasche, die er auf magische Weise dort angebracht hatte, ging auf, und er zog ein großes kaltes Goldstück heraus. Nachdem er diese Verbindung zu dem bösen Gott Hiddukel während eines Herbststurms im Wald von Wayreth empfangen hatte, hatte er die Münze eine Zeitlang achtlos bei seinem übrigen Geld aufbewahrt. Bis zu dem Wahnsinnstag, wo er fast – versehentlich – auf einem Wochenmarkt ein Huhn dafür gekauft hätte. Da hatte er zum ersten Mal über die möglichen Folgen seiner Sorglosigkeit nachgedacht. Noch am selben Nachmittag hatte er eine Geheimtasche in seine Robe eingenäht.

Balkom griff nach der brennenden Kerze, die neben ihm auf dem Tisch stand, dann zögerte er wieder. Er untersuchte die Münze in seiner Hand. Jedes der beiden Gesichter darauf hatte eine eigene Persönlichkeit, was er anfangs sowohl fesselnd als auch praktisch gefunden hatte. Häufig gefiel eine Abmachung, die der einen Seite nicht zusagte, der anderen.

In einer einzigen Unterredung wechselten die Seiten oft mehrere Male. Aber inzwischen waren ihm beide Seiten von Hiddukel immer verhaßter geworden.

Nachdem er sich schließlich für das strengere Gesicht entschieden hatte, hielt Balkom die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger am Rand fest. Langsam führte er sie über die Kerzenflamme, wobei er merkte, wie das Metall zwischen seinen Fingern heiß wurde. Während die Temperatur des Goldstücks stieg, merkte Balkom, wie seine Finger zu glühen begannen. Gerade als die Hitze herrlich unerträglich wurde, belebte sich das Gesicht auf der Münze auf einmal. Der Mund ging weit auf, und die Kerzenflamme schoß hindurch; dann gingen die Augen auf, suchten den Raum ab und fixierten schließlich Balkom.

»Du! Ich war mitten in einem wichtigen Geschäft«, fauchte das grimmige Gesicht. »Die Monde haben noch nicht den Stand erreicht, wo du normalerweise lieferst. Sag mir auf der Stelle, warum du mich gerufen hast, sonst zieh’ ich dir das Fleisch von den Rippen und lasse die Dämonen das Mark aus deinen Knochen saugen!«

»Nein, das wirst du nicht«, sagte Balkom, der schon lange wußte, daß Hiddukel ein herausforderndes Auftreten mehr schätzte als echte Überzeugung. »Du brauchst mich noch, damit ich dir Seelen beschaffe.«

»Ich brauche keine Sterblichen!« bellte das zornige Gesicht.

Balkom legte seine daumenlose Hand in gespieltem Erstaunen auf seine Brust. »Habe ich all die Jahre etwas Falsches geglaubt? Ich dachte, die wahren Götter könnten Krynn nur durch Avatare betreten, so wie diese Münze, und ohne ihre Kräfte. Wenn du natürlich selbst diese Welt betreten und dir Seelen holen kannst«, sagte er, um mit seinem Bluff zu beginnen, »dann betrachte ich unseren Handel gern als abgeschlossen und bring’ dir keine Seelen mehr.«

»Unser Pakt ist erfüllt, wenn ich das bestimme!« Beide Gesichter der Münze stießen plötzlich ein schluckaufartiges Gelächter aus, das unangenehm ungleichzeitig kam. »Außerdem, willst du das etwa Seelen nennen, was du mir in letzter Zeit an verkommenem Zeug geschickt hast? Tollwütige Hunde und Goblins würden meine Bedürfnisse besser befriedigen. Ich möchte das schon fast Vertragsbruch nennen, Mensch.«

Balkom zwang seine Stimme, ungerührt zu klingen. »Was glaubst du denn, wie viele wertvolle Körper und Seelen in einem Dorf von der Größe Tantallons unbemerkt verschwinden können. Ich nehme alles, was ich kriegen kann.«

Hiddukels Augen traten hervor. »Deine armseligen Schwierigkeiten sind nicht mein Problem, Magier! Ich habe dich zu dem gemacht, was du bist, und dafür erwarte ich wenig genug als Gegenleistung.«

»Dann wird es dich außerordentlich freuen zu hören, was ich diesmal für dich habe.« Rote Lichtstrahlen blitzten aus dem großen Rubin, als er das Licht einer Fackel an der Wand einfing. Während Balkom in voller Vorfreude auf der Lippe herumkaute, streichelte er die geschliffene Oberfläche des Rubins, bevor er ihn vor die Münze hielt.

Hiddukels Ausdruck war wütend. »Ich habe schon früher Edelsteine gesehen, Magier. Warum verschwendest du meine Zeit mit Spielchen?«

»Sieh hinein, oh Herr«, sagte Balkom freundlich. Er drehte das verzauberte Edelsteingefängnis näher zum Gesicht der Münze hin.

Das Goldstück drehte sich selbst in Balkoms offener Hand herum. Hiddukels verschlagenes Gesicht spähte in die Tiefen des Steins. »Ich sehe das Gesicht eines hübschen, jungen Burschen. Er sieht aus wie andere, die du mir geschickt hast; das sagt gar nichts über seine Seele«, sagte er skeptisch.

»Oh, aber schau ihm in die Augen«, beharrte Balkom. »Das ist kein Gesicht von einem gewöhnlichen Flickschuster oder Gammler. Das ist Rostrevor, einziger Sohn von Lord Curston, erzogen nach Eid und Maßstab der Ritter von Solamnia. Seine Seele ist so rein und klar wie ein Bergbach. Ich wette, es gibt auf ganz Krynn nur wenige, deren Seele so unbefleckt ist.« Er hielt inne, damit seine Worte wirken konnten. »Das gebe ich dir – «

Selbst Hiddukels gewiefte Seite konnte ihre Freude bei solchen Aussichten kaum verbergen.

»– gegen einen letzten Dienst.«

»Denk dran, wer hier der Herr ist.«

»Das habe ich nie vergessen.«

Balkoms Blick hielt dem Gesicht auf der Münze stand. Keine Schwäche zeigen, ermahnte er sich selbst. »Seit zehn Jahren bin ich dir treu ergeben und tausche Seelen gegen das Leben ein, das du mir ermöglicht hast. Im Schatten des Turms hast du gelobt, mir zu helfen, wenn ich mich für meine Behandlung während der Prüfung im Turm der Erzmagier räche. Jetzt bitte ich um die Erfüllung dieses Versprechens. Verschaff mir Ladonnas Sitz in der Versammlung der Zauberer.«

Hiddukel war entsetzt. »Das ist unmöglich!«

»Einem Gott ist nichts unmöglich.«

Hiddukel erkannte die Falle.

Das bewegte Gesicht auf der Münze erstarrte nachdenklich.

»Du bist ein Gott des Bösen. Ladonna ist die höchste Zauberin der Schwarzen Roben. Denk dir etwas aus.« Balkom hielt Hiddukel wieder den Stein vor die Nase.

»Wann?«

Balkom unterdrückte ein begeistertes Lächeln. »Ich werde dich wie gewöhnlich vom Tempel aus anrufen. Dort machen wir den Handel perfekt.«

Die Münze sprang auf die ablehnende Seite zurück. »Ich brauche Zeit! Ladonna ist nicht dumm.«

»Einem Gott wird sie doch wohl kaum gewachsen sein.« Nachdem ihm diese Worte herausgerutscht waren, hielt Balkom wegen seiner Unverfrorenheit heimlich die Luft an. Hatte er übertrieben? Hatte er Hiddukels Selbstgefälligkeit überschätzt, weil er der Erfüllung seiner Ziele so nah war?

»Nimm dich in acht, Sterblicher«, warnte die Münze kalt. »Ich gerate nicht so leicht in Zorn, aber du hast meine Geduld lange genug auf die Probe gestellt. Ich stehe nicht in deiner Schuld, sondern du in meiner. Solange das so ist, kann ich alles, was ich dir gewährt habe, wieder zurücknehmen, selbst dein Leben. Überleg es dir gut, bevor du noch einmal meine Macht in Frage stellst.«

Balkom hatte Hiddukels Macht auf Krynn nie wirklich erprobt, aber was er in der Vergangenheit erlebt hatte, war eindrucksvoll gewesen. Er wußte, Hiddukel machte seine Drohung womöglich wahr, wenn nicht direkt, dann durch andere Gläubige. Nur wenige verehrten den verschlagenen Gott des Feilschens in aller Offenheit, doch Balkom hatte gute Gründe anzunehmen, daß viele ihm heimlich dienten, so wie er selbst. Mehr als einmal hatte der Gott in der Vergangenheit verlangt, daß Balkom ihm die Seele einer bestimmten Person auslieferte. Obwohl Hiddukel es nicht ausdrücklich gesagt hatte, zweifelte Balkom nicht daran, daß auch diese Opfer dem Gott gefolgt waren, ihn jedoch entweder verraten oder enttäuscht hatten. Der Gedanke an solche Mörder, die ihm selbst nachstellten, ließ Balkom frösteln, besonders weil seine Seele dann Hiddukels bösen Späßen ausgeliefert sein würde.

»Ich bitte um Vergebung, Hiddukel. Der Gedanke daran, daß meine Rache endlich so nah ist, macht meine Worte unüberlegt. Du weißt, daß ich dir zehn Jahre treu gedient habe. Ich erbitte nur das, was du mir versprochen hast. Und bedenke, was es für dich bedeuten würde, einen treuen Diener in einer so hohen Stellung wie der Versammlung der Zauberer sitzen zu haben«, fuhr er fort. »Wir können beide davon profitieren.«

Balkom wußte, indem er die Aufmerksamkeit des Gottes auf etwas anderes lenkte, konnte er sich selbst vor Hiddukels Zorn schützen. In diesem Fall war der beste Köder wie gewöhnlich das, was der Gott sich nach Seelen am meisten wünschte: Gewinn und Macht.

»Es stimmt schon«, erklärte das großzügige Gesicht der Münze, »ich habe deinem Fall über die Jahre viel Aufmerksamkeit geschenkt.« Aber dann sprang das Goldstück herum und zeigte die unbeugsame Seite. Jetzt wurden die Verhandlungen erst richtig schwierig, das wußte Balkom aus Erfahrung. Das strenge Gesicht feilschte viel härter als das gutmütige, aber es feilschte auch um erheblich höhere Einsätze.

»Aber täusche dich nicht«, zischte es. »Auch andere wollen Ladonnas Position. Manche verdienen sie vielleicht mehr als du. Manche haben einen stärkeren Glauben als du, andere sind unterwürfiger. Und dann wäre da noch Ladonna selbst. Warum sollte ich dich vorziehen?«

Wie immer, wenn er mit Hiddukel sprach, war Balkom hochkonzentriert. »Andere verzehren sich vielleicht nach der Position, aber mir wurde Rache versprochen. Wir wissen beide, du mußt deine Verträge halten, wenn sie einmal abgeschlossen sind. Ich war geduldig, Hiddukel, aber ich warte schon lange. Und jetzt bringe ich dir eine Seele, wie du sie lange nicht gesehen hast.«

Die Münze schnitt Balkom das Wort ab, bevor er fortfahren konnte. »Was weißt du von Zeit, Mensch? Ich habe schon Zeitalter erlebt, die du dir nicht einmal vorstellen könntest. Ich bin aus deiner Welt verbannt worden, und man hat mir lange die Seelen verweigert, die ich brauche. Was sind Jahre, Jahrzehnte? Was bedeutet dein Warten im Vergleich zu meinem? Solche erbärmlichen Bitten beeindrucken mich nicht.«

»Aber dein Zeitmaß kann nicht für mich gelten«, antwortete Balkom. »Im Gegensatz zu dir werde ich älter. Meine Zeit auf dieser Welt ist begrenzt. Je länger du damit zögerst, mir meine Bitte zu gewähren, desto weniger Zeit werde ich haben, dir aus einer wirklich mächtigen Position heraus zu dienen. Bedenke, welche Seelen ich dir schicken könnte, wenn ich in der Versammlung säße. Das wäre mit nichts zu vergleichen, was du je gekannt hast, und würde mit Ladonna losgehen. Wir würden beide bekommen, was wir uns am meisten wünschen.«

Jahrelange Erfahrung hatte Balkom gelehrt, wie er am besten an Hiddukels Gier appellierte. Wenn dieser Ansatz fehlschlug, würde er es anders versuchen. Balkom hatte keine Brücken hinter sich verbrannt, aber er konnte sich auch dem Schutzgott der Seelenfänger gegenüber kein wirksameres Argument vorstellen.

Die Münze sprang auf die freundlichere Seite zurück. Vergeblich versuchte Balkom, sie zu fangen, damit das strenge Gesicht wieder oben lag. Er war zu langsam. Er wußte, jetzt würde das großzügige Gesicht, das keinen so bedeutenden Pakt abschließen wollte, die Verhandlungen abbrechen.

»Bring die Seele zum vereinbarten Ort, wo ich sie genauer ansehen kann«, sagte die Münze lächelnd. »Dann werde ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen.« Daraufhin machte die Münze ihren Mund zu, und das Ding in Balkoms Hand war wieder eine einfache groteske Medaille.

Weil er sich nicht sicher war, ob er niedergeschlagen oder begeistert sein sollte, schloß Balkom fest die Faust um das Goldstück. Er hatte dem Gott keine neuen Versprechungen abgerungen und auch keine Zusicherungen erhalten. Andererseits war er aber auch nicht abgewiesen worden, und schon das war eine gewisse Ermutigung. Solang Hiddukel zum Reden bereit war, gab es begründete Hoffnung.

Nachdem er seinen muskulösen, sechs Fuß großen Körper gereckt hatte, steckte Balkom die Münze in seine Geheimtasche, um anschließend den Seelenstein sorgsam in sein genau ausgetüfteltes Versteck zurückzulegen.

Als nächstes, sagte er sich, mußte er den Altar für die Zeremonie vorbereiten, bei der die Seele des Knappen Hiddukel ausgeliefert werden würde. Das mußte reibungslos vonstatten gehen, wußte Balkom, denn ihm würde vielleicht nie wieder eine so makellose Seele in die Hände fallen.

Es gab da allerdings ein Problem, denn der Altar war nicht in der Burg. Das Risiko einer zufälligen Entdeckung war zu groß, deshalb hatte er den Altar nicht im Umkreis der Stadt aufbauen können. Wenn seine grauenvollen Praktiken oder gar sein Dienst an Hiddukel jemals öffentlich bekannt oder Lord Curston hinterbracht wurden, war es aus mit Balkoms Laufbahn und wahrscheinlich auch mit seinem Leben. Aus diesem Grund lag der Altar gut versteckt meilenweit außerhalb der Stadt in einem unwegsamen Teil des Ostwall-Gebirges.

Zu Fuß dorthin zu gelangen, würde Balkom mindestens einen harten Reisetag kosten, vielleicht auch mehr. Aber mit einem Flugzauber konnte er in einer guten Stunde dort sein.

Dennoch war es immer noch eine schwierige und gefährliche Reise. Die höheren Regionen der Berge waren von feindseligen Wesen bewohnt. Die eigentliche Übergabezeremonie war zeitraubend; das bedeutete, er brauchte eine gute Ausrede, damit seine Abwesenheit vom Hof unverdächtig wirkte. Getreu seiner solamnischen Herkunft mißtraute Curston der Magie und den Zauberern. Er hatte nur deshalb einen Hofzauberer, weil jemand in seiner Machtposition eindeutig einen brauchte, und weil Balkom sich viele Male als nützlich erwiesen hatte. Deshalb traute Curston seinem Zauberer noch lange nicht.

Balkom drehte sich um und betrachtete die Darstellung der Mondzyklen an der Wand. Die drei Monde von Krynn – Lunitari, Solinari und Nuitari – kontrollierten während ihrer Phasen die Macht der Magie in der Welt. Als böser Gott war Hiddukel auf dem Höhepunkt seiner Macht, wenn Nuitari, der schwarze Mond, am höchsten Punkt stand. Dasselbe galt für Hiddukels Gläubige. Nur zu diesem Zeitpunkt konnte Balkom Hiddukel Seelen übergeben. Sieben von achtundvierzig Tagen stand Nuitari ganz oben am Himmel.

Balkom wußte, daß morgen die erste Nacht von Nuitaris Höchststand war. Am Tag darauf würden Nuitari und Lunitari einen Tag lang zusammenstehen. Während dieser Zeit würde die Macht aller Zauberer auf Ansalon erhöht sein, besonders aber die der Schwarzen und der Roten Roben. An Balkoms Hals traten die Adern hervor, als er an die mißlungene Prüfung zurückdachte, die ihn vom Orden der Roten Roben ferngehalten und in Hiddukels Dienst getrieben hatte. Weil er Hiddukel diente, konnte er von Nuitari ebenso profitieren wie jeder Zauberer der Schwarzen Roben.

Während er noch über seine nahende Verabredung am Altar nachdachte, bemerkte Balkom ein kleines Nagetier, das auf seinem Arbeitstisch herumkrabbelte. In der Burg wimmelte es von Ratten und Mäusen, und Balkom hatte sich im Laufe der Jahre sogar mit einigen von ihnen angefreundet, auch wenn er nicht zögern würde, sie als Versuchstiere zu benutzen. Sie knabberten gerne an heruntergefallenen Stückchen von Zauberkräutern und tranken die Reste der Flüssigkeiten in seinen Mörsern.

Diese Maus hatte Balkom ganz sicher noch nie in seinem Labor gesehen. Ein so zartes, kleines Tier mit so klugen Augen wäre ihm aufgefallen. Er sah zu, wie es zwischen den chirurgischen Instrumenten und Schalen herumwieselte und mit seiner feinen Nase an Krümeln schnupperte.

Plötzlich blieb sein Blick an etwas am Ende des Tischs hängen. Das braune Pelztierchen sprang vor und sperrte mühsam seinen Kiefer weit genug auf, um mit seinen scharfen, kleinen Zähnen das Armband zu packen.

»He, du kleines – «, begann Balkom zugleich verärgert und verwirrt. Er griff hin und wollte die tollkühne Maus festhalten, die sich abmühte, das schwere Armband zur Tischkante zu zerren.

In diesem Augenblick sprang eine weitere, kleinere, aber drahtige Maus hinter der blauen Schale hervor und senkte ihre rasiermesserscharfen Zähne in Balkoms Hand. Der Magier schrie vor Schmerz und Wut auf und schüttelte die Maus von seinem Finger ab auf den Boden, wo sie benommen herumtaumelte.

Die Maus auf dem Tisch bemühte sich unterdessen immer noch, das Armband zum Rand zu ziehen, kam aber nirgendwo hin. Als sie in Balkoms wutentbranntes Gesicht blickte, während seine Hand nach ihr griff, warf die Maus einen letzten, verzweifelten Blick auf das Armband und sprang freiwillig vom Tisch.

Sie kam jedoch nie unten an. Mitten im Flug verwandelte sie sich vor Balkoms überraschten Augen in einen Kolibri und schwirrte durch den engen Luftspalt davon und aus der Burg heraus. Balkom drehte sich der Magen um.

Das waren keine Mäuse.

Hektisch suchte der Zauberer auf dem Boden nach der anderen Maus. »Wer seid ihr wirklich? Was wollt ihr?«

Schließlich entdeckte er sie, als sie sich gerade unter der Tür zu Balkoms Schlafzimmer und zum Gang dahinter durchzwängte und sich damit dem Blick des Magiers entzog. Er konnte nicht hoffen, das verängstigte Tier zu erwischen.

Wenn der Zwerg und der Halbelf nicht irgendwie entwischt waren und sich in Mäuse verwandelt hatten, wußten jetzt noch zwei Leute, daß er das Armband hatte. Und es gab zwei andere: die Frau und den Kender, die seinem Netz entkommen waren! Der Zwerg und der Halbelf saßen sicher im Burgverlies. Hatte das Schattenmonster seinen Auftrag bezüglich der anderen beiden nicht erfüllt? Konnten sie mächtig genug sein oder so viel Glück haben und ihm entkommen?

Und was noch schlimmer war, sie hatten zweifellos sein Gespräch mit Hiddukel mitgehört. Auch wenn sie keine klare Vorstellung haben konnten, wo der Altar war, konnten Wesen mit der Fähigkeit, sich zu verwandeln, dessen Lage zweifellos entdecken. Um sicher zu sein, mußte er zum Altar, die Übergabe vollziehen und sofort Ladonnas Platz in der Versammlung übernehmen, wodurch er über dem Einfluß jedes Provinzzauberers in Tantallon oder sonstwo stehen würde.

Balkom bereitete sich so schnell wie möglich auf seine Abreise vor, doch zwei Fragen brannten in seinen Gedanken wie eine unlöschbare Flamme.

Wer waren die Frau und der Kender, und wieviel wußten sie?

Загрузка...