Der Berghang war vom Frühlingsmatsch rutschig. Tolpan Barfuß suchte sich vorsichtig einen Weg über die trockensten Stellen, wobei er sich mit seinem gegabelten Kenderhupak abstützte. Hin und wieder hielt er an und stocherte mit dem Stock nach vorn und prüfte, wie tief die Schlammpfützen waren. Er wußte aus Erfahrung, daß der Matsch trügerisch und unangenehm war.
Vor zwei Tagen hatte er den Plan aufgegeben, sich auf dem Wagen eines Bauern oder Kaufmanns mitnehmen zu lassen. So wie die Straßen derzeit aussahen, konnten keine Wagen passieren. Aber in ein, zwei Tagen würden die Straßen wieder schön fest sein, und die Karren würden wieder losrumpeln. Bis dahin mußte er eben laufen.
Tolpan war davon überzeugt, diese Reise würde sich lohnen, trotz der nassen Füße, der verschmutzten Kleider und des wegen der Nässe des Holzes arg qualmenden abendlichen Lagerfeuers. Vor ihm lag Solace, das Dorf in den Baumkronen, und der Ort galt allgemein als sehenswert. Vor Jahrhunderten hatten die Bürger von Solace nach der großen Umwälzung Schutz vor Plünderern und umherstreifenden Monstern gesucht und waren deshalb in die riesigen Vallenholzbäume gezogen. Heute wurden in ganz Krynn staunend Beschreibungen ihrer Häuser in luftiger Höhe und der schönen Hängebrücken dazwischen verbreitet.
Als der Kender dann von einem Hügel aus das berühmte Dorf erblickte, mußte er unwillkürlich vor Staunen Luft holen. Malerisch ragten die Reetdächer aus den Wipfeln der knospenden Bäume, wie verzaubert und anheimelnd zugleich. In den blauen Nachmittagshimmel empor ringelten sich die dünnen Rauchfäden der Kochstellen.
Vor Aufregung bebte seine Brust, als summten und brummten hundert Schmetterlinge darin. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er den matschigen Weg nun hinunterhüpfen, -hopsen oder -rennen sollte, also machte er alles irgendwie abwechselnd und doch gleichzeitig; und im Nu war er in Solace.
Am Ortsrand blieb Tolpan stehen und starrte zu den Häusern hoch. Für jemanden wie ihn, der nicht einmal vier Fuß groß war, erhoben sie sich noch weiter nach oben. Staunend schossen seine Blicke von einem Baum zum anderen und nahmen jede Einzelheit wahr: Wie die Häuser an den Bäumen befestigt waren, wie viele Türen und Fenster sie jeweils hatten, in welchem Zustand sie sich befanden, welche Farbe und was für Leitern und Treppen sie hatten. Er registrierte jedoch auch, daß nicht alle Häuser in den Bäumen lagen. Eine ganze Reihe Gebäude, darunter auch der Stall des Dorfes, standen auf der Erde.
Davon war Tolpan gleichzeitig enttäuscht und entzückt. Das hatte ihm bisher noch nie jemand erzählt. Einerseits wirkte der Ort irgendwie weniger phantastisch, wenn die Pferde auf dem Boden bleiben mußten.
Andererseits aber lohnte es, sich diese Tatsache zu merken. Er grabbelte in dem Beutel herum, den er über der Schulter trug, und zog ein fest zusammengerolltes Pergament, ein kleines Glas Tinte und eine mitgenommene Feder heraus. Das Pergament war mit Kommentaren, Plänen und halb oder fast fertigen Karten jeder Größe und Lage bedeckt. Tolpan suchte sich rasch eine noch leere Ecke, wo er ein paar wichtige Beobachtungen hinkritzelte und einen kleinen Plan von der Gegend zeichnete. Nachdem er die Sachen wieder im Beutel verstaut hatte, betrat er das Dorf.
Die Ruhe war überaus wohltuend. Die jungen Frühlingsblätter der Vallenholzbäume raschelten im leichten Wind, während kleine Insekten summten und zirpten. Keine schreienden Esel, keine kreischenden Kinder, keine polternden Wagen. Eigentlich schien überhaupt niemand dazusein.
Plötzlich kniff Tolpan die Augen zusammen und sah sich blitzschnell argwöhnisch um. Seit seiner Ankunft hatte er noch keinen einzigen Menschen gesehen. Da stimmte doch etwas nicht. Im Kopf ging er fieberhaft alle Möglichkeiten durch. Die Leute konnten von Schuppenmonstern, die sich bei Nacht in die Stadt geschlichen hatten, gefressen oder von Sklavenhändlern verschleppt worden sein. Vielleicht waren einfach alle fortgezogen, oder vielleicht waren sie von Riesenziegenmelkern entführt worden. Bei diesem Gedanken lief ihm ein Schauer über den Rücken, und er warf nervös einen Blick über die Schulter.
Fest entschlossen, die Antwort herauszufinden, wählte Tolpan einen nahen Baum aus und stieg die steile Wendeltreppe um den Stamm hinauf. Der Baum trug ein gemütlich aussehendes Häuschen und einen kleinen Schuppen, beides durch Hängebrücken verbunden. Er spähte durch das verrußte Fenster des Hauses, konnte aber im dunklen Inneren wenig erkennen. Ein Klopfen an der Vordertür wurde nicht beantwortet, so daß er die Klinke ausprobierte – verschlossen. Aus einer seiner vielen Taschen holte Tolpan ein Öltuch, in das eine erstaunliche Sammlung unterschiedlich gebogener Drähte, Feilen und Schlüssel jeder Art eingeschlagen war. Seine Nase berührte beinahe die Tür, als er mehrere nachdenkliche Momente lang durch das Schlüsselloch spähte, um dann einen Dietrich auszuwählen. Er wollte ihn gerade in das Loch stecken, als er unten ein Geräusch hörte.
Tolpan sah nach unten und entdeckte eine Gruppe Leute mit Körben, die sich lachend unterhielten, während sie die Hauptstraße entlangliefen. Kurz darauf bogen sie in eine kleinere Straße ab und waren dann nicht mehr zu sehen.
So plötzlich, wie es aufgetaucht war, war das Öltuchbündel wieder verschwunden, und Tolpan raste nach unten.
»He, wartet auf mich!« rief er, aber sie waren schon außer Hörweite. Mit seinen kurzen Beinen fegte der Kender die Straße hinunter, um den Korbträgern zu folgen. Er flitzte um eine Ecke und dann einen kleinen Hang hoch, wo er schliddernd zum Halten kam.
Hinter der kleinen Anhöhe, auf der Tolpan jetzt stand, war ein Jahrmarkt! Der Platz war voller Verkaufsstände, Zelte, Artisten, Bettler und überhaupt voller Leute. Jede Menge Leute – bestimmt ganz Solace und wahrscheinlich noch ein paar mehr, überlegte Tolpan.
Er eilte den Hang hinunter und tauchte in die Menge ein. Auf allen Seiten hörte er Händler lautstark ihre Waren und ihre Dienste anpreisen. Mit großen Augen sah der Kender hierhin und dorthin und wieder zurück. Er umrundete einen Esel, als wie aus dem Nichts zwei Männer mit einem eingerollten Teppich auf den Schultern auftauchten. Tolpan schlüpfte zwischen sie und sicherte sich damit einen kleinen Freiraum. Er reckte den Kopf nach rechts und links, nach vorne und hinten, blickte hin und her und versuchte vergeblich, alles auf einmal zu sehen. Eigentlich konnte er sogar nur sehr wenig sehen außer vorbeilaufenden Körpern und Armen, die schubsten, zeigten, schleppten, sich berührten, kauften und verkauften.
Ein drängender Warnschrei ertönte von hinten, und Tolpan konnte gerade noch einem riesigen Faß ausweichen, bevor es vorbeidonnerte. Das Ungetüm trieb eine Rinne in den Matsch und überzog Tolpans Hose mit braunem Wasser. Zwei erschrockene Männer jagten verzweifelt dem Faß nach; der eine warnte die Umherstehenden mit lauten Rufen, während der andere unablässig Flüche ausstieß. Tolpan verfolgte kichernd, wie das Faß weiterrollte, wie die Leute sich durch rasche Sprünge in Sicherheit brachten und wie sie aus dem Weg hasteten. Das Schauspiel hatte ein Ende, als der Ausbrecher in den Stand eines Tischlers knallte, woraufhin sich ein bunter Baldachin über die Verwüstung legte.
Die Menge kehrte bald zu ihren eigentlichen Geschäften zurück. Als Tolpan sich wieder dem Fest zuwandte, schoß ein stechender Schmerz durch sein Bein. Er unterdrückte ein Jaulen und boxte dann schnell dem bulligen Mann in dem langen Leinenmantel, der auf Tolpans Fuß stand, in die Seite. Ob der Stoß dem Mann wirklich weh getan hatte, war schwer zu sagen; jedenfalls erregte er seine Aufmerksamkeit. Sein Kopf fuhr zur Seite, und er suchte finster die Menge ab, doch es dauerte mehrere Momente, bis er den kleinen Kender vor seinem Bauch entdeckte. Der Mann knurrte ihn aus tiefer Brust an. Er legte Tolpan eine Hand auf die linke Schulter, hob den Fuß und versetzte ihm einen kräftigen Schubs, der den unglücklichen Kender mitten durch die Menge fliegen ließ.
Zurückweichend und wild um sein Gleichgewicht zappelnd, taumelte Tolpan gegen einen Stapel Teppiche. Darauf brachte er sich in Sicherheit, setzte sich, überblickte die Menge und rieb sich den schmerzenden Fuß.
Grobe Hände packten ihn von hinten. »Runter mit deinen Dreckfüßen von meiner Ware, du kleine Kröte!« Tolpan wurde herumgerissen und sah sich einem ärgerlichen, schlanken Mann mit Bart und großem Satinhut gegenüber.
Tolpan warf einen Blick auf seine vor Dreck starrenden Hosen und die Spur nasser, dreckiger Fußabdrücke, die über die Teppiche zu seinem augenblicklichen Standort führten, und kicherte, was auf jeden Fall ein Fehler war. Er hatte das Wort »Entschuldigung« noch nicht ganz ausgesprochen, als auch der Händler seinen Fehler bemerkte.
»Ein Kender! Und ich hab dich für ein unschuldiges Kind gehalten. Verschwinde!« brüllte er.
»Aber ich wurde geschubst«, protestierte Tolpan. »Es war nicht meine Schuld – «
»Verschwinde!« Das Gesicht des Teppichhändlers lief vor Wut puterrot an. Seine Hände glitten über Tolpans Oberkörper, um das Wollhemd und die Taschen des Kenders zu durchsuchen, was Tolpan erneut zum Kichern brachte. Als der Händler sich vergewissert hatte, daß nichts aus seinem Besitz an Tolpans Körper versteckt war, wirbelte er den Knirps herum und stieß ihn wieder zurück in die drängelnde Menge.
Es wäre nur natürlich gewesen, wenn Tolpan durch all die Mißhandlungen, denen er ausgeliefert war, entmutigt gewesen wäre, doch Kender sind nicht so leicht zu vergraulen. Das gehörte einfach alles zu dem Markt, und Tolpan fand Gefallen an Aufregungen. Er fand auch Gefallen an den knusprig gebratenen Spiralkuchen mit Puderzucker, die er von einer zahnlosen, aber fröhlichen und rotbackigen, alten Frau kaufte. Während er sich geistesabwesend den Zucker von den Fingern leckte, machte er sich daran, das Gelände zu erkunden.
Exotische Musik drang über den Jahrmarkt; die Töne von langen Saiteninstrumenten und winzigen Zimbeln, nahmen Tolpan mit ihrem pulsierenden Rhythmus gefangen. Wie ein Hund auf der Fährte trottete der Kender durch die Menschenmenge und fand seinen Weg zur Bühne. Dort wirbelte und wogte eine dunkelhäutige Frau, deren Seidenschleier wie zarte Blütenblätter schwebten. Stahlmünzen klimperten an ihren Handgelenken, Knöcheln und Hüften. Die fremdartige, wundersame Musik beschwor bunte Farben und ferne Düfte.
Aber selbst das reichte nicht, um Tolpans Aufmerksamkeit zu fesseln, als im Nachbarstand die Zaubervorstellung begann.
Übelriechender Rauch trieb über die Bühne. Mit einem Zischen tauchte ein grinsender Mann aus dem Rauch auf. Die Menge wich ehrfürchtig zurück, auch wenn Tolpan ziemlich sicher war, daß er direkt vor der »Materialisation« des Mannes eine Bewegung im Vorhang gesehen hatte. Der Mann trug eine bodenlange, waldgrüne Tunika, die so dunkel war, daß sie schon fast schwarz wirkte. Eine pelzbesetzte Robe derselben Farbe reichte ihm gerade bis unter den Bauch. Beide Kleidungsstücke waren mit einer Vielzahl geheimnisvoller Symbole verziert.
»Ich bin der großmächtige Fozgoz Mithrohir«, verkündete der Zauberer, »Enkel und einziger überlebender Erbe des ebenso großmächtigen Fozgond Mithrohir, dem ewigen Glanzlicht und Großschnurrbart des herrschenden Ordens der Grünen Zauberer! Tretet zurück!«
Damit zog er einen Stab aus seinem linken Ärmel und wedelte diesen drohend vor der Menge, die respektvoll zurückwich.
»Hier und jetzt werde ich vor euren Augen durch meine große Macht ein Wesen der niederen Ebenen beschwören, eine gefährliche Bestie von einem Ort, den ihr euch nicht vorstellen könnt, denn nur ich, Fozgoz, habe es je gewagt, dorthin zu gehen, und bin als einziger zurückgekehrt. Habt keine Angst, denn ich habe völlige Macht über dieses Wesen. Ich bin der Herr dieses schrecklichen Tiers, denn ich habe meine Macht im Kampf gegen die Gesetze seiner eigenen magischen Welt bewiesen! Aber nun Ruhe bitte und zurücktreten!«
Tolpan starrte wie alle anderen mit weitaufgerissenen Augen hin, als Fozgoz seinen Stab mit komplizierten magischen Gesten durch die Luft schwenkte. Während er das schweflige Muster zog, stoben Funken aus der Spitze. Dann brach mit einem Knall eine zweite Wolke aus beißendem Rauch über die Menge. Tolpan und die anderen Zuschauer in den vordersten Reihen wichen zurück, wobei sie husteten und sich die tränenden Augen rieben. Der erste, der danach wieder nach vorn rannte, war Tolpan, der gebannt in den Wolkenwirbel schaute. Etwas benommen und nicht besonders wild, tauchte darin etwas auf – für Tolpan hatte es in etwa Gestalt und Größe einer Ziege, war aber ganz ohne Fell und offenbar mit orangen Schuppen bedeckt. Es hatte nur ein Horn. Während die Menge staunend Mund und Nase aufsperrte, stand das Tier friedlich kauend da. Gerade als Tolpan die Hand nach ihm ausstreckte, sprang ein Assistent vor und führte das unglaubliche Monster hinter den Vorhang.
Fozgoz’ Augenbrauen waren unnatürlich verzogen, als er Tolpan wütend ansah.
»Bestimmt bist du ein tapferer und abenteuerlustiger Kerl, kleiner Wanderer«, verkündete er. »Dieses Tier hätte dir den Arm abgerissen und in einem Stück heruntergeschluckt und dann dein Blut zum Nachtisch getrunken, wenn ich nicht hiergewesen wäre, um seine animalischen Instinkte zu zügeln.«
»Es sah aus wie ein Ziegenbock«, meinte Tolpan mißtrauisch.
»Das ist dir aufgefallen, ja?« Fozgoz setzte ein gönnerhaftes Lächeln auf. »Das kommt daher, daß das Universum nur eine begrenzte Anzahl Formen zur Verfügung hat. Damit alle Wesen existieren können, müssen manche Formen auf den vielen Existenzebenen zweimal oder sogar noch öfter verwendet werden. Laß dich nicht täuschen. Es sah nur äußerlich einer Ziege ähnlich.« Die verblüffte Menge gab diese neue Erkenntnis murmelnd weiter.
Tolpan drehte sich zu dem Mann neben sich um und murmelte: »Es sah ganz bestimmt wie eine Ziege aus. Fandest du das nicht auch?«
Bevor der Mann antworten konnte, mischte sich Fozgoz ein. »Sag mir, kleiner Wanderer, du bist doch ein Kender?«
»Tolpan Barfuß, von den Barfußens aus Kenderheim. Hast du schon von uns gehört?«
»Zum Glück nicht«, sagte Fozgoz, was ihm Lacher aus der Menge einbrachte, »aber ich bin sicher, jeder hier hat schon von den seltsamen und wunderbaren Dingen gehört, die Kender in ihren Beuteln herumschleppen. Du erlaubst doch?« Mit fragend erhobener Augenbraue streckte der Zauberer eine Hand nach Tolpan aus.
Tolpans Gesicht leuchtete auf. »Aber sicher, gern!« Er trat vor und ließ den Beutel von seiner Schulter gleiten. Als er die Schnur aufknoten wollte, hielt Fozgoz ihn zurück.
»Bitte«, sagte er, »ich bin schließlich ein Zauberer. Es ist nicht nötig, den Beutel zu öffnen. Ich kann auch sagen, was darin ist, wenn er zugebunden ist, ja, ich kann es sogar herausholen. Stell dich hierhin.«
Tolpan stellte sich gehorsam neben Fozgoz. Der Magier legte seine linke Hand leicht auf den Beutel. Mit der Rechten schwang er seinen Stab.
»Jetzt entspanne dich, mein tapferer Freund«, mahnte er. Er kniff die Augen zusammen. Dann preßte er die Lippen fest aufeinander und näherte den Stab dem Beutel. »Radorum, Radorae, Radorix, Radorostrum!« Ein Funkenschauer brach aus der Spitze des Stabs und regnete über Tolpan herunter. Fozgoz trat triumphierend zurück und hielt die linke Hand hoch. Die Menge hielt die Luft an. Langsam brachte er seine Handfläche auf Augenhöhe von Tolpan, und der Kender sah darin den vertrockneten Fuß und den Schnabel eines Raben.
Tolpan betrachtete die Dinge. »So was, die hab ich völlig vergessen. Aber warte, du hast das Beste verpaßt. Hier, ich zeig’s dir.« Bevor Fozgoz etwas sagen konnte, hatte Tolpan den Beutel aufgemacht und eine schöne, orange-grüne Feder herausgezogen. »Hier haben wir die Schwanzfeder einer Harpyie. Und den Zahn eines Minotaurus und eine Locke von irgend jemands Haar, jedenfalls war das mal wichtig, und ein bißchen Mondstaub von Lunitari – oder war’s Solinari? Also, jedenfalls hat Onkel Fallenspringer den von irgend so einem Mond mitgebracht. Wo ist denn der zerstoßene Pegasushuf? Oh, und ich habe Karten von überall, wo ich gewesen bin, was praktisch überall ist, und auch von vielen Orten, wo ich noch nicht gewesen bin.«
Inzwischen drängelten die Zuschauer sich vor und wollten einen Blick auf die seltsamen und wunderbaren Dinge erhaschen, die Tolpan in seinen kleinen Fäusten hielt. Fozgoz wedelte vergeblich mit den Armen, um die Menge zurückzutreiben.
Als Fozgoz seine Vorstellung gerade abbrechen wollte, hörte er den Kender seinen Namen rufen. »Mächtiger Fozgoz! Sieh mal!«
Die Zuschauer wichen so weit auseinander, daß Fozgoz Tolpan sehen konnte. In der ausgestreckten Hand hielt der einen Rabenschnabel und zwei getrocknete Füße. »Guck, ich habe sie gefunden. Sie waren wieder in meinem Beutel. Wie hast du das gemacht, ich meine, ohne deinen Stab zu schwenken?«
Überrumpelt sah Fozgoz in seine eigene Hand, wo er die Sachen doch noch halten mußte. Sie waren noch da. Unglücklicherweise sahen das auch mindestens sechzehn Zuschauer.
»Hör mal, was ist das für ein hinterhältiger Trick?« fragte einer von den größeren Zuschauern und machte einen Schritt auf Fozgoz zu.
»Wofür hältst du uns, für einen Haufen Dummköpfe?« fragte ein anderer. »Ich würde sagen, wir können einen faulen Zauber schon erkennen, wenn wir ihn sehen.« .
Fozgoz plusterte sich auf. »Fauler Zauber! An deiner Stelle würde ich meine Zunge im Zaum halten. Diesmal werde ich deine frechen Worte noch überhören, aber fordere mich nicht heraus! Ich warne euch alle, selbst ein Zauberer mit meiner Weisheit ist irgendwann mit seiner Geduld am Ende.«
»Wenn du so ein großer Zauberer bist, was machst du dann auf einem Jahrmarkt?«
Inzwischen war Fozgoz von drei Seiten eingekreist, und seine Drohungen und Warnungen zeigten keinen erkennbaren Effekt. Die Anwesenden schrien laut und höhnisch nach einer Demonstration wahrer Macht. »Na los, Fozgoz, wie wär’s mit einem Blitzschlag hierhin«, schnaubte ein Mann und zeigte zum Ergötzen der Menge auf seine eigene Brust.
»Na schön, ich habe euch gewarnt«, regte sich Fozgoz auf. »Jetzt tretet zurück, sonst passiert noch etwas, was ihr lange bedauern werdet! Sonst werde ich… Oh, Schreck. Wo ist denn nur mein Stab?«
Mehrere Schritte von dem bedrängten Zauberer entfernt, verschnürte Tolpan hinter der Menschenmenge seinen Beutel und schulterte ihn. Er hatte sein schon von Natur aus zerfurchtes Gesicht vor Enttäuschung über die armselige Zaubervorstellung in noch tiefere Falten gelegt. Als er durch die Zuschauer schlüpfte, drang unbemerkt ein Funkenschauer aus seinem Beutel.
»Du beleidigst mich. Bist du dazu gekommen, nur um mich zu beleidigen?«
Tolpan war drauf und dran, sich bei dem zu entschuldigen, den er beleidigt hatte – auch wenn er sich gar nicht daran erinnern konnte, in letzter Zeit jemanden beleidigt zu haben –, als ihn eine zweite Stimme aufhielt. »Beleidigen? Ich beleidige dich? Du beleidigst uns – bei solchen Preisen.«
Tolpan hatte die Streitenden rasch ausgemacht. Ein Mensch, seiner abgetragenen, schlichten Kleidung nach ein Wandersmann, hatte mit einem Zwerg einen hitzigen Streit über dessen Ware angefangen. Der Zwerg war nicht mehr der Jüngste. Das Haar über den buschigen Augenbrauen wurde bereits grau, seine Nase war eine rote Knolle, und unter seinem Schnurrbart zeigte sich ein gewohnheitsmäßig brummiger Ausdruck.
»Ware? Das nennst du Ware? Du solltest mir dankbar sein, daß ich überhaupt stehenbleibe, um sie anzusehen.«
Die beiden waren sich offenbar weder über den Wert noch über die Qualität des Geschmeides einig, das der Zwerg verkaufte. Tolpan sah zu, wie der Zwerg rot vor Wut eine Silberbrosche und eine schöne Halskette zu einem kleinen Armband in einen gläsernen Schaukasten legte. Er wischte sich die dicken Hände vorn an seiner blauen Tunika ab, als könnte er damit auch den unhöflichen Kunden abstreifen.
»Entschuldige, Fremder«, sagte er mit beherrschter Stimme, »aber meine Arbeit ist von bester Qualität – ich bin der einzige zwergische Schmied, der jemals für die Stimme der Sonne persönlich gearbeitet hat. Meine Preise sind überaus fair. Ich verkaufe hier Juwelen, keinen Fisch. Wenn du handeln willst, dann such dir lieber einen Fischstand, und dann solltest du zum Markt runtergehen.« Damit wendete sich der erzürnte Zwerg einem anderen Kunden zu. Aber der verstimmte Mensch wollte sich so nicht abfertigen lassen.
»Fisch«, schnaubte der Mann. »Gut, das ist jedenfalls ein respektables Geschäft. Da kann es jeder riechen, wenn die Ware schlecht ist. Aber bei Geschmeide ist das anders.« Der Mann beugte sich über den Kasten und blickte hinein, wobei er mit dem Finger über verschiedene Dinge fuhr. »Du hast da wirklich ein interessantes Stück. Wenn du doch nur so vernünftig wärst zu handeln…«
Der Zwerg fuhr zu dem Mann herum. »Ich habe dir gesagt, daß das Armband nicht zu verkaufen ist! Wie dämlich bist du denn? Es ist um keinen Preis zu haben, und schon gar nicht zu diesen Fischmarktangeboten.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nahm der Zwerg einen kleinen Schlüssel von einer Kette um seinen dicken Bauch und versperrte den Kasten mit dem fraglichen Armband. »Wenn du jetzt bitte nicht länger meine Zeit verschwenden würdest…«
Tolpan achtete nicht weiter auf den Wortwechsel, als er sich näher heranschob, um das fragliche Armband anzusehen. Es war ein ziemlich einfach gearbeitetes Kupferarmband, in das zahlreiche Steine eingearbeitet waren und das gerade genug Details aufwies, um einen Kender zu fesseln – besonders Tolpan. Obwohl ihm ein solcher Gedanke bestimmt nicht durch den Kopf ging, wollte Tolpan eindeutig wissen, wie es sich wohl an seinem Handgelenk anfühlte.
Kurz darauf stand er am Schmuckstand des Zwergs. Es war ein einfacher Aufbau, wie die meisten auf dem Markt. Ein paar Bretter, die an drei Seiten von Fässern oder Böcken getragen wurden, und dahinter ein Vorhang oder Zelt.
Dieser spezielle Stand war nicht ordentlicher oder unordentlicher als die meisten anderen, wenn auch der Eigentümer offenbar Schwierigkeiten mit den Größen der verschiedenen Rassen auf dem Jahrmarkt gehabt hatte. Da er selbst ein Zwerg und nur vier Fuß groß war, war es für ihn am bequemsten, wenn sein Brettertisch nur zwei Fuß hoch war. Doch die meisten seiner Kunden waren Menschen. Um seine Waren richtig ansehen zu können, brauchten sie einen deutlich höheren Tisch, der dem Zwerg aber wiederum bis zur Nase gegangen wäre. Als Kompromiß hatte der Goldschmied die Bretter knapp drei Fuß hoch aufgebaut, was für alle Beteiligten gleichermaßen unbequem war.
Tolpan ragte genau einen Kopf über die Bretter hinaus und hätte bequem sein Kinn darauf legen können, wenn er müde gewesen wäre und das gewollt hätte. Aber das war er nicht und wollte er nicht. Was er wirklich wollte, das war ein genauer Blick auf das Armband.
Es liegt offensichtlich hier, um bewundert zu werden, sagte sich Tolpan. Der Zwerg hatte den Schaukasten nur abgeschlossen, um den ungehobelten Menschen abzuschrecken. Schließlich holte der Kender eine lange, dünne Nadel aus seinem Gepäck, griff praktisch unbemerkt über den Tisch und öffnete das winzige Schloß an dem Kasten, was der Zwerg gewiß selbst getan hätte, wenn er nicht gerade etwas anderes zu tun gehabt hätte, wie Tolpan dachte. Als er seine Hand an einer Seite unter den Glasdeckel schob, fanden seine Finger das kühle Metall des Armbands. Tolpan drehte sich schnell um, denn auf der anderen Seite war das Licht viel besser, um das Schmuckstück zu untersuchen.
Das Kupferarmband war von einfacher Eleganz, was der Kender überaus hübsch fand. Und er war sehr glücklich, als er wie erwartet vier Halbedelsteine entdeckte. Und zwar sehr komische Steine, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie waren blaßgelb und hatten alle eine etwas unterschiedliche Form, aber ungefähr denselben Durchmesser von einem viertel Fingerbreit. Das Armband war recht klein und demnach nicht für das dicke Handgelenk eines Menschen oder eines Zwergs bestimmt. Als er es über seine Hand streifte, sah er voller Entzücken, wie perfekt es bei ihm saß. Es war federleicht.
Tolpan drehte sich wieder zu dem Stand um, um dem Eigentümer ein paar Fragen zu stellen, aber zu Tolpans Erstaunen war der Zwerg verschwunden. Die Leute, die sich hier angesammelt hatten, gingen weiter, nachdem der freche Kunde verschwunden war.
»Entschuldigung, aber könntest du… Verzeihung, aber wißt Ihr, wo der…« Obwohl Tolpan von einem zum anderen lief, als das Knäuel aus Passanten sich rasch auflöste, konnte er niemanden auf sich aufmerksam machen, der gesehen haben könnte, wo der Zwerg hingegangen war. Kurz darauf stand er allein vor dem Stand des Goldschmieds.
Tolpan nahm eine Silberbrosche aus einem offenen Schaukasten auf dem Verkaufsbrett. Während er sie in der Hand drehte, konnte er deutlich erkennen, daß sie von einem wahren Meister stammte. Andere Schmuckstücke aus dem Kasten zeigten denselben ausgeprägten Stil, aber das Armband, das offensichtlich auch von diesem Meister stammte, war schlichter. Ihm fehlten die typischen Kennzeichen von Zwergenschmuck: schweres Filigran, große Steine, bunte Intarsien aus Metallen und Mineralien oder exotische Legierungen.
Als Tolpan die Brosche und verschiedene andere Stücke in den Schaukasten zurücklegte, faßte er einen Entschluß. Das Armband war ganz offensichtlich zu einmalig, damit man seine Sicherheit den armseligen Schlössern der Kästen des Zwergs anvertrauen konnte. Eine solche Handlung wäre geradezu unverantwortlich gewesen. Lieber würde Tolpan es sicher an seinem Handgelenk aufbewahren, bis er den Zwerg finden und es zurückgeben konnte.
Leichtfüßig wandte Tolpan sich von dem Stand ab und wollte den zwergischen Goldschmied suchen. Er rechnete mit einer schwierigen Verfolgung; schließlich war der Frühlingsmarkt eine große Angelegenheit, und der Zwerg konnte überall stecken. Er war erst fünf Schritte weit gekommen, als ein donnernder Ruf ihn aufhielt.
»Dieb! Haltet den kleinen Dieb!«
Tolpan blickte sich rasch um, weil er hoffte, den Schurken zu entdecken, ja, ihn vielleicht sogar mit einem schnellen Schuß seiner Hupakschlinge zu erledigen. Aber er sah niemanden erschrocken davonrennen. Er sah auch niemanden, der wie ein »kleiner Dieb« aussah, obwohl das natürlich auch nur so ein Ausdruck sein konnte, wie er beschloß. Dann dämmerte Tolpan, daß er eigentlich eine Menge Leute sah, die ihn anstarrten.
Tolpan warf rechtzeitig genug einen Blick über die Schulter; der Goldschmied rannte puterrot und kochend vor Wut auf ihn zu. Der Kender ging dem Zwerg eilig aus dem Weg, damit er vorbeilaufen und den Dieb fangen konnte, doch der kam abrupt zum Stehen, und ein kräftiger Arm schoß vor und packte den Kender noch mitten in der Bewegung am Hals; ein erstaunlich wendiges Manöver für einen Zwerg, dachte Tolpan.
Die Hände des Zwergs schlossen sich fest um Tolpans Schultern, und der Zwerg schüttelte den Kender so heftig, daß ihm Hören und Sehen verging. Der Zwerg keuchte und prustete und war so aufgebracht, er konnte kaum reden. »Her mit meiner Ware, du kleiner… Ich konnte gerade noch… Deine Rasse hätte während der Umwälzung ausradiert werden sollen… Wachen! Wachen! Ich sollte… Wachen!«
»Ware?« Tolpans völlig verdatterter Gesichtsausdruck brachte den tobenden Zwerg dem Schlaganfall noch näher. »Du glaubst, ich hätte etwas gestohlen?« Tolpan stand da, hielt die eine Hand hinter dem Rücken und zeigte mit der anderen auf sich, als wollte er sagen: »Ich? Die ganze Aufregung meinetwegen?«
»Ooohh!« schrie der Zwerg durch seinen bebenden Bart. Seine Wut war so heftig, daß er Tolpan losließ, weil er seine zitternden Fäuste kaum noch unter Kontrolle hatte. Schließlich stampfte er mit dem Fuß auf und drehte sich einmal im Kreis, bevor er wieder ruhig genug war, um zu reden.
»Wie kannst du es abstreiten? Wachen! Ich habe es doch gesehen, genau da an deinem Handgelenk!«
»Ich glaube nicht, daß da irgend etwas an meinem Handgelenk ist«, sagte Tolpan, der seine linke Hand ansah.
»Nicht die!« kreischte der Zwerg. »Die andere Hand, du Türknopf! Die, die du hinter deinem Rücken versteckst!« Er griff nach Tolpans Hand und versuchte, das Armband herunter zustreifen. »Es ist genau da, an deinem Handgelenk!« wiederholte er. Immer noch zerrend, sah er sich hektisch um. »Wo bleiben denn die Wachen?«
Inzwischen hatte sich eine Traube Zuschauer um den Stand versammelt, die drängelten und schoben, damit sie etwas von dem Aufruhr mitbekamen. Der Zwerg war in der Stadt für seine Wutausbrüche bekannt, und keiner wollte diesen verpassen (wenn auch keiner zu nahe dranstehen wollte). Ein großer, drahtiger, junger Mann, der etwas aufgeregt aussah, bahnte sich einen Weg durch die Menge.
»Na also, da ist ja die Wache«, seufzte Tolpan. »Ich hoffe, der klärt die Sache auf, denn ich bin wirklich äußerst durcheinander.«
»Den Göttern sei Dank, daß du kommst, Tanis«, atmete der Zwerg auf, ohne auf den Kommentar des Kenders zu achten. »Bitte lauf schnell los und hol eine Wache.«
»Erzähl mir doch erst mal, was los ist«, sagte der, den er Tanis genannt hatte.
Tolpan warf sich trotzig in die Brust. »Das wüßte ich auch gern.«
Flint schnaubte. »Ist das nicht eindeutig? Der üble Kobold da hat mein Armband gestohlen und wollte sich gerade damit davonmachen.« Der Zwerg verdrehte Tolpan zum Beweis den rechten Arm, schob den Ärmel zurück und zeigte das Kupferarmband an dessen Handgelenk. »Da. Genau da, wo er es versteckt hat.«
»Ach, das meinst du?« Tolpan war ehrlich überrascht. »Das habe ich nicht gestohlen. Ich habe es für dich beschützt. Ich wollte dich gerade suchen gehen, um es zurückzugeben. Du hast es auf dem Tisch liegenlassen, wo jeder, der vorbeikommt, es einfach hätte nehmen können.« Tolpan drohte dem Zwerg vorwurfsvoll mit dem Finger. »Du solltest wirklich vorsichtiger mit deinen Sachen umgehen.«
»Es war im Schaukasten eingeschlossen!« rief der Zwerg aus, wobei er Tolpan den Finger in die Brust bohrte.
»Das war schrecklich unvorsichtig«, mahnte Tolpan völlig ungerührt. »Und du könntest diese Schaukästen genausogut unverschlossen lassen, so wenig helfen sie.«
Die Gelassenheit des Kenders brachte den Zwerg nur noch mehr zum Kochen. »Auf dieses Getue vom unschuldigen Kender fall ich nicht rein.« Verzweifelt sah er sich unterstützungheischend zur Menge um. »Ich will, daß dieser Dieb abgeführt wird.«
Tanis beugte sich zu dem Zwerg vor und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Ich glaube wirklich nicht, daß das nötig ist, Flint. Ich bin sicher, er wollte nichts Böses tun.«
Als er sich zu dem Kender umdrehte, fuhr Tanis fort: »Wenn du das Armband zurückgibst – und alles, was du sonst noch so mitgenommen hast –, vergessen wir die ganze Sache einfach.«
Tolpan war beeindruckt von dem Gerechtigkeitssinn dieses Mannes – etwas, wovon er seit seiner Ankunft in Solace wenig erfahren hatte. »Aber mit Vergnügen«, sagte Tolpan. »Das wollte ich schließlich sowieso die ganze Zeit.« Mit einer raschen Bewegung hatte er das Armband abgestreift und seinem Besitzer übergeben. Der Zwerg schnappte es, grunzte und verstaute es sofort in seiner Jackentasche.
»Gern geschehen«, sagte der Kender mit Nachdruck. Der Zwerg sah ihn nicht an.
Jetzt drehte sich der junge Mann zur Menge um, wedelte mit den Händen und schickte die Neugierigen davon. »Das war’s, Leute, hier gibt es nichts mehr zu sehen. Geht wieder an eure Geschäfte.« Danach streckte er dem Kender die Hand entgegen. »Mein Name ist Tanthalas, aber alle nennen mich Tanis. Der hier, den du seiner Meinung nach zutiefst gekränkt hast, ist mein guter Freund und Kamerad, Flint Feuerschmied. Er schreit schlimmer, als er in Wirklichkeit ist.«
Tolpan griff zu und umfaßte die Hand des Mannes. »Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich kennenzulernen, Tanis. Du bist der erste hier, der freundlich zu mir ist. Ich bin Tolpan Barfuß, von den Barfußens aus Kenderheim. Vielleicht hast du ja schon von uns gehört? Freut mich auch, deine Bekanntschaft zu machen, Flint Feuerschmied. Tut mir leid, daß du meine Absichten mit dem Armband falsch verstanden hast. Es ist ein schönes Stück.«
Tolpan streckte dem Zwerg seine Hand entgegen, doch der verschränkte die Arme und starrte in den Himmel, bis ihn ein Stoß von Tanis’ Ellenbogen fast umwarf. Nachdem er Tanis einen finsteren Blick zugeworfen hatte, nahm Flint schließlich widerwillig Tolpans »Entschuldigung« an und drückte ihm die Hand.
Tanis betrachtete amüsiert Flints verbohrtes Gesicht. »Nun, Tolpan«, sagte er, »ich bin froh, daß das beigelegt ist. Ich wünsche dir eine gute Reise, wo auch immer du hingehst.«
»Eigentlich«, erwiderte der Kender nachdenklich, »könnte ich jetzt, wo ich hier in Solace Freunde habe, auch eine Weile bleiben.«
»Eigentlich«, sagte Flint hastig, »wohnen wir gar nicht – «
Der Absatz von Tanis’ Stiefel drehte sich auf Flints Zehen und schnitt dem Zwerg so das Wort ab. »Was Flint sagen wollte, ist«, erklärte Tanis, »daß wir zwar hier wohnen, aber in ein, zwei Tagen aufbrechen, sobald die Straßen wieder trocken sind. Der Frühlingsmarkt geht nur noch zwei Tage, und dann brechen wir mit unseren Waren auf, wahrscheinlich nach Süden, nach Qualinost.«
Tolpans Gesicht leuchtete. »Wirklich? Ich war noch nie in der alten Hauptstadt der Elfen, aber sie soll atemberaubend sein. Mein Onkel Fallenspringer hat mal die Stimme der Sonne kennengelernt. Ich hatte selbst schon überlegt, ob ich mal dahin ziehen soll.« Sein erwartungsvoller Blick glitt von Tanis zu Flint und dann schnell wieder zu Tanis.
Tanis trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Nun, die Reise nach Qualinost steht noch nicht fest. Nicht ganz, jedenfalls. Wir gehen vielleicht auch erst, ähm, nach Abanasinia. Wir haben uns noch nicht entschieden. Hängt ganz davon ab.«
»Wovon hängt es denn ab?« fragte der Kender unschuldig.
Flint verschränkte die Arme und grinste Tanis frech an, um dann augenzwinkernd zu sagen: »Das wüßte ich auch gern, Tanis. Wovon genau hängt es denn eigentlich ab.«
Tanis räusperte sich verlegen und versuchte dann, den Kloß im Hals herunterzuschlucken. »Das Übliche. Wie die Straßen aussehen, und was wir von anderen Kaufleuten über die Gegend hören, und ob wir gute Wegbeschreibungen bekommen«, – er wurde rot – »und so.«
Tolpan strahlte. »Um die Wegbeschreibungen braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ich habe phantastisch genaue Karten von der ganzen Gegend. Die zeigen, wo die Straßen herkommen und wo sie hinführen – jedenfalls meistens. Und wo schlechte Brücken sind und wo man hohe Zölle bezahlt und wo man gutes Essen bekommt. Es steht alles mögliche drauf.«
Der Kender richtete sich entschlossen auf. »Ihr werdet noch gewaltig froh sein, daß ihr mich getroffen habt.«
Das Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« schmiegte sich hoch oben in die Äste eines der dicksten Vallenholzbäume von Solace. Das war nur angemessen, denn das Wirtshaus war eines der größten Häuser der Stadt. Selbst unten auf der Erde hätte es einladend ausgesehen. Aber dort oben in den Zweigen dieses mächtigen Baums wirkte das zweistöckige Gebäude wie verzaubert.
Der einzige Nachteil, den seine Lage mit sich brachte: Es war mühsam zu erreichen. Eine lange Rampe wendelte sich immer wieder um den dicken Stamm, bis der unvorbereitete Gast endlich schnaufend und überaus durstig vor der Wirtshaustür stand. (Selbstverständlich hatte diese Rampe auch ein festes Geländer, was jenen Besuchern zugute kam, die vielleicht Schwierigkeiten beim Abstieg hatten.)
An diesem Abend machten sich Tanis und Flint nach oben auf.
Als Flint einen Augenblick stehenblieb, um sich am Stamm anzulehnen und um sich durch den Bart zu streichen, sagte er: »Ich schwöre, daß dieses Schlitzohr von Otik sein Wirtshaus jedes Jahr ein kleines bißchen höher baut. Und überhaupt, welcher Trottel sorgt dafür, daß sein Geschäft so schwer zu erreichen ist?«
»Es ist nur schwer, wenn man von unten kommt. Du beschwerst dich schließlich nie, wenn wir über die Hängebrücke kommen«, erwiderte Tanis. »Ich glaube, das eigentliche Problem ist, daß du alt wirst.«
»Und ich glaube, du wirst blöd«, raunzte der Zwerg, als er weiterstieg. »Nur ein Hirnloser würde einen Kender zum Bier einladen, und nur ein verfluchter Idiot würde einen zu einer Reise einladen.«
Tanis, der nach all den Jahren an die gallige Zunge des Zwergs gewöhnt war, war nicht beleidigt. »Keiner sagt, daß du mitkommen mußt, Flint. Ich kenne deine Waren gut genug, um sie für dich verkaufen zu können. Jemand in deinem Alter sollte wahrscheinlich sowieso nicht mehr so viel reisen.«
Flint zeigte mit seinem kurzen, dicken Finger auf seinen frechen, jungen Freund. »Vergiß nicht, daß ich dich selbst in meinem Alter noch in der Mitte durchbreche wie einen fettigen Hähnchenknochen. Du lebst bloß noch, weil ich nicht so eine große Reichweite habe.«
Tanis legte dem Zwerg lachend den Arm um die breiten Schultern. »Egal«, sagte er, »es hat auch keiner gesagt, daß er mitkommen muß. Wahrscheinlich vergißt er, daß wir das je vorgeschlagen haben. Wenn er wirklich Karten von der ganzen Gegend hat, die wir ansehen und vielleicht sogar abmalen können, kann er uns Unmengen Zeit und vergebliche Mühen ersparen. Du weißt, wie verwirrend die Kharolisberge sein können.«
»Ja, ich weiß«, brummte der Zwerg. »Und ich weiß auch, daß ich vor meinem Feuer sitzen könnte, die Beine hochlegen, meinen eigenen geräucherten Schinken essen und guten Zwergenschnaps trinken könnte.«
Der Halbelf seufzte. »Es wird dir guttun, rauszukommen. Ich schwöre«, sagte er kopfschüttelnd, »du wärst ein richtiger Einsiedler, Flint Feuerschmied, wenn ich dich ließe.«
»Warum tust du’s dann nicht?«
Tanis schlug Flint freundschaftlich auf die Schulter.
»Zu schade, daß ich der einzige bin, der weiß, wie leicht du’s einem machst.« Er kniff den Zwerg einmal fest und warnend in die Schulter. »Und jetzt versuch wenigstens, freundlich zu Tolpan zu sein. Er scheint wirklich ein netter, kleiner Kerl zu sein.«
Flint schnaubte nur als Antwort. Seine schweren Stiefel trabten laut über die Holzstege.
Dann kamen sie auf der Veranda vor der Tür zum Wirtshaus an. Von innen schienen helle Lichter warm durch die bunten Glasfenster. Gelächter und Gesang drangen als Willkommensgruß für die neuen Gäste aus der Schenke. Tanis schloß die Augen, machte die Tür auf und holte tief Luft, als er den Raum betrat.
Die Düfte im Wirtshaus fand Tanis unwiderstehlich. In der Luft mischten sich Pfeifen- und Kaminfeuerrauch mit dem Geruch nach Otiks Würzkartoffeln, brutzelnden Würstchen, Brathähnchen und frischem Brot aus der Küche und dem allgegenwärtigen Frühlingsduft des mächtigen Vallenholzbaumes, dessen Stamm durch die Mitte des Schankraums wuchs.
Als Tanis die Augen wieder aufmachte, verschlug es ihm die Freude an den Wohlgerüchen. Die Gäste des Wirtshauses waren oft ausgelassen. Heute abend aber standen und saßen mehrere Dutzend Stammgäste überall herum, klatschten und schlugen ihre Krüge im Takt zu einem peinlich unflätigen Lied. Und ausgerechnet der, den sie hier treffen wollten, stand im Mittelpunkt des Ganzen, sprang von Tisch zu Tisch und kletterte sogar auf den Schultern seines Publikums herum: der unverwüstliche Kender persönlich, Tolpan Barfuß.
Flints Ellenbogen fuhr Tanis in die Rippen, wodurch die Luft herausströmen konnte, die Tanis angehalten hatte. Tanis warf Flint einen Blick zu, konnte jedoch als Antwort auf die finstere Miene des Zwergs nur mit den Schultern zucken. Mit geübter Geduld begann Tanis, sich einen Weg durch die laute, stampfende Menge zu bahnen.
Kurz bevor die beiden einen leeren Tisch an der hintersten Wand des Raums erreicht hatten, war das Lied zu Ende. Scheinbar aus dem Nichts stürzte ein Körper auf Tanis zu, der instinktiv die Arme ausstreckte, um ihn aufzufangen.
Tolpan lächelte seinen neuen Freund an. »Hallo, Tanis, schön, daß ihr’s geschafft habt!« Er krabbelte dem Halbelfen vom Schoß, zog seine Jacke wieder zurecht und setzte sich auf einen Stuhl. »Was für Leute!« Er nahm einen Schluck aus einem halbleeren Krug Bier, den die letzten Gäste stehengelassen hatten. Schaum bedeckte seine Oberlippe wie ein goldener Schnurrbart. »Das ist eine tolle Stadt. Ich sehe schon, warum ihr hier lebt.« Zufrieden lehnte er sich zurück.
»Habt ihr das Lied gehört?« fragte er, als er sich wieder nach vorne beugte. »Wäre fast die Nationalhymne der Kender geworden, aber es ist nicht leicht, es richtig zu singen mit den vier Oktaven drin und so. Trotzdem waren auch schlechte Vorträge in den Wirtshäusern von Kenderheim wirklich beliebt. Jedenfalls waren sie das, als ich zuletzt zu Hause war.«
»Wann war das?« fragte Tanis automatisch. Er zog den zurückhaltenden, finster dreinschauenden Zwerg neben sich auf die Bank.
Mit einem langen Leidensseufzer hielt Flint dem Schankmädchen drei Finger entgegen und machte es sich dann für den Abend bequem. Das blonde Mädchen kam schnell herüber und schleppte drei große, überlaufende Krüge heran.
»Danke!« Tolpan kippte den Inhalt des halbvollen Krugs herunter, den er gefunden hatte, um ihn dann gegen einen der vollen in den Armen des Mädchens auszutauschen.
»So, was hast du noch gefragt? Ach, ja, Kenderheim«, erinnerte sich Tolpan. Er kratzte sich am Kopf. »Welches Jahr haben wir gerade?«
»Jahr?« fragte Tanis ungläubig. »Bist du schon so lange unterwegs?«
»Ich habe eigentlich kaum darüber nachgedacht«, sagte der Kender, der das Gesicht vor lauter Konzentration in tiefe Falten legte. »Mal sehen. Ich bin gleich nach meinem sechzehnten Tag des Lebensgeschenks aufgebrochen, und der war am zweiten Tag des Segensmonats im Jahr 341. Ich weiß, daß ich danach zweimal Geburtstag hatte – einen habe ich mit ein paar sehr ekligen Zauberern verbracht, die diesen richtig schönen Teleportationsring von mir haben wollten, und den anderen mit ein paar sehr netten Damen in einem hübschen Bordell in Khuri-Khan – oder war es Valkinord? Die bring ich immer durcheinander. Wart ihr da schon mal?«
Er bemerkte nicht, daß Flint errötete und Tanis lachte; er redete einfach weiter. »Ich glaube, das heißt, daß ich jetzt schon seit zweieinhalb Jahren auf Wanderlust bin. Hmm«, murmelte er, »mir war gar nicht klar, daß es schon so lange ist…«
»Bei den Göttern«, stieß Flint mißtrauisch aus, »was soll denn das heißen, ›auf Wanderlust sein‹?«
Tolpan überraschte diese Frage augenscheinlich. »Ja, das ist doch die Zeit, wo jemand herumwandert, das Leben kennenlernt und Karten zeichnet. Wenn du genug gesehen hast oder genug Karten gezeichnet, kannst du in deine Heimatstadt zurückkehren und als Erwachsener leben. Macht das nicht jeder?«
»Gütiger Himmel, nein«, schnaufte der Zwerg, der schon wieder die Götter anrufen mußte. »Was für eine lächerliche Vorstellung.«
Tanis bemerkte achselzuckend: »Ich finde, es entspricht den Riten, wie es sie in jeder anderen Kultur gibt. Die Elfen haben meines Wissens auch so etwas.« Ihn schmerzte die Erinnerung an die Demütigung; vor Jahren hatte man ihm verboten, den Elfenritus in Qualinost durchzuführen, weil er nur ein Halbblut war.
»Und ich wette, die Zwerge haben auch etwas. – Und«, fuhr Tanis fort, womit er das düstere Schweigen des Zwergs füllte, »hast du schon genug gesehen, um nach Hause zurückzukehren?«
»Noch nicht, aber ich sage dir«, sagte der kleine Kender, als er sich mit ernster Miene vorbeugte, »von diesem Puff habe ich ein paar richtig gute Karten.«
Der prüde Zwerg wurde wieder rot und kippte mit einem letzten, langen Zug den Rest seines Biers herunter. »Wenn wir schon bei Karten sind, laß uns doch noch etwas trinken und einen Blick auf deine werfen.«
»Willst du die von dem Bordell sehen?« fragte Tolpan eifrig.
»Nein!« explodierte Flint, der durch Tanis’ Lachen noch mehr aufgebracht war. Dann stieß er einen erleichterten Seufzer aus, weil das Schankmädchen mit einer neuen Runde zurückkam. »Du hast gesagt, du hättest Karten von Abanasinia, und nur darum bin ich hier. Also raus damit«, befahl er.
Natürlich gab es kaum etwas auf der Welt, worüber Tolpan lieber redete und womit er sich lieber brüstete, als seine Karten. Im Nu hatte er einen Teller Bratwurst bestellt und es sich auf seinem Stuhl an der Wand bequem gemacht. Ihm gegenüber streckte Tanis seine Beine auf der Bank aus. Flint saß immer noch steif neben ihm.
»Ich glaube nicht, daß du von da hinten aus gut sehen kannst«, sagte Tolpan treuherzig zu dem Zwerg, »wo doch das Licht so schlecht und deine Augen so alt sind.«
»Meine Augen sind ausgezeichnet! Du hast bloß Angst, daß du mit deinen Karten meine Zeit verschwendest«, sagte Flint und zeigte mit dem Finger auf den Kender.
Ein wenig verletzt knotete Tolpan die Klappe seiner Schultertasche auf. »Kartenzeichnen bedeutet mir sehr viel, weißt du«, sagte er zu niemand im besonderen. »Ich denke, man könnte sagen, ich kann nicht anders. Ich sehe etwas Interessantes, und dann muß ich es einfach aufschreiben. Ich verkaufe sie nicht, auch wenn ich glaube, daß so schöne und genaue Karten unheimlich viel wert sind. Ich mache sie nur für mich. Und manchmal schenke ich jemandem eine, den ich mag, aber wirklich nur ausnahmsweise.«
Tolpan griff mit beiden Händen in die Tasche und beförderte einen wahren Wust zutage: gerolltes Pergament, gefaltetes Pergament, einfaches und Zeichenpapier, ein paar kleine Rindenstücke, das weiche Oberleder eines kostbaren Reitstiefels, mehrere Ellen Leinen, eine knöcherne Röhre, die an beiden Enden mit Wachs versiegelt war, und einen geraden schwarzen Stock, der über eine Elle lang war.
Tolpan nahm den Stock und drehte ihn in den Händen. »Was um alles in der Welt ist denn das?« überlegte er laut. Er klopfte damit auf den Rand des Tisches und ließ ihn vor Überraschung fast fallen, als sich ein Funkenschauer aus der Spitze löste. Plötzlich begann er zu strahlen: Er wußte Bescheid.
»He, Fozgoz’ Zauberstab!« quietschte er. »Guck mal, Tanis, ich kann damit zaubern!«
Während er aufsprang, deutete Tolpan mit dem Stab auf Flint und deklamierte: »Ich befehle dir, eine nackte Ziege zu werden, und zwar jetzt!«
Wild um sich fuchtelnd, versuchte der dicke Zwerg verzweifelt, der zischenden Rauchsalve zu entkommen, die auf ihn herabregnete. Sein Bierkrug krachte auf den Boden, woraufhin sich ein Schaumteich ausbreitete. Die Bank kippte fast um, bis Flint mit seinen Nagelstiefeln fest auf den Dielen stand.
Inzwischen war Tanis’ Arm vorgeschossen, und seine starken Finger hatten sich um Tolpans Handgelenk gelegt. Mit der freien linken Hand entwendete Tanis Tolpan den Zauberstab, der immer noch Funken sprühte, und tauchte ihn in einen der vollen Krüge auf dem Tisch.
»Hast du eigentlich gar nichts im Kopf?« fauchte Flint den Kender an, nachdem er endlich mit dem Rücken zur Wand auf den Beinen stand. »Ihr habt es alle gesehen«, sagte er zu der gaffenden Menge, »er ist total verrückt!« Anklagend zeigte er auf den Halbelfen. »Das ist deine Schuld, Tanis. Du hättest mich heute morgen nicht aufhalten sollen, als ich ihn verhaften lassen wollte. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
Tolpan drehte sein Handgelenk aus Tanis’ Griff. »Meine Güte«, murmelte er betreten, »das war doch nur ein Scherz. Es ist ein blöder, alter Trickzauberstab. Der kann gar nichts zaubern außer Funken.«
»Wie soll jemand mit gesundem Hirn das ahnen?« schimpfte Flint. Beschämt wischte er sich das Bier ab und setzte sich wieder auf die Bank, wobei er die ganze Zeit über »verrückte Kender« vor sich hin grummelte. Die übrigen Gäste im Wirtshaus kümmerten sich nach und nach wieder um ihre eigenen Angelegenheiten. Das Mädchen kam vorbei und stellte einen Zinnteller mit brutzelnden Würsten auf den Tisch neben Tolpans Sammelsurium von Kostbarkeiten. Flint schnappte sich eine Wurst und biß wütend davon ab, ohne darauf zu achten, daß er sich den Mund verbrannte.
Tolpan suchte in Tanis’ Gesicht nach Beistand, fand jedoch nur vorwurfsvolle Strenge. »War doch nur ein Scherz«, murmelte er nochmals. Er stocherte in einer Wurst herum. »Ich weiß sowieso nicht, wie der Stab überhaupt in meine Tasche gekommen ist. Dieser angeberische Zauberer muß ihn irgendwie da reingesteckt haben, als ich nicht hingeguckt habe.«
Flint und Tanis wechselten wissende Blicke.
»Deine Karten?« erinnerte Tanis.
Tolpan schoß von seinem Stuhl hoch und schob den Wurstteller zur Seite. »Richtig.« Seine geschickten Finger sausten durch die vielen Unterlagen, sortierten, untersuchten und verwarfen. Er wählte einen Bogen Pergament und schob ihn Tanis unter die Nase. »Hier ist die Bucht von Balifor. Das ist nah bei Kenderheim, wo ich herkomme. Da bin ich am Anfang meiner Reise langgekommen.«
Dann faltete er eine andere, diesmal viel größere Karte auf. »Und das sind die Fröhlichen Lande. Das ist auch in der Nähe meiner Heimat. Seht, da im Norden ist das Höhlenland und die Trübsinnsküste, die nicht lustiger ist, als sie sich anhört, und diese Bucht hier ist der Rachen, und da ist der Schlängelfluß und dazwischen der Wildschlängler. Diese Karte habe ich selbst gemacht.«
»Das ist sehr schön, Tolpan, aber wir interessieren uns für Gegenden, die etwas näher bei Solace liegen«, sagte Tanis.
»Ja, natürlich«, stimmte der Kender zu, »ich habe Karten von jedem Ort, wo ich schon war, und hier war ich auf jeden Fall.« Er stöberte weiter durch seine Sammlung, sah jede einzelne Karte an und faltete gelegentlich eine auf, um sie genauer zu betrachten. »Hier ist die… nein, das bringt nichts. Hier ist eine versteckte Höhle bei Bloten – nein, das ist weit jenseits des Neumeers. Was ist das? Die Schallmeerinsel – wir kommen schon näher. Und das ist doch eine Karte von Ergod. Wie kommt denn die hierher? Die gehört doch ganz nach unten.
Seht euch das an! Das ist ganz bestimmt keine Karte. Es ist eine Locke von Contessa Darbianas Haar. Ich habe sie am Westrand von Silvanesti kennengelernt. Sie war auf der Flucht vor einer Bande Gesetzloser – na ja, eigentlich waren es keine Gesetzlosen, sondern eher Rebellen. Sie waren bloß nicht genug für eine richtige Revolte, darum haben sie eben Leute ausgeraubt und jede Menge Scherereien gemacht. Sie haben sie gejagt, weil sie sie gefangennehmen und irgendwie politisch benutzen wollten. Hat sie jedenfalls gesagt.«
Tolpan beugte sich über seine Karten und durchwühlte weiter den Stapel.
Nach ein paar Minuten schob sich Flint den Hut aus der Stirn. Er griff über den Tisch und nahm die Haarsträhne. »Und?«
Tolpans Kopf fuhr hoch. »Und was?« fragte er.
»Was wurde aus der Contessa Darbell, du Türknauf?«
»Darbiana. Die Räuber haben sie erwischt. Ich konnte gerade noch entkommen. Ein paar Tage später fand mich eine Militärpatrouille, und der Offizier erzählte mir, daß sie die Banditen verfolgt und ihnen aufgelauert und sie alle getötet hätten. Von Darbiana hat man keine Spur gefunden. Irgendwie traurig, finde ich, wenn man so darüber nachdenkt.«
Flint blieb der Mund offenstehen. »Das ist ja eine schreckliche Geschichte«, protestierte er.
Tolpan verteidigte sich, wie das nur ein Kender könnte. »Ich habe nie behauptet, daß es eine gute Geschichte ist. Du hast mich schließlich gefragt, stimmt’s?« Tolpan lehnte sich nach vorne, schnappte sich die Locke und stopfte sie wieder in seine Tasche. »Wenn du keine traurigen Geschichten hören willst, solltest du mich nicht bitten, welche zu erzählen.«
Flint verdrehte die Augen und verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust.
Tanis, der sich auf die Ellenbogen stützte, war allmählich fasziniert von dem verwirrenden Sortiment hingekritzelter Karten vor sich. Er nahm eins von den Rindenstücken, um es näher zu untersuchen. Es sah überhaupt nicht wie eine Karte aus, sondern war mit komischen, verdrehten Kratzern bedeckt. »Was ist denn das?«
Tolpan kam näher und versuchte blinzelnd, das Gekritzel zu entziffern. »Das ist ein Hilferuf«, stellte er fest, »in zhakarischer Schrift.«
»Ob man fragen darf?« murmelte Flint in seinen Bart.
»Es ist nichts Trauriges, wenn du das meinst. Ich wurde in einem Zaubererschloß gefangengenommen…«
»Natürlich nachdem du dort eingebrochen bist«, unterbrach Flint.
»Nein, ich bin nicht eingebrochen. Ich bin einfach reingegangen.«
»Warst du eingeladen?«
»Nein, aber es hat mir auch keiner gesagt, daß ich draußen bleiben soll. Wenn diesem Zauberer seine Privatsphäre so wichtig ist, sollte er die Tür abschließen. Darum bin ich reingegangen, um mich ein bißchen umzusehen, weil ich doch vorher noch nie in einem Zaubererschloß war, und dieser verschrumpelte, alte Knochen von Mensch hat sich furchtbar aufgeregt und ließ mich von seinen Wachen – den häßlichsten, dreibeinigen Dingern, die ich je gesehen habe – in eine Zelle sperren.
Da bin ich dann ein paar Tage geblieben, weil ich dachte, der Zauberer würde sich beruhigen und mich freilassen, aber er schien nicht von der gutmütigen Sorte zu sein. Darum habe ich schließlich diesen Hilferuf auf ein Stück Rinde gekratzt, weil ich dachte, ich könnte es vielleicht einem von den Einheimischen zustecken und gerettet werden.«
»Gute Idee«, sagte Tanis. »Hat anscheinend funktioniert.«
Tolpan schüttelte den Kopf. »Es kamen nie irgendwelche Einheimischen vorbei. Ich mußte mich mit einem Trick befreien.
Eines Tages sah der Zauberer nach mir, weil er etwas zerlassenes Hobgoblinfett brauchte und Schwierigkeiten hatte, es zu bekommen. Ich fürchte, er hat sich gefragt, ob zerlassenes Kenderfett es nicht auch tun würde. Weil ich darauf nicht so erpicht war, habe ich ihn überzeugt, daß ich wüßte, wo ich etwas davon kriegen könnte – und zwar von einem richtig dicken Burschen. Deshalb ließ er mich frei, unter der Bedingung, daß ich so schnell wie möglich mit dem Fett wiederkäme. Ich glaube, er hat versucht, mich irgendwie zu verzaubern, damit ich auch wirklich wiederkomme, aber das hat nicht geklappt.«
»Da fällt mir ein«, fügte er hinzu, während er ein kleines, blaues Glasfläschchen mit einem Korken im Hals hochhielt, »macht das hier bloß nie in einem geschlossenen Raum auf. Es ist ein scheußlich stinkendes Zeug.«
Tanis und Flint wechselten wieder Blicke, und Flint bestellte eine neue Runde.
»Hier ist sie!« verkündete Tolpan. Triumphierend breitete er ein mitgenommenes Stück Zeichenpapier aus, das an den Rändern ausgefranst war und in der Mitte Flecken hatte. »Ich hatte befürchtet, mir würde das Kartenmaterial ausgehen, als ich die gemacht habe. Aber man kann sie trotzdem sehr gut lesen.«
Tanis legte den Kopf schief, dann auf die andere Seite, dann drehte er die Karte ein bißchen, dann etwas weiter. Zuletzt drehte er sie ganz um, war aber immer noch verwirrt. »Ohne daß es sich allzu blöd anhört, Tolpan, aber – was ist das?«
»Das ist Abanasinia.« Tolpan breitete die Hände aus, als wollte er sagen: »Was sonst?« Tanis konnte immer noch nichts erkennen. Tolpan griff nach der Karte und drehte sie um etwa siebzig Grad. »Siehst du? Das ist das Ostwall-Gebirge.«
Tanis kratzte sich am Kopf.
»Und die Küste. Da im Norden ist die Straße von Schallmeer und im Osten das Neumeer.«
Endlich dämmerte es Tanis. »Ach so. Das hier ist die Küste. Ich dachte, das gehört zu dem Fleck.«
»Tut es auch«, stellte Tolpan richtig und zeigte mit seinem dünnen Finger daneben. »Das hier ist die Küste.«
»Aha«, sagte Tanis. »Jetzt seh ich sie.«
»Ich hab dir ja gesagt, das gibt nur Probleme«, flötete Flint.
Tanis ignorierte den Zwerg, während er mit dem Gesicht nah an die Karte heranging und nur hin und wieder aufsah, um einen Schluck Bier zu trinken. Tolpan saß gelassen da und wartete auf eine anerkennende oder bewundernde Bemerkung.
Er saß so lange still da, wie er konnte, was ungefähr fünfzehn Sekunden waren. Als das Schweigen unerträglich wurde, platzte er los: »Ist Tanthalas nicht ein Elfenname?«
»Das stimmt«, sagte Tanis, der immer noch die Karte betrachtete.
»Wieso bist du dann kein Elf?«
Tanis sah langsam auf. »Das ist gewissermaßen eine lange Geschichte.«
Aber Tolpan ließ sich nicht abschrecken. Erwartungsvoll verschränkte er die Arme. »Ich hab’s nicht eilig.«
»Du kannst es ihm auch gleich erzählen«, wies Flint den Halbelfen an, »weil er nämlich keine Ruhe gibt, bevor er es rausgekriegt hat.«
Tolpan rutschte auf seinem Stuhl nach vorn, während Tanis noch einen großen Schluck Bier nahm. »Tja, vor langer Zeit… ach, zur Hölle«, fluchte er. Er war wütend, daß er seine Herkunft wie eine Gutenachtgeschichte erzählen wollte. Der Halbelf stellte seinen Krug ab und fegte dann mit beiden Händen seine langen, rotbraunen Haare auf beiden Seiten des Kopfes zurück. Tolpan war baff, als er die länglichen, etwas spitzen Ohren sah.
»Das begreife ich nicht«, sagte er. »Das sind keine Elfenohren, aber es sind ganz bestimmt auch keine Menschenohren. Sie sehen aus wie meine Ohren, nur doppelt so groß. Was bist du, ein Riesenkender?« Tolpan kicherte hinter vorgehaltener Hand.
Bei dieser Bemerkung brach Flint in brüllendes Gelächter aus. »Ein Riesenkender! Er hat dich durchschaut, mein Junge!« Während der Zwerg sich die Tränen vom Gesicht wischte, konnte er kaum aufhören zu lachen. Er senkte prustend den Kopf. Als er sich gerade beruhigt hatte, sah Flint wieder auf, doch beim Anblick seines Freundes mit dem zurückgestrichenen Haar und den herausstehenden Ohren ging das laute Gelächter wieder von vorne los.
Ernstlich verärgert ließ Tanis seine Haare wieder über die Ohren fallen. Tolpan bemühte sich wirklich, betroffen auszusehen, aber er konnte nicht verhindern, daß seine Mundwinkel zuckten.
»Nein«, erklärte Tanis. »Ich bin kein ›Riesenkender‹.«
Tolpan schniefte ungezogen.
Verstimmt kniff Tanis seine Mandelaugen zusammen. »Meine Mutter war eine Elfin, und mein Vater ein Mensch, ein Krieger. Meine Mutter hat nicht einmal seinen Namen erfahren. Alles, was er mir hinterlassen hat, ist gemischtes Blut und keine Familie, zu der ich gehöre«, schloß er düster.
»Mit solchen Ohren wärst du in Kenderheim willkommen«, sagte Tolpan und schlug sich fröhlich auf die Knie. Das viele Bier tat seine Wirkung, denn er und Flint schaukelten sich prompt erneut zu kreischendem Gelächter hoch. Tolpan trat gegen das Tischbein, während Flint mit der Faust auf den Tisch schlug, Bierkrüge tanzten über den Tisch, so daß alle mit Schaum bespritzt wurden.
Der Halbelf sprang auf. »Sargonnas hole euch beide!«
Er drehte sich abrupt um und drängelte sich durch die Gäste zu dem lodernden Kaminfeuer an der Rückwand. Dort blieb er stehen, starrte in die Flammen und fühlte, wie die Wärme durch seine Hosen und seine Tunika kroch. Weil auch er vom Bier benommen war, merkte er nicht, daß die Hitze langsam unangenehm, ja, fast sengend wurde. Tanis stand weiter da, eine Hand auf dem Sims, die andere zur Faust geballt.
Hinten am Tisch sah der Kender zu dem Halbelfen hinüber und piepste: »Huch, der ist wirklich wütend. Ist ein bißchen sensibel, was?«
Überrascht vom Einfühlungsvermögen des Kenders und peinlich berührt, weil er es nicht gleich gemerkt hatte, riß Flint sich schnell wieder zusammen. Tanis hatte immer Probleme mit seiner Herkunft gehabt, aber Flint wußte, der Gedanke an die Vergewaltigung seiner Mutter war es, was ihn wirklich aufgeregt hatte. »Ich bin gleich wieder da«, murmelte er Tolpan mit rotem Gesicht zu.
Wegen des Alkohols etwas taumelnd, schob sich der kräftige Zwerg durch die Taverne zum kochenden Tanis vor. Schweigend stand er ein Weilchen neben dem zornigen Halbelfen, während sie sich gemeinsam am Feuer wärmten. Dann steckte er seine großen Hände in seine Tunika, bevor er sich räusperte.
»Komm zum Tisch zurück, Jungchen. Wir haben es etwas übertrieben, und, na ja, dem Kender tut’s ehrlich leid. Mir auch.«
Tanis zögerte und warf dann Flint einen kurzen finsteren Blick zu. »Tolpan konnte es nicht wissen, Flint, aber von dir hätte ich das nicht erwartet.«
Flint hüstelte schuldbewußt und spuckte ins Feuer. »Und da hast du wohl recht. Wie gesagt, es tut mir wirklich leid. Wir haben alle ein bißchen viel getrunken. Komm zum Tisch zurück.« Flint streckte die Hand aus, und nach ein paar Minuten nahm sie der Halbelf an.
Die beiden drehten sich um und schlurften zu dem wartenden Tolpan zurück. Dann saßen die drei ein paar lange Momente zusammen, während jeder selbstvergessen in seinen Bierkrug starrte – bis auf Tolpan natürlich, der unmöglich selbstvergessen vor sich hin starren konnte.
»Jetzt, wo ich etwas über Tanis weiß, was ist mit dir, Flint?« hakte der Kender nach. »Wo hast du gelernt, so herrlichen Schmuck zu machen? Du bist wirklich gut, und ich sollte das beurteilen können. Ich bin in ganz Ansalon gewesen und habe alles mögliche gesehen.«
Flints Brust schwoll bei diesem Lob an. Wie Tolpan mit seinen Karten war Flint immer bereit, über seine Kunst zu reden. »Meine Familie hat lauter Schmiede und Krieger hervorgebracht«, sagte er. Er erzählte dem Kender von seiner Kindheit in den Hügeln vor der zwergischen Festungsstadt Thorbardin und von seiner lange zurückliegenden Entscheidung, die Zwerge in Hügelheim zu verlassen und in die Menschensiedlung Solace zu ziehen. Unverkennbar war sein Stolz, als er vom Ruf an den Hof der Stimme der Sonne erzählte.
»Ich muß sagen, damals in Qualinost waren meine Fähigkeiten wohl auf ihrem Höhepunkt«, meinte er abschließend. »Selbst die Stimme der Sonne hat das gesagt. Und in Qualinost habe ich auch Tanis kennengelernt.«
»Hast du da das herrliche Armband gemacht, das ich heute gesehen habe?« fragte Tolpan. »Das aus Kupfer mit den Edelsteinen, über dessen Verkauf du nicht mit dir reden lassen wolltest?«
Flint schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ein ganz neues Stück. Es ist aber auch wirklich eine schöne Arbeit, nicht wahr?« Während er das sagte, griff er in die Tasche und zog das Armband heraus. Er drehte es wieder und wieder in den Händen, strich über das Filigran und polierte die Steine an seinem Ärmel.
Spontan reckte sich Tolpan über den Tisch, um das Schmuckstück genauer anzusehen. Aber als seine Hand nach vorn schoß, krachte Flints Bierkrug auf den Tisch und schlug eine walnußgroße Kerbe hinein. Nur Tolpans bemerkenswerte Reflexe retteten seine Hand davor, von dem schweren Krug zermalmt zu werden. Schützend versteckte Tolpan seine Hände in den Tiefen seiner Taschen. Er wirkte zutiefst verletzt. »Ich wollte es doch nur ansehen.«
»Darf ich?« fragte Tanis. Flint sah ihn einen kurzen Moment lang mißtrauisch an, um ihm dann betreten das Armband zu reichen. »Tut mir leid, Tanis«, stammelte er, »ich habe mich einen Augenblick vergessen.«
Tanis untersuchte das Armband ganz genau, während die anderen beiden zusahen. Als er dann redete, sprach er Flint an, ohne die Augen von dem Schmuckstück zu nehmen.
»Das ist hinreißend, Flint«, gab er zu. »Aber warum machst du so etwas Herrliches aus Kupfer? Diese Steine sehen wertvoll aus – warum stecken sie in so einem billigen Metall?«
Flint lehnte sich auf der Bank zurück und meinte geheimnisvoll: »So wollte sie es haben.«
»Ein Auftrag?« fragte Tolpan.
Flint nickte. Ihm war nicht ganz wohl zu Mute.
»Du hast mir nichts von einem Auftrag erzählt«, sagte Tanis. »War es jemand von hier?«
»Ich habe dir nichts erzählt«, gestand Flint, »weil die ganze Sache so schnell ging und weil die Frau sehr merkwürdig und geheimnisvoll war.«
»Eine merkwürdige Frau?« Tolpan war ganz Ohr.
Flint lehnte sich auf der Bank wieder vor und senkte seine tiefe Stimme zum Flüstern. »Letzte Woche tauchte diese Frau auf einmal auf und behauptete, sie würde meine Arbeit aus der Zeit kennen, wo Tanis und ich in Qualinost lebten.
Daraus habe ich natürlich gefolgert, daß sie Elfin ist, aber sie sah gar nicht aus wie eine Elfin, jedenfalls nicht wie eine gesunde Elfin. Sie war bestimmt das blasseste Geschöpf, was ich je gesehen habe – durchsichtig wie der Tod persönlich –, und trug nur reine Seide.«
»Vielleicht war sie eine Untote oder ein Sukkubus, der gekommen war, um dich zu verführen und dir die Lebenskraft auszusaugen!« schlug Tolpan eifrig vor.
»Sie war viel zu nervös, um irgend jemanden zu verführen«, sagte Flint.
»Ein Sukkubus wäre bestimmt nervös«, überlegte Tolpan.
»Tolpan, kannst du ihn nicht ausreden lassen?« mischte sich Tanis ein und brachte den wild spekulierenden Kender so zum Schweigen.
»Jedenfalls«, fuhr Flint fort, »hat sie gesagt, daß sie dieses Armband brauchte, aber es müßte ganz genau nach ihren Anweisungen hergestellt werden. Ich habe ihr gesagt, ich könnte alles machen, egal, wie sie es wollte. Da gab sie mir einen Haufen Zeichnungen und sagte: ›Macht es ganz genau so.‹
Nun, ich habe schon eher Sachen für Leute hergestellt, die von Details besessen waren, aber das war unglaublich. Jedes Stückchen des Armbands war auf dem Papier ganz genau beschrieben und vorgezeichnet. Und zu alledem gab sie mir noch ein Säckchen mit Kupferbarren, Edelsteinen, Pülverchen und Gläschen mit Flüssigkeiten, die noch in das Metall gemischt werden mußten. Sie hat gesagt: ›Alles, was Ihr braucht, ist in diesem Sack.‹ Sie hat mich sogar ausdrücklich gebeten, mein Zeichen nicht darauf zu machen.«
Flint lehnte sich zurück. »Das hat mich natürlich etwas befremdet. Warum will sie ein Original von Flint Feuerschmied, wenn sie sein Zeichen nicht will? dachte ich mir.«
Tanis war erstaunt. »Das ist wirklich komisch. Ich hoffe, sie hat dich gut bezahlt.«
»Das ist es ja gerade«, sagte Flint mit verwirrtem Gesichtsausdruck. »Ich fand die ganze Sache so seltsam, daß ich ihr einen für meine Begriffe unverschämten Preis nannte. Sie hat alles bezahlt und noch die Hälfte dazu, einfach so, ohne mit der Wimper zu zucken! Da konnte ich nicht ablehnen!«
Flint sah in seinen Bierkrug und schob ihn dann fort. »Ich habe die Anweisungen buchstabengetreu befolgt und sie dann verbrannt, als ich fertig war. Das Armband hatte ich in meinem Stand, weil sie gesagt hat, sie würde beim Frühjahrsmarkt zurückkommen und es abholen. Ich erwarte sie jeden Tag.« Jetzt lehnte sich der Zwerg zurück, weil er mit seiner Geschichte fertig war.
Tolpan starrte das Armband an, das jetzt auf dem Tisch lag. »Kein Wunder, daß du dich deswegen so angestellt hast. Was glaubst du, wer sie ist, und wozu sie das Armband braucht?«
»Ich bin kein Hellseher«, sagte Flint. »Aber ich kann dir versichern, daß wirklich etwas an dem Armband nicht ganz normal ist. Ich bin froh, wenn ich es los bin.«
Tanis nickte. »Es ist dieser Frau, wer auch immer sie ist, offenbar äußerst wichtig.« Er streckte sich und sah zur sterbenden Glut im Kamin. Die Wirtsstube hatte sich geleert. Otik sah schläfrig von der Theke zu ihnen herüber. »Will noch jemand eine letzte Runde?«
Flint folgte Tanis’ Beispiel, warf die Arme zurück und streckte sein Gesicht zu einem wilden, kieferbrechenden Gähnen. »Nein, ich hatte schon mindestens drei zuviel«, sagte er, während er sich am Tisch hochdrückte. »Laß uns nach Hause wanken, Tanis, sonst schlafe ich hier noch ein.«
»Was ist mit meinen Karten?« fragte Tolpan. »Ihr habt sie kaum angeschaut.«
Tanis runzelte die Stirn, doch sein bierumnebelter Kopf konnte nicht die Wahl treffen, ob er nach Hause und ins Bett gehen sollte oder hierbleiben und die Karten ansehen.
Zum Glück hatte Tolpan eine Lösung für ihn. »Ich bleibe heute nacht im Wirtshaus. Wie wär’s, wenn ich morgen bei Flints Stand vorbeischaue, und ihr könnt sie euch dort ansehen?«
Tanis sah mit Erleichterung, daß Flint bereits zur Tür gestapft war und den Vorschlag nicht gehört hatte. Der Halbelf nahm die Idee hastig an, verabschiedete sich von dem Kender und sprang hinter dem betrunkenen Zwerg her, damit der nicht von den Hängebrücken fiel.
Da Tolpan jetzt in der Stille und im Rauch des Schankraums allein war, stieg er die enge Treppe zu den Schlafräumen hoch. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen.
»Ich ruh mich nur noch ein paar Minuten aus, bevor ich schlafen gehe«, sagte er zu sich selbst, als er auf die gefederte Matratze in seinem kleinen, sauberen Zimmer fiel. Obwohl seine Augen zu waren, drehte sich das Bett schwindelerregend. Er war sich unklar dessen bewußt, daß ihn etwas äußerst unbequem an der Brust drückte. Daher stützte er sich auf die Seite, schob die Hand in die Tasche und zog Flints Kupferarmband heraus.
»Wie um alles in der Welt kommt das denn in meine Tasche?« überlegte er. Als er es durch halbgeschlossene Augen anstarrte, räusperte er sich erstaunt. »Ich darf nicht vergessen, es zurückzugeben.«
Ohne nachzudenken, stopfte er das Armband wieder in die Tasche, drehte sich um und fiel in den tiefen Schlaf der Unschuldigen und der Betrunkenen.
Jemand schnarchte markerschütternd, und Flint schlug die blutunterlaufenen Augen verwundert auf. Er lag auf dem Rücken in seinem Bett und hatte noch einen seiner schweren Lederstiefel und ein verdrecktes Hosenbein an. Als er den Kopf reckte, erkannte er die vertrauten Regale und Stühle seines Hauses in dem ausgehöhlten Vallenholzstamm. Wie bin ich hierher gekommen, fragte er sich.
Das letzte, woran er sich erinnerte, war, daß er auf einer von Otiks bequemen Bänken im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« gehockt hatte. Da war es dunkel gewesen. Jetzt war Tag, das verriet ihm das gedämpfte Licht, das jetzt durch die Pergamentfenster drang. Stirnrunzelnd setzte er sich abrupt auf, um dann aufs Bett zurückzusinken. Seine pochenden Schläfen erklärten die Gedächtnislücke. Er hatte sich gestern abend tatsächlich vollaufen lassen.
Dann sah er Tanis. Der Halbelf lag voll bekleidet mit Hosen, Stiefeln, Tunika und Wollweste auf dem Dielenboden neben dem Kamin. Eine kleine Speichelpfütze breitete sich bei jedem Atemzug auf seinen offenen Lippen aus. Der alte Zwerg gluckste vor Lachen, obwohl dabei der Schmerz in seinem Kopf wieder losging.
Dadurch erwachte der jüngere Halbelf und wischte sich mit dem Handrücken die Spucke von den Lippen. Das unvermeidliche Federstirnband, das sein widerspenstiges, langes rotes Haar bändigte, war ihm über die Augen gerutscht, und er schob es verärgert auf die Stirn zurück. Als Tanis den grinsenden Zwerg bemerkte, runzelte er die Stirn. Langsam rollte er sich herum und setzte sich auf, wobei er den Kopf in beide Hände legte.
»Otiks Bier ist einfach zu süffig«, stöhnte er.
Flint nickte, diesmal etwas langsamer, und zog das eine Hosenbein an, das er gestern abend noch abgestreift hatte. »Aber am nächsten Morgen zahlst du die Zeche«, sagte er und fügte hinzu: »Besonders, wenn man doppelt soviel trinkt, wie man selber wiegt!« Den zweiten Stiefel fand er unter dem Bett. Er schob den Fuß hinein, zog sein pelzbesetztes Wams zurecht und stopfte die grobgewebte Tunika wieder in die Hose. »Wenigstens habe ich es bis ins Bett geschafft und immerhin die Hälfte meiner Sachen ausgezogen.«
Tanis schoß zurück: »Das liegt nur daran, weil du älter bist und mit so was mehr Erfahrung hast. Ganz zu schweigen davon, daß dein Gewicht dir mehr Bier erlaubt…«, endete er mit einem Blick auf Flints runden Bauch.
»Etwas mehr Respekt vor dem Alter bitte, Kleiner!« grollte Flint und knuffte Tanis an den Kopf. Er lief zur Vorratskammer, die sich gegenüber vom Kamin im ausgehöhlten Boden des riesigen Vallenholzbaumes befand. »Ich hab noch zwei eingelegte Eier, drei Streifen Dörrfleisch und einen etwas angeschimmelten Brotrest.« Er nahm ein großes Schnitzmesser und schnitt großzügig den grünen Bewuchs vom Brot ab. »Da, sieht doch gut aus.« Er blickte Tanis an. »Was möchtest du?«
Tanis’ feingeschnittene Elfennase rümpfte sich vor Abscheu. »Ein paar Würzkartoffeln von Otik, wenn er schon welche hat.« Er stand auf und stieß eins der Pergamentfenster neben der schweren, hölzernen Eingangstür auf. »Was glaubst du, wie spät es ist?«
Stirnrunzelnd spähte Flint durch das offene Fenster. »Gütige Götter, es ist sehr spät, so verlassen, wie die Straßen aussehen. Alle sind schon auf dem Festplatz an der Arbeit.« Hastig schlug er Eier und Fleisch in ein Tuch ein und verknotete die Ecken. »Meine Kundin könnte jederzeit zum Stand kommen, um ihr Armband abzuholen.« Mit nicht geringem Stolz klopfte er auf die Innentasche seines Wamses. Sein Gesicht erstarrte. Er klopfte erneut dagegen. Diesmal verzog sich sein Gesicht vor Entsetzen, Unglaube und Wut. »Es ist weg!« kreischte er.
Tanis, der immer noch am Fenster stand, zuckte bei dem Aufschrei zusammen und sah sich nach seinem Freund um. »Was ist weg?«
»Das Armband natürlich!« rief der. Flint drehte sich der Magen um. »Ich habe es in die Innentasche von meinem Wams gesteckt, und da ist es nicht! Ich weiß, daß ich es da reingesteckt habe!«
Tanis ging zu dem zerwühlten Bett und fing an, die Decken zu durchsuchen. »Bestimmt ist es dir im Schlaf aus der Tasche gerutscht.«
Flints Gesicht hellte sich hoffnungsvoll auf. »Sicher hast du recht!« Er half Tanis, das Bett abzuziehen, aber sie fanden nichts. Flint schlug die Laken aus, dann noch einmal, bis er sie schließlich wie ein Tier durchwühlte. Dann ging er zum Bett zurück und steckte seine Nase in jeden Winkel von Matratze und Rahmen. Schließlich ging er auf die Knie und schaute darunter nach, in jedem Staubhäufchen und hinter den alten Schuhen. Aber er kam mit leeren Händen wieder hoch. Flint merkte, wie Unbehagen aus seinem Bauch zur Kehle aufstieg.
»Wann hast du es denn wirklich zum letzten Mal gesehen?« fragte Tanis ruhig.
Flint brauste auf: »Weiß ich nicht!« Er breitete hilflos die Arme aus und lief zwischen Bett und Kamin auf und ab. »Ich weiß überhaupt nicht mehr sehr viel von gestern abend.« Er zerrte an den Enden seines Schnurrbarts, bis Tanis befürchtete, er würde sie gleich abreißen.
»Das ist es!« sagte Tanis und schnipste mit den Fingern. »Gestern abend im Wirtshaus – du hast es uns gezeigt, als du davon geredet hast. Bestimmt hast du es einfach auf dem Tisch liegenlassen. Ich wette, Otik hat es gefunden und fragt sich gerade, wem es wohl gehören mag.« Tanis wirkte etwas entspannter. »Also, worauf warten wir? Laß uns dein Armband holen und ein paar Teller Kartoffeln zum Frühstück essen.«
Flint war nicht gerade beruhigt, als er Tanis’ schlanker Gestalt durch die Tür folgte. »Ich hoffe, du hast recht«, sagte er leise, während er einen zweifelnden Blick zurückwarf. »Ich hatte bei dem Armband von Anfang an ein komisches Gefühl, seit ich diese Anweisungen gelesen habe.« Er erschauerte bei der Erinnerung. »Irgend etwas stimmt nicht, wenn jemand so viel Geld für ein Kupferarmband bezahlen will.«
Weil er wußte, wie abergläubisch sein Freund war, fragte Tanis unwillkürlich: »Warum hast du es denn dann gemacht?«
Flints Hängebacken unter seinem graumelierten Bart liefen knallrot an. »Ich gebe zu, zuerst bin ich auf ihre Schmeicheleien hereingefallen. Sie sagte, sie hätte gehört, daß ich der beste Goldschmied weit und breit bin.« Plötzlich runzelte er die Stirn und kratzte sich sein graues Haupt über dem rechten Ohr. »Nach all dem Lob war ich überrascht, als ich sah, wie einfach der Entwurf war – nicht annähernd so schwierig wie meine normale Arbeit, und das ist meine ganz nüchterne Einschätzung, nicht bloß Einbildung.« Er zuckte mit den Schultern. »Und es war ein langer, kalter Winter, und das Geld konnte ich auch gebrauchen.«
Tanis reckte sich in der Sonne, während Flint die schwere, schön geschnitzte Tür zuzog. Er fischte einen schweren Schlüssel aus der Tasche, stieß ihn in das Messingschloß und drehte ihn herum. Mit einem zufriedenstellenden Klack schnappte der Bolzen ein. Tanis blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zurück. »Warum machst du das? Du schließt doch sonst nie ab.«
»Ich weiß nicht, so wie ich in letzter Zeit Sachen verliere, sollte ich lieber damit anfangen«, grollte Flint. Er steckte den Schlüssel ein und klopfte darauf. »Ich dachte, du bist hungrig. Was glotzt du mich dann so an?« Tanis zuckte mit den Schultern, lächelte besänftigend, und dann durchquerten die beiden Solace.
Da die Straßen wegen des Festes leer waren, waren Tanis und Flint rasch beim Wirtshaus angekommen. Den Aufstieg um den schweren Baumstamm, der das Wirtshaus trug, brachten sie fast im Laufschritt hinter sich. Da es so früh schon ungewöhnlich warm war, hielt ein Holzklotz die Tür zum Wirtsraum offen. Hinter dem Tresen stand Otik und polierte mit einem fleckigen Putzlumpen seine Steingutkrüge. Als Flint hereinpolterte, sah er auf, bemerkte die Aufregung des Zwergs und nickte, als Tanis ihm folgte.
»Hallo! Ich hatte euch zwei vor heute abend, wenn der Markt zu Ende ist, nicht zurückerwartet. Seid ihr so früh da, weil ihr noch mehr von dem Zeug wollt, das euch umgeworfen hat?« fragte der grinsende Wirt fröhlich. Er hielt den Krug, den er gerade abgetrocknet hatte, unter den Zapfhahn, bis ein dicker Schaumfinger außen herunterlief, und bot ihn Flint an.
Flint betrachtete den Krug finster, griff jedoch nicht zu. »Otik, sag, daß du ein Kupferarmband gefunden hast«, forderte er ohne Umschweife.
Otik überstürzte nie etwas. Er schürzte die Lippen und blickte nachdenklich durch den Raum. »Ein Kupferarmband, sagst du? Hmm… Das ist aber schwierig.«
Flints Augen funkelten. »Hör mal, entweder hast du eins gefunden oder nicht!«
Otik blieb unbeeindruckt. »Ich habe mal einen Ring gefunden…«
Ungeduldig verdrehte Flint die Augen und pustete durch seinen Schnurrbart. »Ich meine, gestern abend. Hast du gestern abend beim Aufräumen hier ein Armband gefunden?«
»Oh, das ist etwas anderes, laß mich nachdenken… Ich habe gestern abend gar nicht mehr aufgeräumt, erst heute morgen. Das stimmt, ich bin früh runter gekommen, um die Gaststube fürs Frühstück fertigzumachen. Hab eine Schale Haferbrei aus dem Topf gegessen – allerdings kein guter Brei, völlig klumpig und klebrig.« Otik kniff die Augen zusammen und schrubbte übereifrig an einem Fleck auf dem Tresen herum. »Ich muß mit Arnos Cartney reden. Er kann einem doch kein Korn verkaufen, das einen halb erstickt.«
»Otik, das Armband«, erinnerte Tanis den Wirt, bevor Flint explodierte.
»Ach ja.« Otik schüttelte den Kopf. »Nein, kein Armband. Ich bin sicher, daß ich kein Armband gefunden habe. Ich könnte eines von den Mädchen fragen, oder du könntest selbst noch einmal dort suchen, wo ihr gesessen habt…«
Noch ehe der Wirt ausgeredet hatte, rannte Flint schon zu dem Tisch und krabbelte auf Händen und Füßen darunter, wobei er Stühle und Bänke aus dem Weg schob. Eine Weile lang sah er überall nach, dann gab er die Suche auf, um sich mit einem hoffnungslos resignierenden Seufzer auf die Fersen zu setzen. Er legte die Arme um die Knie.
»Das sieht nicht gut aus«, flüsterte Otik Tanis zu. »Was ist denn so wichtig an dem Armband?«
»Es wurde von einer Dame von auswärts bestellt, und sie wollte es beim Markt abholen.« Tanis erinnerte sich an etwas und grinste. »Er hat es gestern schon mal verloren, durch einen Kender…« Tanis brach ab, als ein schrecklicher Gedanke in ihm aufstieg.
Er ging vorsichtig auf seinen Freund zu. Der Zwerg saß immer noch mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden und brummelte unverständlich vor sich hin. »Sag mal, Flint, könnte das Armband nicht bei Tolpan –?«
»Barfuß!« Flint fuhr hoch. Seine Augen gingen weit auf, und seine Hände ballten sich fest zu Fäusten. »Da hätte ich gleich drauf kommen können. Ich wußte doch, daß er bloß so ein diebischer, lügnerischer, kleiner – « Der Zwerg brach mit seiner Schimpftirade ab, als er bemerkte, daß eine junge Kellnerin ihn mit großen Augen anstarrte, während sie die Asche aus dem Kamin fegte.
»Nun, dann ist es einfach«, sagte Tanis. »Der Kender hat gesagt, daß er ein paar Tage hier im Gasthaus bleiben wollte. Wir suchen ihn einfach und bekommen es zurück«, beschloß er vernünftig.
»Ja, ich werde es schon zurückbekommen.« Mit einem bösen Glitzern in den Augen stand Flint auf.
Otik stützte sich auf den Ellbogen auf der Bar auf. »Redet ihr von diesem kleinen Kender, mit dem ihr gestern abend getrunken habt?« Flint nickte. Da schüttelte Otik seinen schon etwas kahlen Kopf. »Den werdet ihr hier nicht finden. Er kam schon früh die Treppe runtergesprungen, hat gefrühstückt – und zwar reichlich, muß ich sagen –, und dann ist er gegangen, mit diesem kleinen Schlingenstock über die Schulter.«
Flint packte Otik am Arm. »Er ist aber doch nur für heute gegangen?«
Otik schüttelte wieder den Kopf. »Ich glaube nicht… Er hat seine Rechnung bezahlt.« Otiks Gesicht nahm einen Ausdruck der Verwunderung an. »Könnt ihr euch das vorstellen, ein Kender, der tatsächlich seine Rechnung bezahlt? Ich mußte ihn natürlich ein paarmal erinnern – einmal war er schon aus der Tür raus –, aber er hat wirklich bezahlt.«
»Hat er gesagt, wo er hin wollte? Zum Markt vielleicht?« fragte Tanis.
Otik ließ sich schwerfällig auf einem Hocker nieder und klopfte sich nachdenklich ans Kinn. »Markt, hmm. Ich weiß nicht mehr… nein, ganz sicher nicht, wenn ich richtig überlege. Um ein bißchen zu plaudern, habe ich ihm genau dieselbe Frage gestellt. Er hat gesagt, er hätte vom Vortag genug und wollte seinen Finger in die Luft halten und dahin gehen, wohin der Wind ihn treibt.«
Tanis schüttelte traurig den Kopf und klopfte Flint mitleidig auf die zusammengesunkenen Schultern. »Das wär’s dann, Flint. Du mußt dieser Frau einfach die Wahrheit sagen und ihr das Geld zurückgeben. Bestimmt wird sie Verständnis haben.«
Flint starrte schweigend ins Nichts, ganz in Gedanken an die Rache und an die Kenderjagd versunken. Auf einmal fuhr er herum, packte Tanis am Revers und schüttelte ihn. »Du verstehst gar nichts! Ich kann ihr das Geld nicht zurückgeben, weil ich es nicht mehr habe! Ich habe es für die Vorräte für unsere Reise ausgegeben! Das kann ich wohl kaum erklären, was?«
Tanis versuchte, Flints Hände von seinen Kleidern abzustreifen, konnte sich jedoch nicht aus dem Griff des Zwergs lösen. »Dann biete ihr eben an, ein neues zu machen.«
»Hast du gestern abend denn nicht zugehört?« bellte Flint. »Sie hat mir besondere Zutaten gegeben, und die reichten gerade für ein Armband! Sie hat mir ausdrücklich eingeschärft, nur eins zu machen! Sie ist zu mir gekommen, weil sie mir vertraut hat – nur mir –, daß ich es auf Anhieb richtig machen würde. Was soll ich da bloß sagen?« stöhnte er, während sich sein Gesicht zu einer sarkastischen Grimasse verzog. »›Ja, Madame, ich habe es gemacht, wirklich. Es ist wunderschön. Leider habe ich einen fingerfertigen Kender damit abziehen lassen.‹ Ich wäre zutiefst gedemütigt. Und was noch schlimmer ist, wenn sich das herumspricht, ist mein Ruf als Goldschmied zum Teufel!«
Flint, der immer noch Tanis festhielt, sah zur Tür. »Otik, was meinst du, wie lange der Kender schon weg ist?«
»Vier Stunden vielleicht.«
»Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken, ihm zu folgen?« fragte Tanis ungläubig. »Du weißt doch nicht einmal, welche Richtung er eingeschlagen hat.«
»Natürlich weiß ich das. Er wollte mit dem Wind ziehen.« Flint ließ Tanis los, steckte einen Finger in den Mund und starrte ihn dann an. »So werde ich feststellen, wo er hin ist.« Tanis’ skeptische Miene ärgerte den verzweifelten Zwerg. »Habe ich eine andere Wahl? Er hat höchstens vier Stunden Vorsprung. So wie Kender reisen, wie sie stehenbleiben, um mit Käfern und Wolken zu reden und weiß Reorx für anderen Quatsch zu treiben, kann ich ihn wahrscheinlich einholen, das Armband aus ihm herausschütteln und mit etwas Glück noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein.«
»Und wenn deine Kundin am Stand auftaucht, um nach dem Armband zu fragen, während du weg bist?«
Flint dachte einen langen Augenblick darüber nach. »Du kennst meine Waren so gut, daß du hierbleiben und den Stand aufmachen könntest. Halt sie hin, wenn sie auftaucht – sag ihr, daß ich noch daran arbeite oder so.«
Tanis hielt abwehrend die Hände hoch und wich zurück. »Oh, nein, daraus wird nichts. Ich bleibe doch nicht hier und halte für dich den Kopf hin – außerdem bin ich überhaupt nicht gut im Lügen, das weißt du genau.« Tanis schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Nein, wenn du dem Kender hinterher willst, komme ich mit. Wir können schließlich ein Schild am Stand aufhängen, wo draufsteht: ›Vorübergehend geschlossen‹ oder so was.«
Flint sah die Welt schon wieder etwas optimistischer. »Das könnte gehen. Also gut. Laß uns aufbrechen, bevor dieser Kender uns noch eine Meile weiter voraus ist. Und wenn wir ihn finden, dann leg ich meine Finger um seinen mageren, kleinen Hals und drück zu, bis – «
»Bis er das Armband zurückgibt, und dann läßt du ihn los«, warnte Tanis. »Ich komme nämlich unter anderem auch mit, um einen Mord zu verhindern.«
»Das werden wir ja sehen«, murmelte Flint.
Tolpans klare, schwungvolle Stimme eilte ihm auf der Straße nach Süden voraus. Seit er bei Tagesanbruch das Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« verlassen hatte, hatte der Kender bestimmt schon vier oder fünf Meilen zurückgelegt. Um sich die Zeit zu vertreiben, sang er das Wanderlied der Kender.
Deine einzige Liebe ist ein Segelschiff,
Das ankert bei uns am Kai.
Wir hissen die Segel, bemannen die Decks,
Wir schrubben die Bullaugen frei.
Und, hoi, unser Leuchtturm leuchtet ihm,
und, hoi, unsere Küste ist warm.
Wir steuern es sicher zum Hafen hin –
In jeden Hafen bei Sturm.
Die Seeleute stehen auf den Docks,
In Schlangen stehen sie an,
So gierig wie ein Zwerg nach Gold
Und Zentauren nach billigem Wein.
Denn alle Seeleute lieben es
Und strömen herbei, wenn es naht,
Denn jeder hofft, daß er mitfahren kann,
Wenn’s losgeht auf große Fahrt.
Es war ein ungewöhnlich erfreulicher Morgen, ganz wie es der Kender liebte. Freundliche Sonnenstrahlen, die durch die bunten Glasfenster in sein Zimmer fielen, hatten ihn geweckt. Der strahlende Sonnenschein hatte es ihm praktisch unmöglich gemacht, noch länger im Bett zu bleiben. Dann war das beste Frühstück seit Monaten gefolgt: Würzkartoffeln, pochierte Enteneier und Rosinenbrötchen mit frischer Butter. Die komischen Geschichten des Wirts Otik hatten es noch leckerer schmecken lassen.
Tolpan schwor sich, daß er eines Tages nach Solace zurückkehren würde. Der Ort war so schön, daß man ihn mindestens zweimal besuchen mußte. Bis dahin – nun, diese Zeit im Leben eines Kenders trägt nicht ohne Grund den Namen »Wanderlust«.
Kein Kender kann den Gedanken an einen leeren Magen ertragen, deshalb hatte er vor Verlassen der Stadt natürlich noch Proviant eingekauft. Unter dem Arm trug er wie einen Ball einen hellen, knusprigen Brotlaib, und in seinem Beutel steckten ein orangefarbenes kleines Käserad und eine Flasche frischer Milch. Die drei glänzenden, roten Äpfel, die gleichfalls in seinem Beutel herumlagen, verblüfften ihn jedoch; er erinnerte sich, daß er sie bewundert hatte, während er seine anderen Einkäufe bezahlt hatte, aber wie waren sie in den Beutel gekommen?
Der Kender zuckte glücklich mit den Schultern.
»Vielleicht hatte der Kaufmann ein Sonderangebot – kauf Käse, dann gibt’s Äpfel umsonst«, folgerte er. »Oder vielleicht sind sie bloß vom Karren gerollt und in meinen Sack gefallen.« Das alles war sehr merkwürdig, gerade so geheimnisvoll und fesselnd, wie Kender es gern hatten.
Die Sonne schien warm, obwohl der Wind immer noch recht kühl war. Junge, grüne Grashalme, wilde, lila Krokusse und Hyazinthen lugten überall zwischen den restlichen, dreckigen Schneeklumpen hervor. Der schwere, moderige Duft von getauter Erde und Würmern und feuchtem Gras begeisterte Tolpan genauso sehr wie sonst nur gutes Essen und Bier. Der Kender nahm den schweren Matsch kaum zur Kenntnis, der an seinen frisch geputzten Hirschlederstiefeln hängenblieb und seine hellblauen, engen Hosen bespritzte, während er mit wippendem Haarknoten die Straße entlanghüpfte.
Als er auf einem kleinen Hügel ankam, genoß Tolpan entzückt die Aussicht, die sich ihm darbot. Er setzte sich auf einen kalten, aber trockenen Felsvorsprung, wobei er die Spitze seines Hupaks in die weiche Erde trieb. Dann klappte er die Lederröhre an seinem Gürtel auf und zog eine Karte von Abanasinia heraus. Dabei kam auch ein Armband zum Vorschein, das klirrend auf den Felsen fiel und dort in immer enger werdenden Kreisen herumrollte, bis es direkt neben Tolpans Füßen liegenblieb.
»Was ist denn das?« wunderte der sich, doch in dem Moment, wo er es aufhob, erkannte er bereits Flints ungewöhnliches Kupferarmband. »Meine Güte, dieser Flint Feuerschmied paßt aber auch wirklich nicht auf seine Sachen auf. Wieso steckt er das denn in meine Kartenröhre?« Nach kurzem Überlegen streifte Tolpan sich das Armband über das Handgelenk. »Das muß ich so schnell wie möglich nach Solace zurückbringen, und daran erinnere ich mich am besten, wenn ich es hier an meinem Handgelenk behalte, wo ich es sehen kann. Flint wird schon außer sich sein vor Kummer. Aber er freut sich bestimmt, wenn er mich wiedersieht!«
Doch zunächst gab es wichtigere Dinge. Ganz Abanasinia war von niedrigen Bergketten mit engen, bewaldeten Tälern durchzogen. Im Westen beherrschten drei Gipfel das Bild der Landschaft: der größte war nur ein paar Meilen von Tolpan entfernt, während die beiden kleineren in einiger Entfernung dahinter lagen. Tolpan war neugierig, ob sie wohl Namen hatten. Der nähere war ein prachtvoller Anblick mit seinen grünen, zerklüfteten Hängen, die zum Gipfel hin immer weißer wurden. Ein paar kleine Wolken hingen um die Spitze herum. Wenn er noch keinen Namen hatte, überlegte Tolpan, dann würde er ihm gerne selbst einen geben.
Tolpan rollte die Karte aus, breitete sie auf seinem Schoß aus und fuhr seinen Weg seit Solace mit dem Finger nach. »Hmm, muß der Betende Gipfel sein«, murmelte er laut vor sich hin. »Was für ein komischer Name. Ich frage mich, was er bedeutet. Bestimmt gehört eine interessante Geschichte dazu.« Mit Enttäuschung registrierte Tolpan, daß die Berge hinter dem Betenden Gipfel den wenig einfallsreichen Namen Doppelspitze trugen.
Insgesamt war die Karte ziemlich wenig detailliert, denn sie zeigte nur die Küste, wichtige Straßen und andere bedeutsame Merkmale für Reisende. Die neue Straße im Süden von Solace, auf der Tolpan unterwegs war, hieß passenderweise Südstraße, was auch so auf Tolpans Karte stand. Sie folgte einem Fluß, der sich durch die niedrigen Hügel an der Nordostgrenze des Düsterwalds schlängelte.
Der Düsterwald im Südwesten von Tolpans Standort hatte seinen Namen von den ruhelosen Seelen, die dort herumspukten. Selbst ohne diesen Ruf hätte der große Bergwald abschreckend gewirkt, denn Tolpan wußte, daß solche Wälder von tückischen Wasserrinnen, Brombeerranken, Morast und dunklen Höhlen nur so wimmelten. Er wußte zwar, daß Düsterwald wahrscheinlich auch freundlichere Waldwesen wie Dryaden, Zentauren und Pegasi beherbergte, doch das machte seine schattigen Tiefen auch nicht einladender.
Haven, die Hauptstadt jener Gruppe religiöser Fanatiker, die als die Sucher bekannt waren, und das Tal von Haven markierten die Westgrenze des Waldes. Im Nordwesten lagen die Doppelspitze und das Sternenlichttal, die Heimat der Pegasi. Und fünfundzwanzig Meilen neben der Doppelspitze bildete der Weiße Fluß sowohl die Südgrenze des Düsterwalds als auch den Nordrand der Elfennation Qualinesti.
Damit diese Karte wirklich nützlich wäre, fand Tolpan, brauchte sie noch viel mehr Eintragungen: kleine Flüsse, Täler, Höfe, ungewöhnliche Bäume oder Felsen und gute Lagerplätze. Er zog einen Federkiel, ein Gläschen Tinte und ein kleines Messer aus seiner Kartenröhre, woraufhin er dem Kiel dann sorgfältig eine neue, scharfe Spitze schnitt. Danach legte er seinen Lederbeutel als Unterlage unter die Karte und zeichnete ein paar Hartriegelbäume. Ihre auffälligen weiß-rosa Blüten waren so schön, daß man sie unmöglich übersehen konnte.
Nach mehreren Minuten sehr präziser Arbeit griff Tolpan nach dem Sack auf seiner linken Seite. Der enthielt unter anderem eine Flasche mit kühlem Wasser, das er für unterwegs mitgenommen hatte. Kartenzeichnen machte ihn immer durstig. Aber ein ungewöhnliches Gefühl an seinem Handgelenk lenkte ihn ab: Das schöne Kupferarmband dort fühlte sich unangenehm heiß an. Bestimmt kam das von der Sonne, die darauf schien. Als er hingriff, um das Schmuckstück abzuziehen, verschwamm die Welt um ihn herum, und Tolpan kam sich vor, als würde er mitten in den Himmel kullern. Würzkartoffeln und Enteneier kamen ihm hoch. Er wollte sich flach an den Felsen werfen, doch er war sich nicht sicher, wo der lag. In diesem Zustand völliger Orientierungslosigkeit tauchte aus dem Nichts plötzlich ein Bild in seinem Kopf auf. Einen kurzen Augenblick nur sah er sich selbst, wie er in seinen Sack griff und dann nach einem heißen Schmerz zurückzuckte und eine rote Schwiele an der tintenbeschmierten Spitze seines Mittelfingers anschwellen sah.
So plötzlich, wie sie gekommen waren, waren Schwindel und Vision verflogen. Tolpan blinzelte und sah sich um. Sein Sack lag hinter ihm, und sein Finger war unversehrt. Er rieb über die Stelle, nur um ganz sicher zu gehen. Das war aber mal ein schönes Rätsel. Ganz aus dem Häuschen vor Neugier schüttete der Kender den Inhalt seines Sacks auf dem kalten Stein zu seinen Füßen aus. Unter der Flasche, etwas Schnur und zwei Stücken Trockenfleisch ragten die haarigen Beine einer Giftspinne hervor!
»Mann!« rief Tolpan lauthals aus. »Wenn ich meine Hand da reingesteckt hätte, wäre ich gebissen worden. Das war wie eine Vision – ich habe gesehen, was passieren würde! Ich hab von Leuten gehört, die so etwas können, aber ich hätte nie gedacht, daß ich dazu gehöre.«
Achselzuckend klopfte er sich ans Brustbein. »Ich frage mich, ob das die drei Portionen Würzkartoffeln waren. Ich habe noch nie soviel auf einmal gegessen.« Mit dem ausgefransten Ende seines Federkiels schnipste Tolpan die Spinne von dem Stapel seiner Habseligkeiten und sah zu, wie sie sich eilig unter einem Stein in Sicherheit brachte. Als er die Sachen in seinen Beutel zurückräumte, kam er nicht umhin, das Armband an seinem Handgelenk zu bewundern.
»Das muß ich diesem Flint wirklich zurückgeben. In der Sonne wird es furchtbar heiß, und mein Handgelenk wird von dem Kupfer bestimmt grün.« Danach vervollständigte Tolpan seine Aufzeichnungen auf der Karte (indem er »Spinnenfelsen« neben die Straße schrieb), schraubte das Tintenfläschchen wieder zu, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche, packte seine Siebensachen zusammen, warf sie sich über die Schulter und lief munter weiter nach Süden, immer weiter von Solace und Flint Feuerschmied fort.
Unterwegs bemerkte Tolpan, daß die Straße in den dunklen Wald führte, um ein paar schroffe Berge weiter vorn zu umgehen. Das schreckte ihn nicht – Kender sind ganz allgemein für ihre Furchtlosigkeit bekannt –, aber ihm kam der folgende Gedanke: Wenn etwas Böses auf der Straße unterwegs war, wäre dies der Ort, wo es zuschlagen würde. Nur sicherheitshalber zog er seinen Gürtel und die Packriemen fester und suchte sich auf der Straße einen glatten, handflächengroßen Stein. Er war ein recht guter Schütze mit seinem Hupakstock. So ein geschleuderter Stein konnte einen größeren Stein zerschmettern oder einen Arm oder ein Bein brechen. Als er das einfache Geschoß aufhob, tat ihm derjenige, der ihm möglicherweise in die Quere kommen würde, einen kurzen Moment lang aufrichtig leid.
Dieser Gedanke verschwand rasch, als Tolpan bemerkte, daß Flints Kupferarmband an seinem Handgelenk wieder unangenehm heiß wurde. »Wenn du mich weiter ärgerst, dann steck ich dich in meinen Beutel, und da vergeß ich dich bestimmt«, schalt er, als wollte er dem Ding drohen. »Dann kannst du ja sehen, wie du je zu deinem Besitzer zurückkommst!«
Noch bevor er den Quälgeist von seinem Arm abstreifen konnte, machte Tolpan zwei taumelnde Schritte nach rechts, bis er sein Gleichgewicht wiederfand, indem er sich auf seinen Stab stützte. Erneut drehte sich die Welt um ihn, und wieder war ihm gar nicht wohl im Magen. Dann hörte er Glöckchen klingeln, zwang sich aufzusehen, und sah einen Karren um eine Kurve der Straße vor ihm biegen. Es war die übliche Sorte von zweirädrigen Karren, wie sie von Hausierern und Kesselflickern benutzt wurde, an allen Seiten von buntbemalten Holzwänden umschlossen und mit einer Leinenplane obendrüber. Tolpan blinzelte und rieb sich seine Augen, weil alles verschwamm. Als er sie wieder aufmachte, sah er den Wagen umgekippt auf der Seite liegen; ein Rad drehte sich wie verrückt, doch Pferd und Fahrer waren grausam niedergemetzelt. Der erschrockene Kender schloß die Augen und schüttelte den Kopf, um wieder klar sehen zu können. Als er wieder die Straße hinunterblickte, war sie leer.
Da schlug sein Herz schneller, denn er hörte, wie der Wind ihm Glockenklang zutrug. Staunend sah er zu, wie ein Karren um die Kurve bog, der dem ganz ähnlich sah, den er gerade gesehen hatte. Hinter einem altersschwachen, grauen Klepper ruckte und schaukelte er über den weichen Weg. Auf dem Kutschbock saß ein schmächtiger Mensch, der ganz versunken vor sich hin summte.
Tolpan war sicher, daß gleich etwas Schlimmes passieren würde.
Also schwang er seinen Hupak über dem Kopf und brüllte: »Achtung! Gefahr!« Noch währenddessen geschah alles mögliche. Das Pferd, das durch das Schreien und die Bewegung erschreckt war, wich zurück und stieß dabei den Wagen vom weichen Straßenrand in einen breiten Graben voll Wasser. Der Karren neigte sich gefährlich, blieb dann aber im Matsch stecken. Tolpan hörte ein lautes Schnappen und Rascheln. Als er hinschaute, sah er einen dicken, mindestens menschengroßen Baumstamm an einem Seil durch die Zweige herunterschwingen. Er fegte über die Straße, und zwar genau dorthin, wo der Karren gewesen wäre, wenn das Pferd nicht gescheut hätte.
Kehlige Laute und Krächzer erfüllten die kühle Luft, als mehrere große, häßliche Wesen aus der Deckung des Waldes brachen und auf den Karren zustürmten. Hobgoblins! Tolpan hatte mit diesen wilden Kerlen auf seinen Reisen schon oft genug zu tun gehabt und erkannte sie auf der Stelle. Die stinkenden, schmutzigen, sadistischen Monster trugen meist ungegerbte Häute und schwangen Keulen oder erbeutete Äxte, wenn sie Reisenden auflauerten oder einsame Höfe überfielen.
Sie holten mit ihren langen, behaarten Armen weit aus, während sie durch den Matsch auf den Karren zusprangen, der jetzt hoffnungslos festsaß. Das Pferd wieherte und keilte aus und schaffte es irgendwie, den Anführer der Hobgoblins zu erwischen. Das Monster brach mit dem Gesicht nach unten im Matsch zusammen, wodurch seine gebrochenen Rippen verborgen blieben.
Rasch legte Tolpan seinen Stein in die Hupakschlinge. Er brauchte nur einen Moment zum Zielen, ehe er ihn auf den nächsten Hobgoblin schleuderte. Der Stein traf ihn hart im Rücken, was einen unbändigen Schmerzenschrei hervorrief. Wütend fuhr der Hobgoblin herum und fixierte Tolpan mit seinen roten Augen. Mit einem schmierigen Grinsen, bei dem man seine gelben Zähne sah, quiekte er einem anderen Hobgoblin etwas Unverständliches zu. Weil sie mit einer leichten Beute rechneten, schossen beide auf den Kender zu.
Tolpan hob ganz ruhig einen weiteren Stein vom Weg auf. Der hier war klein und scharfkantig, genau das, was er brauchte. Er nahm sich Zeit beim Einlegen und Zielen. Als der Hupak vorschnellte, zuckte der Kopf des zweiten Hobgoblins zurück. Das Monster fuhr halb herum, um dann tot auf die Straße zu krachen. Tolpan widerstand dem Drang aufzujubeln, denn er wußte, die Gefahr vor ihm war noch nicht beseitigt.
Ohne das Schicksal seines Genossen zu bemerken, rannte der erste Hobgoblin schnurstracks auf den scheinbar unbewaffneten Kender zu. Tolpan pflanzte sich breitbeinig auf und hielt den Hupak wie einen Bauernspieß vor sich. Der Hobgoblin brüllte wild, hob mit seinen beiden knorrigen Händen die Keule und stürzte sich auf ihn.
Im allerletzten Moment drehte Tolpan den Hupakstab um. Das metallbeschlagene Ende zeigte nun auf das heranstürmende Monster, und dann stieß der Kender den Hupak mit aller Kraft nach vorne. Er merkte, wie das Holz zitterte und knirschte, als seine Waffe die dicke Haut des Hobgoblins durchdrang und direkt in seine Eingeweide sank. Als der Hobgoblin zu Tode getroffen stöhnte, wehte sein heißer, nach verfaultem Fleisch stinkender Atem über Tolpan hinweg. Der sprang beiseite, damit der taumelnde Körper an ihm vorbei auf den Boden knallen konnte. Der Kender kicherte hörbar, als ihm der letzte, ungläubige Blick in den feindseligen Augen der Kreatur bewußt wurde.
Die Schreie von Pferd und Mann brachten Tolpan schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. Ein weiterer Hobgoblin versuchte, den Zügel des Pferds zu erwischen, während ein anderer geradezu spielerisch mit dem Menschen kämpfte, der sich ziemlich kläglich mit einem großen Holzhammer verteidigte.
Tolpan duckte sich, zog ein langes, dünnes Messer aus der Hose und rannte zum Kampfplatz. Ohne langsamer zu werden, lief er direkt an dem ersten Hobgoblin vorbei. Im Vorübereilen stach er mit dem Messer zu und durchtrennte das feste Fleisch kurz unter dem Hintern des Monsters. Vor Schmerz und Schreck heulte der Hobgoblin auf und geriet ins Taumeln, als die jetzt nutzlosen Muskeln seines verkrüppelten Beins nachgaben. Schauderhaft jaulend, wankte er mit nachgezogenem Bein in den Wald und verschwand.
Der letzte aus der Gruppe, der mit dem Menschen herumgespielt hatte, wurde durch das Schreien abgelenkt. Was er jetzt sah, ließ ihm den Unterkiefer heruntersacken. Drei seiner Gefährten lagen tot im Schlamm, ein vierter war gefährlich verwundet und auf der Flucht, und ein Kender mit einem blutigen Messer grinste ihn an.
Der Kender zuckte zusammen, als der Holzhammer des Mannes auf den Hinterkopf des Hobgoblins heruntersauste. Der rollte mit den Augen, und sein Körper sackte auf dem weichen Boden zusammen.
»Ich glaube, der ist ziemlich tot«, befand Tolpan.
Der Mann starrte voller Entsetzen auf das, was er getan hatte, ließ den Hammer fallen und lehnte sich ein paar Minuten keuchend und zitternd an einen Baum hinter sich. »Danke für deine Hilfe, Fremder«, brachte er schließlich heraus. »Ich wußte, es war noch zu früh, um aufzubrechen, ich wußte es ja. Habe ich auf mich gehört? Nein, ich habe auf Hepsiba gehört. ›Wir brauchen Geld. Es ist Frühling. Los, auf die Straße, du dummer Faulpelz!‹ Das hat sie gesagt. Also bin ich losgefahren, vor allem, um ihrer Nörgelei zu entkommen, geb ich ja zu. Und da steh ich nun, mitten in der Wildnis und kämpfe um mein Leben, während mein Karren bis zur Achse im Schlamm steckt. Diese Reise ist gewiß von den Göttern verflucht!«
»Worüber beschwerst du dich eigentlich?« fragte Tolpan verwundert. »Du lebst, und die anderen nicht.« Er nickte zu dem Gemetzel hinter ihnen hinüber. »Ich würde sagen, du hattest einen höchst erfolgreichen Tag, abgesehen davon, was mit deinem Karren passiert ist.« Tolpan hüpfte um die matschigen Schlaglöcher neben dem Karren herum. Nachdem er seine Hosen hochgekrempelt hatte, kauerte er sich hin und spähte unter den Wagen.
»Der sieht wirklich festgefahren aus. Aber ich hab mal erlebt, wie Käferfresser Warzenschläger – das war ein Halboger aus Kenderheim – ganz allein so einen Wagen aus dem Schlamm gehievt hat. Leider ist dabei die Achse gebrochen, aber er hat es schon richtig angepackt. Was soll’s, er hat ihn einfach umgedreht, und Willie Wontori – das war der Wagenmacher von Kenderheim – hat sie repariert, da war sie wieder so gut wie neu.«
»Wer, zum Kuckuck, bist du überhaupt?« fragte der Mann, als der Kender endlich eine Pause machte.
Der Kender richtete sich stolz zu seinen vollen vier Fuß auf und streckte seine zartknochige Hand aus. »Tolpan Barfuß, stets zu Diensten. Und wer bist du?«
»Ich könnte die Stimme der Sonne sein«, seufzte der Mann, der immer noch am Baum lehnte, »aber da rechne mal nicht mit.«
»Oh, keine Sorge«, sagte Tolpan, wobei er ungerührt die ausgeschlagene Hand in die Hosentasche steckte. »Das ist ein Elf, und du bist ein Mensch. Außerdem, warum sollte jemand so Wichtiges wie der Herrscher der Qualinesti-Elfen persönlich einen abgewrackten, alten Händlerkarren fahren? Dafür hat er bestimmt Diener.«
Das pergamentfarbene Gesicht des Mannes verzog sich zu einem Stirnrunzeln. »Hat dich meine Frau hinter mir hergeschickt, oder sind das deine eigenen Einfälle, mit denen du mir das Leben versauern willst?« fragte er, rein rhetorisch.
Tolpan schüttelte den Kopf. »Deine Frau kenne ich bestimmt nicht, außer wenn sie gestern abend im Gasthaus in Solace war. Ich bin nicht von hier.«
»Meine Frau im Gasthaus? Nein, das würde ja Geld kosten und dann auch noch Spaß machen. Mein Gott, selbst auf der Straße werde ich heimgesucht«, brummte der Mensch.
Tolpan ging vom Karren wieder dorthin, wo der tote Hobgoblin lag, der auf dem Hupakstab des Kenders aufgespießt war. »Igitt«, machte er mit vor Abscheu verzogenen Lippen. Er wälzte den Körper auf die Seite, stellte einen Fuß auf die Rippen und zog die Waffe heraus. Dann trug er sie mit den Fingerspitzen auf Armeslänge vor sich zum Straßenrand, wo er sie in einem kleinen Schneerest säuberte.
Bei diesem Anblick schnaubte der Mann und wendete seine Aufmerksamkeit dem Wagen zu. Vorsichtig ging er um den Körper zu seinen Füßen herum. »Was sind das überhaupt für Wesen?« fragte er, während er den grausigen Anblick finster betrachtete.
»Hobgoblins. Brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, daß du einen umgebracht hast. Die sind durch und durch böse. Ich meide sie nach Möglichkeit, weil man sie sonst sehr wahrscheinlich töten muß. Und wenn ihr Gestank mal irgendwo dran ist, geht er nie wieder ab. Ich sehe schon, ich werde heute abend einen neuen Hupak machen müssen – der hier wird nie wieder derselbe sein.«
Tolpan kehrte zum Karren zurück und kletterte auf den Kutschersitz. »Was ist denn so schlimm an deiner Frau?«
»Diese Biester erinnern mich an sie: böse, ränkeschmiedend, unvernünftig. Sie wird mir das Leben noch mehr zur Hölle machen, wenn sie dieses Unglück hier herausbekommt.«
»Warum willst du ihr davon erzählen?« fragte Tolpan.
»Wenn sie sieht, wie wenig Geld ich auf dieser Reise verdient habe, wird sie ahnen, daß etwas schiefgegangen ist. Und mit ihren bohrenden Fragen kriegt sie die Wahrheit schon aus mir heraus – wie der Schlachter, der sein Hühnchen ausnimmt.« Der Mann schloß die Augen und erschauerte tief.
»Das hört sich nicht sehr nett von ihr an«, sagte Tolpan und ließ sich auf den Sitz plumpsen. »Sie kann dir schließlich nicht die Schuld dafür geben, daß Hobgoblins häßliche Sachen machen oder daß die Straßen voller Schlamm sind.«
Der Mann fuhr sich seufzend mit der Hand durch sein schütteres Haar. »Da kennst du meine Frau nicht. Sie wird behaupten, ich wäre mit Absicht in den Hinterhalt gefahren, nur um sie zu ärgern, oder so einen Quatsch.«
»Dann müssen wir dich eben aus dem Schlamm ziehen und auf den Weg bringen. Was machst du denn überhaupt?«
»Ich bin Kesselflicker«, erwiderte er. »Ich repariere Töpfe und Pfannen, schärfe Messer, putze Lampen. Ich mache praktisch alles.«
Tolpan sprang herunter, trat vom Karren zurück und stützte sich auf seinen Hupak und sah sich die Bescherung an. Er betrachtete den alten Klepper, der an dem braunen Gras herumzupfte. »Warum läßt du nicht das Pferd den Wagen rausziehen?«
Der Kesselflicker lachte. »Die alte Mähre? Bella hat gerade noch die Kraft, ihr eigenes Gewicht auf ebener Strecke zu schleppen, aber einen Wagen aus einem Schlammloch ziehen? Außerdem haßt sie Matsch, schon immer. Sobald sie welchen an ihren Hufen spürt, bleibt sie einfach stehen.«
»Warum ersetzt du sie nicht?«
»Hepsiba sagt, sie ist noch gut genug. Außerdem habe ich die Alte gern. Das Pferd, meine ich.«
Tolpan ging um den Karren herum und bohrte das Ende seines Hupaks in den Matsch des Grabens, bis er festen Boden fand. »Hmm, etwa so tief wie mein Unterarm. Das ist nicht besonders viel. Wenn du den Wagen von hinten anschiebst, kann ich Bella bestimmt überreden, ein paar Schritte zu machen.«
Der Mann lehnte sich an die Seite des Wagens an. »Ich kann nicht begreifen, wozu man sich solche Mühe geben sollte, gegen sein Schicksal anzukämpfen. Wenn die Vorsehung mich hier haben will, dann werde ich auch hierbleiben, egal wie sehr du oder ich uns bemühen.«
Tolpan musterte ihn einen Augenblick, bevor er sprach.
»Das ist Unsinn. Warum sollte die Vorsehung wollen, daß dein Wagen in einem Graben voll Matsch steckt?«
»Keine Ahnung, aber so ist es eben! Ich werde mich doch nicht gegen mein Schicksal erheben.« Als wenn die Sache damit abgetan wäre, zog der Kesselflicker ein kleines Messer aus der Tasche und begann, seine Fingernägel zu säubern.
Der Kender überlegte einen Moment, doch dann schüttelte er den Kopf, als wollte er einen Gedanken verjagen. Er entschied sich für einen neuen Versuch. »Schau mal, vielleicht ist es ja wirklich dein Schicksal, in diesem Graben festzusitzen. Aber es ist auch dein Schicksal, daß ich vorbeigekommen bin, um dich wieder rauszuholen, weil ich nämlich nicht weiterlaufen und dich hier sitzenlassen will. Was sagst du dazu?«
Der Kesselflicker kratzte sich am Kinn. »Ich denke mal, wenn du Bella überreden kannst, sich zu bewegen, dann wäre das ein ziemlich überzeugendes Argument.«
»Natürlich wäre es das!« rief Tolpan aus. »Also, du gehst hinter den Wagen und schiebst«, wies er ihn an und zeigte, wie er es machen sollte. »Hock dich hin und drück mit der Schulter dagegen, äh – ich weiß immer noch nicht deinen Namen«, fiel dem Kender plötzlich auf.
»Gäsil Bischof.«
Tolpan streckte wieder seine Hand hin, und diesmal schüttelte der Kesselflicker sie herzlich. »Hoch erfreut.« Gäsil nahm seinen Platz hinter dem Wagen ein.
Tolpan schob die Hand in den größten Beutel an seinem Gürtel und suchte nach dem letzten Klumpen Rübenzucker. »Das sollte Bella in Bewegung setzen«, sagte er, während er den Klumpen prüfend hochhielt.
Tolpan stellte sich neben den Kopf der alten Stute. Der kleine Kender streckte die eine Hand nach ihrem Zügel aus, während er ihr mit der anderen den Zuckerklumpen unter die behaarten Nüstern hielt, aus denen weiße Atemwolken aufstiegen. Das Pferd war wegen des Kampfes immer noch unruhig und hatte weiße, blutunterlaufene Augen. Doch es versuchte, mit seinen zwei gelben Vorderzähnen den Würfel zu ergattern.
»Komm schon, altes Mädchen«, sagte Tolpan freundlich, zog aber die Hand weg, bevor sie den Zucker erwischen konnte. »Du hast noch was zu tun, und dann bekommst du diesen feinen Leckerbissen.«
»Du mußt schreien – sie ist fast taub«, rief Gäsil hinter dem Karren hervor.
»Wenn ich ›Jetzt‹ rufe, schiebst du!« schrie Tolpan ihm zu.
»Bella ist taub, nicht ich«, erinnerte Gäsil den Kender.
Als Tolpan den Zügel fest in der Hand hatte, hielt er Bella den Würfel auf der Handfläche dicht vor die Nase, aber außer Reichweite ihrer gierigen Lippen. Er zählte bis drei. »Jetzt!« schrie er und zerrte am Zügel. Bella zwinkerte überrascht mit ihren milchigen Augen und stolperte etwas vorwärts, obwohl der Matsch sich an ihren Füßen festsaugte. Der Karren hinter ihr ruckte an und schob sich zum Rand des Grabens, rollte dann aber zurück, um wieder im Schlamm festzusitzen.
»Wir hatten es fast geschafft!« schrie Tolpan aufgeregt. »Nächstes Mal schiebst du fester und länger.«
Gäsil blickte verdrießlich an seiner dreckbespritzten Tunika herunter. Schmutzignasse Flecken trockneten auf seinem Gesicht an. Kalter Schlamm quoll in seine Stiefel. Wenn er beim nächsten Mal nicht unter die Räder des Karrens geriet, konnte er von Glück sagen. »In Ordnung«, antwortete er.
Sie wiederholten den Versuch, wobei Tolpan fester zog und Gäsil länger schob. Ächzend und stöhnend richtete sich der Karren auf und rollte mit einem gewaltsamen Ruck aus dem Schlammloch, wodurch Tolpan zurückflog, gleich nachdem es Bella gelungen war, ihre Lippen um das vorgehaltene Zuckerstück zu schließen.
Tolpan fand Gäsil auf dem Bauch in dem Schlammloch liegen, in dem der Wagen gesteckt hatte. »Oh je, wie ist denn das passiert?« fragte der Kender, während er Gäsil auf die Beine half. »Du solltest besser aufpassen. Du siehst ja schlimm aus.«
Als Antwort öffnete Gäsil die Hintertür seines Karrens und holte eine saubere Tunika und frische Hosen hervor. Zitternd zog er die kalten, schmutzigen Sachen aus, nahm die Wertsachen aus den Taschen und schlüpfte schnell in die frischen Kleider. »Das ist besser, aber bevor mich irgendwer in Solace anstellt, muß ich wohl noch baden.«
»Solace?« rief Tolpan aus. »Mensch, da komm ich doch gerade her! Du mußt wirklich auf den Frühjahrsmarkt gehen – da kannst du bestimmt eine Menge Geld verdienen.«
»Da wollte ich ja hin«, sagte Gäsil. »Ich hatte mir gute Geschäfte erhofft, aber ich fürchte, ich habe den größten Teil des Festes bereits versäumt. Jetzt ist es sicher zu spät, um noch einen guten Stand zu bekommen.«
»Weißt du, einer meiner besten Freunde hat dort einen Stand!« prahlte Tolpan. »Na ja, vielleicht nicht gerade mein bester Freund, aber ich glaube nicht, daß er mich noch haßt. Wir haben uns kennengelernt, als ich für ihn auf einen Teil seiner Waren aufpaßte, aber es gab ein kleines Mißverständnis deswegen. Vielleicht gibt er dir gegen einen kleinen Betrag etwas von seinem Platz ab.«
Tolpan nahm das Armband ab und wiegte es in der Hand. »Dieses Armband gehört übrigens ihm, und er braucht es ziemlich dringend. Keine Ahnung, wie es heute morgen schon wieder in mein Gepäck geraten ist, aber so ist das Leben halt. Wenn du sowieso in die Richtung fährst, kannst du es für mich zurückbringen. Mein Freund war letztes Mal furchtbar aufgeregt, als er es verloren hatte. Er hat es für eine Kundin gemacht, die schon bald kommen will, um es abzuholen, darum ist er dir bestimmt sehr dankbar, wenn du es zurückbringst. Vielleicht überläßt er dir dafür sogar umsonst einen Teil von seinem Stand!«
Obwohl Gäsil dem Kender für seine Hilfe dankbar war, lauschte er Tolpans Geschichte mißtrauisch. »Ich weiß nicht…«, zögerte er. Er war nicht gerade darauf versessen, für jemand anderes Wertsachen durch die Weltgeschichte zu schleppen und zu beschützen, besonders wenn sie vorher einem Kender in die Hände gefallen waren. Wie Tolpan bereits selbst erklärt hatte, neigten die Leute dazu, die Absichten von Kendern falsch zu verstehen. Außerdem hielt sich Gäsil an den Grundsatz, sich in nichts einzumischen, was ihn nichts anging.
»Aber warum nicht?« fragte Tolpan. »Du brauchst einen Stand. Mein Freund braucht sein Armband zurück. Und ich muß hier lang, von Solace fort. Es gibt doch keine bessere Lösung.« Das Zögern des Kesselflickers überraschte Tolpan, doch dann fügte er hinzu: »Deine Frau würde von nichts erfahren, wenn es kein Geld kostet, oder?«
Unbeabsichtigt hatte er das entscheidende Argument ins Spiel gebracht. Nur um sicher zu sein, zog Gäsil einen kleinen, vierseitigen Würfel aus der Hosentasche und warf ihn auf die hintere Wagenstufe. Da ihn die Antwort offenbar überzeugte, steckte er den Würfel wieder ein, sah auf und sagte: »Einverstanden!«
»Prima! Sein Name ist Flint Feuerschmied«, sagte Tolpan und zog seine Schreibsachen und ein Stück Pergament aus seiner Kartentasche. Er zeichnete eine Karte vom Festplatz, auf der er Flints Stand mit einem Kreuz markierte. »Es wird dir nicht schwerfallen, ihn zu finden, aber falls doch, probier’s im Wirtshaus ›Zur Letzten Bleibe‹. Da ist er anscheinend Stammgast, und ich bin sicher, daß du da auch ein Bad bekommst.«
Tolpan warf einen letzten Blick auf das Armband. Er würde seine bezaubernde Schönheit und das Ungewöhnliche daran vermissen. Dennoch hielt er es dem Kesselflicker ohne Bedauern hin. Gäsil steckte es in die Hosentasche und sprang ohne Umschweife auf den Kutschbock seines Wagens.
»Lebwohl«, rief der Kesselflicker. »Du hast mir das Leben gerettet. Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt.«
Tolpan winkte und gab zurück: »Gern geschehen. Alles Gute. Und grüß Flint von mir.«
Der Kesselflicker gab der Stute die Zügel, und Bella zog an. Der Wagen setzte sich nordwärts in Richtung Solace in Bewegung, umfuhr die Leichen auf dem Weg und ließ Tolpan hinter sich, der nun seine Reise fortsetzen konnte.
Gäsil Bischof war kein lebensfroher Mensch. Er hatte sich schon lange dem Schicksal ergeben. Gäsils Fatalismus wurzelte in seiner Kindheit in der Provinz Throt an der Ostküste von Solamnia, das von hier aus im Norden lag. Die Throtianer waren insgesamt ein abergläubisches Volk von Vagabunden mit einer reichen Überlieferung an Ammenmärchen und Sprichwörtern. Infolgedessen gab es kaum ein Ereignis in seiner Vergangenheit, das er nicht – im nachhinein und bei gründlichem Nachdenken – irgendwelchen übergeordneten Mächten zuschrieb. Alles, was im Leben geschah, war Glücksache. Zum Beispiel Leute, die Geld hatten, die hatten Glück. Gäsil, der keins hatte, hatte Pech. Das schlimmste daran war, daß Glück oder Pech oder das Fehlen von beidem nur von übernatürlichen Launen abhing, so weit er das beurteilen konnte.
Wenn ein Mann nicht daran glaubt, daß harte Arbeit durch Wohlstand belohnt und Schlendrian durch Armut bestraft wird, ist er normalerweise kein sehr eifriger Arbeiter. Doch wie gleichgültig das Schicksal auch sein mochte, Gäsil wußte, daß von seiner Frau Belohnung und Vergeltung (besonders Vergeltung) reichlich zu erwarten waren.
Er hatte sie vor ein paar Jahren kennengelernt, als er in die Stadt Dern gereist war und dort gearbeitet hatte. Dort lebte Hepsiba heute in dem großzügigen Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie war das einzige Kind gewesen und ihr Vater für dortige Verhältnisse ein wohlhabender Kaufmann. Hepsiba war über alle Maßen verwöhnt worden, und das hatte ihr Mann jetzt zu büßen.
Gäsil hatte mit ihrem Vater in dessen Laden geschäftlich zu tun gehabt, als Hepsiba eingetreten war. Im gleichen Moment hatte es vom klaren Himmel gedonnert, und ein Blitz hatte die Dorfglocke getroffen. Das mußte einfach ein Zeichen gewesen sein, und Gäsil war bereit. Doch er traf nie eine Entscheidung – zumindest keine wichtige –, ohne sein ›Auge‹ zu befragen.
Manche Leute hatten Kaninchenfüße dabei. Throtianer warfen einen ungewöhnlichen, vierseitigen Würfel, den sie ›das Auge‹ nannten. Im Prinzip war es dasselbe, als wenn man die Zukunft aus den Karten las, nur schneller. Jede Seite des Auges entsprach einer Facette des Schicksals. Das stetige, fruchtbare Element Erde symbolisierte Glück; das schwere, behindernde Wasser Pech; Luft bedeutete eine Chance, weil sie sich immer verändert. Feuer stand für Tod. Gäsil hatte noch nie Feuer geworfen, doch er hatte mal einen Mann gekannt, dem das passiert war. Der arme Kerl drehte daraufhin vor Angst durch und stürzte sich von einer Klippe. Die Prophezeiung hatte sich bewahrheitet.
An dem Tag, als er um Hepsibas Hand anhielt, hatte Gäsil das Symbol für Erde geworfen – Glück. Da es keine anderweitigen Bewerber gab und sie nicht mehr die Jüngste war, hatte sie sich sofort einverstanden erklärt. Schon am Nachmittag waren sie verheiratet gewesen.
Bereits Stunden nach der Hochzeit begann Gäsil, sich zu fragen, ob er das Auge nicht vielleicht irgendwie falsch interpretiert hatte, denn Hepsiba erwies sich körperlich wie charakterlich als reizlos. Statt dessen war sie mißtrauisch, selbstsüchtig und eingebildet. Aber viel schlimmer noch für Gäsil war ihre Fähigkeit, jedem die Laune zu verderben und alles Schöne häßlich erscheinen zu lassen. Er machte sich keine Illusionen über sein Aussehen mit seinen fahlen Haaren, seinen groben Knochen und seinen großen Füßen, doch er hatte ein gutes Herz und immer ein Lächeln auf den Lippen. Er war davon überzeugt, daß sie auch seine guten Seiten erkannt hätte, wenn ihr irgend etwas anderes als Geld wichtig gewesen wäre.
Obwohl er so unglücklich war, glaubte Gäsil daran, daß es einen Grund gab, warum das Schicksal ihn und Hepsiba zusammengeführt hatte. Er hoffte nur, daß sie ihn lange genug am Leben lassen würde, bis er es entdeckte.
Deshalb verbrachte er viel Zeit auf den Straßen und reparierte, was kaputt war, wo auch immer das sein mochte. Er reiste den Festen nach, und in Solace fand das erste und vielleicht beste Fest des Jahres statt. In jeder Stadt blieb er bis zu einer Woche, wenn die Geschäfte gut gingen. Manchmal war er bis zu sechs Monaten am Stück unterwegs, besonders wenn das Wetter gut und die Leute freundlich waren, wie dieser geschwätzige, kleine Kender, der ihn vor den Hobgoblins gerettet und ihm geholfen hatte, seinen Wagen aus dem Graben zu ziehen. Das Kerlchen war der am wenigsten lästige Kender, den Gäsil je getroffen hatte.
Kurz nach Mittag erreichte Gäsil die Abbiegung nach Solace am Südende des Krystallmirsees. Er lenkte Bella nach rechts, und der Karren rollte auf die alte Steinbrücke über den Solacer Bach zu. Dort wurde der Verkehr dichter. Gäsil nickte grüßend dem Fahrer eines Wagens aus der Gegenrichtung zu.
Vor ihm betraten gerade zwei Wanderer die Brücke. Sie schienen ziemlich in Eile zu sein. Ihr eiliges Tempo wurde von dem Kleineren der beiden angegeben, einem Zwerg mit schon reichlich grauen Haaren und einem überaus finsteren Gesichtsausdruck. Der andere, der die schönen, weichen Züge eines jungen Elfen hatte, ging beschaulicher. Beim Gehen wandte er sein Gesicht dem Zwerg zu, und es hörte sich an, als würde er vergeblich versuchen, seinen Gefährten zu beruhigen. Der Gesichtsausdruck des Zwergs blieb versteinert, sein Blick ging stur geradeaus.
»Da kommt jemand den Weg vom Düsterwald. Vielleicht hat der ihn gesehen und kann uns sagen, ob wir überhaupt die richtige Richtung einschlagen«, hörte Gäsil den Zwerg sagen, bevor der zum Wagen des Kesselflickers rannte. Gäsil zog an Bellas Zügeln, bis sie stehenblieb.
»Entschuldigt mich«, rief der Zwerg, »aber habt Ihr heute morgen unterwegs einen Kender getroffen?«
Gäsil war überrascht. »Ja, hab ich, warum? Ein hilfsbereiter, kleiner Kerl – «
»Aha!« unterbrach ihn der Zwerg und schlug sich zutiefst befriedigt mit der Faust in die Hand. Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Wo habt Ihr die kleine Schmeißfliege getroffen?«
Der junge Elf trat vor den Zwerg. »Mein Freund meint: Seid Ihr über die neue Straße von Süden oder auf der Haven-Straße von Norden gekommen?«
Gäsil verwirrte die Feindseligkeit des Zwergs ein wenig. »Nun, ich habe ihn vor etwa zwei Stunden auf der Südstraße getroffen, aber ich glaube kaum, daß das der Kender ist, den ihr sucht. Der, den ich kennengelernt habe, war ein fröhlicher, kleiner Kerl in blauen Hosen. Sein Name war Tulpan oder Tolpatsch oder so.«
»Das ist er!« rief der Zwerg aus, packte den Elfen am Arm und begann zu rennen. »Komm schon, Tanis, wir verlieren nur Zeit!«
»Danke für Eure Hilfe, Sir«, konnte der Elf noch rufen, bevor er hinter dem Zwerg hergezogen wurde.
»Gern geschehen«, sagte Gäsil automatisch, obwohl die beiden bereits außer Hörweite waren. Er schüttelte seinen zotteligen Kopf. Was hatte der nette Kender wohl getan, womit er so viel Ärger verursachte? Mit einem neuen, scharfen Ruck an den Zügeln setzte er Bella wieder in Bewegung. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Jetzt mußte er schleunigst diesen Freund des Kenders, Flint Feuerschmied, ausfindig machen, das Armband zurückgeben und ihm – hoffentlich – eine Ecke von seinem Stand abbetteln oder abkaufen.»Doch, Flint Feuerschmied, den kenn ich, aber den habt Ihr knapp verpaßt«, erzählte der Wirt im Gasthaus »Zur Letzten Bleibe« Gäsil eine halbe Stunde später. »Er und Tanis sind vor über einer Stunde hier aufgebrochen.« Der Gastwirt mit dem Namen Otik war gerade mit zwei Tellern Bratkartoffeln und Würstchen auf dem Unterarm durch die Schwingtür zur Küche gekommen. »Ihr gestattet?« fragte er, während er mit dem Kopf von den Tellern zu den wartenden Gästen nickte.
»Oh, natürlich«, erwiderte Gäsil. Er setzte sich nachdenklich auf einen Hocker, um die Rückkehr des Wirts abzuwarten und solange über Otiks Bemerkung nachzugrübeln. Tanis… wo hatte er diesen Namen schon gehört?
»So, wie war Eure Frage?« meinte Otik, als er mit leeren Händen wiederkam, die er an seiner schmutzigweißen Schürze abwischte, ehe er sich hinter den Schanktisch stellte.
»Flint Feuerschmied. Ihr sagt, er wäre fortgegangen. Kann ich ihn auf dem Markt finden?«
Otik lachte. »Schon möglich, aber ich zweifle daran. Er und Tanis waren einem Kender auf der Spur, der Flint ein wertvolles Armband gestohlen hat.«
Gäsil staunte. Er erinnerte sich an den Zwerg und den Elfen auf der Brücke. Da hatte er den Namen Tanis gehört! Aber der Zwerg war nicht beim Namen genannt worden. Wie hätte er ihn also erkennen sollen? Der Kender hatte nicht erwähnt, daß der Zwerg einen Freund dabei haben würde, und dann auch noch einen Elfen.
»Stimmt etwas nicht?« fragte der Wirt, der die Überraschung auf dem Gesicht des Kesselflickers bemerkte.
Gäsil legte seine knorrige Hand auf seine Hosentasche und schloß die Finger um das Armband. »Ich habe – « Aber der Kesselflicker brach ab. Zuerst hatte er dem Wirt das Armband geben wollen, damit der es Flint zurückgab, wenn der Zwerg das nächste Mal ins Gasthaus kam, doch dann überlegte er es sich noch einmal. »Ihr sagt, Flint hat die Stadt verlassen und braucht seinen Stand auf dem Markt nicht mehr?«
»Nicht, bis er den Kender gefunden hat. Und das Fest geht nur noch ein paar Tage.«
»Verstehe.« Gäsil begriff bereits die Lage. Wenn der Zwerg sowieso nicht in der Stadt war und verkaufen konnte, würde sein Stand leerstehen. Gäsil konnte ihn ausleihen, und es würde niemandem schaden. Vielleicht würde es Ärger geben, falls der Zwerg den Kender einholte, vor Ende des Festes zurückkehrte und entdeckte, daß ein Fremder seinen Platz benutzte. Gäsil war es nicht so vorgekommen, als wenn Flint Feuerschmied zu den großzügigsten Zeitgenossen gehörte.
Andererseits konnte Gäsil behaupten, daß er am Stand gewartet hatte, weil er das Armband seinem rechtmäßigen Besitzer, dem Zwerg, zurückgeben wollte. Wenn er beim Warten ein paar Geschäfte machte, damit er seine Auslagen bezahlen konnte, würde ihm das niemand zum Vorwurf machen. Wenn das Fest zu Ende ging, bevor der Zwerg zurückkam, nun, dann konnte Gäsil das Armband dem Wirt übergeben und verschwinden. Das war nicht unehrlich, fand er, nur Geschäftsdenken.
»Ich habe einiges zu tun, Freund. Kann ich noch etwas für Euch tun?« unterbrach Otiks milde Stimme Gäsils Gedankengang.
»Danke«, sagte der Kesselflicker, der abrupt in die Gegenwart zurückgerissen wurde. Verlegen kratzte er sich die schlammverkrustete Haut. »Ehrlich gesagt, könnte ich ein Bad vertragen, bevor ich zum Markt gehe. Habt Ihr hier vielleicht einen Zuber?«Ein rosig geschrubbter Gäsil trat eine Stunde später aus dem Gasthaus und wanderte die Wendeltreppe zum Boden hinunter. Seine Haare waren frisch gewaschen und die Reisekleider in seiner Hand wieder sauber und bereit, zum Trocknen aufgehängt zu werden. Er hatte seine beste Tunika und die beste Hose an – nicht zu einfach, damit seine Kunden ihn nicht für einen Neuling in seinem Geschäft hielten, aber auch nicht zu auffällig, damit er nicht zu teuer wirkte. Das Armband des Zwergs hatte er aus der Hose genommen, bevor er sie gewaschen hatte, und zur sicheren Aufbewahrung in die Tasche seiner sauberen Hosen gesteckt.
Der Kesselflicker ging die paar Schritte zum Stall, wo er Bella und den Wagen den Händen eines jungen Stallburschen überlassen hatte, eines gut genährten, rothaarigen Jungen von dreizehn Jahren. Nachdem er eine Stahlmünze für Bellas Futter und Pflege bezahlt hatte, kletterte er auf den Kutschbock und beugte sich durch die kleine Öffnung in der Vorderseite ins Innere, um seine Kleider innen aufzuhängen. Ein kurzer Blick verriet ihm, daß nichts fehlte – der Junge hatte seine Sache gut gemacht.
Beim Umdrehen zog er die Karte des Kenders vom Marktplatz aus einem Kasten unter dem Sitz hervor. Von den Vorjahren her wußte er, daß der Markt am Westende der Stadt in Sichtweite des Krystallmirsees abgehalten wurde. Im Augenblick war Gäsil im Nordosten von Solace. Es gab keinen direkten Weg zum Festplatz, deshalb ließ er Bella auf der Südstraße zurückkehren, bog dann aber nach rechts ab und durchquerte die Nordseite der Stadt. Die Straße wurde enger und verwandelte sich in Morast.
Er hörte das Fest, noch bevor er etwas davon sah, denn es erstreckte sich im Schutz der Vallenholzbäume auf dem gegen Westen abfallenden Land. Auf Jahrmärkten ging es immer laut und zügellos zu, egal zu welcher Jahreszeit. Im Frühling versank man im Matsch, im Sommer erstickte man fast in den Staubwolken. Und in schneereichen Regionen wie Abanasinia fanden sie natürlich selten im Winter statt.
Gäsil blickte noch einmal auf die Karte des Kenders. Anstatt den direkten Weg über die überfüllte Hauptgasse zu nehmen, wo die Besucher gingen, fuhr er mit dem Zeigefinger einen Weg hinter den Ständen nach. Sein Finger war voller Narben, nachdem er jahrelang stumpfe Messer rasierklingenscharf gewetzt und Kesselflickerarbeiten verrichtet hatte. Die Wagen und Karren zahlloser Händler hatten Furchen in die frisch getaute Erdoberfläche getrieben, dennoch kam man hier besser voran.
Der Kesselflicker fand den Stand des Zwergs ohne Schwierigkeiten und band seinen Karren so nah wie möglich daneben an. Ein einfacher, grauer Vorhang hing an der Rückseite und an den Seiten des Stands herunter. Dahinter lag ein kleiner, grasbewachsener Platz mit drei schlichten Stühlen, einem sauberen Heuhaufen, der mit einer grobgewebten Decke zugedeckt war, einer leeren Bierflasche und ein paar leergeräumten Regalen. Der Zwerg benutzte sie wahrscheinlich, um weitere Ware aufzubewahren, hatte seine Sachen jedoch vermutlich sicherheitshalber über Nacht nach Hause mitgenommen. Hinter einem zweiten Vorhang war der eigentliche Stand: drei einfache Holzplanken auf Böcken unter freiem Himmel. Sie waren niedriger eingestellt, als Gäsil lieb war, aber es wäre ihm nicht wohl dabei gewesen, den Stand ohne Erlaubnis zu verändern. Ein enger Eingang an der Vorderseite gestattete es den Kunden, zwischen den Waren hereinzukommen. Auf dem Boden war wegen des Matsches Heu verteilt.
Einfach, aber zweckmäßig, befand der Kesselflicker. Nachdem er Bella abgezäumt hatte, packte er sein Werkzeug zusammen und lief ein paarmal zwischen Karren und Stand hin und her, bis er alles drüben hatte. Zum Schluß holte er sein Schild: »Schleifen. Löten. Reparaturen aller Art.« Dann stellte er sich auf einen Stuhl, um das Schild an den vorderen Vorhang zu hängen.
Als er sich bückte, um den Stuhl zu verrücken, merkte er, wie etwas aus seiner Tasche fiel. Im Heu neben seinen Füßen lag das Kupferarmband. Gäsil hob es wieder auf. Er überlegte, ob er es in den Kasten unter dem Sitz seines Wagens packen sollte, doch der Wagen hinter dem Stand war unbeaufsichtigt. Da war sein eigenes Handgelenk seiner Meinung nach doch noch sicherer. Er schob das kühle, leuchtende Metall über seine Hand und an sein knochiges Gelenk.
Die Marktbesucher hatten ihn bald bemerkt. Einige bedauerten, daß sie ohne ihre kaputten, reparaturbedürftigen Sachen gekommen waren, aber viele versprachen, daß sie mit ihren stumpfen Messern, undichten Töpfen und anderen Kleinigkeiten zurückkommen würden. Die Bewohner von Solace holten sie von zu Hause, die anderen Händler von ihren Wagen. Bald hatte Gäsil reichlich Arbeit. Die dicke Nadel und der grobe Faden flogen praktisch in seinen Händen, als er altes, abgetragenes Leder mit neuem vernähte. Große und kleine Klingen glänzten im Sonnenschein, nachdem Gäsil sie schnell und gekonnt über seinen Schleifstein gezogen hatte. Er flickte drei lecke Holzeimer, band neues Stroh an einen etwas dünnen Besen und verkaufte in nur drei Stunden fast die Hälfte seines Vorrats von vierzig Flaschen Kiefernölseife.
Als er gerade seinen Schleifstein für das nächste Messerschärfen einölte, rutschte ihm das schmierige Glas aus der Hand, wodurch ihm stinkende, schwarze Schmiere über Gesicht und Hände spritzte. Er schnappte sich ein sauberes Tuch und wischte die Bescherung weg, so gut es ohne Wasser und Seife ging. Da er mehrere Tropfen auf dem Armband entdeckte, wischte er es an seiner Hose ab und schob es dann bis unter den zusammengerafften Ärmel seiner Tunika hoch.
Es war schon später Nachmittag, doch der Markt würde erst in ein paar Stunden für die Nacht schließen. Gäsil saß auf einem Stuhl und hatte sein Kinn in die Hände gestützt, während er die Leute am Stand vorbeiziehen sah. Aus dem Augenwinkel nahm er rechts die verhüllte Gestalt einer jungen Frau wahr, die ihn von der anderen Seite des Hauptdurchgangs aus beobachtete. Als sie merkte, daß er sie gesehen hatte, durchquerte die Frau den Besucherstrom und kam zum Stand.
Große, meerfarbene Augen sahen Gäsil unter einem großzügigen Seidenschal heraus an, der so geschickt um ihren Kopf gewickelt war, daß man nur ihr blasses, fast milchweißes, faltenloses Gesicht sehen konnte. Eine winzige, weißsilberne Haarsträhne lugte an der rechten Schläfe hervor. Ihr feingewebter Mantel, der mit einer Schnur am Hals zusammengehalten wurde, floß wie eine weiche, tiefblaue Wolke von den Schultern bis zu den Knöcheln.
»Verzeiht mir, daß ich Euch angestarrt habe«, setzte sie an, und ihre leise Stimme klang so beruhigend wie Wellen, die an den Stand schlagen, »aber ist das nicht der Stand von Flint Feuerschmied?«
Gäsil hörte auf, sie seinerseits zu mustern. »Ja, das war er – ich meine, ist er, aber Flint mußte, ähm, unerwartet die Stadt verlassen.«
Die Frau wirkte sehr besorgt. »Die Stadt verlassen? Für wie lange?«
Gäsil war die Sache peinlich. »Tja, das weiß ich nicht. Er könnte heute noch zurückkommen, vielleicht aber auch erst in einer Weile…« Der Kesselflicker hatte wirklich keine Ahnung, wie bald der Zwerg den Kender einholen würde – wenn überhaupt.
»In einer Weile?« Die Augen der Frau verengten sich wütend. »Aber er sollte sich hier mit mir treffen.« Sie sah aus, als würde sie gleich in Panik ausbrechen.
»Seit Ihr eine Freundin von ihm? Vielleicht kann ich Euch helfen?« bot Gäsil freundlich an, weil er angesichts ihrer offensichtlichen Bedrängnis Mitleid hatte.
Die ungewöhnliche Frau drehte sich zur Seite und wischte sich mit der Hand, über der sie einen Handschuh trug, den Staub von ihrem blassen Gesicht. »Nein, das bin ich nicht. Und ich glaube nicht, daß Ihr mir helfen könnt… Das kann keiner außer Meister Feuerschmied. Ich komme später wieder.« Bevor Gäsil antworten konnte, drehte sich die Frau um und verschwand in der Menschenmenge vor dem Stand.
Gäsil stand da und schüttelte traurig den Kopf. Etwas an der exotisch aussehenden Frau hatte ihm ans Herz gerührt.
Etwas rührte sich auch an seinem Handgelenk. Ohne ersichtlichen Grund fühlte Gäsil das Armband an seinem Handgelenk warm werden. Ihm wurde – ebenfalls ohne ersichtlichen Grund – ganz schwindelig. Dann wurde ihm flau im Magen und anschließend richtig übel. Aber dieses Gefühl ging gleich vorbei.
Zu seinem großen Erstaunen stellte Gäsil fest, daß er seinen Karren anschaute, obwohl der doch hinter ihm auf der anderen Seite des Vorhangs stand, und obwohl seine Augen geschlossen waren! Er hatte keine Ahnung, was los war, aber er stellte fest, daß ein Teil seiner Ware aus dem Wagen fehlte – das Ochsenjoch, das er unter dem Kasten festgebunden hatte, war verschwunden.
Als Gäsil die Augen wieder aufschlug, war der Wagen verschwunden. Er saß wieder in einem geliehenen Stand auf dem Jahrmarkt von Solace.
Natürlich fragte sich Gäsil sofort, was dieser seltsame Vorgang zu bedeuten hatte. Aus purer Neugier steckte er den Kopf durch den Vorhang, um nach dem Wagen zu sehen. Natürlich, da war das Joch, genau da, wo es hingehörte. Was also hatte die Vision zu bedeuten? Wollte jemand es vom Wagen stehlen?
Dieses Ochsenjoch war ein wunder Punkt von Gäsil. Hepsiba hatte es einem Nachbarn abgekauft, der im vorletzten Herbst in schweren Geldnöten gesteckt hatte. Sie hatte fast nichts dafür bezahlt und Gäsil erzählt, daß er es viel teurer weiterverkaufen konnte. Aber Zwischenhandel gehörte nicht zu Gäsils Geschäft, und ihm mißfiel beides, wie sie sich in seine Arbeit einmischte und wie sie die Notlage eines Nachbarn ausgenutzt hatte. Dennoch schleppte er das Joch brav von Fest zu Fest mit und stellte es aus, nur um es am Ende des Fests wieder unter dem Karren festzuzurren.
Jetzt hatte er den Wagen deutlich ohne Ochsenjoch gesehen, und das war das einzig Bemerkenswerte daran. Er fand, das könnte nur zwei Bedeutungen haben: Entweder würde er es hier verkaufen – was er bezweifelte –, oder jemand wollte es hier stehlen – was er noch mehr bezweifelte. Auf jeden Fall beschloß er, daß das Joch im Stand besser aufgehoben war, sowohl zum Ausstellen als auch zum Schutz.
Er brauchte nicht lange, um das häßliche Ding in den Stand zu holen. Als er es gerade gegen das Faß in der Ecke lehnte, kam ein Kunde. Den schwieligen Händen und den groben Kleidern nach war der Mann anscheinend ein Bauer. Er faßte das Joch sorgfältig und fachmännisch ins Auge, spuckte dann aus und fragte: »Wieviel?«
Die Frage traf Gäsil völlig unvorbereitet. Da er nie wirklich erwartet hatte, daß jemand das Joch kaufen würde, hatte er sich nie überlegt, wieviel es wohl wert war. Er entschied sich für den uralten Trick: »Was bietet Ihr denn?«
Der Bauer untersuchte das Joch noch einmal, nahm es hoch, drehte es um und spuckte wieder aus. »Ich gebe Euch eine Stahlmünze und drei Kupferstücke.«
Der Kesselflicker hatte sich vor langer Zeit schon geschworen, das erstbeste Angebot für das Joch anzunehmen, nur um es los zu sein. Er wollte gerade einschlagen, als ihm ein anderer Gedanke kam. Er merkte, wie warm das Armband an seinem Handgelenk geworden war.
Darum zog er das Auge aus der Tasche und warf es auf den Verkaufstisch: Erde. Glück!
Aus einem beschwingten Gefühl heraus beschloß Gäsil zu feilschen. »Zwei Stahlmünzen, ein Kupferstück«, gab er zurück. Der Bauer überlegte, wog nachdenklich den Geldbeutel in seiner Hand und sagte dann: »Ich muß an die Aussaat gehen. Ich gehe bis zu einer Stahlmünze und acht Kupfermünzen.«
»Verkauft!« verkündete Gäsil. Seit Jahren hatte er nicht mehr so gegrinst wie jetzt, als er fröhlich das Joch über den Tisch reichte und das Geld des Mannes entgegennahm. Kaum war der Bauer gegangen, da verschwand Gäsil hinter dem Vorhang und untersuchte das Armband genauer.
Ob es Glück brachte, fragte er sich. Es konnte Zufall oder einfaches Glück sein. Niemand konnte beweisen, daß der unerwartete Handel von dem Armband beeinflußt worden war. Während Gäsil diese Gedanken durch den Kopf gingen, fiel ihm plötzlich auf, daß Kunden von seinem Stand fortgingen.
Er zog den Vorhang zur Seite und kam nach vorne. Drei Frauen, jede mit einem Korb voll Messer, gebrochener Nadeln und kaputter Scharniere, wollten gerade weitergehen. Als sie Gäsil sahen, hellten sich ihre Gesichter auf. Minuten später hatte Gäsil genug Arbeit für den ganzen Nachmittag.
Noch zweimal an diesem Tag machte Gäsil ein Geschäft, indem er auf seine Eingebung hörte. Als am Ende des Tages der Rest der Menge den Platz verließ, staunte Gäsil über das Gewicht der Münzen in dem Beutel an seinem Gürtel. Nie hatte er so gute Geschäfte an einem Tag gemacht. Und obwohl er es nicht erklären konnte, war er sicher, daß er alles dem glückbringenden Armband des Zwergs verdankte. Was für ein mächtiger Talisman das sein mußte; es konnte jeden Mann reich machen! Es war schade, daß er es dem Zwerg zurückgeben mußte, doch Gäsil war ein ehrlicher Mensch, und zurückgeben wollte er es schon. Er hoffte nur, daß der Zwerg nicht vor dem Ende des Marktes zurückkam.
Geschwind sammelte der Kesselflicker sein Werkzeug ein und legte es in seinem gut aufgeräumten Wagen an den richtigen Platz. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, daß er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Er dachte an das Trockenfleisch und die alten Kekse im Wagen, die Hepsiba ihm am Vortag in Dern als Proviant eingepackt hatte. Aber nach einem solchen Tag wie heute wollte er Spaß und gutes Essen. Er wußte von seinen Kunden, daß es ein Bierzelt gab, das noch lange offen hatte, nachdem die Händler ihre Stände zumachten. Also machte er die Karrentür hinter sich zu und brach auf, um dem fröhlichen Lärm nachzugehen.
Das Zelt wurde vom Inhaber des Wirtshauses »Zum Trog« geleitet, einer verrufenen Schenke, an der Gäsil gestern auf seinem Weg auf der Südstraße von Solace vorbeigekommen war. Es war die einzige Konkurrenz zur »Letzten Bleibe«. Wenn die eigentliche Kneipe ungefähr dem Zelt glich, war es allerdings keine große Konkurrenz.
Zwei schmutzige, flackernde Öllampen hingen an Stangen vor der Öffnung eines sandfarbenen, viereckigen Segeltuchzelts, in dessen Mitte man fürs Dach eine Stange aufgestellt hatte. Eine Ecke war eingesackt, aber nicht wieder aufgerichtet worden. Dünne, ungehobelte Planken lagen auf den matschigen Durchgängen zwischen den Tischen, aber sie waren schon längst im Matsch versunken. Die Stiefel der Gäste standen so tief im schmutzigen Wasser, daß nicht einmal Stroh oder Sägemehl geholfen hätte.
Die Gäste selbst erinnerten Gäsil an jene Sorte Kanalratten, die gemeinhin die üblen, engen Spelunken besuchten, wie sie an den Kais der Hafenstädte lagen. Auch wenn er bezweifelte, daß er hier gutes Essen bekommen oder sich vergnügen können würde, war er zu müde, um den langen Weg durch die Stadt zum Gasthaus »Zur Letzten Bleibe« auch nur in Erwägung zu ziehen. Er würde entweder hier essen oder in seinem Karren. Hier würde er sich wenigstens nicht langweilen. Er wollte sein überraschendes Glück feiern und deshalb auf ein paar Krüge Bier dableiben.
Also machte er sich über die Bretter zu einem leeren Tisch am Ende des Zelts in der eingesunkenen Ecke auf. Indem er mit dem Arm winkte, konnte er irgendwann jemanden hinter der Bar auf sich aufmerksam machen. Ein dicker, kleiner Bursche in einer zu engen, schlammbespritzten Tunika watete gemütlich durch die Tischreihen zu Gäsil.
Mit seinen Schweinsäuglein blickte er griesgrämig auf ihn herunter. »Ja?«
»Ich hätte gern einen Krug von Eurem besten Bier«, sagte Gäsil freundlich.
»Ist das alles? Wir haben nur eine Sorte, und die hättste an der Bar gekriegt. Ich komme nur für Essensbestellungen. Du mußt Essen bestellen, wenn du zur Vorstellung bleiben willst.«
Gäsil zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er erinnerte sich vage, draußen am Zelt ein Schild gesehen zu haben, mit der Aufschrift: »Amateurabend im Trog. Erster Preis: ein Freiessen. Immer hereinspaziert.« Gäsil fand, daß der Abend doch noch unterhaltsam werden könnte. »Na schön, was gibt es denn?«
Ohne Gäsil in die Augen zu sehen, wies der unfreundliche junge Mann mit dem Kopf ungeduldig zum Zelteingang. »Steht alles da.«
Als Gäsil in dem schwachen Licht über die beträchtliche Entfernung dort hinsah, erblickte er ein kleines, schlecht lesbares Schild an der Bar, auf dem stand: »Zwei Eier – ein Kupferstück; Brot – ein Kupferstück; Bier – drei Kupferstücke. Tagesessen: Eier, Brot und Bier – fünf Kupferstücke.«
»Äh, ich nehme das Tagesessen.« Gäsil schluckte.
Der junge Mann ging fort, holte einen vollen Krug von der Bar und watschelte zurück, um ihn vor Gäsil auf den Tisch zu setzen, wobei der Schaum hochspritzte. »Essen kommt dann irgendwann«, sagte er, schlurfte davon und bediente den nächsten Gast.
Selbst der unhöfliche Kellner konnte Gäsil die gute Laune nicht verderben. Nachdem er einen Schluck von dem Bier probiert hatte, zuckte er jedoch zusammen. Das war zweifellos das schlechteste Bier, das er je getrunken hatte. Es schmeckte wie mit Essig vermischtes Spülwasser. Immerhin brachte es seinen Kopf schon nach den ersten Zügen zum Schwimmen, was durchaus nicht zu unterschätzen war. Ja, je mehr das Bier ihm die Sinne benebelte, desto besser schmeckte es. Selbst das Zelt sah schließlich zwar nicht gerade erfreulich, aber wenigstens nicht mehr wie ein Sumpfloch aus.
Als der säuerliche junge Mann Gäsils Eier brachte, deren zerlaufene Eigelbe in wäßrigem, ungekochtem Eiweiß schwammen, konnte der Kesselflicker bereits den nächsten Krug vertragen. Er bestellte gleich zwei, damit er möglichst wenig mit dem Kellner zu tun bekam.
»Wann geht die Vorstellung los?« fragte Gäsil.
»Mir doch egal.« Der junge Mann ging zur Bar zurück.
Gäsil sah auf seinen Teller. Ein Kanten schimmliges Brot schwamm in den Eiern. Er riß den pelzigen Teil ab und tunkte die guten Teile in das Eiweiß. Wenn er einen Bissen im Mund hatte, kaute er nur kurz und schluckte dann sofort, um möglichst wenig zu schmecken. Zum Glück hatte er eine Pferdenatur und war lausiges Essen gewöhnt. Kochen war nicht Hepsibas starke Seite, falls sie überhaupt eine hatte. Gäsil schnaubte, wobei ihm Bierschaum in die Nase drang. Kurz nach seiner Hochzeit war er zum letzten Mal in einer Kneipe gewesen. Hepsiba wäre auf keinen Fall einverstanden, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Dieser Gedanke und das Bier bewirkten, daß es ihm immer besser ging.
Während er noch über seine Lage nachdachte, kletterte ein kleiner, fetter Mann in einem fast platzenden, grellgrünen Samtmantel mit goldenen Schnallen und Knöpfen auf ein paar Heuballen neben der Bar. Seine Knollennase wirkte in dem feisten Gesicht genau am richtigen Platz und glänzte genauso wie sein kahler Kopf im Licht. Er zupfte ständig an den Vorderzipfeln seines Mantels, womit er seine ansonsten eingebildete Haltung Lügen strafte.
Ohne Überleitung begann der Mann, eine Geschichte zu erzählen. Die Leute beachteten ihn kaum – nicht weil er in dem lauten Zelt schwer zu verstehen war, sondern weil die Geschichte anscheinend absurd war.
»Ich habe tatsächlich mit dem Schwein geredet«, schloß er mit erwartungsvollem Blick mit der Pointe jenes uralten Witzes. Der Geräuschpegel schwoll an, und Buhs und Pfiffe vertrieben den Mann von seiner kleinen Bühne.
Der unglückliche Barde hielt zunächst den Kopf noch hoch erhoben, als er zu seinem Tisch zurückmarschierte, der nahe bei Gäsils stand, dann zog er den Schädel allerdings vor den verschimmelten Brotkrusten ein, die an ihm vorbeiflogen. »Ein Haufen ungehobelter Schnösel«, murmelte Sir Delbridge. Als er seine Sachen in seinen Sack räumte, blitzten an fast allen seiner dicken Finger Ringe auf. Das Hohngeschrei verwandelte sich in Pfiffe, als eine attraktive junge Frau in einem engen Kleid auftrat und gnadenlos schief zu singen begann.
»Wie wär’s mit einem Krug Bier, Sir?« rief Gäsil ihm durch den Lärm zu. »Ihr seht so aus, als wenn Ihr einen vertragen könntet.«
Delbridge Fidington hatte den Grundsatz, keine Einladung auszuschlagen. »Danke, guter Herr«, sagte er mit einem Nicken. Er ließ seine umfangreiche Gestalt auf den Stuhl neben dem Kesselflicker plumpsen. »Ich fühle mich etwas ausgedörrt. Auftreten strengt einen so an.«
»War das Euer erster Auftritt auf einer Bühne?« fragte Gäsil, der mit einem Bissen des alten, schimmligen Brotes kämpfte. Er hatte den Auftritt des Barden nicht so schlecht gefunden wie die anderen Leute, aber schließlich kannte er sich mit Barden auch nicht aus.
Delbridge sah beleidigt aus. »Gütiger Himmel, nein. Ihr habt doch bestimmt schon von Sir Delbridge Fidington gehört? Meinen Titel hat mir Königin Wilhelmina von Tarryn persönlich verliehen – für treue Dienste als Hofbarde.«
»Oh«, schluckte Gäsil. »Ich komme selten über Abanasinia hinaus und höre wenig Barden. Ich glaube kaum, daß ich je von Tarryn, geschweige denn Königin Wilhelmina, gehört habe.«
»Das ist ein kleines, aufstrebendes Königreich in, äh, den östlichen Staubebenen.« Delbridge tat die Sache mit einem Wink ab, mit dem er gleichzeitig den Kellner rief.
»Mein neuer Freund hier besteht darauf, mir etwas zu trinken zu spendieren«, sagte Delbridge glücklich zu demselben dicken Burschen, der Gäsil bedient hatte. »Einen Krug von Eurem besten Glühwein, guter Mann.« Um sich Arbeit zu sparen, war der Kellner dazu übergegangen, gleich volle Krüge mitzunehmen. Einen stellte er vor dem Barden auf den Tisch.
Delbridge sah verächtlich über den Rand des Krugs. »Aber das sieht doch aus wie – «
»– Bier. Ist es auch.« Damit verschwand der Mann.
Gäsil lächelte verlegen. »Ich fürchte, das ist alles, was es hier gibt. Nach den ersten paar Schlucken ist es gar nicht so schlecht.«
Delbridge nahm mit skeptischem Gesicht einen Schluck, an dem er fast erstickte. »Würde sagen, Ihr habt recht«, sagte er kurz darauf, nachdem er einen weiteren Zug genommen hatte. Einträchtig schweigend, saßen sie ein paar Minuten beieinander und tranken.
»Warum seid Ihr denn jetzt nicht mehr Hofbarde bei Wilhelmina?«
»Wo?« Bei Delbridge machte sich die Wirkung des Alkohols bereits bemerkbar. »Ach, die. Ich war es leid, immer die gleichen, alten Geschichten zu erzählen. Barden gehören auf die Straße, finde ich, und müssen immer wieder mit dem Leben in Berührung kommen.« Er sah sich verächtlich in dem schlammigen Zelt unter den einfachen Gästen um. »Das hier ist allerdings etwas… gewöhnlicher, als ich erwartet habe.«
Delbridge wischte sich einen Krümel von seinem Samtrevers und rückte dann seine vielen Ringe zurecht. »Ich wette, ich komme noch an einen Ort, wo sich nicht soviel Pöbel herumtreibt.« Laut prustend, putzte er sich mit einem großen, fadenscheinigen Seidentuch die Knollennase. »Ich sage Euch, diese Stadt hier habe ich satt.«
»Ach, ich hatte hier heute richtig Glück«, sagte Gäsil und nahm einen weiteren Schluck Bier. »Heute auf dem Markt habe ich soviel Arbeit gehabt wie letztes Jahr höchstens an fünf Tagen.« Der Kesselflicker hatte allmählich Schwierigkeiten, sich auf seinem Stuhl zu halten. Aber vielleicht schwankte auch der Tisch, er war sich gar nicht sicher.
»Scheiße«, murmelte Delbridge aus Versehen.
»Das kommt von dem Glücksarmband von dem Zwerg, wißt Ihr.« Er sah zu den Beinen seines Stuhls hinunter und klammerte sich an der Tischkante fest, um nicht umzukippen. »Ist Euch schon aufgefallen, daß sich die Möbel hier bewegen?«
»Glücksarmband?«
»Was? Oh, das Armband.« Er hob fast anklagend den Finger vor dem Barden. »Ich war Zeuge, als es passiert ist!« Er schob den Ärmel zurück und zeigte das Armband vor. »Viermal wurde das Ding hier heute heiß, genau bevor ich diese merkwürdigen Ahnungen hatte, richtige Visionen, und dann tauchten Kunden auf!«
Delbridge sah sich das Schmuckstück genau an. »Ihr meint, Ihr konntet die Zukunft vorhersehen?« fragte er mißtrauisch.
»So könnte man es wohl nennen.« Gäsil blickte ihn durch glasige Augen an. »Das wäre doch eine tolle Geschichte, was? Ob das ein Omen ist?« Rasch warf er hinter vorgehaltener Hand das Auge. Er glaubte, Wasser zu sehen, das Zeichen für Unglück, doch auch als er einmal blinzelte, um es besser erkennen zu können, konnte er das Symbol in dem schwach erleuchteten Zelt kaum richtig ausmachen.
Delbridge, der ihm zugesehen hatte, erhob sich lachend auf seine stämmigen Beine. »Ihr habt wohl zuviel getrunken, und Euer Verstand hat Euch Streiche gespielt. Vielleicht sollte ich Euch nach Hause bringen.«
Der Kesselflicker schüttelte den Kopf, bis der schlaff herunterbaumelte, und winkte ab. »Nicht nötig. Ich bleibe hier auf dem Markt in meinem Karren und schaff das ganz gut alleine.«
»Dann wünsche ich eine gute Nacht.« Der Barde tätschelte seinen Wanst und schlug Gäsil gutmütig auf die Schulter. »Danke für die Einladung und die Unterhaltung. Ich hoffe, Euer Glück hält an, und ich habe morgen auch ein bißchen mehr.« Damit klappte er seinen Kragen gegen den kalten Frühlingswind hoch und verließ das laute Zelt.
Gäsil kippte den Rest von seinem Bier herunter und beschloß, ebenfalls nach Hause zu gehen. Er fummelte in seiner Geldbörse herum, zahlte und ließ aus reiner Gewohnheit eine Kupfermünze für den unhöflichen Kellner liegen. Als er aus dem Zelt trat, war er sich nicht ganz sicher, in welcher Richtung sein Wagen stand. Nachdem er aber ein bekanntes Schild an einem Stand neben seinem entdeckt hatte, taumelte er heimwärts.
Im Wagen zog er sich gerade die Stiefel aus, als er ein inzwischen schon bekanntes, warmes Gefühl auf der Haut unter dem Armband wahrnahm. Zu beschwipst, um sich zu konzentrieren, und zu müde, um sich darum zu kümmern, machte er einfach die Augen fest zu. Doch die flogen wieder auf, als er fühlte, wie das Kupferarmband von seinem schlaffen Handgelenk gezogen wurde. Er fuhr entsetzt hoch, woraufhin er merkte, daß etwas Hartes heftig auf seinem Schädel landete, und er wußte nicht genau, ob das jetzt Vision oder Wirklichkeit war. Dann war alles dunkel.
»Erstaunlich«, sagte Sir Delbridge Fidington neben Gäsils zusammengesunkenem Körper. »Ich bin vielleicht kein guter Erzähler, aber im Stehlen scheine ich recht gut zu sein.«
Ehrlich, Flint, ist nicht meine Schuld«, sagte Tolpan, während er den Weg entlanghüpfte, um mit dem raschen Tempo mitzuhalten, das der wütende Hügelzwerg einschlug. Selbst Tanis mußte große Schritte machen, um mit Flint mitzuhalten, als sie gegen Ende der Nacht vorwärts eilten.
»Es ist alles deine Schuld, Kender!« knurrte der Zwerg. »Wenn du das Armband bloß gar nicht angefaßt hättest, müßten wir uns jetzt nicht mitten in der Nacht so abhetzen!«
»Aber ich hab dir doch gesagt, ich weiß nicht, wie das Armband beim zweiten Mal in meine Tasche geraten ist. Und ich habe versucht, es zurückzuschicken… Warum hätte ich es sonst dem Kesselflicker geben sollen? Du mußt mir das wirklich glauben, Flint.«
»Ich muß überhaupt nichts, ich will nur mein Armband zurückhaben«, sagte der Zwerg, der dem Kender seine dicke Nase zuwandte. »Und nenn mich nicht mehr Flint, das hört sich an, als ob wir Freunde wären.«
»Wie soll ich dich denn dann nennen?« fragte der Kender unschuldig.
»Am besten sagst du überhaupt nichts mehr! Laß mich einfach in Ruhe!«
»Du bist schrecklich reizbar. Wahrscheinlich bist du nur müde vom vielen Gehen, kein Wunder bei deinen kurzen, dicken Beinen«, sagte Tolpan. »Wo wir gerade durch den Wald rennen, mein Onkel Fallenspringer hat immer Wildgänse gejagt – wegen ihrer Federn nämlich. Doch, das stimmt. Gänsefedern waren bei den Reichen in Kenderheim heiß begehrt. Männer wie Frauen wollten sie in den Haaren haben oder in ihre Kissen stopfen. Onkel Fallenspringer hat da echt gut Geld verdient. Hat er dann alles für die Reise zum Mond ausgegeben. Einmal bin ich fast selbst auf dem Mond gelandet, mit einem magischen Teleportationsring – «
»Hör auf mit deinem verdammten Gequatsche!« schrie Flint und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
Tanis kämpfte mit dem Lachen. »Du warst doch derjenige, der darauf bestanden hat, daß er uns begleitet, nachdem wir ihn im Windtal gefunden hatten.«
»Als Geisel, nicht als Folterknecht! Ich wollte ihn mitnehmen, falls es gelogen ist, daß er dem Kesselflicker das verdammte Armband gegeben hat.« Flint kniff verärgert die Augen zusammen. »Sag mal, werden Geiseln nicht normalerweise gefesselt und geknebelt?«
»Ja, aber dann mußt du ihn tragen«, lachte Tanis und zeigte dann geradeaus. »Außerdem ist da vorne die Brücke über den Solacer Bach. Wir sind gleich in der Stadt, und dann werden wir auch bald diesen Kesselflicker finden, und du bekommst dein Armband zurück.«
»Ich hoffe bloß, daß Selana noch nicht gekommen ist, um es abzuholen«, murmelte Flint.
»Wenn ja, dann sag ich ihr, daß wirklich keiner schuld war, aber daß es irgendwie – «
Flint fuhr zu dem Kender herum und packte ihn am Kragen seiner Pelzweste. »Erzähl ihr nur ein Wort davon«, drohte er, »und ich schneide dir die Zunge raus, brate sie und lasse dich davon essen!« Dann ließ er Tolpans Weste los und setzte seinen Marsch fort.
»Na gut«, schniefte Tolpan, der Flint einen beleidigten Blick zuwarf. Er zupfte seine Kleider zurecht, während er dem Zwerg hinterhertrottete. »Das ist wirklich nicht nett von dir. Ich wollte doch bloß helfen.«
Tanis klopfte dem Kender auf die Schulter. »Ich glaube, Flint findet, daß du ihm für dieses Leben genug geholfen hast, Tolpan.«
Flint schnaubte nur.
Gerade als der dünne Schimmer des Tagesanbruchs im Osten sichtbar wurde, erreichten sie den Südrand von Solace. Tanis war dafür, daß sie erst nach Hause gehen sollten, um sich nach einem Tag auf der Straße erst einmal frischzumachen. Ein leichter Stoppelbart, wie er keinem Elfen wuchs, bedeckte seine Wangen – ein Erbstück von seinem menschlichen Vater. Flint wollte nichts davon hören.
»Du kannst dich noch den ganzen Tag waschen und umziehen, nachdem ich mein Armband wiederhabe.« Wenn der Kesselflicker Flints Stand benutzte, wie der Kender angedeutet hatte, dann hatte er die Nacht wahrscheinlich dort in seinem Karren verbracht wie die meisten Händler von auswärts, überlegte Flint. Er führte den Kender und den Halbelfen zum Festplatz am Westrand der Stadt. Ein paar Leute waren schon auf und liefen herum, um Wasser zu holen und Feuer fürs Frühstück anzuzünden. Flint ignorierte sie und marschierte mit den anderen im Schlepptau geradewegs zu seinem Stand.
»Er war wirklich hier«, sagte der Zwerg, dem das Schild über den Brettern und etwas Werkzeug innerhalb des von Vorhängen verdeckten Raums auffielen. Flint bahnte sich seinen Weg durch die Vorhänge, kam dahinter heraus und sah gleich den Wagen des Kesselflickers.
»Das ist er! Das ist Bella!« krähte Tolpan, als er sich durch die Vorhänge und an Flint vorbeigeschoben hatte. Das Pferd war an einem der Haltepfosten des Stands festgebunden.
Entschlossen stapfte Flint zu der Tür hinten am Wagen. Tanis erwischte ihn am Gürtel und riß ihn zurück.
»Du kannst nicht einfach früh am Morgen bei einem schlafenden Mann hereinplatzen und wie ein Trampel dein Armband zurückfordern«, mahnte der Halbelf.
»Wieso denn nicht?« wollte Flint mit zusammengekniffenen Äuglein wissen. »Es ist mein Armband, und ich will es wiederhaben, und er schläft in meinem Stand, und den will ich auch wiederhaben.«
»Na schön«, sagte Tanis, der allen Punkten zustimmen mußte, »aber versuch wenigstens, höflich zu ihm zu sein. Es ist nicht seine Schuld, daß er das Armband hat.« Zwei Augenpaare, das eine wütend, das andere leicht amüsiert, wandten sich dem Kender zu.
Da er merkte, daß das Gespräch eine unangenehme Wendung nahm, tanzte Tolpan zur Wagentür. »Mich kennt er. Ich geh als erster. Bestimmt ist abgeschlossen, darum werde ich einfach – « Die meisten Leute hätten jetzt »klopfen« gesagt, aber Tolpan wollte gerade sagen, »das Schloß knacken«, als er merkte, daß die Tür bereits offenstand.
»Das ist aber komisch«, sagte Tolpan leise. »Man sollte doch vermuten, daß er vorsichtiger ist. Ich will ja nicht unfair sein, aber Jahrmarktsbeschicker zählen doch allgemein nicht zu den vertrauenswürdigsten Leuten.«
»Da haben sie immerhin etwas mit Kendern gemeinsam«, murmelte Flint. Tolpan blickte ihn grimmig an. »Aber du hast recht, irgend etwas scheint hier nicht zu stimmen.« Stirnrunzelnd kletterte Flint die zwei Latten hinauf, die als Stufen dienten, schob den Kender mit dem Ellbogen beiseite und stieß vorsichtig die Tür auf. Tolpan schluckte, als er unter Flints Arm durchspähte.
Der schlaksige Kesselflicker lag zwischen seinem Werkzeug auf dem Boden, und sein Kopf und der Boden um ihn herum waren mit Blut verschmiert. Der Zwerg stieg durch die Tür und ließ sich auf ein Knie nieder, um dem Menschen den Puls zu fühlen.
»Ist er tot?« fragten Tolpan und Tanis gleichzeitig.
Ein ziemlich starkes Pochen war unter den zwei Fingern zu spüren, die Flint an das Handgelenk des Mannes drückte. »Nein, zum Glück nicht. Sieht wahrscheinlich schlimmer aus, als es ist. Kender, geh und hol Wasser«, befahl er, ohne aufzusehen. Tolpan schnappte sich einen Kupfertopf von einem Haken an der Wand und rannte davon, und ausnahmsweise stellte er keine weiteren Fragen.
Tanis fand ein einigermaßen sauberes Tuch, das er in Streifen riß, während Flint den Kopf des Kesselflickers in seinen Schoß legte und vorsichtig die Wunde untersuchte. »Die Beule ist so groß wie ein Harpyienei.« Der Mann stöhnte und bewegte sich, als Flint die Wunde behutsam abtastete.
Die blutunterlaufenen Augen des Mannes öffneten sich flatternd, und er blickte verwirrt in Flints rotwangiges Gesicht. »Kenne ich dich nicht?… Doch… Was machst denn du in meinem Wagen?« Mit einem Jammerlaut hob er die Hand zu der Beule an seinem Kopf und erschauerte, als er das Blut sah. »Gütiger Himmel, ich komme mir vor wie eine Wurst. Was ist denn passiert?«
»Wir hatten gehofft, daß du uns das sagen könntest«, meinte Tanis. Er reichte Flint einen Tuchstreifen und wischte mit dem anderen das Blut vom Boden auf.
»Ich bin mir nicht sicher… wartet… Das letzte, woran ich mich erinnerte, ist das Bierzelt. Ich hatte etwas zu feiern… hab zuviel von diesem üblen Gebräu getrunken…« Er massierte sich die Schläfen. »Genau! Ich hatte den ganzen Tag so gute Geschäfte gemacht wegen… dem Armband.«
»Wegen des Armbands sind wir hier«, warf Flint ein. »Wo ist es?«
»Ach ja, der Kender…« Immer noch benommen, schüttelte Gäsil seinen schwimmenden Kopf, um dann bei dem pochenden Schmerz aufzustöhnen. »Ich hätte es dir auf der Brücke gegeben, wenn ich gewußt hätte, wer du bist… Es ist hier an meinem Handgelenk, sicher aufbewahrt.« Gäsil griff an seinen rechten Arm, woraufhin er seine Augen erst vor Verwirrung und dann vor Besorgnis weit aufriß. »Ja, was denn, es war genau hier!«
Flint kniff die Augen zusammen. »Wo ist es?« Er tastete selbst beide Arme von Gäsil ab. »Du lügst mich an!«
»Langsam, Flint«, sagte Tanis beruhigend. »Er scheint ehrlich überrascht zu sein.«
»Das bin ich! Ich schwöre es!« Plötzlich veränderte sich Gäsils Gesichtsausdruck. »Jetzt erinnere ich mich! Der Barde! Der war’s! Er ist gestern abend hergekommen. Der muß mich auf den Kopf geschlagen und das Armband gestohlen haben.«
»Und warum sollte jemand auf diese Art ein kleines Kupferarmband klauen? Hier drin gibt es doch bestimmt Wertvolleres«, meinte Flint wenig überzeugt.
Gäsil sah ihn verächtlich an. »Glaubst du etwa, ich hätte etwas Wertvolleres als ein Armband mit magischen Kräften? Sieh dich doch um. Alles, was du siehst, ist genau das, wonach es aussieht.«
»Was für Kräfte?« wollte Flint wissen. »Dieses Armband hat keine magischen Kräfte. Was redest du denn da?«
Gäsil richtete sich mühsam aus Flints Schoß auf und setzte sich hin. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es erklären soll. Plötzlich und ohne Vorwarnung wird es warm – fast heiß –, und dann weiß man auf einmal etwas, als wenn es einem gerade eingefallen wäre. Man hat es bloß vorher nicht gewußt, weil es nämlich noch gar nicht passiert ist! Es ist ganz komisch.«
»Du meinst, man halluziniert?« fragte Tanis verwirrt.
Gäsil schüttelte den Kopf. »Nein… oder vielleicht so ähnlich. Ich meine, es ist wie eine Erinnerung, nur weiß man, daß es etwas ganz Neues ist. Manchmal ist es wie eine Vision, die man im Geiste wahrnimmt. Manchmal ist es lang, dann wieder nur ein einfaches Bild oder ein Gedanke. Aber was es auch ist, kurz nachdem man es gesehen hat, passiert es auch.«
»Das Armband, das ich gemacht habe, kann die Zukunft vorhersagen? Pah!« Flint rümpfte die Nase. Angesichts eines so lächerlichen Gedankens verdrehte er die Augen.
»Doch, bestimmt«, rief Tolpan von der Tür her. Er war mit Wasser zurückgekehrt und am Eingang zum Zuhören stehengeblieben. »Hei, Gäsil. Das mit deinem Kopf tut mir aber leid. Aber mir ist das gleiche passiert – in die Zukunft sehen, meine ich. Einmal sah ich eine Spinne in meinem Sack, bevor ich ihn überhaupt aufgemacht hatte. Das war wirklich praktisch. Und dann war da dieser häßliche kleine Zwischenfall mit den Hobgoblins…« Rasch erzählte Tolpan Tanis und Flint, was geschehen war, als er vor seiner Begegnung mit dem Kesselflicker das Armband getragen hatte.
Flint war immer noch skeptisch. »Du bist der letzte, dem ich einen solchen Unsinn glauben würde, Kender.«
»Moment mal, Flint«, sagte Tanis wieder, während er sich am Kinn kratzte. »Hast du nicht gesagt, diese Frau – Selana – hätte dir bestimmte Zutaten und Bestandteile gegeben, die du in das Metall einschmelzen solltest? Dinge, die dir völlig unbekannt waren? Du hast selbst gesagt, daß sie sehr geheimnisvoll getan hat und über sich selbst nichts verraten hat. Das würde erklären, warum sie so großzügig gezahlt hat.«
Flint konnte das Offensichtliche nicht länger leugnen. Er setzte sich hin und stützte den Kopf in beide Hände. »Was mach ich jetzt? Es war schon schlimm genug, als ich dachte, ich hätte ein gewöhnliches Armband verloren. Aber wenn das Ding das kann, was ihr von ihm behauptet, dann wird sich Selana noch mehr über seinen Verlust aufregen.«
»Eine Frau, sagst du?« fragte Gäsil. »Eine merkwürdige Frau mit blasser Haut und unwahrscheinlich blaugrünen Augen hat gestern am Stand nach dir gefragt. Sie schien ganz verstört, als ich ihr sagte, daß du fort wärst.«
»Oh, Götter, das ist sie!« stöhnte Flint und raufte sich die grauen Haare. »Ich muß dieses Armband einfach wiederbekommen, bevor sie mich findet!« Er fuhr zu Gäsil herum. »Hat sie gesagt, wo sie abgestiegen ist? Ob sie zurückkommen würde? Sah sie verärgert aus?«
»Denk nicht an sie«, sagte Tanis. »Wie willst du denn das Armband finden, wenn es von jemandem gestohlen wurde, den wir nicht einmal verfolgen können, weil wir ihn gar nicht kennen?«
»Ich bin sicher, daß es der Barde war«, beharrte Gäsil. »Und ich fürchte, ich bin da selber schuld.« Mit schamrotem Gesicht berichtete der Kesselflicker alles, was ihm noch von seiner Unterhaltung mit dem Erzähler einfiel, und auch, wie der aussah.
»Es kann doch nicht schwer sein, jemanden zu finden, der den Namen Delbridge Fidington trägt«, staunte Tolpan.
»Es ist fast unmöglich«, jammerte Flint, »wenn wir nicht wissen, welche Richtung er eingeschlagen hat. Außerdem ist so ein merkwürdiger Name bestimmt nicht sein richtiger.« Der Zwerg lief in dem engen Verschlag hin und her, wobei seine schweren Schritte den Wagen erzittern und die Pfannen und Werkzeuge an den Wänden klappern ließen.
»Ich habe vielleicht eine vage Idee, wo er hin wollte«, sagte Gäsil. Alle Blicke richteten sich auf ihn, und er fuhr fort: »Bevor ich ihm gegenüber das Armband erwähnte, hat er mir erzählt, wie schwer es ist, als Barde anständige Arbeit zu finden. Dann sagte er, daß er nach Norden wollte, um etwas zu finden, wo er nicht vor schlecht zahlendem ›Pöbel‹ auftreten müßte.«
»Das war’s also«, verkündete Flint. »Wir gehen nach Norden. Und wenn ich dieses diebische Stinktier finde, dann schlag ich ihm den Kopf ab.«
Tanis ergriff den Zwerg am Arm, bevor der durch die Tür rennen konnte. »Wir können nicht einfach so loslaufen. Weißt du überhaupt, wo du hin willst und wie du dahin kommst?«
»Ich gehe nach Norden«, fauchte der Zwerg, »und da komm ich hin, indem ich einen Fuß vor den anderen setze, nicht indem ich hier rumsitze.«
Tanis versuchte, vernünftig mit seinem Freund zu reden. »Flint, diese Reise wird mehrere Tage dauern, vielleicht sogar länger. Wir können nicht einfach so losrennen. Wir waren die ganze Nacht auf den Beinen, wir haben noch nichts gegessen, und wir haben überhaupt keine Vorräte.«
Flint schlug mit der Faust gegen den Türrahmen des Wagens. »Ich kann hier nicht bloß herumsitzen, Tanis. Die Sache war vorher schon wichtig, und jetzt ist sie es um so mehr, weil wir wissen, daß Zauberei im Spiel ist.« Er erschauerte bei diesem Gedanken – Zwerge mißtrauen von Natur aus jedweder Magie. »Denk dran«, meinte er mit einem Blick aus den Augenwinkeln, »ich habe ein paar spezielle Ausdrücke für Kunden, die versehentlich vergessen, solche Dinge zu erwähnen.«
Dennoch preßte er mit resignierter Miene die Lippen zusammen. »Trotzdem bin ich ein Ehrenmann. Wenn diese geheimnisvolle Frau zurückkommt und ich weder das Armband noch seine Bestandteile noch wenigstens das Geld habe, das sie mir im voraus bezahlt hat, würde selbst ein Kender«, das sagte er mit einem Seitenblick auf den schmollenden Tolpan, »erkennen, daß mein Name entehrt wäre. Also, was soll ich tun?«
Tanis stand auf, wobei er seinen Körper wegen der niedrigen Decke des Wagens leicht vorbeugte. »Wir gehen nach Hause, schlafen ein paar Stunden, packen Essen und Kleider zusammen und brechen dann auf.«
»Nein, wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte der Zwerg barsch, wobei er seinen zotteligen, grauen Kopf schüttelte. »Ich gebe zu, daß wir Vorräte brauchen, aber dann brechen wir sofort auf.«
Jetzt protestierte Tanis. »Flint, ich bin erschöpft. Es war eine lange Nacht.«
Flint zwickte Tanis in den Oberarm. »Du bist über den Winter verweichlicht«, schimpfte er mit seinem jungen Freund. »Bleib doch zu Hause für deinen Schönheitsschlaf, wenn es sein muß«, fuhr er fort. »Aber ich bin fort, bevor die Morgensonne über den Bäumen steht, mit dir oder ohne dich.«
Seufzend rückte der Halbelf sein Federstirnband zurecht, indem er die Lederbänder hinter seinem Kopf nachzog. »Na schön«, gab er nach, weil er ganz genau wußte, daß er den störrischen alten Abenteurer auf keinen Fall umstimmen konnte. »Wir machen es so, wie du willst.«
»Prima.« Flint nickte zufrieden. »Hol dir, was du brauchst, und sei in zwanzig Minuten an meinem Haus.«
Damit kletterten die beiden Gestalten vom Wagen und liefen die schlammige Straße hinunter.
Tolpan, der immer noch eine Bandage nach der anderen um Gäsils Kopfwunde schlang, blickte sich ungeduldig im Wagen um, weil er etwas suchte, womit er die Tücher festmachen konnte. Da er nichts in Reichweite fand, nahm er schließlich Gäsils Hand und legte sie auf das sorgfältig gefaltete Tuchstück über der Wunde. »Halt das da fest«, wies er ihn kurz an, bevor er aufsprang und durch die Tür hinter seinen rasch verschwindenden Gefährten her sauste.
»Warte doch!« rief Gäsil, der dabei viel zu langsam nach dem Kender griff. »Und was wird aus mir?« Doch schon war er allein. Nur Bella war noch da, und die verlangte schnaubend ihr Frühstück.
Tolpan holte Flint und Tanis nach etwa fünfzig Schritten auf der Straße ein. »Junge, ist das aufregend«, piepste er. »Eine Verfolgungsjagd! So ein Spaß!«
Flint blieb wie angewurzelt stehen. »Wie kommst du denn darauf, daß du mit sollst? Ich habe dich nicht eingeladen, und ich will nicht, daß du uns hinterherrennst, also verschwinde.«
Aber der hartnäckige Kender hatte nicht vor, zurückzubleiben. »Ihr braucht mich. Ich habe Karten vom Norden – glaube ich.«
Flint sah Tanis um Unterstützung heischend an, fand aber keine. »Wenn er Karten hat, könnte er eine große Hilfe sein, Flint«, sagte der Halbelf.
»Der Blick auf seine Karten hat uns diesen Schlamassel überhaupt erst eingebrockt.« Der aufgebrachte Zwerg warf die Arme in die Luft. »Aber gut, soll er mitkommen. Soll er doch gleich alle einladen, die wir noch treffen. Bis wir dahin kommen, wo wir hin müssen, haben wir eine ganze Armee. Dann können wir die Stadt belagern. Hauptsache, wir gehen jetzt los!« brüllte er und rannte schon wieder die Straße hinunter.
Zwei Schritte weiter blieb Flint wieder stehen. »Moment mal! Was machen wir denn da? Ich kann nicht nach Hause.« Ein Hauch von Panik zog über sein Gesicht. »Wenn Selana irgendwo in der Stadt ist, kommt sie auf jeden Fall zu meinem Haus, wenn sie mich sucht. Ich weiß, es klingt feige, aber ohne das Armband kann ich ihr nicht unter die Augen treten!« Er sah verlegen aus. »Ich möchte bloß erst die Chance haben, die Sache zu klären. Du mußt mein Zeug holen, Tanis.«
»Aber wenn sie mich sieht?« wandte der Halbelf ein.
»Bleib bei der Geschichte des Kesselflickers. Sag ihr, ich mußte die Stadt unerwartet für ein paar Tage verlassen. Oder sag ihr, daß ich entführt wurde. Ist mir egal, sag ihr einfach irgend etwas, um sie hinzuhalten!«
Tanis rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich kann sie nicht anlügen, Flint. Du weißt, daß ich sowieso nicht gut darin bin. Da brauchen wir schon eine bessere Geschichte.«
»Schau mal, es ist doch keine Lüge«, bettelte Flint. »Ich verlasse die Stadt doch wirklich unerwartet für ein paar Tage. Ich kann ja gleich aufbrechen und unterwegs auf dich warten, wenn es dir dann besser geht.«
Achselzuckend gab Tanis nach. »Mit etwas Glück lauf ich ihr nicht über den Weg, und die Frage stellt sich gar nicht erst. Ich gehe, aber du mußt bei mir vorbeigehen und meine Sachen zusammenpacken«, sagte er. »Ich treff dich dort, wenn ich soweit bin.« Schon im Gehen fügte der große Halbelf noch hinzu: »In der Vorratskammer ist jede Menge zu essen – aber pack mir bloß nicht diese gräßlichen Bohnen ein, die du so gerne magst«, warnte er den rundlichen Zwerg mit erhobenem Zeigefinger.
»Ich habe noch nie ein Zwergenhaus gesehen«, meldete sich der fast vergessene Kender. »Ich begleite Tanis«, verkündete er glücklich.
Flint fuhr auf den frechen kleinen Kerl zu und bohrte ihm den Finger gegen die Brust. »Oh, nein, das machst du nicht«, sagte er mit Nachdruck. »Das letzte, was ich brauche, ist ein großmäuliger Kender mit langen Fingern, der in meiner Abwesenheit in meinem Haus herumstreicht.« Er packte den Kender fest am Ellbogen. »Du kommst mit mir, damit ich ein Auge auf dich haben kann.«
»Meine Güte, Flint«, schimpfte Tolpan, dessen Gefühle offensichtlich verletzt waren. Sein faltiges kleines Gesicht verzog sich zu einer beleidigten Miene. »Ich hätte erwartet, daß wenigstens du begreifen könntest, daß ich trotz meiner unterdurchschnittlichen Größe kein Kind bin.«
Flint lief knallrot an und nickte hilflos, als er versuchte, ganz ungewohnte Worte über die Lippen zu bringen. »Gut, gut, es tut mir leid«, knurrte er.
»Na, wunderbar«, sagte Tolpan mit der unheimlichen Fähigkeit der Kender, schlechte Gefühle im Handumdrehen zu vergessen. Er strahlte, weil er einen neuen Einfall hatte. »Sag mal, haben Zwerge besonders kleine Möbel in ihren Häusern, oder springt ihr da auch einfach auf Stühle für Menschen?«
Flint hätte dem Kender fast sein Lieblingsschimpfwort an den Kopf geworfen, begnügte sich aber mit einem wilden Blick und einem Schubs zur nächsten Treppe in die Vallenholzbäume.
»Los!« fauchte er. Der Zwerg warf einen nervösen Blick über die Schulter. Wenn Selana noch in der Stadt war (und bei seinem augenblicklichen Pech hatte er jeden Grund, das anzunehmen), dann hoffte Flint, daß sie unten am Boden bleiben würde, denn die meisten Besucher von außerhalb kletterten nicht auf die Hängebrücken. Auch wenn die Wege als Straßen dienten und in Solace als öffentliches Eigentum galten, kamen sich Fremde vor wie Eindringlinge, wenn sie hinaufstiegen, denn die Mehrheit davon führte zu Privathäusern.
»Diese schwankenden Brücken sind toll!« rief Tolpan aus. »Wie baut ihr die so in der Luft?« Er schoß auf der Brücke von einer Seite zur anderen, warf Zweige über das Geländer und sah zu, wie sie kreiselnd zu Boden fielen.
»Laß das!« sagte Flint, der nur knapp der Versuchung widerstehen konnte, dem Kender wie einem Kind auf die Finger zu schlagen. »Sonst triffst du noch jemand auf den Kopf. Darum steht eine ziemlich hohe Strafe darauf, etwas von den Brückenwegen zu werfen.«
Tolpan zog die Hände zurück und gab sich momentan geschlagen. »Also, wie werden sie gebaut?« faßte er dann wieder nach. »Stelzen? In Kenderheim, wo ich herkomme, stellen wir uns in Pyramiden auf, um Schilder aufzuhängen oder so was, aber das hier« – er wies mit der Hand auf die Brücke unter seinen Füßen –, »das ist viel schwerer zu bauen, wenn man bei jemandem auf den Schultern steht.«
Der Zwerg schloß die Augen und biß die Zähne angesichts des unaufhörlichen Geplappers des Kenders zusammen. »Man baut sie unten und hängt sie hinterher auf«, erwiderte er schließlich mit erzwungener Geduld. Nach wenigen Minuten standen Zwerg und Kender vor Tanis’ Haustür. Über ihnen erstreckten sich die knospenden Zweige des mittelalten Vallenholzbaums, der das Haus trug.
Tanis’ Haus glich den meisten anderen Baumhäusern in Solace, abgesehen vielleicht davon, daß es etwas kleiner und bescheidener ausgestattet war. Grunzend bückte sich Flint und klappte die Seegrasmatte vor der Tür hoch. »Verdammt! Wo hat denn der Halbelf seinen Schlüssel versteckt?«
»Suchst du den hier?« fragte Tolpan. Flint schaute sich um und sah den Kender mit einem großen Schlüssel, den er mit Daumen und Zeigefinger hochhielt.
Flint runzelte die Stirn. »Gib her!« sagte er, während er dem Kender den Schlüssel aus der Hand riß. »Wo hast du den gefunden?«
»Unter der Matte.« Tolpan schüttelte ungläubig den Kopf. »Tanis sollte seinen Schlüssel wirklich nicht dort hinlegen, wo ihn jeder finden kann. Man weiß doch nie, wer in sein Haus will.« Er hob vor Flint den Zeigefinger. »Wie gut, daß ich vorbeigekommen bin.«
Grummelnd steckte Flint den Schlüssel ins Schloß, gab der Tür einen Schubs und dem Kender einen Knuff. Sie standen in Tanis’ freundlichem Eingang, dessen Außenseite geschickt in den Vallenholzbaum gebaut war. Gelbe Sonnenstrahlen drangen durch kleine Deckenfenster herein, die Tanis ›Himmelsringe‹ nannte, eine Elfenerfindung, die er aus Qualinost mitgebracht hatte.
Viel an Tanis’ Zuhause erinnerte an seine Herkunft. Ruhe und Wald spiegelten sich in der ganzen Einrichtung wider. Überall standen Topfpflanzen herum. Wie die meisten Häuser von Solace hatte es ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche. Der Kamin war der Mittelpunkt des Wohnzimmers, und um ihn herum waren riesige, bauschige Federkissen zum Sitzen gestapelt. Aus Rücksicht auf seinen alten Zwergenfreund Flint besaß Tanis auch einen einfachen Schaukelstuhl. Ansonsten gab es nur noch Bücherregale, die in jeden Winkel des Vallenholzbaums eingepaßt waren. Tanis war ein unersättlicher Leser von allem und jedem. Daneben sammelte er seltene, schön gearbeitete Bögen, die er an der Wand gegenüber dem Kamin aufgehängt hatte.
Flint sah, wie die Augen des Kenders leuchteten, als sie die Elfenwaffen entdeckten. »Halt deine Hände zurück«, warnte der Zwerg. »Wenn ich auch nur eine Bogensehne am falschen Platz sehe, dann – «
»Du mußt mir nicht die ganze Zeit drohen«, unterbrach ihn Tolpan gereizt. »Ich fasse ja gar nichts an.«
Flint wirkte zweifelnd. »Es ist das Einstecken, nicht das Anfassen, was mir Sorgen bereitet.«
»Wieso, ich hab doch noch nie – «
Flint hob die Hand, um den irritierten Kender zum Schweigen zu bringen. »Ich weiß, du hast noch nie irgend etwas gestohlen, und es ist nicht deine Schuld, daß das Armband fehlt«, sagte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Wenn wir jetzt vielleicht anfangen könnten, Tanis’ Zeug zusammenzupacken, dann können wir vielleicht auch aufbrechen und das Armband suchen, das merkwürdigerweise nicht nur einmal, sondern gleich zweimal in deinen Besitz geraten ist.«
»Aber gern.« Tolpan winkte Flint vor. »Ich muß sagen, ich freue mich, daß du die Sache endlich aus meiner Sicht siehst.«
Mit ungläubigem Kopfschütteln stapfte Flint in Tanis’ Schlafraum und ging direkt zu der schweren, hölzernen Kleidertruhe hinter dem fußhohen, festgestopften Federsack, der Tanis als Bett diente. Er holte ein Unterhemd, mehrere Kniehosen, eine Tunika, zwei Decken, ein Wollhemd und dicke Wollsocken heraus. Diese Sachen rollte er rasch in die Decken ein, band die beiden Enden der Rolle mit Lederbändern zusammen und warf sie sich über die Schulter.
Als er ganz unten in der Truhe suchte, fand Flint einen großen Segeltuchsack, mit dem er in die Küche ging. Beim Durchqueren des Wohnzimmers sah Flint, wie Tolpan schnell die Hand von den Bögen wegzog.
»Hab bloß geguckt!« Er folgte Flint in die Küche.
Der Raum war sehr klein, eher nur eine Vorratskammer, denn gekocht wurde über dem Feuer im Wohnzimmer. Die Decke war höher als in den anderen Zimmern, und durch die Löcher, die in die Seitenwand gebohrt waren, konnten die Zweige des Vallenholzbaums frei weiterwachsen. Tanis hatte jedes freie Eckchen für Regale genutzt. Geräucherter Schinken, getrocknete Kräuterbunde, Beutel mit Kartoffeln, Kürbis, Trockenobst und Knoblauch hingen an dicken Seilen von dunklen Haken herunter. Ein kleiner Klapptisch war an einem Schrank an der Wand gegenüber dem Eingang befestigt. Darunter standen zwei Klappstühle.
Rasch nahm Flint einen Schinken, einen kleinen Kürbis und zwei Handvoll getrockneter Äpfel und stopfte alles in den Sack. Als er sich umdrehte und gehen wollte, sah er, wie Tolpan ein paar Rosinenbrötchen aus der Bäckerei von Solace inspizierte, die – wie Flint wußte – zu Tanis Lieblingsspeisen gehörten. Obwohl er Schnitzer normalerweise großzügig übersah, konnte Tanis überaus eigen sein, wenn es um seine Brötchen ging.
»Laß die liegen. Wir haben alles, was wir brauchen«, knurrte der Zwerg.
»Ich habe bloß überlegt«, sann Tolpan, »daß wir ja vielleicht tagelang unterwegs sein werden. Diese Brötchen sind jetzt schon einen oder zwei Tage alt.« Wie zum Beweis piekste er eins an, um sich hinterher den Finger abzulecken. »Bis wir wieder da sind, sind sie zu alt zum Essen. Ist bloß schade drum, mehr nicht.«
Flint sah die Brötchen an, warf dann einen finsteren Blick auf den Kender, um wieder auf die Brötchen zu starren. Sie waren dick mit glänzendem Zuckerguß überzogen, und jedes hatte ein Sternenmuster aus Rosinen obendrauf. Jetzt, wo Flint sie ansah, knurrte ihm nach dem nächtlichen Marsch der Magen. Sie sahen wirklich lecker aus.
»Nur eins«, murmelte Flint und nahm sich ein Brötchen. Die Hälfte verschwand schon beim ersten, gewaltigen Biß. Mit dicken Backen wie bei einem Eichhörnchen und mit Krümeln im Bart ging er ins Wohnzimmer zurück. Tolpan folgte ihm, wobei er Rosinen in den Mund steckte.
Als Flint gerade zum zweiten Mal in das Brötchen beißen wollte, ging die Tür auf, und Tanis kam herein. Er trug eine längs zusammengerollte, rot-graue Decke über der Schulter, in die weitere Sachen eingepackt waren, wie die Beulen verrieten. Tanis hob sie über den Kopf und warf sie auf den Boden, während er sagte: »Das mußt du selbst nochmal zusammenrollen, Flint. Wenn ich sie für deine Größe gemacht hätte, hätte ich sie mir nie um die Schultern legen können. Hast du alles gefunden, was wir brauchen?«
Flint versuchte zu sprechen, doch seine Stimme war durch den Mund voll Rosinenbrötchen behindert. Er nickte, wobei ihm Krümel vom Bart fielen.
»Was ist das denn?« Tanis sah Flint genauer an. »Das ist doch nicht etwa ein Rosinenbrötchen?«
»Möchtest du auch eins?« entgegnete Tolpan. Er griff in seinen Beutel und holte ein weiteres der klebrigen Brotchen heraus, das er Tanis reichte. »Aber schling es nicht so herunter wie Flint«, warnte er. »Sie sind schon etwas trocken.«
Tanis sah von Flints betretenem Gesicht zu Tolpans zufriedener Miene, um dem Kender dann sein Lieblingsessen aus der Hand zu reißen. »Laßt uns aufbrechen, bevor ihr beide mir die Haare vom Kopf freßt.«
»Ich habe genug für ein paar Tage eingepackt«, berichtete Flint. »Aber was ist mit meinen Sachen? Hast du an meinen warmen Hut gedacht? Was ist mit den Wollsocken, die so gut in meine ledernen Wanderstiefel passen? Und mit meiner Axt?«
Tanis schlug seinem Freund auf die Schulter. »Keine Sorge, ich habe alles.« Er hielt ihm einen Sack hin, der alles enthielt, wonach Flint gefragt hatte, einschließlich der geliebten alten Axt des Zwergs.
Weil er es eilig hatte aufzubrechen, nahm Flint sein Gepäck und die Axt und marschierte zur Tür, wo er plötzlich zögerte, weil ihm etwas einfiel. »Was ist mit Selana? Hast du irgendwo eine dicht verhüllte Frau mit ungewöhnlich blasser Haut gesehen?«
Tanis schüttelte seinen roten Haarschopf. »Ich habe niemanden gesehen.«
Flint wirkte deutlich erleichtert, und die Spannung wich aus seinen eingezogenen Schultern. »Herrlich. Dann haben wir jetzt vielleicht mal wieder etwas Glück.« Während er die Decke mit dem Gepäck in eine bequemere Lage schob, öffnete Flint die Haustür des Halbelfen. Als er über die Schwelle trat, rief er seinen Gefährten zu: »Je eher wir gehen, desto schneller sind wir wieder zu Hause.« Dabei stopfte er sich den letzten Bissen Rosinenbrötchen in den Mund. Dann drehte er sich um, um auf seinen Weg zu achten. Plötzlich japste er vor Überraschung nach Luft, wobei ihm Stücke des trockenen, klebrigen Brötchens aus dem Mund fielen.
»Hallo, Meister Feuerschmied«, sagte die äußerst hellhäutige, grünäugige Frau in der blauen Robe. Weißliche Haarsträhnen lugten unter ihrem kornblumenblauen Tuch hervor.
»Ich habe Euch gesucht.«