Die Schaukel des Eremiten

1

„Veilchen“, eine Passagier- und Transportrakete, erwartet in der Regel das transstellare Linienschiff in der Bahn des fünften Planeten vom System Sewan. Auch dieses Mal verlief alles normal. Das Translinienschiff „Warszawa“ materialisierte sich genau an der vereinbarten Stelle, eine Minute vor dem geplanten Zeitpunkt für den Eintritt in den dreidimensionalen Raum.

Der Kapitän der „Warszawa“ schickte seine Koordinaten sofort über den Äther. Doch „Veilchen“ hatte durch Radar das Auftauchen des Linienschiffes bereits geortet und nähert sich mit erhöhter Geschwindigkeit.

Der Kommandosektor von „Veilchen“ belebte sich. Im Umkreis des Sewan waren Raumschiffe von der Erde nicht gerade häufig. Jetzt würde es neue Geräte und Ausstattungen geben, an denen es den Physikern, Biologen, Archäologen und Ingenieuren des Eremiten beständig mangelte. Auch neue Artikel und Informationen würden sie erhalten. Sie freuten sich auf die Stunden in der Gesellschaft von Menschen, die noch vor kurzem erst auf der Erde gewesen waren.

Wochenlang werden sie auf dem Eremiten von den Ereignissen dieser wenigen Stunden erzählen. Die Besatzung von

„Veilchen“ wird nur mit Mühe den Einladungen zu einer Tasse Kaffee in jeder Unterkunft der Zentralstation nachkommen können. Von den insgesamt zwanzig Basen würde plötzlich jede Basis jemanden von der Besatzung zur Durchführung unvorhergesehener Arbeiten benötigen. Sie waren jedoch nur zu dritt: Der Kommandeur von „Veilchen“, Sven Thomson, sein Mitarbeiter und Spezialist für kybernetische Anlagen, Nikolai Traikow, und der Funker Henry Wirt.

Mit Blick auf die vor ihm auftauchende große Kugel der

„Warszawa“ sagte Sven Thomson: „Immer wenn ich es wiedersehe, möchte ich am liebsten gleich auf die Erde zurück.

Auf dem Eremiten gibt sich das wieder. Aber hier fällt es mir sehr schwer, nicht sofort den Rapport zu schreiben.“

„Der Polarstern ruft und winkt ihm“, sang Nikolai Traikow zart und weich. „Du kommst vom Eremiten nicht los. Und Anita…“

„Hör auf, Nik“, donnerte ihn Sven an.

„Ich bin ja still, ganz still. Du sollst nur keinen Rapport einreichen.“

„Ich habe auf dem Eremiten mein hellblaues leuchtendes Hemd vergessen“, sagte Henry erschrocken. „Osa hat wieder einmal alles durcheinandergebracht.“

„Was sagst du da?“ brachte Nikolai mit Grabesstimme hervor. „Das ist doch die reinste Katastrophe.“

„Du kannst dich ja darüber lustig machen, aber für mich ist es eine ernste Sache. Im Gesellschaftsraum werden alle die leuchtenden Hemden tragen, nur ich…“

„Du kannst meins nehmen“, schlug Sven vor.

„Wie bitte?“ fragte Henry erstaunt zurück, mit unmißverständlichem Blick auf den breitschultrigen, großen Kommandeur. „Schließlich brauche ich kein Nachthemd.“

„Wie du willst“, entgegnete Thomson ruhig, dann schrie er plötzlich: „Nur noch drei Minuten! Zum Teufel mit der Etikette! Wir haben noch nie etwas darauf gegeben!“

„Wir begrüßen die Eremiten!“ erklang die Stimme des Kommandanten der „Warszawa“ aus den Lautsprechern. „Wie sieht es mit der Zivilisation aus? Geht es gut voran?“

„Ausgezeichnet!“ rief Thomson. „Man kann sich von ihr überhaupt keine Vorstellung machen. Ist im Gesellschaftsraum alles bereit? Womit wird uns der Chefkoch überraschen?“

„Besatzung von ›Veilchen‹!“ ertönte eine tiefe Stimme. „Fertigmachen!“

„Wir sind bereit!“ entgegnete Thomson.

„Ich beginne mit dem Countdown. Zehn, neun… null.“

Der riesige Bord des Translinienschiffes verdeckte die gesamte Sichtwand von „Veilchen“, er kam ganz dicht heran, und im nächsten Moment wurde die Rakete, nach Öffnen der Metall-Keramik-Platten, in sein Inneres gezogen. Die Platten schlossen sich wieder. „Veilchen“ lag nun auf einer Spezialplattform im Verladeraum des Linienschiffes.

Der Platz rings um die Rakete war hell erleuchtet. Zur Verladerampe kamen Menschen herbeigeeilt, die in diesem riesengroßen Raum wie Ameisen wirkten. Die massiven Gestalten der Verladekyber kamen in Bewegung.

Thomson betätigte die Tastatur. Die zwanzig Meter großen Flügel von „Veilchen“ schoben sich zur Seite, und die kybernetischen Apparaturen konnten mit dem Beladen des voluminösen Raketenrumpfes anfangen.

„Das Aussteigen kann beginnen“, scholl es durch die Lautsprecher.

Alle drei, einer immer schneller als der andere, stürzten zum Hebekran, und eine Minute später standen sie bereits auf der Rampe und blinzelten in das grelle Licht.

„Nun, wie geht es bei euch auf der Erde?“

Die Eremiten benutzten nicht einmal die Strickleiter. Von der zwei Meter hohen Rampe ließen sie sich, ohne zu überlegen, in die freundschaftlichen Umarmungen der Menschen fallen, die soeben von der Erde angekommen waren. Wen kümmerte es schon, daß sie einander vorher nie gesehen hatten! Von allen Seiten hagelte es Fragen, komplizierte, einfache, unsinnige und aufregende.

„Habt ihr jetzt Winter?“

„Ja.“

„Warum Winter? Bei uns ist Sommer.“

„Aha, ist klar. Sommer und Winter gleichzeitig. Das ist vielleicht gut!“

Gelächter, freundschaftliches Schulterklopfen, Händeschütteln.

„Wieviel Mikrospeicher habt ihr mitgebracht?“

„Das wirst du sehen, wenn du die Liste unterschreibst.“

„Fünfzig Kilo Briefe. Anderthalb Millionen Grüße.“

Sie verließen den Verladeraum der „Warszawa“ unter Gesprächen über tausend verschiedene Dinge gleichzeitig und verstanden sich sofort.

Im Aufzug des Linienschiffes hatten nicht alle Platz. Sie wurden in Gruppen befördert. Die hell erleuchteten Schächte waren schier endlos. Man konnte menschliche Gestalten und Kyber darin erkennen. Die Menschen hatten die Hand zum Gruß erhoben, obwohl sie schwerlich sehen konnten, wer sich im Aufzug befand. Sie wußten nur, daß die Besatzung von

„Veilchen“ da an ihnen vorbeifuhr. Die Kyber beachteten niemanden, sie hatten nicht nachzudenken, sondern ihre Aufgaben zu erfüllen.

Die nicht enden wollende Fahrt nach oben war schließlich doch einmal zu Ende. Wirt, Thomson und Traikow betraten das bewegliche Band der breiten Straße, einen unter den Füßen federnden, blaugrauen Plastgrund. Alle hundert Meter kamen Übergänge und Abzweige in helle, geräumige Korridore. In hohen Sälen befanden sich eigenartige Konstruktionen verschiedenfarbiger Kugeln, Kegel, parabolischer Zwischendekken, Hängebrücken, Zylinder und Metallgerüste. Überall wurden die Eremiten von den Kosmonauten des Linienschiffes winkend begrüßt.

Dieses Linienschiff war ein riesiges Laboratorium und wissenschaftliches Forschungsinstitut. „Warszawa“ versorgte die Planeten, auf denen Forschungen im Gange waren, mit allen notwendigen Ausstattungen, Nahrungsmitteln, Fachleuten, Dingen des täglichen Bedarfs und mit Baustoffen. Fast tausend wissenschaftliche Arbeitskräfte waren mit der Erforschung des vierdimensionalen Raumes beschäftigt.

„Warszawa“ mußte im Laufe von drei irdischen Monaten zwanzig zu erforschende Planeten beliefern. Nach dieser Zeit gab es einen kurzen Aufenthalt auf der Erde, dann wiederholte sich die gleiche Route von neuem.

In der Gesellschaftsraumkajüte waren ungefähr zwanzig Mann anwesend. Thomson erörterte mit ernster Miene mit dem Kommandanten des Translinienschiffes, Anton Weressajew, Fragen der Aufzucht neuer Kakteensorten unter den Bedingungen des vierdimensionalen Raumes. Nikolai Traikow hatte die meisten um sich versammelt, verdrehte die Augen und erzählte mit furchteinflößenden Gebärden von den Räubern des Eremiten. Henry Wirt unterhielt sich stotternd mit zwei Mädchen.

Weressajew stellte dann der Besatzung von „Veilchen“ Erli Kosales vor, einen Journalisten und Physiker. Erli sollte mit ihnen gemeinsam zum Eremiten fliegen.

Es wurden so viele verschiedenartige Gerichte aufgetragen, daß alle wissenschaftlichen Mitarbeiter des Eremiten eine Woche lang davon satt geworden wären.

Nach dem Essen begaben sie sich in den Konzertsaal, sahen sich danach die Chronik an und gingen schließlich stundenlang von einer Kajüte in die andere, um Eindrücke und erworbenes Wissen untereinander auszutauschen.

Abermals wurden sie mit dem großen Aufzug in die Tiefe befördert, vorbei an zahllosen Übergängen, Kurven, Tunneln und Sälen. Sie nahmen Abschied von „Warszawa“. Alles, was für den Eremiten bestimmt war, befand sich im Verladeraum.

Die Verladeluken von „Veilchen“ waren bereits hochgezogen.

Die kybernetischen Verlader entfernten sich langsam und schwerfällig in ihre Hangare. Letzte Abschiedsworte, ein letztes Händeschütteln.

Erli nahm in einem Sessel im Kommandosektor Platz. Henry Wirt prüfte die Funkverbindung. Nikolai Traikow tat das gleiche mit allen kybernetischen Systemen des Raumschiffes.

Dann sprach Thomson ins Mikrofon: „Fertig!“

Es schien, als wäre „Veilchen“ von einer unbekannten Kraft aus dem transstellaren Linienschiff hinausgestoßen worden.

Die Riesenkugel von zweitausend Meter Durchmesser wurde allmählich kleiner.

„Gut Plasma!“

„Guten Super-Transfer!“

„Veilchen“ hatte sich von „Warszawa“ einige zehntausend Kilometer entfernt, als sein Bildschirm dunkelbläulich aufglänzte. Das bedeutete, das Translinienschiff war in den vierdimensionalen Raum eingetreten.

2

Für die „Veilchen“-Besatzung verlief der Siebentageflug zum Eremiten ohne besondere Vorkommnisse. Alle Systeme an Bord des Raumschiffes arbeiteten tadellos. Die drei Kosmonauten vertieften sich in Bücher, Zeitschriften und Mikro-Zeitungen, die in der Kleinen Bibliothek auslagen, und unterbrachen ihre Lektüre lediglich zum Zwecke der Nahrungsaufnahme und zur Überprüfung der Funktionstüchtigkeit der Raumschiffsysteme.

Erli hatte den Flug zum Eremiten angetreten, um Stoff für ein Buch über diesen merkwürdigen Planeten zu sammeln. Um die Zeit zu nutzen, las er den letzten Expeditionsbericht durch. Er war kurz abgefaßt, nur Tatsachen waren darin vermerkt. Man spürte, daß die Leiter der Expedition nicht einmal über eine Hypothese verfügten, die die zahlreichen Rätsel des Eremiten erklären könnte.

Der Eremit war acht Jahre zuvor entdeckt worden. Es gab auf ihm keinen Wechsel der Jahreszeiten. Das feuchte, heiße Klima in den Zonen um den Äquator wurde nach den Polen zu allmählich trockener. Aber selbst an den Polen sank die Temperatur tagsüber nie unter fünfzehn Grad. Auf dem Eremiten herrschten ewiger Frühling und ewiger Sommer. Vom Äquator nach Norden und Süden zu erstreckte sich Tausende von Kilometern, bedrohend und finster, die Selva, ein undurchdringliches Dickicht. Die Fauna der Selva war abscheulich und einförmig: hirnlose Lebewesen von sackartiger Gestalt, bedeckt mit übelriechendem Schleim, sprangen und krochen umher und kannten nur eine einzige Beschäftigung, ihre Artgenossen, die kleiner als sie selbst waren, aufzufressen.

Das erste Raumschiff hatte den Eremiten lange umkreist, um einen Landeplatz ausfindig zu machen, und hatte Raketen zu Erkundungszwecken abgeschossen. Überall hatte es ein und dasselbe vorgefunden. Daraufhin hatte der Kommandant beschlossen, mit den Planetartriebwerken einen Flecken von einem Kilometer Durchmesser niederzubrennen. Das Raumschiff war gelandet. Die mit der Erkundung beauftragten Kosmonauten stiegen aus, und nach einer Stunde waren die von dieser Gruppe Übriggebliebenen zum Raumschiff zurückgekehrt. Bereits zwei Stunden später unterschied sich der abgebrannte Fleck durch nichts mehr von der Selva ringsum. Die düstere Monotonie der Landschaft wurde lediglich von dem wie ein Pfeil zum Zenit aufragenden Schiff unterbrochen.

Das Raumschiff war wieder zur Erde zurückgekehrt. Sein Kommandeur war fest davon überzeugt, daß sich der neu entdeckte Planet nur dann für Leben eignen könne, wenn man die Selva absolut vernichtete. Die Schnelligkeit, mit der die Selva das vom Menschen gewonnene Gebiet zurückerobert hatte, war beängstigend. Trotzdem war zum Eremiten — irgendwer hatte diesen öden Planeten „Eremit“ getauft — eine zweite Expedition entsandt worden. Sie hatte ihre Erkundungen von oben, mit Hubschraubern, vorgenommen. Von der Existenz vernunftbegabten Lebens auf dem Eremiten konnte in keiner Weise die Rede sein. Es gab dort nicht einmal Reptilien, geschweige denn Säugetiere.

Am fünften Tage ihres Aufenthaltes war die Expedition inmitten der Selva auf einen bräunlichen Fleck gestoßen. Ein Hubschrauber war daraufhin mehr in die Tiefe gegangen und hatte einige halbkugelförmige Gebäude mit Durchgängen und zwanzig Meter hohen, weißen Zylindern beobachten können.

Diese Entdeckung kam so völlig unerwartet, daß sie unter den Mitgliedern der Expedition großen Jubel ausgelöst hatte. Aber sie hatten diese Gebäude nicht betreten können. Nicht einmal bis in ihre Nähe waren sie vorgedrungen, weil der gesamte Gebäudekomplex von einem Kraftfeld abgeschirmt wurde, das dem Eindringen der Selva zu wehren hatte. Dieses isolierte Stück Zivilisation wurde Tag und Nacht bewacht. Doch es lag still und wie ausgestorben da.

Tags darauf hatte man am Äquator die Zentralstation entdeckt; sie wurde sofort mit diesem Namen bezeichnet. Sie umfaßte ein Gebiet mit einem Radius von etwa zehn Kilometern. Ein riesiges Gebäude in der Mitte war ebenfalls leer.

Wenig später wurden noch neunzehn dieser kleinen Flecken geortet. Irgend jemand mußte sie der Selva abgerungen, merkwürdige Gebäude darauf placiert und sie mit unsichtbaren Wächtern, Kraftfeldern, versehen haben. Die zwanzig Siedlungsflecken, die von einer unbekannten Zivilisation stammen mußten, bezeichnete man einfach als Basen. Sie waren über den Eremiten ringförmig, in regelmäßigen Abständen von zweitausend Kilometern, verteilt. Weitere Merkmale einer Zivilisation gab es nicht. Keine Städte, keine Straßen oder Wege, keine Raumhäfen.

Die dritte Expedition hatte dann entdeckt, wie die Kraftfelder auszuschalten waren. Damit konnten die systematische Erforschung des Planeten und die Ergründung seiner Geheimnisse ihren Anfang nehmen.

Transportlinienschiffe brachten im Laufe von vier Monaten Ausrüstungen, Hubschrauber, Mehrzweckmobile, Apparaturen, komplette wissenschaftliche Laboratorien, Gebäude, Lebensmittel, Möbel und Menschen auf den Eremiten. Die Expedition war vorzüglich ausgestattet. In ihr waren zweihundertvierzehn Mann tätig: Archäologen, Zoologen, Botaniker, Physiker, Techniker und Ingenieure. Da man nicht wußte, was auf dem Eremiten einst vor sich gegangen war, hatte man zur Arbeit auf diesem Planeten Vertreter aller Wissensgebiete herangezogen.

Die Expedition wurde von Konrad Stakowski geleitet, bei dem Erli studiert hatte. Als sich Erli der Journalistik verschrieb, war Stakowski verärgert gewesen. Er hatte dadurch einen seiner Lieblingsschüler verloren. Erli hatte die Physik jedoch nicht aufgegeben, denn er schrieb darüber, als er Journalist geworden war. Auch jetzt flog er auf Einladung seines alten Lehrers mit zum Eremiten. Konrad hatte den Grund für seine Auswahl verschwiegen, und Erli erging sich in Mutmaßungen. Eine Einladung zur Arbeit auf dem Eremiten war für jeden Journalisten schmeichelhaft. Erli wußte das und war stolz darauf. Aber es war noch ein anderer Umstand zu berücksichtigen. Auf dem Eremiten arbeitete in der Gruppe der Ar-chäologen seine frühere Frau Lej. Hatte Stakowski etwa im Sinn, zwei Menschen, die er selbst gut kannte, wieder miteinander zu versöhnen? Auch das hatte Erli bedacht, doch diesen Gedanken weit von sich gewiesen. Erli träumte zwar von Begegnungen mit Lej, tat jedoch gleichzeitig alles, sie zu verhindern. Jetzt würde es wohl nicht mehr zu umgehen sein.

Zweihundertfünfzehn Menschen auf ein und demselben Planeten waren schließlich nicht viel. Es war einfach unmöglich, einander nicht zu begegnen.

Erli warf die Kopie des Rechenschaftsberichtes über die Arbeit auf dem Eremiten auf den Tisch. Das war überhaupt keine Rechenschaftslegung! Die Expedition war auf Probleme und Rätsel gestoßen, wie ein blindes Kätzchen gegen eine Wand anläuft. Zoologen und Botaniker hatten allerdings einige Erfolge zu verzeichnen.

Aber was für eine Zivilisation hatte es hier gegeben? Wohin war sie entschwunden? Was bedeuteten die merkwürdigen Bauten auf der Zentralstation? Wozu hatte man die Basen benötigt, die in gleichmäßigen Abständen voneinander errichtet waren?

Erli verließ die Bibliothek und ging den hell erleuchteten Korridor entlang, um einen Blick in den Kommandosektor zu werfen und sich mit dem Kommandeur von „Veilchen“ zu unterhalten.

Nikolai Traikow rekelte sich in einem Sessel in der Bibliothek, reagierte auf alle Fragen Erlis nur mit sauren Grimassen und antwortete zuweilen wortkarg: „Später. Du wirst schon noch alles erfahren. Früh genug.“

Und Sven sagte: „Ist noch absolut undurchsichtig und unklar.

Wir treten auf der Stelle. ›Veilchen‹ macht Patrouille im Raum um den Eremiten. Gerade so, als warteten wir darauf, daß uns jemand besucht.“

„Nicht zu uns zu Besuch kommt, sondern zu sich nach Hause“, korrigierte ihn Henry. „Wir sind nämlich die Gäste, dazu auch noch ungebetene.“ Damit wechselte er jäh das Thema.

„Sag mal, Erli, was für neue Vornamen sind denn so auf der Erde aufgekommen? Ich werde ein Töchterchen haben, auf jeden Fall ein Mädchen. Osa will sie Seona nennen. Aber ich weiß nicht, bin mir noch nicht ganz im klaren…“

Es waren bereits zwei Tage vergangen, seitdem sich „Veilchen“ von „Warszawa“ getrennt hatte. Das bedeutete, sie konnten nun den Versuch machen, die Verbindung mit der Zentralstation aufzunehmen.

3

Erli war im Korridor kaum ein paar Schritte gegangen, als er Henry bemerkte, der auf ihn zukam. Dieser war offensichtlich mißgelaunt und brummte, als er Erli erreicht hatte: „Faulpelze.“

„Ist irgendwas passiert?“ fragte Erli, der nicht verstand, wo-von der Funker sprach.

„Sie wollen mit uns nicht eher Verbindung aufnehmen, als es der Zeitplan vorsieht. Ich kann einfach nicht glauben, daß Osa mir nichts mitzuteilen hat. Faulpelze, dabei bleib’ ich. Wenn man in einem Gebiet Patrouille machen muß, kommt das vor.

Und da haben wir nun schon die Begegnung mit ›Warszawa‹

hinter uns! Dort werden sie jetzt die Minuten zählen!“

„Wann sollen sie die Verbindung aufnehmen?“

„In zwei Stunden. Aber das ist doch kein großer Unterschied.

Ich zittere vor Wut. Kann man es sehen?“ Erli nickte. „Die zwei Stunden werde ich mich jetzt hinlegen und das Funkgerät ignorieren. Ich gehe einfach nicht ‘ran, basta!“

Das war so wenig überzeugt gesagt, daß Erli unwillkürlich denken mußte: Henry wird nicht einmal fünf Minuten lang aushalten.

Wirt stürzte in die Bibliothek, Erli ging an den Kabinen vorbei in den Kommandosektor. Sven war mit irgendwelchen Berechnungen beschäftigt. Ohne mit der Eingabe von Daten in den Computer aufzuhören, bedeutete er Erli, im Sessel Platz zu nehmen. Der Journalist setzte sich und beobachtete den Bildschirm; doch sosehr er auch aufpaßte, er konnte den Eremiten zwischen den funkelnden Sternen nicht entdecken.

Wahrscheinlich war Erli ein wenig eingeschlummert, denn plötzlich wurde er durch Stimmengewirr aufgeschreckt.

Henry saß am Funkgerät und hatte sich zum Kommandanten gewendet. Er hatte eine Leidensmiene aufgesetzt und sagte:

„Es kommt keine Verbindung zustande.“

„Was ist denn bloß bei dir los?“ fragte Sven, verließ seinen Computer und ging zu dem Funker.

Erli bedachte, daß er bisher fortwährend gehofft hatte, Lej könnte ihn möglicherweise sprechen wollen. Er verließ den Raum, weil er befürchtete, seine Gefühle könnten von den anderen erkannt werden.

Zwei Stunden später wurde die Tür zur Bibliothek geöffnet; der Kommandant von „Veilchen“ und der Funker standen auf der Schwelle. Henry war bleich, Sven unnatürlich ruhig. Er sagte: „Der Eremit antwortet nicht. Irgendwas ist dort passiert.“

Traikow unterbrach seine Lektüre und meinte: „Was kann dort schon passiert sein? Der Empfang der Radiowellen…“

„Der Empfang ist in Ordnung. Den Funkturm des Kosmodroms kann man empfangen, aber er ist eben nur ein Automat.“

Erli wurde schwarz vor Augen.

„Was werden wir jetzt machen?“ fragte Nikolai.

„In zehn Minuten müssen alle bereit sein. Wir werden auf dreifache Belastung umschalten, oder…“ Hierbei blickte Sven zweifelnd auf Erli, ob er das aushalten würde. „Wir gehen aufs Äußerste, auch wenn jemandem dabei schlecht werden sollte.“

Traikow schaltete seine kybernetischen Helfer ein, und wenige Minuten später befand sich das Raumschiff in Alarmzustand. Alle vier lagen im Kommandosektor in den festgestellten, unbeweglichen Sesseln. Drei von ihnen hatten spezielle Aufgaben, die sie bei Überlastungen auszuführen hatten. Lediglich Erli hatte keinerlei besondere Verpflichtungen.

Sven schaltete die Reservetriebwerke ein. „Veilchen“ raste vorwärts, die Menschen wurden in die Sessel gepreßt. Ein paar Minuten lang versuchten sie noch, die Unterhaltung weiterzuführen und Vermutungen darüber anzustellen, was mit den Menschen auf dem Eremiten geschehen sein könnte. War das Funkgerät nicht intakt? Aber da hätten sie es doch während einer solchen Zeitspanne reparieren können; nicht nur ein-, sondern hundertmal wäre eine derartige Reparatur möglich gewesen! Oder war die Selva in die Zentralstation eingedrungen? Das war wenig wahrscheinlich, jedoch möglich. Andere Erklärungen wollten sich einfach nicht einstellen.

„Es kann nur die Selva sein“, äußerte Sven.

„Von den Basen hätte man ihnen zu Hilfe kommen können“, entgegnete Henry, ohne auf den Einwand positiv oder negativ zu reagieren.

„Sie würden doch wohl von der Zentralstation auf irgendeine Base evakuiert worden sein“, vermutete Erli.

„Nein“, wandte Nikolai ein und öffnete dabei kaum den Mund. „Die Selva, das ist kompletter Unsinn. Es muß einen anderen Grund haben…“

Eine ungeheure Schwere übte Druck auf sie aus. Einen Finger zu bewegen oder das Kinn aufzustützen, kostete große Anstrengungen. Die Kinnlade hing fortwährend schlaff herab.

Unter den Augen hatten sich Säckchen gebildet.

Besonders übel erging es Erli.

Sein letzter Gedanke war: Was sind diese Kosmonauten bloß für Menschen! Dann verlor er das Bewußtsein.

Nach acht Stunden kam Erli wieder zu sich, als für kurze Zeit ein Zustand der Schwerelosigkeit eintrat. Nur Nikolai Traikow erhob sich von seinem Sitz, um dem geschwächten Journalisten ein paar Schlucke heißer Bouillon einzuflößen.

„Was ist mit mir?“ flüsterte Erli.

„Du warst bewußtlos. Das ist das beste, auf diese Weise bist du in der Lage, alles zu überstehen. Alles wird gut.“

Den anderen war weder nach Essen noch nach Trinken zumute. Dann setzte der Bremsvorgang ein. Noch weitere acht Stunden mit dreifacher Belastung.

Während des ganzen Fluges war es nicht gelungen, mit dem Eremiten eine Verbindung herzustellen.

Als die Überbelastung abgeschlossen war, sah der Eremit wie eine riesige Melone aus und nahm ein Viertel des Bildschirms ein.

Die Zentralstation lag unmittelbar am Äquator. „Veilchen“

näherte sich ihr von der nördlichen Halbkugel, die von einem fast undurchsichtigen Dunstschleier überzogen war. Dieser Dunstschleier Schien aus künstlichen Regenbogenringen zu bestehen, die parallel zu den Breitengraden des Eremiten verliefen. Von der Oberfläche waren es ungefähr zweitausend Kilometer Entfernung, bis zur Basis etwa viertausend.

Plötzlich geschah etwas Eigenartiges. Als erster registrierte es Sven, der die kleinste Bewegung seines Raumschiffes spürte. Die Frontseite von „Veilchen“ wurde langsam hochgehoben. Sofort stellte sich eine Überbelastung ein, der Flugkörper wurde scharf gebremst. Er gehorchte dem Willen des Menschen nicht mehr. „Veilchen“ war wie in einen weichen, porösen Gummi hineingedrückt worden.

Das ging alles so rasch und urplötzlich vor sich, daß keiner Zeit gehabt hatte, irgend etwas zu tun. Niemand, nicht einmal Sven, hatte eingreifen können. In einer Höhe von ungefähr anderthalbtausend Kilometern blieb das Raumschiff ohne jegliche Stütze hängen, denn das Triebwerk war ausgeschaltet.

So hing es einen Augenblick lang, fiel dann aber nicht vertikal nach unten, sondern irgendwie auf die Seite, etwa in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Oberfläche des Eremiten.

Das war ein gesetz- und ordnungsloses Purzeln, als würde

„Veilchen“ von einem Berg hinuntergerollt.

Sven paßte dennoch einen Moment ab und schaltete das Triebwerk der Rakete ein. „Veilchen“ raste kerzengerade in die Höhe und verlangsamte seinen Flug ungefähr nach hundert Kilometern.

Die Menschen litten unter dieser Erscheinung nicht sonderlich, sogar Erli verlor nicht das Bewußtsein.

„Womit sind wir denn hier so sanft zusammengestoßen?“ rief Sven.

„Das war kein Zusammenprall“, erklärte Nikolai bestimmt.

„In dieser Höhe kann es über dem Eremiten überhaupt nichts geben.“

„Ein Meteor?“ ließ sich Henry unsicher vernehmen.

„Nein, im System Sewan gibt es gar keine Meteorströme, fast keine.“

„Fast — das heißt, es ist immerhin möglich.“

„›Veilchen‹ hat äußerlich keinerlei Schaden“, sagte Nikolai.

„Ich habe es überprüft.“

„Wir müssen landen“, meinte Erli, der bisher geschwiegen hatte. „Was mit ›Veilchen‹ los ist, klären wir später.“

„Zum Teufel noch mal!“ sagte Henry erregt und drehte sich um. „Ich kann nicht glauben, daß ihnen etwas passiert ist.“

Sven steuerte das Raumschiff nach Süden zum Äquator und ließ es allmählich tiefer gleiten, als es in einer Höhe von anderthalbtausend Kilometern über der Zentralstation war.

Nach wie vor kam keine Verbindung mit der Station zustande. Henry Wirt ging den gesamten Frequenzbereich durch, der in der Funkverbindung auf dem Eremiten zur Verfügung stand, aber im Äther blieb es still.

Das Raumschiff ging immer tiefer, der zigarrenförmige, zweihundert Meter lange Flugkörper vibrierte. Bis zur Oberfläche waren es noch fünfhundert Kilometer… dreihundert…

hundert… Man konnte die Zentralstation bereits mit bloßem Auge erkennen. Fünfzig… zwanzig… zehn… drei… Die einzelnen Gebäude der Zentralstation waren zu sehen. Noch ein Kilometer… noch zweihundert Meter… Aus dieser Höhe hätte man nun schon Menschen erkennen können. Kaum spürbar erzitterte der Rumpf der Rakete. „Veilchen“ fuhr sein Landegestell aus und setzte waagerecht auf.

Der Kosmodrom war menschenleer. Niemand war zur Begrüßung von „Veilchen“ gekommen.

4

„Wir sind gelandet“, sagte Sven dumpf. „Was nun?“

Niemand gab ihm eine Antwort. Erli drückte auf einen der farbigen Knöpfe, die an der Sessellehne angebracht waren. Die Feststeller sprangen seitwärts weg, und der Sessel gab sanft nach. Erli stand auf. Sein Kopf dröhnte, in seinen Schläfen hämmerte es. Ein Brechreiz würgte ihn. Mit eckigen, unsicheren Bewegungen ging er zur Tür des Kommandosektors, ohne zu Sven hinzusehen; ihm folgte Henry.

„Nikolai!“ rief Sven. „Alle ziehen Raumanzüge an und nehmen Blaster mit.“

„Blaster?“ fluchte Traikow. „Hier ist doch keine Menschenseele. Wozu die Waffen?“

„Das weiß ich nicht so recht. Aber wer kann wissen, was sich hier zugetragen hat?“ fragte Sven. „Offensichtlich niemand.

Den Aufzug habe ich blockiert. Wir werden zunächst einmal die Luft prüfen.“ Eine Minute später teilte er mit: „Die Zusammensetzung der Luft ist normal. Wir gehen gemeinsam.

Keiner unternimmt etwas auf eigene Faust. Wir haben keine Ahnung, was hier vor sich gegangen ist, und müssen deshalb äußerst vorsichtig sein.“

Henry Wirt und Nikolai Traikow stiegen als erste aus dem Kommandosektor. Erli sagte sich, daß es ihm nicht zukomme, zuerst auszusteigen. Die anderen wußten wenigstens, wie es hier vorher gewesen war. Aber er konnte sich das nicht einmal vorstellen. Der Boden federte unter den Füßen. Die Beleuchtungen huschten als verschwommene, fade Punkte vorbei.

Sven warf einen Blick in den Raum, in dem die Waffen aufbewahrt wurden. Sie waren aber so lange nicht in Gebrauch gewesen, daß Sven nach einigen Sekunden erfolglosen Herumstöberns wieder auf den Korridor herauskam, ohne etwas bei sich zu haben.

Als erster sprang Henry auf die Platten des Kosmodroms.

Einen Kilometer vom „Veilchen“ entfernt war die Kuppel der Zentralstation mit verschnörkelten Anbauten, Podesten, Durchgängen, Beobachtungsständen und kunstvollen Türmen zu sehen. Es glitzerte alles in den verschiedensten Farben, strahlte nach allen Seiten Regenbogenreflexe aus und hob sich wirkungsvoll vom blauen Himmel ab. Die Kuppel der Zentralstation war der Mittelpunkt für die riesigen Zylinder der Energiespeicher, die sich nach Norden und Süden erstreckten. In weiterer Entfernung ließen sich die Silhouetten der Speicher, Hangare, Wirtschaftsgebäude und Unterkünfte erahnen.

Leuchtend grüne Parkflächen lagen zur Rechten und zur Linken, dahinter gab es nur noch den schwarzen Streifen der Selva des Eremiten, der den gesamten Horizont bedeckte.

Äußerlich hat sich überhaupt nichts verändert, dachte Sven, als er Erli eingeholt hatte. Henry und Nikolai waren ihnen bereits weit voraus.

„Wir brauchen eine Arbeitshypothese“, sagte Erli und holte tief Luft.

„Ich weiß. Henry ist völlig mit den Nerven fertig.“

„Vielleicht sind diejenigen zurückgekehrt, die einst die Zentralstation aufgebaut haben?“

„Ausgerechnet jetzt? Weder ein Jahrhundert später noch ein Jahrhundert früher? Selbstverständlich ist auch das möglich.

Und was sollten wir in diesem Falle tun?“

Sonst waren stets die Mehrzweckmobile auf „Veilchen“ zugefahren, zum Bersten gefüllt mit jubelnden, lachenden Physikern, Technikern, Botanikern, Mathematikern und Biologen.

Die Rückkehr des Transportschiffes war immer für alle ein großes Fest gewesen. Aber hier herrschte Totenstille. Es gab keinerlei Anzeichen für menschliches Leben.

Zwei Mehrzweckmobile standen auch jetzt in der Nähe der Zentralstation, und ein drittes mit geöffneten Luken befand sich ungefähr in der Mitte von Raumschiff und Zentralstation.

Henry lief daran vorbei. Nikolai blieb stehen, kletterte in den Turm und sprang von dort ins Innere. Er schaltete die Beleuchtung ein. Die Schalttafel leuchtete auf. Traikow erfaßte mit einem raschen, flüchtigen Blick die Hebel und Tastatur der Schalttafel. Es war alles in Ordnung. Die Energiereserven zeigten den Höchststand an. Die Kabine war menschenleer.

„Ich möchte wirklich wissen, wozu sie das Mehrzweckmobil gebraucht haben!“ rief Henry, als er zur Luke hineinschaute.

„Ob sie irgendwohin fahren wollten?“

„Unverständlich, wohin sie damit hätten fahren sollen. Die Geschwindigkeit ist sehr niedrig. Bis zu einer Base kann man damit nicht kommen… Dazu nimmt man einen Hubschrauber.“

Erli kletterte ebenfalls in den Turm des Mehrzweckmobils.

Nikolai ließ den Starter an, der Motor heulte auf, und die Maschine fuhr los.

„Gib mir deine Hand!“ rief Erli, als sie Henry eingeholt hatten.

Die Eingangstür zur Zentralstation war weit geöffnet. Henry hatte mit einem Satz die Granitstufen erreicht.

„Mit Selva ist hier nichts!“ rief Sven. „Die Selva konnte nicht hierher vordringen.“

Henry nickte, als wollte er sagen: Das sehe ich. — „Wo willst du denn hin?“

„Zu den Biologen.“

„Warte auf Nik und Erli.“

„Ich will nachsehen, was in Osas Abteilung los ist!“ rief Henry und blieb an der Tür stehen.

„Nimm Nik mit!“

„Gut!“

Wirt und Traikow verschwanden im Korridor, der in den Außenring der Zentralstation führte. Ihre lauten Schritte verhallten, als sie um die Ecke gebogen waren. Sven forderte Erli mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. Auf der Rolltreppe gelangten sie in die Zentralstation, wo der Stab der Expedition, die wissenschaftliche Leitung unter Konrad Stakowski und seine Mitarbeiter Esra und Jumm gesessen hatten. Die Tür dieses Raumes war verschlossen. Sven und Erli versuchten mehrmals, sie zu öffnen, aber die Tür gab nicht nach.

„Keine Menschen. Kein Eindringen der Selva. Keinerlei Spuren einer Katastrophe“, sagte Erli. „Warum sind die Menschen verschwunden?“

„Sie könnten zu den Basen geflogen sein; das war öfter so.

Doch einige hätten hierbleiben müssen, etwa fünf Mann. Bei der Ankunft von ›Veilchen‹ waren aber immer alle hier versammelt. In den Basen ist die Abwehr der Selva bei weitem nicht so stark und wirkungsvoll. Sollten alle zwanzig auf einmal…? Wie dem auch sei, auf jeden Fall müssen wir unbedingt in den Stab. Dort muß jemand ständig anwesend sein und Wache halten. Dort müssen wir auch das Tagebuch der Expedition finden. Etwas werden wir bestimmt erfahren.“

Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Sven: „Ich hole etwas Schweres.“ Er raste nach unten und nahm dabei drei Stufen auf einmal.

Erli lief gemächlich den ringförmigen Korridor entlang. Auf der einen Seite war die Wand vom Raum des Stabes oder, wie auch noch gesagt wurde, des Hauptpultes der Expedition, die andere Seite, die Kuppel der Zentralstation, war offen. Auch der Korridor war oben geöffnet. Er war nicht groß, etwa fünfzig Meter im Umfang. Erli schritt ihn etliche Male entlang und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Sven blieb ziemlich lange. Das machte Erli stutzig. Was konnte denn dort noch los sein? Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ließ sich mit der Rolltreppe schnell nach unten befördern.

„Sven! Sven!“

Niemand antwortete. Erli lief hastig einige Meter im Korridor des dritten Ringes und wiederholte seine Rufe. Abermals keine Antwort. Erli stürzte zu dem unterirdischen Übergang in den zweiten Korridor, wo sich die Wirtschaftsräume befanden. Er sagte sich, daß er sich in diesem Labyrinth von Korridoren, Übergängen und Rolltreppen verirren könnte, aber er konnte einfach nicht auf seinem Platz bleiben. Linker Hand war alles beleuchtet, rechts war es finster. Erli ging automatisch dem Licht nach, und erst dann kam ihm zum Bewußtsein, daß die Lämpchen von Sven eingeschaltet worden waren. Er mußte demnach hier entlanggegangen sein.

Die beleuchtete Strecke führte plötzlich nicht mehr in Richtung der Wirtschaftsräume, sondern in die entgegengesetzte, und noch ein paar Meter weiter hörte sie an der Rolltreppe Nummer fünf des dritten Ringes überhaupt auf. Erli fuhr hinauf und befand sich nun zweihundert Meter über der Stelle, von der aus er seinen Erkundungsgang angetreten hatte.

„Sven!“ schrie Erli.

„Hier bin ich“, erwiderte eine Stimme ganz in der Nähe, und an der nächsten Korridorbiegung sah Erli Sven, der an einer Tür lauschte.

„Was ist dort los?“

„Jemand weint.“

„Waaas?“ rief Erli erfreut und überrascht aus.

„Still, sei still“, flüsterte Sven. „Horch mal.“

Erli kam auf Zehenspitzen näher. Hinter dem mattierten Raumteiler schluchzte tatsächlich jemand. Erli drückte leicht die Türklinke herunter. Auch diese Tür war verschlossen.

„Ich habe das schon von unten gehört und bin hierhergeeilt“, sagte Sven. „Jemand weint und öffnet die Tür nicht. Wir müssen sie einschlagen.“

„Moment mal!“ Erli hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

Das Weinen hörte plötzlich auf.

„Aufmachen!“

„Nei-ei-ein! Nei-ei-ein!“ Es war eine jämmerliche, schluchzende, Mitleid erregende Stimme.

„Schlag sie ein!“ rief Erli.

Sven drückte mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab nicht so ohne weiteres nach.

„Aufhören! Aufhören!“ Das war nun schon die Stimme eines zu Tode erschrockenen, am Ende angekommenen Menschen.

Krachend fiel die Tür zu Boden. Sven und Erli stürzten ins Zimmer.

„Erli, das ist doch Eva!“ rief Sven.

„Eva?“

„Nein. Euch kenne ich nicht. Ich kenne euch nicht“, flüsterten die Lippen des Mädchens kaum hörbar. Sie wich langsam zwischen den Tischen zurück. Sie hatte irgendein Gerät erfaßt, und es fiel polternd zu Boden. Das Mädchen drückte sich so an die Wand, als wolle es seinen Körper vollständig da hineinpressen.

„Eva, ich bin es, Sven, der Kommandant von ›Veilchen‹.

Was ist mit dir?“ Sven kam langsam auf das Mädchen zu, seine Hände hatte er ausgestreckt.

„Nein, das geht nicht.“

„Beruhige dich, Eva. Beruhige dich.“

„Nein… nein…“

Sven berührte die Schulter des Mädchens. Es blickte ihn mit den erschrockenen Augen eines gehetzten Tieres an. Sven rüttelte sie.

„Was ist geschehen?“

„Sven. Aber natürlich, das ist ja Sven“, sprach sie plötzlich leise vor sich hin. „Du bist es also… Wie ist es hier grauenvoll!“

„Eva!“

„Sei still, Sven!“ Sie verbarg ihr Gesicht an seiner breiten Schulter.

„Wo ist Stakowski? Wo sind die anderen?“ fragte Sven und wollte sie ablenken.

Plötzlich erschlaffte der Körper des Mädchens, und Sven hatte Mühe, sie aufzufangen.

„Erli, sie ist bewußtlos. Wir müssen sie wegtragen. Weißt du, wo ihre Unterkunft ist?“

Erli zuckte die Achseln und beugte sich zu dem Mädchen:

„Sie schläft.“

„Linie eins, Nummer sieben. Soll ich dir helfen?“

„Ich werde es schon finden.“ Erli nahm das Mädchen behutsam auf den Arm und trug es aus dem Zimmer.

Sven ließ sich am nächststehenden Tisch nieder und wählte auf der Scheibe für interne Verbindungen die Codenummer von Henry Wirt. Es kam keine Antwort. Sven setzte sich mit Traikow in Verbindung.

„Ich höre“, ließ sich dieser sofort vernehmen.

„Weshalb antwortet Wirt nicht?“

„Er sitzt im Labor von Osa. Laß ihn ein paar Minuten in Ruhe. Er hofft, irgend etwas zu finden, eine Notiz von Osa oder sonst irgendwas.“

„Gut, Nik. Wir haben hier Eva gefunden!“

„Eva? Ist denn hier überhaupt noch jemand da?“

„Vorläufig nur sie allein.“

„Eva!“ brachte Traikow erfreut heraus. „Hat sie etwas gesagt?“

„Nein. Sie ist ohne Bewußtsein. Geht auf schnellstem Wege in ihre Unterkunft. Wißt ihr, wo sie ist?“

„Selbstverständlich weiß ich das.“

„Geht rasch.“

„Wird gemacht.“

5

Erli trug das Mädchen behutsam zum Aufgang der Zentralstation. Der Sewan stand fast im Zenit, und erst jetzt stellte Erli fest, daß es hier sehr heiß war. Die Unterkünfte befanden sich etwa dreihundert Meter vom Haupteingang, und Erli lief geradewegs über das Gras, um den Weg abzukürzen. Das altvertraute Gras von der Erde raschelte sacht unter den Füßen, die Zweige der Bäume blieben am Gesicht und an der Kleidung hängen. Ihre Berührung war erstaunlich zart und angenehm.

Erli ertappte sich dabei, daß er überhaupt nicht mehr an die Katastrophe dachte, daß er Lej völlig vergessen hatte — wie eigentlich alles andere auch — und daß er nur um eines besorgt war: um keinen Preis den Schlaf des Mädchens etwa durch eine ungeschickte Bewegung zu stören.

Plötzlich war Erli hellwach und hatte ein unangenehmes Gefühl. Die Zeit! Wieviel Zeit war eigentlich vergangen, seitdem sie auf dem Eremiten gelandet waren? Wahrscheinlich dreißig Minuten. Und nichts war bisher bekannt. Was war mit Lej?

Was war mit allen anderen vor sich gegangen? Eva war und blieb ihre einzige Hoffnung; vielleicht würde man auch im Stab der Expedition irgendwelche Niederschriften finden… Sie mußten welche finden!

Forschend betrachtete er Evas Gesicht. Was hatte sie hier wohl erlebt?

Erli fand die Unterkunft und öffnete ihre Tür mit einem Fußtritt. Er kam in ein Zimmer, dann in ein anderes; wo aber war wohl das Schlafzimmer? Zum Teufel mit den Architekten! Er hatte keine Zeit zu verschenken und konnte sich langes Suchen nicht leisten. Schließlich entdeckte er eine breite, niedrige Couch und legte das Mädchen dorthin. Es schlief fest. Das Herz schlug regelmäßig. Die Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig. Erli warf einen Blick durch das Fenster.

Nikolai Traikow rannte die Treppe der Zentralstation hinunter und eilte zur Unterkunft. Sven und Henry gingen langsam und blieben etliche Male stehen. Man konnte erkennen, daß Thomson etwas zu Wirt sagte. Der Angeredete schüttelte den Kopf.

„Was ist mit ihr?“ fragte Nikolai.

„Schläft“, antwortete Erli einsilbig.

„Hat sie denn überhaupt nicht gesprochen?“

„Sie hat gesagt: ›Wie furchtbar ist es hier.‹“

„Was könnte denn das bedeuten?“

„Entweder bezog es sich auf das, was mit ihnen allen geschehen ist, oder darauf, was sie selbst durchgemacht hat, oder schließlich sowohl auf das eine als auch auf das andere. Wir müssen den Stimulator HD bei ihr anwenden. Wir haben keine Zeit. Sie muß zur Besinnung kommen. Danach kann sie weiterschlafen.“

„Gut“, entgegnete Nikolai und ging ins Bad, weil sich dort gewöhnlich die Medikamente befanden.

Sven und Henry kamen ins Zimmer.

„Henry bittet um den Hubschrauber“, sagte Sven bereits auf der Türschwelle.

„Ich fliege nur mal zu Osa und komme sofort zurück. Das wird höchstens vier Stunden dauern“, sagte Henry hastig. „Wir müssen ja sowieso auf den Basen nachsehen. Und Osa ist auf der allernächsten! Gebt mir doch den Hubschrauber.“

„Du kannst ihn ja gar nicht fliegen“, meinte Sven und wandte sich um, weil Henrys flehender Blick kaum zu ertragen war.

„So schwer ist das nun nicht.“

„Nein, Henry, das geht nicht. Wir sind nur fünf. Seit fünfunddreißig Minuten sind wir hier und wissen noch gar nichts.

Kapiert?“ Leise setzte er hinzu: „Noch ein bißchen Geduld!

Eva wird gleich zu sich kommen.“

Henry sprang auf Sven zu und packte ihn am Zipfel der Kutte. „Mit welchem Recht kommandierst du eigentlich hier herum? Hier ist kein ›Veilchen‹. Wer bist du denn? Stakowski?

Zwei Hubschrauber sind hier für jeden da! Von mir aus könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt. Ich jedenfalls fliege jetzt zu Osa. Ich muß erfahren, was ihr passiert ist. Sofort muß ich das wissen, verstehst du? Ich kann nicht warten, bis ihr hier klargekommen seid!“

„Na schön“, sagte Sven leise. „Mögen alle darüber entscheiden.“

Nikolai kam aus dem Bad und hatte eine Spritze in der Hand.

Er rieb Evas Arm mit einem alkoholgetränkten Wattebausch ein und gab die Injektion. Henry hatte sich urplötzlich in einen Sessel fallen lassen, die Augen geschlossen, sich zurückgelehnt und war in leichte Schaukelbewegungen übergegangen, wobei er sich mit den Händen an den Lehnen festhielt.

Eva öffnete die Augen, ließ ihren Blick ungläubig im Zimmer umherschweifen und flüsterte kaum hörbar: „Jungens…“

„Beruhige dich, Eva.“ Sven trat zu ihr und war ihr beim Aufrichten behilflich. Mit einer Handbewegung in Erlis Richtung:

„Erli Kosales, Journalist und Physiker. Er ist mit uns hierhergeflogen…“

Das Mädchen saß mit angewinkelten Beinen da und stützte sich auf den rechten Arm. „Demnach bin ich also gar nicht verrückt?“

„Was ist hier vor sich gegangen?“ fragte Sven mit Entschiedenheit.

„Ich weiß nicht, was passiert ist. Doch ich will alles erzählen, was ich weiß. Vier Tage nach eurem Abflug vom Eremiten hat Stakowski bekanntgegeben, daß sich alle für den Flug zu den Basen fertigmachen sollten. Daran waren wir in periodischen Abständen von früher her gewöhnt. Es wunderte sich also niemand. Die Vorbereitungen wurden getroffen. Am zehnten Tag waren dann nur noch Esra, Jumm und ich auf der Zentralstation. Alle anderen waren mit Hubschraubern zu den Basen geflogen.“

„Alle außer euch dreien?“

„Ja.“

„Auch Osa ist zu ihrer Basis geflogen?“ fragte Henry beiläufig.

„Ja. Man hat versucht, sie zum Hierbleiben zu überreden, doch sie bestand darauf, daß man sie ebenfalls wegschickte.“

„Wann hätten sie alle zurück sein müssen?“

„Am neunzehnten; außer denen natürlich, die ständig auf den Basen leben.“

„Was hatte Stakowski vorgeschlagen?“ fragte Sven.

„Das weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, wie Esra zu Jumm gesagt hat, Stakowski wolle beweisen, was eine Schaukel sei.“

„Eine Schaukel?“ fragte Sven zurück.

„Was für eine Schaukel?“ wollte Erli wissen.

„Das weiß ich nicht.“ Eva zuckte die Achseln. „Esra und Jumm saßen in dem Raum, wo das Regelungspult war, also im Stab. Von dort aus gibt es Verbindung zu allen Basen. Da ist auch der Computer. Sie hatten mich nach Kaffee geschickt, einem ganz gewöhnlichen Kaffee. Ich war hinuntergegangen, denn der Kaffee stand in Thermosbehältern in der Bar. Ich hatte einen genommen und mich wieder nach oben begeben.

Das alles hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert, so war es mir jedenfalls vorgekommen. Als ich in den Pultraum kam, waren Esra und Jumm nicht mehr da. Dort, wo sie gesessen hatten, sah ich zwei Skelette und Stücke zerrissener Kleidung…“ Eva bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schüttelte den Kopf. „Das ist furchtbar.“

Sven hockte sich auf den Rand der Couch und löste die Hände des Mädchens vom verweinten Gesicht. „Was war dann?“

„Ich war erschrocken. Ich konnte mir nicht erklären, was hier passiert war. Das war am schlimmsten. Ich nahm mit allen Basen gleichzeitig Verbindung auf, aber niemand antwortete.

Die Funkanlagen funktionierten nicht. Ich verließ die Kuppel und schlug die Tür hinter mir zu. Vielleicht gelingt es mir, sie vom Sektor der Außenverbindung zu erreichen, hoffte ich; denn von dort aus ist die Verbindung des Pultes doppelt so stark. Aber auch da gab es keine Antwort. Und mir wurde bewußt, daß ich auf diesem Planeten vollkommen allein war, ohne zu wissen, was mit den anderen geschehen war und was mit mir bereits im nächsten Moment, in der folgenden Minute passieren würde.

Ich allein war übriggeblieben. Das war grauenhaft. Ich raffte mich auf, in den Raum mit dem Hauptpult zu gehen. Die Materialien mußten in Ordnung gebracht werden, denn ihr mußtet ja auf den Eremiten kommen! Ich war verpflichtet, euch den Auftrag zu erleichtern, wenigstens irgendwie zu helfen. Aber der Rechenautomat gab nichts von sich, er war leer, keine einzige Information war darauf! Als hätte ihn jemand absichtlich gelöscht. Die Bänder der registrierenden Anlagen waren verschwunden. Alles war verrostet, zersplittert und zerstört.

Nicht ein einziges Dokument war übriggeblieben, mit dessen Hilfe man sich hätte ein Bild darüber verschaffen können, was auf den Basen in jenen zwei Stunden vor der Katastrophe getan worden war. Ihr werdet dort überhaupt nichts vorfinden.“

Eva schwieg.

„Erzähl weiter, Eva. Wir sind jetzt fünf“, sagte Sven.

„Da setzten bei mir die Halluzinationen ein. Ich glaubte den Verstand zu verlieren. Davon wurde mir dann noch übler, noch grauenvoller. Manchmal sah ich Esra und Jumm. Sie laufen im Zentralgebäude umher. Immerzu streiten sie. Aber sie können ja gar nicht hier sein, weil sie doch tot sind. Trotzdem laufen sie hier herum. Ist das der Irrsinn? So viel kann ein Mensch nicht aushalten. Welchen Tag haben wir heute?“

„Den dreiundzwanzigsten.“

„Der Wahnsinn hat demnach zwölf Tage gedauert. Sehe ich aus wie eine Verrückte?“

„Du bist völlig gesund, Eva“, sagte Nikolai. „Du bist nur sehr müde.“

„Ich fürchte mich.“

„Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben, Eva.“ Sven legte seinen Arm um ihre Schulter. „Hast du in deinem Bericht nichts Wesentliches weggelassen?“

„Nein… Ich bin so müde.“

„Eva, du wirst sofort einschlafen. Du mußt dich ausruhen.“

„Ihr werdet mich doch nicht allein hierlassen? Bestimmt nicht?“

„Eva, du wirst allein hierbleiben müssen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Das mußt du verstehen.“

„Gut, ich werde schlafen. Aber nicht länger als zwei Stunden.

Das wird vollkommen genügen.“

„Schlaf, Eva.“

Die vier verließen das Zimmer.

Das Mädchen begleitete sie mit einem Blick voller Hoffnung.

Nun waren sie fünf.

6

Erli verließ die Unterkunft und blickte um sich. Ringsumher war es wundervoll! Kleine Hütten lagen verstreut inmitten eines riesigen, schattigen Parkes. Der weiße Komplex der Zentralstation schien im endlosen blauen Himmel zu schweben. Weiches, grünes Gras und wilde Blumen, genau wie auf der Erde. Seltsame, sinnverwirrende Düfte, auf die er früher überhaupt nicht geachtet hatte — alles war ungewohnt, neu und unbekannt.

Er schaute sich um und schalt sich wegen seiner Sentimentalität. Vor ihm waren der Eremit mit seiner dichten Selva und tausend ungelöste Probleme. Zweihundertzehn Menschen, ausgestattet mit den modernsten Mitteln der Fortbewegung, der Funkverbindung und der Verteidigung, waren nicht zur Zentralbasis zurückgekehrt.

Und abermals wurde ihm übel, genau so, wie er es schon erlebt hatte, als er Eva auf dem Arm trug. Hätte er Zeit gehabt, dieses Gefühl zu analysieren, wäre ihm klargeworden, daß dies Angst war. Die Angst, daß er Lej nie wiedersehen wird. Eine lähmende, fürchterliche Angst, die dem Menschen gar nicht bewußt wird, so daß er nicht einmal weiß, daß er Angst empfindet.

„Was werden wir nun weiter tun?“ fragte Sven Thomson.

„So wie jetzt ist’s unmöglich.“ Er deutete auf die anderen.

„Wir müssen irgendwas unternehmen.“

Henry Wirt lag im Gras, das Gesicht nach unten, und schien zu weinen. Nikolai kaute nervös auf den Lippen.

„Es ist fast eine Stunde vergangen“, sagte Erli, „und wir wissen immer noch nichts. Wir müssen einen Aktionsplan aufstellen. Es ist doch nicht denkbar, daß alle auf einmal…“

„Warum habt ihr mich nicht zu Osa gelassen?“ schrie Henry.

„Warum?“ Und er hämmerte mit der Faust auf das Gras.

Sven sprang zu ihm, zog ihn mit einem Ruck vom Boden hoch und rüttelte ihn kräftig. „Henry! Komm zu dir! Laß dich nicht so gehen!“

„Verzeih, Henry“, sagte Erli. „Du wirst zu Osa fliegen. Bestimmt, wir werden das gleich beschließen. Wir gehen jetzt in die Zentralstation, und dort wird alles entschieden.“

Henry versuchte sich zu beherrschen, stand auf, und alle vier begaben sich zur Zentralstation.

„Über was für eine Schaukel mag Stakowski eigentlich gesprochen haben?“ fragte Erli Sven. „Habt ihr keine Vorstellung, was er im Sinn gehabt haben könnte?“

„Absolut keine Ahnung“, entgegnete Sven.

„Vorher ist überhaupt nicht davon die Rede gewesen?“

„Ich habe nichts dergleichen gehört.“

Sie blieben an dem Verbindungspult stehen.

„Wie soll man sich denn diese Schaukel vorstellen?“ fragte Nikolai plötzlich. Alle schauten ihn verwundert und verständnislos an.

„Wie kann man die Schaukel am einfachsten schematisch darstellen?“

Erli zeichnete auf ein Blatt Papier über das gesamte Format eine Gerade und durchschnitt sie in der Mitte durch eine kurze Gerade mit kleinem Neigungswinkel.

„So ähnlich würde ich sie auch zeichnen“, sagte Sven. „Doch wozu das alles? Hast du irgendwo so etwas gesehen?“

„Hab’ ich, ist noch gar nicht lange her, nicht nur einmal.

Möglich, daß es vorige Woche war, kann aber auch schon länger zurückliegen. Aber wo und weshalb? Daran kann ich mich nicht erinnern. Doch ich werde mir Mühe geben.“

„Im Moment ist da nichts zu machen?“

„Nein.“

„Gib dir große Mühe, dich zu erinnern“, meinte Sven. „Vielleicht liegt gerade darin des Rätsels Lösung. Aber erst einmal werden wir unseren Aktionsplan ausarbeiten. Wir können nicht die gesamte Zeit über zusammenbleiben. Deshalb müssen wir die Verbindung untereinander aufrechterhalten. Wir brauchen ein Zentrum, dem wir alle Informationen, die wir gesammelt haben, übermitteln. Einer von uns muß ständig hier in der Zentralstation sein. Am besten am Verbindungspult. Das wäre außerdem für den Fall gut, wenn plötzlich einer von ihnen zu sprechen anfinge… Wer bleibt hier? Henry hat dazu selbstverständlich keine Lust.“

„Nein.“

„Wer wird es also machen? Ich muß mit Henry fliegen, obwohl er das auch allein könnte.“

„Nein“, wiederholte Henry.

„Erli weiß hier zuwenig Bescheid…“

„Eva“, meinte Nikolai. „Solange sie schläft, werde ich hierbleiben. Und wenn sie aufwacht… Sicherlich werde ich dann für mich eine passendere Arbeit finden…“

„Gut.“ Sven erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab.

„Jeder muß ein Funkgerät bei sich haben, damit er nach draußen und drinnen Verbindung aufnehmen kann. Die Verbindung darf nie unterbrochen werden. Jeder ist weiterhin verpflichtet, wenigstens einen leichten Blaster bei sich zu haben, weil wir nicht wissen, was hier vor sich gegangen ist. Henry und ich fliegen mit dem Hubschrauber in die Base von Osa. Mehr als vier Stunden werden wir dazu nicht benötigen.“

„Dort arbeitet der Turm nicht“, sagte Henry. „Ich habe den gesamten Frequenzbereich gehört.“

„Früher hätten vier Stunden ausgereicht. Doch ohne Turm…

Ich weiß nicht, ob ich es mit Hilfe der Karte schnell finde.“

„Ich bin dort gewesen“, sagte Henry. „Wir werden es rasch finden.“

„Dann wollen wir gleich losfliegen. Erli, versuche die Tür zum Stab einzuschlagen!“

„Eva sagte doch, sie habe den Schlüssel“, warf Nikolai ein.

„Ja, richtig, wie konnte ich das bloß vergessen! Um so besser. Also dann los. Was wir nach ein paar Stunden tun werden, weiß ich nicht.“

„Daran wollen wir nicht herumrätseln“, sagte Nikolai, und sie gingen auf den Korridor.

Sven sagte: „Falls diejenigen zurückkommen, die vor uns hier waren… Wenn sie uns feindlich gesinnt sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit ›Veilchen‹ zu starten. Übrigens würde ich das auch tun, wenn ich davon überzeugt wäre, daß wir hier allein sind.“

Sie brauchten fünf Minuten, um die transportablen Funkgeräte und die Blaster zu suchen. Sven und Henry eilten zum Standort der Hubschrauber. Nikolai schaltete alle Empfangsgeräte des Verbindungspultes ein. Erli ging in Evas Unterkunft.

7

Erli beschloß, Eva nicht zu wecken. Ein paar Stunden würden sie ohne sie auskommen. Für sie war es am besten, sich tüchtig auszuruhen. Er zog etliche Kästchen und Schubladen ihres Schreibschrankes auf, aber er fand darin keine Schlüssel. Der Schlüssel hing mit einem kleinen Medaillon an einem Kettchen auf der Brust des Mädchens. Er war bemüht, sie nicht zu wekken, öffnete das Kettchen behutsam und zog es vorsichtig zu sich heran. Das Mädchen bewegte sich ein wenig, griff nach seiner Hand, doch wachte dabei nicht auf. Endlich hatte er den Schlüssel. Er nahm sich nicht die Zeit, das Kettchen wieder zu schließen. Leise verließ er das Zimmer.

Vor der Zimmertür des Hauptpultes blieb er stehen, holte tief Luft, schaltete die Funkverbindung ein und fragte Traikow:

„Nik, sind sie schon abgeflogen?“

„Ja. Alles lief normal. Alle zwanzig Minuten werde ich mit ihnen sprechen. Du kannst dich vollkommen deiner Aufgabe widmen.“

„Na, ausgezeichnet.“

„Wo bist du im Moment?“

„Ich öffne die Tür zum Hauptpult. Den Schlüssel habe ich gerade gefunden.“

Erli öffnete die Tür. Stickige Luft kam ihm entgegen. Darüber staunte er. Sollte tatsächlich die Ventilation nicht funktionieren? Auch die kleinen Lampenautomaten brannten nicht.

Kaum wahrnehmbar leuchtete die Decke auf, nach Norden und Süden fast ein wenig heller, in der Mitte war ein völlig dunkler Streifen. Bei dieser Beleuchtung konnte man schwerlich etwas erkennen, und Erli kam nur tastend voran. Eine kleine Hilfe war der Lichtstreifen, der durch die geöffnete Tür hereinfiel.

Die Innenausstattung im Raum des Hauptpultes kannte er nicht, doch seine Augen hatten sich inzwischen etwas an das Halbdunkel gewöhnt. Er bewegte sich sogar ein wenig sicherer, doch seine Sicherheit verflog mit einem Male, als er mit seiner Hand an die Sessellehne kam und der Stoffbezug ihm zwischen den Fingern zu Staub zerfiel. Erli zuckte zusammen und blieb stehen. Es war wohl doch besser, eine Taschenlampe zu nehmen. Aber warum funktionierte die Beleuchtung nicht?

Mit Hilfe des Lichtscheines fand er rasch zur Tür zurück und tastete sich zum Lichtschalter. Er knipste, aber es ging nicht, die Teile des Schalters fielen geräuschvoll zu Boden.

„Erli“, rief ihn Traikow an. Er zuckte überrascht zusammen und antwortete: „Ja, Nik.“

„Was ist bei dir los?“

„Ich begreife überhaupt nichts…“

„Soll ich helfen?“

„Nein, Nik. Sag mir lieber, wie ich schnell zu einer Taschenlampe kommen kann!“

„Eine Taschenlampe? Bist du denn unter der Erde?“

„Denk nicht, daß ich spinne. Die Automatik funktioniert nicht, und der Schalter ist mir in der Hand zerfallen.“

„Da wird wohl nur in den Wirtschaftsräumen etwas zu finden sein, sonst kaum. Soll ich dir eine hinbringen?“

„Ich mach’ das schon selbst. Du darfst nicht weg vom Verbindungspult.“

„Die Verbindung kommt erst in dreißig Minuten. Das schaffe ich.“

„Nein, Nik. Jede Sekunde kann jemand rufen.“

Erli fuhr auf der Rolltreppe hinunter, lief abermals den dritten Korridor entlang und kroch in den unterirdischen Durchgang.

Der Kolben seines Blasters schlug ihm gegen den Rücken. Erli kam sogar der Gedanke, daß hier, in der Zentralstation, eine Waffe doch völlig sinnlos sei. Die Lichterkette begleitete ihn und war ihm immer ein Stück voraus. Hier funktionierte alles vollkommen normal. In dem Wirtschaftsraum gab es eine Informationsmaschine. Erli drückte den Knopf „Autonome Beleuchtung“, merkte sich die Nummer der Sektion und lief weiter. Die Tür zur Sektion öffnete sich vor ihm bereits, als er auf sie zueilte. Es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Er ergriff eine kleine Taschenlampe und steckte sie in seinen Anzug. Auf den Regalen fand er noch zwei große, die er in die Hände nahm. Dann überlegte er einen Moment und nahm noch zwei. Mehr konnte er nicht tragen.

Im Laufschritt kehrte er wieder zum Hauptpult zurück, holte Luft vor der Tür und ging hinein. Die Lampen stellte er auf den Boden. Eine davon knipste er an, hob sie über den Kopf und ging langsam weiter.

Er sah einen runden Saal mit einem Durchmesser von etwa vierzig Metern vor sich. An den Wänden standen Schränke mit elektronischen Anlagen, bestimmt für Hilfeleistungen, Rechenmaschinen, Informationsspeicher, Autographen. Daneben waren achtzehn Sessel für Mitarbeiter. Sie waren alle besetzt, wenn Konrad Stajkowski die Bearbeitung der aufgespeicherten Informationen als dringliche kollektive Arbeit angesetzt hatte.

In der Mitte des Saales befand sich das zehn Meter große Pult in Hufeisenform: verschiedenfarbige Tafeln mit Tastaturen zur Einstellung eines Programms, Apparate für die Rückverbindung mit den zwanzig Basen, die es auf dem Eremiten gab, das Pult des Hauptcomputers, beleuchtete Melde- und Signaltafeln, Apparate für den visuellen Kontakt.

Unmittelbar in der Mitte des Saales standen noch ein paar Sessel. Hier hatten Konrad Stakowski, Philipp Esra und Edwin Jumm sowie einige andere Mitglieder der Expedition gearbeitet.

Erli stellte die Taschenlampe auf das Pult, lief um es herum, ohne etwas zu berühren, und betrat dann das Innere. Die ersten beiden Sessel waren leer. Im dritten und vierten lagen zwei menschliche Skelette, an denen stellenweise noch etwas Haut und ein paar Fetzen der Kleidung hingen.

Einige Sekunden betrachtete sie Erli, dann atmete er stoßweise die warme, muffige Luft ein und preßte die Hände an die Schläfen. Zum dritten Male überfiel ihn eine Welle von Angst, er wich zurück zum Ausgang und hielt den Schrei, der in ihm hochstieg, zurück. Er lehnte sich an den Türpfosten und zitterte infolge des völlig Unerwarteten. Das helle Licht im Korridor ließ ihn wieder etwas zu sich kommen. Und wie muß erst Eva zumute gewesen sein? dachte er. Eine Frau, ganz allein. Und sie konnte uns sogar noch was erzählen. Sie hat die Kraft gehabt, sich davon zu überzeugen, daß auf den speichernden Anlagen alle Informationen gelöscht sind. Ich habe nicht einmal das beim ersten Mal tun können.

„Erli, was ist bei dir los?“ rief ihn Traikow.

„Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist…“

„Demnach hat Eva die Wahrheit gesagt?“

„Und was für eine Wahrheit!“

„Mich verlangt Henry. Ich schalte mich aus.“

„Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist“, flüsterte Erli vor sich hin und ging wieder in den Saal.

8

An ihrem Standort befanden sich ungefähr zwölf Hubschrauber. Sven wollte auf einen kleinen Zweisitzer losstürzen, doch Henry hielt ihn zurück. „Wenn sie nun noch am Leben sind, und man müßte sie schnellstens hierherbringen?“

Thomson widersprach nicht. Sie rannten zu einem großen Zehnsitzer, legten ihre Blaster hinein und kletterten dann selbst hinauf. Sven warf einen Blick in den Gepäckraum, um sich davon zu überzeugen, daß Flammenwerfer an Bord waren.

Ohne sie in die Selva zu fliegen, wäre heller Wahnsinn gewesen.

Sven ließ den Hubschrauber jäh in die Höhe steigen. Die Kuppel der Zentralstation huschte vorbei, die Energiespeicher erschienen als weiße Tasten, die hölzernen Unterkunftshäuschen waren wie dunkle Erbsen im Gelände verstreut, nach einer Minute waren die letzten Flecken der hellgrünen Parkanlagen verschwunden. Unter ihnen lag die endlose Selva.

„Henry“, sagte Sven, „geh auf Verbindung mit der Zentrale.

Wir müssen alles überprüfen.“

„In Ordnung… Nik! Hörst du mich gut?“ fragte Henry, als er die Funkanlage eingeschaltet hatte. „Antworte!“

„Ausgezeichnet“, antwortete Traikows Stimme. „Wie geht es bei euch? Alles in Ordnung?“

„Völlig normal“, sagte Henry, und zu Thomson gewandt:

„Die Verbindung klappt, Sven… Nik! Ich werde die Zentrale alle zwanzig Minuten rufen, wie wir es vereinbart haben.“

„Gut.“

Von oben wirkte die Selva eintönig. Düstere Zusammenballungen dunkelgrünen Pflanzenwuchses. Ab und zu konnte das Auge kärgliche Wasserlachen von Flüssen und Seen erhaschen. Das Gelände war felsig. Auf dem Eremiten gab es überhaupt keine hohen Berge.

„Wohin man auch schaut, überall ist diese Selva!“ Wirt zog die Schultern hoch. „Falls nun die Selva in eine von den Basen eindringt? Allein der Gedanke ist schrecklich. Ein wildes Wüten der ekligen dahingleitenden Pflanzen, und eine Tierwelt, die nur ein Ziel hat: das Fressen. Blaster können dagegen nichts ausrichten. Unheimliche Selva! Doch vorläufig, solange der Schutzgürtel seine Wirksamkeit behält, kann die Selva kein Grauen erregen. Alles kann aus den Fugen geraten, bloß die Aggregate der Schutzgürtel nicht!“

Henry Wirt sah flüchtig auf den Geschwindigkeitsanzeiger.

Der leuchtende Zeiger hatte die Höchstgrenze erreicht.

Sven und Henry schwiegen. Sven verglich gewissenhaft das sich vor ihnen entfaltende Bild des Geländes mit der Karte.

Henry hing seinen eigenen Gedanken nach. Er wollte nicht glauben, daß seiner Osa irgend etwas zugestoßen war.

Als zwanzig Minuten nach ihrem Start vergangen waren, rief Wirt die Zentrale.

„Nik, hörst du mich gut?“

„Ausgezeichnet. Warum sprichst du so schnell? Ist etwas passiert?“

„Alles normal. Und bei euch?“

„Erli hat soeben vom Hauptpult aus gesprochen.“ Nikolai dehnte die Worte bedächtig. Seine Stimme war tief und heiser.

„Esra und Jumm brauchen wir nicht mehr zu suchen, es gibt sie nicht mehr.“

„Wieso?“

„Er hat weiter nichts gesagt.“

„Überhaupt nichts?“

„Nichts, Henry.“

„Du hast so eine eigenartige Stimme, Nik. So heiser, daß man Gänsehaut bekommen kann.“

Unter ihnen war wieder die eintönige, schmutziggrüne Selva.

Sven wandte sich zu Wirt: „Wenn alles in Ordnung geht, werden wir in einer Stunde die Basis Nummer zwei sehen können. Wieviel Menschen waren dort?“

„Dort sind vier!“ entgegnete Henry, und Thomson begriff, daß sein „waren“ nicht richtig gewesen war. „Osa, Wytschek, Jürgens und Stap, das sind vier Mann.“

„Es gelingt mir nicht, ruhig zu werden, Henry.“

„Danke, es ist besser so… Es wäre aufschlußreich, zu wissen, ob die Verbindung gleichzeitig mit allen Basen abriß oder nicht.“

„Vielleicht nicht ganz gleichzeitig. Eva ist doch nicht sofort zum Verbindungspult gerannt. In diesen wenigen Minuten hat viel geschehen können.“

„Und wenn es die Selva gewesen ist?“

„Zur gleichen Zeit in allen Basen? Allein die Vorstellung fällt einem schwer.“

Es waren weitere zwanzig Minuten vergangen. Wirt rief abermals die Zentrale.

„Nik, verstehst du mich gut?“

Als Antwort erklang ein tiefes, heiseres Brummen. In Traikows Kehle würgte und krächzte etwas.

„Nikolai! Was ist passiert? Was ist los?“

Das Brummen wurde allmählich leiser und verstummte völlig.

„Sven, verstehst du irgendwas?“

„Wir kehren um!“

„Ich habe dich gefragt, ob du etwas verstehst!“

„Bei ihnen ist etwas vorgefallen, Henry. Wir müssen umkehren.“

„Hier ist mit allen etwas geschehen. Umkehren werden wir jedenfalls nicht. Na, was ist? Du verstehst mich doch, nicht wahr, Sven? Du hast alles verstanden, stimmt’s?“

„Ich kehre um.“

„In kaum einer Stunde werden wir wissen, was auf der zweiten Basis passiert ist.“

„Und wenn nun die drei in der Zentrale unsere Hilfe brauchen?“

„Tu, was du denkst.“ Wirt lehnte sich gleichgültig im Sessel zurück.

Der Hubschrauber machte eine jähe Wendung.

„Nimm dich zusammen, zum Teufel noch mal!“ schrie Sven.

„Versuche die Verbindung in Ordnung zu bringen!“

„Ich versuch’s“, flüsterte Wirt.

Die Zentrale gab auf die Rufe keine Antwort. Das Brummen und dumpfe Krächzen wurde zuweilen von absolutem Schweigen abgelöst.

„Sven und Wirt lauschten wortlos den unverständlichen Geräuschen und Lauten.

9

Erli hatte den Saal wieder betreten und gab sich Mühe, nicht zu den beiden Sesseln zu sehen. Er stellte die Taschenlampen so auf, daß sie den Raum gleichmäßig erhellten. Dann machte er sich einen Plan, wie er ungefähr vorgehen wollte. Zuerst wollte er feststellen, was im System der Automaten los war, danach die Informationsspeicher ansehen, die Magnetbänder der Rechenmaschinen und die Autographen prüfen. Mit der Untersuchung der sterblichen Überreste der beiden Wissenschaftler wollte er seine Nachforschungen hier abschließen.

Bereits bei flüchtigem Hinsehen stellte er fest, daß die Ventilationsschächte vollkommen zerstört und die Kompressoren in einen Haufen Blech verwandelt worden waren. Eine unter Putz liegende elektrische Leitung konnte er nicht entdecken, aber alle Schalter und Steckdosen waren kaputt. Der Plast war rissig, die Kontakte waren mit einer dicken Rostschicht überzogen, es war sinnlos zu versuchen, etwas einzuschalten: Bei einer einzigen Berührung hingen sofort die Kabel und Gummischnüre der Apparate herunter und waren nicht mehr zu gebrauchen. Irgendeine Seuche, eine heimtückische Krankheit schien das Material, aus dem die Apparaturen und Mechanismen gefertigt waren, befallen zu haben. Lediglich Wände und Fußboden, die aus hitzebeständigem Plast waren, wirkten wie neu.

Die Hebel der Apparaturen rasteten nicht ein, die Tastaturen ließen sich nicht niederdrücken oder verloren bereits bei einer leichten Berührung ihre Spannung und kehrten nicht mehr in ihre Ausgangsstellung zurück.

Von den Bändern der autographischen Anlagen war überhaupt nichts übriggeblieben. Die Magnettrommelspeicher der Rechenmaschinen waren verzogen die Tonbänder hatten sich in Staub verwandelt. Informationsträger waren auch in den Blöcken der Informationsspeicher nicht erhalten geblieben.

Erli ging vorsichtig von einem Gerät zum anderen und gab sich Mühe, mit nichts in Berührung zu kommen; doch hin und wieder fiel etwas krachend zu Boden, schwebte als graue Staubwolke davon oder zerfiel in formlose Plast-Teile und verrostetes Metall.

Trotz alledem war in diesem Chaos defekter, wertlos gewordener Apparaturen und Gegenstände so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit zu beobachten. Der Äquator des Planeten verlief direkt durch die Mitte des Saales. Alles, was sich in unmittelbarer Nähe dieser Linie befunden hatte, war mehr zerstört worden als die Dinge, die an den gegenüberliegenden Wänden gewesen waren.

Der Tod hat am Äquator begonnen, sagte Erli zu sich selbst.

Dann betrat er das große Hufeisenpult und blieb an dem Sessel stehen, in dem wahrscheinlich Philipp Esra gesessen hatte.

Zweifellos hatte er in dem Moment, als ihn der Tod ereilte, gesessen. Das bezeugte die Haltung des Skeletts. Aber die Zeit hatte auch ihn nicht verschont, und der Schädel starrte mit leeren Höhlen aus der Sessellehne hervor. Erli harrte etwa eine Minute an diesem Platz aus.

Eine traurige Geschichte…

Er versuchte sich vorzustellen, was Philipp Esra wohl in dem Augenblick gemacht hatte, als er starb. Welche Programmtasten mochte er gedrückt haben? Woran hatte er gedacht? Was wollte er gerade tun? Und Edwin Jumm? Worüber hatten sie vor dem Tod gesprochen? Was hatte das Wort „Schaukel“ zu bedeuten?

Im Ergebnis seiner Besichtigung kam Erli zu keiner einzigen Schlußfolgerung. Esra und Jumm waren nicht mehr unter den Lebenden. Alles, was sich im Hauptpult befunden hatte, war untauglich geworden, zerfallen oder zerstört. Doch es blieb unverständlich, weshalb dies eingetreten war. Eine Epidemie?

Warum dann nur hier in der Kuppel der Zentrale? Und in welcher Beziehung stand das zur Linie des Äquators?

Wie kam er übrigens dazu, daß sich dies alles nur im Hauptpult zugetragen haben sollte? Weil der Korridorring nicht von der Zerstörung betroffen war? Das hatte wohl nichts zu bedeuten; denn auch hier, im Raum des Hauptpultes, sah der Fußboden wie neu aus.

Erli trat hinaus auf den Korridor und betrachtete ihn eingehend.

Wenn er es nicht erwartet hätte, würde er es wahrscheinlich jetzt auch nicht bemerkt haben, genau wie beim ersten Mal. An den Wänden im Korridor fand er etliche Risse. Die Plastverkleidung der Wände war gesprungen. Erli riß die Fenster im Korridor auf. Er wollte sehen, was dort auf dem Boden über der imaginären Linie des Äquators los war. Doch die Dächer der Zentralstation zogen sich einige hundert Meter nach allen Seiten hin. Er konnte im Erdboden infolge der großen Entfernung nichts feststellen. Über die Dächer schien allerdings so etwas wie ein dunkler Streifen entlangzulaufen.

Es gab schon irgendeine Gesetzmäßigkeit bei dem Ganzen, aber vorläufig war nicht dahinterzukommen.

„Erli“, ließ sich Traikow vernehmen, „gleich ist die Verbindung mit Wirt fällig. Was hast du inzwischen herausbringen können?“

„Hier ist alles zerstört. Wie lange wart ihr unterwegs?“

„Zwölf Tage“, entgegnete Traikow verwundert.

„Und was meinst du, wenn ich dir jetzt sage, daß ihr ungefähr fünfhundert Jahre nicht auf dem Eremiten gewesen seid? Nun, was ist? Warum bist du so still?“

„In gewisser Hinsicht können es auch fünfhundert Jahre gewesen sein.“

„Nein, nicht in gewisser Hinsicht, sondern es ist so, wie ich sage. Ich befinde mich im Augenblick im Hauptsteuerungspult.

Ich versichere dir, daß hier einige hundert Jahre vergangen sind. Vielleicht auch nur einige Jahrzehnte. Darin liegt aber im wesentlichen gar kein Unterschied. Was ist denn, wenn ihr tatsächlich einige hundert Jahre für euren Flug gebraucht habt?“

„Erli, ich komme gleich mal zu dir.“

„Nicht nötig, Nik. Ich bin nicht verrückt. Auf dem Eremiten sind einige Tage vergangen, das bestätigt ja auch Eva. Hier sind es aber einige hundert Jahre. Vielleicht hängt es mit dem Einfall eines Virus zusammen?“

„Und wie wäre es, wenn die Besitzer dieses Planeten zurückgekommen sind?“

„Dann diese Grausamkeit? Dann würde auch uns nichts Gutes bevorstehen. Es gibt hier eine eigenartige Gesetzmäßigkeit.“

„Was ist es?“

„Ich muß es erst überprüfen.“

„In Ordnung, ich schalte mich aus.“

Erli begab sich hinunter in den dritten Ring, denn er hatte beschlossen, ihn nochmals entlangzugehen und festzustellen, was in den Laboratorien passiert war, die, genau wie das Hauptpult, über der Äquatorlinie lagen.

Das Hauptpult befand sich im rechten Flügel. Erli ging den linken entlang. Er war jedoch noch nicht weit gekommen, als ihn Traikow nochmals rief. Er war irgendwie erregt, obwohl er sich bemühte, ruhig zu sprechen: „Erli, kannst du mal zu mir kommen?“

„Was ist passiert?“

„Wirt und Thomson antworten nicht.“

Erli machte sofort kehrt zum rechten Flügel.

„Irgendwas heult bei ihnen. Zuerst war überhaupt nichts zu hören, dann ganz schwach, ähnlich einem Ultraschall. Und jetzt ist es ein durchdringendes Heulen.“

Was sollte ihnen denn zugestoßen sein? Auf die Hubschrauber war doch vollkommen Verlaß. Eigentlich war hier auf alles Verlaß, und trotzdem war viel verdorben worden.

Erli öffnete die Tür zum Saal. Traikow saß mit dem Rücken zu ihm und schrie ins Mikrofon: „Ich rufe Wirt! Hier Traikow!

Ich rufe Wirt! Geht auf Empfang!“

Er wiederholte alles noch einmal, nachdem er das Untergestell auf einen anderen Platz gerückt hatte. Erli ließ sich in einen Sessel fallen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

„Sie geben keine Antwort“, sagte Nikolai und drehte sich zu ihm um.

„Gib nicht auf. Ruf immer wieder.“

Nikolai versuchte abermals, Wirt heranzubekommen.

„Übrigens habe ich dir folgendes noch gar nicht gesagt, es ist mir auch vorher nicht eingefallen. Wir müssen auf allen Verbindungskanälen Tonbandaufzeichnungen durchführen. Natürlich können wir nicht alles abhören, aber wir können die Bänder in den Computer geben. Soll er sie bearbeiten! Vielleicht erhalten wir dadurch wenigstens ein Bit Information.“

„Ich schreibe alles mit und höre es mir in bestimmten Abständen an. Absolut nichts… Ich rufe Wirt! Hier Traikow!

Geht auf Empfang!“

„Schon zwei Stunden…“

„Was hast du gesagt?“

„Wir sind jetzt fast zwei Stunden auf dem Eremiten.“

10

Sie flogen in Richtung Zentralbasis ungefähr fünfzehn Minuten.

Für einen Moment ballte sich die Luft vor dem Hubschrauber zu dichtem Nebel, und die Maschine kam nur schwer voran, sie wurde vorwärts geworfen, wie aus einer auf Hochtouren laufenden Schleuder hinausgedrängt. Sie spürten, wie der Rumpf der Maschine durch den unheimlich starken Luftwiderstand ins Vibrieren geraten war, beide wurden auf die Sessel gepreßt. Sven erhöhte die Geschwindigkeit, aber plötzlich fiel sie weit unter die Hälfte der Maximalgrenze, und sie wurden von ihren Sitzen nach vorn geworfen.

„Hier geht’s mit dem Teufel zu“, brummte Sven. „Als wir zur zweiten Basis geflogen sind, ist es hier in diesem Gebiet schon mal passiert, daß die Geschwindigkeit plötzlich absank, und ich mußte das letzte aus der Gangschaltung herausholen.

Jetzt ist alles genau umgekehrt. Als ob man an irgendeine Schwelle käme. Ich habe noch nie zuvor mit einer solchen Erscheinung zu tun gehabt. Und in der Atmosphäre herrscht völlige Ruhe.“

„Außerdem hüllt uns irgendein Dunst ein wie eine Decke.“

„Es ist also wirklich so gewesen? Ich dachte nämlich, ich hätte mir das eingebildet.“

„Ich rufe Wirt! Hier Traikow!“ klang es plötzlich aus den Mikrofonen, heiser und aufreizend langsam.

„Ich höre, Nik!“ rief Henry. „Was ist bei euch vorgefallen?

Warum habt ihr keine Antwort gegeben?“

„Bei uns ist alles normal. Warum habt ihr denn nicht geantwortet?“

„Wir sind auf Verbindung mit euch gegangen, doch ihr habt euch nicht gerührt. Da dachte Sven, bei euch muß etwas passiert sein, und wir sind zurückgeflogen. Jetzt brauchen wir wohl noch zwanzig Minuten bis zu euch. Sollen wir kommen oder zur zweiten Basis fliegen?“

„Erli meint, ihr könntet dorthin fliegen… Aber warum haben wir keine Verbindung bekommen? Und weshalb trompetest du eigentlich derart?“

„Ich spreche absolut normal. Aber du, Nik, bist allem Anschein nach am Einschlafen!“

Zwischen den Worten und Sätzen traten zuweilen längere Pausen ein, und jeder dachte dann, daß man sich auf der an deren Seite die Antwort überlege.

„Es ist irgendeine Teufelei“, brummte Sven wieder. „Bleib immer auf Verbindung. Irgendwie gefällt mir diese Dunsthülle nicht.“

„Nik“, sagte Henry, „sprich jetzt mal ohne Unterbrechung, irgendwas; mal sehen, wann die Verbindung abreißt.“

„Du glaubst, daß das wieder passiert?“

„Ich weiß nicht, aber rede nur. Was hat sich bei Erli herausgestellt?“

„Bei Erli? Nichts Bestimmtes. Er ist der Auffassung, daß wir ungefähr fünfhundert Jahre nicht auf dem Eremiten gewesen sind.“

„Oho, das ist nicht schlecht! Wo ist er denn jetzt?“

„Sitzt neben mir. Ich habe ihn hergebeten, als die Verbindung mit euch nicht mehr zustande kam.“

„Nik, tu mir den Gefallen und dehne die Worte bitte nicht so.“

„Ich spreche normal. Aber du überschlägst dich ja förmlich.

Dein Leben lang wirst du das so machen.“

Als Antwort hörte Traikow jetzt ein langgezogenes Heulen, das mehrfach länger unterbrochen wurde. Die Kabine des Hubschraubers war erfüllt von einem dumpfen, tiefen Geheul aus den Telefonen.

„Die Verbindung ist unterbrochen, Sven“, sagte Henry.

„Schon wieder diese Hülle. Der Hubschrauber prallt auf sie wie auf straffgespannten Gummi. Wir müssen aber trotzdem herausbekommen, was das eigentlich ist. Ich fliege schnurstracks darauf zu.“

„Gut.“

„Paß auf. Jetzt kommen wir an sie heran. Halt dich fest. Es wird gleich einen Ruck geben!“

Der Hubschrauber schoß nach vorn und schleuderte hin und her, doch Sven wurde jetzt mit der nicht gehorchenden Maschine schon viel besser fertig als vorher. Im selben Moment tönte es aus den Telefonen: „… fe Wirt! Hier Traikow!“

„Der Empfang ist normal.“

„Was war bei euch los?“

„Erli soll den Parallelkanal benutzen.“

„Ich höre alles gut, Henry, erzähle!“

„Hier tritt in der Luft plötzlich eine Hülle auf, etwa wie ein dünnes, halb durchsichtiges Häutchen. Wenn wir dahinter sind, reißt die Verbindung ab, kehren wir wieder zurück, ist die Verbindung völlig normal. Wahrscheinlich irgendeine Abschirmung.“

„Welchen Einfluß hat diese Hülle noch auf euch?“

„Wenn wir durch sie hindurchfliegen und aus eurer Richtung kommen, wirkt sie wie eine gespannte Feder oder straffer Gummi. Sven muß auf Höchstgeschwindigkeit gehen. Fliegen wir zurück, also zu euch hin, stößt sie uns gewissermaßen von sich ab, wirft uns zurück.“

„Welche Geschwindigkeit habt ihr?“

„So an die zweitausend in der Stunde.“

„Fliegt diese Membran mal an mit einer Geschwindigkeit von zwanzig oder fünfzig Kilometern pro Stunde.“

„Wird gemacht, in Ordnung.“

Sven senkte die Geschwindigkeit und machte eine tiefe Wendung. Der Zeiger des Geschwindigkeitsmessers senkte sich immer weiter. Bis zu der vibrierenden, glasklaren Hülle waren es noch etwa fünf Kilometer, aber die Maschine kam nicht weiter an sie heran, obwohl der Geschwindigkeitsmesser fünfundzwanzig Kilometer pro Stunde anzeigte.

„Sie läßt uns nicht weiter heran“, sagte Sven. „Der Motor arbeitet, aber wir stehen auf der Stelle.“

„Geht auf Null“, bat Erli.

„Hab’ ich gemacht“, erwiderte Sven. „Wir werden langsam zurückgedrückt. Das Triebwerk für den Horizontalflug ist vollkommen ausgeschaltet.“

„Schön. Geht mal ungefähr zehn Kilometer zurück, erhöht eure Geschwindigkeit und fliegt durch wie beim ersten Mal.“

„Was glaubst du, Erli, was das gewesen ist?“

„Ich weiß es nicht, Henry. Irgendeine Energiebarriere. Vielleicht werden wir noch dahinterkommen, welche Ursachen sie hat, wie sie beschaffen ist, aber vorläufig müßt ihr euch so durchschlagen.“

„Wie hoch wird sie sein?“

„Ich denke, sehr hoch. ›Veilchen‹ ist ja auch gegen etwas aufgeprallt, als wir auf dem Eremiten gelandet sind.“

„Ja, das ist richtig“, meinte Sven. „Es ist ein ähnliches Gefühl. Nur, daß wir da kräftig durcheinandergeschüttelt worden sind.“

„Wenn die Verbindung wieder abreißt, fliegt ihr ohne weiter.

Bis zur zweiten Basis habt ihr noch ungefähr eine Stunde.

Kurz gesagt, in vier Stunden erwarten wir euch wieder im Äther.“

„Abgemacht. Also sechzehn Uhr dreißig“, sagte Henry abschließend. „Alles Gute.“

„Euch dasselbe.“

„Ich erhöhe jetzt die Geschwindigkeit“, sagte Sven.

11

„Für ein paar Stunden stehe ich jetzt zur Verfügung“, sagte Traikow. „Eva kann mich hier vertreten. Was kann ich tun?“

„Die Energiespeicher müßten nachgesehen werden.“

„Das übernehme ich.“

„Ich wollte eigentlich mal sehen, was sich auf dem Gelände der Zentrale alles tut. Ich brauche dazu ein Mehrzweckmobil.

Lauf zu Eva und stell ihr das Taschenfunkgerät an einen gut sichtbaren Platz, dazu eine kurze Mitteilung, damit sie nicht in Aufregung gerät und uns nicht sucht. Nimm die Verbindung mit mir auf, sooft du irgend kannst, besonders dann, wenn du etwas Ungewöhnliches, Unerklärliches feststellst, und sei es auch nur die geringste Kleinigkeit.“

„Ich habe verstanden, Erli. Ich gehe.“

„Wart mal! Der Äquator dieses Planeten läuft doch durch die Zentrale?“

„Ja.“

„Hat jemand schon mal daran gedacht, die imaginäre Äquatorlinie zu markieren? Kann ich sie auf dem Gelände der Zentrale nicht irgendwie finden?“

„Die Linie des Äquators ist durch kleine Pflöcke markiert.

Das hat Stap gemacht; er hatte etwas übrig für derartige Sachen.“

Sie gingen gemeinsam hinaus zum Aufgang der Zentrale.

Traikow wandte sich der Unterkunft Evas zu, Erli kletterte auf das Dach eines Mehrzweckmobils, öffnete die Luke und stieg hinein. Er prüfte die Steuerung der Maschine. Es war alles in Ordnung.

Die Maschine heulte wütend auf und raste in großem Bogen um das Gebäude der Zentrale. Nach ein paar hundert Meter Flug brachte Erli das Mehrzweckmobil zum Stehen und sprang auf den Rasen. Er lief noch ein Stück zu Fuß, betrachtete aufmerksam das Gras und orientierte sich nach der Gebäudekuppel.

Schließlich fand er, was er suchte: Im Abstand von einigen Metern waren jeweils fünfzig Zentimeter hohe Holzklötze in die Erde gerammt. Früher waren sie einmal mit hellroter Farbe gestrichen, damit sie sich vom Gras gut abhoben. Doch von der Farbe war keine Spur mehr zu sehen. Bei der geringsten Berührung fielen die Klötzchen um. Erli hob ein paar dieser ehemaligen Holzklötze auf und verstaute sie behutsam im Gepäckraum der Maschine. Er kletterte wieder in sein Fahrzeug, schob die Vorderwand in die Höhe, damit er gute Sicht hatte, und ließ das Mehrzweckmobil auf dieser festgelegten Linie mit mäßiger Geschwindigkeit entlanggleiten. Sehr bald traf er auf riesengroße, umgefallene, halb verfaulte Bäume.

Auf dem Terrain der Zentrale konnte es so große Bäume überhaupt nicht geben. Sie hätten gar nicht so rasch heranwachsen können, weil sie sich ja aus Samen von der Erde entwickeln mußten.

Er fuhr etwa einen Kilometer auf der Strecke entlang und fand danach endgültig seine Annahme bestätigt, daß die Mannschaft von „Veilchen“ im Gebiet um die Äquatorlinie nicht etwa ein paar Tage nur abwesend gewesen war, sondern mindestens einige Jahrzehnte. Er würde den Zeitraum genauer bestimmen können, sobald er nach seiner Rückkehr zur Zentrale die erforderlichen Analysen im Labor vorgenommen haben würde.

Er hätte sich auch sofort entschlossen zurückzukehren doch der schwarze Selva-Streifen am Horizont nahm seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Er schien ihm außerordentlich hoch zu sein.

Mit hoher Geschwindigkeit fuhr er nun vorwärts, drückte das Gras und kleine Büsche nieder, ließ beim Durchqueren kleiner, künstlich angelegter Flüsse und Seen Fontänen um die Maschine aufspritzen, flog Böschungen hinauf und ließ sich in blühende Talsenken gleiten. Allmählich veränderte sich der Pflanzenwuchs. Er wurde immer wildnisartiger. Aber das verwunderte ihn gar nicht so sehr, weil nur der mittlere Teil des Parkes kultiviert war, alles andere hatte man der Natur überlassen. Natürlich hatte man den Pflanzengleitern den Zutritt verwehrt. Hier gab es lediglich Pflanzen von der Erde, kultivierte oder verwilderte.

Als ihn von der Verbotslinie nur noch hundert Meter trennten, wurde ihm klar, weshalb ihm der Selva-Streifen am Horizont so unnatürlich hoch vorgekommen war. Die einzelnen Pflanzen waren nicht höher als fünf Meter, doch sie waren aneinander hochgeklettert. Es war ein unheimlich drohendes, mehrstöckiges Pflanzengeflecht, so daß man einzelne Pflanzen darin überhaupt nicht unterscheiden konnte. Es war ein scheußliches Gewirr von Wurzeln, Stämmen und Zweigen.

Erli kletterte aus dem Mehrzweckmobil und ging dicht an die Verbotslinie heran. Jetzt erst sah er, daß es sich um abgestorbene Pflanzen handelte, die von der Nordseite des Parkes in riesigem Halbkreis auf der Verbotslinie aufgetürmt waren. Der Wall war mindestens hundert Meter hoch. Welche Kraft hatte einen solchen toten Gürtel anlegen können? Eigentlich nur ein fürchterlicher, noch nie dagewesener Orkan, dessen Gewalt man sich schwer vorstellen konnte. Der Orkan war offensichtlich von Norden her gekommen und hatte, als er auf die undurchdringliche Verbotswand gestoßen war, seine Trophäen an dieser Stelle liegengelassen.

Wie hatte sich aber ein derartiger Orkan entwickeln können?

Auf dem Eremiten herrschte solch ein mildes Klima, ohne stürmische Winde.

Hier stieß er auf die Frage, was mit dem Kraftfeld dort geschehen war, wo es von der Äquatorlinie durchkreuzt wurde.

Wieder setzte er sich in die Maschine und fuhr an dem Wall entlang, dessen Höhe sichtlich abnahm, je mehr sich das Fahrzeug dem Schnittpunkt näherte. Als er sah, daß dort alles in Ordnung war, sagte er sich, daß wahrscheinlich an dieser Stelle die errichtete Sperrmauer aus den Speichern riesige Energiemengen geholt hatte, um die Bresche zu schließen, und sie war intakt geblieben.

So verhielt es sich hier in der Zentrale, deren Energiespeicher praktisch unerschöpflich waren. Was aber war von den Basen übriggeblieben, falls über sie ein solcher Orkan hinweggebraust war? Vielleicht zehn Minuten lang saß er im Gras im Schatten des Mehrzweckmobils und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Was hatte er in diesen drei Stunden in Erfahrung gebracht?

Absolut sicher war folgendes: Esra und Jumm lebten nicht mehr, sie waren tot. Alles entlang der Äquatorlinie warum etliche Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gealtert. Es war jedoch möglich, daß dies ganz einfach nur der Arbeit irgendwelcher Mikroorganismen zuzuschreiben war. Einige hundert Kilometer nördlich von der Zentrale gab es ein unbekanntes Kraftfeld, einen Energieschirm, der jede materielle Substanz von sich abstößt und Radiowellen nicht weiterleitet. In dem Zeitraum, in dem „Veilchen“ nicht auf dem Eremiten war, hat es einen ungeheuerlichen Orkan gegeben. Die Menschen auf den Basen haben auf Rufe der Zentrale keine Antwort gefunkt…

Wie sollte man das einordnen und zusammenfassen? „Erli!“

hörte er Traikows Stimme. „Verstehst du mich?“

„Ja, ich höre dich, Nik. Was gibt’s bei dir?“

„Es handelt sich um folgendes.“ Traikows Stimme war vollkommen ruhig. „Was soll ich mit Menschen anfangen, die sich in der Nähe der Energiespeicher aufhalten?“

„Was für Menschen denn, Nik? Was erzählst du da?“ Erli sprang auf und war mit einem Ruck oben auf dem Mehrzweckmobil.

„Ich dachte, wir hätten stillschweigend vereinbart, daß keiner den anderen für verrückt erklärt, was auch immer geschehen möge. Erli, hier sind ein paar Mann. Vorläufig sehen sie mich noch nicht, oder sie tun so, als sähen sie nichts. Ich kenne sie nicht. In der Zentrale bei uns sind sie nie gewesen.“

„Ich werde sofort bei dir sein, Nik.“

„Ausgezeichnet. Ich befinde mich auf dem vierten nördlichen Speicher. Das Mehrzweckmobil steht unten. Ich bin ganz oben.“

Erli warf sich auf den Pilotensitz. Der Motor heulte auf, die Maschine flog auf die in der Ferne blinkende Kuppel der Zentralstation zu. Erli wollte nicht, daß ihn die Unbekannten erblickten, bevor er es ihnen gestattete. Was waren das für Menschen? Auf dem Eremiten gab es zweihundertvierzehn Menschen. Vier davon waren noch am Leben. Zwei waren tot. Von allen anderen war vorläufig überhaupt nichts bekannt.

Wenn diese Menschen aus der Expedition von der Erde gewesen wären, hätte Nik sie unbedingt erkannt. Hier kannten alle einander von Ansehen.

Möglicherweise waren es also Vertreter jener Zivilisation, die alle Basen und die Zentrale geschaffen hatte? Falls es sich so verhielt, dann waren sie im Vergleich zu den übriggebliebenen fünf Erdenbürgern allmächtig. Sie konnten demnach alles mit ihnen machen, was sie wollten. Sie waren in ihre Besitzungen zurückgekehrt. Was würden sie jetzt unternehmen? Was sollte man ihnen sagen? Wie konnte man ihnen die Handlungen der Erdmenschen erklären?

Als es bis zur Zentralstation etwa noch zwei Kilometer waren, wurde er noch einmal gerufen: „Erli! Lebst du noch? Du bist es doch selbst, Erli?“

„Ich bin’s, Erli. Hast du ausgeschlafen, Eva? Wo bist du jetzt?“

„Erli! Nimm mich mit! Führ mich weg von hier! Mach mit mir, was du willst, aber bring mich fort von hier! Ich verliere den Verstand! Ich begreife überhaupt nichts mehr!“

„Wo bist du, Eva?“

„Ich sitze am Verbindungspult, Erli, so hat es Nik in seiner Mitteilung an mich hinterlassen. Seit einer halben Stunde sitze ich hier. Niemand ruft mich. Als wären alle gestorben oder wieder mal verschwunden.“

„Wir dachten, du schläfst.“

„Hast du sie gesehen, Erli?“

„Wen?“

„Esra und Jumm.“

„Ja — hab’ ich gesehen.“

„Eben sind sie vom Verbindungspult weggegangen. Bring mich von hier fort! Schließlich haben wir ja eine Rakete. In drei Monaten kommt die ›Warszawa‹.“

„Eva, was ist mit dir los? Beruhige dich. Ich werde schnell bei dir sein! Erst muß ich jedoch zu Nik, Esra und Jumm gibt es nicht mehr. Sie können nicht umherlaufen. Sie sind nicht mehr da.“

„Das heißt also, ich habe den Verstand verloren. Dann bleibt mir nur noch dieser Blaster hier.“

„Untersteh dich, Eva! Hörst du? Untersteh dich!“

12

Der Hubschrauber Svens raste mit großer Geschwindigkeit durch die Nebelhülle. Unten war, wohin auch das Auge blickte, die endlose Weite der Selva.

Sven beunruhigte ein bestimmter Umstand. Er kannte das Gelände gut und hatte auch die Karte zur Hand. Doch von Zeit zu Zeit bemerkte er unter sich irgendwelche unbekannten Gebilde: Seen, abgebrannte Stätten, die auf der Karte nicht eingezeichnet waren.

Henry war verstummt und meldete sich nicht. Er hatte nichts zu tun, die Verbindung funktionierte sowieso nicht. So dazusitzen und die Hände in den Schoß zu legen wurde allmählich unerträglich. Sven hüllte sich gleichfalls in Schweigen. Ihm kam nicht ein einziger, für ein Gespräch tauglicher Gedanke in den Kopf…

Wenige Minuten nachdem sie die erste Energiebarriere überwunden hatten, kamen sie an eine zweite, deren Überwindung beinahe mit einer Katastrophe geendet hätte: Sven war einen Moment lang bewußtlos geworden, und der Hubschrauber begann zu sinken. Glücklicherweise hielt die Bewußtlosigkeit nicht lange an, so daß die Sache harmlos verlief.

Etliche Kilometer vor der zweiten Basis trafen sie auf eine dritte Energiebarriere.

Henry war bereit, sich ohne Fallschirm in die Tiefe fallen zu lassen, als die Kuppeln der zweiten Basis auftauchten. Doch es wurde sofort deutlich, daß sich im Terrain der zweiten Basis die Selva ausgebreitet hatte. Die Schutzaggregate funktionierten nicht.

Der Hubschrauber ging bei der Kuppel des Wohngebäudes in die Tiefe. Sicherlich war das Heulen seines Motors in der gesamten Basis zu hören, doch kein Mensch erschien unter den durchsichtigen Kuppeln. Sie flogen langsam um die ganze Kuppel des Wohngebäudes. Es war verständlich, daß sie hier von niemandem begrüßt werden konnten. Ringsherum gab es Spuren der Zerstörung. Die Kuppel selbst war an vielen Stellen beschädigt und wies meterlange Risse auf. Es waren zerbrochene Balken und zerstörte Zwischenwände aus Eisen und Beton zu erkennen, ebenso beschädigte Möbel und zerbrochene Apparaturen.

„Was soll das bedeuten?“ brachte Henry hervor, mit Mühe die Worte formend.

„Selva ist und bleibt eben Selva“, flüsterte Sven.

„Laß mich ‘raus!“

„Henry, ich lasse dich sofort ‘raus. Aber vorher stellen wir noch einen Plan auf. Kannst du mit einem Flammenwerfer umgehen? Dann nimm einen mit. Am besten wird es sein, wenn du durch die Risse der Kuppeln einsteigst. Drinnen sind wahrscheinlich nicht allzu viele von diesen Gleitern.“

Sven machte ihm den Gürtel fest, gab ihm einen Flammenwerfer in die Hand und hing ihm einen Blaster um.

„Entferne dich nicht allzu weit von den Spalten. Schlimmstenfalls schaffst du dir eine neue Öffnung. Jetzt ist ja sowieso schon alles egal“, gab er Wirt mit auf den Weg und ließ ihn aus der geöffneten Kabine mit der Strickleiter hinab.

Wirt stand auf dem Rondell der zweiten Gebäudestufe, wo sich die Türen zu den Zimmern der Mitarbeiter befanden. Es waren insgesamt zwölf Türen. Doch nur vier von diesen Zimmern waren noch kürzlich von Menschen bewohnt gewesen.

Er öffnete die Tür zu Osas Zimmer, und im Nu stürzte sich irgend etwas auf ihn. Über seinem Kopf polterte es, und dieses

„Etwas“ ließ sich zu seinen Füßen hinplumpsen, krümmte sich ein bißchen, zuckte zusammen und gab einen üblen Geruch von sich. Sven feuerte rechtzeitig einen Schuß ab.

Es wäre richtig gewesen, jetzt mit dem Flammenwerfer im Zimmer hin und her zu feuern und erst dann hineinzugehen.

Dann wäre aber alles verbrannt, was Osa einst umgeben hatte.

Henry ging durch den Schleim und betrat das Zimmer. Alle Möbelstücke waren beschädigt und umgestürzt. Er konnte keinen einzigen Gegenstand finden, der nicht lädiert gewesen wäre. Die niedrige, ehemals so weiche Couch war zerfetzt, der in die Wand eingelassene Kleiderschrank herausgerissen und lag umgeworfen auf dem Boden. Henry drehte ihn um und öffnete ihn vorsichtig. Er war vollkommen leer. Das Nachtschränkchen war umgestülpt, seine Füße zeigten nach oben, es lag auf dem Tonbandgerät. Ein Tonband war nicht darin. Ein nutz- und wertloser Gegenstand. Henry blieb noch einige Minuten stehen und blickte sich in dem Raum um, als hinter ihm ein Schuß zu hören war.

Sven saß auf dem Boden des Hubschraubers und ließ ein Bein heraushängen, mit dem Rücken hatte er sich an den Türrahmen gelehnt, und von Zeit zu Zeit drückte er auf den Abzugshahn des Flammenwerfers.

Von oben aus konnte er sehr gut sehen, was sich unter der beschädigten Kuppel zugetragen hatte. Es war sinnlos, die Kuppel jetzt noch irgendwie zu schonen. Er feuerte einfach durch den durchsichtigen Plast hindurch. Die „Säckchen“, wie man sie hier genannt hatte, spürten irgendwie die Anwesenheit eines Menschen, sie glitten und purzelten jetzt in alle Spalten des Wohngebäudes. Im allgemeinen erreichten sie ihr Opfer durch einen Sprung, obwohl sie keine Füße hatten. Wenn der vordere, kopflose Teil des Säckchens sein Opfer erreicht und berührt hatte, wendete es sich um, indem es sein Opfer fest umschloß, und fing dann an, es mit seiner gesamten Innenhaut in sich aufzunehmen und zu verdauen. Um das nächste Opfer anzugehen, hatte es nicht nötig, sich wieder umzuwenden.

Seine Innenhaut war jetzt das, was eben noch die äußere gewesen war.

„Henry! Geh nicht zu weit weg!“ rief Sven. „Ich kann sie nur noch ungefähr fünf Minuten in Schach halten. Länger schaffe ich es nicht. Hörst du mich?“

Wirt ging schweigend durch die leeren Zimmer.

„Hörst du mich nicht?“ rief Sven abermals in einer Pause zwischen den Schüssen.

Henry winkte mit der Hand, was soviel bedeutete wie ›Ich höre‹. Sein Herz schlug aufgeregt. Eines der Zimmer war leer, absolut leer. In der Außenwand entdeckte er neben einem Durchbruch einige saubere, nicht ausgefranste Öffnungen. Hier hatte jemand mit dem Blaster geschossen. Und der Durchbruch selbst war mit dem Flammenwerfer gemacht worden.

„Henry, halt dich am Gürtel fest!“ schrie Sven. „Es sind zu viele!“

Wirt sah sich um. Die unansehnlichen „Säcke“ kamen mit gezielten Sprüngen auf ihn zu. Er richtete einen Feuerstrahl auf sie und drückte so lange auf den Abzugshahn, bis die brennbare Flüssigkeit aufgebraucht war. Dann warf er den wertlos gewordenen Flammenwerfer weg, sprang ein Stück fort und klammerte sich an den Gürtel zum Hochziehen. Sven, der den Flammenwerfer nicht einen Augenblick aus der Hand legte, ging mit dem Hubschrauber etwa in eine Höhe von fünf Metern über der Kuppel und zog Wirt erst dann in die Kabine. Er sagte kein Wort zu ihm und fragte ihn auch nichts. Henry sollte selbst entscheiden, wann sie den Rückflug antreten wollten.

Vielleicht wollte er noch einmal hinunter…

„Sie haben sich verteidigt“, sagte Henry. In seiner Stimme schwangen weder Kummer noch Trauer mit. „Sie haben sogar die richtige Position für ihre Blaster und Flammenwerfer gewählt.“

„Ja. Sie konnten sich nicht einfach so ergeben.“

„Sven, jemand von ihnen muß am Leben geblieben sein. Sie haben sich aus Wytscheks Zimmer zur Treppe durchgeschlagen. Ich habe die Einschüsse der Blaster gesehen. Einer oder zwei haben den Eingang verteidigt, die anderen konnten entkommen. Wohin könnten sie von dieser Kuppel aus gelangt sein?“

Sven hatte jetzt auch etwas Hoffnung. Vielleicht hatte Wirt sogar recht.

„Wir müssen uns die Basis mal von oben aus ansehen“, sagte er.

Der Hubschrauber flog langsam zwischen den beschädigten Kuppeln hin und her.

„Verstehst du, Sven, in einem Zimmer ist überhaupt gar nichts mehr. Absolut leer. Keine Couch, keine Sessel, keine kleinen Tische, keinerlei Gegenstände mehr. Aber es gibt dort nicht einen einzigen Splitter, kein einziges Bruchstück mehr.

In den anderen Zimmern dagegen herrscht ein wüstes Durcheinander, das Unterste ist nach oben gekehrt. In Osas Zimmer ist nicht einmal ihre Kleidung. Wohin hat das alles verschwinden können? Im Erdgeschoß müssen die Wasser- und Lebensmittelvorräte sein, auch der Speiseraum. Schade, daß ich nicht mehr nachsehen konnte, was dort los ist.“

Sie flogen das Territorium der zweiten Basis sorgfältig und langsam ab. Die errichteten Absperrungen waren aus den Fundamenten herausgerissen. Eine lag in fünfzig Meter Entfernung zerstückelt herum; die andere war überhaupt nicht mehr auffindbar. Aus diesem Grunde hatte auch die Selva in die Basis eindringen können. Die Kuppeln des Wohnkomplexes, der Verbindungsstation, der Laborgebäude und des Aeroplatzes hoben sich als Inseln im schmutziggrünen Pflanzengewirr des Eremiten ab, das umherkroch und — glitt. Der Planet ergriff wieder Besitz von dem, was man ihm abgerungen hatte.

Zwei zerstörte Hubschrauber lagen unweit des Aeroplatzes herum. Sven ging dicht an die Gleiter und Säcke heran, die ein klein wenig zur Seite wichen. In diesen wenigen Tagen war alles so zugewachsen, als wäre es vorher niemals anders gewesen. Durch die vordere, durchsichtige Glocke des einen Hubschraubers starrten sie die Augenhöhlen eines menschlichen Schädels an.

Wütend nahm Wirt Svens Flammenwerfer und übersprühte die im Nu verbrennenden Ableger der Kriechpflanzen. Doch sofort krochen von allen Seiten andere heran, sie schienen überhaupt kein Ende zu nehmen.

„Das hat keinen Zweck, Henry“, sagte Sven und legte eine Hand auf seine Schulter, mit der anderen nahm er ihm vorsichtig und sanft den Flammenwerfer weg. „Sie begreifen sowieso nichts. Wer kann das sein?“

„Außer Osa konnten sie alle einen Hubschrauber fliegen…“

„Einen von ihnen werden wir demnach nicht mehr finden können…“

„Das ist Jürgens. Er war der Pilot.“

Der andere Hubschrauber war leer.

Das Laborgebäude war in einem derartigen Zustand, daß es keinen Sinn hatte, es näher in Augenschein zu nehmen.

„Schau mal!“ schrie Sven plötzlich. „Auf der Kuppel der Verbindungsstation scheint so etwas wie ein Stoffetzen zu sein. Jemand hat dort Spalten und Löcher zugestopft!“

„Ich hab’ es doch gesagt! Ich wußte es!“

Der Hubschrauber flog um die kleine Kuppel herum.

„Wo wird hier der Eingang sein?“

„Hier ist alles mit Plast überzogen. Dort, wo der Eingang war, ist alles mit Plast verschlossen. Von außen. Jemand hat den Eingang von außen zugegossen und ist selbst draußen geblieben.“

Was könnte in dieser von der Außenwelt abgeschlossenen Kuppel sein? Dokumente? Menschen? Wer war draußen geblieben? Weshalb?

„Sven, sie müssen hier noch zwei Mehrzweckmobile gehabt haben. Diese hier vollkommen nutzlosen Maschinen müßten neben den Hubschraubern stehen.“

„Aber sie sind nicht dort.“

„Demnach hat sich jemand entschlossen, sich mit den Mehrzweckmobilen zu einer Basis durchzuschlagen. Es ist für den Betreffenden der sichere Tod gewesen.“

Der Hubschrauber flog noch etliche Male um die versiegelte Kuppel herum.

Plötzlich fiel Sven das Steuer aus den Händen.

„Osa!“ schrie Henry.

Gesicht und Hände von innen an die Wand der Kuppel gepreßt, hatte eine Frau den Blick auf sie gerichtet.

„Osa!“

13

Die Kette der Energiespeicher dehnte sich von der Zentralstation nach Norden und Süden etwa zwei Kilometer lang. Es waren riesige weiße Zylinder mit vielen Anbauten, Masten, unterbrechenden Flächen, Treppen und Aufzügen. Normalerweise wurden sie von mehreren Ingenieuren beaufsichtigt, die darauf achteten, daß die Energiemenge in jedem Behälter eine bestimmte Norm nicht überstieg. Von ihnen wurde das Sperrnetz gespeist, das auf dem gesamten Terrain der Zentrale Kraftfelder bildete. Doch um diese Absperrungen zu versorgen, war nicht diese gewaltige Anzahl von Speichern erforderlich. Für die Arbeit des Sperrnetzes reichte der trillionste Teil der Energiemenge in den Speichern aus.

Nikolai fuhr mit dem Mehrzweckmobil an einen dieser Speicher heran, sprang heraus und in den Lift, der ihn in wenigen Sekunden in den Ingenieurbereich brachte. Der kleine, helle Saal mit einer Menge Apparaturen machte auf ihn einen beängstigenden Eindruck. Wie sollte er sich hier zurechtfinden?

Ihm wurde jedoch schnell klar, daß er sich nicht unbedingt in allem auszukennen brauchte. Das Kontrollsystem für die Steuerung der Speicher war ziemlich einfach. Er notierte sich, was der Hauptzähler anzeigte, und zog den Streifen aus dem Autographen, der den Verbrauch für die einzelnen Tage, Stunden und Minuten registrierte. Dann fuhr er wieder hinunter. Er steckte den Streifen in die Tasche am Sessel und begab sich zum nächsten Speicher. Dort machte er dasselbe noch einmal.

Danach sah er sich noch den dritten und vierten Speicher an…

Der Aufzug im fünften Zylinder befand sich oben. Nikolai drückte einige Male auf den Knopf, damit der Lift herunter käme. Erfolglos. Er nahm an, der Fahrstuhl sei nicht in Betrieb.

Aber plötzlich leuchteten die Lämpchen an der Steuerungstafel auf. Der Lift kam aus dem zehnten Stock herunter. Im fünften Stock blieb er stehen. Dort war der Ingenieurbereich. Nikolai bemühte sich, den Fahrstuhl wieder nach unten zu rufen, doch er war besetzt. Plötzlich fuhr der Aufzug erneut nach oben.

Nikolai pochte mit der Faust an die Schalttafel, aber es änderte sich nichts. Er lief zur Seite und sah durch den vergitterten Schacht, daß der Lift in der Tat in Bewegung war. Er kletterte vorsichtig in die Luke des Mehrzweckmobils, gab sich Mühe, keinen Lärm zu verursachen, und fuhr äußerst langsam zum vierten Speicher. Dort sprang er in den Aufzug und ließ sich in das letzte, zwölfte Stockwerk hinaufbringen. Das war das flache Dach des Zylinders. Im Schutz der Masten ging er bis an den Rand des Daches und wäre um Haaresbreite aus einer Höhe von siebzig Metern hinuntergestürzt. Der benachbarte Zylinder befand sich ungefähr hundertfünfzig Meter von ihm entfernt. Auf seinem flachen Dach liefen ein paar Gestalten umher. Der Liftschacht des fünften Speichers war auf der Seite von Traikow, so daß er sehen konnte, daß der Fahrstuhl im zwölften Stock stand. Falls sie seit wenigstens zwei Minuten auf dem Dach waren, mußten sie sein Mehrzweckmobil bemerkt haben. Außerdem hatte er mehrmals versucht, den Aufzug nach unten zu rufen.

Die halbbekleideten menschlichen Gestalten erschienen in dieser Entfernung klein. Doch als er sich selbst mit Teilen der Masten verglich, kam er zu dem Schluß, daß die Unbekannten fast so groß waren wie er. Sie hatten braungebrannte Körper, waren mit Shorts bekleidet, an den Füßen hatten sie eine Art Sandalen, und trugen weder Hemden noch Kopfbedeckungen.

Einer von ihnen hielt so etwas wie ein riesengroßes Blatt Papier in der Hand. Jeder hatte um die Schulter einen kurzen Stock gehängt, der starke Ähnlichkeit mit einem Blaster hatte.

Ganz zu Anfang war mit Sicherheit ermittelt worden, daß es auf dem Eremiten keinen Menschen gab. Überhaupt konnte keine Rede von irgendwelchem vernunftbegabtem Leben sein.

Wer sollten dann diese Menschen sein?

Nik nahm mit Erli Verbindung auf.

14

Eva erwachte und fühlte sich frisch durch den tiefen, ruhigen Schlaf. Für ein paar Minuten war ihr nicht klar, wie sie an diesen Ort gekommen war, doch dann kamen ihr die letzten Ereignisse allmählich wieder ins Gedächtnis. Aber vielleicht hatte sie alles auch nur geträumt? Der Zettel, den Traikow auf dem Nachttisch hinterlassen hatte, bewies ihr endgültig, daß die Besatzung von „Veilchen“ tatsächlich zurückgekommen war. An den Nachttisch war ein Blaster gelehnt. Nach den einsamen Tagen voller Ungewißheit, Angst und Sorge hätte das Auftauchen eines einzigen Menschen für sie schon höchstes Glück bedeutet. Aber diese vier waren natürlich in der Lage, das wirre Knäuel der Ereignisse auf dem Eremiten aufzulockern und zu lösen. Selbst wenn sie es nicht könnten, die

„Warszawa“ mit ihrer phantastischen Technik und ihren vielen Menschen würde bestimmt kommen…

Mit ein paar geübten Handgriffen brachte sie ihre Frisur in Ordnung, blieb eine Weile am Fenster stehen und atmete den Duft von Gras und Wald ein. Dann schulterte sie den leichten Blaster und lief gemächlich zur Zentrale, wobei sie unterwegs Grashalme abriß.

Leichtfüßig eilte sie die Treppe der Zentrale hinauf und ging den Ring entlang zum Verbindungspult. Am liebsten hätte sie Erli und Nik über Funk gerufen, aber der Gedanke, sie könnte sie von etwas Wichtigem abhalten, hielt sie zurück. Nachdem sie die Einstellung der Empfangs- und Übertragungsgeräte überprüft hatte, ging sie ans Fenster und genoß das Parkpanorama.

Irgend etwas zwang sie, sich umzusehen. Es gab keinen Laut, keinen Luftzug, keinerlei Geräusche, dennoch spürte sie mit allen Fasern ihres Körpers, daß jemand da war. Genauso war es schon gewesen, als sie völlig allein hier war… Die Angst lähmte ihre Glieder. Sie hätte sich umdrehen müssen, aber sie brachte es nicht fertig. Alles in ihr war erstarrt. Dreh dich um, schau dich um, flüsterte etwas in ihr. Und sie drehte sich um.

In dem Sessel, der ihr den Rücken zukehrte, leuchtete vor dem Pult der glattgeschorene Hinterkopf eines Mannes auf.

Diesen Mann, genauer gesagt: diesen Hinterkopf, hätte sie unter Tausenden herausgefunden und erkannt. Das war der Kopf von Philipp Esra. Durch die Tür kam, ohne sie zu öffnen, Jumm herein. Immer erschienen die beiden zusammen.

An der Bewegung der Lippen konnte man erkennen, daß sie über etwas sprachen, aber Laute waren nicht zu hören.

Evas Hände waren am Fensterbrett erstarrt. Esra drehte sich um, doch sein Blick ging durch das Mädchen hindurch. Er sah sie nicht. Jumm trat an den Sessel. In der Hand hatte er eine Rolle, wahrscheinlich Zeichnungen oder Skizzen. Er rollte sie auseinander und sagte etwas zu Philipp, der den Kopf schüttelte. Daraufhin erhob sich Esra, beide gingen seitwärts, hielten das Blatt vor sich ausgebreitet, als wollten sie unsichtbaren Zuhörern etwas demonstrieren.

Nun wurde die Rolle wieder zusammengedreht, Jumm zeigte mit der Hand zur Tür. Esra hob eine Hand und ging zum Fenster. Eva schrie entsetzt auf und sprang zur Seite, doch sie beachteten ihren Schrei überhaupt nicht. Esra trat an das Fenster, sah sich von dort aus irgend etwas an, verzog bedauernd seine Lippen und schüttelte den Kopf. Jumm trat an der Tür ungeduldig von einem Bein aufs andere.

Dann gingen beide durch die geschlossene Tür fort. Jumm hatte zwar eine Bewegung gemacht, als öffne er sie, aber sie hatte keinen Laut von sich gegeben.

Sekundenlang verharrte Eva reglos und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Kann eigentlich ein Verrückter verstehen, daß er verrückt ist? Sie nahm die Verbindung mit Erli auf.

„Erli? Bist du noch da?“

… Er glaubte nicht, daß die Toten, Esra und Jumm, in der Zentrale umherlaufen konnten. Würde sie selbst denn so etwas für möglich halten können, wenn sie normal wäre? Wer konnte schon so etwas glauben!

Sie nahm den Blaster in die Hand und strich mit ihrer kalten Hand darüber.

15

Die Frau blickte sie ohne jedes Zeichen von Freude oder Verwunderung an. Wirt öffnete die Tür des Hubschraubers, lehnte sich hinaus und rief: „Osa! Ich bin’s, Henry! Osa! Ich bin’s, Henry!“

Ein zehn Zentimeter starker Plast trennte sie noch voneinander.

„Sven, wir müssen die Kuppel an einer Stelle mit dem Flammenwerfer aufschneiden. Anders können wir nicht hineinkommen.“

Sven führte den Hubschrauber einige Meter an der Wand entlang. Henry zog aus dem Gepäckraum einen weiteren Flammenwerfer heraus. Aber sie konnten gar nicht schießen.

Die weibliche Gestalt lief immer mit ihnen mit. Ihre großen, hellblauen Augen verfolgten aufmerksam alle Handlungen.

Mit keiner einzigen Bewegung gab sie zu erkennen, daß Henry und Sven ihr bekannt waren. Ihr Gesicht war vollkommen reglos. Sie tastete sich langsam mit den Händen an der Wand entlang und bewegte sich dabei wie eine aufgezogene Puppe.

„Sven, komm zur Spitze der Kuppel! Anders läßt sie uns die Wand nicht durchbrechen. Mit ihr ist irgendwas vor sich gegangen!“

Der Hubschrauber stieg bis zur Spitze der Kuppel auf. Aber trotzdem konnten sie wieder nicht schießen. Die Frau stand unmittelbar unter ihnen.

„Sven, ich werde mir den Gurt umschnallen und mich an der Strickleiter mit einem Flammenwerfer hinunterlassen. Du bringst den Hubschrauber auf die andere Seite. Sie kann ja nicht gleichzeitig auf zwei verschiedenen Seiten der Kuppel sein. Entweder du oder ich werden auf diese Weise eine Öffnung zustande bringen.“

Wirt ließ sich auf die glatte Kuppel gleiten und stoppte in Höhe des Fußbodens. Die Frau kam auf ihn zu. Osa! Osa! Wie abgemagert sie war! Nur die großen Augen waren noch ganz lebendig. Weshalb erkannte sie ihn eigentlich nicht? Warum gab sie ihm kein Zeichen, daß sie sich freute, ihn zu sehen?

Zur gleichen Zeit brannte Sven mit einigen Schüssen ein Loch in den Plast, das zum Durchklettern für einen Menschen groß genug war. Der Hubschrauber stieg wieder ein paar Meter höher, und Sven zog Wirt in die Kabine.

Eine Minute später war Henry im Innern der Kuppel. Sven wartete in der Maschine und hielt den Blaster schußbereit, weil die Schleimsäckchen anfingen, in die Höhe zu springen.

„Osa!“ sagte Henry und berührte zärtlich ihr Gesicht mit den Fingern. „Warum sagst du nichts? Freust du dich gar nicht?

Warum redest du nicht? Was ist hier geschehen?“

„Ich habe gewartet“, sagte die Frau, „daß jemand hierherkommt. Als Stap wegging, hat er fest versprochen, daß bestimmt jemand kommt.“

Osa erwartete doch ein Kind, dachte Sven. Ob Henry wirklich noch nicht bemerkt hat, daß ihre Figur völlig normal ist?

Henry hatte es bemerkt. Er hatte es bereits gesehen, als sie sich an die Wand der Kuppel gelehnt hatte.

„Osa, was ist mit unserem Kind?“

„Ich verstehe nichts“, sagte die Frau.

„Was ist mit dir los?“

„Mit mir? Gar nichts. Ich habe so lange auf euch gewartet.

Ganz allein. Als Stap wegging, hat er von außen die Tür versiegelt, damit ich nicht in der Verzweiflung hinausgehen und Selbstmord begehen könnte. Mir sind solche Gedanken überhaupt nicht gekommen. Ich habe immerfort die Säckchen und Gleitpflanzen beobachtet.“

„Osa, wann ist Stap weggegangen? Womit?“

„Vor fünf Jahren. Er war sehr gut zu mir.“

„Wieso vor fünf Jahren?“

„Ich habe alles aufgeschrieben. Wir waren noch eine Stunde in Verbindung. Dann hat er geschwiegen. Ich glaube, er ist tot.“

„Osa!“

„N-n-nein, ich bin nicht Osa. Sie ist vor achtzehn Jahren gestorben. Ich kann mich an sie nicht einmal erinnern. Ich werde euch zeigen, wo man sie begraben hat.“

„Osa, was ist nur mit dir los? Komm zu dir!“ Er schüttelte die zarte Gestalt an den Schultern, doch sie nahm seine Arme herab und sagte: „Stap hat gesagt, Osa habe beständig auf jemanden gewartet.“

„Und auf wen wohl?“

„Auf Henry Wirt… Er hat gesagt, sie habe sehr, sehr gewartet.“

„Ich bin Henry Wirt. Ich verstehe gut, daß du in diesen letzten langen Tagen alles satt bekommen hast. Es müssen fürchterliche Tage gewesen sein. Aber nun ist alles vorbei. Komm zu dir, Osa! Wir fliegen jetzt gemeinsam in die Zentrale. Osa, schau mich nicht so an!“

„Aber ich bin doch nicht Osa. Ich heiße Seona.“

„Seona? Aber so wollten wir doch unsere Tochter nennen!

Osa, du bist ein bißchen krank, doch das wird bald vorüber sein. Wir müssen uns beeilen. Bald geht die Sonne unter. Was willst du alles mitnehmen?“

„Die Sonne? Sie wird noch längst nicht untergehen. Erst in einem halben Jahr. In Büchern habe ich gelesen, daß die Sonne alle vierundzwanzig Stunden auf- und untergeht; wenn sie untergeht, legen sich die Menschen schlafen. Aber hier ist alles völlig anders. Ein Tag dauert hier anderthalb Jahre. Das ist lustig, nicht wahr? Ein Tag ist also länger als ein Jahr. Danach sind dann anderthalb Jahre Nacht, es erfriert hier alles, und natürlich herrscht absolute Finsternis. In dieser Zeit kommen einem dann die Gleitpflanzen und die Säckchen recht sympathisch vor, man möchte direkt mit ihnen spielen. Ja, nachts habe ich mich mitunter sehr elend gefühlt; besonders als Stap weggefahren war. Der Ärmste, eine Stunde später war er schon tot, so denke ich wenigstens.“

Henry wandte sich flehend zu Sven, so als wollte er sagen:

›Nimm es nicht so ernst, sie sagt das nur so.‹

Sven nickte ihm schweigend zu, was nun bedeuten sollte:

›Schon gut. Setzt euch jetzt in die Maschine, wir fliegen zurück.‹

„Was möchtest du mitnehmen, Osa? Wir fliegen gleich los.“

„Seona…“

„Na gut, Seona. Also was?“

„Oh, eigentlich möchte ich alles mitnehmen. In der Zentrale habe ich doch überhaupt nichts. Ich bin noch kein einziges Mal dort gewesen. Doch ich wollte schon immer gern mal dorthin.

Aber ich werde nicht viel mitnehmen, denn ihr habt es wohl eilig? Ein paar Kleider. Aber auch das ist unnütz, denn sie sind sowieso abgetragen. Ich werde das Buch hier mitnehmen und den Anzug. Er ist noch fast neu. Und dir soll ich auf Staps Wunsch das hier übergeben.“ Sie zog einen Ring von ihrer Hand, der anstelle eines Steines eine kleine Scheibe besaß, die zur Aufzeichnung von etwa einer Gesprächsminute eingerichtet war. Diesen Ring hatte Henry einst Osa geschenkt. „Stap meinte, dies sei besonders wichtig. Und dann nehmt doch noch bitte diese Kiste hier mit. Darin sind Tonbandaufzeichnungen und Papiere. Sie steht nun bereits so viele Jahre da, daß ich gar nicht mehr geglaubt habe, sie würde eines Tages geöffnet werden. Stap hat gesagt, daß alles für die Menschen, die einmal hierherkommen werden, sehr aufschlußreich sein wird.“

Henry nahm die Kiste, trug sie zur Wand und überreichte sie Sven. Dann wandte er sich zu Osa. Wie sehr sie sich doch verändert hatte, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte! Sie war abgemagert, ihre Gesichtszüge hatten sich leicht verändert, waren viel schärfer geworden. Was erzählte sie ihm da alles?

Daraus ging doch wohl eindeutig hervor, daß sie den Verstand verloren hatte… Die Ärmste! Was hatte dem alles vorausgehen müssen, ehe das hatte geschehen können!

„Osa-Seona, fürchte dich jetzt vor nichts mehr.“ Er drückte sie fest an seine Brust. „Alles wird gut werden.“

„Ich habe auch früher keine Angst gehabt. Immer habe ich auf die Menschen gewartet. Und jetzt, wo ihr hier seid, fürchte ich mich überhaupt nicht mehr.“

Sie gingen zu dem Wanddurchbruch in der Kuppel. Henry stützte behutsam die zartzerbrechliche Osa-Seona. Tief in seinem Herzen war die Freude gepaart mit großem Schmerz.

„Sven, hilf ihr“, sagte er. Sven hatte aber bereits seine Hände ausgestreckt, um der Frau zu helfen.

Als der Hubschrauber von der Kuppel abgesetzt hatte, nahm Henry den Flammenwerfer und goß den Rest der brennenden Flüssigkeit über die unten umherwimmelnden und — kriechenden Gleitpflanzen und Schleimsäckchen.

„Das ist doch zwecklos, Henry“, meinte Sven.

„Ich weiß“, entgegnete Wirt.

„Ja, das macht ihr nicht gut“, sagte Osa. „Sie haben mich so viele Jahre vergnügt und gut unterhalten!“

„Hmmm.“ Henry klopfte sich mit den Händen an den Kopf.

Unter ihnen dehnte sich wieder die verhaßte schmutziggrüne Selva.

Sven flog den Hubschrauber mit Höchstgeschwindigkeit.

Man mußte so rasch wie irgend möglich die Zentrale erreichen.

Sie kamen sowieso bereits zu spät zur fälligen Funkverbindung. Erli und Nik würden jetzt wer weiß was denken!

„Was ist denn nun eigentlich hier vor sich gegangen?“ fragte Henry. Seine Zunge wollte die Laute noch nicht zu „Seona“

formen.

„Ich weiß es nicht. Das ist alles noch vor mir gewesen, ehe ich da war. Aber Stap hat mir erzählt, daß es einen Sturm gegeben hat, einen fürchterlichen Sturm. Und die Selva ist bei uns eingedrungen. Damals sind sie auf der Basis vier Mann gewesen. Der Pilot Jürgens ist sofort umgekommen. Sie haben nicht einmal seine sterblichen Überreste aus dem Hubschrauber herausziehen können. Dann starb Osa.“ Als Henry das hörte, begann es ihn zu würgen. „Dann war noch ein Mann da.

Er hieß Wytschek, aber an ihn kann ich mich auch nicht erinnern. Er hat gesagt, daß Osa begraben werden soll, wie es bei den Menschen Sitte ist, damit die Gleiter nicht an sie herankönnen. Und sie haben sie also begraben. Aber Wytschek ist danach nicht mehr zurückgekehrt. Stap hatte — die Gleitpflanzen nicht zurückhalten können. Dann waren wir nur noch zu zweit. Später ist auch Stap fortgegangen. Er wollte versuchen, zur Zentrale durchzukommen. Das hätte er wohl besser im Winter tun sollen. Aber er ist im Hochsommer losgezogen, als die Sonne schon ein halbes Jahr lang nicht hinter dem Horizont untergegangen war.“

„Schon wieder die Sonne“, flüsterte Henry.

„Nimm dich zusammen“, sagte Sven leise.

Eine Minute später sagte Sven zu Henry: „Übrigens hat sich die Sonne in diesen viereinhalb Stunden tatsächlich nicht von der Stelle gerührt.“

„Und du ebenfalls nicht“, brummte Henry müde.

„Kannst dich ja selbst überzeugen.“

Doch Henry drückte lediglich Osa fester an sich.

„Wie angenehm die Wärme eines menschlichen Körpers ist“, sagte sie.

Der Hubschrauber näherte sich der halb durchsichtigen Membran.

16

Erli lief den Korridorring entlang, als vor ihm ein Schuß abgegeben wurde. Er fiel im Verbindungsabschnitt. Dort war nur Eva. Ob sie nun doch nicht mehr durchgehalten hatte?

Erli sprang zur Tür und blieb stehen. In der Tür war ein Loch, auch die gegenüberliegende Korridorwand war beschädigt. Erli drückte vorsichtig die Türklinke herunter. Es war alles still.

Behutsam machte er einen Schritt vorwärts und sagte im Flüsterton: „Eva, ich bin’s, Erli.“

Niemand antwortete.

Er machte noch ein paar Schritte. Vor ihm stand Eva mit dem Blaster in der Hand. Sie ließ ihn langsam sinken, er fiel polternd auf den Boden.

„Erli, bring mich von hier weg. Es fehlt nicht mehr viel, und ich halte nicht mehr durch.“

„Dazu habe ich kein Recht.“

„Und wenn ich… Möchtest du das denn? Lej hat immer von dir gesprochen. Doch sie liebte dich nicht. Nein. Wir sind Freundinnen gewesen. Sie hat mir alles erzählt. Alles. Es war genug, damit ich anfing, an dich zu denken. Ich wußte, daß du hierherkommen würdest, und habe auf dich gewartet. Vielleicht hat es Lej absichtlich so gemacht, damit dich jemand lieben wird. Sie ist sehr gütig gewesen. Selbst brauchte sie überhaupt nichts.“

„Ich habe stets das getan, was sie wollte. Und nie hat sie etwas für sich selbst gewollt“, sagte Erli. „Ich würde dich hier wegbringen, wenn es möglich wäre.“

Sie kam auf ihn zugerannt, schlang ihre Arme um seine Schultern, schaute ihn von unten herauf an und sagte: „Ist das wirklich wahr, Erli?“

Erli schob sie sacht zurück und sagte: „In der Zentrale sind irgendwelche fremden Menschen. Vor wenigen Minuten hat mir Nik das mitgeteilt. Im Moment beobachtet er sie.“

„Du hast mir das mit Esra und Jumm nicht geglaubt, nicht wahr?“

Er nickte.

„Ich habe eben nach ihnen geschossen. Aber sie sind weggegangen. Sie sind wie Schatten.“

„Schon gut, Eva… Wir werden auch noch feststellen, was das gewesen ist. Setz dich jetzt hin und mach dich bereit zum Empfang. Gleich wird die Verbindung mit Wirt kommen. Ich werde mit Nik sprechen.“

Erli nahm die Verbindung mit Traikow auf, der sich sofort meldete, als hätte er schon darauf gewartet. „Erli! Wo bist du jetzt?“

„Am Verbindungspult. Wo sind diese Leute?“

„Ein paar sind auf dem Dach des fünften Speichers. Was sie dort tun, ist mir nicht klar. Die anderen sind zum sechsten hingefahren.“

„Gefahren? Womit?“

„Sie haben so etwas wie ein Mehrzweckmobil.“

„Ich weiß nicht, wie wir es richtig machen, Nik. Bleibst du dort, oder kommst du hierher zurück? Wenn man nur wüßte, was sie vorhaben, vor allem, wer sie eigentlich sind.“

„Ich werde vorläufig hierbleiben. Wenn irgendwas ist, gebe ich dir Bescheid… Eins kann ich mit Bestimmtheit sagen: Es sind keine von uns, denn unsere kenne ich alle.“

„Na schön. Sei vorsichtig, Nik.“

Erli schaltete das Funkgerät aus und sagte müde: „Mir brummt der Schädel. Ich sehe da noch nicht durch, was alles geschehen ist, falls das überhaupt möglich ist.“

„Ich verstehe, Erli“, sagte Eva.

Jetzt wurden sie von Wirt verlangt.

„Die Basis ist vernichtet“, gab Henry ruhig durch. „Praktisch vollkommen vernichtet. Alles ist zerstört.“

„Und die Menschen?“

„Bis auf eine… Osa“, sagte Henry flüsternd.

„Weshalb sprichst du denn so leise?“

„Sie sitzt neben mir. Erli, ich kann darüber nicht laut sprechen.“

„Was ist mit den anderen?“

„Wahrscheinlich leben sie nicht mehr. Jedenfalls Jürgens ist tot. Wir haben ihn gesehen.“

„Henry, kommt so schnell wie möglich zurück! Wenn ihr an die Zentrale herankommt, fliegt sie von Süden an und landet über den Bäumen, direkt am Hauptaufgang.“

„Verstanden“, antwortete Sven.

„Es ist nämlich so, daß in der Zentrale irgendwelche Menschen erschienen sind. Wer sie sind, weiß ich nicht. Nik beobachtet sie. Es ist besser, wenn sie euch nicht sehen. Habt ihr verstanden?“

„Das sind denn doch zu viele Rätsel für einen einzigen Tag“, sagte Sven.

„Der Tag ist ja noch nicht zu Ende.“

„Also gut, in zwanzig Minuten sind wir bei euch“, gab Henry durch. „Ich gehe aus der Leitung.“

Erli reichte das Mikrofon an Eva weiter.

„Ist ja schön, sie haben Osa gefunden. Mit ihr ist auch irgendwas geschehen. Henry wollte nicht einmal laut sprechen in ihrer Gegenwart. Drei sind bereits nicht mehr am Leben.“

Eva erhob sich langsam vom Sessel und blickte in Erlis Richtung. Er schaute sie verwundert an. Was war geschehen? Das Mädchen hob die rechte Hand und preßte sie auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Erli ging auf Eva zu, dabei spürte er, wie ihm ein unangenehmer Kälteschauer über den Rücken lief. Er drehte sich langsam um und hatte das Gefühl, daß sich ihm die Haare sträubten und seine Glieder durch den fürchterlichen Schreck wie gelähmt waren.

Die Tür im Raum war geschlossen, doch in ihr war die Gestalt Philipp Esras aufgetaucht. Er stand nachdenklich auf der Türschwelle. Dann lief er schnurstracks ins Zimmer auf die Funkanlage zu. Erli drängte Eva hinter einen Wandvorsprung, doch sie klammerte sich mit ihren weiß gewordenen Fingern fest an seine Schultern. Am liebsten hätte er sich selbst an jemandem festgehalten, um sich von dem lähmenden Schreck zu erholen.

Esra führte verschiedene Schaltungen an der Tastatur des Gerätes durch, wobei sich kein Hebel und kein Pedal von der Stelle rührte. Doch Esra handhabte sie so, als führte er tatsächlich die Schaltungen aus. Dann streckte er seine Hand nach dem Mikrofon aus, führte es an den Mund und hielt dabei seine Finger so, als befände sich in seiner Hand wirklich ein Mikrofon. Aber das stand nach wie vor auf dem kleinen Tisch.

Nachdem Esra ein paar Worte in das imaginäre Mikrofon gesprochen hatte, erhielt er offensichtlich keine Antwort, so daß er es auf das Tischchen warf. Einige Sekunden stand er da, hatte die Ellbogen auf die Sesselrücken gestützt und trommelte mit den Fingern auf dem Schaltbrett. Seine Handlungen waren von keinem Geräusch oder Laut begleitet. Dann strich er über seinen Rotkopf und ging einige Male im Zimmer auf und ab, wobei er in die geöffneten Fenster blickte.

Erli hielt den Atem an. Natürlich, das war wirklich Philipp Esra. Rotes Haar. Großer Kopf. Ungebügelte Hosen, wie immer. Im weiten, legeren Blouson mit großem Halsausschnitt.

Grüne Schuhe, die er nicht einmal am Strand auszog. Esra schien auf jemanden zu warten. Aber auf wen wohl? Wie konnte er überhaupt hier auftauchen, wo Eva und Erli doch bereits seine sterblichen Überreste in Augenschein genommen hatten!

Durch die Tür schien ihn jemand gerufen zu haben. Lautlos rief er etwas zurück und ging dann rasch durch die geschlossene Tür.

„Erli“, flüsterte Eva. „Das ist zuviel! Halluzinationen habe ich noch nie gehabt!“

„Es ist aber keine Halluzination. Das war er tatsächlich. Zunächst habe ich auch gedacht, ich sei am Ende… ich bin wahnsinnig. Doch jetzt denke ich, es hat sich alles in Wirklichkeit zugetragen. Ich werde ihm hinterhergehen.“

„Erli, und ich?“

„Eva, du wirst hier sitzen bleiben. Jede Minute müssen Sven und Henry ankommen. Sie sollen am besten gleich hierherkommen. Vorläufig erzählst du ihnen und Nik nichts davon.

Ich werde sehr schnell zurück sein.“

Er öffnete die Tür und schaute auf den Korridor hinaus. Esras Gestalt tauchte im linken Teil auf, der zum Ausgang führte.

Erli gab sich Mühe, keine Geräusche zu verursachen, lief schnell in die gleiche Richtung und passierte einige Korridore und unterirdische Übergänge. Dabei wurde er beständig von der Kette aufleuchtender Lämpchen begleitet, während Esra im Dunkeln lief und sich ausgezeichnet zurechtfand.

Sie gingen so bis zur Rolltreppe, die zum Hauptsteuerungspult führte und ließen sich nach oben tragen. Die Tür war noch genauso geöffnet, wie sie Erli verlassen hatte, doch Esra machte eine Bewegung, als öffnete er sie. Sie traten beide nacheinander ein. Erli hatte erwartet, Jumm hier anzutreffen, und das war richtig gewesen. Esra und Jumm nahmen auf dem Computer einige Rechenoperationen vor, wobei sie die Tastatur drückten und sich gegenseitig unterbrachen. Aber die Tastatur bewegte sich nicht. Das sah Erli ganz deutlich.

Dann falteten sie die Rolle auseinander. Es war irgendeine technische Zeichnung darauf.

Erli biß sich auf die Lippen, nahm allen Mut zusammen und faßte Philipp Esra am Ellbogen an. Seine Hand griff ins Leere, es war keinerlei Widerstand da.

Von Süden her drang das dumpfe Dröhnen des sich nähernden Hubschraubers an Erlis Ohr, und er verließ das Hauptsteuerungspult, ohne sich umzudrehen.

17

Sven setzte den Hubschrauber fast auf die Stufen des Aufgangs zur Zentralstation. Osa schaute verwundert um sich, ohne sich zum Aussteigen zu entschließen. Henry sprang auf das Gras und half ihr auf den Boden. Strahlende Sonne, weicher, grüner Rasen, darin leuchtende Blumen, schattige Baumkronen über dem Ganzen. Osa flüsterte hingerissen: „Ich habe gelesen, daß es so etwas gibt, aber daß es so wundervoll ist, habe ich mir nicht vorgestellt.“

Henry legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie die Stufen hinauf.

Sven hatte zwei Blaster auf dem Rücken. Er folgte ihnen.

Auf dem Korridor, der zur Verbindungsabteilung führte, trafen sie Erli.

„Ich freue mich, Henry!“ Er gab der Frau die Hand. „Guten Tag, Osa!“

„Ich bin Seona, Osa ist doch tot.“

Erli blickte Henry flüchtig an und schien alles zu begreifen.

Henry stand mit gesenktem Kopf da und hielt Osa an der Hand.

„Na gut. Wir haben wenig Zeit. Geht in die Verbindungsabteilung. Wir müssen entscheiden, was wir weiter tun.“

Sven ging noch vor den anderen in die Abteilung und unterrichtete Eva davon, daß die Frau Seona genannt sein wollte.

Als die anderen kamen, ging ihnen Eva entgegen und sagte einfach: „Guten Tag, Seona!“

„Guten Tag…“

„Ich heiße Eva. Das ist Erli. Alle anderen kennst du ja bereits.“

„Eva. Das ist ein sehr schöner Name. Was soll ich jetzt tun?“

„Seona, dir gefällt es doch so, aus dem Fenster zu schauen“, sagte Henry. Er führte sie sacht an das Fenster und ließ sie in einem Sessel Platz nehmen. „Schau mal, wie schön es dort ist!

Es gibt keine Gleitpflanzen und keine Schleimsäckchen.“

Osa saß stumm im Sessel.

Erli nahm die Funkverbindung mit Traikow auf. Bei ihm lag nichts Wesentliches vor. Erli bat ihn, an seinem Platz zu verbleiben, aber an ihrem Gespräch per Funk teilzunehmen.

Dann berichtete jeder kurz darüber, was er gesehen hatte, welche Gedanken und Vermutungen ihm gekommen waren, wobei der Akzent auf den besonders merkwürdigen, schwer erklärlichen Momenten lag.

„Seit unserer Landung auf dem Eremiten sind fünf Stunden vergangen“, sagte Erli. „Alles ist hier seltsam und unverständlich. Doch ich glaube, jeder von uns hat seine Hypothesen und Vermutungen. Wer möchte zuerst sprechen?“

„Es sind siebeneinhalb Stunden vergangen“, korrigierte ihn Sven.

„Nein, es sind erst fünf Stunden“, entgegnete Erli entschieden. „Das ist unschwer festzustellen. Also, wer ist der erste?“

„Fang du an, Erli.“

„Nein, ich werde der letzte sein. Henry, du machst den Anfang!“

Wirt war ein paar Sekunden still, dann sagte er: „Ich weiß nicht, wodurch Esra und Jumm umgekommen sind und was ihr Tod für Folgen gehabt hat. Jedenfalls konnte die Selva irgendwie in die Basis eindringen. Es hat ein Orkan gewütet, der die Schutzbarrieren und Gebäude vernichtete, alles andere hat dann die eingedrungene Selva besorgt. Wenigstens ist es auf der zweiten Basis so gewesen. Ich bin überzeugt, daß es in allen anderen genauso ist.“

„Zur gleichen Zeit soll das überall passiert sein?“ fragte Erli.

„Das glaube ich nicht“, entgegnete Henry. „Der Orkan hat eine Basis nach der anderen erfaßt.“

„Ein Orkan auf dem gesamten Territorium des Eremiten?“

staunte Sven. „Das ist wohl wenig wahrscheinlich. Hier ist früher noch nicht einmal heftiger Wind gewesen!“

„Soweit wir zurückdenken können, hat es das tatsächlich nicht gegeben. Trotz alledem hat aber hier ein Orkan gewütet“, widersprach Erli. „Ich habe gesehen, was auf dem Terrain der Zentrale vor sich gegangen ist. Hunderte von Metern hoch ist sperriges Zeug aufgetürmt worden. Der Orkan ist von Norden gekommen, und nach der von ihm aufgetürmten sperrigen Barrikade zu urteilen, muß es ein ganz entsetzlicher Orkan gewesen sein, der sich etliche tausend Kilometer nach Süden ausgedehnt hat. Entwickelt hat er sich wohl einige tausend Kilometer von der Zentrale entfernt. Deshalb will mir scheinen, daß die Hypothese, die Basen seien von einem Orkan verwüstet worden, manches erklärt. Beispielsweise ist wohl klar, daß die Menschen sich im anderen Falle in Hubschraubern bis zur Zentrale hätten retten können. Daß es niemand getan hat, besagt ja, daß es einen Orkan gegeben hat. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Unklar bleibt nur, weshalb er überhaupt aufkam. Was kannst du noch sagen, Henry?“

„Gar nichts. Der Orkan und die Selva. Keiner ist darauf vorbereitet gewesen.“

„Gut. Sven, jetzt bist du an der Reihe.“

„Von der Zentrale bis zur zweiten Basis habe ich vier Energiebarrieren gezählt. Auf dem Rückflug sind wir von jeder zurückgestoßen worden und abgeprallt wie ein Korken aus dem Wasser. Demnach nehmen die Barrieren die elektromagnetischen Wellen auf und werfen sie zurück. Deshalb erhielten die Basen keine Verbindung mit der Zentrale.“

„Die Verbindung war sofort abgerissen, nachdem im Hauptsteuerungspult mit Esra und Jumm irgendwas passiert ist“, schaltete sich Eva ein. „Als ich nämlich hier hinunterkam und versucht habe, mit jemandem Funkverbindung zu bekommen, hat schon kein Mensch mehr geantwortet.“

„Das bedeutet also, daß die Energiebarrieren gleich zu Beginn des Orkans entstanden sind oder sogar noch etwas früher“, schlußfolgerte Sven.

„Es spricht doch wohl eher alles für ein gleichzeitiges Entstehen“, ließ sich Nikolais Stimme aus dem Lautsprecher vernehmen. „Andernfalls wäre die Evakuierung zur Zentrale geglückt. Was hat sie eigentlich verhindert? Der Orkan?“

„Stimmt. Ich hörte, wie Esra, als er noch lebte, verlangt hat, alle sollten unverzüglich in die Zentrale zurückkehren.“

„Demzufolge gab es einen Befehl zur raschen Evakuierung!

Warum hast du das vorher nicht erzählt? Folglich wußten einige, daß es eine Katastrophe geben wird!“

„Das war, als ich aus dem Raum des Steuerungspultes ging.“

„Das Zeichen zur unverzüglichen Rückkehr haben sie also gleichzeitig erhalten“, sagte Sven. „Der Orkan kam von Norden. Doch warum ist den Basen das Evakuieren nicht gelungen? Den Basen, die in nächster Nähe der Zentrale lagen, insbesondere aber den im Süden gelegenen? Man kann ja nicht annehmen, daß der Orkan überall zur gleichen Zeit entstanden ist!“

„Richtig, Sven. Ich habe die aufgetürmten, sperrigen Barrikaden nur auf der Nordseite gesehen. Das beweist doch, daß der Orkan von Norden gekommen ist.“

„Aber dann muß man ja auch annehmen, daß die Geschwindigkeit, mit der er sich ausbreitete, etliche tausend, ja zehntausend Kilometer pro Stunde betragen haben muß. Daran kann ich nicht glauben.“

„Du wirst es wohl glauben müssen, Sven“, meinte Erli.

„Denn nur so können wir uns erklären, weshalb sie nicht abfliegen konnten, nachdem sie das Signal zur raschen Rückkehr erhalten hatten!“

„Aber dann ist wieder diese blitzschnelle Geschwindigkeit für die Ausbreitung des Orkans einfach unerklärlich.“

„Einverstanden. Ich würde jedoch trotzdem gerade an dieser Version festhalten“, sagte Erli. „Gleich nachdem Esra an die Basen das Zeichen zur unverzüglichen Rückkehr durchgegeben hatte, sind die Energiebarrieren entstanden, der Orkan setzte ein, und allmählich drang die Selva zu den Basen vor.

Was hast du dazu noch zu sagen, Sven?“

„Mir ist eines unverständlich. Aber das betrifft uns persönlich. Wir sind sechs Stunden geflogen. Ich habe berichtet, was wir auf der zweiten Basis gemacht haben. Das war nicht in einer halben Stunde zu schaffen.“

„Mitunter erledigt der Mensch in einer Stunde so viel, wie er zu einem anderen Zeitpunkt kaum innerhalb von vierundzwanzig Stunden tun könnte“, warf Erli ein, doch Sven unterbrach ihn.

„Gut, wir werden das mit zu den unerklärbaren Erscheinungen rechnen. Und noch was: Solange wir dort waren, hat sich die Sonne zwei Stunden lang nicht vom Platz gerührt, nicht einmal für eine Winkelsekunde.“

„Eine Sekunde hättest du überhaupt nicht feststellen können.“

„Das hab’ ich ja auch nur so gesagt. Mit einem Wort, sie hat sich nicht von der Stelle gerührt.“

„Die Sonne geht dort ein halbes Jahr lang nicht unter“, sagte Osa leise. Ohne den Kopf zu drehen, sah sie weiter aus dem Fenster. „Das hatte ich euch doch bereits gesagt!“

Alle schwiegen.

„Sven“, sagte Henry, „sag lieber, was du dir dabei gedacht hast. Das wird am besten sein.“

„Wir werden das mit in Betracht ziehen“, meinte Erli. „Doch vorläufig hilft uns das nicht weiter und erklärt überhaupt nichts. Und von allein wird es sich nicht erklären. Was noch, Sven?“

„Vorläufig nichts.“

„Erli, gib ruhig zu, daß du dachtest, ich sei wohl nicht mehr ganz klar im Kopf, als ich von Esra und Jumm gesprochen habe.“

„Ja, ich habe tatsächlich nicht geglaubt, daß so etwas möglich ist.“

„Kann sein, daß Sven und auch Seona die Wahrheit sagen.

Vielleicht haben sie gar nicht gesponnen.“

„Ich bitte euch“, brachte Henry leise heraus.

„Eva, jetzt kommst du ‘ran.“

„Nachdem ich die sterblichen Überreste von Esra und Jumm gesehen hatte und völlig allein war, habe ich sie etliche Male selbst getroffen. Sie laufen in der Zentrale umher. Besonders häufig erscheinen sie im Verbindungsabschnitt, also unmittelbar hier. Heute habe ich sogar nach ihnen geschossen. Die Nerven sind mir durchgegangen. Die Kugeln sind durch Esra hindurchgegangen, haben die Tür und eine Wand im Korridor durchbohrt, aber er ist ruhig weitergelaufen. Erli hat sie ebenfalls gesehen.“

„Ja, ich habe sie gesehen. Doch ich kann nicht erklären, was das für ein Vorgang ist. Ist das alles, Eva? Dann soll Nik berichten.“

„Ich habe die Energiespeicher geprüft, und dabei sah ich sie beim fünften Speicher. Sie sind auch jetzt noch dort. Ich sehe sie ganz genau. Sie scheinen irgend etwas zu montieren. Ich bin überzeugt, daß sie keine Beziehung zu den Menschen haben, die früher hier gelebt und gearbeitet haben. Sie sind alle dunkelhäutig und braungebrannt, jeder von ihnen hat irgendeine Waffe auf dem Rücken. Außerdem haben sie ein Mehrzweckmobil, das unserem überhaupt nicht gleicht. Es hat zwei Türme, aus denen einige Rohre herausragen.“

„Was denkst du über die ganze Sache?“

„Ich nehme an, daß es irgendwelche Fremdlinge sind. Auf dem Eremiten gibt es ja kein vernunftbegabtes Leben. Nicht einmal Säugetiere sind vorhanden. Sie müssen also von irgendwoher gekommen, das heißt geflohen sein. Vielleicht sind es sogar diejenigen, die vor uns hier waren? Sie haben abgewartet, bis alle auf die Basen geflogen waren, dann haben sie zwischen den einzelnen Basen die Energiebarrieren errichtet, damit die Funkverbindung unterbrochen war. Wenn sie in der Lage wären, so starke Kraftfelder zu schaffen, dann könnten sie auch einen noch nie dagewesenen Orkan gemacht haben, der alle Basen vernichtet hat. Alles Weitere hat dann die Selva selbst erledigt. Der Planet war sauber, doch plötzlich sind wir aufgetaucht, als sie sich bereits als die Herren wähnten. Nun führen sie wieder etwas im Schilde. Möglicherweise wollen sie die Energiespeicher beschädigen. In diesem Falle würde Hunderte von Kilometern im Umkreis nichts mehr übrigbleiben.

Eine lächerliche Hypothese, nicht wahr?“

„Eine recht interessante Hypothese. Weshalb sollten sie uns aber eigentlich nicht viel einfacher um die Ecke bringen?

Einfach mit ihren Waffen erschießen?“

„Das weiß ich nicht. Kann sein, daß sie zu wenige sind und daß sie Angst haben. Aber es ist auch denkbar, daß sie den Anblick von Blut nicht ertragen können. Es ist alles nur meine Vermutung.“

„Ja, Nik, du hast fast das gesamte Tatsachenmaterial in deine Hypothese aufgenommen, aber doch nicht alles. Übrig sind Esra und Jumm, die unbewegliche Sonne und die Verschiedenheit im Ablauf der Stunden.“

„Erli, wir können es ja auch mit zwei völlig verschiedenen Vorgängen zu tun haben, die in keinerlei Verbindung oder Zusammenhang miteinander stehen“, meinte Eva. „Der unterschiedliche Stundenablauf kann durch etwas völlig anderes bedingt sein.“

„Und was machst du damit, daß im Hauptsteuerungspult alles in Staub verwandelt ist? Ungefähr zehn bis zwanzig Meter nach beiden Seiten von der festgesetzten Linie des Äquators.

Dort sieht doch alles genauso aus, als seien nicht wenige Tage vergangen, sondern einige Jahrhunderte! Ich habe alles bis zur Grenze der Sperrzone kontrolliert. Es ist in Niks Hypothese ebenfalls nicht berücksichtigt.“

„Ich erhebe ja auch keinerlei Anspruch auf absolute Richtigkeit…“

„Ist klar, Nik.“

„Vielleicht haben wir es aber doch mit zwei verschiedenen Vorgängen zu tun“, sagte Eva.

„Ja, das müssen wir vorläufig auch annehmen. Mich beunruhigt dabei nur der Umstand, daß sie zeitlich zusammenfallen.

Irgendwie müssen sie also doch zusammenhängen.“

18

Eva bereitete Tee und belegte Brote gleich am Verbindungspult zu. Sie hatten alle schon lange nichts mehr gegessen. Osa blieb weiter am Fenster stehen. Zuweilen versuchte Eva, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber es geriet sehr rasch wieder ins Stocken. Eva setzte sich einige Male ihr gegenüber auf das Fensterbrett und betrachtete sie verstohlen. Sie hatte Osa schon vorher gekannt. Eine plötzlich aufgetauchte Vermutung ließ ihr keine Ruhe mehr, doch sie hatte keinen Mut, laut zu äußern, was sie dachte. Irgend etwas hielt sie davon ab. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes sah Erli den Inhalt der Kiste durch, die von der zweiten Basis mitgebracht worden war. Er legte die Diagramme stoßweise aufeinander. Das Papier war häufig beschädigt, deshalb hantierte er äußerst sorgsam. Selbst wenn auf der zweiten Basis alle registrierenden. Apparaturen ununterbrochen Tag und Nacht in Betrieb gewesen wären, hätte noch längst nicht diese ungeheure Menge an Dokumenten zustande kommen können. Das fiel ihm sofort auf. Er blätterte die Stöße mit den grafischen Darstellungen in der Hoffnung durch, so etwas wie einen Brief oder eine Erklärung zu finden.

Die Kiste war aber schon fast leer, und er hatte nichts dergleichen gefunden. Da knüpfte er die Päckchen auf, und gleich das erste fiel ihm aus der Hand. In der Ecke jedes Diagramms stand ein Datum. Doch das waren recht seltsame Daten. Das erste lautete: „Zweitausendeinhundertfünfundneunzigster Tag nach der Katastrophe“. Er blätterte das gesamte Päckchen durch, und am Ende war er beim zwanzigsten Tag angekommen. Noch frühere Daten gab es auf den Diagrammen nicht.

Das eine Päckchen enthielt Aufzeichnungen über die Windgeschwindigkeit, im anderen waren die Temperaturen notiert, im nächsten der Luftdruck, dann die Beschleunigung der Zeit, für zwei Plätze, die nur zehn Meter voneinander entfernt waren.

Das war ein unbeträchtlicher Abstand für eine derartige Untersuchung.

Was gab es hier für Zahlenangaben! Besonders für die ersten Tage. Ja, für die ersten. Aus dem Diagramm ging auf den ersten Blick hervor: In der zweiten Basis waren seit dem Moment der Katastrophe fünfzehn Jahre vergangen. Dann brachen die Aufzeichnungen ab. Von den allerersten Tagen gab es wahrscheinlich deshalb keine Aufzeichnungen, weil die Menschen mit der Selva um ihre Existenz gerungen hatten. Sie waren am Leben geblieben, und jetzt half ihre Arbeit Erli beim Orientieren in den bisherigen Ereignissen.

Vieles davon konnte man jetzt richtig einordnen. Es war nun klar, warum Sven versichert hatte, daß sich die Sonne während ihres Aufenthaltes in der zweiten Basis nicht einmal für eine Winkelsekunde von der Stelle bewegt hatte. Klar war ebenfalls, weshalb sie behauptet hatten, sie seien sechs und nicht vier Stunden geflogen. Selbst wenn sie in der zweiten Basis einige Tage lang gewesen wären, hätten sie bei ihrer Rückkehr in die Zentrale immer wieder erfahren, daß inzwischen nur vier Stunden vergangen waren. Der Wechsel von Tag und Nacht, also eine Umdrehung des Eremiten um seine eigene Achse, bedeutete für die gesamte Breite der zweiten Basis anderthalb Jahre.

„Eva“, rief er dem Mädchen zu.

Sie kam zu ihm und setzte sich neben ihn.

„Eva, alles, was Seona gesagt hat, ist völlig richtig. Sie hat wirklich zwanzig Jahre dort gelebt. Staunst du?“

„Ich hab’ noch nicht begriffen. Aber ich wollte dir ja immer schon sagen: Dieses Mädchen ist nicht Osa.“

Jetzt war es Erli, der sie verwundert ansah.

„Sie sieht Osa sehr ähnlich, erstaunlich ähnlich. Doch sie ist nicht Osa. Henry war nur über die Begegnung mit ihr zu sehr aufgeregt, denn es war doch wirklich ein Wunder, daß sie noch am Leben war. Später dachte er, Osa habe den Verstand verloren. Bald wird er selbst den Unterschied feststellen… Du sagst also, sie hat dort zwanzig Jahre lang gelebt? Als mir klar wurde, daß sie nicht Osa ist, habe ich mir gesagt: Vielleicht haben diese Fremdlinge irgendwie für ihre eigenen Zwecke und Ziele eine Osa geschaffen, die Frau eines der Männer, die noch am Leben sind. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen. Wenn du aber nun sagst… Demnach ist sie Osas Tochter. Und alles, was sie sagt, ist die reine Wahrheit.“

„Ja, einiges hellt sich allmählich auf, doch es gibt noch viele unklare Stellen. Eva, gib dieses Material in den Computer und dazu das Programm über die Beschleunigung der Zeit auf verschiedenen Breitengraden des Eremiten. Ich glaube, dabei wird etwas Fürchterliches herauskommen. Ich werde gleich mal Henry fragen, an welchen Stellen sie den Energiegürtel durchflogen haben. Unter Umständen stellt sich heraus, daß es gar keine Energieschwellen und — barrieren sind.“

Erli verließ den Raum und öffnete, nachdem er an einigen Zimmern vorbeigegangen war, die Tür zum Laboratorium für Informationsaufzeichnung. Henry sollte sich hier die aufgezeichneten Gespräche mit der Zentrale anhören, die hier gemacht wurden, als sie einige Male durch die Energiebarriere hindurchgeflogen sind.

Henry saß da und hatte den Kopf auf die Montagetafel fallen lassen. Um ihn herum lagen die Aufnahmekristalle, das Tonkabel und eine leere Tonbandkassette.

„Henry“, Erli klopfte ihm auf die Schulter, „ich will dir nur sagen… Du mußt jetzt tapfer sein… Es ist nicht Osa, Henry.“

Wirt hob sein blasses, müdes Gesicht zu ihm empor und nickte ein paarmal. „Ich weiß es bereits, Erli. Sie ist meine Tochter Seona. In Osas Ring war ein Aufnahmekristall. Den Ring hat mir Seona übergeben. Osa hat mir darauf alles mitgeteilt. Es hat natürlich nur eine Minute gedauert.“

„Henry, hier hat jeder jemanden oder etwas verloren.“

Erli blieb noch einen Augenblick stehen, dann ging er schweigend hinaus, kam aber gleich darauf wieder zurück.

„Ich wollte dich fragen, Henry, bei welchen Breitengraden habt ihr die Energiebarrieren durchflogen?“

Henry nannte die Grade und fügte hinzu: „Doch das waren gar keine Energiebarrieren.“

„Dacht’ ich’s mir doch!“

„Das waren die Grenzen der Gebiete, in denen die Zeit unterschiedlich vergeht. Je größer die Entfernung vom Äquator ist, um so rascher vergeht sie. Hör dir das mal an!“

Er hielt die rotierende Kassette an, legte ein Band ein und schaltete das Gerät wieder ein. Im Zimmer erklang ein schrilles, hohes Geheul.

„Das ist die tiefste Frequenz von Niks Stimme. Und hör das an.“

Er änderte die Geschwindigkeit. Aus dem Lautsprecher tönte es: „Ich rufe Wirt. Hier Traikow. Ich rufe Wirt!“ Die Worte wurden viele Male wiederholt. „Was ist bei euch vor sich gegangen?“

„Hinter der ersten Stufe vergeht die Zeit zwanzigmal schneller als bei uns. Um wieviel schneller sie hinter der zweiten ist, weiß ich nicht. In der zweiten Basis vergeht sie jedenfalls fünfhundertmal schneller.“

„Deshalb wurdet ihr auf jeder Stufe gepreßt und gedrückt.

Die Zeit vergeht schneller, und man braucht einen sehr starken Energieimpuls, um in diesen Zeitstrom einzutreten. Darum hat sich auch ›Veilchen‹ ohne allen ersichtlichen Grund plötzlich gedreht. Sein Energieimpuls war viel zu niedrig“, überlegte Erli.

„Was werden wir jetzt machen?“ fragte Wirt.

„Ich werde die Unterlagen Eva geben, damit sie alles in den Computer einführen kann. Sobald wir das Ergebnis haben, werden wir Sven und Nik davon unterrichten. Und was wirst du Seona sagen?“

„Ich werde sie das hier anhören lassen“, entgegnete Henry und öffnete seine Hand, in der er den Ring mit dem Stein hatte.

In die andere Hand nahm er den kleinen Aufzeichnungsapparat und die Berechnungen von den Kristallen, dann gingen beide auf den Korridor.

Erli gab Eva die zur Lösung der Aufgabe notwendigen Unterlagen. Henry setzte sich neben Seona. Sie lächelte ihn an. Es war zu spüren, daß sie sich nicht so recht wohl fühlte. Schließlich geht es jedem Menschen so, der sich plötzlich inmitten guter, aber immerhin doch unbekannter Menschen sieht!

„Seona“, sagte Henry, „ich werde dir nichts erklären. Ich heiße Henry Wirt. Hör dir das hier an.“ Er befestigte den Ring in der Haltevorrichtung und schaltete den Apparat ein. Eine traurige, leise Stimme erklang; „Guten Tag, Henry, mein Geliebter.“

Erli nahm Evas Hand, und beide verließen den Raum.

„Ich wollte das Alter der sterblichen Überreste von Esra und Jumm ermitteln“, sagte Erli. „Das muß unbedingt geschehen.“

„Ich werde dir dabei helfen.“

„Nein, das mache ich allein. Es ist nicht sehr kompliziert. Ich weiß nur nicht, wo sich das Laboratorium befindet.“

„Du mußt diesen Korridor zum nördlichen Flügel entlanggehen. Dort ist ein Hinweisschild.“

„Eva, bald werden die Berechnungen fertig sein. Geh hin und paß gut auf.“

„Mir ist jetzt nicht danach zumute, dorthin zu gehen. Ich werde dich begleiten.“

„Du bist ja wirklich gut! Wohin sollte man hier schon jemanden begleiten! Es ist ja alles nahebei!“

„Trotzdem — macht nichts.“

Sie waren kaum ein paar Schritte gelaufen, als sich eine Tür öffnete, in der Henrys Kopf erschien.

„Wohin seid ihr denn gegangen?“ rief er ihnen hinterher.

„Eva, geh du zu ihm. Ich komme schnell zurück.“

Erli schleppte sich den Korridor entlang und blieb zuweilen vor Müdigkeit erschöpft stehen. Dort, wo der Korridor die Linie des Äquators schnitt, konnte er seiner Wißbegier keinen Einhalt mehr gebieten, und er warf einen Blick in den Ingenieurbereich. Er wußte, was er sehen würde, und er hatte sich nicht geirrt. Dieser Saal war ebenfalls etliche hundert Jahre alt.

Überall lag hundertjähriger Staub. Ungefähr zweihundert Meter weiter fand er auf dem Korridor das Laboratorium, das er suchte, und nahm sich dort einen kleinen Apparat. Dann fuhr er mit der Rolltreppe in das oberste Stockwerk der Zentrale, blieb ein paar Sekunden neben der durchsichtigen Kuppel stehen und versuchte, die Gestalten von Sven und Nik auf dem vierten Speicher zu erkennen, aber er konnte nichts sehen.

Im Hauptpult begegnete er ständig Esra und Jumm, die immerzu über etwas zu streiten schienen. Er beachtete sie jedoch überhaupt nicht mehr. Sie lebten wohl in einem völlig anderen Zeitmaß.

Die Analyse der Überreste der beiden Menschen ergab, daß sie vor anderthalbtausend Jahren gestorben waren. Fünf Minuten später war Erli im Verbindungsraum. Henry war nicht mehr dort. Wahrscheinlich hatte Sven ihn zu sich gerufen. Die Unbekannten schienen irgend etwas im Schilde zu führen.

Henry war mit dem zweiten Mehrzweckmobil zu dem vierten Speicher gefahren.

Eva hatte ihn, seltsam verstört, getroffen.

„Erli! In der zwanzigsten Basis sind ungefähr sechshundert Jahre vergangen. Sie leben schon längst nicht mehr!“

19

Sven und Nik sprangen in den Fahrstuhl und fuhren nach unten. Nikolai sagte im Vorbeigehen: „Erli! Ihr Mehrzweckmobil ist aufgetaucht. Sie kommen vom Speicher herunter. Es ist anzunehmen, daß sie gleich zur Zentrale fahren. Wir begeben uns gleichfalls nach unten zu den Mehrzweckmobilen.“

„Macht euch auf den Weg zur Zentrale! Gebt euch Mühe, daß sie euch nicht sehen!“

Doch man hatte sie bereits entdeckt. Das zweitürmige Mehrzweckmobil mit seinen vielen Rohren, die in verschiedene Richtungen gedreht waren, kam plötzlich hinter dem vierten Speicher hervorgeschossen. Henry lenkte seine Maschine nach vorn und stellte sie quer, damit Sven und Nik die Möglichkeit haben sollten, sich hinter ihrer Maschinenpanzerung zu verbergen. Die Unbekannten waren offensichtlich nicht auf eine Begegnung mit irgend jemandem vorbereitet gewesen. Ihr Mehrzweckmobil blieb ruckartig stehen und schaukelte auf den Stoßdämpfern hin und her. Henry fuhr weiter. Ein schwerer Blaster lag neben ihm auf dem Sitz, aber während der Fahrt hätte er ihn sowieso nicht verwenden können. Ein Mehrzweckmobil war eben kein Kampffahrzeug!

Ein paar Minuten ließen sich die Unbekannten überhaupt nicht sehen. In ihrem Mehrzweckmobil schien niemand zu sitzen. Alles war still. Sven hatte inzwischen seine Maschine neben die von Henry stellen können. Das fremde Mehrzweckmobil bewegte sich ein Stück vorwärts. Dasselbe taten Sven und Henry. Der Abstand zwischen den beiden Maschinen hatte sich bis auf ein paar Meter verringert. Nikolai meldete alles, was sich ereignete, an Erli weiter.

„Kommt zurück zur Zentrale!“ schrie Erli.

„Dann werden sie mit uns mitfahren“, erwiderte Nik.

„Das können sie ruhig machen! Hier sind wir dann doppelt soviel!“

„In Ordnung.“

Die Unbekannten ließen keinerlei aggressive Absichten erkennen. Das Gegenteil war der Fall, denn aus den Türmen verschwand ein Rohr nach dem anderen von der unbekannten Waffe.

Dann wurde eine Luke des Mehrzweckmobils geöffnet, und es schaute ein Mann von bronzener Hautfarbe hervor, die in den Strahlen der untergehenden Sonne golden glitzerte. Er rief irgend etwas, doch die Worte waren nicht zu verstehen.

„Erli, sollen wir auch aussteigen?“ fragte Traikow.

„Wartet mal! Hat Henry euch berichtet, was sich noch herausgestellt hat?“

„Nur kurz.“

„Dann hört mal zu. Diese Unbekannten spielen dabei gar keine Rolle. Als Esra an die Basen das Zeichen zur Evakuierung gegeben hatte, war es schon zu spät. Sprunghaft trat an den Polen des Eremiten eine Zeitbeschleunigung ein, die ins Riesenhafte anstieg. In der zwanzigsten Basis verging die Zeit zwanzigtausendmal schneller als bei uns in der Zentrale. Am Südpol hingegen zwanzigtausendmal langsamer. Zum Äquator zu nahm dieser Multiplikator allmählich ab. Dadurch ist ein noch nie dagewesener Orkan hervorgerufen worden. Die Luft aus dem Bereich der blitzschnell vergehenden Zeit ist in den benachbarten Bezirk abgedrängt worden, wo die Zeit gemächlich verging. Der Orkan hat im Nu die gesamte nördliche Halbkugel erfaßt. Dann wurde die regelmäßig ansteigende Kurve der sich verändernden Zeitbeschleunigung durch eine stufenförmige Linie abgelöst. An den Grenzen toben sogar jetzt noch Stürme. Alle Basen waren fast im Handumdrehen zerstört. Alles übrige hat die Selva gemacht. Der Grund für einen derartigen sprunghaften Wechsel der Zeit ist nicht bekannt. Nun ist außerdem noch die Sache mit diesen Unbekannten zu klären. Von den Basen aus können sie nicht hierhergekommen sein, denn falls nach dem Orkan überhaupt noch jemand am Leben geblieben wäre, könnte er jetzt gewiß nicht mehr leben… Es sind seitdem viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte vergangen. Die Unbekannten können demnach mit dem Eremiten nichts zu tun haben.“

Der Mensch mit der bronzefarbenen Haut stand bereits neben dem Mehrzweckmobil von Henry und versuchte, durch Zeichengebung irgend etwas auszudrücken.

„Ich glaube, er bittet darum, ihn in die Maschine zu lassen.

Soll ich ihn einsteigen lassen? Er hat keine Waffe bei sich.

Und überhaupt scheinen sie insgesamt recht friedlich zu sein.“

„Er soll lieber erst mal erklären, was er will.“

Henry schob sich halb zur Luke hinaus und versuchte, durch Zeichensprache zu fragen, was sie möchten, doch er hatte keinen Erfolg damit. Da fragte er ganz einfach: „Was wollt ihr hier in der Zentrale?“

Der Bronzemann kam sehr nahe an das Mehrzweckmobil heran. Henry wiederholte seine Frage.

„Kosales! Wir brauchen Kosales!“

Für einen Augenblick war Henry starr vor Schreck, doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt und gab durch das Mikrofon durch: „Erli! Sie möchten dich sprechen!“

„Mich? Wieso, reden sie denn unsere Sprache?“

„Auf jeden Fall habe ich ihn verstanden.“

„Nimm ihn in deine Maschine und fahr schnellstens hierher.

Sven soll vorläufig mit seinem Mobil dort bleiben. Das Mehrzweckmobil der Unbekannten lassen wir besser vorläufig nicht herkommen.“

„Verstanden“, erwiderte Henry und bedeutete dem Mann durch Zeichen, daß er einsteigen könne.

Wenige Minuten später waren sie neben dem Haupteingang zur Zentralstation. Beide sagten kein Wort. Henry führte den Unbekannten in den Verbindungsraum. Der Unbekannte ging etwas erschrocken über die Türschwelle und sagte: „Guten Tag! Ich brauche Kosales!“

„Das bin ich“, erwiderte Erli und erhob sich zur Begrüßung.

Der Unbekannte trat rasch auf ihn zu und streckte ihm seine Hand entgegen. Erli schüttelte sie mißtrauisch.

„Wir sind seit ungefähr dreihundert Jahren hierher unterwegs“, sagte der Unbekannte. „Jedenfalls sind in der Großen Stadt inzwischen dreihundert Jahre vergangen. Uns hat Konstak geschickt. Natürlich lebt er selbst längst nicht mehr. Er ist schon lange, lange tot. Er hat uns aber ein Aktionsprogramm hinterlassen. Vor uns hat es bereits andere Expeditionen gegeben. Doch offensichtlich sind sie gar nicht bis hierher gekommen, weil das hier noch existiert“, er zeigte mit den Händen rings um sich.

„Was existiert?“ fragte Erli zurück.

„Die Station hier. Wir müssen sie vernichten. So steht es in Konstaks Programm.“

„Wer ist denn dieser Konstak, und was ist das für eine Große Stadt?“

„Konstak war ein sehr großer Gelehrter. Habt ihr wirklich noch nie von ihm gehört?“

„Wie soll ich ihn denn kennen, wenn ihr dreihundert Jahre hierher unterwegs gewesen seid! Da habe ich doch überhaupt noch nicht gelebt! Und was ist mit der Großen Stadt? Ist das ein Planet?“

Der Unbekannte schüttelte den Kopf.

„Ein Sonnensystem?“

„Nein.“

„Was denn sonst? Eine Galaxis?“

„Nein, auch nicht… Ich brauche einen Globus.“

Ein Globus ließ sich aber beim besten Willen in der nächsten Umgebung nicht auftreiben.

„Das ist eine ehemalige Basis, versteht ihr. Früher hat man sie von der Zentrale aus in zehn Stunden erreichen können.

Jetzt benötigt man dazu dreihundert Jahre. Wir sind keine Physiker. Wir führen lediglich das Programm von Konstak aus.

Darin heißt es, daß wir Kosales finden müssen, falls wir die Speicher nicht selbst vernichten können. Wir haben auch einen Brief. Aber er ist schon sehr alt. Beim Lesen muß man sehr behutsam und vorsichtig sein. Konstak hat ihn selbst geschrieben.“

„Mit was für einem Fahrzeug seid ihr denn von der Großen Stadt in die Zentrale gekommen?“

„Auf Mehrzweckmobilen. Wir hatten fünf davon. Nur eins ist bis hierher gekommen. Alle anderen sind gescheitert.“

In Erlis Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Sie kamen doch wohl von der zwanzigsten Basis! Aber seit dreihundert Jahren waren doch dort alle schon tot! Wieso konnten sie dann hierhergekommen sein?

„Konstak — heißt das etwa Konrad Stakowski?“ schrie er.

„Ja, richtig. Konrad Stakowski. Aber im allgemeinen nannte er sich nur Konstak.“

„Sven!“ schrie Erli durchs Mikrofon. „Komm mit deinem Mehrzweckmobil hierher! Auch das von diesen Leuten mußt du mitbringen. Es sind welche von uns! Von der zwanzigsten Basis!“

„Wieso denn von der zwanzigsten? Ist wohl wieder eine neue Hypothese, wie?“

„Nein, Sven, eine ganz alte! Es ist jetzt alles klar. Bring sie so schnell wie möglich her!“

Der Bronzemann schaute verwirrt um sich.

„Wieviel Leute sind in dem Mehrzweckmobil?“

„Elf. Ich bin der zwölfte. Acht Mann sind umgekommen.“

„Wie heißen Sie?“

„Enrico.“

„Sie haben doch bestimmt einen Wolfshunger, nicht wahr?

Wir ebenfalls. Eva und Seona! Ich möchte euch bitten…“

Die Mädchen hatten bereits alles verstanden. Sie hatten die Automaten für die Speisenzubereitung eingeschaltet und zurechtgemacht.

Wenig später betrat eine lärmende Schar von Bronzemenschen die Zentrale. Sven und Nik kamen ihnen mißtrauisch hinterher mit Blastern auf dem Rücken.

„Werft dieses Spielzeug weg!“ sagte Erli zu ihnen.

Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, berichtete Enrico:

„Als man auf der Basis das Signal zur Evakuierung erhalten hatte, kam sofort ein unheimlich heftiger Orkan auf. Die Basis wurde zerstört. Zum Glück war das die Basis mit den meisten Menschen. Auf ihr waren vierzehn Mann. Gleich nach den ersten Minuten war es einer weniger. Alle übrigen hatten sich in den Kellergeschossen der Station in Sicherheit bringen können. Aus diesen Kellern sind sie erst nach fünf Jahren wieder herausgekommen. Und erst dreißig Jahre später hatten sie das Gelände der Basis einigermaßen von der Selva befreit.

Doch das Problem des Hungertodes war für sie noch nicht gelöst. Zu dieser Zeit starb Konrad Stakowski. Mit der Zeit hatten sie eine Methode herausgefunden, die Schleimsäckchen und die Gleitpflanzen in etwas Eßbares umzuwandeln. Dann kam der vierzigjährige Winter, verbunden mit stockdunkler Nacht.“

„Aber alle, die dort auf der Basis waren, mußten doch sterben?“

„Konrad Stakowski hat von Anfang an gewußt, was sich auf dem Eremiten abspielte. Deshalb ordnete er an, daß sich einer unbedingt zur Zentrale durchschlagen müsse. Alle, die von Anbeginn auf der Basis gelebt hatten, konnten daran nicht einmal im Traum denken. Von den Frauen wurden Kinder zur Welt gebracht. Nach dreihundert Jahren, als wir abflogen, gab es dort bereits ungefähr sechshundert Menschen. Jetzt werden es bestimmt schon viel mehr sein. Aber der Eremit muß untergehen. Es ist auf ihm ein Zeitgenerator entstanden. Sein Ausstrahlungsring läuft um den Äquator. Wenn die Zeit am Pol des Eremiten einmal so verlaufen wird wie die Zeit in diesem Ring, tritt eine Übersättigung ein, und der Eremit wird auseinandergetrieben. Wann das passieren wird, wußte Stakowski nicht.“

„In fünfzehn Tagen“, sagte Erli. „Dieser Strahlenring ist anderthalbtausend Jahre alt.“

„Er muß in möglichst großer Entfernung zur Explosion gebracht werden. Darum müssen die Energiespeicher und die Zentrale gesprengt werden. Wir haben die Energievorräte festgestellt. Es ist genügend vorhanden, doch wir kennen das Schema nicht, nach dem die Speicher untereinander gekoppelt sind. Auf der Basis wußte das niemand. Es gab dort keine Ingenieure. Fünfzehn Tage können wir jedoch nicht warten.

Die Zentrale muß so rasch wie möglich in die Luft gesprengt werden. In der Großen Stadt geht es drunter und drüber, sie kommen dort nicht mehr weiter. Es geht ihnen miserabel.“

„Man kann Lebensmittel für sie mit den Hubschraubern abwerfen“, sagte Sven.

„Nein“, entgegnete Erli. „Die Energiebarriere ist dort sehr hoch.“

„Und ›Veilchen‹?“

„›Veilchen‹ kann nur mit geringer Geschwindigkeit landen.

Außerdem gibt es dort gar keinen Landeplatz.“

Nach dem Mittagessen machten sich alle langsam an die Arbeit. Die meisten mußten unter Erlis Anleitung verschiedene wertvolle Apparaturen, Ausstattungen, Forschungsunterlagen und alles, was nötig war und gebraucht wurde, damit die Eremitenkolonie nach der Vernichtung der Zentrale bis zur Ankunft der ›Warszawa‹ weiterexistieren konnte, in der ›Veilchen‹ verladen und verstauen.

Das Schema für die Koppelung der Speicher wurde nicht gefunden. Das erschwerte die Aufgabe beträchtlich. Um dieses Knäuel zu entwirren, würden sie wahrscheinlich noch länger als fünfzehn Tage benötigen.

Da erinnerte sich Erli daran, was auf der Papierrolle dargestellt war, die er bei Esra und Jumm gesehen hatte. Er zweifelte nun nicht mehr länger, daß sie in einer völlig anderen Zeitmessung lebten, wo außer der Zentrale und ihnen selbst niemand und nichts existierte. Ihnen war klar, was mit ihnen geschehen war, weil sie das Experiment geleitet hatten. Daß es sich um ein Experiment gehandelt haben mußte, dachte sich Erli. Beide konnten die Konsequenzen dieses Experiments ermessen, als es sich ihrer Kontrolle entzogen hatte.

Esra und Jumm waren besonders häufig im Hauptpult und im Verbindungsraum erschienen, als vermuteten sie, daß dort Menschen sein müßten. Sie hatten das für die anderen nicht existente Schema sehr oft aufgerollt und wohl damit auffordern wollen, es abzuzeichnen. Bis zum Sonnenuntergang hatte Sven das geschafft.

Gegen Mitternacht war alles fertig zur Sprengung.

Traikow sollte mit „Veilchen“ aufsteigen und so lange auf der Umlaufbahn des Eremitensputniks bleiben, bis irgendwo ein Landeplatz vorbereitet worden war.

Die anderen mußten mit den Hubschraubern fliegen. Man mußte sie unbedingt schützen… Konrad Stakowski hatte das Programm für die Sprengung der Energiespeicher so ausgearbeitet, daß die Zeitbeschleunigung, ob positiv oder negativ, nicht sprunghaft aufgehoben würde, sondern gleichmäßig. Ein zweiter zerstörender Orkan mußte auf alle Fälle vermieden werden.

Zu Beginn der ersten Nacht startete „Veilchen“. Bald darauf hörten sie die ruhige Stimme Traikows: „Alles in Ordnung.“

Etwas später verließen zwei Lasthubschrauber mit Menschen an Bord die Zentrale, von Erli und Sven gesteuert. Die anderen Hubschrauber flogen ohne Piloten ab. Sie waren mit einem Flugprogramm ausgestattet.

Gemeinsam mit Erli flogen Eva und ein paar Leute von der zwanzigsten Basis.

„Jetzt erinnere ich mich“, hörten sie plötzlich Traikows Stimme. „Ich erinnere mich jetzt, wo ich die Schaukel gesehen habe! Sie ist an die Wände der Zentrale gezeichnet! Unmittelbar am Äquator verläuft ein regelmäßiger Streifen, parallel zur Erde. Der Neigungswinkel dieser Schaukel wird dann nach Süden und Norden zu immer größer. Das Zeichen für diesen Winkel ist nicht immer dasselbe. Am nördlichen Pol ist es positiv, am südlichen negativ.“

„Schade, daß es nun zu spät zum Umkehren ist“, sagte Erli.

„Eigenartig! Alle haben sie gesehen, aber es ist ihnen nicht zum Bewußtsein gekommen.“

Die Hubschrauber flogen in einer geschlossenen Gruppe, die sich vom Äquator nach Osten entfernte und kaum merklich Kurs auf Norden nahm.

20

Als sie sich ungefähr fünfhundert Kilometer von der Zentrale entfernt hatten, war eine Explosion zu hören. Am nächtlichen Himmel loderte es hell auf.

Eine Stunde später waren im Äther die Worte zu hören:

„Wozu diese Evakuierung? Esra, was ist dort bei euch los?“

Das wurde von der neunzehnten Basis aus gesprochen, die fast am Südpol lag. Seit der Katastrophe waren dort erst wenige Minuten vergangen.

Erli lächelte nervös.

„Eva, sag ihnen, sie sollen alle auf ihren Plätzen bleiben.

Henry wird ihnen eine Mitteilung durchgeben.“

Dann flogen sie in Richtung auf die zwanzigste Basis.

Erli schaltete die Selbststeuerung ein und zog zwei Briefe aus seiner Tasche. Einer war von Konrad Stakowski, der andere von Lej.

„Sei gegrüßt, Erli!“ schrieb Lej. „Ich hätte dich so gern noch einmal gesehen…“

Er faltete den Brief zusammen und wollte ihn zerreißen, doch er überlegte es sich anders und legte ihn Eva aufs Knie, die neben ihm saß. „Irgendwann wirst du ihn einmal lesen“, sagte er.

Sie schüttelte nur verneinend den Kopf.

„Erli!“ hatte Konrad Stakowski geschrieben. „Wir haben immerhin erreicht, was wir wollten. Wir können die Zeit lenken und dirigieren. Ich bin überzeugt, daß du unser Werk fortsetzt. Ich habe die Vorstellung, daß die Zeit an einem Pol beschleunigt, am anderen verlangsamt wird. Das bedeutet, daß die Menschen Experimente, für die sie früher Jahre gebraucht haben, in Sekundenschnelle durchführen könnten. Ich kann mir gar nicht ausmalen, was die Menschheit alles erreichen könnte, wenn sie in die Lage versetzt ist, die Zeit zu dirigieren, das heißt, ihr zu befehlen, sich dem Willen der Menschen unterzuordnen und nach deren Gutdünken zu vergehen…

Es ist sehr schade, daß diese Entdeckung eine Katastrophe zur Folge hatte. Doch ich hege die Überzeugung, daß du die Arbeit weiterführst; ich bin bemüht, dir dabei zu helfen…

Falls der Journalist in dir den Physiker besiegen sollte, hast du hier den Anfang deines Buches.

Wir haben nicht in Erfahrung bringen können, was für eine Zivilisation auf dem Eremiten ihre Spuren hinterlassen hat.

Vielleicht hat es überhaupt keine andere Zivilisation gegeben.

Möglicherweise wird diese Anlage in zwanzig Jahren auf der Erde gebaut und hierher auf den Eremiten übertragen, in der Zeit versetzt. Auf der Erde werden ja schon seit langem Untersuchungen durchgeführt, die das Ziel haben, die Zeit zu beherrschen, sie zu lenken und zu dirigieren. Esra und Jumm haben für diese Idee gelebt.

Wir haben sehr lange nicht begreifen können, was die Zentrale mit ihren Energiespeichern und Basen eigentlich darstellte.

Doch dann entdeckten wir den Strahlungsring des Eremiten und haben daraus allmählich gefolgert, daß man damit experimentell die Möglichkeit eines wechselseitigen Übergangs von Zeit und Raum ausprobieren konnte. Die Hauptgruppe der Expedition hat sich mit der Untersuchung des Eremiten beschäftigt. Sie versuchte herauszufinden, was eigentlich auf dem Eremiten vorhanden war. In einer der zahlreichen Räumlichkeiten der Zentrale wurden Arbeitsaufzeichnungen gefunden. Es waren gewöhnliche Arbeitsaufzeichnungen, denen man nicht viel entnehmen konnte, doch immerhin war es etwas. Wir haben daraus ersehen, daß jemand bereits versucht hatte, Experimente mit Zeit und Raum anzustellen. Das erstaunlichste daran war, daß diese Notizen in einer Sprache der Erde vorgenommen worden waren. An einigen Stellen stand deine Unterschrift.

Ich unterhielt mich mit Lej darüber. Sie sagte mir, sie habe von dir keinerlei Notizen, keine Dokumente, rein gar nichts.

Ich konnte es nicht begreifen, wo du dich schon einmal mit derartigen Experimenten hättest beschäftigen können. Mir war jedenfalls darüber nichts bekannt.

Auf unser Experiment haben wir uns mit aller Sorgfalt vorbereitet. Vier Tage, nachdem ›Veilchen‹ vom Eremiten abgeflogen war, bestand Eva darauf, mit dem Experiment zu beginnen.

In der Zentrale verblieben lediglich Esra, Jumm und Eva.

Alle anderen flogen mit den Hubschraubern in die Basen. Es mußte ein großangelegtes Experiment sein, doch wir hatten nicht genügend Leute.

Am elften Tag um sieben Uhr meldeten alle zwanzig Basen, daß sie zur Durchführung des Experiments bereit seien. Das Experiment begann sieben Uhr fünfzehn. Esra gab die Kommandos über die Außenverbindung durch und schaltete die Energiespeicher ein. Jumm bearbeitete die Ergebnisse des Experiments mit dem Computer und führte im Programm des Experiments Änderungen und Korrekturen durch.

Bis gegen acht Uhr lief alles genauso wie in den kleineren, vorbereitenden Experimenten… Die Speicher gaben siebzig Prozent der Energie ab, dabei wurde eine Veränderung der Raumkrümmung im lokalen Gebiet des Eremiten nicht festgestellt. Esra fing an, nervös zu werden. Ungefähr gegen acht Uhr drei signalisierten die Apparaturen eine Deformation des Raums. Die Zeitbeschleunigung war gleich null. Esra beschloß, das Experiment einzustellen. Jumm bestand auf seiner Wetterführung. Eine Minute später war klar, daß ihr Streit sinnlos war. Das Experiment war außer Kontrolle geraten. Esra schaltete die Speicher aus, doch die Deformation des Raums blieb bestehen. Das wurde von allen zwanzig Basen bestätigt.

Doch dann verschwand die Deformation, aber dafür setzte eine rasante Beschleunigung der Zeit ein, die sich ganz besonders am Äquator bemerkbar machte. An den Polen trat diese Zeitbeschleunigung nicht auf. Um acht Uhr zehn hörte die Zeitbeschleunigung auf, und die Apparaturen registrierten eine Raumdeformation. Die Zeitbeschleunigung war geringfügig.

Eine Sekunde in der Stunde.

Esra gab die Meldung an alle durch, daß das Experiment außer Kontrolle geraten war. Alle sollten sich zur Rückkehr in die Zentrale bereit machen.

Das Hin- und Herschaukeln im Raum-Zeit-System dauerte noch zweiundzwanzig Minuten… Dann wuchs die Zeitbeschleunigung gewaltig an. Die Verbindung zwischen den Basen und der Zentrale brach ab. Jetzt sind bereits fünf Jahre vergangen, aber wir sind immer noch nicht aus den Kellergeschossen heraus. Erli, wie ist es aber nun, wenn das deine zukünftigen Arbeitsaufzeichnungen gewesen sind? In diesem Falle müßten wir überhaupt nicht nach einer anderen Zivilisation suchen, denn dann hätten wir ja selbst alles geschaffen.

Erli, du mußt herausfinden, wie man Herr über die Zeit werden kann…“

Sie konnten bereits die zweite Basis vor sich erkennen.

„Erli“, sagte Henry. „Ich möchte hier für ein paar Minuten Station machen. Kannst du mich verstehen?“

„Ja, Henry.“ Er schaltete das Mikrofon aus.

Vierzehn Hubschrauber verharrten an ein und derselben Stelle, und einer setzte in kühnem Bogen zur Landung an. In den Strahlen der aufgehenden Sonne glich er einem kleinen, goldenen Käfer.

Загрузка...