Der Zeitungskiosk

1

Es war so neblig, daß man kaum zwanzig Schritte weit sehen konnte. Nur elektrische Beleuchtungen und dämmrig-trübe Scheinwerfer der Autos blinkten hin und wieder wie verwa-schene gelbe Punkte. Ein volles halbes Hundert unter Null!

Vereinzelt knirschende Schritte im Schnee, anhaltendes Hupen der Autos und sonst nur Kälte, Kälte… in Ust-Mansk, in seinen Vorstädten und Tausende von Kilometern im Umkreis.

Ich eilte vom Hotel zum Klub des Elektromotorenwerkes, wo um zwölf Uhr die Eröffnung einer Konferenz stattfinden sollte.

Kein Mensch überholte mich, denn ich lief sehr rasch, weil ich nur Sommerhosen und einen Herbstmantel trug. Die von nur ausgeatmete Luft gefror noch im selben Moment auf meinem Gesicht, die Nase war bereits völlig erstarrt, und ich wünschte, sie mit der Hand einzuhüllen. Hoffentlich würde der Frost nicht so bösartig bleiben, damit ich mein Ust-Mansk eingehend betrachten könne; ich wollte seine neuen Wohnviertel sehen, jemanden von den alten Freunden besuchen, ein Gläschen Wein trinken und im Stadtpark schlendern, um dort, wie der-einst, von den Hügeln hinunterzuschlittern, dabei die Mütze verlieren, sie dann schneebedeckt wiederfinden, dazu lachen und juchzen, mit Schneebällen werfen und allerhand Unsinn treiben. Mich verlangte nach alledem; denn ich war zehn Jahre nicht in Ust-Mansk gewesen, und vordem hatte ich dort zwanzig Jahre lang gelebt.

Mir blieben noch anderthalb Stunden. Ich wollte als erster an Ort und Stelle sein, mich aufwärmen, um dann dastehen und zuschauen zu können, wie die mit Eiszapfen behängten Menschen aus der eisigen Lufthülle ins Foyer strömen, sich die Füße abtreten, warm klopfen und sich gegenseitig die Wangen reiben würden.

„Nie kann man an diesem Kiosk eine aktuelle Zeitung bekommen“, sagte jemand, der von Kopf bis Fuß fest eingewik-kelt war, erregt, und fast hätte er mich dabei umgerannt. „Par-don!“

Ich war zur Seite gesprungen und erblickte vor mir einen Zeitungskiosk aus Glas und Plast, an dem Rauhreif-Ornamente und Spitzen glitzerten. Der ganze Kiosk leuchtete und strahlte von innen heraus und wirkte dadurch märchenhaft. Aber wie kann das die alte Frau, die hier Zeitungen verkauft, nur aushalten? Angenommen, es ist im Innern zehn Grad wärmer, dann sind das immerhin noch minus vierzig. Brrr! Wie hält sie das bloß aus? Vielleicht ist sie schon längst erfroren?

Ich beschloß, eine Zeitung zu kaufen, um später nicht bei bestimmten Vorträgen die Zeit totschlagen zu müssen. Auf mein dumpfverkrampftes Klopfen hin öffnete sich das kleine Kiosk-Fenster sofort.

„Gute Alte!“ rief ich. „Fünf Zeitungen von heute, davon eine Lokal-Ausgabe.“

„Ich bin keine gute Alte. Ich bin Katja-Katjuscha“, entgegnete mir die Stimme eines Mädchens.

„Katja-Katjuscha? Das ist ja ausgezeichnet, Katja-Katjuscha!

Nun, wie steht es mit Zeitungen, Katja-Katjuscha?“ Meine Lippen konnten das Wort „Katjuscha“ nur mit Mühe formen, aber ich wiederholte es absichtlich etliche Male.

„Ich habe niemals Zeitungen von heute.“

„Das hörte ich bereits. Und was nützen mir wohl die gestrigen? Die hab’ ich bereits gelesen.“

„Die von gestern sind auch nie da.“

„Wozu sitzen Sie dann eigentlich hier?“

„Ich verkaufe ausschließlich Zeitungen von morgen“, antwortete das Mädchen, und im Fensterchen erschien ihr Gesicht mit einer warmen Strickmütze. „Um Gottes willen! Ihre Wangen sind ja erfroren! Man muß sie sofort reiben! Haben Sie’s noch weit?“

„Bis zum Klub des Elektromotore…“

„Das schaffen Sie nicht.“

Dann ein wenig zögernd: „Kommen Sie zu mir herein. Hier ist es wann.“

„Darf man das?“

„Nun kommen Sie schon, was gibt es denn da noch zu…“

Ich drückte die Türklinke des Kiosks herunter, aber wahrscheinlich nicht kräftig genug, denn die Tür ging nicht auf.

Unentwegt hüpfte ich dabei hin und her und beklopfte meine Wangen, Ellbogen und Knie; meine Zehen waren ohnehin gefühllos geworden.

„Stärker!“ rief das Mädchen.

Ich drückte mit aller Kraft, zwängte mich mit dem sich sofort bildenden Atemdampf in das Innere des Kiosks — dort war kaum für einen Menschen Platz genug —, und dann stand ich, zum Fragezeichen gekrümmt, unentschlossen da.

„Setzen Sie sich.“ Das Mädchen wies auf einen Zeitungsstoß.

Ich ließ mich nieder und streckte meine Füße sofort den beiden elektrischen Heizkörpern entgegen.

Innen im Kiosk war es hell, warm und trocken; überdies sehr sauber und gemütlich.

„Die Wangen werden schwarz, da werden die Mädchen nicht in Liebe entflammen“, sagte sie und brach in Lachen aus.

„Reiben Sie, daß wieder Leben hineinkommt!“

Ich zog mit den Zähnen meine Handschuhe herunter und versuchte, die Finger auszustrecken. Das gelang nicht.

„Das sieht ja nicht gut aus“, meinte das Mädchen, zog ihre Fausthandschuhe aus und berührte vorsichtig mit ihren warmen Handflächen meine Wangen. Ich wehrte nicht ab. Sie fragte: „Sind Sie ein Fremder, oder gehören Sie zu den seltenen Vögeln, die absichtlich keine Winterkleidung tragen und dann jahrelang im Krankenhaus liegen?“

„Ich bin ein Fremder, Katja-Katjuscha. Eile vom Hotel zu einer Konferenz… Über die Ausbreitung von Radiowellen.“

„Aha. Darüber habe ich bereits in der Zeitung gelesen.“ Sie ließ ihre warmen Handflächen noch einige Male über meine Wangen gleiten. „Jetzt wird alles in Ordnung kommen.“

„Schönen Dank, Katja. Ich möchte mich vorstellen“, dabei hielt ich ihr meine noch nicht völlig erwärmten fünf Finger entgegen. „Dmitri Jegorow.“

Sie gab mir ebenfalls die Hand und lachte derart fröhlich, daß es auf mich ansteckend wirkte.

„Also Sie sind das, den sie auf der Konferenz in Grund und Boden kritisiert haben?“

Ich verstand nicht sofort den Sinn ihrer Worte.

„Ich habe mir noch überlegt, welche Zeitung ich zurückbehalten soll. Doch überall war dasselbe. Sie sind demnach Dmitri Jegorow, der Phantast, der vollkommen den Boden unter den Füßen verloren hat?“

„Katja, ich bin doch kein Phantast, der den Boden unter den Füßen verloren hat, sondern ich stehe ganz im Gegenteil mit beiden Beinen fest auf der Erde! Haben Sie eine Vorstellung, wie die Radiowellen in den Boden eindringen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Na, dann werde ich es kurz erklären. Ich suche nützliche Minerale und Wasser mit Hilfe von Radiowellen, die in das Erdreich eindringen. Ohne Bohrtürme und Gesteinsproben.

Von Phantasterei kann hier nicht im mindesten die Rede sein.

Ist das für Sie von Interesse?“ fragte ich.

„Freilich“, entgegnete sie. „Erzählen Sie noch ein bißchen davon. Die Konferenz fängt sowieso erst um zwölf an.“

Ich berichtete ihr, wie unsere Expedition im vergangenen Sommer in den Wasjugansker Sümpfen im Norden des Bezirkes Tomsk gearbeitet hatte. Alle Arten von Mücken hatten sich auf uns gestürzt, die Apparaturen dröhnten, die Kumpel waren verstimmt und einsilbig, aber Goschka, unser Leiter, hatte laut und lange gesungen. Man hatte ihm bedeutet, still zu sein, sich zu verziehen, ihm die Fäuste gezeigt, doch er hatte nicht aufgehört und seiner Kehle Töne entlockt, die einem durch Mark und Bein fuhren. Um das Maß voll zu machen, hatte er noch zu uns gesagt, wir seien richtige Baby-Nahrung, wackliger, pappiger Grießbrei! Aber mit diesem „Grießbrei“ waren wir nicht einzuschüchtern gewesen. Doch seine Trällerei hatte keiner mehr länger ertragen können. Irgend jemand war nach kurzem Herumdrucksen in schallendes Gelächter ausgebrochen. Da hatten es auch die anderen nicht mehr länger ausgehalten; alle hatten sie in dieses Gelächter eingestimmt und sich dabei ihre Bäuche gehalten.

„Soll ich noch eins singen?“ hatte Goschka gefragt und dann hinzugefügt: „Schon richtig, es stimmt, eben einfach richtiger Grießbrei!“

Die Mücken hatten nicht aufgehört, uns zu piesacken, die Apparaturen funktionierten nicht, und in uns war der Zorn auf uns selbst hochgestiegen, auf unsere Hilflosigkeit. Wir wollten nicht mehr „Grießbrei“ genannt werden, und wir blieben in der Taiga, obwohl man uns dreimal zurückgerufen hatte. Unsere Apparaturen arbeiteten nach wie vor nicht so, wie man es eigentlich von ihnen erwarten mußte. Darüber wunderte sich aber auch niemand besonders. Obwohl es elektrische, magnetische, gravimetrische und Strahlenmeßmethoden zur Erkundung von Lagerstätten gibt, wollten wir etwas völlig anderes: Wir wollten durch den Erdboden hindurchsehen, wie durch eine blankgeputzte Glasfläche. Die Expedition war natürlich zum Scheitern verurteilt.

„Und trotzdem ist das alles interessant gewesen“, schloß ich,

„und notwendig…“

Mir schien, als ob in ihren Augen einen Augenblick lang so etwas wie Neid aufleuchtete. Letztlich war es ja so, daß ich wenigstens etwas tat, nach etwas strebte, gescheitert war, mich wieder aufgerafft hatte und weitermachte. Sie aber saß wahrscheinlich schon das soundsovielte Jahr hier in diesem kleinen Kiosk, verkaufte Zeitungen und Ansichtskarten, rechnete ab und sah dabei immer nur die Hände von Menschen, die in ihr kleines Fenster hineingriffen, und sie versuchte nicht einmal, etwas an ihrem Los zu ändern. Ich reckte mich und machte den Vorschlag: „Katja-Katjuscha, wollen wir zusammen auf Expedition gehen?“

„Als Köchin, ja?“ fragte sie völlig ernst zurück.

„Warum denn ausgerechnet als Köchin?“ Sie hatte mich verlegen gemacht.

„Als was denn sonst?“

„Nun, zum Beispiel als…“

„Gut, ich bin einverstanden“, sagte sie.

„Ist das wahr?“

„Natürlich. Sie nehmen mich ja sowieso nicht mit. Sie machen doch nur Spaß. Außerdem ist Zeitungen verkaufen auch interessant.“

„Wahrscheinlich sogar noch weit interessanter“, entgegnete ich, wie mir schien, allzu sarkastisch. „Das ganze Leben hier herumsitzen…“

Sie war nicht gekränkt und funkelte mich mit ihren großen Augen an, aus denen der Neid verschwunden und nur Heiterkeit und Ironie geblieben waren.

Ich war bereits vollkommen durchgewärmt, hatte jedoch keine Lust zu gehen. Nicht ein einziges Mal hatte während dieser Zeit jemand ans Fensterchen geklopft. Offensichtlich verspürte bei dieser schneidenden Kälte kein Mensch Lust, Zeitungen zu kaufen.

Insgeheim tastete ich Katja mit Blicken ab. Sie war nicht groß, hatte schwarzes, unter der Mütze hervorquellendes Haar.

Ihre Augen waren ebenfalls schwarz, die Wangen ein wenig überhöht, als ob sie diese leicht und sacht aufgeblasen hätte.

An den Füßen trug sie Lederstiefelchen mit hohem Absatz, hinter dem Stuhl in der Ecke bemerkte ich ihre Filzstiefel. Ein leichter Wintermantel mit kleinem Kragen war bis zur Hälfte herumgeschlagen, in ihm steckte ein hellblauer, flauschiger Wollschal.

„Und jetzt haben Sie sich wieder in den Kampf gestürzt?“

fragte Katja lachend. „Wollen beweisen, daß Sie im Recht waren?“

„Das will ich“, entgegnete ich.

„Damit werden Sie kein Glück haben. Man wird Sie wieder als Phantasten bezeichnen, der den Boden unter den Füßen verloren hat.“

„Ach, Katja-Katjuscha“, sagte ich betrübt. „Weshalb müssen ausgerechnet Sie das sagen? Sie können das doch bestimmt nicht wissen. Es ist doch gar nicht bekannt, wer…“

Ich konnte den Satz nicht beenden, weil sie mir plötzlich eine Zeitung in die Hand schob und sagte: „Lesen Sie das.“

Flüchtig glitten meine Augen über die erste Seite. Nichts Außergewöhnliches, alles, wie es sich gehörte: gute Leistungen von Forstarbeitern und Melkerinnen, Initiativen, Wettbewerbe.

„Auf der dritten Seite“, sagte Katja.

Ich schlug die Zeitung auf und las: „In Ust-Mansk tagt eine Allunionskonferenz zur Ausbreitung von Radiowellen.“

Katja kicherte still und leise in ihren Ärmel hinein. Wahrscheinlich stand auf meinem Gesicht allzu deutlich Verwunderung geschrieben. „Am vierundzwanzigsten Dezember um zwölf Uhr wurde im Kulturhaus des Elektromotorenwerkes die Allunionskonferenz eröffnet…“

„Welches Datum haben wir heute?“ fragte ich nervös, weil ich mit Schrecken eine Erklärung dafür suchte, wo ich einen vollen Tag verloren haben konnte.

„Den Vierundzwanzigsten“, entgegnete Katja vollkommen ernst.

„Warum wird dann hier von der Konferenz-Eröffnung in der Vergangenheit gesprochen? Schließlich beginnt sie ja erst in einer Stunde!“

„Es handelt sich ja auch um die Zeitung von morgen.“

Ich drehte das Zeitungsblatt um. „Rotes Banner“, 25. Dezember.

„Ich verstehe überhaupt nichts mehr… Was für ein Datum ist heute?“

„Der Vierundzwanzigste. Was wohl sonst?“

„Gut, Katja. Verzeihen Sie mir. Mit meinem Kopf ist wahrscheinlich irgend etwas nicht in Ordnung. Möglicherweise unterkühlt.“

„Nein, keinerlei Unterkühlung. Ihr Kopf ist völlig in Ordnung. Dies ist die morgige Zeitung! Ich verkaufe fortwährend die von morgen. Nur schlecht los werde ich sie eben. Alle wollen immer die heutige. Doch Zeitungen von heute werden überhaupt nicht angeliefert.“

„Das kann nicht sein!“

Aber der Artikel vor mir handelte von unserer Konferenz.

Mein Vortrag wurde darin als Phantasiegebilde bezeichnet.

„Seltsam“, sagte ich. „Jetzt weiß ich, was mit mir in den nächsten Stunden geschieht. Wenn ich aber nun alles anders mache, als es hier geschrieben steht? Einfach nicht zur Konferenz hingehe?“

„Das ändert an der Sache gar nichts“, erwiderte Katja. „Sie haben keinen Grund dazu. Schließlich geht es nicht allein um Ihren Vortrag, nicht wahr?“

„Das stimmt.“ Für einen Augenblick stellte ich mir Goschkas verzerrte Physiognomie vor und schüttelte mich. „Es ist sicher richtig, daß man hier gar nichts ändern kann; höchstens unbedeutende Details, die in der Zeitung sowieso weggelassen werden. Das ist recht ordentlich ausgeklügelt hier bei Ihnen, Katja. Die morgigen Zeitungen verkaufen ist eben etwas anderes als die heutigen. Interessant.“

„Das soll heißen, daß Sie mich nun nicht mit auf die Expedition nehmen?“ fragte Katja spöttisch.

„Folgendes, Katja“, erwiderte ich, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Wann schließen Sie den Kiosk?“

„Um acht.“

„Ich werde Sie um halb acht abholen. Abgemacht?“

„Ja. Nur, was werden wir dann tun? Auf der Straße können wir uns nicht lange aufhalten, Sie würden erfrieren.“

„Es wird uns schon irgendwas einfallen. Ich muß mich jetzt beeilen, Katja-Katjuscha. Alles will ich tun, damit man mich einen Phantasten nennt, der den Boden unter den Füßen verloren hat. Das will ich!“

„Alles Gute“, nickte sie. „Und ich will auf Sie warten.“

Wie angewurzelt blieb ich in der Tür stehen und wußte nicht, was ich sagen sollte. Abermals machte sie sich über mich lustig!

„Laufen Sie zu. Gut, daß sich alles so ergibt. Ich werde hier warten!“

2

Ich lief hinaus in den Frost von fünfzig Grad, eingehüllt in eine Säule von Atemluft, den Prospekt hinauf, vorbei am Internat der Universität, an der Denkmalsgestalt Kirows, der mit erhobener Hand dasteht, vorbei am Polytechnischen Institut.

In dem geräumigen, aber wenig eleganten Foyer des Kultur-Palastes mit seinen Kandelabern, Lüstern und Ledersofas waren bereits viele Menschen versammelt. Meinen rein symbolischen Mantel gab ich in der Garderobe ab, eilte ins obere Stockwerk, und blickte von dort aus, über die Brüstung gelehnt, hinunter, in der Hoffnung, in der Menge ein bekanntes Gesicht zu entdecken.

Ich hatte Glück, bereits zehn Minuten später unterhielt ich mich mit einem meiner ehemaligen Kommilitonen. Das Fragen begann: Wo? Wann? Durch wen? Verheiratet? Kinder? Wieviel? Dissertation? Semjon Fjodorow, natürlich erinnere ich mich an ihn! Die Hundekälte? Bei uns hier gibt es zur Zeit nur noch Hundekälte!

An Bekannten traf ich niemand weiter, und mein einstiger Kommilitone verließ mich rasch. Er gehörte zu den Organisatoren der Konferenz, ich konnte ihn verstehen. Solche Konferenzen halten einen in Trab.

Pünktlich um zwölf ertönte das Klingelzeichen des Vorsitzenden. Die einführenden Worte sprach ein bekanntes Akademiemitglied. Danach wurde die Aufteilung der Arbeit in Sektionen und Untersektionen, in Komitees und Kommissionen bekanntgegeben. Die Konferenz nahm ihre Arbeit auf.

Ich hatte die Zeitung aus Katjas Kiosk nicht mitgenommen.

Weshalb, wußte ich selbst nicht zu sagen. Möglicherweise aus Zerstreutheit oder aus Eile. Nun mußte ich lange, als Überblick abgefaßte Referate über mich ergehen lassen.

In der Pause stürzte sich alles auf das Büfett, um Bier zu trinken und belegte Brote zu essen.

Danach setzte die Arbeit der Sektionen ein. Zu meiner Verwunderung waren vierzig Mann in unserer Sektion. Ich hingegen hatte angenommen, alle Radiophysiker hätten sich zur Erforschung der Ionosphäre gedrängt oder des Plasmas und ähnlicher Gebiete, die in engem Zusammenhang mit der Raumfahrt stehen.

Die Hälfte aller Vorträge war von der Art, die von Doktoranden gebraucht wird, damit sie sechs Veröffentlichungen vorweisen können. Jeder beliebige Vortrag, auch der allerdürftigste, wurde nämlich als Veröffentlichung gewertet. Die Vortragenden selbst gaben sich alle Mühe, das Ganze so schnell wie möglich herunterzuschnurren, atmeten dann erleichtert auf und ließen sich bescheiden auf ihrem Platz nieder. Fragen und Diskussionsbeiträge zu derartigen Vorträgen sind im allgemeinen nicht üblich.

Danach setzten die ernsthafteren Vorträge ein. Einige davon waren einfach hervorragend. Erst gegen sechs Uhr kam auch ich an die Reihe. Ich sprach beherrscht und überzeugt, man hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Ich hatte sogar den Eindruck, daß der morgige Artikel über „den Phantasten, der den Boden unter den Füßen verloren hat“, nicht erscheinen würde. Es wurden denkbar einfache Fragen gestellt, und ich hoffte bereits, mit heiler Haut davonzukommen, aber das war lediglich das Vorgeplänkel gewesen. Eine halbe Stunde später hatte man meinen Vortrag vollkommen auseinandergenommen, und es war nichts mehr davon übriggeblieben. Dabei hatten sich besonders die Formalisten und „Beckmesser“ des Polytechnischen Instituts von Ust-Mansk hervorgetan. Wie zum Hohn betrat auch noch urplötzlich ein Reporter das Zimmer und ließ das Blitzlicht aufleuchten.

Mich berührte das alles nicht sonderlich. Freilich, Goschka würde mir tüchtig die Leviten lesen, und für die Expedition im Sommer würde es auch nur ein Drittel der erforderlichen Summe geben. Doch ich hatte alles getan, was ich konnte. Die Berichterstattung in der morgen erscheinenden Zeitung hatte ich verändern wollen, verändern um jeden Preis. Es hatte nichts genützt.

Jetzt war mir klar, daß die Zeitung so aussehen würde, wie ich sie bereits gelesen hatte. Das hieß also, das Mädchen aus dem gläsernen Kiosk verkaufte in der Tat die Zeitungen von morgen!

3

Zwanzig vor acht war ich bei ihr, um sie abzuholen. Früher hatte ich mich nicht frei machen können. Die zwanzig Minuten vor Schließung des Kioskes würden genügen, um mich ein wenig aufzuwärmen.

„Nun, wie war’s?“ fragte Katja, und ihre Augen lachten listig.

„Hat alles gestimmt“, entgegnete ich. „Der Vortrag ist ein Phantasiegebilde. Das ist alles sehr seltsam. Woher bekommst du eigentlich die morgigen Zeitungen?“

„Aus der Druckerei“, sagte sie.

„Nehmen denn alle in Ust-Mansk das so einfach hin, daß du die Zeitungen von morgen verkaufst?“

Mir schien, daß sie ein wenig traurig wurde.

„Schließlich weiß kaum jemand, daß es die morgigen Zeitungen sind. Alle halten sie für die heutigen.“

„Nun mal schön langsam. Demnach ist es für dich die morgige Zeitung und für alle anderen die ganz gewöhnliche heutige?“

„Für dich ist es auch die morgige“, sagte Katja.

„Na gut, auch für mich. Und wie ist es mit den anderen?“

„Für alle anderen ist es die heutige.“

„Gibt es häufig Leute, für die es die morgige ist?“

„Kaum.“

„Immerhin gibt es das?“

„Du bist der erste.“ Sie lächelte und kräuselte die Nase. „Ich hab’ mir gleich gedacht, daß du sie sehen wirst.“

Es war an der Zeit, den Kiosk zu schließen. Katja wechselte die Stiefel, löschte das Licht und schloß den Kiosk ab. Wir hatten Glück, schon eine Minute später stoppten wir ein Taxi.

Es war bei dieser schneidenden Kälte unmöglich, draußen umherzulaufen, insbesondere für mich. Ich lud sie ein, mit zu einem Institutskollegen zu kommen, und sie war einverstanden.

Mein Kollege bewohnte eine Zweizimmerwohnung. Seine Frau war eben von der Arbeit heimgekommen und hatte sofort begonnen, Kartoffeln zu braten. Die drei Kinder, zwischen sechs und neun Jahren, fingen mit uns ein Gespräch über Tom Sawyer an.

Ein Treffen oder eine Begegnung kann nicht, so ist es gang und gäbe, ohne eine Flasche Wein stattfinden. Selbstverständlich haben wir sie bis zum Grunde geleert. Gegen dreiundzwanzig Uhr verabschiedeten wir uns. Ich begleitete Katja bis zum Wohnheim und ging sogar mit auf den Korridor. Fast eine Stunde lang redeten wir noch über dies und jenes, doch ich forderte sie kein zweites Mal auf, mit mir gemeinsam auf eine Expedition zu kommen. Ich selbst wäre gern bereit gewesen, Zeitungen von morgen zu verkaufen.

Schon von jeher hatte ich die Angewohnheit, über eine Sache alles in Erfahrung zu bringen. Deshalb fragte ich Katja: „Was haben diese morgigen Zeitungen überhaupt für einen Sinn, wenn es ohnehin niemand weiß?“

„Aber ich weiß es doch“, antwortete sie.

„Du kannst sowieso nichts ausrichten!“

„Wer weiß“, entgegnete sie geheimnisvoll. „Die Zeitungen von morgen kommen unterschiedlich heraus, nicht in ihrem wesentlichen Inhalt natürlich, sondern im Detail. Das Wetter ist mal ein bißchen wärmer oder kühler; jemand ist krank oder wieder gesund geworden, irgend etwas Erfreuliches oder Trauriges. Die Zeitungen weichen nur in Nuancen voneinander ab, und ich wähle unter ihnen eine ganz bestimmte aus; sie ist dann die echte, die richtige, diesen Tag betreffende Ausgabe.“

Sie zog impulsiv meinen Kopf zu sich herunter, küßte mich auf den Mund, rannte weg und rief mir zu: „Morgen um neun!“

Ich aber blieb stehen, verwirrt und glücklich.

4

Am nächsten Morgen stand ich gegen sieben auf. Mein Zimmergenosse schlief noch, seine virtuosen Schnarchtöne waren meilenweit zu hören. Er hatte mir bereits nachts das Schlafen verwehrt, aber auch jetzt hatte ich in wachem Zustand nicht die Kraft, sein Gedröhne zu ertragen. Ich zog mich an, ging zum Büfett und aß Bockwurst. Dann kehrte ich ins Zimmer zurück, nahm Aktentasche und Mantel und ging ins Foyer. Im Zimmer konnte ich mich nach wie vor nicht aufhalten. Im Foyer saß ich etwa eine Stunde herum. Zu Katja sollte ich um neun kommen, es war jedoch erst acht Uhr.

Gegen halb neun hielt ich es nicht mehr länger aus und lief mit eingezogenem Kopf in den Morgenfrost hinaus. Draußen war es keine Spur milder als am Vortage, ich rannte die Straßen entlang, eingedenk meiner bitteren Erfahrung.

Der Zeitungskiosk glitzerte, als wäre er mit Diamanten besetzt, genau wie am Vortage. Ich klopfte an das Fensterchen, und statt der Begrüßung rief ich laut: „Katja-Katjuscha, ich erfriere!“

Sie antwortete mir nicht, eine zusammengeknüllte Zeitung raschelte im Innern des Kiosks, ich drückte die Türklinke hinunter und zwängte mich hinein.

Katja saß da, ihren Körper mir zugewendet, und drückte einen Stoß Zeitungen, der nach Druckerschwärze roch, an ihre Brust.

„Bin ich pünktlich? Habe ich mich nicht verspätet?“

„Keine Ahnung, schon möglich“, sagte sie kaum hörbar.

Darüber war ich ein wenig verwundert und betroffen. Sie wirkte irgendwie verstört und schien keine Lust zu haben, sich mit mir zu unterhalten. Ich fragte: „Ist etwas passiert?“

„Ja“, sagte sie. „Ich muß gleich weg.“

Ich begriff überhaupt nichts.

„Verzeih, Dmitri. Um zehn Uhr ist im Kinderheim auf der Werschininstraße ein Brand gewesen… wird ein Brand sein.

Ich muß sie warnen.“

Flüchtig blickte ich auf die Uhr. Über eine Stunde blieb noch Zeit. Bis zur Werschininstraße, wo sich das Kinderheim befand, lief man etwa zehn Minuten.

„Gibt es hier irgendwo in der Nähe ein Telefon? Man kann sie doch einfach anrufen.“

„Telefon ist im Institut für Radioelektronik. Aber vielleicht glauben sie nichts, wenn ein Anruf ankommt. Man muß hingehen.“

„Das schaffen wir noch“, sagte ich. „Hast du das schon länger gelesen?“

„Eben jetzt, als du an das Fenster geklopft hast.“

„Komm, los!“ sagte ich.

„Geh nicht mit mir mit. Das muß ich allein machen.“

„Unsinn. Sind Einzelheiten bekannt?“

„Alles bekannt“, entgegnete sie, jedoch irgendwie mit Widerwillen, als ob sie nicht antworten wollte oder etwas Unwahres spräche.

„Sind alle Kinder unversehrt?“

„Alle… Eins wäre beinahe verbrannt.“

Ich zwängte mich aus dem Kiosk, hinter mir kam Katja. Sie schloß mit dem Vorhängeschloß ab und steckte mir den Schlüssel in die Tasche. Ich war ein bißchen durcheinander und spürte den Frost nicht so stark wie fünf Minuten vorher.

Sie ergriff meine Hand, und wir rannten los. Die ersten hundert Meter schwiegen wir, dann wandte sie ihren Kopf und sah mich prüfend an. Ich versuchte zu lächeln, doch meine Lippen waren angefroren.

„Ich würde mit dir mitfahren, auch als Köchin“, sagte sie.

„Dann fahren wir! Entscheide dich!“ Diese Worte waren zwar kühn, aber in ihnen schwang etwas absolut Unheroisches mit.

„Es wär’ schön“, erwiderte sie.

„Wir fahren.“ Ich hielt sie für einen Augenblick zurück. „Es gibt gar keinen Grund, erst den Sommer abzuwarten. Wir fahren in drei Tagen los, wenn die Konferenz zu Ende ist, ja?“

Sie rümpfte auf komische Weise ihr Naschen, nickte und zog mich wieder mit sich vorwärts. Wir rannten den Kirow-Prospekt entlang. Beim Filmtheater „Oktober“ kürzten wir den Weg ab und befanden uns auf der Werschininstraße, genau gegenüber dem Kinderheim. Es war ein neuer, zweigeschossiger Ziegelbau. Die Fenster waren beleuchtet, und nichts ließ auf das bevorstehende Feuer schließen. Ich hatte sogar plötzlich den Eindruck, Katja habe sich einen Scherz mit mir erlaubt, vielleicht hatte sie mich aus irgendeinem Grunde nur prüfen wollen. Jeder Zweifel wich jedoch von mir, als sie entschlossen am Gartentor des kaum meterhohen Zaunes zog.

Das kleine Tor öffnete sich sofort mit quietschendem Ton, aber am Haupteingang hatten wir kein Glück; entweder war die Klingel nicht intakt, oder niemand hatte sie gehört. Erst als uns der Einfall kam, um das Haus herumzulaufen, überlegten wir uns, daß der Haupteingang sicherlich mit allerhand altem Kram verstellt war und man nur durch den Nebeneingang eintreten konnte.

Die Tür war nicht verschlossen, das Licht natürlich, aus Sparsamkeitsgründen, ausgeschaltet. Wir stießen uns aneinander und an den Stufen, aber wir gelangten auf den Korridor. Dort war es hell. Den Haupteingang auf der gegenüberliegenden Seite konnte man nur erraten, da er durch Gerümpelhaufen verdeckt war. Links lag die Küche. Aus dieser Richtung kam angenehmer Duft. Daneben war ein Zimmer, eine Art Speiseraum. Dort saßen auch die Kinder, langhaarig, kurzgeschoren, mit Zöpfen und mit Bubiköpfen. Zwei Erzieherinnen gingen mit Tabletts um die Tische herum. Rechts befand sich der Schlafraum. Wie es im ersten Stockwerk aussah, wußte ich natürlich nicht.

Katja steuerte sofort auf die Tür zu, wo die Kinder saßen, winkte den Frauen mit der Hand zu und fragte: „Kann ich Sie mal einen Augenblick sprechen?“

Die Erzieherinnen schauten sie verwundert an, eine von ihnen kam, nachdem sie ihr Tablett auf einem Schränkchen abgestellt hatte, zur Tür.

„Guten Tag“, sagte Katja und bat sie hinaus auf den Korridor.

„Guten Tag“, sagte auch die Frau und trat über die Schwelle.

„Bitte fragen Sie nicht, woher ich es weiß“, begann Katja.

„Ich kann es nicht vernünftig erklären… Gegen zehn Uhr wird in diesem Gebäude ein Feuer ausbrechen.“

„O weh!“ Die Frau schlug die Hände an die Brust.

„Sie müssen die Kinder anziehen und den Nachbarhäusern Bescheid geben, damit sie dort aufgenommen werden.“

„O weh“, wiederholte die Frau und rief der anderen zu: „Maria Pawlowna!“

Die Kinder hatten mit Interesse den Vorfall aufgenommen, sofort begannen sie natürlich mit Unsinn, Albernheiten und Lärm.

„Maria Pawlowna, bei uns brennt’s“, jammerte die Frau.

„Was ist los?“ fragte Maria Pawlowna streng. „Wer sind Sie denn?“

„Ich verkaufe Zeitungen, er ist Ingenieur. Um zehn Uhr wird bei Ihnen ein Feuer ausbrechen. Die Kinder müssen weggebracht werden.“

„In dieser Kälte sollen wir sie hinausführen?“ entgegnete Maria Pawlowna, abermals in strengem Ton.

„Aber es brennt doch“, flüsterte die erste Frau.

„Man muß etwas tun.“ Ich entschloß mich, ins Gespräch einzugreifen. „Haben Sie hier Telefon?“

„Haben wir“, antwortete Maria Pawlowna und machte eine Handbewegung. Das Telefon stand hinter mir.

„Er ruft die Feuerwehr, und Sie ziehen die Kinder an“, sagte Katja ruhig und mit normaler Lautstärke. Sie gab sich Mühe, überzeugend zu sprechen, damit man ihr glaubte.

Die erste Erzieherin lief unter Wehklagen in die erste Etage hinauf. Aus der Küche kam die Köchin herbei, von der Straße der Hausmeister, fast bis an die Stirn in einen Schal gehüllt. Er klopfte mit einem hölzernen Schneeschieber auf den Fußboden. Heute hatte er auf der Straße mit dem Holzgerät absolut nichts ausrichten können.

Ich wählte die Telefonnummer und sprach in den Hörer, als sich am anderen Ende jemand meldete: „Ein Wagen der Feuerwehr muß zum Kinderheim in der Werschinistraße geschickt werden.“

„Brennt es dort schon lange?“ erkundigte sich mein unsichtbarer Gesprächspartner geschäftsmäßig und rief jemandem zu:

„Fahr mit dem Wagen Nummer sieben hin! Was brennt eigentlich?“ Das war wieder an mich gerichtet.

„Im Moment brennt es noch nicht, aber um zehn wird’s brennen.“

„Wieder mal Witzbolde“, meinte die Stimme unzufrieden, und der Hörer wurde aufgelegt.

Ich wählte die Nummer zum zweiten Male, aber mein Gespräch endete ebenso erfolglos. Man glaubte mir nicht.

Aus der ersten Etage kamen drei Frauen herunter. Eine von ihnen war die Leiterin des Kinderheimes.

„Der Brandschutz ist bei uns in Ordnung“, sagte sie zu uns.

„Sie kommen überprüfen?“

Katja mußte noch einmal alles erklären, doch die Leiterin zog uns an eine Wand und zwang uns, die „Ordnung für die Evakuierung der Kinder bei Ausbruch eines Feuers“ durchzulesen.

Die „Ordnung“ war einfach fabelhaft, es war direkt schade, daß sie in diesem Gebäude noch nie in Aktion zu treten brauchte.

„Haben Sie wenigstens Feuerlöscher?“ fragte ich und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor zehn.

„Ja“, sagte die Leiterin. „Das heißt, wir hatten. Hier haben sie gehangen.“ Dabei zeigte sie auf drei Stellen an der Wand, die noch dunkler waren als die übrige Fläche. „Einer davon ist mal runtergestürzt und hätte beinahe Tanjetschka Solnzewa erschlagen. Daraufhin waren wir gezwungen, die Feuerlöscher in der Scheune unterzubringen.“

Die Zeit drängte, man mußte etwas in die Wege leiten.

„Die Feuerlöscher gehören an ihren festen Platz. Weshalb sind sie nicht dort?“ murrte ich.

Das jagte der Leiterin einen Schreck ein. Wer konnte sicher sein, daß es sich hier nicht doch um eine Kontrollkommission handelte?

„Anikeitsch!“ rief sie. „Rasch, bring die Feuerlöscher her!“

Der Hausmeister stürzte nach draußen, kehrte jedoch sofort zurück, weil er keine Schlüssel bei sich hatte. Die Frauen begannen nervös herumzutüfteln, wer die Schlüssel wohl haben könnte. Anikeitsch fand sie schließlich bei sich selbst und stürzte wieder hinaus.

„Ziehen Sie die Kinder an!“ befahl Katja.

Die Erzieherinnen gehorchten ihr zögernd. Sie ließen die Kinder vom Tisch aufstehen und führten sie auf den Korridor.

Aber das geschah so mißtrauisch, als warteten alle nur darauf, daß dieser blinde Alarm im nächsten Augenblick abgeblasen würde.

Es handelte sich um etwa fünfzig Kinder; erst später wurde mir klar, daß sich im ersten Stock noch weitere hundertzwanzig befanden. Ich machte mich daran, das Gerümpel vom Haupteingang wegzuräumen. Die Schlitten warf ich gleich in den Schlafsaal, die Büchsen mit Sauerkrautresten ließ ich in die Küche rollen. Jemand versuchte, mir dabei zu helfen, aber ich schrie, man solle lieber die Kinder schneller ankleiden und sofort auf die Straße hinausbringen.

Katja rief nochmals die Feuerwehr an, und ihr glaubte man anscheinend. Unterdessen hatte ich die Hälfte des Gerümpels beiseite geräumt, jetzt mußte ich nur noch bis zur Tür gelangen, damit ich das übrige direkt auf die Straße hinauswerfen konnte. Es handelte sich dabei um Rechen, Spaten, alte Fußmatten und Eimer mit defekten Böden.

Die Köchin löschte den Küchenherd mit Wasser. Jemand versuchte, die elektrischen Heizöfen abzuschalten; sie erhielten ihren Strom allerdings von schwer zugänglichen Stellen, und die Steckdosen waren deshalb nicht sofort erreichbar. Eine Erzieherin eilte in das Kino, um zu vereinbaren, daß die Kinder dort im Foyer untergebracht werden konnten. Die Leiterin wollte uns immer noch nicht glauben. Was würde sie wohl mit uns machen, falls sich herausstellen sollte, daß diese wenn auch unorganisierten Vorbereitungen umsonst gewesen waren!

Die Tür vom Nebeneingang öffnete sich, in den Korridor stürzte der Hausmeister mit zwei Feuerlöschern in der Hand.

Er schnaufte und nieste ein paarmal, wobei er versuchte, etwas zu sagen. Schließlich gelang es ihm. „Es brennt!“ rief er, ließ noch einige deftige Worte folgen und klopfte mit einem Feuerlöscher auf den Boden. Die Feuerlöscher hatten allerdings wenig Sinn. Die Dampfwolke, die der Hausmeister in den Korridor gebracht hatte, löste sich nicht auf. Es war überhaupt kein Dampf, sondern Rauch, der mir beißend in die Augen stieg. Der Hausmeister sprang herzu, um mir beim Wegräumen zu helfen. Als der Haupteingang frei war, brannte die hölzerne Trennwand bereits.

Zwanzig Minuten später kam die Feuerwehr. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Kinder bereits im Kino.

Der Feuerwehr-Einsatzleiter war dabei, die Gründe für das ausgebrochene Feuer zu ermitteln. Die Erzieherinnen hatten sich, nach allem, was sie eben miterlebt hatten, noch nicht wieder voll in der Gewalt. Und ich raste mit einem Krankenwagen durch die Straßen und hielt Katjas kalte, feuchte Hand.

Katja hatte versucht, die umfallende hölzerne Trennwand zwischen zwei Zimmern zu halten, damit man die letzten Kinder hinausbringen konnte. Es war gelungen, sie durch den Notausgang über eine Metalltreppe auf den Hof zu schaffen.

Alle hatte man hinunterbringen können, doch ihr war es nicht geglückt, rechtzeitig beiseite zu springen, die brennende Holzwand hatte sie zu Boden gedrückt. Kurz zuvor hatte sie mir noch ein halb angezogenes kleines Mädchen in die Hand gedrückt und mir zugerufen, ich solle von der Straße her zum Fenster kommen, weil man wahrscheinlich die Kinder durch das Fenster hinausgeben müsse.

Ich hatte nicht einmal kleinste Brandwunden. Aber ihr Gesicht durfte ich nicht sehen, es war mit etwas Weißem verdeckt.

5

Ich saß in der Halle einer Klinik, deprimiert und ratlos. Sie hatten gesagt, es würde alles getan, was in ihren Kräften stünde. Ich machte mir klar, in welchen Fällen man so etwas sagt.

Wohl dreimal legte man mir nahe wegzugehen, weil ich absolut nicht helfen konnte und die Ärzte mit meinen Fragen nur nervös machte. Als man mich zum vierten Male aufforderte und ich trotzdem noch Argumente anbrachte, um bleiben zu können, sagte einer von den jungen Ärzten plötzlich: „Soll er etwas versuchen, wenn er helfen will. Morgen wird in den Zeitungen ein Aufruf erscheinen, heute abend wird es im Radio durchgegeben, doch vielleicht ist es schon zu spät. Sie wohnen… wo?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin fremd hier.“

„Schade. Sie haben demnach hier keine Bekannten?“

„Schon, aber sehr wenige.“

„Eine Hauttransplantation ist erforderlich. Freiwillige werden gebraucht. Etwa fünfzig Menschen. Vielleicht auch mehr.“

„Das kann ich übernehmen!“ rief ich und eilte hinaus.

Die Konferenz hatte ihre Arbeit bereits aufgenommen.

Ich war beherrscht genug, keine Panik entstehen zu lassen, und suchte meinen Institutskollegen auf. Er hörte mich schweigend an und sagte: „Kaum zu glauben. Gestern war sie noch so fröhlich.“ Er fuhr fort: „Das war richtig von dir, dich an mich zu wenden. Es wird alles getan werden. Eure Sektion werden wir gleich als erste losschicken.“

Gemeinsam mit ihm betrat ich den Raum, wo die Radiophysiker für Bodenkunde arbeiteten, und ließ mich auf den ersten besten Stuhl nieder. Mein Kollege flüsterte etwas mit dem Vorsitzenden der Kommission, dieser wartete ab, bis der Vortragende sein Referat beendet hatte, und gab daraufhin allen bekannt: „Kollegen! In der Stadt hat sich ein Unglück ereignet.

Für eine Transplantation wird Haut gebraucht. Ich denke, wir machen eine Pause und gehen gemeinsam in die Klinik. Es ist hier in der Nähe, nur zwei Straßenecken entfernt… Das Mädchen ist in Lebensgefahr.“

In einzelnen Gruppen kam nach und nach die gesamte Konferenz zur Klinik.

Gegen ein Uhr mittags erlaubte man mir immerhin, das Zimmer zu betreten, in dem Katja lag. Ein weißes Kopfkissen, eine weiße Bettdecke und statt eines Gesichtes ein Knäuel Binden; nur die schwarzen Pünktchen der Augen mit abgebrannten Wimpern und die Lippen, kaum wahrnehmbar. Ich setzte mich auf den Hocker neben dem Bett. Katja betrachtete mich ohne die geringste Bewegung. Mir blieb jedes Wort in der Kehle stecken. Gern hätte ich ihr Haar und ihre Wange gestreichelt, aber das durfte ich nicht. Ich nickte ihr nur zu und versuchte ermunternd zu lächeln. Ich weiß nicht, was sie meinem Lächeln entnahm, aber ihre Lippen bewegten sich sacht, und ich vermochte den Bewegungen abzulesen: „Die Wangen werden schwarz werden, das wird dir nicht gefallen…“

„Doch, doch“, sagte ich. „Katja, ich werde dich von Ust-Mansk wegbringen. Im Sommer fahren wir dann in die Wasjugansker Sümpfe und lassen uns von den Mücken auffressen.“

Ich mußte das Zimmer verlassen. Katja ging es wieder schlechter.

„Sie können hier nicht helfen“, sagte man zu mir. „Gehen Sie ins Hotel. Informieren Sie Katjas Arbeitsstelle über das Vorge-fallene. Tun Sie etwas, machen Sie schon. Morgen früh können Sie wiederkommen.“

Ich trat auf den Prospekt hinaus.

6

Ich befand mich in einer seelischen Erstarrung, mein Kopf war gedankenleer. Sogar der Frost konnte mir nichts anhaben. In dieser Verfassung gelangte ich bis zu Katjas Zeitungskiosk und erinnerte mich, daß sich der Schlüssel in meiner Tasche befand. Ich schloß auf, betrat das Innere und schaltete das Licht ein. Eine Zeitung lag mit der vierten Seite nach oben. Sofort fand ich eine kleine Notiz in der Spalte „Aus dem Alltag“.

Darin stand, daß gestern um zehn Uhr morgens im Kinderheim in der Werschininstraße infolge einer mangelhaften elektrischen Leitung ein Feuer ausgebrochen sei. Bei der Rettung der Kinder sei Jekaterina Smirnowa ums Leben gekommen.

Katja Smirnowa. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß ihr Familienname Smirnowa war. Nur Katja-Katjuscha.

Die Mitteilung in der Zeitung stimmte doch nicht! Sie war ja gar nicht umgekommen bei der Rettung der Kinder! Sie lebte doch!

Zufällig fiel mein Blick auf ein zerknülltes Zeitungsblatt neben mir und erinnerte mich, daß Katja am morgen, als ich zu ihr in den Kiosk kam, eine Zeitung zusammengeknüllt hatte und auf die blickte, die vor mir lag; erst dann hatte sie gesagt, es werde ein Feuer ausbrechen. Demnach hatte sie also gewußt, was mit ihr passierte, und sie war trotzdem gegangen.

Ich glättete die zusammengeknüllte Zeitung. Es war gleichfalls eine von morgen, sie enthielt auch die Notiz über den Brand. Nur wurde darin gesagt, daß Dmitri Jegorow ums Leben gekommen sei.

In meinen Schläfen hämmerte es dumpf. Jetzt kam mir klar zum Bewußtsein, was sie gemeint hatte, als sie sagte, daß sie morgens die Zeitung auswählt. Sie erhielt stets etliche unterschiedliche Ausgaben. Heute hatte sie ihren eigenen Tod nur deshalb ausgewählt, weil es sonst mich getroffen hätte.

Ich hätte die brennende niederstürzende Wand aufhalten müssen, doch sie hatte mich mit einem Auftrag auf die Straße geschickt, den jeder andere ebensogut hätte ausführen können.

Mir wäre es beschieden gewesen, von den brennenden Brettern zu Boden geworfen zu werden.

Ich nahm von dem Stoß noch eine Zeitung: Dmitri Jegorow kam ums Leben. Die dritte: das gleiche. Hartnäckig suchte ich nach der Zeitung, die ich brauchte. Es mußte eine dritte Variante geben! Unbedingt! Katja hatte nur keine Zeit mehr gehabt, sie herauszufinden. Sie hatte sich so beeilt und war so froh gewesen, die zweite Variante gefunden zu haben, daß ich am Leben bliebe…

Heute habe ich die morgige Zeitung auszuwählen.

Ich fand ein Exemplar, es war das richtige. Hunderte von Menschen hatten schließlich alles getan, daß sie am Leben bleibt, Hunderte waren bemüht gewesen, ohne es zu ahnen, den Inhalt der Notiz abzuändern.

Ich beschloß, zu sortieren und nur diese Zeitung zu verkaufen, denn alle sollten wissen, daß Katja lebt, daß sie sich zwar fürchterliche Brandwunden zuzog, aber am Leben bleiben wird, unbedingt, auf jeden Fall. Das werde ich allen Menschen sagen, die hier am Kiosk vorbeischauen.

Es war jedoch so eiskalt, daß kein Mensch am Kiosk stehenblieb. Deshalb ging ich mit einem Zeitungsstoß auf den Fußweg hinaus und verteilte die Zeitungen an die Vorübergehenden. „Lest bitte über Katja Smirnowa! Sie wird leben! Leben!

Lest das, Katja wird leben! Denkt daran!“

Zunächst fürchtete ich, man würde mich wie einen Geisteskranken anschauen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Vorübergehenden nahmen die Zeitung, blieben stehen, erkundigten sich bei mir, zeigten Teilnahme und sprachen die Hoffnung aus, daß sie selbstverständlich am Leben bleiben werde.

„Ihr müßt das von ganzem Herzen wünschen!“ sprach ich

„Sie ist es, Katja, die euch die kleinen und die großen Freuden verschafft. Ihr habt davon keine Ahnung, weil ihr nicht wissen könnt, daß es ohne sie für uns keine Freuden gäbe. Sie ist es, die das schöne Wetter herbeiwünscht, und ihr könnt in den Wald gehen, euch erholen und euch freuen. Sie wendet Katastrophen auf den Straßen ab. Sie hat es bewerkstelligt, daß neunzig Mädchen ihre Burschen gefunden haben. Ohne sie hätten sie sich vielleicht nie kennengelernt. Es stimmt natürlich, daß sie nicht einmal den Plan eines sehr kleinen Betriebes oder einer Fabrik erfüllt. Das ist aber nicht schlimm! Das können andere tun. Lest die Zeitung! Katja soll leben!“

„Das ist ja die Königin von Ust-Mansk“, sagte irgendwer.

Man glaubte mir, und nun wußte ich: Katja würde am Leben bleiben, weil alle es wollten.

Ich lief zum Hauptpostamt und gab dort die Schlüssel für den Kiosk ab.

Danach ging ich in die Konferenz. Dort sagten mir die

„Beckmesser“ des Polytechnischen Instituts von Ust-Mansk, daß ich vorübergehend in ihren Laboratorien arbeiten solle, meine Phantastereien seien nicht so ganz ohne, an mein Institut hatten sie bereits ein Telegramm geschickt wegen Verlängerung meiner Dienstreise.

Sie hatten begriffen, daß ich jetzt nicht imstande war, diese Stadt zu verlassen.

Ich werde hier in Ust-Mansk bleiben, bis ich ihnen bewiesen habe, daß man durch den Erdboden hindurchsehen kann, bis Katja geheilt ist, bis die Vorbereitung auf die Expedition beginnt, bis ich zusammen mit ihr in den Norden fliegen kann, in die Sümpfe, in den Schlamm, hinein in Regentage und Liedersingen.

Ich eilte in die Klinik. Es war so neblig, daß man kaum zwanzig Schritte weit sehen konnte. Ein volles halbes Hundert unter Null! Vereinzelt knirschende Schritte im Schnee, anhaltendes Hupen der Autos und sonst nur Kälte, Kälte… in Ust-Mansk, in seinen Vorstädten und Tausende von Kilometern im Umkreis… Ich eilte zu Katja, weil sie auf mich wartete.

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