Das Juwel

„Jetzt darfst du die Augen öffnen“, sagte ER IHR leis ins Ohr.

SIE hörte auf IHN, öffnete die ohnehin riesengroßen schwarzen Augen und geriet schier außer sich vor freudigem Staunen, das völlig von IHR Besitz ergriff.

Unmittelbar über IHREM Kopf funkelte eine spiralförmige Galaxis mit zahlreichen elegant geschwungenen Seitenarmen.

SIE drehte sich um hundertachtzig Grad, und die Spirale befand sich nun zu IHREN Füßen. Dafür hatte SIE jetzt zwei kugelförmige Gebilde vor sich, in denen Myriaden von Sternen funkelten und glitzerten. SIE drehte sich noch ein wenig weiter, und vor IHR tauchte die flache Scheibe der vierten Galaxis auf. Noch ein bißchen weiter nach rechts. So war es also! Sie befanden sich am Rande der fünften Galaxis. Die riesenhafte, den halben Himmel einnehmende Milchstraße!

SIE hielt den Atem an und blickte verzaubert in diese glitzernde, funkelnde Welt, die ihre eigenen, seltsamen Lebensgesetze besitzt. Hin und wieder war auch ER einen neugierigen Blick nach der Seite, doch all SEINE Aufmerksamkeit wurde völlig von IHREM Gesicht mit der schwarzen Haarwolke in Anspruch genommen, in dem offen das Empfinden all der Pracht und Schönheit geschrieben stand, auch der traurige Gedanke daran, daß alles bald zu Ende sein würde. Aus dem Dickicht der Wimpern heraus versuchten IHRE Augen, alles mit einem Male zu erfassen und sich für ewig einzuprägen.

Was dann kam, war wie ein leichter Rausch. SIE erhöben die Arme, und die Welt gehorchte IHREM Willen. SIE spielten mit den Galaxen, woben im Raum verschlungene Kurven. SIE

konnten deren Plätze vertauschen, so daß sie sich zu einem anmutigen Reigen zusammenfügten. SIE entfachten Supernovae, ließen Welten aufeinanderprallen, riefen unversiegbare Funkenregen darin hervor, löschten dann das Bild dieser Weltschöpfung mit einem Schlag, indem SIE für eine Sekunde die Augen schlossen.

So verging eine Stunde. Behutsam berührte ER IHRE Schulter und sagte: „Wir haben unsere Wahl noch nicht getroffen.

Wollen wir losfliegen?“

„Gut, fliegen wir!“ erwiderte SIE, und SIE machten sich auf in das Meer der Sterne, die bei IHRER Annäherung vorsichtig zur Seite wichen.

SIE war schwächer als Er und blieb zurück. ER bemerkte es sofort, hielt an und rief nach IHR, doch ER erhielt keine Antwort. Aber SIE hatte IHN gehört. Es war IHR nur so in den Kopf gekommen, sich vorzustellen, SIE befände sich allein im Kosmos und kenne den Weg nicht zur Sonne und zur Erde (so war es in der Tat). Der süße Schreck eines Abenteuers ließ IHR Herz rascher schlagen. SEINE Stimme klang jedoch inzwischen so beunruhigt, daß SIE das Spiel nicht länger fortsetzen konnte. SIE kam geschwind aus der schwarzen Leere heraus und schlang IHRE kleinen, kräftigen Arme um IHN. ER zog die Augenbrauen zusammen und sagte etwas Ernsthaftes, was nach Moralpredigt klang. SIE quittierte mit einem Lachen. Daraufhin faßte ER SIE bei der Hand und ließ SIE nicht wieder los.

„Aber wie werden wir ihn mitnehmen?“ fragte SIE.

„Oh!“ entgegnete ER unklar und rätselhaft. „Wie gefällt dir denn dieser hier?“

SIE flogen an dem Stern Beteigeuze vorbei und verweilten dort ein wenig.

„Nein“, meinte SIE. „Von weitem sieht er gut aus, aber aus der Nähe gesehen, wirkt er doch schon recht morsch. Außerdem ist er viel zu groß. So etwas können wir in unserem Zimmer gar nicht unterbringen.“

„Also gut“, stimmte ER zu, und SIE suchten weiter.

Algol schreckte SIE ab durch sein rötliches Licht. Mit Deneb hatte SIE förmlich Mitleid. Es wäre ja zu schade gewesen um das Auge des schönen Vogels! Mizar hätte man zusammen mit Alkor nehmen müssen, aber was sollten SIE gleich mit zwei Sternen? SIE konnten nur einen einzigen gebrauchen. Sirius mußte auf seinem Platz bleiben, weil in den südlichen Breiten wundervolles Wetter herrschte, und das Fehlen des hellsten Sterns am irdischen Himmel wäre sofort entdeckt worden.

Warum sollte man die Menschen unnütz aufregen? Die Schönheit der Wega hatte SIE derart beeindruckt, daß SIE schon sagen wollte: Den nehmen wir! doch ER zog SIE am Arm und sprach: „Ich weiß, was du brauchst! Laß uns hinfliegen!“

Abermals entfernten sie sich von der Sonne. Ihre elastischen Körper durchschnitten die Kälte des Nichts, in dem es Myriaden glitzernder kleiner Strahlen gab.

„Möchtest du das Juwel aus der Krone?“ fragte ER.

„Meinst du?“ SIE freute sich. „Natürlich möchte ich!“

Ein Parsek von dem Stern entfernt hielten sie an. Der Stern strahlte angenehme Wärme aus, und ER bemerkte auf dem Gesicht der Freundin ein Aufglänzen von Begeisterung und höchster Verwunderung. Es war dies der Widerschein des Sternes, dem sie entgegensteuerten.

„Das ist wirklich das Juwel“, sagte SIE leise. „Ich sehe, es ist Gemma!“

„Ja, die Gemma“, entgegnete ER schlicht.

„Die werden wir mit zu uns nehmen!“

Inzwischen waren SIE dicht an das Juwel der Nördlichen Krone herangekommen. IHRE Augen wurden groß und weiteten sich vor Schreck beim Anblick dieser glühenden Masse von Materie. ER flog noch näher an den Stern heran, und bald darauf hielt ER ihn auf SEINEN emporgestreckten Händen.

„Du verbrennst dich ja!“ rief SIE. „Wir hätten wenigstens Handschuhe einstecken können!“

„Was für ein Unsinn“, meinte ER lachend und stieß die Gemma aus ihrer seit ewigen Zeiten bestehenden Umlaufbahn heraus.

„Sie ist aber für unser Zimmer wohl doch etwas zu groß!“

„In unserem Zimmer läßt sich eine ganze Galaxis unterbringen“, sagte ER lachend und drückte dabei den Stern zu einer kleinen Kugel zusammen.

„Ohne ihn ist es hier gar nicht schön“, sagte SIE traurig.

„Wir bringen ihn morgen früh zurück. Es ist ja nur für eine einzige Nacht.“

„Ja, nur für eine Nacht“, stimmte SIE betrübt zu.

Auf der ausgestreckten linken Hand hielt ER das glühende Juwel, die Rechte umschloß fest IHRE Hand.

Den Rückweg zur Erde legten SIE in fünfzehn Minuten zurück. Über Sibirien lag eine klirrende Kälte von vierzig Grad, Nebel hatte das Gebiet auf Tausende von Kilometern eingehüllt.

Unmittelbar aus dem Nebel waren sie von oben direkt vor ihrem Hauseingang aufgetaucht. Sie konnten nicht bremsen und kamen einem Mann in die Quere, der in Pelzstiefel, Pelzpaletot und Fellmütze eingemummt war. Der Mann fiel hin; eine Wodkaflasche, Marke „Stolitschnaja“, und eine Flasche Sekt rollten mit verräterischem Klirren auf dem festgetretenen Schnee.

„Das neue Jahr hat noch gar nicht angefangen, und die laufen schon betrunken umher“, brummte der Mann im Halbpelz und sammelte seine Flaschen wieder ein. Zum Glück waren sie unbeschädigt. Das flammende und glühende Juwel hatte er keines Blickes gewürdigt, obwohl sein Hirn rein mechanisch registrierte, daß es vor dem Hauseingang ungewöhnlich hell war.

SIE eilten in IHR Stockwerk hinauf — der Fahrstuhl war wegen des Feiertages außer Betrieb — und schlossen die Wohnungstür auf. ER legte den Stern vorsichtig auf die Waschmaschine, die im Korridor stand, und fing an, die vom Frost bleichen Wangen SEINER Frau zu reiben. SIE schüttelte bis zur Erschöpfung den Kopf, lachte und rannte ins Badezimmer, um dort heiß zu duschen, bevor die Gäste kamen.

Dann berieten SIE lange darüber, auf welchem Zweig das Juwel placiert werden sollte. SIE entschlossen sich, ihm unmittelbar an der Baumspitze einen Platz zu geben, und zwar so, daß man es noch mit der Hand berühren konnte. In ihrer winzigen, wenig geräumigen Wohnung konnte man mit der Hand bis zur Decke reichen; jedenfalls ER vermochte dies.

Rasch deckte SIE den Tisch; eine Viertelstunde vor zwölf kamen die Gäste: ein junger, talentierter Astronom mit seiner rundlichen, schmiegsamen Frau; der Nachbar, ein pensionierter Feuerwehrmann; ein Physik-Theoretiker mit seiner Frau, die gleichfalls Physik-Theoretiker war.

An die zehn Minuten standen sie alle in dem kleinen Flur herum, halfen sich gegenseitig aus den Mänteln, überreichten ihre Geschenke und Glückwunschkarten, umarmten sich und tauschten Küsse. Dann ließ sich der Feuerwehrmann vernehmen: „Es sind nur noch fünf Minuten Zeit…“ Er ächzte.

Alle wurden von Aufregung erfaßt, die Frauen waren besorgt um ihre noch nicht in Ordnung gebrachten Frisuren, doch die Zeit drängte, und sie beeilten sich, ihre Plätze am Tisch einzunehmen.

ER holte ein paar mit Rauhreif beschlagene Sektflaschen aus dem Kühlschrank. Der junge Astronom führte an ihnen so geschickt alle notwendigen Handgriffe aus, daß alle bereits ihr gefülltes Glas in der Hand hielten, als die Stimme des Ansagers im Radio den Beginn des neuen Jahres verkündete und die Glocken zu läuten begannen. Die Gläser begegneten sich in hohem Bogen in der Mitte des Tisches, mit einem langgezogenen, singenden Klang.

Nachdem sie auf das alte und das neue Jahr angestoßen, auf ihre Erfolge, auf den Gastgeber und seine Frau getrunken hatten, war eine Stunde vergangen, und sie wollten tanzen. SIE

trank wenig und betrachtete immerzu das sich langsam drehende, leuchtende Juwel, und ER lächelte still, wenn ER es sah.

„Ich wünsche mir den Walzer ›Verlöschende Lichter‹“, sagte die Frau des Astronomen mit tiefer Stimme. „Ich tanze gern im Finstern.“ Es stimmte jedoch nicht, daß sie gern im Finstern tanzte, sie mochte die Dunkelheit grundsätzlich nicht, weil sie glaubte, im Finstern müßte es unbedingt Ratten geben.

„Einen Walzer im Dunkeln!“ riefen die anderen.

Der alte Nachbar, der zu wissen schien, daß man von ihm keine Beteiligung am Tanz erwartete, noch dazu an einem Walzer und überdies im Dunkeln, schenkte sich ein halbes Gläschen Wodka ein, trank es und langte nach einem Stück farcierter Artischocke, wobei er sich den Lärm zunutze machte. Alle loben diese Artischocken so, alle essen sie. Also muß man es auch mal probieren. Er kostete und schüttelte den Kopf, als wollte er ausdrücken: „Ach, diese Jugend…“, dann biß er geräuschvoll in eine kleine Salzgurke.

Der Walzer „Verlöschende Lichter“ befand sich nicht in der Phonothek des Physik-Theoretikers, der das Tonbandgerät mitgebracht hatte. Walzer hatte er überhaupt nicht dabei.

Der Feuerwehrmann a. D. ächzte ein wenig, ging in seine Wohnung und brachte eine uralte Schallplatte mit dem Titel

„Amurwellen“. Die Musiktruhe wurde eingeschaltet und das Licht gelöscht.

„Ich tanze schrecklich gern im Dunkeln“, wiederholte die Frau des Astronomen, ohne im mindesten Anstalten zu machen, sich vom Stuhl zu erheben.

Mein Gott, dachte der ehemalige Feuerwehrmann erschrocken. Ins Hippodrom gehört die. Hier werden sie im Suff alles kurz und klein schlagen.

Im Zimmer war es immer noch so hell wie zuvor.

„Macht doch die Baumbeleuchtung aus“, schlug jemand vor.

Die Baumkerzen wurden ausgeschaltet. In der Wohnung blieb es hell.

„Es ist der lumineszierende Baumbehang“, konstatierte der Physik-Theoretiker den Tatbestand der Helligkeit. „Seine Intensität ist geradezu erstaunlich. Wo habt ihr das gekauft?“

„Es ist das Juwel aus der Nördlichen Krone“, sagte SIE.

„Ja“, bestätigte ER. „Es ist die Gemma.“

„Die anderen bekommen immer alles“, sagte die Physikerin unzufrieden zu ihrem Ehemann. „Und du hast keinen passenden Baumschmuck auftreiben können. Wann habt ihr das gekauft?“ Das war an die beiden gerichtet.

„Wir haben es uns für diese eine Nacht geholt“, entgegnete SIE. „So etwas Wundervolles kann man doch nicht kaufen…“

„Ja“, stimmte der Physiker zu. „Als ob man jetzt noch etwas Passendes bekommen könnte…“

„Aber nicht doch“, widersprach ER betrübt und entsetzt.

„Das ist doch nicht irgendein Gegenstand oder Artikel, es ist ein Stern! Ein Stern mit dem Namen Gemma aus der Nördlichen Krone. Dieses Sternbild wird manchmal auch als Nördlicher Kranz bezeichnet.“

„Was die Parameter der Gemma angeht…“, wollte der junge Astronom erläutern, doch man ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.

„Das ist ja eine völlig unmögliche Sache.“ Damit hatte ihm der Physik-Theoretiker das Wort entzogen. „Sterne kann es auf der Erde überhaupt nicht geben!“

„Oho! Dieses Ding ist auch noch glühendheiß!“ rief der Astronom, der den Stern berührt und sich die Finger dabei verbrannt hatte.

„Elftausend Grad an der Oberfläche“, sagte ER.

Und wo haben wir hier eine Kiste mit Sand? dachte der Feuerwehrmann a. D. fieberhaft, goß sich ein weiteres halbes Gläschen ein, aber trank es nicht aus.

„Das sind nicht elf Grad, sondern es werden immerhin fünfzig Grad sein.“

„Elftausend Grad und nicht elf“, korrigierte ER.

„Jetzt übertreibst du aber sehr“, ließ sich der Astronom beleidigt vernehmen.

„Ihr wollt mir nicht glauben?“ fragte ER und griff nach einer Gabel. „Schaut mal her!“ ER berührte die glitzernde Kugel mit der Gabel, und diese verschwand. „So ist das! Bei dieser Temperatur muß sie sich in Nichts auflösen!“

Der Physik-Theoretiker ging weg vom Tannenbaum, nahm eine Serviette vom Tisch und fing stirnrunzelnd an zu schreiben.

Der Nachbar, ehemaliger Feuerwehrmann, erhob sich von seinem Platz, stützte die Hände auf dem Tisch auf und brachte warnend und besorgt hervor: „Das kann sich entzünden, in Brand geraten!“

„Aber nicht doch, was reden Sie denn da!“ widersprach SIE.

Der Nachbar ächzte, trank sein halbes Gläschen aus, schüttelte unzufrieden den Kopf und ging auf den Korridor hinaus.

„Hier habt ihr alles!“ ließ sich der Physik-Theoretiker vernehmen und kam hinter dem Tisch hervor. „Das ist die Formel, das ist das Ergebnis. Bei dem Verschwinden der Gabel, bei ihrem praktisch blitzschnellen Verdampfen und Auflösen, hätte es eine Explosion geben müssen. Wo war sie? Ich möchte gern von euch hören, wo war die Explosion?“

„Aber was das Verhältnis von Gabel und Stern betrifft“, sagte ER, „so hast du dich bei der Masse des Sterns um einundzwanzig Stellen versehen. Rechne mal nach!“

„Ich habe die Masse dieser Kugel hier genommen“, verteidigte sich der Physik-Theoretiker. „Wieviel wird sie wohl wiegen? Ein Kilo vielleicht.“

„Wieso ein Kilo? Es handelt sich schließlich um die Masse eines Sternes!“

„Laß doch mal diese Scherze“, meinte der Physiker ungläubig und wollte die Gemma hochheben. Das gelang ihm nicht.

Der Astronom kam ihm zu Hilfe, aber beide zusammen konnten ebenfalls nichts ausrichten. „Ist ja wirklich ein außerordentlich schweres Stück. Seine hundertfünfzig Kilo wird es haben!“

„Warum kann aber dann der Baum diese Last aushalten?“

fragte unvermutet die Physikerin.

„Ja, in der Tat, wieso eigentlich?“ Der Physiker und der Astronom schauten einander erstaunt an.

„Haben wir nun den Stern deshalb hier in unser Zimmer gebracht?“ fragte SIE IHN. „Wir wollten doch nur, daß es bei uns herrlich, wunderschön, ungewöhnlich und seltsam ist! Und nun diese Gespräche… Sie werden noch versuchen, ihn zu öffnen!“

„Irgend so ein Scherzartikel, das ist alles“, meinte der Astronom.

„Und ich habe gedacht, ihr habt das gekauft“, atmete die Physikerin erleichtert auf und lächelte.

„Tanzen wir lieber!“ schlug ER vor. „Noch nie hat jemand auf der Erde in einem Zimmer getanzt, das von einem Stern erleuchtet wird.“

„Ich möchte aber lieber im Finstern sein“, sagte die Frau des Astronomen beharrlich und trotzig.

In diesem Augenblick kam der Nachbar mit einem Eimer Wasser ins Zimmer, machte zu allen eine beruhigende Handbewegung, stellte den Eimer neben dem Baum ab und sagte dann belehrend: „Feuer verhüten ist stets leichter als es löschen. Ich bitte das zu berücksichtigen.“

Alle begaben sich wieder an den Tisch zurück. Die Frau des Physikers deshalb, weil es kein Gegenstand, kein Artikel, sondern irgend so ein Stern war; der Astronom, weil er nicht an Wunder glaubte; der Physiker, weil er sich betrunken wähnte, und wenn dem nun einmal schon so war, weshalb sollte er dann nicht gleich weitertrinken; der ehemalige Feuerwehrmann deshalb, weil er nun alles getan hatte, was in seinen Kräften stand, um eine Feuersbrunst zu verhüten. Die Frau des Astronomen war überhaupt nicht erst vom Tisch aufgestanden.

Fünf Minuten später hatte man die Gemma völlig vergessen.

Alle hatten sie vergessen, außer IHM und IHR. SIE drehte sich heimlich um, damit SIE den Stern aus den Augenwinkeln betrachten konnte. Der ehemalige Feuerwehrmann goß ein halbes Gläschen ein und stellte es vor SIE hin.

„Wieso? Das trinke ich nicht“, sagte SIE.

„Sollst du auch nicht“, entgegnete der Nachbar in schulmeisterlichem Ton. „Du brauchst es gar nicht zu trinken. Setz dich auf meinen Platz, und ich setz’ mich auf deinen. Ich habe es ja auch nur für mich eingeschenkt. Dir kommt es bloß in die falsche Kehle. Der gute Tropfen! Er geht einem durch und durch!“

Sie tranken auf das Glück, auf die Erfüllung von Wünschen, sie tanzten. Auch die Frau des Astronomen tanzte. Sie tanzte sehr gut. Sogar der ehemalige Feuerwehrmann stellte zu seiner eigenen Verwunderung fest, daß er einen Twist nicht schlechter hinlegte als die Jugend. Auch der Walzer „Amurwellen“

wurde aufgelegt. Abwechselnd wurde, von den Gästen immer jemand wieder nüchtern oder betrunken, so daß die lärmende Gesellschaft beständig komplett war. Es ging lustig und beschwingt zu. Kein Mensch dachte mehr an die unglückselige Gemma, die beinahe den ganzen festlichen Abend verdorben hätte.

Gegen sechs Uhr morgens ging man auseinander. ER begleitete die Gäste, und SIE machte es sich in einem Sessel bequem, zog die Beine an und betrachtete die sich langsam drehende Kugel. Über IHR Gesicht huschten die Schatten ungewöhnlicher Gedanken, ein Lächeln glitt darüber hin und verlieh ihm den rätselhaften Ausdruck von Traum und Glück. SIE

erhob sich, nahm die Gemma ohne besondere Anstrengung auf den Handteller, ohne sich dabei zu verbrennen. Zuweilen lösten sich von der Oberfläche des Sterns gigantische Protuberanzen, berührten sacht IHR Gesicht und spiegelten sich als helle Blitze in den Pupillen wider. Der Strom der alles durchdringenden Neutrinos kam aus dem Inneren des Sterns; er verlöschte gehorsam, sobald er IHR trauriges und gleichzeitig frohes Lächeln gestreift hatte.

Als ER zurückkam, hatte SIE das Juwel gegen die Brust gedrückt und fragte: „Ist schon alles zu Ende?“

„Ja“, entgegnete ER. „Es ist Zeit. Hat er dir gefallen?“

„Hat mir sehr gefallen. Ich möchte noch mal mitkommen.“

„Komm, wir fliegen los!“

„Ich werde ihn selbst tragen.“

Sie traten auf die Straße und gerieten in einen sich rasch auflösenden Nebel hinein.

Der Physik-Theoretiker fiel sofort in tiefen Schlaf, als er daheim angekommen war. Als er aufwachte, dachte er: „Was man doch nicht alles zu sehen glaubt, wenn man einen über den Durst getrunken hat!“

Der Astronom kontrollierte am nächsten Tag die Aufnahmen des Sternenhimmels, die von einem künstlichen Satelliten der Erde vorgenommen worden waren. Die Gemma war im Sternbild der Nördlichen Krone in dieser Nacht nicht auffindbar.

Der Astronom kicherte freudig in sich hinein und beschloß, eine Dissertation über einmalige Veränderungen in der Leuchtkraft einiger Sterne zu schreiben. Das Material dafür hatte er bereits. Seine Frau meinte, das Essen bei diesen wunderlichen Käuzen sei nicht genügend sättigend gewesen.

SIE schwebten zwischen den Sternen umher, bis SIE schließlich den Platz gefunden hatten, von dem SIE die Gemma weggenommen hatten. SIE gab den Stern aus IHREN Händen frei.

Er wurde unablässig größer und erlangte wieder sein ursprüngliches Aussehen. ER rechnete sich im Kopf die Geschwindigkeit der Gemma aus, hob sie in die Höhe und stellte sie auf sechs Millionen Kilometer ein. Jetzt war alles wieder in Ordnung.

SIE hatten sich noch nicht schlafen gelegt, als der ehemalige Feuerwehrmann noch einmal an IHRE Wohnungstür klopfte.

„Habt ihr das seltsame Ding schon wieder auf seinen Platz zurückgebracht?“ fragte er. „Ich wollte es nur mal meinem Enkelkind zeigen. Eine spaßige Sache ist das, so ein Stern! Das ist nicht jedem beschieden, einen davon so ganz aus der Nähe, wie in der offenen Hand, zu sehen.“ Und dabei spreizte er seine verknöcherten fünf Finger.

„Ja, wir haben ihn schon zurückgebracht, Großväterchen“, sagte ER. „Alle sollen die Sterne sehen.“

„Na, dann ist ja nichts mehr zu machen, auch gut. Nur, wenn ihr noch nicht… aber ihr habt bereits… wollt’s nur dem Enkelkind zeigen…“

„Wir werden es ihm bestimmt mal zeigen“, versprach ER, und der Nachbar glaubte es IHM.

Ein Spätwintertag begann.

„Schade“, meinte SIE.

„Was denn?“ fragte ER.

„Es ist wundervoll gewesen. Am liebsten möchte ich jetzt weinen, warum nur?“

„Dann wein, ich stell dir meine Schulter dafür zur Verfügung.“

Doch SIE weinte nicht.

„Morgen werden wir uns etwas anderes ausdenken“, versprach ER.

„Aber das ist erst morgen!“ sprach SIE traurig.

„Morgen hat doch schon angefangen!“ rief ER aus, und beide freuten sich darüber.

Von Beruf war ER ein schlichter Physik-Theoretiker, nicht einmal Doktor der Naturwissenschaften. SIE unterrichtete in der Schule Geschichte der Alten Welt. SIE waren beide Sonderlinge und vermochten es, Wunder zu vollbringen. Nur schenkte man IHNEN wenig Glauben.

SIE aber machten das nur einfach so aus Freude — und nicht, damit man IHNEN glauben sollte…

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