Epilog

Der volle Mond tauchte die Residenz des Hohen Lords in bläuliches Licht. Während Sonea auf das Gebäude zuging, lächelte sie.

Vier Wochen waren seit der Herausforderung vergangen, und nicht ein einziges Mal war sie nach dem Unterricht Regin und seinen Verbündeten in den Fluren der Universität begegnet. Kein Hohngelächter war an ihre Ohren gedrungen, und nicht eins ihrer Projekte war verdorben worden.

Heute hatte sie im Medizinunterricht mit Hal zusammengearbeitet, und nach einem verlegenen Anfang hatten sie angeregt über die richtige Behandlung von Nagelwurm diskutiert. Er hatte ihr von einer seltenen Pflanze erzählt, die sein Vater, ein Dorfheiler in Lan, gegen diese Krankheit einsetzte. Als sie ihm erzählt hatte, dass die Hüttenbewohner Tugor-Brei benutzten, ein Überbleibsel der Bol-Destillierung, hatte er gelacht. Daraufhin hatten sie sich in ein Gespräch über Aberglauben und bizarre Heilmethoden aus ihrer jeweiligen Heimat vertieft, und als der Gong ertönte, war Sonea klar geworden, dass sie eine geschlagene Stunde miteinander geredet hatten.

Sie hatte inzwischen die Residenz erreicht und legte eine Hand auf den Türgriff. Da sie erwartete, dass die Tür sich unverzüglich öffnen würde, machte sie einen Schritt nach vorn und schlug sich das Knie an.

Überrascht und verärgert berührte sie noch einmal den Griff, aber die Tür blieb verschlossen. War sie für die Nacht ausgesperrt? Erneut drückte sie die Klinke herunter und war erleichtert, als die Tür aufschwang.

Im Haus wandte sie sich sofort der Treppe zu, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung, als sie ein lautes Geräusch aus dem anderen Treppenaufgang hörte. Ein gedämpfter Schrei drang an ihre Ohren, dann erbebte der Boden unter ihren Füßen.

Irgendetwas war unter ihr im Gange, in dem unterirdischen Raum. Etwas Magisches.

Kälte breitete sich in ihr aus. Atemlos überlegte sie, was sie tun sollte. Ihr erster Gedanke war, in ihr Zimmer zu fliehen, aber wenn unter ihr ein magischer Kampf stattfand, war sie in ihrem Schlafzimmer keineswegs sicherer, so viel stand fest.

Sie sollte das Haus verlassen. Und sich so weit wie nur möglich davon entfernen.

Aber die Neugier ließ sie verharren. Ich will wissen, was hier vorgeht, dachte sie. Und wenn jemand hergekommen ist, um Akkarin zur Rede zu stellen, wird der Betreffende vielleicht meine Hilfe brauchen.

Sie holte tief Luft, trat auf die Tür zum Treppenhaus zu und öffnete sie einen Spaltbreit. Der Treppenaufgang lag im Dunkeln, was bedeutete, dass die Tür zu dem unterirdischen Raum verschlossen sein musste. Langsam, jeden Muskel angespannt, schlich sie die Treppe hinunter. An der Tür angekommen, suchte sie nach einem Schlüsselloch oder einer anderen Möglichkeit, um in das unterirdische Gewölbe zu spähen, konnte jedoch nichts finden. Eine Männerstimme brüllte irgendetwas. Die Stimme eines Fremden. Sie brauchte einen Moment, um sich darüber klar zu werden, dass sie ihn nicht verstanden hatte, weil er eine fremde Sprache benutzte.

Die Antwort, ebenfalls in einer fremden Sprache vorgebracht, klang schroff. Sonea erstarrte, als sie Akkarins Stimme erkannte. Dann ertönte plötzlich ein hohes, verzweifeltes Heulen, und Soneas Herz begann zu rasen. Plötzlich, fest davon überzeugt, dass sie an jedem anderen Ort der Welt sein sollte, nur nicht hier, zog sie sich die Treppe hinauf zurück.

Die Tür wurde aufgerissen.

Takan blickte zu ihr hoch und hielt jäh inne. Sie nahm seinen Gesichtsausdruck jedoch nicht wahr. Die Szene, die sich hinter ihm abspielte, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.

Akkarin stand über einem in schlichte Gewänder gekleideten Mann. Er hatte die Hand um die Kehle des Mannes gelegt, und Blut sickerte über seine Finger. In der anderen Hand hielt er ein juwelenbesetztes Messer - ein Messer, das ihr auf grauenerregende Weise vertraut war. Im nächsten Moment trat ein glasiger Ausdruck in die Augen des Fremden, und er sank zu Boden.

Dann räusperte sich Takan, und Akkarin riss den Kopf hoch.

Ihre Blicke trafen sich - wie in ihren Albträumen, in denen sie noch einmal die Nacht durchlebte, in der sie ihn in diesem Raum beobachtet hatte. Nur dass er sie in ihren Träumen entdeckt hatte und sie sich nicht bewegen konnte… Träumen, aus denen sie mit hämmerndem Herzen erwachte.

Aber diesmal würde sie nicht erwachen. Dies war real.

»Sonea.« In seiner Stimme schwang unverhohlener Ärger mit. »Komm hierher.«

Sie schüttelte den Kopf und zog sich weiter zurück, dann spürte sie das Brennen von Magie, als ihre Schulter auf einen Schild traf. Takan seufzte und ging wieder in den Raum zurück. Als Sonea spürte, dass der Schild sich in ihren Rücken drückte, wurde ihr klar, dass er sie die Treppe hinunterschieben würde. Mit großer Willensanstrengung gelang es ihr, ihre Panik zu überwinden. Dann straffte sie die Schultern und zwang ihre Beine, sie in Akkarins Reich zu tragen.

Als sie in den Raum trat, fiel die Tür hinter ihr mit einem bedrohlichen Klicken ins Schloss. Sie blickte auf den toten Mann hinunter, in seine leeren, weit aufgerissenen Augen, und schauderte. Akkarin folgte ihrem Blick.

»Dieser Mann ist - war - ein Assassine. Er wurde hierher geschickt, um mich zu töten.«

Das behauptet er. Sie sah Takan an.

»Es ist wahr«, sagte der Diener und deutete auf Akkarin. »Glaubt Ihr, der M… Hohe Lord würde seine eigenen Räume so zurichten?«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Wände versengt waren und eins der Bücherregale in Trümmern lag. Oben im Empfangsraum hatte sie genug gespürt und gehört, um zu argwöhnen, dass hier unten irgendeine Art von magischem Kampf stattgefunden hatte.

Also musste der Tote ein Magier gewesen sein. Sie betrachtete ihn noch einmal näher. Er war kein Kyralier und entstammte auch keiner der Rassen, die zu den Verbündeten Ländern gehörten. Er sah aus wie… sie drehte sich um und starrte Takan an. Das gleiche breitflächige Gesicht, die gleiche goldbraune Haut…

»Ja«, sagte Akkarin. »Er und Takan entstammen demselben Volk. Sie sind Sachakaner.«

Das erklärte, warum der Mann über Magie gebieten konnte, ohne der Gilde anzugehören. Es gab also noch immer Magier in Sachaka… Aber wenn dieser Mann ein Assassine war, warum wollte dann er - oder sein Auftraggeber - Akkarins Tod?

Ja, warum?, ging es ihr durch den Kopf.

»Warum habt Ihr ihn getötet?«, fragte sie. »Warum habt Ihr ihn nicht einfach an die Gilde ausgeliefert?«

Akkarins Lächeln war freudlos. »Weil er und seinesgleichen, wie du zweifellos erraten haben wirst, viele Dinge über mich wissen, von denen es mir lieber wäre, dass die Gilde sie nicht erführe.«

»Also habt Ihr ihn getötet. Mit … mit …«

»Mit dem, was die Gilde schwarze Magie nennt. Ja.« Er machte einige Schritte auf sie zu, und sein Blick war offen und fest. »Ich habe niemals jemanden getötet, der mir nichts Böses gewollt hätte, Sonea.«

Sie wandte sich ab. Wollte er sie damit beruhigen, obwohl er wusste, dass sie sein Geheimnis aufgedeckt hätte, wenn sie es hätte tun können?

»Der Mann wäre gewiss sehr zufrieden gewesen, hätte er gewusst, welchen Schaden er mit seinem Kommen angerichtet hat, weil du dadurch etwas gesehen hast, was du nicht hättest sehen sollen«, fuhr Akkarin leise fort. »Du fragst dich gewiss, wer diese Leute sind, die meinen Tod wünschen, und welche Gründe sie dafür haben. Ich kann dir nur so viel verraten: Diese Sachakaner hassen die Gilde noch immer, aber sie fürchten uns auch. Von Zeit zu Zeit schicken sie mir einen dieser Leute, um mich auf die Probe zu stellen. Hältst du es wirklich für unvernünftig, dass ich mich verteidige?«

Sie blickte zu ihm auf und fragte sich, warum er ihr das erzählte. Erwartete er wirklich, dass sie irgendetwas von dem glaubte, was er sagte? Wenn die Sachakaner eine Gefahr darstellten, musste der Rest der Gilde davon erfahren. Nicht nur der Hohe Lord. Nein, er praktizierte eine böse Magie, um seine Kraft zu mehren, und dies war nur eine Lüge, die ihr Schweigen gewährleisten sollte.

Er musterte sie forschend, dann nickte er. »Es spielt keine Rolle, ob du mir glaubst oder nicht, Sonea.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür, die mit einem leisen Knarren aufschwang. »Vergiss nur nicht, dass du, wenn du auch nur ein Wort über diese Ereignisse verlierst, die Zerstörung all dessen bewirken wirst, was dir lieb und teuer ist.«

Sie schob sich auf die Tür zu. »Ich weiß«, sagte sie verbittert. »Daran braucht Ihr mich nicht zu erinnern.«

Als sie die Tür erreicht hatte, lief sie die Treppe hinauf. Bevor sie den Empfangsraum erreicht hatte, wehte eine Stimme von unten zu ihr herauf.

»Zumindest werden die Morde jetzt aufhören.«

»Für den Augenblick«, erwiderte Akkarin. »Bis der Nächste kommt.«

Sonea drückte die Klinke herunter und stolperte in das Empfangszimmer. Schwer atmend lehnte sie sich an die Wand, während eine Welle der Erleichterung über sie hinwegschwemmte. Sie hatte sich ihrem Albtraum gestellt und überlebt. Aber sie wusste, dass sie von nun an nicht mehr allzu gut schlafen würde. Sie hatte Akkarin töten sehen, und das war etwas, das sie niemals vergessen würde.

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