Erster Teil

1 Die Aufnahmezeremonie

In jedem Sommer klärte sich der Himmel über Kyralia für einige Wochen zu einem grellen Blau auf, und die Sonne brannte erbarmungslos auf das Land herab. In Imardin waren die Straßen staubig, die Masten der Schiffe im Hafen erschienen in der flirrenden Hitze regelrecht gekrümmt, und die Menschen zogen sich in ihre Häuser zurück, um sich Luft zuzufächeln, an Säften zu nippen oder - in den übleren Teilen der Hüttenviertel - krügeweise Bol zu trinken.

In der Magiergilde von Kyralia dagegen kündigten diese sengend heißen Tage das Näherrücken eines wichtigen Termins an. Die feierliche Vereidigung der im Sommerhalbjahr neu aufgenommenen Novizen stand kurz bevor.

Sonea schnitt eine Grimasse und zupfte am Kragen ihres Kleides. Sie hätte am liebsten eines der schlichten, aber gut geschnittenen Kleidungsstücke angezogen, die sie trug, seit sie in der Gilde lebte, aber Rothen hatte darauf bestanden, dass es für die Aufnahmezeremonie etwas Besonderes sein musste.

Rothen kicherte leise. »Keine Sorge, Sonea. Das hier ist bald vorbei, und dann wirst du Roben tragen - und die wirst du schnell leid werden, davon bin ich überzeugt.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, entgegnete Sonea gereizt.

Erheiterung blitzte in seinen Augen auf. »Ach nein? Du bist nicht mal ein ganz klein wenig nervös?«

»Es ist nicht wie die Anhörung im letzten Jahr. Das war irre.«

»Irre?« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Du bist nervös, Sonea. Dieses Wort ist dir schon seit Wochen nicht mehr herausgerutscht.«

Sonea stieß einen leisen Seufzer der Verärgerung aus. Seit der Anhörung vor fünf Monaten, als Rothen zu ihrem Mentor bestimmt worden war, hatte er ihr die Dinge beigebracht, die alle Novizen vor ihrem Eintritt in die Universität lernen mussten. Sie konnte jetzt die meisten seiner Bücher ohne Hilfe lesen, und sie konnte, wie Rothen es ausdrückte, »halbwegs anständig schreiben«. Die Mathematik fiel ihr deutlich schwerer, aber dafür hatten die ungemein faszinierenden Geschichtsstunden sie reich entschädigt.

Während dieser Monate hatte Rothen sie verbessert, wann immer sie einen Ausdruck aus den Hüttenvierteln benutzte, und sie musste ihm immer wieder nachsprechen und die richtigen Ausdrücke wiederholen, bis sie sich wie eine Dame aus einem der mächtigen kyralischen Häuser anhörte. Er hatte sie davor gewarnt, dass die Novizen ihre Vergangenheit wohl kaum genauso gelassen hinnehmen würden, wie er es tat, und dass sie die Dinge nur verschlimmern würde, wenn sie bei jedem Wort, das sie sprach, die Aufmerksamkeit auf ihre Herkunft lenkte. Die gleichen Argumente hatte er benutzt, um sie dazu zu bringen, für die Aufnahmezeremonie ein Kleid anzuziehen, und obwohl sie wusste, dass er Recht hatte, fühlte sie sich deswegen nicht im Mindesten wohler.

Die kreisförmige Auffahrt vor der Universität war voller vornehmer Kutschen. Zu jeder gehörten mehrere livrierte Diener in den Farben des Hauses, für das sie arbeiteten. Als Sonea und Rothen den Vorplatz erreichten, verneigten sich die Diener vor dem Magier.

Beim Anblick der Kutschen krampfte sich Sonea der Magen zusammen. Sie hatte schon früher Wagen wie diese gesehen, aber niemals so viele auf einmal. Alle waren aus feinstem Holz gemacht, mit kunstvollen Mustern bemalt und auf Hochglanz poliert, und auf den Wagenschlägen prangten quadratische Wappen, die Insignien des Hauses, zu dem die Kutsche gehörte. Sie erkannte die Abzeichen von Paren, Arran, Dillan und Saril, einigen der einflussreichsten Häuser Imardins.

Die Söhne und Töchter dieser Häuser würden ihre Klassenkameraden sein.

Bei diesem Gedanken fühlte ihr Magen sich an, als wolle er sich von innen nach außen stülpen. Was würden sie von ihr halten, seit Jahrhunderten der ersten Kyralierin, die nicht aus einem der großen Häuser stammte? Schlimmstenfalls würden sie Fergun Recht geben, dem Magier, der im vergangenen Jahr ihre Aufnahme in die Gilde zu verhindern versucht hatte. Er war der Meinung gewesen, dass nur den Abkömmlingen der Häuser gestattet sein sollte, Magie zu erlernen - Fergun hatte Soneas Freund Cery eingekerkert, um sie dazu zu erpressen, ihn bei seinen hinterhältigen Plänen zu unterstützen. Diese Pläne hätten der Gilde beweisen sollen, dass es Kyraliern der unteren Klassen an Moral mangelte und dass man ihnen keinesfalls Magie anvertrauen durfte.

Aber Ferguns Verbrechen war entdeckt worden, und man hatte ihn zum Dienst auf eine entlegene Festung geschickt. In Soneas Augen war das keine besonders schwere Strafe, wenn man bedachte, dass Fergun gedroht hatte, ihren Freund zu töten, und sie fragte sich, ob eine solche Strafe andere davon abhalten würde, das Gleiche zu tun.

Sie hoffte, dass einige der Novizen wie Rothen waren, den es nicht im Mindesten interessierte, dass sie früher einmal in den Hüttenvierteln gelebt und gearbeitet hatte. Einige der anderen in der Gilde vertretenen Rassen könnten vielleicht ebenfalls geneigt sein, ein Mädchen aus den unteren Schichten zu akzeptieren. Die Vindo waren ein freundliches Volk; Sonea hatte in den Hüttenvierteln mehrere von ihnen, die nach Imardin gereist waren, um in den Weinbergen und den Obstgärten zu arbeiten, kennen gelernt. Die Lan, so hatte man ihr erzählt, teilten ihr Volk nicht in höhere und niedere Klassen ein. Sie lebten in Stämmen und wiesen Männern und Frauen ihren Rang aufgrund von Prüfungen zu, die ihre Tapferkeit, ihre Schläue und Klugheit testeten - allerdings hatte Sonea nicht die geringste Ahnung, welche Stellung dieses System ihr in dieser Gesellschaft eingetragen hätte.

Als sie jetzt zu Rothen aufblickte, dachte sie an all die Dinge, die er für sie getan hatte, und Zuneigung und Dankbarkeit erfüllten sie. Früher einmal wäre sie entsetzt darüber gewesen, ausgerechnet von einem Magier so abhängig zu sein. Damals hatte sie die Gilde gehasst, und sie hatte ihre Kräfte zum ersten Mal unbeabsichtigt eingesetzt, indem sie im Zorn einen Stein nach einem Magier warf. Als die Gilde dann nach ihr suchte, war sie überzeugt gewesen, dass man sie töten wollte. In ihrer Angst hatte sie es sogar gewagt, die Hilfe der Diebe in Anspruch zu nehmen, obwohl die Diebe für solche Gefälligkeiten stets einen hohen Preis forderten.

Als ihre Kräfte unkontrollierbar geworden waren, überzeugten die Magier die Diebe davon, dass es klüger sei, Sonea ihrer Obhut zu überlassen. Rothen war derjenige gewesen, der sie gefangen und später unterrichtet hatte. Er hatte ihr bewiesen, dass die Magier - nun, die meisten von ihnen - keine grausamen, selbstsüchtigen Ungeheuer waren, wie die Bewohner der Hüttenviertel es glaubten.

Zu beiden Seiten der weit geöffneten Universitätstore standen jeweils zwei Wachposten. Ihre Anwesenheit war eine Formalität, die nur dann beachtet wurde, wenn die Gilde wichtige Besucher erwartete. Als Rothen Sonea zur Eingangshalle führte, verbeugten sich die Männer steif.

Obwohl sie die Halle schon mehrmals gesehen hatte, erfüllte der Raum sie immer noch mit Staunen. Tausend unvorstellbar dünne Fasern einer glasartigen Substanz sprossen aus dem Fußboden und trugen die Treppen, die sich in anmutigen Spiralen zu den höheren Stockwerken hinaufwanden. Zierliche Fäden aus weißem Marmor woben sich zwischen Geländer und Treppen wie Zweige einer rankenden Pflanze. Sie wirkten viel zu zart, um das Gewicht eines Mannes tragen zu können - wahrscheinlich könnten sie das auch nicht, wäre das Material nicht durch Magie verstärkt worden.

Auf dem Weg vorbei an der Treppe gingen sie durch einen kurzen Korridor. Dahinter kamen die grob behauenen, grauen Mauern der Gildehalle in Sicht, eines uralten Gebäudes, das von einem gewaltigen Raum, der großen Halle, geschützt und umschlossen wurde. Vor den Türen der Gildehalle standen mehrere Personen, und bei ihrem Anblick wurde Soneas Mund trocken. Männer und Frauen drehten sich um, um festzustellen, wer da näher kam, und als sie Rothen sahen, leuchteten ihre Augen vor Interesse auf. Die Magier unter ihnen nickten höflich, die anderen verneigten sich.

Rothen führte Sonea in die große Halle und zu der kleinen Gruppe, die sich dort versammelt hatte. Sonea bemerkte, dass alle außer den Magiern trotz der sommerlichen Wärme üppige Gewänder trugen. Die Frauen waren in raffinierte Kleider gehüllt, die Männer trugen Langmäntel, auf deren Ärmel die Insignien ihrer Häuser eingestickt waren. Als sie genauer hinsah, stockte ihr der Atem. Auf jedem Saum waren winzige rote, grüne und blaue Steine aufgenäht. In die Knöpfe der Langmäntel waren riesige Juwelen eingelassen. Außerdem trugen die Anwesenden Ketten und Armbänder aus kostbaren Metallen, und an ihren behandschuhten Händen blitzten Edelsteine.

Als sie den Mantel eines der Männer eine Weile betrachtet hatte, ging ihr der Gedanke durch den Kopf, wie leicht es für einen gut ausgebildeten Dieb wäre, den Herrn seiner Knöpfe zu berauben. Zu diesem Zweck gab es in den Hüttenvierteln spezielle kleine Klingen, die die Form von Ösen hatten. Es bedurfte lediglich eines »versehentlichen« Zusammenstoßes, einer Entschuldigung und eines hastigen Rückzugs. Der Mann bemerkte wahrscheinlich erst zu Hause, dass er bestohlen worden war. Und was den Armreif dieser Frau betraf…

Sonea schüttelte den Kopf. Wie soll ich mich mit diesen Leuten anfreunden, wenn ich gleichzeitig nur daran denken kann, wie einfach es wäre, sie auszurauben? Dennoch konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie war als Taschendiebin genauso geschickt gewesen wie all ihre Kindheitsfreunde - nur Cery hatte sich vielleicht noch besser darauf verstanden als sie selbst -, und obwohl ihre Tante Jonna Sonea schließlich davon überzeugt hatte, dass Diebstahl Unrecht sei, hatte Sonea die Tricks dieses Gewerbes keineswegs vergessen.

Jetzt nahm sie all ihren Mut zusammen, betrachtete die jüngeren unter den Fremden und sah, wie mehrere von ihnen hastig den Blick abwandten. Erheitert überlegte sie, was sie wohl vorzufinden erwartet hatten. Ein scheues Bettlermädchen? Eine Arbeiterin, die von jahrelanger Plackerei gebeugt war? Eine bemalte Hure?

Da keiner ihrer zukünftigen Studienkollegen ihr in die Augen sehen wollte, konnte sie die anderen ihrerseits ungehindert beobachten. Nur zwei der Familien wiesen das typisch kyralisch schwarze Haar und die helle Haut auf. Eine der unverkennbar kyralischen Mütter trug grüne Heilerroben. Die andere hielt ein dünnes Mädchen an der Hand, das träumerisch zu der glitzernden Glasdecke der Halle aufblickte.

Drei weitere Familien standen etwas dichter beisammen, und ihre gedrungene Gestalt und das rötliche Haar wiesen sie als Mitglieder der elynischen Rasse aus. Sie unterhielten sich angeregt miteinander, und gelegentlich hallte ein Lachen durch den Raum.

Zwei dunkelhäutige Lonmar standen schweigend nebeneinander. Schwere goldene Talismane der Mahga-Religion hingen über den purpurfarbenen Alchemistenroben des Vaters, und sowohl Vater als auch Sohn hatten sich den Schädel glatt rasiert. Am entgegengesetzten Ende der Gruppe wartender Familien standen zwei weitere Lonmar. Die Haut des Sohnes war von einem helleren Braun, was vermuten ließ, dass seine Mutter einem anderen Volk angehörte. Der Vater trug ebenfalls Roben, aber seine waren rot wie die eines Kriegers, und er hatte weder Schmuck noch Talismane angelegt.

In der Nähe des Korridors entdeckte Sonea eine Familie aus Vin. Obwohl der Vater teure Gewänder trug, warf er immer wieder verstohlene Blicke zu den anderen hinüber, als fühle er sich in ihrer Gesellschaft nicht wohl. Sein Sohn war ein stämmiger Junge, dessen braune Haut in ein ungesundes Gelb spielte.

Als die Mutter dem Jungen eine Hand auf die Schulter legte, musste Sonea an ihre Tante Jonna und ihren Onkel Ranel denken, und eine mittlerweile vertraut gewordene Enttäuschung erfüllte sie. Obwohl Jonna und Ranel ihre einzigen Verwandten waren und sie nach dem Tod ihrer Mutter und dem Verschwinden ihres Vaters großgezogen hatten, machte ihnen die Gilde zu große Angst, als dass sie Sonea dort besucht hätten. Als sie sie gebeten hatte, zu der Aufnahmezeremonie zu kommen, hatten sie mit der Erklärung abgelehnt, dass sie ihren neugeborenen Sohn niemand anderem überlassen könnten und dass es nicht schicklich wäre, ein weinendes Baby zu einem so wichtigen Anlass mitzubringen.

Im Korridor erklangen Schritte, und Sonea drehte sich um; drei weitere elegant gekleidete Kyralier traten ein. Der Junge warf einen hochmütigen Blick in die Runde. Einen Moment lang verharrte sein Blick bei Rothen, um dann zu Sonea weiterzuwandern.

Er sah Sonea direkt in die Augen, und ein freundliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Überrascht erwiderte sie sein Lächeln, aber im nächsten Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck zu einem höhnischen Grinsen.

Sonea konnte ihn nur entsetzt anstarren. Der Junge wandte sich mit geringschätziger Miene ab, aber nicht so schnell, dass Sonea nicht Gelegenheit gehabt hätte, die selbstgefällige Befriedigung in seinen Zügen zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen und beobachtete ihn, während er sich den nächsten Neuankömmlingen zuwandte.

Anscheinend kannte er den anderen kyralischen Jungen bereits, denn die beiden zwinkerten einander freundschaftlich zu. Den Mädchen wurde ein strahlendes Lächeln zuteil; die magere kleine Kyralierin reagierte zwar mit offenkundiger Verachtung, aber ihr Blick ruhte noch auf dem Jungen, lange nachdem er sich abgewandt hatte. Die Übrigen bekamen ein höfliches Nicken.

Dann unterbrach ein lautes, metallisches Klirren das gesellschaftliche Spiel. Alle Köpfe drehten sich zur Gildehalle. Ein langes, angespanntes Schweigen folgte, dann wehte aufgeregtes Flüstern durch den Raum, während die riesigen Türen langsam aufschwangen. Durch den immer breiteren Spalt ergoss sich ein vertrautes, goldenes Leuchten aus der Halle. Das Licht kam von Tausenden winziger magischer Kugeln, die ein oder zwei Meter unter der Decke schwebten. Der warme Geruch von Holz und Bohnerwachs schlug ihnen einladend entgegen.

Ein Raunen ging durch die Menge, und Sonea stellte fest, dass die meisten der Besucher voller Staunen in die Halle blickten. Sie lächelte, als ihr klar wurde, dass die anderen Novizen und sogar einige der Erwachsenen die Gildehalle wohl noch nie zuvor gesehen hatten. Nur die Magier und jene unter den Eltern, die bereits den Aufnahmezeremonien für ältere Kinder beigewohnt hatten, waren schon einmal dort gewesen. Und sie, Sonea.

Bei der Erinnerung an ihren früheren Besuch wurde sie schlagartig ernst. Damals hatte der Hohe Lord Cery in die Gildehalle gebracht und damit Ferguns schändlichen Plänen ein Ende gemacht. Auch für Cery hatte sich an jenem Tag ein Traum erfüllt. Ihr Freund hatte sich selbst das Versprechen gegeben, zumindest einmal in seinem Leben alle großen Gebäude der Stadt zu besuchen. Die Tatsache, dass er ein niedrig geborenes Straßenkind war, hatte die Erfüllung dieses Traums zu einer noch größeren Herausforderung für ihn gemacht.

Aber Cery war nicht länger der abenteuerlustige Knabe, mit dem sie als Kind so gern zusammen gewesen war, oder der stets zu Schabernack aufgelegte Junge, der ihr geholfen hatte, sich so lange vor der Gilde zu verstecken. Wann immer sie ihn sah, wenn er sie in der Gilde besuchte oder sie ihm in den Hüttenvierteln begegnet war, wirkte er älter und weniger unbeschwert. Wenn sie fragte, was er tat oder ob er noch für die Diebe arbeitete, lächelte er nur listig und wechselte das Thema.

Er schien jedoch zufrieden zu sein. Und falls er für die Diebe arbeitete, war es vielleicht besser, dass sie nichts von seinen Plänen wusste.

Ein in Roben gekleideter Mann durchmaß mit langen Schritten den Raum, um in die Tür der Gildehalle zu treten. Sonea erkannte Lord Osen, den Assistenten des Administrators. Er hob die Hand und räusperte sich.

»Die Gilde heißt euch alle willkommen«, sagte er. »Die Aufnahmezeremonie wird jetzt beginnen. Die neuen Schüler der Universität möchten bitte eine Reihe bilden. Sie werden zuerst eintreten; die Eltern werden ihnen folgen und ihre Plätze auf den unteren Stuhlreihen einnehmen.«

Als die anderen Jungen und Mädchen nach vorn eilten, spürte Sonea den leichten Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um und blickte zu Rothen auf.

»Keine Angst. Es wird im Nu vorbei sein«, beruhigte er sie.

Sie antwortete ihm mit einem Grinsen. »Ich habe keine Angst, Rothen.«

»Ha!« Er gab ihr einen sanften Stoß. »Dann geh. Lass sie nicht warten.«

Vor den Türen hatte sich eine kleine Gruppe Menschen versammelt. Lord Osens Lippen wurden zu einer schmalen Linie. »Bildet eine Reihe, bitte.«

Während die neuen Schüler gehorchten, sah Lord Osen zu Sonea hinüber. Ein schnelles Lächeln umspielte seine Lippen, und Sonea nickte ihm zu. Dann stellte sie sich hinter den letzten Jungen in die Reihe. Gleich darauf erregte ein Zischen zu ihrer Linken ihre Aufmerksamkeit.

»Wenigstens kennt sie ihren Platz«, murmelte jemand. Sonea drehte leicht den Kopf und sah zwei Kyralierinnen in ihrer Nähe stehen.

»Das ist das Mädchen aus den Hüttenvierteln, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte die erste Frau. »Ich habe Bina gesagt, sie soll sich von ihr fern halten. Ich möchte nicht, dass meine süße kleine Tochter sich irgendwelche abscheulichen Unarten angewöhnt - oder Krankheiten zuzieht.«

Die Antwort der zweiten Frau konnte Sonea nicht mehr hören, da sie inzwischen weitergegangen war. Sie presste sich eine Hand auf die Brust, überrascht darüber, dass ihr Herz so heftig hämmerte. Gewöhn dich daran, sagte sie sich, solche Dinge wirst du noch häufiger zu hören bekommen. Sie widerstand dem Drang, sich nach Rothen umzudrehen, drückte die Schultern durch und folgte den anderen Jungen und Mädchen durch den langen Gang in die Mitte der Halle.

Als sie die großen Türen durchschritten hatten, umfingen sie die hohen Wände der Gildehalle. Die Plätze zu beiden Seiten des Raumes waren nicht einmal zur Hälfte besetzt, obwohl fast alle Magier, die in der Gilde und in der Stadt lebten, zugegen waren. Als Sonea sich nach links wandte, begegnete sie dem kalten Blick eines älteren Magiers. Sein gefurchtes Gesicht verriet Missbilligung, und seine Augen schienen sich in ihre brennen zu wollen.

Soneas Gesicht wurde heiß, und sie blickte wieder zu Boden. Verärgert stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten. Wollte sie sich durch die Missbilligung eines alten Mannes so sehr aus der Ruhe bringen lassen? Sie bemühte sich nach Kräften, eine ruhige, selbstbeherrschte Miene aufzusetzen, und ließ den Blick langsam über die Reihen der Gesichter wandern…

…und wäre um ein Haar gestolpert, da ihre Knie plötzlich alle Kraft verloren hatten. Es schien, als sehe jeder Magier in der Halle sie an. Sie schluckte, dann richtete sie den Blick auf den Rücken des vor ihr stehenden Jungen.

Als die neuen Schüler das Ende des Ganges erreichten, schickte Osen den ersten auf die linke Seite, dann den zweiten auf die rechte und fuhr in diesem Muster fort, bis sie eine Reihe quer durch die Halle bildeten. Sonea fand sich in der Mitte der Reihe wieder, direkt gegenüber von Lord Osen. Er beobachtete schweigend das Treiben hinter ihr. Sie konnte ein Schlurfen hören und das Klirren von Schmuck und vermutete, dass die Eltern jetzt in die Stuhlreihen hinter ihnen traten. Als wieder Ruhe eingekehrt war, drehte sich Osen um und verbeugte sich vor den Höheren Magiern, die in den übereinander angeordneten Stuhlreihen an der Stirnseite der Gildehalle saßen.

»Die neuen Schüler des Sommersemesters der Universität.«


»Ich finde es in diesem Jahr viel interessanter, weil jemand dabei ist, den ich kenne«, bemerkte Dannyl, als Rothen seinen Platz einnahm.

Rothen musterte seinen Gefährten. »Aber im vergangenen Jahr war doch dein Neffe unter den Novizen.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich kenne den Jungen kaum. Aber Sonea kenne ich.«

Erfreut wandte sich Rothen wieder der Zeremonie zu. Obwohl Dannyl sehr charmant sein konnte, wenn er wollte, war er kein Mensch, der schnell Freundschaften schloss. Daran war größtenteils ein Zwischenfall schuld, der sich ereignet hatte, als Dannyl selbst noch Novize gewesen war. Man hatte ihm damals »unziemliches« Interesse an einem älteren Jungen vorgeworfen, und er hatte die Verleumdungen der Novizen und Magier gleichermaßen ertragen müssen. Man hatte ihn gemieden und verhöhnt, und das war Rothens Meinung nach der Grund, warum Dannyl bis heute kaum einem Menschen traute, geschweige denn sich mit ihnen befreundete.

Rothen war schon seit Jahren Dannyls einziger enger Freund. Als Lehrer hatte Rothen ihn für einen der vielversprechenderen Novizen in seinen Klassen gehalten. Als er hatte mit ansehen müssen, wie das böse Gerücht und der Skandal Dannyls Studium sehr in Mitleidenschaft zogen, hatte er beschlossen, sich des Jungen als Mentor anzunehmen. Mit ein wenig Ermutigung und viel Geduld war es ihm gelungen, die Aufmerksamkeit von Dannyls schnellem Verstand von Tratsch und gehässigen Streichen wieder auf Magie und Gelehrsamkeit zu lenken.

Einige Magier hatten bezweifelt, dass es Rothen gelingen würde, Dannyl wieder »auf den richtigen Weg« zu bringen. Rothen lächelte. Nicht nur das war ihm gelungen, sondern Dannyl war soeben auch zum zweiten Botschafter der Gilde in Elyne ernannt worden. Jetzt blickte Rothen wieder zu Sonea hinunter und fragte sich, ob auch sie ihm eines Tages Grund geben würde, so selbstzufrieden zu sein.

Dannyl beugte sich vor. »Verglichen mit Sonea sind die anderen die reinsten Kinder, nicht wahr?«

Rothen betrachtete die übrigen Jungen und Mädchen und zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau, wie alt sie sind, aber der Altersdurchschnitt für neue Schüler liegt bei fünfzehn Jahren. Sonea ist fast siebzehn. Zwei Jahre dürften keinen großen Unterschied machen.«

»Da bin ich anderer Meinung«, murmelte Dannyl, »aber ich hoffe, dass der Altersunterschied ihr zum Vorteil gereichen wird.«

Unter ihnen ging Lord Osen nun langsam an der Reihe der neuen Schüler vorbei und verkündete Namen und Titel eines jeden von ihnen.

»Ahrind aus der Familie Genard.« Osen machte zwei weitere Schritte. »Kano aus der Familie Temo, Schiffsbauerngilde.« Noch ein Schritt. »Sonea.«

Osen hielt kurz inne, dann ging er weiter. Als er den nächsten Namen ausrief, stieg in Rothen Mitgefühl für Sonea auf. Der Mangel an einem großartigen Titel oder dem Namen eines Hauses hatte sie öffentlich zur Außenseiterin gemacht. Das ließ sich jedoch nicht ändern.

»Regin aus der Familie Winar, Haus Paren«, beendete Osen seine Erklärungen, als er den letzten Jungen erreichte.

»Das ist Garrels Neffe, nicht wahr?«, fragte Dannyl.

»Ja.«

»Wie ich hörte, wollten seine Eltern ihn im letzten Wintersemester erst drei Monate nach Unterrichtsbeginn anmelden.«

»Das ist seltsam. Warum nicht rechtzeitig?«

»Keine Ahnung.« Dannyl hob die Schultern. »Den Teil der Geschichte habe ich nicht mitbekommen.«

»Hast du wieder spioniert?«

»Ich spioniere nicht, Rothen. Ich höre zu.«

Rothen schüttelte den Kopf. Er mochte Dannyl den Novizen vielleicht an rachsüchtigen Streichen gehindert haben, aber zumindest bisher war es ihm nicht gelungen, Dannyl dem Magier sein Interesse an Klatsch und Tratsch auszutreiben. »Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn du fortgehst. Wer wird mich dann über all die kleinen Intrigen der Gilde auf dem Laufenden halten?«

»Du wirst einfach besser aufpassen müssen«, entgegnete Dannyl.

»Ich habe mich schon gefragt, ob die Höheren Magier dich vielleicht deshalb wegschicken, um dich daran zu hindern, so viel zu ›hören‹.«

Dannyl lächelte. »Ah, ganz im Gegenteil. Ihrer Meinung nach kann man am besten herausfinden, was in Kyralia vorgeht, indem man einige Tage damit verbringt, sich den Klatsch und Tratsch in Elyne anzuhören.«

Laute Schritte lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Halle. Der Rektor der Universität, Jerrik, hatte sich von seinem Platz unter den Höheren Magiern erhoben und ging die Treppe hinunter. In der Mitte des Raums blieb er stehen und ließ den Blick über die Reihe der neuen Schüler wandern, wobei sein Gesicht den gewohnt säuerlichen, missbilligenden Ausdruck zeigte.

»Heute wird ein jeder von euch den ersten Schritt tun, um ein Magier der Gilde von Kyralia zu werden«, begann er mit strenger Stimme. »Als Novize wird man von euch verlangen, den Regeln der Universität Folge zu leisten. Gemäß der Verträge, die die Verbündeten Länder binden, finden diese Regeln die Billigung aller Herrscher, und von allen Magiern wird erwartet, dass sie sie durchsetzen. Selbst wenn ihr keinen Abschluss bei uns macht, werdet ihr dennoch an die Regeln gebunden sein.« Er hielt inne und sah die neu eingeschriebenen Studenten eindringlich an. »Um der Gilde beizutreten, müsst ihr ein Gelübde ablegen, und dieses Gelübde besteht aus vier Teilen.

Zuerst müsst ihr geloben, niemals einem anderen Mann oder einer anderen Frau Schaden zuzufügen, es sei denn zur Verteidigung der Verbündeten Länder. Dieser Schwur schließt Menschen jeder Klasse, jeden Ranges und jeden Alters ein, ganz gleich, ob es unbescholtene Bürger oder überführte Verbrecher sind. Alle Fehden, in die eure Familien verstrickt sein mögen, seien sie persönlicher oder politischer Natur, enden für euch hier und heute.

Zweitens müsst ihr geloben, den Regeln der Gilde zu gehorchen. Wenn euch diese Regeln nicht bereits bekannt sind, besteht eure erste Aufgabe darin, sie zu lernen. Unwissenheit ist keine Entschuldigung.

Drittens müsst ihr geloben, den Befehlen eines jeden Magiers zu gehorchen, es sei denn, diese Befehle würden von euch verlangen, ein Gesetz zu brechen. Diesen Punkt handhaben wir relativ großzügig. Ihr braucht nichts zu tun, was ihr für moralisch falsch haltet oder im Widerspruch zu eurer Religion oder euren Traditionen steht. Aber maßt euch nicht an, selbst zu entscheiden, wann und in welchem Maße wir diese Großzügigkeit zeigen sollten. In einer strittigen Situation kommt mit dem Problem zu mir, und ich werde sofort für eine Lösung sorgen.

Und zu guter Letzt müsst ihr geloben, dass ihr niemals Magie benutzen werdet, wenn ein Magier euch nicht dazu auffordert. Diese Regel dient eurem eigenen Schutz. Führt keinerlei Magie ohne Anleitung aus, es sei denn, euer Lehrer oder Mentor hätte euch die Erlaubnis dazu gegeben.«

Jerrik hielt inne, und Schweigen senkte sich über den Raum. Der Rektor zog seine ausdrucksvollen Augenbrauen in die Höhe und straffte die Schultern.

»Wie die Tradition es will, darf ein Magier der Gilde den Antrag stellen, zum Mentor eines Novizen bestimmt zu werden, um seine oder ihre Ausbildung in der Universität zu begleiten.« Er drehte sich zu den Sitzreihen hinter ihm um. »Hoher Lord Akkarin, wünscht Ihr, zum Mentor eines dieser neuen Schüler bestimmt zu werden?«

»Nein«, erklang eine kühle, dunkle Stimme.

Während Jerrik nun dieselbe Frage den anderen Höheren Magiern stellte, sah Rothen zu dem schwarz gewandeten Anführer hinauf. Wie die meisten Kyralier war Akkarin groß und schlank, und sein kantiges Gesicht wurde durch die altmodische Manier, das Haar lang zu tragen und im Nacken zusammenzubinden, noch betont.

Wie immer war Akkarins Miene reserviert, während er dem Verfahren folgte. Er hatte noch nie Interesse daran gezeigt, die Ausbildung eines Novizen zu begleiten, und die meisten Familien hatten die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Sohn vielleicht auf solche Weise von dem Führer der Gilde ausgezeichnet werden könnte.

Obwohl noch jung für einen Hohen Lord, strahlte Akkarin etwas aus, das selbst den konservativsten und einflussreichsten Magiern Respekt abnötigte. Er war begabt, kenntnisreich und intelligent, aber es war seine magische Stärke, die ihm die Ehrfurcht so vieler Menschen eintrug. Seine Kräfte waren bekanntermaßen so groß, dass manch einer vermutete, er allein sei stärker als der Rest der Gilde zusammen.

Aber dank Sonea war Rothen einer von nur zwei Magiern, die den wahren Grund für die ungeheure Stärke des Hohen Lords kannten.

Bevor die Diebe Sonea an die Gilde ausgeliefert hatten, hatten Sonea und ihr Freund Cery, der Dieb, einmal spätnachts das Gelände der Gilde erkundet. Sie waren in der Hoffnung hergekommen, dass Sonea vielleicht lernen könnte, ihre Kräfte zu beherrschen, wenn sie Magier bei ihrer Arbeit beobachtete. Stattdessen hatte sie mit angesehen, wie der Hohe Lord ein seltsames Ritual vollzog. Sie hatte damals nicht verstanden, was sie gesehen hatte, aber dann unterzog Administrator Lorlen sie während der Anhörung zur Bestimmung ihres Mentors einer Wahrheitslesung, um Ferguns Verbrechen zu bestätigen. Der Hohe Lord Akkarin, Anführer der Gilde, praktizierte schwarze Magie.

Gewöhnliche Magier wussten nichts über schwarze Magie, nur dass sie verboten war. Die Höheren Magier wussten nur gerade genug, um schwarze Magier erkennen zu können. Allein das Wissen, wie man schwarze Magie benutzte, war schon ein Verbrechen. Aus Soneas Gedankenöffnung Lorlen gegenüber wusste Rothen jetzt, dass schwarze Magie einen Magier befähigte, sich zu größerer Macht zu verhelfen, indem er aus anderen Menschen Kraft abzog. Wenn alle Kraft verbraucht war, starb das Opfer.

Rothen konnte nicht ermessen, was es für Lorlen bedeutet hatte herauszufinden, dass sein bester Freund schwarze Magie nicht nur erlernt hatte, sondern sie auch benutzte. Das musste ein furchtbarer Schock für ihn gewesen sein. Andererseits hatte Lorlen gleichzeitig begriffen, dass er Akkarin nicht bloßstellen konnte, ohne die Gilde und die ganze Stadt in Gefahr zu bringen. Wenn Akkarin gegen sie kämpfen wollte, konnte er einen solchen Kampf mühelos gewinnen, und mit jedem Opfer, das er tötete, würde er noch stärker werden. Daher mussten Lorlen, Sonea und Rothen ihr Wissen für den Augenblick geheim halten. Wie schwer musste es Lorlen fallen, überlegte Rothen, Freundschaft zu heucheln, nachdem er nun wusste, wozu Akkarin fähig war?

Trotz dieses Wissens hatte Sonea sich einverstanden erklärt, der Gilde beizutreten. Rothen war zuerst sehr erstaunt über ihre Entscheidung gewesen, bis sie ihm ihre Gründe dargelegt hatte: Wenn sie ging und man vorher ihre Kräfte blockierte - wie es das Gesetz für Magier verlangte, die der Gilde nicht beitreten wollten -, wäre sie mit ihrem starken magischen Potenzial für den Hohen Lord eine verlockende Kraftquelle gewesen. Rothen schauderte. In der Gilde würde man es zumindest bemerken, wenn sie unter seltsamen Umständen starb.

Dennoch war es eine mutige Entscheidung gewesen, da sie wusste, was im Herzen der Gilde lauerte. Als Rothen sie jetzt betrachtete, wie sie da zwischen den Söhnen und Töchtern einiger der reichsten Familien in den Verbündeten Ländern stand, empfand er sowohl Stolz als auch Zuneigung. In den vergangenen sechs Monaten war sie für ihn eher eine Tochter geworden als eine Schülerin.

»Hat einer der Magier den Wunsch, zum Mentor eines dieser Schüler bestimmt zu werden?«

Rothen schrak auf, als ihm klar wurde, dass es jetzt für ihn an der Zeit war zu sprechen. Er öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, formulierte ein anderer die rituellen Worte.

»Ich habe eine Wahl getroffen, Rektor.«

Die Stimme kam von der anderen Seite der Halle. Alle Schüler drehten sich um, um festzustellen, wer da von seinem Platz aufgestanden war.

»Lord Yarrin«, erwiderte Jerrik. »Welchen Schüler habt Ihr Euch erwählt?«

»Gennyl aus der Familie Randa, dem Haus Saril und dem Größeren Clan von Alaraya.«

Ein leises Raunen ging durch die Reihen der Magier. Rothen sah, dass der Vater des Jungen, Lord Tayk, sich auf seinem Stuhl vorgebeugt hatte.

Jerrik wartete, bis wieder Ruhe einkehrte, dann wandte er sich erwartungsvoll zu Rothen um.

»Hat noch einer der Magier den Wunsch, zum Mentor eines dieser Schüler bestimmt zu werden?«

Rothen erhob sich. »Ich habe eine Wahl getroffen, Rektor.«

Sonea blickte auf, und ihre Lippen verkrampften sich, als sie versuchte, nicht zu lächeln.

»Lord Rothen«, erwiderte Jerrik, »welchen Schüler habt Ihr Euch erwählt?«

»Ich habe den Wunsch, zum Mentor Soneas bestimmt zu werden.«

Kein Gemurmel folgte seiner Ankündigung, und Jerrik nickte lediglich zustimmend. Rothen kehrte zu seinem Platz zurück.

»Das war’s«, flüsterte Dannyl. »Jetzt wirst du da nicht mehr rauskommen. Sie hat dich für die nächsten fünf Jahre wirklich und wahrhaftig um den Finger gewickelt.«

»Pst«, zischte Rothen.

»Hat noch einer der Magier den Wunsch, zum Mentor eines der Schüler bestimmt zu werden?«, wiederholte Jerrik seine Frage.

»Ich habe eine Wahl getroffen, Rektor.«

Die Stimme war links von Rothen erklungen, und man hörte das Knarren von Stühlen, während die Leute sich auf ihren Plätzen umdrehten. Ein aufgeregtes Raunen lief durch die Halle, als Lord Garrel sich erhob.

»Lord Garrel.« Jerriks Stimme klang überrascht. »Welchen Schüler habt Ihr Euch erwählt?«

»Regin aus der Familie Winar und dem Haus Paren.«

Die übrigen Anwesenden stießen wie aus einem Mund einen verständnisvollen Seufzer aus. Rothen sah, dass der Junge am Ende der Reihe zufrieden grinste. Erst als Jerrik die Arme hob, kehrte langsam wieder Ruhe ein.

»Ich würde dir raten, auf diese beiden Novizen und ihre Mentoren ein Auge zu haben«, murmelte Dannyl. »Normalerweise wählt niemand im ersten Jahr einen Novizen aus. Wahrscheinlich tun sie es nur, um zu verhindern, dass Sonea einen höheren Status bekleidet als ihre Klassenkameraden.«

»Oder ich habe eine Mode geschaffen«, überlegte Rothen laut. »Und Garrel könnte das Potenzial seines Neffen bereits kennen. Das würde auch erklären, warum Regins Familie den Wunsch hatte, ihn vorzeitig auf die Universität zu schicken.«

»Hat sonst noch jemand den Wunsch, zum Mentor eines dieser Schüler bestimmt zu werden?«, rief Jerrik. Stille folgte, und er ließ die Arme sinken. »Würden bitte alle Magier vortreten, die die persönliche Verantwortung für einen der Schüler übernehmen wollen?«

Rothen erhob sich und ging langsam auf die Treppe zu. Kurz darauf stand er zusammen mit Lord Garrel und Lord Yarrin neben Rektor Jerrik. Ein junger Novize, der vor Aufregung darüber, eine Rolle bei der Zeremonie zu spielen, heftig errötet war, kam mit einem Bündel braunroter Gewänder herbei. Jeder der Magier wählte eines der Bündel aus.

»Würde Gennyl bitte vortreten«, befahl Jerrik.

Einer der Jungen aus Lonmar folgte seiner Aufforderung und verneigte sich. Mit weit aufgerissenen Augen stand er vor Lord Jerrik, und seine Stimme zitterte, als er das Novizengelübde sprach. Lord Yarrin reichte dem Jungen seine Roben, und Mentor und Novize traten beiseite. Lord Jerrik wandte sich wieder den neuen Schülern zu.

»Würde jetzt Sonea bitte vortreten.«

Sonea ging mit steifen Schritten auf Jerrik zu. Obwohl ihr Gesicht bleich war, verneigte sie sich voller Anmut und legte dann klar und deutlich das Gelübde ab. Rothen trat neben sie und übergab ihr ihre Roben.

»Hiermit erwähle ich dich, Sonea, zu meinem Schützling. Deinem Studium wird meine besondere Aufmerksamkeit und Sorge gelten, bis du deinen Abschluss an der Universität gemacht hast.«

»Ich werde Euren Anweisungen gehorchen, Lord Rothen.«

»Möget ihr beide aus dieser Vereinbarung Gewinn ziehen«, vollendete Jerrik die rituelle Formel.

Als sie beiseite traten, um sich neben Lord Yarrin und Gennyl zu stellen, rief Jerrik den immer noch lächelnden Jungen vom Ende der Reihe auf.

»Würde Regin bitte vortreten.«

Der Junge ging selbstbewusst auf Jerrik zu, aber er verneigte sich zu hastig und nicht tief genug. Als der Ritus wiederholt wurde, blickte Rothen auf Sonea hinab und fragte sich, was sie wohl denken mochte. Sie war jetzt ein Mitglied der Gilde, und das war keine Kleinigkeit.

Sie sah den Jungen zu ihrer Rechten an, wie Rothen bemerkte. Gennyl stand mit durchgedrückten Schultern und gerötetem Gesicht neben seinem Mentor. Er platzt fast vor Stolz, ging es Rothen durch den Kopf. Einen Mentor zu haben und noch dazu in diesem frühen Stadium, bewies, dass ein Schüler außerordentlich talentiert war.

Nur wenige würden das jedoch von Sonea denken. Die meisten Magier, argwöhnte Rothen, würden annehmen, dass er Sonea nur deshalb zu seinem Schützling auserkoren hatte, damit niemand seine Rolle bei ihrer Auffindung vergaß. Man würde ihm nicht glauben, wenn er von der Stärke und dem Talent Soneas sprach. Aber sie würden es eines Tages selbst herausfinden, und diese Tatsache gab ihm eine gewisse Befriedigung.

Nachdem Regin und Lord Garrel die rituellen Worte gesprochen hatten, stellten sie sich links neben Rothen. Der Junge sah immer wieder mit berechnender Miene zu Sonea hinüber. Sie dagegen bemerkte es nicht, oder sie ignorierte ihn. Stattdessen verfolgte sie aufmerksam das Geschehen, als Jerrik nun die übrigen neuen Schüler zu sich rief, damit sie das Gelübde ablegten. Sie nahmen ihre Roben in Empfang, dann stellten sie sich neben die Mentoren und ihre Novizen.

Als die letzten der neuen Schüler in die Reihe getreten waren, wandte Lord Jerrik sich ihnen allen zu.

»Ihr seid jetzt Novizen der Magiergilde«, erklärte er. »Mögen die kommenden Jahre für euch alle von Nutzen sein.«

Die Novizen verneigten sich. Lord Jerrik nickte kurz und trat beiseite.

»Auch ich möchte unsere neuen Novizen willkommen heißen und ihnen viele erfolgreiche Jahre wünschen.« Sonea zuckte zusammen, als Lorlens Stimme hinter ihr erklang. »Hiermit erkläre ich die Aufnahmezeremonie für beendet.«

Sofort erfüllte lautes Stimmengewirr die Gildehalle. Die in Roben gewandeten Männer und Frauen erhoben sich hastig und eilten die Treppe hinunter. Als den Novizen klar wurde, dass die Formalitäten vorüber waren, zerstreuten sie sich in alle Richtungen. Einige liefen zu ihren Eltern, andere betrachteten das Bündel in ihren Händen oder beobachteten das Treiben um sie herum. Am anderen Ende der Gildehalle öffneten sich langsam die großen Türen.

Sonea drehte sich zu Rothen um. »Das war es also. Ich bin jetzt Novizin.«

Er lächelte. »Bist du froh, dass es vorbei ist?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe das Gefühl, als hätte es gerade erst angefangen.« Sie blickte über seine Schulter. »Da kommt Euer Schatten.«

Rothen wandte sich um und stellte fest, dass Dannyl auf ihn zukam.

»Willkommen in der Gilde, Sonea.«

»Ich danke Euch, Botschafter Dannyl«, erwiderte Sonea mit einer Verbeugung.

Dannyl lachte. »Noch nicht, Sonea. Noch nicht.«

Plötzlich spürte Rothen, dass noch jemand zu ihrer kleinen Gruppe gestoßen war. Der Rektor der Universität stand neben ihm.

»Lord Rothen«, sagte Jerrik und bedachte Sonea mit einem müden Lächeln, als diese sich verneigte.

»Ja?«, erwiderte Rothen.

»Wird Sonea jetzt in das Novizenquartier umziehen? Über diese Frage habe ich bisher noch gar nicht nachgedacht.«

Rothen schüttelte den Kopf. »Sie wird bei mir bleiben. Ich habe in meinen Wohnräumen mehr als genug Platz für sie.«

Jerrik hob die Augenbrauen. »Ich verstehe. Dann werde ich Lord Ahrind davon in Kenntnis setzen. Und jetzt entschuldigt mich bitte.«

Rothen sah dem alten Mann nach, während dieser auf einen dünnen, hohlwangigen Magier zuging. Als Jerrik zu sprechen begann, runzelte Lord Ahrind die Stirn und blickte kurz zu Sonea hinüber.

»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Sonea wissen.

Rothen deutete mit dem Kopf auf das Bündel in ihren Händen. »Wir finden heraus, ob diese Roben dir passen.« Er sah Dannyl an. »Und ich finde, eine kleine Feier wäre jetzt angebracht. Kommst du mit?«

Dannyl lächelte. »Das würde ich mir niemals entgehen lassen.«

2 Der erste Tag

Die Sonne schien Dannyl warm auf den Rücken, als er in die Kutsche stieg. Er nahm ein klein wenig Magie zu Hilfe, um den ersten seiner Koffer auf das Dach zu heben. Als das zweite Gepäckstück neben dem ersten zu liegen kam, stieß er einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.

»Ich werde es wahrscheinlich noch bereuen, dass ich so viel mitgenommen habe«, murmelte er. »Trotzdem fallen mir immer noch lauter Dinge ein, die einzupacken ich leider vergessen habe.«

»Du wirst in Capia gewiss alles kaufen können, was du brauchst«, erklärte Rothen. »Lorlen hat dir ja ein großzügiges Gehalt gewährt.«

»Ja, das war eine angenehme Überraschung.« Dannyl grinste. »Vielleicht hast du Recht, was seine Gründe betrifft, mich fortzuschicken.«

Rothen zog eine Augenbraue in die Höhe. »Er muss wissen, dass es nicht genügen wird, dich außer Landes zu schicken, um zu verhindern, dass du dich in Schwierigkeiten bringst.«

»Ah, aber wie wird es mir fehlen, wenn ich dich nicht mehr aus all deinen Schwierigkeiten retten kann, mein Freund.« Als der Fahrer die Kutschentür öffnete, drehte sich Dannyl noch einmal zu dem älteren Magier um. »Kommst du mit zum Hafen?«

Rothen schüttelte den Kopf. »In einer knappen Stunde beginnt der Unterricht.«

»Sowohl für dich als auch für Sonea.« Dannyl nickte. »Dann wird es jetzt also Zeit, Lebewohl zu sagen.«

Einen Moment lang sahen die beiden Männer einander ernst an, dann legte Rothen Dannyl eine Hand auf die Schulter und lächelte. »Pass auf dich auf. Und versuch, nicht über Bord zu fallen.«

Dannyl kicherte und reichte Rothen die Hand. »Pass du auch auf dich auf, alter Freund. Und lass nicht zu, dass deine neue Novizin dich allzu sehr erschöpft. Ich werde in ungefähr einem Jahr zurück sein, um deine Fortschritte zu begutachten.«

»Alter Freund, wahrhaftig!« Rothen schob Dannyl auf die Kutsche zu. Nachdem Dannyl eingestiegen war, warf er noch einmal einen nachdenklichen Blick auf seinen Freund.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich dich einmal zu so ruhmreichen Taten würde aufbrechen sehen, Dannyl. Du wirktest hier immer so zufrieden, und seit deinem Abschluss hast du kaum je einmal einen Fuß auf das Gelände jenseits der Tore gesetzt.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich schätze, ich habe lediglich auf den richtigen Grund gewartet.«

Rothen lachte auf. »Lügner. Du bist schlicht und einfach träge. Ich hoffe, der erste Botschafter weiß das, sonst steht ihm eine unangenehme Überraschung bevor.«

»Er wird schon schnell genug dahinterkommen.« Dannyl grinste.

»Das wird er gewiss.« Rothen trat mit einem Lächeln von der Kutsche weg. »Und jetzt fort mit dir.«

Dannyl nickte. »Auf Wiedersehen.« Er klopfte auf das Dach der Kutsche. Der Wagen setzte sich ruckartig in Bewegung, und Dannyl rutschte auf der Sitzbank zur gegenüberliegenden Seite der Kutsche und zog die Vorhänge vor dem Fenster beiseite. Er konnte Rothen, der ihm nachsah, noch erkennen, bevor die Kutsche abbog, um die Tore der Gilde zu passieren.

Mit einem Seufzer lehnte er sich auf der gepolsterten Bank zurück. Obwohl er froh darüber war, dass seine Reise endlich begann, wusste er, dass er seine Freunde und die vertraute Umgebung vermissen würde. Rothen hatte Sonea und das alte Ehepaar, Yaldin und Ezrille, zur Gesellschaft, aber Dannyl würde nur Fremde um sich haben.

Obwohl er sich auf seine neue Position freute, erschreckten ihn seine neuen Pflichten ein wenig. Seit der Jagd auf Sonea jedoch, während der er die Diebe aufgespürt und mit ihnen verhandelt hatte, war ihm sein leichtes und größtenteils einsames Gelehrtenleben in der Gilde zunehmend langweilig erschienen.

Diese Langeweile war ihm selbst gar nicht recht bewusst gewesen, bis Rothen ihm erzählt hatte, dass man ihn für den Posten des zweiten Botschafters in Betracht zog. Als Dannyl schließlich in das Büro des Administrators gerufen worden war, hatte er den Namen und die Position eines jeden Mannes und einer jeden Frau am elynischen Hof gekannt und - zu Lorlens Überraschung - darüber hinaus zahlreiche Skandalgeschichten.

Nachdem sie eine Weile durch den Inneren Ring gefahren waren, erreichte die Kutsche die Straße, die an der Palastmauer entlangführte. Da die prächtigen Türme des Palastes durch die Ringmauer weitgehend verdeckt wurden, rutschte Dannyl wieder zum anderen Ende der Bank, um die kunstvoll gestalteten Häuser der Reichen und Mächtigen zu bewundern. An einer Straßenecke wurde gerade eine neue Villa erbaut. Er konnte sich noch gut an das verfallene alte Haus erinnern, das früher einmal dort gestanden hatte, ein Relikt aus der Zeit der noch nicht mit Hilfe von Magie geschaffenen Architektur. Die Anwendung von Magie auf Stein und Metall hatte die Magier in die Lage gesetzt, fantastische Gebäude zu errichten, die den normalen Gesetzen der Baustatik trotzten. Bevor die Kutsche weiterrollte, erkannte Dannyl zwei Magier neben dem teilweise fertig gestellten, neuen Haus. Einer von ihnen hielt einen großen Plan in Händen.

Die Kutsche fuhr nach einer abermaligen Wegbiegung an weiteren prächtigen Häusern vorbei, verlangsamte dann ihr Tempo und rollte durch die Inneren Ringtore ins Westviertel. Die Wachen blickten kaum auf, als die Kutsche passierte; das auf die Seite des Wagens gemalte Symbol der Gilde genügte ihnen vollkommen, um dem Gefährt keine weitere Beachtung zu schenken. Die Straße zog sich geradlinig durch das Westviertel, gesäumt von großen, eleganten Häusern, die von schlichterer Bauart waren als die Gebäude im Inneren Ring. Die meisten dieser Häuser gehörten Kaufleuten oder Handwerkern, die diesen Teil der Stadt wegen seiner Nähe zum Hafen und zum Markt bevorzugten.

Als die Kutsche das westliche Stadttor passiert hatte, änderte sich das Bild noch einmal. Es ging nun vorbei an einem Labyrinth aus Verkaufsbuden und Marktständen, an denen sich Menschen aller Rassen und Klassen drängten. Marktverkäufer priesen ihre Waren an und übertönten mühelos den steten Lärm der Stimmen, Pfiffe, Glocken und des Gebrülls der Tiere. Obwohl die Straße nach wie vor recht breit war, beanspruchten Händler, Käufer, Straßenkünstler und Bettler doch zu beiden Seiten einiges an Platz, so dass Kutschen sich nur mit Mühe einen Weg bahnen konnten.

Eine verwirrende Vielzahl von Gerüchen hing in der Luft, bald süß vom Duft zerdrückter Früchte, bald unangenehm faulig vom Gestank verrotteten Gemüses. Kurze Zeit später konnte Dannyl den salzigen Geruch des Meeres wahrnehmen und den würzigen Duft des Flussschlicks, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Kutsche bog um eine Ecke, und der Hafen kam in Sicht.

Ein Wald aus Masten und Seilen tat sich vor ihm auf. Zu beiden Seiten der Straße strömten unzählige Menschen vorbei. Muskulöse Träger und Matrosen schleppten Kisten, Körbe und Säcke auf dem Rücken. Karren jedweder Größe, gezogen von allen möglichen Tieren, schoben sich an der Kutsche vorbei. Man hörte jetzt nicht mehr das Geschrei der Verkäufer, sondern laut ausgerufene Befehle an Schiffsbesatzungen und Schauerleute und natürlich das unentwegte Brüllen des Viehs.

Die Kutsche setzte ihren Weg weiter fort, vorbei an immer größeren Schiffen, bis Dannyl eine Reihe robust gebauter Kaufmannsschiffe erreichte, die an einer langen Pier lagen. Dort verlangsamte der Wagen sein Tempo und blieb schließlich stehen.

Der Wagenschlag wurde geöffnet, und der Fahrer verneigte sich respektvoll vor Dannyl. »Wir sind am Ziel, Lord.«

Dannyl schob sich über die Sitzbank und stieg aus. Ganz in der Nähe stand ein Mann mit weißem Haar, dessen Gesicht ebenso braun gebrannt war wie seine nackten Arme. Hinter ihm warteten mehrere kräftig gebaute jüngere Männer.

»Ihr seid Lord Dannyl?«, fragte der Mann und verneigte sich steif.

»Ja. Und Ihr seid…?«

»Piermeister«, sagte er und deutete dann auf die Kutsche. »Das sind Eure?«

Dannyl vermutete, dass er die Schiffskoffer meinte. »Ja.«

»Wir holen sie herunter.«

»Nein, die Mühe kann ich Euch ersparen.« Dannyl drehte sich um und konzentrierte sich auf seine Magie. Während die Koffer langsam zu Boden schwebten, traten zwei junge Männer vor, um die Gepäckstücke aufzufangen. Offensichtlich waren sie daran gewöhnt, Magie zu solchen Zwecken benutzt zu sehen. Schließlich machten sie sich auf den Weg die Pier hinunter, und die restlichen Männer folgten ihnen.

»Euer Schiff ist das sechste in der Reihe, Lord«, sagte der Piermeister, als die Kutsche wieder davonfuhr.

Dannyl nickte. »Vielen Dank.«

Auf der hölzernen Pier klangen seine Schritte seltsam hohl. Er folgte den Trägern um einen großen Stapel Kisten herum, die gerade verladen wurden. Am nächsten Schiff lag etwas auf dem Holzboden der Pier, das aussah wie gut eingepackte Teppiche. Überall wimmelte es nur so von Männern: Sie liefen mit ihrer Fracht auf den Schultern die Planken hinauf und hinunter, lümmelten sich an Deck und spielten mit Spielsteinen um ihr Glück oder stolzierten umher, um anderen Befehle zuzubrüllen.

Inmitten dieses Getriebes entgingen Dannyl aber auch die leiseren Geräusche des Hafens nicht: das konstante Knarren der Bretter und Seile, das Klatschen von Wasser gegen Schiffsrümpfe und Pier. Ihm fielen auch kleine Einzelheiten ins Auge: Zeichnungen auf Masten und Segeln, sorgfältig auf die Schiffsrümpfe und Kajütentüren gemalte Namen, das Wasser, das aus einem Loch in der Flanke eines Schiffs quoll. Letzteres stimmte ihn nachdenklich. Wasser sollte eigentlich außerhalb eines Bootes bleiben, nicht wahr?

Als sie das sechste Schiff erreichten, stapften die Träger eine schmale Leitplanke hinauf. Dannyl bemerkte, dass zwei Männer ihn von dem Schiff aus beobachteten. Vorsichtig folgte er den Trägern über die Laufplanke, bis er sich davon überzeugt hatte, dass das Brett zwar biegsam, aber stabil war, und sein Schritt wurde mutiger. Als er schließlich auf Deck stand, begrüßten ihn die beiden Männer mit einer Verbeugung.

Sie sahen einander bemerkenswert ähnlich. Ihre braune Haut und der kleine Wuchs waren typische Merkmale der Vindo. Beide trugen robuste, verblichene Kleidung. Einer von ihnen jedoch hatte sich ein wenig höher aufgerichtet als der andere, und er war es, der nun zu sprechen begann.

»Willkommen auf der Fin-da, Lord. Ich bin Kapitän Numo.«

»Ich dank Euch, Kapitän. Ich bin Lord Dannyl.«

Der Kapitän deutete auf die Schrankkoffer, die einige Schritte entfernt auf Deck standen und neben denen die Träger noch warteten. »In Eurer Kajüte kein Platz für Kisten, Lord. Wir Euer Gepäck unten verstauen. Wenn Ihr brauchen etwas, fragen meine Bruder Jano.«

Dannyl nickte. »Ich verstehe. Ich habe einen Beutel in meinem Gepäck, den ich an mich nehmen werde, dann können die Koffer fortgeschafft werden.«

Der Kapitän nickte knapp. »Jano zeigen Euer Zimmer. Wir bald aufbrechen.«

Als der Kapitän sich abgewandt hatte, berührte Dannyl den Deckel des kleineren Schrankkoffers. Das Schloss öffnete sich mit einem leisen Klicken. Er nahm einen Lederbeutel mit den Dingen heraus, die er für die Reise benötigen würde, dann schloss er den Deckel wieder und sah zu den Trägern auf.

»Das ist alles, was ich brauche - hoffe ich jedenfalls.«

Die Männer bückten sich und trugen die Koffer fort. Dannyl drehte sich erwartungsvoll zu Jano um. Der Mann nickte und bedeutete ihm zu folgen.

Sie traten durch eine schmale Tür und stiegen dann eine kurze Treppe zu einem relativ großen Raum hinunter. Die Decke war so niedrig, dass selbst Jano den Kopf einziehen musste, um sich nicht an den Balken zu stoßen. Zwischen verschiedenen Haken an der Decke hingen grob gewebte Laken. Dies, so vermutete Dannyl, waren die Hängebetten, von denen er Reisende hatte erzählen hören.

Jano führte ihn in einen engen Korridor, und nach wenigen weiteren Schritten öffnete er eine Tür. Dannyl starrte voller Entsetzen in eine winzige Kabine. Der ganze Raum wurde von einem niedrigen Bett ausgefüllt, das gerade so breit war wie seine Schultern. Am einen Ende befand sich ein kleiner, in die Wand eingelassener Schrank, und am anderen Ende lagen, säuberlich zusammengefaltet, Decken aus Weberwolle, die von sichtlich guter Qualität waren.

»Klein, yai?«

Dannyl blickte zu Jano hinüber und stellte fest, dass der Mann breit grinste. Er lächelte schief, wohl wissend, dass er sein Entsetzen vor dem anderen Mann nicht hatte verhehlen können.

»Ja«, stimmte Dannyl ihm zu. »Klein.«

»Kapitän haben Kajüte doppelt so groß. Wenn wir große Schiff besitzen, wir auch bekommen große Kajüte. Yai?

Dannyl nickte. »Klingt gerecht.« Er ließ seinen Beutel auf das Bett fallen, dann drehte er sich um, so dass er Platz nehmen konnte. Seine Beine ragten in den Gang hinaus. »Danke. Sonst brauche ich nichts.«

Yano klopfte an die gegenüberliegende Tür. »Meine Kajüte. Wir Kameraden, yai? Du singen?«

Bevor Dannyl sich auf eine Antwort besinnen konnte, ertönte irgendwo über ihnen eine Glocke, und Jano blickte auf. »Muss gehen. Wir ablegen.« Er drehte sich um, hielt aber noch einmal inne. »Du hier bleiben. Damit nicht im Weg stehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte er davon.

Dannyl sah sich in der winzigen Kabine um, die für die nächsten beiden Wochen sein Quartier sein würde, und kicherte. Jetzt begriff er, warum so viele Magier Seereisen hassten.

Sonea war mutlos in der Tür des Klassenzimmers stehen geblieben.

Sie hatte Rothens Wohnung zeitig verlassen, um möglichst vor den anderen Novizen im Klassenzimmer zu sein und ihrer Nervosität Herr zu werden, bevor sie den anderen gegenübertreten musste. Aber es waren schon mehrere Plätze besetzt. Während sie noch zögerte, wandten sich bereits Köpfe zu ihr herum, und ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Hilflos sah sie den Magier an, der vorn im Klassenzimmer saß.

Er war jünger, als sie erwartet hatte, wahrscheinlich noch keine dreißig. Eine kantige Nase verlieh seinem Gesicht einen geringschätzigen Ausdruck. Als sie sich verneigte, sah er auf und ließ den Blick von ihrem Gesicht bis hinunter zu ihren neuen Stiefeln und wieder hinauf zu ihrem Gesicht wandern. Solchermaßen zufrieden gestellt, wandte er sich wieder einem Stapel Papiere zu und machte einen kleinen Haken auf seiner Liste.

»Such dir einen Platz, Sonea«, sagte er abschätzig. Im Raum standen in Reih und Glied zwölf Tische und Bänke aufgereiht. Sechs Novizen, die alle auf der Kante ihrer Stühle hockten, beobachteten sie dabei, wie sie ihre Wahl traf.

Setz dich nicht zu weit weg von den anderen, sagte sie sich. Sie sollen nicht glauben, dass du unfreundlich bist - oder Angst vor ihnen hast. In der Mitte des Raums gab es noch einige Plätze, aber dort wollte sie nicht gern sitzen. An der Wand gegenüber war noch ein Platz frei, neben dem - eine Reihe weiter - bereits drei andere Novizen saßen. Das würde gehen.

Sie war sich der Blicke, die ihr folgten, vollauf bewusst, als sie zu dem Stuhl hinüberging. Nachdem sie sich hingesetzt hatte, zwang sie sich, ihre Mitschüler anzusehen.

Sofort fanden die Novizen etwas anderes, das sie interessierte. Sonea stieß einen erleichterten Seufzer aus. Sie hatte eigentlich mit höhnischen Bemerkungen gerechnet. Vielleicht würde nur der Junge, den sie gestern kennen gelernt hatte - Regin -, ihr mit offener Feindseligkeit begegnen. Einer nach dem anderen erschienen die Novizen in der Tür des Klassenzimmers, verbeugten sich vor dem Lehrer und wählten einen Platz. Das schüchterne kyralische Mädchen entschied sich hastig für den ersten Stuhl, an dem sie vorbeikam. Ein anderer Novize vergaß beinahe, sich vor dem Magier zu verneigen, bevor er den Platz vor Sonea für sich beanspruchte. Er entdeckte sie erst, als er den Stuhl bereits erreicht hatte, und starrte sie entgeistert an, bevor er sich widerstrebend hinsetzte.

Der letzte Novize, der zum Unterricht erschien, war der unfreundliche Junge, Regin. Er blickte sich mit schmalen Augen im Raum um und nahm dann mit Bedacht in der Mitte der Gruppe Platz.

Ein ferner Gong erklang, und der Magier erhob sich. Mehrere Novizen, einschließlich Soneas, zuckten bei der Bewegung sichtlich zusammen. Bevor ihr Lehrer jedoch etwas sagen konnte, erschien ein vertrautes Gesicht in der Tür.

»Sind alle da, Lord Elben?«

»Ja, Rektor Jerrik«, erwiderte der Lehrer.

Der Rektor der Universität schob die Daumen in die braune Schärpe um seine Taille und musterte die Klasse.

»Willkommen in der Gilde«, sagte er, und seine Stimme klang eher streng als freundlich. »Und herzlichen Glückwunsch. Ich gratuliere euch nicht deshalb, weil ein jeder von euch das Glück hatte, mit der seltenen und viel beneideten Gabe der Magie geboren worden zu sein. Ich gratuliere euch, weil ihr an der Universität der Magiergilde Aufnahme gefunden habt. Einige von euch kommen aus weit entfernten Ländern und werden für viele Jahre nicht nach Hause zurückkehren können. Andere wiederum werden sich vielleicht dafür entscheiden, den größten Teil ihres Lebens hier zu verbringen. Aber für die nächsten fünf Jahre wird keiner von euch die Universität verlassen können. Und warum nicht? Damit ihr Magier werdet. Was also ist ein Magier?« Er lächelte grimmig. »Es gibt vieles, was einen Magier ausmacht. Einiges davon besitzt ihr bereits, anderes werdet ihr entwickeln, wieder anderes werdet ihr erlernen. Manches davon ist wichtiger als anderes.« Er brach ab und ließ den Blick über die Klasse wandern. »Was ist das Wichtigste, das ein Magier braucht?«

Sonea beobachtete aus den Augenwinkeln, dass mehrere Novizen sich auf ihren Stühlen aufrichteten. Jerrik ging um den Schreibtisch herum und schlenderte zu Soneas Seite des Raums hinüber. Dann sah er auf den Jungen vor ihr hinab.

»Vallon? Das Wichtigste für einen Magier ist…?«

Der Junge zog die Schultern ein, als wäre er am liebsten unter seinen Tisch gekrochen.

»W-wie gut er etwas macht, Mylord.« Die schwache Stimme des Jungen war kaum zu hören. »Wie viel er geübt hat.«

»Nein.« Jerrik drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte zur anderen Seite des Raums. Er richtete seinen kalten Blick auf einen der übereifrigen Jungen dort.

»Gennyl?«

»Stärke, Mylord«, antwortete der Junge.

»Ganz bestimmt nicht!«, blaffte der Rektor ihn an. Er trat vor, zwischen die Reihen der Novizen, und blieb neben dem schüchternen kyralischen Mädchen stehen.

»Bina?«

Das Mädchen klimperte auf recht einnehmende Weise mit den Wimpern und wandte den Kopf dann zu dem Magier empor. Sein Blick schien sich in ihren zu bohren, und sie ließ den Kopf hastig wieder sinken.

»Hm…« Sie hielt inne, dann hellte sich ihre Miene plötzlich auf. »Güte, Mylord. Die Art, wie er oder sie Magie benutzt.«

»Nein.« Diesmal war sein Tonfall sanfter. »Obwohl Güte eine sehr wichtige Eigenschaft ist, eine, die wir von all unseren Magiern erwarten.«

Jerrik ging weiter den Gang hinunter. Sonea drehte sich um, um ihn zu beobachten, bemerkte dann jedoch, dass die anderen Novizen starr geradeaus blickten. Mit einem Gefühl der Beklommenheit ahmte sie das Verhalten ihrer Klassenkameraden nach und lauschte den Schritten des Magiers, als er langsam wieder näher kam.

»Elayk?«

»Talent, Mylord?« Der lonmarische Akzent des Jungen war deutlich ausgeprägt.

»Nein.«

Die Schritte kamen immer näher. Sonea spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Was sollte sie sagen, wenn er sie fragte? Die anderen hatten bereits alle Antworten gegeben, die sie sich vorstellen konnte. Sie holte geräuschlos Luft und atmete langsam wieder aus. Er würde sie ohnehin nicht fragen. Sie war schließlich nur das unwichtige Mädchen aus den…

»Sonea?«

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Als sie aufblickte, sah sie, dass Jerrik vor ihr stand, und je länger sie zögerte, desto kühler wurde der Ausdruck in seinen Augen.

Dann wusste sie die Antwort. Es war ganz einfach. Sie sollte es besser wissen als alle anderen Novizen, da sie um ein Haar gestorben wäre, als ihre eigenen Kräfte unkontrollierbar geworden waren. Jerrik wusste davon, was wahrscheinlich der Grund war, warum er ihr diese Frage gestellt hatte.

»Kontrolle, Mylord.«

»Nein.« Der Magier seufzte und ging weiter nach vorn. Sonea starrte mit heißen Wangen auf die Maserung des Holztisches.

Der Direktor trat vor das Schreibpult und verschränkte die Arme über der Brust. Die Klasse wartete gespannt und beschämt auf seine nächsten Worte.

»Ds Wichtigste für einen Magier ist Wissen.« Er hielt inne, dann sah er jeden der Novizen, die gesprochen hatten, der Reihe nach an. »Ohne Wissen ist seine Stärke nutzlos, und so wohlmeinend seine Absichten auch sein mögen, sie werden ihm wenig helfen.« Der Blick des Magiers wanderte zu Sonea hinüber. »Selbst wenn seine Talente sich aus eigenem Antrieb entwickeln, wird er schon bald den Tod finden, wenn er nicht das Wissen erwirbt, wie er seine Kräfte kontrollieren kann.«

Die Klasse stieß wie aus einem Mund ein Seufzen aus. Einige der Novizen wandten sich kurz zu Sonea um. Wie erstarrt vor Verlegenheit hielt sie den Blick auf ihr Pult gerichtet.

»Nirgendwo auf der Welt findet ihr größeres und umfassenderes Wissen als hier in der Gilde«, sprach Jerrik mit einem Anflug von Stolz weiter. »Während der Jahre, die ihr hier verbringen werdet, wird man euch dieses Wissen oder zumindest einen Teil davon vermitteln. Wenn ihr aufmerksam seid, euren Lehrern gut zuhört und euch die hiesigen Quellen wie zum Beispiel die umfangreiche Bibliothek zunutze macht, werdet ihr es weit bringen.« Dann wurde sein Tonfall düsterer. »Wenn ihr jedoch nicht aufmerksam seid, euren Lehrern keinen Respekt zollt oder euch das Wissen, das eure Vorgänger im Laufe von Jahrhunderten angesammelt haben, nicht zunutze macht, werdet ihr euch nur selbst Schande bereiten. Die vor euch liegenden Jahre werden nicht einfach sein«, warnte er sie eindringlich. »Wenn ihr euer Potenzial als Magier der Gilde voll ausschöpfen wollt, müsst ihr hingebungsvoll, diszipliniert und pflichtbewusst sein.«

Die Atmosphäre im Raum hatte sich verändert, und an die Stelle der Erleichterung war jetzt eine neue Art von Anspannung getreten. Die Novizen waren so still, dass Sonea sie atmen hören konnte. Jerrik straffte sich und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

»Wahrscheinlich seid ihr euch im Klaren darüber«, fügte er in milderem Tonfall hinzu, »dass die drei Stufen der Kontrolle das Fundament eurer Universitätsausbildung sind. Die erste Stufe, die Entfesselung eurer magischen Kraft, werdet ihr schon heute erreichen. Auf der zweiten Stufe eignet ihr euch die Fähigkeit an, auf eure Kraft zuzugreifen, sie zu nutzen und zu speichern. Das wird euer Lernziel für den Rest dieses Morgens und jedes anderen Morgens sein, bis ihr es wie im Schlaf beherrscht. Die dritte Stufe besteht darin, die Kenntnis der vielen verschiedenen Methoden zu erwerben, wie man Magie einsetzen kann. Damit werdet ihr in den Jahren bis zu eurem Abschluss beschäftigt sein. Eines jedoch solltet ihr euch schon jetzt gut merken. Auf welche Disziplin ihr euch nach eurem Abschluss auch spezialisieren werdet - keiner von euch wird jemals von sich sagen können, dass er diese dritte Stufe endgültig gemeistert habe. Nach eurem Abschluss wird es an euch liegen, das Wissen, das wir euch hier vermittelt haben, zu erweitern, aber natürlich werdet ihr niemals alles wissen, was es zu wissen gibt.« Er lächelte dünn.

»Die Gilde verfügt über mehr Wissen, als ihr es in eurem ganzen Leben aufnehmen könntet. Wahrscheinlich würden dazu nicht einmal fünf Leben genügen. Wir haben drei Disziplinen: die Heilkunst, die Alchemie und die Kriegskunst. Um euch genug beibringen zu können, damit ihr eines Tages nützliche und erfahrene Magier werdet, haben eure Lehrer und die Lehrer vor ihnen alle wichtigen Informationen zusammengetragen, und sie werden sich bemühen, euch diese Informationen zu vermitteln.« Er reckte leicht das Kinn. »Macht euch dieses Wissen klug zunutze, Novizen der Magiergilde von Kyralia.«

Ein letztes Mal ließ er den Blick über das Klassenzimmer schweifen, dann ging er mit einem kurzen Nicken in Lord Elbens Richtung aus dem Raum.

Die Klasse war sehr still. Der Lehrer verharrte regungslos und betrachtete mit einem zufriedenen Lächeln die Gesichter seiner Schützlinge. Dann ging er um das große Pult herum und wandte sich seinerseits an seine Schüler.

»Eure erste Lektion zur Erlangung der Kontrolle über eure Magie wird jetzt beginnen. Für diese Stunde hat man jedem von euch einen eigenen Lehrer zugewiesen. Eure Lehrer erwarten euch nebenan. Steht jetzt auf, und geht zu ihnen hinüber.«

Stuhlbeine kratzten über den hölzernen Boden, als die Novizen eifrig aufstanden. Sonea erhob sich langsamer als die übrigen. Der Lehrer drehte sich zu ihr um und musterte sie kalt.

»Mit Ausnahme von dir, Sonea«, fügte er ein wenig verspätet hinzu. »Du wirst hier bleiben.«

Diesmal wandten sich alle Novizen in ihre Richtung, um sie anzustarren. Sie blinzelte verwirrt, doch als das Verstehen in den Augen der anderen aufblitzte, verspürte sie plötzlich seltsame Gewissensbisse.

»Geht jetzt«, drängte der Lehrer. Die Novizen folgten seinem Befehl. Sonea ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken und sah ihren Mitschülern nach. Nur einer drehte sich noch einmal zu ihr um, bevor er durch die Tür trat. Er hatte die Lippen zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Regin.

»Sonea.«

Sie zuckte zusammen und wandte sich zu dem Lehrer um, überrascht, dass er ebenfalls geblieben war.

»Ja, Mylord.«

Seine Augen verloren ein wenig von ihrer Kälte, und er kam vom Pult her auf sie zu. »Da du die erste und zweite Stufe der Kontrolle bereits erreicht hast, habe ich dir schon einmal das erste Buch mitgebracht, das die Klasse durchnehmen wird.« Er hielt ein kleines, in Papier gebundenes Buch in der Hand. »Zu dem Buch wird es natürlich praktische Übungen geben, aber die wird die ganze Klasse gemeinsam machen. Trotzdem wird es dir von Nutzen sein, wenn du dich jetzt schon mit diesem Thema beschäftigst.«

Er legte das Buch auf ihren Tisch und wandte sich ab.

»Vielen Dank, Lord Elben«, sagte sie. Er hielt inne und drehte sich noch einmal zu ihr um, um sie mit einem Anflug von Überraschung anzusehen, bevor auch er das Klassenzimmer verließ.

Sonea nutzte die Gelegenheit, sich allein im Klassenraum einmal in Ruhe umzusehen. Neun der Stühle vor den Pulten waren achtlos nach hinten geschoben worden, die übrigen standen unberührt und ordentlich da. Schließlich wandte sie sich dem Buch auf ihrem Schreibpult zu und las: Sechs Lektionen für Novizen im ersten Jahr von Lord Liden. Außerdem war das Datum der Veröffentlichung angegeben. Das Buch war mehr als hundert Jahre alt. Wie viele Novizen mochten es bereits durchgearbeitet haben? Sie blätterte ein wenig darin. Die Schrift war, wie sie zu ihrer Erleichterung feststellte, klar und leicht zu lesen.

Die Magie ist eine nützliche Kunst, aber sie hat ihre Grenzen. Der natürliche Wirkungskreis eines Magiers beschränkt sich auf seinen Körper und wird von der Haut begrenzt. Um innerhalb dieses Bereichs Magie zu wirken, bedarf es nur minimaler Anstrengung. Und kein anderer Magier darf auf diesen Bereich übergreifen, es sei denn, er will eine Heilung durchführen - dazu ist Hautkontakt erforderlich.

Größere Anstrengung ist nötig, um außerhalb des eigenen Körpers Magie zu wirken. Je weiter dasjenige, worauf Einfluss genommen werden soll, vom eigenen Körper entfernt ist, umso größere Anstrengung ist vonnöten. Das gleiche Gesetz der Entfernungsäquivalenz gilt für die Gedankenrede, auch wenn sie nicht so kräftezehrend ist wie die meisten anderen magischen Tätigkeiten.

All das wusste sie bereits von Rothen, aber sie las dennoch weiter. Einige Zeit später - sie war schon ziemlich weit vorangekommen und wollte gerade mit der vierten Lektion beginnen - kamen zwei Novizen in den Raum zurück. Der erste war Gennyl, der zur Hälfte lonmarischer Herkunft war und bei der Aufnahmezeremonie ebenfalls einen Mentor zugewiesen bekommen hatte. Sein Begleiter war der andere Junge aus Lonmar. Die beiden warfen Sonea nur einen kurzen Blick zu und setzten sich wieder auf ihre Plätze. Sie konnte eine Veränderung bei ihnen wahrnehmen, als habe ihre Aura sich verstärkt. Das bedeutete vermutlich, dass ihre Kräfte freigesetzt worden waren. Sie würden schon bald lernen, diese Tatsache zu verbergen, so wie sie selbst es gelernt hatte. Anscheinend war es weder schwierig noch zeitaufwendig, die erste Stufe der Kontrolle zu erreichen. Die zweite Stufe zu bewältigen war härter, wie sie wusste.

Die beiden Jungen begannen in der Sprache ihres Heimatlandes ein leises Gespräch. Dann trat ein weiterer Novize in den Raum - ein kyralischer Junge mit dunklen Ringen unter den Augen. Er setzte sich auf seinen Platz und starrte schweigend auf sein Pult.

Auch bei diesem Jungen konnte sie eine magische Aura spüren, die aber merkwürdigerweise sprunghaft zu pulsieren schien, so dass sie einmal sehr stark und dann wieder kaum wahrnehmbar war. Da sie den Jungen nicht noch weiter aus dem Gleichgewicht bringen wollte, wandte sie den Blick von ihm ab. Bis die anderen Novizen sowohl die erste als auch die zweite Stufe der Kontrolle erlangt hatten, würde sie wahrscheinlich noch alle möglichen Eigentümlichkeiten bei ihnen wahrnehmen.

Ein Lachen draußen vor der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit, bevor sie sich von neuem ihrer Lektüre zuwenden konnte. Diesmal kamen fünf Novizen gleichzeitig herein; einzig Regin fehlte noch. Da kein Lehrer in Sicht war, gaben sie sich lässig, setzten sich auf ihre Pulte oder standen in kleinen Grüppchen beisammen. Sonea spürte die magische Aura ihrer Mitschüler wie ein Summen in ihrem Blut.

Niemand sprach sie an, was sie gleichzeitig erleichterte und enttäuschte. Die anderen wussten nicht, was sie von ihr erwarten sollten, überlegte sie, deshalb mieden sie sie. Sie selbst musste den ersten Schritt tun. Wenn sie nicht auf die anderen zuging, würden sie womöglich zu dem Schluss kommen, dass sie nichts mit ihnen zu tun haben wollte.

Das hübsche Mädchen aus Elyne saß ganz in ihrer Nähe und rieb sich die Schläfen. Sonea konnte sich noch gut daran erinnern, dass der Kontrollunterricht bei Rothen auch ihr Kopfschmerzen beschert hatte, und sie fragte sich, ob dieses Mädchen vielleicht empfänglich für ein wenig Mitgefühl wäre. Langsam und um einen selbstbewussten Ausdruck bemüht stand sie auf und ging zum Tisch des Mädchens hinüber.

»Es ist nicht leicht, nicht wahr?«, fragte Sonea vorsichtig.

Die junge Elynerin sah überrascht auf, dann zuckte sie die Achseln und senkte den Blick wieder auf ihr Pult. Als sie keine Antwort bekam, befürchtete Sonea schon, dass das Mädchen sie einfach ignorieren würde, und sofort stieg leichte Übelkeit in ihr auf.

»Ich mag sie nicht«, sagte das Mädchen plötzlich. Es sprach mit einem starken elynischen Akzent.

Sonea blinzelte verwirrt. »Wen magst du nicht?«

»Lady Kinla«, erwiderte das Mädchen gereizt. Sie dehnte die Silben des Namens der Magierin, so dass er wie »Kiehnlar« klang.

»Sie hat dich Kontrolle gelehrt? Hmmm, das muss dir die Sache sehr erschwert haben.«

»Lady Kinla ist bestimmt kein schlechter Mensch, das will ich damit nicht gesagt haben«, seufzte das Mädchen. »Es ist nur so, dass ich sie nicht in meinen Gedanken haben will. Sie ist so…« Die junge Elynerin schüttelte derart heftig den Kopf, dass ihre roten Locken um sie herumtanzten.

Der Stuhl vor dem Mädchen war leer, und Sonea nahm nun darauf Platz. »Möchtest du nicht, dass sie gewisse Dinge in deinen Gedanken sieht?«, hakte sie nach. »Dinge, die nicht falsch oder böse sind, von denen du aber einfach nicht möchtest, dass ein anderer sie erfährt?«

»Ja, das ist es.« Ein gehetzter Ausdruck trat in die Augen des Mädchens. »Aber ich muss ihr gestatten, diese Dinge zu sehen, nicht wahr?«

Sonea runzelte die Stirn. »Nein, das musst du nicht… Nun, ich weiß nicht genau, was du vor ihr verbergen willst, aber… hm… es ist möglich, etwas geheim zu halten.«

Jetzt starrte das Mädchen Sonea mit unverhohlener Neugier an. »Wie?«

»Du musst dir eine Art Tür vorstellen und deine Geheimnisse dahinter verstecken«, erklärte Sonea. »Lady Kinla wird wahrscheinlich bemerken, was du getan hast, aber sie wird nicht versuchen, an deine Geheimnisse heranzukommen, so wie es auch Rothen bei mir nicht versucht hat.«

Die Augen des Mädchens wurden noch größer. »Lord Rothen hat dich Kontrolle gelehrt? Er war in deinem Geist?«, stieß sie hervor.

»Ja.« Sonea nickte.

»Aber er ist ein Mann.«

»Nun ja… er hat mich unterrichtet. Ist das der Grund, warum du einen weiblichen Lehrer bekommen hast? Muss es eine Frau sein, die dich unterrichtet?«

»Natürlich.« Die junge Elynerin starrte sie voller Entsetzen an.

Sonea schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Mir ist nicht klar, welchen Unterschied es macht, ob man von einem weiblichen oder einem männlichen Magier unterrichtet wird. Vielleicht…« Sie brach ratlos ab. »Wenn ich all meine geheimen Gedanken nicht hätte verbergen können, wäre es wahrscheinlich besser gewesen, von einer Frau unterrichtet zu werden.«

Das Mädchen hatte sich ein wenig weiter von Sonea zurückgezogen. »Es schickt sich nicht für ein Mädchen unseres Alters, seine Gedanken mit einem Mann zu teilen.«

Sonea zuckte die Achseln. »Es sind doch nur Gedanken. Es funktioniert genauso wie das Reden, nur schneller. Es ist auch nicht Unrecht, mit einem Mann zu reden, oder?«

»Nein…«

»Und über gewisse Dinge schweigt man dann einfach lieber.« Sonea warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.

Langsam breitete sich ein Lächeln auf den Zügen des Mädchens aus. »Ja… es sei denn bei besonderen Gelegenheiten, vermutlich.«

»Issle.« Eine scharfe Stimme erklang, und sofort legte sich der Lärm im Raum. In der Tür stand eine nicht mehr ganz junge Frau in grünen Roben.

»Du hast dich lange genug ausgeruht. Komm mit mir.«

»Ja, Mylady«, seufzte das Mädchen.

»Viel Glück«, murmelte Sonea. Sie war sich nicht sicher, ob Issle sie gehört hatte, da das Mädchen durch die Tür verschwunden war, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.

Sonea betrachtete das Buch in ihren Händen und gestattete sich ein schwaches Lächeln. Es war ein Anfang. Später würde sie vielleicht noch einmal Gelegenheit haben, mit Issle zu reden.

Schließlich kehrte sie an ihr Pult zurück und setzte ihre Lektüre fort.

Projektion:

Man kann einen Gegenstand schneller und leichter bewegen, wenn man ihn vor Augen hat. Einen Gegenstand außerhalb des eigenen Blickfelds kann man bewegen, indem man zuerst den Geist danach ausstreckt. Dies kostet jedoch mehr Zeit und Mühe, und

Gelangweilt begann Sonea, das Kommen und Gehen der anderen Novizen zu beobachten. Sie lauschte auf ihre Namen und versuchte zu erraten, wie sie wohl sein mochten. Shern, der kyralische Junge mit den dunklen Schatten unter den Augen, war zusammengezuckt, als sein Lehrer zurückgekommen war und seinen Namen gerufen hatte. Er hatte den Magier mit gehetztem Blick angesehen, und als er seinen Stuhl zurückgeschoben hatte und zur Tür geschlendert war, hatte jede seiner Bewegungen Widerstreben verraten.

Regin hatte sich mit zwei Jungen angefreundet, Kano und Vallon. Die schüchterne Kyralierin verfolgte aufmerksam ihr Gespräch, und der Junge aus Elyne zeichnete kleine Bilder in ein in Papier eingeschlagenes Buch. Als Issle zurückkehrte, ließ sie sich kraftlos auf ihren Stuhl sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Sonea hatte auch andere Novizen über Kopfschmerzen klagen hören und beschloss, das Mädchen in Ruhe zu lassen.

Als der Gong die Mittagspause ankündigte, stieß Sonea einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte bisher lediglich Lektionen gelesen, die sie bereits kannte, und das Verhalten der anderen Novizen hatte sie überdies vom Lernen abgelenkt. Es war kein besonders interessanter Unterricht gewesen.

Lord Elben kam mit langen Schritten in den Raum, und die Novizen huschten eilig zu ihren Plätzen zurück, die sie mit dem Gong verlassen hatten. Er wartete, bis alle saßen, dann räusperte er sich.

»Wir werden morgen um die gleiche Zeit den Kontrollunterricht fortsetzen«, erklärte er. »Heute Nachmittag werdet ihr euch mit der Geschichte der Gilde befassen. Euer Lehrer erwartet euch im zweiten Geschichtsraum im oberen Stockwerk. Ihr dürft jetzt gehen.«

Die Erleichterung der übrigen Novizen war deutlich zu spüren. Sie erhoben sich, verbeugten sich vor dem Lehrer und verließen einer nach dem anderen den Raum. Sonea blieb ein wenig zurück und bemerkte dabei, dass der Junge aus Elyne sich Regins Gruppe angeschlossen hatte. Sie gab dem Lehrer sein Buch zurück, dann beschleunigte sie ihren Schritt, um Issle einzuholen. »War es beim zweiten Mal besser?«

Das Mädchen sah Sonea an und nickte. »Ich habe getan, was du gesagt hast. Es hat zwar noch nicht funktioniert, aber ich denke, beim nächsten Mal werde ich es vielleicht schaffen.«

»Das freut mich. Danach wird alles einfacher.«

Schweigend gingen sie einige Schritte nebeneinander her. Sonea überlegte, wie sie wohl ein Gespräch in Gang bringen könnte.

»Du bist Issle aus der Familie Fonden, nicht wahr?«, erklang plötzlich eine Stimme.

Issle drehte sich um und blieb stehen, als Regin und die beiden anderen Novizen auf sie zukamen.

»Ja«, sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln.

»Und dein Vater gehört zu den Ratgebern König Marends?«, fragte Regin mit hochgezogenen Augenbrauen weiter.

»Das ist richtig.«

»Ich bin Regin aus der Familie Winar.« Er verneigte sich mit übertriebener Höflichkeit. »Aus dem Haus Paren. Darf ich dich in den Speisesaal begleiten?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Das wäre mir eine Ehre.«

»Nein«, widersprach Regin mit dick aufgetragener Freundlichkeit. »Ich wäre derjenige, dem deine Begleitung eine Ehre wäre.«

Er schob sich zwischen Sonea und Issle, so dass Sonea nichts anderes übrig blieb, als einen Schritt zurückzuweichen, und griff nach dem Arm des Mädchens. Regins neue Freunde schlossen sich den beiden an, und gemeinsam gingen sie den Korridor hinunter. Niemand beachtete Sonea, die das Schlusslicht der Gruppe bildete. Als sie am Fuß der Universitätstreppe angelangt waren, blieb sie stehen und sah den anderen nach.

Issle hatte sich nicht einmal bei ihr bedankt. Ich sollte eigentlich nicht überrascht sein, dachte sie. Sie sind allesamt reiche Bälger ohne Manieren.

Nein, tadelte sie sich. Sei nicht ungerecht. Wenn man mich gebeten hätte, einen von ihnen in Harrins Bande zu akzeptieren, wäre es auch nicht einfach gewesen. Irgendwann werden sie schon vergessen, dass ich anders bin als sie. Sie brauchen nur Zeit.

3 Geschichten

Während Rothens Dienerin Tania den Tisch für die Morgenmahlzeit deckte, ließ Sonea sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl fallen. Rothen blickte auf, und als er ihren resignierten, unglücklichen Gesichtsausdruck sah, wünschte er, er hätte am vergangenen Tag direkt von seinen Kursen in sein Quartier zurückkehren können, statt erst noch mit Lord Peakin stundenlang über den Unterricht der nächsten Monate reden zu müssen.

»Wie war es gestern denn so?«, fragte er.

Sonea zögerte mit ihrer Antwort. »Keiner der Novizen ist bisher in der Lage, Magie zu benutzen. Sie müssen alle erst noch lernen, ihre Kräfte zu kontrollieren. Lord Elben hat mir ein Buch zu lesen gegeben.«

»Bei seinem Eintritt in die Gilde gebietet kein Novize bereits über Magie. Wir entwickeln ihre Kräfte erst, wenn sie das Gelübde abgelegt haben. Ich dachte, das wäre dir klar gewesen.« Er lächelte. »Es hat einige Vorteile, wenn sich die Kraft eines Magiers von selbst entwickelt.«

»Aber es wird noch Wochen dauern, bevor sie mit dem Unterricht anfangen können. Ich habe nur stundenlang dasselbe Buch gelesen - und dabei ging es um Dinge, die ich bereits kannte.« Hoffnung leuchtete in ihren Augen auf. »Warum kann ich nicht hier bleiben, bis die anderen auch so weit sind wie ich?«

Rothen unterdrückte ein Lachen. »Wir halten keinen Novizen zurück, der schneller lernt als die anderen. Du solltest das Beste aus dieser Chance machen. Bitte um ein anderes Buch, oder frag deinen Lehrer, ob er bereit ist, einige Übungen mit dir durchzugehen.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Ich glaube nicht, dass den anderen Novizen das gefallen würde.«

Er schürzte die Lippen. Sie hatte natürlich Recht, aber er wusste auch, was geschehen würde, wenn er Jerrik bat, Sonea vom Unterricht zu befreien, bis die anderen sie eingeholt hatten: Der Direktor würde eine solche Bitte entschieden ablehnen.

»Man erwartet von den Novizen, dass sie miteinander in Wettstreit treten«, erklärte er ihr. »Deine Klassenkameraden werden immer versuchen, dich zu übertreffen. Es wird keinen Unterschied machen, wenn du versuchst, dich um ihretwillen zurückzuhalten. Tatsächlich wirst du ihren Respekt verlieren, wenn du deine Fortschritte opferst, damit sie dich einholen können.«

Sonea nickte und senkte den Blick auf den Tisch. Ein Stich des Mitleids durchzuckte Rothen. Wie sehr er sich auch bemühte, ihr zu helfen, es musste ungemein verwirrend und frustrierend für sie sein, sich plötzlich in der engen, kleinen Welt der Novizen wiederzufinden.

»Außerdem hast du so einen großen Vorsprung nun auch wieder nicht«, fuhr er fort. »Ich habe einige Wochen gebraucht, um dich die Kontrolle über deine Magie zu lehren, weil ich zuerst dein Vertrauen gewinnen musste. Die Begabtesten unter den Novizen werden diese Hürde bereits am Ende der Woche genommen haben, und die übrigen werden höchstens zwei Wochen dafür benötigen. Sie werden dich schneller einholen, als du denkst, Sonea.«

Sie nickte. Dann nahm sie einen Löffel voll Pulver aus einem Glas und mischte es mit heißem Wasser aus einem Krug. Der scharfe Duft von Raka drang an Rothens Nase. Als Sonea an ihrem Becher nippte, verzog er das Gesicht und fragte sich, wie sie dieses Stärkungsmittel nur ertragen konnte. Er hatte sie dazu überredet, Sumi zu probieren, das verbreitetste Getränk in den Häusern, aber sie hatte keinen Gefallen daran gefunden.

Jetzt trommelte Sonea mit den Fingernägeln auf ihren Becher. »Issle hat etwas Merkwürdiges gesagt. Sie meinte, männliche Lehrer sollten keine weiblichen Novizen unterrichten.«

»Stammt diese Issle aus Elyne?«

»Ja.«

»Ah«, seufzte er. »Die Elyner. Sie sind zimperlicher als die Kyralier, was den Kontakt zwischen Jungen und Mädchen angeht. Sie bestehen darauf, dass ihre Töchter von Frauen unterrichtet werden, und reagieren sogar schockiert, wenn Mädchen anderer Rassen von einem Mann unterrichtet werden. Ihnen zuliebe bekommen daher bei uns alle weiblichen Novizen eine Lehrerin. Ironischerweise sind die Elyner erheblich freizügiger, was das Treiben Erwachsener angeht.«

»Schockiert.« Sonea nickte. »Ja, genauso wirkte sie auf mich.«

Rothen runzelte die Stirn. »Es wäre vielleicht klüger gewesen, sie in dem Glauben zu lassen, ich hätte eine Frau als Lehrerin für dich hinzugezogen. Die Elyner können in solchen Dingen ausgesprochen engstirnig sein.«

»Ich wünschte, Ihr hättet mir das früher gesagt. Zuerst war sie sehr freundlich zu mir, aber dann…« Sonea schüttelte den Kopf.

»Sie wird die Sache schon vergessen«, beruhigte er sie. »Gib ihr ein wenig Zeit, Sonea. In wenigen Wochen wirst du Freunde haben, und dann wirst du dich fragen, warum du dir solche Sorgen gemacht hast.«

Sie blickte auf ihren Raka-Becher hinab. »Eine einzige Freundin oder ein einziger Freund würde mir schon genügen.«


In dem großen, nur schwach beleuchteten Büro des Gildeadministrators schwebte eine Lichtkugel hin und her und zeichnete lange Schatten auf die Wände. Als Lorlen am Ende des Briefes angelangt war, blieb er stehen und murmelte einen Fluch.

»Zwanzig Goldmünzen für eine Flasche!«

Er kehrte mit langen Schritten zu seinem Stuhl zurück, setzte sich hin, öffnete eine Schatulle und nahm einen Bogen dicken Papiers heraus. Während er schrieb, erfüllte das entschlossene Kratzen seiner Feder den Raum. Ab und zu hielt er inne und las mit schmalen Augen einen Satz noch einmal durch. Schließlich unterzeichnete er den Brief, lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk.

Dann warf er den Brief mit einem Seufzer in den Papierkorb unter seinem Schreibtisch.

Die Lieferanten der Gilde hatten seit Jahrhunderten den Reichtum des Königs ausgenutzt. Wenn der Käufer die Gilde war, waren alle Waren doppelt oder dreimal so teuer wie gewöhnlich. Das war einer der Gründe, warum die Gilde ihre eigenen Heilkräuter anbaute.

Lorlen stützte die Ellbogen auf den Tisch und dachte noch einmal über die Preisliste des Weinlieferanten nach. Niemand konnte ihn zwingen, dem Mann seinen Wein abzukaufen. Ein solcher Entschluss würde natürlich politische Konsequenzen haben, aber sie ließen sich wahrscheinlich vermeiden, wenn er von demselben Haus andere Waren kaufte.

Aber dieser Wein war Akkarins Lieblingswein. Gekeltert aus der winzigsten Sorte von Vare-Beeren, war er süß und sehr aromatisch. Der Hohe Lord hatte immer eine Flasche davon in seinem Gästezimmer stehen, und es würde ihm gar nicht gefallen, wenn ihm die Vorräte ausgingen.

Lorlen schnitt eine Grimasse und griff nach einem neuen Bogen Papier. Dann hielt er inne. Er sollte nicht derart nach Akkarins Pfeife tanzen. Früher hatte er das nie getan, und Akkarin würde die Veränderung möglicherweise bemerken. Er würde sich vielleicht fragen, warum Lorlen sich mit einem Mal so seltsam benahm.

Andererseits musste Akkarin inzwischen aufgefallen sein, dass Lorlen sich kaum noch zu einem abendlichen Gespräch bei ihm einstellte. Stirnrunzelnd überlegte Lorlen, wie lange es her war, seit er das letzte Mal den Mut aufgebracht hatte, den Hohen Lord zu besuchen. Zu lange.

Seufzend legte er die Stirn in die Hände und schloss die Augen. Ah, Sonea. Warum musstest du sein Geheimnis ausgerechnet mir offenbaren? Erinnerungen gingen ihm durch den Sinn. Es waren Soneas Erinnerungen, nicht die seinen, aber die Einzelheiten waren dennoch von unverminderter Lebendigkeit …

»Es ist vollbracht«, sagte Akkarin. Dann legte er seinen Umhang ab, und darunter kamen die blutbefleckten Kleider zum Vorschein. Er blickte an sich herab. »Hast du meine Roben mitgebracht?«

Der Diener murmelte eine Antwort, und Akkarin zog das Bettlerhemd aus. Darunter kam ein Ledergürtel zum Vorschein, an dem eine Dolchscheide hing. Akkarin wusch sich, verschwand kurz und kam in schwarzen Roben zurück.

Als Nächstes zog er einen funkelnden Dolch aus der Scheide, wischte ihn an einem Tuch ab und blickte zu seinem Diener auf.

»Der Kampf hat mich geschwächt«, sagte er. »Ich brauche deine Kraft.«

Der Diener ließ sich auf ein Knie sinken und bot seinen Arm dar. Akkarin fuhr mit der Klinge über die Haut des Mannes und legte dann eine Hand über die Wunde…

Lorlen schauderte. Er öffnete die Augen, holte tief Luft und schüttelte den Kopf.

Er wünschte, er hätte Soneas Erinnerung als schlichten Irrtum abtun können, den Irrtum eines Menschen, der Magier für schlecht und grausam gehalten hatte. Aber so klare Erinnerungen konnten unmöglich falsch sein - und wie hätte Sonea sich das alles ausdenken können, wenn sie nicht einmal verstanden hatte, was vor ihren Augen geschehen war? Er lächelte beinahe, als er an ihre Vermutung dachte, bei dem schwarz gewandeten Magier könne es sich um einen geheimen Assassinen der Gilde gehandelt haben. Die Wahrheit war weitaus schlimmer, und wie gern Lorlen sie auch ignoriert hätte, er konnte es nicht.

Akkarin, sein engster Freund und Hoher Lord der Gilde, praktizierte schwarze Magie.

Lorlen hatte stets einen gewissen stillen Stolz darüber verspürt, dass er der größten Vereinigung von Magiern angehörte, die je existiert hatte. Ein Teil von ihm war zutiefst entrüstet darüber, dass der Hohe Lord, der für alles stehen sollte, was gut und ehrenwert in der Gilde war, sich mit verbotener, böser Magie abgab. Dieser Teil von ihm wollte das Verbrechen enthüllen, wollte diesen potenziell gefährlichen Mann seines Einflusses und seiner Autorität entkleidet sehen.

Aber ein anderer Teil von ihm erkannte auch die Gefahr, die eine Konfrontation mit dem Hohen Lord in sich barg. Die Situation machte höchste Vorsicht notwendig. Wieder schauderte Lorlen, als er sich an jenen Tag vor vielen Jahren erinnerte, an dem die Prüfungen zur Auswahl eines neuen Hohen Lords stattgefunden hatten. Akkarin hatte in einem Kräftemessen nicht nur die mächtigsten Magier übertroffen, sondern in einem Wettkampf, der eigens stattfand, um seine Grenzen auszuloten, mühelos der vereinten Kraft von mehr als zwanzig der mächtigsten Magier widerstanden.

Akkarin war nicht immer so stark gewesen. Niemand wusste das besser als Lorlen. Sie waren seit ihrem ersten Tag an der Universität Freunde gewesen. Während der Jahre ihrer Ausbildung hatten sie in der Arena viele Male gegeneinander gekämpft und festgestellt, dass sie einander mehr oder weniger ebenbürtig waren. Akkarins Kräfte waren jedoch weiter gewachsen, so dass er, als er von seinen Reisen zurückkehrte, allen anderen Magiern weit überlegen gewesen war.

Jetzt fragte Lorlen sich, ob dieser Zuwachs an Stärke natürlichen Ursprungs war. Das Ziel von Akkarins Reise war es gewesen, Kenntnisse über die Magie lange vergangener Zeiten anzusammeln. Fünf Jahre lang hatte er die Verbündeten Länder bereist, aber als er schließlich abgemagert und mutlos zurückgekehrt war, hatte er behauptet, das von ihm angesammelte Wissen sei auf der letzten Etappe seiner Fahrt verloren gegangen.

Was, wenn er doch etwas herausgefunden hatte? Was, wenn er auf schwarze Magie gestoßen war?

Und dann war da noch Takan, der Mann, den Sonea in Akkarins Kellergemach gesehen hatte, wie er dem Hohen Lord zur Hand ging. Akkarin hatte Takan auf seinen Reisen in seinen Dienst genommen, und auch nach seiner Rückkehr nach Imardin war der Mann bei ihm geblieben. Welche Rolle spielte Takan bei dem Ganzen? War er Akkarins Opfer oder sein Komplize?

Der Gedanke, der Diener könne ein widerstrebendes Opfer sein, war beunruhigend, aber Lorlen konnte den Mann nicht befragen, ohne sein eigenes Wissen über Akkarins Verbrechen preiszugeben. Dieses Risiko war zu groß.

Lorlen rieb sich die Schläfen. Monatelang hatte er im Kreis gedacht und versucht, zu einem Entschluss zu kommen. Es war möglich, dass Akkarin nur aus Neugier mit schwarzer Magie experimentierte. Man wusste nur wenig über diese Form der Magie, und es gab offensichtlich Anwendungsgebiete, für die man nicht zu töten brauchte. Takan lebte noch und versah seine Pflichten. Es wäre ein schrecklicher Verrat an ihrer Freundschaft gewesen, hätte Lorlen Akkarins Verbrechen aufgedeckt und für seine Verbannung oder sogar seine Hinrichtung gesorgt, wenn es sich bei dem Ganzen lediglich um ein Experiment handelte.

Aber warum hatte Akkarin dann blutbefleckte Kleider getragen, als Sonea ihn gesehen hatte?

Lorlen verzog das Gesicht. Irgendetwas Hässliches musste in jener Nacht vorgefallen sein. »Es ist vollbracht«, hatte Akkarin gesagt. Eine Aufgabe war erfüllt worden. Aber welche Aufgabe - und warum?

Vielleicht gab es ja eine vernünftige Erklärung für das alles. Lorlen seufzte. Vielleicht wünsche ich mir nur, es gäbe eine solche Erklärung. Warum zögerte er, etwas zu unternehmen? Widerstrebte es ihm lediglich zu entdecken, dass sein Freund furchtbare Verbrechen begangen hatte, oder widerstrebte es ihm, den Mann, den er jahrelang bewundert und dem er vertraut hatte, in ein blutrünstiges Monstrum verwandelt zu sehen?

So oder so, er konnte Akkarin nicht fragen. Er musste einen anderen Weg finden.

Während der letzten Monate hatte er im Geiste eine Liste aller Informationen aufgestellt, die er benötigte. Warum praktizierte Akkarin schwarze Magie? Wie lange ging das schon? Was konnte Akkarin mit dieser schwarzen Magie ausrichten? Wie stark war er, und konnte man ihn besiegen? Obwohl Lorlen ein Gesetz brach, indem er Informationen über schwarze Magie sammelte, musste die Gilde die Antwort auf diese Fragen kennen, wenn sie Akkarin zur Rede stellen wollte.

In der Bibliothek der Magier hatte er nur wenig an Information gefunden, was jedoch keine Überraschung war. Man brachte den Höheren Magiern gerade genug über schwarze Magie bei, um sie in die Lage zu setzen, sie zu erkennen; der Rest der Gilde wusste nur, dass diese spezielle Form der Magie verboten war. Nähere Informationen würden nicht leicht zu finden sein.

Er musste außerhalb der Gilde suchen. Gleich zu Anfang hatte Lorlen an die Große Bibliothek in Elyne gedacht, wo noch mehr altes Wissen verfügbar war als selbst in der Gilde. Dann war ihm auch wieder eingefallen, dass die Große Bibliothek Akkarins erstes Ziel auf seiner Reise gewesen war, und inzwischen fragte er sich, ob er vielleicht einige Antworten finden würde, wenn er den Weg seines Freundes zurückverfolgte.

Aber er konnte die Gilde unmöglich verlassen - das ließen seine Aufgaben als Administrator nicht zu. Außerdem hätte er mit einer solchen Reise gewiss Akkarins Neugier geweckt. Was bedeutete, dass ein anderer diese Dinge an seiner Stelle tun musste.

Lorlen hatte sorgfältig darüber nachgedacht, wem man eine solche Aufgabe anvertrauen konnte. Es musste jemand sein, der nötigenfalls vernünftig genug war, die Wahrheit zu verbergen. Und es musste jemand sein, der die richtige Nase hatte, um Geheimnisse aufzuspüren. Ein Spürhund.

Die Entscheidung war überraschend einfach gewesen.

Lord Dannyl.


Sonea trat als letzte Novizin in den Speisesaal. Regin, Gennyl und Shern waren am Ende des Vormittagsunterrichts nicht in die Klasse zurückgekehrt, daher war Sonea den anderen gefolgt. Der Saal war ein großer Raum, in dem mehrere Reihen von Tischen und Stühlen standen. Eine Vielzahl von Dienern war damit beschäftigt, Tabletts mit den Speisen für die Novizen aus der Küche zu bringen.

Keiner der anderen Novizen protestierte, als Sonea es wagte, wieder zu ihnen zu stoßen. Es gab zwar einige zweifelnde Blicke, als sie nach ihrem Besteck griff, aber ansonsten wurde sie ignoriert.

Wie schon am vergangenen Tag entwickelte sich das Gespräch zu Anfang nur zögerlich. Die Erstsemester waren schüchtern und unsicher. Dann erzählte Ahrind dem neben ihm sitzenden Kano, dass er ein Jahr lang in Vin gelebt habe, und die anderen begannen, sie über das Land zu befragen. Schon bald kam die Rede auf die Häuser und Familien anderer Novizen, bis Ahrind schließlich zu Sonea hinüberblickte.

»Du bist also in den Hüttenvierteln aufgewachsen?«

Alle Köpfe drehten sich in Soneas Richtung. Sie schluckte den Bissen, den sie im Mund gehabt hatte, hastig hinunter.

»Ich habe ungefähr zehn Jahre dort gelebt«, antwortete sie. »Bei meinem Onkel und meiner Tante. Danach hatten wir ein Zimmer im Nordviertel.«

»Was ist mit deinen Eltern?«

»Meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war. Mein Vater…« Sie zuckte die Achseln. »Er ist fortgegangen.«

»Und hat dich ganz allein in den Hüttenvierteln zurückgelassen? Wie schrecklich!«, rief Bina.

»Meine Tante und mein Onkel haben sich um mich gekümmert.« Sonea brachte ein Lächeln zustande. »Und ich hatte viele Freunde.«

»Triffst du dich noch mit deinen Freunden?«, wollte Issle wissen.

Sonea schüttelte den Kopf. »Nicht oft.«

»Was ist mit diesem Dieb, mit dem du befreundet bist, dem Jungen, den Lord Fergun im Kerker unterhalb der Universität eingesperrt hatte? Hat er dich nicht einige Male hier in der Gilde besucht?«

Sonea nickte. »Ja.«

»Er gehört zu den Dieben, nicht wahr?«, fragte Issle.

Sonea zögerte. Sie konnte es abstreiten, aber würden sie ihr glauben?

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. In sechs Monaten kann sich vieles verändern.«

»Warst du auch eine Diebin?«

»Ich?« Sonea lachte leise. »Nicht jeder, der in den Hüttenvierteln lebt, arbeitet für die Diebe.«

Die anderen schienen sich ein wenig zu entspannen. Einige nickten sogar. Issle blickte in die Runde, dann runzelte sie finster die Stirn.

»Aber du hast gestohlen, nicht wahr?«, sagte sie. »Du warst eine von diesen Taschendiebinnen auf dem Markt.«

Sonea spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und sie wusste, dass sie sich mit dieser Reaktion selbst verraten hatte. Wenn sie Issles Vorwurf abstritt, würden die anderen glauben, dass sie log. Vielleicht würde die Wahrheit ihr Mitgefühl erregen…

»Ja, als Kind habe ich Essen und Geld gestohlen«, erklärte sie und zwang sich, den Kopf hoch zu halten und Issle trotzig anzusehen. »Aber nur, wenn ich großen Hunger hatte oder wenn der Winter nahte und ich Schuhe und warme Kleidung brauchte.

Issles Augen leuchteten triumphierend. »Dann bist du also doch eine Diebin.«

»Aber sie war damals noch ein Kind, Issle«, protestierte Ahrind schwach. »Du würdest ebenfalls stehlen, wenn du nichts zu essen hättest.«

Die anderen wandten sich zu Issle um, aber diese warf lediglich abschätzig den Kopf in den Nacken, dann beugte sie sich zu Sonea vor und bedachte sie mit einem kalten Blick.

»Sag mir die Wahrheit«, verlangte sie. »Hast du jemals jemanden getötet?«

Sonea erwiderte Issles Blick, während Wut in ihr aufstieg. Wenn Issle die Wahrheit erführe, würde das Mädchen vielleicht zögern, bevor sie sie das nächste Mal zu quälen versuchte.

»Ich weiß es nicht.«

Die anderen Novizen starrten Sonea fassungslos an.

»Was soll das heißen?«, fragte Issle höhnisch. »Entweder du hast es getan, oder du hast es nicht getan.«

Sonea sah das Mädchen mit schmalen Augen an. »Also schön, wenn du es unbedingt wissen willst. Eines Nachts vor ungefähr zwei Jahren hat mich ein Mann gepackt und in eine Gasse gezerrt. Er wollte… nun, du kannst davon überzeugt sein, dass er mich nicht nach dem Weg fragen wollte. Als ich eine Hand frei bekam, habe ich ihm mein Messer in den Leib gerammt und bin davongelaufen. Ich bin nicht bei ihm stehen geblieben, deshalb weiß ich nicht, ob er es überlebt hat oder nicht.«

Daraufhin herrschte minutenlang Schweigen an ihrem Tisch. »Du hättest schreien können«, meinte Issle schließlich.

»Glaubst du wirklich, jemand würde sein Leben aufs Spiel setzen, um irgendein armes Mädchen zu retten?«, fragte Sonea kalt. »Der Mann hätte mir die Kehle durchschneiden können, um mich zum Schweigen zu bringen, oder ich hätte mit meinem Schreien nur noch mehr Gesindel angelockt.«

Bina schauderte. »Wie schrecklich.«

Das Mitgefühl des anderen Mädchens entzündete einen schwachen Hoffnungsfunken in Sonea, der bei der nächsten Frage jedoch sogleich wieder erlosch.

»Du trägst ein Messer

Als Sonea den lonmarischen Akzent hörte, drehte sie sich um und blickte in die grünen Augen Elayks. »Jeder tut das. Um Päckchen zu öffnen, Früchte zu schälen…«

»Die Schnüre der Geldbörsen durchzuschneiden«, warf Issle ein.

Sonea sah das Mädchen fest an. Issle erwiderte ihren Blick mit unverhohlener Kälte. Offensichtlich war es reine Zeitverschwendung, der da zu helfen, dachte Sonea.

»Sonea«, erklang plötzlich eine Stimme. »Sieh mal, was ich für dich aufgehoben habe.«

Die Novizen drehten sich um; eine vertraute Gestalt kam mit einem Teller an ihren Tisch geschlendert. Regin grinste, dann stellte er den Teller wortlos vor Sonea hin. Als sie sah, dass Brotkrusten und Essensreste auf dem Teller lagen, schoss ihr die Röte in die Wangen.

»Was bist du für ein großzügiger, wohlerzogener Junge, Regin.« Sie schob den Teller von sich. »Vielen Dank, ich habe bereits gegessen.«

»Aber du hast doch sicher noch Hunger«, sagte er mit geheucheltem Mitgefühl. »Sieh dich doch nur an. Du bist so klein und mager. Du siehst wirklich so aus, als könntest du ein paar anständige Mahlzeiten vertragen. Haben deine Eltern dir nicht genug zu essen gegeben?« Er schob den Teller wieder vor sie hin.

Sonea schob ihn zurück. »Nein, wenn du es genau wissen willst, das haben sie nicht getan.«

»Sie sind tot«, meldete sich einer der anderen Novizen zu Wort.

»Nun, warum nimmst du das Essen nicht mit, falls du später noch einmal Hunger bekommst?« Mit einem schnellen Stoß schob er den Teller über den Rand des Tisches auf Soneas Schoß. Mehrere Novizen kicherten verhalten, als die durchweichten Essensreste sich auf Soneas Robe und auf den Fußboden ergossen und beides mit einer dicken, braunen Soße überzogen. Sonea fluchte, ohne auch nur einen Moment lang an Rothens eindringliche Ermahnungen zu denken, und Issle schnalzte angewidert mit der Zunge.

Gerade als Sonea aufblickte und den Mund zu einer Erwiderung öffnete, ertönte der Gong der Universität.

»Oje!«, rief Regin aus. »Es wird Zeit für den Unterricht. Tut mir Leid, dass wir dich nicht beim Essen beobachten können, Sonea.« Er wandte sich den anderen zu. »Kommt mit! Wir wollen uns doch nicht verspäten, oder?«

Regin ging breitbeinig davon, und die anderen folgten ihm. Schon bald war Sonea die einzige Novizin im Speisesaal. Seufzend stand sie auf, hob ihre Robe und schüttelte das Essen vorsichtig zurück auf den Tisch. Als sie die klebrige braune Soße auf ihrem Gewand betrachtete, fluchte sie abermals leise.

Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte unmöglich in diesem Zustand zum Unterricht erscheinen. Der Lehrer würde sie nur zum Umziehen in ihr Zimmer schicken, was Regin einmal mehr Gelegenheit gäbe, sie zu verspotten. Nein, sie würde als Erstes in Rothens Wohnung laufen und sich eine weniger demütigende Erklärung für ihre Verspätung ausdenken.

In der Hoffnung, dass ihr unterwegs nicht allzu viele Menschen begegnen würden, eilte sie zu den Magierquartieren hinüber.


Als Dannyl hörte, dass die Matrosen sich in der Messe am Ende des Gangs versammelten, unterdrückte er ein Stöhnen. Eine weitere lange Nacht stand ihm bevor. Einmal mehr kam Jano ihn holen, und die Seeleute brachen in Jubel aus, als er sich zu ihnen gesellte. Eine Flasche erschien wie aus dem Nichts und wurde herumgereicht, bis jeder einen Schluck von dem stark riechenden Vindo-Schnaps, dem Siyo, getrunken hatte. Als die Reihe an Dannyl kam, gab er die Flasche direkt an Jano weiter, was ihm gespielte Enttäuschung von Seiten der Matrosen eintrug.

Nachdem alle von dem Siyo getrunken hatten, begannen die Seeleute, sich gutmütig in ihrer abgehackt klingenden Muttersprache zu streiten. Nachdem sie schließlich Einigung erzielt hatten, fingen sie an zu singen und drängten Dannyl, in ihren Gesang mit einzustimmen. An den vergangenen Abenden hatte er nachgegeben, aber diesmal bedachte er Jano mit einem strengen Blick.

»Du hast versprochen, mir den Text zu übersetzen.«

Der Mann grinste. »Lied dir vielleicht nicht gefallen.«

»Das lass mich nur selbst entscheiden.«

Jano zögerte, während er dem Gesang der anderen Männer lauschte. »In Capia hat meine Geliebte rotes, rotes Haar… und Brüste wie Tenn-Säcke. In Tol-Gan hat meine Geliebte starke, starke Beine… und sie schlingt sie mir fest um die Hüften. In Kiko hat meine Geliebte… äh…« Jano zuckte die Achseln. »Ich kenne das Wort nicht, das ihr in eurer Sprache dafür benutzt.«

»Ich kann es mir denken«, erwiderte Dannyl mit einem traurigen Kopfschütteln. »Du brauchst nicht länger für mich zu übersetzen. Ich glaube nicht, dass ich überhaupt wissen will, was ich da singe.«

Jano lachte. »Jetzt erzähl, warum du keinen Siyo trinkst, yai?«

»Siyo riecht stark. Kräftig.«

»Siyo ist kräftig!«, sagte Jano stolz.

»Es ist keine gute Idee, einen Magier allzu betrunken zu machen«, bemerkte Dannyl.

»Warum nicht?«

Dannyl schürzte die Lippen und dachte darüber nach, wie er das Problem so erklären konnte, dass der Vindo ihn verstehen würde.

»Wenn man betrunken ist - sehr betrunken -, sagt und tut man merkwürdige Dinge, vielleicht sogar, ohne es zu beabsichtigen, yai?«

Jano zuckte die Achseln und klopfte Dannyl auf die Schulter. »Keine Sorge. Wir nichts weitererzählen.«

Dannyl schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist nicht ratsam, unbedacht mit Magie umzugehen. So etwas kann sehr gefährlich sein.«

Jano runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen ein wenig. »Also wir dir nur ein klein wenig geben.«

Dannyl lachte. »Einverstanden.«

Jano bedeutete den Matrosen, ihm die Flasche zu reichen. Er wischte die Öffnung mit dem Ärmel ab und gab die Flasche dann an Dannyl weiter.

Dannyl, der nun im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, nahm einen vorsichtigen Schluck. Ein angenehm nussiger Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, bevor ihm die Flüssigkeit heiß die Kehle hinunterrann. Er sog die Luft ein und atmete langsam aus. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Die Matrosen prosteten ihm zu.

Jano gab die Flasche zurück, dann wandte er sich wieder zu Dannyl um. »Ich froh, kein Magier bin. Furchtbar, gern trinken und nicht es dürfen.« Er schüttelte den Kopf. »Sehr traurig.«

Dannyl machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin auch gern Magier.«

Die Seeleute stimmten ein neues Lied an, und obwohl Dannyl ihn nicht darum gebeten hatte, übersetzte Jano es auch diesmal. Die absurde Grobheit des Liedes brachte Dannyl zum Lachen.

»Was bedeutet Eyoma?«

»Fischegel«, erwiderte Jano. »Schlimme Sache. Ich dir erzählen Geschichte.«

Sofort verstummten die anderen Matrosen, um Jano und Dannyl mit wachem Blick zu beobachten.

»Fischegel so lang wie Arm von Hand bis Ellbogen.« Jano verdeutlichte mit einer knappen Geste, was er meinte. »Meist wenige zusammen schwimmen, aber wenn fortpflanzen sehr sehr viele, dann sehr, sehr gefährlich. Kriechen Bordwand hoch, weil wie Felsen, und wir müssen töten, töten, töten, sonst die Egel festkleben an uns und saugen Blut aus.«

Dannyl sah die anderen Seeleute an, die eifrig nickten. Er schöpfte sofort den Verdacht, dass diese Geschichte ein Lügenmärchen oder eine Übertreibung sein könnte - Seemannsgarn, wie die Matrosen es spinnen, um Landratten zu erschrecken. Er musterte Jano mit schmalen Augen, aber der Mann war so vertieft in seine Geschichte, dass er es nicht einmal bemerkte.

»Fischegel Blut von allen großen Fischen saugen. Wenn Schiff sinken und Männer wollen schwimmen an Land, müssen sterben, wenn Fischegel da. Wenn Zeit von Laichen für Fischegel, viele, viele Fischegel da, Egel ziehen Mann in Tiefe.« Er sah Dannyl mit großen Augen an. »Böse Art von Sterben.«

Trotz seiner Skepsis überlief Dannyl ein kalter Schauer.

»Du keine Angst. Fischegel in Warmwasser leben. Oben in Nord. Noch Siyo trinken, Geschichte vergessen.«

Dannyl nahm die Flasche entgegen und trank einen kleinen Schluck. Einer der Seeleute begann zu summen, und schon bald stimmten alle anderen in sein Lied ein. Dannyl ließ sich überreden mitzusingen, brach jedoch sofort ab, als sich die Tür des Niedergangs öffnete und der Kapitän herunterkam.

Die Männer wurden ein wenig leiser, hörten aber nicht auf zu singen. Numo nickte Dannyl zu. »Ich habe etwas für Euch, Mylord.«

Er bedeutete Dannyl, ihm zu folgen, und ging zu seiner Kajüte voran. Dannyl erhob sich und stützte sich mit beiden Händen an den Wänden ab, um auf dem schlingernden Schiff nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als er Numos Kajüte betrat, stellte er fest, dass sie, anders als Jano behauptet hatte, mindestens vier Mal so groß war wie Dannyls Quartier.

Auf einem Tisch in der Mitte des Raums lagen mehrere Karten ausgebreitet. Numo hatte einen kleinen Schrank geöffnet und hielt jetzt eine Schatulle in Händen. Er zog einen Schlüssel unter seinem Hemd hervor, öffnete den Deckel und nahm ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus.

»Man hat mich gebeten, Euch das hier vor Eurer Ankunft in Capia zu überreichen.«

Numo gab Dannyl das Papier und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Dannyl setzte sich und untersuchte das Siegel. Es trug das Symbol der Gilde, und das Papier war von feinster Qualität.

Nachdem er das Siegel gebrochen hatte, faltete er das Papier auseinander und erkannte sofort die Handschrift von Administrator Lorlen.

An den zweiten Botschafter der Gilde in Elyne, Dannyl, aus der Familie Vorin und dem Haus Tellen.

Ihr müsst mir verzeihen, dass ich den Kapitän gebeten habe, Euch diesen Brief erst nach Eurer Abreise zu übergeben. Ich möchte, dass Ihr zusätzlich zu Euren Pflichten als Botschafter noch eine andere Aufgabe für mich übernehmt. Diese Aufgabe muss, zumindest für den Augenblick, streng vertraulich gehandhabt werden, und die Art und Weise, wie ich Euch diesen Brief habe zukommen lassen, ist eine Vorsichtsmaßnahme meinerseits, um Geheimhaltung zu gewährleisten.

Wie Ihr wisst, hat der Hohe Lord Akkarin Kyralia vor zehn Jahren verlassen, um Wissen über alte Magie zu sammeln, ein Unterfangen, das niemals vollendet wurde. Eure Aufgabe besteht darin, Akkarins Schritte nachzuvollziehen, all die Orte noch einmal aufzusuchen, an denen er damals war, und herauszufinden, wer ihm bei seinen Nachforschungen geholfen hat. Darüber hinaus bitte ich Euch, Eurerseits Informationen zu diesem Thema zu sammeln.

Bitte übersendet mir all diese Informationen durch einen Kurier. Nehmt auf keinen Fall direkten Kontakt zu mir auf. Ich freue mich darauf, von Euch zu hören.

Mit herzlichem Dank,

Administrator Lorlen

Dannyl las den Brief mehrere Male, dann faltete er ihn wieder zusammen. Was führte Lorlen im Schilde? Was bedeutete es, dass er Akkarins Reise nachvollziehen sollte? Und weshalb durfte er nur über einen Kurier Kontakt zum Administrator aufnehmen?

Er öffnete den Brief noch einmal und überflog ihn hastig. Möglicherweise bat Lorlen nur deshalb um Vertraulichkeit, weil niemand wissen sollte, dass er sich Dannyls neuer Position bediente, um einer privaten Angelegenheit nachzugehen.

Diese private Angelegenheit war jedoch Akkarins damalige Reise. Wenn Akkarin Bescheid wusste, war er wahrscheinlich mit Lorlens Vorgehen einverstanden. Und wenn er nichts darüber wusste? Dannyl lächelte schief. Vielleicht gab es in Akkarins Geschichten ebenfalls so etwas wie einen Fischegel, und Lorlen wollte wissen, ob an der Angelegenheit etwas Wahres war.

Oder vielleicht wollte Lorlen dort einen Erfolg für sich verbuchen, wo sein Freund gescheitert war. Die beiden waren während ihrer Novizenzeit stets Konkurrenten gewesen. Lorlen konnte diese Nachforschungen natürlich nicht selbst anstellen, daher musste er einen anderen Magier bitten, es an seiner Stelle zu tun. Wieder lächelte Dannyl. Und er hat sich für mich entschieden.

Schließlich erhob er sich, um sich aufs Neue einen Weg durch das schlingernde Schiff zu bahnen. Zweifellos würde Lorlen ihm irgendwann die Gründe für diese Heimlichkeiten offenbaren. In der Zwischenzeit würde es Dannyl großen Spaß machen, mit der Erlaubnis des Administrators in der Vergangenheit eines anderen herumzuschnüffeln, insbesondere eines Mannes, der so geheimnisvoll war wie der Hohe Lord.

Er nickte Numo zu, verließ den Raum, verstaute den Brief in seinem Gepäck und kehrte anschließend zu Jano und der singenden Mannschaft zurück.

4 Pflichten

Auf ihrem Weg durch den Hauptflur der Universität fühlte Sonea sich erleichtert - mit einem bitteren Beigeschmack. Morgen war Freitag, also unterrichtsfrei, und das bedeutete, dass sie den ganzen Tag von Regin und den anderen Novizen verschont bleiben würde.

Ihre Müdigkeit überraschte sie, denn sie hatte in der vergangenen Woche kaum etwas getan. Im Unterricht las sie meist oder beobachtete, wie die anderen zu ihren Kontrolllektionen gingen und wieder davon zurückkehrten. Es war nicht viel passiert, und dennoch kam es ihr so vor, als seien Wochen - nein, Monate - verstrichen.

Issle beachtete Sonea überhaupt nicht mehr, und obwohl dieses Verhalten besser war als offene Feindseligkeit, schien es, als seien alle Novizen zu dem Schluss gekommen, dass dies die beste Art sei, mit ihr umzugehen. Keiner von ihnen sprach mit ihr, nicht einmal, wenn sie sich mit einer einfachen Frage nach ihren Fortschritten erkundigte.

Während sie ihren Weg fortsetzte, dachte sie über jeden einzelnen ihrer Mitschüler nach. Elayk entsprach ganz dem Bild, das sie sich von einem männlichen Vertreter des lonmarischen Volkes gemacht hatte. Erzogen in einer Welt, in der man Frauen versteckte, sie zwar mit Luxus umgab, ihnen aber praktisch jede Freiheit nahm, war er nicht daran gewöhnt, mit weiblichen Wesen zu reden. Er behandelte Bina und Issle mit derselben kalten Gleichgültigkeit wie sie. Faren, der Dieb, der sie im vergangenen Jahr vor der Gilde versteckt hatte, war da ganz anders gewesen, aber schließlich war Faren auch kein typischer Lonmar!

Gennyls Vater war ebenfalls ein Lonmar, aber seine Mutter war Kyralierin, und er schien keine Probleme im Umgang mit Bina und Issle zu haben. Sonea ignorierte er zwar, aber ihr war verschiedentlich aufgefallen, dass er sie mit schmalen Augen beobachtete.

Shern richtete nur selten das Wort an andere Novizen und starrte die meiste Zeit über ins Leere. Sonea konnte noch immer seine seltsame magische Aura wahrnehmen, die jedoch nicht mehr so sprunghaft pulsierte wie am Anfang.

Bina war ein stilles, zurückhaltendes Mädchen, und Sonea vermutete, dass sie einfach zu schüchtern und zu verlegen war, um an irgendeinem Gespräch teilzunehmen. Als Sonea versucht hatte, mit ihr zu reden, war das Mädchen zurückgewichen und hatte gesagt: »Ich darf nicht mit dir sprechen.« Da Sonea sich an die Bemerkungen erinnerte, die die Mutter des Mädchens vor der Aufnahmezeremonie gemacht hatte, überraschte sie Binas Verhalten nicht weiter.

Kano, Alend und Vallon benahmen sich wie kleine Jungen, lachten über die kindischsten Dinge und prahlten mit ihren Besitztümern und ihrem Erfolg bei Mädchen. Da Sonea solche Dinge häufig von den Jungen in Harrins Bande gehört hatte, wusste sie, dass die Geschichten über Letzteres reine Erfindungen waren. Die Jungen aus den Hüttenvierteln hätten allerdings in ihrem Alter genug Erfahrung gehabt, um solchen Prahlereien schon lange entwachsen zu sein.

Regin war der Mittelpunkt aller Aktivitäten der Novizen. Er beherrschte die anderen mit Komplimenten, Scherzen und überlegen klingenden Bemerkungen. Sonea war aufgefallen, dass all ihre Mitschüler nickten, wann immer Regin eine Meinung äußerte. Diese Beobachtung hatte sie erheitert, bis er angefangen hatte, bei jeder Gelegenheit gehässige Bemerkungen über Soneas Vergangenheit zu machen. Selbst Ahrind, der zu Anfang Sonea gegenüber eine gewisse Freundlichkeit gezeigt hatte, lachte über Regins böse Scherze. Und nach ihrem gescheiterten Versuch, Bina in ein Gespräch zu verwickeln, war Regin prompt neben dem Mädchen erschienen und hatte Charme und Freundlichkeit versprüht.

»Sonea!«

Hinter ihr erklang eine atemlose Stimme. Sie drehte sich um und sah, dass Ahrind auf sie zugelaufen kam.

»Ja?«

»Heute Abend bist du an der Reihe«, stieß er keuchend hervor.

»An der Reihe?« Sie runzelte die Stirn. »Womit?«

»Küchendienst.« Er starrte sie an. »Hat man dir das nicht gesagt?«

»Nein…«

Er schnitt eine Grimasse. »Natürlich. Regin hat den Plan. Wir alle müssen einmal die Woche abends Küchendienst machen. Heute bist du an der Reihe.«

»Oh.«

»Du solltest dich besser beeilen«, warnte er sie. »Du willst doch nicht zu spät kommen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Sonea.

Alend zuckte die Achseln und ging davon.

Küchendienst. Sonea seufzte. Es war den ganzen Tag über drückend heiß gewesen, und sie hatte sich auf ein kühles Bad vor dem Abendessen gefreut. Wahrscheinlich würde man den Novizen jedoch keine schmutzigen oder zeitaufwendigen Arbeiten zuweisen, so dass ihr vielleicht doch noch ein wenig Zeit bleiben würde.

Sie lief die Wendeltreppe zum Erdgeschoss hinunter und ließ sich von den Essensgerüchen zum Speisesaal leiten. Etliche Novizen hatten bereits an den Tischen Platz genommen. Sonea folgte einer Dienerin, die mit einem schweren Tablett unterwegs war, in die Küche und fand sich in einem großen, mit langen Bänken gesäumten Raum wieder. Aus brodelnden Töpfen stieg Dampf auf, Fleisch zischte auf dem Grill, und das Klirren von Metall auf Metall war zu hören. Etliche Diener eilten umher und versuchten, sich trotz des Lärms miteinander zu verständigen.

Sonea blieb an der Tür stehen, überwältigt von dem Chaos und der Vielzahl der Gerüche. Eine junge Frau, die in einem Topf rührte, blickte auf. Sie starrte Sonea an, dann drehte sie sich um und rief eine ältere Frau herbei, die ein weites, weißes Gewand trug. Als die Frau Sonea entdeckte, ließ sie ihren Topf stehen, trat auf Sonea zu und verneigte sich.

»Wie kann ich Euch helfen, Mylady?«

»Küchendienst.« Sonea zuckte die Achseln. »Man hat mir gesagt, ich soll hier helfen.«

Die Frau starrte sie an. »Küchendienst?«

»Ja.« Sonea lächelte. »Nun, hier bin ich. Wo soll ich anfangen?«

»Novizen kommen niemals hierher«, erklärte die Frau. »Es gibt keinen Küchendienst.«

»Aber…« Die Worte erstarben in Soneas Kehle, als ihr klar wurde, dass man ihr einen Streich gespielt hatte. Als würde man von den Söhnen und Töchtern der Häuser jemals erwarten, dass sie in einer Küche arbeiteten! Die Frau musterte Sonea argwöhnisch.

»Es tut mir Leid, dass ich Euch gestört habe«, seufzte Sonea. »Ich glaube, ich bin auf einen Scherz hereingefallen.«

Lautes Gekicher übertönte den Lärm in der Küche. Die Frau blickte über Soneas Schulter und zog die Augenbrauen in die Höhe. Sonea drehte sich mit einem leichten Gefühl von Übelkeit um. In der Tür standen fünf ihrer Mitschüler, allesamt mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht. Als Sonea sie ansah, brachen die Novizen in unkontrolliertes Gelächter aus.

Der Lärm in der Küche verebbte. Mehrere Diener hatten in ihrer Arbeit innegehalten, um den Fortgang der Ereignisse zu beobachten. Heiße Röte stieg Sonea ins Gesicht. Sie biss die Zähne zusammen und machte einen Schritt auf die Tür zu.

»Oh nein. Du wirst nicht gehen«, rief Regin. »Du kannst hier bei den Dienern bleiben, wo du hingehörst. Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, stimmt das eigentlich nicht. Selbst Diener sind besser als die Leute aus den Hüttenvierteln.« Er wandte sich an die Küchenmagd. »Ich an Eurer Stelle würde auf der Hut sein. Sie ist eine Diebin - und sie wird es zugeben, wenn Ihr sie danach fragt. Passt auf, dass sie sich nicht mit einem Eurer Messer davonmacht und es Euch in den Rücken rammt, wenn Ihr nicht hinseht.«

Mit diesen Worten zog er die Tür hinter sich zu. Sonea versuchte, den Griff zu drehen, was ihr auch ohne weiteres gelang. Aber die Tür ließ sich trotzdem nicht öffnen. In der Luft über ihrer Hand konnte sie eine schwache Vibration wahrnehmen.

Magie? Wie konnten sie Magie benutzen? Keiner von ihnen hatte bisher die zweite Stufe gemeistert.

Hinter der Tür wurden Gekicher und gedämpftes Gemurmel laut. Sie erkannte Ahrinds Stimme, und Issles Lachen war unverwechselbar. Sie konnte auch Vallon und Kano lachen hören, und ihr fiel auf, dass die einzige Stimme, die sie nicht hörte, die von Regin war.

Was wahrscheinlich daran lag, dass er sich ganz darauf konzentrierte, die Tür mit Hilfe von Magie verschlossen zu halten. Mutlos ließ sie die Schultern sinken, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Regin hatte bereits die zweite Stufe und mehr gemeistert. Er konnte jetzt nicht nur Zugriff auf seine Kraft nehmen, sondern hatte auch gelernt, wie er sie einsetzen musste. Rothen hatte sie gewarnt, dass einige Novizen dieses Stadium möglicherweise sehr schnell erreichen würden. Aber warum musste es ausgerechnet Regin sein?

Als sie an die Monate dachte, in denen sie sich in Magie geübt hatte, lächelte sie grimmig. Er hatte noch immer eine Menge Arbeit vor sich. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete die Tür. Könnte sie seine Magie bezwingen? Wahrscheinlich, aber sie würde damit vielleicht die Tür zerstören. Sie wandte sich wieder an die Küchenmagd.

»Es muss noch einen anderen Weg hinaus geben. Würdet Ihr ihn mir bitte zeigen?«

Die Frau zögerte. In ihrem Gesicht war jetzt keine Freundlichkeit mehr zu sehen, nur Argwohn. Die Übelkeit, die Sonea verspürt hatte, verwandelte sich jäh in Wut.

»Also?«, fuhr sie die Dienerin an.

Die Augen der Frau weiteten sich, dann senkte sie den Blick. »Ja, Mylady. Folgt mir.«

Während die Frau zwischen den Bänken hindurchging, starrten die übrigen Dienstboten Sonea an, die sich jedoch von diesem Verhalten nicht beirren ließ. Die Frau führte sie in einen Lagerraum, der noch größer war als die Küche und in dem sich auf hohen Regalen Essen und Kochgeräte stapelten. Am anderen Ende des Lagerraums blieb die Frau vor einer Tür stehen, öffnete sie und deutete wortlos auf den Korridor dahinter.

»Vielen Dank«, sagte Sonea und verließ den Raum. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie sah sich in dem Korridor um. Er war ihr unvertraut, aber er musste schließlich irgendwohin führen. Seufzend ging sie weiter.


Die Stunden im Abendsaal hatten für ihn merklich an Interesse verloren, ging es Rothen durch den Kopf. In den letzten Monaten hatte er den wöchentlichen Zusammenkünften mit leichtem Unbehagen entgegengesehen, weil er mit Fragen nach dem rätselhaften Mädchen aus den Hüttenvierteln förmlich überschüttet worden war. Jetzt dagegen wurde er praktisch ignoriert.

»Dieses Mädchen aus Elyne muss man genau im Auge behalten«, erklang eine weibliche Stimme von der anderen Seite des Raums. »Lady Kinla zufolge wird es nicht lange dauern, bis sie ein privates Gespräch mit einer Heilerin wird führen müssen.«

Die Antwort konnte Rothen nicht verstehen.

»Bina? Mag sein. Oder meint Ihr…? Nein. Wer würde das wollen? Überlasst die Angelegenheit Rothen.«

Als Rothen seinen Namen hörte, hielt er Ausschau nach der Sprecherin. Er entdeckte zwei junge Heilerinnen, die neben einem Fenster standen. Eine der Frauen fing seinen Blick auf, errötete und sah hastig beiseite.

»Sie hat etwas Merkwürdiges an sich. Es ist etwas…«

Eine andere Stimme - Rothen erkannte sie, und ein Gefühl des Triumphs stieg in ihm auf. Es war Lord Elben, einer von Soneas Lehrern. Lautere Gespräche drohten seine Stimme zu übertönen, und Rothen schloss die Augen und konzentrierte sich, wie Dannyl es ihn gelehrt hatte.

»Sie passt nicht zu uns«, erklang eine zitternde Stimme. »Aber wer hätte das auch erwartet?«

Rothen runzelte die Stirn. Der zweite Sprecher war der Geschichtslehrer der Novizen im ersten Studienjahr.

»Das ist es nicht allein, Skoran«, beharrte Elben. »Sie ist zu still. Sie redet nicht einmal mit den anderen Novizen.«

»Die anderen mögen sie auch nicht besonders, nicht wahr?«

Ein trockenes Lachen. »Nein, aber daraus kann man ihnen wohl kaum einen Vorwurf machen.«

»Denkt an Lord Rothen«, sagte Skoran jetzt. »Der arme Mann. Glaubt Ihr, er hat gewusst, worauf er sich da einlässt? Ich würde mich ganz und gar nicht wohl fühlen, wenn sie jeden Abend in mein Quartier zurückkehrte. Von Garrel weiß ich, dass sie irgendwelche fantastischen Geschichten erzählt. Sie behauptet sogar, sie sei, als sie noch in den Hüttenvierteln lebte, einmal mit einem Messer auf einen Mann losgegangen. Ich hätte keine Lust, eine kleine Mörderin in meinem Quartier zu beherbergen, während ich schlafe.«

»Wunderbar! Ich hoffe, dass Rothen für den Fall des Falles nachts seine Tür absperrt.«

Die beiden Männer gingen weiter, und ihre Stimmen verblassten. Rothen öffnete die Augen wieder und betrachtete sein Weinglas. Dannyl hatte Recht gehabt. Dieser Sessel stand an einer günstigen Stelle, um die Gespräche anderer zu belauschen. Die Stammgäste des Abendsaals waren Dannyl zufolge stets zu erpicht darauf, ihre Meinungen kundzutun, um darauf zu achten, wer ihnen zuhörte.

Im Gegensatz zu Dannyl fühlte sich Rothen jedoch unwohl dabei, seinen Kollegen nachzuspionieren. Er stand auf und hielt nach Skoran und Elben Ausschau. Dann zwang er sich zu einem höflichen Lächeln und ging auf die beiden zu.

»Guten Abend, Lord Elben«, sagte er mit einem knappen Nicken. »Lord Skoran.«

»Lord Rothen«, begrüßten sie ihn ihrerseits höflich.

»Ich wollte mich nur erkundigen, was meine kleine Diebin so treibt.«

Die beiden Lehrer stutzten überrascht, dann stieß Elben ein nervöses Lachen aus.

»Sie macht sich gut«, sagte er. »Tatsächlich macht sie ihre Sache besser, als ich erwartet hatte. Sie lernt schnell, und ihre Kontrolle über ihre Kräfte ist ziemlich… fortgeschritten.«

»Sie hatte viele Monate Zeit, um zu üben, und wir haben ihre Stärke im Grunde noch nicht auf die Probe gestellt«, fügte Skoran hinzu.

Rothen lächelte. Nur wenige Magier hatten ihm geglaubt, als er berichtet hatte, wie stark Sonea sei, obwohl sie natürlich wussten, dass ein Magier sehr stark sein musste, damit seine Kräfte sich von selbst entwickelten.

»Ich freue mich schon darauf, Eure Meinung zu hören, wenn Ihr sie geprüft habt«, sagte er und trat beiseite.

»Bevor Ihr geht, noch ein Wort.« Skoran hob seine runzlige Hand. »Ich würde gern wissen, welche Fortschritte mein Enkelsohn Urlan in Chemie macht.«

»Ich habe keine Klagen über ihn.« Rothen drehte sich wieder zu dem Magier um. Während er sich in ein Gespräch über den Jungen verwickeln ließ, nahm er sich vor, Sonea zu fragen, ob die Lehrer sie anständig behandelten. Wenn man einen Novizen nicht mochte, war das niemals ein Grund, um seine Ausbildung zu vernachlässigen.


Administrator Lorlen blieb vor der Universität am Fuß der Außentreppe stehen und betrachtete die im Dunkel verschwimmenden Bauten der Gilde. Zu seiner Rechten lagen die Heilerquartiere, ein zweistöckiger Rundbau, der hinter den hohen Bäumen im Garten aufragte. Davor verlief die Straße, die zu den Dienstbotenquartieren führte und sich im Wald verlor, der sich über das gesamte Gelände der Gilde erstreckte. Direkt vor ihm befand sich die breite, kreisförmige Auffahrt. Sie führte in einem Halbkreis von den Toren zur Universität und in einem zweiten Halbkreis wieder zurück zu den Toren des Gildeviertels. Links davon lagen Stallungen, hinter denen ebenfalls Wald aufragte.

Zwischen dem Waldrand und den Gärten residierte der Hohe Lord. Im Gegensatz zu den anderen, weißen Gebäuden der Gilde schimmerten die grauen Mauern seiner Residenz nicht im Mondlicht, sondern zeichneten sich nur geisterhaft vor dem Wald ab. Akkarins Quartier war abgesehen von der Gildehalle das einzige Gebäude, das noch aus der Zeit stammte, da die Gilde sich formiert hatte. Seit mehr als sieben Jahrhunderten beherbergte es nun den mächtigsten Magier einer jeden Generation. Lorlen zweifelte nicht daran, dass der Mann, der jetzt dort lebte, einer der stärksten Magier war, der je dort residiert hatte.

Er holte tief Luft und ging langsam auf die Tür des Gebäudes zu.

Für den Augenblick musst du all diese Dinge vergessen, sagte er sich. Er ist ein alter Freund, der Akkarin, den du so gut kennst. Wir werden über Politik reden, über unsere Familien und über Angelegenheiten der Gilde. Du wirst versuchen, ihn zu einem Besuch im Abendsaal zu überreden, und er wird ablehnen.

Als Lorlen die Residenz erreichte, drückte er die Schultern durch. Wie immer öffnete sich die Tür, kaum dass er angeklopft hatte. Er verspürte eine gewisse Erleichterung darüber, dass weder Akkarin noch sein Diener erschienen, um ihn zu begrüßen.

Er nahm im Empfangszimmer Platz und sah sich um. Ursprünglich war dieser Raum eine Eingangshalle mit einer abgetretenen Treppe zu beiden Seiten gewesen. Akkarin hatte die Halle modernisiert, indem er die rückwärtig gelegenen Treppen durch Wände verblendet und den Raum mit dicken Teppichen und bequemen Möbeln ausgestattet hatte. So war ein sehr ansprechender, aber nicht mehr so großer Empfangsraum daraus geworden.

»Was haben wir denn da?«, erklang eine vertraute Stimme. »Ein unerwarteter Besucher.«

Lorlen drehte sich um und brachte ein Lächeln zustande, als er den schwarz gewandeten Mann begrüßte, der in der Tür zur Treppe stand.

»Guten Abend, Akkarin.«

Der Hohe Lord lächelte, und nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er zu einem schmalen Schrank, in dem sich ein Vorrat an Weinflaschen, eine Sammlung von Gläsern und silbernes Besteck befanden. Er wählte eine Flasche von ebendem Wein aus, den nicht mehr zu kaufen Lorlen am vergangenen Tag beschlossen hatte.

»Ich hätte dich um ein Haar nicht wiedererkannt, Lorlen. Du warst schon ziemlich lange nicht mehr hier.«

Lorlen hob die Schultern. »Unsere kleine Familie war in letzter Zeit recht anstrengend.«

Akkarin kicherte über Lorlens Verwendung ihres gemeinsamen Kosenamens für die Gilde. Er reichte Lorlen ein Weinglas, dann nahm er ebenfalls Platz. »Ah, sie sorgen dafür, dass du beschäftigt bist, und ab und zu darfst du sie für ihr gutes Benehmen belohnen. Lord Dannyl war eine interessante Wahl für den zweiten Botschafter in Elyne.«

Lorlens Herz setzte einen Schlag aus. Er verbarg sein Erschrecken hinter einem besorgten Stirnrunzeln. »Eine Wahl, die du nicht getroffen hättest?«

»Er ist wie geschaffen für diese Rolle. In seinen Verhandlungen mit den Dieben hat er sowohl Initiative als auch Kühnheit bewiesen.«

Lorlen zog eine Augenbraue in die Höhe. »Er hätte sich allerdings zuerst mit uns absprechen sollen.«

Akkarin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Höheren Magier hätten nur wochenlang darüber debattiert und dann die sicherste Entscheidung getroffen - und es wäre die falsche Entscheidung gewesen. Dannyl hat das vorausgesehen und die Missbilligung seiner Kollegen riskiert, um das Mädchen zu finden, was zeigt, dass er sich nicht von Autoritäten einschüchtern lässt, wenn deren Vorstellungen nicht zum Wohle anderer sind. Dieses Selbstbewusstsein wird er am Hof von Elyne dringend benötigen. Ich war überrascht, dass du mich nicht nach meiner Meinung gefragt hast, aber du wusstest gewiss, dass ich deine Entscheidung billigen würde.«

»Welche Neuigkeiten hast du für mich?«, fragte Lorlen.

»Nichts Aufregendes. Der König hat mich gefragt, ob die ›kleine Wilde‹, wie er Sonea nennt, in diesem Sommer in die Gilde aufgenommen worden sei. Ich habe seine Frage bejaht, und er war zufrieden. Dabei fällt mir übrigens ein anderer amüsanter Zwischenfall ein: Nefin vom Haus Maron hat gefragt, ob Fergun jetzt nach Imardin zurückkehren dürfe.«

»Schon wieder?«

»Es war das erste Mal, dass Nefin mir diese Frage gestellt hat. Der Letzte, der sich danach erkundigt hat, war Ganen, vor ungefähr drei Wochen. Wie es aussieht, hat jeder Mann und jede Frau aus dem Haus Maron die Absicht, mich auf dieses Thema anzusprechen. Es haben mich sogar schon Kinder gefragt, wann sie Onkel Fergun wiedersehen werden.«

»Und was hast du ihnen geantwortet?«

»Dass Onkel Fergun sehr, sehr ungezogen war, dass sie sich aber keine Sorgen machen müssten, da die netten Männer in der Festung aufpassen würden, dass er es während all der Jahre, die er dort bleiben werde, gut bei ihnen habe.«

Lorlen lachte. »Ich meinte, was hast du Nefin gesagt?«

»So ziemlich dasselbe. Nun, nicht mit genau denselben Worten natürlich.« Akkarin seufzte und strich sich über das Haar. »Sie geben mir nicht nur die Befriedigung, ihre Gesuche abzulehnen. Noch erfreulicher ist die Tatsache, dass ich seit Ferguns Abreise keine Heiratsanträge mehr aus dem Haus Maron bekommen habe. Was ein weiterer Grund ist, den Mann in der Festung zu belassen.«

Lorlen nahm einen Schluck von seinem Wein. Er war immer davon ausgegangen, dass Akkarin sich für die frivolen Frauen der Häuser herzlich wenig interessierte und sich irgendwann unter den Frauen der Gilde eine Gemahlin erwählen würde. Aber jetzt fragte er sich, ob Akkarin vielleicht beschlossen hatte, Junggeselle zu bleiben, um sein düsteres Geheimnis zu schützen.

»Sowohl das Haus Arran als auch das Haus Korin haben angefragt, ob wir Heiler für die Pflege ihrer Rennpferde erübrigen könnten«, bemerkte Akkarin nun.

Lorlen stieß einen verärgerten Seufzer aus. »Du hast ihnen natürlich mitgeteilt, dass das unmöglich sei?«

Akkarin zuckte die Achseln. »Ich habe geantwortet, dass ich darüber nachdenken werde. Vielleicht findet sich ja eine Möglichkeit, wie wir eine solche Bitte zu unserem Vorteil nutzen können.«

»Aber wir brauchen jeden Heiler, den wir haben.«

»Das stimmt. Andererseits neigen beide Häuser dazu, ihre Töchter unter Verschluss zu halten, als seien auch sie für Zuchtzwecke wertvoller als für alles andere. Wenn man sie dazu überreden könnte, diejenigen ihrer Mädchen, die Talent haben, zu uns zu schicken, hätten wir am Ende mehr als genug Heiler, um jene zu ersetzen, die uns verlassen, damit sie sich um die Pferde kümmern können.«

»In der Zwischenzeit hätten wir weniger Heiler, und diese wenigen müssten zusätzliche Zeit für die Ausbildung der neuen Mädchen verwenden«, wandte Lorlen ein. »Außerdem besteht die Möglichkeit, dass diese Mädchen sich nach ihrem Abschluss einer anderen Disziplin als der Heilkunst anschließen.«

Akkarin nickte. »Dann ist es eine Frage der Balance. Wir müssen genug Mädchen für die Gilde gewinnen, um sicherzustellen, dass wir die Heiler, die die Pferde versorgen sollen, ersetzen können. Unterm Strich werden wir mehr Heiler zur Verfügung haben, falls ein Unglück geschehen sollte, wie zum Beispiel ein Feuer oder ein Aufstand.« Akkarin klopfte mit seinen langen Fingern auf die Armlehne seines Sessels. »Außerdem hätte ein solches Vorgehen noch einen weiteren Vorteil. Lord Tepo ist vor einigen Monaten mit dem Wunsch an mich herangetreten, unsere Kenntnisse über die Heilkunst bei Tieren zu vergrößern. Seine Argumente waren ziemlich überzeugend. Dies könnte eine Möglichkeit für ihn sein, mit seinen Studien auf diesem Gebiet zu beginnen.«

Lorlen schüttelte den Kopf. »Für mich klingt das so, als würden wir damit nur die Zeit der Heiler verschwenden.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Ich werde die Sache mit Lady Vinara besprechen.« Er blickte zu Lorlen auf. »Und, hast du Neuigkeiten für mich?«

»Allerdings«, sagte Lorlen. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und seufzte. »Furchtbare Neuigkeiten. Neuigkeiten, die viele Mitglieder der Gilde erschrecken werden, die dich jedoch von uns allen am meisten betreffen werden.«

»Tatsächlich?« Akkarins Blick wurde schärfer.

»Hast du noch mehr von diesem Wein, den wir gerade trinken?«

»Das ist die letzte Flasche.«

»Oje.« Lorlen schüttelte den Kopf. »Dann ist die Situation schlimmer, als ich gedacht hatte. Ich fürchte, das war der letzte Rest. Ich habe beschlossen, keine neuen Vorräte anzuschaffen. Nach dem heutigen Tag wird es keinen anurenischen Dunkelwein für den Hohen Lord mehr geben.«

»Das sind deine Neuigkeiten?«

»Schrecklich, nicht wahr?« Lorlen beugte sich vor. »Bist du sehr ungehalten darüber?«

Akkarin schnaubte. »Natürlich! Warum hast du keinen Nachschub bestellt?«

»Sie wollten zwanzig Goldmünzen pro Flasche.«

»Pro Flasche!« Akkarin stieß einen Pfiff aus. »Eine weitere gute Entscheidung, obwohl du in dieser Angelegenheit wirklich zuerst mit mir hättest sprechen müssen. Ich hätte bei Hofe hier und da ein paar Worte fallen lassen können… nun, ich kann es immer noch.«

»Dann denkst du also, dass in einigen Wochen ein vernünftigeres Angebot auf meinem Schreibtisch liegen wird?«

Akkarin lächelte. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«

Einen Moment lang schwiegen sie beide, dann leerte Lorlen sein Glas und erhob sich. »Ich sollte mich wohl langsam auf den Weg zum Abendsaal machen. Kommst du mit?«

Akkarins Miene verdüsterte sich. »Nein, ich habe noch eine Verabredung in der Stadt.« Er blickte zu Lorlen auf. »Es war schön, dich wiederzusehen. Du solltest öfter herkommen. Ich möchte keine Zusammenkünfte mit dir vereinbaren, nur um herauszufinden, was in der Gilde gerade geredet wird.«

»Ich werde es versuchen.« Lorlen brachte ein Lächeln zustande. »Vielleicht solltest du häufiger einmal in den Abendsaal kommen. Dann würdest du selbst das eine oder andere Gerücht hören.«

Der Hohe Lord schüttelte den Kopf. »Wenn ich in der Nähe bin, sind alle immer so vorsichtig. Außerdem liegen meine Interessen außerhalb der Grenzen der Gilde. Unsere Familienskandale überlasse ich lieber dir.«

Lorlen stellte sein Weinglas auf den Tisch und ging zur Tür, die sich lautlos öffnete. Als er sich noch einmal zu Akkarin umdrehte, nippte dieser zufrieden an seinem Wein.

»Gute Nacht«, sagte er.

Akkarin hob zur Antwort sein Glas. »Viel Vergnügen.«

Als sich die Tür hinter ihm schloss, holte Lorlen tief Luft und verließ das Gebäude. Er dachte noch einmal darüber nach, was besprochen worden war. Akkarin hatte sich zustimmend über Dannyls Ernennung geäußert - was in Anbetracht der Umstände recht ironisch war. Der Rest des Gesprächs war entspannt und unbefangen gewesen; bei solchen Gelegenheiten konnte man die Wahrheit leicht vergessen. Aber Lorlen hatte schon oft darüber gestaunt, wie gut Akkarin sich darauf verstand, bei ihren Gesprächen Andeutungen über seine geheimen Aktivitäten zu machen. »Meine Interessen liegen außerhalb der Grenzen der Gilde.« Das dürfte, gelinde gesagt, der Wahrheit entsprechen.

Lorlen schnaubte leise. Zweifellos hatte Akkarin von seinen Besuchen bei Hofe und beim König gesprochen. Ich kann nicht umhin, seine Worte im Lichte dessen zu deuten, was ich weiß.

Die Besuche bei Akkarin hatten ihn vor Soneas Anhörung niemals so viel Kraft gekostet. Als er jetzt die Residenz des Hohen Lords verließ, war er müde und erleichtert, dass er es für diesmal geschafft hatte. Er dachte an sein Bett und schüttelte den Kopf. Er würde im Abendsaal noch endlose Fragen über sich ergehen lassen müssen, bevor er sich in sein Quartier davonstehlen konnte. Seufzend beschleunigte er seine Schritte.

5 Nützliche Fähigkeiten

Während Sonea darauf wartete, dass der Unterricht begann, schlug sie ihr Notizbuch auf, um darin zu lesen. Ein Schatten fiel über ihr Pult, und sie zuckte zusammen, als jemand sich plötzlich vorbeugte und nach einem ihrer Papiere griff. Sie versuchte verzweifelt, das Papier festzuhalten, aber sie war zu langsam.

»Nun, was haben wir denn da?« Regin schlenderte durch den Raum und lehnte sich an das Schreibpult des Lehrers. »Soneas Notizen.«

Sonea sah ihn kalt an. Die anderen Novizen beobachteten ihn voller Interesse. Regin überflog die Seite und lachte begeistert auf.

»Sehr euch nur diese Handschrift an!«, rief er und hielt das Blatt in die Höhe. »Sie schreibt wie ein Kind. Oh, und erst die Rechtschreibfehler!«

Sonea unterdrückte ein Stöhnen, als er zu lesen begann und dabei so tat, als hätte er größte Mühe, die Worte zu entziffern. Nach einigen Sätzen brach er ab und sinnierte laut über deren Bedeutung. Mehrere Novizen kicherten, und Sonea spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Dann machte Regin sich grinsend daran, die Rechtschreibfehler zu betonen, indem er jedes Wort buchstabengetreu vorlas, und schließlich hallte hemmungsloses Lachen durch den Raum.

Sonea stützte einen Ellbogen auf ihren Tisch, legte das Kinn in die Hand und versuchte, unbeeindruckt dreinzublicken, während ihr ganzer Körper abwechselnd heiß und kalt wurde und Wut und Demütigung miteinander wetteiferten.

Plötzlich straffte sich Regin und eilte zu seinem Platz zurück. Als das Gelächter verebbte, konnten sie von draußen Schritte hören. Eine in Purpur gewandete Gestalt erschien in der Tür. Lord Elben blickte auf die Klasse hinab, dann ging er zum Pult und stellte eine hölzerne Schatulle darauf.

»Feuer«, begann er zu sprechen, »ist wie ein lebendiges Geschöpf, und wie ein lebendiges Geschöpf hat es Bedürfnisse.«

Er öffnete die Schatulle und nahm eine Kerze und eine kleine Schale heraus. Mit einer schnellen Handbewegung spießte er die Kerze auf einen Dorn in der Mitte der Schale.

»Feuer braucht Luft und Nahrung, ebenso wie alle Geschöpfe. Glaubt jedoch nicht, es sei ein Geschöpf.« Er kicherte. »Das wäre töricht, aber andererseits dürft ihr nicht vergessen, dass es sich häufig so benimmt, als hätte es einen eigenen Willen.«

Irgendjemand hinter ihr unterdrückte ein Lachen. Sonea drehte sich um. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Kano verstohlen etwas an Vallon weiterreichte, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Ohne dass Lord Elben etwas davon bemerkte, diente ihre Handschrift der ganzen Klasse zur Erheiterung.

Sie holte tief Luft und seufzte leise. Die zweite Unterrichtswoche stellte keine Verbesserung gegenüber der ersten dar. Alle Novizen scharten sich inzwischen bei jeder Gelegenheit um Regin. Alle bis auf Shern, der eines Tages behauptet hatte, er könne das Sonnenlicht durch die Decke fallen sehen, und nach diesem Ausbruch war er dann urplötzlich verschwunden. Sonea wusste, dass sie in Regins kleiner Bande nicht willkommen war, ebenso wie sie wusste, dass Regin die Absicht hatte, sie zum Ziel all seiner Scherze und Streiche zu machen.

Sie war die Ausgestoßene. Aber im Gegensatz zu den Jungen, die vergebens versucht hatten, Aufnahme in Harrins Bande zu finden, konnte sie nicht einfach irgendwo anders hingehen. Sie musste es mit den anderen Novizen aushalten.

Also machte sie sich den einzigen Schutz zunutze, der ihr einfiel: Sie ignorierte sie. Wenn sie Regin und die anderen nicht damit belohnte, dass sie auf ihre kleinen Bosheiten reagierte, würden sie des Spiels schließlich müde werden und sie in Ruhe lassen.

»Sonea.«

Sie zuckte zusammen und stellte fest, dass Lord Elben sie missbilligend betrachtete. Ihr Herz begann zu hämmern. Hatte er mit ihr gesprochen? War sie so mit ihrem Selbstmitleid beschäftigt gewesen, dass sie ihn nicht gehört hatte? Würde er sie vor der Klasse zurechtweisen?

»Ja, Lord Elben?«, sagte sie und machte sich auf eine weitere Demütigung gefasst.

»Du wirst als Erste versuchen, diese Kerze zu entzünden«, sagte er. »Vorher möchte ich dir noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass die Erzeugung von Wärme einfacher ist, wenn…«

Erleichtert konzentrierte Sonea ihren Willen auf die Kerze. Sie konnte beinahe Rothens Stimme hören, als seine Anweisungen sich in ihrem Kopf noch einmal abspulten. »Nimm ein klein wenig Magie zu Hilfe, strecke deinen Willen aus, konzentriere deinen Geist auf den Docht, forme die Magie, und lass sie frei…« Im nächsten Moment spürte sie, wie ein kleiner Splitter ihrer Kraft auf den Docht übersprang, und eine Flamme erwachte zum Leben.

Lord Elben, der den Mund noch immer geöffnet hatte, blinzelte überrascht. »…vielen Dank, Sonea«, beendete er seinen Satz. Dann sah er die übrigen Novizen an. »Ich habe Kerzen für euch alle. Eure Aufgabe heute Morgen besteht darin, zu lernen, wie ihr sie anzünden könnt. Anschließend werdet ihr euch darin üben, die Flammen möglichst schnell und mit so wenig Konzentration wie möglich zu entfachen.«

Er nahm einige Kerzen aus der Schachtel und stellte eine vor jeden der Novizen hin. Sie machten sich sofort ans Werk. Sonea beobachtete sie, und ihre Erheiterung wuchs, als sie sah, dass keine Kerze, nicht einmal die von Regin, zu brennen begann.

Elben kehrte an sein Pult zurück und nahm eine mit blauer Flüssigkeit gefüllte Glaskugel heraus, die er zu Sonea brachte und auf ihren Tisch stellte.

»Das ist eine Übung, die dich Raffinesse lehren wird«, erklärte er ihr. »Die Substanz in diesem Behälter reagiert auf die Temperatur. Wenn du sie langsam und gleichmäßig erwärmst, wird sie rot. Wenn du es nicht tust, werden sich Bläschen bilden, die sich erst nach einigen Minuten wieder auflösen. Ich möchte Rot sehen, keine Bläschen. Ruf mich, wenn du es geschafft hast.«

Sonea nickte und wartete, bis er zu seinem Pult zurückgekehrt war, dann konzentrierte sie sich auf die Kugel. Anders als beim Entzünden einer Kerze brauchte sie hier nur Wärmeenergie. Also holte sie tief Luft und formte ein wenig Magie zu einem sanften Nebel, der das Glas gleichmäßig erhitzen sollte. Die Flüssigkeit darin verdunkelte sich zu einem tiefen Rotton.

Befriedigt blickte sie auf und stellte fest, dass Elben mit Regin redete.

»Ich verstehe das nicht«, sagte der Junge.

»Versuch es noch einmal«, erwiderte Elben.

Regin starrte auf die Kerze in seiner Hand, und seine Augen wurden schmal.

»Lord Elben?«, fragte Sonea vorsichtig. Der Lehrer drehte sich zu ihr um.

»Man muss also praktisch Magie in den Docht hineindenken?«, sprach Regin weiter und zog auf diese Weise Elbens Aufmerksamkeit wieder auf sich.

»Ja«, sagte Elben, in dessen Stimme jetzt eine Spur Ungeduld mitschwang. Als Regin sich wieder seiner Kerze zuwandte, kam der Lehrer zu Sonea und betrachtete ihre Kugel. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nicht heiß genug.«

Sonea sah, dass die Flüssigkeit in dem Glas zu einem Purpurton abgekühlt war. Stirnrunzelnd konzentrierte sie sich von neuem, und die Substanz wurde wieder rot.

Regin zuckte auf seinem Stuhl zusammen und heulte vor Schmerz und Überraschung auf. Seine Kerze war verschwunden, und seine Hände waren mit geschmolzenem Wachs überzogen, das er verzweifelt abzuschälen versuchte. Soneas Mundwinkel zuckten, und sie legte hastig eine Hand auf die Lippen.

»Hast du dich verbrannt?«, fragte Elben besorgt. »Wenn du willst, kannst du zu den Heilern gehen.«

»Nein«, antwortete Regin schnell. »Alles in Ordnung.«

Elben hob die Augenbrauen. Dann zuckte er die Achseln, holte eine neue Kerze und stellte sie auf Regins Pult. »Macht euch wieder an die Arbeit«, blaffte er die übrigen Novizen an, die allesamt auf Regins gerötete Hände starrten.

Elben ging zu Soneas Tisch hinüber, blickte auf die Kugel hinab und nickte. »Mach weiter«, sagte er. »Zeig mir, was du kannst.«

Abermals konzentrierte sich Sonea auf die Glaskugel, und die Flüssigkeit erwärmte sich. Elben nickte zufrieden. »Gut. Ich habe noch eine weitere Übung für dich.« Als er zu seiner Schatulle zurückkehrte, sah Sonea, dass Regin sie beobachtete. Wieder stahl sich ein Lächeln auf ihre Züge, und sie bemerkte, dass Regin die Fäuste ballte. Dann klopfte Elben im Vorbeigehen auf das Pult des Jungen.

»Zurück an die Arbeit, und zwar alle.«


Dannyl lehnte sich an die Reling und atmete genüsslich die salzige Luft ein.

»Kranker Bauch draußen nicht so schlimm, yai?«

Er drehte sich um und sah Jano näher kommen; der kleine Mann bewegte sich mit bewundernswerter Leichtfüßigkeit auf dem wankenden Deck.

»Magier nie seekrank sein«, bemerkte Jano, als er ihn erreicht hatte.

»O doch«, gestand Dannyl. »Aber wir können die Übelkeit heilen. Das bedarf jedoch einer gewissen Aufmerksamkeit, und wir können uns nicht ständig darauf konzentrieren.«

»Ah… du nicht krank, wenn denken nicht krank, aber manchmal vergessen denken?«

Dannyl lächelte. »Ja, das stimmt.«

Jano nickte. Hoch oben im Mast läutete einer der Matrosen jetzt eine Glocke und rief einige Worte in der Sprache der Vindo.

»Hat er Capia gesagt?«, fragte Dannyl.

»Capia, yai!« Jano drehte sich um und blickte in die Ferne. »Du sehen?«

Dannyl blickte in die Richtung, in die Jano zeigte, konnte dort aber nichts entdecken als eine in Nebel gehüllte, nichtssagende Küstenlinie. Er schüttelte den Kopf. »Du hast bessere Augen als ich«, sagte er.

»Vindo gut Augen haben«, pflichtete Jano ihm voller Stolz bei. »Deshalb wir Seefahrer.«

»Jano!«, donnerte eine strenge Stimme.

»Gehen muss.«

Dannyl sah dem Vindo nach, dann wandte er sich wieder der Küste zu. Da er die Hauptstadt von Elyne noch immer nicht erkennen konnte, beobachtete er müßig, wie der Bug durch die Wellen schnitt. Das sanfte Spiel der Wogen hatte während der ganzen Reise eine beruhigende und beinahe hypnotische Wirkung auf ihn gehabt, und es faszinierte ihn immer wieder aufs Neue, wie das Meer je nach Tageszeit und Witterung seine Farbe veränderte.

Als er wieder aufblickte, waren sie dem Land näher gekommen, und er konnte winzige, bleiche Rechtecke oberhalb des Ufers ausmachen - ferne Gebäude. Ein Schauer überlief ihn, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Küste kam jetzt immer näher.

Eine große Lücke zwischen den Gebäuden erwies sich als die Einfahrt zu einer vor der Brandung geschützten Bucht. Dannyl hielt den Atem an. Die Häuser zu beiden Seiten bildeten die Arme einer Stadt, die die ganze Bucht umfassten. Hinter einer Schutzmauer zum Wasser hin erhoben sich prächtige Bauten, Kuppeln und hohe Türme, die bis in den Himmel ragten und teilweise durch steinerne Bogengänge miteinander verbunden waren.

»Der Kapitän lässt Euch bitten, zu ihm zu kommen, Mylord.«

Dannyl nickte dem Matrosen, der ihm die Botschaft überbracht hatte, freundlich zu, dann ging er zum Kapitän, der am Steuerrad stand. Ringsum eilten die Seeleute umher, überprüften die Taue und gaben einander kurze Anweisungen in der Sprache der Vindo.

»Ihr habt mich rufen lassen, Kapitän?«

Der Mann nickte. »Ich möchte lediglich, dass Ihr hier bleibt, wo Ihr niemandem im Weg seid, Mylord.«

Dannyl stellte sich auf den Platz, den Numo ihm zugewiesen hatte, und beobachtete das Geschehen. Numo brüllte einen Befehl in seiner Muttersprache und machte sich daran, das Rad zu drehen. Die Mannschaft gehorchte auf der Stelle. Seile wurden angezogen, und die Segel schwangen langsam herum und fielen kurz zusammen, als kein Wind mehr in ihnen stand. Das Schiff schwankte und neigte sich zur Seite.

Dann füllten sich die Segel wieder. Die Mannschaft belegte die Leinen, mit denen die Segel geführt wurden, und wartete dann auf weitere Befehle.

Als sie der Küste deutlich näher gekommen waren, wurde die Prozedur wiederholt. Diesmal glitt das Schiff mühelos in die Bucht. Der Kapitän drehte sich zu Dannyl um.

»Seid Ihr schon einmal in Capia gewesen, Mylord?«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein.«

Numo deutete auf die Stadt. »Hübsch.«

Inzwischen waren schlichte Fassaden und Säulen in Sicht gekommen. Im Gegensatz zu den vornehmen Häusern von Kyralia waren nur wenige der Gebäude kunstvoll verziert; dafür hatte man einige Türme und Kuppeln spiral- und fächerförmig angelegt.

»Bei Sonnenuntergang ist die Stadt noch schöner«, erklärte Numo. »Ihr solltet Euch einmal abends ein Boot mieten und Euch einen Sonnenuntergang ansehen.«

»Das werde ich tun«, erwiderte Dannyl leise. »Das werde ich ganz gewiss tun.«

Die Mundwinkel des Kapitäns zuckten, so dass es beinahe so aussah, als lächelte er, eine Regung, die Dannyl bei dem Mann bisher noch nie gesehen hatte. Er wurde jedoch schnell wieder ernst und erteilte seinen Matrosen neuerliche Befehle. Die Segel wurden von unten nach oben ein Stück zusammengerollt, um die Segelfläche zu verkleinern. Das Schiff verlangsamte sein Tempo und glitt auf eine Lücke zwischen den vielen tausend Booten zu, die in der Bucht vor Anker lagen. An der Kaimauer vor ihnen waren bereits etliche andere Schiffe vertäut.

»Holt jetzt Eure Sachen aus Eurer Kajüte«, sagte Numo über die Schulter hinweg. »Wir legen bald an, Mylord. Wir schicken jemanden zu Euren Leuten, damit sie Euch abholen kommen.«

»Vielen Dank, Kapitän.« Dannyl ging in seine Kajüte hinunter. Während er sich davon überzeugte, dass er alles eingepackt hatte, spürte er, wie das Schiff seine Fahrt verlangsamte und beidrehte. Schließlich ging ein leichter Ruck durch das Schiff. Sie hatten am Kai angelegt.

Als Dannyl wieder aufs Deck kam, machten die Matrosen das Schiff gerade mit langen Trossen an schweren Eisenringen an der Kaimauer fest. An die Schiffswand waren zum Kai hin große, aufgeblähte Säcke gehängt worden, zum Schutz der hölzernen Beplankung des Schiffsrumpfes. An der Kaimauer verlief etwas unterhalb des Decks ein schmaler Gang, von dem aus an beiden Enden eine Treppe nach oben auf den Kai führte.

Der Kapitän und Jano standen an der Reling. »Ihr könnt jetzt gehen, Mylord«, sagte Numo und verneigte sich. »Es war mir eine Ehre, Euch an Bord zu haben.«

»Danke«, erwiderte Dannyl. »Es war mir eine Ehre, mit Euch zu fahren, Kapitän Numo«, fügte er auf Vindo hinzu. »Ich wünsche Euch weiterhin gute Fahrt.«

Numos Augen weiteten sich vor Überraschung. Dann verneigte er sich steif und ging davon.

Jano grinste. »Er dich mögen. Magier sonst nie versuchen sein höflich mit uns.«

Dannyl nickte. Diese Mitteilung erstaunte ihn keineswegs. Während vier Matrosen mit Dannyls Gepäck erschienen, bedeutete Jano Dannyl, ihm zu folgen, und sie gingen nacheinander über die Laufplanke zu dem schmalen Gang auf halber Höhe der Kaimauer hinüber. An Land blieb Dannyl nach einigen Schritten stehen, denn er hatte das Gefühl, dass die Mauer unter seinen Füßen schwankte und schlingerte. Er trat beiseite, um die Matrosen mit den Truhen vorbeigehen zu lassen. Jano drehte sich nach ihm um, und als er Dannyls verwirrte Miene sah, lachte er.

»Beine an festen Boden gewöhnen müssen«, rief er. »Wird nicht dauern lange.«

Dannyl, der sich mit einer Hand an der Mauer abstützte, folgte den Seeleuten die Treppe hinauf. Oben angekommen, fand er sich auf einer breiten, belebten Straße wieder, die um den Hafen herumführte. Die Matrosen stellten die Truhen ab und hockten sich auf die Mauerkante, offenkundig vollauf zufrieden damit, nichts anderes zu tun, als dem Treiben zuzusehen.

»Wir hatten gute Reise«, meinte Jano. »Guten Wind. Keine Stürme.«

»Keine Fischegel«, fügte Dannyl hinzu.

Jano lachte und schüttelte den Kopf. »Keine Eyoma. Sie schwimmen im Nordmeer.« Er hielt inne. »Du guter Mann sein für deine Sprache üben. Ich haben gelernt neue Worte.«

»Und ich habe einige Wörter in Vindo gelernt«, erwiderte Dannyl. »Nicht so viele, dass ich mich am Hof von Elyne verständlich machen könnte, aber sie werden recht nützlich sein, sollte ich jemals eine Taverne in Vin aufsuchen.«

Der kleine Mann grinste. »Wenn du kommen Vin, herzlich eingeladen Gast bei Janos Familie.«

Dannyl drehte sich überrascht zu dem Mann um. »Vielen Dank«, sagte er.

Jano deutete auf die Straße. »Da deine Leute.«

Dannyl hielt Ausschau nach einer schwarzen Kutsche mit den aufgemalten Symbolen der Gilde, konnte aber keine entdecken. Jano trat einen Schritt auf die Treppe zu.

»Ich jetzt gehen. Gute Fahrt, Mylord.«

Dannyl nickte dem Mann lächelnd zu. »Gute Fahrt, Jano.«

Der Matrose grinste, dann lief er die Treppe hinunter. Dannyl wandte sich wieder der Straße zu, aber eine Kutsche aus poliertem rotem Holz blieb direkt vor ihm stehen und versperrte ihm die Sicht. Dann dämmerte ihm die Erkenntnis, als ein Matrose von der Fin-da vom Kutschbock sprang und den anderen Seeleuten half, die Truhen auf den Wagen zu laden.

Der Wagenschlag wurde geöffnet, und ein elegant gekleideter Mann stieg aus. Einen Moment lang war Dannyl sprachlos. Er hatte schon früher Höflinge aus Elyne gesehen, und es hatte ihn ungemein erleichtert, dass er die lächerlichen Prunkgewänder, die am dortigen Hof in Mode waren, selbst nicht würde tragen müssen. Dennoch musste er zugeben, dass die kunstvolle, eng anliegende Gewandung diesem hübschen jungen Mann ausnehmend gut stand. Mit einem solchen Gesicht, ging es Dannyl durch den Kopf, muss er sich bei den Damen größter Beliebtheit erfreuen.

Der Mann trat zögernd auf ihn zu. »Botschafter Dannyl?«

»Ja.«

»Ich bin Tayend von Tremmelin.« Der Mann machte eine anmutige Verbeugung.

»Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen«, erwiderte Dannyl.

»Die Ehre ist ganz meinerseits, Botschafter Dannyl«, antwortete Tayend. »Ihr seid gewiss müde nach der Reise. Ich werde Euch direkt zu Eurem Haus bringen.«

»Vielen Dank.« Dannyl fragte sich, warum man ihm diesen Mann anstelle eines Dieners geschickt hatte, und musterte Tayend forschend. »Gehört Ihr der Gilde an?«

»Nein.« Tayend lächelte. »Ich komme von der Großen Bibliothek. Euer Administrator hat mich darum gebeten, Euch hier abzuholen.«

»Ich verstehe.«

Tayend deutete auf die Tür der Kutsche. »Nach Euch, Mylord.«

Dannyl stieg ein, und die luxuriöse Inneneinrichtung des Wagens entlockte ihm einen leisen, anerkennenden Seufzer. Nach so vielen Tagen in einer winzigen Kajüte, die wenig Luxus zu bieten hatte, freute er sich auf ein Bad und etwas Einfallsreicheres zu essen als Suppe und Brot.

Tayend nahm auf der Bank gegenüber Platz, dann klopfte er an die Decke, um dem Kutscher das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, warf Tayend einen kurzen Blick auf Dannyls Robe und sah dann rasch wieder beiseite. Er schluckte hörbar und rieb seine Hände an der Hose.

Dannyl verkniff sich ein Lächeln angesichts der Nervosität des anderen Mannes und dachte über all die Dinge nach, die er über den elynischen Hof wusste. Er hatte noch nie von Tayend von Tremmelin gehört, obwohl er hier und da etwas über andere Mitglieder dieser Familie gelesen hatte.

»Welche Position bekleidet Ihr bei Hof, Tayend?«

Der junge Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Eine sehr geringe. Ich meide den Hof, und meistens meidet er mich.« Er sah Dannyl an und lächelte verlegen. »Ich bin ein Gelehrter. Den größten Teil meiner Zeit verbringe ich in der Großen Bibliothek.«

»Die Große Bibliothek«, wiederholte Dannyl. »Ich hatte schon immer den Wunsch, sie mir eines Tages anzusehen.«

Tayends Miene hellte sich auf. »Sie ist wunderbar. Ich werde Euch morgen hinbringen, wenn Ihr wollt. Meiner Erfahrung nach wissen Magier Bücher auf eine Art und Weise zu schätzen, die den meisten Höflingen abgeht. Euer Hoher Lord hat vor Jahren viele Wochen in der Bibliothek verbracht - das war natürlich lange bevor er zum Hohen Lord wurde.«

Dannyl sah den jungen Mann an, und sein Pulsschlag beschleunigte sich. »Ach ja? Was hatte derart sein Interesse geweckt?«

»Alles Mögliche«, antwortete Tayend mit leuchtenden Augen. »Ich war für einige Tage sein Assistent. Irand - der Erste Bibliothekar - konnte mich, als ich noch ein Junge war, nie von der Bibliothek fern halten, also hat er mich als Laufburschen in Dienst genommen. Lord Akkarin hat sämtliche unserer ältesten Bücher gelesen. Er hat nach irgendetwas gesucht, aber ich habe nie herausgefunden, was genau das war. Es war ein großes Rätsel. Eines Tages kam er nicht zur gewohnten Zeit, ebenso wenig wie am nächsten Tag, deshalb haben wir uns nach ihm erkundigt. Er hatte seine Sachen gepackt und war ganz plötzlich abgereist.«

»Wie interessant«, bemerkte Dannyl. »Ich wüsste zu gern, ob er gefunden hat, wonach er suchte.«

Tayend blickte aus dem Fenster. »Ah! Wir haben Euer Quartier fast erreicht. Soll ich Euch morgen abholen - oh, Ihr werdet gewiss zuerst bei Hof vorsprechen wollen, nicht wahr?«

Dannyl lächelte. »Ich werde Euer Angebot annehmen, Tayend, aber ich kann noch nicht sagen, wann. Soll ich euch eine Nachricht schicken, sobald ich es weiß?«

»Natürlich.« Als die Kutsche zum Stehen kam, entriegelte Tayend die Tür und drückte sie auf. »Schickt mir einen Brief an die Große Bibliothek - oder kommt einfach vorbei. Ich bin tagsüber immer dort zu finden.«

»Das werde ich tun«, versprach Dannyl. »Und vielen Dank, dass Ihr mich vom Hafen abgeholt habt, Tayend von Tremmelin.«

»Es war mir eine Ehre, Mylord«, erwiderte der junge Mann.

Dannyl stieg aus der Kutsche und fand sich vor einem großen, dreistöckigen Haus wieder. Hohe Säulen umrahmten eine breite Veranda. Die beiden mittleren Säulen standen besonders weit auseinander, und der Sturz zwischen ihnen war zu einem Bogen aufgewölbt wie beim Eingang zur Universität der Gilde in Kyralia. Die dahinterliegenden Flügeltüren waren ebenfalls denen der Universität originalgetreu nachgemacht.

Vier Diener luden das Gepäck aus der Kutsche, und ein fünfter trat vor und verneigte sich.

»Botschafter Dannyl. Willkommen im Haus der Gilde von Capia. Bitte, folgt mir.«

Hinter sich hörte Dannyl eine kultivierte Stimme den Titel im Flüsterton wiederholen. Er widerstand dem Drang, sich nach Tayend umzudrehen; stattdessen lächelte er nur und folgte dem Diener ins Haus. Der junge Gelehrte hatte offensichtlich gehörigen Respekt vor Magiern.

Dann wurde er mit einem Schlag wieder ernst. Tayend hatte Akkarin vor zehn Jahren kennen gelernt und ihm bei seiner Arbeit geholfen. Lorlen hatte dafür gesorgt, dass der Gelehrte ihn vom Hafen abholte. Zufall? Er bezweifelte es. Lorlen wünschte offensichtlich, dass er bei seinen Nachforschungen auf dem Gebiet alter Magie mit Tayend zusammenarbeitete.


In dem kleinen Garten war der Geruch der Blumen beinahe unerträglich süß. Irgendwo im Hintergrund plätscherte, unsichtbar in der nächtlichen Dunkelheit, ein Springbrunnen. Lorlen streifte die Blütenblätter ab, die auf seine Robe gefallen waren.

Der Mann und die Frau, die auf der Bank ihm gegenüber saßen, waren entfernte Verwandte und Mitglieder desselben Hauses wie Lorlen. Er war mit ihrem ältesten Sohn, Walin, aufgewachsen, bevor er sich der Gilde angeschlossen hatte. Obwohl Walin jetzt in Elyne lebte, unternahm Lorlen immer noch gern gelegentlich einen Besuch bei den Eltern seines alten Freundes, vor allem dann, wenn Derrils Garten sich von seiner schönsten Seite zeigte.

»Barran macht sich recht gut«, bemerkte Velia, deren Augen im Schein der Fackeln glänzten. »Er ist davon überzeugt, dass man ihn nächstes Jahr zum Hauptmann befördern wird.«

»So bald schon?«, erwiderte Lorlen. »Er hat viel erreicht in den letzten fünf Jahren.«

Derril lächelte. »Das hat er allerdings. Es tut gut zu sehen, dass unser Jüngster zu einem so verantwortungsbewussten Mann herangewachsen ist - obwohl Velia ihn maßlos verwöhnt.«

»Ich verwöhne ihn überhaupt nicht mehr«, protestierte sie. »Aber ich werde sehr froh sein, wenn er nicht länger in den Straßen auf Patrouille gehen muss«, fügte sie hinzu. Ihr Lächeln war plötzlich wie weggewischt.

»Hmmm.« Derril sah seine Frau stirnrunzelnd an. »Da muss ich Velia Recht geben. Die Stadt wird von Jahr zu Jahr gefährlicher. Diese Morde in der letzten Zeit waren so schlimm, dass selbst der mutigste Mann des Nachts seine Türen verschließt.«

»Morde?«, hakte Lorlen nach.

»Habt Ihr etwa noch nichts davon gehört?« Derril zog die Augenbrauen hoch. »Das wundert mich. Schließlich herrscht in der Stadt große Aufregung deswegen.«

Lorlen schüttelte den Kopf. »Möglich, dass man mir davon erzählt hat, aber ich war in letzter Zeit vollauf mit den Ereignissen in der Gilde beschäftigt. Was die Angelegenheiten der Stadt betrifft, bin ich nicht auf dem Laufenden.«

»Ihr solltet zusehen, dass Ihr öfter mal aus Eurem Bau herauskommt«, meinte Derril missbilligend. »Es überrascht mich, dass diese Vorfälle nicht Euer Interesse erregt haben. Es heißt, es seien die schlimmsten Mordfälle, die die Stadt seit mehreren hundert Jahren erlebt hat. Velia und ich wissen durch Barran natürlich mehr darüber.«

Lorlen verkniff sich ein Lächeln. Derril fand großes Vergnügen daran, die »geheimen« Informationen weiterzugeben, die er von seinem Sohn erhielt. Und mehr noch, er genoss es, stets der Erste zu sein, der Neuigkeiten erfuhr. Wie sehr es ihn befriedigt haben musste, der Erste gewesen zu sein, der dem Administrator der Magiergilde von diesen Verbrechen berichtete! »Dann solltet Ihr mir besser mehr darüber erzählen - bevor noch jemand von meiner Unwissenheit erfährt«, erklärte Lorlen.

Derril beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Das Beängstigende an diesem Mörder ist, dass er eine Art Ritual vollzieht, wenn er seine Opfer tötet. Vor zwei Tagen ist eine Frau Zeugin eines dieser Morde gewesen. Sie hatte gerade in der Kleiderkammer zu tun gehabt, als sie hörte, dass ihr Dienstherr mit einem Fremden kämpfte. Als ihr klar wurde, dass die beiden ins Zimmer kommen würden, versteckte sie sich in einem Schrank. Sie sagte, der Fremde habe ihren Herrn gefesselt und dann ein Messer gezogen, um ihm das Hemd aufzuschneiden. Anschließend habe der Mann kleine Kratzer in den Körper seines Opfers geritzt, fünf auf jede Schulter.« Derril legte die Finger auf seine Schulter. »An diesen Schnittwunden erkennt die Garde, dass es sich immer um denselben Mörder handelt. Die Frau berichtete weiter, der Mörder habe die Finger auf die Schnittwunden gelegt und dabei eine Formel gemurmelt. Nachdem er seinen eigenartigen Gesang beendet hatte, habe er dem Mann die Kehle durchgeschnitten.«

Velia räusperte sich angeekelt und stand auf. »Entschuldigt mich, aber diese Geschichte macht mir Angst.« Sie eilte ins Haus.

»Die Dienerin hat noch mehr gesagt«, fügte Derril hinzu. »Ihrer Meinung nach war der Mann bereits tot, als der Mörder ihm die Kehle aufschlitzte. Barran sagt, die Schnittwunden an den Schultern des Mannes genügten nicht, um jemanden zu töten, und es gebe auch keine Hinweise auf Gift. Ich glaube, er ist zu dem Schluss gekommen, dass der Mann das Bewusstsein verloren haben muss. Ich selbst wäre gewiss halb tot gewesen vor Angst… Ist alles in Ordnung mit Euch, Lorlen?«

Lorlen zwang seine starren Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln. »Ja«, log er. »Ich kann nur nicht fassen, dass ich bisher noch nichts von diesen Vorfällen gehört habe. Konnte die Frau den Mörder beschreiben?«

»Sie wusste nichts, was Barran weitergeholfen hätte. Sie meinte, sie habe kaum etwas sehen können, weil es dunkel war und sie durch ein Schlüsselloch schaute, aber der Mann habe dunkles Haar gehabt und sei schäbig gekleidet gewesen.«

Lorlen atmete tief durch. »Und er hat irgendwelche Formeln gemurmelt, sagt Ihr. Wie seltsam.«

Derril nickte. »Bevor Barran der Garde beigetreten ist, hatte ich keine Ahnung, dass es so viel Verdorbenheit auf der Welt gibt. Wozu manche Menschen doch imstande sind!«

Lorlen, der an Akkarin dachte, nickte. »Ich wüsste gern mehr über diese Angelegenheit. Würdet Ihr mich auf dem Laufenden halten, wenn Euch etwas Neues zu Ohren kommen sollte?«

Derril grinste. »Ich habe Euer Interesse geweckt, nicht wahr? Ihr sollt Eure Informationen haben!«

6 Ein unerwarteter Vorschlag

Rothen blickte überrascht auf, als Sonea den Raum betrat.

»Schon zurück?« Er besah sich ihre Robe. »Oh. Was ist passiert?«

»Regin.«

»Wieder einmal?«

»Andauernd.« Sonea warf ihr Notizbuch auf den Tisch. Sofort bildete sich eine kleine Wasserpfütze um das Buch herum. Sie schlug es auf und stellte fest, dass all ihre Aufzeichnungen durchweicht waren und die Tinte verlief. Stöhnend machte sie sich klar, dass sie alles noch einmal würde abschreiben müssen. Mutlos drehte sie sich um und ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen.

Am Eingang der Universität war Kano ihr plötzlich in den Weg gesprungen und hatte ihr eine Hand voll Essen ins Gesicht gedrückt. Daraufhin war sie zu dem Springbrunnen in der Mitte des Innenhofs gegangen, um sich zu waschen, aber als sie sich über das Becken gebeugt hatte, war ihr das Wasser entgegengeflutet und hatte sie bis auf die Haut durchnässt.

Seufzend öffnete sie ihren Kleiderschrank, nahm ein altes Hemd und eine Hose heraus und zog sie an. Dann las sie die durchweichte Robe vom Boden auf und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

»Lord Elben hat gestern etwas Interessantes gesagt.«

Rothen runzelte die Stirn. »Was denn?«

»Er meinte, ich sei der Klasse um mehrere Monate voraus - fast so gut wie die Novizen des Winterhalbjahres.«

Er lächelte. »Du hattest vor Beginn des Unterrichts etliche Monate Zeit zum Üben.« Sein Lächeln verblasste, als er ihre Kleider sah. »Es ist Vorschrift, dass Novizen zu jeder Zeit Roben tragen, Sonea. So kannst du unmöglich zum Unterricht gehen.«

»Ich weiß, aber ich habe keine sauberen Roben mehr. Tania wird mir heute Abend einige gewaschene Gewänder zurückbringen.« Sie hielt die tropfende Robe ein Stück von sich weg. »Es sei denn, Ihr könntet die hier für mich trocknen?«

»Das solltest du mittlerweile eigentlich selbst können.«

»Das kann ich auch, aber ich darf Magie nur dann benutzen, wenn…«

»…wenn ein Magier dich unterweist«, beendete Rothen den Satz. Er kicherte. »Diese Regel ist recht biegsam, Sonea. Im Allgemeinen gilt darüber hinaus Folgendes: Wenn ein Lehrer dich dazu anhält, das Gelernte zu üben, steht es dir frei, das auch außerhalb des Unterrichts zu tun, es sei denn, der Lehrer hätte es ausdrücklich verboten.«

Sie grinste und besah sich die Robe. Weißer Dunst stieg aus dem Stoff auf, während sie ihn erwärmte. Als die Robe trocken war, legte sie sie beiseite und nahm sich ein Kuchenstück, das von der Morgenmahlzeit übrig geblieben war.

»Ihr habt einmal gesagt, dass ein außergewöhnlich begabter Novize in eine höhere Klasse aufrücken dürfe. Was müsste ich tun, um das zu erreichen?«

Rothen zog die Augenbrauen hoch. »Du müsstest sehr viel arbeiten. Du magst in der Anwendung von Magie recht fortgeschritten sein, aber deine Kenntnisse und dein Verständnis der Dinge müssten sich deutlich verbessern.«

»Es wäre also möglich?«

»Ja«, sagte er langsam. »Wenn wir jeden Abend und auch an den Freitagen arbeiten, könntest du ungefähr in einem Monat die Halbjahresprüfungen bestehen, aber damit würde die harte Arbeit keineswegs enden. Sobald du in die nächste Klasse aufgerückt wärst, müsstest du den Stoff nachholen, den die Winternovizen bereits durchgenommen haben. Wenn du bei der Jahresprüfung für Erstklässler scheiterst, würdest du wieder in die Sommerklasse zurückversetzt werden. Das bedeutet, dass du in jedem Fall zwei oder drei Monate lang sehr hart würdest arbeiten müssen.«

»Ich verstehe.« Sonea biss sich auf die Unterlippe. »Ich möchte es versuchen.«

Rothen musterte sie eingehend, dann nahm er in einem der Sessel Platz. »Du hast deine Meinung also geändert.«

Sonea runzelte verwirrt die Stirn. »Meine Meinung geändert?«

»Ursprünglich wolltest du warten, bis die anderen dich eingeholt hätten.«

Sie machte eine abschätzige Handbewegung. »Vergesst die anderen. Sie sind es nicht wert. Habt Ihr die Zeit, um mich zu unterrichten? Ich möchte Euch nicht von Euren anderen Verpflichtungen abhalten.«

»Das wird kein Problem sein. Ich kann meine Vorbereitungen erledigen, während du lernst.« Rothen beugte sich vor. »Ich weiß, dass du das tust, um von Regin wegzukommen. Ich muss dich allerdings darauf hinweisen, dass es dir in der nächsten Klasse möglicherweise nicht besser ergehen wird.«

Sonea nickte. Sie ließ sich in einen Sessel neben dem seinen fallen und begann mit großer Vorsicht, ihre Notizblätter voneinander zu trennen. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich erwarte nicht, dass die anderen mich mögen, es würde mir völlig genügen, wenn sie mich in Ruhe lassen. Ich habe die Winternovizen beobachtet, wann immer ich konnte, und keiner von ihnen scheint so zu sein wie Regin. Es gibt in dieser Klasse keinen einzelnen Novizen, der die anderen beherrscht.« Sie zuckte die Achseln. »Ich kann damit leben, wenn man mich ignoriert.«

Rothen nickte. »Wie ich sehe, hast du gründlich darüber nachgedacht. Also schön. Versuchen wir es.«

Neue Hoffnung stieg in Sonea auf. Dies war eine zweite Chance. Sie grinste ihn an. »Vielen Dank, Rothen!«

Er hob die Schultern. »Ich bin schließlich dein Mentor. Es ist meine Aufgabe, dir eine besondere Behandlung zuteil werden zu lassen.«

Zufrieden hob sie die nassen Papierbögen hoch und machte sich daran, sie zu trocknen. Bei dieser Prozedur kräuselten sich die Ränder, und die Tinte verzog die Buchstaben zu grotesken Flecken. Bei dem Gedanken, alles noch einmal abschreiben zu müssen, stieß sie einen neuerlichen Seufzer aus.

»Obwohl ich auf dem Gebiet der Kriegskünste nicht allzu beschlagen bin«, sagte Rothen, »denke ich, dass es dir weiterhelfen würde zu wissen, wie man einen einfachen Schild hochzieht und aufrechterhält. Das sollte dich in Zukunft vor solchen Streichen schützen.«

»Ich tue, was Ihr für richtig haltet«, erwiderte Sonea.

»Und da du bereits den Beginn der Unterrichtsstunde versäumt hast, kannst du genauso gut gleich hier bleiben und es sofort lernen. Ich werde mit deinem Lehrer reden… Hm, ich werde mir eine gute Entschuldigung ausdenken.«

Hocherfreut legte Sonea die getrockneten Notizen beiseite. Rothen erhob sich und schob den Tisch aus dem Weg. »Steh auf.«

Sonea gehorchte.

»Also, du weißt, dass wir alle, ob Magier oder Nichtmagier, eine natürliche Grenze besitzen, die den Bereich unseres Körpers schützt. Kein anderer Magier kann auf irgendetwas innerhalb dieses Bereiches Einfluss nehmen, wenn er nicht zuvor alle unsere Kräfte erschöpft hat. Anderenfalls könnte ein Magier einen anderen Menschen einfach töten, indem er in ihn hineingreift und ihm das Herz zerquetscht.«

Sonea nickte. »Die Haut ist die Grenze. Die Barriere. Die Heilkunst kann sie überwinden, aber nur durch die Berührung von Haut auf Haut.«

»Ja. Bisher hast du deine Macht wie einen Arm benutzt. Du hast sie ausgestreckt, um, sagen wir, eine Kerze anzuzünden oder einen Ball hochzuheben. Ein Schild hat die gleiche Wirkung, als würdest du deine gesamte Haut ausdehnen und sie wie eine Blase um dich herum legen. Pass auf. Ich werde jetzt einen Schild errichten, den du sehen kannst.«

Rothens Blick trübte sich. Seine Haut begann zu leuchten. Dann schien es, als ob eine Schicht sich davon ablöste. Sie blähte sich auf und verlor dabei nach und nach die Körperkonturen, bis sie eine durchscheinende Kugel aus Licht um ihn herum bildete. Dann fiel diese Kugel sachte wieder in sich zusammen und verschwand.

»Das war ein Schild, der nur aus Licht bestand«, erklärte er. »Dieser Schild hätte nichts abgestoßen. Aber für den Anfang ist er recht nützlich, weil man ihn sehen kann. Und nun möchte ich, dass du die gleiche Art von Schild errichtest, aber nur um deine Hand herum.«

Sonea hob die Hand und konzentrierte sich darauf. Es war leicht, das Leuchten hervorzurufen - Rothen hatte ihr bereits beigebracht, ein Licht zu erschaffen, das kühl genug war, um nicht zu verbrennen. Sie richtete ihren Willen auf ihre Haut, versuchte, deren Eigenschaft als Grenze des Einflussbereichs ihrer Magie zu erfassen und sie dann nach außen vorzuschieben.

Zuerst dehnte sich das Leuchten nur sprunghaft pulsierend aus, aber nach einigen Minuten gelang es ihr, sein Wachstum so zu beherrschen, dass es sich in alle Richtungen gleichzeitig verbreitete. Zu guter Letzt hatte sich um ihre Hand herum eine leuchtende Kugel gebildet.

»Gut«, sagte Rothen. »Jetzt versuch es mit dem ganzen Arm.«

Langsam und ein wenig zögerlich verlängerte sich die Kugel bis zu ihrer Schulter und blähte sich dann weiter auf.

»Jetzt dein Oberkörper.«

Es war ein ausgesprochen seltsames Gefühl. Sonea schien es, als nähme sie plötzlich mehr Raum ein. Während sie die Kugel vergrößerte, um ihren Kopf ebenfalls darin einzuschließen, begann ihre Kopfhaut zu kribbeln.

»Ausgezeichnet. Und jetzt errichtest du einen Schild, der deinen ganzen Körper umfasst.«

Als sie sich auf ihre Beine konzentrierte, brach ein Teil der Kugel in sich zusammen, aber schon bald hatte sie ihren ganzen Körper in einen leuchtenden Ball gehüllt. Als sie an sich hinunterblickte, stellte sie fest, dass der Schild über ihre Füße hinaus bis in den Boden ging.

»Großartig!«, rief Rothen. »Jetzt zieh den Schild aus allen Richtungen gleichzeitig wieder in dich hinein.«

Langsam und nicht ohne dass einige Teile des Schildes früher zusammenbrachen als andere, zog sie die Kugel wieder nach innen, bis sie direkt auf ihrer Haut lag. Rothen nickte nachdenklich.

»Du hast verstanden, worauf es ankommt«, sagte er. »Du brauchst nur noch ein wenig Übung. Sobald du damit keine Mühe mehr hast, werden wir den Schild mit Abwehrkräften ausstatten. Und jetzt mach es noch einmal.«


Als sich die Tür hinter Sonea schloss, sammelte Rothen seine Bücher und Papiere ein. Nach allem, was er gehört hatte, war Garrels Novize ein geborener Anführer. Es war ein unglückliches, wenn auch kein unerwartetes Zusammentreffen, dass der Junge seine Macht über die Klasse stärkte, indem er sie gegen einen anderen Novizen richtete. Sonea war das nahe liegende Opfer gewesen. Bedauerlicherweise hatte dieser Umstand all ihre Hoffnungen zunichte gemacht, von den anderen akzeptiert zu werden.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. Hatte er sich ganz umsonst abgemüht, ihr eine geschliffenere Ausdrucksweise und bessere Manieren beizubringen als die, die sie in den Hüttenvierteln erlernt hatte? Er hatte Sonea gegenüber immer wieder beteuert, dass sie nur ein oder zwei Freunde zu gewinnen brauche, und ihre Vergangenheit wäre vergessen. Aber er hatte sich geirrt. Ihre Klassenkameraden hatten sie nicht nur zurückgewiesen, sondern sich obendrein auch gegen sie gewandt.

Auch die Lehrer hatten keine Zuneigung zu ihr gefasst, trotz ihrer außerordentlichen Fähigkeiten. Rothens altem Freund Yaldin zufolge machten Geschichten von Messerstechereien und Diebstählen, die sie in ihrer Kindheit begangen hatte, überall die Runde. Trotzdem durften die Lehrer ihre Ausbildung nicht vernachlässigen. Dafür würde er sorgen.

Rothen!

Rothen hielt jäh inne und konzentrierte sich auf die Stimme in seinem Kopf.

Dannyl?

Hallo, alter Freund.

Während Rothen seinen Geist auf die Stimme ausrichtete, wurde sie klarer, und Dannyls Persönlichkeit trat deutlicher hervor. Außerdem wurde die Anwesenheit anderer Magier wahrnehmbar, die Dannyls Ruf ebenfalls aufgefangen hatten, sich aber bald wieder zurückzogen.

Ich hatte eigentlich erwartet, dass du dich früher bei mir melden würdest. Ist dein Schiff aufgehalten worden?

Nein, ich bin schon vor zwei Wochen angekommen. Allerdings hatte ich seither keine freie Minute mehr. Der erste Botschafter hat so viele Zusammenkünfte und Einweisungen arrangiert, dass ich kaum Schritt halten kann. Ich glaube, er findet es enttäuschend, dass ich tatsächlich bisweilen etwas Schlaf brauche.

Rothen verkniff sich die Frage, ob der erste Botschafter der Gilde in Elyne tatsächlich so korpulent geworden war, wie man es sich in Imardin erzählte. Bei der Gedankenrede bestand immer die Gefahr, dass andere Magier lauschten.

Hast du schon viel von Capia zu sehen bekommen?

Ein wenig. Die Stadt ist genauso schön, wie man es allgemein hört. Das Bild einer aus gelbem Stein gebauten Stadt mit blauem Wasser und Booten formte sich in Rothens Geist.

Bist du schon bei Hof gewesen?

Nein, die Tante des Königs ist vor einigen Wochen gestorben, und er war bisher noch in Trauer. Ich werde ihn heute aufsuchen. Das dürfte interessant werden.

Eine gewisse Selbstgefälligkeit begleitete diese Worte, und Rothen wusste, dass sein Freund an all die Skandale und Gerüchte über die Menschen am Hof von Elyne dachte, die er bereits vor seiner Abreise aus Kyralia in Erfahrung gebracht hatte.

Wie geht es Sonea?

Ihre Lehrer rühmen ihre Fähigkeiten, aber sie hat einen Unruhestifter in ihrer Klasse. Er hat die anderen Novizen auf seine Seite gezogen.

Kannst du irgendetwas dagegen tun? Mitgefühl und Verständnis waren in Dannyls Worten zu spüren.

Sie hat mich soeben gefragt, ob ich ihr dabei helfen würde, in die nächste Klasse vorzurücken.

Armer Rothen! Das bedeutet harte Arbeit - für euch beide.

Ich komme schon zurecht. Ich hoffe nur, dass die Winternovizen Sonea nicht genauso unfreundlich begegnen werden.

Grüß sie von mir. Dannyls Konzentration ließ nach. Ich muss jetzt Schluss machen. Bis bald.

Bis bald.

Rothen packte seine Bücher zusammen und ging zu Tür hinüber. Bei der Erinnerung an den unbeliebten, verdrossenen Novizen, der Dannyl einst gewesen war, fühlte er sich ein klein wenig besser. Soneas Situation mochte im Augenblick sehr hart sein, aber am Ende würden sich die Dinge von selbst regeln.


»Tayend von Tremmelin, wie?« Errend, der erste Botschafter der Gilde in Elyne, rutschte auf seinem Platz hin und her, und die Schärpe, die er über seinen Roben trug, spannte sich über seinem mächtigen Bauch. »Er ist der jüngste Sohn von Dem Tremmelin. Ein Gelehrter an der Großen Bibliothek, wie ich glaube. Bei Hof findet man ihn nur selten - obwohl ich ihn mit Dem Agerralin gesehen habe. Also, das ist nun wirklich ein Mann mit zweifelhaften Verbindungen.«

Zweifelhafte Verbindungen? Dannyl öffnete den Mund, um nachzuhaken, aber in diesem Moment fuhr die Kutsche um eine Kurve, und der massige Mann an seiner Seite verlor jedes Interesse an diesem Thema.

»Der Palast!«, rief er aus und zeigte auf das Fenster. »Ich werde Euch dem König vorstellen, und dann könnt Ihr Euch nach eigenem Belieben unter die Gäste mischen. Ich habe einen Termin, der den größten Teil des Nachmittags in Anspruch nehmen wird, also zögert nicht, mit der Kutsche zurückzufahren, wenn Ihr genug habt. Erinnert den Fahrer nur daran, dass er mich abholen soll, wenn es anfängt zu dämmern.«

Der Schlag wurde geöffnet, und Dannyl stieg nach Errend aus. Vor ihnen lag an einer Seite dieses riesigen Innenhofes der Palast, ein weit verzweigtes Gebäude mit vielen Kuppeln und Balkons, das man über eine lange, breite Treppe erreichte. Prächtig gewandete Menschen gingen die Stufen hinauf oder legten auf eigens zu diesem Zweck gebauten steinernen Sitzen eine Pause ein. Dannyl wandte sich zu seinem Begleiter um und stellte fest, dass Errend an seiner Seite dicht über dem Boden schwebte. Dannyls Erstaunen entlockte dem ersten Botschafter ein Lächeln.

»Warum laufen, wenn es nicht unbedingt sein muss!«

Während der Mann die Treppe hinaufschwebte, betrachtete Dannyl die Gesichter der Höflinge und Diener um ihn herum. Sie schienen nicht weiter überrascht zu sein über diese Verwendung von Magie, obwohl einige von ihnen ein Lächeln verbargen, als sie den Botschafter sahen. Errend war nicht nur ein ausgesprochen gewichtiger und wohlgelaunter Mensch, sondern offensichtlich auch ein starker und begabter Magier. Dannyl fand die Leistung des anderen Mannes zwar durchaus beeindruckend, aber es widerstrebte ihm, sich durch ein derart auffälliges Benehmen in den Mittelpunkt zu stellen. Daher beschloss er, lieber seine Beine zu benutzen.

Errend erwartete ihn oben an der Treppe und deutete mit ausladender Geste auf das Palastgelände.

»Was für eine Aussicht! Ist das nicht herrlich?«

Dannyl - vom Treppensteigen außer Atem - drehte sich um. Die ganze Bucht lag vor ihm ausgebreitet. Die hellgelben Gebäude glänzten im Sonnenlicht, und das Wasser war von einem leuchtenden Blau.

»›Die Halskette eines Königs‹, hat der Dichter Lorend diese Stadt einmal genannt.«

»Die Stadt ist tatsächlich wunderschön«, pflichtete Dannyl ihm bei.

»Und voller schöner Menschen«, ergänzte Errend. »Kommt mit hinein. Ich will Euch den anderen Gästen vorstellen.«

Vor ihnen erhob sich eine von hohen, tief herabreichenden Bogen unterteilte Fassade, die prächtigste, die Dannyl je gesehen hatte. Hinten dem höchsten Bogen führte ein tor- und türloser Eingang in den Palast.

Unter den Blicken sechs regloser Wachen folgte Dannyl dem ersten Botschafter in eine höhlenartige, weitläufige und luftige Halle. Zu beiden Seiten waren darin Springbrunnen und steinerne Skulpturen aufgestellt, zwischen denen von Bogen eingerahmte Durchgänge in weitere Räume und Flure führten. In Wandnischen und großen Töpfen auf dem Steinboden wuchsen Dannyl unbekannte Pflanzen.

Errend setzte seinen Weg durch die Halle fort. Männer und Frauen standen in Gruppen beisammen oder schlenderten durch den Saal, einige davon mit Kindern. Alle waren prächtig gekleidet. Als Dannyl an ihnen vorbeiging, musterten sie ihn neugierig, und einige von ihnen machten eine elegante Verbeugung in seine Richtung.

Hier und da entdeckte er Roben der Gilde, Frauen in Grün, Männer in Rot oder Purpur. Den Magiern, die ihn grüßten, nickte er seinerseits höflich zu. An jeder Tür standen uniformierte Wachen, die das Geschehen aufmerksam verfolgten. Einzelne Musikanten wanderten umher, spielten auf Saiteninstrumenten oder sangen leise. Ein Kurier, dessen Gesicht schweißüberströmt war, eilte vorbei.

Am Ende der Halle angekommen, führte Errend Dannyl durch einen weiteren Torbogen in einen kleineren Raum. Dort fanden sie sich einer Doppeltür gegenüber, die das Zeichen des Königs von Elyne trug: einen Fisch, der über eine Traube praller Weinbeeren sprang. Ein Wachposten, auf dessen Brustpanzer das gleiche Zeichen zu sehen war, trat vor und fragte nach Dannyls Namen.

»Lord Dannyl, zweiter Botschafter der Gilde in Elyne«, erwiderte Errend.

Es klingt wirklich beeindruckend, dachte Dannyl. Mit einem Gefühl leichter Erregung folgte er Errend durch den Raum. Zwei Höflinge wurden von einer gepolsterten Bank verscheucht, und der Wachposten bedeutete den Magiern, dort Platz zu nehmen. Errend ließ sich mit einem Seufzer auf der Bank nieder.

»Hier werden wir warten«, sagte er.

»Wie lange?«

»So lange, wie es dauert. Man wird dem König nach seiner jetzigen Audienz unsere Namen zuflüstern. Wenn er den Wunsch hat, uns sofort zu sehen, wird man uns aufrufen. Wenn nicht…« Errend zuckte die Achseln und deutete auf die anderen Menschen im Raum. »Dann warten wir, bis wir an die Reihe kommen, oder wir fahren wieder nach Hause.«

Frauenstimmen und Gelächter erfüllten den Raum. Auf einer Bank gegenüber saßen einige Elynerinnen und lauschten dem leisen Gesang eines bunt gekleideten Musikanten, der im Schneidersitz vor ihren Füßen hockte und seine Kunst zum Besten gab.

Nach überraschend kurzer Zeit erklang die donnernde Stimme der königlichen Wache: »Der Botschafter der Gilde in Elyne!«

Errend erhob sich, und Dannyl folgte ihm durch den Raum. Der Wachposten bedeutete ihnen zu warten und verschwand hinter der Tür.

Dannyl hörte, dass auf der anderen Seite zuerst Errends Titel ausgerufen wurde, dann sein eigener. Es folgte eine kurze Pause, und schließlich kam der Wachposten zurück und geleitete sie durch die Tür.

Der Audienzsaal selbst war kleiner als der Vorraum. Zu beiden Seiten standen Tische, an denen mehrere Männer in mittlerem oder fortgeschrittenem Alter saßen - die Ratgeber des Königs. In der Mitte befand sich ein weiterer Tisch mit Dokumenten, Büchern und einem Teller mit Süßigkeiten. An diesem Tisch saß auf einem großen, gepolsterten Stuhl der König. Zwei Magier standen hinter ihm und beobachteten jede Bewegung im Raum.

Dannyl folgte Errends Beispiel und blieb stehen, um sich auf ein Knie niederzulassen. Es war viele Jahre her, dass er das letzte Mal vor einem König gekniet hatte. Damals war er ein Kind gewesen und hatte seinen Vater an den kyralischen Hof begleiten dürfen. Als Magier war es ihm zur Selbstverständlichkeit geworden, dass alle Menschen, mit Ausnahme anderer Magier, sich vor ihm verneigten. Obwohl er kein besonders großes Verlangen danach verspürte, solche Gesten der Unterwürfigkeit von anderen zu empfangen, fand er es doch seltsam kränkend, wenn sie es nicht taten, als sei es ein Verstoß gegen die Regeln allgemeiner Höflichkeit.

Aber die Notwendigkeit, vor einem anderen Menschen niederzuknien, war demütigend, und das war ein Gefühl, an das er nicht gewöhnt war. Er konnte nicht umhin zu denken, wie befriedigend es für einen König in solchen Augenblicken sein musste, zu den wenigen Menschen der Allianz zu gehören, vor denen ein Magier das Knie beugte.

»Erhebt Euch.«

Als Dannyl wieder aufgestanden war, stellte er fest, dass der König ihn voller Interesse musterte. Marend war über fünfzig Jahre alt, und weiße Strähnen zogen sich durch sein rotbraunes Haar. Sein Blick jedoch war wachsam und intelligent.

»Willkommen in Elyne, Botschafter Dannyl.«

»Ich danke Euch, Hoheit.«

»Wie war Eure Reise?«

Dannyl dachte kurz nach. »Gute Winde, keine Stürme. Erfreulich ereignislos.«

Der Mann kicherte. »Ihr hört Euch an wie ein Matrose, Botschafter Dannyl.«

»Es war auch eine sehr bildende Reise.«

»Und womit wollt Ihr Eure Zeit in Elyne verbringen?«

»Wenn ich mich nicht um die Angelegenheiten kümmern muss, die in meinen Aufgabenbereich fallen, werde ich die Stadt und ihre Umgebung erkunden. Ich freue mich schon besonders darauf, die Große Bibliothek zu sehen.«

»Natürlich.« Der König lächelte. »Ihr Magier scheint einen grenzenlosen Hunger nach Wissen zu haben. Nun, es ist mir ein Vergnügen, Euch kennen zu lernen, Botschafter Dannyl. Wir werden einander gewiss wiedersehen. Ihr dürft Euch zurückziehen.«

Dannyl neigte respektvoll den Kopf, dann folgte er Errend zu einer Tür auf der anderen Seite des Audienzsaals. Von dort aus kamen sie in einen kleineren Raum, in dem mehrere Wachen standen und sich leise unterhielten. Ein weiterer uniformierter Mann begleitete sie durch eine zweite Tür in einen Korridor hinaus, durch den sie in die große Halle zurückkamen.

»Nun«, sagte Errend. »Das ging ziemlich schnell und war nicht besonders aufregend, aber er hat sich Euch genau angesehen, und das war der Zweck dieses kleinen Ausflugs. Jetzt werde ich Euch hier zurücklassen. Macht Euch keine Sorgen. Ich habe veranlasst, dass sich jemand um Euch kümmert - ah, da kommen sie schon.«

Zwei Frauen traten näher. Als Errend sie vorstellte, verneigten sich beide mit großer Würde. Dannyl erwiderte ihren Gruß mit einem Nicken und lächelte, als er sich mit einem Mal an ein besonders interessantes Gerücht erinnerte, das ihm über diese Schwestern zu Ohren gekommen war.

Als die ältere Schwester sich bei Dannyl unterhakte, entschuldigte sich Errend und ließ sie allein. Die Schwestern machten sich daran, Dannyl durch den Raum zu begleiten und ihn mehreren berühmten Höflingen von Elyne vorzustellen. Schon bald konnte Dannyl vielen der Namen, die er sich eingeprägt hatte, Gesichter zuordnen.

Und alle, denen er vorgestellt wurde, schienen wirklich erpicht darauf zu sein, ihn kennen zu lernen. Erstaunlicherweise bereitete Dannyl dieses Interesse ein gewisses Unbehagen. Als die Sonne schließlich die ersten langen Strahlen in den Raum warf und er andere Gäste fortgehen sah, fand Dannyl, er könne sich nun ebenfalls zurückziehen, ohne unhöflich zu sein. Sobald er sich von den Schwestern befreit hatte, machte er sich auf den Weg zum Eingang des Palastes, aber bevor er das Tor erreichte, trat ein Mann an ihn heran.

»Botschafter Dannyl?« Der Mann war dünn und trug das Haar sehr kurz, und seine Gewänder waren von einem dunklen Grün, das verglichen mit den Farben der übrigen Höflinge eher düster wirkte.

Dannyl nickte. »Ja?«

»Ich bin Dem Agerralin.« Der Mann verbeugte sich. »Wie war Euer erster Tag bei Hof?«

Der Name des Mannes kam ihm bekannt vor, aber Dannyl konnte sich nicht darauf besinnen, warum. »Erfreulich und unterhaltsam, Dem. Ich habe einige neue Bekanntschaften geschlossen.«

»Wie ich sehe, seid Ihr bereits auf dem Heimweg.« Dem Agerralin trat einen Schritt zurück. »Ich möchte Euch nicht aufhalten.«

Plötzlich erinnerte Dannyl sich wieder, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Dem Agerralin war der Mann mit »zweifelhaften Verbindungen«, von dem Errend gesprochen hatte. Dannyl sah sich sein Gegenüber genauer an. Der Dem war ein Mann in mittleren Jahren, schätzte er. Und auf den ersten Blick konnte er nichts besonders Bemerkenswertes an ihm entdecken.

»Ich habe es nicht eilig«, sagte Dannyl.

Dem Agerralin lächelte. »Ah, das ist schön. Es gibt da nämlich eine Frage, die ich Euch gern stellen würde.«

»Nur zu.«

»Es ist eine private Angelegenheit.«

Fasziniert von dieser Einleitung, bedeutete Dannyl dem Mann fortzufahren. Der Dem schien seine Worte sorgfältig abzuwägen, dann zuckte er entschuldigend die Achseln.

»Es gibt nicht viele Dinge, die der Aufmerksamkeit des elynischen Hofes entgehen, und wie Ihr vielleicht bereits erraten haben werdet, finden wir die Gilde und die Magier ungemein fesselnd. Wir sind alle sehr neugierig auf Euch.«

»Das ist mir bereits aufgefallen.«

»Also dürfte es Euch nicht überraschen, dass uns gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen sind.«

Ein kalter Schauer überlief Dannyl, und er zwang sich zu einer verwunderten Miene. »Gerüchte?«

»Ja. Es sind alte Gerüchte, aber doch von solcher Art, dass ich und einige andere Grund hatten, uns ihrer zu erinnern, als wir erfuhren, dass Ihr nach Capia kommen würdet. Erschreckt nicht, mein Freund. Solche Angelegenheiten werden hier, anders als in Kyralia, nicht als… als Tabu betrachtet, obwohl es natürlich nicht immer klug ist, so etwas öffentlich bekannt werden zu lassen. Wir sind alle sehr gespannt auf Euch, deshalb darf ich vielleicht so kühn sein, Euch zu fragen, ob an diesen Gerüchten etwas Wahres ist?«

Der Tonfall des Mannes war eindeutig hoffnungsvoll. Dannyl begriff, dass er den Dem ungläubig anstarrte, und wandte hastig den Blick ab. Wenn ein Höfling in Kyralia eine solche Frage gestellt hätte, hätte daraus ein Skandal entstehen können, der die Ehre eines Mannes zerstören und das Ansehen seines Hauses herabsetzen konnte. Also hätte Dannyl eigentlich mit Zorn reagieren und Agerralin erklären müssen, dass solche Fragen schlicht und einfach ungehörig seien.

Als Fergun seinerzeit diese Gerüchte in Umlauf brachte, war Dannyl voller Wut und Bitterkeit gewesen, aber seit man den Krieger zur Strafe für seine Erpressung Soneas fortgeschickt hatte, waren diese Gefühle verblichen. Außerdem hatten die Höheren Magier ihn zum Botschafter der Gilde ernannt, und das, obwohl er noch immer keine Ehefrau gefunden hatte, um auch noch den letzten Verdacht gegen ihn zu zerstreuen.

Dannyl überlegte, wie er antworten sollte. Er wollte den Mann nicht kränken. Die Elyner hatten offensichtlich weniger Vorurteile als die Kyralier, aber wie weit ging ihre Toleranz? Botschafter Irand hatte Dem Agerralin als Mann von »zweifelhaften Verbindungen« bezeichnet, was gewisse Schlüsse zuließ. In jedem Fall wäre es töricht, sich gleich an seinem ersten Tag bei Hof einen Feind zu machen.

»Ich verstehe«, sagte Dannyl langsam. »Ich denke, ich weiß, worauf sich das Gerücht bezieht. Wie es aussieht, werde ich diese Geschichte niemals los, obwohl sie jetzt zehn - nein, fünfzehn - Jahre zurückliegt. Die Gilde ist, wie Ihr sicher wisst, sehr konservativ eingestellt. Dem Novizen, der diese Gerüchte in Umlauf gebracht hat, war klar, dass er mir damit große Schwierigkeiten bereiten würde. Er neigte dazu, alle möglichen Geschichten über mich zu erfinden.«

Der Mann nickte, und seine Schultern sanken herab. »Verstehe. Nun, dann verzeiht mir bitte, dass ich dieses schmerzliche Thema angeschnitten habe. Ich habe gehört, dass der ehemalige Novize, von dem Ihr sprecht, jetzt in den Bergen lebt - in einer Festung, glaube ich. Auch über diesen Mann haben wir uns unsere Gedanken gemacht, da derjenige, der andere am lautesten verunglimpft, häufig selbst…«

Ein Mann näherte sich ihnen, und Dem Agerralin ließ seinen Satz unvollendet. Dannyl blickte auf und stellte zu seiner Überraschung fest, dass der Neuankömmling Tayend war. Einmal mehr beeindruckte ihn das verblüffend gute Aussehen des Gelehrten. Gekleidet in ein dunkelblaues Gewand, das rotblonde Haar im Nacken zusammengebunden, schien Tayend am Hof des Königs genau am richtigen Ort zu sein. Der Gelehrte verbeugte sich anmutig, dann lächelte er.

»Botschafter Dannyl, Dem Agerralin.« Tayend nickte ihnen beiden zu. »Wie geht es Euch, Dem?«

»Gut«, antwortete der Mann. »Und Euch? Wir haben Euch schon seit einer Weile nicht mehr bei Hof gesehen, junger Tremmelin.«

»Bedauerlicherweise beanspruchen meine Pflichten in der Großen Bibliothek all meine Zeit.« Tayend klang ganz und gar nicht so, als bedaure er diesen Umstand. »Ich fürchte, ich muss Euch Botschafter Dannyl jetzt entführen, Dem. Es gibt da eine Angelegenheit, über die ich mit ihm reden müsste.«

Dem Agerralin sah Dannyl mit undeutbarer Miene an. »Ich verstehe. Dann muss ich Euch jetzt auf Wiedersehen sagen, Botschafter.« Er verneigte sich und schlenderte davon.

Tayend wartete, bis der Mann außer Hörweite war, dann musterte er Dannyl mit schmalen Augen. »Da ist etwas, das Ihr über Dem Agerralin wissen solltet.«

Dannyl lächelte schief. »Ja, ich glaube, das hat er mir soeben klar gemacht.«

»Ah.« Tayend nickte. »Und hat er die Gerüchte zur Sprache gebracht, die Euch selbst betreffen?« Als Dannyl unwillig die Stirn runzelte, nickte der Gelehrte. »Das dachte ich mir.«

»Redet denn hier jeder über dieses Thema?«

»Nein, nur einige wenige Leute in gewissen Kreisen.« Dannyl war sich nicht sicher, ob er über diese Feststellung erleichtert sein sollte. »Diese Anschuldigungen wurden vor etlichen Jahren erhoben. Es überrascht mich, dass sie überhaupt bis an den Hof von Elyne vorgedrungen sind.«

»Eigentlich sollte Euch das nicht wundern. Der Gedanke, ein kyralischer Magier könnte ein ›Knabe‹ sein - was bei uns ein höflicher Ausdruck für Männer wie Agerralin ist -, ist durchaus erheiternd. Aber keine Sorge. Das Ganze klingt wirklich nach einem ganz gewöhnlichen Streit unter Jungen. Wenn ich das sagen darf, Ihr geht für einen Kyralier erstaunlich gelassen mit der Situation um. Ich hatte halb befürchtet, dass Ihr den armen Agerralin zu Asche verbrennen würdet.«

»Wenn ich das täte, würde ich nicht lange Botschafter der Gilde bleiben.«

»Nein, aber Ihr scheint nicht einmal wütend zu sein.«

Wieder fragte sich Dannyl, wie er darauf antworten sollte. »Wenn Ihr Euer halbes Leben damit zugebracht hättet, solche Gerüchte abzustreiten, würdet Ihr gewiss auch Mitleid mit der Art von Mensch empfinden, die man selbst angeblich sein soll. Ich stelle es mir schrecklich vor, mit Neigungen leben zu müssen, die nicht akzeptabel sind, und dazu gezwungen zu sein, sie entweder zu leugnen oder mit schwierigen Manövern zu verbergen.«

»So betrachtet man dergleichen Dinge in Kyralia, aber nicht hier«, sagte Tayend lächelnd. »Der Hof von Elyne ist gleichzeitig schrecklich in seiner Dekadenz und wunderbar in seiner Freiheit. Wir erwarten geradezu, dass jeder Mensch einige interessante oder exzentrische Gewohnheiten hat. Wir lieben Klatsch und Tratsch, und doch geben wir nicht allzu viel auf Gerüchte. Tatsächlich haben wir hier sogar ein Sprichwort: ›Jedes Gerücht enthält ein Körnchen Wahrheit; es ist nur schwierig herauszufinden, welches der vielen Körnchen das wahre ist.‹ Also, wann darf ich mit Eurem Besuch in der Bibliothek rechnen?«

»Sehr bald«, antwortete Dannyl.

»Ich freue mich schon darauf, Euch dort zu sehen.« Tayend trat einen Schritt zurück. »Aber jetzt muss ich mich erst einmal um eine andere Angelegenheit kümmern. Bis dahin, Botschafter Dannyl.« Er verneigte sich.

»Bis dahin«, erwiderte Dannyl.

Während der Gelehrte mit raschen Schritten davonging, sah Dannyl ihm kopfschüttelnd nach. Er selbst hatte Gerüchte und Spekulationen über die elynischen Höflinge gesammelt wie kleine Trophäen, ohne je auf den Gedanken zu kommen, dass sie das Gleiche tun könnten, was ihn betraf. Wusste der gesamte Hof von dem Gerücht, das Fergun vor so vielen Jahren in Umlauf gesetzt hatte? Die Tatsache, dass man noch immer darüber sprach, erfüllte Dannyl mit Unbehagen, und er konnte nur darauf vertrauen, dass Tayend Recht hatte und der Hof solche Geschichten nicht allzu ernst nahm.

Mit einem Seufzer trat er durch die Palasttore und ging die lange Treppe zu seiner Kutsche hinunter.

7 Die Große Bibliothek

Sonea drückte ihre Bücher fester an sich. Sie war wieder einmal den ganzen Tag Opfer böser Streiche und Ziel von Beleidigungen gewesen. Die kommende Woche lag wie eine endlose Prüfung vor ihr. Dies war erst die fünfte Woche, rief sie sich ins Gedächtnis. Fünf lange Jahre standen ihr bis zu ihrem Abschluss noch bevor.

Jeder Tag war kräftezehrend. Sie tat ihr Möglichstes, um Regin und den anderen Novizen aus dem Weg zu gehen. Wenn der Lehrer das Klassenzimmer auch nur für eine Minute verließ, nutzte Regin die Zeit, um sie zu schikanieren. Sie hatte gelernt, ihre Notizen außerhalb seiner Reichweite zu halten und äußerste Vorsicht walten zu lassen, wann immer sie durch den Raum ging oder sich auf ihren Stuhl setzte.

Für eine Weile war es ihr gelungen, Regin jeden Tag für eine Stunde zu entrinnen, indem sie in der Mittagspause in Rothens Quartier zurückkehrte, um mit Tania zu essen. Aber dann hatte Regin sich angewöhnt, ihr auf dem Weg zwischen dem Magierquartier und der Universität aufzulauern. Einige Male hatte sie versucht, über Mittag im Klassenzimmer zu bleiben, aber sobald Regin dahintergekommen war, wartete er, bis der Lehrer fort war, und kehrte dann selbst zurück, um sie zu peinigen.

Zu guter Letzt hatte sie mit Rothen vereinbart, dass sie sich in Zukunft während der Mittagspause in seinem Klassenzimmer mit ihm treffen würde. Sie half ihm, die Versuchsanordnungen aus Phiolen und Glasrohren abzubauen, die er für seinen Unterricht benötigt hatte. Tania brachte ihnen dann in kleinen, lackierten Dosen Leckereien zum Essen ins Klassenzimmer.

Wann immer der Gong die Novizen zum Nachmittagsunterricht rief, krampfte Soneas Magen sich zusammen. Sowohl Rothen als auch Tania hatten angeboten, sie auf dem Weg durch die Universität zu begleiten, aber damit hätte sie, wie sie sehr wohl wusste, Regin und seinen Freunden nur bestätigt, dass sie mit ihren Schikanen Erfolg hatten. Stattdessen versuchte sie, Streiche und hämische Bemerkungen zu ignorieren, denn ihr war klar, dass sie ihre Situation nur noch verschlimmerte, wenn sie darauf reagierte.

Der letzte Gongschlag des Tages erfüllte sie stets mit Erleichterung. Was immer die anderen Novizen in ihrer Freizeit nach dem Unterricht taten, es musste interessanter sein als die Versuche, Sonea zu quälen, denn sobald der Lehrer die Klasse entließ, eilten sie davon. Sonea pflegte zu warten, bis sie fort waren, bevor sie sich unbehelligt auf den Weg zum Magierquartier machte. Aber für den Fall, dass die anderen ihre Meinung änderten, nahm sie stets den Umweg durch die Gärten, wählte jeden Tag einen anderen Pfad und hielt sich in der Nähe anderer Magier und Novizen.

Als sie sich heute wie an jedem Tag dem Ende des Korridors näherte, entspannten sich ihre Schultern, und der Krampf in ihrem Magen ließ langsam nach. Im Stillen dankte sie Rothen dafür, dass er ihr erlaubte, in seinem Quartier zu wohnen. Schaudernd dachte sie an die Qualen, die Regin für sie ersonnen hätte, wenn sie jeden Abend in das Quartier der Novizen hätte zurückkehren müssen.

»Da ist sie!«

Sonea erkannte die Stimme, und ein jähes Gefühl der Kälte breitete sich in ihr aus. Der Korridor war voller Novizen höherer Klassen, aber das hatte Regin noch nie aufgehalten. Sie beschleunigte ihre Schritte und hoffte, dass sie vor Regin und seinen Freunden die belebte Eingangshalle der Universität erreichen würde, wo sich gewiss ein oder zwei Magier aufhielten.

Eilige Schritte erklangen hinter ihr im Korridor.

»Sonea! Sooooneeeeaaaa!«

Die älteren Novizen drehten sich um. Ihr Blick sagte Sonea, dass Regin und seine Bande jetzt direkt hinter ihr sein mussten. Sie holte tief Luft und nahm sich vor, Regin ohne jedes Anzeichen von Erschrecken zu begegnen.

Jemand packte sie am Arm und drehte sie grob herum. Sie schüttelte die Hand ab und funkelte Kano wütend an.

»Wolltest du uns etwa ignorieren, Hüttenmädchen?«, fragte Regin. »Das ist sehr unhöflich, aber wir dürfen von dir wohl keine guten Manieren erwarten, nicht wahr?«

Sie umzingelten sie. Sonea blickte in die grinsenden Gesichter um sie herum. Sie drückte ihre Bücher fester an sich, machte einen Schritt nach vorn und versuchte, sich zwischen Ahrind und Issle hindurchzudrängen. Mehrere Hände packten sie an den Schultern und stießen sie zurück in die Mitte des Kreises. Furcht stieg in ihr auf. Bisher waren sie noch nie handgreiflich geworden, wenn man davon absah, dass sie ihr gelegentlich ein Bein stellten oder sie am Arm zerrten.

»Wo willst du hin, Sonea?«, fragte Kano. Jemand gab ihr von hinten abermals einen Stoß. »Wir wollen mit dir reden.«

»Nun, ich will aber nicht mit euch reden«, zischte sie. Noch einmal versuchte sie, sich zwischen den anderen hindurchzudrängen, wurde jedoch abermals in den Kreis zurückgestoßen. Ein Anflug von Angst blitzte in ihr auf. »Lasst mich durch.«

»Warum bettelst du nicht darum, Hüttenmädchen?«, höhnte Regin.

»Ja, wir wollen dich betteln hören. Darauf musst du dich doch verstehen.«

»Du hast in den Hüttenvierteln sicher reichlich Erfahrung darin sammeln können.« Ahrind lachte. »So schnell vergisst man so etwas gewiss nicht. Ich wette, du warst eins von diesen greinenden Bälgern, die immer hinter den Häusern unserer Väter herumhängen und um Essen betteln.«

»Bitte, gebt mir etwas zu essen. Biiitte!«, heulte Vallon. »Ich habe Huuuunger!« Die anderen fielen lachend in seinen Spottgesang ein.

»Oder vielleicht hatte sie ja etwas zu verkaufen«, meinte Issle. »Guten Abend, Mylord.« Ihre Stimme nahm einen schmeichelnden Tonfall an. »Wünscht Ihr vielleicht ein wenig Gesellschaft?«

Vallon erstickte ein Lachen. »Überlegt nur, wie viele Männer sie wohl schon gehabt hat.«

Gekicher erfüllte den Korridor, dann wich Ahrind plötzlich vor ihr zurück. »Wahrscheinlich hat sie eine ansteckende Krankheit.«

»Jetzt nicht mehr.« Regin bedachte Ahrind mit einem wissenden Blick. »Man hat uns erzählt, die Heiler hätten sie untersucht, als man sie fand, weißt du noch? Wenn sie krank war, haben sie sie gewiss wieder gesund gemacht.« Er drehte sich zu Sonea um und musterte sie von Kopf bis Fuß.

»Also… Sonea.« Seine Stimme war plötzlich seidenweich. »Wie viel hast du verlangt?« Er kam näher, doch die anderen erlaubten es Sonea nicht, vor ihm zurückzuweichen. »Nun ja«, fügte er gedehnt hinzu, »vielleicht habe ich mich ja geirrt. Vielleicht könnte ich mich dazu überwinden, dich zu mögen. Du bist ein wenig mager, aber das könnte ich übersehen. Sag mir, hast du dich auf bestimmte, äh, Gefälligkeiten spezialisiert?«

Sonea versuchte, die Hände auf ihren Schultern abzuschütteln, aber die Novizen packten sie nur umso fester. Regin schüttelte mit geheucheltem Mitgefühl den Kopf. »Wahrscheinlich haben die Magier dir befohlen, damit aufzuhören. Wie frustrierend für dich. Aber sie brauchen schließlich nichts davon zu wissen. Wir werden es ihnen nicht erzählen.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Du könntest dir eine Menge Geld verdienen. Reiche Kunden gäbe es genug.«

Sonea starrte ihn an. Sie konnte nicht glauben, dass er auch nur zum Schein so tun würde, als sei er daran interessiert, sie in sein Bett zu holen. Einen Moment lang fühlte sie sich versucht, seinen Schwindel auffliegen zu lassen, aber wenn sie das tat, würde er anschließend behaupten, sie habe ihn ernst genommen. Die anderen Novizen, die sich im Korridor befanden, waren inzwischen stehen geblieben, um das Schauspiel voller Interesse zu verfolgen.

Regin beugte sich zu ihr vor, und sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren. »Wir bezeichnen es einfach als geschäftliches Arrangement«, gurrte er. Er versuchte nur, sie einzuschüchtern und festzustellen, wie weit er gehen konnte. Nun, mit dergleichen Schikanen war sie schon früher fertig geworden.

»Du hast Recht, Regin«, sagte sie. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. »Ich bin schon vielen Männern wie dir begegnet. Und ich weiß genau, was ich mit ihnen machen muss.« Sie fuhr mit der Hand hoch und packte ihn an der Gurgel. Während er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, schob sie einen Fuß hinter sein Standbein und stieß ihn mit aller Kraft nach hinten. Sie spürte, wie die Knie unter ihm nachgaben, und kostete ihren Triumph voll aus, als er, wild mit den Armen rudernd, zu Boden fiel. Stille senkte sich über den Korridor, während alle Novizen, gleichgültig welchen Jahrgangs, Regin anstarrten. Sonea rümpfte verächtlich die Nase.

»Was für ein Prachtexemplar du doch bist, Regin. Wenn sich alle Männer des Hauses Paren so benehmen, dann haben sie keine besseren Manieren als der Pöbel in den Bolhäusern.«

Regin versteifte sich, und seine Augen wurden schmal. Sie wandte ihm den Rücken zu und forderte die anderen Novizen mit zornigem Blick heraus, sie noch einmal zu berühren. Sie schraken zurück, und als der Kreis aufbrach, ging Sonea hocherhobenen Hauptes zwischen ihnen hindurch.

Sie war jedoch nur wenige Schritte weit gekommen, als Regins Stimme laut durch den Korridor hallte.

»Du hast offensichtlich reichlich Erfahrung, um solche Vergleiche anzustellen«, rief er ihr nach. »Wie schneidet Rothen dabei ab? Er muss sich sehr glücklich schätzen, dass du in seinem Quartier wohnst. Ah, jetzt ergibt alles einen Sinn. Ich habe mich schon immer gefragt, wie es dir gelungen ist, ihn als Mentor zu gewinnen.«

Sonea wurde zuerst kalt, dann heiß, als Wut in ihr aufwallte. Sie ballte die Fäuste und widerstand dem Drang, sich umzudrehen. Was konnte sie schon tun? Ihn schlagen? Selbst wenn sie es gewagt hätte, den Sohn eines der Häuser mit Magie anzugreifen, würde er den Schlag kommen sehen und sich mit einem Schild davor schützen. Und dann würde er wissen, wie sehr er sie getroffen hatte.

Das leise Murmeln der älteren Novizen folgte ihr durch den Korridor. Sie zwang sich, den Blick auf die Treppe gerichtet zu halten, denn sie wollte die Spekulationen in ihren Gesichtern nicht sehen. Sie würden nicht glauben, was Regin da angedeutet hatte. Sie konnten es nicht glauben. Selbst wenn sie aufgrund ihrer Herkunft von ihr das Schlimmste dachten, würde doch niemand Rothen etwas Derartiges unterstellen.

Oder vielleicht doch?


»Administrator!«

Lorlen blieb am Eingang der Universität stehen und wandte sich Rektor Jerrik zu. »Ja?«

Der Rektor trat einen Schritt näher und reichte Lorlen ein Blatt Papier. »Ich habe gestern diesen Antrag von Lord Rothen erhalten. Er möchte, dass Sonea in die Klasse der Winternovizen aufrückt.«

»Wirklich?« Lorlen überflog die Seite, auf der Rothen seine Erklärungen und Zusagen niedergeschrieben hatte. »Glaubt Ihr, dass sie dazu in der Lage ist?«

Jerrik schürzte nachdenklich die Lippen. »Möglicherweise. Ich habe mich bei den Lehrern des ersten Jahrgangs erkundigt, und sie sind alle der Meinung, dass sie es schaffen könnte, wenn sie hart arbeitet.«

»Und Sonea selbst?«

»Sie scheint vollauf gewillt zu sein, die notwendige Arbeit zu tun.«

»Dann werdet Ihr es gestatten?«

Jerrik senkte die Stimme. »Wahrscheinlich. Was mir an der ganzen Angelegenheit nicht gefällt, ist der wahre Grund hinter dem Wechsel.«

»Und was wäre das für ein Grund?« Lorlen verkniff sich ein Lächeln. Jerrik hatte stets behauptet, dass Novizen niemals nur um des Lernens willen hart arbeiten würden. Was sie antrieb, war der Wunsch, andere zu beeindrucken, ihren Eltern zu gefallen oder in irgendeinem Fach am besten abzuschneiden.

»Wie erwartet kommt sie nicht gut mit den anderen Novizen zurecht. Unter solchen Umständen wird der zurückgewiesene Novize häufig zum Gegenstand des Spotts für andere. Ich glaube, sie möchte nur von ihren Klassenkameraden weg.« Jerrik seufzte. »Obgleich ich ihre Entschlossenheit bewundere, mache ich mir doch Sorgen, dass die Winterklasse sie vielleicht nicht besser aufnehmen wird. In dem Fall hätte sie ganz umsonst so hart gearbeitet.«

»Ich verstehe.« Lorlen dachte über Jerriks Worte nach. »Sonea ist einige Jahre älter als die anderen Schüler ihrer Klasse, und sie ist sehr reif für ihr Alter. Die meisten Novizen sind kaum mehr als Kinder, wenn sie hierher kommen, aber während des ersten Jahres verlieren sie einen großen Teil ihrer kindlichen Angewohnheiten. Mit den Winternovizen wird es vielleicht weniger Ärger geben.«

»Das stimmt, es ist eine vernünftige Gruppe«, pflichtete Jerrek ihm bei. »Man kann die Ausbildung in Magie jedoch nicht beschleunigen. Sonea kann sich natürlich Wissen aneignen, aber wenn sie es noch nicht gelernt hat, ihre Kräfte ausreichend zu beherrschen, wird sie später vielleicht gefährliche Fehler machen.«

»Sie benutzt ihre Kräfte nun schon seit über sechs Monaten«, rief Lorlen ihm ins Gedächtnis. »Obwohl Rothen ihr in dieser Zeit die grundlegenden Dinge beigebracht hat, die sie für die Universität benötigte, sind ihre Kräfte ihr unterdessen gewiss vertraut geworden - und es könnte frustrierend sein, mit ansehen zu müssen, wie die anderen Novizen sich noch mit Anfängerlektionen herumplagen.«

»Dann sprecht Ihr Euch also für diesen Plan aus?« Er deutete auf Rothens Antrag.

»Das tue ich.« Lorlen reichte den Antrag zurück. »Gebt ihr diese Chance. Ich denke, Ihr werdet feststellen, dass Sonea mehr kann, als Ihr erwartet.«

»Dann werde ich es gestatten«, antwortete Jerrik. »Man wird sie in fünf Wochen prüfen. Vielen Dank, Administrator.«

Lorlen lächelte. »Ich möchte wissen, wie gut sie abschneidet. Würdet Ihr mich auf dem Laufenden halten?«

Der alte Mann nickte. »Wenn Ihr das wünscht.«

»Ich danke Euch, Rektor.« Lorlen wandte sich ab und ging die Außentreppe zu der wartenden Kutsche hinunter. Er stieg ein, klopfte ans Dach und lehnte sich auf der Sitzbank zurück, während die Kutsche sich in Bewegung setzte. Der Wagen fuhr durch die Tore der Gilde und weiter in die Stadt hinein, aber Lorlen war bereits zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um sich dessen bewusst zu sein.

Die Einladung zum Abendessen bei Derril war am vergangenen Tag gekommen. Lorlen musste solche Bitten häufig ablehnen, da ihm einfach keine Zeit dazu blieb, aber heute hatte er sich von seinen übrigen Verpflichtungen freigemacht. Wenn Derril neue Nachrichten über die Morde hatte, wollte Lorlen sie hören.

Derrils Bericht über den Mörder hatte Lorlen zutiefst erschreckt. Die Schnitte, die dem Opfer zugefügt worden waren, das seltsame Ritual und die Meinung der Zeugin, dass das Opfer bereits tot gewesen sei, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wurde… Vielleicht erschienen ihm diese Morde nur deshalb so verdächtig, weil in seinem Kopf bereits der Gedanke an schwarze Magie herumspukte.

Aber wenn diese Taten das Werk eines schwarzen Magiers waren, gab es nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder lauerte ein wilder Magier, der sich auf schwarze Magie verstand, den Bewohnern der Stadt auf, oder dieser Mörder war Akkarin. Mit einem Schaudern dachte Lorlen über die Konsequenzen dieser beiden Möglichkeiten nach.

Als die Kutsche stehen blieb, war er überrascht, dass sie ihr Ziel bereits erreicht hatten. Der Fahrer kletterte von seinem Sitz und öffnete die Tür.

Lorlen stieg vor einem eleganten Herrenhaus aus, wo ihn bereits einer von Derrils Dienern erwartete. Der Mann führte Lorlen durch das Haus zu einem Balkon mit Blick auf den Garten. Lorlen trat ans Geländer und betrachtete die erschlaffte kleine Oase grüner Vegetation; die Pflanzen sahen traurig und vertrocknet aus.

»Ich fürchte, dieser Sommer war für die meisten meiner Blumen zu viel«, sagte Derril bedauernd, nachdem er den Administrator begrüßt hatte. »Meine Gan-Gan-Büsche werden die Hitze wohl nicht überleben. Ich werde mir aus den Bergen von Lan neue schicken lassen müssen.«

»Ihr solltet sie rausziehen lassen, bevor die Wurzeln verderben«, meinte Lorlen. »Gemahlene Gan-Gan-Wurzeln haben erstaunliche antiseptische Eigenschaften, und wenn man sie zu einem Becher Sumi gibt, sind sie ein gutes Mittel gegen Verdauungsstörungen.«

Derril kicherte. »Ihr habt Eure Ausbildung in der Heilkunst noch nicht vergessen, wie?«

»Nein.« Lorlen lächelte. »Ich mag zwar langsam zu einem schrulligen alten Administrator werden, aber ich habe die Absicht, gesund zu bleiben. Zu irgendetwas müssen all meine medizinischen Kenntnisse schließlich gut sein.«

»Hm.« Derrils Augen wurden schmal. »Ich wünschte, die Garde hätte jemanden mit Euren Kenntnissen in ihren Reihen. Barran hat es wieder mit einem neuen Rätsel zu tun.«

»Noch ein Mord?«

»Ja und nein«, seufzte Derril. »Sie glauben, diesmal handele es sich um einen Selbstmord. Zumindest sieht es danach aus.«

»Vermutet Barran, dass jemand eben diesen Eindruck erwecken wollte?«

»Möglicherweise.« Derril zog eine Augenbraue in die Höhe. »Barran ist zum Essen gekommen. Wie wäre es, wenn wir ihn bitten würden, Euch mehr darüber zu erzählen?«

Lorlen nickte und folgte dem alten Mann ins Haus. Sie kamen in einen großen Empfangsraum, dessen Fenster mit bunt bemalten Papierblenden bedeckt waren. In einem der luxuriösen Sessel saß ein junger Mann von Mitte zwanzig. Seine breiten Schultern und die leicht gebogene Nase erinnerten Lorlen sofort an den Bruder des Mannes, Walin.

Barran blickte zum Administrator auf, dann erhob er sich hastig und verbeugte sich. »Seid mir gegrüßt, Administrator Lorlen«, sagte er. »Wie geht es Euch?«

»Danke der Nachfrage«, erwiderte Lorlen.

»Barran«, sagte Derril, während er Lorlen bedeutete, Platz zu nehmen. »Der Administrator interessiert sich für diesen Selbstmord, den du untersuchst. Kannst du ihm Näheres darüber erzählen?«

Barran zuckte die Achseln. »Es ist kein Geheimnis - nur ein Rätsel.« Er sah Lorlen beunruhigt an. »Eine Frau hat einem Wachposten in ihrer Straße Meldung gemacht, dass sie ihre Nachbarin tot aufgefunden habe. Der Wachposten ist der Sache nachgegangen, und es hat sich herausgestellt, dass die Frau sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte.« Barran hielt kurz inne. »Das Rätsel besteht darin, dass sie nicht allzu viel Blut verloren hatte und noch warm war. Tatsächlich waren ihre Wunden nicht besonders tief. Sie hätte eigentlich nicht sterben dürfen.«

Lorlen dachte darüber nach. »Die Klinge könnte vergiftet gewesen sein.«

»Diese Möglichkeit haben wir in Betracht gezogen, aber wenn das tatsächlich der Fall war, muss es ein Gift gewesen sein, von dem wir noch nie gehört haben. Alle Gifte hinterlassen Spuren, selbst wenn die Schäden sich nur in den inneren Organen zeigen. Wir haben keine Waffe gefunden, an der sich vielleicht noch Überreste befunden hätten, und das allein ist seltsam. Wenn jemand sich die Pulsadern aufschneidet, findet man das Werkzeug, das er zu diesem Zweck benutzt hat, im Allgemeinen ganz in der Nähe. Wir haben das Haus durchsucht und nichts gefunden als einige Küchenmesser, die sauber an Ort und Stelle lagen. Und erwürgt wurde die Frau auch nicht, soweit wir feststellen konnten. Aber es gibt noch andere Einzelheiten, die meinen Verdacht erregt haben. Ich habe Fußabdrücke gefunden, die weder von den Dienern noch von Freunden oder Verwandten stammen können. Die Schuhe des Eindringlings waren alt und von seltsamer Form, so dass sie unverkennbare Spuren hinterlassen haben. In dem Raum, in dem die Frau gefunden wurde, war das Fenster nicht ganz geschlossen. Darüber hinaus habe ich Fingerabdrücke und Flecken auf dem Fenstersims gefunden, die wie getrocknetes Blut aussahen, deshalb habe ich noch einmal einen Blick auf die Leiche geworfen - und dabei die gleichen Fingerabdrücke auf ihren Handgelenken entdeckt.«

»Ihre eigenen?«

»Nein, die Fingerabdrücke waren sehr groß. Sie müssen von einem Mann stammen.«

»Vielleicht hat jemand versucht, die Blutung zu stillen, und ist dann durch das Fenster geflüchtet, als er jemanden näher kommen hörte?«

»Möglicherweise. Aber das Fenster liegt im zweiten Stock, und die Mauer ist so glatt, dass man kaum daran hinunterklettern könnte. Ich glaube, dass nicht einmal ein erfahrener Dieb dazu in der Lage gewesen wäre.«

»Habt Ihr unten irgendwelche Fußabdrücke entdeckt?«

Der junge Mann zögerte, bevor er antwortete. »Als ich das Gelände um das Haus herum abgesucht habe, habe ich etwas ausgesprochen Merkwürdiges gefunden.« Barran zeichnete mit der Hand einen Bogen in die Luft. »Es war, als sei die Erde innerhalb eines sehr akkuraten Kreises gleichmäßig eingeebnet worden. In der Mitte des Kreises befanden sich zwei Fußabdrücke, die gleichen wie in dem Raum oben, und weitere Spuren, die von der Stelle wegführten. Ich bin ihnen gefolgt, aber auf dem Gehsteig endeten die Spuren.«

Lorlens Herz setzte einen Schlag aus, dann begann es zu rasen. Ein perfekter Kreis auf dem Boden und ein Sprung aus dem zweiten Obergeschoss? Um zu schweben, musste ein Magier eine Energiescheibe zu seinen Füßen schaffen. In weicher Erde oder Sand konnte das Ergebnis durchaus ein kreisförmiger Abdruck sein.

»Vielleicht war dieser Abdruck schon vor der Tat da gewesen«, sagte Lorlen.

Barran zuckte die Achseln. »Oder er hat eine Art Leiter mit einem runden Sockel benutzt. Der ganze Fall ist seltsam. Die Frau hatte allerdings keine Schnittwunden an den Schultern, daher glaube ich nicht, dass sie ein Opfer des Serienmörders war, nach dem wir suchen. Nein, dieser Täter hat schon seit einer ganzen Weile nicht mehr zugeschlagen, es sei denn, wir hätten bisher nichts davon erfahren…«

Ein Gongschlag unterbrach ihr Gespräch, und Velia erschien in der Tür. »Das Essen ist fertig«, erklärte sie. Lorlen und Barran erhoben sich, um ins Esszimmer hinüberzugehen. Velia sah ihren Sohn durchdringend an. »Und es wird an meinem Tisch nicht über Morde oder Selbstmorde geredet! Das würde dem Administrator nur das Essen verleiden.«


Dannyl beobachtete aus den Kutschenfenstern, wie die prächtigen gelben Gebäude Capias an ihm vorbeizogen. Die Sonne stand tief am Himmel, und die ganze Stadt schien in ihrem warmen Licht zu leuchten. Die Straßen waren voller Kutschen und Menschen.

An jedem Tag und an den meisten Abenden der letzten drei Wochen war er damit beschäftigt gewesen, sich mit einflussreichen Leuten zu treffen oder Errend bei Botschaftsangelegenheiten zur Hand zu gehen. Er hatte inzwischen die meisten der Dems und Bels kennen gelernt, die bei Hof ein und aus gingen. Außerdem hatte er die persönliche Geschichte eines jeden Gildemagiers in Erfahrung gebracht, der in Elyne lebte. Er hatte die Namen elynischer Kinder mit magischem Potenzial aufgelistet, Anfragen von Höflingen an die Gilde beantwortet oder weitergeleitet, Verhandlungen über den Ankauf von elynischen Weinen geführt und einen Diener geheilt, der sich in der Küche des Gildehauses verbrannt hatte.

Es beunruhigte ihn, dass er so viel Zeit verloren hatte, ohne sich um Lorlens Nachforschungen kümmern zu können, daher beschloss er, dass er, sobald er das nächste Mal einige Stunden frei hatte, der Großen Bibliothek einen Besuch abstatten würde. Tayend hatte ihm auf seine Nachfrage mitgeteilt, dass er die Bibliothek auch abends aufsuchen dürfe, und als Dannyl festgestellt hatte, dass er an diesem Abend frei war, hatte er ein frühes Essen und eine Kutsche bestellt.

Anders als in Imardin waren die Straßen von Capia das reinste Labyrinth. Die Kutsche fuhr im Zickzack hin und her und musste gelegentlich einen Umweg um einen steilen Hügel herum nehmen. Elegante Villen wichen großen Häusern, die durch Reihen kleiner, adretter Gebäude abgelöst wurden. Hinter einer Anhöhe gelangte die Kutsche in ein schäbigeres Stadtviertel. Holz und andere, primitivere Materialien ersetzten den gelben Stein, und die Männer und Frauen, die durch die Straßen schlenderten, waren einfacher gekleidet. Obwohl er nichts so Abstoßendes sah wie die Dinge, die ihm bei seiner Suche nach Sonea in den Hüttenvierteln von Imardin begegnet waren, war Dannyl dennoch ein wenig enttäuscht. Die Hauptstadt von Elyne zeigte sich nach außen hin in solcher Pracht, dass die Existenz ärmerer Viertel eine gewisse Desillusion bedeutete.

Schließlich ließen sie die Häuser hinter sich zurück, und die Kutsche fuhr durch wellige Hügel. Tenn-Felder wiegten sich in der sanften Brise. In Reih und Glied gepflanzte Vare-Reben hingen voller Früchte, die nur darauf warteten, geerntet und dann zur Herstellung von Wein gelagert zu werden. Hier und da kamen Gärten mit schwerbeladenen Pachi- und Piorre-Bäumen in Sicht, deren Früchte zum Teil von Vindo geerntet wurden, die eigens zu diesem Zweck jedes Jahr nach Elyne kamen.

Als die letzten Sonnenstrahlen sich langsam orange färbten und die Kutsche sich immer weiter von der Stadt entfernte, wuchs in Dannyl eine gewisse Unruhe. Hatte der Fahrer seine Anweisungen falsch verstanden? Er wollte gerade an das Dach der Kutsche klopfen, als der Wagen um den Fuß eines Hügels herumfuhr.

Das dunkle Band der Straße führte in einer Kurve auf eine hohe Felswand zu. Im Licht der untergehenden Sonne leuchtete der gelbe Stein, als brenne in seinem Inneren ein Feuer. Dunkle Schatten von Fenstern, Simsen und Bogen gliederten die Fassade, die er aus Bildern bereits kannte.

»Die Große Bibliothek«, murmelte Dannyl voller Staunen.

In den Felsen war ein riesiger Eingang gehauen worden, in dem sich ein Tor aus massivem Holz befand. Als die Kutsche näher heranfuhr, erkannte Dannyl, dass ein kleines dunkles Viereck an der Unterkante in Wirklichkeit eine mannshohe Tür in dem riesigen Tor war. Daneben stand jemand und wartete.

Dannyl lächelte, als er die bunte Kleidung des Mannes sah. Während die Kutsche den Abstand zur Bibliothek langsam verringerte, klopfte er ungeduldig mit den Fingern an den Fensterrahmen. Als der Wagen sein Ziel endlich erreicht hatte, kam Tayend herbeigeeilt, um ihm den Kutschenschlag zu öffnen.

»Willkommen in der Großen Bibliothek, Botschafter Dannyl«, erklärte er mit einer eleganten Verbeugung.

Dannyl blickte sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Ich erinnere mich, dass ich als Novize in Büchern Bilder der Bibliothek gesehen habe. Aber die Wirklichkeit übertrifft diese Bilder bei weitem. Wie alt ist das Gebäude?«

»Älter als die Gilde«, erwiderte Tayend ein wenig selbstgefällig. »Etwa acht oder neun Jahrhunderte nach unserer Schätzung. Einige Teile sind noch älter, und das Beste steht Euch noch bevor - also folgt mir, Mylord.«

Sie traten durch die kleine Tür, die Tayend hinter ihnen verriegelte, dann kamen sie in einen langen Korridor mit gewölbter Decke. Hier herrschte vollkommene Dunkelheit, aber bevor Dannyl eine Lichtkugel schaffen konnte, führte Tayend ihn zu einer steilen, von Fackeln beschienenen Treppe.

Oben angekommen, fand Dannyl sich in einem langgestreckten, schmalen Raum wieder. An der einen Seite befanden sich die Fenster, die er von der Kutsche aus gesehen hatte. Sie waren riesig und durch eiserne Gitter weiter unterteilt, so dass die darin eingesetzten Scheiben nicht übermäßig groß zu sein brauchten. Auf der den Fenstern gegenüberliegenden Wand zeichnete die Sonne das Muster der eisernen Fensterkreuze. Überall standen Sessel in Dreier- oder Vierergruppen beieinander, und neben dem nächststehenden wartete ein älterer Mann.

»Guten Abend, Botschafter Dannyl.« Der Mann verneigte sich mit der vorsichtigen Steifheit sehr alter Menschen. »Ich bin Irand, der Bibliothekar.«

Irand hatte eine tiefe, überraschend kräftige Stimme, die gut zu der unmenschlichen Größe der Bibliothek passte. Auf seinem Schädel sprossen kurze, dünne weiße Haare, und er trug ein schlichtes Hemd und Hosen, die aus einem staubgrauen Stoff geschneidert waren.

»Guten Abend, Bibliothekar Irand«, erwiderte Dannyl.

Ein Lächeln legte sich über die Züge des Bibliothekars. »Administrator Lorlen hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Ihr hier eine Aufgabe für ihn zu erledigen hättet. Er sagte, Ihr würdet all die Quellen sehen wollen, die der Hohe Lord während seiner Nachforschungen studiert hat.«

»Wisst Ihr denn, welche Quellen das waren?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, aber Tayend kann sich an einige davon erinnern. Er war Akkarins Assistent und hat sich bereitgefunden, Euch bei Eurer Suche zur Seite zu stehen.« Der alte Mann nickte dem Gelehrten zu. »Ihr werdet seine Kenntnisse alter Sprachen gewiss recht nützlich finden. Außerdem wird er für Euch etwas zu essen und zu trinken kommen lassen, falls Ihr dies wünschen solltet.« Tayend nickte eifrig, und der alte Mann lächelte.

»Vielen Dank«, erwiderte Dannyl.

»Nun denn, ich will Euch nicht aufhalten.« Irands Augen leuchteten kurz auf. »Die Bibliothek erwartet Euch.«

»Hier entlang, Mylord«, sagte Tayend und ging zurück zur Treppe.

Dannyl folgte dem Gelehrten abermals durch den dunklen Flur. Auf einem Regal an der Seite standen einige Lampen, und Tayend machte Anstalten, nach einer zu greifen.

»Macht Euch keine Mühe«, sagte Dannyl. Er konzentrierte sich kurz, dann erschien über seinem Kopf eine Lichtkugel, die ihre Schatten in den Korridor warf. Tayend zuckte merklich zusammen.

»Diese Dinge hinterlassen immer Flecken vor meinen Augen.« Er reckte sich und hob eine Lampe von dem Regal. »Möglich, dass ich Euch irgendwann werde allein lassen müssen, daher nehme ich doch besser eine mit.«

Während sie ihren Weg durch den Flur fortsetzten, begann Tayend zu erzählen. »Diese Bibliothek ist schon immer ein Hort des Wissens gewesen. In einem unserer Räume haben wir halb verfallene Papiere, die achthundert Jahre alt sind und Hinweise darauf geben, dass sich hier schon zu jener Zeit eine Art Bibliothek befunden haben muss. Ursprünglich wurden nur einige wenige Räume zu diesem Zweck benutzt. In den übrigen Bereichen des Hauses waren früher einmal einige tausend Menschen untergebracht. Wir haben inzwischen fast jeden Raum mit Büchern und Schriftrollen, Schrifttafeln und Gemälden gefüllt - und wir haben zusätzliche Räume in den Felsen gehauen.«

Dannyl hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit sich vor ihm zurückzuziehen schien, wie eine Art Nebel, der sich vor Magie fürchtete. Dann standen sie plötzlich vor einer Mauer, und Tayend bog in den Gang zu seiner Rechten ein.

»Welche Sprachen beherrscht Ihr denn, wenn ich fragen darf?«, sagte Dannyl.

»Sämtliche alten Dialekte von Elyne und Kyralia«, antwortete Tayend. »Unsere alten Sprachen sind einander sehr ähnlich, aber je weiter man zurückgeht, umso deutlicher treten die Unterschiede zutage. Außerdem spreche ich das moderne Vindo - das habe ich von einigen Dienern zu Hause gelernt - und ein wenig Lans. Mit Hilfe meiner Bücher kann ich überdies das alte Vindo und die tenturischen Glyphen übersetzen.«

Dannyl sah seinen Begleiter beeindruckt an. »Das sind aber viele Sprachen.«

Der Gelehrte zuckte die Achseln. »Sobald man einige Sprachen kennt, fallen einem die übrigen förmlich zu. Eines Tages werde ich mich daranmachen, modernes Lonmar zu lernen und einige der alten lonmarischen Sprachen. Bisher fehlte mir einfach nur der Grund dazu. Danach werde ich mir die sachakanischen Sprachen vornehmen. Ihre alten Dialekte sind den unseren ebenfalls recht ähnlich.«

Nach mehreren Biegungen und einigen Treppen blieb Tayend schließlich vor einer Tür stehen. Mit ungewöhnlich ernster Miene bedeutete er Dannyl vorauszugehen. Dannyl folgte dieser Aufforderung, dann sog er überrascht den Atem ein.

Ungezählte Reihen von Regalen zogen sich durch den Raum, geteilt durch einen breiten Gang direkt vor ihm. Obwohl die Decke niedrig war, war die gegenüberliegende Mauer so weit entfernt, dass er sie nicht einmal sehen konnte. Jeweils in einer Entfernung von etwa hundert Schritten standen gewaltige Steinsäulen, die den Fußboden mit der Decke verbanden. Das einzige Licht kam von Lampen, die auf schweren Eisensockeln ruhten.

Der riesige Raum verströmte ein Gefühl unvorstellbaren Alters. Verglichen mit den wuchtigen steinernen Säulen und der Decke wirkten die Bücher seltsam zerbrechlich. Ein Gefühl der Melancholie bemächtigte sich Dannyls. Er hätte ein Jahr an diesem Ort verweilen können, ohne dort einen stärkeren Eindruck zu hinterlassen als ein Mottenflügel, der über die kalten Steinmauern strich.

»Verglichen mit diesem Raum ist die übrige Bibliothek relativ neu«, sagte Tayend mit gedämpfter Stimme. »Dies ist der älteste Raum. Vielleicht mehrere tausend Jahre alt.«

»Wer hat ihn geschaffen?«, flüsterte Dannyl.

»Das weiß niemand.«

Ohne den Blick von den endlosen Bücherregalen abzuwenden, schritt Dannyl langsam den Gang hinunter.

»Wie soll ich hier finden, was ich brauche?«, fragte er mit einem Anflug von Verzweiflung.

»Oh, das ist kein Problem.« Tayends Stimme klang plötzlich kräftiger und schien die lastende Stille des Raumes geradezu zu durchschneiden. »Ich habe alles für Euch bereitgestellt, im selben Studierzimmer, das Akkarin damals benutzt hat. Folgt mir.«

Kurze Zeit später fand sich Dannyl in einem kleinen Raum wieder, in dessen Mitte ein steinerner Tisch mit mehreren Bücherstapeln darauf stand.

»Da wären wir«, sagte Tayend. »Und das sind die Bücher, die Akkarin gelesen hat.«

Manche der Bände waren winzige, nur handtellergroße Bücher, dann wieder gab es Exemplare, die man kaum von einem Ort zum anderen hätte tragen können. Dannyl begutachtete sie und las die Titel.

»Wo soll ich anfangen?«, fragte er laut.

Tayend zog einen staubigen Band aus einem der Stapel. »Das war das erste Buch, das Akkarin gelesen hat.«

Dannyl sah Tayend beeindruckt an. Die Augen des jungen Mannes leuchteten vor Begeisterung.

»Ihr könnt Euch so gut daran erinnern?«

Der Gelehrte grinste. »Man braucht ein gutes Gedächtnis, um eine Bibliothek benutzen zu können. Wie sonst sollte man ein Buch wiederfinden, nachdem man es gelesen hat?«

Dannyl blickte auf den Band in seinen Händen hinab. Magische Praktiken der Volksstämme aus den Grauen Bergen. Das Datum unter dem Titel ließ darauf schließen, dass das Buch mindestens fünf Jahrhunderte alt war, und er wusste, dass es spätestens ab diesem Zeitpunkt keine Volksstämme mehr in den Bergen zwischen Elyne und Kyralia gegeben hatte. Fasziniert schlug er das Buch auf und begann zu lesen.

8 Wie er es beabsichtigt hatte

Also sitzen wir einfach nur da und hören zu?« Yaldin legte die Stirn in Falten und ließ den Blick durch den Abendsaal wandern, während er konzentriert den Stimmen lauschte. Rothen unterdrückte ein Kichern. Das Gesicht des alten Magiers war bei weitem zu ausdrucksstark. Wer immer ihn beobachtete, würde wissen, dass er sich alle Mühe gab zu lauschen.

Aber nachdem Dannyl fort war, brauchte Rothen einen anderen »Spion«. Jetzt, da ein skandalöses Gerücht die Runde machte, waren alle auf größte Vorsicht bedacht. Da das Gerücht sich um Rothen drehte, achteten die Klatschsüchtigen unter den Magiern stets genau darauf, ob er in der Nähe war, bevor sie frei zu reden begannen. Deshalb hatte er beschlossen, seinen alten Freund Yaldin in Dannyls Techniken zu unterweisen.

»Es ist zu offensichtlich, Yaldin.«

Der andere Mann runzelte die Stirn. »Offensichtlich? Wie meint Ihr das?«

»Wenn Ihr…«

»Lord Rothen?«

Rothen blickte auf und stellte zu seiner Überraschung fest, dass Administrator Lorlen neben seinem Sessel stand.

»Ja, Administrator?«

»Ich würde Euch gern unter vier Augen sprechen.«

Rothen bemerkte, dass mehrere Magier um ihn herum Lorlen erwartungsvoll ansahen. Yaldin runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts.

»Selbstverständlich«, erwiderte Rothen. Er erhob sich und folgte Lorlen durch den Raum zu einer kleinen Tür. Die Tür schwang auf, und sie betraten den benachbarten Bankettsaal.

Der Raum lag im Dunkeln. Über dem Kopf des Administrators flammte eine Lichtkugel auf, deren Schein auf einen großen Tisch fiel. Lorlen setzte sich auf einen der Stühle, und Rothen, der neben ihm Platz nahm, wappnete sich für das Gespräch, dem er voller Unbehagen entgegengesehen hatte.

Lorlen seufzte, und sein Gesichtsausdruck bekam etwas Grimmiges. »Kennt Ihr die Gerüchte, die über Euch und Sonea im Umlauf sind?«

Rothen nickte. »Allerdings.«

»Zweifellos habt Ihr sie von Yaldin gehört.«

»Und von Sonea.«

»Sonea?« Lorlen zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Ja«, bekräftigte Rothen. »Sie hat mir vor vier Wochen erzählt, dass einer ihrer Mitschüler das Gerücht erfunden habe, und sie machte sich Sorgen, dass die Leute es glauben könnten. Ich habe sie beruhigt. Gerüchte haben eine kurze Lebensdauer und werden rasch vergessen.«

»Hm.« Lorlen schürzte die Lippen. »Gerüchte wie dieses kann man nicht so leicht abtun, wie Ihr es vielleicht hofft. Mehrere Magier haben mir gegenüber ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Sie sind der Meinung, es gehöre sich nicht, dass ein Magier eine junge Frau in seinem Quartier beherberge.«

»Das Gerücht würde dadurch nicht entkräftet, dass man sie woanders unterbringt.«

Lorlen nickte. »Das ist wahr. Trotzdem würde man damit weiteren Spekulationen vorbeugen, die euch beiden beträchtlichen Schaden zufügen könnten. Rückblickend hätte Sonea wohl gleich zu Beginn des Unterrichts in das Novizenquartier umziehen sollen.« Er sah Rothen direkt an. »Nicht um zu verhindern, was das Gerücht andeutet, sondern um zu verhindern, dass überhaupt irgendwelche Gerüchte aufkommen. Niemand glaubt, dass zwischen Euch und Sonea etwas Unziemliches vorgefallen ist.«

»Warum soll sie dann überhaupt umziehen?« Rothen breitete die Hände aus. »Sie wird nach wie vor viel Zeit in meinem Quartier zubringen, um zu lernen oder mit mir zu Abend zu essen. Wenn Ihr jetzt nachgebt, wie lange wird es dauern, bevor andere Fragen stellen, wann immer wir eine Stunde miteinander verbringen?« Er schüttelte den Kopf. »Lasst einfach alles beim Alten, und jene, die töricht genug sind, diesem Gerücht Glauben zu schenken, werden einsehen, dass es keine Beweise für Ungehörigkeiten zwischen uns gibt.«

Ein schiefes Lächeln spielte um Lorlens Mundwinkel. »Ihr seid sehr zuversichtlich, Rothen. Was sagt Sonea dazu?«

»Dieses Gerücht hat sie natürlich aus dem Gleichgewicht gebracht, aber sie glaubt, dass es in Vergessenheit geraten wird, sobald Garrels Schützling sie nicht länger schikaniert.«

»Wenn - falls - sie in die Winterklasse aufrücken kann?«

»Ja.«

»Seid Ihr der Meinung, dass sie den Wechsel bewältigen und sich in dieser Klasse wird halten können?«

»Mühelos.« Rothen lächelte und versuchte gar nicht, seinen Stolz zu verbergen. »Sie lernt schnell, und sie ist ziemlich entschlossen. Sie wird nicht wollen, dass man sie wieder in Regins Klasse zurückschickt.«

Lorlen nickte, dann sah er Rothen eindringlich an. »Ich teile Euren Optimismus nicht, was dieses Gerücht betrifft, Rothen. Eure Argumente gegen Soneas Umzug in das Novizenquartier haben durchaus etwas für sich, aber wenn Ihr Euch irrt, könnte sich die Situation dadurch noch erheblich verschlimmern. Ich denke, sie sollte um ihrer selbst willen umziehen.«

Rothen musterte den Administrator stirnrunzelnd. Lorlen glaubte doch nicht etwa, dass Rothen eine Novizin in sein Bett nehmen würde, noch dazu ein Mädchen, das nicht einmal ein Drittel seiner Jahre zählte? Lorlens Blick war jedoch fest und klar, und Rothen begriff zu seinem Entsetzen, dass der andere Mann diese Möglichkeit tatsächlich erwogen hatte.

Das konnte Lorlen unmöglich glauben! Wie konnte er auch nur daran denken? Wann hatte Rothen Lorlen Anlass gegeben, an ihm zu zweifeln?

Und plötzlich dämmerte ihm der Grund. Akkarin!, dachte er. Wenn ich erfahren hätte, dass mein bester und ältester Freund die böseste nur denkbare Form der Magie praktiziert, würde ich ebenfalls mein Urteil über andere hinterfragen. Rothen holte tief Luft und wog seine nächsten Worte sorgfältig ab.

»Nur Ihr könnt verstehen, warum ich Sonea in meiner Nähe behalten will, Lorlen«, sagte er mit leiser Stimme. »Sie hat hier schon genug zu befürchten, ohne unter Menschen leben zu müssen, die ihr schaden wollen. Und möglicherweise wären es nicht nur die anderen Novizen, die ihr etwas antun könnten.«

Lorlen runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen ein wenig, und er wandte den Blick ab. Schließlich nickte er langsam. »Ich verstehe Eure Sorge. Das Leben hier muss für Sonea sehr beängstigend sein. Aber wenn ich eine Entscheidung treffe, die der Meinung der Mehrheit zuwiderläuft, würde das nur Aufmerksamkeit erregen. Ich glaube nicht, dass sie größeren Gefahren ausgesetzt wäre, wenn sie in das Novizenquartier umzieht… Aber ich werde versuchen, die Entscheidung so lange wie möglich hinauszuzögern, und hoffen, dass Gras über die Sache wächst, so wie Ihr es vermutet.«

Rothen nickte. »Ich danke Euch.«

»Und«, fügte Lorlen noch kurzem Nachdenken hinzu, »ich werde diesen Novizen, Regin, ein wenig genauer im Auge behalten. Um Unruhestifter muss man sich beizeiten kümmern.«

»Das wäre mir sehr recht«, erwiderte Rothen.

Lorlen erhob sich, und Rothen folgte seinem Beispiel. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und Rothen sah einen gehetzten Ausdruck in Lorlens Zügen, der ihn frösteln ließ. Dann wandte Lorlen sich ab und ging durch die Tür zum Abendsaal.

Dort angekommen, trennten sie sich voneinander, und Lorlen ging auf seinen gewohnten Sessel zu. Auf dem Weg zu seinem eigenen Platz beobachtete Rothen, dass mehrere Magier in seine Richtung blickten. Auch Yaldin sah ihm fragend entgegen.

»Nichts Ernstes«, sagte Rothen, während er sich in seinem Sessel neben dem älteren Magier niederließ. »Also, wo waren wir? Oh ja. Beim Thema Unauffälligkeit. Wenn Ihr lauscht, seht Ihr ungefähr so aus…«


Als es an ihrer Tür klopfte, stieß Sonea einen leisen Seufzer aus. Sie hörte auf zu schreiben und rief, ohne sich umzudrehen: »Herein.«

Die Tür öffnete sich mit einem Klicken.

»Da ist Besuch für Euch, Lady Sonea«, sagte Tania mit angespannter Stimme.

Sonea wandte sich um und sah eine Frau in grünen Roben in der Tür zu ihrem Schlafzimmer stehen. Die Frau trug eine schwarze Schärpe um die Taille. Sonea sprang auf und verbeugte sich hastig.

»Lady Vinara.«

Sonea musterte das Oberhaupt der Heiler verstohlen. Es war schwer, die Stimmung der Frau einzuschätzen, da Vinaras Gesichtsausdruck stets streng und kalt wirkte. Jetzt schienen die grauen Augen der Frau sogar noch härter zu sein als gewöhnlich.

»Es ist schon ein wenig spät, um noch zu lernen«, bemerkte Vinara.

Sonea blickte auf ihr Schreibpult. »Ich versuche, auf den Stand der Winterklasse zu kommen.«

»Das habe ich gehört.« Vinara deutete auf die Tür, die daraufhin zufiel. Bevor sie sich schloss, konnte Sonea noch einen flüchtigen Blick auf Tanias ängstliches Gesicht werfen. »Ich möchte unter vier Augen mit dir sprechen.«

Sonea bedeutete Vinara, auf ihrem Stuhl Platz zu nehmen, und hockte sich selbst auf die Bettkante. Während sie zusah, wie Lady Vinara sich setzte und ihre Roben glatt strich, krampfte sich ihr Magen vor Furcht zusammen.

»Sind dir die Gerüchte über dich und Lord Rothen bekannt?«

Sonea nickte.

»Ich bin hier, um mit dir darüber zu sprechen. Du musst ehrlich zu mir sein, Sonea. Dies ist eine ernsthafte Angelegenheit. Ist irgendetwas Wahres an den Gerüchten?«

»Nein.«

»Lord Rothen hat dir keine ungehörigen Vorschläge gemacht?«

»Nein.«

»Er hat dich nicht… in irgendeiner Weise berührt?«

Sonea spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. »Nein. Niemals. Es ist lediglich ein dummes Gerücht. Rothen hat mich niemals angerührt, ebenso wenig wie ich ihn. Es macht mich krank, die Leute darüber reden zu hören.«

Vinara nickte langsam. »Ich bin froh, das zu hören. Vergiss nicht, wenn du irgendeinen Grund hast, Angst zu haben, oder wenn du in irgendeiner Weise bedrängt wurdest, brauchst du nicht hier zu bleiben. Wir werden dir helfen.«

Sonea schluckte ihre Wut herunter. »Vielen Dank, aber hier passiert nichts Ungehöriges.«

Vinaras Augen wurden schmal. »Eines solltest du wissen. Falls sich diese Gerüchte als wahr erweisen sollten und du eine willfährige Komplizin warst, würde das dein Ansehen in der Gilde schwer beschädigen. In jedem Fall würdest du Rothen als Mentor verlieren.«

Natürlich. Das wäre Wasser auf Regins Mühlen gewesen. Vielleicht hatte er genau das von Anfang an zu erreichen versucht. Sonea knirschte mit den Zähnen. »Wenn es so weit kommen sollte, kann Lorlen mich abermals einer Wahrheitslesung unterziehen.«

Vinara richtete sich auf und wandte den Blick ab. »Wollen wir hoffen, dass es nicht so weit kommt.« Sie spitzte die Lippen. »Nun, es tut mir Leid, dass ich diese delikate Angelegenheit mit dir erörtern musste. Es ist meine Pflicht, solchen Dingen nachzugehen. Wenn du über irgendetwas sprechen möchtest, kannst du jederzeit zu mir kommen.« Sie erhob sich und unterzog Sonea einer kritischen Musterung. »Du bist erschöpft, junge Dame. Wenn du zu viel lernst, wirst du krank werden. Sieh zu, dass du ein wenig Schlaf bekommst.«

Sonea nickte. Sie sah Lady Vinara nach, als diese aus dem Raum glitt, dann wartete sie, bis sie Tania die Haupttür zu Rothens Quartier schließen hörte. Erst dann drehte sie sich um und hämmerte mit den Fäusten auf ihr Kissen ein.

»Ich würde ihn am liebsten umbringen!«, knurrte sie. »Ich möchte ihn in den Tarali werfen, mit Steinen an den Füßen, damit niemand jemals seine Leiche findet.«

»Lady Sonea?«

Beim Klang der furchtsamen Stimme blickte Sonea auf und schüttelte sich ihr wirres Haar aus den Augen. »Ja, Tania?«

»W-wen wollt Ihr umbringen?«

Sonea warf das Kissen zurück auf ihr Bett. »Regin natürlich.«

»Ah.« Tania hockte sich neben sie. »Einen Moment lang habt Ihr mir wirklich Angst gemacht. Sie haben mich auch befragt. Ich habe die Geschichte natürlich nicht geglaubt, aber sie haben mir erklärt, auf welche Dinge ich Acht geben müsse, und… nun ja… ich…«

»Keine Sorge, Tania«, seufzte Sonea. »Es gibt nur einen Mann in der Gilde, der jemals so etwas bei mir versucht hat.«

Die Augen der Dienerin weiteten sich. »Wer?«

»Regin natürlich.«

Tania zog die Brauen zusammen. »Wie seid Ihr damit fertig geworden?«

Bei der Erinnerung an den Zwischenfall musste Sonea lächeln. »Ich habe nur einen kleinen Trick angewandt, den ich von Cery gelernt habe.« Sie stand auf und begann zu erzählen.


Es war bereits spät, als Lorlen in sein Büro in der Universität zurückkehrte. Früher am Tag hatte Lord Osen, sein Assistent, ihm eine kleine Schachtel mit Post gebracht. Lorlen hatte gesehen, dass sich unter den Briefen auch ein kleines Päckchen aus Elyne befand. Er hatte es beiseite gelegt, um es später zu lesen.

Jetzt ließ er seine Lichtkugel ein wenig heller leuchten, während er das Päckchen öffnete und anerkennend Dannyls elegante Handschrift betrachtete. Die Schrift des jungen Mannes verriet Selbstbewusstsein und Ordnungsliebe. Lorlen lehnte sich in seinem Sessel zurück und begann zu lesen.

An Administrator Lorlen.

Vor einer Woche habe ich zum ersten Mal die Große Bibliothek aufgesucht, und seither bin ich jeden Abend dorthin zurückgekehrt, um meine Nachforschungen fortzusetzen. Irand, der Bibliothekar, hat mir denselben Gelehrten zugewiesen, der seinerseits dem Hohen Lord zur Hand gegangen ist: Tayend von Tremmelin. Dieser Mann kann sich ungewöhnlich gut an die Besuche des Hohen Lords erinnern, und ich habe beträchtliche Fortschritte gemacht.

Tayend zufolge trug der Hohe Lord ein Tagebuch bei sich, in das er sich Notizen machte, Passagen aus Büchern abschrieb und Karten zeichnete. Unter Anleitung des Gelehrten habe ich inzwischen die Hälfte der Quellen gelesen, die der Hohe Lord damals zu Rate zog, und viele nützliche Einzelheiten kopiert, einschließlich all der Dinge, an denen der Hohe Lord Tayend zufolge Interesse gezeigt hat.

Es gibt mehrere Themen, denen ich weiter nachgehen könnte, ebenso wie der Hohe Lord es getan hat. Die meisten machen eine Reise zu einem Grab, einem Tempel oder einer Bibliothek in den Verbündeten Ländern erforderlich. Wenn ich mit der Lektüre der hiesigen Quellen fertig bin, sollte ich über alle Möglichkeiten Bescheid wissen, die der Hohe Lord in Betracht gezogen hat. Danach werde ich meine Wahl treffen, welchem Problem ich nachgehen will.

Um mir bei der Entscheidung zu helfen, ist Tayend am Hafen gewesen, wo seit vielen Jahren Aufzeichnungen über alle Reisenden geführt werden, die dort ankommen oder abfahren. Er hat einen Hinweis auf einen Lord Akkarin gefunden, der vor über zehn Jahren hier angekommen und einige Monate später nach Lonmar gereist ist. Später kam er dann nach Capia zurück, um mit einem anderen Schiff zu den Inseln von Vin zu fahren. Einen Monat darauf ist er dann wieder in Capia angelandet. Weitere Einträge gab es nicht.

Im Hinblick auf die Informationen, die ich zusammengetragen habe, ist es wahrscheinlich, dass der Hohe Lord den Prächtigen Tempel in Lonmar besucht hat. Ich habe meine Notizen kopiert und lege sie diesem Brief bei.

Dannyl, zweiter Botschafter der Gilde in Elyne

Lorlen legte den Brief beiseite und blätterte Dannyls Notizen durch. Sie waren klar und sauber geschrieben, und sie gaben Informationen aus Zeitaltern vor der Gründung der Gilde wieder. Auf der letzten Seite hatte Dannyl schließlich noch eine kleine Bemerkung festgehalten.

Ich habe ein Buch über den sachakanischen Krieg entdeckt, das kurz nach den Geschehnissen geschrieben wurde. Es ist insofern bemerkenswert, als es die Gilde als Feind porträtiert - und es zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild! Nach Vollendung meiner jetzigen Aufgabe werde ich in die Bibliothek zurückkehren, um dieses Buch zu lesen.

Lorlen lächelte. Wenn er gewusst hätte, dass Dannyl sich so gut auf Nachforschungen verstand, hätte er ihn schon früher eingesetzt. Obwohl Dannyl bisher nichts entdeckt hatte, was sich gegen Akkarin verwenden ließ, hatte er doch in kurzer Zeit viele Informationen zusammengetragen. Lorlens Hoffnung, dass sie auf nützliche Hinweise stoßen würden, hatte neue Nahrung gefunden.

Es waren auch keine peinlichen Fragen gestellt worden. Wie er gehofft hatte, war Dannyl vernünftig genug, um die Angelegenheit vertraulich zu behandeln, obwohl er den Grund für die Heimlichkeit nicht kannte. Wenn Dannyl tatsächlich etwas entdeckte, das in ihm den Verdacht weckte, Akkarin könnte schwarze Magie erlernt haben, war Lorlen zuversichtlich, dass der junge Magier ihm auch diese Information zukommen lassen würde, ohne Aufsehen zu erregen.

Und was dann? Lorlen schürzte die Lippen und dachte nach. Wahrscheinlich würde er Dannyl die Wahrheit sagen müssen. Aber er vertraute darauf, dass der junge Magier zu dem gleichen Schluss kommen würde wie er: Es war unklug, Akkarin zur Rede zu stellen, bevor sie dies ohne Risiko tun konnten. Auch die Tatsache, dass Rothen und Sonea sich mit diesem Plan einverstanden erklärt hatten, würde dazu beitragen, Dannyls Stillschweigen zu gewährleisten.

Aber er hielt es dennoch für besser, Dannyl so lange wie möglich im Unklaren über seine Beweggründe zu lassen. Lorlen nahm ein Blatt Papier zur Hand und setzte einen Brief an den ersten Botschafter der Gilde auf. Er versiegelte ihn sorgfältig, adressierte ihn an das Gildehaus in Elyne und legte ihn dann in eine andere Schachtel auf seinem Schreibtisch. Lord Osen würde ihn morgen einem Kurier übergeben.

Schließlich erhob sich Lorlen und verstaute Dannyls Brief zusammen mit den Notizen in einer Schatulle, in der er wichtige Dokumente aufbewahrte. Er verstärkte die magische Barriere, die es anderen unmöglich machte, die Schatulle zu öffnen, und legte sie in einen Schrank hinter seinem Schreibtisch. Als er den Raum verließ, gestattete er sich ein schwaches Lächeln.

Akkarin hatte Recht, als er sagte, dass ich den richtigen Mann für die Position des zweiten Botschafters der Gilde in Elyne gewählt hätte.

9 Zukunftspläne

Könntest du mir eine schlichtere Bürste besorgen?«, fragte Sonea und hielt ihre silberne Haarbürste in die Höhe.

»Oh, die wollt Ihr auch nicht?« Tania seufzte. »Wollt Ihr denn gar nichts Hübsches mitnehmen?«

»Nein. Nichts Wertvolles und nichts, was mir gefällt.«

»Aber Ihr lasst so viele Dinge zurück - wie wäre es denn mit einer schönen Vase? Ich werde Euch ab und zu Blumen bringen. Ein Raum sieht mit Blumen gleich so viel hübscher aus.«

»Ich bin weit Schlimmeres gewohnt, Tania. Wenn ich eine Möglichkeit gefunden habe, meine Sachen zu verstecken oder zu schützen, werde ich vielleicht zurückkommen und mir einige der Bücher holen.« Sonea betrachtete den Inhalt eines Koffers, der auf ihrem Bett lag. »Das ist alles.«

Tania sah sie unglücklich an, dann griff sie nach dem Koffer und trug ihn aus dem Raum. Sonea, die ihr folgte, fand Rothen im Empfangszimmer. Er hatte die Stirn gefurcht, und als er sie erblickte, kam er auf sie zu und ergriff ihre Hände.

»Es tut mir Leid, Sonea«, begann er. »Ich…«

»Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen, Rothen«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß, Ihr habt getan, was Ihr konntet. Und jetzt sollte ich besser gehen.«

»Aber das ist doch Unsinn. Ich könnte…«

»Nein.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Ich muss gehen. Wenn ich es nicht tue, wird Regin dafür sorgen, dass man Beweise findet. Und er könnte es immer noch versuchen, wenn sein Ziel darin besteht, mich Eurem Schutz als meinem Mentor zu entziehen. Dann dürfen die Lehrer mich ignorieren, und ich werde nichts dagegen ausrichten können.«

Wieder runzelte er die Stirn. »Daran habe ich nicht gedacht«, murmelte er finster. »Es ist nicht richtig, dass ein Novize so viel Ärger machen kann.«

Sie lächelte. »Nein, aber er wird mich nicht daran hindern, ihn zu überflügeln, nicht wahr? Wir werden weiterarbeiten.«

Rothen nickte. »Allerdings.«

»Dann treffe ich Euch in einer Stunde vor der Magierbibliothek?«

»Ja.«

Sie drückte kurz seine Hände, dann gab sie Tania ein Zeichen. Die Dienerin hob den Koffer vom Boden auf und trug ihn zur Tür. Sonea folgte ihr, dann drehte sie sich noch einmal um und schenkte Rothen ein Lächeln.

»Ich werde schon zurechtkommen, Rothen.«

Rothen brachte seinerseits ein dünnes Lächeln zustande. Schließlich wandte Sonea sich ab und ging zusammen mit Tania den Flur hinunter.

Für einen Freitagmorgen herrschte in den Magierquartieren ungewöhnlicher Betrieb. Sonea ignorierte die Blicke der Magier, an denen sie vorbeikam, wohl wissend, dass es ihr schwer fallen würde, ihren Zorn zu verbergen, wenn sie sie ansah. Mit halbem Ohr hörte sie Tania etwas über Ungerechtigkeit murmeln, bat sie jedoch nicht, ihre Bemerkung zu wiederholen.

Ihre tapferen Worte Rothen gegenüber waren nur Fassade gewesen, denn sie wusste sehr wohl, dass es für sie, sobald sie erst einmal im Novizenquartier wohnte, kein Entrinnen vor Regin mehr geben würde. Sie konnte ihre Zimmertür mit Magie verschließen - Rothen hatte es ihr beigebracht -, aber sie war davon überzeugt, dass Regin irgendeine Möglichkeit finden würde, sie zu schikanieren. Und sie konnte nicht die ganze Zeit über in ihrem Zimmer bleiben.

Dies war seine Rache, weil sie sein Haus geschmäht hatte. Sie hätte ihn zu Boden werfen und es dabei belassen sollen. Aber stattdessen hatte sie ihn beleidigt, und er hatte Vergeltung gesucht. So viel zu ihrer Hoffnung, sie brauche ihn nur zu ignorieren, damit er den Gefallen an der ganzen Angelegenheit verlor und sie in Ruhe ließ.

Jetzt waren es nicht nur die Novizen, die in den Fluren ihren Namen murmelten. Sie hatte genug von den geflüsterten Gesprächen der Magier aufgefangen, um zu wissen, was sie von ihr dachten. Im Grunde interessierte es niemanden, wer das Gerücht in Umlauf gebracht hatte oder warum. »Gerüchte dieser Art sollten überhaupt nicht erst entstehen«, hatte ein Lehrer dazu bemerkt. Ihr Zusammenleben mit Rothen wirkte verdächtig, vor allem wenn man ihre Vergangenheit in Betracht zog. Als sei jede Frau in den Hüttenvierteln eine Hure!

Außerdem stellten sich viele Leute die Frage, warum sie anders behandelt werden sollte als die übrigen Novizen. Sie mussten in den Novizenquartieren leben, und das Gleiche sollte für Sonea gelten.

Sonea trat aus dem Magierquartier in den Innenhof hinaus. Die drückende Hitze des Hochsommers war vorüber, und der Tag war angenehm warm. Sie konnte die schwache Wärme spüren, die aus den Pflastersteinen aufstieg.

Sie war noch nie zuvor in den Novizenquartieren gewesen. Nur ein einziges Mal, in jener Nacht vor so langer Zeit, als sie und Cery in der Gilde umhergestreift waren, hatte sie durch die Fenster gespäht und die Räume dahinter gesehen. Sie waren klein, schlicht und schmucklos gewesen.

Etliche Novizen standen in Gruppen vor dem Eingang. Als Sonea näher kam, unterbrachen sie ihre Gespräche, und einige von ihnen steckten die Köpfe zusammen. Sonea warf ihnen einen gleichgültigen Blick zu, dann trat sie durch die offenen Türen.

In dem Gebäude selbst stieß sie auf weitere Novizen und widerstand dem Drang, nach vertrauten Gesichtern Ausschau zu halten. Tania ging auf eine Tür auf der rechten Seite zu und klopfte an.

Während sie warteten, beobachtete Sonea aus den Augenwinkeln die Novizen im Flur und fragte sich, wo Regin sein mochte. Er würde sich diesen kleinen Augenblick des Triumphs gewiss nicht entgehen lassen.

Die Tür wurde geöffnet, und ein dünner Krieger mit scharfen Gesichtszügen erschien vor Sonea. Sie verneigte sich und rief sich noch einmal all die Klagen ins Gedächtnis, die ihr über den Leiter der Novizenquartiere zu Ohren gekommen waren. Ahrind war allgemein unbeliebt.

»Ah, da bist du ja«, sagte er kalt. »Folge mir.«

Als er den Flur hinuntereilte, gingen die Novizen ihm sorgfältig aus dem Weg. Nach einigen Schritten blieb er stehen, und eine Tür öffnete sich. Dahinter lag ein Raum, der ebenso schlicht und klein war wie die, an die sie sich erinnern konnte.

»Keine Veränderungen im Zimmer«, sagte Ahrind. »Keine Besucher nach dem Abendgong. Wenn du einmal für mehrere Nächte auswärts schlafen willst, setze mich bitte zwei Tage vor dem ersten Abend darüber in Kenntnis. Das Zimmer hat jederzeit sauber und ordentlich zu sein. Wenn nötig, triff die entsprechenden Vereinbarungen mit den Dienern. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Sonea nickte. »Ja, Mylord.«

Er drehte sich um und ging davon. Sonea tauschte einen Blick mit Tania, dann betrat sie ihr neues Quartier.

Es war eine Spur größer als ihr Schlafzimmer in Rothens Wohnung, und es enthielt ein Bett, einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch und einige Regale. Vom Fenster aus konnte sie die Arena und die Gärten sehen. Tania stellte den Koffer auf das Bett und begann, ihre Sachen auszupacken.

»Ich habe diesen Jungen gar nicht gesehen«, bemerkte Tania.

»Nein. Was nicht bedeutet, dass er mich nicht beobachtet hat. Er oder einer seiner Gefolgsleute.«

»Es ist gut, dass dein Zimmer sich so nahe beim Eingang befindet.«

Sonea nickte und machte sich daran, ihre Notizbücher und Schreibutensilien in die Schubladen des Schreibtisches zu räumen. »Ahrind will mich wahrscheinlich genau im Auge behalten. Um sicherzustellen, dass ich keinen schlechten Einfluss auf die anderen ausübe.«

Tania schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Die Diener mögen ihn nicht besonders. Geht ihm am besten aus dem Weg. Wie wollt Ihr es mit den Mahlzeiten halten?«

Sonea zuckte die Achseln. »Ich werde mit Rothen zu Abend essen. Davon abgesehen… wahrscheinlich werde ich in den Speisesaal gehen. Vielleicht kann ich unauffällig hineinschlüpfen, mir etwas nehmen und mich wieder davonschleichen, bevor Regin fertig ist.«

»Wenn Ihr wollt, kann ich Euch Eure Mahlzeiten hierher bringen.«

»Das solltest du nicht tun«, seufzte Sonea. »Du würdest dir nur Feinde machen.«

»Ich kann mit einem der anderen Diener herkommen oder jemanden bitten, Euch etwas zu bringen. Ich werde jedenfalls nicht zulassen, dass Ihr wegen dieses Jungen Hunger leidet.«

»Das wird schon nicht passieren, Tania«, versicherte Sonea ihr. »So, jetzt ist alles ausgepackt.« Sie legte eine Hand auf die Schranktür, dann auf die Schublade des Schreibtisches. »Alles ist verschlossen. Lass uns in die Magierbibliothek gehen, zu Rothen.«

Lächelnd scheuchte Sonea die Dienerin aus dem Raum, verschloss die Tür und machte sich auf den Weg in Richtung Universität.


»Was habe ich da in der Tasche?« Tayend zog ein Blatt Papier aus seinem Mantel und betrachtete es. »Ah, die Notizen von meinem Besuch im Hafen.« Er las das Geschriebene noch einmal durch und runzelte die Stirn. »Akkarin war sechs Jahre fort, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Dannyl.

»Das bedeutet, dass er nach seiner Rückkehr von den Vin-Inseln fünf davon hier verbracht hat.«

»Es sei denn, er wäre über Land zu anderen Orten gereist«, warf Dannyl ein.

»Wohin denn?« Tayend runzelte die Stirn. »Ich wünschte, wir könnten die Familie befragen, bei der er gewohnt hat, aber sie würde wahrscheinlich Akkarin darüber informieren, dass sich jemand nach ihm erkundigt hat, und ich habe den Eindruck, dass Ihr das lieber vermeiden würdet.« Er trommelte mit den Fingern auf die Reling des Schiffes.

Dannyl lächelte und drehte das Gesicht in den Wind. Seit er mit dem Gelehrten zusammenarbeitete, mochte er den Mann von Tag zu Tag lieber. Tayend hatte einen schnellen Verstand und ein gutes Gedächtnis, und außerdem war er nicht nur ein hervorragender Assistent, sondern auch ein unterhaltsamer Gefährte. Als Tayend sich erboten hatte, Dannyl auf seiner Reise nach Lonmar zu begleiten, war Dannyl gleichermaßen überrascht und erfreut gewesen. Er hatte allerdings gefragt, ob Irand damit einverstanden sei.

»Oh, ich arbeite nur deshalb hier, weil ich es so will«, hatte Tayend mit offenkundiger Erheiterung geantwortet. »Tatsächlich arbeite ich im Grunde gar nicht. Als Gegenleistung dafür, dass ich mich bei Besuchern und Forschern nützlich mache, steht mir selbst die Bibliothek zur freien Verfügung.«

Als Dannyl den Wunsch geäußert hatte, Lonmar und Vin zu besuchen, war er davon überzeugt gewesen, dass der erste Botschafter diesen Plan missbilligen würde. Immerhin war er erst seit wenigen Monaten in Elyne. Aber Errend war begeistert von dem Vorhaben gewesen. Wie es aussah, hatte Lorlen ihn gebeten, diese Länder zu bereisen, um einige diplomatische Angelegenheiten zu regeln, und Errend schätzte es gar nicht, mit dem Schiff reisen zu müssen. Also hatte er prompt beschlossen, dass Dannyl an seiner Stelle fahren sollte.

Das alles kam verdächtig gelegen…

»Wie ist er dann zur Gilde zurückgekommen?«

Dannyl zuckte zusammen, dann wandte er sich zu Tayend um. »Wer?«

»Akkarin.«

»Es heißt, er sei einfach vor den Gildetoren aufgetaucht, schmutzig von Kopf bis Fuß und angetan mit gewöhnlicher Kleidung, und zuerst habe ihn niemand erkannt.«

Tayends Augen weiteten sich. »Ach wirklich? Hat er gesagt, warum?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Möglicherweise. Ich muss zugeben, dass ich mich damals nicht allzu sehr für diese Angelegenheit interessiert habe.«

»Ich wünschte, wir könnten ihn fragen.«

»Wenn wir nach alter Magie suchen, wird der Grund, warum Akkarin am Ende seiner Suche derart schäbig gekleidet zurückkam, uns wahrscheinlich nicht allzu sehr weiterhelfen. Vergesst nicht, dass Lorlen gesagt hat, sein Forschungsvorhaben sei unvollendet geblieben.«

»Ich würde es trotzdem gern wissen«, beharrte Tayend.

Das Schiff schaukelte leicht, während es den Ausgang der Bucht passierte. Dannyl, der sich noch einmal umdrehte, stieß einen anerkennenden Seufzer aus. Er hatte wahrlich Glück gehabt, dass man ihm als Botschafter an einen solchen Ort geschickt hatte. Tayend steckte unterdessen den Bogen Papier wieder ein.

»Lebwohl, Capia«, sagte er wehmütig. »Es ist ein Gefühl, als löse man sich aus den Armen einer schönen Geliebten, die man schamlos für selbstverständlich gehalten hat. Erst wenn man fortgeht, begreift man, was man hatte.«

»Der Prächtige Tempel gilt als sehr beeindruckend.«

Tayend sah sich an Deck um. »Ja, und wir werden ihn mit eigenen Augen sehen. Was für ein Abenteuer uns erwartet! Welch schöne Bilder und denkwürdige Erfahrungen - und was für eine fantastische Art zu reisen!«

»Ihr solltet Euch vielleicht erst Eure Kajüte ansehen, bevor Ihr weitere Loblieder auf unsere Reise singt - obwohl Euch das Schlafen unter Deck gewiss als denkwürdige Erfahrung in Erinnerung bleiben wird.«

Tayend schwankte, als das Schiff in der Dünung des weiten Meeres zu schlingern begann. »Das wird doch sicher bald aufhören, oder? Wenn wir weiter draußen sind?«

»Was wird aufhören?«, fragte Dannyl hinterhältig.

Der Gelehrte sah ihn entsetzt an, dann stürzte er zur Reling hinüber und übergab sich. Dannyl schämte sich seiner spöttischen Bemerkung.

»Hier.« Er legte Tayend eine Hand auf den Arm. Dann schloss er die Augen und sandte sein Bewusstsein in den Körper des Gelehrten, aber die Verbindung zwischen ihnen wurde jäh gelöst, als der Gelehrte seine Hand fortstieß.

»Nein. Tut das nicht.« Tayends Gesicht war rot geworden. »Ich werde schon zurechtkommen. Das ist die Seekrankheit, nicht wahr? Ich werde mich daran gewöhnen.«

»Ihr braucht nicht krank zu sein«, erwiderte Dannyl, den die Reaktion des Gelehrten verwirrte.

»Oh doch.« Tayend beugte sich abermals über die Reling. Als er sich wieder aufrichtete, wischte er sich mit einem Nasentuch über den Mund. »Das gehört alles mit zu den Erfahrungen dieser Reise, versteht Ihr«, sagte er an die Wellen gewandt. »Wenn Ihr mich daran hindert, diese Erfahrung zu machen, werde ich keine guten Geschichten zu erzählen haben.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Nun, falls Ihr Eure Meinung ändern solltet…«

Tayend hustete. »Dann gebe ich Euch Bescheid.«


Als die letzten Lichtstrahlen nur noch die höchsten Blätter der Bäume berührten, verließ Lorlen die Universität und machte sich auf den Weg zur Residenz des Hohen Lords.

Wieder einmal musste er versuchen, all die Dinge, die er wusste, in irgendeinem dunklen Teil seines Geistes zu verbergen. Wieder einmal würde er freundliche Konversation machen, Scherze zum Besten geben und den besten Wein trinken, den die Verbündeten Länder zu bieten hatten.

Früher einmal hätte er Akkarin sein Leben anvertraut. Sie hatten sich als Novizen sehr nahe gestanden, einander von ihren Geheimnissen erzählt. Akkarin war stets dazu aufgelegt gewesen, die Regeln der Gilde zu brechen und irgendeinen Schabernack vorzuschlagen. Lorlen runzelte die Stirn. Hatte dieser Umstand sein Interesse auf schwarze Magie gelenkt? Beugte Akkarin nur deshalb die Regeln, um sich auf diese Weise zu amüsieren?

Er seufzte. Es gefiel ihm keineswegs, Akkarin fürchten zu müssen. An Abenden wie diesem fiel es ihm bei weitem leichter, gute Gründe dafür zu ersinnen, warum Akkarin schwarze Magie benutzte. Aber die Zweifel ließen sich niemals ganz verscheuchen.

»Der Kampf hat mich geschwächt. Ich brauche deine Kraft.«

Welcher Kampf? Und gegen wen? Bei dem Gedanken an das Blut, mit dem Akkarin in Soneas Erinnerung befleckt gewesen war, konnte Lorlen nur zu dem Schluss kommen, dass sein Widersacher schwer verletzt worden war. Oder ermordet.

Lorlen schüttelte den Kopf. Die Geschichten, die Derril und sein Sohn ihm erzählt hatten, waren eigenartig und beunruhigend. In beiden Fällen ging es um Opfer, die tot waren, obwohl ihre Wunden dafür keine Erklärung boten. Das genügte jedoch nicht, um zu beweisen, dass ein schwarzer Magier am Werk gewesen war. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er, hätte er sich nicht solche Sorgen wegen Akkarin gemacht, vielleicht eher geneigt gewesen wäre, diese Todesfälle mit Vinara zu besprechen. Die Heilerin hätte vielleicht eine Möglichkeit gekannt, um herauszufinden, ob ein Mensch mit Hilfe von schwarzer Magie getötet worden war.

Aber wenn die Gilde sich auf die Suche nach einem schwarzen Magier machte, würde dieses Tun dann nicht zu einer verfrühten Konfrontation mit Akkarin führen?

Lorlen blieb an der Tür zu Akkarins Residenz stehen und seufzte. Er musste diese Überlegungen beiseite schieben. Mehrere Magier hatten den Verdacht, dass der Hohe Lord selbst über einige Entfernung hinweg Gedanken lesen konnte. Obwohl Lorlen das nie geglaubt hatte, besaß Akkarin doch ein geradezu unheimliches Geschick darin, Geheimnissen früher auf die Spur zu kommen als alle anderen.

Wie immer öffnete sich die Tür, sobald er anklopfte. Akkarin stand nur wenige Schritte von ihm entfernt und hielt ihm bereits ein Glas Wein hin.

Lorlen nahm das Glas mit einem Lächeln in Empfang. »Vielen Dank.«

Akkarin griff nach seinem eigenen Glas, führte es an die Lippen und sah Lorlen über den Rand hinweg an. »Du wirkst müde.«

Lorlen nickte. »Das überrascht mich nicht.« Kopfschüttelnd wandte er sich ab und ging auf einen Sessel zu.

»Takan sagt, das Essen sei in zehn Minuten fertig«, erklärte Akkarin. »Komm mit nach oben.«

Akkarin wandte sich nach links, öffnete die Tür zur Treppe und bedeutete Lorlen voranzugehen. Auf dem Weg nach oben beschlich Lorlen ein unangenehmes Gefühl der Befangenheit; er war sich mit allen Sinnen des Umstandes bewusst, dass der schwarz gewandete Magier ihm folgte. Entschlossen drängte er das Gefühl beiseite.

Im oberen Stockwerk standen die Türen zum Esszimmer bereits offen, wo Takan sie erwartete. Als der Diener sich verbeugte, widerstand Lorlen dem Drang, den Mann allzu genau zu mustern, obwohl er, seit er von Akkarins Aktivitäten erfahren hatte, nur selten Gelegenheit dazu gefunden hatte.

»Also, was liegt dir auf der Seele, Lorlen?«

Lorlen sah Akkarin überrascht an. »Was mir auf der Seele liegt?«

Akkarin lächelte. »Du wirkst geistesabwesend. Was beschäftigt dich?«

Lorlen rieb sich den Nasenrücken und seufzte. »Ich musste diese Woche eine unangenehme Entscheidung treffen.«

»Tatsächlich? Versucht Lord Davin weitere Materialien für seine Wetterexperimente zu kaufen?«

»Nein - nun, das auch. Aber vor allem musste ich Sonea in das Novizenquartier verlegen. Es kam mir grausam vor, wo doch so offensichtlich klar ist, dass sie mit ihren Klassenkameraden nicht gut zurechtkommt.«

Akkarin zuckte die Achseln. »Sie kann von Glück sagen, dass sie überhaupt so lange bei Rothen wohnen durfte. Es war unvermeidlich, dass irgendwann jemand dagegen protestieren würde. Es überrascht mich, dass das Thema nicht früher zur Sprache gekommen ist.«

Lorlen nickte. »Nun, es ist geschehen. Ich kann nur versuchen, ein Auge auf die Situation zwischen ihr und ihren Klassenkameraden zu haben und Lord Garrel zu ermutigen, Regins Mätzchen im Zaum zu halten.«

»Versuchen kannst du es, aber selbst wenn du Garrel bitten würdest, seinen Novizen auf Schritt und Tritt zu folgen, würde das den Jungen nicht daran hindern zu tun, was er will. Wenn sie den Respekt der anderen Novizen gewinnen will, wird sie lernen müssen, für sich selbst einzustehen.«

Takan brachte ein Tablett herein und stellte kleine Suppenschalen auf den Tisch. Akkarin kostete von der Suppe, dann lächelte er.

»Du sprichst immer von Sonea, wenn du hierher kommst«, bemerkte er. »Es sieht dir gar nicht ähnlich, dich derart für eine bestimmte Novizin zu interessieren.«

Lorlen nahm einen Löffel von der salzigen Suppe und schluckte sie vorsichtig. »Ich bin neugierig darauf, wie gut sie sich einfügt - neugierig zu sehen, wie weit ihre Herkunft ihre Fortschritte behindert. Es liegt in unser aller Interesse, dass sie sich bei uns einlebt und ihr Potenzial voll auszuschöpfen lernt. Deshalb überzeuge ich mich von Zeit zu Zeit davon, welche Fortschritte sie gemacht hat.«

»Denkst du vielleicht daran, weitere Novizen aus den unteren Klassen aufzunehmen?«

Lorlen schnitt eine Grimasse. »Nein. Du etwa?«

Akkarin wandte den Blick ab und hob leicht die Schultern. »Manchmal. Es muss eine Menge Potenzial geben, das wir uns entgehen lassen, indem wir einen so großen Teil der Bevölkerung einfach ignorieren. Sonea ist der lebende Beweis dafür.«

Lorlen kicherte. »Nicht einmal du könntest die Gilde dazu bringen, es zu versuchen.«

Takan kehrte mit einer großen Platte zurück, die er zwischen Lorlen und Akkarin auf den Tisch stellte. Er räumte die leeren Schalen ab und ersetzte sie durch Teller. Nachdem der Diener wieder verschwunden war, widmete sich Akkarin den vielen Speisen, die auf dem Tablett angerichtet waren.

Lorlen folgte seinem Beispiel und gestattete sich einen leisen Seufzer der Zufriedenheit. Es tat gut, wieder einmal ein ordentliches Abendessen einzunehmen. Die hastigen Mahlzeiten, die er in seinem Büro zu sich nahm, waren nie so gut wie frisch zubereitetes Essen.

»Und was für Neuigkeiten hast du?«, fragte er.

Akkarin begann von den Mätzchen des Königs und seines Hofes zu erzählen. »Außerdem habe ich sehr erfreuliche Berichte über deinen neuen Botschafter in Elyne gehört«, fügte er hinzu. »Anscheinend hat man ihm etliche unverheiratete junge Frauen vorgestellt, an denen er jedoch samt und sonders höfliches Desinteresse bekundet hat.«

Lorlen lächelte. »Ich bin davon überzeugt, dass Dannyl sich bestens unterhält.« Er schwieg kurz und kam dann zu dem Schluss, dass dies eine gute Gelegenheit sei, Akkarin nach seinen Reisen zu befragen. »Ich beneide ihn. Im Gegensatz zu dir hatte ich nie die Gelegenheit, mir fremde Länder anzusehen, und ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch nachholen kann. Du hast nicht vielleicht ein Tagebuch geführt? Ich weiß, dass du es früher getan hast, als wir noch Novizen waren.«

Akkarin betrachtete Lorlen nachdenklich. »Ich erinnere mich an einen gewissen Novizen, der bei jeder Gelegenheit versucht hat, mein Tagebuch zu lesen.«

Kichernd blickte Lorlen auf seinen Teller hinunter. »Das gehört der Vergangenheit an. Ich würde nur gern vor dem Einschlafen ein wenig in einem Reisebericht schmökern.«

»Da kann ich dir nicht helfen«, erwiderte Akkarin und schüttelte seufzend den Kopf. »Mein Tagebuch und all meine Notizen sind während des letzten Teils meiner Reise zerstört worden. Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte eine Kopie gemacht, und manchmal hätte ich durchaus Lust, dorthin zurückzukehren und alle Informationen noch einmal zusammenzutragen. Aber genau wie du habe ich Pflichten, die mich in Kyralia festhalten. Wenn ich ein alter Mann bin, werde ich mich vielleicht noch einmal davonstehlen.«

Lorlen nickte. »Dann muss ich mich anderswo nach Reiseberichten umschauen.«

Als Takan zurückkam, um das Tablett abzuräumen, begann Akkarin von verschiedenen Büchern zu erzählen, die Lorlen vielleicht interessieren könnten. Lorlen nickte und versuchte, aufmerksam zu erscheinen, während seine Gedanken in Wirklichkeit anderswo waren. Wie er Akkarin kannte, hatte es sehr wahrscheinlich wirklich ein Tagebuch gegeben. Waren darin Hinweise auf schwarze Magie enthalten gewesen? War es tatsächlich zerstört worden, oder log Akkarin? Möglich, dass es sich noch immer irgendwo in der Residenz des Hohen Lords befand. Konnte er sich heimlich ins Haus schleichen und danach suchen?

Aber bereits als Takan ihnen Schalen mit in Wein gedünsteten Piorres servierte, wusste Lorlen, dass eine solche Suche zu riskant gewesen wäre. Wenn Akkarin auch nur den geringsten Hinweis auf einen Eindringling finden sollte, würde ihm das eine Warnung sein, dass jemand um sein Geheimnis wusste. Besser wartete er ab, ob Dannyl etwas herausfand, bevor er sich auf ein so gefährliches Unternehmen einließ.

10 Harte Arbeit zahlt sich aus

Sonea hat die Halbjahresprüfungen bestanden, Lord Kiano«, erklärte Jerrik. »Ich habe sie in diese Klasse versetzt.«

Acht Augenpaare ruhten auf Sonea. Die Novizen saßen im Halbkreis um das Pult des Lehrers. Sie blickte der Reihe nach in jedes Gesicht und versuchte, darin zu lesen. Niemand begegnete ihr mit Hohn oder Feindseligkeit, aber sie sah auch kein ermutigendes Lächeln.

Der Lehrer war ein kleiner, untersetzter Vindo mit schläfrigen Augen. Er nickte dem Rektor und Rothen zu, dann sah er Sonea an. »Hol dir einen Stuhl von hinten, und setz dich zu den anderen.«

Sonea verneigte sich und ging durch den Raum. Sie griff nach einem Stuhl, dann musterte sie noch einmal verstohlen die Novizen. Da sie mit dem Rücken zu ihr saßen, konnte sie ihre Gesichter nicht erkennen und wusste nicht, welchem von ihnen es vielleicht recht wäre, wenn sie sich neben ihn setzte. Als sie wieder nach vorn ging, blickte ein Junge zu ihr hinüber und lächelte schwach. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und war dankbar, als er seinen Stuhl ein wenig beiseite rückte, um ihr Platz zu machen.

Rothen und Jerrik verließen das Klassenzimmer, und Lord Kiano räusperte sich und nahm seinen Unterricht wieder auf.

Die anderen Novizen beugten sich über ihre Hefte und machten sich hastig Notizen. Während der Heiler eine Reihe von Krankheiten und die Medizinen herunterleierte, mit denen sie behandelt wurden, nahm Sonea hastig einen Bogen Papier zur Hand und schrieb alles auf, was sie hörte. Sie hatte keine Ahnung, was wichtig war und was nicht, deshalb hielt sie jedes Wort fest, obwohl sie vermutete, dass es ihr später schwer fallen würde, irgendetwas zu entziffern. Als Lord Kiano endlich innehielt, um ein Diagramm an die Tafel zu zeichnen, fand sie Zeit, einen vorsichtigen Blick auf die anderen Novizen zu werfen.

Es waren ein Mädchen und sechs Jungen. Unter den Jungen waren ein Lan, ein Elyne und ein Vindo; die Übrigen stammten aus Kyralia - obwohl der Junge neben ihr ungewöhnlich klein war und möglicherweise Vindo-Blut in sich hatte. Seine Haut war fleckig, und das Haar hing ihm in schlaffen Strähnen vom Kopf.

Als er ihren Blick spürte, lächelte er unsicher, dann sah er stirnrunzelnd auf das Papier in ihrer Hand. Er drehte seine eigenen Notizen um, so dass sie sie lesen konnte, und schrieb etwas in die Ecke einer Seite.

Hast du alles mitbekommen?

Sonea zuckte die Achseln und schrieb auf ihr eigenes Blatt eine Antwort: Ich hoffe es - er spricht so schnell.

Bevor der Junge Zeit zu einer Erwiderung hatte, begann Lord Kiano, seine Zeichnung zu erklären, und Sonea begriff im gleichen Moment wie der Junge neben ihr, dass sie das Diagramm hätten kopieren sollen. Minutenlang zeichnete Sonea, so schnell sie nur konnte. Aber noch bevor sie mit ihrer Arbeit fertig war, hallte der Mittagsgong durch die Universität.

Lord Kiano trat vor die Klasse hin. »Ich möchte, dass ihr für die nächste Stunde die Namen der Pflanzen mit schleimlösender Wirkung auswendig lernt, die in Kapitel fünf aufgeführt werden. Jetzt dürft ihr gehen.«

Die Novizen erhoben sich und verbeugten sich vor dem Lehrer. Kiano kehrte an die Tafel zurück und machte eine knappe Handbewegung. Zu Soneas Entsetzen war das Diagramm im nächsten Moment bereits verschwunden.

»Wie viel hast du abgezeichnet?«

Sie drehte sich um. Der Junge stand neben ihr und reckte den Hals, um ihre Notizen zu sehen. Sonea drehte die Seite zu ihm um. »Nicht alles, aber es sieht so aus, als hättest du einige Dinge in deiner Zeichnung, die mir entgangen sind. Könnte ich… Wollen wir unsere Zeichnungen vergleichen?«

»Ja. Wenn… wenn es dir nichts ausmacht.«

Die anderen Novizen hatten bereits ihre Sachen eingepackt und verließen den Raum. Einige drehten sich noch einmal nach ihr um, vielleicht weil sie neugierig auf ihre neue Klassenkameradin waren. Sonea sah den Jungen an.

»Gehst du in den Speisesaal?«

Sein Lächeln verblasste ein wenig. »Ja.«

»Dann komme ich mit dir.«

Er nickte. Sie folgten dem Rest der Klasse in den Flur. Die Novizen hatten sich zu Paaren zusammengefunden, blieben aber insgesamt nahe beieinander. Keiner von ihnen machte Anstalten, Sonea zurückzuweisen.

»Wie heißt du?«, fragte sie den Jungen.

»Poril. Familie Vindel, Haus Heril.«

»Ich bin Sonea.« Sie dachte darüber nach, wie sie ihn in ein Gespräch verwickeln könnte. »Seid ihr alle seit dem letzten Winter hier?«

»Oh, alle bis auf mich.« Poril zuckte die Achseln. »Ich habe im vorletzten Sommer angefangen.«

Was bedeutete, dass Poril sich mit dem Lernen schwer tat. Sonea fragte sich, wo das Problem wohl liegen mochte. Möglich, dass er ein starkes magisches Potenzial besaß und dennoch Mühe hatte, den Lektionen zu folgen, andererseits könnte er auch einfach zu schwach sein, um die ihm zugewiesenen Aufgaben zu bewältigen.

Poril begann, von seiner Familie zu erzählen, von seinen Brüdern und Schwestern - sechs insgesamt - und von zahlreichen anderen persönlichen Dingen. Sie ermutigte ihn zum Weitersprechen, denn sie hatte Angst vor den unvermeidlichen Fragen, die sie selbst betrafen.

Als ihre neuen Klassenkameraden den Speisesaal betraten und zu einem der Tische hinübergingen, zögerte Sonea, aber Poril ließ sich ohne viel Aufhebens auf einen der Stühle sinken. Sonea setzte sich neben ihn und war erleichtert, dass die anderen dies ohne Protest akzeptierten.

Die Diener brachten die Speisen herein, und alle begannen zu essen und zu reden. Sonea hörte aufmerksam zu, während die anderen über Menschen sprachen, die sie nicht kannte, und über den Unterricht. Dennoch schienen sie sich ihrer Anwesenheit durchaus bewusst zu sein, und schließlich sah einer der Jungen sie direkt an.

»Du bist aus Regins Klasse, nicht wahr?«, fragte er und deutete mit der Hand auf einen der anderen Tische.

Soneas Magen krampfte sich zusammen. Ihre alte Klasse wurde also »Regins Klasse« genannt. »Ja«, gab sie zu.

Er gestikulierte mit seinem Besteck. »Soweit ich höre, haben sie dir das Leben ziemlich schwer gemacht.«

»Manchmal, ja.«

Der Junge nickte. »Nun, bei uns wird dir das nicht passieren. Wir haben keine Zeit mehr für dumme Spielchen. Du wirst hart arbeiten müssen. Bei uns geht es nicht mehr um Kontrollübungen.«

Die anderen Novizen nickten.

Sonea unterdrückte ein Lachen. Kontrollübungen? Er wusste offensichtlich nicht viel über sie… Oder irrte sie sich, und dies war lediglich eine raffiniertere Art von Schmähung, als sie sie bisher gekannt hatte?

Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Sonea blickte verstohlen nach rechts, wo sie von einem Tisch in einiger Entfernung vertraute Gesichter beobachteten. Sie fragte sich, was ihre früheren Klassenkameraden wohl gedacht haben mochten, als sie an diesem Morgen nicht zum Unterricht erschienen war. Wahrscheinlich hatten sie damit gerechnet, dass sie an den Halbjahresprüfungen scheitern würde.

Es war harte Arbeit gewesen. Drei Monate waren vergangen, seit der Unterricht begonnen hatte, und in dieser Zeit hatte Sonea die Arbeit von sechs Monaten geleistet. Als Nächstes würde sie den Stoff aufholen müssen, den die Winterklasse bereits gelernt hatte, was bedeutete, dass sie abermals die Arbeit von sechs Monaten in der Hälfte der Zeit würde bewältigen müssen. Es würde nicht leicht werden.

Regin, der ihren Blick spürte, sah von seinem Teller auf und starrte sie an. Sie erwiderte seinen Blick ohne einen Wimpernschlag. Seine Augen wurden schmal, und er schob seinen Stuhl zurück.

Ein jähes Gefühl der Furcht verdrängte ihre Zufriedenheit, und sie wandte sich hastig ab. Was hatte Regin vor? Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Kano eine Hand auf Regins Arm legte. Die beiden unterhielten sich kurz, dann rückte Regin seinen Stuhl wieder an den Tisch, und Sonea atmete erleichtert auf.

Sie hatte den Appetit verloren. Regin mochte nicht länger in ihrer Klasse sein, aber das würde ihn nicht daran hindern, sie im Speisesaal oder auf dem Weg zum Novizenquartier zu schikanieren. Einmal mehr ertappte sie ihn dabei, dass er sie anstarrte. Nein, dieses Problem war keineswegs endgültig aus der Welt geschafft.


Rothen spürte, dass jemand neben ihn getreten war, und blickte auf.

»Verzeiht mir die Störung«, sagte Lord Jullen steif, »aber ich würde die Bibliothek jetzt gern schließen.«

»Selbstverständlich.« Rothen erhob sich. »Wir packen nur noch unsere Sachen zusammen, dann gehen wir.«

Als der Bibliothekar zu seinem Schreibtisch in der Nähe der Tür zurückkehrte, klappte Sonea das Buch, das sie gelesen hatte, mit einem Seufzer zu. »Ich hätte nie gedacht, dass der menschliche Körper so kompliziert ist.«

Rothen kicherte. »Und das ist erst der Anfang.«

In der Universität war es dunkel und still, als sie die Bibliothek verließen, und Sonea ging schweigend neben Rothen her. Um nicht neuerlichen Argwohn zu erregen, konnten sie nicht länger in seinen Räumen arbeiten, daher hatte er vorgeschlagen, dass sie sich stattdessen in ihrem Zimmer trafen. Sonea hatte den Kopf geschüttelt und darauf hingewiesen, dass Regin mühelos einen anderen Novizen dazu überreden könnte, Geschichten von verdächtigen Geräuschen oder belauschten Gesprächen zu erfinden.

Es war Soneas Idee gewesen, stattdessen in der Magierbibliothek zu arbeiten, und dieser Einfall hatte sich als genial erwiesen. Der Bibliothekar, Lord Jullen, konnte sie beim Unterricht beobachten, und Sonea hatte Zugang zu Büchern, für deren Benutzung andere Novizen eine Sondererlaubnis benötigten. Regin durfte genau wie sie die Bibliothek nur unter der Aufsicht seines Mentors betreten.

Rothen lächelte. Er bewunderte Soneas Fähigkeit, eine schlimme Situation zu ihrem Vorteil zu wenden. Als sie nun ins Freie traten, umgab er sie beide mit einem magischen Schild und erwärmte die Luft darin. Die Abende wurden jetzt zunehmend kühl. Der Innenhof war übersät mit herabgefallenen Blättern, die unter ihren Füßen leise raschelten. In einem Monat würde es Winter sein.

Als sie die Novizenquartiere betraten, lag der Flur still und verlassen vor ihnen. Rothen begleitete Sonea bis zu ihrer Tür und murmelte einige Worte zum Abschied. Er wandte sich ab und hörte die Tür leise zufallen.

Er war noch nicht weit gekommen, als eine Gestalt im Flur auftauchte. Da Rothen den Jungen erkannte, verlangsamte er seinen Schritt.

Ihre Blicke trafen sich, und Regin sah nicht beiseite, obwohl Rothen wusste, dass sein Gesicht die Abneigung verraten musste, die er gegen den Jungen entwickelt hatte. Regins Mundwinkel zuckten leicht, bevor er sich schließlich doch abwandte.

Rothen schnaubte leise und verließ das Novizenquartier. Seit Sonea in ihr neues Zimmer gezogen war, hatte Regin sie nur ein oder zwei Mal schikaniert, und nachdem sie die Klasse gewechselt hatte, war überhaupt nichts dergleichen mehr vorgefallen. Er hatte gehofft, dass der Junge das Interesse an ihr verlieren würde. Aber die Boshaftigkeit in Regins Blick hatte diese Hoffnung jäh zunichte gemacht.

Rothen!

Da er sofort erkannte, wer da mit ihm Verbindung aufnahm, blieb er abrupt stehen und wäre um ein Haar gestolpert.

Dorrien!, erwiderte er.

Ich habe gute Neuigkeiten, Vater. Lady Vinara meint, es sei an der Zeit, dass ich ihr wieder einmal Bericht erstatte. Ich werde in Kürze die Gilde besuchen - wahrscheinlich etwa in einem Monat.

Hinter Dorriens Worten steckten vielschichtige Gefühle. Rothen wusste, dass es seinem Sohn zutiefst missfiel, der Form halber nach Imardin reisen zu müssen. Dorrien ließ die Bewohner des Dorfes, in dem er lebte, ungern für mehrere Wochen ohne einen Heiler zurück. Außerdem schwang in Dorriens Nachricht jedoch auch eine tröstliche Freude mit. Sie hatten einander seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen.

Aber das war noch nicht alles. Wann immer Rothen in letzter Zeit mit seinem Sohn in Verbindung getreten war, hatte er eine widerstrebende Neugier bei ihm wahrgenommen. Dorrien wollte Sonea kennen lernen.

Das sind wirklich gute Neuigkeiten. Rothen setzte lächelnd seinen Weg fort. Wir haben uns viel zu lange nicht mehr gesehen. Ich habe mir schon gewünscht, es gäbe eine Möglichkeit, dir zu befehlen, nach Hause zu kommen.

Vater! In Dorriens Antwort schwang ein leiser Verdacht mit. Du steckst doch nicht etwa hinter dieser Geschichte, oder?

Nein. Rothen kicherte. Aber ich werde es mir vielleicht für die Zukunft merken. Ich werde dein altes Zimmer für dich herrichten lassen.

Ich werde zwei Wochen bleiben, also sieh zu, dass du dir einen ordentlichen Vorrat dieses hervorragenden Weins aus dem Seendistrikt von Elyne zulegst. Ich habe das hiesige Bol reichlich satt.

Abgemacht. Und bring ein paar Flaschen Raka mit. Ich habe gehört, der Raka aus dem Ostbezirk sei der beste überhaupt. Sonea schätzt ihn sehr.

Er ist tatsächlich der beste, sagte Dorrien stolz. Also gut, Raka gegen Wein. Ich melde mich wieder, wenn ich abreise. Jetzt muss ich hier weitermachen.

Pass auf dich auf, mein Sohn.

Rothen spürte, wie die vertraute Aura verblasste. Lächelnd betrat er das Magierquartier. Dorrien mochte neugierig auf Sonea sein, aber was würde sie wohl von ihm halten? Leise kichernd stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.


»Mir geht es heute Abend schon besser«, erklärte Tayend der Decke seiner Kajüte. »Ich habe Euch doch gesagt, dass ich mich irgendwann daran gewöhnen würde.«

Dannyl blickte zum Lager seines Freundes hinüber und lächelte. Tayend hatte den größten Teil des Tages gedöst. Es war drückend heiß gewesen, und die Feuchtigkeit des Abends machte Schlaf unmöglich.

»Ihr hättet nicht so lange zu leiden brauchen. Ein Tag Seekrankheit hätte eigentlich genug des Abenteuers für Euch sein müssen.«

Tayend blickte beschämt drein. »Es ging nicht anders.«

»Es ängstigt Euch, geheilt zu werden, nicht wahr?«

Der Gelehrte nickte hastig, und diese Geste wirkte eher wie ein Schaudern.

»Mir ist noch nie jemand begegnet, der etwas gegen eine Heilung hatte, aber ich habe schon davon gehört, dass es so etwas gibt.« Dannyl runzelte die Stirn. »Darf ich fragen, warum Ihr so dagegen eingenommen seid?«

»Ich möchte lieber nicht darüber reden.«

Dannyl nickte. Er stand auf und reckte sich, so gut er konnte. Anscheinend waren die Wohnräume auf all diesen Kaufmannsschiffen schrecklich beengt - was wahrscheinlich an dem kleinen Wuchs ihrer Schöpfer lag. Die meisten Schiffe, die die Meere rund um die Verbündeten Länder befuhren, wurden von Vindo gebaut und gesegelt.

Die Reise nach Capia hatte zwei Wochen gedauert, und bei seiner Ankunft war er von ganzem Herzen dankbar dafür gewesen, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Um von Capia aus in die Hauptstadt von Lonmar, Jebem, zu gelangen, brauchte man vier Wochen, und Dannyl war seiner Umgebung jetzt schon überdrüssig. Um das Maß voll zu machen, hatten sie während der letzten Tage kaum Wind gehabt, und der Kapitän hatte ihm mitgeteilt, dass das Schiff sein Ziel infolgedessen womöglich mit Verspätung erreichen würde.

»Ich gehe frische Luft schnappen.«

Tayend brummte eine Antwort. Dannyl überließ den Gelehrten sich selbst und ging durch den Flur in den Gemeinschaftsraum. Im Gegensatz zu der Mannschaft auf seinem ersten Schiff verhielten sich diese Männer des Abends sehr still. Sie saßen zu zweit oder allein unter Deck, und einige kauerten in den Hängematten, die sie als Bett benutzten. Dannyl ging an ihnen vorbei, die Treppe hinauf an Deck.

Stickige Luft schlug ihm entgegen. In Kyralia mochte jetzt Herbst sein, aber je weiter sie nach Norden kamen, umso wärmer wurde das Wetter. Auf Deck nickte Dannyl den Matrosen zu, die Wache hatten. Sie machten sich kaum die Mühe, seinen Gruß zu erwidern.

Er vermisste Jano. Keiner dieser Seeleute hatte auch nur das geringste Interesse, seine Sprachkenntnisse oder Sangeskünste an ihm zu erproben. Er stellte fest, dass ihm dann und wann sogar der kräftige Siyo-Schnaps abging.

Das Schiff wurde zu jeder Zeit von Laternen hell erleuchtet. Nachts hängte ein Seemann von Zeit zu Zeit eine Laterne an einen Stab und beugte sich über die Reling, um den Schiffsrumpf zu begutachten. Einmal hatte Dannyl den Mann gefragt, wonach er Ausschau halte, aber der nichtssagende Blick, der ihm daraufhin zuteil geworden war, ließ darauf schließen, dass der Matrose seine Sprache nicht beherrschte.

Heute Abend war alles still, und Dannyl beugte sich über die Reling am Heck, um das Kräuseln des Wassers im Licht zu beobachten. Des Nachts konnte man sich leicht einbilden, in den Schatten einer Welle eine Kreatur zu erkennen, die durch das Wasser glitt. Während der letzten beiden Wochen hatte er hier und da Fische aus den Wellen springen sehen. Vor einigen Tagen hatte er zu seiner großen Freude in der Bugwelle einige Anyi entdeckt, die zum Teil so groß waren wie ein Mensch. Die stacheligen Geschöpfe hatten ihre von Schnurrbarthaaren bewachsenen Nasen aus dem Wasser gereckt und seltsame, klagende Rufe ausgestoßen.

Nach einer Weile wandte Dannyl sich ab und ging die Reling entlang, blieb dann jedoch abrupt stehen, als er einige kurze, dicke schwarze Seile auf dem Boden vor sich sah. Er runzelte die Stirn und überlegte, wie leicht er darüber hätte stolpern können.

Dann bewegte sich eins der Seile.

Dannyl machte einen Schritt rückwärts und starrte das Ding an. Es war zu glatt für ein Seil, und es schimmerte tiefschwarz im Licht der Laterne. Außerdem stellte sich die Frage, warum irgendjemand ein Seil in derart kurze Stücke schneiden sollte.

Plötzlich kroch eines der Seile auf ihn zu.

»Eyoma!«

Der Warnruf hallte durch die Nacht und wurde vielfach wiederholt. Dannyl sah die Matrosen ungläubig an. »Ich dachte, diese Dinger wären ein Scherz«, murmelte er, während er vor den Geschöpfen zurückwich.

»Eyoma!« Ein Seemann kam auf ihn zugelaufen, einen großen Topf in der einen Hand, ein Paddel in der anderen. »Fischegel. Weg von der Reling!«

Als Dannyl sich umdrehte, entdeckte er, dass hinter ihm weitere Exemplare dieser schwarzen Geschöpfe lauerten. Sie kletterten von allen Seiten auf das Deck. Eines machte einen kleinen Satz auf ihn zu, ein anderes richtete sich halb auf, als schnuppere es, aber Dannyl konnte keine Nase entdecken - nur einen bleichen, runden Mund voller ziemlich scharf wirkender Zähne.

Der Matrose ging an ihm vorbei und schwang den Topf, den er bei sich trug. Eine Flüssigkeit spritzte heraus und bedeckte die Kreaturen und den Boden. Ein vertrauter, nussartiger Geruch drang an Dannyls Nase, und er sah den Seemann fragend an.

»Siyo?«

Den Fischegeln schien diese Behandlung keineswegs zu behagen. Sie begannen, krampfhaft zu zucken, und der Matrose schob sie mit dem Paddel über den Rand des Schiffes.

Inzwischen waren zwei weitere Matrosen zur Unterstützung des ersten herbeigeeilt. Abwechselnd füllten sie ihre Töpfe aus einem offenen, an Deck vertäuten Fass, bespritzten die Egel mit Siyo und kehrten sie von Deck. Die ganze Prozedur wurde so geschickt gehandhabt, dass Dannyl sich langsam entspannte. Als einer der Matrosen versehentlich einem anderen eine Dusche verpasste, musste er sich das Lachen verkneifen.

Aber es kamen immer mehr von den schwarzen Kreaturen, und sie überfluteten das Deck in immer größerer Zahl, bis es so aussah, als nage die Nacht selbst an dem Schiff. Plötzlich stieß einer der Seeleute einen lauten Fluch aus. Ein Egel hatte sich um seinen Knöchel gewunden und schlängelte sich mit erschreckender Geschwindigkeit an dem Bein des Mannes empor. Immer noch fluchend bespritzte er das Tier mit Siyo, und als es zuckend von ihm abgelassen hatte, beförderte er es mit einem Tritt zurück ins Meer.

Dannyls heitere Stimmung war im Nu verflogen, und er beschloss zu helfen. Als einer der Matrosen weitere Egel ins Meer stoßen wollte, hielt Dannyl ihn am Arm fest. Er deutete auf die schwarzen, schleimigen Geschöpfe hinab, konzentrierte sich und ließ seinen Willen wirken. Die Egel flogen von Deck und klatschten ins Meer.

Dannyl wandte sich an den Matrosen. »Wozu der Siyo?«, fragte Dannyl. »Warum werft ihr sie nicht einfach zurück ins Meer?«

»Kein Siyo«, antwortete der Mann und ließ sein Paddel fallen. »Yomi. Rest vom Siyo-Machen. Verbrennt Eyoma, damit sie nicht kommen zurück.«

Der Matrose setzte seine Arbeit fort, und auch Dannyl kämpfte ohne Unterlass gegen die Egel. Plötzlich verlagerte sich das Schiff im Wasser und neigte sich leicht zu einer Seite. Der Matrose fluchte.

»Was ist passiert?«

Der Mann war blass geworden. »Zu viel Eyoma. Wenn großer Schwarm, Schiff werden schwer. Wenn Schwarm auf einer Seite, Schiff kippen.«

Dannyl blickte sich um und sah, dass der Kapitän und mehr als die Hälfte der Mannschaft sich auf der tiefer liegenden Seite des Schiffes versammelt hatten, wo das Deck schwarz von Fischegeln war. Mit einem Mal musste er wieder an Janos Geschichte denken und begriff, in welcher Gefahr sie sich befanden. Wenn das Schiff kenterte und sie ins Wasser fielen, würden sie nicht lange überleben.

»Wie könnt ihr sie aufhalten?«, fragte er, während er weitere Egel zurück ins Meer beförderte.

»Nicht leicht.« Der Matrose holte sich hastig Nachschub aus dem Fass und kehrte dann zu Dannyl zurück. »Nicht leicht, Yomi auf Schiffswand verteilen.«

Das Schiff neigte sich noch weiter zur Seite. Dannyl hob das Paddel auf, das der Mann weggeworfen hatte, und gab es ihm zurück. »Ich werde sehen, ob ich irgendwie helfen kann.«

Der Matrose nickte. Als Dannyl das Deck hinunterging, versperrten ihm etliche Fischegel den Weg, die den Bemühungen der Matrosen entgangen waren. Er sah schwarze Schatten, die sich an Seilen entlangschlängelten und in Ecken oder auf der Reling kauerten. Nachdem er eine magische Barriere um sich errichtet hatte, ging er an den Tieren vorbei, zuckte jedoch jedes Mal zusammen, wenn sie auf ihn zuzuspringen versuchten. Wann immer sie auf die Barriere trafen, hörte er ein leises Zischen, bevor sie wieder zu Boden fielen. Ein wenig beruhigter setzte er seinen Weg fort.

Bevor er den Kapitän erreicht hatte, erklang eine vertraute Stimme aus der Tür zum Gemeinschaftsraum.

»Was ist passiert?«

Als Dannyl Tayend entdeckte, erschrak er. »Bleibt unten.«

Ein Egel ließ sich von einem Seil fallen und landete in der Nähe der Tür. Tayend starrte das Tier mit einer Mischung aus Grauen und Faszination an. »Da ist noch eins.«

»Schließt die Tür!« Dannyl konzentrierte sich auf seine Magie, und die Tür fiel ins Schloss, nur um sogleich wieder aufgerissen zu werden. Tayend sprang heraus.

»Sie sind auch hier drin!«, rief er. Er machte einen großen Bogen um den Egel in der Nähe der Tür und lief zu Dannyl hinüber. »Was sind das für Kreaturen?«

»Eyoma. Fischegel.«

»Aber… Ihr habt doch gesagt, sie seien ein Scherz!«

»Ich habe mich offensichtlich geirrt.«

»Was unternimmt der Kapitän dagegen?«, fragte Tayend mit weit aufgerissenen Augen.

Dannyl blickte auf und schnappte nach Luft, als der Kapitän sich beherzt in das Gewimmel der Egel an backbord stürzte. Der Mann beachtete die Geschöpfe nicht, die sich an seinen Beinen hinaufschlängelten. Er hielt das Ende eines Schlauchs in der Hand. Das andere Ende war mit einem Fass verbunden. Jetzt beugte er sich über die Reling, richtete den Schlauch auf den Schiffsrumpf und brüllte einen Befehl. Ein Matrose begann, eine in das Fass eingelassene Kurbel zu drehen, und kurz darauf schoss eine dunkle Flüssigkeit aus dem Schlauch, den der Kapitän in Händen hielt.

Obwohl die Matrosen die Beine des Kapitäns mit Yomi besprengten, kamen schneller neue Egel nach, als die alten von ihm abfielen. Binnen weniger Minuten waren die Beine des Kapitäns übersät mit blutenden Eyoma-Bissen. Dannyl ging nach backbord, gefolgt von Tayend.

»Bleibt hier«, befahl er dem Gelehrten.

Beim Anblick der Egel, die zwischen ihm und dem Kapitän auf dem Deck lagen, zögerte Dannyl. Dann holte er tief Luft und watete mitten in die schleimige Schwärze hinein. Vielfaches Zischen erklang, als die Tiere gegen seinen Schild prallten. Er spürte, wie die Egel bei jedem seiner Schritte unter seinen Stiefeln zerplatzten.

Als er den Kapitän erreicht hatte, berührte Dannyl einen Egel, der auf die Schulter des Mannes gekrochen war. Das Tier fiel zu Boden, und ein Kreis kleiner Stichwunden blieb zurück. Der Mann starrte Dannyl an, dann nickte er dankbar.

»Geht zurück«, sagte Dannyl.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht zu viele töten, sonst das Schiff zu andere Seite kentern.«

»Ich verstehe«, erwiderte Dannyl.

Das Schiff hatte jetzt erschreckende Schräglage. Dannyl beugte sich über die Reling und betrachtete den Rumpf, den man in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Schließlich schuf er eine Lichtkugel und sandte sie hinunter, um die Tiere zu beleuchten. Erschrocken schnappte er nach Luft. Der Rumpf war eine einzige zuckende Masse von Fischegeln.

Er sammelte seine Kraft und ließ sie in einer Salve von Betäubungsschlägen frei. Ein ganzer Schwall von Egeln fiel zurück ins Meer. Sie würden den Betäubungsschlag wahrscheinlich überleben, aber Dannyl wollte das Risiko nicht eingehen, so dicht an der Schiffswand physische Gewalt oder Feuer einzusetzen. Während immer mehr Egel ins Wasser fielen, richtete das Schiff sich langsam auf, aber dann begann es, sich zur anderen Seite zu neigen.

Dannyl überquerte das Deck und beugte sich erneut über die Reling. Wie zuvor zwang er die Egel zurück ins Wasser, und das Schiff richtete sich von neuem auf. Als er nach Backbord zurückging, bemerkte Dannyl, dass die Matrosen sich inzwischen darauf konzentrierten, das Deck von Egeln zu reinigen. Einer der Männer kümmerte sich um die Tiere, die sich um Seile geschlungen oder in Ritzen und Ecken versteckt hatten.

Das Gefühl von Bedrohung hatte sich gelegt, aber die Arbeit ging weiter, da ständig neue Egel auf das Schiff kletterten. Schon bald wusste Dannyl nicht mehr, wie oft er auf Deck hin und her gegangen war. Er erfrischte sich mit heilender Magie, aber die stundenlange geistige Anstrengung verursachte ihm Kopfschmerzen.

Endlich ließ der Ansturm nach, und nur noch einige wenige, träge Egel blieben zurück. Als er jemanden seinen Namen rufen hörte, richtete Dannyl sich auf und stellte fest, dass das schwache Licht der Morgendämmerung über dem Schiff lag. Eine kleine Menge hatte sich um ihn herum versammelt. Der Kapitän hob seinen Arm in die Luft, dann brach Jubel unter den Seeleuten aus.

Dannyl lächelte überrascht, bevor er in den Jubel einstimmte. Trotz seiner Erschöpfung war er in Hochstimmung.

Von irgendwo tauchte ein kleines Fass auf, und ein Becher wurde von einem zum anderen weitergereicht. Als Dannyl den Becher entgegennahm, stieg der vertraute, würzige Geruch von echtem Siyo auf. Ein einziger Schluck genügte, um ihn zu wärmen. Er sah sich nach Tayend um, konnte den Gelehrten aber nirgends entdecken.

»Euer Freund schläft«, sagte einer der Matrosen.

Erleichtert nahm Dannyl noch einen Schluck von dem Siyo. »Trefft Ihr häufig auf Eyoma?«

»Ab und zu«, antwortete der Kapitän. »Aber nicht so.«

»Ich habe noch nie einen so großen Schwarm gesehen«, pflichtete ein anderer Seemann ihm bei. »Gut, dass wir Euch an Bord hatten. Ohne Euch wären wir jetzt Fischfutter.«

Der Kapitän blickte plötzlich auf und sagte etwas auf Vindo. Erst als die Mannschaft sich an den Segeln zu schaffen machte, wurde Dannyl bewusst, dass ein leichter Wind aufgekommen war. Der Kapitän wirkte erschöpft, aber zufrieden.

»Ihr solltet jetzt schlafen«, schlug er Dannyl vor. »Ihr habt uns sehr geholfen. In der Nacht werden wir vielleicht wieder Hilfe brauchen.«

Dannyl nickte und ging zu seiner Kajüte hinunter. Obwohl Tayend tief und fest schlief, wirkte seine Miene angespannt. Mit einiger Besorgnis betrachtete Dannyl die dunklen Ringe unter den Augen des jungen Mannes. Er wünschte, er hätte seinen Freund heilen können, und überlegte, ob er es tun sollte, während Tayend schlief.

Aber das wäre ein Vertrauensbruch gewesen, und Dannyl wollte diese neue Freundschaft nicht gefährden. Seufzend legte er sich auf sein eigenes Bett und schloss die Augen.

11 Ein unwillkommener Neuzugang

Herzhaft biss Sonea in die Pachi und genoss den süßen Saft, der ihr den Mund füllte. Sie klemmte sich die gelbe Frucht zwischen die Zähne und blätterte in den Seiten von Porils Buch, bis sie das richtige Diagramm gefunden hatte.

»Da ist es«, sagte sie, nachdem sie die Frucht wieder aus dem Mund genommen hatte. »Der Blutkreislauf. Lady Kinla hat uns aufgetragen, uns die verschiedenen Teile einzuprägen.«

Poril sah sich die Seite an und stöhnte.

»Keine Sorge«, beruhigte sie ihn. »Wir werden schon eine Möglichkeit finden, dir zu helfen, dich an alles zu erinnern. Rothen hat mir einige ausgesprochen nützliche Übungen gezeigt, um Listen auswendig zu lernen.«

Als Sonea seine zweifelnde Miene sah, unterdrückte sie einen Seufzer. Sie hatte schnell herausgefunden, warum Poril mit dem Lernen nicht nachkam. Er war weder klug noch stark, und Prüfungen bereiteten ihm geradezu Todesangst. Das Schlimmste war, dass er inzwischen allen Mut verloren hatte und es nicht einmal mehr versuchte.

Aber außerdem hungerte er nach Freundschaft. Obwohl die anderen Novizen dem Jungen gegenüber nicht absichtlich grausam waren, mochten sie ihn offenkundig auch nicht besonders. Er stammte aus dem Haus Heril, das aus Gründen, die Sonea noch nicht herausgefunden hatte, bei Hof in Ungnade gefallen war. Sie glaubte jedoch nicht, dass das der Grund war, warum die anderen Poril mieden. Er hatte verschiedene höchst ärgerliche Angewohnheiten, deren schlimmste ein lächerliches, schrilles Lachen war, bei dem sie immer wieder eine Gänsehaut überlief.

Der Rest der Klasse ignorierte allerdings auch sie. Sie hatte jedoch schnell begriffen, dass die anderen ihr nicht mit Abneigung begegneten, so wie sie es bei Poril taten. Es war einfach so, dass jeder von ihnen eine enge Freundschaft mit einem anderen geschlossen hatte und in diesen Freundschaften kein Platz mehr für eine dritte Person war.

Trassia und Narron waren offensichtlich mehr als nur Freunde. Sonea hatte die beiden einige Male Händchen haltend gesehen, und ihr war aufgefallen, dass Lord Ahrind sie genau im Auge behielt. Narron hatte sich bereits entschlossen, später Heiler zu werden, und seine Noten in diesem Fach waren die besten in der Klasse. Auch Trassia interessierte sich sehr für Heilkunst, wenn auch auf eine eher passive Weise, die den Verdacht nahe legte, dass ihr Interesse seinen Grund in Narrons Begeisterung hatte - oder in der Erwartung, das Frauen sich am besten für die Heilkunst eigneten.

Der einzige Elyner in der Klasse, Yalend, verbrachte seine Zeit mit einem ausgesprochen redseligen Jungen aus Vin namens Seno. Hal, der Junge aus Lan mit den starren Gesichtszügen, und sein kyralischer Freund Benon bildeten ein weiteres Paar. Obwohl sie ruhiger waren als die Jungen in Regins Klasse, konnten diese vier dennoch endlos über Pferderennen reden, oder sie gaben höchst unwahrscheinliche Geschichten über Mädchen bei Hof zum Besten und benahmen sich ganz allgemein so, als hätten sie das Ende ihrer Kindheit noch nicht erreicht.

Was auch keineswegs der Fall war, wie Sonea langsam begriff. Die Kinder in den Hüttenvierteln wurden schnell erwachsen, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Diese Novizen dagegen waren ihr Leben lang verwöhnt worden und hatten weniger Grund, sich mit dem Erwachsenwerden zu beeilen als ihre Brüder und Schwestern außerhalb der Gilde.

Bis zu ihrem Abschluss waren sie frei von familiären Verantwortungen; sie mussten sich noch nicht bei Hof präsentieren, sie brauchten nicht zu heiraten oder den jeweiligen »Interessen« nachzugehen, aus denen ihre Familien ihr Einkommen bezogen. Durch ihren Beitritt zur Gilde verlängerten sie ihre Kindheit um weitere fünf Jahre.

Obwohl Poril ein Jahr älter war als die anderen, war er mitunter der kindischste aller Novizen. Seine Freundlichkeit schien durchaus echt zu sein, aber Sonea hatte den Verdacht, dass er froh darüber war, nicht länger der Novize mit dem geringsten gesellschaftlichen Ansehen zu sein.

Zu ihrer Überraschung und Erleichterung hatte Regin sie seit ihrem Wechsel in die nächsthöhere Klasse in Ruhe gelassen. Sie sah ihn zwar jeden Tag im Speisesaal und begegnete ihm vor dem Unterricht bisweilen in den Fluren, aber er versuchte nicht mehr, sie zu schikanieren. Selbst das Gerücht über ihre Beziehung zu Rothen war in Vergessenheit geraten. Die Lehrer beobachteten sie nicht mehr voller Argwohn, und sie hörte auch nur noch selten, dass jemand in ihrer Nähe Rothens Namen flüsterte.

»Wenn ich nur wüsste, nach welchen Teilen sie uns fragen wird«, jammerte Poril. »Wahrscheinlich nach den großen - und nach einigen von den kleineren.«

Sonea zuckte die Achseln. »Verschwende deine Zeit nicht damit zu raten, was sie fragen wird. Es wird dich nicht weniger Mühe kosten, als gleich alles auswendig zu lernen.«

Ein Gong ertönte. Durch die Bäume hindurch konnte Sonea sehen, wie die anderen Novizen widerstrebend ihre Habseligkeiten einsammelten und auf die Universität zustrebten. Genau wie sie hatten Sonea und Poril die Mittagspause draußen verbracht, um die seltene Wärme eines sonnigen Herbsttages zu genießen. Jetzt stand sie auf und reckte sich.

»Lass uns nach dem Unterricht in die Bibliothek gehen und lernen.«

Poril nickte. »Wenn du willst.«

Als sie ihr Klassenzimmer erreichten, hatten die anderen Novizen bereits Platz genommen. Als Sonea sich hinsetzte, trat Lord Skoran ein.

Der Magier legte einen kleinen Stapel Bücher auf sein Pult, räusperte sich und wandte sich den Novizen zu. Dann wurde er von einer Bewegung an der Tür abgelenkt. Alle Schüler drehten sich um, als drei Personen den Raum betraten. Als Sonea Regin unter ihnen entdeckte, überlief sie ein Schaudern böser Vorahnung.

Rektor Jerrik sah sich im Raum um. Als sein Blick den ihren traf, runzelte er kurz die Stirn, bevor er auf den Novizen an seiner Seite deutete.

»Regin ist es gelungen, die Halbjahresprüfungen abzulegen.« In Jerriks normalerweise strenger Stimme schwang ein widerstrebender Unterton mit. »Ich habe ihn in Eure Klasse aufrücken lassen.«

Soneas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Die Magier redeten noch immer, aber sie konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich eine unsichtbare Hand mit eisernem Griff um ihren Oberkörper gelegt. Ihr Herzschlag wurde immer lauter, bis er wie ein Donnern in ihren Ohren klang.

Dann fiel ihr wieder ein, dass sie weiteratmen musste.

Plötzlich benommen, schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatte Regin sein bezauberndstes Lächeln aufgesetzt. Er blickte von den anderen Novizen zu Sonea hinüber. Obwohl sich kein Muskel in seinem Gesicht zu regen schien, hatte seine Miene sich vollkommen verändert.

Sonea wandte den Blick ab. Das ist unmöglich. Wie kann er so schnell aufgeholt haben? Er muss gemogelt haben.

Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, wie er die Lehrer täuschen und ihre Prüfungen hätte bestehen sollen. Das ließ nur einen Schluss zu. Er musste kurz nach ihr angefangen haben, zusätzliche Unterrichtsstunden zu nehmen - wahrscheinlich hatte er damit begonnen, sobald er erfahren hatte, was sie zu tun beabsichtigte. Und er hatte es im Geheimen getan, höchstwahrscheinlich mit Hilfe seines Mentors.

Aber warum? All seine Freunde waren in der anderen Klasse. Vielleicht glaubte er, dass er auch hier eine Schar von Bewunderern um sich würde versammeln können. Eine schwache Hoffnung stieg in Sonea auf. Selbst ihm dürfte es kaum gelingen, in die Freundschaften einzudringen, die sich in dieser Klasse entwickelt hatten. Es sei denn…

Wie sie Regin kannte, hatte er gewiss rechtzeitig versucht, sich mit den Novizen seiner neuen Klasse anzufreunden. Er würde dafür gesorgt haben, dass man ihn gut aufnahm.

Als Sonea in die Runde blickte, sah sie zu ihrer Überraschung, dass Narron Regin mit einem Stirnrunzeln betrachtete. Der Junge schien nicht übermäßig erfreut über Regins Erscheinen zu sein. Dann erinnerte sie sich an etwas, das man ihr gleich zu Anfang ihrer Zeit in dieser Klasse erzählt hatte: Diese Novizen verschwendeten keine Zeit darauf, »herumzuspielen«.

Also hatte sich Regin vielleicht noch nicht mit ihren neuen Klassenkameraden angefreundet. Und doch hatte er sich eine Menge Mühe gemacht, um aufzusteigen.

Vielleicht konnte er es einfach nicht ertragen, von einem Hüttenmädchen überflügelt zu werden. Fergun war bereit gewesen, ein hohes Risiko einzugehen, nur damit sie aus der Gilde verbannt wurde, weil er keine Mitglieder der unteren Klassen unter den Magiern sehen wollte. Ihr Erfolg oder Misserfolg während der Ausbildung würde mit darüber entscheiden, ob die Gilde jemals wieder Kinder von außerhalb der Häuser aufnehmen würde. Und wenn Regin nun versuchte, sie beim Lernen zu behindern, damit sie scheiterte und man nie wieder Bewerber aus den unteren Klassen aufnahm?

Dann sollte ich besser dafür sorgen, dass er keinen Erfolg hat!

Sie war ihm einmal entkommen, und sie konnte es abermals tun, indem sie noch härter arbeitete und in die nächsthöhere Klasse aufstieg.

Doch noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, wusste sie, dass es unmöglich war. Sie hatte jeden Abend und jeden Freitag benötigt, um den Lehrstoff von sechs Monaten in der Hälfte der Zeit zu bewältigen, und es lag noch immer eine Menge Arbeit vor ihr, bis sie die anderen Novizen in ihrer Klasse endgültig eingeholt hatte. Sie hatte keine Zeit, auch noch das Pensum der Schüler im zweiten Jahr zu bewältigen.

Vielleicht war es besser, ihn glauben zu lassen, er habe den Sieg davongetragen. Wenn er glaubte, dass sie ihm unterlegen sei, würde er sie in Ruhe lassen. Sie brauchte nicht die beste Novizin ihres Jahrgangs zu sein, um zu beweisen, dass auch Schüler von außerhalb des Hauses als Magier Erfolg haben konnten.

Wenn sie sich in die erste Klasse zurückfallen ließ, würde Regins Stolz es ihm gewiss verbieten, ihr zu folgen. Diesen Gedanken tat sie allerdings noch schneller ab als den ersten. Die Sommerklasse stand noch immer unter Regins Einfluss, selbst wenn er sie verlassen hatte. Ihre gegenwärtigen Mitschüler hatten sich zumindest nicht gegen sie verschworen …

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass seit einiger Zeit nur noch Lord Skorans dünne, zittrige Stimme im Raum zu hören gewesen war.

»…und um unsere Einschätzung des sachakanischen Krieges weiter voranzutreiben, möchte ich, dass ihr so viel wie möglich über die fünf Höheren Magier herausfindet, die sich der Schlacht während des zweiten Stadiums angeschlossen haben. Sie stammten aus Ländern außerhalb Kyralias, und es war ein gewisser junger Magier namens Genfel, der ihre Unterstützung gewonnen hat. Wählt einen dieser Magier aus, und schreibt mir einen viertausend Worte umfassenden Aufsatz über sein Leben, bevor er in den Krieg verwickelt wurde.«

Sonea griff nach ihrer Feder und begann sich Notizen zu machen. Regin mochte in die höhere Klasse aufgestiegen sein, aber er hatte immer noch viel Arbeit vor sich, bevor er die anderen eingeholt hatte. In den nächsten Wochen würde er zu beschäftigt sein, um sie zu schikanieren, und bis dahin würde sie wissen, ob er den Rest der Klasse beeinflussen konnte. Wenn die anderen Schüler ihn nicht unterstützten, würde es ihm nicht mehr gar so leicht fallen, Sonea zur Zielscheibe seiner bösen Streiche zu machen.

»Jebem, halai!«

Als Dannyl den Ausruf hörte, blickte er erwartungsvoll auf.

»Was ist los?«, fragte Tayend.

Dannyl schnitt eine Grimasse und schob seinen Teller beiseite. Obwohl getrocknete Marin-Paste eine Delikatesse war, schmeckte das altbackene Schiffsbrot nach wie vor grauenhaft.

»Man hat Jebem gesichtet«, erklärte er und erhob sich. Er zog den Kopf ein, um sich nicht an der Decke zu stoßen, und ging zur Tür. Draußen schlug ihm gleißendes Licht entgegen. Die Sonne hing tief über dem Meer und tauchte die Wellen in ihren glitzernden Schein. Die Hitze des Tages mochte vorüber sein, aber die Planken verströmten noch immer Wärme.

Dannyl blickte nach Norden und hielt den Atem an. Dann drehte er sich um und winkte Tayend aus der Kajüte, bevor er den Blick wieder auf die ferne Stadt heftete.

An der Küste entlang zogen sich in endlosen Reihen niedrige, aus grauem Stein gebaute Häuser, zwischen denen Tausende von Obelisken aufragten.

Tayend trat an seine Seite. »Groß, nicht wahr?«, flüsterte der Gelehrte.

Dannyl nickte. Die kleinen Küstendörfer, an denen sie während der letzten Tage vorbeigekommen waren, hatten aus Häusern in dem gleichen schlichten Stil bestanden, durchsetzt mit jeweils einer Hand voll Obelisken. Die Häuser von Jebem waren keineswegs prächtiger, aber die schiere Größe der Stadt war verblüffend. Die Obelisken ragten wie ein Wald von Nadelbäumen aus dem Boden, und die dicht über dem Horizont schwebende Sonne tauchte die ganze Szenerie in ein leuchtend orangefarbenes Licht.

Schweigend betrachteten sie die Landschaft, während das Schiff weiter an der Küste entlangfuhr. Dann tauchte eine Reihe von zerklüfteten Felsen auf, die der Stadt vorgelagert waren. Das Schiff segelte in den Kanal zwischen diesen Felsen und der Küste. Als sie auf die Höhe des Stadtteils kamen, in dem die Obelisken am engsten beieinander standen, ließ der Kapitän die Segelfläche kürzen und drehte das Schiff in verminderter Fahrt in einen schmalen Kanal, der direkt auf die Stadt zuführte. An beiden Ufern standen dunkelhäutige Männer bereit. Sie warfen den Matrosen Seile zu, die um niedrige Poller auf dem Schiff geschlungen wurden. Die anderen Enden waren bereits an Gorin-Gespannen befestigt. Die großen Tiere machten sich daran, das Schiff den Kanal hinunterzuziehen.


Während der nächsten Stunde manövrierten die Hafenarbeiter das Schiff durch den Kanal, bis es eine künstliche Bucht erreichte. Mehrere andere Schiffe, von denen einige doppelt so groß waren wie ihr eigenes, schaukelten dort bereits sanft auf den Wellen. Als das Schiff an Pfählen entlang des Kais vertäut wurde, kehrten Dannyl und Tayend in ihre Kajüten zurück, um ihre Sachen zu holen.

Nach einer kurzen, förmlichen Verabschiedung von ihrem Kapitän gingen sie die Laufplanke hinunter an Land. Ihre Koffer wurden vier Männern übergeben. Dann trat ein fünfter vor und verneigte sich.

»Seid mir gegrüßt, Botschafter Dannyl, und Ihr ebenfalls, junger Tremmelin. Ich bin Loryk, euer Dolmetscher. Ich werde euch zum Gildehaus bringen. Bitte, folgt mir.«

Mit einer schnellen, herrischen Geste bedeutete er den Trägern, sich an die Arbeit zu machen, dann wandte er sich der Stadt zu. Dannyl und Tayend folgten ihm über mehrere Kaimauern und auf eine breite Straße.

Staub lag in der Luft und dämpfte die Farben um sie herum. An die Stelle der Meeresbrise waren drückende Hitze und eine Mischung aus Parfüm und Gewürzen getreten. In den Straßen wimmelte es von Menschen, die allesamt die schlichte lonmarische Kleidung trugen. Stimmen umwehten sie, aber sie konnten die Worte nicht verstehen. Die Männer, an denen sie vorbeikamen, starrten Dannyl und Tayend unverhohlen an, doch ihr Blick drückte weder Freundlichkeit noch Missbilligung aus. Gelegentlich musterte einer von ihnen Tayend mit schmalen Augen, da der junge Gelehrte sein elegantestes Hofgewand angelegt hatte und in den staubigen Straßen äußerst deplatziert wirkte.

Tayend war ungewöhnlich still. Dannyl erspürte die mittlerweile vertraut gewordenen Zeichen von Unbehagen: Eine kleine Falte war auf der Stirn des anderen Mannes erschienen, und er hielt sich stets einen halben Schritt hinter Dannyl. Als der Gelehrte ihn ansah, lächelte Dannyl beruhigend.

»Keine Sorge. Anfangs ist es immer ein unangenehmes Gefühl, in einer fremden Stadt zu sein.«

Tayends Stirnrunzeln verschwand, und er schloss zu Dannyl auf, während sie dem Übersetzer durch eine schmale Gasse folgten. Als sie auf einen großen Platz hinaustraten, verlangsamte Dannyl seine Schritte und sah sich entsetzt um.

Überall auf dem Platz erhoben sich hölzerne Bühnen. Auf der ihnen am nächsten gelegenen stand eine Frau mit gefesselten Händen, und neben ihr ragte ein weiß gekleideter Mann mit rasiertem Kopf auf, der über und über tätowiert war und in der linken Hand eine Peitsche hielt. Ein anderer Mann ging vor der Menge, die sich um diese Bühne herum versammelt hatte, auf und ab und verlas etwas von einem Blatt Papier.

Dannyl schloss zu dem Übersetzer auf.

»Was sagt er?«

Loryk lauschte. »Die Frau hat ihren Mann und ihre Familie beschämt, indem sie einen anderen Mann in ihr Schlafzimmer eingeladen hat.« Er machte eine ausladende Geste. »Dies ist der Richtplatz.«

Rufe wurden laut, und der Rest der Proklamation ging in dem Lärm unter. Als Dannyl und seine Begleiter sich langsam von der Bühne entfernten, bemerkte er ganz in der Nähe einen jungen Mann, der die Frau beobachtete. Seine Augen glänzten feucht, aber sein Gesicht war wie erstarrt.

Ehemann oder Geliebter?, fragte sich Dannyl.

In der Mitte des Platzes herrschte weniger Gedränge. Die Träger bahnten sich zwischen zwei Bühnen hindurch einen Weg. Die weiß gekleideten Männer, die auf den Bühnen standen, hatten Schwerter in Händen. Dannyl hielt den Blick fest auf den Nacken des Übersetzers geheftet, aber als eine Stimme den Lärm auf dem Platz übertönte, blieb Loryk stehen.

»Ah… Er sagt: Dieser Mann hat seine Familie in Schande gestürzt mit seinen unnatürlichen… wie ist Euer Wort dafür? Begierden? Er hat die höchste Strafe verdient, weil er die Seelen und Körper von Männern verdorben hat. So wie die Sonne untergeht und die Dunkelheit die Welt von Sünde reinigt, kann nur sein Tod die Seelen derer, die er besudelt hat, säubern.«

Trotz der Hitze überlief Dannyl ein kalter Schauer. Der Verurteilte kauerte mit resignierter Miene in sich zusammengesunken an einem Pfahl. Die Menge begann zu schreien; der Hass verzerrte ihre Gesichter. Dannyl hatte Mühe, sich sein Grauen und seine Wut nicht anmerken zu lassen. Der Mann wurde für ein Verbrechen hingerichtet werden, das ihm in Kyralia nur Entehrung und Schande eingetragen hätte und das in Elyne - Tayend zufolge - überhaupt kein Verbrechen war.

Dannyl musste unweigerlich an den Skandal und das Gerücht denken, die ihm als Novize solche Schwierigkeiten eingetragen hatten. Man hatte ihn des gleichen »Verbrechens« bezichtigt wie diesen Mann. Beweise hatten keine Rolle gespielt; sobald das Gerücht in Umlauf gekommen war, hatten Novizen wie Lehrer ihn gleichermaßen wie einen Aussätzigen behandelt. Als die Menge hinter ihm von neuem zu schreien begann, schauderte er. Wenn ich das Pech gehabt hätte, in Lonmar geboren zu werden, hätte mir vielleicht das Gleiche passieren können.

Loryk bog in eine andere Gasse ein, und das Gejohle hinter ihnen verebbte langsam. Dannyl blickte zu Tayend hinüber, dessen Gesicht schneeweiß war.

»Es ist eine Sache, von den strengen Gesetzen eines fremden Landes zu hören oder zu lesen, aber etwas ganz anderes, sie vollstreckt zu sehen«, murmelte der Gelehrte. »Ich schwöre, dass ich mich nie wieder über die Exzesse des elynischen Hofes beklagen werde.«

Der Übersetzer führte sie durch eine weitere Straße zu einem niedrigen Gebäude. »Das Gildehaus in Jebem«, verkündete er, als sie die Tür erreichten. »Ich werde euch hier allein lassen.«

Der Mann verneigte sich und ging davon. Dannyl, der das Gebäude betrachtete, entdeckte an der Wand eine Tafel mit dem Symbol der Gilde. Davon abgesehen ähnelte das Gebäude allen anderen in der Stadt. Sie traten durch die geöffnete Tür in einen Raum mit einer niedrigen Decke. In der Nähe stand ein elynischer Magier.

»Seid mir gegrüßt«, sagte er. »Ich bin Vaulen, der erste Botschafter der Gilde in Lonmar.« Der Mann war dünn und hatte graues Haar.

Dannyl neigte den Kopf. »Dannyl, zweiter Botschafter der Gilde in Elyne.« Er deutete auf Tayend, der sich anmutig verbeugte. »Tayend von Tremmelin, Gelehrter der Großen Bibliothek und mein Assistent.«

Vaulen nickte Tayend höflich zu und ließ den Blick zu seinem violetten Hemd hinunterwandern. »Willkommen in Jebem. Ich glaube, ich muss Euch warnen, Tayend von Tremmelin, dass die Menschen in Lonmar Bescheidenheit und Schlichtheit schätzen und bunte Kleidung missbilligen, wie modisch sie auch sein mag. Ich kann Euch einen guten Schneider empfehlen, der Euch für die Dauer Eures Aufenthalts einfachere Gewänder von ausgezeichneter Qualität anfertigen kann.«

Dannyl hatte damit gerechnet, in den Augen des Gelehrten einen Schimmer von Rebellion aufblitzen zu sehen, aber Tayend neigte nur den Kopf. »Vielen Dank für Eure Warnung, Mylord. Ich werde diesen Schneider gleich morgen aufsuchen.«

»Ich habe euch bereits eure Quartiere herrichten lassen«, fuhr Vaulen fort. »Nach der langen Reise werdet ihr euch gewiss ein wenig ausruhen wollen. Wir haben getrennte Bäder hier - die Diener werden euch den Weg zeigen. Danach wärt ihr mir sehr willkommen, wenn ihr das Abendessen mit mir einnehmen wollt.«

Sie folgten einem Diener durch einen kurzen Flur. Der Mann deutete auf zwei offene Türen, verneigte sich und ließ sie allein. Tayend trat in einen der Räume und sah sich mit düsterer Miene um.

Dannyl ging zögernd hinter ihm her. »Ist alles in Ordnung mit Euch?«

Tayend schauderte. »Sie werden ihn hinrichten, nicht wahr? Wahrscheinlich ist es bereits passiert.«

Dannyl war klar, dass er von dem Verurteilten sprach, und er nickte. »Wahrscheinlich.«

»Wir können nichts dagegen tun. Ein fremdes Land, andere Gesetze.«

»Bedauerlicherweise.«

Tayend seufzte und ließ sich in einem Sessel nieder. »Ich möchte Euch Euer Abenteuer nicht verderben, Dannyl, aber ich habe schon jetzt eine ausgeprägte Abneigung gegen Lonmar.«

Dannyl nickte. »Der Richtplatz war nicht gerade ein einladendes Erlebnis«, stimmte er ihm zu. »Aber ich möchte Lonmar nicht allzu schnell verurteilen. Das Land muss auch seine schönen Seiten haben. Wenn Ihr als Erstes die Hüttenviertel von Imardin zu Gesicht bekämet, würdet Ihr von Kyralia vielleicht auch nicht viel halten. Hoffentlich haben wir das Schlimmste bereits gesehen, so dass der Rest nur noch besser werden kann.«

Tayend seufzte erneut, dann ging er zu seinem Koffer hinüber und öffnete ihn. »Ihr habt wahrscheinlich Recht. Ich werde versuchen, schlichtere Kleidung zu bekommen.«

Dannyl lächelte müde. »Manchmal hat diese Uniform durchaus ihre Vorteile«, sagte er und zupfte am Ärmel seiner Robe. »Es mag langweilig sein, jeden Tag in die gleiche purpurne Robe zu schlüpfen, aber zumindest kann ich sie überall in den Verbündeten Ländern tragen.« Er trat an die Tür. »Falls ich Euch in den Bädern nicht sehen sollte, treffen wir uns beim Abendessen.«

Ohne aufzublicken, hob Tayend die Hand zum Gruß und machte sich daran, die leuchtend bunten Gewänder in seinem Koffer zu begutachten.

In seinem eigenen Zimmer dachte Dannyl über die vor ihm liegenden Wochen nach. Nachdem er sich seiner diplomatischen Pflichten in der Stadt entledigt hatte, würden sie im Zuge ihrer Nachforschungen dem Prächtigen Tempel einen Besuch abstatten. Der Tempel war angeblich ein Ort von ungewöhnlicher Schönheit, aber er war auch das Zentrum der strengen Magha-Religion, die die Menschen so grausam bestrafte, wie er es kurz zuvor gesehen hatte. Plötzlich war ihm die Freude an dem geplanten Ausflug gründlich vergangen.

Dennoch würden sie dort vielleicht Informationen über alte Magie finden. Nachdem er einen Monat lang in der Enge eines Schiffes gelebt hatte, war er dankbar dafür, seine Beine und seinen Geist wieder ausstrecken zu können. Es blieb ihm nur zu hoffen, dass der Rest von Lonmar weniger unerfreulich sein würde als der Richtplatz.

Es war bereits spät, als Lorlen in sein Büro zurückkehrte. Er nahm Dannyls jüngsten Bericht aus der Schachtel mit seiner persönlichen Post, setzte sich an sein Schreibpult und las ihn noch einmal durch. Als er fertig war, lehnte er sich mit einem Seufzer auf seinem Stuhl zurück.

Er dachte jetzt seit Wochen über Akkarins Tagebuch nach. Wenn es tatsächlich existierte, musste es sich irgendwo in der Residenz des Hohen Lords befinden. Eingedenk dessen, was das Tagebuch vielleicht enthalten mochte, bezweifelte Lorlen, dass Akkarin es zusammen mit gewöhnlichen Büchern in seiner Bibliothek aufbewahrte. Wahrscheinlich hatte er es in dem Keller unter dem Gebäude versteckt, und Lorlen war davon überzeugt, dass diese Gewölbe gut verschlossen waren.

Ein kühler Lufthauch strich über seine Haut. Er schauderte, dann fluchte er leise. Sein Büro war schon immer zugig gewesen, ein Umstand, über den sich der frühere Administrator ständig beklagt hatte. Er stand auf, um sich auf die Suche nach der Quelle des Luftzugs zu machen, wie er es schon so oft - und ohne jeden Erfolg - getan hatte.

Kopfschüttelnd begann er, im Raum auf und ab zu gehen. Dannyl und sein Begleiter würden bald in Lonmar ankommen und dort den Prächtigen Tempel aufsuchen. Lorlen hoffte, dass sie nichts finden würden - der Gedanke, dass es an einem solchen Ort womöglich Informationen über schwarze Magie geben könnte, war schlicht unvorstellbar.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn innehalten. Wahrscheinlich war es Lord Osen, der ihm einen freundlichen Vortrag darüber halten wollte, dass er zu wenig schlief. Als er die Tür jedoch öffnete, stand eine dunkle Gestalt vor ihm.

»Guten Abend, Lorlen«, sagte Akkarin lächelnd.

Lorlen sah den Hohen Lord überrascht an.

»Willst du mich nicht hereinbitten?«

»Aber natürlich!« Lorlen machte Akkarin Platz, und dieser ging an ihm vorbei und ließ sich in einem der großen, gepolsterten Sessel nieder. Dann wanderte sein Blick zu Lorlens Schreibtisch.

Lorlen stockte der Atem, als er sah, dass Dannyls Brief noch immer dort lag. Er brauchte seine ganze Willenskraft, um nicht hinüberzueilen und die Papiere wieder in die Schachtel zu stecken. Stattdessen schlenderte er gemächlich durch den Raum, blieb kurz stehen, um einen Sessel gerade zu rücken, und nahm dann mit einem Seufzen auf seinem Stuhl Platz.

»Wie immer ist es schrecklich unordentlich bei mir«, murmelte er. Er griff nach Dannyls Brief und legte ihn zurück in die Schachtel mit seiner Privatkorrespondenz. Nachdem er noch einige weitere Gegenstände auf dem Schreibtisch geordnet hatte, schob er die Schachtel in eine Schublade. »Was führt dich zu dieser späten Stunde hierher?«

Akkarin zuckte die Achseln. »Nichts Besonderes. Du stattest mir so oft einen Besuch ab, dass ich dachte, es sei an der Zeit, dass ich einmal bei dir vorbeischaue. Ich war nicht so dumm, es zuerst in deinem Quartier zu versuchen, obwohl es selbst für deine Verhältnisse schon recht spät ist.«

»Das ist es.« Lorlen nickte. »Ich wollte nur noch einige Briefe lesen und dann zu Bett gehen.«

»Ist etwas Interessantes dabei? Wie geht es Lord Dannyl?«

Lorlens Herz setzte einen Schlag aus. Hatte Akkarin Dannyls Handschrift erkannt? Stirnrunzelnd versuchte er, sich daran zu erinnern, was auf der obersten Seite gestanden hatte.

»Er ist auf dem Weg nach Lonmar, um die Streitigkeiten des Rates wegen des Großclans von Koyhmar beizulegen. Ich hatte Errend gebeten, sich darum zu kümmern, da er jetzt einen zweiten Botschafter hat, der ihn in Elyne vertreten kann, aber Errend hat es vorgezogen, stattdessen Dannyl nach Lonmar zu schicken.«

Akkarin lächelte. »Lonmar. Ein Land, das entweder Appetit auf weitere Reisen macht oder einem die Lust daran endgültig vergällt.«

Lorlen beugte sich vor. »Wie ist es bei dir gewesen?«

»Hm.« Akkarin dachte gründlich über die Frage nach. »Das Land hat in mir den Hunger geweckt, mehr von der Welt zu sehen, aber es hat mich auch als Reisenden abgehärtet. Die Lonmar mögen das zivilisierteste Volk der Verbündeten Länder sein, aber sie haben auch viele grausame und unerbittliche Züge. Man lernt, ihr Gefühl für Gerechtigkeit zu tolerieren, aber gleichzeitig werden die eigenen Auffassungen und Ideale durch die Begegnung mit diesem Land bekräftigt. Das Gleiche könnte man über die Frivolität der Elyner sagen oder über die Besessenheit, mit der die Vindo dem Handel nachgehen. Es gibt mehr im Leben als Mode und Geld.« Akkarin hielt geistesabwesend inne, dann richtete er sich ein wenig höher auf. »Und man entdeckt, dass nicht jeder Elyner frivol ist, nicht jeder Vindo habgierig und nicht jeder Lonmar unbeugsam. Die meisten von ihnen sind gütig und nachgiebig und ziehen es vor, Streitigkeiten privat beizulegen. So viel habe ich immerhin über diese Menschen gelernt, und obwohl sich die ganze Reise im Hinblick auf meine Forschungen als Zeitverschwendung erwiesen hat, kommt mir die Erfahrung bei meiner Arbeit hier sehr zugute.«

Lorlen schloss die Augen und massierte sich die Lider. Zeitverschwendung? Verschwendete Dannyl ebenfalls nur seine Zeit?

»Du bist müde, mein Freund«, sagte Akkarin in weicherem Tonfall. »Ich halte dich mit meinen Geschichten von deinem Bett fern.«

Lorlen blinzelte und sah zu dem Hohen Lord auf. »Nein - achte nicht auf mich. Bitte, sprich weiter.«

»Nein.« Akkarin erhob sich, und seine schwarzen Roben raschelten. »Ich habe dich mit meinem Gerede müde gemacht. Wir unterhalten uns ein andermal.«

Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung folgte Lorlen Akkarin zur Tür. Auf dem Flur drehte Akkarin sich noch einmal nach Lorlen um und lächelte schief.

»Gute Nacht, Lorlen. Gönn dir ein wenig Ruhe, ja? Du wirkst sehr erschöpft.«

»Ja. Gute Nacht, Akkarin.«

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, stieß Lorlen einen Seufzer aus. Er hatte gerade etwas Nützliches erfahren - oder vielleicht doch nicht? Akkarin mochte behaupten, dass sein Aufenthalt in Lonmar vergebens gewesen sei, aber womöglich wollte er damit nur den Umstand verbergen, dass er tatsächlich etwas entdeckt hatte. Es war seltsam, dass er plötzlich von der Reise erzählte, nachdem er das Thema in der Vergangenheit stets gemieden hatte.

Lorlen zuckte zusammen, als ein kalter Luftzug über seinen Hals strich. Solchermaßen abgelenkt von seinen Gedanken, gähnte er und kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um die Schachtel mit seiner Privatkorrespondenz an ihren Platz im Schrank zurückzustellen. Als er das Büro verließ und sich auf den Weg zu seinen Räumen machte, fühlte er sich bereits ein wenig besser.

Er musste Geduld haben. Dannyl würde bald genug herausfinden, ob seine Reise nach Lonmar Zeitverschwendung gewesen war oder nicht.

12 Anders als gedacht

Wie hatte er das gemacht?

Sonea ging langsam den Flur hinunter. Auf den Armen trug sie den Karton, in dem sie ihre Feder, das Tintenfass und ihre Mappe mit Notizen und frischem Papier aufbewahrte. Die Mappe war leer.

Einmal mehr durchforstete sie ihr Gedächtnis. Wann hatte sie Regin eine Gelegenheit gegeben, an ihre Sachen heranzukommen? Sie war immer vorsichtig gewesen und hatte ihre Notizen niemals aus den Augen gelassen.

Aber im Klassenzimmer wurden die Novizen während Lady Kinlas Unterrichtsstunden häufig nach vorn gerufen, um sich irgendetwas genau demonstrieren zu lassen. Es war möglich, dass Regin bei einer solchen Gelegenheit auf dem Weg an ihrem Tisch vorbei ihre Notizen aus der Mappe genommen hatte. Sie hatte geglaubt, dass die verwöhnten Kinder aus den Häusern nicht zu solcher Fingerfertigkeit fähig wären. Offensichtlich hatte sie sich geirrt.

Sie hatte ihr Zimmer gründlich durchsucht und war spätabends sogar noch einmal in die Universität geschlüpft, um sich im Klassenzimmer umzusehen. Doch noch während sie mit ihrer Suche beschäftigt gewesen war, hatte sie gewusst, dass sie die Notizen nicht finden würde - zumindest nicht unversehrt oder rechtzeitig vor den morgigen Prüfungen.

Als sie in das Klassenzimmer kam, wurde ihr Verdacht von Regins selbstgefälliger Miene sofort bestätigt. Da sie nicht die Absicht hatte, sich etwas anmerken zu lassen, verbeugte sie sich vor Lady Kinla und nahm wie gewöhnlich auf ihrem Stuhl neben Poril Platz.

Lady Kinla war eine hoch gewachsene Heilerin in mittleren Jahren. Heilerinnen trugen das Haar zu einem Knoten im Nacken gebunden, und diese Mode verlieh Lady Kinlas schmalem Gesicht einen Ausdruck von dauerhafter Ernsthaftigkeit. Als Sonea sich hinsetzte, räusperte sich die Heilerin und sah alle Novizen der Reihe nach aufmerksam an.

»Heute werde ich euch in den Lektionen prüfen, die wir während der letzten drei Monate durchgenommen haben. Ihr dürft eure Notizen zu Rate ziehen.« Sie nahm einen Stoß Papiere zur Hand und ließ den Blick über die Seiten wandern. »Zuerst Bennon…«

Als die Prüfung begann, setzte Soneas Herz einen Schlag aus. Lady Kinla ging im Klassenzimmer auf und ab und fragte mal diesen, mal jenen. Als Sonea ihren Namen hörte, setzte ihr Herz erneut einen Schlag aus, aber zu ihrer Erleichterung war die Frage einfach, und sie konnte sie aus dem Gedächtnis beantworten.

Die Fragen wurden jedoch langsam schwieriger. Als ein anderer Novize zögerte und seine Notizen zu Rate zog, bevor er antwortete, wurde Sonea nervös. Neben sich spürte sie einen Luftzug, als Kinla an ihrem Stuhl vorbeiging.

Dann blieb die Heilerin stehen und drehte sich zu Sonea um. Sie machte einige Schritte nach vorn, bis sie über Soneas Pult aufragte.

»Sonea.« Sie legte eine Fingerspitze auf den Tisch. »Wo sind deine Notizen?«

Sonea schluckte. Eine Sekunde überlegte sie, ob sie so tun solle, als hätte sie sie vergessen. Aber wenn sie sich eine derartige Geschichte ausdachte, würde das Regin erst recht Befriedigung verschaffen, und plötzlich fiel ihr noch eine andere Erklärung ein…

»Ihr habt gesagt, diese Unterrichtsstunde solle einer Prüfung dienen, Mylady«, erwiderte sie. »Ich habe nicht gedacht, dass ich meine Notizen benötigen würde.«

Lady Kinla hob die Augenbrauen und musterte Sonea nachdenklich. Irgendwo hinter ihr erklang ein unterdrücktes, hämisches Kichern.

»Ich verstehe.« Der Tonfall der Lehrerin verhieß nichts Gutes. »Nenne mir zwanzig Knochen des Körpers, angefangen vom kleinsten.«

Sonea fluchte lautlos. Ihre Antwort hatte die Heilerin verärgert, die offensichtlich davon ausging, dass Sonea unmöglich so viele Dinge aus dem Gedächtnis würde aufsagen können.

Aber sie musste es versuchen. Langsam und schließlich mit wachsendem Selbstvertrauen zog Sonea die Namen aus ihrer Erinnerung und zählte sie, während sie sprach, an den Fingern ab. Als sie fertig war, sah Lady Kinla sie schweigend an, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

»Deine Antworten sind richtig«, sagte die Heilerin widerwillig.

Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung beobachtete Sonea, dass die Lehrerin sich abwandte und weiter zwischen den Pulten der Novizen umherging. Als Sonea sich umsah, bemerkte sie, dass Regin sie mit schmalen Augen anstarrte.

Sie wandte den Blick ab. Glücklicherweise hatte sie Poril bei seinen Notizen geholfen und konnte sie jetzt noch einmal für sich selbst abschreiben. Sie bezweifelte, dass sie ihre eigenen jemals wiederfinden würde.


Einige Tage nach ihrer Ankunft antworteten die Priester des Prächtigen Tempels auf Dannyls Bitte, sich die berühmte Sammlung von Schriftrollen des Heiligtums ansehen zu dürfen. Diese Unterbrechung seiner diplomatischen Pflichten erleichterte ihn ungemein. Schon jetzt kostete ihn das Gezänk des Ältestenrates von Lonmar alle Geduld, die er besaß. Lorlens Beweggründe, einen fremden Gildebotschafter nach Lonmar zu schicken, waren leider absolut stichhaltig. Einer der Großclans war in Ungnade gefallen und hatte obendrein sein Vermögen verloren, so dass er seine Novizen und Magier nicht länger unterhalten konnte. Die anderen Clans mussten jetzt die Verantwortung für sie übernehmen.

Das Studium der Übereinkünfte zwischen der Gilde und anderen Ländern hatte zu Dannyls Vorbereitungen auf seine neue Rolle gehört. Während der kyralische König einen Teil seiner Steuereinkünfte darauf verwandte, für die Bedürfnisse kyralischer Magier aufzukommen, ohne Einfluss auf die Auswahl neuer Schüler zu nehmen, handhabten andere Länder diese Dinge auf unterschiedlichste Weise. Der König von Elyne stellte jedes Jahr eine Reihe von Studienplätzen zur Verfügung und wählte die Bewerber im Hinblick auf künftige politische Interessen aus. Die Vindo schickten so viele Schüler zur Gilde, wie sie nur finden (und sich leisten) konnten, was nicht allzu viele waren, da sie nur geringe magische Fähigkeiten in ihren Blutlinien hatten.

Die Lonmars wurden von einem Ältestenrat regiert, der sich aus Repräsentanten der Großclans zusammensetzte. Jeder Clan kam für die Ausbildung seiner eigenen Magier auf. Falls ein Clan seine Magier nicht länger unterhalten konnte, so besagte die jahrhundertealte Übereinkunft zwischen den Lonmars und dem kyralischen König, dass die anderen Clans die Kosten gerecht untereinander aufzuteilen hätten. Die Gilde wollte nicht, dass ihre Magier in Not gerieten und die Magie auf unmoralische Weise nutzten, um ihr Überleben zu sichern.

Wenig überraschend protestierten mehrere Clans gegen diese Regelung. Soweit Dannyl von Botschafter Vaulen wusste, brauchte man sie jedoch nur freundlich und entschieden daran zu erinnern, welche Nachteile eine Aufhebung der Übereinkunft für sie haben würde: Man würde ihre Magier nach Hause schicken und keine neuen Schüler aus ihren Reihen mehr in der Gilde aufnehmen. Um ihnen diese Argumente nahe zu bringen, spielte Vaulen die Rolle des sanften elynischen Beschwichtigers, während Dannyl der entschlossene, unbeugsame Kyralier sein sollte.

Aber nicht heute.

Als Botschafter Vaulen erfahren hatte, dass Dannyls Gesuch an den Tempel Erfolg beschieden war, hatte er sofort einigen Dienern befohlen, die Kutsche der Gilde vorfahren zu lassen.

»Heute ist ein Tag der Ruhe«, sagte er. »Das bedeutet, dass die Ältesten einander besuchen und erörtern werden, was zu tun ist. Ihr könnt euch also getrost ein wenig in der Gegend umsehen.« Während sie warteten, bot er ihnen getrocknete, in Honigwasser eingelegte Früchte an.

»Gibt es irgendetwas, das ich über die Priester wissen sollte, bevor ich sie aufsuche?«, erkundigte sich Dannyl.

Vaulen dachte nach. »Der Lehre Mahgas zufolge müssen alle Menschen in ihrem Leben ein Gleichgewicht zwischen Glück und Schmerz finden. Magiern ist bereits die Gabe der Magie zuteil geworden, deshalb ist ihnen das Priesteramt verwehrt. Es hat nur wenige Ausnahmen gegeben.«

»Wirklich?« Dannyl straffte sich. »Unter welchen Umständen?«

»In der Vergangenheit ist man bei einigen Magiern zu dem Schluss gekommen, dass ihnen großes Leid widerfahren sei, und diesen Magiern wurde gestattet, Gleichgewicht zu suchen, indem sie der Priesterschaft beitraten, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie auf ihre Kräfte verzichteten. Trotzdem blieb auch diesen Magiern der Zugang zu den höheren Rängen verwehrt.«

»Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass sie mir Schmerz zufügen werden, um ein Gleichgewicht für meine eigenen Gaben zu schaffen.«

Vaulen lächelte. »Ihr seid ein Ungläubiger. Das ist Gleichgewicht genug.«

»Was könnt Ihr mir von dem Hohen Priester Kassyk erzählen?«

»Er respektiert die Gilde und ist voll des Lobes für den Hohen Lord.«

»Warum zeichnet er gerade Akkarin so aus?«

»Akkarin hat vor über zehn Jahren den Tempel besucht, und anscheinend hat er großen Eindruck auf den Hohen Priester gemacht.«

»Ja, darauf versteht er sich.« Dannyl sah Tayend an, aber der Gelehrte war ganz mit dem Verzehr der süßen Leckereien beschäftigt. Tayend war zu Dannyls Überraschung gleich am Tag nach ihrer Ankunft in einem der typischen, unscheinbaren lonmarischen Gewänder vom Schneider zurückgekehrt. »Sie sind sehr bequem«, hatte der Gelehrte erklärt. »Und ich wollte ohnehin ein Andenken an unsere Reise mit nach Hause nehmen.« Dannyl hatte kopfschüttelnd erwidert: »Ich kenne niemanden außer Euch, dem es gelingen würde, die Demonstration von Demut in einen Luxus zu verwandeln.«

»Eure Kutsche steht bereit«, sagte Vaulen und erhob sich.

Als Dannyl von draußen Hufschläge und das Quietschen von Wagenfedern hörte, ging er zur Tür hinüber. Tayend wischte sich mit einem feuchten Tuch die klebrigen Überreste der getrockneten Früchte von den Fingern und folgte ihm.

»Richtet dem Hohen Priester meinen Gruß aus«, sagte Vaulen.

»Das werde ich tun.« Dannyl verließ das Gebäude, und sofort schlug ihm die Hitze entgegen, die von einer sonnenbeschienenen Mauer auf der anderen Straßenseite abgestrahlt wurde. Der Staub, den die Kutsche aufgewirbelt hatte, kitzelte ihn im Hals.

Ein Diener öffnete ihm den Wagenschlag, und Dannyl stieg ein. Tayend folgte ihm und nahm mit einer Grimasse ihm gegenüber Platz. Der Diener reichte ihnen zwei Flaschen Wasser, und gleich darauf setzte sich das Gefährt in Bewegung.

Die Luft in der Kutsche war drückend heiß. In der Hoffnung, dass der Fahrtwind etwas Kühlung brächte, öffnete Dannyl die Fenster der Kutsche, ertrug tapfer den Staub, der hereinwehte, und befeuchtete sich von Zeit zu Zeit mit einem Schluck Wasser die Kehle. Die Straßen waren schmal, so dass sie zum größten Teil im Schatten lagen, aber das Gedränge der Fußgänger verlangsamte die Kutsche. Einige der Straßen waren von Holzdächern überdeckt, die dunkle Tunnel bildeten.

Nach einigen kurzen Bemerkungen verfielen sie in Schweigen, denn beim Sprechen bekamen sie nur Staub in den Mund. Langsam holperte die Kutsche durch die endlose Stadt. Schon bald war Dannyl es müde, Menschen und Häuser zu betrachten, die alle gleich aussahen. Er lehnte sich an die Seitenwand der Kutsche und döste ein.

Plötzlich veränderte sich das Geräusch, das die Hufe der Pferde auf dem Boden machten; die Straße hier war offensichtlich mit anderen Steinen gepflastert. Als er aus dem Fenster blickte, sah er glatte Mauern zu beiden Seiten. Nach etwa hundert Schritten endete der Tunnel, die Kutsche fuhr in einen breiten Innenhof, und der Prächtige Tempel kam in Sicht.

Wie alle lonmarischen Gebäude war auch dieses einstöckig und vollkommen schmucklos. Die Mauern waren jedoch aus Marmor und so geschickt zusammengesetzt, dass man kaum erkennen konnte, wo ein Stein zu Ende war und der nächste anfing. In regelmäßigen Abständen waren Obelisken in das Gemäuer eingelassen, ein jeder am Sockel so breit, wie das Gebäude hoch war.

Die Kutsche hielt an, und Dannyl stieg aus, begierig darauf, aus der drückenden Hitze des Wagens herauszukommen. Er legte den Kopf in den Nacken und sog scharf die Luft ein, als er sah, wie hoch die Obelisken aufragten. In einer Entfernung von jeweils etwa fünfzig Schritten aufgestellt, schienen sie den ganzen Himmel auszufüllen.

»Seht Euch das an«, sagte Dannyl leise zu Tayend. »Wie ein Wald aus riesenhaften Bäumen.«

»Oder aus tausend Schwertern.«

»Oder den Masten von Schiffen, die darauf warten, Seelen fortzubringen.«

»Oder einem gewaltigen Nagelbett.«

»Ihr seid heute ja in guter Stimmung«, bemerkte Dannyl trocken.

Tayend lächelte schief. »Das kann man wohl sagen, wie?«

Als sie sich den Toren des Tempels näherten, kam ihnen ein Mann in einer schlichten weißen Robe entgegen. Sein Haar war weiß und bildete einen deutlichen Kontrast zu dem tiefen Schwarz seiner Haut. Nach einer kaum mehr als angedeuteten Verbeugung verschränkte er die Hände und öffnete sie dann wieder, eine rituelle Geste der Anhänger des Mahga.

»Willkommen, Botschafter Dannyl. Ich bin der Hohe Priester Kassyk.«

»Ich danke Euch, dass Ihr uns diesen Besuch gestattet habt«, erwiderte Dannyl. »Dies ist mein Assistent und Freund, Tayend von Tremmelin, Gelehrter der Großen Bibliothek von Capia.«

Der Hohe Priester wiederholte seine Geste. »Willkommen, Tayend von Tremmelin. Wollt ihr euch vielleicht den Prächtigen Tempel ansehen, bevor ihr euch den Schriftrollen zuwendet?«

»Es wäre uns eine Ehre«, antwortete Dannyl.

»Dann folgt mir.«

Der Hohe Priester machte auf dem Absatz kehrt und führte sie in das kühle Tempelgebäude. Sie gingen durch einen langen Flur, und der Priester erklärte ihnen unterwegs die historische oder religiöse Bedeutung einzelner Gegenstände. Der Gang, dem sie folgten, wurde von vielen weiteren gekreuzt, und durch kleine, schmale Fenster, die direkt unterhalb des gewölbten Daches eingelassen waren, fiel Licht. Gelegentlich kamen sie durch winzige Innenhöfe, in denen überraschend üppige Pflanzen gediehen. Ab und zu blieben sie an in die Wand eingebauten Springbrunnen stehen, um eine Hand voll Wasser zu trinken.

Schließlich erreichten sie die kleinen Räume, in denen die Priester lebten, studierten oder meditierten. Der Hohe Priester führte sie durch große, höhlenartige Hallen, in denen täglich Gebete und Rituale abgehalten wurden. Zu guter Letzt kamen sie in einen Komplex kleiner Räume, in denen Schriftrollen und Bücher ausgestellt waren.

»Welche Texte interessieren euch besonders?«, fragte Kassyk.

»Ich würde gern die dorgonischen Schriftrollen sehen.«

Der Priester musterte Dannyl schweigend, bevor er antwortete: »Wir gestatten Ungläubigen nicht, diese Texte zu lesen.«

»Oh.« Dannyl runzelte enttäuscht die Stirn. »Das sind aber schlechte Nachrichten. Man hat mich glauben gemacht, diese Schriftrollen seien frei zugänglich, und ich habe eine weite Reise auf mich genommen, um sie zu sehen.«

»Das ist in der Tat bedauerlich.« Der Hohe Priester betrachtete ihn mit aufrichtigem Mitgefühl.

»Verzeiht mir, wenn ich mich irre, aber Ihr habt schon in der Vergangenheit einmal einem Ungläubigen gestattet, sie zu lesen, nicht wahr?«

Kassyk blinzelte überrascht, dann nickte er langsam. »Als Euer Hoher Lord vor zehn Jahren hier war, hat er mich dazu überredet, ihm das Studium der Schriftrollen zu gestatten. Er hat mir versichert, dass mich nach ihm niemand mehr um diese Information bitten würde.«

Dannyl tauschte einen Blick mit Tayend. »Akkarin war damals noch nicht Hoher Lord, aber selbst wenn er es gewesen wäre, wie hätte er Euch eine solche Garantie geben können?«

»Er hat einen Schwur abgelegt, das Gelesene niemals weiterzugeben.« Der Priester zog die Brauen zusammen. »Ebenso hat er versprochen, die Schriftrollen niemandem gegenüber zu erwähnen. Er hat gesagt, diese Informationen seien für die Gilde nicht von Interesse, und auch ihm selbst gehe es nicht um religiöse Lehren, sondern einzig um die Erforschung alter Magie. Sucht ihr nach denselben Wahrheiten?«

»Das kann ich nicht sagen, da ich nicht genau weiß, wonach Akkarin gesucht hat. Diese Schriftrollen könnten für meine Forschungen von Bedeutung sein, obwohl sie für den Hohen Lord keinen Nutzen hatten.« Dannyl sah dem Priester fest in die Augen. »Wenn ich den gleichen Schwur ablege, werdet Ihr mir dann gestatten, die Texte zu lesen?«

Nach einer langen Pause nickte der Priester schließlich. »Also gut. Aber Euer Freund muss hier bleiben.«

Tayend ließ die Schultern sinken, aber als er auf einem Sessel in der Nähe Platz nahm, stieß er dennoch einen Seufzer der Erleichterung aus. Dannyl überließ den Gelehrten sich selbst und folgte dem Priester durch die Räume mit Schriftrollen. Nachdem sie ein wahres Labyrinth kleiner Bibliotheken durchschritten hatten, kamen sie in einen kleinen, quadratischen Raum.

Sämtliche Regale wurden von Quadraten makellos klaren Glases bedeckt. Als Dannyl näher trat, sah er, dass unter dem Glas Bruchstücke von Papieren ausgestellt waren.

»Die Dorgon-Schriftrollen.« Der Hohe Priester trat auf die erste der Rollen zu. »Ich werde Euch den Text übersetzen, wenn Ihr mir bei der Ehre Eurer Familie und der Gilde schwört, ihren Inhalt niemals irgendjemandem zu offenbaren.«

Dannyl straffte sich und wandte sich zu Kassyk um. »Ich schwöre bei der Ehre meiner Familie und meines Hauses und bei der Ehre der Magiergilde von Kyralia, dass ich niemandem weitergeben werde, was ich aus diesen Schriftrollen erfahre, es sei denn, mein Schweigen würde den Verbündeten Ländern schwersten Schaden zufügen.« Er hielt inne. »Ist das akzeptabel? Einen größeren Schwur kann ich nicht leisten.«

Die Falten um den Mund des alten Mannes hatten sich vor Erheiterung vertieft, aber seine Antwort klang dennoch ernst. »Das ist akzeptabel.«

Erleichtert folgte Dannyl dem Hohen Priester zu der ersten der Schriftrollen und lauschte, während der Mann zu lesen begann. Langsam machten sie die Runde durch den Raum, und Kassyk erläuterte ihm Diagramme und Bilder im Text. Als die letzte Schriftrolle verlesen worden war, setzte sich Dannyl auf eine Bank in der Mitte des Raumes.

»Wer hätte das gedacht?«, sagte er laut.

»Zu jener Zeit niemand«, antwortete Kassyk.

»Jetzt verstehe ich, warum Ihr nicht wollt, dass sie gelesen werden.«

Kassyk kicherte und ließ sich neben Dannyl nieder. »Für jene, die der Priesterschaft beitreten, ist es kein Geheimnis, dass Dorgon ein Betrüger war, der seine geringen Kräfte nutzte, um Tausende von Menschen von seiner Heiligkeit zu überzeugen. Wirklich bedeutsam waren die Dinge, die später geschahen. Dorgon begriff langsam, dass sich hinter seinen Tricks Wunder verbargen und dass die Wunder das Wirken der Großen Macht waren. Aber das ahnt niemand, wenn er nur diese Schriftrollen liest.«

»Warum bewahrt Ihr sie dann auf?«

»Sie sind alles, was uns von Dorgon geblieben ist. Seine späteren Werke sind kopiert worden, aber dies ist das einzige Original, das sich erhalten hat. Diese Schriftrollen wurden von einer Familie bewahrt, die sich jahrhundertelang der Mahga-Religion widersetzt hat.«

Dannyl sah sich in dem Raum um und nickte. »Hier findet sich tatsächlich nichts Schädliches - und nichts Nützliches. Ich bin umsonst nach Lonmar gekommen.«

»Das Gleiche sagte auch Euer Hoher Lord, bevor er Hoher Lord wurde.« Kassyk lächelte. »Ich erinnere mich noch gut an seinen Besuch. Ihr wart sehr höflich, Botschafter Dannyl. Der junge Akkarin hat laut gelacht, als er die Dinge hörte, die auch Ihr heute gehört habt. Vielleicht sind die Wahrheiten, nach denen ihr beide sucht, einander ähnlicher, als Ihr anfangs dachtet.«

Dannyl nickte. »Vielleicht.« Er sah den Hohen Priester an. »Ich danke Euch, dass Ihr mir diese Texte zugänglich gemacht habt, Hoher Priester. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich Euch nicht glaubte, als Ihr sagtet, sie enthielten keinerlei Informationen über alte Magie.«

Der Mann erhob sich. »Ich wusste, dass Eure Neugier niemals enden würde, wenn ich Euch Eure Bitte abgeschlagen hätte. Jetzt wisst Ihr Bescheid, und ich vertraue darauf, dass Ihr Euer Wort halten werdet. Und nun bringe ich Euch zu Eurem Freund zurück.«


»Alle Bücher über den Sachakanischen Krieg sind ausgeliehen?«, fragte Sonea.

Lord Jullen blickte auf. »Das habe ich gesagt.«

Sonea wandte sich ab und murmelte einen Fluch, der ihr einen strengen Tadel von Rothen eingetragen hätte.

Nachdem die Klasse eine Aufgabe bekommen hatte, bei der sie Bücher aus der Bibliothek benötigten, hatte ein kunstvoller Tanz begonnen: Alle Schüler wetteiferten miteinander auf die höflichste Weise um die besten Bücher. Da Sonea sich diesem Treiben nicht anschließen wollte, hatte sie es in Rothens Bibliothek versucht, dort aber nichts über das Thema gefunden. Als sie in die Novizenbibliothek zurückgekehrt war, war dort nichts Nützliches mehr auszuleihen gewesen. Damit war ihr nur die Magierbibliothek geblieben, die offensichtlich ebenfalls bereits geplündert worden war.

»Sie sind alle entliehen«, erklärte sie Rothen, als sie zu ihm aufschloss.

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Alle? Wie kann das sein? Novizen dürfen sich grundsätzlich nur eine begrenzte Anzahl an Büchern ausleihen.«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat er Gennyl überredet, sich ebenfalls einige Bücher auszuleihen.«

»Du kannst nicht wissen, ob es Regins Werk war, Sonea.«

Sie schnaubte leise.

»Warum lässt du dir keine Abschrift anfertigen?«

»Das wäre ziemlich teuer, nicht wahr?«

»Dafür hast du dein Taschengeld, vergiss das nicht.«

Sonea wandte den Blick ab. »Wie lange würde so etwas dauern?«

»Das kommt auf das Buch an. Einige Tage für gedruckte Bücher, einige Wochen für Handschriften. Dein Lehrer wird wissen, welche Bände die besten sind.« Er kicherte, dann senkte er die Stimme. »Verrat ihm nicht, warum du darum bittest, dann wird er sehr beeindruckt sein von deinem scheinbaren Interesse an dem Thema.«

Sie griff nach ihrer Mappe mit Notizen. »Ich gehe jetzt wohl besser. Wir sehen uns morgen.«

Er nickte. »Möchtest du, dass ich dich begleite?«

Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Lord Ahrind hat immer ein Auge auf alle Novizen.«

»Dann gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Als sie die Magierbibliothek verließ, sah Lord Jullen ihr argwöhnisch nach. Draußen war es kalt, und sie beeilte sich, das Novizenquartier zu erreichen. Hinter der Tür hatte sich eine kleine Gruppe von Novizen versammelt. Als sie sie sahen, trat ein breites Grinsen in ihre Gesichter. Im nächsten Moment entdeckte sie die verschmierte Tintenschrift auf ihrer Tür. Sie biss die Zähne zusammen und machte einen Schritt nach vorn.

Plötzlich tauchte Regin vor ihr auf. Sie wappnete sich innerlich gegen seinen Spott, aber dann trat er genauso schnell zurück, wie er erschienen war.

»Hai! Sonea!«

Sie erkannte die Stimme sofort und fuhr herum. Zwei Männer hatten den Flur betreten, einer ziemlich groß, der andere klein. Lord Ahrinds Augen wurden schmal, als er die Schrift an ihrer Tür entdeckte. Er ging an ihr vorbei, und sie hörte, wie die Novizen in lautstarken Protest ausbrachen.

»Es ist mir egal, wer es getan hat. Du wirst es sauber machen. Sofort!«

Aber Sonea ignorierte den Lärm um sie herum. Ein vertrautes, freundliches Gesicht hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

»Cery!«, flüsterte sie.

Cerys Lächeln verblasste, während er die Szene hinter ihr in sich aufnahm. »Sie machen dir das Leben ziemlich schwer.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Sie zuckte die Achseln. »Sie sind nur Kinder. Ich…«

»Sonea.« Lord Ahrind war wieder neben sie getreten. »Du hast einen Besucher, wie du zweifellos selbst bemerkt haben wirst. Du darfst im Flur oder draußen mit ihm reden. Nicht in deinem Zimmer.«

Sonea nickte. »Ja, Mylord.«

Solchermaßen zufrieden gestellt, stolzierte Ahrind zu seiner Tür und verschwand. Sonea bemerkte, dass alle Novizen bis auf einen sich zurückgezogen hatten. Sie beobachtete, wie der Junge die Tinte von ihrer Tür abwischte. Sein mürrischer Blick verriet ihr, dass er lediglich einer der Zuschauer gewesen war, nicht derjenige, der die Nachricht geschrieben hatte.

Obwohl der Flur jetzt verlassen war, konnte sich Sonea nur allzu gut die Ohren vorstellen, die sich an Türen drückten, um ihr Gespräch mit Cery zu belauschen.

»Lass uns nach draußen gehen. Warte hier. Ich will nur schnell etwas holen.«

Sie schlüpfte in ihr Zimmer und griff nach einem kleinen Päckchen, bevor sie in den Korridor zurückkehrte und mit Cery in den Garten ging. Nachdem sie eine geschützte Bank gefunden hatten, wob sie eine Wärmebarriere um sie beide herum. Cery zog anerkennend die Augenbrauen hoch.

»Du hast einige nützliche Tricks gelernt.«

»Ein paar, ja«, pflichtete sie ihm bei.

Cery sah sich argwöhnisch um. »Erinnerst du dich an den Tag, als wir das letzte Mal in diesem Garten waren?«, fragte er. »Das ist jetzt fast ein Jahr her.«

Sie grinste. »Wie könnte ich das vergessen?«

Ihr Lächeln verblasste jedoch, als sie daran dachte, was sie in dem Gewölbe unter der Residenz des Hohen Lords beobachtet hatte. Damals hatte sie nur den Wunsch gehabt fortzukommen, deshalb hatte sie Cery nichts von dem Vorfall berichtet. Später hatte sie ihm dann lediglich erklärt, sie habe einem Magier bei der Arbeit zugesehen, aber damals hatte sie noch nicht gewusst, dass es sich um verbotene schwarze Magie handelte. Und inzwischen hatte sie dem Administrator das Versprechen gegeben, die Wahrheit vor allen außer Rothen verborgen zu halten.

»Dieser Junge ist der Anführer, nicht wahr? Der, der sich versteckt hat, als er den Magier gesehen hat - Lord Ahrind?«

Sie nickte.

»Wie heißt dieser Junge?«

»Regin.«

»Hat er dir oft zugesetzt?«

Sie seufzte. »Er tut es ständig.« Als sie ihm von den Streichen und den Spottworten erzählte, empfand sie gleichzeitig Verlegenheit und Erleichterung. Es tat gut, mit ihrem alten Freund zu reden und den Zorn in seinem Gesicht zu sehen.

Cery stieß einen anschaulichen Fluch aus. »Dieser Junge braucht eine ordentliche Lektion, wenn du mich fragst. Soll ich sie ihm erteilen?«

Sonea kicherte. »Du würdest niemals auch nur in seine Nähe kommen.«

»Tatsächlich?« Er lächelte verschlagen. »Magier dürfen andere Menschen nicht verletzen, nicht wahr?«

»Das ist richtig.«

»Also darf er seine Kräfte in einem Kampf mit einem Nichtmagier nicht einsetzen, oder?«

»Er wird nicht mit dir kämpfen, Cery. Es wäre unter seiner Würde, sich mit einem Hüttenjungen zu schlagen.«

Cery schnaubte. »Dann ist er also ein Feigling?«

»Nein.«

»Aber er ist sich nicht zu schade, sich mit dir anzulegen. Du kommst auch aus den Hüttenvierteln.«

»Er kämpft nicht gegen mich. Er sorgt nur dafür, dass niemand vergisst, wo ich herkomme.«

Cery dachte eine Weile über ihre Worte nach, dann zuckte er die Achseln. »Also brauchen wir ihn nur zu töten.«

Erstaunt über die Absurdität seines Vorschlags, lachte sie. »Wie?«

Seine Augen blitzten. »Wir könnten ihn in einen Tunnel locken und den Tunnel dann zum Einsturz bringen.«

»Ist das alles? Er müsste nur einen Schild um sich herum hochziehen und die Trümmer wegschieben.«

»Nicht ohne seine Magie aufzubrauchen. Wie wäre es, wenn wir ihn mit sehr vielen Trümmern zuschütten würden? Mit einem ganzen Haus.«

»Es müsste erheblich mehr sein als das.«

Cery schürzte die Lippen. »Wir könnten ihn in einen Abwasserbottich werfen und ihn darin einschließen.«

»Er würde sich den Weg freisprengen.«

»Dann locken wir ihn mit einer List an Bord eines Schiffes und versenken das Schiff weit draußen im Meer.«

»Er würde eine Luftblase um sich herum schaffen und an die Oberfläche treiben.«

»Ah, aber das würde er nicht bis in alle Ewigkeit durchhalten. Er würde müde werden und ertrinken.«

»Wir können einen elementaren Schild über einen sehr langen Zeitraum aufrechterhalten«, erklärte sie ihm. »Er müsste sich nur mit Hilfe von Gedankenrede mit Lord Garrel in Verbindung setzen, und die Gilde würde ein Boot zu seiner Rettung hinausschicken.«

»Wenn wir das Schiff weit weg von allen Magiern versenken würden, könnte er verdursten.«

»Das könnte er«, räumte sie ein, »aber ich bezweifle es. Die Magie macht uns sehr stark. Wir überleben länger als gewöhnliche Menschen - und außerdem haben wir gelernt, wie man das Salz aus dem Wasser herauszieht. Er würde keinen Durst leiden, und er könnte Fische fangen und sie sich braten.«

Cery schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Hör auf damit! Du machst mich neidisch. Könntest du ihn vielleicht zuerst erschöpfen? Dann würde ich ihn anschließend ordentlich weich klopfen.«

Sonea lachte. »Nein, Cery.«

»Warum nicht? Ist er stärker als du?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was dann?«

Sie wandte den Blick ab. »Es lohnt die Mühe nicht. Was du auch tun würdest, er würde sich am Ende an mir rächen.«

Cery wurde schlagartig ernst. »Er hat sich anscheinend schon recht gut mit dir amüsiert. Es sieht dir gar nicht ähnlich, dich mit so etwas abzufinden. Kämpfe gegen ihn, Sonea. Es klingt so, als hättest du nichts zu verlieren.« Seine Augen wurden schmal. »Ich könnte es nach Art der Diebe erledigen.«

Sie sah ihn scharf an. »Nein.«

Er rieb sich die Hände. »Er verletzt meine Leute, ich verletze seine.«

»Nein, Cery.«

Ein geistesabwesender Ausdruck war in seine Züge getreten, und er schien ihr nicht länger zuzuhören. »Keine Sorge, ich werde seine Leute nicht töten oder den schwächeren unter ihnen etwas antun, ich werde lediglich einigen Männern seiner Familie ein wenig Angst machen. Irgendwann wird Regin schon begreifen, was dahintersteckt, denn seine Leute werden jedes Mal, wenn er dir etwas angetan hat, Besuch von einem Boten bekommen.«

Sonea schauderte. »Du solltest darüber keine Witze machen, Cery. Es ist nicht komisch.«

»Ich habe auch keine Witze gemacht. Er würde es nicht wagen, dir auch nur ein Haar zu krümmen.«

Sie packte ihn am Arm und drehte ihn zu sich um. »Wir sind hier nicht in den Hüttenvierteln, Cery. Wenn du glaubst, Regin mit solchen Dingen einschüchtern zu können, dann irrst du dich. Du würdest ihm nur in die Hände spielen. Wenn du seiner Familie etwas zuleide tätest, wäre das ein weit schwereres Vergehen als seine Gemeinheiten mir gegenüber. Ich hätte dann meine Beziehungen zu den Dieben benutzt, um der Familie eines anderen Novizen Schaden zuzufügen. Dafür würde man mich vielleicht aus der Gilde werfen.«

»Beziehungen zu den Dieben.« Cerys Nase zuckte. »Ich verstehe.«

»Ach, Cery.« Sonea schnitt eine Grimasse. »Ich weiß es zu schätzen, dass du mir helfen willst. Wirklich.«

Er blickte finster ins Gebüsch. »Dann kann ich also nichts tun, damit er dich in Ruhe lässt?«

»Nein.« Sie lächelte. »Aber es macht Spaß, darüber nachzudenken, Regin ins Meer zu werfen oder ein Haus über ihm einstürzen zu lassen.«

Cerys Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Das ist wahr.«

»Und ich bin froh darüber, dass du vorbeigekommen bist. Ich habe dich nicht mehr gesehen, seit mein Studium hier begonnen hat.«

»Ich hatte viel zu tun«, sagte er. »Hast du von den Morden gehört?«

Sonea runzelte die Stirn. »Nein.«

»Es hat ziemlich viele gegeben in letzter Zeit. Und sie waren sehr merkwürdig. Die Garde hält Ausschau nach dem Mörder, was allen Unannehmlichkeiten bereitet, deshalb wollen die Diebe, dass er gefunden wird.« Er zuckte die Achseln.

»Hast du Jonna und Ranel mal gesehen?«

»Den beiden geht es gut. Und dein kleiner Vetter ist gesund und kräftig. Wirst du sie bald einmal besuchen? Sie haben gesagt, du seist schon lange nicht mehr bei ihnen gewesen.«

»Ich werde es versuchen. Ich habe nicht viel Zeit, weil ich so viel lernen muss.« Sie griff in ihre Tasche und zog das Päckchen heraus. »Ich möchte, dass du ihnen das hier gibst.« Sie drückte es ihm in die Hand.

Er betastete es, dann sah er sie überrascht an. »Münzen?«

»Etwas von meinem Taschengeld. Sag ihnen, es sei ein kleiner Teil ihrer Steuern, der einer besseren Verwendung zugeführt werde - und wenn Jonna es trotzdem nicht annehmen will, gib es Ranel. Er ist nicht so stur wie sie.«

»Aber warum soll ich es ihnen überbringen?«

»Weil ich nicht möchte, dass irgendjemand hier davon erfährt. Nicht einmal Rothen. Er hätte sicher nichts dagegen, aber…« Sie zuckte die Achseln. »Gewisse Dinge möchte ich eben für mich behalten.«

»Und mir vertraust du?«

Sie lächelte und drohte ihm spielerisch mit dem Finger. »Ich weiß genau, wie viel da drin ist.«

Cery schob die Unterlippe vor. »Als würde ich einen Freund bestehlen.«

Sie lachte. »Nein, das würdest du nicht. Nur alle anderen.«

»Sonea!«, erklang eine Stimme.

Sie blickten auf. Lord Ahrind stand vor dem Novizenquartier und hielt offenkundig nach ihr Ausschau. Sonea erhob sich, und der Magier entdeckte sie. Er bedeutete ihr mit einer herrischen Geste, ins Haus zu kommen.

»Ich sollte jetzt besser gehen«, sagte sie.

Cery schüttelte den Kopf. »Es ist seltsam, zu hören, wie du sie ›Mylord‹ nennst und nach ihrer Pfeife tanzt.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Als würdest du nicht das Gleiche tun, wenn Faren dir etwas befiehlt. Ich weiß zumindest, dass in fünf Jahren ich diejenige sein werde, die alle anderen herumkommandiert.«

Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Cerys Gesicht. Er lächelte und scheuchte sie davon. »Geh nur. Geh zurück zu deinen Büchern. Ich werde versuchen, bald wieder vorbeizukommen.«

»Ich verlasse mich darauf.«

Widerstrebend machte sich Sonea auf den Weg zum Novizenquartier. Lord Ahrind beobachtete sie mit verschränkten Armen.

»Und sag diesem Jungen, dass ich ihm die Knochen brechen werde, wenn er dich nicht in Ruhe lässt«, rief Cery ihr nach, gerade laut genug, dass sie ihn hören konnte.

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um und grinste ihn an. »Ich werde es selbst tun, wenn er es zu weit treibt. Versehentlich natürlich.«

Er nickte anerkennend und winkte ihr zu. Als sie das Novizenquartier erreicht hatte und sich nach ihm umsah, stand er noch immer neben der Bank. Sie hob die Hand zum Gruß, und er machte eine flinke Geste, die Teil der Zeichensprache der Straße war. Sie lächelte, dann ließ sie sich von Lord Ahrind durch die Tür schieben.

13 Diebin!

Der Anblick des Himmels raubte Sonea schier den Atem. Er war von einem leuchtenden, blassen Blau, durchzogen von orangefarbenen Wolken. Und hinter Sarikas Hügel ging die Sonne auf.

Sie genoss diese frühen Stunden des Tages, da noch alles still und friedlich war. Jetzt, da der Winter nahte, wurde es jeden Tag ein wenig später hell, und heute konnte sie den Sonnenaufgang endlich einmal mit ansehen.

Als sie durch den Speisesaal ging, blinzelten ihr einige gähnende Diener zu, und einer von ihnen packte ihr wortlos ein wohlschmeckendes Brötchen ein. Die Diener hatten sich daran gewöhnt, dass sie zu allen Tageszeiten dort auftauchte. Vom Speisesaal aus ging sie weiter zu den Bädern. Dieses Gebäude war, wie sie bald herausgefunden hatte, das sicherste in der ganzen Gilde. Männer und Frauen wurden strikt voneinander getrennt, und weder Issle noch Bina hatten je versucht, sie dort zu stören. Außerdem hielt sich fast immer eine der Magierinnen dort auf, um zu baden, so dass sie verhältnismäßig sicher vor bösen Streichen war.

Regin hatte schnell begriffen, dass er seine neuen Klassenkameraden nicht beeindrucken konnte, indem er Sonea schikanierte. Wie sie gehofft hatte, war es ihm auch nicht gelungen, sie als getreue Gefolgsleute um sich zu scharen, und sein Versuch, sich mit Poril anzufreunden, war auf geradezu komische Weise gescheitert, da der Junge voller Angst und Ungläubigkeit vor ihm zurückgeprallt war.

Wenn die Novizen in der Mittagspause in den Speisesaal gingen, gesellte sich Regin stets zu seiner früheren Klasse. Wahrscheinlich wollte er seine alten Freunde nicht verlieren, nachdem es ihm in der neuen Klasse nicht gelungen war, andere Kameraden zu finden. Außerdem brauchten sie jetzt, da sie ihre Schikanen wieder aufgenommen hatten, Zeit, um ihre Schritte zu planen.

So wie die Dinge lagen, blieben ihnen nur die Stunden vor und nach dem Unterricht, um Sonea zu finden und zu quälen. Sie sorgte dafür, dass sie vor dem ersten Gongschlag nicht zu sehen war. Nach dem Unterricht lauerte Regins Bande ihr jedoch für gewöhnlich auf, und sie konnte wenig tun, um ihnen aus dem Weg zu gehen.

Obwohl ihre Klassenkameraden sich nicht an den Schikanen beteiligten, taten sie auch nichts, um ihr zu helfen. Und Poril war kein Hindernis für ihre Peiniger. Wann immer Regin ihr zusetzte, stand Poril nur bleich und zitternd daneben.

Manchmal gelang es ihr, den anderen ein Schnippchen zu schlagen, indem sie sich erbot, die Bücher eines Lehrers zu tragen, oder eine Frage stellte, deren Beantwortung den größten Teil des Weges aus der Universität heraus in Anspruch nahm. Sobald sich irgendeiner der Magier in den Fluren aufhielt, gelang es Sonea meistens zu entkommen. Manchmal holte Rothen sie nach dem Unterricht ab, aber in diesen Fällen musste sie am nächsten Tag stets den Hohn der anderen ertragen.

Im Novizenquartier ließ Regins Bande sie in Ruhe. Einmal waren sie in ihr Zimmer eingebrochen und hatten ihre Sachen durcheinander gebracht. Eine schnelle, mit Hilfe von Gedankenrede übermittelte Frage an Lord Ahrind, wie sie mit ungebetenen Gästen verfahren solle, hatte das Problem im Nu gelöst. Seither hatten sie nicht noch einmal versucht, in ihr Zimmer einzudringen - jedenfalls nicht, soweit sie es beurteilen konnte.

Sie hatte sich einen stabilen Handkoffer mit einem Tragegriff gekauft, um ihre Sachen darin zu verstauen, da sie es müde war, dass man ihr die Bücher aus den Händen schlug, ihre Notizen in Brand steckte und ihre Schreibfedern zerbrach. Und die Notwendigkeit, diesen Bücherkoffer mit Magie zu schützen, hatte noch einen zusätzlichen Vorteil: Sie verstand sich von Tag zu Tag besser darauf, einen Schild aufrechtzuerhalten.

Als sie aus dem Badehaus in die Universität zurückkehrte, hatte sich vor ihrem Klassenzimmer eine kleine Schar braun gewandeter Novizen versammelt, die die Köpfe zusammensteckten. Sonea wusste, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Etwa hundert Schritte entfernt stand ein Magier. War er nah genug, um möglichen Unfug zu bemerken? Wahrscheinlich.

So lautlos wie nur möglich näherte sich Sonea den Novizen. Als sie nur noch wenige Schritte vom Klassenzimmer entfernt war, drehte der Magier sich plötzlich um und ging die Treppe hinunter. Zur gleichen Zeit blickte Issle auf und entdeckte Sonea.

»Igitt!« Issles klare Stimme schallte durch den Flur. »Was ist das für ein Gestank?«

Regin folgte ihrem Blick und lächelte. »Das ist der Gestank der Hüttenviertel. Er wird stärker, je näher man ihm kommt.« Er trat vor Sonea hin und betrachtete ihren Bücherkoffer. »Vielleicht hat sie ja in ihrem neuen Koffer etwas, das stinkt, hm?«

Regin streckte die Hand nach dem Bücherkoffer aus, und Sonea wich zurück. In diesem Moment trat ein hoch gewachsener, schwarz gewandeter Mann aus dem Gang neben ihnen, und Regin erstarrte mitten in der Bewegung.

Sonea hatte sich zwar vor Regin in Sicherheit gebracht, war dadurch aber dem Magier praktisch vor die Füße gelaufen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Einzige war, die sich noch bewegte; alle anderen Novizen standen stocksteif da und starrten den Magier an.

Den schwarz gewandeten Magier. Den Hohen Lord.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie eine Stimme: Er ist es! Lauf! Sie stolperte hastig einige Schritte, um ihm aus dem Weg zu gehen. Nein, dachte sie dann, du darfst keine Aufmerksamkeit erregen. Verhalte dich so, wie er es von dir erwartet. Sie bemühte sich darum, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, dann verneigte sie sich respektvoll.

Er ging weiter, ohne sie auch nur anzusehen. Die anderen Novizen folgten ihrem Beispiel und verbeugten sich ebenfalls. Sonea beschloss, die Ablenkung zu nutzen, und schlüpfte an Regin vorbei ins Klassenzimmer.

Sofort entspannte sich die Situation. Die Novizen im Raum lümmelten sich auf ihren Stühlen, und Lord Vorel war so auf seine Arbeit an der Tafel konzentriert, dass er Soneas Verbeugung gar nicht bemerkte. Sie setzte sich neben Poril, schloss die Augen und stieß einen langen Seufzer aus.

In diesen wenigen Momenten, da alle anderen vor Überraschung praktisch erstarrt waren, hatte sie das Gefühl gehabt, als gäbe es auf der Welt nur sie und die dunkle Gestalt aus ihren Albträumen. Und sie hatte sich vor ihm verneigt. Sie blickte auf ihre Hände hinab, die noch immer den Griff ihres Bücherkoffers umklammert hielten. Sie verbeugte sich inzwischen so oft, dass sie sich kaum noch etwas dabei dachte. Aber dies war etwas anderes gewesen. Es machte sie wütend. Sie wusste, was er war, wozu er fähig war…

Plötzlich kratzten etliche Stühle über den Boden, und die Novizen um sie herum erhoben sich. Sonea folgte ihrem Beispiel. Die letzten Schüler waren inzwischen hereingekommen, und sie hatte nicht gehört, dass Lord Vorel die Klasse angesprochen hatte. Der Krieger deutete auf die Tür, und die Novizen gingen einer nach dem anderen hinaus. Verwirrt eilte Sonea hinter Poril her.

»Lass deine Bücher hier, Sonea«, sagte Vorel.

Sonea sah sich um und stellte fest, dass die anderen Novizen ihre Sachen ebenfalls zurückgelassen hatten. Widerstrebend ging sie noch einmal zu ihrem Pult und stellte ihren Bücherkoffer darauf, dann lief sie hinter ihren Klassenkameraden her.

Die Novizen tuschelten aufgeregt miteinander - alle bis auf Poril, der plötzlich krank aussah.

»Wohin gehen wir?«, flüsterte sie.

»In d-die Arena«, antwortete er mit zitternder Stimme.

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Die Arena. Bisher hatten die Lektionen in Kriegskunst ausschließlich aus Geschichtsunterricht und endlosen Anweisungen bestanden, wie man Barrieren schuf. Sämtliche Stunden hatten in den Klassenzimmern der Universität stattgefunden. Sonea hatte gewusst, dass man sie irgendwann in die Arena führen würde, wo sie die kämpferische Seite dieser Disziplin kennen lernen würden.

Ein seltsames Gefühl erfasste die Klasse, als sie die Treppen hinuntergingen und die Universität verließen. Vor fast einem Jahr hatte Rothen Sonea in die Arena mitgenommen, damit sie sich ein Bild von den Kriegskünsten machen konnte. Diese Demonstration war Teil seines Versuches gewesen, sie dazu zu überreden, der Gilde beizutreten. Seit jenem Tag war sie nie wieder in der Arena gewesen. Es war eine verstörende Erfahrung für sie gewesen, die Novizen dabei zu beobachten, wie sie einander Magie entgegenschleuderten. Das Geschehen hatte sie zu sehr an den Tag erinnert, an dem sie einen Stein nach den Magiern geworfen hatte. Und in der Folge hatten die Magier unbeabsichtigt den Jungen getötet, den sie für diesen Angriff verantwortlich machten…

Es war ein simples Versehen gewesen, aber es hatte dennoch einen unschuldigen Jungen in einen verkohlten Leichnam verwandelt. Die Lektionen, die sich um das Thema Sicherheit drehten, schienen den anderen Novizen leicht zu fallen, aber Sonea machten sie jedes Mal Angst. Die Frage, wie oft solche Missgeschicke sich ereignen mochten, ließ sie einfach nicht los.

Regin, Hal und Benon gingen mit sichtlichem Eifer durch den Garten voran. Die allgemeine Erregung schien selbst Narron und Trassia erfasst zu haben. Der Gedanke, sie könnten womöglich ein Mitglied eines der Häuser oder eine ranghohe Persönlichkeit aus einem anderen Land töten, würde sie vielleicht ernüchtern. Aber hätten sie auch Probleme mit der Vorstellung, ein ehemaliges Hüttenmädchen zu töten?

Als sie den flachen Bereich außerhalb der Arena erreichten, blickte Sonea zu den acht Türmen hinauf, die das Feld umstanden. Sie konnte eine schwache Vibration in der Luft spüren, die magische Barriere, die von den Türmen aus gespannt war. Den Sockel des Gebäudes bildete ein in den Boden eingelassener steinerner Kreis, der mit weißem Sand bedeckt war. Die Türme standen in regelmäßigen Abständen um diese Fläche herum. Von ihren Sockeln führten steinerne Stufen bis zur Höhe des Gartens empor. An einer Seite der Arena befand sich ein quadratisches Portal, das über eine kurze, unterirdische Treppe in die eigentliche Kampfbahn führte.

»Folgt mir«, befahl Lord Vorel, bevor er die Novizen durch das Portal in die Arena führte. »Stellt euch in einer Reihe auf.«

Die Novizen gehorchten, und Poril bildete das Schlusslicht der Reihe. Lord Vorel wartete, bis alle ihre Plätze eingenommen hatten, dann räusperte er sich.

»Dies ist eure erste Lektion in den grundlegenden Angriffstechniken. Es ist gleichzeitig das erste Mal, dass ihr Magie in voller Stärke benutzt. Aber seid gewarnt: Was ihr heute tut, ist gefährlich.« Während er sprach, musterte er jeden einzelnen der Novizen. »Bei diesen Übungen müssen wir alle größtmögliche Vorsicht walten lassen. Selbst in eurem Stadium der Ausbildung seid ihr durchaus imstande zu töten. Das dürft ihr niemals vergessen. Ich werde keinen Unsinn dulden. Jede Unachtsamkeit wird schwer bestraft werden.«

Ein Schaudern überlief Sonea. Ich hoffe, die Strafe ist schwer genug, um Regin klar zu machen, dass ein »Unfall« keine gute Idee wäre, um mich loszuwerden.

Plötzlich lächelte Vorel und rieb sich eifrig die Hände. »Ich werde euch die drei grundlegenden Techniken auf der untersten Stufe beibringen. Zuerst wollen wir sehen, zu welcher Art von Magie ihr instinktiv greifen würdet. Regin.«

Regin trat vor.

Lord Vorel ging einige Schritte zurück, bis er fast am Rand der Arena stand. Dann vollführte er eine schwungvolle Handbewegung. Eine leuchtende Scheibe halb sichtbarer Energie erschien vor ihm. Er trat beiseite und nickte Regin zu.

»Sammle deine Kraft, und wirf sie gegen diesen Schild.«

Regin streckte die Hand aus. Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen, dann zuckte ein Lichtblitz aus seinen Fingern und prallte gegen die Scheibe.

»Gut«, sagte Lord Vorel. »Ein Kraftschlag, aber du hast dabei noch sehr viel Energie auf Licht und Wärme vergeudet. Hal.«

Sonea starrte die leuchtende magische Scheibe an. Vorel benutzte vermutlich den Schild, um die Energien abzulenken, mit denen die Novizen ihn attackierten… aber vor ihrem inneren Auge entfaltete sich eine ganz andere Szene, und sie kämpfte mit Furcht und Übelkeit.

Wieder prallte ein Energiestrahl auf die Scheibe, diesmal in einem Blauton. Eine Erinnerung an Licht und Schreie durchzuckte Sonea.

»Ein Hitzeschlag«, sagte Vorel und erklärte dann die Unterschiede zwischen Kraftschlägen und Hitzeschlägen. Ein Teil ihres Verstandes verarbeitete diese Informationen, aber sie konnte sich noch immer nicht von den Erinnerungen losreißen…

Die Menge lief auseinander… ein geschwärzter Leichnam… der Geruch von verbranntem Fleisch

»Benon.«

Der kyralische Junge trat vor. Der Strahl, der aus seiner Hand sprang, war beinahe durchsichtig.

»Kraftschlag.« Vorel klang zufrieden. »Narron…«

Ein weiterer magischer Blitz versengte die Luft.

»Im Wesentlichen ein Kraftschlag, aber mit einer beträchtlichen Menge Wärme. Trassia…«

Flammen züngelten vor Soneas Augen empor.

»Feuerschlag.« Vorel klang verwundert. »Seno…«

Der Junge aus Vin musste sich lange konzentrieren, bevor ein Rinnsal aus Licht aus seiner Hand pulsierte. Der Strahl ging in die Irre und verfehlte die Scheibe. Als er an der Barriere der Arena abprallte, erfüllte ein Geräusch wie von berstendem Glas die Luft. Feine Energiefäden zogen sich bis über das Gelände der Arena hinaus. Sonea schluckte. Jetzt würde sie bald an die Reihe kommen. Sehr bald.

»Yalend.«

Der Junge neben ihr trat vor und attackierte die Scheibe, ohne zu zögern.

»Sonea…«

Sie starrte die magische Scheibe an, konnte aber nichts anderes sehen als einen Jungen, der ihren Blick erwiderte. Angstvoll und ohne zu begreifen, was geschah…

»Sonea?«

Sie holte tief Luft und drängte das Albtraumbild beiseite. Als ich mich dafür entschieden habe, der Gilde beizutreten, wusste ich, dass ich dies hier würde lernen müssen. Diese Kämpfe sind nur ein Spiel. Ein gefährliches Spiel, das man ersonnen hatte, damit die Kampfkünste nicht ausstarben, falls die Verbündeten Länder angegriffen werden sollten.

Lord Vorel machte einen Schritt auf sie zu, blieb jedoch stehen, als sie die Hand hob. Zum ersten Mal seit ihrem Kontrollunterricht griff sie ganz bewusst nach der Energie in ihrem Innern. Die anderen Novizen traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

Das Bild des Jungen kehrte zurück. Sie musste es durch etwas anderes ersetzen, oder sie würde tatsächlich die Nerven verlieren. Während Regin eine halblaute Bemerkung über Feiglinge machte, schob sich eine andere Gestalt in ihre Gedanken, und sie lächelte. Dann nahm sie all ihre Willenskraft zusammen und sandte einen Blitz des Zorns aus.

Neben dem Geräusch von splitterndem Glas wurde jetzt ein Fluch laut. Soneas Magen krampfte sich zusammen. Hatte sie die Scheibe verfehlt?

Lichtstrahlen kräuselten sich über den Türmen der Arena und lösten sich wieder auf. Die Scheibe war verschwunden. Verwirrt blickte Sonea zu Lord Vorel hinüber.

»Ich habe gesagt, dass ihr noch nicht all eure Stärke in den Schlag leben solltet, Sonea«, erklärte er. »Das war eine… eine Kombination aus… Feuerschlag und Kraftschlag - glaube ich.« Er wandte sich zu Poril um, der auf der Stelle erstarrte. »Ich werde das Ziel gleich ersetzen. Greif nicht an, bevor ich dir Bescheid gebe.«

Er schloss die Augen und schwieg eine Weile, dann holte er tief Luft und ließ die Scheibe von neuem erstehen.

»Jetzt du, Poril.«

Der Junge seufzte. Er hob die Hand und sandte einen fast unsichtbaren Strahl aus.

»Gut«, sagte Vorel nickend. »Ein Kraftschlag, aber ohne vergeudete Magie. Jetzt werdet ihr alle noch einmal angreifen, aber diesmal mit voller Kraft. Danach werdet ihr lernen, eure Schläge einem bestimmten Zweck entsprechend zu formen. Regin.«

Sonea beobachtete, wie die Novizen die Barriere angriffen. Es ließ sich nur schwer erkennen, ob die Schläge kräftiger waren als zuvor, aber Vorel schien zufrieden zu sein. Als die Reihe an Sonea kam, zögerte er kurz, dann zuckte er die Achseln.

»Nur zu. Mal sehen, ob du es noch einmal schaffst.«

Erheitert sammelte sie ihre Kraft und ließ sie frei. Die Scheibe hielt ihrem Angriff einen Moment lang stand, bevor sie zu zittern begann und schließlich verschwand. Weißes Licht schnellte empor und ergoss sich über die Barriere der Arena, so dass die Novizen unwillkürlich den Kopf einzogen. Ein lautes Klirren vibrierte in der Luft, dann senkte sich Stille herab.

Vorel betrachtete sie nachdenklich. »Zweifellos kommt dir dein Alter zugute«, bemerkte er beinahe zu sich selbst. »Geradeso wie Porils Erfahrung ihm die notwendige Kontrolle über seine Schläge gibt.« Wieder zog er die Barriere hoch. »Poril, zeig uns einen Kraftschlag.«

Einmal mehr war der Schlag des Jungen beinahe unsichtbar. Vorel deutete auf die Barriere.

»Wie ihr sehen - oder nicht sehen - konntet, ist Poril sehr sparsam mit seiner Kraft umgegangen und hat sie sehr wirkungsvoll eingesetzt. Es gab weder überschüssiges Licht noch überschüssige Wärme. Seine Wucht war ausschließlich auf das Ziel gerichtet und sonst nirgendwohin. Jetzt werdet ihr versuchen, eure Magie zu Kraftschlägen zu formen. Regin, du fängst an.«

Während der Unterricht weiterging, stellte Sonea überrascht fest, dass sie Gefallen daran fand. Es war eine Herausforderung, ihre Schläge in eine bestimmte Form zu bringen, aber sobald sie ein Gefühl für die Unterschiede entwickelt hatte, fiel es ihr leichter. Als Vorel die Klasse wieder zurück in den Unterrichtsraum führte, war sie beinahe enttäuscht.

Im Klassenzimmer wartete Lord Vorel, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann erklärte er: »In der nächsten Stunde werden wir uns wieder der Verbesserung eurer Schilde zuwenden.« Die Novizen ließen enttäuscht die Schultern sinken. »Was ihr heute gesehen habt, sollte euch klar machen, warum es so wichtig für euch ist zu lernen, wie ihr euch mit einem Schild schützen könnt«, fuhr er streng fort. »In der Zeit bis zur Mittagspause möchte ich, dass ihr eure heutigen Erfahrungen niederschreibt.«

Mehrere Novizen stöhnten leise. Während die anderen ihre Notizbücher hervorholten, griff Sonea nach ihrem Handkoffer und stellte fest, dass sie vor ihrem Aufbruch in die Arena vergessen hatte, ihn mit einem magischen Schloss zu sichern.

Kurz darauf stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Ihre Habe war unversehrt geblieben. Als sie jedoch ihre Mappe mit Notizen auf ihr Pult legte, glitt etwas zwischen den Seiten heraus und fiel mit einem metallischen Klirren zu Boden.

»Das ist meine Schreibfeder!« Narron starrte sie an. Stirnrunzelnd senkte sie den Blick und sah etwas Goldenes zu ihren Füßen liegen. Sie bückte sich und hob es auf.

Jemand zog ihr die Feder aus den Fingern. Lord Vorel war vor sie hingetreten. Jetzt wandte er sich zu Narron um.

»Ist das die Feder, von der du mir erzählt hast, sie sei verschwunden?«

»Ja.« Narron sah Sonea wütend an. »Sonea hatte sie in ihrem Koffer.«

Vorel drehte sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder zu Sonea um. »Woher hast du das?«

Sonea blickte auf den Bücherkoffer in ihren Händen. »Die Feder war hier drin«, sagte sie.

»Sie hat meine Feder gestohlen!«, rief Narron entrüstet.

»Das habe ich nicht getan!«, protestierte sie.

»Sonea, du kommst mit mir.«

Vorel machte auf dem Absatz kehrt und ging durch den Raum. Sonea sah ihm ungläubig nach, bis er sich mit finsterer Miene wieder zu ihr umdrehte.

»Sofort!«, blaffte er sie an.

Sonea schloss den Handkoffer, stand auf und folgte dem Magier zur Tür. Sie konnte die Blicke der übrigen Novizen in ihrem Rücken spüren. Sie glaubten doch nicht etwa, dass sie Narrons Feder gestohlen hatte - nicht, wenn es so offensichtlich war, dass Regin ihr abermals einen Streich gespielt hatte?

Als sie sich noch einmal zu der Klasse umdrehte, starrten ihre Kameraden sie argwöhnisch an. Poril hatte den Blick abgewandt. Gekränkt setzte sie ihren Weg fort.

Sie war das Hüttenmädchen. Das Mädchen, das zugegeben hatte, als Kind gestohlen zu haben. Die Außenseiterin. Eine Freundin der Diebe. Die anderen hatten beobachtet, wie Regin sie quälte, aber sie wussten nichts von den Notizen und den Büchern, die er gestohlen hatte, nichts von den zahlreichen anderen Gemeinheiten, die er ihr angetan hatte. Sie hatten keine Ahnung, wie schlau und entschlossen er war.

Es hatte keinen Sinn, Regin anzuklagen. Selbst wenn sie es gewagt und eine Wahrheitslesung riskiert hätte, hätte sie nicht beweisen können, dass er die Feder gestohlen hatte. Sie hatte nur ihre eigene Unschuld als Beweis, und eine Wahrheitslesung konnte sie nicht riskieren, denn es bestand die Gefahr, dass der Rektor ihr nicht gestatten würde, selbst den Magier auszusuchen, der sie dieser Prozedur unterzog. Und dann würde vielleicht noch jemand von dem Verbrechen des Hohen Lords erfahren.

An der Tür blieb Vorel stehen. »Narron, du kommst besser auch mit«, sagte er. »Ihr anderen widmet euch euren Notizen. Ich werde nicht vor der Mittagspause zurück sein.«


Als er das Büro des Rektors betrat, fiel Rothen sofort die Anspannung der dort Versammelten auf. Jerrik saß mit vor der Brust verschränkten Armen und grimmiger Miene an seinem Schreibtisch. Sonea hockte mit leerem Blick auf einem Stuhl. Ein zweiter Novize saß sehr aufrecht auf einem anderen Stuhl. Hinter ihm stand Lord Vorel, der Krieger, mit zornlodernden Augen.

»Worum geht es?«, fragte Rothen.

Jerrik runzelte die Stirn. »Bei Eurer Novizin wurde eine Schreibfeder gefunden, die ihrem Klassenkameraden Narron gehört.«

Rothen sah Sonea an, die seinen Blick jedoch nicht erwiderte.

»Ist das wahr, Sonea?«

»Ja.«

»Einzelheiten?«

»Ich habe meinen Bücherkoffer geöffnet und meine Notizen auf den Tisch gelegt, und die Feder ist herausgefallen.«

»Wie ist sie dort hineingekommen?«

Sie zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht.«

Jerrik hakte nach: »Du hast sie nicht hineingelegt?«

»Ich weiß nicht.«

»Was soll das heißen?«

»Ich weiß nicht, ob ich sie hineingelegt habe.«

Er runzelte die Stirn. »Wie kann man so etwas nicht wissen? Entweder du hast die Feder in deinen Koffer gelegt, oder du hast es nicht getan.«

Sie breitete die Hände aus. »Es ist möglich, dass die Feder bereits in meiner Mappe lag, als ich gestern Abend meine Notizen eingepackt habe.«

Jerrik schüttelte verärgert den Kopf. »Hast du Narrons Feder gestohlen?«

»Nicht mit Absicht.«

Da Rothen selbst schon ähnliche Gespräche mit Sonea geführt hatte, hätte er beinahe gelächelt. Dies war jedoch keine Zeit für Wortspiele. »Du behauptest also, dass du sie möglicherweise versehentlich gestohlen hast?«, fragte er nach.

»Wie kann man etwas versehentlich stehlen?«, rief Jerrik. »Diebstahl ist eine vorsätzliche Tat.«

Vorel schnaubte angewidert. »Sonea, wenn du es nicht leugnest, müssen wir davon ausgehen, dass du schuldig bist.«

Sie blickte zu dem Lehrer auf, und ihre Augen wurden plötzlich schmal. »Welche Rolle spielt das schon? Ihr habt Euch doch bereits entschieden. Nichts, was ich sage, wird daran etwas ändern.«

Für die Dauer mehrerer Herzschläge herrschte Schweigen im Raum, dann sah Rothen, wie Vorel die Röte ins Gesicht stieg, und er trat vor, um Sonea die Hand auf die Schulter zu legen.

»Warte draußen auf mich, Sonea.«

Sie verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

»Was soll ich davon halten?«, stieß Jerrik hervor. »Wenn sie unschuldig ist, warum weicht sie unseren Fragen dann aus?«

Rothen warf einen vielsagenden Blick auf Narron. Jerrik bemerkte es und nickte kurz. »Du darfst jetzt wieder in deine Klasse gehen, Narron.«

Der Junge erhob sich. »Kann ich meine Feder zurückhaben, Direktor?«

»Gewiss.« Jerrik nickte Vorel zu. Als Rothen die teure, goldene Schreibfeder sah, die der Lehrer dem Jungen übergab, zuckte er zusammen. Die Feder war wahrscheinlich ein Geschenk anlässlich der Aufnahme des Jungen in die Gilde gewesen.

Als Narron den Raum verlassen hatte, sah Jerrik Rothen erwartungsvoll an. »Was wolltet Ihr sagen, Lord Rothen?«

Rothen verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Seid Ihr Euch der Schikanen bewusst, denen Sonea von Seiten der anderen Novizen ausgesetzt war?«

Jerrik nickte.

»Habt Ihr den Anführer dieser Unruhestifter ausfindig gemacht?«

Die Mundwinkel des Rektors zuckten. »Wollt Ihr damit sagen, dass dieser Anführer den Diebstahl begangen hat?«

»Ich schlage Euch lediglich vor, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«

»Dazu würdet Ihr Beweise benötigen. Wie die Dinge liegen, haben wir lediglich eine Schreibfeder, die sich unrechtmäßig bei Soneas Sachen befunden hat. Sie weigert sich, den Diebstahl abzustreiten, und sie hat keine Anklage gegen Regin erhoben. Was soll ich davon halten?«

Rothen nickte verständnisvoll. »Ich denke, Sonea hätte gern Beweise für das Gegenteil in der Hand, aber wenn sie niemanden anklagt, dann dürfte das wohl nicht der Fall sein. Hätte es in dieser Situation auch nur den geringsten Sinn, ihre Unschuld zu beteuern?«

»Das beweist nicht, dass sie es nicht getan hat«, wandte Vorel ein.

»Nein, aber man hat mich gebeten, ihr Verhalten zu erklären, nicht, ihre Unschuld zu beweisen. Ich kann mich nur für ihren Charakter verbürgen. Ich glaube nicht, dass sie es getan hat.«

Vorel schnaubte, sagte jedoch nichts. Jerrik betrachtete beide Männer, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde über eure Worte nachdenken. Vielen Dank. Ihr dürft jetzt gehen.«

Sonea lehnte draußen an der Wand und starrte auf ihre Stiefel hinab. Vorel musterte sie mit schmalen Augen, ging aber wortlos an ihr vorbei. Rothen trat neben sie, lehnte sich ebenfalls an die Wand und stieß einen Seufzer aus.

»Es sieht nicht gut aus.«

»Ich weiß.« Ihr Tonfall klang resigniert.

»Du hast nichts von Regin gesagt?«

»Wie könnte ich?« Sie sah ihm fest in die Augen. »Selbst wenn ich Beweise hätte, könnte ich ihn nicht beschuldigen.«

»Warum nicht…?« Plötzlich wusste er die Antwort. Die Regeln der Gilde. Ein Ankläger musste sich einer Wahrheitslesung unterziehen. Das konnte Sonea nicht riskieren. In einem solchen Fall würden womöglich die ihnen anvertrauten Geheimnisse vor der Zeit bekannt werden. Mit einem Gefühl hilfloser Ohnmacht senkte Rothen den Blick zu Boden.

»Glaubt Ihr ihnen?«

Er sah auf. »Natürlich nicht.«

»Ihr habt nicht einmal den leisesten Zweifel?«

»Nicht einmal den leisesten.«

»Vielleicht solltet Ihr aber Zweifel haben«, erwiderte sie verbittert. »Alle anderen haben doch nur darauf gewartet, dass so etwas passiert. Es spielt keine Rolle, was ich sage oder tue. Sie wissen, dass ich früher gestohlen habe, deshalb denken sie, dass ich es wieder tun werde, ob ich nun einen Grund dazu habe oder nicht.«

»Sonea«, erwiderte er leise. »Was du sagst, macht sehr wohl einen Unterschied. Das weißt du. Nur weil du vor langer Zeit aus Not gestohlen hast, bedeutet das nicht, dass du es jetzt wieder tun würdest. Wenn du eine Art zwanghaften Drang zum Stehlen verspürtest, hätten wir inzwischen längst Beweise dafür. Du solltest den Diebstahl leugnen, selbst wenn du annimmst, dass niemand dir glauben wird.«

Sie nickte, aber er war keineswegs sicher, dass seine Worte sie überzeugt hatten. Als der Mittagsgong erklang, stieß Rothen sich von der Wand ab.

»Komm, ich lade dich zum Essen ein. Wir haben schon seit Wochen nicht mehr zusammen zu Mittag gegessen.«

Sie lächelte grimmig. »Ich schätze, dass ich im Speisesaal ohnehin für eine Weile nicht mehr willkommen sein werde.«

14 Schlechte Neuigkeiten

Einer nach dem anderen defilierten die Novizen an Lord Elbens Tisch vorbei, und jeder nahm sich einen Glaskrug. Da Sonea um die feindseligen Blicke wusste, mit denen die anderen sie bedenken würden, wenn sie sich zu ihnen gesellte, wartete sie ab. Zu ihrem Entsetzen war Regin der Letzte, der sich dem Tisch näherte. Als er sie sah, zögerte er kurz, dann machte er einen Schritt nach vorn und griff nach den beiden letzten Krügen. Lord Elben runzelte die Stirn, während Regin beide Krüge begutachtete, aber als der Lehrer den Mund öffnete, hielt Regin einen der Krüge Sonea hin.

»Hier.«

Sie wollte danach greifen, aber kurz bevor ihre Finger das Glas berührten, fiel es Regin aus der Hand und zersplitterte auf dem Boden.

»Oh, das tut mir aber Leid«, rief Regin. Er brachte sich vor den Glassplittern in Sicherheit. »Wie unbeholfen von mir.«

Lord Elben blickte über seine lange Nase hinweg zu Regin hinüber, dann zu Sonea. »Regin, such dir einen Diener, der das aufwischt. Sonea, du wirst bei dieser Lektion nur Beobachterin sein.«

Sonea kehrte, keineswegs überrascht, zu ihrem Platz zurück. Der »Diebstahl« von Narrons Schreibfeder hatte mehr verändert als nur die Meinung der Novizen über sie. Vor dem »Diebstahl« hätte Elben Regin befohlen, Sonea das letzte Glas zu geben, oder er hätte ihn weggeschickt, um einen neuen Krug zu holen.

Der »Diebstahl« hatte offensichtlich nur bestätigt, was die Novizen und die Lehrer bereits argwöhnten. Soneas offizielle Strafe bestand daran, dass sie jeden Abend für eine Stunde in der Novizenbibliothek Bücher in die Regale einzuräumen hatte, was sich als ein recht vergnügliches Unterfangen erwiesen hatte - jedenfalls, wenn Regin nicht irgendwo herumlungerte, um ihr die Arbeit zu erschweren. Die Strafe hatte bereits am letzten Vierttag geendet, aber nach wie vor behandelten Novizen und Lehrer sie mit Argwohn und Verachtung.

Die meiste Zeit wurde sie in der Klasse einfach ignoriert. Aber wenn sie einem anderen Novizen zu nahe kam oder es wagte, jemanden anzusprechen, bekam sie zur Antwort nur einen kalten Blick. Sie hatte nicht versucht, sich im Speisesaal wieder zu den anderen zu setzen. Stattdessen pflegte sie nun wieder ihre alte Gewohnheit, das Mittagessen ausfallen zu lassen oder es mit Rothen einzunehmen.

Nicht alles hatte sich jedoch zum Schlechteren gewendet. Jetzt, da sie wusste, dass ihre Kräfte so viel stärker waren als die der anderen Novizen, hatte sie neues Selbstbewusstsein erlangt. Sie brauchte ihre Stärke nicht für die Bewältigung der Lehrübungen zu schonen, wie man es den Novizen immer wieder einschärfte, und konnte sich ständig mit einem starken Schild umgeben, der sie vor Wurfgeschossen, Rippenstößen oder anderen Gemeinheiten schützte. Das bedeutete, dass sie mühelos an Regin und seinen Gefolgsleuten vorbeikam, wenn sie sie in den Fluren umstellten.

Ihre Zimmertür wurde durch einen eigenen Schild geschützt, und das Gleiche galt für ihr Fenster und ihren Bücherkoffer. Sie war es gewohnt, bei Tag und Nacht Magie zu benutzen, und doch war sie niemals müde oder geschwächt. Nicht einmal nach einer besonders kräftezehrenden Stunde in den Kriegskünsten.

Aber sie war allein. Seufzend blickte sie auf den leeren Stuhl vor sich. Poril hatte sich eine Woche zuvor beim Lernen die Hände verbrannt. Sie vermisste ihn, vor allem da es ihm offensichtlich gleichgültig war, dass man ihr angeblich einen Diebstahl nachgewiesen hatte.

»Lord Elben?«

Sonea hob den Kopf. In der Tür stand eine Frau in grüner Robe. Sie trat beiseite und stieß einen zierlichen Novizen mit sanfter Gewalt in den Raum. Sofort wurde Sonea ein wenig leichter ums Herz.

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es Poril wieder gut genug geht, um dem Unterricht beizuwohnen. Er wird immer noch nichts mit den Händen tun können, aber er kann zusehen.«

Porils Blick flog direkt zu Regin, dann wandte er sich hastig ab, verbeugte sich vor Lord Elben und eilte zu seinem Platz. Die Heilerin nickte dem Lehrer zu und verließ den Raum.

Während Elben der Klasse neue Anweisungen gab, blickte Sonea von Zeit zu Zeit zu ihrem Freund hinüber. Poril schien dem Unterricht keine Aufmerksamkeit zu schenken. Er saß nur steif da und betrachtete seine Hände, die von frischen, roten Narben überzogen waren. Als Stunden später der Mittagsgong erklang, wartete Poril, bis die übrigen Novizen gegangen waren, dann stand er hastig auf und eilte zur Tür hinüber.

»Poril«, rief sie ihm nach. Sie verbeugte sich hastig vor Elben und holte den Jungen mit wenigen Schritten ein. »Willkommen, Poril.« Als er sie ansah, lächelte sie. »Brauchst du Hilfe, um die Lektionen nachzuarbeiten?«

»Nein.« Er runzelte die Stirn und beschleunigte seinen Schritt.

»Poril?« Sonea hielt ihn am Arm fest. »Was ist los?«

Poril betrachtete zuerst sie, dann den Rest der Klasse weiter unten im Flur. Regin hatte sich ein wenig zurückfallen lassen und drehte sich jetzt nach ihnen um. Die Art, wie er lächelte, ließ Sonea frösteln.

Auch Poril schauderte. »Ich kann nicht mit dir reden. Ich kann nicht.« Er schüttelte ihre Hand ab.

»Aber…«

»Nein, lass mich in Ruhe.« Er wollte weitergehen, aber sie griff erneut nach seinem Arm und hielt ihn fest.

»Ich werde dich nicht in Ruhe lassen, bevor du mir erklärt hast, was hier los ist«, stieß sie hervor.

Er zögerte mit der Antwort. »Es ist Regin.«

Als sie Porils bleiches Gesicht sah, krampfte sich ihr Magen zusammen. Er blickte immer wieder zu den anderen Novizen hinüber, und sie wusste, dass er ihr nicht mehr darüber erzählen wollte. Er wollte nur weg von ihr. »Was hat er gesagt?«, bedrängte sie ihn.

Poril schluckte. »Er sagt, ich darf nicht mehr mit dir reden. Es tut mir Leid…«

»Und du wirst einfach tun, was er sagt?« Es war unfair, das wusste sie, aber inzwischen war heiße Wut in ihr aufgestiegen. »Warum hast du ihm nicht erklärt, er solle sich im Tarali ertränken?«

Poril hob seine vernarbten Hände. »Das habe ich ja getan.«

Soneas Wut verwandelte sich in Eis. Sie starrte Poril an. »Er war das?«

Porils Nicken war so schwach, dass sie es beinahe nicht bemerkt hätte. Sie blickte den Flur hinunter, aber die Klasse hatte bereits die Treppe erreicht und war außer Sicht.

»Das ist… Warum hast du es niemandem erzählt?«

»Ich kann es nicht beweisen.«

Eine Wahrheitslesung hätte es bewiesen. Hatte Poril genau wie sie ein Geheimnis, das er verborgen hielt? Oder machte ihm die Vorstellung, ein Magier könnte seine Gedanken lesen, solche Angst, dass er alles tun würde, um es zu vermeiden?

»Man kann ihm nicht durchgehen lassen, dass er dir die Hände verbrennt, nur weil du mein Freund bist«, knurrte sie. »Wenn er dich noch einmal bedroht, sag es mir. Ich werde… ich werde…«

»Was? Du kannst nichts tun, Sonea.« Er war rot geworden. »Es tut mir Leid, aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.« Er wandte sich ab und rannte den Flur hinunter.

Kopfschüttelnd folgte Sonea ihm in einigem Abstand. Als sie die Treppe erreichte, ging sie langsam hinunter. Unten angekommen hörte sie ein leises Dröhnen, das von der Großen Halle kam. Sie blinzelte überrascht.

Die Halle war voller Magier. Sie standen zu zweit oder in größeren Gruppen beisammen und unterhielten sich. Sonea blieb stehen und fragte sich, welcher Anlass so viele von ihnen hierher geführt haben mochte. Heute war kein Versammlungstag, daher musste es einen anderen Grund geben.

»Ich an deiner Stelle würde keine Aufmerksamkeit auf mich lenken«, erklang eine Stimme dicht an ihrem Ohr.

Sie drehte sich um. Regin starrte sie an.

»Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass sie eine Ratte übersehen haben«, sagte er, und in seinen Augen lag ein hämischer Glanz.

Sie wich vor ihm zurück; sie war zwar verwirrt, wusste aber gleichzeitig, dass sie gar nicht erfahren wollte, wovon er geredet hatte. Als er das Unverständnis in ihren Zügen sah, lachte er boshaft auf und trat einen Schritt auf sie zu.

»Oh, du kapierst es nicht, hm?« Sein Grinsen war hässlich. »Hattest es wohl vergessen? Heute ist für Abschaum wie dich der größte Festtag des Jahres. Der Tag der Säuberung.«

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Die Säuberung. Seit vor über dreißig Jahren die erste Säuberung stattgefunden hatte, sandte der König in jedem Jahr die Garde und die Gilde aus, um die Straßen der Stadt von »Vagabunden und Missetätern« zu reinigen. Der Zweck des Unternehmens, so behauptete jedenfalls der König, bestand darin, die Straßen sicherer zu machen, indem man schäbige kleine Diebe von dort wegschaffte. In Wahrheit stellte die Säuberung für die Diebe nicht einmal eine ernsthafte Unannehmlichkeit dar; sie hatten ihre eigenen Wege in die Stadt und wieder heraus. Nur die armen, obdachlosen Menschen wurden in die Hüttenviertel zurückgetrieben. Und, im Fall ihrer eigenen Familie vor einem Jahr, auch jene, die Räume in »überfüllten und gefährlichen« Bleibehäusern gemietet hatten. Sonea war an jenem Tag so wütend gewesen, dass sie sich einer Bande Jugendlicher angeschlossen hatte, die die Magier mit Steinen bewarfen, und bei dieser Gelegenheit waren zum ersten Mal ihre Kräfte entfesselt worden.

Regin lachte vor Wonne. Sonea kämpfte ihren Ärger nieder und zwang sich weiterzugehen. Regin versperrte ihr jedoch den Weg. Sein Gesicht war verzerrt von Triumph und grausamer Befriedigung, und Sonea war dankbar dafür, dass keine Novizen an der Säuberung teilnahmen. Dann dachte sie an die Zukunft und schauderte. Offensichtlich freute sich Regin schon auf den Tag, an dem er seine Kräfte nutzen konnte, um hilflose Bettler und notleidende Familien aus der Stadt zu vertreiben.

»Lauf nicht weg«, sagte Regin und deutete mit dem Kopf auf die Halle. »Möchtest du deinen Mentor nicht fragen, ob er sich gut amüsiert hat?«

Rothen? Er würde doch nicht… In der festen Überzeugung, dass Regin sich wieder einmal einen seiner bösen Scherze mit ihr erlaubte, drehte sie sich um. Sie ließ den Blick über die Gestalten in der Halle wandern und entdeckte in einer Gruppe ganz in ihrer Nähe ein vertrautes Gesicht. Rothen.

Plötzlich war ihr kalt. Wie konnte er sich an der Säuberung beteiligen, obwohl er doch wusste, wie sie dazu stand? Aber andererseits konnte er sich dem Befehl des Königs nicht widersetzen…

Oh doch, das konnte er! Nicht alle Magier beteiligen sich an der Säuberung. Er hätte einen anderen an seiner Stelle schicken können!

Als hätte er ihren Blick gespürt, sah Rothen jetzt in ihre Richtung. Als er Regin an ihrer Seite bemerkte, runzelte er die Stirn.

Regin kicherte. Plötzlich hatte Sonea nur noch den Wunsch fortzukommen. Sie drehte sich um und ging an Regin vorbei hinaus ins Freie. Regin folgte ihr und verhöhnte sie, bis sie die Magierquartiere erreicht hatten und er endlich von ihr abließ. In Rothens Quartier angekommen, stellte sie erleichtert fest, dass niemand dort war. Sie wollte auch Tania im Moment nicht sehen, weil sie befürchtete, sie würde die Dienerin vielleicht aus purer Verärgerung ungerecht anfahren.

Kurze Zeit später wurde jedoch die Tür geöffnet.

»Sonea.«

Rothen betrachtete sie mit entschuldigender Miene. Sie antwortete nicht, sondern trat ans Fenster und starrte hinaus.

»Es tut mir Leid, ich weiß, dass dir das wie ein Verrat vorkommen muss«, sagte er. »Ich wollte dir erzählen, dass ich mit den anderen in die Stadt fahren würde. Aber ich habe es immer wieder hinausgeschoben, und ich habe erst heute Morgen in aller Frühe erfahren, dass die Säuberung an diesem Tag stattfinden sollte.«

»Ihr hättet es nicht tun müssen«, sagte sie. Ihre Stimme klang wie die einer Fremden, dunkel vor Zorn.

»Oh doch, ich musste es tun«, widersprach er.

»Nein, das ist nicht wahr. Ihr hättet einen anderen an Eurer Stelle hinschicken können.«

»Das stimmt«, pflichtete er ihr bei. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich in die Stadt musste.« Er kam näher, und seine Stimme klang tief und sanft. »Sonea, ich musste hingehen, um dafür zu sorgen, dass keine Fehler gemacht werden. Wenn ich nicht hingegangen wäre, und es wäre etwas passiert…« Er seufzte. »Wir waren diesmal alle sehr befangen. Es mag schwer zu glauben sein, aber die Ereignisse des vergangenen Jahres haben das Selbstvertrauen der Gilde schwer erschüttert. Ob es nun an der Angst lag, abermals Fehler zu machen, oder« - er kicherte - »an der Befürchtung, auf einen weiteren Hüttenbewohner mit magischem Potenzial zu stoßen, spielt keine Rolle. Die Gilde brauchte jemanden, der die Dinge im Auge behielt.«

Sonea senkte den Blick. Das klang vernünftig. Ihre Wut verrauchte. Seufzend drehte sie sich zu Rothen um und brachte ein Nicken zustande. Er lächelte hoffnungsvoll.

»Verzeihst du mir?«

»Das muss ich wohl«, antwortete sie widerstrebend. Ihr Blick fiel auf den Tisch, wo Tania wohlschmeckendes Brot und andere kalte Speisen hingestellt hatte.

»Komm, lass uns etwas essen«, sagte Rothen.

Sonea nahm die Einladung an.


Die Kutsche der Gilde fuhr vor einem schlichten, zweistöckigen Gebäude vor. Als Lorlen ausstieg, schenkte er den verblüfften Blicken der Passanten auf der Straße keine Beachtung, sondern ging unverzüglich auf den Eingang der Ersten Stadtwache zu. Ein Diener öffnete ihm die Tür.

Der Raum, in dem er sich kurz darauf wiederfand, war geschmackvoll, wenn auch nicht allzu kostspielig eingerichtet. An den Wänden standen bequeme Sessel, und die Atmosphäre erinnerte Lorlen an den Abendsaal in der Gilde. Durch einen Flur, der von der Halle abzweigte, gelangte man in die übrigen Teile des Gebäudes.

»Administrator.«

Derrils Sohn hatte sich bei Lorlens Eintritt aus einem der Sessel erhoben.

»Hauptmann Barran. Meinen Glückwunsch zu Eurem neuen Rang.«

Der junge Mann lächelte. »Vielen Dank, Administrator.« Er deutete auf den Flur. »Begleitet mich in mein Büro, dann werde ich Euch die jüngsten Neuigkeiten erzählen.«

Barran führte Lorlen zu einer Tür am Ende des Ganges. Dahinter lag ein kleiner, aber behaglicher Raum, in dessen Mitte ein Schreibtisch stand. Barran bedeutete Lorlen, auf einem von zwei Stühlen Platz zu nehmen, dann setzte er sich auf den anderen.

»Euer Vater sagte, Ihr hättet Eure Meinung über die Frau, von der wir gesprochen haben, geändert«, begann Lorlen. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, denkt Ihr jetzt, es sei Mord gewesen.«

»Ja«, antwortete Barran. »Es hat mehrere weitere scheinbare Selbstmorde gegeben, die diesem zu ähnlich waren. In jedem dieser Fälle war die Waffe verschwunden, und wir haben Spuren eines Eindringlings gefunden. Auf den Wunden sämtlicher Opfer waren Hand- oder Fingerabdrücke zu sehen. Das kann kein Zufall sein. Diese Selbstmorde haben etwa einen Monat nach dem Ende der Ritualmorde begonnen, beinahe so, als sei dem Mörder bewusst geworden, dass er Aufmerksamkeit erregte. Deshalb hat er, so glauben wir, seine Methoden geändert, um den Eindruck zu erwecken, es handle sich um Selbstmorde.«

Lorlen nickte. »Oder wir haben es mit einem neuen Mörder zu tun.«

»Möglicherweise.« Barran zögerte. »Da ist noch etwas, obwohl es mit unserem Fall vielleicht nichts zu tun hat. Ich habe meinen Vorgänger gefragt, ob er so etwas Seltsames schon einmal erlebt habe. Er hat mir erzählt, dass es während der letzten vier oder fünf Jahre immer wieder Mordserien in der Stadt gegeben habe.« Er lachte leise. »Seiner Meinung nach ist das lediglich der Preis, den wir für das Leben in Städten zahlen.«

Ein kalter Schauer überlief Lorlen. Akkarin war vor gut fünf Jahren von seiner Reise zurückgekehrt. »Und vor dieser Zeit ist nichts dergleichen vorgefallen?«

»Ich glaube nicht. Anderenfalls hätte er mir sicher davon erzählt.«

»Also waren die Morde damals den heutigen ähnlich?«

»Nur insofern, als sie für eine Weile einem bestimmten Muster folgten und dann ein anderes Muster annahmen. Mein Vorgänger hatte anfangs den Verdacht, dass einer der Diebe sich auf diese Weise seiner Rivalen zu entledigen versuchte. Aber die Opfer schienen weder untereinander eine Verbindung zu haben noch zu den Dieben. Dann zog er die Möglichkeit in Erwägung, es könne sich um einen Assassinen handeln, der sich mit leicht erkennbaren Taten einen Ruf aufzubauen versuchte. Allerdings hatten nur wenige der Opfer Schulden, und es gab auch sonst keine nahe liegenden Gründe für ihre Ermordung. Mein Vorgänger konnte keinen gemeinsamen Nenner für die Taten entdecken, ebenso wenig wie ich es heute vermag.«

»Nicht einmal simplen Diebstahl?«

Barran schüttelte den Kopf. »Einige der Opfer sind ausgeraubt worden, aber keineswegs alle.«

»Zeugen?«

»Von Zeit zu Zeit. Ihre Beschreibungen weichen allerdings voneinander ab. Nur in einem Punkt sind sich alle einig.« Barrans Augen blitzten auf. »Der Mörder trägt einen Ring mit einem großen, roten Edelstein.«

»Wirklich?« Lorlen runzelte die Stirn. Hatte er Akkarin jemals mit einem Ring gesehen? Nein. Akkarin trug keinen Schmuck. Was allerdings nicht bedeutete, dass er sich nicht einen Ring an den Finger stecken konnte, wenn er außer Sicht war. Aber warum sollte er das tun?

Lorlen seufzte und schüttelte den Kopf. »Gab es irgendwelche Anzeichen dafür, dass die Opfer durch Magie getötet wurden?«

Barran lächelte. »Vater fände diese Idee gewiss ausgesprochen faszinierend, aber nein. Ein Teil der Morde hatte einige eigenartige Aspekte, aber wir haben keine Spuren von magischen Schlägen oder etwas anderem entdeckt, für das sich keine gewöhnliche Erklärung hätte finden lassen.«

Natürlich hätte ein Mord durch schwarze Magie keine Spuren hinterlassen, die Barran hätte erkennen können. Lorlen war sich nicht einmal sicher, ob ein Magier die Anzeichen hätte erkennen können. Trotzdem sollte er versuchen, so viel wie möglich über die Geschehnisse in Erfahrung zu bringen.

»Was könnt Ihr mir sonst noch erzählen?«

»Wollt Ihr eine genaue Beschreibung sämtlicher Mordfälle haben?«

»Ja.«

Barran deutete auf einen großen Schrank mit zahllosen Schubfächern, der eine Wand des Raums ausfüllte. »Ich habe alle Unterlagen über merkwürdige Serienmorde hierher bringen lassen. Das ist eine Menge Material.«

Lorlen musterte die Schubladen mit einiger Beklemmung. So viele…

»Und wenn Ihr mir zunächst einmal die Unterlagen über die neueren Fälle heraussuchen würdet?«

Barran nickte, stand auf und nahm aus einer der Schubladen eine große Mappe. »Es ist gut zu wissen, dass die Gilde bereit ist, sich mit solchen Dingen zu befassen«, sagte er.

Lorlen lächelte. »Mein Interesse ist größtenteils persönlicher Natur, aber wenn es etwas gibt, was die Gilde tun kann, gebt mir Bescheid. Ansonsten bin ich davon überzeugt, dass die Nachforschungen in den Händen des fähigsten Mannes von Imardin ruhen.«

Barran lächelte schief. »Das hoffe ich, Administrator. Das hoffe ich sehr.«


Über dem gewölbten Schild der Arena zogen dunkelgraue Wolken in Richtung Nordviertel. Die Bäume in den Gärten bogen sich im Wind. Die Zweige waren mit dem nahenden Winter fast schwarz geworden, aber die letzten verbliebenen Blätter, die sich gehalten hatten, leuchteten noch rot und gelb.

In der Arena regte sich kein Luftzug. Der Schild schützte sie vor dem Wind, aber nicht vor der Kälte. Sonea widerstand dem Drang, die Arme um sich zu schlingen und sich fester in ihre wollenen Untergewänder zu hüllen. Lord Vorel hatte ihnen befohlen, alle Schilde sinken zu lassen, einschließlich der Wärmeschilde.

»Behaltet folgende Gesetze der Magie im Kopf«, rief er. »Erstens: Bei einem Angriff erfordert der Schild zur Abwehr eines Schlages mehr Energie als der Schlag, mit dem er attackiert wird. Zweitens: Ein nicht geradlinig geführter Schlag kostet mehr Energie als ein geradliniger. Drittens: Licht und Wärme bewegen sich schneller und müheloser als Kraft, daher erfordert ein Kraftschlag mehr Energie als ein Feuerschlag.«

Lord Vorel stand breitbeinig und mit ausgestreckten Armen vor der Klasse. Jetzt sah er Sonea an.

»Schläge sind einfach. Deswegen geschieht es so häufig, dass Magier dabei übertreiben. Auch das ist ein Grund, warum die Errichtung von Schilden die wichtigste Fähigkeit für einen Krieger ist und warum Novizen den größten Teil ihrer Zeit auf diese Kunst verwenden. Denkt an die Regeln der Arena. Sobald euer äußerer Schild gefallen ist, habt ihr den Kampf verloren. Einen weiteren Beweis benötigen wir nicht.«

Sonea schauderte und wusste, dass die Kälte nicht allein daran schuld war. Dies sollte die erste Lektion sein, in der die Novizen gegeneinander kämpfen würden. Alle Warnungen Vorels gingen ihr noch einmal durch den Kopf, während sie die Gesichter der anderen Novizen betrachtete.

Die meisten Gesichter waren gerötet und voller Erregung, nur Poril war schneeweiß. Da sie und Poril bei Übungen in der Klasse stets ein Paar gebildet hatten, würde Lord Vorel sie wahrscheinlich gegeneinander antreten lassen. Sonea beschloss, es ihrem früheren Freund nicht allzu schwer zu machen.

»Zunächst einmal werde ich euch eurer Stärke entsprechend zu Paaren zusammenstellen«, fuhr Vorel fort. »Regin, du wirst gegen Sonea kämpfen. Benon, du kämpfst gegen Yalend. Narron, deine Partnerin ist Trassia. Hal, Seno und Poril werden sich abwechseln.«

Sonea spürte, wie sich das Blut in ihren Adern in Eis verwandelte. Er lässt mich gegen Regin antreten! Aber diese Regelung war durchaus vernünftig. Sie waren die beiden stärksten Novizen in der Klasse. Plötzlich wünschte sie, sie hätte dies kommen sehen und so getan, als sei sie schwächer als Regin.

Nein. Das darf ich nicht einmal denken. Vorel hatte ihnen viele Male erklärt, dass ein Kampf bereits verloren sei, wenn ein Magier ihn in der Überzeugung begann, dass er ohnehin eine Niederlage erleiden werde. Ich werde Regin besiegen, nahm sie sich vor. Ich bin stärker als er. Das wird meine Rache für Porils Verletzungen sein.

Es war nicht leicht, an dieser Entschlossenheit festzuhalten, als Lord Vorel sie jetzt nach vorn rief, damit sie neben Regin Aufstellung nahm. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie spürte, wie seine Magie sie umringte, als er einen inneren Schild hochzog. Ein zweiter Krieger, Lord Makin, wob einen Schild um Regin.

»Die anderen verlassen jetzt die Arena«, befahl er. Als die Novizen sich gehorsam in den Gang zurückzogen, zwang sich Sonea dazu, Regins Blick zu erwidern. Seine Augen leuchteten, und seine Mundwinkel hatten sich zu einem verschlagenen Lächeln verzogen.

»Also«, sagte Vorel, während die Novizen auf den Stufen außerhalb der Arena Platz nahmen. »Nehmt eure Positionen ein.«

Sonea schluckte und ging auf die eine Seite der Arena hinüber. Regin schlenderte auf die andere Seite und drehte sich dann zu ihr um. Vorel und Makin zogen sich an den Rand des Kampffeldes zurück, und Sonea konnte die Schilde wahrnehmen, die sie um sich herum hochzogen. Ihr Herz hämmerte.

Vorel sah zuerst sie an, dann Regin, bevor er eine knappe Handbewegung machte. »Fangt an.«

Sonea riss einen starken Schild hoch und wappnete sich gegen das Kommende, aber der Ansturm von Schlägen, den sie erwartet hatte, blieb aus. Regin hatte sein Gewicht auf ein Bein verlagert und die Arme vor der Brust verschränkt. Er wartete.

Sonea kniff die Augen zusammen. Der erste Schlag war, so hatte sie gelernt, besonders bedeutsam, denn er ließ auf den Charakter des Kämpfers schließen. Als sie nun genauer hinsah, stellte sie fest, dass Regin nicht einmal einen Schild um sich herum gewoben hatte. Er verlagerte sein Gewicht, trommelte mit den Fingern einer Hand auf seinen Arm und tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. Dann sah er den Lehrer fragend an.

Sonea riskierte einen Blick auf Lord Vorel. Der Krieger beobachtete sie aufmerksam, anscheinend vollkommen ungerührt über den Mangel an kämpferischen Aktivitäten.

Schließlich seufzte Regin so laut, dass selbst die Novizen außerhalb der Arena es hören konnten. Dann gähnte er. Sonea unterdrückte ein Lächeln. In diesem Kampf ging es nicht um Magie, es ging um die Frage, wer als Erster die Geduld verlor.

Sie stemmte die Hände in die Hüften, musterte die Novizen und machte sich nicht länger die Mühe, Regin zu beobachten. Einige ihrer Mitschüler wirkten angespannt, andere verwirrt oder gelangweilt. Sonea sah wieder zu dem Lehrer hinüber. Lord Vorel musterte sie kalt.

Vielleicht konnte sie Regin mit einer List dazu bringen, als Erster zuzuschlagen. Wenn ich meinen Schild sinken lasse, dann wird er vielleicht

Vorsichtig ließ sie ihre schützende äußere Barriere los. Im nächsten Moment war die Welt um sie herum ein einziges Meer aus weißem Feuer. Der Schild, den sie hastig hochriss, um die Schläge abzuwehren, hielt nur wenige Sekunden, dann schwankte er und brach in sich zusammen. Hitze kribbelte auf ihrer Haut, wo Regins Magie auf Vorels inneren Schild gestoßen war.

»Halt!«

Die Schläge brachen ab und hinterließen dunkle Flecken vor Soneas Augen. Blinzelnd beobachtete sie, wie Lord Vorel herbeikam und sich in die Mitte der Arena stellte.

»Regin ist der Sieger«, erklärte er. Schwacher Applaus kam von den übrigen Novizen. Sonea schoss die Röte ins Gesicht, als Regin sich anmutig verbeugte.

»Sonea.« Lord Vorel wandte sich zu ihr um. »Es ist nicht ratsam, deinen Schild sinken zu lassen, es sei denn, du hast die Fähigkeit, ihn sehr schnell wieder hochzuziehen. Wenn du diese Strategie noch einmal anwenden willst, solltest du vorher deine Verteidigung üben. Ihr dürft jetzt beide gehen. Benon und Yalend, ihr seid die Nächsten.«

Sonea verneigte sich und eilte so schnell wie möglich auf das Portal zu. Voller düsterer Gedanken trat sie in den Gang. Das war nur der erste Kampf, sagte sie sich. Sie konnte nicht erwarten, jedes Mal zu siegen, vor allem nicht gegen Regin, dessen Mentor schließlich ein Krieger war.

Wenn sie auch in Zukunft immer aufgrund ihrer Stärke zu Paaren zusammengestellt wurden, würde sie jedes Mal gegen Regin antreten müssen. Es hatte sich schon jetzt herausgestellt, dass Regin die Kriegskunst von allen Disziplinen am meisten zusagte, und Sonea hatte Hal darüber reden hören, dass Regin Privatstunden nahm. Da sie selbst kein Verlangen danach verspürte, Kriegerin zu werden oder zusätzliche Stunden zu nehmen, war sie davon überzeugt, dass er immer besser abschneiden würde als sie.

Aber Vorel hatte gesagt, dass sie zunächst einen etwa gleich starken Gegner bekommen würden. Wenn später Geschick und Talent im Kampf den Ausschlag gaben und sich herausstellte, dass sie Regin unterlegen war, würde Vorel sie gegen einen der anderen Novizen antreten lassen.

Das bedeutete, dass ihr zwei Möglichkeiten blieben: Sie konnte versuchen, ihre Sache gut zu machen und würde am Ende jedes Mal gegen Regin kämpfen müssen; oder sie gab sich keine Mühe mehr, um ihm auf diese Weise auszuweichen.

Seufzend stieg Sonea die Treppe hinauf und gesellte sich zu den Novizen, die von dort aus das Geschehen verfolgten. Wie sie sich auch entschied, ihr standen wahrscheinlich noch viele weitere demütigende Niederlagen bevor. Sehnsüchtig dachte sie an den Dom, den alten, kuppelförmigen Steinbau neben den Novizenquartieren. Vor der Erbauung der Arena hatten die Novizen dort trainiert. Die dicken Mauern hatten Zuschauer vor fehlgegangenen Schlägen der Kämpfer im Innern geschützt und gleichzeitig das Publikum auf die anwesenden Lehrer und Schüler beschränkt. Obwohl es ein luftloser, stickiger Raum war, hatte er zumindest eine gewisse Ungestörtheit geboten.

Während Benon und Yalend gegeneinander kämpften, verlor Sonea schnell das Interesse an dem Schauspiel. Sie konnte sich nicht vorstellen, inwiefern diese Unterrichtsstunden mit all ihren Regeln Magier auf einen echten Krieg vorbereiten sollten. Nein, diese Krieger verwandten ihr ganzes Leben auf gefährliche Spielereien, während sie ihre Magie für bessere Dinge hätten nutzen können - wie zum Beispiel die Heilkunst.

Sie schüttelte den Kopf. Wenn für sie die Zeit kam, eine Disziplin zu wählen, wusste sie, dass sie gewiss nicht die rote Robe ergreifen würde.

15 Ein Überraschungsangriff

Kaum hatte Sonea das Klassenzimmer betreten, spürte sie eine Veränderung, wie einen fremden Strom von Magie in der Luft. Zögernd blieb sie in der Tür stehen, und ihre Erleichterung darüber, dass sie Regins Bande entkommen war, löste sich in nichts auf.

Lord Kiano blickte auf und wandte sich ihr sogleich zu, so als sei er dankbar für die Ablenkung.

»Heute wird kein Unterricht stattfinden, Sonea.«

Sie sah den Lehrer überrascht an.

»Kein Unterricht, Mylord?«

Kiano zögerte. Ein Zischen lenkte Soneas Aufmerksamkeit auf die Mitte des Raumes. Nur vier Novizen hatten sich dort versammelt. Benon hatte den Kopf in die Hände gestützt. Trassia und Narron hatten ihre Stühle neben seinen gerückt. Regin saß schweigend hinter ihnen, und ausnahmsweise einmal lag in seinen Augen ein mutloser Ausdruck. Trassia starrte Sonea anklagend an.

»Ein Novize ist gestorben«, erklärte Kiano. »Shern.«

Sonea runzelte die Stirn und dachte an den Novizen aus der Sommerklasse, dessen Kräfte sich so eigenartig angefühlt hatten. Gestorben? Fragen schossen ihr durch den Kopf. Wie? Wann?

»Ach, geh doch einfach weg«, stieß Trassia hervor. Verblüfft über den Ausbruch des Mädchens, wandte Sonea sich zu ihr um.

»Er war Benons Vetter«, erklärte Kiano ihr leise.

Trassia funkelte sie wütend an. Langsam begriff sie. Durch ihre Frage, warum der Unterricht abgesagt worden sei, war Lord Kiano gezwungen gewesen, in Benons Gegenwart von Sherns Tod zu sprechen. Sonea spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Als Narron sie mit finsterer Miene musterte, wandte sie sich um und stürzte aus dem Raum.

Sie war erst wenige Schritte gelaufen, als Wut in ihr aufstieg. Wie hätte sie wissen können, dass Shern tot war oder dass Benon sein Vetter war? Die Frage, warum der Unterricht ausfiel, war vollkommen vernünftig gewesen.

Oder etwa nicht?

Ihre Gedanken kehrten zu Shern zurück. Als sie ihre Gefühle erforschte, konnte sie nicht mehr als eine leichte Traurigkeit finden. Shern hatte niemals mit ihr gesprochen, und auch mit sonst niemandem. Tatsächlich hatte die ganze Sommerklasse ihn während der wenigen Wochen, die er an der Universität verbracht hatte, einfach ignoriert.

Als sie das Ende der Treppe erreicht hatte, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass Rothen ihr entgegenkam.

»Da bist du ja«, sagte er. »Hast du es schon gehört?«

»Der Unterricht fällt aus.«

»Ja.« Er nickte. »So wird es immer gehandhabt, wenn etwas Derartiges geschieht. Ich habe dich in deinem Zimmer gesucht, aber du warst nicht dort. Komm, lass uns etwas Heißes trinken gehen.«

Schweigend begleitete Sonea ihn. Sie fand es bemerkenswert, dass die Gilde wegen des Todes eines Novizen, der kaum mehr als wenige Wochen dort verbracht hatte, die Universität schloss. Aber da abgesehen von ihr alle Novizen aus den Häusern stammten, war der Junge wahrscheinlich mit mehreren Novizen und Magiern verwandt gewesen.

»Shern war in deiner ersten Klasse, nicht wahr?«, fragte Rothen, als sie sein Quartier betraten.

»Ja.« Sonea zögerte. »Darf ich fragen, was ihm zugestoßen ist?«

»Natürlich.« Rothen nahm eine Kanne und zwei Tassen von einem Tisch, dann holte er zwei Krüge aus einem Schrank. »Ich habe dir einmal davon erzählt, dass ein Magier bei seinem Tod die Kontrolle über seine Kräfte verliert. Erinnerst du dich daran?«

»Alle ungenutzte Magie wird freigesetzt und verzehrt den Körper.«

Rothen nickte. Er stellte die Tassen und Krüge ab. »Shern hat die Kontrolle über seine Magie verloren.«

Ein kalter Schauer überlief Sonea. »Aber er hat die Zweite Stufe gemeistert.«

»Das hat er, allerdings nicht zur Gänze. Sein Geist war nie stabil genug.« Rothen schüttelte den Kopf. »So etwas ist sehr selten, aber es kommt bisweilen vor. Verstehst du, wenn man bei Kindern magisches Potenzial entdeckt, prüfen wir sie auch auf Probleme wie dieses. Manchmal haben sie einfach nicht die geistige Kraft oder Stabilität, um Magie zu kontrollieren.«

»Ich verstehe«, sagte Sonea nickend. Rothen füllte die Kanne mit Wasser und fügte einige Sumi-Blätter aus einem der Krüge hinzu. Sonea griff nach dem anderen Krug, mischte ein wenig Raka-Pulver mit Wasser und erhitzte das Ganze mit Magie.

»Bedauerlicherweise entwickeln manche Menschen eine solche geistige Instabilität erst, wenn sie älter werden«, fuhr Rothen fort, »oder wenn man ihre Magie freisetzt. Aber dann ist es zu spät. Früher oder später verlieren sie die Kontrolle, die man sie gelehrt hat - im Allgemeinen während der ersten Jahre. Shern hat vor einigen Monaten erste Anzeichen von Instabilität gezeigt. Die Gilde hat ihn aus der Stadt fortgeholt und in ein Haus gebracht, das wir eigens für solche Novizen erbaut haben. Wir versuchen, ihnen ein ruhiges, glückliches Leben zu ermöglichen, und sie werden von Heilern behandelt, die mit dem Problem wohlvertraut sind. Aber niemand hat je ein Heilmittel dafür gefunden, und selbst wenn wir ihre Kräfte blockieren, geht es meist nicht lange gut.«

Sonea schauderte. »Als ich ihn das erste Mal sah, fand ich seine Aura merkwürdig.«

Rothen runzelte die Stirn. »Du hast die Instabilität schon so früh gespürt? Niemand sonst hat etwas davon bemerkt. Das muss ich unbedingt dem Direktor…«

»Nein!«, rief Sonea. Wenn Rothen irgendjemandem erzählte, dass sie Sherns Problem gespürt hatte, hätten die Novizen noch etwas, an dem sie ihr die Schuld geben konnten. »Tut das nicht. Bitte.«

Rothen betrachtete sie nachdenklich. »Niemand wird es dir verübeln, dass du nichts gesagt hast. Du konntest unmöglich wissen, was du gespürt hast.«

Sie hielt seinem Blick stand. Rothen seufzte. »Na gut. Jetzt spielt es wahrscheinlich ohnehin keine Rolle mehr.« Er legte die Hände um die Kanne. Sofort stieg Dampf aus der Tülle auf. »Was empfindest du, wenn du an Shern denkst, Sonea?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe ihn nicht gekannt.« Dann erzählte sie Rothen, was geschehen war, als sie kurz zuvor das Klassenzimmer betreten hatte. »Es war so, als sei das alles meine Schuld.«

Stirnrunzelnd schenkte sich Rothen eine Tasse von dem frisch aufgebrühten Sumi ein. »Sie haben dich wahrscheinlich nur deshalb so angefahren, weil du in einem ungünstigen Augenblick aufgetaucht bist. Mach dir keine Gedanken deswegen. Bis morgen haben sie es sicher vergessen.«

»Was soll ich mit dem heutigen Tag anfangen?«, überlegte sie laut.

Rothen hielt kurz inne, um an seinem Sumi zu nippen, dann lächelte er. »Ich dachte, wir könnten vielleicht Pläne für Dorriens Besuch schmieden.«


Der Kapitän der Anyi war hocherfreut gewesen, als Dannyl ihn gefragt hatte, ob sein Ziel die Inseln von Vin seien. Zuerst hatte Dannyl angenommen, der Mann brenne darauf, in seine Heimat zurückzukehren, aber als der Kapitän später darauf bestand, dass Dannyl und Tayend in seine eigene Kajüte zogen, hatte Dannyl Verdacht geschöpft. Nach allem, was er über die Seeleute aus Vin wusste, brauchte es mehr als Heimweh oder Respekt vor der Gilde, um einen Kapitän dazu zu bringen, sein eigenes Quartier herzugeben.

Am Abend nach ihrer Abreise hatte Dannyl den wahren Grund für die Begeisterung des Kapitäns entdeckt.

»Die meisten Schiffe mit Ziel Kikostadt fahren zuerst nach Capia«, erklärte der Kapitän ihnen bei einem üppigen Mahl. »Auf diesem Weg geht es viel schneller.«

»Warum segeln sie nicht direkt nach Kikostadt?«, fragte Tayend.

»Auf den Oberen Inseln von Vin leben böse Menschen.« Der Kapitän machte ein finsteres Gesicht. »Sie überfallen Schiffe, töten die Mannschaft. Gefährliche Menschen.«

»Oh.« Tayend sah Dannyl an. »Und wir werden an diesen Inseln vorbeisegeln?«

»Diesmal besteht keine Gefahr.« Der Kapitän schenkte Dannyl ein Lächeln. »Wir haben einen Magier an Bord. Wir hissen die Flagge der Gilde. Sie werden es nicht wagen, uns zu überfallen!«

Bei dem Gedanken an dieses Gespräch musste Dannyl lächeln. Er vermutete, dass die Kaufleute trotz allem gelegentlich diese Route befuhren und sich mit der Flagge der Gilde schützten, selbst wenn sie keinen Magier an Bord hatten. Möglich, dass das inzwischen auch die Piraten begriffen hatten, und es hätte ihn nicht überrascht, wenn in irgendeiner Truhe eine Gildeuniform gelegen hätte für den Fall, dass eine Flagge nicht immer ausreichte, um die Piraten fern zu halten.

Seine Erleichterung, aus Lonmar fortzukommen, war so groß gewesen, dass diese Fragen ihn kaum interessiert hatten. Die Beilegung des Konflikts mit dem Ältestenrat hatte sich über mehr als einen Monat hingezogen. Obwohl die Pflichten, die ihn in Vin erwarteten, weniger wichtig waren, fragte er sich doch, ob sie sich wohlmöglich als ähnlich kräftezehrend erweisen würden.

Während sie sich immer weiter von Lonmar entfernt hatten und die Anspannung der Mannschaft immer deutlicher spürbar geworden war, hatte Dannyl begriffen, dass die Angst vor Piraten durchaus real war. Aus den Gesprächen, die Tayend für ihn übersetzt hatte, schloss Dannyl, dass eine Begegnung mit Piraten kein Risiko war, sondern eine Gewissheit. Es war ein wenig beunruhigend, zu wissen, dass die Besatzung glaubte, ihr Leben hinge von Dannyls Anwesenheit auf dem Schiff ab.

Jetzt sah er Tayend an, der auf der zweiten schmalen Pritsche lag. Der Gelehrte war bleich und dünn. Die Seekrankheit hatte ihren Tribut gefordert. Aber trotz seiner Schwäche und des offenkundigen Unwohlseins weigerte sich Tayend immer noch, sich von Dannyl heilen zu lassen.

Bisher war ihre Reise bei weitem nicht das amüsante Abenteuer gewesen, auf das Tayend gehofft hatte. Dannyl wusste, dass auch der Gelehrte erleichtert über ihren Abschied aus Lonmar gewesen war. Wenn sie Kikostadt erreichten, beschloss er, würden sie sich ein oder zwei Wochen Ruhezeit gönnen. Die Vindo waren bekannt für ihre Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Blieb nur zu hoffen, dass sie sie für die Hitze und die eigenartigen Gepflogenheiten in Lonmar würden entschädigen können und Tayend wieder zu Kräften kam.

Durch zwei kleine Fenster hatte man einen Blick auf das Meer zu beiden Seiten des Schiffes. Der Himmel war wolkenlos und von einem staubigen Blau. Dannyl ging auf eins der Fenster zu und sah die fernen Schatten von Inseln, die auf der einen Seite den Horizont sprenkelten - und zwei große Schiffe.

Als er Tayend gähnen hörte, drehte er sich um. Der Gelehrte hatte sich auf seinem Lager aufgesetzt und reckte sich.

»Wie geht es Euch?«, fragte Dannyl.

»Besser. Wie sieht es draußen aus?«

»Recht angenehm, denke ich.« Die Schiffe waren kleiner als die Anyi. Sie schienen über die Wellen zu fliegen und kamen schnell näher. »Ich glaube, wir werden noch vor dem Abendessen Gesellschaft bekommen.«

Tayend stützte sich an der Wand der Kajüte ab und bewegte sich langsam auf Dannyl zu, um ebenfalls durch das Fenster zu spähen.

»Piraten?«

Hastige Schritte näherten sich der Tür der Kajüte, gefolgt von einem kurzen, scharfen Klopfen.

»Ich habe sie gesehen«, rief Dannyl.

Tayend klopfte ihm auf die Schulter. »Zeit für Euren Auftritt als Held, mein magiebegabter Freund.«

Dannyl warf Tayend einen vernichtenden Blick zu, bevor er die Tür öffnete und in den Korridor hinaustrat. Der Schiffsjunge, ein Knabe von vielleicht vierzehn Jahren, begann wild gestikulierend zu sprechen.

»Kommt mit! Macht schnell!«, rief er mit weit aufgerissenen Augen.

Dannyl folgte dem Jungen durch den Gemeinschaftsraum hinaus auf Deck. Nachdem er den Kapitän am Heck des Schiffes entdeckt hatte, ging er über eine kurze Treppe zu dem Mann hinauf.

»Böse Menschen«, sagte der Kapitän und streckte die Hand aus.

Die Schiffe waren keine zweihundert Schritte mehr entfernt. Dannyl blickte zum Mast der Anyi empor, wo die Flagge der Gilde im Wind flatterte. Dann bemerkte er, dass sämtliche Matrosen und sogar der Junge Messer oder kurze Säbel in den Händen hielten. Einige wenige hatten bereits Bogen gespannt und Pfeile angelegt.

Tayend schnaubte angewidert. »Die Mannschaft hat anscheinend kein großes Zutrauen in Euch«, murmelte er.

»Sie gehen kein Risiko ein«, entgegnete Dannyl. »Würdet Ihr das tun?«

»Ihr seid unser Held und Beschützer. Ich weiß, dass Ihr uns retten werdet.«

»Müsst Ihr das immer wieder betonen?«

Tayend kicherte. »Ich möchte Euch nur das Gefühl geben, dass man Euch braucht und Eure Arbeit anerkennt.«

Eines der beiden Piratenschiffe näherte sich der Anyi mit unverminderter Fahrt. Dannyl, der befürchtete, die Piraten könnten das Schiff rammen wollen, trat an die Reling, darauf gefasst, den Bug des Piratenschiffes drehen zu müssen. Im letzten Moment drehte der Pirat jedoch selbst bei und blieb längsseits der Anyi liegen.

Auf Deck standen stämmige, muskulöse Männer. Hier und da sah Dannyl Klingen im Sonnenlicht aufblitzen. Zwei Männer hielten aufgerollte Seile in den Händen, an denen Enterhaken befestigt waren.

Diese Männer waren dunkelhäutiger und größer als ein durchschnittlicher Vindo, was darauf schließen ließ, dass auch lonmarisches Blut in ihren Adern floss. Und alle starrten ihn mit wachsamer Miene an. Er beobachtete, dass sie immer wieder zu einem Mann am Bug des Bootes hinüberschauten. Dies, vermutete Dannyl, musste ihr Anführer sein.

Als das zweite Schiff ebenfalls längsseits kam, hob der Mann die Hand und rief einige Worte auf Vindo. Tayend gab einen leisen, erstickten Laut von sich, aber die Mannschaft der Anyi bewahrte Schweigen. Dannyl sah zum Kapitän hinüber.

»Was hat er gesagt?«

Der Kapitän räusperte sich. »Er fragt, wie viel Ihr für Euren hübschen Freund haben wollt. Er sagt, er kann einen guten Gewinn machen, wenn er ihn im Westen als Sklaven verkauft.«

»Wirklich?« Dannyl blickte zu Tayend hinüber. »Was meint Ihr? Fünfzig Goldmünzen?«

Tayend funkelte Dannyl wütend an.

Der Kapitän kicherte. »Ich kenne den Preis für männliche Sklaven nicht.«

Dannyl schüttelte grinsend den Kopf. »Ich auch nicht. Sagt dem Piraten, mein Freund stehe nicht zum Verkauf. Und sagt ihm auch, dass er sich die Fracht auf diesem Schiff nicht leisten kann.«

Der Kapitän wiederholte die Worte auf Vindo. Der Pirat lächelte, dann hob er die Hand, um dem anderen Schiff ein Signal zu geben. Die Männer eilten zu ihren Positionen an den Seilen und Winden, und schon bald hatten die Schiffe wieder Fahrt aufgenommen und segelten davon.

Der Kapitän trat zu Dannyl. »Tötet sie jetzt«, sagte er drängend. »Bevor sie entkommen.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Aber Piraten sind böse Menschen. Sie rauben Schiffe aus. Sie töten. Sie nehmen Sklaven.«

»Sie haben uns nicht angegriffen«, erwiderte Dannyl.

»Wenn Ihr sie tötet, macht Ihr das Meer sicherer.«

Dannyl drehte sich zu dem Kapitän um. »Es wird sich nichts ändern, wenn ich die Männer auf ein oder zwei Booten töte. Andere würden sie ersetzen. Wenn die Vindo wünschen, dass die Magier die Piraten von diesen Inseln entfernen, müssen sie sich an die Gilde wenden. Dem Gesetz nach darf ich meine Kräfte nur zur Verteidigung benutzen, es sei denn, mein König persönlich hätte mir einen anderslautenden Befehl gegeben.«

Der Kapitän senkte den Blick und ging davon. Dannyl hörte den Mann einige Worte in seiner eigenen Sprache murmeln, dann schickte er die Mannschaft wieder an die Arbeit. Mehrere der Matrosen wirkten sichtlich unzufrieden, nahmen jedoch ohne Klage ihr Werk wieder auf.

»Sie sind nicht die Einzigen, die Euer Verhalten enttäuschend finden«, bemerkte Tayend.

Dannyl betrachtete seinen Freund nachdenklich. »Ihr meint also auch, ich hätte sie töten sollen?«

Tayend blickte den Piratenschiffen mit schmalen Augen nach. »Ich hätte nichts dagegen gehabt.« Dann zuckte er die Achseln. »Aber vor allem hatte ich auf eine kleine Zurschaustellung von Magie gehofft. Nichts allzu Fantastisches. Nur einige Funken und Feuer.«

»Funken und Feuer?«

»Ja. Und vielleicht eine kleine Wasserfontäne.«

»Tut mir Leid, dass ich Euch enttäuschen musste«, erwiderte Dannyl trocken.

»Und was sollte dieses Gerede, mich an Sklavenhändler zu verkaufen - noch dazu für bloße fünfzig Goldmünzen!«

»Ich entschuldige mich. Wären hundert Goldmünzen angemessener gewesen?«

»Nein! Und Ihr hört Euch nicht so an, als täte es Euch besonders leid.«

»Dann entschuldige ich mich dafür, dass meine Entschuldigung so wenig überzeugend ausgefallen ist.«

Tayend verdrehte die Augen. »Das reicht! Ich gehe wieder hinein.«


Sonea drückte ihren Bücherkoffer fester an sich und seufzte. Es wurde jetzt sehr schnell dunkel. Bei ihrem Aufbruch hatte der Wald in den letzten Sonnenstrahlen noch lange Schatten geworfen, aber inzwischen war nur mehr ein nebliges Dämmerlicht zurückgeblieben, in dem sie kaum noch etwas erkennen konnte. Sie widerstand dem Drang, eine Lichtkugel zu schaffen, weil sie wusste, dass man sie dann nur umso leichter finden würde.

In der Nähe knackte ein Zweig.

Sie blieb stehen und sah sich angestrengt um. Zwischen den Baumstämmen waren in der Ferne die Lichter des Heilerquartiers zu erkennen. Sie konnte keine Bewegung wahrnehmen, kein Geräusch hören.

Langsam stieß sie den Atem aus, den sie angehalten hatte, und begann weiterzugehen.

Einige Wochen zuvor hatte Lord Kiano die Klasse zu den Feldern und Glashäusern hinter den Heilerquartieren geführt, wo medizinische Pflanzen angebaut wurden. Er hatte ihnen mehrere Spezies gezeigt und ihnen erklärt, wie sie die einzelnen Pflanzen erkennen konnten. Danach hatte er ihnen mitgeteilt, dass er künftig jede Woche einen Novizen auswählen würde, der ihn nach dem Unterricht zu den Feldern hinüberbegleiten und seine Kenntnisse unter Beweis stellen sollte.

An diesem Nachmittag war sie an der Reihe gewesen. Nach der Prüfung hatte Kiano sie entlassen, und sie musste allein in das Novizenquartier zurückkehren. Da sie wusste, dass Regin sich eine solche Gelegenheit, ihr ungestört aufzulauern, nicht entgehen lassen würde, hatte sie noch ein wenig getrödelt und Interesse an den Pflanzen geheuchelt. Aber ihre Hoffnung, sie könnte vielleicht mit Kiano zusammen nach Hause gehen, hatte sich zerschlagen, denn der Lehrer hatte ein Gespräch mit einem der Gärtner begonnen, das offensichtlich länger dauern würde.

Also hatte sie beschlossen, ihren alternativen Plan anzuwenden. Sie vermutete, dass Regin sie auf dem gewöhnlichen Pfad erwarten würde, deshalb hatte sie eine Abkürzung durch den Wald genommen.

Ein Knacken zu ihrer Linken ließ sie abermals innehalten. Als sie ein ersticktes Lachen hörte, erstarrte sie. Ihr Plan war gescheitert.

»Guten Abend, Sonea.«

Sie fuhr herum und sah eine vertraute Silhouette zwischen den Bäumen. Entschlossen schuf sie eine Lichtkugel, und die Dunkelheit wich zurück. Regin blieb stehen und lächelte, während zwei weitere Gestalten hinter ihm auftauchten: Issle und Alend. Dann hörte sie Geräusche aus allen Richtungen, und nun tauchten auch Gennyl, Vallon und Kano aus der Dunkelheit auf.

»Ein schöner Abend für einen Spaziergang im Wald«, bemerkte Regin und sah sich um. »So still. So friedlich. Niemand, der uns stört.« Er kam einen Schritt näher. »Die Lehrer lassen dir keine Sonderbehandlung mehr zukommen, nicht wahr? So ein Pech. Es ist wirklich nicht fair, dass man uns zusätzliche Aufmerksamkeit schenkt und dir nicht. Also dachte ich, ich gebe dir selbst ein wenig Unterricht.«

Das Knirschen des Schnees sagte Sonea, dass die Novizen hinter ihr näher kamen. Sie verstärkte ihren Schild, aber zu ihrer Überraschung gingen die anderen um sie herum und traten hinter Regin.

»Nun«, fuhr Regin fort, »vielleicht sollte ich dir einige der Dinge beibringen, die Lord Balkan mir gezeigt hat.« Er sah die anderen an und nickte. »Ja, ich denke, das würde dich interessieren.«

Soneas Mund wurde trocken. Sie hatte gewusst, dass Regin zusätzlichen Unterricht in den Kriegskünsten nahm; neu war ihr hingegen, dass sein Lehrer kein Geringerer war als Lord Balkan, das Oberhaupt dieser Disziplin. Als Regin die Hände hob, rückten die anderen Novizen näher an ihren Anführer heran und legten ihm ihrerseits die Hände auf die Schultern.

»Verteidige dich«, sagte Regin und äffte dabei Lord Vorels Befehlston nach.

Sonea ließ noch mehr Magie in ihren Schild fließen und blockte den Zustrom von Energie ab, den Regin ihr entgegenschleuderte. Seine Angriffe waren schwach, wurden aber beständig massiver, bis sie stärker waren als alles, was ihr in der Arena je begegnet war. Überrascht gab sie mehr und mehr von ihrer Magie in ihren Schild hinein.

Wie war das möglich? Sie hatte oft genug mit Regin gekämpft, um seine Stärke zu kennen. Er war ihr bisher immer sehr viel schwächer erschienen. Hatte er sich zurückgehalten und nur darauf gewartet, dass er ihr in einer solchen Situation seine wahre Stärke zeigen konnte?

Ein hässliches Grinsen verzerrte Regins Gesicht, und er machte einen Schritt auf sie zu. Plötzlich wurde der Angriff schwächer und brach dann ganz ab, während der Junge die anderen anstarrte. Hastig traten nun auch sie wieder vor, um ihm abermals die Hände auf die Schultern zu legen.

Als sie die Verbindung wieder hergestellt hatten, setzte Regin seinen Angriff fort. Sonea überlegte, was das bedeuten mochte. Offensichtlich liehen die anderen ihm ihre Kraft. Sie hatte noch nie gehört, dass das möglich war, aber andererseits gab es im Bereich der Kampfkünste viele Dinge, von denen sie nichts wusste - oder die ihr in Vorels quälend langweiligem Unterricht entgangen waren.

Magie summte in der Luft um sie herum. Der Schnee zwischen ihnen war zu zischenden Pfützen geschmolzen. So viel Kraft… Der Gedanke daran, dass diese Kraft sich gegen sie richtete, war erschreckend, und ihr Herz begann zu rasen. Wenn es ihr nicht gelang, ihren Schild aufrechtzuerhalten, würden die Konsequenzen kurz sein - und verhängnisvoll. Er ging ein ungeheures Risiko ein… Oder irrte sie sich da?

Was ist, wenn er mich töten will?

Aber das würde er nicht tun. Man würde ihn aus der Gilde ausstoßen.

Aber als sie sich Regin vor den versammelten Magiern in der Gildehalle vorstellte, konnte sie beinahe hören, was sie sagen würden. Ein bedauerlicher Unfall. Man konnte Regin nicht die Schuld an ihren jämmerlichen Fähigkeiten geben. Vier Wochen Arbeit in der Bibliothek und die Ermahnung, dass so etwas nicht mehr vorkommen dürfe.

Wut ersetzte ihre Angst. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass die anderen Novizen einander zweifelnd ansahen. Regin grinste nicht mehr, sondern runzelte konzentriert die Stirn. Er knurrte etwas, und die anderen protestierten. Was sie auch taten, es hatte nicht die Wirkung, die sie erwartet hatten.

Bedeutete das, dass dies der Gipfel ihrer vereinten Stärke war? Sonea lächelte. Sie konnte ihnen mühelos standhalten. Regin hatte sie unterschätzt - und wenn die Lichtkugel über ihnen irgendetwas besagte, dann hatte sie noch immer genug Kraft übrig.

Aber wie sollte diese Geschichte enden? Wenn sie zurückschlug, würde sie den anderen eine Niederlage zufügen. Aber wenn sie sich nicht verteidigen konnten, würde womöglich sie diejenige sein, die sich vor den Höheren Magiern verantworten musste und die man in die Verbannung schicken würde.

Und wenn es ihnen gelang, ebenfalls einen Schild hochzuziehen, würden sie sie den ganzen Weg bis zurück zum Novizenquartier jagen. Wie konnte sie sie abschütteln? Sie blickte zu der Lichtkugel auf. Wenn sie das Licht erlöschen ließ, würden ihre Widersacher einige Sekunden brauchen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In dieser Zeit könnte sie sich davonstehlen. Bedauerlicherweise würde sie selbst ebenfalls mit Blindheit geschlagen sein…

Blindheit…?

Sonea lächelte. Dann presste sie die Augen fest zusammen und streckte ihren Willen aus. Einen Moment lang blitzte Licht hinter ihren Lidern auf, und sie spürte, dass die Angriffe, denen sie ausgesetzt war, schwächer wurden. Als sie die Augen wieder öffnete, blinzelten die Novizen und rieben sich das Gesicht.

»Ich kann nichts sehen!«, rief Kano.

Es hat funktioniert! Grinsend beobachtete sie, wie Alend laut fluchend die Arme ausbreitete und auf dem unebenen Boden beinahe das Gleichgewicht verlor. Issle tastete sich bis zu einem Baum vor und umschlang ihn dann so fest, als befürchtete sie, er könnte davonlaufen.

Sonea machte einen Schritt rückwärts. Als Regin das Knirschen des Schnees hörte, streckte er die Hand aus und kam auf sie zu. Sein Stiefel landete in einer Schlammpfütze und glitt zur Seite weg. Im nächsten Moment lag der Junge mit dem Gesicht nach unten im Morast. Mit einem angewiderten, wütenden Aufschrei raffte er sich wieder auf.

Sonea erstickte ein Lachen. Ein mörderischer Ausdruck erschien auf Regins Gesicht, und er machte einen Satz auf sie zu. Sonea wich den suchenden Händen geschickt aus.

»Vielen Dank für die Lektion, Regin. Ich hätte nie gedacht, dass du ein Mann von solcher Weitsicht bist.«

Kichernd wandte sie sich ab und ging auf die Lichter der Universität zu.

16 Die Regeln der Anklage

Rothen baute gerade eine komplizierte Konstruktion aus Röhren, Ventilen und Glaskugeln ab, als ein junger Mann in Dienstbotenkleidung in der Tür des Klassenzimmers auftauchte. Die grüne Schärpe, die er um die Taille trug, wies ihn als einen Boten der Heiler aus.

»Ja?«, sagte Rothen.

»Lady Vinara erbittet Eure Anwesenheit im Heilerquartier.«

Rothens Herz setzte einen Schlag aus. Was konnte Vinara von ihm wollen? War Sonea etwas zugestoßen? War einer von Regins Streichen zu weit gegangen? Oder handelte es sich um jemand anderen? Um seinen alten Freund Yaldin vielleicht? Oder um Ezrille, dessen Frau?

»Ich werde in Kürze dort sein«, erwiderte er.

Der Bote verbeugte sich und eilte davon. Rothen sah den Novizen an, der zurückgeblieben war, um ihm zur Hand zu gehen. Farind lächelte.

»Ich werde die Versuchsanordnung allein abbauen, wenn Ihr wollt, Mylord.«

Rothen nickte. »Also gut. Aber sei vorsichtig, wenn du die Säure weggießt.«

»Natürlich.«

Auf dem Weg durch die Flure versuchte Rothen, sich keinen Spekulationen über Vinaras Beweggründe hinzugeben. Er würde es schon bald genug erfahren. Die Abendluft draußen war eiskalt, daher hüllte er sich in einen Schild und wärmte die Luft darin. Als er die Heilerquartiere erreichte, erwartete Lady Vinara ihn bereits im Eingang.

»Ihr habt nach mir schicken lassen?«, fragte Rothen atemlos.

Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Lippen. »Es wäre nicht nötig gewesen, dass Ihr Euch derart beeilt, Lord Rothen«, beruhigte ihn Vinara. »Die Novizen, die behaupten, Opfer Eures Schützlings geworden zu sein, werden nicht gleich das Zeitliche segnen. Wisst Ihr, wo Sonea ist?«

Opfer? Was hatte sie getan? »Wahrscheinlich sitzt sie in ihrem Zimmer und lernt.«

»Ihr habt sie heute Abend nicht gesehen?«

»Nein.« Rothen runzelte die Stirn. »Worum geht es denn?«

»Vor einer Stunde sind sechs Novizen hierher gekommen. Sie behaupten, Sonea habe ihnen im Wald aufgelauert und sie geblendet.«

»Sie geblendet? Wie?«

»Mit einem sehr hellen Licht.«

»Oh.« Rothen entspannte sich, aber als er die grimmige Miene der Heilerin sah, machte er sich von neuem Sorgen. »Es ist doch nicht von Dauer?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Keine ihrer Verletzungen sind ernsthaft - und gewiss nicht schlimm genug, dass die Heiler ihre Zeit damit vergeuden müssten. Sie werden sich schon erholen.«

»Haben sie abgesehen von dieser vorübergehenden Blindheit noch weitere Verletzungen davongetragen?«

»Sie haben sich einige Schnittwunden und Prellungen zugezogen, weil sie aus dem Wald herausfinden mussten, ohne etwas sehen zu können.«

»Ich verstehe.« Rothen nickte langsam. »Handelt es sich bei einem dieser Novizen vielleicht um Garrels Schützling Regin?«

»Ja.« Ihre Lippen wurden schmal. »Ich habe gehört, dass Sonea eine besondere Abneigung gegen diesen Jungen hegt.«

Rothen stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, das kann ich Euch versichern. Darf ich mit Regin sprechen?«

»Selbstverständlich. Ich werde Euch zu ihm bringen.« Vinara drehte sich um und ging durch den Hauptflur des Gebäudes.

Während Rothen ihr folgte, dachte er über das Gehörte nach. Er glaubte keinen Moment lang, dass Sonea Regin und seinen Freunden aufgelauert hatte. Viel wahrscheinlicher war, dass sie Sonea in einen Hinterhalt gelockt hatten. Aber irgendetwas war offensichtlich schief gegangen.

Möglicherweise hatten sie sich selbst geblendet, um Sonea die Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben, aber er bezweifelte es. Wenn sie etwas Derartiges vorgehabt hätten, hätten sie dafür gesorgt, dass andere sie finden und ins Heilerquartier führen würden. Da sie nicht einmal mittels Gedankenrede um Hilfe gebeten hatten, lag die Vermutung nahe, dass sie keine Aufmerksamkeit auf ihre Situation hatten lenken wollen.

Vinara blieb vor einer Tür stehen und bedeutete ihm einzutreten. Auf einem Bett in einer Ecke des Raums entdeckte Rothen einen vertrauten jungen Mann in schlammbespritzter Robe. Regins Gesicht war gerötet, er hatte die Fäuste geballt, und in seinen Augen loderte ein wildes Feuer, während er den Blick fest auf eine Stelle an der Wand hinter seinem Mentor Lord Garrel gerichtet hielt.

Als der Magier Rothen bemerkte, verdüsterte sich seine Miene. Rothen beachtete ihn nicht, sondern lauschte Regin, der soeben das Ende einer langen, wütenden Schimpftirade erreichte.

»Ich schwöre, sie hat versucht, uns umzubringen! Ich kenne das Gesetz der Gilde. Sie muss ausgestoßen werden!«

Rothen sah zuerst Vinara an, dann wieder den Jungen, und er hatte Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Wenn Regin an das Gesetz der Gilde appellierte, sollte ihm das nur recht sein.

»Das ist eine sehr schwerwiegende Anklage, Regin«, sagte er ruhig. »Und es wäre sehr unpassend, wenn dein Mentor die Wahrheit deiner Aussage überprüfen würde.« Er wandte sich wieder an die Frau an seiner Seite. »Vielleicht könnte Lady Vinara jemanden vorschlagen.«

Vinara blinzelte, dann trat ein erheitertes Funkeln in ihre Augen, als ihr klar wurde, was Rothen meinte.

»Ich werde die Wahrheitslesung durchführen«, sagte sie.

Regin sog scharf die Luft ein. Rothen stellte zu seiner Befriedigung fest, dass der Junge schneeweiß geworden war. »Nein, ich meinte nicht…«, stotterte er. »Ich wollte nicht…«

»Dann ziehst du deine Anklage also zurück?«, hakte Rothen nach.

»Ja«, stieß Regin hervor. »Ich ziehe meine Anklage zurück.«

»Was ist heute Abend wirklich passiert?«

»Ja«, warf Vinara mit finsterem Tonfall ein. »Warum hat Sonea euch angegriffen, wie ihr behauptet?«

»Sie wollte offensichtlich dafür sorgen, dass die anderen für einige Tage nicht am Unterricht teilnehmen können«, antwortete Garrel.

»Ich verstehe«, sagte Rothen. »Was wird denn in den nächsten Tagen geschehen, dass sie den Wunsch haben könnte, euch davon auszuschließen?«

»Das weiß ich nicht… Ich nehme an, sie wollte uns einfach Schaden zufügen.«

»Und deshalb ist sie sechs Novizen in den Wald gefolgt« - Rothen warf Vinara einen bedeutungsvollen Blick zu - »in der festen Überzeugung, dass sie eure vereinten Kräfte überwinden könnte? Sie muss sich besser auf die Kriegskünste verstehen, als ihre Zensuren es erkennen lassen.«

Regins blicklose Augen suchten seinen Mentor.

»Was habt ihr, du und deine Kameraden, überhaupt im Wald zu suchen gehabt?«, fragte Vinara.

»Wir wollten uns einfach… etwas umsehen. Zum Spaß.«

»Nun«, sagte sie, »deine Freunde erzählen aber etwas ganz anderes.«

Regin öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Garrel erhob sich. »Mein Novize ist verletzt worden und braucht Ruhe. Diese Befragung hat doch sicher Zeit, bis er sich erholt hat.«

Rothen zögerte, dann kam er zu dem Schluss, dass seine Idee das Risiko wert sei. Er wandte sich an Vinara. »Lord Garrel hat Recht. Wir brauchen Regins Antworten nicht zu hören. Sonea wird sicher bereit sein, sich einer Wahrheitslesung zu unterziehen, um ihre Unschuld zu beweisen.«

»Nein!«, rief Regin.

Vinaras Augen wurden schmal. »Wenn sie nichts dagegen hat, kannst du es nicht verhindern, Regin.«

Der Novize schnitt eine Grimasse, als hätte er einen widerlichen Geschmack im Mund. »Also gut. Ich werde alles erzählen. Wir sind Sonea in den Wald gefolgt und haben ihr einen Streich gespielt. Es war nichts Gefährliches. Wir wollten bloß… üben, was wir im Unterricht gelernt haben.«

»Ich verstehe.« Vinaras Stimme klang eisig. »Dann erzählst du uns jetzt besser, was für ein Streich das war - und vergiss nicht, dass Soneas Gedächtnis jedes deiner Worte bestätigen oder widerlegen wird.«


Seufzend schob Sonea ein Stück Papier zwischen die Seiten ihres Buches und stand auf, um die Tür zu öffnen. Allerdings tat sie es mit großer Vorsicht und wappnete sich gleichzeitig gegen einen magischen Angriff für den Fall, dass Regin versuchen sollte, mit Gewalt in ihr Zimmer einzudringen. Zu ihrer Überraschung stand Lord Osen draußen im Flur.

»Verzeih die Störung«, sagte Lord Osen. »Administrator Lorlen möchte dich in seinem Büro sehen.«

Sonea starrte ihn an, und kalte Furcht krampfte ihr den Magen zusammen. Der Administrator… Sie hatte seit Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen. Was wollte er? Hatte es etwas mit dem Hohen Lord zu tun? Hatte Akkarin herausgefunden, dass sie sein Geheimnis kannte?

»Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte Osen ihr lächelnd. »Er möchte dir lediglich ein paar Fragen stellen.«

Kurz darauf folgte sie dem Magier durch den Innenhof bis zum Hintereingang der Universität. Ihre Schritte hallten in dem leeren Flur wider. Als Osen die Tür zum Büro des Administrators öffnete, sog Sonea scharf die Luft ein. Eine beträchtliche Anzahl von Magiern hatte sich in dem Raum eingefunden. Einige saßen auf Stühlen, andere standen. Als sie eintrat, bemerkte sie, dass die meisten der Höheren Magier zugegen waren.

Bei Rothens Anblick atmete sie erleichtert auf, doch dann sah sie Lord Garrel, und ihre Schultern sanken mutlos herab. Also ging es um ihre Begegnung mit Regin. Er musste eine schöne Geschichte erzählt haben, um die Höheren Magier aufzuscheuchen.

Rothen winkte sie lächelnd zu sich heran. Sonea kämpfte ihre aufsteigende Übelkeit nieder und trat neben ihn.

»Sonea.«

Sie drehte sich zu Lorlen um, der hinter einem großen Schreibtisch saß. Die Miene des blau gewandeten Magiers war sehr ernst.

»Heute Abend ist zwischen dir und sechs anderen Novizen etwas vorgefallen, das man uns zu Gehör gebracht hat. Wir möchten dich bitten, uns zu erzählen, was sich zugetragen hat.«

Sie sah sich im Raum um und schluckte. »Lord Kiano hat mich zu einer Prüfung mit auf die Felder genommen. Ich bin über den langen Weg zurückgegangen, der um das Heilerquartier herumführt. Im Wald haben Regin und seine Freunde mich aufgehalten.« Sie zögerte und überlegte, wie es sich am besten vermeiden ließ, etwas zu sagen, das man als Anklage auffassen konnte.

»Sprich weiter«, forderte Lorlen sie auf. »Erzähl uns, was passiert ist.«

Sonea holte tief Luft und fuhr fort. »Regin hat gesagt, er wolle mir etwas zeigen, das er von Lord Balkan gelernt habe.« Sie sah zu dem rot gewandeten Magier hinüber. »Dann haben die anderen ihm die Hand auf die Schultern gelegt. Sein Angriff war stärker als gewöhnlich, und ich begriff, dass die anderen ihm irgendwie zusätzliche Kraft gaben.«

»Was hast du getan?«

»Einen Schild hochgezogen.«

»Das war alles?«

»Ich wollte nicht zurückschlagen. Ich hatte Angst, dass die anderen sich vielleicht nicht gut genug schützen würden.«

»Sehr klug von dir. Was ist als Nächstes passiert?«

»Meine Lichtkugel war noch immer nicht erloschen, daher wusste ich, dass ich noch Kraft übrig hatte.«

Jemand sog scharf die Luft ein, und Sonea zuckte zusammen. Als sie sich umdrehte, fing sie einen anerkennenden Blick von Lady Vinara auf.

»Sprich weiter«, sagte Lorlen.

»Ich wusste, dass sie nicht aufgeben würden, und ich musste von ihnen wegkommen, bevor sie etwas anderes versuchten. Also habe ich sie geblendet, um sie daran zu hindern, mir zu folgen.«

Hinter ihr erhob sich leises Gemurmel. Lorlen machte eine knappe Handbewegung, und es kehrte wieder Stille ein.

»Mir kommen da einige Fragen in den Sinn«, sagte er. »Warum hast du den Umweg durch den Wald genommen?«

»Ich wusste, dass sie auf mich warten würden«, antwortete Sonea.

»Wer?«

»Regin und die anderen.«

»Warum sollten sie das tun?«

»Sie versuchen immer…« Sonea schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wüsste es, Administrator.«

Lorlen nickte. Dann sah er Vinara an.

»Ihre Geschichte stimmt mit der von Regin überein.«

Sonea blinzelte. »Regin hat das erzählt?«

»Regin hat behauptet, du hättest versucht, sie zu töten«, erklärte Rothen leise. »Als ihm klar wurde, dass er sich zum Beweis seiner Anschuldigung einer Wahrheitslesung würde unterziehen müssen, hat er die Anklage zurückgezogen. Daraufhin habe ich ihm erklärt, dass du dich dieser Prozedur unterziehen würdest, um deine Unschuld zu beweisen. Danach ist dann die Wahrheit herausgekommen.«

Sie sah ihn überrascht an. Rothen hatte vorgeschlagen, dass sie sich einer Wahrheitslesung unterziehen sollte? Was wäre passiert, wenn Regin nicht gestanden hätte? Ihr Mentor musste sich seiner Sache sehr sicher gewesen sein. »Worum geht es dann bei dieser Versammlung? Warum sind all die Höheren Magier hier?«

Rothen hatte keine Gelegenheit, ihr zu antworten.

»Hat noch irgendjemand Fragen an Sonea?«, warf Lorlen ein.

»Ja.« Lord Sarrin straffte sich und trat vor. »Fühlst du dich nach diesem Kampf müde? Erschöpft?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Nein, Mylord.«

»Hast du heute Abend noch andere Magie gewirkt?«

»Nein - oder eigentlich doch. Ich habe meine Tür mit einem magischen Schloss belegt.«

Lord Sarrin schürzte die Lippen und sah Lord Balkan an. Der Krieger musterte Sonea nachdenklich.

»Hast du dich in deiner freien Zeit in den Kriegskünsten geübt?«, fragte er.

»Nein, Mylord.«

»Warst du schon früher in Auseinandersetzungen mit anderen Novizen verwickelt, die diese Methode der Kraftbündelung benutzt haben?«

»Nein, ich wusste bisher nicht, dass so etwas möglich ist.«

Lord Balkan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und nickte dem Administrator zu. Lorlen sah die anderen Magier an.

»Noch weitere Fragen?«

Als es im Raum still blieb, nickte Lorlen Sonea zu. »Dann darfst du jetzt gehen, Sonea.«

Sie erhob sich und verbeugte sich vor den Magiern, die ihr schweigend nachsahen. Erst nachdem die Tür hinter ihr zugefallen war, hörte sie Stimmen im Raum, zu gedämpft, um sie zu verstehen.

Sie starrte die Tür an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihren Zügen aus. Mit seinem Versuch, sie in Schwierigkeiten zu bringen, hatte Regin nur sich selbst geschadet. Sie drehte sich um und ging zurück zum Novizenquartier, ausnahmsweise einmal in der festen Gewissheit, dass sie unterwegs keinen Ärger zu erwarten hatte.


»So viel Kraft bei einem so jungen Menschen.« Lord Sarrin schüttelte den Kopf. »Nur wenige Novizen haben je so schnelle Fortschritte gemacht.«

Lorlen nickte. Seine eigenen Kräfte hatten sich ebenfalls früh entwickelt - genau wie die Akkarins. Und man hatte sie beide in die höchsten Positionen der Gilde erhoben. Er konnte das Entsetzen auf den Gesichtern der Höheren Magier erkennen und wusste, dass ihnen der gleiche Gedanke gekommen war.

Normalerweise wären sie hocherfreut gewesen, ein solches Potenzial bei einem Novizen zu entdecken. Aber Sonea war das Hüttenmädchen, und sie hatte erst kürzlich durch den Diebstahl einer Schreibfeder ihren fragwürdigen Charakter unter Beweis gestellt. Obwohl Lorlen zu glauben bereit war, dass dies ein einmaliges Vorkommnis war - vielleicht eine Reaktion auf die Schikanen der anderen Novizen -, würden die übrigen Magier vermutlich nicht so nachsichtig sein.

»Wir sollten uns noch keine allzu großen Hoffnungen machen«, sagte er, um sie zu beruhigen. »Möglich, dass sie sich einfach nur früher entwickelt als die meisten Kinder. Und dass dies bereits der Gipfel ihrer Fähigkeiten ist.«

»Sie ist schon jetzt stärker als die meisten ihrer Lehrer und«, Sarrin deutete auf Rothen, »vielleicht sogar stärker als ihr eigener Mentor.«

»Ist das ein Problem?«, fragte Rothen kühl.

»Nein.« Lorlen lächelte. »So etwas war in der Vergangenheit noch nie ein Problem. Ihr müsst lediglich vorsichtig sein.«

»Werden wir sie noch einmal eine Klasse überspringen lassen müssen?« Jerrik verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn.

»Sie ist den anderen Schülern lediglich mit ihren Kräften überlegen«, bemerkte Vinara. »Ihre übrigen Fähigkeiten müssen sich erst noch entwickeln. Sie hat noch eine Menge zu lernen.«

»Wir müssen nur ihre Lehrer warnen«, sagte Lorlen. »Sie sollten Soneas Stärke nicht erproben, ohne die üblichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.«

Zu Lorlens Befriedigung nickten sämtliche Magier. Regins Taten hatten mehr enthüllt als sein eigenes grausames Wesen. Er hatte allen bewiesen, wozu Sonea fähig war. Lorlen vermutete, dass das Ausmaß ihrer Stärke selbst Rothen überrascht hatte.

Rothens Aufmerksamkeit galt jedoch Lord Garrel. Regins Mentor hatte während des größten Teils des Gespräches geschwiegen. Lorlen runzelte die Stirn. Sie durften den Ernst des Zwischenfalls nicht vergessen, der sie zusammengeführt hatte.

»Was soll mit Regin geschehen?«, fragte er, und seine Stimme klang scharf genug, um das Gemurmel im Raum zu übertönen.

Balkan lächelte. »Ich denke, der junge Mann hat seine Lektion gelernt. Er wäre ein Narr, wenn er sie jetzt noch provozieren würde.«

Die anderen Magier nickten zustimmend.

»Dennoch sollte er bestraft werden«, beharrte Lorlen.

»Er hat keine Regel gebrochen«, protestierte Garrel. »Balkan hat ihm die Erlaubnis gegeben, seine Strategie mit seinen Klassenkameraden zu üben.«

»Einem anderen Novizen aufzulauern, ist nicht gerade das, was wir unter dem Begriff ›Üben‹ verstehen«, entgegnete Lorlen. »Es ist gefährlich und verantwortungslos.«

»Ich bin der gleichen Meinung«, erklärte Vinara energisch. »Und seine Strafe sollte diesen Umstand widerspiegeln.«

Die Magier sahen einander an.

»Regin hat zusätzliche Unterrichtsstunden in den Kriegskünsten genommen«, sagte Balkan schließlich. »Da diese Stunden das vorliegende Problem verursacht haben, werde ich sie für… sagen wir, für drei Monate aussetzen.«

Lorlen schürzte die Lippen. »Verlängert den Zeitraum bis zur Mitte des Zweiten Jahres. Ich glaube, bis dahin wird seine Klasse alle Lektionen in puncto Anstand und Ehre abgedeckt haben.«

Lorlen sah, dass Rothen die Hand hob, um sich an der Nase zu kratzen und ein Lächeln zu verbergen. Garrels Miene verdüsterte sich, aber er erhob keine Einwände. Lord Balkans Lippen zuckten schwach.

»Also gut«, stimmte der Krieger zu. »Der Unterricht wird bis zu den Halbjahrsprüfungen des Zweiten Jahres ausgesetzt.«

Lorlen blickte in die Runde. Die anderen Magier nickten zustimmend.

»Dann wäre diese Angelegenheit also geregelt.«

Jerrik seufzte. »Wenn das alles ist«, sagte er, »werde ich jetzt zu meiner Arbeit zurückkehren.«

Auch Lord Sarrin und Lady Vinara erhoben sich und folgten dem Rektor aus dem Raum. Lord Garrel schloss sich ihnen an.

Balkan wandte sich an Rothen. »Es ist ein Jammer, dass Sonea keine Begeisterung für die Kriegskünste zeigt. Wir finden nur selten Krieger von ihrer Stärke.«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich über ihre mangelnde Begeisterung enttäuscht wäre«, erwiderte Rothen.

»Habt Ihr ihr diese Disziplin verleidet?« In Balkans Stimme schwang ein warnender Unterton mit.

»Keineswegs«, sagte Rothen. »Es war ein gewisser Zwischenfall auf dem Nordplatz, der ihr die Kriegskünste verleidet hat, und ich bezweifle, dass ich daran etwas ändern könnte, selbst wenn ich es versuchte. Ich habe lange genug gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass wir nicht alle blutdürstige Schurken sind.«

Balkan lächelte schief. »Ich hoffe, Ihr habt ihr diese Vorstellung tatsächlich gründlich ausreden können.«

Rothen seufzte. »Manchmal denke ich, dass ich der Einzige bin, der es überhaupt versucht.«

»Die Feindseligkeit der anderen Novizen war unvermeidlich und wird nach ihrem Abschluss nicht enden. Sie muss lernen, damit umzugehen. Diesmal hat sie wenigstens Magie benutzt, statt weniger ehrenwerter Fähigkeiten.«

Rothen musterte den anderen Magier mit schmalen Augen. Balkan erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Als Lorlen die Spannung zwischen den beiden Männern bemerkte, klopfte er leise auf seinen Schreibtisch.

»Sorgt nur dafür, dass sie ihre Kämpfe auf die Arena beschränken«, sagte er. »Wäre es Sommer gewesen, hätten sie womöglich den ganzen Wald in Brand gesteckt. Ich habe auch ohne derartige Katastrophen genug zu tun. Wenn Ihr jetzt vielleicht die Freundlichkeit hättet…« Er deutete auf die Tür. »Ich hätte gern mein Büro zurück!«

Die beiden Magier neigten den Kopf und verließen mit einer gemurmelten Entschuldigung den Raum. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, stieß Lorlen einen Seufzer der Erleichterung aus, in dem ein Anflug von Ärger mitschwang.

Magier!

17 Ein kluger Gefährte

Die Wege durch die Gärten waren von Schnee befreit worden, aber die Bäume bogen sich noch immer unter ihrer weißen Last. Als sie vor der Universität ankamen, begann es wieder zu schneien, daher führte Rothen Sonea die Treppe hinauf und in den Schutz der Eingangshalle.

Rothen?

Dorrien.

Ich hoffe, du hast in deinem Quartier ein Dutzend Wärmekugeln. Ich kann einfach nicht fassen, dass es noch einmal so kalt geworden ist. Dieser Winter ist schlimmer als alle anderen, an die ich mich erinnern kann. Ich bin jetzt in unmittelbarer Nähe der Tore.

Rothen sah, dass Sonea mit schmalen Augen die Straße jenseits der Tore beobachtete.

»Da kommt er«, murmelte sie.

Tatsächlich näherte sich jetzt ein einsamer Reiter dem Universitätsgelände. Der Mann hob die Hand, und eines der Tore schwang auf. Noch bevor es sich zur Gänze geöffnet hatte, trieb der Reiter sein Pferd im Galopp hindurch.

Die Hufe des Pferdes flogen über die Straße, und die grüne Robe des Reiters flatterten im Wind. Dorrien grinste übers ganze Gesicht.

»Vater!« Als das Pferd schlitternd zum Stehen kam, schwang Dorrien die Beine über den Sattel und sprang leichtfüßig zu Boden.

»Eine beeindruckende Darbietung, Dorrien«, bemerkte Rothen trocken, während er die Treppenstufen hinunterging. »Eines Tages wirst du noch mal übel auf die Nase fallen.«

»Zweifellos direkt zu deinen Füßen«, erwiderte Dorrien und ertränkte seinen Vater geradezu in grünen Stoffbahnen, als er ihn umarmte. »Und ich werde es nur dir zuliebe tun, damit du sagen kannst: ›Ich habe dich ja gewarnt.‹«

»Würde ich so etwas von mir geben?«, fragte Rothen arglos.

»Ja, das würdest du…« Dorriens blaue Augen flackerten, als er über Rothens Schulter blickte. »Das ist also deine neue Novizin.«

»Sonea.« Rothen winkte sie zu sich heran, und Sonea kam langsam die Treppe herunter.

Dorrien drückte Rothen die Zügel des Pferdes in die Hand und trat vor. Wie immer durchzuckte Rothen ein Stich des Kummers, wenn er seinen Sohn nach langer Abwesenheit lächeln sah. Gerade wenn Dorrien sich von seiner charmantesten Seite zeigte, erinnerte er Rothen am stärksten an seine verstorbene Frau. Der Junge hatte überdies auch Yilaras beinahe zwanghafte Hingabe an die Heilkunst geerbt.

Er ist kein Junge mehr, rief Rothen sich ins Gedächtnis. Dorrien war vor einigen Monaten vierundzwanzig geworden. Er war ein erwachsener Mann. In diesem Alter, überlegte Rothen, hatte ich bereits eine Frau und einen Sohn.

»Seid mir gegrüßt, Lady Sonea.«

»Seid mir gegrüßt, Lord Dorrien«, erwiderte Sonea mit einer anmutigen Verbeugung.

In diesem Moment kam ein Diener aus den Ställen, und Rothen übergab dem Mann die Zügel.

»Wohin soll ich das Gepäck bringen, Mylord?«, fragte der Diener.

»In mein Quartier«, antwortete Rothen. Der Mann nickte und führte das Pferd davon.

»Lasst uns zusehen, dass wir aus dieser Kälte wegkommen«, sagte Dorrien.

Rothen nickte und ging die Treppe zur Universität hinauf. Als sie in die Wärme der Halle traten, seufzte Dorrien.

»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein«, sagte er. »Wie stehen die Dinge hier, Vater?«

Rothen zuckte die Achseln. »Es ist so still wie immer - und was es an kleinen Dramen gab im vergangenen Jahr, hat sich um uns gedreht.« Er lächelte Sonea zu. »Aber darüber weißt du bereits bestens Bescheid.«

Dorrien kicherte. »Ja. Und wie geht es Botschafter Dannyl?«

»Er hat sich seit einigen Monaten nicht mehr direkt bei mir gemeldet, aber ich habe einige Briefe bekommen und eine Kiste mit elynischem Wein.«

»Ist noch welcher übrig?«

»Ja.«

»Nun, das nenne ich eine gute Nachricht.« Dorrien rieb sich die Hände.

»Wie stehen die Dinge im Nordosten?«

Dorrien hob die Schultern. »Keine ungewöhnlichen Vorkommnisse. Eine kleine Epidemie von Winterfieber war schon das aufregendste Ereignis des vergangenen Jahres. Wie üblich haben einige der Bauern versucht, ihre Arbeit fortzusetzen, und haben sich dabei obendrein noch eine Lungenfäule zugezogen. Davon abgesehen musste ich mich um den einen oder anderen Unfall kümmern, von den alten Leuten ist der eine oder andere gestorben, und einige Babys haben ihre Plätze eingenommen. Oh, und einer der Reber-Hütejungen ist mit Brandwunden zu mir gekommen. Er hat behauptet, er sei von jemandem angegriffen worden, den die Einheimischen den Sakan-König nennen.«

Rothen runzelte die Stirn. »Sakan-König? Ist das nicht ein alter Aberglaube über einen Geist, der auf dem Berg Kanlor lebt?«

»Ja, aber nach den Verletzungen des Jungen zu schließen, hat er wohl selbst mit brennendem Holz herumgespielt.«

Rothen kicherte. »Jungen können erstaunlich erfinderisch sein, wenn sie nicht zugeben wollen, dass sie etwas Unrechtes oder Törichtes getan haben.«

»Es war eine recht vergnügliche Geschichte«, stimmte Dorrien ihm zu. »Der Junge hat ein überaus lebhaftes Bild von diesem Sakan-König gezeichnet.«

Rothen lächelte. Die Gedankenrede war zu direkt für solches Geplauder. Es war so viel besser, wenn man von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen konnte. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Sonea Dorrien beobachtete. Als sein Sohn sich kurz darauf abwandte, um in den Speisesaal zu spähen, unterzog sie ihn einer gründlicheren Musterung.

Dorrien folgte Rothens Blick und sah nun seinerseits Sonea an. Sie fasste dies als Einladung auf, sich der Unterhaltung anzuschließen.

»Hattet Ihr eine beschwerliche Reise?«

Dorrien stöhnte. »Schrecklich. Schneestürme in den Bergen und endlose Schneefälle während der restlichen Reise. Aber wenn die Gilde ruft, muss man gehorchen. Selbst wenn das bedeutet, dass man noch den letzten Funken seiner Kraft darauf verwenden muss, einen Pfad durch den Schnee zu brennen und zu verhindern, dass Pferd und Reiter erfrieren.«

»Hättet Ihr nicht bis zum Frühjahr warten können?«

»Das Frühjahr ist die arbeitsreichste Zeit für die Reber-Hirten. Dann werfen die Reber ihre ersten Jungen, und die Bauern arbeiten zu hart und neigen deshalb immer wieder zu Unfällen.« Er schüttelte den Kopf. »Keine günstige Zeit.«

»Der Sommer vielleicht?«

Wieder schüttelte Dorrien den Kopf. »Im Sommer habe ich ständig mit Hitzschlägen oder Sonnenbrand zu tun. Und natürlich mit dem Sommerhusten.«

»Und der Herbst?«

»Erntezeit.«

»Dann ist der Winter also tatsächlich die beste Zeit.« »Irgendjemand kommt immer mit Frostbeulen zu mir, und wenn man sich monatelang nur im Haus aufhält, können daraus leicht gesundheitliche Probleme erwachsen…«

»Es gibt einfach keine günstige Zeit, nicht wahr?«

Er grinste. »Nein.«

Langsam machten sie sich durch den fallenden Schnee auf den Weg zum Magierquartier. Rothen sah, dass Sonea die Augenbrauen in die Höhe zog, als Dorrien zu dem gekachelten Bereich des Treppenhauses hinüberging und dort langsam emporschwebte.

»Bemühst du immer noch die Treppe, Vater?« Dorrien verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich hältst du deinen Novizen immer noch Predigten über körperliche Ertüchtigung und Faulheit. Aber ist es nicht genauso wichtig, seine Fähigkeiten in Form zu halten wie den Körper?«

»Es überrascht mich, dass du nach den Anstrengungen deiner Reise überhaupt noch Energie übrig hast, um zu schweben«, erwiderte Rothen.

Dorrien zuckte die Achseln. Rothen besah sich seinen Sohn ein wenig näher und bemerkte Spuren von Erschöpfung in den Zügen des jungen Mannes. Also will er nur angeben, überlegte Rothen. Yaldin hatte einmal bemerkt, dass Dorrien mit seinem Charme einem Reber die Wolle vom Leib locken könne, falls er es sich in den Kopf setzen sollte. Rothen blickte zu Sonea hinüber. Sie betrachtete gebannt Dorriens Füße - wahrscheinlich spürte sie die Energiescheibe unter ihnen.

Oben angekommen trat Dorrien mit einem leisen Seufzer der Erleichterung auf den Flur. Er warf Sonea einen fragenden Blick zu. »Hat mein Vater dir schon beigebracht, wie man schwebt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nun, dann wird es aber höchste Zeit, dass wir daran etwas ändern.« Dorrien sah Rothen tadelnd an. »Das ist eine Fähigkeit, die bisweilen sehr nützlich sein kann.«

Um junge Damen zu beeindrucken?

Dorrien ignorierte diese Bemerkung. Rothen lächelte. Kurz darauf traten die drei in die Wärme seines Quartiers, wo sie von Tania begrüßt wurden.

»Wünschen die Herrschaften einen Becher gewärmten Wein?«

»Bitte!«, rief Dorrien.

»Für mich nicht«, sagte Sonea, die in der Tür stehen geblieben war. »Ich muss noch drei Kapitel Medizin lernen.«

Dorrien machte ein Gesicht, als wolle er dagegen protestieren, änderte dann jedoch seine Meinung. »Du stehst kurz vor dem Ende des ersten Jahres, nicht wahr, Sonea?«

»Ja, in zwei Wochen finden die Prüfungen statt.«

»Das bedeutet eine Menge Arbeit.«

Sonea nickte. »Ja, deshalb muss ich mich jetzt verabschieden. Es war mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen, Lord Dorrien.«

»Die Freude war ganz auf meiner Seite, Sonea.« Dorrien hob sein Glas. »Wir sehen uns dann später oder beim Abendessen.«

Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss. Dorriens Blick verharrte noch einen Moment auf der Stelle, wo sie gestanden hatte.

»Du hast mir nicht erzählt, dass sie kurzes Haar hat.«

»Es war vor einem Jahr noch viel kürzer.«

»Sie wirkt so zerbrechlich.« Dorrien runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich habe etwas… Gröberes erwartet.«

»Du hättest mal sehen sollen, wie dünn sie war, als sie hierher kam.«

»Ah.« Dorrien wurde schlagartig ernst. »Aufgewachsen in den Hüttenvierteln. Kein Wunder, dass sie so klein ist.«

»Klein vielleicht«, stimmte Rothen ihm zu, »aber nicht schwach. Jedenfalls nicht in puncto Magie.« Rothen betrachtete seinen Sohn. »Ich hatte gehofft, dass du sie vielleicht ein wenig ablenken könntest. Seit dem Sommer hat sie nur ihr Studium im Kopf und ihre Probleme mit den anderen Novizen.«

Wieder flackerte in Dorriens Augen Erheiterung auf. »Ich soll sie ablenken? Ich denke, das kann ich tun - falls du nicht glaubst, dass sie einen Landheiler furchtbar langweilig finden wird.«


Die Hauptstraße von Kikostadt schlängelte sich in einer ungebrochenen Spirale um die Insel und endete auf dem Hügel vor dem Palast des Kaisers von Vin. Dannyls Führer zufolge war die Stadt so angelegt worden, um Eindringlinge abzuwehren und ihr Vorankommen zu behindern. Außerdem wurde die Straße an Festtagen für Paraden benutzt, und die Konstruktion stellte sicher, dass alle Bewohner der Stadt einen guten Blick auf die Prozession hatten.

Als Dannyl und Tayend angekommen waren, war das Erntefest in vollem Gang gewesen, und drei Tage später feierten die Menschen noch immer. Die Aufgaben, um die sich zu kümmern Lorlen Errend gebeten hatte, waren unbedeutend, aber zahlreich. Dannyl konnte erst nach dem Fest mit der Arbeit beginnen, daher hatten er und Tayend sich seit ihrer Ankunft im Gildehaus ausgeruht und es nur verlassen, um sich die Darbietungen auf der Straße anzusehen oder Wein und einheimische Delikatessen zu genießen.

Während des größten Teils des Tages wimmelte es auf der Hauptstraße von Festgästen, Sängern, Tänzern und Musikanten, so dass man nur langsam von einem Ort zum anderen kam. Man konnte der Prozession allerdings ausweichen, indem man die allgegenwärtigen steilen Treppen benutzte. Es war eine anstrengende Kletterpartie, wenn man nach oben wollte, und Tayend war vollkommen außer Atem, als sie endlich ihr Ziel erreichten, eine Weinhandlung auf der Hauptstraße, mehrere Treppen oberhalb des Gildehauses gelegen.

Tayend blieb stehen, um sich gegen eins der Gebäude zu lehnen, und bedeutete Dannyl, allein in den Laden zu gehen. »Ich werde mich hier ausruhen«, keuchte er. »Erledigt Ihr die Einkäufe.«

Sofort trat ein Mädchen, das Armbänder aus Blumen feilbot, aus der Prozession heraus, sprach den Gelehrten an und versuchte, ihn zum Kauf ihrer Waren zu bewegen. Die Kühnheit der Vindo-Frauen hatte Tayend, gelinde gesagt, überwältigt, aber ihr Führer hatte ihnen erklärt, dass die Direktheit der Vindo einfach die hiesige Art war, gute Manieren zu zeigen.

Da Tayend nun solchermaßen beschäftigt war, betrat Dannyl die Weinhandlung und suchte sich einige Weine aus. Wohlwissend, dass Tayend sich über etwas Vertrautes freuen würde, entschied er sich für mehrere Flaschen elynischen Weins. Wie die meisten Vindo beherrschte der Kaufmann Dannyls Sprache gut genug, um seinen Preis zu nennen, aber nicht gut genug, um darüber zu verhandeln.

Während der Mann die Flaschen in eine Kiste packte, trat Dannyl an das Fenster des Ladens. Das Blumenmädchen war weitergezogen. Tayend lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt, an der Ecke des Gebäudes und beobachtete eine Gruppe männlicher Akrobaten. Plötzlich schnellte eine Hand vor, ergriff Tayends Arm und zog den Gelehrten in den Schatten.

Dannyl trat einen Schritt näher an das Fenster heran, dann erstarrte er. Ein verkommen aussehender Vindo mit strähnigem Haar drückte Tayend in einer Gasse neben der Weinhandlung an eine Mauer. Die eine Hand hatte er um den Hals des Gelehrten gelegt, in der anderen hielt er ein Messer, mit dem er Tayend bedrohte.

Schneeweiß vor Entsetzen starrte Tayend den Straßenräuber an. Die Lippen des Mannes bewegten sich; wahrscheinlich verlangte er Geld. Dannyl machte einen Schritt auf die Tür zu, dann zwang er sich, stehen zu bleiben. Was würde geschehen, wenn der Straßenräuber sich einem Magier gegenübersah?

Dannyls Gedanken überschlugen sich. Seine Fantasie gaukelte ihm lebhafte, schreckliche Bilder vor: der Straßenräuber, wie er Tayend als Geisel nahm… wie er den Gelehrten bei seiner Flucht hinter sich herzerrte… wie er Tayend erdolchte, sobald Dannyl außer Sicht war.

Wenn Tayend ihm andererseits sein Geld überließ, würde der Mann es einfach nehmen und verschwinden.

Tayends Blick irrte zum Fenster der Weinhandlung hinüber. Dannyl deutete mit dem Kopf auf den Räuber und formte dann mit den Lippen die Worte: »Gib es ihm.« Tayend runzelte die Stirn.

Als der Räuber die Veränderung in der Miene des Gelehrten bemerkte, sah er ebenfalls zu dem Fenster hinüber. Dannyl zog sich fluchend zurück. Hatte der Mann ihn bemerkt? Vorsichtig spähte er noch einmal hinaus.

Tayend zog gerade seinen Beutel mit Münzen aus dem Mantel. Der Räuber packte den Beutel und testete sein Gewicht. Dann verstaute er ihn mit einem triumphierenden Grinsen in seiner Tasche - und bohrte Tayend im nächsten Moment mit einer raschen Bewegung sein Messer in die Seite.

Entsetzt stürzte Dannyl aus dem Laden. Tayend krümmte sich, und aus der Wunde strömte Blut. Als Dannyl sah, dass der Räuber sich anschickte, abermals zuzustechen, griff er nach seiner Magie. Der Räuber bemerkte Dannyl, sein Gesichtsausdruck spiegelte Überraschung und Grauen wider, und dann flog er in hohem Bogen durch die Luft. Mit einem Übelkeit erregenden Knacken prallte er gegen das Gebäude auf der anderen Straßenseite und fiel zu Boden. Die Teilnehmer der Prozession sprangen in alle Richtungen davon.

Einen Moment lang starrte Dannyl den Mann erschrocken an. Eine so heftige Reaktion hatte er nicht beabsichtigt. Dann stöhnte Tayend leise auf, und Dannyl schob den Gedanken an den Straßenräuber beiseite. Mit einem Satz war er bei dem Gelehrten und konnte ihn gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor er aufs Pflaster fiel. Er riss das blutbefleckte Hemd auf und drückte ihm eine Hand auf die Wunde.

Dann schloss er die Augen und richtete seinen Geist nach innen. Das Messer war tief in Tayends Fleisch eingedrungen und hatte Venen, Arterien und Organe verletzt. Dannyl beschwor heilende Magie herauf und konzentrierte sie auf die Wunden. Er leitete Blut um, fügte Gewebe zusammen und ermutigte Tayends Körper, den Schmutz von dem verdreckten Messer des Räubers fortzuspülen. Im Allgemeinen arbeiteten Heiler nur, bis eine Wunde verschlossen war und keine Gefahr mehr von ihr ausging, denn sie mussten ihre Kraft für andere Patienten aufsparen, aber Dannyl ließ seine Energie weiterfließen, bis nur noch Narbengewebe zurückgeblieben war. Dann lauschte er auf den Körper unter seiner Hand, wie man es ihn gelehrt hatte, und überzeugte sich davon, dass alle Organe ihre Funktion wieder aufgenommen hatten.

Allerdings erreichten ihn auch andere Botschaften. Tayends Herz raste. Seine Muskeln waren steif vor Anspannung. Ein Gefühl von Angst berührte Dannyls Geist. Er runzelte die Stirn. Eine gewisse Furcht war zu erwarten gewesen, aber bei diesem Gefühl ging es um etwas anderes als um die Verletzungen selbst. Seine Sinne verließen die rein körperliche Ebene, und plötzlich ergossen sich Tayends Gedanken in Dannyls Geist.

Vielleicht wird er es nicht sehen… nein, es ist zu spät! Wahrscheinlich hat er es bereits gesehen. Jetzt wird er mich verachten. Kyralische Magier sind so. Sie halten uns für pervers. Widernatürlich. Aber nein! Er wird es verstehen. Er sagt, er wisse, wie das ist. Aber er selbst ist keiner von uns… oder vielleicht doch? Möglich, dass er seine Neigungen verbirgt. Nein, das kann nicht sein. Er ist ein kyralischer Magier. Ihre Heiler hätten es bemerkt und ihn hinausgeworfen

Überrascht löste sich Dannyl aus Tayends Geist, aber er hielt die Augen geschlossen und ließ die Hand auf dem Körper des Gelehrten liegen. Deshalb lehnte Tayend es also ab, mit Magie geheilt zu werden. Er hatte Angst, Dannyl könnte spüren, dass… dass er wie Dem Agerralin war. Tayend begehrte Männer.

Erinnerungen an die letzten Monate blitzten vor Dannyls innerem Auge auf. Er dachte an den Tag nach dem Angriff der Fischegel. Tayend hatte zwei Egel entdeckt, die sich umeinander und um ein Seil geschlungen hatten. Ein Matrose hatte Tayends Interesse bemerkt.

»Sie paaren sich«, hatte der Mann gesagt.

»Welcher von ihnen ist das Männchen und welcher das Weibchen?«, hatte Tayend wissen wollen.

»Kein Junge, kein Mädchen. Beide gleich.«

Tayend hatte die Brauen hochgezogen und den Seemann angesehen. »Wirklich?«

Der Mann war weggegangen, um einen Topf mit Siyo zu holen. Tayend hatte sich die Egel genauer angesehen.

»Was für ein Glück für euch«, hatte er gesagt.

Und Tayend hatte sich während ihres gesamten Aufenthalts in Lonmar ausgesprochen unwohl gefühlt. Dannyl wusste, dass ihr Erlebnis auf dem Richtplatz Tayend schockiert hatte, aber er hatte angenommen, dass der Gelehrte den Zwischenfall nach einer Weile vergessen und den Rest des »Abenteuers« genießen würde. Aber Tayend war die ganze Zeit über still und ängstlich gewesen.

Und jetzt fürchtet er natürlich meine Reaktion. Wir Kyralier sind nicht gerade für unsere Toleranz gegenüber Männern wie Tayend bekannt. Wer wüsste das besser als ich? Kein Wunder, dass er Angst davor hatte, geheilt zu werden. Er glaubt, dass Heiler es spüren können, wenn ein Mann andere Männer begehrt, geradeso als sei das eine Krankheit.

Dannyl runzelte die Stirn. Was sollte er jetzt tun? Sollte er Tayend wissen lassen, dass er sein Geheimnis entdeckt hatte, oder war es besser, vorzugeben, er habe nichts bemerkt?

Ich weiß es nicht. Ich brauche mehr Zeit zum Nachdenken. Fürs Erste… ja, ich werde so tun, als wüsste ich es nicht.

Als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass Tayend ihn anstarrte. Lächelnd zog Dannyl die Hand zurück. »Seid Ihr…?«

»Mylord?«

Erst jetzt bemerkte Dannyl, dass sich eine Menge um sie herum versammelt hatte. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war ein Wachposten. Weitere Wachleute befragten die Zeugen des Vorfalls. Einer untersuchte den am Boden liegenden Straßenräuber, dann zog er dem Mann Tayends Geldbeutel aus der Hand.

Der Wachposten, der vor Dannyl stand, schob mit der Spitze seiner Sandale das blutbefleckte Messer zur Seite, das neben Tayends Füßen auf dem Boden lag. »Keine Gerichtsverhandlung«, sagte er und sah Dannyl nervös an. »Die Leute sagen, Ihr habt bösen Mann getötet. Ihr seid im Recht.«

Dannyl sah, dass die Menschen um ihn herum den Straßenräuber anstarrten. Er war tot. Ein Schauer überlief Dannyl. Er hatte noch nie zuvor getötet. Das war jedoch etwas, worüber er später würde nachdenken müssen. Als der Wachmann sich entfernte, wandte sich Dannyl zu Tayend um und warf dem Gelehrten einen fragenden Blick zu.

»Geht es Euch wieder besser?«

Tayend nickte hastig. »Wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass ich immer noch am ganzen Leib zittere.«

Der Weinhändler, der in der Tür seines Ladens stand, wirkte verunsichert und ängstlich. Ein jüngerer Mann stand mit der Kiste, in der sich Dannyls Käufe befanden, an seiner Seite. »Dann kommt. Holen wir uns unseren Wein. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich bin durstiger als je zuvor.«

Tayend machte einige unsichere Schritte, dann schien er sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Ein Wachmann drückte ihm den Geldbeutel in die Hand. Dannyl lächelte über den Gesichtsausdruck des Gelehrten. Dann bedeutete er dem Gehilfen des Kaufmanns, ihnen zu folgen, und sie machten sich auf den Weg zurück zum Gildehaus.


Die Wörter auf der Buchseite vor Sonea verschwanden plötzlich unter dicken, schwarzen Tropfen. Sie sah sich um, aber es stand niemand hinter ihr. Als weitere Tropfen auf die Seite fielen, verfolgte sie deren Weg zurück und entdeckte, dass hoch über ihr ein kunstvoll gefertigtes Tintenfass in der Luft schwebte.

Hinter den Bücherregalen zu ihrer Linken wurde Gekicher laut. Das Tintenfässchen bewegte sich und drohte, auch Soneas Roben mit Tinte zu bespritzen. Sie kniff die Augen zusammen und sandte einen Magiestrahl aus. Sofort trocknete die Tinte mit einem leisen Zischen, und die Tintenflasche leuchtete rot auf. Das kleine Fass schoss zu den Regalen hinüber, und Sonea hörte ein schrilles Aufheulen.

Mit einem grimmigen Lächeln wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, aber ihr Lächeln erstarb, als sie sah, dass die Tinte auf der Seite trocknete. Sie zog ein Nasentuch aus der Tasche und betupfte die Flecken. Mit einem leisen Fluch beobachtete sie, wie die Tinte sich weiter ausbreitete.

»Eine schlechte Idee. Damit machst du alles nur noch schlimmer«, erklang eine Stimme hinter ihr.

Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Dorrien stand hinter ihr. Ohne einen Moment nachzudenken, klappte sie das Buch zu.

Er schüttelte den Kopf. »Das wird erst recht nichts nützen.« Sonea runzelte ärgerlich die Stirn und suchte nach einer schlagfertigen Erwiderung, aber bevor ihr etwas einfiel, hatte Dorrien ihr das Buch bereits aus der Hand genommen.

»Lass mich mal sehen.« Er lachte. »Alchemie für Anfänger. Das Buch ist es nicht einmal wert, dass man es aufbewahrt!«

»Aber es gehört der Bibliothek.«

Dorrien blätterte die fleckigen Seiten durch und schnitt eine Grimasse. »Das kannst du nicht wieder in Ordnung bringen«, sagte er kopfschüttelnd. »Mach dir keine Gedanken deswegen. Rothen kann eine neue Kopie anfertigen lassen.«

»Aber…«

Dorrien zog die Augenbrauen hoch. »Aber?«

»Es wird Geld kosten…«

»Das dürfte kaum ein Problem sein, Sonea«, fiel Dorrien ihr ins Wort.

Sonea öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann aber wieder.

»Du meinst, es wäre nicht gerecht, wenn er die Kopie bezahlt, stimmt’s?« Dorrien ließ sich auf einen der Stühle neben ihr fallen. »Schließlich warst nicht du diejenige, die das Buch unbrauchbar gemacht hat.«

Sonea kaute auf ihrer Unterlippe. »Du hast sie gesehen?«

»Ich bin an einem Novizen mit verbrannten Fingerspitzen vorbeigekommen und an einem anderen, der etwas in Händen hielt, das starke Ähnlichkeit mit einer geschmolzenen Tintenflasche hatte. Als ich dann gesehen habe, wie du dieses Buch zu retten versucht hast, konnte ich mir den Rest denken.« Seine Lippen zuckten. »Rothen hat mir von deinen Bewunderern erzählt.«

Sie musterte ihn schweigend. Er lachte über ihren Gesichtsausdruck, aber in seinem Lachen schwang ein Anflug von Verbitterung mit.

»Ich war auch nicht allzu beliebt in meinem ersten Jahr an der Universität. Ich kann ein wenig nachvollziehen, was du durchmachst. Es ist die reinste Folter, aber du kannst dem ein Ende bereiten.«

»Wie?«

Er legte das Buch auf den Tisch und lehnte sich zurück. »Bevor ich etwas sage, solltest du mir besser erzählen, was sie dir bisher angetan haben. Bevor ich dir helfen kann, muss ich eine Vorstellung davon bekommen, was für Menschen diese Novizen sind, insbesondere Regin.«

»Du willst mir helfen?« Sie sah ihn zweifelnd an. »Was kannst du tun, das Rothen nicht tun könnte?«

Er lächelte. »Vielleicht nichts, aber das werden wir nie erfahren, wenn wir es nicht ausprobieren.«

Ein wenig widerstrebend erzählte sie ihm von ihrem ersten Tag an der Universität, von Issle und der Verschwörung der ganzen Klasse gegen sie. Sie berichtete ihm, dass sie gearbeitet habe, bis sie in die nächste Klasse aufrücken konnte, nur um dann feststellen zu müssen, dass Regin ihr folgte. Dann erzählte sie ihm von Narrons Schreibfeder, die kurz darauf verschwunden war und für deren Diebstahl man sie verantwortlich gemacht hatte. Zu guter Letzt erzählte sie auch von dem Hinterhalt im Wald.

»Ich weiß nicht, warum, aber als ich von dieser Zusammenkunft mit den Höheren Magiern kam, hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas im Gange war, das ich nicht verstand«, beendete sie ihren Bericht. »Sie haben mir nicht die Art Fragen gestellt, die ich erwartet hatte.«

»Was hattest du denn erwartet?«

Sonea zuckte die Achseln. »Ich dachte, sie würden wissen wollen, wer mit der ganzen Sache angefangen habe. Stattdessen haben sie mich nur gefragt, ob ich müde sei.«

»Du hattest soeben unter Beweis gestellt, wie stark du bist, Sonea«, erklärte Dorrien. »Natürlich hat diese Tatsache sie mehr interessiert als irgendein dummer Streit zwischen dir und den Novizen.«

»Aber sie haben Regin bis zur Mitte des nächsten Jahres von Balkans Unterricht ausgeschlossen.«

»Oh, sie mussten Regin bestrafen.« Dorrien machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber das ist nicht der Grund, warum sie dir diese Fragen gestellt haben. Sie wollten natürlich, dass du seine Geschichte bestätigst, aber vor allem wollten sie sich eine Vorstellung von deinen Grenzen verschaffen.«

Sonea dachte an jenen Abend zurück und nickte langsam.

»Soweit ich gehört habe, bist du inzwischen stärker als viele der Lehrer, die mit dem Anfängerunterricht betraut sind«, fuhr er fort. »Einige von ihnen glauben, deine Kräfte hätten sich lediglich besonders früh entwickelt und du würdest nicht sehr viel weiter kommen, andere denken, dass du den Gipfel deiner Fähigkeiten noch lange nicht erreicht hast und einmal genauso mächtig sein wirst wie Lorlen. Wer weiß? Es hat nichts zu bedeuten, bevor du nicht entschieden hast, wie du diese Macht einsetzen willst.« Dorrien beugte sich vor. »Aber die Magier müssen jetzt die Tatsache akzeptieren, dass Regin und seine Freunde sich gegen dich verschworen haben. Bedauerlicherweise können sie nichts dagegen unternehmen, solange es keine Beweise gibt. Und ebendiese Beweise müssen wir ihnen liefern. Ich denke, wir sollten ihnen klar machen, dass Regin derjenige war, der Narrons Schreibfeder unter deine Sachen geschmuggelt hat.«

»Wie?«

»Hmmm.« Dorrien lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und trommelte mit den Fingern auf den Buchdeckel. »Im günstigsten Fall sollte man ihn dabei erwischen, wie er abermals versucht, dir einen Diebstahl in die Schuhe zu schieben. Wenn das herauskommt, werden alle Magier und Novizen die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass er das Gleiche schon einmal versucht hat. Trotzdem müssen wir dafür sorgen, dass niemand auf die Idee kommt, dass diesmal ihm eine Falle gestellt worden ist…«

Während sie verschiedene Ideen entwickelten und wieder verwarfen, hob sich Soneas Stimmung merklich. Vielleicht konnte Dorrien ihr tatsächlich helfen. In jedem Fall war er ganz anders, als sie es erwartet hatte. Genau genommen war er anders als alle Magier, denen sie bisher begegnet war.

Ich glaube, ich mag ihn, überlegte sie.

18 Freundschaft

Als Sonea auf ein Klopfen hin die Tür ihres Zimmers öffnete, blinzelte sie überrascht.

»Genug gelernt für heute«, erklärte Dorrien. »Du hast die ganze Woche jeden Abend hier gesessen und gebüffelt. Heute ist Freitag, und wir werden ausgehen.«

»Ausgehen?«, wiederholte Sonea.

»Ausgehen«, bekräftigte er.

»Wohin?«

Dorriens Augen funkelten. »Das«, sagte er, »ist ein Geheimnis.«

Sonea öffnete den Mund, um Einwände zu erheben, aber er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Scht«, machte er. »Keine Fragen mehr.«

Mit einer Mischung aus Neugier und Verärgerung zog sie die Tür hinter sich zu und folgte Dorrien durch den Flur des Novizenquartiers. Als sie ein leises Geräusch hinter sich hörte, drehte sie sich um. Regin beobachtete sie aus der geöffneten Tür eines Raums, die Lippen zu einem verschlagenen Lächeln verzogen.

Kurz darauf verließen sie das Gebäude. Draußen schien die Sonne, obwohl auf dem Boden noch immer hoher Schnee lag. Dorrien legte ein zügiges Tempo an den Tag, und Sonea hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

»Wie weit ist es bis zu diesem geheimen Ort?«

»Nicht weit.« Dorrien lächelte.

Nicht weit. Wie die meisten von Dorriens Antworten half ihr auch diese Bemerkung nicht weiter. Sie presste die Lippen zusammen, fest entschlossen, keine Fragen mehr zu stellen.

»Bist du, seit du hierher gekommen bist, schon oft außerhalb des Geländes gewesen?«, fragte er, als sie sich der Universität näherten.

»Ein paar Mal. Allerdings nicht mehr, seit ich mit dem Studium begonnen habe.«

»Aber das war vor fast sechs Monaten!« Dorrien schüttelte den Kopf. »Rothen sollte wirklich zusehen, dass du mehr aus dem Haus kommst. Es ist ungesund, die ganze Zeit im Zimmer zu hocken.«

Erheitert über seinen missbilligenden Tonfall, lächelte Sonea. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Dorrien sich über einen längeren Zeitraum hinweg im Haus wohlgefühlt hätte. Sein Gesicht und seine Hände waren leicht gebräunt, was darauf schließen ließ, dass er viele Stunden im Freien verbrachte.

Insgesamt hatte sie eine jüngere Ausgabe von Rothen erwartet. Während Dorriens Augen von dem gleichen strahlenden Blau waren wie die seines Vaters, war sein Kinn schmaler und sein Körperbau weniger stämmig. Der Hauptunterschied lag jedoch in ihrem Charakter. Oder irrte sie sich da? Während Rothen mit Hingabe Novizen unterrichtete, setzte sich Dorrien mit der gleichen Leidenschaft für die Menschen in den Dörfern ein, die unter seiner Obhut standen. Die beiden Männer hatten lediglich unterschiedliche Disziplinen gewählt.

»Wenn du die Universität verlassen hast, wohin bist du dann gegangen?«, fragte Dorrien.

»Ich habe einige Male meine Tante und meinen Onkel in den Hüttenvierteln besucht«, antwortete sie. »Und ich glaube, dass sich einige Magier bei diesen Gelegenheiten Sorgen gemacht haben, ich könnte versuchen wegzulaufen.«

»Hast du je daran gedacht, das zu tun, Sonea?«

Erstaunt über diese Frage, sah sie ihn forschend an. »Manchmal«, gab sie zu und reckte das Kinn.

Dorrien lächelte. »Glaub nicht, du wärst der einzige Novize, der je daran gedacht hat«, sagte er leise. »Wir alle spielen von Zeit zu Zeit mit diesem Gedanken - im Allgemeinen kurz vor den Prüfungen.«

»Aber du bist am Ende aus der Gilde fortgekommen, nicht wahr?«, bemerkte Sonea.

Er lachte. »So könnte man es wohl betrachten.«

»Seit wann arbeitest du schon draußen auf dem Land?«

»Seit fünf Jahren.« Sie hatten inzwischen das Ende des Flurs erreicht und gingen die Treppe in der Eingangshalle hinauf.

»Vermisst du die Gilde?«

Er schürzte die Lippen. »Manchmal. Vor allem vermisse ich meinen Vater, aber mir fehlt auch der Zugang zu all den Heilpflanzen und dem Wissen der Gilde. Wenn ich herausfinden muss, wie eine Krankheit zu behandeln ist, kann ich natürlich Kontakt zu den Heilern hier aufnehmen, aber es dauert länger, und oft fehlen mir die notwendigen Medikamente.«

»Gibt es dort, wo du jetzt lebst, auch ein Heilerquartier?«

»Nein.« Dorrien lächelte. »Ich lebe ganz allein in einem kleinen Haus auf einem Hügel. Die Kranken kommen zu mir, um sich behandeln zu lassen, oder ich gehe zu ihnen. Manchmal muss ich stundenlange Wege in Kauf nehmen, und ich muss alles mitschleppen, was ich vielleicht benötigen könnte.«

Während Sonea ihm die zweite Treppe hinauffolgte, dachte sie über diese Bemerkung nach. Als sie oben angekommen waren, war sie selbst zwar ein wenig außer Atem, Dorrien hingegen schien die Anstrengung nichts auszumachen.

»Hier entlang.« Sie befanden sich jetzt im dritten Geschoss der Universität, und Sonea fragte sich ratlos, was es hier oben so Interessantes geben mochte.

Durch ein Gewirr kleiner Gänge kamen sie schließlich in ein unbeleuchtetes Treppenhaus.

»Wo sind wir?«, flüsterte Sonea. Sie hatten so häufig die Richtung gewechselt, dass sie jede Orientierung verloren hatte. Trotzdem war sie davon überzeugt, dass sie sich irgendwo im vorderen Teil der Universität befinden mussten. Es gab keine Stockwerke mehr über ihnen, und doch waren sie noch immer nicht am Ende der Treppe angelangt.

»Wir sind in der Universität«, antwortete Dorrien mit einem unschuldigen Lächeln.

»Das weiß ich auch.«

Er kicherte und setzte den Weg die Treppe hinauf fort, bis sie zu einer Tür kamen, die sich auf eine Handbewegung von Dorrien hin öffnete. Ein eiskalter Windstoß strich über Soneas Haut.

»Jetzt sind wir außerhalb der Universität«, sagte Dorrien, als sie durch die Tür traten.

Sonea, die sich unvermittelt auf einem breiten Weg wiederfand, sog überrascht die Luft ein. Sie standen auf dem Dach der Universität.

Das Dach war leicht gewölbt, damit sich dort weder Regen noch Schnee sammeln konnten. In der Mitte befand sich die gewaltige Glasdecke der Großen Halle. Rings um die Rahmen der einzelnen Glasscheiben hatte sich ein wenig Schnee angehäuft. Die verzierten oberen Abschlüsse der beiden langen Fronten des Gebäudes ragten etwas über das Dach empor, wie ein stabiles, etwa hüfthohes Geländer.

»Ich wusste gar nicht, dass es möglich ist, auf das Dach zu kommen«, gab sie zu.

»Die Schlösser zum Dachaufgang reagieren nur auf die Berührung einiger weniger Magier, denen es gestattet ist, hier heraufzukommen«, erklärte Dorrien. »Mir hat Lady Vinaras Vorgänger, Lord Garen, den Zutritt hier verschafft.« Ein wehmütiger Ausdruck trat in Dorriens Züge. »Nach dem Tod meiner Mutter haben wir uns irgendwie angefreundet. Er war für mich wohl so etwas wie ein zusätzlicher Großvater. Einer, der immer da war, wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Er hat mich auch unterrichtet, als ich beschloss…«

Ein Windstoß riss seine Worte fort und wehte Sonea das Haar ins Gesicht. Sie griff nach der Spange, die ihre Frisur im Nacken zusammenhielt.

Im nächsten Moment ließ der Wind abrupt nach. Als sie den Schild spürte, den Dorrien um sie herum geschaffen hatte, blickte sie zu ihm auf und stellte fest, dass er sie musterte. Seine Augen leuchteten im Licht der Sonne.

»Komm mit«, sagte er.

Sonea folgte ihm zum Geländer. Die Oberfläche des Daches war geriffelt, damit man bei Nässe nicht ausrutschte. Sie erreichten die Brüstung etwa in der Mitte der Längsseite des Baus. Sonea wischte den Schnee vom Geländer und beugte sich vor. Der Erdboden lag schwindelerregend tief unter ihr.

Einige Diener liefen durch die Gärten auf die Heilerquartiere zu. Über den Baumwipfeln konnte Sonea das Dach des Rundbaus erkennen. Auf der rechten Seite sah sie die Novizenquartiere, den Dom, die Sieben Bogen und das Badehaus. Dahinter erhob sich Sakiras Hügel, auf dessen Gipfel man den verfallenen Ausguck erkennen konnte.

Schließlich drehte sie sich um und blickte auf die Stadt hinab. Ein blaues Band, der Tarali, führte von Imardin fort bis zum Horizont.

An der blauen Linie des Flusses zog sich eine weitere, braune Linie entlang.

»Um zu meinem Dorf zu gelangen, musst du dieser Straße folgen«, sagte Dorrien. »Nach einem Ritt von einigen Tagen tauchen am Horizont die Berge auf, die man den Stahlgürtel nennt.«

Sonea blickte in die Richtung, in die er wies. Sie hatte die Karten von Kyralia studiert und wusste, dass dieser Gebirgszug die Grenze zwischen Kyralia und Sachaka bildete, geradeso wie im Nordwesten die Grauen Berge die Grenze zu Elyne markierten. Während sie in die Ferne blickte, beschlich sie ein eigenartiges Gefühl. Es gab Orte dort draußen, die sie noch nie gesehen hatte - die zu besuchen ihr niemals auch nur in den Sinn gekommen war -, aber sie waren trotzdem ein Teil ihrer Heimat.

Und dahinter lagen fremde Länder, von deren Existenz sie erst seit kurzem wusste.

»Bist du jemals außerhalb von Kyralia gewesen?«

»Nein.« Dorrien zuckte die Achseln. »Eines Tages werde ich vielleicht auf Reisen gehen. Bisher hatte ich nie einen guten Grund dazu, und ich bleibe meinem Dorf nicht gern allzu lange fern.«

»Was ist mit Sachaka? Du lebst doch ganz in der Nähe eines der Pässe, nicht wahr? Warst du nie in Versuchung, einmal einen Abstecher dorthin zu machen?«

Er schüttelte den Kopf. »Einige der Hirten waren in Sachaka, wahrscheinlich um festzustellen, ob es sinnvoll wäre, ihr Vieh dort grasen zu lassen. Auf der anderen Seite gibt es keine Städte, nicht einmal, wenn man mehrere Tage reitet. Nur Ödland.«

»Das Ödland, das durch den Krieg entstanden ist?«

»Ja.« Er nickte. »Wie ich sehe, hast du im Geschichtsunterricht gut aufgepasst.«

Sie zuckte die Achseln. »Das war das einzig Interessante bisher. Alles andere - die Allianz und die Bildung der Gilde - ist entsetzlich langweilig.«

Er lachte, dann löste er sich vom Geländer. Langsam gingen sie zurück zum Treppenhaus. Dorrien blieb an der obersten Stufe stehen und legte Sonea die Hand auf den Arm.

»Also, hat dir meine Überraschung gefallen?«

Sie nickte. »Ja.«

»Besser als lernen?«

»Natürlich.«

Er grinste und trat zur Seite. Als er sich plötzlich in die Tiefe fallen ließ, schnappte Sonea nach Luft. Einen Moment später stieg er wieder empor - auf einer Scheibe aus magischer Energie schwebend. Sie presste sich eine Hand auf die Brust.

»Du hast mich fast zu Tode erschreckt, Dorrien!«, tadelte sie ihn.

Er lachte. »Willst du die Kunst des Schwebens erlernen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Natürlich willst du das.«

»Ich muss für morgen noch drei Kapitel lesen.«

Seine Augen blitzten. »Das kannst du heute Abend tun. Möchtest du es lieber lernen, wenn andere Novizen zusehen? Wenn ich es dir jetzt beibringe, wird niemand außer mir die Fehler sehen, die du machst.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Er hatte nicht ganz Unrecht…

»Nur zu«, drängte er sie. »Wenn du dich weigerst, lasse ich dich unten nicht durch die Tür.«

Sonea verdrehte die Augen. »Also gut.«


Das Gildehaus in Kikostadt stand an einem steilen Abhang. Von zahlreichen Balkonen aus hatten Besucher einen Blick auf das Meer, die Strände und die lange, gewundene Straße - auf der die Menschen noch immer feierten. Rhythmische Musik drang an Dannyls Ohren. In der einen Hand hielt er ein Glas mit elynischem Wein, in der anderen die Flasche. Er nahm einen Schluck, dann löste er sich von der Brüstung des Balkons, ging zu einem Sessel hinüber, setzte sich, streckte die Beine aus und ließ seine Gedanken schweifen.

Wie immer drehten sie sich um Tayend.

Seit dem Überfall war der Gelehrte in Dannyls Gegenwart verlegen und nervös gewesen. Obwohl Dannyl versucht hatte, sich so zu benehmen wie immer, hatte er Tayend offensichtlich nicht davon überzeugen können, dass sein Geheimnis unentdeckt geblieben war. Jetzt hatte er Angst, dass Dannyl seine Freundschaft zurückweisen würde. Diese Angst war durchaus nicht unvernünftig. Obwohl ein Mann in Kyralia, anders als in Lonmar, wegen dieses »inakzeptablen« Verhaltens nicht hingerichtet wurde, galt es dort dennoch als falsch und unnatürlich. Als damals die Gerüchte über ihn in Umlauf gekommen waren, hatte Dannyl gehört, dass man es ihm, falls sich diese Dinge als wahr erweisen sollten, vielleicht nicht gestatten würde, seinen Abschluss zu machen.

In all den Jahren seither hatte er alles darangesetzt, nicht abermals einen solchen Verdacht auf sich zu lenken. In den vergangenen Tagen war ihm ein beunruhigender Gedanke gekommen: Wenn Tayends Vorlieben in Elyne ein offenes Geheimnis waren, ließ es sich nicht vermeiden, dass bei Hof auch über ihn, Dannyl, Spekulationen angestellt wurden. Das Gerücht aus seiner Vergangenheit würde dem Tratsch zusätzliche Nahrung geben, und während solches Gerede in Elyne nicht weiter gefährlich sein mochte, konnte er sich vorstellen, was geschah, wenn diese Dinge die Gilde erreichten…

Dannyl schüttelte den Kopf. Nachdem er mehrere Monate mit Tayend gereist war, ließ sich der Schaden, den sein Ruf womöglich erlitten hatte, ohnehin nicht mehr beheben. Um seines Rufes willen sollte er direkt nach seiner Rückkehr nach Elyne jeden Kontakt zu Tayend abbrechen. Er sollte völlig zweifelsfrei klar machen, wie sehr es ihn entsetzt hatte zu erfahren, dass sein Assistent ein »Knabe« war, wie die Elyner es ausdrückten.

Tayend wird es verstehen, sagte eine Stimme in seinen Gedanken. Oder irrst du dich da?, sagte eine andere. Was ist, wenn er wütend wird und Akkarin von Lorlens Nachforschungen erzählt?

Nein, antwortete die erste Stimme. Das würde sein Ansehen als Gelehrter zerstören. Und vielleicht kannst du diese Freundschaft im Guten beenden, ohne seine Gefühle zu verletzen.

Dannyl blickte finster in sein Weinglas. Warum passierte ihm so etwas immer wieder? Tayend war ein angenehmer Gefährte, ein Mann, den er mochte und schätzte. Der Gedanke, ihre Freundschaft aus Angst vor etwaigen Gerüchten zu beenden, beschämte ihn und machte ihn gleichzeitig wütend. Gewiss konnte er sich auch weiterhin der Gesellschaft des Gelehrten erfreuen, ohne seinen Ruf zu gefährden.

Sollen sie doch reden, dachte er. Ich werde nicht zulassen, dass man mir eine weitere vielversprechende Freundschaft zerstört.

Aber wenn die Gilde davon erfuhr und die Höheren Magier so entrüstet waren, dass sie seine sofortige Rückkehr befahlen…

»Ihr habt doch nicht etwa vor, diese Flasche ganz allein zu trinken, oder?«

Erschrocken blickte Dannyl auf. Tayend stand in der Tür zum Balkon.

»Natürlich nicht«, erwiderte er.

»Gut«, sagte Tayend. »Sonst käme ich mir nämlich ziemlich dumm vor, dass ich mit diesem Ding hier herumlaufe.« Er hielt ein leeres Glas in die Höhe.

Während Dannyl den Wein einschenkte, beobachtete ihn Tayend, sah dann aber schnell beiseite, als er Dannyls Blick begegnete. Schließlich trat der Gelehrte an das Geländer und schaute aufs Meer hinaus.

Es wird Zeit, befand Dannyl. Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen - und dass er meine Freundschaft deswegen nicht verlieren wird. Er holte tief Luft.

»Wir müssen reden«, sagte Tayend plötzlich.

»Ja«, pflichtete Dannyl ihm bei. Er wog seine nächsten Worte sorgfältig ab. »Ich denke, ich weiß, warum Ihr Euch nicht von mir heilen lassen wolltet.«

Tayend zuckte zusammen. »Ihr habt einmal zu mir gesagt, dass Ihr begreifen könntet, wie schwierig es für… für Männer wie mich ist.«

»Aber ich weiß von Euch, dass Männer wie Ihr in Elyne akzeptiert werden.«

»Das ist einerseits richtig, andererseits nicht.« Tayend leerte sein Glas, dann wandte er sich wieder Dannyl zu. »Zumindest enteignen wir die Leute nicht, wie ihr es in Kyralia tut«, fügte er anklagend hinzu.

Dannyl schnitt eine Grimasse. »Das Volk von Kyralia ist nicht gerade für seine Toleranz bekannt. Ihr wisst, dass ich das am eigenen Leib erfahren habe. Wir sind jedoch nicht alle so voreingenommen.«

Zwischen Tayends Brauen erschien eine Falte. »Früher einmal wollte ich selbst Magier werden. Einer meiner Vettern hat mich geprüft und Potenzial gefunden. Man wollte mich in die Gilde schicken.« Tayends Blick trübte sich, und Dannyl sah Sehnsucht in den Augen des Gelehrten aufschimmern, aber dann schüttelte er den Kopf und seufzte. »Später habe ich von Euch gehört, und mir ist klar geworden, dass es keine Rolle spielte, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprachen oder nicht. Es war offenkundig, dass ich niemals Magier werden konnte. Die Gilde hätte herausgefunden, was ich bin, und mich gleich wieder heimgeschickt.«

Ein seltsamer Ärger stieg in Dannyl auf. Mit seinem beeindruckenden Gedächtnis und seinem scharfen Verstand hätte Tayend einen großartigen Magier abgegeben. »Wie habt Ihr Eure Familie davon abhalten können, Euch in die Gilde zu schicken?«

»Ich habe meinem Vater erklärt, dass ich es nicht wolle.« Tayend zuckte die Achseln. »Damals hat er noch keinen Verdacht geschöpft. Als ich später Freundschaft mit gewissen Leuten schloss, glaubte er, meine wahren Beweggründe zu kennen. Er denkt, ich hätte diese Chance ausgeschlagen, weil ich Dinge tun wollte, die die Gilde nicht erlaubt hätte. Er hat nie begriffen, dass es mir nicht gelungen wäre, meine wahre Natur zu verbergen.« Tayend blickte auf sein leeres Glas hinab, dann griff er nach der Flasche, schenkte sich nach und leerte auch das zweite Glas in einem Zug.

»Nun«, fuhr er fort, »falls es Euch ein Trost ist, ich habe immer gewusst, dass die Gerüchte über Euch nicht wahr sein konnten.«

Dannyl zuckte zusammen. »Warum sagt Ihr das?«

»Nun, wenn Ihr so wärt wie ich und nicht gegen Eure Gefühle ankämpfen könntet, würden die Heiler es herausfinden, nicht wahr?«

»Nicht unbedingt.«

Die Augen des Gelehrten weiteten sich. »Wollt Ihr damit andeuten…?«

»Sie können körperliche Dinge wahrnehmen. Mehr nicht. Wenn es etwas im Körper eines Mannes gibt, das in ihm das Verlangen nach anderen Männern weckt, so haben die Heiler es bisher nicht gefunden.«

»Aber man hat mir gesagt… Man hat mir gesagt, Heiler könnten es spüren, wenn mit jemandem etwas nicht stimmt.«

»Das ist wahr.«

»Dann ist dies also… es ist keine Fehlfunktion des Körpers oder…« Tayend runzelte die Stirn und sah Dannyl an. »Woher wusstet Ihr dann über mich Bescheid?«

Dannyl lächelte. »Eure Gedanken haben es mir so laut entgegengeschrien, dass ich es kaum ignorieren konnte. Menschen mit magischem Potenzial, die nicht lernen, ihre Magie zu benutzen, senden häufig sehr starke Gedankenimpulse aus.«

»Tatsächlich?« Tayend errötete und wandte den Blick ab. »Wie viel habt Ihr… gelesen?«

»Nicht viel«, versicherte ihm Dannyl. »Im Wesentlichen Eure Ängste. Ich habe nicht weiter gelauscht. Das gehört sich nicht.«

Tayend nickte, dann weiteten sich seine Augen plötzlich. »Ihr meint, ich hätte der Gilde beitreten können?« Er runzelte die Stirn. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir wirklich gefallen hätte.« Tayend setzte sich in den zweiten Sessel. »Darf ich Euch eine persönliche Frage stellen?«

»Ja.«

»Was ist wirklich zwischen Euch und diesem Novizen vorgefallen?«

Dannyl seufzte. »Nichts.« Als er zu Tayend hinüberblickte, stellte er fest, dass der Gelehrte ihn erwartungsvoll ansah. »Also schön. Die ganze Geschichte. Ich war nicht besonders beliebt. Neue Novizen suchen häufig die Hilfe Älterer, die ihnen bei ihrem Studium helfen, aber ich hatte Mühe, jemanden zu finden, der dazu bereit war. Mir waren Geschichten über einen der älteren Jungen zu Ohren gekommen, und ich wusste, dass die anderen Novizen ihn aufgrund dieser Geschichten mieden, aber er war der Beste in seinem Jahrgang, und ich beschloss, diese Gerüchte zu ignorieren. Als er sich bereit fand, mir zu helfen, war ich sehr zufrieden mit mir.« Er schüttelte den Kopf. »Aber es gab einen Novizen in meiner Klasse, der mich gehasst hat.«

»Lord Fergun?«

»Ja. Wir hatten uns seit Beginn des Studiums Beleidigungen an den Kopf geworfen und einander Streiche gespielt. Fergun hatte natürlich ebenfalls die Geschichten über den älteren Novizen gehört, und er hat diese Gelegenheit genutzt, um neue Gerüchte in Umlauf zu bringen. Kurze Zeit später wurde ich vor die Höheren Magier zitiert.«

»Wie ist es dann weitergegangen?«

»Ich habe die Gerüchte selbstverständlich bestritten. Um dem Gerede ein Ende zu machen, befahl man mir, mich von dem Jungen fern zu halten. Das war natürlich genau die Bestätigung, die die Novizen brauchten.«

»Was ist aus diesem Jungen geworden? Entsprachen die Gerüchte über ihn der Wahrheit?«

»Er hat seinen Abschluss gemacht und ist in seine Heimat zurückgekehrt. Mehr kann ich Euch nicht sagen.« Als Dannyl Neugier in Tayends Augen aufblitzen sah, fügte er hinzu: »Nein, ich werde Euch seinen Namen nicht verraten.«

Tayend lehnte sich enttäuscht in seinen Sessel zurück. »Und was ist dann passiert?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich habe mein Studium fortgesetzt und dafür gesorgt, nicht noch einmal Verdacht zu erregen. Schließlich haben alle die Sache vergessen, bis auf Fergun - und den elynischen Hof, wie es aussieht.«

Tayend fand diese Bemerkung offensichtlich nicht komisch. »Und was werdet Ihr jetzt tun?«

Dannyl schenkte sich noch einmal nach. »Da die Gräber der Weißen Tränen während der Feierlichkeiten geschlossen sind, habe ich nicht viel anderes zu tun, als zu trinken und mich auszuruhen.«

»Und dann?«

»Ich nehme an, wir werden die Gräber besuchen.«

»Und dann?«

»Das kommt darauf an, was wir dort finden. So oder so werden wir nach Elyne zurückkehren.«

»Das meinte ich nicht.« Tayend sah Dannyl eindringlich an. »Wenn allein die Verbindung zu einem Novizen, dessen Neigungen nicht einmal bekannt waren, schon so viele Schwierigkeiten gemacht hat, dürfte die Freundschaft mit einem Mann, der erwiesenermaßen ein ›Knabe‹ ist, viel, viel schlimmer sein. Ihr habt gesagt, dass Ihr es unbedingt vermeiden müsst, Verdacht zu erregen. Ich kann Euch von der Bibliothek aus nach wie vor behilflich sein, aber ich werde Euch die Ergebnisse meiner Nachforschungen in Zukunft durch einen Boten schicken.«

Dannyl spürte, wie sich etwas in ihm schmerzhaft zusammenzog. Er war nicht auf die Idee gekommen, dass Tayend einen solchen Vorschlag machen könnte. Bei der Erinnerung daran, dass er noch kurz zuvor selbst darüber nachgedacht hatte, ihre Freundschaft zu beenden, durchzuckten ihn Gewissensbisse.

»Oh nein«, erwiderte er. »So leicht werdet Ihr mich nicht los.«

»Aber Ihr könntet aufs Neue Verdacht erregen, wenn Ihr eine Freundschaft mit jemandem pflegt, der ein…«

»… der ein Gelehrter der Großen Bibliothek ist«, beendete Dannyl den Satz. »Ein nützlicher und wertvoller Assistent. Und ein Freund. Wenn die Klatschbasen reden wollen, dann haben sie inzwischen bereits damit angefangen. Wenn sie erfahren, dass wir heimlich miteinander in Verbindung stehen, werden sie nur umso mehr zu reden haben.«

Überrascht öffnete Tayend den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schüttelte er den Kopf. Er hob sein Glas und prostete Dannyl zu. »Also dann, auf die Freundschaft.«

Dannyl griff lächelnd nach seinem eigenen Glas und stieß mit dem Gelehrten an.


Auf der Suche nach einem bestimmten Band strich Rothen mit dem Finger über die Bücherregale. Als die Tür zur Magierbibliothek geöffnet wurde, blieb er stehen. Dorrien war zusammen mit Sonea in den Raum getreten. Er runzelte die Stirn. Sonea hatte ihn gebeten, ihr einige Bücher aus der Bibliothek zu besorgen, und nun war sie selbst hergekommen.

Lord Jullen erklärte ihr mit ungehaltener Miene, dass sie ihren Bücherkoffer nicht mitnehmen dürfe; sie könne ihn in einem der Aufbewahrungsfächer abstellen. Sie zog einige Bogen Papier heraus und ließ den Bücherkoffer zurück.

Rothen beschloss, sich zuerst auf die Suche nach den Büchern zu machen, derentwegen er hergekommen war, bevor er die beiden ansprach. Als er endlich das erste Buch auf seiner Liste fand - mehrere Regale von dem Platz entfernt, an den es gehört hätte -, verfluchte er im Stillen den Magier, der es falsch eingeordnet hatte.

Er bemerkte nur am Rande, dass jemand an Lord Jullen herangetreten war und ihn um Hilfe bat. Dagegen entging es ihm keineswegs, dass Dorrien im nächsten Gang ein freundliches Gespräch mit Lord Galin begonnen hatte. Plötzlich erklang lautes Husten hinter ihm, und als er sich umdrehte, sah er Lord Garrel, der sich ein Nasentuch an den Mund hielt. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem lauten Ausruf abgelenkt.

»Regin!«, blaffte Galin und eilte mit langen Schritten durch den Gang. Zwischen den Regalen hindurch konnte Rothen Regin beobachten, der neben Jullens Schreibtisch stand.

»Ja, Mylord?« Sein Gesichtsausdruck war der Inbegriff von Unschuld und Verwirrung.

»Was hast du gerade in diesen Koffer gesteckt?«

»Welchen Koffer, Mylord?«

Galins Augen wurden schmal.

»Was gibt es für ein Problem, Lord Galin?« Lord Garrel war nun ebenfalls vor Jullens Schreibtisch aufgetaucht.

»Ich habe soeben gesehen, wie Regin etwas von Jullens Tisch genommen und in diesen Bücherkoffer gelegt hat.« Galin nahm Soneas Koffer aus dem Fach und stellte ihn vor Regin auf den Tisch.

Leises Stimmengewirr erklang, und Rothen sah, dass sich etliche Magier eingefunden hatten, die den weiteren Fortgang der Angelegenheit interessiert verfolgten. Lord Jullen kam hinter den Regalen hervor. Er blickte von den Magiern zu dem Novizen und dann zu dem Bücherkoffer. »Was ist hier los? Das ist Soneas Koffer.«

Galin zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ach ja? Das ist ja sehr interessant.« Er wiederholte, was er beobachtet hatte. Ein zutiefst missbilligender Ausdruck trat in Jullens Züge.

»Wollen wir nachsehen, welches eurer Besitztümer Regins Meinung nach Sonea besonders begehrenswert findet?«

Regin erbleichte. Rothen spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Eine Hand berührte seine Schulter. Dorrien war neben ihm aufgetaucht, ein wohlvertrautes, schelmisches Glitzern in den Augen.

»Was hast du getan?«, flüsterte Rothen vorwurfsvoll.

»Nichts«, antwortete Dorrien, und in seinen weit aufgerissenen Augen lag geheuchelte Arglosigkeit. »Das hat Regin ganz allein gemacht. Ich habe lediglich dafür gesorgt, dass ihn jemand dabei beobachtet.«

Im selben Moment wurde Soneas Köfferchen mit einem Klicken geöffnet, und Rothen beobachtete, wie Jullen einen schwarzen, glänzenden Gegenstand herausholte. »Mein zweihundert Jahre altes elynisches Tintenfass.« Der Bibliothekar runzelte die Stirn. »Wertvoll, aber leider leck. Ich muss dir gratulieren. Selbst wenn es Sonea gelungen wäre, das Tintenfass an seinen Platz zurückzustellen, wären ihre Notizen über und über mit Tinte bedeckt gewesen.«

Regin warf seinem Mentor einen verzweifelten Blick zu.

»Er wollte offenkundig ihre Notizen ruinieren«, erklärte Garrel. »Lediglich ein dummer Streich.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Galin. »In diesem Fall hätte er lediglich den Inhalt des Tintenfasses über ihre Papiere gießen müssen und das Tintenfass auf Lord Jullens Schreibtisch zurückgestellt.«

Garrels Miene verdüsterte sich, aber Galins anklagender Blick geriet nicht ins Wanken. Lord Jullen blickte von einem Magier zum anderen und dann hinüber zu den Regalen. »Lord Dorrien«, rief er.

Dorrien trat in den Gang. »Ja?«

»Bitte, macht Euch auf die Suche nach Sonea, und bringt sie her.«

Dorrien nickte und ging durch die Reihen der Regale. Rothen beobachtete Soneas Gesicht, als sie in Blickweite der Magier kam. Sofort verschloss sich ihre Miene. Als Jullen erklärte, was vorgefallen war, weiteten sich ihre Augen, und sie funkelte Regin zornig an.

»Ich fürchte, deine Notizen sind unbrauchbar geworden, Sonea«, sagte Jullen und hielt ihr den Koffer hin. Sie blickte hinein und schnitt eine Grimasse. »Wenn es dir recht ist, schließe ich deine Sachen in Zukunft in meinem Schrank ein.«

Sie sah ihn überrascht an. »Vielen Dank, Lord Jullen«, sagte sie mit leiser Stimme.

Er klappte den Koffer zu und stellte ihn in den Schrank hinter seinem Schreibtisch. Galin sah Regin an. »Du darfst jetzt zu deinen Studien zurückkehren, Sonea. Regin und ich werden auf ein Schwätzchen beim Rektor vorbeischauen.«

Sie blickte Regin noch einmal an, dann wandte sie sich ab und ging auf die Regale zu. Dorrien zögerte kurz, dann folgte er ihr.

Galin beäugte Garrel. »Werdet Ihr ebenfalls mitkommen?«

Der Krieger nickte.

Als die beiden Magier und der Novize die Bibliothek verlassen hatten, gesellten sich Dorrien und Sonea wieder zu Rothen. Beide gaben sich nicht die geringste Mühe, ihre Selbstgefälligkeit zu verbergen.

Kopfschüttelnd warf Rothen den beiden einen strengen Blick zu. »Das war sehr riskant. Wenn es nun niemand beobachtet hätte?«

Dorrien lächelte. »Ich habe ja dafür gesorgt, dass genau das geschehen würde.« Er sah Sonea an. »Es ist dir gelungen, sehr überzeugend Überraschung zu heucheln.«

Sie lächelte hinterhältig. »Ich war nur überrascht, dass es funktioniert hat.«

»Ha!«, sagte Dorrien. »Hat denn überhaupt niemand Zutrauen in mich?« Dann wurde er ein wenig ernster und sah Rothen an. »Hast du gemerkt, wer Jullen von seinem Schreibtisch weggelockt und alle anderen abgelenkt hat, während Regin seine Missetat beging?«

Rothen dachte an die Situation zurück. »Garrel? Nein. Mach dich nicht lächerlich. Regin hat sich die Situation zunutze gemacht. Nur weil Garrel derjenige war, der um Hilfe gebeten und in genau dem Moment zu husten begonnen hat, als Regin zur Tat schritt, heißt das nicht, dass er in irgendwelche kindischen Streiche verwickelt ist.«

»Da hast du wahrscheinlich Recht«, sagte Dorrien. »Aber ich an deiner Stelle würde ihn im Auge behalten.«

19 Die Prüfungen beginnen

Am Himmel machte sich gerade das erste Morgenlicht bemerkbar, als Sonea das Badehaus verließ. Draußen war es jedoch immer noch kalt, daher umgab sie sich mit einem Schild und erwärmte die Luft darin. Als sie kurz stehen blieb, um ihre Robe glatt zu streichen, trat aus dem Bereich des Badehauses, der für Männer reserviert war, eine grün gewandete Gestalt.

Bei Dorriens Anblick hob sich Soneas Stimmung. Da er an diesem Morgen abreisen wollte, hatten sie sich bereits gestern beim Abendessen in Rothens Quartier auf Wiedersehen gesagt. Aber jetzt ergab sich für sie noch einmal eine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, bevor er aufbrach.

»Ich hätte mir doch denken können, dass du ein Frühaufsteher bist«, bemerkte sie.

Überrascht drehte er sich zu ihr um. »Sonea! Was treibt dich denn schon im Morgengrauen aus dem Bett?«

»Ich fange immer früh an. Auf diese Weise kann ich einige Dinge erledigen, ohne dass mich jemand stört.«

Er lächelte schief. »Eine kluge Entscheidung, obwohl das in Zukunft vielleicht nicht mehr notwendig sein wird. Regin hat dich in letzter Zeit in Ruhe gelassen, oder?«

»Ja.«

»Gut.« Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Ich wollte vor meiner Abreise noch einen meiner alten Lieblingsplätze aufsuchen. Möchtest du mitkommen?«

»Wohin?«

»In den Wald.«

Sie schaute zu den Bäumen hinauf. »Ein weiteres Geheimversteck von dir?«

Dorrien lächelte. »Ja, aber diesmal ist es wirklich ein Geheimnis.«

»Tatsächlich? Wenn du es mir zeigst, wird es allerdings nicht länger ein Geheimnis sein.«

Er kicherte. »Wahrscheinlich nicht. Es ist einfach ein Ort, den ich als Junge gern besucht habe. Wann immer ich in Schwierigkeiten war, habe ich mich dort versteckt.«

»Dann warst du sicher sehr oft dort.«

»Selbstverständlich.« Er grinste. »Also, kommst du mit?«

Sie betrachtete nachdenklich ihren Bücherkoffer. Eigentlich hatte sie vom Badehaus direkt in den Speisesaal gehen wollen. »Wird es lange dauern?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde dich rechtzeitig zu den Prüfungen zurückbringen.«

»Also schön«, sagte sie.

Er bog in den Weg ein, der in den Wald führte. Sonea ging neben ihm her und dachte an das letzte Mal, als sie diesen Weg genommen hatte. Es war in einer kalten Nacht vor fast einem Jahr gewesen, als sie noch eine »Gefangene« der Gilde gewesen war. Rothen hatte gemeint, sie brauche frische Luft und ein wenig Bewegung. Nicht weit entfernt von hier lag ein alter Friedhof, und Rothen hatte ihr erklärt, was mit Magiern geschah, wenn sie starben.

Bei der Erinnerung daran schauderte sie. Wenn das Leben eines Magiers endete, verlor sein Geist die Kontrolle über seine Kräfte. Die verbliebene Magie verzehrte daraufhin seinen Körper und verwandelte Fleisch und Knochen in Asche und Staub. Da nichts übrig blieb, was man hätte begraben können, wurden Magier niemals beerdigt, und die Existenz eines alten Friedhofs war ein Rätsel.

Wie immer legte Dorrien ein zügiges Tempo vor, und Sonea musste sehr schnell gehen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie wusste, dass er darauf brannte, in sein Dorf zurückzukehren, aber sie wünschte sich trotzdem, er hätte ein wenig länger bleiben können. Sie hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt wie in den vergangenen Wochen. Sie war natürlich gern mit Rothen zusammen, aber Dorrien war so voller Energie, voller Ideen. Er hatte ihr das Schweben beigebracht, und er hatte sie mehrere Spiele gelehrt. All diese Spiele drehten sich um Magie, und Dorrien genoss es offensichtlich, einen Partner zu haben, mit dem er spielen konnte.

»Was ist das für ein Gefühl, der einzige Magier inmitten gewöhnlicher Menschen zu sein?«, erkundigte sie sich.

Dorrien dachte über ihre Frage nach. »Es ist befriedigend und gleichzeitig anstrengend. Die Menschen vergessen niemals, dass du anders bist, wie nahe du ihnen auch kommen magst. Sie fühlen sich unbehaglich, weil du etwas tun kannst, das sie nicht begreifen. Einige der Bauern erlauben mir nicht, sie zu berühren, obwohl sie nichts dagegen haben, wenn ich ihre Tiere heile.«

Sie nickte. »Die Menschen in den Hüttenvierteln sind genauso. Sie haben Angst vor Magiern.«

»Zu Anfang hatten die meisten Bauern tatsächlich Angst vor mir. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen.«

»Bist du nicht einsam dort oben?«

»Manchmal. Aber das ist es wert.« Sie hatten inzwischen die Straße erreicht, und Dorrien bog nach links ab. »Ich habe das Gefühl, dass es richtig ist, was ich tue. Manche Menschen in den Bergen hätten ihr Leben verloren, wenn ich nicht da gewesen wäre, um ihnen zu helfen.«

»Es muss wunderbar sein, zu wissen, dass man einem Menschen das Leben gerettet hat.«

Dorrien lächelte. »Das ist die beste Verwendung von Magie, die man sich vorstellen kann. Alles andere ist im Vergleich dazu nur ein frivoles Spiel. Vater würde das natürlich bestreiten, aber ich war schon immer der Meinung, Alchemie sei eine Verschwendung von Magie, und die Kriegskünste… nun, was soll ich dazu sagen?«

»Die Alchemisten behaupten, sie hätten Dinge geschaffen und ersonnen, die das Leben der Menschen sicherer und bequemer gemacht haben«, wandte Sonea ein. »Die Krieger behaupten, sie würden für die Verteidigung Kyralias dringend benötigt.«

Er nickte. »Die Alchemisten haben tatsächlich einiges an guter Arbeit geleistet, und es wäre höchst unklug, wenn die Magier vergessen würden, wie sie sich verteidigen können. Wahrscheinlich hege ich einfach einen Groll gegen jene, die sich nur ihren eigenen Neigungen hingeben, statt anderen zu helfen. Meiner Meinung nach verschwenden sie ihre Zeit.«

Sonea lächelte bei dem Gedanken an Dannyls Experimente. Er beschäftigte sich mit dem Versuch, geistige Bilder auf Papier zu überführen, eine Tätigkeit, die er jetzt, da er Botschafter in Elyne war, ruhen lassen musste.

»Es gibt zu viele Alchemisten und zu wenig Heiler«, fuhr Dorrien fort. »Die Heiler beschränken ihre Arbeit auf Menschen mit Geld und Ansehen, weil sie keine Zeit haben, alle Bedürftigen zu behandeln. Wir alle lernen die Grundlagen der Heilkunst. Es gibt keinen Grund, warum Alchemisten und Krieger nicht einen Teil ihrer Zeit darauf verwenden sollten, den Heilern zur Hand zu gehen. Auf diese Weise könnten wir mehr Menschen helfen. Ich behandle jeden, der meine Hilfe benötigt: Hirten, Zünftler, Bauern, Reisende. Es gibt keinen guten Grund, warum die Heiler hier nicht das Gleiche tun sollten. Die Zünftler zahlen Steuern, und ein Teil dieser Steuern fließt in den Erhalt der Gilde. Sie sollten Zugang zu den Dienstleistungen haben, die sie mit ihren Steuern unterstützen.«

Seine Stimme hatte einen leidenschaftlichen Tonfall angenommen; diese Dinge gingen ihm offensichtlich sehr nahe.

»Und die Menschen in den Hüttenvierteln?«, hakte Sonea nach.

Dorrien verlangsamte seine Schritte und drehte sich zu ihr um. »Ja«, sagte er, »auch ihnen sollten wir helfen. Obwohl ich denke, dass wir sehr vorsichtig zu Werke gehen müssten.«

Sie runzelte die Stirn. »Weshalb?«

»Die Hüttenviertel sind Teil eines erheblich größeren Problems, und es bestünde durchaus die Gefahr, dass wir dort eine Menge Zeit und Kraft vergeudeten. Die Hüttenviertel sind, wenn du mir diese Ausdrucksweise verzeihen kannst, Eiterbeulen auf der Haut der Stadt und weisen auf tiefere Probleme in deren Körper hin. Die Eiterbeulen werden erst verschwinden, wenn man die tiefer liegenden Schwierigkeiten angeht.«

»Tiefer liegende Schwierigkeiten?«

»Nun, wenn ich meinen Vergleich weiterspinne, würde ich sagen, dass die Stadt zu einem fetten alten Krieger geworden ist, der sich mit Süßigkeiten voll stopft. Entweder weiß er nicht, dass seine Gier seinen Körper zerstört, oder es ist ihm egal. Ebenso wenig begreift er, dass sein fetter Wanst ihn verunstaltet. Er ist schon lange nicht mehr gesund und kräftig, aber da er keine Feinde mehr hat, die ihm Kopfzerbrechen bereiten, ist er vollauf zufrieden damit, sich bequem zurückzulehnen und sich gehen zu lassen.«

Sonea sah ihn beeindruckt an. Sie verstand, was er mit diesem Bild sagen wollte: Der König und die Häuser waren faul und gierig, und die übrigen Bürger der Stadt - wie die Hüttenleute - zahlten den Preis dafür. Mit einem Ausdruck von Unsicherheit in den Augen wandte Dorrien sich ihr wieder zu.

»Das soll natürlich nicht bedeuten«, fügte er hastig hinzu, »dass wir nichts dagegen unternehmen sollten, weil das Problem einfach zu groß ist. Ich bin vielmehr der Meinung, dass wir dringend etwas unternehmen sollten.«

»Was zum Beispiel?«

Er lächelte. »Ich möchte uns unseren Spaziergang nicht mit weitschweifigen Reden verderben. Ah, da haben wir ja schon das Altenteil der Gilde erreicht.«

Dorrien führte Sonea an den Häusern der älteren Bewohner der Gilde vorbei, die hier ihren Ruhestand verbrachten. Am Ende der Straße angekommen, gingen sie in den Wald. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln.

Schon bald wurde der Boden uneben, und Sonea hatte mit ihrem schweren Bücherkoffer Mühe, das Gleichgewicht zu halten, deshalb stellte sie ihn auf einen umgestürzten Baumstamm und schützte ihn mit einer Barriere aus Magie. Schwer atmend folgte Sonea Dorrien einen steilen Hügel hinauf, bis ihr Gefährte endlich stehen blieb und die Hand auf den Stamm eines gewaltigen Baumes legte.

»Der erste Orientierungspunkt. Präg dir diesen Baum gut ein, Sonea. Hier wendest du dich nach Osten und setzt deinen Weg fort, bis du auf die Mauer stößt.«

»Die Äußere Stadtmauer?«

Er nickte. Sonea unterdrückte ein Stöhnen. Die Äußere Mauer musste tief im Wald liegen. Sie trotteten noch mehrere Minuten hügelaufwärts, bis Sonea völlig außer Atem war.

»Halt!«, rief sie, als sie das Gefühl hatte, dass ihre Beine sie nicht länger trugen.

Dorrien drehte sich grinsend um, und sie stellte zu ihrer Befriedigung fest, dass auch er ein wenig keuchte. Er deutete auf einen Haufen schneebedeckter Felsen, der vor ihnen lag. »Die Mauer.«

Sonea musterte verwundert den Schnee, bis ihr klar wurde, dass die Felsen darunter in Wirklichkeit gewaltige Steinquader waren, die sich quer durch den Wald zogen. Diese Trümmer waren alles, was von der Äußeren Mauer übrig geblieben war.

»Von hier aus«, stieß Dorrien - immer noch atemlos - hervor, »wenden wir uns wieder nach Norden.«

Bevor sie Einwände erheben konnte, war er bereits weitergegangen. Da der Weg nicht länger hügelaufwärts führte, beruhigte sich Soneas hämmerndes Herz langsam. Auf einem Felsvorsprung verschwand Dorrien plötzlich. Sonea folgte seinen Spuren im Schnee und fand sich kurz darauf in einem kleinen Kreis von Steinbrocken wieder. Die Bäume wuchsen hier so dicht, dass der Ort im Sommer wohl kaum wiederzufinden war. An einer Seite plätscherte Wasser an den Felsen herunter und sammelte sich zu einem von Eis umgebenen Teich, bevor es über andere Felsen weiterfloss.

Dorrien stand einige Schritte von ihr entfernt und lächelte. »Das ist sie. Die Quelle. Hier kommt das Wasser der Gilde her.«

Sonea trat neben ihn und sah, dass das Wasser aus einer Spalte in den Felsen sickerte. »Im Sommer muss es hier wunderschön sein«, flüsterte sie.

»Warte nicht auf den Sommer.« Dorriens Augen leuchteten. »Im Frühling ist es hier genauso schön. Ich bin immer hierher gekommen, sobald der Schnee geschmolzen war.«

Sonea versuchte, sich Dorrien als Jungen vorzustellen, wie er den Hang hinaufgeklettert war und ganz allein an dieser Quelle gesessen hatte. Sie würde zurückkommen, beschloss sie. Hierher würde sie gehen, wenn sie ein wenig Zeit für sich brauchte, abseits von Regin und den anderen Novizen. Vielleicht hatte Dorrien genau das beabsichtigt.

»Was denkst du, kleine Sonea?«

»Ich möchte dir danken.«

Er hob die Augenbrauen. »Mir danken?«

»Dafür, dass du Regin in die Falle gelockt hast. Dafür, dass du mich auf das Dach der Universität geführt hast.« Sie kicherte. »Und dafür, dass du mir das Schweben beigebracht hast.«

»Ah.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das war nicht weiter schwierig.«

»Und dafür, dass du mir geholfen hast, meine Lebensfreude wiederzufinden. Ich hatte schon fast geglaubt, dass ein Magier keinen Spaß haben könne.« Sie lächelte schief. »Ich weiß, dass du in dein Dorf zurückkehren musst, aber ich wünschte, du könntest länger bleiben.«

Seine Miene wurde ernst. »Auch ich werde dich vermissen, kleine Sonea.« Er trat einen Schritt auf sie zu, dann öffnete er den Mund, als wollte er noch etwas sagen. Stattdessen legte er ihr jedoch nur einen Finger unter das Kinn, hob ihren Kopf an und drückte die Lippen auf ihren Mund.

Überrascht zog Sonea sich ein wenig zurück. Er stand sehr dicht vor ihr und sah sie mit fragendem Blick an. Plötzlich fühlte sich ihr Gesicht seltsam heiß an, und ihr Herz schlug sehr schnell. Sie lächelte töricht, und obwohl sie es versuchte, konnte sie nichts dagegen tun. Dorrien lachte leise, dann beugte er sich vor, um sie abermals zu küssen.

Diesmal verweilten seine Lippen länger auf ihren, und sie war sich der Wärme und der Weichheit seines Mundes bewusst. Ein Schaudern überlief sie, das nichts mit Kälte zu tun hatte. Als er sich von ihr löste, machte sie einen winzigen Schritt auf ihn zu, um die Berührung in die Länge zu ziehen.

Sein Lächeln verblasste. »Es tut mir Leid, das war nicht fair von mir.«

Sie schluckte und fand endlich ihre Stimme wieder. »Nicht fair?«

Er blickte mit ernster Miene zu Boden. »Weil ich fortgehe. Weil du vielleicht jemand anderen brauchen wirst, den du meinetwegen zurückweisen könntest.«

Sie lachte ein wenig verbittert. »Das bezweifle ich.«

Ein seltsam zurückhaltender Ausdruck war in Dorriens Augen getreten. Sonea runzelte die Stirn. Dachte er jetzt, dass sie seine Aufmerksamkeit nur deshalb willkommen hieß, weil sie glaubte, dass sich niemals ein anderer Mann auf solche Weise für sie interessieren würde?

Und glaubte sie das wirklich? Bis vor wenigen Sekunden hatte sie nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, Dorrien könnte mehr für sie sein als nur ein Freund. Langsam schüttelte sie den Kopf, dann lächelte sie. »Du hast mich diesmal ziemlich überrascht, Dorrien.«

Seine Mundwinkel zuckten.

Dorrien?

Sie erkannte Rothens Gedankenstimme.

Vater, erwiderte Dorrien.

Wo bist du?

Ich habe einen Morgenspaziergang gemacht.

Der Stallmeister ist hier.

Ich komme gleich.

Dorrien sah sie entschuldigend an. »Ich fürchte, der Weg hierher hat länger gedauert, als ich gedacht hatte.«

Ein Stich der Furcht durchzuckte sie. Würde sie zu spät zu ihren Prüfungen kommen?

»Lass uns gehen.«

Sie machten sich auf den Rückweg, und nachdem sie einige Minuten durch den Wald gegangen waren, kamen sie zu dem Baumstamm, auf dem sie ihren Bücherkoffer zurückgelassen hatte. Als sie kurz darauf die Straße erreichten, verfielen sie in Laufschritt.

Von Zeit zu Zeit sah sie zu Dorrien hinüber und fragte sich, was er denken mochte. Dann wieder ertappte sie ihn dabei, dass er sie beobachtete, und wenn ihre Blicke sich trafen, lächelte er. Schließlich griff er nach ihrer Hand. Seine Finger waren warm, und als die Gilde in Sicht kam und er ihre Hand losließ, war Sonea seltsam enttäuscht.

Vor dem Magierquartier kam ihnen Rothen entgegen. »Dein Pferd steht schon für dich bereit, Dorrien.« Rothen musterte sie beide von Kopf bis Fuß und zog die Augenbrauen hoch, als er den Schnee auf ihren Schuhen und ihren Roben bemerkte. »Ihr wärt beide gut beraten, wenn ihr eure Kleider trocknen würdet.«

Als sie den Pfad entlanggingen, der an der Universität vorbeiführte, stieg bereits Dampf von Dorriens Robe auf. Sonea konzentrierte sich, dann erwärmte auch sie die Luft um sich herum, bis ihr Gewand getrocknet war. An der Treppe vor der Universität erwartete sie ein Diener, der die Zügel von Dorriens Pferd festhielt.

Dorrien umarmte zuerst Rothen, dann Sonea. »Passt aufeinander auf«, sagte er.

»Pass du auf dich auf«, erwiderte Rothen. »Und versprich mir, dass du nicht durch Schneestürme reitest, nur um schneller nach Hause zu kommen.«

Dorrien schwang sich in den Sattel. »Es hat noch nie einen Schneesturm gegeben, der mich davon abgehalten hätte, nach Hause zurückzukehren!«

»Worüber hast du dann während der letzten vier Wochen ständig gejammert?«

»Ich? Gejammert?«

Rothen verschränkte lachend die Arme vor der Brust. »Mach, dass du fortkommst, Dorrien.«

Dorrien grinste. »Auf Wiedersehen, Vater.«

»Auf Wiedersehen, Dorrien.«

Dorriens Blick huschte zu Sonea hinüber. Sie nahm eine zaghafte Berührung in ihren Gedanken wahr.

Auf Wiedersehen, Sonea. Lerne schnell.

Dann galoppierte Dorriens Pferd davon, durch die Tore hindurch und hinaus auf die schneebedeckten Straßen der Stadt.

Einige Sekunden lang blieben sie an den Toren stehen und sahen ihm nach. Dann drehte Rothen sich seufzend zu Sonea um. Seine Augen wurden schmal.

»Hm«, sagte er, »irgendetwas ist hier doch im Gange.«

Sie sah ihn unschuldig an. »Und was sollte das sein?«

»Keine Bange.« Er lächelte wissend, dann ging er langsam die Treppe hinauf. »Ich bin damit einverstanden. Der Altersunterschied dürfte wohl kaum eine Rolle spielen. Es sind schließlich nur wenige Jahre. Aber dir ist doch klar, dass du bis zu deinem Abschluss hier bleiben musst, nicht wahr?«

Sonea öffnete den Mund, um zu protestieren, klappte ihn jedoch wieder zu, als sie eine Bewegung in der Eingangshalle wahrnahm. Sie griff nach Rothens Arm.

»Es macht mir nichts aus, wenn Ihr Euch gewissen Spekulationen hingebt, Rothen«, bemerkte sie leise. »Aber ich wäre Euch dankbar dafür, wenn Ihr Eure Gedanken für Euch behalten würdet.«

Er sah sie überrascht an. Sie selbst hielt den Blick auf die Halle gerichtet. Als sie durch die Tür traten, bemerkte Sonea einen anderen Novizen, der hastig die Treppe hinauflief.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Bevor Regin verschwunden war, hatte sie einen Blick auf sein Gesicht werfen können. Nachdem Regin dabei erwischt worden war, wie er ihr einen Diebstahl in die Schuhe hatte schieben wollen, erfreute sie sich bei den Lehrern nun vielleicht einer gewissen widerstrebenden Sympathie, aber sie bezweifelte, dass sie deshalb vor Regins Spott sicher war. In der letzten Zeit war der Junge mit den Vorbereitungen auf die Prüfungen beschäftigt gewesen, aber Sonea vermutete, dass er bereits einen besonders abscheulichen Racheplan ausgeheckt hatte.

»Ich sehe Euch dann heute Abend«, sagte sie zu Rothen.

Er nickte ernst. »Viel Glück, Sonea. Ich weiß, dass du deine Sache gut machen wirst.«

Sie lächelte, dann machte sie sich auf den Weg die Treppe hinauf. Die Universität war voller Novizen, deren leise, angespannte Stimmen eine Atmosphäre der Erwartung und der Furcht schufen. Kurz darauf betrat sie ihr Klassenzimmer.

Regin saß auf seinem angestammten Platz und musterte sie eingehend. Sie wandte sich ab, verbeugte sich vor den beiden Lehrern, die an der vorderen Seite des Raumes standen, und ging zu ihrem Stuhl hinüber. Als sie ihre Notizen über das Geschichtsprojekt herausholte, das sie für Lord Skoran hatten bearbeiten müssen, stellte sie erleichtert fest, dass sie unbeschädigt waren. Fast hatte sie damit gerechnet, dass es Regin irgendwie gelungen war, sich daran zu schaffen zu machen.

Als sie Skoran die Seiten überreichte, nickte er anerkennend, und zu ihrer Befriedigung schloss er sie in einem Aktenkoffer ein.

Die ganze Zeit über hatte sie gespürt, dass Regin sie beobachtete. Nachdem sie zu ihrem Platz zurückgekehrt war, kamen auch die letzten Novizen in das Klassenzimmer und gaben ihre Arbeit dem Lehrer. Als alle anwesend waren, trat Lord Vorel mit verschränkten Armen vor die Klasse.

»Heute werdet ihr eure Prüfung in den Kriegskünsten ablegen«, sagte er. »Zu diesem Zweck werdet ihr gegen sämtliche anderen Mitglieder der Klasse kämpfen müssen, und ihr werdet entsprechend eurem Talent, eurer Kontrolle und natürlich der Zahl eurer Siege benotet werden. Bitte, folgt mir.«

Sonea erhob sich mit den Übrigen. Als die ersten Novizen den Raum verließen, drehte Regin sich um und sah ihr in die Augen. Er lächelte süßlich.

Sie hatte sich daran gewöhnt, seine Blicke mit kalter Gleichgültigkeit zu erwidern. Dennoch überlief sie jetzt ein Schauer. Obwohl sie nach wie vor erheblich stärker war als die anderen Novizen, machten die Regeln, die Vorel ihr auferlegt hatte, es ihr unmöglich, diesen Vorteil zu nutzen. Irgendwie bemerkte er durch den inneren Schild, den er zum Schutz der Novizen während der Kämpfe um sie zog, ob die Kraft, die sie in ihre Angriffe legte, größer war, als er für angemessen hielt. Regin war ihr in den Kriegskünsten immer noch überlegen, und obwohl der Junge keinen Unterricht mehr von Lord Balkan bekam, konnte ihn nichts daran hindern, zusätzliche Stunden bei Lord Garrel zu nehmen.

Als sie in den Flur hinaustrat, kam ein Diener in der Uniform eines Boten auf sie zugelaufen.

»Lady Sonea«, sagte der Mann. »Ich soll Euch die Nachricht überbringen, dass Ihr Euch unverzüglich in Rothens Quartier einzufinden habt.«

Überrascht sah Sonea Lord Vorel an. Der Magier runzelte die Stirn.

»Wir können nicht auf dich warten, Sonea. Wenn du nicht binnen einer Stunde zurück bist, werden wir deine Prüfung auf den Anfang des nächsten Jahres verschieben müssen.«

Sonea nickte. Dann bedankte sie sich bei dem Boten und machte sich auf den Weg zu Rothens Quartier.

Warum hatte Rothen nach ihr schicken lassen? Er hatte, seit sie sich voneinander getrennt hatten, kaum Zeit genug gehabt, um seine Räume zu erreichen. Vielleicht hatte er herausgefunden, dass Regin tatsächlich etwas im Schilde führte, und nun ließ er sie kommen, um das zu verhindern.

Sie schüttelte den Kopf. So etwas hätte Rothen gewiss nicht getan. Er hätte versucht, Vorel auf Regins Pläne aufmerksam zu machen, statt sie von einer wichtigen Prüfung fern zu halten.

Im Laufschritt durchquerte sie den Innenhof und rannte durch die Flure des Magierquartiers, bis sie Rothens Räume erreicht hatte. Auf ihre Berührung hin öffnete sich die Tür. Rothen stand am Fenster, und bei ihrem Eintritt drehte er sich um. Bevor sie ihm jedoch die Fragen stellen konnte, die ihr auf den Lippen lagen, brachte sein warnender Blick sie zum Schweigen.

Die Aura war das Erste, was sie wahrnahm. Sie erfüllte den Raum wie dichter, erstickender Rauch. Ihr Herz begann vor Angst zu rasen, aber es gelang ihr, nur Überraschung und Respekt zu zeigen - zumindest hoffte sie das. Du weißt nicht, warum er hier ist, sagte sie sich. Lass dir nicht anmerken, dass du dich vor ihm fürchtest. Mit gesenktem Blick drehte sie sich zu dem Besucher um und verneigte sich.

»Ich bitte um Entschuldigung, Hoher Lord.«

Er antwortete nicht.

»Sonea.« Rothens Stimme klang tief und angespannt. »Komm hierher.«

Sie sah Rothen an, und ihre Kehle schnürte sich zu. Sein Gesicht war bleich, beinahe so, als sei er krank. Er winkte sie zu sich heran, und seine Hand zitterte leicht. Beunruhigt über diese Anzeichen von Furcht lief sie zu ihm hinüber.

Rothens Stimme klang jedoch überraschend gefasst, als er nun den Hohen Lord ansprach. »Sonea ist hier, wie Ihr es gewünscht habt, Hoher Lord. Wie können wir Euch behilflich sein?«

Akkarin bedachte Rothen mit einem Blick, der Sonea zu Eis hätte erstarren lassen.

»Ich bin hier, um nach der Quelle eines gewissen… Gerüchts zu suchen. Eines Gerüchts, das ich von dem Administrator habe und das Euch und Eure Novizin betrifft.«

Rothen nickte. Sonea gewann den Eindruck, dass er seine nächsten Worte mit großer Vorsicht wählte.

»Ich dachte, dieses Gerücht über uns beide gehöre der Vergangenheit an. Ich hatte nicht den Eindruck, dass irgendjemand diesen Geschichten Glauben geschenkt hat, und…«

Die dunklen Augen blitzten auf. »Ich spreche nicht von diesem Gerücht. Mir geht es um ein Gerücht über meine nächtlichen Aktivitäten. Ein Gerücht, dem Einhalt geboten werden muss.«

Sonea hatte das Gefühl, als habe ihr jemand eine Hand um die Kehle gelegt, so dass sie kaum noch atmen konnte.

Rothen schüttelte den Kopf. »Ihr irrt Euch, Hoher Lord. Ich weiß nichts über Eure…«

»Belügt mich nicht, Rothen.« Akkarins Augen wurden schmal. »Ich wäre nicht hergekommen, wenn ich mir meiner Sache nicht sicher wäre.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Ich habe es soeben in Lorlens Gedanken gelesen.«

Alle Farbe wich aus Rothens Gesicht. Er starrte Akkarin schweigend an. Wenn Akkarin Lorlens Gedanken gelesen hat, schoss es Sonea durch den Kopf, dann weiß er alles! Sie spürte, wie ihre Knie schwach wurden, und griff haltsuchend nach dem Fenstersims hinter ihr.

Der Hohe Lord lächelte dünn. »Ich habe viele Dinge gesehen, die mich sehr beeindruckt haben: dass Sonea die Gilde besucht hat, während sie noch auf der Flucht vor uns war, was sie in jener Nacht beobachtet hat und wie Lorlen bei der Wahrheitslesung davon erfahren hat. Ich weiß auch, dass er euch beiden befohlen hat, eure Entdeckung geheim zu halten, damit er eine Möglichkeit ersinnen konnte, dem Gesetz der Gilde Geltung zu verschaffen. Eine vernünftige Entscheidung. Und das Beste für euch alle.«

Rothen straffte sich und sah Akkarin an. »Wir haben mit niemandem darüber gesprochen.«

»Das behauptet Ihr.« Die Stimme des Hohen Lords wurde weicher, verlor aber nichts von ihrer Kälte. »Ich hätte allerdings gern Gewissheit.«

Sonea hörte, dass Rothen scharf die Luft einsog. Die beiden Magier starrten einander an.

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann werde ich die Maßnahmen ergreifen, die zu ergreifen Ihr mich zwingt, Rothen. Ihr könnt mich nicht daran hindern, Eure Gedanken zu lesen.«

Rothen wandte sich ab. Plötzlich erinnerte sich Sonea an die Geschichte, die Cery ihr erzählt hatte. Als ihr Freund in einem Raum unter der Universität von Fergun gefangen gehalten worden war, hatte Akkarin ihn dort entdeckt und seine Gedanken gelesen, um sich von der Wahrheit seiner Aussagen zu überzeugen. Es war, wie Cery erzählt hatte, ein kaum merkbarer Vorgang gewesen, ganz anders als die Prozedur, mit der Rothen in ihren Geist eingedrungen war, oder das Wahrheitslesen durch Lorlen.

Mit steifen Bewegungen, als gehörten seine Knochen einem Mann, der um zwanzig Jahre älter war, trat Rothen vor den Hohen Lord. Sonea konnte nicht glauben, dass er so einfach nachgeben würde.

»Rothen…«

»Es ist schon gut, Sonea.« Rothens Stimme klang angespannt. »Bleib, wo du bist.«

Akkarin machte einen Schritt auf ihren Mentor zu und legte ihm die Hände um den Kopf. Dann schloss er die Augen, und im nächsten Moment trat ein unerwartet friedlicher Ausdruck in seine Züge.

Rothen sog scharf die Luft ein und taumelte leicht. Er ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. Sonea wagte es nicht, sich einzumischen. Was, wenn Akkarin Rothen Schaden zufügte? In ihrer Angst spürte sie kaum, wie sich ihre Nägel in das Fleisch ihrer Handflächen bohrten.

Die beiden Magier blieben unerträglich lange Zeit reglos und schweigend voreinander stehen. Dann holte Akkarin plötzlich tief Luft, öffnete die Augen und ließ die Hände sinken.

Rothen schwankte leicht, und Sonea trat vorsichtig einen Schritt vor und griff nach dem Arm ihres Mentors.

»Mir geht es gut«, sagte er schwach. »Es ist alles in Ordnung.« Er rieb sich die Schläfen, dann drückte er beruhigend Soneas Hand.

»Jetzt du, Sonea.«

Eine Woge kalten Entsetzens durchströmte ihren Körper. Rothens Finger klammerten sich fester um ihre Hand.

»Nein!«, protestierte er heiser und legte schützend einen Arm um ihre Schultern. »Ihr wisst nun alles. Lasst sie in Ruhe.«

»Das kann ich nicht.«

»Aber Ihr habt alles gesehen«, beteuerte Rothen. »Sie ist nur ein…«

»Ein Kind?« Akkarin zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ein Mädchen? Ich bitte Euch, Rothen. Ihr wisst, dass diese Prozedur ihr keinen Schaden zufügen wird.«

Rothen schluckte, dann drehte er sich langsam zu ihr um und sah ihr in die Augen. »Er weiß alles, Sonea. Du brauchst nichts vor ihm zu verbergen. Erlaube ihm, sich selbst davon zu überzeugen, wenn es denn sein muss. Es wird nicht wehtun.«

Auch wenn seine Augen feucht waren, sein Blick war ruhig und entschlossen. Er drückte noch einmal kurz ihre Hände, dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. Das schreckliche Gefühl, verraten worden zu sein, stieg in ihr auf.

Vertrau mir. Wir müssen es zulassen. Das ist alles, was wir im Moment tun können.

Sie hörte, dass Akkarin näher kam. Mit rasendem Herzen wandte sie sich zu ihm um. Die schwarze Robe raschelte bei jeder Bewegung. Als sie zurückzuckte, spürte sie Rothens Hände auf ihren Schultern.

Akkarin stand jetzt direkt vor ihr. Kühle Finger strichen über ihr Gesicht, und sie schauderte. Dann legte er ihr die Hände fest auf die Schläfen.

Eine Aura berührte ihren Geist, aber sie war ohne jede Persönlichkeit. Sonea spürte weder Gedanken noch Gefühle. Vielleicht hatte er keine Gefühle. Diese Vorstellung war keineswegs beruhigend.

Gleich darauf blitzte ein Bild in ihren Gedanken auf. Sie zuckte jäh zusammen, denn sie hatte erwartet, dass er auf die Barrieren in ihrem Geist stoßen würde. Aber irgendwie hatte er sie umgangen.

Immer wieder blitzte dasselbe Bild in ihren Gedanken auf. Es zeigte den unterirdischen Raum unter Akkarins Residenz, und zwar von der Tür aus. Eine Erinnerung an die Szene, die sie in jener Nacht beobachtet hatte, stieg in ihr auf.

Irgendetwas griff nach dieser Erinnerung und teilte sie in Einzelheiten auf. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den Eindringling in ihren Gedanken, doch vergeblich. Akkarin hatte jetzt die Kontrolle über ihren Geist. Bei dieser Entdeckung stieg Panik in ihr auf. In ihrer Verzweiflung versuchte sie, die Erinnerung an jene Nacht mit anderen Gedanken und Bildern zu überlagern.

Lass das.

Ein wütender Unterton schwang in den Worten mit. Triumphierend begriff sie, dass sie einen Weg gefunden hatte, Akkarin zu behindern. Ihre Angst verstärkte ihre Entschlossenheit. Sie beschwor Unterrichtsstunden herauf, Listen von Tatsachen, Bilder von Arbeiten, die sie geleistet hatte. Sie bombardierte ihn mit Abbildungen aus Lehrbüchern und unsinnigen Gedichten, die sie in der Bibliothek entdeckt hatte. Dann ließ sie Erinnerungen an die Hüttenviertel folgen, unwichtige, alltägliche Dinge aus ihrem früheren Leben.

Das geistige Bild eines Sturms erschien - ein Trichter von Bildern, die Akkarin in ihrem Zentrum gefangen hielten. Sie wusste nicht, ob das Bild real war oder etwas, das ihre Fantasie ersonnen hatte…

Schmerz! Messer, die sich in ihren Schädel rammten. Ein Schrei drang an ihre Ohren. Als ihr klar wurde, dass sie selbst ihn ausgestoßen hatte, öffnete sie die Augen, und ihr Bewusstsein schwankte zwischen der äußeren und der inneren Welt hin und her. Hände krampften sich um ihre Schultern. Irgendwo über ihr erklang eine Stimme.

»Hör auf, gegen mich zu kämpfen«, befahl die Stimme.

Wieder spürte sie Akkarins Finger, die sich auf ihre Schläfen pressten. Ruckartig wurde sie in das Reich ihres Geistes zurückversetzt. Orientierungslos und entsetzt über den Schmerz versuchte sie, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Akkarins Aura wandte sich erneut der Aufgabe zu, die Erinnerungen auszugraben, nach denen er suchte. Unbarmherzig beschwor er Bild um Bild herauf. Diesmal erlebte sie die Augenblicke auf dem Nordplatz von neuem. Wieder warf sie den Stein und floh vor dem Feuer der Magier. Räume und Flure der Hüttenviertel huschten an ihr vorbei. Der Tag, an dem sie Rothens suchenden Geist gespürt und instinktiv ihre Aura verborgen hatte. Cery, Harrin und seine Bande. Faren, der Dieb. Senfel, der Magier der Diebe.

Dann schlich sie sich durch den Wald auf dem Gelände der Gilde. Die Erinnerungen wurden schärfer. Einmal mehr kletterte sie über die Mauer des Heilerquartiers und beobachtete die Novizen. Wieder spürte sie die Vibration, die die Arena umgab. Sie spähte durch die Fenster der Universität. Ihr Weg führte sie abermals um die Gilde herum zu den Novizenquartieren und durch den Wald dahinter. Dann, nachdem Cery fortgegangen war, um die Bücher zu stehlen, schlich sie zu dem seltsamen, grauen, zweistöckigen Gebäude. Der Diener kam und zwang sie, sich hinter dem niedrigen Gebüsch zu verstecken. Sie bemerkte das Licht, das durch die Luftschächte fiel, ging in die Hocke und spähte hindurch.

Ein leises Aufflackern von Ärger berührte ihre Sinne. Ja, dachte sie, ich wäre auch wütend, wenn man meine Geheimnisse so leicht entdecken könnte. Sie sah, wie der blutbefleckte Mann seine Kleider ablegte, sich wusch und davonging. Als er kurz darauf in eine schwarze Robe gewandet zurückkam, sprach der Mann mit seinem Diener. »Der Kampf hat mich geschwächt. Ich brauche deine Kraft.« Der Mann nahm ein kunstvoll geschmiedetes Messer heraus, ritzte den Arm des Dieners auf und legte dann die Hand auf die Wunde. Einmal mehr spürte sie die eigenartige Magie.

Die Erinnerung brach jäh ab, und sie konnte nichts mehr von dem Geist wahrnehmen, der hinter ihrem gelauert hatte. Was mochte Akkarin denken?, fragte sie sich.

Hast du irgendjemandem außer Lorlen und Rothen Zugang zu diesem Wissen gegeben?

Nein, dachte sie.

Sie entspannte sich, denn sie glaubte, dies sei alles, was ihn interessiere, aber dann folgte ein unbarmherziges Verhör, in dem Akkarin ihr Gedächtnis weiter erforschte. Er erkundete Teile ihres Lebens, angefangen von ihrer Kindheit bis zu ihrem Unterricht an der Universität. Er drang auch in ihre Gefühle ein, entdeckte ihre Zuneigung zu Rothen, ihre unverbrüchliche Treue Cery und den Hüttenleuten gegenüber und schließlich sogar die neuen Gefühle, die sie für Dorrien hegte.

Plötzlich loderte Zorn in ihr auf, Zorn, der sich gegen Akkarin richtete, weil er ihr das antat. Er wollte wissen, wie sie dazu stand, dass er schwarze Magie praktizierte, und ihr Geist reagierte mit Missbilligung und Angst. Würde sie ihn bloßstellen, wenn sie konnte? Ja! Aber nur, wenn sie wusste, dass Rothen und den anderen deswegen keine Gefahr drohte.

Dann zog er sich aus ihren Gedanken zurück, und der Druck auf ihren Schläfen ließ nach. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Akkarin hatte ihr den Rücken zugekehrt und ging langsam im Raum auf und ab. Rothen legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern.

»Ihr beide würdet mich bloßstellen, wenn ihr könntet«, sagte Akkarin. Er schwieg eine Weile, dann drehte er sich wieder zu ihnen um. »Ich werde verlangen, dass man mich zu Soneas Mentor bestimmt. Ihre Fähigkeiten sind weit fortgeschritten, und wie Lorlen bereits festgestellt hat, ist ihre Stärke wirklich ungewöhnlich. Niemand wird meine Wahl in Frage stellen.«

»Nein!«, stieß Rothen hervor.

»O doch«, entgegnete Akkarin. »Sie wird mir Euer Schweigen garantieren. Solange sie mir gehört, werdet Ihr niemals irgendjemanden wissen lassen, dass ich schwarze Magie praktiziere.« Er blickte zu Sonea hinüber. »Umgekehrt wird Rothens Wohlergehen mir deinen Gehorsam sichern.«

Sonea starrte ihn entsetzt an. Sie sollte seine Geisel sein!

»Ihr werdet in Zukunft nur noch miteinander sprechen, um dafür zu sorgen, dass niemand Verdacht schöpft. Ihr werdet euch beide so benehmen, als sei nichts Ungewöhnlicheres vorgefallen als ein Wechsel von Soneas Mentor. Habt ihr mich verstanden?«

Rothen gab einen erstickten Laut von sich. Sonea drehte sich erschrocken zu dem älteren Magier um und sah Schuldgefühle in seinem Blick.

»Zwingt mich nicht dazu, über eine Alternative nachzudenken«, sagte Akkarin warnend.

Als Rothen ihm antwortete, klang seine Stimme angespannt. »Ich verstehe. Wir werden tun, was Ihr verlangt.«

»Gut.«

Akkarin trat einen Schritt näher an Sonea heran und musterte sie eindringlich. »In meiner Residenz gibt es ein Zimmer für den Novizen des Hohen Lords. Du wirst mich jetzt sofort begleiten und später einen Diener ausschicken, der deine Sachen holt.«

Soneas Kehle war wie zugeschnürt, als sie sich hilfesuchend zu Rothen umwandte. Er erwiderte ihren Blick.

Es tut mir Leid.

»Sofort, Sonea.« Akkarin deutete auf die Tür, die daraufhin aufschwang.

Rothen, der immer noch die Hände auf ihren Schultern liegen hatte, gab ihr einen sanften Stoß. Sie riss sich zusammen; sie wollte nicht, dass Rothen mit ansehen musste, wie man sie mit Gewalt fortschaffte. Er würde eine Möglichkeit finden, ihr zu helfen. Er würde alles tun, was in seinen Kräften stand. Für den Augenblick hatten sie beide keine andere Wahl, als zu gehorchen.

Sonea holte tief Luft, dann löste sie sich von Rothen und trat in den Korridor hinaus. Akkarin bedachte den älteren Magier mit einem letzten abschätzenden Blick, dann ging er auf die Tür zu. Als der Hohe Lord sich abwandte, loderte Hass in Rothens Augen auf.

Dann fiel die Tür ins Schloss, und er blieb allein im Raum zurück.

»Komm mit«, sagte Akkarin. »Das Novizenzimmer in meiner Residenz hat seit vielen Jahren keinen Bewohner mehr gehabt, aber es hat stets für diesen Verwendungszweck bereitgestanden. Du wirst feststellen, dass es erheblich komfortabler ist als die Zimmer in den Novizenquartieren.«

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