Zweiter Teil

20 Soneas Glück

Als die Tür geöffnet wurde, blickte der Rektor von seinem Schreibtisch auf, um festzustellen, wer da in sein Büro trat. Zum ersten Mal, seit Sonea sich erinnern konnte, zeigte Jerriks Miene keinen säuerlichen Ausdruck. Er sprang sofort auf.

»Was kann ich für Euch tun, Hoher Lord?«

»Ich möchte mit Euch über Soneas Ausbildung sprechen. Ich habe Euren Bericht gelesen, und ihre mangelhaften Fähigkeiten in gewissen Fächern machen mir Sorgen.«

Jerrik wirkte überrascht. »Soneas Fortschritte waren mehr als zufriedenstellend.«

»Ihre Zensuren in den Kriegskünsten sind bestenfalls durchschnittlich zu nennen.«

»Ah.« Jerrik blickte zu Sonea hinüber. »Es ist nicht ungewöhnlich, wenn ein Novize in diesem Stadium der Ausbildung für eine der Disziplinen eine geringere Neigung zeigt. Auch wenn sie sich in den Kriegskünsten nicht besonders ausgezeichnet hat, sind ihre Noten dennoch akzeptabel.«

»Trotzdem möchte ich, dass etwas deswegen unternommen wird. Ich denke, Lord Yikmo wäre ein geeigneter Tutor.«

»Lord Yikmo?« Jerriks buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. »Er unterrichtet abends grundsätzlich nicht, aber wenn Sonea in anderen Fächern Abendkurse belegt, würde sie dadurch tagsüber die notwendige Zeit gewinnen.«

»Ich glaube, sie hat gestern ihre Prüfung in Kriegskunst versäumt.«

»Ja«, erwiderte Jerrik. »Normalerweise hätten wir ihre Prüfung nach den Ferien nachgeholt, aber ich denke, dass uns eine Einschätzung ihrer Leistungen durch Lord Yikmo durchaus genügen würde.« Er blickte auf seinen Schreibtisch hinunter. »Wenn Ihr es wünscht, kann ich mich sofort um Soneas Stundenplan für das nächste Jahr kümmern. Es wird nicht lange dauern.«

»Ja. Ich werde Sonea hier lassen, damit sie ihn gleich mitnehmen kann. Vielen Dank, Rektor.«

Als sich die Tür hinter dem Hohen Lord schloss, holte Sonea tief Luft. Er war fort. Endlich.

Jerrik ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen, dann bedeutete er Sonea, ebenfalls Platz zu nehmen.

»Setz dich, Sonea.«

Sie gehorchte. Während sie abermals tief durchatmete, spürte sie, wie ein Teil der Anspannung von ihr abfiel.

Alles, was nach ihrem Abschied von Rothen geschehen war, erschien ihr wie ein böser Traum. Sie war Akkarin in seine Residenz gefolgt, wo ein Diener ihr ein Zimmer im Obergeschoss gezeigt hatte. Nicht lange danach war eine Truhe mit ihren Habseligkeiten aus dem Novizenquartier gekommen. Ein anderer Diener hatte ihr etwas zu essen gebracht, aber Sonea war zu verstört gewesen, um Hunger zu haben. Stattdessen hatte sie an einem der kleinen Fenster gesessen und die Magier und Novizen draußen auf dem Gelände beobachtet, ohne sie wirklich zu sehen. Ihre ganze Konzentration hatte der Suche nach einem Ausweg aus ihrer Situation gegolten.

Zuerst hatte sie erwogen, in die Hüttenviertel zu fliehen. Jetzt, da sie ihre Magie kontrollieren konnte, wären die Diebe überglücklich gewesen, ihr ihren Schutz anzubieten. Es war ihnen gelungen, Senfel zu verstecken, den wilden Magier, den Faren - erfolglos - zu überreden versucht hatte, sie zu unterrichten. Und wenn sie Senfel verstecken konnten, dann konnten sie auch sie verstecken.

Falls sie jedoch verschwand, würde Akkarin Rothen etwas antun. Aber wenn Rothen vorgewarnt wäre, konnte er dem Rest der Gilde erzählen, dass Akkarin schwarze Magie praktizierte, und das, noch bevor der Hohe Lord erfuhr, dass Sonea verschwunden war. Natürlich würde sie auch Lorlen warnen müssen, da ihm ebenfalls Gefahr drohte, wenn sie fortging. Ja, wenn sie beide Männer vorher warnte und den richtigen Zeitpunkt wählte, würde Akkarin vielleicht keine Chance haben, Lorlen und Rothen daran zu hindern, sein Geheimnis preiszugeben.

Und was dann? Die Gilde würde Akkarin zur Rede stellen. Lorlen glaubte, dass sie einen solchen Kampf nicht gewinnen könnten, und der Administrator kannte Akkarin besser als jeder andere Magier. Wenn sie also floh, beschwor sie möglicherweise eine Konfrontation herauf, die nicht nur die Gilde zerstörte, sondern wahrscheinlich ganz Kyralia.

Und dann war ihr plötzlich der Gedanke gekommen, dass das Schicksal der Gilde in ihren Händen lag. In den Händen eines Hüttenmädchens. Diese plötzliche Macht über das Schicksal der Gilde erfüllte sie jedoch keineswegs mit Freude. Stattdessen war ihr beinahe schlecht vor Angst.

Lange nachdem die Gärten in der Dunkelheit der Nacht verschwunden waren, war der Diener mit einem Getränk zurückgekommen. Sonea hatte den Duft erkannt - es war ein leichtes Schlafmittel gewesen -, und sie hatte das ganze Glas geleert, sich auf dem fremden, viel zu weichen Bett zusammengerollt und die Müdigkeit, die sich langsam in ihr ausbreitete, willkommen geheißen.

Am Morgen hatten eifrige Diener ihr neue Roben und das Frühstück gebracht. Es gelang ihr, einige Bissen zu essen, aber als Akkarin kam, bedauerte sie es. Wie schon am Abend zuvor war ihr übel vor Furcht, als sie ihm zur Universität folgte. Zu Jerriks Büro. War sie auf dem Weg dorthin an anderen Novizen vorbeigekommen? Waren sie beim Anblick des Hohen Lords in Schweigen verfallen, wie sie es immer taten? Sonea konnte sich nicht daran erinnern.

Jerriks Bewegungen waren hektisch, und ein konzentrierter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Sie hatte den Hohen Lord nur wenige Male zusammen mit anderen Magiern gesehen und dabei festgestellt, dass man ihn allgemein mit Respekt, ja sogar mit Ehrfurcht behandelte. Galt diese Huldigung der Position des Hohen Lords? Oder war es etwas anderes? Hatten die Magier instinktiv Angst vor ihm, ohne den Grund dafür zu kennen?

Während sie Jerrik beobachtete, schüttelte sie den Kopf. Stundenpläne und Prüfungen erschienen ihr mit einem Mal so unwichtig. Wenn Jerrik gewusst hätte, was wirklich geschehen war, würde ihn dieses Jonglieren mit verschiedenen Papieren und Kurszeiten nicht mehr im Geringsten interessieren. Und er würde Akkarin auch nicht mehr mit Respekt begegnen.

Aber er wusste es nicht, und sie konnte es ihm nicht erzählen.

Jerrik erhob sich abrupt. Er ging zu einem Schrank hinüber und nahm drei Schatullen heraus: eine grüne, eine rote und eine purpurfarbene. Dann trat er zu den hohen, schmalen Türen, die eine Wand des Raums bedeckten, und strich mit der Hand über den Griff der ersten Tür. Ein leises Klicken war zu hören, dann öffnete sich die Tür; dahinter kamen etliche Regale zum Vorschein.

Nachdem er mit dem Finger über das erste Regal gestrichen hatte, hielt er inne und zog einen Ordner heraus. Er legte ihn auf den Tisch, und Sonea sah, dass ihr Name in säuberlicher Handschrift auf den Deckel geschrieben war. Neugierig beobachtete sie, wie Jerrik den Ordner öffnete und mehrere Seiten durchlas. Was steht da drin?, fragte sie sich. Bemerkungen der Lehrer wahrscheinlich. Und ein Bericht über die Schreibfeder, die ich angeblich gestohlen habe.

Jerrik öffnete die drei Schatullen. Darin lagen weitere Papiere mit Zeitplänen und den Namen von Lehrern. Eines dieser Papiere wählte er jetzt aus, dann nahm er ein sauberes Blatt von seinem Schreibtisch und machte sich daran, einen weiteren Plan zu zeichnen. Minutenlang waren im Raum nur das Kratzen von Jerriks Feder und seine regelmäßigen Atemzüge zu hören.

»Das ist ein großes Glück für dich, Sonea«, bemerkte er, ohne aufzublicken.

Sonea verkniff sich ein plötzliches, bitteres Lachen. »Ja, Rektor«, murmelte sie.

Stirnrunzelnd sah er zu ihr auf, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Arbeit zu. Als er mit dem Zeitplan fertig war, griff er nach einem weiteren Blatt Papier und machte eine Abschrift davon.

»Du wirst im nächsten Jahr nicht viel Zeit für dich haben«, erklärte er ihr. »Lord Yikmo zieht es vor, tagsüber zu unterrichten, daher wirst du stattdessen einige private Stunden in Alchemie nehmen müssen. Die Freitage bleiben dir zum Lernen. Wenn du dir die Arbeit gut einteilst, kannst du es vielleicht einrichten, dir die Freitagvormittage für eigene Unternehmungen freizuhalten.« Er hielt inne und musterte sein Werk mit einem traurigen Kopfschütteln. »Wenn du Lord Yikmo von deinen Fortschritten überzeugen kannst, wirst du nach einer Weile vielleicht auch wieder einige freie Nachmittage haben.«

Sonea antwortete nicht. Welchen Nutzen sollte freie Zeit jetzt noch für sie haben? Akkarin hatte ihr verboten, mit Rothen zu sprechen, und sie hatte keine Freunde unter den Novizen. Sie hatte Angst vor den nächsten Wochen. Wenn es bis zum nächsten Jahr keinen Unterricht gab, womit sollte sie sich dann beschäftigen? Sollte sie in ihrem neuen Zimmer in Akkarins Residenz bleiben? Sie schauderte. Nein, sie würde so oft wie möglich versuchen, gerade nicht dort zu sein.

Wenn er es ihr gestattete. Was, wenn er sie in seiner Nähe haben wollte? Was, wenn er mich bei seiner schmutzigen Arbeit benutzen will? Sie schob den Gedanken beiseite, dann hielt sie inne. Wie grauenhaft diese Möglichkeit auch sein mochte, sie musste sie in Erwägung ziehen. Er konnte sie zu allem zwingen, indem er ihr drohte, Rothen etwas anzutun. Ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Alles

Ihre Hände schmerzten. Als sie hinabblickte, öffnete sie ihre verkrampften Fäuste. Vier halbmondförmige Abdrücke zeichneten sich in den Innenflächen ihrer Hände ab. Sie rieb sie an ihrer Robe und nahm sich vor, sich die Fingernägel zu schneiden, sobald sie in ihr Zimmer zurückkehrte.

Jerrik ging ganz in der Arbeit an seinen Papieren auf. Sie beobachtete, wie seine Feder sich langsam bis zum unteren Rand der Seite vorarbeitete. Am Ende angekommen, stieß er einen Laut der Befriedigung aus und überreichte ihr das Blatt.

»Als Schützling des Hohen Lords wirst du eine Vorzugsbehandlung genießen, aber man wird von dir auch erwarten, dass du beweist, dass er eine gute Wahl getroffen hat. Zögere nicht, dir die Vorteile deiner neuen Position zunutze zu machen - du wirst es tun müssen, wenn du seinen Erwartungen gerecht werden willst.«

Sie nickte. »Vielen Dank, Rektor.«

»Du darfst dich jetzt zurückziehen.«

Sonea schluckte, dann stand sie auf, verneigte sich und ging zur Tür.

»Sonea.«

Als sie sich noch einmal umdrehte, umspielte ein seltenes Lächeln Jerriks Mundwinkel. »Ich weiß, dass du Rothen als deinen Mentor vermissen wirst«, sagte er. »Akkarin mag nicht so gesellig sein wie Rothen, aber indem er dich ausgewählt hat, trägt er sehr dazu bei, deine Situation hier zu verbessern.« Das Lächeln verschwand. »Du darfst jetzt gehen.«

Sie zwang sich zu nicken. Als sie die Tür hinter sich zuzog, sah sie, dass Jerrik sie mit nachdenklicher Miene beobachtete. Schließlich wandte sie sich um, ließ den Stundenplan in ihren Koffer gleiten und machte sich auf den Weg durch den breiten, vertrauten Flur.

In den Türen standen einige Novizen, die ihr nachsahen. Verwirrt beschleunigte sie ihre Schritte. Wie viele von ihnen wissen wohl schon Bescheid?, überlegte sie. Wahrscheinlich alle. Sie hatten immerhin einen ganzen Tag Zeit, es herauszufinden. Die Nachricht, dass der Hohe Lord endlich einen Schützling ausgewählt hatte, hatte sich in der Gilde gewiss schneller verbreitet als der Winterhusten. Ein Lehrer kam aus einem der Nebenflure. Er sah sie zweifelnd an und warf einen schnellen Blick auf ihren Ärmel. Dann zog er die Augenbrauen hoch und schüttelte kaum merklich den Kopf, als könne er nicht glauben, was er da sah.

Auch Sonea betrachtete einmal mehr das kleine goldfarbene Quadrat auf dem Ärmel ihrer Robe. Incals waren Familiensymbole, die die Mitglieder der Häuser trugen. Magier dagegen trugen sie nicht mehr, denn mit ihrem Eintritt in die Gilde sollten sie alle familiären und politischen Bande hinter sich lassen. Der Diener, der ihr die neuen Roben gebracht hatte, hatte ihr erklärt, dass der Hohe Lord zum Zeichen seiner Stellung und seiner lebenslangen Bindung das Symbol der Gilde als Incal trage. Die Gilde war seine Familie und sein Haus.

Und sie war seine Novizin. Sie drückte den Arm an den Körper, um das Incal zu verbergen, bevor sie auf die Tür ihres Klassenzimmers zuging. Kurz davor blieb sie noch einmal stehen, um Mut zu sammeln.

»Guten Morgen, Sonea.«

Lord Elben kam mit langen Schritten durch den Flur auf sie zu. Sein Mund lächelte, aber der Ausdruck seiner Augen blieb kalt. »Ich gratuliere dir zu deinem neuen Mentor«, sagte er, als er sie erreicht hatte.

Sonea verneigte sich. »Vielen Dank, Lord Elben.«

Er trat in den Klassenraum. Sonea atmete tief durch und folgte ihm.

»Nehmt bitte eure Plätze ein«, rief Elben. »Wir haben heute viel zu tun.«

»Ah!« Eine vertraute Stimme erhob sich über das Kratzen von Stuhlbeinen auf dem Boden. »Der Schützling des Hohen Lords lässt sich herab, unsere bescheidene Klasse mit seiner Anwesenheit zu ehren.«

Stille kehrte ein. Alle Gesichter wandten sich zu Sonea um. Die Ungläubigkeit in den Zügen der jungen Leute war beinahe komisch. Was für eine Ironie, dass ihre eigenen Klassenkameraden die letzten waren, die es erfuhren. Mit einer Ausnahme. Regin hockte lässig auf einem Tisch und grinste, hochzufrieden mit der Wirkung, die seine Neuigkeit auf die Klasse gehabt hatte.

»Wenn du dich jetzt bitte hinsetzen würdest, Regin«, knurrte Elben.

Regin glitt vom Tisch und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Sonea ging zu ihrem Platz hinüber und stellte ihren Bücherkoffer auf das Pult. Bei dieser Bewegung fiel ihr der Ärmel über das Handgelenk, und sie hörte ein leises Keuchen in ihrer Nähe. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Narron das Incal anstarrte.

»Sonea«, sagte Elben. »Ich habe dir einen Platz in der ersten Reihe reserviert.«

Erst jetzt bemerkte sie, dass in der ersten Reihe tatsächlich ein Stuhl frei geblieben war. Porils Stuhl. Sie drehte sich um und stellte fest, dass ihr alter Freund im hinteren Teil des Raumes saß. Er errötete und wich ihrem Blick aus.

»Vielen Dank, Mylord«, erwiderte sie. »Das war sehr freundlich von Euch, aber ich würde es vorziehen, weiterhin auf meinem alten Platz zu sitzen.«

Die Augen des Magiers wurden schmal. Einen Moment lang schien es, als würde er Einwände erheben, aber dann besann er sich offenkundig eines Besseren.

»Nun gut.« Er ließ sich auf seinen Stuhl sinken und legte die Hand auf einen Stapel Papiere auf seinem Pult. »Heute werde ich eure Kenntnisse der Alchemie prüfen«, erklärte er der Klasse. »Ich werde euch eine Liste mit Fragen geben, die ihr beantwortet. Danach werdet ihr einige verschiedene Aufgaben bekommen. Nach der Mittagspause folgen dann die praktischen Prüfungen.«

Als er die Papierbögen verteilte, stieg in Sonea eine alte, beinahe vergessene Furcht auf. Die Prüfungen. Sie überflog die Fragen und seufzte vor Erleichterung. Trotz der Verachtung der Lehrer, trotz aller Versuche Regins, sie zu behindern, war es ihr gelungen, den Unterrichtsstoff zu lernen und zu behalten. Als sie ihre Feder hervornahm und zu schreiben begann, fühlte sie sich bereits besser.

Einige Stunden später verkündete der Gong das Ende der Prüfung, und die Erleichterung der Klasse war mit Händen zu greifen.

»Das ist alles«, sagte Elben. »Ihr dürft jetzt gehen.«

Die Novizen erhoben sich und verbeugten sich vor dem Lehrer. Als sie einer nach dem anderen den Raum verließen, fing Sonea mehrere Blicke von ihren Klassenkameraden auf. Bei dem Gedanken an den Grund dafür krampfte ihr Magen sich vor Angst zusammen.

»Warte, Sonea«, sagte Elben, als sie an seinem Pult vorbeikam. »Ich möchte gern kurz mit dir sprechen.«

Als der Raum sich geleert hatte, sagte er: »Nach der Mittagspause möchte ich, dass du den Platz einnimmst, den ich für dich reserviert habe.«

Sonea schluckte. Hatte Jerrik solche Dinge gemeint, als er davon sprach, dass die Lehrer sie in Zukunft bevorzugt behandeln würden? Sollte sie diesen Vorteil nutzen, wie der Direktor es ihr nahe gelegt hatte?

Aber was konnte sie gewinnen, indem sie in die erste Reihe umzog? Nur das Wissen, dass Poril ihretwegen in der Klasse noch mehr Ansehen eingebüßt hatte. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich ziehe es vor, am Fenster zu sitzen.«

Elben runzelte die Stirn. »Es wäre passender, wenn du jetzt ganz vorn in der Klasse säßest.«

Passender? Ärger loderte in ihr auf. Hier ging es nicht darum, ihr beim Lernen zu helfen, hier ging es darum, zu demonstrieren, dass man die Novizin des Hohen Lords bevorzugte. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass sie Akkarin von jeder noch so kleinen Vergünstigung, die ihr zuteil wurde, berichten würde. Sie unterdrückte ein bitteres Lachen. Sie würde so wenig wie möglich mit ihrem neuen Mentor sprechen.

Eins hatte sie in den vergangenen sechs Monaten gewiss gelernt: Die Rangordnung der Klasse durfte auf keinen Fall durcheinander gebracht werden. Wenn sie Porils Platz einnahm, würde das weit mehr bedeuten als nur einen Tausch mit ihm. Die Novizen mochten sie schon jetzt nicht; sie brauchte ihnen nicht noch zusätzliche Gründe dafür zu liefern. Sie sah Elben an, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, und aus ihrem Ärger wurde Trotz.

»Ich werde an meinem alten Platz sitzen bleiben«, erklärte sie ihm.

Elben spitzte missbilligend die Lippen, aber etwas in Soneas Blick ließ ihn zögern. Nachdenklich runzelte er die Stirn. »Vorne kann man besser sehen und hören«, bemerkte er.

»Ich bin nicht taub, Lord Elben, und auch nicht kurzsichtig.«

Sein Kiefer verspannte sich. »Sonea.« Er trat näher an sie heran und sprach jetzt sehr leise. »Wenn du den Platz in der ersten Reihe ablehnst, könnte man dies als… Nachlässigkeit meinerseits werten…«

»Vielleicht sollte ich Akkarin erklären, dass Ihr mich nicht dort sitzen lassen wollt, wo ich zu sitzen wünsche.«

Seine Augen weiteten sich. »Wegen einer solchen Kleinigkeit würdest du ihn doch gewiss nicht behelligen…«

Sie lächelte. »Ich bezweifle, dass er sich überhaupt dafür interessiert, in welchem Teil des Raums ich sitze.«

Er musterte sie schweigend, dann nickte er. »Also gut. Du darfst sitzen, wo du willst. Geh jetzt.«

Als sie in den Flur hinaustrat, hämmerte ihr Herz. Was hatte sie getan? Novizen widersetzten sich niemals ihren Lehrern.

Dann wurde ihr klar, dass im Flur ungewöhnliche Stille herrschte. Sie stellte fest, dass Novizen aller Jahrgänge sie eindringlich musterten. Die Befriedigung über ihr Gespräch mit Lord Elben löste sich in Luft auf. Sonea schluckte und ging auf die Treppe zu.

»Das ist sie«, flüsterte eine Stimme zu ihrer Rechten.

»Gestern«, murmelte jemand. »…nicht die leiseste Vorwarnung.«

»…Hoher Lord…«

»…aber warum sie?«, höhnte jemand, eine Bemerkung, die offensichtlich dazu gedacht war, dass Sonea sie hörte. »Sie ist doch bloß ein Hüttenmädchen.«

»…nicht richtig.«

»…es hätte einer von uns…«

»…Beleidigung für die Häuser.«

Sie schnaubte leise. Wenn sie den wahren Grund gekannt hätten, warum er mich gewählt hat, dachte sie, dann wären sie nicht so

»Macht Platz für den Schützling des Hohen Lords!«

Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie die Stimme erkannte. Regin hatte ihr den Weg verstellt.

»Erhabene!«, rief er laut. »Dürfte ich einen winzigen, unendlich kleinen Gefallen von einer so bewunderten und einflussreichen Persönlichkeit erbitten?«

Sonea betrachtete ihn wachsam. »Was willst du, Regin?«

»Würdest du… natürlich nur, wenn es keine allzu große Beleidigung für deine hohe Position ist«, er lächelte klebrig süß, »würdest du heute Abend dann meine Schuhe flicken? Verstehst du, ich weiß, dass du überaus begabt für solch große und verdienstvolle Aufgaben bist, und, nun ja, wenn ich meine Schuhe schon reparieren lasse, sollte das durch den besten Schuhflicker in der Hüttengilde geschehen, meinst du nicht auch?«

Sonea schüttelte den Kopf. »Etwas Besseres ist dir wohl nicht eingefallen, Regin?« Sie ging um ihn herum und weiter den Flur hinunter. Schritte verfolgten sie.

»Aber Sonea…, ich meine, aber, Erhabene. Es wäre mir eine solche Ehre…«

Seine Stimme brach abrupt ab. Stirnrunzelnd widerstand sie dem Drang, sich umzudrehen.

»Sie ist die Novizin des Hohen Lords«, murmelte jemand. »Bist du verrückt geworden? Lass sie in Ruhe.«

Als Sonea Kanos Stimme erkannte, schnappte sie überrascht nach Luft. Das also hatte Jerrik gemeint, als er gesagt hatte, Akkarin habe sehr zur Verbesserung ihrer Situation beigetragen? Langsam setzte sie ihren Weg durch die Universität fort, trat durch die Eingangstüren und ging auf die Magierquartiere zu.

Dann blieb sie jäh stehen.

Wo wollte sie hin? In Rothens Wohnung? Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.

Schließlich gab ihr Hunger den Ausschlag. Sie würde in den Speisesaal gehen. Und nach den Prüfungen am Nachmittag? In die Bibliothek. Wenn sie dort blieb, bis die Bibliothek geschlossen wurde, brauchte sie erst am späten Abend in die Residenz des Hohen Lords zurückzukehren. Mit ein wenig Glück hatte Akkarin sich dann schon für die Nacht zurückgezogen, und sie konnte in ihr Zimmer gelangen, ohne ihm zu begegnen. Mit einem tiefen Atemzug wappnete sie sich gegen die unausweichlichen Blicke und das Getuschel und ging zurück in die Universität.


Lorlens Räume lagen im Erdgeschoss des Magierquartiers. Er verbrachte jedoch nur wenig Zeit dort, da er früh morgens aufstand und erst am späten Abend zurückkehrte. Inzwischen nahm er in seiner Wohnung kaum mehr wahr als das Bett und seinen Kleiderschrank.

Aber am vergangenen Tag hatte er vieles in seiner Wohnung neu entdeckt. Auf den Bücherregalen standen einige Zierstücke, von denen er ganz vergessen hatte, dass er sie besaß. Diese Erinnerungen an die Vergangenheit, an Angehörige und an frühere Leistungen erfüllten ihn mit Schmerz und Schuldgefühlen. Sie erinnerten ihn an Menschen, die er liebte und respektierte. Menschen, die er im Stich gelassen hatte.

Lorlen schloss die Augen und seufzte. Osen machte sich gewiss noch keine Sorgen. Es waren nur anderthalb Tage vergangen. Nicht lange genug, als dass sein Assistent angesichts der wachsenden Liste unerledigter Aufgaben in Panik geraten würde. Außerdem versuchte Osen seit Jahren, Lorlen zu einer Erholungspause zu überreden.

Wenn es nur eine Erholungspause wäre. Lorlen rieb sich die Augen und schlenderte in sein Schlafzimmer hinüber. Vielleicht war er jetzt müde genug, um schlafen zu können. Während der beiden letzten Nächte hatte er keine Ruhe gefunden, nicht mehr seit…

Als er sich hinlegte, kehrten die Erinnerungen zurück. Stöhnend versuchte er, sie beiseite zu drängen, aber er war zu müde, um gegen sie anzukämpfen.

Womit hat es begonnen? Ich habe etwas über den Botschafter aus Vin gesagt, der mit einer Einladung in die Residenz gerechnet hatte

»Er war überrascht zu erfahren, dass der Hohe Lord keine Gäste mehr in seinem Haus aufnimmt, denn sein Vater hatte für einige Zeit bei deinem Vorgänger gewohnt«, erinnerte sich Lorlen gesagt zu haben.

Diese Bemerkung hatte Akkarin ein Lächeln entlockt. Er hatte vor dem kleinen Getränketisch gestanden und durch das Fenster in den nachtdunklen Garten geblickt.

»Die beste Veränderung, die ich je vorgenommen habe.«

»Ja, deine Privatsphäre ist dir sehr kostbar«, hatte Lorlen geistesabwesend erwidert.

Daraufhin hatte Akkarin die Hand auf eine Weinflasche gelegt, als grübele er darüber nach, ob er noch ein weiteres Glas trinken solle. Er hatte das Gesicht abgewandt, etwas, wofür Lorlen bei Akkarins nächsten Worten aufrichtig dankbar gewesen war.

»Ich bezweifle, dass dem Botschafter meine… Gewohnheiten angenehm wären.«

Da! Wieder eine dieser seltsamen Bemerkungen. Als wolle er mich auf die Probe stellen. Ich dachte, mir könne nichts passieren, da er mir den Rücken zugewandt hatte und meine Reaktion nicht sehen konnte

»Gewohnheiten?« Lorlen hatte Verständnislosigkeit geheuchelt. »Ich glaube kaum, dass es ihn interessieren würde, ob du erst spät abends zu Bett gehst oder gelegentlich zu viel trinkst. Du hast doch nur Angst, dass er zu viel von deinem Lieblingswein trinken könnte.«

»Das auch.« Inzwischen hatte Akkarin die Flasche geöffnet. »Aber wir wollen doch nicht, dass sich irgendjemand den Kopf über all meine kleinen Geheimnisse zerbricht, nicht wahr?«

An dieser Stelle des Gesprächs war ein Bild von Akkarin in blutbefleckten Bettlerlumpen in Lorlens Gedanken aufgeblitzt. Schaudernd hatte er das Bild beiseite geschoben, abermals dankbar dafür, dass Akkarin ihm den Rücken zukehrte.

War es das, was Akkarin gespürt hat? Hat er in diesem Augenblick meinen Gedanken gelauscht?

»Nein«, hatte Lorlen geantwortet und dann, um das Thema zu wechseln, nach Neuigkeiten vom Hof gefragt.

In diesem Moment hatte Akkarin einen Gegenstand vom Tisch genommen. Lorlen hatte das Aufblitzen von Juwelen bemerkt und genauer hingesehen. Es war ein Messer gewesen. Das Messer, das Sonea in jener Nacht bei Akkarin gesehen hatte. Das Messer, mit dem er seine schwarze Magie ausübte. Überrascht und entsetzt hatte Lorlen tief Luft geholt und den Wein in die falsche Kehle bekommen.

In seinen Gedanken wiederholte sich die ganze Szene ein weiteres Mal. »Wein ist zum Trinken da, mein Freund«, sagte Akkarin lächelnd. »Nicht dazu, ihn einzuatmen.«

Lorlen wandte den Blick ab und hustete, um das Gesicht hinter den Händen verbergen zu können. Er versuchte, die Fassung wiederzugewinnen, aber durch den Anblick des Messers in Akkarins Hand hatte er Soneas Erinnerung noch einmal durchleben müssen. Er fragte sich, warum sein Freund ihn in den Empfangsraum geführt hatte.

Dann gefror ihm plötzlich das Blut in den Adern, als ihm der Gedanke kam, Akkarin könne die Absicht haben, von der Klinge Gebrauch zu machen.

»Welche Neuigkeiten ich habe?«, überlegte Akkarin laut. »Lass mich nachdenken.«

Lorlen zwang sich, seinen Freund gelassen anzusehen. Als Akkarin sich wieder der Flasche zuwandte, fing Lorlen eine Bewegung auf dem Tisch auf. Ein Tablett aus poliertem Silber, das an einer anderen Flasche lehnte, spiegelte Akkarins Augen wider. Augen, die ihn beobachteten.

Also hat er mich die ganze Zeit über beobachtet. Vielleicht brauchte er an diesem Punkt des Gespräches gar nicht meine Gedanken zu lesen. Allein meine Reaktion auf seine Bemerkungen und auf dieses Messer müssen ihn davon überzeugt haben, dass ich etwas weiß

»Freunde in Elyne und Lonmar haben mir von Dannyl berichtet«, fuhr Akkarin fort und wandte sich dann abrupt vom Tisch ab. »Sie sind voll des Lobes für ihn.«

»Es freut mich, das zu hören.«

Akkarin war in die Mitte des Raumes getreten. »Ich habe seine Fortschritte mit großem Interesse verfolgt. Er ist äußerst geschickt, wenn es darum geht, Nachforschungen anzustellen.«

Also wusste er, dass Dannyl nach etwas suchte. Wusste er auch, was Dannyl suchte? Lorlen zwang sich zu einem Lächeln. »Ich frage mich, was wohl sein Interesse erregt haben mag.«

Akkarins Augen wurden schmal. »Hat er dich nicht auf dem Laufenden gehalten?«

»Mich?«

»Ja. Du warst es doch schließlich, der ihn gebeten hat, Nachforschungen bezüglich meiner Vergangenheit anzustellen.«

Lorlen wog seine nächsten Worte genau ab. Akkarin mochte wissen, dass Dannyl seine damalige Reise nachzuvollziehen versuchte, aber wie sollte er den Grund dafür kennen, wenn nicht einmal Dannyl selbst ihn kannte? »Haben dir deine Freunde das berichtet?«

»Spione wäre wohl der passendere Ausdruck.«

Akkarin machte eine plötzliche Bewegung, und Lorlen stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er immer noch das Messer in der Hand hielt. Da ihm klar war, dass seine Reaktion Akkarin nicht entgangen sein konnte, sah Lorlen den anderen Mann freimütig an.

»Was ist das?«

»Etwas, das ich von meinen Reisen mitgebracht habe«, antwortete Akkarin und hielt das Messer in die Höhe. »Etwas, das du erkennst, wie ich denke.«

Ein Gefühl des Triumphs durchzuckte Lorlen. Mit diesen Worten hatte Akkarin praktisch zugegeben, dass er während seiner Reisen schwarze Magie erlernt hatte. Dannyls Nachforschungen würden sich vielleicht doch noch als nützlich erweisen …

»Es kommt mir seltsam bekannt vor«, erwiderte Lorlen. »Vielleicht habe ich etwas Derartiges schon einmal in einem Buch gesehen oder in einer Sammlung von Antiquitäten - und etwas, das einen so gefährlichen Eindruck macht, dürfte man wohl kaum vergessen.«

»Weißt du, wozu man es benutzt?«

Das Bild Akkarins, wie er den Arm seines Dieners aufritzte, blitzte in Lorlens Erinnerung auf. »Es ist ein Messer, daher vermute ich, dass es irgendeinem unerfreulichen Zweck dient.«

Zu Lorlens Erleichterung legte Akkarin das Messer nun wieder auf den Tisch zurück, aber die Erleichterung war nur von kurzer Dauer.

»Du bist seit einigen Monaten eigenartig vorsichtig in meiner Gegenwart«, sagte Akkarin. »Du vermeidest es, dich mit Hilfe von Gedankenrede mit mir zu verständigen, als würdest du fürchten, ich könnte etwas hinter deinen Gedanken wahrnehmen. Als meine Verbindungsmänner mir von Dannyls Nachforschungen berichteten, war ich fasziniert. Warum hast du ihn gebeten, meine Vergangenheit zu beleuchten? Streite es nicht ab, Lorlen. Ich habe Beweise.«

Es erschreckte Lorlen zutiefst, dass Akkarin von Dannyls Befehlen erfahren hatte. Aber er war auf diese Frage vorbereitet. Er heuchelte Verlegenheit.

»Ich war einfach neugierig, und nach unserem Gespräch über dein Tagebuch dachte ich, ich könnte vielleicht etwas von dem, was du verloren hast, wiederfinden. Du selbst hast nicht die Möglichkeit, die Informationen noch einmal zusammenzutragen, daher… Es wäre natürlich erheblich befriedigender für dich gewesen, wenn du selbst noch einmal auf Reisen gehen könntest, aber ich hatte gehofft, es wäre eine angenehme Überraschung.«

»Ich verstehe.« Akkarins Stimme hatte plötzlich einen harten Klang angenommen. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben, aber ich kann es nicht. Heute Abend habe ich etwas mit dir getan, das ich noch nie zuvor getan habe und niemals zu tun beabsichtigte. Während wir uns unterhalten haben, habe ich deine Gedanken gelesen. Sie haben viel mehr enthüllt als das wenige, was du verraten hast. Ich weiß, dass du lügst. Ich weiß, dass du Dinge gesehen hast, die du niemals hättest sehen dürfen, und ich muss herausfinden, woher du diese Informationen hast. Erzähl mir, seit wann du weißt, dass ich schwarze Magie praktiziere.«

So wenige Worte, und alles hatte sich verändert. Lag Bedauern in seiner Stimme oder Schuldbewusstsein? Nein. Nur Zorn

In seinem Entsetzen nahm Lorlen Zuflucht zu einem letzten, verzweifelten Täuschungsmanöver. Er sah seinen Freund fassungslos an.

»Du praktizierst was?«

Akkarins Miene verdüsterte sich. »Mach dich nicht lächerlich, Lorlen«, fuhr er ihn an. »Ich habe es in deinen Gedanken gesehen. Du weißt, dass du mich nicht belügen kannst.«

Als Lorlen klar wurde, dass er es nicht leugnen konnte, wanderte sein Blick zu dem Messer auf dem Tisch hinüber. Er fragte sich, was jetzt geschehen würde. Ob er sterben würde. Wie Akkarin seinen Tod erklären würde. Ob Rothen und Sonea die Wahrheit vermuten und Akkarins Verbrechen offenbaren würden…

Zu spät wurde ihm klar, dass Akkarin seine Gedanken lesen könnte. Aber das Gesicht des Hohen Lords verriet weder Erschrecken noch Argwohn, nur Neugier, und diese Tatsache gab Lorlen ein wenig Hoffnung.

»Wie lange weißt du es schon?«, hakte Akkarin nach.

»Seit mehr als einem Jahr«, gestand er.

»Woher?«

»Ich bin eines Nachts hierher gekommen. Die Tür stand offen, und ich habe Licht im Treppenhaus gesehen, also bin ich nach unten gegangen. Als ich sah, was du tatest… es war ein Schock. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.«

»Was genau hast du gesehen?«

Stockend beschrieb Lorlen, was Sonea beobachtet hatte. Während er sprach, hielt er Ausschau nach einem Anflug von Scham in den Zügen des anderen Magiers, konnte aber nur eine leichte Verärgerung entdecken.

»Weiß sonst noch jemand davon?«

»Nein«, antwortete Lorlen hastig. Er hoffte, dass er es vermeiden konnte, Sonea und Rothen zu verraten, aber Akkarins Augen wurden schmal.

»Du belügst mich, mein Freund.«

»Das tue ich nicht.«

Akkarin seufzte. »Das ist bedauerlich.«

Lorlen stand auf, um vor seinen alten Freund hinzutreten, fest entschlossen, Akkarin davon zu überzeugen, dass sein Geheimnis bei ihm sicher war. »Akkarin, du musst mir glauben. Ich habe niemandem von diesem Vorfall erzählt. Es hätte in der Gilde zu viel Unruhe gegeben. Ich… ich weiß nicht, warum du mit dieser… dieser verbotenen Magie herumspielst. Ich kann nur darauf vertrauen, dass du gute Gründe dafür hast. Glaubst du, ich würde hier stehen, wenn es anders wäre?«

»Du vertraust mir also?«

»Ja.«

»Dann zeig mir die Wahrheit. Ich muss wissen, wen du schützt, Lorlen, und wie viel genau du herausgefunden hast.«

Plötzlich streckte Akkarin die Hände nach Lorlens Kopf aus. Erschrocken begriff Lorlen, dass Akkarin die Absicht hatte, seine Gedanken zu lesen. Er packte die Hände des anderen Magiers und stieß sie von sich, entsetzt darüber, dass sein Freund etwas Derartiges von ihm verlangen könnte. »Du hast kein Recht…«

Und dann erstarb der letzte Rest von Lorlens Vertrauen in seinen Freund, als dieser die Finger zu einer vertrauten Geste durchbog. Eine Macht, der er sich nicht zu widersetzen vermochte, stieß Lorlen in den Sessel zurück, dann spürte er, wie die Magie des anderen ihn unerbittlich dort festhielt.

»Tu das nicht, Akkarin!«

Aber Akkarin schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, mein alter Freund, aber ich muss es wissen.«

Und dann spürte Lorlen Akkarins Finger auf seinen Schläfen.

Das hätte nicht möglich sein dürfen! Ich konnte seine Anwesenheit in meinem Geist nicht spüren, und doch war er dort. Wie gelingt es ihm nur, in die Gedanken eines anderen einzudringen, ohne dass sein Opfer etwas davon bemerkt?

Lorlen, dem die Erinnerung jetzt noch einen eisigen Schauer über den Rücken jagte, schlug die Augen auf und starrte die Wände seines Schlafzimmers an. Als er die Fäuste ballte, spürte er den Abdruck eines Metallrings auf der Haut eines seiner Finger. Er hob die Hand, und sein Magen krampfte sich zusammen, als der rote Edelstein in dem fahlen Licht aufblitzte.

Alles war an den Tag gekommen: was Sonea beobachtet hatte, die Wahrheitslesung, Rothens Verwicklung in die ganze Geschichte und alles, was Dannyl in Erfahrung gebracht hatte. Von Akkarins Gedanken und Gefühlen jedoch war nichts in Lorlens Bewusstsein gedrungen. Erst später hatte er ein wenig vom Gemütszustand des Hohen Lords erraten können, als Akkarin eine geschlagene Stunde schweigend in seinem Empfangsraum auf und ab gelaufen war. Was er erfahren hatte, machte ihm offensichtlich große Sorgen, aber seine Haltung hatte nichts von ihrer Entschlossenheit verloren.

Nach geraumer Zeit hatte sich endlich die Magie, die Lorlen in seinem Sessel festhielt, gelöst, und Akkarin hatte wieder nach dem Messer gegriffen. Wenn Lorlen mehr Zeit zum Nachdenken geblieben wäre, hätte er um sein Leben gefürchtet, aber so hatte er Akkarin nur ungläubig angestarrt, als dieser die Klinge über die Innenfläche seiner eigenen Hand zog.

Im nächsten Moment hatte Akkarin nach Lorlens leerem Glas gegriffen und es an der Tischkante zersplittern lassen. Einen der Splitter hatte er aufgefangen und in die Luft geworfen.

Das kleine Stückchen Glas hatte direkt vor Akkarins Augen in der Luft geschwebt und schließlich zu kreisen begonnen, bis es rot glühend geschmolzen war. Als es sich wieder abgekühlt hatte, formte es sich zu einer facettierten Kugel. Akkarin hatte die blutende Hand gehoben und die Finger um die Glaskugel geschlossen. Als er die Faust wieder geöffnet hatte, war der Schnitt verschwunden, und ein leuchtend roter Edelstein hatte in seiner Hand gelegen.

Daraufhin hatte Akkarin einen silbernen Löffel von der Kommode, in der die Flaschen standen, durch die Luft schweben lassen und ihn geschmolzen und verbogen, bis er sich zu einem Ring geformt hatte. Dann hatte er den Edelstein in den dicksten Teil des Ringes gelegt, der sich daraufhin wie eine Blume um das Juwel schloss.

Schließlich hatte er Lorlen den Ring hingehalten. »Streif ihn über.«

Lorlen hatte mit dem Gedanken gespielt, sich zu weigern, aber er wusste, dass Akkarin im Notfall Gewalt angewendet hätte. Er wollte sich die Möglichkeit offen lassen, das seltsame Schmuckstück eines Tages wieder entfernen zu können, daher nahm er den Ring entgegen und streifte ihn sich widerstrebend über den Mittelfinger.

»Ich werde alles um dich herum sehen und hören können«, hatte Akkarin ihm erklärt. »Außerdem werden wir auf diese Weise in der Lage sein, miteinander Verbindung aufzunehmen, ohne dass jemand uns hört.«

Ob Akkarin mich vielleicht gerade jetzt beobachtet? Sieht er mich in meiner Wohnung auf und ab gehen? Macht ihm das, was er mir angetan hat, auch nur im Mindesten zu schaffen?

Obwohl Akkarins Taten Lorlen zutiefst verletzt hatten, war es doch Soneas Schicksal, das ihm die größten Qualen bereitete. Hatte Akkarin Sonea beobachtet, als sie vorhin die Universität verlassen hatte? Sie war mitten auf dem Weg zum Magierquartier abrupt stehen geblieben, und ein schmerzlicher Ausdruck war in ihren Augen erschienen, als ihr plötzlich wieder eingefallen war, dass sie nicht länger zu Rothen zurückkehren konnte.

Er war sich nicht sicher, ob er wünschte, dass Akkarin sie gesehen hatte. Er war sich nicht sicher, ob sein »Freund« überhaupt zu Bedauern oder Schuldgefühlen fähig war. Soweit Lorlen es beurteilen konnte, war es durchaus möglich, dass Akkarin Soneas Unglück sogar genoss.

Aber trotz allem, was geschehen war, wollte er das noch immer nicht glauben.

21 Die Gräber der Weißen Tränen

Als Sonea die Universität hinter sich gelassen hatte, stellte sie sich vor, das gewaltige Gebäude würde hinter ihr zusammenschrumpfen. Der dunkle Bau, der vor ihr aufragte, wirkte mit jedem Schritt, den sie tat, bedrohlicher.

Die Residenz des Hohen Lords. Akkarins Haus.

Sie hatte ihre Abendmahlzeit so lange wie möglich in die Länge gezogen, und da sie sich nicht dazu überwinden konnte, die Universität zu verlassen, war sie in die Novizenbibliothek gegangen. Aber nun, da die Bibliothek geschlossen war und die Universität leer und verlassen dalag, blieb ihr nichts anderes übrig, als in ihr neues Zimmer zurückzukehren.

Als sie die Tür erreicht hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie nahm all ihren Mut zusammen und legte die Hand auf die Tür, die daraufhin aufschwang.

Der Raum dahinter wurde von einer einzelnen Lichtkugel erhellt. Akkarin saß, ein Buch in den langen, bleichen Fingern, in einem der luxuriösen Sessel. Er blickte auf, und Soneas Magen zog sich zusammen.

»Komm herein, Sonea.«

Sie zwang ihre Beine, sich zu bewegen. Als sie die Schwelle überquert hatte, fiel die Tür mit einem leisen, aber entschiedenen Klicken hinter ihr zu.

»Hast du bei den Prüfungen heute gut abgeschnitten?«

Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber da sie ihrer Stimme nicht traute, beschloss sie, stattdessen zu nicken.

»Das freut mich. Hast du schon gegessen?«

Sie nickte abermals.

»Dann darfst du jetzt schlafen gehen, damit du morgen gut ausgeruht bist.«

Erleichtert verbeugte sie sich und eilte durch die Tür zu ihrer Linken. Sie schuf eine Lichtkugel und ging langsam die Wendeltreppe hinauf.

Im Schein des magischen Lichts erinnerte die Treppe sie an jene andere, die in den Kellerraum führte, in dem sie Akkarin bei seiner schwarzen Magie beobachtet hatte. Diese zweite Treppe musste sich auf der anderen Seite des Empfangsraums befinden, vermutete sie. Die Treppe auf dieser Seite führte nur nach oben.

Oben angelangt, kam sie in einen langen Flur. Hinter der ersten Tür lag ihr Schlafzimmer. Außer diesem Raum hatte sie bisher noch nichts von der Residenz des Hohen Lords gesehen.

Als sie den Türknauf drehte, hörte sie vom anderen Ende des Flurs Schritte, die kurz darauf innehielten. Dann drang ein leises Klicken an ihre Ohren.

Das ist also sein Schlafzimmer, überlegte Sonea. Nur etwa zwanzig Schritte den Gang hinunter. Die Tatsache, dass Akkarin ihr so nah war, beruhigte sie keineswegs, andererseits wäre es auch nicht viel besser gewesen, wenn er auf der anderen Seite der Residenz geschlafen hätte. Allein das Wissen, dass er sich im selben Gebäude aufhielt, machte ihr Angst.

Sonea zog die Tür leise hinter sich zu, dann sah sie sich in ihrem Zimmer um. Mondlicht schien durch zwei kleine Fenster und zeichnete bleiche Rechtecke auf den Fußboden. Der Raum wirkte beinahe freundlich in dem sanften Licht.

Er unterschied sich deutlich von ihrem schlichten Zimmer im Novizenquartier. Die Möbel hier waren aus einem dunklen, rötlichen Holz gefertigt und auf Hochglanz poliert. An einer Wand stand ein großer Schrank, daneben befanden sich ein Tisch und ein Stuhl, wo sie arbeiten konnte. Auf dem Bett zwischen den beiden Fenstern lagen ihre Habseligkeiten, die ein Diener aus dem Novizenquartier hergebracht hatte.

Nachdem sie ihre Kleider weggeräumt hatte, sah sie auf der Bettdecke einen kleinen Gegenstand liegen. Als sie ihn in die Hand nahm, erkannte sie einen grob geschnitzten Reber, den Dorrien kurz nach seiner Ankunft Rothen gegeben hatte. Es hatte Sonea fasziniert, dass eine derart unbeholfene Arbeit doch das ganze Wesen des Tieres widerzuspiegeln vermochte.

Dorrien. Seit seiner Abreise hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Es schienen Wochen seither vergangen zu sein, dabei waren es nur zwei Tage…

Was würde er denken, wenn er erfuhr, dass sein Vater nicht länger ihr Mentor war? Sie seufzte. Wahrscheinlich würde er - wie die übrigen Magier - in diesem Wechsel einen »Glücksfall« für sie sehen - aber wenn er hier gewesen wäre, hätte er gewiss gespürt, dass etwas nicht stimmte, davon war sie überzeugt. Er hätte ihre Angst bemerkt und Rothens Zorn.

Aber er war nicht hier. Er war weit fort in seinem kleinen Dorf in den Bergen.

Irgendwann würde Dorrien der Gilde abermals einen Besuch abstatten. Und dann würde er sie sehen wollen. Würde Akkarin es ihm erlauben? Sonea lächelte. Selbst wenn Akkarin es verbieten sollte, Dorrien würde einen Weg finden, um sich mit ihr zu treffen. Außerdem würde es Verdacht erregen, wenn er Dorrien davon abzuhalten versuchte.

Oder irrte sie sich da? Akkarin konnte einfach behaupten, dass Dorrien sie von ihrem Studium ablenkte. Selbst wenn Dorrien dieses Verhalten merkwürdig finden sollte, würde niemand sonst die Entscheidung des Hohen Lords in Frage stellen. Sonea runzelte die Stirn. Was würde geschehen, wenn Dorrien etwas bemerkte, wenn er spürte, dass etwas nicht stimmte? Was würde er tun? Was würde Akkarin tun? Sie schauderte. Im Gegensatz zu Rothen und ihr lebte Dorrien weit entfernt von der Gilde. Wer würde Fragen stellen, wenn ein Heiler, der in irgendeinem kleinen Bergdorf lebte, durch einen »Unfall« den Tod fand?

Sonea drückte die Schnitzerei fest an sich. Sie durfte Akkarin keinen Grund geben, Dorrien besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn Dorrien in die Gilde zurückkehrte, würde sie ihm erklären müssen, dass sie nichts für ihn empfand. Schließlich hatte er selbst gesagt, dass sie in den Jahren bis zu ihrem Abschluss vielleicht einen anderen finden würde. Sollte er glauben, dass es sich tatsächlich so verhielt.

Aber es konnte niemals einen anderen geben. Nicht solange sie Akkarins Geisel war. Akkarin stellte eine Gefahr für jeden Menschen dar, der ihr etwas bedeutete. Und was war mit ihrer Tante und ihrem Onkel und ihrem kleinen Vetter? Wenn Akkarin wüsste, wo ihre Familie zu finden war, könnte er auch sie benutzen, um Sonea zu erpressen.

Seufzend legte sie sich auf das Bett.

Wann hatte es angefangen, dass in ihrem Leben alles schief ging? Ihre Gedanken kehrten zum Nordplatz zurück. Seit jenem Tag hatte ihr Schicksal in den Händen anderer gelegen: Zuerst waren es Cery und Harrin gewesen, dann die Diebe, dann Rothen und jetzt Akkarin. Vor dieser Zeit war sie ein Kind gewesen und hatte unter dem Schutz ihrer Tante und ihres Onkels gestanden. Würde sie jemals selbst die Verantwortung für ihr Leben übernehmen können?

Aber ich lebe, rief sie sich ins Gedächtnis. Im Augenblick kann ich nur Geduld haben und hoffen, dass irgendetwas geschehen wird, das die Dinge zum Besseren wendet - und dafür sorgen, dass ich bis dahin genug gelernt habe, um helfen zu können.

Sie stand wieder auf und ging zu ihrem Schreibtisch hinüber. Wenn etwas geschah, würde es wahrscheinlich mit Magie zu tun haben, daher sollte sie dafür sorgen, dass sie für diesen Fall so gut wie möglich gerüstet war. Morgen würden die Prüfungen in der Disziplin der Heiler stattfinden, daher war es das Beste, wenn sie ihre Notizen noch einmal durchging.


Rothen stand vor dem Fenster und blickte zur Residenz des Hohen Lords hinüber. Vor ungefähr zwei Stunden waren im Nordturm des Gebäudes kleine helle Quadrate aufgetaucht. Rothen war davon überzeugt, dass Soneas Räume hinter diesen Fenstern lagen. Welche Ängste sie jetzt ausstehen und wie verloren sie sich fühlen musste …

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er zwang sich dazu, zu seinem Sessel im Empfangsraum zurückzukehren, setzte sich hin und betrachtete die Überreste seiner halb verzehrten Mahlzeit.

Was kann ich tun? Es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann.

Diese Frage hatte er sich wieder und wieder gestellt. Und jedes Mal fiel die Antwort gleich aus.

So viel du zu tun wagst.

Alles hing von Soneas Sicherheit ab. Am liebsten wäre er aus dem Raum gestürzt, um die Wahrheit herauszuschreien, um all die Magier wachzurütteln, die Akkarins Entscheidung so blind akzeptiert hatten. Aber wenn er das tat, das wusste er, wäre Sonea die Erste, die Akkarin zum Opfer fallen würde. Er würde ihre Kraft nutzen, um gegen die Gilde zu kämpfen; Soneas Tod würde Akkarin helfen, alle anderen Magier zu besiegen.

Rothen wünschte sich verzweifelt, er hätte mit Lorlen reden können. Aber Akkarin hatte jeden Kontakt zwischen ihnen verboten, und selbst wenn Rothen es riskiert hätte, Lorlen aufzusuchen, wäre ihm das nicht möglich gewesen. Der Administrator hatte sich in seine Wohnräume zurückgezogen, um sich auszuruhen. Seit Rothen das gehört hatte, quälte ihn die Frage, ob Lorlen bei seiner Auseinandersetzung mit Akkarin verletzt worden war. Diese Möglichkeit war beängstigend. Wenn Akkarin seinem engstem Freund etwas antun konnte, welche Gefahren drohten dann jenen, die ihm gleichgültig waren?

Fragen über Fragen gingen Rothen durch den Kopf. Wie lange praktizierte Akkarin bereits schwarze Magie? Seit er zum Hohen Lord ernannt worden war? Länger?

Seit Sonea ihm von Akkarins Geheimnis erzählt hatte, hatte Rothen viele Male darüber nachgedacht, wie Akkarin dazu gekommen war, schwarze Magie zu erlernen. Es hieß allgemein, die Gilde habe bereits vor Jahrhunderten sämtliches Wissen über diese Magie zerstört. Man erklärte den Höheren Magiern, woran sie sie erkennen konnten, aber das war alles. Dennoch war es möglich, dass Akkarin Zugang zu vergessenen Dokumenten hatte, die irgendwo in der Gilde verborgen waren.

Hatte er bereits vor seinen Reisen Kenntnisse über schwarze Magie gehabt, oder waren es gerade diese Reisen gewesen, die ihm Zugang zu dem verbotenen Wissen verschafft hatten?

Plötzlich kam Rothen eine Idee: In denselben Quellen, die Kenntnisse über diese dunklen Kräfte lieferten, ließ sich vielleicht auch ein Gegenmittel finden. Wenn Akkarin während seiner Reisen auf schwarze Magie gestoßen war, dann konnte ein anderer Magier vielleicht das Gleiche tun. Rothen seufzte. Wenn er die Gilde hätte verlassen können, hätte er all seine Kraft darauf verwandt, nach diesem Wissen zu suchen. Aber er konnte nicht fortgehen. Wahrscheinlich behielt Akkarin ihn genau im Auge. Er würde nicht wollen, dass Rothen in den Verbündeten Ländern umherstreifte, wo er ihn nicht beobachten konnte.

Dann muss es ein anderer tun. Rothen nickte vor sich hin. Jemand, dem es freisteht zu reisen. Jemand, der diese Aufgabe erfüllen wird, ohne viele Fragen zu stellen. Jemand, dem ich vertrauen kann

Langsam breitete sich ein Lächeln auf Rothens Zügen aus. Er kannte genau den richtigen Mann für diese Aufgabe.

Dannyl.


Hunderte von Fackeln flackerten im kühlen Abendwind. Der Trommler am Bug des Bootes gab den langsamen Rhythmus vor, nach dem sich die Männer in die Riemen legten. Die Felsen warfen leise, getragene Gesänge zurück, die Dannyl frösteln ließen. Er sah zu Tayend hinüber, der voller Staunen die anderen Boote um sie herum betrachtete. Nach einigen Wochen der Ruhe wirkte der Höfling inzwischen deutlich gesünder.

»Geht es dir gut?«, murmelte Dannyl.

Tayend nickte und deutete auf den Schiffsrumpf. »Wir haben praktisch keinen Seegang.«

Kurz darauf war ein leises, scharrendes Geräusch zu hören. Die Ruderer sprangen leichtfüßig in das seichte Wasser und zogen das Boot auf den Strand. Als das Wasser sich zurückgezogen hatte, sprang Tayend ebenfalls von Bord und fluchte leise, als seine eleganten Schuhe im nassen Sand versanken.

Leise lachend stieg nun auch Dannyl aus, und gemeinsam gingen sie über den Strand auf den von Fackeln beschienenen Weg zu. Vor ihnen setzte sich eine Prozession trauernder Menschen den Felsen hinauf in Bewegung. Dannyl und Tayend hielten respektvoll Abstand.

Jeden Monat bei Vollmond besuchte das Volk von Vin diese Höhlen, in denen sich die Gräber der Toten befanden. Die Menschen legten Geschenke vor die Überreste ihrer Vorfahren und wandten sich mit ihren Sorgen an die Geister der Toten. Einige der Gräber waren so alt, dass es keine Nachfahren mehr gab, die sie besuchten, und eines der ältesten Gräber war der Grund, warum Dannyl und Tayend hierher gekommen waren.

Schweigend, wie die Sitte der Vindo es verlangte, machten sie sich an den Aufstieg. Als sie die ersten Höhlen erreichten, war Tayend bereits außer Atem. Nach einer kurzen Rast setzten er und Dannyl den Weg über die schmalen Treppenstufen fort, die in den Felsen gehauen worden waren.

»Warte. Sieh dir das an.«

Tayend zeigte auf einen Höhleneingang, an dem sie gerade vorbeigegangen waren. Eine Verwerfung im Fels verbarg einen schmalen Riss, der gerade breit genug war, dass sich ein Mann seitlich hindurchschieben konnte. Darüber war ein Symbol in den Felsen eingemeißelt.

Dannyl erkannte das Symbol und ging auf den Felsspalt zu, um hindurchzuspähen. Er konnte nur Schwärze sehen. Schließlich trat er einen Schritt zurück und schuf eine Lichtkugel.

Als das Licht auf das Gesicht eines Mannes fiel, stieß Tayend einen unterdrückten Schrei aus. Der Mann blinzelte Dannyl an und murmelte einige Worte in der Sprache der Vindo. Als Dannyl klar wurde, dass er hier einen Grabwächter vor sich hatte, sprach er die rituellen Grußworte, die man ihn gelehrt hatte.

Der Mann nickte zur Antwort, dann trat er beiseite und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Als Dannyl sich durch die Öffnung schob, beleuchtete seine Lichtkugel die blank polierte Zeremonienrüstung des Mannes und das kurze Schwert, das er an der Hüfte trug. Der Wächter verbeugte sich steif.

Sie waren in einen kleinen Raum gelangt. Ein niedriger Gang führte tiefer in den Felsen hinein, dessen Wände über und über mit Gemälden bedeckt waren. Tayend stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

»Ihr braucht einen Führer«, sagte der Wächter. »Damit ihr euch nicht verirrt. Ihr dürft nichts von hier mitnehmen, nicht einmal einen Stein.« Er zog eine kleine Flöte hervor und entlockte ihr einen einzelnen Ton. Kurz darauf erschien ein Junge, der nur ein schlichtes, gegürtetes Hemd trug, in der Tür. Er winkte Dannyl und Tayend zu sich heran und bedeutete ihnen vorauszugehen. Schweigend folgte er ihnen durch einen schmalen Tunnel.

Tayend setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe, und da er jedes einzelne der Wandgemälde genau betrachtete, kamen sie nur langsam voran.

»Irgendetwas Interessantes?«, fragte Dannyl, als der Gelehrte zum dritten Mal stehen blieb.

»Oh ja«, flüsterte Tayend. Dann lächelte er Dannyl entschuldigend an. »Es hat allerdings nichts mit dem zu tun, wonach du suchst.«

Je weiter sie kamen, desto unwohler fühlte sich Dannyl. Falls der Tunnel einstürzte, konnte er eine Barriere heraufbeschwören und verhindern, dass sie von dem Erdreich zerquetscht wurden. Er hatte etwas Ähnliches vor einem Jahr getan, als die Diebe einen ihrer Tunnel zum Einsturz gebracht hatten, um Sonea vor der Gilde zu verstecken.

Aber dies war etwas anderes; dieser Felsen war bei weitem gewaltiger als alles, womit er es in Imardin je zu tun gehabt hatte. Schaudernd zwang er sich weiterzugehen.

»Geht es dir gut?«

Dannyl zuckte heftig zusammen. Tayend hatte sich zu ihm umgewandt und sah ihn forschend an.

»Natürlich. Warum fragst du?«

»Du atmest ein wenig schnell.«

»Oh. Tue ich das?«

»Ja.«

Nach einigen weiteren Schritten holte Dannyl schließlich tief Luft und begann eine Übung zur Beruhigung des Geistes.

Tayend musterte ihn und lächelte. »Hast du Probleme damit, dich unter der Erde aufzuhalten?«

»Nein.«

»Viele Menschen fühlen sich an solchen Orten unwohl. In der Bibliothek habe ich im Laufe der Jahre viele Besucher gehabt, die in Panik geraten sind, deshalb kenne ich die Anzeichen. Du sagst mir Bescheid, wenn du in Panik gerätst, ja? Ich finde den Gedanken ein wenig beunruhigend, in der Nähe eines Magiers zu sein, der die Beherrschung verliert.«

Dannyl lächelte. »Mir geht es gut. Ich musste nur an einige unangenehme Erfahrungen denken, die ich an ähnlichen Orten gemacht habe.«

»Ah. Erzähl mir davon.«

Aus irgendeinem Grund half es Dannyl, die beiden Erfahrungen miteinander zu vergleichen. Er berichtete seinem Freund von dem Versuch der Diebe, ihn in ihren Tunneln zu begraben, und darüber kam er schließlich auf die Suche nach Sonea zu sprechen. Als er von seiner Begegnung mit dem Hohen Lord in den unterirdischen Gängen der Universität erzählte, wurden Tayends Augen schmal.

»Du hast Angst vor ihm, nicht wahr?«

»Nein. Es ist weniger Angst als… Nun, es kommt auf die Situation an.«

Tayend kicherte leise. »Also, wenn selbst ein so beängstigender Mensch wie du sich vor dem Hohen Lord fürchtet, dann möchte ich ihm heute lieber nicht mehr über den Weg laufen.«

Dannyl blieb jäh stehen. »Ich bin beängstigend?«

»Oh ja.« Tayend nickte. »Sehr beängstigend.«

»Aber…« Dannyl schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gar nichts getan, um…« Er hielt inne, denn ihm war plötzlich der Straßenräuber wieder eingefallen. »Nun, wahrscheinlich habe ich doch etwas getan, das einigermaßen beängstigend war - aber vor diesem Zwischenfall hattest du doch gewiss keine Angst vor mir, oder?«

»Oh doch.«

»Warum?«

»Alle Magier sind beängstigend. Jeder hat Geschichten darüber gehört, wozu sie imstande sind - aber eigentlich sind es gerade die Dinge, die man nicht weiß, die einem Angst machen.«

Dannyl schnitt eine Grimasse. »Nun, du hast inzwischen ja gesehen, wozu ich imstande bin. Aber ich hatte nicht die Absicht, ihn zu töten.«

Tayend sah ihn eine Weile schweigend an. »Wie fühlst du dich, wenn du an diesen Vorfall zurückdenkst?«

»Nicht besonders gut«, gab Dannyl zu. »Und du?«

»Ich bin mir nicht sicher. Es ist so, als hätte ich zwei einander entgegengesetzte Meinungen über den Vorfall. Es tut mir nicht Leid, dass du den Mann getötet hast, aber grundsätzlich glaube ich, dass es falsch ist zu töten. Am meisten macht mir wahrscheinlich die Ungewissheit zu schaffen. Wer weiß wirklich, was Recht ist und was Unrecht? Ich habe mehr Bücher gelesen als die meisten Menschen, die ich kenne, und sie alle widersprechen einander. Trotzdem gibt es da etwas, das ich dir noch sagen wollte.«

Dannyl zwang sich, Tayend in die Augen zu sehen. »Ja?«

»Danke.« Tayends Miene war sehr ernst. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«

Etwas in Dannyl löste sich wie ein Knoten, der entwirrt wurde. Er begriff, dass es für ihn ungeheuer wichtig gewesen war, diese Worte des Dankes von Tayend zu hören. Sie erleichterten zwar sein Gewissen nicht, halfen ihm aber, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken.

Plötzlich fiel ihm auf, dass der Schein seiner Lichtkugel nicht mehr bis zu der Felswand vor ihnen reichte. Er runzelte die Stirn, aber im nächsten Moment wurde ihm klar, dass sie zu einer größeren Höhle kamen. Ein mineralischer Geruch erregte seine Aufmerksamkeit. Als sie sich der Höhlenöffnung näherten, wurde der Geruch deutlicher, und Dannyl sandte seine Lichtkugel voraus. Tayend sog scharf die Luft ein.

Die Höhle war so breit wie die Gildehalle und voller glitzernder Vorhänge und weißer Türme. Man hörte Wasser tropfen. Als Dannyl genauer hinsah, konnte er erkennen, dass von den Enden der Stalaktiten Tropfen auf den Boden fielen. Zwischen den Stalagmiten, die an Raubtierzähne erinnerten, hatte sich ein flacher Wasserlauf gebildet.

»Die Gräber der Weißen Tränen«, murmelte Tayend.

»Gebildet von Wasser, das durch die Decke tröpfelt und auf seinem Weg Mineralien zurücklässt«, erklärte Dannyl.

Tayend verdrehte die Augen. »Das war mir bekannt.«

Ein rutschiger Weg führte in die Höhle hinunter. Sie kamen an immer fantastischeren weißen Gebilden vorbei, bis Tayend plötzlich stehen blieb.

»Der Mund des Todes«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Vor ihnen zog sich eine Reihe von Stalagmiten und Stalaktiten quer durch die Höhle. Einige waren zusammengewachsen und bildeten dicke Säulen. Die Lücken zwischen anderen waren so schmal, dass man den Eindruck hatte, als würden sie einander binnen weniger Augenblicke erreichen müssen.

Sie stießen auf immer neue Gräber in kleinen Nischen links und rechts, und je weiter sie kamen, desto älter und zahlreicher wurden diese Gräber. Schließlich konnte man die Skelette kaum mehr erkennen, so weit waren die Alkoven im Laufe der Zeit zugewachsen.

Dannyl wusste, dass mehrere Stunden verstrichen waren. Die Vindo erlaubten es niemandem, die Gräber bei Tageslicht zu besuchen, und er machte sich langsam Sorgen, dass sie es nicht mehr rechtzeitig vor dem Aufbruch ihres Bootes bis zum Strand schaffen würden. Als sie das Ende des Tunnels erreichten, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Hier ist nichts«, sagte Tayend, während er sich gründlich umsah.

Die Felswände um sie herum waren vollkommen unversehrt. Dannyl wandte sich nach rechts und unterzog die Wände einer genauen Musterung. An manchen Stellen schienen sie beinahe durchsichtig zu sein. Tayend folgte seinem Beispiel und untersuchte die Felsen auf der linken Seite. Nach einigen Minuten flüsterte er aufgeregt Dannyls Namen.

Als Dannyl neben seinen Freund trat, sah er, dass Tayend auf ein kleines Loch im Gestein deutete.

»Kannst du ein Licht dort hineinschicken?«

»Ich werde es versuchen.«

Dannyl beschwor einen winzigen Funken herauf und sandte ihn in das Loch. Das Licht bewegte sich durch eine fingerdicke Steinwand und dann weiter in die Dunkelheit hinein.

Plötzlich erschien ein Lächeln auf Dannyls Zügen.

»Was hast du entdeckt?«, fragte Tayend aufgeregt. »Lass mich sehen!«

Dannyl trat beiseite, während Tayend in das Loch spähte. Die Augen des Gelehrten weiteten sich. Hinter der Wand aus weißem Kalkstein befand sich eine kleine Höhle, in deren Mitte ein geschnitzter Sarg lag. Die Felswände waren zum Teil mit mineralischen Ablagerungen bedeckt, aber man konnte noch immer viel von den ursprünglichen Schnitzereien erkennen.

Tayend nahm mit leuchtenden Augen einige Bögen Papier und einen Zeichenstift aus der Tasche seines Mantels. »Wie viel Zeit habe ich?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Eine Stunde, wahrscheinlich weniger.«

»Das wird genügen. Können wir noch einmal hierher kommen?«

»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.«

Tayend grinste. »Wir haben es gefunden, Dannyl! Wir haben gefunden, wonach dein Hoher Lord gesucht hat. Einen Beweis für alte Magie!«

22 Ausweichmanöver

Als Sonea das Heilerquartier verließ, begegnete sie auf allen Wegen ausgelassenen Novizen, die keinen Hehl aus ihrer Freude machten. Der letzte Gongschlag war kaum verklungen, als auch schon Studenten aller Altersstufen begonnen hatten, über höfische Tänze und Spiele zu reden, von denen Sonea noch nie gehört hatte.

Während der nächsten zwei Wochen würde man auf dem Gelände der Gilde nur noch wenige braune Roben zu sehen bekommen, da die Novizen - und auch etliche Magier - für die Winterferien zu ihren Familien zurückkehrten. Wenn ich doch nur auch fortgehen könnte. Voller Sehnsucht dachte sie an ihre Tante, ihren Onkel und das Baby in den Hüttenvierteln. Aber er würde mir das niemals gestatten.

Als sie die Universität erreichte, blieb sie stehen, um mehrere ältere Novizen vorbeizulassen. Einige Nachzügler rannten an ihr vorbei die Treppe hinauf. Im ersten Stock angekommen, war sie jedoch plötzlich ganz allein.

Der Flur wirkte so still und verlassen, wie sie es noch nie erlebt hatte, nicht einmal spätabends. Sonea drückte ihren Bücherkoffer fester an sich und bog hastig in einen Seitengang ein.

Als sie die Novizenbibliothek erreichte, stellte sie fest, dass sie auch dort allein war. Sie öffnete die Tür und verbeugte sich vor der Bibliothekarin, Lady Tya.

»Es tut mir Leid, Sonea«, sagte Tya, »die Bibliothek schließt jetzt. Ich habe gerade alles aufgeräumt.«

»Wird die Bibliothek während der Ferien geöffnet sein, Mylady?«

Die Bibliothekarin schüttelte den Kopf. Sonea nickte und kehrte unverrichteter Dinge wieder um.

Draußen im Flur lehnte sie sich leise fluchend an die Wand. Wohin sollte sie jetzt gehen? Überallhin, nur nicht in die Residenz des Hohen Lords. Zitternd betrachtete sie die Gänge zu beiden Seiten. Der Gang auf der rechten Seite führte zurück auf den Hauptflur. Aber wohin gelangte man, wenn man den linken nahm?

Mit einem grimmigen Lächeln beschloss sie, es herauszufinden.


Ein vierfaches kräftiges Klopfen erklang an der Tür, und Lorlen gefror das Blut in den Adern.

Das hörte sich weder nach Osen an noch nach dem schüchternen Klopfen, mit dem sich Lorlens Diener bemerkbar machte. Es war ein Klopfen, das er gefürchtet hatte, ein Klopfen, von dem er gewusst hatte, dass es kommen würde.

Und jetzt, da es so weit war, konnte er sich plötzlich nicht mehr bewegen. Er starrte die Tür an und hoffte vergeblich, dass der Besucher einfach wieder weggehen würde.

Mach die Tür auf, Lorlen.

Der knappe Befehl ließ ihn auffahren. Es klang anders als sonst, so als hätte eine echte Stimme in seinem Kopf gesprochen.

Lorlen holte tief Luft. Irgendwann würde er Akkarin ohnehin gegenübertreten müssen. Warum den Augenblick in die Länge ziehen? Mit einem tiefen Seufzer gab Lorlen der Tür den Befehl, sich zu öffnen.

»Guten Abend, Lorlen.«

Akkarin trat ein und bedachte Lorlen mit dem typischen, nur angedeuteten Lächeln, mit dem er ihn im Allgemeinen begrüßte. Als seien sie nach wie vor gute Freunde.

»Hoher Lord.« Lorlen schluckte. Sein Herz hämmerte zu schnell, und er wäre am liebsten in seinem Sessel versunken. Dann flammte Ärger in ihm auf. Du bist der Administrator der Gilde, sagte er sich, benimm dich also wenigstens würdevoll. Er zwang sich, aufzustehen und Akkarin anzusehen.

»Du bist heute Abend nicht im Abendsaal gewesen?«, fragte Akkarin.

»Ich war nicht in Stimmung dazu.«

Stille folgte, dann verschränkte Akkarin die Arme vor der Brust. »Ich habe ihnen nichts zuleide getan, Lorlen.« Akkarins Stimme klang sehr leise. »Ebenso wenig wie dir. Sonea wird von ihrer veränderten Situation sogar profitieren. Trotz Rothens Bemühungen haben ihre Lehrer sie vernachlässigt. Jetzt werden sie sich förmlich selbst übertreffen, um ihr zu helfen - und sie wird ihre Hilfe brauchen, wenn sie das Potenzial, das ich in ihr gesehen habe, voll ausschöpfen will.«

Lorlen starrte Akkarin schockiert an. »Du liest ihre Gedanken?«

Akkarin zog eine Augenbraue hoch. »Natürlich. Sie mag klein von Wuchs sein, aber sie ist kein Kind mehr. Du weißt das, Lorlen. Du hast ebenfalls ihre Gedanken gelesen.«

»Das war etwas anderes.« Lorlen wandte den Blick ab. »Sie hat mich aus freien Stücken eingelassen.« Zweifellos hatte Akkarin auch Rothens Gedanken gelesen. Einmal mehr plagten Lorlen Schuldgefühle.

»Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin«, erklärte Akkarin. »Nichts hat dich je vom Abendsaal fern halten können, wenn gerade so viele Gerüchte und Spekulationen im Umlauf waren. Man wird von dir erwarten, dass du dich dort einfindest. Es ist an der Zeit, dass du aufhörst, Trübsal zu blasen, mein Freund.«

Freund? Lorlen runzelte die Stirn und blickte auf den Ring hinab. Was für eine Art Freund tat einem anderen so etwas an? Was für eine Art Administrator gestattet es einem schwarzen Magier, eine Novizin als Geisel zu nehmen? Er seufzte. Einer, der keine andere Wahl hat.

Um Sonea zu schützen, musste er so tun, als sei nichts geschehen. Jedenfalls nichts Außergewöhnlicheres, als dass der Hohe Lord endlich einen Schützling erwählt und sie alle in Erstaunen gesetzt hatte, weil er sich ausgerechnet für ein Hüttenmädchen entschieden hatte. Er nickte.

»Also gut, ich werde hingehen. Kommst du mit?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Nein, ich werde in meine Residenz zurückkehren.«

Lorlen nickte abermals. Wenn Akkarin im Abendsaal auftauchte, würde allein seine Anwesenheit jedem Klatsch einen Riegel vorschieben. In seiner Abwesenheit jedoch würde man die Fragen, die dem Hohen Lord zu stellen niemand wagte, stattdessen an den Administrator richten. Und wie üblich würde Akkarin einen Bericht erwarten.

Dann erinnerte sich Lorlen wieder an den Ring. Akkarin brauchte nicht auf einen Bericht zu warten. Er würde ohnehin alles hören, was in seiner, Lorlens, Gegenwart gesprochen wurde.

Lorlen stand auf, ging in sein Schlafzimmer, spritzte sich ein wenig Wasser aus einer Schale ins Gesicht und blickte in den Spiegel. Zwei dunkle Ringe unter den Augen bezeugten die schlaflosen Nächte, die hinter ihm lagen. Er band sich das Haar im Nacken zusammen, strich mit ein klein wenig Magie seine zerknitterte Robe glatt und kehrte dann in den Empfangsraum zurück, um Akkarin erneut gegenüberzutreten. Ein schwaches Lächeln spielte um die Mundwinkel des Hohen Lords. Lorlen wandte sich ab, zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene und gab der Tür den Befehl, sich zu öffnen.

Als er zusammen mit Akkarin durch die Flure ging, bemerkte er, dass die Magier, die ihnen entgegenkamen, ihn forschend ansahen. Er nickte ihnen höflich zu. Natürlich fielen ihnen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf, und sie würden daraus den Schluss ziehen, dass er krank gewesen sei. Draußen vor dem Magierquartier wünschte Akkarin ihm eine gute Nacht und verschwand in der Universität.

Lorlen, der bald darauf den Abendsaal erreicht hatte, begrüßte zwei Magier, die gleichzeitig mit ihm dort ankamen. Wie er erwartet hatte, erkundigten sie sich nach seinem Befinden. Er versicherte ihnen, dass ihm nichts fehle, und ließ ihnen am Eingang zum Saal den Vortritt.

Als sich die inneren Türen öffneten, drehten sich etliche Köpfe in seine Richtung. Etwas im Tonfall der gemurmelten Gespräche veränderte sich, während Lorlen langsam zu seinem Lieblingssessel hinüberging. Mehrere Leute, darunter viele Höhere Magier, hatten sich bereits dort versammelt.

Zu seiner Erheiterung fand er Lord Yikmo auf seinem Platz vor. Der junge Krieger sprang hastig auf.

»Administrator Lorlen!«, rief er. »Bitte, setzt Euch. Geht es Euch gut? Ihr seht müde aus.«

»Mir geht es gut, danke der Nachfrage«, erwiderte Lorlen.

»Das freut mich zu hören«, sagte Yikmo. »Wir hatten gehofft, dass Ihr heute Abend kommen würdet, aber ich hätte es gut verstanden, wenn Ihr all den Fragen über Sonea und den Hohen Lord lieber ausgewichen wärt.«

Lorlen brachte ein Lächeln zustande. »Aber ich hätte euch alle doch nicht länger im Ungewissen lassen können, nicht wahr?« Lorlen lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete auf die erste Frage. Drei Magier, darunter Lord Peakin, begannen gleichzeitig zu sprechen. Sie unterbrachen sich und sahen einander an, dann nickten zwei von ihnen dem Oberhaupt der Alchemisten höflich zu.

»Habt Ihr gewusst, dass Akkarin sich mit dem Gedanken trug, sie in seine Obhut zu nehmen?«, fragte Lord Peakin.

»Nein«, gab Lorlen zu. »Er hatte bisher nicht mehr Interesse an ihr gezeigt als an allen anderen Novizen. Gewiss haben wir von Zeit zu Zeit über sie gesprochen, aber davon abgesehen hat er seine Überlegungen für sich behalten. Möglich, dass er sich schon seit Wochen oder gar Monaten mit dem Gedanken getragen hat, Rothen als Soneas Mentor abzulösen.«

»Warum ausgerechnet Sonea?«, hakte Lord Garrel nach.

»Auch hier muss ich gestehen, dass ich mir nicht sicher bin. Irgendetwas muss seine Aufmerksamkeit erregt haben.«

»Vielleicht war es ihre Stärke«, überlegte Lord Yikmo laut. »Die Sommernovizen haben uns auf Soneas Potenzial aufmerksam gemacht, als sie alle gemeinsam ihre vereinten Kräfte gegen das Mädchen eingesetzt haben.«

»Dann hat er sie geprüft?«

Lorlen zögerte kurz, bevor er nickte. »Ja.«

Die Magier um ihn herum tauschten mitfühlende Blicke.

»Was ist bei dieser Prüfung herausgekommen?«, wollte Peakin wissen.

»Er hat mir erzählt, dass er großes Potenzial in ihr gesehen habe«, antwortete Lorlen. »Deshalb möchte er persönlich ihre Ausbildung beaufsichtigen.«

Einer der Magier in der Nähe wandte sich um und ging auf einen Neuankömmling zu, zweifellos um diese Informationen an ihn weiterzugeben. Hinter den beiden bemerkte Lorlen ein vertrautes Gesicht. Als Rothens Blick den seinen traf, spannten sich Lorlens Kiefermuskeln.

Rothens Anwesenheit heute Abend überraschte ihn. Hatte Akkarin auch ihm den Befehl gegeben, den äußeren Anschein zu wahren?

»Rektor Jerrik hat mir erzählt, Sonea sei bereit, Abendkurse zu belegen«, sagte Lady Vinara. »Meint Ihr, dass wir vielleicht zu viel von ihr erwarten?«

Lorlen zuckte die Achseln. »Das ist eine Neuigkeit für mich. Ich wusste nicht, dass er bereits mit Jerrik gesprochen hat.«

»Die meisten ihrer Abendkurse sollen den Unterricht ersetzen, den sie tagsüber versäumt, um Einzelunterricht in den Kriegskünsten zu nehmen«, erklärte Lord Yikmo.

»Warum kann sie diese Stunden nicht abends absolvieren?«, fragte ein anderer Magier.

»Weil ich abends nicht unterrichte«, antwortete Yikmo mit einem breiten Lächeln.

»Verzeiht mir, wenn ich das sage, aber ich hätte doch erwartet, dass Lord Balkan den Schützling des Hohen Lords unterrichten würde«, warf Lord Garrel ein. »Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass Euer ungewöhnlicher Unterrichtsstil für ein Mädchen wie Sonea gut geeignet ist.«

»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Novizen mit einem schnellen Verstand und einem weniger aggressiven Temperament gut auf meine Methoden ansprechen«, erwiderte Yikmo glatt.

Da Lorlen spürte, dass Rothen ihn immer noch beobachtete, drehte er sich zu dem Mann um. Rothen wandte den Blick ab. Lorlen atmete tief durch, dann machte er sich daran, das Gespräch von Soneas Unterricht bei Yikmo abzulenken. Krieger!, dachte er. Haben nichts anderes im Kopf, als bei jeder Gelegenheit miteinander in Wettstreit zu treten.

Zwei Stunden später musste Lorlen ein Gähnen unterdrücken. Er erhob sich. »Entschuldigt mich bitte«, sagte er. »Es wird spät, und ich möchte früh zu Bett gehen. Guten Abend.«

Es war nicht leicht, den Raum zu durchqueren. Er konnte kaum einen Schritt tun, ohne dass irgendjemand an ihn herantrat und ihm eine Frage stellte. Nachdem er sich einige Male höflich wieder freigemacht hatte, stand er plötzlich Rothen gegenüber.

Die beiden Männer sahen einander schweigend an. Lorlen, dessen Herz raste, konnte nur daran denken, dass Akkarin ihnen verboten hatte, miteinander zu reden. Aber zu viele der anderen Magier beobachteten sie, und wenn sie wortlos aneinander vorbeigingen, würde das nur Verdacht erregen.

»Guten Abend, Administrator«, sagte Rothen.

»Guten Abend, Lord Rothen«, erwiderte Lorlen.

Also haben wir bereits das erste Mal gegen Akkarins Befehl verstoßen, überlegte Lorlen. Die Falten in Rothens Gesicht waren tiefer, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Als ihm plötzlich der Ring wieder einfiel, verschränkte Lorlen die Hände hastig hinter dem Rücken. »Ich wollte Euch… ich wollte Euch mein Mitgefühl ausdrücken. Es ist gewiss traurig, eine Novizin zu verlieren, die Euch offensichtlich sehr am Herzen gelegen hat.«

Rothen runzelte die Stirn. »Das ist es«, pflichtete er Lorlen bei.

Wie gern er ein Wort des Trostes für Rothen gefunden hätte. Aber vielleicht gab es ja eine Möglichkeit…

»Ich habe gerade gehört, dass sie für ihr zweites Jahr Abendkurse belegt hat. Sie wird den größten Teil ihrer Zeit beim Unterricht verbringen, daher bezweifle ich, dass sie allzu viel von ihrem neuen Mentor zu sehen bekommen wird - was wahrscheinlich Akkarins Methode ist, dafür zu sorgen, dass sie ihm nicht im Weg ist.«

Rothen nickte langsam. »Das wird ihr sicher gefallen.« Er zögerte, dann senkte er die Stimme. »Geht es Euch gut, Administrator?«

»Ja.« Lorlen lächelte hohl. »Ich brauche nur ein wenig Schlaf. Ich…« Er brach ab und lächelte, als einige Magier an ihnen vorbeigingen. »Vielen Dank für Eure Anteilnahme. Gute Nacht, Lord Rothen.«

»Gute Nacht, Administrator.«

Endlich konnte Lorlen den Abendsaal verlassen und trat hinaus in die kühle Nachtluft. Er gestattete sich einen leisen Seufzer. Glaube ich wirklich, dass Akkarin ihnen nichts antun wird?

Ihnen droht keine Gefahr. Es war klug von dir, Rothen zu beruhigen.

Lorlen erstarrte vor Überraschung und blickte auf den Ring hinab. Als er sich umsah, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass der Innenhof verlassen war und niemand seine Reaktion beobachtet hatte.

Du hast mir von Garrels geschickter Gesprächsführung erzählt, aber ich habe ihn noch nie in Aktion erlebt. Macht er das mit jedem?

Lorlen betrachtete den Ring. Der Stein fing das Licht der Lampen auf, die rund um den Hof standen, aber er unterschied sich nicht im Mindesten von jedem anderen gewöhnlichen Rubin.

Ich habe es dir gesagt, Lorlen. Alles, was du siehst und hörst.

Und was ich denke?

Wenn ich zuhöre, ja - aber du wirst nicht wissen, wann ich zuhöre.

Entsetzt packte Lorlen den Ring und begann, ihn vom Finger abzustreifen.

Halt, Lorlen. Du quälst dich schon jetzt mit Schuldgefühlen. Zwing mich nicht, alles noch schlimmer zu machen.

Lorlen ließ den Ring los und ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste.

So ist es schon besser. Jetzt ruh dich ein wenig aus. Es ist einiges an Arbeit liegen geblieben, um das du dich kümmern musst.

Schwer atmend vor Wut machte sich Lorlen auf den Weg zu seinen Räumen.

23 Akkarins Versprechen

Als Dannyl von Deck zurückkam, saß Tayend im Schneidersitz auf dem schmalen Bett in ihrer Kajüte. Auf jeder freien Fläche im Raum lagen die Zeichnungen und Notizen des Gelehrten.

»Ich habe alles übersetzt, was ich verstanden habe. Auf dem Sarg befindet sich ein Passus, der offensichtlich mehrsprachig notiert ist, in verschiedenen alten Sprachen zeilenweise untereinander. Sobald ich wieder in der Bibliothek bin, werde ich der Sache nachgehen können. Die dritte Zeile ist Frühelynisch, eine Sprache, die vor tausend Jahren mit dem Kyralischen verschmolzen ist.«

»Was steht denn dort?«

»Dass diese Frau gerecht und ehrenwert war. Dass sie die Inseln mit hoher Magie geschützt hat. Die Worte für ›hohe Magie‹ waren besonders tief eingeschnitzt. Auf die gleiche Weise war ein Schriftzeichen hervorgehoben, das ich dem Alt-Vindo zurechne - das ist auch die Sprache der Inschriften auf den Wänden. Das gleiche Schriftzeichen kommt auf den Wänden noch mehrmals vor.«

Tayend reichte Dannyl eine Zeichnung. Wann immer darauf die Worte für ›hohe Magie‹ auftauchten, zeigte das Bild darüber eine Gestalt, die vor einer Frau kniete. Die Frau hatte die Hand ausgestreckt, um die nach oben gehaltenen Handflächen des Bittstellers zu berühren, wie zur Beschwichtigung oder zur Belohnung.

»Das könnte bedeuten, dass sie diese hohe Magie praktiziert. Was glaubst du, was sie tut?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Vielleicht heilt sie. Das ergäbe durchaus einen Sinn, da die Heilkunst vor tausend Jahren sehr selten gewesen sein muss. Einzig durch Zusammenarbeit und viele Versuche ist es der Gilde gelungen, diese Fertigkeit zu entwickeln - und die Heilkunst ist noch immer die am schwersten erlernbare Disziplin.«

»Dann kommt dir der Ausdruck ›hohe Magie‹ nicht vertraut vor?«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Das Loch, durch das wir geblickt haben, kam mir nicht natürlich vor. Irgendjemand muss es in den Felsen gehauen haben. Glaubst du, es könnte durch Magie entstanden sein?«

»Möglicherweise.« Dannyl lächelte. »Ich denke, der letzte Besucher hat uns einen großen Gefallen getan.«

»Und ob.« Das Schiff sackte abrupt in ein offenbar tiefes Wellental. Tayend zuckte zusammen, und sein Gesicht nahm eine kränkliche Farbe an.

»Es braucht dir nicht die ganze Reise über schlecht zu gehen«, sagte Dannyl entschieden. »Gib mir die Hand.«

Tayends Augen weiteten sich. »Aber… ich…«

»Du hast jetzt keine Ausreden mehr.«

Zu Dannyls Erheiterung errötete Tayend und wandte den Blick ab. »Ich fühle mich immer noch, ähm, unwohl mit… nun ja…«

Dannyl wischte diesen Einwand mit einer knappen Geste beiseite. »Diese Art von Heilung geht sehr schnell. Und ich werde nicht in deinen Gedanken lesen. Außerdem musst du dich der Wahrheit stellen. Du bist kein besonders unterhaltsamer Begleiter, wenn du krank bist. Wenn du dich nicht auf Schritt und Tritt übergeben musst, dann jammerst du, dass es gleich wieder so weit sein werde.«

»Ich jammere!«, rief Tayend entrüstet. »Ich habe überhaupt nicht gejammert!« Er hielt Dannyl die Hand hin. »Dann tu, was du nicht lassen kannst.«

Tayend presste die Augen fest zusammen. Dannyl umfasste das Handgelenk des Gelehrten, sandte seinen Geist aus und traf unverzüglich auf Übelkeit und Benommenheit. Es bedurfte nur einer minimalen Willensanstrengung, um diese Übel zu vertreiben. Nachdem Dannyl Tayends Hand losgelassen hatte, beobachtete er, wie der Gelehrte die Augen aufschlug und über die Wirkung des magischen Eingriffs nachdachte.

»So ist es viel besser.« Tayend warf Dannyl einen schnellen, forschenden Blick zu, dann zuckte er die Achseln und wandte sich wieder seinen Notizen zu. »Wie lange wird es anhalten?«

»Einige Stunden. Länger, wenn du dich an die Schaukelei gewöhnst.«

Tayend lächelte. »Ich wusste doch, dass ich einen guten Grund hatte, dich mitzunehmen. Was werden wir tun, wenn wir wieder in Elyne sind?«

Dannyl schnitt eine Grimasse. »Ich werde wohl eine Menge Zeit darauf verwenden müssen, meinen diplomatischen Pflichten nachzukommen. Es dürfte reichlich Arbeit liegen geblieben sein.«

»Nun, während du damit beschäftigt bist, werde ich unsere Nachforschungen fortsetzen. Die Aufzeichnungen des Hafenmeisters haben uns verraten, wohin Akkarin gereist ist. Eine Frage hier und dort wird uns Aufschluss darüber geben, was er anschließend getan hat. Die Bel Arralade gibt jedes Jahr anlässlich ihres Geburtstages ein Fest, und das ist genau die richtige Gelegenheit, um mit unseren Nachforschungen anzufangen. Im Gildehaus liegt gewiss schon eine Einladung für dich bereit.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich habe nur wenige Monate in Capia verbracht, und ich habe die Bel Arralade noch nicht einmal kennen gelernt.«

»Und genau aus diesem Grund wird man dich einladen.« Tayend lächelte. »Einen jungen, unverheirateten Magier wie dich! Außerdem nimmt Botschafter Errend immer an dem Fest teil. Wenn du keine eigene Einladung bekommen solltest, wird er darauf bestehen, dass du ihn begleitest.«

»Und du?«

»Ich habe Freunde, die mich mitnehmen werden, wenn ich nett darum bitte.«

»Warum gehst du nicht einfach mit mir auf das Fest?«

»Wenn wir zusammen ankommen, werden die Leute Schlüsse ziehen, die dir vielleicht nicht besonders angenehm wären.«

»Wir waren jetzt monatelang zusammen auf Reisen«, erwiderte Dannyl. »Die Leute werden bereits ihre Schlüsse gezogen haben.«

»Nicht unbedingt.« Tayend machte eine abwehrende Handbewegung. »Nicht wenn sie beobachten können, dass du mich wie einen bloßen Untergebenen behandelst. Dann könnten sie zu der Auffassung gelangen, dass du nicht über mich Bescheid weißt. Schließlich bist du Kyralier. Wenn du von meinen Neigungen wüsstest, hättest du dir einen anderen Assistenten gesucht.«

»Wir Kyralier haben wirklich einen schlechten Ruf, wie?«

Tayend nickte. »Aber ebendiesen Ruf können wir jetzt zu unserem Vorteil nutzen. Wenn irgendjemand eine Bemerkung über mich macht, solltest du dich entrüstet darüber zeigen, dass der Betreffende meinen Namen in den Schmutz zieht. Ich werde meine Freunde anflehen, dich, was diese Dinge betrifft, im Dunkeln zu lassen. Wenn wir überzeugend genug sind, können wir weiter zusammenarbeiten, ohne dass irgendjemand Fragen stellt.«

Dannyl runzelte die Stirn. Es war ihm höchst unangenehm, das zuzugeben, aber Tayend hatte Recht. Obwohl er gern einfach die Achseln gezuckt und die Leute hätte reden lassen, würde es ihrer beider Leben deutlich vereinfachen, wenn sein Ruf keinen Schaden nahm.

»Also gut. Ich werde den arroganten kyralischen Magier geben, den die Leute erwarten.« Er sah Tayend an. »Aber ich möchte, dass du eines nicht vergisst: Falls ich eine grobe oder voreingenommene Bemerkung mache, denk bitte daran, dass es mir nicht wirklich ernst damit ist.«

Tayend nickte. »Ich weiß.«

»Aber ich muss dich warnen. Meine schauspielerischen Fähigkeiten sind ziemlich gut.«

»Oh, wirklich?«

Dannyl kicherte. »Ja, wirklich. Ich habe das Wort meines Mentors zum Beweis. Er sagte, wenn ich die Diebe davon überzeugen konnte, ein armer Kaufmann zu sein, dann könnte ich jeden hinters Licht führen.«

»Wir werden sehen«, erwiderte Tayend. »Wir werden sehen.«


Lord Osen wartete geduldig, bis Lorlen seinen Brief fertig geschrieben hatte. Schließlich trocknete Lorlen mit einer knappen Handbewegung die Tinte, faltete den Bogen zusammen und versiegelte ihn.

»Was kommt als Nächstes?«, fragte er, als er Osen den Brief reichte.

»Das ist alles.«

Lorlen blickte überrascht auf. »Wir haben alle Rückstände aufgeholt?«

»Ja.« Osen lächelte.

Lorlen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte seinen Assistenten anerkennend. »Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, dass Ihr während der vergangenen Woche für mich eingesprungen seid.«

Osen zuckte die Achseln. »Ihr habt Ruhe gebraucht. Meiner Meinung nach hättet Ihr eine längere Pause einlegen sollen. Vielleicht hättet Ihr wie alle anderen für einige Wochen zu Eurer Familie fahren sollen. Ihr seht immer noch sehr erschöpft aus.«

»Ich weiß Eure Sorge zu schätzen«, erwiderte Lorlen. »Aber ich soll all die Leute hier für einige Wochen sich selbst überlassen?« Er schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee.«

Der junge Magier kicherte. »Jetzt klingt Ihr langsam wieder wie Ihr selbst. Wollen wir uns nun den Vorbereitungen für die nächste Versammlung zuwenden?«

»Nein.« Lorlen runzelte die Stirn, als ihm seine Verabredung wieder einfiel. »Ich werde heute Abend den Hohen Lord besuchen.«

»Verzeiht mir diese Bemerkung, aber Ihr klingt nicht übermäßig begeistert.« Osen zögerte, dann fuhr er in gedämpfterem Tonfall fort: »Gab es irgendeine Meinungsverschiedenheit zwischen euch?«

Lorlen sah seinen Assistenten an. Osen entging nur selten etwas, aber auf seine Diskretion war Verlass. Würde er ihm glauben, wenn er es bestritt? Wahrscheinlich nicht.

Sag ihm, dass es so sei. Denk dir irgendeine Belanglosigkeit aus, über die wir gestritten haben können.

Beim Klang der Stimme in seinen Gedanken versteifte sich Lorlen. Seit jenem Gespräch vor dem Abendsaal vor einer Woche hatte Akkarin nicht mehr durch den Ring zu ihm gesprochen.

»Ich nehme an, so könnte man es wohl ausdrücken«, antwortete Lorlen langsam. »In gewisser Weise.«

Osen nickte. »Das dachte ich mir. Ging es um seine Entscheidung, sich zu Soneas Mentor bestimmen zu lassen? Das jedenfalls vermuten einige Magier.«

»Ach ja?« Lorlen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er war also zum Gegenstand des Geredes geworden.

Nun? Er richtete seine Frage an den Ring.

Die Antwort, die du in Erwägung ziehst, wird genügen.

Mit einem leisen Schnauben hob Lorlen den Kopf und warf Osen einen warnenden Blick zu. »Ich weiß, dass ich auf Eure Verschwiegenheit vertrauen kann, Osen. Spekulationen sind gut und schön, aber ich möchte nicht, dass die anderen etwas von der Meinungsverschiedenheit zwischen dem Hohen Lord und mir erfahren. Um Soneas willen.«

Osen nickte. »Ich verstehe. Ich werde es für mich behalten - und ich hoffe, ihr beide könnt eure Differenzen beilegen.«

Lorlen stand auf. »Das hängt davon ab, wie gut sich Sonea an diesen Wechsel gewöhnt. Ich finde, es ist ein wenig viel für sie, nach allem, was sie bereits durchgemacht hat.«

»Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken«, gab Osen zu, als er Lorlen zur Tür folgte. »Aber ich bin davon überzeugt, dass sie es schaffen wird.«

Lorlen nickte. Ich hoffe es. »Gute Nacht, Osen.«

»Gute Nacht, Administrator.«

Die Schritte des jungen Magiers hallten durch den Gang, als er sich entfernte. Lorlen, der nun in die Eingangshalle trat, hatte das Gefühl, von einer Wolke dunkler Vorahnungen umhüllt zu sein. Einen Moment lang blieb er oben an der Treppe stehen, um über die Gärten zur Residenz des Hohen Lords zu blicken. Seit jenem Abend, an dem Akkarin seine Gedanken gelesen hatte, war er nicht mehr dort gewesen. Die Erinnerung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

Schließlich holte er tief Luft und zwang sich, an Sonea zu denken. Um ihrer Sicherheit willen musste er Akkarin gegenübertreten. Die Einladung des Hohen Lords ließ sich nicht ausschlagen.

Nachdem er widerstrebend einige Schritte gegangen war, beschleunigte er sein Tempo. Am besten, er brachte die Sache schnell hinter sich. An der Tür der Residenz hielt er mit hämmerndem Herzen inne, bevor er anklopfte. Wie immer schwang die Tür bei der ersten Berührung nach innen auf. Als Lorlen sah, dass sich niemand im Raum aufhielt, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus und trat ein.

Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Aus dem dunklen Rechteck des Treppenhauses auf der rechten Seite löste sich ein Schatten. Akkarins schwarze Roben raschelten leise, als er näher kam.

Schwarze Roben. Schwarze Magie. Ironischerweise war Schwarz seit jeher die Farbe des Hohen Lords gewesen. Du hättest diese Anweisung nicht gar so wörtlich nehmen müssen, dachte Lorlen.

Akkarin kicherte. »Wein?«

Lorlen schüttelte den Kopf.

»Dann setz dich. Entspann dich.«

Entspannen? Wie hätte er sich entspannen können? Und diese freundliche Vertrautheit, mit der der andere Mann ihm begegnete, missfiel ihm zutiefst. Lorlen blieb stehen und beobachtete, wie Akkarin zu dem Weinschrank hinüberging und nach einer Flasche griff.

»Wie geht es Sonea?«

Akkarin hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich bin mir nicht einmal sicher, wo genau sie sich gerade aufhält. Irgendwo in der Universität, nehme ich an.«

»Sie ist nicht hier?«

»Nein.« Akkarin drehte sich um und deutete auf die Sessel. »Nimm Platz.«

»Dann hast du ihr… du hast ihr keinen dieser Ringe gegeben?«

»Nein.« Akkarin trank einen Schluck Wein. »Ich überprüfe von Zeit zu Zeit, was sie tut. Sie hat einige Tage mit der Erkundung der Universität verbracht, und jetzt, nachdem sie einige Schlupfwinkel gefunden hat, in denen sie sich verstecken kann, füllt sie ihre Zeit mit Büchern. Abenteuergeschichten, soweit ich das beurteilen kann.«

Lorlen runzelte die Stirn. Er war froh darüber, dass Akkarin Sonea nicht gezwungen hatte, während der Ferien in ihrem Zimmer zu bleiben, aber die Tatsache, dass sie sich in irgendwelchen Winkeln der Universität versteckte, bestätigte ihm, wie verängstigt und unglücklich das Mädchen sein musste.

»Bist du dir sicher, dass du keinen Wein willst? Der dunkle Anurener ist in diesem Jahr besonders gut.«

Lorlen warf einen Blick auf die Flasche, dann schüttelte er den Kopf. Seufzend ging er zu einem der Sessel hinüber und setzte sich.

»Sonea macht mir lange nicht so viel Mühe, wie ich befürchtet hatte«, sagte Akkarin, während er ebenfalls Platz nahm. »Die Ernennung zu ihrem Mentor kompliziert zwar alles ein wenig, aber das ist immer noch besser als die Alternative.«

Lorlen schloss die Augen und versuchte, nicht darüber nachzudenken, worin diese Alternative bestehen mochte. Er holte tief Luft, dann zwang er sich, Akkarin anzusehen.

»Warum hast du das getan, Akkarin? Warum schwarze Magie?«

Akkarin hielt seinem Blick gelassen stand. »Es gibt niemanden, dem ich meine Beweggründe lieber verraten würde als dir. Ich habe beobachtet, wie dieses Wissen deine Einstellung zu mir verändert hat. Wenn du geglaubt hättest, es sei möglich, mich zu besiegen, hättest du die ganze Gilde gegen mich antreten lassen. Warum hast du nicht mit mir gesprochen, sobald du davon erfahren hast?«

»Weil ich nicht wusste, was du tun würdest.«

»Nach all den Jahren, die wir Freunde waren, hast du mir nicht vertraut?«

»Nach dem, was ich in Soneas Erinnerung gesehen habe, ist mir klar geworden, dass ich dich überhaupt nicht kenne.«

Akkarin hob die Augenbrauen. »Das ist verständlich. Die Vorstellung, schwarze Magie sei böse, ist sehr mächtig.«

»Ist sie böse?«

Akkarin runzelte die Stirn, und ein geistesabwesender Ausdruck trat in seine Augen. »Ja.«

»Warum praktizierst du sie dann?«, fragte Lorlen scharf. Er hielt die Hand hoch, an der der Ring steckte. »Warum dies hier?«

»Das kann ich dir nicht verraten. Sei versichert, ich habe nicht die Absicht, die Herrschaft über die Gilde an mich zu reißen.«

»Das brauchst du auch gar nicht. Du bist bereits Hoher Lord.«

Akkarins Mundwinkel zuckten. »Das bin ich, nicht wahr? Dann lass dir gesagt sein, dass ich nicht die Absicht habe, die Gilde zu zerstören oder irgendetwas anderes, das dir teuer ist.« Er stellte sein Glas ab, erhob sich und trat vor den Serviertisch. Dort füllte er ein zweites Glas und reichte es Lorlen. »Eines Tages werde ich dir alles erklären. Das verspreche ich.«

Lorlen starrte Akkarin an. Der Blick der dunklen Augen war ruhig und fest. Widerstrebend akzeptierte Lorlen das Glas und die Zusage seines Freundes. »Ich werde dich beim Wort nehmen.«

Akkarin öffnete den Mund zu einer Antwort, brach jedoch ab, als er ein leises Klopfen hörte.

Die Tür schwang auf. Der Schein von Akkarins Lichtkugel drang kaum bis zu Soneas Augen vor, als sie mit gesenktem Kopf eintrat.

»Guten Abend, Sonea«, sagte Akkarin freundlich.

Sie verneigte sich. »Guten Abend, Hoher Lord, Administrator«, erwiderte sie mit leiser Stimme.

»Womit hast du dir heute die Zeit vertrieben?«

Sie deutete auf die Bücher, die sie sich an die Brust drückte. »Ich habe ein wenig gelesen.«

»Jetzt, da die Bibliothek geschlossen ist, hast du gewiss nur wenig Auswahl. Gibt es irgendwelche Bücher, die du gern kaufen würdest?«

»Nein, Hoher Lord.«

»Es würden sich gewiss auch andere Unterhaltungen arrangieren lassen, wenn das dein Wunsch wäre.«

»Nein, vielen Dank, Hoher Lord.«

Akkarin zog eine Augenbraue hoch, dann hob er die Hand. »Du darfst jetzt gehen.«

Mit erleichterter Miene eilte sie zu dem Treppenaufgang auf der linken Seite hinüber. Lorlen sah ihr mitleidig nach.

»Sie muss sehr unglücklich sein«, murmelte er.

»Hm. Ihre Schweigsamkeit ist ein wenig ärgerlich«, sagte Akkarin leise, beinahe so, als spreche er mit sich selbst. Schließlich kehrte er zu seinem Sessel zurück und griff wieder nach seinem Weinglas. »Also, erzähl mir, haben Peakin und Davin ihren Disput inzwischen beigelegt?«


Rothen, der am Fenster lehnte, sah zu dem kleinen Lichtquadrat auf der anderen Seite der Gärten hinüber. Vor wenigen Minuten hatte er beobachtet, wie sich eine zierliche Gestalt der Residenz näherte. Einen Moment später war dann das Licht angegangen. Jetzt wusste er mit Gewissheit, dass der Raum hinter diesem Fenster Sonea gehörte.

Ein leises Klopfen an der Tür lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Tania kam herein und stellte einen Krug mit Wasser und ein kleines Glas auf den Tisch.

»Lady Indria lässt Euch ausrichten, dass Ihr es nicht auf leeren Magen einnehmen solltet«, bemerkte Tania.

»Ich weiß«, erwiderte Rothen. »Ich habe das Mittel schon früher benutzt.« Er trat vom Fenster zurück und griff nach dem Glas. Das Pulver für den Schlaftrunk war von einem unauffälligen Grau, aber er hatte nicht vergessen, wie abscheulich es schmeckte.

»Ich danke dir, Tania. Du darfst dich jetzt zurückziehen.«

»Schlaft gut«, sagte sie. Dann verbeugte sie sich und ging zur Tür hinüber.

»Warte.« Rothen straffte sich und musterte seine Dienerin eindringlich. »Würdest du…, könntest du…?«

Sie lächelte. »Ich werde Euch Bescheid geben, falls ich irgendetwas hören sollte.«

Er nickte. »Danke.«

Nachdem sie gegangen war, setzte er sich hin und mischte ein wenig von dem Pulver mit Wasser. Er zwang sich, das Gebräu in einem Zug auszutrinken, dann lehnte er sich zurück und wartete darauf, dass das Mittel seine Wirkung tat. Der Geschmack weckte in ihm die Erinnerung an ein Gesicht, von dem er manchmal glaubte, er habe es vergessen, und ein scharfer Stich des Schmerzes durchzuckte ihn.

Yilara, meine Frau. Selbst nach all dieser Zeit trauere ich immer noch um dich. Aber wahrscheinlich würde ich es mir niemals verzeihen, wenn ich damit aufhörte.

Er hatte sich vorgenommen, seine Frau stets so in Erinnerung zu behalten, wie sie vor der Krankheit gewesen war. Als glücklichere Gedanken in ihm aufstiegen, legte sich ein Lächeln über seine Züge.

Immer noch lächelnd, immer noch in seinem Sessel sitzend, versank er in einen friedlichen Schlaf.

24 Eine Bitte

Als Sonea das Badehaus verließ, dachte sie noch einmal über die vergangenen zwei Wochen nach und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass sie dem Ende der Ferien mit einem gewissen Bedauern entgegensah. Sie hatte den größten Teil ihrer Zeit damit verbracht, die Universität zu erkunden oder zu lesen, und an wärmeren Tagen war sie durch den Wald zu der Quelle hinaufgewandert.

In mancher Hinsicht hatte sich nur wenig verändert. Wenn sie durch die Gilde ging, versuchte sie nach wie vor, jemandem auszuweichen. Begegnungen mit Akkarin ließen sich jedoch bei weitem leichter vermeiden als Zusammentreffen mit Regin. Akkarin sah sie ohnehin nur abends, wenn sie in die Residenz des Hohen Lords zurückkehrte.

Man hatte ihr inzwischen auch eine neue Dienerin zugewiesen. Im Gegensatz zu Tania wirkte Viola reserviert und unnahbar. Nachdem sie beobachtet hatte, dass Sonea eine Frühaufsteherin war, erschien sie jetzt immer kurz nach Sonnenaufgang. Sonea hatte mehrmals darum bitten müssen, bevor die Frau ihr endlich ein Glas Raka-Pulver brachte, und Violas Gesichtsausdruck, als der Duft Soneas Zimmer erfüllte, ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie das anregende Getränk verabscheute, das die Hüttenbewohner so schätzten.

Jeden Morgen ging Sonea als Erstes zum Badehaus, wo sie in dem herrlich warmen Wasser schwelgte und sich überlegte, was sie den Tag über unternehmen würde. Vom Badehaus aus ging sie direkt in den Speisesaal. Die wenigen Novizen, die in der Gilde geblieben waren, wurden von einer verkleinerten Anzahl von Köchen und Dienern versorgt. Es gab insgesamt wenig zu tun für die Dienstboten, und teils aus Langeweile, teils um die Fühler nach möglichen künftigen Stellungen in einem der Häuser auszustrecken, ermutigten sie die Novizen, Wünsche zu äußern, was den Speiseplan betraf. Obwohl Sonea über keinerlei nützliche Verbindungen verfügte, verwöhnten die jüngeren Köche auch sie, was seinen Grund zweifellos in dem Incal auf ihrem Ärmel hatte.

Nach dem Essen schlenderte Sonea dann eine Weile durch die Flure der Universität, um sich den Plan einzuprägen, den sie bei einem ihrer früheren Erkundungsausflüge angefertigt hatte. Dabei hatte sie ein ganzes System geheimer Zimmer und Gänge entdeckt, die durch Schranktüren in völlig unscheinbaren Räumen zu erreichen und den Magiern allesamt offenbar wohlvertraut waren. Novizen hatten dort aber anscheinend nichts zu suchen - sie allerdings mit dem Incal des Hohen Lords konnte sich unbehelligt bewegen. Von Zeit zu Zeit setzte sie sich in einen der verlassenen Räume, schlug ein Buch auf und las bisweilen stundenlang, bevor sie sich wieder auf den Weg machte. Sobald der Abend dämmerte, kehrte jedoch langsam ihre Furcht zurück, bis sie sich nicht länger auf ihre Lektüre konzentrieren konnte. Akkarin hatte ihr keine feste Uhrzeit genannt, bis zu der sie sich in seiner Residenz einzufinden hätte. Doch wie spät sie auch zurückkam, der Hohe Lord war immer da und wartete auf sie. Nach einer Woche hatte sie sich schließlich mit dieser täglichen Begegnung abgefunden und kehrte früh genug zurück, um ausreichend Schlaf zu bekommen.

Gerade als sie sich an ihren neuen Tagesablauf gewöhnt hatte, gingen die Ferien zu Ende. Den größten Teil des vergangenen Nachmittags hatte sie an einem der Fenster der Universität verbracht und die Ankunft der Kutschen beobachtet. Wenn in der Gilde die gewohnte Betriebsamkeit herrschte, vergaß man leicht, dass auf dem Gelände auch Ehefrauen, Ehemänner und Kinder lebten. Sonea war bei dieser Gelegenheit bewusst geworden, wie wenige dieser Menschen sie mit Namen kannte. Also hatte sie sich vorgenommen, mehr über ihre zukünftigen Kollegen in Erfahrung zu bringen, und darauf geachtet, welche Familien zusammengehörten und welche Haus-Incals ihre Kutschen trugen.

Insgesamt war die Rückkehr der Magier recht zwanglos vonstatten gegangen. Während die Diener emsig Gepäck ins Haus getragen und Pferde versorgt hatten, hatten die Magier und ihre Familien in kleinen Gruppen beisammengestanden und geplaudert. Die Kinder waren in die Gärten gegangen, um im Schnee zu spielen, und die ausgelassenen Stimmen der Novizen waren selbst durch die Fenster der Universität gedrungen.

Heute jedoch hatten die Magier ihr Territorium wieder in Besitz genommen und eilten zielstrebig durch die Flure und Gänge, aber von den Familien, die sie am Vortag beobachtet hatte, war nichts mehr zu sehen. Dafür wimmelte es überall von Novizen.

Als Sonea sich jetzt der Universität näherte, kehrte auch das vertraute Unbehagen zurück. Obwohl sie davon überzeugt war, dass Regin es nicht wagen würde, sie als Schützling des Hohen Lords zu schikanieren, umgab sie sich vorsichtshalber mit einem Schutzschild. An der Treppe angekommen, bemerkte sie, dass der Novize vor ihr zitterte und sich immer wieder die Arme rieb. Ein Neuankömmling, vermutete sie. Lord Vorel hatte einmal erzählt, dass die Winternovizen stets schneller als ihre Mitstreiter aus dem Sommer lernten, sich mit einem Schild zu umgeben. Jetzt verstand sie auch, warum das so war.

»Das ist sie.«

»Wer?«

Einige Schüler hinter ihr hatten zu tuscheln begonnen. Sonea widerstand dem Drang, sich umzudrehen, während sie weiter die Treppe hinaufging.

»Das Hüttenmädchen.«

»Dann ist es also wahr?«

»Ja. Mutter sagt, es sei nicht recht. Sie sagt, es gäbe reichlich Novizen, die genauso stark seien wie sie. Novizen, die nicht von solch schlechter Herkunft sind.«

»Mein Vater findet, es sei eine Beleidigung für die Häuser - und selbst der Administrator war nicht…«

Mehr verstand Sonea nicht, da sie in den Flur im ersten Obergeschoss eingebogen war. Sie blieb einen Moment stehen, um einen Blick auf die Novizen vor ihr zu werfen, dann setzte sie ihren Weg fort. Anders als an dem Tag, an dem Akkarin sie zu seiner Novizin gemacht hatte, starrten sie sie nicht an. Stattdessen sahen sie nur kurz in ihre Richtung, runzelten die Stirn und wandten sich dann wieder ab.

Das ist nicht gut, dachte sie.

Als sie sich ihrem Klassenzimmer näherte, verstärkte sich ihr Unbehagen. Sie blieb einen Moment lang in der Tür stehen, um tief durchzuatmen, dann trat sie ein. Der Lehrer, der am Pult stand, war überraschend jung. Sein eigener Universitätsabschluss konnte noch nicht viele Jahre zurückliegen. Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Stundenplan, um seinen Namen zu ermitteln.

»Lord Larkin«, sagte sie und verbeugte sich.

Zu ihrer Erleichterung lächelte er. »Setz dich, Sonea.«

Bisher war erst die Hälfte der anderen Novizen erschienen. Einige beobachteten sie, als sie zu ihrem gewohnten Platz am Fenster hinüberging. Ihre Mienen waren nicht freundlich, aber auch nicht missbilligend. Das Unbehagen verebbte langsam.

Larkin erhob sich. Als er sich ihrem Pult näherte, seufzte Sonea. Zweifellos würde er wünschen, dass sie sich einen Platz weiter vorn suchte.

»Der Hohe Lord hat mich gebeten, dir auszurichten, dass er dich nach der nächsten Stunde zu sehen wünscht«, sagte er leise. »Du sollst in seine Residenz kommen.«

Sonea spürte, wie alle Wärme aus ihrem Gesicht wich. Da sie befürchtete, dass sie bleich geworden war, senkte sie den Kopf und hoffte, dass Larkin es nicht bemerkt hatte. »Vielen Dank, Mylord.«

Larkin kehrte zu seinem Pult zurück. Sonea schluckte. Was wollte Akkarin? Erschreckende Bilder stiegen in ihr auf, und als Larkin kurz darauf das Wort an die Klasse richtete, zuckte sie heftig zusammen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich inzwischen auch die restlichen Novizen eingefunden hatten.

»Die Geschichte der magischen Baukunst ist lang«, begann Larkin. »Einige Teile sind unerträglich trocken, aber davon werde ich so viele wie möglich überspringen. Stattdessen werden wir uns zuerst der Geschichte Lord Lorens zuwenden, des Architekten, der die Universität entworfen hat.«

Bei dem Gedanken an die Karte, die sie von den Fluren der Universität gezeichnet hatte, richtete Sonea sich auf ihrem Stuhl auf. Diese Stunde versprach, interessant zu werden. Larkin nahm einige Papiere von seinem Pult und verteilte sie an die Klasse.

»Dies ist ein grober Plan des Grundrisses der Universität - die Kopie einer Zeichnung, die Loren selbst angefertigt hat«, fuhr Larkin fort. »Lord Lorens frühe Arbeiten waren häufig nicht standfest und sahen obendrein lächerlich aus. Man betrachtete ihn als einen Künstler, der besessen war von großen, unpraktischen Bauwerken. Aber seine Entdeckung der Methoden zur Bearbeitung von Stein mithilfe von Magie hat mehr verändert als nur die Architektur. Irgendwann begann er, Häuser zu bauen, die den Menschen gefielen und in denen sie gern lebten.« Larkin deutete mit der Hand auf die Decke. »Die Universität ist eins seiner schönsten Bauwerke. Als Lord Loren den Auftrag bekam, die neuen Gebäude der Gilde zu entwerfen, war er bereits in der ganzen Welt berühmt für sein Werk.« Larkin lachte leise. »Die Gilde fühlte sich dennoch bemüßigt, an ihrer Vorgabe festzuhalten, dass er für seine Entwürfe keine Spiralen verwenden dürfe - etwas, das er bekanntermaßen im Überfluss zu tun pflegte. Dennoch lassen sich in der Glasdecke über der Gildehalle und in den Treppenaufgängen zur Eingangshalle Spiralen finden«, erklärte Larkin. »Aus den Tagebüchern und Chroniken anderer Magier jener Epoche wissen wir, dass Lord Loren, gelinde gesagt, von hinterhältigem Charakter war. Über hundert Jahre später schrieb ein Magier namens Lord Rendo ein Buch, in dem er genau über die Laufbahn des Architekten berichtet. Ich habe euch außer dem Plan selbst einige Auszüge aus dieser Biografie und eine Chronologie seines Lebens und seiner Werke kopieren lassen. Lest euch diese Unterlagen nun bitte durch. Nach dem Unterricht werdet ihr vielleicht den Wunsch haben, euch die Gebäude anzusehen, die Loren entworfen hat. Ihr werdet dabei, genau wie ich seinerzeit, viele Dinge entdecken, die euch zuvor nicht aufgefallen sind. Ich möchte in genau drei Wochen einen Aufsatz über dieses Thema haben.«

Während die anderen Novizen zu lesen begannen, betrachtete Sonea den Plan der Universität. Die vier Türme an den Ecken und der riesige Saal in der Mitte waren deutlich zu erkennen, ebenso wie der Entwurf der Glasdecke, aber die Räume und Flure zu beiden Seiten des Hauptkorridors waren nicht eingezeichnet.

Sie nahm ihren Plan heraus und legte ihn neben den, den Larkin ihr gegeben hatte. Dann machte sie sich daran, den Deckenentwurf in ihre eigene Zeichnung zu übertragen. Wie sie vermutet hatte, trafen die Linien, die die Spiralen in dem Glas bildeten, mit denen der Flure zusammen. Und obwohl die Flure rechteckig angelegt waren, setzten sie doch eindeutig die Spiralen des Daches fort.

»Was machst du da, Sonea?«

Als sie bemerkte, dass der Lehrer vor ihrem Pult stand, schoss ihr die Röte ins Gesicht.

»Ich… ich habe über Eure Bemerkungen über die Spiralen nachgedacht, Mylord«, erklärte sie, »und versucht, sie zu finden.«

Larkin legte den Kopf schräg und betrachtete ihre Zeichnung, dann deutete er auf die geheimen Gänge, die sie markiert hatte. »Ich habe die Pläne der Universität viele Male studiert, aber ich habe noch nie so viele Flure gesehen. Woher hast du diesen Plan?«

»Ich habe ihn selbst gezeichnet. Ich hatte während der Ferien nicht viel anderes zu tun. Ich hoffe, ich bin nicht irgendwo hingegangen, wo ich nicht hätte sein dürfen.«

Er schüttelte den Kopf. »Die einzigen Räume der Universität, zu denen Novizen keinen Zutritt haben, sind die Gildehalle und das Büro des Administrators.«

»Aber… was ist mit den Räumen zwischen den normalen Fluren und den versteckten? Ich hatte den Eindruck, dass sie eine Art Sperre bilden.«

Larkin nickte. »In der Vergangenheit waren diese Flure versperrt, aber als die Gilde nach und nach mehr Platz benötigte, hat man beschlossen, die inneren Bereiche allgemein zugänglich zu machen. Hättest du etwas dagegen, wenn ich mir eine Kopie deines Planes machen würde?«, fragte Larkin.

»Wenn Ihr es wünscht, könnte ich das für Euch erledigen«, bot sie an.

Er lächelte. »Vielen Dank, Sonea.«

Als er sich abwandte, sah Sonea ihm nachdenklich nach. Sie hatte weder Missbilligung noch Verachtung in seinem Benehmen ihr gegenüber entdecken können, anders als sie es von den übrigen Lehrern gewohnt war. Würden ihr in Zukunft nur noch die Novizen mit Feindseligkeit begegnen? Sie sah sich im Raum um, und mehrere ihrer Mitschüler drehten den Kopf weg. Nur einer von ihnen hielt ihrem Blick stand.

Regin. Sonea wandte sich schaudernd ab. Womit hatte sie sich nur solch unverhohlenen Hass verdient?

Jedes Mal, wenn sie im Unterricht eine gute Leistung vollbracht hatte, war es Regin gelungen, mit ihr gleichzuziehen oder sie sogar zu übertreffen. In den Kriegskünsten war er ihr überlegen, und wenn sein Ziel tatsächlich darin bestand, besser abzuschneiden als sie, würde er diesen Wettbewerb für sich entscheiden können.

Jetzt jedoch hatte sie eine Auszeichnung errungen, die er niemals übertreffen konnte. Der Hohe Lord hatte sie zu seinem Schützling gemacht. Und um die Dinge noch zu verschlimmern, wagte er es nicht, sie dafür leiden zu lassen.

Sie seufzte. Er wäre nicht gar so eifersüchtig, wenn er wüsste, was wirklich im Gange ist. Ich würde jederzeit mit ihm tauschen. Er würde Todesängste ausstehen

Oder irrte sie sich da? Regin war ein Mensch, dem es offenkundig Vergnügen bereitete, Macht und Einfluss zu haben, und er schreckte nicht davor zurück, anderen Schaden zuzufügen, um seine Ziele zu erreichen. Würde er den Verlockungen der schwarzen Magie widerstehen können? Nein, wahrscheinlich hätte er sich vielmehr Akkarin angeschlossen. Sie schauderte. Regin als schwarzer Magier. Dieser Gedanke war wahrhaft erschreckend.


Als Dannyl das Gildehaus betrat, kam Botschafter Errend gerade aus dem Audienzzimmer geschlendert.

»Willkommen in Capia, Botschafter Dannyl.«

»Vielen Dank, Botschafter Errend«, erwiderte Dannyl und neigte höflich den Kopf. »Es ist schön, wieder da zu sein. Falls ich es mir jemals wieder in den Kopf setzen sollte, um die Welt zu segeln, erinnert mich bitte an die beiden vergangenen Wochen.«

Der Botschafter lächelte. »Ah, Seereisen verlieren ihren romantischen Reiz im Allgemeinen recht schnell.«

Dannyl schnitt eine Grimasse. »Vor allem wenn man in einen Sturm gerät.«

Dannyl meinte, einen Anflug von Selbstgefälligkeit in den Zügen des anderen Mannes zu entdecken. »Nun, jetzt habt Ihr ja wieder festen Boden unter den Füßen«, bemerkte der Botschafter. »Zweifellos werdet Ihr Euch für den Rest des Tages ausruhen wollen. Ihr könnt mir heute Abend von Euren Abenteuern erzählen.«

»Habe ich viel verpasst?«

»Natürlich.« Errend lächelte. »Schließlich sind wir hier in Capia.« Er machte einen Schritt zurück in Richtung Audienzzimmer, dann blieb er noch einmal stehen. »Vor zwei Tagen sind Briefe für Euch angekommen. Wollt Ihr sie sofort lesen oder bis morgen warten?«

Dannyl, der trotz seiner Erschöpfung neugierig war, nickte. »Lasst sie mir auf mein Zimmer schicken. Und vielen Dank, Botschafter.«

Der beleibte Mann neigte den Kopf, dann wandte er sich ab. Während Dannyl durch den Hauptflur des Hauses ging, dachte er über die ihn erwartende Arbeit nach. Er vermutete, dass einiges liegen geblieben war, und er musste einen Bericht für Lorlen verfassen. Es würde nicht einfach sein, die Zeit für einen Besuch in der Großen Bibliothek abzuzweigen.

Aber seine Nachforschungen würden dennoch gut gedeihen. Unter den Briefen befand sich vermutlich auch die Einladung zu Bel Arralades Fest. Er musste sich eingestehen, dass er sich darauf freute. Schließlich war es schon eine ganze Weile her, seit er zum letzten Mal sein Geschick im Sammeln von Klatsch und Tratsch zur Anwendung hatte bringen können.

Als er aus dem kleinen Badehaus auf dem Grundstück der Gilde zurückkehrte, fand er auf seinem Schreibtisch einen Stapel mit Briefen vor. Er setzte sich hin, breitete die Post aus und erkannte sofort die elegante Handschrift von Administrator Lorlen.

Nachdem er das Siegel gebrochen hatte, faltete er den dicken Bogen Papier auseinander und begann zu lesen.

An den zweiten Botschafter der Gilde in Elyne, Dannyl, aus der Familie Vorin und dem Haus Tellen.

Man hat mir unlängst zur Kenntnis gebracht, dass gewisse Leute glauben, Ihr würdet weniger Zeit auf Eure diplomatischen Pflichten verwenden als auf Eure »persönlichen« Nachforschungen. Ich danke Euch für die Mühen, die Ihr auf Euch genommen habt, um meiner Bitte nachzukommen. Die Arbeit, die Ihr bisher geleistet habt, ist von unschätzbarem Wert für mich. Um jedoch weiteren diesbezüglichen Anfragen vorzubeugen, muss ich Euch bitten, Eure Nachforschungen einzustellen. Weitere Berichte werden nicht notwendig sein.

Administrator Lorlen.

Dannyl ließ den Brief auf den Tisch fallen und starrte ihn überrascht an. All die Reisen und das langwierige Studium etlicher Bücher sollten umsonst gewesen sein, nur weil einige Narren redeten? Offensichtlich waren seine Nachforschungen nicht so wichtig gewesen, wie er angenommen hatte.

Dann lächelte er. Zu Anfang hatte er Lorlens Auftrag nur aus Pflichtbewusstsein erfüllt. Wann immer ihm besonders langweilige alte Bücher untergekommen waren oder ihm die Unbilden des Reisens zur See geplagt hatten, war seine Begeisterung von dem Gedanken aufrechtgehalten worden, dass es einen wichtigen Grund geben müsse, die Reisen des Hohen Lords nachzuvollziehen. Vielleicht hatte Akkarin kurz davor gestanden, eine wertvolle Methode der Anwendung von Magie zu entdecken, und Lorlen wünschte deshalb, dass ein anderer seine Forschungen fortsetzte. Vielleicht gab es ein verloren gegangenes Stück Geschichte wiederzufinden.

Aber nun hatte Lorlen mit wenigen hingekritzelten Zeilen den Nachforschungen ein Ende gemacht, als seien sie völlig ohne Belang gewesen. Kopfschüttelnd faltete Dannyl den Brief zusammen und legte ihn beiseite. Tayend würde enttäuscht sein, ging es ihm durch den Kopf. Sie hatten jetzt keinen Grund mehr, Bel Arralades Fest zu besuchen. Nicht dass dieser Umstand sie davon abgehalten hätte, der Einladung Folge zu leisten - und er würde seinen Freund nach wie vor in der Bibliothek besuchen. Ohne Lorlens Auftrag als Vorwand würde er einen anderen »öffentlichen« Grund finden müssen, um mit dem Gelehrten zu reden… vielleicht ein anderes Thema, das es zu erforschen galt…

Mit einem Mal stutzte Dannyl. War Tayend vielleicht der Grund, warum Lorlen die Nachforschungen einstellte? Waren Lorlen Gerüchte über Tayend zu Ohren gekommen, und machte er sich nun Sorgen, dass Dannyls Ruf einmal mehr Schaden erleiden könnte?

Stirnrunzelnd betrachtete Dannyl den Brief des Administrators. Woher sollte er wissen, ob dies der wahre Grund war? Er konnte Lorlen kaum danach fragen.

Ein anderer Brief, der ebenfalls das Symbol der Gilde trug, erregte seine Aufmerksamkeit. Er nahm ihn zur Hand und lächelte, als er Rothens kraftvolle Handschrift erkannte. Er brach das Siegel und begann zu lesen.

An Botschafter Dannyl.

Ich weiß nicht, wann Du diese Zeilen lesen wirst, da Du, wie ich höre, andere Länder besucht hast. Zweifellos machst Du Dich gerade mit den Völkern vertraut, mit denen Du es in Zukunft von Berufs wegen zu tun haben wirst. Wenn ich geahnt hätte, dass zu den Pflichten eines Botschafters auch Reisen um die Welt gehören, hätte ich vielleicht schon vor Jahren meine Laufbahn als Lehrer beendet. Wenn Du uns das nächste Mal besuchst, wirst Du gewiss viele Geschichten zu erzählen haben.

Auch ich habe Neuigkeiten, obwohl sie Dir vielleicht bereits zu Ohren gekommen sind. Ich bin nicht länger Soneas Mentor. Der Hohe Lord hat sie persönlich unter seine Fittiche genommen. Während andere der Meinung sind, dies sei ein außergewöhnliches Glück für Sonea, bin ich selbst nicht glücklich über diese Entwicklung. Du wirst gewiss begreifen, warum. Nun muss ich nicht nur auf ihre Gesellschaft verzichten, ich habe obendrein das Gefühl, eine Arbeit unvollendet gelassen zu haben.

Deshalb habe ich mir auf Yaldins Rat hin ein neues Betätigungsfeld als Ersatz für das alte gesucht. Es wird Dich zweifellos erheitern zu erfahren, dass ich beschlossen habe, ein Buch über alte magische Praktiken zu verfassen. Es ist eine Aufgabe, die Akkarin vor zehn Jahren in Angriff genommen hatte, und ich bin fest entschlossen, sie zu vollenden.

Soweit ich mich erinnere, hat Akkarin seine Forschungen in der Großen Bibliothek begonnen. Da Du ganz in der Nähe dieser Bibliothek lebst, dachte ich, ich könnte Dich vielleicht bitten, sie einmal für mich aufzusuchen. Wenn Du keine Zeit dafür hast, kennst Du vielleicht irgendjemanden, dem man eine solche Aufgabe anvertrauen könnte? Die Angelegenheit würde überdies sehr diskret behandelt werden müssen, da ich dem Hohen Lord nicht den Eindruck vermitteln will, ich zöge Erkundigungen über seine Vergangenheit ein! Es wäre jedoch höchst befriedigend, Erfolg zu haben, wo er gescheitert ist. Ich weiß, dass Dir die Ironie dieser Situation gefallen wird.

In Freundschaft, Lord Rothen.

PS: Dorrien war für einige Wochen zu Besuch hier. Er hat mich gebeten, Dir in seinem Namen zu gratulieren und Dir seine besten Wünsche zu übermitteln.

Dannyl las den Brief ein zweites Mal, dann lachte er leise. Er hatte es noch nie erlebt, dass Rothen mit irgendeiner Aufgabe gescheitert war, die er einmal ins Auge gefasst hatte. Vor allem dort, wo seine »Interessen« sich auf die Novizen bezogen, deren Mentor er gewesen war. Der Verlust Soneas an den Hohen Lord musste ihn böse getroffen haben.

Andererseits konnte man es wohl kaum als Fehlschlag betrachten, dass Akkarin Sonea in seine Obhut genommen hatte. Ohne Rothens Bemühungen um das Mädchen hätte Sonea wahrscheinlich nicht die Aufmerksamkeit des Hohen Lords erregt. Dannyl nahm sich vor, diesen Umstand in seiner Antwort zu erwähnen.

Er überflog den Brief noch einmal und verweilte an der Stelle, an der Rothen ihn um seine Hilfe bat. Er wusste die Ironie des Ganzen tatsächlich zu schätzen, aber noch erheiternder fand er die Tatsache, dass Rothen um dieselben Informationen bat, an denen Lorlen nach eigenem Bekunden soeben jedes Interesse verloren hatte. Ein bemerkenswerter Zufall.

Dannyl griff noch einmal nach Lorlens Brief, und als er die beiden Schreiben miteinander verglich, stellten sich mit einem Mal die feinen Härchen in seinem Nacken auf. War das wirklich Zufall? Er hielt die beiden Briefe nebeneinander und verglich die hastig hingekritzelten Bemerkungen Lorlens mit den wohlgesetzten Worten seines Freundes. Was war da im Gange?

Wenn er alle Spekulationen beiseite ließ, blieben nur drei Dinge übrig, die mit Gewissheit feststanden. Erstens: Lorlen hatte vor einiger Zeit wissen wollen, was Akkarin auf seiner Reise herausgefunden hatte, und nun wollte er es plötzlich nicht mehr wissen. Zweitens: Rothen wollte jetzt dieselben Informationen, nach denen Akkarin gesucht hatte. Drittens: Sowohl Lorlen als auch Rothen hatten ihn um Verschwiegenheit in dieser Angelegenheit gebeten, und Akkarin selbst hatte seine Entdeckungen niemals preisgegeben.

Dies war in der Tat ein Rätsel. Selbst wenn Rothen ihn nicht um Hilfe gebeten hätte, wäre Dannyl vielleicht neugierig genug gewesen, um die Arbeit aus eigenem Interesse fortzusetzen. Jetzt war er fest dazu entschlossen. Schließlich hatte er nicht mehrere Wochen auf See verbracht, um die ganze Sache einfach fallen zu lassen.

Lächelnd faltete er die Briefe zusammen und legte sie zu seinen Notizen über Akkarins Reise.


Mit jedem Schritt, mit dem sie der Residenz des Hohen Lords näher kam, schnürte sich der Kloß in Soneas Kehle fester zusammen. Als sie die Tür erreicht hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie hielt inne, holte tief Luft und tippte die Klinke an.

Wie immer öffnete sich die Tür bei der ersten Berührung. Soneas Mund wurde trocken, als sie den Empfangsraum betrat. Akkarin saß in einem der Sessel und wartete auf sie.

»Komm herein, Sonea.«

Sie zwang sich, seiner Aufforderung Folge zu leisten, und verbeugte sich, ohne ihn anzusehen. Dann setzte ihr Herz einen Schlag aus, als er sich erhob und auf sie zukam. Sie wich vor ihm zurück, bis sie mit der Ferse gegen die Tür hinter ihr stieß.

»Ich habe eine Mahlzeit für uns herrichten lassen.«

Sie hörte ihn kaum und nahm nur die Hand wahr, die sich nach ihr ausstreckte. Seine Finger schlossen sich um den Griff ihres Bücherkoffers, den sie ihm widerstrebend überließ.

»Folge mir«, sagte er und stellte den Koffer auf einen niedrigen Tisch.

Als er sich abgewandt hatte, atmete sie tief durch. Sie hatte kaum den ersten Schritt getan, als sie jäh innehielt, denn er ging auf die Treppe zu, die in den unterirdischen Raum hinabführte. Als hätte Akkarin ihr Zögern gespürt, drehte er sich zu ihr um.

»Komm. Takan wäre sehr verstimmt, wenn das Essen kalt würde.«

Essen. Eine Mahlzeit. Er würde gewiss nicht im Keller essen. Erleichtert sah sie, dass er die Treppe hinaufging, und folgte ihm.

Im oberen Flur angekommen, ging Akkarin an zwei Türen vorbei, bevor er vor einer dritten stehen blieb. Die Tür öffnete sich, und er trat beiseite, um sie vorangehen zu lassen.

Der Tisch in dem Raum vor ihr war festlich gedeckt, wie sie zu ihrem Erstaunen feststellte.

Eine formelle Mahlzeit. Aber warum?

»Nur zu«, murmelte er.

Sonea drehte sich nach ihm um und bemerkte ein Aufblitzen von Erheiterung in seinen Augen, bevor sie durch die Tür trat. Er folgte ihr und deutete auf einen Stuhl.

»Bitte, setz dich.« Er ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken.

Sonea gehorchte, obwohl sie sich fragte, wie sie auch nur einen Bissen hinunterbringen sollte. Als Lord Larkin ihr Akkarins Nachricht übermittelt hatte, hatte sie jeden Appetit verloren. Vielleicht konnte sie behaupten, sie habe keinen Hunger. Vielleicht würde er sie dann gehen lassen.

Sie blickte auf den Tisch hinab und schnappte nach Luft. Alles vor ihr war aus Gold: Das Besteck, die Teller, und sogar die Ränder der Gläser waren damit überzogen. Der Kitzel einer halbvergessenen Versuchung flackerte in ihr auf. Es wäre so einfach gewesen, eine dieser Gabeln in ihrem Gewand verschwinden zu lassen, wenn Akkarin nicht hinsah. Obwohl ihre Finger gewiss einiges von ihrer früheren Geschicklichkeit eingebüßt hatten, hatte sie ihre Fähigkeiten doch ab und zu auf die Probe gestellt, indem sie Rothen einen Streich spielte. Eine einzige dieser wunderschönen Gabeln würde ein Vermögen bringen - oder zumindest genug, um sich über Wasser zu halten, bis sie einen weit entfernten Ort gefunden hatte, an dem sie verschwinden konnte.

Aber ich kann nicht fortgehen. In ihrer hilflosen Ohnmacht überlegte sie kurz, ob es sich lohnen würde, etwas zu stehlen, nur um Akkarin zu verärgern.

Plötzlich zuckte sie zusammen. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Akkarins Diener neben ihr erschienen. Beunruhigt darüber, dass sie ihn nicht hatte kommen hören, beobachtete sie ihn, während er ihr Glas mit Wein füllte und dann um den Tisch herumeilte, um Akkarin den gleichen Dienst zu erweisen.

Da sie ihr Zimmer frühmorgens verließ und erst spät am Abend zurückkehrte, hatte sie den Diener nur einige wenige Male gesehen. Jetzt jedoch, da er sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, begriff sie, dass sie ihn schon früher gesehen hatte, in dem unterirdischen Raum, in dem er Akkarin bei seiner schwarzen Magie geholfen hatte.

»Wie war dein Unterricht heute, Sonea?«

Erschrocken senkte sie den Blick. »Interessant, Hoher Lord.«

»Was hast du heute gelernt?«

»Es ging um magische Baukunst. Um die Entwürfe Lord Lorens.«

»Ah, Lord Loren. Bei deinen Erkundungszügen durch die Flure der Universität hast du dich gewiss mit einigen Eigenheiten seiner Kunst vertraut gemacht.«

Sie hielt den Blick weiter gesenkt. Er wusste also von ihren Streifzügen durch die Universität. Hatte er sie beobachtet? War er ihr womöglich sogar gefolgt? Trotz Lord Larkins Beteuerungen, dass sie keine für Novizen verbotenen Bereiche betreten hatte, spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie griff nach ihrem Glas und nippte an dem Wein. Er war süß und stark.

»Wie geht es in deinem Unterricht bei Lord Yikmo voran?«

Sie zuckte zusammen. Was sollte sie darauf antworten? Enttäuschend? Grässlich? Demütigend?

»Du magst die Kriegskünste nicht.«

Es war eine Feststellung. Sonea fand, dass sie nicht zu antworten brauchte. Stattdessen nahm sie noch einen Schluck von dem Wein.

»Die Kriegskünste sind sehr wichtig. Sie zwingen dich dazu, all die Dinge anzuwenden und zu verstehen, die du in den anderen Disziplinen lernst. Einzig im Kampf stößt du an die Grenzen deiner Stärke, deines Wissen und deiner Kontrolle über Magie. Es ist ein Jammer, dass Rothen es versäumt hat, zusätzliche Übungsstunden für dich zu arrangieren, sobald sich herausgestellt hatte, dass du in diesem Teil deiner Ausbildung eine gewisse Schwäche hast.«

Seine Kritik an Rothen verletzte Sonea. »Ich nehme an, er hat keine Notwendigkeit dafür gesehen«, verteidigte sie ihren ehemaligen Mentor. »Wir befinden uns nicht im Krieg, und nichts deutet darauf hin, dass sich daran demnächst etwas ändern wird.«

Akkarin klopfte mit einem seiner langen Finger gegen sein Glas. »Hältst du es für klug, in Friedenszeiten all unsere Kenntnisse über den Krieg über Bord zu werfen?«

Sonea schüttelte den Kopf und wünschte plötzlich, sie hätte es unterlassen, eine eigene Meinung zu äußern. »Nein.«

»Dann sollten wir also unsere Kenntnisse bewahren und dafür Sorge tragen, dass wir nicht aus der Übung kommen?«

»Ja, aber…« Sie hielt inne. Warum streite ich überhaupt mit ihm?

»Aber?«, hakte er nach.

»Es ist nicht notwendig, dass alle Magier die Kriegskünste erlernen.«

»Findest du?«

Sie unterdrückte einen Fluch. Warum machte er sich überhaupt die Mühe, mit ihr zu diskutieren? Es kümmerte ihn nicht, ob sie gute Fortschritte in den Kriegskünsten machte oder nicht. Er wollte sie lediglich aus dem Weg haben.

»Vielleicht hat Rothen diesen Teil deiner Ausbildung vernachlässigt, weil du eine Frau bist.«

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht.«

»Vielleicht hatte er Recht. Während der letzten fünf Jahre hat man die wenigen jungen Frauen, die eine Laufbahn als Kriegerinnen in Erwägung gezogen haben, dazu überredet, sich für eine andere Disziplin zu entscheiden. Findest du das richtig?«

Sie runzelte die Stirn. Er wusste, dass sie nicht die Absicht hatte, sich den Kriegern anzuschließen, daher konnte sie seine Frage nur als Versuch werten, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Würde sie, wenn sie sich darauf einließ, auf gefährliches Territorium gelangen? Sollte sie sich weigern, mit ihm zu reden?

Bevor sie zu einer Entscheidung gekommen war, öffnete sich eine Tür hinter Akkarin, und Takan kam mit einem großen Tablett herein. Ein köstlicher Geruch wehte ihr entgegen. Der Diener stellte mehrere Schalen und Platten zwischen sie und Akkarin, dann klemmte er sich das Tablett unter den Arm und begann, jedes einzelne Gericht zu beschreiben.

Mit einem Mal regte sich Hunger in Soneas Magen.

»Vielen Dank, Takan«, murmelte Akkarin, als der Diener mit seinen Erläuterungen zum Ende gekommen war. Takan verbeugte sich und verließ den Raum. Akkarin griff nach einer kleinen Kelle und traf seine Auswahl unter den verschiedenen Speisen.

Von einigen förmlichen Mahlzeiten mit Rothen wusste Sonea, dass dies die traditionelle Art war, in der die kyralischen Häuser Gäste bewirteten. In den Hüttenvierteln verwandte man nur wenig Zeit auf die Vorbereitung des Essens, und das einzige Besteck, das man dort benutzte, war das Messer, das jeder selbst mit sich führte. Die kyralische Tradition, Speisen in kleinen, mundgerechten Stücken zu servieren, bedurfte gründlicherer Vorbereitungen, und je förmlicher eine Mahlzeit war, desto kunstvoller fielen die Speisen aus.

Glücklicherweise hatte Rothen ihr den Zweck all der verschiedenen Gabeln, Löffel, Pinzetten und Spieße erklärt und ihr die Aufgabe gestellt, sich all diese Dinge genau einzuprägen. Wenn Akkarin geglaubt hatte, er könne sie beschämen, indem er ihren Mangel an »richtiger« Erziehung aufdeckte, dann stand ihm eine Enttäuschung bevor.

Sie entschied sich als Erstes für die in Brasi-Blätter eingewickelten Rassook-Stücke, von denen sie eine kleine Menge auf ihren Teller legte. Als sie einen dieser Leckerbissen auf ihre Gabel spießte und in den Mund schob, wurde ihr bewusst, dass Akkarin sie beobachtete.

Ein köstlicher Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Überrascht nahm sie einen zweiten Bissen. Schon bald war ihr Teller leer, und sie beäugte die nächste Schale.

Während sie jedes einzelne der Gerichte auf dem Tisch kostete, vergaß sie alles andere. Kleine Fischbröckchen waren in einer würzigen, roten Marin-Sauce angerichtet worden. Rätselhafte Päckchen waren mit Kräutern und Harrel-Minze gefüllt. Große, purpurne Crots, Bohnen, die sie immer gehasst hatte, waren mit einer salzigen Kruste umhüllt, die sie praktisch unwiderstehlich machte.

Noch nie zuvor hatte Sonea so köstliche Speisen gegessen. Die Mahlzeiten an der Universität waren immer gut gewesen, und wenn die anderen Novizen über das Essen geklagt hatten, waren sie bei ihr nur auf Unverständnis gestoßen. Diese Mahlzeit erklärte jedoch, wie es möglich war, dass sie an der Küche des Speisesaals etwas auszusetzen hatten.

Bei Takans Rückkehr blickte sie auf und stellte abermals fest, dass Akkarin, das Kinn auf eine Hand gestützt, sie beobachtete. Sie wandte den Blick ab und sah zu, wie Takan die leeren Teller und Schalen übereinander stellte und fortbrachte.

»Wie hat dir das Essen geschmeckt?«

Sonea nickte. »Sehr gut.«

»Takan ist ein hervorragender Koch.«

»Er hat all diese Speisen selbst zubereitet?« Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen.

»Ja, obwohl er eine Gehilfin hat, die für ihn in den Töpfen rührt.«

Takan kam mit zwei Schalen zurück, die er vor sie und Akkarin hinstellte. Sonea lief das Wasser im Mund zusammen. Zu Halbmonden geschnittene Pachi-Früchte glitzerten in dickflüssigem Sirup. Der erste Bissen enthüllte Süße, die durch eine Spur Alkohol eine gewisse Schärfe erhielt. Sonea aß langsam und kostete jeden Bissen voll aus. Für Mahlzeiten wie diese könnte es sich direkt lohnen, seine Gesellschaft zu ertragen, dachte sie.

»Ich möchte, dass du in Zukunft an jedem Ersttagabend hier mit mir speist.«

Sonea erstarrte. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Oder trug er sich schon länger mit dem Plan?

»Aber ich habe Abendkurse«, protestierte sie.

»Takan weiß, wie viel Zeit für die Abendmahlzeit zur Verfügung steht. Du wirst deine Stunden nicht versäumen.«

Sie blickte auf die leere Schale hinab.

»Aber heute wirst du deinen Abendunterricht versäumen, wenn ich dich noch länger aufhalte«, fügte er hinzu. »Du darfst jetzt gehen, Sonea.«

In ihrer Erleichterung wäre sie beinahe vom Stuhl gesprungen, dann legte sie eine Hand auf den Tisch, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, da sich in ihrem Kopf plötzlich alles drehte. Immer noch ein wenig benommen, verneigte sie sich und ging dann auf die Tür zu.

Als sie auf dem Flur kurz innehielt, hörte sie leises Murmeln aus dem Raum hinter der Tür.

»Weniger Wein beim nächsten Mal, Takan.«

»Es war das Dessert, Meister.«

25 An den unmöglichsten Orten

Als Sonea Narron und Trassia zur nächsten Unterrichtsstunde gehen sah, seufzte sie. Ausnahmsweise einmal wünschte sie, sie hätte sich ihnen anschließen können, aber inzwischen stimmte nur noch die Hälfte ihrer Stundenpläne überein. Ihr Ziel für diesen Morgen war ein kleiner Raum tief in den Fluren der Universität, wo Lord Yikmo sie erwartete, um sie weiter in der Kriegskunst zu unterrichten.

Nachdem sie vom Hauptflur in einen Nebengang eingebogen war, verlangsamte sie ihre Schritte. Ein Gefühl düsterer Vorahnung erfasste sie. Die Arena war tagsüber ständig belegt, daher hielt Yikmo seinen Unterricht in einem durch Magie geschützten Raum in der Universität ab. Es wurden nur kleine Mengen Magie benötigt, da sie in diesen Stunden komplizierte Spiele spielten, die ihren Verstand und ihre Reflexe schulen sollten.

Als sie um die nächste Ecke bog, stieß sie beinahe mit einem Magier zusammen. Mit gesenktem Blick murmelte sie eine Entschuldigung.

»Sonea!«

Als sie die Stimme erkannte, hob sie den Kopf, und ihr stockte fast das Herz. Rothen stand vor ihr. Sofort blickten sie beide über ihre Schultern. Der Gang war leer.

»Ich freue mich, dich zu sehen.« Er musterte sie forschend, und sie entdeckte Falten in seinem Gesicht, an deren Existenz sie sich nicht erinnern konnte. »Wie geht es dir?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin immer noch hier.«

Er nickte mit grimmiger Miene. »Wie behandelt er dich?«

»Ich bekomme ihn kaum zu sehen.« Sie schnitt eine Grimasse. »Zu viel Unterricht. Ich denke, genau das war seine Absicht.«

Als sie aus einiger Entfernung Schritte näher kommen hörte, blickte sie abermals über ihre Schulter. »Ich muss gehen. Lord Yikmo erwartet mich.«

»Natürlich.« Er zögerte. »Meinem Stundenplan zufolge unterrichte ich morgen deine Klasse.«

»Ja.« Sie lächelte. »Man würde es wohl eigenartig finden, wenn die Novizin des Hohen Lords nicht von dem besten Alchemielehrer unterrichtet würde, den die Gilde hat.«

Seine Züge entspannten sich ein wenig, aber er lächelte nicht. Sonea zwang sich, ihren Weg fortzusetzen. Da sie keine Schritte hinter sich hören konnte, wusste sie, dass er sie noch immer beobachtete. Er sieht anders aus, dachte sie, als sie in einen weiteren Flur einbog. Viel älter. Oder hat er immer schon so alt gewirkt, und ich habe es nur nicht bemerkt? Ohne Vorwarnung schossen ihr Tränen in die Augen. Sie blieb stehen, lehnte sich an eine Wand und blinzelte heftig. Nicht hier! Nicht jetzt! Ich muss mich zusammenreißen! Zitternd holte sie tief Luft und atmete dann langsam wieder aus.

Ein Gong ertönte, und sie konnte die Vibrationen in der Wand hinter sich spüren. In der Hoffnung, dass ihre Augen nicht gerötet waren, eilte sie weiter. Als die Tür zu Yikmos Unterrichtsraum nur noch einige Schritte entfernt war, wurde sie geöffnet, und Sonea, die einen schwarzen Ärmel aufblitzen sah, kam schlitternd zum Stehen.

Nein. Ich kann ihm nicht gegenübertreten. Nicht jetzt. Sie lief zurück zu der letzten Wegbiegung, bis zu einem Gang, der von dem Flur abzweigte, und dort versteckte sie sich. Sie konnte das Gemurmel vertrauter Stimmen hören, verstand jedoch nicht, was gesprochen wurde.

»Nun, das ist ja interessant.«

Sonea fuhr herum. Regin stand, die Arme vor der Brust verschränkt, in dem Gang gegenüber. »Ich dachte, du würdest deinem Mentor auf Schritt und Tritt folgen, statt dich vor ihm zu verstecken.«

Soneas Gesicht wurde heiß. »Was machst du hier, Regin?«

Er lächelte. »Oh, ich bin zufällig hier vorbeigekommen.«

»Warum bist du nicht im Unterricht?«

»Warum du nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch war sinnlos. »Warum verschwende ich meine Zeit damit, mit dir zu reden?«

»Weil er immer noch da ist«, sagte Regin mit einem verschlagenen Lächeln. »Und du hast zu große Angst vor ihm, um ihm gegenüberzutreten.«

Sie musterte den Jungen eingehend und erwog mögliche Antworten. Wenn sie es bestritt, würde er ihr nicht glauben, andererseits würde sie, wenn sie gar nichts sagte, seinen Verdacht nur bestätigen.

»Angst?« Sie schnaubte. »Ich habe nicht mehr Angst vor ihm als du.«

»Wirklich?« Er kam einen Schritt näher. »Worauf wartest du dann? Es hat bereits geläutet. Du kommst zu spät, und dein Mentor ist anwesend, um es zu bemerken. Warum zögerst du dann noch? Oder soll ich vielleicht nach ihm rufen und ihn wissen lassen, dass du dich hier versteckst?«

Sie funkelte ihn wütend an. Würde er das tun? Wahrscheinlich, jedenfalls wenn er glaubte, sie damit in Schwierigkeiten bringen zu können. Andererseits würde sie, wenn sie jetzt ging, Regin gegenüber klein beigeben.

Besser klein beigeben, als zu riskieren, dass er nach Akkarin rief. Sie verdrehte die Augen, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte den Flur hinunter. Als sie fast am Ende des Ganges war, schritt eine schwarze Gestalt an dessen Einmündung in den Hauptflur vorbei, und sie erstarrte.

Zu ihrer Erleichterung entdeckte Akkarin sie nicht. Er ging weiter, und seine Schritte verklangen, während er seinen Weg fortsetzte. Hinter ihr hörte sie ein zufriedenes Kichern. Sie drehte sich um und sah, dass Regin sie lächelnd beobachtete.

Sie wandte sich ab und trat in den Flur. Warum interessierte er sich so dafür, ob sie Angst vor Akkarin hatte oder nicht? Sie schüttelte den Kopf. Natürlich würde ihn jeder Hinweis darauf, dass sie unglücklich war, ungemein freuen.

Aber warum war er nicht im Unterricht gewesen? Welchen Grund konnte er haben, sich in diesem Teil der Universität aufzuhalten?

Er konnte ihr doch nicht gefolgt sein…?


Ein kalter Windschwall begrüßte Lorlen, als er die Tür zu seinem Büro öffnete. Der Luftzug fuhr unter einige Nachrichten, die man ihm unter der Tür hindurchgeschoben hatte, und wehte sie hinaus in den Flur. Da es sich um eine beträchtliche Anzahl von Schreiben handelte, stieß Lorlen einen Seufzer aus und ließ sie mit ein klein wenig Magie in den Raum zurückgleiten. Dann schloss er die Tür und ging mit langen Schritten zum Schreibtisch hinüber.

»Du bist heute Morgen nicht gerade in bester Stimmung.«

Beim Klang der Stimme zuckte Lorlen zusammen, dann hielt er nach dem Besitzer der Stimme Ausschau. Akkarin saß auf einem der Stühle, und seine dunklen Augen reflektierten das Licht, das durch die Fenster fiel.

Wie ist er hier hereingekommen? Lorlen starrte Akkarin an und kämpfte mit der Versuchung, eine Erklärung zu verlangen. Aber die Versuchung verebbte, als der Hohe Lord seinen Blick erwiderte. Lorlen wandte sich ab und konzentrierte sich auf die verschiedenen Nachrichten, die auf dem Boden verstreut lagen. Er ließ die Schriftstücke durch den Raum in seine Hand flattern, dann ging er die einzelnen Papiere durch.

»Was liegt dir auf der Seele, mein Freund?«

Lorlen zuckte die Achseln. »Peakin und Davin gehen einander noch immer bei jeder Gelegenheit an die Kehle. Garrel möchte, dass ich Regin erlaube, seinen Unterricht bei Balkan wiederaufzunehmen, und Jerrik hat einmal mehr Tyas Bitte um einen Assistenten abgelehnt.«

»Alles Dinge, die zu regeln dir nicht schwer fallen dürften, Administrator.«

Lorlen schnaubte, als er die Verwendung seines Titels hörte. »Wie soll ich in diesen Angelegenheiten verfahren, Hoher Lord?«, fragte er spöttisch.

Akkarin kicherte. »Du kennst unsere kleine Familie besser als ich, Lorlen.« Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Gib Garrel ein Ja, Lady Tya ein Nein, und was Davin betrifft… seine Idee, den Ausguck wieder aufzubauen, damit er das Wetter beobachten kann, ist interessant. Die Gilde hat schon seit langer Zeit nichts mehr gebaut, und ein Aussichtsturm hat militärischen Wert - was Hauptmann Arin sehr zupass kommen würde. Seit er zum militärischen Ratgeber des Königs ernannt worden ist, liegt er mir ständig in den Ohren, ich solle die Äußere Stadtmauer wieder aufbauen lassen.«

Lorlen runzelte die Stirn. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das würde ein sehr kostspieliges und langwieriges Projekt werden. Wir sollten unsere Zeit besser…« Lorlen stutzte. »Garrel ein Ja geben? Würde damit nicht Regins Strafe für seinen Angriff auf Sonea um sechs Monate verkürzt werden?«

Akkarin zuckte die Achseln. »Glaubst du wirklich, dass er Sonea jetzt noch Ärger machen wird? Der Junge hat Talent. Es wäre eine Schande, das zu vergeuden.«

Lorlen nickte langsam. »Es würde natürlich… die Schmach, dass seine Gegnerin vom Hohen Lord bevorzugt wird, ein wenig mildern.«

»Balkan würde dem zustimmen.«

Lorlen legte die verschiedenen Botschaften auf seinen Tisch und nahm dann auf seinem Stuhl Platz. »Aber das ist nicht der Grund, warum du mich aufgesucht hast, nicht wahr?«

Akkarin trommelte mit seinen langen Fingern auf die Armlehne seines Stuhls. »Nein.« In seinen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, Rothen aus Soneas Stundenplan herauszunehmen, ohne damit Verdacht zu erregen?«

Lorlen seufzte. »Muss das sein?«

Akkarins Miene verdüsterte sich. »Ja. Es muss sein.«


Mit schleppenden Schritten ging Sonea den Flur hinunter. Der Vormittagsunterricht bei Lord Yikmo war eine Katastrophe gewesen. Außerdem war sie nach ihren Begegnungen mit Rothen und Regin zu gereizt und zu geistesabwesend gewesen, um sich in Heilkunde die Namen der Pflanzen einzuprägen, und zu müde, um die abendliche Mathematikstunde zu begreifen.

Alles in allem war es ein Tag gewesen, dessen Ende sie nur herbeisehnen konnte.

Bei der Erinnerung an Regins selbstgefällige Miene fragte sie sich einmal mehr, welche Schlussfolgerungen er gezogen haben mochte. Vielleicht gefiel ihm einfach die Vorstellung, dass sie mit ihrem neuen Mentor nicht glücklich war.

Na und?, dachte sie. Solange er mich in Ruhe lässt, ist es mir egal, was er denkt.

Aber würde er sie in Ruhe lassen? Wenn er jetzt glaubte, ihre Angst vor Akkarin sei zu groß, um ihrem Mentor von Regins Schikanen zu erzählen, würde womöglich alles wieder von vorn anfangen. Andererseits würde Regin Acht geben müssen, dass kein Magier in der Nähe war, wenn er ihr seine bösen Streiche spielte…

Eine verschwommene Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds war die einzige Warnung. Sie hatte keine Zeit auszuweichen. Ein Arm schlang sich um ihren Hals, der andere um ihre Taille. Durch den Schwung ihres Angreifers wurden sie beide nach vorn geschleudert, aber der Griff um ihren Hals lockerte sich nicht.

Sie wehrte sich nach Kräften, begriff aber schnell, dass der Angreifer zu stark für sie war. Plötzlich fiel ihr ein Trick ein, den Cery ihr einmal beigebracht hatte. Die Erinnerung war so lebhaft, dass sie beinahe Cerys Stimme hören konnte…

Wenn jemand dich auf diese Weise von hinten packt, musst du die Beine spreizen - so ist es richtig - dann machst du Folgendes

Der Mann hinter ihr verlor das Gleichgewicht, und Sonea stieß ein kurzes, befriedigtes Lachen aus, als er zu Boden fiel. Er landete jedoch nicht auf dem Gesicht, sondern rollte sich geschickt zur Seite ab und sprang wieder auf die Füße. Erschrocken wich sie vor ihm zurück und tastete nach einem Messer, das nicht da war… Dann hielt sie jäh inne und starrte ihren Angreifer überrascht an.

Lord Yikmo kam ihr seltsam fremd vor in den gewöhnlichen Kleidern, die er trug. Ein einfaches, ärmelloses Hemd entblößte überraschend muskulöse Schultern. Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte.

»Das dachte ich mir.«

Sonea sah ihn an, und ihre Überraschung verwandelte sich langsam in Ärger.

Der Krieger lächelte. »Ich habe möglicherweise den Grund für deine Probleme entdeckt, Sonea.«

Sie schluckte eine wütende Antwort herunter. »Und was bitte soll das sein?«

»Deine Reaktion gerade eben macht deutlich, dass du dich als erste Reaktion auf einen Angriff mit körperlichen Mitteln zur Wehr setzt. Du hast diese Abwehrstrategie in den Hüttenvierteln gelernt, nicht wahr?«

Sie nickte widerstrebend.

»Hattest du einen speziellen Lehrer?«

»Nein.«

Er runzelte die Stirn. »Woher wusstest du, was du tun musst?«

»Meine Freunde haben es mir beigebracht.«

»Freunde? Das waren sicher junge Leute, oder? Du hattest keine älteren Lehrer?«

»Eine alte Hure hat mir einmal gezeigt, wie ich mein Messer benutzen muss, wenn ich mich… in einer gewissen Situation wiederfinden sollte.«

Er zog die Brauen in die Höhe. »Ich verstehe. Straßenkämpfe. Verteidigungsstrategien. Kein Wunder, dass du zuerst zu diesen Techniken Zuflucht nimmst. Das ist es, was du am besten kannst, und du weißt, dass es funktioniert. Und genau das müssen wir ändern.« Er hob die Hand und bedeutete ihr, ihn zu begleiten.

»Du musst lernen, mit Magie zu reagieren, statt mit dem Körper«, erklärte er ihr. »Ich werde einige Übungen für dich entwickeln, die dir dabei helfen werden. Allerdings muss ich dich warnen - es kann recht lange dauern, bis man alte Reflexe wieder los wird. Wenn du jedoch durchhältst, wirst du bis zum Ende des Jahres deine Magie einsetzen können, ohne nachzudenken.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ohne nachzudenken? Das ist genau das Gegenteil von dem, was die anderen Lehrer sagen.«

»Ja. Das liegt daran, dass die meisten Novizen allzu erpicht darauf sind, Magie zu benutzen. Diese Novizen muss man zunächst einmal Zurückhaltung lehren. Aber du bist keine gewöhnliche Novizin, deshalb kann man gewöhnliche Unterrichtsmethoden getrost beiseite lassen.«

Sonea dachte über seine Worte nach. Sie klangen vernünftig. Dann kam ihr ein neuer Gedanke. »Woher wisst Ihr, ob ich nicht zuerst überlegt habe, ob ich Magie benutzen soll, mich dann aber dagegen entschieden habe?«

»Ich weiß, dass du instinktiv reagiert hast. Du hast nach einem Messer gesucht. Darüber brauchtest du nicht zuerst nachzudenken, nicht wahr?«

»Nein, aber das ist etwas anderes. Wenn jemand mich auf solche Weise angreift, muss ich davon ausgehen, dass er mich wirklich verletzen will.«

»Also warst du durchaus bereit, mich deinerseits zu verletzen?«

Sie nickte. »Natürlich.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Nur wenige Menschen würden einen gewöhnlichen Mann oder eine gewöhnliche Frau verurteilen, wenn er oder sie einen anderen Menschen in Notwehr tötet, aber wenn ein Magier einen Nichtmagier tötet, ist das ein Skandal. Du hast die Macht, dich zu verteidigen, daher gibt es keine Entschuldigung für Mord, ganz gleich, was dein Angreifer vorhatte - nicht einmal wenn es sich bei diesem Angreifer um einen Magier handelt. Wenn du auf solche Weise angegriffen wirst, sollte deine erste Reaktion sein, dich mit einem Schild zu schützen. Das ist ein weiterer guter Grund, um dich dazu zu bringen, zuerst mit Magie zu reagieren, statt mit physischer Verteidigung.«

Als sie den Hauptflur erreichten, lächelte Yikmo und klopfte ihr auf die Schulter.

»Du machst deine Sache nicht so schlecht, wie du denkst, Sonea. Wenn du dich mit Magie gegen mich gewehrt oder einfach geschrien hättest und erstarrt wärst, wäre ich enttäuscht gewesen. Stattdessen bist du ruhig geblieben, hast überlegt gehandelt und es fertig gebracht, mich zu Fall zu bringen. Ich finde, das war ein beeindruckender Anfang. Gute Nacht.«

Sie verneigte sich und sah ihm nach, während er den Gang in Richtung Magierquartier hinunterschritt. Schließlich wandte sie sich ab und ging in die entgegengesetzte Richtung.

»Du hast die Macht, dich zu verteidigen, daher gibt es keine Entschuldigung für Mord, ganz gleich, was dein Angreifer vorhatte - nicht einmal wenn es sich bei diesem Angreifer um einen Magier handelt.« Aber wenn sie nach einem Messer gegriffen hatte, war sie auch bereit gewesen zu töten. Früher einmal mochte ihr dies als eine vernünftige Reaktion erschienen sein, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

Sie ließ sich die Dinge, die Yikmo gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Ein Magier, der mit Vorsatz einem anderen Menschen Schaden zufügte - und sei es auch mit nichtmagischen Mitteln -, würde schwer bestraft werden, und das war Grund genug, um ihre Denkweise zu ändern. Sie wollte auf keinen Fall den Rest ihrer Tage im Gefängnis verbringen, nachdem man ihre Kräfte blockiert hatte. Wenn ihr erster Instinkt sie dazu trieb, zu töten, dann musste dieser Instinkt so schnell wie möglich durch einen anderen ersetzt werden.

Außerdem - was nutzten ihr die Tricks jetzt noch, die sie in den Hüttenvierteln gelernt hatte? Wenn sie sich vor Augen führte, wozu sie inzwischen fähig war, bezweifelte sie, dass sie jemals wieder ein Messer benötigen würde. Wenn sie sich in Zukunft verteidigen musste, dachte sie mit einem Schaudern, würde sie gegen Magie kämpfen.

26 Ein eifersüchtiger Rivale

Als sich die Kutsche vom Gildehaus entfernte, dachte Dannyl noch einmal über all die Dinge nach, die er über die Bel Arralade wusste. Sie war eine Witwe in mittleren Jahren und das Oberhaupt einer der reichsten Familien in Elyne. Ihre vier Kinder - zwei Töchter und zwei Söhne - hatten in mächtige Familien eingeheiratet. Obwohl die Bel selbst nie wieder geheiratet hatte, gab es Gerüchte über zahlreiche amouröse Begegnungen zwischen Arralade und anderen elynischen Höflingen.

Als die Kutsche anhielt, sah Dannyl durchs Fenster, dass sie in einer langen Reihe eleganter Wagen standen.

»Wie viele Gäste werden zu solchen Feiern geladen?«, fragte er.

Botschafter Errend zuckte die Achseln. »Drei- oder vierhundert.«

Beeindruckt versuchte Dannyl, die Kutschen zu zählen, was ihm jedoch nicht gelang, da das Ende der Wagenreihe nicht zu erkennen war. Geschäftstüchtige Straßenhändler liefen zwischen den Kutschen umher und boten ihre Waren feil. Wein, Süßigkeiten, Kuchen und viele andere Dinge wurden angeboten. Außerdem gaben Musikanten und Akrobaten ihre Künste zum Besten. Die Begabtesten unter ihnen wurden mit einem stetigen Strom glitzernder Münzen belohnt.

»Zu Fuß kämen wir schneller voran«, bemerkte Dannyl.

Errend kicherte. »Ja, wir könnten es versuchen, aber weit würden wir nicht kommen. Irgendjemand würde uns zu sich rufen und darauf bestehen, dass wir mit ihm weiterfahren, und es wäre sehr unhöflich, eine solche Einladung auszuschlagen.«

Er kaufte einen kleinen Karton Süßigkeiten, und während sie sie gemeinsam verzehrten, erzählte er Geschichten über frühere Feste der Bel Arralade. Bei solchen Gelegenheiten war Dannyl aufrichtig dankbar dafür, dass der erste Botschafter der Gilde selbst ein Elyner war und ihm die Sitten des Landes erklären konnte. Zu seiner Überraschung erfuhr Dannyl, dass selbst kleine Kinder an dem Fest teilnahmen.

»Kinder werden hier sehr verwöhnt«, warnte ihn Errend. »Das ist ein Laster, dem wir Elyner gern frönen. Bedauerlicherweise können sie uns Magiern gegenüber recht tyrannisch sein, denn sie erwarten von uns, dass wir sie mit unseren besonderen Fähigkeiten unterhalten.«

Dannyl lächelte. »Alle Kinder glauben, die Hauptaufgabe eines Magiers bestehe darin, sie zum Lachen zu bringen.«

Geraume Zeit später wurde der Schlag der Kutsche geöffnet, und Dannyl fand sich vor einem der für Capia typischen Herrenhäuser wieder. Gut gekleidete Diener begrüßten sie und begleiteten sie durch einen prächtigen Bogengang. Dahinter lag eine den Elementen preisgegebene Halle, die dem Vorplatz des Palastes ähnelte. Die Luft war kühl, und die Gäste, die vor ihnen angekommen waren, eilten auf die Türen am gegenüberliegenden Ende der Halle zu.

Dahinter befand sich ein noch größerer, runder Raum voller Menschen. Das Licht mehrerer Kronleuchter leuchtete auf ungezählte bunte Kostüme herab. Stimmengewirr hallte von der Kuppeldecke wider, und die Düfte von Blumen, Früchten und Gewürzen waren nahezu atemberaubend.

Dems und Bels aller Altersstufen waren zugegen, darunter einige Magier. Kinder, die Miniaturversionen der Kleidung der Erwachsenen trugen, tollten im Raum herum. Überall standen in Gelb gekleidete Diener und boten Tabletts mit kleinen Leckerbissen oder Weingläser an.

»Was für eine bemerkenswerte Frau diese Bel Arralade sein muss«, murmelte Dannyl. »Wenn man so viele Mitglieder der kyralischen Häuser an einem Ort versammelte - außerhalb des Hofes -, würden binnen einer halben Stunde Schwerter gezückt werden.«

»Ja«, stimmte Errend ihm zu. »Aber auch heute Abend wird man Waffen zücken, Dannyl. Wir Elyner finden, dass Worte schärfer schneiden als Schwerter. Und sie ruinieren die Möbel nicht.«

Eine prächtige Treppe führte zu einem Balkon hinauf, der um den ganzen Raum herum verlief. Als Dannyl aufblickte, sah er, dass Tayend ihn vom Geländer aus beobachtete. Der Gelehrte verneigte sich gemessen. Dannyl widerstand der Versuchung, diese Förmlichkeit mit einem Lächeln zu beantworten, und neigte seinerseits nur kurz den Kopf.

Neben Tayend stand ein muskulöser junger Mann, der das Geschehen aufmerksam verfolgte. Als er Dannyl in der Menge bemerkte, weiteten sich die Augen des Mannes vor Überraschung, und er wandte hastig den Blick ab.

Dannyl drehte sich wieder zu Errend um. Der Botschafter nahm sich soeben einen Leckerbissen von einem der Tabletts, die die Diener herumreichten.

»Ihr solltet unbedingt einmal davon kosten«, drängte ihn Errend. »Sie sind unübertrefflich!«

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Dannyl, nachdem er sich eine der kleinen Pasteten zu Gemüte geführt hatte.

»Wir mischen uns unter die Gäste. Bleibt an meiner Seite, dann werde ich Euch mit allerlei wichtigen Leuten bekannt machen.«

Also folgte Dannyl dem Botschafter während der nächsten Stunden durch den Raum und versuchte, sich Namen und Titel einzuprägen. Errend hatte ihn vorgewarnt, dass es kein formelles Essen geben würde, da es derzeit in Capia Mode sei, den Gästen nur kleine Delikatessen zu reichen. Dannyl bekam ein Weinglas, und es wurde so regelmäßig aufgefüllt, dass er es schließlich, um einen klaren Kopf zu behalten, auf eins der Tabletts stellte.

Als eine Frau in einem kunstvoll gearbeiteten gelben Kleid auf sie zutrat, wusste Dannyl sofort, dass dies die Gastgeberin war. Auf dem Porträt, das er sich zur Vorbereitung auf seine neue Position angesehen hatte, war ihre Haut nicht so faltig gewesen, aber ihr klarer, wachsamer Blick sagte ihm, dass sie noch immer die bemerkenswerte Bel war, von der er so viel gehört hatte.

»Botschafter Errend«, sagte sie mit einer knappen Verbeugung. »Und dies muss Botschafter Dannyl sein. Ich möchte mich dafür bedanken, dass Ihr mir die Ehre erweist, mein Fest zu besuchen.«

»Wir haben für die Einladung zu danken«, erwiderte Errend und neigte den Kopf.

»Ich könnte kein Fest feiern, ohne die Gildebotschafter auf meine Gästeliste zu setzen«, sagte sie lächelnd. »Magier sind stets die wohlerzogensten und unterhaltsamsten Gäste von allen.« Sie wandte sich an Dannyl. »Also, Botschafter Dannyl, habt Ihr Euren bisherigen Aufenthalt in Capia genossen?«

»Ganz gewiss«, antwortete Dannyl. »Capia ist eine wunderschöne Stadt.«

Nachdem sie eine Weile höfliche Konversation betrieben hatten, gesellte sich eine Frau zu ihnen und verwickelte Errend in ein Gespräch. Bel Arralade erklärte, dass ihre Füße bereits schmerzten, und zog Dannyl zu einer Bank in einer Nische hinüber.

»Wie ich höre, interessiert Ihr Euch für alte Magie«, bemerkte sie.

Dannyl sah sie überrascht an. Obwohl er und Tayend das Thema ihrer Nachforschungen mit niemandem außer dem Bibliothekar Irand erörtert hatten, war nicht auszuschließen, dass im Laufe ihrer Reisen irgendjemand davon Notiz genommen hatte. Oder glaubte Tayend, dass Geheimhaltung nicht mehr notwendig sei, da sie nicht länger Informationen für Lorlen zusammentrugen, sondern Rothen bei seinem Buch »halfen«?

Falls dem so war, hätte er nur den Argwohn der Bel Arralade erregt, wenn er es bestritt.

»Ja«, erwiderte er. »Alte Magie zählt zu meinen besonderen Interessen.«

»Habt Ihr irgendwelche neuen, faszinierenden Entdeckungen gemacht?«

Er zuckte die Achseln. »Nichts besonders Aufregendes. Nur eine Menge Bücher und Schriftrollen in alten Sprachen.«

»Aber seid Ihr nicht vor kurzem nach Lonmar und Vin gereist? Dort müsst Ihr doch gewiss viele interessante Geschichten zusammengetragen haben.«

Er beschloss, seine Antwort möglichst unbestimmt zu halten. »Die Dinge, die ich in Lonmar und Vin zu sehen bekommen habe, waren nicht viel aufregender als die modrigen alten Bücher, die ich zuvor gelesen hatte. Ich fürchte, ich würde Euch mit den Einzelheiten nur langweilen - und was würden die Leute sagen, wenn der neue Botschafter seine Gastgeberin bei ihrem eigenen Fest zu Tode langweilt?«

»Das muss natürlich um jeden Preis vermieden werden.« Sie lachte, dann trat ein träumerischer Ausdruck in ihre Augen. »Ah, aber das Thema bringt angenehme Erinnerungen zurück. Vor vielen Jahren war Euer Hoher Lord aus dem gleichen Grund hier in Capia. Er war ein so gut aussehender Mann. Damals war er natürlich noch nicht Hoher Lord. Er konnte stundenlang über alte Magie reden, und ich habe ihm zugehört, nur um ihn derweil bewundern zu können.«

War das also der Grund ihres Interesses? Dannyl kicherte. »Zu Eurem Glück weiß ich, dass ich nicht annähernd attraktiv genug bin, um Euch für weitschweifige Vorträge über meine Nachforschungen zu entschädigen.«

Sie lächelte strahlend. »Nicht attraktiv genug? Da bin ich anderer Meinung. Und viele Leute würden sich mir da anschließen.« Sie hielt inne, und ihre Miene wurde plötzlich nachdenklich. »Aber Ihr dürft nicht glauben, der Hohe Lord sei unhöflich gewesen. Natürlich hat er nicht stundenlang über alte Magie geredet, obwohl ich ihm zweifellos gern zugehört hätte. Er ist zu meiner Geburtstagsfeier gekommen, aber er war kaum aus Vin zurückgekehrt, als er auch schon wieder in die Berge aufbrach, und seither habe ich ihn nie wieder gesehen.«

Die Berge? Das war Dannyl neu. »Soll ich ihn von Euch grüßen, Bel?«, erbot er sich.

»Oh, ich bezweifle, dass er sich an mich erinnern wird«, entgegnete sie.

»Unsinn! Kein Mann kann eine schöne Frau vergessen, selbst wenn er sie nur flüchtig kennen gelernt hat.«

Sie lächelte kokett und gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm. »Oh, Ihr gefallt mir, Botschafter Dannyl. Und jetzt verratet mir eins: Was haltet Ihr von Tayend von Tremmelin? Er hat Euch auf diesen Reisen begleitet, nicht wahr?«

Dannyl, der sich ihres forschenden Blickes nur allzu bewusst war, dachte über die verschiedenen Antworten nach, die er sich zusammen mit Tayend zurechtgelegt hatte.

»Mein Assistent? Er war mir von großem Nutzen. Er verfügt über ein erstaunliches Gedächtnis, und seine Sprachkenntnisse sind beeindruckend.«

Sie nickte. »Aber was haltet Ihr von ihm persönlich? War er Euch ein angenehmer Gesellschafter?«

»Ja.« Dannyl schnitt eine Grimasse. »Obwohl ich sagen muss, dass das Reisen ihm nicht gut bekommen ist. Ich habe noch nie jemanden so seekrank gesehen.«

Sie zögerte. »Es heißt, er habe einige ungewöhnliche Neigungen. Einige Leute, vor allem die Damen, finden, dass er ein wenig… desinteressiert ist.«

Dannyl nickte langsam. »Wenn man seine Tage unter der Erde verbringt, umringt von Büchern in toten Sprachen, übt man wohl keinen besonders großen Reiz auf die Damenwelt aus.« Er warf ihr einen berechnenden Blick zu. »Wollt Ihr Euch als Kupplerin versuchen, Bel Arralade?«

Sie lächelte geziert. »Und wenn es so wäre?«

»Dann sollte ich Euch warnen, dass ich Tayend nicht gut genug kenne, um Euch von Nutzen zu sein. Falls er eine bestimmte Dame im Sinn hat, so hat er mich nicht ins Vertrauen gezogen.«

Wieder zögerte sie. »Dann sollten wir ihn wohl gewähren lassen«, sagte sie nickend. »Ah, da ist ja Dem Dorlini. Ich hatte gehofft, dass er kommen würde, da ich einige Fragen an ihn habe.« Sie erhob sich. »Es war mir eine Freude, Euch kennen zu lernen, Botschafter Dannyl. Ich hoffe, dass wir uns bald einmal wieder begegnen werden.«

»Es wäre mir eine Ehre, Bel Arralade.«

Nachdem er einige Minuten in seiner Nische sitzen geblieben war, stellte er fest, welche Gefahren das Alleinsein barg. Ein Trio kleiner Mädchen umzingelte ihn, und er unterhielt sie mit Illusionen, bis ihre Eltern ihn retteten. Er stand auf und wollte gerade zu Errend hinübergehen, als er seinen Namen hörte.

Tayend kam auf ihn zu, den muskulösen jungen Mann an seiner Seite.

»Tayend von Tremmelin.«

»Botschafter Dannyl. Dies ist Velend von Genard. Ein Freund«, sagte Tayend.

Die Mundwinkel des jungen Mannes zuckten, aber das Lächeln drang nicht bis zu seinen Augen vor. Steif und mit sichtlichem Widerstreben verneigte er sich.

»Tayend hat mir von Euren Reisen erzählt«, sagte Velend. »Obwohl ich aufgrund seiner Beschreibungen den Eindruck gewonnen habe, dass Lonmar keineswegs nach meinem Geschmack wäre.«

»Es ist ein heißes und beeindruckendes Land«, erwiderte Dannyl. »Man würde sich sicher an das Klima gewöhnen können, wenn man lange genug dort bliebe. Seid Ihr ebenfalls ein Gelehrter?«

»Nein«, antwortete der Mann. »Mein Interesse gilt eher dem Schwertkampf und der Waffenkunst. Übt Ihr Euch gelegentlich in dieser Kunst, Botschafter?«

»Nein«, erwiderte Dannyl. »Jungen Männern, die der Gilde beitreten, bleibt nur wenig Zeit für dergleichen.« Schwertkampf also. Er fragte sich, ob das der Grund war, warum er eine sofortige Abneigung gegen den Mann entwickelt hatte. Erinnerte Velend ihn vielleicht allzu sehr an Fergun, der ebenfalls ein Liebhaber scharfer Waffen war?

»Ich habe einige Bücher entdeckt, die Euch interessieren könnten, Botschafter«, warf Tayend in sachlichem Tonfall ein. Während Tayend das Alter und den allgemeinen Inhalt der Bücher zu beschreiben begann, bemerkte Dannyl, dass Velend ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat und seine Blicke schweifen ließ. Zu guter Letzt unterbrach er Tayend.

»Entschuldigt mich bitte, Tayend, Botschafter Dannyl. Ich habe jemanden gesehen, mit dem ich sprechen muss.«

Als er davonging, lächelte Tayend hinterhältig. »Ich wusste, dass es nicht lange dauern würde, ihn loszuwerden.« Er hielt kurz inne, als ein Ehepaar dicht an ihnen vorbeiging, und verfiel wieder in einen geschäftsmäßigen Tonfall. »Wir haben uns bisher nur alte Bücher angesehen, deshalb dachte ich, es wäre vielleicht sinnvoll, sich auch einmal neueren Schriften zuzuwenden. Wenn ein Dem stirbt, schickt seine Familie der Bibliothek bisweilen Tagebücher oder Gästebücher aus seinem Besitz zu. In dem Tagebuch eines Dem habe ich einige interessante Hinweise auf… nun, ich will jetzt nicht in die Einzelheiten gehen, aber alles weist darauf hin, dass wir in den privaten Bibliotheken einiger der anderen Dems vielleicht weitere Informationen finden könnten. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wo wir mit der Suche anfangen sollen.«

»Leben einige dieser Dems vielleicht in den Bergen?«, erkundigte sich Dannyl.

Tayends Augen weiteten sich. »Der eine oder andere. Warum fragt Ihr?«

Dannyl senkte die Stimme. »Unsere Gastgeberin hat gerade in Erinnerungen an einen bestimmten jungen Magier geschwelgt, der vor zehn Jahren an ihrer Geburtstagsfeier teilgenommen hat.«

»Ah.«

»Ja. Ah.« Als Dannyl Velend auf sie zukommen sah, runzelte er die Stirn. »Dein Freund kommt zurück.«

»Er ist eigentlich kein Freund«, korrigierte ihn Tayend. »Eher der Freund eines Freundes. Er hat mich zu dem Fest mitgenommen.«

Velends Gang hatte etwas von der fließenden Anmut eines Limeks - des räuberischen Hundes, der den Bauern Ungemach bereitete und der bisweilen in den Bergen Reisende tötete. Zu Dannyls Erleichterung blieb der Mann einige Schritte entfernt von ihnen stehen, um mit einem anderen Höfling zu sprechen.

»Ich sollte dich warnen«, bemerkte er leise. »Bel Arralade könnte auf den Gedanken kommen, dir eine junge Dame zu suchen.«

»Das bezweifle ich. Dafür kennt sie mich zu gut.«

Dannyl zog die Brauen zusammen. »Warum hat sie dann die Rede auf dieses Thema gebracht?«

»Wahrscheinlich wollte sie dich auf die Probe stellen, um herauszufinden, wie viel du über mich weißt. Was hast du gesagt?«

»Dass ich dich nicht gut genug kenne, um beurteilen zu können, ob du eine bestimmte Dame im Sinn hast.«

Tayend zog die Augenbrauen in die Höhe. »Hm. Würde es dir etwas ausmachen, wenn es eine solche Frau gäbe?«

»Ob es mir etwas ausmachen würde?« Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein… aber es käme vielleicht darauf an, um wen es sich handelt. Darf ich dann davon ausgehen, dass es jemanden gibt?«

»Möglicherweise.« Tayend lächelte schief. »Aber ich werde es dir nicht verraten… noch nicht.«

Erheitert blickte Dannyl über Tayends Schulter zu Velend hinüber. Es war doch gewiss nicht möglich… Aus den Augenwinkeln sah er, dass ihm jemand zuwinkte. Als er Botschafter Errend erkannte, nickte Dannyl dem Mann zu. »Botschafter Errend möchte mich sprechen.«

»Und mich wird man bezichtigen, ein Langweiler zu sein«, erwiderte Tayend, »wenn ich den ganzen Abend damit zubringe, über meine Arbeit zu reden. Werden wir uns bald in der Bibliothek sehen?«

»In einigen Tagen. Ich denke, wir werden vielleicht eine weitere Reise planen müssen.«


Sonea strich mit dem Finger über die Buchrücken. Sie fand eine Lücke und schob den dort fehlenden Band hinein. Das andere Buch, das sie in der Hand hielt, war dick und schwer. Es gehörte auf die andere Seite der Bibliothek, daher schob sie es sich unter den Arm und durchquerte den Raum.

»Sonea!«

Sonea machte kehrt und ging in den vorderen Teil der Bibliothek hinüber, wo Lady Tya hinter einem kleinen Schreibtisch saß.

»Ihr habt mich gerufen, Mylady?«

»Es ist soeben eine Nachricht für dich gebracht worden«, erwiderte die Bibliothekarin. »Der Hohe Lord möchte dich in Lord Yikmos Übungsraum sehen.«

Sonea nickte. Ihr Mund war plötzlich trocken geworden. Was wollte Akkarin? Eine Demonstration ihrer Fähigkeiten?

»Dann mache ich mich wohl besser auf den Weg. Soll ich morgen Abend wiederkommen?«

Lady Tya lächelte. »Du bist ein Traum, der wahr geworden ist, Sonea. Niemand macht sich eine Vorstellung davon, wie viel Arbeit es hier gibt. Aber du musst doch sicher lernen?«

»Ein oder zwei Stunden kann ich durchaus erübrigen - außerdem erfahre ich auf diese Weise, welche Bücher hier sind und wo ich sie finden kann.«

Die Bibliothekarin nickte. »Wenn du die Zeit dafür erübrigen kannst, bin ich für deine Hilfe dankbar.« Dann drohte sie Sonea spielerisch mit dem Finger. »Aber dass mir niemand behauptet, ich würde den Schützling des Hohen Lords vom Lernen abhalten.«

»Das wird schon nicht passieren.« Sonea legte das Buch beiseite, griff nach ihrem Köfferchen und öffnete die Tür. »Gute Nacht, Lady Tya.«

Die Flure der Universität lagen still und verlassen da. Sonea machte sich auf den Weg zu Lord Yikmos Übungsraum.

Mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs ihre Angst. Lord Yikmo unterrichtete nur sehr ungern am Abend. Der Magier stammte aus Vin, und die Gründe für dieses Verhalten hatten etwas mit der Religion seines Heimatlandes zu tun. Eine Bitte des Hohen Lords konnte man jedoch nicht abschlagen.

Trotzdem war es eigentlich schon viel zu spät für eine Unterrichtsstunde oder eine Demonstration. Vielleicht hatte Akkarin einen anderen Grund, warum er sie kommen ließ. Vielleicht würde Yikmo nicht einmal anwesend sein…

Plötzlich trat ein Novize aus einem Seitengang, und Sonea zuckte zusammen. Als sie versuchte, ihm auszuweichen, stellte er sich ihr in den Weg, und drei weitere Novizen tauchten neben ihm auf.

»Hallo, Sonea. Hast du meine Nachricht bekommen?«

Mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend blickte sie auf. Es war Regin, der an der Spitze einer kleinen Gruppe von Novizen stand. Sie erkannte einige ihrer ehemaligen Klassenkameraden, aber die übrigen waren ihr mehr oder weniger fremd. Es waren ältere Novizen, die sie jetzt mit kaltem Blick musterten. Ein paar der Bemerkungen, die sie am ersten Unterrichtstag nach den Ferien gehört hatte, fielen ihr wieder ein. Wenn so viele Novizen der Meinung waren, dass sie die Aufmerksamkeit des Hohen Lords nicht verdient habe, war es für Regin gewiss nicht schwer gewesen, einige von ihnen um sich zu scharen.

»Arme Sonea«, sagte Regin gedehnt. »Das Leben als Schützling des Hohen Lords muss sehr einsam sein. Keine Freunde. Niemanden, mit dem man spielen kann. Wir dachten, du hättest vielleicht gern etwas Gesellschaft. Vielleicht ein kleines Spiel.« Er sah einen der älteren Jungen an. »Also, was wollen wir spielen?«

Der Junge grinste. »Mir hat deine erste Idee eigentlich recht gut gefallen, Regin.«

»Du meinst, wir sollen ›Säuberung‹ spielen?« Regin zuckte die Achseln. »Es wäre sicher eine gute Übung für die Arbeit, die wir später im Leben vielleicht tun werden. Aber ich denke, um diese Art von Ungeziefer aus der Universität zu vertreiben, bedarf es mehr als blitzender Lichter und Barrieren.« Er sah Sonea mit schmalen Augen an. »Wir werden uns wohl etwas Überzeugenderes einfallen lassen müssen.«

Bei seinen Worten regte sich Zorn in Sonea, aber als Regin dann die Hände hob, verwandelte sich der Zorn in Ungläubigkeit. Er würde doch gewiss nicht mit Magie gegen sie kämpfen. Nicht hier. Nicht in der Universität.

»Du würdest es nicht wagen…«

Er grinste. »Ach nein?« Als ein Licht von seiner Hand aufblitzte, riss Sonea einen Schild hoch. »Was willst du dagegen unternehmen? Es deinem Mentor erzählen? Irgendwie glaube ich nicht, dass du das tun wirst. Ich glaube, du hast zu große Angst vor ihm.«

Regin kam näher, und weiße Magie züngelte von seinen Händen auf.

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, entgegnete sie. »Und was ist, wenn jemand hier vorbeikommt? Du kennst die Regeln.«

»Ich glaube nicht, dass diese Gefahr allzu groß ist.« Regin feixte. »Wir haben uns gründlich umgesehen. Es ist niemand in der Nähe. Selbst Lady Tya hat inzwischen die Bibliothek verlassen.«

Es war nicht schwierig, seine Angriffe abzuwehren. Sie brauchte ihm nur ein klein wenig von ihrer eigenen Magie entgegenzuschleudern, um ihn aufzuhalten, aber sie widerstand der Versuchung, denn sie hatte Lord Yikmos Belehrungen keineswegs vergessen, ein Magier durfte anderen Menschen keinen Schaden zufügen.

»Ruf doch deinen Mentor herbei, Sonea«, drängte er sie. »Bitte ihn, dich zu retten.«

Ein kalter Schauer überlief Sonea, aber sie ignorierte ihn. »Retten? Vor dir, Regin? Wegen einer solchen Nichtigkeit sollte man den Hohen Lord wohl kaum belästigen.«

Regin sah die Novizen um sich herum an. »Habt ihr das gehört? Sie denkt, wir seien der Aufmerksamkeit des Hohen Lords nicht würdig. Wir, die Besten der Häuser, während sie ein bloßes Hüttenmädchen ist? Zeigen wir ihr, wer würdig ist und wer nicht. Kommt.«

Er griff sie von neuem an. Als sie spürte, dass ihr Schild auch von hinten attackiert wurde, drehte sie sich um. Kano und Issle hatten sich an die Spitze der Novizen gestellt, die dort Position bezogen hatten. Aber die älteren Novizen runzelten die Stirn. Sonea sah Zweifel in ihren Gesichtern.

»Ich habe es euch doch gesagt«, rief Regin, ohne in seinen Angriffen nachzulassen. »Sie wird es ihm nicht erzählen.«

Doch die älteren Novizen zögerten immer noch.

»Und wenn sie es tut«, fügte Regin hinzu, »werde ich die Verantwortung übernehmen. Ich bin bereit, euch das zuzusagen, nur um es euch zu beweisen. Was habt ihr schon zu verlieren?«

Während er sie immer weiter attackierte, blickte Sonea noch einmal über ihre Schulter. Weitere Novizen hatten sich ihm angeschlossen. Inzwischen kostete es sie sehr viel Energie, ihren Schild aufrechtzuerhalten. Beunruhigt dachte sie darüber nach, was sie tun sollte. Wenn sie den Hauptflur erreichen konnte… Sie machte einen Schritt nach vorn und zwang Regin und seine Gefährten zurückzuweichen.

»Wenn ihr uns jetzt nicht helft«, schrie Regin den wenigen Novizen zu, die immer noch zögerten, »dann wird sie uns entkommen. Und sich weiterhin nehmen, was rechtmäßig uns gehört. Wollt ihr sie jetzt auf ihren Platz verweisen oder den Rest eures Lebens damit verbringen, euch vor einem Hüttenmädchen zu verneigen?«

Die Novizen an seiner Seite traten, wenn auch immer noch widerstrebend, einen Schritt vor und griffen sie mit einem Kraftzauber an. Der Versuch, mit gleicher Münze zu antworten, kostete sie mehr Energie als ein einfacher Schild, und obwohl sie einige Schritte weitergekommen war, zahlte sie einen hohen Preis dafür.

Sie hielt inne und dachte noch einmal über ihre Strategie nach. Hatte sie genug Energie, um den Flur zu erreichen? Sie war sich nicht sicher. Also war es klüger, ihre Kräfte zu schonen. Hoffentlich würden die anderen irgendwann erschöpft sein, so dass sie sich mühelos an ihnen vorbeidrängen konnte.

Um die Größe ihres Schilds zu verringern, drückte sie sich mit dem Rücken an die Wand. Welches Ziel verfolgte Regin mit diesem Angriff? Sie war ursprünglich davon ausgegangen, dass Regin nur deshalb eine so große Gruppe um sich herum versammelt hatte, um ein größeres Publikum zu haben - und einen besseren Schutz, falls sie sich zur Wehr setzte. Hoffte er, sie zu erschöpfen? Und wenn ja, was wollte er dann tun? Sie töten? Ein Hüttenmädchen konnte es kaum wert sein, dafür ins Gefängnis zu gehen. Nein, wahrscheinlich wollte er nur dafür sorgen, dass sie zu müde war, um am nächsten Tag am Unterricht teilnehmen zu können.

Die Angriffe wurden schwächer, aber zu ihrem Entsetzen spürte Sonea, dass ihre Kräfte sie zu verlassen drohten. Es würde knapp werden. Zu knapp. Als ihr Schild ins Wanken geriet, hob Regin die Arme.

»Halt!«

Die Angriffe verebbten. In der Stille, die nun einkehrte, sah Regin seine Gefährten einen nach dem anderen an und grinste.

»Seht ihr? Und jetzt verweisen wir sie auf den Platz, der ihr zukommt.«

Als er sich wieder zu ihr umdrehte, sah sie das boshafte Glitzern in seinen Augen und begriff, dass es nur der erste Teil seines Plans gewesen war, sie zu erschöpfen. Sie wünschte, sie hätte weiter versucht, zu dem Hauptflur vorzudringen. Doch noch während sie das dachte, wusste sie, dass sie es niemals so weit geschafft hätte.

Regin sandte einen weiteren, vorsichtigen Kraftzauber gegen ihren Schild. Die anderen Novizen folgten seinem Beispiel. Die meisten ihrer Angriffe waren schwach, aber während Sonea immer mehr von ihrer Energie verbrauchte, um den Schild aufrechtzuerhalten, wurde ihr klar, dass es kein Entkommen für sie gab. Selbst wenn sie alle am Ende zu erschöpft waren, um ihre Kräfte zu benutzen, konnten zehn Novizen ihr viele schreckliche Dinge antun, auch ohne ihre Magie zu benutzen.

Mit wachsendem Entsetzen spürte sie, wie ihre Energie verebbte. Ihr Schild flackerte ein letztes Mal auf, dann erlosch er, so dass nur noch Luft zwischen ihr und Regin war. Regin lächelte die anderen an - ein müdes, aber triumphierendes Lächeln.

Dann schoss plötzlich ein Strahl roten Lichts aus Regins Hand. Schmerz blühte in ihrer Brust auf und sandte seine Strahlen in ihre Arme und Beine und bohrte sich in ihren Kopf. Ihre Muskeln begannen zu zucken, dann glitt sie langsam an der Wand hinunter.

Als der Schmerz verebbte und sie die Augen aufschlug, lag sie zusammengerollt auf dem Boden. Heiße Röte schoss ihr ins Gesicht. Gedemütigt versuchte sie, wieder aufzustehen, aber ein neuer Ansturm von Schmerzen raubte ihr die Sinne. Sie biss die Zähne zusammen, fest entschlossen, nicht aufzuschreien.

»Nun, ich wollte schon immer gern wissen, wie ein Betäubungszauber wirkt«, hörte sie Regin sagen. »Wollt ihr es auch mal probieren?«

Als ein angewidertes Schnauben an ihre Ohren drang, fasste Sonea einen Moment lang Hoffnung. Sie sah, dass zwei der Novizen einen entsetzten Blick wechselten, sich umdrehten und davongingen. Aber die Gesichter der anderen spiegelten eifrige Begeisterung wider, und ihre Hoffnung erlosch, als ein Betäubungszauber nach dem anderen ihren Körper wie ein Feuer durchzuckte.

Regins höhnische Worte gingen ihr durch den Sinn. Es bedurfte nur eines kurzen Gedankenrufs, eines Bildes von Regin und seinen Komplizen…

Nein. Nichts, was Regin ihr anzutun vermochte, konnte so schrecklich sein wie die Notwendigkeit, Akkarin um Hilfe zu bitten.

Dann Rothen!

Du darfst nicht mit ihm reden.

Es muss doch irgendjemanden geben!

Aber ein Hilferuf würde von Akkarin und anderen Magiern gehört werden. Schon bald würde die ganze Gilde wissen, dass Akkarins Novizin erschöpft und besiegt in den Fluren der Universität aufgefunden worden war.

Es gab nichts, was sie tun konnte.

Sie rollte sich zu einem Ball zusammen und wartete darauf, dass die Novizen den letzten Rest ihrer Kraft verbrauchten oder das Interesse an ihrem Spiel verloren und sie in Ruhe ließen.


Es war weit nach Mitternacht, als Lorlen mit dem letzten Brief fertig wurde. Er stand auf, streckte sich und ging zur Tür, wobei er seine Umgebung kaum wahrnahm, während er automatisch das magische Schloss vorlegte. Als er sich umdrehte, um den Flur hinunterzugehen, hörte er ein Geräusch aus der Eingangshalle der Universität.

Er blieb kurz stehen und überlegte, ob er der Sache auf den Grund gehen sollte oder nicht. Es war ein leises Geräusch gewesen, vielleicht ein Blatt, das durch die Tür hereingeweht worden war. Er hatte sich gerade dazu entschieden, es zu ignorieren, als er das Geräusch von neuem hörte.

Stirnrunzelnd trat er in die Eingangshalle. Eine Bewegung lenkte seinen Blick auf eine der gewaltigen Türen. Irgendetwas glitt an dem alten Holz entlang. Er machte einen Schritt nach vorn, dann sog er scharf die Luft ein.

Sonea lehnte an der Tür, als würde sie ohne deren Halt in sich zusammensinken. Sie machte einen zaghaften Schritt, dann blieb sie taumelnd am oberen Ende der Treppe stehen. Lorlen lief auf sie zu und griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Sie sah ihn an, überrascht und offensichtlich zutiefst entsetzt.

»Was ist mit dir passiert?«, fragte er.

»Nichts, Mylord«, sagte sie.

»Nichts? Du bist vollkommen erschöpft.«

Sie zuckte die Achseln, und es war unübersehbar, dass selbst diese kleine Bewegung sie große Anstrengung kostete. Sie hatte all ihre Kraft verloren. Als hätte… als hätte man ihre Magie aus ihr herausgezogen…

»Was hat er dir angetan?«, stieß Lorlen heiser hervor.

Sie runzelte die Stirn, dann schüttelte sie den Kopf. Plötzlich gaben die Knie unter ihr nach und sie sank auf die Treppenstufen. Lorlen setzte sich neben sie und ließ ihren Arm los.

»Es ist nicht das, was Ihr denkt«, erklärte sie, dann ließ sie den Oberkörper sinken und legte den Kopf auf die Knie. »Nicht, wer Ihr denkt. Nicht er.« Sie seufzte und rieb sich das Gesicht. »Ich war noch nie so müde.«

»Aber was hat dich dann in diesen Zustand versetzt?«

Sonea ließ die Schultern sinken, aber sie antwortete nicht.

»War es eine Aufgabe, die ein Lehrer dir gegeben hat?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hast du etwas versucht, das mehr Kraft gekostet hat, als du erwartet hattest?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

Lorlen dachte darüber nach, auf welche andere Weise ihre Kräfte derart erschöpft worden sein könnten. Er erinnerte sich an die wenigen Gelegenheiten, bei denen er seine gesamte Kraft verbraucht hatte. Er musste viele Jahre zurückdenken, zurück zu seiner Zeit an der Universität. An die Kämpfe mit Akkarin in der Arena. Aber sie hatte gesagt, es sei nicht Akkarin gewesen.

Dann fiel es ihm wieder ein. Während seiner Ausbildung hatte der Lehrer einmal mehrere Novizen gegen jeden einzelnen Schüler der Klasse antreten lassen. Dies war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, bei denen er besiegt worden war.

Aber es war zu spät für Unterrichtsstunden. Warum sollte sie gegen andere Novizen kämpfen? Lorlens Miene verdüsterte sich, als plötzlich ein Name in seinen Gedanken auftauchte. Regin. Der Junge hatte wahrscheinlich seine Anhänger um sich geschart und Sonea irgendwo aufgelauert. Es war verwegen und riskant. Wenn Sonea Akkarin davon erzählte …

Aber sie würde es nicht tun. Lorlen sah Sonea an, und das Herz tat ihm weh. Gleichzeitig stieg ein unerwarteter Stolz in ihm auf.

»Es war Regin, nicht wahr?«

Ihre Lider öffneten sich flatternd. Als er die Wachsamkeit in ihren Augen sah, nickte er.

»Keine Angst, ich werde es niemandem erzählen, es sei denn, du willst es so. Wenn es dir recht ist, werde ich Akkarin wissen lassen, was hier vorgeht.« Falls er nicht gerade lauscht und es ohnehin schon weiß. Er blickte auf den Ring hinab, dann sah er hastig wieder weg.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht. Bitte.«

Natürlich. Sie würde nicht wollen, dass Akkarin davon erfuhr.

»Ich habe nicht damit gerechnet«, fügte sie hinzu. »Ich werde mich in Zukunft von ihnen fern halten.«

Lorlen nickte langsam. »Nun, wenn es dir nicht gelingt, dann wisse, dass du mich jederzeit rufen kannst.«

Ein schiefes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, dann holte sie tief Luft und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Warte.« Er griff nach ihrer Hand. »Hier«, sagte er. »Das wird dir helfen.«

Er sandte einen sanften Strom heilender Energie durch seine Hand in ihren Körper. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Wirkung spürte. Es würde ihre Kraft nicht erneuern, aber es linderte die körperliche Erschöpfung. Ihre Schultern strafften sich, und ihr Gesicht verlor ein wenig von seiner fahlen Blässe.

»Vielen Dank«, sagte sie. Dann stand sie auf und blickte zu der Residenz des Hohen Lords hinüber, und ihre Schultern sanken wieder herab.

»Es wird nicht für immer so sein, Sonea«, sagte er sanft.

Sie nickte. »Gute Nacht, Administrator.«

»Gute Nacht, Sonea.«

Während sie auf die Residenz zuging, sah Lorlen ihr nach und hoffte, dass seine Worte sich als wahr erweisen würden, auch wenn er sich gleichzeitig fragte, wie das möglich sein sollte.

27 Nützliche Informationen

Sonea setzte sich den Karton mit Büchern auf die Hüfte, als Lady Tya die Tür zur Magierbibliothek öffnete und hineinging. Sie lud ihre Last auf Tyas Schreibtisch ab, der neben dem von Lord Jullen stand, und sah sich in dem dunklen Raum um.

»Ich bin seit Wochen nicht mehr hier gewesen.«

Tya machte sich daran, die Bücher aus den Kartons zu holen. »Warum nicht?«

»›Zutritt für Novizen nur in Begleitung eines Magiers‹.«

Die Bibliothekarin kicherte. »Ich kann mir deinen Mentor nicht gut vorstellen, wie er auf dich wartet, während du lernst. Aber du brauchst ihn nicht zu bitten, dich zu begleiten. Du darfst inzwischen fast überall hingehen, wo du hingehen willst.«

Sonea blinzelte überrascht. »Sogar hierher?«

»Ja, aber du musst mir trotzdem beim Tragen helfen.« Tya hielt ihr augenzwinkernd einen Stapel Bücher hin. Sonea nahm sie entgegen, dann folgte sie der Bibliothekarin durch eine kleine Tür in einen Raum, den sie noch nie gesehen hatte. In der Mitte des Raums standen weitere Regale, aber die Wände waren gesäumt von Schränken und Truhen.

»Ist das ein Magazin?«

»Ja.« Tya räumte die Bücher in die Regale. »Das sind Duplikate begehrter Bände aus der Novizenbibliothek, die hier für den Fall bereitstehen, dass die alten Exemplare auseinander fallen. Die Originale werden in den Truhen dort drüben aufbewahrt.«

Ein besonders großer, schwerer Schrank, dessen Glastüren mit Draht gesichert waren, erregte Soneas Aufmerksamkeit.

»Was ist da drin?«

Ein Leuchten trat in Tyas Augen. »Originale der ältesten und wertvollsten Bücher und Karten der Gilde. Sie sind zu brüchig, um sie zu benutzen. Von einigen dieser Werke habe ich Kopien gesehen.«

Sonea spähte durch die Glasscheibe. »Habt Ihr die Originale je zu Gesicht bekommen?«

Tya trat neben Sonea. »Nein, die Türen sind durch Magie verschlossen. Als Jullen noch ein junger Mann war, hat sein Vorgänger einmal die Türen für ihn geöffnet. Jullen hat sie mir bisher noch nie gezeigt, aber er hat mir erzählt, dass auch eine Karte von den Tunneln unter der Universität dabei sei.«

»Tunnel?« Sonea dachte an den Tag, an dem Fergun ihr die Augen verbunden und sie zu ihrem Freund Cery geführt hatte, der unter der Universität gefangen gewesen war.

»Ja. Das Gelände der Gilde ist angeblich durchzogen von solchen Tunneln. Heutzutage benutzt sie niemand mehr - obwohl ich vermute, dass dein Mentor das tut. Es ist allgemein bekannt, dass er die Gewohnheit hat, an unerwarteten Orten zu erscheinen oder zu verschwinden.«

»Und da drin ist eine Karte dieser Tunnel?«

»Das hat Jullen jedenfalls behauptet, aber ich habe den Verdacht, dass er mich nur aufziehen wollte.«

Sonea sah Tya von der Seite an. »Euch aufziehen?«

Das Gesicht der Bibliothekarin rötete sich, und sie wandte sich ab. »Das ist jetzt viele Jahre her; damals waren wir beide viel jünger.«

»Es ist schwer, sich vorzustellen, dass Lord Jullen jemals jung war«, bemerkte Sonea, während sie Tya zum anderen Ende des Raums folgte. »Er ist so streng und unnahbar.«

Tya blieb vor einer Truhe stehen und räumte die Bücher ein, die Sonea für sie getragen hatte. »Die Menschen verändern sich«, sagte sie. »Er ist zu beeindruckt von seiner eigenen Bedeutung - als sei ein Bibliothekar genauso wichtig wie zum Beispiel das Oberhaupt der Krieger.«

Sonea lachte leise. »Rektor Jerrik würde jetzt sagen, dass Wissen wichtiger ist als alles andere, daher seid Ihr als Hüter des Wissens der Gilde wichtiger als die Höheren Magier.«

Ein Lächeln spielte um die Mundwinkel der Bibliothekarin. »Ich glaube, ich weiß, warum der Hohe Lord dich gewählt hat, Sonea. Und jetzt hol mir die übrigen Bücher von Jullens Schreibtisch.«


Kaum hatte er die Tür zu seiner Wohnung geschlossen, eilte Rothen zu einem Sessel hinüber und zog den Brief aus seiner Robe. Ein Bote hatte ihn zwischen zwei Unterrichtsstunden gebracht, und obwohl ihn den ganzen Tag über die Neugier gequält hatte, hatte er es nicht gewagt, den Brief in der Universität zu öffnen.

Es waren sieben Wochen vergangen, seit er Dannyl geschrieben hatte. Sieben Wochen, seit Akkarin ihm Sonea weggenommen hatte. In all dieser Zeit hatte er nur ein einziges Mal mit ihr gesprochen. Als ein Novize aus einer einflussreichen Familie Rothen um Privatunterricht gebeten hatte, hatte er sich geschmeichelt gefühlt; als sich dann herausstellte, dass dieser Novize nur während der Zeit zur Verfügung stand, in der Rothen Soneas Klasse unterrichtete, hatte er Verdacht geschöpft, dass andere Gründe hinter dieser Bitte standen. Es wäre jedoch unhöflich gewesen abzulehnen, außerdem fielen ihm, abgesehen von der Wahrheit, keine triftigen Gründe dafür ein.

Rothen wog den Brief in der Hand und machte sich auf eine Enttäuschung gefasst. Selbst wenn Dannyl bereit war, ihm zu helfen, bestand nur eine winzige Hoffnung, dass er irgendetwas herausfinden würde, das zu Akkarins Sturz führen könnte. Aber der Brief war groß und überraschend dick. Mit zitternden Händen brach Rothen schließlich das Siegel. Als mehrere Bogen Papier aus dem Umschlag fielen, griff er nach dem ersten und begann zu lesen.


An Rothen.

Es war eine angenehme Überraschung, von dir zu hören, alter Freund. Ich bin tatsächlich viel auf Reisen gewesen und habe Menschen verschiedenster Rassen, Kulturen und Religionen kennen gelernt. Diese Erfahrung war sowohl bildend als auch erhellend, und wenn ich im nächsten Sommer zurückkehre, werde ich viel zu erzählen haben.

Deine Neuigkeiten über Sonea sind bemerkenswert. Für sie ist das natürlich ein Glücksfall, obwohl ich deinen Kummer darüber verstehe, sie als Novizin verloren zu haben. Ohne deine Bemühungen und die harte Arbeit, die du geleistet hast, hätte sie gewiss erst gar nicht die Aufmerksamkeit des Hohen Lords erregt. Ich denke allerdings, dass ihre neue Position auch ihre Probleme mit einem gewissen Novizen gelöst haben dürfte.

Ich war enttäuscht zu hören, dass ich Dorriens Besuch versäumt habe. Grüße ihn bitte ganz herzlich von mir.

Mit diesem Brief schicke ich dir die Informationen, die ich in der Großen Bibliothek und anhand weniger anderer Quellen zusammengetragen habe. Ich hoffe, dass sie dir weiterhelfen. Falls meine nächste Reise erfolgreich sein sollte, dürften wir noch einige weitere Ergänzungen für unser Buch in Händen halten.

Dein Freund Dannyl.


Mit wachsendem Erstaunen blätterte Rothen nun die übrigen Papiere durch.

»All das hast du gesehen?«, murmelte er. »Den Prächtigen Tempel? Die Gräber der Weißen Tränen!« Er stieß ein leises Lachen aus. »Nur wenige andere Quellen, was, Dannyl?«

Er blätterte zur ersten Seite zurück und vertiefte sich in Dannyls Bericht.


Es war bereits spät, als Sonea an diesem Abend aus der Bibliothek kam. In den letzten zwei Wochen war es ihr gelungen, Regin aus dem Weg zu gehen, indem sie Tya aus der Universität begleitete oder lange Umwege nahm. Wann immer sie den Hauptflur betreten hatte, hatte ein Novize dort gewartet. Sie wagten es allerdings nicht, sie im Hauptflur anzugreifen. Das Risiko, dass ein Magier sie entdecken könnte, war zu hoch.

Als Sonea nun in den nächsten Korridor einbog, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass sich niemand dort aufhielt. Nachdem sie einige Schritte gegangen war, drang jedoch ein leises Geräusch an ihre Ohren, ein halb ersticktes Kichern. Sonea blieb stehen. Entsetzt stellte sie fest, dass Regins Bande ihr den Weg zum Hauptkorridor verstellt hatte. Sie wussten jedoch nicht, dass sie sie gehört hatte. Wenn sie zurücklief und es ihr gelang, durch einen Portalraum in die inneren Gänge zu kommen, konnte sie ihnen aus dem Weg gehen.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte los.

»Lauf, Sonea, lauf!«, erklang plötzlich Regins Stimme. Schritte und Gelächter hallten im Flur wider.

Sie jagte um eine Ecke, dann um die nächste, bis eine vertraute Tür vor ihr erschien und sie hindurchschlüpfte. Ohne abzuwarten, ob die anderen ihr folgten, lief sie durch den Portalraum hindurch in den dahinterliegenden Tunnel. Hinter sich hörte sie das gedämpfte Klicken einer Tür.

Nachdem sie mehrmals die Richtung gewechselt hatte, erreichte sie einen anderen Ausgang. Ein Novize stand davor, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Sonea sah ihn entsetzt an. Sie wussten jetzt also über das geheime System der inneren Gänge Bescheid. Das Grinsen des Novizen wurde noch breiter. Offensichtlich hatte Regin ihn hier postiert, um auf sie zu warten. Er war jedoch allein und leicht zu überwältigen.

Sein Grinsen verschwand, als er ihren Gesichtsausdruck sah, und er trat hastig beiseite. Sonea schlüpfte durch die Tür, durchquerte den dahinterliegenden Raum und kehrte in die allgemein zugänglichen Flure zurück. Als sich irgendwo hinter ihr eine Tür öffnete, begann sie zu rennen. Es war jetzt nicht mehr weit, bis sie auf den Hauptflur stoßen würde. Sie rannte um eine Ecke, dann um die nächste - und dann mitten hinein in einen Regen aus rotem Feuer.

Sie hatte bisher keinen Schild hochgezogen, weil sie hoffte, ihre Kräfte so lange wie möglich schonen zu können. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren Körper, und alles um sie herum wurde schwarz. Als sie wieder klar sehen konnte, lag sie auf dem Boden, und ihre Schulter schmerzte. Ein weiterer Feuerstrahl versengte sie und machte es ihr unmöglich, irgendetwas anderes zu tun, als die Zähne zusammenzubeißen. Nachdem der Schmerz verebbt war, gelang es ihr jedoch, einen Schild um sich herum zu weben und sich auf die Füße zu ziehen.

Regin und vier andere Novizen standen hinter ihr. Drei weitere versperrten ihr den Weg zum Hauptflur. Dann erschienen noch zwei Novizen und schließlich drei weitere. Es waren insgesamt dreizehn Novizen. Mehr als zuvor. Sie schluckte.

»So sieht man sich wieder, Sonea.« Regin lächelte. »Wie kommt es nur, dass wir einander immer wieder über den Weg laufen?«

Die Novizen kicherten höhnisch. Diesmal konnte sie keinen Zweifel mehr in ihren Zügen entdecken. Sie waren nicht zur Rechenschaft gezogen worden, als sie ihr das erste Mal aufgelauert und sie gequält hatten, und Regins Prophezeiung, dass sie Akkarin nichts von ihrem Angriff erzählen würde, hatte sich bewahrheitet.

Regin legte eine Hand aufs Herz. »Die Liebe ist doch etwas Seltsames«, sagte er mit melancholischem Tonfall. »Ich dachte immer, du würdest mich hassen, aber jetzt muss ich entdecken, dass du mir auf Schritt und Tritt folgst!«

Einer der Novizen reichte ihm eine Schachtel. Sonea runzelte die Stirn. Schachteln wie diese enthielten im Allgemeinen gezuckerte Nüsse oder andere Süßigkeiten.

»Ah! Ein Geschenk!«, rief Regin und klappte den Deckel auf. »Ein kleines Zeichen meiner Wertschätzung für dich.«

In der Schachtel lag zusammengeknülltes Papier. Ein durchdringender Gestank wehte Sonea entgegen, und Übelkeit stieg in ihr auf. Harrel-Kot, vermutete sie, oder Reber-Dung - oder beides. Regin nahm eines der besudelten Papierknäuel heraus.

»Soll ich dich damit füttern, wie junge Liebende es tun?« Er drehte sich zu seinen Gefährten um. »Aber du siehst so aus, als müsste man dich vorher ein wenig aufwärmen.«

Im nächsten Moment attackierte er ihren Schild, und die anderen folgten seinem Beispiel. Soneas Kehle schnürte sich vor Angst zusammen. Wenn so viele Novizen sie gleichzeitig angriffen, hatte sie keine Chance. Sie drehte sich zu der Gruppe um, die ihr den Weg zum Hauptflur versperrte, und setzte sich nach besten Kräften gegen sie zur Wehr. Langsam fielen sie zurück, aber Sonea war nur wenige Schritte weit gekommen, als sie spürte, dass sie schwächer wurde. Die Novizen zeigten jedoch keine Anzeichen von Ermüdung.

Sie hielt inne. Das letzte Mal hatte sie lange gebraucht, um zu den Universitätstüren hinunterzukriechen. An jenem Abend hatte sie sich verzweifelt gewünscht, sie hätte sich einen kleinen Rest Energie bewahrt, um aufrecht stehen und gehen zu können.

Aber ein Blick auf die Süßigkeitenschachtel genügte, um ihre Meinung zu ändern. Sie würde sich so lange wie möglich zur Wehr setzen.

Schließlich jedoch spürte sie, wie sie die Kräfte verließen. Als ihr Schild in sich zusammenbrach, wurde sie von einem Betäubungszauber nach dem anderen getroffen, und sie keuchte vor Schmerz. Schließlich gaben die Knie unter ihr nach, und sie fiel zu Boden. Als das Feuer endlich abbrach, schlug sie die Augen auf. Regin hockte vor ihr und hielt ihr eines der stinkenden Papierknäuel hin.

»Was geht hier vor?«

Regins Augen weiteten sich, und sein Gesicht wurde totenbleich. Hastig schloss er die Finger um die »Süßigkeit« und richtete sich auf. Als er sich entfernte, erkannte Sonea den Mann, der gesprochen hatte, und die Röte schoss ihr in die Wangen. Lord Yikmo stand, die Arme vor der Brust verschränkt, im Flur.

»Also?«, fragte er.

Regin verbeugte sich, und die anderen Novizen folgten hastig seinem Beispiel.

»Nur ein kleines Spiel, Mylord«, sagte er.

»Ein Spiel, ja?« Yikmo funkelte ihn wütend an. »Setzen die Regeln dieses Spiels die der Gilde außer Kraft? Kämpfe außerhalb des Unterrichts oder der Arena sind verboten.«

»Wir haben nicht gekämpft«, erklärte einer der Novizen. »Es war nur ein Spiel.«

Yikmos Augen wurden schmal. »Wirklich? Ihr habt also Betäubungszauber außerhalb des Kampfes benutzt - gegen eine schutzlose junge Frau.«

Regin schluckte. »Ihr Schild ist zusammengebrochen, bevor wir es bemerkt haben, Mylord.«

Lord Yikmo zog die Augenbrauen hoch. »Anscheinend bist du weder so diszipliniert noch so begabt, wie Lord Garrel behauptet. Ich bin davon überzeugt, dass Lord Balkan mir zustimmen wird.« Yikmo musterte Regins Gefährten und prägte sich ein, wer sie waren. »Geht zurück auf eure Zimmer, alle.«

Die Novizen eilten davon. Als Lord Yikmo sich zu ihr umdrehte, wünschte Sonea, sie hätte die Kraft gehabt, sich davonzustehlen, während er mit den anderen Novizen beschäftigt gewesen war. Er wirkte sehr enttäuscht. Mit letzter Kraft zwang sie sich aufzustehen.

»Wie lange ist das schon so gegangen?«

Sie zögerte, denn sie wollte nicht zugeben müssen, dass etwas Derartiges schon einmal geschehen war. »Eine Stunde.«

Er schüttelte den Kopf. »Was für eine Dummheit von diesen Novizen. Den Schützling des Hohen Lords anzugreifen! Noch dazu mit einer ganzen Gruppe.« Er sah Sonea abermals an, dann seufzte er. »Keine Sorge, es wird nicht noch einmal vorkommen.«

»Bitte, erzählt niemandem davon.«

Er musterte sie stirnrunzelnd. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, strauchelte jedoch, als der Flur sich um sie zu drehen begann. Yikmo hielt sie fest, und sie spürte, wie ein wenig heilende Energie durch ihren Arm lief. Sobald sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, löste sie sich aus seinem Griff.

»Eines wüsste ich gern: Hast du zurückgeschlagen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Welchen Sinn hätte das gehabt?«

»Keinen, aber die meisten Menschen würden sich in einer solchen Situation schon aus Stolz zur Wehr setzen. Vielleicht hast du dich ja aus demselben Grund zurückgehalten.«

Er sah sie erwartungsvoll an, aber sie wandte den Blick ab und schwieg.

»Wenn du dir ein oder zwei der schwächeren Novizen vorgenommen hättest, wären sie jetzt vielleicht genauso erschöpft wie du. Das hätte auf die anderen zumindest abschreckend gewirkt.«

Sonea runzelte die Stirn. »Aber sie hatten keine inneren Schilde. Was wäre passiert, wenn ich einen von ihnen verletzt hätte?«

Er lächelte erfreut. »Das ist die Antwort, die ich hören wollte. Trotzdem denke ich, dass hinter deinem Widerstreben, sie deinerseits anzugreifen, mehr steckt als Vorsicht.«

Wut stieg in Sonea auf. Yikmo versuchte also wieder einmal, sie mit geschickten Bemerkungen dazu zu bringen, ihre Schwächen preiszugeben. Aber dies war keine Unterrichtsstunde. War es nicht schon demütigend genug, dass er sie in einer solchen Situation entdeckt hatte? Sie wollte, dass er sie endlich in Ruhe ließ, und nahm Zuflucht zu dem einen Thema, auf das die meisten Magier empfindlich reagierten.

»Wärt Ihr auch dann noch so erpicht aufs Kämpfen, wenn Ihr mit angesehen hättet, wie ein Junge unter den Händen von Magiern sterben musste?«

Sein Blick flackerte nicht, sondern wurde im Gegenteil noch eindringlicher. »Ah«, sagte er. »Das ist es also.«

Sonea starrte ihn entgeistert an. Würde er selbst die Tragödie der Säuberung in eine Unterrichtsstunde verwandeln? Ihr Zorn wuchs, und sie wusste, dass es ihr nicht mehr lange gelingen würde, sich zu beherrschen.

»Gute Nacht, Lord Yikmo«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann wandte sie sich ab und ging mit raschen Schritten den Flur hinunter.

»Sonea! Komm zurück.«

Sie beachtete ihn nicht. Er rief noch einmal nach ihr, und diesmal schwang in seiner Stimme Ärger mit. Sonea kämpfte gegen die Müdigkeit in ihren Beinen an und beschleunigte ihr Tempo.

Als sie den Hauptflur erreichte, verebbte ihr Zorn. Yikmo würde dafür sorgen, dass sie ihre Unhöflichkeit bedauerte, aber für den Augenblick war es ihr gleichgültig. Jetzt wollte sie nur noch ein warmes Bett und tagelang schlafen.

28 Ein geheimer Plan

Als sich die Tür öffnete, wurde Lorlen einen Moment lang von hellem Sonnenlicht geblendet. Er beschattete das Gesicht mit der Hand und folgte Akkarin hinaus auf das Dach der Universität.

»Wir haben Gesellschaft«, bemerkte Akkarin.

Lorlen, der seinem Blick gefolgt war, bemerkte nun ebenfalls den in rote Roben gewandeten Mann, der am Geländer stand.

»Lord Yikmo.« Lorlen runzelte die Stirn. »Balkan muss ihm Zutritt zum Dach gewährt haben.«

Akkarin schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Inzwischen reagiert die Tür auf so viele verschiedene Personen, dass ich mich frage, warum wir uns überhaupt noch die Mühe machen, sie verschlossen zu halten.«

Er ging auf den Krieger zu, und Lorlen eilte ihm nach. Er befürchtete, dass Akkarin die Absicht haben könnte, Yikmos Zutrittserlaubnis zum Dach rückgängig zu machen.

»Balkan hätte ihm keinen Zutritt gewährt, wenn er nicht eine hohe Meinung von ihm hätte.«

»Selbstverständlich. Unser Oberhaupt der Krieger weiß, dass seine Unterrichtsmethoden nicht für jeden Novizen geeignet sind. Ihm ist sicher klar, dass Yikmo die Aufmerksamkeit von seinen eigenen Schwächen ablenkt.«

Yikmo hatte sie nicht kommen hören. Der Krieger lehnte am Geländer und beobachtete etwas, das sich unten am Boden abspielte. Als Akkarin nur noch wenige Schritte entfernt war, richtete Yikmo sich hastig auf.

»Hoher Lord. Administrator.«

»Seid mir gegrüßt, Lord Yikmo«, erwiderte Akkarin glatt. »Ich habe Euch noch nie hier oben gesehen.«

Yikmo schüttelte den Kopf. »Ich komme nur selten hier herauf - nur wenn ich nachdenken muss. Ich hatte ganz vergessen, wie gut die Aussicht von hier oben ist.«

Lorlen blickte über das Geländer in den Garten hinunter, wo einige Novizen die Mittagspause verbrachten. Obwohl auf dem Boden noch Schnee lag, war in der Sonne bereits ein Anflug der kommenden Frühlingswärme zu spüren.

Auf einer der Gartenbänke entdeckte er eine vertraute Gestalt. Sonea saß dort, den Kopf über ein Buch gebeugt.

»Der Gegenstand meiner Überlegungen«, erklärte Yikmo.

»Macht sie Fortschritte?«, erkundigte sich Akkarin.

»Es geht nicht so schnell voran, wie ich gehofft hatte.« Yikmo seufzte. »Sie zögert noch immer, mit Magie zu kämpfen. Langsam verstehe ich auch, warum.«

»Tatsächlich?«

Yikmo lächelte schief. »Sie ist viel zu nett.«

»Wie das?«

»Sie zerbricht sich den Kopf darüber, dass sie jemanden verletzen könnte - selbst ihre Feinde.« Yikmo runzelte die Stirn und wandte sich dem Hohen Lord zu. »Gestern Abend habe ich Regin und einige andere Novizen dabei ertappt, wie sie Sonea quälten. Sie hatten sie an den Rand der Erschöpfung getrieben und benutzten Betäubungszauber.«

Lorlens Herz setzte einen Schlag aus. »Betäubungszauber«, zischte er.

»Ich habe sie an die Regeln der Gilde erinnert und auf ihre Zimmer geschickt.«

Yikmo sah den Hohen Lord erwartungsvoll an, aber Akkarin antwortete nicht. Er hatte den Blick gesenkt und musterte Sonea so eindringlich, dass Lorlen sich fragte, wie es möglich war, dass das Mädchen seine Aufmerksamkeit nicht spürte.

»Wie viele Novizen waren es?«, fragte er.

Yikmo dachte kurz nach. »Zwölf oder dreizehn. Die meisten von ihnen kenne ich. Ich kann Euch ihre Namen nennen.«

Akkarin schüttelte den Kopf. »Das wird nicht notwendig sein. Es ist nicht erforderlich, weitere Aufmerksamkeit auf den Zwischenfall zu lenken.« Er sah den Krieger an. »Ich danke Euch, dass Ihr mich darüber informiert habt, Yikmo.«

Yikmo hielt inne, als wollte er noch etwas sagen, dann nickte er jedoch und ging auf die Tür zu. Als der Krieger verschwunden war, blickte Akkarin wieder zu Sonea hinunter. Ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen.

»Zwölf oder dreizehn. Sie wird immer stärker. Ich erinnere mich an einen Novizen in meiner Klasse, dessen Potenzial mit der gleichen Geschwindigkeit zunahm.«

Lorlen musterte Akkarin forschend. Im hellen Sonnenlicht wirkte die bleiche Haut des Hohen Lords kränklich. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, aber sein Blick war so scharf wie eh und je.

»Wenn ich mich nicht irre, hast du genauso schnelle Fortschritte gemacht.«

»Ich habe mich oft gefragt, ob wir ebenso schnell vorangekommen wären, wenn wir nicht ständig versucht hätten, einander zu übertreffen.«

Lorlen zuckte die Achseln. »Vermutlich.«

»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hat uns die Rivalität gut getan.«

»Uns gut getan?« Lorlen lachte auf. »Dir mag es gut getan haben. Glaub mir, es hatte nichts Gutes, den zweiten Platz zu belegen. Neben dir hätte ich ebenso gut unsichtbar sein können - zumindest was die Damen betraf. Wenn ich gewusst hätte, dass wir beide einmal als Junggesellen enden würden, wäre ich nicht so eifersüchtig auf dich gewesen.«

»Eifersüchtig?« Akkarins Lächeln verblasste. Er wandte sich ab. »Nein. Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein.«

Die Worte kamen so leise, dass der Administrator sich fragte, ob er richtig gehört hatte. Lorlen öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Akkarin hatte die Hand gehoben, um auf den verfallenen Ausguck zu deuten.

»Welche Fortschritte machen Davins Pläne für den Ausguck?«

Seufzend richtete Lorlen seine Gedanken wieder auf die Belange der Gilde.


Am frühen Nachmittag hatten Dannyl und Tayend die letzten schäbigen Vororte Capias hinter sich gelassen. Sie hatten einige Diener vorausgeschickt, die Tayends Schwester, in deren Haus sie das erste Mal Station machen wollten, über ihren Besuch unterrichten sollten. Dannyl holte tief Luft und seufzte zufrieden.

»Es ist schön, wieder auf Reisen zu sein, nicht wahr?«, bemerkte Tayend.

Dannyl sah seinen Gefährten überrascht an. »Du freust dich darauf?«

»Ja. Warum sollte ich nicht?«

»Ich dachte, unsere letzte Unternehmung hätte dir die Lust am Reisen vergällt.«

Tayend zuckte die Achseln. »Wir haben einige unerfreuliche Erfahrungen gemacht, aber es war nicht alles schlecht. Außerdem bleiben wir diesmal innerhalb der Grenzen Elynes und auf festem Boden.«

»Es lässt sich gewiss irgendwo ein See oder ein Fluss finden, auf dem man ein Boot mieten kann, falls es dir an Abenteuern fehlen sollte.«

»Es wird schon abenteuerlich genug sein, in den Bibliotheken anderer Leute herumzuschnüffeln«, erwiderte Tayend entschieden. Dann trat ein nachdenklicher Ausdruck in seine Augen. »Welcher der Dems wohl die Bücher haben mag, auf die wir aus sind?«

»Falls überhaupt einer von ihnen sie hat.« Dannyl zuckte die Achseln. »Akkarin könnte auch einen Dem an einem ganz anderen Ort besucht haben. Wir wissen nicht, aus welchem Grund er in den Bergen war.«

»Aber wohin ist er als Nächstes gereist?« Tayend sah Dannyl an. »Das ist die Frage, die mich am meisten beschäftigt. Wir wissen, dass Akkarin in die Berge gegangen ist. Danach taucht sein Name in den städtischen Unterlagen nicht wieder auf. Ich bezweifle, dass es ihm gelungen ist, heimlich nach Capia zurückzukehren, und es hat mehrere Jahre gedauert, bevor er in die Gilde zurückgekehrt ist. Hat er all diese Zeit in den Bergen verbracht? Ist er am Gebirge entlanggereist, und wenn ja, in nördlicher oder südlicher Richtung? Oder lag sein Ziel jenseits der Berge?«

»Du meinst Sachaka?«

»Das würde einen Sinn ergeben. Das sachakanische Reich war nicht alt genug, um als altertümlich zu gelten, aber es besaß eine hoch entwickelte magische Gesellschaft - und Akkarin könnte Hinweise auf noch ältere Kulturen entdeckt haben.«

»In unseren Bibliotheken findet sich reichlich Material über Sachaka«, sagte Dannyl. »Aber ich bezweifle, dass es in dem Land selbst noch viel zu entdecken gibt. Was die Gilde nach dem Krieg nicht mitgenommen hat, hat sie zerstört.«

Tayend zog die Augenbrauen in die Höhe. »Das war aber nett von der Gilde.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Es waren andere Zeiten. Die Gilde hatte sich gerade erst formiert, und nach den Gräueln des Krieges waren die Magier fest entschlossen, einen weiteren Krieg zu verhindern. Wenn sie den Sachakanern gestattet hätten, ihre Kenntnisse der Magie zu bewahren, hätte es endlose Rachekriege zwischen den beiden Ländern gegeben.«

»Also haben sie verbrannte Erde hinterlassen, Ödland.«

»Zum Teil. Jenseits des Ödlands gibt es aber noch fruchtbare Erde, Bauernhöfe und Städte. Und natürlich Arvice, die Hauptstadt.«

Tayend runzelte die Stirn. »Glaubst du, dass Akkarin dorthin gegangen ist?«

»Wenn ja, dann habe ich niemals davon gehört.«

»Also, wenn er in Sachaka war, warum hat er diese Tatsache dann für sich behalten?« Tayend hielt inne und dachte nach. »Vielleicht hat er sich all diese Jahre in Sachaka aufgehalten und Nachforschungen angestellt, ohne irgendetwas zu entdecken, und es war ihm zu peinlich, das zuzugeben. Oder er hat sich die ganze Zeit über dem Müßiggang hingegeben und wollte das nicht eingestehen - oder er hat etwas getan, das die Gilde nicht gutheißen würde. Vielleicht hat er sich in eine junge Sachakanerin verliebt, sie geheiratet und ihr geschworen, niemals in seine Heimat zurückzukehren, nur dass sie dann gestorben ist oder ihn verlassen hat, und er…«

»Wir wollen es mit der Fantasie doch nicht übertreiben, oder, Tayend.«

Tayend grinste. »Vielleicht hat er sich ja auch in einen Knaben aus Sachaka verliebt, und sein Treiben wurde entdeckt, und man hat ihn des Landes verwiesen.«

»Es ist der Hohe Lord, von dem du sprichst, Tayend von Tremmelin«, sagte Dannyl streng.

»Findest du es anstößig, dass ich eine solche Möglichkeit in Betracht ziehe?« In der Stimme des Gelehrten schwang ein Hauch von Trotz mit.

Dannyl sah Tayend fest in die Augen. »Ich mag ein wenig in seiner Vergangenheit herumstöbern, um meine Forschungen voranzutreiben, Tayend, aber das bedeutet nicht, dass ich keinen Respekt vor dem Mann oder seiner Position hätte. Wenn Gerüchte ihn oder sein Amt in Verruf bringen sollten, würde ich dagegen einschreiten.«

»Ich verstehe.« Tayend war schlagartig ernst geworden.

»Aber wie dem auch sei«, sprach Dannyl weiter. »Was du da andeutest, ist unmöglich.«

Tayend lächelte hinterhältig. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Weil Akkarin ein mächtiger Magier ist. Die Sachakaner sollen ihn des Landes verwiesen haben? Ha! Unwahrscheinlich!«

Der Gelehrte kicherte und schüttelte den Kopf. Eine Weile blieb er still, dann runzelte er die Stirn. »Was würden wir tun, wenn wir erfahren sollten, dass Akkarin tatsächlich nach Sachaka gereist ist? Würden wir dann ebenfalls dorthin gehen?«

»Hmm.« Dannyl blickte sich um. Capia war hinter den gewellten Hügeln verschwunden. »Das hängt davon ab, wie lange ich brauche, um meinen Pflichten als Botschafter der Gilde gerecht zu werden.«

Vor einiger Zeit hatte Errend ihm stöhnend erzählt, dass er alle zwei Jahre das Land bereisen müsse. Dannyl hatte sofort vorgeschlagen, ihm diese Aufgabe abzunehmen, denn sie bot ihm eine ideale Möglichkeit, Capia zu verlassen und seine Nachforschungen fortzusetzen, ohne Verdacht zu erregen. Errend hatte sein Angebot begeistert angenommen.

Zu Dannyls Entsetzen hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Reise durch das ganze Land führen würde und dass er etliche Wochen an Orten würde verbringen müssen, an denen es keine privaten Bibliotheken gab. Außerdem war die Reise ursprünglich erst für den Sommer geplant gewesen. Dannyl hatte Errend überredet, einen früheren Termin festzusetzen, aber es war unmöglich, einzelne Etappen seiner Reise auszulassen.

»Also, was genau wirst du tun?«, fragte Tayend.

»Ich werde mich den Dems auf dem Lande vorstellen, Magier aufsuchen und magisches Potenzial bei den Kindern bestätigen, die der König in die Gilde schicken will. Ich hoffe, dass diese Dinge dich nicht allzu sehr langweilen werden.

Tayend zuckte die Achseln. »Ich bekomme die Gelegenheit, in privaten Bibliotheken herumzuschnüffeln. Das wiegt zehn Reisen auf. Außerdem kann ich meine Schwester besuchen.«

»Was für ein Mensch ist sie?«

Tayends Gesicht leuchtete auf. »Sie ist wunderbar. Ich denke, sie hat schon lange vor mir begriffen, dass ich ein ›Knabe‹ bin. Sie wird dir gefallen, denke ich, obwohl sie eine gewisse Neigung hat, direkt zur Sache zu kommen, eine Angewohnheit, die bisweilen ein wenig beunruhigend wirken kann.« Er deutete auf die Straße. »Siehst du diese Baumreihe auf dem Hügel vor uns? Von dort aus gelangt man direkt zu ihrem Anwesen. Lass uns ein wenig schneller reiten. Ich weiß nicht, wie es mit dir ist, aber ich habe Hunger!«

Als Tayend seinem Pferd die Sporen gab, wurde Dannyl bewusst, dass auch sein Magen knurrte. Er blickte zu den Bäumen hinüber, auf die Tayend ihn aufmerksam gemacht hatte, und trieb sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an.


Als Sonea nach ihrem abendlichen Unterricht in die Bibliothek zurückkehrte, fielen ihr die Schatten unter Tyas Augen auf.

»Habt Ihr gestern Abend noch sehr lange gearbeitet, Mylady?«

Die Bibliothekarin nickte. »Wenn diese Bücherlieferungen kommen, bleibt mir nichts anderes übrig. Tagsüber finde ich keine Zeit, sie einzusortieren.« Sie gähnte, dann lächelte sie. »Ich bin dir sehr danbkar, dass du hier geblieben bist, um mir zu helfen.«

Sonea zuckte die Achseln. »Sind diese Kisten ebenfalls für die Magierbibliothek bestimmt?«

»Ja. Aber es ist nichts Interessantes dabei. Nur zusätzliche Lehrbücher.«

Bepackt mit Kisten machten sie sich auf den Weg durch die Universität. Als Sonea Tya in die Magierbibliothek folgte, zog Lord Jullen die Augenbrauen in die Höhe.

»Ihr habt also eine Assistentin gefunden«, bemerkte er. »Ich dachte, Lorlen hätte Eure Anfrage abgelehnt.«

»Sonea hat mir aus freien Stücken ihre Hilfe angeboten.«

»Solltest du nicht eigentlich lernen, Sonea? Ich hätte gedacht, die Novizin des Hohen Lords hätte Wichtigeres zu tun, als Kisten zu schleppen.«

Sonea sah ihn mit betont ausdruckloser Miene an. »Wüsstet Ihr einen besseren Platz, an dem ich meine freie Zeit verbringen könnte, Mylord?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Solange es sich tatsächlich um freie Zeit handelt.« Er blickte zu Tya hinüber. »Ich mache Schluss für heute. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Lord Jullen«, erwiderte Tya.

Als der strenge Magier sie allein gelassen hatte, ging Tya auf den Lagerraum zu. Sonea kicherte.

»Ich glaube, er ist eifersüchtig.«

»Eifersüchtig?« Tya drehte sich um und runzelte die Stirn. »Worauf?«

»Ihr habt eine Assistentin. Und zwar keine Geringere als die Novizin des Hohen Lords.«

Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du hast eine hohe Meinung von dir.«

Sonea schnitt eine Grimasse. »Ich habe mir meinen Mentor nicht ausgesucht. Aber ich gehe jede Wette ein, dass Jullen ein wenig verstimmt darüber ist, dass Ihr eine willige Helferin gefunden habt.«

Tya presste die Lippen aufeinander, als versuche sie, ein Lächeln zu unterdrücken. »Dann komm. Wenn du nur herumstehst und große Reden schwingst, wirst du mir wohl kaum von Nutzen sein.«

Sonea folgte Tya in den Lagerraum, stellte die Kisten auf eine Truhe und machte sich daran, sie auszupacken. Sie widerstand der Versuchung, sich den Schrank mit alten Büchern und Karten näher anzusehen, und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Arbeit. Tya hielt mehrmals inne, um zu gähnen.

»Wie spät seid Ihr gestern Abend denn nun wirklich zu Bett gegangen?«, fragte Sonea.

»Zu spät«, gestand Tya.

»Warum überlasst Ihr diese Arbeit nicht einfach mir?«

Tya sah sie ungläubig an. »Du hast wirklich zu viel Energie, Sonea«, seufzte sie. »Ich sollte dich nicht allein hier zurücklassen - außerdem müsste ich dich einschließen und später zurückkommen, um dich wieder herauszulassen.«

Sonea zuckte die Achseln. »Ihr werdet mich schon nicht vergessen.« Sie blickte auf die Bücher hinab. »Beim Auspacken der Bücher kann ich Euch helfen, aber nicht beim Katalogisieren. Am besten geht Ihr wieder an Euren Platz zurück und beendet die Arbeit.«

Tya nickte. »Also gut. In einer Stunde bin ich wieder da, um dich herauszulassen.« Sie lächelte. »Danke, Sonea.«

Als Tyas Schritte sich entfernten, sah Sonea sich mit wachsender Erregung in der Bibliothek um. Staub hing in der Luft, gelblich gefärbt vom Schein ihrer Lichtkugel. Die Bücherregale erstreckten sich bis in die Dunkelheit hinein, als würden sie niemals ein Ende nehmen.

Lächelnd kehrte sie in das Lager zurück und packte die Lehrbücher so schnell wie möglich aus. Sie zählte die Minuten, denn ihr war bewusst, dass sie nur eine Stunde Zeit hatte. Sobald die Kisten ausgepackt waren, ließ sie sie stehen und wandte sich dem Schrank zu.

Sie untersuchte das Schloss sehr genau, sowohl mit den Augen als auch mit ihren Sinnen. Obwohl das nichtmagische Schloss nicht komplizierter war als die Schlösser, die sie in der Vergangenheit aufgebrochen hatte, wusste sie nicht, ob es möglich war, ein magisches Schloss zu manipulieren. Außerdem musste sie befürchten, dass man später feststellen konnte, wer sich daran zu schaffen gemacht hatte.

Als Cery ihr beigebracht hatte, wie man Schlösser aufbrach, hatte er ihr erklärt, dass sie immer zuerst nach einem anderen Weg suchen müsse. Manchmal gab es schnellere Methoden, ans Ziel zu kommen. Sie suchte nach Scharnieren an den Türen und fluchte leise, als sie sah, dass sie sich innen befanden.

Sie machte sich daran, die ganze Einheit zu untersuchen, wobei sie besonders auf die Ecken und Kanten achtete. Der Schrank war alt, aber stabil. Nachdenklich schürzte sie die Lippen, dann holte sie sich einen Hocker und stellte sich darauf, so dass sie von oben auf den Schrank blicken konnte. Auch dort konnte sie keine Schwächen entdecken. Seufzend stieg sie wieder hinunter.

Damit blieben noch die Rückwand und der Sockel. Um unter den Schrank zu blicken, würde sie ihn mit Magie anheben müssen. Obwohl sie sich von den Anstrengungen des vergangenen Abends genug erholt hatte, um den Unterrichtsstoff zu bewältigen, war sie sich nicht sicher, ob sie den Schrank anheben und in der Luft halten konnte. Interessierte die Karte sie wirklich so sehr?

Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete noch einmal den Schrank. Eine dünne Glasscheibe und ein wenig Draht waren alles, was zwischen ihr und einer möglichen Flucht vor Regin stand. Hilflos nagte sie an ihrer Unterlippe.

Dann fiel ihr plötzlich auf, dass an der Rückwand des Schrankes, die sie hinter den Büchern teilweise sehen konnte, etwas merkwürdig war. Sie konnte zwei Linien erkennen, zu gerade, als dass es sich um natürliche Risse im Holz hätte handeln können. Die Rückwand des Schrankes war offensichtlich nicht aus einem einzigen großen Holzbrett gemacht worden. Sie beugte sich ein wenig vor, um festzustellen, ob die Linien bis zur Unterseite des Schrankes hinunterreichten. Sie taten es nicht.

Sie trat auf die eine Seite des Schranks und spähte in die Lücke zwischen ihm und der Wand. Dann schuf sie eine winzige Lichtkugel, um den schmalen Spalt zu beleuchten, und machte eine eigenartige Entdeckung.

An der Wand hinter dem Schrank war ein Gegenstand befestigt, der etwa die Größe eines Lehrbuchs hatte, aber aus Holz gemacht war.

Sie trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und griff nach ihrer Magie, die sie um den Schrank herumwob, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass ihre Magie auf keinen Fall die des Schlosses berührte. Mit einem ganz sachten Befehl hob sie den Schrank hoch. Er taumelte ein wenig, als er sich vom Boden erhob. Mit konzentriert gerunzelter Stirn drehte sie ihn etwas von der Wand weg und setzte ihn dann vorsichtig wieder ab, wobei sie einige Faren aus ihren Netzen aufscheuchte.

Sonea stieß den Atem aus und bemerkte erst jetzt, dass ihr Herz wild hämmerte. Wenn jemand entdeckte, was sie getan hatte, würde sie noch lange dafür büßen müssen. Sie blickte durch die Glasscheibe und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass alle Bücher und Schriftrollen noch am selben Platz waren wie zuvor. Als Nächstes stellte sie fest, dass der Gegenstand hinter dem Schrank nur ein kleines Gemälde war. Dann sog sie überrascht den Atem ein.

In die Rückseite des Schranks hatte man ein kleines Rechteck gesägt. Sie schob die Fingernägel in die Ritze, und das rechteckige Holzstück glitt mühelos heraus. Dahinter sah sie die Enden zusammengerollter Papiere und einige Bücher.

Ihr Herz raste jetzt. Sie zögerte, denn sie hatte kein gutes Gefühl dabei, in den Schrank zu greifen. Irgendjemand hatte die Rückwand ausgeschnitten. Als der Schrank gemacht worden war? Oder später, damit der Betreffende unbemerkt etwas aus dem Schrank nehmen konnte? Soneas Sinne konnten keinen Schild über dem Loch wahrnehmen, ebenso wenig wie irgendwelche andere Magie. Sie schob die Hand hinein und zog vorsichtig eine der Schriftrollen heraus.

Es war ein Plan der Magierquartiere. Sie untersuchte ihn sehr genau, konnte aber keine verborgenen Tunnel entdecken, die dort eingezeichnet gewesen wären. Also legte sie den zusammengerollten Plan zurück und zog den nächsten heraus. Diesmal war es ein Plan der Novizenquartiere. Und auch dort gab es keine geheimen Tunnel.

Die dritte Rolle, die sie herauszog, zeigte eine Karte von der Universität, und Soneas Puls beschleunigte sich. Aber auch auf dieser Karte war nichts Rätselhaftes oder Ungewöhnliches eingezeichnet. Enttäuscht legte Sonea sie zurück und wollte gerade nach einer anderen greifen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte.

Zwischen den Seiten eines Buches ragte ein Streifen Papier heraus. Neugierig geworden, zog sie das Buch zwischen seinen Nachbarn hervor.

»Die Magiker der Weld«, las sie laut. Es war einer der frühen Texte, die im Geschichtsunterricht benutzt wurden. Unter dem Titel war in verblichener Tinte geschrieben: »Die Kopie des Hohen Lords«.

Ein Schauer überlief sie. Plötzlich hatte sie nur noch den einen Wunsch, das Buch an seinen Platz zurückzulegen, den Schrank wieder an die Wand zu schieben und so schnell wie möglich aus der Bibliothek fortzukommen. Sie holte tief Luft und drängte ihre Ängste beiseite. Die Bibliothek war verschlossen. Selbst wenn Jullen oder Tya zurückkamen, würde sie sie rechtzeitig hören können. Obwohl sie sich in diesem Fall würde beeilen müssen, konnte sie den Schrank wahrscheinlich an Ort und Stelle zurückbefördern, bevor irgendjemand den Lagerraum betrat.

Sie schlug das Buch an der Stelle auf, an der der Papierstreifen lag, überflog die Seiten und stellte fest, dass sie einen Teil des Textes kannte. Sie fand nichts Ungewöhnliches, was das Lesezeichen erklärt hätte. Achselzuckend legte sie es wieder in das Buch.

Dann stockte ihr plötzlich der Atem. Auf dem Papierstreifen waren drei winzige, von Hand gezeichnete Karten der Universität zu sehen - eine für jedes Stockwerk. Auf anderen Karten waren die Mauern dicke Linien, auf dieser jedoch waren sie hohl, und es waren Türen eingezeichnet, wo sich ihres Wissens keine befanden. Innerhalb der Mauern fanden sich außerdem rätselhafte kleine Kreuze. Die dritte Karte, die das Erdgeschoss darstellte, zeigte ein Spinnennetz von Tunneln außerhalb der Universitätsmauern.

Sie hatte sie gefunden! Eine Karte von den Tunneln unter der Universität. Oder genauer gesagt, eine Karte von Tunneln und echten Geheimgängen, die sich durch die ganze Universität zogen.

Die Karte in der Hand trat sie von dem Schrank zurück. Sollte sie sie mitnehmen, oder würde irgendjemand ihr Verschwinden bemerken? Vielleicht konnte sie sie kopieren. Wie viel Zeit blieb ihr noch? Konnte sie sich die Zeichnungen einprägen?

Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie nun ein kleines Symbol auf einer der inneren Mauern neben der Magierbibliothek. Dann wurde ihr klar, dass dies die Wand war, vor der sie gerade stand, und das Symbol war genau an der Stelle, an der …

Sonea drehte sich um und starrte das Gemälde an, das hinter dem Schrank hing. Warum hängte man ein Gemälde hinter einen Schrank? Sonea griff nach dem Rahmen, hob ihn an und schnappte nach Luft.

In der Wand hinter dem Bild befand sich ein rechteckiges Loch. Als sie hindurchspähte, konnte sie im Licht, das durch die Öffnung fiel, die gegenüberliegende steinerne Mauer erkennen.

Hastig ließ sie das Gemälde wieder sinken. Ihr Herz hämmerte. Dies war kein Zufall. Wer immer diese Öffnung angebracht hatte, hatte es getan, um den Schrank erreichen zu können.

Es könnte bereits vor Jahrhunderten geschehen sein. Oder es war erst vor kurzer Zeit geschehen. Als sie sich die Karte noch einmal ansah, wurde ihr klar, dass sie sich unmöglich alle Einzelheiten einprägen konnte, und jetzt, da sie wusste, dass irgendjemand möglicherweise Zutritt zu dem Schrank hatte und das Verschwinden des Plans bemerken könnte, wagte sie es nicht, ihn mitzunehmen. Aber sie konnte auch nicht mit leeren Händen gehen. Eine solche Chance würde sich ihr vielleicht nicht noch einmal bieten.

Sie lief zu Lord Jullens Schreibtisch und nahm sich einen dünnen Bogen Papier, eine Schreibfeder und sein Tintenfass. Dann legte sie das Papier über die Karte und begann zu zeichnen, so schnell sie konnte. Sie hatte das Gefühl, dass es viel zu lange dauerte, aber schließlich war sie fertig. Sie faltete die Kopie der Karte zusammen und schob sie in eine Tasche in ihrer Robe.

Erst dann hörte sie das leise Geräusch von Schritten, die sich der Bibliothek näherten. Mit einem gemurmelten Fluch säuberte sie hastig Jullens Schreibfeder und legte sie an ihren Platz zurück. Sie lief in den Lagerraum hinüber, schob die Karte wieder in das Buch und stellte den Band zurück. Sie hatte gerade das Stück Holz wieder an seine Stelle gedrückt, als sie hörte, dass die Schritte vor der Bibliothekstür innehielten. Mit einem Satz sprang sie von der Mauer weg und konzentrierte ihren Willen auf den Schrank.

Ganz ruhig. Sie holte tief Luft, hob den Schrank an und schob ihn zurück an die Wand.

Die Tür der Bibliothek fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss.

»Sonea?«

Sonea zitterte so heftig, dass sie ihrer Stimme nicht trauen konnte.

»Hm?«, antwortete sie.

Tya erschien in der Tür zum Lagerraum. »Bist du fertig?«

Sonea nickte und griff nach den leeren Kartons.

»Es tut mir Leid, dass ich so lange gebraucht habe.« Tya runzelte die Stirn. »Du wirkst ein wenig… beunruhigt.«

»Es ist ziemlich unheimlich hier drin«, gab Sonea zu.

Tya lächelte. »Ja, das stimmt. Aber dank deiner Hilfe ist alles erledigt, und wir können endlich schlafen gehen.«

Als Sonea Tya aus der Bibliothek folgte, legte sie eine Hand auf die Tasche, in der die Karte versteckt war, und lächelte.

29 Eine Enthüllung

Sonea holte tief Luft, bevor sie Yikmos Übungsraum betrat. Direkt hinter der Tür blieb sie stehen, den Blick zu Boden gerichtet.

»Mylord«, begann sie. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich Euch gestern Abend nicht gehorcht habe. Ihr habt mir geholfen, und ich war unhöflich.«

Yikmo schwieg einen Moment, dann kicherte er. »Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen, Sonea.«

Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass er lächelte. Er zeigte auf einen Stuhl, und sie nahm gehorsam Platz.

»Genau das ist meine Methode, und ich möchte, dass du das verstehst«, erklärte er. »Ich nehme Novizen, die mit den Kriegskünsten Schwierigkeiten haben, in meine Obhut und finde heraus, warum dem so ist. Von allen Novizen, die ich bisher unterrichtet habe, bist du jedoch die einzige, die meine Hilfe nicht freiwillig gesucht hat. Wenn den Novizen klar wird, dass ich persönliche Fragen ansprechen werde, die der Grund für ihre Probleme sein könnten, haben sie drei Möglichkeiten: Sie akzeptieren meine Unterrichtsmethode, suchen sich einen anderen Lehrer oder entscheiden sich für eine andere Disziplin. Aber du? Du bist nur deshalb hier, weil dein Mentor es wünscht.« Er sah sie direkt an. »Habe ich Recht?«

Sonea nickte.

»Es ist schwer, Gefallen an etwas zu finden, worin man nicht gut ist.« Der Magier betrachtete sie gelassen. »Möchtest du deine Fähigkeiten in dieser Disziplin verbessern, Sonea?«

Sie zuckte die Achseln. »Ja.«

Seine Augen wurden schmal. »Ich nehme an, das sagst du nur, weil du glaubst, du müsstest es sagen, Sonea. Ich werde mit deinem Mentor nicht über deine Antwort sprechen, wenn es das ist, wovor du Angst hast. Du wirst auch meine Achtung nicht verlieren, wenn du meine Frage verneinst. Denk noch einmal genau darüber nach. Möchtest du diese Kunst wirklich zu beherrschen lernen?«

Sonea dachte an Regin und seine Gefährten. Wenn Yikmos Unterricht ihr half, sich zu verteidigen … aber welchen Sinn hatten Geschick und Strategie, wenn sich so viele Novizen gegen sie verbündeten?

Gab es irgendeinen anderen Grund, warum sie ihre Leistungen in den Kriegskünsten verbessern wollte? Die Anerkennung des Hohen Lords kümmerte sie wenig - und selbst wenn sie das Niveau von Yikmo oder Balkan erreichte, würde sie niemals stark genug sein, um gegen Akkarin zu kämpfen.

Eines Tages würde die Gilde jedoch vielleicht die Wahrheit über den Hohen Lord erfahren. Dann wollte sie zur Stelle sein, um mit den anderen zu kämpfen. Wenn sie sich auf die Kriegskünste verstand, würde das die Chancen, Akkarin zu besiegen, jedenfalls vergrößern.

Sie straffte sich. Ja, das war ein guter Grund, um an ihren Fähigkeiten zu arbeiten. Der Unterricht in den Kriegskünsten machte ihr keinen Spaß, aber wenn sie dazu beitrugen, dass die Gilde eines Tages Akkarin bezwingen konnte, sollte sie lernen, so viel sie nur konnte.

Sie blickte zu Yikmo auf. »Wird mir Euer Fach besser gefallen, wenn ich Fortschritte mache?«

Der Krieger lächelte breit. »Ja. Das verspreche ich dir. Es wird allerdings auch Stunden geben, die dir weniger zusagen werden. Wir alle müssen von Zeit zu Zeit eine Niederlage erleiden, und ich kenne niemanden, dem das Spaß macht.« Er hielt inne, und seine Miene wurde wieder ernst. »Aber zuerst müssen wir uns schwierigeren Dingen zuwenden. Du hast viele Schwächen, die du überwinden musst, und die meisten deiner Probleme hängen mit dem zusammen, was du während der Säuberung erlebt hast. Die Angst, einen Menschen zu töten, ist der Grund für dein Widerstreben, im Kampf Magie einzusetzen, und da du weißt, dass du stärker bist als andere, bist du erst recht vorsichtig. Du musst lernen, dir selbst zu vertrauen. Du musst die Grenzen deiner Stärke und deiner Kontrolle kennen lernen - und ich habe einige Übungen für dich ausgearbeitet, die dir dabei helfen werden. Heute Nachmittag steht uns die Arena zur Verfügung.«

Sonea sah ihn überrascht an. »Die Arena?«

»Ja.«

»Nur für mich?«

»Du wirst ganz allein dort sein - mit deinem Lehrer natürlich.« Er machte einen Schritt auf die Tür zu. »Lass uns gehen.«

Sonea stand auf und folgte Yikmo aus dem Raum.

»Wird die Arena nicht ständig von anderen Klassen benutzt?«

»Ja«, erwiderte Yikmo. »Aber ich habe Balkan dazu überredet, seine Klasse heute Nachmittag anderweitig zu beschäftigen.« Er sah sie an und lächelte. »Ich habe ihn gebeten, sich etwas auszudenken, das Spaß macht und sie aus der Gilde hinausbringt, so dass sie es dir nicht übel nehmen, dass du sie aus der Arena verdrängst.«

»Was tun sie denn?«

Er kicherte. »Sie gehen in einen alten Steinbruch und sprengen Geröll aus dem Felsen.«

»Was werden sie dadurch lernen?«

»Das zerstörerische Potenzial ihrer Kräfte zu respektieren.« Er zuckte die Achseln. »Außerdem wird diese Übung ihnen vor Augen führen, welchen Schaden sie anzurichten imstande sind, sollten sie jemals außerhalb der Arena kämpfen.«

Als sie das Gebäude verließen und sich auf den Weg zur Arena machten, blickte Sonea zu den Fenstern der Universität hinauf. Obwohl sie dort niemanden entdecken konnte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass ihre »private« Unterrichtsstunde keineswegs privat sein würde.

Sie stiegen zum Portal der Arena hinunter, gingen einige Schritte durch die Dunkelheit und traten dann wieder ins Sonnenlicht hinaus.

Yikmo zeigte zum Heilerquartier hinüber. »Greif den Schild an.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich soll einfach… angreifen?«

»Ja.«

»Welche Art von Angriff soll ich anwenden?«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Irgendeine. Es spielt keine Rolle. Greif einfach an.«

Sonea holte tief Luft, konzentrierte sich und schleuderte einen Feuerzauber gegen den unsichtbaren Schild. Als der Zauber sein Ziel traf, kräuselten sich Hunderte von feinen Energiefäden zwischen den gewölbten Türmen der Arena. Ein gedämpftes Klirren vibrierte in der Luft.

»Schlag noch einmal zu, aber stärker.«

Diesmal bedeckten die Blitze den gesamten gewölbten Schild. Yikmo lächelte und nickte.

»Nicht schlecht. Jetzt gib all deine Kraft hinein.«

Magie flutete durch sie hindurch und strömte über die Grenzen ihres Körpers hinaus. Es war ein unglaubliches Gefühl. Der Schild knisterte, und Blitze zuckten umher. Yikmo lachte leise auf.

»Jetzt gib all deine Stärke hinein, Sonea.«

»Ich dachte, das hätte ich getan.«

»Ich denke nicht, dass du es getan hast. Stell dir vor, alles, was dir etwas bedeutet, hinge von einer einzigen gewaltigen Anstrengung ab. Halte nichts zurück.«

Nickend stellte sie sich vor, dass Akkarin vor dem Schild stünde. Sie stellte sich vor, Rothen sei an ihrer Seite und die Zielscheibe für Akkarins ungeheure Kraft.

Halte nichts zurück, befahl sie sich, während sie ihre Magie losließ.

Der Schild der Arena erstrahlte in einem so hellen Licht, dass Sonea kurz die Augen schließen musste. Obwohl das Klirren nicht lauter war als zuvor, vibrierte das Geräusch in ihren Ohren. Yikmo kicherte.

»Wir kommen der Sache näher! Jetzt mach es noch einmal.«

Sie sah ihn an. »Noch einmal?«

»Noch stärker, wenn du kannst.«

»Was ist mit dem Schild der Arena?«

Er lachte. »Es bedürfte schon einer weitaus größeren Magie, um den Schutzschild zu durchbrechen. Seit Hunderten von Jahren geben Magier ihre Stärke in diesen Schild. Ich erwarte, dass die Tragpfeiler bis zum Ende dieser Stunde rot glühen werden, Sonea. Mach weiter. Greif noch einmal an.«

Nach einigen weiteren Feuerzaubern stellte Sonea plötzlich fest, dass es ihr Spaß machte. Obwohl die Angriffe auf den Schild der Arena keine echte Herausforderung darstellten, tat es gut, ihre Magie freisetzen zu können, ohne sich zurückhalten zu müssen. Jeder ihrer Angriffe fiel jedoch ein wenig schwächer aus als der vorherige, und schon bald konnte sie nur noch dürftige Lichtrinnsale über den Schild schicken.

»Das genügt, Sonea. Ich möchte nicht, dass du in deinem nächsten Kurs einschläfst.« Er sah sie fragend an. »Wie hat dir diese Stunde gefallen?«

Sie lächelte. »Sie war nicht so anstrengend, wie Eure Stunden es sonst sind.«

»Hat es dir Spaß gemacht?«

»Ich glaube, ja.«

»In welcher Hinsicht?«

Sie runzelte die Stirn, dann musste sie ein Lächeln unterdrücken. »Es ist wie … wenn ich feststelle, wie schnell ich laufen kann.«

»Sonst noch etwas?«

Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie sich vorgestellt hatte, Akkarin zu Asche zu verbrennen. Aber er hatte ihr Zögern gespürt. Vielleicht sollte sie ihm etwas erzählen, das der Wahrheit möglichst nahe kam? Sie blickte zu ihm auf und lächelte schelmisch. »Es ist ein Gefühl, als werfe man Steine nach Magiern.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja?« Schließlich drehte er sich um und bedeutete ihr, ihm zum Portal der Arena zu folgen. »Wir haben heute deine Grenzen getestet, aber dieser Test sagt uns nichts darüber, wie du im Vergleich zu anderen abschneiden würdest. Das wird der nächste Schritt sein. Sobald du weißt, wie viel Energie du gefahrlos gegen einen anderen einsetzen kannst, solltest du dein Zögern, bevor du angreifst, überwinden.« Er hielt inne. »Es ist zwei Tage her, seit Regin dich erschöpft hat. Warst du gestern müde?«

»Ein wenig, am Morgen.«

Er nickte langsam. »Geh heute Abend früh zu Bett, wenn du kannst. Morgen wirst du deine ganze Kraft brauchen.«


»Also, was hältst du von meiner Schwester?«

Als Dannyl Tayends breites Grinsen sah, kicherte er. »Rothen würde sagen, sie nimmt kein Blatt vor den Mund.«

»Ha!«, erwiderte Tayend. »Das ist noch eine freundliche Formulierung.«

Mayrie von Porreni war ebenso reizlos, wie ihr Bruder gut aussehend war, obwohl beide schlank waren und von zierlichem Körperbau. Mayrie hatte eine direkte Art und einen verwegenen Sinn für Humor, die es einem leicht machten, sie zu mögen.

Auf dem Besitz, den ihr Mann verwaltete, wurden Pferde gezüchtet, Getreide und Gemüse angebaut und Weine gekeltert, die überall in den Verbündeten Ländern begehrt waren. Das Haus war ein weitläufiges, einstöckiges Gebäude, das von einer Veranda umgeben war. Nach dem Abendessen hatte Tayend eine Flasche Wein und Gläser genommen und Dannyl auf die Veranda geführt, wo einige Stühle bereitstanden.

»Also, wo ist Orrend, Mayries Mann?«, fragte Dannyl.

»In Capia«, sagte Tayend. »Mayrie ist die eigentliche Verwalterin hier. Orrend kommt nur alle paar Monate zu Besuch.« Er sah Dannyl an und senkte die Stimme. »Die beiden kommen nicht besonders gut miteinander aus. Vater hat sie damals mit jemandem verheiratet, den er für einen passenden Gatten hielt. Aber wie immer lag er mit seiner Einschätzung weit daneben.«

Dannyl nickte. Ihm war aufgefallen, dass Mayrie sich jedes Mal verkrampft hatte, wenn einer ihrer Gäste den Namen ihres Mannes erwähnte.

»Womit nicht gesagt sein soll, dass sie, wenn sie einen Mann ihrer eigenen Wahl geheiratet hätte, nicht einen noch größeren Fehler begangen hätte«, fügte Tayend hinzu. »Neuerdings gibt sie das sogar zu.« Er seufzte. »Ich warte immer noch auf den Tag, an dem Vater eine geziemend grauenhafte Ehefrau für mich auswählt.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Das wird er tun? Trotz allem?«

»Wahrscheinlich.« Der Gelehrte spielte mit seinem Glas, dann blickte er abrupt auf. »Ich habe dich noch nie danach gefragt, aber gibt es jemanden, der in Kyralia auf dich wartet?«

»Auf mich?« Dannyl schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Keine Dame? Keine Geliebte irgendwo?« Tayend schien überrascht zu sein. »Warum nicht?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich hatte nie die Zeit dazu. Es war immer zu viel zu tun.«

»Was zum Beispiel?«

»Meine Experimente.«

»Und?«

Dannyl lachte. »Ich weiß nicht. Wenn ich zurückdenke, frage ich mich, wie es mir gelungen ist, meine Zeit auszufüllen. Gewiss nicht, indem ich diese höfischen Zusammenkünfte besucht habe, die anscheinend eigens dazu gedacht sind, einen Ehemann oder eine Ehefrau zu finden. Diese Feste ziehen nicht die Art Frau an, an der ich interessiert wäre.«

»Was für eine Art Frau ist das denn, an der du Interesse hättest?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Dannyl. »Ich bin nie einer begegnet, die mich genügend interessiert hätte.«

»Aber was ist mit deiner Familie? Haben deine Eltern nicht versucht, eine passende Frau für dich zu finden?«

»Sie haben es einmal getan, vor etlichen Jahren.« Dannyl seufzte. »Sie war durchaus ein nettes Mädchen, und ich hatte die Absicht, sie zu heiraten, um meine Familie glücklich zu machen. Aber eines Tages habe ich dann beschlossen, dass ich es nicht tun könne, dass ich lieber allein und kinderlos bleiben würde, als eine Frau zu heiraten, die mir nichts bedeutet. Ich hatte einfach das Gefühl, dass es dem Mädchen gegenüber grausamer wäre, das zu tun, als die Heirat abzulehnen.«

Tayend hob die Augenbrauen. »Aber wie bist du aus der Sache herausgekommen? Ich dachte, in Kyralia würden die Väter die Ehen für ihre Kinder arrangieren.«

»Das tun sie auch.« Dannyl kicherte. »Aber es gehört zu den Vorrechten eines Magiers, eine arrangierte Ehe abzulehnen. Ich habe mich nicht von Anfang an dagegen gewehrt, aber es ist mir gelungen, einen Weg zu finden, meinen Vater umzustimmen. Ich wusste, dass das Mädchen einen anderen Mann bewunderte, deshalb habe ich dafür gesorgt, dass gewisse Dinge geschahen, die alle Beteiligten davon überzeugt haben, dass er die bessere Wahl für sie sei. Ich habe die Rolle des enttäuschten Verehrers gespielt und allen Leid getan. Sie ist recht glücklich geworden, wie ich höre, und hat seither fünf Kinder zur Welt gebracht.«

»Und dein Vater hat nicht versucht, eine andere Ehe für dich zu arrangieren?«

»Nein. Er fand wohl, dass er mich besser in Ruhe lassen sollte, jedenfalls solange ich nicht auf die Idee kam, eine niedrig geborene Dienstmagd zur Frau zu nehmen.«

Tayend seufzte. »Du bist zu beneiden. Mein Vater hat meine Partner nie akzeptiert. Zum Teil deshalb, weil ich sein einziger Sohn bin und er sich Sorgen macht, dass es nach mir keinen Erben geben wird. Aber vor allem missbilligt er meine … nun ja … meine Neigungen.«

Eine Weile saßen sie schweigend da und blickten auf die mondbeschienenen Felder. Plötzlich sog Tayend scharf die Luft ein. Er sprang von seinem Stuhl auf und lief ins Haus. Dannyl sah seinem Freund verwundert nach, entschied sich aber dagegen, ihm zu folgen.

Als er sich gerade noch ein Glas Wein einschenkte, kehrte Tayend zurück.

»Schau dir das an.«

Der Gelehrte legte Dannyl die Zeichnungen des Grabes auf den Schoß und hielt ihm dann ein großes Buch hin. Auf den Seiten des Buches war eine Karte der Verbündeten Länder und der angrenzenden Staaten zu sehen.

»Was ist daran so interessant?«, fragte Dannyl.

Tayend zeigte auf eine Reihe von Glyphen am oberen Rand der Zeichnung, die er im Grab der Weißen Tränen angefertigt hatte. »Hier steht etwas über einen Ort - den Ort, von dem die Frau kam.«

Er tippte mit dem Finger auf eine Glyphe: einen Halbmond und eine Hand, umgeben von einem Quadrat mit geschwungenen Ecken. »Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, aber es kam mir bekannt vor. Es hat eine Weile gedauert, bis mir wieder eingefallen ist, woran es mich erinnert. In der Großen Bibliothek haben wir ein Buch, das so alt ist, dass die Seiten zerfallen, wenn man nicht sehr vorsichtig damit umgeht. Das Buch hat vor vielen Jahrhunderten einem Magier namens Ralend von Kemori gehört, der vor der Einigung Elynes über einen Teil des Landes herrschte. Besucher verzeichneten Namen und Titel und den Zweck ihres Besuches in diesem Buch - obwohl die meisten Einträge von derselben Hand stammen, was den Verdacht nahe legt, dass ein Schreiber die Namen derer festgehalten hat, die selbst des Schreibens nicht mächtig waren. Auf einer Seite befindet sich ein Symbol, das diesem gleicht. Ich erinnere mich deshalb daran, weil es nicht von einer Feder stammt, sondern von einem Stempel. Und es war rot - verblasst, aber dennoch deutlich erkennbar. Daneben hatte der Schreiber die Worte: ›König von Charkan‹ notiert. Also ist es nicht unvernünftig zu denken, dass die Frau in dem Grab von demselben Ort stammte - die Glyphe hat große Ähnlichkeit mit dem Stempelabdruck. Aber wo liegt dieses Charkan?« Tayend lächelte breit und tippte auf die Karte. »Das ist ein alter Atlas, der Orrends Urgroßvater gehört hat. Sieh einmal genau hin.«

Dannyl nahm Tayend das Buch aus der Hand und beleuchtete es mit seiner Lichtkugel. Er brauchte nicht lange, um ein winziges Wort und eine Zeichnung direkt neben Tayends Finger zu entdecken.

»Shakan Dra«, las Dannyl laut vor.

»Wären dieser kleine Halbmond und die Hand nicht gewesen, wäre es mir vielleicht entgangen.«

Als Dannyl nun den Rest der Karte betrachtete, blinzelte er überrascht. »Das ist eine Karte von Sachaka.«

»Ja. Die Berge. Man kann es auf dieser Zeichnung nur schwer erkennen, aber ich würde zwanzig Goldmünzen darauf setzen, dass Shakan Dra in der Nähe der Grenze liegt. Dabei fällt mir unwillkürlich eine gewisse, nicht näher genannte Person ein, die vor einigen Jahren eine Reise in die Berge unternommen hat. Denkst du das Gleiche, was ich denke?«

Dannyl nickte. »Ja.«

»Ich vermute, dass wir ein neues Reiseziel haben.«

»Wir müssen trotzdem unserer geplanten Route folgen«, rief Dannyl ihm ins Gedächtnis. Der Gedanke, sich nach Sachaka zu begeben, behagte ihm nicht besonders. Eingedenk der Geschichte des Landes war durchaus zweifelhaft, ob die Einheimischen ihn willkommen heißen würden. »Außerdem gehört Sachaka nicht zu den Verbündeten Ländern.«

»Dieser Ort ist nicht weit von der Grenze entfernt. Nicht mehr als eine Tagesreise.«

»Ich weiß nicht, ob wir die Zeit erübrigen können.«

»Wir könnten unsere Rückkehr nach Capia ein klein wenig hinauszögern. Ich bezweifle, dass uns irgendjemand deswegen Fragen stellen würde.« Tayend ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

»Einige Tage könnten wir vielleicht herausschinden.« Dannyl musterte seinen Freund eingehend. »Aber würde dir eine solche Verzögerung wirklich nichts ausmachen?«

Tayend zuckte die Achseln. »Nein. Warum auch?«

»Gibt es niemanden, der auf deine Rückkehr wartet?«

»Nein. Es sei denn, du meinst Irand, den Bibliothekar. Er wird sich aber keine Sorgen machen, wenn ich einige Tage später als erwartet zurückkomme.«

»Sonst niemand?«

Tayend schüttelte den Kopf.

»Hmm.« Dannyl nickte. »Dann hast du also niemanden besonders ins Auge gefasst, wie du auf Bel Arralades Fest behauptet hast?«

Der Gelehrte blinzelte überrascht, dann sah er Dannyl von der Seite an. »Ich habe dich neugierig gemacht, wie? Was ist, wenn ich sagen würde, dass niemand auf meine Rückkehr wartet, weil die betreffende Person nichts von meinem Interesse weiß?«

Dannyl kicherte. »Dann bist du also ein heimlicher Bewunderer.«

»Vielleicht.«

»Mir kannst du dein Geheimnis anvertrauen, Tayend.«

»Ich weiß.«

»Ist es Velend?«

»Nein!« Tayend warf ihm einen tadelnden Blick zu.

Erleichtert zuckte Dannyl die Achseln. »Ich habe ihn einige Male in der Bibliothek gesehen.«

»Ich versuche, ihn zu entmutigen«, sagte Tayend und schnitt eine Grimasse, »aber er denkt, ich täte es nur deshalb, weil ich um deinetwillen den äußeren Schein wahren will.«

Dannyl zögerte. »Halte ich dich davon ab, um die Person zu werben, an der du interessiert bist?«

Zu seiner Überraschung zuckte Tayend leicht zusammen. »Nein. Diese Person ist, $ah…«

Sie hörten ein Geräusch und drehten sich um. Mayrie kam mit einer Laterne auf sie zu. Der Klang ihrer Schritte ließ vermuten, dass sie unter ihrem Kleid schwere Stiefel trug.

»Ich dachte mir doch, dass ich euch hier finden würde«, sagte sie. »Hätte einer von euch vielleicht Lust, mich auf einem Spaziergang durch den Weingarten zu begleiten?«

Dannyl erhob sich. »Es wäre mir eine Ehre.« Er sah Tayend erwartungsvoll an, wurde jedoch enttäuscht, als dieser den Kopf schüttelte.

»Ich habe zu viel getrunken, liebste Schwester. Ich fürchte, ich würde dir nur auf die Zehen treten oder der Länge nach in die Reben fallen.«

Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Dann bleib, wo du bist, Trunkenbold. Botschafter Dannyl wird einen passenderen Begleiter abgeben.« Sie hakte sich bei Dannyl unter und führte ihn zum Weingarten hinüber.

Sie legten etwa hundert Schritte schweigend zurück, dann begann Mayrie, Dannyl nach den Leuten zu fragen, die er bei Hof kennen gelernt hatte. Schließlich warf sie ihm einen abschätzenden Blick zu.

»Tayend hat mir viel von Euch erzählt«, sagte sie, »wenn auch nicht von Eurer Arbeit. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es sich um eine geheime Angelegenheit handelt.«

»Wahrscheinlich möchte er Euch einfach nicht langweilen«, erwiderte Dannyl.

Sie sah ihn von der Seite an. »Wenn Ihr das sagt. Alles andere hat Tayend mir jedoch erzählt. Ich hätte nicht gedacht, dass ein kyralischer Magier so… nun, es erstaunt mich ein wenig, dass ihr Freunde geblieben seid.«

»Es scheint, dass wir als ziemlich intolerant gelten.«

Sie zuckte die Achseln. »Aber Ihr seid eine Ausnahme. Tayend hat mir von den Gerüchten erzählt, die Euch während Eurer Novizenzeit solche Scherereien eingetragen haben. Dieses Ereignis ist wahrscheinlich der Grund, warum Ihr verständnisvoller seid als die meisten anderen Magier.« Sie hielt inne. »Ich hoffe, es macht Euch nichts aus, wenn ich darüber rede?«

Dannyl schüttelte den Kopf und hoffte, dass es ihm gelang, unbefangen zu erscheinen. Es bereitete ihm jedoch beträchtliches Unbehagen, jemanden, den er gerade erst kennen gelernt hatte, so sachlich über seine private Vergangenheit reden zu hören. Aber dies war Tayends Schwester, rief er sich ins Gedächtnis. Tayend hätte ihr diese Dinge nicht erzählt, wenn er sie nicht für vertrauenswürdig hielte.

Sie hatten inzwischen das Ende des Weingartens erreicht. Mayrie wandte sich nach links und kehrte entlang der letzten Reihe von Reben zum Haus zurück. Dannyl bemerkte, dass Tayend nicht mehr auf der Veranda saß. Mayrie blieb stehen.

»Als Tayends Schwester habe ich das starke Bedürfnis, ihn zu beschützen.« Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Gesichtsausdruck war plötzlich ernst geworden. »Wenn Ihr ihn wirklich als Freund betrachtet, seid vorsichtig. Ich habe den Verdacht, dass er vollkommen vernarrt in Euch ist, Dannyl.«

Dannyl blinzelte überrascht. In mich? Ich bin Tayends heimliche Liebe? Er blickte zu dem leeren Stuhl hinüber. Kein Wunder, dass Tayend seinen Fragen ausgewichen war. Er empfand eine seltsame Freude. Es ist schmeichelhaft, von jemandem bewundert zu werden, sagte er sich.

»Das überrascht Euch«, bemerkte Mayrie.

Dannyl nickte. »Ich hatte keine Ahnung. Seid Ihr Euch sicher?«

»Ziemlich sicher. Normalerweise hätte ich nicht mit Euch darüber gesprochen, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Verleitet ihn nicht dazu, Dinge über Euch zu denken, die nicht der Wahrheit entsprechen.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Habe ich das getan?«

»Nicht soweit ich das beurteilen kann.« Sie lächelte, aber in ihren Augen lag ein harter Ausdruck. »Wie gesagt, ich habe das starke Bedürfnis, meinen jüngeren Bruder zu beschützen. Ich wollte Euch nur warnen - und Euch eines wissen lassen: Falls mir zu Ohren kommen sollte, dass Ihr ihn in irgendeiner Weise verletzt, werdet Ihr Euren Aufenthalt in Elyne vielleicht weniger angenehm finden, als Ihr es gern hättet.«

Dannyl betrachtete sie eingehend. In ihrem Blick lag eine stählerne Schärfe, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie es ernst meinte.

»Was soll ich Eurer Meinung nach tun, Mayrie von Porreni?«

Ihre Miene entspannte sich, und sie klopfte ihm auf den Arm. »Nichts. Gebt einfach nur Acht. Mir gefällt, was ich bisher von Euch gesehen habe, Botschafter Dannyl.« Dann machte sie einen Schritt nach vorn und küsste ihn auf die Wange. »Wir sehen uns morgen beim Frühstück. Gute Nacht.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging zum Haus hinüber. Dannyl blickte ihr kopfschüttelnd nach. Offensichtlich hatte sie ihn eigens zu dem Zweck hierher geführt, ihm diese Warnung zukommen zu lassen.

Hatte Tayend den Besuch bei seiner Schwester vorgeschlagen, damit Mayrie eine Gelegenheit bekam, ihm das zu sagen? Hatte er geplant, dass seine Schwester ihm sein Geheimnis enthüllte?

»Er ist vollkommen vernarrt in Euch, Dannyl.«

Dannyl nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem Tayend zuvor gesessen hatte. Welchen Einfluss würde diese Enthüllung auf ihre Freundschaft haben? Er runzelte die Stirn. Wenn Tayend nicht wusste, dass seine Schwester Dannyl sein Interesse an ihm offenbart hatte, und wenn Dannyl sich weiter so benahm, als wüsste er nicht Bescheid, konnte alles beim Alten bleiben.

Aber ich weiß es, dachte er. Und dieses Wissen wird alles verändern.

Ihre Freundschaft hing davon ab, wie gut Dannyl mit dieser Neuigkeit fertig wurde. Er dachte über seine Gefühle nach. Er war überrascht, aber nicht entsetzt. Es freute ihn sogar ein wenig zu wissen, dass jemand ihn so sehr mochte.

Oder gefällt mir diese Vorstellung aus anderen Gründen?

Er schloss die Augen und schob den Gedanken beiseite. Er hatte sich diesen Fragen und ihren Konsequenzen schon einmal gestellt. Dannyl war ein Freund und konnte niemals etwas anderes sein.


Die Eingänge zu den geheimen Tunneln waren überraschend leicht zu finden. Die meisten lagen im inneren Teil der Universität, was durchaus einen Sinn ergab, da die Erbauer nicht gewollt haben konnten, dass Novizen sie zufällig entdeckten. Die Mechanismen zum Öffnen der Türen, die in den Holzpaneelen angebracht waren, lagen hinter Gemälden und anderen Verzierungen in den Wänden verborgen.

Gleich nach ihrem abendlichen Unterricht hatte Sonea sich auf die Suche danach gemacht, statt in die Bibliothek zu gehen. Die Flure waren ruhig, aber nicht vollkommen verlassen, weshalb sie zu dieser Zeit auch niemals auf Regin und seine Freunde traf. Sie zogen es vor zu warten, bis Sonea die Bibliothek verlassen hatte und sie sicher sein konnten, dass sich niemand mehr in der Universität aufhielt.

Trotzdem war sie sehr angespannt. Sie untersuchte mehrere der versteckten Türen, bevor sie den Mut aufbrachte, eine zu öffnen. Obwohl es spät war, bestand durchaus die Gefahr, dass sie beobachtet wurde. In einem wenig benutzten Teil der inneren Gänge wagte sie es schließlich, die Hebel hinter einem Gemälde umzulegen, das einen Magier mit Zeicheninstrumenten und einer Schriftrolle in Händen zeigte.

Das Paneel glitt lautlos nach innen, und kalte Luft strömte ihr entgegen. Auch in jener Nacht, als Fergun sie mit verbundenen Augen durch die Tunnel zu Cerys Gefängnis geführt hatte, hatte sie diese Veränderung der Temperatur wahrgenommen.

Hinter der Tür lag ein trockener, schmaler Gang. Sie hatte Feuchtigkeit erwartet, wie in den Tunneln unter der Stadt. Aber die Straße der Diebe befand sich in der Nähe des Flusses, während die Universität höher gelegen war - und natürlich konnte es im zweiten Obergeschoss keine Feuchtigkeit geben.

Da sie befürchtete, jemand könnte sie neben der geöffneten Tür stehen sehen, trat Sonea hastig hindurch. Als sie die Tür hinter sich zufallen ließ, tauchte sie den Tunnel damit in tiefe Dunkelheit. Einen Moment lang setzte ihr Herz aus, dann zuckte sie zusammen, als die Lichtkugel, die sie heraufbeschworen hatte, heller strahlte, als sie beabsichtigt hatte.

Bei der Untersuchung des Tunnels bemerkte sie, dass auf dem Boden eine dicke Staubschicht lag. In der Mitte war der Staub dünner, wo gelegentlich Menschen vorbeigegangen waren, aber ihre Stiefel hinterließen schwache Abdrücke, was bedeutete, dass seit einiger Zeit niemand mehr hier entlanggekommen war. All ihre Zweifel lösten sich in nichts auf. Sie würde niemandem sonst in den Tunneln begegnen; es stand ihr frei, sie nach Herzenslust zu erkunden. Ihre eigene Straße der Diebe.

Sie zog ihren Plan der Tunnel heraus und machte sich auf den Weg. Während sie weiterging, bemerkte sie noch andere Eingänge. Die geheimen Wege beschränkten sich auf die dickeren Mauern der Universität, daher waren sie in einem einfachen Muster angelegt, das man sich leicht einprägen konnte. Schon bald hatte sie das gesamte oberste Stockwerk des Gebäudes erkundet.

Sie hatte jedoch keine Treppen gesehen. Als sie ihre Karte noch einmal zu Rate zog, bemerkte sie die kleinen Kreuze hier und da. Sie ging zum Standort eines dieser Kreuze hinüber und untersuchte den Boden. Nachdem sie mit der Schuhspitze Staub beiseite gefegt hatte, legte sie einen Ritz frei.

Als Nächstes ging sie in die Hocke und schob den Staub mit leichten magischen Wischbewegungen beiseite. Wie sie vermutet hatte, erwies sich der Ritz als die Seite eines Vierecks - einer Klappe. Sie trat einen Schritt zurück, konzentrierte sich auf die Holzklappe und befahl ihr, sich zu heben.

Sie klappte auf und gab den Blick auf einen darunterliegenden Gang und eine Leiter an der Mauer frei, die hinunterführte. Zufrieden lächelnd stieg Sonea ein Stockwerk hinab.

Die Anlage der Gänge im ersten Obergeschoss war fast identisch mit der im zweiten Stock. Als Sonea sich alle Seitengänge angesehen hatte, entdeckte sie eine weitere Luke und stieg ins Erdgeschoss hinunter. Auch dort war die Wegführung ähnlich, obwohl es weniger Seitengänge gab. Hier fand sie jedoch Treppen, die noch weiter in die Tiefe hinabführten, unter die Erde.

Ihre Erregung wuchs, als sie feststellte, dass die Grundmauern der Universität durchsetzt waren von Tunneln und leeren Räumen, die auf der Karte des Erdgeschosses durch gestrichelte Linien gekennzeichnet wurden. Außerdem beschränkten sich die Tunnel keineswegs auf den Bereich unterhalb des Gebäudes, sondern führten über die Mauern hinaus unter die Gärten. Als Sonea sich in einem Gang von der Universität entfernte, bemerkte sie, dass der Tunnel leicht abschüssig war. Die Mauern bestanden jetzt aus Ziegelsteinen, und von der Decke hingen Wurzeln. Bei dem Gedanken an die Größe einiger der Bäume über ihr wurde ihr bewusst, dass sie sich tiefer unter der Erde befinden musste, als sie erwartet hatte.

Kurze Zeit später ging es nicht mehr weiter, weil die Decke des Tunnels eingestürzt war. Als sie umkehrte, überlegte sie, wie lange sie unterwegs sein mochte. Es war spät, sehr spät. Sie wollte Akkarin keinen Grund geben, sich auf die Suche nach ihr zu machen - oder schlimmer noch, ihr zu befehlen, direkt nach dem abendlichen Unterricht in die Residenz zurückzukehren.

Zufrieden mit ihrem Erfolg machte sie sich wieder auf den Weg hinauf in die Mauern der Universität, zu einer Stelle, wo die Gefahr, beim Verlassen der Geheimgänge gesehen zu werden, sehr gering war.

30 Eine beunruhigende Entdeckung

Als Tania die leeren Sumi-Tassen vom Tisch räumte, gähnte Rothen. Er nahm inzwischen nur noch kleinere Mengen des grauen Schlafpulvers Nemmin, aber das bedeutete, dass er häufig früh erwachte und die letzten Stunden der Nacht damit zubrachte zu grübeln.

»Ich habe heute Nachmittag noch einmal mit Viola gesprochen«, sagte Tania plötzlich. »Sie ist immer noch sehr herablassend - die anderen Diener meinen, sie hätte eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst entwickelt, seit sie für Sonea zuständig ist. Aber mir gegenüber ist sie ein wenig freundlicher, weil ich ihr erklären kann, wie sie sich beim Schützling des Hohen Lords beliebt machen kann.«

Rothen sah sie erwartungsvoll an. »Und?«

»Sie hat mir erzählt, dass es Sonea gut gehe, obwohl sie morgens manchmal müde wirke.«

Er nickte. »Das ist keine Überraschung bei all den zusätzlichen Unterrichtsstunden. Ich habe gehört, dass sie außerdem Lady Tya in der Bibliothek hilft.«

»Viola hat darüber hinaus erzählt, dass Sonea an den Ersttagen mit dem Hohen Lord zu Abend esse. Also vernachlässigt er sie vielleicht nicht so sehr, wie Ihr es befürchtet.«

»Sie essen zusammen zu Abend?« Bei dem Gedanken daran, dass Sonea mit dem Hohen Lord aß, verdüsterte sich Rothens Stimmung. Aber es könnte schlimmer sein, rief er sich ins Gedächtnis. Akkarin hätte sie grundsätzlich in seiner Nähe behalten können, er hätte … aber nein, Rothen wusste, wie halsstarrig sie sein konnte. Sie würde sich nicht von Akkarin in seine dunklen Machenschaften hineinziehen lassen. Trotzdem beschäftigte ihn die Frage, worüber die beiden wohl reden mochten.

Rothen!

Überrascht richtete Rothen sich auf seinem Stuhl auf.

Dorrien?

Vater, wie geht es dir?

Gut. Und dir?

Mir geht es gut, aber das Gleiche lässt sich von einigen Leuten hier in meinem Dorf leider nicht sagen. Rothen konnte die Besorgnis seines Sohnes spüren. Wir haben hier eine Epidemie der Schwarzzungenkrankheit in einer ungewöhnlichen Spielart der Seuche. Sobald die Epidemie vorbei ist, werde ich zu einem kurzen Besuch in die Gilde kommen, um Vinara eine Gewebeprobe zu bringen.

Werde ich dich sehen?

Natürlich. Ich würde die weite Reise sicher nicht unternehmen, ohne dich zu besuchen! Kann ich in meinem alten Zimmer wohnen?

Es steht jederzeit für dich bereit, das weißt du.

Danke. Wie geht es Sonea?

Gut, soweit ich von Tania weiß.

Du hast immer noch nicht mit ihr gesprochen?

Nicht oft, nein.

Ich dachte, sie würde jede Gelegenheit nutzen, um dich zu besuchen.

Sie hat alle Hände voll zu tun mit ihrem Studium. Wann wirst du kommen?

Genau kann ich das noch nicht sagen. Es könnte Wochen oder Monate dauern, bis die Seuche hier durchgezogen ist. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich mehr weiß.

In Ordnung. Zwei Besuche in einem Jahr!

Ich wünschte, ich könnte länger bleiben. Bis dann, Vater.

Pass auf dich auf.

Mach ich.

Als Dorriens Gedankenstimme verblasste, kicherte Tania leise. »Wie geht es Dorrien?«

Rothen blickte überrascht auf. »Gut. Woher wusstest du, dass er es war?«

Sie zuckte die Achseln. »Ihr habt einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck, wenn Ihr mit ihm sprecht.«

»Ach ja?« Rothen schüttelte den Kopf. »Du kennst mich viel zu gut, Tania. Viel zu gut.«

»Ja«, pflichtete sie ihm lächelnd bei. »Das tue ich.«

Es klopfte an der Tür, und Tania drehte sich um. Rothen machte eine knappe Handbewegung und befahl der Tür, sich zu öffnen. Zu seiner Überraschung war der Besucher Yaldin.

»Guten Abend«, sagte der alte Magier. Er blickte zu Tania hinüber, die sich verbeugte und aus dem Raum schlüpfte. Rothen deutete auf einen Stuhl, und Yaldin nahm mit einem erleichterten Seufzer Platz.

»Ich habe ein wenig ›gelauscht‹, wie Ihr es mich gelehrt habt«, erklärte Yaldin.

Plötzlich fiel Rothen wieder ein, dass heute Vierttag war. Er hatte die Zusammenkunft im Abendsaal völlig vergessen. Es wurde eindeutig Zeit, dass er aufhörte, Nemmin zu nehmen. Vielleicht würde er heute Abend versuchen, ohne die Droge zu schlafen.

»Habt Ihr irgendetwas Interessantes erfahren?«

Yaldin nickte mit ernster Miene. »Es sind wahrscheinlich nur Spekulationen. Ihr wisst ja, wie gern Magier tratschen - und Ihr habt eine besondere Gabe, Euch Novizen auszusuchen, die sich in Schwierigkeiten bringen. Aber ich frage mich, ob er es sich leisten kann, solche Gerüchte wieder aufleben zu lassen. Vor allem…«

»Wieder?«, unterbrach ihn Rothen. Bei Yaldins Worten hatte sein Herz zu hämmern begonnen. Jetzt bekam er kaum noch Luft. War etwas in der Vergangenheit geschehen, das Zweifel an Akkarins Integrität wecken konnte?

»Ja«, sagte Yaldin. »Am Hof von Elyne machen die wildesten Gerüchte die Runde - Ihr kennt die Elyner ja. Was wisst Ihr über diesen Assistenten, der Dannyl auf seinen Reisen begleitet?«

Rothen atmete tief durch. »Dann geht es also um Dannyl?« »Ja.« Yaldin zog die Brauen zusammen. »Ihr erinnert Euch doch an die Gerüchte, die sich mit der Natur seiner Freundschaft zu einem gewissen Novizen beschäftigten?«

Rothen nickte. »Natürlich - aber es wurde niemals irgendetwas bewiesen.«

»Nein, und die meisten von uns haben die Gerüchte mit einem Achselzucken abgetan und die ganze Angelegenheit vergessen. Aber wie Ihr vielleicht wisst, sind die Elyner toleranter, was dergleichen Benehmen betrifft. Nach allem, was ich gehört habe, ist Dannyls Assistent für seine Neigungen bekannt. Glücklicherweise vermuten die meisten Elyner bei Hof, dass Dannyl sich nicht über die Gewohnheiten seines Assistenten im Klaren ist. Anscheinend finden sie die ganze Angelegenheit recht komisch.«

»Ich verstehe.« Rothen schüttelte langsam den Kopf. Ah, Dannyl, dachte er. Habe ich nicht schon genug Sorgen wegen Sonea? Musst du mir auch noch schlaflose Nächte bescheren?

Aber vielleicht war diese Neuigkeit doch nicht so schlimm, wie er zuerst vermutet hatte. Wie Yaldin gesagt hatte, waren die Elyner sehr tolerant und liebten es überdies zu tratschen. Wenn die Elyner glaubten, Dannyl wisse nichts über die Vorlieben seines Assistenten, und wenn sie diese Unwissenheit lediglich erheiternd fanden, konnte es keine Beweise dafür geben, dass mehr hinter Dannyls Beziehung zu dem jungen Mann steckte.

Außerdem war Dannyl inzwischen erwachsen.

»Meint Ihr, wir sollten Dannyl warnen?«, fragte Yaldin. »Wenn er nichts über diesen Assistenten weiß …«

Rothen dachte über den Vorschlag des alten Magiers nach. »Ja. Ich werde ihm schreiben. Aber ich glaube nicht, dass wir uns allzu große Sorgen machen sollten. Er wird schon wissen, wie er mit den Elynern umgehen muss.«

»Aber was ist mit der Gilde?«

»Nichts außer der Zeit selbst wird den Gerüchten hier ein Ende machen, und weder Ihr noch ich - oder Dannyl - können daran etwas ändern.« Rothen seufzte. »Ich denke, diese Art von Spekulationen wird Dannyl sein Leben lang verfolgen. Solange es keine Beweise für irgendetwas gibt, werden diese Gerüchte von Mal zu Mal lächerlicher klingen.«

Yaldin nickte, dann gähnte er. »Ihr habt wahrscheinlich Recht.« Er stand auf und reckte sich. »Ich gehe jetzt zu Bett.«

»Dannyl wäre sehr stolz auf Eure Erfolge als Spion«, bemerkte Rothen lächelnd.

Yaldin zuckte die Achseln. »Es ist ganz einfach, sobald man erst einmal den Bogen heraus hat.« Er ging zur Tür. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Rothen erhob sich, schlenderte in sein Schlafzimmer hinüber und schlüpfte in sein Nachtgewand. Als er sich niederlegte, wandten sich seine Gedanken wieder den unvermeidlichen Fragen zu. Hatte er Recht? Würden diese Gerüchte über Dannyl schon bald wieder in Vergessenheit geraten?

Wahrscheinlich. Aber nur, wenn nichts bewiesen wurde.

Er mochte Dannyl besser kennen als irgendjemand sonst, aber es gab eine Seite an dem jungen Mann, zu der Rothen keinen Zugang hatte. Der Novize, den er seinerzeit unter seine Fittiche genommen hatte, war voller Selbstzweifel und Furcht gewesen. Rothen hatte respektvoll Abstand gewahrt, gewisse Themen gemieden und klar gemacht, dass er Dannyl keine Fragen bezüglich des Zwischenfalls mit dem anderen Novizen stellen würde. Er wusste, dass ein Mensch in einer solchen Situation - und erst recht ein junger Mensch - seine Privatsphäre brauchte.

Rothen seufzte und griff nach dem Krug mit Nemmin. Während er das Pulver mit Wasser vermischte, dachte er wehmütig an das vergangene Jahr. Wie war es möglich, dass sich binnen weniger kurzer Monate so viel verändert hatte? Wie sehr wünschte er sich, alle Dinge wären noch so, wie sie vor einem Jahr gewesen waren, bevor Dannyl nach Elyne aufgebrochen war und Sonea an der Universität angefangen hatte.

Er wappnete sich gegen den bitteren Geschmack, setzte das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug.


Als es an der Tür seines Büros klopfte, blickte Lorlen überrascht auf. Es kam nur selten vor, dass jemand ihn so spät noch störte. Er erhob sich, ging durch den Raum und öffnete die Tür.

»Hauptmann Barran«, rief er erstaunt. »Was führt Euch so spät noch in die Gilde?«

Der junge Mann verbeugte sich, dann lächelte er dünn. »Verzeiht mir den späten Besuch, Administrator. Ich bin erleichtert, Euch noch anzutreffen. Ihr habt gesagt, ich solle Euch verständigen, falls im Zusammenhang mit den Morden Hinweise auf Magie gefunden würden.«

Ein Stich der Furcht durchzuckte Lorlen. »Kommt herein und erzählt mir, was Ihr entdeckt habt.«

Barran folgte Lorlen in den Raum.

»Und nun berichtet mir, warum Ihr glaubt, dieser Mörder benutze Magie«, sagte er, nachdem sie Platz genommen hatten.

Barran schnitt eine Grimasse. »Die Brandwunden am Körper eines der Toten… Aber ich will Euch zuerst den Schauplatz beschreiben.« Er hielt inne, offensichtlich um sich die Einzelheiten noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. »Man hat uns den Mord vor etwa zwei Stunden gemeldet. Das Haus liegt im Westviertel, in einem der wohlhabenderen Wohngebiete - was eine Überraschung war. Wir haben keine Hinweise darauf gefunden, dass der Täter mit Gewalt ins Haus eingedrungen ist. Eines der Fenster stand jedoch weit offen. In einem Schlafzimmer fanden wir zwei Männer, einen jungen Mann und seinen Vater. Der Vater war tot und wies all die Spuren auf, die wir inzwischen mit diesem Mörder in Verbindung bringen: Die Handgelenke waren aufgeschnitten und umgeben von blutigen Fingerabdrücken. Der junge Mann lebte noch, stand aber bereits an der Schwelle des Todes. Er hatte die für einen magischen Angriff typischen Brandwunden auf Oberkörper und Armen, und sein Brustkorb war zerquetscht. Trotzdem konnten wir ihn noch befragen, bevor er starb.« Barrans Miene war angespannt. »Er sagte, der Mörder sei ein hoch gewachsener, dunkelhaariger Mann. Außerdem habe er schwarze, fremdartige Kleidung getragen.« Barran blickte zu Lorlens Lichtkugel empor. »Und eins von diesen Dingern sei im Raum umhergeschwebt. Als der junge Mann nach Hause kam, hörte er seinen Vater schreien. Überrascht, entdeckt worden zu sein, hat der Mörder den jungen Mann ohne zu zögern angegriffen und ist dann durchs Fenster geflüchtet.« Barran hielt inne und senkte den Blick. »Oh, und er trug einen …«

Als Lorlen den überraschten Gesichtsausdruck des Hauptmanns sah, senkte er ebenfalls den Blick. Dann stockte ihm der Atem, als ihm klar wurde, dass Akkarins Ring, der im Schein der Lichtkugel rot glitzerte, deutlich zu sehen war. Er dachte schnell nach, dann hob er die Hand und hielt sie Barran hin.

»Einen Ring wie diesen?«

Barran zog die Schultern hoch. »Das kann ich nicht genau sagen. Der junge Mann hatte keine Zeit, um das Schmuckstück in allen Einzelheiten zu beschreiben.« Er zögerte. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ihr diesen Ring schon früher getragen hättet, Administrator. Darf ich fragen, wo Ihr ihn herhabt?«

»Er war ein Geschenk«, antwortete Lorlen mit einem schiefen Lächeln. »Von einem Freund, der nicht über die Einzelheiten der Morde im Bilde war. Ich hatte das Gefühl, den Ring tragen zu müssen, und sei es auch nur für kurze Zeit.«

Barran nickte. »Ja, Rubine sind im Moment nicht gerade in Mode. Also, was werdet Ihr nun tun?«

Lorlen seufzte und dachte über die Situation nach. Jetzt, da derart offenkundige Hinweise auf Magie vorlagen, sollte er wohl die Höheren Magier davon in Kenntnis setzen. Aber wenn Akkarin der Mörder war und eine Untersuchung zu seiner Entlarvung führte, würde das genau die Art von Konfrontation mit Akkarin heraufbeschwören, die Lorlen fürchtete.

Wenn Lorlen andererseits versuchte, die Hinweise auf Magie zu unterdrücken und sich herausstellte, dass Akkarin nicht der Mörder war, würden noch weitere Menschen unter den Händen eines wilden Magiers sterben. Irgendwann würde man den Mörder finden, die Wahrheit würde ans Licht kommen, und die Menschen würden fragen, warum Lorlen nichts unternommen hatte …

Du musst selbst Nachforschungen anstellen.

Lorlen blinzelte überrascht. Akkarins Gedankenstimme war so leise wie ein Flüstern. Mit Mühe gelang es ihm, sich daran zu hindern, den Ring anzustarren.

Sag Barran, dass die Hinweise auf Magie geheim bleiben müssen. Wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass ein Magier zum Mörder geworden ist, würde das nur Panik und Misstrauen hervorrufen.

Lorlen nickte und sah zu Barran hinüber. »Ich werde mit meinen Kollegen darüber reden müssen. Für den Augenblick sorgt dafür, dass möglichst wenige Menschen davon erfahren, dass dieser Mörder Magie benutzt. Wir haben bessere Chancen, mit diesem Mann fertig zu werden, wenn die Öffentlichkeit nicht erfährt, dass er ein wilder Magier ist. Ich werde mich morgen wieder bei Euch melden.«

Barran nickte. Als Lorlen aufstand, folgte der junge Wachmann seinem Beispiel.

»Ich habe da noch eine Information, die Euch vielleicht interessieren wird«, sagte Barran.

»Ja?«

»Es heißt, die Diebe suchten ebenfalls nach diesem Mann. Wie es aussieht, gefällt es ihnen nicht besonders, dass ein Mörder hier sein Unwesen treibt, der nicht unter ihrer Kontrolle steht.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

Barran trat durch die Tür. »Vielen Dank, dass Ihr mich zu so später Stunde noch empfangen habt, Administrator.«

Lorlen zuckte die Achseln. »Ich gehe oft erst spät zu Bett. Obwohl ich bezweifle, dass ich nach der Nachricht, die Ihr mir überbracht habt, heute Nacht viel Schlaf finden werde. Trotzdem danke ich Euch, dass Ihr mich so schnell informiert habt.«

Der junge Wachmann lächelte, dann verbeugte er sich. »Gute Nacht, Administrator.«

Lorlen sah Barran nach und seufzte. Dann blickte er auf den Ring an seiner Hand hinab. Bist du der Mörder?, fragte er das Schmuckstück.

Er bekam keine Antwort.

31 Eine ungeplante Begegnung

Die Straße schlängelte sich durch die Vorhügel der Grauen Berge. Als Dannyl, Tayend und ihre Diener um eine Wegbiegung ritten, kam ein beeindruckendes Bauwerk in Sicht. Es erhob sich direkt vom Rand eines Felsvorsprungs. Winzige Fenster zogen sich entlang der Mauern, und eine schmale Steinbrücke führte zu einem schmucklosen Tor.

Dannyl und Tayend wechselten einen Blick. Tayends Miene sagte Dannyl, dass der Gelehrte das Gebäude ebenso wenig einladend fand wie er selbst. Er wandte sich zu den Dienern um.

»Hend, Krimen. Reitet voraus und stellt fest, ob Dem Ladeiri uns zu empfangen bereit ist.«

»Ja, Mylord«, erwiderte Hend. Die beiden Diener gaben ihren Pferden die Sporen und verschwanden hinter der nächsten Biegung der Straße.

»Das sieht nicht gerade freundlich aus«, murmelt Tayend.

»Nein«, stimmte Dannyl ihm zu. »Eher wie eine Festung denn wie ein Haus.«

»Es war früher einmal eine Festung«, erklärte Tayend. »Vor einigen Jahrhunderten.«

Dannyl zügelte sein Pferd zu einer langsameren Gangart. »Was kannst du mir über Dem Ladeiri erzählen?«

»Er ist alt. Ungefähr neunzig. Er hat einige Diener, lebt ansonsten aber allein.«

»Und er hat eine Bibliothek.«

»Eine recht berühmte sogar. Seine Familie hat im Laufe der letzten Jahrhunderte alle möglichen Kuriositäten gesammelt, einschließlich einiger Bücher.«

»Vielleicht werden wir hier etwas Nützliches finden.«

Tayend zuckte die Achseln. »Ich gehe davon aus, dass wir viele Dinge finden werden, die eigenartig sind, und nur wenige, die uns weiterhelfen. Bibliothekar Irand hat den Dem gekannt, als sie beide noch jung waren, und er beschreibt ihn als einen ›amüsanten Exzentriker‹.«

Während sie die Straße weiter entlangritten, versuchte Dannyl immer wieder, zwischen den Bäumen einen Blick auf das Gebäude zu erhaschen. Sie waren nun seit drei Wochen auf Reisen und hatten nie mehr als eine Nacht an irgendeinem Ort zugebracht. Überall hatte sich Dannyl den örtlichen Dems vorgestellt und ihre Kinder geprüft, was sich mehr und mehr als rechte Mühsal entpuppte. Außerdem hatte keine der Bibliotheken, die sie besucht hatten, irgendetwas enthüllt, was sie nicht schon wussten. Natürlich konnte es Akkarin ebenso ergangen sein. Seine Suche nach Kenntnissen über alte Magie hatte geendet, ohne dass er irgendwelche großen Entdeckungen vorzuweisen gehabt hätte.

Schließlich erschien vor ihnen die Brücke. Sie spannte sich über eine schwindelerregend tiefe Schlucht. An der Vorderfront des Gebäudes waren zwei große Holztore eingelassen, deren Scharniere so rostig waren, dass Dannyl sich fragte, wie sie den Zeiten und dem gewiss nicht geringen Gewicht der Torflügel bisher wohl hatten trotzen können.

Im Tor stand ein magerer, weißhaariger Mann, dessen Gewänder ihm viel zu groß waren.

»Seid mir gegrüßt, Botschafter Dannyl.« Die Stimme des alten Mannes war dünn und zittrig. Er verbeugte sich steif. »Willkommen in meinem Heim.«

Dannyl und Tayend stiegen aus dem Sattel und reichten ihren Dienern die Zügel. »Ich danke Euch, Dem Ladeiri«, erwiderte Dannyl. »Das hier ist Tayend von Tremmelin, ein Gelehrter der Großen Bibliothek.«

Der Dem musterte Tayend mit zusammengekniffenen, kurzsichtigen Augen. »Willkommen, junger Mann. Auch ich besitze eine Bibliothek, wie Ihr vielleicht wisst.«

»Ja, das habe ich gehört. Eine Bibliothek, die überall in Elyne berühmt ist«, erwiderte Tayend mit überzeugend geheucheltem Eifer. »Voller Denkwürdigkeiten. Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich sie mir gerne einmal ansehen.«

»Natürlich dürft Ihr das!«, rief der Dem. »Kommt herein.«

Sie folgten dem alten Mann in einen kleinen Innenhof und weiter durch eine verrostete Eisentür in eine Halle. Obwohl die Möbel luxuriös waren, hing in der Luft der Geruch von Staub.

»Iri!«, rief der alte Mann mit schriller Stimme. Schritte erklangen, und eine nicht mehr ganz junge Frau erschien in der Tür. »Bring meinen Gästen eine Erfrischung. Du findest uns in der Bibliothek.«

Die Augen der Frau weiteten sich, als sie Dannyls Robe sah. Dann verneigte sie sich hastig und zog sich zurück.

»Es ist nicht nötig, dass Ihr uns sofort in die Bibliothek bringt«, sagte Dannyl. »Wir wollen Euch keine Unannehmlichkeiten verursachen.«

Der Dem hob abwehrend die Hand. »Das ist keine Unannehmlichkeit. Ich war ohnehin gerade in der Bibliothek, als Eure Diener eintrafen.«

Sie folgten dem alten Mann durch einen Flur und eine lange Wendeltreppe hinab, die aussah, als sei sie aus dem Felsen herausgehauen worden. Der letzte Teil der Treppe bestand aus stabilem Holz und führte mitten in einen riesigen Raum.

Dannyl lächelte, als er Tayend aufkeuchen hörte. Offensichtlich hatte der Gelehrte nicht damit gerechnet, eine so beeindruckende Bibliothek vorzufinden.

Mehrere Regalreihen zogen sich durch den Raum. Darauf befanden sich ausgestopfte Tiere, Flaschen mit Konservierungsflüssigkeit, die Organe und ganze Kreaturen enthielten, Schnitzereien aus allen möglichen Materialien, eigenartige Gerätschaften, Steine und Kristalle, sowie ungezählte Schriftrollen, Tafeln und Bücher. Hier und dort standen riesige Skulpturen, bei deren Anblick Dannyl sich fragte, wie man sie die Treppe hinunterbekommen oder überhaupt durch die Berge transportiert haben mochte. An den Wänden hingen Sternenkarten und andere rätselhafte Diagramme.

Zu erstaunt, um zu sprechen, folgten sie dem Dem an all diesen Wundern vorbei. Als er sie in einen Gang zwischen den Regalen mit Büchern führte, musterte Tayend die kleinen Schilder, die an jedem Regal befestigt waren. Darauf standen Themen und Zahlen zu lesen.

»Welchem Zweck dienen diese Zahlen?«, wollte der Gelehrte wissen.

Der Dem drehte sich zu ihm um und lächelte. »Ein Katalogisierungssystem. Jedes Buch hat eine Nummer, und all diese Nummern habe ich auf Papier festgehalten.«

»So ein ausgeklügeltes System haben wir in der Großen Bibliothek nicht. Wir sortieren die Bücher lediglich nach Themen … so gut, wie wir es eben vermögen. Wie lange benutzt Ihr dieses System schon?«

Der alte Mann sah Tayend von der Seite an. »Mein Großvater hat es erfunden.«

»Habt Ihr der Großen Bibliothek jemals den Vorschlag gemacht, es zu übernehmen?«

»Mehrfach. Irand konnte keinen Nutzen darin entdecken.«

»Ach, tatsächlich.« Tayend wirkte erheitert. »Ich würde liebend gerne einmal sehen, wie es funktioniert.«

»Das werdet Ihr auch«, erwiderte der alte Mann. »Da es genau das ist, was ich Euch jetzt zeigen werde.«

Sie wandten sich von den Regalen ab und kamen zu einem großen Schreibtisch, der umgeben war von mehreren hölzernen Truhen.

»Nun, gibt es ein spezielles Thema, über das Ihr gerne Nachforschungen anstellen würdet?«

»Habt Ihr Bücher über alte magische Praktiken?«, fragte Tayend.

Der alte Mann zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ja. Aber könnt Ihr Euch vielleicht noch genauer ausdrücken?«

Dannyl und Tayend tauschten einen Blick.

»Irgendetwas, das mit dem König von Charkan zu tun hat oder mit Shakan Dra.«

Die Augenbrauen des Dem zuckten noch höher hinauf. »Ich werde nachsehen.«

Er drehte sich um und öffnete eine Schublade, in der sich mehrere Reihen von Karten befanden. Nachdem er die Karten kurz durchgeblättert hatte, zog er eine Nummer heraus, ging in eine andere Abteilung der Bibliothek und strich mit dem Finger über die Buchrücken.

»Da ist es.« Er nahm das Buch heraus und reichte es Tayend.

»Das ist eine Geschichte von Ralend von Kemori.«

»In dem Buch muss sich ein Hinweis auf den König von Charkan finden, sonst hätten meine Karten mich nicht hierher geführt«, versicherte ihm der Dem. »Und nun folgt mir. Ich glaube, wir haben auch einige Artefakte aus dieser Zeit hier.«

Sie begleiteten den Dem aus der Bücherabteilung heraus in einen Teil des Raums, in dem mehrere Reihen von Kommoden standen. Auch diese waren nummeriert. Der alte Mann zog eine Schublade heraus und stellte sie auf einen Tisch in der Nähe. Als er hineinspähte, stieß er einen leisen Ausruf aus.

»Ah! Hier sind wir richtig. Das hier hat man mir vor fünf Jahren geschickt. Ich erinnere mich noch, gedacht zu haben, dass Euer Hoher Lord es gern gesehen hätte.«

Wieder tauschten Tayend und Dannyl einen Blick.

»Akkarin?«, fragte Dannyl und betrachtete den Karton. Er enthielt einen silbernen Ring. »Warum sollte ihn dieser Ring interessieren?«

»Weil er vor vielen Jahren zu mir kam, auf der Suche nach Informationen über den König von Charkan. Damals hat er mir dieses Symbol gezeigt.« Der Dem hielt den Ring in die Höhe. In das Schmuckstück war ein dunkelroter Edelstein eingelassen, und in den Stein war neben einer grob gezeichneten Hand ein Halbmond eingeritzt. »Aber als ich ihm in einem Brief von meiner Entdeckung erzählte, schrieb er mir zurück, dass er mich aufgrund seiner neuen Position nicht besuchen könne.«

Dannyl nahm den Ring entgegen und unterzog ihn einer eingehenden Betrachtung.

»Die Person, die ihn mir geschickt hat, meinte, dass es eine Legende zu dem Ring gäbe: Angeblich können Magier mit seiner Hilfe miteinander in Verbindung treten, ohne befürchten zu müssen, dass sie belauscht werden«, fügte der Dem hinzu.

»Wirklich? Wer war denn dieser großzügige Spender?«

»Das weiß ich nicht. Er - oder sie - hat keinen Namen angegeben.« Der Dem zuckte die Achseln. »Manchmal wollen die Leute nicht, dass ihre Familien es erfahren, wenn sie etwas Wertvolles weggeben. Außerdem ist es kein echter Edelstein. Es ist nur Glas.«

»Probier ihn aus«, drängte eine Stimme dicht hinter Dannyl.

Dannyl sah Tayend überrascht an. Der Gelehrte grinste. »Nur zu!«

»Ich müsste Verbindung zu einem anderen Magier aufnehmen«, erklärte Dannyl, während er sich den Ring an den Finger steckte. »Und ich müsste einen dritten Magier bitten, zu überprüfen, ob er unser Gespräch belauschen kann.«

Dannyl blickte auf den Ring hinab. Er spürte nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass etwas Magisches im Gange war.

»Er sendet keinerlei Schwingungen aus.« Er nahm den Ring vom Finger und gab ihn dem Dem zurück. »Vielleicht hat er früher einmal magische Fähigkeiten besessen, sie aber im Laufe der Zeit verloren.«

Der alte Mann nickte. »Das Buch wird Euch vielleicht eher weiterhelfen. Hier drüben stehen einige Stühle zum Lesen«, sagte er und deutete auf die andere Seite des Raums. Als sie die Stühle erreichten, erschien die Frau, die sie bei ihrer Ankunft gesehen hatten. Sie trug ein Tablett mit Essschüsseln. Eine andere folgte ihr mit Gläsern und einer Flasche Wein. Tayend nahm Platz und begann, die Geschichte von Ralend von Kemori durchzublättern.

»›Der König von Charkan sprach von seinem Weg‹«, las er. »›Er kam über die Berge und machte Halt in Armje, der Stadt des Mondes, um Geschenke zu entbieten.‹« Tayend blickte auf. »Armje. Diesen Namen habe ich schon einmal gehört.«

»Die Stadt ist heute nur noch eine Ruine«, sagte der Dem, während er an einem wohlschmeckenden Brötchen kaute. »Nicht weit von hier. In jüngeren Tagen bin ich häufig dort hinaufgestiegen.«

Während der Dem nun voller Begeisterung von den Ruinen erzählte, sah Dannyl, dass Tayend nicht zuhörte. Der Blick des Gelehrten wurde schärfer, als er in dem Buch weiterlas. Da Dannyl diesen Blick kannte, lächelte er. Die Bibliothek des Dems hatte sich also doch nicht als Zeitverschwendung erwiesen.


In den zwei Wochen, seit sie das erste Mal die geheimen Gänge betreten hatte, war Sonea nicht ein einziges Mal auf Regin getroffen. Obwohl sie hoffte, dass die Entdeckung durch Lord Yikmo Regins Verbündete verschreckt hatte, wagte sie es doch nicht, daran zu glauben.

Sie hatte nichts gehört, was darauf schließen ließ, dass die Novizen bestraft worden wären. Yikmo hatte den Zwischenfall nicht wieder zur Sprache gebracht, und niemand sonst schien davon zu wissen. Daher vermutete sie, dass der Krieger ihre Bitte, Stillschweigen zu bewahren, respektiert hatte. Unglücklicherweise bedeutete das, dass Regins Verbündete nun erst recht davon überzeugt sein mussten, sie ungestraft schikanieren zu können.

Da Regin ihr stets irgendwo im ersten Stock aufgelauert hatte, wo die Bibliothek lag, verließ sie die Geheimgänge grundsätzlich nur im Erdgeschoss. Am vergangenen Abend hatte sie den ersten Hinweis darauf gefunden, dass Regin ihr Vorgehen durchschaute. Als sie im Erdgeschoss auf den Hauptflur hinausgetreten war, hatte sie am anderen Ende des Gangs einen Novizen stehen sehen, und wenige Schritte später war sie in der Eingangshalle einem der älteren Jungen begegnet. Obwohl er es nicht gewagt hatte, sie anzugreifen, hatte sein selbstgefälliges Lächeln Bände gesprochen.

Heute Abend hatte sie die Geheimgänge daher im zweiten Stock verlassen. Bemüht, beim Gehen möglichst kein Geräusch zu machen, bewegte sie sich vorsichtig auf den Hauptflur zu.

Wenn sie Regin und seinen Freunden begegnete, konnte sie immer noch weglaufen und zurück in die Geheimgänge fliehen. Jedenfalls wenn sie sie nicht stellten, bevor sie einen Eingang erreichte, und wenn sie einen der Zugänge benutzen konnte, ohne dass die anderen sie dabei beobachteten.

Als sie um eine Ecke bog, sah sie an der nächsten Biegung eine braune Robe aufblitzen, und sie ließ mutlos die Schultern sinken. Als sie zurückwich, hörte sie ein Flüstern und Schritte aus der Richtung, aus der sie gekommen war. Sie rannte in einen Seitengang, wo sie mit einem Novizen zusammenprallte. Ein Angriffszauber traf ihren Schild, aber der Junge war allein, und sie konnte ihn mühelos beiseite schieben.

Kurz darauf stieß sie auf zwei weitere Novizen. Sie versuchten, ihr den Weg zu versperren, gaben es jedoch gleich wieder auf. An der Tür zu einem Portalraum wurde sie abermals aufgehalten, als vier Novizen auf sie zutraten, um gegen sie zu kämpfen. Sie schob sich an ihnen vorbei und belegte die Tür mit einem magischen Schloss.

Du musst sie voneinander trennen, dachte sie. Diese Taktik würde Yikmo gefallen.

Im inneren Gangsystem eilte sie auf den nächsten Portalraum zu. Als er in Sicht kam, gab sie der Tür den Befehl, sich zu öffnen und wieder zu schließen, und lief dann hastig zurück.

Immer noch allein, dachte sie. Um sich möglichst geräuschlos bewegen zu können, verlangsamte sie ihre Schritte, wählte einen Umweg zu ihrem Ziel und erreichte schließlich einen Zugang zu den Geheimgängen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand sie beobachtete, schob sie die Hand unter ein Gemälde und tastete nach dem Hebel.

»Sie ist dort entlanggelaufen«, rief eine Stimme.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie riss den Hebel herunter, stolperte durch die Öffnung und drückte die Tür hinter sich zu.

Umgeben von Dunkelheit, spähte sie schwer atmend durch das Guckloch. Auf der anderen Seite sah sie mehrere Novizen vorbeigehen. Sie zählte sie, und Übelkeit stieg in ihr auf. Zwanzig Novizen.

Aber sie war ihnen ausgewichen. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, und ihre Atmung wurde ruhiger. Ein warmer Lufthauch strich ihr über den Hals.

Sonea runzelte die Stirn. Warme Luft?

Dann hörte sie es, ein Geräusch, das zuvor von ihrer eigenen Atmung übertönt worden war. Sie fuhr herum, beschwor ein Licht herauf… und erstickte einen Angstschrei.

Dunkle Augen schienen sie zu durchbohren. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und das Incal glitzerte golden auf dem Schwarz seiner Robe. Er sah sie mit finsterer Miene an.

Sonea schluckte und wollte zur Seite ausweichen, aber ein Arm versperrte ihr den Weg.

»Hinaus«, knurrte er.

Sie zögerte. Konnte er die Novizen hören? Begriff er, dass sie in eine Falle laufen würde?

»Sofort!«, fuhr er sie an. »Und wag es nicht, diese Gänge noch einmal zu betreten.«

Sie drehte sich um und befingerte mit zitternden Händen das Schloss. Sie warf einen kurzen Blick durch das Guckloch und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass der Flur auf der anderen Seite verlassen war. Als sie hinausstolperte, fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und kalte Luft strich ihr über den Nacken.

Mehrere Herzschläge lang stand sie einfach nur zitternd da. Dann dachte sie daran, dass Akkarin sie durch das Guckloch beobachten konnte, und zwang sich weiterzugehen. Als sie um eine Ecke bog, wandten sich zwanzig Augenpaare überrascht in ihre Richtung.

»Wir haben sie gefunden!«, rief jemand triumphierend.

Sonea riss einen Schild hoch, um die ersten Schläge abzuwehren. Während Regin seinen Gefährten zuschrie, dass sie sie umzingeln und ihr den Fluchtweg abschneiden sollten, drehte Sonea sich bereits um und rannte los.

Als sie an der verborgenen Tür vorbeikam, wich ihr Entsetzen einem heißen Zorn.

Warum hält er sie nicht auf? Ist das meine Strafe dafür, dass ich an Orte gegangen bin, an denen ich nichts zu suchen hatte? Schlitternd kam sie zum Stehen, als einige Novizen aus einem Seitengang auf sie zustürmten. Sie errichtete einen Schild, um sie aufzuhalten, und lief auf den einzigen anderen Ausgang zu.

Doch auch hier lauerten einige Novizen auf sie. Sie saß in der Falle und konnte nur noch warten, während ihre Widersacher ihre Kräfte erschöpften. Da es so viele waren, dauerte es diesmal nicht lange. Als ihr Schild ins Wanken geriet, trat Regin mit einem breiten Lächeln vor sie hin. Er hielt eine kleine Flasche mit einer dunklen Flüssigkeit in der Hand. Auf sein Zeichen brach der Angriff ab.

»Süße Sonea«, sagte er und sandte einen Energieblitz gegen ihren Schild. »Wie mein Herz hüpft, wenn ich dich sehe.« Ein weiterer Angriff folgte. »Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind.« Ihr Schild drohte, in sich zusammenzubrechen, aber irgendwoher nahm sie noch einmal neue Kraft. »Das ist schade, nicht wahr?« Sein nächster Angriff durchbrach ihren Schild sofort. Sie wappnete sich gegen die Betäubungszauber, die nun kommen mussten.

»Ich habe ein Geschenk für dich«, fuhr Regin fort. »Ein Parfüm von der exotischsten Art.« Er zog den Korken aus der Flasche. »Igitt! Welch süßer Duft. Möchtest du ihn mal probieren?«

Selbst aus der Entfernung von einigen Schritten erkannte sie den Geruch. Ihre Klasse hatte für ein Medizinprojekt Öl aus den Blättern des Kreppa-Busches extrahiert. Der dabei zurückbleibende Blattsaft roch wie verfaulende Vegetation und verursachte brennende Blasen.

Regin wedelte sorglos mit der geöffneten Flasche vor ihrem Gesicht. »Aber ein winziges Fläschchen wäre ein zu geringes Zeichen meiner Wertschätzung. Sieh nur, ich habe noch mehr mitgebracht!«

Jetzt tauchten auch in den Händen der anderen Novizen Flaschen auf. Sie öffneten sie zaghaft, und der Übelkeit erregende Gestank erfüllte den Flur.

»Morgen wird uns der süße Duft deines Parfüms verraten, wo du dich gerade aufhältst.« Regin nickte den anderen zu. »Jetzt!«, rief er.

Etliche Hände schnellten vor und schleuderten ihr den abscheulichen Saft entgegen. Sie riss die Arme hoch, schloss die Augen und brachte es fertig, irgendwoher ein letztes Aufwallen von Kraft zu nehmen.

Keine Flüssigkeit berührte ihre Haut. Nichts. Sie hörte einen Novizen husten, dann einen anderen, dann hallten plötzlich Flüche und Schreie im Flur wider. Als sie die Augen öffnete, blinzelte sie erstaunt. Die Wände, die Decke und die Novizen waren besprenkelt mit feinen, braunen Tröpfchen. Die Novizen wischten sich verzweifelt Hände und Gesicht ab. Einige spuckten aus. Andere rieben sich die Augen, und einer heulte vor Schmerz.

Als sie zu Regin blickte, sah sie, dass er, da er am nächsten gestanden hatte, am schlimmsten betroffen war. Seine Augen tränten, und sein Gesicht war übersät von offenen, roten Stellen.

Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Als sie begriff, dass sie drauf und dran war, in Gelächter auszubrechen, hielt sie sich schnell den Mund zu. Taumelnd stieß sie sich von der Wand ab und zwang sich, sich aufzurichten.

Lass dir nicht anmerken, wie müde du bist, dachte sie. Gib ihnen keine Zeit, um auf die Idee zu kommen, sich rächen zu wollen.

Sie bahnte sich langsam einen Weg zwischen den Novizen hindurch. Regin riss den Kopf hoch. »Lasst sie nicht entkommen«, knurrte er.

Einige Novizen blickten auf, aber die übrigen ignorierten ihn.

»Vergiss es. Ich will jetzt nur noch aus dieser Robe raus«, sagte ein Novize. Andere nickten und traten ebenfalls den Rückzug an. Regin, dessen Gesicht dunkel vor Zorn war, funkelte sie wütend an, erhob jedoch keine Einwände.

Sonea kehrte ihnen den Rücken zu und zwang ihre müden Beine, sie an den Novizen vorbeizutragen.

32 Ein kleiner Ausflug

Rothen ging gähnend die Treppe zum Magierquartier hinauf. Nicht einmal ein kaltes Bad hatte ihn erfrischen können. In seinem Empfangszimmer fand er Tania vor, die gerade einige Teller mit Kuchen und Brötchen auf den Tisch stellte.

»Guten Morgen, Tania«, sagte er.

»Ihr seid ein wenig spät dran heute Morgen, Mylord«, erwiderte sie.

»Ja.« Er rieb sich das Gesicht und griff nach dem Krug mit dem Sumi-Pulver. Als ihm bewusst wurde, dass Tania ihn immer noch beobachtete, seufzte er. »Ich habe die Dosis bereits auf ein Zehntel reduziert.«

Sie sagte nichts, sondern nickte nur zustimmend. »Ich habe Neuigkeiten.« Sie hielt inne, und als er ihr bedeutete weiterzusprechen, verzog sie entschuldigend das Gesicht. »Es wird Euch nicht gefallen.«

»Nur zu.«

»Die Reinemachefrauen haben sich heute Morgen darüber beklagt, dass einer der Flure über und über mit irgendeiner abscheulich stinkenden Flüssigkeit bespritzt war. Auf meine Frage, was ihrer Meinung nach geschehen sein könnte, haben sie etwas über Novizen gesagt, die gegeneinander kämpfen. Sie wollten nicht recht heraus mit der Sprache, welche Novizen es gewesen seien - also habe ich eine der Dienstmägde bestochen, die die Geschichte bereits gehört hatte. Regin hatte andere Novizen um sich geschart und lauerte Sonea spätabends auf. Ich habe Viola danach gefragt, und sie hat gesagt, sie habe nichts gesehen, was darauf schließen lasse, dass Sonea in irgendeiner Form Schaden genommen habe.«

Rothen runzelte die Stirn. »Es würde einiges dazugehören, Sonea zu erschöpfen.« Zorn loderte in ihm auf, als ihm klar wurde, was das bedeutete. »Aber sobald sie es geschafft hätten, könnte Regin mit ihr machen, was er will. Sie wäre zu müde, um sich auch nur körperlich gegen ihn wehren zu können.«

Tania sog scharf die Luft ein. »Er würde es doch nicht wagen, sie zu verletzen, oder?«

»Jedenfalls nicht auf eine Weise, die ihr dauerhaften Schaden zufügen oder zu seinem Ausschluss aus der Gilde führen würde.« Rothen blickte mit finsterer Miene auf den Tisch hinab.

»Warum unternimmt der Hohe Lord nichts dagegen - oder weiß er nichts davon? Vielleicht solltet Ihr es ihm erzählen.«

Rothen schüttelte den Kopf. »Er weiß es. Es ist seine Aufgabe, so etwas zu wissen.«

»Aber …« Ein leises Klopfen unterbrach Tania.

Erleichtert über die Unterbrechung gab Rothen der Tür den Befehl, sich zu öffnen. Ein Bote trat ein, verneigte sich und gab Rothen einen Brief, bevor er sich wieder zurückzog.

»Er ist für Sonea.« Rothen drehte den Brief um, und sein Herz setzte einen Schlag aus. »Er kommt von ihrer Tante und ihrem Onkel.«

Tania trat näher. »Wissen sie denn nicht, dass sie nicht mehr in Eurem Quartier lebt?«

»Nein. Sonea dachte, Regin würde ihre Post vielleicht abfangen, wenn sie an das Novizenquartier geschickt würde, und wahrscheinlich hat sie sich nicht mehr bei ihrer Familie gemeldet, seit sie in die Residenz umgezogen ist.«

»Soll ich ihr den Brief bringen?«, fragte Tania.

Rothen sah überrascht auf. Es war leicht zu vergessen, dass andere keinen Grund hatten, Akkarin zu fürchten. »Würdest du das tun?«

»Natürlich. Ich habe schon lange nicht mehr mit ihr gesprochen.«

Akkarin würde jedoch vielleicht Verdacht schöpfen, wenn er sah, dass Rothens Dienerin Sonea eine Nachricht überbrachte. »Sie wird den Brief gewiss so bald wie möglich lesen wollen. Wenn du ihn in ihr Zimmer bringst, wird sie ihn vor heute Abend nicht bekommen. Ich glaube, sie verbringt die Freitage in der Novizenbibliothek. Könntest du den Brief zu Lady Tya bringen?«

»Ja.« Tania nahm den Brief entgegen und schob ihn in die Tasche ihrer Uniform. »Sobald ich das Geschirr wieder in die Küche gebracht habe, gehe ich zur Bibliothek hinüber.«


»Ah! Mir tun die Beine weh!«, jammerte Tayend.

Dannyl lachte leise, als der Gelehrte sich auf einen Felsbrocken sinken ließ, um sich auszuruhen. »Du wolltest die Ruinen besuchen. Meine Idee war das nicht.«

»Aber nach Dem Ladeiris Schilderungen klangen sie so interessant.« Tayend zog seine Flasche hervor und trank einige Schlucke Wasser. »Und viel näher.«

»Er hat nur versäumt zu erwähnen, dass wir einige Felswände erklimmen müssen, um hierher zu kommen. Oder dass die Seilbrücke nicht mehr sicher ist.«

»Nun, er hat allerdings erwähnt, dass er schon lange nicht mehr hier oben war. Bisweilen muss die Levitation doch recht nützlich sein.«

»Bisweilen.«

»Warum bist du nicht einmal außer Atem?«

Dannyl lächelte. »Die Levitation ist nicht der einzige nützliche Trick, den die Gilde uns lehrt.«

»Du hast dich geheilt?« Tayend warf einen kleinen Stein nach ihm. »Du mogelst!«

»Dann gehe ich davon aus, dass du meine Hilfe ablehnen würdest, falls ich sie anböte.«

»Nein, ich finde, es wäre nur gerecht, wenn ich denselben Vorteil hätte wie du.«

Dannyl seufzte mit gespielter Resignation. »Na schön, dann gib mir deine Hand.« Zu seiner Überraschung streckte Tayend, ohne zu zögern, den Arm aus, aber als Dannyl die Hand auf die Haut des Gelehrten legte, wandte Tayend den Blick ab und kniff die Augen fest zusammen.

Dannyl sandte ein wenig heilende Magie in Tayends Körper und entspannte dessen strapazierte Muskeln. Die meisten Heiler hätten dieses Tun als Verschwendung von Magie missbilligt. Tayend war nicht krank, er war nur einfach nicht an die Anstrengungen eines Marsches durch gebirgiges Gelände gewöhnt.

Als Dannyl Tayends Arm wieder losließ, stand der Gelehrte auf und blickte an sich hinab.

»Es ist wirklich erstaunlich!«, entfuhr es ihm. »Ich fühle mich genauso wie heute Morgen, bevor wir aufgebrochen sind.« Er grinste Dannyl an und schickte sich an weiterzugehen. »Komm, vorwärts. Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

Erheitert folgte Dannyl ihm. Nach wenigen hundert Schritten erreichte Tayend eine Anhöhe und blieb stehen. Als Dannyl den Gelehrten einholte, kamen die Ruinen in Sicht. Über eine sanfte Anhöhe zogen sich niedrige Mauern, die die Umrisse der Gebäude markierten. Hier und da hatte eine alte Säule überlebt, und in der Mitte der kleinen, verlassenen Stadt war ein größeres, dachloses Gebäude unversehrt geblieben, dessen Mauern aus riesigen Steinquadern bestanden. Gras und andere Pflanzen hatten alles überwuchert.

»Dies ist also Armje«, murmelte Tayend. »Viel ist nicht davon übrig geblieben.«

»Es ist über tausend Jahre alt.«

»Sehen wir es uns einmal genauer an.«

Der Pfad, der sich auf die Stadt zuschlängelte, wurde schließlich zu einer breiten, grasbewachsenen Straße, die direkt auf das große Gebäude zuführte. Tayend und Dannyl blieben stehen, um einige Räume der kleineren Gebäude zu betrachten.

»Glaubst du, dass das einmal eine Art öffentlicher Waschraum war?«, fragte Tayend, als er vor einer steinernen Bank stand, in die in regelmäßigen Abständen Löcher gebohrt worden waren.

»Vielleicht war es eine Art Küche«, erwiderte Dannyl. »Die Löcher könnten Töpfe über einem Feuer oder einer Kohlenpfanne gehalten haben.«

Als sie das große Gebäude in der Mitte der Ruinen erreichten, fiel Dannyl auf, wie reglos die Luft war. Sie traten unter einem schweren Türsturz hindurch in einen weitläufigen Raum. Der ebenerdige Boden lag verborgen unter Erde, hüfthohen Gräsern und Kräutern.

»Was das wohl früher einmal gewesen sein mag?«, überlegte Tayend laut. »Etwas Wichtiges jedenfalls. Ein Palast vielleicht. Oder ein Tempel.«

Als sie in einen kleineren Raum kamen, stürmte Tayend plötzlich zu einer Seite hinüber, um die Wand zu betrachten, in die ein komplexes Muster eingeritzt war.

»Ich kann einzelne Worte entziffern«, sagte er. »Etwas über Gesetze.«

Dannyl kam näher, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er eine eingeritzte Hand entdeckte. »Sieh dir das an.«

»Das ist die Glyphe für Magie«, sagte Tayend abschätzig.

»Eine Hand ist in der Sprache des alten Elyne das Zeichen für Magie?«

»Ja - und dasselbe Zeichen kommt in vielen alten Schriften vor. Einige glauben, der moderne Buchstabe ›M‹ sei aus dem Symbol einer Hand abgeleitet.«

»Dann deutet die Hälfte des Titels des Königs von Charkan also auf Magie hin. Aber was bedeutet der Halbmond?«

Tayend zuckte die Achseln und ging weiter in die Ruine hinein. »Mondmagie. Nachtmagie. Folgt die Magie jemals den Zyklen des Mondes?«

»Nein.«

»Vielleicht hat es irgendetwas mit Frauen zu tun. Mit weiblicher Magie. Warte - sieh dir das an!«

Tayend war vor einer anderen Wand mit ähnlichen Inschriften stehen geblieben. Er zeigte auf einen weiter oben gelegenen Bereich, wo einige Steine abgebröckelt waren und nur noch ein Teil der Schrift erhalten geblieben war. Dannyl sog scharf die Luft ein. Der Gelehrte zeigte nicht auf eine der in Stein gemeißelten Glyphen, sondern auf einen bekannten, mit modernen Buchstaben geschriebenen Namen.

»Dem Ladeiri hat nicht davon gesprochen, dass Akkarin hier oben war«, sagte Tayend.

»Vielleicht hat er es vergessen. Vielleicht hat Akkarin es ihm nicht erzählt.«

»Aber er wollte, dass wir unbedingt hier raufgehen.«

Dannyl betrachtete den Namen, dann besah er sich den Rest der Wand. »Was bedeuten diese alten Schriften?«

Tayend trat näher an die Wand heran. »Gib mir ein wenig Zeit …«

Während der Gelehrte die Schriftzeichen untersuchte, sah sich Dannyl in dem Raum um. Unter Akkarins Namen befand sich die Reliefschnitzerei eines Torbogens. Oder war es etwas anderes? Er scharrte mit dem Fuß die Erde und das Gras weg und lächelte, als er einen Ritz freilegte.

Tayend schnappte nach Luft. »Diesen Worten zufolge handelt es sich hier um eine…«

»Tür«, beendete Dannyl seinen Satz.

»Ja!« Tayend klopfte an die Wand. »Und sie führt zu einem Gerichtssaal. Ich wüsste zu gern, ob man sie noch öffnen kann.«

Dannyl streckte seine Sinne nach der Tür aus. Er entdeckte einen simplen Mechanismus, der sich nur von innen öffnen ließ - oder durch Magie.

»Geh ein Stück beiseite.«

Tayend gehorchte, und Dannyl konzentrierte sich. Der Schließmechanismus drehte sich widerstrebend und kämpfte gegen das Erdreich, den Staub und das Gras an, die den Eingang versperrten. Ein lautes Dröhnen und Scharren erklang, als die steinerne Tür nach innen aufschwang und einen dunklen Gang preisgab.

Nachdem die Tür sich weit genug geöffnet hatte, um sich seitlich hindurchzuschieben, ließ Dannyl den Mechanismus los, weil er befürchtete, womöglich dauerhaften Schaden anzurichten, wenn er noch mehr Gewalt ausübte. Er tauschte einen Blick mit Tayend.

»Wollen wir hineingehen?«, flüsterte der Gelehrte.

Dannyl runzelte die Stirn. »Ich gehe. Die Konstruktion könnte instabil sein.«

Tayend machte ein Gesicht, als wolle er dagegen protestieren, schien sich dann aber anders zu besinnen. »Ich werde derweil weiter versuchen, diesen Text zu übersetzen.«

»Ich komme zurück, sobald ich weiß, dass keine Gefahr droht.«

»Das möchte ich dir auch geraten haben.«

Nachdem Dannyl sich durch die Tür geschoben hatte, beschwor er eine Lichtkugel herauf und sandte sie voraus. Die Mauern waren vollkommen schmucklos. Zuerst musste er feine Kaskaden von Wurzeln und Faren-Weben aus dem Weg räumen, aber nach ungefähr zwanzig Schritten hatte er freie Bahn. Der Boden war leicht abschüssig, und die Luft wurde schnell kälter.

Es gab keine Nebenflure. Die Decke war niedrig, und schon bald beschlich Dannyl ein vertrautes Unbehagen. Er zählte seine Schritte und war bei zweihundert angelangt, als die Mauern links und rechts von ihm endeten. Der Gang indes führte als schmaler Sims weiter in undurchdringliche Dunkelheit. Vorsichtig trat er auf diesen schmalen Felsgrat, bereit zu schweben, falls der Boden unter seinen Füßen nachgeben sollte. Das Echo seiner Schritte sagte ihm, dass es zu beiden Seiten tief hinunterging.

Nach ungefähr zehn Schritten verbreiterte sich der Felsvorsprung zu einer kreisförmigen Plattform. Dannyl ließ seine Lichtkugel heller leuchten und sog scharf die Luft ein, als das Licht von einer glitzernden Kuppel zurückgeworfen wurde. Die Oberfläche funkelte und schimmerte, als sei sie bedeckt von ungezählten Edelsteinen.

»Tayend!«, rief er. »Komm her, und sieh dir das an!« Dannyl drehte sich zu der schwarzen Öffnung des Ganges um, streckte seinen Willen aus und schuf auf der ganzen Länge des Tunnels kleine Lichtkugeln.

Als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, wandte er sich um. Ein Bereich der Kuppel leuchtete heller als der Rest. Kleine Lichtrinnsale erschienen, die sich zitternd aufeinander zubewegten. Fasziniert beobachtete er, wie sie sich blitzschnell einander näherten. Es sah so aus wie der Schild der Arena, wenn man ihn getroffen hatte, nur dass der Vorgang hier zeitlich umgekehrt abzulaufen schien.

Irgendein Instinkt warnte ihn, und er riss gerade noch rechtzeitig einen Schild hoch, um den Kraftstoß abzuwehren, der von der Kuppel ausgesandt wurde. Die Wucht dieses Stoßes entlockte ihm einen überraschten Aufschrei - und noch einen, als er einen weiteren Angriff von hinten spürte. Als er sich umdrehte, sah er einen zweiten Reigen magischer Macht, der sich wie ein Schwarm von Sternschnuppen im Gestein der Kuppel ausbreitete… und zwei weitere, die sich zu formen begannen.

Er trat einen Schritt auf den Eingang des Tunnels zu und prallte gegen einen Schild, der ihm den Weg versperrte. Was geht hier vor! Wer tut das?

Aber außer ihm war keiner hier. Nur Tayend. Dannyl blickte zu dem Tunnel hinüber, aber dort war niemand. Als weitere Angriffe erfolgten, hob er die Hände vor den Schild und sandte einen magischen Blitzschlag aus. Die undurchdringliche Barriere dieses Schildes hielt jedoch stand. Wenn er all seine Kraft zusammennahm, konnte er vielleicht … Aber er brauchte seine Energie, um den eigenen Schutzschild aufrechtzuerhalten.

Panik stieg in ihm auf. Jeder Zauber ermüdete ihn weiter. Er hatte keine Ahnung, wie lange dieser Angriff andauern würde. Wenn er wartete, würde dieser Ort - diese Falle - ihn vielleicht töten.

Denk nach!, befahl er sich. Die Angriffe von den Wänden zielten auf einen Punkt oberhalb des Zentrums der Plattform. Wenn er sich gegen den Schild presste, der ihm den Rückweg versperrte, würden die Angriffe ihn vielleicht verfehlen, wenn sein Schild zusammenbrach. Und wenn er seinen Schild sinken ließ und all seine Energie darauf verwandte, dieses Hindernis zu durchbrechen, würde es vielleicht fallen, bevor der nächste Angriff kam.

Das war das Einzige, was ihm einfiel. Er hatte keine Zeit, sich eine bessere Strategie zurechtzulegen. Er schloss die Augen und drückte sich gegen den Schild, ohne auf das Brennen der Magie zu achten. Dann holte er tief Luft, senkte seinen Schild und griff im selben Moment mit aller Kraft an.

Er spürte, dass die Barriere ins Wanken geriet. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass ihn alle Kraft verließ. Er machte sich auf Schmerz gefasst, aber stattdessen fiel er in die Tiefe. Er öffnete die Augen, aber alles, was er sah, war Dunkelheit… eine Dunkelheit, in die er immer tiefer hinabstürzte, selbst nachdem er eigentlich auf dem Boden hätte aufkommen müssen …

»Lady Sonea.«

Sonea blickte auf, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Tania!«

Beim Anblick der Dienerin stiegen lieb gewordene Erinnerungen an frühmorgendliches Geplauder in Sonea auf, und ein Stich der Sehnsucht durchzuckte sie. Dann klopfte sie auf den Stuhl neben ihren, und Tania setzte sich.

»Wie geht es Euch?«, fragte Tania. Etwas im Gesichtsausdruck der Dienerin weckte in Sonea den Verdacht, dass sie keine positive Antwort erwartete.

»Gut.« Sonea zwang sich zu einem Lächeln.

»Ihr seht müde aus.«

Sonea zuckte die Achseln. »Ich bin abends zu oft spät ins Bett gekommen. Es gibt so viel zu lernen. Und wie geht es dir? Hält Rothen dich immer noch in Atem?«

Tania kicherte. »Er macht mir keine Mühe, obwohl er Euch schrecklich vermisst.«

»Ich vermisse ihn ebenfalls - und dich auch.«

»Ich habe einen Brief für Euch, Mylady«, sagte Tania. Sie zog ihn aus ihrem Gewand und legte ihn auf den Tisch. »Rothen meinte, er sei von Eurer Tante und Eurem Onkel und Ihr würdet ihn vielleicht gleich lesen wollen, deshalb habe ich mich erboten, ihn hierher zu bringen.«

Sonea griff eifrig nach dem Brief. »Danke.« Sie riss ihn auf und begann zu lesen. Die Schrift war steif und unpersönlich. Da ihre Tante und ihr Onkel nicht schreiben konnten, mussten sie, wenn sie einen Brief schicken wollten, die Dienste eines Schreibers in Anspruch nehmen.

»Meine Tante bekommt noch ein Kind!«, rief Sonea. »Oh, ich wünschte, ich könnte sie sehen.«

»Aber das könnt Ihr doch«, erwiderte Tania. »Die Gilde ist kein Gefängnis, wie Ihr wisst.«

Sonea sah die Frau nachdenklich an. Natürlich wusste Tania nichts über Akkarin. Aber Akkarin hatte nie gesagt, dass sie ihre Familie nicht besuchen dürfe. Und er hatte ihr nie verboten, die Gilde zu verlassen. Die Wachen am Tor würden sie nicht aufhalten. Sie konnte einfach in die Stadt spazieren und gehen, wohin sie wollte. Akkarin würde es nicht gefallen, aber da er sie gezwungen hatte, die geheimen Gänge zu verlassen und sich auf Gedeih und Verderb Regins Bande auszuliefern, verspürte sie keinen allzu großen Drang, sich fügsam zu zeigen.

»Du hast Recht«, sagte Sonea langsam. »Ich werde sie besuchen. Noch heute.«

Tania lächelte. »Sie werden sich bestimmt freuen, Euch wiederzusehen.«

»Ich danke dir, Tania«, erwiderte Sonea und erhob sich. Die Dienerin verbeugte sich, immer noch lächelnd, und ging auf die Bibliothekstür zu.

Mit einem wachsenden Gefühl der Erregung packte Sonea ihre Bücher wieder in ihren Koffer. Sie konnte sich mühelos durch die Stadt bewegen. Niemand würde sich über die Anwesenheit eines Magiers auf den Straßen den Kopf zerbrechen, nicht einmal wenn es sich dabei um einen Novizen handelte. Aber sobald sie die Hüttenviertel erreichte, würde ihre Robe Aufmerksamkeit erregen, wahrscheinlich sogar Feindseligkeit. Das war ein Problem, das sie bei ihren früheren Besuchen nicht hatte bedenken müssen, da sie damals noch keine Novizin gewesen war. Obwohl sie sich natürlich mit Magie gegen Wurfgeschosse oder andere Schikanen schützen konnte, wollte sie nicht, dass irgendjemand ihr folgte, ebenso wenig wie sie den Wunsch hatte, Aufmerksamkeit auf ihre Familie zu lenken.

Das Gesetz besagte jedoch, dass sie zu jeder Zeit die Uniform der Magier tragen müsse. Zwar machte es ihr nicht allzu viel aus, das Gesetz zu brechen, aber wo sollte sie in die schäbigen Kleidungsstücke schlüpfen, die ihr in den Hüttenvierteln als Tarnung dienen konnten - vorausgesetzt, es gelang ihr überhaupt, solche Kleidung zu finden?

Wenn sie ins Nordviertel kam, konnte sie auf dem Markt einen Mantel oder einen Umhang kaufen. Dafür benötigte sie jedoch Geld, und ihre Barschaft befand sich in ihrem Zimmer in der Residenz des Hohen Lords. Sie dachte noch einmal über ihren Plan nach. Wollte sie aus Angst vor Akkarin auf einen Besuch bei ihrer Familie verzichten? Nein. Er hielt sich tagsüber nur selten in der Residenz auf. Wahrscheinlich würde sie ihm überhaupt nicht begegnen.

Entschlossen griff sie nach ihrem Bücherkoffer, verbeugte sich vor Lady Tya und verließ die Bibliothek. Als sie durch die Flure der Universität ging, lächelte sie. Sie würde außerdem auch ein Geschenk für ihre Tante und ihren Onkel kaufen - und vielleicht würde sie anschließend in Gollins Gasthaus vorbeischauen, um Harrin und Donia zu sehen und sich nach Cery zu erkundigen.

Als sie die Residenz des Hohen Lords betrat, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Zu ihrer Erleichterung war Akkarin nicht zu Hause, und sein Diener, Takan, erschien nur lange genug, um sich respektvoll vor ihr zu verbeugen und wieder zu verschwinden. Sie stellte ihren Bücherkoffer beiseite, schob sich einen Geldbeutel in ihre Robe und verließ ihr Zimmer. Als die Tür der Residenz hinter ihr zufiel, drückte sie den Rücken durch und ging auf die Tore zu.

Die Wachen musterten sie neugierig. Wahrscheinlich hatten sie sie noch nie zuvor gesehen, da sie bei den wenigen Malen, die sie die Gilde verlassen hatte, stets zusammen mit Rothen in einer Kutsche gefahren war. Vielleicht war es einfach merkwürdig, einen Novizen zu Fuß fortgehen zu sehen.

Sobald sie den Inneren Ring erreicht hatte, fühlte sie sich seltsam fehl am Platze. Früher hatte sie diesen Teil der Stadt nur besucht, um bei den Dienern der Häuser reparierte Schuhe und Kleidungsstücke abzuliefern. Bei diesen Besuchen hatten die gut gekleideten Männer und Frauen im Inneren Ring sie voller Argwohn und Verachtung betrachtet, und sie hatte häufig ihren Passierschein vorzeigen müssen.

Dieselben Menschen verbeugten sich jetzt mit einem höflichen Lächeln vor ihr. Es fühlte sich seltsam und unwirklich an. Das Gefühl verstärkte sich noch, als sie durch die Tore ins Nordviertel trat. Die Torwächter salutierten vor ihr und hielten sogar eine Kutsche des Hauses Korin an, damit sie ohne Verzögerung vorbeigehen konnte.

Im Nordviertel gab es keine höflichen Verbeugungen und kein Lächeln mehr, sondern nur noch starre Blicke. Nachdem sie einige hundert Schritte gegangen war, änderte Sonea ihre Meinung, was den Besuch auf dem Markt betraf. Stattdessen trat sie in ein Haus, vor dem ein Schild »hochwertige Kleidung und Änderungen« anbot.

»Ja?« Eine grauhaarige Frau öffnete die Tür, und als sie eine junge Magierin vor sich sah, stieß sie einen Laut der Überraschung aus. »Mylady! Was kann ich für Euch tun?«, fragte sie und verbeugte sich hastig.

Sonea lächelte. »Ich würde gern einen Umhang kaufen.«

»Kommt herein! Kommt herein!« Die Frau zog die Tür weit auf und verbeugte sich abermals, als Sonea an ihr vorbeiging. Sie führte sie in einen Raum, in dem an etlichen hohen Ständern Kleidungsstücke hingen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas habe, das Euren Ansprüchen genügt«, sagte die Frau entschuldigend, während sie mehrere Umhänge von den Ständern nahm. »Dieser hier hat einen Besatz aus Limek-Pelz um die Kapuze, und dieser hat einen perlenbestickten Saum.«

Sonea, die der Versuchung nicht widerstehen konnte, nahm die Umhänge in Augenschein. »Das ist wirklich gute Arbeit«, bemerkte sie und strich über den mit Perlen bestickten Umhang. »Allerdings bezweifle ich, dass dieser Pelz wirklich von einem Limek stammt. Limeks haben stärkeres Unterhaar.«

»Oje!«, rief die Frau und riss den Umhang wieder an sich.

»Aber das ist es ohnehin nicht, wonach ich suche«, fügte Sonea hinzu. »Ich brauche etwas Altes, das schon ein wenig abgetragen ist - nicht dass ich erwartet hätte, hier irgendetwas von schlechter Qualität zu finden. Hat eine Eurer Dienerinnen vielleicht einen Mantel, der so aussieht, als müsste man ihn eigentlich wegwerfen?«

Die Frau starrte Sonea überrascht an. »Ich weiß nicht …«, sagte sie zweifelnd.

»Warum fragt Ihr sie nicht schnell«, schlug Sonea vor, »während ich einige Eurer Waren bewundere.«

»Wenn es das ist, was Ihr wollt…« Ein Anflug von Neugier war jetzt in den Blick der Frau getreten. Sie verbeugte sich und verschwand im Haus, um den Namen einer Dienerin zu rufen.

Sonea trat vor die Kleiderständer hin und besah sich einige der Umhänge. Dann stieß sie einen sehnsüchtigen Seufzer aus. Da das Gesetz sie zwang, Roben zu tragen, würde sie solche Kleider wahrscheinlich niemals besitzen, obwohl sie sie sich jetzt hätte leisten können.

Als sie schnelle Schritte näher kommen hörte, drehte sie sich um. Die Näherin war, den Arm voller Kleidung, aus dem Flur zurückgekehrt. Eine bleiche, abgehetzte Dienerin folgte ihr. Als sie Sonea sah, weiteten sich die Augen der jungen Frau.

Sonea unterzog die Umhänge einer schnellen Musterung und entschied sich dann für einen Mantel mit einem langen, säuberlich geflickten Riss an der Seite. Ein Teil des Saums hatte sich vom Futter gelöst. Sie sah die Dienstmagd an.

»Gibt es hier einen Garten? Vielleicht sogar einen Hühnerhof?«

Das Mädchen nickte.

»Nimm diesen Umhang und zieh ihn für mich durch den Schmutz - und wirf auch eine Hand voll Staub darüber.«

Mit verwundertem Gesichtsausdruck verschwand das Mädchen nach draußen. Sonea drückte der Näherin eine Goldmünze in die Hand, und als die Dienerin mit dem besudelten Umhang zurückkam, ließ sie unauffällig ein Silberstück in die Tasche des Mädchens gleiten.

Wer hätte gedacht, dass ich meine Fähigkeiten als Taschendiebin eines Tages dazu nutzen würde, Geld wegzugeben, statt es zu stehlen?, ging es ihr durch den Kopf, als sie das Haus verließ. Jetzt, da der Umhang ihre Robe verdeckte, konnte sie ungehindert ihren Weg zu den Nordtoren fortsetzen, ohne angestarrt zu werden.

Als sie in die Hüttenviertel kam, bedachten die Wachen sie nur mit einem flüchtigen Blick. Ihr Augenmerk galt eher den Leuten, die die Hüttenviertel verließen, als denen, die sie betraten. Ein Geruch, der gleichzeitig unangenehm und beruhigend vertraut war, hüllte sie ein, als sie die gewundenen Straßen hinunterging. Sie entspannte sich ein wenig. Hier erschienen ihr Regin und Akkarin als ferne, belanglose Sorgen.

Dann fiel ihr ein Mann auf, der sie von der Tür eines Bolhauses aus beobachtete, und sie verkrampfte sich wieder. Dies waren die Hüttenviertel, und obwohl sie sich mit Magie schützen konnte, war es doch besser, das zu vermeiden. Sie konzentrierte sich darauf, ihre Umgebung zu beobachten, und lief hastig durch die Straßen und Gassen ihrem Ziel entgegen.

Jonna und Ranel lebten inzwischen in einem wohlhabenderen Teil der Hüttenviertel, wo stabile Holzhäuser standen. Auf einem Markt, an dem sie vorbeikam, kaufte sie einige Decken und einen Korb voller Gemüse und frischem Brot. Sie wünschte, sie hätte luxuriösere Dinge kaufen können, aber Jonna hatte solche Geschenke stets abgelehnt und gesagt: »Ich möchte in meiner Wohnung nichts haben, was so aussieht, als gehörte es in die Häuser. Das würde die Leute nur auf seltsame Ideen bringen, was uns betrifft.«

Als sie die Straße erreichte, in der ihre Familie lebte, warf sie einer kleinen Bande Jungen, die auf leeren Kisten hockten, einige süße Brötchen zu. Die Jungen fingen die Leckereien auf und riefen ihr ihren Dank nach. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie seit Monaten nicht mehr so viel Spaß gehabt hatte.

Nicht mehr seit Dorriens Besuch, ging es ihr durch den Kopf. Aber es ist besser, nicht an Dorrien zu denken.

Vor dem Haus ihrer Tante und ihres Onkels wurde sie schlagartig wieder ernst. Seit sie der Gilde beigetreten war, hatten die beiden sich in ihrer Gegenwart spürbar unwohl gefühlt. Vor einem Jahr hatten sie miterlebt, wie sie die Kontrolle über ihre Kräfte verlor, und es hätte Sonea nicht überrascht, wenn sie noch immer Angst vor ihr hatten. Aber sie wusste, dass sie weder die Furcht noch das Unbehagen ihrer Familie jemals überwinden würde, wenn sie sie erst gar nicht besuchte. Sie waren alles an Familie, was sie hatte, und sie würde nicht zulassen, dass sie aus ihrem Leben verschwanden.

Sie klopfte. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet, und Jonna sah sie überrascht an.

»Sonea!«

Sonea grinste. »Hallo, Jonna.«

Jonna drückte die Tür auf. »Du siehst anders aus… Aber das muss wohl an dem Umhang liegen. Ist das gesetzlich erlaubt?«

Sonea schnaubte. »Wen interessiert das? Ich habe heute euren Brief bekommen und musste euch einfach sehen. Hier, ich habe dir zur Feier des Tages etwas mitgebracht.«

Nachdem sie den Korb und die Decken überreicht hatte, trat Sonea in das kleine, einfach möblierte Wohnzimmer. Ranel war sichtlich erfreut, sie zu sehen.

»Sonea! Wie geht es meiner kleinen Nichte?«

»Mir geht es gut. Ich bin glücklich«, log Sonea. Denk nicht an Akkarin. Lass dir den Nachmittag nicht verderben.

Ranel umarmte sie. »Danke für das Geld«, murmelte er.

Sonea lächelte und wollte sich schon den Umhang ausziehen, als sie sich eines Besseren besann. Sie ging zu der Wiege hinüber, die an der Wand stand, und blickte auf ihren schlafenden Cousin hinab.

»Er wächst und gedeiht«, bemerkte sie. »Keine Probleme?«

»Nein, nur ein leichter Husten«, erwiderte Jonna lächelnd. Dann klopfte sie sich auf den Bauch. »Wir hoffen, dass es diesmal ein Mädchen wird.«

Während sie sich weiter unterhielten, stellte Sonea zu ihrer Erleichterung fest, dass die beiden ein wenig entspannter mit ihr umgingen. Sie aßen etwas von dem Brot, spielten mit dem Baby, als es erwachte, und sprachen über mögliche Namen für das nächste. Ranel erzählte Sonea von alten Freunden und Bekannten und von den Dingen, die sich in letzter Zeit in den Hüttenvierteln zugetragen hatten.

»Wir waren nicht in der Stadt, aber wir haben gehört, dass die Säuberung stattgefunden hat«, sagte Ranel seufzend. Er sah sie von der Seite an. »Warst du …?«, fragte er widerstrebend.

»Nein.« Sonea zog die Brauen zusammen. »Novizen sind nicht daran beteiligt. Ich… ich nehme an, es war dumm, aber ich dachte, nach dem, was letztes Jahr geschehen ist, würde es keine Säuberung mehr geben. Wenn ich meinen Abschluss habe, werde ich vielleicht…« Sie schüttelte den Kopf. Was werde ich tun? Es ihnen ausreden? Als würden sie auf ein Hüttenmädchen hören.

Sie seufzte. Sie war immer noch weit davon entfernt, den Menschen helfen zu können, zu denen sie sich früher einmal zugehörig gefühlt hatte. Der Gedanke, die Gilde davon abhalten zu können, weitere Säuberungen durchzuführen, erschien ihr mit einem Mal naiv und lächerlich, ebenso wie die Hoffnung, dass die Magier ihre Heilkünste den Bewohnern der Hüttenviertel zur Verfügung stellen könnten.

»Was haben wir denn sonst noch hier drin?«, sagte Jonna und nahm das Gemüse aus dem Korb. »Bleibst du zum Abendessen, Sonea?«

Sonea richtete sich erschrocken auf. »Wie spät ist es?« Als sie durch eins der hohen, schmalen Fenster blickte, sah sie, dass das Licht draußen sich golden gefärbt hatte. »Ich kann nicht mehr lange bleiben.«

»Sei vorsichtig, wenn du nach Hause gehst«, erwiderte Ranel. »Nicht dass du noch diesem Mörder in die Arme läufst, von dem im Moment alle reden.«

»Er dürfte Sonea wohl keine Schwierigkeiten bereiten«, sagte Jonna kichernd.

Sonea lächelte über die Zuversicht ihrer Tante. »Von welchem Mörder sprecht ihr?«

Ranel zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich hätte gedacht, dass du darüber Bescheid weißt. Die ganze Stadt redet darüber.« Er schnitt eine Grimasse. »Es heißt, der Mörder gehöre nicht zu den Dieben - soweit ich weiß, suchen die Diebe sogar nach ihm. Aber bisher hatten sie kein Glück.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich lange vor den Dieben wird versteckt halten können«, meinte Sonea.

»Aber das geht nun schon seit Monaten so«, sagte Ranel. »Und einige behaupten, ähnliche Morde hätte es vor einem Jahr schon einmal gegeben und davor auch schon.«

»Weiß irgendjemand, wie der Mann aussieht?«

»Es sind lauter verschiedene Geschichten im Umlauf. Aber die meisten Leute sagen, er trüge einen Ring mit einem großen, roten Edelstein.« Ranel beugte sich vor. »Die seltsamste Geschichte habe ich von einem unserer Kunden gehört. Der Mann seiner Schwester, hat er mir erzählt, besitzt ein Gasthaus im Süden der Stadt. Dieser Mann hörte eines Nachts jemanden in einem der Zimmer schreien, und er ging nachsehen. Als er die Tür öffnete, sprang der Mörder aus dem Fenster. Aber statt drei Stockwerke tief zu Boden zu fallen, fiel er nach oben, als flöge er!«

Sonea zuckte die Achseln. Viele Menschen, die zweifelhaften Tätigkeiten nachgingen, benutzten die Wege über die Dächer der Hüttenviertel, die man auch die Hohe Straße nannte. Es war möglich, dass der Mann einen Haltegriff zu fassen bekommen hatte und auf das Dach hinaufgeklettert war.

»Aber das war es nicht, was die Geschichte so eigenartig machte«, fuhr Ranel fort. »Was dem Gastwirt einen solchen Schrecken eingejagt hat, war die Tatsache, dass der Mann in dem Zimmer tot war, aber die einzigen Verletzungen, die er aufwies, waren leichte Schnittwunden.«

Sonea runzelte die Stirn. Wenn das Opfer nur geringfügige Wunden davongetragen hatte, warum war es dann tot gewesen? Plötzlich gefror ihr das Blut in den Adern. Eine Erinnerung an Akkarin in dem unterirdischen Raum flackerte in ihr auf.

Takan ließ sich auf ein Knie sinken und streckte den Arm aus. In Akkarins Hand glitzerte ein Dolch. Er fuhr mit der Klinge über die Haut des Dieners und legte ihm dann seine Hand auf die Wunde

»Sonea. Hörst du mir überhaupt zu?«

Sie blinzelte. »Ja. Mir ist nur etwas eingefallen. Ein Erlebnis, das ich vor langer Zeit hatte. Es liegt an all diesem Gerede über Morden.« Sie schauderte. »Ich muss gehen.«

Als sie aufstand, zog Jonna sie fest an sich. »Es ist gut zu wissen, dass du dich schützen kannst, Sonea. Um dich brauche ich mir keine Sorgen zu machen.«

»Hm. Ein wenig dürftest du dich schon sorgen.«

Jonna lachte. »Also gut. Wenn es dir dann besser geht.«

Sonea verabschiedete sich von Ranel und trat dann auf die Straße hinaus. Auf dem Weg durch die Hüttenviertel musste sie immer wieder an Lorlens Worte während der Wahrheitslesung denken.

»Obwohl mir der Gedanke nicht gefällt, befürchte ich, dass du ein verlockendes Opfer für ihn sein könntest. Er weiß, dass du sehr stark bist. Du wärst eine mächtige magische Quelle.«

Aber Akkarin konnte sie nicht töten. Wenn sie verschwand, würden Rothen und Lorlen der Gilde sein Verbrechen offenbaren. Dieses Risiko würde Akkarin nicht eingehen.

Dennoch konnte Sonea, während sie durch die Stadttore in das Nordviertel trat, eine gewisse Sorge nicht unterdrücken. Hatte Akkarin die Hüttenviertel zu seinem Jagdgebiet gemacht? Waren ihre Tante und ihr Onkel in Gefahr?

Er wird auch sie nicht töten, sagte sie sich. Dann würde ich der Gilde die Wahrheit enthüllen.

Dann jedoch fiel ihr plötzlich ein, dass der Besuch bei ihrer Familie eine große Torheit gewesen war. Sie war praktisch aus der Gilde verschwunden; nur Tanja wusste, wohin sie gegangen war. Wenn Lorlen und Rothen erfuhren, dass sie nirgends zu finden war, würden sie vielleicht auf die Idee kommen, das sei Akkarins Werk. Oder Akkarin könnte zu dem Schluss gekommen sein, dass sie die Gilde verlassen hatte. Vielleicht traf er bereits Vorbereitungen, die anderen zum Schweigen zu bringen.

Schaudernd wurde ihr bewusst, dass sie sich erst wieder sicher fühlen würde, wenn sie in die Gilde zurückgekehrt war, selbst wenn das bedeutete, dass sie unter demselben Dach lebte wie der Mann, der möglicherweise der Mörder war, den die Hüttenbewohner fürchteten.

33 Die Warnung des Hohen Lords

Vogelgezwitscher und Wind begrüßten Dannyl, als er erwachte. Er schlug die Augen auf und sah sich blinzelnd um. Rings um ihn herum erhoben sich steinerne Mauern, aber er konnte kein Dach über sich erkennen. Er lag auf einem dicken Bett aus ausgerissenem Gras. Die Luft roch nach Morgen.

Armje. Er befand sich in den Ruinen von Armje.

Dann fielen ihm die Höhle und die Kuppeldecke wieder ein, die ihn angegriffen hatte.

Ich habe also überlebt.

Er blickte an sich hinab. Seine Robe war am Saum verkohlt. Die Haut an seinen Waden war rot und brannte. Als er den Kopf drehte, sah er einige Schritte entfernt seine Stiefel stehen. Sie waren verkohlt, und das Leder war blasig.

Er war dem Tode nahe gewesen.

Tayend musste ihn aus der Höhle gezogen und hierher gebracht haben. Dannyl sah sich um, konnte den Gelehrten aber nirgends entdecken. Allerdings lag auf dem Boden neben ihm Tayends blaue Jacke über einem zweiten Bett aus Gras.

Einen Moment lang überlegte er, ob er aufstehen und nach seinem Freund suchen sollte, beschloss dann jedoch, liegen zu bleiben. Tayend konnte nicht weit entfernt sein, und er verspürte ein überwältigendes Widerstreben, sich zu bewegen. Er brauchte Ruhe - nicht weil sein Körper danach verlangte, sondern weil seine Magie erschöpft war.

Er konzentrierte sich auf die Quelle seiner Kraft und stellte fest, dass ihm praktisch keine Magie mehr zur Verfügung stand. Normalerweise hätte er geschlafen, bis er einen Teil seiner Energie zurückgewonnen hatte. Das Wissen, dass es ihm an Magie mangelte, hätte ihn eigentlich beunruhigen müssen, aber stattdessen fühlte er sich seltsam befreit, als sei eine Last von ihm abgefallen.

Er hörte Schritte und richtete sich auf einem Ellbogen auf. Tayend trat in den unbedachten Raum und lächelte, als er sah, dass Dannyl wach war. Das Haar des Gelehrten war ein wenig zerzaust, aber davon abgesehen gelang es ihm, tadellos gepflegt zu wirken, obwohl er auf einem Bett aus Gras geschlafen hatte.

»Endlich bist du aufgewacht. Ich habe gerade unsere Flaschen aufgefüllt. Hast du Durst?«

Dannyl nickte, nahm die Flasche entgegen und leerte sie.

Tayend ging neben ihm in die Hocke. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Die Haut um die Knöchel herum ist ein wenig wund, aber das ist auch schon das Schlimmste.«

»Was ist passiert?«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Dieselbe Frage wollte ich dir gerade stellen.«

»Du musst zuerst erzählen.«

»Also schön.« Dannyl beschrieb die Höhle mit der Kuppel und berichtete, dass sie ihn angegriffen habe. Tayends Augen weiteten sich.

»Nachdem du hineingegangen warst, habe ich weiter versucht, die Schriftzeichen zu entziffern«, erklärte der Gelehrte. »Die Schrift besagte, dass die Tür zu einem Ort namens Höhle der Höchsten Strafe führe, und weiter unten hieß es dann, dass sie geschaffen worden sei, um Magier hinzurichten. Ich habe versucht, dich zu warnen, dann hast du meinen Namen gerufen und den Tunnel für mich beleuchtet. Bevor ich aber dessen Ende erreichte, sind sie alle wieder erloschen.« Tayend schauderte. »Ich bin weitergegangen. Als ich die Höhle erreichte, fand ich dich an irgendeinen unsichtbaren Gegenstand gedrückt. Dann bist du plötzlich zu Boden gestürzt und hast dich nicht mehr bewegt. Ich konnte weitere von diesen Blitzen an den Wänden sehen und habe dich an den Armen gepackt und von der Plattform heruntergezogen. Dann haben die Blitze diese Plattform erreicht, und alles wurde mit einem Mal dunkel. Ich konnte nichts sehen, aber es ist mir gelungen, dich durch den Tunnel hinauszuziehen. Dann habe ich dich hierher getragen.« Er hielt inne, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Du bist übrigens ganz schön schwer.«

»Ach ja?«

»Das muss an deiner Größe liegen, davon bin ich überzeugt.«

Dannyl lächelte, dann überwältigte ihn plötzlich ein Gefühl von Zuneigung und Dankbarkeit. »Du hast mir das Leben gerettet, Tayend.«

Der Gelehrte blinzelte, dann sah er ihn verlegen an. »Wahrscheinlich. Sieht so aus, als hätte ich meine Schulden diesbezüglich beglichen. Also, meinst du, die Gilde weiß von dieser Höhle der Höchsten Strafe?«

»Ja. Nein. Vielleicht.« Dannyl schüttelte den Kopf. Er wollte weder über die Gilde sprechen noch über die Höhle. Ich lebe, dachte er. Er sah sich um, betrachtete die Bäume, den Himmel und schließlich Tayend. Er ist wirklich ein ausgesprochen schöner Mann, durchzuckte es ihn plötzlich. Irgendetwas regte sich in ihm, wie eine Erinnerung, die zu verschwommen war, um sie in Worte zu fassen. Das Gefühl wurde stärker, als er sich darauf konzentrierte, und ein vertrautes Unbehagen beschlich ihn. Er versuchte, es beiseite zu drängen.

Mit einem Mal wurde ihm seine magische Erschöpfung wieder bewusst. Er runzelte die Stirn und fragte sich, warum er instinktiv nach seinen Kräften gegriffen hatte. Dann dämmerte ihm die Erkenntnis. Er war drauf und dran gewesen, seine Heilkräfte zu benutzen, um das Unbehagen zu verscheuchen oder zumindest die körperliche Reaktion, die es hervorgerufen hatte. Wie ich es immer tue, ohne darüber nachzudenken.

»Was ist los?«, fragte Tayend.

Dannyl schüttelte den Kopf. »Nichts.« Aber das war eine Lüge. Während all der Jahre hatte er das getan: hatte sich von den Gedanken abgewandt, die ihm solche Qualen bereitet hatten, und seine Heilkräfte benutzt, um seinen Körper daran zu hindern, überhaupt zu reagieren.

Erinnerungen fluteten zurück. Erinnerungen an die Zeit, da er der Gegenstand von Skandalen und Gerüchten gewesen war. Er war zu dem Schluss gekommen, dass seine Gefühle nicht akzeptabel seien und dass es daher das beste sei, überhaupt nichts zu fühlen. Und vielleicht würde er mit der Zeit lernen, zu begehren, was richtig und anständig war.

Aber nichts hatte sich geändert. In dem Moment, in dem er die Fähigkeit verlor, sich zu heilen, war es wieder da. Er hatte versagt.

»Dannyl?«

Als er Tayend ansah, setzte Dannyls Herz einen Schlag aus. Wie konnte er seinen Freund ansehen und denken, dass ein Mensch wie er ein Versager war?

Er konnte es nicht. Er hatte so lange dagegen angekämpft. Was für ein Gefühl würde es sein, mit diesem Kampf aufzuhören? Zu akzeptieren, was er war?

»Du hast so einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Woran denkst du?«

Dannyl sah Tayend versonnen an. Der Gelehrte war sein engster Freund. Noch enger als Rothen, wurde ihm plötzlich bewusst. Er war nie in der Lage gewesen, Rothen die Wahrheit zu sagen. Er wusste, dass er Tayend vertrauen konnte. Hatte der Gelehrte ihn nicht vor dem Klatsch der elynischen Höflinge geschützt?

Es wäre eine solche Erleichterung, es einfach irgendjemandem zu sagen, dachte Dannyl. Er atmete tief durch.

»Ich fürchte, ich war nicht ganz ehrlich zu dir, Tayend.«

Die Augen des Gelehrten weiteten sich. Er lehnte sich ein wenig zurück und lächelte. »Wirklich? Inwiefern?«

»Dieser Novize, mit dem ich mich vor Jahren angefreundet habe… Er war genau das, was man von ihm sagte.«

Ein Lächeln spielte um Tayends Lippen. »Du hast nie etwas anderes behauptet.«

Dannyl zögerte, dann sprach er weiter. »Und ich war es auch.«

Dannyl, der Tayends Gesicht beobachtete, war überrascht zu sehen, dass sich das Lächeln des anderen Mannes vertiefte.

»Ich weiß.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Wie konntest du das wissen? Nicht einmal ich habe mich daran erinnert. Bis jetzt.«

»Erinnert?« Tayends Miene wurde wieder ernst, und er neigte den Kopf zur Seite. »Wie kann man so etwas vergessen?«

»Ich…« Dannyl seufzte, dann erklärte er dem Gelehrten, was es mit der Heilkunst auf sich hatte. »Nach einigen Jahren wurde es mir wahrscheinlich einfach zur Gewohnheit. Der Geist kann sehr mächtig sein, insbesondere bei Magiern. Man bildet uns darin aus, unseren Geist zu sammeln und ein hohes Maß an Konzentration zu erreichen. Ich habe jeden gefährlichen Gedanken beiseite gedrängt. Es hätte vielleicht nicht funktioniert, wäre ich nicht außerdem imstande gewesen, alle körperlichen Gefühle mit Magie zu unterdrücken.« Er verzog das Gesicht. »Aber es hat nichts geändert. Im Grunde ist, was das betraf, nur Leere zurückgeblieben. Ich habe weder Männer noch Frauen begehrt.«

»Das muss furchtbar gewesen sein.«

»Ja und nein. Ich habe einige Freunde. Wahrscheinlich war ich einsam. Aber es war eine dumpfe Art von Einsamkeit. Das Leben bereitet einem nicht viele Schmerzen, wenn man sich nicht auf andere Menschen einlässt.« Er hielt inne. »Aber lebt man dann überhaupt wirklich?«

Tayend antwortete nicht. Dannyl nahm einen wachsamen Zug im Gesicht des anderen Mannes wahr.

»Du wusstest es«, bemerkte Dannyl langsam. »Aber du konntest nichts sagen.« Weil ich mit Angst und Lügen darauf reagiert hätte.

Tayend zuckte die Achseln. »Es war eher eine Ahnung. Und wenn ich Recht hatte, wusste ich, dass die Chance bestand, dass du dich diesem Gefühl niemals stellen würdest. Nachdem ich jetzt gehört habe, welche Anstrengungen du unternommen hast, erstaunt es mich umso mehr, dass du es überhaupt getan hast.« Er hielt inne. »Es ist schwer, mit alten Gewohnheiten zu brechen.«

»Aber ich werde es tun.« Dannyl stockte, als ihm klar wurde, was er da gesagt hatte. Kann ich mich wirklich darauf einlassen? Kann ich akzeptieren, was ich bin, und mich der Angst vor Entdeckung und Ablehnung stellen?

Als er Tayend ansah, hörte er eine Stimme tief in sich antworten: Ja!


Der Weg zur Residenz des Hohen Lords war gesprenkelt mit winzigen bunten Blüten. Als der Wind durch die Bäume strich, flatterten weitere Blüten zu Boden. Sonea bewunderte die Farben. Seit dem Besuch bei ihrer Familie am vergangenen Tag war ihr ein wenig leichter ums Herz. Nicht einmal Regins Blicke im Unterricht hatten daran etwas geändert.

Als sie jedoch die Residenz erreichte, befiel sie ein vertrautes Gefühl der Beklemmung. Die Tür schwang bei ihrer Berührung auf. Sonea verneigte sich vor dem Magier, der im Empfangszimmer stand.

»Guten Abend, Sonea«, sagte Akkarin. Bildete sie es sich nur ein, oder klang seine Stimme tatsächlich anders als sonst?

»Guten Abend, Hoher Lord.«

Die gemeinsamen Mahlzeiten am Ersttag folgten einem inzwischen vertrauten Muster. Akkarin erkundigte sich jedes Mal nach ihrem Unterricht, und sie antwortete so ausführlich und genau wie nur möglich. Davon abgesehen sprachen sie nicht viel über andere Themen. An dem Abend, nachdem er sie in den Tunneln entdeckt hatte, hatte sie erwartet, dass er das Thema anschneiden würde, was zu ihrer Erleichterung jedoch nicht geschehen war. Offensichtlich war er der Meinung, dass sie keines weiteren Tadels bedurfte.

Sie trottete die Treppe hinauf. Wie immer erwartete Takan sie im Esszimmer. Ein köstlicher, würziger Geruch wehte zu ihr herüber, und sie spürte, dass ihr Magen vor Ungeduld knurrte. Aber als Akkarin ihr gegenüber Platz nahm, fiel ihr Ranels Geschichte über den Mörder wieder ein, und sie verlor den Appetit.

Sie blickte auf den Tisch hinab und sah dann verstohlen zu Akkarin. Saß sie einem Mörder gegenüber? Als er zu ihr herüberschaute, wandte sie hastig den Blick ab.

Ranel hatte gesagt, dass der Mörder einen Ring mit einem roten Edelstein getragen habe. Als sie jetzt Akkarins Hände betrachtete, war sie beinahe enttäuscht darüber, dass er keinen Ring trug. Sie konnte nicht einmal einen Abdruck erkennen, der darauf hätte schließen lassen, dass er regelmäßig Schmuck getragen haben könnte. Seine Finger waren lang und elegant und doch männlich …

Takan kam mit einem Tablett voller verschiedener Speisen herein und lenkte ihre Aufmerksamkeit vorübergehend ab. Als Sonea zu essen begann, richtete Akkarin sich auf, und sie wusste, dass er nun seine gewohnten Fragen stellen würde.

»Wie geht es deiner Tante und deinem Onkel und ihrem kleinen Sohn? Ist dein Besuch bei deiner Familie gestern Nachmittag zu deiner Zufriedenheit ausgefallen?«

Er weiß es! Sie sog die Luft ein und bekam einen Bissen in die falsche Kehle. Hastig griff sie nach einer Serviette, hielt sie sich vors Gesicht und hustete. Woher weiß er, wo ich war? Ist er mir gefolgt? Oder war er in den Hüttenvierteln, um nach Opfern Ausschau zu halten, und hat mich zufällig dort gesehen?

»Du wirst mir doch nicht unter den Händen sterben, oder?«, fragte er trocken. »Das käme mir sehr ungelegen.«

Sonea ließ die Serviette sinken und stellte fest, dass Takan mit einem Glas Wasser neben sie getreten war. Sie nahm es entgegen und trank einen Schluck.

Was soll ich sagen? Er weiß, wo Jonna und Ranel wohnen. Ein Stich der Furcht durchzuckte sie, aber sie drängte ihn beiseite. Wenn er gewollt hätte, hätte er das mühelos in Erfahrung bringen können, auch ohne ihr zu folgen. Möglich, dass er sogar aus ihren - oder Rothens - Gedanken gelesen hatte, wo ihre Familie lebte.

Er schien keine Antwort zu erwarten. »Ich habe nichts dagegen, dass du sie besuchst«, erklärte er. »Ich erwarte jedoch von dir, dass du mich grundsätzlich um Erlaubnis fragst, bevor du das Gelände der Gilde verlässt. Beim nächsten Mal, Sonea«, fuhr er fort und sah sie dabei mit harten Augen an, »wirst du gewiss daran denken, mich vorher zu fragen.«

Sonea senkte den Blick und nickte. »Ja, Hoher Lord.«


Die Tür öffnete sich gerade in dem Moment, als Lorlen die Residenz des Hohen Lords erreicht hatte. Sonea trat, ihren Bücherkoffer unterm Arm, hinaus. Sie blinzelte ihn überrascht an, dann verbeugte sie sich.

»Administrator.«

»Sonea«, erwiderte er.

Sie blickte auf seine Hand hinab, dann weiteten sich plötzlich ihre Augen, und sie drehte sich um und lief an ihm vorbei auf die Universität zu.

Lorlen schloss einen Moment lang die Augen. Offensichtlich hatte sie von dem Mörder und seinem roten Ring gehört. Was mochte sie jetzt von ihm denken? Während er ihr nachsah, schnürte sich ihm die Brust zusammen. Tag für Tag bewegte sie sich von einem unausweichlichen Albtraum zum nächsten. Aus dem Schatten Akkarins zu den Qualen, die die Novizen ihr zufügten. Es war eine grausame Situation.

Und eine unnötige. Er ballte die Fäuste, straffte sich und trat durch die Tür. Akkarin saß in einem der luxuriösen Sessel und nippte bereits an einem Weinglas.

»Warum lässt du zu, dass die Novizen sich gegen sie zusammenrotten?«, fragte er, bevor ihn Mut und Zorn verließen.

Akkarin hob die Augenbrauen. »Ich nehme an, du meinst Sonea? Es tut ihr gut.«

»Gut?«, entfuhr es Lorlen.

»Ja. Sie lernt auf diese Weise, sich zu verteidigen.«

»Gegen andere Novizen?«

»Sie sollte imstande sein, sie zu besiegen. Sie sind nicht besonders gut koordiniert.«

Lorlen schüttelte den Kopf und begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Aber sie besiegt sie nicht, und einige Magier fragen sich, warum du nicht eingreifst und dem Ganzen ein Ende machst.«

Akkarin zuckte die Achseln. »Es ist meine Sache, wie ich meine Novizin ausbilde.«

»Wie du sie ausbildest! Das ist keine Ausbildung

»Du hast Lord Yikmos Analyse gehört. Sie ist viel zu nett. Echte Konflikte werden sie lehren, sich zur Wehr zu setzen.«

»Aber hier geht es um fünfzehn Novizen, die gegen eine einzelne kämpfen. Wie kannst du erwarten, dass sie sich gegen so viele behauptet?«

»Fünfzehn?« Akkarin lächelte. »Als ich sie das letzte Mal beobachtet habe, waren es fast zwanzig.«

Lorlen blieb jäh stehen und starrte den Hohen Lord an. »Du hast sie beobachtet?«

»Wann immer es nur möglich ist.« Akkarins Lächeln vertiefte sich. »Obwohl es nicht immer einfach ist, mit ihnen Schritt zu halten. Ich wüsste gern, wie diese letzte Geschichte ausgegangen ist. Es waren achtzehn, vielleicht neunzehn Novizen, und Sonea hat es trotzdem geschafft, sich zu befreien.«

»Sie ist ihnen entkommen?« Lorlen fühlte sich mit einem Mal ein wenig benommen. Er ging zu einem Sessel hinüber und ließ sich in das weiche Polster sinken. »Aber das bedeutet …«

Akkarin kicherte. »Ich würde dir raten, es dir gut zu überlegen, wenn du die Absicht hättest, es in der Arena mit ihr aufzunehmen, Lorlen, obwohl ihr Mangel an Geschick und Selbstvertrauen dir gewiss den Sieg sichern würden.«

Lorlen antwortete nicht, denn er hatte noch immer Mühe zu begreifen, dass eine so junge Novizin wie Sonea bereits so mächtig sein konnte. Akkarin beugte sich zu ihm vor, und seine dunklen Augen funkelten.

»Jedes Mal, wenn die anderen sie angreifen, wächst sie ein klein wenig weiter über sich hinaus«, sagte er leise. »Sie lernt, sich auf eine Weise zu verteidigen, die weder Balkan noch Yikmo ihr beibringen können. Ich werde Regin und seine Komplizen nicht aufhalten. Sie sind die besten Lehrer, die Sonea hat.«

»Aber… warum willst du, dass sie stärker wird?«, flüsterte Lorlen. »Hast du keine Angst, dass sie sich gegen dich wenden könnte? Was wirst du tun, wenn sie ihren Abschluss macht?«

Akkarins Lächeln verschwand. »Sie ist die erwählte Novizin des Hohen Lords. Die Gilde erwartet von ihr, dass sie sich durch besondere Leistungen auszeichnet. Aber sie wird niemals stark genug sein, um mir gefährlich werden zu können.« Er wandte den Blick ab, und seine Miene verhärtete sich. »Was ihren Abschluss betrifft, so werde ich meine Entscheidung treffen, wenn es so weit ist.«

Als Lorlen den berechnenden Ausdruck in Akkarins Augen sah, schauderte er. Die Erinnerung an seinen Besuch im Wachhaus kehrte zurück. Die Bilder des ermordeten jungen Mannes und seines Vaters waren schwer zu vergessen. Auch wenn der Tod des jungen Mannes bei weitem grausamer gewesen war, hatte er Lorlen nicht annähernd so erschreckt wie das, was mit seinem Vater geschehen war. Die Handgelenke des älteren Mannes hatten flache Schnittwunden aufgewiesen, und er hatte nur wenig Blut verloren. Trotzdem war er tot.

Auf Akkarins Anweisung hin hatte Lorlen Barran erklärt, dass er keine Magier aussenden würde, die nach dem wilden Magier, der der Urheber dieser Untaten sein musste, suchen sollten. Die Suche nach Sonea hatte dazu geführt, dass sie zu den Dieben geflohen war, und diese hatten sie monatelang vor der Gilde versteckt. Obwohl es hieß, dass die Diebe ebenfalls auf der Jagd nach dem Mörder seien, bestand doch die Gefahr, dass die Diebe dem Mörder einen Handel vorschlugen, wenn er ihre Hilfe suchte. Daher war es besser, wenn die Gilde dem Mörder keinen Grund lieferte, sich allzu gut zu verstecken. Die Stadtwache musste ihn finden, dann würde Lorlen dafür sorgen, dass sie bei seiner Gefangennahme von Magiern unterstützt wurde. Barran hatte ihm zugestimmt, dass dies die klügste Vorgehensweise sei.

Aber dazu würde es niemals kommen, wenn der Mörder Akkarin war. Lorlen musterte den schwarzgewandeten Mann verstohlen. Am liebsten hätte er Akkarin gefragt, ob er etwas mit den Morden zu tun habe, aber er hatte Angst vor der Antwort. Und selbst wenn die Antwort ein Nein war, konnte er ihm dann glauben?

»Ah, Lorlen.« Akkarin klang erheitert. »Man könnte glatt denken, Sonea sei deine Novizin.«

Lorlen zwang sich, sich wieder auf das ursprüngliche Thema zu konzentrieren. »Wenn ein Mentor seine Pflichten vernachlässigt, ist es meine Aufgabe, Abhilfe zu schaffen.«

»Und wenn ich dir sage, dass du diese Angelegenheit auf sich beruhen lassen sollst, wirst du es dann tun?«

Lorlen runzelte die Stirn. »Natürlich«, antwortete er widerstrebend.

»Kann ich mich darauf verlassen?« Akkarin seufzte. »Nachdem du, was Dannyl betrifft, nicht getan hast, worum ich dich gebeten hatte?«

Lorlen runzelte überrascht die Stirn. »Dannyl?«

»Er hat seine Nachforschungen fortgesetzt.«

Bei dieser Neuigkeit flackerte ein Hoffnungsfunke in Lorlen auf, der jedoch schnell wieder erlosch. Was immer Dannyl auch herausfinden mochte, würde ihnen nicht weiterhelfen - nicht nachdem Akkarin von dem Tun des jungen Magiers wusste. »Ich habe ihm den Befehl gegeben, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen.«

»Dann hat er dir offensichtlich nicht gehorcht.«

Lorlen zögerte. »Was wirst du jetzt tun?«

Akkarin leerte sein Glas, dann erhob er sich und ging zu dem Getränketisch hinüber. »Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich befürchte, dass er einen bestimmten Ort aufsuchen wird. Wenn er das tut, wird er sterben - und das nicht durch meine Hand.«

Lorlen stockte das Herz. »Kannst du ihn warnen?«

Akkarin stellte sein Glas auf den Tisch und seufzte. »Es könnte bereits zu spät sein. Ich werde die Risiken abwägen müssen.«

»Risiken?« Lorlen runzelte die Stirn. »Welche Risiken?«

Akkarin drehte sich um und lächelte. »Du hast heute Abend aber wirklich viele Fragen. Ich wüsste gern, ob in letzter Zeit irgendetwas ins Quellwasser geraten ist. Neuerdings scheinen alle so mutig geworden zu sein.« Er wandte sich ab und füllte sein eigenes Glas und ein weiteres mit Wein. »Das ist alles, was ich im Moment dazu sagen kann. Wenn es mir freistünde, dir zu erzählen, was ich weiß, würde ich es tun.«

Er durchquerte den Raum und reichte Lorlen ein Glas.

»Fürs Erste wirst du mir einfach vertrauen müssen.«

34 Wären die Dinge nur so einfach

Als sie die Biegung der Straße erreichten, von der aus sie Dem Ladeiris Haus zum ersten Mal gesehen hatten, zügelten Dannyl und Tayend ihre Pferde und warfen einen letzten Blick auf das Gebäude.

»Wer hätte gedacht, dass wir in diesem alten Kasten die Antworten auf so viele Fragen finden würden?«, sagte Tayend kopfschüttelnd.

Dannyl nickte. »Es waren einige interessante Tage.«

»Also, das ist nun wirklich eine Untertreibung.« Tayends Mundwinkel zuckten, und er sah Dannyl von der Seite an.

Dannyl lächelte über den Gesichtsausdruck des Gelehrten, dann blickte er zu den Bergen über Ladeiris Haus hinauf. Die Ruinen von Armje lagen hinter einem der Felskämme verborgen.

Tayend schauderte. »Es macht mich nervös zu wissen, dass diese Höhle dort oben ist.«

»Ich bezweifle, dass nach Akkarin noch irgendwelche Magier Armje besucht haben«, erwiderte Dannyl. »Und diese Tür lässt sich nur mit Magie öffnen - oder indem man die ganze Wand einreißt. Ich hätte den Dem gewarnt, aber ich wollte nicht mit ihm darüber sprechen, bevor ich mich mit der Gilde beraten habe.«

Tayend nickte. Er trieb sein Pferd weiter, und Dannyl folgte ihm. »In jedem Fall haben wir einige weitere Informationen über diesen König von Charkan gefunden. Wenn wir ein paar Wochen übrig hätten, könnten wir nach Sachaka reisen.«

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das klug wäre.«

»Akkarin hat diese Reise sehr wahrscheinlich damals unternommen. Warum sollten wir es nicht auch tun?«

»Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er tatsächlich dorthin gegangen ist.«

»Wenn wir über die Berge reiten würden, würden wir vielleicht Beweise dafür finden, dass er seinerzeit dort war. Diese Sachakaner werden sich gewiss daran erinnern, ob ihnen ein Magier der Gilde begegnet ist. Hast du von irgendwelchen anderen Magiern gehört, die während der letzten zehn Jahre in Sachaka waren?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Nein.«

»Wenn jemand dort gewesen wäre, hätte er gewiss erfahren, dass ein anderer Magier der Gilde vor ihm im Land gewesen ist.«

»Vielleicht.« Wieder verspürte Dannyl das schleichende Unbehagen, das ihm seit ihrem Besuch in Armje zu schaffen machte. Der Gedanke an andere Magier erinnerte ihn daran, dass er eines Tages in die Gilde würde zurückkehren müssen. Als könnten seine Kollegen vielleicht sehen, dass …

Aber diese Sorge war unbegründet, das wusste er. Nur indem sie ihn ansahen, würden sie sein Geheimnis nicht entdecken können. Wer würde jemals etwas beweisen können, solange er und Tayend diskret waren und er niemals jemandem gestattete, eine Wahrheitslesung bei ihm vorzunehmen, und er in der Gedankenrede Vorsicht walten ließ?

Er blickte zu Tayend hinüber. Rothen würde sagen, ich sei schlau genug, um jedes Geheimnis zu enthüllen - oder zu verbergen, überlegte er.

Dannyl.

Erschrocken richtete Dannyl sich im Sattel auf. Dann erkannte er die Persönlichkeit hinter dem geistigen Ruf und war wie gelähmt vor Überraschung.

Dannyl.

Panik stieg in ihm auf. Warum rief Akkarin nach ihm? Was wollte der Hohe Lord? Dannyl sah Tayend an. Oder hatte er gehört, dass… Aber nein, diese Angelegenheit war gewiss nicht wichtig genug, um …

Dannyl.

Er musste antworten. Einen Ruf des Hohen Lords durfte er nicht ignorieren. Dannyl schluckte und atmete tief durch. Dann schloss er die Augen und sandte einen Namen aus.

Akkarin?

Wo seid Ihr?

In den Bergen von Elyne. Er sandte ein Bild von der Straße. Ich habe mich erboten, Botschafter Errends alle zwei Jahre fällige Runde bei den Dems zu übernehmen, um mich mit dem Land ein wenig vertraut zu machen.

Und um entgegen Lorlens Anweisungen Eure Nachforschungen fortzusetzen.

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Dannyl staunte selbst über die Erleichterung, die er empfand. Wenn Akkarin Gerüchte über Tayend und ihn zu Ohren gekommen wären … Er wandte seine Gedanken hastig von dem Thema ab.

Ja, bestätigte er und konzentrierte sich bewusst auf das Grab der Weißen Tränen und das Rätsel um den König von Charkan. Ich bin der Sache aus eigenem Interesse weiter nachgegangen. Lorlen hat mir nicht ausdrücklich untersagt, das zu tun.

Eure Pflichten als Botschafter sind offensichtlich nicht allzu zeitraubend.

Dannyl zuckte zusammen. Hinter Akkarins Worten verbarg sich unverkennbare Missbilligung. Machte er sich einfach Sorgen, dass Dannyl zu viel Zeit auf seine Nachforschungen verwandte, oder missfiel es ihm, dass ein anderer Magier die Arbeit fortsetzte, die er aufgegeben hatte? Oder ärgerte es ihn, dass jemand einen Teil seiner Vergangenheit erkundete? Hatte er etwas zu verbergen?

Ich möchte Eure Entdeckungen mit Euch persönlich besprechen. Kehrt sofort in die Gilde zurück und bringt Eure Notizen mit.

Überrascht zögerte Dannyl, bevor er fragte:

Was ist mit den noch ausstehenden Besuchen bei den Dems?

Ihr werdet später zurückkehren, um Eure Pflichten weiter wahrzunehmen.

Wie Ihr wünscht … Ich werde vorher noch

Erstattet mir Bericht, sobald Ihr angekommen seid.

Akkarins Tonfall machte deutlich, dass das Gespräch beendet war. Dannyl öffnete die Augen und fluchte.

»Was ist passiert?«, fragte Tayend.

»Das war… der Hohe Lord.«

Tayends Augen weiteten sich. »Was hat er gesagt?«

»Er hat von unseren Nachforschungen erfahren.« Dannyl seufzte. »Ich glaube, er ist nicht allzu glücklich darüber. Er hat mir befohlen zurückzukehren.«

»Zurückkehren … in die Gilde?«

»Ja. Mit unseren Notizen.«

Tayend sah ihn entsetzt an, dann verhärtete sich seine Miene. »Wie hat er das erfahren?«

»Ich weiß es nicht.« Die Frage war berechtigt. Bei der Erinnerung an die Geschichten, nach denen Akkarin in der Lage sei, auch die Gedanken widerstrebender Geister zu lesen, schauderte Dannyl abermals. Es hat einen Moment gegeben, in dem ich an Tayend dachteHat er irgendetwas entdeckt?

»Ich werde dich begleiten«, sagte Tayend.

»Nein«, widersprach Dannyl erschrocken. »Glaub mir, du möchtest da nicht mit hineingezogen werden.«

»Aber…«

»Nein, Tayend. Es ist besser, er erfährt nicht, wie viel du über diese Dinge weißt.« Dannyl trieb sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Er dachte an die langen Wochen des Reisens zu Pferd und mit dem Schiff, die zwischen diesem Tag und seiner Begegnung mit Akkarin lagen. Eigentlich hätte er den Wunsch haben müssen, diesen Moment möglichst lange hinauszuzögern, aber stattdessen verspürte er den Drang, ihm entgegenzueilen, denn ein bestimmter Gedanke bewegte ihn mehr als alle anderen.

Was würde mit Tayend geschehen, wenn Akkarin daran Anstoß nahm, dass Dannyl seine Nachforschungen fortgesetzt hatte? Würde die Missbilligung des Hohen Lords sich auch auf den Gelehrten erstrecken? Könnte Tayend den Zutritt zu der Großen Bibliothek verlieren?

Es kümmerte Dannyl nicht, welche Konsequenzen er zu tragen hatte, solange Tayend nicht darunter leiden musste. Was auch geschah, Dannyl würde dafür sorgen, dass man ihn als den einzig Verantwortlichen betrachtete.


Die Gartenbank war warm. Sonea stellte ihren Bücherkoffer auf den Boden, schloss die Augen und genoss die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Sie konnte das Geplauder anderer Novizen hören und die tieferen Stimmen älterer Magier, die langsam näher kamen.

Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass mehrere Heiler den Pfad hinunter auf sie zuschlenderten. Einige waren jüngere Absolventen. Jetzt brachen sie in lautes Gelächter aus, und als zwei von ihnen auseinander traten, erhaschte Sonea einen Blick auf ein vertrautes Gesicht.

Dorrien!

Ihr Herz schlug schneller. Sie stand auf und eilte einen Seitenweg hinunter, in der Hoffnung, dass der junge Magier sie nicht gesehen hatte. Sie kam in einen kleinen, von hohen Hecken abgegrenzten Bereich des Gartens und setzte sich auf eine andere Bank.

Sie hatte Dorrien mit Macht aus ihren Gedanken gedrängt, wohl wissend, dass Monate vergehen würden, vielleicht sogar mehr als ein Jahr, bevor er die Gilde das nächste Mal besuchen würde. Aber jetzt war er hier, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Warum war er so bald zurückgekehrt? Hatte Rothen ihm von Akkarin erzählt? Unmöglich. Aber vielleicht hatte er Dorrien bei ihren mittels Gedankenrede geführten Gesprächen unbeabsichtigt den Eindruck vermittelt, dass irgendetwas hier nicht so sei, wie es sein sollte.

Sie runzelte die Stirn. Aus welchem Grund auch immer er hier war, Dorrien würde sie gewiss aufsuchen. Sie würde ihm sagen müssen, dass sie kein Interesse mehr an irgendetwas anderem als Freundschaft hätte. Nun, das war ein Gespräch, auf dass sie sich würde vorbereiten müssen.

»Sonea.«

Sie sprang auf. Dorrien stand am Eingang des kleinen Gartens.

»Dorrien!« Sie kämpfte ihre Panik nieder. Er musste sie gesehen haben und ihr gefolgt sein. Zumindest brauchte sie keine Überraschung zu heucheln. »Du bist schon wieder da!«

Er lächelte und kam näher. »Nur für eine Woche. Hat mein Vater dir nichts davon erzählt?«

»Nein … aber wir sehen uns jetzt nicht mehr sooft.«

»Das sagte er.« Sein Lächeln verschwand. Er setzte sich auf die Bank und musterte Sonea fragend. »Er hat mir erzählt, dass du jetzt abends Kurse besuchst und den größten Teil deiner Zeit auf das Studium verwendest.«

»Nur weil ich eine völlig hoffnungslose Kriegerin bin.«

»Da habe ich aber anderes gehört.«

Sie runzelte die Stirn. »Was hast du denn gehört?«

»Dass du mit mehreren Novizen gleichzeitig gekämpft - und gesiegt hast.«

Sonea zuckte zusammen.

»Oder habe ich das mit dem Siegen falsch verstanden?«

»Wie viele Leute wissen davon?«

»Die meisten.«

Sonea barg den Kopf in den Händen und stöhnte. Dorrien kicherte und klopfte ihr sachte auf die Schulter.

»Regin steckt dahinter, nicht wahr?«

»Natürlich.«

»Warum unternimmt dein neuer Mentor nichts dagegen?«

Sonea zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass er Bescheid weiß. Und ich möchte auch nicht, dass er davon erfährt.«

»Ich verstehe.« Dorrien nickte. »Wenn Akkarin ständig zu deiner Rettung käme, würden die Leute wohl sagen, du seist keine gute Wahl gewesen. Die Novizen sind alle eifersüchtig auf dich. Sie begreifen nicht, dass sie in der gleichen Situation wären, wenn der Hohe Lord sie ausgewählt hätte. Und die Tatsache, dass sie aus den Häusern stammen, hätte die Dinge kaum geändert. Jeder Novize, den er erwählt hätte, wäre eine Zielscheibe gewesen. Man würde von ihm erwarten, dass er pausenlos beweist, dass er der Wahl des Hohen Lords würdig war.«

Dorrien verfiel in Schweigen, und Sonea konnte an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass er konzentriert nachdachte. »Das heißt, es liegt an dir, diesen Novizen Einhalt zu gebieten.«

Sie lachte verbittert. »Ich glaube nicht, dass es diesmal etwas ändern würde, wenn ich Regin eine Falle stellte.«

»Oh, daran hatte ich auch nicht gedacht.«

»Woran hast du denn gedacht?«

Dorrien lächelte. »Du musst beweisen, dass du die Beste bist. Dass du ihn in seinem eigenen Spiel schlagen kannst. Was hast du bisher getan, um es ihm heimzuzahlen?«

»Nichts. Ich kann nichts tun. Es sind zu viele.«

»Es muss doch auch Novizen geben, die ihn nicht mögen«, bemerkte er. »Bring sie dazu, dir zu helfen.«

»Niemand redet mehr mit mir.«

»Immer noch nicht? Einige von ihnen müssen doch einen Vorteil darin erkennen, mit dem Schützling des Hohen Lords befreundet zu sein.«

»Wenn das der einzige Grund wäre, warum sie meine Freundschaft wollten, dann will ich liebend gern darauf verzichten.«

»Aber solange du weißt, dass das der Grund für ihre ›Freundschaft‹ ist, warum nutzt du die Situation dann nicht einfach zu deinem Vorteil aus?«

»Vielleicht weil Regin für den letzten Novizen, der meine Freundschaft gesucht hat, einen kleinen Unfall arrangiert hat.«

Dorrien runzelte die Stirn. »Hm. Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Dann müssen wir uns also etwas anderes ausdenken.«

Abermals verfiel er in Schweigen. Sonea kämpfte mit einem vagen Gefühl der Enttäuschung. Sie hatte gehofft, dass Dorrien mit irgendeiner erfinderischen Strategie aufwarten würde, um Regins Hinterhalten ein Ende zu machen, aber vielleicht überstieg das Problem diesmal selbst seine Fähigkeiten.

»Ich denke, was Regin braucht«, sagte er plötzlich, »ist eine gründliche, öffentliche Tracht Prügel.«

Soneas Herz setzte aus. »Du wirst ihn doch nicht…«

»Nicht von mir. Von dir.«

»Von mir

»Du bist stärker als er, nicht wahr? Beträchtlich stärker, wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf.«

»Hm, ja«, gab Sonea zu. »Deshalb hat er ja auch so viele andere um sich geschart, die ihm helfen.«

»Dann fordere ihn heraus. Eine formelle Herausforderung zu einem Duell in der Arena.«

»Eine formelle Herausforderung?« Sie starrte ihn entgeistert an. »Du meinst… ich soll vor allen anderen mit ihm kämpfen?«

»Ja.«

»Aber…« Plötzlich fiel ihr etwas ein, das Lord Skoran gesagt hatte. »Es hat seit über fünfzig Jahren kein Duell mehr gegeben - und das war ein Kampf zwischen zwei erwachsenen Magiern, nicht zwischen Novizen.«

»Es gibt keine Regel dagegen, dass Novizen formelle Herausforderungen aussprechen.« Dorrien zuckte die Achseln. »Es ist natürlich ein Risiko. Wenn du verlierst, werden die Schikanen wahrscheinlich noch schlimmer werden. Aber wenn du so viel stärker bist als er, wie könntest du da verlieren?«

»›Talent kann Stärke überwinden‹«, zitierte Sonea.

»Stimmt, aber du bist nicht untalentiert.«

»Ich habe Regin noch nie zuvor geschlagen.«

Dorrien zog die Augenbrauen in die Höhe. »Aber wenn du so stark bist, wie man sagt, dann werden deine Kräfte im Unterricht begrenzt worden sein, hab ich Recht?«

Sie nickte.

»In einem formellen Duell wären sie es nicht.«

Ein winziges Fünkchen Hoffnung flackerte in Sonea auf, gepaart mit jäher Erregung. »Ist das wirklich so?«

»Ja. Der Gedanke dahinter ist folgender: Die beiden Duellanten stehen einander als das gegenüber, was sie sind, ohne Beschränkungen oder Verstärkung. Es ist im Grunde eine lächerliche Methode, einen Disput zu lösen. Kein Duell hat je bewiesen, dass ein Mann - oder eine Frau - Recht oder Unrecht hatte.«

»Aber darum geht es in diesem Fall nicht«, sagte Sonea langsam. »Hier geht es darum, Regin klar zu machen, dass es sich nicht lohnt, mir nachzustellen. Wenn er erst einmal eine demütigende Niederlage erlitten hat, wird er keine weitere riskieren wollen.«

»Du hast es begriffen.« Dorrien lächelte. »Und sieh zu, dass du deine Herausforderung vor möglichst großem Publikum vorbringst. Auf diese Weise wird er gezwungen sein, sie anzunehmen, wenn er nicht den Namen seiner Familie entehren will. Nimm dir diesen dummen Jungen ordentlich vor und gib ihm die Prügel, die er verdient. Wenn er dich danach immer noch schikaniert, forderst du ihn abermals heraus. Er wird dir keinen Grund geben, ihn immer wieder in eine solche Situation zu bringen.«

»Es würde außer ihm niemand in die Sache hineingezogen werden«, flüsterte Sonea. »Niemand würde verletzt werden, und ich brauche mir keine falschen Freundschaften zu erschmeicheln.«

»O doch, genau das solltest du tun«, sagte er ernst. »Du wirst Leute brauchen, die dich unterstützen. Regin könnte sonst auf den Gedanken kommen, dass die Leute seine Entschlossenheit bewundern, wenn er dir wieder und wieder nachstellt, um eine Möglichkeit zu finden, dich zu besiegen. Du solltest andere Novizen um dich scharen, Sonea.«

»Aber …«

»Aber?«

Sie seufzte. »So bin ich einfach nicht, Dorrien. Ich möchte nicht die Anführerin irgendeiner schäbigen kleinen Bande sein.«

»Das ist in Ordnung.« Er lächelte. »Du brauchst nicht wie Regin zu sein. Zeig den anderen einfach, dass es Spaß macht, mit dir zusammen zu sein - und das dürfte dir nicht weiter schwer fallen. Ich finde, es macht großen Spaß, mit dir zusammen zu sein.«

Sie wandte den Blick ab. Genau jetzt sollte ich irgendetwas sagen, um ihn abzuschrecken, dachte sie. Aber ihr fiel nichts ein. Als sie ihn wieder ansah, bemerkte sie einen wachsamen, enttäuschten Ausdruck auf seinem Gesicht, und ihr wurde klar, dass sie ihm mit ihrem Schweigen genug gesagt hatte.

Er lächelte, aber diesmal trat kein Funkeln in seine Augen. »Was hast du denn sonst noch so getrieben?«

»Nicht viel. Wie geht es Rothen?«

»Er vermisst dich schrecklich. Du weißt doch, dass du für ihn wie eine Tochter bist, nicht wahr? Es war hart genug für ihn, als ich fortgegangen bin, aber er wusste, dass ich gehen würde, und als es so weit war, hatte er sich bereits an den Gedanken gewöhnt. In deinem Fall war es ein weit größerer Schock.«

Sonea nickte. »Für uns beide.«


Als Rothen das Klassenzimmer betrat, schickte er seine beiden freiwilligen Helfer zum Vorführtisch hinüber. Während die Novizen ihre Lasten abstellten, öffnete er den Vorratsschrank und überzeugte sich davon, dass er genug Material für die nächste Klasse vorrätig hatte.

»Lord Rothen«, sagte einer der Jungen.

Der Junge deutete auf die Tür. Rothens Herz setzte einen Schlag aus, als er sah, wer dort stand.

»Lord Rothen«, sagte Lorlen. »Ich würde gern unter vier Augen mit Euch sprechen.«

Rothen nickte. »Natürlich, Administrator.« Er drehte sich zu den beiden Novizen um und deutete mit dem Kopf auf die Tür. Die beiden durchquerten den Raum, verbeugten sich vor Lorlen und verschwanden.

Als die Tür sich hinter ihnen schloss, schlenderte Lorlen zum Fenster hinüber; seine Miene war angespannt und besorgt. Akkarin hatte ihnen verboten, miteinander zu reden - es musste also eine sehr wichtige Angelegenheit sein, die den Administrator dazu bewogen hatte, gegen den Befehl des Hohen Lords zu verstoßen.

Oder war Sonea etwas zugestoßen? Furcht stieg in Rothen auf. War Lorlen gekommen, um ihm diese schreckliche Neuigkeit zu überbringen, wohl wissend, dass es ihm dadurch freistehen würde, eine Konfrontation mit Akkarin herbeizuführen?

»Ich habe vorhin Euren Sohn im Garten gesehen«, begann Lorlen. »Wird er lange hier bleiben?«

Rothen schloss erleichtert die Augen. Es ging also um Dorrien, nicht um Sonea.

»Eine Woche«, antwortete er.

»Er war mit Sonea zusammen.« Lorlen runzelte die Stirn. »Haben die beiden sich bei Dorriens letztem Besuch … angefreundet?«

Rothen sog scharf die Luft ein. Er hatte vermutet - und gehofft -, dass Dorriens Interesse an Sonea mehr gewesen war als bloße Neugier. Aus Lorlens Frage war jedoch deutlich zu entnehmen, dass der Administrator aus dem Verhalten der beiden gewisse Schlüsse gezogen haben musste. Unter anderen Umständen hätte Rothen sich vielleicht darüber gefreut, stattdessen empfand er nur Bestürzung. Was würde Akkarin tun, wenn er von dieser Geschichte erfuhr?

Rothen wählte seine Worte mit großem Bedacht. »Dorrien weiß, dass noch viele Jahre vergehen werden, bis Sonea die Gilde verlassen darf - und dass sie, wenn es so weit ist, ihn vielleicht zurückweisen wird.«

Lorlen nickte. »Vielleicht wäre es klug, ihm darüber hinaus noch einen Wink zu geben - eine zusätzliche Entmutigung.«

»Bei Dorrien bewirken Entmutigungen häufig genau das Gegenteil«, bemerkte Rothen trocken.

Der Blick, den Lorlen ihm zuwarf, war ohne jede Heiterkeit. »Ihr seid sein Vater«, sagte er. »Von allen Menschen solltet Ihr am besten wissen, wie man mit ihm umgehen muss.«

Rothen wandte sich ab. »Ich wünsche mir genauso wenig wie Ihr, dass er in diese Angelegenheit verwickelt wird.«

Lorlen seufzte und sah auf seine Hände hinab. Er trug einen Ring, und der Rubin glitzerte im Licht. »Es tut mir Leid, Rothen. Wir haben schon genug Sorgen. Ich baue darauf, dass Ihr alles in Eurer Macht Stehende tun werdet. Glaubt Ihr, dass Sonea die Gefahr erkennen und ihn abweisen wird?«

»Ja.« Natürlich würde sie das tun. Ein Stich des Mitleids für seinen Sohn durchzuckte ihn. Armer Dorrien! Er hatte gewiss schon halb erwartet, dass Sonea das Interesse an ihm verlieren würde, eingedenk der vielen Jahre des Studiums, die noch vor ihr lagen, und seiner langen Abwesenheit von der Gilde. Aber wenn Dorrien den wahren Grund erführe, würde ihn das wahrscheinlich dazu treiben, eine Dummheit zu begehen. Besser, er erfuhr es nicht.

Wie mochten Soneas Gefühle aussehen? Fiel es ihr schwer, Dorrien abzuweisen? Rothen seufzte. Wie sehr er sich wünschte, er hätte sie fragen können.

Lorlen ging zur Tür hinüber. »Ich danke Euch, Rothen. Und nun werde ich Euch Euren Vorbereitungen überlassen.«

Rothen nickte und sah dem Administrator nach. Obwohl er Lorlens Resignation verstand, nahm er dem anderen Mann seine Einstellung übel. Deine Aufgabe wäre es, einen Ausweg zu finden, dachte er verdrossen. Langsam trat an die Stelle des Grolls ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

Wenn Lorlen keinen Ausweg finden konnte, wer dann?


Es ist noch lange nicht Morgen, dachte Sonea benommen. Noch nicht lange nach Mitternacht. Warum bin ich wach? Hat irgendetwas mich geweckt …?

Etwas Kühles berührte ihre Wange. Ein Luftzug. Sie schlug die Augen auf und nahm sich einen Moment Zeit, um das dunkle Quadrat zu betrachten, wo eine Tür hätte sein sollen. Etwas Bleiches bewegte sich in dieser Dunkelheit. Eine Hand.

Beim nächsten Herzschlag war sie hellwach. Ein bleiches Oval schwebte über der Hand. Darüber hinaus war er in seinen schwarzen Roben praktisch unsichtbar.

Was tut er da? Warum ist er hier?

Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie davon überzeugt war, er müsse es hören. Sie zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, voller Angst vor dem, was er vielleicht tun würde, wenn er begriff, dass sie wach war. Quälend lange zogen sich die Minuten hin, während er in ihrem Zimmer stand. Dann, als sie gerade einmal blinzelte, war er plötzlich fort, und die Tür war geschlossen.

Sie starrte die Tür an. War das Ganze ein Traum gewesen?

Sie war gut beraten, das zu glauben. Die Alternative war zu erschreckend. Ja, es musste ein Albtraum gewesen sein…

Als sie das nächste Mal erwachte, war es Morgen. Das Bild des nächtlichen Beobachters war verschmolzen mit der Erinnerung an Träume voller dunkler Gestalten und böser Ahnungen, und als Sonea aufstand und in ihre Robe schlüpfte, schob sie alle Gedanken daran energisch beiseite.

35 Die Herausforderung

Auf den ersten Blick war alles in Ordnung, aber als Sonea genauer hinsah, bemerkte sie, dass die Chemikalie in einer der Phiolen trüb und der Inhalt der anderen zu einem braunen Klumpen vertrocknet war. Das komplizierte Arrangement von Stangen und Gewichten in der Zeitschaltung war vergebens aufgebaut worden.

Von der Tür hinter ihr hörte Sonea ein leises, vertrautes Kichern. Sie richtete sich auf, drehte sich jedoch nicht um.

Nach ihrem Gespräch mit Dorrien war sie voller Zuversicht gewesen und bereit, Regin bei der ersten sich bietenden Gelegenheit herauszufordern, aber im Laufe des Tages waren ihr zunehmend Zweifel gekommen. Wenn sie sich ausmalte, tatsächlich gegen Regin zu kämpfen, erschien ihr diese Idee von Mal zu Mal weniger brillant und dafür umso törichter. Die Kriegskünste waren Regins bestes Fach - und ihr schlechtestes. Wenn sie verlor, würden die Schikanen niemals ein Ende nehmen. Es war das Risiko nicht wert.

Am Ende der Woche war sie zu dem Schluss gekommen, dass eine Herausforderung Regins das Schlimmste sei, was sie tun konnte. Wenn sie ihn gewähren ließ, würde das Spiel ihn vielleicht irgendwann langweilen. Sie konnte es ertragen, wenn man ihr außerhalb des Unterrichts Beschimpfungen zurief oder ihr auflauerte und sie quälte.

Aber dies ging zu weit. Als sie die Ruinen dessen, was ihre Arbeit gewesen war, betrachtete, stieg dunkler, siedender Zorn in ihr auf. Wenn Regin so etwas tun konnte, wenn die Lehrer ihn nicht einmal dafür bestraften, dass er eines ihrer Experimente sabotierte, dann hinderte er sie daran zu lernen. Und wenn er sie am Lernen hinderte, verringerte er die Chancen, dass sie eines Tages vielleicht stark genug sein würde, um der Gilde im Kampf gegen Akkarin beizustehen.

Während ihr Zorn wuchs, geschah etwas in ihr. Plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Regin zu Asche zu verbrennen.

Ein Duell. Es war ein Risiko. Aber auch wenn sie wartete, war es ein Glücksspiel. Vielleicht würde er seiner Schikanen niemals überdrüssig werden, vielleicht würde er sie niemals in Ruhe lassen. Außerdem wartete sie nicht gerne…

Langsam drehte sie sich um. Regin und die Novizen aus ihrer früheren Klasse standen in der Tür und beobachteten sie. Sie ging auf sie zu und drängte sich zwischen ihnen hindurch aus dem Klassenzimmer. Draußen auf dem Flur wimmelte es von Novizen und Lehrern. Das Stimmengewirr war laut, aber nicht so laut, dass es eine einzelne Stimme nicht hätte übertönen können. Ein Magier in purpurnen Roben erschien und kam auf das Klassenzimmer zu. Lord Sarrin, das Oberhaupt der Alchemisten. Perfekt.

»Was ist los, Sonea?«, höhnte Regin. »Hat dein Experiment nicht funktioniert?«

Sonea wirbelte zu Regin herum.

»Regin aus der Familie Winar und dem Haus Paren, ich fordere dich zu einem formellen Kampf in der Arena.«

Regins Gesicht erstarrte zu einer Maske der Überraschung.

Stille breitete sich aus wie Rauch. Aus den Augenwinkeln sah Sonea etliche Gesichter, die sich in ihre Richtung wandten. Selbst Lord Sarrin war stehen geblieben. Sie drängte das nagende Gefühl beiseite, sie könnte soeben etwas getan haben, was sie für den Rest ihres Lebens bereuen würde. Zu spät.

Endlich gelang es Regin, den Mund zu schließen. Seine Miene wurde nachdenklich. Sie fragte sich, ob er ihre Forderung ablehnen und erklären würde, sie sei es nicht wert, dass man gegen sie kämpfte. Gib ihm keine Zeit zum Nachdenken.

»Nimmst du meine Herausforderung an?«, fragte sie scharf.

Er zögerte, dann lächelte er breit. »Ich nehme an, Sonea aus einer Familie ohne Belang.«

Sofort wurde Getuschel im Flur laut. Aus Angst, der Mut könnte sie verlassen, wenn sie sich umsah, hielt Sonea den Blick auf Regin gerichtet. Er drehte sich kurz zu seinen Gefährten um, dann lachte er. »Oh, das wird ein …«

»Du wählst den Zeitpunkt«, blaffte sie ihn an.

Sein Lächeln verschwand für eine Sekunde, dann kehrte es wieder zurück. »Ich sollte dir wohl besser ein wenig Zeit geben, vorher noch etwas zu üben«, sagte er leichthin. »Freitag, morgen in einer Woche, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Das scheint mir großzügig genug zu sein.«

»Sonea«, erklang jetzt eine ältere Stimme.

Sie drehte sich um und stellte fest, dass Lord Elben auf sie zukam. Er funkelte das Publikum, das sich versammelt hatte, wütend an und runzelte die Stirn. »Dein Experiment ist fehlgeschlagen. Ich habe es mir gestern Abend angesehen und heute wieder, und ich kann keinen Grund dafür finden. Ich gebe dir noch einen Tag Zeit, um es ein zweites Mal zu versuchen.«

Sie verneigte sich. »Vielen Dank, Lord Elben.«

Er musterte die Novizen, die in der Tür standen. »Genug geplaudert. Soweit ich weiß, findet der Unterricht innerhalb der Räume statt.«


Im Abendsaal herrschte großer Andrang. Seit der Jagd auf Sonea hatte Lorlen nicht mehr so viele Gäste hier gesehen. Selbst Magier, die nur selten an der allwöchentlichen geselligen Zusammenkunft teilnahmen, waren heute zugegen.

Der bemerkenswerteste unter diesen seltenen Gästen war der Mann an seiner Seite. Das Meer roter, grüner und purpurner Roben teilte sich vor Akkarin, während dieser dem Sessel entgegenstrebte, der inoffiziell als der seine galt.

Akkarin unterhielt sich bestens. Andere mochten aus seiner teilnahmslosen Miene auf Desinteresse schließen, aber Lorlen wusste es besser. Wenn Akkarin sich nicht an der Diskussion über den jüngsten Vorfall hätte beteiligen wollen, wäre er nicht hier gewesen. Die drei Oberhäupter der Disziplinen hatten sich bereits um Akkarins Sessel versammelt, und als der Hohe Lord Platz nahm, kamen noch weitere Magier hinzu. Unter ihnen befand sich, wie Lorlen bemerkte, auch Rothens Sohn, Dorrien.

»Eure Novizin hat anscheinend wieder einmal einen Weg gefunden, uns zu unterhalten, Akkarin«, sagte Lady Vinara. »Ich frage mich langsam, was wir von ihr werden erwarten können, wenn sie erst ihren Abschluss gemacht hat.«

Akkarins Mundwinkel zuckten. »Dieselbe Frage stelle ich mir auch.«

»War diese Herausforderung Eure Idee oder ihre?«, brummte Balkan.

»Meine Idee war es nicht.«

Balkan zog die Brauen in die Höhe. »Und sie hat Euch nicht um Erlaubnis gefragt?«

»Nein, aber ich glaube, es gibt keine Regel, die das verlangt, obwohl es vielleicht eine geben sollte.«

»Dann hättet Ihr Eure Erlaubnis also versagt, wenn sie Euch gefragt hätte?«

Akkarins Augen wurden schmal. »Nicht unbedingt. Wenn sie mich nach meiner Meinung gefragt hätte, hätte ich ihr vielleicht geraten, noch zu warten.«

»Vielleicht war es ja eine spontane Entscheidung«, sagte Lord Peakin, der hinter Vinaras Sessel stand.

»Nein«, erwiderte Lord Sarrin. »Sie hat einen Augenblick gewählt, in dem sie sich zahlreicher Zeugen sicher sein konnte. Regin hatte keine andere Wahl, als ihre Herausforderung anzunehmen.«

Lorlen bemerkte, dass das Oberhaupt der Alchemisten zu einem Magier am Rand der Gruppe hinübersah, und er folgte Sarrins Blick. Lord Garrel lauschte dem Gespräch mit einem leicht missbilligenden Ausdruck.

»Wenn sie diese Herausforderung geplant hat, muss sie sich ihres Sieges sehr sicher sein«, warf Peakin ein. »Stimmt Ihr Sonea darin zu, Lord Balkan?«

Der Krieger zuckte die Achseln. »Sie ist stark, aber ein geschickter Gegner könnte sie überwältigen.«

»Und Regin?«

»Er ist geschickter als die meisten Novizen des zweiten Jahres.«

»Geschickt genug, um zu siegen?«

Balkan blickte zu Akkarin hinüber. »Geschickt genug, um eine Voraussage zu erschweren.«

»Glaubt Ihr, dass sie siegen wird?«, fragte Vinara Akkarin.

Der Hohe Lord schwieg kurz, bevor er antwortete. »Ja.«

Sie lächelte. »Aber natürlich glaubt Ihr das. Sie ist Eure Novizin, und es ist Eure Pflicht, sie zu unterstützen.«

Akkarin nickte. »Auch das entspricht der Wahrheit.«

»Sie tut das zweifellos, um Euch zu gefallen.« Als Lorlen Garrels Stimme hörte, hob er überrascht den Kopf.

»Das glaube ich kaum«, erwiderte Akkarin.

Erstaunt über dieses Eingeständnis, sah Lorlen zuerst Akkarin und dann die übrigen Magier an. Keiner der anderen schien überrascht zu sein. Nur Rothens Sohn, Dorrien, wirkte nachdenklich. Vielleicht war ihm aufgefallen, dass Sonea ihren Mentor nicht mochte.

»Aber aus welchem Grund tut sie es dann?«, fragte Peakin.

»Wenn sie den Sieg davonträgt, wird Regin sie aus Angst vor einer weiteren Herausforderung und einer neuerlichen Niederlage nicht länger schikanieren«, antwortete Vinara.

Es folgte eine Pause, in der die Magier gespannte Blicke wechselten. Indem Vinara in Akkarins und Garrels Gegenwart offen von Regins Schikanen gesprochen hatte, hatte sie die Aufmerksamkeit auf den potenziellen Konflikt zwischen den beiden Mentoren gelenkt. Normalerweise scheute niemand davor zurück, über verfeindete Novizen zu sprechen, selbst wenn deren Mentoren zugegen waren, aber nur wenige Magier hätten es gewagt, dieses Thema anzuschneiden, wenn es sich bei einem der Mentoren um den Hohen Lord handelte. Das brachte Garrel in eine interessante Position.

Keiner der beiden Mentoren sagte etwas.

»Das dürfte vom Verlauf des Kampfes abhängen«, brach Balkan schließlich das Schweigen. »Wenn sie lediglich durch brutale Stärke siegt, wird sie sich damit keinen Respekt verdienen.«

»Das macht keinen Unterschied«, wandte Sarrin ein. »Ganz gleich, auf welche Weise sie siegt, sie wäre anschließend vor Regin sicher. Ich bezweifle, dass es sie interessiert, ob ihre Kampfkünste ihr Respekt eintragen oder nicht.«

»Es gibt Methoden, mit denen man einen stärkeren Magier besiegen kann«, rief Balkan ihm ins Gedächtnis. »Regin weiß das. Er hat mich bereits gebeten, ihn in diesen Techniken zu unterweisen.«

»Und Sonea? Werdet Ihr Sonea ebenfalls zusätzliche Unterrichtsstunden geben?«, fragte Vinara Balkan.

»Lord Yikmo ist ihr Lehrer«, warf Akkarin ein.

Balkan nickte. »Sein Unterrichtsstil eignet sich besser für ihr Temperament als der meine.«

»Wer wird den Kampf überwachen?«, fragte ein anderer Magier.

»Das werde ich tun«, antwortete Balkan. »Falls niemand dagegen Protest erhebt. Lord Garrel wird Regin schützen. Werdet Ihr Sonea schützen?«, fragte er Akkarin.

»Ja.«

»Da kommt Soneas Lehrer«, sagte Lord Sarrin. Lorlen drehte sich um und bemerkte, dass Lord Yikmo den Raum betreten hatte. Der Krieger blieb stehen und sah sich um, erstaunt über die Vielzahl der Besucher im Abendsaal. Als sein Blick auf die Magier fiel, die sich um Akkarin geschart hatten, zog er die Augenbrauen hoch. Sarrin winkte ihn herüber.

»Guten Abend, Hoher Lord, Administrator«, sagte Yikmo, als er die Gruppe erreicht hatte.

»Lord Yikmo«, erklärte Peakin, »Ihr werdet Euch wohl auf einige späte Abende vorbereiten müssen.«

Yikmo runzelte die Stirn. »Späte Abende?«

Peakin kicherte. »Also ist sie so gut, ja? Sie braucht keinen zusätzlichen Unterricht?«

Der junge Magier runzelte verwirrt die Stirn. »Zusätzlichen Unterricht?«

Vinara erbarmte sich ihres Kollegen. »Sonea hat Regin zu einem Duell herausgefordert.«

Yikmo starrte sie an, dann wurde er langsam blass.

»Sie hat was getan?«


Sonea lief in ihrem Zimmer auf und ab und rang die Hände. Was habe ich getan? Ich habe meinen Zorn die Oberhand gewinnen lassen, das habe ich getan. Ich verstehe nichts vom Kämpfen. Ich werde mich lediglich vor allen lächerlich machen und …

»Sonea.«

Sonea drehte sich um und blinzelte überrascht, als sie den Mann sah, der in der Tür zu ihrem Zimmer stand. Niemand hatte sie bisher in der Residenz des Hohen Lords besucht.

»Lord Yikmo«, sagte sie und verbeugte sich.

»Du bist noch nicht so weit, Sonea.«

Sie zuckte zusammen, und ihre Angst vertiefte sich noch. Wenn Yikmo nicht glaubte, dass sie siegen konnte…

»Ich hatte gehofft, dass Ihr mir helfen würdet, Mylord.«

Verschiedene Regungen spiegelten sich auf Yikmos Gesicht. Bestürzung. Nachdenklichkeit. Interesse. Er runzelte die Stirn und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

»Ich verstehe, warum du das tust, Sonea. Aber ich muss dich nicht daran erinnern, dass Garrel ein erfahrener Krieger ist und dass Regins Fähigkeiten den deinen überlegen sind - trotz all dem, was ich dich gelehrt habe. Er hat eine Woche Zeit, um sich vorzubereiten, und Balkan hat sich bereit erklärt, ihn zu unterrichten.«

Balkan! Das wird ja immer schlimmer! Sonea blickte auf ihre Hände hinab. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass sie nicht zitterten, aber ihr Magen hatte sich so sehr verkrampft, dass ihr übel war.

»Aber ich bin stärker, und die Regeln einer Herausforderung legen der Stärke eines Magiers keine Grenzen auf«, wandte sie ein.

»Wenn du siegen willst, kannst du dich nicht allein auf deine Stärke verlassen, Sonea«, warnte Yikmo sie. »Es gibt Mittel und Wege, um einen stärkeren Magier zu bezwingen. Balkan wird gewiss dafür sorgen, dass Regin sie alle kennt.«

»Dann solltet Ihr besser dafür sorgen, dass ich sie ebenfalls kenne«, entgegnete sie. Erstaunt über die Entschlossenheit in ihrer Stimme verzog sie entschuldigend das Gesicht. »Werdet Ihr mir helfen?«

Er lächelte. »Selbstverständlich. Ich kann den Schützling des Hohen Lords doch jetzt nicht im Stich lassen.«

»Ich danke Euch, Mylord.«

»Aber glaubt nicht, dass ich es nur aus Respekt vor deinem Mentor tue.«

Überrascht sah sie ihn an und war erstaunt über die Anerkennung, die sie in seinem Blick las. Ein Krieger wäre von allen Lehrern der letzte gewesen, dessen Respekt sie zu gewinnen erwartet hätte.

»Dir ist gewiss klar, dass man uns beobachten wird, wenn ich dich unterrichte«, sagte er. »Und man wird Regin und Lord Garrel alles berichten, was wir tun.«

»Darüber habe ich bereits nachgedacht.«

»Und?«

»Was… was ist mit dem Dom?«

Yikmo zog die Augenbrauen in die Höhe, dann grinste er breit. »Ich bin sicher, das lässt sich arrangieren.«

36 Der Kampf beginnt

Als die Kutsche durch die Tore der Gilde rollte, blickte Dannyl zur Universität hinauf. Die Gebäude waren ihm so vertraut, und doch wirkten sie jetzt fremd und unpersönlich. Er sah zur Residenz des Hohen Lords hinüber.

Ganz besonders dieses da. Er griff nach der Tasche, die neben ihm auf der Bank lag. Darin befand sich eine Kopie der Notizen, die er und Tayend zusammengetragen hatten - allerdings hatten sie sie ein wenig umgeschrieben, und es fanden sich jetzt keine Hinweise mehr darin, dass sie den Spuren von Akkarins früherer Reise gefolgt waren. Dannyl kaute auf seiner Unterlippe. Wenn Akkarin glaubt, dass es bei alledem um Nachforschungen über seine Vergangenheit ging, wird ihn das womöglich noch wütender machen. Aber ich stecke ohnehin in Schwierigkeiten, deshalb ist es das Risiko wert.

Die Kutsche hielt an und schaukelte ein wenig, als der Fahrer zu Boden sprang. Die Tür öffnete sich. Dannyl stieg aus und wandte sich dem Kutscher zu.

»Lass meine Reisetruhe in mein Quartier bringen«, befahl er. Der Mann verneigte sich, und Dannyl ging, die Tasche unterm Arm, auf die Residenz des Hohen Lords zu. Ihm fiel auf, dass die Gärten verlassen waren, was für einen sonnigen Freitagnachmittag ungewöhnlich war.

Als er die Tür der Residenz erreichte, war sein Mund trocken, und sein Herz schlug viel zu schnell. Bevor er die Finger um den Knauf legen konnte, schwang die Tür nach innen auf.

Ein Diener kam ihm entgegen und verneigte sich. »Der Hohe Lord erwartet Euch in der Bibliothek, Botschafter Dannyl. Bitte, folgt mir.«

Dannyl sah sich anerkennend in dem luxuriös ausgestatteten Empfangsraum um. Er war noch nie zuvor in der Residenz des Hohen Lords gewesen. Der Diener öffnete eine Tür und führte Dannyl eine Wendeltreppe hinauf. Oben angekommen ging er durch einen kurzen Flur zu einer geöffneten Doppeltür auf der rechten Seite.

Die Wände des Raums waren von Büchern gesäumt. Welche Geheimnisse ich hier wohl finden könnte?, überlegte Dannyl. Vielleicht sogar Informationen über …?

Dann sah er den Schreibtisch an der einen Seite des Raums und den schwarz gewandeten Magier, der dahinter saß und ihn beobachtete. Dannyls Herz begann zu rasen.

»Willkommen daheim, Botschafter Dannyl.«

Reiß dich zusammen!, befahl sich Dannyl streng. Er neigte höflich den Kopf. »Vielen Dank, Hoher Lord.«

Als sich die Türen hinter ihm schlossen, drehte Dannyl sich um und stellte fest, dass der Diener gegangen war. Jetzt sitze ich in der Falle … Er schob den Gedanken beiseite, trat vor und legte die Tasche mit seinem Bericht auf Akkarins Schreibtisch.

»Meine Notizen«, sagte er. »Wie Ihr es verlangt habt.«

»Ich danke Euch«, erwiderte Akkarin. Eine bleiche Hand griff nach der Tasche, die andere deutete auf einen Stuhl. »Setzt Euch. Ihr seid gewiss müde von der Reise.«

Dannyl ließ sich dankbar auf den Stuhl sinken und beobachtete Akkarin, während dieser seine Notizen durchblätterte. Dannyls Kopf schmerzte, und er verscheuchte das Problem mit ein wenig heilender Magie. Am vergangenen Abend hatte er zu viel Siyo getrunken, um nicht länger darüber nachgrübeln zu müssen, was ihm am nächsten Tag erwarten mochte.

»Wie ich sehe, habt Ihr den Prächtigen Tempel besucht.«

Dannyl schluckte. »Ja.«

»Hat der Hohe Priester Euch erlaubt, die Schriftrollen zu lesen?«

»Er hat sie mir vorgelesen - nachdem ich geschworen hatte, Stillschweigen über ihren Inhalt zu bewahren.«

Akkarin lächelte schwach. »Und das Grab der Weißen Tränen?«

»Ja. Ein faszinierender Ort.«

»Der Euch nach Armje geführt hat?«

»Nicht direkt. Wenn ich der Richtung gefolgt wäre, in die meine Nachforschungen mich gewiesen haben, wäre ich vielleicht nach Sachaka geritten, aber meine Pflichten als Botschafter haben eine solche Reise nicht zugelassen.«

»Eine Überquerung der Grenze wäre… nicht ratsam gewesen«, warf Akkarin ein und sah Dannyl in die Augen. Sein Gesichtsausdruck verriet Missbilligung. »Sachaka gehört nicht zu den Verbündeten Ländern, und als Mitglied der Gilde solltet Ihr das Land nicht betreten, es sei denn, auf Befehl des Königs.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Das hatte ich nicht bedacht, aber ich hätte mich gewiss nicht in ein unbekanntes Land gestürzt, ohne zuvor mit der Gilde Rücksprache zu halten.«

Akkarin musterte Dannyl nachdenklich, dann wandte er sich wieder den Notizen zu. »Und warum habt Ihr Armje besucht?«

»Dem Ladeiri hat mir während meines Besuches bei ihm vorgeschlagen, mir die Ruinen einmal anzusehen.«

Akkarin runzelte die Stirn. »Das hat er getan, ja?« Dann versenkte er sich wieder in die Lektüre der Notizen. Nach einigen Minuten schnalzte er überrascht mit der Zunge und starrte Dannyl an.

»Ihr habt überlebt?«

Da Dannyl erriet, wovon Akkarin sprach, nickte er. »Ja, obwohl es meine Kräfte völlig erschöpft hat.«

Während Akkarin weiterlas, fragte sich Dannyl, ob er jemals zuvor erlebt hatte, dass der Mann Erstaunen äußerte. Er kam zu dem Schluss, dass dem nicht so sei, und empfand ein eigenartiges Gefühl des Stolzes, weil es ausgerechnet ihm gelungen war, den Hohen Lord zu überraschen.

»Ihr habt den Sperrschild also überwunden«, bemerkte Akkarin schließlich. »Interessant. Vielleicht verliert die Höhle langsam an Kraft. Irgendwann muss sich die Macht natürlich erschöpfen.«

»Darf ich eine Frage stellen?«

Akkarin zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ihr dürft.«

»Wenn Ihr schon einmal auf diese Höhle der Höchsten Strafe gestoßen seid, warum habt Ihr dann niemandem in der Gilde davon erzählt?«

»Das habe ich getan.« Akkarins Mundwinkel zuckten. »Aber da niemand Nachforschungen in der Höhle anstellen kann, ohne einen Angriff auszulösen - und aus einigen anderen Gründen -, wurde damals beschlossen, dass die Existenz der Höhle nur den höchsten Magiern bekannt gemacht werden sollte. Was bedeutet, dass ich Euch befehlen muss, Euer Wissen für Euch zu behalten.«

Dannyl nickte. »Ich verstehe.«

»Es ist wirklich bedauerlich, dass die Warnung, die ich damals an die Wand geschrieben habe, unleserlich geworden ist.« Akkarin hielt inne, und seine Augen wurden schmal. »Gab es irgendwelche Hinweise darauf, dass jemand sie vorsätzlich entfernt haben könnte?«

Überrascht dachte Dannyl an die Wand, von der Akkarin sprach, und an die Überreste seines Namens. »Das kann ich nicht sagen.«

»Irgendjemand wird der Sache auf den Grund gehen müssen. Diese Höhle könnte allzu leicht zu einer Todesfalle für Magier werden.«

»Ich werde selbst dorthin zurückkehren, wenn Ihr es wünscht.«

Akkarin musterte ihn nachdenklich, dann nickte er. »Ja. Es wäre wahrscheinlich das Beste, wenn niemand sonst von diesem Ort erfährt. Euer Assistent weiß darüber Bescheid, nicht wahr?«

Dannyl zögerte, und einmal mehr fragte er sich, wie viel Akkarin während ihres kurzen Gedankenaustauschs gespürt haben mochte. »Ja - und ich glaube, dass man Tayend vertrauen kann.«

Akkarins Blick flackerte leicht, und er öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn aber wieder, als es an der Tür klopfte.

Einen Moment später trat der Diener ein und verneigte sich. »Lord Yikmo ist hier, Hoher Lord.«

Akkarin nickte. Als die Tür sich wieder schloss, sah er Dannyl nachdenklich an. »Ihr könnt in einer Woche nach Elyne zurückkehren.« Er schloss die Tasche. »Ich werde Eure Notizen lesen. Danach werde ich vielleicht noch einmal mit Euch sprechen wollen. Aber jetzt«, sagte er und stand auf, »muss ich zuerst einmal einem Duell beiwohnen.«

Dannyl blinzelte überrascht. »Einem Duell? Nach einer formellen Herausforderung?«

Etwas, das beinahe ein Lächeln war, glitt über Akkarins Züge. »Meine Novizin hat - vielleicht törichterweise - einen anderen Schüler zum Kampf gefordert.«

Sonea hatte Regin herausgefordert! Als Dannyl die verschiedenen Möglichkeiten und Konsequenzen dieses Schrittes dämmerten, lachte er leise. »Das muss ich sehen.«

Akkarin verließ die Bibliothek, und Dannyl folgte ihm erleichtert. Es schien beinahe, als sei Akkarin über seine Fortschritte erfreut. Dannyl und Tayend - und Lorlen - hatten sich zumindest nicht die Missbilligung des Hohen Lords zugezogen.

Und es war kein Wort über Tayend gesprochen worden.

Jetzt brauchte er nur noch Rothen gegenüberzutreten. Sein Mentor würde überrascht sein, ihn zu sehen. Rothen wusste nichts von seinem Besuch, da kein Brief schneller hätte reisen können als er selbst, und eine gedankliche Kommunikation hatte er nicht riskieren wollen. Rothen war stets in der Lage gewesen, bei solchen Gelegenheiten tiefer zu blicken, als es Dannyl recht war. Er wusste nicht, wie gut Rothen die Nachricht aufnehmen würde, dass sein ehemaliger Novize sich eben des Vergehens schuldig gemacht hatte, das ihm seinerzeit unterstellt worden war. Und er wollte nicht seinen einzigen engen Freund in der Gilde verlieren.

In einigen Wochen würde er wieder in Elyne sein und mit der Erlaubnis des Hohen Lords neben seinen Pflichten als Botschafter in Armje Nachforschungen anstellen. Und er würde mit Tayend zusammen sein.

Insgesamt war seine Situation besser als zuvor.


Sonea band die Schärpe ihrer Robe noch einmal neu und strich den Stoff glatt. Heute erschien er ihr mit einem Mal viel zu dünn. Ich habe das Gefühl, als sollte ich eine Rüstung anlegen statt Roben.

Sie schloss die Augen und wünschte, sie hätte jemanden um sich haben können, während sie sich vorbereitete. Natürlich konnte Yikmo sich nicht in ihrem Zimmer aufhalten, während sie frische Roben anlegte. Das Gleiche galt für Akkarin, wofür sie von Herzen dankbar war. Nein, es war Tania, die sie jetzt vermisste. Rothens Dienerin hätte Sonea das Versprechen abgenommen, diesen Tag als Siegerin zu beschließen, und gleichzeitig hätte sie ihr versichert, dass es die Menschen, die sie liebten, nicht kümmern würde, wenn sie den Kampf verlor.

Sie holte tief Luft, und als sie feststellte, dass die Schärpe zu eng saß, lockerte sie sie ein wenig. Heute würde sie vielleicht zusätzliche Bewegungsfreiheit brauchen. Sie sah zu dem Tablett mit Süßigkeiten und Brötchen hinüber, das Viola ihr kurz zuvor gebracht hatte. Ihr Magen krampfte sich beim bloßen Anblick zusammen, und sie wandte sich ab und begann von neuem, im Raum auf und ab zu laufen.

Sie hatte einen Vorteil - oder zwei. Während Yikmos »Spione« alles berichtet hatten, was Regin während der vergangenen Woche in der Arena getrieben hatte, war ihr eigener Unterricht in der klaustrophobischen Enge des Doms verborgen geblieben. Yikmo hatte ihr jede Strategie gezeigt, die ein schwächerer Magier gegen einen stärkeren einsetzen konnte. Außerdem hatte er sie in allen Methoden unterwiesen, von denen er wusste, dass Garrel und Balkan sie Regin beigebracht hatten - und noch einigen, von denen Regin vermutlich nichts wusste.

Von ihrem eigenen Mentor hatte sie nur wenig zu sehen bekommen. Aber sein Einfluss machte sich überall bemerkbar. Die Proteste dagegen, dass Novizen einen formellen Kampf ausfochten, hatten binnen eines Tages ein Ende gefunden. Balkan missbilligte es offensichtlich, dass Sonea den Dom benutzte, hatte es jedoch nicht verboten. Und als Sonea dessen Kuppel das erste Mal betreten hatte, hatte Yikmo ihr erklärt, dass der Hohe Lord das Gebäude verstärkt habe, um dafür zu sorgen, dass sie nicht unbeabsichtigt Schaden anrichtete.

Bis zum folgenden Abend war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass Akkarin die Energie, die er dazu benutzt hatte, möglicherweise durch schwarze Magie gewonnen haben könnte. In der Nacht hatte sie lange wach gelegen und sich mit der Vorstellung gequält, die Magie, die sie bei ihrem törichten Streit mit einem anderen Novizen unterstützte, könnte ihre Quelle im Tod eines fremden Menschen haben.

Aber sie konnte Akkarins Hilfe nicht zurückweisen, ohne Verdacht zu erregen. Außerdem hatte er sich zu ihrem Beschützer während des Kampfes ernannt. Seine Magie würde den inneren Schild bilden, der sie retten würde, falls ihr eigener Schild versagte. Bei diesem Gedanken regte sich tiefes Unbehagen in ihr. Wenn Lorlen und Rothen nicht gewesen wären, hätte sie befürchtet, Akkarin könnte den Kampf als Gelegenheit nutzen, sie loszuwerden.

Als es an der Tür klopfte, wirbelte sie herum, und ihr Herz begann plötzlich von neuem zu hämmern. Es muss endlich so weit sein, dachte sie. Die Erleichterung machte schnell einer Woge von Panik Platz. Sonea holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, bevor sie auf die Tür zutrat. Als sie Akkarin gegenüberstand, erstarrte sie einen Moment lang, doch dann sah sie einen anderen Mann hinter ihm, und ihre Furcht wich ehrlicher Überraschung, als sie Dannyl erkannte.

»Hoher Lord«, sagte sie und verneigte sich. »Botschafter Dannyl.«

»Lord Yikmo ist eingetroffen«, eröffnete ihr Akkarin.

Sonea holte noch einmal tief Luft und eilte dann die Treppe hinunter. Lord Yikmo, der in Akkarins Empfangsraum auf und ab lief, riss bei ihrem Erscheinen den Kopf hoch.

»Sonea! Du bist fertig. Gut. Wie fühlst du dich?«

»Bestens.« Sie lächelte. »Wie könnte es auch anders sein, nach all der Mühe, die Ihr Euch mit mir gegeben habt.«

Er lächelte schief. »Dein Vertrauen in mich ist…« Er hielt inne und wandte sich zu den beiden Männern um, die nun ebenfalls den Raum betreten hatten. »Guten Tag, Hoher Lord, Botschafter Dannyl.«

»Ich nehme an, Ihr seid gekommen, um meine Novizin zu holen«, sagte der Hohe Lord. »Deshalb habe ich sie hinuntergeschickt.«

»Ihr habt richtig vermutet«, erwiderte Yikmo und sah dann Sonea an. »Wir sollten Regin nicht warten lassen.«

Auf einen Wink von Akkarin schwang die Haupttür auf. Sonea trat hinaus ins Sonnenlicht.

Als sie den Weg zur Universität hinunterging, positionierte Yikmo sich zu ihrer Rechten und Akkarin zu ihrer Linken. Die Schritte hinter ihr sagten ihr, dass Dannyl ihnen folgte. Sie widerstand dem Verlangen, sich umzudrehen, und fragte sich, was der jüngere Magier mit Akkarin zu besprechen haben mochte. Es musste etwas Wichtiges sein, sonst wäre er nicht aus Elyne zurückgekehrt.

Schweigend näherten sie sich der Universität. Sonea sah Akkarin nicht an, war sich seiner Anwesenheit aber mit allen Sinnen bewusst. Noch nie zuvor hatte sie sich als Schützling des Hohen Lords gefühlt. Dieser Umstand verdeutlichte ihr auf schmerzliche Weise, welche Erwartungen die Gilde in sie setzte. Wenn sie verlor …

Denk an etwas anderes, befahl sie sich und rief sich noch einmal Yikmos Lektionen ins Gedächtnis.

»Regin wird versuchen, dich dazu zu bringen, deine Kraft zu verschwenden. Um das zu erreichen, wird er höchstwahrscheinlich zu Täuschungsmanövern und Tricks greifen.«

Tricks machten gewiss einen Teil von Regins Kampfstil aus. Während der Unterrichtsstunden im ersten Jahr hatte er sie viele Male mit falschen Angriffen überrascht.

»Vieles von dem, was du gelernt hast, wird sich als überflüssig erweisen. Die Kunst der Projektion wirst du in der Arena zum Beispiel nicht benötigen: Es gibt nichts, was du bewegen könntest. Betäubungszauber sind zulässig, gelten aber als schlechter Stil. Gedankenzauber sind natürlich verboten, obwohl sie ohnehin nur als Ablenkungsmanöver von Nutzen sein könnten.«

Regin hatte noch nie einen Gedankenzauber gegen sie benutzt, da sie diese Art des Angriffs noch nicht gelernt hatten.

»Gestikuliere nicht. Damit würdest du nur deine Absichten verraten. Ein guter Krieger bewegt während eines Kampfes nicht einmal die Muskeln seines Gesichts.«

Yikmo sprach stets von »dem Krieger« als einem »er«, was Sonea zuerst komisch und später ärgerlich gefunden hatte. Als sie sich darüber beschwert hatte, hatte Yikmo gelacht. »Lady Vinara würde dir zustimmen«, hatte er geantwortet. »Aber Balkan pflegt zu diesem Thema Folgendes zu bemerken: ›An dem Tag, an dem es unter den Kriegern mehr Frauen als Männer gibt, werde ich meine Ausdrucksweise ändern.‹«

Sonea lächelte bei der Erinnerung, und so kam es, dass sie immer noch lächelte, als sie an der Universität vorbeiging und die versammelten Magier vor der Arena sie zum ersten Mal sahen.

»Sind denn alle hier?«, stieß sie hervor.

»Wahrscheinlich«, erwiderte Yikmo leichthin. »Regin hat einen Freitag für Euren Kampf gewählt, damit ein möglichst großes Publikum Zeuge seiner Niederlage werden kann.«

Alles Blut wich aus Soneas Gesicht. Novizen und Magier beobachteten sie. Selbst Nichtmagier - Ehefrauen, Ehemänner, Kinder und Diener - waren zu dem Spektakel erschienen. Hunderte von Menschen wandten sich zu ihr um, als sie, begleitet von ihrem Lehrer und ihrem Mentor, den Schauplatz des Geschehens betrat. Die Höheren Magier hatten in einer Reihe Aufstellung genommen. Yikmo führte Sonea zu ihnen hinüber, und als er stehen blieb, verneigte sie sich. Formelle Grüße wurden ausgetauscht, aber Sonea merkte erst auf, als sie ihren Namen hörte.

»Nun, Sonea. Dein Gegner erwartet dich zum Kampf«, erklärte Lord Balkan und hob die Hand.

Sonea folgte seiner Geste und sah Regin und Lord Garrel an einer Hecke neben einem Torbogen stehen. Der Pfad, der durch das Tor verlief, führte direkt zur Arena.

»Viel Glück, Sonea«, sagte Lorlen lächelnd.

»Danke, Administrator.« Ihre Stimme klang kleinlaut, und sie ärgerte sich über sich selbst. Sie war die Herausforderin. Sie sollte mit souveränem Selbstbewusstsein in diesen Kampf ziehen.

Als sie auf die Arena zuging, legte Yikmo ihr eine Hand auf den Arm. »Verlier nicht die Nerven, dann wirst du es schaffen«, murmelte er. Dann trat er beiseite.

Nur noch von Akkarin begleitet, näherte sie sich dem Torbogen. Als sie Regins Blick begegnete, verzog der Junge höhnisch das Gesicht, und sie musste an ihre erste Begegnung während der Aufnahmezeremonie denken. Trotzig starrte sie ihn an.

Als ihr Blick Lord Garrel streifte, stellte sie fest, dass der Magier sie mit unverhohlener Abneigung und Zorn betrachtete. Überrascht fragte sie sich, warum er so zornig sein mochte. Ärgerte er sich über die zusätzliche Zeit, die er darauf hatte verwenden müssen, seinen Novizen auf diesen Kampf vorzubereiten? Hatte er es als Beleidigung empfunden, dass sie die Kühnheit gehabt hatte, seinen Neffen herauszufordern? Oder grollte er ihr, weil sie ihn in eine Situation gebracht hatte, in der er zum Gegner des Hohen Lords geworden war?

Ist das wichtig? Nein. Wenn Garrel auch nur ein Mindestmaß an Voraussicht besessen hätte, hätte er Regins Schikanen unterbunden, nachdem sie zum Schützling des Hohen Lords geworden war. Bei dem Gedanken, dass diese Herausforderung Garrel Unannehmlichkeiten beschert hatte, trat von neuem ein Lächeln in ihre Züge. Sie wandte sich ab und ging durch den Torbogen in die Arena.

Mit Akkarin an ihrer Seite stieg sie in die Arena hinunter. In der Mitte der sandbestreuten Fläche blieb sie stehen. Garrel, Regin und Balkan waren ihr gefolgt. Außerhalb des Rings der Türme verteilten sich nun die Magier und Novizen rund um das Gebäude.

Sie blickte zu Regin hinüber. Er betrachtete mit ungewöhnlich ernster Miene die Menge. Auch sie sah sich suchend um und entdeckte schließlich Dorrien und Rothen. Dorrien grinste und winkte ihr zu. Rothen brachte ein dünnes Lächeln zustande.

Balkan trat zwischen sie und Regin, hob die Arme und wartete, bis das Stimmengewirr aus dem Publikum sich gelegt hatte.

»Es ist viele Jahre her, seit zwei Magier es für nötig befanden, in einem formellen Kampf in der Arena einen Disput beizulegen oder ihr Geschick unter Beweis zu stellen«, begann Balkan. »Heute werden wir dem ersten derartigen Ereignis seit zweiundfünfzig Jahren beiwohnen. Zu meiner Rechten steht die Herausforderin, Sonea, Schützling des Hohen Lords. Zu meiner Linken steht ihr Gegner, Regin, aus der Familie Winar, Haus Paren, Schützling Lord Garrels. Die Mentoren der Kämpfer haben sich zu Beschützern ernannt. Sie mögen jetzt einen inneren Schild um ihre Novizen legen.«

Sonea spürte die leichte Berührung einer Hand auf ihrer Schulter. Sie schauderte unwillkürlich, dann blickte sie an sich hinab. Akkarins Schild war kaum wahrzunehmen. Sie widerstand dem Drang, ihn zu erproben.

»Die Beschützer mögen nun die Arena verlassen.«

Akkarin und Garrel verschwanden im Tunnel, der in die Arena und wieder hinaus führte. Als die beiden draußen wieder zum Vorschein kamen, stellte Sonea fest, dass Garrels Gesicht dunkel vor Zorn war und Akkarin erheitert wirkte. Offensichtlich hatte er irgendetwas gesagt, was Regins Mentor missfiel. Hatte Akkarin ihn vielleicht verspottet? Bei diesem Gedanken verspürte Sonea eine unerwartete Befriedigung. Aber das Gefühl verflog, als Balkan erneut zu sprechen begann.

»Die Kämpfer mögen nun ihre Positionen einnehmen.«

Sofort drehte Regin sich auf dem Absatz um und marschierte zur anderen Seite der Arena hinüber. Sonea ging in die entgegengesetzte Richtung. Dann holte sie einige Male tief Atem. Schon bald würde sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf Regin richten müssen. Sie würde all die Menschen ignorieren müssen, die sie beobachteten, und nur an den Kampf denken.

Einige Schritte vom Rand der Arena entfernt drehte sie sich um. Balkan ging auf den Tunneleingang zu. Kurze Zeit später erschien er auf der Treppe außerhalb der Arena.

»Der Sieger muss die Mehrzahl von fünf Runden für sich entscheiden«, erklärte er den Zuschauern. »Eine Runde ist dann vorbei, wenn ein innerer Schild mit einer Wucht getroffen wird, die als tödlich eingestuft werden muss. Gedankenzauber sind verboten. Wenn ein Kämpfer Magie benutzt, bevor eine Runde offiziell begonnen hat, hat er diese Runde verloren. Ein Kampf fängt an, wenn ich sage ›Beginnt‹, und endet, wenn ich sage ›Halt‹. Habt ihr verstanden?«

»Ja, Mylord«, antwortete Sonea, und Regin wiederholte ihre Worte.

»Seid ihr bereit?«

»Ja, Mylord.« Wieder folgte Regins Antwort der ihren.

Balkan hob die Hand und legte sie an die Barriere der Arena. Er sandte einen Energiestrahl aus, der über die Kuppel blitzte. Sonea sah Regin an.

»Beginnt!«

Regin hatte die Arme vor der Brust verschränkt, aber das höhnische Lächeln, das sie auf seinem Gesicht erwartet hatte, war nicht da. Magie kräuselte die Luft, als er den ersten Zauber losließ. Er traf ihren Schild nur einen Herzschlag, nachdem sie ihre Antwort gesandt hatte.

Sein Schild blieb stark, aber er griff nicht wieder an. Regin runzelte die Stirn und dachte zweifellos darüber nach, wie er sie am besten dazu verleiten konnte, ihre Kräfte zu vergeuden.

Wieder vibrierte die Luft zwischen ihnen, als er ihr seine Magie entgegenschleuderte, diesmal in Form eines mehrfachen Angriffs. Die Zauber leuchteten weiß auf. Sie sahen aus wie Kraftzauber… aber entweder waren sie stark genug, um weiß zu erscheinen, oder sie …

Die ersten Treffer fühlten sich wie ein sanftes Klopfen auf ihrem Schild an, und Sonea kicherte. Er wollte sie dazu bringen, zu viel Energie in ihren Schild einfließen zu lassen. Beinahe hätte sie die Energie verringert, aber ein Schimmern in der Luft sagte ihr, dass jetzt etwas anderes auf sie zukam. Ein voller Kraftzauber krachte gegen ihren Schild, und sie dankte ihren Instinkten, denn der Zauber war stark genug, um sie einen Schritt nach hinten zu treiben.

Der Hagel schwacher Angriffe dauerte an, daher sandte sie zur Antwort einen einzigen kräftigen Energiestrahl. Regin riss eine starke Barriere hoch, aber einen Augenblick, bevor ihr Zauber traf, streckte sie ihren Willen aus, und der Hitzezauber teilte sich plötzlich zu einem Schauer roter Betäubungszauber, die sich vor Regins Schild einfach auflösten.

Regins Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Sonea lächelte, als sie das Gemurmel in der Arena hörte. Die Magier wussten ihren Scherz zu schätzen. Sie mussten gehört haben, dass Regin Betäubungszauber gegen sie eingesetzt hatte.

Regins nächster Angriff kam schnell, war aber leicht abzulenken. Sonea spielte mit seinem Zorn und antwortete nur mit Betäubungszaubern. Sie machte sich nicht die Mühe, das Manöver zu tarnen; er wusste jetzt, womit er es zu tun hatte. Obwohl das bedeutete, dass der Kampf ins Leere lief, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, Regin zu verhöhnen. Sie hatte reichlich Energie übrig, und Zorn würde ihn vielleicht dazu treiben, eine Dummheit zu begehen. Allerdings galt es als schlechter Stil, im Kampf Betäubungszauber zu benutzen, und es würde ihr keine Sympathien in der Gilde eintragen.

Plötzlich schleuderte Regin ihr einen stetigen Hagel von Angriffen entgegen. Kraftzauber und Hitzezauber von unterschiedlicher Intensität. Unter der Wucht dieses Angriffs begann Soneas Schild schwach zu leuchten. Sie durchschaute jedoch das simple Manöver und antwortete mit gleicher Münze. Wenn so viele unterschiedliche Zauber ausgetauscht wurden, blieben dem Verteidiger nur zwei Möglichkeiten: einen Schild aufrechtzuerhalten, der die machtvollsten dieser Zauber abwehren konnte, und gleichzeitig darauf gefasst zu sein, dass etwas noch Stärkeres kommen konnte, oder zu versuchen, den Schild ständig nach der Stärke der Angriffszauber zu modifizieren.

Nach einer Weile sah sie, dass Regin seinen Schild modifizierte. Das erforderte große Konzentration, wenn man gleichzeitig noch angriff. Sein Gesicht war starr, und seine Augen flackerten von Zauber zu Zauber.

Mit dieser Strategie könnte es ihm gelingen, sie am Ende zu erschöpfen. Ein einziger machtvoller Zauber würde ihn dazu zwingen, seinen Angriff abzubrechen, das wusste sie, aber ein solches Vorgehen würde sie noch mehr Energie kosten, und genau das wollte er.

Seine List war jedoch gleichzeitig seine Schwäche. Seine Verteidigung würde nur funktionieren, wenn er jeden Zauber bemerkte, den sie aussandte. Also muss ich etwas Unerwartetes tun.

Wenn sie die Richtung eines Zaubers veränderte, nachdem sie ihn losgelassen hatte, kostete sie das zusätzliche Anstrengung, aber nicht so viel, wie ein starker Energiestoß gekostet hätte. Sie konzentrierte sich und veränderte den Lauf eines ihrer Kraftzauber so, dass er im letzten Moment die Richtung wechselte und Regin von hinten traf.

Regin taumelte. Seine Augen weiteten sich, dann wurden sie schmal vor Zorn.

»Halt!«

Sonea brach ihren Angriff ab und ließ ihren Schild sinken. Erwartungsvoll blickte sie zu Balkan empor. »Der erste Sieg geht an Sonea.«

Lautes Tosen brach in der Arena aus, als die Magier sich einander zuwandten, um über den Kampf zu debattieren. Sonea bemühte sich einen Moment lang, ein Lächeln zu unterdrücken, gab den Versuch dann aber auf. Ich habe die erste Runde gewonnen! Sie sah Regin an. Sein Gesicht war dunkel vor Wut.

Balkan hob die Arme, und das Gemurmel verebbte.

»Seid ihr bereit, den zweiten Kampf zu beginnen?«, fragte er Sonea und Regin.

»Ja, Mylord«, antwortete sie. Regins Erwiderung klang schroff und angespannt.

Balkan legte eine Hand an die Barriere der Arena.

»Beginnt!«

37 Der Schützling des Hohen Lords

Lorlen lächelte, als die beiden Novizen sich wieder einander zuwandten. Soneas erster Sieg war alles, was man sich nur wünschen konnte. Sie hatte nicht durch Stärke gewonnen, sondern indem sie eine Schwäche in Regins Verteidigung entdeckt hatte. Als er zu Lord Yikmo hinüberblickte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass der Krieger die Stirn runzelte.

»Ihr scheint nicht besonders erfreut zu sein, Lord Yikmo«, murmelte Lorlen.

Der Krieger lächelte. »Oh doch, das bin ich. Dies ist das erste Mal, dass sie Regin geschlagen hat. Aber in der Freude über eine gewonnene Runde lässt nur allzu leicht die Konzentration nach.«

Als Sonea Regin mit offenkundigem Eifer angriff, stieg auch in Lorlen ein wenig Sorge auf. Sei nicht allzu zuversichtlich, Sonea, dachte er. Regin wird jetzt auf der Hut sein.

Regin verteidigte sich mühelos, dann griff er seinerseits an. Schon bald sirrte die Luft in der Arena vor Magie. Plötzlich riss Sonea die Arme zur Seite und senkte den Blick, während ihr Angriff ins Wanken geriet. Lorlen hörte, dass mehrere Zuschauer im Publikum scharf die Luft einsogen, aber Soneas Schild hielt Regins verstärktem Angriff stand.

Als er den Boden unter Soneas Füßen betrachtete, sah er, dass der Sand sich bewegte. Unter den Sohlen ihrer Stiefel war eine Energiescheibe zu erkennen. Sie schwebte dicht über dem Boden.

Lorlen kannte diese Taktik. Ein Magier mochte einen Angriff aus jeder Richtung erwarten, aber nicht von unten. Es war verlockend, seinen Schild dort enden zu lassen, wo er auf den Boden traf, um Energie zu sparen. Soneas Schild hatte sich offensichtlich bis unter ihre Füße erstreckt, und ihre Kenntnisse der Levitation hatten sie vor der Entwürdigung bewahrt, der Länge nach hinzuschlagen. Levitation wurde, wie er sich erinnerte, erst im dritten Jahr unterrichtet.

»Ein kluger Schritt, ihr das beizubringen«, sagte Lorlen. Yikmo schüttelte den Kopf. »Das war ich nicht.«

Soneas Gesicht war angespannt. Es kostete ein hohes Maß an Konzentration, gleichzeitig zu schweben, einen Schild aufrechtzuerhalten und anzugreifen, und ihre Zauber hatten ein simples Muster angenommen, das leicht abzuwehren war. Lorlen wusste, dass sie Regin in eine Situation hätte bringen müssen, in der er ebenso viel Energie verbrauchte. Der Sand unter Regins Füßen begann zu kochen, aber der Junge machte lediglich einen Schritt zur Seite. Gleichzeitig riss Sonea abermals die Arme hoch, um bei einem weiteren Angriff von unten das Gleichgewicht zu wahren, und ihr eigener Angriff brach ab.

»Halt!«

»Der zweite Sieg geht an Regin.«

Die Novizen brachen in Jubel aus. Während Regin grinste und seinen Freunden zuwinkte, runzelte Sonea die Stirn, offensichtlich verärgert über sich selbst.

»Gut«, sagte Yikmo.

Lorlen sah den Krieger erstaunt an.

»Das hat sie gebraucht«, erklärte Yikmo.


In der kurzen Pause zwischen den Runden suchte Rothen unter den Magiern auf der anderen Seite der Arena nach Dannyl. Er hatte zuvor zwischen den Höheren Magiern gestanden, war jetzt jedoch von seinem Platz verschwunden. Rothen runzelte die Stirn, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, den Kampf zu beobachten, und dem Wunsch, nach seinem Freund Ausschau zu halten.

Er war sehr erstaunt gewesen, als er Dannyl mit Sonea, Yikmo und Akkarin zur Arena hatte kommen sehen. Dannyl hatte ihn nicht von seinem Besuch verständigt, nicht einmal mit einem kurzen Gedankenaustausch. Bedeutete das, dass seine Rückkehr ein Geheimnis gewesen war?

Wenn ja, dann war das Geheimnis inzwischen offensichtlich gelüftet worden. Durch sein Erscheinen zusammen mit Sonea und dem Hohen Lord wusste inzwischen jeder in der Gilde, dass Dannyl zurückgekommen war. Aber es war sein Erscheinen in Gesellschaft des Hohen Lords, das Rothen am meisten besorgte. Und Dannyl hatte schon seit einigen Wochen keine Briefe mehr geschickt.

Fragen über Fragen gingen Rothen durch den Kopf. Hatte Akkarin von seiner Bitte an Dannyl erfahren? Oder hing Dannyls Besuch bei dem Hohen Lord mit seinen Pflichten als Botschafter zusammen? Oder gab es finsterere Gründe dafür, und Dannyl hatte keine Ahnung, dass er einem schwarzen Magier half? Oder hatte er die Wahrheit über Akkarin entdeckt?

»Hallo, alter Freund.«

Rothen zuckte zusammen, als er plötzlich eine Stimme hinter sich hörte. Dannyl lächelte; es freute ihn offensichtlich, dass es ihm gelungen war, seinen Mentor zu erschrecken. Er nickte Dorrien zu, der ihn herzlich begrüßte.

»Dannyl! Warum hast du mir nicht erzählt, dass du zurückkommen würdest?«, fragte Rothen.

Dannyl lächelte entschuldigend. »Es tut mir Leid, ich hätte dich verständigen sollen. Ich habe unerwartet den Befehl bekommen, zurückzukehren.«

»Weshalb?«

Der junge Magier wandte den Blick ab. »Nur um dem Hohen Lord Bericht zu erstatten.«

Nur um dem Hohen Lord Bericht zu erstatten? Balkan verkündete den Beginn der nächsten Runde, und Rothen wandte sich von Dannyl ab. Falls Dannyl bereit war, mit ihm über seine Begegnung mit Akkarin zu sprechen, würde er es wahrscheinlich nicht inmitten einer Ansammlung von Magiern tun wollen. Nein, beschloss Rothen. Ich werde ihn später befragen.

Regin hatte sich für diese Runde eine tollkühne, riskante Verteidigungsstrategie zurechtgelegt. Statt sich mit einem Schild zu schützen, bombardierte er Sonea mit Angriffen. Als seine Magie auf die ihre prallte, war die Arena erfüllt von zersplitterten Energiestrahlen, ein jeder davon zu schwach, um den beiden Novizen Probleme zu bereiten. Einige dieser Strahlen trafen auf die Barriere der Arena und sandten zuckende Lichtblitze von einer Seite zur anderen. Inmitten dieses Feuerwerks attackierte Regin Sonea ein ums andere Mal. Obwohl sie sich mühelos verteidigte, war klar, dass sie mehr Energie verbrauchte als Regin, einfach weil sie ihren Schild ständig aufrecht hielt.

Um diesen Nachteil auszugleichen, vergrößerte sie die Wucht ihrer Angriffe. Regins Plan konnte nur dann funktionieren, wenn er alle Zauber, die gegen ihn gerichtet waren, abfing. Wenn er auch nur einen verfehlte, würde er sich sehr schnell einen Schild schaffen müssen.

Und kurz darauf geschah genau dies: Einer von Soneas Zaubern durchdrang Regins Verteidigung. Bevor Rothen auch nur Atem holen konnte, traf der Zauber auf einen hastig hochgezogenen Schild.

Sonea ging nun langsam auf Regin zu und verringerte den Abstand zwischen ihnen, so dass er gezwungen war, sich immer schneller zurückzuziehen. Als die beiden nur noch zehn Schritt voneinander getrennt waren, schienen sich Regins Zauber plötzlich umzukehren. Er taumelte zurück und stieß einen überraschten Schrei aus. Plötzlich war die Arena frei von Magie.

»Halt!«

Stille folgte Balkans Ruf, dann erhob sich ein leises Gemurmel unter den Zuschauern.

»Der dritte Sieg geht an Sonea.«

Etliche Magier brachten ihre Verwirrung zum Ausdruck. Rothen runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was ist passiert?«

»Ich glaube, Sonea hat ihre Zauber verdoppelt«, sagte Dorrien. »Das heißt, jedem Zauber folgte unmittelbar darauf ein weiterer, wie ein Nachhall. Aus Regins Perspektive müssen sie ausgesehen haben wie ein einzelner Zauber. Regins Abwehr hielt den ersten Teilangriff auf, aber er hatte keine Zeit mehr, auf die Verdoppelung zu reagieren.«

Mehrere Magier hörten Dorriens Erklärung und nickten einander beeindruckt zu. Dorrien sah Rothen selbstgefällig an. »Sie ist wirklich wundervoll.«

»Ja.« Rothen nickte, dann seufzte er, als Dorrien sich abwandte. Offensichtlich fühlte sein Sohn sich mehr und mehr zu Sonea hingezogen. Er hätte nie gedacht, dass er jemals so erpicht darauf sein würde, Dorrien in sein Dorf zurückkehren zu sehen.

Balkans Stimme übertönte das Raunen der Zuschauer.

»Bitte, geht wieder auf eure Positionen.«

Sonea zog sich von Regin zurück.

»Seid ihr bereit, die vierte Runde zu beginnen?«

»Ja, Mylord«, erwiderten die beiden.

Ein Lichtblitz zuckte über die Barriere der Arena.

»Beginnt!«


Sonea begann diesen Kampf keineswegs triumphierend. Die Methode, die sie benutzt hatte, um Regin zu besiegen, hatte eine Menge Magie gekostet. Wenn Regins Sieg davon abhing, sie dazu zu bringen, ihre Energie zu vergeuden, dann hatte er gute Chancen.

Diesmal würde sie vorsichtiger sein müssen. Sie durfte sich nicht dazu hinreißen lassen, auf seine Tricks zu reagieren. Sie musste sparsam mit ihrer Energie umgehen, denn wenn sie diesen Kampf verlor, würde sie einen weiteren überstehen müssen.

Eine Weile beobachteten sie und Regin einander, beide reglos und ohne einen Schild. Dann wurden Regins Augen schmal, und mit einem Mal war die Luft erfüllt von tausend beinahe unsichtbaren Hitzezaubern, ein jeder davon gerade stark genug, um als tödlicher Treffer zu gelten, sofern er bis zu ihrem inneren Schild durchdrang. In dem Hagel schwächerer Zauber entdeckte sie einige machtvollere und schuf einen Schild, der stark genug war, um sie alle abzuwehren.

Aber kurz bevor die Zauber sie erreichten, lösten sie sich in nichts auf. Verärgert über Regins Täuschungsmanöver, sandte sie ihm einen Hagel identischer Zauber, nur dass sie einige stärkere Angriffe auf seinen Schild prallen ließ, in der Hoffnung, er würde glauben, dass sie sich des gleichen Tricks bediente wie er zuvor.

Er fiel natürlich nicht darauf herein, sondern taumelte lediglich zurück, aber seine Miene wirkte angespannt. Ein Gefühl des Triumphs wallte in ihr auf. Er wurde müde!

Es folgte ein vorsichtiger Angriff, komplex und doch ökonomisch. Regin füllte die Luft mit Licht, als hoffe er, in der blendenden Helligkeit einige stärkere Zauber tarnen zu können. Bei jedem Angriff sah Sonea kleine Anzeichen von Anstrengung in Regins Gesicht und seinen Bewegungen. Er versuchte, seine Erschöpfung zu verbergen, aber es war offenkundig, dass er jetzt keine große Bedrohung mehr für sie darstellte.

Sonea, die ihn durch das grelle Licht beobachtete, sah, wie er zusammenzuckte, als einer ihrer stärkeren Zauber ihn erreichte. Dann jedoch spürte sie einen Angriff von unerwarteter Wucht, der von oben in ihren Schild krachte. Der Schild wankte, und ein zweiter Zauber, so berechnet, dass er dem ersten direkt folgte, durchbrach ihren Schild, bevor sie ihn stärken konnte.

»Halt!«

Ungläubigkeit und Entsetzen schlugen über ihr zusammen, als ihr klar wurde, dass er seine Schwäche nur vorgetäuscht hatte. Als sie die Selbstgefälligkeit auf seinem Gesicht bemerkte, stieg Wut in ihr auf - Wut auf sich selbst, weil sie so eine Närrin gewesen war.

»Der vierte Sieg geht an Regin.«

Aber sie kannte seine Grenzen. Nach all der Zeit musste er müde werden.

Sie schloss die Augen und suchte nach der Quelle ihrer Macht. Sie war ein wenig verringert, aber noch weit davon entfernt, erschöpft zu sein.

Yikmo hatte ihr davon abgeraten, Regin mit schierer Stärke zu besiegen. »Wenn du Respekt willst, musst du sowohl Geschick als auch Ehre zeigen.«

Ich habe ihnen genug Geschick und Ehre gezeigt, dachte sie. Was immer in dieser letzten Runde geschah, sie würde keine neuerliche Niederlage riskieren, indem sie versuchte, ihre Kräfte zu schonen. Falls sie diese Runde für sich entschied, dann nur durch überlegene Ausdauer.

Was bedeutete, dass sie sie ohnehin durch Stärke gewinnen würde - warum also machte sie dem Ganzen nicht mit einem einzigen grimmigen Angriff ein Ende?

»Seid ihr bereit, die fünfte Runde zu beginnen?«, rief Balkan.

»Ja, Mylord«, antwortete sie, und Regin tat es ihr nach.

»Beginnt.«

Zuerst griff sie mit machtvollen Zaubern an, in der Hoffnung, sich auf diese Weise ein Bild von Regins Durchhaltekraft zu verschaffen. Regin wich allen Zaubern aus, und ihre Angriffe prallten, ohne Schaden anzurichten, gegen den Schild der Arena.

Sonea starrte Regin an, der ihren Blick mit geheuchelter Arglosigkeit erwiderte. Ausweichmanöver dieser Art galten im Kampf als schlechter Stil, aber es gab keine Regeln, die sie verboten. Sonea war überrascht, dass er zu etwas Derartigem Zuflucht nahm, aber er hatte es einfach nur deshalb getan, damit sie ihre Kräfte für einen nutzlosen Angriff vergeudete. Regin lächelte. Der Sand um seine Füße regte sich.

Ein Raunen ging durch die Menge, als der Sand sich vom Boden der Arena erhob. Sonea fragte sich, was Regin tat - und warum. Yikmo hatte keine Taktik erwähnt, die das beinhaltete. Tatsächlich hatte er gesagt, dass Projektion in einem formellen Kampf ohne Belang sei.

Sand peitschte jetzt durch die Arena. Er wurde sehr schnell dichter und erfüllte die Luft mit einem dünnen Heulen. Sonea runzelte die Stirn, als sie Regin plötzlich nicht mehr sehen konnte. Schon bald würde sie nichts mehr sehen als Weiß.

Dann prallte etwas Stärkeres gegen ihren Schild. Sie schätzte die Richtung ab, aus der der Angriff gekommen war, und schleuderte einen weiteren Zauber nach Regin, aber der nächste Angriff traf sie von hinten und dann ein dritter von oben.

Er hat mich geblendet, schoss es ihr durch den Kopf. Irgendwo hinter dieser Wand aus Sand bewegte er sich durch die Arena oder formte seine Zauber so, dass sie sich wölbten und sie aus einer anderen Richtung trafen. Sie konnte nicht kämpfen, wenn sie nicht wusste, wo Regin war.

Aber das würde keine Rolle spielen, wenn sie ihre Magie in alle Richtungen gleichzeitig schickte.

Sie griff nach ihrer Macht und sandte eine Vielzahl machtvoller Zauber aus. Abrupt senkte sich der Sand um sie herum und bildete einen Ring auf dem Boden. Regin hatte den Sandsturm auf sie konzentriert. Deshalb wusste er also, wo ich war.

Er stand auf der anderen Seite der Arena und beobachtete sie genau. Als sie ihn sah, wusste sie, dass er abzuschätzen versuchte, wie müde sie war.

Ich bin nicht müde.

Als sie angriff, wich er abermals aus. Sie spürte ein Lächeln, das an ihren Lippen zupfte. Wenn Regin ihre Kraft vergeuden wollte, würde sie ihn wie einen verängstigten Rassook kreuz und quer durch die Arena rennen lassen. Irgendwann würde sie ihn zu fassen bekommen.

Oder sie könnte ihre Zauber um die Arena biegen, so dass er nirgendwo hinlaufen konnte.

Ja. Beenden wir diese Angelegenheit.

Sie schloss halb die Augen und konzentrierte sich auf die Quelle ihrer Macht. Dann griff sie nach der gesamten Magie, die ihr noch zur Verfügung stand, und ließ nur ein klein wenig übrig. Im Geiste formte sie ein Muster, das ebenso schön wie tödlich war. Dann hob sie die Arme. Jetzt spielte es keine Rolle mehr, ob sie ihre Absichten zu erkennen gab. Als sie die Magie losließ, wusste sie, dass dies die gewaltigste Wucht war, die sie je freigesetzt hatte. Sie sandte ihren Angriff in drei Wellen von Kraftzaubern aus, ein jeder machtvoller als der vorangegangene.

Als die Zauber sich wie eine leuchtende, gefährliche Blume ausbreiteten und sich dann auf Regin hinabneigten, hörte sie ein leises Geräusch aus dem Publikum.

Regins Augen weiteten sich. Er trat zurück, aber er konnte sich nirgendwo in Sicherheit bringen. Als die ersten Zauber trafen, brach sein Schild in sich zusammen.

Einen Herzschlag später prallte die zweite Welle gegen den inneren Schild. Regins Gesichtsausdruck veränderte sich - wo zuvor noch Überraschung gewesen war, war jetzt Entsetzen. Er sah zu Lord Garrel hinüber, dann riss er, als die dritte Welle von Zaubern ihn fast erreicht hatte, beide Arme hoch.

Als die dritte Angriffswelle ihr Ziel traf, hörte Sonea einen lauten Ausruf. Sie erkannte Garrels Stimme. Der innere Schild um Regin wankte …

… blieb jedoch intakt.

Sonea drehte sich um, um Regins Mentor anzusehen. Er presste die Hände auf die Schläfen und taumelte. Akkarin legte dem Magier eine Hand auf die Schulter.

Dann lenkte ein leiser, dumpfer Aufprall Soneas Aufmerksamkeit wieder auf die Arena. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie Regin im Sand liegen sah. Alles war still. Sie wartete darauf, dass er sich bewegte, aber er lag vollkommen reglos da. Gewiss war er nur erschöpft. Gewiss war er nicht … tot.

Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

»Halt!«

Wie erstarrt von dem Befehl, blickte sie fragend zu Balkan auf. Der Krieger runzelte die Stirn, als wolle er sie warnen.

Dann stöhnte Regin, und die Magier auf den Zuschauerrängen stießen einen gemeinschaftlichen Seufzer aus. Sonea schloss die Augen, und eine Welle der Erleichterung schlug über ihr zusammen.

»Sonea hat die Herausforderung gewonnen«, erklärte Balkan.

Langsam und dann mit wachsender Begeisterung begannen die Magier und Novizen in der Arena zu applaudieren. Überrascht sah Sonea sich um.

Ich habe gewonnen, dachte sie. Ich habe wirklich gewonnen!

Sie betrachtete die applaudierenden Magier, Novizen und Nichtmagier: Vielleicht habe ich mehr gewonnen als nur den Kampf. Aber sicher sein konnte sie sich erst später, wenn sie den Flur in der Universität hinunterging und hörte, was die Novizen murmelten, oder wenn sie Regin und seinen Freunden spätabends in einem der Gänge begegnete.

»Ich erkläre dieses Duell für beendet«, verkündete Balkan. Dann trat er von seiner erhöhten Position herunter und gesellte sich zu Garrel und Akkarin. Garrel beantwortete irgendeine Bemerkung des Kriegers mit einem Nicken, dann ging er durch die Arena auf den Ausgang zu, ohne dabei auch nur einen Moment den Blick von dem immer noch reglos am Boden liegenden Regin abzuwenden.

Sonea betrachtete Regin nachdenklich. Sie trat näher an ihn heran und sah, dass sein Gesicht weiß war und er zu schlafen schien. Offensichtlich war er erschöpft, und sie wusste, was für ein schreckliches Gefühl das war. Aber so oft sie auch vollkommen erschöpft gewesen war, sie hatte doch nie das Bewusstsein verloren.

Zögernd, für den Fall, dass er sich verstellte, ging sie neben ihm in die Hocke und berührte zaghaft seine Stirn. Seine Erschöpfung war so gewaltig, dass sein Körper einen Schock davongetragen hatte. Sie ließ ein wenig heilende Energie von ihrer Hand in seinen Körper fließen, um ihn zu stärken.

»Sonea!«

Sie blickte auf. Garrel starrte missbilligend auf sie hinab.

»Was tust …«

»Ngh…«, stöhnte der Junge.

Ohne auf Garrel zu achten, senkte sie den Blick und sah, dass Regins Lider sich flatternd öffneten. Er starrte sie an, dann zog er mühsam die Brauen zusammen.

»Du?«

Sonea lächelte schief und stand auf. Sie verneigte sich vor Garrel und ging an ihm vorbei in die Kühle des Arenaportals.

Während der größte Teil der Zuschauer die Arena verließ, blieben die Höheren Magier zurück. Sie hatten einen Kreis gebildet und erörterten den Kampf.

»Ihre Kräfte haben schneller zugenommen, als ich es für möglich gehalten hätte«, sagte Lady Vinara.

»Ihre Stärke ist tatsächlich erstaunlich für eine Novizin ihres Alters«, stimmte Sarrin ihr zu.

»Wenn sie so stark ist, warum hat sie Regin dann nicht einfach gleich zu Beginn erschöpft?«, fragte Peakin. »Warum hat sie versucht, ihre Stärke zu schonen? Das hat sie zwei Runden gekostet.«

»Weil es bei diesem Kampf nicht darum ging, dass Sonea den Sieg davontrug«, sagte Yikmo leise. »Sondern dass Regin ihn verlor.«

Peakin musterte den Krieger zweifelnd. »Und der Unterschied ist?«

Lorlen lächelte über die Verwirrung des Alchemisten. »Wenn sie ihn einfach mit roher Gewalt in die Knie gezwungen hätte, hätte sie sich damit keinen Respekt verdient. Indem sie den Kampf auf eine andere Ebene - die Ebene des Könnens statt der Stärke - gehoben hat, hat sie bewiesen, dass sie trotz ihres Vorteils bereit war, fair zu kämpfen.«

Vinara nickte. »Sie wusste nicht, wie stark sie wirklich ist, nicht wahr?«

Yikmo lächelte. »Nein, das wusste sie nicht. Nur dass sie stärker war als Regin. Wenn sie gewusst hätte, wie stark sie ist, wäre es ihr schwer gefallen, sich eine Niederlage zu gestatten.«

»Wie stark ist sie denn nun?«

Yikmo blickte vielsagend zu Lorlen hinüber und dann über die Schulter des Administrators hinweg. Als Lorlen sich umdrehte, sah er, dass Balkan und Akkarin näher kamen. Er wusste, dass es nicht Balkan war, den Yikmo angesehen hatte.

»Vielleicht habt Ihr Euch mehr aufgeladen, als Ihr tragen könnt, Hoher Lord«, sagte Sarrin.

Akkarin lächelte. »Das halte ich für unwahrscheinlich.«

»Ihr werdet schon bald anfangen müssen, sie selbst zu unterrichten«, erklärte Vinara.

Akkarin schüttelte den Kopf. »Alles, was sie braucht, kann sie an der Universität lernen. Darüber hinaus gibt es nichts, was ich sie lehren könnte oder was sie von mir lernen wollte - für den Augenblick.«

Bei diesen Worten überlief Lorlen ein kalter Schauer. Er sah Akkarin forschend an, aber nichts in der Miene des Hohen Lords verriet, dass er auf ebenjenes Thema angespielt hatte, das Lorlen fürchtete.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals Verständnis für die Kämpfe und Intrigen der Häuser aufbringen oder gar Gefallen daran finden wird«, stimmte Vinara zu, »obwohl ich die Vorstellung, die Gilde könnte ihre erste Hohe Lady wählen, recht interessant finde.«

Sarrin runzelte die Stirn. »Wir wollen doch ihre Herkunft nicht vergessen.«

Als Vinara die Brauen hob, räusperte sich Lorlen. »Hoffentlich wird das noch für viele Jahre kein Thema sein.« Er wandte sich zu Akkarin um, aber die Aufmerksamkeit des Hohen Lords war abgelenkt worden. Lorlen folgte seinem Blick und sah, dass Sonea auf sie zukam.

Als der Kreis der Magier sich teilte, um ihr Platz zu machen, verneigte sich Sonea.

»Meinen Glückwunsch, Sonea«, brummte Balkan. »Das war ein guter Kampf.«

»Ich danke Euch, Lord Balkan«, erwiderte sie, und ihre Augen leuchteten.

»Wie fühlst du dich?«, wollte Lady Vinara wissen.

Sonea neigte den Kopf zur Seite, dachte kurz nach und zuckte dann die Achseln. »Hungrig, Mylady.«

Vinara lachte. »Dann hoffe ich, dass dein Mentor ein Festessen für dich bereitstehen hat.«

Wenn Soneas Lächeln ein wenig gezwungen ausfiel, so schienen die anderen es jedenfalls nicht zu bemerken. Sie beobachteten stattdessen Akkarin, der sich zu seiner Novizin umdrehte.

»Gut gemacht, Sonea«, sagte er.

»Vielen Dank, Hoher Lord.«

Die beiden musterten einander schweigend, dann senkte Sonea den Blick. Lorlen, der die anderen genau beobachtete, fiel Vinaras wissendes Lächeln auf. Balkan wirkte erheitert, und Sarrin nickte anerkennend.

Lorlen seufzte. Die anderen Magier sahen nur eine junge Novizin, die von ihrem mächtigen Mentor beeindruckt und ein wenig eingeschüchtert war. Würden sie jemals mehr sehen? Er betrachtete den roten Stein an seinem Finger. Wenn sie irgendwann mehr sehen sollten, werde ich nicht derjenige sein, der es ihnen zeigt. Ich bin genauso seine Geisel, wie Sonea es ist.

Er wandte sich wieder zu Akkarin um, und seine Augen wurden schmal. Falls er eines Tages eine Erklärung für all das abgeben sollte, hoffe ich nur, dass er uns wirklich gute Gründe für sein Tun nennen kann.


Dannyl öffnete die Tür zu seiner Wohnung und bedeutete Rothen, voranzugehen, dann folgte er ihm und schloss die Tür. Der Raum war dunkel, und obwohl alles makellos sauber wirkte, hing in der Luft doch der Geruch von Vernachlässigung. Die Diener hatten seine Reisetruhe ins Schlafzimmer gestellt.

»Also, was war so dringlich, dass der Hohe Lord deine Rückkehr nach Imardin befohlen hat?«, fragte Rothen.

Dannyl sah Rothen forschend an. Kein »Wie geht es dir?« oder »Wie war die Reise?«. Wären da nicht die beunruhigenden Veränderungen in der Erscheinung seines Freundes gewesen, hätte er sich vielleicht darüber geärgert.

Dunkle Ringe lagen unter Rothens Augen. Er wirkte älter, obwohl dieser Eindruck vielleicht darauf beruhte, dass sie sich längere Zeit nicht gesehen hatten. Möglich, dass die tiefen Falten auf Rothens Stirn und die grauen Strähnen in seinem Haar schon früher da gewesen waren. Aber die leicht gebeugte, angespannte Art, wie sein Mentor sich bewegte, war eindeutig neu.

»Ein wenig kann ich dir darüber erzählen«, sagte Dannyl, »aber nicht alles. Anscheinend hat Akkarin von meinen Nachforschungen über alte Magie erfahren. Er … ist alles in Ordnung mit dir, Rothen?«

Rothen war sehr bleich geworden. Er wandte den Blick ab. »Wirkte er … verärgert über mein Interesse?«

»Gewiss nicht«, beteuerte Dannyl, »denn er weiß nicht, dass du dich neuerdings für alte Magie interessierst. Er hatte von meinen Nachforschungen gehört, und es scheint, als billige er sie. Tatsächlich habe ich seine Erlaubnis, damit fortzufahren.«

Rothen starrte Dannyl überrascht an. »Aber das bedeutet ja…«

»Dass du dein Buch schreiben kannst, ohne befürchten zu müssen, ihm auf die Zehen zu treten«, beendete Dannyl seinen Satz.

Als Rothen nur die Achseln zuckte, vermutete Dannyl, dass es etwas anderes gewesen sein musste, das seinen Freund überrascht hatte.

»Hat er dich gebeten, noch irgendetwas anderes zu tun?«, fragte Rothen.

Dannyl lächelte. »Das betrifft den Teil, über den ich nicht sprechen darf. Diplomatische Angelegenheiten. Aber nichts allzu Gefährliches.«

Rothen musterte Dannyl nachdenklich, dann nickte er. »Du bist sicher müde«, sagte er. »Ich sollte dich jetzt allein lassen, damit du auspacken und ein wenig schlafen kannst.« Er ging zur Tür hinüber, dann zögerte er und drehte sich noch einmal um. »Hast du meinen Brief erhalten?«

Jetzt kommt es, schoss es Dannyl durch den Kopf. Er dachte an Rothens Brief, den er kurz vor seiner Abreise nach Imardin erhalten hatte. Sein Freund hatte ihn darin gewarnt, dass die Gerüchte Tayend betreffend inzwischen auch die Gilde erreicht hatten.

»Ja«, antwortete er knapp.

Rothen hob entschuldigend die Hände. »Ich fand, ich sollte dich warnen, für den Fall, dass die Klatschbasen wieder aktiv werden.«

»Natürlich«, sagte Dannyl trocken. Er war überrascht über die Sorglosigkeit, die in seiner Stimme mitgeschwungen hatte.

»Ich glaube nicht, dass das ein Problem sein wird«, fügte Rothen hinzu. »Das heißt, wenn dein Assistent überhaupt das ist, was man ihm nachsagt. Die Leute stellen keine Spekulationen an, was dich betrifft, sie finden diese Entwicklung lediglich im Lichte dessen, was man dir in deiner Novizenzeit vorgeworfen hat, recht erheiternd.«

»Ich verstehe.« Dannyl nickte langsam, dann wappnete er sich innerlich gegen Rothens Reaktion auf die unerfreuliche Antwort, die er ihm jetzt geben musste. »Tayend ist tatsächlich ein ›Knabe‹, Rothen.«

»Ein Knabe‹?« Rothen runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen. »Also ist das Gerücht wahr.«

»Ja. Die Elyner sind toleranter als die Kyralier - in den meisten Fällen jedenfalls.« Dannyl lächelte. »Ich versuche, ihnen nachzueifern.«

Rothen nickte. »Was mit zu deiner Rolle als Botschafter gehört, vermute ich. Neben geheimen Begegnungen mit dem Hohen Lord.« Zum ersten Mal, seit sie sich an diesem Tag begegnet waren, lächelte er. »Aber ich halte dich vom Auspacken ab. Hättest du Lust, heute Abend mit mir und Dorrien zu essen? Er kehrt morgen in sein Dorf zurück.«

»Die Einladung nehme ich gerne an.«

Rothen ging erneut auf die Tür zu. Dannyl ließ sie für ihn aufschwingen. Rothen blieb stehen, drückte die Tür wieder zu und seufzte. Dann drehte er sich noch einmal zu Dannyl um.

»Sei vorsichtig, Dannyl«, sagte er. »Sei sehr vorsichtig.«

Dannyl erwiderte seinen Blick. »Das werde ich«, versicherte er seinem Freund.

Rothen nickte. Dann öffnete er die Tür noch einmal und trat hinaus in den Korridor. Dannyl sah seinem Freund und Mentor nach.

Und schüttelte den Kopf, als ihm klar wurde, dass er keine Ahnung hatte, ob sich die Warnung seines Freundes nun auf seine Verbindung zu Tayend bezog oder auf die zu Akkarin.

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