Artax hob den Arm, und hinter ihm wurden Befehle gebellt. Die Marschkolonne kam zum Stillstand. Erstaunt betrachtete der Unsterbliche das Spektakel, das sich vor ihm auf der Ebene abspielte. Es herrschte ein entsetzliches Durcheinander. Männer rannten kreuz und quer. Es waren Lagerplätze aufgeschlagen, die ohne erkennbare Ordnung wie Flechten auf einem Stein wucherten. Die Grenze war eine wogende Nebelwand, die in etwa einer halben Meile Entfernung den Blick nach Norden verstellte.
»Ormu!«
Der Hauptmann der Bogenschützen der Kushiten kam herüber. Er schlenderte nicht gerade, aber sein Gang und seine Haltung waren äußerst unmilitärisch. Der hagere, rotbärtige Bogenschütze hatte einst dem Steinrat angehört, jener kleinen Gruppe von Weisen, die über die Geschicke der Provinz Garagum entschieden. Warum genau er sich dem Heer angeschlossen hatte, hatte Artax nie verstanden, aber Ormu war trotz seiner lässigen Haltung ein guter und umsichtiger Anführer.
»Wir lagern mit etwas Abstand zu diesem Chaos«, entschied Artax. »Du kümmerst dich darum, dass ein ordentliches Lager aufgeschlagen wird. Und sorge dafür, dass unsere Vorräte gut bewacht werden.« Wieder ließ er den Blick über das wimmelnde Durcheinander schweifen und schüttelte den Kopf. »Es sieht aus, als würden sie die Nebelwand belagern. Es hieß, wir machen einen schnellen Feldzug von ein paar Tagen. Den anderen werden also bald die Vorräte ausgehen. Kümmere dich hier um alles, ich werde mir dieses Chaos näher ansehen und die Unsterblichen Volodi und Labarna suchen.«
»Ich stelle eine Eskorte zusammen«, erklärte Ormu.
Artax hob abwehrend die Hand. »Ich bin lieber allein unterwegs.«
Ormu lächelte, als hätte er nichts anderes erwartet. Der Hauptmann schätzte die Hofetikette nicht sonderlich. Er war nicht respektlos, doch ihrzte er Artax nur selten und vermied es auch, ihn mit seinen förmlichen Titeln wie Herrscher aller Schwarzköpfe anzusprechen. Nichtsdestotrotz hatten er und seine Bogenschützen schon zweimal Mordanschläge vereitelt. Und Artax war sich sicher, dass ihm auch diesmal einige Männer unauffällig folgen würden, um ein Auge auf ihren Herrscher zu haben. Dabei war er in seiner Rüstung, die ihm der Löwenhäuptige geschenkt hatte, so gut wie unverwundbar – auch wenn sie auf den ersten Blick unscheinbar wirkte. Ein steifer, weißer Leinenpanzer mit einem aufgestickten Löwenkopf schützte seine Brust. Darunter trug er eine langärmelige Tunika und Handschuhe, eine Hose und hohe Stiefel. All dies aus weichem Leder. Doch keine Klinge vermochte dieses Leder zu zerschneiden oder seinen Leinenpanzer zu ritzen. Den prächtigen Maskenhelm, das Zeichen der Unsterblichen, trug er unter den Arm geklemmt. Er fühlte sich darin stets gefangen, auch wenn die Metallplatte der Maske perfekt auf sein Gesicht modelliert war und der Helm erstaunlich wenig wog.
Artax ging an riesigen Holzstapeln vorüber und sah voller Erstaunen, dass ein Stück entfernt drei doppelrümpfige Boote lagen, wie sie Bewohner der schwimmenden Inseln nutzten. Nah der Nebelwand wurden hohe Gerüste aus Bambusstangen errichtet.
Er passierte gerade eine Reihe von Toten, die neben der Straße abgelegt waren, als ein Trupp Reiter aus dem Nebel erschien. Sie wirkten abgekämpft. Einige waren verwundet, und ihnen stand das Entsetzen in ihre Gesichter geschrieben. Einer der Reiter scherte aus der Kolonne aus und hielt auf eine große Jurte aus rot gefärbtem Leder zu. Gab es in diesem Durcheinander doch so etwas wie einen Mittelpunkt?
Artax passierte einen Verbandsplatz, auf dem Jaguarmänner der Zapote versorgt wurden; Krieger, die unangenehme Erinnerungen in ihm weckten. Vor wenigen Monden erst hatte er sie noch bekämpft, als er den Tempelbezirk der Zapote in der Goldenen Stadt gestürmt hatte. Diesmal beachteten sie ihn nicht. Die Männer sahen übel aus. Kurze Pfeile steckten in ihren Leibern.
Vor dem roten Zelt hielten ihn drei Wachen mit vorgehaltenen Speeren auf. Ischkuzaia, Steppenreiter, die polierte Schuppenpanzer aus Messing trugen und um deren spitze Helme bunte Seidenbänder gewickelt waren. »Geh weiter, Fremder. Hier …« Der Sprecher sah den Maskenhelm, den Artax unter den Arm geklemmt hatte, und kniete demütig nieder. »Vergebt mir, Unsterblicher. Ganz ohne Eskorte oder Bannerträger in Eurem Gefolge habe ich Euch nicht erkannt.«
»Ich würde einen Wächter niemals dafür tadeln, dass er argwöhnisch das Zelt seines Herrn hütet. Du hast deine Sache gut gemacht. Reden wir nicht weiter darüber.« Die beiden anderen Krieger zogen die schweren Vorhänge vor dem Eingang der Jurte zurück, und Artax trat in das Zwielicht des stickigen Zeltes. Es roch nach Raubtier.
Das Erste, was er sah, war ein riesiger Bär, der sich über ein Lager beugte, auf dem Volodi lag. Der Devanthar aus Drusna war also gekommen! Doch nicht allein: Vor einem langen Tisch stand eine Gestalt, hässlich wie die Nacht. Ein Bruder des Bären, Langarm, der Götterschmied.
In der Mitte der Jurte kniete ein Krieger, der aus einer tiefen Wunde an der Wange blutete, vor dem Unsterblichen Madyas, dem Herrscher der Ischkuzaia. Der Unsterbliche war von kleiner, gedrungener Gestalt, seine Wangen mit drahtigen Stoppeln bedeckt. Ein Leben auf Pferderücken hatte seine Beine gekrümmt, seine Arme waren mit Wolfstätowierungen und breiten Narben bedeckt. Das also war der Vater von Shaya, dachte Artax und spürte Wut in sich aufsteigen. Der Mann, der seine Tochter für eine Herde Pferde verschachert hatte, wohlwissend, dass die Heilige Hochzeit Shayas Tod bedeuten konnte.
»Du hast mich enttäuscht, Subai!«, schnauzte er den Knienden an, die stechenden, schwarzen Augen zusammengekniffen. »Schon wieder!« Er versetzte ihm einen Tritt vor die Brust, der den Krieger zu Boden schleuderte. »Du hast unser Volk entehrt, du …« Er hob den Fuß, als wollte er den Mann wie ein widerliches Insekt zerstampfen.
»Er befindet sich in guter Gesellschaft mit seinem Scheitern.« Volodis Stimme war schwach. Schon nach diesen wenigen Worten rang er um Atem. »Ich bin dort gescheitert, und die Jaguarmänner der Zapote haben sie auch zurückgeschlagen. Ihre Stellung ist zu stark.«
»Wir waren fast bei den Speerschleudern, Vater«, rief der Krieger am Boden, über dessen Gesicht immer noch der schwere Stiefel des Unsterblichen Madyas schwebte. »Aber dann haben uns die grauen Riesen angegriffen. Wir konnten auf der Brücke nicht ausweichen. Wie Blitzschläge sind sie in unsere Reihen gefahren. Panik brach aus. Dutzende Reiter sind ins Wasser gestürzt. Und auch dort lauern Ungeheuer. Fische mit einem Maul wie ein Adlerschnabel, nur dass sie so groß wie ein kleines Schiff sind. Ich habe selbst gesehen, wie so ein Biest mit einem einzigen Biss ein Pferd in zwei Hälften getrennt hat …«
»Nun, Aaron, willkommen im ewigen Eis! Dieses Schlachtfeld ist wie geschaffen für den Helden von Kush, der es verstand, in einer Wüste mit einem Heer aus Bauern erfahrene Krieger zu besiegen.« Langarm wies auf eine flache, mit Sand gefüllte Kiste. »Komm her, ich zeige dir, wie es um uns steht.« Er zog mit zwei Fingern eine Doppellinie. »Das hier ist der Fluss. Sein warmes Wasser ist schuld an der Nebelwand dort draußen.« Eine dritte Linie kreuzte die beiden ersten. »Hier ist die Brücke. Sie liegt keine hundert Schritt von unserer Jurte entfernt. Sie ist so breit, dass darauf fünf Mann nebeneinander gehen können.«
Langarm tupfte mit den Fingern in den Sand, der das Ende der Brücke und das andere Ufer darstellte. »Hier haben sie Speerschleudern und Bogenschützen. Wer aus dem Nebel tritt, kommt in ein mörderisches Speerfeuer. Und sollte es doch jemand bis zum Ende der Brücke schaffen, warten dort Riesen, die jeden Überlebenden niedermachen. Wie löst du das Problem?«
»Wir verhalten uns genau so, wie sie es erwarten«, sagte Artax nachdenklich. »Wir müssen sie überraschen, wenn wir siegen wollen. Gibt es eine Furt?«
»Denkst du, wir sind dämlich?«, fuhr ihn der Unsterbliche Madyas an, der zu ihnen an den Tisch getreten war. »Es gibt weder eine zweite Brücke noch eine verdammte Furt. Meine Männer könnten den Fluss auf ihren Pferden durchschwimmen, wären da nicht diese Ungeheuer, die alles zerfleischen, was ins Wasser steigt. Das Blut, das flussabwärts ins Meer treibt, scheint sie anzulocken. Es werden immer mehr.«
»Wie viele Feinde erwarten uns am anderen Ufer?«
»Zwei- oder dreihundert?« Langarm zuckte mit den Schultern. »Wissen wir nicht so genau. Und diese Riesen sind noch nicht das Schlimmste. Kurz nachdem ich hergekommen bin, kam ein Drache durch das Weltentor. Ein wirklich großer. Er hat noch nicht einmal in den Kampf eingegriffen.«
Artax spielte gedankenverloren mit seinem Bart. »Was für Gerüste werden dort draußen gebaut?«
»Flugtürme«, erklärte der Devanthar. »Die Zapote wollen ihre Adlerritter dort hinaufsteigen lassen. Sie sollen dann im Gleitflug den Fluss überqueren.«
»Kann das gelingen?«
Langarm schnitt eine Grimasse. »Die Zapote sind davon überzeugt.«
»Wie steht es mit der Moral der Truppen?«
»Nicht gut. Wir haben drei Angriffe geführt und haben uns drei Mal eine blutige Nase geholt. Alle im Lager wissen das. Die Männer erwarten zu sterben und nicht zu siegen, wenn wir sie auf die Brücke schicken. Es ist alles …«
»Unsinn!«, fuhr Madyas dazwischen. »Meine Reiter werden, ohne zu zögern, erneut angreifen, wenn ich es ihnen befehle.«
Langarm rollte mit den Augen, sagte aber nichts.
»Niemand zweifelt am Mut der Ischkuzaia«, erklärte Artax versöhnlich. »Aber zunächst müssen wir ein paar grundlegende Dinge ändern. Unsere Toten sollten nicht an der Straße liegen, auf der neue Truppen eintreffen. Das ist gleich der erste Tiefschlag für die Moral der Männer. Ich wünsche, dass sie noch heute dort fortgeschafft werden. Irgendwohin das Flussufer hinauf. Auf jeden Fall an einen Ort, wo man nicht dauernd an ihnen vorbeiläuft. Dann sollten wir ein gemeinsames Lager für alle Verwundeten einrichten. Auch etwas entfernt vom Hauptlager. Wir müssen unsere Kräfte bündeln. Wie schlimm hat es dich erwischt, Volodi?«
Der ehemalige Hauptmann seiner Leibwache richtete sich auf seinem Lager auf. »Im Grunde nur ein Kratzer. Morgen kann ich wieder kämpfen.«
»Ich werde ihn heilen«, brummte der große Bär. »Aber es ist mehr als ein Kratzer. Er hat drei gebrochene Rippen und großes Glück gehabt, dass sie seine Lunge nicht durchbohrt haben.«
»Das sind nicht meine ersten gebrochenen Rippen«, murrte Volodi. »Ein straffer Verband, und ich bin morgen bei den Kämpfen dabei.«
Artax zweifelte keinen Augenblick daran, dass es so sein würde. Volodi würde kämpfen und wenn er sich auf das Schlachtfeld tragen lassen müsste.
»Bist du nun ein Heilkundiger oder ein Heerführer?«, fragte Madyas und schlug mit der flachen Hand auf die Zeichnung im Sand. »Wie siegen wir hier, Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe?«
»Zunächst brauchen wir Katapulte.« Artax war entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. Er sah zu Langarm. »Zwei oder drei Katapulte werden nicht genügen. Es sollten mindestens zwanzig sein. Und Brandgeschosse brauchen wir auch.«
»Du willst beschießen, was du nicht einmal siehst? Was für ein dämlicher Einfall ist das denn? Die Daimonen sind hinter der Nebelwand verborgen. Wir können nicht sehen, wann wir treffen und wann wir danebenschießen.«
»Ich war davon ausgegangen, dass du scharfsinnig genug bist, den tieferen Sinn dieser Maßnahme zu durchschauen, Madyas«, sagte Artax ironisch. Er war es leid, sich von einem Kerl beleidigen zu lassen, dem selbst nichts Besseres eingefallen war, als einen sinnlosen Reiterangriff gegen eine stark verteidigte Brücke zu führen.
Zornesröte stieg dem Reiterfürsten ins Gesicht. An seiner Schläfe trat eine dicke, pochende Ader hervor. »Hör mal zu, du eingebildeter …«
»Nein, du wirst zuhören«, unterbrach Artax ihn kalt, »und zwar so lange, bis du einen Vorschlag hast, der es wert ist, mein Gehör zu finden. Ansonsten schweigst du. Und wenn dir das nicht gegeben ist, können wir auch vor das Zelt gehen und diese Sache mit Klingen austragen, auf dass du danach für immer schweigen wirst. Du wärst nicht das erste Großmaul, das sich Unsterblicher nennt und von mir zur Strecke gebracht wird. Muwattas Schicksal kennst du, oder?«
Madyas öffnete die Schließe seines Schwertgurts und ließ ihn zu Boden fallen. »Wir regeln das nicht vor den Augen unserer Männer, sondern gleich hier in der Jurte.«
»Hast du Angst, dass ich dir die Kehle durchschneide, wenn wir Klingen benutzen?«
Madyas hob seine Fäuste. »Nach allem, was ich so über Muwatta gehört habe, schneidest du Männern auch schon mal den Schwanz ab, und meinen brauch ich noch.« Er grinste. »Was ist? Hast du Angst, dass ich dir die Zähne einschlage?«
Artax stellte seinen Maskenhelm auf den Kartentisch, löste seinen Schwertgurt und hob ebenfalls die Fäuste. »Nach allem, was ich über dich gehört habe, brichst du Männern, die besser aussehen als du, gerne die Nase.« Er grinste. »Wenn ich dich so ansehe, kommen dafür fast alle Männer infrage.«
In diesem Moment schwangen die Vorhänge am Eingang zurück, und der Löwenhäuptige betrat die Jurte. »Was geht hier vor?« Er sah zu Langarm und dem Großen Bären. »Und ihr beide seht einfach zu?«
»Manchmal regelt ein kleiner Faustkampf mehr als endloses Geschwätz«, brummte der Devanthar von Drusna. »Lass die beiden!«
Der Löwenhäuptige sah zu Artax, und Enttäuschung lag in seinen Augen. »Ich hatte dich für einen weiseren Mann gehalten.«
»Der Große Bär hat recht. Manchmal muss man es auf diese Weise austragen und nicht in endlosem Wortgeplänkel.« Obwohl er das sagte, machte es ihm zu schaffen, seinen Devanthar enttäuscht zu haben.
Wenn du seine Gunst verlierst, dann wirst du auch bald dein Leben verlieren, meldete sich die Stimme der früheren Aarons. Jene, deren Erinnerungen er in sich trug und die nun wirklich Unsterblichkeit erlangt hatten, auch wenn sie dazu verdammt waren, nur noch zuzusehen und lediglich ein Flüstern in seinen Gedanken zu sein.
»Bring uns nicht um das Spektakel einer guten Schlägerei, Bruder!«
Etwas an Langarms Stimme gefiel Artax nicht. Wollte er wirklich nur einen Faustkampf sehen? Oder ging es ihm darum, Unfrieden zu stiften?
Was glaubst du wohl, Artax? Er ist ein Freund Ištas, höhnte die Stimme in seinen Gedanken. Du kannst hier nicht gewinnen. Besiegst du Madyas, dann hast du einen neuen Feind unter den Unsterblichen. Gewinnt er, dann wird er nichts als Verachtung für dich übrig haben.
»Na, willst du kneifen?« Madyas trat in die Mitte des Zeltes und winkte ihm. »Komm schon, oder bist du nur tapfer, wenn du dein Geisterschwert in Händen hältst?«
Artax rief sich die Geschichten in Erinnerung, die Kolja ihm über die Faustkämpfe in den Arenen erzählt hatte. Dort sollte eine Auseinandersetzung lange dauern, damit das Publikum auf seine Kosten kam. Der Drusnier hatte auch gerne davon erzählt, wie Schlägereien in Karawansereien und Schankstuben waren.
»Gibt es irgendwelche besonderen Regeln, nach denen du kämpfen willst, Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes?«
»Du hast aber brav meine Titel gelernt.« Er grinste. »Wenn du jetzt noch meine Stiefel küsst, dann kommst du ohne deine Fäuste aus dieser Sache raus. Und Regeln sind für Knaben, die noch an den Brüsten ihrer Amme liegen. Jetzt hör auf zu schwätzen, Mann, und schlag dich, bevor ich …«
Artax packte die Kiste mit Sand auf dem Tisch und schleuderte sie Madyas entgegen. Der Unsterbliche wehrte die Kiste mit dem Unterarm ab, aber der Sand blendete ihn. Noch bevor er sich von der Überraschung erholt hatte, war Artax bei ihm. Ohne zu zögern, trat er Madyas zwischen die Schenkel, und als der Steppenreiter mit einem Stöhnen einknickte, riss Artax das Knie hoch, sodass es Madyas mit voller Wucht unter das Kinn traf.
Der Unsterbliche stürzte nach hinten. Sofort war Artax über ihm und setzte ihm den Fuß auf die Kehle. Er dachte an Shaya, und es fiel ihm schwer, dem Herrscher der Ischkuzaia nicht einfach die Luftröhre zu zerquetschen. »Reicht das als Eindruck, wie ich meine Schlachten führe?«
Madyas schob den Fuß zur Seite, der auf seine Kehle drückte. Erstaunlicherweise grinste er. »Ist mir eine Freude, auf deiner Seite zu kämpfen.«
Artax trat einen Schritt zurück, bereit, sofort wieder zuzuschlagen, sollte Madyas weiterkämpfen wollen. Doch der Steppenreiter wischte sich nur über die blutigen Lippen. »Ich habe dich unterschätzt. Du hast wirklich Eier! Und nun erzähl mir mal, warum wir Katapulte brauchen, um auf einen Feind zu schießen, den wir nicht sehen und wahrscheinlich auch nicht treffen werden.«
»Es geht nicht um den Feind. Wir tun das für unsere Männer. Es wird sich längst im Lager herumgesprochen haben, was uns am anderen Ende der Brücke erwartet. Wenn wir zurückschießen, dann hebt das die Moral. Und dass wir nicht treffen, kann man von diesem Ufer aus ja nicht sehen.« Er lächelte. »Und wer weiß, wenn wir Brandgeschosse benutzen, können wir die Flammen ja vielleicht doch durch den Nebel sehen. Es ist den Versuch auf jeden Fall wert.« Artax wandte sich an den Götterschmied. »Sind die geflügelten Löwen fertig?«
»Drei.« Langarm machte eine resignierende Geste. »Es ist aufwändig, sie zu bauen, und ich habe sie noch nicht ausreichend erprobt.«
»Werden sie fliegen?«
»Hm, weißt du, wie es ist, Magie und Mechanik miteinander zu verweben? Das sind Kräfte, die nicht miteinander harmonieren.«
»Werden sie fliegen?«, beharrte Artax.
»Ja, aber mit dem Landen könnte es Probleme geben.«
»Es ist ein großer Drache gekommen«, sagte Artax und blickte zu Madyas. »Reitest du auch Löwen?«
Der Unsterbliche wirkte nicht sonderlich glücklich über die Frage. »Natürlich.«
»Wirst du an meiner Seite sein?«
Madyas wirkte ein wenig blasser. »Sehe ich aus wie ein Feigling?«
»Dir ist schon klar, dass Drachen Feuer speien«, wandte der Löwenhäuptige ein. »Außerdem wird er ein viel besserer Flieger sein als du. Du bringst dich um, wenn du dich zu einem Kampf in der Luft stellst.«
»Irgendjemand muss unsere Männer vor Angriffen aus der Luft schützen. Ich habe niemals von meinen Kriegern etwas verlangt, was ich nicht selbst zu tun bereit wäre. Also ist mein Platz dort oben, auch wenn ich mich fürchte«, entgegnete Artax.
»Du glaubst, wenn du die Schlacht planst, wird ein Angriff über die Brücke endlich gelingen?«, fragte der Große Bär, der sich von Volodis Krankenlager abgewandt hatte.
»Wir werden es diesmal anders anfangen. Wir werden ihnen so viele Ziele bieten, dass sie gar nicht mehr wissen werden, wohin sie zuerst schießen sollen. Das erfordert allerdings ein wenig mehr Koordination als bisher. Ich habe folgenden Plan …«
Als er geendet hatte, herrschte zustimmendes Schweigen im Zelt. Nur der Löwenhäuptige schien nicht überzeugt zu sein. »Dein Plan klingt gut, Unsterblicher Aaron, aber da ist etwas, das sich unserem Verstehen entzieht! Ich habe den letzten Angriff der Ischkuzaia beobachtet. Etwas war da draußen im Nebel. Nicht auf der Brücke und auch nicht im Fluss. Es scheint ätherisch zu sein, und es hat von der letzten Lebenskraft der Sterbenden gezehrt. Einen Zauber wie diesen habe ich noch nie gesehen. Es gibt dort draußen eine Kraft, die sich all unseren Plänen entzieht. Wir sollten vorsichtig sein.«
»Aber zurück können wir nicht mehr!«, warf der Große Bär ein. »Wenn es sein muss, gehe ich selbst über die Brücke und führe meine Drusnier an.«
»Und ich gehe an deiner Seite«, sagte Volodi schwach.
Artax dachte an das schreckliche Gemetzel auf der Ebene von Kush. Auch dort waren seine Pläne nicht aufgegangen. Muwatta mochte ein grausamer und eitler Tyrann gewesen sein, aber er hatte sich auch als fähiger Heerführer erwiesen. »Keine Schlacht verläuft nach Plan«, sagte Artax melancholisch.
Er hatte das Antlitz von Narek vor Augen, seinem Jugendfreund, der auf der Ebene von Kush gefallen war, und er musste an seinen kleinen Sohn denken; daran, wie tapfer Daron in jener Nacht gewesen war, als er ihm die Nachricht vom Tod seines Vaters gebracht hatte. Narek hatte an einem der sichersten Plätze auf dem Schlachtfeld gestanden. Er war von Kriegern umgeben gewesen, die ihn und die Standarte, die Narek gehalten hatte, schützen sollten. Und doch hatte der Tod seinen Freund gefunden.
»Wenn wir die Angreifer sind, wird es weniger Überraschungen geben«, schloss er mit fester Stimme. »Wir dürfen nicht gleich im ersten Gefecht vor den Daimonen weichen. Wenn niemand weitere Einwände hat, dann bleibt es bei dem, was ich vorgeschlagen habe.«
»Achtung!«Ailyns Ruf zerriss die Stille der Nacht.
Fast im selben Augenblick zerbarst etwas, keine zehn Schritt hinter Galar, und eine blendende Flamme erhob sich aus dem Schnee. Der Zwerg blinzelte verschlafen. Ein Rinnsal aus Flammen lief die Uferböschung hinab in seine Richtung. Hinter der Nebelwand erklang ein dumpfer Laut, als hätte jemand mit der Faust auf einen Lederbezug geschlagen. Kaum zwei Herzschläge später sprühten Flammen hinter dem Lagerplatz der Trolle auf.
»Katapulte.« Nyr sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Sie haben Katapulte gebaut.«
»Groz!«, rief Ailyn. »Scheuch deine Männer auf. Wir müssen die Speerschleudern weiter nach hinten bringen.«
»Warum?« Der Troll blickte zum Himmel, wo eine Flammenkugel wie ein fallender Stern dahinzog.
»Weil sie verbrennen werden, du Trottel. Wir müssen uns vom Ufer zurückziehen. Wir …« Die Flammenkugel stieß steil vom Himmel hinab. Und dieses Mal zerbarst sie mitten unter den Trollen. Brennendes Öl spritzte aus dem aufplatzenden Geschoss. Etliche Trolle wurden getroffen. Wild schreiend schlugen sie auf ihre graue Haut, auf der Flammenzungen tanzten.
»Wälzt euch im Schnee!«, befahl Ailyn ruhig, obwohl schon wieder ein dumpfer Schlag vom jenseitigen Ufer zu hören war und eine weitere Feuerkugel in steilem Bogen in den Himmel stieg.
Die meisten Trolle hörten nicht auf die Elfe. Manche schlugen einfach mit ihren riesigen Händen auf die Brände ein. Andere rannten hinab zum Fluss, um sich ins Wasser zu werfen. Doch nur wenig später ertönten von dort noch grässlichere Schreie, und keiner der Trolle kehrte zurück.
Das nächste Geschoss verfehlte sie weit. Es schlug mehr als dreißig Schritt hinter ihren Geschützstellungen ein.
»Sie orientieren sich an den Feuern und unseren Schreien«, brüllte Nyr über das Getöse hinweg. »Wir müssen schreien, wenn sie danebenschießen, und ruhig bleiben, wenn ihnen ein Treffer gelingt.«
»Du spinnst! Wie willst du brennende Trolle ruhig halten?«, fragte Galar. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Ailyns Reaktion. Offensichtlich hatte auch sie gehört, was der Geschützmeister riet, und der Zwerg konnte sich nur zu gut vorstellen, welchen Schluss sie daraus ziehen würde.
»Sie können uns nicht sehen. Vielleicht ein schwaches Leuchten der Brände. Aber in erster Linie schießen sie nach Gehör. Das ist unsere Hoffnung. Wir können sie täuschen, wenn …«, wiederholte Nyr stur.
»Er hat recht!«, bekräftigte Ailyn und hatte es plötzlich eilig, die Uferböschung hinabzulaufen. Kaum einen Herzschlag später schlug dort, wo sie eben noch gestanden hatte, das nächste Brandgeschoss ein. Ein Tongefäß zersplitterte krachend auf dem festgestampften Schnee. Es war in ein Netz aus teergetränkten Hanfseilen gewickelt. Die Seile standen in Flammen, und sobald der Tonkrug zerschellte, entzündeten sie das heiße Öl, das Flammenzungen in alle Himmelsrichtungen verspritzte. Zischend schmolz der Schnee unter dem Feuer. Rinnsale, auf denen Flammen trieben, flossen die Böschung zum Fluss hinab.
Ein weiteres Tongefäß schlug auf den hart gefrorenen Schnee. Eine Feuerblume erblühte, fast zwanzig Schritt von der letzten Geschützstellung entfernt.
»Schreit!«, befahl Ailyn. »Los, schreit!«
Nyr war der Erste, der ihrem Befehl folgte. Er brüllte los, als hätte man ihm ein Schwert in die Gedärme gerammt. Als Nächstes schrie Che auf. Dann begannen auch die anderen.
Galar fand es albern. Es mochte vernünftig sein, aber irgendwie konnte er nicht.
Ein weiteres Brandgeschoss zerplatzte auf dem Ufer. Diesmal war es gut platziert. Es war inmitten der Kobolde eingeschlagen. Das Geschrei, das eben noch ausgelassen und gekünstelt geklungen hatte, war nun echt.
Ein Kobold, ganz in Flammen gewandet, lief auf Galar zu. Es war einer von denen mit roter Wollmütze. Sein Gesicht lag hinter einem Schleier aus Feuer. Nur sein weit aufgerissener Mund war deutlich zu erkennen.
»Still!«, befahl Ailyn. Doch keiner hörte. Schmerz und Entsetzen hatten jeglichen Gehorsam aufgelöst. Entschlossen trat die Elfe hinter den Kobold, der vor Galar Halt gemacht hatte und sich auf die Arme schlug, in einem grotesken Versuch, die Flammen, die seinen ganzen Leib umfingen, zumindest dort zu löschen.
Ailyn griff ihm in den Nacken. Galar konnte nicht genau erkennen, was sie tat, aber das Schreien verstummte, und die Arme des Kobolds sanken schlaff herab. In den Augen des Kobolds sah der Zwerg namenlosen Schrecken. Der kleine Krieger war noch bei vollem Bewusstsein, aber er brachte keine Silbe mehr über die Lippen, war unfähig, sich zu rühren. Er stand still wie ein Baum, der Feuer gefangen hatte.
Ailyn trat zu Galar und wischte an seiner Weste ihre besudelte Hand ab. »Ihr schreit nur, wenn ich es euch erlaube«, sagte sie mit düsterer Entschlossenheit in die Runde. »Ihr gehört mir. Und auch wenn ihr mich jetzt still verfluchen werdet, am Ende werdet ihr begreifen, dass ich eure Leben rette.«
Die Verwundeten waren von ihren Worten nicht im Mindesten beeindruckt. Weiter hallten ihre Schreie durch die Nacht, und Ailyn brachte noch drei andere Kobolde zum Schweigen. Dann endlich wurde es stiller.
»Los, tun wir was!« Bailin stieß Galar in die Seite. »In dieser Nacht sind wir alle Gefährten, ganz gleich, was in der Vergangenheit war.« Mit diesen Worten ging der Hauptmann zu einer kleinen Gestalt, die zusammengekrümmt am Boden lag, und erstickte die Brände auf dessen Felljacke mit einigen Händen voll Schnee.
Auch Nyr machte sich an die Arbeit. Er schaufelte Schnee in die Flammen des Feuerkruges, der in ihrer Mitte zerschellt war. Aus den Schreien war ein leises Wimmern geworden, als erneut ein Licht seine bedrohliche Bahn durch den Nebel zog.
»Zur Seite, Che!«, schrie Galar auf. »Nehmt die Beine in die Hand!«
Der Anführer der Kobolde blickte zum Himmel hinauf. Kurz runzelte er die Stirn, und dann erstarrte er, als stünde auch er unter dem seltsamen Zauberbann, den Ailyn auf die Männer gelegt hatte, die in Flammen gestanden hatten.
»Verdammter Idiot!« Galar stürmte vor. Kobolde, alles Maulhelden, die zu blöd zum Scheißen waren. Der Zwerg packte Che und stürmte weiter. Zwei Schritt nur, dann rutschte er auf der vereisten Uferböschung aus. Einen Herzschlag später schlug der Feuerkrug ein. Fast genau an der Stelle, an der Che eben noch gestanden hatte. Eine weitere Feuerblume erblühte. Etwas spritzte auf Galars Hand. Er stöhnte auf, schlug die Hand in den Schnee und rollte sich vom Kobold fort, den er unter sich begraben hatte.
Doch da war kein Feuer auf seiner Hand. Er hatte lediglich einen Spritzer heißen Öls abbekommen. Die Haut auf dem Handrücken war zu einer dicken roten Quaddel aufgequollen. »Scheiße«, fluchte er durch zusammengebissene Zähne, als plötzlich etwas seinen Rücken traf.
Che schlug ihm mit einem dicken Schneeball auf die Schaffellweste. »Du dampfst«, erklärte der Kobold. »Hast noch mehr Öl abbekommen. Da waren auch zwei kleine Flämmchen. Die sind aber schon erstickt.«
Galar sah den Kobold misstrauisch an. Che stand über ihn gebeugt und trug einen breiten Schwertgurt über der Brust, den er irgendeinem gemeuchelten Zwerg abgenommen hatte. Er hätte den Bastard einfach da stehen lassen sollen, war er doch für den Tod von etlichen Zwergen verantwortlich. Und wenn das hier vorüber war, würden er und seine Koboldhorde vielleicht einen neuen Krieg gegen die Zwerge von Ishaven anzetteln. Es wäre so leicht gewesen …
»Danke!«, sagte Che plötzlich. Es war ihm anzusehen, dass ihm dieses Wort nicht leicht über die Lippen gekommen war.
»Hab dich bei dem schlechten Licht für ’nen Zwerg gehalten.«
»Klar.« Der Kobold grinste. Er wusste, dass kein Zwerg Albenmarks jemals versehentlich einen Kobold für seinesgleichen halten würde.
Zwei weitere Brandgeschosse schlugen weit hinter ihnen in den Schnee.
»Schreit!«, befahl Ailyn.
Und diesmal erhob sich ein Wehgeschrei, als wäre ihre halbe Truppe in Flammen gesetzt worden. Auch klangen die Schreie nun erschütternd echt.
Che streckte Galar die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. »Gehen wir näher ans Ufer.«
Galar griff nicht zu. So weit kam es noch, dass er sich von einem verdammten Eisbart hochhelfen ließ!
»Dickschädel, was?« Che hatte immer noch gute Laune. »Du bist der erste Zwerg, den ich mag«, erklärte er grinsend. »Natürlich nur so viel wie eine Steinviper, die man über dem Lagerfeuer brät. Aber wenn so eine verdammte Viper erstmal tot ist und gut durchgebraten wurde, dann kann man wirklich Freude an ihr haben.«
»Was ist das«, knurrte Galar. »Eine Beleidigung oder eine Kriegserklärung?«
Che hob in großer Geste die Hände. »Das war nett gemeint. Du hast mir das Leben gerettet. Mir, dem Anführer der Eisbärte. Ich bin wirklich überrascht, ja, sogar ein klein wenig gerührt.«
»Wäre nett, wenn du nicht herumerzählst, was ich getan habe«, brummte Galar. »Die Zwerge von Ishaven würden mich für diese glorreiche Tat vermutlich an die Tore ihrer Festung nageln.«
Che schüttelte den Kopf, und als er antwortete, lag kein Schalk mehr in seiner Stimme. »Nein, sie würden sich etwas Schlimmeres einfallen lassen.«
Sie erreichten das Ufer des dampfenden Flusses. Wieder zogen Feuerbälle über sie hinweg durch den Nebel. Dieses Mal verfehlten sie die Geschützstellung um fast vierzig Schritt. »Schreit!«, befahl Ailyn erneut.
Trolle, Zwerge und Kobolde gehorchten, und allgemeines Wehklagen erhob sich. Nyrs Plan, umgesetzt von einer gnadenlosen Elfe, hatten sie es zu verdanken, wenn im Augenblick keine Feuerkrüge in ihren Reihen einschlugen. Doch Ailyn machte sich nichts aus ihrem Erfolg, sie blickte angespannt in den Nebel über dem Fluss, und Galar fragte sich, welche neuen Schrecken sie dort sah.
Artax schritt die lange Reihe der Katapulte ab, die dicht beim Ufer standen. Inzwischen waren dreiundzwanzig der großen Geschütze mit ihren langen Wurfarmen errichtet worden. Hinter ihnen türmten sich Hunderte von Feuerkrügen.
»Du hast mich verstanden?«, fragte er scharf den hageren Hauptmann, der ihn begleitete.
Der Valesier nickte, wobei ihm der üppige Rosshaarschweif seines Helms vors Gesicht schwang. Artax hielt den Mann für einen eitlen Stutzer. Die Geschütze zu bedienen war die Aufgabe, die den Valesiern in diesem ersten Gefecht zugeteilt worden war. Drei Tage lang hatten sie das andere Ufer beschossen, bis dort nur noch vereinzelt Schreie erklangen.
»Dreht die Stundengläser!«, befahl Artax den Dienern in seinem Gefolge, und sieben Stundengläser wurden alle im selben Augenblick auf den Kopf gestellt.
Artax persönlich nahm eines und reichte es dem Valesier. »Du wirst all deine Katapulte schießen lassen, was das Zeug hält. Übertriff dich selbst! Verwandele das andere Ufer in eine Flammenwand. Aber sobald das letzte Sandkorn durch das Glas gefallen ist, hört ihr auf zu schießen. Dies wird der Augenblick sein, in dem unsere Männer angreifen.«
Der Hauptmann nickte erneut, und wieder wischte ihm der viel zu lange Rosshaarschweif über das Gesicht.
»Ich verlasse mich auf dich, Vibius. Wenn deine Katapulte zu lange schießen, werden Hunderte unserer eigenen Krieger in den Flammen vergehen.«
»Ich werde das Stundenglas nicht aus dem Blick lassen.« Deutlich war der Stimme des Hauptmanns nun anzuhören, wie unwohl er sich fühlte.
»Stellst du den Beschuss zu früh ein, werden die Daimonen Gelegenheit haben, ihre Speerschleudern wieder zu bemannen. Alles kommt auf dich an. Ich vertraue dir!« Artax konnte sehen, wie seine letzten Worte die Zweifel des Hauptmanns hinwegfegten. Der Befehlshaber der Geschütze wirkte entschlossener als zuvor.
Mit einem Blick zu seiner Dienerschaft überzeugte der Unsterbliche sich noch einmal davon, dass sie alle die Stundengläser umgedreht hatten. Nun war der Angriff nicht mehr aufzuhalten, und ihre Zeit rann dahin. Mit einem knappen Gruß verließ Artax die Katapultstellungen und ging weiter den Fluss hinab, dorthin, wo die Katamarane der Krieger von den Schwimmenden Inseln knapp vor der abschüssigen Uferböschung lagen. Mit ihren flachen Doppelrümpfen würden die Boote wie Schlitten über den vereisten Grund in den Fluss gleiten.
Inmitten seiner Krieger erwartete ihn sein unsterblicher Bruder, Keanu, der Herr aller Wasser. Die schlanke, hochgewachsene Gestalt trug einen Federmantel, der in allen Regenbogenfarben schillerte. Seine Rüstung ähnelte der, die Artax trug, nur dass sie eine Brustplatte besaß, die aussah, als wäre sie aus einem Schildkrötenpanzer gefertigt.
»Deine Männer sind bereit?«
Keanu lächelte breit. »Sie können es kaum erwarten zu triumphieren, wo alle anderen bisher versagten.«
Artax missfiel die Überheblichkeit seines Bruders, aber er ließ sich nichts anmerken. »Bring die Boote wie besprochen bis zur Mitte des Flusses.« Er winkte einem Diener. »Sobald das Stundenglas abgelaufen ist, werden die Katapulte aufhören zu schießen. Dann stoßt schnell zum feindlichen Ufer vor.«
Keanu nahm das Stundenglas entgegen. »Ich erinnere mich sehr wohl, was besprochen ist. Du musst mir unsere Pläne nicht noch einmal auseinandersetzen.«
Arroganter Kotzbrocken, höhnten die Stimmen in Artax’ Gedanken. Du solltest dir solche Frechheiten nicht gefallen lassen. Wenn du schweigst, wird er das als Schwäche werten. Du weißt, dass er ein Verbündeter der Zapote ist und alles tun wird, um deine Autorität zu untergraben.
Wahre Autorität bedeutet, dass man nicht auf jede Provokation reagieren muss, dachte Artax. »Ich verlasse mich auf dich, Bruder Keanu. Der Angriff deiner Männer wird über Sieg oder Niederlage entscheiden.«
»Wir werden die Ersten am anderen Ufer sein«, entgegnete der Herr aller Wasser zuversichtlich.
»Dann wirst du all deine Brüder beschämt haben.« Mit diesen Worten wandte sich Artax ab und ging weiter zu den Flugtürmen der Zapote. Ihr Unsterblicher stand auf dem höchsten der aus Bambusstangen errichteten Gerüste. Er trug eine Federrüstung und hatte seine mächtigen Adlerschwingen vor der Brust verschränkt. Um ihn herum klammerten sich Dutzende seiner Adlerritter an das Gerüst. Sie alle würden auf ausgebreiteten Schwingen über den Fluss gleiten, sobald die Zeit für den Angriff gekommen war.
Artax hatte mit Bedacht entschieden, keine Hornsignale zu geben, die die Daimonen auf dem anderen Ufer vorwarnen würden. Die Stundengläser zeigten an, wann der Augenblick zum Angriff gekommen war. Ohne Vorwarnung würden sie über ihre Feinde herfallen und sie hinwegfegen.
Eine Gestalt im schwarzen Gewand der Jaguarkrieger trat Artax entgegen und verbeugte sich. Breite, goldene Armreifen verrieten, dass es sich um einen Krieger von Rang handeln musste. »Mein Gebieter möchte an der Spitze der Adlerritter den Angriff führen. Bitte entschuldigt, wenn er nicht die Strapaze auf sich nimmt, Euch persönlich zu empfangen, Unsterblicher Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe. Mein Name ist Necahual, und es ist meine Aufgabe, all Eure Wünsche mit größter Beflissenheit auszuführen.«
Artax war sich bewusst, dass all dies nur Ausflüchte waren. Seit dem Überfall auf den Tempelpalast der Zapote in der Goldenen Stadt, bei dem Artax Volodi befreit hatte, herrschte unversöhnliche Feindschaft zwischen ihm und Acoatl.
»Bring deinem Herrn dies Stundenglas, Necahual. Sobald der Sand durchgelaufen ist, soll er mit seinen Kriegern den Angriff beginnen.«
»So wird es sein!« Mit einer Verbeugung nahm Necahual die Sanduhr an sich, die ihm von einem der Diener aus Artax’ Gefolge gereicht wurde.
Der Unsterbliche war froh, dieses Treffen hinter sich gebracht zu haben. Er ging zur Straße, die hin zur Brücke führte. Dort sammelten sich bereits lange Kolonnen von Kriegern. Auch dieses Mal würde der Hauptangriff an diesem Engpass erfolgen, und Artax war zuversichtlich, dass sie diesmal durchbrechen würden. Letzten Endes schien es am anderen Ufer gar nicht so viele Verteidiger zu geben. Wenn sie vom Wasser, aus der Luft und über die Brücke gleichzeitig angegriffen wurden, würden ihre Reihen brechen. Zumal sie unter dem Beschuss schrecklich gelitten hatten. Deutlich waren die Schreie der Verletzten und Sterbenden auch auf ihrer Seite des Ufers zu hören gewesen, vor allem das dumpfe Röhren der Riesen.
Die Truppen Luwiens bildeten die Spitze der Kolonne. Die Krieger stützten sich auf ihre hohen Schilde und plauderten leise. Dichte Atemwolken standen vor ihren Mündern. Alle trugen Wickelgamaschen aus Fell, dicke Westen und Umhänge aus schwerer Wolle. Wie schon auf der Ebene von Kush waren die luwischen Krieger bestens auf die Schlacht vorbereitet. Ihre Ausrüstung war exzellent: Kostbare Eisenspitzen schimmerten auf ihren langen Speeren, und sie wirkten furchtlos, obwohl sie ganz sicher von den Massakern der ersten Angriffe gehört hatten.
Manche der Krieger winkten ihm. Sie erkannten seine Rüstung und den großen Maskenhelm, den er unter dem Arm trug. Vor gar nicht langer Zeit hatten sie einander als Feinde auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden, doch seit Labarna seinen Vorgänger Muwatta als Unsterblicher des luwischen Großreiches abgelöst hatte, hatte sich alles verändert. Sie beide wollten Frieden, und seit Menschengedenken war das Verhältnis zwischen den Reichen Aram und Luwien nicht so gut gewesen wie in den letzten Monden.
»Heh, Bauernführer!«, erklang eine befehlsgewohnte Stimme. Aus einer kleinen Gruppe am Ende der Kolonne löste sich ein Hüne von Mann. Unter den Kriegern, die ihn umringten, war er der am schlichtesten Gewandete. Seine Wollhose war abgewetzt und mit Dreck bespritzt, und der bronzene Brustpanzer, obwohl von offensichtlich guter Qualität, hatte in der Gravur, die eine geflügelte Gestalt zeigte, Grünspan angesetzt. Von seinem Schwertgurt hing der Maskenhelm, das Statussymbol der Unsterblichen. Auf den Schultern des Kriegers ruhte eine massige Keule, aus der Bronzenägel ragten. Labarna hatte seine Arme lässig darübergelegt, sodass er von Ferne aussah wie ein Gekreuzigter.
»Ah, der luwische Kahlkopf ist auch endlich eingetroffen«, entgegnete Artax mit breitem Lächeln. Labarna hatte sich den Schädel kahl geschoren. Nur zwei breite, in Locken gedrehte Haarsträhnen an seinen Schläfen waren geblieben.
Labarna ließ die Keule von den Schultern gleiten, trat vor Artax und packte dessen Handgelenk im Kriegergruß. »Gut dich zu sehen, Aaron. Und gut, dass du hier den Befehl führst.« Er senkte die Stimme. »Es würde mir nicht gefallen, von einem Unsterblichen, der sich wie ein aufgeplusterter Hahn kleidet, Befehle anzunehmen, wo ich mich mit meinen Männern aufstellen soll.«
»Du führst die Spitze des Angriffs«, sagte Artax ernst. »Es ist die gefährlichste Aufgabe.«
»Ich weiß doch, dass du es noch nicht aufgegeben hast, die Günstlinge Ištas auf schnellem Weg ins Grab zu schicken.« Er schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter, sodass Artax fast in die Knie gegangen wäre. Wahrscheinlich gab es Pferdetritte, die ein zärtlicherer Freundschaftsbeweis waren als ein Schulterklopfen des Hünen.
»Mach dir keine Gedanken. Meine Männer und ich sehen das auf die gleiche Art. Da wo es hart auf hart kommt, hat man am besten einen Luwier stehen, wenn man siegen will. Wir verstehen es als eine Ehre, den Angriff zu führen.«
Es war leicht, so zu sprechen, wenn man die Rüstung eines Unsterblichen trug, dachte Artax. »Die anderen haben dich in die Angriffspläne eingeweiht?«
»Sie waren gerade dabei.« Er winkte zu der Gruppe der Hauptleute, bei der er gestanden hatte, und Artax erkannte Subai, den Sohn des Madyas, Ormu, den Hauptmann seiner Kushiten, und den Unsterblichen Volodi.
»Das sind die Stundengläser?« Labarna nickte in Richtung der Dienerschaft, die Artax gefolgt war. »Eine ungewöhnliche Idee, einen Angriff abzustimmen. Ich finde ja, Hörnerklang und die Stimme des Feldherrn sollten den Sturm entfesseln, der über unsere Feinde kommt. Rieselnder Sand … hm, das hat nichts Heroisches.« Er legte Artax den Arm um die Schultern. »Komm, reden wir mit den anderen. Volodi ist immer noch beleidigt, weil du ihn nicht mit in den Himmel nimmst.«
Unterwegs fuhr Labarna mit gesenkter Stimme fort. »Ich bin froh, dass deine Wahl nicht auf mich gefallen ist. Ich bin wirklich kein Feigling, aber das, was du vorhast, das wäre nichts für mich.«
»Und doch wird der Tag kommen, an dem wir es alle gemeinsam tun müssen«, entgegnete Artax.
Labarna grinste. »Ich bin ein einfacher Mann, mein Freund. Ich denke nur selten an das Morgen.«
Die Feldherren standen um eine Feuerschale und wärmten sich die Hände, während sich hinter ihnen die Reiter aus Ischkuzaia sammelten. Subai würde mit seinen Steppenreitern nachsetzen, sobald es Labarna gelang, die Feinde von der Brücke zu drängen. Die reitenden Bogenschützen sollten den Daimonen jede Rückzugsmöglichkeit abschneiden, während Volodi als Dritter seine Krieger über die Brücke brachte, um Labarna bei den letzten Kämpfen zu unterstützen. Ormu hingegen sollte mit den Männern aus Aram als Lagerwache zurückbleiben.
Artax zweifelte nicht daran, dass sie siegen würden. Nur der Drache machte ihm Sorgen. Wie würde er sich verhalten? Wenn er die Brücke angriff, während dort Hunderte Krieger darauf warteten, dass es den Kämpfern an der Spitze gelang, die feindlichen Reihen zu durchbrechen, würde es ein Massaker geben. Er war entschlossen, das zu verhindern!
»Ihr alle wisst, was ihr zu tun habt?«
Die Feldherren nickten. Nur Subai gab ein mürrisches Grunzen von sich. Artax mochte den Steppenreiter nicht. Er wirkte stets übellaunig und hatte einen grausamen Zug um die Mundwinkel. Gut erinnerte er sich an die Geschichten, die Shaya über ihren Bruder erzählt hatte. Shaya … Wo sie jetzt wohl war? Er straffte sich. Er sollte sie vergessen. Zumindest für die Schlacht … Sie war nur noch ein Traum, so wie jene Almitra, die er sich in Gedanken als armer Bauer in Belbek ausgemalt hatte.
Er war zum mächtigsten Herrscher Daias aufgestiegen, doch der Traum von der Frau, mit der er leben wollte, war genauso unerfüllbar geblieben wie damals, als sein Leben Hunger und Armut gewesen war. Nichts hatte sich geändert … Wütend ballte er die Fäuste. Er wollte ihren Verlust nicht einfach hinnehmen! Er würde nach ihr suchen, wenn das hier vorüber war. Er würde sie finden, und wenn es ein ganzes Leben dauern würde. Doch zunächst galt es, hier zu siegen!
Artax winkte die Diener mit den restlichen Stundengläsern herbei und ließ sie den Befehlshabern überreichen. Nur Ormu bekam keines, da er am Angriff keinen Anteil haben würde, was der Jäger durchaus zu schätzen wusste. Er war kein Feigling, brannte aber nicht darauf, seine Männer um der Ehre willen in selbstmörderische Angriffe zu führen. Ganz anders als Volodi, der sichtlich schmollte, weil er mit seinen Kriegern zuletzt über die Brücke gehen würde.
Es waren nur noch knapp zwei Fingerbreit Sand in der oberen Hälfte der Stundengläser. Die Zeit lief ihnen davon.
»Gibt es noch Fragen?«
Schweigen war die Antwort. Alle sahen die Stundengläser an.
»Euch ist klar, dass ihr die schwerste Last in diesen Kämpfen tragt und dass das Gelingen dieses Angriffs vor allem von euch abhängt?«, wiederholte Artax seine Phrase. »Ich hoffe, in einer Stunde ist alles vorüber und wir alle sehen uns wohlbehalten am anderen Ufer wieder.«
»Wir sehen uns am anderen Ufer, Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe«, entgegnete Labarna feierlich. »Wir wissen, welchen Kampf du dir erwählt hast und wer das größte Risiko eingehen wird. Mögen die Götter mit dir sein!«
Artax lächelte verlegen, dann nickte er knapp und machte sich auf den Weg zu Langarm. In einer Bodensenke, geschützt vor neugierigen Blicken, erwartete ihn der Devanthar. Auch Madyas und Ansur, der Unsterbliche Herrscher von Valesia, waren bereits anwesend. Und drei silberne Löwen mit gefalteten, goldenen Schwingen.
Die Geschöpfe des Götterschmiedes waren ehrfurchtgebietend. Fast von doppelter Manneshöhe erstrahlten sie im klaren Licht des Wintertages in überirdischer Schönheit. Artax strich mit ausgestreckter Hand vorsichtig über das ziselierte Fell. Das Metall fühlte sich warm an, ganz so, als hätte er einen lebenden Körper berührt. Der Löwe drehte den Kopf nach ihm und betrachtete ihn mit seinen himmelblauen Augen, als wäre er ein Geschöpf mit Verstand und nicht nur eine von Langarm ersonnene Maschine. Seine Mähne war aus Hunderten einander überlappenden Goldschuppen erschaffen, die leise klirrten, wenn er sich bewegte. Er öffnete sein Maul und zeigte Artax dolchlange Fänge. Dann ließ er es mit scharfem Klirren wieder zuschnappen.
»Ich bin sie kaum geflogen«, erklärte Langarm, dem bei dem Gedanken an das, was bevorstand, sichtlich unwohl war. »Sie sind nicht ausreichend erprobt. Es ist der blanke Leichtsinn, mit ihnen sofort in ein Gefecht ziehen zu wollen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr das Fliegen auch noch nicht geübt habt.«
»Langarm hat recht«, bekräftigte Ansur. Der Unsterbliche erinnerte Artax jedes Mal, wenn er ihm begegnete, eher an einen Gelehrten als an einen Kriegerkönig. Er war von kleiner, zierlicher Statur und hatte ein schmales Gesicht, dessen auffälligstes Merkmal ein großes Muttermal dicht über der Oberlippe war. Nur seine grauen Augen brannten von einer Leidenschaft, die den ersten Eindruck farbloser Gelehrsamkeit verblassen ließ.
»Ich sitze fest im Sattel, ganz gleich, was für ein Vieh mir unterkommt«, entgegnete Madyas abfällig. »Ich werde bestimmt nicht Zuschauer sein, wenn meine Männer kämpfen!«
Artax nickte ihm zu. Er war erleichtert, nicht alleine in den Himmel reiten zu müssen. »Wenn der Drache kommt, können nur wir allein sie vor dem Flammentod schützen.« Er blickte auf die Sanduhr. Nur ein Fingerbreit stand noch in der oberen Hälfte des Glases. Nun gab es kein Zurück mehr.
»Dann werdet ihr das hier brauchen.« Mit diesen Worten bückte sich Langarm und hob etwas auf, das halb im Neuschnee verborgen gelegen hatte. Eine Lanze, fast vier Schritt lang, mit einem Stichblatt wie eine Schwertklinge und einer schweren Kugel am anderen Ende. »Sie sind leider nicht perfekt ausbalanciert. Mehr war in der kurzen Zeit nicht zu machen. Außer Mut werdet ihr eine verdammte Portion Glück brauchen, um lebend wieder herunterzukommen!«
Der Glanz des Winters war vom Ufer gewichen. Es erschien Ailyn wie eine Parabel auf das Leben. Unter dem festen, kristallenen Eis war grauer Granit zum Vorschein gekommen. Nichts konnte hier existieren. Nichts auf nacktem Fels leben. Das Eis war wie ein Zauber gewesen, der die Wirklichkeit verbarg. Es hatte Träume erlaubt, dass dieser Ort mit seinem wundersam rauchenden Fluss verwunschen und von großer Schönheit sein könnte, würde ihm nur die Gnade einer wärmeren Sonne zuteil. Eine Illusion, die das Feuer hinweggebrannt hatte.
Dort, wo das Eis geblieben war, hatte der schwarze Rauch des brennenden Öls seine Farbe zurückgelassen. Ihre überlebenden Krieger waren genauso schwarz. Ruß haftete ihnen auf den Kleidern, in den Haaren und auf den Gesichtern, in denen rot entzündete Augen leuchteten. So wie in der Esse und unter dem Schmiedehammer aus drei Stangen verschiedenartigen Erzes der beste Klingenstahl geschmiedet wurde, so hatten das unbarmherzige Hämmern der Katapulte und die Flammen der Ölkrüge ihre Krieger zu einer unvergleichlichen Klinge werden lassen, die nun in ihrer Hand lag, um den Menschenkindern das Geschenk des Todes zu bringen. Ihre Trolle, Zwerge und Kobolde hatten ihre alten Feindschaften vergessen. All ihre Kraft war gebündelt. Die Schwachen und Glücklosen hatte das Feuer geholt.
Obwohl sie es geschafft hatten, die Menschenkinder zu täuschen, sodass die meisten Geschosse ein gutes Stück hinter ihnen aufgeschlagen waren, hatte es doch immer wieder Treffer gegeben. Fast ein Drittel ihrer Männer war tot. Und noch im Tode hatten sie einen Armbrustbolzen durch den Kopf geschossen bekommen, damit sie sich nicht wieder erhoben, um ihre Körper Sklaven der Geister werden zu lassen, die diesen Ort heimsuchten.
Der Beschuss durch die Menschenkinder hatte wieder zugenommen, nachdem es in den letzten Stunden so ausgesehen hatte, als würden ihnen langsam die Feuerkrüge ausgehen.
Weit hinter dem Ufer erblühten zwei neue Flammenblumen, und die Trolle ergingen sich vor allen anderen in Gestöhne und wilden Schmerzensschreien. Ailyn wusste, dass die hünenhaften Krieger unter der Sonne litten. Sie waren von den Alben für die düstere Snaiwamark erschaffen worden. Im hellen Sonnenlicht wurden sie lethargisch und untätig. Und sie jammerten.
Nicht weit von ihr standen die zwei, die eigentlich mit Glamir in der Stadt der Menschenkinder hätten bleiben sollen. Die Ankunft des Sonnendrachen hatte sie derart erschreckt, dass sie nicht aufgehört hatten zu laufen, bis sie die Brücke erreichten. Was war in der Stadt geschehen? Warum kam der große Sonnendrache nicht hierher? Wartete er auf den nächsten Angriff der Menschenkinder, um auf der Brücke ein Massaker anzurichten? Aber das war gegen den Plan der Himmelsschlangen. Die Götterdrachen hatten kein gnädiges Ende für ihre Männer vorgesehen. Wenn sie daran dachte, was geschehen sollte, erfasste die Elfe kalte Wut. Sie war mit einem Trupp Lumpengesindel hierhergekommen, das sich in eine tapfere Heldenschar verwandelt hatte. Es war eine Schande, ihre Leben einfach fortzuwerfen! Sie hatten Besseres verdient, nachdem sie hier so lange mutig im Namen der Drachen ausgehalten hatten.
Weitere Feuersäulen stiegen entlang der Uferböschung auf, und brennendes Öl rann über den Granit hinab zum Fluss, wo es in kleinen Flammeninseln auf dem grauen Wasser davontrieb. Dichter, schwarzer Rauch tanzte vor dem Wind und brannte in den Augen.
Plötzlich wurde sich Ailyn einer unnatürlichen Stille bewusst. Das Jammergeschrei der Trolle war verstummt. Die grauen Krieger starrten zur Böschung hinauf, wo zwischen den Rauchschleiern ein zierliches, schneeweißes Pferd erschienen war. Nein, kein Pferd … Ailyn stockte der Atem. Ein Einhorn!
Sie kannte diese Geschöpfe nur aus Märchen, und noch nie war sie jemandem begegnet, der ein leibhaftiges Einhorn gesehen hätte. Es hieß, sie gehörten nicht zur Schöpfung der Alben, sondern es sei die Magie des Goldenen Netzes, die sie gebar. Sie verkörperten Unschuld und Schönheit, und sie erschienen nur dann, wenn sich jemand selbstlos aufopferte, ja manche Weise behaupteten sogar, es sei diese Tat, die ein Einhorn entstehen ließ. Ein selbstloses Opfer, wie es vielleicht einmal in einem Jahrhundert geschah. Es hätte also keinen Ort geben können, an dem ein Einhorn weniger verloren hatte als hier auf dem Schlachtfeld inmitten der Eiswüsten Nangogs.
Voller Anmut bewegte es sich durch den schwarzen Rauch, und inzwischen blickten all ihre Männer zur Böschung hinauf. Kein derber Scherz erklang. Niemand hob seine Waffe. Die Mörder und Barbaren unter ihrem Befehl waren ergriffen von der ätherischen Schönheit des Einhorns.
Der dumpfe Schlag der Katapultarme war zu hören, und nur Augenblicke später schossen rechts und links des Einhorns zwei Feuersäulen empor. Doch nicht ein einziger Flammenspritzer berührte das schimmernde, weiße Fell. Das Einhorn stieg auf die Hinterbeine, warf wild seinen Kopf zurück, sodass seine Mähne im Wind flatterte, und rief ihnen einen wiehernden Gruß entgegen. Dann wandte es sich ab und preschte in Richtung der Stadt davon.
Hatte es ihnen etwas sagen wollen? Ein fremdes Geräusch schreckte Ailyn aus ihren Gedanken, und die Magie dieses einzigartigen Augenblicks war schlagartig verflogen, als sie sich bewusst wurde, was sie da hörte. Das Knarren von Rudern! Die Elfe öffnete ihr Verborgenes Auge und sah, was der Nebel vor den Blicken ihrer Männer verbarg. Dutzende Schiffe kamen über den Fluss. Viel zu viele, um sie aufhalten zu können.
»An die Speerschleudern«, befahl sie ruhig. Dieser Kampf war nicht mehr zu gewinnen. Sie konnten nur noch entscheiden, als Helden oder als Feiglinge abzutreten. »Geschütze sechs bis zehn auf den Fluss ausrichten. Wir werden auch von dort angegriffen. Schießt nicht auf die Bootsrümpfe! Diese Kähne werden nicht sinken.«
Gefasst folgten die Zwerge ihrem Befehl.
»Groz! Schick deine zehn besten Männer auf die Brücke! Die anderen brauchen wir hier. Che, bring du deine Krieger auf die Uferböschung. Sucht euch selbstständig Ziele. Vermeidet, mit den Menschenkindern in Nahkämpfe zu geraten. Erschießt so viele ihr könnt.«
»Wir bringen dir hundert von ihren Köpfen als Morgengabe, meine Schöne!«, entgegnete der Kobold gutgelaunt und bedachte sie mit einem rußigen Lächeln.
Noch nie in ihrem Leben war sie in so kurzer Zeit so oft »meine Schöne« genannt worden, dachte Ailyn. Schade, dass sie nie einem Elfen begegnet war, der wenigstens ein bisschen wie Che gewesen wäre. Sie mochte den Halunken. Aber das würde für immer ihr Geheimnis bleiben.
»Ich sehe was!«, rief Nyr.
»Dann lass sie unseren Stahl schmecken.«
Zwei grellbunte Vogelköpfe schoben sich aus dem Nebel und bewegten sich genau auf ihren Abschnitt des Ufers zu.
»Was bei den Alben ist das?«, raunte Nyr.
»Bootsrümpfe.« Galar stand neben dem Geschütz und hielt schon den nächsten Speer bereit. Seine Hände waren feucht, obwohl es eiskalt war. Weitere bunt bemalte Köpfe schoben sich aus dem Nebel. Ein Fischreiherpaar, Echsen, zwei gelbe Hunde. Und jetzt sah Galar auch die Menschenkinder. Krieger mit fellbespannten Schilden drängten sich dicht an dicht auf den Gefechtsdecks, die zwischen den Doppelrümpfen lagen.
Nyr wartete gar nicht erst auf einen Schießbefehl. Er zog den Abzugshebel, und der Speer schnellte davon. Sofort begann Bailin an der Kurbel zu drehen, mit der der stählerne Bogen des Geschützes neu gespannt wurde.
Galar sah, wie der Speer einen der Fellschilde durchschlug. Schreie gellten über das Wasser. Die Menschenkinder standen so dicht gedrängt, dass der Verwundete nicht stürzte.
»Speer!«, ermahnte ihn Nyr, während Bailin noch immer spannte.
Galar legte das Geschoss auf die Führungsschiene und bückte sich, um einen weiteren Speer aus den langen Lederköchern zu ziehen, die neben dem Geschütz auf dem Felsboden lagen. Unmittelbar neben dem Fuß der Speerschleuder lag ein Ölkrug. Eines der Geschosse der Menschenkinder, das in eine Schneewehe gefallen und nicht zerschellt war. Ailyn hatte dafür gesorgt, dass jedes ihrer Geschütze in Brand gesteckt werden konnte, sobald sie den Befehl gab. Die Waffen sollten den Menschenkindern auf keinen Fall in die Hände fallen.
Wieder riss Nyr den Sicherungshebel zurück, und ein Speer schnellte davon. »Speer«, ermahnte er Galar erneut. Nyr war die Ruhe selbst. Er schien nur Ziele zu sehen und sich keinerlei weitere Gedanken darüber zu machen, was da aus dem Nebel auf sie zukam.
Was das betraf, hatte Galar umso mehr Zeit dafür. Die Menschenkrieger waren dick vermummt. Jetzt waren sie nah genug, dass er ihre Gesichter über den Schilden erkennen konnte. Sie waren auf groteske Art tätowiert. Ihre Gesichter sahen aus wie die Tierfratzen auf ihren Schiffsrümpfen.
Galar legte einen weiteren Speer auf die Führungsschiene. Noch fünfzehn Schritt, dann waren sie hier. Das Geschoss schnellte davon. Diesmal hatte Nyr Krieger getroffen, die ganz am Rand des Menschenblocks auf dem Gefechtsdeck standen. Sie kippten seitlich über Bord. Drei! Ein einzelner Speer hatte drei von ihnen getötet! Das Wasser neben dem Katamaran schäumte auf. Kurz sah Galar einen riesigen Schnabel aus den grauen Fluten schnellen. Dann war einer der tätowierten Menschensöhne verschwunden.
Ein Stück rechts von dem Katamaran mit den Vogelköpfen bekam ein Boot plötzlich Schlagseite. Einer der Doppelrümpfe wurde unter Wasser gezogen. Die Krieger an Deck strauchelten. Es gab nichts, woran sie sich festhalten konnten. Dutzende stürzten in den Fluss, während Krieger von benachbarten Booten Speere auf einen langen, grauschwarzen Rücken schleuderten, der knapp aus dem Wasser ragte. Bald sah die Kreatur aus wie ein Igel, doch schienen ihr die Angriffe nicht das Mindeste anzuhaben.
»Speer!«, ermahnte ihn Nyr.
Galar riss sich von dem Anblick los, zog den nächsten Speer aus dem Köcher und reichte ihn hoch. Zwei Trolle nahmen rechts und links von ihrem Geschütz Aufstellung, und erste Armbrustbolzen zogen zischend über ihre Köpfe hinweg.
Seltsamer blassgrüner Nebel stieg aus dem Wasser und bewegte sich entgegen der Windrichtung. Wie ein Krake bildete er Tentakel aus und griff nach den Männern, die wild mit den Armen rudernd versuchten, zum Ufer zu kommen. Galar sah, wie einer der tätowierten Menschensöhne festen Boden unter den Füßen fand und mit erhobenem Speer auf das Ufer zustürmte. Grenzenlose Erleichterung, dem tödlichen Wasser entkommen zu sein, stand in sein Gesicht geschrieben, als ein Armbrustbolzen sein linkes Auge in ein blutiges Loch verwandelte.
Ohrenbetäubendes Kriegsgeschrei begleitete den Angriff auf das Ufer. Irgendwo im Nebel wurden Kriegshörner geblasen, deren dumpfer Klang bis tief in die Eingeweide drang.
Ein Fisch, der gleich mehrere Zahnreihen in seinem großen Maul hatte, packte einen anderen Krieger und zerrte ihn zurück ins tiefe Wasser. Holz knirschte auf felsigem Untergrund, als die ersten Katamarane auf fünf Schritt ans Ufer herangekommen waren.
Galar reichte den nächsten Speer hoch. Wieder schleuderte ihr Geschütz Verderben in die Reihen der Menschenkinder, die sich hinter ihre hohen Schilde duckten, ohne Schutz vor dem tödlichen Geschoss zu finden. Wie zarte Seide zerriss das zähe Leder der Schilde. Die Menschensöhne wurden zurückgeschleudert, doch die Krieger rechts und links von ihnen sprangen in das seichte Wasser nahe dem Ufer.
Unnatürlich laut erschien Galar das Klicken der Kurbel, mit der Bailin erneut den Bogen der Schleuder spannte. Nyr richtete die Speerschleuder neu aus. Die beiden Trolle neben ihnen, die ihr Geschütz vor den Gegnern beschirmen sollten, stürmten los. Sie stießen wilde Schlachtrufe aus, doch Galar hatte nur Ohren für das feine, metallische Klicken der Kurbel. Er beugte sich nieder und zog den nächsten Speer aus dem Lederköcher.
Nyr nahm ihm das Geschoss ab und legte es auf die Führungsschiene.
Die Trolle und die Menschenkinder trafen aufeinander. Die Lederschilde wurden von wütenden Keulenhieben zerfetzt. Doch die Krieger mit den unheimlichen Tiergesichtern wichen nicht zurück. Sie fielen unter den Hieben, doch jeder Tote schien durch zwei neue Krieger ersetzt zu werden. Mit langen Speeren stießen sie nach den Hünen aus der Snaiwamark. Schon rann dunkles Blut über deren vernarbte, graue Haut.
Nyr fand eine Lücke zwischen den Kämpfenden und schoss erneut.
Wutgeheul ertönte, als wieder ein Speer zwei Männer durchbohrte und zu Boden riss.
Da plötzlich stieß ein Adler auf den vorderen der zwei Trolle hinab. Seine silbern blitzenden Fänge gruben sich in Schultern und Nacken des Hünen.
Der Troll ließ seine Keule fallen und griff mit beiden Händen in seinen Nacken hinauf, als ihm eine der Krallen die Kehle aufschlitzte. Jetzt erst begriff Galar, dass dies kein riesiger Raubvogel war – es war ein Krieger wie die Katzenmänner, auf die sie getroffen waren, als sie in diese verfluchte Eiswüste gekommen waren. Nur dass dieser hier ein Vogelgewand trug und seine Arme lange Schwingen stützten.
Der Adlerkrieger vermochte sich nicht aus dem Griff des sterbenden Trolls zu befreien, dem nun andere Kämpfer ihre Speere in die Brust rammten.
Wieder reichte Galar seinem Freund einen Speer. Die Kämpfe spielten sich keine drei Schritt vor ihrem Geschütz ab. Links von ihnen ging die erste Speerschleuder in helle Flammen auf. Die Linie am Ufer war durchbrochen, aber Nyr dachte noch nicht daran, sein Geschütz im Stich zu lassen.
Für einen flüchtigen Augenblick sah Galar zum Himmel hinauf. Dort kreisten noch etliche weitere Adlerkrieger. Die Kobolde hatten sie bereits unter Beschuss genommen, doch nun brachen die Krieger mit den tätowierten Gesichtern noch an einer zweiten Stelle durch die Linie. Einer kam geradewegs auf Galar zugelaufen. Den Schild schützend vor seinen Leib gehalten, schien er die Absicht zu haben, ihn geradewegs zu überrennen.
»Du hast noch nie gegen einen Zwerg gekämpft, Tierfresse«, schrie Galar ihm entgegen, riss einen Speer aus dem Köcher und stürmte mit gellendem Schlachtruf dem Menschensohn entgegen. Erst im letzten Moment ließ er sich fallen. Die untere Kante des Schildes traf Galar in den Rücken, doch der war durch das kostbare Kettenhemd aus Silberstahl geschützt. Der Schildträger konnte seinen Lauf nicht mehr stoppen. Er stürzte über seinen Schild hinweg zu Boden, während Galar sich geschickt zur Seite rollte und mit einem Satz wieder auf den Beinen war.
Ohne Gnade rammte er dem Menschensohn den Speer in die Brust, der halb auf seinem Schild lag, den er nicht mehr zu seinem Schutz heben konnte. Der Krieger sah ihn überrascht mit weit offenem Mund an, während Galar die Speerspitze drehte, um sie wieder frei zu bekommen.
Aus den Augenwinkeln sah der Zwerg den Troll stürzen, in dessen Nacken sich ein Adlerkrieger festgekrallt hatte. Ihr Geschütz war überrannt. Bailin ließ von seiner Kurbel ab und zog die schwere Axt aus seinem Gürtel, während er sich duckte, um einem Speerstoß zu entgehen.
»Der Ölkrug!«, schrie Nyr, der alle Mühe hatte, Hieben mit einer Keule auszuweichen, in der ein dolchlanger, gekrümmter Zahn steckte. »Die Speerschleuder darf nicht in ihre Hände fallen!« Mit jedem Hieb wurde der Richtschütze ein Stück weiter von der Waffe fortgetrieben, die so vielen Menschenkindern den Tod gebracht hatte.
Galar ließ von seinem sterbenden Gegner ab, von dessen Lippen Blut und Verwünschungen sprudelten. Ein paar Trolle unter der Führung von Groz unternahmen einen Gegenangriff, um die Menschen wieder auf ihre Boote zurückzutreiben, doch weiter flussabwärts erreichten noch mehr Katamarane das Ufer, und dort stellte sich niemand den Angreifern entgegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie eingekreist waren.
Groz schien daran keinen Gedanken zu verschwenden. Sein vernarbtes Gesicht hatte einen Ausdruck wilder Verzückung angenommen, während er mit einem trollarmdicken Baumstamm gegen seine Gegner vorging. Mal setzte er ihn wie eine Ramme mit kurzen Stößen gegen die Schilde der Menschenkinder ein, um ihn dann wieder wie eine Keule zu schwingen. Schreiend wie ein Raubvogel im Sturzflug, stieß einer der Adlerritter aus dem Himmel auf Groz hinab, dabei hatte er die messerscharfen Krallen an seinen Füßen drohend vorgestreckt.
»Über dir!«, schrie Galar.
Groz reagierte für seinen Körper erstaunlich schnell. Er stemmte den Baumstamm, den er als Waffe nutzte, senkrecht in die Höhe, sodass der Adlerkrieger mit aller Wucht seines Sturzfluges auf das obere Ende des Stammes prallte. Federn stoben auf, als hätte ein Habicht eine Taube geschlagen. Ein Flügel des Vogelmanns wurde nach hinten gerissen und zerbrach. Groz aber nahm den Stamm und rammte ihn in weit ausholender Bewegung in eine Schlachtreihe aus Speerträgern, die sich am Ufer formierte.
Alle Blicke richteten sich auf den Troll, der sich mit dröhnendem Gebrüll in den Kampf warf. Galar nutzte die Gelegenheit, um sich an zwei Kriegern vorbeizudrücken und unter die Speerschleuder zu kauern. Mit dem Knauf seines Dolches zerschlug er den Ölkrug und griff nach der Lunte, die im Boden eines zweiten, zerbrochenen Kruges vor sich hin schwelte. Langsam nur wuchs aus der Glut eine kleine Flamme, die über das Hanfnetz des zerbrochenen Feuerkrugs kroch. Das musste reichen. Ein paar Augenblicke noch, und das Holz des Geschützes würde Feuer fangen.
Galar schob sich unter der Speerschleuder hervor und wollte sich gerade davonmachen, als ihn ein derber Stoß in den Rücken traf und zu Boden warf. Sein dünner Bart tauchte in das Öl, das aus dem zerbrochenen Krug geflossen war. Mehr überrascht als benommen, versuchte er sich aufzurichten, als ihn ein zweiter Stoß traf. Wieder wurde er zu Boden geworfen; diesmal sah er aus den Augenwinkeln einen Speer.
Fluchend drehte er sich um, und als ein dritter Speerstoß diesmal auf seine Brust zielte, packte er die Waffe dicht hinter dem Stichblatt. Mit einem Ruck entriss er sie den Händen eines Kriegers, der sich eine Fischfratze ins Gesicht tätowiert hatte.
»Und ich dachte, die verdammten Fische kämpfen heute auf unserer Seite«, knurrte Galar und drehte den Speer, sodass die Spitze nun auf den Menschensohn zeigte. Statt zu flüchten, rammte der Krieger seinen Schild vor den Speer und versuchte sich, geschützt durch das zähe Leder, auf Galar zu werfen, um ihn zu Boden zu drücken.
»Hältst du mich für einen Floh, den man einfach zerquetschen kann?«, fluchte der Zwerg, ließ den Speer fallen und riss den Dolch aus Silberstahl aus der Scheide am Gürtel, als ihn das volle Gewicht des Menschensohns traf. Er hielt den Dolch vor der Brust, wurde aber zu Boden gedrückt. Die Augen inmitten der Fischtätowierung weiteten sich erschrocken, und der Krieger stieß einen grunzenden Laut aus. Der Elfendolch hatte Schild und Rüstung durchdrungen, und durch sein eigenes Gewicht hatte sich der Menschensohn die Klinge zwischen den Rippen hindurch tief in den Leib gedrückt. Blut quoll ihm über die Lippen, als er mit seinem Kopf vorstieß und versuchte, Galar in die Nase zu beißen.
»Idiot!« Der Zwerg spannte die Muskeln, hob den Schild und stieß ihn samt Krieger zur Seite. Dann zog er den Dolch aus der Brust des Sterbenden. »Trottel, hättest weiterlaufen sollen«, grummelte er vor sich hin, als er die Waffe im Schnee abwischte. »Hast mich wohl für klein und wehrlos gehalten, Fischfresse.«
Der Krieger antwortete nicht. Mit weit aufgerissenen, toten Augen starrte er in den klaren Winterhimmel.
Galar war umgeben von den stampfenden Füßen der Trolle. Für den Augenblick schienen die grauen Hünen die Stellung am Ufer halten zu können. Doch flussabwärts sammelten sich immer mehr Krieger, und über dem Wasser trieben seltsame grüne Schleier, deren bloßer Anblick dem Zwerg Todesangst einjagte. Dort wurde Magie gewirkt, dabei hatte es immer geheißen, die Menschenkinder könnten keine Zauber weben. Sollte das stimmen, dann mussten dort, irgendwo jenseits der Nebelwand, ihre Götter lauern. Mindestens einer von ihnen … Es war höchste Zeit, von hier zu verschwinden!
Galar zog seine Axt aus dem Gürtel und blickte auf die schwelende Lunte im zerbrochenen Tonkrug. Er musste endlich das Geschütz in Brand setzen. Zweifelnd sah er an sich hinab. Er war über und über mit Öl beschmiert. Er sollte verdammt vorsichtig sein!
Mit spitzen Fingern griff er nach der Lunte, um die herum schwaches Feuer flackerte, und ließ sie in eine andere Öllache fallen. Es dauerte einen Augenblick, bis auch dort eine kleine Flamme erwuchs und sich langsam ausbreitete. Das Öl war kalt. Es brannte schlecht. Das war gut. Galar wandte sich ab und packte seine Axt mit beiden Händen, als neben ihm ein gellender Schrei ertönte. Mehrere Menschenkinder hatten einem Troll ihre Speere in die Brust gerammt. Mit den Armen rudernd, stürzte der Hüne nach hinten. Genau auf ihn zu.
Der Zwerg hechtete zur Seite. Zu langsam! Ein Arm des Trolls traf ihn schwer und riss ihn zu Boden. Nun lag er direkt neben der Speerschleuder erneut im Öl! Und auf seiner Brust lastete ein Arm mächtig wie ein Baumstamm.
»Beweg dich!«, schrie er. »Verdammter Idiot! Mach was!«
Der Troll verdrehte die Augen. Er sah Galar an. Seine Lider begannen zu flattern.
»Du wirst jetzt nicht sterben! Hörst du? Heb deinen Arm!« Galar stemmte sich mit aller Kraft gegen den Troll, als eine Gestalt mit einem Speer über den Leichnam des Hünen hinwegstieg.
Galar verdrehte ebenfalls die Augen und entschied, sich tot zu stellen. Doch aus den Augenwinkeln sah er, wie die Flammen am Holz der Speerschleuder emporleckten und sich, immer stärker werdend, auch in seine Richtung ausbreiteten.
Der Menschensohn, der über ihm stand, starrte ihn forschend an.
Er durfte mit keiner Wimper zucken, dachte Galar und starrte reglos in das Antlitz, auf das ein Fischmaul mit unglaublich vielen Zähnen tätowiert war. Nicht bewegen. Ganz gleich, was geschah.
Der Troll bewegte sich mit nervtötender Behäbigkeit. Selbst über einfachste Dinge wie eine Parade oder ein Wegducken schien er einen Augenblick nachdenken zu müssen, statt es einfach zu tun. Er steckte Treffer um Treffer von der hochgewachsenen Gestalt mit der Keule ein. Der Goldene vermutete, dass es ein Unsterblicher sein musste, der da an der Spitze seiner Krieger auf der Brücke kämpfte.
Das einzig Erstaunliche an dem Troll war, wie viele dieser knochenzerschmetternden Hiebe er aushielt, bevor er zu Boden ging. Kurz wischte die Landschaft und ein Stückchen Himmel an ihm vorbei, dann sah der Goldene durch die Augen des Trolls den Krieger mit dem Wolfsschädel auf dem Kopf über sich stehen. Ein Fuß drückte den Troll zu Boden. Der Menschensohn hob mit beiden Händen die Keule hoch über den Kopf. Dann fuhr die Waffe nieder. Sie zielte mitten auf das Gesicht!
Der Goldene schloss im Reflex die Augen. Er spürte keinen Treffer und teilte nicht die Schmerzen des Trolls. Als die Himmelsschlange ihre Augen wieder öffnete, war die Verbindung in die andere Welt abgebrochen.
Es war zum Verzweifeln. Der Kampf um Wanu entglitt seiner Kontrolle. Er konnte nicht sagen, ob es ein Erfolg oder eine Katastrophe wurde.
Ihm war nach wie vor unklar, warum die beiden Trolle, die seine Spitzel gewesen waren, in der Stadt der Menschen zurückgeblieben waren. Zum Glück hatte sein Bote, Abendstern, die beiden so sehr aufgeschreckt, dass sie zum Heer zurückgekehrt waren. Aber wo steckte der Sonnendrache jetzt? Zuletzt hatte er ihn durch die Augen der beiden Trolle in der Menschenstadt gesehen.
Abendstern hätte zurückkehren sollen! Er hatte klare Befehle gehabt. Warum kam er nicht? Stürzte er sich in den Kampf am Fluss? Der Sonnendrache fand Gefallen an Tod und Gemetzel. Aber seine Mission war die eines Spähers und nicht die eines Kriegers.
Der Goldene entschied, den Zauber, der es ihm erlaubte, durch fremde Augen zu sehen, beim nächsten Mal auf jemand Zuverlässiges zu legen. Eine Drachenelfe. Eine, die ihre beste Zeit hinter sich hatte. Vielleicht Lyvianne? Bei ihr wäre es zu verschmerzen, wenn ihr Hirn etwas Schaden nahm. Er musste sich ohnehin etwas überlegen, um sie loszuwerden. Wie sie ihre eigenen Kinder mordete und immer auf der Suche nach einem Bettgefährten war, mit dem sie einen vollkommenen Elfen zeugen konnte, das konnte er nicht länger dulden. Nicht dass er moralisch sonderlich verwerflich fand, was sie tat … In gewisser Weise war es sogar konsequent. Fast alle Elfen strebten nach Vollkommenheit. Nur erschufen sie normalerweise Kunstwerke, Lieder, schöne Gärten.
Lyvianne hingegen suchte das Kind, aus dem der vollkommene Elf erwachsen würde. Schön wie der Frühling, klug, von Magie durchdrungen, ohne jeden Makel, ganz gleich in welcher Hinsicht. Diese Suche hatte sie verblendet. Sie hatte einen Gonvalon geboren und nicht erkannt, wie wertvoll er war. Wenn die anderen Elfen durchschauten, was sie tat, dann würde es einen Aufschrei des Entsetzens geben. Und da Lyvianne eine Drachenelfe war, würde auch das Ansehen der Himmelsschlangen Schaden nehmen. Das durfte auf keinen Fall geschehen! Nicht jetzt, wo sie alle Kräfte Albenmarks bündeln mussten, um im Schicksalskampf gegen die Devanthar zu bestehen. Nur eine ihrer beiden Welten würde auf Dauer weiter bestehen können. Und er würde es nicht zulassen, dass Albenmark dem Verderben ausgeliefert wurde!
Er richtete sich auf, und sein Kopf streifte die niedrige Decke der Höhle, in die er sich zurückgezogen hatte. Vorsichtig schob er sich ins Freie. Ein klarer, blauer Himmel spannte sich über den weiten Berghang, auf dem sich die Truppen Albenmarks versammelt hatten. Seine Drachenbrüder und Tausende Albenkinder erwarteten ihn. Sie hatten sich unter Bannern in allen Regenbogenfarben versammelt. Da war der steigende weiße Pegasus auf weißem Grund, das Banner der Elfen aus dem Herzland, zwei schwarze, gekreuzte Armbrustbolzen der Eisbärte aus dem fernen Norden, der Bärenschädel auf blauem Grund, das Feldzeichen der Zwerge von Ishaven, oder die Standarten mit Pferdeschädeln und Rossschweifen der Kentauren aus dem Windland. Hunderte Feldzeichen blähten sich im leichten Wind, der über den Hang strich. Nie zuvor hatte Albenmark eine solche Armee gesehen. Sie war eine Macht, die fast jeden Feind zerschmettern konnte – und doch war sie so wie Ailyns kleine Streitmacht letztlich nur ein Köder.
Sie würden die Armee der Menschenkinder über die Brücke locken. Und dann, wenn sich die Menschen ihres Sieges ganz sicher waren, würden sie die Heere der Menschenkinder angreifen und vor sich hertreiben. Es ging nicht darum, sie zu vernichten. Nein, sie würden mit ihnen spielen, wie eine Katze mit der Maus spielte. Sie sollten in höchste Verzweiflung geraten und ihre Götter, die Devanthar, um Hilfe rufen. Wenn das geschah, dann würden er und seine Brüder nachholen, was in Selinunt nicht gelungen war. Sie würden die Devanthar in der Glut ihrer vereinigten Flammen vergehen lassen.
Der Goldene blickte zum Himmel hinauf. Die Sonne stand im Zenit. Kurz vor der Abenddämmerung würden sie auf einem Drachenpfad, den die Himmelsschlangen nur für sie erschaffen würden, hinübergehen. Es war ein neuer Weg durch das Dunkel zwischen den Welten. Ein Weg, den die Devanthar nicht hatten berücksichtigen können, als sie den Feldzug planten. Sie würden noch warten, bis die Menschen die Brücke überquert und Wanu besetzt hatten. Ailyn und ihre Krieger hatten nie auch nur die geringste Hoffnung auf einen Sieg gehabt. Sie waren der Köder, und in diesem Augenblick wurden sie verschlungen.
Und?, erklang die Stimme Nachtatems in den Gedanken des Goldenen. Deutlich spürte der Goldene die Anspannung seiner Brüder.
Das Sterben hat begonnen. Drei oder vier Stunden noch, dann ist die Zeit gekommen, unsere gefallenen Kinder zu rächen.
Und die ganze Zeit willst du sie hier am Hang warten lassen?, fragte der Frühlingsbringer ruhig. Die Kobolde und Kentauren stehen ja schon jetzt kaum still. Du verlangst mehr, als sie geben können.
Der Goldene hatte die Wartezeit nicht bedacht. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass die Albenkinder sie als unbequem empfinden könnten. Er selbst lag an einem sonnigen Tag wie diesem gern stundenlang auf einem Felsen und hing seinen Gedanken nach, und stets hatte er das Gefühl, dass die Zeit wie im Fluge verging.
Sie sind nur Kinder, ermahnte ihn sein grün geschuppter Bruder, und der Goldene hatte das Gefühl, der Duft frischen Grases und erster Blüten läge in der Luft. Der Frühlingsbringer hatte in seinen Gedanken gelesen! Das verstieß gegen jegliche Etikette unter ihnen.
Und doch hat er recht, warf Nachtatem ein. Nein, auch ich habe nicht in deinen Gedanken gelesen. Dich anzusehen reicht, um zu wissen, was in dir vorgeht.
Der Goldene kämpfte gegen sein aufbrausendes Temperament an. Geben wir unseren Kindern eine Beschäftigung. Was haltet ihr davon, wenn wir Elfengestalt annehmen und ihre Reihen abschreiten, Einzelnen gut zusprechen und ihnen Komplimente machen. Halten wir eine Truppenparade ab, schwingen wir große Reden über die Erhabenheit dieses Augenblicks und wie sie einst ihren Kindern erzählen werden, dass sie in der Stunde größter Not zu den Rettern Albenmarks gehört haben.
Ist das nicht ein wenig platt, wandte der Rote konsterniert ein.
Nein, sie sind nur Kinder. Es war ausgerechnet Nachtatem, der ihm zu Hilfe eilte.
Misstrauisch beäugte der Goldene seinen Bruder, der sich wie stets einen schattigen Platz gesucht hatte und Teil der Dunkelheit zu sein schien, die dort nistete.
Wir sind ihre Götter, fuhr Nachtatem fort. Auch wenn wir nicht wirklich ihre Schöpfer sind, sind wir diejenigen, von denen sie sich ein Bild machen können, jene, die ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Sie spüren den Hauch der Ewigkeit, der uns umgibt. Sie glauben, uns sei alles möglich. Wenn wir, wie unser Bruder vorgeschlagen hat, durch ihre Reihen gehen und Einzelne durch Lob auszeichnen, dann strahlt ein wenig unserer Allmacht auf sie ab. Für uns ist es nichts. Für sie aber wird es ein Augenblick, den sie bis zur Stunde des Todes als golden in der Schatzkammer ihrer Erinnerungen aufbewahren werden. Heute haben sie Gelegenheit, ihren Göttern so nahe zu sein wie nie zuvor. Wir begegnen ihnen von Angesicht zu Angesicht. Sie werden es lieben. Und selbst die Kobolde werden in Ehrfurcht verharren. Zelebrieren wir diesen Augenblick, bevor wir sie in unseren Kampf schicken, und sie werden es uns mit Selbstaufopferung und unverbrüchlicher Treue vergelten. Wir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Die Geschichte hält ihren Atem an, und sie alle haben teil an dem, was geschehen wird. Gönnen wir ihnen dieses letzte Fest!
Galar stemmte sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen den Trollarm. Langsam begann sich das tote Fleisch zu bewegen. Drei Mal in seinem Leben war der Schmied verschüttet gewesen, doch die Last der Steine war ihm nie so erdrückend erschienen wie dieser Arm, der ihn nun auf den Boden nagelte, sodass er nur hilflos zusehen konnte, wie die Flammen über das verschüttete Öl huschten und immer näher kamen.
Der Zwerg schrie vor Wut und Verzweiflung. Inzwischen war ihm egal, ob ihn ein Fischkopf oder ein anderer Menschensohn hören konnte. Wieder stemmte er sich gegen den Arm. Er schaffte es sogar, ihn einige Zoll anzuheben, aber er kam einfach nicht darunter hervor.
Flammen erreichten seine fellgefütterte Lederhose und tanzten über die dunklen Ölflecken seinem Schritt entgegen. Noch spürte er keine Hitze. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinab. Er würde bei lebendigem Leib verbrennen! So wie fast alle Zwerge der Tiefen Stadt gestorben waren. Er lächelte bitter. Der Kreis schloss sich. Und er hatte sein Ziel nicht erreicht, die großen Tyrannen vom Himmel stürzen zu lassen.
Wilde Kriegsschreie ertönten flussabwärts. Dann waren Waffengeklirr zu hören und die röhrenden Schreie der Trolle, die sich den neuen Gegnern stellten.
Er wollte nicht verbrennen, dachte Galar. Er wollte den Tod eines Kriegers sterben. Kalter Stahl sollte sein Leben beenden. »Hierher, ihr Menschenluschen!«, brüllte er los, auch wenn er wusste, dass sie ihn nicht verstehen würden. »Macht schon, kommt und kämpft mit mir, wenn ihr es wagt.«
Der Gefechtslärm kam näher. Galar konnte die breiten Schultern von Trollen sehen, die langsam vor einer Mauer aus vorgestreckten Speeren zurückwichen.
»Los, kommt her und kämpft mit mir!«, wiederholte er. Seine Stimme bekam einen schrillen Klang, als das Feuer seinen Schritt erreichte. »Ich lauf nicht weg vor euch! Ich hab keine Angst. Kommt und seht, wie ein richtiger Mann kämpft!«
»Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen?«
Mit spöttischem Lächeln beugte sich Ailyn zu ihm hinab und hauchte ein Wort in einer uralten, ihm unbekannten Sprache. Ein Prickeln überlief den Zwerg, und seine Haare richteten sich auf. Die Elfe hob den Trollarm an, als wäre er leicht wie eine Feder. Galar atmete erleichtert ein, als der Druck von seiner Brust wich.
»Beeile dich!« Ailyn hielt den Arm mit der Linken. Plötzlich schnellte ihre Rechte hoch, und sie griff einen Speer aus der Luft, der wohl auf den Rücken eines Trolls gezielt hatte, der ein Stück voraus am Ufer kämpfte.
Mühsam kam Galar auf die Beine und begann, mit flachen Händen auf die Flammen einzuschlagen. Sich aufzurichten war keine gute Idee gewesen. Nun leckten die Flammen an ihm empor und breiteten sich schneller aus. Schon hatten sie seinen Bart erreicht!
Wieder flüsterte die Elfe ein Wort, das mehr an einen Tierlaut als an eine der geläufigen Sprachen Albenmarks erinnerte. Ihre flache, vorgestreckte Hand fuhr seinen Körper entlang, ohne ihn zu berühren, und alle Flammen verloschen.
»Lauf, Galar! Mach dich davon. Wir sehen uns in Wanu. Ich werde mit den Trollen versuchen, den Rückzug zu decken. Flieh, solange es noch möglich ist. Das Heer der Devanthar versucht uns zu umzingeln. Es bleibt nicht mehr viel Zeit zur Flucht.«
»Ich bin kein Feigling!«, empörte sich der Schmied. »Ich bin noch nie vor einem Kampf davongelaufen.«
»Wenn du kein Feigling bist, dann habe den Mut, dir unsere Niederlage einzugestehen, und die Klugheit, dich dafür zu entscheiden, an einem anderen Tag erneut zu kämpfen, wenn unsere Aussichten zu siegen besser sind. Jeden, der hierbleibt, erwartet der Tod.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging. Sie hielt immer noch den Speer. Es war das erste Mal, dass er Ailyn mit einer Waffe in der Hand sah.
Er entschied sich, auch einen Speer zu nehmen. Es lagen inzwischen genug auf dem Schlachtfeld herum. Die erste Waffe, die er fand, war schlecht ausgewogen und das Stichblatt nur aus Bronze. Aber er behielt sie dennoch. Sein Geschütz stand in Flammen, es gab keinen Grund, auch nur einen Augenblick länger als nötig zu bleiben.
Ein Schatten glitt über ihn hinweg. Immer noch kreisten Adlerkrieger am Himmel. Und viel höher war noch etwas. Es kam aus der Sonne, sodass er es nicht deutlich erkennen konnte. Etwas silbern Strahlendes mit weiten Schwingen.
Galar begann zu laufen. Er wollte dieses Vieh ganz sicher nicht aus der Nähe sehen.
Immer wieder stürzte er auf der steilen, felsigen Böschung. Gefrorenes Blut der Kobolde hatte sie erneut schlüpfrig werden lassen, obwohl die Brandgeschosse Schnee und Eis hatten verschwinden lassen. Überall lagen tote Eisbärte und zwischen ihnen mehrere Adlerkrieger. Ihre geflügelten Feinde schienen in einem ganzen Schwarm über die Kobolde hergefallen zu sein.
Von der Böschung hatte Galar einen guten Überblick über die Kämpfe. Nur zwei Trolle verteidigten noch die Brücke. Sie würden nicht mehr lange standhalten. Die Angreifer, die flussabwärts angelandet waren, hatten sich ein Stück zurückgezogen. Immer noch schoben sich neue Katamarane mit Kriegern auf das Ufer. Alle ihre Speerschleudern standen in Flammen, aber auch einige der Boote hatten Feuer gefangen, und schwarzer, öliger Rauch mischte sich in den weißen Nebel. Es waren viele Zwerge bei ihren Geschützen gestorben. Nyr, Bailin und die anderen Zwerge konnte er zum Glück nicht unter den Toten entdecken.
Verzweifelt blickte er zur kleinen Schar derer, die sich noch der Flut der Menschenkinder entgegenstemmte. Ailyn stand zwischen der Schlachtreihe der am Ufer kämpfenden Trolle und dem Wall aus Speeren, den die Menschenkinder gebildet hatten. Sie hatte ihren Speer mit der Spitze nach unten zur Seite gestreckt. Der lange Schaft lehnte auf ihrem Rücken. Ihr weißes Kleid bewegte sich sanft im Wind. Es sah aus, als wollte sie ganz allein das Heer der Menschenkinder aufhalten.
Schlachthörner riefen zum Angriff, und die Reihe Menschenkinder wogte Ailyn entgegen. Statt zu weichen, lief die Elfe den Kriegern entgegen. Ihr Speer wirbelte herum und band mehrere Waffen der Angreifer. Es war unglaublich zu sehen, wie Ailyn sich bewegte. Es erinnerte mehr an einen Tanz als an einen blutigen Kampf. Bald war sie auf allen Seiten von Feinden umringt. Dutzende Speere waren auf sie gerichtet. Doch sie schwang herum, zersplitterte die hölzernen Schäfte der feindlichen Waffen und schaffte es, die Kraft der Angreifer gegen sie selbst wirken zu lassen. Wirbelnder Schnee begleitete ihre Bewegungen, als wäre sie keine Gestalt aus Fleisch und Blut, sondern ein entfesselter Sturm.
Ein gellender Schrei brach den Bann, den der Kampf der Elfe auf Galar gelegt hatte. Dicht vor dem Ufer entstieg eine nackte Gestalt mit fahlgrüner Haut dem Fluss. Nie zuvor hatte der Schmied eine solche Kreatur gesehen. Sie war größer als ein Troll, hatte aber lange, schlanke Glieder wie eine Elfe. Kein Haar wuchs ihr auf dem Kopf. Der Schädel war nach hinten zurückgekrümmt und von Knochenspiralen umgeben. Sie erinnerten ein wenig an die Hörner von Bergziegen. Große, schwarze Augen lagen neben einer flachen Nase. Die Lippen waren nur ein schmaler Strich.
Die Kreatur reckte ihre Glieder und betrachtete einen Augenblick lang gedankenverloren ihre langen, feingliedrigen Hände. Nahe der Brücke verdichteten sich grüne Nebelschlieren zu einer zweiten, ähnlichen Gestalt. Was wurde dort aus den Wassern des Flusses geboren? Galar entschied, nicht länger zu warten. Fast alle dort unten vermochten schneller zu laufen als er. Das Einzige, was ihn retten würde, war ein ausreichend großer Vorsprung.
Als dicht neben ihm ein Speer in den Boden schlug, sah Galar erschrocken zum Himmel hinauf. Ein Löwe mit goldenen Schwingen flog in kaum zehn Schritt Höhe über ihm hinweg. In einem Sattel mit einer Lehne, hoch wie bei einem Thron, saß eine Gestalt, deren Antlitz blankes Silber war. Sie zog aus einem Köcher am Sattel einen weiteren Speer, während der Löwe eine weite Kehre flog und nun auf die Brücke zuhielt. Seitlich vom Sattel, dicht neben dem Knie des Reiters, steckte eine lange Lanze in einer Lederschlaufe. Unter dem Stichblatt, das wie eine Schwertklinge aussah, wehte ein rotes Banner, auf dem ein Löwenhaupt prangte.
Leises, metallisches Sirren begleitete den Flug des Löwen. Und sie hatten gedacht, Menschenkinder könnten keine Zauber wirken, dachte der Zwerg reumütig. Sie hatten ihre Feinde hoffnungslos unterschätzt. Und nun zahlten sie den Preis für ihre Überheblichkeit.
Galar lief los, wenn auch nicht sonderlich schnell. Er wusste, es lag ein langer Weg vor ihm und dass er mit seinen Kräften haushalten sollte. Er konnte den ganzen Tag am Amboss stehen, er hatte ein Kreuz wie ein Stier, aber Laufen, das war nie seine Sache gewesen. Er könnte auch mit einer schweren Last auf dem Rücken den ganzen Tag gehen, um nach zwei Stunden Rast noch einmal zwölf Stunden auf den Beinen zu sein. Aber Zwerge waren nicht dafür gemacht zu laufen. Das war Elfensache. Man musste sich deren lange Beine nur ansehen. Wie Pferde waren sie. Ein Zwerg war eher wie ein Dachs. Zäh, ausdauernd, in der Lage, sich tief in die Erde zu wühlen, nur laufen … Galar wurde bewusst, dass er sich mit diesen Gedanken nur ablenkte. Er wollte diese riesigen, grünen Gestalten vergessen, die sich aus dem Wasser erhoben hatten. Die hatten lange Beine gehabt und schienen zum Laufen geboren.
Unwillkürlich warf Galar einen Blick über die Schulter. Weit links von ihm bewegten sich zwei kleine, weiße Gestalten. Vermutlich Kobolde. Sie waren viel zu langsam! Galar schnaubte. Er schuldete diesen Zwergenmördern nichts, auch wenn sie hier an diesem verdammten, dampfenden Fluss zusammen gekämpft hatten. Und was noch wichtiger war: Sie hatten noch kürzere Beine als er. Sie würden ihn aufhalten.
Wieder blickte er zurück, die beiden Gestalten waren weiter zurückgefallen. Am Ufer dieses verdammten Flusses waren Kobolde gestorben, um Zwerge zu retten. Er dachte an all die Toten auf der Böschung, deren Blut auf den Felsen gefroren war. Sie hätten fortlaufen können, statt denen, die unten kämpften, den Rücken freizuhalten.
»Scheiße!«, fluchte Galar und drehte sich um. Das würde ihn den Kopf kosten. Wie konnte er nur so dämlich sein und sich Gedanken darüber machen, ob es zwei verdammten Kobolden gelang, ihren Arsch zu retten?
Er begann zu laufen. Der nächste kluge Vorsatz ging über Bord. Sein keuchender Atem schlug ihm als warme Wolke ins Gesicht. Die beiden Gestalten auf dem Eis waren nun deutlicher zu erkennen. Sie waren nicht beide in Weiß gekleidet. Einer trug ein Kettenhemd und stützte sich schwer auf den anderen.
Galar beschleunigte ein letztes Mal seinen Lauf. Das Kettenhemd lastete auf seinen Schultern. Er warf den Speer zur Seite. Er war nur unnützer Ballast.
Die kleinere der Gestalten winkte ihm zu: »Hierher!«, drang die Stimme schwach aus der Ferne. Selbst auf die weite Distanz war die Erschöpfung in ihr zu hören.
Galar sah den Schwertgurt, der quer über die Brust des Kobolds lief. Nur einer unter diesen verdammten Bastarden hatte seine Waffe auf diese Art getragen: Che! Warum, bei den Alben, musste es ausgerechnet dieser Drecksack sein, der ihm in diesem erfrorenen Land entgegenwankte. Che, der Schlächter. Der Kobold, der mehr Zwergenblut vergossen hatte als je ein anderer aus seinem Volk. Dann sah Galar, wen der Kobold stützte: Es war Bailin, der sichtlich am Ende seiner Kräfte war.
Atemlos erreichte Galar die beiden.
»Gut, dich zu sehen, Zwerg. Dein Freund ist wirklich verdammt schwer.«
Bailin presste einen Arm eng an den Bauch. Blut träufelte vor ihm in den Schnee. Drei große Tropfen. Zwischen den Schatten der halb verwehten Fußspuren wurden sie zu einem Gesicht. Lippen und zwei blutrote Augen.
Galar riss sich vom Anblick los. Was ging in ihm vor? Machte ihn dieses Land der Geister langsam verrückt?
»Ihr müsst mich zurücklassen«, stieß Bailin hervor. »Ich schaffe es nicht. Wir werden alle sterben, wenn ihr versucht, mich zu retten.«
Che lachte. »Ganz schön anstrengend, dein Freund! Diesen Unsinn redet er schon die ganze Zeit. Aber ihr verdammten Zwerge seid nicht so leicht umzubringen. Ich weiß, wovon ich rede.«
Galar hätte ihm den Hals umdrehen können.
»Los, pack ihn!«, kommandierte Che. »Zu zweit bringen wir ihn schon in diese Menschenstadt. Er hat mir das Leben gerettet, und seitdem jammert er mir vor, ich soll ihn einfach liegen lassen. Was denkt er nur von mir? Auch Kobolde haben Ehre im Leib.«
»Eisen-ge-sicht …«, stammelte Bailin.
»Lass mich reden«, unterbrach ihn Che. »Du sparst dir besser deinen Atem, um am Leben zu bleiben. Ich hatte alle Armbrustbolzen verschossen und dachte, ich sollte die Trolle nicht alle Blutarbeit alleine machen lassen. Bin mit nach vorne gestürmt. Dein Freund hat da auch gekämpft. Die verdammten Menschenkinder waren flussabwärts gelandet und wollten von der Flanke her unsere Schlachtreihe aufrollen. War keine gute Idee, sich ihnen in den Weg zu stellen. Hab gerade einem von ihnen die Sehnen im Kniegelenk durchgeschnitten, als Bailin mich gewarnt hat. Hinter mir stand ein Riesenkerl mit einem Helm, der sein Gesicht hinter einer Maske verbarg. Der sah aus wie eine Schildkröte mit Gefieder. Und er hatte ein wirklich übles Schwert in der Hand. Bailin hat mich zur Seite gestoßen. Und dann …« Der Kobold stockte. »Dann hat es ihn erwischt. Er hat sich einfach dazwischengeworfen. Er hat den Schwertstoß, der mich töten sollte …« Ihm versagte die Stimme.
»Hatte gedacht, dass keine Menschwaffe Silberstahl durchdringt …«, keuchte Bailin. »War wohl ein Irrtum.«
»Heute sind uns eine Menge Irrtümer aufgezeigt worden.« Galar sah, wie immer mehr Blut unter dem Arm seines Gefährten hervorquoll. Und er sah die lange Blutspur im Schnee. Der Hauptmann würde es nicht schaffen.
»Ja, viele Irrtümer …« Bailin nickte schwach. »Deshalb musst du entkommen. Du musst …« Er rang um Atem. »Du musst sie alle warnen. Die Menschenkinder sind nicht so schwach, wie die Drachen erzählen. Und du musst …« Er blickte besorgt zu Che.
»Kannst du bitte ein paar Schritt weitergehen, Kobold?«
»Ich schlepp den Kerl hierher, statt mich zu retten, und nun bin ich überflüssig?«, entgegnete Che fassungslos. »Das ist die Dankbarkeit der Zwerge!«
»Es ist der Wunsch eines Sterbenden. Zählt das in deinem Volk nichts? Er hat sich für dich geopfert.«
»Ich hatte ihn nicht darum gebeten.« Der Kobold zog eine Grimasse. »Gehe ich eben allein weiter. Ist mir egal, ob ihr zwei mich einholt.« Er stapfte ein paar Schritt davon und blieb dann gerade außer Hörweite stehen.
Bailin packte Galar beim Arm. »Du darfst nicht …«, setzte er an und begann zu husten. Dunkles Blut quoll über seine Lippen in den mit Raureif überzogenen Bart. Die Augen des Hauptmanns weiteten sich, als versuchte er alles, was er noch sagen wollte, in einen letzten Blick zu legen.
»Versprich es …«, hauchte er.
Galar ahnte, was Bailin wollte. Er wusste ja, warum der Hauptmann mit ihnen gegangen war. Und er verlangte das Einzige, was Galar um keinen Preis je versprechen würde.
Stur schwieg er so lange, bis Bailin seufzte. In das Blut auf seinen Lippen mischten sich Blasen. Seine Augen wirkten unendlich traurig. Er hatte verstanden, dass seine Mission vergebens gewesen war. Seine Hand glitt zu Boden. Sein Blick wurde trüb.
»Seid ihr bald fertig?«, fragte Che nervös. »Da hinten kommt was. Etwas Großes. Und Trolle sind das nicht.«
Sofort dachte Galar an die grünhäutigen Kreaturen, die dem Wasser entstiegen waren. Er sah auf. Eine lange Kette dunkler Gestalten war am südlichen Horizont, dort wo der Fluss lag, zu sehen. Waren das Reiter?
Der Schmied beugte sich tief über Bailin und fühlte den Puls am Hals des Zwergen. Er war flüchtig, kaum noch zu spüren, aber noch war der Hauptmann nicht tot.
»Du willst, dass ich alles verrate, wofür ich gekämpft habe? Es ist mein Lebensziel, die Tyrannen vom Himmel stürzen zu sehen. Die Toten der Tiefen Stadt erwarten von mir, dass ich sie räche. Und wenn ich die Eherne Stadt opfern müsste, um dies zu erreichen, dann würde ich das, ohne zu zögern, tun. Und jetzt zeig mir, dass du ein Kämpfer bist. Verrecke nicht! Kämpfe um dein Leben! Wenn du nicht draufgehst, dann werde ich heute Nacht mit dir eine Münze werfen. Und der Sieger entscheidet über die Zukunft.«
Ein schwacher Glanz erschien in Bailins Augen. Seine Lippen zitterten, als wollte er etwas sagen.
»Verschwende deine Kraft nicht für Worte. Dazu ist später noch Zeit. Jetzt hauen wir hier ab, und du machst dich so leicht wie möglich, damit ich dich schleppen kann. Und lass dir was Besseres einfallen, als dein Blut über das Eis zu verspritzen, um leichter zu werden.«
Ein flüchtiges Lächeln spielte um die Lippen des Hauptmanns.
Che kam zu ihm herüber und sah auf Bailin hinab. »Ist es mit ihm vorbei?«
»Wir haben verabredet, dass er noch nicht stirbt.«
Che glotzte ihn an, als wäre er verrückt. Dann deutete er mit ausgestrecktem Arm zur Linie schwarzer Gestalten, die sich mit erschreckender Geschwindigkeit in ihre Richtung bewegte. Schon war ein Geräusch wie fernes Donnergrollen zu hören. »Ich glaube, aus diesem Versprechen wird nichts, Zwerg. Die holen uns ein, lange bevor wir Wanu erreichen.«
Galar zog Bailin hoch und schlang sich dessen Arm um die Schulter. »Wir werden nicht stehen bleiben und auf sie warten. Ich weiß nicht, wie es bei euch Kobolden aussieht, aber Zwerge hören nicht auf zu kämpfen, nur weil die Aussichten schlecht sind.«
Che lachte. »All unsere Feinde sind größer und stärker als wir Eisbärte. Das hält uns aber nicht davon ab, unsere Unterdrücker umzubringen. Ich werde einfach weitermachen mit dem, was ich schon seit Jahren tue. Und jetzt legt mal einen Zahn zu, ihr fußlahmen Tunnelkriecher. Ich decke derweil unseren Rückzug.«
Nyr wollte den schneeweißen Umhang wegschieben, doch der Kobold an seiner Seite packte ihn mit erstaunlicher Kraft und zog ihn zurück. »So geht das nicht, Zwerg!«
Nyr sah die Reiter auf Galar und Bailin zupreschen. Der Hauptmann stützte sich auf den Schmied, und sie humpelten so schnell es ging. Glaubten sie denn wirklich, sie könnten entkommen? Che hatte einen Speer aufgehoben, der auf dem Eis gelegen hatte, und stellte sich der Reiterfront entgegen.
»Euer eigener Anführer steht da. Er wird auch draufgehen. Ihr könnt doch nicht …«
Der Kobold zu seiner Linken schnitt ihm mit einer wilden Geste das Wort ab.
Er und sechs weitere Kobolde, mit denen Nyr geflohen war, lagen in einer flachen Senke. Über ihnen waren drei weiße Umhänge ausgebreitet. Einer, den sie mit Hölzchen ausgelost hatten, hatte die Umhänge mit Schnee abgestreut.
»Wie könnt ihr nur …«, setzte er noch einmal an.
»Che selbst hat uns angewiesen, uns so zu verhalten«, raunte nun ein anderer Kobold. Er lag rechts von ihm, und sein Atem stank nach fauligen Zähnen. Fettige, schwarze Strähnen hingen ihm in die Stirn. Nyr wusste nicht einmal, wie er hieß. Das wusste er von keinem der sieben, mit denen er hier Seite an Seite lag. »Was glaubst du, wie wir im Krieg um Ishaven deinesgleichen immer wieder entkommen sind. Wenn eine Schlacht aussichtslos ist, dann machen wir uns unsichtbar. Die Menschenkinder haben keine Hunde mitgebracht. Das ist unser Glück. Sie können einen Schritt entfernt vorbeilaufen und werden uns nicht sehen.« Der Kobold zog den schmalen Spalt zu, durch den sie über den Rand der Senke gesehen hatten. »Unsere Atemwolken würden uns verraten. Du rührst dich nicht und du gibst keinen Ton von dir. Alles ganz einfach. Dann finden sie uns nicht.«
»Aber …«
»Nein, kein Aber. Du hast uns erzählt, wie wichtig es ist, dass du überlebst. Dass es da ein Geheimnis gibt, das nicht verloren gehen darf. Wir helfen dir. Aber noch wichtiger als dein Geheimnis ist uns unsere Haut. War das deutlich genug?«
Nyr nickte. Er konnte Galar nicht retten. Der gefrorene Boden, auf dem sie lagen, erbebte unter dem Trommeln Hunderter Pferdehufe. Eine ganze Armee wäre nötig, um den Schmied jetzt noch zu beschützen. Tränen standen ihm in den Augen. Er hatte gesehen, wie Galar umgekehrt war, um Bailin zu helfen. Und er ließ die beiden nun im Stich!
Aber er musste überleben. Sonst würde das Geheimnis der Drachentöterpfeile für immer verloren sein.
Subai riss sein Pferd am Zügel herum, um den fliehenden, kleinen Wicht doch noch zu erwischen. Er schlug Haken wie ein Hase, aber das würde ihm nicht helfen.
Der Steppenreiter beugte sich im Sattel vor und hielt seinen Speer weit vorgestreckt. Er ahnte, was der Kleine vorhatte. Immer wieder blickte er über seine Schulter zurück. Was für eine hässliche Fratze! Das also waren die Daimonen aus der anderen Welt. Subai war zutiefst von ihnen enttäuscht. Der Kampf um die Brücke war hart gewesen, und allen Ruhm hatten die anderen geerntet. Die Luwier hatten die grauen Riesen am Ende überwältigt, die Männer von den Schwimmenden Inseln das Ufer gestürmt. Nur für die Ischkuzaia war kein Ruhm geblieben. Sie jagten nur noch diese flüchtenden, grässlich entstellten Kinder. Mit ihren dunklen Gesichtern, den überlangen, spitzen Nasen und dem Maul voller nadelspitzer Zähne sahen sie allesamt aus wie Missgeburten.
Er hatte den Kerl, der vor ihm weglief, fast erreicht. Subai hielt den Speer ganz locker. Erst im letzten Augenblick vor dem Stoß würde er ihn fest packen. Solange er entspannt blieb, reagierte er schneller. Da! Er tat es! Genau wie er erwartet hatte. Der kleine Kerl warf sich in den Schnee und hoffte darauf, dass er ihn verfehlen würde.
Subai riss erneut an den Zügeln. Sein Hengst stieg und warf ihn fast aus dem Sattel. Senkrecht stieß der Steppenreiter seinen Speer hinab. Er spürte, wie das Stichblatt den zierlichen Körper durchstieß und in den hart gefrorenen Boden drang. Die Arme und Beine des kleinen Kerlchens zuckten, und er gab japsende Laute von sich. Ein paar Augenblicke nur, dann lag er still inmitten der Blutlache, die sich dampfend in den Schnee fraß.
»Einen neuen Speer!«, rief Subai ärgerlich. Sie fegten die Reste zusammen. Eine ehrlose Aufgabe war das! Er hatte so sehr darauf gehofft, im Kampf gegen die Daimonenkinder unsterblichen Ruhm zu ernten und endlich die Anerkennung seines Vaters zu gewinnen. Aber das hier war ein Dreck! Eine Wolfsjagd in den Weiten der Steppe war gefährlicher.
Saumakos, der Befehlshaber seiner Leibwache, reichte ihm einen neuen Speer. Der Kerl sah genauso mürrisch aus, wie er selbst sich fühlte, dachte Subai. Saumakos hatte ein flaches Gesicht mit platter Nase. Man sah ihm an, dass seine Mutter eine Konkubine vom Seidenfluss gewesen sein musste. Er hatte sich als Schwertkämpfer und Bogenschütze hervorgetan. Vor allem aber hatte Subai den mürrischen Kerl zum Befehlshaber seiner Leibwache ernannt, weil er nie zusammen mit Shaya gekämpft hatte. Subai hasste es, Männer um sich herum zu haben, die seine Schwester bewunderten. Der Steppenfürst wandte sich auf dem Pferderücken um und deutete nach Norden. »Da hinten sind noch drei Daimonen! Holen wir sie uns!«
Er preschte in wildem Galopp über die Ebene. Der verharschte Schnee splitterte unter den trommelnden Hufen, und Eis und Schnee spritzten um sie herum auf. Er spürte die Hitze des Hengstes zwischen seinen Schenkeln. Seine Lust zu laufen. Er war für den Kampf geboren.
»Herr! Dort hinten. Seht nur. Nördlich!«
Ein weißer Hengst lief mit ihnen um die Wette. Er war reiterlos. Ein prächtiges Tier, das geradezu über dem Schnee zu schweben schien. Bald hatte er sie überholt. Wie ein Windstoß glitt er über die Ebene und ließ Schleier wirbelnden Schnees hinter sich zurück. War das der Weiße Wolf? Der Gott, der über die Ischkuzaia wachte? Meist erschien er ihnen in Wolfsgestalt oder als ein stattlicher Krieger in schimmernder Wehr. So hatte Subai ihn schon gesehen.
Angeblich verwandelte er sich auch manchmal in einen weißen Hengst. War er gekommen, um sich an der Hatz auf die Daimonen zu beteiligen? Damit würde diese Aufgabe geadelt. Der Hengst hielt genau auf die drei kleinen Gestalten zu. Obwohl das Tier zu weit entfernt war, um es ganz deutlich erkennen zu können, erschien Subai etwas seltsam an ihm. Er stieß seinem Schlachtross die Hacken in die Flanken und trieb es gnadenlos an. Bald lag er um mehrere Pferdelängen vor seinen Begleitern, doch mit dem weißen Hengst konnte er nicht mithalten. Als jener die Daimonen erreichte, war Subai noch fast hundert Schritt entfernt.
Was war das? Der Hengst griff die Geschöpfe der Anderswelt nicht an … Er hielt und gestattete ihnen, auf seinen Rücken zu steigen!
»Fangt mir dieses Pferd. Ich …« Subai stockte der Atem. Erst jetzt sah er das Horn, das mitten aus der Stirn des Pferdes wuchs. Länger als eine Schwertklinge war es und in sich gedreht.
Er wollte, er musste es haben! Wollte ihm seinen Willen aufzwingen und künftig auf diesem wundersamen Pferd zur Jagd und in die Schlacht reiten. Es würde seinem Namen den Glanz geben, den er als Sohn des Unsterblichen Madyas haben sollte. Dann würde niemand mehr von seiner Schwester Shaya sprechen, dieser verdammten Hure, die mit der Hälfte ihrer Leibwache das Bett geteilt hatte, bis der Unsterbliche Muwatta ein Auge auf sie geworfen hatte.
Bis heute hatte Subai nicht begriffen, was der Herrscher Luwiens an diesem Mannweib gefunden hatte. Aber in ihm hatte Shaya ihren Meister gefunden. Er grinste böse. Sie hatte den Herrscher enttäuscht und ihm kein Kind geboren, und Muwatta hatte sie dafür verbrennen lassen. Doch ihr Name war nicht zu Rauch geworden. Im Gegenteil! Mit ihrem Tod war sie zur Legende geworden, und immer phantastischer wurden die Geschichten, die über sie die Runde machten. Es hieß, sie sei auf dem Rücken des Weißen Wolfes über den Himmel geritten und sie habe hier auf Nangog gemeinsam mit dem Unsterblichen Aaron Daimonen getötet.
Subai schnaubte ärgerlich. Was war schon dabei, Daimonen zu morden? Er hatte an diesem Mittag ein halbes Dutzend von ihnen auf Speere gespießt. Wie konnte man über den Kampf gegen sie nur Heldengeschichten erzählen? Gleich würde er noch drei umbringen.
Er ließ seinen Hengst vom Galopp in den Trab fallen. Das gehörnte Pferd war nur noch dreißig Schritt entfernt. Seine Krieger schlossen zu ihm auf.
»Ich will es lebend!«, rief er mit lauter Stimme. »Fangt es mit euren Lederschlingen. Es darf nicht verletzt werden!«
Seit er Kanita als Statthalter der Goldenen Stadt abgelöst hatte, hatte Subai viele Provinzen Nangogs bereist. Sein besonderes Interesse hatte dabei stets der Jagd und den Pferden gegolten. Die Messergras-Steppe brachte kräftige und ausdauernde Läufer hervor, während die weiten Weiden am Quell des Sepano berühmt für anmutige, schön gewachsene Pferde waren. Ein gehörntes Pferd jedoch hatte er auf all seinen Reisen nie zu sehen bekommen, ja, er hatte nicht einmal davon gehört. Wie mochte es hierhergekommen sein? Auf den weiten Eisebenen konnte es unmöglich überleben. Wenn es nicht von Nangog stammte, kam es vielleicht aus der Welt der Daimonen?
Seine Reiter schwärmten rechts und links von ihm aus und versuchten, das weiße Pferd zu umzingeln. Einer der Daimonen hatte Mühe damit, einen offensichtlich verwundeten Kameraden auf den Rücken des Tieres zu schieben. Der dritte Daimon stellte sich mit einem Speer schützend vor die beiden.
Subai ließ seinen Speer locker um sein Handgelenk wirbeln. Noch ein Opfer! Er preschte dem kleinen Kerl entgegen, der tapfer seine Waffe vorstreckte, als hoffte er, einen Zweikampf vielleicht gewinnen zu können. Endlich mal einer, der nicht vor ihm davonlief. Das versprach interessant zu werden, dachte der Reiterfürst amüsiert. Natürlich hatte der Kleine nicht die geringste Hoffnung zu gewinnen.
Der Reiterfürst hatte den Daimon nun fast erreicht. Er packte seinen Speer fester, als sich der Wicht zu Boden warf. Natürlich! Dass denen nichts Neues einfiel! Subais Speer stieß hinab, verfehlte den Daimon aber knapp, der sich zwischen die Hufe des Pferdes rollte. Die Speerspitze drang tief in den gefrorenen Boden. Bevor er sie zurückziehen konnte, wurde sie Subai aus der Hand gerissen, als sein Hengst plötzlich mit schrillem Wiehern auf die Hinterbeine stieg.
Subai hatte sein Schlachtross zusammenzucken gespürt, als der Speer des Daimons es in die ungeschützte Unterseite getroffen hatte. Jetzt zitterte es, stieg und schlug mit den Vorderhufen wild in die Luft, als stünde ein unsichtbarer Feind vor ihm. Jeden Augenblick würde es stürzen. Subai ließ sich über die Kruppe vom Pferderücken gleiten und zog die Dornaxt aus seinem Gürtel.
Der kleine Daimon war inzwischen den stampfenden Pferdehufen entflohen. Seine weißen Kleider waren über und über mit hellem Blut besprenkelt. Böse schwarze Augen sahen Subai herausfordernd an. Mit einem breiten Lächeln zeigte der kleine Daimon seine spitzen Zähne.
»Du wirst dir wünschen, dass du das nicht getan hättest«, zischte der Steppenprinz. »Du hast keine Ahnung, was man in meinem Volk mit Pferdemördern macht.«
Die anderen beiden Daimonen hatten es endlich auf den Rücken des gehörnten Pferdes geschafft. Ihre kümmerlichen Beinchen reichten kaum bis zur Mitte des Pferdeleibs hinab, und sie krallten sich in der Mähne des Tieres fest. Einer blutete das prächtige weiße Fell voll.
Subais Männer hatten einen weiten Kreis um den gehörnten Hengst gebildet. Ihre Pferde tänzelten und schnaubten nervös. Sie schienen sich vor dem Daimonenhengst zu fürchten.
»Los, fangt ihn endlich ein!«
Erste Lederschlingen sirrten durch die Luft. Drei senkten sich über den Nacken des weißen Hengstes. Eine vierte umschlang einen der beiden Reiter, der mit einem kurzen Ruck vom Rücken des Pferdes gezogen wurde und schwer auf das Eis schlug.
Sofort preschte der Jäger, der ihn gefangen hatte, los, um sein Opfer auf Schnee und Eis zu Tode zu schleifen.
Subai schlug eine Finte mit der spitzen Dornaxt, doch der kleine Daimon war klug. Seine Speerspitze zuckte zwar ein wenig zur Seite, aber nicht weit genug, um eine Lücke in seine Deckung zu reißen. Aus den Augenwinkeln sah Subai sein Schlachtross stürzen. Die Läufe des Rappen zuckten im Schnee.
»Dafür wirst du büßen, kleiner Mann«, zischte er und schlug weitere Finten. Der Daimon wich stetig vor ihm zurück. Subai überlegte, ob er nicht einfach seinen Bogenschützen befehlen sollte, den Kerl niederzuschießen. Doch das mochte so aussehen, als wäre er nicht in der Lage, diesen Winzling zu besiegen, und würde zu weiterem heimlichen Spott und geflüsterten Vergleichen mit seiner toten Schwester führen.
Plötzlich hatte der Daimon für ihn das Gesicht seiner Schwester. Mit einem wütenden Schrei sprang er vor und hieb mit der Dornaxt auf seinen Gegner ein. Ein wuchtiger Schlag fegte den Speer zur Seite und schleuderte den kleinen Kerl in den Schnee. Subai stellte einen Fuß auf den Speer, um die Waffe zu binden. Sofort ließ der Kleine los, rollte sich zur Seite, kam auf die Knie und zog das Schwert, das er auf seinen Rücken gegürtet trug.
Wieder griff Subai an. »Stirb endlich!«, zischte er und versuchte, auch das Schwert mit einem wilden Hieb hinwegzufegen. Doch diesmal vollführte der Daimon eine Drehung mit dem Handgelenk, kurz bevor sich die Waffen trafen, sodass Subais Schlag ins Leere ging. Der Kleine aber streckte sich und stieß das Schwert in Richtung seines Oberschenkels.
Mit einem Fluch machte der Reiterfürst einen Satz zurück, rutschte aus und landete auf dem Hintern. Glühende Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. All seine Männer hatten das gesehen! Heute Nacht, an den Lagerfeuern, würden sie wieder über ihn reden und ihn mit seiner verfluchten Schwester vergleichen!
Der Daimon war inzwischen wieder auf den Beinen. Mit einem wilden Schrei und vorgestrecktem Schwert rannte er auf Subai zu und versuchte, ihm die Klinge in die Kehle zu rammen.
Der Fürst warf sich zur Seite und hieb aus der Bewegung heraus nach den Beinen des Daimons. Sein Gegner fing den schwachen Angriff mit der Klinge seines Schwertes ab. Selbst dieser halbherzige Hieb brachte den kleinen Daimon zum Taumeln.
Der Steppenreiter sprang auf und zog mit der Linken die Peitsche, die er am Gürtel trug. Die lange, gedrehte Lederschnur schnalzte dem Daimon ins Gesicht und verpasste ihm einen blutigen Striemen quer über Nase und Wange.
Der Kleine sah ihn hasserfüllt an. Offensichtlich hatte er begriffen, dass das Ende nah war. Er wich weiter zurück, und Subai erlaubte sich einen kurzen Blick zum weißen Hengst. Weitere Lederschlingen waren über seinen Hals geglitten. Das prächtige Pferd würde ihm gehören, ebenso wie der Kopf des widerborstigen, kleinen Daimons.
In diesem Moment stieg das gehörnte Pferd und warf kraftvoll den Kopf in den Nacken. Die Lederlassos strafften sich. Zwei seiner Männer wurden vom Ruck aus den Sätteln gerissen. Das Pferd warf sich wild hin und her, keilte aus, und ein Seil nach dem anderen zerriss. Das war unmöglich! Fassungslos sah Subai zu. Sobald das Horn des Pferdes eines der ledernen Seile berührte, flammte es auf und zerfiel zu Asche.
Einer seiner Männer sprang vom Pferd und stürmte todesmutig dem Hengst entgegen. Subai ahnte, was er tun wollte. Wenn ein Mann einem Pferd im richtigen Augenblick in die Mähne griff und entschlossen genug daran zerrte, konnte er es zu Boden reißen. Weitere Krieger glitten aus den Sätteln und versuchten, dem ersten zu helfen, als der weiße Hengst sich drehte und einem der Angreifer sein Horn in die Brust stieß. Der Mann sackte augenblicklich in sich zusammen. Dunkler Rauch quoll ihm aus Mund und Nase.
Ein zweiter Krieger wurde von einem Huftritt getroffen und etliche Schritt weit über das Eis geschleudert. Als das Pferd um seine eigene Achse tänzelte, wichen alle vor ihm zurück. Dann sah es Subai an, und die dunklen Augen schienen direkt auf den Grund seiner Seele zu blicken. Es wusste, dass er der Anführer war, und nun kam es auf ihn zu.
Subai wollte seinen Männern befehlen, das daimonische Pferd zu erschießen, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Er vermochte nicht einmal seine Dornaxt zu heben, um sich zu verteidigen.
Auch der kleine Daimon schien sich vor dem Pferd zu fürchten. Statt erneut anzugreifen, wich er aus, bis der bärtige Kerl auf dem Rücken des Tiers ihm etwas zurief.
Der Hengst hielt kaum drei Schritt vor Subai und senkte drohend sein Horn, während der Reiter seinen Gefährten auf den Pferderücken zog.
Subai war wie versteinert. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass die Bestie ihm ihr Horn in die Brust stoßen würde. Doch das Pferd warf sich plötzlich herum und preschte davon. Es folgte der blutigen Schleifspur im Schnee, die von dem gemarterten dritten Daimon geblieben war.
Erschüttert kniete Galar neben der Leiche seines Gefährten. Bailins Gesicht war nur noch eine unförmige Masse von zerschundenem Fleisch.
»Komm!«, drängte Che. »Ich kann sie sehen. Sie folgen uns, und wenn sie uns erreichen, werden sie uns mit Pfeilen überschütten. Wenn sie ein bisschen Verstand haben, werden sie nicht noch mal versuchen, diesen wunderlichen Hörnergaul zu fangen.«
»Das ist ein Einhorn«, murmelte Galar, nahm seinen Schal ab und wickelte ihn Bailin um den Kopf. Er konnte es nicht ertragen, dem Toten ins Gesicht zu sehen. Sein Bart war fortgerissen, ebenso die Nase. Ein Auge fehlte. »Das hast du nicht verdient.«
»Ich glaub nicht, dass das hier ein richtiges Einhorn ist.« Che war nicht vom Rücken des Hengstes gestiegen. Er klammerte sich immer noch an der Mähne fest. »Einhörner sind edle, friedliebende Geschöpfe. Ich kenne alle Geschichten über Einhörner. Niemals hätte uns ein Einhorn gerettet und einen dieser Menschensöhne aufgespießt. Die schnuppern an Blumen, stolzieren in den Sonnenuntergang und hüten verwunschene Wälder. Ich bin froh, dass unser Horngaul anders ist. Sonst wären wir beide tot.«
»Du kennst vielleicht die falschen Geschichten.« Galar setzte den Toten auf und wuchtete sich Bailin dann über die Schulter.
»Heh, was wird das?«
»Wir lassen ihn natürlich nicht zurück«, sagte Galar entschieden. »Er soll eine ordentliche Feuerbestattung bekommen. Los, hilf mir, ihn auf den Rücken des Einhorns zu setzen.«
»Einhörner tragen ganz gewiss keine Leichen spazieren«, beharrte Che, packte Bailin aber unter den Achseln und mühte sich nach Kräften, ihn zu sich heraufzuziehen. Dann reichte er Galar die Hand und half auch ihm hoch.
Der Zwerg sah zu den Menschenkindern. Die Reiter hatten sie eingekreist.
»Kannst du uns zu der Stadt bringen?«, fragte er das Einhorn. Er hatte keine Ahnung, wie man ein Pferd ohne Zaumzeug dazu brachte, sich in die gewünschte Richtung zu bewegen. Galar hielt Bailin im Arm und klammerte sich mit der Linken in der Mähne des Einhorns fest. Che saß hinter ihm und umschlang Galar nun mit beiden Armen.
»Lass das!«, zischte der Zwerg gereizt. »Wir sind kein Liebespaar. Halt dich an meinem Gürtel fest!«
Che grummelte etwas in seinen Schal, fügte sich aber.
Verstand ein Einhorn es, wenn man mit ihm sprach, fragte sich Galar. Und wusste es überhaupt, was eine Stadt war? »Kannst du uns zu den Ställen der Menschenkinder bringen?«, wiederholte er langsam und überdeutlich.
Der Hengst schnaubte und stampfte unruhig mit einem der Vorderhufe auf den gefrorenen Boden.
Galar versuchte es damit, an die Stadt zu denken. Vielleicht konnte ein Einhorn ja Gedanken lesen? Gleichzeitig strich er vorsichtig mit der Hand über den Hals des Hengstes. »Bitte bring uns zu unseren Freunden.«
Noch einmal stampfte das Einhorn mit dem Vorderhuf, dann setzte es sich langsam in Bewegung. Es schritt den Menschenkindern entgegen, die keine dreihundert Schritt mehr entfernt waren.
Dachte der Hengst, diese Reiterschar wären ihre Freunde?
Das Einhorn beschleunigte und ging vom Schritt in einen leichten Trab über.
Galar klammerte sich vorsichtshalber wieder an der Mähne fest.
Die Menschen waren nur noch gut hundert Schritt entfernt. Deutlich sah Galar, wie die reitenden Bogenschützen nach ihren Köchern griffen.
Der Zwerg beugte sich dicht über den Hals des Hengstes, der immer schneller wurde. Das Trommeln seiner Hufe auf dem gefrorenen Grund dröhnte ihm in den Ohren. »Du darfst ihnen nicht näher kommen. Die werden uns töten.«
Das Einhorn hörte nicht auf ihn, sondern legte noch einmal an Tempo zu. In gestrecktem Galopp preschte es ihren Feinden entgegen.
Galar wurde auf dem Rücken durchgeschaukelt, dass ihm angst und bange wurde. Che hatte einen seltsamen Singsang angestimmt. Ein Totenlied?
Der Zwerg hielt Bailin fest an sich gedrückt. Sein toter Kamerad würde ihm ein Schutzschild gegen die Pfeile, die von vorne kamen, sein. Doch was half das schon, wenn das Einhorn getroffen wurde und strauchelte? Der Hengst hatte offenbar keine Ahnung, welch tödlicher Gefahr sie entgegenstürmten.
Pfeile pfiffen durch die Luft. Einer schlug Bailin in die Brust. Ein anderer verfing sich in der Mähne des Einhorns und riss eine Strähne Haare mit sich fort. Dann waren sie mitten unter den Menschenkindern. Ihre Pferde stoben in blinder Panik auseinander.
Galar presste sein Gesicht in die Mähne des Einhorns und hielt Bailin noch fester an sich gedrückt. Er konnte nichts anderes tun. Er war kein Reiterkämpfer, er schaffte es ja kaum, sich auf dem breiten Rücken des Einhorns zu halten.
Schreie erklangen rings um ihn herum. Stimmen voller Furcht und Zorn. Und dann waren sie durch die Linie der Reiter durchgebrochen. Einige schossen ihnen noch ihre Pfeile nach, doch das Einhorn lief schneller und schneller, bis es Galar schließlich vorkam, als berührten dessen Hufe kaum noch den Boden und es flöge wie der Nordwind über die Ebene.
Schon erschienen die beiden mächtigen Türme, die auf dem großen Platz von Wanu aufragten. Dann sah Galar die ersten der armseligen Häuser. Sie preschten an einer Gruppe verwundeter, abgekämpfter Trolle vorbei. Drei oder vier Zwerge begleiteten sie und kein einziger Kobold.
Das Einhorn wurde langsamer. Sein Hufschlag hallte in den engen, verlassenen Gassen wider, bis sie den Platz im Zentrum der Stadt erreichten. Den Platz, den ein riesiger, roter Kadaver ausfüllte.
Der Schmied brauchte einen Moment, bis er begriff, was er dort sah: ein Drache, größer noch als das weiße Ungeheuer, das er vor langer Zeit mit Nyr getötet hatte.
»Hier sind wir nicht sicher«, keuchte Che. »Die Menschengötter müssen hier sein. Wer sonst hätte einen Sonnendrachen töten können?«
Galar schwieg. Er glitt vom Rücken des Einhorns hinab. Che hielt Bailin und ließ den Toten dann in Galars Arme sinken. Der Zwerg bettete seinen Kameraden mit dem verhüllten Gesicht sanft auf den Boden. Che landete mit einem kühnen Sprung neben ihm.
»Hab ein wenig Geduld mit mir, Bailin. Ich muss einer Sache nachgehen, ich komme bald zurück«, flüsterte Galar.
Das Einhorn schnaubte, legte seinen Kopf schief und sah ihn fragend mit seinen großen, schwarzen Augen an.
»Ich kann hier noch nicht fort. Ich schulde es meinem Volk, hierzubleiben und diese Sache zu verschleiern.« Er seufzte und betrachtete verzweifelt den riesigen Drachen. »Obwohl ich fürchte, dass sich da nicht viel verschleiern lässt. Und dennoch muss ich bleiben. Ich muss Glamir finden und erfahren, was geschehen ist.« Er streckte sich und tätschelte über den Hals des Einhorns. »Danke, dass du nicht so unschuldig bist wie in den Märchen, die man über dich erzählt. Mach dich davon. Die Menschenkinder werden bald hier sein. Und sie zerstören alles, was schön ist auf der Welt.«
Das Einhorn schüttelte den Kopf, als wollte es ihm widersprechen. Dann warf es sich herum und preschte davon. Galar lauschte auf den Hufschlag in den Gassen, bis er in der Ferne verklungen war. Rotes Abendlicht streckte seine glühenden Finger zwischen den beiden Türmen hindurch, die den weiten Platz beherrschten.
»Wenn der wieder aufsteht, sind wir alle tot. Warum sind wir nicht auf den Rücken des Einhorns gestiegen und haben uns verpisst? Hier können wir ohnehin nichts ausrichten«, zeterte Che.
»Lauf dem Einhorn nach oder hilf mir, dafür zu sorgen, dass dieses Mistvieh nicht mehr aufsteht.«
»Du siehst auf alle Kobolde herab, nicht wahr. Hältst uns für Feiglinge. Du weißt nicht, wie es ist, wenn einen fast alle Völker als die geborenen Diener betrachten.«
»Einen Diener wie dich wollte ich im Leben nicht«, schnarrte Galar ihn an. »Und jetzt mach dich nützlich. Such mit mir nach der Wunde, die den Drachen umgebracht hat. Klettere auf ihm herum.«
»Und wenn er aufwacht?«
»Dann wirst du an einem Tag auf einem Einhorn und einem Drachen geritten sein. Du wirst eine Legende unter den Deinen werden«, entgegnete der Schmied zynisch. »Und jetzt hilf mir!«
Che lachte. »Du untergräbst meine schönsten Vorurteile über Zwerge. Ich fand immer, dass ihr genauso viel Humor habt wie die Felsen, in die ihr euch hineingrabt.«
»Absolut wahr!« Galar umrundete den Drachen. Er sah keine Wunde. Nichts, was … Glamir! Der Rumpf des Schmiedes lehnte an einer blutbespritzten Wand. »Glamir!« Galar sah die Armbrust in der Hand des Toten, die verstreuten Bolzen, die neben ihm auf dem Boden lagen. Ailyn würde sofort ahnen, was geschehen war, wenn sie das hier sah. Falls sie noch lebte … Selbst Che würde begreifen … Galar fluchte. Das war zu früh! Die Himmelsschlangen durften nicht argwöhnisch werden.
Der Zwerg eilte über den Platz hinweg zu dem Toten. »Du verdammter, alter Narr. Was hast du nur getan?« In fliegender Hast sammelte er die verstreuten Armbrustbolzen ein, schob sie in den ledernen Köcher und nahm ihn an sich. Dann löste er die Waffe mit dem seltsamen Schulterstück vom verstümmelten Arm des Toten. Glamirs Finger waren am Abzug der Waffe festgefroren. Als Galar die Hand endlich losbekam, fehlte ein daumennagelgroßer Fetzen Haut am Abzugsfinger. Er drückte dem Toten seine Axt in die Hand. Die anderen sollten ihn nicht ohne Waffe finden. Das würde nur weitere Fragen aufwerfen.
Galar ging in die Hocke und versuchte sich vorzustellen, welche Flugbahn der Armbrustbolzen genommen haben mochte. Und da sah er es. Ein kleines Rinnsal gefrorenen Blutes am Hinterkopf des Sonnendrachen. Das Eintrittsloch im Drachenschädel war so winzig, dass er es nur sah, weil er wusste, dass es dort sein musste.
»Guter Schuss.« Galar blickte in das fahle, blutleere Gesicht seines Freundes. »Damit hast du uns zumindest eine Sorge erspart.«
»Ich find nichts!« Che stieg über den Drachenschwanz hinweg und stutzte. »Hier ist alles voller Blut. Die ganze Schwanzspitze. Der hat …«
Galar wich zur Seite, sodass der Kobold den toten Schmied sehen konnte. »Er hat meinen Freund ermordet. Ihm sein zweites Bein genommen und ihn verbluten lassen. Was immer dieser Bestie widerfahren ist, ich würde ihrem Mörder gerne ein Fass vom besten Pilz der Tiefen Stadt spendieren.«
»Wenn der wieder aufsteht …« Che erschauderte sichtlich. »Den hält niemand mehr auf. Der …«
»Boah!« Zwei Trolle waren auf den Platz getreten und in fassungslosem Staunen, unterbrochen von unartikulierten Lauten, verharrt. Weitere Trolle folgten und dann auch die kleine Schar der Zwerge, die Galar kurz vor der Stadt gesehen hatte. Kein einziger Kobold zeigte sich, doch Che wirkte nicht beunruhigt.
»Die Reiter umstellen die Stadt!«, erklang eine wohlvertraute Stimme vom nördlichen der beiden Türme. Ailyn! Sie hatte überlebt. Wie war das möglich? Sie war von Feinden umringt gewesen. Nicht ein einziger Tropfen Blut zeigte sich auf ihrem schneeweißen Kleid. Nicht einmal ihre streng nach hinten und zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare waren durcheinandergeraten. Sie hatte die ersten Stufen der Wendeltreppe an der Außenwand des Turms erklommen, sodass alle sie gut sehen konnten. Den toten Drachen würdigte sie keines Blickes. »Wir brauchen einen Unterschlupf, der gut zu verteidigen ist. Einen Keller wie den, in dem die Menschenkinder Zuflucht gesucht haben. Ich habe so einen gesehen, als wir zum ersten Mal hier waren. Es gibt dort auch Vorräte. Folgt mir! Hier in den Straßen werden uns die Reiter niedermachen. Aber zu dem Gewölbe gibt es nur einen Zugang. Und sie müssen an mir vorbei, wenn sie euch an die Kehlen wollen. Heute haben wir viele gute Männer verloren, nun ist es an den verdammten Menschenkindern, zu bluten.«
»Wer hat den Drachen getötet?«, rief Galar. Er hielt es für eine gute Idee. Sollte Ailyn eine Ausrede erfinden. Ihr würden die anderen alles glauben.
Die Elfe sah ihn an, als wäre er ein lästiges Insekt. »Liegt das nicht auf der Hand, Galar?«
Der Schmied schluckte. Wie meinte sie das?
»Wer außer den Devanthar könnte einen Sonnendrachen töten?«
Nach wie vor sah sie nur ihn an. Und Galar wusste, dass sie nicht glaubte, was sie sagte.
Vorsichtig streckte Subai die Hand nach dem Ungeheuer aus, das fast den ganzen Marktplatz ausfüllte. Nie zuvor hatte er eine solche Kreatur gesehen. Etliche Wolkensammler waren deutlich größer als dieses Geschöpf, aber auch wenn es ohne Zweifel tot war, ging immer noch etwas Bedrohliches von ihm aus. War das eine der Himmelsschlangen? Sie waren die Daimonenfürsten. Mächtige, geflügelte Schlangen. Ungeheuer, wie einem Albtraum entsprungen.
Ein Reiter mit einer Fackel in der Hand preschte auf den Platz. »Herr, ich habe die Flüchtlinge aufgespürt. Sie sind in einem Keller, nicht weit von hier.«
Subai hob die Hand und gebot dem Reiter zu schweigen. An die hundert Krieger drängten sich auf dem Platz. Einige hatten Schuppen des Ungeheuers abgetrennt. Ohne Zweifel würden sie machtvolle Talismane sein.
Dieses Ungeheuer war ein Geschenk der Götter. Wenn er jetzt klug handelte, dann erlangte er endlich den Ruhm, nach dem er sich schon sein ganzes Leben lang sehnte.
»Bogenschützen!«, rief er mit einer Stimme, die das Donnern Hunderter Hufe übertönen konnte. »Legt Pfeile auf!«
Die Männer sahen einander verwundert an, aber keiner wagte etwas zu sagen. Sie fürchteten ihn und seine Launen.
»Erschießt diese Himmelsschlange!«, rief er scharf.
Die Männer in seiner Nähe sahen ihn an, als wäre er verrückt geworden.
»Wollt ihr als Drachentöter gefeiert werden oder nicht? Seht ihn euch an, wie er dort liegt, ohne eine sichtbare Wunde. Sein Tod ist ein Geheimnis. Vielleicht ist es ein Geschenk der Götter an uns. Wenn Hunderte Pfeile in seinem Leib stecken, wer sollte uns den Ruhm absprechen, dieses geflügelte Ungeheuer erlegt zu haben? Folgt mir, Männer! Beschreiten wir gemeinsam den Pfad zu unsterblichem Ruhm.« Er ging zu dem Pferd, das er einem seiner Hauptleute abgenommen hatte, nahm den Bogen vom Sattel und zog einen Pfeil aus dem Köcher, der vom Sattelhorn hing.
»Tut es mir gleich, Männer!« Mit diesen Worten legte er einen Pfeil auf die Sehne und schoss auf den toten Drachen.
Die Krieger gehorchten ihm nicht. Es schien ihm sogar, als sähen ihn manche voller Abscheu an. Unbeirrt griff er erneut zum Köcher und zog den nächsten Pfeil. »Ihr kennt meinen Vater! Wir haben nicht alle Daimonen niederreiten können, wie er es uns befohlen hatte. Einige sind hierher entkommen, und wir werden diesen verfluchten Keller nicht stürmen können, wenn einer der grauen Riesen den Eingang bewacht. Jedenfalls nicht, bevor die Heere der verbündeten Unsterblichen eintreffen. Wir hatten die geringste von allen Aufgaben. Wir mussten nur geschlagene Flüchtlinge verfolgen und stellen. Was glaubt ihr, was mein Vater mit uns allen tun wird, wenn er erfährt, dass wir versagt haben? Wie wird er es aufnehmen, wenn er in Anwesenheit aller Unsterblichen sein Gesicht verliert, weil seine Krieger versagt haben? Ihr alle wisst, dass er nicht für seinen Langmut bekannt ist. Wir müssen dieses Ungeheuer töten! Jeder muss erkennen können, dass Pfeile der tapferen Ischkuzaia es niedergestreckt haben. Nur eine Heldentat von den Ausmaßen dieses Drachen vermag unsere Leben zu retten.«
Er hakte den Pfeil in die Sehne ein und schoss erneut. Obwohl er kaum zehn Schritt vom Drachen entfernt stand und die Bogensehne bis hinter sein Ohr zurückzog, drang das Geschoss nur knapp drei Fingerbreit in den Leib des Drachen ein.
Die ersten seiner Krieger folgten seinem Beispiel, als der Befehlshaber seiner Leibwache an seine Seite trat.
»Herr.« Saumakos’ Gesicht war ohne Regung. Eine Maske mit flacher Nase, wulstigen Lippen und schlauen Augen. »Es gibt überlebende Zapote in einem Keller am Platz. Alle Bewohner der Stadt scheinen sich dorthin geflüchtet zu haben. Die Daimonen haben sie verschont.«
»Nahe am Platz? Du meinst diesen Platz hier?«
»So ist es, Herr.«
Subai griff sich mit der Hand an die Stirn. Die Götter hassten ihn, dachte er verzweifelt. »Nimm dir ein paar Männer und töte sie! Kein Zapote, der gesehen haben könnte, was wirklich mit dem Drachen geschah, darf überleben.«
»Aber Herr, dieser Feldzug wurde unternommen, um Wanu zu befreien und die Einwohner der Stadt zu retten.«
»Was kann ich dafür, wenn die Daimonen alle Gesetze des Krieges missachten und selbst Gefangene ermorden«, sagte Subai laut und hob die Hände in resignierender Geste. »Was sollte man von Daimonen auch anderes erwarten?« Leise fügte er hinzu. »Nimm nur wenige Männer, denen du ganz und gar vertraust. Und sprich niemals über das, was ihr getan habt. Nun geh! Ich habe einen Drachen zu töten.«
Saumakos rief einige Krieger zu sich und verschwand. Alle übrigen schossen indessen auf den Drachen. Auch jene Steppenreiter, die neu auf den Platz im Schatten der Ankertürme kamen, schlossen sich unaufgefordert den Bogenschützen an. Doch waren keine Jubelrufe zu hören, wie sie sonst erfolgreiche Kämpfe begleiteten. Auf dem Platz herrschte eine unheimliche Stille, die nur vom dumpfen Einschlag der Pfeile im geschuppten Leib gestört wurde.
Endlich riss Subai seinen Bogen hoch. »Das genügt!«, befahl er. Unzählige Pfeile steckten inzwischen im Leib des Drachen. »Benetzt die Pfeilwunden mit Blut, schneidet euch in den Arm, an unauffälliger Stelle, und tropft das Blut auf den Drachen. Wenn es kein Blut gibt, dann wird auch der Einfältigste begreifen, dass wir die Pfeile abgeschossen haben, nachdem er schon tot war. Los, los! Beeilt euch. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Subai trat vor den geschändeten Kadaver und rollte den Ärmel seiner Pelzjacke zurück. Dann zog er ein Messer aus seinem Gürtel und schnitt sich in den Arm. Er streckte den Arm weit vor, sodass alle sehen konnten, wie sein dunkles Blut auf einige der Pfeile und die roten Drachenschuppen tropfte. »Von nun an sind wir die Bruderschaft des Drachen. Wir teilen einen Sieg, wie ihn noch kein Krieger Daias je errungen hat. Und wir teilen ein Geheimnis. Hier und jetzt schwöre ich beim Weißen Wolf, dem Gebieter der Steppe, bei Russa, dem Blitzschleuderer, und der Sturmruferin mit dem Schlangenhaar, dass ich Ruhm und Reichtum mit jedem in der Bruderschaft teilen werde, ebenso, wie ich meinen Dolch in das Herz eines jeden Verräters tauchen werde. Und nun tut es mir gleich! Besiegeln wir mit unserem Blut den Pakt, den wir geschlossen haben, Brüder!«
Diesmal zögerten sie nicht, seinem Befehl zu folgen. Zu Dutzenden gingen sie zum Drachen und stiegen über seine Beine zum Rücken hinauf, um ihr Blut zu vergießen. Es wurde eine regelrechte Orgie des Blutes. Bald troff es überall am Leib des Ungeheuers hinab, rann in seine weit offenen Augen und seine Lefzen hinab, perlte von den Schuppen auf Rücken und Flanken und sammelte sich zuletzt unter seinem Leib auf dem gestampften Boden des Marktplatzes.
Zufrieden folgte Subai dem Spektakel, bis Saumakos zurückkehrte. Sein Hauptmann hielt ein blutiges Schwert in Händen. »Es gibt keine Zeugen mehr«, sagte er mit belegter Stimme.
Dem Prinzen gefiel der Gesichtsausdruck des Kriegers nicht. Saumakos verurteilte ihn, auch wenn er klug genug war, kein Wort zu sagen. Für wen hielt sich der Kerl! Er entstammte zwar einer Sippe, die seit Jahrhunderten in der Gunst des Unsterblichen Madyas stand, aber er war nur ein Halbblut. Ein Bastard, zwischen den glatten Schenkeln einer Hure vom Seidenfluss hervorgekrochen. Er würde niemals ein Fürst sein. Dafür hätte es reinen Blutes bedurft. Saumakos wusste das. Die Leibwache eines der Söhne des Madyas zu befehligen war schon mehr Ehre, als er hatte erwarten dürfen. Weiter würde er nie kommen. Niemals würde er ein großes Reiterheer befehligen oder in den Kreis der Vertrauten des Unsterblichen aufsteigen. Mit der Zeit würde er missgünstig und verbittert werden … Es wäre klüger, es nicht so weit kommen zu lassen.
Subai trat an die Seite seines Hauptmanns und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin dir zutiefst dankbar. Manchmal verlangt das Leben uns Taten ab, die unser Herz beschämen. Einen wahren Mann aber erkennt man daran, dass er dennoch ohne zu zögern tut, was getan werden muss. Nun habe ich eine ehrenvollere Aufgabe für dich, mein Freund. Die letzten Daimonen, die uns auf dem Eisfeld entkommen sind, haben sich in einen Keller zurückgezogen. Nimm dir die besten Krieger und stürme ihren Unterschlupf! Ich möchte, dass es in dieser Stadt keinen Feind mehr gibt, wenn die Unsterblichen eintreffen.«
Saumakos nickte knapp. Mehr stand ihm nicht zu, auch wenn er genau wusste, was der Befehl, den er erhalten hatte, für ihn bedeutete. »Dein Wille wird geschehen, Herr!«
Subai beobachtete, wie das Halbblut Krieger aussuchte, die ihn begleiten sollten, und bald erkannte der Fürst, auf welch subtile Art sich Saumakos rächte. Er nahm nur die besten Männer mit sich. Alles, was Subai noch bleiben würde, waren die Jasager und Dummköpfe.
»Lasst uns ein Fest feiern, Männer!«, rief er eher aus Frustration als aus wirklicher Festlaune. »Brecht unsere Jagdbeute auf! Schneidet ihm das Fleisch von den Rippen und bratet es auf Spießen. Heute Nacht wollen wir alle vom Drachen essen, auf dass sein Mut einen Weg in unsere Herzen findet. Lasst uns ein Festmahl abhalten, wie es nicht einmal die Unsterblichen je hatten. Nie zuvor hat ein Mensch Drachenfleisch gekostet. Lasst uns die Ersten sein. Was wäre ein passenderes Bankett zur Gründung der Bruderschaft der Drachen, als von einem solchen zu speisen.«
Brennende Bündel aus Lumpen rollten die Treppe zum Keller hinab und füllten die Luft mit beißendem Rauch.
»Zu mir!«, rief Galar aus Leibeskräften. Er hatte die Decke von seinen Schultern gerissen und versuchte, die Flammen zu ersticken, als schon wieder weitere Bündel die Treppe hinabgepurzelt kamen.
»Groz! Beweg deinen großen Arsch hierher!«, schrie Che hustend.
Ailyn brannten die Augen. Das Kellergewölbe, in dem sie Zuflucht gefunden hatten, war bei Weitem nicht so groß wie jenes, in dem sie die Menschenkinder gefangen gesetzt hatten. Schnell füllte es sich mit dem Rauch. Ein traniger Geschmack lag auf ihrer Zunge. Wahrscheinlich waren die Lumpenbündel in Fischöl getränkt worden, damit sich mehr Rauch entwickelte.
Che knöpfte seinen Hosenlatz auf. »Los, Groz, mach mir nach, was ich jetzt tue. Wir pissen diese verdammten Brände aus und …«
Mit Schrecken sah Ailyn, wie der Troll seinen Lendenschurz hob. Der Gestank, der sich hier verbreiten würde, wenn er den Befehl des Kobolds umsetzte, würde den des brennenden Trans sicherlich noch übertreffen.
»Nein!«, befahl die Elfe scharf. »Ich kümmere mich darum.« Sie schloss die Augen und öffnete ihren Blick für die magische Welt. Zu oft hatte sie in den letzten Tagen Zauber gewoben. Sie wusste, was geschah, wenn sie zu oft nach jener Macht griff, die alle drei Welten zusammenhielt. Immer wieder Magie zu wirken zehrte von der Lebenskraft. Sie ignorierte dieses Wissen, griff im Geiste nach den Kraftlinien und zischte eines jener uralten Worte der Macht, die, auf die rechte Art gesprochen, Gedanken Wirklichkeit werden ließen.
Ein stechender Schmerz griff vom Nacken in ihren Kopf hinein. Knisternde Spannung lag in dem Kellerloch, das ihre Zuflucht war. Ein Luftzug spielte mit dem Saum ihres Gewandes, frischte auf und wurde zur Bö, die allen Rauch aus dem Keller trieb. Zurück blieb der feuchtwarme Odem einer Sommergewitternacht. Sie konnten wieder frei atmen. Ailyn öffnete ihre Augen. Die Lider waren schwer wie Blei. Sie könnte das nicht noch einmal tun. Allzu gut erinnerte sie sich an die Ermahnungen des Schwebenden Meisters, der sie vor einer Ewigkeit in die Kunst des Zauberwebens eingeführt hatte. Wer sich der Magie über die Maßen bediente, den brannte sie aus. Und das war ganz wörtlich zu nehmen! Das war der Fluch der Macht.
Sie musste den Menschenkindern dort draußen einen Schrecken einjagen, der sie vom Eingang zum Keller vertrieb und nicht zu schnell zurückkommen ließ. »Dein Schwert!«
Che sah sie völlig verdattert an. »Das ist zu klein für dich …«
»Es ist nicht die Größe eines Schwertes, die über seinen Wert entscheidet.«
Der Kobold wirkte, als wollte er noch etwas sagen, doch dann entschied er sich anders. Schon einmal hatte er ihr sein Schwert überlassen. Auf der Brücke gegen die Untoten. Schweigend reichte er ihr die Waffe.
Ailyn wog sie prüfend in der Hand. Die Klinge war kopflastig. Langsam schlug die Elfe eine liegende Acht. Dann vollführte sie einige der einfacheren Figuren aus Gonvalons Schwerttanz. Der Waffe fehlte es an Eleganz. Sie war darauf ausgelegt, schnelle, wuchtige Hiebe zu führen. Dennoch, für ihre Zwecke würde es genügen.
»Was willst du tun?«, fragte Groz.
»Dafür sorgen, dass die Menschenkinder an einem anderen Ort mit Feuer spielen. Ihr bleibt hier!« Entschlossen stieg sie die Treppe hinauf. Sie sah, wie die Menschen neue Kleiderbündel in Öl tränkten. Sie hatten ihre Botschaft nicht verstanden. Ein unerklärlicher Windstoß, der den Rauch vertrieb und die Feuer verlöschen ließ, war nicht genug – sie mussten einer stählernen Klinge begegnen.
»Da!« Ein Krieger mit Fackel in der Hand deutete zu ihr hinab und wich zurück.
Hinter einem Berg aus Lumpenbündeln hob ein Mann mit langen Zöpfen seinen Bogen. In fließender Bewegung zog er die Sehne durch und ließ den Pfeil davonschnellen. Ailyn hob das Schwert. Kreischend zog der Pfeil über die leicht schräg gestellte Klinge und hinterließ eine feine Furche im Stahl. Das Geschoss zog knapp zwei Zoll an ihrem linken Ohr vorbei.
Fassungslos starrte der Bogenschütze sie an.
»Lauft oder ihr werdet sterben«, sagte sie in der Sprache der Steppenreiter.
Der Bogenschütze hob erneut seine Waffe, und aus den Augenwinkeln sah Ailyn zwei Krieger mit Waffen, die wie spitz zulaufende Hämmer aussahen. Hinter dem Bogenschützen erschienen weitere Kämpfer.
»Lauft jetzt, oder sieben werden sterben, bevor ich euch das nächste Mal Gelegenheit gebe zu fliehen«, wiederholte Ailyn ruhig.
»Tötet den Daimon!«, schrie jemand, der hinter den Flammen des Feuers nur ein vager Schatten war.
Ein weiterer Pfeil flog ihr entgegen.
Sie hob die Klinge vor ihre Brust. Diesmal wählte sie einen anderen, weniger spitzen Winkel. Stahl kreischte auf Stahl. Dann erklang ein gurgelnder Schrei. Sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass der Pfeil den vorderen der beiden Krieger mit Dornäxten in die Kehle getroffen hatte.
»Eins!«, sagte sie kalt und setzte mit einem Sprung über das Feuer hinweg.
Drei schnelle Schritte brachten sie zu dem Bogenschützen, der bereits den nächsten Pfeil aufgelegt hatte. Ein glatter Stich durchtrennte die Bogensehne und traf ihn knapp über dem Brustbein.
»Zwei!« Ailyn packte den Sterbenden und riss ihn wie einen Schild schützend vor sich. Zwei Speere bohrten sich in die Brust des Schützen.
Die Elfe ließ ihn los. Zwei kurze, kraftvolle Hiebe zerschmetterten die Schäfte der Speere, als die Angreifer ihre Waffen aus dem Leib des Toten befreiten. Ailyn trat zwischen die Krieger. Ein kurzer, präziser Stoß mit dem Ellenbogen traf den linken knapp hinter dem Ohr und brach ihm das Genick. Mit der Rechten wirbelte sie das Schwert herum und stieß es im Vorübergehen gerade nach hinten, sodass die Klinge die Leber des zweiten Speerträgers traf.
»Drei und vier!«
Sie griff mit der Linken in die Luft und schnappte die Lederschlinge, die ein grauhaariger Krieger nach ihr geworfen hatte. Mit einem Ruck riss sie ihm das gedrehte Seil aus der Hand und ließ es wie eine Peitschenschnur vorschnellen. Das Seil wickelte sich um eine Schwertklinge. Ein weiterer Ruck, und die Waffe segelte durch die Luft. Knapp verfehlte sie einen gedrungenen Krieger mit einer Wolfsfellweste, der sich in ihren Rücken geschlichen hatte. Sie war nicht mehr gut in Form, dachte Ailyn ärgerlich. Ihr fehlten die endlosen Übungsstunden in der Weißen Halle.
Die Männer vor ihr wichen zurück. Blankes Entsetzen stand in ihren Augen. Ailyn setzte nach. Erneut ließ sie die Schnur des Lassos vorschnellen. Sie wickelte sich um den Hals des Grauhaarigen, der eben noch versucht hatte, sie mit dem Lasso zu fangen. Entsetzt griff der Krieger mit beiden Händen nach der Schnur, die eng um seine Kehle lag. Ailyn duckte sich in die Knie und zerrte ruckartig an der Schnur. Deutlich hörte sie das Genick des Alten brechen.
»Fünf!«
Die meisten der Steppenreiter liefen jetzt einfach davon. Ailyn nahm einen Speer auf, den einer der Fliehenden fallen gelassen hatte. Sie waren gewarnt gewesen, dachte sie kühl, als sie den Arm hob und den Speer schleuderte. Die Waffe traf den hintersten der Flüchtenden in den Rücken. Mit einem gellenden Schrei riss er die Arme hoch, stürzte auf sein Gesicht, kroch noch ein kleines Stück und blieb dann liegen.
»Sechs!«
Sie drehte sich um. Hinter ihr stand der Krieger in der Wolfsweste. Er war bis zur Wand des Hauses zurückgewichen, in dessen Keller Ailyn mit den letzten Überlebenden ihrer Truppe Zuflucht gesucht hatte. Die Flammen des Feuers verwandelten das Gesicht des Kriegers in eine Maske aus Licht und Schatten.
»Hast du keine Angst vor mir?«, fragte Ailyn.
Der Krieger hob sein Schwert. »Eine Todesangst.« Er klang resigniert. Es war die Stimme eines Mannes, der sich in sein Schicksal ergeben hatte.
»Und warum läufst du dann nicht fort?«
»Mein Fürst hat mich hierhergeschickt, um zu sterben. Wenn ich fliehe, dann wird er mich wegen Feigheit hinrichten lassen. Da mir nur bleibt, mich für die Art meines Todes zu entscheiden, wähle ich den ehrenhaften Weg.« Er hob sein Schwert herausfordernd und machte einen Schritt auf sie zu.
Ailyn griff nach einem Schwert, das an einem Lumpenbündel lehnte. Es war eine lange, schmale Klinge mit einer breiten Mittelrippe. Die Waffe war aus Bronze gefertigt. Ein Elfenschwert aus Silberstahl würde sie mit einem einzigen Hieb zerbrechen.
»Bist du bereit?«
Ein Ausfallschritt war die Antwort des Steppenkriegers. Er versuchte mit seinem Schwert einen Stich in ihren Fuß. Ailyn trat einfach einen Schritt zurück. Der Angriff war nicht ungeschickt ausgeführt gewesen, doch zu langsam. Ihr Gegner wich zurück. Sie las in seinen Augen, dass er wusste, was nun kommen musste. Er fürchtete sich nicht.
Die Elfe fegte die Klinge des Steppenreiters mit dem Zwergenschwert zur Seite und setzte mit dem Bronzeschwert zu einem Stich an. Selbst die primitive Waffe durchdrang ohne Mühe die Wolfsfellweste. Die Wucht ihres Angriffs ließ den Krieger zurücktaumeln. Er schlug gegen die Wand, und das Schwert drang ins Mauerwerk ein.
»Sieben!«, sagte Ailyn mit Bedauern.
»Wer die Regeln macht, der hat auch die Macht, sie zu ändern …« Der Krieger sprach nur leise und unter sichtlichen Schmerzen. Er griff mit beiden Händen nach dem Schwert.
»Genau das habe ich getan. Diese Wunde wird dich nicht schnell töten. Haben deine Männer den Mumm zurückzukehren, dann können sie dich retten. Es wird etwa eine Stunde dauern, bis du verblutet bist. Ziehst du die Waffe aus der Wunde, geht es sehr viel schneller. Vielleicht wirst du auch vor Ablauf der Stunde erfrieren, weil das Blut deine Kleider durchnässt. Dein Leben liegt nicht länger in meiner Hand.«
»Du hättest …«
»Nein«, entgegnete Ailyn ohne Zorn. »Ich hätte nicht anders handeln können. Ich habe euch angeboten, in Frieden zu gehen. Ihr habt abgelehnt. Ich mache stets wahr, was ich sage. Solltest du rechtzeitig gefunden werden, dann sag deinen Gefährten, dass noch sehr viele von euch sterben werden, wenn ihr versucht, diesen Keller hier zu stürmen. Ignoriert uns, und ich verspreche dir, wir werden unser selbst gewähltes Gefängnis in dieser Nacht nicht verlassen. Wir sind keine Gefahr, außer ihr entscheidet es so.«
Ailyn wischte die Klinge des Zwergenschwerts an der Wolfsfellweste sauber, dann stieg sie die Außentreppe zum Keller hinab. Sie ging nicht davon aus, dass die Menschenkinder sie in Frieden lassen würden.
»Sie ist eine zierliche Frau in schneeweißem Kleid. Wenn sie kämpft, sieht es aus, als würde sie tanzen. Aber sie lässt einen Pfad voller Leichen hinter sich.« Dicke Schweißperlen standen auf der Stirn des Steppenreiters, der vor Artax auf einem improvisierten Lager ruhte. Er war totenbleich. Artax’ Leibwache hatte ihn an einer Hauswand aufgespießt gefunden.
Artax drückte ihm die Hand. »Ich danke dir für deinen Bericht, Saumakos. Du bist ein tapferer Mann. Die meisten laufen davon, wenn sie ganz allein einer Schwertdaimonin gegenüberstehen.«
»Ein guter Mann hätte dieses Weib aufgespießt«, fluchte Madyas, der neben ihm stand.
»Nein!« Artax erhob sich aus der Hocke und sah den Unsterblichen ärgerlich an. »Ich bin solchen Schwertdaimonen schon zuvor begegnet. In einer Kristallhöhle im Dschungel, einige Tagesreisen westlich der Goldenen Stadt. Wir hatten sie in die Enge getrieben. Es war genau wie hier. Zwei Weiber und ein Mann. Sie saßen gefangen. Wir waren mehr als zehn zu eins überlegen. Aber das hat sie überhaupt nicht beeindruckt. Sie sind aus der Höhle ausgebrochen, und wir waren nicht mehr als Ähren unter der Sichel des Schnitters. Deine Tochter Shaya war bei diesem Kampf zugegen. Hat sie dir nie davon erzählt?«
»Shaya war keine Aufschneiderin, die mit ihren Heldentaten prahlte. Hätte sie das getan, hätte sie nie mehr aufgehört zu reden, so viel hätte sie zu erzählen gehabt.« Madyas strich sich in Gedanken über die tiefschwarzen Bartstoppeln auf seinen Wangen. »Was schlägst du vor? Wir haben viele tausend Krieger aus allen sieben Königreichen versammelt. Wollen wir vor einer einzigen Daimonin kapitulieren?«
Artax trat zur Tür des kleinen Hauses, in das der Verwundete gebracht worden war. Sehnsüchtig sah er noch einmal auf das wärmende Feuer, das im kleinen Kamin brannte. Außer der wohligen Wärme gab es keinen Grund, noch länger an diesem Ort zu verweilen. Er wurde draußen gebraucht. Die Nächte hier im ewigen Eis waren unheimlich. Es war besser, wenn seine Männer ihn sahen und er den Verzagten mit ein paar aufmunternden Worten Mut machte.
Müde hob er an: »Wer spricht von kapitulieren, Madyas? Wir warten auf das Licht des Morgens, damit unsere Bogenschützen gute Sicht haben. Wenn es so weit ist, werden wir das Haus einreißen und seine Wände in den Keller hinabstürzen lassen. Und wenn die Daimonen dann wimmernd aus dem Eingang gekrochen kommen, dann erwarten jeden von ihnen hundert Pfeile, so wie den Drachen, den dein Sohn erlegt hat. Das war eine große Tat, Madyas. Ich gestehe freimütig, dass Subai mich mit seinem Heldenmut überrascht hat. Den toten Drachen zu sehen hat die Moral unserer Männer mehr gefestigt als der allzu blutige Sieg am Fluss.«
Artax öffnete die schwere Tür. Eisige Kälte schlug ihm entgegen. Es kostete ihn Überwindung, über die Schwelle zu treten. Er war nicht für dieses Schneeland geschaffen und sehnte sich stündlich mehr nach den warmen Ebenen Arams.
Ormu erwartete ihn vor der Tür. Der Hauptmann der Kushiten wirkte beunruhigt. Artax sah sich um. Er entdeckte mehrere vertraute Gestalten im Schatten der Häuser. »Was ist los? Das Heer der Sieben Reiche ist in Wanu eingezogen. Wovor willst du mich schützen? Heute wird es bestimmt keinen Mordanschlag mehr auf mich geben.«
»Dieser Drache«, flüsterte der hagere Bogenschütze ohne Umschweife und schritt neben Artax her, der in Richtung seines Quartiers am Stadtrand ging. »Mit dem stimmt etwas nicht. Ich habe ihn mir sehr genau angesehen. Die Pfeile sind allesamt nicht sehr tief in seinen Leib eingedrungen. Sie können nicht mehr als Nadelstiche für ihn gewesen sein.«
»Vielleicht war es die Masse der Pfeile«, gab Artax zu bedenken. »Könnte er nicht am Ende am Blutverlust gestorben sein?«
»Eher unwahrscheinlich. Die Ischkuzaia haben ihn aufgebrochen und feiern ein Festmahl mit seinem Fleisch. Es ist erstaunlich tief gefroren. So als hätte er mindestens einen ganzen Tag auf dem Marktplatz gelegen. Wahrscheinlich noch länger.«
Artax beschleunigte seine Schritte und sah sich argwöhnisch um, ob sie jemand belauschte. Madyas war in der Hütte bei dem verwundeten Krieger geblieben. Ihnen folgten nur die Schatten der Leibwächter. Die meisten Krieger aus dem Heer der Sieben Reiche feierten auf dem Platz bei den Ankertürmen den Sieg über den Drachen. In den Seitenstraßen war kaum jemand unterwegs. »Was du da ansprichst, ist ungeheuerlich, Ormu. Vielleicht irrst du dich. Es ist wirklich sehr kalt.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, pfiff heulend der eisige Nordwind um die Häuserecke.
»In den Bergen Garagums sind die Winter nicht weniger grausam«, beharrte der Bogenschütze. »Und da ist noch etwas, das mir zu denken gibt. Ich konnte keine Spuren eines Kampfes in der Stadt entdecken. Dieses Ungeheuer hätte mit einem einzigen Schwanzhieb kleine Häuser einebnen können. Und hätte er nicht Feuer speien müssen wie die Drachen, die Selinunt zerstört haben?«
»Er ist keine Himmelsschlange.«
Artax hatte, unmittelbar nachdem er den toten Drachen gesehen hatte, mit dem Löwenhäuptigen gesprochen. Der Devanthar hatte darauf bestanden, dass auf dem Marktplatz kein Götterdrache lag. Er behauptete, die Himmelsschlangen seien noch deutlich größer. Der Gedanke daran jagte Artax Schauer über den Rücken. Eines Tages würde er ihnen am Himmel über Nangog begegnen, wenn er seinen geflügelten Löwen ritt. Das würde der Tag seines Todes sein.
»Was werdet Ihr wegen des Drachen unternehmen?«
Artax winkte ab. »Nichts. Der Sieg ist zu wichtig. Wenn wir Subai und seine Krieger als Lügner entlarven, gewinnen wir dadurch nichts. Wir demoralisieren nur unsere Männer. Es ist besser für uns, wenn sie fest daran glauben, dass diese riesigen Ungeheuer besiegt werden können.«
Ormu sog scharf die Luft ein.
Artax konnte das Gesicht des Bogenschützen im Dunkel kaum erkennen, aber dessen ganze Körperhaltung drückte seinen Ärger aus.
»Was?«, fragte er ungehalten.
»Es ist nicht klug, unsere Krieger zu belügen. Es wird der Tag kommen, da werden wir einem weiteren dieser Drachen begegnen. Unsere Schützen werden voller Zuversicht ihre Bögen heben und ihm eine Wolke von Pfeilen entgegensenden. Und ich bin mir sicher, dieser Drache wird durch die Pfeilwolke stoßen, als wäre sie nichts als Dunst, um dann Tod und Verderben über unsere Männer zu bringen, die erst, wenn es zu spät ist, entdecken werden, dass sie völlig wehrlos sind. Sie werden sterben, weil Ihr in dieser Nacht die Lügen von Subai duldet.«
Artax ärgerte sich über die Worte des Bogenschützen. Außer vielleicht Ashot wagte es niemand, so offen zu ihm zu sprechen. »Glaubst du, es ist so einfach, ein Reich zu führen? Ich sage einfach immer die Wahrheit, und alles wird gut? Wenn ich Subai als Lügner entlarve, dann wird das Bündnis der Sieben Reiche zerbrechen. Wenn Madyas derart sein Gesicht verliert, wird er mit seinen Reitern die Allianz verlassen. Und das wäre erst der Anfang. Du weißt sehr gut, dass auch die Zapote nur auf eine Gelegenheit warten, das Bündnis zu verlassen. Wenn es so weit ist, dass wir gegen die Drachen antreten müssen, werden wir darauf vorbereitet sein. Langarm ist unmittelbar nach dem Sieg am Fluss nach Daia zurückgekehrt, um in seiner Schmiede neue Waffen für den Kampf gegen die Drachen zu fertigen. Wir brauchen mehr von den fliegenden Löwen.« Artax trat ganz nah an Ormu heran und senkte seine Stimme. »Wenn du recht hast mit deinen Verdächtigungen, dann sollten wir wissen, woran der Drache wirklich gestorben ist. Er wird ja wohl kaum aus dem Himmel gestürzt sein, weil ihn der plötzliche Schlagfluss getroffen hat. Finde heraus, was ihn umgebracht hat. Das zu wissen könnte den Krieg entscheiden.«
Ormu sah ihn zweifelnd an. »Da wird nicht mehr viel zu machen sein. Vielleicht fressen die Ischkuzaia ja den Drachen, um genau diese Spur für immer verschwinden zu lassen?«
»Geh dennoch!«, befahl Artax. »Vielleicht haben sie ja etwas übersehen.«
»Aber wenn nicht wir es waren, die den Drachen getötet haben … Wer sollte es dann gewesen sein?«
Der Unsterbliche musste an die grünen Riesen denken, die sich aus den Fluten des Flusses erhoben hatten. Der Löwenhäuptige behauptete, dies seien die eigentlichen Kinder Nangogs gewesen. Aber welchen Grund hätten sie, einen Drachen zu töten, der gekommen war, um für sie zu kämpfen? »Finde heraus, wie der Drache starb, vielleicht verrät uns das auch, wer ihn getötet hat.«
Ormu nickte knapp, dann huschte er zu den Schatten, die Artax auf Schritt und Tritt folgten, und gab den Leibwächtern neue Befehle, bevor er ganz im Dunkel verschwand.
Der Unsterbliche blieb noch einen Moment lang stehen und lauschte in die Nacht. Vom Marktplatz ertönten Trommelklang und ausgelassenes Gelächter. Er wusste, dass die Krieger nicht nur den Sieg feierten. Ihr Lärm sollte das unheimliche Heulen des Windes übertönen, das hier in der Stadt viel deutlicher zu hören war als draußen auf der Eisebene. Etwas stimmte hier nicht. Seit er durch das Weltentor getreten war, verfolgte ihn die düstere Vorahnung, dass sie hier in eine Falle tappten.
Doch das war es nicht allein, was ihm Sorgen bereitete. Kurz nachdem sie die Stadt erreicht hatten, war etwas geschehen, das selbst seinen Herrn, den Löwenhäuptigen, zutiefst erschreckt hatte. Artax hatte beobachtet, wie der Devanthar regelrecht zusammengezuckt war. Er hatte ihn dreimal darauf ansprechen müssen, bis der Löwenhäuptige schließlich damit herausrückte, er habe eine Erschütterung der magischen Welt gespürt. Etwas, das nur geschah, wenn ein machtvoller Zauber gewoben wurde, der die natürliche Ordnung störte.
Was für ein Zauber das war, hatte der Devanthar nicht sagen können oder wollen. Kurz darauf hatte er das Heer verlassen und war nach Daia zurückgekehrt. Der Große Bär war der einzige der Götter, der sie jetzt noch begleitete. Das war kein gutes Zeichen.
Ganz in düstere Gedanken versunken, strebte Artax dem kleinen Haus am Stadtrand entgegen, das er sich zum Quartier erwählt hatte. Höchstens vier Stunden noch, dann würde es dämmern. Dann würden sie die letzten Daimonen töten und sich auf dem schnellsten Weg aus dieser verfluchten Eiswüste zurückziehen. Wenn nichts dazwischenkam, konnten sie binnen vierundzwanzig Stunden das Weltentor erreichen.
Immer wieder gingen ihm die Worte des Löwenhäuptigen durch den Kopf. Was für ein Zauber hatte die magische Welt erschüttert? Wovor lief selbst ein Devanthar davon?
»Herr!«
Artax hatte das Gefühl, er hätte gerade erst die Augen geschlossen, als die drängende Stimme Ormus ihn aus dem Schlaf riss.
»Was?«
»Ich habe noch gestern Nacht Späher hinaus vor die Stadt geschickt. Gerade ist einer zurückgekehrt. Er ist völlig verstört. Er sagt, er habe eine Schar Pferdemänner gesehen.«
Artax stöhnte und zog die Wolldecke enger um seine Schultern. Das Feuer im Kamin der kleinen Kammer war verloschen und eisige Kälte in sein Nachtquartier gesickert. »Er hat also ein paar Ischkuzaia gesehen«, entgegnete Artax verschlafen. »Davon gibt es hier Hunderte.«
»Das waren keine Steppenreiter!«
Artax blinzelte verschlafen. Ormu kniete neben seinem schmalen Feldbett. Der Jäger sah aus, als hätte er die ganze Nacht im Freien verbracht. Eiskristalle funkelten in seinem roten Bart und dem zerzausten Haar.
»Dort draußen sind Kreaturen, die halb Mann, halb Pferd sind.«
»Wie kann er sich da so sicher sein? Es ist doch noch dunkel.«
»Ich vertraue ihm!« Ormu rüttelte nun an seiner Schulter. »Wir müssen dem nachgehen. Da draußen östlich der Stadt ist etwas!«
Artax rieb sich den Schlaf aus den Augen. Ormu würde ihm keine Ruhe lassen. Müde setzte sich der Unsterbliche auf seinem Lager auf. »Wahrscheinlich waren es diese Kreaturen, die durch Nangogs Zauber geboren wurden. Du hast sie doch auch schon gesehen. Vogelweiber, Krokodilmänner … Alle nur erdenklichen Abscheulichkeiten.«
»Nein, das hier ist anders. Von diesen Ungeheuern, die Ihr meint, hat nie jemand mehr als zwei oder drei Gleichartige an einem Ort gesehen. Meist waren sie sogar allein. Mein Späher beharrt darauf, dass die Pferdemänner eine ganze Schar waren. Als sie sich zurückgezogen haben, hat er die Spuren im Schnee untersucht. Es waren mindestens zwanzig.«
Schlagartig war Artax hellwach. Das war in der Tat alarmierend! Artax schwang die Beine über den Rand der schmalen Pritsche, auf der er in seinen Kleidern genächtigt hatte. »Bring Wachposten auf die beiden Ankertürme und verdoppele die Posten draußen vor der Stadt.« Der Unsterbliche griff nach seinen gefütterten Stiefeln. »Hast du etwas über den Tod des Drachen herausgefunden?«
»Tja …« Ormu druckste derart herum, dass Artax von den Stiefeln aufblickte.
»Wie es scheint, wurde das Ungeheuer doch durch einen Pfeil getötet. Ein einziger von all den Hunderten … Aber es bleibt seltsam.«
»Du hast dich also geirrt. Irgendeiner von Subais Männern hat den glücklichen Schuss gesetzt, der den Drachen tötete.« Artax streifte den zweiten Stiefel über und griff nach dem Leinenpanzer, den der Löwenhäuptige ihm geschenkt hatte.
»Nein, ich glaube nicht, dass es einer von Subais Männern war. Dieser Pfeil muss ganz anders gewesen sein.«
Artax hob beide Arme. »Schließ die Schnallen des Leinenpanzers.«
Ormu zog an den Lederriemen, bis sich der Kürass aus leimgetränktem Leinen eng um die Brust des Unsterblichen schloss. Der Jäger roch nach Rauch und Blut. Seine Weste war voller dunkler Flecken.
»Wer war dann der Schütze, wenn es nicht die Steppenreiter waren?«
Ormu bog die Schulterstücke der Rüstung herab und ließ ihre Bronzehaken in die kleinen Ösen auf dem Bruststück neben dem aufgestickten Löwenkopf einrasten. »Wie ich sagte, es bleibt rätselhaft, wer der Schütze war. Sein Pfeil hat den Hinterkopf des Drachen getroffen. Der Schädel ist dort mindestens zwei Zoll dick. Ich kenne keine Waffe, deren Geschosse einen so dicken Knochen durchschlagen könnten.«
»Vielleicht haben uns ja doch die Devanthar geholfen?«
»Aber warum machen sie ein Geheimnis daraus?« Ormu sprach halb zu sich selbst, während er Artax die ledernen Ärmel über die Arme schob und mit der Rüstung verband. Sein Blick war in sich gekehrt. »Der Pfeil hat einen der Zähne des Drachen durchschlagen, die Lefzen und ist dann weitergeflogen. Der Kopf des Ungeheuers ist so groß wie ein Wagen! Und dieses Geschoss ist einfach quer hindurchgegangen.«
»Dann müsste der Pfeil irgendwo liegen?« Artax bewegte seine Arme in weiten Kreisen und prüfte den Sitz der Rüstung. »Finde ihn, Ormu. Ich will sehen, was für ein wunderliches Geschoss das ist, und Langarm bitten, noch mehr davon zu fertigen. Der Rote wird nicht der letzte Drache sein, dem wir begegnen.«
»Sobald der Tag anbricht, werde ich mich auf die Suche machen.«
Artax schnallte den Schwertgurt mit seiner verfluchten Klinge um, jener Waffe, die ihm den Namen König Geisterschwert und einen dunklen Ruf eingebracht hatte. Jetzt war er froh, sie bei sich zu haben.
»Ihr rüstet Euch für den Kampf?«
»Ich werde nachsehen, was es mit den Pferdemännern auf sich hat.« Artax nahm den Maskenhelm von seinem Platz neben dem verloschenen Feuer. Das Metall war eiskalt. Langarm hatte ihn noch einmal verändert vor einigen Wochen, nun war er prächtiger als je zuvor. Er sah aus wie ein Löwenhaupt mit wallender Mähne aus gehämmertem Gold. Wenn er ihn trug, ragte über Artax’ Stirn ein Oberkiefer mit Reißzähnen aus Elfenbein, so als hätte er, wie manche Jäger es taten, einen Helm aus dem Schädel des Löwen gemacht und ihn sich mit der Mähne auf den Kopf gesetzt. Unter den Reißzähnen aber lag eine Maske auf seinem Gesicht, mit Löchern für die Augen und schmalen Atemschlitzen unter der Nase. Sie zeigte das fein geschnittene Antlitz eines bärtigen Mannes. Es war ein Meisterwerk der Handwerkskunst und Magie.
Die Maske lag fast wie eine zweite Haut auf dem Gesicht des Unsterblichen. Klappte er das Visier zu, presste es seinen Vollbart eng gegen seine Kehle. Ein Gefühl, als versuchte ihn jemand zu würgen. Doch so unbequem der Helm zu tragen war, vermochte ihn keine Waffe zu durchdringen.
»Was erwartet Ihr zu finden?«
Artax setzte den Maskenhelm auf und schloss das Visier. »Keine Freunde.« Seine Stimme hallte blechern. Er griff nach dem karmesinroten Umhang und versuchte ungelenk, ihn an den Ringen auf den Schulterstücken zu befestigen, bis Ormu ihm zu Hilfe eilte. »Wollt Ihr allein gehen? Ist das klug?«
»Du und deine Männer können nicht immer auf mich aufpassen, Ormu.« Der Unsterbliche streifte seine schweren Stulpenhandschuhe über. Der Handrücken und seine Finger waren zusätzlich durch einander überlappende Eisenschuppen geschützt. »Ich könnte nach Madyas und Ansur suchen, aber wahrscheinlich würde es mir nur die Erkenntnis bringen, dass beide gestern mit ihren Hauptleuten gezecht haben, um unseren Sieg über den Drachen und die Daimonen zu feiern. Ich bin sicherer, wenn ich allein gehe. Und die Zeit drängt. Wenn dort draußen ein neuer Feind lauert, dann müssen wir schnell wissen, was uns erwartet.«
Es war Ormu deutlich anzusehen, wie sehr ihm dies missfiel. Sie würden mehr von den geflügelten Löwen brauchen, dachte Artax, als er aus der Tür trat. Eisige Kälte begrüßte ihn. Der Himmel war klar. Das fahle Licht der Sterne und der Zwillingsmonde verlieh der Stadt und der Eisebene etwas Geisterhaftes. »Finde den Pfeil!«, schärfte Artax Ormu noch einmal ein. Dann trat er zu dem metallenen Löwen, der neben der Hütte wartete. Der Löwe hob sein Haupt, als er näher kam, und sah ihn erwartungsvoll an. Die Kreatur war Artax unheimlich. Obwohl er ganz und gar aus Metall bestand, schien es Langarm gelungen zu sein, dem Löwen Verstand einzuhauchen. Er wusste, wer sein Herr war, und es genügte, sich allein in Gedanken vorzustellen, was der Löwe tun sollte, damit er gehorchte.
Trotz seiner anfänglichen Zweifel war es ein wunderbares Gefühl zu fliegen. Schon gestern, bei seinem ersten Ritt auf dem Silberlöwen, hatte Artax gewusst, dass er dort oben, allein am Himmel, den Ort gefunden hatte, an dem er all seine Sorgen vergessen konnte. Für einen Flug lang zumindest.
»Mach nicht so ein Gesicht, Ormu. Ich bin ein Unsterblicher! Ich brauche nicht dauernd jemanden, der auf mich achtgibt. Es ist nicht leicht, mich umzubringen. Und wie sollten ein paar Pferdemänner mir gefährlich werden, wenn ich hundert Schritt über ihnen schwebe?«
»Und was ist, wenn es noch einen Drachen gibt?«
Artax lachte, ein Laut, der sich seltsam falsch unter dem Helm anhörte. »Dann wird dies ein aufregender Morgen werden.«
Langarm hatte den Löwen nach dem ersten Flug gestern ein wenig verändert. Nun hingen Steigbügel tief an seinen Seiten herab, sodass sich Artax ohne fremde Hilfe in den Sattel mit der hohen Rückenlehne erheben konnte. Zwei lange Ledergürtel griffen über seine Schultern und konnten mit Schnallen an einem dritten Gürtel, der sich um seine Taille schlang, befestigt werden. Auf diese Weise gesichert, würde er selbst dann nicht aus dem Sattel fallen, wenn er tot war.
Ormu reichte ihm die lange Lanze mit der Schwertklinge.
»Ich komme wieder!«, rief Artax und dachte daran, in den Himmel zu steigen.
Augenblicklich setzte sich der gewaltige Löwe in Bewegung. Sein ganzer Leib klirrte, als er mit kraftvollen, weit ausholenden Sprüngen auf die Ebene hinauseilte. Seine goldenen Schwingen wirbelten Schnee auf, der ihnen in einer langen Schleppe tanzender Spiralen folgte. Dann hob er ab. Artax spürte eine kurze Spannung tief in seinen Eingeweiden, doch dann überkam ihn dasselbe Glücksgefühl wie am Tag zuvor. Er fühlte sich frei. Die Fesseln und Sorgen, die ihm seine Würde als Unsterblicher auferlegten, fielen von ihm ab. Es war fast wie in jenen gestohlenen Nächten, als er sich mit Shaya heimlich auf dem Rücken des Wolkensammlers getroffen hatte.
Am Horizont kündigte ein erster, blasser Silberstreif den nahenden Tag an, während er schneller und schneller den Sternen am tiefblauen Firmament entgegeneilte. Das kleine Banner an der Lanzenspitze knatterte im Wind. Beständiges leises Klirren begleitete den Flug des Löwen. Kälte drang unbarmherzig durch die Schichten der warmen Kleidung, die er trug. Er wusste, dass die Zauber, die in Helm und Rüstung gewoben waren, ihn auch ein wenig vor dem Frost schützten. Einfache Krieger würde der eisige Odem des Nordens binnen kurzer Zeit töten. Schon bedeckten feine Eiskristalle seine Handschuhe und Ärmel. Sein Umhang fühlte sich ganz steif an.
Bald sah Artax weit voraus schwarze Punkte, die schnell davonpreschten. Aber er flog zu hoch, um sagen zu können, ob es sich um die seltsamen Pferdemänner handelte, von denen Ormu berichtet hatte. Der Löwe verstand seine Wünsche, schwenkte ein und flog tiefer, um den Reitern zu folgen.
Der Löwenhäuptige hatte ihm gesagt, dass jenes magische Tor südlich des Flusses, durch das die Armee der Sieben Reiche marschiert war, das einzige im Umkreis von mehr als dreihundert Meilen sei. Woher waren die Daimonen gekommen?
Vielleicht waren es ja nur ein paar letzte, versprengte Späher der Truppen, die sie am Fluss zerschlagen hatten. Sie ritten nach Osten, fort von Wanu. Es würde schwer werden, sie zu stellen.
Artax ließ den Löwen noch tiefer sinken. Er wollte dicht über ihre Häupter hinwegfliegen, um einen guten Blick auf sie zu bekommen. Pferdemänner! Was für ein bösartiger Scherz der Götter war das? Doch die Menschen würden diesen Kampf bestehen, schwor sich Artax. Egal, welche Daimonen die Himmelsschlangen zu ihren Verbündeten gemacht hatten. Der Sieg bei der Brücke und der tote Drache in Wanu hatten den Männern Zuversicht gegeben. Es gab nichts, was dem Heer der Sieben Reiche widerstehen konnte. Und dem Willen der Unsterblichen! Sie waren bereit, einen langen Krieg zu führen, wenn es nötig sein würde.
Wir werden auch keine andere Wahl haben, meldete sich die unwillkommene Stimme in seinem Kopf. Alle sieben Reiche sind längst viel zu sehr auf die Waren aus Nangog angewiesen.
Was für ein Heuchler du bist, dachte Artax angewidert. Zu Lebzeiten hast du dich nur für deinen Harem interessiert.
Wer lieber von Frauen träumt, als sie in den Armen zu halten, sollte nicht das Maul aufreißen, kam es gehässig zurück. Meine Frauen sind mir nie weggelaufen. Doch kommen wir zum Thema zurück. Vielleicht braucht man etwas Abstand, um mit schärferem Blick zu sehen. Die großen Reiche haben sich in eine ungünstige Lage gebracht. Ihr habt gar keine Wahl. Ihr müsst kämpfen, ganz gleich wie schlimm es wird.
Gerade wollte Artax zähneknirschend zustimmen, als ihn die Reiter voraus alle Gedanken an Hungersnöte und Politik schlagartig vergessen ließen.
Noch war er etwa eine halbe Meile entfernt, doch deutlich konnte er bereits sehen, wie widernatürlich diese Kreaturen waren. Menschliche Oberkörper wuchsen aus Pferdeleibern, dort wo deren Hals hätte sein sollen. Jetzt hatten sie auch ihn bemerkt. Einige deuteten zum Himmel hinauf, andere griffen nach den kurzen Bögen, die in ihren Köchern steckten, und zogen die Sehnen auf, bereit, ihn mit einem Hagel von Pfeilen zu empfangen, sobald er in Schussreichweite kam.
Ich finde, die sind unseren werten Verbündeten aus der Steppe gar nicht so unähnlich. Selbst von hier oben sehe ich, was für stinkende, ungewaschene Pferdeärsche sie sind, bemerkte Aaron hämisch. Sie tragen die gleichen schmuddeligen Fellwesten wie die Ischkuzaia. Und sieh dir nur diese grobschlächtigen Tätowierungen auf den Armen an. Gut, die da unten haben nicht alle schwarze Haare, dafür vertrauen sie aber denselben Waffen wie die Ischkuzaia: Speer und Bogen. Vermutlich muss man aufpassen, dass sich diese Pferdemänner und unsere Pferdeärsche nicht in die Arme fallen und spontan verbrüdern, wenn sie einander begegnen.
Ein erster Pfeil verfehlte Artax um zwei Handbreit. Der silberne Löwe stieg steil nach oben, und die lästige Stimme in Artax’ Kopf verstummte. Die Pferdemänner reckten ihre Fäuste in die Luft und schrien etwas, was er nicht verstehen konnte. Wahrscheinlich irgendwelche Flüche und Beleidigungen.
Einen Moment lang war er versucht, sein Schwert zu ziehen und im Sturzflug anzugreifen. Artax wusste, dass es die verfluchte Klinge war, die solche Gedanken in seinen Kopf pflanzte. Er stellte sich vor, welchen Schaden die Löwenkrallen und die metallenen Klingen anrichten würden. Doch er war nicht gekommen, um ein Blutgericht zu halten. Der Silberlöwe verstand seine Absicht und trug ihn weiter nach Osten, wo das Silber am Horizont von blassem Rosa verdrängt wurde. Er musste herausfinden, wohin die Pferdemänner unterwegs waren.
Er hatte die Pferdedaimonen wohl drei oder vier Meilen hinter sich gelassen, als sich der Horizont zu bewegen begann. Schatten krochen aus dem Glutball der Sonne, der bereits zu einem Viertel sein Haupt erhoben hatte. Das stetig zunehmende Licht blendete Artax. Etwas Dunkles ergoss sich über das blendende Weiß der Ebene. Stetig vorwärtskriechend. Ein Heer, viel größer als jenes, das die Herrscher der sieben Königreiche in die Eiswüste geführt hatten.
Artax trieb seinen Löwen in Gedanken zu größter Eile an. Der Wind sang in seiner goldenen Mähne. Kraftvoll schlugen die weiten Schwingen auf und nieder und brachten ihn dem näher, das ihn mit tiefstem Entsetzen erfüllte und er zugleich doch unbedingt sehen musste. Dies also war ihre Zukunft!
Rotes Morgenlicht funkelte über Tausende Speerspitzen und ließ sie aussehen, als wären sie gerade erst in Blut getaucht worden. Unzählige Banner erhoben sich über die marschierenden Massen. Einzelne, riesige Gestalten stachen aus der Heerschar hervor wie Felstürme, die sich aus der Brandung erhoben.
Immer schneller gewann alles an Konturen, obwohl die Sonne Artax immer noch in den Augen brannte. Die Riesen, die an der Brücke gekämpft hatten, waren ein Nichts im Vergleich zu dem, was er dort sah. Diese Gestalten inmitten des Heeres waren wie wandelnde Türme. Flankiert wurden sie von unübersehbaren Reiterscharen, Geschwadern, die Hunderte von Streitwagen umfassten, und endlosen Marschkolonnen von Speerträgern. Eine Karawane, groß wie eine Büffelherde, folgte den Kriegern. Und ganz an den äußersten Flanken des Heeres entdeckte er Segler, die über das Eis dahinschossen! Schon der zehnte Teil dieses Heeres würde genügen, sie zu zermalmen.
In Artax’ Kopf überschlugen sich die Gedanken. Bis zur Mittagsstunde würde das Daimonenheer Wanu erreichen. Er musste augenblicklich umkehren und die anderen Unsterblichen warnen. Wenn sie sofort zum magischen Tor zurückeilten, dann vermochten sie vielleicht noch zu entkommen. An diesem Morgen hatte die Sonne ihrer aller Tod geboren.
Ein schriller Schrei ließ ihn endlich den Blick vom marschierenden Heer der Daimonen wenden. Artax sah hinauf in den Himmel und erblickte geflügelte Schatten, die aus dem Licht auf ihn hinabstießen: Adler, groß wie Stiere. Und mitten unter ihnen ritt eine rot gewandete Gestalt auf einem rabenschwarzen Hengst mit Schwingen, weiter noch als die seines Löwen.
Der Löwe reagierte, ohne dass Artax ihm in Gedanken einen Befehl gegeben hätte. Während der Unsterbliche noch den unheimlichen Reiter anstarrte, kippte der Silberlöwe über den linken Flügel ab und ging in einen Sturzflug, der Artax so fest gegen die hohe Lehne seines Sattels presste, dass er kaum noch zu atmen vermochte. In rasender Geschwindigkeit stürzten sie der Eisebene entgegen. Artax sah sich dort schon in Gedanken zerschellen, als ihm bewusst wurde, dass der Löwe dies vielleicht als einen Befehl auffassen mochte.
Plötzlich weitete der Löwe seine Schwingen, die er für den Sturzflug eng an seinen Leib gepresst hatte. Ein schreckliches Klirren und Kreischen fuhr durch den metallenen Leib. Rechts und links schossen zwei Adler an ihnen vorbei. Auch sie weiteten die Schwingen, um den Sturzflug abzufangen. Der gefrorene Boden lag vielleicht noch vierzig Schritt unter ihnen, als der Löwe versuchte, mit kräftigen Flügelschlägen an Höhe zu gewinnen. Ein einziger Blick nach oben genügte, um Artax zu zeigen, dass der Sturzflug nichts geholfen hatte. Noch immer kreisten sieben Adler über ihnen, und inmitten der Raubvögel ritt der rotgewandete Daimon, auf seinem Hengst stehend. Weißblondes Haar flatterte um sein fein geschnittenes Gesicht. Auch er führte eine Lanze wie Artax, und er hob sie zum Gruß, als er den Blick des Unsterblichen auf sich spürte.
Ein Schnabelhieb traf Artax’ Helm, und Krallen zogen kreischend über eine der Schwingen des Löwen. Überall um sie herum waren schlagende Flügel. Die Luft war erfüllt von schrillen Schreien. Plötzlich drehte sich der Löwe zur Seite weg und führte eine Rolle durch. Seine goldenen Flügel schlugen hart auf die Schwingen eines Adlers. Artax stach mit seiner Lanze blindlings in das braune Federgestöber, dabei bekam sein Helm einen zweiten Treffer, und die Ohren dröhnten ihm vom metallischen Klang. Er sah einen der großen Vögel dem Boden entgegenstürzen. Ein seltsam verdrehter Flügel flatterte hilflos im Wind, während der zweite Flügel auf und nieder schlug, ohne den Adler retten zu können.
Ein Schnabel schnappte nach dem rechten Arm des Unsterblichen. Das weiche Leder der Rüstung verhärtete sich, kaum dass Druck darauf ausgeübt wurde. Was sich eben noch wie eine zweite Haut an ihn geschmiegt hatte, wurde zu einer festen Röhre, die der zerrende Schnabel nicht zu durchdringen vermochte. Doch nun vermochte Artax seinen Arm auch nicht mehr zu beugen – starr, mit vorgestreckter Lanze stand er von seinem Körper ab, während Schwingen über seinen Helm wischten.
Die goldenen Löwenflügel peitschten in das Knäuel der Riesenadler, das sie umschwirrte. Federn stoben auf. Plötzlich hatte Artax wieder freie Sicht auf den Himmel. Sie waren durch die Formation der Adler hindurchgestoßen. Ohne zustoßenden Schnäbeln und den Krallen ausgesetzt zu sein, wurde das Leder seiner Rüstung wieder geschmeidig, und er konnte seinen Arm wieder anwinkeln. In diesem Moment drehte der Löwe so plötzlich nach links ab, dass Artax hart in seine Gurte geschleudert wurde. Eine Lanzenspitze stieß knapp an ihm vorbei und riss einige der goldenen Strähnen vom Haupt des Löwen. Der rotgewandete Reiter auf dem geflügelten Pferd zog knapp über ihnen hinweg. Ihm folgte ein Adler, dessen Krallen sich in die hohe Lehne des Löwensattels gruben. Kraftvoll mit den Flügeln schlagend, versuchte er, den Sattel vom Löwen zu reißen.
Artax stieß mit seiner Lanze nach hinten und spürte, wie der Stahl auf Widerstand traf. Der Adler ließ von ihm ab. Trudelnd und eine sprühende Blutspur hinter sich herziehend, stürzte das große Tier in die Tiefe.
Doch Artax empfand keinen Triumph, nur Erleichterung. Die Adler waren Geschöpfe voller Anmut, ebenso wie das geflügelte Pferd. Sie sollten nicht in Schlachten ziehen!
Er nutzte die kurze Angriffspause und blickte nach Wanu. Dort schien alles ruhig zu sein, noch lagen die Schatten der Nacht über der Stadt. Artax wand sich im engen Gurtzeug, um nach hinten zu blicken. Der Himmel war so weit … und leer. Flog der Rotgewandete unter ihm und versuchte, dem Löwen seine Lanze in den Leib zu rammen?
Er hörte Flügelschlagen, und einen Augenblick später stieg der rote Reiter dicht neben ihm auf gleiche Höhe. Seine Lanze hing in einer Schlinge vom seltsamen Sattel seines Himmelspferdes. Nun führte er eine lange, glänzende Schwertklinge.
Der Silberlöwe drehte zur Seite hin ab und wollte Abstand zu ihrem Gegner gewinnen, doch das geflügelte Pferd folgte dem Manöver ohne Mühe. Artax dachte an die seltsame Rolle, die sein metallener Gefährte vorhin vollführt hatte, ein Flugmanöver, das ihm kein Geschöpf aus Fleisch und Blut nachmachen konnte. Augenblicklich setzte der Löwe den Gedanken in die Tat um. Wie ein Fass rollte er nach links weg, und seine metallenen Flügel peitschten in die schwarzen Schwingen des fliegenden Rosses.
Für einen Moment hing Artax mit dem Kopf nach unten im Gurtzeug, dann war die Rolle vollendet. Schwarze Federn wirbelten in der Luft. Der Hengst des rotgewandeten Kriegers war ins Trudeln geraten. Der Reiter jedoch beugte sich, noch immer auf dem Rücken des Hengstes stehend, tollkühn weit vor und drosch mit seinem Schwert auf die linke Schwinge des Löwen ein. Funken stoben auf, Metall kreischte, und mit Schrecken sah Artax, dass der rote Reiter die Spitze der Löwenschwinge abgetrennt hatte. Etwas, das aussah wie flüssiges Glas, perlte aus dem zerfetzten Metall. Sich schneller und schneller um die eigene Achse drehend, schoss der verletzte Silberlöwe der Ebene entgegen. Blau und Weiß wechselten in rasender Folge, Himmel und Eis. Artax wurde von der Fliehkraft, die an ihm zerrte, halb aus dem hohen Sattel gerissen. Immer mehr goldene Federn rissen von dem beschädigten Flügel.
Dann spreizte der Löwe seine Schwingen auf. Ein Ruck lief durch seinen Körper, und Artax wurde gegen die hohe Lehne geschleudert. Ihm schwanden fast die Sinne, als es einen zweiten, noch heftigeren Schlag gab. Eissplitter sprühten auf, Metall keuchte und bog sich durch. Artax stürzte in die Gurte, umgeben von einem Wirbel aus goldenen Federn.
Der Löwe hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Und er lief. Hinkend zwar, aber noch strebte er Wanu entgegen, wo nun Hörner erklangen. Die Wächter auf den Ankertürmen mussten gesehen haben, was vorgegangen war.
Nur das Gurtzeug hielt Artax noch aufrecht. Jeder einzelne Knochen in seinem Leib schmerzte, und sein Kopf dröhnte.
Reiter kamen ihm entgegen. Verschwommen erkannte er Madyas unter ihnen. »Wir müssen zurück«, stieß er aus, als sie ihn fast erreicht hatten. »Die Daimonen kommen. Tausende von ihnen.«
Shaya verstand nicht, was vor sich ging, und niemand machte sich die Mühe, einer vermeintlichen Trosshure irgendetwas zu erklären. Das Heer der Sieben Reiche war auf der Flucht. Gestern noch hatten sie ihren Sieg gefeiert, und ihre Gefährtinnen hatten gute Geschäfte gemacht. Während Shaya sich um die zahlreichen Verwundeten gekümmert hatte, hatten sie den Siegern Vergnügen bereitet. Die dicke Ninwe mit dem rot gelockten Haar, Kira, die hagere Wortführerin ihrer Gruppe, die unverdrossen ihren Kupferkessel auf dem Rücken schleppte, und all die anderen, die doch noch mitgekommen waren, obwohl die Werber sie vor dem eisigen Winter gewarnt hatten.
Im ersten Morgenlicht hatten die Hörner Alarm gerufen, und seitdem ging alles durcheinander. Es hieß, Tausende Daimonen seien auf dem Weg zu dieser verfluchten Stadt am Ende der Welt und dass sie versuchen würden, dem Heer den Rückweg zur Brücke über den Kuñi Unu, den dampfenden Fluss, abzuschneiden. Ein Tagesmarsch nur, und sie wären in Sicherheit!
Aber dieser Tagesmarsch würde ein gnadenloses Wettrennen werden, wie es schien. Die Männer marschierten in bedrücktem Schweigen. Immer wieder sahen sie zum Himmel hinauf. Angeblich gab es auch fliegende Daimonen.
»Na, das war der kürzeste Feldzug meines Lebens«, japste Ninwe kurzatmig. Die korpulente Konkubine hatte Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Seit der Nacht trug sie einen teuren Pelzmantel. Die Götter allein wussten, wem sie den Kopf verdreht hatte, um an ein solch kostbares Kleidungsstück zu kommen. Sie hüllte sich in bedeutungsschweres Schweigen und war schon den ganzen Morgen nicht dazu zu bringen zu verraten, wer ihr Gönner war.
»Spar dir lieber deinen Atem! Den wirst du noch brauchen, wenn du nicht zurückfallen willst.« Kira bedachte sie mit einem abfälligen Blick. Die Wortführerin der kleinen Frauenschar ging gebeugt unter ihrem Kupferkessel. Sie hatte nur eine Decke um ihre Schultern geschlungen, und ihr Gesicht und ihre Hände waren krebsrot vom Frost.
»So weit wie du komme ich noch lange!«, entgegnete Ninwe gut gelaunt. »Auch wenn ich nicht so hart und dünn wie eine Schwertklinge bin.«
Kira schnaubte verächtlich. »Was glaubst du, was Krieger lieber mögen, eine schlanke Klinge oder eine bauchige Ölamphore?«
»Tja, wenn ich mir das kostbare Gewand betrachte, in das du dich hüllst, dann kenne ich die Antwort«, sagte eine der anderen Frauen. Ein paar kicherten gehässig.
»Ich hab mir jede von euch gemerkt«, schnappte Kira. »Kommt mir heute Abend nicht angeschlichen und fragt nach was Warmem aus meinem Kessel. Ihr könnt ja unter Ninwes Mantel schlüpfen. Vielleicht schmeckt euch halb gefrorenes Trockenfleisch ja besser, wenn ihr euch an die Dicke kuschelt. Ich jedenfalls …«
Ein schriller Schrei schnitt Kira das Wort ab.
Shaya blickte zum Himmel hinauf. Ein Schwarm riesiger Adler zog über sie hinweg und hielt auf die Brücke zu, die nur knapp eine Meile entfernt aus der Nebelwand des Kuñi Unu ragte. Mitten unter ihnen flog eine rot gewandete Gestalt auf einem geflügelten Pferd. Ein Raunen ging durch das Heer. Jeder hatte es jetzt eiliger.
Der halbwegs geordnete Rückzug könnte jeden Augenblick in blinde Flucht umschlagen, befürchtete Shaya. Sie hatte so etwas schon auf den Feldzügen ihres Vaters am Seidenfluss gesehen. Wie die Schwachen niedergetrampelt wurden, wenn sie nicht schnell genug aus dem Weg kamen. »Götter helft!«, flüsterte sie leise und ging schneller.
»Schöne Vögel!«, sagte Kira düster. »Hab als Kind gerne den Bussarden über den Dorfäckern zugesehen. Sie haben dort Häschen gejagt. Und es waren immer die fetten Häschen, die sie zuerst erwischt haben.«
Ninwe lachte ein wenig gezwungen. »Ich bin ein zu fettes Häschen. Mich kriegen nicht einmal diese Adler in die Luft gehoben.«
»Aber sie haben die Tiere doch nicht in die Luft gehoben«, trumpfte Kira auf. »Sie haben sie mit ihren Fängen fest zu Boden gedrückt und dann genüsslich mit ihrem Hakenschnabel zerfleischt.«
»Das reicht!«, sagte Shaya scharf. »Wir helfen einander. Und wir werden alle dieser verdammten Eiswüste entkommen. Es ist nicht mehr weit. Haben wir erst die Brücke passiert, sind es nur noch ein paar Meilen, und wir haben die Goldenen Pfade durch die ewige Nacht erreicht. Dann trennen uns nur noch ein paar Schritt von warmen Quartieren.«
»Bist du schon mal mit einem fliehenden Heer marschiert?« Alle Gehässigkeit war aus Kiras Stimme gewichen.
»Nein.«
»Merkt man.«
Schweigend schritten die Frauen neben der langen Kolonne der zurückflutenden Truppen. Keiner der Krieger scherzte mit ihnen so wie auf dem Weg nach Wanu. Die Männer starrten verdrossen vor sich hin oder blickten furchtsam zum Himmel. Shaya lauschte dem Gespräch zweier Krieger, dass am Morgen einer der Unsterblichen schwer verwundet worden war, als er sich den geflügelten Daimonen entgegengestellt hatte. Tatsache war, dass sich keiner der Herrscher auf ihren geflügelten Löwen blicken ließ.
Shaya dachte an Aaron. Hatte er sich den Daimonen gestellt? Oder war alles nur ein Gerücht? Gewiss stimmte nicht, was geschwatzt wurde! Es gab zu viele Geschichten. Shaya mochte nicht glauben, dass Subai die riesige Echse erlegt hatte, die sie bei den Ankertürmen in Wanu gesehen hatte. Eine solche Heldentat entsprach ganz und gar nicht dem Wesen ihres Bruders. Aber offenbar glaubten es alle anderen. Sogar ihr Vater, der Unsterbliche Madyas.
Sie hatte sich gestern Nacht von den feiernden Steppenreitern ferngehalten. Auch wenn sie in ihren abgetragenen Kleidern und mit einer Wolldecke um die Schultern nicht im Entferntesten der stolzen Kriegerprinzessin ähnelte, die sie einst gewesen war, wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen.
Auch jetzt versuchte sie, so gut wie möglich unsichtbar zu bleiben. Steppenreiter ritten nur wenige Schritt entfernt an den Flanken der Marschkolonne, die sich im Eilschritt auf die Brücke zubewegte. Der Zug der Flüchtenden zog sich über mehr als zwei Meilen. Die Frauen um Shaya hatten sich im vorderen Drittel der Kolonne eingereiht. Vor ihnen marschierten die Krieger aus Valesia. Hinter ihnen gingen Männer von den Schwimmenden Inseln. Sie litten entsetzlich unter der Kälte. Immerzu lief ihr Unsterblicher an seinen Männern vorbei und feuerte sie an. Shaya wusste, dass es viele nicht bis zum Weltentor schaffen würden.
Noch waren die Daimonen nur unstete Schatten vor dem gleißenden Weiß der Ebene. Sie sammelten sich hinter ihnen und an ihrer linken Flanke, parallel zur Marschsäule. Auch sie hatten Reiter geschickt. Sie kamen nicht nah genug, um sie deutlich zu erkennen. Doch ihr Anblick weckte eine Unruhe, die sich Shaya nicht erklären konnte.
Dass sie hier waren, um sie zu jagen, war es nicht, was ihr eine solche Angst einjagte. Bisher hatte ihr niemand das Herz einer Kriegerin rauben können. Weder Muwatta, dem es nur darum gegangen war, sie zu demütigen, noch Aaron, dessen Liebe sie noch tiefer verletzt hatte als alles, was ihr der Unsterbliche von Luwien angetan hatte. Sie hatte viele Schlachten geschlagen. Der Anblick von Feinden allein schreckte sie nicht.
Doch diese Reiter, die gerade so weit entfernt blieben, dass sie sie nicht deutlich erkennen konnte, hatten etwas an sich, das Shaya zutiefst erschreckte. Sie waren widernatürlich! Schlimmer als die grauen Riesen, die verwachsenen Zwerge und die gewaltige Echse, die sie in den letzten vierundzwanzig Stunden zu sehen bekommen hatte.
Tausendstimmiges Geschrei von der nahen Brücke ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Der Angriff hatte begonnen: Shaya sah, wie ein Schwarm Adler auf die Flüchtlinge hinabstürzte, Männer mit ihren Krallen packten und sie hoch in die Luft rissen, um sie im nächsten Augenblick in die grauen Fluten stürzen zu lassen, in denen es vor Ungeheuern nur so wimmelte.
Auf der Brücke entstand ein unbeschreibliches Gedrängel. Jeder war sich selbst der Nächste. Ohne Gnade schoben und stießen die Krieger. Die Schwächeren und die Pechvögel wurden niedergetrampelt oder in die Fluten gestoßen. Es gab kein Geländer an den Seiten der Brücke. Wer abgedrängt wurde, der stürzte in den Fluss.
Shaya spürte, wie der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Das Donnern zahlloser Hufe erklang. Wie ein lebender Wall kamen Hunderte Reiter dem dünnen Schutzschirm, den die Steppenreiter bildeten, entgegengeprescht.
Alarmrufe erschollen entlang der Marschkolonne. Trotz der Angriffe der Adler drängten mehr und mehr Krieger auf die Brücke, denn es war klar, wer am Ufer blieb, der würde von den Reitern gnadenlos in die Fluten getrieben werden.
Jetzt erkannte Shaya, was ihr auf die Entfernung verborgen geblieben war, und für einige Herzschläge erstarrte sie in ungläubigem Entsetzen. Was für Götter herrschten über die Daimonen? Was für einen düsteren Scherz hatten sie sich mit diesen Geschöpfen erlaubt? Shaya wusste sehr wohl, was die anderen Völker Daias über die Ischkuzaia erzählten. Dass sie ihre Kinder im Sattel gebaren und die Kleinen erst reiten und danach laufen lernten. Dass die Steppenreiter eins mit ihren Pferden waren, die sie mehr liebten als ihre Frauen. Es erschien ihr, als hätten die Daimonengötter diesen Spruch Wirklichkeit werden lassen: Ross und Reiter waren eins geworden.
Die anderen Frauen hatten längst zu laufen begonnen. Auch sie hatten gesehen, was dort angeprescht kam. Mochten einige vielleicht noch überlegt haben, sich statt einem ungewissen Schicksal auf der Brücke der Gnade der Sieger zu überlassen, hatte der Anblick der Pferdemänner sie eines Besseren belehrt. Dieser Feldzug hier war anders als jeder Krieg, den sie bisher erlebt hatten. Daimonen würden keine Menschenfrauen brauchen.
Flüchtende Steppenreiter preschten ohne Rücksicht in das Gedränge vor der Brücke. Shaya drückte sich an einer Maultierkarawane entlang, deren Tiere in Panik schrien, und holte Ninwe ein, die zu willenlosem Treibgut inmitten des drängelnden Menschenmeeres geworden war. Sie packte ihre Gefährtin und stützte sie.
Vor ihnen lag das abschüssige Wegstück zur Brücke. Krieger mit Gesichtern, auf die Fratzen von Ungeheuern tätowiert waren, drängten sich dort hinab. Mit ihren Schilden stoßend und die Speerschäfte wie Knüppel nutzend, kämpften sie sich voran. Als ein Krieger mit einer Löwentätowierung stürzte, riss er auch seinen Vordermann zu Boden. Dann noch einen und noch einen. Sofort schloss sich die Lücke im Gedränge wieder. Gellende Schreie gingen im Fluchen und den Verzweiflungsrufen derer, die noch aufrecht standen, unter.
Wieder und wieder stießen die Adler zur Brücke hinab. Jedes Mal, wenn einer von ihnen anflog, versuchten die Verzweifelten auf dem engen Übergang auszuweichen. Dabei stießen und zerrten sie ohne Gnade, und etliche Männer stürzten ins Wasser, in dem zwischen schäumender Gischt und den schnappenden Schnäbeln der Raubfische lange Blutschlieren dem Meer entgegentrieben.
Nur mithilfe ganzen Körpereinsatzes und dicht eingekeilt zwischen Kriegern erreichten die beiden Frauen endlich die Brücke. Ein Unsterblicher mit langem, blondem Haar hatte Bogenschützen zum Ufer befohlen, die versuchten, die Adler von der Brücke fernzuhalten, doch noch während die Krieger sich formierten, erschien ein Daimon auf einem geflügelten Pferd aus den Nebelschwaden über dem Fluss. Ein Reiter, ganz in Karmesinrot gewandet. Er stand auf dem Pferderücken und ließ einen Hagel aus leichten Wurfspeeren auf die Verteidiger niedergehen.
Ein Stück voraus sah Shaya Kira. Umringt von den anderen Frauen hatte sich ihre Gefährtin fast bis zur Mitte der Brücke durchgekämpft, als die Adler erneut angriffen. Letzte Bogenschützen am Ufer schossen vereinzelte Pfeile ab, die die Raubvögel jedoch nicht aufzuhalten vermochten. Die Schreie der Frauen klangen schriller als die der Männer. Wieder setzte das gnadenlose Stoßen und Drängen auf der Brücke ein, als jeder verzweifelt versuchte, den Fängen der Adler zu entkommen.
»Ihr Götter, schützt sie«, stammelte Ninwe, doch die Götter schienen anderes zu tun zu haben, als auf die frommen Bitten einer Hure zu hören.
Kira blieb stehen, obwohl ein Adler genau auf sie zukam, ja, sie drohte dem Vogel mit erhobener Faust. Eine Geste, die ebenso tapfer wie sinnlos war. Dann, im letzten Augenblick, warf sie sich zu Boden. Die Krallen trafen den Kupferkessel, den sie auf ihrem Rücken trug. Er schützte Kira, doch hatte sie ihn zu fest auf ihr kümmerliches Bündel geschnallt. Schreiend wurde sie emporgehoben, und der Adler verschwand mit ihr im Nebel.
Ninwe stammelte unzusammenhängende Worte und wäre wohl einfach stehen geblieben, hätte Shaya sie nicht mit sich gezogen.
»Sie war immer diejenige, die sich durchs Leben gekämpft hat«, schluchzte Ninwe. »Nichts konnte sie erschrecken. Sie kann doch nicht einfach …«
»Hebt die Speere!«, erscholl hinter ihnen ein lauter Befehl. Es war eine Stimme, die Shaya unter Tausenden erkannt hätte. Der Unsterbliche Aaron!
»Seid wie ein Igel! Wollen wir einmal sehen, ob die Adler es noch wagen, euch zu packen, wenn sie dafür einen Wall von Eisenspitzen durchbrechen müssen.«
Seine Anwesenheit und seine ruhige Stimme veränderten alles. Die Männer, die eben noch jeder für sich gekämpft hatten, fassten neuen Mut. Sie hoben die Speere, und tatsächlich wichen die Adler dem Wall aus Eisen- und Bronzespitzen aus.
»Nehmt die Frauen in eure Mitte! Stützt die Schwachen und Verwundeten! Ein paar Meilen noch, und wir sind in Sicherheit!« Die Stimme war näher gekommen.
Shaya zog ihre schäbige Decke über Schultern und Haar und wandte den Blick zu Boden. Er durfte sie nicht entdecken. Das Heer und sein Königreich brauchten ihn mehr denn je. Die Sorge um sie und der Traum ihrer Liebe durften ihn nicht von seinen Pflichten ablenken.
Die Kriegerkolonne hatte zu einem regelmäßigen Marschtritt zurückgefunden, und geschützt inmitten des Speerwalls strebte Shaya dem jenseitigen Ufer entgegen. Aarons Stimme erklang nun in einiger Entfernung. Offenbar wollte er den Angriff der Pferdemänner aufhalten. So war er, seit sie ihm das erste Mal begegnet war. Stets dachte er zuletzt an sich. Wie lange würde er diesen selbstmörderischen Mut überleben? Oder wollte er am Ende gar nicht mehr länger leben? Verzweifelt drehte Shaya sich um und versuchte, einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen, doch alles, was sie sah, war die goldene Mähne seines Löwenhelms und sein prächtiger, roter Umhang.
»Du weinst ja«, sagte Ninwe.
Shaya machte eine abwehrende Geste. »Es ist nichts …«
»Vielleicht ist Kira ja davongekommen. Sie hat immer Glück …«
Die Prinzessin nickte stumm. Sie würde kein Wort darüber verlieren, dass es nicht Kira war, der ihre Tränen galten.
Sein verwundeter Silberlöwe trottete schwerfällig mit den letzten Nachzüglern des Heeres der Brücke entgegen. Artax hatte seine Kushiten um sich gesammelt. Schulter an Schulter standen die Veteranen des Krieges gegen Luwien; die Schilde erhoben und die Speere vorgereckt, bildeten sie einen Schutzwall für die geschlagene Armee. Auf zwei Reihen von Speerträgern folgten Ormus Bogenschützen. Sie waren es, die die Pferdemänner auf respektvollen Abstand hielten. Doch wie lange noch? Am Horizont zeichneten sich die Schemen der Riesen ab, die Artax schon am Morgen gesehen hatte. Ganz sicher waren sie zu schwer, um die Brücke zu überqueren, aber ebenso sicher würden sie ohne Mühe den Schutzwall der Speerträger durchbrechen.
Die beiden anderen Silberlöwen folgten seinem, der immer noch hinkte. Artax ging auf sie zu und wollte eines der Tiere besteigen, so wie er es schon mehrmals versucht hatte. Doch wieder bleckte der Löwe Ansurs die Zähne und gab ein bedrohliches, metallisches Klacken von sich. Als er sich ihm am Morgen zum ersten Mal genähert hatte, hatte er sich sogar einen Tatzenhieb eingefangen. Wie es schien, duldeten die Tiere nur ihre eigenen Herrscher als Reiter. Darüber sollte er dringend mit Langarm reden, wenn er lebend hier herauskam.
Ansur selbst war bei der Vorhut des Heeres. Der Herrscher Valesias hatte sich längst auf der anderen Seite der Brücke in Sicherheit gebracht. Nicht so Madyas. Der Unsterbliche, der die Steppenreiter führte, war den ganzen Morgen über bei seinen Kriegern geblieben und hatte sich Plänklergefechte mit den Pferdemännern geliefert. Zwei Pferde waren unter ihm getötet worden. Niemand könnte ihn einen Feigling nennen, und dennoch schreckte er davor zurück, in den Himmel zu steigen.
»Ihr solltet jetzt zur Brücke gehen«, flüsterte Ormu Artax ins Ohr. »Die Riesen werden hier sein, bevor wir alle ans andere Ufer bringen können. Das wird hässlich werden, denn ich schätze, dass sie weder meine Pfeile noch unsere Speere beeindrucken werden.«
»Als Unsterblicher bin ich der Erste meines Volkes. Ich lebe im Luxus und genieße unzählige Privilegien. Wenn ich jetzt davonlaufe, von wem könnte ich dann noch erwarten, hier auszuharren? Es ist meine Pflicht, ein Beispiel an Mut zu sein.«
»Von den sieben Unsterblichen sind nur noch Madyas und Volodi hier.« Ormu flüsterte noch immer. »Und ehrlich gesagt, halte ich beide nicht für besonders helle. Könntet Ihr nicht ein wenig wie die anderen sein?«
Also hatte sich auch Labarna schon zurückgezogen, dachte Artax enttäuscht. Von den übrigen Unsterblichen hatte er nichts anderes erwartet. »Volodi ist mit seinen Kriegern noch auf Adlerjagd?«
»Ich habe ihm einige meiner Bogenschützen geschickt. Die meisten seiner Männer sind eher für Handfesteres zu gebrauchen als dafür, mit einem Bogen einen Adler, groß wie ein Pferd, zu treffen.«
Artax musste schmunzeln. Er wusste, was Ormu meinte. Die Drusnier waren furchteinflößende Gegner, wenn es um den Kampf Mann gegen Mann ging. Für ihre Bogenschützen waren sie weit weniger berühmt.
Ein Pulk Reiter raste dem Wall aus Speeren entgegen. Ein Mann mit Wolfshelm auf einer großen, weißen Stute ritt mitten unter ihnen. Madyas! Die Pferdemänner folgten ihnen dichtauf. Immer wieder wandte sich der Unsterbliche im Sattel um, um seine Verfolger mit Pfeilen einzudecken. Nur wenige seiner Männer folgten noch seinem Beispiel. Viele hielten sich nur noch mit letzter Kraft im Sattel.
»Achtung!«, rief Artax. »Öffnet Lücken für unsere Freunde! Dritter, fünfter und siebenter Zug, zurückweichen!«
Die Krieger folgten seinen Befehlen mit einer Präzision, als führten sie nur ein Manöver auf dem weiten Löwenfeld vor seinem Palast auf. Hunderte Male hatte Ashot sie gedrillt, bis sie alle Manöver selbst mitten in der Nacht, gerade aus dem Schlaf gerissen, ausführen konnten. Ashot hätte hier sein sollen. Die Männer Arams waren sein Heer. Es war ungerecht gewesen, ihn im Palast zurückzulassen, nur weil er für das Reich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und dennoch konnte er Ashot nicht verzeihen, dass er ihm Shaya genommen hatte.
Nüchtern betrachtet, war es auch für sie besser gewesen. Shaya war eine Kriegerin. Sie hätte sich durch nichts davon abhalten lassen, hier an seiner Seite zu sein. Wo immer sie jetzt auch sein mochte, jeder Ort war besser als dieses Schlachtfeld, auf dem es keinen Sieg mehr zu erhoffen gab.
Madyas war der letzte Reiter, der durch die Reihen der Speerträger preschte, während Ormus Bogenschützen die Pferdemänner auf Abstand hielten. Die grässlichen Zwitterwesen begannen nun ihrerseits, mit ihren kurzen Bögen zu schießen, und Pfeile schlugen in die hohen Schilde der Kushiten.
Madyas zügelte sein Pferd neben Artax. Der Schimmel war über und über mit Blut bedeckt. Ihm fehlte das rechte Ohr, ein Hinweis auf einen ungelenk geführten Schwerthieb des Reiters.
Der Fürst der Steppenreiter ließ sich von einem seiner Männer einen Wasserschlauch zuwerfen und nahm einen tiefen Schluck. Blanker Schweiß stand ihm auf dem Gesicht. »Verdammt, das sind die besten Reiter, die ich jemals getroffen habe. Würde gerne wissen, wie das so ist, wenn Mann und Pferd eins sind.«
Artax sah ihn ungläubig an. Das war offensichtlich kein Scherz. Madyas meinte es ernst. Ihn schien die Vorstellung, zur Hälfte Pferd zu sein, tatsächlich zu faszinieren. Und auch die Krieger, die ihn umgaben, wirkten von seinen Worten nicht abgeschreckt.
»Kannst du einige deiner Bogenschützen zum Flussufer schicken, damit sie Volodi dabei helfen, die Adler von der Brücke fernzuhalten?«
Madyas nahm noch einen tiefen Schluck. »Wir haben nicht mehr viele Pfeile. Subais Krieger haben ihre Köcher fast leer geschossen, als sie den Drachen erlegt haben.«
Artax kam es so vor, als wäre der Unsterbliche eher verärgert als stolz. Ahnte auch er, dass etwas bei der Drachenjagd nicht mit rechten Dingen zugegangen war? »Wir können am Ufer jeden Schützen gebrauchen«, sagte Artax ruhig. »Die Adler kosten uns viel Blut.«
Der Steppenfürst bellte einen Befehl, und einige seiner Krieger setzten sich murrend in Bewegung. Dann wandte er sich wieder an Artax und fragte: »Wo stecken nur die Devanthar?«
Zum ersten Mal sah der Reiterkrieger aus, als wäre er in Sorge. Üblicherweise überspielte er alle Schwierigkeiten mit zur Schau gestellter Härte oder derbem Humor. Doch jetzt war die Maske gefallen. Tiefe Sorgenfalten zeichneten sein Gesicht. »Wenn uns die Daimonen über den Fluss folgen, dann blüht uns noch ein übles Gemetzel, bevor wir das magische Tor erreichen.«
»Wenn du mir hilfst, könnten wir beide das vielleicht verhindern.«
»Was hast du vor?« Ein Hauch von Unsicherheit lag in seinen schmalen Augen.
Während rings um sie herum die Pfeile der Pferdemänner einschlugen, erklärte Artax ihm seinen Plan.
Als er endete, fasste Madyas sich an die Stirn. »Du bist vollkommen verrückt! Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde so etwas tun!«
»Deshalb frage ich dich. Ich weiß, bei dir stehe ich vor einem Verwandten im Geiste.«
Der Reiterfürst schnaubte unwillig. »Wenn ich zustimme, bin ich ein Verrückter, wenn ich ablehne, ein Feigling? Was für eine wunderbare Wahl.« Er blickte unschlüssig zu seinem geflügelten Löwen, von dessen Kopf gerade ein verirrter Pfeil abprallte. Madyas kratzte über sein stoppeliges Kinn. »Egal, ob wir siegen oder verrecken, man wird Heldenlieder über uns singen, was meinst du?«
»Ganz sicher. Zwei Unsterbliche, die allein den Rückzug ihrer Armee decken. Davon wird man sich noch in tausend Jahren erzählen.«
Madyas schüttelte den Kopf, dann lachte er laut auf. »Verdammt, ich hätte dich zu meinem Schwiegersohn machen sollen, statt Shaya Muwatta zu überlassen. Du kennst mich. Ich bin genauso verrückt wie du. Tun wir es!«
Die Worte waren wie ein Stich in Artax’ Herz. Dieser verdammte Idiot! Hätte er nur Shaya nicht erwähnt.
Madyas sah ihn fragend an. »Stimmt etwas nicht?«
»War nur überrascht«, entgegnete Artax einsilbig. Er durfte jetzt nicht darüber nachdenken! Sein ganzes Leben hätte eine andere Wendung genommen, hätte er Shaya als Prinzessin aus Ischkuza heiraten können. Niemand im Reich hätte seine Stimme erhoben, hätte er die Tochter eines Unsterblichen in seinen Palast geführt. »Besorge Köcher mit Wurfspeeren. Ich muss noch ein paar letzte Befehle erteilen, damit die Truppen einen geordneten Rückzug antreten.«
Madyas lächelte süffisant. »Du meinst wohl, du willst dich von deinen Männern verabschieden. Ich werde dasselbe tun. Ich möchte nicht, dass Subai das Kommando übernimmt, wenn mir etwas zustoßen sollte.«
Artax sah ihm verblüfft nach. Dieser Barbar steckte voller Überraschungen. Kopfschüttelnd machte er sich auf die Suche nach Ormu. Sein Hauptmann stand bei den Bogenschützen.
»Du wirst einen Boten für mich zum anderen Ufer schicken«, begann Artax ohne Umschweife. »Gib ihm eine Eskorte mit, damit er durch das Gedränge auf der Brücke kommt. Diese Nachricht muss durchkommen! Der Bote soll Vibius, den Valesier, der die Katapulte befehligt, ausfindig machen und ihm Folgendes ausrichten …«
»Das könnt Ihr nicht tun!«, begehrte der Jäger aus Garagum auf. »Das ist Selbstmord!«
»Wir werden jetzt nicht darüber debattieren, ob es einem Unsterblichen gegeben ist, sich selbst das Leben zu nehmen«, entgegnete Artax lächelnd. »Es ist der einzige Weg. Du übernimmst hier das Kommando. Beginne sofort mit dem Rückzug zur Brücke.« Er sah über die Schlachtlinie der Speerträger hinweg. Die Riesen waren inzwischen bedrohlich nahe gekommen. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Unsere Männer können die Riesen nicht aufhalten. Sorge dafür, dass sie lebend über die Brücke kommen und der verdammte Valesier an den Katapulten seine Arbeit tut.«
»Herr!« Ormu hatte es bisher stets vermieden, ihn so anzureden. Der Bogenschütze zog etwas aus einem kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel. »Das hier sollte ich für Euch suchen.« Er hielt ihm eine merkwürdig aussehende Pfeilspitze hin, in deren Tülle ein zersplitterter Holzschaft steckte, der kaum so lang wie sein kleiner Finger war. »Ich glaube, es war dieses Geschoss, das den Drachen getötet hat. Es ist danach noch durch sieben Hauswände geschlagen. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Vielleicht sind die Götter ja doch hier, um uns zu helfen?«
Artax nahm das Metallstück an sich. Es sah eigenartig aus. Eher wie ein Nagel als wie das Blatt eines Pfeils. Ein Vierkant, der sich zu einer Spitze verjüngte. Am anderen Ende saß die Tülle.
»Es durchdringt alles, Stein, Metall … Einfach alles. Ich habe es ausprobiert«, erklärte Ormu ehrfürchtig. »Es muss von den Göttern geschaffen sein.«
Artax wünschte sich, sie hätten ein wenig mehr Zeit. Ein solcher Pfeil wäre genau das, was sie jetzt brauchten.
»Heh, Seelenbruder!«, rief Madyas ihn mit rauer Stimme. Der Unsterbliche stand neben seinem geflügelten Löwen und hielt seinen Maskenhelm mit dem Wolfsvisier im Arm. »Bist du bereit?« Links und rechts der hohen Rückenlehne des Reitsattels waren je zwei Köcher mit Wurfspeeren aufgehängt.
Ormu nahm einen Lederriemen vom Hals, an dem irgendein unkenntlicher Fellfetzen hing. »Nehmt das. Es hat mir immer Glück gebracht.«
Artax betrachtete das Fellstück mit gemischten Gefühlen. »Du wirst dein Glück noch brauchen.«
»Nicht so viel Glück wie Ihr!«
»Nun gut.« Er wickelte die Schnur auch um die seltsame Pfeilspitze. »Das gute Stück hat ihrem Drachen Unglück gebracht. Es wird mir als Talisman sicher gute Dienste leisten.« Er lächelte Ormu zu. »Mach dir keine Sorgen. Ich komme immer wieder.«
»Kommst du, oder soll ich alleine fliegen?«, rief Madyas.
Artax wandte sich ab und lief dem Löwen entgegen. Die Bogenschützen und die Männer aus der zweiten Reihe der Speerträger winkten ihm zu. Plötzlich rief jemand: »König Geisterschwert ist unbesiegbar!«
Andere griffen den Ruf auf. Unter dem Jubel seiner Männer schwang er sich auf die Kruppe des Silberlöwen und schlang einen breiten Ledergürtel um seine Hüften.
»Bereit?«, fragte Madyas.
»Bereit!« Artax legte den Talisman um seinen Hals und setzte seinen Helm auf. Jetzt, wo niemand mehr sein Gesicht sehen konnte, verblasste sein aufgesetztes Lächeln.
Langsam und schwerfällig setzte der Silberlöwe sich in Bewegung. Mit zwei Kriegern und den ganzen Wurfspeeren war er völlig überladen. Vielleicht würde er nicht einmal abheben. Wenn das geschah, waren sie tot.
Artax umklammerte den Talisman auf seiner Brust und murmelte ein leises Gebet, während die Rufe seiner Krieger ihn begleiteten. »König Geisterschwert ist unbesiegbar!«
Eine Gasse bildete sich in der Doppelreihe der Speerträger, und der Löwe stürmte den Pferdemännern auf der Ebene entgegen. Schwer hoben und senkten sich seine silbernen Flügel in kraftvollem Schwung. Feiner Pulverschnee stob davon. Hinter ihnen schlossen sich die Reihen der Krieger.
Artax blieb, mit dem Gürtel an die hohe Sattellehne gefesselt, nur der Blick zurück. Was vor ihnen lag, konnte er nicht sehen, und er war nicht traurig darum.
Ormu war in die vorderste Reihe der Krieger getreten und sah ihm so traurig nach, als wäre er sich gewiss, dass sie einander niemals wiedersehen würden. Dann rief er einen Befehl, und die Krieger Arams zogen sich langsam in Richtung des Flussufers zurück.
Immer noch trommelten die Pfoten des Löwen auf den gefrorenen Boden. Sie hatten die Reihe der Krieger mehr als zweihundert Schritt hinter sich gelassen, als rechts und links von ihnen die ersten Pferdemänner auftauchten. Manche sahen den metallenen Löwen mit weit aufgerissenen Mündern an, andere waren geistesgegenwärtiger und hoben ihre Bögen. Bald umschwirrten sie Pfeile wie zornige Hornissen. Madyas brüllte etwas in der Sprache der Steppe, die Artax nicht verstand. Ein Geschoss streifte Artax’ Löwenhelm, und ein leiser, sirrender Ton hallte in seinen Ohren.
Und immer noch hatte der Löwe nicht abgehoben. Immerhin machte er jetzt weitere Sätze.
Etliche Pferdemänner hatten bereits gewendet und lieferten sich nun ein regelrechtes Rennen mit dem Löwen. Drohend erhoben sie ihre Speere und Schwerter.
Ein gellender Schrei erklang. Artax sah einen Pferdemann in die Knie brechen. Seine ganze Brust war eine einzige klaffende Wunde.
»Flügelspitze!«, rief Madyas von vorne. »Der verdammte Bastard ist uns zu nahe gekommen.«
Die anderen Pferdemänner reagierten sofort und hielten nun mehr Abstand. Noch mehr Pfeile gingen auf den Silberlöwen nieder. Artax riss einen Arm hoch, um die Sehschlitze seines Maskenhelms abzuschirmen. Gleich mehrere Geschosse trafen ihn in die Brust, doch keines vermochte seine Rüstung zu durchdringen.
Mehr Sorgen als die Pferdemänner machten Artax die Adler. Ihr Anführer, der Reiter auf dem geflügelten Pferd, hatte inzwischen bemerkt, was vor sich ging, und einer nach dem anderen schwenkten die großen Vögel vom Fluss ab und folgten nun ihnen.
»Lanze!«, rief Artax.
»Links!« kam die Antwort von Madyas. Er reichte die lange Waffe nach hinten.
Der Silberlöwe hatte einen flachen Hügel erreicht. Auf dem Weg die Flanke hinab steigerte er noch einmal sein Tempo. Und endlich hoben sie ab. Drei Herzschläge lang, dann gruben sich die schweren metallenen Pranken wieder in den vereisten Boden.
»Riesen voraus!«, schrie Madyas.
Artax konnte sich nicht weit genug zur Seite beugen, um zu sehen, wie nahe sie den turmhohen Gestalten schon gekommen waren. Er hatte nur Augen für die Adler, die ihnen folgten. Der vorderste war schon erschreckend nah.
Artax schob die Rechte durch die lederne Schlaufe in der Mitte der Lanze und ließ die Spitze der Waffe sinken, sodass sie gegen den Boden zeigte. Plötzlich brach der Löwe zur Seite aus. Madyas fluchte, und die Worte waren kaum über seine Lippen, als ein Baumstamm keinen halben Schritt von ihnen entfernt niederschlug. Der Löwe machte einen Hüpfer. Rechts und links von ihnen waren plötzlich Beine, mächtiger als die bauchigen Tempelsäulen von Isatami. Haare wie Drähte sprossen aus grobporiger Haut.
»Wir trennen uns von ein paar Wurfspeeren!«, schrie Madyas, und im nächsten Augenblick purzelten zwei der schweren Lederköcher in den Schnee.
Ein dunkler Schrei ertönte über ihnen, so laut, dass es Artax wie ein Faustschlag in den Magen traf und das Gefieder ihres Löwen klirrend erzitterte. Jetzt sah er, wie sich der Riese, wild mit der Keule schwingend, herumdrehte. Weit ausholend traf er den vordersten Adler, der sich in ein Knäuel auseinanderstiebender Federn verwandelte, so wie ein Spatz, der vom Schleuderstein eines Lausbuben getroffen worden war. Die anderen Adler wichen dem Riesen in wilden Flugmanövern aus.
Artax’ Magen machte einen Satz. Sie waren in der Luft! Endlich!
Madyas brüllte vor Begeisterung wie ein brünstiger Stier. Ein Schatten zog über sie hinweg. Die Adler hatten sie eingeholt. Schnäbel, spitz wie Dornäxte, hackten auf sie nieder.
»Lass den Löwen wie ein Fass rollen!«, rief Artax durch das Rauschen der Flügel und die schrillen Schreie der Adler.
Die Schnäbel entrissen Artax die Lanze. Wieder wurden die Arme seiner Rüstung steif. Schnabelhiebe prasselten auf seinen Helm, Krallen packten seine Schulter, ohne dass er sich wehren konnte. Ein Adler mit goldfarbenen Augen versuchte, ihn von seinem Sitz auf der Löwenkruppe zu zerren.
In dem Moment kippte der Silberlöwe über den rechten Flügel ab und vollführte eine seitliche Rolle. Die Adler kreischten auf, unfähig, dieses Flugmanöver nachzumachen. Silberne Schwingen schnitten durch Fleisch und Federn. Der Schwarm, der sie eben noch umfangen hatte, lichtete sich.
»Und jetzt sind die Riesen dran!«, frohlockte Madyas.
Der Löwe stieg in steiler Kurve in den Himmel hinauf, während die Adler Mühe hatten, ihnen zu folgen.
Artax hatte einen atemberaubenden Blick auf das weite Schlachtfeld. Sieben Riesen standen unter ihnen. Sie alle hatten in ihrem Marsch innegehalten und reckten die Baumstämme, die sie als Keulen trugen, drohend zum Himmel hinauf. Ein Stück zurück marschierte das Heer der Daimonen. Banner in allen Regenbogenfarben flatterten über den endlosen Kolonnen.
Es würde ein langer Krieg werden, dachte der Unsterbliche beklommen. Selbst wenn sie alle Truppen Daias zusammenzögen, wäre ungewiss, ob sie dieses Heer aufhalten könnten. Wie sollten sie gegen Riesen ankämpfen? Oder gegen Drachen? Er griff hinter sich nach den Köchern mit den Wurfspeeren. Zumindest was die Adler anging, war nun die Stunde der Rache gekommen. Immer noch stieg der Löwe in steilem Winkel höher und höher. Die Adler folgten ihm, vermochten den Vorsprung des Löwen aber nicht schrumpfen zu lassen.
Es war genug Zeit verstrichen, sodass das Leder seiner Ärmel wieder weich und geschmeidig geworden war. Artax holte aus und schleuderte den ersten Speer hinab in den Schwarm der Raubvögel. Der Löwe stieg so steil in den Himmel, dass der Unsterbliche wie auf einem nach vorne gekippten Stuhl saß. Es war schwer, in dieser Position zu zielen. Der Gürtel, mit dem er an der Lehne festgeschnallt war, hielt sein ganzes Gewicht und schnitt ihm tief ins Fleisch.
Der erste Speer verfehlte sein Ziel und schoss fast senkrecht der Ebene entgegen. Sie stiegen höher und höher, und Artax fragte sich, wie weit Madyas noch in den Himmel hinaufwollte. Beunruhigt zog er den nächsten Wurfspeer. Diesmal ließ er sich ein wenig mehr Zeit. Er wog die Waffe in der Hand, schleuderte sie und verfehlte erneut. Fluchend zog er einen weiteren Speer. Das hatte er sich anders vorgestellt.
Der dritte Wurf traf. Der Speer bohrte sich tief in das Brustgefieder eines Adlers, der mit ausgebreiteten Flügeln nach hinten kippte und stürzte.
Madyas änderte nun die Flugrichtung. In einer weiten Kurve schwenkten sie auf den Riesen ein, der den Abschluss der kleinen Gruppe dieser Ungeheuer bildete. Als sie nahe genug waren, zog Artax einen weiteren Speer und schleuderte ihn. Das Geschoss traf den Riesen im Nacken, doch schien es nicht mehr Wirkung als ein Bienenstich zu haben. Er schlug ärgerlich nach hinten, blieb kurz stehen und drehte sich nach ihnen um.
Madyas nutzte dies, um in einen halsbrecherischen Sturzflug zu gehen. Sie flogen so dicht an seinem Gesicht vorbei, dass eine der Silberschwingen die Nase des Riesen streifte und einen blutigen Striemen darauf zurückließ. Große blaue Augen sahen ihnen ungläubig nach.
Artax schleuderte einen weiteren Speer ins Gesicht ihres verwunderten Gegners. Eigentlich hatte er auf das linke Auge gezielt, doch der Speer bohrte sich dicht neben der Nase ins Fleisch. Aus dem Flug heraus ein Ziel zu treffen war einfach etwas ganz anderes, als sicher auf festem Boden stehend einen Speer zu schleudern.
Die Adler, die ihnen folgten, stoben auseinander, um der Hand des Riesen auszuweichen, mit der er ungelenk vor seinem Gesicht wedelte, als wollte er ein paar lästige Fliegen verscheuchen.
»Lass uns den nächsten verdammten Riesen fertigmachen!«, jubelte Madyas und steuerte einen weiteren Gegner an.
Artax dachte, wie unterschiedlich ihrer beider Vorstellungen von jemanden fertigmachen doch waren. Die beiden Speertreffer hatten den Riesen ein wenig geärgert, aber aufhalten würden sie ihn ganz gewiss nicht.
Die letzten Krieger der Kushiten hatten den Aufgang zur Brücke erreicht. Immer noch hielten sie die Schilde zum Schutz gegen die Pfeile der Pferdemänner hoch. Überall auf dem Eis und dem blanken Felsgestein der Uferböschung lagen Tote. Aus der Höhe konnte Artax überdeutlich sehen, wie eine lange Linie von Leichen ihren Rückzugsweg aus Wanu markierte. Sie hatten sich in eine Falle locken lassen, und in dieser Stunde der größten Not waren die Devanthar nicht an ihrer Seite, um ihnen zu helfen. Selbst der Große Bär, der noch bis zur Nacht bei ihnen ausgeharrt hatte, war nun verschwunden.
Madyas stieß einen halb erstickten Schrei aus, und ein schwerer Schlag traf die hohe Sattellehne. Im selben Augenblick zog der schwarz-geflügelte Hengst an Artax vorbei. Sein Reiter, der blonde Daimon, ließ einen zersplitterten Lanzenschaft fallen, flog eine weite Kehre und zog sein Schwert.
»Madyas!«
Der Unsterbliche antwortete nicht. Artax drehte und wand sich in seinem Gurt, konnte aber nur sehen, wie im rasenden Flug eine Fahne von Blutperlen schräg an der Lehne vorbeispritzte. Schon senkte sich die Flugbahn des Löwen dem Boden entgegen. Seine Flügel waren starr, sie schlugen nicht länger. Nur der eisige Wind ließ sie noch leicht vibrieren.
»Befehle ihn zum Ufer! Unser Plan! Denk an den Plan!«, rief Artax verzweifelt. Doch Madyas gab kein Lebenszeichen von sich.
Sie zogen dicht über dem Kopf eines Riesen dahin, der mit einem wütenden Brüllen darauf reagierte, die Keule hob und mit schweren Schritten losstapfte, um sie noch zu erwischen. Doch sie waren zu schnell …
Links neben sich konnte Artax die Brücke sehen. Seine Kushiten waren im Nebel verschwunden, und es sah so aus, als würden die Pferdemänner zögern, ihnen nachzusetzen. Die vordersten drei der Riesen waren keine hundert Schritt mehr vom Fluss entfernt. Was hinter der Nebelwand vor sich ging, vermochte Artax nicht zu erkennen, dafür flogen sie längst zu tief … Nur noch dreißig Schritt bis zum Boden. Der Löwe fiel zwar nur in flacher Kurve, doch lange würde es nicht mehr dauern, bis er auf dem gefrorenen Grund zerschellte.
Verzweifelt griff Artax hinter die Lehne und bekam einen Arm des Steppenfürsten zu packen. »Lass ihn aufsteigen! Madyas! Wir sind am Ufer! Unser Plan … Madyas!«
Madyas’ Arm entglitt seiner Hand. Er konnte spüren, wie er kraftlos herunterhing.
Der Boden kam immer näher … Weniger als zwanzig Schritt.
Einige der Pferdemänner unter ihm stießen ein wildes Freudengeheul aus und preschten ihm hinterher. Sie waren darauf aus, sich eine Trophäe zu holen. Wild stießen sie ihre Speere in die Luft, als wollten sie ihm zeigen, was ihn erwartete, hätte er erst einmal Boden unter den Füßen.
Noch fünf Schritt. Plötzlich erwachte der Löwe aus seiner Starre. Seine Flügel bewegten sich wieder. Schwach, zögerlich nur, so als erwachte er aus einem tiefen Schlaf und streckte sich, um auch seine steifen Glieder aufzuwecken. Seine mächtigen Füße streiften klirrend den Boden. Ein Ruck lief durch den Löwenkörper, der Artax hart gegen die Rückenlehne schlagen ließ. Und dann stiegen sie wieder.
Die Pferdemänner fluchten. Ein Pfeil traf Artax, ohne etwas auszurichten, in die Brust, ein zweites Geschoss streifte seinen Helm.
Der Löwe begann sich im Steigflug um seine eigene Achse zu drehen. Das war das verabredete Zeichen für den valesischen Hauptmann Vibius! Sofern ihn der Bote, den Ormu losschicken sollte, auch erreicht hatte. Artax griff nach hinten. Seine Hände krallten sich in das zähe Leder der Sattellehne. Sein Oberkörper hing fast waagerecht, so steil stieg der Löwe aufwärts. Der Wind ließ seinen roten Mantel wie eine Fahne wehen. Er stieg höher als der Nebel über dem Fluss, dabei drehte sich der Löwe immer weiter um seine eigene Achse.
Artax war es schwindelig. Der wilde Flug auf dem Löwen berauschte und erschreckte ihn zugleich. Der Tod stand neben ihm. Ein Fehler, und nicht einmal die Rüstung der Devanthar würde ihn retten. Sein Vorgänger war auf diese Art gestorben. Aus dem Himmel gestürzt, von einer Daimonin in den Abgrund gestoßen.
Ein klammes Gefühl nistete bei diesen Erinnerungen tief in seinem Magen. Und zugleich fühlte er sich wie ein Gott! Es war ganz anders als das langsame Gleiten auf den Wolkenschiffen. Dieser rasende Flug hatte etwas Berauschendes. Während sich der Löwe immer weiter in den Himmel schraubte, breitete sich unter Artax die ganze Ebene aus. Von Wanu bis zur Nebelwand über dem Fluss und darüber hinaus bis zu jenem Ort, an dem sich bald das magische Tor öffnen würde.
Rauchfäden zogen unter ihm durch den Himmel. Und dann, endlich, erblühte die erste Feuerblume unten am Ufer! Weitere folgten binnen eines Atemzugs. Die Pferdemänner stoben angstvoll auseinander. Einem von ihnen brannte das Fell lichterloh. Ein Riese wurde von einem Ölkrug auf der Brust getroffen, und eine Kaskade aus Flammen ergoss sich über seinen Bauch hinab bis zu den Lenden. Wild schreiend stürmte er dem Fluss entgegen, warf sich auf die Knie und begann mit seinen gewaltigen Händen Wasser auf seinen Leib zu schaufeln. Doch das brennende Öl wollte nicht verlöschen.
Die anderen Riesen liefen davon, ohne darauf zu achten, was ihnen unter die Füße kam. Überall am Ufer herrschte Tumult. Die Marschsäulen, die ein Stück zurücklagen, verharrten.
Artax jubilierte, als eine neue Reihe von Feuerblüten entlang des Ufers aufstieg. Die Daimonen wichen zurück! Wenn es nun noch gelang, die Brücke in Brand zu setzen, dann waren sie gerettet! Nur ein halber Tagesmarsch trennte sie vom Weltentor. So schnell würden nicht einmal die Daimonen eine neue Brücke schlagen können.
Plötzlich war der rote Reiter wieder hinter ihm. Er hob sein Schwert zum Fechtergruß. Es war unheimlich, wie schnell und mühelos sein geflügelter Hengst ihn näher trug. Bald konnte Artax deutlich das ebenmäßige Gesicht des Daimons erkennen. Er sah gut aus mit seinen hohen Wangenknochen und der gewölbten Stirn. Nur seine Augen … Sie waren ganz schwarz. Nicht einmal ein schmaler weißer Rand umfasste sie.
Mit weit vorgestrecktem Schwert flog er ihm entgegen.
»Madyas!«, versuchte es Artax noch einmal. »Madyas! Wir müssen ausweichen!«
Unbarmherzig kam der Daimon näher, während der Löwe sich immer noch in Spiralen höher in den Himmel schraubte.
Artax dachte mit aller Kraft an den Löwen. Verzweifelt hoffte er darauf, Verbindung zu dem Geschöpf aus lebendem Metall aufzunehmen. Nichts! Sie gehorchten nur einem – dem Unsterblichen, der sie erwählt hatte.
Unbarmherzig kam die Schwertspitze näher und näher. Wie ein Pfeil, der auf ihn abgeschossen worden war, nur dass Artax hier im Gegensatz zu einem Pfeil, der schnell wie der Wind flog, Gelegenheit hatte, den nahenden Tod kommen zu sehen und das Gefühl seiner Wehrlosigkeit voll auszukosten. Die Klinge zielte direkt auf sein Gesicht.
Der Unsterbliche schloss die Augen. Er atmete schwer auf. Vor seinem Geiste erschien das Gesicht Shayas. Er sah sie auf dem Rücken des Wolkensammlers tanzen und vor dem Thron in seinem Palast im Gewand einer einfachen Dienerin niederknien, in dem man sie vor ihn gebracht hatte, damit er über sie Gericht hielt. Nie würde er den Augenblick vergessen, als sie für ihn von den Toten auferstanden war.
Mit der Erinnerung kam Zorn. Er durfte sich nicht einfach dem Schicksal überlassen! Er öffnete die Augen, und seine Hand fuhr hinab zu seinem Schwert. Unheimliche grüne Flammen spielten um die Klinge, als er die Waffe zog.
Deutlich sah er, wie sich die Augen des Daimons weiteten, doch schwenkte das fliegende Pferd nicht ab. Stahl klirrte auf Stahl. Vergeblich versuchte Artax, die Waffe des Daimons zur Seite zu drücken. Funken stoben von den Klingen. Auch der Daimon würde getroffen werden, aber er gab nicht auf.
Schwarze Schwingen streiften Artax’ Helm, und dann stieß das Schwert in sein Visier. Sengender Schmerz durchfuhr ihn. Die Welt kippte nach hinten. Blut spritzte ihm in die Augen. Er blinzelte dagegen an und sah nur noch verschwommen. Benommen begriff er, dass sich der Löwe aus dem Steigflug mit ausgebreiteten Schwingen nach hinten hatte fallen lassen.
Ein metallisches Kreischen durchdrang die Apathie, mit der Artax den Sturz akzeptiert hatte. Silberne Federn stoben auf. Der Daimon tat es erneut! Er hieb auf die Schwingen des Löwen ein. Doch das Tier aus lebendem Metall gab den Sturz auf. Es drehte sich überraschend. Seine schweren Flügel durchtrennten einen Vorderlauf des fliegenden Pferdes und schnitten tief in die Brust des Hengstes, der in Todesangst wieherte.
Der Daimon wurde aus dem Sattel gerissen, und nur die Fangleine rettete ihn davor, abgeworfen zu werden, als sein prächtiger Hengst trudelnd aus dem Himmel stürzte.
Rote Schleier blendeten Artax endgültig. Mehr spürte er den Nebel, als dass er ihn sah. Schmeckte die feuchte Wärme, als er einatmete und ihm wieder das Bild Shayas erschien, wie sie für ihn im Himmel getanzt hatte.
Nodon kniete neben Mondschatten, der ihn so viele Jahre lang durch den Himmel Albenmarks getragen hatte. Der Pegasus lag auf dem eisigen Boden, eine Schwinge ragte steil auf, die andere war grotesk verdreht unter seinem Rumpf begraben. Ein Huf war abgetrennt. Nodon wandte den Blick von den bleichen Knochen und verfluchte den Befehl des Dunklen, der ihn hierhergeführt hatte. Und er verfluchte seine Kampfeslust! Hätte er den silbernen Löwen doch nur ziehen lassen. Was hätte diese Kreatur aus Metall mit ihren beiden Reitern schon auszurichten vermocht. Ihren Vormarsch ein wenig stören. Sein Kampf hatte nicht verhindert, dass die Reiter des Löwen das Zeichen für die Katapulte gegeben hatten.
»Es tut mir leid«, flüsterte Nodon und strich sanft über den mit Schaumflocken bedeckten Hals des Pegasus.
Der Hengst sah ihn mit weiten Augen an. Der Elf sah den Schmerz darin. Und den Willen, weiterzukämpfen, sein Leben noch nicht loszulassen. Nodon wusste nur zu gut, dass Mondschatten diesen letzten Kampf nicht gewinnen konnte. Zu schwer waren seine Verletzungen. Aber Mondschatten würde noch Stunden durchhalten. Er war stolz und störrisch, so war er immer schon gewesen.
»Verzeih mir meine Dummheit.« Nodon spürte, wie das Blut in der großen Halsader des Pegasus pulsierte, wie kräftig das Herz seines Gefährten noch schlug. »Ich hätte diesen Kampf meiden sollen. Er war unnötig.«
Mondschatten schnaubte, als wollte er widersprechen.
»Ja, du hast ihn besiegt, diesen Metalllöwen«, sagte Nodon beschwichtigend und zog den Dolch, den er am Gürtel trug. »Nichts, was Schwingen hat, kommt dir gleich, Mondschatten.« Sanft drückte er die Schneide der Waffe gegen die große Ader tief unten am Hals. Nodon war sich sicher, dass sein Freund den Schnitt nicht gespürt hatte. Dunkles Blut breitete sich in einer schnell wachsenden Lache unter seinem Leib aus.
»Du hast nie einen Kampf verloren, mein Freund. Danke, dass du mir erlaubt hast, mit dir durch die Himmel zu reisen und an deinem Ruhm teilzuhaben.«
Ein warmer Glanz lag in Mondschattens Auge. Nodon tätschelte die Nüstern des Hengstes. Sie fühlten sich kalt an. »Mögen die Alben deine Seele ins Mondlicht geleiten.«
Der Schweif des Pegasus strich schwach über das Eis. Ein Zucken lief durch seine Beine.
»Ich bin bei dir, mein Freund.«
Mondschattens Auge weitete sich. Wieder zuckten seine Beine. Er wollte aufstehen, wollte dem Tod stehend begegnen.
»Erinnerst du dich an den Sommer, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Du hattest mich gesehen, obwohl ich gut getarnt in einem Dornbusch lauerte. Du warst der größte Hengst in deiner Herde. Ein König im Bainne Tyr. Selbst die Löwen dort respektierten dich und fürchteten sich vor deinen schweren Hufen.«
Nodon hauchte ein Wort der Macht und wob einen Zauber. Ein sanfter warmer Wind kam auf und spielte mit den zerzausten Federn des gebrochenen Flügels.
»Ich habe mich für unsichtbar gehalten in dem Gebüsch, du aber bist davongeprescht und auf geweiteten Schwingen auf dem warmen Wind des Bainne Tyr in den Himmel gestiegen. Wenn ich daran denke, dann ist es mir, als könnte ich den Wind selbst jetzt spüren. Als müsste ich nur die Augen schließen, um dort zu sein.«
Mondschattens Blick hielt ihn gefangen. Jetzt lag Frieden in dem großen, schwarzen Auge. Seine Nüstern wölbten sich. Er schnaubte.
»Du bist eine weite Kehre geflogen und zurückgekehrt, um mich unter deinen mächtigen Hufen in meinem Gebüsch zu zertrampeln. Ich habe mich flach auf den Boden geworfen, und dann haben wir einander zum ersten Mal in die Augen gesehen. Beide haben wir große, schwarze Augen, nicht wahr, mein Schöner.« Nodon spürte, wie das Blut nun schwächer durch die große Halsader pulsierte. Unter dem Hengst hatte sich eine erschreckend große Lache gebildet.
»Als du mir in die Augen gesehen hast, da wusstest du, dass wir füreinander bestimmt sind. Natürlich hast du dir das nicht eingestanden, alter Dickkopf. Du hast nur davon abgesehen, mich zu zertrampeln, bist nahe beim Busch gelandet und hast mich lange angesehen. Und als ich Trottel dir einen Strick über den Hals werfen wollte, habe ich mir doch noch einen Huftritt eingefangen.« Nodon lachte leise. »Du warst eine ganz schön zimperliche Braut. Zwei Wochen hat es gedauert, bis ich dich zum ersten Mal berühren durfte. Über einen Mond, bis ich dich zum ersten Mal geritten habe. Und bis du bereit warst, deine Herde zu verlassen, hat es fast ein halbes Jahr gedauert. Dabei hast du schon am ersten Tag gewusst, dass es so enden würde. Aber etwas wissen und nachzugeben, das war nie deine Sache, mein Freund.«
Der Glanz war aus dem Auge des Pegasus gewichen. Nodon drückte das Lid herab und ließ seine Hand darüber ruhen. »Ich wünsch dir einen guten Steigwind, wohin immer deine Seele auch fliegen mag, Mondschatten.«
Lange kniete Nodon neben dem toten Pegasus. Er spürte, dass er nach einer Weile nicht mehr allein war, aber er drehte sich nicht um. Wer immer gekommen war, verstand seinen Schmerz und dass der Abschied seine Zeit brauchte.
Endlich war er so weit. Mit einem Seufzer richtete er sich auf. Seine Beine fühlten sich taub an, fast so sehr wie seine Seele.
Ailyn war zu ihm gekommen. Er war überrascht, die Drachenelfe hier zu sehen.
»Ich habe die Vorhut geführt«, sagte sie ruhig.
Offensichtlich waren ihm seine Gedanken allzu deutlich anzusehen gewesen. Er straffte sich und wollte sich zur unerschütterlichen Ruhe zwingen, die ihnen in der Weißen Halle anerzogen worden war. Die Kunst, ihre Emotionen zu verbergen, ließ Fremde leicht glauben, dass Drachenelfen keine Gefühle hatten. Doch das stimmte nicht. Und hier, an der Seite seines toten Pegasus, der ihn so viele Jahre begleitet hatte, mochte es Nodon einfach nicht gelingen, einen gleichmütigen Eindruck zu erwecken.
Ailyn sah aus, als wäre sie gerade erst aus einem Festsaal getreten. Weiß und makellos stand sie vor ihm. Sie trug nicht einmal eine Waffe. Man konnte kaum ungeeigneter für ein Schlachtfeld wirken, als sie es tat. Doch da waren eine Härte und eine Entschlossenheit in ihrem Gesicht, die keinen Zweifel aufkommen ließen, dass sie es gewohnt war, Befehle zu geben.
»Wer ist sonst noch hier?«, fragte Nodon müde.
»Von uns? Keiner. Sie halten die Drachenelfen zurück. Außer denen, die sie loswerden wollen. Was hast du verbrochen, um hier zu sein?«
Nodon sah Ailyn durchdringend an. Auch wenn sie äußerlich dieselbe war, lag da ein Unterton in ihrer Stimme, der neu war. Nicht nur Zynismus. Sie klang geradezu rebellisch.
»Ich schätze, ich habe zu viele Fragen über Nandalee gestellt.«
Ailyns Augen wurden schmaler. »Wie meinst du das?«
»Es ist …« Nodon wusste selbst nicht recht, wie er es in Worte fassen sollte. »Ihre Kinder. Sie hätten längst zur Welt kommen sollen. Diese Schwangerschaft … sie wird immer unheimlicher. Nandalee hat ihr Zimmer abgedunkelt. Es darf kein Licht dort sein. Sie wirkt völlig apathisch und irgendwie unheimlich. Ich habe Nachtatem darauf angesprochen, immer wieder. Ich habe ihn angefleht, dem ein Ende zu machen. Er hat mich ignoriert. Und dann kam der Befehl, hierherzukommen.« Nodon schnaubte. »Ich soll seine Augen sein, hat er gesagt, aber es ging nur darum, mich loszuwerden. Wie es aussieht, kann ich ja nun zurückkehren. Das Gemetzel ist beendet.«
»Wie kommst du darauf?«
Nodon deutete zur Brücke, von der dunkler Rauch aufstieg. »Die Brücke brennt. Wir können sie nicht mehr verfolgen.«
»Unser Heerführer sieht das anders.«
Nodon war überrascht. Er hätte Solaiyn, dem verbitterten alten Elfenfürsten aus Arkadien, dem die Himmelsschlangen rätselhafterweise den Oberbefehl gegeben hatten, nicht viel Initiative zugetraut. Bisher hatte er sich als ausgesprochen phantasielos erwiesen.
»Solaiyn will die doppelrumpfigen Boote am Ufer nutzen, um eine Schiffsbrücke über den Fluss zu schlagen. Er hat schon Wagen zurück nach Wanu geschickt, um dort Holz und Seile zu holen.«
Nodon betrachtete die brennende Brücke. »Das ergibt doch keinen Sinn. Wir werden mindestens einen Tag für den Bau einer solchen Schiffsbrücke benötigen. Bis dahin werden alle Menschenkinder durch den Albenstern geflohen sein, durch den sie hergekommen sind.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Ailyn düster. »Die Himmelsschlangen haben andere Pläne mit ihnen.«
Sie sah den Löwen aus dem Himmel stürzen. Er fiel nicht wie ein Stein, aber es war offensichtlich, dass die Landung mit einem Unglück enden musste. Das prächtige Tier tat nichts, um den Flug zu verlangsamen. Und beide Reiter hingen leblos im Sattel.
Shaya hatte das Gefühl, dass ihr eine unsichtbare Macht die Kehle zuschnürte. War das Aaron, der Reiter mit dem karmesinroten Umhang?
»Unsere Unsterblichen haben in die Niederungen von uns Sterblichen gefunden, wie es scheint«, sagte Ninwe in einem Zynismus, der sonst ganz und gar nicht ihre Art war.
»Ich muss dorthin!« Shaya scherte aus dem langen Zug von Flüchtlingen aus, in den sich ihr gestern noch so stolzes Heer verwandelt hatte.
Ninwe packte sie beim Arm und versuchte sie zurückzuhalten. »Nicht! Sie werden nicht wollen, dass solche wie wir unsere göttlichen Herrscher so sehen.« Aufrichtige Sorge stand nun in ihren Augen. »Solche wie wir sind nicht dazu geboren, mit Unsterblichen zu verkehren. Daraus wird dir nichts Gutes erwachsen. Bleib hier!«
Shaya riss sich los. Sie musste Aaron sehen. Als sie loslief, hatte der Löwe fast den Boden erreicht. Mit ein paar kraftlosen Flügelschlägen versuchte die Kreatur aus lebendem Metall, weiter fort vom Nebel und den Feinden zu kommen. Die Adler, die ihn zuvor angegriffen hatten, kreisten hoch am Himmel und unternahmen keinen Versuch mehr anzugreifen.
Eine Wolke von Schnee stob auf, als der Löwe niederging. Obwohl Shaya fast eine halbe Meile entfernt war, hörte sie das Kreischen von Metall. Unheimliche Stille folgte. Etliche Steppenreiter preschten zur Absturzstelle. Jetzt erst wurde der gefallenen Prinzessin bewusst, dass einer der beiden Reiter ihr Vater Madyas gewesen sein musste.
Ihr Bruder Subai war unter denen, die zum Löwen ritten. Ihm folgte sein persönlicher Standartenträger mit dem Feldzeichen, von dem drei weiße Rossschweife hingen. Er durfte sie nicht sehen! Shaya wurde langsamer. Laufende Männer überholten sie. Sie erkannte Ormu und einige vertraute Gesichter aus Aarons Leibwache, den Kushiten.
Die Prinzessin musste sich eingestehen, dass Ninwe recht hatte. Es war dumm hierherzukommen, wenn auch aus ganz anderen Gründen, als ihre Gefährtin annahm. Niemand von denen durfte sie sehen! Shaya zog die Decke, die um ihre Schulter und ihren Kopf geschlungen war, tiefer in ihr Gesicht und zupfte an dem groben Wollschal, bis er ihre Lippen bedeckte.
Sie hatte die Absturzstelle fast erreicht, als ihr ein Reiter mit drohend gesenktem Speer entgegenpreschte. Der silberne Löwe war in eine große Schneewehe an der windabgewandten Seite eines Hügels geschlagen.
»Bleib weg!«, schrie der Krieger sie an, doch sie hatte schon gesehen, was nicht für sterbliche Augen bestimmt war. Ein abgebrochener Speerschaft ragte aus der Brust ihres Vaters. Seine Rüstung war von seinem Blut durchtränkt. Es waren allein die straffen Gurte, die ihn noch im Sattel hielten. Sie brauchte nicht sein Antlitz zu sehen, das hinter der Wolfsmaske seines Helms verborgen war, um zu wissen, dass er tot war.
»Weg mit dir!« Die stählerne Speerspitze berührte ihre Brust. »Trosshuren haben hier nichts verloren!«
Sie sah, wie Aaron von der hohen Sattellehne geschnallt wurde. Er sank in die Arme von Ormu.
»Weib …«
Shaya packte wütend den Speerschaft und zog ihn mit einem Ruck an sich vorbei, der den überraschten Reiter aus dem Sattel stürzen ließ. Ein Schlag vor die Schläfe, und er rührte sich nicht mehr. Sie wollte weitergehen … Keiner hatte bemerkt, was sie getan hatte. Noch nicht. Alle Blicke waren auf die beiden Unsterblichen gerichtet.
Gerade wurde Aaron in seinen Umhang gehüllt und von den Kushiten von dem Löwen fortgetragen. Einen Herzschlag lang konnte Shaya ihn sehen, das gespaltene Löwenvisier seines Helms. Ein Augenblick, der sich in eine Ewigkeit dehnte.
Ihr knickten die Beine weg. Das durfte nicht sein. So konnte es nicht enden! Hatten die Götter sie denn verlassen? Aaron war der Edelste unter allen Unsterblichen, der Einzige, der eine Vision hatte, die über sein Königreich hinausging. Vielleicht war er verrückt, aber er wollte die ganze Welt verbessern. Das hatte sie mehr als alles andere an ihm geliebt. Und damit ihre Liebe diesen Traum nicht erstickte, war sie letztlich gegangen. War all dies nun zerstört?
Zwei Hände legten sich auf ihre Schultern. Sie wirbelte herum. Ninwe!
»Komm hier weg! Das ist kein Ort für uns.« Ihre Stimme war heiser vor Angst. »Was hier geschieht, ist zu groß für zwei einfache Mädchen.«
Shaya hatte das Gefühl, dass etwas in ihr zerbrochen war. Sie hatte weder die Kraft noch den Willen, sich zu widersetzen. Sie duldete, dass Ninwe ihr auf die Beine half und sie fortführte. Erneut reihten sie sich in den langen Treck der Flüchtlinge ein. Doch nur weil Ninwe sie neben sich herzog, setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Shaya vermochte das Bild des zerschmetterten Visiers nicht mehr zu vergessen. Sie starrte vor sich hin und sah nichts anderes als die Löwenmaske, die durch einen Schwerthieb zerteilt worden war. Die Sonne wanderte über das Firmament und versank in rot glühender Pracht, als wollte sie den Himmel in Flammen setzen. Der Wind frischte auf und zerrte an Shayas schwerer Wolldecke. Die Fliehenden marschierten stumm, mit verkniffenen Gesichtern und leicht vorgebeugt, als duckten sie sich vor der tyrannischen Kälte des Nordwinds.
Plötzlich blieben die Krieger vor ihnen stehen. Ein Raunen ging durch die Reihen. Ängstliches Geflüster. Dann griff Panik um sich. Plötzlich drängten alle wieder nach vorn, schneller nun. Es entstand ein mörderisches Gedränge. Die Schwachen wurden zu Boden getreten. Verzweifelte Schreie erklangen. Ninwe, die sie die ganze Zeit über geführt hatte, war nicht mehr an ihrer Seite. Shaya sah sich nach ihr um. Endlich war der Bann gebrochen, der die Welt auf das zerschmetterte Löwenvisier hatte zusammenschrumpfen lassen. Wo war ihre Freundin? Das Gedränge wurde immer schlimmer.
Shaya war stehen geblieben, während immer mehr erschöpfte Krieger rechts und links an ihr vorüberdrängten. Sie kämpfte sich aus der schiebenden und stoßenden Masse. Verzweifelt rief sie immer wieder Ninwes Namen. Sie erhielt keine Antwort. Keiner nahm Anteil. Ärgerliche Rufe ertönten aus der Marschkolonne, warum es nicht vorwärtsging. Alle wollten nur noch fort von den Daimonen und der mörderischen Kälte. Plötzlich preschte ein Hauptmann in guter Winterkleidung auf seinem Schimmel an der Kolonne entlang und rief den Männern zu, dass sie rasten sollten und dass es bald weitergehen werde.
Shaya spürte, dass dies eine Lüge war. Irgendetwas stimmte nicht. Hatte der Feind sie umzingelt und den Weg zum Weltentor abgeschnitten?
Endlich entdeckte Shaya einen flammend roten Haarschopf im Gedränge hinter ihr.
Ninwe schob sich in ihre Richtung. Ihr Gesicht war gerötet. Tränen rannen ihr über die Wangen. »Es ist vorbei. Wir sind alle verloren«, rief sie, als sie bei Shaya ankam. »Wir alle werden sterben!«
Die Kunst ist es, nicht gierig zu sein, dachte Langarm, während er durch sein Verborgenes Auge seine neueste Schöpfung betrachtete und das Gespinst aus feinen Lichtfäden studierte, das die Kreatur in der Mitte seiner weiten Höhle umgab.
Warum nur Löwen erschaffen? Warum sich bescheiden? Hatte er doch alle Möglichkeiten. Stolz erfüllte ihn beim Anblick der Silhouette aus verwobenem Licht. Es war ein Drache, nicht so groß wie die Himmelsschlangen, doch keinesfalls kleiner als deren mächtigste Diener, die Sonnendrachen. Von der Schwanzspitze bis zur Schnauze maß das Geschöpf fast dreißig Schritt. Es würde Tod und Verderben unter die Albenkinder tragen.
Er spürte, wie das Goldene Netz sich gegen ihn aufbäumte, sich seinem Bemühen widersetzte und ihn zu umschlingen versuchte. Langarm atmete schwer aus. Nicht dagegen ankämpfen, ermahnte er sich in Gedanken. Loslassen! Er hatte zu viel und zu schnell Kraft aus dem Gespinst, das alle drei Welten umfasste, genommen. Geduld war die schwerste aller Tugenden, wenn man ein Gott war. Ließ er die Kraft langsam fließen und verwob seine Kreatur mit dem Netz, dann wurde sie ein Teil der magischen Welt. Ließ er die Kraft zu schnell fließen und war ein nachlässiger Zauberweber, dann wandte sich das Goldene Netz gegen den Drachen aus lebendem Metall. Es war eine Eigenart, die von den Alben in diesen größten aller Zauber eingebracht worden war, als sie gemeinsam mit den Devanthar die Welten erschaffen hatten. Oder war es Nangog gewesen?
Der Gedanke, dass die plumpe Riesin etwas so Hintersinniges und zugleich Kunstfertiges hätte erschaffen können, widerstrebte Langarm zutiefst. Nein, es waren ganz gewiss die Alben gewesen, die dem magischen Netz so etwas wie ein Bewusstsein für die Welten eingehaucht hatten. Jenes Bewusstsein wandte sich gegen alles, was gegen den Plan der Schöpfung verstieß. Es strafte Zauberweber, die zu unmäßig von seiner Kraft stahlen, und richtete sich gegen Kreaturen wie den Drachen, den er erschaffen hatte … Es sei denn, man nahm sich die Zeit, diese Kreaturen mit Geduld und Kunstfertigkeit zu einem Teil des magischen Netzes werden zu lassen.
Langarm verlangsamte den Fluss der Kräfte. Es war, als wäre er gezwungen, nur in winzigen Schlucken Tropfen um Tropfen zu trinken, obwohl er fast verdurstet war. Die Kräfte des Goldenen Netzes wandten sich nun nicht mehr gegen ihn und den Drachen. Die feinen Fäden leuchteten nun in allen Regenbogenfarben. Kein Menschenkind würde jemals die wahre Pracht seiner Schöpfung sehen. Die magische Welt blieb ihrem Blick verborgen. Alles, was sie sahen, war die metallene Hülle. Doch das war nur der kleinste Teil seiner Arbeit.
Er wandte den Blick zum Kopf des Drachen. Hier ruhte ein kleiner Splitter des Herzens Nangogs. Er war das Geheimnis des Drachen und aller anderen Kreaturen aus lebendem Metall. Nur dieser Splitter ermöglichte es, die komplexen und vielfältigen Zauber an den Drachen zu binden. War dies ein Hinweis darauf, dass sich die Riesin doch heimlich in die Schöpfung der magischen Welt eingebracht hatte, so wie sie in aller Heimlichkeit ihre eigene Welt gebaut hatte? Oder war es nur Zufall?
Es war besser, dieses Geheimnis ruhen zu lassen, als Beweise dafür zu finden, dass die Schöpfung vielleicht nicht ganz so war, wie er sie gerne sehen wollte. Ob es unter seinen Brüdern und Schwestern irgendjemanden gab, der sich auch solche Gedanken machte? Wohl kaum. Sie waren viel zu sehr dem Weltlichen und dem Genuss verfallen. Den meisten von ihnen traute er keine selbstkritischen Gedanken zu.
Zu gern hätte er gewusst, wie es bei den Himmelsschlangen aussah. Gab es auch unter ihnen Intrigen und Missgunst? Oder handelten sie alle nach einem Willen, entschlossen, Rivalitäten zu vergessen, bis der Sieg erreicht war?
Etwas störte die Harmonie seines Zaubers. Die Kraftlinien begannen auf eine Art zu schwingen, wie er es noch nie gesehen hatte. Plötzlich traf ihn ein scharfer Schmerz wie ein Peitschenhieb. Etwas zerrte an seiner Essenz, seiner Lebenskraft. Ja, sie wurde in das magische Netz gezogen! Sofort beendete der Devanthar seinen Zauber, trennte jede Verbindung zu den Kraftlinien und sah, wie zwei der Linien, die er in sein Zauberwerk eingebunden hatte, verblassten und sich schließlich ganz auflösten.
Langarm mochte nicht glauben, was er sah. Kraftlinien verschwanden nicht einfach. Etwas hatte sie zerstört, und verlöschend hatten sie von seiner Kraft genommen, um ihren Fortbestand zu sichern. Schwer stützte er sich auf einen großen Amboss, der nahebei stand. Seine Knie zitterten. Er fühlte sich so schwach, als hätte er Tage ohne Unterlass gearbeitet, so wie er es manchmal tat, wenn ein großes Werk kurz vor der Vollendung stand und er die Welt und den Lauf der Zeit völlig vergaß.
Fluchend wurde ihm bewusst, dass der Zauber, den er um den metallenen Drachen gesponnen hatte, schweren Schaden erlitten hatte. Er würde noch einmal ganz von vorne beginnen müssen. Auch wenn er, anders als bei seinem ersten Drachenzauber, nur eine Harmonie zwischen dem Kristall aus dem Herzen Nangogs und dem Metall des Drachen herstellen musste, war es keineswegs ein banales Unterfangen.
Immer noch betrachtete Langarm seine Umgebung durch sein Verborgenes Auge. Alle Kraftlinien schwangen wie Saiten einer Leier, die zu stark angeschlagen worden waren. Hatten die Himmelsschlangen entdeckt, was er tat, und bewusst seinen Zauber gestört? Er musste sich mit seinen Brüdern und Schwestern beraten!
Als er sich vom Amboss abwenden wollte, knickten ihm fast die Beine weg. Laut fluchend suchte er nach etwas, das ihm als Krückstock dienen konnte. Endlich fand er einen Speerschaft und begann, die lange Treppe zu erklimmen, die aus dem Herzen des Berges hinauf zum Gelben Turm führte. Deutlich spürte Langarm, dass auch seine Brüder und Schwestern in Aufruhr geraten waren. Alle strebten sie dem großen Versammlungssaal entgegen.
Als Langarm endlich die weite Halle vor dem Saal erreichte, hörte er Anatu wimmern. Sie kauerte in ihrem Gefängnis, dem Drachenschädel des Purpurnen, und stieß Laute aus, die den Devanthar an ein verwundetes Tier erinnerten. Er würdigte sie keines Blickes, obwohl er wegen des seltsamen Zaubers, der diese Halle beherrschte, zweimal auf den Schädel zugehen musste, bis er schließlich den hohen Torbogen zum Versammlungssaal durchqueren konnte.
Seine Brüder und Schwestern waren in heller Aufregung. Sie redeten durcheinander, wie sie empfunden hatten. Jeder schien auf andere Art gespürt zu haben, was vor sich gegangen war. Die unstet wandernden Säulen aus Dunkelheit taten das Ihre, um die beklemmende Atmosphäre zu unterstreichen, die herrschte. Kurz hatte Langarm das Gefühl, in einen Hühnerstall geraten zu sein, in den ein Fuchs eingebrochen war.
Endlich war es sein Bruder mit dem Adlerhaupt, der Schutzgott Valesias, der seine Stimme erhob und sie alle zur Ruhe rief: »Die Himmelsschlangen haben das Weltentor, das nach Wanu führt, angegriffen. Alle sieben Albenpfade, die hindurchführten, sind durchtrennt. Das Heer der sieben Königreiche ist von seinem Rückzugsweg abgeschnitten. Das nächste Weltentor ist viel zu weit entfernt. Unsere Krieger sind im ewigen Eis gestrandet und werden von einer Übermacht von Albenkindern bedrängt. All unsere Unsterblichen sind dort, aber keiner von uns. Was sollen wir tun?«
»Wir müssen ihnen natürlich helfen!«, brummte der Große Bär mit düsterem Bass. »Wir dürfen sie nicht gleich in der ersten Schlacht im Kampf gegen die Albenkinder verloren geben.«
»Glaubst du nicht, dass es genau das ist, was die Himmelsschlangen von uns erwarten«, fragte Langarm. Es fühlte sich niederträchtig an, dazu aufzurufen, die Menschenkinder im Stich zu lassen. Doch was die Himmelsschlangen beabsichtigten, war allzu offensichtlich. »Sie wollen, dass wir dorthin eilen, um unseren Schützlingen zu helfen. Und warum? Um noch einmal möglichst viele von uns an einem Ort zu versammeln, der nicht so geschützt ist wie der Gelbe Turm. Habt ihr das Feuer von Selinunt vergessen? Habt ihr vergessen, wie selbst der Himmel in Flammen stand? Sie wollen es wieder tun! Sie sind dort. Entweder irgendwo im Dunkel zwischen den Welten oder aber im ewigen Eis. Sie sind Raubtiere. Sie sind es gewohnt, Beute zu belauern. Und ich weiß ganz sicher, dass ich keine Beute sein werde.«
Schweigen senkte sich über den weiten Saal. Er sah seinen Brüdern und Schwestern an, wie es in ihnen arbeitete. Der Löwenhäuptige rang offensichtlich mit sich. Es gefiel ihm nicht, seinen Aaron aufzugeben. Išta hingegen wirkte ruhig und gefasst. Der Große Bär lief unruhig auf und ab wie ein gefangenes Raubtier. Der Adlerhäuptige hingegen sah ihn voller Hass an. Er hatte unbequeme Wahrheiten schon immer schlecht vertragen. Der Ebermann schnaubte vor sich hin. Schließlich war er es, der das Schweigen brach. »Ist das wirklich alles? Das ist es, was uns dazu einfällt, wenn uns die Drachen gleich in der ersten Schlacht all unsere Unsterblichen nehmen? Ihr alle schreckt vor ihnen zurück? Können wir keinen Zauber weben, der uns vor ihren Flammen schützt? Wir sind Weltenschöpfer. Wir sind Götter! Wir haben eine Verantwortung. Wir können doch nicht einfach hierbleiben und abwarten, bis es vorbei ist, während unsere Kinder darauf hoffen, dass wir sie erretten werden.«
»Ob es dir gefällt oder nicht, es ist das einzig Vernünftige«, erklärte Išta mit grausamer Ruhe. »Du weißt selbst, wie es mit dem Zauberweben ist. Wenn man sich auf ein neues Gebiet wagt, weiß man vorher nicht, ob einem Erfolg beschieden ist. Ja, wir könnten versuchen, uns durch einen Zauber zu schützen. Aber was wissen wir schon vom Feuer der Himmelsschlangen? Sie sind Geschöpfe mit fast göttergleichen Fähigkeiten. Was, wenn wir uns irren? Machen wir einen Fehler, dann werden wir keine Gelegenheit haben, einen zweiten Zauber zu wirken. Wir werden Asche sein. Die Zukunft der Menschheit wird Asche sein … Gerade weil sie unsere Kinder sind und uns brauchen, dürfen wir nicht gehen. Wir dürfen nicht die Zukunft der ganzen Welt riskieren, nur um ein paar wenige Sterbliche zu retten.« Sie hob resignierend die Hände. »Ich weiß, ihr haltet mich für kaltherzig und grausam. Und doch ist wahr, was ich sage.«
»Welches Ansehen hätten wir noch unter den Menschen, wenn sich herumspricht, dass wir ihnen in der Stunde der höchsten Not nicht geholfen haben?«, fauchte der Löwenhäuptige erbost. »Warum sollten sie in uns noch Götter sehen, wenn unsere Feigheit, den Drachen entgegenzutreten, so offensichtlich ist? Wir besiegeln unseren eigenen Untergang, wenn wir das Heer der sieben Reiche untergehen lassen.«
Išta gab einen schnalzenden Laut von sich und bedachte ihren Löwenbruder mit einem mitleidigen Lächeln. »Dramatisierst du das nicht ein wenig? Wir wissen, du hast an deinem gegenwärtigen Aaron einen Narren gefressen, aber nun ist auch seine Zeit gekommen.«
»Wir zerstören den Mythos der Unsterblichen«, beharrte der Löwenhäuptige. »Durch deinen unbedachten Auftritt nach der Schlacht von Kush, als du Muwatta vor den Augen Tausender enthauptet hast, hat dieser Mythos bereits Schaden genommen. Nun werden wir ihm den Todesstoß versetzen.«
»Ganz und gar nicht«, mischte sich die Sturmruferin ein.
Langarm mochte seine Schwester nicht. Ihr Schlangenhaar widerte ihn an, und ihre kalte, herablassende Art ihm gegenüber kränkte ihn.
»Wir machen es einfach wie immer, wenn die Zeit für einen Unsterblichen gekommen war«, fuhr sie fort. »Wir ersetzen sie. Niemanden wird es wundern, wenn allein die Unsterblichen den Schrecken der Schlacht auf der Eisebene überlebt haben.« Sie blickte zu Langarm.
»Nein!« Der Schmied wusste, was nun kommen würde. »Ihr stellt euch das viel zu einfach vor. Das ist …«
»Drück dich nicht, Bruder. Jeder von uns hat seine Pflichten. Du wirst sieben Rüstungen erschaffen, die bis ins kleinste Detail denen entsprechen, die unsere jetzigen Unsterblichen tragen.«
»Du hast keine Ahnung, was du da verlangst!«, empörte sich Langarm. »Allein einen dieser Helme zu schaffen kostet mich einen Tag. Nehmen wir die Rüstungen der Toten!«
»Die Toten liegen auf der Eisebene, du Narr!«, mischte sich Išta ein. »Also dort, wo die Himmelsschlangen uns erwarten. Ich bin mir sicher, wenn wir nicht alle kommen, dann begnügen sie sich auch damit, einen einzigen von uns zu verbrennen. Willst du es wagen, dort hinauszugehen, Langarm? Und das nur wegen ein paar Rüstungen?«
»Wenn wir unsere neuen Unsterblichen weit entfernt von ihren Vorgängern erschaffen, dann werden ihnen die Erinnerungen ihrer Vorgänger fehlen«, wandte der Adlerhäuptige ein. »Bei Hof wird man sehr schnell bemerken, dass etwas nicht stimmt.«
»Ich bitte dich«, rief Išta spöttisch. »Bist du nicht in der Lage, einem Menschen Erinnerungen an Ereignisse einzupflanzen, an denen er nicht teilhatte? Soll ich dir zeigen, wie das geht? Wir haben mehr als zehn Tage, um unsere neuen Unsterblichen auf ihre Herrschaft vorzubereiten. Früher werden keine Überlebenden das zweite Weltentor erreichen. Falls es denn überhaupt Überlebende gibt. Stopfen wir ihre Köpfe voll mit den Erinnerungen an ihre heroischen Kämpfe im ewigen Eis. Sie sollen gute Geschichten zu erzählen haben, wenn sie wiederkehren.«
»Ganz gleich, wie gut ihre Geschichten auch sind«, murrte der Große Bär. »Wer will noch einem Mann in die Schlacht folgen, der mit Tausenden auszog und ohne einen einzigen seiner Krieger wiederkehrte.«
»Ist denn wirklich ausgeschlossen, dass sie den nächsten Albenstern erreichen?«, fragte der Löwenhäuptige. »Was macht euch so sicher, dass von einem ganzen Heer kein einziger Mann übrig bleiben wird. Könnten wir nicht eine Flotte von Wolkensammlern schicken, um sie zu retten?«
»Nein, es ist aussichtslos«, sagte Langarm niedergeschlagen. »Unser Heer kann den anderen Albenstern nicht erreichen, und die Wolkensammler meiden die tödliche Kälte der beiden Pole. Sie fliegen nicht einmal in die Nähe. Es würde Wochen dauern, eine Flotte von ihnen nach Wanu zu bringen. Und selbst wenn wir das täten, kämen sie zu spät, um die Menschenkinder noch zu retten. So lange werden sie im ewigen Eis nicht durchhalten. Ich steige hinab in meine Schmiede und werde mit der Arbeit an den neuen Rüstungen beginnen.«
»Aber ist es denn wirklich ausgeschlossen, dass sie den nächsten Albenstern erreichen?«, fragte der Löwenhäuptige aufgebracht. »Zumindest einige von ihnen. Es wäre doch …«
»Ausgeschlossen«, erklärte der Ebermann mit einer Stimme, die wie ein Henkersbeil die Rede des Löwenhäuptigen zum Verstummen brachte. »Ich kenne das Land. Ich bin dort schon gewandert. Es gibt dort keine Wälder. Nichts, wo die Menschenkinder Zuflucht finden könnten, und es sind mehr als dreihundert Meilen bis zum nächsten großen Albenstern. Es fehlt ihnen an der richtigen Kleidung, um der Kälte zu widerstehen. Sie haben nichts, um Feuer zu machen, wenn sie ihre Nachtlager aufschlagen. Selbst das Essen wird ihnen knapp werden. Und was sollen sie trinken, wenn alles gefroren ist? Nangog alleine könnte sie mit ihrem eisigen Atem bezwingen, aber es sitzen ihnen auch noch die Albenkinder im Nacken. Nein, Bruder, es gibt keine Hoffnung mehr. Sie alle werden sterben.« Er wandte sich Langarm zu. »Ich steige mit dir in deine Schmiede hinab und werde dir helfen, die neuen Rüstungen zu erschaffen.«
Chullunku Walla nahm ein Stück gesalzenen Fisch aus dem Lederbeutel auf seiner Hüfte. Eine gelbliche Kruste verbarg das Fleisch. Sein halbes Leben lang hatte er solchen Fisch gegessen. Gemocht hatte er ihn nie, aber er vertrieb das Hungergefühl für eine Zeit. Also biss er ab. Vorsichtig, denn seine Zähne wurden langsam locker. Mehr als vierzig Winter hatte er gesehen. Das machte ihn hier im Norden zu einem Greis. Er hatte zu lange gelebt. Hätte ihn vor einer Woche der Tod gefunden, er wäre als stolzer Mann gegangen. Nun war er ein Nichts.
Er blickte über die Männer, die überall ringsherum auf der Ebene kauerten. Sie dachten, es ginge ihnen schlecht. Sie hatten keine Ahnung, wie der Winter hier im Norden war! Er zog den Federmantel enger um seine Schultern. Und sie hatten immer noch nicht wirklich begriffen, welche Schrecken der Nordwind brachte.
Chullunku hatte sie gesehen, die grünen Gestalten, die sich aus dem Fluss erhoben hatten. Die Geister, die Fleisch geworden waren. Bald würden ihre Brüder auf dem Nordwind heranreiten. Der alte Zapote blickte zum westlichen Horizont, wo die Sonne versunken war und blassblaues Zwielicht ein letztes Geplänkel mit den Schatten der übermächtigen Nacht führte. Das Schauspiel war ein Spiegelbild dessen, was sich hier auf der Ebene abspielte. Was war geblieben von ihrem stolzen Heer? Es hatte sich in einen riesigen Haufen verängstigter Flüchtlinge verwandelt.
»Chullunku?«
Der Statthalter von Wanu sah auf und erblickte den Tod. Er war in Gestalt eines Jaguarmanns zu ihm gekommen. Eines Anführers der Jaguarmänner, der breite goldene Armreifen trug. Das Gesicht des Kriegers war nur ein Schatten zwischen den Kiefern des prächtigen Helmes, den er trug. »Der Unsterbliche wünscht dich zu sehen.«
Müde stemmte sich der Alte hoch. Sein rechtes Knie vertrug die Kälte nicht mehr. Jedes Mal, wenn er rastete und sich anschließend erhob, gab es ein scharfes Knacken von sich, dem ein stechender Schmerz folgte. Chullunku straffte sich und verdrängte die Gedanken an den Schmerz. Er war entschlossen, dem Tod wie ein Mann entgegenzutreten. Wie ein Krieger!
Der Bote sagte nichts mehr. Er führte ihn zwischen den Kauernden hindurch. Es gab nur wenige Feuer. Die Männer waren für einen schnellen Sieg ausgerüstet worden. Es gab kaum Brennholz oder Tran. Nichts, was ein Feuer nähren konnte. Dabei waren Feuer so wichtig. Sie vertrieben nicht die Kälte. Nicht hier draußen im eisigen Wind. Aber sie hielten die Lebensgeister wach und spendeten Hoffnung.
Wieder suchten Chullunku die Bilder des großen Kellers heim. Die Wände voller Blut, die hingemetzelten Körper. Er war für sie verantwortlich gewesen. Es waren seine Männer gewesen. Arbeiter, die sich der Härte dieses Landes gestellt hatten, in der Hoffnung, dass es ihren Familien dadurch etwas besser gehen würde. Bootsfahrer, die immer wieder die gefährliche Passage hinaus zu den Inseln nahe der Küste gewagt hatten, wo das Weiße Gold gewonnen wurde. Hatte man die riesigen Schnabelfische einmal gesehen, war Augenzeuge gewesen, mit welcher Leichtigkeit sie ein Boot zerbrachen, dann erforderte es viel Mut, sich noch einmal auf das Meer hinauszuwagen. Trotz ihres Mutes und ihrer Hingabe waren sie keine Krieger gewesen. Sie waren harte Männer und doch nicht erfahren im Umgang mit Waffen. Daran, wie sie gelegen hatten, hatte Chullunku erkannt, dass die meisten versucht haben mussten, Widerstand zu leisten. Aber was konnte man schon mit Fäusten gegen Schwerter ausrichten!
Chullunku war selbst einmal Krieger gewesen. Er wusste nur zu gut, wie schnell solch ein Kampf vorüber war. Er war zu jedem Toten gegangen, hatte ihnen die Augen zugedrückt und ein kurzes Gebet gesprochen. Er kannte die Angst seiner Männer, dass ihre Geister sich im großen Dunkel zwischen den Welten verirren würden und niemals zurück nach Hause fänden. Er hoffte für sie, dass es nur eine Angst war. Er selbst fürchtete sich nicht. Aber nur deshalb, weil es für ihn kein Zuhause mehr gab. Seine Familie war tot, der Ahnenschrein zerstört und geschändet. Die Stadt Wanu war alles, wofür er gelebt hatte. Eine Stadt voller Toter …
Die Daimonen hatten seine Männer kurz vor ihrem Rückzug ermordet. Die Körper der Toten waren noch nicht ganz kalt gewesen, als er in den Keller hinabgestiegen war. Er war um eine Stunde zu spät gekommen, dachte er bitter. Warum sollte er den Tod jetzt noch fürchten? Er war bereits als Lebender in das große Dunkel gestoßen worden. Das Einzige, was ihm geblieben war, war seine Ehre. Doch die würde ihm nun wohl der Unsterbliche nehmen.
Chullunku ging an etlichen Jaguarmännern vorbei. Nie in seinem Leben hatte er so viele von ihnen gesehen. Sie waren eine wimmelnde, schwarze Masse auf dem Schnee. Wie lebendig gewordene Dunkelheit. In ihrer Mitte standen die Adlerritter. Es mussten weit über hundert sein. Auch wenn sie Chullunku mit stolz erhobenen Häuptern betrachteten, hatten sie doch die Flügel um ihre Leiber geschlungen. Es war unübersehbar, dass die Kälte ihnen zusetzte. Nur einem nicht, dem Krieger in ihrer Mitte. Er überragte sie alle um mehr als Haupteslänge. Schwere goldene Schlangenreifen wanden sich um seine Arme. Sein Antlitz lag im Schatten des Adlerhelms verborgen. Chullunku warf sich zu Boden und presste sein Gesicht in den festgetrampelten Schnee. Nie zuvor war er dem Unsterblichen Acoatl begegnet, dem Herrn der Himmel und all dessen, was unter ihnen lag.
»Erhebe dich, Chullunku! Ich will das Antlitz meines Statthalters in Wanu sehen.«
Die Stimme schnitt Chullunku bis ins Mark. Sie war eisig, hatte nichts Menschliches mehr. Es war die Stimme eines Gottes. Demütig richtete er den Oberkörper auf, wagte es aber nicht, sich von den Knien zu erheben. Es war auch nicht nötig, aufzustehen und näher vor den Herrscher zu treten. Jeder wusste, dass die Augen des Unsterblichen noch schärfer als die eines Adlers waren.
»Du lebst, weil du vor den Daimonen geflohen bist.«
Jedes Wort war wie ein Stich in Chullunkus Herz. Und unleugbar war es die Wahrheit. Er vermochte nicht länger ins Antlitz des Unsterblichen zu sehen. Sein Kinn sank ihm auf die Brust. Nun war es geschehen, er hatte auch noch seine Ehre verloren. Acoatl hatte ihn als Feigling gebrandmarkt, und es gab nichts, was er zu seiner Verteidigung hätte sagen können.
»Ich bin froh, dass die Götter dein Leben verschont haben. Du wirst deinem Volk noch von großem Nutzen sein.«
Chullunku traute seinen Ohren nicht. Er wagte es nicht, dem Unsterblichen eine Frage zu stellen, aber ihm war rätselhaft, was ein einzelner Mann gegen die Bedrohung durch die Daimonen ausrichten sollte.
»Sicher hast du von den Gerüchten gehört, die im Lager umgehen, obwohl wir Unsterblichen geheim halten wollten, was geschehen ist.«
Die Pause nach Acoatls Worten wurde so lang, dass Chullunku entschied, dass sein Herrscher wohl eine Antwort erwartete. Sein Mund war so trocken wie damals, als er ein Krieger war, im letzten Augenblick vor einem Kampf. »Acoatl, Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Äh … bitte entschuldigt die Dummheit Eures niedrigsten Dieners. Ich war für mich allein. Ich habe nur von ferne Getuschel und Verzweiflungsschreie gehört, doch weiß ich nicht, was vorgefallen ist.«
»Es scheint so, als hätten die Daimonen das Weltentor zerstört, durch das wir hierhergekommen sind«, erklärte der Jaguarmann, der Chullunku geholt hatte. Natürlich war es unter der Würde eines Unsterblichen, auf die dummen Fragen einfacher Männer zu antworten. Chullunku bereute es zutiefst, nicht gelauscht zu haben und den Herrscher durch seine Unwissenheit in Verlegenheit gebracht zu haben.
»Du bist der Mann, der dieses Land am besten kennt, Chullunku«, fuhr nun der Unsterbliche fort.
Der Statthalter dachte an den Wolkensammler, der erst vor Kurzem über Wanu erschienen war. Der erste seit langer Zeit. Ganz gewiss kannte der Lotse an Bord das umgebende Land besser und hatte Karten gezeichnet. Chullunku war nur ein einziges Mal auf einem der Himmelsschiffe gereist, aber niemand kannte ein Land so wie jemand, der es von oben betrachten konnte wie sonst nur die Götter.
»Ich weiß ein wenig«, entgegnete Chullunku in dem zögerlichen Versuch, weder als Aufschneider noch als unwissend zu erscheinen.
»Wir werden ein anderes Weltentor aufsuchen müssen, um zurückzukehren«, erklärte der Unsterbliche, als wäre es nur eine Banalität. Ein Spaziergang. Acoatl sah Chullunku durchdringend an. Hatte er bemerkt, wie sehr ihn die Worte seines Herrschers erschreckt hatten.
»Ich warte!«
Chullunku erschrak bis ins Mark. »Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt«, sagte er demütig, »ich bin einmal vor vielen Jahren zu dem nächsten Weltentor gereist. Ihr wart so gnädig, mir Euren silbernen Löwen zu schicken, denn einfachen Männern ist es nicht gegeben, ein Weltentor zu erkennen, selbst wenn sie vor ihm stehen. Ich bin mit ihm und dreiundachtzig Männern in die Eiswüste gegangen. Und dank Eurer Großzügigkeit waren wir auf das Beste ausgerüstet. Nie haben wir Hunger gelitten. Wir hatten Zelte, die uns in der Nacht vor dem Wind schützten, und konnten stets Feuer nähren, die die Geister vertrieben haben. Dennoch haben nur siebenundfünfzig Männer die Reise überlebt. Und von den Überlebenden hatte fast jeder einige Zehen verloren. Manchen mussten sogar die Füße abgeschnitten werden. Es war eine …«
»Mich interessieren keine Geschichten über Männer, die schon lange tot sind, Chullunku!«, unterbrach ihn sein Herrscher scharf. »Wie weit ist der Weg?«
Chullunku senkte demütig das Haupt. »Von hier aus etwas mehr als dreihundert Meilen, Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt. Wir werden über Berge ziehen und einen weiteren Fluss überqueren müssen. Und die Geister des Nordwinds werden uns heimsuchen.«
Acoatl stieß einen zischenden Laut aus. »Geister? Ich mache mir keine Sorgen um Geister, wenn mir Daimonen im Nacken sitzen.«
Du irrst, Herr, dachte Chullunku, wagte aber nicht, seine Gedanken auszusprechen.
»Du wirst uns führen, Statthalter. Wir werden zwanzig Meilen am Tag schaffen. Zwei Wochen, dann sind wir diesem verfluchten Land entkommen.«
»Aber die Verwundeten und die Frauen werden das nicht schaffen. Sie …«
Acoatl schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. »Auf sie werden wir keine Rücksicht nehmen. Wir haben ohnehin nicht genug zu essen, um Schwächlinge durchzufüttern. Morgen früh beim ersten Licht brechen wir auf.« Der Unsterbliche machte zwei Schritte in Chullunkus Richtung. »Du stehst in meiner Gunst, weil wir dein Wissen brauchen. Aber wage es nie wieder, mir zu widersprechen, Chullunku. Ich kann den Weg auch ohne dich finden. Ich bin ein Unsterblicher, für mich ist nichts unmöglich!«
Der Statthalter presste demütig sein Gesicht in den Schnee, doch tief im Herzen wusste er nun, warum die Götter sie im Stich gelassen hatten. Sie schämten sich für die Männer, denen sie Unsterblichkeit geschenkt hatten, und wollten ihren Irrtum berichtigen.
Solaiyn stand allein am Ufer und blickte auf den wirbelnden Nebel über dem Fluss. Etwa hundert Schritt entfernt entstand die Brücke, die ihnen erlauben würde, den Menschenkindern nachzustellen.
Nodon zögerte, zu dem hochgewachsenen, hageren Heerführer zu gehen. Solaiyn hatte ein verhärmtes Gesicht. Er lächelte nie. Seine Augen waren von unnachgiebiger Härte. Niemand verstand, warum die Himmelsschlangen ausgerechnet ihn zum Feldherrn gemacht hatten. Er trug keine Rüstung, kein Schwert hing von seinem Gürtel. Mit seinem schulterlangen silberblonden Haar, das ein schmaler Stirnreif aus Gold zurückhielt, wirkte er mehr wie ein Gelehrter denn wie ein Krieger. Der Fürst trug einen schlichten, taillierten Mantel mit hohem Stehkragen. Keine Stickereien schmückten den flaschengrünen Stoff. Er kam ohne Schnörkel aus wie sein Besitzer.
»Komm und rede!«, sagte Solaiyn ärgerlich. »Ich mag es nicht, wenn man mir in den Rücken starrt!«
Nodon schluckte seinen Ärger herunter. Er hätte nicht zögern sollen. Eigentlich war das nicht seine Art.
»Du entlässt deine Truppen …«, begann der Drachenelf.
Solaiyn bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Sehe ich aus, als bräuchte ich jemanden, der mir meine Befehle erklärt?«
»Ich wollte …«
»Nein, dich werde ich nicht gehen lassen, Nodon. Wäre damit alles geklärt?«
»Bei allem Respekt …«
»Du respektierst mich nicht«, unterbrach ihn der Feldherr erneut. »Du bist ein Krieger, ich nicht. Es gehört zur Ordnung der Welt, dass Krieger auf alle, die nicht ihresgleichen sind, herabblicken. Umgarne mich nicht mit Lügen, Nodon. Für solche Banalitäten habe ich keine Zeit. Ich will dich hierhaben, darüber gibt es nichts zu diskutieren.«
»Wie würdest du mich aufhalten wollen?« Nodon war es leid, es mit höflichen Förmlichkeiten zu versuchen.
Nun wandte sich der alte Fürst vollends vom Fluss ab. Er musterte Nodon mit verächtlichem Blick. »Gar nicht, Schwertmeister. Ich würde mich niemals einem zornigen Mann mit deinen Fähigkeiten in den Weg stellen. Ich lasse dich ziehen, um mit den Konsequenzen deiner Fahnenflucht zu leben.«
Nodon traute seinen Ohren nicht. Er konnte also einfach gehen. »Ich denke, mit den Konsequenzen kann ich leben.«
»Es fragt sich nur, wie lange. Der Goldene sieht es gewiss nicht gerne, wenn du mich nicht unterstützt.«
Was für ein armseliger Wicht, dachte Nodon. Versteckte sich hinter dem Goldenen, um zu drohen. »Bevor der Goldene erfährt, was ich tue, bin ich im Jadegarten. Dort hat er keine Macht.«
»Bist du sicher?«, fragte Solaiyn kühl. »Männer wie du neigen dazu unterzugehen, weil sie sich selbst überschätzen. Dennoch mag ich dich.« Er sagte das ohne jede Emotion, sodass seine Worte nach Lügen klangen. »Dein Hang, rot zu tragen, ist ein wenig … exaltiert. Ich würde das an deiner Stelle lassen. Kanntest du meinen Sohn?«
Vom abrupten Themenwechsel überrascht, antwortete Nodon: »Ich bin Talawain zwei Mal begegnet. Es hieß, er sei ein …« Er zögerte.
»Spitzel ist das Wort, das dir nicht über die Zunge kommt. Es gibt keine nette Bezeichnung für das, was er war.« Ein Wangenmuskel des alten Fürsten zuckte. »Er hatte immer etwas Weibisches, musst du wissen. Schon als Kind mochte er es, sich zu verkleiden. Ich habe das gehasst! Der Goldene hat mir anvertraut, dass mein Sohn zum wichtigsten Berater eines der Unsterblichen aufgestiegen ist. Nie zuvor ist ein Elf der Blauen Halle unerkannt so weit in der Hierarchie der Menschenkinder aufgestiegen. Er hat Albenmark gute Dienste geleistet. Aber dann, vor ein paar Monden, müssen Menschen oder Devanthar sein Maskenspiel durchschaut haben. Jetzt ist er tot. Auch wenn der Goldene nichts darüber sagt. Ein Vater spürt so etwas.«
Nodon stand nicht der Sinn nach weiteren Enthüllungen über Familientragödien. »Ich werde gehen. Du brauchst mich nicht mehr. Das Heer ist groß genug, um die Menschenkinder zu vernichten.«
»Höre ich da Ekel in deiner Stimme? Ausgerechnet von dir?« Der Wind spielte mit dem langen Haar des alten Elfen. »Wie war es denn, im Himmel gegen Menschenkinder zu kämpfen, die sich kaum auf ihrem silbernen Löwen halten konnten?«
Nodon wandte sich ab und ging. Er würde sich nicht provozieren lassen. Die beiden Unsterblichen waren alles andere als wehrlos gewesen. Das konnte man nicht mit dem bevorstehenden Massaker am Heer der Menschen vergleichen.
»Bleib hier, Nodon.« Die Stimme Solaiyns hatte sich merkwürdig verändert. Sie hatte etwas Zischelndes, Dunkles und klang, als würde sie aus weiter Ferne kommen. »Mein Bruder hat dich mir geschenkt. Er will dich nicht bei seiner Buhle Nandalee haben.«
Wütend fuhr Nodon herum. Er würde nicht dulden … Solaiyn hatte sich dramatisch verändert. Sein Mund stand weit offen. Die fremde Stimme drang tief aus der Kehle des Elfen, doch weder Zunge noch Lippen bewegten sich. Seine Augen waren nach hinten gerollt, sodass nur noch das Weiße zu sehen war.
»Verträgst du die Wahrheit nicht?«, spottete die dunkle Stimme. »Wenn du jetzt gehst, wird mein Bruder dich töten. Er möchte keine Zeugen haben. Möchte nicht, dass irgendein Elf sieht, was Nandalee gebiert.«
»Wer bist du?«
»Ist das wirklich so schwer zu erraten? Ich bin ein Freund, dem daran gelegen ist, dich nicht zu verlieren. Mein Bruder wird langsam verrückt. Er bespricht sich nicht mehr mit uns. Ist ganz versessen auf Nandalee und das, was sie ausbrütet. Ich könnte im Jadegarten einen Verbündeten gebrauchen, Nodon. Kann ich auf dich zählen?«
»Ich verrate meinen Herrn nicht!«, entgegnete der Elf entschieden.
»Dann wirst du mit ihm untergehen!« Die Stimme war zu zornigem Gebrüll geworden. »Kehre jetzt zurück, und du stirbst, Narr. Ich habe es dutzendfach in der Silberschale gesehen. Erkenne endlich, wer dein Freund ist! Dein Herr, zu dem du so ergeben stehst, ist es nicht.«
Solaiyn sackte in sich zusammen. Seine Augen waren immer noch verdreht. Er starrte ins Leere und sah aus wie tot.
Nodon kniete neben dem Fürsten nieder. Sein Puls ging schwach und unregelmäßig. Sollte er ihn einfach liegen lassen? Es war niemand in unmittelbarer Nähe. Solaiyn hatte keine Leibwächter und keine Vertrauten. Ein schneller Schnitt durch die Kehle des Alten … Hatte sie jemand zusammen gesehen?
Der Schwertmeister nahm Solaiyn auf die Arme. Wie leicht der Fürst war, als bestünde er nur noch aus Haut und Knochen. Mit raschen Schritten trug er ihn fort vom Ufer zur weiten Senke, wo, vor dem ärgsten Wind geschützt, die wenigen Zelte des Heeres aufgeschlagen worden waren. Zwei Riesen kauerten dort und fraßen Rinderhälften. Das unappetitliche Geräusch splitternder Knochen, verbunden mit einem barbarischen Schmatzen, dominierte alle anderen Geräusche im Lager. Ein paar Kobolddiener huschten zwischen den Zelten umher. Ein Minotaur lag infernalisch schnarchend auf einem Haufen frisch abgezogener Schafsfelle.
In allen Zelten waren bereits Lichter entzündet, sodass die farbenfrohen Leinwände wie Lampions auf einem Sommerfest erstrahlten. Solaiyns Zelt war grün wie der schlichte Mantel, den er trug. Nodon schob sich durch die doppelte Plane, die am Eingang hing. Eine Feuerschale glomm in ersterbendem Rot und vertrieb die ärgste Kälte. Es gab einen schweren Tisch, auf dem ein Kästchen aus schwarz lackiertem Holz, ein einfacher Wasserkrug und eine Schale standen, in der drei Äpfel lagen. Dahinter erhoben sich zwei Stühle, und an der gegenüberliegenden Zeltwand stand ein schmales Bett, auf dem inmitten zerwühlter Decken eine kahlköpfige Elfe lag.
Nodon war überrascht. Eine Geliebte hatte er bei Solaiyn nicht erwartet. Und dann noch eine solche Frau … Unschlüssig stand er vor dem Bett. Es war zu schmal, als dass beide darin hätten liegen können. »Dein Herr ist zurück«, sagte er leise.
Die Elfe streckte sich. Sie hatte ein Auge auf die Stirn tätowiert, etwa vier Fingerbreit über der Nasenwurzel. Es verdeckte nur unvollkommen ein hässliches Narbengeflecht. Ihr Schädel war dort leicht eingedellt.
Solaiyns Geliebte öffnete die Augen. Sie waren vom hellen Gelb der Sommersonne. Geschlitzte Pupillen spalteten die Iris. Sie betrachtete Solaiyn, der immer noch leblos in Nodons Armen lag.
»War er unfreundlich zu dir?«, fragte sie nachdenklich.
»Kann er freundlich sein?«, fragte Nodon zurück. »Würdest du jetzt das Bett für ihn räumen?«
»Er braucht kein Bett, Drachenelf.« Sie richtete sich halb auf und strich sich fröstelnd über die Arme. »Setz ihn dort auf den Stuhl mit der hohen Lehne. Wir haben heute doch keine Kämpfe mehr zu erwarten, oder?«
»Dein Herr ist ohnmächtig geworden. Er sollte …«
»Diese Ohnmacht spielt keine Rolle. Es ist nur eine Nebenwirkung. Es ist wieder so weit. Ich muss ihn entspannen.« Ihre Beine bewegten sich unter der Decke. Sie taten es auf eine unheimliche, zutiefst unnatürliche Art, so als bestünden sie nur aus sich windenden Muskeln.
Dann schob sich Solaiyns Geliebte aus dem Bett. Sie hatte keine Beine! Von den Hüften abwärts besaß sie den Leib einer Schlange. Und als sie sich zu voller Größe aufrichtete, überragte sie Nodon um fast zwei Haupteslängen.
»Überrascht?« Sie lächelte und zeigte dabei nadelspitze Zähne. »Du ahnst nun, warum er mich versteckt, nicht wahr? Wenn wir reisen, sperrt er mich in eine Truhe. Er ist wirklich ein garstiger Mann.«
Nodon rang um Fassung. Eine Gestalt wie sie hatte er nie zuvor gesehen.
»Wirst du mir helfen, ihm Erleichterung zu verschaffen?« Sie glitt zum Tisch, und Nodon machte unwillkürlich einen Schritt zurück, während die Schlangenfrau das schwarz lackierte Kästchen öffnete. Darin lagen auf dunkelrotem Samt eine lange Haarnadel aus poliertem Silberstahl, die in einem hässlichen, breiten Kopf endete, und ein kleiner Hammer, ebenfalls ganz aus poliertem Stahl.
»Wir müssen die Melancholie bekämpfen, die seinen Verstand in Fesseln schlägt.« Mit diesen Worten nahm sie die Instrumente aus dem Kästchen und hob das Samtfutter an. Darunter lagen altersdunkle Lederriemen, durchzogen von feinen Rissen. Obwohl er mehr als zwei Schritt entfernt stand, glaubte Nodon den Schmerz und das Leid geradezu körperlich zu spüren, die mit diesem Kästchen verbunden waren.
»Was hast du mit ihm vor?« Nodon wich einen weiteren Schritt vor der Schlangenfrau zurück.
Solaiyn regte sich in seinen Armen. »Du musst mich nicht vor ihr beschützen, mein Freund. Sie ist keine Gefahr.« Die Stimme des Fürsten war so schwach und zerbrechlich wie sein ausgemergelter Leib. »Sie ist die Einzige, die mir helfen kann. Setz mich auf den Stuhl dort vorne. Den mit den schmalen Schlitzen in der Lehne.«
Nodon wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Das hier passte überhaupt nicht zu dem Bild, das er von ihrem vermeintlich so farblosen Heerführer hatte.
»Sie hilft mir, Nodon«, beteuerte Solaiyn schwach.
Zögerlich setzte er den Fürsten auf den Stuhl. Das Schlangenweib glitt hinter die hohe Lehne. »Er war wieder in dir?«
Solaiyn nickte. »Ja. Es kam ohne Ankündigung.« Müde sah er zu Nodon auf. »Ich glaube, er hat gespürt, dass der Schwertmeister bei mir war. Ich schätze, er hatte eine Botschaft für ihn.«
Nodon verstand kein einziges Wort. »Von wem redet ihr?«
»Der Goldene! Er hat sich meiner bemächtigt. Ich weiß nicht, wie er auf mich verfallen ist. Vielleicht bedeute ich ihm besonders wenig.«
»Besonders wenig? Und deshalb hat er dich zum Heerführer gemacht?« Solaiyn war offensichtlich irre!
»Du verstehst das nicht, Nodon. Er hat mich vor allem zu seinem Werkzeug gemacht. Durch mich kann er hier sein. Er sieht durch meine Augen, und er kann sogar durch mich sprechen, wenn er will.«
Von einem solchen Zauber hatte Nodon noch nie gehört. War es wirklich die Stimme des Goldenen gewesen, die vorhin zu ihm gesprochen hatte? Oder versuchte Solaiyn, ihn durch diese Geschichte nur einzuschüchtern?
»Was ist, Mörder? Glaubst du mir nicht? Sehe ich aus wie ein Lügner? Ich bin ein Fürst in Arkadien. Ich bin …«
»Ruhig«, die Schlangenfrau legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. »Soll ich …«
»Nein!« Solaiyn hob die Hand. »Ich bin noch nicht fertig mit unserem Moralprediger mit den blutigen Händen. Du bist ein Mörder und wagst es, mich zu verurteilen!«
»Ich glaube nicht, dass ich mir das länger anhören muss.« Nodon bedachte ihn mit einem süffisanten Lächeln und legte die Hand auf den Schwertknauf. »Im Übrigen möchte ich dir den Rat geben, in Zukunft Männer, die du für Mörder hältst, freundlicher zu behandeln. Sonst wirst du eines Tages jemandem begegnen, der unbeherrschter ist als ich.«
»Drohst du mir?« Solaiyn richtete sich halb auf, sackte dann aber wieder in sich zusammen. Er war jetzt aschfahl. Feine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
»Bitte …« Die Schlangenfrau strich dem Fürsten durch das Haar. »Es ist Zeit für deine Behandlung.«
Solaiyn hob den Kopf. Tiefe Falten nisteten um seine Mundwinkel. »Du bleibst hier. Ich könnte dich in Eisen legen lassen, Nodon. Oder noch etwas viel Wirkungsvolleres, um dich zu halten. Sieh dir an, was sie tut. Und hör dir an, was sie zu sagen hat.« Noch während er sprach, nahm die Schlangenfrau die Lederriemen aus dem Lackkistchen auf dem Tisch. Sie führte sie durch die Schlitze in der Rückenlehne des Stuhls und fixierte den Kopf des Fürsten. Ein Riemen lief ihm über das Kinn. Der zweite über die Stirn. Als sie festgezogen waren, vermochte er seinen Kopf nicht mehr zu bewegen.
»Starr mich nicht so an«, schimpfte Solaiyn. »Ich kann deine niederträchtigen Gedanken spüren! Du hast keine Ahnung, du Blutsäufer …«
»Ruhig.« Die Schlangenfrau schob den hohen Kragen des Fürsten zurück und beugte sich über seinen Hals. Es sah aus, als küsste sie ihn, doch als sie ihr kahles Haupt hob, sah Nodon einen Kranz blutiger Einstiche am Hals des Elfen. Er war umgeben von hellem Narbengewebe, so als wäre der Fürst schon sehr oft von dieser rätselhaften Dienerin gebissen worden.
»Was tust du da?«
»Ich schenke ihm ein wenig von meinem Gift.« Sie bedachte ihn mit einem Lächeln, das ihre nadelfeinen Zähne entblößte. »Es wirkt nicht mehr so stark wie früher. Anfangs konnte er stundenlang schlafen, wenn ich ihn gebissen habe. Es ist ein tiefer, traumloser Schlaf, den mein Gift schenkt. Aber sein Fluch stiehlt ihm diese Gnade. Sein Körper ist anders als der aller Elfen, denen ich zuvor begegnet bin. Wunden verheilen bei ihm viel schneller. Sieh nur sein Hals.«
Tatsächlich hatte sich über den Einstichen bereits Schorf gebildet.
»Eine halbe Stunde vielleicht, dann wird nur noch ein blasser Narbenkranz zu sehen sein. Er ist faszinierend. Er wird niemals krank, Verletzungen, die andere töten würden, verheilen binnen kurzer Zeit, und Gifte vermögen ihn nicht zu töten. Sein Körper gewöhnt sich an sie, und schnell werden sie völlig wirkungslos.«
»Und das nennst du einen Fluch?« Die Wunde, die ihm Nandalee zugefügt hatte, spürte Nodon immer noch. Er würde etwas dafür geben, ein Heilfleisch wie Solaiyn zu haben.
»Du hast ja keine Ahnung«, murmelte der Fürst müde. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Augen offen zu halten.
»Nicht einschlafen«, hauchte die Schlangenfrau. »Du weißt, ich kann besser arbeiten, wenn ich währenddessen mit dir rede.« Sie sah zu Nodon auf. »Es ist sein zweites Leiden, das seinen Fall tragisch macht. Er ist zu empfindsam. Starke Gefühle hallen zu lange in ihm nach. Er kann sie nicht abstreifen. Er wird völlig unberechenbar. Manchmal ausfällig, manchmal bestraft er über jedes Maß, und manchmal zieht er sich einfach in sich zurück, über Tage, manchmal sogar Wochen. Als er seine Frau Lisandelle fand, begann für ihn eine Zeit strahlenden Glücks. Sie schenkte ihm die Söhne Talawain und Asfahal und auch zwei wunderschöne Töchter, Kyra und Maylin. Sein Leben war vollkommen. Wir, die wir nur endliche Gefühle kennen, können nicht nachempfinden, wie diese Zeit für ihn gewesen ist. Doch dann starb Lisandelle, und er stürzte in einen Abgrund der Melancholie, aus dem er keinen Ausweg mehr fand. Weder das Lachen noch das Flehen seiner Kinder vermochten ihn aus seiner Welt der Düsternis herauszuholen. Er fand mehr Gefallen an toten Dingen als an Lebendigem. Er begann Statuen zu sammeln. Manchmal starrte er sie stundenlang an. Sein Sohn Asfahal war das rebellischste seiner Kinder. Er ließ nichts unversucht, um seinen Vater aus seiner Starre zu holen. Er beschimpfte ihn, dass es bald keinen Unterschied mehr zwischen ihm und seinen geliebten Statuen geben würde. Schließlich brach er einem der Standbilder einen Finger ab, um Solaiyn dazu zu zwingen, ihn zur Kenntnis zu nehmen.« Die Schlangenfrau machte eine bedeutungsschwere Pause in ihrer Erzählung.
»Es gelang ihm. Solaiyn sperrte Asfahal für drei Tage in die lichtlose Familiengruft unter seinem wunderschönen, marmornen Palast. Es waren zwei Diener, die Asfahal schließlich befreiten. Sein Vater schien ihn dort vergessen zu haben. Lebendig begraben, wie er sich selbst nach dem Tod von Lisandelle begraben hatte. Der Junge floh noch in derselben Nacht aus dem Palast seines Vaters. Ich denke, du hast schon von ihm gehört.«
Das hatte er in der Tat. Asfahal war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Weißen Halle. Er hatte Talent als Zauberweber gehabt, war todesmutig und zugleich leichtherzig gewesen. Er war einer der Schüler des Schwebenden Meisters geworden und nach seiner Zeit bei dem Drachen in die Weiße Halle berufen worden. Doch so vielversprechend er auch gewesen war, hatte er sich als zu unbeständig erwiesen. Schließlich hatten die Meister der Halle ihm die letzte Prüfung verwehrt und ihn der Schule verwiesen. Vergleichbares war seit mehr als dreihundert Jahren nicht mehr geschehen.
»Ich hätte ihn in der Gruft verrotten lassen sollen!«, murmelte Solaiyn. »Er taugt nichts. Wie all ihr Mörder!«
»Dein Sohn, der nichts taugt, war es, der mich zu dir geschickt hat, um dir zu helfen«, tadelte die Schlangenfrau. »Nun lass uns beginnen. Nodon, wärest du so nett, die Hände des Fürsten auf den Lehnen festzuhalten. Manchmal versucht er nach mir zu schlagen, wenn ich ihm helfe. Im falschen Augenblick könnte das schreckliche Konsequenzen haben.«
»Ihm die Hände halten?«
»Hilf mir. Nach der Behandlung wird er für einige Stunden nicht bei sich sein. Dann kannst du gehen, ohne dass er dir irgendjemanden hinterherschickt, um dich aufzuhalten.«
»Was redest du da?«, murrte Solaiyn. »Das ist Verrat, du niederträchtige Schlange. Glaub nicht, dass ich das vergessen werde. Du … Ich lass dich an die Ungeheuer im Fluss verfüttern, falsches Biest.«
»Ja, rede mit mir. So ist es gut«, sagte sie ganz ruhig. Dann nahm sie den langen Metalldorn und den kleinen Hammer vom Tisch. »Seine Hände. Bitte!«
Nodon kniete sich vor den Stuhl. Wenn es ihn zurück in den Jadegarten brachte, war ihm fast alles recht. Er nahm die schmalen Hände des Fürsten und drückte sie fest auf die Lehnen.
»Sehr gut! Danke.« Mit diesen Worten beugte sich die Schlangenfrau von hinten über die Lehne und schob mit einem Daumen das rechte Augenlid des Fürsten hoch. Geschickt schob sie den langen Dorn zwischen Augapfel und Lid.
»Ihr beide werdet euren Verrat noch bereuen.«
Nodon spürte, wie sich die Muskeln des Fürsten spannten. Solaiyns rechtes Auge tränte. Er hatte es ganz nach oben verdreht, sodass die Iris das stählerne Werkzeug berührte.
»Was tust du da?« Nodon war versucht, der Schlangenfrau den Dorn zu entreißen, fürchtete aber zugleich, dabei das Auge des Fürsten zu verletzen.
»Was weißt du über das Gehirn der Elfen?«, fragte die seltsame Heilerin.
»Was hat das hiermit zu tun?«
»Alles! Das Gehirn ist der Sitz unseres Verstandes, aber es steuert auch unsere Gefühle. Und es kann krank werden wie alle anderen Teile des Körpers. Nur ist es am wenigsten erforscht. Wusstest du, dass es in zwei gleiche Hälften unterteilt ist, die durch einen dicken Ast miteinander verbunden sind? Ich erforsche das Gehirn, seit ich es aufgegeben habe, mein Verborgenes Auge zu öffnen und eine Zauberweberin zu werden. Siehst du die Tätowierung auf meiner Stirn? Die Narbe darunter? Das erste Gehirn, das ich zu ändern versuchte, war mein eigenes. Ich hatte Begabung zu zaubern, wollte das aber nicht akzeptieren. Ich habe mit Gewalt mein Verborgenes Auge zu öffnen versucht, habe mir das Fleisch auf meiner Stirn zerschnitten und ein Loch in meinen Schädel gebohrt. Der Bohrer ist versehentlich bis in mein Gehirn gedrungen.« Sie lachte leise. »Das hat alles verändert. Ich konnte die Gabe zu zaubern nicht erwecken, aber durch die Verletzung meines Gehirns verlor ich meine Traurigkeit. Ich fühlte mich nicht länger unvollkommen, weil ich im Gegensatz zu all meinen Schwestern keine Zauberweberin sein konnte.«
Nodon blickte zu der Narbe auf ihrer Stirn. Dann wanderte sein Blick zu der Nadel, die oberhalb des Augapfels tief in der Augenhöhle Solaiyns steckte. Sie mochte ihre Traurigkeit verloren haben, aber sie hatte auch ihren Verstand durchlöchert.
Sie stieß einen leisen, zischenden Laut aus. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber du irrst. Ich habe mein Leben dem Studium des Gehirns von euch Elfen gewidmet. Ich bin viel gereist, immer auf der Suche nach Elfen, die am Kopf verletzt wurden. Ich versuche, eine Landkarte des Gehirns zu erstellen, so wie Anatomen eine Karte unserer Körper zeichnen.« Sie legte sich eine Hand flach auf die Stirn, während die andere immer noch die dicke Nadel hielt. »Hier vorne liegt der Teil des Gehirns, der für unsere Gefühle verantwortlich ist.«
Mit fließender Bewegung griff sie nach dem kleinen Hammer auf dem Tisch und versetzte dem breiten Nadelkopf einen Schlag.
Entsetzt sah Nodon den Silberstahl gut zwei Zoll tief in der Augenhöhle versinken. Solaiyns Hände, die er immer noch auf die Stuhllehnen presste, krümmten sich vor Schmerz. Zugleich stieß der alte Fürst einen langen Seufzer aus. »Erlöse mich von meinen Qualen, Aloki.«
Die Schlangenfrau begann die Stahlnadel sanft zu drehen. »Wie heißen deine Töchter, Solaiyn?«
»Kyra und Maylin«, kam die Antwort ohne zu zögern.
»Und deine Söhne?«
»Asfahal und Talawain.«
»Wer ist dir der liebste deiner Söhne?«
Fasziniert und zugleich abgestoßen beobachtete Nodon, was die beiden taten.
»Ich habe nur noch einen Sohn. Talawain wurde von den Menschenkindern getötet. Ich werde sie dafür büßen lassen …« Die Stimme Solaiyns hatte sich verändert. Er sprach ohne Emotion. »Wenn dieser Feldzug im Eis vorüber ist, dann sollen fünftausend Menschenkinder für ihn gestorben sein. Und das ist erst der Anfang. Ich werde sie erfahren lassen, dass ich gekommen bin, seinen Tod zu rächen, auf dass sie für immerdar uns Elfen fürchten lernen, denn einer von uns ist mehr wert als hundert von ihnen. Sie müssen erst im Staub liegen und unseren Fuß in ihrem Nacken spüren, um schätzen zu lernen, welch kostbares Geschenk es ist, in Frieden mit uns leben zu dürfen.«
»Erzähle mir auch von Asfahal«, bat Aloki sanft.
»Über ihn gibt es nichts zu sagen. Er lebt, aber zugleich ist er auch tot für mich.« Wieder sprach Solaiyn bar jeder Emotion, was seine Worte nur noch endgültiger klingen ließ. Nodon hatte viel Schlechtes über den gefallenen Schüler der Weißen Halle gehört, doch solch ein Urteil aus dem Mund von Asfahals Vater zu vernehmen war schockierend. Wie konnte es so weit kommen, dass man seinen eigenen Sohn hasste?
»Wie war Asfahal als Kind?« Auch wenn Aloki keine Zauberweberin war, lag in ihrer Stimme etwas, das es unmöglich machte, ihr nicht zu antworten.
»Er war … neugierig. Von meinen vier Kindern war er der am wenigsten Furchtsame. Er hatte vor gar nichts Angst. Er liebte es, wenn unser Segelboot bei den Reisen nach Tanthalia nur so über die Wellen sprang, wenn schweres Wetter aufkam. Er stand dann immer am Bug und schrie dem Sturm voller Übermut seine Herausforderungen entgegen. Er hatte auch …« Der Fürst blinzelte. »Lisandelle war so voller Zärtlichkeit und Verständnis. Als sie starb, wusste ich, dass ich nie wieder eine Gemahlin wie sie finden würde. Seit ihrem Tod warte ich. Ich hoffe darauf, dass sie wiedergeboren wird. Sie ist …«
Aloki zog die Nadel über dem Augapfel hinweg und bedeutete Nodon, die Hände des Fürsten loszulassen. »Wie geht es dir?«, fragte sie dann sanft.
Solaiyn blinzelte. Er wirkte desorientiert, als hätte er die Frage nicht richtig verstanden. »Ich bin müde«, sagte er schließlich nach einer Weile.
»Dein Herz findet Ruhe. Soll ich weitermachen? Oder möchtest du schlafen?«
Er rieb sich über die Stirn, über die der breite Lederriemen lief, der ihn an die Stuhllehne fesselte. Dann verdrehte er die Augen und blickte zu Nodon hinab. »Erzähle nicht, was du hier gesehen hast. Es würde dir ohnehin niemand glauben.«
Der Dunkle wird mir glauben, dachte der Drachenelf, schwieg aber. Sobald er zurück war, musste er dafür sorgen, dass Solaiyn als Heerführer abberufen wurde. Was hatte den Goldenen nur dazu veranlasst, einem Irren, der sich willentlich das Gehirn zerstören ließ, das Leben Tausender Albenkinder anzuvertrauen?
»Bist du bereit, mein Gebieter?«
Solaiyn gab einen knurrenden Laut von sich. Immer noch blickte er zu Nodon herab. »Du wirst meine Augen sein. Wenn wir hier fertig sind, dann steigst du auf deinen Rappen und spähst aus, was die Menschenkinder machen.« Er sprach langsam und monoton, mit kurzen Pausen zwischen den Wörtern, als fiele es ihm schwer, sich zu konzentrieren. »Ich schätze, in ihrem Heerlager wird Panik herrschen.«
»Mondschatten ist tot!« Nodon hatte es Solaiyn schon mitgeteilt, aber offensichtlich erinnerte sich der Heerführer nicht mehr.
»Tot«, sagte der Fürst teilnahmslos. »Hat sich also meinen Befehlen entzogen. Dann nimmst du eben einen Adler.«
Das war völlig absurd. Adler waren unzuverlässig. Vereinzelt hatten die großen Raubvögel vom Albenhaupt zwar Elfen gestattet, auf ihrem Rücken zu reisen, aber man konnte sich einfach nicht auf sie verlassen.
Aloki gab ihm ein Zeichen, zu schweigen und erneut die Hände des Fürsten zu halten. Dann hob sie das zweite Augenlid Solaiyns an und führte die breite Haarnadel darüber hinweg bis tief in die Augenhöhle. Allein bei dem Anblick zog sich Nodons Innerstes zusammen.
Der Fürst stieß einen tiefen Seufzer aus, dem etwas Lustvolles anhaftete.
Mit hellem Klang schlug der Hammer auf die Nadel. »Hinter dem Auge ist der Schädelknochen am dünnsten«, erklärte Aloki. »Hier richte ich den geringsten Schaden an, wenn ich den Eingriff vornehme.«
Sie meinte das offensichtlich nicht ironisch, dachte Nodon verblüfft. Mit einer Nadel das Gehirn eines Elfenfürsten durchzurühren empfand sie offensichtlich als Bagatelle. Wieder begann sie mit den kreisenden Bewegungen. Nodon musste wegsehen.
»Warum zürnst du deinem Sohn Asfahal?«, setzte die Schlangenfrau ihre Fragen fort.
»Ich zürne ihm nicht mehr«, kam die monotone Antwort. »Ich habe ihn verbannt. Es gibt ihn nicht mehr für mich. Jemandem, der nicht mehr existiert, kann man nicht zürnen.«
»Aber was hat er dir denn getan?«
»Er versteht Schönheit nicht. Er wendet sich gegen sie und zerstört sie. Er hat der unvergleichlichen Statue des kauernden Kobolds von Salhayn einen Finger abgebrochen. Einfach so, aus Übermut. Wie könnte ich so etwas dulden?«
»Er war ein Kind«, sagte Aloki milde, während sie die lange Nadel drehte. »Er hat es gewiss nicht mit Absicht getan.«
»Das entschuldigt gar nichts«, entgegnete Solaiyn stockend. »Er war … Er hat seine Mutter geküsst, auf dem Totenbett und auch später. Er hat sie geküsst. Eine Tote! Und er hat ihren Sarg geöffnet, als ich ihn in die Gruft sperrte.« Eine einzelne Träne rann über die Wange des Fürsten. Eine Ader im Auge unter der Nadel war geplatzt und färbte das Weiß des Augapfels rot. »Wir müssen unsere Truppen zurückziehen. Wir brauchen nicht mehr viele Krieger, um die Menschenkinder zu Tode zu hetzen. Ein paar Kentauren und Trolle. Vielleicht einen Riesen. Und die Adler. Und die Drachenelfen. Die Übrigen sollen zurück … Will keine unnötigen Verluste. In der Gruft … Ich frage mich, ob er dort ihren Leichnam noch einmal geküsst hat.«
Aloki zog die Nadel aus dem Gehirn zurück.
»Ich musste sie wegschicken«, sagte Solaiyn tonlos. »Was hätte ich mit dem Balg anfangen sollen? Hat behauptet, er hätte es ihr gemacht. Immer wieder habe ich davon gehört, wie er jedem Rock nachgestiegen ist. Vielleicht stimmte es … Ich weiß, dass er ihr Beschäler war. Für eine Zeit. Aber wie viele andere hat sie sich noch geholt? Sie war die Übelste von allen. Die beiden sind zwei Jahre von Fürstenhof zu Fürstenhof gezogen, haben gesungen und um Geld gespielt. Es heißt, sie hätten betrogen. Sie hat die anderen mit ihren Reizen abgelenkt … Hübsch war sie.«
Aloki löste die Lederriemen, mit denen sie Solaiyn an den Stuhl gefesselt hatte. Der Fürst sackte nach vorn, sodass Nodon ihn auffangen musste.
»Mir wollte sie dieses Balg andrehen. Einen blonden Säugling. Hatte ihm einen seltsamen Namen gegeben … Fabrach … Nein, Falrach. Wer hatte je einen solchen Elfennamen gehört. Ich habe die Schlampe von meinen Pferdeknechten verprügeln und davonjagen lassen. Ich brauchte nicht noch einen Knaben, der sich an Statuen und an meiner toten Lisandelle vergeht.« Er hob den Kopf und sah Nodon geradewegs in die Augen. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst deinen gefiederten Gaul holen und das Lager der Menschenkinder auskundschaften.«
»Du solltest jetzt ruhen«, schritt die Schlangenfrau ein, bevor Nodon etwas sagen konnte. Sie half Solaiyn auf die Beine und führte ihn zu seinem Bett, wo er sich von ihr zudecken ließ wie ein Kind von seiner Mutter. »Schlaf, Herr. Du musst dich erholen. Wenn du aufwachst, werden Traurigkeit und Zorn dich verlassen haben.«
Mit einem Lächeln richtete sich Aloki auf und glitt zu Nodon. »Er ist einzigartig.«
»Ich würde eher sagen, verrückt. Ich werde diesen Wahnsinn hier beenden.«
»Du verstehst nicht, was du hier gesehen hast«, gurrte sie mit zuckersüßer Stimme. Ihre Pupillen aber wurden schmal. Nodon musste unwillkürlich an eine Smaragdkobra denken, die sich aufrichtete, um zuzustoßen und ihre Giftzähne in ein Opfer zu schlagen.
»Er ist der bestmögliche Heerführer für den Goldenen. Der Zauber, den der Drachenherrscher wob, um durch Solaiyns Augen zu sehen, schädigt das Gehirn des Fürsten. Jeden anderen würde dieser Eingriff innerhalb kurzer Zeit in einen sabbernden Irren verwandeln. Aber nicht Solaiyn. Ich sagte dir ja, dass er die besondere Gabe hat, sich von Verletzungen wieder zu erholen, die andere umbringen würden. Sein Hirn heilt. Es ist ein Segen und ein Fluch. Für den Goldenen ist er durch diese Eigenschaft von unschätzbarem Wert. Er verliert sein Werkzeug nicht, nachdem er es nur wenige Male benutzt hat. Für Solaiyn aber ist es ein Fluch. Unzählige Male habe ich die Nadeln in sein Gehirn versenkt. Bei jedem anderen genügt es, dies ein einziges Mal zu tun. Danach ist eine übertriebene Empfindsamkeit für immer gelöscht, ganz gleich, in welcher Form sie sich zeigt, ob nun in nicht enden wollender Melancholie, in plötzlichen Zornesausbrüchen oder dem Drang, unflätige Beschimpfungen von sich zu geben, ohne dass es dafür einen Grund gäbe.«
Nodon war sich sicher, wüsste der Dunkle, was hier geschah, würde er Solaiyn umgehend entfernen, und das wäre das einzig Vernünftige. Und diese Nachricht zu überbringen lieferte ihm einen guten Grund, das Heer zu verlassen. Er würde so nicht den Zorn seines Gebieters erwecken, auch wenn es ihm eigentlich darum ging, wieder in Nandalees Nähe zu gelangen.
»Du wirst sehen, morgen ist Solaiyn ein ganz anderer Mann«, erklärte Aloki euphorisch. »Sehr ruhig, sehr sachlich. Sein Verstand nimmt bei diesem Eingriff keinen Schaden. Ich befreie ihn lediglich von seiner übergroßen Empfindsamkeit.«
»Ich habe keinen Zweifel daran, dass er jetzt ein ganz anderer Mann ist«, sagte Nodon ironisch und blickte zum Bett, in dem der Fürst sich mit angewinkelten Beinen zusammengerollt hatte.
Plötzlich verschwamm die Erscheinung der Schlangenfrau zu einem Strahl blasser Farben. Nodon griff nach dem Schwert. Er kannte dieses Phänomen aus Erzählungen von Nandalee. Ihre Freundin Bidayn beherrschte einen Zauber, der es ihr erlaubte, sich so schnell zu bewegen, dass man ihr mit bloßem Auge kaum noch folgen konnte.
Nodon duckte sich in Erwartung eines Angriffs. Sein Schwert war noch nicht einmal zur Hälfte aus der Scheide geglitten, als er einen stechenden Schmerz am Hals spürte. Etwas Kaltes rieselte durch seine Adern. Seine Hand am Schwertgriff erschlaffte. Seine Beine versagten. Zarte Hände griffen unter seine Achseln und zogen ihn zu dem Stuhl mit der hohen Lehne.
»Ich wusste, dass du nicht auf mich hören würdest.« Alokis Stimme klang nach freundlichem Tadel. So wie die Stimme einer Mutter, die ihr Kind beim Honignaschen ertappt und eher amüsiert als verärgert ist. »Ich weiß auch, wie schwer dies alles zu glauben ist. Du musst dich darauf einlassen, um es zu verstehen. Ist dir nicht aufgefallen, wie er sich schon während des Gesprächs verändert hat? Deshalb rede ich mit ihm. Es geht meist um Asfahal. Wenn er über ihn spricht, dann kochen seine Gefühle hoch. Du hast es ja selbst erlebt.«
Nodon war wehrlos. Er vermochte kein Glied mehr zu regen. Mit Schrecken sah er, wie Aloki die beiden Lederriemen vom Tisch nahm.
»Wenn er mitten im Gespräch unmotiviert das Thema wechselt, dann ist es ein Zeichen, dass mein Werk vollendet ist. Er erinnert sich hinterher nie daran, worüber wir gesprochen haben.« Sie lächelte und zeigte dabei ihre bedrohlichen Zähne. »Eigentlich hat er in der Regel fast alles vergessen, was ein bis zwei Stunden vor dem kleinen Eingriff geschehen ist.« Sie löste seinen Schwertgurt und warf ihn samt Waffe neben das Bett. »Ich werde dir helfen, deine Unruhe zu überwinden, Nodon. Mehr Gleichmut macht das Leben schöner. Bleib einfach über Nacht hier. Niemand wird uns stören.«
Nodon kämpfte dagegen an, dass ihm die Augen zufielen. Sie schnallte einen Lederriemen über seine Stirn. Er wollte sich aufbäumen, doch seine Glieder versagten ihm den Dienst. Gleichzeitig hatte er ein Gefühl, als rinne Eiswasser durch seine Adern.
Der zweite Riemen wurde über sein Kinn gelegt. Sein Mund war staubtrocken. Wie hatte er sich nur so übertölpeln lassen können!
»Haderst du mit dir?«, fragte Aloki spöttisch. »Ich habe dich nicht angelogen. Ich bin wirklich keine Zauberweberin. Mich schnell bewegen zu können ist eine Gabe, die mir ins Nest gelegt worden ist. Ich kann es einfach. Dabei wäre ich so gerne wie ihr Drachenelfen.« Sie beugte sich hinab und küsste ihn sanft auf die Stirn. »Wie viel Wissen und Macht sich unter dieser Knochenplatte verbirgt. Ich wüsste wirklich gerne, ob eure Gehirne anders aussehen. An welcher Stelle liegt die Begabung zur Magie?« Sie wandte sich zum Tisch und nahm die Nadel und den kleinen Hammer auf. »Glaubst du, man kann die Gabe, Zauber weben zu können, mit einem Stich ins Hirn stimulieren? Oder aber vernichten? Ich wüsste das wirklich gerne.«
Nodon versuchte etwas zu sagen, doch seine taube Zunge vermochte gerade noch einen unverständlichen, lallenden Laut hervorzubringen.
»Kämpf nicht dagegen an.« Aloki zog die Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch, und ein wenig schleimige Substanz blieb an den Fingern haften. »Du wirst jeden Augenblick einschlafen. Und ich verspreche dir, wenn du morgen früh erwachst, wirst du ein ganz anderer Mann sein. Du wirst Solaiyn dann viel besser verstehen können.«
Bidayn drehte sich vor dem großen Spiegel und betrachtete selbstversunken ihr Hochzeitskleid. Dieses verschlafene Provinznest war tatsächlich für einige Überraschungen gut gewesen, ebenso wie Shanadeen. Ihr Zukünftiger hatte sich in die Unausweichlichkeit ihrer Hochzeit gefügt. Ja, er war es sogar gewesen, der diese wunderbare Schneiderin aufgetan hatte. Eine junge Elfe aus den Mondbergen. Sie hatte sich auf Anhieb bestens mit ihr verstanden. Nicht einmal hatte Enya eine Bemerkung zu dem bedauerlichen Geruch gemacht, der Bidayn anhaftete. Sieben Mal war sie zu Anproben zur Schneiderin gegangen, bis alles ihren Wünschen entsprach. Shanadeen hatte das Kleid bisher nicht zu sehen bekommen. Bidayn lächelte. Er würde rot anlaufen, wenn sie gleich in die große Halle trat. Er war so ein entsetzlicher Langweiler. Durch und durch förmlich. Nicht ein einziges Mal hatten sie beieinander gelegen. Sie hatte schon gar keine Lust mehr, zur Hochzeitsnacht in sein Bett zu steigen. Seine Küsse waren stets scheu. Vor anderen war es ihm unangenehm, Zärtlichkeiten mit ihr auszutauschen. Und selbst wenn sie allein waren, blieb er immer unbeholfen. Wie er es wohl geschafft hatte, zwei Töchter zu zeugen? Bidayn grinste böse. Vielleicht waren es ja auch gar nicht seine Töchter, und Nevenyll hatte ihm Hörner aufgesetzt.
»Du siehst wunderschön aus, wenn du lächelst!« Lydaine klatschte vor Begeisterung in die Hände, und eine lange, blonde Strähne löste sich aus ihrem hochgesteckten Haar.
»Bleib doch still sitzen, Kind!«, ereiferte sich Kruppa, die an diesem besonderen Tag ihr Regiment über die Küche vorübergehend aufgegeben hatte, um dafür zu sorgen, dass die Braut und ihre Brautjungfern auch wirklich hinreißend aussahen.
»Hinsetzen! Auf die Kleidertruhe da! Sofort!«, kommandierte sie scharf. »Maya! Steck ihr das Haar wieder hoch. Und wehe, du rührst dich noch mal vom Fleck, Lydaine! Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester. Die bleibt die ganze Zeit brav sitzen.«
Maya hatte einige Mühe, mit ihrem Holzbein auf das Bett zu klettern, um sich dann hinter Lydaine zu stellen und ihr Haar zu richten. Die kleine Koboldin strahlte über das ganze Gesicht. Sie war mindestens so aufgeregt wie Lydaine. Wie ihre Mutter hatte auch sie zur Feier des Tages ein neues Kleid bekommen. Es war von einem kräftigen Rot, das gut mit ihrer dunklen Haut harmonierte. »Du musst wirklich vorsichtiger sein«, flüsterte sie Lydaine ins Ohr. »Dein Blumenkranz sitzt auch schon wieder schief.«
»Ich werde niemals herumsitzen wie ein toter Fisch«, sagte Lydaine eingeschnappt. »So bin ich eben nicht.«
»Wer nennt mich einen toten Fisch?« Farella blieb zwar immer noch ruhig sitzen, aber Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. »Das hast doch nicht du dir ausgedacht. Du denkst dir nie etwas aus, dumme Kuh.«
»Besser ’ne lebendige Kuh als ein toter Fisch!«, entgegnete Lydaine aufgebracht. »Und wenn du es wirklich wissen willst: Graumur nennt dich so, wenn du nicht in der Nähe bist.« Der Blondschopf setzte ein triumphierendes Lächeln auf. »Was machst du jetzt? Hingehen und Vaters Minotaur verprügeln.«
»Graumur …« Farella runzelte die Stirn. »Weißt du, wie er dich nennt? Floh, weil du so wie Flöhe keinen Augenblick still sitzt!«
»Das ist nicht wahr!«, rief Lydaine betroffen. »Graumur mag mich! Er würde mich niemals Floh nennen.«
»Aber sicher mag er Flöhe!« Farella setzte ein vernichtendes Lächeln auf. »Hast du ihm schon mal zugesehen, wie er Flöhe aus seinem Fell liest? Jedes Mal wenn er einen zu packen bekommt, knackt er ihn mit den Zähnen. Scheint ihm zu schmecken.«
»Tut er das wirklich?« Lydaine sah aus, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu weinen. »Nennt er mich wirklich Floh?«
»Hört auf, meine Täubchen«, sagte Bidayn mit einem Anflug von Strenge in der Stimme. »Dies ist mein Freudentag und kein Tag, um zu streiten.« Sofort senkten beide den Kopf. Sie gehorchten ihr gut. Manchmal sagten sie sogar Mutter zu ihr. Bidayn mochte das nicht sonderlich. Sie fühlte sich dann alt.
»Vielleicht sollte man hier doch noch ein paar Stiche …«, setzte Kruppa schon zum dritten Mal an diesem Morgen an und deutete auf Bidayns Hüfte. »Das ist schon sehr freizügig … für eine Braut.«
Bidayn mochte den Schlitz im Kleid, der fast bis zu ihrer Hüfte reichte. Sie hatte lange, schlanke Beine. Die Zeit auf Nangog hatte an ihrem Körper gezehrt. Sie war dünner geworden und gefiel sich nun besser. Ihr Kleid zeigte das. Es war halb durchsichtig. Natürlich nicht an allen Stellen. Vor allem nicht auf ihrem Rücken, musste sie doch die Tätowierung verbergen, die nur schwerlich zu erklären gewesen wäre. Der Drache, den ihr der Goldene in einer Orgie lustvollen Schmerzes tief unter die Haut gestochen hatte.
Die wundervoll verschlungenen Blumenmuster auf ihrem Kleid verdeckten ihr farbenprächtiges Hautbild. Enya hatte unzählige Stunden daran gearbeitet. Und die Schneiderin hatte um Bidayns Geheimnis gewusst. Sie hatte die Tätowierung sehen müssen, um die Stickereien daran anzupassen. Enya hatte Stillschweigen gelobt.
Bidayn strich über die langen Ärmel und genoss die Berührung des kostbaren Stoffs. Das Brautkleid lag wie eine zweite Haut auf ihrem Körper. Bei diesem Gedanken musste die Drachenelfe unwillkürlich lächeln.
Sie ergötzte sich an der cremeweißen Farbe. Drehte sich und sah zu, wie der Saum, der bis zu ihren Knöcheln reichte, bei der Bewegung aufwirbelte und ein Rad aus schillerndem Stoff um sie herum formte. Sofort war Lydaine wieder auf den Beinen und tat es ihr gleich. Die beiden Mädchen hatten Kleider aus demselben Stoff, doch war er mit weißer Seide unterfüttert, sodass die Kleider weniger aufreizend wirkten.
Maya stieß einen spitzen Schrei aus und balancierte mit ausgestreckten Armen auf der Bettkante, so plötzlich war Lydaine aufgesprungen. Und wieder hatte sich eine Strähne ihres blonden Haars gelöst, und auch ihr Blumenkranz saß schief.
»Ich gebe es auf mit euch beiden.« Schmollend verschränkte Kruppa die Arme vor der Brust. »Ihr seid ja verrückt wie Blütenfeen.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich bleibe dabei. So ein Kleidchen mag eine anziehen, die ihren Mann noch sucht und es mit manchen Anstandsregeln nicht so genau nimmt. Wer seinen Mann gefunden hat, sollte sich nicht mehr auf solche Art zur Schau stellen.«
»Da ich hier nun die Herrin im Hause bin, stelle ich auch die Regeln auf. Es ist besser, du gewöhnst dich daran, Kruppa. Und sei vorsichtig, wenn du auf die Idee kommen solltest, mir als kleine Anerkennung in mein Essen zu spucken.«
»Also, so etwas! Das muss ich mir nicht bieten lassen. Es gibt viele Häuser in der Stadt, die froh wären, mich in der Küche zu haben …«
»Ich könnte gleich während des Hochzeitsessens verkünden, dass ich dich gestern bei dieser Untat ertappt habe und du entlassen bist. Du würdest in weitem Umkreis keine Anstellung mehr finden.«
»Du … du bist.« Kruppa stampfte vor hilfloser Wut mit ihrem Fuß auf.
»Nicht du. Ich bin deine Herrin, nicht deine Freundin. Gewöhne dich daran, und ich werde eine sehr großzügige Herrin sein.«
Die Kinder folgten mit großen Augen dem unerwarteten Streit.
»Ich gehe«, sagte Kruppa schließlich und ließ wohl mit Absicht offen, ob sie nur das Zimmer oder gleich das Haus verlassen wollte. »Du bringst Unglück, Bidayn. Die kleine Enya hat das Unglück diese Nacht ereilt, und ich fühle, dass es wie eine dunkle Wolke auch schon auf diesem Haus lastet. Maya!« Sie streckte fordernd die Hand nach ihrer Tochter aus. »Komm!«
Das Koboldmädchen ließ sich vorsichtig vom Bett gleiten. Es war so still in der Ankleidekammer, dass das Klacken ihres Holzbeins so laut wie Hammerschläge ertönte. Mit Tränen in den Augen sah sie zu Bidayn auf. Sie hätte gleich eines der Blumenmädchen sein sollen, die beim Einzug in die Festhalle Blüten vor ihre Füße streuen würden. Seit einer Woche hatte Maya von nichts anderem mehr gesprochen. Für sie war diese Bagatelle zur bedeutendsten Stunde ihres Lebens geworden. Wenn Kruppa sie darum bitten würde, könnte Maya immer noch zum Fest erscheinen.
Doch die dicke Köchin stampfte, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, aus dem Zimmer, und Maya folgte ihr mit hängenden Schultern.
»Das war ungerecht!«, rief Lydaine und stürmte den beiden schluchzend hinterher.
Die Drachenelfe sah zu Farella, die immer noch still auf ihrem Platz saß. »Und? Willst du auch vor der Tyrannin davonlaufen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Kruppa erlaubt sich zu viel. Aber … Was ist mit Enya? Warum sagt Kruppa, dass du ihr Unglück gebracht hast.«
»Weil sie ein abergläubisches, dummes, kleines Koboldweib ist.« Bidayn schenkte Farella ihr bezauberndstes Lächeln. »Auf das Geschwätz von Kobolden sollte man nicht zu viel geben.«
Farellas Gesicht blieb ernst. »Ich habe Kruppa und Graumur heute Morgen belauscht. Graumur kam gerade aus der Stadt. Er hat von Enya erzählt. Sie ist tot. Etwas Schreckliches muss geschehen sein …« Shanadeens Tochter sah zu ihr auf.
»Und was ist geschehen?«, fragte Bidayn.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Die beiden haben mich bemerkt und aufgehört zu sprechen. Aber Graumur wirkte ganz aufgewühlt. Ich habe ihn so noch nie gesehen. Er hat doch früher in richtigen Schlachten gekämpft. Wie kann es sein, dass ihn der Tod da noch erschreckt?«
»Mit solchen Gedanken sollten sich Kinder nicht belasten«, sagte Bidayn entschieden. »Hier hatte Kruppa ausnahmsweise einmal recht. Es ist besser, wenn du gar nichts darüber hörst.«
Farella schüttelte den Kopf, und ihre großen Augen erschienen Bidayn nicht zum ersten Mal wie dunkle Abgründe. »Ich sehe aus wie ein kleines Mädchen, aber ich bin keines. Manchmal tue ich so, weil das Leben leichter ist, wenn man der ist, der man zu sein scheint. Vater ist glücklich, wenn ich ihm vorgaukle, ich wäre noch dieselbe wie an jenem Tag, als meine Mutter sich ins Meer gestürzt hat. Aber das ist nicht die Wahrheit. Mein Körper hat aufgehört zu wachsen und zu altern. Mein Verstand aber ist längst nicht mehr der eines kleinen Mädchens.«
Bidayn musste sich setzen. Sie hatte Farella immer lieber gemocht. Das stille Mädchen hatte sie an ihre eigene Kindheit erinnert. Ihre unentwickelte Gabe, eine Zauberweberin zu sein, hatte sie zur Außenseiterin gemacht, genau wie Farella.
»Gilt das auch für Lydaine?«
Farella schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist genauso kindisch, wie sie sich gibt. Der Fluch, oder was immer es war, was uns bei Mutters Tod getroffen hat, wirkt bei uns beiden unterschiedlich. Sie ist wirklich das Kind, das sie zu sein scheint.« Farella sagte das voller Verachtung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ist, in diesem Palast mit Lydaine eingesperrt zu sein. Alle erwarten, dass ich mit ihr spiele und mich gut mit ihr verstehe. Ich wäre so gern wie du! Und ich würde so gerne bei einem Mann liegen. Aber du kannst dir wohl vorstellen, dass es niemand wagt, mich auch nur lüstern anzusehen. Mich, das kleine Mädchen des mächtigen Handelsherren Shanadeen.« Sie seufzte. »Du kennst jetzt mein Geheimnis, Bidayn. Nun verrate du mir, wie Enya gestorben ist. Du weißt es doch, nicht wahr? Vor dir verbergen sie nichts. Hat sie sich von der Klippe gestürzt wie meine Mutter? Haben sie ihre Leiche zerschmettert zwischen den Felsen gefunden? Es war Vollmond gestern Nacht. Der Mond übt einen düsteren Zauber auf die Melancholischen aus. Er zieht sie hinaus auf die Klippe. Ich selbst habe es auch schon gespürt.«
»Bist du wirklich sicher, dass du etwas wissen willst, was einen kampferprobten Minotauren erschreckt hat?«
»Ich bin kein Kind!«, entgegnete sie verärgert. »Und nichts zu wissen heißt, sich alles auszumalen.«
Bidayn war es leid zu diskutieren. Sollte die Kleine sehen, wie sie mit dem klarkam, was ihre Neugier ihr einbrachte. »Keiner weiß, wer Enya getötet hat, aber wer immer es war, hat ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Es heißt, als man sie gefunden hat, wäre nicht mehr das kleinste Stückchen Haut auf ihrem Körper gewesen. Die kleine Schneiderin wurde also gewissermaßen ausgezogen. Was der Mörder mit der Haut getan hat, ist ungewiss. Im Haus der Schneiderin war sie nicht mehr.«
Farella schien von der Schilderung nicht berührt zu werden. Sie nickte lediglich. »Warum macht man das?«, fragte sie schließlich nach einer Weile.
»Schwer zu sagen. Vielleicht war es ein verrückter Jäger? Jemand, der statt Fellen Elfenhaut sammelt? Vielleicht will er sich einen Mantel oder eine Weste machen und fand es amüsant, eine Schneiderin als Opfer zu wählen, aus dem er sich ein neues Kleidungsstück fertigt? Die Welt ist voller Verrückter, Farella. Man sollte sich nie an einem Ort zu sicher fühlen.« Kaum, dass die Worte über ihre Lippen waren, taten sie Bidayn leid. Sie wollte das Mädchen nicht unnötig ängstigen.
»Ich möchte so sein wie du, Bidayn. Du hast dich so verändert, seit Vater bekannt gegeben hat, dass er dich heiraten wird. Früher habe ich dich für …« Sie zögerte kurz. »Für farblos gehalten.«
Bidayn musste über die Umschreibung lächeln. Sie wusste ganz genau, was die Kleine hatte sagen wollen. So, wie sie als Kindermädchen aufgetreten war, sie eine graue Maus zu nennen wäre noch geschmeichelt gewesen. Verhuscht, voller Furcht vor Männern, ja vor der ganzen Welt, hatte sie wirken wollen. Seit sie Shanadeen zur Hochzeit gezwungen hatte, war es nicht mehr nötig, diese Maskerade zu betreiben. Auch wenn sie sich bemühte, ihren Wandel nach außen nicht ganz so offenkundig werden zu lassen.
»Wie zieht man eine Haut ab?«
Bidayn glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Was?«
»Wie geht das?«, fragte Farella so arglos, als ginge es um irgendeine Belanglosigkeit wie ein Rezept oder ein Stickmuster. »Wie zieht man eine Haut ab? Ist das so, wie einen Apfel zu schälen?«
Die Drachenelfe sah Farella in einer Mischung aus Faszination und Entsetzen an. Was war das für ein Mädchen? »Hast du nie zugesehen, wie in der Küche einem Hasen das Fell abgezogen wurde?«
»Nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe zugesehen, wie Hühner oder Fasane gerupft wurden und wie man Fische putzt, aber Häuten ist wohl ganz anders, oder?«
»Es ist kein schöner Anblick. Ich in deinem Alter …« Bidayn wurde sich des Fehlers bewusst, den sie gerade gemacht hatte. Sie hatte Farella wieder nur als Kind gesehen. »Entschuldige. Also ich wäre, als ich klein war, laut schreiend fortgelaufen, hätte ich mir ansehen müssen, wie man einem süßen Hasen sein Fell über die Ohren zieht. Aber ich werde es dir zeigen, sobald sich der Trubel rund um das Hochzeitsfest gelegt hat. Versprochen! Jetzt sag du mir, warum dir daran so viel gelegen ist.«
»Was ich kenne, fürchte ich weniger. Der, der das getan hat, ist der noch in der Stadt?«
»Wahrscheinlich nicht. Jäger ziehen weiter. Vergiss die arme Enya, hier im Haus deines Vaters bist du in Sicherheit. Hier kann dir kein Fremder etwas zuleide tun.«
Farella stand auf und kam zu ihr herüber. Einen Moment lang hatte Bidayn das Gefühl, ihre Stieftochter wolle sie umarmen und an sich drücken. Doch dann blieb sie plötzlich stehen. »Du riechst anders.« Sie schnupperte. »Das ist Veilchenduft wie in Enyas Schneiderei.«
»Mein Kleid duftet danach«, log Bidayn, die nur zu gut wusste, dass sie es war, die diesen Duft verströmte. »Anders als bei deinem Kleid ist Kruppa nicht mehr dazu gekommen, es waschen zu lassen.« Sie streckte Farella beide Hände entgegen. »Komm her! Wir werden jetzt etwas tun, was für jede Dame vor einem großen gesellschaftlichen Anlass verpflichtend ist. Wir werden sündhaft teures Parfüm auflegen. Diese Kreation wurde eigens für mich geschaffen. Es ist ein Geschenk deines Vaters für mich. Reines Rosenöl mit einem Hauch von Vanille und einer Idee von Orangenduft.« Sie deutete auf den kostbaren Flakon aus Bergkristall, der vor dem Spiegel stand. »Komm, hab keine Scheu.«
Farella trat vor den Spiegel und betrachtete sich kritisch. »Wenn ich nur nicht aussehen müsste wie ein Kind!«
»Dies vermag ich nicht zu ändern«, sagte Bidayn bedauernd. »Aber ich kann dich in die Geheimnisse der Frauenwelt einführen.« Sie öffnete den Flakon und tupfte mit dem Glasstäbchen an der Unterseite des Verschlusses ein wenig Parfüm auf den Nacken des Mädchens. Sofort erfüllte ein betörender Duft die Ankleidekammer.
Farella seufzte. »Wie ein Sommertag in einem Rosengarten.«
»Nicht wahr«, bekräftigte Bidayn. »Und nun heb deine Hände.« Sie tupfte dem Mädchen noch ein wenig Parfüm auf die Innenseite der Handgelenke. »Dies ist kein billiges Duftwässerchen. Das ganze Fest lang wird dir der Hauch des Sommers anhaften. Das richtige Parfüm zum richtigen Anlass aufzutragen ist eine hohe Kunst. Dieser Duft wird dafür sorgen, dass sich jeder in deiner Anwesenheit wohlfühlt. Und nur die wenigsten werden den Grund dafür erraten. Dies ist eine von vielen Möglichkeiten, einen Mann zu betören. Und es hat nichts mit deinem Alter und Aussehen zu tun. Düfte schummeln sich am Verstand vorbei und erwecken unmittelbar Emotionen.«
Farella sah dankbar zu ihr auf, während auch Bidayn ein wenig des kostbaren Duftwassers auf ihren Nacken und ihr Dekolleté strich. Sorgfältig verschloss sie den kostbaren Flakon. »Komm, Farella, gehen wir hinab und tun das, wozu man Hochzeitsfeste für hübsche Mädchen wie uns veranstaltet.«
Farella ergriff zwar ihre Hände, sah sie aber fragend an. »Was soll das sein?«
»Wir werden hemmungslos mit unseren wunderschönen Kleidern angeben, alle anderen Frauen schlecht neben uns aussehen lassen und allen Männern den Kopf verdrehen«, entgegnete Bidayn gut gelaunt und dachte dabei an einen ganz besonderen Elfen. Den einen, der unter jenen, um die sie den Goldenen gebeten hatte, noch fehlte.
Asfahal zügelte seinen Schimmel und sah auf die kleine Hafenstadt hinab. Uttika. Bis vor zwei Wochen hatte er von diesem Nest nicht einmal gehört. Erst in jener denkwürdigen Nacht, in der der Goldene ihn in Elfengestalt in einem Freudenhaus in Solfalah aufgesucht hatte, hatte er erfahren, dass sein Schicksal von nun an mit Uttika verbunden sein würde. Der Goldene war sehr höflich aufgetreten. Er hatte lediglich einen Wunsch geäußert – aber wer würde den Wunsch einer Himmelsschlange missachten. Im Übrigen war der geflügelte Herrscher so freundlich gewesen, all seine Schulden zu begleichen und ihn mit einer überaus großzügigen Reisekasse auszustatten. Asfahal lächelte in sich hinein. All das war schon gut gewesen, das Beste jedoch war die Genugtuung, einen Auftrag durch eine Himmelsschlange zu bekommen. Ausgerechnet er, Asfahal, den die Meister der Weißen Halle in Schimpf und Schande davongejagt hatten, gehörte nun doch noch zu den Auserwählten der geflügelten Herrscher.
Der Elf schlug den langen, weißen Umhang über die Schulter zurück und tastete nach dem schmalen, eleganten Silberreif, der sein Haar zurückhielt. Er wollte eine gute Figur machen, wenn er auf der Hochzeit eintraf. Heute müsste der Tag sein, den ihm der Goldene für das Fest genannt hatte, es sei denn, er hatte sich während der langweiligen Reise durch das weite Grasland verrechnet. Aber auch das wäre egal. Es war nie falsch, eine gute Figur zu machen.
Er gab seinem Schimmel die Fersen und eilte in leichtem Trab den Hang hinab, der Stadt entgegen.
Das Jaulen von Sackpfeifen begrüßte ihn, noch bevor er das Stadttor erreichte. Ein Trupp Kentauren preschte ihm entgegen. Nicht mehr alle waren ganz sicher auf den Hufen. Einer von ihnen hielt eine bunt bemalte Amphore mit beiden Armen umschlungen wie eine Geliebte, wobei sein struppiger, roter Kinnbart in den Amphorenmund hing. »Wein!«, rief er ausgelassen. »Dieser Geizhals Shanadeen hat eine ganze Galeerenladung Wein verschenkt, damit heute alle auf sein wunderschönes Weib trinken können.«
»Mir scheint, ich bin zur rechten Zeit gekommen«, sagte der Elf lächelnd.
Ein donnernder Rülpser war die Antwort des Pferdemanns, der ihn mit glasigen Augen ansah. »Ich trink aber gar nicht auf sein Weib. Glaubst du auch, ihr Elfen könnt uns einfach alles vorschreiben? Dass ich seinen Wein genommen habe, gibt ihm kein Recht, sich wie mein Herr aufzuspielen«, lamentierte der Kentaur.
»Absolut nicht!«, sagte Asfahal mit aller Ernsthaftigkeit, die er aufzubringen vermochte. »Erweist du mir die Gunst, mir zu verraten, auf wen du trinkst?«
»Das ist mal ein Elf, der sich zu benehmen weiß«, grölte der Amphorenträger seinen Kameraden hinterher. »Ich trink auf meinen Bruder. Den haben sie zu dem Heer geholt, das die Alben nach Nangog geschickt haben.« Dem Zecher stiegen Tränen in die großen Augen. »In meinem ganzen Leben gab es keinen Tag, an dem ich meinen Bruder nicht gesehen habe. Ihn einfach so fortzuschicken war nicht richtig. Was haben wir mit Nangog und den verfluchten Menschenkindern am Hut?« Er hob die Amphore an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck, wobei mehr Wein über seine Brust als durch seine Kehle rann. Dann hielt er Asfahal das massige Tongefäß hin. »Trink auf meinen Bruder!«
Der Elf dachte an den struppigen Bart, der in den Wein gehangen hatte, und schüttelte den Kopf. »Nein, nicht hier.«
»Du willst …« Die Adern am Hals des traurigen Zechers schwollen an.
»Ich muss auf ein Hochzeitsfest und bin spät. Dort werde ich auf deinen Bruder trinken. Vor Fürsten und Kaufherren werde ich einen Trinkspruch auf deinen Bruder ausbringen, auf dass alle ihm zu Ehren ihre Becher heben werden.«
Der Kentaur ließ die schwere Amphore sinken. Seine blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Das würdest du tun?«
»Wie heißt dein Bruder?«
»Aegidos.« Er stieß einen weinerlichen Schluchzer aus. »Meine Eltern haben ihn so genannt, weil sein Fell struppig wie das einer Ziege war. Er ist drei Jahre jünger als ich. Aber alle mochten ihn. Er ist zum Anführer einer Rotte gewählt worden, als er ging.« Der Kentaur blickte in den weiten, blauen Himmel. »Ich bete zu den Alben für dich, kleiner Bruder. Mögen sie ihre schützende Hand über dich halten!«
»Aegidos«, wiederholte Asfahal den Namen laut. »Heute Abend werden Fürsten auf dein Wohl trinken.« Mit diesen Worten ritt er weiter.
Die Straßen Uttikas waren voll von feierndem Pöbel. Der Duft von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot vermischte sich mit dem Geruch von verschwitzten Pferdeleibern und dem Salzgeruch, den eine leichte Brise vom Hafen herauftrug. Asfahal erfuhr, dass Shanadeen dreißig Ochsen hatte schlachten lassen und es Brot für alle gab. Die ganze Stadt feierte Bidayns Hochzeit. Betrunkene Kentauren lehnten an Hauswänden und grölten unflätige Lieder. Kobolde mit Sackpfeifen und Flöten tanzten durch das Gedränge. Vereinzelt sah er sogar Elfen in dem Gewühl und einmal zwei hünenhafte Minotauren, die ausgelassen lachend durch das Gedränge pflügten.
Die kleine Bidayn hatte es weit gebracht. Er erinnerte sich daran, wie sie zusammen mit Nandalee in die Weiße Halle gekommen war. Nandalee hatte sich damals mit Ailyn angelegt und eine gehörige Tracht Prügel von der Meisterin bezogen. Die stolze, hochgewachsene Nandalee mit ihrer wallenden, blonden Mähne vergaß man nicht. Die Erinnerung an Bidayn hingegen war undeutlich. Klein, ein wenig pummelig, mit schwarzem Haar war sie gewesen. Ihr Gesicht war ihm nicht deutlich im Gedächtnis geblieben. Und doch, obwohl sie unscheinbar war, hatte sie es geschafft, zu einer Favoritin des Goldenen aufzusteigen. Sie war eine Drachenelfe geworden, während die Meister ihn wenige Wochen nach der Ankunft der beiden neuen Schülerinnen aus der Weißen Halle vertrieben hatten.
Asfahal lachte so laut, dass zwei zechende Faune sich nach ihm umdrehten. Der Elf hatte es sich lange abgewöhnt, mit den Launen des Schicksals zu hadern. Er war neugierig zu sehen, was aus Bidayn geworden war.
Er lenkte seinen Schimmel durch das Gewühl, kaufte einen köstlichen, klebrigen Honigkringel von einem fliegenden Händler, der seine kulinarischen Schätze auf einer langen Stange über der Schulter trug. Kopfschüttelnd sah er eine Weile einem Troll zu, der mit einer Gruppe junger Koboldartisten jonglierte und die tollkühnen kleinen Darsteller wie Bälle hoch in die Luft warf, wo diese ihrerseits alle erdenklichen artistischen Kunststückchen vollbrachten, von Saltos und Schwalben bis hin zu einem, der, hoch emporgeworfen, selbst mit zwei Bällen jonglierte. Die Gruppe erntete viel Applaus und stahl allen anderen Darstellern auf dem Marktplatz die Schau.
Nach dem einsamen Ritt durch das Windland genoss Asfahal den Trubel. Er schloss die Augen und lauschte auf all die Stimmen ringsherum – Prahlereien, Staunen, ein Blumenmädchen, das seine Ware anpries, und ein Schlangenölverkäufer, der seinen Kunden das Blaue vom Himmel vorlog, ein geflüsterter Liebesschwur in einer Seitengasse, ein Zuckerbäcker, der kandierte Mäuseherzen feilbot, und eine dunkle Stimme, die mit einem Straßenmädchen hart über den Preis für eine schöne Stunde verhandelte. Die ganze Stadt war in ausgelassener Stimmung, die mehr und mehr auch auf Asfahal abfärbte. Er wollte Spaß haben und nicht einfach nur als ein weiterer unter Dutzenden Gästen auf der Hochzeit erscheinen.
Zu lauschen und viele verschiedene Stimmen zugleich klar zu hören und auseinanderhalten zu können, gehörte zu seinen besonderen Begabungen. Er konnte sich selbst nicht erklären, wie er das machte. Er hatte es nicht gelernt. Vielleicht lag es an der Stille, die stets im Palast seines Vaters geherrscht hatte, nachdem seine Mutter Lisandelle gestorben war. Er erinnerte sich noch gut, wie er oft stundenlang in einem seiner Verstecke gelegen und gelauscht hatte. Doch keine Stimme war zu hören gewesen. Wie wunderbar war da diese turbulente, stinkende Stadt voller verschwitzter, gut gelaunter Albenkinder.
Da wurde er eines Misstons inmitten der ausgelassenen Feststimmung gewahr. Ein leises Schluchzen, ganz nahe. Asfahal zog seinen Schimmel um den Zügel und lenkte ihn ungeachtet des leisen Maulens einiger Kobolde in eine Seitengasse. Dort kauerte auf einer Rampe, die hinauf zur Stadtmauer führte, ein Mädchen in einem roten Kleid und weinte bitterlich, das Gesicht in den Händen vergraben. Niemand drehte sich nach ihr um. Sie schien das einsamste Geschöpf inmitten dieser Stadt in Feierlaune zu sein. Ihr Leid erinnerte ihn an seine Kindheit, seine Einsamkeit, und er stieg ab.
Sanft legte er ihr die Hand auf das schwarze Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt war, den eine Rose aus zartem weißen Stoff schmückte. »Magst du Honigkringel, Kleine?« Er hielt ihr den angebissenen Kringel hin.
Das Koboldmädchen blickte zu ihm auf. Ihre Augen waren rot umrandet. Klarer Rotz troff ihr von der Nase. Sie machte keine Anstalten, nach dem Gebäck zu greifen.
»Wie heißt du denn?«
»Maya«, kam es zögerlich mit halb erstickter Stimme.
Asfahal ging in die Hocke, sodass sie fast auf Augenhöhe waren. Lächelnd biss er in den Kringel. »Köstlich! Ich liebe Süßigkeiten. Willst du nicht doch etwas?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Die ganze Stadt feiert. Wie kann man an einem solchen Tag traurig sein? Magst du mir erzählen, was geschehen ist.«
Die Kleine starrte ihn einfach nur an. Dann schluchzte sie wieder, und dicke Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Du hast ein wunderschönes Kleid an, Maya. Damit solltest du tanzen und nicht in einer finsteren Ecke sitzen und weinen. Heute ist ein Festtag.«
»Aber sie wollen mich doch nicht mehr auf dem Fest«, sagte sie voller Verzweiflung. »Meine Mutter hat mit der Herrin gestritten … Eigentlich war ich eine Blumenmaid …«, stieß sie schluchzend hervor. »Aber dann hat Mutter mir verboten, für die Herrin Blumen zu streuen. Und sie wollte auch nicht, dass ich auf das Fest gehe. Dabei hatte ich mich so gefreut … Die Herrin hat extra dieses Kleid für mich machen lassen. Es wäre der schönste Tag in meinem Leben gewesen!« Wieder vergrub sie das Gesicht in den Händen. Ihr Rücken bebte unter den verzweifelten Schluchzern.
»Ist das die Hochzeit von Bidayn, von der du da sprichst?«
Maya nickte. »Ich hatte mich so darauf gefreut …« Ihre Worte erstickten in Schluchzern.
»Und deine Mutter hat dir verboten, als eine Blumenjungfer dorthin zu gehen?«
Wieder nickte die kleine Koboldin.
»Dann wirst du mich wohl als meine Dame begleiten müssen.«
»Was?« Sie hob den Kopf und sah ihn ungläubig aus ihren schwarzen Augen an.
»Wir verstoßen damit nicht gegen das Gebot deiner Mutter. Und es steht mir als Gast frei, in Begleitung einer Dame zu erscheinen.« Asfahal machte eine elegante Verbeugung. »Werte Maya, würdet Ihr mir die Gunst erweisen, mich auf die Hochzeit der ehrenwerten Herrin Bidayn zu begleiten?«
Sie kicherte verlegen. »Ich bin doch gar keine Dame.«
»Mich dünkt, Ihr seid mit Eurem wunderbaren roten Kleid viel trefflicher für eine Hochzeit gewandet als ich mit meinen von der Reise staubigen Gewändern. Euer Glanz wird von meiner Unzulänglichkeit ablenken.«
»Du meinst das ernst?« Überdeutlich klang die Angst vor neuerlicher Enttäuschung in ihren Worten.
Mit großer Geste legte er sich die Rechte auf seine Brust. »Mögen die Alben mein Herz verdorren lassen, wenn meine Worte nicht aufrichtig gemeint sind.«
Maya schluckte. Dann tastete sie nervös nach ihren Haaren. »Meine Haare … Ich sehe sicher ganz schrecklich aus.«
»Ihr solltet in der Tat Eure Tränen trocknen, meine Liebe. Bitte verzeiht, dass ich kein Tüchlein zur Hand habe. Darf ich Euch einen Zipfel meines Umhangs anbieten, werte Dame?«
Maya griff nach dem Saum seines Umhangs. Dann sah sie zu ihm auf. »Bitte, rede nicht so seltsam mit mir. Das … das fühlt sich ganz falsch an. Ich bin doch keine Elfendame. Und …« Sie schob ein Holzbein unter dem Saum ihres Kleides hervor. »Ich werde auch nicht tanzen können.«
»Wenn ich es richtig einschätze, dann wird dies ein Fest mit jeder Menge Vierbeinern. Wollen wir wetten, dass wir beide jeden Kentauren in Grund und Boden tanzen?«
Schüchtern schüttelte sie den Kopf. »Nein, lieber nicht.«
»Aber du begleitest mich doch?«
Deutlich war Mayas kleinem Gesicht anzusehen, mit welch widerstreitenden Gefühlen sie rang. Schließlich sagte sie entschlossen: »Ja!«
Asfahal lächelte zufrieden. »Darf ich Euch … dir die Haare richten?«
Sie sagte nichts, aber ließ zu, dass seine schlanken Finger durch ihr rabenschwarzes Haar glitten und den Dutt, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten, neu richteten. Währenddessen griff sie nach seinem Umhang und schnäuzte sich laut hinein. Kobolde, dachte Asfahal indigniert, ließ sie aber gewähren.
Endlich ließ sie den Umhang fahren und sah schüchtern zu ihm auf. »Sieht man noch, dass ich geweint habe?«
»Ein wenig, aber bis wir den Palast erreicht haben, werden alle Spuren deiner Tränen verschwunden sein. Zeigst du mir den Weg?«
»Ja.« Sie wollte schon losgehen, als er sie an der Schulter zurückhielt.
»Wir sind Ehrengäste. Wir gehen doch nicht zu Fuß.« Asfahal hob sie vor seinen Sattel, wo sich ihre Hände ängstlich in die Mähne des Schimmels krallten. Dann saß er auf. »Du bist noch nicht oft geritten, nicht wahr?«
»Noch nie«, flüsterte sie unsicher.
»Schwing beide Beine auf eine Seite. So rutscht dein Kleid nicht hoch, und es sieht damenhafter aus, wenn du reitest. Und keine Sorge, ich halte dich gut fest. Du wirst nicht herunterfallen.«
Maya befolgte seinen Rat zögerlich. Er legte seinen Arm um sie, um ihr das Gefühl von Sicherheit zu geben, und führte den Schimmel aus der Gasse heraus über den Marktplatz.
Die Koboldin schmiegte sich an ihn. »Alle starren uns an«, flüsterte sie.
»Das ist das Schicksal hübscher Damen«, entgegnete er gut gelaunt, und zum ersten Mal kicherte Maya.
Sie zeigte ihm den Weg durch Uttika, und schließlich gelangte er vor das große Stadthaus des Kaufmanns Shanadeen. Eine flache Rampe führte hinauf zum doppelflügeligen Eingangstor. Einige Kentauren in frisch geölten Lederpanzern und mit prächtig bestickten Pferdedecken oder wallenden Umhängen standen vor dem Tor und plauderten. Von breiten Ledergurten, die ihnen quer über die Brust liefen, hingen lange Schwerter. Gurte und Scheiden waren mit Goldblechen beschlagen. Die meisten von ihnen trugen Armreife oder schwere Halsringe. Es waren eindrucksvolle Gestalten, ihre Pferdeleiber viel massiger als die ihrer Brüder aus dem weiten Grasland. Sie erinnerten mit den großen Hufen und starken Beinen mehr an Kaltblüter, die dafür gezüchtet worden waren, schwere Lastkutschen zu ziehen.
Ihr Geschmack war barbarisch. Die Farben ihrer Umhänge zu grell. Sie trugen zu viel Schmuck. Und einige hatten sogar ihre Augen mit dunkler Farbe umrandet, was geradezu grotesk aussah.
Asfahal lenkte seinen Schimmel die Rampe hinauf. Aus einer Nische am Eingang trat ein Faun hervor und wollte nach den Zügeln greifen, als der Elf ihn mit einem scharfen Zischen davon abhielt. »Lass das!«
»Aber Herr, Ihr könnt doch nicht …«
»Einen Pferdearsch in die gute Stube bringen?«, fragte Asfahal laut. »Warum, dort befände ich mich dann doch in bester Gesellschaft.«
Der Diener sah ängstlich zu den Kentauren am Eingang, die inmitten ihrer Gespräche verstummt waren.
Asfahal spürte, wie Maya sich ängstlich an ihn drückte. Er strich ihr sanft über den Kopf. »Keine Sorge, meine Dame, alles wird gut werden.« Mit diesen Worten trieb er den Schimmel in die weite Empfangshalle des Stadtpalastes.
Weitere Diener, Kobolde und Faune wichen vor ihm zurück, als er seinen Hengst tänzelnd auf der Stelle drehen ließ, um sich die prächtige Halle anzusehen. Zwei breite Rampen führten rechts und links in die oberen Stockwerke. Hoch über ihm wölbte sich eine weite Kuppeldecke, die ein Bild schmückte, das ziehende Vögel und weiße Wolken vor blauem Himmel zeigte und bei dem Betrachter den Eindruck erweckte, gar nicht in einem Haus, sondern unter freiem Himmel zu stehen.
Das gegenüberliegende Ende der Halle beherrschte eine große, offen stehende Flügeltür. Asfahal gab seinem Schimmel die Hacken und preschte durch die Tür mitten in die Hochzeitsgesellschaft.
Asfahal genoss die empörten Schreie und den Aufruhr, den er verursacht hatte. Elfenedle zogen erschrocken ihre Damen zur Seite. Zwei bocksbeinige Diener stürmten ihm entgegen und versuchten, nach den Zügeln zu greifen, aber sein Hengst stieg, und hastig brachten sie sich vor den wirbelnden Vorderhufen in Sicherheit.
Die kleine Kapelle auf einer Bühne am Rand der Halle verstummte. Einen Moment lang erklang noch die kristallklare Stimme der Sängerin, die ein Loblied auf den goldenen Segen der Ehe darbrachte. Dann verstummte auch sie.
Irgendwo fiel klirrend ein Glas zu Boden. Sonst war es bedrückend still.
»Tausende unserer Brüder und Schwestern kämpfen heute irgendwo auf Nangog für unsere Freiheit. Und wir feiern rauschende Feste …«, sprach Asfahal und lenkte sein Pferd zu einem prächtig gewandeten Kaufherrn. »Dein Glas!«, herrschte er den hochgewachsenen Elfen an, der es ihm erschrocken reichte.
Er richtete sich im Sattel auf und hob das mit Rotwein gefüllte Kristallglas hoch über den Kopf. »Auf Aegidos den Kentauren, der heute für uns in einer weit entfernten Welt kämpft. Und auf seinen Bruder, der vor Kummer und Sorge vergeht.«
Asfahal genoss es, in die Gesichter ringsherum zu blicken und die Vielzahl unterschiedlicher Emotionen zu sehen. Da waren offene Wut über seinen infamen Auftritt, Betroffenheit, und manche wirkten auch einfach nur verstört, weil er sich über sämtliche Etikette hinwegsetzte. Einige senkten die Augen vor seinem herausfordernden Blick. Und Bidayn? Sie lächelte ihn an. Ihr schien sein Auftritt gefallen zu haben, ganz im Gegensatz zu dem alten Kerl an ihrer Seite, der wohl ihr frischgetrauter Ehemann war.
»Wer bist du, dass du es wagst, diesen Ehrentag meiner Frau zu stören?« Der ältere Elf hob drohend seine Faust, unternahm aber nichts weiter, als ihn finster anzustarren. Ein zahnloser Wolf, dachte Asfahal.
»Er ist mein Halbbruder«, erklärte Bidayn.
Nun war auch Asfahal überrascht. Das war nicht mehr die junge, ein wenig ängstliche Elfe, die er vor langer Zeit in der Weißen Halle gesehen hatte. Sie wirkte unendlich selbstbewusster. Und ihr Kleid … Er gestattete sich, seinen Blick auf ihr verweilen zu lassen, und wahrscheinlich vermochte ihm jeder anzusehen, wie sehr ihm gefiel, was er erblickte. Dieses Kleid war eine einzige Provokation.
Bidayn legte dem Elfen an ihrer Seite beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Bitte entschuldige, dass ich dich nicht vorgewarnt habe, mein Lieber. Asfahal schätzt große Auftritte, doch sein Sinn für gutes Benehmen kann im besten Fall als eingeschränkt bezeichnet werden. Ich hatte ihm zwar eine Einladung geschickt, bin aber selbst überrascht, dass ausgerechnet er als Einziger aus meiner Familie hierhergefunden hat.« Sie hob ihr Glas in Asfahals Richtung. »Willkommen in Uttika, mein Bruder.« Dann wandte sie sich an die Gesellschaft. »Doch trinken wollen wir heute in der Tat auf unsere Helden, die ihr Leben wagen, damit wir in Sicherheit sind. Auf Aegidos und all die anderen, die für uns kämpfen!« Mit diesen Worten setzte sie das Kristallglas an die Lippen und leerte es in einem einzigen, langen Zug.
Jetzt kam wieder Leben in die Festgesellschaft. Dutzende hoben ihre Gläser und stimmten in Bidayns Trinkspruch ein. Diese Spießer, dachte Asfahal abfällig. Wie glücklich sie waren, dass Bidayn mit ein paar netten Worten ihre Welt wieder in Ordnung gebracht hatte. »Komm, suchen wir uns etwas Gebäck«, sagte er zu Maya, die ihr Gesicht in seinem Arm vergraben hatte, als würde sie am liebsten vor aller Welt verschwinden. »Ich liebe Süßigkeiten. Du auch?«
Kaum dass er sich dem großen Buffet zuwenden wollte, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter, und das, obwohl er noch auf dem Pferd saß. Überrascht drehte er sich um und sah sich dem größten Kentauren gegenüber, dem er jemals begegnet war. Der Krieger war selbst unter seinesgleichen ein Hüne. Ein zu öligen Locken gelegter roter Vollbart beherrschte das sonnengebräunte Gesicht, aus dem ihn zwei himmelblaue Augen anblitzten, als wollten sie ihn durchbohren. Eine steile Zornesfalte stach über der schmalen Nase des Kentauren empor. Er trug einen schweren Goldring um den Hals, der in zwei prächtigen Löwenhäuptern endete. Weitere Goldreifen bedeckten seine Arme, und ein schwerer, purpurner Umhang lag auf seinen Schultern. Sein von Narben bedeckter Oberkörper war nackt. Nur ein breiter, roter Schwertgurt lief darüber hinweg. Asfahal wünschte sich, diesem Narren einmal am Spieltisch gegenüberzusitzen. Ganz augenscheinlich gab es bei ihm eine Menge zu holen.
»Wenn du mich bitte entschuldigen würdest? Ich habe gerade meiner Dame versprochen, mit ihr ein wenig Naschwerk zu kosten.«
Die Hand drückte nur schwerer auf seine Schulter.
»Es wäre höflich, mich kurz gehen zu lassen. Ich setze mich dann gerne später mit dir auseinander.«
»Ich bin Sekander, Fürst von Uttika, und das enthebt mich der Pflicht, mich fremden Großmäulern gegenüber höflich benehmen zu müssen. Und jetzt erklär mir mal, warum du hier hoch zu Ross einreitest. Willst du uns Kentauren verarschen?«
Asfahal lächelte. Ein Fürst, der so direkt zur Sache kam, war ihm eigentlich sympathisch. Aber natürlich würde er deshalb jetzt nicht vor aller Augen zurückstecken. »Du liegst richtig, Sekander. Es hat in der Tat etwas mit Ärschen zu tun. Ich blicke ungern zu Männern mit einem Pferdearsch auf. Wahrscheinlich liegt das an mangelndem Selbstbewusstsein.«
Der Fürst stampfte mit den Hufen. Es fiel ihm augenscheinlich schwer, an sich zu halten. »Ich würde eher sagen, was dir mangelt, ist Benehmen. Ich weiß ja nicht, was in deinem Elternhaus geschehen ist, aber ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass Prügel dabei helfen, aufmüpfigen Rotzlöffeln Benimm beizubringen.«
Asfahal maß den Kentauren mit spöttischem Blick. »Du siehst in der Tat aus wie jemand, der gerne Kinder schlägt. Verprügelst du auch Frauen, oder sind die schon zu groß und stark für dich?«
»Und du? Versteckst du dich hinter Kindern, um vor meinen Fäusten sicher zu sein.«
Wieder war es im Festsaal still geworden. Die Elfen und Kobolde um sie herum wichen zurück. Bald standen sie inmitten eines weiten Kreises.
Aus dem Augenwinkel sah Asfahal, wie Shanadeen von seinem erhöhten Sitz voller Genugtuung auf ihn herabblickte. Ganz offensichtlich war der Hausherr überzeugt, dass dies hier kein gutes Ende für Bidayns vermeintlichen Bruder nehmen würde. Entweder verlor er sein Gesicht und bettelte um Gnade vor Sekander, oder er holte sich eine gehörige Tracht Prügel.
Dann lieber Prügel, dachte Asfahal. »Ich würde vorschlagen, wir lösen unseren Disput wie Männer«, sagte er zu Sekander gewandt. »Fäuste?«
Der Kentaurenfürst nickte. »Immerhin hast du Schneid, Elflein. Ich werde mich bemühen, dich nicht wie eine Laus zu zerquetschen.«
Asfahal glitt aus dem Sattel und hob dann Maya hinab. Statt davonzulaufen, stellte sich die kleine Koboldin zwischen ihn und den Kentauren. »Bitte, Fürst, tut ihm nichts zuleide. Er ist nicht böse …«
Sekander tänzelte unruhig. Das scharfe Klacken seiner Hufe war der einzige Laut, der in der großen Halle zu hören war. »Er wird nur gerade so viel Prügel bekommen, dass er sich wieder daran erinnert, wohin er gehört. In einer Woche kann er sicher wieder laufen.«
Asfahal nahm Maya unter den Achseln, trat kurz aus dem Kreis und hob sie auf den nächsten Tisch. »Mach dir keine Sorgen um mich«, flüsterte er. »Eigentlich mögen mich Pferde. Sekander wird das auch noch entdecken.«
Als Asfahal zurückkehrte, löste der Kentaur seinen Schwertgurt und reichte ihn einem seiner Männer. »Du könntest vor mir niederknien und um Gnade bitten, Elf.«
»Ich hab es in den Knien. Ich kann leider nicht.«
Sekander stieß ein Schnauben aus, das an einen wütenden Hengst erinnerte. Dann preschte er vor.
Asfahal wich aus. Er bewegte sich tänzelnd und behielt die Hufe im Blick. Der Fürst war bestimmt kein ritterlicher Kämpfer. Sicher würde er versuchen, einen Tritt zu landen, wenn es Gelegenheit dazu gab.
Wieder wich Asfahal aus. Er spürte den Steinboden unter den Tritten des Fürsten erbeben. Funken stoben von dessen Hufeisen. Sekander bewegte sich vorsichtig. Der glatte Untergrund war nicht ideal für ihn, und dessen war er sich wohl bewusst.
Um Asfahal mit den Fäusten zu treffen, musste sich der Kentaur weit vorbeugen. Der Pferdemann war groß wie ein Troll. Seine Fausthiebe wirkten wuchtig wie Hammerschläge. Er versuchte, den Elfen in eine Ecke zu drängen.
Der weite Kreis der Gaffer bewegte sich mit ihnen. Asfahal war sich bewusst, dass er keine gute Figur machte. Bislang hatte er sich ganz darauf beschränkt, den Schlägen und Tritten des Fürsten auszuweichen. Als Sekander selbstsicher zu ihm herablächelte, stürmte der Elf mit einem wütenden Schrei vor und verpasste dem Kentauren zwei Fausthiebe auf die Brust, die jedoch nicht die geringste Wirkung zeigten. Schon rammte Sekander ihn mit seinem Leib. Asfahal taumelte zurück. Er sah den Huftritt kommen und wich nicht ganz zurück. Der Kentaur traf ihn am Oberschenkel. Die Wucht ließ den Elfen weiter nach hinten taumeln. Erst spürte er keinen Schmerz. Sein Bein war taub. Er stürzte rückwärts gegen einen der Tische des Buffets und versuchte sich festzuhalten. Seine Hände krallten sich in das weiße Leintuch. Dann rutschte er zu Boden. Silbertabletts und zwei große Schüsseln mit Punsch gerieten ins Rutschen. Mit lautem Klirren zersplitterten die Kristallschüsseln. Große Lachen von Erdbeerpunsch ergossen sich über den Boden.
Gelächter erklang. Asfahal hörte, wie Wetten abgeschlossen wurden. Schade, dass er nicht setzen konnte. Die Quote stand geradezu vernichtend gegen ihn.
Sekander baute sich vor ihm auf.
Asfahal hob die Hand. »Einen Augenblick … Lass uns die Etikette wahren. Wenigstens dieses eine Mal.«
Der Kentaur sah ihn verdutzt an, versuchte aber nicht, ihn niederzuschlagen oder erneut zu treten.
Der Punsch breitete sich immer weiter auf dem Steinboden aus. Asfahal fischte eine der Erdbeeren aus der Lache und schob sie sich in den Mund. »Köstlich«, rief er laut aus. Dann verbeugte er sich in Richtung des erhöhten Sitzes des Hausherrn. »Bitte entschuldigt die Unordnung. Achtet nächstes Mal besser darauf, wen ihr auf eure Gästeliste setzt. Kentauren wissen sich einfach nicht zu benehmen.«
»Du kleine Ratte!« Sekander stampfte mit den Hufen und kam ihm dabei noch ein wenig näher, entschlossen, ihm dieses Mal den Rest zu geben.
Asfahal achtete genau auf den Rhythmus der Hufe. Diese tänzelnde Bewegung, das war die Schwäche des Fürsten. Er fischte nach einer weiteren Erdbeere und entging, indem er sich vorbeugte, knapp einem wuchtigen Fausthieb. Nachdem er ein paar Erdbeeren zusammengefegt hatte, kam er leicht schwankend wieder hoch. »Du solltest auch mal eine der Früchte kosten. Erlesen, sage ich dir.«
»Ich lass sie dich alle vom Boden lecken, du …«
Jetzt, dachte Asfahal und ließ sich fallen. Wieder tänzelte der Kentaur, und in dem Augenblick, als nur eines seiner Vorderbeine fest auf dem Boden stand, trat Asfahal aus der Sturzbewegung heraus zu. Der eisenbeschlagene Huf hatte keinen Halt auf dem nassen, glatten Steinboden. Unter dem Treffer brach er zur Seite aus. Sekander stieß den anderen Fuß nieder. Genau in die Erdbeeren, die Asfahal zusammengefegt hatte. Er rutschte weg, stieß einen überraschten Laut aus und brach in die Knie.
Asfahal griff in den geölten Bart des stürzenden Kentauren, fand Halt und war mit einem Satz wieder auf den Beinen, um dann Sekander mit aller Wucht den Ellenbogen gegen die Schläfe zu hämmern.
Der Fürst keuchte auf und sackte zur Seite weg.
Einige Kentauren griffen nach ihren Schwertern, doch Sekander winkte halb benommen vom Boden. »Lasst ihn. Er hat gewonnen.«
Asfahal war überrascht, dass der Fürst seine Niederlage so ritterlich nahm. Er streckte Sekander die Hand hin, war aber nicht wirklich in der Lage, dem massigen Kentauren wieder auf die Beine zu helfen. Der rutschige Boden machte den Versuch aufzustehen zu einem tückischen Unterfangen. Schließlich war die Hilfe von vier Pferdemännern notwendig, um Sekander hochzubekommen.
»Komm mit vor die Tür. Ich will mit dir sprechen, Elf.«
Aus dem stillen Staunen im ersten Augenblick nach Asfahals Sieg wurde nun ein vielstimmiges Murmeln. Wettgewinne wurden ausgerechnet und mit überschäumendem Jubel ausgerufen. Der Herr des Hauses stand inmitten einer Schar von Faunen und Kobolden und wies seine Dienerschaft an, den Boden zu wischen.
Maya eilte an Asfahals Seite. »Das hat sicher wehgetan, als er dich getreten hat …«
Der Elf nickte. »Stimmt!« Dann fuhr er so laut fort, dass es alle Umstehenden hören konnten. »Ich habe großes Glück, noch auf den Beinen zu sein. Eigentlich gebührt der Siegeslorbeer dem Punsch, der Fürst Sekander zu Fall gebracht hat.«
Leises Gelächter erklang.
Nur Sekander blickte noch ernst. Als er dicht vor Asfahal trat, stellte sich ihm Maya erneut in den Weg. »Bitte streitet nicht mehr …«
Jetzt endlich lächelte auch der Fürst. »Der nächste Punsch, der mich umhaut, soll vorher zumindest in meinem Magen gelandet sein.« Er deutete auf Maya. »Du bist Einbein, nicht wahr?«
Das kleine Mädchen erzitterte allein unter dem Blick des riesigen Kriegers. Asfahal legte schützend einen Arm um sie.
»Es tut mir leid, dass es zu dem Unfall mit einem meiner Männer kam«, sagte der Fürst. Doch der Ton der Stimme passte so gar nicht zu den Worten.
»Er ist nie bestraft worden …«, wagte Maya zu sagen, obwohl sie dabei am ganzen Leib zitterte.
Wieder begann Sekander unruhig mit den Hufen zu stampfen. Es war ihm sichtlich unangenehm, der kleinen Koboldin begegnet zu sein. Er winkte seinen Begleitern. »Mein Schwert!«
Asfahal traute seinen Augen nicht. Der Schwertträger warf dem Fürsten die Waffe zu, der sie in der Luft auffing. Was würde das … Sekander riss eine der Münzen vom breiten Brustgurt und hielt sie Maya hin. »Ich stehe in deiner Schuld. Wenn du jemals die Hilfe deines Fürsten brauchst, zeige diese Münze irgendeinem der Kentauren in der Stadt, und du wirst vor mich gebracht werden.«
Maya zögerte sie anzunehmen. »Ist das Gold?«
»Nicht das Gold ist von Wert. Meine Gefallen kann man für Gold nicht kaufen.« Er drückte ihr die Münze in die Hand und schloss ihre Finger darum. »Gib gut darauf acht. Dies ist ein Schatz.« Seine klaren, blauen Augen richteten sich auf Asfahal. »Und du kommst jetzt mit mir.«
Gemeinsam durchquerten sie die Eingangshalle und traten vor den Stadtpalast. Ein Wink des Fürsten genügte, und alle, die in Hörweite standen, zogen sich zurück. »Hast du mir etwas zu sagen, Elf?« Er stemmte seine mächtigen Fäuste in die Hüften.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Dann sage ich dir jetzt etwas. Du bist nicht der Mann, der du vorgibst zu sein. Wenn du es nicht gewollt hättest, hätte ich dich mit meinem Tritt nicht erwischt. Es war kein Zufall, dass du die Punschschüsseln vom Tisch gerissen hast. Und es war auch kein Zufall, dass die Erdbeeren dort lagen, wo ich auf ihnen ausgerutscht bin. In meinem ganzen Leben habe ich von keinem Elfen gehört, der einen Kentauren mit bloßen Fäusten zu Boden geschickt hätte. Was also macht ein Mann wie du hier in Uttika?«
»Die Hochzeit meiner Halbschwester besuchen«, entgegnete Asfahal lächelnd. »Was hältst du vom Würfelspiel, Fürst? Ich würde dich gern einmal besuchen kommen. Ich bringe eine Amphore guten Wein mit, und wir beginnen einfach noch einmal von vorn.«
»Bemühe dich nicht. Ein Mann, der etwas verbirgt, wird niemals mein Freund sein. Du bist nicht echt. Ebenso wenig wie Bidayn. Keiner im ganzen Fürstentum hat verstanden, warum Shanadeen plötzlich sein Kindermädchen heiraten will. Und dann noch dieser Mord letzte Nacht. Ich werde euch Elfen im Auge behalten. Und ich finde heraus, was in meiner Stadt vor sich geht.«
Asfahal war kurz versucht, nach dem Mord zu fragen, entschied dann aber, Sekander nicht weiter zu reizen. »Was hatte das mit der Münze auf sich?«
Der Fürst schnaubte ärgerlich. »Eine alte Geschichte. Es war der Sohn einer Schwester meiner Frau, der die Kleine verstümmelt hat. Ich konnte ihn nicht angemessen bestrafen. Ich habe mein Weib genommen, um den Bund zwischen unseren Sippen zu stärken. Den Jungen zu bestrafen hätte alte Gräben wieder aufgerissen.« Er lächelte. »Jetzt ist er auf Nangog. Vielleicht ist das Schicksal ja ein besserer Richter als ich.«
Der Fürst imponierte Asfahal. Bislang hatte er Kentauren immer für hirnlose Barbaren gehalten. Offensichtlich ein Fehler. »Schade, dass wir keine Freunde sein können.«
»Es liegt ganz bei dir, Elf. Freundschaft fängt mit Wahrheit an.«
Während der endlosen Festlichkeiten hatte Bidayn immer wieder verstohlen zu Asfahal geblickt, der erfreulicherweise sein Pferd doch noch den Stallknechten überlassen hatte. Er war noch genau so, wie sie ihn aus der Weißen Halle in Erinnerung hatte. Frech und geradezu unverschämt gut aussehend. Seiner Kleidung, obwohl durchaus von feinem Schnitt und guter Qualität, war anzusehen, dass sie schon bessere Tage gesehen hatte. Die Tunika wirkte ein wenig abgetragen, der Saum seines weißen Umhangs war ausgefranst, und das Leder seiner Stiefel rissig. Doch der polierte Stirnreif aus Silber und sein gewinnendes Lächeln verliehen ihm eine Noblesse, die all die kleinen Unzulänglichkeiten verblassen ließ. Nie hatte Bidayn einen begehrenswerteren Mann gesehen. Und nicht nur ihr erging es so. Fast alle anwesenden Damen beobachteten ihn verstohlen. Sein spektakulärer Auftritt hatte ihn nur noch interessanter gemacht.
Shanadeen hingegen hasste ihn. Immer wieder ließ er im Laufe der Feierlichkeiten ätzende Bemerkungen fallen. Ihr sonst so ruhiger und ausgeglichener Gatte hatte völlig die Contenance verloren. Nie hatte Bidayn ihn so viel trinken sehen. Und er vertrug nichts, wie sich allzu bald zeigte.
»Höflichkeit und Respekt, das sind die Säulen, auf denen jedes erfolgreiche Geschäft ruht«, erklärte er Alarion, dem ersten Kapitän seiner kleinen Handelsflotte. Alarion war ein harter, verschlagener Mann. Eine Narbe zerteilte seine rechte Augenbraue und hatte eine feine, weiße Linie auf der Wange darunter hinterlassen. Er hatte pechschwarzes Haar und seltsame, bernsteinfarbene Augen, deren Blick Bidayn stets als unangenehm empfand. Alarion mochte sie nicht, und er machte keinen Hehl daraus.
»Es scheint mir schon eine recht zweifelhafte Familie zu sein«, sagte er mit voller Absicht so laut, dass Bidayn es deutlich hören konnte. »Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn er sich mit diesem Auftritt den Respekt der Kentauren erobert hätte. Die Pferdemänner sind närrisch. Sie schätzen Prügeleien und Aufschneider.«
»Und du, Alarion, lotest du gerade aus, wie lange ein offenes Wort zu führen eine Tugend ist und ab wann es zur Beleidigung wird?«, fragte Bidayn mit kühlem Lächeln.
Shanadeen fuhr zu ihr herum und stieß dabei gegen ein volles Weinglas.
Bidayn schnappte es, bevor es vom Tisch fallen konnte, doch die Hälfte des Weins ergoss sich über das strahlend weiße Tischtuch und troff ihr in den Schoß.
Verzweifelt versuchte sie, mit einer Serviette noch etwas zu retten, doch ihr Kleid war ruiniert. Sie sah aus, als hätte sie unerwartet ihre Tage bekommen.
»Entschuldige, meine Liebe, ich …« Shanadeen wirkte geknickt. »Ich …«
»Ich werde mich umziehen.« Bidayn erhob sich. Es gelang ihr nicht ganz, ihre Wut zu verbergen. »Ich werde mich umziehen und erwarte dich in unserem Schlafgemach. Es wäre für unsere Hochzeitsnacht von Vorteil, wenn du nicht länger dem Wein zusprechen würdest.« Diesmal hatte sie so laut gesprochen, dass alle ringsherum es gehört hatten.
Schamesröte stieg Shanadeen ins Gesicht.
»Deine Braut erwartet dich in einer halben Stunde, mein Gemahl«, wiederholte sie so zuckersüß, dass es ironisch klang.
Shanadeen schob sein Weinglas von sich, antwortete aber nicht.
Bidayn hatte das Gefühl, dass jeder auf den Weinfleck in ihrem Schritt starrte, als sie die Festhalle durchquerte. Dieser verdammte Tollpatsch, dachte sie wütend und stellte sich vor, wie sie ihm die Kehle durchschnitt, statt ihm eine Liebesnacht zu schenken.
Sie fand Asfahal an der linken der beiden Rampen, die in der Eingangshalle hinauf zum ersten Stock führten. Er flirtete mit einer rothaarigen Elfe, die sie nicht kannte.
»Meine wunderschöne Schwester!« Er weitete die Arme. »Endlich kann ich dir mit einem Kuss zu deinem unsäglichen Glück gratulieren.«
Sie musste schmunzeln. Was für eine treffende Formulierung. Unsägliches Glück.
Er schloss sie in die Arme und hauchte ihr einen Kuss auf die linke Wange. Er roch nach Pferd und Schweiß und nach dem trockenen Gras des Windlands. Besser als jedes Parfüm, dachte Bidayn. Wie lange hatte sie davon geträumt, dass Asfahal sie einmal in die Arme schließen würde. »Ich erwarte dich in einer Stunde vor meinem Schlafzimmer«, hauchte sie ihm ins Ohr.
»Ich dachte, dein Bett ist belegt in dieser Nacht«, flüsterte er zurück, als er sie auf die rechte Wange küsste.
Sie löste sich aus der Umarmung. »Nicht so stürmisch, kleiner Bruder. Ärgere mich nicht. Erinnerst du dich noch, wie sehr es unseren Vater erzürnt hat, wenn du nicht auf mich hörtest.« Sie hoffte, dass Asfahal verstanden hatte, dass sie damit den Goldenen meinte.
Er verbeugte sich galant vor ihr und betrachtete genau ihre Hände.
Was jeder andere für ein nervöses Zucken ihrer Finger gehalten hätte, war eine Botschaft an ihn. Erster Stock, zweiter Flur, fünfte Tür links.
»Ich wünsche dir einen schönen Abend«, sagte sie betont förmlich und zog sich zurück.
Kaum auf dem Zimmer, streifte sie ärgerlich ihr Hochzeitskleid ab. Der Rotweinfleck würde nie mehr ganz verschwinden. Nie zuvor hatte sie ein solches Kleid besessen. Sie stand vor dem Spiegel und betrachtete sich nachdenklich. Ihr Körper war schlank und durchtrainiert. Sie sah gut aus. Nur wenig erinnerte noch an das schüchterne, leicht pummelige Mädchen, das vor Jahren in die Weiße Halle gekommen war. Fand Asfahal sie begehrenswert?
Sie drehte sich um und warf einen Blick über die Schulter in den Spiegel. Die prächtige Drachentätowierung ließ sie lächeln. Was zählte es noch, was Asfahal dachte. Sie war die Auserwählte des Goldenen. Eine Drachenelfe! Und er war nur ein Schüler, der in Schimpf und Schande davongejagt worden war. Sie hatte nun Macht über ihn. Er war hier, weil sie es sich gewünscht hatte. Und sein Auftritt in der Festhalle war nichts weiter als ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen. Er hatte ihr zeigen wollen, dass er frei und unberechenbar war, doch in Wahrheit wusste er es besser. Sie war seine Herrin geworden. Und in dieser Nacht würde sich entscheiden, ob sie eine gnädige Herrin wäre oder ob sie ihn in Zukunft jeden Tag spüren lassen würde, dass seine Unabhängigkeit nur eine Illusion war.
Zufrieden strich sie über die farbenfrohe Tätowierung und dachte an die Orgie aus Schmerz, Verlangen und Leidenschaft, die sie mit dem Goldenen gefeiert hatte. Shanadeen würde ihr niemals solche Freuden schenken. Ärgerlich sah sie auf das große Bett, dann streifte sie einen Morgenmantel aus durchscheinender, roter Seide über und löste ihr Haar. Sie mochte es, wenn es lang auf ihre Schulter fiel. Kurz überlegte sie, ob sie noch einmal Parfüm auflegen sollte, als es klopfte.
»Ja?«
Shanadeen trat ein. Er war vor der Zeit gekommen und wirkte zugleich mürrisch und erregt. Ihr neuer Gatte verschlang sie mit Augen. Seine Nevenyll hatte er ganz offensichtlich – zumindest in diesem Augenblick – vergessen. »Du bist schön«, sagte er mit weinschwerer Stimme. Und wirkte ganz so, als wollte er sie umarmen.
»Und ich gehöre nun dir.« Es fiel Bidayn schwer, dies mit gurrender Stimme zu sagen, als wäre sie darauf aus, ihn zu verführen.
»Das glaube ich dir nicht. Deshalb habe ich mich betrunken. Ich dachte, dann könnte ich vergessen, dass unsere Hochzeit nur ein Geschäft ist. Das war ein Irrtum …«
»Zieh dich aus und zeig mir, dass du mein Mann bist.«
Er gaffte sie mit offenem Mund an.
»Ja, ich meine es so.« Sie öffnete den Morgenmantel einen Spalt weit. »Dir gefällt doch, was du siehst, oder?«
Statt zu antworten, streifte sich Shanadeen die kostbar bestickte Tunika über den Kopf. Auf einem Bein hüpfend entledigte er sich seiner Stiefel und ließ sich dann auf das Bett plumpsen, um seine Hose loszuwerden. Er war schlank, fast hager. Erstaunlicherweise hatten ihn all die Jahre, die er in seinem geheimen Kontor gebrütet hatte, nicht fett werden lassen.
Bidayn beugte sich zu ihm hinab und strich sanft über seine nackte Brust. Er seufzte und schloss die Augen. Sie hätte ihre Haut darauf gewettet, dass er in diesem Augenblick an Nevenyll dachte. Warum sonst sah er sie nicht an! Ihre Hand fuhr seinen Hals hinauf und tastete in seinen Nacken. Ihr Streicheln wurde fester, dann drückte sie zu. Es war jener Punkt hoch im Nacken, dicht bei der Wirbelsäule, den Ailyn ihnen in der Weißen Halle gezeigt hatte. Ein Nervenknoten, dessen Geheimnis es war, dass, wenn sie im richtigen Winkel auf ihn drückte, ihr Opfer sofort ohnmächtig wurde. Es war ein tiefer Schlaf, der über viele Stunden dauerte. Und nach dem Erwachen fehlte jede Erinnerung daran, was zuvor geschehen war.
Shanadeen war zur Seite gesunken. Sie hob seine Beine aufs Bett. Sein Atem ging tief und gleichmäßig. Sich in seiner Hochzeitsnacht besaufen, dachte sie ärgerlich. Das hatte sie nicht von ihm erwartet.
Sie setzte sich neben ihn auf das Bett und griff ihm zwischen die Schenkel. Mit festen Bewegungen spielte sie an ihm. Morgen würde sie ihm erzählen, er habe sie so lange und ausdauernd geliebt, dass sie wund sei und nun eine Zeit lang von seiner Leidenschaft verschont werden müsse. Und wenn er selbst auch wund war, würde er ihr glauben, auch wenn er sich an nichts mehr erinnerte. Lyvianne hatte ihr viel über die Männer erzählt. Ihre Lehrerin war eine Meisterin der Liebeskunst gewesen. Immer wieder hatte sie behauptet, dass die meisten Männer für ein paar schöne Stunden mit einer hübschen Frau fast alles täten. Anfangs hatte Bidayn ihr das nicht glauben wollen. Sie hatte noch Flausen von romantischer, unverbrüchlicher Liebe im Kopf gehabt. Doch inzwischen war sie überzeugt, dass dies nur ein Hirngespinst von Dichtern war.
Als sie Shanadeen genug zugesetzt hatte, stand sie auf und deckte ihn zu. Anschließend wusch sie sich die Hände in einer Schüssel mit klarem Wasser, die auf einem Beistelltisch neben der Kommode stand. Sie würde Lyvianne auch in der Liebeskunst übertreffen. Bidayn lächelte versonnen. Asfahal hatte einen gewaltigen Ruf, was dies anging. Von ihm könnte sie sicherlich noch manches über Männer und ihre Gelüste lernen. Sogar Enya hatte ihn gekannt. Die Schneiderin hatte behauptet, einen ganzen Winter lang seien sie in den Mondbergen ein Paar gewesen. Während der langen Anproben für das Hochzeitskleid hatten sie über alles Erdenkliche gesprochen. Vor allem über Männer.
Asfahal hatte ihr das Herz gebrochen. Die Kleine hatte wirklich geglaubt, sie sei die Eine für ihn. Als sie herausfand, dass er auch andere Damen besuchte und sich dafür beschenken ließ, hatte sie ihn hinausgeworfen. Dennoch hatte Bidayn ihr angesehen, dass sie immer noch verliebt in Asfahal war. Die Art, wie sie seinen Namen aussprach, und der träumerische Blick, wenn sie über ihn redete, waren unmissverständlich gewesen. Es wäre nicht gut gewesen, wenn die beiden sich hier begegnet wären. Eine neu entflammte Liebelei hätte Bidayns Pläne durcheinandergeworfen.
Die Elfe strich sich sanft über die Arme. Ihre Haut war zart und glatt. Ihr haftete immer noch ein Hauch von Veilchenduft an. Wie lange er sich wohl noch halten würde? Enya musste ihn über lange Zeit jeden Tag benutzt haben.
Der Gedanke, Asfahal in der Haut einer früheren Geliebten zu begegnen, erregte Bidayn. Ein warmes, wohliges Gefühl überkam sie. Sie legte eine Hand in ihren Schoß, tastete vorsichtig … An die Wand gelehnt, genoss sie die Wellen der Lust, die die Berührung aufbranden ließ.
Nach einer Weile hörte sie ein Geräusch vor der Tür, das wie ein unruhiges Füßescharren klang. Asfahal wagte es nicht zu klopfen. Ob er lauschte? Sie machte sich nicht die Mühe, ihren Morgenmantel zu schließen, als sie an die Tür trat und öffnete.
Er war es! Ihr Herz machte einen Satz. Sie wollte ihn, aber er sollte nicht merken, wie sehr. »Du bist pünktlich!«, sagte sie lächelnd und öffnete ein wenig weiter. »Komm herein.«
Er betrachtete ihre Nacktheit ohne Scham. »Du hast dich verändert.« Auch er lächelte. Dann sah er das Bett. »Was ist das? Das …«
»Mein Mann«, sagte sie leichthin. »Und keine Sorge, er hat mich nicht berührt.«
Asfahal trat ein und schloss ohne Hast die Tür hinter sich. »Soso, eine Unberührte.« Er ließ das Bett nicht aus den Augen. Der schlafende Shanadeen regte sich nicht.
»Unberührte?«, fragte Bidayn keck. »Glaubst du, ich sei Jungfrau?«
»Glaubst du, ich sei dumm, nur weil ich gut aussehe?«
Sie griff nach seinem Hosenbund und zog ihn zu sich heran. »Gut aussehen tust du, aber ich suche nach dem, was etwas weniger offensichtlich ist.«
Wieder sah er zum Bett.
»Hast du Angst vor ihm?«
Er schnaubte. »Angst. Ich möchte nur keine Komplikationen. Erfahrungen mit wütenden Ehemännern habe ich durchaus schon gesammelt. Sie gehören nicht zu meinen schönsten Erinnerungen.«
Bidayn öffnete den Gürtel seiner Hose. »Und, bin ich ein paar Komplikationen wert.«
Er stöhnte leise. »Du weißt, was du willst.« Asfahal packte sie bei den Hüften, hob sie an und setzte sie seitlich auf die Kommode vor dem Spiegel.
Bidayn umfing seine Hüften mit den Schenkeln. Statt weitere Zeit mit Reden zu vergeuden, küsste sie ihn. Gierig, mit tiefer Zunge. Solche Küsse gab es nie von Shanadeen.
Asfahal griff in ihr Haar und drückte sie fest gegen seine Lippen. Ihrem Ungestüm begegnete er mit noch mehr Wildheit. Er wollte sie. Er brannte nach ihr. Und Shanadeen hatte er vergessen. Seine Hose fiel zu Boden, aber er machte sich nicht die Mühe, sie abzustreifen. Mit jedem seiner Stöße rückte die Kommode ein Stück vor.
Bidayn sah in den großen Spiegel an der Wand. Es war ein neues, bislang unbekanntes Gefühl, Leidenschaft zu spüren und zugleich wie ein Unbeteiligter von außen auf das Geschehen zu blicken.
Asfahal ignorierte den Spiegel. Er sah ihr tief in die Augen und verschlang sie erneut mit Küssen, nass und gierig. Ihre Lippen reichten ihm nicht. Er küsste ihren Hals, ihren Nacken, ihre Brustwarzen. Und dabei hörte er nicht auf, sie zu stoßen, tief, ekstatisch. Sie ließ die Hüften kreisen, wollte ihn noch stärker in sich spüren. Ihre Hände krallten sich in sein langes, blondes Haar. Er taumelte von der Kommode zurück und verfing sich in der Hose um seine Knöchel. Asfahal stürzte nach hinten, doch ließ er sie nicht los, obwohl er hart mit dem Rücken auf den hölzernen Boden schlug. Bidayn hatte die Beine gelöst. Einen Herzschlag lang verloren sie sich, dann fand sie ihn wieder. Nun war sie es, die das Tempo bestimmte.
Mit beiden Händen stützte sie sich auf seiner Brust ab, ritt ihn und stöhnte ungehemmt ihre Lust heraus. Er umklammerte ihre Brüste, knetete sie mit seinen schmalen, kräftigen Händen. Er verstand es, ihre Lust immer weiter zu befeuern. Sie erzitterte unter immer neuen Wellen wilden Begehrens. Fast war es so wie mit dem Goldenen.
Asfahal warf sich herum, hob sie auf und legte sie auf das Bett, ohne dass ihre beiden Leiber sich trennten. Ihr Kopf ruhte auf der Brust Shanadeens, der in seinem tiefen, unnatürlichen Schlaf nichts um sich herum wahrnahm. Ihn auf diese Art zu demütigen steigerte Bidayns Lust noch weiter, bis sie sich wild zuckend ganz und gar verschenkte. Kurz quälte Asfahal sie mit weiteren Stößen, von denen jeder einzelne sie über den Rand des Wahnsinns zu stürzen drohte. Sie konnte nicht mehr. Er spürte es. Spielte mit ihr, bis sie verzweifelt versuchte, sich ihm zu entwinden. Dann erst wurde er ruhiger, zärtlicher, hielt sie fest in seinen Armen, bis ihr Herz nicht mehr beim nächsten Schlag zu zerspringen drohte.
»Das war gut«, hauchte sie atemlos.
»Wir haben gerade erst angefangen.« Er grinste und erstickte ihre Einwände unter Küssen. Bidayn ergab sich, ließ sich auf den Wellen der Lust treiben, die er ihr bereitete. Er wusste, wann und wie er sie berühren musste, wusste, wie er endlos ihr zweites Aufbäumen hinauszögern konnte. Sie hatte das Gefühl, ihm ganz und gar ausgeliefert zu sein, und ließ es geschehen. All ihre Gedanken waren ausgelöscht.
Als sie schließlich, von der Liebe erschöpft, ein Knäuel nackter Glieder, still lagen, fühlte sie sich frei.
Sie kicherte wie ein kleines Mädchen, als sie bemerkte, dass Shanadeen irgendwann aus dem Bett gestürzt war. Sie wusste, er konnte nicht erwacht sein. Er hatte den Platz bekommen, den er verdiente.
Asfahal lachte mit ihr, hielt sie fest und wurde es nicht müde, ihren Körper mit Küssen zu erkunden. Sie sah zur Decke hinauf, den altersdunklen Balken, die den Dielenboden der nächsten Etage trugen. Ihre Gedanken trieben dahin, bis sie etwas unnatürlich Blaues zwischen den Schatten sah. Ein feuchter Schimmer lag darüber. Ein Auge! Jemand war dort oben und beobachtete sie.
Bidayn versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie den verborgenen Beobachter entdeckt hatte. Sie vergrub ihr Gesicht an Asfahals Hals. Kurz kam ihr der Gedanke, ihm zuzuflüstern, was sie gesehen hatte. Doch dann verwarf sie ihn wieder. Es war besser, wenn sie das für sich behielt. Sie würde allein herausfinden, wer der Spitzel war.
»Es ist Zeit zu gehen«, sagte sie leise.
Asfahal gab einen murrenden Laut von sich. »Ich bin noch nicht fertig.« Er hob den Kopf und grinste sie frech an.
»Aber ich«, entgegnete sie ruhig. So schön die letzten Stunden gewesen waren, er sollte sich keine übertriebenen Hoffnungen machen. »Ich erwarte dich zur Mittagsstunde auf dem hinteren Hof des Hauses. Du wirst dort die anderen treffen.«
Er bedachte sie mit einem süffisanten Lächeln, als hätte er durchschaut, dass sie bewusst Distanz zu ihm schuf. Einen Abstand, den ihr Körper, der sich nach Liebe sehnte, so nicht dulden wollte. »Wer ist außer mir hier?«
»Deine Schwester Kyra.« Sollte ihn diese Nachricht überrascht haben, so verbarg er es meisterlich. »Außerdem Lemuel und Valarielle.«
»Fünf Dra…«, sagte er sinnierend.
»Vier«, verbesserte sie ihn, bevor das Wort auch nur ansatzweise über seine Lippen war. Wer immer dort oben lauerte, durfte nicht wissen, wer sie wirklich waren. Ihre Drachentätowierung war schon verräterisch genug. Bidayn setzte sich auf und gab Asfahal einen Klaps auf seinen kleinen, festen Hintern. »Schon vergessen? Du hast dich entschieden, keiner von uns zu werden.«
»Ich hätte es sein können«, entgegnete er beleidigt.
»Das wird immer Spekulation bleiben.« Sie zog ihn zu sich und küsste ihn. »Für mich spielen Titel keine Rolle. Du bist auf deine Art unvergleichlich. Ich vertraue dir.«
»Du bist eine rätselhafte Frau.« Asfahal glitt vom Bett und las seine Kleider auf, die über den Boden verstreut lagen.
»Ich nehme das mal als Kompliment«, entgegnete sie lachend. »Legst du mir wieder meinen Mann ins Bett?«
Er zog sich erst in aller Ruhe an, und Bidayn genoss es, ihm dabei zuzusehen. Er war schlank mit schön akzentuierten Muskeln. Es gab kein Gramm Fett an seinem Leib. Sie leckte sich über die Lippen.
»Hungrig?«
»Du könntest mein Leibgericht werden.«
Asfahal lachte. Dann hob er Shanadeen aufs Bett zurück. »Armer Kerl. Was wird er tun, wenn er es merkt?«
»Was? Dass ich ihm nicht gehöre? Das weiß er. Und das hier …« Sie lachte, warf den Kopf in den Nacken und spähte zur Decke hinauf. Das Auge war in den Schatten verschwunden. »Wie sollte er jemals davon erfahren?«
Asfahal deckte den Händlerfürsten zu. »Ich glaube, ich würde wahnsinnig, wenn ich …«
»Er ist schon wahnsinnig. Wenn er klug ist, lässt er mich in Ruhe. Ab und an werde ich mich seiner erbarmen. Und wenn er mehr will …« Sie schnippte mit den Fingern. »Dann werde ich mich von ihm trennen.«
Er sah sie einen Moment lang fest an. »Es ist wohl nicht klug, dich zu verärgern.«
»Versuche nicht, es herauszufinden.« Sie stand auf und öffnete die Kleidertruhe vor dem Bett. Dort wählte sie eine enge Hose und eine Bluse.
»Ich verzehre mich nach dir«, flüsterte Asfahal ihr ins Ohr, während sie sich ankleidete.
»Lass uns ein wenig durch die Gassen wandern. Ich liebe es, tief in der Nacht auf den Kais zu stehen und dem Meer zu lauschen.« Sie sagte das mit Bedacht so laut, dass man ihre Worte auch im Zimmer über ihnen verstehen musste.
Ohne sich Schuhe anzuziehen, begleitete sie Asfahal hinaus auf den Flur. Es war still geworden im Haus. Aus dem Festsaal klang keine Musik mehr. Nur das leise Rumoren letzter Stimmen.
»Du willst nachsehen, wer uns beobachtet hat?«
Bidayn war überrascht.
»Ich wäre auch fast ein Drachenelf geworden«, sagte Asfahal lächelnd. »Glaubst du, mir bleibt verborgen, was du bemerkst?«
»Willst du mit?«
Er hob abwehrend die Hände. »Nein, das sind deine Kämpfe.« Dann ging er mit beschwingtem Schritt davon.
Bidayn sah ihm nach. Er war frech, das machte seinen Charme aus, aber sie war sich nicht sicher, wie lange sie damit umgehen konnte. Hoffentlich machte er nicht den Fehler, ihre Führerschaft infrage zu stellen. Sie würde sich nur ungern von ihm trennen, aber sie würde nicht zögern, wenn es nötig war.
Langsam ging sie den Flur entlang bis hin zu der schmalen Stiege, die zur nächsten Etage führte. Leichtfüßig und lautlos erklomm sie die hölzernen Stufen. Das zweite Obergeschoss wurde nur wenig genutzt. Shanadeen hatte einige der Zimmer in Warenlager verwandelt. Bidayn war erst einmal hier oben gewesen. Der Grundriss folgte dem der darunterliegenden Etage. Vorsichtig schlich sie den Flur entlang. Alle Türen waren verschlossen. Kein Licht brannte. Es war still und roch nach Staub und getrockneten Bohnen. Doch da war noch etwas. Ein Hauch von Rosenduft.
Die Elfe verharrte vor der fünften Tür auf der linken Seite des Flurs. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. War da eine Spur von Vanille in dem Rosenduft? Sie konzentrierte sich, schloss die Augen und reduzierte die Sinneseindrücke, die auf sie eindrangen. Sie verweigerte sich den leisen Geräuschen der Nacht, sammelte nur noch Düfte. Im gleichen Maße, wie sie die Wahrnehmungen ihrer anderen Sinne ausgrenzte, nahmen alle Gerüche an Intensität zu. Neben Staub und Bohnen roch sie nun auch das heiße Wachs, mit dem vor langer Zeit die Holzdielen behandelt worden waren. Und da war der Duft eines vor Kurzem verloschenen Kerzendochts. Ein Hauch von Schweiß.
Wie ein Spürhund witterte sie am Türrahmen. Dort hatte eine Hand gelegen. Jetzt fand sie eine Idee von Orangenduft. Ihr Parfüm! Schlagartig waren all ihre Sinne alarmiert. In dieser Tür hatte Farella gestanden. Aber Shanadeens Tochter hatte keine blauen Augen. Sie waren von dunklem, fast schwarzem Grün …
Bidayn stieß die Tür auf. Die Kammer war leer. Misstrauisch spähte die Elfe in die finsteren Winkel. Nichts! Sie trat in die Mitte des Raumes und versuchte sich zu erinnern, wo ungefähr sie das Auge gesehen hatte. Witternd ging sie in die Knie. Hier war der Duft ihres Parfüms so gut wie gar nicht vorhanden. Es roch ein wenig nach Schweiß und nach Küche. Und nach dem Saft gepresster Äpfel, den Lydaine so gerne trank.
Die Hände der Elfe tasteten über den Boden. Er war in schlechtem Zustand. Einige der Dielen waren angesplittert. Sie fand einen kleinen Stofffetzen. Er war vom gleichen Stoff wie ihr Hochzeitskleid. Und dann entdeckte sie ein Holzauge, das ein wenig aus den Bodendielen vorstand. Sie zog daran. Es löste sich fast ohne Widerstand und gab den Blick auf das Bett frei, in dem Shanadeen friedlich schlief.
Sie waren beide hier gewesen. Farella hatte an der Tür auf Wache gestanden, und die blauäugige Lydaine hatte beobachtet, was im Ehebett ihres Vaters vor sich ging. Erstaunlich, dass die beiden nicht die Dienerschaft gerufen hatten.
Bidayn schob das Holzauge zurück an seinen Platz. Ob die beiden versuchen würden, sie zu erpressen? Worauf sie wohl aus waren? Sie waren reich, sie konnten alles haben. Bidayn vermochte sich nicht vorzustellen, was sie von ihr begehrten.
Die Elfe richtete sich auf und verließ die Kammer. Sollten sie nur kommen!
Nodon erwachte mit stechenden Kopfschmerzen. Seine Augen waren so zugeschwollen, dass er sie kaum einen Spalt weit zu öffnen vermochte. Ein galliger Geschmack lag ihm auf der Zunge. Der Kopf sackte ihm zur Seite weg. Er saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne. Vor ihm stand ein Tisch. Er hörte schweres Atmen, hatte aber keine Kraft, seinen Kopf zu wenden. Er blinzelte. Vor ihm stand ein Tisch. Darauf brannten drei Kerzen aus Honigwachs und verbreiteten ein angenehmes, goldenes Licht. Auch war da ein schwarz lackiertes Kästchen. Der Anblick bereitete Nodon Unwohlsein, ohne dass er sagen konnte, warum. Darin war ein düsteres Geheimnis verborgen, da war er sich ganz sicher.
Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter. Eine zweite reichte ihm einen silbernen Becher mit Wasser.
»Trinkt, Schwertmeister«, sagte eine zischelnde Stimme. Sie gehörte einer Frau. Er sollte sich daran erinnern … Er hatte das beklemmende Gefühl, dass es wichtig wäre zu wissen, wer da sprach. Die Frau stand hinter ihm. Sie zeigte sich nicht.
Er sackte gegen die Lehne und schloss kurz die Augen.
Als er sie wieder öffnete, hatte sich das Licht im Zelt verändert. Es war heller, obwohl jemand die Kerzen auf dem Tisch gelöscht hatte. Draußen heulte der Wind. Nodon hatte das Gefühl, dass Männer vor dem Zelt standen und warteten.
»Fühlt Ihr Euch besser, Schwertmeister?«, fragte ihn die zischelnde Stimme. Er wandte sich um, und ein stechender Schmerz meldete sich hinter seiner Stirn. Hinter dem Lehnstuhl stand eine riesige Frau in einer goldbestickten, grünen Bluse, die für seinen Geschmack etwas zu tief ausgeschnitten war. Sie hatte eine seltsame Tätowierung dicht über der Nasenwurzel. Ein starrendes Auge. Und ihre eigenen Augen … Sie waren gelb wie die Sommersonne mit längs geschlitzten Pupillen.
»Ihr erinnert Euch wohl nicht an mich. Ich bin Aloki, die geheime Dienerin des Fürsten Solaiyn. Er hat mich Euch schon einmal vorgestellt.«
Er sollte sie kennen, dachte Nodon. Diese gelben Augen.
»Trinkt!« Wieder reichte sie ihm einen silbernen Becher.
Das kühle Wasser darin war angenehm. Es spülte den scheußlichen Geschmack in seinem Mund fort und weckte seine Lebensgeister. Während er trank, betupfte die seltsame Frau seine Augenlider mit Eisstückchen und murmelte etwas Unverständliches.
Zumindest wusste Nodon jetzt wieder, wo er war. Im Zelt des Feldherrn. Er hatte einen schrecklichen Kampf mit einem fliegenden Löwen bestanden. Aber danach … Was stimmte mit seiner Erinnerung nicht?
»Ihr sollt die Späher führen«, erklärte die zischelnde Stimme. »Die Menschenkinder sind auf der Flucht. Der Albenstern, durch den sie sich zurückziehen wollten, ist versperrt.«
Nodon setzte den Becher auf den Tisch vor sich. Warum erinnerte er sich an nichts? Er hatte sich ganz gewiss nicht betrunken! Er trank nie! Was war geschehen?
»Geht es Euch besser?«
»Ging es mir schlecht?«, fragte er misstrauisch zurück.
»Ihr wisst es nicht mehr?« Aloki kam um den Stuhl herum, und jetzt sah er sie ganz. Ihren kraftvollen, bleichen Schlangenleib.
»Es ist alles meine Schuld«, sagte sie zerknirscht. »Mein kleiner Liebling hat Euch gebissen. Er hatte sich aus seinem Korb befreit. Wir haben es zu spät bemerkt …«
»Dein kleiner Liebling?«
»Fürst Solaiyn hatte Euch zur Lagebesprechung einbestellt. Es ging ihm schlecht. Er war bettlägerig. Ihr habt Euch hier auf diesem Stuhl niedergelassen und seinen Worten gelauscht. Und da ist es passiert. Mein Liebling hat sich unbemerkt an der Rückenlehne hochgewunden, und als Ihr Euch vorbeugtet, um nach dem Becher vor Euch auf dem Tisch zu greifen, hat er Euch gebissen, Schwertmeister. In den Hals …« Mit diesen Worten öffnete sie ihre weite, hellgrüne Bluse, und unter ihrem linken Busen schob sich ein schwarz-gelb gescheckter Schlangenkopf hervor. »Eine Sumpfotter aus meiner Heimat. Ihr Gift ist nicht sehr stark, aber sie hat wohl Eure Halsschlagader getroffen.«
Erschrocken tastete Nodon nach seinem Hals. Da war tatsächlich eine schmerzende Schwellung. »Was bewirkt das Gift?«
»Es ist nicht schlimm, Herr!« Sie hob beschwichtigend die Hände, und ihre Bluse öffnete sich nun ganz.
Nodon sah zur Seite. Er mochte es nicht, wenn Frauen ihre Reize derart zur Schau stellten.
»Das Gift ist unmittelbar in Euer Gehirn gelangt. Euer Körper konnte nicht dagegen ankämpfen … Ich nehme an, Ihr erinnert Euch nicht sehr gut an den letzten Abend.«
Jetzt sah er zu ihr auf. Ein eigentümlicher Tonfall lag in ihrer Stimme, und sie lächelte seltsam.
»Sprich weiter, Aloki!«
»Es kann zu Bewusstseinstrübungen führen. Zu leichten Schwellungen. Übelkeit. Eigentlich nichts Schlimmes. Nichts davon ist bleibend. Außer den Erinnerungslücken … Es kann sich aber nur um einen sehr kurzen Zeitraum handeln, der Eurem Gedächtnis verloren gegangen ist. Ein halber Tag vielleicht …«
Nodon hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas verschwieg. »Was ist mit Solaiyn?«
»Er hatte einen Schwächeanfall. Es ist ein altes Leiden. Die Last der Verantwortung hat seine Kräfte über die Maßen beansprucht. Er muss ein wenig schlafen. Einen Tag, höchstens zwei. Dann wird er sich vollständig erholt haben.«
Ein Oberbefehlshaber, der zwei Tage seines Feldzugs einfach verschlafen würde? Nodon war erschüttert über das Ausmaß an Inkompetenz! Er musste den Himmelsschlangen berichten, was hier vor sich ging.
»Kann ich mit ihm reden?« Der Elf erhob sich von dem Stuhl. Er fühlte sich schwach und ein wenig schwindelig. Die Geschichte, die ihm die Schlangenfrau aufgetischt hatte, stank zum Himmel. Er mochte nicht glauben, dass er aus Versehen von einer Schlange gebissen worden war.
»Der Fürst ist unpässlich!« Aloki glitt ihm in den Weg. »Er hat gestern Abend alles mit Euch besprochen und Euch klare Befehle erteilt.«
»Es tut mir leid, aber ich erinnere mich an nichts. Hier geht es um einen Feldzug und nicht um die Vorbereitung eines Hofballs. Ich werde ihm wohl die Unannehmlichkeit bereiten müssen, noch einmal mit ihm zu sprechen.«
»Während die Schiffsbrücke gebaut wurde, hat er all seine Gedanken niedergeschrieben.« Aloki deutete auf eine messingbeschlagene Kiste am Fußende des Feldbetts. »Ich bin sicher, er wird nichts dagegen haben, wenn Ihr seine Papiere durchseht.«
Nodons ungutes Gefühl verstärkte sich noch. Warum hielt sie ihn um jeden Preis vom Fürsten fern? Was war mit Solaiyn? Der Elf kniete vor dem Feldbett nieder und öffnete die Kiste. Gleich zuoberst fand er mehrere Blätter mit Notizen zu den verschiedenen Truppen, die am Feldzug beteiligt waren. Solaiyn wollte fast alle Krieger zurück nach Albenmark schicken. Nur ein Spähtrupp sollte den Menschen auf der Spur bleiben. Nodon glaubte sich zu erinnern, dass sie darüber gesprochen hatten.
Er sah weitere Papiere durch und blätterte in einer ledergebundenen Kladde. Alle Schriftstücke waren in derselben, gestochen scharfen Handschrift abgefasst. Sie passte zu Solaiyn, aber ganz sicher konnte er sich nicht sein, dass es tatsächlich der Fürst gewesen war, der sie abgefasst hatte. Er hatte ihn bisher nie etwas schreiben sehen.
Nodon wurde das Gefühl nicht los, in eine jener Intrigen hineingeraten zu sein, für die die Fürstenhäuser Arkadiens so berüchtigt waren. Beiläufig griff er über die Truhe hinweg und berührte einen Fuß des schlafenden Fürsten. Solaiyn zuckte zurück.
»Keine Sorge, er ist nicht tot«, sagte Aloki, die ihn nicht aus dem Blick ließ, lächelnd. »Es ist alles ganz so, wie ich es Euch gesagt habe.«
Nodon antwortete nicht. Er rollte die Truppenlisten zusammen und schloss die Truhe. »Wenn hier nur noch ein Spähtrupp bleiben soll, werde ich wohl den Rückzug der restlichen Armee einleiten müssen«, erklärte er kühl. »Diese Aufzeichnungen werde ich dazu brauchen.«
»So viel Misstrauen.« Wieder dieses Schlangenlächeln.
Er verneigte sich ein wenig steif und kämpfte einen neuerlichen Schwindelanfall nieder. Er würde Solaiyns Zelt in Zukunft meiden, dachte er, als er ins Freie trat und erleichtert die eisige Winterluft auf seinem Gesicht spürte. Die Himmelsschlangen mussten verrückt geworden sein, diesen Heerführer gewählt zu haben.
Er nickte den beiden Wachen vor dem Zelt knapp zu und ging hinab zur Schiffsbrücke am Fluss. Auf dem Weg kam ihm noch ein anderer Verdacht. War es von Anfang an ihr Plan gewesen, dass er das Kommando übernahm? Um ihn hier zurückzuhalten? Er wurde das Gefühl nicht los, dass es einen dringenden Grund für ihn gegeben hatte, in den Jadegarten zurückzukehren.
»Wie, wir bleiben hier?« Galar sah Ailyn fassungslos an. »Was für eine verschissene Elfenkacke ist das denn? Wir bleiben hier! Wir? Wir haben von allen Albenkindern, die hierhergeschickt wurden, die meisten Arschtritte abbekommen. Wir sind nicht einmal mehr fünfzig, so viele haben sie von uns niedergemetzelt. Und diese ganzen Feiertagskrieger, die auf diesem Drecksfeldzug nicht ein einziges Mal ihr Schwert gezogen haben, werden jetzt zurückgeholt, und wir bleiben, um uns den Arsch abzufrieren und uns noch weiter niedermetzeln zu lassen? Das kann ja wohl nur ein schlechter Scherz sein!«
»Gute Rede, Zwerg!«, stimmte Groz zu.
Einen Augenblick hatte Galar Sorge, der Troll wolle ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfen und sie dabei wahrscheinlich versehentlich auskugeln, doch dann besann sich der Hüne eines Besseren.
»Ich hätte es etwas drastischer ausgedrückt, aber sonst bin ich ganz deiner Meinung«, erklärte nun auch Che und sah zu seinem kleinen Rest Eisbärte hinüber.
Der rotgewandete Elf neben Ailyn rang unübersehbar um Fassung. Galar hatte ihn bisher nur von ferne gesehen, wie er am Himmel gegen die fliegenden Löwen gekämpft hatte. Er schien jetzt das Sagen zu haben. Oder ihr Heerführer benutzte ihn als Überbringer schlechter Nachrichten.
»All unsere Speerschleudern sind zerstört«, erklärte Nyr ruhig. »Wir haben doch gar keinen Wert mehr als Kampftruppe.«
»Es werden Verstärkungen und neue Speerschleudern kommen. Gobhayn, der Schmied, der euch ausgerüstet hat, wurde bereits beauftragt, weitere Waffen für euch zu fertigen.« Der rote Elf sah sie aus seinen zugeschwollenen Augen feindselig an. »Im Übrigen werden Befehle nicht diskutiert. Ihr habt sie einfach auszuführen.«
»Und was ist mit dem vielgelobten gesunden Elfenverstand«, kam es prompt von Che. Dann deutete der Kobold auf seine Füße. »Hast du die gesehen? Und die kleinen Beine, die dazugehören? Bin ich der Richtige, um einem Heer fliehender Menschenkinder hinterherzulaufen? Und im Vergleich zu einem Zwerg bin ich noch flink.«
Galar entschied, das zu überhören.
»Wir haben dieses Problem bedacht«, erklärte der Elf kühl. »Es wurden auch Rentierschlitten für euch geordert.«
»Rentierschlitten?«, wiederholte Groz ungläubig.
»Nicht für euch Trolle.« Der Elf wirkte nun eindeutig gereizt. »Findet euch damit ab!« Mit diesen Worten wandte er sich ab und marschierte in Richtung der Riesen, die nicht weit entfernt am Ufer des Nebelflusses kauerten.
Ailyn blieb bei ihnen. Sie wirkte ruhig, wie stets. Galar empfand ihre Gelassenheit als äußerst unpassend. »Du hättest härter für uns kämpfen sollen«, fuhr er sie an.
»Das werde ich tun, sobald wir den Menschenkindern wieder entgegentreten.«
»Für dich ist alles immer ganz einfach, nicht wahr? Du bist eine Drachenelfe. Hier gibt es nichts, was dir gefährlich werden kann. Nicht die Kälte und am wenigsten die verzweifelten Menschenkinder, die vor uns davonlaufen. Warum lassen wir sie nicht einfach flüchten? In diesem Kampf liegt keine Ehre.«
»Du hast recht, Galar. Es ist ein Kampf ohne Ruhm, in den wir ziehen.« Sie verneigte sich vor ihnen allen. »Ich entschuldige mich bei euch allen, dass ich euch in dieses Gefecht führen muss. Aber wenn es der Wunsch der Himmelsschlangen ist, dann wird es notwendig sein. Sie wissen mehr als wir.«
Ailyn ging und ließ sie sprachlos zurück. Der eisige Wind zerrte an ihrem viel zu dünnen, weißen Kleid. Die Kälte schien ihr ebenso wenig etwas auszumachen wie Vorwürfe.
»Wir werden lange Menschenfleisch fressen«, sagte Groz nachdenklich.
Galar konnte die Gedanken des Trolls nicht nachvollziehen. Der Hüne wirkte seltsam bedrückt bei der Vorstellung, was seine nächsten Mahlzeiten anging.
»Dreckselfen!«, fluchte Che und spuckte aus. »Wenn ich meinen Männern erzähle, was uns blüht, werden die rebellieren. Und ich dachte nach dem Kampf in Wanu, dass sie auf unserer Seite stehen würde.«
»Eine Drachenelfe?«, fragte Galar voller Verachtung. »Die hat sich ganz und gar den Himmelstyrannen verschrieben. Du hast es doch gehört. Sie denkt nicht mal mehr selbst. Auch für sie ist es ein Kampf ohne Ehre, und trotzdem führt sie den Befehl der Tyrannen aus. Was lehrt uns das? Drachenelfen sind keine strahlenden Helden. Wer ohne zu zögern Ehrloses tut, der hat wohl keine Ehre.«
Ein blasser Silberstreif am Horizont kündigte die Geburt eines neuen Tages an. Unendlich erleichtert ließ Kolja sich gegen einen Stapel von Kisten sinken. Wieder hatte er die ganze Nacht über am Eingang ihrer Zuflucht aus mit Segeltüchern überzogenen Landungskörben gewacht. Sie waren nicht gekommen. Schon die dritte Nacht in Folge. Die Sturmgeister hatten sich zurückgezogen, warum auch immer. Der Drusnier glaubte nicht, dass er und seine jämmerliche Truppe aus Wolkenschiffern die Geister in die Flucht geschlagen hatten. Warum sie verschwunden waren, würde ein Rätsel bleiben. Vielleicht hatten sie anderswo leichtere Beute gefunden?
Nabor kroch zu ihm herüber. »Alles ruhig?« Der alte Lotse hatte dunkle Ränder unter den Augen. Keiner von ihnen schlief gut. Auch wenn die Geister verschwunden waren, blieben ihnen noch genug Sorgen. Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer, ihr Wolkensammler, schien sich aufgegeben zu haben.
»Die Geister sind fort«, sagte Kolja müde und kratzte sich an der Stirn. Sein ganzer Körper juckte zum Erbarmen, dabei hatte er kaum Flöhe in seinen Kleidern finden können. In seinem Armstumpf peinigte ihn ein stechender Schmerz. Seine Prothese, die maßgefertigt worden war, scheuerte jetzt. Vielleicht lag es an der Kälte? Wasser, das gefror, dehnte sich. Womöglich war es mit seinem Leib ja ganz ähnlich. Allerdings schienen die anderen nicht solche Qualen erdulden zu müssen. Jedenfalls kratzten sie sich nicht dauernd.
»Gehen wir raus. Wir müssen reden«, sagte Nabor mürrisch. Der Lotse hatte ihm nicht verziehen, dass er seinen Affen getötet hatte, auch wenn das Mistviech für alle erkennbar von einem der Sturmgeister besessen gewesen war.
»Ich bin müde«, murmelte Kolja verdrossen. »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«
»Ich auch nicht«, entgegnete der Lotse und schob sich an dem Feuer am Eingang vorbei ins Freie. »Und für jemanden, der eine schlaflose Nacht hatte, siehst du ziemlich gut aus. Irgendwie frischer …«
Kolja ignorierte das heuchlerische Kompliment und folgte ihm unwillig. Sie gingen ein paar Schritt hin zum Rand des riesigen Kraters. Der Drusnier blickte hinab in den Schlund, der sich im Dunkel verlor. Schlief dort unten wirklich Nangog? Würde er ihr auf den Bauch fallen, wenn er hinuntersprang? Er trat hastig einen Schritt vom Abgrund zurück. Dieser Schlund weckte in ihm die Lust zu springen. Den Wolkenschiffern war dieses aberwitzige Begehren wohlvertraut. Immer wieder gab es Männer, die sich ohne erkennbaren Grund in die Tiefe stürzten. Kolja war während seiner Reisen über die Himmel Nangogs nie von dieser unerklärlichen Sehnsucht zu springen berührt worden. Doch mit diesem Abgrund hier war es anders. Ihn fürchtete er.
Nabor deutete auf den Wolkensammler, der leblos von der riesigen Säule hing, die sich neben dem Krater erhob. Wie eine Schmetterlingspuppe sah Wind vor regenschwerem Horizont aus. Mit einigen wenigen Tentakeln klammerte er sich um das obere Ende des Monolithen. Etliche hingen einfach nur noch tot und von Eiskristallen bestäubt an seinem Leib hinab. Jene, in denen noch Leben steckte, hatte er eng um seinen Leib geschlungen, der bei Weitem nicht mehr so aufgedunsen war, wie es sonst bei diesen stillen Himmelskreaturen üblich war. »Was ist dein Plan, Kolja? Wie bringst du uns nach Hause? Die Männer sehen in dir ihren Anführer, seit Barnaba tot ist. Was hast du ihnen zu bieten? Noch einen Tag, an dem wir Kristalle ernten, die wir nirgendwo hinbringen werden?«
»Ich könnte zum Beispiel einen alten Nörgler zu Nangog schicken«, grollte Kolja. »Dann würde es hier wesentlich friedlicher.«
»Stimmt, so friedlich wie auf einem Gräberfeld.« Nabor stemmte die Fäuste in die Hüften und sah ihn herausfordernd an. »Solange wir noch bei Kräften sind, sollten wir etwas Sinnvolles tun.«
»Was schlägst du vor? Beten?« Auch Kolja hatte sich in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen, wie sie von hier wegkommen konnten. Wind vor regenschwerem Horizont würde nicht mehr in den Himmel aufsteigen. Sich zu Fuß auf den Weg nach Wanu zu machen kam auch nicht infrage.
»Ich schlage vor zu segeln«, entgegnete Nabor bestimmt.
»Segeln? Hier? Weitab von jedem Meer?«
»Es müsste möglich sein. Die Idee kam mir gestern, als ich sah, wie der Wind ein aufrecht stehendes, leeres Fass auf glattem Eis bewegt hat.«
»Ich darf dich darauf hinweisen, dass ein Schiff ein wenig schwerer als ein Fass ist«, höhnte Kolja. »Du bist verrückt.«
»Vielleicht«, gab der Lotse unumwunden zu. »Aber wollen wir nicht lieber etwas Verrücktes wagen, als einfach nur auf den Tod zu warten?«
Der Drusnier nickte zögerlich. »Besser eine winzige Hoffnung als gar keine. Du hast recht. Du bekommst alle Männer, die du brauchst.«
Nabor war sichtlich erleichtert. »Wir geben es auf mit den Kristallen?«
»Ja, wir haben genug. Nun stecken wir all unsere Kraft in den Bau eines Schiffes, das uns über das Eis tragen wird, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie solch ein wundersames Gefährt aussehen könnte.« Kolja griff nach seiner Prothese. Der klopfende Schmerz im Stumpf meldete sich wieder. Was zum Donner war das nur? »Hol dir deine Männer und fang an«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich stoße später zu euch, Nabor.«
»Das war die beste Entscheidung seit Wochen, das verspreche ich dir, Drusnier!«
Als er zurück zu den Landungskörben ging, summte der Lotse leise ein Lied. Das hatte er nicht mehr getan, seit sie die Eiswüste erreicht hatten.
Kolja ließ sich auf einer Kiste nieder, die halb im Schnee versunken war. Überall, rings um die riesige Felssäule, lagen Trümmer ihres Wolkenschiffes. Die Reise war eine einzige Katastrophe. Er hätte auf den Zapote im roten Federmantel hören sollen. Wäre er in Wanu geblieben, um Vogelscheiße zu sammeln, würde es ihm jetzt sicher besser gehen.
Jetzt, da niemand in Hörweite war, erlaubte er es sich zu stöhnen. Der Schmerz im Arm war schlimmer als die Schmerzen, die er damals im Dschungel gelitten hatte, als ihm die Daimonin den Arm abgehackt hatte. Er löste die Lederriemen, die seine Prothese hielten. Den falschen Arm abzunehmen verschaffte ihm ein wenig Erleichterung.
Er zog den Wollsocken ab, den er über den Stumpf gezogen hatte, und zog scharf die Luft ein: Das rote Narbengewebe hatte sich verändert! Eine Wucherung, so breit wie zwei Finger, ragte etwas mehr als einen Zoll aus seinem Stumpf. Ungläubig tastete er darüber. Etwas Hartes verbarg sich unter dem neu gewachsenen rosa Fleisch. Die Berührung schmerzte so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten. Es fühlte sich an, als würden zwei Knochen in dem Fleisch stecken. Etwa so dick wie Schweinerippchen.
Trotz der Schmerzen, die es bereitete, tastete er erneut über die Wucherung. Dabei erinnerte er sich an die Worte des Lotsen. Das seltsame Kompliment, als sie ihr Nachtquartier verlassen hatten. Was hatte Nabor gesagt? Er sähe frischer aus? Kolja tastete über sein Gesicht, das in den letzten Tagen immerzu juckte. War seine Haut glatter geworden, oder bildete er sich das ein? Und was war das! Er strich über die Narbenwülste, die alles waren, was von seinen Brauen noch geblieben war. Stoppeln! Seine goldblonden Augenbrauen waren seit mehr als einem Jahrzehnt verschwunden. Kein einziges Haar war mehr aus dem vernarbten Fleisch gesprossen. Das war der Preis für seine Siege in den Arenen von Luwien gewesen. Die Faustkämpfer wickelten sich mit Messing- oder Eisennieten beschlagene Lederbänder um ihre Hände, wenn sie in den Kampf zogen. Gerade im Gesicht, wo die Haut nur dünn über den Knochen lag, hinterließen sie schreckliche Narben. Sein Ehrgeiz, immer noch einen weiteren Triumph zu erlangen, hatte ihn langsam in ein vernarbtes Ungeheuer verwandelt. Zuletzt hatten nur noch Huren, die er fürstlich bezahlte, mit ihm schlafen wollen, so schrecklich war er anzusehen gewesen.
Kolja schob die Hände unter die Wollmütze. Er betastete die kleinen, fleischigen Klümpchen, zu denen seine verletzten Ohren geschrumpft waren. Auch sie fühlten sich anders an. Beschenkte Nangog ihn dafür, dass er die Mission weiterführte und den Platz von Barnaba eingenommen hatte?
Der Drusnier blickte auf den seltsamen Wulst, der aus seinem Arm wucherte. Konnte sie selbst verlorene Glieder nachwachsen lassen? Wer, wenn nicht sie, könnte ein solches Wunder vollbringen. Schließlich hatte sie auch all die seltsamen Tiermenschen erschaffen. Er war ihr Auserwählter! Sie hatte Großes mit ihm vor!
Behutsam zog er den Wollsocken wieder über den Stumpf. Er würde dieses Geheimnis zunächst für sich behalten. Es lagen noch schwere Tage vor ihnen. Ein Wunder würde die Moral der Männer wieder aufrichten, wenn die Stunde der tiefsten Verzweiflung kam. Und die war nahe, wenn all ihre Hoffnung auf der aberwitzigen Idee ruhte, ein Schiff zu bauen, das über Eis segeln konnte.
Wieder konnte Kolja nicht schlafen. Das endlose Jucken machte ihn noch wahnsinnig. Wie in den Nächten zuvor hatte er schließlich die Wache am Eingang abgelöst, um über das Feuer zu wachen. Der Schiffer war dankbar unter seine Decken gekrochen und augenblicklich eingeschlafen.
Wind heulte in der zerfetzten Takelage des Wolkenschiffs. Es war eine wolkenlose Nacht. Die beiden Monde standen tief über der Eisebene, und es war fast taghell. Kolja hatte den Tag über mitgeholfen, Planken und Werkzeug für den Segler zusammenzutragen. Die meiste Zeit war mit fruchtlosen Diskussionen verschwendet worden. Keiner wusste, wie ein Eissegler aussehen sollte. Zuletzt hatte er vorgeschlagen, ihn wie einen großen Schlitten anzulegen – eine Plattform mit Kufen. Mit Schlitten kannte er sich ein wenig aus. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er mit den anderen Jungen und Männern seines Dorfes zum Holzschlagen hinaus in die Wälder gemusst hatte, wenn der Winter länger als erwartet gedauert hatte. Die zersägten Stämme hatten sie auf Schlitten zurückgezogen. Aber ein Schlitten mit einem Segel darauf … Kolja war sich nicht mehr so sicher, ob Nabors Plan wirklich gut war.
Verdrossen kratzte er sich am Fleischknoten, der von seinem linken Ohr geblieben war. Verfluchte Juckerei! Das konnte doch kein Wunder der Großen Göttin sein. Warum quälte sie ihn so sehr? Auch sein verstümmelter Arm peinigte ihn wieder. Er konnte spüren, wie sich der Knochen durch das neu wachsende Fleisch schob.
Wenn dieses Wunder einen anderen Ursprung hatte? Schon früher am Tag hatte er an seinen Kampf unten im Abgrund gedacht, als ihm einer der grünen Kristalle tief in den Rücken gerammt worden war. Kolja schob die Fellweste und die dicke wollene Tunika hoch und tastete über seinen Rücken. Es gab nicht einmal eine Kruste an der Stelle. Die Wunde hätte ihn töten können. Stattdessen war sie binnen kürzester Zeit verheilt. Auch das war ein Wunder. Und der Kristall, der in seinem Fleisch hätte stecken sollen, war spurlos verschwunden.
Der Drusnier drückte und tastete seinen Rücken ab, wie er es schon Dutzende Male in den letzten Tagen getan hatte. Da war nichts! Lag es also an dem Traumeis, dass er sich veränderte? Barnaba hatte nie erzählt, wozu diese seltsamen Kristalle vom Ende der Welt dienen sollten. Ganz gewiss waren sie voller Zaubermacht. Aber was bewirkten sie?
Sie hatten Hunderte der grünen Kristalle geerntet. Sie waren in allen möglichen Fässern, Kistchen und Krügen gelagert. Alle mit Schnee aufgefüllt, damit die Kristalle während des Transports nicht zerbrechen konnten. Wenn es denn je einen Transport geben würde. Ein Schlitten mit einem Segel … Kolja spuckte über die Flammen des Feuers hinweg nach draußen. So etwas hatte es noch nie gegeben. Und er kam aus einem kalten Land! Im Gegensatz zu seiner bunt gemischten Mannschaft, von denen die meisten vor ihrer Reise in den Norden noch nie Schnee gesehen hatten.
Auf diese Männer zu vertrauen wäre dumm.
Kolja weckte einen der Wolkenschiffer, damit dieser die Wache übernahm, dann kroch er durch den niedrigen Eingang ihres Quartiers ins Freie. Der Wind trieb feine Schneekristalle vor sich her, die ihm wie Nadeln ins Gesicht stachen. Nichts deutete darauf hin, dass die Geister zurückgekehrt waren.
Das Mondlicht war so hell, dass er keine Laterne benötigte, um in den Fässern und Kisten, die im Windschatten der Landungskörbe standen, zu finden, was er suchte. Es war besser, wenn Nabor und die anderen nicht sahen, was er tat. Als Wolkenschiffer würden sie es vielleicht nicht gut aufnehmen. Es war nur ein Strohhalm, nach dem er nun greifen würde, aber vielleicht waren die Götter ihnen zuletzt doch noch gnädig gesinnt.
Er nahm fünf besonders große Traumeiskristalle aus ihrem Vorrat, wickelte sie in Stofffetzen ein und legte sie vorsichtig in eine Ledertasche, die er über der Schulter trug. Dann machte er sich auf den Weg zu Wind vor regenschwerem Horizont.
Der Wolkensammler und das Schiffswrack, das von ihm herabhing, waren zu einer grotesken, furchteinflößenden Eisskulptur geworden. In den ersten Tagen nach dem Schiffbruch war der Schnee, der sich auf dem Rücken des Himmelsgiganten sammelte, durch die Körperwärme noch angetaut. So hatte Eis die Tentakel und die Seile überzogen, die vom aufgedunsenen Leib des Wolkensammlers hinabhingen. Und auch der zersplitterte Rumpf und der Schiffsbaum waren in einen Eispanzer gehüllt. Unzählige Eiszapfen hingen vom Wrack und dem sterbenden Wolkensammler.
Der Wind war ein wenig abgeflaut, als Kolja in das Wrack einstieg. Er hatte eine Dornaxt, wie sie die Steppenreiter nutzten, als Kletterhilfe mitgenommen. Das silberne Licht der beiden Monde ließ das zerstörte Schiff wie einen Palast aus Glas erscheinen.
Vorsichtig tastete sich der Drusnier voran. Er mied die abschüssigen Decks des Wracks, die dort, wo der Rumpf zersplittert war, direkt in den Krater mündeten. Wenn er hier ausrutschte, würde er in den bodenlosen Abgrund stürzen, und das Letzte, was er in seinem Leben sähe, wäre die leibhaftige Göttin Nangog, die tief im Inneren der Welt schlummerte.
Kolja fand eine eisverkrustete Strickleiter, die einmal Teil der Wanten gewesen war, und setzte vorsichtig seinen Fuß darauf. Eis splitterte, doch das zähe Hanfseil hielt. Gefrorene Taue und abgestorbene Tentakel säumten seinen Weg nach oben. Über ihm klirrten Eiszapfen. Er spürte, wie das Takelwerk, das durch die Eiskruste zu einer einzigen Masse verbunden war, durch seine Bewegungen zu schwingen begann. Schon lösten sich die ersten Eiszapfen und stürzten in die Tiefe.
Kolja verharrte. Er hatte Zeit. Es würde noch viele Stunden dauern, bis der Morgen anbrach. Er zog das Messer, das neben der Dornaxt in seinem Gürtel steckte. Knapp eine Armeslänge entfernt sah er die weißen Saugnäpfe eines größeren Fangarms. Woher Barnaba wohl diese Klinge gehabt hatte? Nie zuvor hatte Kolja ein Messer gesehen, das so mühelos durch alles hindurchschnitt. »Was für eine Geschichte würdest du wohl erzählen, wenn du reden könntest?«, murmelte er leise, dann rammte er den Stahl tief in den Fangarm. Knirschend versank die Klinge im gefrorenen Fleisch. Nachdem er mit einigen beherzten Schnitten einen tiefen Spalt geschaffen hatte, schob er das Messer zurück in die Scheide am Gürtel, zog den Pelzfäustling von der Hand und streckte sie nach der Öffnung im Fleisch. Seine Finger tasteten in die Wunde. Der Tentakel war durch und durch gefroren. Hier gab es kein Leben mehr. Er brauchte lebendes Gewebe, wenn er ein Traumeiskristall pflanzen wollte.
Beklommen sah er nach oben. Immer noch schwangen die Eiszapfen an den Seilen. Manche von ihnen waren so lang wie sein Arm. Sie würden ihn mit der Wucht von Wurfspeeren treffen, wenn sie abbrachen.
Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass er schon etwa zehn Schritt über dem Hauptdeck war. Wie weit musste er steigen, bis er einen Fangarm fand, in dem noch Leben war? Still stand er auf der Strickleiter und betrachtete die immer noch schwingenden Taue und Eiszapfen, in denen der Wind ihm sein Totenlied sang. Die Kälte durchdrang seine Kleider, fraß sich in sein Fleisch bis tief in seine Knochen. Er sah wieder nach oben, erforschte das Knäuel aus Seilen, gebrochenen Masten, Tentakeln und zerfetztem Segeltuch. »Wo ist noch Leben in dir?«, fragte er beschwörend. »Ich will dich nicht verletzen. Ich werde dich retten. Gib mir ein Zeichen, Wind vor regenschwerem Horizont!«
Links, etwa drei Schritt über ihm, hing ein gesplitterter Mastbaum. Zwei mächtige Tentakel wanden sich über das eisglitzernde Holz. Das zerfetzte Segel hing wie der Bart eines Riesen davon herab. Dort, dachte Kolja, wenn er dort kein Leben fand, dann müsste er bis ganz hinauf zum ausgemergelten Leib des Wolkensammlers klettern.
Er kletterte weiter die Strickleiter hinauf, vom Klirren der Eiszapfen begleitet. Dann streckte er sich. Doch sosehr er sich bemühte, es fehlten einige Zoll bis zum Ende des Mastbaums. Die Leiter hing zu weit entfernt.
Leise sirrend fielen die ersten Eiszapfen aus dem Gespinst um ihr totes Schiff. Mit hellem Klang streiften sie das Eis an den Seilen und zerbarsten tief unter ihm auf dem Deck. Kolja sprang, hing einen bangen Moment in der Luft und prallte dann auf das zersplitterte Mastende. Seine Hand krallte sich in ein Knäuel gefrorener Taue. Unter dem Aufprall seines Leibes begann der Mast zu schwingen wie ein Rammbock, der das Tor einer feindlichen Stadt aufsprengen sollte. Koljas Beine krampften sich um das rissige Holz. Mit beiden Armen umschlang er es. Immer mehr Eiszapfen lösten sich über ihm. Einige trafen seinen Rücken. Noch hatte er Glück, denn es waren nur kleinere. Er drehte sich, bis er mit dem Leib unter dem Mastbaum hing. So wartete er, bis das Schwingen aufhörte. Wenig später endete auch der Hagel aus Eiskeilen.
Behutsam drehte er sich zurück auf den Mast. Ganz langsam, Zoll um Zoll kroch er den beiden großen Fangarmen entgegen, die sich um die Mitte des Mastes wanden. Auch sie waren von Raureif überzogen und schienen tot zu sein wie alles, was sich in diesem Netz aus Eis und Hanf verfangen hatte.
Kolja zog erneut sein Messer und schnitt den vorderen der beiden Tentakel auf. Endlich floss Blut! Tief unter der Kruste aus Eis war noch Leben. Er verlängerte den Schnitt und zog einen der Kristalle aus seiner Tasche. Vorsichtig wickelte er den Lumpen ab. Das Traumeis war so dick wie zwei seiner Finger und länger als seine Hand. Schillernd brach sich das Mondlicht in den Facetten des grünen Kristalls. Hoffentlich irrte er nicht! Er hob den Kristall an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. Dann rammte er ihn tief in die klaffende Wunde.
Der Tentakel zuckte auf. Knirschend zerbrach sein Eispanzer, als sich die Windungen vom Mastbaum abrollten. Das Rundholz geriet aus der Balance und kippte nach unten. Kolja packte ein Seil, aber seine Finger fanden auf dem Eispanzer keinen Halt. Er rutschte ab und stürzte in das Netz der gefrorenen Takelage. Verzweifelt griff er um sich. Immer wieder glitt er ab, stürzte ein Stück, wurde von Seilen in seinem Fall gebremst, griff ins Leere und stürzte noch tiefer.
Über ihm peitschte der verwundete Tentakel durch die Takelage, zerriss dicke Taue, als wären es nur Wollfäden, und löste einen Sturm stürzender Eiszapfen aus. Kolja riss seinen verstümmelten Arm zum Schutz über seine Augen, als Dutzende Eiszapfen ihn trafen. Dann prallte er mit dem Rücken auf das schräg stehende Hauptdeck. Er keuchte auf vor Schmerz und rutschte auf dem abschüssigen Deck dem Abgrund entgegen. Verzweifelt zerrte er die Dornaxt aus seinem Gürtel, um ihre Spitze ins Holz zu schlagen. Doch das Ende kam zu schnell.
Als Kolja ausholte, ging sein Hieb ins Leere. Seine Rutschpartie war beendet. Ungebremst schoss er über den Rand des zersplitterten Decks hinweg in die Tiefe.
Kolja ließ sie los. Die Dornaxt, die ihm nicht mehr helfen würde. Jede Hoffnung, doch noch irgendwie dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, war dahin. So viele Kämpfe hatte er überlebt. Er hatte mehr Glück in seinem Leben gehabt, als einem einzelnen Menschen von den Göttern zugestanden wurde. Nun war sein Glück aufgebraucht. Er weitete die Arme und lachte. Ob er auf der Brust Nangogs zerschmettert werden würde? Einem Busen wie ein Gebirge. Eigentlich kein schlechtes Ende, auch wenn er deutlich lieber im Bett der Seidenen gestorben wäre. Aber die lag nun sicher in Tarkons Bett, in …
Ein harter Ruck beendete den Sturz. Brennender Schmerz durchfuhr ihn. Er hatte das Gefühl, sein rechtes Bein würde ihm ausgerissen. Und dann stürzte er erneut. Doch diesmal nach oben, dem Rand des Kraters entgegen.
Wild mit den Armen um sich schlagend, bäumte er sich auf und sah nach oben. Ein dünner Fangarm hatte seinen Knöchel umschlungen. Wind vor regenschwerem Horizont lebte! Und der Wolkensammler war sich bewusst, was um ihn herum geschah. Er hob Kolja aus dem Abgrund und bettete ihn sanft auf eine Schneewehe nahe dem Kraterrand. Der Drusnier spürte die Gedanken des Wolkensammlers. Da war keine Stimme in seinem Inneren, sondern einfach nur Bewusstsein. Wind vor regenschwerem Horizont hatte erkannt, dass Kolja ihn nicht mutwillig verletzen, sondern ihm hatte helfen wollen. Und er war dankbar dafür. Zumindest glaubte Kolja es. Ohne Worte blieb alles vage.
Ich kann auch zu dir sprechen, obwohl deine Sprache nicht tiefgründig genug ist, um wirklich ausdrücken zu können, wie ich denke und empfinde.
»Äh, was?« Kolja rieb sein schmerzendes Bein. Dieses Gerede hier war ihm nun eindeutig zu hoch.
Stell dir vor, wir beide sitzen in einer Höhle und du blickst auf eine glatte Felswand vor dir. Ich sitze hinter dir. Und hinter mir brennt ein Feuer. Die Flammen werfen unser beider Schatten auf die Felswand. Ich bin ein Fremder für dich. Ich habe nach dir die Höhle betreten, und ein Bannzauber verhindert, dass du dich zu mir umdrehen kannst. Alles, was du von mir kennst, ist mein Schatten. So ist es mit deiner Sprache für mich. Von dem, was ich dir sagen möchte, bleibt nur noch ein Schatten, wenn ich es in Worte für dich kleide. Geteilte Gefühle sind viel unmittelbarer.
»Mir ist es aber lieber so«, entschied Kolja. »Gefühle sind nicht so greifbar wie Worte.« Er spürte, dass seine Antwort Wind vor regenschwerem Horizont traurig stimmte. »Werden wir sterben?«
Ja, das ist unser Schicksal. Es ist der Tod, der dem Geschenk des Lebens seinen Wert gibt. Doch, ob wir hier sterben, weiß ich nicht. Der Tod ist uns sehr nahe. Ebenso wie die Große Göttin. Doch ich spüre sie nicht. Sie ist nicht in meinen Gedanken. Ich glaube, sie nimmt keinen Anteil an unserem Schicksal. Vielleicht weiß sie nicht einmal, dass wir hier sind und ihre gefrorenen Träume stehlen.
»Aber kommen wir von hier weg?«
Ich weiß es nicht. Ich kann nicht in die Zukunft sehen.
Kolja blickte zu dem riesigen, geschundenen Wolkensammler auf, der von der Felsnadel hing. Es war schwer zu akzeptieren, dass so ein gewaltiges Geschöpf genauso hilflos war wie er.
»Was macht das Traumeis mit uns?«, fragte der Drusnier schließlich nach langem Schweigen.
Es erfüllt uns unseren geheimsten Wunsch, glaube ich. Ich kann spüren, wie ich mich zu verändern beginne. Es ist kein angenehmes Gefühl. Du kennst es ja.
»Das ist doch eine gute Sache. Ich freue mich, wenn mir wirklich mein Arm nachwachsen sollte.«
Ich bin mir nicht so sicher, ob es wirklich gut ist.
»Du hast leicht reden!«, zischte Kolja wütend. »Du hast Hunderte Arme. Du kannst nicht ermessen, wie es ist, wenn man nur zwei hat und einer fehlt.«
Da hast du sicher recht. Aber überlege, Kolja, was unsere geheimsten Wünsche sind. Sind es nicht oft Wünsche, die aus der Freiheit geboren wurden, dass wir genau wissen, dass sie sich niemals erfüllen werden. Wird es nicht am Ende allen schaden, wenn diese Wünsche wahr werden?
»Das ist mir zu hoch.« Insgeheim wünschte Kolja sich, der Wolkensammler wäre immer noch stumm. Mit dem Unsinn, den er von sich gab, konnte er nichts anfangen. Und das verunsicherte ihn. Ein so riesiges Geschöpf, das angeblich sieben Gehirne hatte, konnte doch nicht dumm sein. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass er zu dämlich war, um zu begreifen. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht! »Was schadet es, wenn meine Narben verschwinden und mir der Arm nachwächst?«
Bist du mit einem Arm ein gefährlicher Krieger? Mit zwei Armen wird es dir noch leichter fallen, andere umzubringen.
Kolja schnaubte. Eine richtige Antwort war ihm das nicht wert.
Es stimmt. Das war sehr flach und oberflächlich. Du wünschst dir, wieder jung zu sein. Der Mann, der vor vielen Jahren mit schlotternden Knien zum ersten Mal in eine Arena getreten ist.
»Mir haben nie die Knie geschlottert!«
Kolja, ich bin in deinen Gedanken. Ich kann all deine Erinnerungen sehen. Du warst ein hübscher Mann. Es ist dir leichtgefallen, Frauen zu betören, und du hast von dieser Gabe reichlich Gebrauch gemacht, ohne einer von ihnen wirklich dein Herz zu schenken.
»Warum sollte ich mich an nur eine hängen, wenn ich fast alle haben kann. Das wäre doch dumm.«
Ja, dumm bist du nicht. Obwohl du sehr jung warst, hast du sehr schnell begriffen, dass die meisten der Frauen nur an einer Nacht mit dem strahlenden Arena-Helden interessiert waren. Sie wollten deine Stärke spüren und deine Leidenschaft. Sie wollten im Glanz deines Ruhmes stehen. Wer du wirklich bist, war ihnen egal. Du hast dein Herz für dich behalten, weil es sich keine von ihnen verdient hatte.
»Sentimentales Geschwafel«, schnaubte Kolja. Dieses Gerede war ihm unangenehm. Er war sich ziemlich sicher, dass er seine Gefühle im Grunde gut verbergen konnte. Und allzu viele Gefühle hatte er zum Glück auch nicht. Gefühle machten nur Kopfschmerzen und ließen einen nachts schlecht schlafen. Und dann kam so eine aufgedunsene Himmelswurst mit Tentakeln und erzählte ihm, wer er war. Das brauchte er nicht!
So, wie du im Augenblick bist, besteht keine Diskrepanz zwischen deinem Inneren und deinem Äußeren.
Kolja schluckte. Das war verständlich und direkt gewesen. »Du findest also, ich sei ein Monster, und so sehe ich auch aus. Es stimmt … Kleine Kinder haben Angst vor mir, wenn sie mich sehen. Und auch die meisten Erwachsenen.«
Du trägst Narben auf deinem Leib wie auf deiner Seele. Der Mann, der du einmal warst, der hübsche, starke Jüngling, der mit zitternden Knien in die Arena trat, den gibt es schon lange nicht mehr.
»Wie auch!«, begehrte er auf. »Hast du eine Ahnung, wie es ist, wenn man dir einen Lederriemen mit Eisennieten darauf in die Fresse haut und das Publikum vor Begeisterung grölt, wenn du vor Schmerz schreist und Blut spuckst.«
Nein. Die Stimme in Koljas Gedanken klang nicht herablassend, sondern ganz und gar aufrichtig und mitfühlend. Man kann dich mögen oder auch nicht, aber du bist auf deine Art aufrichtig. Du machst niemandem etwas vor. Du lebst in einer Welt der Gewalt, und du kommst bestens damit klar, denn du schreckst nicht davor zurück, deine Ziele gewaltsam durchzusetzen. Du bist skrupellos, aber nicht grausam. Du findest keinen Gefallen daran, Gewalt einzusetzen. Du quälst niemanden, um dich an deiner Macht über ihn zu berauschen. Allerdings bist du bereit, deine besten Freunde, wie etwa Volodi, zu verraten, wenn es dir nützlich erscheint. Wirst du wieder ein hübscher Jüngling, dann werden die Menschen, die dich nicht kennen, dir mit Vertrauen und Zuneigung begegnen, statt vom ersten Augenblick an auf der Hut zu sein. Sie ahnen ja nichts von den Narben auf deiner Seele. Versteh mich nicht falsch. Ich urteile nicht über dich, Kolja. Das steht mir nicht zu. Und ich weiß sogar, dass es dir leidgetan hat, Volodi den Zapote auszuliefern. Du hast den Nutzen der Zinnernen über den deines Freundes gestellt. Das ist ja im Grunde ein edles Motiv.
»Ich könnte mich ja ändern«, entgegnete der Drusnier trotzig. Nie hatte jemand so klar mit ihm gesprochen, ihn so tief durchschaut. Nicht einmal Volodi. »Wenn ich wieder ein hübscher, junger Mann bin, werde ich vielleicht auch wieder so freundlich, wie ich einmal war. Es könnte ja einen guten Einfluss auf mich haben, wenn nicht allen Menschen, die mir begegnen, Angst und Abscheu ins Gesicht geschrieben stehen.«
Du wirst dich ganz sicher verändern. Wir alle tun das. Jeden Tag. Nur eins ist Illusion. Es gibt keinen Weg zurück, niemals. Ein Baum wird nicht mehr zum Sprössling, ganz gleich, wie sehr er es sich wünscht. Ein Wolf, der Blut geleckt hat, wird nie wieder der verspielte Welpe sein, der die Milch seiner Mutter trinkt. Horch in dich hinein. Du weißt, dass es so ist. Den netten Jüngling haben sie in den Arenen aus dir herausgeprügelt. Es gibt ihn nicht mehr. Was geblieben ist, ist ein Mann, der immer wieder aufsteht, ganz gleich, wie viel er einstecken muss. Du musst erst deinen letzten Atemzug getan haben, bevor du eine Niederlage akzeptierst.
»Ich bin jedenfalls kein weinerliches Weichei.« Kolja spürte, wie die Worte den Wolkensammler amüsierten.
Weichei … Manchmal ist eure Sprache doch überraschend. Plötzlich wirkte der Wolkensammler beunruhigt. Einige der Tentakel oben am Schiffswrack wanden sich und lösten einen erneuten Hagel von Eiszapfen aus. Es wirkt, das Traumeis. Ich kann es spüren. Überrasche mich, Kolja. Zeige mir, dass Menschen etwas vermögen, was wir nicht können, ihren Charakter verändern! Lasse auch die Narben auf deiner Seele heilen.
Kolja hielt für eher unwahrscheinlich, dass er ein netter Mann würde, wenn er wieder wie früher aussähe. »Wovon träumst du?«
Davon, wovon alle Wolkensammler träumen. Vom Fliegen.
»Aber du fliegst doch schon …«
Wind vor regenschwerem Horizont löste den Tentakel, der die ganze Zeit um Koljas Fußgelenk geschlungen gewesen war, und zog sich zurück. Die Verbindung zwischen ihnen war damit abgerissen. Das Letzte, was Kolja mit fast schmerzhafter Intensität gespürt hatte, war die Angst des Wolkensammlers. Angst vor dem Fliegen!
Er sah zu der riesigen, geschundenen Kreatur auf. Wind vor regenschwerem Horizont hatte ihn ganz und gar durchschaut, aber umgekehrt war ihm der Wolkensammler ein Rätsel geblieben.
»Du gibst wohl niemals auf?« Der Torwächter vor Amalaswinthas Höhlenpalast stellte sich ihm breitbeinig in den Weg. »Du magst der Bewahrer der Goldenen Axt und der neue Günstling Eikins, des Alten in der Tiefe, sein, doch in der Gunst meiner Herrin stehst du nicht.« Der Krieger grinste ihn frech an. »Man kann eben nicht alles haben.«
»Könnte ich ihr denn vielleicht dies Geschenk überreichen?« Hornbori hob die dunkel gebeizte, mit filigranen Messingbeschlägen geschmückte Kiste hoch, von deren Inhalt er erhoffte, vielleicht doch noch Amalaswinthas kaltes Herz für sich zu erwärmen. Sie sollte sich nicht so anstellen. Schließlich hatten es Galar, Glamir und Nyr dank des Verrats von Bailin geschafft zu fliehen. Er hatte sie also nicht geköpft. Außerdem hatte er der schönen Zwergin ja in aller Deutlichkeit gesagt, dass ihm diese Entscheidung schier das Herz zerrissen habe.
»Was ist da drin?«, fragte der Torwächter neugierig.
»Das geht dich wohl kaum etwas an …«
»Enttäuschte Liebhaber tun verrückte Dinge.«
Das feixende Grinsen des Wächters reizte Hornbori bis aufs Blut. Sobald er Amalaswinthas Gunst zurückgewonnen hatte, würde er dafür sorgen, dass sie diesen Mistkerl entließ. Besser noch, in seinem neuen Amt könnte er ihn zu den Kriegern abkommandieren, die für die Alben und Himmelsschlangen ins Feld ziehen sollten.
»Es könnte eine Giftschlange in dem Kästchen sein«, beharrte der Wächter mit aufgesetztem Ernst.
»Oder ein Skorpion. Oder ein gurusischer Zwergwolf, dessen Geheul einen zu Stein werden lässt. Halt mal die Kiste, ich halte mir meine Ohren zu.« Mit diesen Worten drückte er dem Wächter die Kiste in die Hand.
Das Lächeln des Wächters verschwand. »Gurusischer Zwergwolf? Nie gehört …«
»Na, dann musst du dir ja keine Sorgen machen.« Hornbori schob sich die Finger halb in die Ohren. »Dann walte deines Amtes und öffne die Kiste.«
»Du machst Witze …«
»Ich bin der Bewahrer der Goldenen Axt, einer der höchsten Würdenträger der Ehernen Hallen. Machen solche Männer Witze?«, entgegnete Hornbori bierernst.
Dem Wächter standen jetzt Schweißperlen auf der Stirn. Vorsichtig stellte er die Kiste vor sich auf den Boden. Dann zog er einen Dolch.
»Willst du mein Geschenk niederstechen?«
»Drecksack«, murmelte der Wächter, klappte den Messingverschluss zurück und schob die Dolchspitze vorsichtig in den Spalt unter dem Kistendeckel. Für einige Herzschläge verharrte er so, dann hebelte er den Deckel hoch. »Ein Barinstein?« Noch mehr als die Verwunderung war ihm die Erleichterung anzuhören.
»Nicht irgendein Barinstein.« Hornbori nahm die Arme herunter. Er hatte ein Vermögen für den durchscheinenden, von innen heraus leuchtenden Stein ausgegeben. Üblicherweise leuchteten sie in einem warmen Bernsteinlicht. Dieser jedoch erstrahlte in einem matten Rot, was äußerst selten war. Er hatte sich dieses Geschenk nur leisten können, weil es ihm in den letzten beiden Wochen dank seiner neuen Position gelungen war, im Rat der Ehernen Hallen ein Gesetz durchzusetzen, das ihm als letztem männlichen Überlebenden aus der Tiefen Stadt die Vermögenswerte ausgelöschter Sippen überschrieb. Nun gehörten ihm vier kleinere Paläste samt Personal und mehrere gut gefüllte Warenlager. Sein neues Amt war nun auch auf einer realen Machtbasis begründet. Und das war erst der Anfang.
»Ich glaube, Amalaswintha wird einigermaßen verärgert sein, wenn sie erfährt, dass dieses Geschenk nicht den Weg zu ihr gefunden hat. Es hat den Gegenwert von etwa drei voll ausgerüsteten Aalen.« Hornbori kniete nieder und klappte den Deckel des kleinen Kistchens zu. »Ich geh dann wieder.«
»Ist gut!«, zischte der Wächter. »Lamga!«, rief er in den Tunnel hinein. »Komm her!«
Es dauerte eine Weile, bis eine Dienerin erschien, die in ziemlich jedem Aspekt das genaue Gegenteil von Amalaswintha war. Ihr struppiges, blondes Haar war ungepflegt und strähnig, das Gesicht grobschlächtig mit hängenden Wangen, und ihr Kleid sah aus, als wäre es aus einem Sackstoff genäht.
Der Torwächter drückte ihr das Kästchen in die Hand. »Bring das der Herrin und sage ihr, dass es vom ehrenwerten Ratsherren Hornbori stammt, dem Bewahrer der Goldenen Axt.«
Die Dienerin bedachte Hornbori mit einem kurzen Blick aus trüben, blauen Augen, dann nahm sie das Geschenk und verschwand wieder im Tunnel.
»Gibt es Neuigkeiten über das große Heer?« Der Wächter hatte nun einen deutlich verbindlicheren Ton angeschlagen.
»Nur Gerüchte«, entgegnete Hornbori. »Es heißt, die ersten Einheiten seien nach Nangog gegangen. Aber niemand weiß, wo sie kämpfen.«
»Stimmt es, dass sogar Riesen mit ihnen ziehen und die Elfenfürsten von Arkadien eine Streitmacht von tausend Sichelstreitwagen aufgeboten haben.«
»Gibt es überhaupt so viele Elfen in Arkadien?« Hornbori schüttelte den Kopf. »Den Elfen traue ich nicht, die werden sicherlich nichts unversucht lassen, um sich zu drücken. Das Kämpfen überlassen die uns Zwergen. Mehr, als nett auszusehen und schöne Reden zu schwingen, haben die doch nicht auf dem Kasten. Wenn es hart auf hart kommt, dann braucht man Männer wie uns.«
Der Wächter gab ein zustimmendes Schnauben von sich. »Stimmt. Ohne die Drachen sind die Elfen gar nichts.«
Sie plauderten eine ganze Weile über die Vorzüge von Äxten und Armbrüsten im Vergleich zu Schwertern und Langbögen, bis endlich Lamga zurückkehrte. »Die Herrin wünscht euch zu empfangen.« Sie hüstelte verlegen. »In ihrem Schlafgemach. Bitte folgt mir.«
Hornbori hätte einen Luftsprung machen können. Amalaswinthas Gunst war das, was ihm noch gefehlt hatte, um sein Glück vollkommen zu machen. Die Alben liebten ihn! Er hatte immer gewusst, dass er zu Großem berufen war. So vieles hatte er nach dem Untergang der Tiefen Stadt erdulden müssen. Das Schicksal hatte ihn in die Gosse geschleudert, doch nun endlich begann sein Stern wieder zu steigen.
Mit beschwingtem Schritt folgte er Lamga in den tiefen Tunnel, der in den weit verzweigten Höhlenpalast führte. Amalaswintha wusste wahrlich, wie man lebte! Zwei verschiedene Schlafgemächer hatte er hier schon besuchen dürfen und ein prächtiges Bad. Er sollte auch mehr als ein Schlafgemach haben. Er hatte gerade erst damit begonnen, sich in dem größten der herrenlosen Paläste einzurichten, die nun ihm gehörten. Vielleicht würde Amalaswintha ihm ja helfen.
Lamga blieb vor einem Durchgang stehen, der mit einem schweren Vorhang aus dunkelrotem Samt verschlossen war. »Hier, Herr.« Sie bedeutete ihm einzutreten, setzte selbst aber keinen Fuß über die Schwelle.
So eine prüde Gans, dachte Hornbori, schob den Vorhang zur Seite, und der sinnliche Duft von Sandelholz umfing ihn. Dieses Gemach kannte er noch nicht. Alle Wände waren mit rotem Samt drapiert. Ein gewaltiges Bett mit vier in sich gedrehten Pfosten aus Ebenholz beherrschte die Höhle. Auch die Kissen und Decken waren aus rotem Samt. Ein wohliges, warmes Gefühl füllte Hornboris Magen.
Amalaswintha saß vor einem hohen Spiegel aus poliertem Silber und kämmte ihr Haar. Sie wandte ihm den Rücken zu, hatte die Tür aber durch den Spiegel im Blick.
»Ein ausgefallenes Geschenk.«
Wie er ihre rauchige, sinnliche Stimme liebte. »Wie könnte ich weniger als das Erlesenste als Morgengabe für die erlesenste unter allen Damen bringen.«
Sie lachte leise. »Ich gestehe, dass ich deine Schmeicheleien ein wenig vermisst habe. Kein anderer Zwerg versteht sich so auf schöne Worte wie du.« Sie fuhr mit einem Kamm aus Knochen durch ihr langes, schwarzes Haar. Auch der Stuhl, auf dem sie saß, schien aus verleimten Knochen gefertigt zu sein. Sie hatte lasziv ein Bein über die Lehne geschwungen. Ihr langes, schwarzes Kleid war dabei hochgerutscht.
»Komm schon.« Endlich wandte sie sich ihm zu und betrachtete ihn nicht nur im Spiegel. Die Rückkehr in die Ehernen Hallen hatte ihr gutgetan. Ihr Gesicht war wieder voller, die dunklen Ränder unter ihren Augen verschwunden. »So zögerlich?« Sie winkte ihm neckisch zu. »Hat deine neue Macht dich prüde gemacht? Beim letzten Mal bist du regelrecht über mich hergefallen.« Sie streckte ihr linkes Bein in seine Richtung. »Komm, du darfst mir einen Strumpf ausziehen.«
Hornbori wurde es heiß unter seinem Wams. Er trat vor und kniete nieder. Voller Vorfreude griff er unter ihr Kleid, weit die Schenkel hinauf, bis er den Saum des Wollstrumpfs fand. Vorsichtig rollte er den Strumpf über das Knie hinab, ganz darauf bedacht, die Innenseite ihres Schenkels zu liebkosen.
Amalaswintha nahm ihr Bein von der Stuhllehne, sodass ihr Kleid über seinen Kopf glitt. Gefangen in warmem Dunkel, begann er ihre zarte Haut zu küssen und genoss den Duft, den ihr Schoß verströmte.
Er ergab sich eine ganze Weile ihren Reizen, bis Amalaswintha das Kleid wieder anhob. »Lass uns zum Bett gehen«, sagte sie mit ihrer unvergleichlich lasziven Stimme, der er so sehr verfallen war. Sie öffnete sein Wams, streifte es ab und warf es zur Seite, während er mit den kleinen Knöpfen ihres Kleides kämpfte. Endlich waren ihre Brüste freigelegt. Er drückte Amalaswintha aufs Bett nieder und begann sie aufs Neue zu küssen, während sie mit kundiger Hand den Gürtel seiner Hose löste.
Wie sehr hatte er sich nach ihr gesehnt! Nach ihrem warmen Fleisch. Ihrer Leidenschaft. Ihrer … Der Vorhang am Eingang wurde geräuschvoll zurückgerissen, und ein unartikulierter Wutschrei hallte von den samtdrapierten Wänden.
Halb benommen vor Lust, drehte Hornbori sich um und wurde sofort ganz klar. Im Eingang stand Eikin, der Alte in der Tiefe, Fürst der Ehernen Hallen. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Er zog seine Axt, doch einer der Krieger hinter ihm fiel ihm in den Arm.
»Du Natter«, schrie der Zwergenfürst.
Hornbori hob beschwichtigend die Hände. Fast hätte er es ist nicht, wie es scheint gesagt, doch dann wurde ihm klar, dass diese Situation an Eindeutigkeit kaum zu überbieten war. »Ich war nicht bei Sinnen«, stammelte er stattdessen. »Ich konnte ihr nicht widerstehen. Sie …«
»Er ist über mich hergefallen, mein Fürst!«, unterbrach ihn Amalaswintha entschieden. »Gut, dass Ihr gekommen seid, mein Fürst.«
»Aber …«, begann Hornbori.
»Schweig«, schrie ihm der Fürst zornbebend entgegen. Feine Speicheltropfen sprühten dabei von seinen Lippen. »Los, Männer! Packt dieses verräterische Stück Scheiße. Wie einen eigenen Sohn habe ich ihn aufgenommen, und nun hintergeht er mich, dieser elende Hurensohn. Schafft ihn mir aus den Augen und sperrt ihn weg! Und schwört bei eurer Ehre, dass niemand erfahren wird, was ihr hier gesehen habt.«
Die Wachen zerrten Hornbori aus dem Bett. »Ich kann das alles erklären! Es ist nicht so, wie es scheint!« Jetzt war der Schwachsinn doch über seine Lippen. Eikin trat vor ihn und verpasste ihm einen Fausthieb in die Magengrube.
»Ich habe mir schon zu lange dein Geschwätz angehört!« Er wandte sich an die beiden Wachen, die Hornbori festhielten. »Ihr werdet ihn weder verprügeln noch schneidet ihr ihm seinen verdammten Schwanz ab, der so gerne herumwildert, wo er nichts zu suchen hat. Sperrt ihn einfach weg. Zu gegebener Zeit werde ich ein Urteil über den Dreckskerl fällen.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, verpasste er Hornbori noch einen zweiten Fausthieb in den Magen. Für sein Alter war er erschütternd stark.
»Ich …« Hornbori wurde aus dem Zimmer gezogen. Er gab es auf, gegen die Wachen anzukämpfen. Ihm war übel, und er befürchtete, sich jeden Augenblick zu übergeben.
Amalaswintha schob den haarigen Arm des Alten in der Tiefe von ihren Brüsten. Der Herrscher der Ehernen Hallen lag neben ihr und schnarchte mit weit offenem Mund. Sein grauer Bart war mit Tabakflecken gesprenkelt. Seine gelben Zähne standen ihm schief im Maul. Selbst jetzt, wo sie auf Armeslänge entfernt lag, roch sie noch den Fischgestank aus seinem Schlund. Beim Gedanken an die leidenschaftlichen Küsse, die sie getauscht hatten, wurde ihr übel.
Er besuchte sie regelmäßig, seit sie zurückgekehrt war, und sie gaukelte ihm vor, was für ein leidenschaftlicher Stier er noch sei. Es fehlte ihm auch keineswegs an Kraft und Ausdauer; wenn er sich nur öfter waschen würde und nicht vor dem Liebesspiel jedes Mal Heringe in sich hineinschaufeln würde. Ob er wohl dachte, die Fische würden ihm helfen, im Bett seinen Mann zu stehen?
Die Narben etlicher Kämpfe schmückten seine breite Brust. Hornbori war ganz anders. Er war stets gewaschen gekommen, hatte sich Duftöl in den Bart und die Haare gerieben. Sein Atem stank nie. Er war leidenschaftlich und zärtlich zugleich, hatte sich nicht einfach auf sie geworfen und losgelegt, sondern Spaß daran gehabt zu erkunden, wie er ihr Lust bereiten konnte. Er war eitel. Manchmal ein Schwätzer und doch unterhaltsam. Wie er seine Kameraden für seinen Aufstieg geopfert hatte, hatte sie schockiert. Sie hatte lange darüber gegrübelt. Das hätte sie besser nicht getan. Am Ende war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie an seiner Stelle vielleicht dasselbe getan hätte.
Eikins Schnarchen wurde von einem gurgelnden Laut unterbrochen, und er legte ihr wieder den Arm über die Brust. Der Fürst war von Hornbori regelrecht überrollt worden. Mit seinem Charme und seinen Drachentötergeschichten hatte er in wenigen Tagen den Rat der Ältesten für sich eingenommen.
Den Titel Bewahrer der Goldenen Axt hatte Eikin eigens für Hornbori ersonnen. Er war nur Schall und Rauch, es hatte ihn zuvor gar nicht gegeben. Aber Hornbori hatte es verstanden, etwas daraus zu machen. Nicht einmal zwei Wochen hatte er dafür gebraucht. Er hatte Talent. Zu viel davon. Genauso dachte auch Eikin. Er war zutiefst beunruhigt über die rasch wachsende Popularität Hornboris im Rat. Darüber, wie leicht es ihm gefallen war, den Besitz der verloschenen Sippen aus der Tiefen Stadt an sich zu reißen. Darüber, wie er in die Zirkel der Mächtigen eingeladen wurde.
Bei ihrem letzten Treffen hatte Eikin ihr anvertraut, dass er befürchtete, Hornbori könne selbst das Amt des Alten in der Tiefe anstreben.
Der Fürst stieß einen besonders lauten Schnarcher aus, dann verharrte er still. Plötzlich richtete er sich auf und sah sie an. Er zwinkerte, dann kicherte er, was ihn erschütternd senil wirken ließ. »Das haben wir gut gemacht.«
Amalaswintha war sich nicht ganz sicher, ob er die Liebesnacht meinte oder das, was zuvor vorgefallen war. Sie zog es vor, den Ausspruch auf Hornbori zu beziehen. »Was wirst du mit ihm tun?«
»Ihn weiterempfehlen.« Eikin lachte in sich hinein. »Der Bastard hat es in der kurzen Zeit so weit gebracht, dass ich mit ihm nicht mehr tun kann, was ich gerne möchte. Meine Macht bröckelt. Dass Bailin davongelaufen ist … Und diese drei, die gar nicht mehr leben sollten, entkommen sind … Glaubst du, ich hätte das Todesurteil gerne gefällt? Das gehört zu den Pflichten, wenn man es ernst nimmt, der Schirmherr seines Volkes zu sein. Ich beschütze sie vor dem Übel. Und Galar und Glamir, die waren das Übel! Ich weiß nicht, ob du in ihre Pläne eingeweiht warst. Aber die Ehernen Hallen wären genauso im Drachenfeuer vergangen wie die Tiefe Stadt, wenn ich sie nicht aufgehalten hätte. Es ist meine Pflicht, für mein Volk zu sorgen, auch wenn mein Volk gar nicht versteht, was ich tue. Ja, wenn man mich sogar dafür hasst, wie ich mit Helden umgehe.«
»Ich verstehe nichts von dem, was du sagst.«
Der alte Fürst sah sie durchdringend an. »Du hast schon besser gelogen. Ich wette, du hast mit ihnen allen im Bett gelegen. Sogar mit Galar und sei es nur aus Neugier.«
»Wie kannst du das glauben?«, empörte sie sich.
»Du gehst mit mir altem Stinker ins Bett. Du küsst mich, sogar wenn ich müffle wie ein Fass alter Heringe. Hältst du mich für so dumm? Du könntest jeden Zwerg in diesem verdammten Berg haben. Warum also ich? Bestimmt nicht, weil ich so unvergleichlich gut im Bett bin. Da hättest du besser Hornbori hierbehalten, statt mir deine Magd Lamga zu schicken. Versteh mich nicht falsch, ich weiß es zu schätzen. Ich war überaus erfreut, als du zu mir kamst und vorgeschlagen hast, Hornbori auf diese Weise ans Messer zu liefern. Ich kann ihm zwar leider nicht den Kopf abhacken, aber jeder in der Stadt wird verstehen, wenn ich ihn verbanne.«
»Du hast deinen Wachen doch Stillschweigen befohlen.« Amalaswintha schwang sich aus dem Bett und ging zu dem Tischchen, auf dem der rote Barinstein glühte. Daneben stand eine Karaffe mit süßem Rotwein. Sie machte sich nicht erst die Mühe, ein Glas zu füllen, sondern trank direkt aus der Kristallkaraffe.
»Wachen und Waschweiber«, lamentierte Eikin. »Vertrau ihnen ein Geheimnis an, und binnen zwei Tagen weiß es der ganze Berg. Und genau so sollte es sein. Keiner wird sich wundern, wenn ich Hornbori die Ehre erweise, sich dem Heer der Alben anzuschließen. Ich werde betonen, dass er ein großer Held ist.«
»Ein Drachentöter?«
Eikin lachte. »Nein, ein hervorragender Krieger, der ein Kommando über die besten Truppen verdient hat. Ich möchte doch nicht sein Verderben.«
»Und wenn er als noch größerer Held wiederkehrt? Wird er dann nicht noch gefährlicher?«
Eikin schwang die Beine aus dem Bett, kam zu ihr herüber, nahm ihr die Karaffe aus der Hand und tat selbst einen tiefen Schluck. »Ein Held? Ich glaube, er ist allenfalls ein Maulheld. Weißt du, was richtige Krieger mit so einem machen, wenn er plötzlich das Kommando über sie führt? Sie sorgen dafür, dass er im nächstbesten Gefecht einen Unfall hat. So einer muss seine eigenen Männer mehr fürchten als den Feind.«
Kurz bedauerte Amalaswintha Hornbori. Nicht zu sehr. Eine einzige Zwergenstadt war einfach zu klein für zwei mit so großen Ambitionen. Aber er war ein guter Liebhaber gewesen. Sie würde zu den Alben beten, dass er einen schnellen Tod fand.
»Drei oder vier Tage waren wir marschiert, als das große Sterben begann. Es war eine gar schreckliche Einöde, durch die wir zogen. Keinen Baum gab es, keinen Strauch. Nur Eis und Fels. Es gab nichts mehr, um nachts Feuer zu machen. Immer mehr Kameraden setzten sich einfach am Wegesrand nieder und warteten darauf, dass der Tod zu ihnen kam. Doch oft war es nicht der Frost, der ihr Leiden beendete. Jene, die noch mehr Kraft und Willen besaßen, plünderten sie, während sie noch lebten. Stahlen ihr Essen und ihre Kleider. Decken und Mäntel, Felle, die sie sich um die Beine wickelten, und Mützen, die vor dem eisigen Wind schützten. So wurden sie nackt ihrem Schicksal überlassen.
Anfangs geschah das Plündern nur nachts. Aber nach einigen Tagen wurden die Sterbenden auch am helllichten Tag und vor aller Augen beraubt. Und fast niemand scherte sich darum. Kaum einmal erhielten sie Hilfe. Jeder kämpfte nur noch für sich selbst.
Umso mehr stachen die Ausnahmen ins Auge. Gelegenheiten, bei denen sich Selbstlosigkeit und Heldenmut zeigten. So bei den Männern von den Schwimmenden Inseln. Ihnen setzte die Kälte mehr zu als allen anderen, denn in ihrer Heimat kannten sie keinen Winter.
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Krieger bei jeder Rast und zum Nachtlager um den Unsterblichen Keanu versammelten. Sie drängten sich alle dicht aneinander zu einem großen Kreis und nahmen den Unsterblichen in ihre Mitte, sodass sie einander wärmten und sich vor dem Nordwind schützten, der die bösen Geister brachte.
Denn sie waren das schlimmste Übel! Zu jeder Stunde an jedem Tag setzten sie uns zu. Ihre Berührung brachte den Tod. Und töteten sie nur genug von uns, dann wurden aus den Geistern Gestalten aus Fleisch und Blut.
In Fleisch gekleidet waren sie aber auch verwundbar. So sah ich, wie der Unsterbliche Ansur, Günstling des Lebenden Lichts und Herrscher meiner Heimat, mit dem Schwerte eines dieser Ungeheuer anging und es erschlug. Nie werde ich diesen Heldenmut vergessen, der auch die Herzen der Verzagten höher schlagen ließ.
Den höchsten Ruhm aber erwarb sich nicht ein Krieger, ja, nicht einmal ein Mann. Es war ein Weib, das alle nur die Trösterin nannten. Sie war stets bei den Letzten der Marschkolonne, dort, wo es am gefährlichsten war. Sie kümmerte sich um die Verwundeten, die Kranken und Erschöpften. Ohne Ansehen von Rang und Volk. Alle, mit denen ich gesprochen habe, haben Geschichten über sie gehört. Ihr Ruhm überstrahlte den eines jeden Unsterblichen. Sie war eine Heilige für uns.
Nach meiner Rückkehr habe ich sie gesucht. Auch andere wollten sie aufspüren und ihr danken. Doch die, die so vielen das Leben rettete, vermochte sich zuletzt wohl selbst nicht zu helfen. Ihre Spur verlor sich in den letzten Tagen des Rückzugs. Alles, was blieb, war ihr Name. Die Trösterin. Und ich weiß, dass heute noch Männer auf allen Kontinenten ihren Namen in ihre Gebete einschließen, wenn die Nacht kommt und in der Dunkelheit die Schrecken der Vergangenheit wieder aufleben (…)«
Aus den Augenwinkeln sah Shaya die beiden Streitwagen der Daimonen. Sie folgten den Nachzüglern schon den ganzen Vormittag. Hin und wieder kamen sie näher, schossen zwei oder drei Pfeile ab und zogen sich wieder zurück. Jedes ihrer Geschosse fand ein Ziel. Ihre Treffsicherheit war ebenso unheimlich wie die Tatsache, dass weder ihren Pferden noch der Besatzung des Streitwagens die Kälte etwas anzuhaben vermochte.
Shaya beugte sich über einen Krieger von den Schwimmenden Inseln. Es war ein großer, stattlicher Mann, der sicher noch ein langes Leben vor sich gehabt hätte, wäre er nicht seinem Unsterblichen in diese verfluchte Eiswüste gefolgt. Er hatte sich Streifen von zerschnittenen Decken um die Beine und Füße gewickelt und eine Decke, in deren Mitte er ein Loch geschnitten hatte, über den Kopf gezogen und mit einem Seil in Hüfthöhe festgezurrt. Darunter trug er nur eine dünne Tunika. Das war zu wenig, um der schneidenden Kälte zu widerstehen.
Sein Atem ging rasselnd. Er hatte eine Lungenentzündung und hohes Fieber. Würde man ihn in ein geschütztes Lager bringen, würde Shaya ihn ganz sicher retten können. Doch hier draußen … Selbst seine eigenen Kameraden waren an ihm vorübergegangen. Sie waren zu schwach, um ihn zu tragen. Also blieb er zurück.
Sie strich ihm sanft über das tätowierte Gesicht. Es zeigte das Bild eines Fisches mit weit aufgerissenem Maul. Seitlich an den Schläfen waren Augen unter die Haut gestochen. Ein Bild zum Fürchten. Aber dieser Mann hatte nichts Schreckliches mehr an sich. Er war kein Schwächling, aber er würde sterben. Nur würde sein Tod wie sein Leben sein, ein langer Kampf. Sie konnte ihm das Gehen erleichtern.
»Möchtest du schlafen?«
Seine rot entzündeten Augen wandten sich ihr zu. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Doch in seinem Blick lag Zustimmung.
Sie rollte das Tuch auf, in dem ihre goldenen Nadeln steckten. Ihr kostbarster Besitz. Durch Shen Yi Miao Shou wusste sie um die Geheimnisse der richtig gesetzten Nadeln und ihre Macht. Shaya tastete nach dem Punkt, der drei Fingerbreit hinter seinem rechten Ohr lag. Die Nadel war leicht zu setzen. Der Schädel des Kriegers war kahl geschoren.
Leise summte sie ein Schlaflied aus ihrer Kindheit. Es dauerte keine dreißig Herzschläge, bis die Lider des Kriegers sanken. Er atmete tief und regelmäßig durch den Mund. Es war ein Schlaf, aus dem es in dieser Kälte kein Erwachen für ihn mehr geben würde.
Shaya hatte einmal gehört, dass einen schöne Träume in den Erfrierungstod begleiteten. Hoffentlich stimmte das, dachte sie betrübt. Auch wenn sie sich als Heilerin verstand, so schenkte sie in diesen Tagen doch viel öfter den Tod als das Leben.
Ein Schatten fiel auf sie. Vor ihr stand ein Jaguarmann. Ein schwarzer Umhang war sein einziges Zugeständnis an die Kälte. Shaya hoffte, dass er vernünftig genug war, das schwarze Fell, das er trug, mit Lumpen unterfüttert zu haben.
»Erweist du mir dieselbe Gnade, wenn meine Stunde kommt?«
»Ich hoffe, das wird nicht notwendig sein.«
Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. »Das hoffe ich auch. Nun komm … Du bist zu weit hinten. Du wirst den Anschluss an die Nachhut verlieren, wenn du hier weiter verweilst.«
Einige andere Jaguarmänner huschten vorüber. Sie waren wie lebende Schatten. Jedes Mal, wenn Shaya einen von ihnen sah, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Sie hatten etwas an sich, das sie von allen anderen Menschenkindern unterschied. Und das war nicht nur ihre Verkleidung …
Behutsam zog Shaya die goldene Nadel. Der tätowierte Krieger erwachte nicht. Immer noch ging sein Atem regelmäßig. »Schlaf wohl«, sagte sie leise und schob die Nadel wieder in das rote Seidentuch. Dann rollte sie es zusammen und verstaute es sorgsam in einem Lederbeutel. »Wie ist dein Name, Jaguarmann.«
»Necahual.«
»Ich werde ihn in mein Schlaflied aufnehmen, wenn deine Stunde gekommen ist, Necahual.« Sie wog den fremden Namen auf der Zunge. Er passte gut zu dem Mann mit dem harten Gesicht, der vor ihr stand.
»Nun kommt!« Er sagte es ohne Hast und ohne unfreundlich zu klingen, aber doch auf eine Art, die keinen Widerspruch duldete. Er war dazu geboren, Befehle zu geben. Er hatte es sein ganzes Leben lang getan. Es war seine Art geworden. Seine Selbstsicherheit hatte etwas Beruhigendes.
»Du siehst ausgezehrt aus. Hast du genug zu essen?«
Shaya schüttelte den Kopf. Ein ganzer Tag war vergangen, seit sie einen Kanten trockenen Brots als Mahl gehabt hatte. Necahual schob die Krallen zurück, die über seine Hand hinausragten, und fasste durch eine seitliche Öffnung im Fell, das seine Brust umschloss. Er zog einen Streifen Trockenfleisch hervor und reichte ihn ihr. Er war noch warm von seinem Körper. Dankbar nahm Shaya das Geschenk an.
Ein schriller Schrei ließ die Heilerin erschrocken auffahren. Ninwe kam ihnen entgegengelaufen. Ihr offenes, rotes Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her. Voller Panik, immer wieder hinter sich blickend, stürmte sie den Hang eines flachen Hügels hinab und hüpfte dabei seltsam. Shaya war schon seit zwei Tagen aufgefallen, dass es ihrer Freundin schwerfiel zu gehen. Ninwe hatte es überspielt und machte Witze über ihre kleinen, zarten Füße. »Sie sind da! Vor uns!«, schrie sie nun und geriet ins Straucheln. Mit den Armen rudernd, stürzte sie in den Schnee und rollte ein Stück den Hang hinab.
Shaya eilte zu ihr. »Alles in Ordnung?«
Ninwe schüttelte sich. Dann klopfte sie den Schnee aus ihrem kostbaren Pelzmantel. »Die Geister! Sie … Sie sind vor uns. Wir sind verloren. Sie …« Ihre Stimme brach. Sie brachte nur noch Schluchzer hervor.
Necahual schickte mit einer Handbewegung einen seiner Jaguarkrieger den Hang hinauf. Der Mann schlich bis zum Hügelkamm, verharrte kurz und kam dann eilig zu ihnen zurück. Ruhig erstattete er seinem Anführer Bericht.
»Im Windschatten des Hügels lagern über hundert Erschöpfte. Die Windgeister sind über sie hergefallen. Sie speisen … Wir müssen schnell weiter.«
Shaya betrachtete das zerklüftete Gelände abseits des Weges. Es war von Felsabbrüchen durchsetzt.
»Mach dir keine Sorgen, Trösterin. Wir werden entlang des Hügelkamms gehen. Wir meiden die Senke dahinter.«
»Aber wenn wir auf dem Kamm die Senke umrunden, werden die Geister uns sehen.«
Necahual lächelte selbstsicher. »Sie sind wie Raubtiere. Solange sie fressen, ist ihnen andere Beute egal. Wir dürfen sie nur nicht bei ihrem Mahl stören. Komm!«
Mit einem unguten Gefühl sah Shaya zum Hügel hinauf. Sie erinnerte sich an Wolfsjagden in ihrer Jugend. Fressende Wölfe waren zwar darauf bedacht, ihre Beute zu sichern, aber nicht wirklich angriffslustig, wenn man sie in Ruhe ließ. Aber hier ging es nicht um Wölfe.
Ninwe war leicht schwankend wieder auf die Beine gekommen. Ihr Hinken war nicht mehr zu übersehen. Ob sie sich beim Sturz noch zusätzlich verletzt hatte? Sie trug gute, hohe Stiefel, mit einer breiten Pelzstulpe um die Knie.
»Wir werden sie zurücklassen müssen. Sie ist zu langsam. Mit ihr zusammen werden wir die Nachhut nicht einholen, bevor die Geister ihr Mahl beendet haben.«
»Sie ist meine Freundin. Ich werde sie nicht im Stich lassen. Wenn sie zurückbleibt, dann werde auch ich die Nachhut nicht erreichen.« Shaya nahm Ninwe in die Arme und hörte, wie Necahual leise in seiner Muttersprache fluchte.
»Sie sind …«, begann Ninwe wieder. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Atem ging schwer.
»Ssshh.« Shaya legte ihr eine Hand auf die Lippen. »Sie werden uns nichts tun. Die Jaguarmänner werden uns beschützen.«
»Die finde ich fast genauso unheimlich wie die Geister«, flüsterte die dicke Hure. »Warum flucht der Kerl?«
»Weil er mich nicht ins Bett bekommen wird«, entgegnete Shaya lachend.
»Wenn er uns in Sicherheit bringt, darf er bei mir mal umsonst.« Ninwe sagte das so niedergeschlagen, als hätte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Geister sie alle töten würden.
Shaya hakte sich bei ihr unter. »Na, dann werde ich heute Abend wohl zwei Decken für euch besorgen müssen.«
Ihre Freundin antwortete nicht darauf, sondern sah sie einfach nur traurig an.
Gemeinsam stiegen sie den Hang hinauf, als Necahual sie mit seinen vier Kriegern einholte.
»Wir tragen das Rothaupt!«, sagte er entschieden. »Aber nur bis wir zur Nachhut aufgeschlossen haben.« Zwei seiner Männer hielten einen Speer zwischen sich und machten Ninwe Zeichen, sich auf den Schaft zu setzen. Mit je einer Hand hielten sie die Waffe, mit der anderen stützten sie die Hure, als sie Platz nahm. Dann eilten sie zügig dem Hügelkamm entgegen.
Ninwe jauchzte vor Freude, schlang ihren beiden Trägern die Arme um den Nacken und gab dem Rechten einen schmatzenden Kuss auf seinen Jaguarhelm.
»Sei still, Weib!«, schimpfte Necahual. »Wir wollen die Geister nicht unnötig auf uns aufmerksam machen!« Dann wandte er sich an Shaya. »Ich tue das für dich, nicht für sie. Wir dürfen dich nicht verlieren. Du bist der größte Schatz all derer, die keine Hoffnung mehr haben, Trösterin. Nun komm und lass uns zu den Göttern beten, dass die Geister ihren Schmaus noch nicht beendet haben.«
Als sie den Kamm erreichten, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. Zwei-, vielleicht sogar dreihundert Flüchtlinge hatten in der lang gezogenen Senke, die Schutz vor dem eisigen Nordwind bot, Zuflucht gesucht. Am Grund der Senke gab es eine heiße Quelle, über der Nebel wogte. Dort war der Schnee geschmolzen, und die Sterbenden drängten sich dicht an dicht, wie Heringe in einem Fass. Einige waren gar in das warme Wasser gestiegen. Ihre Körper trieben nun reglos, die Gesichter nach unten gewandt.
Im Wasser standen zwei der riesigen Gestalten, wie Shaya sie auch schon bei der Brücke gesehen hatte. Sie waren fast vier Schritt groß und völlig nackt. Sah man über die fahlgrüne Haut hinweg, erinnerten ihre Körper an sehr schlanke Menschen. Nur die Köpfe waren ganz anders. Haarlos, nach hinten gekrümmt und von Knochenspiralen umgeben, waren sie mit nichts zu vergleichen, was die Kriegerprinzessin je gesehen hatte. Aufmerksam verfolgten die beiden Kreaturen aus riesigen, schwarzen Augen jede ihrer Bewegungen auf dem Hügelkamm.
Wie gebannt starrte Shaya auf den grünen Rauch, der durch den Nebel über der Quelle wogte. Er verhielt sich widernatürlich, bildete Tentakel, die ans Ufer nach den Erschöpften griffen. Ja, es sah so aus, als würden sie etwas aus den Menschen herauszerren. Einen zähen, leuchtenden Honig, der den Sterbenden aus Mund und Nase troff, während sie auf herzzerreißende Weise stöhnten. Dabei wurde der Rauch immer dichter, bis sich daraus schließlich weitere Körper wie die der beiden Kreaturen formten.
»Nicht hinsehen«, drängte Necahual. »Deine Seele wird Schaden nehmen, wenn du zu genau siehst, was dort vor sich geht.«
»Aber wir müssen doch …« Shaya brach ab. Nein, was sie fordern wollte, war blanker Unsinn. Sie konnten denen dort unten nicht helfen.
Niedergeschlagen ging sie zwischen den Jaguarmännern, die lautlos über den Hügelkamm huschten. Necahual hatte recht. Sie würde nie mehr vergessen, was sie da unten gesehen hatte. Allerdings gab es ihr auch die Gewissheit, dass sie das Richtige tat, wenn sie ihre goldenen Nadeln benutzte, um die Unrettbaren in den Tod hineinschlafen zu lassen.
Necahual hatte Wort gehalten und sie und Ninwe zur Nachhut gebracht. Shaya war von vielen bereits erwartet worden. Es gab für sie einen Platz am einzigen Feuer, das sie entdecken konnte. So wie an den Abenden zuvor kochte sie einen Sud aus ihren Kräutern, der jenen, deren Atem rasselnd ging, ein wenig Erleichterung verschaffte. Mehr und mehr Männer drängten zu dem Feuer. Es reichte bei Weitem nicht für alle, und Shaya musste ihre Kräuter einteilen. Für mehr als zwei Tage würden sie ohnehin nicht mehr reichen.
Mit harschen Worten befahl sie den andrängenden Männern, Ordnung zu halten und eine Reihe zu bilden, während sie mit einer Kelle ihren Sud in flache Schüsseln schöpfte.
»Sie bevorzugt die Männer aus Aram und Luwien«, rief jemand in der Sprache der Ischkuzaia, ihrer Muttersprache. »Seht nur, wem sie ihren Heiltrunk gibt! Seht genau hin! Seht ihr einen einzigen Mann aus Ischkuza dort? Wir sind es, die den Kopf hinhalten. Wir sichern die Flanken und bekommen die meisten Pfeile der Daimonen ab. Und was ist unser Lohn? Wir können zusehen, wie den anderen geholfen wird. Ich sage, uns gebührt der erste Platz in der Reihe!«
»Halt’s Maul!«, rief ein stämmiger Drusnier mit krächzender Stimme, der den Kessel schon fast erreicht hatte. »Wer spät kommt, steht eben hinten an.«
Ein kleiner, drahtiger Krieger kam wutentbrannt die Schlange der Wartenden entlanggelaufen. »Sag mir das ins Gesicht, rotbärtiger Drecksack. Ich bin spät, weil ich eben noch mit Daimonen gekämpft habe. Wann hast du zum letzten Mal deine Waffen erhoben. Hast du überhaupt noch Waffen?«
Der Drusnier schob seinen Umhang zurück und zeigte die große Axt mit Bronzekopf, die in seinem Gürtel steckte. »Geh nach hinten, oder meine Goldene küsst deine Stirn.«
Weitere Gestalten lösten sich aus der Schlange der Wartenden und bauten sich drohend vor dem Steppenreiter auf.
»Verpiss dich, du Pferdearsch!«, fauchte der Drusnier.
Sein Gegenüber stieß einen schrillen Pfiff aus, und aus dem Dunkel erschienen mehrere Berittene, die lange Speere quer über die Sättel gelegt hatten.
Shaya trat von der Feuerstelle zurück. Sie war zu müde, um zu schlichten. Es war nicht der erste Streit, den sie auf dem Rückzug erlebte. Je weniger es von allem gab, desto entschlossener waren jene, die noch bei Kräften waren, sich alles zu nehmen, was sie zum Überleben brauchten.
Die Pferde der Steppenreiter waren abgemagert. Verklumpter Schnee hing von ihren struppigen Mähnen. Sie würden nicht mehr lange durchhalten. Hier in der Eiswüste gab es keinen einzigen Grashalm zu finden. Nur wer Heubündel oder Hafer mit in dieses Schneeland gebracht hatte, konnte hoffen, sein Pferd durchzubringen.
Der Drusnier zog seine Axt aus dem Gürtel, und Shaya sah zu, dass sie ein Stück von der Feuerstelle fortkam.
»Komm her, Pferdeschänder. Ich spalte dir gerne den Schädel, du …« Ein Pfeil schlug durch den roten Bart des Drusniers in dessen Brust. Er starrte ungläubig auf das Geschoss, das zitternd zwischen seine Rippen gefahren war. Blut trat ihm auf die Lippen.
»Na, hat es dir die Sprache verschlagen«, höhnte der Steppenreiter, zog seine Dornaxt aus dem Gürtel und kam gelassenen Schritts auf den sterbenden Krieger zu.
Der Drusnier brach in die Knie. Dann, in einer letzten, verzweifelten Anstrengung, hob er seine Axt.
»Jämmerlich!«, spottete der Reiter. »Glaubst du, du könntest noch kämpfen?«
Doch das hatte der Drusnier gar nicht vor. Er führte einen wuchtigen Schlag nach dem Kessel, der vom Feuer stürzte, sodass sich der Rest des Suds darin zur Hälfte in die Flammen und zur anderen Hälfte in den zu Matsch zertrampelten Schnee ergoss.
»Du Arsch!« Die Dornaxt des Steppenreiters fuhr nieder und durchschlug mühelos die Stirn des Drusniers, der mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen starb.
Nun brach endgültig das Chaos aus. Einige der Krieger aus der Schlange der Wartenden warfen sich auf die Ischkuzaia, zerrten sie von den Pferden und rangen sie nieder, während andere die Reittiere zu Boden warfen und sie bei lebendigem Leib zu zerlegen begannen. Mit Dolchen und Schwertern wurde um die Brocken dampfenden Pferdefleischs gerungen. Todesschreie und Schreie überschäumender Wut gellten durch die Nacht.
Einige Männer krochen auf allen vieren um das kleine Feuer und schaufelten sich Matsch in die Münder, in der Hoffnung, noch ein wenig des heilenden, warmen Suds aufzunehmen.
Ein hagerer Krieger mit weißen Stoppeln auf den Wangen stand vor dem umgestürzten Kessel, eine flache Schale in den Händen. Tränen rannen ihm über das Gesicht. Er wäre als Übernächster an der Reihe gewesen, hätte es den Streit nicht gegeben. Sein Anblick berührte Shaya mehr als der der streitenden Männer oder jener, die wie Hunde im Schlamm krochen. Der Alte hatte ein hartes Gesicht. Er war ganz sicher niemand, der oft in seinem Leben geweint hatte.
Erschüttert wandte sie sich ab. Müde suchte sie nach Ninwe, die man vorher nicht ans Feuer gelassen hatte und die sich irgendwo im Dunkel zwischen all den anderen frierenden Schatten einen Platz für die Nacht gesucht hatte. Shaya fühlte sich so müde wie nie zuvor in ihrem Leben. Es waren nicht nur die körperliche Erschöpfung und der Hunger. Die Ereignisse bei der Feuerstelle hatten ihren letzten Glauben zerstört. Wie konnte man so dumm sein! Es war ohnehin viel zu wenig da. Und statt von diesen kümmerlichen Reserven sinnvollen Gebrauch zu machen, war die Hälfte ihres Suds einfach vergossen worden. Es war wie eine Parabel auf das, was hier geschah. Es waren nicht nur die Geister und die Daimonen, die sie töteten. Sie waren Opfer ihrer eigenen Überheblichkeit geworden, weil die Unsterblichen geglaubt hatten, sie könnten ihre Heere in diese Einöde führen, um einen leichten Sieg zu erringen und dann unbehelligt wieder abzuziehen. Was hier in der Eiswüste geschah, war wie der Streit um den Kessel dampfenden Suds, nur dass es sich in tausendfach größerem Maßstab abspielte.
Sie fand Ninwe zusammengerollt im Schnee. Trotz ihres guten Pelzmantels schlotterte sie vor Kälte und hatte noch keinen Schlaf finden können. Shaya gab ihr das halb gegessene Trockenfleisch, das sie von Necahual geschenkt bekommen hatte. »Iss was.«
Ninwe lächelte sie dankbar an. Blanker Schweiß stand ihr auf dem Gesicht. Hätte sie nur etwas von dem Sud für sie retten können.
Shayas letzte Gedanken galten, wie an jedem Abend, Aaron. Könnte sie nur zu ihm! Er wurde von seiner Leibwache getragen. Es hieß, er erhole sich bereits von seinen Wunden. Sie betete, dass es stimmte. Er wagte stets zu viel und achtete nie auf sich. Eines Tages würde sich sein Glück erschöpfen. Mochten die Götter geben, dass dieser Tag noch in weiter Ferne lag. Mit diesem stummen Gebet glitt sie, an Ninwe gekauert, in einen unruhigen Schlaf.
»Weiter!«, befahl Bidayn. »Gleich ist es geschafft, nur ein kleines Stück noch.«
Graumur, der Minotaur, und sein Kamerad, ein weiteres, stierköpfiges Ungeheuer, fluchten, als sie mit den schweren Stangen hantierten, die das Dach aus schwarzem Stoff trugen.
»Über die Tür damit. Und lasst es herunterklappen, dass es die Lücke zur Mauer hin schließt. Ja, so ist es gut!«
Die beiden Minotauren standen an den beiden Enden des Hofs vor der Mauer, die diesen zur Gasse hin abschloss. »Außen an der Mauer sind Haken, und in den Rand der Plane sind Messingösen geschlagen. Spannt die Plane straff, damit sie nicht durchhängt.«
Graumur wischte sich mit dem Arm über die haarige Stirn. »Und was hat das alles zu bedeuten? Warum versteckt Ihr den Hof unter einer Plane, Herrin.« Es fiel ihm schwer, sie als Herrin anzuerkennen. Er versuchte erst gar nicht, seine Stimme zu verstellen und freundlich zu klingen.
»Ich möchte nicht, dass man von den Dächern der Nachbarhäuser aus sehen kann, was auf dem Hof vorgeht.«
Der alte Stiermann zog eine Grimasse. »Und warum nicht? Was gibt es hier zu verstecken?«
»Wenn ich wollte, dass darüber getratscht wird, dann bräuchte ich die Plane nicht.«
Graumur schnaubte bedrohlich. »Ich bin kein Tratschmaul!«
»Du säufst, und wer trinkt, redet auch zu viel.«
Seine Augen wurden schmal. »Ich weiß nicht, was du mit Shanadeen gemacht hast, aber mich schüchterst du nicht ein, kleine Herrin. Du wirst …«
Bidayn wirbelte herum und versetzte ihm einen Tritt seitlich neben die Kniescheibe, dass sein Gelenk krachte. Er stöhnte auf, brach nieder, wollte nach ihr greifen und packte doch nur ins Leere. Ein zweiter Tritt von ihr traf ihn unter das Kinn. Er wurde nach hinten gerissen. Speichelfäden wirbelten von seinem fleischigen Stiermaul, während er hintenüber in den Staub stürzte. Sein Kamerad sah mit aufgerissenen Augen zu. Graumur zu Boden zu schicken hatte weniger als drei Herzschläge gedauert.
Bidayn trat neben ihn und stellte ihm einen Fuß auf die Kehle, ohne jedoch Druck auszuüben. »Nenne mich in Anwesenheit von Fremden nie wieder kleine Herrin. Habe ich meinen Wunsch deutlich genug formuliert oder muss ich ihm noch mehr Nachdruck verleihen.«
Graumur sagte nichts. Er starrte sie nur an. Es lag kein Zorn in seinem Blick. Nur Unglaube. Offensichtlich vermochte er sich nicht zu erklären, wie eine zierliche Elfe, die nicht einmal ein Fünftel seines Gewichtes hatte, ihn binnen Augenblicken zu Boden geschickt hatte.
»Du hast mich überrascht«, sagte er schließlich benommen.
Bidayn nickte. »Wahrscheinlich habe ich dich nur auf dem falschen Fuß erwischt.« Sie nahm ihren Fuß von seiner Kehle und trat ein Stück zurück. »Wenn du und dein Kamerad so freundlich sein könntet, die Plane außen an der Mauer zum Hof einzuhaken, wäre ich euch sehr dankbar.«
Der zweite Minotaur duckte sich ohne ein weiteres Wort durch das kleine Tor. Graumur rappelte sich auf. »Du hattest Glück«, murmelte er mürrisch und rieb sich sein Kinn.
»Ich habe immer Glück.«
Das schien der Minotaur begriffen zu haben. Er wirkte alarmiert. Schweigend duckte auch er sich durch die Tür. Von der Gasse her bedachte er sie noch einmal mit einem langen Blick. Dann schloss er die Tür.
Bidayn hörte, wie die beiden auf der anderen Seite der Mauer das Sonnensegel festzurrten und dabei tuschelten. Sie murmelte ein Wort der Macht, und nichts, was gesprochen wurde, entging ihr. Graumurs Gefährte war noch mehr beeindruckt als der alte Kämpe. Bidayn war sich bewusst, dass sie vorschnell gehandelt hatte. Die beiden würden einen trinken gehen und reden. Und auch wenn Graumur seinen Part darin hasste, die Geschichte würde die Runde machen und ihren Weg zum Fürsten Sekander finden, der, wie es schien, Geschichten über sie sammelte. Sie lächelte selbstsicher. Was machte es, wenn sich ein Kentaur den Kopf über sie zerbrach. Sie konnte ihm unendlich viel gefährlicher werden als er ihr. Wenn er klug war, würde er das sehr bald begreifen.
Bidayn ging zur Mitte des Hofs und setzte sich in den warmen Sand. Bald würden sie kommen. Sie hatte sie alle für den heutigen Morgen einbestellt. Lange hatte sie darüber gegrübelt, wo sie zusammenkommen sollten. Halbe Tage war sie durch das Umland Uttikas gestreift und hatte nach einem geeigneten Ort gesucht. Nicht zu weit entfernt und doch so einsam, dass kein zufälliger Beobachter etwas sehen konnte, was nicht für die Augen einfacher Albenkinder bestimmt war.
Zuletzt war sie auf den Hof des Stadtpalastes verfallen. Sie hatte alle Türen und Fensterläden so verändern lassen, dass man sie vom Hof her verschließen konnte und sie dann nicht mehr von innen zu öffnen waren. Kein Spalt war geblieben, durch den man sie hätte beobachten können. Das Sonnensegel aus geteertem Stoff war der krönende Abschluss. Sie war sich bewusst, dass es viel Gerede geben würde. Aber selbst die verrücktesten Geschichten würden der Wahrheit nicht einmal annähernd nahekommen.
Das Gerede vor der Hofmauer verstummte. Bidayn hörte, wie sich die schweren Schritte der Minotauren entfernten. Sie sprachen über eine Schankstube am Hafen. Dort also würden die wilden Geschichten ihren Anfang nehmen. Sie schmunzelte. Sie hatte sich selbst schon überlegt, auf welche Weise sie Gerüchte in Umlauf bringen könnte. Es war besser, den Tratsch zu beherrschen, statt sich ihm auszuliefern.
Die Tür, die von der Gasse zum Hof führte, öffnete sich. Eine Gestalt, die einen breitkrempigen Strohhut trug, von dem ein halb durchscheinender Schleier bis hinab auf den Boden reichte, trat ein. Sie stützte sich auf einen Bambusstock. Es war die Tracht der blinden Märchenerzähler von Tanthalia. Sie waren auf ganz Albenmark berühmt und geachtet.
Anmutig nahm die verschleierte Gestalt ein Stück von Bidayn entfernt Platz. Durch den dünnen Stoff war nur vage eine Frauengestalt in einem weißen Kleid zu erkennen. Kyra. Auch wenn sie mühelos jedes beliebige Publikum mit ihren Geschichten eine ganze Nacht lang in ihren Bann zu schlagen vermochte, war sie noch viel mehr als nur eine Märchenerzählerin. Eine Drachenelfe, eine Zauberweberin und eine Meuchlerin. Eine der Letzten, die zur Meisterin erwählt wurde, bevor die Weiße Halle aufhörte zu existieren.
Als Nächstes kam Valarielle durch das kleine Tor zur Gasse. Bidayn kannte sie seit ihren Tagen beim Schwebenden Meister. Sie war in den ersten Wochen, die Bidayn in der offenen Höhle hoch in den Bergen verbracht hatte, noch unter den Schülern des weißen Drachen gewesen. Schon damals war Valarielle eine düstere Erscheinung gewesen. Daran hatte sich in den Jahren nichts geändert. Doch die Drachenelfe war auch eine der besten Zauberweberinnen, denen Bidayn je begegnet war. Und sie hatte sich stets für die dunkleren Spielarten der Magie interessiert.
Die Elfe, die eine schwarze Stute am Zügel auf den Hof führte, war schmal und hochgewachsen. Ihr Gesicht blieb im Schatten einer weiten Kapuze verborgen. Sie trug ganz gegen die Gepflogenheiten der Meisterinnen der Weißen Halle kein weißes Kleid, sondern einen eng anliegenden Lederkürass, der jede Wölbung ihres Leibes nachmodellierte. Darunter eine schwarze Bluse mit hohem, steifem Kragen. Ganz unfeminin hatte sie eine enge schwarze Hose und hohe schwarze Stiefel als Beinkleider gewählt. Bidayn hatte immer gern Röcke und Kleider getragen, aber sie ahnte, dass für das, was kommen würde, Valarielles Gewandung wesentlich zweckmäßiger wäre. Ein fast bodenlanger Kapuzenumhang aus schwarzer Seide rundete das düstere Erscheinungsbild der Elfe ab. Das einzig Glänzende an ihr waren die schwere Silberkette auf ihrer Brust, die den Umhang zusammenhielt, und der silberne Schwertknauf in Form eines Drachenkopfes, der über ihrer rechten Schulter aufragte.
Valarielle sah Bidayn finster an. »Ich gratuliere dir zu deinem überraschenden Erfolg beim Goldenen, Schwertschwester.«
»Es wird unser aller Erfolg sein, wenn wir gemeinsam streiten und uns nicht mit Eifersüchteleien aufhalten«, entgegnete Bidayn ruhig. Sie hatte Valarielle nicht ausgewählt, weil sie sie mochte. Sie brauchte sie. Deshalb würde sie freundlich bleiben, auch wenn es ihr im Grunde ihres Herzens widerstrebte und sie sich fast sicher war, dass ihre Schwertschwester Freundlichkeit als Schwäche missverstehen würde.
Valarielle schlug die Kapuze des Umhangs zurück. Ihr blasses Gesicht, gerahmt von langem, rabenschwarzem Haar, wurde von einem Paar großer, grüner Augen beherrscht. Sie nickte Kyra kurz zu und wandte sich dann sofort wieder an Bidayn. »Wozu brauchst du uns? Wir Drachenelfen sind dazu ausgebildet, allein zu kämpfen.« Sie lächelte spöttisch. »Und ich habe bislang auch noch nie Hilfe gebraucht. Aber auf dich scheint das ja nicht zuzutreffen, nach allem, was man so hört.«
»Vielleicht mangelt es dir ja an kühnen Visionen!« Sie hätte das nicht sagen sollen! Bidayn bedauerte die Worte, kaum dass sie über ihre Lippen gekommen waren.
»Kühne Visionen oder verrückte Fieberträume. Ich bin gespannt …«
Eine kleine Gestalt betrat den Hof. »Ihr seid also schon in kriegerischer Stimmung, bevor wir mit dem Blutvergießen begonnen haben. Sehr schön!«
Für Lemuel, den Maurawan, waren das erstaunlich viele Worte zur Begrüßung. Er war fast einen Kopf kleiner als Bidayn, die selbst nicht besonders hochgewachsen war. Sein mittelbraunes Haar war kurz geschnitten und doch zerzaust. In seinem Blick lag Misstrauen. Er war stets auf der Hut. Durch seine moosgrünen Augen blickte eine verletzte Seele. Die Seele eines Mannes, der stets als Erstes Spott über seine geringe Körpergröße erntete. In der Weißen Halle hatte er zu den Außenseitern gehört. Er kam besser mit Tieren als mit Albenkindern zurecht. Für Nandalees Eskapaden um ihren Bogen hatte er stets Verständnis gehabt. Bidayn war überzeugt, dass auch er sich heimlich im Umgang mit der von den Drachenelfen verachteten Waffe geübt hatte.
Seine Kleidung war eher unscheinbar. Ein abgetragenes Lederwams, dazu eine Tunika und Hosen in Erdfarben. Er trug zwei kurze Schwerter an seinem Wehrgehänge. Wer aus seiner Größe auf seine Kunstfertigkeit als Schwertkämpfer schloss, beging einen tödlichen Fehler.
»Ich schätze, wir sind dann vollständig«, erklang hinter Bidayn die Stimme Asfahals. Überrascht wandte die Elfe sich um. Der Elf stand in der Tür, die vom Haupthaus zum Hof führte. Der Tür, die sie selbst verschlossen hatte und die nicht von innen zu öffnen sein sollte.
Er genoss augenscheinlich ihren verblüfften Blick. »Eines meiner Talente«, erklärte er lächelnd. »Dort zu erscheinen, wo ich nicht sein sollte.«
Das war das fast perfekte Stichwort, dachte Bidayn. Es war schon beinahe unheimlich. Sie erhob sich und sah alle der Reihe nach an. »So unterschiedlich ihr auch seid, meine Brüder und Schwestern, verbindet euch doch eine Gemeinsamkeit: die Frage, was ihr hier sollt. Valarielle bemerkte ja schon ganz richtig, dass wir alle eher Einzelgänger sind. Wozu das also? Mögen die einfachen Albenkinder uns Drachenelfen in ihren Geschichten für so gut wie unbesiegbar halten, so weiß niemand so gut wie wir, dass uns doch Grenzen gesetzt sind. Auch haben wir bei gleicher Ausbildung doch unterschiedliche persönliche Talente. Ich kenne niemanden, der den Zauber, den du, liebe Valarielle, so poetisch Atem der Nacht genannt hast, auch nur annähernd so beherrscht wie du. Lemuel ist ein Freund der großen Adler vom Albenhaupt, deren Hilfe wir benötigen werden, denn bei den Dingen, die ich zu tun gedenke, werden wir nicht den Platz haben, den unsere edlen Himmelsrösser zum Landen brauchen. Und wichtiger noch, kein Pegasus kann uns so schnell retten, wie ein Adler es vermag, der uns mit seinen kräftigen Fängen aus dem Flug heraus von einer Mauer heben kann. Kyra, die ihr Äußeres so gerne verbirgt, ist eine Meisterin darin, andere Gestalt anzunehmen, und Asfahal …« Sie bedachte den ganz in Weiß gewandeten Elfen, der lässig in der Tür lehnte, mit einem langen Blick. Ihr Körper sehnte sich nach ihm. Seit ihrer Hochzeitsnacht hatte sie nicht mehr bei ihm gelegen. Bidayn rief sich innerlich zur Ordnung – sie wollte ihm nicht allzu deutlich zeigen, wie sehr sie ihn begehrte. Das würde künftigen Missionen schaden. Sie hatte aus den Fehlern von Gonvalon und Nandalee gelernt! »Und Asfahal«, griff sie den Faden wieder auf. »Wie könnten wir auf jemanden verzichten, vor dem sich alle Türen öffnen.«
»Er ist nicht einmal ein Drachenelf«, bemerkte Valarielle verächtlich.
Bidayn drehte sich zu ihr um. »Du weißt so gut wie ich, dass es nicht an einem Mangel an Fähigkeiten lag, weshalb man ihn aus der Weißen Halle verwies.«
»Es lag an dem eklatanten Mangel, Herr seiner Gelüste zu sein. Für mich ist das keine Bagatelle.«
Bidayn überlegte kurz, ob Asfahal Valarielle vielleicht einmal als Geliebte verschmäht hatte. Ihr erschien es sehr pedantisch, auf dieser Verfehlung so sehr zu beharren. War nicht auch Gonvalon dafür berüchtigt gewesen, seinen Schülerinnen gegenüber nicht die nötige Distanz zu wahren? Ihm hatte niemand daraus einen Strick gedreht. »Ich werde ihn behandeln, als wäre er einer von uns«, stellte Bidayn klar.
»Was genau erwartest du von uns?«, fragte Lemuel. Er stand immer noch in der Tür zum Hof, als wäre es ihm unangenehm, hier zu sein, und als wollte er bereit zur Flucht bleiben.
»Ich will, dass wir die Grenzen des Möglichen weiter stecken«, begann Bidayn voller Enthusiasmus. »Wir werden dorthin gehen, wohin kein anderer geht. Wir werden tun, was andere nicht einmal zu denken wagen. Wir werden die Nemesis der Feinde der Himmelsschlangen sein. Wir werden Entsetzen verbreiten, und die Unerklärbarkeit unserer Taten wird unser besonderes Credo sein. Ich möchte nicht weniger erreichen, als dass die Feinde Albenmarks uns bei jedem Herzschlag fürchten, weil es keinen Ort gibt, an dem man vor uns sicher sein kann. Wir können immer und überall erscheinen. Und wenn wir kommen, gibt es nichts und niemanden, der uns aufhalten kann.«
»Ein ehrgeiziges Ziel«, sagte Asfahal mit süffisantem Lächeln. »Vielleicht ein wenig überambitioniert.«
»Keinesfalls«, entgegnete Bidayn selbstsicher. »Die größte Schwäche der Drachenelfen war bislang, dass sie fast immer für sich allein gekämpft haben. Bündeln wir unsere Kräfte, dann erschließen sich uns völlig neue Möglichkeiten. Hier auf diesem Hof, in dieser Stunde, beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte der Drachenelfen. Und nichts wird fortan mehr so sein wie zuvor.« Sie wandte sich an Valarielle. »Fülle den Hof mit dem Atem der Nacht, Schwertschwester, und ich werde euch zeigen, was ich meine.«
Valarielle sprach ein Wort der Macht, und schlagartig sank die Temperatur auf dem Hof. Ihnen allen stand weißer Atem vor dem Mund. Einen Herzschlag später atmete Valarielle etwas aus, das wie dichter, schwarzer Rauch aussah. In wogenden Wirbeln griff es um sich. Ganz anders als Atem in kalter Luft formte er nicht ein kleines Wölkchen – er stahl das letzte Licht vom Hof, der durch das schwarze Sonnensegel ohnehin schon im Halbdunkel lag.
Bidayn hatte zweimal bei der Weißen Halle erlebt, wie Valarielle diesen Zauber gewirkt hatte, und war nachhaltig beeindruckt gewesen. Binnen Augenblicken füllte sich der Hof mit brodelnder Finsternis. Es war so dunkel, dass sie ihre Hand nicht mehr sehen konnte, obwohl Bidayn sie sich so nahe vor das Gesicht hielt, dass ihre Nasenspitze kurz den Handteller streifte.
»Öffnet euer Verborgenes Auge«, befahl sie.
Der Blick auf die magische Seite der Welt war verwirrend. Ein Gespinst schillernder, zarter Kraftlinien umgab Valarielle. Fein wie Spinnwebfäden, liefen sie alle bei ihr zusammen. Die anderen Elfen waren als Auren aus goldenem Licht zu erkennen. Ein jeder von ihnen ein Gespinst aus Kraftlinien, die mit der Welt um sie herum verbunden waren und grob die Skizze leuchtender Körper bildeten.
Doch die Kraftlinien des Zaubers, den Valarielle gewoben hatte, verwischten das Licht der Körper. Bewegungen waren nur undeutlich zu sehen. Bidayn spürte, dass jemand hinter ihr stand. Als sie sich umdrehte, streiften Lippen ihren Mund. »Ich habe dich vermisst, schöne Tyrannin«, hauchte Asfahal ihr ins Ohr.
Warme Wellen überliefen Bidayn bei der zarten Berührung. Sie war sich sicher, dass sich Asfahal seiner Wirkung wohl bewusst war. Sie straffte sich und nahm einen Schritt Abstand von ihm. In Anwesenheit der anderen wollte sie keine Zärtlichkeiten austauschen. »Wir werden lernen, in dieser Dunkelheit zu kämpfen. Noch bevor unsere Opfer sich ihrer magischen Sicht besinnen, werden unsere Klingen sie durchbohren. Wir greifen im Dunkel der Nacht an, sodass die Finsternis weniger Aufsehen erregt. Wir sind schnell, gnadenlos und nehmen es mit jedem Gegner auf.«
»Mit jedem?« Es war das erste Mal, dass Kyra sprach. Sie hatte eine angenehme, vielleicht etwas zu dunkle Stimme. Eine Stimme, geboren dazu, Geschichten zu erzählen.
Die Frage hing in der von fiebrig-flackernden Lichtbahnen durchzogenen Finsternis. Sie alle wussten, was sie bedeutete.
»Deshalb sind wir zu fünft«, sagte Bidayn schließlich.
Valarielle rief ein Wort der Macht, und das Dunkel wurde zu Zwielicht.
Bidayn schloss ihr Verborgenes Auge. Ihre vier Auserwählten sahen sie entsetzt an.
»Du willst einen Devanthar töten?«, sprach schließlich Lemuel aus, was alle dachten. Er schnalzte mit der Zunge. »Das würde eine außergewöhnliche Jagd. Ich bin dabei.«
»Wenn wir das versuchen, jagen wir nur nach unserem eigenen Tod!«, sagte Valarielle.
»Ob wir scheitern oder obsiegen, wir würden auf ewig in der Geschichte weiterleben«, bemerkte Kyra in einem Tonfall, als wäre sie dem Wagnis nicht abgeneigt.
»Mir gefällt mein Leben, wie es jetzt ist.« Asfahal schüttelte den Kopf, was Bidayn maßlos enttäuschte. Gerade bei ihm war sie sich ganz sicher gewesen, dass das scheinbar Unmögliche einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn ausüben würde. »Mir gefällt die fleischliche Existenz viel zu gut, um danach zu streben, eine Legende zu werden.«
»Da sind wir wieder bei dem Grund, warum er aus der Weißen Halle verbannt wurde«, bemerkte Valarielle abfällig. »Ihm fehlt es an Hingabe.«
»Verbring eine Nacht mit mir, und du wirst das nie wieder behaupten.«
Asfahal schenkte Valarielle ein Lächeln, das Bidayn ganz und gar nicht gefiel.
»Eher schneide ich mir die Kehle durch«, zischte ihn die schwarz gewandete Elfe an.
Asfahal nickte bedächtig. »Mir scheint, du hast genau die richtige Einstellung zum Leben, um an Bidayns Mission teilzuhaben.«
»Natürlich beginnen wir nicht mit einem Devanthar. Unser erstes Ziel sollte ein Unsterblicher sein, und im Gegensatz zu Talinwyn, der Schülerin Gonvalons, die das als Letzte versuchte, als sie den Unsterblichen Aaron auf seinem schwebenden Palastschiff angriff, werden wir nicht scheitern.«
»Hast du einen besonderen Unsterblichen ins Auge gefasst?«, fragte Lemuel, dem die Idee nach wie vor zu gefallen schien.
»Wetzen wir die Scharte aus. Töten wir den Unsterblichen Aaron. Er sollte unser primäres Ziel sein. Stellt sich heraus, dass er unerreichbar ist, wählen wir einen anderen Unsterblichen.«
»Findet ihr es ruhmreich, einen Menschensohn im Schutze der Nacht zu meucheln?«, fragte Asfahal. Er wirkte tatsächlich so, als würde ihn die Vorstellung abstoßen.
»Aaron ist nicht einfach ein Menschensohn. Er ist ein Unsterblicher. Seine Herrschaft währt seit Jahrhunderten. Keine anderen Geschöpfe Daias kommen den Devanthar in ihrer Machtvollkommenheit so nahe wie die Unsterblichen. Wir greifen ihn in seinem Palast an, wo es Hunderte von Leibwächtern gibt. Und einen Silbernen Löwen. Ich habe bereits gegen einen gekämpft, Asfahal, und glaube mir, sie sind würdige Gegner. Obendrein besteht die Gefahr, dass wir auf einen Devanthar treffen, denn sie besuchen ihre Schützlinge regelmäßig. Wir legen uns also keineswegs mit einem Wehrlosen an.«
»Also gut, möglicherweise ist unser … Opfer nicht wehrlos. Wenn ich bei meinen Bedenken bleibe, gelte ich wahrscheinlich als Feigling, nicht wahr? Für mich sind Drachenelfen Krieger, die ihre Taten im hellen Lichte vollbringen. Andernfalls sollte man uns wohl eher Schattenelfen nennen. Wir sind Helden, und das ist nicht die Art, wie Helden kämpfen sollten.«
Bidayn war perplex. Asfahal war der Letzte, von dem sie so eine Rede erwartet hätte. Sie räusperte sich. »Ist es nicht heldenmütig, wenn wir mit den Taten einer einzigen Nacht den Krieg vor der Zeit beenden können und auf beiden Seiten Tausende Leben retten? Wenn wir die Kriegstreiber unter den Menschenkindern töten, setzt sich vielleicht sogar bei ihnen die Vernunft durch.«
Asfahal nickte zögerlich. »Das ist zu bedenken.«
»Wir fünf müssen an dieselben Ideale glauben. Wir alle müssen davon überzeugt sein, das Richtige zu tun. Wir müssen mit einem Willen handeln, dann werden wir eine Waffe sein, die selbst die Götter fürchten werden.«
Dass es ihr am Ende weder um die Unsterblichen noch um die Devanthar ging, verschwieg Bidayn wohlweislich. Sie mussten zueinanderfinden durch Taten im Licht und Taten im Schatten. Gemeinsam überlebte Gefahren würden sie zu verschworenen Kameraden werden lassen. Und ihre Erfolge würden dann von ganz alleine dazu führen, dass Distanz zu den übrigen Drachenelfen alter Schule entstand. War dies erst einmal erreicht, würde sich die Möglichkeit ergeben, gemeinsam ihr eigentliches Ziel anzugehen: Nandalee.
Sie im Jadegarten aufzuspüren und zu töten, wo sie unter dem Schutz des Erstgeschlüpften und einem halben Dutzend Drachenelfen stand, war eine Aufgabe, zu der im Vergleich der Angriff auf den Palast des Unsterblichen Aaron ein Spaziergang war.
»Du musst die Speerschleudern auf die Schlitten montieren. Zumindest muss es eine Halterung geben, die den Geschützen einen sicheren Stand gibt.«
Der hochgewachsene Elfenschmied wiegte nachdenklich den Kopf. »Du willst von einem fahrenden Schlitten aus schießen? Glaubst du wirklich, du würdest dann irgendetwas treffen?«
»Natürlich«, erwiderte Hornbori aufgekratzt. Er war mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache. Immerzu musste er an das denken, was gleich kommen würde. Seit der Begegnung mit dem Tatzelwurm in der Tiefen Stadt war er dem Tod nicht mehr so nahe gewesen wie heute. Er hatte immer noch nicht ganz verstanden, wie es dazu gekommen war, dass es ihn hierherverschlagen hatte.
Offiziell war er befördert worden. Man hatte ihn für ein besonders ruhmreiches Kommando empfohlen, aber es musste einiges hinter seinem Rücken gelaufen sein. Als er zum ersten Mal gesehen hatte, wen er befehligen sollte, war ihm sofort klar gewesen, dass Eikin eigentlich ein Todesurteil ausgesprochen hatte. Diese Truppe … Hornbori schüttelte sich. Wenn er nur an sie dachte, packte ihn das Grauen. Aber das durfte er sich auf gar keinen Fall anmerken lassen, wenn er bei ihnen war.
Gobhayn schnippte mit den Fingern unmittelbar vor Hornboris Nase. »Bist du noch hier, Zwerg?«
»Äh, ja … Die Geschütze. Soweit ich weiß, kämpfen die Menschenkinder meist in dichten Formationen aus Hunderten von Männern. Es wird so gut wie unmöglich sein danebenzuschießen. Aber meistens werden wir natürlich nicht aus voller Fahrt schießen. Wir halten die Schlitten an und richten die Geschütze in aller Ruhe aus. Wenn sie fest montiert sind, müssen wir sie nicht erst aufbauen oder in aller Eile abbauen, wenn uns die Menschenkinder auf die Pelle rücken. Wir werden sehr viel Zeit sparen. Und unsere Aussichten zu überleben, werden auch deutlich besser. Vor allem wenn du auch noch die Bleche aus Silberstahl anbringst.«
Der Elf fasste sich an die Stirn. »Hast du eine Ahnung, was du da verlangst? Ich habe dir schon beim ersten Mal gesagt, dass ich über jeden Barren Silberstahl, den ich verarbeite, Rechenschaft ablegen muss. Über jeden Dolch, der diese Halle verlässt, wird Buch geführt. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, sich mit Elfenbürokratie herumzuschlagen! Am schlimmsten sind die Fürsten von Arkadien … Und ausgerechnet einer von denen ist zum Oberbefehlshaber gemacht worden.«
»Ja, und der hat das Heer hierher zurückgeschickt. Nach allem, was ich gehört habe, ist nur noch eine Handvoll Krieger von uns in der Eiswüste. Und dahin gehe ich als Verstärkung. Wenn die Menschenkinder merken, wie schwach wir sind, dann gehen sie zum Gegenangriff über. Und wer steht in vorderster Front im Pfeilhagel? Meine Männer und ich. Hast du über die Kettenhemden für die Rentiere nachgedacht?«
»Nein!«, fluchte der Elf. »Das ist absurd!«
»Wenn sie unsere Rentiere erschießen und die Schlitten stehen, werden wir wunderbare Zielscheiben abgeben.«
»Dann sollen sich eben deine Trolle ins Geschirr werfen«, entgegnete Gobhayn ärgerlich. »Wenn ich all deine Rüstungswünsche erfülle, dann werden deine Schlitten höchstens noch im Schritttempo fahren.«
»Nicht, wenn du die Segel …«
»Nein! Ich baue dir keine Landschiffe! Überreize meine Geduld nicht, Hornbori. Ich erinnere dich noch einmal: Über alles, was ich hier tue, muss ich Rechenschaft ablegen. Sie wollen genau wissen, wo welche Waffen geblieben sind. Es gibt eine Menge Elfen, die es nicht gut finden, dass Kobolde wie die Eisbärte mit hochwertigen Armbrüsten ausgestattet werden …«
»Es gibt auch Zwerge, die das nicht gut finden«, stimmte Hornbori ernst zu. »Es wird der Tag kommen, da setzen diese kleinen Bastarde diese Armbrüste gegen meine Brüder in Ishaven ein.« Oder sie schießen mir damit in den Rücken, sobald ich draußen in der Eiswüste einen Befehl gebe, der ihnen nicht passt.
»Ich kümmere mich nicht um Politik!« Gobhayn hob abwehrend seine schwieligen, rußverschmierten Hände. »Da geht es hier in der Schmiede vergleichsweise sauber zu. Zurück zu deinen Schlitten … Ich werde mir etwas ausdenken müssen. Irgendeinen Namen, den die Oberen schlucken, wenn sie meine Materiallisten kontrollieren.«
»Gepanzerte Wasserfässer«, schlug Hornbori vor.
»Was?«
»Ich habe dich doch auch um zwei Schlitten mit je einem Tausend-Liter-Fass für Trinkwasser gebeten. Wir werden die dringend brauchen. Und wir müssen sie mit Blechen aus Silberstahl verkleiden, damit sie gegen Beschuss geschützt sind.«
Gobhayn stöhnte. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein endloses Gerede ich deshalb um die Ohren hatte. Sie wollten das nicht. Es wäre leichter gewesen, hundert Schwerter bewilligt zu bekommen.«
»Weißt du, wie das ist, wenn man völlig durchgefroren ist und um zu trinken eine Handvoll Schnee in den Mund nimmt, um ihn langsam schmelzen zu lassen. Wenn die Fürsten von Arkadien mal ihre Paläste verlassen würden, um ein paar Tage auf Schlachtfeldern zu verbringen, würde ihnen vielleicht ihr angestaubtes Hirn durchgepustet. Das täte ihnen ganz gut.«
»Reg dich ab, Hornbori. Ich habe sie auf die Sache mit dem Schnee hingewiesen und darauf, dass ein einziger Armbrustbolzen, wohlgesetzt, ein Tausend-Liter-Fass zum Auslaufen bringen kann.«
»Armbrustbolzen? Haben die Menschenkinder Armbrüste? Dann musst du die Bleche dicker …«
»Immer mit der Ruhe. Fürsten, die sich auf Schlachtfeldern nicht blicken lassen, wissen auch nichts über die Waffen der Feinde. Die Menschenkinder haben keine Armbrüste. Jetzt sag mir, wie nennen wir die gepanzerten Schlitten in den Papieren und wenn wir in Anwesenheit Dritter darüber sprechen müssen?«
»Fahrende Brunnen?«
Gobhayn schüttelte den Kopf. »Klingt irgendwie nicht gut.«
»Fasswagen? Fassschlitten? Wasserreservoirs?«
Der Elfenschmied wirkte nicht begeistert.
»Versorgungsschlitten des Nordheers. Fahrende Wassertanks.«
»Alles zu lang und zu kompliziert. Wie wäre es mit einfach nur Tanks?«
Hornbori runzelte die Stirn. »Darunter könnte ich mir nichts vorstellen.«
»Das ist gut«, entgegnete Gobhayn. »Dann kommen auch keine Fragen.«
»Was? Zu einer rätselhaften Bezeichnung auf Ausrüstungslisten kommen keine Fragen, das kann ich mir …«
»Du kennst die Elfen nicht, mein Freund. Nachzufragen bedeutet, dass man etwas nicht weiß. Und das offene Eingeständnis von Unwissenheit ist so ziemlich das Peinlichste, was man sich als Elf vorstellen kann. Nein, nein, Tanks ist gut. Kein Albenkind wird darauf kommen, wovon wir reden. Ich füge in der Ausrüstungsliste noch die Anmerkung hinzu, dass der Ausschuss zur Bereitstellung von Tanks die Anfertigung genehmigt hat.«
»Was für ein Ausschuss?«
»Wir beide sind dieser Ausschuss. Die Erwähnung, dass es einen Ausschuss gibt, der sich mit dieser Angelegenheit beschäftigt hat, verleiht der ganzen Sache noch mehr Gewicht.«
Hornbori sah den Elfen nur mit großen Augen an und sagte nichts mehr. Er hatte durchaus auch schon Ärger mit kleingeistigen Zwergenbürokraten gehabt, aber wie bei allen anderen Belangen schienen es die Elfen auch hier darauf anzulegen, alle übrigen Albenkinder in ihrem Tun zu übertreffen.
»Du wirst drei dieser Tanks bekommen, wenn du morgen früh abrückst. Mehr ist in einer Nacht nicht zu schaffen.«
»Jaja.« Hornbori war in Gedanken wieder bei dem mörderischen Fest, das ihm bevorstand.
»Übrigens, die Sonderanfertigung, nach der du gestern gefragt hast, ist fertig. Etwas in dieser Art habe ich noch nie gemacht. Sonst kommen immer alle und wollen Waffen von mir. Ich habe es heute früh erprobt. Es ist genau so geworden, wie du es dir gewünscht hast.« Er wies auf eine lange, grellrot bemalte Holzstange, deren unteres Ende, breit wie ein Reisigbesen, in ein sauberes Leintuch gewickelt war.
Hornbori griff nach der Stange. Sie war deutlich schwerer als ein Besen. »Wir sehen uns morgen früh«, sagte er leise und fügte in Gedanken hinzu, wenn ich Glück habe.
»Dir ist schon klar, dass du mich mit deinen Wünschen eine schlaflose Nacht kosten wirst.« Trotz seiner Worte lächelte Gobhayn. Er war einer jener Männer, die von ihrer Arbeit besessen waren, dachte der Zwerg. Ganz so wie Galar und Glamir.
Er würde niemals so sein, schwor sich Hornbori. Er wollte ein gemütliches Leben, obwohl er wohl nie so weit davon entfernt gewesen war wie in dieser Stunde.
»So ist das, wenn man zum Ausschuss zur Bereitstellung von Tanks gehört«, murmelte der Zwerg. »Viele Sorgen und wenig Schlaf sind unser Los.«
Gobhayn lachte. Dann machte er sich an die Arbeit. Als Hornbori die lange Lagerhalle verließ, ertönte hinter ihm bereits der helle Klang eines Schmiedehammers.
Einen Moment lang verharrte Hornbori vor der schweren Tür zur Festhalle, die für diesen Abend ihm gehören würde. Seine Finger spielten nervös mit der roten Stange, deren in Leinen gehülltes Haupt ihn überragte.
Von drinnen erklang düsteres Rumoren, und es roch nach Gebratenem. Hornbori hatte ein kleines Vermögen für diesen Abend ausgelegt. Auf seine Kosten waren vier Ochsen über dem Spieß gebraten worden, dazu gab es noch Unmengen von Wildbret, Würsten, frisches Brot und eine stark gewürzte Fleischbrühe. Vor allen Dingen bei den Trollen war es ihm wichtig, dass sie gut gegessen hatten, bevor er vor sie trat. Was die Kobolde anging, war sich Hornbori natürlich bewusst, dass es keine Rolle spielte, wie gut man sie fütterte oder wie nett man sie behandelte – sie blieben immer heimtückische, verlogene kleine Bastarde. Das galt für die Kobolde in ihrer Gesamtheit, aber für niemanden mehr als für die verfluchten Eisbärte.
Der Zwerg drehte sich zu den Trägern um, die hinter ihm warteten. Drei Fässer mit Met, zwei mit Wein und eines mit gut abgelagertem Zwergenpilz. Ein flüssiger Schatz war das, der nun durch Kehlen rinnen sollte, die es nicht wirklich wert waren.
»Folgt mir!«, befahl er und stieß entschlossen die schwere Eichentüre zur Festhalle auf. Der unverwechselbare Geruch ungewaschener Männer schlug ihm entgegen. Der Gestank, der in den Aalen und Glamirs Turm sein ganzes letztes Jahr überlagert hatte, hatte ihn wieder. Zu kurz war sein Zwischenspiel in den Ehernen Hallen gewesen.
Seine Krieger hatten sich entlang der Feuergrube, die durch die Mitte der Festhalle lief, in kleinen Gruppen zusammengefunden. Alle saßen für sich. Die Trolle weit hinten im Halbdunkel. Wie es aussah, hatten sie die Ochsen für sich allein beansprucht. Um ihren Lagerplatz lagen Dutzende zersplitterter Knochen.
In der Mitte der Halle, ein Stück vom Feuer fort, an der westlichen Wand kauerten die Zwerge. Zwanzig Mann. Die Besatzung für zehn Speerschleudern. Nah beim Eingang, jederzeit zur Flucht bereit und ihre heimtückischen, neuen Armbrüste in Griffweite, hatten sich die Eisbärte in ihren schmutzig-weißen Mänteln versammelt.
Bei seinem Eintreten drehten sich schlagartig alle Köpfe in seine Richtung, und Unruhe machte sich breit.
»Bleibt sitzen, Männer!«, begann Hornbori mit fester Stimme. Er wusste, entweder wurde das nun die beste Vorstellung seines Lebens, oder selbiges würde nicht mehr lange dauern.
»Ich mache euch nichts vor, wir haben wahrscheinlich die beschissenste Aufgabe am beschissensten Ort, den man sich denken kann. Wir gehen ins ewige Eis, und wir sind Nachschub für die Einheit, die während der Kämpfe die größten Verluste hatte. Wenn jeder Zweite von uns lebend zurückkommt, dann haben wir Glück gehabt.« Stille hatte sich in der Halle ausgebreitet, nur von den Kobolden murrten einige halblaut vor sich hin. Wie er die schwarzen Augen der Kobolde hasste, die ihn, ohne zu blinzeln, fest im Blick behielten.
»Männer, dies wird der letzte Abend sein, an dem es uns gut geht. Und ich möchte, dass es uns richtig gut geht.« Er klatschte in die Hände, und die Fässer wurden neben ihm abgestellt. »Wir werden fressen, wir werden saufen, und dann werden wir huren bis zum Morgengrauen. Und danach werden wir mit aufrechtem Gang dem Weißen Tod entgegenmarschieren.«
»Gut gesprochen!«, kam es von den Zwergen.
»Kein Zwerg ist Anführer von Trollen!« Am Ende der Halle erhob sich eine riesenhafte Gestalt. Hornbori schluckte hart beim Anblick des Kriegers, der die Feuergrube entlang auf ihn zukam. Selbst unter den anderen Trollen musste er ein Hüne sein. Sein Wanst und seine Arme waren mit wulstigen Narben bedeckt. Ein Teil seiner Oberlippe war abgetrennt, sodass deutlich seine gelben Fangzähne zu sehen waren.
»Wie heißt du, Krieger?«
»Brass nennt mich meine Mutter.« Er schritt unbeirrt weiter. »Alle anderen nennen mich Mammutwürger.«
»Hebt mich auf eines der Fässer«, raunte Hornbori den beiden Lastenträgern zu, die ihm am nächsten standen.
Augenblicklich wurde er bei Armen und Hüften gepackt und emporgehoben. Der Zwerg reichte Brass, der nun direkt vor ihm stand, selbst jetzt nicht einmal bis zum Bauchnabel. Aber wenigstens befand er sich nun oberhalb des schmuddeligen Lendenschurzes, den der Krieger um seine Hüften gewickelt trug.
Hornbori stieß mit der roten Stange auf den Deckel des Fasses und stützte sich dann darauf. Es war gut, sich an der Stange festzuhalten. So sah niemand, wie ihm die Hände zitterten.
»Mammutwürger!«, sagte er dann mit wohlklingender, dunkler Stimme. »Wie kommt man denn zu so einem Namen?«
Der Troll ließ die Muskeln seiner Arme spielen. »Rate!«
»Dann wisse, Mammutwürger, ich würde mich niemals zum Anführer der Trolle aufschwingen. Ich bin der Anführer von uns allen.«
Der Hüne sah ihn aus kleinen, blauen Äuglein an. »Anführer ist der beste Kämpfer. Du hast den ersten Schlag.«
Aus der Ecke der Trolle kam dröhnendes Gelächter.
»Schlag ihm ’ne Axt in die Fresse!«, rief einer der Kobolde vorlaut. »Ich leih dir meine.«
Hornbori schwieg und wickelte mit zitternden Händen das Tuch vom Kopf der Stange. Darunter kam ein goldenes Drachenhaupt zum Vorschein, von dem ein Schlauch aus feiner, roter Seide hing.
»Bei uns Zwergen ernennen die Alten aus der Tiefe die Anführer. Mich jedoch hat er hier zum Anführer dieser Schar berufen.« Er hielt die Standarte hoch, sodass jeder das goldene Drachenhaupt sehen konnte.
»Das lebt nicht!«, sagte Mammutwürger, wich aber doch ein Stück zurück. »Das Ding spricht nicht. Das macht dich nicht zum Anführer.«
»Täusche dich nicht«, rief Hornbori mit Donnerstimme. »Die Augen des Goldenen sehen uns durch diese Standarte. Stellst du dich gegen mich, dann stellst du dich auch gegen ihn! Und nun höre seinen Groll!« Hornbori schwenkte die Standarte. Der Seidenschweif bauschte sich auf, sodass es aussah, als wäre ein langer roter Schlangenleib mit dem goldenen Kopf verbunden. Plötzlich erklang ein dunkler, unheimlicher Ton, der tief in die Eingeweide fuhr. Gobhayn hatte sich selbst übertroffen! Das war noch besser, als Hornbori es sich vorgestellt hatte. Ein System von Röhren, verborgen im Drachenhaupt, fing den Wind und erzeugte diesen Ton.
Mammutwürger wich noch ein Stück zurück. Sein Maul klaffte weit offen. Voller ungläubigem Staunen begaffte er die Standarte, die Hornbori schwenkte und die nun ganz so aussah, als glitte eine fliegende Schlange durch die Luft. Dabei schwoll der dunkle Ton, der aus dem Maul des Drachen kam, immer weiter an.
Hornbori stieß den Fuß der Standarte auf den Deckel des Fasses, der Ton verklang. »Du bist der Anführer der Trolle, Brass! Und gerne werde ich deinen Rat hören, wenn wir kämpfen, denn du bist ein weiser Krieger. Ich aber führe euch alle, weil es sein Wille ist.« Noch einmal hob er die Standarte hoch empor. »Wir sind seine Auserwählten. Dorthin, wo die Gefahr am größten ist, schickt man nur seine Besten. Und darauf trinken wir jetzt! Wir sind die Drachenkrieger!«
Brass fand es gut. Oder er hatte auch einfach nur begriffen, dass er auf diese Weise sein Gesicht wahren konnte. Jedenfalls brüllte er aus Leibeskräften: »Auf die Drachenkrieger!«
Hornbori war sich nicht ganz sicher, ob die Zwerge und Kobolde einstimmten, weil sie die Trolle nicht alleine schreien lassen wollten oder weil sie wirklich überzeugt waren. Jedenfalls dröhnte die Festhalle von Hurrarufen auf die Drachenkrieger.
Hornbori sprang von seinem Fass, ließ anstechen und Trinkhörner verteilen. Jeder schöpfte so viel er wollte. Hornbori bediente sich beim Pilz und verteilte an die kleine Schar von Zwergen, die sich nach und nach um ihn versammelte, wohlgefüllte Hörner. Sie nahmen ihn gut auf. Sie wussten nur, dass er der Bewahrer der Goldenen Axt war, der höchstrangige Krieger der Ehernen Hallen, und es war ihnen eine Ehre, mit ihm anzustoßen.
Gerade sah alles so aus, als würden die Dinge doch einen guten Lauf nehmen, als ein Kobold an seinem Ärmel zupfte. »Auf ein Wort, Herr Zwerg.«
»Lass ihn in Ruhe«, wurde der Kleine sofort von einem blondbärtigen, etwas fülligen Zecher angefahren. »Störe Zwerge niemals, wenn sie gemeinsam trinken. Vor allem nicht, wenn du eine Scheißkoboldhackfresse bist.«
Der Kobold nahm seine rote Mütze ab. »Besoffene Zwerge sind wahrlich unangenehme Gesellschaft. Dabei könnt ihr so freundlich sein … Wenn nun unser ehrenwerter Anführer einen Augenblick seiner Zeit für mich erübrigen könnte?«
Der blonde Zwerg deutete mit seinem Trinkhorn auf die rote Mütze. »Das da … Stimmt es? Diese Geschichten über eure roten Mützen.«
»Ich weiß leider nicht, welche Geschichten du gehört hast«, entgegnete der Kobold höflich, doch in seinen Augen funkelte ein tückisches Leuchten.
Er würde dem Ärger nicht aus dem Weg gehen, dachte Hornbori. Der Kleine hatte ein hartes, von Wind und Wetter gezeichnetes Gesicht. Seine Mundwinkel hatten sich tief in sein Antlitz gegraben, sein schwarzes Haar war durchzogen von grauen Strähnen.
»Du weißt genau, welche Geschichten ich meine!«, polterte der Zwerg nun los. »Ihr färbt eure Mützen im Blut von toten Zwergen! Wir sollten euch kleine Drecksäcke alle an die Wand dieser scheiß Halle nageln. Alle miteinander.«
»Das sind doch nur alberne Geschichten«, versuchte Hornbori den Streit abzuwiegeln. »Blödes Gerede, um alte Fehden neu anzuheizen. Wir werden doch nicht …«
»Nein, nein«, unterbrach ihn der Kobold. »Er wollte es wissen. Um des lieben Friedens willen werde ich nicht zum Lügner.«
Als Hornbori sein verschlagenes Lächeln sah, wurde ihm klar, dass der kleine Bastard diesen Streit von Anfang an geplant hatte. Bevor er einschreiten konnte, sprach der Kobold weiter: »Aufrichtigkeit gilt doch sogar unter Zwergen als eine Tugend. Also, ihr Zwerge könnt wirklich nett sein, vor allem …« Er drehte die Mütze in seinen Händen und betrachtete sie, als stünden ihm bei ihrem Anblick alte Erinnerungen wieder ganz klar vor Augen. »… wenn es ans Sterben geht. Der, in dessen Blut ich diese Mütze gefärbt habe – es war ein Blonder wie du. So lange hat er mich angefleht, ihm die Kehle durchzuschneiden. Zuletzt hat er immerzu nach seiner Mutter gerufen … Ich weiß nicht, wie das bei euch so aussieht, aber ich finde es immer peinlich, wenn Männer nicht mit Würde abtreten können.«
»Du …« Der blonde Zwerg griff nach seiner Axt.
»Nicht!« Hornbori schob ihn zurück. »Trink weiter, und ich rücke dem hier mal den Kopf zurecht. Eine Axt brauche ich dafür nicht!« Er packte den Kobold und wollte ihn vor sich herschieben, als der ihn in die Hand biss. In jene Hand, deren Innenseite seit dem denkwürdigen Tag in Galars Höhle unverwundbar geworden war. Leider galt das nicht für den Handrücken. Hornbori spürte, wie sich die spitzen Zähne in sein Fleisch gruben. Zugleich merkte jedoch auch der Kobold, dass etwas nicht stimmte.
Bevor der kleine Bastard sehen könnte, dass sein Handrücken blutete, drehte Hornbori die Hand, zog sein Messer und stieß es sich mit sichtlicher Kraft in die offene Hand. Ohne Wirkung!
Der Kobold blinzelte verblüfft. »Was ist das denn für ein Trick?«
Hornbori hielt ihm das Messer hin. »Versuch es selbst. Du hast einen Dolchstoß frei. Sollte ich auch dann nicht bluten, habe ich einen Dolchstoß frei!«
Der kleine Krieger leckte sich nervös über die Lippen. Den Dolch rührte er nicht an.
»Dein Auftritt gerade hat mir nicht gefallen. Wie heißt du, Zwergenschlächter?«, fragte Hornbori gefährlich ruhig.
»Rafa. Und glaub ja nicht, dass du mich gerade mit der Messernummer beeindruckt hast.«
»Hör zu, Rafa. Du und deine Kumpels werdet von jetzt an keine blutigen Zwergengeschichten mehr erzählen, solange ihr unter meinem Kommando steht. Verstanden?«
»Du glaubst, wir lassen uns von dir herumkommandieren?«, kam es aufmüpfig zurück. »Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, wie wir diesen Feldzug sehen. Wärst du sofort mit mir gegangen, hätte es erst gar keinen Ärger gegeben. Vielleicht ist dir das ja eine Lehre, Zwerg?«
Hornbori maß den Eisbart mit skeptischem Blick. Manchmal war es besser, gar nichts zu sagen. Rafa würde schon noch damit herausrücken, was er eigentlich wollte. Gerade Männer, die großmäulig Beleidigungen aussprachen, kamen meist damit nicht klar, wenn die Antwort Schweigen war.
Und tatsächlich, der Kobold fuhr nach kurzer Stille fort: »Du kannst vielleicht ein paar abergläubische Trolle und diese dummen Zwerge mit deiner Standarte beeindrucken. Uns Kobolde aber nicht. Ich glaube nicht, dass der Blick des Goldenen auf uns ruht. Und auch nicht der irgendeines anderen Drachen. Die haben wichtigere Dinge zu tun. Ich danke dir jedoch für dieses Festmahl, Zwerg. Es ist in der Tat das erste Mal, dass mich ein Zwerg zu irgendetwas eingeladen hat. Aber bilde dir nicht ein, du hättest uns damit gekauft.«
Hornbori strich sich nachdenklich über den Bart. »Ich nehme an, dass die entzückenden Damen, die uns später Gesellschaft leisten werden, auch nicht dazu beitragen werden, dich und deine Gefährten umzustimmen.«
»Eher im Gegenteil.« Jetzt lag blanker Hass in den Augen des Kobolds. »Wir werden ihre Gesellschaft sicherlich genießen, aber sie sind Teil des Problems. Warum sind wir so arm, dass wir es uns nicht selbst leisten können, ihre Gunst auch nur für eine Stunde zu kaufen? Und warum bist du so reich, dass du es dir leisten kannst, eine ganze Festgesellschaft freizuhalten? Wir kämpfen dafür, diese Ungerechtigkeit zu beenden. Es soll guten Lohn für gute Arbeit geben. Wir schaffen die fetten Arschlöcher ab, die sich auf Kosten anderer ein Leben in Saus und Braus gönnen, ohne sich auch nur an einem einzigen Tag in ihrer jämmerlichen Existenz mit ehrlicher Arbeit die Hände schmutzig gemacht zu haben.«
»Glaub mir, ich wurde nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren«, log Hornbori. »Ich stehe voll und ganz hinter dir.«
»Du stehst nur hinter dir selbst, Zwerg. Nach meiner Erfahrung ist das der einzige Weg, so reich zu werden, wie du bist.« Rafa grinste plötzlich breit. »Aber sehr bald stehst du vor mir. Oder besser gesagt vor meiner Armbrust. Dann wird Gerechtigkeit walten – und ich werde nicht einmal bestraft werden, denn wer kümmert sich in einem Gefecht schon darum, aus welcher Richtung das tödliche Geschoss kam?«
Hornbori hatte das Gefühl, als verwandelte sich der Inhalt seiner Därme schlagartig in Eiswasser. Daran, dass Rafa seine Drohung wahrmachen würde, zweifelte er keinen Herzschlag lang. Er kannte den Ruf der Eisbärte. Sie würden nie auf eine Gelegenheit verzichten, einen Zwerg umzulegen. Vorsichtig, jedes Wort mit Bedacht wählend, sagte er: »Was siehst du, wenn du dich in der Halle umblickst?«
Rafa zuckte mit den Schultern. »Was schon, ein paar dämliche, vollgefressene Trolle, die sich vor einem goldenen Drachenkopf fürchten. Ein paar arrogante Zwerge, die nicht verbergen, dass sie auf alle anderen herabblicken, und ein paar Kobolde, die niemandem in dieser Halle vertrauen außer sich selbst.«
»Und mich nennst du arrogant?« Hornbori zwang sich zu lachen. »Das, was du sehen willst, hat sich längst zwischen dich und die Wirklichkeit gestellt. Öffne deine Augen, dann siehst du vor dir einen Zwerg, der gezwungen wurde, das Kommando über eine Truppe aus Trollen, Kobolden und Zwergen anzunehmen. Und was tue ich? Ich behandele sie alle gleich. Ich feiere mit euch allen gemeinsam und nicht mit irgendwelchen bornierten Hauptleuten, die mich heute Abend auch eingeladen hatten. Wir essen dasselbe, wir trinken dasselbe. Nur bei den Damen, die uns gleich besuchen, mache ich kleine Unterschiede.« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ganz unter uns: Trolldamen machen mir Angst. Ich fürchte mich davor, unter ihren Massen lebendig begraben zu werden.«
Die Andeutung eines Lächelns spielte um die Mundwinkel des Kobolds.
»Ich werde daran nichts ändern. Auf dem Feldzug liege ich im selben Dreck wie ihr. Und so wie ihr werde ich ebenfalls in der ersten Reihe stehen, wenn das Kämpfen beginnt.« Das würde er natürlich tunlichst vermeiden, wenn es so weit war, dachte Hornbori bei sich. »Wenn wir lebend zurückkehren, dann werden wir erneut alle in dieser Halle zusammen feiern. Und ich hoffe, hier stehen dann nicht drei Trüppchen, die sich misstrauisch beäugen, sondern Drachenkrieger, die ohne Ansehen von Geburt und Volk mit ihren Heldentaten angeben und den Geschichten ihrer Kameraden lauschen.«
»Du hast eine gewandte Zunge, Zwerg, aber mich täuschst du nicht. Das alles hier tust du nur zu deinem eigenen Ruhm. Du willst hoch hinaus. Und um deine Ziele erreichen zu können, brauchst du dringend ein paar Heldentaten in der Schlacht. Die wirst du mit unserem Blut erkaufen.«
Hornbori seufzte. Rafa war wirklich ein schwerer Fall. »Nehmen wir einmal an, das stimmt. Wäre es dein Schaden, einen Kriegskameraden zu haben, der Macht und Einfluss besitzt? Oder betrachten wir es einmal von einer ganz anderen Seite. Wenn mir etwas geschieht, was wird euch dann blühen? Eine Elfe als Anführerin? Die armen Kerle, die wir verstärken sollen, werden von einer Elfe geführt. Ich habe gehört, dass sie ihre Männer durch den Fleischwolf gedreht hat … Keine andere Truppe hatte so hohe Verluste. Willst du so eine oder doch lieber einen Anführer, der mit dir zusammen säuft und hurt und dich wie einen Kameraden behandelt? Denk gut darüber nach, Rafa, und sag allen deinen Freunden, was ich dir jetzt gesagt habe. Ich bin ein Glücksfall für euch. Ihr Kobolde glaubt doch, die Hellsten hier in der Halle zu sein. Dann werdet ihr klar sehen, dass es euch mit mir gut geht. Wir werden bluten, etliche werden verrecken, aber die, die zurückkommen, werden es gut haben, denn wer mit mir zusammen durch Blut und Scheiße gewatet ist und mir die Treue hält, der steht mir näher als meine leiblichen Brüder.« Hornbori sah Rafa an, dass die Worte Eindruck auf ihn gemacht hatten. Er klopfte dem Kobold auf die Schulter. »Lange Reden machen mich immer ganz durstig. Komm und stell mich deinen Freunden vor. Und dann würde ich gerne herausfinden, ob ihr Lumpen so trinkfest seid, wie ihr immer behauptet. Wir brauchen keine Hemmungen zu haben. Wer morgen früh nicht laufen kann, der wird auf einem Schlitten zum Schlachtfeld fahren.«
Rafa zögerte kurz. Dann nickte er, und gemeinsam gingen sie zu den übrigen Eisbärten. Als Hornbori wenig später Met mit den berüchtigten Zwergenmördern aus dem hohen Norden trank, war er ein wenig optimistischer. Er schien den rechten Ton getroffen zu haben. Mit etwas Glück würde er vielleicht doch nicht mit einem Armbrustbolzen seiner eigenen Männer im Rücken sterben.
Lyvianne verharrte auf dem Hügelkamm und sah zu dem Tal hinab, das unter ihr lag. Oder besser gesagt, sie blickte auf das dichte Gespinst aus Nebelschleiern, das einem Topfdeckel gleich über dem Tal lag. Die Elfe hatte lange gezögert, an diesen Ort zurückzukehren, doch nur hier durfte sie auf Hilfe hoffen. Sie öffnete die Faust und betrachtete den Ring, der auf ihrer Handfläche lag. Einst hatte er Iyali, der Zunge der Göttin, der Hohepriesterin der Anatu, gehört, die lieber in das Wasser des Schweigens gestiegen war, als die Geheimnisse ihrer Herrin zu verraten. Er war in Form einer sich windenden Schlange gefertigt, deren Augen aus winzigen Rubinsplittern bestanden.
Lyvianne stieg hinab zur Nebelbank, die das Tal vor Blicken verbarg. Hier lebte das einzige Geschöpf, das weit genug auf den Pfaden dunkelster Magie gereist war, um vielleicht einen Zauber weben zu können, der mithilfe des Rings den Geist der Hohepriesterin zurück in die Welt der Lebenden zwingen konnte.
Es roch nach Winter. Bald würde der erste Schnee in der Snaiwamark fallen und für viele Monde nicht mehr weichen. Lyvianne mochte den Norden. Sie dachte daran, wie sie Gonvalon geboren hatte, um ihn dann, als er sie als Kind enttäuschte, zum Fraß für die Wölfe zurückzulassen. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Dass er überlebt hatte und zum Meister der Weißen Halle aufgestiegen war, war eine der größten Überraschungen ihres Lebens gewesen.
Sie durchquerte den Nebel. Die Luft wurde stickig und unangenehm schwül. Grund dafür waren die heißen Quellen, von denen es mehrere am Talgrund gab. Geröll knirschte unter ihren Stiefeln. Als sie aus dem Nebel trat, beäugten sie einige Hasen neugierig. Sie zeigten keine Scheu, so als würde niemals ein Jäger hierherkommen. Kiefern standen um eine nahe Quelle, die sich in wirbelndem Nebel verbarg.
Lyvianne sah sich um. Sie hatte den Ort, den sie gesucht hatte, um fast hundert Schritt verfehlt. Den jungen Holunderbusch, der sich in voller Blütenpracht zeigte. Entschlossen wandte sie sich nach rechts und schritt auf ihn zu.
Verwesungsgeruch hing in der Luft. Fliegen umschwirrten die weißen Blütenrispen, die ungewöhnlich groß waren.
Du hättest mich sterben lassen sollen. Die Stimme war wie ein Nadelstich in ihren Gedanken. Du hast mir keinen Gefallen getan, als du mich hierhergebracht hast.
»Du lebst, Matha Naht.«
Nein, ich vegetiere! Was hast du aus mir gemacht! Ich locke Fliegen mit dem Verwesungsgeruch meiner Blütenrispen an und weide mich an ihrer Todesqual, wenn sie auf den klebrigen Blütenstempeln verenden. Und manchmal, wenn ich großes Glück habe, wühlt eine Maus zwischen meinem Wurzelwerk, und ich kann sie langsam erdrosseln. Ich, Matha Naht, Gestalt gewordene Finsternis, bin zur Mäusemeuchlerin verkommen, dank dir, Lyvianne.
»Du wächst«, entgegnete die Elfe ruhig. »Du wirst wieder sein, was du einmal warst. Hab ein wenig Geduld.«
Du bist doch nicht gekommen, um mir kluge Ratschläge zu erteilen. Wo warst du in den vergangenen Jahren? Hättest du mich gehegt, wäre ich viel größer. Meine Wurzeln dürsten nach Blut und meine Seele nach dem Labsal der Angst anderer. Kluge Geschöpfe müssen es sein, die ihr Schicksal voll erfassen. Keine Fliegen!
»Ich könnte dir helfen.«
Bitteres Lachen füllte Lyviannes Gedanken.
Was willst du, Elfe? Ich spüre, eine dunkle Hoffnung hat dich zu mir geführt. Komm näher, ich will dich in meine dunklen Dornenarme nehmen, meine verlorene Schülerin.
Die Elfe wusste nur zu gut, was es hieß, von Matha Naht umarmt zu werden. Nie würde sie vergessen, was der beseelte Holunder Gonvalon angetan hatte. Und auch sie hatte für das Wissen, das Matha Naht ihr in winzigen Bröckchen überlassen hatte, mit ihrem Blut bezahlen müssen.
Der Holunderbusch reichte Lyvianne nur bis zur Hüfte. Der Stamm war kaum dicker als einer ihrer Finger. Schwarze Beeren hingen von blutroten Stängeln. Die dünnen Ästchen schmückten sich mit Hunderten schneeweißen Blüten. Auf den ersten Blick erschien das Bäumchen wie ein ganz gewöhnlicher Schwarzer Holunder. Doch sah man genauer hin, entdeckte man die Dornenranken zwischen den Ästen. Dies Geschöpf, erfüllt von Dunkelheit, war weder harmlos noch gewöhnlich. Trotz ihres Gejammers war ihre Macht auch jetzt schon wieder beträchtlich.
Lyvianne öffnete ihre Hand und zeigte ihrer alten Meisterin den Schlangenring. »Deshalb bin ich hier.«
Er hat eine ungewöhnliche Aura. Der Ring ist nicht aus dieser Welt, nicht wahr?
»Eine Menschentochter hat ihn getragen, bis in den Tod.«
Die Äste des Holunders wogten, als hätte ein Windstoß sie gebeugt, doch kein Lüftchen regte sich im Tal. Eine Menschentochter mag ihn getragen haben, aber er ist nicht Menschenwerk. Gib ihn mir. Ich möchte ihn spüren.
»Nicht Menschenwerk?« Lyvianne ballte die Faust um den Ring.
Hast du ihn dir nie durch dein Verborgenes Auge betrachtet? Ja, sein Schöpfer hat die Magie verborgen, die er hineingab, doch wenn du ihn aufmerksam ansiehst, enthüllt sich das Muster.
Natürlich hatte Lyvianne den Ring untersucht. Doch ihr war nichts aufgefallen. Versuchte Matha Naht sie zu betrügen?
Du bist immer noch eine Schülerin der magischen Künste, wie mir scheint, spottete der Holunderbusch. Nichts hat sich geändert in all den Jahren, seit du zum ersten Mal zu mir gekommen bist.
»Sieh dich an«, entgegnete Lyvianne ruhig. »Sieh, was aus dir geworden ist. Alles hat sich verändert. Hilf mir, und ich sprenkle etwas Hasenblut auf deine Wurzeln.«
Und doch bist du es, die als Bittstellerin vor mir steht. Also buckle schön, wie es sich gehört, wenn man auf eine Gefälligkeit hofft.
»Glaubst du wirklich, du kannst Forderungen stellen? Ich könnte dich mit der Wurzel ausreißen und deinem jämmerlichen Leben endgültig ein Ende setzen.«
Vielleicht würde ich das ja sogar begrüßen?
Lyvianne betrachtete den Holunderbusch nachdenklich. So hatte Matha Naht noch nie gesprochen. Ihre Meisterin verstand sich gut darauf, ihre Gefühle zu verbergen, auch wenn sie sich öffnen musste, um in Lyviannes Gedanken zu sprechen. Sie war nicht mehr wie früher. Die Jahre ohne Macht hatten sie zwar nicht demütig werden lassen, doch vielleicht hing sie wirklich nicht mehr an ihrem Leben. Wie konnte sie Matha Naht verlocken zu tun, was sie wollte.
»Würde es dich kräftigen, von meinem Blut zu trinken?«
Ah, das Buckeln beginnt. Dein Anliegen muss wohl sehr dringend sein, wenn du so schnell einlenkst.
Lyvianne rollte den linken Ärmel ihrer Tunika hoch. Sie trug noch immer die groben Gewänder aus der Menschenwelt. Nur ihre natürliche Gestalt hatte sie wieder angenommen. Mit der Rechten zog sie ihr Schwert. »Du wirst mich loslassen, sobald ich es verlange, sonst hacke ich dir die Äste ab.«
Wir sollten netter miteinander umgehen.
Bei niemandem hätten diese Worte falscher klingen können als bei Matha Naht. Nettigkeit war ein Begriff, den Lyvianne niemals auch nur im Entferntesten mit dem beseelten Holunder in Verbindung gebracht hätte.
Ein einzelner Trieb streckte sich ihr entgegen und wand sich um ihren blassen Arm. Dornen gruben sich in ihr Fleisch. Doch kein Blut trat auf ihre fahle Haut. Die Elfe sah, wie sich der Trieb dunkler färbte. Deutlich spürte sie, wie Matha Naht auflebte.
Nichts geht über diesen Saft, frohlockte der Holunder. Das ist etwas anderes als Mäuse! Wenn du jetzt noch Angst vor mir hättest, wäre der Genuss vollkommen.
Lyvianne sah ihr eine Weile zu, wie sie trank. Dann hob sie das Schwert. Zögerlich wich der Trieb zurück und ließ eine Reihe feiner, roter Bluttropfen auf ihrer Haut zurück.
Köstlich, meine Liebe. Nun steck mir den Ring auf einen meiner Äste. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.
Die Elfe gehorchte. Dann herrschte für eine lange Zeit angespannte Stille. Die Dämmerung trank das fahle Zwielicht unter der Nebelwolke, die das Tal verhüllte.
Dunkelheit schlich sich heran, als Matha Naht endlich in Lyviannes Gedanken sprach.
Der Ring gehörte Iyali, der Hohepriesterin der Anatu. Sie lebte an einem Ort, der Palast aus Mondenlicht genannt wurde.
Ungeduldig lauschte die Elfe. Dies alles konnte Matha Naht auch in ihren Gedanken gelesen haben, als sie von ihrem Blut trank.
Iyali war eine zierliche Menschentochter von kleiner Gestalt mit nachtschwarzem Haar, das ihr bis hinab zu den Hüften reichte. Sie war eine gestrenge Leiterin des Tempels und ihrer Göttin bedingungslos ergeben.
Nichts als hohle Worte, dachte Lyvianne zunehmend verärgert. Nichts davon war überprüfbar. Matha Naht konnte sich das einfach ausdenken, ohne Sorge haben zu müssen, dass ihr Schwindel auffliegen könnte. Jedenfalls nicht bevor Lyvianne das nächste Mal auf den Ebermann traf. Er hatte Iyali gekannt.
Etwas mehr Vertrauen wäre schön. Ich strenge mich an. Ich versuche nach dem Geist einer Menschentochter zu greifen, die vor vielen Jahrhunderten starb und um keinen Preis zurückgezerrt werden wollte. Ich glaube nicht, dass du dir auch nur im Entferntesten vorstellen kannst, um was du mich gebeten hast.
Wie könnte ich dir vertrauen, dachte Lyvianne. Dafür kenne ich dich viel zu gut. »Wirst du sie rufen können?«
Nicht jetzt. Dem Ring haftet ein Hauch von Erinnerung an seine frühere Trägerin an. Alles, was ich bisher gesagt habe, hat er mir verraten. Er ist von einem machtvollen Zauber umwoben, der die Trägerin langsamer altern ließ. Eine unschätzbare Gabe in der Welt der Menschenkinder, die aufblühen und vergehen wie Sommerblumen. Nicht wie ihr Elfen, die ihr ein Leben haben könnt, das nach Jahrhunderten zählt.
Lyvianne ging darauf nicht ein. Sie wartete. Doch von Matha Naht kam nichts mehr. Ein bleicher Fleck im Nebel zeugte vom Mond, der hoch den Himmel hinaufgestiegen war. Stunden vergingen. So war es schon früher gewesen. Matha Naht mochte es, die Geduld ihrer Schüler auf die Probe zu stellen.
Schließlich rollte Lyvianne ihren Umhang zusammen und setzte sich darauf. Den Kopf auf die angezogenen Knie gestützt, döste sie, bis die Stimme ihrer Meisterin sie aus dem Halbschlaf riss.
Ich bin zu schwach. Ich brauche ein Opfer. Lebend! Ich brauche nicht nur Blut. Ich muss die Angst fühlen, muss spüren, wie sich mein Opfer verzweifelt in meinen Dornenranken aufbäumt.
Argwöhnisch betrachtete sie den Holunder. War er gewachsen? Hatte er ihr Blut genutzt, um seine eigene Macht zu mehren?
»Was ist mit Iyali? Konntest du Verbindung zu ihrem Geist aufnehmen?«
Einen alten Geist, der nicht gefunden werden will, heraufzubeschwören verlangt ein Opfer. Ein junges Leben muss vergehen, damit es gelingen kann. Bring ein Mädchen, das die Tage des Blutes noch nicht kennt. Am besten eine junge Elfe. Du weißt um die Balance der Welt. Eine alte Tote zu rufen verlangt junges Blut. Tierblut wird hier nicht genügen. Bring mir mein Opfer, und ich werde dir deinen Wunsch erfüllen. Wenn du das nicht kannst, dann geh. Dann vermag ich dir nicht zu helfen … Doch ich vertraue auf dich: Du bist Lyvianne. Die Mutter, die ihre eigenen Kinder tötet. Du wirst dich nicht von einem kleinen Hindernis aufhalten lassen, wenn es gilt, ein großes Ziel zu erreichen. Ich wünsche dir eine gute Jagd.
Acht Tage waren vergangen. Lyvianne war heimgekehrt in ihren Palast in Mylal auf Tanthalia, den sie allzu selten noch aufsuchte. Endlich hatte sie die juckenden Kleider der Menschenkinder abgelegt und trug wieder das lange, weiße Gewand einer Meisterin der Weißen Halle. Sie wusste um ihre Wirkung in diesem eng anliegenden Kleid mit dem hohen Kragen und den kostbaren Silberstickereien an den Säumen.
Aus schneeweißem Leinen war auch der leere Sack, der auf ihrer Schulter lag. An den drei vorangegangenen Abenden hatte sie lange Spaziergänge über die Küstenwege gemacht. Sie hatte von ferne die kleinen Fischerdörfer beobachtet, die der Stadt vorgelagert waren. Heute wusste sie, wohin sie wollte. Dennoch ging sie langsam. Der Weg vor ihr war verlassen. Weit draußen auf dem Meer hoben sich weiße Segel deutlich vor dem glühenden Abendrot ab. Es war ein friedlicher Ort. Ein Ort, um sich niederzulassen, hinaus auf das ewige Meer zu blicken und alles hinter sich zu lassen.
In den letzten Tagen hatte Lyvianne viele Stunden lang spielende Elfenkinder beobachtet. Ihr ausgelassenes Treiben am Strand. Gerne hatte sie dem hellen Lachen gelauscht. Wenn sie abends zurück in ihren stillen Palast kam, empfand sie eine Leere in sich, die ihr nie zuvor bewusst gewesen war.
Sie weinte nicht um ihre verlorenen Kinder. Doch hatte sie in den vergangenen Nächten viele Stunden wach gelegen und an all jene zurückgedacht, denen sie den Tod gegeben hatte. Jene Unvollkommenen, denen sie nie die Gelegenheit zugestanden hatte, ihr zu beweisen, dass sie sich vielleicht in ihnen geirrt hatte.
Im Uferwald zu ihrer Linken erklang der Ruf eines Uhus, der sich irgendwo im Geäst der rotstämmigen Fichten verbarg. Ihre Gedanken schweiften zu ihrem letzten Sohn. Plötzlich klang ihr seine zarte Stimme im Ohr. Er hatte gerade begonnen zu sprechen. Mingo war eines seiner ersten Worte gewesen. Er hatte die großen rosa Vögel geliebt, die auf ihren langen Beinen durch die Mangroven gestakst waren. Flamingos. Sosehr er sich bemüht hatte, er hatte ihren Namen nicht ein einziges Mal richtig ausgesprochen. Für ihn waren sie einfach Mingos gewesen. Sie waren das Letzte gewesen, was er gesehen hatte, bevor sie ihn ertränkte.
Wie wäre es gewesen, mit ihm hier am Meer spazieren zu gehen? Hätte er die Segel am Horizont gemocht? Sich so wie sie vorgestellt, wohin die Schiffe reisen mochten?
Sie sollte wieder schwanger werden, dachte Lyvianne. Es war genug Zeit seit dem Abend in den Mangroven vergangen. Der Gedanke war ihr in der letzten schlaflosen Nacht gekommen. Ja, sie hatte auch schon einen Liebhaber für sich auserkoren, doch zum ersten Mal in ihrem langen Leben hegte sie Zweifel, ob sie ihn verführen könnte. Einst hatte er eine Göttin geliebt. Was sollte ihn da eine Elfe reizen?
Und würde sie es ertragen können, wenn er auf ihr lag und sie in das Antlitz eines Ebers sah? Würde sie ihn küssen können? Lyvianne wusste, dass er sich den abstoßenden Kopf erwählt hatte. Er konnte seine Gestalt verwandeln. Wie er wohl ausgesehen hatte, bevor er sich entschieden hatte, der Ebermann zu sein? Warum hatte er beschlossen, ein Ungeheuer zu werden?
Lyvianne strich sich ihre Haare zurück, die sie endlich wieder offen tragen konnte. Sie konnte nicht aufhören, über den Devanthar nachzudenken. Wie würde ein Kind von ihm aussehen? Würde sie interessanter für ihn, wenn sie herausfand, was Iyali über Anatus Tod gewusst hatte? Und war ein Liebesabenteuer mit einem Albenkind für ihn überhaupt denkbar? Wenn sie ein Kind von einem Devanthar empfing, würde es die Welt verändern. Selbst wenn es nur einen Bruchteil seiner Anlagen erbte, wäre es machtvoller als je ein Elf zuvor. Vielleicht wäre auch das ein Weg zum Frieden?
Lyvianne lachte leise. Das war Träumerei. Sie wollte einfach nur ein Kind von ihm. Dass es Frieden stiften könnte zwischen Daia und Albenmark, war ein absurder Gedanke.
Die Elfe bog vom Weg an der Küste in den Wald ab. Die Kiefernstämme glühten im Abendlicht, während in den Kronen der Bäume schon die Schatten der Nacht nisteten. Sie genoss den Duft der Kiefernnadeln und schob ihre ehrgeizigen Träume von sich. Nun galt es, ganz hier zu sein. All ihre Gedanken auf den Grund ihrer Anwesenheit zu richten.
In der Ferne hörte sie das leise Summen der Bienenstöcke. Wenn die Sonne im Meer versunken war, würde es verstummen.
Durch die Bäume sah sie das Licht im Haus der Imkerin. Zwei kleine, goldene Fenster in einem schmucklosen Haus mit tief hinabgezogenem Dach, unter dessen Traufen Holzscheite entlang der Hauswand gestapelt waren. Das Heim der Imkerin lag inmitten einer Lichtung voller Wildblumen. Hier hing noch der Duft des Sommers in der Luft, während in der Snaiwamark schon der Winter aufzog. Lyvianne setzte sich auf einen gestürzten Stamm, verborgen unter tief hängenden Ästen. Deutlich sah sie das Mädchen im gelben Kleid bei den Bienenstöcken. Die Kleine war weniger als dreißig Schritt entfernt. Mit glockenheller Stimme sang sie den Bienen ein Abendlied.
Der Elfe gingen die Verse durch den Kopf, die sie ihren Kindern gesungen hatte: Schattengeber, Träumeweber, wandern durch die Nacht …
Lyvianne schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf den Zauber, mit dem sie ihre Kleinen so oft erfreut hatte. Sie hauchte ein Wort der Macht und stellte sich einen kleinen Punkt aus hellem Licht vor. In Gedanken ließ sie ihn tanzen, honigfarbene Linien durch das Dämmerlicht ziehen. Schneller und schneller, bis die Linien Flächen formten und dann eine Gestalt. Einen Schmetterling, der in gaukelndem Flug vor ihr in der Luft tanzte, als sie die Augen wieder öffnete. Ein Geschöpf aus zartem Licht, ganz und gar ihrem Willen unterworfen.
Die Elfe entließ den Schmetterling aus den Schatten des Waldes und lenkte seinen Flug hin zu den Bienenkörben am Rand der Lichtung. Dann erhob sie sich und trat hinter einen Kiefernstamm.
Bald hörte sie, wie das Lied des Mädchens im gelben Kleid verstummte.
Lyvianne wartete ein wenig, dann befahl sie den Schmetterling in Gedanken zurück in den Wald. Wie erwartet, folgte das Mädchen dem strahlenden Trugbild.
Lyvianne ließ den Falter aus Licht auf dem gestürzten Baumstamm landen, auf dem sie eben noch gesessen hatte.
»Endlich wartest du auf mich«, erklang die helle Stimme. »Einen so schönen Schmetterling habe ich noch nie gesehen. Woher kommst du nur?«
Bevor die Kleine den Schmetterling erreichte, ließ Lyvianne ihn erneut auffliegen. Dann trat sie hinter dem Kiefernstamm hervor. »Hier bist du, du Ausreißer?«
Erschrocken blieb das Mädchen stehen und sah sie mit weiten Augen an.
Lyvianne streckte die rechte Hand vor und ließ den Schmetterling anmutig auf ihrem Handrücken landen. »Wer bist denn du? Hat mein Ausreißer eine kleine Freundin gefunden?«
Statt zu antworten, schluckte das Mädchen nur.
Lyvianne ging in die Knie, sodass sie einander auf Augenhöhe begegneten. »Habe ich dich erschreckt? Bitte entschuldige.«
»Bist du … eine Zauberin?«
»Ja, das bin ich«, entgegnete sie freundlich. »Dieser kleine Schmetterling ist aus Magie und meinen Träumen gewoben.«
»Darf ich ihn auch einmal auf der Hand halten?«
Lyvianne lächelte. »Natürlich. Streck deine Hand vor.« Sie ließ den Schmetterling zu dem Mädchen fliegen und flocht einen weiteren Zauber ein, der die Glücksgefühle der Kleinen noch verstärkte, als die Lichtgestalt sie berührte.
»Er ist so schön! Wie machst du das?« Sie blickte aus hellen, himmelblauen Augen zu ihr auf. Ihr schmales Gesicht glühte vor Begeisterung. Die Scheu des ersten Augenblicks war vergessen. Lyvianne betrachtete das Mädchen durch ihr Verborgenes Auge. Die Kleine hatte die Gabe. Sie war nicht sonderlich ausgeprägt, aber sie würde eine Zauberweberin werden können, wenn jemand ihr Talent förderte.
»Es kostet viel Zeit und Geduld, wenn du die Zauberkunst erlernen willst.«
»So wie beim Lesen- und Schreibenlernen?«
Lyvianne musste lachen. »Ich fürchte, noch mehr. Aber ich bin mir sicher, du könntest es schaffen. Ich spüre deine Begabung.«
»Würdest du meine Lehrerin sein?«, platzte es aus ihr heraus.
Es war so leicht, dachte die Drachenelfe beklommen. »Würdest du mit mir kommen? Wie heißt du eigentlich?«
»Myrella.« Die kleine Elfe sah zurück zur Lichtung. Es war nun fast dunkel. Nur die beiden erleuchteten Fenster waren noch deutlich zu erkennen. »Es ist spät. Meine Mutter wird sich Sorgen machen …«
»Um eine Zauberweberin zu werden, muss man schon ein wenig mutig sein, Myrella. Du musst deine eigenen Entscheidungen treffen. Ich habe einen Saal voller Schmetterlinge aus Licht. Wenn viele von ihnen gemeinsam fliegen, erklingt eine Melodie, die dir das Herz aufgehen lässt. Wie sie das machen, habe ich nie ergründen können. Aber vielleicht würden wir dieses Geheimnis ja gemeinsam enträtseln können.«
»Du hast ein ganzes Zimmer voller Schmetterlinge?«
»Kein Zimmer. Es ist ein Saal, größer als die Hütte deiner Mutter.«
»So groß! Wie die Paläste auf den Klippen von Mylal? Ich war schon drei Mal in der Stadt. Meine Mutter muss manchmal dorthin, wenn sie ihren Honig verkauft.«
»Und dein Vater?« Jetzt sah auch Lyvianne zur Lichtung. Sie sollte sich beeilen!
Myrella schluckte. »Er ist … Mein Vater ist tot. Ertrunken. Er war Kapitän auf einem der Schiffe, die von Mylal bis zur fernen Lotussee reisen. Von seiner letzten Fahrt kehrte er nicht zurück.« Sie schluchzte leise. »Drei Jahre ist das her. Und ich beginne zu vergessen, wie er ausgesehen hat. Sein Bild verwischt in meiner Erinnerung.« Jetzt rannen Tränen über ihre Wangen. »Dabei habe ich nicht aufgehört, ihn zu lieben.«
Lyvianne legte dem Mädchen sanft die Hand auf die Schulter. »Ich kann dir helfen. Ich kenne einen Zauber, der Bilder unauslöschlich in unsere Erinnerung brennt.«
»Wirklich?«
»Dafür brauchen wir einen Kristall aus meinem Palast. Er verstärkt deine Erinnerungen. Du sagtest ja, dass du bereits begonnen hast zu vergessen.«
Myrella begann hemmungslos zu schluchzen. »Ja … Ich bin schuld an seinem Unglück. Und jetzt beginne ich ihn auch noch zu vergessen! Ich hab das alles nicht gewollt!«
Lyvianne tupfte ihr mit einem Zipfel des Leinensacks die Tränen fort. »Komm.« Voller Sorge sah sie zur Lichtung. Sicherlich würde bald Myrellas Mutter nach draußen kommen und nach ihrer Tochter suchen.
»Wo ist denn dein Palast?«
»Nicht weit von hier, im Herzen des Waldes.« Die Drachenelfe erhob sich. »Komm, gehen wir hin.«
Die Kleine blieb stehen und runzelte die Stirn. »Ich kenne den ganzen Wald. Hier gibt es keinen Palast.«
Lyvianne lachte leise. »Du Dummerchen. Glaubst du wirklich, den Palast einer Zauberweberin könnte man einfach so sehen? Du musst an der richtigen Stelle stehen und das geheime Wort nennen, dann wird er sichtbar, und du kannst ihn betreten.«
»Natürlich …« Ein Schluchzer begleitete das Wort. Jetzt kam sie zu ihr und ergriff voller Vertrauen ihre Hand. Myrellas Finger waren eiskalt. »Kannst du meinen Vater zurückbringen? Wenn du einen ganzen Palast verschwinden lassen kannst, dann kannst du doch auch sicher einen verschwundenen Vater wieder zurückholen! Er muss wieder zurückkommen! Ich muss ihm sagen, wie leid es mir tut …«
»Ich will dich nicht belügen. Tote zurückzuholen übersteigt meine Fähigkeiten. Aber ich verspreche dir, dass wir das Bild deines Vaters in deiner Erinnerung wieder lebendig werden lassen.«
Myrella begann wieder leise zu schluchzen.
Lyvianne strich ihr durch die goldenen Locken.
»Ich hätte ihn küssen müssen …«, stieß sie zwischen Schluchzern hervor. »Er hat es sich so sehr gewünscht. Meine Küsse seien sein Talisman, hat er gesagt. Sie brächten ihm Glück. Aber ich habe ihn nicht geküsst, weil ich so wütend auf ihn war, dass er wieder zu einer langen Reise aufbrechen wollte. Ich bin schuld, dass sein Schiff in den Sturm geraten ist. Ich habe ihm sein Glück gestohlen. Ein glückloser Seemann darf sich nicht auf das Meer hinauswagen, weißt du. Er lockt die Stürme an.«
Was für Unsinn, dachte Lyvianne und war doch zugleich auch berührt von der Verzweiflung des Mädchens. »Wenn du durch einen verweigerten Kuss einen Sturm heraufbeschwören könntest, dann wärst du schon jetzt eine größere Zauberweberin als ich und ich müsste bei dir in die Lehre gehen.«
Myrella sah zu ihr auf. »Wirklich?«
»Es war ein Unglück, dass das Schiff in den Sturm geraten ist. Es war nicht nett von dir, deinen Vater ohne Kuss gehen zu lassen. Doch das ist die ganze Geschichte. Du hast bestimmt keine Schuld an seinem Schicksal.«
»Aber ich hab ihm doch sein Glück gestohlen«, sagte sie leise.
»Hast du denn je aufgehört, ihn zu lieben?«, fragte Lyvianne streng.
»Nein! Niemals …« Die Kleine brach wieder in Tränen aus.
Lyvianne drückte ihre Hand und zog sie näher an sich heran. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis. Erwachsene spüren tief in ihrem Herzen, ob sie geliebt werden. Ein Herz hat keine Augen und keine Ohren. Nichts kann es täuschen. Es kennt immer die Wahrheit, deshalb solltest du im Zweifel immer auf dein Herz hören. Und es gibt noch ein Geheimnis. Väter verzeihen ihren Töchtern fast alles. Er wird gewusst haben, dass du ihm den Kuss verweigert hast, weil du ihn so sehr liebtest, dass du nicht wolltest, dass er geht. Wie könnte man darüber böse sein.«
»Du weißt so viel«, sagte Myrella nach einer Weile. »Kommt das, weil du eine Zauberweberin bist?« Die kleine Elfe hatte aufgehört zu weinen.
»Mein Leben währt schon sehr lange, und wer wachen Sinnes ist, hört niemals auf zu lernen.«
»Meine Mutter will nicht, dass ich über Vater mit ihr rede … Ich darf nicht einmal mehr seinen Namen sagen. Und wenn ich mich nicht daran halte, fängt sie sofort an zu schimpfen. Oder sie wird ganz still und weint … Das ist noch schlimmer als ihr Schimpfen.«
Während sie redeten und gingen, war die Sonne untergegangen. Tiefe Dunkelheit hatte sich über den Wald gelegt. Vor ihnen erklang das Quaken von Kröten. Bald hätten sie jenen Ort erreicht, an dem der Wald am finstersten war. Eine sumpfige Senke, in der die Bäume in fauligem Wasser wurzelten. Fast wie in den Mangroven, in denen sie ihren Sohn ertränkt hatte, dachte Lyvianne.
»Sind wir hier richtig? Liegt dein Palast etwa im Sumpf. Das ist ein böser Ort. Meine Mutter hat mir verboten, dorthin zu gehen.«
»Mach dir keine Sorgen. Wir gehen an einen Ort, an dem alles Leid endet. Fürchtest du dich etwa?«
Myrella sah zu ihr auf. Das goldene Licht des Schmetterlings, der mit ihnen flog, strahlte über ihr lächelndes Gesicht. »Nein, ich habe keine Angst. Mein Herz sagt mir, dass ich dir vertrauen kann. Und ich habe entschieden, von nun an immer auf mein Herz zu hören.«
Shaya taumelte vor Müdigkeit. Sie waren wieder an das Ende der Marschkolonne zurückgefallen. Oder noch weiter? Sie wusste es nicht. Ihr Heer begann sich immer schneller aufzulösen. Am Morgen hatte sie einen erfrorenen Jaguarmann gesehen. Einen Jaguarmann! Sie hatte diese unheimlichen Kreaturen für fast unsterblich gehalten. Doch der Winter machte keine Unterschiede. Sie hätten niemals hierherkommen dürfen.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Ninwe. Ihre Freundin hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und stützte sich schwer auf sie.
»Ein bisschen noch«, stieß Shaya gequält hervor. »Wir müssen weitergehen, solange es noch hell ist. Wir dürfen nicht den Anschluss verlieren.«
Sie erreichten die Kuppe eines flachen Hügels. So weit das Auge reichte, reihte sich ein Hügel an den anderen. Ihr Weg war durch zerstampften Schnee markiert und durch die Gestalten in zerlumpter Kleidung entlang der Marschroute. Hundertfach führten sie Shaya vor Augen, was geschah, wenn man sich einen Moment lang setzte, um neue Kraft zu schöpfen. Wenn man es zuließ, dass einem die Augen zufielen. Nur einen Moment lang …
»Komm!«, sagte Shaya. »Heute Morgen habe ich gehört, dass es nur noch fünfzig Meilen sind. Das schaffen wir sogar im Hüpfen.«
Ninwe war zu erschöpft, um zu antworten. Ihr Gesicht war gerötet vom Frost. Die Nasenspitze dunkel verfärbt. Sie starrte geradeaus, ohne die geringste Emotion zu zeigen.
»Siehst du die Berge am Horizont?« Shaya deutete auf die schmale Linie aus Schatten, die sich am Horizont über das endlose Weiß erhob. »Dahinter liegt das Weltentor. Dort sind wir in Sicherheit. Wir sind über zweihundert Meilen marschiert. Ich verbiete dir, auf dem letzten Stückchen schlappzumachen.«
Ninwes Mundwinkel zuckten. Shaya nahm das als Andeutung eines Lächelns. Die Kriegerin erlaubte sich einen Moment lang, im Stehen die Augen zu schließen. Sie träumte von einem Feuer in der Mitte einer Jurte und davon, wie sie, in Decken eingehüllt, dem singenden Wind lauschte, so wie sie es als Kind während der endlosen Winter in der Steppe so oft getan hatte. Was würde sie nicht für einen Becher warmer Yakmilch geben!
Mit einem Seufzer öffnete sie die Augen. Sie durfte sich nicht gehen lassen. Was sie gerade getan hatte, war dumm und gefährlich.
»Lass mich zurück«, flüsterte Ninwe. Es war das erste Mal seit Stunden, dass ihre Freundin sprach.
»Red keinen Unsinn!«
»Ohne mich kannst du es schaffen.«
Shaya ignorierte sie und stapfte los. Sie zog Ninwe mit sich, die keine Kraft mehr hatte, noch weiter zu sprechen. Immer schwerer lastete der Arm ihrer Freundin auf ihren Schultern. Ninwe hatte recht. Ihr Gewicht würde sie beide zu Boden drücken.
Die Steppenreiterin biss die Zähne zusammen. Sie würde nicht aufgeben! Außer ihrer Freundin gab es fast nichts mehr zu tragen. Die Beutel und Taschen, die sie mit allerlei Pülverchen und getrockneten Kräutern gefüllt gehabt hatte, waren leer. Die meisten hatte sie inzwischen fortgeworfen. Ein Mittel gegen Durchfall und etwas gegen Schlaflosigkeit, das war alles, was sie noch hatte. Sie sollte auch diesen nutzlosen Plunder fortwerfen.
Ein Stück voraus regte sich etwas. Drei Gestalten mit schneegepuderten Decken erhoben sich am Rand des Weges. Shaya blickte in die harten, ausgemergelten Gesichter dreier Steppenreiter. Blutunterlaufene Augen sahen sie und Ninwe gierig an. Die Ischkuzaia waren lange Winter gewöhnt. Auch wenn ihre Pferde längst alle tot waren, so hatten die Reiter diesen Marsch der Qualen doch besser überstanden als die meisten anderen Krieger.
»Gib uns deinen Mantel, Dickerchen. Du brauchst ihn ohnehin nicht mehr!« Der Wortführer deutete mit seinem Speer auf Ninwe.
Er hatte sie in seiner Muttersprache angesprochen. Ganz sicher hatte Ninwe kein Wort verstanden. Aber wie er mit dem Speer auf sie deutete, war unmissverständlich.
»Lass sie!«, sagte Shaya ruhig. »Du machst deinen Ahnen Schande, Bruder.«
Der Wortführer ließ den Speer sinken und sah sie überrascht an. »Trenn dich von ihr, Schwester. Sieh sie dir an. Sie wird ohnehin nicht überleben. Ihr Mantel wird mir besser nutzen. Ich habe noch die Kraft, bis zum Weltentor zu gehen, wenn ich mich nur vor der Kälte schützen kann.«
»Du wirst nicht Hand an sie legen, Bruder.«
Die drei sahen sich an und lächelten. »Wer sollte das verhindern, Schwester? Der Weiße Wolf? Er ist nicht hier. Er will, dass wir uns selbst helfen. Und sogar dir werde ich helfen, indem ich dich von dieser Last befreie. Vielleicht schaffst du es dann auch noch.«
»Setz dich bitte in den Schnee, Ninwe«, sagte Shaya ruhig.
Ihre Freundin sah sie erschrocken an, als sie ihren Arm von den Schultern streifte. »Du …« Ninwe standen Tränen in den Augen. »Nach alldem …«
Shaya wandte sich von ihr ab. Sie streckte sich und bewegte den Kopf, um ihren Nacken zu entspannen. »Kehre auf den Pfad des Kriegers zurück, Bruder. Dies ist die letzte Gelegenheit.«
»Oder was?« Der Wortführer der Ischkuzaia deutete nun mit seinem Speer auf sie. »Ich will dir nichts antun, Schwester, aber du wirst uns nicht aufhalten.« Er nickte den beiden anderen zu. Der Krieger rechts von ihm zog eine Dornaxt aus seinem Gürtel, der andere ein kurzes Bronzeschwert. »Geh einfach weiter, Schwester. Lass sie im Schnee sitzen.«
»Das kann ich nicht.« Shaya hob beide Hände und streifte die Kapuze ihres Umhangs zurück. Der Elf, der sie aus dem Kloster in Luwien befreit hatte und an ihrer Stelle gestorben war, hatte ihr Gesicht verändert. Nicht einmal die Männer aus der Leibwache ihres Vaters würden sie jetzt noch wiedererkennen.
Sie griff mit beiden Händen in ihr Haar und strich es nach hinten. Die Geste beruhigte den Krieger. Sie sah, wie sich sein Gesicht entspannte. Selbst, als sie einen Schritt nach vorne trat, ahnte er nicht, was kommen würde. Sie hatte in der Vergangenheit stets an der Spitze ihrer Männer gekämpft. Sie war eine Kriegerin gewesen und hatte es geliebt.
Pfeilschnell schossen ihre Hände nach vorn und entrissen dem Wortführer den Speer. Sie rammte das stumpfe Ende dem Krieger mit der Dornaxt in den Bauch, riss die Waffe zurück und versenkte die Speerspitze in der Brust des Wortführers, der sich ihr halb zugewandt hatte.
Ohne sich umzudrehen, duckte sie sich. Ein Schwertstreich verfehlte sie nur um wenige Zoll, als sie die Dornaxt aufhob, die in den Schnee gefallen war. In der Hocke wirbelte sie herum. Die Axt traf den dritten Angreifer im Knie.
Mit einem gellenden Schrei versuchte er, vor ihr zurückzuweichen, strauchelte und stürzte nach hinten, während das Blut in pulsierenden Stößen aus seiner Wunde spritzte.
Shaya zog ihren Dolch und schnitt dem Krieger, dem sie das stumpfe Speerende in den Magen gerammt hatte, die Kehle durch. Dann sah sie nach den beiden anderen. Sie waren zu schwer verletzt, um noch eine Gefahr zu sein.
»Ich lasse euch für die Grünen Geister zurück. Sollen sie eure Seelen nehmen. Ihr seid es nicht würdig, zu euren Ahnen zu gehen.«
»Wer … wer bist du?«, stammelte der Wortführer.
»Das wirst du nie erfahren.« Shaya wandte sich müde ab und half Ninwe auf die Beine. Ihre Freundin war dicht zu einem der Sterbenden herangekrochen. Jetzt sah sie voller Angst zu ihr auf. Von dem, was gesprochen worden war, konnte sie nichts verstanden haben. Sie beherrschte die Sprache der Steppe nicht, da war sich Shaya ganz sicher.
»Wer bist du?«, fragte nun auch sie, während Shaya ihr den Schnee aus dem Pelzmantel klopfte.
»Jetzt bin ich wieder die Heilerin, die du kennst.«
Die beiden Krieger hinter ihnen vergeudeten ihre letzte Kraft damit, sie zu verfluchen. Shaya schlang sich Ninwes Arm um die Schultern und führte sie weiter den Hang hinab. Nie zuvor hatte das Gewicht ihrer Freundin so schwer auf ihr gelastet.
»Weißt du, vom ersten Tag an haben alle Mädchen über dich geredet. Du warst immer anders. Keine Hure … und auch keine Wäscherin oder Köchin.« Ninwe musste um jedes der Worte kämpfen. Ihr Atem ging stoßweise.
»Kira hat dich einmal nackt gesehen. Deine Narben … Sie glaubte, du seist eine Sklavin gewesen. Sie hat sich geirrt, nicht wahr? Du warst eine Kriegerin. Du kommst aus der Steppe. Die drei haben dich erkannt. Du bist eine von ihnen.«
»Das stimmt, und jetzt solltest du besser deinen Atem sparen. Gleich geht es wieder bergan.«
»Sie haben dir bestimmt gesagt, dass du mich zurücklassen sollst.«
»Wenn du nicht aufhörst zu reden, könnte ich auf die Idee kommen, es zu tun.«
»Das wäre klug«, sagte Ninwe ernst. »Und du solltest meinen Mantel nehmen. Er wird dir das Leben retten.«
»Ich will davon nichts hören. Wir beide schaffen das und wenn ich dich dazu auf meinen Schultern tragen müsste.«
Ihre Freundin lachte leise. »Ich traue dir zu, dass du es versuchen würdest … Du würdest sogar …« Die Abstände zwischen den Worten wurden immer länger. Dann endlich war sie still. Schwere, keuchende Atemzüge, das war alles, was sie noch von sich gab, und Shaya dankte still den Göttern dafür, dass endlich Ruhe war.
Schritt um Schritt kämpften sie sich den nächsten Hang hinauf. Immer entlang der von Toten gesäumten Straße. Als sie die nächste Hügelkuppe erreichten, war auch Shaya nah am Ende ihrer Kräfte. Sie half Ninwe, sich auf einen schneebedeckten Stein zu setzen, und kämpfte gegen die Verlockung an, erneut die Augen zu schließen. Nur kurz … Ein paar Herzschläge. Sie senkte den Blick. Nicht nachgeben! Da bemerkte sie die blutgetränkten Nähte von Ninwes Stiefeln. Das starke, weiße Garn, mit dem die Sohle vernäht war, war dunkelrot verfärbt.
»Was ist mit deinen Füßen? Du hinkst schon seit Tagen! Hast du dich verletzt.«
»Alles in Ordnung«, kam die Antwort zwischen schweren Atemzügen.
»Ich muss mir deine Füße ansehen«, beharrte Shaya.
»Ich kann meine Stiefel nicht ausziehen«, begehrte Ninwe mit überraschender Kraft auf. »Meine Füße sind geschwollen. Ich würde die Stiefel nie wieder anziehen können. Du willst mich doch nicht barfuß durch den Schnee laufen lassen.«
Shaya hob die Hände. »Schon gut. Du hast recht. Das war eine dumme Idee.« Sie richtete sich auf. »Ich hab solchen Durst.«
»Ich auch«, stöhnte Ninwe.
Shaya stellte sich hinter sie und strich über das volle, rote Haar ihrer Freundin. »Wenn wir es geschafft haben, werde ich einen ganzen Tag in einem heißen Bad liegen.«
Ninwe seufzte. »Schön. Nimmst du mich mit?«
»Ich sagte doch, du wirst bei mir sein. Selbst wenn ich dich dafür auf dem Rücken tragen muss.« Sie drückte auf den Nervenpunkt hinter dem Ohr und spürte augenblicklich ihre Gefährtin in sich zusammensinken.
»Schlaf«, sagte sie leise, ließ Ninwe von dem Felsen gleiten und lehnte sie mit dem Rücken gegen den Stein. Dann zog sie ihr Messer und trennte die Nähte des linken Stiefels auf.
Behutsam zog sie den zerschnittenen Stiefel vom Bein. Ninwe hatte sich Stoffstreifen um die Füße gewickelt. Dadurch war der Stiefel so eng geworden, dass er ihren Fuß gequetscht haben musste. Wahrscheinlich hatte ihre Freundin deshalb seit Tagen gehinkt. Sie hätte diese Stiefel gar nicht erst tragen dürfen!
Voller Sorge wickelte Shaya die Stoffstreifen ab. Sie knisterten und waren steif gefroren. Fassungslos sah sie auf den nackten Fuß, als sie ihr Werk vollendet hatte. Die Zehen waren schwarzblau verfärbt. An den Gelenken der Zehen hatten sich dicke Beulen gebildet. Der übrige Fuß war dicht mit dunkelroten Flecken übersät.
Shaya betastete das erfrorene Fleisch. Sie wusste, dass der Fuß nicht mehr zu retten war. Nur Blut gab es keins. Ninwe musste mit dem Stiefel in eine Blutlache getreten sein. So eng, wie sie ihren Fuß eingewickelt hatte, konnten weder das Stiefelleder noch die Stoffstreifen wärmen. Wahrscheinlich war auch Feuchtigkeit in den Stiefel gedrungen. Es war ein Wunder, dass sie mit den erfrorenen Zehen überhaupt so weit gekommen war.
Shaya schnitt den zweiten Stiefel auf und zuckte zurück. Ninwes rechter Fuß sah noch schlimmer aus! Er war bis über die Mitte des Spanns hinauf schwarz geworden. Shaya hatte Dutzende erfrorene Füße in den letzten Tagen gesehen. Und immer war sie machtlos gewesen. Die erfrorenen Glieder zu massieren mochte dazu führen, dass kaltes Blut aus Armen und Beinen in den Körperkern zurückfloss und den Tod beschleunigte.
Bei manchen der Erfrierungsopfer hörte einfach das Herz auf zu schlagen. Tränen hilfloser Wut stiegen Shaya in die Augen. Wenn es einen warmen Ort gäbe, an den sie Ninwe bringen könnte, würde sie ihr die Füße amputieren. Dort gäbe es Hoffnung. Aber hier draußen im Eis …
Vernünftig wäre es, ihre Freundin einfach schlafen zu lassen. Ninwe würde wahrscheinlich nicht mehr erwachen. Aber das konnte sie nicht. Auch waren da noch die Grünen Geister. Vielleicht würden sie kommen und ihr das Lebenslicht stehlen? Und das Letzte, was ihre Freundin, verlassen von allen, sehen würde, wäre eine dieser grässlichen Kreaturen.
Shaya seufzte und kauerte sich neben Ninwe in den Schnee. Sie rieb sich die eiskalten Hände, die der Atem des Winters ganz rot hatte werden lassen. Ein prickelnder Schmerz stach in ihre Finger.
»Du hast es also doch getan«, schreckte die müde Stimme ihrer Freundin sie aus den Gedanken.
Schuldbewusst sah Shaya zu den zerschnittenen Stiefeln, die neben ihr im Schnee lagen. »Ich musste …«, sagte sie gepresst. »Ich hatte gehofft … Wie kommt es, dass du wieder wach bist? Du solltest stundenlang schlafen.«
»Hatte einen blöden Traum. Von ’nem Freier, der mir die Nase eingeschlagen und mich um mein Kupferstück geprellt hat. Er war einer der ersten Kerle gewesen, mit denen ich es für Geld getan habe. Er verfolgt mich immer noch in meinen Träumen. Ich werde dann immer schweißgebadet wach.« Sie seufzte. »Wäre schön, jetzt schweißgebadet zu sein.«
»Du hättest die Stiefel längst ausziehen müssen. Ich hätte dir helfen können!«
Ninwe sah sie traurig an. »Ich hätte sie nie wieder anbekommen. Und dann … Hätte ich barfuß durch den Schnee laufen sollen? Wären meine Füße dann nicht erfroren? Nein, es war gut so.« Sie betrachtete ihre schwarzen Zehen mit den unförmigen Beulen darauf. »Ich wünschte, ich hätte das nie gesehen. Meine Füße waren das Einzige an mir, das klein und zierlich war. Ich hab sie immer geliebt.«
Shaya wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schämte sich dafür, Ninwes Stiefel aufgeschnitten zu haben, doch als Heilerin hatte sie nicht anders handeln können. »Du hast wunderbares Haar«, sagte sie schließlich. »Ich habe dich immer um deine rote Mähne beneidet. Alle Männer lieben sie.«
Ihre Freundin schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Weißt du, was ich immer geglaubt habe? Dir sind alle Männer egal, außer einem, von dem ich nie erfahren werde.«
Shaya dachte an den Unsterblichen Aaron. Seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr über ihn gehört. »Du kennst dich mit Männern und Frauen aus.« Sie stemmte sich hoch. »Wir müssen weiter!«
»Ohne Stiefel?«
»Du wirst nichts spüren, das verspreche ich dir!«
»Weil meine Füße ohnehin schon tot sind? Ich weiß, was du tun willst, wenn ich es tatsächlich bis zum Weltentor schaffen sollte.« Sie schüttelte den Kopf und schob eine Hand tief in die Seitentasche des Pelzmantels. Plötzlich hatte sie ein Messer in der Hand.
Bevor Shaya etwas unternehmen konnte, hatte Ninwe sich die Klinge über die Innenseite des Oberschenkels gezogen.
»Was tust du da?« Die Heilerin griff nach den Stoffstreifen, die sie von den Füßen ihrer Freundin gewickelt hatte. Sie musste die Wunde abschnüren, sofort.
»Ich rette dein Leben.« Ninwe deutete mit dem Messer auf sie. »Verbinde es nicht. Ich will nicht gerettet werden, nur damit du mir dann die Füße abschneidest. Hier endet mein Weg. Ich schenke dir meinen Mantel. Aber bitte bleib bei mir, bis es vorüber ist. Ich möchte nicht, dass die Geister mein Licht trinken …«
Shaya rang die Hände. Dann ließ sie die Stoffstreifen sinken. Sie konnte Ninwe verstehen.
Dunkles Blut färbte den Schnee. Matt hob die Hure die Schöße des Mantels, damit sie nicht nass wurden. »Wir haben immerzu gerätselt, wer du bist. Es gab zahllose Wetten. An eine Kriegerin hatte niemand gedacht.« Sie lächelte schief. »Frauen sollten nicht … Aber es war eine Freude zu sehen, wie du es den dreien besorgt hast. Es gibt zu viele Mistkerle. Zu viele, die Spaß daran haben, uns wehzutun … Die glauben, sie könnten alles mit uns machen, nur weil sie uns ein Kupferstück in die Hand gedrückt haben.« Ihr Kopf sackte ihr auf die Brust. Mit letzter Kraft stemmte sie ihn noch einmal hoch. »Wer bist du?«
»Ich bin Shaya, die siebenunddreißigste Tochter des Unsterblichen Madyas, Großkönig von Ischkuza, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes. Ich bin eine Kriegerprinzessin aus dem Volk der Steppenreiter und war die Geliebte des Unsterblichen Aaron.«
Ninwes Augen füllten sich mit Tränen. »Eine Prinzessin …« Sie schien nicht den geringsten Zweifel an der Wahrheit der Worte zu haben. »Eine Prinzessin war meine Freundin.« Tränen rannen ihr über die Wangen, doch jetzt lächelte sie. »Schade … dass ich … gehen muss …« Ihr Kopf sackte ihr auf die Brust.
Shaya schob ihr sacht die Hand unter das Kinn, sodass sie Ninwe wieder in die Augen sehen konnte. Sie schien durch sie hindurchzublicken.
»Es ist mir eine Ehre, dass du mich Freundin nennst.«
Ein letztes, schwaches Lächeln spielte um Ninwes Lippen. Dann veränderte sich ihr Blick und wurde starr. Sie sah etwas, das nicht mehr in der Welt der Sterblichen lag.
Der Mantel half. Shaya kauerte unter einem Felsvorsprung in den Ausläufern der Berge, die zwischen den letzten Eiskriegern und dem Weltentor lagen. Sie fror nicht mehr so sehr. Vielleicht auch, weil ihr Lebenslicht zu verlöschen begann. Der Nordwind trieb Schnee über sie hinweg. Ihre rechte Hand tastete über den Boden. Mit steifen Fingern schob sie ein wenig Schnee zusammen und formte ein Kügelchen daraus. Sie hatte so entsetzlichen Durst!
Shaya hob die zitternde Hand an ihre Lippen und schob sich die Schneekugel in den Mund. Sie war nicht größer als eine Fingerkuppe. Alles zog sich in ihr zusammen, als der Schnee ihre Zunge berührte. Es fühlte sich an, als würde die letzte Wärme aus ihrem Körper hinauf in den Mund gezogen, um dort zu vergehen. Sie brauchte Wasser, das wusste sie, aber dieser Preis war zu hoch.
Mit bebenden Fingern tastete sie nach der halb zerschmolzenen Kugel und warf sie in den Schnee zurück. Dann schluckte sie das wenige Eiswasser, das sich in ihrem Mund gesammelt hatte. Es fühlte sich an, als schnitte eine kalte Klinge ihre Kehle hinab. Sie würde das nicht wieder tun, ganz gleich, wie sehr der Durst sie auch quälte.
Shaya schlang ihre Arme um den Leib. Den ganzen Tag über hatten ihnen die Daimonen zugesetzt. Sie waren immer in der Nähe. Ebenso wie die schrecklichen Geister. Ihnen gehörten die endlosen Nächte, wenn man das grüne Leuchten besonders deutlich sah.
Auch jetzt war es nicht weit. Es folgte dem Weg, den sie am Tag zurückgelegt hatten, spielte um jene, die erschöpft zusammengesunken waren, aber noch zu viel Lebenswillen besaßen, um in den Tod hineinzuschlafen.
Inzwischen waren es mindestens sieben oder acht der grünen Riesen, die ihrem Heer folgten. Shaya hatte wieder zu den Truppen aufgeschlossen, dennoch hatte sie nur wenig Hoffnung, dass die letzten Überlebenden den Weg über die Berge schaffen würden. Es gab Gerüchte, dass sich der Unsterbliche Ansur mit seinen kräftigsten Männern und dem Silberlöwen davongemacht hatte, um das Weltentor zu öffnen und Hilfe zu holen. Shaya lächelte bitter. Aaron hatte nicht viel von Ansur gehalten, der sein Gold lieber in den Aufbau Selinunts gesteckt hatte, statt sich um sein Volk zu kümmern. Sollte er vorausgeeilt sein, dann ging es ihm gewiss nur um seine eigene Haut und nicht darum, Hilfe zu bringen.
Blassgrünes Licht fiel vor ihr in den Schnee. Ein Geist musste oben auf dem Felsvorsprung sein. Shaya wagte es nicht aufzublicken. Sie drückte sich noch tiefer in den Spalt, in dem sie Zuflucht gesucht hatte. Spürte der Geist, dass sie hier war?
Andere Flüchtlinge begannen leise zu wimmern oder zu ihren Göttern zu beten. Shaya tastete nach dem Messer, das unter ihrem Mantel verborgen war. Es würde vermutlich nicht gegen die Geister helfen, aber sie war entschlossen, nicht kampflos aufzugeben.
Angespannt beobachtete sie das unstete Licht vor sich im Schnee. Nach einer Weile verschwand es. Vielleicht hatte es anderswo leichtere Opfer gefunden.
Die Heilerin kämpfte gegen den Schlaf an. Ihr kalter Magen half ihr. Die Wärme, die die kleine Schneekugel gefressen hatte, war immer noch nicht wieder zurückgekehrt. Hätte es wenigstens Brennholz gegeben! Ohne Feuer so lange durch Schnee und Eis zu marschieren war Menschen nicht möglich. Manchmal sahen sie in der Ferne die Lichtpunkte der Lagerfeuer der Daimonen. Einzelne Männer hatten sich in den vergangenen Nächten dorthin aufgemacht. Angezogen wie Motten in der Nacht durch die Flammen von Öllampen, hatten sie gewiss, genau wie die Motten, ihr Verderben gefunden. Jedenfalls war keiner von ihnen zurückgekehrt.
Nicht einschlafen, ermahnte sie sich stumm und ertappte sich doch nur wenige Augenblicke später dabei, wie ihr die Augen zufielen. Wieder flackerte grünes Licht vor ihr über den Schnee. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie einer der Geister der Straße hinauf zum Pass folgte. Er war mitten unter den Kriegern. Beugte sich über Schlafende und trank ihr Lebenslicht, ohne dass irgendjemand etwas unternahm. Shaya rappelte sich auf. Waren sie denn alle zu Vieh verkommen, das auf dem Weg zur Schlachtbank war? Sie war kein Schaf und keine Ziege, die widerstandslos ihrem Tod entgegentrottete. »Heh, Geist!« Ihre Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern, und die Worte schmerzten in ihrem ausgedörrten Hals.
Die Kreatur aus Licht hielt inne. Sie schien in ihre Richtung zu blicken. Ganz sicher war sich Shaya nicht. Der Geist war nur formloser, leuchtender Nebel. Da gab es keine Augen, nicht einmal etwas, das nach einem Kopf aussah. Jetzt setzte sich die Kreatur wieder in Bewegung. Wie eine Schlange wand sie sich zwischen den Männern hindurch. Kam in ihre Richtung. Wunderbar, dachte Shaya. Sie hatte den Geist auf sich aufmerksam gemacht. Wie selten blöd war sie denn! Sie hatte keine Waffe, mit der sie diese Bestie ohne Form bekämpfen könnte. Das Letzte, was sie in ihrem Leben sehen würde, wäre, wie dieses Ungeheuer ihr Lebenslicht trank.
Trotzig hob sie das Messer. Davonlaufen würde sie nicht. Wenn es auf diese Art mit ihr zu Ende gehen sollte, dann war es so.
Hinter dem Geist erschien ein mattgelbes Licht auf dem Passweg. Eine Blendlaterne! Shaya hatte so etwas seit vielen Tagen nicht mehr gesehen. Sie war überzeugt gewesen, dass längst alle Reserven an Lampenöl aufgebraucht waren.
Das Licht schien den Geist zu beunruhigen. Er verließ den Weg, verharrte noch kurze Zeit lauernd und zog sich dann ganz zurück. Zwei Männer kamen den Weg hinunter. Immer wieder hielten sie an, beugten sich zu den Kauernden und Schlafenden hinab, leuchteten ihnen in die Gesichter und schienen etwas zu fragen.
Der Wind hatte aufgefrischt. Er trieb Schlieren aus Schnee dicht über dem Boden dahin. Shaya zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Schreck mit dem Grünen Geist hatte ihre Kräfte geweckt. Sie war entschlossen, dies zu nutzen, um ein wenig weiter dem Pass und dem Weltentor entgegenzugehen.
Als sie die Männer erreichte, leuchteten sie auch ihr ins Gesicht. »Hast du die Trösterin gesehen?«
»Warum?« Shaya blinzelte. Geblendet konnte sie die beiden nicht deutlich erkennen. Beide trugen gute Mäntel aus Schaffell und sprachen mit einem Dialekt, der auf die Provinz Garagum hinwies, um die die Großreiche Aram und Luwien vor Kurzem noch Krieg geführt hatten.
»Hast du sie gesehen?«, beharrte der Lampenträger, ein hagerer Mann mit rotem Bart. »Bitte hilf uns. Der Unsterbliche Aaron braucht sie. Es steht verzweifelt schlecht um ihn, und es gibt keinen Heiler mehr. Niemanden, der ihm noch helfen könnte. Die Trösterin ist unsere letzte Hoffnung. Wenn du uns sagen kannst, wo sie ist, dann bitte hilf uns.«
Ihr Herz machte einen Satz, als sie Aarons Namen hörte. Er hatte sich also nicht erholt! »Ich bin die, die ihr sucht.«
»Du?«
Shaya schob die Kapuze des Pelzmantels zurück, sodass ihr Gesicht besser zu sehen war. »Was glaubst du, wie viele Frauen aus dem Tross noch leben? Bringt mich zu ihm!«
»Du!«, kam es erneut vom Rotbart, doch jetzt in gänzlich anderem Tonfall. »Du … Kirum?« Er nahm die Öllampe zurück, sodass jetzt auch sein Gesicht deutlich zu erkennen war. Es war Ormu, der Hauptmann der Kushiten, Befehlshaber der Leibwache des Unsterblichen Aaron. Er hatte sie hundert Mal und öfter im Palast von Akšu gesehen. Wie alle anderen im Palast kannte er sie nur als das Küchenmädchen, das rätselhafterweise die Gunst des Unsterblichen gewonnen hatte und dessen Geliebte geworden war.
»Ich hatte befürchtet, du seist ermordet worden, so plötzlich und spurlos, wie du aus dem Palast verschwunden bist.«
»Wie du siehst, lebe ich noch«, entgegnete sie brüsk. »Nun bring mich zu Aaron!«
»Du bist wirklich die Trösterin?« Ormu musterte sie misstrauisch und tauschte dann einen kurzen Blick mit dem Krieger an seiner Seite.
»Glaubst du, ich würde Aaron schaden?«
»Nein«, sagte er leise. »Ganz gleich, ob du mich belügst oder nicht. Dich wiederzusehen wird ihm guttun. Wenn er dich denn noch erkennt … Komm!« Ormu wandte sich um. Mit langen Schritten eilte er den Passweg hinauf und legte ein Tempo vor, mit dem Shaya nicht mithalten konnte, obwohl die Angst um Aaron ihre Schritte beflügelte.
Endlich wurde Ormu langsamer, doch blieb ihm seine Ungeduld anzumerken. Er vermittelte den Eindruck, als käme es auf jeden Augenblick an. Sein Gefährte, der sichtlich entkräfteter war, schloss wieder zu ihnen auf.
»Was ist mit Aaron?«, fragte Shaya außer Atem.
»Hast du gesehen, wie er und Madyas sich ganz allein dem Heer der Daimonen gestellt haben? Sie sind ihnen auf einem fliegenden Löwen entgegengeritten, haben gegen Riesen, gewaltige Adler und einen tödlichen roten Daimonenfürsten gekämpft. Sie haben uns mit ihrem Opfer Zeit erkauft. Da glaubten wir alle noch, wir könnten durch das Weltentor nahe dem dampfenden Fluss entfliehen. Aaron wurde dabei schwer verwundet. Der Daimonenfürst führte eine Waffe, gegen die nicht einmal der Maskenhelm aus den Schmieden der Götter schützte.« Bewunderung und Schmerz lagen in den Worten des Hauptmanns. Er berichtete davon, wie er dabei gewesen war, als man Aaron den Helm abgenommen hatte. Von einem tiefen Schnitt quer über das Gesicht, von gebrochenen Rippen und dem zerschundenen Leib des Herrschers.
»Wir haben alles für ihn getan. Erst sah es so aus, als würde er sich erholen. Aber dann, vor fünf Tagen, hat ein Fieber ihn gepackt. Es brennt seine letzten Kräfte hinweg. Nichts, was wir versucht haben, hat geholfen. Du bist seine letzte Hoffnung, Kirum. Er liebt dich … Heute hat er den ganzen Tag phantasiert. Er sorgt sich immer noch um seine Männer. Aber er ist nicht mehr klar bei Verstand …« Ormus Stimme brach. »Ich würde mein Leben geben, wenn ihn das retten könnte«, sagte er schließlich niedergeschlagen.
»Ich auch!«, entgegnete Shaya und versuchte, ihre Verzweiflung zu überspielen. Sie hatte nichts mehr, womit sie Aaron hätte helfen können. Alle Kräuter, aus denen sie einen fiebersenkenden Sud hätte brauen können, waren längst aufgebraucht.
»Wenn er nur einen Moment lang zu Sinnen käme«, murmelte Ormu. »Wenn er dich erkennt. Das könnte das Wunder sein, auf das wir alle hoffen. Als du gegangen bist, ist etwas in ihm zerbrochen. Er war nicht mehr der Mann, den ich kannte. Er ist härter und gnadenloser geworden. Er braucht deine Liebe, um der Herrscher sein zu können, der er zu sein wünscht.«
Die Worte schnitten Shaya ins Herz. Sie würde alles für Aaron tun. Aber sie wusste, sie könnte nicht bleiben. Wenn er sich erholte, dann würde sie wieder gehen müssen. Es war unmöglich, dass der mächtigste Herrscher der Welt ein Küchenmädchen zur Frau nahm. Und sie konnte auch nicht verraten, wer sie wirklich war, denn dann würden Išta und vielleicht sogar der Weiße Wolf ihren Tod fordern. Es gab Shaya nicht mehr. Der Daimon, der sie im Bergkloster aufgesucht hatte, war an ihrer Stelle gestorben. Er hatte sie gerettet und ihr zugleich alle Hoffnung gestohlen. So waren sie, die Daimonen! Ihre Geschenke hatten stets eine dunkle Seite.
»Was ist aus dem Unsterblichen Madyas geworden?«
Im flackernden Licht der Laterne war nicht zu übersehen, wie befremdlich Ormu diese Frage fand, war doch all sein Denken nur auf Aaron ausgerichtet. »Tot«, antwortete er knapp. »Seine Männer tragen seinen Leichnam. Sein Sohn hält jede Nacht mit gezogenem Schwert Wacht an der Bahre seines Vaters, damit weder Daimonen noch Geister den Herrscher berühren können.«
Das passte zu Subai, dachte sie zornig. Große Posen! Darin war er ebenso gut wie im Dreschen leerer Phrasen. Seit er und seine Leibwache in Wanu einen großen Drachen getötet hatten, sprach man im ganzen Heer über Subai. Shaya konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass ihr Bruder sich einem Drachen entgegengestellt hatte. Nicht einmal mit hundert Männern an seiner Seite. Sie hatte die tote Bestie in Wanu gesehen, und dieser Drache war eindeutig größer als der Mut ihres Bruders gewesen. Doch diese Heldentat und die Tatsache, dass er den Leichnam seines Vaters zurück zur Wandernden Stadt brachte, würden ihm wahrscheinlich die Gunst des Weißen Wolfes einbringen. Er würde der neue Unsterbliche werden. Ein Blender und Lügner. Ein grausamer Tyrann. Und auch dagegen würde sie nichts unternehmen können. Aus denselben Gründen, aus denen sie nicht Aarons Gemahlin werden konnte. Es gab Prinzessin Shaya nicht mehr. Würde sie beweisen, wer sie war, würde sie zwei Devanthar brüskieren, und sie würde gestehen müssen, dass sie die Hilfe eines Daimons angenommen hatte, um ihrem Tod zu entkommen.
Vor allen Dingen das würde man ihr in einer Zeit, in der die Völker der Welt gegen die Daimonen um ihr Überleben kämpften, niemals verzeihen. Sie war dazu verdammt, im Schatten zu bleiben, ganz gleich, was geschah.
»Hier.« Ormu verließ den Passweg und stieg in die verschneiten Felsen. Halb im Schnee verborgen bemerkte Shaya Krieger mit schweren, weißen Wollumhängen. Kushiten aus der Leibwache des Unsterblichen. Sie standen im Windschatten der Felsen auf ihre Speere gestützt oder kauerten am Boden, blanke Schwerter auf den Knien, bereit, Aaron bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Im Licht der Öllampe erschienen ihre Gesichter eingefallen. Einige trugen blutige Verbände, doch all dies änderte nichts an ihrer zur Schau getragenen Entschlossenheit. Sie waren genauso erschöpft wie alle anderen im Heer, aber Aaron schaffte es, in ihnen eine Flamme lodern zu lassen. Etwas, das sie über alle anderen erhob, das sie dazu brachte durchzuhalten, bis sie tot zusammenbrachen.
Und auch Shaya spürte diese Kraft, als Ormu auf eine mit einer Wolldecke verhängte Felsspalte wies.
»Er ist hier«, flüsterte er, als hätte er Angst, den Schlaf seines Herrschers zu stören, dann schlug er die Decke zur Seite. Die kleine Höhle dahinter wurde von zwei Öllampen beleuchtet. Der Felsboden war mit Decken und zerfetzten Umhängen ausgelegt. Darauf lag Aaron. Nackt! Sein Gesicht war von einem grässlichen Schnitt entstellt, sein Körper bedeckt mit Prellungen. Er wand sich unruhig und stöhnte. Offenbar lag er in tiefem Schlaf.
Shaya trat hastig ein. Es war spürbar wärmer hier. Ormu schlug hinter ihr die Wolldecke herunter und kniete sich besorgt neben seinen Herrscher. »Ich habe ihm kalte Wickel auf seine Stirn und die Beine gelegt, aber das Fieber will nicht sinken. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.«
Der Anblick ihres Geliebten zerriss Shaya das Herz. Sie hatte lange kommen sehen, dass es so enden musste. Er wagte einfach zu viel! Auch sie ging neben ihm in die Knie. Shaya ergriff seine Hand. Die Finger waren viel zu warm und trocken. Es stand kaum Schweiß auf seinem Leib, obwohl das Fieber hoch war. Wie alle im Heer schien auch Aaron zu wenig getrunken zu haben. Seine Lippen waren spröde und rissig.
Sie legte ihre Hand auf seine Brust, dort, wo das Herz war. Sie spürte kaum, wie es schlug. Tausend Bilder drängten auf sie ein. Erinnerungen an leidenschaftliche Liebesnächte, in denen er erschöpft auf ihr gelegen und sie sein Herz stark wie eine Trommel hatte schlagen spüren. Jetzt hob und senkte sich sein Brustkorb selbst bei seinen Atemzügen kaum noch.
»Was können wir tun?«, flüsterte Ormu.
»Wie lange ist er schon bewusstlos?« Shaya beugte sich tief hinab und presste ihr Ohr an seine Brust.
»Zwei Tage … Er … Es schien ihm besser zu gehen. Er hatte sich von seinem Lager erhoben und ein wenig Suppe zu sich genommen. Dann hat er sowohl den Unsterblichen Volodi als auch den Unsterblichen Labarna empfangen. Als er sich anschließend mit den überlebenden Hauptleuten besprechen wollte, ist er ohnmächtig geworden.«
Shaya machte ein Zeichen, dass er schweigen sollte. Angestrengt lauschte sie auf Aarons Herzschlag. Er war nur noch ein unregelmäßiges Flattern. Sie wusste, dass hohes Fieber das Blut klebrig werden ließ. Es verstopfte die Adern und tötete. Aaron war davon nicht mehr weit entfernt. Ratlos hob sie den Kopf.
»Und? Was müssen wir tun, um ihn zu heilen?« Er sah sie so voller Erwartung an, als wäre für ihn ausgeschlossen, dass sie keine Hilfe wüsste.
»Das Fieber wird ihn töten, bevor der Morgen kommt.« Sie konnte Ormu nicht in die Augen sehen, als sie das sagte. Sie hielt den Blick fest auf das Antlitz des Mannes gerichtet, den sie liebte. Sie konzentrierte sich ganz auf die neue Narbe in seinem Gesicht. Ihre Ränder waren aufgewölbt und rot. Spuren von getrocknetem Blut nisteten dunkel im heilenden Fleisch. Die Wunde lief quer über seine Stirn, teilte seine rechte Augenbraue, hatte eine Spur hoch auf dem Nasenrücken hinterlassen und setzte sich unterhalb des linken Auges fort.
Vorsichtig tastete Shaya über die Wundränder. Sie waren nicht entzündet. Hier lag nicht der Ursprung des Fiebers. Aaron hatte großes Glück gehabt. Wäre der Hieb noch ein klein wenig stärker ausgeführt worden, dann würde er jetzt nicht hier liegen.
»Er ist ein Unsterblicher!«, begehrte Ormu gegen ihre Worte auf, als Shaya schon gehofft hatte, er würde ihr Urteil schweigend annehmen.
»So wie Madyas von den Ischkuzaia oder Iwar aus Drusna und Muwatta von Luwien?«, fragte Shaya. Jetzt sah sie auf. »Ein neues Zeitalter hat begonnen, Ormu. Ich glaube nicht einmal mehr, dass unsere Götter unsterblich sind. Sonst wären sie hier, um uns zu schützen. Sie fürchten sich vor dem, was sie entfesselt haben, ebenso wie wir.«
»Nein!«, begehrte der Hauptmann auf. »Nicht Aaron! Es kann nicht sein …« Verzweiflung blitzte in seinen Augen. »Nicht Aaron«, sagte er leiser, fast resignierend.
»Ich sehe einen letzten Weg.«
»Ja?« Voller Verzweiflung hing sein Blick an ihren Lippen.
»Sein Herz schlägt unregelmäßig. Die Gefahr, dass das, was wir tun können, ihn umbringt, ist größer als die Hoffnung, ihn zu retten.« Sie strich Aaron zärtlich über die Brust.
»Was kann ich tun, Kirum?«
»Tragt ihn hinaus und grabt ihn in den Schnee ein. Lasst nur sein Gesicht frei.«
»Aber …« Ormu schüttelte den Kopf.
»Ja, ich weiß«, sagte Shaya traurig. »Die Gefahr ist groß, dass wir ihn dadurch umbringen. Aber wenn wir nichts unternehmen, dann töten wir ihn ganz gewiss durch unser Zögern. Die eisige Kälte ist unsere einzige Hoffnung, das Fieber aus seinen Gliedern zu ziehen. Weicht das Fieber hingegen und hört sein Herz durch den Schock der Kälte nicht einfach auf zu schlagen, dann wird er leben. Und nur dann.«
Während Ormu ein Stoßgebet zum Löwenhäuptigen flüsterte, bat Shaya stumm den Weißen Wolf um Hilfe. Dann rief der Hauptmann einige der Krieger, die in den Felsen Wache hielten. Vier Mann waren nötig, um Aaron zu tragen, so ausgezehrt und erschöpft waren die Kämpfer.
Sie betteten den nackten Herrscher in eine Schneewehe. Mit bloßen Händen grub Shaya ihn in den Schnee. Bald waren ihre Finger völlig gefühllos vor Kälte.
Ormu musste die Männer fast mit Gewalt daran hindern, die Trösterin von ihrem Herrscher fortzuziehen. Shaya wusste, dass es für die Krieger so aussehen musste, als wollte sie den Unsterblichen begraben. Und vielleicht tat sie ja genau das? »Du darfst nicht sterben! Du bist die Hoffnung der Welt. Du darfst nicht sterben!«, flüsterte sie immer und immer wieder.
Als nur noch sein Gesicht unbedeckt war, schob Shaya ihre Hand in den Schnee, um seinen Herzschlag zu fühlen. Doch sie spürte nichts mehr. Ihre Finger waren taub vom Frost geworden. Oder hatte Aarons erschöpftes Herz einfach aufgehört zu schlagen?
»Du darfst nicht sterben!«
Die Stimme kam aus weiter Ferne, und doch hätte er sie immer erkannt, auch wenn sie nur ein Wispern im Sturm gewesen wäre. Shaya. Sie war gekommen. Er wusste, dass es nur ein Traum war. Wusste, dass er irgendwo im ewigen Eis am Ende der Welt war. Sie konnte nicht hier sein … Außer im Traum. Er hatte sie so sehr vermisst. Mit ihr war die Farbe aus seinem Leben gewichen und das Lachen. Er hatte lang genug seine Pflicht getan. Jetzt würde er den Traum festhalten, der ihn glücklich machte.
Da war ein warmes gelbes Licht. Er musste nur darauf zugehen, und all seine Wünsche würden wahr. Er zögerte kurz. Er war nie selbstsüchtig gewesen, hatte stets zuerst an die anderen gedacht. Wenn eines Tages alle Menschen so handeln würden, dann würde die Welt ein vollkommener Ort. Als Herrscher war es seine Pflicht, ein Vorbild zu sein, doch er vermisste Shaya so sehr. Er wollte noch einmal ihre Stimme hören.
Langsam bewegte er sich auf das Licht zu. Ihm war so kalt. Ganz sicher würde es dort, wo das Licht war, auch wärmer sein.
Etwas berührte sein Herz. Shaya? Sie war ganz nah, das spürte er deutlich. War sie gestorben? Manchmal hatte ihn diese Angst gequält. War sie ermordet worden und ihr Leichnam vom Königshof in Akšu fortgeschafft worden. Der Palast war ein Ort der Intrigen. Liebe konnte dort nicht gedeihen.
Wartete sie bei dem Licht auf ihn? Zögerlich machte er einen weiteren Schritt darauf zu. Ihm wurde ein klein wenig wärmer. Er machte noch einen Schritt, der ihm diesmal schon viel leichter fiel.
Sie war da! Ganz deutlich spürte er sie. Sie war zu ihm gekommen, endlich wieder. Nur ein paar Schritte noch, und er wäre für immer mit ihr vereint. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Das Licht verschwand. Plötzlich umfing ihn undurchdringliche Finsternis. Die Kälte hielt ihn fest im Griff. Es fühlte sich an, als würde er emporgehoben und getragen. Jemand sprach über ihn. Es ging um seinen Tod. Dann verstummte die Stimme.
Nicht einmal die Stimmen der früheren Aarons quälten ihn. Stille und Finsternis umfingen ihn. Sah so das Ende aus? Gab es keinen wunderschönen Garten, den die Götter für die freundlichen Seelen erschaffen hatten? War es ihre Aufgabe, diesen Garten zu Lebzeiten auf der Welt Wirklichkeit werden zu lassen, weil es nach dem Leben nichts mehr gab?
Plötzlich flammte das warme Licht wieder auf. Er hörte Shayas Stimme, spürte ihre Hände auf seinem Leib. Sie flüsterte von ihrer Liebe, von lang verstrichenen, glücklichen Stunden. Nur sehen konnte er sie nicht. Ihr nackter Leib schmiegte sich an ihn und schenkte ihm Wärme. Er ließ sich fallen. Gab sich ganz dem Wohlgefühl hin.
Aaron hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Sollten andere nun das Schwert aufnehmen. Seine Zeit war vorüber. Das Licht so nah. Er wollte nicht mehr zurück. Er tat den letzten Schritt.
Galar rieb sich die Nase. Sie fühlte sich taub an.
»Der Winter hat dich nicht hübscher gemacht, Zwerg.« Che grinste ihn frech an. »Ich wette, deine Nasenspitze ist erfroren. Wenn du zu sehr daran reibst, wird sie noch abfallen.«
»So wie die Spitze deines kleinen Fingers gestern?«
Der Kobold seufzte. »Wer braucht schon kleine Finger. Hauptsache, mein Gesicht ist in Ordnung. Die Frauen finden meinen Charme unwiderstehlich. Aber mit halber Nase würde es deutlich schwerer werden, jede Nacht eine ins Bett zu bekommen.«
»Träum weiter …«, murrte Galar. Er mochte diesen Zwergenmörder. Der kleine Scheißkerl hatte wirklich Charme. Er sollte sich vor ihm hüten.
»Falls es dir nicht aufgefallen ist, sogar Ailyn macht mir schöne Augen. Ich könnte sie jederzeit um meinen kleinen … Hmmm … Tja, um meinen kleinen Finger wickele ich sie nicht mehr.«
»Wirklich?«, fragte Nyr ungläubig. »Du meinst, diese eiskalte Drachenelfe ist in dich verliebt?«
Galar traute seinen Ohren nicht. Nyr war wirklich zu gutgläubig! Der Schmied richtete sich auf und machte ein paar Schritte hinauf zur Hügelkuppe. Über ihm spannte sich ein weiter, wolkenloser Himmel. Es wäre ein schöner Tag, wenn es nicht so elend kalt wäre. Gestern war ihnen das Brennholz ausgegangen. Es gab keine Lagerfeuer mehr und keine Möglichkeit, sich etwas Warmes zuzubereiten. Er blickte den Weg entlang, der auf die Berge zuführte. Er wurde von kleinen, schneebedeckten Hügelchen gesäumt, aus denen manchmal ein Arm oder ein Bein herausragte. Die Menschenkinder waren zu Hunderten auf dem Rückzug gestorben. Bei ihnen brannten seit mindestens einer Woche keine Feuer mehr. Ein Wunder, dass überhaupt noch welche von ihnen lebten. Galar verstand nicht, warum ihr Feldherr Solaiyn sie hatte halten lassen. Höchstens drei Wegstunden trennten sie von den Menschenkindern. Sie könnten sie einfach überrennen. Die waren gewiss nicht mehr in der Lage, Widerstand zu leisten. Sie sollten diesen Feldzug endlich zu Ende bringen und nicht länger im Schnee hocken.
Er rieb sich wieder die Nase und ließ den Blick über die weite Hügellandschaft schweifen. Verdammte Kälte! Über den Bergen kreisten die Adler. Nodon war ständig unterwegs. Dieser Elf war Galar noch unheimlicher als Ailyn. Auch wenn sie über ihre Anführerin scherzten, hatte sie sich doch für sie eingesetzt. Und hätte Ailyn nicht den Abstieg zum Kellergewölbe in Wanu verteidigt, wären sie alle längst tot. Nodon war anders. Unnahbar. Seine schwarzen Augen ließen Galar stets erschauern, wenn sie auf ihm ruhten. Und diese Attitüde, immer Rot zu tragen …
Im Norden zwischen den Hügeln bewegte sich etwas. Der Zwerg kniff die Augen zusammen. Schlitten! Endlich kamen die lange versprochenen Schlitten. Sie hätten schon vor Tagen eintreffen sollen. Wer immer den Nachschubtross befehligte, hatte es nicht eilig gehabt, zu ihnen vorzustoßen. Bestimmt so ein Listenkritzler, der stets wusste, wo sich auch die letzte Bohne aus seinen Vorräten befand, und der peinlich darauf achtete, dass die Rentiere ja keinen Schritt zu viel machten, um sich nicht zu verausgaben.
Galar stieg den Hügel hinab zu seinen Kameraden, wo Che immer noch großspurig von seinen Liebesabenteuern erzählte. Neben den Zwergen und Kobolden kauerten die letzten drei Trolle im Schnee. Groß und grau, sahen sie wie Felsen aus, wenn man nicht genau hinsah. Und nach wie vor trugen sie nichts als einen Lendenschurz.
»Wird euch nie kalt, Groz?«, fragte Galar eifersüchtig.
Der Troll wandte langsam das Haupt und sah auf ihn herab. »Ist ein wenig frisch«, sagte er behäbig. »Mich stört die Sonne. Verbrennt die Haut. Wolken oder ein Schneesturm sind besser.«
»Stimmt, genau das fehlt uns.«
»Finde ich auch.« Groz nickte.
Galar hatte vergessen, dass Trolle mit Sarkasmus nicht sonderlich viel anfangen konnten. Sich einen Schneesturm wünschen! Also wirklich! »Die Schlitten kommen endlich.«
»Ein Rentier wäre schön …« Die Stimme des Hünen hatte einen träumerischen Ton angenommen. »Hatte genug gefrorenes Menschenfleisch.«
Die Trolle waren die Einzigen, die in den letzten Tagen keinen Hunger gelitten hatten. Voller Abscheu dachte Galar daran, wie er am Morgen Groz und seine Kumpanen beim Fressen gestört hatte. Sie hatten eine erfrorene Frau gefunden und eifrig darüber getratscht, ob es einen geschmacklichen Unterschied zwischen Männern und Weibern gab. Galar war ganz übel geworden, als er gesehen hatte, wie Groz sich ein erfrorenes Bein in seinen Vorratssack gestopft hatte. Mit Trollen würde er niemals warm werden, dachte er ernüchtert. Ganz gleich, wie viele Gefahren sie gemeinsam überstanden.
Galar schlug sich mit den Händen auf die Arme, um wieder Gefühl in seine kältetauben Finger zu bekommen, und wandte sich wieder Che zu, der immer noch von seinen Liebesabenteuern erzählte.
»Und, hast du Ailyn herumbekommen, Herzensbrecher?«, unterbrach Galar ihn brüsk.
»Sie hat mir ziemlich eindeutige Angebote gemacht.«
»Und wie war sie so? Ich meine …« Galar blieb das Wort im Hals stecken. Hinter Che war die Drachenelfe erschienen. Wie stets bewegte sie sich völlig lautlos. Galar hob die Brauen und versuchte den Kobold auf sie aufmerksam zu machen, doch der verstand nicht.
»Zu groß und zu dürr!«, entgegnete Che ruhig und mit einem anzüglichen Grinsen. »Einfach nicht mein Geschmack, die Gute. Auch wenn sie sich nach mir verzehrt.«
»Gut zu wissen, dass ich Gefahr laufe, hier an gebrochenem Herzen zu sterben«, sagte Ailyn. Sie stand jetzt unmittelbar hinter Che.
Der Kobold drehte sich um. »Bei den Alben, meine Liebe. Du siehst heute wieder hinreißend aus! Wenn ich dich so anschaue, sollte ich vielleicht meine Vorurteile gegen Elfendamen fahren lassen. Hast du am Abend schon etwas vor?«
Galar verschlug so viel Frechheit schier die Sprache.
»Ich habe gerade von unserem Feldherrn mitgeteilt bekommen, dass ich euch nicht länger anführen werde.« Sie beugte sich zu Che hinab. »Ich habe also durchaus Zeit. Hast du keine Angst, dass deine empfindlichsten Teile bei dem Frost Schaden nehmen werden?«
»Ich bin sicher, das gute Stück wird sehr schnell an einem warmen Ort Unterschlupf finden.«
Galar sah im Geiste den Kopf des tolldreisten Kobolds in den Schnee rollen, doch nichts geschah. Ailyn lächelte nur. »Dann komm ich dich in der Nacht holen«, sagte sie doppeldeutig.
»Wer ist der neue Anführer?«, platzte es aus Nyr heraus.
Die Elfe zuckte mit den Schultern. »Irgendein legendärer Zwergenheld. Solaiyn hat den Namen genannt, aber ich konnte ihn mir nicht merken. Irgendetwas mit Horn.«
Galar traute seinen Ohren nicht. »Hornbori? Hat er so geheißen?«
Ailyn nickte. »Stimmt, das war der Name.« Nun lag unüberhörbar eine Spur von Ärger in ihrer Stimme.
»Sie können dir doch nicht einfach das Kommando wegnehmen«, empörte sich Nyr. »Du hast mit uns gekämpft und geblutet. Das geht doch nicht …«
»Übertreib nicht. Geblutet habe ich nicht. Das wart ihr Anfänger.«
Die Trolle brachen in tiefes, kehliges Lachen aus. »Stimmt!«, erklärte Groz.
»Und doch, es geht«, fuhr die Elfe fort. »Solaiyn kann mir einfach so das Kommando entziehen.«
»Dann sorgen wir eben dafür, dass der Neue im ersten Gefecht einen kleinen Unfall hat«, sagte Che gut gelaunt. »Kann ja verdammt gefährlich sein, so ein Schlachtfeld.«
Galar hätte den kleinen Schwerenöter für diesen Vorschlag umarmen können!
»Ihr werdet dem neuen Befehlshaber nichts tun. Wenn ihm in den Rücken geschossen wird, fällt das auf mich zurück!«, stellte Ailyn klar. »Ihr seid meine Männer. Ihr steht das durch. Und ich werde versuchen, dass ich euch den Mistkerl vom Leib halte. Kennt ihn einer von euch?«
Galar zögerte noch, als Nyr plötzlich vortrat. »Er stammt aus der Tiefen Stadt. Er ist ein Aufschneider und Feigling. Er wird uns alle ins Verderben führen.«
»Ein Aufschneider?« Die Elfe lächelte plötzlich. »Das könnte helfen. Ihr bleibt hier und tut gar nichts. Ihr seid eine verfluchte Bande elender Bastarde. Aber ihr seid meine Bastarde. Ich werde nicht zulassen, dass euch irgendein Idiot zur Schlachtbank führt.«
Der Anblick des Feldlagers enttäuschte Hornbori. Irgendwie hatte er mehr erwartet. Es gab nur drei Zelte. Und kein einziges Feuer. Die ganze Reise durch diese elende Eiswüste hatte er darauf gehofft, am Ende in einem schönen Zelt vor einer Feuerschale zu sitzen.
Auf den letzten Meilen hatte eine Gruppe Kentauren ihren Schlittenkonvoi begleitet. Einer war vorausgeprescht, um ihn anzukündigen. Die Begrüßung fiel mau aus. Drei Elfen standen vor dem winzigen Zeltlager. Alle anderen hielten sich im Hintergrund. Auf einem Hügel, ein Stück entfernt, sah er ein paar Zwerge und drei Trolle. Kobolde schien es da auch zu geben. Allerdings waren sie zu weit entfernt, um sie deutlich zu erkennen. Das musste die Truppe sein, über die er das Kommando übernehmen sollte.
Rafa zügelte die Rentiere des Schlittens. Der Kobold hatte sich als ein geschickter Kutscher erwiesen. Allerdings waren sie nur langsam vorangekommen. Die Panzerung machte die Schlitten zu schwer. Und auf den ausdrücklichen Befehl Hornboris waren sie nur bei Tageslicht gefahren. Sechsundsiebzig Schlitten standen unter seinem Befehl. Zehn davon waren Tanks, wie Gobhayn, der merkwürdige Elfenschmied, sie genannt hatte.
»Schön, dass ihr zu uns gefunden habt«, begrüßte ihn der Elf, der in der Mitte der kleinen Gruppe stand. Er wirkte wenig kriegerisch in seinem langen, gerade geschnittenen Mantel. Im Gegensatz zu den beiden anderen Elfen trug er keine Waffen.
Hornbori hatte den vorwurfsvollen Unterton in den Worten durchaus gehört. Er sprang vom Bock und ging mit seinem diplomatischsten Lächeln auf den Lippen den Elfen entgegen. »Ich freue mich, dass wir es so schnell schaffen konnten. Die Piste war nicht geeignet für so schwere Schlitten. Außerdem hatten wir zwei Schneestürme, und in einer Nacht wurden wir von seltsamen grünen Lichtern heimgesucht.«
Brass Mammutwürger, der den ganzen Weg über mit seinen Trollen neben den Schlitten hergelaufen war, folgte Hornbori und baute sich mit verschränkten Armen hinter ihm auf. Neben diesem Hünen sahen die Elfen jämmerlich aus, dachte der Zwerg zufrieden. Brass folgte ihm wie ein treuer Hund.
»Wir kennen den Weg und seine Tücken«, sagte der Elf im grünen Mantel kühl. »Ailyn, kümmere dich darum, dass die Schlitten abgeladen und umgehend Feuer entfacht werden. Ich wünsche, dass all unsere Krieger binnen einer Stunde ein warmes Essen im Bauch haben.«
Die weiß gekleidete Elfe an der Seite des Wortführers zog sich sofort zurück.
»Brass, hilf mit deinen Männern die Schlitten zu entladen.« Hornbori sagte das vor allem, um zu zeigen, dass auch er Befehlsmacht hatte. Von ein paar arroganten Elfen würde er sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Auch wenn der rotgewandete Krieger, der an der Seite des Feldherrn geblieben war, zum Fürchten aussah.
»Wir werden alles Weitere in meinem Zelt besprechen.« Mit diesen Worten wandte sich der Feldherr abrupt ab.
Das war ja mal ein Elf der übelsten Sorte, dachte Hornbori und folgte schweigend. Das Zelt war karg eingerichtet. Der einzige Luxus war ein gemütlich aussehendes Feldbett, in das sich Hornbori nur allzu gerne hingestreckt hätte. Dort liegend von Amalaswintha massiert zu werden, das wäre es, träumte er und sah sich um. Außer dem Bett gab es einen großen Tisch mit zwei unbequem aussehenden Stühlen mit hoher Lehne. In einer Ecke stand eine Kleidertruhe von ehrfurchtgebietenden Abmessungen. Er ist also ein eitler Stutzer, der sich gerne umzieht, dachte Hornbori, erleichtert, eine Schwäche des Feldherrn entdeckt zu haben.
»Ich bin Fürst Solaiyn, wie du sicherlich schon erraten hast.« Der Elf ließ sich auf einem der beiden Stühle nieder und deutete einladend auf den anderen Stuhl.
Auf diese dummen Spielchen würde er sich nicht einlassen, dachte Hornbori und trat ein Stück vom Tisch zurück, sodass er mitten im Zelt stand. Würde er sich auf den Stuhl setzen, dann könnte er wie ein kleines Kind gerade über die Tischplatte schauen. Stellte er sich neben den Tisch, wäre es nicht viel besser.
»Bist du nicht müde von der Reise? Willst du nicht Platz nehmen?«
Hornbori antwortete mit einem Lächeln auf die heuchlerische Freundlichkeit. »Ich habe die ganze Reise über gesessen. Jetzt zu stehen ist sehr angenehm.«
Der Feldherr nickte. »Bewahrer der Goldenen Axt, ich habe von diesem Titel noch nie gehört. Wie wird man das?«
Der Zwerg versuchte, den herablassenden Tonfall zu überhören. »Durch Mut im Kampf. Eikin, der Alte in der Tiefe der Ehernen Hallen, hat mich für meine Verdienste auf diesen Posten berufen.«
»Ah, da liegen also deine Qualitäten. Mut im Kampf … Mich hat der Goldene auf meinen Posten berufen, und ich bin mir bis heute nicht ganz sicher, welchen Verdiensten ich diese Ehre zu verdanken habe.«
Hornbori entschied sich, die Sache direkt anzugehen. Offensichtlich war Solaiyn darüber verärgert, dass er um Tage zu spät gekommen war. »Es tut mir leid, dass ihr auf mich warten musstet. Die Nachschubforderungen waren so umfassend, dass meine Schlitten allesamt überladen sind.«
»Du solltest deinem Fürsten und Befehlshaber mit mehr Respekt begegnen, Zwerg«, sagte der rotgewandete Elf schneidend.
»Er ist mein Befehlshaber, nicht mein Fürst«, stellte Hornbori richtig. »Mein Fürst ist Eikin.«
»Du wirst …«
Solaiyn hob die Hand und brachte den Roten zum Schweigen. In diesem Augenblick betrat die zierliche Elfe in Weiß das Zelt. »Die Kessel stehen auf den Feuern«, meldete sie schneidig und bezog Aufstellung hinter dem Sitz des Heerführers.
Der Fürst ließ sich davon nicht ablenken. Unverwandt sah er Hornbori an. »Was sollen die Silberstahlplatten an den Schlitten? Könnte es sein, dass sie bei deinem langsamen Vorrücken zu uns eine Rolle spielten?«
»Das sind neuartige Kampfschlitten, mein Feldherr. Ich selbst habe sie entworfen. Sie dienen dazu, den Feind aus kurzer Entfernung unter Beschuss zu nehmen und seinen Schildwall aufzubrechen.«
»Bilden sie wieder Schildwälle?«, fragte der Fürst ironisch und drehte sich zu den beiden hinter ihm um.
»Natürlich kann man auch andere Formationen …«
»Von dir wurde lediglich erwartet, dass du pünktlich unseren Nachschub bringst«, fuhr Solaiyn ihn an. »Der andere Unsinn ist völlig überflüssig. Der Goldene wird erfahren, wie sehr du uns verärgert hast.«
»Vielleicht könnten die Schlitten uns doch von Nutzen sein«, kam ihm die Elfe unerwartet zu Hilfe. »Sie auf dem Pass zu bekämpfen wäre zu gefährlich. Vielleicht können die Schlitten das Heer der Menschenkinder umgehen und sie auf der anderen Seite der Berge erwarten? Nodon, hattest du nicht einen weiteren Pass dreißig Meilen östlich von hier entdeckt? Würden die Schlitten ihn passieren können?«
»Ja, der Weg ist nicht sonderlich beschwerlich«, antwortete der rote Elf.
»Welchen Nutzen soll das haben?« Solaiyn schien der Vorschlag nicht sonderlich zu gefallen.
»Die neuen Krieger könnten sich bewähren. Wir anderen folgen den Menschenkindern, wenn sie den Passweg überquert haben. Von den Hängen werden wir einen guten Ausblick darauf haben, wie Hornbori die letzte Schlacht dieses Feldzugs schlägt.«
»Schlacht ist ein zu hochtrabendes Wort. Sie würden ein paar Wehrlose niederschießen …«
»Wir würden sehen, ob die Schlitten sich bewähren. Wenn ja, würde es ja vielleicht Sinn ergeben, auch gepanzerte Kutschen zu bauen.«
Der Feldherr schüttelte unwillig den Kopf, während Hornbori überrascht war, dass die Elfe ihn so sehr unterstützte. Ein paar Wehrlose niederzuschießen klang gut. Und für seinen weiteren Aufstieg in den Zwergenfürstentümern musste er Kriegsruhm erlangen. »Meine Männer brennen darauf zu kämpfen! Bitte, mein Feldherr, verwehre uns nicht die Gelegenheit, Ruhm zu ernten, nachdem wir dich enttäuscht haben.«
»Es wäre gut für die Moral der Truppe«, unterstützte die Elfe ihn weiter, und Hornbori beschloss, sie so bald wie möglich mit einem Geschenk zu belohnen. Vielleicht ein erlesener Wein? Er hatte höchstpersönlich darüber gewacht, dass einige ausgewählte Luxusgüter unter die Fracht gelangt waren, um durch Geschenke neue Bekanntschaften zu Freundschaften werden zu lassen.
»Nun gut«, entschied Solaiyn. »Sollen sie uns zeigen, wie sie kämpfen können. Du wirst mit deinen Männern sofort aufbrechen müssen, wenn du die Menschenkinder noch mal gehörig zur Ader lassen willst, bevor sie den Albenstern erreichen.«
»Deine Wünsche sind mir Befehl!« Hornbori verbeugte sich tief, dann verließ er beschwingten Schrittes das Zelt. Das würde ein Kampf ganz nach seinem Geschmack!
Sein Körper war wieder warm geworden. Doch es war nicht die Hitze des Fiebers, die sich erneut in Aarons Leib eingenistet hatte. Sie hatte gesiegt, dachte Shaya glücklich. Nachdem sie Aaron aus dem Schnee geholt hatten, war er in die kleine Höhle zurückgebracht worden. Sein Leib war ganz steif vor Kälte gewesen. Sein Herzschlag fast verstummt. Sie hatte sich nackt an ihn geschmiegt. Aus ihrer Kindheit wusste sie, dass dies die beste Art war, die Lebensgeister eines unterkühlten Mannes wieder zu wecken. Mehr als einmal hatte sie als Kind erlebt, wie Krieger von winterlichen Jagden mehr tot als lebendig zurückgekehrt waren. Es waren nicht heiße Suppen oder vergorene Yakmilch, die ihnen am besten geholfen hatten. Die Wärme einer jungen Frau war das beste Mittel gegen Unterkühlung.
Shaya setzte sich auf ihn und massierte seine Glieder. Manchmal flatterten seine Augenlider. Immer wieder hielt sie inne und lauschte auf seinen Herzschlag. Er war immer noch langsam, doch viel kräftiger als zuvor. Noch einmal streckte sie sich auf ihm aus.
Ihr war so kalt. Sie hatte das Gefühl, seine Kälte sei ihr tief in die Knochen gezogen. Sie fühlte sich schwach und krank. Wie gerne wäre sie bei ihm eingeschlafen! Doch das durfte nicht sein. Der Frieden im Reich hing davon ab, dass sie verschwunden blieb. Statt darüber zu trauern, was unmöglich war, sollte sie sich freuen, was für ein Geschenk die Götter ihr gemacht hatten! Eine halbe Nacht mit ihm. Noch einmal an seiner Seite liegen, heute Morgen noch hätte sie das für unmöglich gehalten.
Leise stand Shaya auf, deckte Aaron zu, und dann kleidete sie sich an. Schweren Herzens trat sie aus der Höhle.
»Wie geht es ihm?«, bestürmte Ormu sie, der vor dem Eingang auf sie gewartet zu haben schien.
»Er hatte großes Glück. Ich glaube, er hat es geschafft. Das Fieber ist besiegt. Aber er wird sehr schwach sein. Gib gut auf ihn acht, Ormu. Du weißt, dass er sich zu viel abverlangt. Der Schatten des Todes ist einen Schritt zurückgewichen, aber er ist noch nahe.«
»Du musst ihm das sagen, Kirum. Auf dich wird er hören!«
Shaya schüttelte traurig den Kopf. Zweimal setzte sie an, und die Stimme versagte ihr, bis die Worte beim dritten Versuch zu sprechen endlich über ihre Lippen kamen. »Ich werde nicht mehr hier sein … Ich muss ihn verlassen. Es wird keinen Frieden im Reich geben, wenn ich an seiner Seite bleibe.«
»Das ist nicht gerecht«, begehrte Ormu auf.
»Und doch muss es so sein. Schwöre die Krieger, die mich erkannt haben, darauf ein, dass ich niemals hier gewesen sei. Sagt, es müsse ein Fiebertraum gewesen sein, wenn Aaron nach mir fragt und glaubt, mich gesehen zu haben.«
»Hat er dich denn gesehen?«
»Ich weiß es nicht. Er hat im Schlaf meinen Namen geflüstert und …« Sie stockte. Nein, was er noch gesagt hatte, ging nur sie an. Sie wusste, er liebte sie und würde es immer tun.
»Du willst wirklich nicht bleiben? Wenn du hier wärest, wäre er glücklich.«
Shaya schüttelte müde den Kopf. Ihr Platz war nicht an seiner Seite. »Lass mich ziehen und versuch nicht noch einmal, mich zu finden. Es ist besser so.«
»Warte!« Der Hauptmann winkte einem seiner Männer, der einen kleinen Messingpokal brachte. »Trink das!«
»Was …«
»Trink einfach« beharrte er.
Sie setzte den Pokal an die Lippen. Er war warm! Vorsichtig trank sie. Es war nur Wasser, und doch hatte nie etwas so Köstliches ihre Lippen benetzt. Warmes Wasser. »Woher hast du das?«
»Wir wärmen den Pokal an der Flamme einer Öllampe und schmelzen Schnee darin. Wir haben nur noch wenig Lampenöl. Es gibt am Tag nur ein paar Schluck warmes Wasser für jeden, aber es hilft.«
Shaya leerte den Pokal.
»Ich kann dir noch etwas machen«, bot Ormu an.
Sie vermutete, dass er dafür auf seine eigene Ration verzichten würde. Mit dem Wasser war wohlige Wärme in ihren Magen gesickert. Das erste Mal seit einer Ewigkeit. Doch ihre Lippen waren schon wieder trocken. Den Durst hatten die paar Schlucke Wasser nicht löschen können. Jetzt brannte er schlimmer in ihrer Kehle als zuvor. Die Prinzessin sah zum Himmel hinauf. Erstes Morgenlicht zog silberne Linien um die schwarzen Berge. Bald würde Aaron erwachen. Dann sollte sie nicht mehr hier sein.
»Ich muss gehen.« Es fiel ihr schwer, darauf zu beharren. »Habt ihr noch etwas Trockenfleisch?«
Ormu nickte.
»Schneidet es in kleine Stücke und lasst es in warmem Wasser ziehen, damit es weicher wird. Es wird dem Unsterblichen neue Kraft geben.«
»Ich wünschte, du würdest bleiben, Kirum.«
Sie lächelte. Dann wandte sie sich ab und stieg zwischen den Felsen hinab zum Passweg. Von einem der Toten nahm sie einen Speer. Sie brauchte einen Krückstock, um sich darauf zu stützen.
So wie sie waren auch schon andere auf dem Weg den Pass hinauf. Schweigende, abgerissene Gestalten, die sich Schritt um Schritt vorankämpften. Sie hatte keinen Blick mehr für die Gestrandeten am Wegesrand, und sie verschloss ihr Herz gegen das Flehen der Entkräfteten. Wer in den Schnee sank, der durfte auf keine Hilfe mehr hoffen. Die Lebenden hatten kaum noch die Kraft, sich selbst weiterzuschleppen.
Bald brannten ihre erschöpften Beine. Immer öfter verharrte sie, schwer auf den Speer gestützt. Dann hob sie ihr müdes Haupt und sah zu dem blendenden Sonnenlicht, in dem der Pass weit über ihr erstrahlte. Von dort könnte sie wahrscheinlich die Ebene sehen, in der das Weltentor lag. Sie musste es schaffen. Sie war Shaya, Kriegerprinzessin aus dem Volk der Ischkuzaia. Sie gab nicht einfach auf.
Stunde um Stunde kämpfte sie sich voran, Hunger und Durst und tiefer Kummer quälten sie. Die Reihen der Männer dünnten immer weiter aus. Immer mehr sanken am Wegesrand nieder. Endlich, es war weit nach der Mittagsstunde, und die Schatten begannen schon wieder länger zu werden, erreichte sie den Pass. Wie sie es sich erhofft hatte, gab es von dort einen atemberaubenden Blick auf die verschneite Ebene jenseits der Berge. Irgendwo dort unten lag ihre Rettung. Noch verborgen vor ihren Blicken, würde sich das Weltentor öffnen, sobald ein silberner Löwe davorstand.
Etwas Schattenhaftes huschte über die Ebene. Große Schlitten, wie es schien. Solche Gefährte gab es in ihrem Heer nicht. Die Daimonen waren ihnen zuvorgekommen und hatten ihnen den Rückweg abgeschnitten!
Die Erkenntnis raubte Shaya die letzte Kraft. Sie taumelte, trat vom Weg und ließ sich dann resigniert auf einem Felsblock nieder. So nah waren sie der Rettung gekommen, und doch war sie nun unerreichbar.
Sie rutschte vom eisverkrusteten Fels und stürzte in den Schnee. Sie hatte nicht mehr den Willen aufzustehen. Hoch über ihr stand die Nachmittagssonne am wolkenlosen Himmel. Shaya stellte sich vor, es sei ein Sommertag wie in ihrer Kindheit. Ein Tag, an dem sie ihrem Kindermädchen entflohen war und mit unter dem Nacken verkreuzten Armen auf einem Hügel im hohen Gras der Steppe lag. Die Sonne kitzelte ihre Nase und wärmte ihr Gesicht. Es war ein vollkommener Nachmittag, dachte sie und schloss die Augen.
»Shaya?« Blinzelnd sah Aaron sich um. Er lag in einer Höhle, konnte sich aber nicht erinnern, wie er hierhergekommen war.
Eben noch war Shaya bei ihm gewesen. Sie hatte in seinen Armen gelegen und ihn zärtlich geküsst. Doch nun war er allein. Aaron hatte das Gefühl, dass sogar noch ihr Duft in der Luft hing. Es musste wohl ein Traum gewesen sein. Er erinnerte sich, Fieber gehabt zu haben. Seine Männer hatten ihn getragen …
Der Rückzug! Wo war er jetzt?
»Ormu!« Aarons Stimme war schwach. Er ärgerte sich über seine Unzulänglichkeit, setzte sich auf und wollte zu der schweren Decke am Eingang der Höhle gehen, als diese zurückgezogen wurde. Das rotbärtige Gesicht des hageren Jägers aus Garagum erschien.
»Unsterblicher?«
»Ich muss hier raus. Hilf mir!«
»Nein.«
Aaron war völlig perplex. Dass sich jemand einem direkten Befehl von ihm widersetzte, hatte es lange nicht mehr gegeben.
Das liegt an deiner laschen Art, meldeten sich die Stimmen in seinem Kopf. Dieser ungewaschene Hinterwäldler hat keinen Respekt vor dir. Du solltest ihn auspeitschen lassen. Gleich jetzt!
Aaron stöhnte und ignorierte die Stimmen. Er hatte so sehr gehofft, dieser Plage endlich entkommen zu sein.
Ormu rief einen Befehl über seine Schulter, den Aaron nicht klar verstand. Dann drehte sein Hauptmann sich kurz um, nur um sofort wieder in der Höhle zu erscheinen. Er hielt einen kleinen Bronzepokal in Händen und kniete vor ihm nieder.
»Trinkt!«
Merkst du das? Kein Respekt, sage ich dir!
»Was ist das?« Aaron hatte kaum die Kraft zu sprechen. Dabei hatte er sich eben, als er erwacht war, doch noch erholt gefühlt.
»Eine Brühe aus Trockenfleisch. Schmeckt entsetzlich, aber sie gibt Kraft.«
Aaron erlaubte, dass Ormu ihm den Pokal an die Lippen setzte. Er fürchtete, er könne ihm entgleiten, wenn er selbst versuchte, ihn zu halten. Die Brühe schmeckte wirklich übel. Aber sie war warm. Und das tat gut.
»Ist das wirklich Trockenfleisch, oder hast du deine Schuhsohlen für mich ausgekocht?«
Der Jäger lächelte. »Schön, dass es dir besser geht, Unsterblicher. Wir dachten …« Er stockte und sah zu Boden.
»Es geht mir gut. Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen.« Er grinste. »Sagen wir, ein paar junge Setzlinge. Wer war bei mir? Wer hat mich gepflegt.«
Ormu hielt den Blick starr auf die Wolldecken am Boden gerichtet. Er schien eine Laus zu beobachten, die aus einer der Falten kletterte. »Die Kushiten, Unsterblicher. Sie waren immer bei dir. In der Nacht haben wir dich im Schnee eingegraben, um dein Fieber zu senken. Wir hatten Angst, dass du diesen Morgen nicht mehr erleben wirst … Es war eine schwere Nacht.«
»Wer war in der Höhle bei mir und hat mich gepflegt?«
»Du hast dich alleine wieder erholt, Unsterblicher.«
Ormu antwortete zu hastig. Es klang nach einer Lüge. Aber Aaron verstand: Was auch immer in dieser Nacht geschehen war, er würde es nicht aus dem Hauptmann herausbekommen. Aaron wünschte sich, er wäre nicht erwacht und würde immer noch in Shayas Armen liegen. Aber jetzt war nicht die Zeit für selbstsüchtige Tagträume. Er leerte den Pokal bis zur Neige und kaute auf den Fleischstückchen, die im warmen Wasser geschwommen hatten.
»Hilf mir, mich anzukleiden«, entschied er.
Ormu fühlte sich sichtlich unwohl dabei, den Kammerdiener zu geben, aber er gehorchte. Als es vollbracht war, trat Aaron auf den Hauptmann gestützt aus der Höhle, wo ihn die übrigen Kushiten freudig begrüßten. Er war gerührt von der Treue und Hingabe der Männer, die wie auf einem Paradeplatz vor ihm salutierten, als gäbe es weder Not noch Verzweiflung.
Aaron erwiderte ihren Gruß und tauschte ein paar Worte mit den Kriegern. Dann wandte er sich wieder an Ormu. »Ruf die anderen Unsterblichen herbei. Ich muss mich mit ihnen beraten.«
»Ich … ähm … Ich fürchte, sie werden nicht kommen.«
Er verstand. Er war zu lange bettlägerig gewesen. Selbst ein geschlagenes Heer wie das ihre durfte nicht ohne Führung bleiben. »Wer hat den Oberbefehl?«
»Acoatl, der Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt.«
Aaron seufzte. Ausgerechnet der Zapote! »Ich werde also zu ihm gehen. Wo finde ich ihn?«
»Er ist bereits oben auf dem Pass. Wir sind jetzt die Nachhut. Es befinden sich noch Hunderte Nachzügler auf dem Aufstieg. Und keiner weiß, wie viele unten am Fuß der Berge lagern.«
»Wie viele meiner Kushiten sind noch kräftig genug, um sich auf den Beinen zu halten?«
»Mit mir sind es noch zweiunddreißig, Unsterblicher.«
»Dann stelle einen Mann ab, der mich den Pass hinaufbringt, und versuche, mit den restlichen Kriegern so viele von den Nachzüglern zu retten wie möglich. Wir müssen nur noch über diesen Berg! Das werden wir schaffen.«
Ormu bedachte ihn mit einem schmerzlichen Lächeln. »Wenn ich deinen Befehl ausführe, Unsterblicher, dann werde ich nicht wiederkehren und meine Männer auch nicht. Wir haben kaum den halben Aufstieg geschafft und sind erschöpft. Wenn wir zurückgehen, um anderen Schwachen zu helfen, dann … Alle sind am Ende ihrer Kräfte, Unsterblicher.«
Aaron ballte in hilfloser Wut die Fäuste. »Wir können doch nicht einfach die Schwachen zurücklassen. Nicht jetzt, wo wir so nahe vor dem Weltentor sind!«
»Wir tun das schon seit Tagen, Unsterblicher. Du lagst im Fieber. Du konntest das Elend nicht sehen. Wer nicht mehr weitergehen kann, der ist des Todes. Alle wissen das.«
»Bring mich zu Acoatl!«, entschied Aaron.
»Wir sollten alle gehen«, empfahl Ormu leise. »Acoatl ist mit den anderen Herrschern oben am Pass. Es wird deine Männer beflügeln, wenn du in ihrer Mitte bist, Unsterblicher. Sie werden das brauchen, um den Weg zu schaffen.«
Aaron blickte in die ausgemergelten Gesichter. Haare und Bärte waren von Frost gesprenkelt, die Kleider abgerissen, doch alle trugen noch ihre Waffen.
»Ersteigen wir den Pass!«, rief er den Kushiten zu. »Gehen wir zurück nach Hause!« Die verzweifelte Hoffnung in den Gesichtern der Männer schnitt ihm ins Herz. Er war es ihnen schuldig, sie zurückzubringen. Ormu hatte recht. Sie konnten sich nicht mehr um jene kümmern, die zurückgefallen waren.
So begann Aaron an der Spitze seiner Männer den Aufstieg.
Der Weg überstieg bald seine Kräfte. Abwechselnd stützten Ormu und die anderen ihn. Es war demütigend, so schwach auf den Beinen zu stehen wie ein neugeborenes Fohlen. Noch bevor die Hälfte des Weges geschafft war, musste Aaron sich tragen lassen.
Als sie die Passhöhe fast erreicht hatten, hieß Ormu die Männer, ihn wieder abzusetzen. Der Hauptmann der Kushiten schlang ihm einen Arm um die Hüften und stützte ihn.
Auch seine Wachen vermochten kaum noch zu gehen. Keuchend stützten sie sich auf ihre Speere, als sie die letzten Schritt des Weges erklommen.
»Aaron!«, erklang plötzlich eine vertraute Stimme. Augenblicke später stand Volodi vor ihm.
»Aaron, Dank ist sich den Göttern!«
Die Augen des Drusniers waren eingefallen, sein blonder Bart ungepflegt und voller Läuse. Und doch strahlte der Unsterbliche eine Kraft aus, um die Aaron ihn beneidete.
»Tut es sich gut, dich wieder zu sehen auf den Beinen, mein Freund.«
»Es waren nicht meine Beine, die mich hierhergebracht haben«, bekannte Aaron.
Volodi runzelte die Stirn. »Na und! Hauptsache ist sich, dass du bist hier. Und musst du mir Gefallen machen: Bist du dich bitte bei Drecksack mit Flügeln, der sich steht da oben, nicht ehrlich mit deinen Beinen.«
Aaron musste lächeln. Er hatte die grausame Art, in der Volodi die Sprache Arams behandelte, vermisst. Aus jedem der Worte des Drusniers sprach tiefe Freundschaft. Gefühle brauchten keine Grammatik.
Auch Labarna stieg nun von der Höhe des Passweges herab. Er trug seine Keule auf den breiten Schultern und strotzte nur so vor Kraft. Es war Aaron vollkommen schleierhaft, wie der Unsterbliche Herrscher Luwiens es geschafft hatte, dem Frost und den Entbehrungen zu trotzen.
»Gut, dass du wieder hier bist, Aaron. Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn ein einzelner Daimon gereicht hätte, um dich unter die Erde zu bringen.«
»Immerhin ein Daimon auf einem Riesenadler«, bemerkte Aaron erschöpft.
»Na, werd mal nicht dünnhäutig.« Der riesige Krieger versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff mit der Faust, der Aaron fast von den Beinen geholt hätte. »Ich glaube nicht, dass ich den Mut gehabt hätte, auf so einem fliegenden Löwen zum Kampf in den Himmel zu steigen. Ich schätze es, festen Boden unter den Füßen zu haben, wenn ich in die Schlacht ziehe.« Er verneigte sich mit übertriebener Geste. »Mein Respekt, Herrscher aller Schwarzköpfe.«
»Ich fürchte, das war nicht die letzte Schlacht im Himmel.« Aaron blickte zu Acoatl, der auf einem flachen Fels, der den Passweg überragte, inmitten seiner Adlerritter stand. Der Herrscher der Zapote machte keine Anstalten, zu ihm herabzukommen.
»Wo sind die anderen Unsterblichen, Volodi?«
»Ansur hat sich gemacht davon, wie sich gehört das für Hund aus Valesia. Sind sich seine Männer fast alle verreckt ohne Anführer. Madyas hat sich weniger Glück gehabt in Himmel. Der Pferdemann hat sich gestorben. Ist sich Subai, ein Mann mit Gesicht wie Ratte, neuer Anführer von Steppenmännern hier. Sind sich fast so hart wie Drusnier, diese Kerle. Keanu, der sich war Unsterblicher von Schwimmenden Inseln, hat sich erfroren vorgestern. War sich letzter von tätowierten Männern, der gestorben ist. War nicht klug, sich hierhinzubringen. Hatten sie sich nicht gemacht für Winter.«
Zwei Unsterbliche tot. Aaron traute seinen Ohren nicht. Das war eine Katastrophe! Und die Devanthar taten immer noch nichts, um ihnen zu helfen.
»Die Daimonen erwarten uns schon unten in der Ebene«, meldete sich Labarna zu Wort. »Sie haben eine neue Art große Streitwagen dort postiert. Wir werden uns auch die letzten Meilen des Heimwegs erkämpfen müssen.«
Wieder sah Aaron zu Acoatl auf. Der Unsterbliche im Adlergewand schenkte ihm nach wie vor keine Beachtung. »Hilf mir auf das Felssims, Volodi. Ich muss mit ihm sprechen.«
»Ist sich Loch von Arsch, der Kerl«, zischte der Drusnier. »Sprechen hilft sich da nichts!«
»Ich werde es trotzdem versuchen«, entschied Aaron, und so brachte ihn Volodi hinauf. Von dem Felsen, der sich über den höchsten Punkt des Passweges erhob, hatte der Unsterbliche eine gute Aussicht auf die Ebene wie auch auf den Weg, den das geschlagene Heer gekommen war.
»Nicht einmal der Tod will mit dir zu tun haben«, empfing ihn der Unsterbliche Acoatl, ohne Aaron eines Blickes zu würdigen.
»Du hast einen Plan, Herr der Himmel und all dessen, was unter ihnen liegt?«
»Nun, zunächst einmal ist recht offensichtlich, was unsere Feinde planen«, erklärte der Herrscher der Zapote herablassend. »Diese großen Streitwagen dort unten sollen uns den Weg zum Weltentor abschneiden, während die Hauptmacht von Norden her den Pass erstürmen wird. Sie glauben, sie haben uns in der Falle und werden uns zerschmettern, doch sie täuschen sich in uns. Dieser Pass wird ein Grab der Daimonen werden.«
Volodi rollte angesichts der großspurigen Art des Zapote verärgert die Augen, sagte aber nichts.
»Du glaubst, wir könnten sie im engen Pass aufhalten?«, fragte Aaron so neutral, wie er vermochte, obwohl er diesen Plan für äußerst leichtfertig hielt.
»Mit hundert meiner Jaguarmänner wäre das sicherlich möglich, aber die Truppen, die uns noch zur Verfügung stehen, werden nicht in der Lage sein, Daimonen aufzuhalten. Nein, wir werden sie auf diesem Pass begraben. Unter Schnee, Eis und Felstrümmern. Wir werden eine Lawine auslösen, sobald sich ihre ganze Streitmacht auf dem Passweg befindet.«
»Und unsere Nachzügler?« Aaron war entsetzt. Sie würden auch ihre eigenen Männer begraben.
»Ich rechne nicht vor dem Morgengrauen mit einem Angriff. Wer die Kraft hat zu gehen, hat noch die ganze Nacht, um es hierher zu schaffen. Und wer es nicht auf die Passhöhe schafft, den hätten wir ohnehin nicht retten können. Ein Tod in der Lawine ist allemal gnädiger, als von den Grünen Geistern geholt zu werden.«
Der Plan war ebenso menschenverachtend wie erfolgversprechend. Aaron blickte nach Norden. Weit entfernt am Horizont sah er das Lager der Daimonen. Sie hatten sogar Zelte. Er wusste auch, dass sie in jeder Nacht Feuer brennen ließen. Ihre Krieger waren viel besser bei Kräften. Sie hätten den grauen Hünen und den tödlichen Schwertkämpfern nichts entgegenzusetzen.
»Ich könnte mit meinen Kushiten hierbleiben, um die Lawine auszulösen.«
Nun sah ihn Acoatl zum ersten Mal an. Die kalten Augen des Zapote musterten ihn herablassend. »Das kommt natürlich nicht infrage. Zum einen hätte ich Sorge, dass du wegen der Nachzügler zögerst und alles verpatzt. Zum anderen würdest du Jammergestalt Stunden brauchen, um den Hang hinabzukommen. Meine Adlerritter und ich werden zur Ebene hinabfliegen. Höchstens hundert Herzschläge werden wir brauchen, um euch einzuholen. So löst man sich vom Feind.«
»Ich hoffe, ich werde dich demnächst auf einem silbernen Löwen reiten sehen. Ich würde gerne etwas von dir über den Kampf in der Luft lernen.«
Acoatl legte den Kopf schief und sah mit seinem Adlerhelm in Aarons Augen aus wie ein argwöhnisches Huhn. »Das ist nicht dasselbe«, sagte er. »Ich werde immer auf meinen eigenen Schwingen fliegen. Und du solltest besser auf dem Boden bleiben. Du könntest dich nützlich machen und am Kampf gegen die großen Kutschen teilnehmen.«
»Stimmt, ich werde mit dem Schwert in der Hand unseren Feinden entgegentreten, während du ihnen aus sicherer Entfernung mit einer Lawine zusetzt. Wie viele Krieger haben wir noch, die an den Kämpfen teilnehmen können?«
Acoatl machte ein Gesicht, als wollte er ihn gleich zerfleischen. Seine Adlerritter spannten sich. Volodi legte eine Hand auf seinen Schwertgriff.
Er sollte sich besser beherrschen, dachte Aaron beschämt. Sie konnten es sich nicht leisten, sich auch noch untereinander zu befehden. Selbst wenn Acoatl sich keine Mühe gab, auch nur einen Hauch von Höflichkeit zu zeigen, war dies keine Entschuldigung dafür, es ihm gleichzutun. Er war eben – wie hatte Volodi es so treffend gesagt – Loch von Arsch.
»Krieger für den Kampf auf der Ebene gibt es hier noch achtzehn«, sagte Acoatl gepresst. Offensichtlich war auch er zu dem Entschluss gekommen, eine offene Konfrontation auf später zu verschieben.
»Achtzehn?« Was sollte das nun wieder? Ihre Lage war verzweifelt, aber so schrecklich konnte sie doch nicht sein!
»Meine Jaguarmänner, mehr sind es nicht mehr.« Er lächelte herablassend. »Außerdem gibt es noch vielleicht zweihundert Mann, die eine Waffe halten können, aber sie Krieger zu nennen wäre bei ihrem Zustand deutlich zu hoch gegriffen.«
Aaron reichte es. Gegen den Plan konnte er nichts Vernünftiges einwenden. Sie hatten einfach keine Möglichkeiten mehr. Acoatl musste er allerdings nicht noch länger ertragen. Er wandte sich ab. Sein Zorn gab ihm neue Kraft. Er trat an den Rand des Felssimses und blickte nach Süden auf die Eisebene, auf der er morgen kämpfen würde. Was hatte es mit diesen riesigen Streitwagen auf sich? Sie mussten versuchen, die Zugtiere zu töten. Dann würden sie morgen siegen. Auch gab es noch einen Silberlöwen, der an ihrer Seite kämpfen würde. Sie konnten es schaffen!
Er blickte auf all die Flüchtlinge, die sich über den Pass gemüht hatten und nun auf dem steil abfallenden Hang mit Blick auf die Ebene die Nacht abwarteten. Hoffentlich würden die Grünen Geister nicht zu schlimm unter ihnen wüten! Wie viele würden erfrieren, einen Tag vor der Rettung?
Nicht weit entfernt kauerte ein Mann mit langem schwarzen Haar, der neben sich einen Speer an einen Fels gelehnt hatte. Er gehörte zu den wenigen Glücklichen, die einen Pelzmantel trugen. Er würde es ganz sicher schaffen!
Hornbori hatte in der Nacht kaum Schlaf gefunden. Immer wieder war er an den Wagen auf und ab gegangen oder hatte zu den Ausläufern der Berge gestarrt. Wann würden sie kommen? Im ersten Morgengrauen? Oder eine Stunde früher? Jetzt endlich hatte er seine Antwort. Zwei Stunden war der Tag schon alt, als sich die geschlagene Schar der Menschenkinder etwa eine Meile entfernt zu formieren begann. Es war fast genau an der Stelle, die Hornbori vorhergesehen hatte.
Der Befehl, den er hatte, war seltsam. Solaiyn hatte darauf bestanden, dass er einige Menschenkinder durch den Albenstern, der hier irgendwo in der Nähe lag, entkommen lassen sollte. Mindestens hundert. Warum den Sieg nicht vollkommen machen? Natürlich konnte ihm das egal sein. Er würde nur Befehle ausführen, die Verantwortung trug Solaiyn. Dennoch hätte er gerne verstanden, was vor sich ging.
Alle Schlitten waren mit dem Heck zu den Menschenkindern ausgerichtet. Die drehbaren Speerschleudern waren nach hinten geschwenkt. Auf den Schlitten kauerten neben den Geschützbedienungen der Zwerge noch etliche Kobolde mit Armbrüsten. Brass und seine Trolle hatten zwischen den Rentierschlitten Posten bezogen, um auf seinen Befehl hin einen Gegenangriff unternehmen zu können oder Schlitten, die in Nahkämpfe verwickelt wurden, zu Hilfe zu eilen.
Aber zu Nahkämpfen sollte es eigentlich gar nicht erst kommen. Deshalb saßen sie schließlich auf Schlitten, die den Menschenkindern das Heck zeigten. Sein Plan war es, langsam von den Angreifern fortzufahren und dabei darauf zu achten, dass der Feind stets in Schussweite blieb, um ihn niederzumachen, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Das war die perfekte Schlacht! Den Gegner ohne eigene Verluste vernichten. Genau so sollte es heute laufen.
Er stieg auf den Kutschbock seines Schlittens, beschirmte seine Augen mit der Hand gegen die niedrig stehende Sonne und spähte wieder zu den Menschenkindern. Hatten sie seinen Schlachtplan durchschaut? Warum brauchten sie so lange?
Eine Ewigkeit verging, bis sie endlich so etwas wie eine Schlachtreihe geformt hatten und langsam auf die Ebene zogen. Hornbori sah nervös zu Brass. Hoffentlich hielt er die Trolle zurück, wie er ihm befohlen hatte. Seine Krieger waren begierig darauf, endlich warmes Menschenfleisch zu kosten.
»Die Augen des Goldenen ruhen auf dir, Brass!«, rief er dem Troll zu und klopfte auf die Stange der Standarte, die in einer Schelle auf der Rückseite des Kutschbocks steckte. Der mächtige Seidenschweif hinter dem Drachenkopf wogte in der leichten Morgenbrise. Es war ein schönes und vor allem eindrucksvolles Feldzeichen.
»Die hinken«, bemerkte Rafa plötzlich. »Sieh dir das nur an. Die halten sich ja kaum noch auf den Beinen.« Der Kobold ließ seine Armbrust sinken und blickte zu Hornbori hoch. Jetzt drehten sich auch die Zwerge an der Speerschleuder um und sahen ihn fragend an.
»Das könnte ein Trick sein!«, sagte Hornbori entschieden. »Lasst euch von ihnen nicht täuschen! Die sind nicht wehrlos.« Er legte dem Zwergenkutscher, der neben ihm auf dem Bock saß, eine Hand auf die Schulter. »Wäre schön, wenn wir denen entgegenfahren könnten, so lahmarschig wie die sind.«
Der graubärtige Zwerg kaute auf seiner erloschenen Pfeife und schüttelte den Kopf. »Rückwärts geht nicht.«
Hornbori drehte nervös eine Strähne seines Bartes zwischen Daumen und Zeigefinger. Hatte er einen Fehler gemacht? Hätte er mit seinen Schlitten einfach wild schießend durch diese lächerliche Schlachtreihe brechen sollen? Jetzt war es zu spät, um die Formation zu ändern.
»Sie sind in Reichweite«, bemerkte sein Geschützführer.
»Hier schießt noch keiner«, befahl Hornbori laut. »Wartet auf meinen Befehl. Unsere erste Salve soll sie in Panik versetzen.« Was für abgerissene Gestalten da auf sie zukamen. Die sahen kaum lebendiger aus als all die Toten, die sie auf dem Anmarsch von Norden her entlang des Weges gesehen hatten.
»Wartet!« Seine Stimme klang nun ruhiger. Es würde ein Kinderspiel werden, den zerlumpten Haufen niederzumachen.
Plötzlich teilte sich die Schlachtreihe der Menschenkinder, und ein großer, silberner Löwe preschte aus ihrer Mitte hervor. Mit weiten Sätzen eilte er den Schlitten entgegen. »Schießt das Vieh nieder!«, befahl Hornbori und hob die schwere Windenarmbrust auf, die zwischen ihm und dem Kutscher lag.
Ringsherum ertönte das scharfe Sirren, mit dem sich die Sehnen der Speerschleudern entspannten. Auch etliche der Kobolde schossen auf den Löwen. Hornbori stützte die Armbrust auf der Rückenlehne des Kutschbocks auf und begann, die Kurbel zu drehen. Wäre schön, wenn er das Vieh erlegen könnte. Natürlich war das unwahrscheinlich. Aber allein mit den anderen zu schießen war auch etwas wert. Seine Männer sollten sehen, wie er selbst an der Schlacht teilnahm und nicht nur Befehle gab. Hier oben, auf dem mehr als zwei Schritt hohen Kutschbock, konnte ihm ja nichts passieren.
Ein lautes, metallisches Klirren ließ ihn innehalten. Was war das? Noch ein Klirren und wieder. Der Löwe stürmte ihnen unaufhaltsam entgegen, und alle Geschosse prallten von ihm ab. Sie hatten gepanzerte Kutschen, aber die Menschenkinder hatten einen gepanzerten Löwen! Mit offenem Mund begaffte er die Kreatur, unter deren riesigen Pranken der Schnee aufspritzte. Warum hatte ihn niemand vor diesem Löwen gewarnt? Solaiyn musste doch davon gewusst haben!
Voller Sorge sah Hornbori zu der Schlachtlinie der Menschenkinder, die, befeuert durch den ungestümen Angriff des Löwen, nun etwas schneller vorrückte. Gab es noch mehr von diesen Kreaturen?
Der Pfeil einer Speerschleuder traf den Löwen mitten in die Stirn. Das Geschoss glitt nach oben weg. Die Bestie wurde nicht langsamer. Im Gegenteil, sie beschleunigte noch einmal und sprang dann mit einem gewaltigen Satz in den Schlitten links neben Hornbori. Wütend kämpfte sich das Ungeheuer durch die dicht gedrängte Besatzung. Ein schwarzbärtiger Zwerg, der sich mit einem Speer zu wehren versuchte, wurde mit zerfetztem Rücken über die Brüstung des Schlittens geschleudert. Hornbori sah, wie Prankenhiebe Koboldköpfe zerplatzen ließen. Gellende Schreie hallten über das Eis und übertönten sogar den Schlachtruf, den die Menschenkinder nun angestimmt hatten.
Als sich der blutbesudelte Löwe mit den Vorderpranken auf der Brüstung aufstützte und nach neuen Opfern umsah, ließ der Kutscher neben Hornbori seine Peitsche über die Rücken der Rentiere hinweg knallen. Der plötzliche Ruck, mit dem ihr Schlitten anfuhr, brachte Hornbori aus dem Gleichgewicht. Mit den Armen rudernd, stürzte er rücklings in den Schnee. Seine Armbrust landete unsanft auf seiner Brust.
Alle Schlitten ringsherum fuhren nun an. Speere und Armbrustbolzen sirrten über den Zwerg hinweg und schmetterten gegen die Panzerplatten des Schlittens, den der Löwe erobert hatte. Die Bestie senkte ihr Haupt, und Hornbori hatte das Gefühl, dass sie ihn ansah. Nur ihn! Dann sprang sie vom Schlitten.
Hornbori war mit einem Satz auf den Beinen und wusste, es würde nicht reichen. Er hatte gesehen, wie schnell der Löwe war, hatte gesehen, was er den Unglücklichen im anderen Schlitten angetan hatte. Der Zwerg schloss die Augen und sah sich im Geiste schon zerfetzt auf dem Eis liegen, als ein dumpfes, metallisches Geräusch ihn veranlasste, die Augen wieder zu öffnen.
Brass, der Mammutwürger! Der Troll hatte sich dem Löwen in den Weg geworfen und wand sich mit der Bestie im Schnee. Er hielt den Nacken des Ungeheuers fest im Ringergriff und presste es gegen seinen gewaltigen Leib, während die Sichelklauen der Hinterläufe des Löwen seine Oberschenkel und seinen Bauch zerfetzten. Er konnte diesen Kampf nicht gewinnen, doch er hatte Hornbori Zeit erkauft.
»Auge! Schießen!«, schrie der Troll und brüllte dann dem Löwen, der keinen einzigen Laut von sich gab, ins Gesicht.
Hornbori griff nach der Armbrust. In verzweifelter Hast drehte er die Kurbel, mit der die Sehne gespannt wurde. Er legte einen Bolzen auf die Führungsschiene und zögerte. Bisher waren alle Geschosse vom silbernen Löwen abgeprallt. Jetzt, da er der Bestie so nahe stand, sah er, dass sie ganz und gar aus Metall erschaffen war. Die Geschosse hatten nur flache Dellen und Schrammen auf dem Silber hinterlassen. Aber vielleicht waren die kleinen, bernsteinfarbenen Augen ja verletzlich.
»Schnell!«, stöhnte der Troll. Der Schnee ringsherum war von Blut durchtränkt, in dem Streifen seines Fleischs lagen, das ihm die messerscharfen Klauen aus dem Leib rissen.
Hornbori hob die Waffe und trat näher. »He, Mistvieh!«
Der Löwe wandte ihm den Kopf zu. Hornbori krümmte den Zeigefinger und zog den Abzugsbügel der Armbrust zurück. Die Sehne schnellte vor. Der Bolzen schoss davon.
Und der Löwe … blinzelte. Mit scharfem, metallischem Kreischen glitt der Armbrustbolzen vom silbernen, mit Goldwimpern versehenen Augenlid ab.
»Scheiße … Noch mal«, stieß der Troll abgehackt aus. Immer tiefer gruben sich die Löwenkrallen in seinen Leib. Die mächtigen Arme, die den Nacken des Ungeheuers umschlossen hielten, zitterten. Und keine hundert Schritt entfernt stürmten die Menschenkinder heran.
Hornbori wollte fortlaufen, doch ihm war mit tödlicher Gewissheit bewusst, dass der Löwe ihn einholen und zerfleischen würde. Fliehen half nicht, er musste jetzt handeln! Er stieß den Fuß in den Bügelschuh der Armbrust, beugte sich vor, griff mit beiden Händen nach der Kurbel über der Führungsschiene der Waffe und begann zu kurbeln. Langsam krümmte sich der Bogen aus Silberstahl. Endlich war die Waffe gespannt. Mit zitternden Händen griff Hornbori nach der Tasche mit den Bolzen.
»Schnell …« Die Stimme des Trolls hatte alle Kraft verloren. Es blieben nur noch Augenblicke, bis dieser ungleiche Kampf vorüber wäre. Hornbori entglitt der Bolzen, den er gezogen hatte. Ohne den Blick vom Löwen zu wenden, tastete er über den Schnee. Die Krallen des Raubtiers hatten ein grässliches Gemetzel angerichtet. Die strampelnden Hinterläufe pressten sich gegen den Leib des Trolls und weideten ihn buchstäblich aus, nachdem sie seine Bauchdecke zerfetzt hatten.
»Jetzt …« Brass löste einen Arm und griff dem Löwen ins Gesicht. Mit dem Daumen drückte er gegen die goldenen Wimpern, sodass der Löwe das Augenlid nicht senken konnte.
Hornbori trat dicht an die Bestie, hob die Waffe und drückte ab. Es gab einen klirrenden Laut. Der Bolzen verschwand im Bernsteinauge. Metall kreischte. Eine schwarze Flüssigkeit troff aus dem zerstörten Auge. Der Löwe bäumte sich nach hinten. Dann erstarrte er.
»Erzähl König Bromgar … von Jagd«, stammelte Brass.
»Das mach ich«, versprach Hornbori und dachte zugleich, dass er niemals zum Königshof des Trollherrschers ziehen würde. Brass war ein Idiot gewesen, sein Leben wegzuwerfen, aber er hatte sich die Lüge redlich verdient. Ohne den Troll wäre er jetzt tot, dessen war Hornbori sich nur zu bewusst.
»Bist guter Anführer …«, stammelte der Troll. »Spüre den Blick des Goldenen …« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann wurden seine Augen glasig.
Brass war stolz darauf, auf diese Art verreckt zu sein, dachte Hornbori mit Befremden. Diese Art Tapferkeit war dem Zwerg gänzlich unbegreiflich. Sie beide waren keine Freunde gewesen, und es hatte dem Troll keinerlei Nutzen gebracht, sich zu opfern. Die einzig plausible Erklärung war, dass der Hüne ein Hirn von der Größe einer Walnuss hatte.
Hornbori hob den Blick und sah zu den anmarschierenden Menschen. Der Tod des Löwen hatte ihrem Angriffsmut einen Dämpfer versetzt. Sie marschierten zwar noch voran, waren aber wieder deutlich langsamer geworden.
Hornbori ging rückwärts den Schlitten entgegen, ohne das kleine Heer aus den Augen zu lassen. Neben den Menschen fielen ihm nun noch andere seltsame Kreaturen auf. Geschöpfe, die wie lebendig gewordene Schatten aussahen und vor der Schlachtlinie hin und her huschten.
Der Zwerg winkte den flüchtenden Schlitten zu. »Ich hab den Löwen getötet«, rief er aus Leibeskräften. »Kommt zurück! Wir werden siegen.«
Im Rückwärtsgehen spannte er die Armbrust erneut. Als er zu den Bolzen griff, zitterten seine Hände nicht mehr. Er kniete sich nieder, zielte in aller Ruhe und schoss. Zufrieden sah er, wie der Kerl, den er anvisiert hatte, nach hinten gerissen wurde und nicht mehr aufstand. So hatte er sich diese Schlacht vorgestellt. Maximaler Schaden beim Feind, kein eigenes Risiko.
In Gedanken entwarf er schon die Rede über seinen Sieg, die er in den Ehernen Hallen halten würde. Eikin, der Alte aus der Tiefe, war ihn nicht losgeworden. Hornbori lächelte grimmig. Im Gegenteil, wenn er als Held in die Zwergenstadt zurückkehrte, wäre er mächtiger als je zuvor. Und sicher würde sich ihm Amalaswintha in die Arme werfen. Kriegshelden kamen bei Frauen immer gut an.
Pfeile und Speere huschten über Hornbori hinweg. Die Schlitten hatten gewendet. Peitschen knallten, und die Zwerge auf den Kutschböcken trieben die Rentiere an, sich mit aller Kraft ins Geschirr zu werfen.
Allen voran kam sein Schlitten mit der prächtigen Drachenstandarte. Rafa ließ den Kutscher dicht bei Hornbori halten und streckte dem Zwerg die Hand entgegen. »Bei den Alben, du hast den Löwen erschossen«, rief der Kobold begeistert.
Hornbori setzte eine zerknirschte Miene auf. »Leider konnte ich Brass nicht mehr retten. Die Bestie hat ihn angefallen, als er sich gerade zur Flucht wenden wollte. Ich hatte ihm noch zugerufen, er solle hinter mir Deckung suchen, während ich nachlade, aber dieses Ungeheuer hat ihm einfach Angst gemacht. Du weißt ja, die Trolle haben es nicht so sehr mit Metall. Es verbrennt ihnen die Haut. Dieser Löwe muss ein lebendig gewordener Albtraum für ihn gewesen sein.«
Rafa betrachtete den Troll nachdenklich. Er wirkte plötzlich traurig. Erstaunlich, waren doch Trolle und Kobolde nicht gerade Freunde.
»Zuletzt hat Brass wieder zu seinem Mut zurückgefunden und den Löwen in den Schwitzkasten genommen. So konnte ich einen sicheren Schuss ins Auge setzen«, setzte Hornbori nach und erklomm den Kutschbock.
Die übrigen Schlitten hatten ebenfalls angehalten und erneut eine Reihe gebildet. Alle schossen, was das Zeug hielt, und schnell verließ die Menschenkinder aller Mut. Obwohl einzelne Krieger vor ihrer Schlachtreihe auf und ab liefen und Befehle brüllten, zogen sich immer mehr Männer zurück.
»Vorwärts«, rief Hornbori begeistert. »Vorwärts, wir zermalmen sie!«
Die Schattengestalten, die ihm eben schon aufgefallen waren, waren die Einzigen, die noch den Schlitten entgegenliefen.
Hornbori lud seine Armbrust nach, als eine jener Kreaturen auf die Rentiere sprang, die vor seinen Schlitten geschirrt waren. Nie zuvor hatte er ein solches Geschöpf gesehen – halb Menschenkind, halb Katze, bewegte es sich mit fließender Eleganz und rammte dem vordersten Rentier eine Krallenhand in den Nacken.
Rafa schrie den Kobolden einen Befehl zu. Ein halbes Dutzend Armbrüste sirrten wie wütende Bienen, doch der Katzenmann ließ sich seitlich am Rentier hinabgleiten, wobei seine Krallen tiefe, rote Schnitte im Rücken des Tieres hinterließen.
Hornbori blickte nach rechts und links zu den anderen Schlitten. Es war überall dasselbe Bild. Die Katzenmänner griffen die Leittiere in den Gespannen an. Schon stürzten die ersten Rentiere. Die Menschenkinder, die sie fast zurückgeschlagen hatten, rotteten sich zu kleinen Gruppen zusammen und gingen wieder vor.
Hornbori fluchte und lud seine Armbrust. Es würde doch etwas härter werden, als er erwartet hatte. Aber mithilfe der Trolle würden sie die Attacke schon zurückschlagen.
Plötzlich wuchs hinter den Feinden ein gleißendes Licht aus dem Schnee. Ein Albenstern öffnete sich. Das war die Rettung. Sie bekamen Verstärkung!
Der Goldene mochte einfach nicht glauben, was er sah. Hielten die Menschenkinder seinen Heerführer tatsächlich für so dumm? Es war eine Beleidigung, diese seltsamen Adlermänner auf dem Berghang tief unter sich zu sehen.
Der Drache sah durch die Augen Solaiyns. Wieder einmal hatte er sich im Geist des Heerführers eingenistet, um durch ihn zu erleben, was auf Nangog geschah. Mit jedem Mal, dass er sich des Elfen bemächtigte, wurden seine Sinne schärfer und die Beherrschung von Solaiyns Körper umfassender. Es war absolut erstaunlich, dass der Fürst nicht wie all die anderen vor ihm Gehirnblutungen bekam. Er schien in ihm das vollkommene Werkzeug gefunden zu haben. Gegen Solaiyns Willen hatte er den Fürsten gezwungen, auf den Rücken eines der großen Adler zu steigen. Der Elf war ihm machtlos ausgeliefert, und der Goldene wollte sehen, wie es mit dem Heer der Menschenkinder zu Ende ging.
All seine Brüder – außer dem Dunklen – lagen in einem verborgenen Tal hoch im Norden Albenmarks und lauschten den Worten, die er wie im Schlafe sprach, während er sich des Körpers des Fürsten bemächtigt hatte.
Seine Nestbrüder waren genauso erzürnt über die plumpe Falle der Menschenkinder.
»Vertreiben wir sie vom Pass!«, schrie der Goldene über den Wind hinweg Nodon zu, der an seiner Seite flog, und lenkte dann seinen Adler in die Tiefe. Es war ein wundersames Gefühl, auf fremden Flügeln zu fliegen.
Elf andere Adler folgten ihnen. Die dummen Menschenkinder! Sie beobachteten angespannt die Passwege, dabei hatte nicht ein einziger Krieger des Elfenfürsten den leichengesäumten Pfad über die Berge betreten. War ihnen immer noch nicht klar, dass ihre Falle allein ihnen zum Verhängnis werden sollte!
Erst im allerletzten Augenblick sah einer der Adlermänner zum Himmel auf und sah das Verhängnis, das ihnen mit vorgereckten Fängen entgegenstürzte. Adlerkrallen bohrten sich tief in die Brust des Menschensohns, noch bevor er flüchten konnte. Einige seiner Gefährten stürzten sich in die Tiefe und glitten zur Überraschung des Goldenen dicht über dem Hang hinab zur Ebene, gefolgt von wirklichen Adlern, die sie erbarmungslos jagten. Die meisten der Adlermänner ereilte jedoch auf dem Felskamm über der Passhöhe ihr Schicksal.
Der Goldene hieß seinen Raubvogel landen. Zufrieden schwang er sich vom Rücken des Adlers und stieg über einen der Toten. Was ging in den Köpfen dieser Menschenkinder vor sich, sich wie Vögel zu verkleiden?
Interessiert beobachtete der Goldene die Jagd am Hang. Zwei der Menschenadler schafften es tatsächlich zu entkommen. In die Nachzügler, die erschöpft auf der südlichen Bergflanke gekauert hatten, um die Schlacht in der Ebene zu beobachten, kam ebenfalls Bewegung. Ahnten sie, was es bedeutete, die Höhe verloren zu haben, oder waren es allein die großen Adler, die ihnen Furcht einflößten? Es würde keinen Kampf um den Pass geben. Sie hatten im Handstreich alle Verteidiger vertrieben. Die Nachzügler waren ihnen wehrlos ausgeliefert. Genussvoll verfolgte er, wie Männer ihre Kameraden, die nicht mehr aus eigener Kraft gehen konnten, im Stich ließen. Ja, manche nutzten die vermeintliche Gunst des Augenblicks noch zu einer letzten Schandtat. Dicht unter der Bergkuppe wurde ein langhaariger Krieger niedergeknüppelt und seines Pelzmantels beraubt. Andere Plünderer entrissen gestrauchelten Gefährten ihre letzten Vorräte. Sie waren so wunderbar skrupellos, diese Menschenkinder.
Schließlich wandte sich der Goldene den Felsbrocken zu, die vorbereitet worden waren, um in den nördlichen Passweg gestürzt zu werden und eine Lawine zu entfesseln. Stümperhaft! Die Anführer der Menschenkinder mussten doch um die Adler Albenmarks gewusst haben. Immer wieder hatten die großen Greifvögel in die Kämpfe eingegriffen. Wie hatten sie glauben können, dass einem Feind, der den Himmel beherrschte, diese Falle entgehen würde?
Er bückte sich nach einem knotigen Wanderstab, der zwischen den toten Adlerkriegern am Boden lag. Er war sich bewusst, dass Nodon ihn misstrauisch beobachtete. Dem Drachenelfen aus dem Gefolge des Erstgeschlüpften war nicht entgangen, wie sehr sich sein Heerführer an diesem Morgen wieder einmal verändert hatte.
Der Drache wog den knotigen Holzstab in der Hand, dann flüsterte er ein Wort der Macht, so alt und dunkel, dass es Nodon respektvoll Abstand nehmen ließ.
Entschlossen rammte der Goldene den Holzstab auf den eisverkrusteten Felsboden zu seinen Füßen. Es war, als hätte er auf die Mitte eines straff gespannten Trommelfells geschlagen. Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte und sich dieses Vibrieren durch den Fels fortsetzte. Weit über den Bergkamm und auch über die Hänge hinab. Felsen gerieten ins Rutschen, Schneebänke lösten sich von den Hängen.
Auf beiden Seiten des Passes versank die Welt in weißes Chaos. Lawinen donnerten den engen Passweg hinab und frästen sich über die felsigen Hänge. Der Lärm, der sich erhob, löschte jedes andere Geräusch aus. Das machtvolle Donnern der stürzenden Schnee- und Felsmassen verschlang die Schreie der Sterbenden. Schnee stob in dichten Wolken auf und nahm die Sicht auf das Schlachtfeld auf der Ebene.
Die Adler ringsherum flogen erschrocken auf. Auch das Tier, auf dem der Goldene geritten war. So saß er auf dem Bergkamm über dem Passweg fest, als der letzte Akt des Dramas begann, das er so minutiös geplant hatte. Der alte Drache spürte, wie sich der Albenstern in der Ebene öffnete, doch konnte er nicht mehr sehen, wer über die Goldenen Pfade trat.
Als Aaron den silbernen Löwen fallen sah, zerbrachen all seine Hoffnungen. Es war der letzte Löwe gewesen, der ihr geschlagenes Heer begleitet hatte. Der Löwe, der das Weltentor hätte öffnen sollen! Nun gab es kein Entkommen mehr aus der Eiswüste. Allein die silbernen Löwen und die Devanthar vermochten die Tore zu den Goldenen Pfaden zu öffnen. Der Angriff, der ihren Rückzugsweg hatte sichern sollen, hatte alle Hoffnungen zunichtegemacht.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Ormu, der an seiner Seite gegangen war und ihn mit einem Schild gegen den Beschuss mit den schweren, kurzen Pfeilen, die ihre Feinde verwendeten, beschirmt hatte. Es war einer der letzten Schilde in der ganzen Armee. Die großen, unhandlichen Schilde hatten zu den ersten Ausrüstungsgegenständen gehört, die ihre Truppen auf dem mühseligen Rückzug fortgeworfen hatten.
»Wir rücken weiter vor!«, entschied Aaron. »Sollen sie sehen, dass wir keine Feiglinge sind.« Er hob sein Schwert und deutete auf die schweren Schlitten, die ihnen nun entgegenfuhren. »Vorwärts, Männer! Stürmt die Wagen und lasst die verfluchten Daimonen euren Stahl schmecken!«
Die lockere Schlachtlinie setzte sich wieder in Bewegung. Langsamer jetzt. Der Tod des Löwen hatte ihnen allen Mut genommen. Jeder einzelne Krieger wusste, dass es nun keinen Weg zurück mehr gab.
»Schnappen wir uns die Wagen und machen wir ein hübsches Feuerchen daraus!«, rief Aaron einer plötzlichen Eingebung folgend. Und tatsächlich, es wirkte. Die Krieger schritten ein wenig entschlossener voran. Seit fast zwei Wochen hatte es keine Feuer mehr gegeben. Ihnen allen war die Kälte tief in die Knochen gezogen. Für die Aussicht, sich allein die Hände wärmen zu können, würden die meisten der Männer alles tun.
Die Schlitten mit den seltsamen gehörnten Zugtieren hatten sich zu einer Linie formiert, die sich langsam auf sie zubewegte. Als ihnen erste Pfeile entgegenzischten, lösten sich die Jaguarmänner ohne Befehl aus der löchrigen Schlachtreihe. Todesmutig stürmten sie den Wagen entgegen und schlugen dabei Haken wie Hasen auf der Flucht.
Ein Sturm von Pfeilen schlug ihnen entgegen, doch kein einziger von ihnen stürzte. Aaron erinnerte sich, wie die Jaguarmänner auf der Hochebene von Kush ganz alleine die Streitwagen Muwattas aufgehalten und das Heer Arams vor der sicheren Vernichtung bewahrt hatten. Sie waren wahrlich schreckliche Gegner! Und nun brachten sie den Daimonen das Fürchten bei. Sie griffen nicht die Wagen, sondern die Zugtiere an.
Ein verirrter Speer durchbohrte einen Kushiten, keine zwei Schritt von Aaron entfernt. Das Geschoss schlug durch den Körper des Leibwächters, der auf der Stelle tot zu Boden sank.
»Ich glaube, wir können den Schild zurücklassen, gegen diese Pfeile vermag er uns nicht zu schützen«, bemerkte der Unsterbliche trocken, bemüht, sich seine Frustration über dieses letzte Gefecht nicht anmerken zu lassen. Seine Männer hatten so vieles durchgemacht. Keiner von ihnen sollte mehr kämpfen und sterben.
»Ich bleibe mit Schild an deiner Seite, mein Herrscher!«, erwiderte Ormu entschieden. »Er schützt zumindest vor den kleineren Geschossen.«
Aaron wollte etwas entgegnen, als die Männer hinter ihm plötzlich aufschrien. Erschrocken fuhr er herum. Waren noch mehr Feinde aufgetaucht?
Keine hundert Schritt entfernt hoben sich zwei Schlangen aus Licht aus dem Eis, neigten sich einander zu, sodass ein Torbogen entstand. Das Weltentor! Es öffnete sich von alleine. Hatten die Götter sie doch nicht im Stich gelassen?
Ein Reiter auf einem Schimmel, mit weitem, purpurnem Umhang um die Schultern, preschte auf die Eisebene. Der Unsterbliche Ansur, Herrscher von Valesia! Sein Maskenhelm strahlte im Sonnenlicht. Er hob seinen Speer und deutete auf die Wagen, die inzwischen zum Stillstand gekommen waren. Dann preschte er los. Hinter ihm brach eine ganze Reiterschar aus dem Weltentor hervor. Mindestens hundert prächtig gewandete Krieger, alle bewaffnet mit langen Lanzen. Aaron traten Tränen in die Augen. Sie waren gerettet …
Der Boden vibrierte unter seinen Füßen. Erst dachte er, es wäre der Hufschlag der Pferde, als er aus den Augenwinkeln sah, wie von den Hängen des Passes weiße Wolken aufstiegen. Der ganze Berg schien in Bewegung geraten zu sein. Dutzende Lawinen gingen zur selben Zeit nieder. Was hatte Acoatl getan! Die Schnee- und Felsmassen stürzten auch den falschen, den südlichen Hang hinab. Dort, wo ihrem Heer Hunderte von Nachzüglern gefolgt waren.
Einen Moment lang war Ansur überrascht, als er die Krieger vor sich auf der Eisebene sah. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das geschlagene Heer es über den Passweg schaffen würde. Eigentlich hatte er als Held jenseits der Berge die Überlebenden einsammeln wollen. Aber nun war alles anders. Gut, dass er eine Vorhut von Reitern mitgebracht hatte. Er sah die Wagen weiter voraus auf der Ebene. Sie waren offensichtlich das Angriffsziel der letzten Eiskrieger. Dann würde er eben dort seinen Ruhm ernten!
Er hob seinen Speer und deutete auf die Daimonen. »Vorwärts, Männer! Reiten wir sie nieder!«
Er stieß seinem zitternden Hengst die Fersen in die Flanken und zwang ihn zur Attacke. Das Tier war verstört. Eben noch hatte es vor dem Weltentor der Goldenen Stadt gestanden, wo es ein warmer, regnerischer Tag gewesen war, und nun, nach wenigen Schritten über den Pfad durch das Nichts, fand es sich der schneidenden Kälte des ewigen Eises ausgesetzt.
Unruhig schnaubend und mit angstweiten Augen preschte der Hengst voran, als ein gewaltiges Getöse losbrach. Der Berg, über den der Passweg führte, hüllte sich in Wolken aus aufgewirbeltem Schnee. Dutzende Lawinen gingen zur gleichen Zeit seine Hänge hinab. Hoffentlich waren dort nicht zu viele Nachzügler zurückgeblieben, dachte Ansur. Er wollte der Retter des Heeres sein und die Überlebenden im Triumph in die Goldene Stadt führen. Dafür musste er mehr als eine Handvoll abgerissene Gestalten zurückbringen.
Der Herrscher wandte den Blick von den Bergen und sah wieder zu den seltsamen Wagen, deren Außenwände ganz mit silbern glänzendem Metall verkleidet waren und denen er sich rasch näherte. Auch sie wären eine passable Beute.
Einzelne Jaguarmänner waren dabei, auf die Wagen zu steigen und die Besatzungen niederzumetzeln. Er sollte sich beeilen, sonst ernteten Acoatls Krieger allen Ruhm allein.
Ansur sah eine riesige, graue Gestalt hinter einem der Gefährte hervorkommen. Der Hüne packte einen Zapote, der sich unter der großen Hand nicht mehr wegducken konnte, und schmetterte ihn gegen die Seitenwand eines Wagens, wo auf dem Metall ein großer Blutfleck zurückblieb.
So einen Riesen zu töten wäre eine gute Sache, dachte Ansur und lenkte sein Pferd zwischen den zu einer offenen Schlachtreihe formierten Kriegern hindurch. Flüchtig sah er Aaron zu seiner Linken. Der Herrscher Arams sah entsetzlich heruntergekommen aus. Mit struppigem Bart und eingefallenen Wangen unterschied er sich kaum von den übrigen Jammergestalten.
»Stell dich zum Kampf, Katzenmörder!«, rief Ansur aus voller Kehle und hoffte, der Riese würde ihn hören. Dieses Ungeheuer im Angesicht aller Truppen zu besiegen würde endlich auch ihm seinen Anteil am Ruhm einbringen. Ihm war wohl bewusst, dass viele ihn für einen Feigling hielten. Seine Entscheidung, mit den stärksten seiner Männer und seinem silbernen Löwen zum Weltentor vorauszueilen, hatte dieses Bild von ihm gewiss noch weiter verfestigt. Es war höchste Zeit, dass die letzten Eiskrieger Ansur als Helden sehen konnten.
Der graue Riese reagierte auf den Ruf. Er sah zu ihm herüber, hob drohend eine Faust und lief dann los, ihm entgegen, um sich zum Kampf zu stellen. Ansur blickte kurz über die Schulter. Die meisten seiner Reiter waren ein Stück zurückgefallen. Der Schnee verlangsamte die Pferde. Er war seiner Leibwache um mindestens acht Rosslängen voraus. Aber er würde sie auch nicht brauchen! Mit kaltem Blut hob er seine Lanze, sodass deren Spitze auf die linke Brusthälfte des Hünen zeigte. Selbst solche Schreckenskreaturen besaßen doch gewiss ein Herz, und wenn es durchbohrt war, dann war es mit ihnen vorüber.
Der Riese war erstaunlich schnell. Ihn schien der Schnee nicht zu behindern. Zum Glück hatte er nur seine Fäuste als Waffen. Sie jagten einander entgegen. Noch fünfzehn Schritt trennten ihn vom Ruhm. Noch zehn Schritt …
Plötzlich brach der Riese zur Seite aus. Ansur fluchte und versuchte, die Lanze über den Kopf seines Hengstes zu heben, der nun im Weg war. Fast waren sie auf gleicher Höhe. Das Ungeheuer hob die Faust und schmetterte sie wie einen Hammer seitlich gegen die Nüstern des Schlachtrosses. Wäre sein Hengst im vollen Galopp gegen einen Fels gestürmt, es hätte nicht drastischer enden können. Das Tier ging zu Boden. Ansur wurde über den schlanken Hals hinweg in den Schnee geschleudert. Er ließ die Lanze fahren und versuchte sich abzurollen.
Zum Glück waren seine Leibwächter heran. Einer der Männer streifte den Oberarm des grauen Hünen mit einem Lanzenstoß, worauf das Ungeheuer die Waffe an sich riss und sie wild brüllend über seinem Kopf kreisen ließ. Drei Männer holte der Hüne so aus dem Sattel. Ein weiteres Pferd stürzte, und der Riese trat ihm gegen den Kiefer, sodass dessen Kopf mit einem unnatürlichen Ruck nach hinten gerissen wurde und dem Schlachtross das Genick brach.
Ansur rappelte sich auf. Kaum auf den Beinen, zog er sein Schwert, das ihm als Waffe gegen den Riesen lächerlich klein vorkam. Der Kerl ignorierte ihn. Er hatte nur Augen für die, die noch immer anstürmten, um ihn, Ansur, zu retten.
Ein weiterer Fausthieb des Grauen brachte ein Pferd zu Boden. Erste Reiter zogen ihre Rösser um den Zügel und wichen zurück, als Pfeile in ihre Reihen schlugen. Die verfluchten Wagen leisteten immer noch Widerstand. So viele stürzten ringsherum in den Schnee.
»Zurück!«, rief Ansur. »Zurück, Männer! Das ist mein Kampf.«
Jetzt sah der Hüne zu ihm herab. Er nickte. Hatte das Ungeheuer verstanden? Völlig überraschend kniete er nun nieder. Seine großen, ungeschlachten Hände strichen durch die weiße Mähne des Hengstes, auf dem Ansur eben noch geritten war.
»Kämpf!«, schrie der Unsterbliche das Ungeheuer an.
Der Hüne legte den Kopf schief und sah ihn unverwandt an. Seine Hände verkrampften sich in der Mähne des toten Pferdes. Plötzlich stemmte er das Pferd hoch und warf es nach Ansur.
Der Unsterbliche wich zurück. Fast schnell genug. Er wurde zu Boden gerissen. Das Gewicht des toten Tiers lastete schwer auf seinen Beinen. Ein dumpfer Schmerz klopfte im linken Bein. Ansur versuchte sich aufzustemmen, versuchte fortzukommen, doch der Hengst war viel zu schwer.
Ohne Eile kam der Hüne auf ihn zu. Wieder sah er abschätzend auf ihn herab. Dann hob er den rechten Fuß und stellte ihn auf die Brust des Unsterblichen. Ansur hörte seine Rippen knacken. Er schnappte verzweifelt nach Luft. Kurz bevor ihm schwarz vor Augen wurde, spritzte ihm etwas Warmes ins Gesicht. Der Druck ließ nach, und er konnte wieder atmen! Er blinzelte. Sah, dass der graue Hüne ein Stück zurückgewichen war und ihm ein Schwert aus dem Bauch ragte. Ein seltsames Licht spielte um die Waffe.
Verwirrt glaubte er zu sehen, wie das Schwert Licht aus dem Hünen herauszog, so wie es die Grünen Geister bei den Sterbenden taten.
Ansur wandte den Kopf. Neben ihm stand König Geisterschwert, Aaron von Aram. Ihn schauderte. Er dachte an all die Geschichten, die man sich über diesen Unsterblichen erzählte, den einzigen, den die Devanthar je in den Gelben Turm eingeladen hatten.
Aaron winkte einem rotbärtigen Krieger und einigen anderen. »Los, befreit den Unsterblichen Ansur!«
Der tote Hengst wurde zur Seite gezogen. Aaron reichte ihm die Hand und half ihm auf die Beine. Genau so hatte es nicht kommen sollen, dachte Ansur beschämt. Er hatte der Held in einem glänzenden Angriff sein wollen. Er sah um sich. Ein Teil seiner Reiter umkreiste die Wagen. Sie hatten es schwer. Sie kamen vom Sattel nicht auf die Pritschen, wurden mit Speeren und Äxten abgewehrt oder auf kürzeste Distanz von den seltsamen Kreuzbögen der Daimonen niedergeschossen. Diese Attacke war der falsche Weg. Er hatte es eigentlich von Anfang an geahnt.
Ansur legte beide Hände an den Mund und rief aus Leibeskräften: »Rückzug!«
Aaron gab einem nahe stehenden Hornbläser ein Zeichen, und dieser gab das kurze, abgehackte Signal, das die Männer zurückbefahl.
»Wir werden sie unter Pfeilen begraben!«, sagte Ansur entschieden. »Ich habe viele Bogenschützen mitgebracht. Sehr viele!«
Aaron lächelte ihm grimmig zu. »Das ist ein guter Plan. Unsere Männer haben genug geblutet. Bringen wir keinen mehr vor die Schwerter der Feinde.«
»Ja!« Hornbori stieß triumphierend die Faust gen Himmel. »Sie hauen ab. Wir haben es ihnen gegeben. Verfluchte Menschenkinder! Schaut nur, wie sie rennen können!«
Der Zwerg führte einen kleinen Freudentanz auf der Pritsche seines Schlittens auf, klatschte bei Rafa ab, was den Kobold fast von den Beinen riss. Ihre Rentiere waren alle tot. Diese verdammten Katzenkerle hatten zudem zwei Kutschen angegriffen und die kompletten Besatzungen niedergemetzelt, und dann waren auch noch die Reiter über sie hergefallen. Hornbori hatte sich im Geiste schon verrecken sehen. Aber sie hatten es ihnen gegeben! Sogar die letzten lebenden Katzenmänner huschten eilends davon.
»Wir kommen hier nicht mehr weg«, sagte Rafa dumpf.
Warum musste man in jeder Truppe mindestens einen Griesgram haben, der die Moral untergrub, dachte Hornbori ärgerlich. »Wir müssen hier nicht fort. Jeder unserer Schlitten ist eine Festung für sich. Und sogar die Menschen haben begriffen, dass sie sie nicht einfach stürmen können. Die hauen ab. Die werden durch den Albenstern flüchten, und wir können von hier aus in aller Ruhe zusehen, wie sie sich dünnemachen. Wir haben einen großen Sieg für Albenmark errungen!«
»Einen großen Sieg?« Der Kobold sah zu ihm auf. »Ich würde sagen, wir haben Schwein gehabt, dass sie abgehauen sind.«
Verdammter Miesmacher! »Im Krieg gibt es eine ganz einfache Regel. Der Sieger ist immer der, der noch auf dem Schlachtfeld steht, wenn das Kämpfen vorüber ist. Und das sind ja wohl wir!«
»Und die da hinten?« Rafa musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um gerade eben über die Brüstung des Schlittens sehen zu können. Er fuchtelte mit den Armen, deutete aber eher in den Himmel als auf die Ebene.
Hornbori, der Rafa um mehr als einen Kopf überragte, sah besser, was da vor sich ging. Der verdammte Kobold hatte recht. Die Menschenkinder flüchteten nicht durch den Albenstern. Stattdessen marschierten dort immer noch Krieger heraus. Sie bildeten zwei lange Kolonnen, die über die Ebene hinweg in Richtung der Schlitten marschierten.
Hornbori beobachtete sie mit wachsender Beunruhigung. Die Menschenkinder hatten keine Eile. Sie wussten, dass die Schlitten ihnen nicht mehr entkommen konnten. Gut geordnet, wie auf einem Exerzierplatz, zogen die Kolonnen in einem Abstand von etwa achtzig Schritt rechts und links an den Schlitten vorbei. Dann bogen die Spitzen der Marschkolonnen aufeinander ein.
»Sieger ist, wer das Schlachtfeld behauptet«, redete Hornbori gegen das mulmige Gefühl an, das ihn überkam. »Das da hinten zählt nicht. Gekämpft wurde hier bei den Schlitten. Das ist unser Schlachtfeld.«
»Sie sind in Reichweite der Koboldarmbrüste«, sagte der Geschützmeister des Schlittens. »Sollen wir sie nicht ein wenig beim Marschieren stören?«
»Die haben genug abbekommen«, entgegnete Hornbori entschieden. »Ihr seht doch, dass sie uns in weitem Bogen ausweichen, statt uns noch einmal anzugreifen. Ladet alle Waffen nach und damit lasst es gut sein.« Wie bescheuert musste man sein, einen weit überlegenen Feind, der sich gerade friedlich verhielt, durch Beschuss zu reizen!
»Die kreisen uns ein«, murmelte Rafa leise und spannte gewissenhaft seine Armbrust. »Gleich greifen die uns von allen Seiten an, und dann sind wir tot.«
Hornbori wollte ihn schon abkanzeln, musste sich aber eingestehen, dass nicht einmal er schönreden könnte, was gerade geschah. Die Marschkolonnen trafen sich, und auf ein Hornsignal vollführten alle Krieger eine Vierteldrehung. Erstaunlich diszipliniert, dachte Hornbori. Jetzt blickten sie alle zu den Schlitten. Es mussten mehr als dreitausend Menschenkinder sein, die sie da eingekreist hatten. Und alle hatten sie Bögen dabei. Intuitiv zog er den Kopf zwischen die Schultern. Das würde kein gutes Ende nehmen.
»Erschießt ihre Anführer!«, rief Hornbori. Ihnen einfach beim Aufmarsch zuzusehen war ein Fehler gewesen.
»Woran erkenne ich die Anführer?«, fragte der Geschützmeister mit einem Anflug von Panik in der Stimme.
»Federbüsche auf den Helmen, prächtige Rüstungen …« Hornbori war sich bewusst, dass das keine Hilfe war. Die Hälfte der Menschenkinder hatte sich Federn auf die Helme gesteckt. Jetzt hoben sie alle zugleich die Bögen, und im nächsten Augenblick erfüllte ein Sirren die Luft, als käme ein riesiger Heuschreckenschwarm auf sie zugeflogen.
Hornbori duckte sich hinter die Brüstung des Schlittens, griff nach seiner Armbrust und begann mit verzweifelter Wut die Kurbel zu drehen, mit der die Sehne gespannt wurde.
Mit einem Geräusch, als würde dichter Hagelschlag auf einen Bronzeschild hämmern, prasselten die ersten Pfeile gegen die Schutzwände und auf das Eis. Einige seiner Männer schrien auf, aber soweit er das sah, schienen sie noch ganz glimpflich davongekommen zu sein. Die erste Salve hatte sie keinen Toten und kaum Verwundete gekostet.
Hornbori legte einen Bolzen auf die Armbrust und erhob sich. Er nahm sich nicht die Zeit, irgendeinen bestimmten Menschensohn anzuvisieren, denn die Bogenschützen hoben bereits erneut die Waffen. »Los, schießt! Heizt ihnen ein!« Er zielte einfach auf den Wall aus Menschenleibern und zog den Abschusshebel durch. Dann duckte er sich rasch wieder hinter die Brüstung des Schlittens. Kaum einen Herzschlag später prasselten erneut Hunderte Pfeile auf sie nieder.
Hornbori hörte, wie aufseiten der Menschenkinder irgendwelche Befehle gerufen wurden, während er erneut seine Armbrust spannte. Er wusste, dass er und seine Männer nicht auf Verstärkungen hoffen durften. Die Lawine hatte den Pass blockiert, und der Weg, auf dem sie hierhergekommen waren, war viele Meilen lang. Es war um sie geschehen. Allenfalls die großen Adler könnten ihnen noch helfen.
In einem Anflug irrationaler Hoffnung blickte er zum Himmel auf und sah etwas auf sich zufliegen – ein Pfeil, der fast senkrecht aus dem weiten Blau auf ihn hinabstürzte! Im Reflex riss er seine unverwundbare Hand hoch, doch das Geschoss drängte sich zwischen kleinem Finger und Ringfinger hindurch und traf den Spalt zwischen der Wangenklappe seines Helms und seiner Schläfe.
Hornbori taumelte nach hinten, strauchelte über etwas, das am Boden des Schlittens lag, und schlug der Länge nach hin.
»Der Hauptmann!«, schrie Rafa auf. »Der Hauptmann, wir müssen ihm helfen.«
Hornbori fühlte sich leicht benommen, aber er schien nicht ernsthaft verwundet zu sein. Der Pfeil hatte nur leicht seine Haut geritzt. Immer noch hielt er die Hand vor das Gesicht.
»Siehst du nicht, dass sie dem durch den Kopf geschossen haben, du Wicht?«, rief der Geschützmeister. »Lad deine Armbrust nach und vergiss den Hauptmann. Der ist hin!«
Hornbori wollte sich aufsetzen und widersprechen, doch dann besann er sich eines Besseren. Dieser Pfeil war ein Geschenk der Alben! Er brauchte jetzt nichts weiter zu tun, als still liegen zu bleiben und abzuwarten, bis alles vorüber war. Es dauerte höchstens noch zwei Stunden bis zum Einbruch der Nacht. Dann könnte er sich in aller Ruhe davonstehlen.
Die Menschenkinder schienen ihre Strategie geändert zu haben. Statt die Schlitten direkt unter Beschuss zu nehmen, zielten sie mit den Bögen nun steil in den Himmel hinauf, sodass die Pfeile in spitzem Winkel aus dem Himmel stürzten. So verloren die Geschosse zwar einiges von ihrer Durchschlagskraft, auf der anderen Seite schützte nun aber die Brüstung des Wagens nicht mehr vor ihnen. Auch schossen jetzt nicht mehr alle Bogenschützen zugleich. Hatte es eben noch Salven mit kurzen Pausen gegeben, so prasselte nun ein ununterbrochener Geschosshagel auf sie nieder.
Hornbori machte sich Sorgen um seine Beine. Sein Oberkörper war durch ein erstklassiges Kettenhemd aus Silberstahl, das sogar bis zu den Oberschenkeln herabreichte, geschützt. Auf seinem Kopf saß ein guter Helm, und vor sein Gesicht hielt er seine unverwundbare Hand. Nur seine Beine steckten in einer groben Tuchhose, und das war es. Sollte er dort getroffen werden, könnte er nicht mehr davonschleichen.
Pfeile prasselten in den Schlitten. Als einer an seinem Knie entlangschrammte, hätte er beinahe aufgeschrien. Dann stürzte ihm etwas in den Schoß. Warme Flüssigkeit tropfte durch sein Kettenhemd. So leicht, wie es war, konnte es nur ein Kobold sein. Vorsichtig schob er den Toten ein wenig hinab. Er spürte, wie etwas in den Leib des kleinen Rebellen schlug. Das hast du dir verdient, dachte sich Hornbori, du verdammter Zwergenmeuchler. Auch wenn er sich freundlich gegeben hatte, gönnte er jedem dieser verdammten Eisbärte einen langsamen, qualvollen Tod.
Noch ein wenig. Hoffentlich sah niemand hin. Vorsichtig schob er den Leichnam Zoll um Zoll tiefer, bis der Dreckskerl von einem Kobold schließlich seine Beine abdeckte. Wenn du wüsstest, dass du im Tod einem Zwerg das Leben rettest, würdest du dich wahrscheinlich im Grab umdrehen, dachte Hornbori zufrieden. Dann lag er ganz still und lauschte.
»Nicht wegducken!«, rief sein Geschützmeister immer wieder. »Nehmt euch Zeit zu zielen, ihr verdammten Hurensöhne. Lasst die Menschenkinder bluten! Fasst euch ein Herz und macht unserem tapferen Hauptmann keine Schande! Steht euren Mann und sterbt, ohne zu jammern wie die Weiber.«
Noch jemand stürzte auf Hornbori, stöhnte trotz der Worte des Geschützmeisters zum Herzerweichen und blutete ihn ebenfalls voll. Er würde noch erfrieren, wenn die ihn alle nass machten, dachte er ärgerlich.
Dann verstummte der Geschützmeister abrupt. Zugleich spürte Hornbori, wie der zweite Kobold, der auf ihm lag, unter mehreren gleichzeitigen Treffern aufzuckte und dann ganz still liegen blieb.
Der Beschuss wurde spärlicher. Dann hörte er ganz auf.
Es war totenstill. Kein Stöhnen, kein Atmen, kein Geräusch war mehr zu hören.
Hornbori wagte es, die Hand zur Seite zu nehmen, mit der er sein Gesicht abgeschirmt hatte. Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spalt weit. Jede Handbreit im Inneren des Schlittens war mit Pfeilen gespickt. Es mussten Hunderte sein. Die Toten lagen kreuz und quer übereinander, mit offenen Mündern und Augen, in denen das Entsetzen gefroren war.
Vorsichtig lugte Hornbori über den Rand der Brüstung. Die Katzenkerle lösten sich aus den Reihen der Bogenschützen. Es waren nur noch fünf. Sie kamen von Süden aus auf die Schlitten zu. Ganz gewiss würden sie jedem, den sie noch lebend vorfanden, die Kehle durchschneiden. Die sahen nicht aus, als würden sie sich darum scheren, dass er ein äußerst kostbarer Gefangener sein könnte.
»Du lebst!«, zischte eine leise Stimme hinter ihm.
Hornbori drehte sich um. Da stand Rafa. Ein Pfeil durch die Brust hatte ihn auf die Innenseite der Brüstung genagelt. Seine Schaffellweste war von Blut getränkt, aber seine Augen funkelten noch äußerst lebendig.
»Du … du Feigling. Sie sind für dich gestorben.«
»Ich habe sie nicht darum gebeten«, entgegnete Hornbori ärgerlich und sah nach der Drachenstandarte. Der Seidenschlauch war von Pfeilen zerfetzt und hing schlaff im Wind herab.
»Du …«, geiferte Rafa, obwohl ihm kaum Luft zum Atmen blieb. »Du hast dich die ganze Zeit tot gestellt, verdammter Feigling. Ich melde dich bei Solaiyn. Der wird dich Spießruten laufen lassen, bis dir das Fleisch in Fetzen vom Rücken hängt.«
Das mochte durchaus sein, dachte Hornbori erschrocken und sah sich Rafa näher an. So viel wie dieser giftige, kleine Wicht noch redete, schien seine Lunge nicht verletzt zu sein. Vielleicht würde er es überstehen … Und dann würde er ganz gewiss zu Solaiyn gehen. Rafa war eine Rotmütze, die ließen keine Gelegenheit aus, Zwergenblut zu vergießen. Er hob ein kurzes Schwert auf, das zwischen den Toten am Boden lag. »Komm, ich schneide dich los und bring dich in Sicherheit. Die Alben waren uns gnädig, wir müssen hier nicht sterben.«
»Glaubst du, dann würde ich über deine Feigheit schweigen?«, zischte Rafa. »Verrecken sollst du Hasenfuß, du verdammter Schisser …«
Schisser! Da war es wieder, dieses verfluchte Schimpfwort, das Hornbori Hunderte Male aus Galars Mund vernommen hatte. Er beugte sich vor und zog dem Kobold ohne zu zögern die Klinge über die Kehle. »Jetzt wirst du ganz sicher schweigen, Trottel.« Er hätte Rafa auch den Katzenkerlen überlassen können, aber es war besser, ganz sicher zu sein, dass er tot war.
Jetzt würde er sich den Bogenschützen ergeben. Die Katzenmänner hatten den ersten Schlitten fast erreicht. Hornbori riss die Standarte mit dem goldenen Drachenhaupt von der Rückseite des Schlittenbocks und sprang über die von den Katzenkerlen abgewandte Seite der Pritsche.
Wild die Standarte schwenkend, lief er den Bogenschützen entgegen. Hoffentlich hoben die Trottel nicht noch ein letztes Mal die Waffen. Er hielt immer noch das blutige Schwert in der Hand. In übertriebener Geste hob er es über den Kopf, um es von sich zu schleudern, sodass die Menschenkinder es gut sehen konnten. Wenn er die Waffe von sich warf, würden sie verstehen, dass er sich ergeben wollte.
Wenn die ersten Kämpfer sich aus der Schlachtlinie lösten, um die Drachenstandarte zu erbeuten, dann würden sie den Bogenschützen die Schusslinien blockieren. Wieder schwenkte Hornbori das schwere Feldzeichen. »Los, holt euch die Standarte!«, rief er aus Leibeskräften, als ihn ein mörderischer Schlag in die Schultern traf.
Solaiyn hatte ihn losgeschickt, damit er das Feldzeichen rettete. Die Menschenkinder sollten nicht in der letzten Stunde ihres verheerenden Feldzugs ein Zeichen des Sieges in die Finger bekommen. Nodon hielt nicht viel von diesem selbstmörderischen Auftrag. Unten auf der Ebene wimmelte es nur so von Bogenschützen. Wenn sie ihn bemerkten, dann würde er niemals lebend entkommen.
Sein Adler müsste im Sturzflug dicht am Schlitten vorbeisausen, damit er Gelegenheit bekam, die Standarte an sich zu reißen. Wenn er das Feldzeichen nicht beim ersten Versuch zu packen bekam, würde er gewiss in ein mörderisches Kreuzfeuer geraten, wenn er sich ein zweites Mal in die Nähe des Schlittens wagte.
Noch schwebte der Adler in großer Höhe. Es galt, den richtigen Augenblick abzupassen. Nodon hasste es, für eine Standarte, die den Goldenen zeigte, sein Leben wagen zu müssen. Für ein vergoldetes Stück Blech.
Was war das? Auf der Pritsche regte sich etwas. Unter den Toten erhob sich ein Zwerg.
»Tiefer!«, rief er dem Adler zu. Sollte dort unten tatsächlich noch jemand leben! Nie zuvor hatte Nodon gesehen, wie eine so kleine Fläche so wütend beschossen worden war. Unzählige Pfeile ragten aus dem Schnee. Dicht wie Grashalme steckten sie beieinander. Eigentlich konnte dort nichts überlebt haben.
Es war dieser unsympathische Zwerg mit dem geölten, schwarzen Bart, den Solaiyn in sein Zelt befohlen hatte. Der Anführer der Nachschubkolonne. Nodon hatte ihn für einen Maulhelden gehalten. Doch jetzt beugte sich der Zwerg über einen tödlich verwundeten Kobold und erlöste ihn beherzt von seinen Qualen. Und dann packte er die Standarte und stürmte todesmutig den Feinden entgegen.
»Schnapp ihn und trag ihn davon!«, befahl er dem Adler, der die Flügel anwinkelte und in halsbrecherischem Tempo der Ebene entgegenstürzte.
»Los, holt euch die Standarte!«, brüllte der Zwerg aus Leibeskräften und rannte weiter auf die Menschenkinder zu.
So viel Tapferkeit hätte er diesem Hornbori niemals zugetraut.
Die Fänge des Adlers schlugen in die Schultern des Zwerges. Es war, als würde der mächtige Raubvogel aus dem Sturzflug heraus ein Kaninchen fangen. Mit kräftigen Flügelschlägen jagte er dicht über der Ebene dahin und versuchte, wieder an Höhe zu gewinnen.
Nodon rief ein Wort der Macht, das die Luft hinter ihnen verwirbelte, sodass die Pfeile vom Wind abgetrieben wurden. Der Zwerg hing still in den Fängen des Adlers. Hoffentlich hatte ihn nicht zuletzt noch ein verirrtes Geschoss getroffen. Und hoffentlich ließ er nicht diese verdammte Standarte fallen.
Sie flogen dem Felsgrat über dem Pass entgegen, wo Solaiyn sie erwartete. Als der Adler Hornbori vor die Füße des Elfenfürsten stürzen ließ und dann landete, wirkte Solaiyn leicht verwirrt.
Nodon schwang sich vom Rücken des Raubvogels und trat vor seinen Feldherren. Er sah dem Fürsten prüfend in die Augen. Solaiyn schien nicht mehr länger vom Goldenen besessen zu sein.
»Was soll das? Warum muss ich diesen Kerl wiedersehen? Die Standarte zu holen hätte genügt. Er ist dir wohl vor Angst ohnmächtig geworden.«
»Er ist ein Held!«, widersprach Nodon entschieden und erzählte, was er gesehen hatte. »Ich glaube, der wuchtige Schlag der Adlerfänge hat ihm die Besinnung geraubt. So todesverachtend, wie er den Bogenschützen entgegenstürmte, ist er ganz gewiss niemand, der vor Angst ohnmächtig wird. Sieh ihn an, wie er über und über mit dem Blut seiner Feinde bedeckt ist. Er muss wie ein Berserker gekämpft haben.«
Der Elfenfürst beugte sich über Hornbori. Die Augenlider des Zwergs flatterten, als er ihm die Standarte aus den Händen nahm. »Du bist also ein Held … Gut. Wir können einen Helden gebrauchen, nachdem uns in der letzten Stunde des Feldzugs ein paar Menschenkinder zu viel entwischt sind.« Der Fürst sah hinab auf die Eisebene, die rot im Licht der verglühenden Abendsonne erstrahlte. Die Menschenkinder hatten begonnen, sich durch den Albenstern zurückzuziehen.
»Morgen werden auch wir auf diesem Weg nach Albenmark heimkehren«, sagte Solaiyn entschieden. »Endlich! Es wird gut sein, wenn wir dann aus diesem wenig rühmlichen Feldzug einen Helden vorzeigen können.«
Nodon nickte. Seine Gedanken schweiften ab.
»Wohin wirst du gehen?«, fragte ihn der Feldherr in aufgeräumter Stimmung. »Zurück in den Jadegarten? Ailyn hat mir erzählt, dass es dort eine Elfe gibt, die dir wohl einiges bedeutet. Nanga… Namba …« Er schüttelte den Kopf. »Mein Gedächtnis. Ich fürchte, ich habe Aloki ein paarmal zu oft mit ihrer Nadel in meinem Hirn herumstochern lassen. Ich freue mich jedenfalls, zu meinen Statuen und meinen Büchern zurückzukehren. Wir werden nur noch die Siegesfeier überstehen müssen. Trotz dieser kleinen Schlappe zum Schluss war der Feldzug in seiner Gesamtheit ein Triumph für Albenmark.«
Nodon hörte ihm nur noch mit einem Ohr zu. Es gab im Jadegarten eine Elfe, die ihm etwas bedeutete? Warum erinnerte er sich nicht mehr daran? »Nanga…, Namba…« wiederholte er leise, was Solaiyn gesagt hatte und hoffte, seine Zunge würde sich besser erinnern als sein Kopf. »Nada… Nanda …Nandalee!«
Wie ein Blitz traf ihn die Erinnerung. Nandalee! Wie hatte er sie vergessen können? Wie mochte es ihr gehen? Sie müsste längst ihre Kinder geboren haben. Hoffentlich hatte Nachtatem die Säuglinge nicht ermordet.
Jetzt erinnerte sich Nodon auch, wie unwillig er hierhergekommen war. Dass der Erstgeschlüpfte ihn auf diesen Feldzug verbannt hatte, mochte auch daran gelegen haben, dass es keine Zeugen bei der Geburt geben sollte. Er musste zurück! Auch wenn es zu spät war, um die Ränke Nachtatems noch zu durchkreuzen.
Kolja hatte alle Überlebenden um sich versammelt. Er wusste, dass dies heute der Tag des Wandels werden würde. Aber er wusste nicht, wann genau es geschehen würde. Die Arme eng um den Leib geschlungen, standen sie vor ihm, ein verfrorenes Häuflein, das alle Hoffnungen aufgegeben hatte.
»Erfahren wir jetzt endlich, was du von uns willst?«, fragte Nabor in vorwurfsvollem Ton.
Sein Verhältnis zum Lotsen war in den letzten Tagen immer angespannter geworden. Kolja wusste, dass Wind vor regenschwerem Horizont seit Tagen nicht mehr zu Nabor gesprochen hatte. Auch für ihn war es immer schwieriger geworden, zu dem Wolkensammler Verbindung aufzunehmen. Die riesige Kreatur schien verwirrt. Die unterschiedlichsten Gedanken und Empfindungen überlagerten sich. Ein Gespräch gab es nicht mehr. Allerdings hatte Kolja ganz deutlich die Angst des Himmelsgiganten gespürt. Er veränderte sich, so wie Kolja sich veränderte.
Der Drusnier strich über seinen verstümmelten Arm. Er hatte sich an den ziehenden Schmerz gewöhnt, der keinen Herzschlag lang aussetzte.
»Die Göttin wünscht, dass wir hier stehen und Zeugen eines ihrer Wunder werden.« Kolja sagte das in so ärgerlichem Tonfall, dass jedem klar sein musste, dass er Widerspruch bestrafen würde, indem er Zweifler in den nahen Krater stürzte.
Eine Zeit lang herrschte betretenes Schweigen, und nur das leise Säuseln des Windes in der zerfetzten Takelage war zu vernehmen. Kolja hatte die Männer in den letzten Tagen eine große, hölzerne Plattform bauen lassen, nicht unähnlich einem Floß, nur dass sie mit einer massiven Reling versehen war. Anfangs hatte er einige der Wolkenschiffer mit Prügel dazu zwingen müssen, weil sie an Nabors Eissegler bauen wollten.
Kolja glaubte nicht an ein Schiff, das auf festem Grund dahingleiten sollte. Es war leichtfertig, seine Kräfte für solchen Unsinn zu vergeuden. In seinen Träumen hatte er immer wieder dieses Floß gesehen, und er war überzeugt, dass Wind vor regenschwerem Horizont und Nangog ihm diese Träume geschickt hatten. Er war ihr Werkzeug, und nachdem er zwei Schiffern die Zähne eingeschlagen hatte, hatten sich schließlich alle gefügt und die Arbeit an Nabors Eissegler abgebrochen. So war die große, hölzerne Plattform entstanden, die nun etwa hundert Schritt vom Krater entfernt auf dem Eis ruhte. Sie war mit Vorräten beladen, mit Brennholz und vor allem dem kostbaren Traumeis. In der Mitte, fest verankert, erhob sich ihr Unterschlupf aus den mit Segeltuch überspannten Landungskörben. Nicht einmal fünf Tage hatten sie benötigt, um seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Er hatte sie gnadenlos angetrieben, denn der Tag der Entscheidung war nahe.
Die Männer hatten ihn für die elende Schinderei verflucht, doch Kolja wusste auch ohne den Rat des Wolkensammlers, wie wichtig es war, eine Mannschaft beschäftigt zu halten und ihnen etwas zu geben, das sie alle miteinander verband. Und sei es der Hass auf ihn.
Ein lautstarkes Gurgeln ertönte tief im schlaffen Leib des Wolkensammlers. Ein Geräusch, wie es in Unruhe geratene Gedärme machten, nur um ein Vielfaches lauter. Dieses Gurgeln war schon seit Tagen immer wieder zu hören, und Kolja wusste, was bald folgen würde. Aufmerksam betrachtete er den Leib des Wolkensammlers, der in sich zusammengesunken von der gewaltigen Felszinne hing.
Plötzlich ertönte ein zischendes Geräusch, und gelblicher Dampf quoll in etwa sechzig Schritt Höhe aus dem Leib von Wind vor regenschwerem Horizont. Es dauerte nicht lange, und ein Gestank, schlimmer als in den Gassen eines Gerberviertels, trieb zu ihnen herüber.
»Du weißt, was das bedeutet«, sagte Nabor ernst. »Du kennst das, nicht wahr?«
Kolja hob fragend die Brauen, was den Ärger des Wolkenschiffers noch mehr anstachelte.
»Du bist doch auf Dutzenden Schlachtfeldern gewesen, Drusnier. Du musst das kennen!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Leichen, die zwei oder drei Tage in der Sonne gelegen haben«, zischte Nabor, der ihm völlig zu Recht seine Unwissenheit nicht abnahm. »Ihre Leiber quellen auf, und schließlich beginnen sie zu furzen und zu rülpsen, schlimmer, als sie es als Lebende je vermocht haben.«
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte Kolja unschuldig.
»Wind vor regenschwerem Horizont ist tot! Seit Tagen spüre ich ihn nicht mehr, wenn ich seine Fangarme berühre. Es ist kein Leben mehr in ihm. Sein Leib beginnt zu verfaulen, weil sich tief im Innersten noch ein wenig Hitze gehalten hat, so wie bei Misthaufen, die an kalten Herbsttagen dampfen.«
»Du weißt schon, dass er eine empfindsame Seele hat.« Kolja konnte es sich einfach nicht verkneifen, den alten Lotsen weiter zu necken. »Wenn Wind vor regenschwerem Horizont hört, dass du ihn mit einem Misthaufen vergleichst, wird ihn das sehr kränken.«
»Tote kränkt gar nichts mehr, Kolja!«
»Nangog wird heute ein Wunder wirken, alter Mann. Sieh dich vor! Deine Zweifel verärgern die Göttin. Sie will uns helfen, nach Hause zurückzukehren. Du könntest durch deine Worte alles verderben und unser Schicksal besiegeln.«
Nabor lachte auf. »Na wunderbar. Bist du jetzt unser neuer Priester? Mit dieser Rede hast du dich endgültig in alle Richtungen abgesichert. Passiert nichts, bin ich schuld. Geschieht doch ein Wunder, verdanken wir es vermutlich deinem Einwirken. Ich bin ein alter Mann, wie du sagst. Ich habe vieles gesehen, den Meerwanderer im Delta des Sepang, die geflügelten Weiber von Temil oder die verborgenen Städte von Tarkan Eisenzunge. Aber ein Wunder ist mir nie begegnet.«
»Dann reiß jetzt einmal deine Augen auf, Alter.« Kolja öffnete die Verschnürung der Wollstulpe, die er über seinem Stumpf trug, seit die Prothese nicht mehr passen wollte. »Die meisten von euch haben wahrscheinlich die Geschichte schon gehört, wie ich an der Seite der Unsterblichen Aaron und Volodi meinen Arm im Kampf gegen die Grünen Geister verloren habe. Damals war ich verblendet, doch jetzt hat Nangog mir die Augen für die Wahrheit geöffnet. Und sie hat mich belohnt, weil ich, ihr Feind von einst, nun zu ihrem treuen Diener geworden bin.« Mit diesen Worten zog er die Stulpe vom Arm und hob den Stumpf hoch, sodass ihn alle deutlich sehen konnten. Er war über das Handgelenk nachgewachsen. Weiße Knochen ragten aus Sehnen und Muskelfleisch. Es waren die kleinen Knochen der mittleren Hand, die begonnen hatten, sich neu zu formen.
Kolja trat dicht vor die Männer und zeigte ihnen den Arm. »Seht das Wunder der Göttin. Und seht auch in mein Gesicht. Seht, wie sie die wulstigen Narben verschwinden lässt und meine Haut sich glättet und wieder jugendlich aussieht … Wir sind nicht verloren. Ihr Blick ruht auf uns. Wir sind ihre Auserwählten. Jene, die alle Mühsal auf sich nahmen, um ihre gefrorenen Träume in die Welt zu tragen.«
Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ungläubig tasteten seine Männer über den Armstumpf und über sein Gesicht. Dann kniete der Erste nieder und bat in inbrünstigem Gebet Nangog um Verzeihung für seine Zweifel. Selbst Nabor, der eher erschrocken als demütig wirkte, murmelte. »Ich muss gestehen, dies ist ein Wunder.«
Ein reißendes Geräusch ließ Kolja aufblicken. Weit oben an dem schlaffen Sack aus gefrorener Haut und Tentakeln drang weiter gelber Nebel aus dem Inneren der Kreatur. Die Haut wölbte sich, als bewegte sich etwas darunter. Plötzlich drang ein Fangarm hervor. Er war von weißem Schleim überzogen, der in langen Fäden herabtropfte, und endete in einer Kralle groß wie ein Mann.
Weitere Tentakel schoben sich aus dem Inneren und weiteten den Riss in der erfrorenen Haut. Nun drängte etwas Größeres aus dem Inneren des Hautsacks. Immer mehr Fangarme quollen hervor. Mehr als zwanzig Schritt war der Riss nun schon lang, gesäumt von diesem sich windenden Grauen, dessen Haken an den Enden der Arme sich gegen das eigene Fleisch richteten. Ein neuer Körper mit neuen Fangarmen war in dem schlaffen Hautsack herangewachsen. Einige der Tentakel griffen auch nach oben, umschlangen den Felspfeiler, während eine unförmige Masse aus dem Kokon aus toter Haut schlüpfte.
Bahnen aus Schleim troffen entlang der gesplitterten Masten und zerrissenen Taue ihres gestrandeten Wolkenschiffs. Dichte Wolken aus stinkendem, gelbem Nebel wogten zum Eis hinab.
»Zum Floß!«, rief Kolja, gefangen zwischen Staunen und Entsetzen. Er musste die Männer packen und mit sich zerren. Sie alle, selbst der alte Lotse, waren wie erstarrt von der Ungeheuerlichkeit, die sich vor ihren Augen abspielte.
Der unförmige Klumpen begann sich zu entfalten. Streckte riesige, fleischige Schwingen, die Kolja an einen großen Rochen erinnerten, den er einmal in der aegilischen See gesehen hatte. Er erinnerte sich daran, was Wind vor regenschwerem Horizont ihm gesagt hatte und was ihm damals so seltsam und unverständlich erschienen war. Dass er vom Fliegen träumte, obwohl er doch so viele Jahrzehnte schon über den Himmel Nangogs geglitten war.
»Los, los! Beeilt euch! Wer nicht auf unserem Floß ist, der wird zurückbleiben. Für immer gestrandet im ewigen Eis.« Diese Worte brachen endlich den Bann. Bewegung kam in seine Wolkenschiffer.
»Prüft, ob alles gut festgezurrt ist«, rief plötzlich Nabor. »Ich glaube, unser Aufbruch wird rauer werden als der Aufbruch eines Wolkensammlers, der von einem Ankerturm ablegt.«
So versammelten sie sich alle auf ihrem Floß, um von dort der Geburt der Kreatur zuzusehen, zu der sich Wind vor regenschwerem Horizont entwickelt hatte. Der Tag ging in die Dämmerung über, als der Wolkensammler sich von der Felsnadel löste und schwebte. Seine Schwingen waren mehr als zwei Schritt dick. Auch in ihnen schienen große Blasen mit warmer Luft oder Gas eingelagert zu sein, die Wind vor regenschwerem Horizont schon in seiner alten Gestalt Auftrieb gegeben hatten. Sein Leib hatte die Form eines lang gezogenen Dreiecks, aus dem ein dicker, vielleicht vierzig Schritt langer Schwanz wuchs, an dessen Ende eine dreieckige Finne, groß wie ein Turm, aufragte.
Von Flügelspitze zu Flügelspitze maß die Kreatur mehr als hundert Schritt, wobei der Leib ohne den Schwanz etwas weniger als halb so lang war. Von der Mitte der Unterseite hingen die Tentakel, mit denen Wind vor regenschwerem Horizont sich aus seinem Kokon herausgeschnitten hatte. Es waren viel weniger, als ein Wolkensammler besaß, aber sie waren nicht minder kräftig oder lang. Viele der Fangarme endeten in Haken oder Dornen, die aussahen, als wären sie aus Knochen.
Kolja konnte keine Augen bei dem veränderten Wolkensammler entdecken. Die Unterseite von Wind vor regenschwerem Horizont war von einem fahlen Weiß mit leichtem Gelbstich.
»Bei den Göttern«, sagte Nabor, »das wird …« Ihm ging offensichtlich auf, was er für einen Fehler gemacht hatte, jedenfalls fuhr seine Rechte erschrocken zum Mund, fast als hoffte er, er könne die ausgesprochenen Worte wieder in seinen Schlund zurückschieben. »Bei der Göttin, meine ich natürlich«, erklärte er hastig. »Bei der Göttin! Das wird alles verändern. Nun treiben diese Kreaturen nicht länger mit dem Wind. Sie können selbst bestimmen, wohin sie fliegen.«
Doch zunächst erprobte Wind vor regenschwerem Horizont seine Schwingen nicht. Er ließ sich mit dem Wind treiben. Nur sein mächtiger Schwanz peitschte unruhig, als erprobte er, welchen Nutzen er bringen könne.
Langsam glitt er über den roten Abendhimmel davon nach Westen. Er war schon fast eine Meile entfernt, als er die riesigen Schwingen auf und nieder bewegte. Dann drehte er nach Süden ab und flog davon. Ohne sie!
»Das warst du!«, brach es aus Kolja heraus. »Du hast ihn beleidigt! Als du unsere alten Götter angerufen hast!«
»Aber …« Nabor hob abwehrend die Hände. »Nein, ich …«
»Du bist schuld, dass er uns verlassen hat. Du warst von Anfang an ohne Glauben.« Kolja war sich bei all diesen Vorwürfen keineswegs sicher, aber er brauchte einen Sündenbock. Noch waren die überlebenden Wolkenschiffer wie gelähmt vor Entsetzen, aber das würde nicht lange anhalten, und dann brauchten sie jemanden, an dem sie ihre Wut auslassen konnten. Und Kolja war entschlossen, dass nicht er ihr Opfer werden würde. Er könnte sich zwar wehren, aber er müsste vermutlich ein paar von ihnen umbringen, und jetzt, gestrandet im Eis, würde er jeden Mann brauchen. Vielleicht müssten sie ja doch noch diesen verdammten Eissegler bauen.
»Wind vor regenschwerem Horizont ist nicht so«, beteuerte Nabor. »Er ist nicht so empfindlich. Er hätte gewusst, dass ich mich versprochen habe. Dass ich es nicht so meinte …«
»Was erinnert an diesem Geschöpf noch an Wind vor regenschwerem Horizont?«, fragte Kolja mit schneidender Stimme. »Alles hat sich verändert! Er ist ein Geschöpf Nangogs! Und du sprichst in der Stunde seiner Geburt von unseren Göttern, du einfältiger Tropf.«
»Es war ein Versprecher. Ich habe es nicht gewollt …«, beteuerte Nabor händeringend.
»Ich glaube dir nicht!« Kolja wandte sich an die Wolkenschiffer. »Wer hat dagegengesprochen, hierherzukommen? Wer hat mit seinem Affen einen der Geister an Bord geholt? Wer hat immer wieder gesagt, Wind vor regenschwerem Horizont sei tot? Nabor! Tief im Herzen hat er den alten Göttern niemals abgeschworen, und deshalb tut er alles dafür, dass unsere Mission scheitert.« Kolja las in den grimmigen Gesichtern der Wolkenschiffer, dass er sie überzeugt hatte.
»Er ist es«, zischte ein Segelmacher mit erfrorener Nase. »Er ist unser Unglück.«
»Nein, Korba! Wir kennen uns so lange!«, wandte sich Nabor verzweifelt an den Mann. »Nein! Du weißt, dass ich so nicht bin. Es stimmt nicht, was Kolja sagt.«
»Ich habe ein paarmal gesehen, wie er das Zeichen des schützenden Horns geschlagen hat«, erklärte nun Marco, der Staumeister, ein bulliger Kerl mit dichtem schwarzen Bart und buschigen, ein wenig herabhängenden Augenbrauen, die ihn stets melancholisch aussehen ließen. »Dieses Zeichen beleidigt die Große Mutter. Ich habe ihn auch nie inbrünstig zu ihr beten sehen.«
Es lief genau so, wie Kolja es erwartet hatte. Er hatte in seinem Leben schon mehr als einen Sündenbock erschaffen. »Wir müssen die Große Mutter mit uns versöhnen«, erklärte er ernst. »Wir können einen wie Nabor nicht länger in unserer Mitte dulden.«
Der Lotse sah ihn mit angstweiten Augen an. »Nein! Das könnt ihr nicht machen! Ihr dürft mich nicht einfach aussetzen! Ich bin euer Lotse. Ohne mich seid ihr verloren!«
»Der Lotse von was?«, schrie Korba aufgebracht und deutete auf den leeren Hautsack und das zerschellte Schiff. »Das ist dein Werk, Nabor. Du hast uns alle umgebracht durch deinen Unglauben, und jetzt erwartest du Gnade?«
»Packt ihn!«, befahl Kolja.
Nabor leistete kaum Widerstand. Er hatte ihn zerbrochen. Kolja konnte es in den Augen des alten Mannes sehen. Von denen verleumdet zu werden, die er sein halbes Leben lang durch die Himmel Nangogs geführt hatte, war mehr, als er verkraftete.
Marco und Korba ergriffen ihn bei den Armen. »Was sollen wir mit ihm tun?«, fragte Marco.
Kolja wandte sich um und ging zum Krater. »Folgt mir!«
Nur das Knirschen ihrer Schritte im Schnee begleitete sie. Selbst der Wind war verstummt. Es herrschte beklemmende Stille, als sie im letzten Abendrot an den gewaltigen Schlund traten, der bis zum Herzen der Welt hinabführte. Dorthin, wo Nangog fast seit dem Anbeginn der Zeit schlief.
»Bringen wir der Göttin ein Opfer. Schenken wir ihr den Zweifler, auf dass sie ihn läutern möge.«
»Das kannst du nicht tun«, begehrte Nabor verzweifelt auf und sah Kolja flehend an. »Du weißt, dass all diese Vorwürfe nicht stimmen. Ich habe mich nie gegen die Göttin gestellt. Ich liebe sie. Ich bewundere ihre Schöpfung seit dem ersten Tag, an dem ich ihre Welt betreten habe.«
»Wenn das so ist, dann hast du ja nichts zu befürchten.« Er wandte sich an Marco und Korba. »Packt ihn bei Armen und Beinen und schmeißt ihn mit Schwung in die Tiefe. Er hat es in seinem Leben geliebt zu fliegen. Er soll nicht auf einen Felsvorsprung aufschlagen. Er soll einen letzten, langen Flug haben.«
»Ihr irrt euch!«, beteuerte Nabor. Jetzt hatte seine Stimme wieder einen weinerlichen Ton. »Ihr werdet mich brauchen. Ich bin euer Lotse. Ohne mich werdet ihr niemals den Weg zurück finden.«
»Uns führt die Große Göttin!« Der Drusnier sah sich um. »Gibt es hier einen, der für Nabor sprechen möchte? Nur einen? Wenn einer für ihn bürgt, dann soll er diese Nacht überleben und morgen ein Gottesurteil überstehen.« Er sah alle Wolkenschiffer der Reihe nach an. Warum war ihm das nicht früher eingefallen? Vielleicht würden sie den Lotsen wirklich noch brauchen? »Und? Spricht keiner für ihn?«
»Wozu?«, schnarrte Marco, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie fast eine durchgehende Linie bildeten. »Wir sind uns einig. Er ist ein Verräter an unserer Sache!«
Kolja war sich bewusst, dass es kein Zurück mehr gab. »Dann hinab mit ihm!«
Marco bückte sich und packte die Beine des alten Lotsen, der Korba, ohne weiteren Widerstand zu leisten, die Arme hinstreckte.
»Ich bete für euch«, sagte Nabor, und seine Stimme zitterte vor Angst, auch wenn er sich bemühte tapfer zu sein. »Möge die Göttin euch verzeihen und sicher nach Hause führen.«
Marco und Korba hoben den Lotsen hoch und begannen, ihn mit weit ausholenden Bewegungen hin und her zu schwingen.
»Jetzt!«, befahl Kolja.
In weitem Bogen flog der Lotse in den Krater. Er breitete die Arme aus, als wollte er sie aus der Tiefe hinaus umarmen. »Ich bete für euch!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. Dann verschwand er in der Finsternis des bodenlosen Abgrunds. »Ich bete für euch!«, erklang es nun schon aus weiter Ferne. Ein drittes Mal hörten sie ihn noch rufen. Dann senkte sich Stille über die Gruppe.
Kolja sah den beklommenen Gesichtern der Wolkenschiffer an, dass der Abgang des Lotsen Eindruck auf sie gemacht hatte. »Möge Nangog ihm gnädig sein!«, sagte er mit fester Stimme. »Gehen wir zurück zum Floß! Morgen früh entscheiden wir, was wir als Nächstes tun.«
Verwundert sah der Drusnier, wie Marco seine dicke Wollmütze abnahm und verlegen zwischen den Händen drehte. Die Lippen des Staumeisters bewegten sich lautlos, als betete er stumm. Ausgerechnet er, der mitgeholfen hatte.
Kolja blickte ein letztes Mal in den Abgrund, dann wandte er sich ab. Die anderen Männer folgten ihm wie Gänse, die ihrem Ganter nachlaufen. Ihm war bewusst, dass die Stimmung morgen gegen ihn schlagen konnte, wenn er nicht mit einem guten Plan aufwartete. Er seufzte. Kurz bevor sie das Floß erreichten, zog am südlichen Horizont eine Wolke auf, die das Licht der Sterne verdunkelte und bald den kleineren der beiden Zwillingsmonde verdeckte. Sie bewegte sich in ihre Richtung, obwohl kein Wind wehte. Bald gewann sie an Konturen.
Wind vor regenschwerem Horizont war zurückgekehrt.
»Die Große Göttin hat unser Opfer angenommen!«, rief Kolja und deutete zum Himmel. »Er kommt zurück, um uns zu retten.«
Die Männer riefen aufgeregt durcheinander und kletterten auf das Floß.
Der Wolkensammler hatte sie bald erreicht. In weiten Kehren flog er über der primitiven Plattform, die sie gezimmert hatten, ganz so, als wollte er ihnen zeigen, was für Kapriolen er nun am Himmel schlagen konnte.
Kolja stieg als Letzter auf das Floß. Kaum war er an Bord, ließ Wind vor regenschwerem Horizont seine Fangarme herabsinken. Sie schlangen sich um jene kräftigen Balkenenden, die weit über den Rand der Plattform hinausragten. Leicht schwankend wurden sie emporgehoben.
Koljas Finger gruben sich in den Handlauf der Reling, als ihn etwas Feuchtes im Nacken berührte.
Wo ist Nabor, drang die vertraute Stimme des Wolkensammlers in seine Gedanken.
»Von uns gegangen«, sagte der Drusnier beklommen. »Lies in meinen Gedanken, was geschehen ist. Du weißt, ich habe keine Geheimnisse vor dir.«
Die Männer beobachteten ihn. Etwa die Hälfte hatte sich in die Landungskörbe zurückgezogen. Die Übrigen aber wollten erleben, wie sie in den Himmel hinaufstiegen. Die fleischigen Schwingen des Wolkensammlers bewegten sich in sanftem Schlag. Gemächlicher als Vogelflügel. Er hatte wieder auf einen südlichen Kurs gedreht, und eisiger Fahrtwind strich über das offene Deck.
Ich verstehe euch Menschenkinder nicht. Du hast ihn töten lassen, weil ich davongeflogen bin? Was hatte das mit ihm zu tun?
Du hast uns allen Angst gemacht, als du uns verlassen hast. Menschen, die Angst haben, tun unvernünftige Dinge. So ist das mit uns. Ich habe große Hoffnungen auf dich gesetzt und konnte mir nicht erklären, warum du davongeflogen bist. Hätte ich den Zorn der anderen nicht auf Nabor gelenkt, hätte er sich gegen mich gerichtet. Kolja schickte dem Wolkensammler seine Gedanken, damit die Wolkenschiffer nicht Zeugen der Wahrheit wurden.
Willst du mir sagen, ich sei schuld an seinem Tod?
Der Drusnier spürte die Betroffenheit von Wind vor regenschwerem Horizont. Warum bist du davongeflogen?
Ich musste meine Schwingen erproben. Musste mich mit meinem neuen Leib vertraut machen. Ich konnte euer kleines Schiff nicht sofort emporheben. Ich hatte Sorge, euch in Gefahr zu bringen.
Dann war es deine Vorsicht, die Nabor umgebracht hat, dachte Kolja. Er spürte, wie der Tentakel in seinem Nacken zuckte.
Ich werde euch Menschenkinder niemals verstehen. Ihr seid so voller dunkler Gefühle. Angst, Zorn, Gier. Mein Volk kennt die meisten dieser Regungen nicht. Ich weiß nicht, ob es ein Mangel oder Segen ist. Heute hat meine Unwissenheit einen guten Mann getötet.
Der Wolkensammler verbarg seine Gefühle vor Kolja. Lange glitten sie schweigend über das Land. Wind vor regenschwerem Horizont flog kaum mehr als hundert Schritt hoch. Sie bewegten sich wesentlich schneller als auf dem Hinweg, als sie allein ein Spielball des Windes gewesen waren.
Deute ich deine Gedanken richtig, Kolja? Du willst in die Goldene Stadt. Warum nicht zu Tarkon Eisenzunge. Dienst du nicht länger der Großen Göttin?
»Ich habe eine alte Schuld zu begleichen«, flüsterte Kolja. Er war in die äußerste Ecke des Floßes zurückgewichen, während seine Männer inzwischen in der Hütte aus den Landungskörben Zuflucht vor dem eisigen Wind gesucht hatten.
Du willst mich verschenken! Der Wolkensammler klang amüsiert.
»Für dich bin ich wohl kaum mehr als eine Ameise. Könnte eine Ameise einen Menschen verschenken?«
Sie könnte zumindest davon träumen.
»Wird mein Traum in Erfüllung gehen?«
Wirst du erneut jemanden der Großen Göttin opfern, wenn es nicht so ist.
Kolja spürte, dass Wind vor regenschwerem Horizont in seltsamer Stimmung war. Verärgert, aber noch nicht wütend. Verwundert auch und aufgewühlt. Und ratlos. Der Drusnier entschied frech zu sein, statt zu kuschen. Der Wolkensammler war ihm zu fremd, als dass er hätte voraussehen können, wie Wind vor regenschwerem Horizont reagieren würde.
»Würde es helfen, noch ein Opfer zu bringen?«
Finde es heraus. Wir haben noch eine lange Reise vor uns.
Der Fangarm löste sich aus Koljas Nacken und zog sich zurück. Der Drusnier atmete schwer aus. Da war ein Gedanke gewesen, den Wind vor regenschwerem Horizont nicht in Worte gekleidet hatte. Kurz hatte der Wolkensammler erwogen, ihn zu packen und hinab auf die weite Eisebene zu schleudern.
»Ich habe nie geglaubt, dass es Zufall war, dass wir mitten in der Nacht in die Goldene Stadt zurückkehrten. Die Straßen waren wie leer gefegt. Kaum einer hat die abgerissene Schar gesehen, die zurückkehrte. Es waren auch nicht viele. Weniger als dreihundert, und etliche von ihnen brauchten andere Männer, die sie stützten, denn die tausend Treppen der Stadt aus Gold konnten wir nicht mehr gehen.
Ich weiß nicht, was mit den anderen geschah, aber wir Luwier wurden im Palast des Unsterblichen Labarna versteckt. Bei den Göttern, was haben sie uns angetan. Wir bekamen gute Quartiere, gutes Essen und gute Huren. Ich weiß nicht, ob es das Essen oder die Huren waren. Ich war zu erschöpft, um beides in vollen Zügen zu genießen. Aber ich werde nie vergessen, wie ich die Helden, die alles Ungemach überstanden hatten, am Boden sah. Sie wanden sich in Krämpfen, nachdem sie getafelt hatten, als gäbe es kein Morgen mehr. Lagen am Boden, kotzten und verreckten.
Jetzt noch stehen mir die Tränen in den Augen, wenn ich an diese Nacht denke. Wo bleibt die Gerechtigkeit? Sie hatten so vieles erduldet, mehr ertragen, als ein Mensch zu ertragen geschaffen ist, und dann starben sie, als sie sich in Sicherheit wähnten und ein erstes gutes Essen vor ihnen stand. Köstlicher Hammelbraten, von dem nur so das Fett troff, Eier ohne Zahl, frische Äpfel, gut gewürzte Bohnen und dazu Wein und Bier.
Und das war noch nicht das Ende. Viele waren krank zurückgekehrt oder so erschöpft, dass alles Öl, das unser Lebenslicht befeuert, aufgebraucht war. Sie starben an Auszehrung, unbehandelten Wunden, an den Krankheiten, die mit den Läusen kommen, oder an dem, was sie im Eis gesehen hatten und was ihnen für immer den Seelenfrieden raubte. Ich lag in einem Quartier mit ihnen. Ich habe ihre Schreie in der Nacht gehört, habe ihre Hände gehalten, wenn das kalte Fieber sie überfiel und sie mit glasigen Augen immer wieder von den Geistern erzählten, die das Lebenslicht tranken, oder davon, wie sie einem Kameraden die Decke gestohlen hatten, ihn sterben ließen, um selbst zu überleben. Es waren diese dunklen Taten, die sie auch in vermeintlicher Sicherheit nicht losließen und zurück in die Dunkelheit zogen. (…)
Ist heute aber die Rede von den letzten Eiskriegern, dann packt mich der Zorn, denn die meisten, die diesen stolzen Ehrentitel tragen, haben ihn sich gestohlen. Es sind jene Männer, die mit Ansur zurückkehrten. Gewiss sind viele von ihnen tapfere Krieger, aber sie haben nicht einmal einen einzigen Tag im Eis gefochten, nur das letzte Gefecht um die Schlitten geliefert.
Von jenen, die mit dem Heer der sieben Königreiche gekommen waren, kehrten nur sieben von hundert zurück, um auch in den Kämpfen, die da noch kommen sollten, ihre Waffen zu erheben.
Was dort geschah, hätte uns Warnung sein sollen. Die Daimonen zeigten uns all ihre Heimtücke. Und das sollten sie auch fortan tun. Sie hatten sich entschieden, die Welt Nangog lieber in Strömen von Blut zu ertränken, als sie uns zu überlassen. Und wir waren so dumm zu glauben, wir könnten ihnen trotzen.«
Vorsichtig bettete Ormu die Heilerin auf sein Lager. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, sie die letzten Schritte zu tragen, so wie er sie im ersten Morgengrauen vom Pass hinabgetragen hatte. Kirum erschien ihm selbst jetzt, wo er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, so leicht wie eine Feder.
»Bringt mir warmes Wasser!«, befahl er den beiden Kameraden, die er ins Vertrauen gezogen hatte. Sie war in Decken gehüllt in den Palast gebracht worden. Niemand hatte ihr Gesicht gesehen. Niemand wusste, dass die Frau, nach der der Unsterbliche Aaron sich so verzehrte, in dieser Nacht unter seinem Dach schlief. Von Ormus Quartier bis zum Schlafgemach des Unsterblichen waren es weniger als fünfzig Schritt.
»Beeilt euch!« Ormu zog sein Messer und setzte es dicht unterhalb der Kehle Kirums an. Er trennte die Naht des schäbigen Kleides auf. Überall darunter krochen Läuse wie bei den meisten, die den Schreckensmarsch überlebt hatten.
Er schnitt ihr die Lumpen vom Leib und schleuderte sie zur Seite. Ihre Haut war überall zerstochen und an etlichen Stellen rot entzündet. »Bei lebendigem Leib gefressen haben sie dich«, murmelte er und vertrieb die blutgierigen Plagegeister so gut er es konnte.
Er hatte Kirum auf der Südseite des Passes gefunden, als er nach einem seiner Krieger gesucht hatte. Sie hatte auf einer Geröllhalde gelegen, das Haar steif von gefrorenem Blut. Sie war niedergeschlagen und ihres Mantels beraubt worden. Der Frost hatte ihr schon arg zugesetzt gehabt. Sie war mehr tot als lebendig gewesen, als er sie in seinen Umhang hüllte und auf die Ebene hinabtrug. Als er in den Kampf musste, hatte er sie bei den wenigen Nachzüglern zurückgelassen, die sich unweit des Weltentors versammelt hatten.
»Du musst dich selber ausruhen, Ormu.« Sein Freund Yazde blickte vorwurfsvoll auf ihn herab. Er war wie Ormu hager und ausgezehrt. Gezeichnet vom ewigen Winter, dem sie so knapp entkommen waren. Auch er stammte aus den Bergen Garagums.
Ihn um sich zu haben war, wie ein Stück Heimat bei sich zu behalten. Schon sein Akzent, die Art, wie er die Worte setzte. Ormu musste lächeln. Dass Worte Heimat sein könnten, hatte er niemals erwartet, als er seine Berge verlassen hatte, um dem Unsterblichen Aaron zu folgen.
Traurig blickte er wieder auf die ohnmächtige Kirum. Vorsichtig tupfte er mit in warmes Wasser getauchten Lumpen den Schmutz von ihrem Leib. Sie war keine Schönheit. So hager wie alle, die den Marsch durch das Eis überlebt hatten, mit kleinen Brüsten und vielen Narben.
»Sie sieht aus wie ein Krieger«, sagte Yazde überrascht. »All diese Narben. Sie muss ein schweres Leben gehabt haben. Sieh nur die Narbe unter dem Schlüsselbein. Sie hat eine richtige Mulde in ihr Fleisch gestanzt.«
Ormu hatte so etwas schon einmal gesehen. Solche Narben hinterließen Dornäxte, wenn sich ihre Spitze tief in einen Leib bohrte. Nur wenige überlebten solche Wunden. »Sie ist eine Frau voller Geheimnisse«, sagte er mit vor Erschöpfung schwerer Stimme. Er konnte verstehen, dass Aaron sich in sie verliebt hatte. Sie war ganz anders als die jungen Edeldamen, die die Provinzfürsten immer wieder in den Palast von Akšu schickten, in der Hoffnung, der Unsterbliche würde unter ihnen die Eine entdecken.
»Hol mir ein paar Ziegenschläuche mit warmem Wasser«, bat er Yazde. Er wollte nicht, dass sein Freund noch länger ihre Nacktheit sah.
Vom großen Hof hörte Ormu Flötenspiel und Zimbelklang. Aaron hatte ein Fest für die Überlebenden befohlen. Doch niemand sang grölend Trinklieder. Nicht einmal Lachen erklang.
Der Hauptmann wusch Kirum so gut er es vermochte. Dann massierte er ihre geröteten Finger. Ihre Nägel waren von dunklem Blau, ebenso ihre Lippen. »Du wirst jetzt nicht sterben«, zischte er ärgerlich. »Nicht jetzt, wo du endlich in Sicherheit bist, Trösterin.«
Er wünschte, er könnte Aaron holen. Nichts würde seinem Herrscher so guttun, als wieder mit Kirum vereint zu sein. Aber er hatte ihr sein Wort gegeben, als sie gekommen war, um den Unsterblichen in der Höhle beim Pass zu retten.
Als er Schritte hörte, deckte er die Heilerin zu. Yazde brachte drei Schläuche mit warmem Wasser. Ormu schob sie unter die Decke. »Eine Nacht in einem guten Bett und morgen eine dicke Hühnerbrühe«, sagte er leise. »Das wird dich wieder auf die Beine bringen!«
»Jetzt erteilst du sogar Schlafenden Befehle«, scherzte Yazde.
Ormu lächelte müde. »Hab mich wohl daran gewöhnt, Hauptmann zu sein.« Er war zu müde, um sich zu erheben. Sein Kopf sank auf das Bett, neben dem er immer noch auf dem Boden kauerte. Er spürte die Wärme eines der Wasserschläuche durch die dicke Wolldecke. Wenn er die Augen schloss, würde er binnen drei Herzschlägen einschlafen.
Als der Duft von frischem Hammelbraten vom Flur in sein Zimmer zog, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er hatte noch keinen Happen gegessen, seit er in den Palast zurückgekehrt war.
Plötzlich flatterten die Lider der Heilerin. Ihre Lippen bewegten sich. Ormu musste sich vorbeugen, um die gehauchten Worte zu verstehen. »Nicht essen … werden sterben …«
Der Jäger verstand den Sinn dieser Botschaft nicht. Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie war kühl. Kirum fieberte also nicht.
Ihre Hand tastete sich unter der Decke hervor und griff nach der seinen. »Sie dürfen nicht essen«, sagte sie nun lauter. »Nur etwas Brot und dünne Suppe.«
»Das kannst du den Männern nicht verweigern. Ein gutes, warmes Essen, das ist ihr größter Traum.«
»Es wird sie töten! Fettes, schweres Essen wird sie umbringen.«
Sie stieß jedes einzelne Wort mit aller ihr noch verbliebenen Leidenschaft hervor. Sie war die Trösterin. Sie hatte auf dem Rückzug alles für die Sterbenden gegeben. Würde sie die Überlebenden ihres wohlverdienten Festmahls berauben, wenn es nicht wirklich eine Gefahr gäbe? Nein!
»Ich verhindere es!« Als Ormu aufstand, taumelte er vor Schwäche.
Yazde eilte ihm zu Hilfe und stützte ihn. »Wirst du das wirklich tun?«, flüsterte sein Freund.
Er half Ormu hinaus auf den Gang und dann zum weiten Hof, der im Licht Hunderter Fackeln erstrahlte. Entlang der hohen Mauern waren dicke Teppiche ausgerollt und schwere Sitzkissen aufgestellt. Die Überlebenden saßen in sich zusammengesunken, an die Mauern gelehnt. Einige verfolgten mit glänzenden Augen die wirbelnden Tänzerinnen, die meisten aber waren einfach nur unendlich erschöpft. Viele waren eingeschlafen.
»Schön, dass auch du gekommen bist.« Ashot, der Feldherr des Unsterblichen, löste sich aus einer Gruppe von Palastwachen, bei denen auch Mataan, der Hofmeister, stand. Der ehemalige Krieger stützte sich schwer auf seinen Krückstock und nickte Ormu freundlich zu.
»Sie dürfen nicht vom Hammelfleisch essen«, stieß der Hauptmann der Kushiten hervor. »Lass es wegschaffen, Ashot!«
Der Feldherr runzelte die Stirn. »Warum?«
»Es wird sie töten!«
»Es ist allerbestes Fleisch, zubereitet von den Hofköchen. Es gibt keinen Grund …«
»Es wird sie töten!«, beharrte Ormu. »Die Trösterin hat mich gewarnt. Wenn dies kein Festmahl mit dünner Suppe und trockenem Brot wird, dann wirst du morgen viele Gräber ausheben lassen.«
Mataan kam zu ihnen herübergehinkt. »Du bist laut geworden, Ormu. Was ist das für eine Trösterin, von der du da sprichst?«
»Sie ist die eigentliche Heldin des Rückzugs. Sie hat sich um die Schwachen und die Sterbenden gekümmert. Alle, die lebend zurückkamen, kennen zumindest ihren Namen: die Trösterin. So heißt sie in allen Zungen.«
»Wo ist sie?«, fragte Mataan. »Wenn sie so beliebt ist, soll sie mit der schlechten Botschaft vor die Männer treten.«
»Nein«, warf Ashot ein. »Sie soll vor Aaron treten. Du weißt, wie er ist. Eine Heldin aus dem einfachen Volk. Er wird sie um sich haben wollen und ein Amt in diesem Palast für sie erschaffen. Er wird sie vor seinen Wagen spannen, so wie uns, damit sie ihm hilft, die Welt zu verbessern.«
Ormu wunderte sich, wie offen die beiden in seiner Gegenwart über den Herrscher sprachen. Zum Glück! Eine Begegnung zwischen Aaron und Kirum musste er um jeden Preis verhindern. »Die Trösterin ist zusammengebrochen. Sie wird eine Nacht schlafen müssen.«
Ashot wirkte misstrauisch. Mataan hingegen nickte verständnisvoll. »Aaron ist es nicht besser ergangen. Ich werde nicht gestatten, dass irgendjemand seine Gemächer betritt, bevor der Unsterbliche sich nicht aus eigener Kraft von seinem Lager erheben kann.«
»Auch er darf nicht schwer essen«, platzte es aus Ormu heraus. »Er …«
Mataan hob beschwichtigend eine Hand. »Er hat gar nichts zu sich genommen. Er ist auf seine Bettstatt gesunken und sofort eingeschlafen.« Der Hofmeister wandte sich an Ashot. »Wie regeln wir das hier? Ich bin geneigt, Ormu und dieser Trösterin zu glauben.«
Ashot lächelte kalt. »Ich erledige das. Sie mögen mich ohnehin nicht. Eine Schüssel dünne Suppe, einen halben Brotfladen und als Getränk nur noch Quellwasser … Das ist es, was diese Trösterin will?«
»Ja!«, bestätigte Ormu.
»Dann lasse ich das Fleisch jetzt fortschaffen. Aber du, mein Freund, du bleibst hier. Du sollst mit ansehen, was geschehen wird. Und du wirst ihnen allen die Geschichte von der Trösterin erzählen, wenn sie anfangen zu rebellieren und den Unsterblichen zu verfluchen.«
Ormu sah zu den erschöpften Gestalten. »Die haben kaum noch die Kraft, eine Suppe zu schlürfen. Die werden nicht rebellieren. Wir müssen auch darauf achten, dass sie sich nicht woanders Essen besorgen.«
Ashot schnitt eine Grimasse. »Du willst mich zur Amme von zweihundert übellaunigen, verlausten Kriegern machen. Was habe ich dir nur getan?« Er deutete zu einem der freien Plätze an der Stirnwand des Hofs. »Setz dich und schlürf deine Suppe. Und bete zu den Göttern, dass die Trösterin recht hat und man sich nicht morgen überall in der Stadt das Maul darüber zerreißen wird, dass der Unsterbliche Aaron seine Helden zu einem Festmahl aus trockenem Brot geladen hat.«
Yazde half Ormu zu einem Platz an der Wand und sank dann selbst erschöpft nieder. »Er ist kein freundlicher Mann, der Feldherr des Unsterblichen«, bemerkte er ärgerlich.
Der Hauptmann musste lächeln. »Ich glaube, das ist auch besser so. Entweder ist man ein guter Feldherr oder ein freundlicher Mann. Dass beides zusammenfallen kann, glaube ich nicht.«
Sie mussten nicht lange warten, und Dienerinnen brachten ihnen Schalen mit dünner Suppe. Ringsherum begann das Maulen. Als dann statt Fleisch nur trockenes Brot gebracht wurde, empörten sich noch mehr.
So wie Ashot es angekündigt hatte, ließ er Ormu holen, damit er von der Warnung der Trösterin sprach. Einige Männer ließ das verstummen, andere wurden nur umso lauter. Als sie versuchten, den Hof zu verlassen, um anderswo ein Festmahl zu halten, fanden sie alle Wege, die vom Hof in den Palast führten, mit Kriegern besetzt.
Jetzt begann lautstarker Streit. Doch er währte nicht lange, denn selbst die Kräftigsten unter den Heimkehrern vermochten nicht mehr, als ein wenig zu maulen und drohend die Fäuste zu heben. Langsam senkte sich eine mürrische Stille über den Hof. Die Tänzerinnen waren längst gegangen. Es spielte keine Musik mehr, und die Kochfeuer waren gelöscht worden. Schließlich dösten die meisten Männer ein. Es war eine angenehme, laue Nacht. Hier musste niemand befürchten, in einen Schlaf zu sinken, aus dem es kein Erwachen geben würde.
Ormu erwachte, als Ashot ihn im ersten Morgenlicht sanft am Arm rüttelte. »Du hattest recht. Gerade eben ist ein Bote aus dem Palast des Unsterblichen Labarna eingetroffen. Dort gab es ein großes Festmahl … Im Laufe der Nacht sind mehr als vierzig Männer gestorben. Sie dachten erst, jemand habe Gift ins Essen gerührt, aber das war es nicht.« Er senkte den Kopf, und ein seltsam bitterer Ton, den Ormu nicht recht zu deuten verstand, lag nun in der Stimme des Feldherrn. »Der Unsterbliche schuldet ihr großen Dank.«
Ormu nickte müde. Dann stand er schwerfällig auf. Alle Glieder schmerzten, als wäre er schon ein alter Mann. Yazde schlief tief und fest. Diesmal würde er ihn nicht bemühen.
»Brauchst du Hilfe?« Ashot bot ihm den Arm an.
»Das letzte Stück schaffe ich schon.« Er wollte allein in seine Gemächer. Niemand sollte sehen, wer in seinem Bett lag.
Den Hof schaffte er noch ganz gut, aber als er den langen Flur erreichte, an dem seine Kammer lag, musste er sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Mit schlurfendem Schritt machte er seinen Weg.
Als er in seine Kammer trat, war sein Bett leer. Das hatte sie nicht verdient! Tränen traten ihm in die Augen. Sie war eine starke Frau gewesen. Eine Frau, wie ihm noch keine begegnet war. Aber hatte sie sich aus eigener Kraft erheben können, um zu fliehen? Oder war sie geholt worden, weil Ashot oder Mataan ihn durchschaut und gewusst hatten, wo die geheimnisvolle Trösterin zu finden gewesen war.
Egal, aus welchem Grund Kirum verschwunden war. Ormu wusste, dass es sinnlos war, nach ihr zu suchen. Selbst wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. War es ihre Entscheidung gewesen, dann wäre sie längst in der Stadt untergetaucht. Hatten aber Ashot oder Mataan sie holen lassen, dann wäre es noch aussichtsloser, nach ihr zu suchen. Kirum durfte nie wieder unter Aarons Augen treten.
Kraftlos ließ sich der Hauptmann auf sein Lager sinken. Warum war die Welt so, dass es für die Gerechten keine Gerechtigkeit geben konnte?
Die Alben liebten ihn, dachte Hornbori, als er ein wenig angetrunken aus der Festhalle trat, um sich zu erleichtern. Eben noch hatte er mit dem Elfenschmied Gobhayn über Mängel bei den Schlitten gesprochen. Man würde die Zugtiere schützen müssen, und ein Dach gegen Pfeile, die von oben kamen, brauchten ihre Tanks auch. Gobhayn war das alles zu kompliziert. Aber er wollte weiter über Lösungen nachdenken.
Das Beste von allem war jedoch, dass er in die Ehernen Hallen zurückkehren würde. Zumindest für einen kurzen Besuch. Solaiyn, ihr stets leicht verwirrt wirkender Feldherr, hatte ihm verraten, dass er die Goldenen Schwingen verliehen bekäme. Hornbori grinste breit. Sicher hatte der Rat der Stadt sich damit gegen Eikin durchgesetzt. Wenn es nach dem Alten in der Tiefe ginge, würde er gewiss nie mehr zurückkehren. Und wenn er schon einmal da war, würde er Amalaswintha wiedertreffen. Er seufzte. Was würde er für eine Liebesnacht mit ihr geben! Vielleicht, wenn sie es wollte … Frauen begeisterten sich an Helden, und sie war klug. Nun da sie beide gewarnt waren, würde Amalaswintha gewiss einen Weg finden, wie sie beieinander sein konnten, ohne dass Eikin davon erfuhr.
Hornbori ging an der Rückseite der Festhalle entlang. Ob die Elfen es als Beleidigung auffassen würden, wenn er dagegenpisste? Bei den Langohren konnte man nie wissen. Manchmal waren sie geradezu absurd empfindlich. Er schnupperte. Der Gestank war unverkennbar. Nicht weit von hier, am Rand eines Fichtenhains, gab es einen Donnerbalken. Er würde einfach in die Grube pinkeln.
Zwei blassgelbe Laternen markierten den Ort, an dem hintereinander sieben tiefe Gruben ausgehoben worden waren. Über jeder der Gruben lag ein massiver Balken, auf dem man sich niederlassen konnte, um seine Notdurft zu verrichten. Es herrschte ein so übler Gestank, dass jeder, der seine Sinne beisammenhatte, lieber in die Wälder auf den Bergflanken ging.
Hornbori stieß gegen einen Eimer, in dem stinkende Schwämme lagen. Er fragte sich, wer es wohl über sich brachte, sie zu benutzen, um sich den Arsch abzuwischen. Angewidert trat er einen Schritt zurück und öffnete seinen Hosenlatz. Er würde ganz sicher nicht an den Rand der Grube treten.
»Schön dich wiederzusehen, Schisser!«
Erschrocken fuhr der Zwerg herum. Galar trat ins Licht der Laternen.
»Wie ich höre, sind alle deine Männer verreckt, Schisser. Da verstehe ich nicht, wie man dich als Helden feiern kann.«
Hornbori versuchte, ein Stück zur Seite auszuweichen, um mehr Abstand zur Grube zu gewinnen, doch Galar verstellte ihm den Weg. »Du bist genau an dem Platz, an den du hingehörst, Schisser.«
Hornbori hob beschwichtigend die Hände. »Es gibt Zeugen für meine Heldentat. Der Drachenelf Nodon hat gehört, wie ich den Menschenkindern meine Herausforderung entgegengerufen habe und dann …«
»Halt’s Maul!« Galar zog einen erschütternd langen Dolch aus seinem Gürtel. »Die Geschichte, die sich alle erzählen, kenne ich schon. Aber ich weiß auch, wer du bist, Schisser, und das beides passt nicht zusammen. Es war das letzte Mal, dass Männer unter deinem Kommando verrecken. Ich werde dem Heer jetzt einen großen Gefallen tun.« Der Schmied zog sein Messer, auf dessen fein polierter Klinge sich das Mondlicht spiegelte.
»Das ist nicht klug.« Hornbori wich einen Schritt zurück. »Jemand könnte sehen, was du …«
»Deshalb werde ich es schnell machen. Wenn ich fertig mit dir bin, landest du in einer der Gruben. Das Gewicht des Kettenhemds wird dich auf den Grund ziehen. Und dort wird ganz gewiss niemals jemand nach dir suchen. Der Held Hornbori hat sich einfach in Luft aufgelöst.«
»Du hast das nicht richtig bedacht, du …«
»Oh, doch!« Galar setzte ihm die Spitze des Dolches auf die Nase. »Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich finde, es gibt kein besseres Grab für einen Schisser.«
Der Irre würde ihn wirklich umbringen! Hornbori kannte Galar lange genug, um sich da ganz sicher zu sein. Vorsichtig tastete er sich einen weiteren Schritt zurück, dann spürte er unter der Sohle den Rand der Grube. Dies war seine letzte Gelegenheit, wenn er den Schmied jetzt nicht überzeugte, war er tot.
»Ich bin wirklich enttäuscht, dass du den Drachenkampf aufgegeben hast.«
»Glaubst du, dieser Stuss rettet dein Leben?« Galar verstärkte den Druck der Klinge, sodass Hornbori das Messer leicht in die Nasenspitze schnitt.
»Ich werde Macht und Einfluss in der Ehernen Halle haben. Ich werde herausfinden, wohin die Drachentöterpfeile gekommen sind, die Eikin dir gestohlen hat. Bist du sicher, dass du genug Munition für deinen Krieg gegen die Himmelsschlangen hast? Oder wirst du eines Tages Nachschub brauchen?«
»Er hat recht«, erklang eine Stimme im Fichtenhain auf der anderen Seite der Grube.
»Einen Dreck hat er! Der wird uns verpfeifen, wenn wir ihn lebend davonkommen lassen.«
Hornbori hatte die Stimme erkannt. »Komm her, Nyr! Bring ihn wieder zu Verstand! Wenn ich euch hätte ausliefern wollen, dann hätte ich das doch schon längst tun können. Glaubt ihr, ich würde den Drachen jemals verzeihen, was sie meiner Heimat angetan haben? Auch ich habe nicht vergessen, wie meine Sippe starb.«
»Der Kerl redet viel.«
Diese Stimme kannte Hornbori nicht. Zwischen den Bäumen erschien ein Troll. »Soll ich ihn mit dem Kopf in die Grube stecken?«
»Glaubst du echt, dann würde er aufhören, Scheiße zu reden, Groz?« Ein Kobold mit einer Armbrust im Anschlag trat aus dem Schatten der Fichten und stellte sich neben den Troll. Zuletzt gesellte sich Nyr zu dieser Bande von Henkersknechten.
»Ich gehöre zum Kriegsrat des Fürsten Solaiyn. Ich werde stets zu den Ersten gehören, die von den Schlachtplänen der Himmelsschlangen erfahren. Wenn ihr Drachen töten wollt, dann kann ich euch eine unschätzbare Hilfe sein. Durch mich werdet ihr wissen, wann ihr wo sein müsst, damit es glückt.«
»Lass ihn ziehen. Es hört sich wirklich so an, als könnte er uns in Zukunft noch von Nutzen sein«, sagte Nyr.
»Der da?« Galar setzte ihm jetzt die Spitze des Messers auf die Brust. »Habt ihr schon vergessen, was Bailin uns über ihn erzählt hat? Der Schisser wäre unser Henker gewesen, wenn er uns nicht gerettet hätte. Wie kannst du ihm trauen, Nyr?«
»Darf ich ihn erschießen?«, fragte der Kobold gut gelaunt.
»Wir könnten die Drachentöterpfeile, die Eikin versteckt hat, wirklich gut gebrauchen«, wandte Nyr ein.
»Hört auf ihn!«, rief Hornbori. »Ohne mich werdet ihr die Pfeile niemals wiedersehen. Außerdem werde ich euch zu den Truppen einteilen können, die den Himmelsschlangen am nächsten stehen, wenn es zum Kampf kommt. Ich weiß schon um einige ihrer Pläne. Solaiyn erzählte mir, dass die Himmelsschlangen mithilfe der Wolkensammler den Himmel erobern wollen. Und in dieser Schlacht werden auch die großen Drachen mitmischen.«
Galar zog den Dolch zurück. »Wenn du versuchst, uns reinzulegen, schicke ich dir Groz. Der wird dir das Herz aus der Brust reißen, und das Letzte, was du sehen wirst, ist, wie der Troll es fressen wird.«
»Nee, nee«, wandte der Hüne ein. »Ich fress nicht Herz von Feigling.«
»Lasst mich das machen«, bot sich der Kobold an. »Im Zwergemeucheln habe ich Erfahrung. Auf Wunsch kann ich seinen Abgang auch gerne lang und schmerzhaft gestalten.«
Besorgt betrachtete Hornbori den Kobold. Es war einer der Eisbärte mit roter Mütze. Ganz sicher waren seine Worte wahr.
»Ihr müsst mir nicht drohen.« Hornbori war stolz darauf, dass seine Angst seiner Stimme nicht anzuhören war. »Ich stehe auf eurer Seite.«
»Du stehst immer nur auf deiner Seite«, sagte Galar verächtlich. »Ich kenne dich! Du bekommst von uns diese eine Gelegenheit, wirklich ein Held zu sein. Wenn du versuchst, uns reinzulegen, dann bist du tot. Noch ein Gespräch wie dieses wird es nicht geben.« Der Schmied schob sein Messer in den Gürtel zurück. »Versau es nicht, Hornbori. Wir beobachten dich.«
»Soll ich ihn nicht doch noch in die Grube stecken?«, fragte der Troll. »Nur ein bisschen …«
»Selbst wenn du ihn hundert Jahre in die Grube tunkst, wird nicht so viel Dreck an ihm haften bleiben, wie er in sich trägt.« Galar spuckte ihm vor die Füße. »Wir sehen uns wieder, Schisser.«
Hornbori hätte sich vor Erleichterung fast in die Hose gemacht, als der Schmied und seine Mordgesellen im Dunkel verschwanden. Mit weichen Knien taumelte er von der Grube fort. Dann lächelte er plötzlich. Er mochte auf dem Schlachtfeld ein Feigling sein, aber wenn es um Worte ging, dann war er unbesiegbar.
Er würde sich für Galars Lumpenpack unentbehrlich machen, und zu wissen, wie sehr dem Schmied das zusetzte, wäre ihm ein Fest!
Lyvianne legte den schneeweißen Sack etwa zehn Schritt von Matha Naht zu Boden. Ängstliche Glieder zuckten unter dem Stoff.
Ich wusste, dass du kommen würdest, auch wenn ich lange warten musste.
Die Elfe antwortete ihr nicht. Schweigend ging sie zum nahe gelegenen Wald und sammelte Reisig. Als sie einen Armvoll aufgelesen hatte, kehrte sie zurück. Sorgsam schichtete sie aus den dünnen Ästen eine Feuerstelle.
Das ist zu nah.
Lyvianne ignorierte den Holunder weiterhin. Sie sprach ein Wort der Macht, und inmitten des Reisigs erglomm ein Funke. Augenblicke später züngelten kleine Flammen über das trockene Holz.
Ich treibe flache Wurzeln. Sie liegen dicht unter der Erde. Die Hitze des Feuers wird sie verletzen. Ich spüre sie jetzt schon. Es ist zu nah für ein Feuer. Lösch es!
Jetzt erst betrachtete sie den Holunder. »Nein!«, sagte sie entschieden. »Ich habe vieles in der Vergangenheit von dir gelernt. Und für jede Lektion habe ich meinen Preis gezahlt. Ich habe zugelassen, dass du mich zurechtstutzt, wie ein Gärtner einen Buchsbaum in die gewünschte Form schneidet. Ich habe das immer hingenommen. Erst die Reise nach Tanthalia hat mir die Augen geöffnet.«
Bitte lösch das Feuer! Und dann trag das Kind näher an meinen Stamm heran. Sobald ich von ihrem Blut gekostet habe, können wir beginnen. Ich habe die letzten Tage viel nachgedacht. Ich weiß, wie wir den Geist deiner Priesterin rufen können.
»Das ist gut für dich!«, entgegnete Lyvianne frostig und legte einige kleine Äste ins Feuer nach.
Was ist los mit dir, Lyvianne?
Die Elfe griff nach der kleinen Ledertasche, die auf ihrem Rücken unter ihrem Umhang verborgen war. Daraus zog sie eine schwere eiserne Schere hervor, wie sie Gärtner benutzten, wenn sie junge Triebe zurückschnitten. Sie legte sie neben das Feuer.
Es war ein Augenblick des inneren Triumphs. Oft hatte sie ihn in den letzten Wochen ausgekostet, in denen sie sich auf diese Nacht vorbereitet hatte.
Dann zog sie das Messer aus ihrem Gürtel. Keine Waffe, die von Drachen geschmiedet war, doch eine exzellente Klinge aus Silberstahl. Sie legte sie neben den Sack, in dem ihr Opfer immer noch vergeblich strampelnd gegen das starke Tuch ankämpfte.
»Nach all den Jahren habe ich endlich begriffen, dass ich es war, die sich in deine Hand begeben hat. Ich hatte mich ganz und gar dem Glauben unterworfen, dass du mir etwas geben kannst, was ich unbedingt brauche. Nun endlich habe ich meine Freiheit gefunden.« Die Elfe ließ sich neben dem Feuer nieder und warf noch ein paar weitere dünne Äste in die Flammen. Ruhig betrachtete sie den Holunderbusch, der alle vier Jahreszeiten in sich vereinte. Frisches Grün, weiße Blüten und schwere rote Beeren sowie einige kahle Äste.
Ich fürchte, ich verstehe nicht, was du meinst.
»Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn du die Zunge der Göttin, Iyali, die Hohepriesterin der Devanthar Anatu, für mich zum Sprechen bringen könntest. Sehr gerne würde ich die Geschichte hören, die sie über den Tod des Purpurnen zu erzählen hat.«
Und du glaubst, meine Haarwurzeln zu versengen ist der richtige Weg, mich dir gewogen zu machen?
»Würdest du sagen, das Gefühl für Ethik und Moral seien die Haarwurzeln, die den Charakter eines Elfen ausmachen.«
Ich würde sagen, das ist ein schrecklich schiefes Bild, entgegnete Matha Naht spöttisch.
»Ja, mein poetisches Talent ist nicht sonderlich geschliffen. Dennoch glaube ich, dass du verstehst, was ich meine. Geradeheraus gesagt: Mein ethisches Empfinden hat im Umgang mit dir gelitten. Und das war von dir vollkommen beabsichtigt.«
Eine Unterstellung.
»Das wäre tragisch, denn es würde dich zu einem unschuldigen Opfer machen.« Sie betrachtete die kleinen Tierknochen nah am Stamm des Holunders. »Ich glaube aber, Unschuld ist in deinem Falle nahezu auszuschließen. Ich würde sie für mich auch nicht proklamieren. Du hast aus mir eine Mutter werden lassen, die aus einem verfehlten Streben nach Vollkommenheit ihre Kinder tötete. Und dann bin ich losgezogen, ein Kind nur für dich zu holen. Sein Blut soll dich stärken. Glaubst du, dass alles in dieser Welt in Balance miteinander existiert? Das Leid der Mutter, die nach ihrem Mann auch ihr Kind verliert … Und das Leiden des Kindes. Wird dies durch deinen Machtgewinn ausgeglichen?«
Was ist los mit dir? Was ist in Tanthalia geschehen?
Lyvianne betrachtete den Sack. Die Kleine lag jetzt still. »Es ist schwer in Worte zu fassen, was sich ereignet hat. Vielleicht könnte man noch am ehesten sagen, ich bin aus mir herausgetreten und mir begegnet.«
Du redest wirres Zeug!
»Vielleicht.« Die Elfe griff nach der schweren Schere und stand auf. »Glaubst du, das sei eine Nebenwirkung, wenn einem die Haarwurzeln abhandenkommen?« Sie beugte sich vor, griff nach einem der kahlen Winteräste und schnitt ihn aus dem Holunderbusch.
Sie spürte den Schmerz, den sie Matha Naht zugefügt hatte.
Damit erreichst du nichts!
Lyvianne trat ans Feuer und legte den Ast in die Flammen. »Das wäre tragisch für dich, denn dann wirst du aufhören zu existieren. Ich werde Nachtatems Werk vollenden.«
Und was gewinnst du? Ich bin die Einzige, die vielleicht Iyalis Geist herbeirufen kann. Wenn ich vergehe, wirst du ihr Geheimnis niemals lüften.
Lyvianne ging erneut zum Holunder. Diesmal schnitt sie einen Ast in voller Blüte ab. »Was das angeht, habe ich mich verändert, Meisterin.« Sie legte den Ast auf das Feuer, und bald stieg dichter, grauer Rauch von ihm auf. »Ich habe mich endlich von meinen Ketten befreit. Von der irrigen Vorstellung, dass es nur einen einzigen Weg für mich gibt. Wenn ich das Geheimnis Iyalis nicht ergründe, dann werde ich beim Goldenen in Ungnade fallen. Er wird mich nicht mehr auf Missionen schicken. Ich gestehe, ich bin ehrgeizig. Ich würde gerne weiter auf diesem Weg gehen. Aber als ich auf Tanthalia vor dem Mädchen stand, das ich dir zum Opfer auserwählt habe, da ist mir aufgegangen, wie leer mein Leben eigentlich ist. Ich sollte noch einmal versuchen, ein Kind zu haben. Und ich sollte über jeden vermeintlichen Makel, den es trägt, hinwegsehen. Das Vollkommene kann sich nicht mehr weiterentwickeln. Es hat das Ende des Weges erreicht. Vielleicht würde ein vollkommenes Kind gar nicht mehr geboren werden, sondern direkt ins Mondlicht gehen?«
Was ist das für eine verquere Spinnerei? Mach dir nichts vor! Du bist keine Bäume liebende Gutelfe.
Lyvianne schnitt noch einen weiteren Ast ab. »Was die Bäume liebende Gutelfe angeht, hast du sicherlich recht.«
Du weißt, dass manche Pfade der Magie nur über den Weg des Blutes zu erreichen sind. Dunkle Pforten werden durch dunkle Taten aufgestoßen.
»Ich bin mir sicher, du trägst genügend Dunkelheit in dir, um überallhin zu gehen.«
Du weißt, wovon ich rede! Du bist selbst auf diesem Weg geschritten.
Lyvianne drehte den abgetrennten Ast zwischen den Fingern. Sie dachte an all das, was sie in der Vergangenheit getan hatte. Daran, wie sie die Dunkelheit in ihre Seele gelassen hatte. »Ich weiß, dass es eines Opfers bedarf, weil wir selbst den Preis nicht zahlen wollen. Diesmal wird es nicht so sein.«
So sind die Regeln nicht.
Die Elfe schnitt noch einen Ast ab. »Heute haben sich die Regeln geändert. Wie lange wird es dauern, bis du vier neue, kräftige Äste ausgetrieben hast? Ein Jahr? Zwei? Ist ein karger Boden hier, nicht wahr?«
Also gut. Hol das Mädchen. Wir beginnen.
Lyvianne ließ die Schere fallen und steckte den Ring auf einen der Aststümpfe. Dann ging sie zum Sack und öffnete die Schnur, mit der er verschlossen war. Heraus kam eine schneeweiße, verängstigte Ziege, deren Maul mit einem Seidenband zugebunden war.
Was soll das?
»Ich töte keine Kinder mehr.«
Dann kannst du die Beschwörung gleich vergessen. Ziegenblut ersetzt nicht das Blut eines unschuldigen Elfenmädchens.
»Dann werden wir etwas von uns geben. Ich weiß, dass ein Preis zu zahlen ist. Ich bin bereit.«
Du hast mir Iyalis Geschichte erzählt. Sie hat einen besonders schrecklichen Tod auf sich genommen, damit es unmöglich ist, sie noch einmal zurückzuholen. Sie hat die Tore hinter sich besonders fest verschlossen. Und du brauchst mir nicht noch einmal zu drohen. Ich habe verstanden, wie entschlossen du bist. Ich sage dir nur, dass du besser keine Wunder erwarten solltest.
»Fang an!«
Du weißt, was zu tun ist.
Lyvianne packte die Ziege mit der Linken bei den Hörnern. Mit der Rechten hob sie den Opferdolch auf. Sie zog das sich windende Tier zum Holunderbusch. Die Ziege spürte die düstere Aura Matha Nahts. Sie spürte, dass sie bei dem Busch ein Unheil erwartete. Verzweifelt stemmte sie sich mit ihren kleinen Hufen gegen den Boden. Doch gegen die Elfe vermochte sie wenig auszurichten.
Dicht vor dem Holunderstamm zog Lyvianne das Messer über die Ziegenkehle und drückte ihr dabei den Kopf weit in den Nacken. In pulsierenden Stößen spritzte das Blut über Äste und Blätter.
Etwas veränderte sich. Die Dunkelheit schien dichter zu werden, so als wollte sie zu kaltem Onyx gerinnen, einem Stein, schwärzer als die Nacht.
Die Ziege sackte leblos in sich zusammen. Lyviannes weißes Kleid, auf dem sonst kein Stäubchen und kein Schlammspritzer zu haften vermochte, war mit Blut besudelt. Das, was Matha Naht heraufbeschwor, verzerrte jeden anderen Zauber, und es trank gierig aus den Kraftlinien der Welt.
Raum und Zeit gerieten aus den Fugen. Die Blätter des Holunders raschelten, obwohl es windstill war. Die zu Stein geronnene Finsternis wuchs unmittelbar vor Lyvianne an, bis sie wie ein schwarzer Spiegel vor ihr aufragte.
Ich habe mein Opfer gebracht, nun ist es an dir.
Lyvianne bückte sich, ohne die spiegelnde Fläche aus den Augen zu lassen. Etwas bewegte sich darin, kräuselte die Oberfläche und verschwand. Die tastenden Finger der Elfe fanden die schwere Schere. Es fehlte der Schlüssel, um das Portal zum Seelenhort zu öffnen. Dies war keine Totenbeschwörung, wie Lyvianne sie je zuvor erlebt hatte. Die meisten Seelen warteten. Sie erhofften, noch einmal einen Augenblick in die Welt aus Fleisch zurückzukehren. Wurde für sie die Grenze geöffnet, dann fluteten sie herbei, ohne dass ein Zwang notwendig war. Doch dieser Zauber war anders. Er fraß sich tief in die Finsternis hinter dem spiegelnden Schwarz und störte auf, was für immer verborgen sein wollte.
Raureif kroch rings um Lyvianne über den Boden. Das Metall der Schere fühlte sich klebrig an, so kalt war es geworden. Die Scherenschneiden berührten den kleinen Finger ihrer linken Hand, dort, wo er aus der Handfläche wuchs.
Die Elfe drückte die Griffe zusammen. Sie hatte die Schere erst am Morgen geschliffen. Es wurde ein glatter Schnitt. Ihr kleiner Finger fiel zu Boden. Sie ließ auch die Schere fallen. Dann hob sie den Finger auf, schleuderte ihn der spiegelnden Fläche entgegen und sagte feierlich: »Ich rufe dich, Iyali, Zunge der Göttin, Hohepriesterin der Anatu!«
Der Finger verschwand im Schwarz, wie ein Stein in einem spiegelnden, nächtlichen See verschwindet.
Warmes Blut troff von Lyviannes Hand und gefror auf dem eisigen Boden. Ein langes, schmales Gesicht drückte sich aus dem Spiegel. Schimmernd schwarz, war es keine Handbreit vom Antlitz der Elfe entfernt.
»Wer bist du?« So nah das Gesicht Lyvianne auch war, die Stimme klang, als erhöbe sie sich vom Grund einer tiefen Grube.
»Mein Name ist Lyvianne. Dein Volk nennt mich eine Daimonin. In meiner Welt jedoch bin ich respektiert wie eine Fürstin. Ich bin eine Drachenelfe. Eine Elfe, die sich ganz und gar dem Dienst an einer Himmelsschlange verschrieben hat. Mein Gebieter ist der Goldene, Herr des Lichtes, Verkünder der Wahrheit.«
»Du bist also eine Priesterin?«
»Ja«, stimmte Lyvianne zu, auch wenn sie sich selbst nie so genannt hätte.
»Was willst du?«
»Ich spüre gemeinsam mit dem Ebermann einem alten Unrecht nach. Nur du kannst uns helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
»Der Eberhäuptige?« Die Stimme klang plötzlich aufgewühlt. »Ich wusste, dass er Anatu niemals vergessen würde. Wo ist er?«
»Er kann nicht hier sein. Er wartet im Palast aus Mondenlicht auf mich. Von deiner Welt aus ist der Weg zu dir für immer verschlossen, Iyali. Meine Welt aber ist zu gefährlich für den Ebermann, denn es herrscht Krieg zwischen den Devanthar und den Himmelsschlangen. Ich muss wissen, was geschehen ist, als deine Herrin Anatu und der Purpurne einander zum ersten Mal begegneten.«
Ein tiefer Seufzer drang durch den schwarzen Spiegel. »Der purpurne Herr des Himmels begegnete Anatu zum ersten Mal im Netz der goldenen Wege, meine Herrin aber traf ihn zum ersten Mal in ihrem Palast aus Mondenlicht.«
Lyvianne verstand diese Worte nicht, mochte das der Priesterin aber nicht eingestehen. Auch wollte sie Iyali nicht unterbrechen.
»Der Purpurne kam in Freundschaft in meinen Tempel, meine Herrin aber empfing ihn mit Misstrauen und in Waffen. Er war besonders … Ich durfte einigen ihrer Gespräche beiwohnen. Seine Offenherzigkeit war entwaffnend. Sie waren so verliebt, so leichtfertig … Noch zwei weitere Male haben sie sich ungestört getroffen, denn sie folgten demselben Traum. Sie wollten Frieden zwischen unseren Welten stiften.«
Die tödliche Kälte, die Raureif auf den Boden gezaubert hatte, begann nach Lyvianne zu greifen. Sie würde Iyali nicht mehr lange lauschen können, ohne Schaden zu nehmen. Und sie war sich nicht sicher, ob dies eine Nebenwirkung der Geisterbeschwörung oder eine Boshaftigkeit von Matha Naht war.
»Es war bei ihrem dritten Treffen, dass die anderen kamen. Išta führte sie. Langarm und der Gefiederte begleiteten sie. Der Schmied packte Anatu, während die beiden anderen ohne Vorwarnung den Purpurnen angriffen … Es wurde ein langer, schwerer Kampf, der sie weit fort vom Palast aus Mondenlicht führte. Und Langarm folgte ihnen mit der gefangenen Göttin.«
Sie machte eine Pause. Aufgewühlt von der Erinnerung.
Lyvianne spürte, wie ihre Füße schon ganz taub vor Kälte wurden.
»Du weißt, dass ich auf besondere Weise mit meiner Göttin verbunden war. Der Purpurne wurde nach schwerem Kampf besiegt und enthauptet. Es geschah irgendwo in einem fernen Waldland. Und dann trat Išta vor meine Herrin und stach mit ihrem Speer nach ihr. Von da an verwirrt sich alles… Ich weiß nicht, wie Anatu verwundet wurde, aber wenn ihre Gedanken und Erinnerungen wie ein Krug waren, dann schleuderte Išta diesen Krug mutwillig auf einen Steinboden, wo er in tausend Stücke zerbrach. Es ist alles noch da … Aber ich vermag es nicht in die richtige Ordnung zu bringen. Der Gefiederte forderte den Kadaver des Purpurnen, Išta aber wollte den Kopf des Drachen zum Gefängnis für meine Herrin machen. Und Išta wurde zur Göttin Luwiens, das war es, was sie immer gewollt hatte. Ich glaube, die Geflügelte Göttin wusste am Anfang nicht, welche besondere Verbindung es zwischen mir und meiner Herrin Anatu gab. Aber sie fand es heraus, und dann schickte sie die drusnischen Plünderer, die meinen Tempel schändeten. So zu handeln ist Ištas Art. Sie verstrickt andere in ihre Pläne, sodass nie sie allein zur Verantwortung gezogen werden kann …«
Lyvianne spürte, dass die Priesterin wieder in Dunkelheit und Vergessen fliehen wollte, aber ihr war immer noch unklar, wie das alles begonnen hatte. »Du sagtest: Der purpurne Herr des Himmels begegnete Anatu zum ersten Mal im Netz der goldenen Wege, meine Herrin aber traf ihn zum ersten Mal in ihrem Palast aus Mondenlicht. Wie kann das sein?«
»Und ich dachte immer, ihr Daimonen seid Meister der Intrige. Denk darüber nach! Es ist alles gesagt.«
»Und Langarm? Išta gewann das Königreich Luwien, der Gefiederte den Leichnam des Purpurnen. Aber welchen Lohn empfing der Götterschmied? Warum beteiligte er sich an dem Komplott?«
»Das weiß auch ich nicht. In Anatus Erinnerung gibt es wirre Bilder. Er verrichtete eine Arbeit auf dem Kampfplatz. Sie brauchten ihn, weil er Schmied war. Und sie brachten ihm Gold. Sehr viel Gold!« Die Stimme der Hohepriesterin wurde immer leiser, als würde sie in die Tiefe gezogen.
»Was hat er geschmiedet?«
»Ich weiß es n…« Das Gesicht im schwarzen Spiegel verschwand, mit ihr löste sich die dunkle Wand vor Lyvianne auf, und sie sah wieder den Holunder vor sich.
Und? Hast du erfahren, was du wissen wolltest?
Lyviannes Stiefelsohlen waren am Boden festgefroren. Dünne Holunderranken hatten sich um ihre Knöchel geschlungen. Sie riss sich mit einem Ruck los und kauerte sich neben das kleine Feuer. Ihr war so kalt. Sie versuchte, sich auf ein Wort der Macht zu besinnen, das Wärme in ihren Körper zurückbrachte, doch es wollte ihr nicht einfallen.
Sie schnitt Stoffstreifen vom Saum ihres Gewandes und verband ihre verwundete Hand. Die Kälte hatte die Blutung gestillt. Das war das einzig Gute daran. Der Raureif auf dem Boden verschwand langsam. Doch wollte es ihr nicht wieder warm werden. Es war, als hätte sich die Kälte tief in ihren Knochen eingenistet. Schließlich schleppte Lyvianne sich in den nahen Wald, um mehr Reisig zu sammeln. Als sie völlig erschöpft zurückkehrte, warf sie so viel Holz ins Feuer, dass die Flammen hoch aufloderten.
Es hat immer seinen Preis, verbotene Tore zu durchschreiten, spottete Matha Naht, die mit Freude zu beobachten schien, wie sie immer noch fror.
Lyvianne versuchte, die böse Stimme des Holunders zu ignorieren. Sie streckte die Hände dem Feuer entgegen und sann über die rätselhaften Worte Iyalis nach. War sie am Ende genauso verwirrt wie ihre Göttin? Wie hatten der Purpurne und Anatu sich zu unterschiedlichen Zeiten zum ersten Mal begegnen können? Durfte sie das nicht wörtlich nehmen?
Die Flammen sanken in sich zusammen, ohne dass sie der Lösung des Rätsels nähergekommen wäre. Vielleicht müsste sie Iyali noch einmal aus der Dunkelheit zerren. Sie strich über ihre verletzte Hand. Ein dumpf klopfender Schmerz war geblieben. Wie viele Finger müsste sie noch opfern? Sollte sie die Geheimisse der Götter ruhen lassen?
Müde erhob sich Lyvianne und ging zum Holunderbusch, um Iyalis Ring zu holen, doch er war verschwunden.
Sie hat ihn mit sich genommen. Hast du es nicht bemerkt?
»Wie … Warum hat sie das getan?«
Was für eine enttäuschend dumme Frage! Um nie wieder gestört zu werden, natürlich. Nun ist die letzte Pforte geschlossen. Ohne etwas aus ihrem Besitz, etwas, womit sie zu Lebzeiten starke Gefühle verbanden, werde auch ich sie nicht wieder rufen können. Jetzt hat sie endlich ihren Frieden. Und die letzten Geheimnisse ihrer Göttin wird ihr niemand mehr entreißen können. Was für eine hingebungsvolle Dienerin, selbst über den Tod hinaus. Ich wünschte, du wärst so gewesen.
»Vielleicht bekommt jeder die Diener, die er verdient?« Lyvianne wandte sich ab und kniete neben der Feuerstelle nieder, um Erde auf die verlöschende Glut zu werfen. Sie würde gehen und nie mehr wiederkommen, das war das Einzige, was sie im Augenblick ganz sicher wusste.
Vielleicht wäre es klüger, ihre Suche einfach aufzugeben. Der erste Vollmond war bereits verstrichen. Bis zum zweiten Vollmond blieben ihr noch fast zwei Wochen. Sie dachte an die Drohung des Ebermanns. Würde er wirklich nach Albenmark kommen, um sie zu suchen, wenn der zweite Vollmond verstrich und sie nicht zum Palast aus Mondenlicht zurückkehrte? An Orte wie den Jadegarten würde er sich nicht wagen. Sollte sie mit dem Goldenen brechen und so, wie ihr Sohn es getan hatte, sich der Gnade des Dunklen anvertrauen? Der Erstgeschlüpfte würde sie sicherlich aufnehmen. Doch für Gonvalon hatte sein Verrat kein gutes Ende genommen. Es war nicht klug zu versuchen, mehr als einer Himmelsschlange zu dienen.
Die letzten Funken der Glut waren unter dunkler Erde erstickt. Sie erhob sich und ging, ohne noch einmal zum Holunder zurückzublicken.
Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Iyali dich belogen haben könnte? Es ist töricht zu glauben, dass die Geister, die wir rufen, immer die Wahrheit sagen.
Lyvianne schwieg. Sie war überzeugt, nicht belogen worden zu sein. Das war nicht Iyalis Art. Wenn eine Wahrheit zu heikel war, hatte sie in Rätseln gesprochen. Warum hätte sie auch lügen sollen? Sie war Anatu treu ergeben, und wenn das Unrecht, das ihrer Herrin angetan worden war, aufgedeckt wurde, konnte das doch nur in ihrem Sinne sein.
Glaubst du, du könntest wie Menschenkinder denken? Die Stimme Matha Nahts war nur noch schwach in ihren Gedanken. Dabei hatte sich Lyvianne kaum hundert Schritt entfernt. Sie stieg den Hang hinauf, glücklich, das Tal verlassen zu können. Die Elfe dachte an Langarm. Welche Rolle hatte er in dem Komplott gespielt? War er nur deshalb mitgekommen, um Anatu zu halten, während Išta und der Gefiederte gegen den Purpurnen kämpften? Das war zu einfach! Und was war sein Lohn gewesen?
Lyvianne erinnerte sich an den silbernen Löwen, gegen den Bidayn vor dem Albenstern der Goldenen Stadt gekämpft hatte. Er war ein Geschöpf des Schmieds gewesen. Wie waren Iyalis Worte gewesen? Sie hatten Gold gebracht, nachdem der Purpurne besiegt gewesen war.
»Bei den Alben!«, entfuhr es ihr. Sie wusste, was mit der Himmelsschlange geschehen war. Ja, sie hatte den Purpurnen sogar schon einmal gesehen! Er hatte einen neuen Kopf bekommen! Zumindest dieses Rätsel hatte sie dank der Beschwörung gelöst …
Wenn die Himmelsschlangen erfuhren, was die Devanthar ihrem Nestbruder angetan hatten, dann würden sie nicht ruhen, bevor nicht der Letzte der Menschengötter in seinem Blute vor ihnen lag. Der Purpurne war vielleicht tot, aber die Menschenkinder ließen nicht davon ab, seinen Leichnam zu schänden. So viele Jahrhunderte schon!
Würde der Dunkle ihn erwarten? Nodon stand vor dem offenen Torbogen aus Licht. Ein Schritt trennte ihn von der Pyramide Nachtatems. Er sah nur altes Mauerwerk und Dunkelheit. Er konnte dort überall sein. War die Zeit der Verbannung vorüber? Der Groll seines Gebieters verraucht? Er hätte warten können, bis der Dunkle ihm Nachricht sandte, dass er zurückkommen solle … Nein! Entschlossen trat Nodon durch den Albenstern ins Innere der Pyramide. Er musste wissen, wie es Nandalee ging und was aus den Kindern geworden war.
Erleichtert und auch ein wenig verwundert stellte er fest, dass ihn niemand erwartete. Nicht einmal eine Gazala als Botin des Dunklen. Zögernd folgte er den gewundenen Gängen, bis ein Stück quadratischer, blauer Himmel am Ende eines Tunnels erschien.
Nodon trat aus dem Mauerwerk in die schwüle Hitze der verborgenen Felsoase. Einen Moment verharrte er auf der Schwelle der Pyramide. Er ließ die Vogelrufe auf sich wirken, beobachtete den torkelnden Flug der Schmetterlinge über dem langen Teich voller Seerosen. So viele Düfte hingen in der Luft. Da waren faulendes Wasser, frisch geschnittenes Grün, der Geruch überreifer Mangos und Rauch.
Rauch?
Er kniff die Augen zusammen. Es war so hell hier, dass er Mühe hatte zu sehen, was sich unter dem dichten Laubdach der Bäume hinter dem Teich verbarg. Einst war das verborgene Tal ein großer Garten gewesen. Fast hundert Koboldfamilien lebten hier. Die kämpften gegen die Natur, versuchten den Garten zu erretten. Doch jedes Mal, wenn Nodon heimkehrte, entdeckte er neue Zeichen der Niederlage. Der Jadegarten verwandelte sich langsam wieder in das, was er einmal gewesen war, bevor ihm Ordnung aufgezwungen worden war. Einen Dschungel.
Doch nun gab es etwas Neues. Nodon entdeckte weißes Mauerwerk im Schatten der Bäume. Ein kleines Haus mit Kuppeldach war errichtet worden, und Rauch stieg aus einer Öffnung in der Kuppel. Er konnte sich nicht erinnern, wann im Jadegarten zum letzten Mal ein neues Bauwerk errichtet worden war. Was war vorgefallen in der Zeit, als er nicht hier gewesen war?
Voller Sorge verließ er die Pyramide, umrundete den Teich und trat unter das dichte Dach der Mangobäume. Faulendes Obst lag auf dem Boden. Fliegen summten in der Luft, aufgeschreckt von seinen Schritten. Sie fraßen vom süßen Fruchtfleisch.
Nodon spürte, dass er beobachtet wurde. Hier und dort brachen Bahnen gleißenden Lichts durch das Blätterdach. Dazwischen herrschte Finsternis. Mehr Dunkelheit, als es hier hätte geben sollen. Er war hier!
Es ist gut, dass Ihr zurückgekehrt seid, mein Schwertmeister, drang die Stimme des Dunklen aus den Schatten. Obwohl sie nur in seinen Gedanken zu hören gewesen war, verstummte augenblicklich jeder Laut ringsherum. Die Vögel schwiegen, selbst die Fliegen summten nicht mehr.
»Es war Euer Wunsch, dass ich gehe, mein Meister, nicht der meine«, entgegnete Nodon voller Bitternis.
Ein Irrtum … Vielleicht …
Nodons Blickt huschte von Schatten zu Schatten, doch er konnte den Erstgeschlüpften nicht entdecken. Dann blieben seine Augen an dem neuen Haus haften, das von der Dunkelheit nicht verschlungen wurde. Seine Wände leuchteten weiß zwischen den schwarzen Stämmen. Nodon trat näher, umrundete es und sah, dass es kein einziges Fenster gab. Die niedrige Tür war aus schwerem, dunklem Holz gezimmert. Auch sie war ohne Fenster. Dafür gab es einen schweren Riegel, der von außen vorgelegt werden konnte. Er stand vor einem Kerker!
Die Dame Nandalee wird nicht gefangen gehalten, kam der Dunkle seiner Frage zuvor. Es ist zu ihrem Schutz. Sie konnte nicht länger bei den anderen Drachenelfen bleiben. Du erinnerst dich an das erste ihrer Kinder, das ich geholt habe!
Wie sollte er das jemals vergessen? Diese Kreatur, die der Dunkle aus Nandalees Bauch gezerrt hatte.
»Wird das wieder geschehen?«
Ich weiß es nicht, mein Schwertmeister. Ich habe mich auf ein unbekanntes Schlachtfeld gewagt, und ich fürchte, ich habe verloren. Sie … sie verweigert sich mir. Die Kinder hätten längst geboren sein müssen … Fast scheint es, als würden sie auf etwas warten.
»Was sollte das sein?«
Plötzlich war er da. Aus den Schatten geboren, die ihn auch jetzt nur zum Teil preisgeben wollten. Zum ersten Mal war sein schmales, blasses Gesicht von Sorgen gezeichnet, mit dunklen Ringen unter den Augen und Falten, die sich tief in den Mundwinkeln eingenistet hatten. Nodon war erschrocken, seinen Gebieter so zu sehen.
Ihr sollt zu ihr gehen, Schwertmeister. Vielleicht wartet sie ja auf Euch? Mich will sie nicht sehen. Ich spüre, meine Nähe schadet ihr.
»Warum dieses Haus?«
Ich wollte, dass die Dame Nandalee nahe bei mir ist und … Nein, das ist nur ein vorgeschobener Grund. Die anderen Drachenelfen sollten die Dame nicht sehen. Sie würden nie mehr aufhören, darüber zu reden …
»Was ist denn los?« Voller Sorge blickte er auf die schwere Tür, den Riegel, das fensterlose Mauerwerk. »Was …?«
Ich werde nicht darüber sprechen. Ihr sollt unvoreingenommen sein, wenn Ihr sie seht. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Wenn sich nichts ändert, dann … Ich werde die Kinder holen müssen, gegen ihren Willen. Sie selbst will sie nicht gehen lassen. Sie hält sie gefangen!
Nodon sagte nichts, aber er war anderer Meinung, wer hier wen gefangen hielt. »Wer kümmert sich um die Dame Nandalee?«, fragte er schließlich.
Firaz, eine meiner Seherinnen. Ich konnte sie überreden zu bleiben, obwohl sie sich vor der Dame fürchtet.
Nodon wollte keine weiteren Andeutungen hören. Er wollte sehen, was geschehen war! Entschlossen riss er den schweren Riegel zurück. Firaz stand in der Tür. Hatte der Dunkle die Gazala in Gedanken vorgewarnt? Schwülwarme Luft schlug Nodon aus dem Inneren des Hauses entgegen. Heißer und stickiger noch, als es hier im Felsgarten inmitten der Wüste war.
»Schnell!«, die Gazala griff nach seiner Hand und zog ihn herein. Dann schloss sie die Tür. »Nandalee mag es nicht, wenn es kühler wird. Sie … sie ist unheimlich!«
Das kleine Haus bestand nur aus einem einzigen Raum, der von Dutzenden Öllämpchen in strahlendes Licht getaucht wurde. Nandalee saß in der Mitte der Kammer auf dem Boden. Sie war nackt. Um sich herum hatte sie Decken und zerknüllte Kleidungsstücke versammelt. Mitten darin thronte sie. Es wirkte auf Nodon fast so, als hätte die Drachenelfe sich ein Nest gebaut.
Sie saß völlig still im Lotussitz und hatte ihm den Rücken zugewandt. Ihre Hände ruhten auf ihren Knien, die Handflächen nach oben. Die Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, sodass die Tätowierung auf ihrem Rücken fast vollständig zu sehen war. Zwei einander belauernde Drachen – kein anderer Drachenelf trug das Bild zweier Herren!
Es herrschte eine erstickende, schwüle Hitze in dem kleinen Haus. Dem Eingang gegenüber gab es eine große, gemauerte Feuerstelle, neben der sich ein Stapel Brennholz an der Wand auftürmte. Gleich mehrere Töpfe, in denen Wasser kochte, standen in den Flammen.
»Nandalee?«
Die blinde Gazala schüttelte den Kopf. »Sie hört nicht. Nur ihr Körper ist hier, ihr Geist weilt in weiter Ferne. Wenn er denn überhaupt noch mit diesem Körper verbunden ist …«
»Wie meinst du das?«
»Ich bin blind, aber ich spüre, wie sie sich immer mehr von dieser Welt löst … Was ich sehe, ist ihre Aura, all das, was mir mein Verborgenes Auge enthüllt. Ihre Traurigkeit, ihren Zorn und – was ihr vielleicht am meisten zu schaffen macht – ihre Hilflosigkeit. Sie hat Angst davor, Mutter zu sein … Davor läuft sie fort. Und sie ist schon sehr weit von uns.«
Nodon eilte zu Nandalee und ging vor ihr in die Hocke. Das Gesicht der Drachenelfe war ausgezehrt und von Schweiß überströmt. Die Augen nur einen Spalt weit geöffnet und zur Decke hin verdreht, sodass nur das von roten Adern durchzogene Weiß zu sehen war. Ihr ganzer Leib war abgemagert. Arme und Beine kaum mehr als Haut und Knochen. Nur ihr Bauch formte eine geradezu grotesk große Kugel.
»Sie isst kaum noch«, flüsterte Firaz ihm zu. »Und von dem wenigen, das sie zu sich nimmt, erbricht sie das meiste. Ich fürchte, wenn der Dunkle kommt, die Kinder zu holen, dann wird sie das nicht überleben. Sie ist zu schwach. Schon eine natürliche Geburt wird sie in Lebensgefahr bringen …«
Nodon erhob sich, um Nandalee mit etwas Abstand zu betrachten. Wie hatte es so weit kommen können? Jetzt verstand er, was Firaz, obwohl sie blind war, so unheimlich fand. Nichts war hier mehr normal. So sollte eine Elfe keine Kinder bekommen. Er hatte kaum Erfahrungen mit Schwangerschaften, aber das hier … Nandalee hatte so gar nichts mit den wenigen schwangeren Elfen gemeinsam, die er in seinem Leben gesehen hatte. So wie sie da im Lotussitz saß, fast von der Welt losgelöst, wirkte sie, als würde sie brüten.
Dazu noch die schwüle Hitze in dieser seltsamen Kammer. Wenn es Fenster gäbe, würde er sie aufreißen. Er sah zur Tür hin und dachte daran, wie eilig Firaz ihn hereingezerrt hatte. Was würde Nandalee tun, wenn er sie von hier fortholte? Das konnte doch unmöglich ihre Idee gewesen sein, sich hier zu verkriechen.
Nodon kniete wieder vor ihr nieder und legte ihr sanft eine Hand auf den Arm. »Du musst von hier fort. Dieser Ort schadet dir.«
Die blinde Seherin hockte sich neben Nodon und tupfte erstaunlich geschickt den Schweiß von Nandalees Antlitz. »Sie hört dich nicht«, sagte sie traurig. »Auf Worte reagiert sie schon lange nicht mehr.«
Er strich ihr über den Arm. »Es wird alles gut. Komm zurück und hilf uns.«
Nandalee reagierte nicht. Sie schien ihn nicht wahrzunehmen, ganz wie Firaz es gesagt hatte.
»Bitte, komm zu uns zurück. Tu es für die Kinder«, sagte er ein wenig lauter und drängender.
Nichts. Nandalee saß wie versteinert.
Es schmerzte ihn, sie so zu sehen, die stolze, rebellische Drachenelfe, die vor nichts Angst gehabt hatte, die sich jedem entgegenstellte, ohne sich vor den Konsequenzen zu fürchten. Er war oft nicht einer Meinung mit ihr gewesen, und doch hatte sie ihn zutiefst beeindruckt. Er hatte etwas in ihr gesehen, was ihm immer gefehlt hatte. Die Gabe, die Welt, wie sie war, nicht als gegeben und unveränderlich anzusehen. Wie hatte ausgerechnet sie kapitulieren können?
»Du läufst davon«, sagte er vorwurfsvoll. »Das weißt du, nicht wahr? Dieser Kampf, den du aufgegeben hast, ist der wichtigste, den du je austragen wirst. Es ist der Kampf um deine Kinder. Wie kannst du die beiden verloren geben?«
»Es ist fast, als wäre sie schon tot«, sagte Firaz mit belegter Stimme.
Nodon sah die Gazala schweigend an, dann legte er Nandalee die Hände auf die Wangen. »Warum? Du bist eine Drachenelfe. Wir geben niemals auf zu kämpfen. Was ist mit dir geschehen? Was hat dich so sehr verändert?«
»Die Liebe zu Gonvalon«, sagte die Seherin in die Stille. »Kannst du es nicht sehen? Er hat ihr Herz mit sich genommen, als er starb.«
»So ein Unsinn!«, zischte Nodon.
»Das macht es so schwer mit euch Männern, dass ihr die Liebe für Unsinn haltet, wir aber nicht.«
Was sollte er darauf sagen? Verblendeter, romantischer Unsinn! Das war das Letzte, was sie jetzt weiterbrachte. Nodon betrachtete die spröden Lippen Nandalees, die dicken Schweißperlen in ihrem Gesicht, die golden im Licht der Öllampen glänzten. Sie war einmal schön gewesen. Gonvalon hatte alles für sie gegeben. Ja, er war für sie gestorben, davon war er überzeugt. War es das, was sie nicht verwand? Dass ein anderer den höchsten Preis für sie gezahlt hatte?
Nodon hatte sie nie schön gefunden, aber doch anziehend. Es war ihr Wesen. Sie war so anders, als er es war.
Wieder betrachtete er sie eindringlich. Sie hatte sich noch nie von einem Weg, den sie einmal eingeschlagen hatte, abbringen lassen. So würde es auch diesmal sein. Selbst der Dunkle war gegen ihren Dickkopf machtlos. Sie würde bei der Geburt der Kinder sterben, wenn der Erstgeschlüpfte sie holen käme. Weil sie es so wollte!
Er beugte sich vor und küsste sacht die rauen Lippen. »Lebe wohl, meine stolze, dumme Kriegerin. Ich wünsche dir eine gute Wiedergeburt.«
Zum ersten Mal, seit er die Hütte betreten hatte, wagte Firaz es nicht, irgendetwas zu sagen. Er selbst war überrascht von dem, was er getan hatte. Er hatte Respekt vor Nandalee. Und er hatte sich mit mehr als nur ein paar Worten verabschieden wollen, die sie ohnehin nicht hörte.
Müde richtete er sich auf und ging zu der schweren Tür. Nie zuvor hatte ihn eine Mission so erschöpft wie der Winterkrieg auf Nangog und nun der Abschied von Nandalee. Er fuhr sich an die Stirn. Da war ein plötzlicher, stechender Schmerz. Seit einer Weile suchte ihn dieser Kopfschmerz fast täglich heim.
»Schwertmeister!«
»Was?« Nodon ließ seine Hand schwer gegen die Tür sinken. Er würde klopfen müssen, damit er aus diesem Kerker entkam.
»Ihre Lippen zittern!«
»Und?«
»Ich glaube, sie versucht zu sprechen …«
Mit zwei Schritten war Nodon wieder bei ihr. Tatsächlich, Nandalee kämpfte darum, etwas zu sagen. Ihre Augen waren immer noch verdreht, doch jetzt weit aufgerissen. Tränen rannen über ihre Wangen.
Firaz nahm seine Hand und legte sie Nandalee auf den Arm. Sie glühte vor Fieber.
»Gonvalon«, hauchte sie, und Nodon hatte das Gefühl, das eine Wort müsse ihr die Kehle zerschneiden, so viel Leid und zugleich auch Hoffnung lagen darin.
Er wollte etwas sagen, wollte ihren Irrtum aufklären, als Firaz ihm eine Hand auf die Lippen legte und den Kopf schüttelte.
»Gonvalon«, flüsterte Nandalee noch einmal, leiser nun.
Seine Hand strich ihren Arm hinab, und er spürte sie erschauern. Dann legte er sie auf ihre offene Handfläche. Sie verschränkte ihre Finger in die seinen, hatte aber keine Kraft, die Hand zu schließen.
Plötzlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Ihr ganzer Leib erzitterte, und sie kippte zur Seite.
Nodon fing sie auf. Hielt sie fest in den Armen.
»Es hat begonnen«, rief Firaz. »Sie hat Wehen! Sie hat sich eingenässt. Die Kinder. Sie wird ihre Kinder bekommen. Halt fest. Halt sie ganz fest!« Sie beugte sich dicht zu ihm. »Und zerstöre nicht ihren Glauben«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Wie konnte er Nandalee vorspielen, was er nicht war? Sie hatte ihre Kinder nicht in eine Welt ohne Gonvalon gebären wollen. Durfte er sie so sehr betrügen?
Nandalee krümmte sich unter Krämpfen. »Alles wird gut«, sagte er, ohne länger nachzudenken, während Firaz der Drachenelfe die Beine spreizte.
Ein Mörder und eine blinde Seherin als Geburtshelfer. Das konnte nicht gut gehen. »Wir müssen Hilfe holen«, flüsterte er.
»Warum?« Die Gazala klang beleidigt. »Die Natur hat es so eingerichtet, dass Frauen ihre Kinder auch ganz alleine bekommen können. Du hältst sie fest, streichelst sie und flüsterst ihr irgendwelchen netten Unsinn ins Ohr, bis ich dir sage, dass du damit aufhörst. Um den Rest kümmere ich mich. Und glaube mir, starke, schmale Hände, die wissen, was sie tun, sind dabei wichtiger als Augenlicht.«
»Aber der Dunkle … Sollte er nicht hier sein?«
»Hast du denn gar nichts begriffen? Um seinetwillen will sie die Kinder nicht bekommen. Nandalee will nicht, dass ein Drache in Elfengestalt ihnen den Vater vorspielt. Wenn er dieses Haus betritt, dann weiß ich nicht, was geschehen wird. Er darf hier nicht herein. Und das weiß er auch. Diese Geburt zu schaffen ist allein unsere Sache! Und jetzt streng dich an und mach deine Sache gut, Gonvalon.« Den Namen sagte sie laut und mit großem Nachdruck, und so verwirrt Nandalee auch war, schien sie dies zumindest verstanden zu haben, denn sie drückte ihm schwach die Hand.
Nodon schluckte. Er konnte nicht mehr fortlaufen. Auch wenn er einen Kampf wie diesen nie hatte bestehen wollen. Wieder bäumte Nandalee sich unter Krämpfen auf.
»Alles wird gut«, flüsterte er und strich ihr das strähnige, schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen, doch ihre Augen waren immer noch verdreht.
»Versuch zu pressen!«, befahl ihr Firaz. »Sie werden nicht von alleine kommen. Du musst deinen Kleinen helfen.« Die Seherin griff Nandalee zwischen die Schenkel.
Nodon wandte sich ab. Er wollte das nicht sehen.
»Du schaffst das«, sagte er mit Nachdruck. »Bald ist es vorüber.« Er hatte zwar keine Ahnung, wie lange es dauern würde, aber er war sich sicher, dass Nandalee das gerne hören würde, wenn sie denn überhaupt etwas von dem verstand, was er ihr zuraunte. Sie war nach wie vor nicht wirklich bei sich, aber ihr Körper schien auch ohne ihre Hilfe zu wissen, was bei einer Geburt zu tun war.
Nodon hatte das Gefühl, dass es sich Stunden hinzog. Immer wieder kamen die Krämpfe. Immer kräftiger krallten sich ihre Finger in die seinen. Er tupfte ihre Stirn mit Wasser ab, gab ihr zu trinken und wiederholte sich endlos mit den beruhigenden Worten, die er ihr zuflüsterte.
Die fensterlose Kammer, getaucht in das goldene Licht der Öllampen, war zeitlos. Er konnte nicht sagen, ob es draußen Nacht oder Tag war. Er aß zwischendurch ein wenig Obst, ohne wirklich Hunger zu haben, und dann endlich war es so weit, und plötzlich ging alles schnell. Firaz hielt ein kleines Knäuel mit verkniffenen Augen und nassem, dunkelblondem Haar in ihren blutverschmierten Händen.
»Ein Mädchen«, verkündete die Seherin stolz. »Nimm sie, Nodon. Leg sie Nandalee auf die Brust und achte darauf, dass sie nicht herunterrutscht.«
Der kleinen Elfe schien es nicht zu gefallen, aus dem Schoß ihrer Mutter gerissen worden zu sein. Sie begann mit erstaunlich kräftiger Stimme zu schreien. Nodon nahm sie nur zögerlich an sich. Sie war so federleicht, so zerbrechlich. Schnell legte er sie auf Nandalees Brust. Firaz durchtrennte die Nabelschnur.
Für einen Augenblick verzaubert, betrachtete Nodon das winzige Mädchen. Weinend, mit geballten Fäusten lag es dort, und seine Mutter regte sich nicht. Immer noch waren Nandalees Augen so verdreht, dass sie nur das Weiß zeigten. Sie tastete nicht nach dem Kind, sagte kein Wort. Sie lag wie tot, während das Neugeborene um ihre Liebe kämpfte.
Hilflos blickte Nodon zu Firaz, doch die Gazellenfrau beachtete ihn nicht. Sie wirkte angespannt, ihre Hände waren in Nandalees Schoß versunken. Leise murmelte die Seherin etwas Unverständliches vor sich hin. Ein Bittgebet? Eine Beschwörung?
Sie hatte das zweite Kind aus dem Leib geholt, doch wirkte sie jetzt verstört. Nodon beugte sich zu ihr herüber und rang um Atem, als er sah, was zwischen Nandalees Schenkeln lag. Aus der blutigen Nachgeburt ragten dicke Eierschalen und Leichenteile. Es hatte noch ein Kind gegeben? Wie hatte es verborgen bleiben können? War es schon tot gewesen, als Nodon Nandalee aus ihrem Tal holen wollte?
Er sah zu Firaz auf, die das zweite Kind nun an sich drückte. Einen Jungen, dem ein Arm fehlte. Hatte der Dunkle nicht alles in Ordnung gebracht? Grässliche Narben verunstalteten den Körper des Neugeborenen. Hatte ihm das sein unheimlicher Bruder angetan, den der Dunkle Nandalee entrissen hatte? Und wie konnte es sein, dass das kleine Mädchen völlig unversehrt geblieben war?
»Sag ihr niemals, was du hier gesehen hast«, befahl Firaz streng und drückte ihm den Jungen in den Arm. »Es muss für immer ein Geheimnis bleiben.« Die Seherin bückte sich und sammelte die Nachgeburt in ein besudeltes Tuch, das sie mitten in die Flammen der Feuerstelle warf.
»Was wird mit dem Jungen?« Nodon betrachtete den Kleinen unsicher, der ihn aus großen Augen aufmerksam musterte. Er war anders als das Mädchen, wirkte verständig, als würde er schon jetzt, in der Stunde seiner Geburt, begreifen, was um ihn herum vor sich ging. Er atmete ruhig. Seine Lunge schien kräftig und unverletzt zu sein. Er gab keinen Laut von sich. Schaute nur auf eine Art, die Nodon zutiefst berührte und zugleich auch unheimlich war.
Nandalee trat aus dem Geburtshaus in das strahlende Sonnenlicht. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zum weiten Himmel hinauf und genoss die Wärme des Nachmittags. Der Gedanke an Gonvalons Tod holte sie wieder ein. Ganz würde dieser Schatten niemals weichen. Doch sie wollte aus dem Albtraum, der mit dem Untergang von Selinunt begonnen hatte, endlich erwachen. Sie durfte sich nicht länger in sich zurückziehen und wie ein wildes Tier leben.
»Sollen wir weitergehen?«, fragte Firaz. Die Gazala hielt ihre beiden Kinder auf dem Arm. Die Schlüssel zu einem neuen Leben. Für die beiden würde sie alles tun.
»Geh schon voraus«, entgegnete sie.
Nandalee spürte, dass er ganz nahe war. Ihr Kerkermeister und Gebieter. Sie musste mit ihm sprechen, auch wenn es ihrer Meinung nach nichts zu bereden gab.
»Geh voraus, Firaz, ich hole euch gleich ein«, wiederholte sie ruhig.
Die Gazala nickte. Nandalee war sich sicher, dass auch die blinde Seherin wusste, dass Nachtatem hier irgendwo unter den Bäumen wartete. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ging mit den Kindern dem Weg jenseits des Teiches entgegen, der sie hinauf zur Veste der Drachenelfen führen würde.
Beim Mangobaum, flüsterte seine Stimme in ihren Gedanken.
Nandalee ging dem schweren Duft der Früchte nach. Dann sah sie ihn. Tief in den Schatten, eine vage Gestalt. Er war als Elf gekommen; doch mochte er auch seine Drachengestalt abgelegt haben, so war ihm die Aura bedrückender Macht erhalten geblieben.
Trotz all ihrer Vorsätze, ihm zu widerstehen, vermochte sich Nandalee der Wirkung seiner Aura nicht zu entziehen. Sie fühlte sich klein und unbedeutend. Seine Gunst würde sie aufblühen lassen, würde ihre geheimsten Sehnsüchte erfüllen.
»Was kann ich für Euch tun, mein Gebieter?«, fragte sie steif.
Das weißt du.
»Ich werde nicht wieder das Schwert für Euch führen. Nie wieder werde ich eine Waffe anrühren.«
Er lächelte spöttisch, sodass sie sich mit ihrem Trotz klein und lächerlich vorkam.
Ihr könnt Euch Eurem Schicksal nicht entziehen, meine Dame. Ihr habt Euch in der Weißen Halle die Klinge Todbringer erwählt. Dies Schwert wurde dazu erschaffen, die Devanthar zu vernichten. Ihr seid sein Werkzeug, solange Ihr lebt, Dame Nandalee. Widersetzt Euch dem nicht. Niemand vermag sein Schicksal zu besiegen.
»Das gilt nur für den, der glaubt, dass sein Schicksal festgeschrieben ist«, widersprach sie voller Leidenschaft. »Ich bin die Baumeisterin meiner Zukunft. Kein Orakel und keine Silberschale nimmt mir dieses Privileg.«
Statt zu antworten, lächelte er nur wissend, distanziert. Doch in seinen Augen las sie seine Sehnsucht. Er begehrte sie. Es ging nicht nur um ihr Schwert. Und sie würde niemals wissen, ob nicht dieses Begehren schuld an Gonvalons Tod war.
Die erste Schlacht um Nangog ist geschlagen. Wir haben einen glanzlosen Sieg errungen und die Devanthar gedemütigt. Von nun an wird es auf allen drei Welten keinen Ort mehr geben, der sicher ist. Sie werden zurückschlagen, und sie werden es dort tun, wo wir am wenigsten damit rechnen. Ich bitte Euch, stellt Euer Glück nicht auf die Probe. Bleibt im Jadegarten, Dame Nandalee. Es geht nun nicht mehr um Euch allein. Eure Entscheidungen bestimmen auch über das Leben Eurer Kinder.
»Wollt Ihr mir drohen?«, entgegnete sie scharf. Sie sah, wie sehr ihre Worte ihn verletzten.
Ihr verkennt die Tatsachen, meine Dame. Ich bin keine Gefahr, ich bin Euer Beschützer. Vielleicht der Einzige, den Ihr noch habt.
»Ich weiß, dass Ihr dies ehrlich meint, und ich werde den Jadegarten nicht verlassen. Doch ich werde nie wieder das Schwert für Euch führen. Findet Euch damit ab.«
Nandalee wandte sich ab und ging so schnell sie es vermochte. Die Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt hatten sie ausgezehrt. Und auch Nachtatems Gefühle setzten ihr zu. Sie hatte seinen Schmerz gespürt. Seine Traurigkeit. Dies waren weit wirksamere Waffen, um sie umzustimmen, als irgendwelche Drohungen. Sie war sich nicht sicher, was er in ihr sah und was er wirklich von ihr begehrte. Aber sie wollte es nicht ergründen.
Er war der Mörder Gonvalons! Sie schuldete ihm nichts mehr.
Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, als sie den Gang entlang auf ihn zukam, aber sie hatte darauf bestanden, alleine zu gehen. Es sah aus, als würde die alte Nandalee langsam wiedergeboren, dachte Nodon. Zwei Wochen waren seit der Geburt vergangen, und sie war immer noch zum Erbarmen dürr, aber in ihren Augen lag ein Glanz, der lange verloren gewesen war, und sie lächelte zaghaft. Fast wie ein junges Mädchen, das sich zum ersten Mal allein mit ihrer großen Liebe trifft.
Hinter ihr ging Firaz. Sie hielt die beiden Kinder auf dem Arm.
»Es ist gut, dass die anderen nicht hier sind«, sagte Nandalee leise. Ihre Stimme war noch schwach, zerbrechlich. Sie ließ ahnen, wie viel es sie kosten musste, sich aus eigenem Willen auf den Beinen zu halten.
»Sie haben verstanden, dass du zunächst allein sein möchtest. Und sie sind froh, dass du gekommen bist. Du bist eine von uns. Du gehörst hierher, in die Veste der Drachenelfen.«
Ein Wangenmuskel Nandalees zuckte. War sie gerührt? Oder verärgert? Sie hatte sich immer schwer damit getan, keine Einzelgängerin zu sein.
Er öffnete die Tür, neben der er gewartet hatte. »Alle haben etwas gegeben, um dieses Gemach wohnlich zu gestalten. Ein Geschenk ist sogar von ziemlich weit her gekommen … Man redet über deine Geburt.«
Ihr war anzusehen, dass ihr dieses Thema unangenehm war. Wie hatte er so dumm und taktlos sein können. Er würde die Geburt nicht mehr ansprechen. Das meiste war ohnehin ein Geheimnis zwischen ihm und Firaz. Er wünschte, er könnte vergessen, was er gesehen hatte.
Nandalee trat neben ihn und blieb in der Tür stehen. Er hörte sie nach Luft schnappen … Hoffentlich war sie nicht schon wieder verletzt. Sie war so dünnhäutig geworden.
»Das …« Sie rang erneut um Atem. »Das ist wunderschön!«
»Wir haben improvisiert.« Nodon war erleichtert. »Alle haben etwas gegeben …«
Nandalee deutete auf den langen, tropfenförmigen Schild an der Wand und die beiden Schwerter, die dahinter hingen. »Ich werde nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen. Meine Zeit als Kriegerin ist vorüber.«
Er nickte und versuchte sich vorzustellen, wie der Dunkle das aufnehmen würde. Eine Drachenelfe, die sich dem Kampf verweigerte! Das hatte es noch nie gegeben.
Ihr Blick schweifte durch das Zimmer. Nodon beobachtete sie voller Sorge. Sie hatten ihr das größte Gemach überlassen. Die wenigen Möbel standen vereinzelt. Mit allen hatte es eine besondere Bewandtnis. Das Bett kam von den Kobolden des Jadegartens, er hatte es stundenlang untersucht, weil er den seltsamen Sinn für Humor des kleinen Volkes fürchtete. Kein Zauber war darauf gesponnen, keines der Beine angesägt. Es war einfach nur ein großes Bett mit angenehm weicher Matratze und einem Kopfende, dessen Schnitzwerk eine Blumenwiese zeigte.
»Dort werde ich stillen«, sagte Nandalee und wies auf ein Möbelstück mit hoher Rückenlehne, das sich nicht ganz entscheiden konnte, ob es Stuhl oder Sitzbank sein sollte. Der Tisch daneben mit glänzenden Bronzebeinen und einer Platte aus grünem Stein, der aus den Felsen des Jadegartens gebrochen war, war hier in der Werkstatt der Veste entstanden.
Nandalee trat ins Zimmer und sah sich weiter um. »Drei Fenster … Das ist schön. Viel Licht ist gut.«
Nodon musste an das fensterlose Geburtshaus denken und war erleichtert, dass sie die Dinge nun anders sah.
Ihre Hand glitt spielerisch über den Barinstein auf dem Tisch, der als abstrakte, sich windende Skulptur gestaltet war. Er würde ihr nicht sagen, dass es ein Geschenk des Dunklen war.
Sie kniete neben der meergrünen Lacktruhe unter dem mittleren Fenster nieder und strich über die spiegelnde Oberfläche. Auf den Truhendeckel und die Seitenwände waren von kunstfertiger Hand springende Delphine gemalt. »Von wem ist die?«
»Eleborn hat sie geschickt. Er entrichtet dir seine Grüße und hofft, dass er dich bald besuchen kann.«
»Eleborn …« Ihr Blick war wieder in sich gekehrt, als könnte sie in die Vergangenheit sehen. »Er war bei mir, als ich die Eibe für meinen Bogen gefällt habe. Er hat mich nicht an die Meister der Weißen Halle verraten. Kennst du ihn, Nodon?«
»Nein, nur dem Namen nach.«
»Er erschafft wundervolle Skulpturen aus Licht und Wasser. Die Kinder werden seine Kunst lieben.« Sie ging zur Wiege, die neben dem Bett stand.
Nodon vermeinte eine gewisse Scheu zu spüren, als sie dies Möbelstück näher betrachtete. Die Wiege war weiß und in einem schweren Holzrahmen so aufgehängt, dass sie schwingen konnte. Eine niedrige Trennwand unterteilte sie in zwei Schlafplätze. Der Himmel über dem Kopfende war mit fliegenden Pegasi ausgemalt. Die Mitte des Bildes beherrschte ein Rappe mit weit ausgebreiteten Schwingen, der eine schneeweiße Blesse auf der Stirn trug. Sternauge, der Pegasus Nandalees.
Sie erkannte ihn und strich mit der Hand über das Bild. »Schön«, sagte sie leise. »Von wem ist dieses Geschenk?«
Nodon räusperte sich verlegen. »Von mir … Ich bin kein sehr begnadeter Maler … Ich …«
»Für mich ist die Wiege das schönste von allen Geschenken.« Sie winkte Firaz, die zögernd in der Tür stand. Dann nahm sie der Gazala die Kinder ab und legte die beiden in ihr neues Bett.
»Hast du ihnen schon Namen gegeben?«
»Ja, ich habe mit Gonvalon lange darüber gestritten.« Sie lächelte. »Unser Sohn soll Meliander heißen, unsere Tochter Emerelle.« Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen. »Weißt du, er hat mir fest versprochen, er würde bei mir sein, wenn die beiden zur Welt kommen.« Ihre Stimme klang plötzlich rau. »Ich dachte …« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat Wort gehalten. Er war dort. Im Geburtshaus. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat. Aber er hat sie beide gesehen. Wenigstens dieses eine Mal.«
Nodon fühlte sich elend. Er hätte sich für diesen Betrug nicht hergeben sollen.
Nandalee blickte zu ihm auf. »Ich weiß, du und Gonvalon, ihr wart keine Freunde. Die beiden werden einen Vater brauchen … Ich werde ihnen nicht alles geben können, was sie benötigen.«
Nodon hob abwehrend die Hände. »Nein, darin wäre ich nicht gut …«
Nandalee sah ihm fest in die Augen. »Ich glaube, du kannst in allem gut sein, wenn du es nur willst. Das ist deine besondere Gabe, Nodon.«
Er wich ihrem Blick aus, sah zu den Fenstern, dann in die Wiege. Emerelle schlief. Aber aus Melianders entstelltem Gesicht sahen ihn zwei wache Augen aufmerksam an. Wieder hatte Nodon das absurde Gefühl, dass der Kleine alles verstanden hatte. Und auch seine Augen schienen ihn zu bitten, dass er zustimmte.
»Ich könnte es versuchen«, sagte er schließlich zögerlich. »Aber erwarte nicht zu viel von mir.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die Wange. »Danke. Sie werden dich dafür lieben.«
Der Schwertmeister sah zur Wiege hinab. Genau davor fürchtete er sich. Liebe.
Er hörte das harte Schlagen der Stöcke schon, als er noch mehrere Straßen entfernt war. Sie waren schnell, sehr schnell, dachte er zufrieden. Er zog den weiten Kapuzenmantel ein wenig enger, doch vermochte er das Licht nicht ganz zu verbergen. Auch war er sich der Blicke bewusst, die ihm folgten. Bidayn hatte die Stadt verändert. Jeder hier in Uttika schien zu wissen, dass es ein Geheimnis gab. Der Goldene las es in den Augen der Kobolde, die dicht entlang der Mauern huschten, in den Augen der Kentauren, die stets die Mitte der Straßen nahmen, in den Augen der Faune und Minotauren, der einen Elfe, die seinen Weg kreuzte.
Er schärfte seine Sinne. Lauschte auf das Raunen, das wieder auflebte, sobald er vorübergegangen war.
»Der gehört auch dazu …«
»Ja, sie hat noch einen geholt …«
»Dass Shanadeen nicht merkt, wen er sich da ins Haus geholt hat…«
»Die werden sein Vermögen durchbringen …«
»Warum sind die nicht bei den Kriegern, die nach Nangog gerufen werden …«
»Haben sich freigekauft mit Shanadeens Vermögen …«
Nun, unauffällig war sie nicht geblieben. Selbst von ferne hatte er gespürt, wie sie sich verändert hatte. Sie wollte ihre Macht ausleben. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, so sehr auf sie zu bauen.
Am Morgen war Lyvianne bei ihm gewesen, um ihm vom Geheimnis, das sie aufgedeckt hatte, zu berichten. Sie hatte ihn wahrlich überrascht. Sie hatte zwar nicht alles durchschaut, was im Komplott um Anatu geschehen war, aber das, was sie zu berichten wusste, war schon ungeheuerlich gewesen. Es hatte ihn aufgewühlt, aber er würde die Wahrheit über den Purpurnen noch zurückhalten. Dieses Wissen war Macht. Er musste den rechten Augenblick abpassen, es zu nutzen.
Plötzlich verstummte das Klacken der hölzernen Übungsschwerter. Zu abrupt. Sie hatte ihn bemerkt, da war er sich sicher. Er sah die Gasse hinab zu der Tür in der hohen Mauer. Wie von Geisterhand bewegt, schwang sie auf.
Der Goldene blieb stehen. Sie sollte zu ihm kommen. Er konnte sie riechen. Seine Sinne waren ganz auf sie gerichtet. Verwesungsgeruch haftete ihr wieder an. Ob sie sich eines Tages zu ihrer wahren Haut bekennen würde, um diesem Geruch zu entfliehen?
Hinter der Mauer wurde nicht geflüstert. Er spürte sie alle, seine Mörder, die sie für ihn auserwählt hatte. Lemuel, den Maurawan, der Vögel mehr liebte als sein eigenes Volk. Kyra, die Märchenerzählerin, die vor ihrem Vater Solaiyn fortlief, der sich als sein Feldherr so nützlich erwiesen hatte. Asfahal, der Blender mit der verletzten Seele, der es nie müde wurde, Trost in fremden Armen zu suchen und so viele gebrochene Herzen hinter sich ließ. Und Valarielle, die es liebte, sich in Dunkelheit zu hüllen. Die fünf waren sich so nahe gekommen, dass Blicke genügten, um zu wissen, was zu tun war. Das war gut! Sie könnten vieles erreichen.
Er hörte leise Schritte. Dann stand sie in der Tür. Bidayn. Sie war nicht mehr das Mädchen, das er nach Nangog geschickt hatte. Sie wirkte härter. Jetzt, da sie ein eigenes Ziel hatte, hatte sie viel entschlossener geübt als in der Weißen Halle. Sie hatte sich ihren Körper untertan gemacht, sich gestählt. Sie hielt seinem Blick stand. Das gefiel ihm.
»Wir müssen reden, Dame Bidayn.«
Sie nickte und kam auf ihn zu. Die Pforte in der Mauer schloss sich.
Sie roch nach frischem Schweiß, ein Duft, den er schon immer an Frauen gemocht hatte. »Ich hatte Euch gebeten, unauffällig zu bleiben, meine Dame. Mir scheint, es ist Euch nicht sonderlich geglückt, meinem Wunsch nachzukommen.«
»Mich betrübt, Euch enttäuscht zu haben, doch kann ich Euch versichern, dass in dieser Stadt niemand ahnt, was ich oder meine Gefährten wirklich sind.« Sie blieb zwei Schritt vor ihm stehen. Er spürte, wie seine Aura der Macht auf sie wirkte, und sie versuchte, sich zu widersetzen. Es würde ihr nicht gelingen. Kein Albenkind konnte sich einer Himmelsschlange widersetzen. Aber es war bemerkenswert, dass sie es versuchte.
»Darf ich mich erklären, mein Gebieter?«
»Ich bin verärgert.« Er sah, wie sie kurz zusammenzuckte, als er sie ein wenig gespielten Zorn spüren ließ. »Ihr solltet hier im Verborgenen bleiben!«
»Ein Wunsch, der unmöglich Wirklichkeit werden konnte«, entgegnete sie mit fester Stimme. »Diese Stadt ist zu klein für fünf Elfen wie uns. Es ist unmöglich, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und das Land ringsherum bietet keinen Ort, an dem wir ungestört üben könnten. Keine versteckten Buchten, denn überall entlang der Küste gibt es Fischer. In den flachen Hügeln vor der Stadt wandern zu viele Hirten mit ihren Herden. Längst hätten unerwünschte Augenpaare beobachtet, was wir tun. Wie Valarielle Finsternis webt und wir ein Teil dieser Finsternis werden. Hier inmitten der Stadt habe ich dafür gesorgt, dass dies nicht geschehen kann.«
Er lachte leise. »Nur dass man Eure Holzschwerter noch drei Straßen entfernt hört, meine Dame. Was glaubt Ihr, was die Albenkinder Uttikas über Euch denken?«
»Mit Verlaub, mein Gebieter, das überlassen wir nicht dem Zufall. Es wird viel geredet über uns, ja, aber wir streuen die Gerüchte. Manche Einwohner halten uns für Fürstenkinder, die vor den Aushebungen für den Krieg in Nangog geflohen sind, einige gar für Piraten.« Bidayn lachte leise. »Andere sind überzeugt, ich sei eine Erbschleicherin und wolle den armen Shanadeen ausnehmen. Und wieder andere dichten mir eine Affäre mit Asfahal an. Die meisten dieser Gerüchte haben wir in Umlauf gebracht. Sie sind zu einem dichten Schleier vor der Wahrheit geworden.«
»Ich rieche Asfahal an dir.« Zum ersten Mal, seit sie durch die Tür getreten war, wirkte sie unangenehm berührt.
»In den besten Lügen ist stets ein wenig Wahrheit enthalten«, sagte sie leise.
Eine Weile schwiegen sie beide. Er war überrascht, sich eingestehen zu müssen, dass es ihm nicht gefiel, dass sie mit Asfahal das Lager teilte. Mit Shanadeen war das etwas anderes. Der Goldene war sich ganz sicher, dass sie nichts für den Handelsfürsten empfand. Aber Asfahal … Seine stärkste Magie lag in seinem Lächeln.
»Ich bin offen zu Euch, Dame Bidayn. Eure Taten hier erfüllen mich mit Missvergnügen.«
»Dann lasst mich beweisen, dass es der richtige Weg war. Sie haben wochenlang geprobt. Sie sind gut. Bitte, Erhabener, gebt uns Gelegenheit, uns zu beweisen. Der Plan, den ich entworfen habe, ist gut. Bitte gebt uns ein Ziel, und wir beweisen es Euch.«
»Ihr seid vier Drachenelfen. Die Weiße Halle gibt es nicht mehr. Vielleicht wird für lange Zeit nicht mehr die Möglichkeit bestehen, neue Drachenelfen auszubilden. Wenn Ihr Euch irrt, meine Dame, und wir vier Drachenelfen verlieren, wäre dies eine empfindliche Niederlage.«
»Wir werden nicht versagen!«
Sie war wirklich überzeugt, dachte er. »Nandalee hat ihre Kinder bekommen.« Er beobachtete Bidayn scharf. Sie zeigte keinerlei Regung. Offensichtlich hatte sie wirklich mit ihrer früheren Freundin gebrochen.
»Doch noch ist Nandalee nicht unser Ziel. Sie wird gut bewacht. Ihr sollt Euch an anderer Stelle beweisen.« Er dachte an seinen Bruder. Daran, was die verdammten Devanthar ihm angetan hatten. Er vegetierte in einem Teich auf Nangog, tief unter der Erde verborgen, ein Teil eines makaberen Rituals. Er war tot, und doch schafften sie es, seinen Leib weiterleben zu lassen. Sich mit einer Devanthar einzulassen war dumm gewesen, aber dieses Schicksal hatte sein Nestbruder nicht verdient. Die Devanthar und ihre engsten Diener, die Unsterblichen, sollten lernen, was es hieß, den Zorn der Himmelsschlangen herauszufordern.
»Ich kann Euer Verlangen, Euch zu beweisen, gut nachvollziehen, meine Dame.« Er ließ sie spüren, dass sie keinen ihrer Gedanken vor ihm verbergen konnte. Er wusste nun, was mit Asfahal gewesen war, und kämpfte gegen seinen Ärger an. Bidayn war zu kostbar und trotz ihres selbstbewussten Auftritts noch nicht innerlich gefestigt. Dieses Mal würde er darauf verzichten, sie zu bestrafen. »Ihr habt bereits Pläne, meine Dame. Ihr möchtet einen der Unsterblichen töten?«
Bidayn nickte ernsthaft. »Ja, mein Gebieter. Ich kenne die Lage aller Paläste und aller bedeutenden Tempel in der Goldenen Stadt. Wenn wir dort zuschlagen, würde ich mich auf vertrautem Terrain bewegen.«
»Ich hoffe, Euer Ehrgeiz übersteigt nicht Eure Möglichkeiten, geschätzte Bidayn.«
»Ganz gewiss nicht, mein Gebieter«, entgegnete sie voller Leidenschaft.
»Nun, so sei es. Ich möchte den Menschenkindern eine Botschaft schicken. Und Ihr werdet meine Botin sein. Nur zwei Unsterbliche weilen in diesen Tagen in der Goldenen Stadt. Die Herrscher Arams und Drusnas. Wählt Euch einen als Ziel, meine Dame, stürmt seinen Palast, tötet den Unsterblichen und möglichst viele seiner hohen Beamten, Priester und Leibwächter. Das Ziel dieses Angriffs ist es, Schrecken zu verbreiten. Die Menschenkinder sollen sich an keinem Ort mehr sicher fühlen. Und sie sollen beginnen, an ihren Göttern zu zweifeln, weil sie nicht von ihnen beschützt werden. Werdet Ihr diese Aufgabe erfüllen können?«
Bidayn verneigte sich vor ihm. »Euer Vertrauen ehrt mich, Erhabener. Wir werden Eure Befehle in die Tat umsetzen. Sofort! Ohne zu zögern! Wir sind Drachenelfen!«
»Nun, ich hoffe, Ihr erfüllt mich dieses Mal mit Stolz, Dame Bidayn. Meinem Befehl, hier in Uttika unsichtbar zu bleiben, seid Ihr nicht nachgekommen.« Er spürte ihren Zorn, auch wenn sie äußerlich völlig ruhig blieb.
»Ich bitte um Erlaubnis, etwas zu sagen, Erhabener.«
Er nickte.
»Ich war niemals unsichtbar in dieser Stadt. Auch als ich nur ein unscheinbares Kindermädchen war, wurde über mich geredet. Uttika ist zu klein, und es gibt hier zu wenige Elfen. Jeder aus unserem Volke erweckt Aufmerksamkeit. Als noch vier weitere Elfen kamen, mussten sie Stadtgespräch werden. Aber bitte glaubt mir, Herr, was wir wirklich sind, ist tief verborgen. Geht durch die Stadt und lauscht auf die Gespräche der Albenkinder. Viele reden über uns. Doch niemand, nicht einmal der argwöhnische Kentaurenfürst Sekander, würde uns je für Drachenelfen halten.«
»Eure Versuche, Euer Scheitern zu rechtfertigen, verärgern mich, Dame Bidayn. Geht nun.«
Sie verbeugte sich erneut und zog sich zurück. Deutlich spürte er, dass ihr Ärger in Verzweiflung umgeschlagen war. Doch nun war er sich sicher, dass sie in der Goldenen Stadt ihr Bestes geben würde. Ein Unsterblicher würde ausgelöscht werden, dort, wo sich die Menschenherrscher am sichersten fühlten.
Der Goldene verließ die Gasse. Bidayn hatte recht gehabt. In dieser Stadt unsichtbar zu bleiben war für Elfen unmöglich. Sie hatte zwar keinen guten, aber doch einen durchaus akzeptablen Weg gefunden, um mit diesem Problem umzugehen. Doch das würde er ihr nicht sagen. Sie war ihm ein wenig zu selbstbewusst geworden.
Er schlenderte zu den Anlegestellen am Hafen und lauschte erneut den Gesprächen ringsherum.
»Unsere Männer sollen einen großen Sieg auf Nangog errungen haben, und es waren vor allem Kentauren, die sich dabei hervorgetan haben.«
»Der Preis für Salzheringe wird steigen. Ich sag es dir! Sie werden sie als haltbare Vorräte für die Feldzüge zu schätzen wissen.«
»Dieses Weib von Shanadeen. Ich bin mir sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie war eine Hure in einem sehr teuren Freudenhaus in Mylal. Ganz gewiss hat Shanadeen sie dort gefunden.«
Der Goldene musste lächeln. Tatsächlich hielt niemand in der Stadt Bidayn für eine Drachenelfe. Er sollte gnädiger mit ihr sein, wenn sie sich in der Goldenen Stadt bewährte. Und dennoch neigten sich seine Sympathien gerade eher Lyvianne zu. Er wusste, dass der schnelle Aufstieg ihrer Schülerin ihr zu schaffen machte. Und das hatte sie dazu beflügelt, über sich hinauszuwachsen. Wenn sie das Komplott Ištas aufdeckte, dann würde dies der Sache der Devanthar mehr Schaden zufügen als der Tod von zehn Unsterblichen.
Die Nacht hatte bereits den östlichen Horizont verschlungen. Im letzten Abendlicht des Westens schnitten schwarze Sicheln durch den Himmel, der mit Gold und Purpur prunkte. Mauersegler auf ihrem letzten Flug vor der Nacht.
Lyvianne war zu den Ruinen des Tempels zurückgekehrt, über denen sich in der Nacht der Palast aus Mondenlicht erheben würde. Schnell wuchsen die Schatten zwischen den geborstenen Mauern. Der Ort, an dem einst der Purpurne und Anatu über den Frieden der Welten verhandelt hatten, füllte sich mit Dunkelheit. Es war beklemmend still. Das Lied der Grillen fehlte an diesem Abend.
Die Elfe stieg zwischen Disteln mit lila Blüten den trockenen Hang hinauf. Er war schon hier, sie konnte es spüren. Der Ebermann erwartete sie irgendwo dort oben zwischen den Schatten. Diesmal hatte sie ihr Schwert mitgenommen. Jene mächtige Klinge, geschmiedet im Feuer der Himmelsschlangen, der die Eigenschaft innewohnte, jeden ihrer Zauber noch zu stärken. Und dieses Mal hatte sie sich weder in raue Wolle noch in schlecht gegerbtes Leder gekleidet oder die Gestalt eines verschwitzten Kriegers angenommen. Diesmal kam sie als das, was sie war, eine Drachenelfe. Denn sie würde an der Seite eines Devanthar reisen, auf Wegen, weitab von jenen, die die Menschenkinder nutzten. Gemeinsam würden sie das Rätsel Iyalis ergründen. Vielleicht wusste er ja, was ihre Worte zu bedeuten hatten: Der purpurne Herr des Himmels begegnete Anatu zum ersten Mal im Netz der goldenen Wege, meine Herrin aber traf ihn zum ersten Mal in ihrem Palast aus Mondenlicht.
Lag das Geheimnis vielleicht in einer Zeitschleife? Lyvianne trat ins Dunkel der Tempelruinen und folgte dem Weg, den sie zwei Monde zuvor mit dem Devanthar genommen hatte. Wo war der Ebermann? Hier zwischen den alten Mauern wirkte die Stille noch bedrückender, noch unnatürlicher. Ihre Hand tastete nach ihrem Schwert, als sie auf den Stelenhof trat, von dem die Drusnier einst das Bildnis der triumphierenden Išta gestohlen hatten.
Am Fuß einer der unbehauenen Stelen lag der Ebermann. Erst dachte Lyvianne, er schliefe, auf die Seite gerollt, mit angezogenen Beinen. Sie kniete sich neben ihn und sah die Prellungen auf seiner breiten Brust. Rasch suchte sie den Körper des Devanthar ab. Über der Hüfte gab es auch Krallenspuren, als hätte er gegen ein Tier gekämpft. Auf der linken Schläfe entdeckte sie eine große pflaumenfarbene Prellung. Die Elfe tastete nach seinem Hals. Sein Puls ging stark und regelmäßig. Er war nur ohnmächtig. Wer bei den Alben hatte ihn angegriffen?
Ein Schatten fiel über den Hof. Lyvianne stand auf und legte, während sie sich umwandte, die Rechte auf den Griff ihres Schwertes. Gegen das letzte Blau des Abendhimmels hob sich eine große, geflügelte Gestalt ab. Išta!
»Dachtest du wirklich, du könntest in mein Reich kommen und meinen Geheimnissen nachspüren, ohne dass ich es bemerke, Albentochter?«
Lyvianne zog ihr Schwert. Sie tat es langsam, ohne die Devanthar aus den Augen zu lassen. Išta führte den Speer mit langer Klinge, mit dem sie so oft auf ihren Götterbildern gezeigt wurde. »Was geschieht mit dem Ebermann?« Lyvianne tat einen Schritt zur Seite und stellte sich schützend über ihn.
Išta lachte. »Was ist das? Eine Drachenelfe, die einen Devanthar verteidigt? Genau so hat sich der Purpurne einst vor Anatu gestellt. Die Geschichte wiederholt sich. Und was den Ebermann angeht: Er ist mein Bruder. Wir töten einander nicht. Allerdings wird er eine Strafe erhalten. Ich wünsche nicht, dass er zu unseren Geschwistern geht und allen erzählt, was er zu wissen glaubt.«
»Vielleicht werden das die Himmelsschlangen tun. Der Goldene weiß um deinen Verrat an Anatu.«
Išta schwebte ein wenig tiefer. Die Spitze ihres Speers zeigte auf Lyviannes Brust. »Der Goldene … Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen. Er geht seine eigenen Wege.«
Lyvianne bemerkte eine Bewegung weit links von ihr, fast außerhalb ihres Gesichtsfelds. Eine gefiederte Gestalt hatte sich auf einer der Hofmauern niedergelassen, und aus dem Durchgang, der hinauf zu den Terrassengärten führte, trat eine gedrungene, langarmige Gestalt.
»Leg dein Schwert nieder«, forderte der Devanthar im Federgewand. Halb Mensch, halb Raubvogel, sprach er mit rauer, krächzender Stimme. »Du kannst nicht gewinnen, kleine Elfe. Wir waren es, die über den Purpurnen triumphierten. Du weißt selbst am besten, wie groß der Unterschied zwischen dir und einer Himmelsschlange ist. Wir machen dir dieses Angebot nur ein Mal.«
Lyvianne hob ihr schmales Schwert zum Fechtergruß. »Drachenelfen ergeben sich nicht.« Auch ihr war klar, dass sie nicht gewinnen konnte. Aber es lag bei ihr, ob sie ihre Kriegerinnenehre behielt oder auch sie aufgab. Leise flüsterte sie ein Wort der Macht und griff nach den Kraftlinien. Sie wob den Zauber, mit dem Bidayn sich gegen den silbernen Löwen zur Wehr gesetzt hatte, als er sie auf dem Platz vor dem Albenstern in der Goldenen Stadt gestellt hatte.
Einen Augenblick lang schien alles um sie herum langsamer zu werden.
Langarm hob zwei Finger zum Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus.
Lyvianne stürmte ihm entgegen. Dabei schlug sie Haken, als sie zwischen den Stelen hindurchlief, um nicht von Ištas Speer in den Rücken getroffen zu werden.
Der Götterschmied hatte sich ihrem Tempo bereits angepasst. Er trat zur Seite, bevor sie ihn erreichen konnte, und drei große, silberne Wolfshunde sprangen aus dem Durchgang. »Mein Geschenk für dich, Elfe«, rief er spöttisch.
Lyvianne machte einen Satz, stieß sich mit den Füßen von einer der Stelen ab, gewann an Höhe, stieß sich von der gegenüberliegenden Stele ab und landete schließlich auf dem oberen Ende der ersten Stele. Die Wolfshunde umringten sie mit gierig schnappenden Kiefern.
Die Drachenelfe spürte, wie sich das magische Netz gegen sie richtete, weil sie mit ihrem Zauber an das Gefüge der Welt rührte. Sie bewegte sich nun so schnell, dass ein geschossener Pfeil für sie in der Luft stehen bleiben würde. Langarm hielt jedoch mit. »Deine Freundin hat mir einen Löwen zerstört, das wird nicht wieder geschehen. Diese Hunde sind für Elfen wie dich geschaffen. Egal wie sehr du den Lauf der Zeit verzerrst, sie werden sich immer genauso schnell bewegen wie du. Sie sind mit dir und dem Zauber, den du webst, verbunden, deshalb kannst du ihnen nicht entrinnen.«
Aus den Augenwinkeln sah Lyvianne, dass Išta und der Gefiederte offenbar größere Schwierigkeiten hatten, sich ihrem Tempo anzupassen. Beide flogen auf die Stele zu, doch wirkten ihre Bewegungen grotesk langsam.
Wenn die Hunde lediglich genauso schnell waren wie sie und keine weiteren besonderen Kräfte besaßen, konnte sie die Metallbestien vielleicht besiegen. Lyvianne machte einen weiten Satz von der Stele dem Gefiederten entgegen, der wild mit den Flügeln schlagend versuchte, an Höhe zu gewinnen, um ihr auszuweichen. Ihr Schwert beschrieb einen blitzenden Bogen. Kurz spürte sie einen Widerstand, und als sie federnd auf dem Hof landete, schwebte neben ihr, langsam wie eine Feder, eine abgetrennte Kralle zu Boden.
Ihr blieb keine Zeit, den Triumph auszukosten. Sofort umringten die drei Hunde sie. Einem stieß sie ihr Schwert tief in den Rachen, während ein zweiter sie ansprang. Lyvianne duckte sich weg, doch der schwere Metallleib streifte sie noch und riss sie von den Füßen.
Sie rollte zur Seite, sprang auf und griff nach ihrem Schwert, das immer noch im Rachen eines der Hunde steckte.
Langarm stürmte ihr fluchend entgegen, als sie mit metallischem Kreischen ihre Klinge aus dem Hundekiefer frei bekam. Mit beiden Händen hatte sie den Griff ihrer Waffe fest umklammert und wich ein Stück zurück, sodass sie eine Mauer im Rücken hatte und zumindest von dort keine Angriffe fürchten musste. Ihre Linke schmerzte. Sie war überrascht, wie viel weniger fest sie ihre Waffe zu halten vermochte, obwohl doch nur der kleine Finger fehlte.
Statt sie anzugreifen, griff der Schmiedegott nach seinem verwundeten Hund und zerrte ihn aus ihrer Reichweite. Dabei strich er ihm über den Kopf, als wäre er ein lebendes Geschöpf aus Fleisch und Blut. Etwas Dunkles troff aus dem Maul der Bestie.
Die anderen beiden Hunde schlichen vorsichtig vor ihr auf und ab, den Blick auf ihre Klinge gerichtet, als besäßen sie genug Verstand, den Drachenstahl zu fürchten.
Etwas troff auf Lyviannes Wange, und noch während sie aufblickte, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Der Gefiederte stieß auf sie herab.
Sie ging in die Knie und riss ihr Schwert hoch, um es dem Devanthar in den Leib zu stoßen.
Kaum war die Waffe nicht mehr auf sie gerichtet, sprangen die beiden Hunde vor.
Die Elfe versuchte auszuweichen, doch rammte ihr einer der Metallhunde seinen Kopf in den Unterleib. Sie sackte zur Seite und sah wirbelnde Schwingen über sich. Diesmal war es nicht der Gefiederte, sondern Išta selbst. Das stumpfe Ende ihres Speers sauste herab und traf das Sonnengeflecht dicht über ihrem Magen.
Brennender Schmerz schoss Lyvianne durch alle Glieder. Zugleich verließ sie alle Kraft. Ihre Arme sanken zu Boden. Der Schmied trat ihr auf die Handgelenke. Ihr Schwert entfiel ihren tauben Fingern.
»Nie wieder wirst du eines meiner Geschöpfe töten.« Seine Stimme war ein rasendes Jaulen. Wieder trat er zu. Lyvianne spürte die Knochen ihrer Handgelenke splittern, und ein neuer Schmerz fraß sich in ihr Fleisch.
Am Rande der Ohnmacht, unfähig, noch Widerstand zu leisten, wurde sie hochgezerrt. Ihr wurde schwarz vor Augen, bis eine schallende Ohrfeige sie ins Bewusstsein zurückholte. Ihr Mund war voller Blut. Ihre Arme schmerzten. Sie waren hochgereckt. Enge Fesseln lagen um ihre Handgelenke. Sie hing an einem Seil in einer Kammer, deren Decke so niedrig war, dass sie sie fast berühren konnte, wenn sie ihre Finger streckte.
»Weißt du, wo du bist?«, fragte Išta.
Lyvianne tanzten noch immer Sterne vor den Augen. Sie blinzelte dagegen an und sah hinab. Unter ihr war etwas Spiegelndes. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft. Jetzt erkannte sie die steinerne Wanne in der letzten der geheimen Kammern.
»Mein gefiederter Bruder hat sich gewünscht, dass du das Schicksal Iyalis teilen sollst. Nur haben sich die Vorzeichen verkehrt. Wünschte Iyali sich, dass die Geheimnisse Anatus für immer verborgen blieben, so ist es nun unser Wunsch, dass du nicht mehr sprichst.«
Lyvianne schluckte. Immer mehr Blut spülte in ihren Mund.
»Ich fürchte, mein Bruder ist sehr verärgert. Es war nicht klug, ihm eine seiner Krallen abzuhacken.«
Die Elfe wandte den Kopf. Der Gefiederte hielt das Seil, an dem sie hing. Er hatte Menschengestalt angenommen und nur einen Adlerkopf behalten. Sein linker Fuß blutete. Ihm fehlte ein Zeh.
»Du hättest unser Angebot auf dem Hof annehmen sollen. Du wirst dich noch sehr nach einem schnellen, schmerzlosen Tod sehnen.« Išta klang fast bedauernd. »Ich entschuldige mich für das, was er dir antun wird. Du hast einen guten Kampf geliefert, Elfe. Ich werde dich in Erinnerung behalten. Und nun verzeih, wenn ich gehe, denn Grausamkeiten dieser Art bereiten mir kein Wohlgefallen. Ich möchte das nicht sehen, möchte dich als die stolze Kriegerin in Erinnerung behalten, die du warst.«
Lyvianne wollte etwas antworten, doch sie brachte nur unartikulierte Laute hervor. Blut floss aus ihrem Mund. Und da begriff sie. Ihre Zunge! Sie hatten ihr die Zunge herausgerissen!
Išta bemerkte ihren entsetzten Blick. »Das war die Tat meines Bruders. Er hatte Sorge, dass du ein Wort der Macht flüstern könntest, dass du selbst jetzt noch weiterkämpfen würdest oder versuchen würdest, einen Zauber zu weben, der dich gegen Schmerz unempfindlich macht. Wie sagte er? Deine Schreie sollen ihm ein Pflaster für seine Wunde sein.« Sie lächelte zynisch. »Ein großer Poet ist er nicht. Und ich fürchte, er hat nicht bedacht, dass deine Schreie ohne Zunge recht eigentümlich klingen werden.«
Das Seil, an dem sie hing, ruckte, und Lyviannes Fußsohlen tauchten in die Säure. Ein zischender Laut erklang. Tränen traten ihr in die Augen. Sie bäumte sich auf unter der brennenden Pein. Sie wollte keinen Laut von sich geben, schwor sie sich stumm. Zumindest diese Genugtuung blieb ihr.
»Ich wünsche dir, dass ihn schnell die Geduld verlässt«, sagte Išta. Dann verließ die Göttin die Kammer.
Wieder ruckte das Seil, und Lyvianne tauchte bis zu den Knöcheln ein. Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie, wie dunkle Schlieren ihres Blutes durch das Säurebad trieben.
Der Goldene ging über die weite Wiese auf die Weiße Halle zu. Tagpfauenaugen flohen in gaukelndem Flug vor ihm und strebten entfernten Blüten zu. Der alte Drache war überrascht, wie schnell die Natur nach der Schule gegriffen hatte. Dunkle Schlieren liefen bei den Fenstern über das weiß getünchte Mauerwerk. Es gab bereits zwei Löcher im Dach, und das äußerste Ende des Westflügels war von Efeu überwachsen.
So lange hatten sie ihre treuesten Diener hier herangezogen. Nun mussten sie die Schule der Drachenelfen verfallen lassen. Zu groß war das Risiko, mehr als ein paar ihrer Getreuen an einem einzigen Ort zu versammeln. Zu groß die Gefahr, diese Schule könnte dasselbe Schicksal erleiden wie die Blaue Halle.
Es würden wohl noch Jahre vergehen, bis sie hierher zurückkehren konnten. Zwar hatten sie auf Nangog einen ersten Sieg errungen, doch war die Macht der Unsterblichen und der Devanthar noch lange nicht gebrochen. Schwermut überkam ihn, als er durch das halb offene Flügeltor in die weite Eingangshalle trat. Unter seinen Füßen raschelte das Laub des letzten Herbstes.
Er hatte es gespürt, als er an seinem Lieblingsplatz in den Bergen lag, in all seiner Größe als Himmelsschlange. Die Sonne auf den warmen Felsen genießend, hatte er über die Zukunft nachgesonnen. Der Krieg um Nangog hatte einen guten Anfang genommen. Bidayn würde den Menschenkindern vielleicht schon in diesem Augenblick die nächste schmerzhafte Niederlage beibringen. Und würde sie lehren, dass es keinen Ort gab, an dem sie vor dem Zorn der Kinder Albenmarks sicher waren.
Er hatte an Bidayn gedacht, als er spürte, wie seine Verbindung zu Lyvianne verblasste. Es war kein kurzer Schmerz gewesen, so wie sonst, wenn einer seiner Drachenelfen starb. Es war ein langes Sich-Trennen geworden. Sie musste einen schlimmen Tod gehabt haben.
Sein Blick schweifte durch die Halle. An beiden Seiten erhoben sich Treppen zu einer holzgetäfelten Galerie. Vor ihm ragte das Standbild eines Kriegers mit Bronzeschild und einem kurzen Schwert aus bläulichem Stahl empor. Alles andere war verschwunden – die Banner aus halb vergessenen Schlachten und vor allem die Waffen, die an den Wänden gehangen hatten. Jede einzelne durchdrungen von der Magie der Drachen. Jede einzigartig.
Im Licht, das durch das beschädigte Dach sickerte, schimmerten die kleinen Messingtafeln unter den leeren Waffenhaltern. Einige hatten schon Grünspan angesetzt. Nur an einer einzigen Stelle blitzte Stahl.
Der Goldene ging einige Stufen hinauf und nahm Lyviannes Schwert von der Wand. Wann immer ein Drachenelf starb, kehrte seine Waffe hierher zurück, selbst wenn ihn das Schicksal in einer anderen Welt ereilte. Nun konnte es keinen Zweifel mehr über ihr Schicksal geben.
Er strich über den blauen Stahl. In so vielen Kämpfen hatte sie ihm gedient. Hatte so viele der verborgenen Schlachten geschlagen, die den Frieden auf Albenmark erhielten.
»Ich werde dich wiederfinden, Lyvianne, ganz gleich, wie lange es dauert. Du bist zur Drachenelfe geboren. So war es immer und so wird es immer sein.«
Er fragte sich kurz, wie viele Jahrhunderte bis zu ihrer Wiedergeburt vergehen mochten.
Sie war ihm eine gute und loyale Kriegerin gewesen. Seltsam, dass sie das Rätsel der Hohepriesterin Iyali nicht durchschaut hatte. Der purpurne Herr des Himmels begegnete Anatu zum ersten Mal im Netz der goldenen Wege, meine Herrin aber traf ihn zum ersten Mal in ihrem Palast aus Mondenlicht.
Išta war es gewesen, die seinem Bruder in Gestalt der Anatu im Goldenen Netz entgegengetreten war. Sie hatte die Gestalt ihrer Schwester angenommen. Sie hatte den nötigen kriegerischen Geist, um den Purpurnen bei der ersten Begegnung zu beeindrucken. Und sein Bruder hatte diese dumme romantische Ader gehabt. Er hatte daran geglaubt, dass Friede zwischen den Alben und den Devanthar möglich war.
Išta musste ihn eingeladen haben, in Anatus Tempel zu kommen. Hatte Anatu ihn darauf angesprochen, dass sie ihm zuvor nicht begegnet war? Wollte sie den Argwohn des Purpurnen nicht wecken und ließ das Rätsel deshalb ruhen? Diese Frage würde wohl immer ein Geheimnis bleiben. Wie es schien, waren die beiden sich erstaunlich nahegekommen. Wie dumm sein Nestbruder gewesen war, nicht darüber zu sprechen!
Išta hatte nichts getan, als abzuwarten. Sie begehrte Anatus Reich. Und sie begehrte den Ruhm, eine große Kriegerin zu sein. Außer auf der Stele, die nach Drusna geschafft worden war, wurde ihr der Sieg über den Purpurnen stets allein zugeschrieben. Sie hatte an Macht und Ansehen gewonnen. Der Gefiederte hatte den Leib des Purpurnen für seine obskuren Rituale bekommen.
Aber warum hatte Langarm mitgemacht? Welchen Nutzen hatte ihm das Komplott gebracht? Auch das würde wohl ein Geheimnis bleiben.
Ištas Tat hatte den Goldenen beeindruckt. Sie war kühl geplant und fast ohne Makel ausgeführt. Die Stele in Drusna und der Ring der Hohepriesterin waren die einzigen Spuren gewesen, die sie hinterlassen hatte. So belanglos, dass weder Devanthar noch Himmelsschlangen darauf gestoßen waren, bis Lyvianne gekommen war. Ohne es zu ahnen, hatte die Drachenelfe viel mehr getan, als für ihn ein wertvolles Geheimnis aufzudecken. Sie hatte ihm einen Weg gewiesen. Seit sie bei ihm gewesen war und ihm berichtet hatte, wuchs ein neuer Plan in ihm. Eine dunkle Intrige. Etwas, das so undenkbar war, dass seine Nestbrüder es niemals aufdecken würden … Er würde diesen Weg nur dann beschreiten, wenn es ihm nicht gelang, Nandalee und ihre Tochter Emerelle töten zu lassen. Noch blieb ihm Zeit. Noch war das Schicksal ihrer Welt nicht entschieden.
Der Goldene verließ die verfallende Schule und trat hinaus auf die Wiese. Er streckte sich, blickte zur Sonne empor und begann sich zu verwandeln, legte die Elfengestalt ab, um wieder das zu sein, wozu er geboren war. Ein Drache, alt wie die Welt.
Die Verwandlung war schmerzhaft. So wie jeder Wandel, der die bestehende Ordnung umwarf. Als er endlich wieder ganz er selbst war, weitete er seine Schwingen und blickte auf das winzige Schwert, das vor ihm im Gras lag. Lyvianne hatte ihm einen unermesslich großen Dienst erwiesen.
Das Geheimnis um das Schicksal seines Nestbruders würde er vorerst noch für sich behalten. Er würde warten, bis die Stunde gekommen war, den Zorn seiner Brüder zu entfachen. Selbst der Erstgeschlüpfte würde sich einem Rachefeldzug nicht verweigern können, wenn er erfuhr, was Devanthar und Menschenkinder dem Purpurnen angetan hatten.
Der Tag, an dem er die Wahrheit offenbarte, würde zu dem Tag werden, an dem sie den Himmel über Nangog in Flammen setzten.