Bernhard Hennen Drachenelfen: Die letzten Eiskrieger

Für die Lotusblüte im Verborgenen

Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Menschen macht, als er deren wegnimmt.

Immanuel Kant (1724–1804)

Erstes Buch Das Traumeis

Prolog

Die Lider waren ihm schwer. Seit drei Nächten hatte er keinen Schlaf gefunden. Müde beobachtete er, wie der junge Morgen den Himmel in Flammen setzte. Glutrote Wolken flossen um die schroffen Bergspitzen. Schwer wie nie spürte er die Bürde der Macht. Die Alben hatten es aufgegeben, um die Welt, die sie erschaffen hatten, zu kämpfen, und unter seinen Brüdern herrschten Misstrauen und Zwietracht. Die Himmelsschlangen sollten der Schutzwall Albenmarks sein, doch es war eine Mauer mit tiefen Rissen.

Der Drache streckte sich, dass seine Gelenke krachten. Er war so alt wie die Welt, über die er mit seinen Nestbrüdern wachte. Manchmal hatte er das Gefühl, Albenmark bedeutete nur ihm noch etwas. Rastlos hatte er die Zukunft erkundet. So viele Wege führten ins Dunkel. Er hatte gesehen, wie Burgen, erbaut von Menschenkindern, die Pässe der Mondberge beherrschten. Eine Fahne, die einen toten, schwarzen Baum vor weißem Hintergrund zeigte, hatte über den Zinnen geweht. Die Kinder der Alben waren aus der Welt verschwunden. Ihre Welt war entzaubert worden. Wie hatte es so weit kommen können?

Sooft er auch die Zukunft erforschte, vermochte er nicht zu entdecken, wo in der Gegenwart die Wurzel des Unheils lag. War es jener Unsterbliche, der weiser plante als alle anderen und dem es sogar gelingen mochte, die Devanthar dazu zu bringen, nach seinem Willen zu handeln? Oder war es Nandalee, die Drachenelfe, die gegen die hergebrachte Ordnung aufbegehrte? Drei Kinder wuchsen in ihr heran, von denen sie nur zwei gebären würde. Und doch beeinflussten sie alle die Zukunft von Menschen und Albenkindern. Dies war eines von vielen Rätseln, die er nicht verstand.

Der flammende Himmel ermahnte ihn, dass er handeln musste und nicht nur beobachten und brüten durfte. Einmal waren die Devanthar ihnen entwischt, als Nandalee und Gonvalon versagt hatten. Nun galt es, den Göttern der Menschenkinder erneut eine Falle zu stellen. Nur der vereinte Flammenodem der Himmelsschlangen würde sie vernichten. Es war die stärkste Waffe, die auf allen drei Welten existierte. Und sie war nicht nur dazu geschaffen, mit ihr zu drohen. Sie mussten sie einsetzen, bevor die Devanthar eine ähnlich starke Waffe ersinnen würden. Der Krieg zwischen den beiden großen Mächten war unabwendbar geworden. Es würde unzählige Tote geben. Städte, gar ganze Landstriche würden verwüstet werden. Doch die Zeit zu verhandeln war vorüber. Zu unterschiedlich waren die Ziele, nach denen Albenmark und Daia strebten. Siegen würde derjenige, der den Mut hatte, zuerst zuzuschlagen. Auch wenn es ohne Zweifel ein bitterer Sieg sein würde.

Der alte Drache weitete die Schwingen. Er genoss die Wärme des ersten Morgenlichts auf seinem Leib. Mit List und Intrige würde es beginnen. Dies waren fast genauso tödliche Waffen wie der Odem der Himmelsherrscher. Doch zuletzt würden Feuer und Schwert entscheiden. Er stieß sich vom Felsen ab und flog dem glutroten Morgen entgegen. Die Zeit zu kämpfen war gekommen.

Am Rand der Klippe

Nevenylls Klippe galt als ein verfluchter Ort. Niemand kam bei Nacht hierher. Und schon gar nicht bei Vollmond, wenn die Macht der Geister am größten war. Es war der einsamste Ort bei Uttika, und deshalb liebte Bidayn ihn. Tagsüber war sie das Kindermädchen, das nach den beiden Töchtern des Kaufherren Shanadeen sah. Niemand ahnte, was sie in Wirklichkeit war. Man kannte sie nur als eine scheue Elfe unbestimmbaren Alters, die niemandem in die Augen sah und sich stets in jungfräuliches Weiß kleidete, obwohl ihre Haut bereits zu welken begann, was bedeutete, dass schon Jahrhunderte an ihr vorübergezogen sein mussten.

Bidayn stand auf dem steilen Kreidefelsen und blickte hinab auf das Meer. Der Mond zauberte ein Netz silbernen Lichts über die dunkle See. Weit im Westen zeichnete sich die Silhouette eines Seglers gegen den Horizont ab, der den Leuchtfeuern des Hafens von Uttika entgegenstrebte. Die nächtliche Brise griff nach Bidayns hauchzartem, weit geschnittenem ärmellosen Kleid. Sie liebkoste ihre alternde Haut. So schnell hatte sie ihre geschmeidige Spannkraft verloren. Bidayn hatte gehofft, einige Jahre mit der Menschenhaut leben zu können. Doch wie alle ihre Hoffnungen war auch diese zerbrochen. Sie müsste bald etwas unternehmen … Wen sollte sie töten? Eines der jungen Mädchen, die Shanadeen ihr anvertraut hatte?

Donnernd brach sich eine Welle am Fuß der Klippe. Die Elfe sah erneut hinab in die sprühende Gischt, deren weiße Finger den knochenbleichen Fels hinaufgriffen. Sollte sie ihrem Leben ein Ende setzen? Sie war eine Drachenelfe, aber seit so vielen Monden hatte sie nichts mehr von dem Drachen gehört, dem sie sich verschrieben hatte. Es gab Gerüchte über einen Krieg. Überall wurden Albenkinder eingezogen, um auf Nangog zu kämpfen, so hieß es. Doch hier in Uttika waren noch keine Werber gewesen.

Sollte es stimmen, dass auf der Verbotenen Welt gekämpft wurde? Warum schickte der Goldene dann nicht nach ihr? Voller Abscheu sah sie auf ihre Hände. Selbst im Licht des Mondes vermochte sie das Netz der feinen Falten zu erkennen. War dies der Grund? Empfand auch er Abscheu vor ihr?

Manchmal glaubte Bidayn, den Geruch des Grabes an sich wahrzunehmen. Zweimal täglich wusch sie sich. Sie benutzte eine teure Seife, die nach Rosenöl duftete, doch der Geruch kehrte immer wieder. Verwesungsgestank … Gab es ihn nur in ihrer überspannten Vorstellung? War es ihr Ekel vor sich selbst, der ihr den Gestank vorgaukelte, oder rochen die anderen es auch?

Bidayn wusste, dass über sie getratscht wurde. Über die seltsame alte Jungfer, die Shanadeen sich ins Haus geholt hatte. Wieder blickte die Elfe in die schäumende Gischt hinab. Die Tiefe lockte sie. Zwei Schritt und alle Zweifel und aller Ekel hätten ein Ende. Sie würde ihrer Seele Freiheit schenken und in einen neuen, einen makellosen Körper wiedergeboren werden. Bidayn machte einen Schritt auf den Abgrund zu. Hinter ihr auf der Wiese am Hang verstummte das Zirpen der Grillen. Kein Windhauch regte sich jetzt. Selbst das Geräusch der Brandung war leiser geworden, als hielte die Natur den Atem an. Und dann hörte sie Stimmen und ein grobschlächtiges, tiefes Gelächter.

Bidayn wandte sich vom Abgrund ab. Drei Faune kamen den schmalen Trampelpfad hinauf. Das Mondlicht schimmerte auf dem öligen Fell ihrer Ziegenbeine. Sie trugen fleckige Lendenschurze, ihre behaarten Oberkörper waren nackt. Kleine, nach hinten gebogene Hörner wuchsen ihnen aus der Stirn. Der Mittlere von ihnen stützte sich beim Gehen auf einen Speer. Bidayn musterte sie voller Missfallen. Die Zwitterwesen, ersonnen vom kranken Verstand des Fleischschmieds, hatte sie immer schon abstoßend gefunden.

»Du stehst zu dicht an der Klippe, meine Schöne!«, rief ihr der Speerträger zu. »Komm uns doch ein wenig entgegen …«

Seine beiden Gefährten verfielen in meckerndes Gelächter, als wäre ihrem Freund gerade der beste Scherz des Abends gelungen.

»Ich möchte allein sein«, sagte sie in dem unterwürfigen Ton, den sie sich als Kindermädchen angewöhnt hatte. Sie senkte den Blick. »Und ich möchte euch höflich bitten, meinen Wunsch zu respektieren und nun wieder zu gehen.«

»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, erklärte der Faun links neben dem Speerträger, hob einen Weinschlauch und schüttelte ihn. »Wir sind hier, um Spaß zu haben. Und den wirst du auch haben, das verspreche ich dir. Aber zunächst sollst du wissen, wer gekommen ist.«

Wieder erklang das meckernde Gelächter, als wäre ein weiterer Witz auf ihre Kosten geglückt.

»Nonnos ist der Dichter unter uns«, erklärte der Speerträger, prustend um Atem ringend. »Ich bin Dion, und der große Schweiger zu meiner Rechten ist Krotos.« Mit diesen Worten stieß er Krotos mit dem Ellenbogen in den Rippen, was sein Kamerad mit einem Grinsen quittierte.

»Ist dies nicht eine wunderbare Nacht für die Liebe«, rief Nonnos in so affektiertem Tonfall, als zitierte er irgendeinen berühmten Text. Dabei griff er sich mit der Linken ans Herz, hob seine Augenbrauen und schenkte Bidayn ein durch und durch falsches Lächeln. Nonnos hatte einen spitz zulaufenden Kinnbart, während die Bärte seiner Kameraden wild wuchernd bis zur Brust reichten. »Du bist viel zu hübsch, um so eine laue Sommernacht allein zu verbringen, Elfendame.«

Die drei waren jetzt keine fünf Schritt mehr von ihr entfernt. Ganz offensichtlich waren sie davon überzeugt, dass sie sich einfach nehmen könnten, wonach ihnen gelüstete, und von dem verhuschten, alternden Kindermädchen, das vor ihnen stand, kein ernsthafter Widerstand zu erwarten sei. Bidayn kämpfte den Zorn nieder, der in ihr aufwallte. Der Goldene hatte ihr befohlen, in Uttika zu warten. Sie durfte nicht aus ihrer Rolle fallen, musste um jeden Preis verbergen, was sie wirklich war. »Ihr wisst, dass dieser Ort verflucht ist. Bitte geht! Ich möchte nicht, dass euch ein Unglück widerfährt.«

»Es sind doch eher die Elfenweiber, die kein Glück mit dieser Klippe haben«, entgegnete Krotos, der bislang geschwiegen hatte, mit dunkler, etwas heiser klingender Stimme und einem breiten zahnlückigen Grinsen. »Aber hab keine Angst, wir sind hier, um gut für dich zu sorgen.«

»Ich kann auf mich alleine aufpassen.«

Dion schüttelte den Kopf, sodass ihm die schwarzen, strähnigen Haare um die Schultern flogen. »Glaube ich nicht. Wusstest du, dass sie in der Schenke unten an der Klippe Wetten abschließen, wann du springst? Du wärst die dritte Elfe seit Nevenyll. Und es sind Vollmondnächte wie diese gewesen, in denen sie ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. Es heißt, sie treffen Nevenyll in diesen Nächten.« Er sah sich mit einem Stirnrunzeln um, dann zuckte er mit den Schultern. »Also ich sehe hier keinen Geist. Aber vielleicht muss man ja eine Elfe sein, um ihr zu begegnen.«

Dion deutete mit seinem Speer auf sie. Jetzt erst sah Bidayn, dass an der Hand, die die Waffe hielt, zwei Finger fehlten. Der Handrücken und der Unterarm waren mit wulstigen Narben bedeckt, die aussahen, als hätte ein Wolf oder ein großer Hund versucht, ihn zu zerfleischen. »Weißt du, dass die Wetten in dieser Nacht zehn zu eins gegen dich stehen?«

»Und da habt ihr gedacht, ihr schaut vorbei, passt auf mich auf und macht einen guten Schnitt, wenn ich lebend von der Klippe zurückkehre?« Bidayn bedachte sie mit einem zynischen Lächeln. Natürlich wusste sie, dass dies nicht die Absicht der Faune war, aber sie wollte ihnen eine goldene Brücke bauen. Einen letzten Weg.

Der Spitzbart rülpste und rollte mit den Augen. »Daran hatten wir nicht gedacht …«

»Ihr könntet doch neue Wetten abschließen«, wandte Bidayn ein. »Es ist noch Zeit. Schickt irgendeinen Freund, damit es nicht auffällt, und werdet reich.« Sie versuchte, nicht allzu herablassend zu klingen. Diese drei Habenichtse könnten vielleicht ein paar Kupferstücke zusammenbringen und mit der Wette in Silber verwandeln. Reich würden sie ganz gewiss nicht. Dennoch schien Nonnos ernsthaft darüber nachzudenken. Er strich sich über den gestutzten Bart. Eine Geste, die im Widerspruch zu seinem grobschlächtigen Äußeren stand.

»Wir haben für diese Nacht andere Pläne«, sagte Dion barsch. »Lass dich von der Elfe nicht einwickeln, Nonnos! Elfen meinen es nie gut mit uns. Schnapp sie dir! Wir sind nicht zum Reden hier.«

Bidayn atmete aus und ließ die Maske des Kindermädchens fallen. Sie würde wieder sein, wozu man sie in der Weißen Halle gemacht hatte: eine Mörderin. Und sie genoss, endlich wieder von der Macht Gebrauch machen zu können, die ihr geschenkt worden war. »Wie ich sehe, hast du mit deinen Händen schon schlechte Erfahrungen gemacht, Ziegenarsch. Solltest du versuchen, mich anzufassen, landet die Hand, die du nach mir ausstreckst, unten am Fuß der Klippe. Glaube mir, ich mache keine leeren Worte, Dion. Ich würde vorschlagen, ihr drei geht, trinkt noch einen Becher Wein und genießt, dass ihr am Leben seid.«

»Du redest hier nicht mit deinen kleinen Gören, Kindermädchen«, fauchte Dion und deutete mit der Spitze seines Speers auf ihre Kehle. »Und jetzt schlage ich dir was vor, alte Jungfer. Wir werden dir zeigen, was die Bestimmung von Männern und Weibern ist, und wenn du dich bemühst, uns zu erfreuen, dann landest du nicht am Fuß der Klippe.«

»Du bist tot, fingerloser Bock«, entgegnete sie ruhig. Ihre Stimme klang seltsam gedehnt in ihren Ohren. Bidayn spürte, wie die Magie dieses düster-romantischen Ortes sie durchdrang. Spürte die Trauer Nevenylls, die sich wie ein Stempel in das Muster des magischen Netzes geprägt hatte, das alles auf dieser Welt durchdrang und miteinander verband.

Dion lachte auf. »Ein großes Maul hast du. Aber das passt zu dem, was wir mit dir vorhaben. Los, packt sie!«

Nonnos zögerte und zupfte nervös an seinem spitzen Bart. »Und wenn sie …«

»Sei nicht so ein verdammter Schisser«, zischte der schwarzhaarige Krotos und zog seinen Dolch aus dem breiten Ledergürtel, der seinen Lendenschurz hielt. »Sie ist nur ein Kindermädchen, verdammt. Hast du Angst vor Worten? Worte und ein paar Ohrfeigen, das sind all ihre Waffen.«

Bidayn öffnete ihr Verborgenes Auge, und die Magie der Welt wurde für sie sichtbar. Die vielfarbigen Kraftlinien verwandelten sich rings um die drei Faune in das gleißende Rot von Zorn und Wollust. Und da war noch etwas – ein hauchzartes Gespinst um ihre Köpfe. Ein Zauber umgab sie. Fein gewoben, kaum sichtbar.

Die Spitze von Dions Speer berührte Bidayns Kehle dicht unter dem Kinn. Sie durfte sich nicht in der Betrachtung von Details verlieren. Sie musste handeln. Die drei ließen ihr keine Wahl. Bidayn hauchte ein Wort der Macht und veränderte den Lauf der Zeit. Ihre Bewegungen und ihre Wahrnehmung waren nun beschleunigt. Doch die Welt um sie herum blieb nicht stehen, auch wenn es fast so wirkte. Bidayn spürte, wie die Klinge ihre zarte Haut durchdrang und ein Tropfen Blut ihre Kehle hinablief. Das Netz um sie herum begann sich zusammenzuziehen. Es kämpfte gegen den Zauber an, der die natürliche Ordnung der Dinge verhöhnte.

Bidayn schob den Speer zur Seite und nahm in Kauf, dass die Spitze eine dünne blutige Linie auf ihrer Kehle hinterließ. Noch war er nicht zu tief in ihr Fleisch gestoßen.

»Prescht im Ziegengalopp zur Schenke zurück, und ich lasse euch am Leben.«

Bidayn sagte die Worte langsam und gedehnt, doch vermutlich nahmen die drei Faune nur einen unartikulierten Schrei wahr. Sie war nun zu schnell in allem, was sie tat.

Mit einer Drehung fort vom Rand der Klippe hebelte sie Dion den Speer aus der Hand und rammte das stumpfe Ende Krotos mit solcher Kraft gegen die Kehle, dass dem zahnlückigen Faun das Maul aufklappte und der Dolch seiner Hand entglitt. Langsam wie ein Eichenblatt, das an einem windstillen Herbsttag zu Boden sinkt, fiel die Waffe.

Bidayn stieß ein weiteres Wort der Macht hervor und beendete ihren Zauber. Sie spürte die Bewegung hinter ihrem Rücken und stieß den Speer an ihrer Hüfte vorbei nach Dion. Dabei ließ sie Nonnos nicht aus den Augen, der seine Rechte auf den Griff seines Dolches gelegt hatte, es aber nicht wagte, die Waffe zu ziehen.

Die Welt war entschleunigt. Die Zeit verlief auch für Bidayn wieder in gewohnter Bahn: Der schwebende Dolch fiel mit dumpfem Geräusch in das hohe, sonnenverbrannte Gras; Krotos brach in die Knie und umklammerte mit beiden Händen seine Kehle, als wollte er etwas Unsichtbares fortreißen, das ihn würgte. Bidayn wusste, dass der Stoß dem Faun die Luftröhre zerquetscht hatte. Nichts konnte ihn mehr retten. Sein Gesicht wurde rot. Seine Augen traten noch weiter hervor, während die Elfe auf ihren Händen das warme Blut spürte, das am Schaft des Speeres hinabrann.

»Wer … Was bist du?«, stammelte Nonnos und nahm die Hand vom Dolchgriff.

»Kein Opfer.« Bidayn zog mit einem scharfen Ruck den Speer zurück und drehte sich um. Dion kippte zur Seite. Seine großen braunen Augen starrten tot in den Nachthimmel. Die Speerspitze hatte ihn unter dem Rippenbogen getroffen und war schräg nach oben in sein Herz gestoßen.

Die Elfe ließ die Waffe fallen und wischte ihre blutigen Hände über das Gras. Sie hatte es genossen, zu töten und ihre Macht zu nutzen. Sie hätte die drei auch einfach nur erschrecken und verjagen können, aber nach den endlosen Wochen als unterwürfiges Kindermädchen hatte sie ihre Macht endlich wieder spüren wollen.

»Wirf die beiden für mich über den Rand der Klippe«, sagte sie, ohne zu Nonnos aufzublicken. »Die Ebbe wird ihre Leichen aufs Meer hinausziehen, und niemand wird sie je wiedersehen.«

»Ja, Herrin.« Der kleinlaute Poet schaffte es, zugleich pflichtbeflissen und fragend zu klingen. Er packte Krotos, der noch immer nach Luft japste, bei seinen Hörnern und zerrte ihn zum Rand des weißen Felsens.

»Hinab mit ihm!«

»Äh … aber Herrin …«

Krotos hatte die Hände von seiner Kehle gelöst und umklammerte nun verzweifelt die dünnen Ziegenbeine seines Gefährten.

»Ich kann doch nicht …«, jammerte Nonnos. »Er lebt doch noch. Wir sind zusammen aufgewachsen. Sind …«

»Willst du weiterleben?«, fragte Bidayn und genoss es zu sehen, wie Nonnos sich in Gewissensqualen wand. Die drei waren hierhergekommen, um sie zu vergewaltigen und zu ermorden. Alles, was ihnen nun widerfuhr, hatten sie sich verdient. Sie waren nichts als übles Pack, und die Welt würde ohne sie eine bessere sein. »Befolge meinen Befehl!«

Nonnos schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht … Er ist mein Freund.«

Bidayn richtete sich auf. »Er ist das, zu dem ihr mich machen wolltet. Nur noch ein Stück Fleisch. Stoß ihn hinab!«

Nonnos zitterte am ganzen Leib, blanker Schweiß rann ihm über das Gesicht. »Ich weiß nicht, was mit uns war. Wir sind nicht so. Es ist … Das alles ist wie ein böser Traum.« Die Augen des Fauns waren wie dunkle Spiegel. Bidayn stand nun dicht vor ihm. Nonnos stank nach Ziege. Er sah wieder hinab zu seinem Freund. Die Glieder des Sterbenden zuckten. Dann löste sich sein Griff um die dünnen Beine. »Er war nicht so«, stammelte Nonnos. »Ich versteh das nicht. Wir …«

Was für ein Jammerlappen, dachte Bidayn angewidert. Eben noch war er bereit gewesen, mit seinen Freunden über sie herzufallen, und jetzt glaubte er sich so herausreden zu können. »Dann sollte ich dir wohl helfen zu erwachen«, sagte sie freundlich und vollführte, noch während sie sprach, eine halbe Drehung. Ihr rechter Fuß traf ihn mit mörderischer Wucht vor die Brust. Der Faun wurde von seinen Ziegenbeinen gerissen und über den Rand der Klippe geschleudert.

Der Tritt hatte ihm die Luft aus der Lunge gepresst. Sein Maul klaffte weit auf, aber er war nicht mehr in der Lage zu schreien, als er stürzte. Bidayn blickte hinab zum Meer. Nonnos’ Körper verschwand im wogenden Weiß der Gischt, die um die knochenfarbenen Felsen leckte. Sie sollte Uttika verlassen, dachte sie. Vor vier Jahren, als sie in die Höhle des Schwebenden Meisters gebracht worden war, wäre sie ein gutes Kindermädchen gewesen und hätte Erfüllung darin gefunden, nach den Töchtern des Kaufherren Shanadeen zu sehen. Selbst als sie zur Weißen Halle gekommen war, war sie noch nicht verloren gewesen. Doch die ängstliche, verhuschte Bidayn von damals gab es nicht mehr. Und sie hatte nicht einmal bemerkt, wann sie aufgehört hatte zu existieren.

Die Elfe straffte sich und sah zu Krotos. Der schwarzhaarige Faun war tot, erstickt. Seine großen Hände hatten sich in das trockene Gras gekrallt. Tiefbraune, gebrochene Augen starrten zu ihr hinauf. Bidayn verpasste auch ihm einen Tritt, sodass sein Kadaver über den Rand der Klippe rollte. Sie fühlte sich machtvoll und frei. Die Zeit, sich zu verstecken, war vorbei. Sie wollte wieder eine Drachenelfe sein.

Liegt es nicht an mir zu entscheiden, wann Ihr Uttika verlasst, Dame Bidayn?

Die Stimme in ihren Gedanken jagte der Elfe einen wohligen Schauer über den Rücken. Auch wenn ein Vorwurf in den Worten lag, überkam sie ein Glücksgefühl, das nahe an die Ekstase reichte, die sie empfunden hatte, als der Goldene sie unter seine Drachenelfen aufgenommen und sie tätowiert hatte.

Sie wandte sich vom Abgrund ab. Da war er! Zwischen den Felsen weiter unten am Hang! Gemessenen Schrittes kam er den Weg hinauf. Die Schatten der Nacht flohen vor der schlanken, hochgewachsenen Gestalt, als wäre er ein lebendes Licht, das alle Finsternis bannte. Die Goldstickereien am Saum seiner kurzen, weißen Tunika funkelten im Mondlicht. Sein wallender Umhang schien aus dem zarten Blau eines morgendlichen Sommerhimmels geschnitten zu sein. Der Goldene trug sein blondes Haar offen, sodass es bis auf seine Schultern hinabwallte.

Viel zu viel Zeit ist vergangen, meine Dame.

»Ja«, hauchte sie und ging dem Drachen in Elfengestalt entgegen. Fast jede Nacht sah sie ihn in ihren Träumen. Wilden Träumen, in denen sich immer und immer wieder jenes Ritual wiederholte, in dem sie eins gewesen waren.

Einige meiner Nestbrüder zweifeln an Euch, ehrenwerte Bidayn.

Die Elfe blieb erschrocken stehen. Zweifelte auch er?

Das Undenkbare ist geschehen. Es gibt Verrat inmitten unserer Reihen.

»Ich würde mich niemals …«

Bedenkt wohl, was Ihr sagt, meine Dame. Ich dulde keine Lügen! Ich weiß, dass Ihr darüber nachsannt, Uttika zu verlassen und damit gegen meine Befehle zu verstoßen.

Sein Zweifel traf sie tief. Seine Gunst zu verlieren würde ihr Leben jeden Sinns berauben. »Ja«, gestand sie. »Ich habe daran gedacht, doch Gedanken und Taten sind zweierlei, Licht meines Lebens.«

Der Goldene schenkte ihr ein Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Wohl gesprochen, meine Schöne. Dann verfinsterte sich sein Antlitz. Ihr wisst vom Angriff auf Selinunt, die Weiße, jene Stadt, in der sich die Unsterblichen und die Devanthar versammeln wollten, um über den Untergang Albenmarks zu beraten?

Bidayn nickte.

Zwei Drachenelfen waren dort als Späher. Sie sollten uns ein Zeichen geben, falls die Devanthar zur vorbestimmten Stunde des Angriffs nicht zugegen seien, denn nicht Menschenkinder, sondern Götter wollten wir töten. Sie haben uns getäuscht! Kein einziger unserer Feinde starb im Feuer des Himmels, obwohl Gonvalon das Signal zum Angriff gab.

Sein Zorn war für Bidayn körperlich spürbar. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihre Muskeln verspannten sich, während seine Gedanken wie glühende Lohe in ihr brannten. »Aber Gonvalon war doch schon lange von Euch abgefallen«, wandte die Elfe ein. »Warum habt Ihr ausgerechnet ihn als Späher geschickt?«

Er begleitete Nandalee. Sie hat den Verrat überlebt. Er nicht!

Bidayn dachte an die beiden langen Reisen, die sie mit dem Schwertmeister nach Nangog gemacht hatte. An dessen Liebe zu ihrer Freundin Nandalee. An seine stille Kraft. Was hatte ihn zum Verräter gemacht?

Es wird ein Krieg kommen, wie ihn unsere Welt noch nicht gesehen hat, meine Dame. Und wir werden nur siegen können, wenn es keine weiteren Verräter oder Zauderer in unseren Reihen gibt.

»Ich werde jeden Eurer Befehle ausführen, Licht meines Lebens!«, entgegnete Bidayn voller aufrichtiger Leidenschaft. »Ich werde nicht zögern.«

Der Goldene bedachte sie mit einem hintersinnigen Lächeln. Ich bin in dieser Nacht gekommen, um Euch auf die Probe zu stellen, meine Dame. Ich weiß, dass ein Funken von Nandalees rebellischem Geist auch in Euch glimmt. Ich war es, der Euch die drei Faune schickte. Eigentlich waren sie harmlos. Ich habe ihre Lust angestachelt und ihnen den Gedanken eingepflanzt, sich an Euch zu vergehen, meine Dame.

Bidayn war ernüchtert, aber nicht schockiert. Er war der Goldene. Er stand für alles, was gut war in dieser Welt. Er musste einen triftigen Grund gehabt haben, so zu handeln.

Ich sagte es bereits, einige meiner Nestbrüder misstrauen Euch, Dame Bidayn. Sie halten Euch für schwach. Deshalb habe ich Euch die Faune geschickt. Ich wollte sehen, wie Ihr Euch verhaltet. Ich gestehe, ich war erleichtert zu erleben, dass Ihr mit Leidenschaft tötet. Ihr seid ein Raubtier in der Gestalt eines Kätzchens. Ihr habt all meine Zweifel zerstreut. Der Goldene machte eine flüchtige Geste in Richtung des Leichnams von Dion, der noch immer auf der Klippe lag. Wie von Geisterhand bewegt, rollte er zur Abbruchkante und stürzte in die Tiefe.

Niemand wird die drei in Uttika vermissen. Faune sind unstet und launisch. Man wird glauben, sie hätten sich einfach davongemacht. Der Goldene trat an ihre Seite und berührte sie zart im Nacken. Ein Gefühl, als rinne feiner Sand über ihre Haut, überlief Bidayn.

Euch wird nun nicht mehr der Geruch des Grabes anhaften. Für einige Monde zumindest. Ihr braucht bald eine neue Haut, meine Dame. Ihr solltet weniger zögerlich sein, was das angeht. Ihr seid eine Drachenelfe. Nehmt Euch, was immer Ihr begehrt. Albenmark liegt Euch zu Füßen, denn Ihr seid meine Auserwählte, die Erste unter den Drachenelfen, die mir dienen.

Bidayn vermochte kaum noch zu atmen. Seine Auserwählte! Endlich würde sie Uttika verlassen können!

Es gibt jemanden, den Ihr für mich töten sollt. Einen sehr gefährlichen Gegner. Viele Tage habe ich damit verbracht, Hunderte Zweige der Zukunft Albenmarks zu erforschen. Mein Nestbruder, der Dunkle, wird ermordet werden, weil er zu leichtfertig sein Vertrauen verschenkt. Ich muss ihn vor der Gefahr schützen, die er nicht sehen will. Ihr, Dame Bidayn, seid auserwählt, meinen Willen zu vollstrecken. Ihr werdet meinen arglosen Bruder retten. Es wird Eure gefährlichste Mission werden, und Ihr werdet es nicht allein schaffen. Sucht Euch Gefährten, die das scheinbar Unmögliche wagen. Und zögert nicht, wenn die Stunde der Klingen naht!

Bidayn war wie berauscht. Endlich fort von hier! Und was für eine Aufgabe. Sie sollte eine Himmelsschlange retten. Den Erstgeschlüpften! »Ich werde alles tun, was Ihr verlangt, mein Gebieter und Wohltäter. Wen soll ich töten?«

Wenn ich den Namen nenne, gibt es kein Zurück mehr, Dame Bidayn. Ihr seid Euch ganz sicher? Bidayn spürte die tiefe Besorgnis des Drachen. Seine Sorge um sie und ihr Seelenheil. Er war so gut zu ihr. So rücksichtsvoll und einfühlend. Und doch war sie auch ein klein wenig beleidigt. Wie könnte sie jemals zögern, wenn er sie zu einer Mission berief!

»Ich bin bereit, mein Gebieter. Wessen Blut soll in Eurem Namen rinnen?«

Es ist jemand, der Euch wohlvertraut ist. Die geschlitzten Pupillen des Drachen schrumpften zu schmalen Strichen, als er sie auf eine Art ansah, die Bidayn die Gewissheit gab, dass er bis auf den Grund ihrer Seele blickte und dass er all ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte kannte. Tötet für mich die Dame Nandalee!

Bidayn atmete schwer aus. Nandalee! Sie war wie eine Schwester für sie gewesen. Bidayn erinnerte sich noch gut, wie sie in der Weißen Halle ungezählte Stunden im Bett neben Nandalee gesessen hatte, um mit ihr darüber zu flüstern, wie schrecklich das Leben einer Novizin in der Weißen Halle war. Sie dachte an die Gefahren auf Nangog, die sie gemeinsam gemeistert hatten. Und auch daran, wie sie stets nur ein Schatten war, wenn Nandalee zugegen war. Ihre Freundin fing alle Blicke ein. Sie war das Licht.

»Was Ihr wünscht, wird geschehen, mein Gebieter!«

Shanadeens Kammer

Im ersten Morgenlicht kehrte Bidayn zurück nach Uttika. Der Rausch der Gefühle der Nacht war verflogen. Auch wenn der Goldene sie zu seiner Auserwählten erkoren hatte, durfte sie nicht an seiner Seite bleiben. Sie sollte in dieser kleinen, abgeschiedenen Hafenstadt bleiben und eine Position erlangen, in der es niemanden verwunderte, wenn sie ein Gefolge um sich sammelte. Sie alle sollten Drachenelfen sein, auch wenn sie sich hier als Söldner, Zureiter oder Kammerzofen ausgeben würden. Bidayn hatte dem Goldenen einige Namen von Drachenelfen genannt, die sie an ihrer Seite haben wollte. Wann sie kommen würden, wusste sie nicht.

Die Elfe passierte das unverschlossene Stadttor. Rechts und links des Tores führten zwei Rampen zu den breiten Wehrgängen der Mauer. Uttika war eine seltsame Stadt. Eine Stadt ohne Stufen. Der ganze Küstenstreifen stand unter der Herrschaft der Bronzeschilde. So nannte sich eine Kentaurenhorde, die ganz anders als ihre kleineren Brüder in der Steppe massige Leiber hatten und an schwere Kutschpferde erinnerten. Ihr Fürst Sekander hatte schon vor langer Zeit ein Gesetz erlassen, dass jeder Ort entlang der Küste für Kentauren erreichbar sein musste. Und so baute man Städte ohne Treppen. Allenfalls in den kleinen Häusern und Wohnhöhlen von Kobolden fanden sich ein paar Stufen. Jeder Ort von Bedeutung aber war durch Rampen zu erreichen. Auch waren fast alle Türen so bemessen, dass die drei Schritt hohen Pferdemänner sie mühelos durchqueren konnten.

Das Morgenlicht überhauchte die weiß getünchten Wände der Häuser mit einem zarten rosa Schleier. Ein von Kobolden geführter Karren mit einem riesigen Fass darauf rumpelte an Bidayn vorüber. Er hielt vor jeder Tür, um den Inhalt der Nachttöpfe aufzunehmen, die von Hausdienern herausgereicht wurden. In der ersten Morgenstunde gehörte die Stadt ganz den Kobolden. Und sie entfernten nicht nur den Unrat der Nacht: Auf kleinen Handwagen brachten sie Feldfrüchte auf den Markt, fegten mit Reisigbesen die gepflasterten Straßen, sprengten Wasser auf die Wege, um die Hitze des Tages ein wenig länger zurückzuhalten, backten Brot und bereiteten ihren Herrschaften die ersten Speisen des Tages.

Bidayn würdigte die Dienerschaft kaum eines Blickes. Sie haderte stumm damit, weiterhin hier im Verborgenen, am Ende der Welt leben zu müssen. Natürlich würde sie den Befehlen des Goldenen gehorchen, aber ihr Leben als Drachenelfe verlief ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte Großes vollbracht – doch darüber, was sie auf Nangog getan hatten, durfte nicht gesprochen werden. Und so war sie keine strahlende Heldin. Ganz im Gegenteil, in der vergangenen Nacht hatte sie einen weiteren Schritt in die Dunkelheit getan.

Sie bog in eine Seitengasse ab. Ein streunender Hund mit einer toten Ratte im Maul huschte eilig vor ihr davon. Die Pforte zum Hinterhof von Shanadeens Residenz stand weit offen. Es war der Eingang für Personal. Hierher wurden auch die Waren vom Hafen gebracht, die sich in den beiden langen Speicherhäusern, die den Hof flankierten, bis unter die Deckenbalken stapelten. Seidenstoffe aus dem fernen Haiwanan, Trockenfleisch und Felle aus dem Bainne Tyr, Honigfässer und Bernstein aus Carandamon, Fischöl aus dem Waldmeer, Korallen, gesammelt von den traumlesenden Apsaras der Lotussee. Schätze aus ganz Albenmark wurden hier verwahrt. Graumur, der in die Jahre gekommene Minotaur, der Shanadeens Leibwache befehligte, saß im Schatten des Löwenbrunnens und schärfte mit langsamen Strichen seine Axt. Überrascht sah er ihr entgegen. Seine Nüstern blähten sich, als er misstrauisch witternd Luft einsog.

Bidayn fragte sich, ob ihr noch etwas vom Wohlgeruch des Goldenen anhaftete. Graumur konnte nicht wissen, was für ein Duft das war. Er würde es für ein exotisches Parfüm halten.

»Lange Nacht gehabt, Kleine«, murmelte er, und Schalk spiegelte sich in seinen Augen.

Die Elfe nickte nur und ging geradewegs auf die Tür zum verbotenen Zimmer des Kontors zu.

»Du weißt, dass er das nicht mag«, warnte sie der Minotaur.

Ihr war egal, was Shanadeen mochte. Sie würde von heute an die Herrin dieses Hauses sein. Entschlossen öffnete sie die Tür. Die eiserne Klinke war noch kühl vom Odem der Nacht. Sie wusste, dass sie Shanadeen dort finden würde. Im Kontor, dem allein ihm vorbehaltenen Raum, mit seinen Rechnungsbüchern und den geheimnisumrankten Schätzen, die ihm sein erster Kapitän Alarion von Reisen in die fernsten Weltengegenden mitbrachte. Shanadeen kam jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang hierher. Jene Nevenyll, die sich von der Klippe in den Tod gestürzt hatte, war vor langer Zeit sein Weib gewesen. Er hatte sie in den Tod getrieben. Bidayn vermutete, dass es nicht einmal böse Absicht gewesen war. Shanadeen liebte seine Zahlen und Kostbarkeiten mehr als lebendige Dinge, ausgenommen seine beiden Töchter Lydaine und Farella vielleicht.

Er blickte ärgerlich auf, als sie eintrat. Bidayn, die nie zuvor hier gewesen war, beachtete ihn nicht, sondern sah sich ruhig um. Das Kontor war so groß wie eine kleine Lagerhalle. Mindestens zehn Schritt lang und etwa vier breit. Ein unheimliches, magisches Licht erfüllte den Raum. Seine Wände waren bedeckt mit Schränken, deren Türen aus Glas gefertigt waren. Barinsteine, wie sie die Zwerge in ihren unterirdischen Städten nutzten, leuchteten durch gläserne Regale. Es gab ausgestopfte Tiere, Drachenzähne, seltsame Eier, merkwürdige Waffen. Das verbotene Zimmer war halb Kuriositätenkabinett und halb Schatzkammer. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lagen drei aufgeschlagene Bücher. Lange Reihen mit Zahlen füllten ihre Seiten.

Bidayn zog die Türe hinter sich zu. Immer noch betrachtete sie die obskuren Schätze des Kaufherrn. In einem Glaszylinder schwamm eine abgeschnittene Hand, größer noch als die Hand eines Trolls oder Minotaurs.

»Du weißt, dass du nicht hierherkommen darfst!«, stellte Shanadeen sachlich fest. Der Kaufherr hatte über den Büchern mit den Zahlen gesessen. Nun erhob er sich. Er war hochgewachsen, doch dürr. Sein schmales Gesicht war geprägt von einem Feuer, das ihn verzehrte. Unter seiner Dienerschaft gab es viel Gerede. Es hieß, er und Alarion hätten die Apsaras, die Traumleserinnen der Lotussee, besucht und die Eisbärte, rebellische, blutgierige Kobolde, die den Zwergen von Ishaven ihre Schätze raubten. Er spürte jedem Mysterium nach! Nie betrat der Händlerfürst für seine Reisen das Goldene Netz. Er reiste per Schiff oder in Karawanen über das Land. So viele Geschichten hatte Bidayn in den vergangenen Wochen über ihn gehört. Er kannte die Hexerfürsten der Lamassu, hieß es, und war angeblich auch in den Hallen des Trollkönigs der Snaiwamark gewesen. Welches Geheimnis er aber mit solcher Ausdauer suchte, wusste niemand. Freilich wurde geflüstert. Die meisten vermuteten, es habe mit dem Tod Nevenylls zu tun und damit, dass seine beiden Töchter seit dem Freitod ihrer Mutter nicht mehr wuchsen und auch, trotz ihres stattlichen Alters, ihr kindliches Gemüt nicht ablegten. Es schien, als wäre für die beiden die Zeit stehen geblieben.

Der Kaufherr legte die Feder, die er in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. »Dein Dienst in diesem Hause endet hiermit, Bidayn. Du wirst deine Sachen packen und noch in dieser Stunde aus der Stadt verschwinden. Solltest du meinen Befehlen nicht Folge leisten, wird dir Graumur auf den Weg helfen.«

Bidayn nahm seinen Rausschmiss mit einem Lächeln entgegen. Sie hob lasziv beide Hände zum Nacken, hob ihre Haare und öffnete den Verschluss ihres ärmellosen, weißen Kleides, sodass es ihr bis auf die Hüften hinabfiel. »Du willst mich nicht gehen lassen, du willst mich heiraten, Shanadeen«, sagte sie mit gurrender Stimme und ging langsam auf ihn zu.

Auf den Wangen des Kaufherrn zeigten sich rote Flecken. Eine steile Zornesfalte erschien zwischen seinen Brauen. »Bedecke dich!«

»Ist hier zwischen all diesen Dingen zu sitzen wirklich besser, als bei einer Frau zu liegen?«

»Du weißt nicht …«

Sie strich sich über ihre kleinen, vollen Brüste und hob sie mit den Händen leicht an. »Koste von diesen Früchten. Sie werden dich deine Trauer vergessen lassen.«

Der Kaufherr schüttelte sacht den Kopf. Er hatte einen verkniffenen, schmalen Mund, über den sich eine Nase erhob, die an einen Raubvogelschnabel erinnerte. Spitz, leicht gekrümmt. Er schniefte leicht, und ein grausamer Glanz trat in seine grauen Augen. »Hat dir je ein Mann beigelegen, der nicht volltrunken war, Bidayn? Du weißt um deinen Geruch, nicht wahr? Kannst du dir vorstellen, wie oft Lydaine und Farella mich darum gebeten haben, dich fortzuschicken, weil sie den Verwesungsgeruch, der dich umgibt, kaum ertragen können. Jeder in diesem Hause spottet über dich. Die Kobolde nennen dich die Grabfrau und gehen dir aus dem Weg. Selbst die Rosenseife, mit der du dich so leidenschaftlich wäschst, vermag diesen Geruch nicht zu besiegen. Graumur, der sehr offen wird, wenn er trinkt, hat sich einmal dazu verstiegen, mir anzuvertrauen, dass er lieber ein Astloch ficken würde als dich. Ich hatte bisher Mitleid mit dir, Bidayn. Doch das hast du gerade zerstört. Offensichtlich ist es dein Hirn, das fault und den üblen Gestank verbreitet. Und nun nimm deine Sachen und mach dich davon, sonst lasse ich dich aus meinem Haus peitschen!«

»So leidenschaftlich kenne ich dich gar nicht, Shanadeen«, spottete Bidayn. »Hast du dich je gefragt, warum mir der Duft des Grabes anhaftet? Die Antwort ist einfach. Ich bin der Tod.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und beobachtete das Gesicht des Kaufherrn in der spiegelnden Glasscheibe vor sich. Erst war er überrascht vom Anblick der Tätowierung. Dann plötzlich begriff er, was das prächtige Drachenbild auf ihrem Rücken zu bedeuten hatte, und sein Antlitz wurde zu einer Maske blanken Entsetzens.

»Du bist keine …«

Bidayn wandte sich ihm wieder zu. »Doch, ich bin eine. Schau her!« Sie sprach ein Wort der Macht und hob ihre Hände vors Gesicht. Sie dachte an Tuwatis, den Bewahrer der Tiefen Gewölbe, jenen Išta-Priester aus der Goldenen Stadt, bei dessen Ermordung sie mitgewirkt hatte. Sie würde ihn niemals vergessen – er war der erste Mann, mit dem sie das Lager geteilt hatte. Immer noch überkam sie Ekel, wenn sie an ihn dachte. Ihre Finger tasteten über ihre Gesichtsknochen, pressten, formten. Als sie die Hände sinken ließ, hatte sich ihr Antlitz völlig verändert. Sie sah nun aus wie Tuwatis.

»Es ist der Wunsch des Goldenen, dass ich dein Weib werde. Doch ich sehe schon, dass du kein Mann bist, der den Frauen nachstellt. Ich werde dich töten und deine Gestalt annehmen. Und was sagtest du gleich über Lydaine und Farella? Sie haben über meinen Gestank gespottet? Nun, das Spotten soll ihnen vergehen.« Sie zeigte auf eine der dicken Glasscheiben der Schränke. »Ich werde eine Kiste aus Glas fertigen lassen, Lydaine darin einsperren und die Kiste dann langsam voll Wasser laufen lassen. Und die feinfühlige Farella wird dabei zusehen, wie ihre Schwester ertrinkt. Danach werde ich sie an einen Ort bringen, der ihre Nase weit mehr beleidigen wird als der Geruch, der mir anhaftet. Du weißt sicher, wie begierig Bromgar, der König der Trolle, darauf ist, sich hübsche Elfensklavinnen zu halten. Er wird mir Farellas Gewicht in Gold aufwiegen.«

Shanadeen war binnen Augenblicken um Jahrzehnte gealtert. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Sein Gesicht wirkte eingefallen, und überdeutlich trat das Netz der feinen Falten um seine Augen hervor. »Entschuldigt, Herrin. Ich ahnte nicht, wer Ihr seid. Es tut mir leid …«

Bidayn lachte auf. »Du sagst Entschuldigung und glaubst, damit sei es getan? Wie nanntest du mich eben noch? Die Grabfrau? Und du wolltest mich aus deinem vornehmen Haus peitschen lassen.«

»Bitte, Herrin …« Der stolze Kaufherr kniete vor ihr nieder. »Nehmt mein Leben. Aber verschont meine Kinder. Sie sind unschuldig. Sie …«

»Also willst du mein Ehemann werden und einen jeden in dieser Stadt davon überzeugen, dass dich unbändige Liebe zum Kindermädchen deiner Töchter ergriffen hat?« Bidayn schnalzte mit der Zunge. »Ich glaube, über uns beide wird schon bald sehr viel getratscht werden. Und ich hoffe, du bist gut im Bett. Sonst muss ich dir schon bald Hörner aufsetzen. Was den Tratsch noch einmal befeuern wird …«

Wieder schoss ihm das Blut in die Wangen. Er war prüde und langweilig, dachte Bidayn ärgerlich. Der alte, geile Bock und das Kindermädchen. Diese Geschichte würden die Leute der Stadt nur allzu gerne glauben. Und sie würde über Nacht zu Macht und Einfluss gelangen. Niemand würde sich wundern, wenn sie bald einige eigene Bedienstete anstellte und sich so heimlich ihren Zirkel von Mördern erschuf.

»Ich schlage vor, wir gehen nun ins Haus und verkünden unsere Hochzeitspläne. Was denkst du, wann sollen wir heiraten, Liebster? In drei Tagen? Oder in einer Woche?«

»Bitte … ich … Es wäre nicht klug, es zu überstürzen.« Shanadeen wirkte nun etwas gefasster. »Versteh mich nicht falsch. Ich bitte nur um Zeit, damit unsere Geschichte glaubwürdiger erscheint. Ich weiß nicht, was dich hierher nach Uttika geführt hat, und ich will es auch gar nicht erfahren, aber ich vermute doch, dass du kein Aufsehen erregen willst. Ich habe hier viele Geschäftsfreunde, und sie kennen mich als einen Mann, der schon seit Langem den Frauen nicht mehr zugetan ist. Wenn ich nun plötzlich heirate, dann mag das einigen seltsam vorkommen.«

»Du bevorzugst also meinen anderen Vorschlag?« Bidayn genoss es, ihn erneut erbleichen zu sehen. »Ich glaube, ich könnte recht überzeugend deinen Platz einnehmen.«

»Es genügt nicht, allein auszusehen wie ich!«, entgegnete Shanadeen überraschend kämpferisch. »Ohne zu wissen, was ich weiß, wirst du keinen Tag bestehen. Meine Geschäftsfreunde werden schnell merken, dass sich Shanadeen plötzlich nicht mehr an vergangene Gespräche und an alte Absprachen erinnert. Und sie werden sich fragen, warum das so ist. Und dann werden sie deinen Geruch bemerken …«

Bidayn schürzte die Lippen. »Es ist nicht nett, immer auf dem Duft deiner Zukünftigen herumzureiten. Und was das Übrige angeht: Hast du vergessen, was ich bin? Ich nehme mir nicht nur dein Aussehen. Ich werde auch jede deiner Erinnerungen stehlen. Wir Drachenelfen sind die auserwählten Diener der Himmelsschlangen. Wir sind vollkommen in allem, was wir tun. Und glaube mir, Shanadeen, du kannst dir nicht einmal in deinen wildesten Albträumen ausmalen, wozu wir in der Lage sind. Also reize mich nicht! Ich werde meine Warnung nicht wiederholen.« Sie bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln. »Genug der Unerfreulichkeiten. Gehen wir nun hinaus und lassen wir deine Dienerschaft von unserem neuen Liebesglück wissen. Mach nicht so ein Gesicht. Bedenke, du hast mir gerade dein Herz geschenkt. Du willst doch überzeugend sein, nicht wahr?«

»Natürlich!« Der Kaufherr zwang sich zu einem recht kläglichen Lächeln und ging zur Tür.

»Du schätzt Graumur, nicht wahr? Er steht schon lange in deinen Diensten und trägt die Narben mancher Schlacht auf seinen Armen und in seinem Gesicht. Er ist einer, der bei Gefahr nicht davonläuft. Warne ihn nicht! Es täte mir leid, ihn zu töten.«

Shanadeen richtete sich auf.

Hatte sie mit ihrem Verdacht richtiggelegen? Die Tür schwang auf. Helles Morgenlicht überflutete den Hinterhof. Der Minotaur stand an die gegenüberliegende Mauer gelehnt. Er hielt seine massige Streitaxt lässig gegen die Schulter gelehnt, doch Bidayn vermochte er nicht zu täuschen. Sie sah seine Anspannung. Den fragenden Blick. Nie zuvor hatte jemand seinen Herrn in dessen Schatzkammer stören dürfen. Jeder im Haus wusste, dass für dieses Vergehen die schwersten Strafen angedroht worden waren.

»Morgen, Graumur«, sagte Shanadeen steif. »Schöner Tag, nicht wahr?«

Der Minotaur legte den Kopf schief. Es war offensichtlich, dass sein Herr ihn so noch nie begrüßt hatte.

Shanadeen reichte ihr den Arm, und Bidayn hakte sich überrascht ein. Der Alte machte seine Sache besser, als sie erwartet hatte.

»Bald wird sich im Haus einiges ändern«, erklärte der Kaufherr dem sichtlich verwunderten Krieger. »Es wird ein großes Fest geben, und ich verspreche dir ein Fass Met für dich ganz allein.«

Graumur sah ihnen verwundert nach, während sie durch die kleine Tür traten, hinter der ein langer Flur tief ins Herrenhaus führte. Shanadeen löste seinen Arm. Es war hier zu eng, als dass sie bequem hätten nebeneinander gehen können.

Er hielt sich noch immer sehr gerade. Keine Geste verriet, was er dachte, doch Bidayn war sich ganz sicher, dass er sie hintergehen würde, sobald sich Gelegenheit dazu bot. Über kurz oder lang würde sie ihn loswerden müssen. Aber erst einmal würden sie eine Weile das verliebte Paar spielen.

Sie erreichten die Tür zur Küche. Die Mädchen frühstückten meist hier. So oft hatte Bidayn in den letzten Wochen hier gesessen und den immer gleichen kindlichen Scherzen gelauscht. Über Kruppa, die kleine, rundliche Koboldköchin, die die unumschränkte Herrscherin der Küche war, über Maya, ihre zierliche Tochter, die seit sie Kentauren in den Weg gekommen war, die sich in den engen Gassen der Stadt ein wildes Wettrennen geliefert hatten, ein Holzbein besaß. Über Graumur, der durch das kleine Fenster zum Hof jeden Morgen schweißüberströmt nach einem Humpen Bier fragte, wenn er seine Schattenkampfübungen mit der großen Axt abgeschlossen hatte. Und jeden Morgen zeterte Kruppa, dass er ein nichtsnutziger Säufer sei, nur um ihm zuletzt doch seinen Humpen zu geben.

Bidayn war ein Teil von alldem geworden. Es war fast ein Zuhause. Sie schob den sentimentalen Gedanken zur Seite. Dies alles hier war nur ihre Tarnung. Etwas, das sie und ihre wirklichen Absichten verbarg, so wie sie ein dunkler Umhang bei Nacht verbarg. Sie sollte keine Gefühle für diesen Ort und seine Bewohner empfinden.

Shanadeen trat als Erster in die Küche und wurde mit Gekicher und fröhlichen Morgengrüßen von Lydaine und Farella empfangen. »Ich habe euch eine wichtige Mitteilung zu machen«, unterbrach er seine Töchter in feierlichem Tonfall. »Ich weiß nicht, ob es den wachsamen Augen meines Personals nicht ohnehin schon offenbar wurde.« Bei diesen Worten bedachte er die Köchin Kruppa mit einem scharfen Blick. »Seit einigen Wochen sind Bidayn und ich uns sehr zugetan, und ich gestehe freimütig, dass es weniger ihre Referenzen als vielmehr ihre Schönheit war, die mich dazu veranlasst hatte, ihr eine Anstellung in diesem Hause zu geben.«

Kruppa und ihrer Tochter Maya klappte vor Staunen der Mund auf, wohingegen die beiden Mädchen noch nicht begriffen, worauf diese Rede hinauslaufen würde.

»Wie ihr wisst, bin ich kein Mann vieler Worte, und Heimlichkeiten sind mir ein Gräuel. Bevor es Gerede darüber gibt, ob ich zärtliche Bande zu unserem Kindermädchen unterhalte, sage ich es lieber offen heraus: Wir sind verliebt und werden heiraten.«

»Wunderbar! Ganz wunderbar!«, platzte es aus Maya heraus, die auf ihrem Holzbein quer durch die Küche stakste und sich erst im letzten Augenblick bewusst wurde, dass es einer Kobolddienerin nicht zustand, begeistert die Beine ihres Elfenherren zu umarmen.

Bidayn war zufrieden. Shanadeen hatte tatsächlich schauspielerisches Talent bewiesen. Kruppa musterte sie zwar misstrauisch, wagte aber kein Wort zu sagen.

»Sie wird dann unsere Mutter?« Die blonde Lydaine ließ den Löffel in ihre Schale mit Hirsebrei fallen und schnitt eine Grimasse. »Du kannst sie nicht heiraten, Vater. Sie stinkt schlimmer als ein toter Fisch. Ich möchte nicht, dass sie in deinem Bett liegt und du auch so riechst.«

Shanadeen räusperte sich verlegen und suchte noch nach Worten, als Bidayn ihm zuvorkam. »Weißt du, meine Kleine, es sind Lügen, die uns hässlich machen und manchmal sogar stinken lassen. Von nun an sagen wir uns immer nur noch die Wahrheit.« Sie ging in die Hocke und weitete die Arme. »Komm her, und du wirst feststellen, dass mein Gestank verflogen ist.«

Lydaine schüttelte den Kopf. »Du bist nicht meine Mutter. Ich will dich nicht!«

»Und du, Farella?« Bidayn stand auf. Das Mädchen saß an der ihr zugewandten Seite des großen Küchentischs. Sie war die stillere der beiden, mit schwarzem Haar und Augen wie Abgründe. Sie liebte es, Weiß zu tragen, wohingegen Lydaine sich gar nicht bunt genug anziehen konnte. Bidayn hatte Farella immer lieber gemocht. Sie trat an ihre Seite und strich ihr sanft übers Haar. »Und, stinke ich noch?«

Das Mädchen schnupperte übertrieben laut, als wäre sie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du riechst gut«, sagte sie verblüfft. »Sehr gut!« Sie legte den Kopf an ihre Brust und schnupperte weiter. »Toll!«

Offenbar haftete ihr noch etwas von dem Wohlgeruch des Goldenen an, dachte Bidayn zufrieden. Nun stand auch Lydaine auf und kam zu ihr herüber. Obwohl sie sonst immer eher stürmisch war, näherte sie sich vorsichtig, übertrieben laut atmend. Verwundert runzelte sie die Stirn. Schließlich umarmte sie Bidayn, vergrub das Gesicht unter ihrer Achsel und gab gurrende Laute, wie eine zufriedene Taube, von sich. »Du riechst wirklich so gut!«

Die Elfe streichelte die Kinder über die nackten Arme. Ihre Haut war so zart! Bald schon gehörten sie ihr. Natürlich würde sie die beiden niemals ertränken oder an den Trollkönig Bromgar verschachern. Dazu waren sie zu kostbar! Sie hatten so wunderbar zarte Haut.

Über den Wolken

Der Sturm ließ die Scheiben in den Bleifassungen klirren. Nabor hielt den Blick gesenkt, starrte auf die viel zu großen, unförmigen Stiefel, in die er gekrochen war und die die Kälte des Himmels doch nicht fernhalten konnten. Der alte Lotse vermochte sich nicht zu erinnern, jemals in seinem Leben so sehr gefroren zu haben. Aber es war nicht die Kälte allein, die ihm ins Mark gedrungen war. Da draußen war etwas am Himmel. Etwas, das man besser nicht zu Gesicht bekam. Es blieb verborgen hinter den von Eisblumen überzogenen Scheiben, durch die nur ab und an das Licht ferner Blitze drang.

Es war Eitelkeit, die ihn hierhergebracht hatte. Dabei war er nie ein eitler Mensch gewesen. Die Himmelspiraten von Tarkon Eisenzunge hatten sein Schiff gekapert und ihn in die Wolkenstadt gebracht, das geheime Versteck, nach dem die Unsterblichen schon so lange suchten. Die Piraten hatten ihn mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Tarkon persönlich hatte ihn zu einem Abendmahl geladen. Der Piratenfürst war ganz anders gewesen, als er ihn sich vorgestellt hatte: kultiviert, umgänglich, ein Mann, der gerne lachte und die Musik liebte. Jetzt, im Nachhinein, war Nabor klar, dass Tarkon ihn umgarnt hatte wie eine schöne Frau, die man zu einer leidenschaftlichen Nacht verführen wollte. Zu später Stunde, als sie schon reichlich Wein getrunken hatten, war der Pirat mit seiner Bitte herausgerückt. Nabor sollte einen anderen Lotsen ersetzen, Veccio, einen unsympathischen Valusier, der nicht viele Freunde in der Gilde hatte.

Einem Lotsen sein Kommando zu stehlen war so ziemlich der schlimmste Affront, den man als Wolkenschiffer begehen konnte. Nabor hatte gezögert und sich Bedenkzeit ausgebeten, die Tarkon ihm auch großzügig gewährte, allerdings nicht ohne die Besonderheiten dieser Reise in den schillerndsten Farben zu schildern. Es sollte hoch in den Norden gehen. In Gebiete, die nicht kartographiert waren und in die noch niemals zuvor eine Expedition vorgestoßen war. Er behauptete sogar, Nangog selbst, die Große Göttin, wolle diese Reise und habe sie unter ihren Segen gestellt. Barnaba, ihr wichtigster Prediger, sollte die Expedition anführen.

Am nächsten Morgen hatte Nabor mit eigenen Augen gesehen, wie sich diesem Barnaba die Schreckenskreaturen, die nach dem großen Beben überall auf der Welt erschienen waren, unterwarfen, als wären sie zahme Hündchen. Eine Bestie, halb Weib, halb Geier, war ständig um den Prediger herum und beäugte jeden misstrauisch, der sich ihm näherte.

Auch Barnaba war voller Enthusiasmus gewesen. Sie würden eines der größten Geheimnisse der Göttin aufdecken.

Aber es war Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer gewesen, der den Ausschlag gegeben hatte. Der Wolkensammler, mit dem sie reisen sollten, war einer der ganz alten unter jenen riesigen Geschöpfen, die lautlos durch die Himmel der Neuen Welt glitten. Nabor hatte schon oft von ihm gehört. Er galt als weise. Und Wind vor regenschwerem Horizont hatte auch von ihm schon gehört. Verfluchte Eitelkeit! Der Wolkensammler hatte ihn freundlich willkommen geheißen, als er an Bord des Schiffes gekommen war, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Nabor war überwältigt gewesen, als er feststellen musste, dass Wind vor regenschwerem Horizont ihn kannte. Der Lotse hatte sich nie für sonderlich bedeutend gehalten, auch wenn er gelegentlich das Palastschiff des Unsterblichen Aaron durch den Himmel Nangogs geführt hatte. Die Wolkensammler hatten ihm sogar einen Namen gegeben. Herz voller Lieder war die Kurzfassung davon, denn die riesigen Himmelsreisenden liebten es, Namen zu vergeben, die zwar meist überaus treffend waren, aber so lang, dass kein Menschenkind sie sich merken konnte. Als Wind vor regenschwerem Horizont ihn bat, als Lotse an Bord zu kommen, war Nabor eingeknickt und hatte willig den immerwährenden Groll des Valusiers Veccio in Kauf genommen. Der Lotse war, begleitet von Tarkon, ohne ein böses Wort von Bord gegangen. Doch in einem Augenblick, als er sich unbeobachtet fühlte, hatte er Nabor mit Blicken bedacht, in denen blanke Mordlust gestanden hatte. Veccio war es hier nicht um ein Abenteuer oder um das Erstellen neuer Karten gegangen. Er hatte von dem Ruhm geträumt, den diese Reise bringen würde.

Eine neuerliche Sturmbö ließ die Scheiben der kleinen Lotsenkanzel unter dem Schiffsrumpf klirrend erbeben. Gabott, sein kleiner Affe, stieß einen schrillen Schrei aus und kletterte von seiner Schulter hinab zur Armbeuge. Zitternd schob er seinen Kopf unter Nabors Achsel. Auch Gabott wusste, dass man nicht hinsehen durfte. Er gab leise, wimmernde Laute von sich. Er spürte sie … Die dort draußen im Himmel, wo es eigentlich nichts geben dürfte außer Wind und Wolken.

Nabor hätte ahnen müssen, dass diese Reise unter keinem guten Stern stand, als die Geierfrau vor zwei Tagen das Schiff verlassen hatte. Sie hatte ganz ihren Instinkten gehorcht und war nicht von Eitelkeit, Gier oder was sonst auch verblendet. Nicht wie die Männer der Besatzung dieses verfluchten Schiffes. Sie alle hofften im hohen Norden etwas zu finden, das ihr Leben wieder in die rechte Bahn lenken würde.

Nabor rieb fröstelnd seine Hände über die Arme. Eiskristalle begannen nun sogar auf der Innenseite der kleinen, runden Glasscheiben im Gitterwerk aus Blei zu wuchern. Plötzlich war da ein Geräusch … Etwas, das nicht in das Muster der wohlvertrauten Geräusche des riesigen Wolkenschiffes passte, zum Heulen des Windes in der Takelage und zum Knacken des Holzes, das in der eisigen Kälte arbeitete. Es war ein Laut, den es viele tausend Schritt über dem Boden nicht hätte geben dürfen. Etwas kratzte über das Eis der Scheiben hinter Nabor.

Nabor drehte sich hastig um. Vier dunkle, parallel verlaufende Linien zerteilten direkt vor ihm die Eiskruste auf dem Bleiglasfenster. Er keuchte. »Dafür gibt es eine Erklärung«, stammelte er, nur um eine Stimme zu hören. »Ein Stück Eis hat sich vom Rumpf gelöst und ist hier vorbeigeschrabbt.« Er wusste nur zu gut, dass er Unsinn redete. Niemals würde so ein Stück Eis vier dünne, parallel laufende Schrammen wie von einer Krallenhand auf dem Fenster hinterlassen. Aber hier oben durfte es auch nichts mit Krallen geben!

Gabott stieß einen schrillen, fiependen Laut unter seiner Achsel aus.

Die Linien wurden länger! Dahinter lag nichts als die Schwärze der Nacht!

Erschrocken wich Nabor zurück, soweit das in der engen Lotsenkanzel möglich war. Die Linien trafen auf einen der dünnen Balken der Bleifassung. Wölbte sich das Blei nach innen? Drückte da etwas die Fassung heraus?

Nabor riss sich von dem Anblick los und sah wieder auf seine Stiefel. Alte Erinnerungen beschlichen ihn. Geschichten aus seiner Kindheit. Erzählungen von bösen Meeresgeistern, die auf dem Sturmwind ritten und nur dann Gestalt annahmen, wenn der Himmel so in Aufruhr war wie in dieser Nacht. Geboren aus Sturmwind und Blitzen zogen sie dicht über die Gischtkronen der Wellen, um Unheil zu stiften. Mal zeigten sie sich nur als flackerndes Licht an Schiffsmasten, mal kamen sie, um den Steuermann über Bord zu zerren oder einen leichtfertigen Schiffsjungen von seinem Ausguck auf dem Mast zu stoßen. Angst ließ sie mächtiger werden. Das Schlimmste war, sie anzuschauen. Ihr Anblick ließ ein Herz so sehr verzagen, dass es aufhörte zu schlagen.

Wieder kratzte etwas über die Scheibe. Nabor sah diesmal nicht hin! Der Sturm würde vorüberziehen und mit ihm das Geschöpf dort draußen, das keine Armeslänge entfernt hinter einer dünnen Glaswand auf ihn wartete.

Nabor streckte seine Hand tastend zur Seite. Dort war die Leiter, die hoch in den wuchtigen Rumpf des Wolkenschiffs führte. Er müsste sich ein wenig drehen, um in die Sprossen zu greifen und hinaufzusteigen, wie er es schon unzählige Male getan hatte, seit sein Leben dem Himmel über Nangog gehörte. Aber Nabor konnte nicht. Etwas lähmte seinen Willen. Dieses Ding dort draußen wollte ihn hier in der Lotsenkanzel behalten, denn hier konnte es zu ihm gelangen. Es wollte ihn holen … Sie alle hier an Bord wollte es holen. Aber ihn hatte es als sein erstes Opfer erwählt!

Beklommen dachte er an die einzige unheimliche Geschichte, die er über die Reisen am Himmel dieser fremden Welt gehört hatte: über Schiffe, die voller Toter lagen, von denen kein einziger eine sichtbare Wunde aufwies. Sein Blick glitt zu den Schrammen im Eis. Dieses Geschöpf würde Wunden hinterlassen!

Weiter oben im Rumpf wäre er vielleicht in Sicherheit. Nabors Rechte tastete über den glatt polierten Holm der Leiter. Unter den Fingerkuppen fühlte er die Wurzel des Schiffsbaums, die an der Leiter hinabgewachsen war. Spürte die Anwesenheit von Wind vor regenschwerem Horizont, jenes riesigen, aufgeblähten Geschöpfs, das an ihr Schiff gefesselt war und es durch den Himmel trug. Der Kreatur, die über ihrer aller Leben wachte, jenem Wolkensammler, der sich stundenlang in der Betrachtung des Blaus des Himmels über ihnen verlieren konnte und der doch von den wenigen Schiffern und Passagieren, die für diese Reise an Bord gegangen waren, mit beinahe ängstlichem Respekt behandelt wurde.

Wind vor regenschwerem Horizont stand mit dem Baum, der auf ihrem Schiff wuchs, in Verbindung; er beherrschte sein Wachstum. Die Wurzeln, die sich zwischen den Planken bis in die entferntesten Winkel des Schiffes gezwängt hatten, waren wie Nervenenden. Der Wolkensammler spürte alles, was hier an Bord geschah. Und wenn Nabor die Wurzeln berührte, dann teilte er mit Wind vor regenschwerem Horizont seine Furcht. Das war Nabors Gabe, allerdings erschien sie ihm in Stunden wie diesen wie ein Fluch. Nur wenige Lotsen erfuhren, was ihr Wolkensammler dachte, wenn sie die Wurzeln berührten. Als er nun Kontakt zu den Gedanken des Wolkensammlers aufnahm, fühlte er augenblicklich dessen Furcht vor dem, was dort draußen war. Auch Wind vor regenschwerem Horizont kannte die Kreatur nicht, die im Dunkel des Himmels lauerte.

Die Geräusche der Nacht hatten sich verändert: Das Lied des Windes in der Takelage des Schiffes, zwischen den Seilen und den lebenden Tentakeln, die den Schiffsrumpf und den Wolkensammler miteinander verbanden, hatte einen unheimlichen, düsteren Ton angenommen. Einen Ton, der Nabors Herz schneller schlagen ließ. Der alte Lotse atmete hechelnd. Das lag zum Teil an der dünnen Luft hier hoch oben im Himmel, das wusste er. Doch mehr noch war es seine Angst, die ihn hecheln ließ.

Das Glas knirschte in den Bleifassungen, obwohl diesmal keine Sturmbö gegen die kleine Kanzel angerannt war. Etwas drückte auf das Fenster, das er um keinen Preis der Welt ansehen mochte.

Ein Blitz zerteilte den Horizont. Fahles Licht stach durch die Lotsenkanzel und ließ die unförmigen, braunen Stiefel, auf die der Lotse fest seinen Blick geheftet hatte, so aussehen, als wären auch sie schon von Raureif überzogen. Und inmitten des gleißenden Lichts zeichnete sich deutlich ein Schatten am Boden der Kanzel ab. Eine schmale Hand mit vier überlangen, gekrümmten Fingern. Sie glitt an ihm hoch. Hinweg über den zitternden Leib des Äffchens, das seinen Kopf immer noch unter seiner Achsel verborgen hielt. Hin zu seinem Herzen!

Nabor schrie auf. Das gleißende Licht verblasste, und allein der gelbe Schein der Öllampe über seinem Kopf erhellte noch das kleine Glasgefängnis hoch im Himmel. Die Scheiben waren blind vom Frost. Der Schatten verschwunden.

»Nabor?«

Der Lotse konnte sich nicht rühren. Seine Knie schlotterten. Er war nicht mehr länger Herr seiner Glieder. Da draußen war etwas … Und es war gekommen, um ihn zu holen!

»Nabor?« Kolja, der vernarbte Leibwächter des Priesters Barnaba, steckte den Kopf durch das Luk, in das die Leiter mündete. »Was ist los mit dir? Du schreist, als würdest du auf dem Spieß … Bei den Göttern, Mann! Wie siehst du denn aus?«

Kolja streckte ihm seine verbliebene Hand entgegen, doch Nabor war noch immer unfähig, sich zu bewegen. Sein ganzer Körper zitterte. Er musste die Angst bezwingen, die dieses grässliche Ungeheuer hinter der Scheibe nur noch weiter nährte!

»Deine Hand, verdammt! Reich mir deine Hand!«

Nabor konnte nicht.

Fluchend kam Kolja die Leiter hinab, schlang ihm seinen gesunden Arm um den Leib und schob ihn hoch. Er hätte sich festhalten sollen. Hätte helfen sollen, Nabor wusste das, aber er konnte einfach nicht. Knirschend lösten sich seine Stiefel vom hölzernen Boden der Aussichtskanzel. Die Sohlen waren festgefroren. Er hatte kein Gefühl mehr in seinen Füßen, und als er die Zehen krümmen wollte, gehorchten sie ihm nicht. Es war, als wären sie gar nicht mehr da.

Endlich schaffte Kolja es, ihn durch das Luk zum untersten Frachtdeck zu schieben. Nabors Atem ging immer noch hechelnd. Tränen standen ihm in den Augen. Er schämte sich für seine Hilflosigkeit.

Der hünenhafte Drusnier stieg durch das Luk und sah verächtlich auf ihn herab. »Reiß dich zusammen, Mann! Was ist los mit dir?«

Nabor schüttelte nur den Kopf. Da traf ihn eine schallende Ohrfeige.

»Komm zu dir!«, schimpfte Kolja.

Statt zu reden, drückte Nabor nur seinen kleinen Affen. Gabott war ganz steif. Sein Fell struppig. Auch er war völlig ausgekühlt. Der Lotse strich ihm über den Rücken. »Es wird alles wieder gut. Das Ungeheuer ist fort. Hier im Wolkenschiff sind wir in Sicherheit. Es kann uns nichts tun.«

»Du sollst mit mir reden und nicht mit diesem verfluchten Affen!«, grollte Kolja.

»Da war ein Ding, draußen vor den Scheiben …«, begann Nabor stockend. »Ein Geist mit Krallenhänden. Ein Lebensdieb. Ein Aufhocker oder Wiedergänger. Ein Sturmgeist … Er wollte ins Schiff hinein.«

Der narbengesichtige Krieger ging neben ihm in die Knie und sah ihn ernst an. »Du siehst wirklich aus, als hättest du einen Geist gesehen. Du bist weiß wie Neuschnee.« Er zog die Narbenwülste zusammen, die seine Brauen ersetzten. Dann streckte er die Hand nach Gabott aus. »Der Affe ist tot.«

Nabor schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Das Ding ist nicht durch das Glas gekommen. Es hat uns nicht berührt. Es geht ihm gut.«

»Er hat dir den Wanst vollgeschissen, als er gestorben ist. Hast du das nicht gemerkt?«

»Es geht ihm gut!«, wiederholte Nabor aufgebracht.

Kolja packte das Äffchen und riss es an sich. »Sieh ihn dir an! Der ist stocksteif. Komm zu dir, verdammt!«

Gabotts Augen waren von Raureif überzogen. Nabor schluchzte. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sieben Jahre hatte das kleine Äffchen ihn bei seinen Reisen über die Himmel Nangogs begleitet. Unzählige Stunden der Einsamkeit in den gläsernen Lotsenkanzeln unter den Wolkenschiffen hatte Gabott mit ihm geteilt. Wie konnte es sein, dass er tot war? War sein kleines Herz vor Furcht zersprungen?

Nabor dachte an den Schatten der Krallenhand. Er war auf den kleinen Affen gefallen. War das genug gewesen, um Gabotts Leben auszulöschen? Und hätte der Affe nicht auf seiner Brust gekauert und der Schatten wäre über sein Herz hinweggeglitten, würde er dann tot in der Lotsenkanzel liegen?

»Der Sturm lässt nach«, sagte Kolja leise.

Es stimmte. Der unheimliche Gesang des Windes in der Takelage war fast verstummt.

»Die Geister ziehen davon.« Nabor nahm dem Drusnier den kleinen Affen ab und drückte ihn sich an die Brust. »Für heute sind sie fort. Aber sie werden wiederkommen. Wir sind zu weit nach Norden geflogen. Dieser Himmel ist nicht für Menschen geschaffen. Wir sollten umkehren.«

Kolja seufzte. »Das wird Barnaba nicht gerne hören.«

Wanu

Barnaba schlug sich die Arme vor die Brust. Trotz des langen Pelzmantels, den er übergestreift hatte, drang ihm die Kälte des Himmels bis ins Mark. Das Wolkenschiff war in einen fliegenden Eispalast verwandelt. Spröder Raureif hatte das Deck und die Reling überzogen, die Taue, ja, selbst die Tentakel des Wolkensammlers, die das Schiff umschlungen hielten. Hunderte Eiszapfen hingen von der Takelage. Sobald der Wind auffrischte, wurde der Weg über Deck zum Rumpf zu einem tollkühnen Abenteuer. Jeden Augenblick konnten sich Eiszapfen lösen und in senkrechtem Sturz die Wolkenschiffer durchbohren wie Speere.

Anfangs hatten sie noch gegen die Eiszapfen angekämpft. Barnaba hatte Schiffer hinauf in die Takelage gehetzt, um sie loszuschlagen. Aber nachdem drei Mann verunglückt waren, hatte er aufgegeben. Jetzt musste jeder, der über Deck ging, von einem Schildträger begleitet werden. Sein Schildträger war der mürrische Drusnier Kolja. Ihm schien die Kälte nicht viel auszumachen. Er erzählte gerne von den Wintern seiner Heimat und dass dort in einer einzigen Nacht so viel Schnee fallen konnte, dass die Türen der Häuser sich nicht mehr öffnen ließen und man durch den Rauchabzug im Giebel steigen musste, um hinauszugelangen. Barnaba war sich nicht sicher, ob er das glauben sollte. Der Priester spürte, dass der einarmige Krieger etwas vor ihm verbarg. Aber Barnaba vertraute auf den Schutz der Grünen Geister, der Göttin und des Wolkensammlers, der sie so weit nach Norden getragen hatte, obwohl auch er die Kälte und die eisigen Winde fürchtete.

Der Priester blickte zum Horizont. Bald schon würde es wieder dämmern. Die Tage hier im Norden waren viel zu kurz. Irgendwo nördlich von hier lag der Abgrund, in dem er das Traumeis finden würde. Es würde die ganze Welt verändern. Er durfte jetzt nicht nachgeben. Nur ein einziges Mal mussten sie diese Reise schaffen! Er würde ein paar hundert Kristalle ernten, und dann würde er Nangog in ein Paradies verwandeln. Die Menschen und die Kreaturen der Riesin könnten in Eintracht nebeneinander leben. Und die Devanthar und ihre Handlanger, die Unsterblichen, würden für immer von hier verbannt werden.

Wehmütig dachte er an Ikuška. Er hatte sein Paradies gefunden und das Glück, das ihm widerfahren war, für einen Traum gehalten. Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen, wenn er an die wunderschöne Xana dachte und daran, wie sie von den Schergen des Unsterblichen Aaron ermordet worden war. Aaron stürzen zu sehen, dafür würde er jeden Preis zahlen.

Die Tränen gefroren in seinem Bart, so wie sein Atem das dichte Haar mit weißen Eiskristallen überzog. Nun war nicht die Zeit, alte Wunden zu beweinen! Er musste vorangehen. Und dazu brauchte er den Lotsen, der ganz vorne im Rumpf stand und über das verschneite Land tief unter ihnen blickte. Barnaba beobachtete den Alten voller Misstrauen. Nabor weigerte sich, wieder in seine gläserne Kanzel unter dem Schiffsrumpf zu steigen, und das alles wegen eines toten Affen, der auf den Armen seines Herrn erfroren war. Er hätte den Lotsen nicht für so abergläubisch gehalten! Nabor war zwar eigenwillig, aber bislang doch stets vernünftig gewesen. Er hatte sich überreden lassen, dieses fremde Wolkenschiff zu übernehmen, und hatte sie zwar murrend, aber doch sicher in den hohen Norden gebracht. Nabor wusste, wie einzigartig dieses Reise war, und gewiss wollte auch er insgeheim seinen Teil am Ruhm dieses Unternehmens.

Barnaba stellte sich neben den Lotsen, der, die Arme vor der Brust verschränkt, bewegungslos verharrte. Kolja, der mit ihm Schritt gehalten hatte, schirmte ihn mit einem schweren, bronzebeschlagenen Schild gegen die Eiszapfen in der Takelage ab. Schweigend sah der Priester über die Reling. Unter ihnen zogen kleine Wolken wie Schafe über den Himmel, und noch viel tiefer erstreckte sich eine tief verschneite Ebene. Weit im Westen zeigte sich das graue Meer. Die Sonne stand nur noch drei Handbreit über dem Horizont. Allzu schnell würde eine weitere der endlosen Nächte des Nordens beginnen.

»Wann erreichen wir Wanu?«

»Kurz nach Einbruch der Nacht.«

Nabor sah ihn nicht an. Unverwandt blickte er in die Ferne. Seit sein Affe tot war, schien er allen Mumm verloren zu haben. Drei Mal hatte er Barnaba aufgefordert, Befehl zur Umkehr zu geben. Er mochte einfach nicht einsehen, dass sie schon viel zu weit gereist waren, um noch aufzugeben.

»Wie kannst du dir bei dieser eintönigen Landschaft so sicher sein, wo wir sind?«, fragte Kolja.

»Eintönig?« Jetzt drehte Nabor sich doch um. »Das Muster der flachen Hügel verrät mir, wo ich bin. Wind vor regenschwerem Horizont hilft mir, mich zu orientieren, aber ganz unverwechselbar ist das, was dort am Horizont wie eine Nebelbank aussieht. Es ist der Kuñi Unu. Das ist ein Name aus der Sprache der Zapote. Soviel ich weiß, heißt es warmes Wasser. Der Kuñi Unu wird von warmen Quellen gespeist, und er ist der Grund, dass es hier die Stadt Wanu gibt.«

Kolja nickte. »Verstehe, der warme Fluss macht das Leben in der Eiswüste erträglicher. Deshalb haben sie diesen Ort ausgesucht, um hier ihre Stadt zu bauen.«

»Du verstehst es nicht, mein Freund. Die Dinge sind selten so einfach. Auch hier nicht. Die Zapote sind ein seltsames Völkchen. Sie haben auch eine ganz eigene Art von Humor. Das werdet ihr schon noch merken.« Nabor fasste nach seiner Schulter. Ein Muskel unter seinem linken Auge zuckte, als ihm bewusst wurde, was er tat. Dort saß kein Affe mehr, den er streicheln konnte.

Barnaba machte sich Sorgen um den Alten. Ihm war sehr bewusst, dass sie ohne ihn und seinen Einfluss auf Wind vor regenschwerem Horizont niemals an das Ziel ihrer Reise gelangen würden. Er musste ihn nehmen, wie er war, und bei Laune halten. »Du warst schon einmal hier, Lotse?«

Nabor schüttelte den Kopf. Misstrauisch blickte er nach oben. Ein leises Klirren lief durch die Eiszapfen über ihnen. Nabor hatte sich nicht mit einem Schild geschützt. Es schien, als wollte er das Schicksal herausfordern.

»Wind?« Kolja klang gehetzt. Und so fühlte sich auch Barnaba. Wenn eine Bö durch die Takelage fuhr, mochten Hunderte Eiszapfen fallen.

»Es ist Wind vor regenschwerem Horizont. Er schrumpft. Die Kälte macht ihn kleiner. Das Fluggeschirr passt nicht mehr richtig.« Wieder griff der Alte geistesabwesend nach seiner Schulter. »Unter anderen Umständen würde ich befehlen, die Seile zu straffen, aber so wie die Dinge stehen, sollten wir davon wohl Abstand nehmen. Vielleicht können wir in Wanu etwas tun. Wir sollten das Schiff überholen lassen, bevor wir zurückkehren.« Bei den letzten Worten sah er Barnaba herausfordernd an.

»Wohin wir weitersegeln, zeigt sich dann«, entgegnete der Priester ruhig. »Du wolltest uns mehr von dieser Stadt erzählen?«

»Wie Wanu so ist, zeigt sich dann, wenn wir dort ankommen«, wiederholte Nabor sarkastisch.

»Du magst mich nicht?«, fragte Barnaba geradeheraus.

»Es ist ein Fehler, noch weiter in den Norden zu segeln. Du hast mir gesagt, dort, wo du hinwillst, seien die Träume Nangogs gefroren. Das hörte sich an wie ein Märchen … Wenn es aber stimmt, dann werden diese Kälte weder Mensch noch Tier überleben. Dein Ehrgeiz wird alle hier an Bord töten.«

Barnaba legte seine Hand auf die dick von Eis überkrustete Reling. Er spürte die Wurzel des Schiffsbaums, die durch das Holz gewachsen war. Der Baum hatte in den letzten Tagen all seine Blätter verloren. Er stellte sich auf den Winter ein, der ihn inmitten des Sommers ereilt hatte. Und durch den Baum spürte Barnaba Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer. Der Priester musste lächeln. Selbst das war noch eine Kurzform des wirklichen Namens des Wolkensammlers. Er kannte ihn. Hatte in ihm geträumt, war von ihm geheilt worden. Er wusste, Wind vor regenschwerem Horizont würde ihn bis an sein Ziel bringen, auch wenn Nabor sich das nicht vorstellen konnte. Selbst jetzt, wenn er die Wurzel in der Reling berührte, konnte er die stille Zustimmung der riesigen Kreatur spüren. Wind vor regenschwerem Horizont hatte die Notwendigkeit akzeptiert, das Traumeis zu finden, koste es, was es wolle.

Barnaba spürte, wie der Wolkensammler sank. Bald schon glitten sie durch die wenigen Wolken. Die Eiswüste lag vielleicht noch zweitausend Schritt unter ihnen. Schnell breitete die Nacht ihre weiten Flügel über den Horizont. Im westlichen Abendrot erkannte der Priester zwei Ankertürme. Das war wenig, auch für eine kleine Stadt.

Träge glitten die Nebelschwaden über den Kuñi Unu. Barnaba konnte darunter kaum das dunkle Wasser erkennen. Dafür entdeckte er eine feine, schlammfarbene Linie, die sich in weitem Bogen von den Ankertürmen hin zum Fluss schwang und an seinem jenseitigen Ufer weiter nach Osten führte. »Eine Straße?«, sagte er halblaut.

»Sie führt zu einem Weltentor«, antwortete Nabor knapp.

»Ich dachte, alle Wege führen durch das Tor in der Goldenen Stadt«, mischte sich Kolja ein, der immer noch den schweren Schild hochhielt.

»Fast alle.« Nabor wollte erneut nach seiner Schulter greifen, doch diesmal wurde er sich bewusst, was er tat, und zupfte verlegen mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nasenspitze, als wäre dies das Ziel seiner unruhigen Hand gewesen. »Einige wenige Orte liegen zu weit abseits der Karawanenrouten, schiffbarer Seewege oder der weiten Himmelsstraßen der Wolkensammler. Zu ihnen haben die Götter Tore geöffnet. Wanu ist so ein Ort. Normalerweise kommen Wolkensammler nicht hierher, deshalb gibt es nur zwei Ankertürme. Und doch ist die Stadt von größter Bedeutung für die Zapote. Alle Bergstämme müssen Arbeiter stellen, die hierhergebracht werden, um das Weiße Gold zu ernten.«

»Weißes Gold?« Kolja wirkte plötzlich überaus interessiert.

»Ich glaube nicht, dass du dir daran die Hände schmutzig machen würdest«, entgegnete der Lotse hintersinnig lächelnd und hüllte sich wieder in Schweigen.

Ihr Flug dauerte noch mehr als eine Stunde, und die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, als sie schließlich am südlichen der beiden Ankertürme anlegten. Der dunkle Ruf von Muschelhörnern hieß sie willkommen. Dutzende Fackeln waren auf den Querstreben des Turms entfacht worden, und ein grauhaariger Krieger in einem leuchtend roten Federmantel hieß sie auf dem obersten Absatz der Treppe willkommen, die sich in weiten Spiralen entlang der Außenmauer des Ankerturms hinabwand.

Als Barnaba als Erster über eine breite Laufplanke das Schiff verließ, bemerkte er, in welch schlechtem Zustand die Fangarme des Wolkensammlers waren. Deutlich waren Frostbeulen zu erkennen. Die Tentakel schlangen sich nur langsam um die dicken Querbalken, die aus den Seiten des Gemäuers strebten. Ganz offensichtlich litt Wind vor regenschwerem Horizont Schmerzen.

»Es ist selten, hier im Norden Besuch zu bekommen«, begrüßte ihn der Rotmantel in überraschend gutem Luwisch. Mit einer Geste forderte er Barnaba und seine Mannschaft auf, die Treppen hinabzusteigen.

»Du weißt, wer wir sind?« Misstrauisch folgte Barnaba ihm. Erwarteten ihn auch hier schon die Schergen der Unsterblichen? Konnte es sein, dass die Nachrichten über ihn schon bis zu diesem entlegenen Außenposten gelangt waren?

Der Zapote grinste ihn an. »Eure Bärte. So sehen nur Luwier oder Männer aus Aram aus.«

Barnaba strich sich über den eisverkrusteten Vollbart und nickte. »Wohl wahr.«

»Bringt ihr Decken?«

»Nein.«

Der Zapote hielt einen Moment inne. »Ihr seid nicht zum Handeln gekommen? Wir hätten Robbenfleisch und Felle. Den Tran brauchen wir selbst.«

Barnaba blieb stehen und hob entschuldigend die Hände. »Wir sind keine Händler.«

»Weitergehen«, zischte der Zapote. »Ihr habt eine ungünstige Zeit gewählt. Wir müssen schnell den Turm hinab. Hinter feste Wände.« Besorgt blickte er zu den Fackeln zurück, die sich im sanften Abendwind neigten.

»Wird ein Sturm aufziehen?«

Der Rotmantel winkte ab. »Kein Sturm. Sie kommen. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang bläst in dieser Jahreszeit der Nordwind. Und sie reiten auf ihm – die Geister des Nordens. Man sollte nicht draußen sein, wenn sie kommen. Ihre Berührung bringt den Tod. Weder warme Mäntel noch Rüstungen schützen vor ihnen.«

Nabor hatte also keinen Unsinn zusammengesponnen! Jetzt erst fiel Barnaba auf, wie angespannt alle wirkten. Die Fackelträger, Wachen und Lastenträger, die auf den Querbalken des Turms standen und ihrer Befehle harrten. Sie alle blickten immer wieder nach Norden. Manche machten verstohlen das Zeichen des schützenden Horns.

»Man kann sie nicht aufhalten?«

»Sie mögen Feuer nicht. Leider ist Holz hier ziemlich knapp, und so zwingen sie uns dazu, wie Ratten zu leben.« Der Zapote zog die Nase hoch und spuckte an der Außentreppe vorbei in die Finsternis. »Als wäre es hier in Wanu nicht schon schlimm genug.«

Barnaba verstand nicht, was der verbitterte alte Krieger meinte, aber er fragte auch nicht nach. Schweigend und schnellen Schrittes eilten sie die Stufen hinab. Sie erreichten einen weiten Platz, bedeckt mit zertrampeltem, eisüberkrustetem Schnee, der jeden Schritt mit einem mürrischen Knirschen begleitete. Die flachen Häuser am Platz wirkten verlassen. In keinem Fenster brannte ein Licht. Aufgegebene Zelte waren unter der Last des Schnees auf ihren Planen zusammengestürzt.

Der Zapote führte sie zu einem Haus, das vielleicht einmal ein Palast gewesen war. Bärte aus mannslangen Eiszapfen hingen von den vorkragenden Dächern. Das weite Eingangsportal war halb hinter einer Schneewehe verschwunden. Sie umrundeten die mächtigen Mauern und erreichten einen Abstieg zum Keller. Ein Hügel aus aufgeworfenem Schnee schützte den Eingang vor dem Wind. Sand war auf die breiten Stufen gestreut. Rauch zog zu ihnen hinauf und brannte Barnaba in den Augen. Als sie das Ende der Treppe erreichten, blickten sie auf ein loderndes Feuer. Der alte Zapote ging unbeirrt darauf zu und setzte mit einem Sprung über die Flammen hinweg. Dann drehte er sich um. »Kommt! Das ist der einzige Wall, der uns vor den Schrecken der Nacht schützen kann. Nur hier seid ihr in Sicherheit.«

Zögerlich näherte sich Barnaba dem Feuer. Jenseits der Flammen entdeckte er einen halbnackten Mann mit grässlich tätowiertem Gesicht, der sich eine Knochennadel durch die Nase gestoßen hatte. Er tunkte ein Bündel aus langen Schwungfedern in ein Fass und schwenkte es über die Flammen, die zischend Kapriolen schlugen. Dabei rief er laut in seiner Muttersprache irgendwelche Beschwörungen.

Hinter Barnaba drängten sich etliche Männer auf der Treppe zum Keller. Unerfreutes Murren und leise gemurmelte Flüche ließen ihn schließlich durch die Flammen springen. Kurz tastete ihr heißer Atem nach seinem Gesicht, dann landete er sicher neben dem Tätowierten.

Sein Führer im roten Federmantel bedeutete ihm, ein paar Schritte nach vorn zu machen, damit die anderen folgen konnten. »Hier kannst du mit deiner Mannschaft die Nacht verbringen, Himmelsreisender. Die Götter müssen euch lieben! Anders ist nicht zu erklären, dass ihr es bis hierher geschafft habt.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, führte ihn der alte Krieger tiefer in den Gewölbekeller hinein, der offensichtlich früher einmal als Lagerraum genutzt worden war. Ein seltsamer Geruch hatte sich in den unregelmäßigen, weißen Wänden festgesetzt. Die Gewölbe schienen direkt aus dem Gestein geschlagen zu sein.

Schließlich erreichten sie eine geräumige Nische, in der eine Öllampe brannte, über deren kleiner Flamme ein schmieriger, schwarzer Rauchfaden aufstieg. Bunte Decken lagen dort, und eine Schale mit salzüberkrustetem Fisch stellte wohl ihr Abendmahl dar.

Der Zapote bedeutete ihm, sich niederzulassen. Barnaba setzte sich und sah zu, wie auch seine Männer in den Wandnischen des weiten Kellers Platz nahmen. Die Zapote, die in dem Keller Zuflucht gesucht hatten, beachteten sie kaum. In bunte Decken gehüllt, kauerten sie entlang der Wände, starrten vor sich hin oder schliefen. Kaum einer sah zu ihnen auf. Es waren weit über hundert Männer.

Kolja ließ sich unaufgefordert neben Barnaba nieder und griff nach der Schale mit dem Fisch. Ihr Gastgeber bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wollte gerade etwas sagen, als Barnaba die Hand hob. »Bitte sei nachsichtig mit ihm. Er ist Drusnier.«

Der alte Krieger gab einen grunzenden Laut von sich.

»Er ist mein Leibwächter. Er hat geschworen, nicht von meiner Seite zu weichen.«

Bei diesen Worten blickte Kolja auf und schenkte dem Zapote ein herausforderndes Lächeln.

Barnaba griff nach einer der Decken aus kratziger Wolle. »Danke für deine Gastfreundschaft …« Er sah den Alten an.

»Chullunku Walla«, entgegnete dieser. Nun ließ auch er sich nieder. »In deiner Sprache heißt das so viel wie Krieger aus dem Eis. Wie die meisten Männer hier komme ich aus den Bergprovinzen Zapotes, und ich fürchte, es war mein Name, der mir die zweifelhafte Ehre einbrachte, der Statthalter in dieser Stadt im ewigen Eis zu sein.« Er nahm eines der Fischstücke und reichte es Barnaba.

Der Priester versuchte, die leicht gelbliche Salzkruste zu ignorieren, und biss einfach hinein. Als er auf dem zähen Fisch kaute, hatte er das Gefühl, seine Zunge müsse verdorren. Jeder Tropfen Speichel wurde von dem Salz gebunden, und er vermochte kaum zu schlucken.

Chullunku reichte ihm eine Kürbisflasche. »Trink das.« Er lächelte. »Fisch muss schwimmen.«

Das Gebräu war wie flüssiges Feuer. Aber es tilgte den Salzgeschmack. Mit einiger Überwindung aß Barnaba weiter. Als er das Fischstück hinunter hatte, nickte Chullunku anerkennend. Kolja schien weniger Schwierigkeiten zu haben. Er nahm sich gerade ein zweites Stück und winkte nach der Kürbisflasche.

»Dein Leibwächter führt sich auf, als wäre er ein großer Herr.«

»Das Privileg der Krieger. Er ist gut.«

»Gut darin, sich schlagen zu lassen? Er sieht aus, als hätte er eine Menge abbekommen.«

»Weniger als die Männer, die mich herausgefordert haben«, sagte der Drusnier schneidend.

Legte der alte Zapote es etwa darauf an, sich mit Kolja zu prügeln? Barnaba hatte in seinem Leben genug Beispiele für absurden Kriegerstolz gesehen, um beunruhigt zu sein. »Du fragst dich sicherlich, warum wir hier sind, Chullunku.«

»Stimmt«, entgegnete er, ohne Kolja aus den Augen zu lassen.

Barnaba hatte den ganzen Weg darüber nachgesonnen, was er antworten sollte, denn die Frage nach dem Grund ihrer Reise war unausweichlich. Er hatte zwischen dreisten Lügen und einer Geschichte geschwankt, die der Wahrheit zumindest nahe kam. Niemals könnte er sich als Priester der Göttin Nangog vorstellen. Jeder halbwegs loyale Diener der Unsterblichen hätte gar keine andere Wahl, als sein Feind zu sein. Und die Zapote waren nicht gerade dafür berühmt, zögerlich zu sein. Es musste also eine Halbwahrheit sein …

»Wir sind auf einer Schatzsuche. Der Unsterbliche Aaron schickt uns.«

»Der Unsterbliche Aaron?«

Kolja verdrehte die Augen, als hätte er Chullunku gerade etwas Falsches gesagt.

»Der Aaron, der die Tempel meines Volkes in der Goldenen Stadt angreifen ließ?« Chullunku schnaubte. »Ich dachte, ihr wärt Händler. Ich hätte euch draußen auf dem Wolkenschiff lassen sollen, als Fraß für die Sturmgeister.«

»Wir werden weiter nach Norden reisen«, sagte Barnaba so leise, dass es außer Kolja keiner seiner Männer hören konnte. »Wenn ich deinen Worten glaube, werden wir ohnehin alle sterben. Du kannst ja behaupten, du hättest uns nicht gewarnt und in den Tod geschickt. Vielleicht würde es deinen Priestern gefallen, das zu hören.«

»Ganz sicher würde es das. Doch du hast Glück, Himmelsreisender, noch höher schätzen wir hier das Gesetz der Gastfreundschaft. Ihr werdet heute mit allem versorgt. Und ich wünsche, dass ihr morgen sehr früh aufbrecht.«

Barnaba nickte und nahm noch ein Stück Salzfisch. Schweigend kaute er vor sich hin und betrachtete die winzige, tanzende Flamme der Öllampe.

»Wo findet ihr denn das Weiße Gold?«, fragte Kolja nach einer Weile.

Der Zapote legte den Kopf schief und sah den vernarbten Krieger eindringlich an. »Du interessierst dich für das Gold von Wanu?« Ein süffisantes Lächeln spielte um die Lippen des Alten. »Willst du uns helfen, es abzubauen? Du siehst kräftig aus. Auch wenn du nur einen Arm hast, wärst du eine willkommene Hilfe. Wir bringen das Weiße Gold über die Brücke zu einem Weltentor auf der anderen Seite des Flusses. Es ist ein Marsch von zehn Meilen. Wenn die Tage so kurz sind, ist das gefährlich. Wir müssen das Tor vor Einbruch der Nacht erreichen. Vor drei Monden haben wir eine ganze Karawane verloren.« Er hob die Kürbisflasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. »Ihr solltet nicht weiter in den Norden reisen.« Chullunku sah Barnaba eindringlich an. »Ein Anführer trägt die Verantwortung für das Leben seiner Männer. Kehr um!«

»Wie können du und deine Männer dann hierbleiben?«

»Wir alle sind Freiwillige. Unser Land braucht uns hier.« Er sah wieder zu Kolja. »Wegen des Weißen Goldes. Du hast breite Schultern, Krieger. Wenn du mir drei Monde dienen willst, bekommst du am Ende einen Sack mit so viel vom Weißen Gold, wie du tragen kannst.«

Die Augen des Drusniers weiteten sich.

»Du hast mir geschworen, mit mir nach Norden zu reisen«, erinnerte Barnaba ihn.

»Wenn ich wiederkomme …«, begann Kolja, als plötzlich hinter ihnen eine Stimme ertönte.

»Pass auf, du machst gerade ein Scheißgeschäft!« Nabor, der Lotse, war zu ihrem Lagerplatz gekommen. »Ich hatte dich doch gewarnt, dass Zapote einen eigenwilligen Sinn für Humor haben, du Depp. Schlag bloß nicht ein! Weißt du, was Wanu bedeutet? Es ist das Wort für Vogelscheiße in ihrer Sprache. Ihr Weißes Gold ist nichts als Berge von Scheiße. Schau mich nicht so an. Das ist buchstäblich wahr!«

»Stimmt das?«, brauste Kolja auf.

Chullunku prostete ihm mit der Kürbisflasche zu. »Jedes Wort. Und doch ist Wanu auch unser Weißes Gold. Keine Woche vergeht hier, in der nicht Arbeiter sterben, um es zu gewinnen. Fünfhundert Sack füllen wir jeden Tag. Auch bei Schneesturm oder wenn uns die verdammten Geister bedrohen. Wir kämpfen für Scheiße …« Er begann auf eine Art zu kichern, dass Barnaba sich fragte, ob er noch bei Verstand war.

»Wozu, zum Henker, braucht man Vogelscheiße?«, polterte Kolja los und nahm dem Zapote die Flasche ab.

»Als Dünger, Narbengesicht. Die Felder in den Bergen, dort, wo ich herkomme, geben nicht allzu viel her. Und auch die Böden im Dschungel sind nicht gut. Wenn wir Wanu benutzen, dann bringt ein Feld, auf dem früher zehn Sack Mais geerntet wurden, vierzehn Sack. Es ist das größte Geschenk Nangogs für uns. Einen halben Tagesmarsch entfernt, an der Flussmündung, liegen Felsinseln, auf denen das ganze Jahr über Vögel leben. Im warmen Wasser finden sie reiche Nahrung, und es hält den ärgsten Frost fern. Seit Jahrtausenden kommen die Vögel schon dorthin. Möwen, aber auch komische Viecher, die nicht mehr fliegen können, dafür aber gute Taucher sind. Ihre Scheiße liegt viele Schritt hoch auf den Felsen. Ein Teil meiner Arbeiter fährt dort in Lederbooten hinaus, um es zu ernten. Wusstest du, dass Wanustaub blind macht, wenn man ihn zu oft in die Augen bekommt? Und immer wieder kommt es vor, dass Schnabelwale ihre Boote angreifen. Aber sie halten durch, genauso wie meine Lastenträger. Weil sie hier leiden, stirbt in Zapote niemand mehr vor Hunger.« Er sah Kolja herausfordernd an. »Sag selbst, ist das nicht viel besser als eine Goldmine?«

»Du wolltest mich mit einem großen Sack voll Scheiße bezahlen?«

»Weißes Gold, mein Freund!« Chullunku kicherte erneut. »Weißes Gold! Denk noch einmal darüber nach. Mein Lohn ist viel großzügiger als alles, was der Diener des Unsterblichen Aaron dir zu bieten hat. Wenn du für ihn weiter nach Norden gehst, dann findest du nur den Tod!«

Es war still geworden in dem weiten Kellergewölbe. Der Zapote hatte die letzten Worte so laut gesprochen, dass jeder sie hatte hören können.

»Alles nur Aberglaube«, sagte Barnaba mit fester Stimme. »Es gibt einen tödlichen Feind dort draußen, das will ich nicht leugnen. Es ist die Kälte! Aber dagegen werden wir uns wappnen.« Er wagte es nicht, in Anwesenheit der Zapote von der Großen Göttin zu sprechen. »Ihr werdet Helden sein, wenn wir mit unserem Schatz heimkehren. Und ein jeder von euch wird seinen Anteil vom Schatz bekommen.«

Doch diesmal reichten seine Worte und sein Enthusiasmus nicht, um Angst und Zweifel aus den Gesichtern der Wolkenschiffer zu verbannen. Und wie um ihn zu verhöhnen, ertönte von draußen ein unheimliches Geheul, als der Nordwind ohne Vorwarnung über die Stadt am Ende der Welt herfiel. Barnaba sah, wie sich die Zapote in ihre Decken kauerten, während der Wind am Treppenabstieg jaulte und mit den Flammen im Eingang spielte. Er würde diesen Geistern trotzen, dachte er entschlossen. Nangog beschützte ihn. Er war ihr Auserwählter! Ihm konnte nichts geschehen!

Pfeile im Dunkel

Diesmal würde er landen, entschied Nodon und legte seinem Pegasus Mondschatten sanft die Hand auf den Hals. Der große Hengst verstand, schnaubte aber unruhig. Sie flogen im letzten Abendlicht über eines der Seitentäler jener lang gezogenen Bergkette, in deren Mitte sich der Jadegarten verbarg. Der Ort, den der Erstgeschlüpfte auserkoren hatte, um dort seinen Thron zu errichten. Der älteste der Drachen, sein Gebieter, sehnte sich nach Nachricht über Nandalee. Nodon wusste es, auch wenn der Dunkle ihn nicht beauftragt hatte, nach ihr zu suchen. Die Versessenheit seines Meisters auf Nandalee war Nodon unbegreiflich. Sicher, die rebellische junge Elfe aus den Eiswüsten Carandamons war etwas Besonderes, aber traf das nicht auf jeden einzelnen Drachenelfen zu? Sie alle hatten sich weit von dem Leben entfernt, das die übrigen Elfen führten. Sie wussten um die Geheimnisse der Welten, wussten um das Dunkel hinter der strahlenden Herrschaft der Himmelsschlangen. Wussten um all die Gefahren, die anderen jede Hoffnung auf die Zukunft geraubt hätten.

Mondschatten war eine weite Kehre geflogen, um nun in das enge Tal hinabzustoßen, das Nandalee sich als Versteck erwählt hatte. Fast berührten die Schwungfedern seiner Flügel die dunklen Felswände. Das Licht der Abendsonne reichte nicht mehr hinab bis zum Talgrund. Die Baumkronen waren nur Schattenrisse im Zwielicht. Nodon spürte, wie nervös sein Hengst war. Dies war kein guter Ort, um zu fliegen. Der Pegasus spreizte die Flügel und verringerte so sein Tempo, doch es war kein geeigneter Platz zum Landen zu entdecken. Er würde mindestens zwanzig Schritt freie Fläche brauchen, um auszulaufen.

Vom Grund des Tals erklang ein herausforderndes Wiehern. Das musste Sternauge sein, der große Pegasusrappe, den Nandalee ritt. Er sah in Mondschatten wohl einen Eindringling in sein Revier.

Der Hengst schnaubte nervös. Das Tal verengte sich vor ihnen noch weiter. Mondschatten schlug kräftig mit den Flügeln, um wieder Höhe zu gewinnen, als ein Pfeil zwischen den Baumkronen hervorschoss und Nodons Wange streifte. Der Elf ließ sich nach hinten fallen, rollte über die Kruppe seines Hengstes ab und stürzte den Baumkronen entgegen. Sein Fall währte kaum zwei Herzschläge, als er mit ausgestreckten Armen im dünnen Astwerk der Baumkronen landete. Die splitternden Zweige verlangsamten seinen Sturz. Nodon schaffte es, nach einem dickeren Ast zu greifen. Mit einem Ruck, der ihm fast die Arme aus den Schultergelenken kugelte, endete sein Sturz. Einen Teil der Kraft konnte er in einen Aufwärtsschwung lenken. Er pendelte zurück, stemmte sich hoch und schwang ein Bein über den Ast. Er wagte es nicht zu verharren. Jeden Augenblick könnte ihn ein weiterer Pfeil treffen. Sich nicht mehr zu bewegen erhöhte die Wahrscheinlichkeit deutlich. Seine Arme brannten, seine Muskeln waren gezerrt. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er in die Hocke und eilte den wippenden Ast entlang dem Stamm des Baumes entgegen. Dort ließ er sich tiefer gleiten. Sprang von Ast zu Ast, landete mit einem letzten, federnden Satz auf dem weichen Waldboden und zog sein Schwert. Wer hatte auf ihn geschossen? Ganz gewiss war es nicht Nandalee gewesen. Sie hätte ihn nicht verfehlt!

Nodon duckte sich hinter einen Stamm und spähte ins Zwielicht. Immer noch prasselten Äste und Blätter zu Boden. Er war ein paar Schritt von der Stelle entfernt, an der er in die Baumkronen gefallen war. Ein Stück voraus bewegten sich die Blätter des Königsfarns, der an den lichteren Stellen den Waldboden bedeckte.

Es wurde still. Nodon schob die Klinge seines Schwertes flach in den weichen Waldboden, damit kein verirrter Lichtstrahl den Elfenstahl aufblitzen ließ. Vorhin hatte er Glück gehabt. Er sollte nicht darauf hoffen, dass ihn auch der nächste Pfeil verfehlte.

Der Elf öffnete sein Verborgenes Auge und hoffte, die Aura seines Gegners zu entdecken. Wer war heimlich hierhergekommen, so nah zur Pyramide des Dunklen? Und wen duldete Nandalee, die so viele Wochen jeden Bewohner der Oase gemieden hatte, in ihrer Nähe?

Nodon entdeckte die Auren kleiner Vögel im Geäst. Etwa dreißig Schritt entfernt bewegte sich etwas Großes zwischen den Bäumen. Goldenes Licht umspielte die Gestalt. Das musste Nandalees Pegasus sein.

Vorsichtig, ganz darauf bedacht, keinen Laut zu verursachen, drehte Nodon sich um. Wer immer ihn jagte, würde sich gewiss nicht in der Nähe des Pegasus aufhalten. Stattdessen würde der Angreifer den Hengst nutzen, um ihn abzulenken, und sich aus einer anderen Richtung nähern.

Der Elf flüsterte ein Wort der Macht. Er war ganz in Schwarz gewandet. Der Zauber, den er wob, würde ihn mit den Schatten des Waldes verschmelzen lassen. Er wäre so gut wie unsichtbar – außer für einen Jäger, der wie er sein Verborgenes Auge öffnete, um seiner Beute nachzustellen. Die Aura, das leuchtende Netz aus haarfeinen Kraftlinien, das alles, was lebte, umgab, zu verzerren oder gar ganz verschwinden zu lassen war ungleich schwerer, als mit den Schatten des Waldes zu verschmelzen. Solch einen Zauber zu weben lag außerhalb seiner Macht.

Lautlos schob Nodon sein Schwert zurück in die geölte Lederscheide. Dann huschte er zum nächsten Stamm. Er bewegte sich fort von Sternauge. Der große Hengst stampfte nervös mit den Hufen. Er durfte nicht mehr in seine Nähe kommen. Ganz gleich, wie gut er sich versteckte, Sternauge würde ihn wittern und unruhig werden. So würde er ihn verraten. Nodon entfernte sich gerade noch weiter, als ihm die Idee kam, dass er den Hengst in diesem tödlichen Spiel auch zu seinem Vorteil nutzen konnte.

Er hob einen Ast und schleuderte ihn in Richtung des Pegasus. Es war der älteste Trick der Welt, aber er war so alt, weil er meist klappte. Der Ast schlug ins Gebüsch. Im selben Moment sprang Nodon auf, um sein Versteck zu wechseln.

Ein Schlag, als hätte ihn ein Pferd getreten, traf ihn auf der Brust. Hart schlug er mit dem Rücken gegen den Baum, der ihm eben noch als Deckung gedient hatte. Ein Pfeil hatte ihn eine Handbreit unter dem Schlüsselbein getroffen. Dunkles Blut schoss den Schaft entlang und benetzte die Befiederung. Nodon spürte keinen Schmerz. Noch bewahrte ihn der Schock davor. Der Pfeil hatte ihn gegen den Baumstamm genagelt! Er musste ihn durchbrechen, musste sich befreien …

»Heb deine Hand und du bist tot«, zischte eine Stimme aus dem Dunkel. Sie war voller Hass, und Nodon zweifelte nicht daran, dass der nächste Pfeil sein Leben beenden würde. Er verharrte bewegungslos. Wer war das? Die Stimme klang rau und wild. Doch da war ein vertrauter Unterton.

»Nandalee?«

Ein Schattenriss erschien vor ihm unter den Bäumen. Die Gestalt ging leicht geduckt. Deutlich sah Nodon den Bogen. Ein neuer Pfeil lag auf der Sehne.

»Es gibt keine Nandalee mehr. Sie ist tot.«

Die Stimme klang nicht wie die seiner Gefährtin in Nangog. Etwas Zerbrochenes lag in ihr. So hörte sich eine Stimme an, die den ganzen Tag auf dem Schlachtfeld lauthals Befehle gegeben hatte.

Jetzt kam der Schmerz. Wie flüssiges Feuer lief er durch seinen Leib. Er kämpfte dagegen an zu stöhnen. Nandalee verachtete Schwäche. Was war mit ihr geschehen, dass sie in ihm einen Feind sah? »Ich will dir helfen«, ächzte er gegen den Schmerz an.

Sie hob den Bogen, zog die Sehne durch und schoss.

Nodon riss den Arm hoch. Wäre er nicht an den Baum genagelt gewesen, hätte er dem Pfeil vielleicht ausweichen können. Wäre er vorbereitet gewesen, hätte er einen Zauber gesponnen, der es ihm erlaubte, Geschosse im Flug aus der Bahn zu schlagen. Doch das hier war zu schnell. Zu überraschend. Seine letzte Hoffnung war, dass der Pfeil durch seine vorgestreckte Hand in seinen Arm eindringen würde und er Zeit gewann bis zum nächsten Schuss.

Gleißendes Licht wie von einem Blitzschlag löschte die Dunkelheit. Nodon wurde nicht getroffen, aber er war geblendet. Ein Schauder überlief ihn. Seine Augen tränten. Er war unfähig, etwas zu sehen, doch mit jeder Faser des Leibes spürte er die Anwesenheit eines der großen Drachen. Ein so überwältigender Wohlgeruch umfing ihn, dass selbst der Schmerz zerfloss. Er war einfach nicht mehr da.

Schlagartig verschwand das Licht. Jetzt war es noch dunkler als zuvor.

»Es reicht, Nandalee!«, sprach jene Stimme aus der Finsternis, der Nodon sein Leben gewidmet hatte.

Der Elf hörte das Sirren der Sehne. Sie musste ein weiteres Mal geschossen haben … auf ihn! Ihren Herrn und Gebieter!

Es folgte ein Geräusch, als wäre der Pfeil auf Stein getroffen. Ein scharfes Kreischen von Metall, begleitet von splitterndem Holz. Nodon griff nach dem Schaft des Pfeils, der ihn durchbohrt hatte, und brach ihn durch. Er spürte das Holz durch sein Fleisch gleiten, als er sich vorbeugte. Ein Schwall von Blut schoss aus der Wunde, und ihm wurde schwindelig. Er presste die Hand auf die Verletzung, taumelte und ging in die Knie.

Als er wieder aufsah, stand der Dunkle vor ihm. Er hatte Elfengestalt angenommen, die Erscheinung eines melancholischen Jünglings mit schwarzem Haar. Nur seine Augen waren hart und unerbittlich. Nodon erkannte den Ärger darin und zuckte vor seinem Gebieter zurück. Deutlich spürte er den kaum beherrschten Zorn des Drachen. Er war um ihn herum – in der Luft, in allem, was in diesem Tal existierte. Heiß und versengend. Nodon begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte, denn dieser Zorn richtete sich nicht allein gegen Nandalee, die der Dunkle über der Schulter trug.

Jetzt erst konnte Nodon die Jägerin richtig erkennen. Sie war bewusstlos und sah dennoch zum Fürchten aus: Ihr Körper war – abgesehen von ihrem Bauch – völlig abgemagert, ihre Haare zerzaust und voller Schmutz. Sie stank, hatte sich ganz offensichtlich seit Wochen nicht gewaschen. Das linke Auge war zugeschwollen, die Wange darunter dunkelrot verfärbt. Deutlich sah Nodon die Finger, die sich auf dem Gesicht der Elfe abgemalt hatten. Der Dunkle musste sie geohrfeigt haben. Was war nur mit Nandalee geschehen? War sie wahnsinnig geworden? Natürlich wusste er um ihren Verlust. Aber war das ein Grund, sich so sehr gehen zu lassen?

»Ihr hättet nicht hierherkommen sollen, Schwertmeister. Das war nicht in meinem Sinn. Es hat nicht viel gefehlt und sie hätte Euch getötet.«

Der Tadel des Dunklen schmerzte Nodon mehr als seine Wunde. Er war überzeugt gewesen, im Sinne des Erstgeschlüpften zu handeln. Wie hatte er sich, nachdem er ihm schon Jahrhunderte diente, so sehr irren können?

»Nehmt meine Hand, Schwertmeister!« Er streckte ihm die Linke entgegen. Es war ein Gefühl, als schlösse sich Stein um seine Finger, als der Dunkle ihn ergriff und hochzog. Der alte Drache sprach ein Wort der Macht, und es öffnete sich einer jener magischen Wege abseits des Goldenen Netzes, die nur die Himmelsschlangen erschaffen konnten. Ein einziger Schritt, und sie standen in der halb überfluteten Grotte tief unter der Stufenpyramide im Jadegarten, in der der Erstgeschlüpfte umringt von den Gazala zurückgezogen residierte.

Mit einer harschen Geste entließ der Drachenherrscher ihn. Doch Nodon war kaum in der Lage, aus eigener Kraft zu stehen. Schließlich erbarmten sich zwei der Gazellenfrauen, die dem Herrscher als Orakel dienten, packten ihn unter den Armen und brachten ihn fort aus der stickigen, schwülwarmen Grotte.

Das Tier

Nandalee erwachte in einer Kammer, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie war allein. Der Dunkle hatte nicht ein Wort mit ihr gesprochen, als er sie geohrfeigt und niedergeschlagen hatte. Doch die Kammer vermittelte eine überdeutliche Botschaft. Um ihren Hals lag ein schwerer, eiserner Ring, den eine lange Kette mit einem weiteren Ring in der Wand verband. Eine schwere Eichentür mit einem kleinen, verschlossenen Gitterfenster war der einzige Zugang zu ihrem Gefängnis.

Auf der einen Seite der Kammer lag Stroh auf dem Boden, und in zwei flachen Schalen sah sie Wasser und rohes Fleisch, auf dem Fliegen hockten. Auf der anderen Seite befand sich ein mit weißen Laken bespanntes Bett. Daneben standen ein Tisch und ein Stuhl. Ein Krug neben einem schlichten Becher enthielt vermutlich Wasser. Auf einer flachen Schale lagen Äpfel und Trauben. Ein Teller lockte mit verführerisch duftendem Brot und Käse. Sie konnte sich also aussuchen, ob sie wie ein Tier leben oder in die Zivilisation zurückkehren wollte.

Nandalee kroch in die Ecke mit dem Stroh. Sie würde sich nicht unterwerfen. Sie wollte nie wieder etwas mit den Himmelsschlangen zu tun haben. Das Bett zu nutzen und von den köstlichen Speisen zu essen hieße, wieder eine Drachenelfe zu sein. Da war sie lieber ein Tier! Sie schloss die Augen und rollte sich auf dem Lager aus Stroh zusammen. Nandalee spürte, dass sie beobachtet wurde. War der Dunkle hier? Gab es Gucklöcher in den Wänden? Es war ihr egal.

Der herrliche Duft des Brotes peinigte sie. Sie hatte Hunger. Es war lange her, dass sie ein gekochtes Mahl zu sich genommen hatte. Als sie sich in ihr kleines Tal zurückgezogen hatte, war sie anfangs einfach nur zu erschöpft gewesen, um sich ein ordentliches Essen zu bereiten. Es war weniger körperliche Schwäche, es war ihre Seele, die ermattet war. Sie konnte sich zu nichts aufraffen. Alles war ihr zu viel. So hatte sie sich von Wurzeln und Beeren ernährt.

Nandalee hatte sich auch nicht mehr gewaschen oder ihre Kleider gereinigt. Die meiste Zeit hatte sie einfach nur dagesessen und vor sich hin gestarrt. Ihre Gedanken waren bei Gonvalon. Er hatte sich für sie geopfert. Er musste geahnt haben, dass die Himmelsschlangen sie verraten hatten und ihre Reise nach Selinunt ein Todeskommando war. Weder der Dunkle noch der Goldene hatten sie lebend wiedersehen wollen. Es war ihnen bestimmt gewesen, im Drachenfeuer zu vergehen.

Wäre sie nur bei ihm gewesen! Nichts anderes sehnte Nandalee jede Stunde an jedem Tag herbei, der seitdem vergangen war. Ohne Gonvalon war ihr Leben leer und wertlos. Nie wieder würde sie so geliebt werden! Und wie hatte sie seine Hingabe belohnt? So oft hatte sie Gonvalon mit ihren Launen gequält, während er für sie jedes Opfer gebracht hatte. Er hatte sich gegen seinen Herrn, den Goldenen, gestellt. Ihm war die Würde als Drachenelf genommen worden, die Tätowierung, die ihn mit seinem Meister verbunden hatte. Gonvalon war verstoßen worden, weil er sie nicht hatte ermorden wollen. Und wie hatte sie ihm das vergolten …

Nandalee kämpfte gegen das Gefühl an, dass ihre Kehle zu eng wurde, um noch atmen zu können. Sie weinte schon lange nicht mehr, sie hatte all ihre Tränen vergossen. Aber der Schmerz hatte nicht nachgelassen. Gonvalon verloren zu haben hatte eine Wunde in ihr Herz gerissen, die nie wieder heilen würde.

Erneut öffnete sie die Augen und blickte zu den Wänden. Sie war sich sicher, dass er hier war. Sie wusste um seine Leidenschaft, und sie spürte seine Macht. Natürlich brauchte er kein Loch, verborgen zwischen den Fugen des Mauerwerks. Er könnte durch die Wand sehen, wenn er es wollte. Er spürte, was sie fühlte, da war sich Nandalee ganz sicher. Sie waren einander zu nahe gewesen, als er das Bild in ihren Rücken gestochen hatte. Es war eine Orgie aus Schmerz und Lust gewesen. Nie hatte sie etwas Vergleichbares erlebt. Gonvalon war zu klug gewesen, um nach diesen Nächten zu fragen, von denen Nandalee nicht wusste, wie viele es gewesen waren. Unten in der Grotte unter der Pyramide gab es weder Tag noch Nacht. Nur schwüle Hitze und Fackelschein und seine Macht, von der alles dort unten durchdrungen war.

Sie griff nach dem eisernen Halsband. Glaubte er, sie sei so leicht zu halten? Nandalee schloss die Augen und schob beide Daumen unter den Ring. Er saß sehr lose, scheuerte nicht. Sie sprach ein Wort der Macht, um ihn zu zerbrechen. Sie stellte sich vor, wie sich Rost durch das dicke Eisen fraß, bis es so spröde war, dass sie es mit einem Ruck auseinanderreißen konnte.

Die Elfe legte all ihre Macht in den Spruch. Sie spürte, wie das Metall unter ihren Fingern warm wurde. Und dann zog es sich zusammen. Erschrocken ließ sie los. Ihre Hände waren rot vom Rost, der sich gebildet hatte. Doch er hatte sich nicht tief in das Metall gefressen, sondern war nur an der Oberfläche aufgeblüht.

Der Dunkle musste einen Zauber auf den Eisenring gelegt haben, der ihn jedes Mal, wenn sie versuchte, sich zu befreien, ein wenig schrumpfen ließ.

In jenen Stunden in seiner Grotte hatte er eine animalische Saite in ihr zum Schwingen gebracht. Nandalee hatte nicht einen Augenblick lang an Gonvalon gedacht, während sie sich dem Dunklen hingegeben hatte. Erst später war die Reue gekommen.

Ein Krampf tief in ihren Eingeweiden ließ sie zusammenzucken. Es fühlte sich an, als würde etwas an ihrem Innersten kratzen. Hunger! Viel zu oft hatte sie die einfachsten Bedürfnisse ihres Körpers missachtet. Sie blickte auf die Schüssel mit dem rohen Fleisch, dann sah sie wieder auf und lächelte. Er sollte mit ansehen, was er aus ihr gemacht hatte. Sollte mit ihr leiden.

Sie verscheuchte die Fliegen vom Fleisch und nahm sich einen Klumpen. Ohne den Blick von der gegenüberliegenden Wand zu wenden, begann sie zu essen. Nein … essen konnte man das nicht nennen. Gierig schlug sie ihre Zähne in das blutige Fleisch und schlang es fast ohne zu kauen hinunter.

Der Schmerz in ihren Eingeweiden ließ nach.

»Sieh, was du aus mir gemacht hast«, flüsterte sie. Er konnte von ihren Lippen lesen. Sie musste nicht laut werden. »Ich wäre für immer auch die Deine gewesen, wenn du mir Gonvalon nicht genommen hättest. Was ohne ihn von mir geblieben ist, willst du nicht haben.«

Der Dritte

Vorsichtig schob Nodon die kleine Blende vor dem Gitterfenster in der schweren Holztür zur Seite. Er sollte nicht hier sein. Außer einigen Gazala und dem Dunklen hatte niemand Zutritt zum Kerker Nandalees.

Die Jägerin musste ihn bemerkt haben. Mit hasserfüllten Augen sah sie zur Tür. Dann nahm sie einen der rohen Fleischklumpen und begann, wie ein Tier zu fressen. Das hatte sie jedes Mal getan, wenn er gekommen war. Was ging nur in ihr vor? Was hatte ihren Verstand zerstört? Hatte sie zu sehr geliebt?

Der Dunkle hatte sie angekettet wie ein Tier, aber sie hätte das Bett benutzen können, die Waschschüssel … War das ihre Art, den Erstgeschlüpften zu bestrafen? Und wie lange würde dieses unsinnige Duell andauern?

Der Schwertmeister konnte es nicht ertragen, Nandalee auf diese Art zu sehen. Er öffnete sein Verborgenes Auge, und der Blick auf die magische Welt tilgte, was ihm seine Augen zeigten. Nandalees Aura glühte rot. Ungebändigter Zorn regierte sie. Und er durchdrang auch die kleinen Auren. Sie trug Drillinge in ihrem Leib! Drillinge!

Sie waren unschuldig. Ihre Aura hätte golden sein sollen, doch der Zorn ihrer Mutter hatte schon auf sie übergegriffen. Statt Gold sah er einen dunklen Kupferton. Die Auren der Kinder waren von ungewöhnlicher Stärke. Sie hatten jetzt schon Macht. Sie würden bedeutende Zauberweber werden. Doch da war noch etwas, das er nicht zu deuten vermochte. Es haftete ihnen ein Makel an. Gewiss, er hatte in seinem Leben nicht viele Schwangerschaften beobachtet. Aber hier schien die Harmonie gestört. Es sah aus, als würden die Kinder gegen ihre Mutter ankämpfen. Und als würden sie das wissen … Aber sie konnten doch noch keinen Verstand haben, oder?

Spürten sie vielleicht, wie ihnen Nandalees Zorn ihre Unschuld nahm? Oder trugen sie auf rätselhafte Weise zu diesem Zorn bei? Er hatte eine Koboldschamanin einmal über Schwangerschaftswahn reden hören. Manche Frauen waren nicht dazu geschaffen, Kinder auszutragen. Galt das auch für Nandalee?

Nodon sah zu Firaz, der blinden Gazala, die heute als Wache bei Nandalees Kerker eingeteilt war. »Hast du sie dir angesehen?«

Die Seherin blickte mit ihren blinden Augen zu ihm auf. Sie kauerte an der Außenwand des Kerkers und genoss die Sonne. Lange, in Spiralen gedrehte Hörner krümmten sich über ihren Kopf hinweg zum Rücken hin. Ihr Oberkörper und ihr Gesicht waren elfenähnlich. Die Beine aber waren die von Gazellen. Wenn sie sich aufrichtete, überragte sie ihn. Der Blick der blinden Augen war Nodon unangenehm. Wie hatte er sie fragen können, ob sie Nandalee angesehen habe?

»Ich meine …«, begann er.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Im Gegenteil. Schön, dass du einen Moment lang vergessen konntest, dass ich ein blinder Krüppel bin. Ich habe sie durch mein Verborgenes Auge gesehen. Ihr Zorn wird sie und die Kinder zerstören.«

»Aber …« Nodon war schockiert, wie unbeteiligt Firaz klang. »Ist dir das egal? Hast du ihr das gesagt? Weiß der Dunkle darum?«

»Ich bin eine Seherin, Nodon. Ich nenne die Dinge ungeschönt beim Namen. Das allein genügt schon, um sich viele Feinde zu machen. Ich greife niemals ein. Der Erstgeschlüpfte hat selbst gesehen, was dort geschieht. Ich kann dir nicht sagen, warum er nichts unternimmt. Es scheint, als wäre es eine Art Zweikampf zwischen den beiden. Ich habe ihn nie so aufgewühlt und unbeherrscht erlebt wie in der Nähe dieser Elfe. Sie tut ihm nicht gut. Es ist besser, wenn sie und ihre Kinder sterben.«

Nodon war sprachlos. Das war mehr Offenheit, als er gewollt hatte.

Firaz lächelte. Sie musste seiner Aura angesehen haben, welche Wirkung ihre Worte auf ihn gehabt hatten. »Entschuldige, ich habe längst alles Gefühl für die Gegenwart verloren. Das ist der Preis dafür, wenn man die Zukunft sieht. Nandalee ist gefährlich, Nodon. Sieh dir ihre Aura an! Sie ist ein loderndes Feuer. Wer ihr nahe ist, der verbrennt. Selbst ihre eigenen Kinder. Sie kann sich niemandem unterwerfen. Sie begehrt gegen jede Ordnung auf! Wenn sie überlebt, dann wird sie die Ordnung der Welt, wie wir sie kennen, zerstören. Der Dunkle hat mir verboten, zu anderen über die Zukünfte, die ich sehe, zu sprechen. Aber glaube mir, unsere Welt wird Asche sein, wenn Nandalee lebt. Sie wird die Herrschaft der Himmelsschlangen zerbrechen, und die Menschenkinder werden nach Albenmark kommen, um das Banner eines toten Baumes zu hissen, den sie anbeten, als wäre er ein Gott.«

»Die Menschen kommen nach Albenmark?« Das konnte Nodon sich nicht vorstellen. Diese unvollkommenen, schwächlichen Kreaturen. »Wie sollten sie die Albenkinder je besiegen?«

»Erst müssen wir uns selbst besiegen. Sie werden kommen, wenn es keine Himmelsschlangen mehr gibt, die Albenmark schützen. Und auch keine Drachenelfen mehr.«

Sie hatte zu viele Zukünfte gesehen, dachte Nodon ärgerlich. Firaz war verrückt! Er wandte sich ab und sah erneut durch das kleine, vergitterte Fenster. Nandalee krümmte sich, als hätte sie Schmerzen. Da war Blut im Stroh. Bei den Alben! Er griff nach dem Riegel. Und wenn es ihn den Kopf kostete, er würde nicht einfach nur zusehen. »Ruf den Dunklen! Es geht ihr schlecht! Schnell!«

»Er wird es wissen«, entgegnete die Gazala ruhig. »Sie ist eine Drachenelfe. Er weiß um euch alle. Auch, dass du gerade seine Befehle missachtest.«

Nodon schob den Riegel zurück. Ihm waren die Befehle egal. Er war mit Nandalee auf Nangog gewesen und hatte gegen die goldköpfige Schlange gekämpft, gegen Jaguarmänner und Adlerritter. Er hatte an ihrer Seite das schreckliche Beben überlebt, das die Goldene Stadt in ein riesiges Feld aus zerbrochenem Gestein verwandelt hatte. Er würde jetzt nicht drei Schritt von ihr entfernt vor einer verschlossenen Tür stehen bleiben und zusehen, wie sie blutete.

»Und wenn sie mit deinem Mitleid rechnet, Nodon? Wenn es nur ein Trick ist, um sich zu befreien?«

Er riss die Tür auf.

Nandalee presste sich jetzt beide Hände auf den Unterleib. Dabei krümmte sie sich vor Schmerzen. Nodon wusste, wie man Verwundete auf dem Schlachtfeld versorgte. Aber das hier … Plötzlich verlor das Licht, das durch die Tür fiel, seine Strahlkraft. Nur ein Wimpernschlag, und der Dunkle kniete neben ihr. Er zog ihre Hände zur Seite. Die Luft in der Kammer begann zu vibrieren, als er ein Wort der Macht rief.

»Du wirst ihnen nichts tun!«, schrie Nandalee. »Rühr sie nicht an!« Sie schlug ihm ins Gesicht. Er ignorierte es.

»Halt ihre Hände«, befahl er Nodon ruhig.

Der Drachenelf zögerte, trat dann aber zu den beiden.

»Ich bin hier, um ihr zu helfen! Sie schadet sich nur selbst, wenn sie dagegen ankämpft. Und ihren Kindern …«

Wieder schlug Nandalee dem Dunklen ins Gesicht.

Aus den Augenwinkeln sah Nodon, was mit ihr nicht stimmte. Entsetzt griff er nach ihren Händen und zog diese mit aller Kraft an sich.

»Hilf ihm nicht!«, schrie Nandalee verzweifelt. »Trau deinen Augen nicht! Er täuscht dich! Glaub nicht, was er dich sehen lässt!«

Der Dunkle zerriss ihr fadenscheiniges Kleid und griff ihr zwischen die Schenkel.

Nandalee bäumte sich verzweifelt auf. »Er will an die Kinder! Er will alles vernichten, was von Gonvalon noch geblieben ist.«

Sie musste sich irren! Wenn es stimmte, was sie sagte, dann wäre der Dunkle einfach nur böse. Sein Gebieter hatte Nodon oft auf Missionen geschickt, deren Hintergründe der Elf nicht durchschaut hatte. Nodon hatte für ihn Männer und Frauen getötet, die auf den ersten Blick ehrbar wirkten. Es gab etwas Größeres … etwas, das nur eine Himmelsschlange im Blick haben konnte, weil es das Verstehen einfacher Albenkinder bei Weitem überschritt. Dieser Glaube hatte es Nodon ermöglicht, seine Befehle auszuführen. Wenn er ihn aufgab, dann war er verloren.

»Sorg dafür, dass sie still hält.« Der Dunkle klang nun besorgt.

Da war etwas, dicht unter der Bauchdecke Nandalees, das heraus wollte. Er sah, wie sich Fleisch ausbeulte, und zögerte nicht länger. Seine schlanken Finger fanden sich in ihrem Nacken, während sie sich verzweifelt wand, um ihnen beiden zu entkommen. Er drückte den Nervenpunkt, der alle Muskeln erschlaffen ließ. Nandalee stieß einen erschreckten Laut aus, dann sackte sie in sich zusammen. Ihre Augen waren auf ihren Leib gerichtet.

Der Dunkle hatte ihren Bauch bloßgelegt. Seine zierliche, weiße Hand strich über die helle Haut der Elfe.

Tränen traten in Nandalees Augen. Sie hatte keine Stimme mehr, Zunge und Lippen gehorchten nicht länger ihrem Willen. Doch ihre Augen sagten mehr als tausend Worte. Sie flehten, es nicht zu tun.

Die Hand zerteilte ihr Fleisch. Es floss kein Blut. Zunächst.

Nodon schnappte nach Luft, als der Dunkle einen winzigen, abgetrennten Kinderarm aus der Wunde zog. Hastig legte der Schwertmeister Nandalee die Hände auf die Augen, damit sie nicht sah, was dort geschah.

Wieder griff der Dunkle in ihren Leib. Diesmal holte er etwas Großes, Blutiges hervor. Nun wandte auch Nodon erschaudernd den Blick ab. Dieses Ding hatte Krallen und einen geschuppten Schwanz. Bernsteinfarbene Augen mit geschlitzten Pupillen öffneten sich, kaum dass es dem Mutterschoß gewaltsam entrissen war. Es fauchte. Der Schwanz wand sich um den Unterarm des Dunklen, und es schnappte mit spitzen, kleinen Zähnen nach dessen Fingern.

Der schlechte Lügner

Als sie erwachte, war sie von goldenem Licht umfangen. Nandalee sah verschwommen ein schmales Gesicht über sich. Jemand hielt ihr die Hand. Gonvalon?

»Bist du zurück …« Sie hatte kaum die Kraft zu sprechen. Er antwortete ihr nicht, aber es tat gut, seine warme Hand zu spüren, als sie erneut in tiefen, traumlosen Schlaf glitt.

Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, war Nodon an ihrer Seite. Er wirkte müde. Dunkle Ringe hatten sich unter seine Lider gegraben. Es kostete ihn sichtlich Mühe, sie anzulächeln.

»Hast du Hunger?«

Ein galliger Geschmack lag ihr auf der Zunge. Verwundert sah sie sich um. Sie war nicht mehr in der hässlichen Kammer mit den grauen Steinwänden. Dieses Zimmer war weiß getüncht. Ein großes Fenster gab den Blick frei auf den Himmel und scharf gezackte Berge. Sie lag in einem Bett mit Seidenlaken, die nach Vanille dufteten. Auch die Kette, mit der der Dunkle sie wie einen wilden Hund gefesselt hatte, war verschwunden.

Sie blinzelte. In Nodons Augen stand Furcht. Was erschreckte ihn? Warum war er hier?

Die Erinnerung traf sie wie ein Dolchstoß ins Herz. Entsetzt richtete sie sich auf, zog die Decke zur Seite und tastete über ihren Bauch. Er war noch groß, aber sie spürte nichts mehr.

»Sie leben«, sagte der Schwertmeister leise.

Sie erinnerte sich an den winzigen, abgetrennten Arm, den sie in der Hand des Dunklen gesehen hatte. Wieder strich sie über ihren Bauch, horchte verzweifelt in sich hinein. Da war nichts. Sie wollte schreien, doch das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu.

»Es geht ihnen gut!« Nodon sagte das in jenem beschwörenden Tonfall, hinter dem sich Lügen verstecken.

Nandalee ließ sich zurücksinken. Sie hatte keine Kraft mehr. Deutlich erinnerte sie sich, wie der Dunkle in ihren Bauch gegriffen hatte, um ihre Kinder darin zu zerreißen. Sie hatte es gesehen! Den winzigen Arm …

»Geh!«, stieß sie schließlich hervor. Sie wollte Nodon nicht länger sehen. Den erfahrensten Mörder des Dunklen, der geholfen hatte, ihre Kinder zu töten.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er matt.

Sie drehte sich von ihm fort. Starrte die weiße Wand an. Sie wünschte, sie hätte weinen können, doch selbst dazu fehlte ihr die Kraft.

»Du hattest drei Kinder«, sagte der Mörder mit tonloser Stimme. »Eines von ihnen war … anders. Es war größer … und hätte seine beiden Geschwister getötet. Es ist schneller gewachsen. Als wir dich in deinem verborgenen Tal gefunden haben, habe ich seine Aura noch nicht sehen können. Es ist sehr schnell gewachsen. Der Dunkle sagt, du hättest es mit deinem Hass genährt.«

Zorn wallte in ihr auf. »Das heißt, ich bin schuld?«

»Dein Temperament begünstigte ohne Zweifel, was geschehen ist«, entgegnete Nodon hart. »Ich sehe, wie sich jetzt in diesem Augenblick deine Aura ändert. Wie die Wut wieder in dir wächst. Glaubst du, deine Kinder bleiben davon unberührt? Du spürst die beiden lebenden Kinder nicht – vielleicht liegt es daran, wie er das dritte geholt hat …« Nodon stockte. »Vielleicht ist noch nicht alles verheilt. Manche Wunden bleiben lange taub. Aber sieh hin! Öffne dein Verborgenes Auge und sei nicht blind dafür, wie deine Aura auf sie übergreift und sie verändert. Sei nicht blind für das, was du tust. Ich kann dir nicht erklären, was mit deinen Kindern vor sich geht. Sie sind von besonderer Art. Ja, du hast eines verloren. Aber zwei leben noch! Denk an sie und vergiss das dritte!«

Es widerstrebte ihr zutiefst, von Nodon irgendwelche Befehle anzunehmen. Er hatte ihr nichts zu sagen, dieser Mordgehilfe! Allerdings hatte er recht damit, dass ein Blick durch das Verborgene Auge ihr zeigen würde, ob ihre verbliebenen Kinder noch lebten. Behutsam legte sie beide Hände auf ihren Bauch. Sie spürte keine Bewegung. Kein Lebenszeichen. Aber hieß das wirklich, dass sie tot waren? Warum hatte sie sich lieber ihrer Verbitterung hingegeben, als selbst nachzusehen?

Nandalee schloss die Lider und öffnete sich der magischen Welt. Sie waren da! Sie stöhnte vor Erleichterung. Aber … Was Nodon behauptet hatte, stimmte. Mit der Gewissheit, dass zumindest zwei ihrer Kinder noch lebten, wich das Rot des Zorns aus ihrer Aura, aber es glühte in ihren Kindern noch nach. Das zu sehen schmerzte fast so sehr wie das, was ihr der Dunkle angetan hatte. Warum war sie blind dafür gewesen? Oft hatte sie die Auren ihrer Kinder betrachtet. Das dritte hatte sie erst spät bemerkt. Seine Aura war schwach und unstet gewesen. Stets hatte sie sich Sorgen um dieses Kind gemacht. Erst hier im Kerker war es gewachsen und bald kräftiger als seine beiden Geschwister geworden. All das stimmte. Doch hatte es ihr keine Sorge bereitet. Im Gegenteil, sie war erleichtert gewesen, dass ihr Kind nicht mehr kränklich gewirkt hatte.

Nandalee drehte sich um und sah Nodon an. Seine schwarzen, obsidianglänzenden Augen wirkten leer. Sie kannte diesen Blick. So sah man aus, wenn man einen schweren Kampf gefochten hatte. Sie dachte daran, wie sie in ihrem Jähzorn auf ihn geschossen hatte. Er hatte das nicht verdient gehabt. Er war als Freund gekommen.

»Wie hat es ausgesehen, das Kind, das er geholt hat? War es ein Mädchen? War es sein Arm …«

Nodon räusperte sich leicht. »Ich habe es nicht gesehen. Ich habe dich festgehalten.«

Er war ein schlechter Lügner. »Hat es gelebt?«

»Ich sagte doch, ich hab es nicht gesehen!«

»Aber du hast es doch vielleicht gehört«, beharrte Nandalee. »Hast du es gehört?«

Der Schwertmeister nickte. »Ja. Es … es hat geweint.«

Wieder hatte sie das Gefühl, dass er sie anlog. »Also lebte es. Was ist mit ihm geschehen?«

»Er hat es weggetragen. Ich weiß nicht, was er mit deinem … Kind getan hat.«

Was fiel ihm so schwer zu sagen? Was für ein Geheimnis verbarg er vor ihr? »Es ist jetzt also irgendwo und lebt.«

Nodon seufzte. »Es wurde viel zu früh geboren, Nandalee. Es wurde mit Gewalt aus deinem Leib gerissen, auch wenn keine sichtbare Wunde oder Narbe geblieben ist. Es kann nicht leben. Es war noch nicht so weit … Es … Du willst dieses Kind nicht sehen. Es ist tot und begraben.«

Sie sah ein, dass weitere Fragen zwecklos waren, so vehement, wie Nodon, der sonst eher ein großer Schweiger war, sich widersetzte. Doch wollte sie nicht aufgeben. Sie würde herausfinden, was mit dem Kind geschehen war. Um das erreichen zu können, musste sie sich aber anders verhalten. Nodon und vor allem der Dunkle mussten überzeugt sein, dass ihr Widerstand gebrochen war, dass sie sich endlich fügte.

»Wahrscheinlich ist es besser, dass ich es nicht gesehen habe«, sagte Nandalee leise. »Wo bin ich hier?«

»Dort, wo du hingehörst«, entgegnete der Schwertmeister feierlich. »In der Felsenburg der Drachenelfen, hoch über dem Jadegarten, bei deinen Brüdern und Schwestern. Es ist der beste Ort, um deine Kinder zur Welt zu bringen. Hier sind sie in Sicherheit. Und wenn sie würdig sind, werden sie dereinst in unsere Reihen aufgenommen werden.«

Das war das Letzte, was Nandalee wollte. Ihre Kinder sollten keine Mörder in Diensten der Himmelsschlangen werden! In einem aber hatte Nodon recht. Hier waren sie in Sicherheit. Überall anders in Albenmark würde der Goldene ihr nachstellen, um den Verrat, den Gonvalon an ihm begangen hatte, auch an dessen Kindern zu rächen. Sie konnte gar nicht fort von hier.

Ohne Zweifel

Er hatte sie so lange nicht zu sich rufen lassen … Lyvianne war sich zum ersten Mal ihrer Gefühle gegenüber dem Goldenen nicht sicher. In der Vergangenheit hatte sie sich oft für lange Zeit zurückgezogen. Jedes Mal, wenn sie ein Kind geboren hatte und es prüfte. Manchmal war sie für Jahre nicht vor ihn getreten, aber das war anders gewesen. Er hatte sie ziehen lassen, und es hatte niemanden gegeben, der ihren Platz stahl. Doch dann hatte er zugelassen, dass Bidayn vor die Himmelsschlangen trat und über die Ereignisse auf Nangog berichtete. Ihre Schülerin!

Lyvianne schritt zwischen den kahlen, schwarzen Bäumen der Lichtung entgegen. Sie konnte spüren, dass er dort wartete. Kalter Nebel umspielte ihre bloßen Füße. Sie trug ein schneeweißes Kleid von so zartem Stoff, als wäre es selbst aus Nebel gewoben. Sie war schön, Lyvianne hatte das hundertfach in den Blicken von Männern gelesen. Sie war machtvoll. Sie lebte nicht in der Haut einer Fremden, um sich vor ihren Narben zu verstecken. Was hatte Bidayn ihm bieten können? Worin vermochte sie diese undankbare kleine Schlampe nicht zu übertreffen?

Sie trat auf die weite Lichtung hinaus. Der Goldene erwartete sie in Elfengestalt. Er hob lächelnd die Hand zum Gruß, und Lyvianne ging das Herz auf. So sehr hatte sie vermisst, sich in seinem Lächeln zu sonnen. Sie war ihm ergeben, ganz und gar. Nicht mehr seine Favoritin zu sein verzehrte sie!

Sanftes Licht umspielte die Gestalt des verwandelten Drachen. Sein langes, blondes Haar bewegte sich sacht im Wind, der auch mit dem weißen Seidenumhang spielte. Er trug einen weißen, taillierten Leinenpanzer, der auf der Brust eine goldene Sonne zeigte. Ein Langschwert und ein prächtiger Dolch hingen von seinem Waffengurt. Rubinknäufe, in denen ein unstetes Licht glühte, schmückten die Schwerter. Sein Lächeln verbannte den Groll aus Lyviannes Herz. Jetzt, in diesem Augenblick, war er ganz bei ihr, das las sie in seinen Augen. Nichts anderes auf der Welt war mehr von Bedeutung für ihn.

Euer Ärger umfängt Euch wie eine hässliche, rostende Rüstung, meine zauberhafte Lyvianne. Sie steht Euch schlecht zu Gesicht, diese Wehr. Was muss ich tun, um Euch dazu zu bringen, sie abzulegen?

Seine Worte waren in ihr, tief in ihrem Kopf. Sie waren wie Seide, der Sand anhaftete. Weich, aber nicht zart. Nicht tief verletzend, aber keinesfalls schmeichelnd.

Lyvianne stand nun nur noch drei Schritt vom Goldenen entfernt. So oft war sie ihm begegnet, doch nie war es gewesen wie heute. Sie spürte durch die Freundlichkeit hindurch, dass sie seinen Groll erweckt hatte. Aber womit? Er war es doch, der sich von ihr abgewandt hatte! Er hatte geduldet, dass Bidayn vor dem Rat der Drachen von den Ereignissen auf Nangog berichtet hatte. Wäre es wenigstens noch Nandalee gewesen … Sie war die Anführerin der Mission gewesen. Aber warum war Bidayn, die von allen am wenigsten zum Gelingen beigetragen hatte, die höchste Ehre zuteilgeworden?

Es ist Eifersucht, die Euch quält? Horcht in Euch hinein! Findet Ihr wirklich nicht die Antwort, warum nicht Ihr vor den Himmelsschlangen willkommen wart?

Lyvianne war verzweifelt. Sie wollte seine Gunst zurückgewinnen. Sie hatte unter seiner Missachtung mehr gelitten, als sie sich je hätte vorstellen können. Und nein, sie wusste nicht, warum sie bestraft wurde.

Die Dame Bidayn hat mich und meine Brüder in ihren Gedanken lesen lassen. Wir alle sahen, dass Ihr einen Feind geheilt habt, Lyvianne. Den Unsterblichen Aaron! Er war verletzt. Vielleicht hätte er ohne Euch auf immer sein Augenlicht verloren.

»Ganz gewiss hätte er das nicht!«, brach es aus Lyvianne heraus. »Wie konntet Ihr nur denken, ich sei eine Verräterin! Er steht unter dem Schutz des Löwenhäuptigen. Der Devanthar hätte ihn ohnehin geheilt. Aber so hatte ich Gelegenheit, in seinen Gedanken und Erinnerungen zu lesen, und ich habe erstaunliche Dinge erfahren. Dieses Wissen könnte den Verlauf des Krieges verändern. Es wäre wichtig gewesen, dass ich vor dem Rat berichte.«

Der Goldene lächelte sie an, doch seine Augen blieben hart, und überdeutlich spürte sie seine Missbilligung. Ihr meint das falsche Spiel, das die Devanthar mit ihren Herrschern treiben? Ich bitte Euch, meine Dame. Glaubtet Ihr wirklich, das sei uns über all die Jahrhunderte, die es nun schon währt, verborgen geblieben? Wir wissen, was für ein Gaukelspiel die Devanthar mit ihren Völkern treiben. Wissen, dass sie die Erinnerungen aller Unsterblichen hin und wieder auf einen jüngeren Mann übertragen, um dann den vorherigen Herrscher spurlos verschwinden zu lassen.

Lyvianne war überrascht. Sie versuchte gar nicht erst, es sich nicht anmerken zu lassen. Der Goldene konnte in ihren Gefühlen wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen. »Es gibt noch etwas, das ich in den Erinnerungen Aarons gefunden habe. Und das ist womöglich noch wichtiger. Es geht um ein Erlebnis, das er hatte und das ihn noch heute manchmal in seinen Alpträumen quält.«

Nun war es der Goldene, der überrascht war, als er in den gestohlenen Erinnerungen las und sah, was Aaron hinter einer hohen Mauer verborgen hatte. So überrascht, dass er nicht weiter in Gedanken zu ihr sprach. »Habt Ihr irgendjemandem davon berichtet, meine Dame?«

»Selbstverständlich nicht. Ich diene allein Euch, mein Gebieter. Mir war sofort klar, dass dieses Wissen zu bedeutend war, um es mit anderen zu teilen.« Ganz besonders mit dieser falschen Schlange Bidayn, dachte Lyvianne.

Als der Goldene sie an seinen Gefühlen teilhaben ließ, waren diese so intensiv, dass es ihr den Atem abschnürte und ihr die Brust eng wurde. Die Bitternis der verstrichenen Monde wurde hinweggebrannt. Es tat ihm leid, sie jetzt erst zu sich gerufen zu haben, ja, er empfand Respekt vor ihr. Es war überaus klug, sich auf diesem Wege Zugang zu seinen Erinnerungen zu verschaffen, meine Schöne. Ich hätte es wissen müssen, dass Ihr niemals unbedacht oder aufgrund sentimentaler Regungen handelt, verehrte Lyvianne. Ihr seid die Meisterin unter all meinen Dienerinnen. Verzeiht, dass ich mich von Bidayn habe blenden lassen.

Jedes einzelne Wort war Balsam für ihre Seele. Zugleich aber fühlte Lyvianne sich beschämt, ihn dazu gedrängt zu haben, sich bei ihr zu entschuldigen. Er war ein Himmlischer! Er stand über Entschuldigungen, und ihn in eine solche Lage zu bringen war respektlos. Bestürzt überlegte sie, wie sie diesen unverzeihlichen Fehler wiedergutmachen konnte. Sie vermochte ihm nicht länger in seine bernsteinfarbenen Augen zu sehen. Beschämt senkte sie den Blick.

»Es ist alles gut.« Seine warme, männliche Stimme ließ sie erschauern. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und hob mit der anderen ihr Kinn, sodass sie nicht anders konnte, als ihm ins Angesicht zu blicken. In dieses stolze, herrschaftliche Antlitz mit den edel geschwungenen Lippen. Jenen Lippen, die sie, während er sie tätowiert hatte, so leidenschaftlich liebkost hatten.

»Auch mir mag es geschehen, dass ich eine Lage falsch einschätze. Ich bitte darum, dass Ihr mich auch in Zukunft darauf hinweist, wenn ich Bedeutendes übersehe.« Er lächelte warmherzig. »Und wartet – falls es noch einmal geschieht – bitte nicht wieder viele Monde, bis Ihr vor mich tretet, um mich auf meinen Irrtum hinzuweisen. Wir kennen einander nun schon so lange, Dame Lyvianne. Ihr solltet wissen, wie sehr ich Euer Urteil schätze und dass sich niemals jemand zwischen uns drängen kann.«

Lyvianne wusste, dass sein ganzes Wesen von Magie durchdrungen war. Einer Magie, die selbst das Licht, das ihn umfing, dazu brachte, heller zu leuchten, und die die Luft mit Wohlgerüchen erfüllte, wo immer er weilte. Es war Zauberwerk, wenn allein ein freundlicher Blick von ihm genügte, einem das Herz aufgehen zu lassen. All das wusste die Elfe, aber sie wollte sein Lächeln und seine freundlichen Worte nicht hinterfragen. Es stimmte, sie war ganz und gar die Seine. Sie hatte sich entschieden, sich für ihn in Stücke schneiden zu lassen, wenn es darauf ankäme, als er sie als eine seiner Drachenelfen auswählte. Nie würde sie vergessen, welch unbändiger Stolz sie erfüllt hatte, als der Goldene sie in der Weißen Halle zur Seinen gemacht hatte. So wie damals, so fühlte sie noch jetzt. Und sie war ihm dankbar, dass sein Lächeln und seine Worte alle Zweifel aus ihrem Herzen gebrannt hatten.

»Ich werde Euch nun um etwas bitten müssen, meine Dame, was Euch in höchste Gefahr bringen wird. Eine Tat, deren Ruhm niemals auf Euch abstrahlen wird, denn niemals darf offenbar werden, dass wir es waren, die den kühnen Schritt wagten, sich gegen meine Brüder und die Devanthar zugleich zu stellen. Geht an den Ort, den Ihr in den Erinnerungen des Unsterblichen Aaron gesehen habt. Und wenn Ihr dort findet, was wir dort vermuten, dann bringt es mir. Ihr werdet das Schicksal dreier Welten in Eure Hände nehmen, meine Dame. Und es gibt niemanden, den ich mit mehr Zuversicht auf diese schier aussichtslose Mission schicken würde als Euch, meine unbeugsame Lyvianne. Ihr seid die Einzige, die es schaffen kann.«

Lyvianne war – gegen alle Vernunft – überwältigt. Es war ein Todeskommando. Und sie freute sich darauf, für ihre Himmelsschlange das Unmögliche zu wagen.

Ein heißer Tag

Die Hitze verwandelte den Horizont in Schlieren von flüssigem Glas. Zumindest sah es so aus. Die Luft tanzte in der unbarmherzigen Sonne. Lyviannes Streitwagen zog eine Staubfahne hinter sich her, die in der von flachen Hügeln durchsetzten Ebene auf viele Meilen zu sehen sein musste. Sie war vom Weg abgewichen, denn bevor sie sich der tödlichen Gefahr des Geheimnisses stellte, das sie aus Aarons Erinnerungen gestohlen hatte, wollte sie sich den Ort ansehen, der den Herrscher Arams verwundbar machte.

Sie hatte den Goldenen nicht um Erlaubnis gefragt. Jetzt, da sie seinem Zauberbann entwichen war, sah sie die Begegnung mit ihm in einem anderen Licht. War es wirklich Vertrauen gewesen, das ihn dazu bewogen hatte, sie hierherzuschicken, weil ihr das Unmögliche gelingen mochte? Oder hatte er sie ausgesandt, um zu sterben? Es wäre nicht das erste Mal, dass er seine Drachenelfen wie Pfeile einsetzte, die man abschoss und vergaß. Wenn sie ihr Ziel fanden und töteten, hatten sie ihre Aufgabe erfüllt. So war es Talinwyn ergangen, der Schülerin Gonvalons, die gleich auf ihrer ersten Mission umgekommen war, nachdem sie den Unsterblichen Aaron von seinem Wolkenschiff gestoßen und dafür gesorgt hatte, dass heimlich ein Bauer zum Herrscher über eines der sieben Großreiche wurde. Lyvianne hatte die Elfe in den Erinnerungen Aarons gesehen. Und in ihren Augen gelesen … Talinwyn hatte gewusst, dass sie sterben würde. Aber wenigstens hatte sie ihre eigene Rüstung getragen, als sie in ihren letzten Kampf gegangen war.

Lyvianne hasste die Rüstung, die sie tragen musste, noch mehr als die Männergestalt, die sie angenommen hatte. Es war eine plumpe Tonne, nur eine schmucklose Brustplatte zusammen mit einem Rückenpanzer, der über ihre Schulterblätter scheuerte. Daran waren drei breite Metallstreifen geheftet, die sich wie quergelegte Fassdauben um ihre Taille, den Schritt und die obere Hälfte der Oberschenkel schlossen. Um ihren Hals war eine Berge gelegt, die bis zu ihrer Nasenspitze reichte. Und auf ihrem Kopf saß ein Eberzahnhelm mit einem langen Pferdeschweif, der von dessen Spitze wippte. Eberzähne! Diese Barbaren schätzten sie als besonders hart. Man musste schon ein Menschenkind sein, um sich solcher Torheit zu verschreiben. Sie spalteten die Zähne, bohrten Löcher hinein und nähten sie dicht an dicht auf den Helm. Von innen war ihr Helm mit Filz gefüttert, der sich in der Hitze mit ihrem Schweiß vollgesogen hatte, sodass er auf ihrer Stirn scheuerte. Ebenso wie seine Lederriemen ihre stoppeligen Wangen wundrieben.

Das mit Abstand übelste Ungemach, das ihr ihre Verwandlung beschert hatte, war jedoch ihr juckender Bart. Wie hielten Männer es nur aus, dieses Gestrüpp im Gesicht zu tragen? Unbegreiflich!

Die Elfe strich sich Schweiß von der Stirn. In der Rüstung kochte sie in dieser Hitze. Staub haftete auf der Bronze, ihren Händen und in ihrem Haar. Staub war ihre Standarte, die weit hinter ihrem Streitwagen herwehte. Fünf Tage schon fuhr sie durch das karge Land. Sie gab sich als Krieger aus, der aus Nangog heimkehrte, um seinem sterbenden Vater die letzte Ehre zu erweisen. Eine gute Geschichte, denn so sah man ihr nach, wenn sie finster blickte und es vorzog zu schweigen.

Endlich erhoben sich die Wipfel von Dattelpalmen aus den Schlieren geschmolzenen Himmels, die über das glühende Land flossen. Es war schwer, in der tanzenden Luft Entfernungen zu schätzen. Eine Meile oder doch noch zwei? Lyvianne dachte sehnsüchtig an das schattige Brunnenhaus, das es dort geben musste. Ein einziges Wort der Macht würde genügen, um einen Kokon aus angenehm kühler Luft um sich zu weben. Auch diese Welt war durchdrungen vom magischen Netz. Doch wenn sie danach griff, würde sie sich verraten. Keine Stunde würde vergehen, bis die Devanthar sie aufspüren würden. Sie waren die Spinnen in diesem Netz, und nur einen einzigen Faden vibrieren zu lassen rief sie herbei. Also schwitzte sie und ertrug es, wie diese verfluchte Rüstung ihren Körper wundscheuerte.

Alles, was sie an sich trug, war tatsächlich von Menschenkindern geschaffen. Kriegsbeute aus Nangog. Und den Streitwagen hatte sie mit gehacktem Silber gekauft, wie es diese Barbaren gerne verwendeten. Allein das Gewicht des Silbers zählte. Es war in kleine Barren gegossen, von denen sie Stücke abhackten, wenn das Gewicht den angemessenen Preis übertraf. Lyvianne wusste, dass sie für den Streitwagen zu viel gezahlt hatte. Aber er war brauchbar nach den Maßstäben, die für Menschenkinder galten. Seine Achse und die Räder waren stark. Der Boden aus geflochtenem Leder federte bei jedem Schlagloch, durch das sie fuhr. Der Wagen war leicht und schnell. Er erlaubte ihr, zügig voranzukommen. Und die beiden Roten, die ihn zogen, waren kräftig und ausdauernd. Dutzende verdreckte Messingamulette klirrten an ihrem Geschirr. Zerzauste Schwanenfedern flatterten in ihren Mähnen. So reiste ein Kriegerfürst in dieser Welt.

Lyvianne tastete nach dem Schwert, das zu ihrer Rechten neben dem Köcher mit den kurzen Wurfspeeren an die Seitenwand des Wagens geschnallt war.

»Kriegsherr!«, erklang eine helle Stimme. Ein kleiner Junge sprang über die Mauer aus Bruchsteinen, die den Weg säumte. »Bitte, Herr, rettet mich!« Er strengte sich an, um den Streitwagen einzuholen, doch es war offensichtlich, dass er bald zurückfallen musste. Mit seinen kurzen Beinen würde er mit ihren Pferden, auch wenn sie ermüdet waren, nicht Schritt halten können.

Lyvianne zog an den Zügeln, streckte dem Jungen die Hand entgegen und zog ihn zu sich auf den Streitwagen. »Halt dich gut fest«, sagte sie streng und verabscheute zugleich die dunkle, raue Stimme, die sie nun hatte. »Wer verfolgt dich?«

»Daimonen!«, stieß der Junge keuchend hervor.

»Daimonen?« Erschrocken blickte Lyvianne über die Schulter. Waren andere Albenkinder hier?

Eine Schar von Jungen und Mädchen kam über die Mauer gesprungen. Alle waren sie mit Stöcken und Lehmklumpen bewaffnet. Schreiend liefen sie hinter dem Streitwagen her.

»Du hast nicht viele Freunde, wie mir scheint.«

»Das liegt daran, dass mein Vater ein Held ist und der Freund des Unsterblichen Aaron war.«

Lyvianne sah den Knaben scharf an. Sie hatte sich unwissend den Erinnerungen von mehr als einem Dutzend Herrschern geöffnet, als sie Aaron geheilt hatte. Tausende von Gesichtern waren auf sie niedergeprasselt wie Regentropfen, wenn man in einem Sturm sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckte. Da war ein Kind gewesen, das von Bedeutung war. Aber sie konnte sein Antlitz nicht mehr vor ihrem geistigen Auge heraufbeschwören.

»Wie heißt du, Junge?«

»Daron, Sohn des Narek von Belbek.«

Narek von Belbek. Das war ein Name, an den sie sich erinnerte und mit dem sie ein Gesicht verband, das dem des Jungen vor ihr ähnlich sah. Etwas zu voll, mit kurzem Kraushaar. Ein pummeliges Kind. Nicht fett, aber nicht so gertenschlank wie seine Kameraden Artax und Ashot. Sie waren durch diese Felder gestreift, hatten in dem Palmenhain, der nun ganz deutlich zu sehen war, Datteln gestohlen. Hier hatte der Unsterbliche seine Kindheit verbracht.

Der Streitwagen erreichte eine flache Hügelkuppe. Eine halbe Meile entfernt lag ein staubfarbenes Dorf aus flachen Lehmhütten. Felder, auf denen Gerste und Hafer wuchs, duckten sich unter der Hitze des Mittags. Dazwischen ein Netz ausgetrockneter Kanäle, deren lehmiger Grund zu Schollen zersplittert war, deren Ränder sich dem Himmel entgegenwölbten, als flehten sie um einen Regenguss.

Daron umklammerte ihre Taille, statt sich an der Seitenwand des Streitwagens festzuhalten. Seine Gestalt hatte etwas Weiches, Weibisches, aber zugleich war er offensichtlich bereit, sich mit der ganzen Dorfjugend anzulegen, wenn es um seinen Vater ging. War das Mut oder Dummheit?

Auf den Feldern rings um das Dorf zeigte sich kein Mensch. Alle waren vor der Hitze geflohen. Auch auf der breiten Straße, die das Dorf zerteilte, war niemand zu sehen. Auf einem Platz, etwa in der Mitte dieser Ansammlung armseliger Hütten, erhob sich eine mächtige Zeder, in deren Schatten das Brunnenhaus stand. Lyvianne spürte, wie sie aus den dunklen Fenstern der Häuser beobachtet wurde, als sie in das Dorf einfuhr. An der Zeder angelangt, hielt sie und sah sich herausfordernd um. Daron lief zum steinernen Wassertrog und schöpfte gierig mit der Hand daraus. Dann spritzte er sich Wasser ins Gesicht und in die Haare. Als er damit fertig war, schüttelte er sich wie ein nasser Hund und sah sie lächelnd an. »Das hat gutgetan! Willkommen in Belbek, Kriegerfürst.«

»Ich bin nur Krieger, kein Fürst«, entgegnete Lyvianne. »Du musst mir etwas von diesem Ort und deinem Vater erzählen. Vielleicht erinnere ich mich an ihn, wenn ich mehr über Narek weiß.« Sie sah die Hoffnung, die ihre Lüge in dem Jungen geweckt hatte. Er nickte eifrig. »Mein Vater hat auf der Hochebene von Kush gekämpft, zusammen mit seinem Freund Ashot, der nun einer der wichtigsten Berater des Unsterblichen ist.«

Lyvianne löste das Sichelschwert aus der Lederschlaufe am Streitwagen und lehnte es an die Tränke. Die Waffe war schwer und schlecht ausbalanciert. Obwohl der Goldene selbst sie erschaffen hatte, fehlte es ihr an Vollkommenheit, denn die Himmelsschlange hatte eines jener wuchtigen Schwerter kopiert, die von den stärksten Kriegern Arams und Luwiens genutzt wurden. Die Waffe hatte einen mehr als vier Hand langen, lederumwickelten Griff. Nur zwei Drittel der Waffe machte die Klinge aus. Die Hälfte der Klinge war gerade wie bei einem gewöhnlichen Schwert und mündete in den Griff. Das letzte Drittel der Waffe formte einen fast vollkommenen Halbkreis. Es erinnerte an eine Handsichel, nur dass hier nicht die Innenseite geschliffen war, sondern die Außenseite des Halbkreises. Ein Muster, das an Federn erinnerte, war in diesen oberen Teil der Klinge ziseliert. Der Stahl war fleckig und täuschte das minderwertige Eisen vor, das die Menschenkinder für ihre Waffen nutzten.

Lyvianne war zugegen gewesen, als der Goldene die Waffe schmiedete. Sein Drachenodem hatte das Metall durchdrungen, und drei Tropfen seines Blutes waren in dem Wasser gewesen, in dem er den Stahl gekühlt hatte. Es war ein Zauber an die Klinge gebunden, der die Wunden, die sie schlug, umso tödlicher werden ließ, je machtvoller der Gegner war, gegen den sie zum Einsatz kam.

Lyvianne musterte Daron kühl. Sein Tod würde den Unsterblichen aufwühlen, aber klüger wäre es, den Kleinen verschwinden zu lassen. Ohne Leiche hielt sich immer noch ein Funken Hoffnung. Ganz sicher würde Aaron hierherkommen und die Suche nach dem Sohn seines Freundes persönlich anführen. Wenn die Zeit der Schlachten auf Nangog kam, wäre dies eine gute Möglichkeit, den Aufmarsch der Truppen Arams zu stören. Und es wäre schlecht für die Moral der Krieger, wenn ihr Anführer in der Heimat war, während sie in einer fremden Welt für ihn bluteten.

Lyvianne strich Daron durch sein struppiges Haar. »Ich bin sicher, eines Tages wirst du die ganze Aufmerksamkeit des Unsterblichen genießen. Du bist etwas Besonderes.« Sobald der Krieg begonnen hatte, würde sie zurückkehren und ihn sich holen, entschied die Elfe.

Die anderen Kinder hatten inzwischen die Dorfstraße erreicht. Sie kamen gerade zögerlich näher, als Rufe aus den Häusern erklangen. Mütter winkten sie durch hastig aufgerissene Türen. Was machte die Dorfbewohner so unruhig? Stimmte etwas nicht mit ihrer Maskerade? Lyvianne war auf ihrer Reise einigen Kriegern begegnet. Sie hatten ganz ähnlich ausgesehen.

»Du wolltest mir mehr über deinen Vater erzählen«, sagte sie und wandte sich wieder Daron zu. Er schien der Einzige hier zu sein, der sie nicht fürchtete. Er mochte weich aussehen und ein unvollkommenes Menschenkind sein, aber er hatte das Herz eines Löwen. Sie lehnte ihr Schwert an die Tränke und trat dann zu den Pferden.

»Mein Vater hat in der Schlacht auf der Hochebene von Kush Rücken an Rücken mit dem Unsterblichen Aaron gekämpft. Als die Elev Wanten der Luwier die Schlachtlinie durchbrochen haben, hat er sich die goldene Löwenstandarte gegriffen und sie gegen die Feinde verteidigt.«

»Elev Wanten?«, wiederholte sie skeptisch, während sie die Pferde ausspannte und zur Tränke führte.

»Hier zu Lande kennen nur die weisesten der Weisen diese schrecklichen Tiere.« Man merkte Daron an, dass er diese Geschichte schon oft erzählt hatte. Voller Stolz und in leicht überheblichem Ton fuhr er fort. »Es sind Ungeheuer, so groß wie ein Haus, die ihren Schwanz im Gesicht tragen. Sie besitzen nur zwei Zähne, aber die wachsen ihnen so lang wie Speere aus dem Maul heraus. Und wenn sie angreifen, dann packen sie die Unglücklichen, die sich ihnen in den Weg stellen, mit ihrem Schwanz, heben sie hoch und spießen sie auf ihren langen Zähnen auf. Manchmal tragen sie drei oder vier Tote auf ihren Zähnen, aber dann wird ihnen der Kopf so schwer, dass sie nicht mehr weitergehen können.«

Während die Pferde tranken, sah Lyvianne den Jungen durchdringend an. Daron redete immer noch. Von der Löwenstandarte und den Ungeheuern mit dem Schwanz im Gesicht. Er glaubte diese Geschichten tatsächlich! Plötzlich unterbrach er sich und sah sie an. »Hast du dort auch gekämpft?«

»Es war ein blutiger Tag«, sagte sie nur. Sie kannte die Bilder aus Aarons Gedanken. Die Elefanten, die durch das trockene Flussbett gestürmt waren, und das Gemetzel, das die wenigen Dickhäuter angerichtet hatten, die durchgekommen waren.

Eine Bewegung vor ihr auf der Straße ließ sie aufblicken. Ein hagerer, hellbrauner Hund war erschienen. Neugierig hob er den Kopf und sah zu ihnen her. Dann schien er etwas gehört zu haben. Er blickte zum Tor in einer nahen Mauer und machte sich eilends davon.

Lyvianne stellte sich etwas näher an die Tränke, sodass sie leicht nach dem Schwert greifen könnte.

Fünf Männer traten durch das Tor auf die Straße. Sie trugen Dreschflegel und sahen so aus, als könnten sie damit umgehen. Lyvianne konnte sie riechen, obwohl sie noch etwa zwanzig Schritt entfernt waren. Sie stanken nach Schweiß und zu lange getragenen Kleidern, was in Einklang mit den speckigen Tuniken stand, die sie trugen. Mit Ausnahme ihres Anführers waren es gedrungene, bullige Kerle mit kurzen, speckigen Hälsen. Jener hingegen war schlanker und trug einen halbwegs gestutzten, spitzen Bart, der sein Gesicht noch länger erscheinen ließ, als es ohnehin schon war. Erstes Grau umfing seine Schläfen. Er trug eine himmelblaue Tunika mit breitem, rot besticktem Saum, und im Gegensatz zu seinen Handlangern steckten seine Füße in Sandalen.

»Das ist Sinas Vater«, flüsterte Daron, als wäre damit alles gesagt. »Er glaubt, er kann hier allen sagen, wo es langgeht, nur weil er der reichste Bauer Belbeks ist.«

Die kleine Abordnung blieb etwa zehn Schritt vom Brunnenhaus entfernt stehen. »Wer bist du? Und was willst du hier?«, rief Sinas Vater ihr entgegen.

Lyvianne griff nach ihrem Schwert, legte es lässig über die Schulter und trat auf den sonnendurchglühten Platz. Der Geruch der Angst mischte sich unter den Gestank des Bauernpöbels. Die Dummköpfe standen so, dass sie die Sonne blenden würde, wenn es zu einem Streit käme.

Lyvianne löste mit der Linken den Kinnriemen ihres Helms. Dann packte sie ihn beim Rosshaarschweif und zog ihn sich vom Kopf. Der Goldene hatte ihr ein hartes, kantiges Gesicht für diesen Ausflug gegeben. Ein Gesicht, gezeichnet von Schlachten, der unbarmherzigen Sonne und der offensichtlichen Abwesenheit jeglicher Herzensgüte. »Wer bist du, mich auf offener Straße anzuschreien? Ist das die Gastfreundschaft von Belbek? Da bin ich auf manchem Schlachtfeld freundlicher empfangen worden. Oder ist das hier etwa ein Schlachtfeld?« Sie genoss es zu sehen, wie jegliche Farbe aus dem Antlitz des Anführers wich. Eigentlich sollten solche Spielchen unter ihrer Würde sein, aber es war zu heiß, sie hatte zu lange auf dem Streitwagen gestanden und sie verspürte Lust darauf, dieses unhandliche Schwert in Fleisch zu versenken.

»Ich heiße Behruz«, entgegnete der Anführer des Trupps und schaffte es, weder verärgert noch ängstlich zu klingen. »Die letzten Krieger, die in dieses Dorf kamen, brachten einen Toten. Männer in Rüstungen verheißen nichts Gutes. Was also führt dich hierher?«

»Mein Durst.«

»Deine Rüstung. Solche Rüstungen tragen die Krieger Luwiens.«

Lyvianne lächelte kühl. »Seit wir sie auf der Hochebene von Kush von ihren Streitwagen gezerrt haben, kann man sie auch häufig in Aram sehen.«

Einer der Bauern in Behruz’ Gefolge lachte.

»Wir haben hier keine Schenke und keine liederlichen Weiber. Ich fürchte, Belbek hat wenig Abwechslung zu bieten.«

»Willst du mich beleidigen, Bauer?«

»Ich möchte dich nur vor Enttäuschungen bewahren. All diese Dinge wirst du bei der Mine Um El-Amat finden. Du könntest sie noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Deine Pferde sehen stark aus …«

Lyvianne war erneut versucht, Öl ins Feuer zu schütten. Warum war sie so auf Streit aus? Lag es wirklich an der Hitze oder daran, dass sie Angst vor dem hatte, was sie am nächsten Tag erwartete. »Bring mir Brot und Käse. Lasst mich im Schatten des Brunnenhauses ruhen. Ich bin keine Gefahr für euer Dorf. Ich bin nur ein durchreisender, müder Krieger, der an das Sterbebett seines Vaters gerufen wurde.«

Behruz strich sich nachdenklich über den Bart, dann straffte er seine Schultern. »Ihr seid selbstverständlich mein Gast. Bitte entschuldigt unser Misstrauen. Dieses Dorf liegt am Ende der Welt. Es kommen nur sehr selten Fremde hierher.« Bei diesen Worten wirkte er verlegen. »Wir haben wohl keine guten Umgangsformen …«

»Ich esse beim Brunnen«, entschied Lyvianne. Ein Festmahl bei dem Bauern würde alles nur verzögern. Sie wollte schnell fort von hier. Das Dorf zu besuchen war nur eine Ausflucht, um das Unausweichliche hinauszuschieben. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass der Goldene ihr das Kommando über eine ganze Gruppe von Drachenelfen geben würde. Sie allein zu schicken war der Bedeutung ihrer Entdeckung nicht angemessen. Es sei denn, er wollte, dass sie umkam.

»Wie Ihr wünscht, Herr. Ich werde Euch sogleich die besten Speisen bringen lassen, die unser Dorf zu bieten hat. Es gibt einen ausgezeichneten Ziegenkäse, und wir haben auch …«

»Macht Euch keine Umstände«, entgegnete sie knapp und wandte sich ab. Die Unterhaltung war ihr lästig. Sie wollte zurück in den Schatten.

»Komm her, Daron, und belästige unseren Gast nicht.« Behruz’ Stimme überschlug sich, als er den Jungen zu sich befahl. Lyvianne hatte ganz den Eindruck, dass Daron Ärger bekommen würde, weil sie mit ihm beim Brunnen zu stehen einem Festmahl mit diesem Dorfkönig vorgezogen hatte.

»Daron hat mir erzählt, dass sein Vater ein Freund des Unsterblichen Aaron war …«

»Der Kleine ist ein Aufschneider«, entgegnete Behruz abfällig. »Vergeudet nicht Eure Zeit mit ihm, Herr. Und du kommst jetzt her, Daron. Deiner Mutter wird es nicht gefallen, wenn du Fremde belästigst. Du solltest dich besser um sie kümmern, statt dich den ganzen Tag herumzutreiben!«

Daron kam aus dem Brunnenhaus. Er hielt den Kopf gesenkt. »Sie merkt nicht mal mehr, ob ich da bin oder nicht«, murmelte er mit halb erstickter Stimme.

»Was hat deine Mutter?«

»Das Sommerfieber«, antwortete Behruz an Stelle von Daron.

»Und wer pflegt sie?«

Der reiche Bauer zuckte mit den Schultern. »Da kann man nicht viel machen. Sie bekommt kalte Wickel. Die Hälfte der Weiber stirbt daran. Manche werden auch nur wahnsinnig, sodass man sie an die Kette legen muss. Sie war eine dumme Kuh, und die Götter strafen sie. Zweimal hat der Unsterbliche ihr Geschenke geschickt. Sie hätte die reichste Frau im Dorf werden können, aber sie hat alles abgelehnt und zurückgeschickt. Und nun liegt sie allein mit ihrem Fieber in einem dreckigen Bett. Das ist der Lohn für Hochmut. Sie ist …«

Lyviannes mächtige Klinge schwang herum und trennte die Hand ab, mit der Behruz seinen Dreschflegel gehalten hatte. »Ihr sprecht von der Frau eines Freundes des Unsterblichen.«

Behruz starrte fassungslos auf seinen blutenden Armstumpf. Keiner der anderen Männer bedrohte Lyvianne oder sagte auch nur ein Wort. Im Gegenteil, sie wichen vor ihr zurück, sodass ihr Anführer nun ganz allein stand.

»Merkt Euch meine Worte gut, Bauer. Die Hälfte der Männer, die meinen Zorn erregen, stirbt sofort. Ihr habt heute also Euren Glückstag, auch wenn es Euch im Augenblick nicht so erscheinen mag. Sobald ich meine Angelegenheiten erledigt habe, werde ich wiederkommen. Ist Darons Mutter dann tot, endet auch Euer Glück. Ihr mögt der reichste Bauer des Dorfes sein, doch Ihr werdet feststellen, dass das nicht genügt, um Euch vor meinem Zorn zu schützen. Und seid froh, dass weder Aaron noch Ashot hier sind. Sie sind weit weniger langmütig als ich.« Sie legte Daron die Hand auf die Schulter. Der Junge zuckte unter ihrer Berührung zusammen. Er starrte unverwandt auf den Armstumpf, den Behruz gegen seine Brust drückte. »Dies ist die Gerechtigkeit der Krieger, Daron. Sie bedarf nicht vieler Worte. Sie ist schnell und blutig. Überlege dir gut, ob du den Weg des Schwertes gehen willst. Er wird dich so machen, wie ich bin.«

Lyvianne ging auf einen der Bauern zu, der augenblicklich seinen Dreschflegel fallen ließ. »Tut mir nichts, ich bin nicht freiwillig hier!«

Sie griff nach dem dünnen Lederriemen, den er als Gürtel um die Taille trug, und öffnete ihn. Dann wandte sie sich an Behruz. »Euren Arm!«

Blut spritzte in pumpenden Stößen aus dem Stumpf. Sie schlang ihm den Riemen um den Unterarm und drehte ihn zu, bis die Blutung gestillt war. »Ich empfehle Euch, Daron zu behandeln, als wäre er Euer Erstgeborener. Das Auge des Unsterblichen liegt auf dem Jungen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was geschehen wird, wenn er erfährt, dass Daron schlecht behandelt wurde. Und nun schert Euch davon. Ein Sandkorn im Auge ist angenehmer als Euer Anblick.«

Behruz starrte sie voller Hass an. Er zog sich zurück, während einer seiner Männer die abgehackte Hand aufhob, als wäre sie noch zu irgendetwas zu gebrauchen.

»Geh zu deiner Mutter, Daron. In dieser einen Sache hatte er recht. Du solltest an ihrer Seite sein. Sie wird es spüren. Es wird ihr Kraft geben. Ein richtiger Mann zu sein heißt, für die Schwachen einzustehen. Du willst doch ein Mann sein, oder?«

»Sicher!« Daron war offensichtlich erleichtert, einen guten Grund zu haben davonzulaufen. Er nahm die Beine in die Hand und verschwand in eine der staubigen Gassen. Nur der hagere Hund war noch da. Als Lyvianne zum Brunnenhaus zurückging, kam er, um gierig das Blut aus dem Staub zu lecken.

Vielleicht hätte sie sich mäßigen sollen, dachte sie, aber so konnte sie sicher sein, dass Daron und seine Mutter überleben würden. Die beiden mochten eines Tages wichtig werden. Sie wären hervorragend geeignet, den Unsterblichen Aaron zu erpressen. Wenn die Zeit gekommen war, würde sie zurückkehren.

Lyvianne füllte ihren Wasserschlauch und schirrte die Pferde an. Dann verließ sie das Dorf, das sie in Angst versetzt hatte, um jenen Ort aufzusuchen, der ihr Angst machte.

Sie waren hier!

Eine mächtige Mauer versperrte den Zugang zum Verbotenen Tal. In den Erinnerungen, die sie Aaron gestohlen hatte, hatte es keine Mauer gegeben. Nur Angst … Und diese Angst empfand nun auch Lyvianne. In dem Tal lauerte Böses.

Sie war fast eine Meile von der Mauer entfernt, aber sie konnte die düstere Aura dieses Ortes dennoch spüren. Anderthalb Tage hatte sie von Belbek bis hierher gebraucht. Im letzten Abendrot, das unter blutroten Wolken über den Bergen verglühte, hatte sie den Streitwagen hinter einem Felsvorsprung verborgen und die Pferde an einer abgestorbenen Kiefer so angebunden, dass sie reichlich Raum hatten, sich zu bewegen und zu grasen. Auch die Tiere waren nervös. Sie stampften mit den Hufen und peitschten mit ihren Schweifen.

Lyvianne hielt sich im Schatten der Felsen und näherte sich vorsichtig der Mauer. Sie wirkte neu. Weiß verputzt, blieb sie selbst im Zwielicht der beginnenden Nacht deutlich zu sehen. Mehr als zehn Schritt erhob sie sich. Drei mächtige Wehrtürme verstärkten die Mauer. Auf der ihr zugewandten Seite gab es Stallungen und ein großes, befestigtes Haus. Bei jeder anderen Befestigung hätten diese Gebäude auf der anderen Seite der Mauer gelegen, wo sie durch die Felswände des Tals geschützt gewesen wären. Doch diese Festung war dazu errichtet worden, das, was sich hinter den Mauern verbarg, gefangen zu halten. Zudem sollte niemand, ob mit Absicht oder aus Versehen, das Verbotene Tal betreten.

Es brannte kein Feuer auf dem Wehrgang oder in den Türmen. Kein einziges Licht zeigte sich im Wohnhaus. War die Festung verlassen?

Lyvianne blieb weiterhin in Deckung und näherte sich vorsichtig. Süßlicher Verwesungsgeruch hing in der Luft. Im Sand sah sie eine Fuchsfährte, die zum Tor in der Mauer führte. Sie entschied, auf ihre Tarnung zu vertrauen. Sie war immer noch als Krieger gerüstet und könnte sich als Bote des Unsterblichen ausgeben. Aber sie hatte den Verdacht, dass das nicht nötig sein würde.

Lyvianne trat aus den Schatten. Hinter ihr schob sich der Mond über den Horizont. Sein silbernes Licht spiegelte sich auf den breiten Eisenbeschlägen des mächtigen Tors in der Mauer. Es stand einen Spalt offen.

Kein Wachposten rief sie an, als sie näher kam. Sie kreuzte immer mehr Fährten, je geringer der Abstand zur Festungsmauer wurde. Neben dem Fuchs waren auch Wildhunde hier gewesen. Vielleicht auch Wölfe. Die Spuren führten zum dunklen Haus, zu den Ställen und den Türen der Türme. Keine einzige zum Tor.

Der Geruch des Todes wurde stärker. Und mit ihm wuchs das beklemmende Gefühl, an einem Ort zu sein, der nicht für Sterbliche geschaffen war. Auch nicht für Albenkinder! Was für Männer mochten das gewesen sein, die inmitten der Einsamkeit auf dieser Mauer Wacht gehalten hatten? Was hatte sie hier gehalten?

Ein scharrendes Geräusch ließ Lyvianne innehalten. Sie zog ihr Sichelschwert. Vorsichtig drehte sie sich zu der langen Baracke um, in der die Ställe untergebracht waren. In der Tür bewegte sich etwas, umwoben von Schatten.

Die Elfe verharrte bewegungslos. Sie wagte nicht einmal zu atmen. Jetzt hörte sie ein ungeduldiges Knurren, das Schnappen von Kiefern und wieder das scharrende Geräusch. Langsam erkannte sie einen Umriss, fast verschlungen vom Dunkel der Türöffnung. Da war ein großer Hund.

Sie atmete aus, schalt sich stumm eine Närrin und ging auf den Stall zu. Leise … Ihre Schritte waren nicht lauter als Daunenfedern, die zu Boden sanken. Der Hund bemerkte sie nicht. Erst als ein silberner Lichtstrahl zwischen den Wolken hindurchstach, blickte der Hund auf. Ein großes, hageres Biest mit struppigem, schwarzem Fell, der am Arm eines Toten zerrte. Ganz offensichtlich war die Leiche schon von anderen Aasfressern aufgesucht worden. Ein Speer war ihr durch die Brust gerammt worden.

Der Hund knurrte sie an. Lyvianne hob ihr Schwert. Die Geste genügte, um den Streuner in den Stall hineinzuscheuchen.

Die Elfe stieg über den Leichnam hinweg. Fast wäre sie auf einen schweren Hammer mit armlangem Stiel getreten. Sie wartete einige Herzschläge lang in der Tür zu den Stallungen, bis ihre Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie war anders als draußen … Das klang verrückt, und sie hätte das niemals gegenüber einem anderen behauptet. Aber hier schien das Dunkel geronnen zu sein. Vielleicht lag es an dem bestialischen Verwesungsgestank, der aus dem Stall zog. Oder an dem Gefühl, dass sich hier etwas Bösartiges eingenistet hatte.

Sie hörte das leise Scharren der Hundekrallen auf dem Steinboden. Ob der Streuner es wagen würde, sie anzugreifen? Sie sollte gehen … Noch während sie das dachte, wurde ihr bewusst, was fehlte. Und was den Eindruck, dass hier etwas zutiefst Widernatürliches vorging, unbewusst verstärkt hatte: Sie hörte keine Fliegen. In den Wunden des Toten an der Tür wanden sich keine Maden. Dabei hätte die Luft erfüllt sein müssen vom Summen tausender Fliegen, die hier ihr Festmahl hielten, ihre Brut in die Leichen ablegten und den Stall zu ihrem Palast machten.

Lyvianne war versucht, ihr Verborgenes Auge zu öffnen. Der Blick in die magische Welt enthüllte oft, was den richtigen Augen verborgen blieb. Aber einen Zauber zu wirken wäre, wie ein Leuchtfeuer zu entzünden. Das Böse, das sie hier spürte, war nicht von fleischlicher Gestalt. Es würde sie augenblicklich bemerken, wenn sie einen Zauber wob.

Mit einem unguten Gefühl sah sie auf das Schwert in ihren Händen. Es war von Magie durchdrungen. Der Goldene hatte sich zwar bemüht, seine Aura zu verhüllen, sodass es in der magischen Welt nicht auffallen würde. Doch vollkommen war dies nicht geglückt. Es mochte sie verraten.

Alles in ihr schrie danach, diesen Ort wieder zu verlassen. Sie sollte aus dem Stall fliehen und dem Verbotenen Tal den Rücken kehren. Stattdessen setzte sie vorsichtig einen Schritt nach vorn. Dann noch einen. Sie sah nun die Umrisse der Pferdeboxen. Schwärze, die noch dichter war als die Finsternis im Stall. Sah die Tiere am Boden liegen.

Lyvianne kniete nieder. Strich über den Kopf eines Pferdes und zuckte zurück. Der Schädel war unförmig … und weich! Vorsichtig tastend, erkundeten ihre Finger, was sich ihren Augen entzog. Der Schädel des Pferdes war mit etwas Stumpfem eingeschlagen worden. Dicht über den Augen war der Stirnknochen zerschmettert. Mindestens zwei Hiebe mussten es getroffen haben. Sie dachte an den schweren Hammer, den sie bei dem Toten am Eingang gesehen hatte. Warum? Die Taten der Menschenkinder waren oft nur schwer nachvollziehbar, aber das hier …

Ein leises, röchelndes Geräusch ließ sie aufhorchen. Es klang wie ein undichter Blasebalg in einer Schmiede, war kaum wahrnehmbar. Unregelmäßig und schwach. Lebte eines der Pferde noch? Was hatte den Irren am Eingang dazu gebracht, dieses Massaker zu veranstalten? So groß wie der Stall war, mussten hier mindestens vierzig Pferde gestanden haben.

Ein gieriger, grollender Laut übertönte das Röcheln. Der Streuner! Offenbar hatte er ein anderes Aas gefunden und erneut sein Mahl begonnen.

Lyvianne erhob sich. Sie hatte hier im Stall nichts verloren. Es war eine letzte Ausflucht. Ihr Weg führte durch das Tor. Sie sollte sich nicht länger davor drücken. Sie könnte nicht zurück, ohne es versucht zu haben. Der Goldene würde in ihren Gedanken lesen, wie feige sie gewesen war, und das würde sie nicht ertragen!

»Bitte …« Die Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Sie wurde überlagert von den wütenden Fressgeräuschen des Hundes. Lyvianne blickte zum gegenüberliegenden Verschlag. Dort, ganz in der Ecke, noch hinter einem weiteren toten Pferd, saß eine in sich zusammengesunkene Gestalt.

Lyvianne stieg über das Pferd hinweg und ging vor dem Mann in die Hocke. Sein bärtiges Gesicht war ausgezehrt. Sein Mund stand offen. Sie beobachtete, wie allein zu atmen ein Kampf für ihn war, den er kaum noch zu gewinnen vermochte. Seine Brust hob und senkte sich nicht. Tief aus seiner Kehle erklang das Röcheln, das sie eben schon gehört hatte. Er trug eine helle Tunika, die schmutzig, aber nicht blutdurchtränkt war. Zwei Flecke auf seiner Brust fielen ihr auf. Sie hatten die Größe eines Hammerkopfs. Seine Rippen mussten zerschmettert sein. Vielleicht hatte sich ein Knochensplitter in seine Lunge gebohrt … Es war ein Wunder, dass er noch lebte.

»Was ist hier geschehen?«

»Kalt …«

Lyvianne nahm eine seiner Hände. Sie war eisig. Wahrscheinlich hatte er innere Blutungen. »Was ist hier geschehen?«, wiederholte sie noch einmal, langsam und eindringlich. Ihre Augen hielten seinen Blick gefangen. Seine Lider waren halb geschlossen. Sie flatterten. Ein Wort der Macht, dachte sie verzweifelt, und sie könnte ihm die Kraft geben, noch ein paar Worte zu reden. Doch dieses eine Wort würde sie töten. Die Devanthar würden auf sie aufmerksam.

Ihm fielen die Augen zu.

Nie hatte Lyvianne sich so machtlos gefühlt. Er entglitt ihr. Wütend schlug sie ihm auf die Brust. Ein pfeifender Laut entfuhr seiner Kehle, und er riss die Augen weit auf. Sie sah den Schmerz in ihnen brennen.

»Was ist geschehen?« Wer immer diese Mauer errichtet hatte, musste überzeugt gewesen sein, dass sie für das Grauen, das dieses Tal verbarg, unüberwindbar gewesen war. So wie die Bauwerke aussahen, hatte dies wohl auch für zwei oder drei Jahre gestimmt. Denn älter waren die Mauern nicht. Lyvianne musste wissen, was hier geschehen war. Sie musste vorbereitet sein! Musste erfahren, was sich in dem Tal verändert hatte, seit Aaron hier gewesen war.

In den Augen des Sterbenden lag kein Hass. Nur Agonie. Er wollte den Tod umarmen. Wollte seinen Schmerzen entfliehen und dem, das unauslöschlichen Schrecken in sein Antlitz gebrannt hatte.

»Rede! Tu es für Aram. Schütze das Reich!«

Ihre Worte schienen zu ihm durchgedrungen zu sein. Etwas in seinem Blick änderte sich. Er starrte sie an. »Sie … wa-ren …« Jede Silbe war ein Kampf. Seine Lippen zitterten. Immer verzweifelter kämpfte er um Luft. Seine Lunge musste verletzt sein, lief langsam voll Blut, das ihn erstickte.

»Sie waren hier!«, stieß er hervor, bäumte sich auf und sah sie plötzlich an, als erkennte er die Elfe, die sich hinter der Maske eines Menschen verbarg. Sie sah, wie er einatmete, immer verzweifelter keuchend Luft in sich hinabpumpte. Doch seine Lunge vermochte keine Atemluft mehr aufzunehmen. Er sank zurück gegen die Wand. Lyvianne versetzte ihm noch einen Schlag auf die Brust, doch es half nicht. Sie erreichte damit nur, dass sich sein Mund mit Blut füllte, das dunkel von seinen Lippen troff.

Sie waren hier. Das war unübersehbar, dachte sie voller Zorn. Sie hatten den Wahnsinn über die Mauer getragen. Lyvianne erhob sich und verließ den Stall. Nachdenklich blickte sie über die nächtliche Ebene. Hatten die Geister das Tal verlassen?

Mit festem Schritt ging sie durch das Tor in der hohen Mauer.

Das verbotene Tal

Die Sterne schienen tiefer in den Himmel gekrochen zu sein, als sie jenseits des Tors aufblickte. Ihr Licht war schwächer, unsteter, als wäre hier etwas, das sich von ihnen ernährte. Lyvianne spürte die Felshänge, die den engen Talgrund flankierten, mehr, als dass sie sie sah. Ohne länger zu zögern, schritt sie voran in die Dunkelheit. Ihre Sinne waren so gespannt, dass sie das Gefühl hatte, innerlich zu vibrieren. Sie roch den Duft von trockenen Kiefernnadeln, Harz und Staub. Spürte jeden winzigen Stein durch die Sohlen ihrer Sandalen und empfand den Hauch des Nachtwinds wie eine liebkosende Hand auf ihrer Haut. Sie schmeckte den Staub, der in diesem ausgedorrten Land allgegenwärtig war, auf ihren Lippen. Hier im Tal hatte er einen metallischen Beigeschmack. So als läge Kupfer in der Luft.

Jedes Geräusch erschien ihr unnatürlich laut. Der Wind in den Kiefernnadeln und den Felsen sang ihr ein düsteres Willkommen. Lyvianne versuchte, ihre Beklommenheit wegzulächeln. Vergebens. Mit jedem Schritt wuchs das Gefühl in ihr, dass hier etwas war, das sie erwartete, das um sie wusste, auch wenn es ihr noch verborgen blieb.

Allein ihre Augen halfen ihr nicht. Sie waren geblendet von Finsternis. Inzwischen waren die Sterne am Himmel verschwunden. Lyvianne wusste, dass sich das Tal bald zu einer schmalen Klamm verengte. Die Erinnerungen Aarons an diesen Ort formten klare Bilder in ihrem Bewusstsein. Aber war sie tatsächlich schon so tief ins Verbotene Tal vorgedrungen?

Sie fühlte sich beobachtet. Ausgespäht von etwas, dem die Dunkelheit nicht den Gesichtssinn zu nehmen vermochte. Etwas, das mehr Gefühl als Körper war. Etwas, das dieses Tal ausgebrütet hatte und dessen Hass alles durchdrang.

Es war hier merklich kühler. Die brütende Sommerhitze der weiten Ebene war auf die Temperatur eines frostigen Frühlingsmorgens abgekühlt. Wo waren sie, die Geister? Lyvianne spürte sie durch ihren Atemhauch gehen, wenn sie in ihrer klobigen Rüstung voranschritt. Sie wusste, dass sie hier waren. Dieser Ort war nicht für jene geschaffen, denen noch warmes Blut in den Adern rann.

Etwas knackte unter ihrem rechten Fuß. Es fühlte sich an wie ein Ast, der unter ihrer Sohle zerbrach. Aber sie wusste es besser: Überall lagen Knochen. Die Gebeine jener Unvorsichtigen, die dieses Tal betreten hatten, bevor der Unsterbliche Aaron die Mauer hatte errichten lassen. Lyvianne hatte nicht all seine Erinnerungen an diesen Ort erhaschen können, doch Bilder von Männern, die ihre Freunde getötet hatten, gingen ihr durch den Kopf. Von Pferden, die mit ihren Zügeln an Bäume gebunden verdurstet waren, weil ihre Reiter sich gegenseitig die Kehlen durchgeschnitten hatten. Das, was bei der Mauer geschehen war, hatte sich schon Dutzende Male ereignet.

Wer hierherkam, war am sichersten allein. Nur dann musste man keine Klinge im Rücken fürchten. Etwas in diesem Tal verwirrte die Sinne und weckte die dunkelsten Seiten in einem jeden. Lyvianne war versucht, die Geister zu rufen, doch ihr Stolz siegte. Sie sollten zu ihr kommen! Sie würde sich nicht unterwerfen und wimmern. Knochen und Geröll auf dem Boden ließen sie fast straucheln. Sie streckte die Linke aus und ertastete eine Felswand. Der Weg führte direkt an ihr entlang. Ein Helm kollerte mit leisem Klirren unter ihren Füßen fort. Plötzlich war da Licht – fremdartig, nicht aus einer einzelnen Quelle wie einer Fackel oder Laterne. Es schien direkt aus der Felswand zu kommen und war von einem dunklen Blau, das die Finsternis ringsherum eher betonte, als dass es sie vertrieb. Zähflüssig, langsam sickerte es die Felswand hinab. Kroch über die Knochen am Boden und die grün angelaufenen Waffen, die ihre Besitzer nicht vor dem Schrecken dieses Tals hatten beschützen können.

Eng und gewunden war der Weg, dem sie durch die Klamm folgte. Behutsam tastete sie sich durch das Dunkel, das vom blauen Licht nicht vertrieben wurde. Sie konnte die Felswände zu beiden Seiten berühren, ohne ihre Arme ganz ausstrecken zu müssen. Ihre Finger tasteten über kaltes, klebriges Gestein. Lyvianne hatte das absurde Gefühl, dass dieses Tal sie verschlucken wollte.

Seltsame Kalkwucherungen wuchsen auf dem Felsen. Sie erinnerten die Elfe an gefrorene Milchtropfen. Die Kälte dieses Ortes hatte sich tief in ihre Knochen gefressen. Sie zitterte, ohne es unterdrücken zu können. Nur ein Wort der Macht, und ein Kokon wohliger Wärme würde sie umfangen … Das Tal wollte sie dazu verführen, diesen tödlichen Fehler zu begehen. Sie biss die Zähne zusammen und schritt kräftiger aus.

Der Weg machte eine scharfe Kehre, und nun weitete sich die Klamm. Die Felswände, aus denen immer noch blaues Licht sickerte, wichen auf etwa dreißig Schritt zurück. Sie zwang sich weiterzugehen, und obwohl sie wusste, was kommen würde, erschreckte sie der Anblick der zerklüfteten Felswand am Ende des Tals: In einer Mischung aus Ekel und Neugier glitt ihr Blick über das riesige Hochrelief, das grob aus dem Stein geschlagen war und das auch der Unsterbliche Aaron einfach nur abstoßend gefunden hatte. Das Spiel aus Schatten und blauem Licht ließ die tief in den Fels gehauene hockende Gestalt fast lebendig erscheinen. Die Proportionen des Körpers wirkten falsch. Dies war weder ein Mensch noch ein Albenkind. Die Kreatur kauerte auf ihren Fersen, so zumindest war der erste Eindruck, auch wenn die Füße in tiefen Schatten verborgen blieben. Die Arme über der Brust gekreuzt, den unförmigen, viel zu großen Kopf vorgestreckt, schien sie Lyvianne aus ihren kugelrunden Augen direkt entgegenzublicken. Ein schmaler, verkniffener Mund und das kleine spitze Kinn wollten nicht recht zu den riesigen Augen und dem abstoßend nach hinten verlängerten Schädel der Kreatur passen. Steinerne Fesseln wanden sich um den ausgemergelten Körper, als käme es darauf an, die Gestalt daran zu hindern, sich aufzurichten, sich zu strecken und nach dem zu greifen, was ihr gehörte.

Lyvianne erinnerte sich daran, wie Nandalee die Augen der Göttin beschrieben hatte, nachdem sie vom Mittelpunkt der Hohlwelt zurückgekehrt war, die Devanthar und Alben der Riesin zum Kerker gemacht hatten.

Weit wie die Grasebenen des Bainne Tyr waren Nangogs Augen gewesen. Wie unermesslich groß musste erst die Göttin sein! Ihr Leib massiger als ein Gebirge. Ein Ausatmen von ihr ein Sturm. Selbst Alben und Devanthar hatten sie gefürchtet – und hatten die Riesin Nangog deshalb hintergangen, ihre Dienerin, die göttergleich geworden war. Sie hatten sie in einen magischen Schlaf versetzt und ihr das Herz aus glühendem Smaragd gestohlen. Das Herz war geteilt worden. Nandalee hatte die Hälfte, über die die Alben gewacht hatten, zurückgebracht, und Nangog war aus dem tiefen, todesähnlichen Schlaf in einen unruhigen Halbschlaf geglitten. Selbst träumend fühlte sie, was auf ihrer Welt vor sich ging. Fühlte, dass im Dienste der Devanthar die Menschenkinder gekommen waren, um sich die Welt untertan zu machen, die Nangog für ihre eigenen Kinder erschaffen hatte. Jene Geschöpfe, gefangen in Kristall, die Lyvianne in der großen Höhle, tief unter dem Weltenmund, gesehen hatte. Die Riesin hatte ihre Welt in aller Heimlichkeit erstehen lassen. Lyvianne hatte nie verstanden, wie man eine ganze Welt versteckte. Hatte ein Zauber sie vor der Aufmerksamkeit der Alben und Devanthar verborgen? Und was für ein Geschöpf war Nangog gewesen? War sie gut? Oder war sie eine jener Dienerinnen gewesen, die von einem stillen Hass auf ihre Herren durchdrungen war?

Die Elfe ließ ihren Blick erneut über das hässliche Hochrelief gleiten. Hatte Nangog so ausgesehen? Oder war es eine verzerrte Darstellung, mit der die Devanthar sie verspotteten? Ganz gleich wie Nangog war, wenn es gelang, sie ganz vom Zauberbann zu befreien, und sie, wie es der Goldene begehrte, die zweite Hälfte ihres Herzens fand und der Riesin zurückbrachte, dann wäre der Krieg zwischen den Alben und den Devanthar entschieden.

Der Goldene war überzeugt, dass die wiedererweckte Nangog die Devanthar und Menschenkinder aus ihrer Welt vertreiben und ihre Schöpfung vollenden würde. Auch wenn sie nie eine Verbündete der Alben werden würde, die Menschenkinder, die versucht hatten, sich ihre Welt zu unterwerfen, würde Nangog stets mehr hassen.

Lyvianne wandte den Blick ab und trat zu dem Absatz der Treppe, die hinauf zu der Öffnung unter dem Hochrelief reichte. Sie ignorierte den Krieger in weißen Gewändern, der aussah wie die Männer aus der Leibwache des Unsterblichen Aaron und der zusammengesackt auf der untersten Stufe kauerte. Er hatte sich in seinem Wahn sein Schwert durch die Kehle gestoßen. Lyvianne blickte auf die Waffe in ihrer Hand. War auch sie in Gefahr? Mochten die bösen Geister dieses Ortes sie dazu bringen, sich selbst zu richten?

Zweifel an sich zu hegen war der erste Schritt auf diesem Weg, entschied die Elfe und erklomm entschlossen die Treppe. Die Stufen waren ungewöhnlich hoch, so als wären sie für Geschöpfe gemacht, die viel größer als Menschen oder Elfen waren. Skulpturen von Wolkensammlern, jenen riesigen Kreaturen, die auf Nangog Schiffe durch den Himmel trugen, schmückten die Treppenabsätze.

Erst auf den letzten Stufen war der untere Teil der Statue Nangogs deutlich zu erkennen. Jener Bereich über dem dunkel klaffenden Loch in der Felswand, der bisher im Schatten verborgen geblieben war. Knochen ragten aus den Beinstümpfen der Riesin. Wer immer dieses Bildnis erschaffen hatte, hatte mit makaberer Hingabe jedes Detail der Verstümmelung festgehalten. Alben und Devanthar hatten der schlafenden Riesin die Füße abgeschnitten. Ein Akt der Grausamkeit ohne wirklichen Nutzen. Wenn Nangog eine eigene Welt erschaffen hatte, dann würde sie auch ihre Füße neu formen können. Wie hilflos mussten sich die Götter gegenüber der Riesin gefühlt haben, dass sie eine solche Barbarei begangen hatten, dachte Lyvianne beklommen.

Der Durchgang zur Höhle war halb durch eine massive Steinplatte versperrt, die sich aus der Decke herabgesenkt hatte und mehr als einen Fuß dick war. Lyvianne musste an ein Richtschwert denken, als sie vor sie trat. Sie würde sich darunter hindurchducken müssen, wenn sie in die Höhle wollte. Misstrauisch musterte sie die Rinnen, die zur Führung der Steinplatte seitlich in den Fels geschlagen waren. Sie hatte sich nicht verkeilt! Irgendwo gab es einen verborgenen Mechanismus, der dazu diente, sie zu heben oder zu senken. Er war angehalten worden … Die Elfe stellte sich vor, wie ein gehässiger Menschensohn sie beobachtete. Vielleicht ein Überlebender von der Mauer, dessen Verstand längst vom Wahn verschlungen worden war. Sobald sie unter der Platte hindurchschlüpfte, würde er einen Hebel umlegen und sie würde zerquetscht werden.

»Unsinn!«, sagte sie leise. Begann das Gift des Tals auch ihren Geist zu verwirren? Sie ging langsam in die Knie, würdigte die Steinplatte keines Blickes mehr und passierte tief gebeugt das Tor. Nichts geschah …

Auch hier, im Inneren des Berges, regierten dunkelblaues Licht und Finsternis. Es war noch kälter als draußen im Tal. Ein eisiger Lufthauch zog aus den Tiefen der Höhle hinauf, die sich vor ihr in dunkelblauer Finsternis verlor. Sie wusste aus Aarons Erinnerungen, dass die Höhle länger als das Tal war, das sie hinter der Klamm durchquert hatte. Primitive Holzgerüste waren entlang einiger Wände errichtet und um die massigen Säulen, die eine Decke trugen, die in der Höhe vor Lyviannes Blicken verborgen blieb.

Raureif kroch über die Klinge ihres Schwertes. Die Kälte stach wie Nadeln tief in ihre Glieder, und ihr Atem stand ihr als weißer Nebel vor dem Mund. Knisternd schlug sich der Frost in ihrem Haar nieder. Lyvianne wusste, bei dieser Temperatur stehen zu bleiben wäre ihr Tod. Doch sie musste nicht suchen, musste sich nicht umsehen, sie wusste, wo sie finden würde, worauf sie aus war. Und so durchmaß sie mit langen Schritten die Höhle, bis sie zu dem Durchgang am Ende der Halle kam, der sie zur Felsenkammer mit Nangogs halbem Herzen führen würde. Auch hier hatte sich eine steinerne Tür halb hinabgesenkt. Diesmal duckte sich Lyvianne ohne zu zögern unter ihr hindurch.

Augenblicklich blendete sie gleißend grünes Licht. Da waren sie, die Grünen Geister, die sich so tief in Aarons Erinnerungen eingebrannt hatten. Würmer aus Licht, die nach einer lautlosen Melodie tanzten. Und mitten unter ihnen, im Herzen der Felskammer, erhob sich ein mit Perlmuttintarsien verziertes Gestell aus dunklem Holz. Lyvianne blinzelte. Erst glaubte sie, das grelle Licht täusche sie. Dort musste es sein, das Herz, das sie so deutlich in Aarons Erinnerungen gesehen hatte. Ein großer Kristall, durchdrungen von Adern aus reinstem Silber, umtanzt von Grünen Geistern, die ihm huldigten. Aber da war nichts! Ungläubig trat sie näher, tastete sie über das Gestell und blinzelte erneut gegen das Licht an. Aber nichts half. Dort gab es keinen Kristall mehr!

Die Gewissheit traf sie wie ein Fausthieb in den Magen. Sie musste sich am Holzgestell festhalten, denn sie hatte das Gefühl, ihre Beine würden unter ihr nachgeben. All ihre Hoffnungen waren dahin. Sie würde die Gunst des Goldenen nicht mehr zurückgewinnen. Alles war vergebens gewesen!

Sie strich über die Vertiefung im Holzgestell, in der der Kristall geruht hatte. Wie sollte sie zum Goldenen heimkehren, zurück nach Albenmark? Nie zuvor hatte sie auf einer Mission versagt. Bidayn würde davon erfahren … Und Nandalee. Würden die jüngeren Drachenelfen nun in der Sonne der Gunst der Himmelsschlangen stehen?

Wütend schlug sie mit der Faust auf das Holz. Sie würde nicht aufgeben! Wo steckte das Herz? Es musste doch möglich sein herauszufinden, wohin die Devanthar es gebracht hatten! Vielleicht hatten sie Spuren hinterlassen?

Lyvianne blickte auf und erstarrte. Sie war von den Schlangen aus grünem Licht umringt. Sie ahnte, sie waren der Quell des Bösen, das diesen Ort heimsuchte. Entschlossen griff die Elfe nach ihrem Schwert. Aaron hatte eine dieser Kreaturen in sein Schwert gebannt. Sie würde sich ihren Weg hinauskämpfen oder untergehen.

Kaum, dass ihre Hand den lederumwickelten Schwertgriff berührte, dachte sie an den Krieger am Eingang der Höhle, der sich mit seiner eigenen Waffe gerichtet hatte. Sie musste sich gegen den Wahn wappnen, der die stärkste Waffe war. Das Grauen, das jeden Verstand vernichtete. Sie wollte ein Wort der Macht rufen, um sich zu schützen, auch wenn die Devanthar so von ihrer Anwesenheit erfuhren. Doch bevor ein Laut über ihre Lippen kam, geschah das Unfassbare: Die Grünen Geister verneigten sich vor ihr. Jene Kreaturen, die die Dunkelheit in dieses Tal gebracht hatten, huldigten ihr.

»Ihr wisst, dass ich euch nichts Übles will«, sagte Lyvianne leise, und doch hallten ihre Worte wie Donner in der Felskammer wider.

Es kam Bewegung in die Schlangen. Eine nach der anderen glitten sie zu Boden, um sich dann langsam wieder in die Luft zu erheben. Die Geister umflossen sie. Lyvianne stand nun inmitten eines Strudels aus grünem Licht. Die tödliche Kälte war gewichen – was hatten die Geister mit ihr vor?

»Ihr spürt, dass ich ihrem Herzen nahe war, nicht wahr?« Lyvianne legte ihr verwunschenes Schwert auf den Boden. Sie wusste, dass Nandalee einen dieser Geister unbeschadet in sich aufgenommen hatte. Und sie wusste um die Sehnsucht der verlorenen Seelen, endlich einen Körper zu erlangen. Endlich Fleisch zu sein und nicht nur Geist. Zu fühlen, ein Leben zu haben.

»Meine Götter haben euch einst Unrecht zugefügt. Sie haben Nangog verraten. Doch kein Unrecht kann bis ans Ende aller Zeit bestehen. Wir werden Nangog helfen. Sie soll ihre Welt zurückerhalten. Nun kämpfen wir gemeinsam. Gemeinsam werden wir die Menschen und Devanthar besiegen und das alte Gleichgewicht, das nie hätte gestört werden dürfen, wiederherstellen.« Die Elfe kniete nieder. Sie war sich bewusst, dass die Geister Zeugen all dessen gewesen waren, was sich hier im Tal ereignet hatte. Doch würden sie ihr Wissen nicht mit ihr teilen können. Sie hatten keine Stimme, keine Macht. Es gab nur einen Weg. Sie legte den Kopf in den Nacken und öffnete weit den Mund. »Ihr seid willkommen.« Wieder hallte ihre Stimme wie fernes Donnergrollen von den Wänden der Kammer.

Lyvianne stellte sich vor, dass sie ein gewaltiger Rosenbusch mit Hunderten roten Blüten sei. Dann formte sie in Gedanken jede Blüte zu einer Knospe zurück, jeden Trieb zurück zu dem Stamm, dem er entsprossen war. Der Rosenbusch schrumpfte, bis er nur noch ein Keimling war, und auch dieser zog sich zurück in die Hagebutte, aus der er entsprossen war. So wie den Busch führte sie all ihre Sinne in ihr Innerstes zurück. Sie verschloss ihr Selbst, die Essenz ihrer Seele vor den Mächten, die nun in sie strömten: vor der Begierde, endlich Fleisch geworden zu sein, vor dem Rausch, Sinne zu besitzen. Sie überließ den Grünen Geistern ihren Leib. Duldete, dass er sich auf fremden Befehl erhob und ihre eigenen Hände neugierig tastend über ihren Leib fuhren.

Lyvianne verlor jedes Zeitgefühl, während die Geister all ihre Glieder streckten, mit ihrem Fleisch tanzten, an ihrem Schwert ihre Hand aufschnitten und das warme Blut kosteten. Schließlich verspürte sie brennenden Durst, und sie duldete, dass das Hagebuttenkorn, auf das sie ihr Selbst reduziert hatte, wieder keimte. Die Grünen Geister leisteten keinen Widerstand. Sie akzeptierten, dass sie in diesem Leib nur Gäste waren, und ließen sie gewähren, als Lyvianne den Rosenbusch zu voller Blüte wachsen ließ und nach und nach wieder von ihren Gliedern und ihren Sinnen Besitz ergriff.

So wie die Grünen Geister ihre geheimsten Erinnerungen gesehen hatten, so kannte auch sie nun das Schicksal der Geister. Sie waren Nangog zu nahe gewesen, als ihr das Herz entrissen worden war. Es war nicht ihr Wille gewesen hierherzukommen. Sie hatten lange gebraucht, um zu verstehen, was geschehen war. Und mit dem Verstehen war ihre Wut gewachsen. Die Wut auf die Devanthar, die Nangog das angetan hatten und für die Grünen Geister unangreifbar waren. So hatten sie ihren Zorn an den Menschenkindern gestillt, denen ihre Götter keinen Schutz gewährten. Die Devanthar hatten gewollt, dass dieses Tal ein verfluchter und gemiedener Ort wurde. Den Grünen Geistern war durchaus bewusst, dass sie benutzt wurden, um dies zu erreichen. Und dennoch legten sie ihrer Wut keine Zügel an. Sie waren um ihre Geburt und um ihre Welt betrogen worden.

Beinahe überwältigt vom Hass der Geister, öffnete Lyvianne ihr Bewusstsein ganz und gar. Sie musste die starken Gefühle über sich hinwegbranden lassen, um zu erkunden, was dahinterlag. Sie wollte herausfinden, wer das Herz der Göttin geholt hatte und wohin es gebracht worden war.

Die Geister waren immer hier gewesen. Ein Bannspruch verhinderte, dass sie das Tal verließen. Sie mussten wissen, wer gekommen war. Langsam tastete sie sich durch das dornige Dickicht dunkler Gefühle und wurde überrascht. Nur ein einziger Sinn der Geister war ausgebildet und erlaubte ihnen, die Welt um sich herum wahrzunehmen: Sie besaßen das Verborgene Auge! Was sie sahen, war die magische Welt. Die Aura der Lebewesen und das große magische Netzwerk, das alles durchdrang und miteinander verband.

Die Elfe tauchte ein in ihre Erinnerungen: Große, menschenähnliche Gestalten, umflossen von kraftvollen, goldenen Auren waren gekommen und hatten das kristallene Herz Nangogs geholt. Waren es die Devanthar gewesen? Wahrscheinlich! Aber auch die Himmelsschlangen würden, wenn sie Elfengestalt annahmen und man sie durch das Verborgene Auge betrachtete, so aussehen. Die Grünen Geister wussten nicht, wohin das Herz ihrer Göttin gebracht worden war.

Lyvianne keuchte auf. Ihre Niederlage war endgültig. Die Mission gescheitert. Sie sank neben dem Holzgerüst in die Knie. Es war Pech. Sie war zu spät gekommen. Die Grünen Geister hatten kein Zeitgefühl. Wie lange es her war, dass das Herz geholt worden war, blieb ungewiss. Aber Lyvianne war sich sicher, dass es höchstens ein paar Wochen waren. Nangogs Herz hatte hier Jahrhunderte geruht! Und sie kam um ein paar Wochen, ja vielleicht sogar nur wenige Tage zu spät. Aber all das würde den Goldenen nicht interessieren. Wenn sie ihm sagte, es sei Pech gewesen, würde er es als Ausrede auffassen.

Sie schloss die Augen und sammelte sich. Sie hatte noch nie im Leben einfach aufgegeben. Nicht auf den Missionen, auf die der Goldene sie geschickt hatte, und nicht in ihrem Begehren, das vollkommene Kind zu gebären. So oft war sie dabei enttäuscht worden. Und doch hatte sie es immer wieder aufs Neue versucht. Ein Kind zu empfangen, das die Welt verändern würde. Das erste in einer neuen Rasse von Elfen. Ein Kind, vollkommen in all seinen Anlagen.

Lyvianne ballte die Fäuste und öffnete entschlossen ihre Augen. Sie würde nicht einfach aufgeben. Vielleicht gab es eine Spur, irgendeinen Fingerzeig, der ihr verriet, wohin die Devanthar diesen kostbarsten aller Schätze gebracht hatten. Sie stand auf und sah sich in der jetzt, da die Geister verschwunden waren, in blaues Zwielicht getauchten Kammer um. Die Wände waren mit Bildern bedeckt. Sie zeigten die Devanthar. Einige erkannte Lyvianne: den Löwenhäuptigen, die geflügelte Išta und den großen Bären, den die Bewohner Drusnas verehrten. Andere waren ihr fremd. Ein Flammenmann und eine Gestalt, die nur Licht zu sein schien. Die Reliefs zeigten, wie die Devanthar das Herz Nangogs hierhergebracht hatten. Sie zu betrachten half nicht. Voller Bitternis verließ die Elfe die Schatzkammer und trat in die weite Höhle zurück. Auch hier musste sie dicht vor die behauenen Felswände treten, aus denen das unheimliche, blaue Licht sickerte, um etwas erkennen zu können.

Die Wandbilder hier waren niemals fertiggestellt worden. War es wegen der Grünen Geister? Was war hier geschehen?

Als hätten die Geister in ihr verstanden, erschien ein Bild aus Licht vor ihrem Inneren Auge. Zeigte es erneut die Herzkammer, die sie eben verlassen hatte? Dort war etwas mit einer machtvollen Aura, die sanft pulsierte. Dann erschien eine Gestalt. Ein Devanthar … Die Gestalt war von wogendem, rotem Licht umgeben. Zorn und Angst beherrschten sie. Und sie wirkte seltsam. Hatte sie Flügel? Lyvianne stockte der Atem, als sie sah, wie die Geflügelte ein Stück aus dem Kristallherz brach und davonschlich. War das etwa der Grund, warum es kein Herz mehr gab? Hatten die Devanthar es in kleine Stücke zerbrochen?

Die Geister in Lyvianne bäumten sich auf. Plötzlich waren um sie herum schwache Auren. Menschen? Sie schienen zu kämpfen. Manche verblassten einfach.

Lyvianne begriff, dass es Bilder der Vergangenheit waren, die die Geister heraufbeschworen. Es war so, als wäre sie mitten in das, was einst geschehen war, hineinversetzt. Die Elfe stieg über ein niedergestürztes Gerüst hinweg. Geröll, altes Holz und dürre Knochen knirschten unter ihren Schritten. Die Geister führten sie zu einer der großen Säulen in der Mitte der Höhle. Auch sie war mit in den Stein geschnittenen Bildern bedeckt. Die Reliefs in dieser Höhle waren einst bunt bemalt gewesen. Sie sah ein Bild mit Vogelmännern, die im Geäst eines gewaltigen Baums kauerten. Ein anderes Bild zeigte eine große Flotte, um die herum sich allerlei Meeresgetier in den Wellen tummelte. Fast alle Bilder waren beschädigt. Nach dem, was sie im Tal gesehen hatte, konnte Lyvianne sich gut vorstellen, wie die Handwerker im Wahn die Arbeit von Jahren mit Hammerschlägen zerstört hatten.

Die Geister in ihr hoben ihre Hand und deuteten auf ein Bild, etwa einen Schritt über ihr. Es zeigte Išta mit einem erhobenen Speer, als wollte sie die Waffe jeden Augenblick auf einen Gegner hinabstoßen. Mit grimmigem Gesicht sah die Devanthar nach unten. Doch was sie einmal bekämpft hatte, war vernichtet. Hier war das Zerstörungswerk der Menschen besonders gründlich gewesen. Es war nichts mehr vom Bild geblieben.

Die Grünen Geister überließen ihr wieder die Kontrolle über ihren Körper. Jetzt versuchten sie, ihr in den Bildern aus Auren und Licht, so wie sie die Welt sahen, aufzuzeigen, was geschehen war. Išta war hierhergekommen. Es sah aus, als hätten die Arbeiter geruht, als die Devanthar die große Halle betreten hatte. Linien aus glühend rotem Licht verzweigten sich aus ihren Fingern. Išta beugte sich vor, berührte einen Schlafenden, und ein engmaschiges Netz aus roten Kraftlinien schloss sich um dessen Kopf. Die Devanthar hatte die Steinmetze mit ihrem Zauber umwoben. Einen nach dem anderen. So machtvoll waren die Bilder in Lyviannes Geist, dass sie erneut die Toten als Lichtgestalten in der Halle sah. Sie beobachtete, wie sich der erste Bildhauer von seinem Lager erhob, wie er einen spitzen Hammer nahm und ihn tief im Schädel seines schlafenden Nachbarn versenkte, um dann mit dem Werkzeug zur nächsten Wand zu gehen und auf die Reliefs einzuschlagen. Derweil huschte Išta von Schläfer zu Schläfer und belegte die Unglückseligen mit ihrem verderbten Zauber.

Der Lärm des Hammers, der voller Zorn auf die Reliefs schlug, weckte die Schläfer auf. All dies sah Lyvianne, ohne dass sie einen einzigen Ton vernahm. Es war ein stummes Trauerspiel … Die Aura der meisten Männer glänzte golden, während sie geschlafen hatten. Sie waren einfache, ehrliche Handwerker, voller Stolz darauf, in Diensten ihrer Götter zu wirken. Als sie erwachten und das Zerstörungswerk sahen, waren sie zunächst fassungslos.

Lyvianne sah, wie sie ihrem Kameraden zuriefen. Sie sah, wie sie ihm entgegenliefen, versuchten, ihn aufzuhalten. Bald zeigte sich das helle Rot rechtschaffenen Zorns in ihren Auren, und als der erste unter einem Hammerhieb fiel, veränderte es sich zum dunklen Rot des blinden Hasses. Ein wütender Kampf entbrannte in der Halle. Männer, die Freunde gewesen waren, als sie sich zur Ruhe gelegt hatten, Kameraden für viele Monde, gingen sich nun gegenseitig an die Gurgel.

Išta indessen machte sich an dem Relief zu schaffen, vor dem Lyvianne stand. Sie musste Menschengestalt angenommen haben, denn keiner der streitenden Steinmetze beachtete sie. Mit gezielten Hieben vernichtete sie den unteren Teil des Steinbildes und kniete dann nieder, um noch weiter auf die Splitter am Boden einzuschlagen. Sie ließ sich Zeit mit ihrem Vernichtungswerk. Der Kampf in der Halle hatte seinen Höhepunkt bereits überschritten, als sie sich erhob. Die Mehrzahl der Menschenkinder lag niedergestreckt. Lyvianne sah ihre Auren verblassen, als das Leben von ihnen wich. Išta aber ging zur Herzkammer und verführte die Grünen Geister, sich an den Menschenkindern zu laben. Sie zeigte ihnen, wie sie von der Kraft des Lebens nehmen konnten, sich von Hass oder Angst nähren konnten. Lyvianne spürte, was die Grünen Geister gefühlt hatten … Ihren Rausch, dem Zorn, der sie so lange beherrscht hatte, endlich freie Bahn zu lassen. Stets körperlos waren Empfindungen wie ihr Hass für sie etwas Abstraktes gewesen; ein Wort, dem der Inhalt fehlte. Doch Išta lehrte sie, an den Gefühlen der Menschenkinder teilzuhaben. Der Devanthar war es gleich, wie die Menschen, die sie hätte schützen sollen, litten. Die Geister aber gerieten in Ekstase und tranken die Auren der Unglücklichen, die noch am Leben waren, ließen jene Kraft, die sie mit dem magischen Netz verband, verlöschen und lernten, wie sie den Verstand der einfachen Männer verwirren konnten, sodass sie die schrecklichsten Bluttaten begingen. Einige der Geister hatten anfangs Abneigung gegenüber ihren Taten empfunden. Doch was sie den Menschenkindern nahmen, war für sie wie ein schleichendes Gift. Wer einmal von tiefen Gefühlen gekostet hatte, der mochte nicht mehr darauf verzichten.

Nun wusste Lyvianne alles: Es war Išta, die den Schrecken dieses Tales erschaffen hatte. Sie hatte sowohl die Menschen als auch die Seelen der ungeborenen Kinder Nangogs dazu missbraucht, ihre eigene Spur zu verwischen. Išta selbst hatte sich zurückgezogen, bevor das Morden in der großen Halle geendet hatte. Die Devanthar hatten die Grünen Geister fortan nicht aufgehalten oder gar gestraft, doch von da an stets einen der Ihren als Wächter über das kristallene Herz abgestellt. Kein Devanthar schritt ein, wenn Menschen in das Tal kamen und ihr Unglück fanden. Sie schützten die Menschenkinder nicht, sondern ließen sie zu ihrer Kurzweil leiden.

Lyvianne blinzelte. Sie schüttelte den Kopf, als würde dies helfen, die Bilder in ihren Gedanken zu vertreiben. Tatsächlich zogen sich die Grünen Geister aus ihrem Bewusstsein zurück. Sie spürte ihre Anwesenheit, doch sie teilten sich ihr nicht mehr mit, respektierten, dass Lyvianne nun wieder ganz Herrin ihrer Sinne und Gedanken sein wollte.

Die Elfe kniete nieder und betrachtete die Gesteinssplitter am Fuß der Säule. Die meisten waren kaum so groß wie ein Fingernagel, und da das Relief schon im Original nicht sonderlich gut gearbeitet war, war aus diesen Fragmenten so gut wie nichts zu erkennen. Ein längliches Stück zeigte einen Dolch oder eine Speerspitze. Oder sollte es ein Fangzahn sein? Auf einem anderen Fragment, halb so groß wie ihre Hand, war ein unregelmäßiges Schuppenmuster in den Stein geschnitten. Das konnte ein Fisch oder ein schlecht dargestellter Schuppenpanzer sein. Vielleicht sogar ein Drache. Von den Wochen, die sie in den Tempelarchiven der Goldenen Stadt verbracht hatte, kannte Lyvianne die Geschichte von Išta der Drachentöterin. Einst hatte ihre Schwester Anatu Freundschaft mit einer Himmelsschlange geschlossen. Vielleicht waren Anatu und der Purpurne sogar ein Liebespaar gewesen – obwohl Lyvianne sich nicht vorstellen konnte, dass einer der Drachenfürsten sich in eine Devanthar verliebte. Als Išta davon erfuhr, erschlug sie in ihrem Zorn den Purpurnen und nahm Anatu gefangen, um ihre Schwester für immer im Gelben Turm einkerkern zu lassen.

Hatte das Bild auf der Säule gezeigt, wie Išta den Purpurnen mit einer Lanze durchbohrte? Der erhobene Arm mit dem abwärtsstoßenden Speer passte zu dieser Erzählung. Aber warum hätte die Devanthar dieses Bildnis zerstören sollen? Die Geschichte war weithin bekannt. Was war hier abgebildet gewesen, das ihre Brüder und Schwestern nicht hatten sehen dürfen?

Die Grünen Geister hatten ihr nicht helfen können, diese Frage zu beantworten. Ein Steinbild konnte zwar eine schwache Aura haben und war auch mit dem magischen Netz verbunden, aber beides war zu abstrakt, um auf die Darstellung zu schließen.

Lyvianne sah erneut zum Bild der Devanthar hinauf. Diese Pose der Išta mit dem erhobenen Speer kam ihr bekannt vor. Sie hatte sie in einem Tempel in Nangog gesehen. Aber auch schon an einem anderen Ort. Nur wo?

Nachdenklich stand sie auf und verließ erst die Höhle und dann das Verbotene Tal, das nach Jahrhunderten, nun da sie die Grünen Geister in sich trug, endlich ein friedlicher Ort werden würde. Viel zu lange war sie an diesem düsteren Ort gewesen.

Als sie die Mauer erreichte, streckte erstes Morgenlicht seine silbernen Finger über die Bergrücken. War da etwas zwischen den Kiefern gewesen? Misstrauisch musterte sie den Wald auf der Bergflanke über ihr. Das Licht ließ die Bäume lange Schatten werfen. Sie sah eine Elster zwischen den roten Stämmen dahingleiten und atmete auf. Nur ein Vogel.

Sie eilte zu ihrem Streitwagen und saß, ohne noch einmal zurückzublicken, auf. Nach Albenmark konnte sie nicht zurück – sie würde dem Goldenen nicht als Versagerin unter die Augen treten! Wenn sie ihm schon nicht das Herz Nangogs bringen konnte, dann wollte sie wenigstens das Geheimnis aufdecken, das Išta um einen solch hohen Preis bewahrt hatte. Als sie in raschem Tempo davonfuhr, erinnerte sie sich wieder, wo sie die siegreiche Išta schon einmal gesehen hatte. In den Wäldern Drusnas auf einem efeuumrankten Stein nahe einem Heiligen Hain. Der Efeu hatte die untere Hälfte des Steins verborgen. Vielleicht fand sich dort, was hier zerstört worden war. Doch warum gab es einen Stein, der Išta zeigte, in Drusna bei einem Heiligtum des Großen Bären, der der Devanthar des Waldlands war?

Der letzte Krieg

Ashots Blick schweifte zu der mächtigen, von rot gestrichenen Zedernbalken getragenen Decke der weiten Kammer, in die Aaron ihn bestellt hatte, und weiter zu den Dutzenden Tischen, auf denen sich Tontafeln und Karten türmten. Jeden Tag verbrachte der Unsterbliche etliche Stunden hier und kümmerte sich um Dinge, die eigentlich sein Hofmeister Mataan hätte erledigen sollen. Doch Aaron wollte alles wissen, was in seinem Reich vor sich ging. Er interessierte sich für Steuergelder, für die Verzögerung des Dammbaus am Amur, weit im Osten des Reiches, für die Klagen der Freudenmädchen aus Urat, denen der Zutritt zu den Karawansereien verboten worden war, für den Stand der Ernte und Geschichten über einen mordenden Keiler in den Bergen nahe Kalydon an der Küste zur aiolischen See. Obwohl er mehr Zeit mit all diesen Texten verbrachte, als für einen Menschen gut sein konnte – selbst wenn er unsterblich war –, hatte sich seine körperliche und seelische Verfassung in den letzten Monden verbessert.

Es war etwas eingetreten, womit niemand im Palast mehr gerechnet hatte, seit der Unsterbliche seinen Harem aufgelöst hatte und keusch wie ein Priester geworden war. Aaron schien sein Herz verloren zu haben. An ein Küchenmädchen! Kirum hieß sie, und obwohl sich Aaron bemühte, diskret zu sein, war ihr Name in aller Munde, und täglich wuchs der Tratsch. Erst am Morgen noch hatte der Hofmeister Mataan ihn auf den neuesten Stand gebracht, was die Gerüchte anging.

Sie beide sorgten sich um Aaron, auch wenn der Umgang mit dem Mädchen ihrem Herrscher ganz offensichtlich wohltat. Kirum hatte keine Vergangenheit; sie war aus dem Nichts erschienen, um in der Palastküche niederste Dienste zu verrichten. Aaron wäre ihr niemals begegnet, hätte man sie nicht vor ihn geführt, um ein Urteil zu fällen, nachdem sie seinem Leibkoch Mahut den Arm ausgekugelt, auf dem Kopf des königlichen Vorkosters eine Amphore zertrümmert und noch vier weitere Küchengehilfen niedergeschlagen hatte. Ashot war schleierhaft, was Aaron an dieser Furie fand. Sie selbst hatte behauptet, aus Nari zu stammen. Mataan hatte dort diskret Erkundigungen anstellen lassen. Niemand kannte eine Kirum in Nari.

Sie hatte sich also mit Lügen das Vertrauen des Unsterblichen erschlichen. Wahrscheinlich hatten seine Feinde dieses Mädchen geschickt, denn zu viele trachteten dem Herrscher nach dem Leben. Und auch wenn Aaron nichts davon wissen wollte, war sie im günstigsten Fall ein Spitzel, vielleicht aber auch eine Meuchlerin. Er und Mataan würden arrangieren, dass sie einfach verschwand.

Aaron, der über einen kaum handgroßen Holzrahmen gebeugt saß, in den weiches Bienenwachs gestrichen worden war, und bisher leise vor sich hin gemurmelt hatte, stieß plötzlich einen Fluch aus, zerdrückte den Text auf der Tafel mit dem Daumen und begann erneut, mit dem Elfenbeingriffel Schriftzeichen in das Wachs zu ritzen.

Ashot beobachtete Aaron aufmerksam. In so aufgewühlter Stimmung hatte er den Unsterblichen seit Wochen nicht mehr erlebt.

»Das sind sie«, rief Aaron. »Endlich habe ich sie gefunden: Die richtigen Worte!« Er stand auf und trat zu Ashot. »Und du wirst der Erste sein, der sie liest, denn du bist unter allen hier bei Hof der Einzige, der es wagt, mir seine ehrliche Meinung ins Gesicht zu sagen.«

Ashot musterte die Wachstafel, die ihm Aaron hinhielt. Die Schrift war undeutlich, in großer Eile niedergelegt. Doch die Worte waren wohl gesetzt. Es verschlug Ashot den Atem, als er las, was offensichtlich der Entwurf für ein neues Gesetz sein sollte.

»Das könnt Ihr nicht tun, Erhabener«, stammelte er fassungslos und überflog die schiefen Zeilen ein zweites Mal. »Ihr wollt jeden jungen Mann, der sein siebzehntes Jahr vollendet hat, auf zwei Jahre zu den Waffen rufen?«

Aaron nickte ernst. »Und jeden kräftigen Mann, der dieses Alter überschritten hat und bereit ist, für ein Goldstück Werbegeld zu den Löwenstandarten zu eilen.«

»Ihr …« Ashot legte die Schreibtafel auf den Tisch. »Das Reich braucht diese Männer. Sie werden Schreiber, Bauern, Bäcker, Tempeldiener, Händler …«

»Sie alle werden zunächst einmal Krieger sein«, entgegnete der Unsterbliche fest. »Und nicht nur hier wird es so sein. In allen sieben Königreichen wird dieses Gesetz Geltung haben. So wurde es beschlossen; es war der Wunsch der Götter. Und es muss sein! Die Jugend unserer Welt wird sich erheben. Seit’ an Seit’ werden sie in den letzten Krieg ziehen, um uns danach immerwährenden Frieden zu schenken. Wenn wir bereit sind, dieses letzte Opfer zu bringen, dann wird ein goldenes Zeitalter anbrechen.«

Aarons Augen glänzten, als brennte ein Fieber in ihnen. Seine Stimme überschlug sich, während er sprach. Er war durchdrungen von dieser Idee, die ihm die Götter eingeflüstert hatten. Ashot fragte sich, ob es bei den anderen Unsterblichen genauso war. Aaron hatte eine unselige Tendenz dazu, sich abseitigen Ideen hinzugeben, um die Welt zu verbessern. Unwillkürlich musste Ashot an seinen Freund Artax denken. Er war genauso gewesen. Die beiden hätten sich sicherlich gut verstanden. Doch Artax war vor Jahren auf Nangog verschollen.

Ashot hatte seine neue Macht genutzt, um Erkundigungen über seinen Jugendfreund einzuholen. Artax hatte seine Felder auf Nangog verlassen und war in den Wäldern verschwunden. Wahrscheinlich hatten ihn die Grünen Geister geholt, wie schon so viele andere auch.

»Du bist skeptisch?«, fragte Aaron. Er klang, als würde er mit einem störrischen Kind reden.

»Wie könnte ich nicht skeptisch sein, wenn ich sehe, dass die Kräfte einer ganzen Welt auf ein Ziel ausgerichtet werden: den Krieg. Nichts wird mehr so sein, wie wir es kannten. Und das Volk wird dich dafür nicht lieben. Die Mütter werden ihre Söhne vor deinen Werbern verstecken. Sie werden deinen Namen auf bleierne Fluchtafeln schreiben und zu den Göttern beten, um alles Unglück dieser Welt auf dein Haupt herabzurufen.«

»Ich weiß«, entgegnete der Unsterbliche bedrückt und strich sich mit fahriger Geste über seinen langen, sorgsam in Locken gelegten Bart. »Es ist der Preis der Freiheit.«

»Warum?«, sagte Ashot aufgebracht. »Was ist es wert, die Jugend unserer Welt zu opfern?«

»Eine Welt ohne Kriege. Es ist unser Geschenk an die Jugend der Zukunft.« Aaron stieß einen tiefen Seufzer aus. »Glaubst du, ich führe gerne Kriege? Meinst du, es fällt mir leicht, dieses Gesetz zu erlassen?« Er deutete auf die Wachstafel auf dem Tisch, an dem er gearbeitet hatte. »Ich weiß, was dies in der Zukunft bringen wird. Das Leben Tausender wird zerstört sein. Ich hatte so sehr gehofft, dass ein Treffen der Unsterblichen alle künftigen Kriege auf unserer Welt verhindern könnte. Ich wollte eine Welt, in der die Mächtigen ihre Zwistigkeiten in einem Streitgespräch lösen. Oder im schlimmsten Falle in einem Duell. Doch der Angriff auf Selinunt hat alles verändert. Nichts wird mehr sein wie zuvor. Dir ist klar, dass die Drachen versucht haben, unsere Götter zu töten? Und alle Unsterblichen und ihre wichtigsten Hofräte gleich mit ihnen? Unsere ganze Welt wäre in ein Zeitalter der Finsternis gestürzt, wären wir, so wie geplant, zum großen Fest in der Stadt gewesen. Die Drachen hätten alle Menschenvölker zu ihren Sklaven gemacht. Und sie werden es wieder versuchen.«

Nein, Ashot hatte das schreckliche Himmelsfeuer über Selinunt nicht vergessen. Wer direkt in den gleißenden Flammenstrahl geblickt hatte, war erblindet. Binnen eines Herzschlages war eine ganze Stadt vernichtet worden. Niemand, der dort gewesen war, würde diese Bilder jemals aus seiner Erinnerung tilgen können. In allen sieben Königreichen wurde diese Geschichte seit Wochen weitergetragen. Sie würde auch die entferntesten Winkel Daias erreichen.

»Was vermögen wir Menschen gegen Götterdrachen auszurichten?«, fragte er leise. »Willst du unsere Krieger gegen Flammenwälle marschieren lassen?«

»Unsere Götter werden an unserer Seite sein, Ashot. In dieser Stunde steht Langarm an seiner Schmiede. Seit dem Untergang von Selinunt hat er kaum geschlafen. Er wird uns neue Waffen schenken. Waffen, die den Drachen und ihren Daimonenkindern den Tod bringen werden. Wir werden nicht tatenlos warten, bis es ein zweites Selinunt gibt.«

Ashot konnte die fiebrige Begeisterung des Herrschers nicht verstehen. Aber er war ja auch nur ein Bauer, den eine Laune des Schicksals zum Hauptmann der Leibwache des Unsterblichen gemacht hatte. »Wir werden in die Welt der Daimonenkinder ziehen?«, fragte er mit heiserer Stimme, und während er sprach, überkam ihn ein Gefühl, als strömte Eiswasser in seine Gedärme.

»Das ist nicht der Plan.« Selbst Aaron schien über den Gedanken erschrocken, in die Heimat der Daimonen ziehen zu müssen. »Wir kämpfen auf Nangog. Zunächst müssen wir jene Albtraumgestalten besiegen, die sich in den Wäldern und auf den Totenäckern erhoben haben. Diese Bestien, halb Mensch, halb Tier, die Angst und Schrecken verbreiten.« Er ballte die Fäuste. »Glaube mir, ich fürchte diesen Krieg und den Preis, den wir werden zahlen müssen, Ashot. Wir hätten niemals nach Nangog gehen dürfen. Es war ein Fehler, den unsere Vorväter gemacht haben. Nun brauchen wir das Korn und das Fleisch dieser Welt. Unsere Entscheidung ist, ob wir darum kämpfen und unsere jungen Männer opfern oder ob wir aufgeben und ein Jahrzehnt der Hungerwinter erdulden wollen, in denen wir mit ansehen, wie die Alten, die Kranken und die kleinen Kinder dahinsiechen und die anderen, bis zum Skelett abgemagert, nichts tun können, als ihnen beim Sterben zuzusehen. Du kommst aus einem armen Dorf, Ashot. Du weißt, was Hunger bedeutet. Du hast ihn schon gesehen. Hast gesehen, wie verbitterte Männer kleine Bündel im ersten Morgengrauen zum Totenacker getragen haben, um ihre Letztgeborenen zu begraben … Ich kann mein Volk nicht auf diesen Weg führen, Ashot. Nicht solange meine Kraft reicht, ein Schwert zu halten und mich diesem Schicksal entgegenzustemmen.«

»Ihr erinnert euch an den Überfall auf die Tempelstadt der Zapote, Herr?«

Der Unsterbliche runzelte die Stirn. »Natürlich.«

»An die toten Krieger der Zapote, die wir gefunden haben? Jene unheimlichen Tiermänner? Die Krieger, die auf der Hochebene von Kush Muwattas Streitwagen aufgehalten haben, obwohl die Männer des Unsterblichen ihnen um mehr als das Zwanzigfache an Zahl überlegen waren. Die Jaguarmänner der Zapote sind die besten Krieger dieser Welt. Und die Daimonenkinder haben sie getötet.« Ashot schnippte mit den Fingern. »Einfach so. Sagt mir, Herr, wie soll ich meine Männer gegen unbesiegbare Daimonen in den Kampf führen? Was kann sie aufhalten?«

Für einen Moment lang wirkte Aaron erneut verärgert. Er presste die Lippen zusammen und bedachte ihn mit einem schneidenden Blick. Doch dann seufzte er plötzlich. »Es sind diese Fragen, die dich als Ratgeber so wertvoll machen. Fragen, die andere nicht zu stellen wagen. Und ich will dir ehrlich antworten. Wir glauben, dass die Daimonenkinder nach Nangog kommen werden, um den Grünen Geistern und den Ungeheuern, die sich erhoben haben, beizustehen. Sie werden versuchen, uns von dieser Welt zu vertreiben. Aber die Devanthar sagen, die Daimonen seien in allem, was sie tun, sehr langsam und bedacht. Wir müssen die Zeit nutzen und schnell die Ungeheuer vertreiben, die uns dort heimsuchen. Wir müssen stark werden. Wir müssen unsere Krieger ausbilden, und wenn die Daimonen kommen, dann wird Nangog für sie wie eine Ebene voller Treibsand sein. Sie werden in dieser Welt versinken, und unsere Krieger sind die Sandkörner. Jedes einzelne Sandkorn für sich ist bedeutungslos. Ihre Macht liegt in ihrer Zahl, und es ist unser Plan, der uns aus einfachem Sand zu Treibsand werden lässt.«

Ashot schüttelte den Kopf. »Das sind nur Worte. Ich verstehe den Plan immer noch nicht. Was genau lässt uns von einfachen Sandkörnern zu tödlichem Treibsand werden?«

»Unsere Bereitschaft, zehn Leben für einen toten Daimonen zu geben. Zwanzig, wenn es sein muss … Es wird unsere Zahl sein, die uns am Ende unbesiegbar macht.« Aaron war blass geworden, und doch spiegelte sich in seinen Zügen eine Entschlossenheit, die in Ashot jede Hoffnung sterben ließ, dass der Herrscher diesen mörderischen Plan wieder aufgeben würde.

»Ihr habt das falsche Bild gewählt, Unsterblicher«, sagte der Hauptmann verbittert. »Eine Ebene voller Sand, das hört sich so sauber an. Ihr aber habt entschieden, die Daimonen und die Ungeheuer Nangogs im Blut Eurer Untertanen zu ertränken. Wie schafft Ihr es, tagsüber solche Pläne zu schmieden und Euch nachts mit einem Küchenmädchen zu vergnügen? Was für ein Mann seid Ihr geworden? Wann ist Euch Eure Seele verloren gegangen?« Kaum waren die Worte über seine Lippen, bereute Ashot sie schon. Nicht ihren Inhalt, es war die Wahrheit, was er sagte, doch fürchtete er sich vor dem Preis, den er dafür zahlen müsste.

Der Unsterbliche blieb erstaunlich ruhig. Er sah ihn durchdringend an. Nicht einmal Tadel lag in seinem Blick. »Hast du einen Traum, mein Freund?«

Ashot war völlig überrumpelt. »Ich verstehe nicht …«

»Hast du etwas, das du in deinem Leben unbedingt erreichen möchtest? Etwas, dem dein letzter Gedanke gilt, bevor du einschläfst, und gleich der erste, wenn du wieder erwachst? Etwas, das dich brennen lässt, dein Leben reicher macht und ihm ein Ziel gibt?«

Der Hauptmann zögerte, obwohl er auch sofort hätte antworten können. Es war sein Dienst für den Unsterblichen, der sein Leben erfüllte. Er träumte nicht von einer Frau, von Macht oder Reichtum. Manchmal, wenn er nachts zur Ruhe kam und all seine Pflichten weit hinter ihm lagen, empfand er eine schmerzliche Leere in seinem Leben. »Ich träume nicht«, entgegnete er gereizt, denn er ahnte, dass Aaron um diese Antwort gewusst hatte. »Ich stehe mit beiden Beinen im Leben.«

Der Herrscher lächelte. »Ja, das ist ein Teil des Problems. Du stehst. Es gibt keine Bewegung in deinem Leben. Du hast dich mit der Welt abgefunden, wie sie ist. Ich aber möchte sie verändern. Ich möchte sie verbessern. Ich möchte sie zu einem Ort machen, an dem die Schwachen nicht unterdrückt werden. An dem ein Bauer vor dem Gesetz nicht anders behandelt wird als ein Satrap. Einem Ort, an dem es keinen Hass und keine Ausbeutung mehr gibt. Es liegt in unserer Hand, die Welt zu formen, in der wir leben. Wahrscheinlich war es ein Fehler, nach Nangog zu gehen und sich nicht mit der einen Welt zu bescheiden, die uns von Anbeginn der Zeiten an von unseren Göttern geschenkt worden war … Ich kann dies nicht mehr rückgängig machen, ohne großes Leid über mein Volk zu bringen. Also gehe ich voran. Wir müssen Nangog sicher machen und dafür sorgen, dass nie wieder eine Flammensäule vom Himmel hinabsticht, um binnen eines Herzschlages eine ganze Stadt und ihre Bewohner zu Asche werden zu lassen. Und wenn dies vollbracht ist, dann werden Friede und Gerechtigkeit walten. Ich werde all meine Kraft geben, um dieses Ziel zu erreichen.« Der Herrscher nahm die Wachstafel, die Ashot auf den Tisch zurückgelegt hatte, auf. »Bring dies zu den Schreibern. Jeder Satrap, jede freie Stadt und jeder größere Tempel soll eine Abschrift davon erhalten und dieses neue Gesetz umsetzen.«

Der Hauptmann nahm die Tafel. Er wusste, dass weitere Einwände kein Gehör mehr finden würden. Niedergeschlagen zog er sich zurück, während Aaron durch die Flügeltür trat, die auf die weite Terrasse führte, und den grauen Himmel betrachtete. Er wirkte unendlich einsam. Sein Traum schien vor allem eins zu sein: ein Albtraum.

Kirum

Ashot eilte den langen Flur hinunter, der von den Privatgemächern des Unsterblichen zum Löwenhof führte. Ein Fresko, das eine Flusslandschaft zeigte, säumte die Wände. Es zeigte den Unsterblichen auf der Pirsch im hohen Schilf, das mit Lilien durchsetzt war. Man sah ihn Löwen nachstellen und Enten jagen oder aber am Fluss weilen, wo seine Haremsdamen in durchscheinenden Gewändern mit Leiern und dickbauchigen Flöten für ihn spielten, während eine nackte, rothaarige Schönheit tanzte. Ashot fragte sich, wie lange diese Tage wohl schon vergangen waren? Nie hatte er erlebt, wie der Unsterbliche Aaron sich dem Müßiggang hingab. Dieses Küchenmädchen aus Nari war die einzige Schwäche, die der Herrscher sich erlaubte.

Schwere Schritte, begleitet von einem Klacken, ließen den Hauptmann aufblicken. Mataan war vom Hof aus in den Flur getreten. Der Hofmeister war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein dürrer, großgewachsener Mann, der sich schwer auf seinen Krückstock stützte. Seine Muskeln waren dahingeschmolzen. Es war ihm kaum noch anzusehen, dass er einst ein Krieger gewesen war. Dabei war nicht einmal ein Jahr vergangen, seit er sich im Steinhorst, der letzten Fluchtburg Eleasars, des verräterischen Satrapen von Nari, schützend vor den Unsterblichen geworfen hatte und schwer verwundet worden war.

»Wie geht es ihm?«, fragte Mataan, als sie einander gegenüberstanden.

Statt zu antworten, hielt Ashot ihm den Entwurf für das neue Gesetz hin. Der Hofmeister überflog die Zeilen und nickte.

»Du stimmst dem zu, Mataan?«

»Hat der Unsterbliche eine Wahl? Dieser Krieg wurde uns von den Drachen aufgezwungen. In diesem Gesetz finde ich seinen edlen Geist, der selbst in diesen dunklen Zeiten hell wie ein Leuchtfeuer erstrahlt.«

Ashot traute seinen Ohren nicht. »Du weißt, was uns erwartet. Wir führen die Jugend unseres Reiches zur Schlachtbank. Ich weiß nicht, was du an diesem Gesetz Wunderbares entdecken kannst.«

»Es gibt keine Ausnahmen. Es ist einfach und klar. Jeder muss gehen, ob er nun der Sohn eines Satrapen oder eines Bettlers ist. Und alle beginnen sie mit dem gleichen Rang. Allein Mut und Können entscheiden über den Aufstieg. Ich sehe all seine alten Ideen in diesen Zeilen. Er wird unser Reich verändern.« Mataans Augen glänzten nun fast so wie die des Unsterblichen, als er eben von seinen Plänen gesprochen hatte. »In dieser Stunde beginnt die Geburt eines neuen Reiches. Und wie bei jeder Geburt muss auch hier Blut fließen.«

»Vor gar nicht allzu langer Zeit warst du es, der ihn vor diesen Ideen gewarnt hat«, entgegnete Ashot gereizt. »Du hast vorausgesehen, dass sich die Satrapen gegen ihn erheben werden. Und genau so ist es gekommen. Und wer hat den Preis gezahlt?« Er maß den ausgezehrten Krieger, von dem kaum mehr als Haut und Knochen geblieben waren, mit kaltem Blick. »Was lässt ausgerechnet dich in deinem Urteil wanken?«

»Ich habe gesehen, wie die Götter ihn als ersten Menschen in den Gelben Turm gerufen haben, um zu hören, was er zu sagen hat. Ich war Zeuge, wie er es schaffte, alle Unsterblichen an einem Ort zu versammeln, damit sie über eine neue Ordnung der Welt beraten. Und ich war Zeuge, wie er vorhergesehen hat, dass die Drachen versuchen würden, alle zu vernichten. Er ist kein Mann wie du und ich. Wir dürfen ihn nicht nach unserem Maß beurteilen. Er hat Visionen …«

»Die habe ich auch! Erinnerst du dich noch an die Schrecken der Hochebene von Kush? Diese Schlacht war wie das harmlose Gerangel von Kindern im Vergleich zu dem, was uns erwartet. Die Drachen werden ihre Daimonenkinder schicken, und allein die Götter wissen, was noch. Wie sollen wir in so einem Krieg siegen?«

»Glaube ist der erste Schritt«, entgegnete Mataan voller unerschütterlichem Vertrauen. »Und ich glaube an den Unsterblichen. Er hat mit Bauernkriegern das stärkste Heer Daias besiegt. Dieser Mann ist auch Daimonen und Drachen gewachsen. Wer, wenn nicht er? Ich werde treu an seiner Seite stehen, wenn dieser Kampf beginnt.«

»Und ich werde bleiben, damit es in diesen Mauern wenigstens einen gibt, der ihm offen die Meinung ins Gesicht sagt.« In Wahrheit war sich Ashot nur zu bewusst, dass es für ihn keinen anderen Ort mehr gab. Er hatte zu viel gesehen, um noch einmal in sein Dorf Belbek zurückkehren zu können und darauf zu hoffen, dort seinen Frieden zu finden. Die Welt war grausamer, als er es sich je hätte ausmalen können. Es war besser, dort zu sein, wo über den Lauf der Dinge entschieden wurde. Nur dort konnte er etwas bewirken. In Belbek wäre er nicht mehr als ein Schaf, das darauf wartete, dass man es zur Schlachtbank holte.

»Kein schlechter Grund zu bleiben.« Mataan sah ihn forschend an. »Da du die mahnende Stimme der Vernunft bist, hast du ihn gewiss auch auf Kirum angesprochen.«

»Weil ich die Stimme der Vernunft bin, habe ich dieses Thema nicht wirklich vertieft. Es war der falsche Augenblick, ihm klar zu sagen, was wir über sie denken und was er tun sollte!«

Mataan lächelte süffisant. »Und mir wirfst du vor, ich sei wankelmütig?«

»An wen wird er zuerst denken, wenn sie aus dem Palast verschwindet und einer von uns ihm einen langen Vortrag gehalten hat, wie schädlich die Liebelei mit einer Küchenmagd für den Frieden im Reich ist?«

»Und du glaubst, wenn wir schweigen, wird er nicht auf uns kommen?«

»Er ist ein guter Mensch.«

Mataans Blick wurde hart. »Eine Schwäche, die wir um seinetwillen nicht teilen dürfen. Er sollte die Tochter eines Unsterblichen zum Weib nehmen. Oder wenigstens eine Satrapentochter, aber kein Küchenmädchen, über deren Herkunft sich schon der ganze Palast das Maul zerreißt. Heute habe ich gehört, sie sei eine Kriegerprinzessin vom Seidenfluss und eine Hure aus der Goldenen Stadt, und Mahut, der Leibkoch des Unsterblichen, dem sie den Arm auskugelte, schwört, sie sei eine Kräuterkundige.«

Ashot dachte an die wilde Schlägerei, in die Kirum in der Palastküche geraten war. »Sie hat in der Tat ein Kriegerherz …«

»Und in der Küche hatte sie nicht einmal eine Waffe zur Hand.« Mataan schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Ausgerechnet dieses Weib holt sich der Unsterbliche in sein Bett. Ich begreife ihn nicht! Ich bin inzwischen ganz sicher, dass sie als Kriegerin ausgebildet wurde oder, schlimmer noch, als Meuchlerin. In der Palastküche war sie nur, um die Aufmerksamkeit des Unsterblichen zu erregen. Was sie nun aber in seinem Bett will, wissen allein die Götter.«

»Und du bist dir ganz sicher, dass ihre Geschichten gelogen sind?« Ashot fühlte sich mit jedem Augenblick unwohler. Der Unsterbliche war fast sein Freund, soweit ein Mensch, der den Göttern näherstand als seinesgleichen, überhaupt ein Freund genannt werden konnte. Und nun stand er hier und überlegte gemeinsam mit Mataan, wie sie den einzigen Funken Freude in seinem Leben auslöschen konnten. Es war niederträchtig. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass das Richtige zu tun so dunkle Taten erfordern konnte.

»Natürlich lügt sie!« Mataan klang fast beleidigt. »Der Hofmeister Datames war wie eine Spinne, die inmitten eines unsichtbaren Netzes gesessen hat, das sich über das ganze Reich erstreckte. Immer noch melden sich fast täglich Spitzel bei mir, die nun in meine Dienste treten möchten und in der Vergangenheit meinem Vorgänger zugearbeitet haben. Allein in Nari habe ich einen Priester aus dem Hauptarchiv des Tempels, einen Hauptmann aus der Leibwache des Satrapen und einen reichen Handelsherren, die ihrerseits ihre eigenen Verbindungen nutzen, um für mich an Informationen zu gelangen. Es gab in dieser Stadt niemals eine Kirum. Sie steht nicht auf der Liste der Geburten, niemand ihres Namens hat je Abgaben an den Tempel entrichtet oder wäre den Stadtwachen aufgefallen. Glaube mir, sie lügt. Und wer sich mit Lügen das Vertrauen des Unsterblichen erschleicht, der hat keine Gnade verdient. So war es schon immer hier im Palast.«

Ashot sah Mataan mit großen Augen an. Diese Seite kannte er noch nicht an dem Fischerfürsten. »Wie meinst du das?«

»Vor Aarons Himmelssturz war dieser Palast ein ganz anderer Ort. Hier regierten Angst und Grausamkeit.« Der Hofmeister senkte die Stimme. »Einst war der Unsterbliche ein zügelloser …« Einen Augenblick rang Mataan um Worte. »… ein zügelloser Mann«, sagte er schließlich matt, und es war unüberhörbar, dass er seinen Gefühlen keinen freien Lauf gelassen hatte. »Die Löwengrube und das große Becken mit den Krokodilen … Dort hat er Haremsdamen hinrichten lassen, die seine Gnade verwirkt hatten oder deren einziger Fehler es gewesen war, mit der Zeit zu altern und sein Auge nicht mehr zu erfreuen. Damals galt, dass eine Dame, die einmal das Bett mit dem Unsterblichen geteilt hatte, niemals wieder bei einem einfachen Mann liegen sollte. Wohin also mit den Frauen? All das änderte sich nach dem Himmelssturz. Und Datames ließ nach und nach alle Diener vom Hof entfernen, die einst dem anderen, zügellosen Aaron allzu willfährig gehorcht hatten. Heute wirst du hier kaum noch jemanden finden, der dir über diese Zeit aus eigener Erfahrung berichten könnte.«

Ashot kannte Gerüchte über die alte Zeit, aber er hatte sie immer als Lügengeschichten abgetan. Sie passten so gar nicht zu dem Aaron, den er kannte. »Woher weißt du das alles?«

»Ich bin Satrap, ich war auf einigen der Feste …« Ein Wangenmuskel zuckte in dem ausgezehrten Gesicht des Hofmeisters. »Ich war beschämt, der Diener eines solchen Herrschers zu sein. Niemals hätte ich erwartet, dass er sich so sehr ändern könnte. Er kam zu mir. Und dann hat er in einem Fischerboot gemeinsam mit mir und seinem Kriegsmeister Juba eine ganze Piratenflotte herausgefordert. Ich erkannte den Mann, den ich hier im Palast gesehen hatte, nicht mehr wieder. Alles war anders geworden. Nicht nur ich habe so empfunden … Es gibt ein Geheimnis um den Himmelssturz, und es ist nicht gut, daran zu rühren. Aaron hat nach diesem Sturz seinen Harem aufgelöst. Die Frauen, die ihn wirklich gut kannten, wurden vom Hof entfernt.«

Ashot war fassungslos. Was wollte Mataan da andeuten? Allein schon so zu denken war blanke Ketzerei. »Hast du Beweise für das, was du andeutest?«

»Nur den Beweis, dass alle Beweise verschwunden sind. Die Frauen, die bezeugen könnten, dass sich vielleicht der Körper des Unsterblichen verändert hat, wurden in die entferntesten Ecken des Reiches verheiratet. Und eine, Aya war ihr Name, beging Selbstmord, indem sie in die Löwengrube sprang. Welche Frau tut so etwas? Frauen vergiften sich oder schneiden sich die Pulsadern auf. Sie suchen einen Tod, der ihren Körper nicht verstümmelt. In die Löwengrube springen …« Mataan schüttelte den Kopf. »Daran glaube ich nicht. Bei diesem Selbstmord wurde nachgeholfen.«

»Du meinst, Aaron hat …«

»Nein«, entgegnete Mataan entschieden. »Er würde das niemals tun. Es war ein anderer, der zu allem bereit war, um den Unsterblichen zu schützen, denn der neue Aaron, Herrscher von Aram, ist in jeder Hinsicht ein vorbildlicher Mann, dem meine ganze Hingabe gilt. Er opfert sich auf, um das Reich zu schützen und zu neuer Blüte zu führen. Und nicht weniger sollten wir auch tun. Ich werde mich um Kirum kümmern.«

»Was wirst du tun?«

»Eine endgültige Lösung finden.« Er seufzte, doch sein Blick blieb hart. »Willst du wirklich mehr wissen?«

Ashot schwieg.

»Weißt du, mein Freund«, fuhr Mataan fort, als das Schweigen zwischen ihnen zu bedrückend wurde. »Wir beide, wir sind die Schatten des Unsterblichen. Es liegt an uns, zu tun, was im Dunkel bleiben soll, damit nichts das strahlende Licht trübt, das unseren Herrscher umgibt.«

Kurbelbeine, Aale und eine Überraschung

Etwas Metallisches schlug auf das obere Luk des Aals. Wie ein Glockenschlag hallte es durch den engen Bootskörper, und im blassen Bernsteinlicht des Barinsteins blickten alle zu ihm hinauf. Ihr kleines Boot lag still. Endlich, dachte Hornbori erleichtert. Er stand auf der eisernen Leiter unter dem Luk und griff nach dem Hebel, der den mit feinem Rost überzogenen Ausstieg verschlossen hielt. Die Luft in dem Tauchboot war so von den Ausdünstungen der Körper gesättigt, dass er bei jedem Atemzug das Gefühl hatte, etwas Pelziges lege sich auf seine Zunge.

Energisch drehte er den Verschluss auf und stieß gegen das Luk. Seinem ersten Schlag widersetzte es sich. Es war angerostet. Dann half jemand von außen. Hornbori schob sich bis zur Hüfte durch den engen Ausstieg. Es war, wie neu geboren zu werden. Obwohl kein Tageslicht um ihn herum herrschte, war es deutlich heller als im Boot, und er musste die Augen zukneifen. Tief atmete er ein. Die Luft war mit Rauch gesättigt. Es roch nach frisch geschlagenem Holz, erhitztem Metall, dem Dung von Grubenpferden, Schmierfett und Kohlsuppe. Ein zweites Mal atmete Hornbori tief ein, bewusster nun, genießender. Es war der Geruch einer Zwergenstadt! Nichts war so gut. Es fühlte sich nach Heimat an, auch wenn sie in den Ehernen Hallen und nicht in der Tiefen Stadt waren.

»Eh, beweg endlich deinen fetten Arsch!«, grollte Galar unter ihm. »Oder du wirst meine Faust da spüren, wo ewige Finsternis herrscht. Mach voran! Wir anderen wollen auch endlich aus diesem schwimmenden Sarg heraus.«

»Beleidige mein Boot nicht«, erklang es dumpf vom Bug, wo der Steuermann zwischen seinen Hebeln lag.

Hornbori packte mit beiden Händen den eisernen Ring, der den Durchstieg bildete, und schob sich ganz nach oben. Jemand griff nach seinem Wams und half ihm heraus. Der Zwerg blinzelte noch immer gegen das ungewohnte Licht an. Leicht schwankend trat er auf eine Laufplanke, die vom rutschigen Rumpf des Aals über weitere Tauchboote hinweg auf einen Kai führte.

»Endlich frei!«, rief Galar hinter ihm in die weite Hafenhalle. Allmählich sah Hornbori deutlicher, und aus Schemen wurden Gestalten. Der Hafen war überfüllt von Arbeitern. An den Anlegestellen waren die Aale in mehreren Reihen hintereinander vertäut. Nie hatte er so viele der Tauchboote an einem Ort versammelt gesehen. Auf den Kais standen Krieger in langen Kettenhemden, die die Neuankömmlinge in Empfang nahmen. Obwohl noch nicht einmal die halbe Besatzung ihres Bootes durch das Luk geklettert war, legte schon der nächste Aal neben ihnen an und wurde mit Tauen festgezurrt. Ein breitschultriger Dockarbeiter, der lediglich mit einer zerfransten Hose aus grobem, braunem Tuch bekleidet war, sprang auf das neue Boot und schlug mit einem Hammer auf das Luk, zum Zeichen, dass die Besatzung aussteigen konnte.

Ein anderer tiefer, metallischer Ton wie der Schlag einer riesigen Glocke ließ Hornbori zusammenzucken. Er vertrat sich, rutschte von der Planke in den schmalen Spalt zwischen zwei vertäuten Aalen. Die Schiffe bewegten sich in der sanften Dünung des Hafenbeckens.

»Halt dich fest!«, rief Galar zu ihm herab und streckte ihm eine Hand entgegen.

Hornbori stieß einen Fluch aus – er steckte zwischen zwei Bootsrümpfen fest. Obwohl seine Füße kaum ins Wasser eingetaucht waren, war er tief genug gefallen, dass der Druck auf seinen Brustkorb stieg, als die Bootsrümpfe gegeneinanderdrängten. Er fühlte sich wie eine Maus in der Faust eines Minenarbeiters, die den Fehler gemacht hatte, sich dabei erwischen zu lassen, wie sie vom Hartkäse genascht hatte. Er würde zerquetscht werden. Er packte verzweifelt die Hand des Schmiedes.

Auf Galars Stirn trat eine breite Ader hervor, so sehr strengte er sich an. »Ausatmen, Schisser! Tu es, bevor dich die Boote ein letztes Mal ausatmen lassen.«

Hornbori versuchte es, doch da war schon längst keine Luft mehr in seiner Lunge. Einatmen, das war, was er jetzt sollte, aber er war so fest zwischen den Rümpfen der Aale eingeklemmt, dass keine Luft in seine Lunge wollte. Er japste vor Angst wie ein kleiner Hund. Gleich wäre es um ihn geschehen. Die weite Höhle verschwamm vor seinen Augen ….

Plötzlich ließ der Druck nach, als die Dünung die Reihe der vertäuten Aale auseinanderzog. Mit einem Ruck wurde Hornbori auf den kupferbeschlagenen Schiffsrumpf gezogen. Sein Brustkorb und Rücken schmerzten, und ihm standen Tränen in den Augen. Selbst jetzt konnte er nicht frei atmen.

»Mann, flenn nicht! Du hast noch Glück gehabt!«, erklärte der Dockarbeiter, der nun neben Galar stand. »Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht einer zwischen den Aalen zerquetscht wird. Einfach zu voll hier unten. Der Hafen wurde einfach nicht dafür gebaut, den Heerbann der Zwerge zu versammeln.«

»Der Heerbann wird versammelt?«, fragte Galar ungläubig. Auch Hornbori traute seinen Ohren nicht. Es gab einen Krieg? Hatten die Drachen etwa noch eine weitere Stadt angegriffen? Und was würde geschehen, wenn die Himmelsschlangen erfuhren, dass sich hier tausende Zwergenkrieger sammelten? Die Stadt würde brennen!

Beklommen blickte er zur hohen Höhlendecke, unter der Rauchschwaden zogen, und der Atem stockte ihm. An schweren, rostigen Eisenketten hingen dort weit über hundert Aale. Mit weißer Farbe waren Runenzeichen auf die algenbedeckten Rümpfe gemalt. Sie hoben die Tauchboote aus dem Wasser, um Platz für neue Aale im Hafenbecken zu schaffen. Wie Schinken in einer Räucherkammer hingen sie dort. Es waren fast nur größere Boote für fünfzehn bis dreißig Mann. In der Ferne sah er, wie ein Boot über eine Kettenwinde hochgezogen wurde. Wasser troff von dem verbeulten Rumpf. Es glitt entlang mächtiger eiserner Träger, die in der Höhlendecke befestigt waren, und schlug mit einem Ton wie der Gongschlag eines Riesen gegen einen anderen Rumpf.

»Eh, auf die Beine mit dir, Heulsuse!«, blaffte ihn der Dockarbeiter an. »Da hinten kommt schon wieder ein neues Boot. Hier ist nicht der Ort, um Maulaffen feilzuhalten.«

Galar half ihm auf und strafte ihn mit einem Blick voller Verachtung. Mit seinem zerzausten, nicht gerade üppig wuchernden Bart, dem ungepflegten Haupthaar und seinen dürren, aber drahtigen Armen machte er nicht gerade viel her. Vielleicht war er deshalb so ein gehässiger Sonderling, dachte Hornbori. Auch wenn Galar ein genialer Schmied und Alchemist war, gab es kaum jemanden, der ihn mochte, außer Nyr, dem Richtschützen vielleicht und dem Krüppel Glamir, dem Herrn jenes verfluchten Turms, in dem sie fast ein halbes Jahr gefangen gewesen waren.

»Beweg dich, Schisser!«, grölte nun auch Glamir, der, auf seine Krücke gestützt, ein Stück hinter ihnen stand. Er hatte die respektlose Art Galars übernommen. Nein, berichtigte sich Hornbori in Gedanken, auch Glamir war immer schon ein saufender, stinkender Bastard gewesen. Er hatte lediglich Galars Lieblingsschimpfwort für ihn übernommen.

Leicht humpelnd und weiterhin auf den Schmied gestützt, erreichten sie den gemauerten Kai. Hornbori hatte immer noch das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen schwankte. Nach den endlosen Tagen im Aal hatte er Kurbelbeine, wie die Tauchfahrer es nannten. So wie alle Mitreisenden hatte er die ganze Zeit mit dem Rücken zur kalten Bootswand gesessen und in die Pedale getreten, um die Kurbelwelle zu bewegen, die sich längs durch den Aal zog. Es war ihre Muskelkraft, die die Wasserschraube bewegte und das Tauchboot vorantrieb. Eine elende, schweißtreibende Plackerei war es. Selbst die schöne Amalaswintha hatte in die Pedale treten müssen. Nur der kleine Frar war von der Mühsal verschont geblieben. Wie bei ihrer ersten Reise hatte er in einem Frachtnetz unter der Decke des engen Aals gehangen. Er war der Einzige von ihnen, der die Tage in dem stickigen Boot genossen hatte. Das sanfte Schaukeln und die leisen Flüche hatten ihm gefallen. Der Junge hatte die falschen Zwerge um sich! Wenn er groß war, würde er vermutlich genauso ein Drecksack wie Galar werden.

Jeder Atemzug versetzte Hornbori einen Stich. Vermutlich hatte er sich eine Rippe gebrochen. Mindestens eine!

Mürrische Krieger winkten sie vom Kai vorbei an turmhohen Stapeln von allerlei Kriegsgütern. Es mussten Hunderte Fässer voller Pilz und Salzfleisch sein, dazu Gebirge aus Säcken voller Mehl, Bohnen und Erbsen. Das Hämmern von Schmieden hallte durch die weiten Tunnel, die sich zum Hafen hin öffneten. Sie passierten eine Karawane abgemagerter, halb blinder Grubenponys, die weitere Lebensmittel heranschleppten.

Endlich wurde es Galar zu bunt, immer nur weitergewunken zu werden. Er packte einen der Krieger beim Kettenhemd und zog ihn zu sich herum. Trotz seiner hageren Gestalt hatte der Schmied Bärenkräfte. »Du bringst uns jetzt sofort zu Eikin. Wir müssen ihn so rasch wie möglich sehen, es geht um Leben und Tod!«

»Ich glaube nicht, dass der Alte in der Tiefe, Fürst Eikin, für einen stinkenden Grubenfeger wie dich zu sprechen ist. Heute nicht und auch an keinem anderen Tag in deinem Leben.«

In Galars Augen trat das Funkeln, das Hornbori seit seiner ersten Begegnung mit dem halbverrückten Schmied das Fürchten gelehrt hatte. »Du bringst mich zu Eikin, wenn dir daran gelegen ist, heute und an den restlichen Tagen deines kümmerlichen Lebens noch eine Speise zu dir zu nehmen, für die man Zähne im Maul haben sollte.«

Aus den Augenwinkeln sah Hornbori einen Trupp Krieger mit Schlagstöcken und Äxten in ihre Richtung eilen. Unglaublich, wie Galar sich darauf verstand, sich schon in der ersten Stunde in einer fremden Stadt Feinde zu machen. Eigentlich würde er gerne zusehen, wie der stinkende Schmied das Fell gegerbt bekam, aber es bestand die Möglichkeit, dass die Wachen nicht mehr unterschieden, wer den Streit angefangen hatte und wer nur argloser Zuschauer war, wenn es erst einmal richtig zur Sache ging. Er war im selben Aal wie Galar gekommen, und der Ärger, der gerade heraufzog, würde auch ihn treffen.

»Mein Freund meint das nicht so.«

»Was?«, herrschte ihn der Krieger an, den Galar nun langsam am Kettenhemd in die Höhe hob. »Dass er mir die Zähne ausschlagen will oder wie er den Alten in der Tiefe beleidigt. Ihr seid dran, ihr …«

»Hör nicht auf den kleinen Schisser«, zischte Galar. »Der hat hier nichts zu melden!« Mit diesen Worten stieß er den Krieger gegen einen Stapel Fässer, die unter dem Aufprall bedenklich zu schwanken begannen.

Glamir verlagerte sein Gewicht auf sein gesundes Bein und hob drohend seine Krücke. Dabei huschte ein triumphierendes Lächeln über sein verunstaltetes Gesicht. Nyr reichte Frar an Amalaswintha und hob die Fäuste. Warum hatten diese Irren nur solchen Spaß daran, sich zu prügeln? Und warum saß er mittendrin, dachte Hornbori verzweifelt.

»Das ist alles nur ein Missverständnis«, stieß er verzweifelt hervor, während er sich unter einem Knüppelhieb hinwegduckte. Auch die Krieger, die ihren Kameraden zu Hilfe eilten, waren keine Freunde klärender Worte. Ohne sich mit irgendwelchen Fragen aufzuhalten, legten sie sofort los.

Galar schleuderte ihnen ihren Kameraden, der sich wieder auf ihn gestürzt hatte, entgegen und warf sich dann mit weit ausgebreiteten Armen ins Getümmel. Glamir rammte einem Axtträger seine Krücke ins Gesicht. Der Zwerg, der angesichts des Krüppels mit einem Holzbein vor ihm einen verhängnisvollen Augenblick lang gezögert hatte, büßte seine Rücksichtnahme nun mit einer gebrochenen Nase.

Hornbori blockte mit seiner unverwundbaren Faust einen Axthieb, der nur mit halber Kraft geführt war. Obwohl ihm der Treffer das Handgelenk stauchte, verfehlte der Auftritt seine Wirkung nicht. Der Krieger, ein bulliger, blonder Kerl mit rotem Gesicht, wich erschrocken vor ihm zurück.

»Das … Deine Hand … ist stärker als der Stahl …«

Hornbori kannte die Wirkung solcher Auftritte. Sogar Galar hatte seine Mordgelüste vergessen, als er das zum ersten Mal gesehen hatte. Dieser Griff in das merkwürdige Gemisch aus Koboldkäse und Drachenblut, damals als Galar in der Schmiede auf ihn losgegangen war, hatte sein Leben einschneidender verändert als irgendein anderes Ereignis. Bedauerlich war nur, dass es trotz aller Mühen nicht gelungen war, irgendwelche anderen Körperteile von ihm unverwundbar zu machen.

»Wie du siehst, können Waffen mich nicht verletzen«, sagte Hornbori mit gespielter Ruhe. »Was glaubst du, was diese Faust anzurichten vermag, wenn ich wirklich wütend werde.«

»Das sind die Drachentöter!«, rief der Axtschwinger. »Hört auf! Die Drachentöter sind zurück.«

Das Knäuel der Kämpfenden löste sich. Galar hatte ein blaues Auge, und Glamir lag am Boden, hatte seinem Angreifer aber gerade mit dem Holzbein in die Kronjuwelen getreten. Beide sahen so aus, als täte es ihnen leid, dass die Keilerei ein plötzliches Ende genommen hatte.

Amalaswintha drückte Nyr das Baby in den Arm und zischte einem der Schläger etwas ins Ohr. »Du bist …«, sagte er ungläubig.

»Ganz genau«, entgegnete sie selbstbewusst. »Ich bin Amalaswintha, gern gesehener Gast an der Tafel eures Fürsten. Amalaswintha, der ein eigener Tunnel in der Ehernen Stadt gehört, zwei der ertragreichsten Minen in dieser Gegend sowie eine wohlgefüllte Lagerhöhle, ein Kai in diesem Hafen und siebzehn von diesen verfluchten Aalen, in denen ich in meinem ganzen Leben hoffentlich nie wieder auch nur eine einzige Stunde verbringen muss.«

Obwohl ihr rotes Kleid sichtlich unter den Strapazen der Reise gelitten hatte und sie roch, wie man es nun einmal tat, wenn man zwei Wochen mit schwitzenden Zwergen in einem Aal verbracht hatte, gelang es ihr, all das vergessen zu lassen und wie eine Fürstin aufzutreten. »Im Übrigen bin ich mir sicher, dass es Eikin, der Alte aus der Tiefe, schätzen wird, wenn nicht die Runde macht, welche Gäste heute hier eingetroffen sind. Wenn die Himmelsschlangen erfahren, wer in den Ehernen Hallen weilt, dann wird auch dieser Ort das Schicksal der Tiefen Stadt teilen.«

Es war unübersehbar, welchen Eindruck Amalaswinthas Worte gemacht hatten. Der Axtträger rief seine Kameraden zurück, und in der Art, wie er sie nun ansah, hielten sich Bewunderung und Furcht die Waage. Alle Zwerge träumten davon, die Tyrannen vom Himmel zu holen, doch mehr noch fürchteten sie den Preis dafür.

»Ich werde euch ein Quartier suchen«, murmelte der blonde Krieger, der Hornbori eben noch mit der Axt niedermachen wollte. »Und ich schicke einen Boten zu Eikin. Ich … Verzeiht …«

»Sei’s drum.« Galar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir brauchen kein Quartier. Wir nehmen den Tunnel von Amalaswintha als Unterkunft und …«

»Ganz sicher nicht!«, zischte die Zwergin. »Ich habe genug Zeit mit einem Dutzend lüsterner Zwerge in einem stinkenden Fass verbracht. Und nicht einer von euch hat den Blick abgewendet, wenn ich auf den Nachttopf steigen musste. Im Gegenteil, euch sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Was mich angeht, will ich keinen von euch jemals wiedersehen!«

»Hab dich mal nicht so, Liebchen.« Glamir war wieder auf sein Bein gekommen und leckte sich über die Lippen. »Du hast doch wohl nicht unsere schönen Stunden miteinander in meinem Turm vergessen. Wenigstens mich solltest du in deinen Tunnel einladen. Ich hab auch nur mit einem Auge hingesehen, wenn du auf den Topf musstest.« Um seine Worte zu unterstreichen, hob er seine Augenklappe, sodass deutlich das vernarbte Loch zu sehen war, das anstelle seines rechten Auges geblieben war.

»Du wärst der Letzte, der bei mir über die Schwelle kommt. Erzählt euch nur untereinander eure Phantasien. Wahr ist, dass ich bei keinem einzigen von euch im Bett gelegen habe, ihr stinkende, nichtsnutzige Bande.« Mit diesen Worten zog sie davon. Nicht einer der Wächter machte den Versuch, sie aufzuhalten.

Hornbori sah ihr verblüfft und zugleich auch erleichtert nach. Er war sich ganz sicher gewesen, dass sie sich auf Glamir eingelassen hatte. Wie schön, dass er sich geirrt hatte. Nur was ihn anging, hatte sie gelogen. Zweimal war es ihm gelungen, sie zu umgarnen. Aber wer konnte einem so prächtigen Mannsbild, wie er es war, auch widerstehen?

Der blonde Krieger gab ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen. Anfangs versuchte er, aus Glamir und Galar ein paar Geschichten über den Drachenkampf herauszubekommen, aber die beiden waren in mürrischer Stimmung und brachten kaum die Zähne auseinander. So nahm Hornbori es auf sich, von ihren Heldentaten zu berichten, wobei er darauf achtete, seine eigenen Taten ins rechte Licht zu rücken. Immer wieder fing er sich einen mörderischen Blick von Galar ein, doch der Schmied unterbrach ihn nicht, während er ausführlich von ihrem Kampf um die Tiefe Stadt berichtete. Bereits nach Kurzem erreichten sie einen Stollen, der zumindest zeitweise als Materiallager gedient haben musste. Neben verbogenen Spitzhacken und zerbrochenen Holzstielen gab es Hunderte leerer, schmutzstarrender Kohlensäcke. So wie sie da lagen, sah es aus, als wären sie schon als improvisierte Nachtlager genutzt worden.

Ihr Führer entschuldigte sich wortreich dafür, auf die Schnelle kein besseres Nachtlager für sie gefunden zu haben. Hornbori winkte ab. Alles war besser als der Aal.

»Warum ist der Heerbann einberufen worden?«, fragte Galar beiläufig und fläzte sich auf einem Stapel alter Säcke.

Der Krieger wirkte überrascht. »Ihr habt es wirklich nicht gehört? Albenkinder aller Völker wurden zu den Waffen gerufen. Ein großer Krieg auf Nangog steht bevor. Wie es scheint, bereiten sich die Menschenkinder darauf vor, von dort aus eine Invasion Albenmarks zu beginnen. Wir müssen ihnen unbedingt zuvorkommen.«

»Wenn die Drachen einen Tritt in den Arsch bekommen, wäre das nicht das Schlechteste«, erklärte Glamir, während er mit seiner Krücke in einem Stapel Säcke herumstocherte, aus dem sich zwei Ratten davonmachten.

»Aber dabei wird es nicht bleiben«, erklärte ihr Begleiter voller Inbrunst. »Erst wollen sie nur Nangog, aber bald auch unsere Welt, unser Korn, unsere Viehherden und unsere Minen. Sie sind wie eine Horde plündernder Trolle, nur tausend Mal schlimmer, denn sie werden von ihren Dämonenfürsten persönlich angeführt.«

Nangog! Für Hornbori war dies der entfernteste Ort, den er sich vorstellen konnte. Eine Welt, über die er nur ein paar Geschichten, die wie Märchen klangen, gehört hatte. Und dort sollten sie kämpfen? Weil die Menschenkinder sonst nach Albenmark kamen? Das hörte sich unglaubwürdig an.

Aber er kannte sich mit Lügengeschichten aus. Dies hier war ein so schlecht gesponnenes Garn, dass es am Ende vielleicht doch die Wahrheit sein mochte. Lügen wären besser ausgedacht! »Und wir sollen zusammen mit Kobolden und Trollen kämpfen? Am Ende vielleicht auch noch mit den Drachenelfen, die unsere Vettern ermordet haben?«

»Die Himmelsschlangen haben entschieden, dass jeder Zwist und jede Fehde ruhen muss, bis dieser Krieg beendet ist«, verkündete der Blonde in feierlichem Tonfall. Bei ihm war die Geschichte, die die Drachen ausstreuten, ganz offensichtlich auf fruchtbaren Boden gefallen. »Wir werden Seite an Seite marschieren. Es wird Friede unter den Völkern Albenmarks herrschen, bis wir Nangog befreit haben und die Menschen so gründlich besiegt sind, dass ihnen auf immer ihre Eroberungsgelüste vergehen.«

Glamir rülpste und ließ sich auf die Kohlensäcke fallen, und ausnahmsweise war auch Hornbori der Meinung, dass es zu diesem Thema nicht mehr zu sagen gab. Bald schon würden sie dem Bergfürsten gegenüberstehen, dann würden sie erfahren, worum es wirklich ging, und nicht die Geschichten zu hören bekommen, mit denen man einfachen Zwergen den Kopf verdrehte, damit sie willig zur Schlachtbank zogen.

Viel wichtiger als dieser Unsinn war es nun, einen Ort zu finden, an dem er sich waschen konnte. Zu stinken wie Glamir, Galar, Nyr und Frar mit seinen ewig vollgeschissenen Windeln war Hornbori zutiefst zuwider. Und es war etliche Monde her, dass er seinen Bart das letzte Mal mit einem guten Öl behandelt und zu Locken gedreht hatte. Er war es leid, wie ein Herumtreiber auszusehen. Er war Hornbori Drachentöter, eine Berühmtheit in allen Städten unter Tage, und er war es seinem Ruf schuldig, auch wie ein Held aufzutreten. Und Helden stanken nicht!

Der Besucher

Als Amalaswintha erwachte, brauchte sie einen Augenblick, um sich bewusst zu werden, wo sie war. Alles war gut! Endlich, nach so langer Zeit. Sie lag in einem weichen Bett, dessen Bezüge leicht nach Rosenöl dufteten. Eine Kerze brannte in einer Laterne aus buntem Glas und tauchte ihr Schlafgemach in angenehmes, gedämpftes Licht. Verwundert sah sie, dass sie immer noch ihr rotes Kleid trug, das sie die ganze Reise über nicht ein einziges Mal ausgezogen hatte. Ihm hafteten all die üblen Gerüche und die schlechten Erinnerungen an. Sie würde es verbrennen lassen! Nie wieder in ihrem Leben wollte sie es sehen.

Sie streckte die Arme nach hinten und dehnte die Beine. Endlich gab es genug Platz. Es würde lange dauern, bis sie die Entbehrungen der vergangenen Monde hinter sich lassen konnte. Sie musste herausfinden, womit sie den Alten in der Tiefe so sehr erzürnt hatte, dass er sie mit den anderen in Glamirs Turm verbannt hatte. So weit durfte es nie wieder kommen. Sie hatte sich als Erstes nach ihrer Ankunft davon überzeugt, dass jener ganz besondere Aal, den sie vor zwei Jahren hatte bauen lassen, noch immer für sie vor Anker lag. Ein Tauchboot, das einem den Weg fast überallhin öffnen konnte. Dieses Boot hätte sie vor der Verbannung bewahren können! Hätte sie es nur damals schon benutzt! Doch es war alles so schnell gegangen. Die Ereignisse hatten sie überrumpelt. Das würde ihr kein zweites Mal geschehen!

Amalaswintha genoss es, im Bett zu liegen, der tanzenden Flamme in der Laterne zuzusehen und ihren Gedanken nachzuhängen. Dann übermannte sie wieder der Gestank ihres Kleides. Mit spitzen Fingern öffnete sie die Verschnürung, streifte es über den Kopf und warf es von sich. Einen Augenblick später folgte das wunderbare zarte Untergewand aus bestem Leinen. Sie löste den Gürtel mit den Strumpfbandhaltern und rollte die Strümpfe aus Lammwolle ihre Beine hinab. Nackt erhob sie sich aus dem Bett und schnupperte an ihrem rechten Arm. Der Gestank war immer noch da! Er war tief in ihre Haut eingezogen. Sie ekelte sich vor sich selbst.

Energisch klatschte Amalaswintha in die Hände. Fast augenblicklich erschien Lamga in der Tür. Einen Moment schien sie etwas sagen zu wollen, doch dann senkte sie nur demütig das Haupt. Ihre Dienerin war früher schon belustigend prüde gewesen. Sie, ihre Herrin, nackt zu sehen machte sie verlegen, ja regelrecht sprachlos.

»Ist mein Bad bereitet?«

Lamga nickte scheu.

Der Befehl, Wasser für ein heißes Bad zu kochen, war das Letzte gewesen, was ihr über die Lippen gekommen war, bevor sie der Verlockung ihres duftenden, weichen Bettes erlegen war. Erholt und mit federndem Schritt verließ Amalaswintha ihr Schlafgemach. Sie brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, dass Lamga errötete, als ihre Herrin unbekleidet durch den kurzen Tunnel ging, der ihr Schlafgemach vom großen Bad trennte. Hier hätte sie einem der anderen Diener begegnen können. Undenkbar, wenn man so einfach gestrickt war wie Lamga. Sie schämte sich gerade für zwei, vermutete Amalaswintha.

Sie liebte dieses Bad. Es war fast so prächtig wie jenes in der Tiefen Stadt, das nun für immer verloren war. Ganz mit dunkelrotem Porphyr ausgekleidet und von zwei Laternen mit roten Scheiben nur spärlich beleuchtet, hatte es einen morbid sinnlichen Charme, der hervorragend zu ihrer augenblicklichen Stimmung passte. Dunstschwaden hingen über dem großen, im Boden eingelassenen Becken. Der glatt polierte Stein war mit Kondenswasser beschlagen. Der Boden unter ihren nackten Füßen war schlüpfrig. Angenehm feuchte Wärme umfing sie, in der Luft hing der Duft von Mandelöl. Sie würde alle Erinnerungen an das, was vergangen war, abwaschen. Sie würde … Amalaswintha verharrte mitten im Schritt. Da war jemand in ihrem Bad. Halb verborgen von den Dunstschleiern, die über das große Becken zogen, stand eine Gestalt mit langem, schwarzem Haar, die ihr den Rücken zuwandte.

»Wer bist du? Und was machst du hier?«

Die Gestalt drehte sich um. Es war Hornbori!

»Wie kommst du in mein Bad?«

Er lächelte verschwörerisch. »Deine Dienerschaft fand es gar nicht ungewöhnlich, als ich ihnen – zugegeben ziemlich entschieden – erklärt habe, dass du mich hier erwarten würdest. Empfängst du oft Männer im Bad?«

»Das geht dich nichts an! Verschwinde hier! Sofort, oder ich lasse dich aus meiner Höhle prügeln, nackt wie du bist.«

»Du hast mich doch eingeladen. Was soll dieser plötzliche Sinneswandel?«, erklärte er in gespielt beleidigtem Ton.

»Eingeladen?«

»Nun, wenn du vor allen erklärst, du hättest mit keinem von uns das Lager geteilt, aber wir eine Affäre hatten, kann das doch nur heißen, dass du dir die anderen vom Hals schaffen wolltest, um mit mir allein zu sein.«

Amalaswintha schüttelte den Kopf. Das war völlig widersinnig, eine fadenscheinige Ausrede. »Ich werde jetzt meinen Leibwächter rufen …«

»Halt!« Hornbori kam durch das Wasser auf sie zugewatet. Schlecht sah er nicht aus, das musste sie ihm zugestehen, aber er war die Sorte Mann, die sich gleich die ganze Frau nahmen, wenn sie auch nur den kleinen Finger bot. Sie sollte ihn dringend loswerden.

»Du möchtest doch nicht, dass dein wunderschöner Palast ein Fraß der Flammen wird. Nur wir beide können das verhindern.« Wasser troff von seinem langen, schwarzen Bart. Seine Haut war makellos. Weiß wie Marmor und ohne jede Narbe. Amalaswintha dachte mit Schrecken an die wenigen Nächte, die sie Glamir geschenkt hatte, um sein Vertrauen zu gewinnen. Keines seiner Glieder war nicht von wulstigen Narben verunstaltet gewesen. Seine ganze linke Körperhälfte war verstümmelt. Ein Arm, ein Bein und sogar ein Auge fehlten ihm, und was die Smaragdspinnen nicht abgeschnitten hatten, sah aus, als hätten sie es genüsslich mit Dutzenden Schnitten zerfleischt. Es war ein Wunder, dass Glamir an diesen Verletzungen nicht gestorben war. Und das war das einzig Wunderbare an ihm gewesen. Er soff, stank und hielt sich für den größten Liebhaber aller Grubenstädte, auch wenn sein Auftritt bestenfalls mittelmäßig zu nennen gewesen war. Hornbori war da ganz anders. Er gehörte zu den wenigen Zwergen, die Wert darauf legten, sich zu waschen. Allein das hob ihn schon von allen übrigen bärtigen Kreaturen aus Glamirs Turm ab und auch von der überwiegenden Mehrzahl der Höflinge Fürst Eikins. Und dann sah er wirklich verdammt gut aus, mit seinem langen Haar, den verträumten Augen und dem dichten, männlichen Bart. Obendrein war er ein guter Liebhaber – jene seltene Mischung aus Leidenschaft und Rücksichtnahme, die eine einzige Nacht lebenslanger Erinnerung wert machte. Bedauerlicherweise war sich Hornbori all dieser Vorzüge nur zu bewusst. Allein deshalb sollte sie ihn zurückweisen. Schon sein Auftritt hier war eine einzige Frechheit. In den Ehernen Hallen war er ein Nichts! Mittellos und ohne jeden Einfluss auf die bedeutenden Familien kam er hierher, weil sie ihm als Schlüssel zur Macht dienen sollte.

Als Amalaswintha schwieg, fragte er erneut, ernster diesmal: »Willst du wirklich auch diesen Palast verlieren? Du weißt genau, was Glamir und Galar tun wollen.«

Natürlich wusste sie es. Obwohl die beiden Schmiede sich ansonsten stets verschwiegen gegeben hatten, plauderten Galar und Glamir im Bett gerne. Sie hatten sich mit den Speerspitzen gebrüstet, die ein für alle Mal die Herrschaft der Drachen beenden würden. Waffen, denen nichts zu widerstehen vermochte.

Hornbori schien ihr angesehen zu haben, dass er ihr damit kein Geheimnis verriet. »Wir müssen sie aufhalten! Wenn sie eine der Himmelsschlangen erlegen, dann werden die übrigen nicht lange brauchen, um herauszufinden, woher diese Speerspitze kam. Sie werden auch die Ehernen Hallen mit ihrem Feuer heimsuchen!«

Amalaswintha nickte. »So wird es sein. Aber ich frage mich, was geht in deinem Kopf vor, dass du glaubst, dieses Thema uneingeladen mit mir im Bad besprechen zu können?«

Er senkte zerknirscht den Kopf. »Womöglich hat dein Liebreiz meinen Verstand verwirrt …«

Verdammter Mistkerl, dachte sie und musste doch zugleich lächeln. Er wusste, wie man eine Frau herumbekam!

»Nehmen wir einmal an, ich gewährte dir die Gunst einer Nacht, was hättest du mir zu bieten?«

»All meine Leidenschaft!« Hoffnung glomm in seinem Blick, und strahlend weiße Zähne blitzten durch seinen nachtschwarzen Bart, als er lächelte.

»Du weißt, was ich meine«, entgegnete sie kühl, obwohl es ihr zunehmend schwerer fiel, sich zu verstellen. Sie hatte Lust, sich auf einen sauberen Mann einzulassen, der wusste, was er wollte. Nur für eine Nacht …

»Sie werden Eikin ihre Waffe vorführen und ihn um Unterstützung im Kampf gegen die Himmelsschlangen bitten. Allerdings befürchten sie, dass er ein Feigling ist und ablehnt, ja schlimmer noch, dass er ihnen ihre wundersamen Speerspitzen abnimmt, um sie für immer in seiner tiefsten Schatzkammer verschwinden zu lassen. Deshalb haben sie einen zweiten Satz Speerspitzen in unserem Aal verborgen. Sie haben ein wirklich gutes Versteck gefunden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie versuchen werden, sich unter die Krieger zu mischen, die gerade zusammengezogen werden, um im Heer der Himmelsschlangen zu dienen. So können sie den großen Drachen nahe genug kommen, um einen von ihnen zu töten.«

Amalaswintha nickte bedächtig. Das hörte sich ganz und gar nach Galar an. Er war ein verschlagener Mistkerl, der keinem traute und sich immer einen Rückzugsweg offenhielt. »Wo ist das Versteck?«

Hornbori schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Das ist meine Morgengabe für dich. Eikin wird es sicher sehr zu schätzen wissen, wenn du ihn über dieses Komplott unterrichtest.«

Amalaswintha stieg zu ihm ins Bad. »Wie ist es, seine Freunde zu verraten?«

»Ist das Überleben einer ganzen Stadt nicht jedes Opfer wert?«

Sie strich ihm über die breite Brust. Er war ein Mistkerl, aber er sah dabei verdammt gut aus.

»Ich weiß nun, was meine Morgengabe sein wird. Aber was sind deine Wünsche, Hornbori?«

Er küsste sie. »Einen könntest du sofort erfüllen. Und einen zweiten ein klein wenig später.«

Die Bürde der Macht

Eikin kniete neben dem Geschoss nieder, das inmitten der weiten Halle auf dem Boden lag. Deutlich spürte der Alte unter dem Berg die Gicht in seinen Knien.

Bewundernd strich er über das schillernde Metall. Vom hölzernen Schaft des Speers war nur ein zersplitterter Rest unmittelbar unter der Tülle geblieben, die das Speerblatt mit dem Holz verband. Im oberen Drittel der Tülle waren acht kleinere Klingen ausgefahren, die rechtwinklig abstanden.

»Ich habe lange mit Glamir an diesen Speerspitzen getüftelt«, sagte Galar selbstbewusst. »War ein elendes Stück Arbeit. Aber am Ende haben wir etwas ganz Besonderes erschaffen!«

Der Kerl war eine Schande für alle Zwerge, so verlottert, wie er aussah, dachte Eikin. Seine Hose war so verschossen und so oft geflickt, dass es unmöglich war, ihre ursprüngliche Farbe zu erraten. Darüber trug er nur eine offene Lederweste, die seinen drahtigen Körper präsentierte, als wäre es eine Freude, einen Zwerg zu sehen, der nicht gut genug im Futter stand, um einen festen Kugelbauch zu haben. Aber so abstoßend er auch war, er war ein Genie! Und wie der eine oder andere geniale Geist, dem Eikin in seinem langen Leben begegnet war, schien auch Galar keine Ahnung zu haben, was seine Erfindung heraufbeschwören würde, wenn sie zum Einsatz kam.

»Die kleinen Klingen fahren aus, sobald die Speerspitze auf ihr Ziel aufschlägt«, erklärte der Schmied nun voller Stolz.

»Dachte ich mir«, sagte Eikin heiser. »Ein Federmechanismus, nehme ich an.«

»Ganz genau!«

Mühsam richtete sich der Fürst auf. »Wer weiß davon?«

»So gut wie niemand. Wir müssen die Sache geheim halten. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Himmelsschlangen davon erfahren.«

Eikin nickte. »Braver Junge! Aber sag mir doch ganz genau, wer es weiß. Ich muss das einschätzen können. Uns darf bei dieser Sache kein Fehler unterlaufen, das verstehst du doch sicherlich.«

Galar zog misstrauisch die Brauen zusammen. »Wir machen keine Fehler …«

Der Fürst schlurfte in Richtung der Wand aus solidem, gewachsenem Fels, die der Speer so leicht durchschlagen hatte, als wäre sie ein Daunenkissen. »Die Namen, Junge!«, sagte er eine Spur schärfer.

»Einige der Männer aus Glamirs Turm. Außerdem Nyr, Hornbori und Amalaswintha. Die anderen, die mit uns im Aal gekommen sind, haben keine Ahnung, was für eine Fracht sie transportiert haben.«

Eikin nickte. Dasselbe hatte ihm auch Amalaswintha erzählt. Es war eine Schande, was er Galar antun musste. Der Schmied war ein Held. Aber dies war das falsche Zeitalter für Helden wie ihn. Der Alte aus der Tiefe erreichte die Felswand und betrachtete ungläubig das sternförmige Loch, das der Speer durch die mehr als achtzig Schritt dicke Wand gestanzt hatte. Unglaublich. Er malte sich aus, was so ein Speer anrichten mochte, wenn er eine der Himmelsschlangen traf, wie er ein Gehirn zerschnitt oder Eingeweide zerfetzte und die überheblichen Götterdrachen vom Himmel fielen. Wie gerne hätte er das gesehen!

Aber sobald der erste Drache fiel, würden die Überlebenden die Schützen finden. Und sie würden sehr schnell wissen, von wo sie gekommen waren. Sie würden es nicht dabei belassen, allein die Drachenmörder zu töten. Das hatten sie schon einmal gezeigt. »Du hast da ein wahres Wunderwerk erschaffen«, sagte Eikin voll ehrlicher Anerkennung.

»Wir werden die Speerschleuder noch verbessern. Wir brauchen guten Federstahl und eine große Schmiede und …«

Der alte Herrscher schüttelte den Kopf. »Das wird Aufsehen erregen. So geht das nicht.« Er wandte sich vom Fels ab und ging zum Tunnel, der zum Thronsaal führte.

»Wir brauchen eine starke Speerschleuder, Fürst. Es ist allein die Kraft der Waffe, die entscheidet, wie weit das Geschoss fliegt. Nichts vermag den Speer aufzuhalten. Er durchdringt Fleisch, Stahl und Stein, so als wäre es nur Luft. Hätten wir eine Speerschleuder, die ihn eine Meile weit verschießt, würde er alles auf diesem Weg durchbohren. Vielleicht sogar zwei Himmelsschlangen.«

Eikin lachte gekünstelt. »Eine Speerschleuder, die eine Meile weit schießt … So etwas gibt es nicht!«

Galar war nicht aus der Fassung zu bringen. Im Gegenteil, Widerstand stachelte ihn offensichtlich an. »So eine Waffe gibt es noch nicht, mein Fürst. Aber wir könnten sie bauen! Gib uns die Mittel zu forschen und zu bauen, und ich verspreche dir, es wird kein Jahr vergehen, bis in deinem Thronsaal eine Speerschleuder steht, wie sie Albenmark noch nicht gesehen hat. Ich habe schon eine Idee …«

»Ideen«, winkte Eikin ungehalten ab. »Jeden Tag steht vor mir ein Schmied voller Ideen, der das Gold der Ehernen Hallen möchte.«

»Das verstehe ich, aber mein Fürst, was ist unwahrscheinlicher? Ein Speer, der Stein und Stahl durchschlägt, als wäre es Pergament, oder eine Speerschleuder, die doppelt so weit schießt wie alle, die bislang gebaut wurden?«

Der Fürst grummelte etwas und ging weiter den Tunnel entlang. Bei jedem Schritt spürte er einen Stich im rechten Knie. Heute war einer der schlimmeren Tage mit der Gicht. Schon als er aufgestanden war, hatten all seine Fingergelenke geschmerzt, und er hatte sich kaum aufzusetzen vermocht. Und dann noch diese Sache … Er mochte Galar. Es waren Männer wie dieser Schmied, die die Zwergenstädte im Schoß der Erde groß und mächtig gemacht hatten. Männer voller kühner Visionen, die Träume zu leben wagten. Er war nie so kühn gewesen, dachte Eikin bitter. Hatte stets mit beiden Beinen auf dem Boden gestanden und nur gewagt, was erprobt war. Und so würde er es auch jetzt halten.

Die Ehernen Hallen waren zwar dreimal so groß wie die Tiefe Stadt, die von den Himmelsschlangen in nur einer Stunde vernichtet wurde, dennoch hegte er nicht den geringsten Zweifel, dass auch seine Stadt fallen würde. Er war es seinem Volk schuldig, kein Träumer zu sein!

Schweigend legten sie das letzte Stück des Weges zurück, bis der Tunnel in den weiten Thronsaal mündete. Auf Anraten Amalaswinthas hatte Eikin dafür gesorgt, dass es keine Zeugen gab. Nur Glamir erwartete sie in der prächtigen, weiten Halle mit den Wänden aus meergrüner Jade, auf denen Bilder und Runen aus reinem Gold von den großen Stunden der Helden der Ehernen Halle kündeten.

Eikin fühlte sich angesichts all des Ruhms beschämt bei dem, was er nun zu tun hatte. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde, und zum ersten Mal wünschte er sich, die Last des Fürstentums auf andere, jüngere Schultern zu bürden.

»Und?«, fragte Glamir aufgeregt.

»Wirklich eindrucksvoll. So etwas habe ich noch nie gesehen, und ich würde es nicht glauben, würdet ihr mir nur davon erzählt haben. Dieses Metall ist dazu geschaffen, die Ordnung unserer Welt zu stürzen.«

Glamir schlug begeistert mit der flachen Hand auf die Speerschleuder, an der er lehnte. »Hab ich es nicht gesagt? Wir treten den Drachen in den Arsch, sodass sie es nie wieder vergessen werden! Jetzt brauchen wir nur noch stärkere Speerschleudern, damit wir nicht zu nah an die Mistviecher heranmüssen.«

»Tja …«, grummelte Eikin vor sich hin und ging in Richtung seines Thrones, der am Ende des weiten Saals auf einem Podest stand, zu dem er sieben Stufen erklimmen musste. Er war die Pracht und Verantwortung so müde, dachte er.

Oben angekommen, griff er nach dem Schlägel des Gongs. Galar, der ihm gefolgt war und unablässig weiter auf ihn eingeredet hatte, verstummte abrupt, als der erste dunkle Ton erklang. Ein einfühlender Umgang war wirklich nicht die Sache des Schmieds. Eikin war sich bewusst, wie wankelmütig er in dieser Angelegenheit war. Sein Herz und sein Verstand strebten in entgegengesetzte Richtungen. Ein Mann, der sich darauf verstanden hätte, die richtigen Worte zu finden, hätte ihn durchaus umstimmen können. Galar war das ganz gewiss nicht.

Der Fürst schlug erneut den Gong, und nur wenige Herzschläge später stürmten seine Leibwachen durch die kleine Pforte, die hinter dem hohen Thronsitz verborgen lag.

Galar starrte ihn fassungslos an. »Was …«

Der Schmied war so überrumpelt, dass er den Kriegern kaum Widerstand leistete.

»Verrat!«, schrie Glamir und griff eines der mörderischen Geschosse, die neben der Speerschleuder an der Wand lehnten. »Verflucht sollst du sein, Eikin. Du und all die verdammten Bastarde, die deinen Lenden entsprungen sind.« Mit diesen Worten legte Glamir den Speer auf die Führungsschiene des Geschützes und mühte sich, die schwere Waffe herumzuschwingen, sodass sie auf den Thron zeigte.

Eikin blieb, ohne sich zu rühren, vor seinem Thron stehen. Wenn es so enden sollte, dann sei es so, dachte er schwermütig, während seine Krieger durch den weiten Saal stürmten. Nur das Trampeln der eisenbeschlagenen Stiefel und das Klicken des Räderwerks, mit dem der stählerne Bogen der Speerschleuder gespannt wurde, waren zu hören.

Für einen Krüppel bewegte sich Glamir bemerkenswert geschickt. Nichts ließ ihn seine Ruhe verlieren. Als die Wachen ihn überwältigten, war die Speerschleuder fast schussbereit.

»Wer sind die beiden?«, fragte Bailin, der Hauptmann seiner Leibwache, der die Stufen zum Thron erklommen hatte. Dabei behielt er die Gefangenen unten im Saal argwöhnisch im Blick.

Sonst war Bailin eher still. Nie hatte er Eikin mit irgendwelchen Fragen behelligt, doch eine Speerschleuder im Thronsaal stehen zu sehen war selbst für ihn zu viel. Eikin hatte diesen Ort für die Vorführung gewählt, weil Galar zwei Hallen gefordert hatte, die durch eine etwa hundert Schritt dicke Felswand getrennt waren. Der Thronsaal und der angrenzende Saal für die Ratssitzungen waren dem am nächsten gekommen. Eikin wünschte sich jetzt, er hätte sich erst gar nicht darauf eingelassen.

Laut und in verärgertem Ton erklärte er: »Das sind zwei verrückte Schmiede. Ich hätte mich nicht auf sie einlassen sollen. Sie wollten mir eine neue Waffe vorführen und mich erpressen. Du selbst hast gesehen, wie sie die Speerschleuder auf mich ausgerichtet haben. Die Welt muss von diesen beiden Unruhestiftern befreit werden. Bringe sie in eine angenehme, aber ausbruchssichere Höhle und sorge dafür, dass sie eine ordentliche Henkersmahlzeit bekommen.«

»Henkersmahlzeit?« Bailin sah ihn ungläubig an. Die letzte Hinrichtung war viele Jahre her, und damals war es anders als jetzt um ein zutiefst verabscheuungswürdiges Verbrechen gegangen: Ein Kaufherr hatte Goldmünzen mit einem Bleikern gießen lassen und sie mit der Prägung der Ehernen Stadt versehen.

»Sie werden noch heute Abend geköpft!«

»Aber Todesurteile werden vom Rat …«

»Wie du gesehen hast, haben die beiden mein Leben bedroht, Bailin. In solchen Fällen steht es mir zu, ohne Rücksprache mit dem Rat ein Urteil zu fällen. Also sorge dafür, dass die beiden Irren ihre letzten Stunden so angenehm wie möglich verbringen. Außerdem wirst du einen Zwerg namens Nyr aufspüren und ebenfalls verhaften. Er steckt mit den beiden unter einer Decke und wird ihr Schicksal teilen. Ich erwarte, dass die Hinrichtungen ohne großes Aufsehen vollzogen werden. Wir bereiten uns auf einen Krieg vor. Weitere Unruhe und Gerüchte über einen Mordanschlag auf mich können wir da nicht gebrauchen. Du wolltest doch gerne einen Tunnel in den östlichen Hallen anlegen, um dort in schöner Lage einen Stammsitz für deine Familie in den Fels zu treiben. Wenn du dieses Ärgernis zu meiner Zufriedenheit löst, werde ich den Obersteiger anweisen, dir diesen Wunsch zu erfüllen.«

Bailin sah ihn lange durchdringend an. Er war ein stolzer Kerl, und wenn er zu viel trank, neigte er dazu, wegen Kleinigkeiten in Schlägereien zu geraten. Doch solange er nüchtern war, hatte er sich stets als Mann mit kühlem Kopf und reichlich Sachverstand erwiesen. So aufgewühlt wie jetzt hatte Eikin ihn noch nie gesehen.

»Deine Wünsche sind mir Befehl«, sagte der Hauptmann schließlich mit gepresst klingender Stimme. Dann wandte er sich ab und ließ Galar und Glamir, die inzwischen von den Wachen geknebelt worden waren, abführen.

Eikin ließ sich auf den hohen Thronsitz sinken. Ihm war bewusst, dass Bailin seine Entscheidung ungerecht fand. Die meisten Zwerge würden so denken. Doch alle, die um die Drachentöterspeere wussten, waren eine Bedrohung für die Ehernen Hallen. Die einzig weise Entscheidung war, diese Gefahr für immer zu bannen. Nun musste er sich nur noch um Hornbori kümmern.

Drachenrat

Die Wucht, mit der der Sturzregen auf die mächtigen Baumkronen peitschte, ließ allmählich nach. Doch noch floss der Regen in Strömen über die nachtschwarzen Schuppen des Dunklen. Der große Drache lag lang hingestreckt im warmen Wasser der Mangroven und lauschte den Gedanken seiner Nestbrüder. Sie stritten über den Krieg auf Nangog, der sich nicht so entwickelte, wie sie erhofft hatten.

Ihm fiel es schwer, den anderen Drachen zu folgen. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu Nandalee. Er sollte im Jadegarten sein! Ihre Schwangerschaft nahm einen ungewöhnlichen Verlauf – die Kinder reiften zu schnell in ihrem Leib. Jede Stunde mochte sie niederkommen. Er wollte im Jadegarten sein, wenn es geschah, falls eines der Kinder so war wie der Sohn, den er ihr bereits genommen hatte. Voller Schrecken dachte er an diese Kreatur. Ein Zwitterwesen zwischen Elf und Drache. Mit seinen Krallen hatte es Nandalee und auch die beiden anderen Kinder in ihrem Leib verletzt. Es steckte voller Boshaftigkeit, und doch hatte er es nicht töten können. Die Kreatur hatte fahle, gelblich weiße Schuppen, doch ihre Augen waren vom selben klaren Himmelblau wie seine eigenen. Als er diese Augen erblickt hatte, war er verloren gewesen; sein Vorsatz, das Ungeheuer zu töten, war dahin.

Inzwischen war die Kreatur so groß wie ein Wolf. Vorgestern hatte sie das erste Mal getötet. Den kleinen Affen, den seine Gazala großgezogen hatten. Drei Jahre hatten die Orakel ihn umsorgt. Die Chimäre hatte ihn zerfleischt. Trotz des Geschreis der Orakel war Nachtatem stolz auf ihn gewesen. Jeder Drache war ein Räuber, es lag in ihrem Blut, zu jagen und zu töten. War diese Kreatur, die einmal aufrecht gehen würde wie ein Elf, sein Sohn?

Der Goldene sah ihn eigenartig an. Hatte sein Bruder in seinen Gedanken gelesen? Er war der Letzte, der von den Kindern erfahren sollte. Womöglich war auch er der Vater eines der Kinder, die in Nandalee heranwuchsen. Er würde verlangen, sie zu sehen, sobald er davon wusste, und sollte er glauben, eines von ihnen gezeugt zu haben, dann würde er dessen Herausgabe fordern. Sie waren besonders, die Kinder, die in Nandalee wuchsen! Durchdrungen von einer Macht, wie sie Nachtatem noch nie zuvor bei Elfen gespürt hatte. Sie durften nicht in die Hände des Goldenen fallen. Durften nicht nach seinen Vorstellungen erzogen werden. Er würde Ungeheuer in Elfengestalt aus ihnen machen!

Nachtatem blickte zu den weiten Baumwipfeln empor, die sich unter wütenden Böen duckten. Er hörte das Splittern dünner Äste. Es waren bewegte Zeiten für die drei Welten angebrochen. Die Schwachen würden brechen wie jene Äste, die der Sturmwind aus den Baumwipfeln pflückte.

Zwischen den wogenden Wolken lugte nun der Mond hervor. Silbernes Licht enthüllte die mächtigen geschuppten Leiber, die zwischen den Bäumen im brackigen Wasser lagen. Nur wenn kein anderes Albenkind in der Nähe war, zeigten sie sich einander in ihrer ganzen Pracht. Sie waren so alt wie die Welt, und seit dem Tag, an dem sie geschlüpft waren, wuchsen sie. Langsam wie alte Bäume. Und doch hatten sie eine Größe erreicht, die selbst Elfenfürsten und Minotauren vor Furcht sprachlos werden ließ, wenn sie ihre wahre Gestalt enthüllten. Ein jeder von ihnen war so massig wie ein Hügel. Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze maßen sie mehr als hundertfünfzig Schritt. Ihre Fangzähne waren länger als ein Troll. Sie könnten ein Mammut am Stück verschlingen, ohne es zerreißen zu müssen. Nichts auf dieser Welt konnte sich mit ihnen vergleichen. Alle übrigen Drachen sahen neben ihnen aus wie Gewürm.

Nur die Alben wussten um die wahre Größe ihrer erstgeborenen Kinder. Und so würde es bleiben, bis die letzte Schlacht anstand. Bis alle Masken fallen würden und sie sich in all ihrer Macht zeigen konnten. Bis dahin zwangen sie ihre Leiber durch Zauberkraft dazu, nur ein Zerrbild der Wirklichkeit zu sein. So, wie ein jeder von ihnen gelegentlich die Gestalt von Elfen und anderen Albenkindern annahm, so hatten sie sich Gestalten erschaffen, die den niederen Albenkindern zwar immer noch Furcht einjagten, sie aber nicht in sprachlosem Entsetzen verharren ließ. Doch jede Verwandlung, die ihre Größe reduzierte, bereitete Schmerzen. Nicht nachdem sie abgeschlossen war, nur während der Transformation. Deshalb nahmen sie nur noch selten ihre ursprüngliche Gestalt an.

Der Sturm der Elemente hatte sie alle zum Schweigen gebracht. Für den Augenblick tauschten sie ihre Gedanken nicht, sondern achteten ihr Begehren, in sich zu gehen. Die Sieben fürchteten die Launen der Natur nicht, im Gegenteil, sie genossen sie. Im Sturm, wenn gezackte Blitze den Himmel zerteilten und schwerer Regen auf ihre mächtigen Leiber prasselte, fühlten sie sich besonders lebendig. Sie waren selbst wie der Sturm, jeder einzelne eine Naturgewalt, und wenn sie zusammenhielten und nach einem Willen handelten, dann kamen ihnen allenfalls die Alben an Macht gleich.

Und dennoch entwickelten sich die Ereignisse auf Nangog ungünstig. Sie hätten nicht so jämmerlich versagen dürfen, als sie Selinunt angriffen. Keiner wusste das besser als der Dunkle. Weil er nicht eins mit seinen Brüdern gewesen war, war der Angriff, der die Devanthar hätte vernichten können, fehlgeschlagen. Das Einzige, was sie erreicht hatten, war, dass ihre Feinde nun so entschlossen wie nie zuvor agierten. Die sieben Unsterblichen hatten tausende Krieger nach Nangog verlegt und bauten ihre Macht immer weiter aus. Etliche der Ungeheuer, zu denen die Grünen Geister geworden waren, nachdem Nangog aus ihrem Äonen währenden Schlaf erwacht war, hatten die Menschenkinder erlegt. Bei der Jagd setzten sie konsequent ihre zahlenmäßige Übermacht ein und ignorierten ihre eigenen schrecklichen Verluste, bis Nangogs grausame Kinder – oft von Hunderten Pfeilen durchbohrt – in den Staub sanken.

Wir werden Nangog verlieren, wenn wir nicht bald eingreifen, beendeten die Gedanken des Frühlingsbringers ihr Schweigen. Der Letztgeschlüpfte wurde selten so deutlich. Er war der Zurückhaltendste unter ihnen, ruhig und pragmatisch, fast schon zauderhaft.

Nicht einmal die Wolkensammler sind alle auf unserer Seite, drängte nun auch der Flammende wieder in ihre Gedanken. Er vermochte kaum ruhig zu liegen. Das dunkle Wasser der Mangroven war rings um ihn herum zu schlammigem Braun zerwühlt. Ich begreife das nicht! Wir wollen ihnen die Freiheit bringen, und sie schütteln die Menschenkinder nicht ab, die riesige Schiffe an ihre Leiber gefesselt haben. Es sieht ganz so aus, als würden sie es genießen, versklavt zu sein. Wir sollten ein paar von ihnen brennend vom Himmel stürzen lassen, um ein Zeichen zu setzen.

Damit werden wir nur erreichen, dass sich auch die Zauderer gegen uns stellen, entgegnete Nachtatem. Wir sind ohne einen ausgefeilten Plan in diesen Krieg gestürzt. Wir waren so dumm zu hoffen, Nangog würde es alleine richten, und nun droht es schlimmer als zuvor zu werden. Die Devanthar greifen entschiedener denn je nach der Welt der Riesin, und nach dem Brand von Selinunt werden sie gegen uns ziehen, sobald Nangog ihren Widerstand aufgibt.

Noch haben wir keine einzige Schlacht geschlagen, und du sprichst, als wären wir besiegt. Der Goldene richtete sich zwischen den Bäumen auf, und sein Schwanz peitschte ärgerlich durch das dichte Unterholz. Auch wir können tausende Krieger aufbieten. Bald werden die ersten von ihnen bereit sein, nach Nangog zu marschieren.

Sieht das hier aus wie ein Treffen von Siegern?, entgegnete Nachtatem süffisant. Wir versammeln uns jedes Mal an einem anderen Ort. Sitzen, wie heute, im Schlamm der Mangroven am Waldmeer oder wie vor elf Tagen in einem sturmgepeitschten Tal am Fuß des Albenhaupts. Und wir müssen uns eingestehen, dass die Devanthar schneller und entschiedener auf das Erwachen Nangogs reagiert haben, als wir erwartet hätten. Sieht einer von euch einen Triumph in greifbarer Nähe? Bitte sagt es mir, Brüder. Ich gestehe freimütig, ich bin verzagt.

Ich denke, allein Köpfe zu zählen ist nicht genug. Ein Troll wiegt viele Menschenkrieger auf. Ein guter Plan kann tausende fehlende Krieger ersetzen. Es war deutlich zu spüren, wie sehr der Goldene erzürnt war und wie sehr er sich beherrschen musste, um einen höflichen Ton zu pflegen. Suchen wir ein Schlachtfeld, auf dem wir nicht verlieren können.

Und warum sollten sich die Devanthar darauf einlassen, an einem solchen Ort gegen uns zu kämpfen?, fragte der Rote nach. Statt endlos zu taktieren, lasst uns selber in die Schlacht ziehen. Gehen wir unseren Kriegern voran! Ich brenne darauf, einen Devanthar zu zerfleischen. Ich will spüren, wie er unter meinen Krallen sein Leben aushaucht. Es ist an der Zeit, dass wir endlich Rache für den Mord am Purpurnen nehmen. Fangen wir Išta, die sich so gerne damit brüstet, ihn getötet zu haben. Ich will ihr die Flügel auszupfen, so wie ein böses Kind einer Fliege die Flügel ausreißt.

Der Dunkle verdrehte die Augen. Er spürte, wie selbst der Goldene ob so viel Unvernunft verzagte. Der Rote war der Leidenschaftlichste unter ihnen. Einer, den man besser stets im Auge behielt. Er liebte es, sich unter die Albenkinder zu mischen und ihre Frauen zu verführen. Ihm war jede Unvernunft zuzutrauen.

Wäre es nicht klüger, darüber nachzudenken, wie wir Nangog stärken?, warf der Smaragdene ein, wie stets auf Ausgleich zwischen ihnen bemüht. Es ist ihre Welt. Soll sie die Hauptlast der Kämpfe tragen.

Wir müssten die zweite Hälfte ihres Herzens finden …

Misstrauisch sah Nachtatem zum Goldenen, der diese Worte in ihre Gedanken gepflanzt hatte. Sein Bruder liebte es, sich selbst in dieser stürmischen Nacht in funkelnder Pracht zu zeigen. Das wenige Licht der Sterne und des Mondes, der nur ein bleicher Fleck hinter den Wolken war, schien allein ihn liebkosen zu wollen. Seine Schuppen schillerten, und in seinen Augen glomm das Licht inniger Begeisterung.

Dazu müssten wir wissen, wo Nangogs Herz zu finden ist, wandte der Dunkle ein. Und selbst wenn wir dies herausfänden, werden die Devanthar es gut bewachen. Auch ihnen wird bewusst sein, dass das Herz der Riesin über Sieg und Niederlage auf Nangog entscheidet. Wäre es klug, wenn wir uns ihnen auf Daia, ihrer Welt, zu einem Kampf stellen, zu Bedingungen, die sie uns diktieren? Leichter können wir es ihnen nicht machen. Sie werden wissen, dass wir darüber nachsinnen, und auf uns vorbereitet sein.

Schlagen euch allen Hasenherzen in der Brust? Jedes einzelne Wort des Nachtblauen war wie ein Dolchstich in ihre Gedanken. Wütend peitschte sein Schwanz über das Wasser und fällte einen jungen Baum. Wir sind wie Götter! Unsere Welt erzittert unter unserem Blick! Wir gebieten über Stürme. Unser Feuer vermag den härtesten Fels zu schmelzen. Nichts kann unseren Krallen widerstehen. Gehen wir hin in ihre Welt, zerfetzen wir die Devanthar und holen Nangogs Herz. Warum schicken wir unsere Kinder in einen Kampf, den wir austragen sollten? Seid ihr alle so feige, dass ihr nicht mehr mit eurem Blut für das einstehen mögt, was ihr begehrt? Ich erkenne in euch nicht mehr meine Brüder!

Es war immer dasselbe mit dem verdammten Heißsporn, dachte der Dunkle verärgert. Unüberlegt vorzupreschen war seine einzige Strategie.

Richtig so!, stimmte nun auch noch der Flammende zu. Reißen wir ihnen die Herzen heraus!

Eine meiner Drachenelfen ist auf der Suche nach der zweiten Hälfte des Herzens der Riesin, erklärte der Goldene überraschend. Warten wir, bis sie zurückkehrt.

Du schickst eine Drachenelfe nach Daia, obwohl wir übereingekommen waren, dort keinen unserer Auserwählten mehr dem Risiko der Entdeckung auszusetzen, empörte sich der Smaragdene. Was tust du sonst noch, ohne uns zu fragen?

Sie ist eine enge Vertraute, und sie hat noch niemals versagt.

Die Arroganz des Goldenen war unerträglich. Nachtatem verspürte Lust, seinem Bruder an die Kehle zu gehen. Was bildete er sich ein, die Entscheidungen ihres Rates einfach zu ignorieren!

Du verhöhnst uns durch deine Taten, grollte nun auch der Rote.

Wen hast du geschickt?, forderte der Nachtblaue zu wissen.

Lyvianne. Ihr alle kennt sie. Sie war eine Meisterin der Weißen Halle. Sie hat geholfen, Nangog zu erwecken, und sie kennt das Versteck des verlorenen Herzens. Mit etwas Glück wird sie es uns bringen, und wir beenden den Krieg um Nangog.

Du hättest es uns sagen müssen!, beharrte der Rote.

Warum?, entgegnete der Goldene mit aufreizender Ruhe. Mehr als eine Drachenelfe zu schicken wäre unklug gewesen. Was also hätte es geändert? Unser Bruder Nachtatem regiert den Rat nicht. Er sieht zu, wie wir uns streiten, dabei wäre es seine Pflicht als Erstgeschlüpfter, uns alle zu einem Ziel zu führen. Statt zu handeln, reden wir nur noch. Nangog entgleitet uns. Mit jeder Stunde wächst die Macht der Devanthar. Und was tut unser Bruder? Er sinnt über die bevorstehende Niederkunft der Verräterin Nandalee nach, die sich seines Schutzes erfreut.

Alle blickten zu ihm.

Er hat tiefer in meine Gedanken gesehen, als es die Höflichkeit gebietet. Und ja, es ist wahr, was er sagt. Ich beschütze Nandalee und bin in Sorge um sie.

Er ist mehr am Wohl einer Elfe interessiert als am Schicksal unserer Welt. Er hat es nicht länger verdient, der Erste unter uns zu sein! Er begeht Verrat an uns. Schenken wir ihm nicht länger unsere Treue, forderte der Goldene.

Der Dunkle spürte, wie sich die Emotionen seiner Nestbrüder überschlugen. Sie alle waren in Gedanken miteinander verbunden, und jedes Gefühl war gänzlich unverfälscht. Hass beim Flammenden, Enttäuschung beim Smaragdenen, ungläubiges Staunen beim Nachtblauen, das langsam in Zorn umschlug.

Was macht dich zu einem Anführer?, entgegnete er schließlich ruhig. Dass du gegen unser Gesetz verstößt und dich in Gedanken schleichst, die dir nicht offenbar sein sollten? Bei wie vielen anderen unserer Brüder hast du das auch schon getan? Du nennst mich einen Verräter an unserer Sache und begehst zugleich einen Verrat an einem unserer ältesten Gesetze.

Nachtatem spürte, wie die Stimmung unter seinen Brüdern kippte. Er wusste nur zu gut, dass ein jeder von ihnen seine kleinen Geheimnisse hatte, Gedanken, die er mit niemandem teilen wollte.

Du hast eine deiner Drachenelfen in den sicheren Tod geschickt. Glaubst du, ich wüsste nicht, dass Bidayn dein neuer Liebling ist? Hat nicht ein jeder von uns schon das Problem der Rivalität unter seinen Schützlingen gehabt? Und lösen wir es nicht alle auf die gleiche Weise? Hat ein Drachenelf die Zeit des größten Ruhms überschritten, dann schicken wir ihn auf eine Mission, die ihm den Tod bringen kann … Warum sollte Lyvianne finden können, was die Devanthar ein ganzes Zeitalter lang vor uns und unseren Spitzeln der Blauen Halle verbergen konnten? Ausgerechnet nun, da die Devanthar so wachsam sind wie nie zuvor. Halte uns nicht mit törichten Hoffnungen hin, Bruder. Du willst ein Anführer sein? Dann komme zu unserem nächsten Treffen mit einem Plan, wie wir den Heerscharen der Menschenkinder auf Nangog eine empfindliche Niederlage beibringen können. Es sind Taten, die einen Anführer ausmachen, Bruder, und nicht Worte.

Ja, komm mit einem Schlachtplan!, stimmte der Flammende sofort zu.

Der Dunkle spürte nun verstärkt den Unmut seiner Brüder gegen den Goldenen.

Treffen wir uns in zehn Tagen!, schnitten die Gedanken des Goldenen durch das Gewirr von Stimmen. Dann werde ich euch darlegen, wie wir die Heerscharen der Devanthar zerschlagen!

Er wirkte erschütternd selbstsicher. Wenn es ihm wirklich gelang, einen großen Sieg zu erringen, dann würde er als Nächstes die Führerschaft in ihrem Rat an sich reißen. Der Dunkle versuchte, tiefer in die Gedanken seines Bruders vorzudringen, als es statthaft war. Doch der Goldene schien darauf vorbereitet gewesen zu sein und schirmte sich mit einer Flut von Erinnerungen an längst vergangene Tage ab. Wenn er siegt, ist es mein Untergang, dachte der Dunkle, und versuche ich, seinen Sieg durch Intrigen zu verhindern, verrate ich Albenmark. Ich kann lediglich hoffen, dass seine selbstgefällige Art ihn zu Fall bringen wird.

Doch das waren die Sorgen von morgen! Nun sollte er zurück zu Nandalee. Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit er ihr Kind geraubt hatte. Er wusste, dass er ihr nicht unter die Augen treten sollte. Sie würde ihm niemals vergeben, was er ihr angetan hatte, nicht einmal dann, wenn sie vielleicht eines Tages begreifen würde, dass er dadurch ihr Leben gerettet hatte.

Beenden wir unser Treffen, Brüder!, forderte der Frühlingsbringer und streckte seine lindgrünen Schwingen. Wir sehen uns in zehn Tagen beim Turm der mondbleichen Blüten in der Lotussee, und ich harre voll freudiger Erwartung des ausgefeilten Plans, mit dem uns der Goldene überraschen wird.

Seine letzten Worte troffen vor Ironie, doch der Dunkle war sich keineswegs sicher, dass sein ewiger Rivale scheitern würde. Vielleicht hatte er ein solches Ende ihrer Versammlung bewusst herbeigeführt, um sie beim nächsten Mal mit einem Schlachtplan zu überraschen, an dem er schon lange gefeilt hatte.

Sie alle waren aus unterschiedlichen Richtungen hierhergekommen und nicht zur gleichen Zeit eingetroffen. Jetzt aber, da jeder es eilig hatte, die Mangroven zu verlassen, zerschmetterten ihre Schwingen dichtes Astwerk und entwurzelten ihre Schwanzhiebe Bäume, die seit einem Jahrhundert und länger der Kraft der Gezeiten und wütenden Stürmen getrotzt hatten.

Der Dunkle spürte, wie der Flammende, der Goldene und der Nachtblaue das wirbelnde Chaos genossen, das sie entfesselten. Dem Smaragdgrünen war es egal, er wollte nur schnell fort, um an einem Ort allein seinen Gedanken nachzuhängen. Der Frühlingsbringer hingegen faltete seine Flügel wieder ein, entschlossen abzuwarten, bis der Sturm sich gelegt hatte. Der Rote aber begrüßte den Aufruhr mit einem wilden Schrei der Ekstase und schwang sich als Erster in die Lüfte; das Astwerk, das auf ihn niederprasselte, ignorierend, flog er nach Westen davon, den schweren Regenwolken folgend.

Ein großer Ast traf den Dunklen dicht unter seinem linken Auge. Er schüttelte den Kopf, empfand dumpfen Schmerz, und zugleich berauschte auch ihn der Sturm ihrer Schwingen. Sie könnten eine ganze Flotte vernichten, indem sie einfach dicht über sie hinwegflogen, sodass die Masten brachen und die Rümpfe von den aufgewühlten Fluten in die Tiefe gerissen wurden. Mit kräftigen Flügelschlägen stieg er senkrecht in den Himmel. Nasses Laub peitschte über seine Schuppen, doch er spürte es kaum. Auf dem Sturm zu reiten ließ sein Herz schneller schlagen und vertrieb die dumpfen Zweifel aus seinen Gedanken. Er stieg höher und höher, durchbrach den feuchten Schleier der Regenwolken, bis über ihm nur noch der Mond und die Sterne am Himmel standen.

Viele Meilen entfernt sah er seine Brüder davonfliegen. Ihre geschuppten Leiber funkelten im Sternenlicht, wo der Wolkendunst in der Kälte der Höhe zu feinem Eis geworden war. Regenbogenschlangen nannten viele Albenkinder sie ehrfurchtsvoll, und einst, bevor der Himmlische und der Purpurne den mordlüsternen Devanthar zum Opfer gefallen waren, hatten sie gemeinsam alle Farben des Regenbogens in sich vereint. Nur er mit seinen schwarzen Schuppen war immer anders gewesen. Er sollte sich mehr um seine Brüder als um Nandalee sorgen. Sie mussten die Devanthar aufhalten!

Auch er würde sich Gedanken über die kommende Schlacht machen, entschied er. Sie brauchten einen Sieg, damit die Kinder Albenmarks nicht den Glauben an die Macht der Regenbogenschlangen verloren. Der Dunkle war sich sicher, dass es ein langer Krieg werden würde. Auch die Devanthar wussten, dass ein Krieg der Götter entfesselt worden war. Es würde keine Verhandlungen geben und keinen Waffenstillstand. Der Krieg würde erst enden, wenn entweder die Devanthar oder sie, die Himmelsschlangen, vernichtet waren.

Sein Blick glitt hinab zu den Mangroven, durch den Wolkenschleier hindurch, wo gerade der Frühlingsbringer als Letzter in den Himmel stieg. Ihr Aufbruch hatte ein Waldgebiet von mehr als einer Meile Durchmesser verwüstet. Kein Baum war stehen geblieben. Kein Sturm hätte schlimmere Verwüstungen anrichten können. Ihre vereinte Kraft übertraf jede Naturgewalt, dachte er melancholisch. Wäre es nur nicht so schwer, sie alle auf ein Ziel einzuschwören und mit vereinter Macht kämpfen zu lassen!

Im Kreidekreis

Nabor lag in seinem Bett und lauschte auf die Geräusche des Wolkenschiffes, wie er es in Hunderten Nächten getan hatte. Normalerweise vergaß er dabei alle Sorgen, und schnell fand ihn der Schlummer, doch seit sie Wanu verlassen hatten, hatte er nicht eine einzige Nacht gut geschlafen. Sein Bett stand nun in der Mitte der kleinen Kabine, die ihm als Lotsen zustand. Er hatte es mit Winkeln am hölzernen Boden befestigt, denn immer wieder griffen wilde Sturmböen nach dem Schiff. Es war kein ruhiger Flug über den Wolken wie in gemäßigteren Regionen. Allerdings stand wenigstens der Wind günstig für sie und trieb sie beständig nach Nord-nordost ihrem Ziel entgegen. Fast, als wollten die Sturmgeister, dass Barnaba sein Traumeis fand.

Die Hälfte ihrer Mannschaft war in Wanu desertiert. Es waren kaum genug Männer geblieben, um die nötigsten Arbeiten auf dem Schiff zu gewährleisten. Selbst Nabor war heute in die Wanten gestiegen, um Eis aus der Takelage zu klopfen. Eine Arbeit, die kein Ende nahm, denn die Taue kleideten sich schneller erneut in ihr frostiges Gewand, als sie das Eis losklopfen konnten. Nabor hatte Barnaba überzeugen können, diese nicht enden wollende Arbeit wiederaufzunehmen! Die Entscheidung des Priesters war allzu leichtfertig gewesen. Sie durften diesen Kampf nicht aufgeben. Gefrorene Seile waren spröde und würden unter Druck brechen. Eine tödliche Gefahr für ein Schiff, das mit Seilen an einen Wolkensammler gebunden war, um durch den Himmel zu gleiten.

Der alte Lotse streckte seine Hand aus dem niedrigen Bett. Es war eisig in der Kammer. Er hatte drei Wolldecken um sich geschlungen und wurde dennoch nicht richtig warm. Seine klammen Finger tasteten über die ausgetretenen Holzbohlen des Bodens, suchten nach jener Stelle, an der ein dünner Wurzeltrieb des Schiffsbaums eine Verbindung zu Wind vor regenschwerem Horizont schuf. Es ging dem Wolkensammler seit Tagen schlecht. Etliche seiner Tentakel waren abgefroren. Diese Reise war für ihn noch mörderischer als für die Menschen, die er trug.

Endlich hatte Nabor den Wurzelstrang gefunden und strich sanft darüber. Als der Wolkensammler nicht reagierte, klopfte er mit den Fingern darauf, als wollte er ihn aufwecken, so wie man jemanden weckt, der neben einem eingeschlafen ist. Wieder nichts. Trotz der Kälte wurde Nabor plötzlich heiß. Es war das erste Mal, dass der Lotse Wind vor regenschwerem Horizont nicht spüren konnte. Dies war nicht der Schlaf für eine Nacht, dachte Nabor in plötzlich aufflammender Panik. Dies war der Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Wind vor regenschwerem Horizont lag im Sterben! Sie müssten sofort umkehren, wenn sie ihn retten wollten.

Nabor erhob sich von seinem Lager, doch dann ließ er sich wieder zurücksinken. Barnaba würde nicht auf ihn hören, sondern sich erneut auf den Willen der Großen Göttin berufen. Würde behaupten, dass sie wusste, was hier geschah, und ihre schützende Hand über sie hielt. Wenn sie nur fest genug auf sie vertrauten … Noch einmal strich Nabor über den feinen Wurzelstrang. Nichts … Er hoffte, es war, weil Wind vor regenschwerem Horizont sich gegen jede Empfindung abzuschotten versuchte, um so dem Schmerz zu widerstehen. Aber wie sollte diese Reise enden, wenn selbst der Lotse des Schiffes keinen Weg mehr zu seinem Wolkensammler fand?

War da etwas gegen die Bordwand geschlagen? Nabor hielt den Atem an. Oder waren es Schritte auf dem Oberdeck gewesen? Keiner der Männer wagte sich im Dunklen mehr heraus, nicht einmal Barnaba, der in den letzten Tagen immer wieder geradezu selbstmörderischen Mut gezeigt hatte, indem er die Sturmgeister herausforderte. Nun blieb auch er nachts in dem Heiligtum unterhalb des Schiffsbaums, dort wo die Wurzeln durch das Oberdeck hinabreichten, um sich dann in das ganze Schiff zu verzweigen. Die gesamte Mannschaft schlief dort. Im Heiligtum fühlten sie sich sicherer. Nabor zog es vor, in seiner eigenen Kabine zu bleiben. Er konnte es nicht ertragen, längere Zeit in der Gesellschaft vieler Menschen zu verbringen. Dafür hatte er zu viele Stunden in der Einsamkeit der Lotsenkanzeln unter den Rümpfen von Wolkenschiffen verbracht.

Das Geräusch war verstummt. Hatte Barnaba vielleicht doch eine einsame Runde über das Oberdeck gemacht?

Jetzt kratzte eindeutig etwas über die Bordwand, gleich außerhalb seiner Kabine. Nabor setzte sich mit klappernden Zähnen auf, die Decken eng um den Leib geschlungen. Zugluft drang in seine Kammer. Der eisige Atem des Winters griff nach ihm. Es gab hier keinen Spalt im Holz, seine Kammer war vollkommen abgedichtet! Er hatte sorgsam darauf geachtet, schließlich war er nicht mehr der Jüngste, und Zugluft vertrug er nicht.

Der Lotse biss die Zähne zusammen, damit sie nicht länger klapperten. Neben seinem Bett stand eine Öllampe, die er die ganze Nacht brennen ließ. Eigentlich war es auf Wolkenschiffen verboten, mit einer offenen Flamme in der Kammer einzuschlafen, zu groß war die Gefahr eines Brandes. Aber Nabor brauchte das Licht. Seit die Sturmgeister um das Schiff strichen, wenn es dunkel war, fand er keinen Schlaf mehr. Also stahl er Lampenöl, das eigentlich für die Positionslichter des Wolkenschiffes vorgesehen war. Hier, so weit im Norden, würden sie keinem anderen Schiff im Himmel begegnen.

Ein erneuter Windzug streifte sein Gesicht. Er fluchte. Die kleine Flamme der Öllampe tanzte. Es war möglich, dass sich die Planken der Schiffswand in der Kälte so weit verzogen hatten, dass ein schmaler Spalt entstanden war. Er musste ihn finden, es würde ihm sonst keine Ruhe lassen. Noch deutlicher hörte Nabor jetzt das Heulen des Windes. Seine Hände begannen zu zittern. Das war nicht nur der Wind …

Zweifelnd blickte er auf den weiten Kreidekreis, den er um sein Bett gezogen hatte, bevor er sich zur Ruhe gelegt hatte. Die Spalten zwischen den Planken waren die kritischen Stellen. Er hatte die Kreide tief in die engen Ritzen gerieben, damit es keine Lücke gab, und sei sie noch so klein. Barnaba hatte die Kreide für ihn gesegnet und keine Fragen gestellt, wozu er sie brauchte. Rings um den Kreis waren alle Schutzzeichen auf den Boden gemalt, an die Nabor sich hatte erinnern können. Als ein Windstoß die Flamme seiner Öllampe fast waagerecht zur Seite drückte, keuchte der Lotse auf. Die Sturmgeister wollten ihn aus seinem Kreis locken!

Leise murmelte er ein Gebet an die Große Göttin. Sollte er der Kälte und dem Kratzen entfliehen und zu den anderen gehen? Er dachte an den Mief im Heiligtum, den auch die Sandelholz-Räucherstäbchen unter dem Wurzelaltar nicht vertreiben konnten. An das Schnarchen und vor allem an die Schreie der Männer, die mitten in der Nacht aus ihren Albträumen hochschreckten. Alle auf diesem Schiff hatten Angst. Alle außer Barnaba. Was war er nur für ein Mann? Wo kam er her? Was hatte er erlebt?

Nabor hatte seit Wanu das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Vor Jahren, im Gefolge des Unsterblichen Aaron. Aber das konnte nicht sein. Der Hohepriester der Großen Göttin bei einem der Unsterblichen. Er lächelte über diesen Unsinn. Das war undenkbar! Ganz sicher spielte ihm seine Erinnerung da einen Streich.

Barnaba war ein Anführer und kein Gefolgsmann. Er hatte Charisma. Er schaffte es, Menschen dazu zu bewegen, alles für seinen Traum zu wagen. Der Priester hatte ihnen in Wanu freigestellt zurückzubleiben. Er hatte nur Freiwillige an Bord haben wollen. Alle, die jetzt noch auf dem Schiff waren, glaubten an ihn. Glaubten, dass das Traumeis die Welt verändern könnte, auch wenn sie nicht wussten, was genau geschehen würde. Nicht einmal Barnaba konnte ihnen das sagen. Und dennoch folgten sie ihm, als wären sein Mut und seine Zuversicht zwei ansteckende Krankheiten, die alle hier an Bord im Blut trugen. In den Träumen aber übermannte sie die Angst.

Unwillkürlich sah Nabor zu dem kleinen Bord an der Wand. Dorthin, wo Gabott lag. Er hatte es nicht über sich gebracht, dem kleinen Affen ein Wolkenbegräbnis zu geben.

Wolkenbegräbnis, das war ein großes Wort für eine Sache, die Nabor zum ersten Mal in seinem Leben infrage gestellt hatte. Denn im Grunde warfen sie die Toten einfach nur über Bord, so wie sie es auch mit Müll taten. Daran war nichts großartig, außer dem Wort, das sie dafür ausgesucht hatten. Er wollte nicht, dass Gabott so endete. Eigentlich hatte er den kleinen Affen in Wanu begraben wollen, aber sie waren so schnell wieder aufgebrochen, dass dafür keine Zeit geblieben war. So hatte er ihn hierbehalten, in seiner eisigen Kabine. Solange sie weiter nach Norden flogen, würde Gabott nicht verwesen. Vielleicht würde er an ihrem Reiseziel einen guten Platz finden, an dem er ihn zur letzten Ruhe betten konnte. Seinen treuen Gefährten, der so viele einsame Stunden mit ihm in der gläsernen Lotsenkanzel geteilt hatte. Bewegte sich etwa das glatte Fell des Affen im Luftzug? Ja, die feinen Härchen tanzten auf und nieder. Also musste sich der Spalt in der Bordwand direkt hinter ihm befinden.

Wie Gabott dort lag, die Pfoten gekrümmt, als wollte er etwas Unsichtbares festhalten … Die Lebenskraft, die die verfluchten Sturmgeister ihm gestohlen hatten!

Nabor senkte seinen Blick. Es half nicht, den Toten nachzutrauern. Er musste schlafen, morgen brauchte er Kraft. Er war der Lotse. Selbst wenn ihr Wolkenschiff steuerungslos flog, war es seine Pflicht, Notizen zu machen und immer wieder zu versuchen, zu Wind vor regenschwerem Horizont durchzudringen. Er durfte nicht aufgeben!

Sein Blick blieb an dem Messer haften, dessen Griff aus dem Schaft seines linken Stiefels neben dem Bett ragte. Er könnte mit der schmalen Klinge ein Stück Stoff in den Spalt rammen. Dann würde es aufhören zu ziehen und er könnte endlich schlafen.

Der Wind draußen heulte jäh auf, als wären die Sturmgeister empört über seinen Gedanken. Nabor lächelte. Er beugte sich vor und zog das Messer. Mit einem Seufzer setzte er sich wieder auf. Sein Rücken schmerzte, die Kälte war ihm schon in die Knochen gezogen. Er schlug das Zeichen des schützenden Horns und verharrte mitten in der Bewegung.

Flatterten Gabotts Augenlider? Das konnte nicht sein! Das … Ein Arm des Affen zuckte. Seine linke Pfote schloss sich.

»Mutter der Welt, beschütze mich«, murmelte Nabor leise. »Halte sie fern von mir, deine Geister. Verschone mich mit deinem Zorn, denn ich habe mich nicht an deiner Welt und deiner Schöpfung versündigt.« Es waren Worte, die er von Barnaba gelernt hatte. Ein neues Gebet, das der Priester ersonnen hatte.

Gabott schlug die Augen auf. Sie waren von durchdringendem Grün, so als leuchtete eine helle Flamme hinter dunkelgrünem Glas. Der Blick war starr. Es schien Nabor, als sähe der kleine Affe geradewegs durch ihn hindurch auf die gegenüberliegende Wand. Es lag keine Freude in den Augen. Kein Wiedererkennen.

Nabor ließ das Messer sinken. »Gabott«, rief er. »Komm! Komm her zu mir!«

Der Affe hob seine linke Pfote dicht vor die Augen, öffnete und schloss sie, dann sah Gabott ihn endlich an. Seine Augen waren jetzt wieder ganz schwarz, so wie sie früher gewesen waren.

»Du warst nicht tot!« In einem fernen Winkel seines Verstandes wusste Nabor, dass er gegen die Vernunft anredete, aber er wollte seinen Gefährten zurück, ganz gleich auf welche Weise das geschah. »Komm her zu mir! Ich habe dich vermisst. Komm unter meine Decke. Dort hinten bei der Wand ist es doch schrecklich kalt.«

Der Affe blickte auf das Messer in Nabors Hand. Er wirkte zögerlich und viel verständiger als früher. Aber war das nicht natürlich?, fragte sich der Lotse. Gabott war bis ganz nah an die Grenze des Todes gegangen. Tagelang hatte er dort gelegen. Das musste ihn verändert haben!

»Komm!« Nabor beugte sich vor und schob das Messer in die Stiefelscheide zurück. Dann streckte er seine Hand vor.

Endlich sprang Gabott von dem Brett an der Kabinenwand. Er landete ein wenig ungeschickt. Sicher waren seine Glieder steif, weil er so lange geruht hatte. Draußen war es still geworden. Der Sturm hatte sich gelegt, bemerkte Nabor verwundert. Er spürte, wie ihr Wolkensegler nicht länger gegen ungünstige Winde ankämpfte, sondern nun endlich wieder mit guter Fahrt gen Norden trieb. Wenn das Wetter nicht erneut umschlug, dann würden sie noch einen Tag, höchstens aber zwei brauchen, um jenen weißen Fleck auf der Karte der Welt zu erreichen, den Barnaba als ihr Ziel benannt hatte. Den Ort, an dem sie das Traumeis finden würden.

Aber das scherte Nabor nicht sonderlich. Gabott war zurück, das war alles, was zählte. Neugierig strich das kleine Äffchen über den Boden und griente ihn dabei an, wie Nabor es gerne mochte. Es sah aus, als lächelte der kleine Affe.

»Komm zu mir. Was zögerst du?« Der Lotse beugte sich noch weiter vor. Er streckte Gabott die offene Hand entgegen. Endlich sprang der Affe auf die Handfläche und krallte sich mit seinen feingliedrigen Pfoten an seinen Fingern fest.

Nabor hob ihn über den Kreidekreis hinweg auf sein Bett. Gabott kroch sofort unter die Decken und schmiegte sich an ihn. Er war so kalt, der arme Kleine, dachte Nabor und war glücklich, dass sein Gefährte zurückgekehrt war.

Der Henker

Hornbori stellte ein dickes Holzscheit auf den Hackklotz und balancierte es aus, bis es von alleine stand. Dann hob er die Axt. Sie war ungewöhnlich schwer. Mit einem Schrei riss er sie hoch und ließ sie mit aller Kraft niedersausen. Er traf das Scheit sauber in der Mitte und spaltete es bis hinab auf den Hackklotz, ohne dass die Klinge der Axt tief im Holz des Klotzes versank.

Das Geräusch klatschender Hände ließ ihn herumfahren. Amalaswintha stand im Eingang der abgelegenen Kaverne, die Eikin ihm zugewiesen hatte, um sich vorzubereiten.

Immer noch klatschend, kam die Zwergin ihm entgegen. Sie trug ein aufreizend rotes Kleid, dessen Saum knapp eine Handbreit über ihren Knöcheln lag. Ein Skandal bei Hof und ein Magnet für Männerblicke.

»Du bist eine echte Gefahr für Holzköpfe, wie mir scheint«, sagte sie lächelnd und blieb dicht vor ihm stehen. Sie duftete nach Pfirsich. Hornbori musste an die vergangene Nacht denken. Daran, wie wenig damenhaft sie gewesen war. Eine Frau wie sie hatte er nie zuvor getroffen. Völlig schamlos und von einer Sinnlichkeit, die Männer alle Vernunft vergessen ließ. Er lehnte die Axt an den Hackklotz und bedauerte es im nächsten Augenblick. Plötzlich wusste er nicht, wo er seine Hände lassen sollte. Zuletzt entschied er sich, gravitätisch über seinen Bart zu streichen und ein paar Holzspäne aus dem Haar zu zupfen. »Wie kann ich dir helfen?« Seine Stimme klang ganz und gar nicht so volltönend und kraftvoll wie sonst. Sie machte ihn nervös.

»Stimmt es, was ich gehört habe?« Sie bedachte die Axt mit einem missbilligenden Blick.

Hornbori traute seinen Ohren nicht. Konnte sie es erfahren haben? Eikin hatte ihm versichert, dass die Hinrichtungen in aller Heimlichkeit stattfinden würden. Niemand sollte wissen, was aus den Helden der Tiefen Stadt geworden war.

»Es ist also wahr«, stellte sie ernüchtert fest. »Du willst deinen Freunden, die dir die Haut gerettet haben, den Kopf abschlagen. Kennst du keine Scham?«

»Ob ich Scham kenne? Das fragst ausgerechnet du mich? Gestern hast du noch mit mir im Bett gelegen, und heute schon hast du es mit dem lüsternen alten Eikin so enge, dass du weißt, was eigentlich ein Geheimnis sein sollte.«

»Nun, ich sehe da durchaus einen Unterschied zwischen dem Mann mit dem Beil und mir.«

»Und ich schätze, Eikin hat dich nicht gefragt, was dir lieber wäre: den Kopf auf den Block zu legen und zum Beil aufzublicken oder das Beil in der Hand zu halten und auf den Block hinabzublicken. Ganz ehrlich gesagt, musste ich nicht lange überlegen. Ich bin nicht stolz darauf, was ich tun werde, aber ich werde mir auch keine Moralpredigten von jemandem anhören, der nicht in meiner Lage ist. Ganz gleich, wie hinreißend du mich anlächelst … Seit wann hast du denn dein Herz für Galar und Glamir entdeckt? Gestern Nacht hast du mir noch gesagt, dass du froh wärst, die beiden nie mehr riechen zu müssen, und dass du lieber in den Abwässern einer Gerberei baden würdest, als mit ihnen noch einmal im selben Aal zu fahren.«

»Und dazu stehe ich nach wie vor, dennoch würde ich ihnen nicht den Kopf abhacken.«

»Glaubst du, es macht mir Spaß? Eikin hat mir keine Wahl gelassen.« Er sah Amalaswintha an, dass sie diese Worte nicht gelten ließ. Sie hatte es ja auch leicht. Bei dem alten Bock genügte ein Lächeln von ihr, um all ihre Probleme zurechtzurücken. Hornbori seufzte. Bei diesem Lächeln und dem, was es verhieß, war das ja auch kein Wunder. »Hast du denn einen Plan?«, fragte er ein wenig versöhnlicher. Er wollte in ihren Augen nicht wie ein erbärmlicher Wurm aussehen, aber nicht einmal für sie würde er sein Leben wegwerfen.

»Ich weiß, wo sie eingekerkert sind. Wir holen sie da raus und dann sehen wir weiter.«

»Das ist dein Plan?« Hornbori traute seinen Ohren nicht. »Hast du denn schon Wachen bestochen? Einen Fluchtweg vorbereitet?« Als Amalaswintha den Kopf schüttelte, seufzte er. »Du willst da einfach hineinmarschieren … Und dann? Glaubst du, ich mach die Wachen alle nieder?«

»Du bist Hornbori Drachentöter!«

Sie schien nicht den geringsten Zweifel zu hegen, dass er gegen ganze Heerscharen antreten könne. Es schmeichelte ihm und entsetzte ihn zugleich. »Wie sollen wir sie denn aus den Ehernen Hallen herausbekommen? Ich soll die drei retten, aber wie viele sollen dafür unter meiner Axt sterben? Treue Männer Eikins, die sich nichts zuschulden kommen ließen, außer den Befehlen ihres Fürsten zu gehorchen. Gegen sie anzutreten wäre zutiefst unmoralisch.«

»Du wirst also deine Gefährten köpfen, weil du keine Wachen Eikins niedermachen willst? Das ist nicht dein Ernst.«

Es war das erste Mal, dass Hornbori Amalaswintha fassungslos sah. Natürlich war das nicht der wahre Grund, aber er hatte einen Augenblick gebraucht, um sich eine bessere Ausrede auszudenken. Er hätte ihr auch sagen können, dass er ein opportunistischer Feigling war, der es leid war, von Galar als Schisser beschimpft zu werden, aber dann hätte er jegliche Hoffnung aufgeben können, noch einmal in ihrem Bett zu landen. Eine neue Ausrede musste her, rasch! »Dir ist schon klar, was die drei vorhaben. Sie wollen eine Himmelsschlange töten. Oder wenn möglich sogar mehrere.«

»Sie wollen die Tyrannei der Drachen brechen, genau!«, entgegnete Amalaswintha mit patriotischer Inbrunst.

»Und danach? Ich weiß, es wird ihnen gelingen, mindestens einen großen Drachen zu töten, und ich freue mich über jeden Tyrannen, der vom Himmel stürzt. Aber was geschieht danach? Glaubst du, die Regenbogenschlangen werden nicht herausfinden, wer einen ihrer Nestbrüder getötet hat? Sie sind wie Götter! Nichts kann vor ihnen verborgen bleiben. Der Drache, für den die Tiefe Stadt sterben musste, war nicht einmal eine Himmelsschlange. Was werden sie tun, wenn einer der alten Drachen stirbt? Ich sage es dir: Sie werden unser ganzes Volk vernichten! Sie werden nicht eher ruhen, bis der letzte Zwerg niedergemetzelt ist. Und sie werden siegen. Sie sind Drachen, die liebsten Kinder der Alben. Kein Stollen ist so tief, dass wir vor ihrer Rache sicher wären.«

»Eikin hat ihnen ihre Speere abgenommen«, entgegnete Amalaswintha. »Sie werden gar nichts gegen die Drachen ausrichten können. Es geht nur darum, ihr Leben zu retten.«

»Nein, darum geht es nicht! Wenn Galar und Glamir überleben, dann werden sie keine Ruhe geben, bis sie den nächsten Drachen getötet haben. Glaubst du, es fällt mir leicht, diese Axt auf den Nacken meiner Freunde sausen zu lassen? Glaubst du, ich sehnte mich nicht auch nach einer unblutigen Lösung? Aber du weißt selbst ganz genau, wie verbohrt Galar ist. Er wird nicht aufgeben!«

»Du machst nicht den Eindruck, als wärst du besonders aufgewühlt.«

Hornbori stieß einen wohl einstudierten verzweifelten Seufzer aus, der bislang noch stets Eindruck gemacht hatte. »Wir Männer werden dazu erzogen, keine Gefühle zu zeigen. Was muss ich tun, um dir zu beweisen, dass diese Entscheidung auch mir das Herz zerreißt? Denkst du, ich mache das gerne? Oder aus blindem Egoismus, um meinen eigenen Kopf zu retten?«

Sie sagte nichts, und das sagte mehr als alle Worte.

»Du hältst mich also für ein Kameradenschwein. Na schön …« Er griff nach der Börse an seinem Gürtel, öffnete sie, tastete mit den Fingerkuppen über die Münzen und holte zwei hervor, als er sicher war, dass die richtige dabei war. Diese ließ er geschickt unter dem breiten Lederband an seinem Handgelenk verschwinden, während er Amalaswintha die zweite reichte. »Du weißt, was das ist.«

Sie schluckte. Dann nickte sie. »Eine Münze aus unserer Heimat«, sagte sie mit belegter Stimme.

»Eine Goldkrone aus der Tiefen Stadt. Ich trage sie bei mir als Erinnerung … Sie ist mein Talisman. Sie lässt mich nicht vergessen, was die Drachen getan haben, aber sie erinnert mich auch an meine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dies nie einer anderen Zwergenstadt widerfahren wird, ganz gleich welchen Preis ich dafür bezahlen muss.« Er senkte niedergeschlagen den Blick. »Aber ich könnte nicht mit deiner Verachtung leben. Eher verstoße ich gegen meine Überzeugung, als dass ich zulasse, dass ich in deinen Augen ein Feigling bin.« Er nahm die Münze aus ihrer offenen Hand und ließ sie geschickt über seine Fingerkuppen tanzen, sodass abwechselnd beide Seiten zu sehen waren: das Antlitz des Alten in der Tiefe aus ihrer Heimatstadt und die goldene Krone, die diesen Münzen ihren Namen eingebracht hatte. »Lassen wir das Schicksal entscheiden, Amalaswintha.« Er warf die Münze hoch, fing sie wieder auf und ließ sie in seiner Faust verschwinden, während er die linke Hand mit großer Geste auf seine Brust legte, dort, wo sein Herz schlug, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken.

»Möge mir mein Herz in der Brust verrotten, wenn ich mich aus Feigheit gegen meine Kameraden wende. Soll das Schicksal entscheiden. Du wirfst diese Münze!« Während er ihr fest in die Augen sah, tauschte er mit geschickten Fingern die Krone gegen die Münze unter dem Lederband. »Liegt die Krone zuoberst, dann folge ich dir, wo immer du mich hinführst, und ich schere mich einen Dreck darum, was daraus erwachsen wird, wenn wir Galar, Nyr und Glamir befreien. Liegt aber der Kopf oben, dann will das Schicksal, dass noch heute die Köpfe meiner Freunde fallen, auch wenn es mir das Herz bricht.« Mit diesen Worten reichte er ihr die Goldmünze.

Amalaswintha betrachtete einen Augenblick lang versonnen den Kopf ihres toten Fürsten, der zu ihr hochzublicken schien. Dann warf sie die Goldkrone hoch, fing sie wieder auf und streckte Galar die flache Hand entgegen. Der Kopf lag obenauf. Amalaswintha verzog die Lippen. Dann gab sie ihm schweigend die Münze zurück.

»Es ist mein Schicksal«, sagte Hornbori heuchlerisch bedrückt. »Ich hätte die Münze werfen sollen. Erst das zweite Ergebnis zählt …«

»Wir hatten eine Absprache«, flüsterte Amalaswintha. »Du musst nicht …«

Er sah die Hoffnung in ihren Augen, die ihre Worte Lügen strafte. »Doch, ich muss und ich will. Sie sind auch meine Freunde.« Er deutete auf die Axt. »Ich bete, dass das Schicksal mir eine Ausrede gibt, dies nicht zu tun.« Bevor sie darauf etwas sagen konnte, warf er die Münze. Als er sie fing, hielt er sie einen Moment lang in der Faust und murmelte ein kurzes Gebet zu den Alben. Dann erst öffnete er die Hand. Wieder zeigte die Münze den Kopf ihres toten Fürsten. Hornbori seufzte. »Dann soll es so sein.«

»Ich werde dennoch versuchen, sie zu befreien«, beharrte Amalaswintha.

»Ich wünsche dir Glück.«

Sie nickte, wandte sich ab und ging zu dem Durchgang, der die abgelegene Kammer mit dem Tunnelsystem im Berg verband. Als sie sich dort ein letztes Mal umsah, hob Hornbori nur die Hand zum Gruß. Ihm war klar, dass sie gehofft hatte, er würde doch noch mit ihr kommen. Ihre Schritte waren schwer, als sie endgültig ging. Eine Zeit lang würde sie verbittert sein, aber am Ende würde sie ihn wieder in ihr Bett holen, da war er sich ganz sicher. Sie würde nicht vergessen, dass er dem Schicksal zweimal Gelegenheit gegeben hatte, alles zu wenden. Das würde sie ihm immer hoch anrechnen.

Er hob die Münze in seiner Hand an die Lippen und küsste sie. Sie hatte ihm schon so manches Mal gute Dienste erwiesen. Wie gut, dass er mit dem Prägemeister der Tiefen Stadt so vertraut gewesen war. Der alte Säufer hatte gegen ein Fass besten Branntweins diese besondere Münze geschlagen, die auf beiden Seiten das Antlitz des Fürsten zeigte. Nur dumme Männer überließen ihre Zukunft allein dem Schicksal!

Er hob die Sanduhr auf, die unweit des Hackklotzes auf dem Boden stand. Sie war während des Gesprächs mit Amalaswintha abgelaufen. Wie viel Zeit mochte ungemessen verflossen sein? Ein Viertel von einer Stunde? Vielleicht etwas weniger?

Hornbori drehte das Stundenglas und sah dem feinen Sandstrahl zu, der durch die Enge rann. Galar blieben weniger als drei Stunden bis zu ihrer letzten Begegnung. Es wäre besser, darauf gut vorbereitet zu sein. Hornbori schob die Münzen zurück in den Beutel an seinem Gürtel, nahm die Axt, stellte ein neues Scheit auf den Klotz und ließ das Henkersbeil niedersausen.

Nur heiße Luft

Galar tupfte mit einem Brotkanten die letzten Soßenreste von dem großen Silbertablett, auf dem eben noch der Rehrücken gelegen hatte. Die Mahlzeit, die Eikin hatte servieren lassen, war wirklich köstlich gewesen! Auch Glamir hatte tüchtig zugelangt und ließ sich gerade mit einem zufriedenen Rülpser in seinen hohen Lehnstuhl fallen. Nur Nyr hatte keinen Happen herunterbekommen.

»Es wäre eine Schande, so ein Essen verkommen zu lassen«, erklärte Glamir und betrachtete einen Soßenfleck in seinem Bart.

»Was wird nur aus Frar werden?« Nyr rang verzweifelt die Hände. »Der Kleine braucht mich doch. Er hat doch keine Mutter! Niemanden, der sich um ihn …«

»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd! Glaubst du wirklich, Eikin lässt uns köpfen? Im Leben nicht! Der Titel des Alten in der Tiefe ist eine Würde auf Zeit. Er wird zum Fürsten gewählt. Glaubst du, er wird seinen Thron noch einmal besteigen, wenn er die Drachentöter hinrichten lässt? Er ist sauer auf uns und will uns weichkochen. Uns einen gehörigen Schrecken einjagen. Und dann wird er mit uns verhandeln und erzählen, was er eigentlich will.« Galar schob sich genüsslich das Brot in den Mund. Es war so voller Saft gesogen, dass er ihm aus den Mundwinkeln rann. Genießerisch schloss er die Augen. Es war sehr lange her, dass er so ein gutes Mahl zu sich genommen hatte.

»Bist du dir sicher?« Nyr sah elend aus.

Was war nur aus seinem Freund, dem kaltblütigen Richtschützen geworden? Der Umgang mit dem Kind hatte ihn völlig verändert.

»Was denkst du, Glamir?«, wandte sich Galar an den verkrüppelten Schmied. »Er ist dein Fürst. Lässt uns Eikin die Köpfe abschlagen oder will er uns nur erschrecken?«

Glamir fläzte sich im Lehnstuhl und stocherte nachdenklich mit seinem Daumennagel zwischen den Schneidezähnen. »Weiß nicht … Ihm bedeutet mein Turm einiges. Er weiß, dass er mich da braucht. Und dich auch. Gibt nicht so viele Irre, die zu den Smaragdspinnen hinabsteigen und lebend wieder hochkommen. Ich glaube eher nicht, dass er uns umbringen lässt. Sein Gerede von der Hinrichtung war nur heiße Luft. Wahrscheinlich holt er uns persönlich ab, spielt uns noch ein bisschen was vor und bringt uns dann mit einer Eskorte zu einem Aal, mit dem wir zurück zu meinem Turm sollen.« Er seufzte. »Was hätte ich darum gegeben, noch mal den Himmel zu sehen und einem richtig großen Drachen einen unserer Pfeile zu verpassen.«

Auch Galar dachte nicht gern an die endlosen Tauchgänge zurück. Die Smaragdspinnen hatten ihm nichts zuleide getan. Im Gegenteil, sie hatten ihn gerettet, als Glamir ihn hatte verrecken lassen wollen. Und dennoch wäre er froh, wenn er nie wieder in eines der Tauchfässer steigen müsste. Er hatte den Traum von der Drachenjagd noch nicht aufgegeben! Glamir hatte geahnt, dass Eikin sie hereinlegen könnte. Er wollte sie nicht in den Ehernen Hallen behalten. Und er würde ihnen nicht erlauben, auf die Jagd zu gehen, weil er ein verdammter Feigling war. Sie sollten zurück in diesen verfluchten Turm. Da waren sie ungefährlich für ihn. Aber sie waren auf diesen Verrat vorbereitet. Sie mussten nur hier rauskommen …

»Wir müssen herausfinden, wo sie Frar hingebracht haben«, murmelte Nyr vor sich hin.

Er war völlig besessen von dem Kind, dachte Galar verärgert. Es war Zeit, dass sie den Kleinen an irgendeinen Rockzipfel hängten. Es war nicht gut für Männer, wenn sie sich die ganze Zeit mit Kleinkindern abgaben. Und für den Kleinen war das ganz sicher auch nicht gut. Sie hatten ihn mit Drachenblut aufgepäppelt! Jede der Phiolen wäre ihr Gewicht in feinsten Edelsteinen wert gewesen. Er wollte gar nicht daran denken, was für ein Vermögen Frar in sich hineingenuckelt hatte. Wann würden sie solches Blut noch einmal bekommen. Er hätte es dringend für seine alchemistischen Versuche gebraucht. »Wahrscheinlich wird Amalaswintha sich um ihn kümmern.«

Nyr stöhnte auf. »Das ist nicht gut! Gar nicht gut! Sie wird keinen guten Einfluss auf ihn haben.«

»Ich finde, Frar ist bei ihr bestens aufgehoben!«, mischte sich Glamir ein und kratzte sich dabei im Schritt. »Also ich würde was darum geben, an ihren Brüsten nuckeln zu dürfen. Da kann man richtig eifersüchtig auf den Kleinen werden.«

Der hagere Geschützmeister war mit einem Satz auf den Beinen. »Du …«, stieß er um Atem ringend hervor und bekam einen hochroten Kopf. »Du …«

»Alles gut!« Galar schob sich zwischen Nyr und Glamir, der seelenruhig in seinem Lehnstuhl sitzen blieb.

»Dem stopf ich sein Lästermaul! Er und seine dreckigen Gedanken werden nicht die Ehre des Kleinen besudeln. Er …«

»Mit dreckigen Gedanken die Ehre des Kleinen besudeln«, äffte Glamir ihn nach. »Wie geht das denn? Macht der sich schmutzig, wenn ich über ihn rede? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Oder meinst du etwa, der pisst sich vor Freude ins Höschen, wenn er an die drallen Titten denkt?«

»Du!« Auch wenn Nyr auf den ersten Blick eher schwächlich wirkte, so klapperdürr wie er aussah, war er doch erstaunlich stark. Besonders wenn er wütend wurde. Galar hatte alle Mühe, ihn festzuhalten.

»Heh!« Endlich richtete Glamir sich auf und wirkte plötzlich ernst. »Wir können den Jungen nicht mit in den Krieg nehmen. Das ist dir ja wohl klar.«

Nyrs wütende Bemühungen, an Galar vorbeizugelangen, ebbten ab.

»Verdammt, er kommt aus der Tiefen Stadt. Eine Heimat, die er dank der Drachen nie wiedersehen wird. Amalaswintha ist das letzte Stück Heimat, das ihm noch geblieben ist. Wo willst du ihn denn sonst sehen? Bei irgendeiner Amme, die Eikin aussucht? Bei Amalaswintha wird er hören, wo er geboren wurde, wie es war, in der Tiefen Stadt zu leben. Er wird sich ihr verbunden fühlen, selbst wenn er seine Heimat nie gesehen hat. Und er wird die Drachen zu hassen lernen.«

Nyr tat einen langen Seufzer und trat einen Schritt zurück.

Galar war nicht ganz so überrascht wie Nyr. Er hatte den verstümmelten Schmied in den Monden im unterirdischen Turm gut kennengelernt. Er wusste, dass sich bei Glamir hinter sehr viel harter Schale ein überraschend feinsinniger Kern verbarg. Glamir spürte, was die Männer, mit denen er sich umgab, in ihrem Innersten bewegte, und er nutzte dieses Wissen für seine Zwecke. Er wollte die geflügelten Herrscher vom Himmel holen. Um dieses Ziel zu erreichen, würde er alles tun. Lügen und töten, seine Freunde verraten und mit Feinden paktieren. Er hatte sich ganz seinem Hass verschworen. Davon abgesehen war er ein ganz ordentlicher Zechkumpan und Gefährte, solange man nicht zwischen ihn und sein Ziel geriet. Glamir war der erste Zwerg unter allen, die ihm je begegnet waren, den Galar eine verwandte Seele genannt hätte.

»Ich habe mich gar nicht richtig von ihm verabschiedet«, sagte Nyr leise.

»Er wird sich an dich erinnern.«

Galar glaubte nicht, was Glamir gerade so freimütig behauptete. Er selbst erinnerte sich an kaum etwas, was mit seiner frühen Kindheit zu tun hatte. Aber er sah den Nutzen hinter Glamirs Behauptungen. Und so bekräftigte er dessen Worte.

»Das stimmt, Nyr! Er wird dich niemals vergessen. Und wer weiß, wenn wir ein wenig Glück haben, dann wirst du eines Tages wieder vor ihm stehen. Er wird ein junger Mann sein. Vielleicht auch ein Richtschütze …«

Die schwere Eichentür zu ihrem behaglich eingerichteten Kerker flog auf, und Eikins oberster Speichellecker trat ein: Bailin, der Hauptmann seiner Leibwache. Hinter ihm folgte ein Dutzend anderer Krieger. Ihre Mienen verhießen nichts Gutes. Bittere Entschlossenheit spiegelte sich in ihren Zügen.

Bailin gab seinen Männern einen Wink. »Los! Schnappt sie euch!«

Galar griff nach dem schweren Silbertablett, auf dem der Rehrücken serviert worden war. Es war die einzige Waffe im Raum! Das Fleisch war schon in Stücke geschnitten gewesen. Man hatte auch ein paar Holzschüsseln für das Essen gebracht, aber kein Messer, keine Gabel, nicht einmal einen Löffel. Mit einem Sprung nach vorne rammte Galar dem ersten der Leibwächter das Tablett in den Magen. Der Mistkerl sackte wie vom Blitz getroffen zusammen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Glamir, der fluchte und mit dem ihm verbliebenen Arm kräftig austeilte, schnell überwältigt wurde.

Wild das Tablett hin und her schwenkend, zog Galar sich in eine Ecke zurück, sodass er nicht im Rücken angegriffen werden konnte.

Bailin war zwischen seine Männer getreten und zog einen schweren Knüppel aus seinem Gürtel. »Fangt ihn lebend, aber gut aussehen muss er nicht mehr, dort, wo wir ihn hinbringen.« Mit diesen Worten ging er mit zwei weiteren mit Knüppeln bewaffneten Kriegern auf Galar zu.

»Kommt nur, ihr Schoßhündchen«, zischte der Zwerg und verbarg seine Verzweiflung. Eikin hatte also keine leeren Worte gemacht: Sie sollten nicht eingeschüchtert werden und dann zurück in den verfluchten Turm. Sie würden wirklich hingerichtet werden!

Ein Keulenhieb traf Nyr, der mit zwei Angreifern zu Boden gegangen war, seitlich am Kopf, als er gerade wieder aufstehen wollte.

Galar stieß einen wütenden Schrei aus, stürmte aus seiner Ecke heraus und erwischte einen der Angreifer mit dem Tablett am Kinn. Zähne splitterten unter dem schweren Silber, und Knochen knirschten bedenklich. Der Schmied duckte sich unter einem Knüppelhieb zur Seite und riss das Tablett wie einen Schild hoch, um einen weiteren Schlag abzuwehren. In diesem Moment sauste Bailins Knüppel nieder. Anders als bei einem richtigen Schild hatte das Tablett keine Lederschlaufen auf seiner Rückseite, durch die man den Arm schieben konnte. Galar war gezwungen, es an den Rändern festzuhalten. Und Bailins Knüppel schmetterte auf seine Rechte. Die Hand war sofort taub vor Schmerz.

Ein zweiter Schlag fegte das Tablett zur Seite, das Galar mit nur einer Hand nicht mehr sicher halten konnte. Ein Tritt traf ihn zwischen die Schenkel. Ein Hieb in die Nieren ließ ihn aufkeuchen.

Galar brach in die Knie. Seine Arme wurden nach hinten gerissen und ihm auf den Rücken gebunden. Dann wurde ihm ein Sack über den Kopf gestülpt, der roch, als wäre ein alter Schinken darin gelagert worden.

»Bringt sie zu ihrem Bestimmungsort!«, war die befehlsgewohnte Stimme Bailins zu hören.

Galar hatte schon oft dem Tod ins Antlitz gesehen, doch das war stets auf der Jagd oder im Kampf gewesen. Sein oder Nichtsein hatten in seiner Hand gelegen, doch hier gab es keinen Kampf mehr.

Er wurde von starken Händen bei den Armen gepackt, hochgerissen und vorwärtsgeschoben.

Irgendwo hinter ihm fluchte Glamir. Seine Stimme klang durch den Sack halb erstickt. Ein klatschendes Geräusch erklang, ein gurgelnder Schrei, dann war es still.

Der Mund des Schmieds war staubtrocken. Sein Magen zog sich zusammen. Jetzt tat es ihm leid, so viel gegessen zu haben. Ihm war übel. Der unangenehm salzig-süßliche Schinkengeruch, der tief in den Stoff eingezogen war, steigerte den Brechreiz noch. So wollte er nicht abtreten, mit Erbrochenem im Bart und mit feuchten Augen. Er war kein Schisser wie Hornbori … Wo der Mistkerl jetzt wohl steckte? Er hatte es wieder einmal geschafft, sich aus allem herauszuwinden, wie es schien. Sollte den Dreckskerl der Steinschlag beim Scheißen treffen!

Sie wurden aus der Kammer in einen Tunnel geschafft, in dem ihre Schritte widerhallten. Galars Rücken schmerzte. Der Nierenhieb hatte gut gesessen. Wahrscheinlich würde er Blut pissen. Als er die gefesselten Hände zu Fäusten ballte, fühlte sich seine Rechte an, als wären die Mittelhandknochen gebrochen.

»Hauptmann Bailin, von der Leibwache des …«, ertönte Bailins Stimme.

»Schon gut, ich weiß noch, wer du bist. Ich habe dir ja gerade erst aufgesperrt!« Die zweite Stimme klang rau und müde. »Gut, dass die drei Schweine noch heute Abend erledigt werden. Ein Mordkomplott gegen Eikin schmieden!« Es klang, als hätte der Sprecher ausgespuckt. »Das hat man davon, wenn man Fremde gnädig in seinen Höhlen aufnimmt. Ich hoffe, der Henker ist ein Stümper und braucht ein paar Schläge, um die Köpfe rollen zu lassen. Ihr könnt die Gefangenen nun abführen.«

Galar war versucht, dem Unbekannten zu sagen, wie es wirklich gewesen war. Aber ihm war klar, dass ihm niemand glauben würde. Also schwieg er, als er erneut unsanft nach vorne gestoßen wurde.

Es war ein langer Weg, den sie zurücklegten. Sie schienen nur kleinere Stollen zu benutzen, die abseits der großen Tunnel lagen. Die vertrauten Geräusche der Zwergenstadt, das Hämmern von Stahl auf Stein, Flüche, das Klappern der Hufe von Grubenponys klangen von fern, und der allgegenwärtige Geruch nach Rauch und Kohlsuppe hing nur dünn in der abgestandenen Luft. Nur zweimal begegneten sie anderen Zwergen auf ihrem Weg, und Galar hörte Bailin jedes Mal etwas von verdammten Fremden murmeln, die sich an eine der Töchter des Obersteigers herangemacht und dafür eine ordentliche Abreibung eingehandelt hatten. Es kamen nie Fragen.

Galar hatte die Aale im Hafen ja gesehen. Die ganze Stadt war voller fremder Zwerge, und ganz sicher waren Schlägereien an der Tagesordnung. Auch an den Säcken über ihren Köpfen schien sich niemand zu stören. In den meisten Zwergenstädten machte man ein Geheimnis aus dem komplexen Netz von Seiten- und Fluchttunneln. Da war es nicht verwunderlich, wenn man dafür sorgte, dass sich ungebetene Gäste nicht gründlich umsehen konnten. Und so konnte nicht doch noch jemand die Helden der Tiefen Stadt kurz vor deren spurlosem Verschwinden erkennen.

Endlich hielten sie an. In der Ferne war das dumpfe Murmeln einer größeren Menschenmenge zu hören. Überlagert von Rauch hing der Geruch ungewaschener Leiber in der Luft. Galar wurde der Sack vom Kopf gezogen. Blinzelnd hob er den Kopf. Vielleicht dreißig Schritt entfernt, am Ende des Tunnels, war fahles, gelbes Licht zu sehen.

Vier Sandkörner

Galar war überrascht, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Wollt ihr hier euer Bluthandwerk verrichten?«, fragte er Bailin herablassend.

»Das liegt an euch.« Der Hauptmann wirkte angespannt. »Werdet ihr drei mir schwören, dass ihr nichts tun werdet, was die Ehernen Hallen in Gefahr bringt?«

Gab es etwa doch noch Hoffnung? Hatten ihre Henker ihr Gewissen entdeckt? Galar blickte zu Glamir. Als sein Gefährte leicht nickte, entgegnete er frech: »Natürlich tun wir nichts, was deiner Stadt schaden könnte. Wer hat jemals etwas anderes behauptet?«

»Ihr seid Drachentöter. Und wir alle wissen, was deiner Heimatstadt widerfahren ist, Galar. Ich wünsche nicht, dass die Ehernen Hallen das Schicksal der Tiefen Stadt teilen.«

»Dann wird man wohl die verfluchten Himmelsschlangen töten müssen«, zischte Glamir. »Denn sonst ist keine Zwergenbinge vor der Willkür der Tyrannen sicher.«

Galar fluchte still in sich hinein. Das war ganz bestimmt nicht die Antwort, die der Hauptmann hören wollte. Laut bemerkte er lakonisch: »Wir haben gar nicht mehr die Möglichkeit, einen der großen Drachen zu töten. Wir hatten sie, doch Eikin hat dafür gesorgt, dass die Bestien nicht mehr länger in Gefahr sind.«

Das war eine glatte Lüge. Glamir hatte vorgeschlagen, vier Speerspitzen und etliche Spitzen für Armbrustbolzen im Futter ihrer Stiefel einzunähen. Außerdem gab es noch die Speerspitzen, die sie in dem Aal versteckt hatten, der nun irgendwo unter der Decke des Hafens hing. Das wäre genug, um der ganzen Brut der Himmelsschlangen den Garaus zu machen, wenn sie nur nahe genug an sie herankämen.

»Ihr seid Drachentöter.«

Klang da ein Hauch von Respekt in der Stimme des Speichelleckers? Galar sah Bailin scharf an. Der Hauptmann sah aus wie einer, auf den man sich verlassen konnte. Er hatte ein hartes, aber ehrliches Gesicht. Obwohl seine fahle Haut verriet, dass er lange nicht mehr aus den Tunneln herausgekommen war, hatte er etwas von einem Veteranen an sich. Eine selbstsichere Art aufzutreten.

»So wie ich euch einschätze«, fuhr Bailin fort, »werdet ihr niemals aufgeben. Und du würdest selbst mit einem Messer in der Hand auf einen Drachen losgehen, wenn es nur das kleinste Fünkchen Hoffnung gäbe zu siegen. Das stimmt doch, oder?«

Galar sagte nichts. Jedes Wort mochte nun über Leben oder Tod entscheiden.

»Eikin ist jedenfalls dieser Meinung. Er wird sich jetzt schon wundern, wo ihr bleibt. Er ist kein schlechter Fürst, aber er ist davon überzeugt, dass ihr der Untergang der Ehernen Hallen sein werdet, wenn ihr lebt. Nicht weit von hier ist schon ein Platz für euch vorbereitet. Ein aufgegebener Schacht, der wieder mit taubem Gestein verfüllt wird, sobald ihr tot seid. Niemand würde eure Leichen dort je finden.«

Wieder spürte Galar, wie sich sein Magen zusammenzog. »Und wieso bringst du uns dann nicht zu diesem Ort?«

»Ihr seid Helden, verdammt!«, brach es aus dem Hauptmann heraus. »Unser Volk braucht Männer wie euch. Es ist nicht richtig, euch heimlich meucheln zu lassen. Ich habe Eikin siebzehn Jahre treu gedient, die letzten fünf davon als Hauptmann seiner Leibwache. Er ist ein Mann von Ehre. Ich hatte immer Respekt vor ihm. Und ich erkenne auch klar die Gefahr, die ihr für unsere Stadt darstellt. Aber was er mit euch vorhat, ist nicht zu rechtfertigen. Ihr hattet ja nicht einmal Gelegenheit zu reden.«

Etwas tat sich am Ende des Tunnels, dort, wo das gelbe Licht herkam. Das Murmeln veränderte sich, und plötzlich überlief ein Prickeln Galars Haut, sodass sich die feinen Härchen auf seinen Armen aufrichteten.

»Was erwartest du von uns?«, fragte er.

»Ihr werdet nie wieder in die Ehernen Hallen zurückkehren und zu niemandem darüber sprechen, dass ihr jemals hier gewesen seid. Und ihr werdet drei Jahre lang keinem Drachen nachstellen und euch völlig unauffällig verhalten. Das sollte genügen, um eure Spur zu verwischen. Was ihr danach tut, ist mir egal. Mir ist klar, dass ihr niemals ganz aufgeben werdet. Helden sind so.«

Galar musste schmunzeln. Dann erinnerte ihn ein Stich im Rücken an den mörderischen Schlag in die Nieren, den er abbekommen hatte. »Du hast mein Wort, dass wir verschwinden und es drei Jahre lang ruhig angehen lassen«, sagte er rasch.

»Eh, werde ich auch noch gefragt?«, murrte Glamir.

»Ich gehe davon aus, dass es noch einen Platz in dem aufgegebenen Stollen für dich gibt, wenn du dich nicht auf Bailins Bedingungen einlässt.«

Der Hauptmann nickte grimmig.

»Ich trau dem Kerl nicht«, entgegnete Glamir gereizt und sah zu Nyr. Doch der sagte gar nichts, sondern starrte einfach nur vor sich hin. Wahrscheinlich dachte er an Frar, den er wohl niemals wiedersehen würde, wenn er sich auf die Bedingungen des Hauptmanns einließ.

Wirklich vertrauen konnte Galar ihm auch nicht. Diese ganze Sache stank zum Himmel. Bailin wirkte wie ein Mann von Ehre. Würde er sich wirklich zu einem Verrat an seinem Fürsten hinreißen lassen? »Warum hast du uns dermaßen verprügeln lassen, wenn du uns retten wolltest. Hätten wir gewusst, was du willst, wären wir ohne Widerstand mitgekommen.«

»Und genau das wäre Regin aufgefallen. Er und einige Männer aus seiner Sippe haben euer Gefängnis bewacht. Ich kenne kaum einen Zwerg, der so misstrauisch ist wie dieser alte Bastard. Er ist ein Saufkumpan von Eikin und einer der wenigen, die wussten, dass ihr hingerichtet werden solltet. Hätte er keinen Kampfeslärm aus eurem Gefängnis gehört und wärt ihr nicht an ihm vorbeigehumpelt und hättet zusammengeschlagen ausgesehen, hätte er augenblicklich Verrat gewittert.«

Galar rieb sich den schmerzenden Rücken. Für seinen Geschmack war diese Schlägerei deutlich zu echt gewesen. Doch ihm war auch klar, dass sie keine andere Wahl hatten, als sich auf das Spiel des Hauptmanns einzulassen.

»Wie willst du uns denn aus den Ehernen Hallen herausbekommen? Eikin wird bald merken, dass du ihn hintergangen hast, und den ganzen Berg auf den Kopf stellen lassen.«

Bailin deutete auf das Ende des Tunnels. »Dort unten liegt der Große Torsaal. Die Freiwilligen haben sich dort versammelt. Noch in dieser Nacht werden sie durch den dortigen Albenstern zu jenem Ort abrücken, an dem die Himmelsschlangen ihr Heer versammeln, das auf Nangog kämpfen soll. Ihr geht mit ihnen. Da die Drachen niemandem verraten haben, wohin sie uns über den Albenpfad holen, wird Eikin euch nicht mehr folgen können, sobald sich das Tor schließt.« Der Hauptmann winkte einem seiner Männer, der einen vollen Sack trug. »Die Kleider.«

»Was wird das?«, wollte Galar wissen.

»Ihr verkleidet euch als Holzfäller aus den Schattenbergen. In den langen Kapuzenumhängen seid ihr unauffällig. Haltet die Köpfe zu Boden gerichtet, damit euch niemand erkennt.«

Glamir lachte auf. »Und das soll unauffällig sein! Männer, die in den Krieg ziehen, stecken voller Feuer. Sie starren nicht zu Boden.«

»Nicht bei diesem Krieg«, entgegnete Bailin düster und drückte Galar einen der schwarzen, abgetragenen Umhänge in die Hand. »Es heißt, die Drachen rufen Kämpfer aus allen Völkern zu den Waffen. Sogar Trolle und Kobolde. Wir müssen mit diesem Gelichter gemeinsam kämpfen. Das kann nicht gut gehen. Alle wissen das. Kaum jemand hat sich freiwillig für diesen Feldzug gemeldet, aber wir müssen die Zahl an Männern stellen, die uns die Drachen vorgegeben haben. Es waren die Ältesten der Sippen, die bestimmt haben, wer gehen muss. Es sind – bis auf wenige Ausnahmen – die, auf die man verzichten kann. Glaub mir, Galar, dort unten brennt nur in wenigen Augen Feuer. Die meisten starren auf den Boden.« Mit diesen Worten nahm auch Bailin einen Umhang und warf ihn sich um die Schultern.

»Was wird das?« Ungläubig sah Galar, wie der Hauptmann die Kapuze über den Kopf zog und die angelaufene Messingbrosche unter dem Kinn schloss.

»Wonach sieht es aus?«, entgegnete Bailin gleichmütig. »Dachtest du etwa, ich lasse euch alleine ziehen? Ich werde mitkommen und darauf achten, dass ihr Wort haltet. Drei Jahre lang werden keine Mordpläne gegen Drachen geschmiedet. Bis dahin werden wir so oft verlegt worden sein, dass keiner mehr die Spur zu den Ehernen Hallen zurückverfolgen kann. Wahrscheinlicher noch sind wir alle tot.«

»Warum machst du das?«, fragte Nyr. Es war das erste Mal seit ihrer Entführung, dass der hagere Geschützmeister sprach.

»Weil es das Richtige ist. Euch zu töten wäre falsch. Euch einfach laufen zu lassen und die Sicherheit meiner Heimat zu gefährden wäre genauso falsch. Also komme ich mit euch und sorge dafür, dass ihr Wort haltet.«

»Er lässt eine Kleinigkeit aus, unser selbstloser Held.« Glamir zog seine Kapuze tief in die Stirn, sodass sein Gesicht jetzt ganz im Schatten verborgen lag. »Er hat gar keine andere Wahl, als hier schnellstens zu verschwinden. Da er unsere Flucht ermöglicht hat, wird er seinen Kopf an unserer Stelle auf den Richtblock legen, wenn Eikin ihn zu fassen bekommt. So viel zu unbeflecktem Heldentum.«

»Und deine Männer?«, fragte Galar. »Was wird aus ihnen?«

»Sie haben sich entschieden, dass die Aussichten, einen Krieg der Götter zu überleben, weitaus geringer sind, als vor Eikins Zorn davonzulaufen. Sie werden noch in dieser Nacht die Ehernen Hallen verlassen. Amalaswintha hat ihnen ein Angebot gemacht, das man nicht ablehnen kann.«

»Sie steckt dahinter?«, entfuhr es Galar. Er traute seinen Ohren nicht. »Sie hat euch dafür bezahlt, uns zu retten?«

Bailins Brauen zogen sich ruckartig zusammen. Wütend funkelte er den Schmied an. »So ist das nicht. Wir hatten ohnehin entschieden, euch zu holen. Allerdings werden meine Männer dank ihres Edelmuts nicht mit bitterster Armut bezahlen. Zugleich verhilft sie ihnen zu einem guten Fluchtweg. Es gibt einen zweiten, kleineren Hafen, der nicht von fremden Aalen angelaufen wird. Dort hat sie einen ganz besonderen Aal. Er ist schwarz gestrichen wie die meisten Tauchboote, doch unter der Farbe ist jedes Metallteil aus purem Gold.«

Galar schluckte. Er versuchte sich vorzustellen, was für ein Schatz das war. Ein Aal aus Gold. Bei den Alben! Das würde genügen, um eine neue Zwergenstadt zu gründen. Sie könnten alles kaufen. Werkzeuge, Grubenponys … Einfach alles! Wehmütig dachte er an seine verlorene Schmiede, die zugleich sein alchemistisches Labor gewesen war. Vielleicht, wenn sie alle Himmelsschlangen töten konnten, würde er eines Tages dorthin zurückkehren. Vielleicht gab es mehr Zwerge wie ihn, die glaubten, dass man auch einer toten Stadt noch einmal Leben einhauchen könnte. Und dass die Geister all jener, die dort gestorben waren, Frieden darin finden würden, wenn ihre Stadt zu neuem Leben erblühte.

»Gehen wir!«, sagte Bailin entschieden. Der Hauptmann verabschiedete sich knapp von seinen Männern, dann marschierten sie zu viert dem gelben Licht am Ende des Tunnels entgegen. Bailin bildete den Abschluss ihrer kleinen Schar und behielt sie genau im Blick.

Glamir drängte sich an Galars Seite und tat so, als brauchte er jemanden, der ihn stützte. Galar wusste, dass der einbeinige Schmied mit seiner Krücke bestens zurechtkam. Er ahnte, was sein Gefährte wollte.

»Den müssen wir ganz schnell loswerden«, zischte Glamir. »Der ist ja unerträglich. Mit einem Helden im Schlepp findet man nur eins, den Heldentod!«

Glamir hatte sicherlich recht, aber Galar war Bailin nicht unsympathisch. Er war ein erfrischender Kontrast zu Hornbori, dem größten Schisser, den Albenmark je hervorgebracht hatte. Auf Bailin könnte man zählen, wenn es zum Kampf kam.

»Ich weiß, was dir durch den Kopf geht«, raunte Glamir, als er beharrlich schwieg. »Vergiss es! Ich glaube, dieser Götterkrieg wird schnell vorüber sein. Ich kann nicht sagen, ob im Guten oder im Schlechten, aber er wird ganz gewiss wie kein Krieg zuvor. Und wir werden den Himmelsschlangen nahe kommen. Das ist die eine Gelegenheit in hundert Jahren! Die dürfen wir uns von den Sorgen unseres Helden nicht vermiesen lassen. Du weißt genau, dass wir mit den neuen Speeren zum ersten Mal keine Sorgen mehr haben müssen, ob unsere Waffen mächtig genug sind, einen der Götterdrachen zu töten. Wir müssen nur noch nahe genug an sie rankommen! Und wenn die Albenkinder sehen, dass die großen Drachen sterblich sind, dann werden sie sich alle gegen die Tyrannen erheben. Das ist die Aufgabe, die uns das Schicksal bestimmt hat! Und wenn dafür noch eine Zwergenstadt draufgeht, dann ist das eben so. Die Ehernen Hallen sind meine Heimat. Denk nicht, sie wären mir egal, aber wir müssen den Mut haben, das Ganze zu sehen. Wenn wir Albenmark von den Himmelsschlangen befreien, dann ist eine verlorene Stadt letztlich kein zu hoher Preis für eine Welt, die zum ersten Mal frei sein wird.«

Glamir verstummte, als sie hörten, wie Bailin seine Schritte beschleunigte, um zu ihnen aufzuschließen. Er würde ihnen nicht trauen und sie keinen Moment lang aus den Augen lassen, davon war Galar fest überzeugt. Bis zur ersten Schlacht. Dann würden sie sich seiner entledigen. Im Durcheinander eines Kampfes würde nicht auffallen, wenn er umkam. Was zählte ein Toter unter Hunderten?

Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht und blickten in eine gewaltige unterirdische Halle hinab. Galar hatte in seinem Leben schon einiges zu sehen bekommen, doch das hier verschlug selbst ihm die Sprache. Aus bestimmt fünfzig Schritt Höhe blickte er in eine riesige Höhle, die so weit war, dass sich ihr Ende in der Ferne verlor. Unter ihnen waren Tausende Zwerge versammelt. Viel mehr, als der Anblick der Aale im Hafen hätte vermuten lassen. Sie mussten aus ganz Albenmark hierhergekommen sein.

Auf der rechten Seite, nicht weit von ihrem Standort entfernt, hatte sich ein Albenstern geöffnet, ein weiter Torbogen aus Licht, ausgefüllt von Finsternis. Die Zwerge marschierten in dieses Dunkel. Trupp um Trupp. Die Halle dröhnte vom Gleichschritt ihrer genagelten Stiefel. Sie waren nicht uniformiert, ja, soweit Galar erkennen konnte, trugen nicht einmal alle Waffen oder Rüstungen. Viele hatten lediglich ihr Werkzeug geschultert, Spitzhacken und Holzfälleräxte, Stemmeisen und schwere Hämmer. Nur die Feldzeichen ließen an ein Heer denken: große Standarten mit den Wappen der Zwergenbingen. Da war der Bärenschädel auf blauem Grund, das Feldzeichen von Ishaven, die halb geöffnete Bronzepforte vor schwarzem Hintergrund, das Zeichen von Kupferstedt; Pickel und Hammer, beides in hellem Gelb auf blutrotem Tuch, stand für Tiefgrund, ein weißer Amboss vor Schwarz war das Wappen der Zwerge von Hammertal in den Ioliden. So ging es endlos weiter. Alle Zwergensiedlungen hatten Männer geschickt.

»Los!«, drängte sie Bailin und deutete auf eine steile Treppe, die in die Höhlenwand geschlagen war. »Dort unten können wir für immer verschwinden.«

Bailin schritt mit Nyr voraus, und Galar folgte ihm, wobei sich Glamir auf seine Schulter stützte. Still musterte er die Massen, die sich in der Halle drängten. Ganz sicher hatte Bailin recht. Wenn sie sich in ihren schmutzigen Kapuzenmänteln in diese Schar einreihten, dann würden sie verschwinden. Sie wären nur noch vier Sandkörner in den Weiten der Wüste. Ohne Bedeutung. Nicht mehr zu unterscheiden. Ein winziger Teil eines großen Ganzen, das sie nicht zu überblicken vermochten.

Die Alben hatten ihre Kinder in den Krieg gerufen. Die Armeen begannen zu marschieren, und Galar hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ihr Weg sie führen würde.

Die Verlorenen

»Die Große Mutter wird uns alle schützen!«, beendete Barnaba seine Predigt. Er hatte die Arme ausgebreitet, als wollte er sie alle an seine Brust drücken. Die Blicke der Männer hingen an ihm. Verzweiflung stand in ihre Augen geschrieben. Sie wollten ihm glauben, um jeden Preis! Doch der heulende Wind jenseits der dünnen Bordwand strafte seine Worte Lügen.

Sie waren noch siebenundzwanzig Wolkenschiffer, die verzagt auf den hölzernen Stufen kauerten, die sich wie die Terrassen eines Amphitheaters rings um den Altar erhoben, der halb unter den mächtigen Wurzelsträngen verborgen lag, die von der Decke hinabreichten. Hier war das Allerheiligste des Wolkenschiffes: die runde Kammer unterhalb des mächtigen Schiffsbaums, dem der Sturm längst die letzten Blätter geraubt hatte, um ihn dann mit einem Eispanzer zu umschließen. Sie alle hatten längst den Kampf gegen die Kälte aufgegeben. Keiner von ihnen wagte sich noch hinauf an Deck, seit vorgestern der Schiffskoch verschwunden war. Er war der Einzige gewesen, der ab und zu trotz der verzweifelten Lage gescherzt hatte. Keiner glaubte, dass Sangan gesprungen war, um den Wolkentod zu suchen. Er hatte das Leben viel zu sehr gemocht.

Barnaba straffte sich. Er sollte allen ein Vorbild sein. Kraft und Zuversicht musste er ausstrahlen. Er war sich sicher, dass die Geister, die auf dem eisigen Nordwind ritten, ihn nicht holen würden. Er stand unter dem Schutz Nangogs! Und selbst wenn diese Kreaturen mit ihrer Schöpferin gebrochen hatten, würden sie es nicht wagen, den Zorn der Göttin herauszufordern. Er hatte von Wind vor regenschwerem Horizont erfahren, dass sie den Sturmgeistern die Gabe entzogen hatte, in die Körper lebender Geschöpfe zu fahren, wie die Grünen Geister es vermochten. Vielleicht waren sie deshalb so zornig – nun, da nach einer Ewigkeit des Wartens endlich Menschen gekommen waren, deren Körper sich die Sturmgeister nehmen könnten, blieb ihnen dieser Traum verwehrt. Barnaba wusste nicht, was die Sturmgeister und Nangog entzweit hatte, aber deutlich spürte er deren Hass auf alles Lebende. Es war besser, wenn seine Männer hier drinnen blieben. Er würde sie noch eine Zeit lang brauchen. Wahrscheinlich würde kein Einziger von ihnen es zurück schaffen. Wenn das, was er in seinen Träumen sah, wahr wurde, dann würde er ihre Hilfe auch nicht mehr benötigen. Er allein würde die Schöpfung der Riesin verändern und vollenden, was sie nur erträumt hatte. Bald schon würden ihre Kreaturen die Vollkommensten auf allen drei Welten sein. Und ihm war es bestimmt, der Gabenbringer zu sein, sobald er das Traumeis gefunden hatte.

Er sah sich unter den Männern um, die ihm noch verblieben waren. Drei oder vier von ihnen waren etwas wert. Die Übrigen … Sie hatten sich selbst aufgegeben. Saßen dort auf den hölzernen Stufen, wippten vor und zurück, die Augen ins Leere gerichtet, und warteten auf den Tod, der draußen um das Schiff heulte.

Barnaba war sich bewusst, wie sehr auch er sich verändert hatte. Er empfand kaum Mitleid mit seinen Männern. Dieses Gefühl war ihm erfroren. Er kannte nur noch sein Ziel.

Seine Kameraden hatten sich in so viele Kleider gehüllt, dass sie sich kaum noch bewegen konnten. Sie stanken erbärmlich. Ihre Gesichter waren von struppigen Bärten zugewuchert, die Augen rot entzündet. Sah er auch so aus? Für einen Moment überkamen ihn Zweifel. Wenn sie jetzt umkehrten und Kurs auf Wanu hielten, würden die meisten der Männer überleben. Es lag in seiner Hand … Aber was würden sie verändern, wenn sie weiterlebten? Ihr Leben wäre ohne Bedeutung. Nur durch ihr Opfer konnte Großes erreicht werden! Barnaba tastete nach dem Dolch an seiner Seite. Wie stets, wenn er ihn berührte, spürte er ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Die Waffe war dazu geschaffen worden, jeden Widerstand zu brechen. Ihr würden weder Zauber noch verwunschene Rüstungen widerstehen. Sie würde das Leben eines Unsterblichen beenden! Wieder sah er das selbstgefällige Antlitz Aarons vor sich, jenes Herrschers, der seine treuen Priester hatte morden lassen und dessen Mörder ihn aus den Armen Iškuskas gerissen hatten. Ihn würde dieser Dolch treffen. Es war Zeit, der Herrschaft der Unsterblichen ein Ende zu bereiten, und er würde als Erster stürzen.

Barnaba trat zu einer der flachen Feuerschalen, in denen die Männer Lumpen, Öl und zerschlagene Frachtkisten verbrannten. Bald würden sie damit beginnen, Planken aus dem Schiffsrumpf zu brechen.

Bereitwillig machten die Wolkenschiffer Platz, um ihn in ihrer Mitte willkommen zu heißen. Keiner der Männer ahnte, wie kaltblütig er mit ihrem Tod plante.

»Wie lange geht die Reise noch?«, fragte Kolja. Der einarmige Krieger war einer der wenigen, die sich nicht aufgegeben hatten. Wahrscheinlich würde er selbst ein Schwert an der Kehle nicht als aussichtslose Lage anerkennen.

Barnaba streckte seine mit Stoffstreifen umwickelten Hände den Flammen entgegen. »Drei oder vier Tage. Das hängt vom Wind ab. Wir haben es fast geschafft. Es wird einen Ankerplatz direkt am Abgrund geben. Wir werden nicht lange brauchen, um das Traumeis zu ernten. In einer Woche sind wir auf der Rückreise. Wir schaffen das! Die große Göttin schützt uns!«

Der letzte Satz brachte ihm einen skeptischen Blick von Kolja ein. Der Krieger hatte wohl schon zu viele Phrasen in seinem Leben gehört, um schönen Worten noch irgendeinen Wert beizumessen. Auch die anderen Männer am Feuer bemerkten die plötzliche Spannung.

Barnaba setzte sein gewinnendstes Priesterlächeln auf. »Man muss der Göttin vertrauen. Das ist die Münze, mit der wir uns ihren Schutz erkaufen. Wer nur mit halbem Herzen glaubt, der wird nie die Gunst ihrer Gnade erfahren.« Abir Ataš, sein Mentor, hatte ihn einst diese Argumentation gelehrt. Mit ihr war man als Priester immer fein heraus, weil man die Schuld für ausbleibende Wunder von den Göttern zu den Menschen verlagerte. Und diese waren stets nur zu bereit, an ihre eigene Fehlbarkeit zu glauben.

Die Männer blickten betreten auf den abgenutzten, zerschrammten Holzboden. Jeder von ihnen dachte nun an seine geheimen Sünden. Daran, dass vielleicht er schuld daran war, dass das Unglück sie heimsuchte. Nur Kolja nicht. Der Blick seiner klaren hellblauen Augen hielt Barnaba gefangen. Der Krieger wusste ganz genau, was er gerade getan hatte. Kolja sprach nicht viel über seine Vergangenheit, aber Barnaba war sich sicher, dass der so schrecklich vernarbte Kämpfer einst jemand Bedeutenderes gewesen war als nur ein Schwert zum Mieten.

Nun war es Barnaba, der den Blick senkte. Er sollte ein Thema finden, das seine verzagten Männer lächeln ließ, und sei es auf Kosten eines anderen. Über Kolja einen Scherz zu machen wäre leicht gewesen, doch der Priester wusste nur zu gut, dass er es sich mit dem Krieger nicht verderben durfte. Aus den Augenwinkeln sah er Hartapu, den Frachtmeister des Schiffes, einen jungen Mann, dem kaum der erste Flaum auf den Wangen spross. Er führte die Listen über die Vorräte an Bord. Er war ein Buchhalter von ganzem Herzen. Selbst jetzt schrieb er mit einem Griffel und schwarzer Galltinte auf ein Stück Leder und hatte alles um sich herum vergessen.

»Was schreibst du dort, Hartapu? Ein paar romantische Zeilen für deine Liebste?«

Der Junge blickte erschrocken auf, und das Blut schoss ihm in die Wangen. Es war allzu offensichtlich, dass er noch nie bei einer Frau gelegen hatte.

Einige der Männer schmunzelten. Der Zweck heiligt die Mittel, dachte Barnaba und setzte nach. »Magst du uns nicht einige der Zeilen vorlesen. Das Feuer wärmt unsere Hände und Nasen, aber ein Liebesgedicht würde uns die Herzen wärmen.« Barnaba hatte so laut gesprochen, dass jeder im Allerheiligsten ihn hatte hören können. Alle sahen sie nun zu dem Schreiber, der sich unter den Blicken wand und noch ein wenig röter im Gesicht wurde.

»Ich … ich habe keine Freundin …«, stammelte er. »Und ich kann nicht dichten …«

»Und was schreibst du da?«, fragte nun Kolja.

Barnaba war sich sicher, dass der Krieger wusste, was für ein Spiel er mit dem Jungen trieb. Und Kolja hatte sich entschieden mitzumachen. Denn auch ihm war klar, was ein Lachen in einer Gruppe Verzweifelter wert war.

»Es sind nur Notizen …« Hartapu verschloss das Tintenfass, das neben ihm stand.

»Vielleicht liegt es daran, dass du Tinte mehr magst als Titten, dass du keine Freundin hast«, setzte Kolja gnadenlos nach.

Jetzt erklangen erste verhaltene Lacher.

»Kann … kann schon sein …« Der Junge schob den Griffel in einen flachen Holzkasten an seinem Gürtel, der mit Perlmuttintarsien geschmückt war.

»Man könnte dich also einen Griffelwichser nennen«, verkündete der Krieger und stand nun auf. Neben ihm wirkte Hartapu wie ein Kind.

Der Spottname Griffelwichser sorgte für allgemeine Erheiterung, doch Barnaba bekam ein klammes Gefühl. Kolja würde zu weit gehen, da war er sich fast sicher. Er sollte einschreiten, das alles beenden, aber sie brauchten die Lacher. Hartapu war wie ein unschuldiges Lamm, das auf den Opferstein gelegt wurde, um von den Göttern ein gutes Jahr zu erbitten. Manchmal waren solche Opfer nötig.

»Was schreibst du denn da Schönes, Griffelwichser?« Kolja beugte sich über den Jungen und griff nach dem Leder. »Oh, so ordentlich! Eine wunderbare Schrift hat der Kleine. Was haben wir denn da? Siebenter Tag: Barnaba versucht, uns Mut zu machen, aber die Angst ist mit den Händen zu greifen. Die Geister streifen um das Schiff. Unser Wolkensammler stirbt, und wir alle wissen, dass wir ihm bald folgen werden.«

Schlagartig verstummte das Gelächter.

»Warum schreibst du so etwas?« Koljas Stimme schnitt wie ein Messer in die Stille.

»Lass ihn!«, rief Barnaba. Es war genug. Es war besser, wenn Hartapu darauf nicht antwortete. Er ahnte, warum der Junge es niedergeschrieben hatte. Es war besser, wenn das nicht ausgesprochen wurde.

»Warum?« Kolja griff Hartapu ins dichte, schwarze Haar und zog den Jungen hoch. »Was soll dieses Geschreibsel, Griffelwichser? Wem nutzt das?«

»Denen, die uns finden werden!« Hartapu schrie die Antwort heraus. Er hechelte vor Schmerz. »Wir werden niemandem mehr berichten können, was geschehen ist, und sie werden uns suchen. Barnaba ist ein heiliger Mann. Andere werden kommen, um herauszufinden, wo wir geblieben sind. Vielleicht werden sie Barnaba finden? Vielleicht wird die Große Mutter ihn auch zu sich nehmen. Sie müssen vor den Geistern gewarnt werden!«

Kolja brach in schallendes Gelächter aus. »Wie einfältig du doch bist!« Er stieß Hartapu zu Boden und ließ das Leder fallen, das er mit seinem verstümmelten Arm gegen seine Brust gedrückt hatte. »Wer bis hierher kommt, der ist den Sturmgeistern längst begegnet. Sie werden dein Geschreibsel nicht brauchen.«

»Wir sind verflucht!«, schrie der Junge plötzlich auf. »Verflucht wegen Männern wie dir, die durch Ströme von Blut gewatet sind. Es ist das Blut, das dir anhaftet, das die Geister riechen. Du bist es, der uns alle umbringt!«

Kolja wirbelte seinen verstümmelten Arm herum, und eine Klinge fuhr aus der Lederprothese, die ihm den Unterarm ersetzte. »Noch ein Wort, und es kommen zu dem Strom von Blut noch ein paar Tropfen dazu, Griffelwichser.«

»Genug!« Barnaba drängte sich zwischen die beiden.

»Freche Kinder brauchen eine kleine Abreibung, damit sie sich merken, wo die Grenze ist.« Kolja hob seinen Klingenarm. »Eine kleine Narbe im Gesicht würde dich viel männlicher aussehen lassen und zugleich für immer daran erinnern, sich nicht mit den Falschen anzulegen.«

»Es reicht!«, zischte Barnaba und schob den massigen Krieger ein Stück zurück.

Kolja lächelte, und sein von Narben entstelltes Gesicht verzog sich zu einer Maske des Schreckens. »Eine kleine Narbe ist doch nichts Schlimmes, oder?« Er hatte Lust, sich zu schlagen, das war nicht zu übersehen.

»Dann wirst du es mit mir versuchen«, sagte Barnaba ruhig, aber bestimmt.

Der Krieger runzelte die Stirn. Die Narbenwülste, die er anstelle von Augenbrauen hatte, rückten enger zusammen. Er sah zum Fürchten aus.

In diesem Augenblick flog die Tür zum Allerheiligsten auf. Eisiger Wind fegte in die runde Kammer, ließ die mächtigen Wurzelstränge erzittern und die Flammen in den Feuerschalen tanzen, sodass wilde Schatten über die Wände huschten.

Dicht beim Eingang hatten sie zwei große Kupferschalen aufgestellt, aus denen hohe Flammen schlugen. Wer immer in das Heiligtum wollte, musste über sie hinwegsteigen.

Die Gestalt am Eingang warf sich mit dem Rücken gegen die schwere Tür und drückte sie zu. Es war Nabor. Eis hing ihm in Bart und Haaren. Sein schwerer Umhang war mit glitzerndem Raureif überzogen. Das Gesicht von Kälte gerötet, sah er mit schreckensweiten Augen zu ihnen herab. Sein kleiner Affe hockte ihm auf der Schulter. Er hielt sich an einer Strähne von Nabors Haupthaar fest. Die großen Ohrringe, die er sonst trug, hatte der Lotse wegen des Frostes abgelegt.

»Er ist wieder da!«, keuchte der alte Wolkenschiffer. »Ich habe ihn gesehen!«

Barnaba hatte das Gefühl, als wiche auch die letzte Wärme aus der Kammer, die zu ihrer Zuflucht geworden war. Ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinab, und er musste sich beherrschen, seine Arme nicht eng um seinen Oberkörper zu schlingen. »Von wem sprichst du?«

»Sangan! Der Schiffskoch …«

»Du hast ihn endlich gefunden«, brach es aus Barnaba heraus. »Wo war er? Warum hat er sich versteckt? Und warum lässt du ihn nicht herein?«

»Er hat mich gefunden«, stieß Nabor hervor. »Er stand plötzlich hinter mir, als ich vorne am Bug war, um zu sehen, welchen Kurs wir halten. Bei dem Wind habe ich seine Schritte nicht gehört.«

»Es ist doch gut, dass er wieder da ist. Geh von der Tür weg. Sangan wird uns sicher sagen, was geschehen ist.«

Der Lotse schüttelte so heftig den Kopf, dass der Affe von der Schulter den Arm hinabkletterte. »Es ist nicht Sangan, der wieder da ist. Ihr habt nicht seine Augen gesehen. Seine Augen …« Ein Pochen an der Tür ließ den Lotsen verstummen.

Barnaba konnte trotz des Abstands deutlich sehen, wie die Tür in ihren Angeln erbebte. Jedes Klopfen war wie ein Donnerschlag.

»Den kauf ich mir!« Mit diesen Worten stürmte Kolja die Treppen zur Tür hinauf und sprang über die Feuerschalen. Nabor versuchte ihn aufzuhalten, doch der alte Lotse hatte dem zornigen Drusnier nichts entgegenzusetzen. Kolja fegte ihn einfach zur Seite.

Das Klopfen hatte aufgehört, als könnte, wer immer dort hinter der Tür stand, durch die dicken Holzbohlen sehen.

»Lass es!«, rief Barnaba, doch Koljas Hand griff schon nach der Tür.

Der Besucher

Kolja war in der Stimmung, jemanden abzustechen. Er hasste es, hier untätig unter all den Feiglingen zu sitzen. Hasste es, von einem Feind belagert zu werden, dem er nicht mit der Klinge in der Hand entgegentreten konnte. Das würde sich jetzt ändern. Was immer da klopfte, musste ja wohl aus Fleisch und Blut sein. Und es würde verdammt noch mal seinen gesammelten Ärger abbekommen!

Entschlossen riss der Drusnier die schwere Holztür auf.

Keinen Schritt von ihm entfernt stand Sangan, von wirbelndem Schnee umgeben, auf dem Oberdeck. Bis auf einen Lendenschurz war der Schiffskoch nackt. Gefrorener Atem lag auf seinem Bart. Obwohl nicht mehr ganz jung, hatte der Koch, abgesehen von einem leichten Ansatz zum Bauch, einen muskulösen Körper. Er war viele Jahre auf den Wolkenschiffen Nangogs gereist, und wie alle Wolkenschiffer hatte er eine bronzefarbene, von Sonne und Wind gegerbte Haut gehabt. Jetzt aber zeigte seine Haut einen gräulichen Ton. Er stand merkwürdig steif. Und seine Augen! Kolja hatte so etwas noch nie gesehen, und ihr Blick ließ ihn, der nichts und niemanden je im Zweikampf gefürchtet hatte, der selbst den Daimonen Albenmarks entgegengetreten war, unwillkürlich zurückweichen.

Diese Augen sahen aus wie das Eis auf einem Dorfweiher am Ende des Winters. Zerschrammt, von trübem Weiß mit einer Ahnung dunklen Wassers darunter. Doch sie waren nicht nur gefroren. Sie hatten sich grundsätzlich verändert. Hinter ihnen lauerte eine Dunkelheit, eine Seele so abgründig, wie selbst die Seele des schlimmsten Unholdes unter Menschen niemals sein würde.

Was da vor ihm stand, sah zwar noch aus wie Sangan, doch sonst hatte es mit dem stets zu Scherzen aufgelegten Koch nichts mehr gemeinsam.

Kolja hatte das Gefühl, dass diese Kreatur es genoss, wie er sie anstarrte. Sie weidete sich an der Furcht der Wolkenschiffer unten im Allerheiligsten, von denen fast alle einen guten Blick auf die offene Tür hatten. Nicht einmal Barnaba, dem es sonst wahrlich nicht leicht die Sprache verschlug, sagte ein Wort.

»Ihr seid verloren«, sagte die Kreatur mit dunkler Stimme, die, obwohl jedes Wort deutlich zu verstehen war, so klang, als würde sie aus weiter Ferne kommen. Sangans Lippen bewegten sich, doch nicht in der rechten Art zu den Worten, die über sie kamen. Das war nur eine Kleinigkeit, und doch erschreckte sie Kolja fast so sehr wie die Augen aus altem Eis.

»Kommt heraus, und wir schenken euch einen schnellen Tod.«

Schwätzer waren immer leichte Beute, dachte Kolja. Sollte der Bastard zwölf Zoll besten Stahl fressen! Er machte einen Schritt nach vorn und stieß der Kreatur die Klinge bis zum Heft in den Bauch. Kolja fluchte – es fühlte sich falsch an. Er hatte schon Dutzende Männer niedergestochen. Hier war es, als stoße er seine Waffe in Eis, nicht in lebendes Fleisch! Er drehte die Klinge und zog sie zurück. Kein Blut trat aus der Wunde.

Der Fremde sah ihn mit seinen eisigen Augen an. »Dich hätte ich wählen sollen«, sagte die ferne Stimme. Diesmal bewegten sich die Lippen gar nicht, während er sprach. Dafür hob er den Arm, fast wie zu einem höhnischen Gruß.

»Du willst sein wie ich? Dabei kann ich dir helfen!«, zischte Kolja und ließ die Klinge auf den Arm niedersausen. Sie durchschnitt knirschend das gefrorene Fleisch und trennte dem Fremden den rechten Unterarm ab.

Einen Augenblick lang war nur das Heulen des Sturms zu hören. Der Fremde gab keinen Schmerzenslaut von sich. Auch schien er nicht erzürnt zu sein. Er sah Kolja lediglich fest in die Augen. Dann bückte er sich, ohne den Blick abzuwenden, und hob den abgetrennten Unterarm auf. Schweigend presste er ihn auf die Wunde.

Kolja hatte das Gefühl, dass es noch ein wenig kälter wurde. Wie dicke weiße Adern krochen Linien aus Frost über den nackten Arm. Dann plötzlich ließ der Fremde los. Der Unterarm war wieder fest mit dem Stumpf verwachsen. Spielerisch bewegte die Gestalt die Finger. »Du glaubst, ich sei wie du? Das glaube ich nicht.«

Der Drusnier wich zurück, bis er die Hitze der Feuerschalen in seinem Rücken spürte. Mit einem Satz sprang er durch die Flammen und drehte sich sofort wieder um, ängstlich darauf bedacht, den Fremden nicht zu lange aus den Augen zu lassen, doch dieser hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

»Glaubt ihr, ihr könnt uns entkommen?« Seine Grabesstimme klang nicht einmal spöttisch. »Wie lange werden eure Holzvorräte und euer Öl noch reichen? Einen Tag noch? Eine Woche oder einen Mond? Wir warten, bis euer letztes Feuer niedergebrannt ist. Wir warten schon sehr lange. Wir haben Geduld gelernt. Ein Mond ist für uns kaum mehr als ein Augenblick. Wir werden euch beim Sterben zusehen. Und wenn ihr tot seid, dann nehmen wie eure Körper. Darin unterscheiden wir uns von unseren Brüdern. Wir wollen nicht die Lebenden. Wir erheben die Toten. Und weil es so ist, wird uns keiner von euch entkommen.«

Der gelebte Traum

Leise schloss sich die Tür in seinem Rücken. Mit dem Geräusch fiel alle Anspannung, aller Ärger von ihm ab. Sein Rücken schmerzte noch von der Mühsal des Tages. So viele Stunden hatte er wieder einmal über die Tische mit den Tontafeln gebeugt gestanden. Hatte versucht, über alle Entscheidungen in seinem riesigen Reich informiert zu bleiben. Es war eine Arbeit, die nie ein Ende nahm, die bei ihm immer den Beigeschmack hinterließ, dass er etwas Bedeutsames übersehen haben konnte. Die Tontafeln lasteten schwer wie ein Berg auf ihm. Bis sich abends leise die Tür hinter seinem Rücken schloss.

Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer eingetreten war. Nur sie wagte es, dieses Gemach zu betreten, ohne anzuklopfen. Er roch ihren Duft. Es war der Geruch der Pferde in den königlichen Ställen. Dort verbrachte sie ihre Tage. Niemand vermochte so gut mit den Tieren umzugehen wie die Tochter der weiten Steppen des Ostens. Pferde waren ihr Leben gewesen, genauso wie Raub und Krieg. Sie war eine Wildkatze. Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie sie aufgeflogen war, als sie sich in seinen Palast eingeschlichen hatte. Sie hatte eine Schlägerei in der Küche angezettelt und dabei Furcht und Schrecken verbreitet. Sich als demütige Magd auszugeben hatte ihr nicht gelingen können. Sie konnte vieles, doch sich auf Dauer zu verstellen gehörte nicht zu ihren Gaben.

Er spürte, dass sie nun dicht hinter ihm stand. Lautlos war sie durch die weite Kammer geschritten, in der er arbeitete und schlief. Sie würde ihn nicht stören, bis er sich zu ihr umwandte. Sie wusste, wie ernst er seine Arbeit nahm. Und sie wusste auch, dass sie nicht lange würde warten müssen, bis er alles fahren ließ, um einige wenige gestohlene Stunden mit ihr zu genießen.

Artax schob die Tafel, die er gelesen hatte, zur Seite. Der Erdrutsch, der eine Handelsstraße unpassierbar gemacht hatte, konnte warten, genau wie all die anderen kleinen und großen Sorgen des Reiches. Erleichtert wandte er sich um. Da stand sie, in all ihrer Schönheit, mit schmutzigen, nackten Füßen und ein wenig Stroh in ihrem langen Haar.

An das veränderte Gesicht Shayas hatte er sich immer noch nicht gewöhnt. Ein Daimon hatte ihr zur Flucht aus dem Bergkloster verholfen, in dem sie auf ihren Tod gewartet hatte. Und dieser Daimon war an ihrer Stelle gestorben. Diese Geschichte verstörte Artax immer noch. Sie stellte sein Weltbild auf den Kopf. Ein Todfeind der Menschen hatte den Tod gewählt, um ein Unrecht zu verhindern. Wäre er nicht gewesen, Shaya würde jetzt nicht vor ihm stehen.

»So nachdenklich?« Ein Hauch von Schalk lag in ihrer Stimme. Sie mochte es nicht, wenn er nicht ganz und gar bei ihr war.

»Ich habe stumm den Göttern gedankt, dass sie dich wieder zu mir geführt haben.«

»Das waren nicht die Götter«, entgegnete sie entschieden. »Eher das Gegenteil.«

»Aber ich werde keine Dankgebete zu Daimonen flüstern.«

»Vielleicht wäre die Welt ein besserer Ort, wenn wir das könnten?«

Artax hob abwehrend die Hände. »Für heute Abend bin ich ganz und gar zufrieden, wenn dank dir dieses Gemach ein besserer Ort wird.« Er verschlang sie mit Blicken. Ihren schlanken, kräftigen Leib. Sie trug nur eine rote Tunika, die ihr bis knapp zur Mitte des Oberschenkels reichte. Das war das Resultat ihrer letzten kleinen Auseinandersetzung. Zuvor hatte sie noch eine weite Reithose getragen, so wie sie unter den Ischkuzaia weit verbreitet war. Ihm hatte das Sorgen bereitet. Sie war Ischkuzaia! Und wer das erriet, der mochte auch auf den Gedanken kommen, wer sich in Wahrheit hinter der Küchenmagd verbarg, die sich das Bett eines Unsterblichen erobert hatte.

Ihm war bewusst, wie viel über sie beide getratscht wurde und wie viele es gab, die sie gerne wieder auseinanderbringen würden, dieses seltsame Küchenmädchen, das sich so gut auf Pferde verstand, und den mächtigsten Mann der Welt.

»Was für ein Gebet werde ich denn zu hören bekommen?«, setzte sie mit einem schelmischen Lächeln nach.

Artax nahm ihre Hand und küsste sie mit übertriebener Verbeugung. »Darf ich, statt zu beten, das hohe Lied auf Eure Schönheit anstimmen, Dame meines Herzens?«

Sie lachte, ihr helles, unbändiges Lachen, dem unmöglich zu widerstehen war. »Was für ein geschwollener Unsinn!« Mit diesen Worten zog sie ihn zu sich heran und küsste ihn leidenschaftlich.

Er schloss die Augen und gab sich ganz dem Hochgefühl hin. Willig ließ er sich von ihr zu dem großen Bett ziehen. Ihre Hand löste seinen Wickelrock und suchte keck, was im Verborgenen wuchs.

»Ich habe dich vermisst«, hauchte sie.

»Und ich dachte, du liebst nur Pferde.«

»Tagsüber.« Sie lächelte hinreißend. »Nachts stehe ich auf den dummen Lastgaul, der den Ärger eines ganzen Reiches auf seinen Schultern tragen will.« Sie ließ sich nach hinten fallen und zog ihn mit sich aufs Bett.

Sich fallen lassen, das konnte er nur an ihrer Seite. Er drückte sie fest an sich. Sie war sein lebendig gewordener Traum. Als junger Mann hatte er sich eine Frau in Gedanken erschaffen und ihr einen Namen gegeben: Almitra. Nie hätte er sich träumen lassen, wie viel schöner die Wirklichkeit sein konnte.

Shaya streifte die Tunika ab und küsste ihn erneut. Noch leidenschaftlicher als sonst, als wollte sie ihn mit Haut und Haar verschlingen. Plötzlich ernst, drückte sie ihn in die Kissen, setzte sich auf ihn und sah ihn lange an. Ganz so, als wollte sie sich sein Gesicht für alle Zeiten einprägen. Sonst war sie nicht so. Ein Kummer schien ihr auf der Seele zu liegen.

»Hattest du einen schlechten Tag in den Ställen?«

Sie schnaubte. »Kann man einen guten Tag haben, wenn Hamura in der Nähe ist?«

Artax stöhnte. Das war nicht das erste Mal, dass sie sich über den Stallmeister beschwerte. Hamura war ein stolzer Mann, und er hatte es nicht verwunden, dass plötzlich ein Küchenmädchen über das königliche Gestüt herrschte, ganz gleich, wie gut sie auch mit Pferden umzugehen vermochte. »Was hat er diesmal getan?«

»Er schlägt die Pferde«, brach es aus ihr heraus. »Ich hab die Striemen gesehen … Er ist ein Dreckskerl. Ein …« Plötzlich setzte sie wieder dieses Lächeln auf, dem er einfach nicht widerstehen konnte. »Ich werde ihn auspeitschen lassen. Dann weiß er, wie es für die Pferde ist, die Peitsche zu bekommen.«

»Spricht da die wilde Reiterprinzessin? Hier musst du dich ein wenig mäßigen …«

»Mäßigen?« Sie schlug ihm empört auf die Brust. »Shaya hätte Hamura von den Hengsten vierteilen lassen, die er geprügelt hat. Ich mäßige mich doch schon …« Wieder blitzte der Schalk in ihren Augen. »Und jetzt bin ich in der Stimmung für einen wilden Ritt.«

Er errötete, und sie lachte. Sie hatte schon immer Spaß daran gehabt, ihn verlegen zu sehen. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund, sagte immer ganz direkt, was sie dachte. Vielleicht war es die Eigenschaft, die er am meisten an ihr liebte. Intrigen und Lügen bestimmten jeden seiner Tage als Herrscher. Bei ihr gab es nur Wahrheit. Und sie tat, was sie angedroht hatte. Sie liebte ihn mit einer Leidenschaft wie lange nicht mehr.

Als sie einander atemlos in den Armen lagen, begann sie zu weinen.

Er strich ihr durch das Haar. »Was ist los?«

»Ich bin glücklich«, stieß sie stockend hervor.

»Aber man weint doch nicht, weil man glücklich ist«, sagte er amüsiert.

»Ich schon!«, kam es trotzig zurück. »Für mein Unglück habe ich schon lange keine Tränen mehr. Die letzten habe ich mir für meine glücklichen Stunden aufgehoben.«

Er setzte an, etwas zu sagen. Doch dann schwieg er, zog sie einfach nur eng an sich und hielt sie fest mit den Armen umschlungen. Manchmal war zu schweigen besser, als zu reden. Ihr Atem wurde ruhiger. Sie wollte, dass er dachte, dass sie eingeschlafen war, aber er spürte, dass sie keinen Schlaf finden würde.

Anders als er. Der lange Tag mit den Sorgen des Reiches hatte ihm alle Kraft aus den Gliedern gesogen. Er hielt sie fest, lauschte müde auf ihren Atem, genoss es, die Wärme ihres Leibes mit seinem ganzen Körper zu spüren. Sie bei sich zu haben war ein gelebter Traum, war sein letzter bewusster Gedanke. Er würde sie nie wieder loslassen. »Ich liebe dich«, flüsterte er noch, dann versank er in tiefen, traumlosen Schlaf.

Abschied

Wisse, meine Gedanken weilen bei dir,

wo immer ich auch sein werde,

mein wunderschöner Geliebter,

für den ich im Himmel tanzte.

Nie werde ich unsere Nächte unter den Monden Nangogs vergessen.

Dich zu lieben ist wie ein Traum.

Doch nun musste ich erwachen.

Ich sehe, dass meine Liebe zu dir deiner Herrschaft schadet.

Ich sehe, dass meine Anwesenheit im Palast Unfrieden im Reich sät.

Du gehörst nicht mir allein.

Zu viele begehrliche Blicke sind auf dich gerichtet.

Deine Liebe zu einem Küchenmädchen brüskiert die Töchter deines Adels.

Und zu sagen, wer ich wirklich bin,

würde einen neuen Krieg mit Luwien heraufbeschwören.

Weil ich dich liebe, muss ich gehen.

Ich darf nicht zum Grund dafür werden,

dass dein Traum einer gerechten Welt zu Asche wird.

Du bist mein Traum.

Du wirst es immer sein.

In deinem Palast habe ich die schönsten Stunden meines Lebens verbracht

und zugleich auch die traurigste:

die Stunde, in der ich aus meinem Traum erwachte.

Versuche nicht, mich zu finden, mein Geliebter.

Es ist uns nicht bestimmt, im Wachen zusammenzuleben,

doch in meinen Träumen werde ich weiterhin immer bei dir sein.

Zitiert nach: Eine antike Tontafel.

Verfasserin: Unbekannt, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, Saal der Versunkenen Königreiche, Regal XXXVII, Brett IX, Truhe XV.

Anmerkung: Brief, auf eine halb gebrannte Tontafel geschrieben, gefunden in einer verkohlten Truhe im Palast von Akšu

Beraubt

Artax starrte auf die Keilschrifttafel im verlassenen Zimmer. Jedes Gefühl für Zeit war ihm verloren gegangen. Immer und immer wieder hatte er die Zeilen in ungelenker Keilschrift gelesen, die Shaya ihm als Abschiedsgeschenk hinterlassen hatte. Seine Tränen waren versiegt. Seine Augen brannten, die Kehle war trocken, und er hatte das Gefühl, dass in ihm ein Feuer wütete, das ihn vernichten würde. Er vermochte den Blick nicht abzuwenden. Jede Zeile hatte er Hunderte Male gelesen, und immer noch war jedes Wort ein Dolchstoß in sein Herz. Wie hatte sie gehen können?

Er konnte keinen ihrer Gründe anerkennen. Er war der Unsterbliche von Aram! Der Erste unter den sieben Herrschern der Welt! Es lag bei ihm, mit welcher Frau er sein Leben teilte, und es stand keinem Adeligen im Reich zu, sich darüber das Maul zu zerreißen!

Er las noch einmal die Worte und entdeckte fremde Gedanken hinter ihnen. War es Ashot gewesen, der auf Shaya eingewirkt hatte, sein Freund aus Kindertagen, oder aber Mataan, der zum Krüppel geworden war, als er ihm im Steinhorst das Leben gerettet hatte?

Die beiden sorgten sich immerzu um das Reich, darum, dass er alles richtig machte. Und beide hatten Shaya nicht gemocht!

Wie konnte er sie wiederfinden? Immer wieder hatte er sich das in den letzten Stunden gefragt. Und immer wieder gab es nur eine Antwort: Wenn sie nicht entdeckt werden wollte, dann würde ihm all seine Macht nicht helfen. Sie würde verschwunden bleiben.

Er schluckte. Ihr Geruch hing noch im Zimmer. Wenn er die Augen schloss, war es leicht, sich vorzustellen, dass sie hinter ihm auf dem Lager ruhte, auf dem sie so viele Nächte gemeinsam verbracht hatten. Es war ein Duft nach Pferden. Deren Geruch war tief in ihre Haut und ihr Haar eingezogen gewesen.

Auch war da noch der Duft von Milch und Honig in der Luft. Nachdem er sie einige Male wegen ihres Pferdegeruchs aufgezogen und sie meine wilde Stute genannt hatte, war sie dazu übergegangen, abends, wenn sie aus den Ställen zurückkehrte, ihren Körper mit einem Gemisch aus Milch und Honig einzureiben. Sie war zwar überzeugt gewesen, dass es den bronzefarbenen Ton ihrer Haut mit der Zeit aufhellen würde, was sie nicht wollte, aber es hatte wirklich den Stallgeruch vertrieben. Für eine Weile zumindest.

Artax starrte auf die weiß getünchten Wände. Wie leidenschaftlich sie ihn in der letzten Nacht geliebt hatte! Er war glücklich gewesen, überzeugt, dass ihre Liebe niemals an Feuer verlieren würde. Sie hatte ihn gar nicht oft genug küssen mögen. Zuletzt war er es gewesen, der eingeschlafen war. Mit ihr in den Armen. Als er beim ersten Morgenlicht erwachte, war sie es gewesen, die ihn gehalten hatte. Sie hatte aus ihren wunderschönen, dunkelbraunen Augen auf ihn hinabgeblickt. Ihm war gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie ihn vielleicht die ganze Nacht hindurch so angesehen hatte. Dass sie Abschied genommen hatte. Sich sein Gesicht so tief in ihre Erinnerung geprägt hatte, dass sie es bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen würde.

Hatte es noch andere Zeichen gegeben, aus denen er ihre Absicht, ihn zu verlassen, hätte erkennen können, wäre er nur aufmerksamer gewesen? Der gestrige Abend war einfach vollkommen gewesen. Zu vollkommen? Hatte sie alles gegeben, um ihn noch einmal glücklich zu machen?

In den letzten Wochen hatten sie oft lebhaft darüber diskutiert, wie er seine Macht als Herrscher nutzen sollte. Manchmal auch gestritten. Sie nahm nie etwas als gegeben hin, hatte den Mut, alles zu hinterfragen und ihn oft einen Träumer gescholten. Sie war der Frau, die er sich einst als Bauer erträumt hatte, sehr nahe gekommen. Damals war er ohne Hoffnung gewesen, jemals auch nur genug Geld zusammenzubekommen, um sich eine Hochzeit leisten zu können. Er war nach Nangog gegangen, weil es hieß, man fände dort entweder schnellen Reichtum oder schnellen Tod. Auf gewisse Weise hatte er beides gefunden. Den Bauern Artax gab es nicht mehr. Das Schicksal hatte ihn zum Unsterblichen Aaron gemacht, und selbst seine Jugendfreunde von einst erkannten ihn nicht mehr, wenn sie vor ihm standen.

Shaya, die als Küchenmagd Kirum zu ihm zurückgekehrt war, kannte all seine Geheimnisse. Vor ihr hatte er sich nicht verstellen müssen, und er hatte sich ihr anvertrauen können wie keinem anderen Menschen. Was sollte er ohne sie tun?

Es klopfte an der Tür, drängend, so als wäre es nicht zum ersten Mal. Dann trat Ashot ein, ohne eine Antwort abzuwarten. »Herr, die neuen Truppen sind angetreten. Schon seit einer Stunde. Sie …«

Artax machte eine ärgerliche Geste. »Ich kann jetzt keine Rede halten.«

»Es sind zehntausend Mann, die auf dem Weiten Hof auf Euch warten, Herr. Sie gehen, um auf Nangog ihr Leben für unsere Sache zu wagen, und Ihr habt nicht die Zeit, ihnen mit ein paar Worten Mut zu machen?«

Wütend sah der Herrscher auf. »Und wer war hier, um Kirum mit seinen Reden allen Mut zu nehmen? Warst du es oder Mataan?« Er deutete auf die ungebrannte Tontafel auf dem Tisch. »Wenn ich das lese, dann höre ich im Hintergrund eure Stimmen.«

»Ihr habt recht. Ich und nur ich habe ihr zugeredet. Mataan ist nicht mehr Manns genug, um das Richtige zu tun, wenn er fürchtet, Euch zu verärgern. Die Schuld an dem, was geschehen ist, trifft mich allein. Was wollt Ihr nun tun? Mich in die Löwengrube werfen lassen?«

Kein schlechter Vorschlag, meldeten sich die Stimmen der vorherigen Herrscher in seinem Kopf. In den letzten Wochen hatten sie ihn nur noch selten behelligt. Vielleicht gewannen sie ja an Macht, wenn Unglück ihn plagte.

Wir haben einfach ein Herz für die Löwen. Auch sie plagt sicherlich Zweifel am Sinn ihres Daseins. Du fütterst sie ja schon lange nicht mehr mit zartem Jungfrauenfleisch, so wie ich es einst getan habe. Was waren das für herrliche Spektakel! Du aber gönnst ihnen ja nicht einmal einen zähen Verräter oder so einen sauertöpfischen Miesmacher wie diesen Möchtegernfeldherren Ashot.

»Schweig!« Kaum dass das Wort über seine Lippen war, wurde sich Artax bewusst, dass er laut gesprochen hatte, was nicht nötig war, um sich mit den Stimmen in seinem Kopf zu verständigen. Sie hörten auch seine Gedanken.

Ashot, sein Jugendfreund, sah ihn betroffen an.

»Du wirst nicht zu den Löwen gehen, ich habe dir ein schlimmeres Schicksal zugedacht. Du bleibst hier im Palast, und es wird deine Aufgabe sein, jene auszuwählen, die nach Nangog gehen. Sobald dort die ersten Schlachten geschlagen werden, wird die Begeisterung für den Krieg nachlassen. Bald werden die jungen Männer in Städten und Dörfern versteckt werden, wenn unsere Werber kommen. Du aber wirst dafür Sorge tragen, dass wir die Zahlen erfüllen, die von den Devanthar eingefordert wurden. Noch vier Mal zehntausend Mann in den nächsten zwölf Monden.«

»Herr, ich ziehe doch immer …«

Artax schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. »Du bleibst hier! Ich führe unsere Krieger aufs Schlachtfeld. Noch länger in diesem Palast voller Erinnerungen zu verweilen ist mir unerträglich.«

Ashot sah ihn durchdringend an. Er gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verhehlen.

Einst hatte er Artax gefragt, ob er langsam Gefallen daran fand, Kriege zu führen. Vielleicht war das wahr … Wahr war aber auch, dass er die Hoffnung hegte, dass sich Shaya unter den zehntausend auf dem weiten Palasthof verbarg. Vielleicht als Krieger verkleidet, vielleicht als Marketenderin im Tross? Sie war eine Kämpferin! Ja, dort musste sie sein! Er würde sie suchen! Und er würde niemals aufhören damit, ganz gleich, wie viele gute Gründe es gab, sie zu vergessen und damit den inneren Frieden im Reich zu wahren.

Ich hatte einmal einen Freund

Volodi marschierte gut gelaunt über das weite Feld, auf dem sich die bärtigen Bastarde versammelt hatten, die dem Heerbann gefolgt waren. Es waren stinkende, schlecht ausgerüstete, vernarbte Gestalten. Zweite oder dritte Söhne ohne Hoffnung auf ein Erbe, Wegelagerer, Rosstäuscher und Söldner, die bereits für alle erdenklichen Herren gekämpft hatten. Sie waren nicht einheitlich gekleidet, und sie standen nicht ordentlich ausgerichtet auf dem weiten Feld vor seinem Königssitz. Sie bildeten mehr oder weniger große Grüppchen um Feldzeichen, die sie nach eigenem Gutdünken gewählt hatten. Meist war es ein Tierschädel auf einem dicken Ast. Pferde, Bären und Wölfe hatten ihre Köpfe gegeben, um die Männer mit Standarten zu versorgen. Manchmal hing auch einfach nur ein mit Runen bemaltes Stück Leder von einer Querstange.

Sie waren allesamt Raufbolde mit schlechten Zähnen und einer hervorragenden Moral. Jeder von ihnen konnte in diesem Krieg nur gewinnen.

Volodi zwinkerte Quetzalli zu, die, in ein Wolfsfell gewickelt, seinen Sohn auf den Armen hielt. Sieben Tage war er alt und konnte schreien wie ein Feldherr inmitten des Schlachtgetümmels. Im Augenblick war er zum Glück still.

»Hast du dir eine Rede zurechtgelegt?«, fragte sie besorgt. Als Priesterin machte sie stets viel Aufhebens um schöne Worte. Ihm war es nicht gegeben, beeindruckende Reden zu schwingen. Das hatte er schon immer gewusst; aber seit er sie kannte, dachte er mehr darüber nach, was er bei Anlässen wie diesem sagen sollte. Und das bereitete ihm einiges Kopfzerbrechen. Er stünde lieber mitten im Schlachtgetümmel als auf diesem Felsen, auf den er gleich klettern würde, damit alle ihn sahen.

»Ich habe einen Plan«, murmelte er und konnte in Quetzallis Augen lesen, dass sie ihm kein Wort glaubte. Sie kannte ihn einfach zu gut.

Volodi streckte sich zu voller Höhe durch und stieg auf den Ratsfelsen. Kurz dachte er daran, dass er vor nicht einmal einem Jahr ein Verstoßener gewesen war, ein Geächteter, auf dessen Kopf ein beträchtlicher Preis ausgesetzt gewesen war. Wie sehr hatte sich seitdem alles verändert. Er war zum Unsterblichen aufgestiegen! Nie hätte er das auch nur zu träumen gewagt. Und die Männer dort unten respektierten ihn. Zumindest die meisten.

Als er oben stand, räusperte er sich. Suchte nach Worten. Einer Idee … Jetzt könnte er Kolja gut gebrauchen. Der verdammte Bastard hatte ihn zwar verraten, an die Zapote verkauft und ihn damit in den sicheren Tod geschickt. Und doch war es diese Tat, die ihn wieder an Quetzallis Seite und letztlich an genau diesen Ort gebracht hatte. So übel der Verrat gewesen war, am Ende war nur Gutes daraus erwachsen. Was wohl aus Kolja geworden war? Oft vermisste er ihn. Wenn er ihm noch einmal begegnete, dann würde er ihm erst einmal eine ordentliche Abreibung verpassen! Drecksack!

Wahrscheinlich würde Kolja ihm selbst mit nur einem Arm übel zusetzen. Und wenn sie sich dann beide die Nasen gebrochen hatten und aus aufgeplatzten Lippen bluteten, würden sie Frieden schließen und sich hemmungslos besaufen. Er schluckte. Solche melancholischen Anflüge sollte er vermeiden. Wahrscheinlich war Kolja längst tot. Das Letzte, was er von ihm gehört hatte, war, dass er bei dem Angriff auf den Tempel der Zapote dabei gewesen war. Er war einer der Anführer der Truppen gewesen, die gekommen waren, um ihn zu befreien. Ein Scherz der Götter!

Volodi räusperte sich erneut und blickte über die Männer, die auf dem weiten Feld versammelt standen. Einige begannen zu murren, weil er immer noch nichts gesagt hatte.

»Ich hatte einmal einen Freund, wie man ihn besser nicht finden kann. Einen Drusnier. Er war ein verdammter Hurenbock, ein Säufer, und wenn er einen schlechten Tag hatte, genügte es, ihn schief anzusehen, und er schlug einem die Zähne aus. Besonders gerne morgens nach einer durchzechten Nacht. Aber in der Schlacht verlor er nie den Mut. Und mochte der Gegner zehnfach überlegen sein, er trat ihm mit einem Lächeln entgegen. Und stand er an deiner Seite, dann war er ein besserer Schutz als der stärkste Schild. Er ließ sich eher in Streifen schneiden, als seinen Platz in der Schlachtreihe aufzugeben. Viele von euch wissen, ich war einst ein Pirat in der aegilischen See und Heerführer in Diensten Arams. Ich habe die Streitwagen des Unsterblichen Aaron tief nach Luwien geführt, um seinen Feinden die besten Schmiede zu stehlen. Ich stand auf der Ebene von Kush, als der Unsterbliche Muwatta Arams Bauernheer zerschmettern wollte … Es war eine Schlacht, in der niemand an einen Sieg Arams glaubte. Man hat mich immer in jene Kämpfe geschickt, die unmöglich zu gewinnen waren, denn ich war ja nur ein Söldner aus Drusna. Ein Mann, dessen Verlust zu verschmerzen war. Und immer war Kolja bei mir.«

Volodi schwieg kurz. Die Männer hörten zu, aber die ersten begannen unruhig zu werden. Sie hielten nichts von langen Reden, genau wie er. Er musste jetzt dringend die Kurve bekommen.

»Männer, wenn wir nach Nangog gehen, dann werden wir gegen Daimonen antreten. Sie sind so schnell mit der Klinge, dass ihr Schwert zu einem schillernden Licht verschwimmt. Sie haben euch die Kehle durchgeschnitten, bevor ihr auch nur das Schwert zur Abwehr heben könnt. Ich habe gegen sie gekämpft. Ich lebe noch. Das einzig Gute, was man über sie sagen kann, ist, dass sie wenige sind. Und sie haben hübsche Weiber, jedenfalls wenn man auf die Dünnen steht, an denen kaum was zum Anfassen dran ist.«

Ganz wie er erwartet hatte, gab es einige unflätige Bemerkungen über Weiber und vereinzeltes Gelächter.

»So ein Weib hat meinem Freund Kolja mit einem einzigen Schwertstreich den Arm abgetrennt.« Das Gelächter verstummte.

»Und wisst ihr, was er dann getan hat?«

»Verrecken!«, rief einer in den hinteren Reihen.

Volodi lachte. »Doch nicht Kolja! Selbst wenn man ihm den Kopf vor die Füße legt, sodass er seine dreckigen Zehen aus nächster Nähe betrachten kann, würde er noch nicht einsehen, dass es Zeit zu sterben ist. Er hat das Daimonenweib, das ihn für besiegt hielt und unvorsichtig wurde, niedergeschlagen. Dann hat er sich auf sie geworfen, sie fest zu Boden gedrückt und ihr seinen Stumpf ins Maul gerammt, sodass sie an seinem Blut ertrunken ist. So ein Mann war Kolja. Ein Mann aus Drusna! Ihr alle seid Drusnier, kraftvoll und entschlossen. Wollt ihr für mich kämpfen wie Kolja?«

»Ja!« Bei Weitem nicht alle hatten gerufen. Viele wirkten unentschlossen. Volodi fragte sich, ob er die falsche Geschichte gewählt hatte. Aber er wollte, dass sie wussten, was sie erwartete. Nur dann würden sie nicht davonlaufen, wenn sie den Schrecken Nangogs begegneten. Sie mussten vorbereitet sein.

»Ich will euch nicht mit schönen Lügen in den Krieg locken. Ihr alle wisst, wer ich bin. Ich bin kein Unsterblicher, der seit Jahrhunderten herrscht. Ich bin Volodi von Drei Eichen, einer wie ihr, den das Schicksal zum Unsterblichen machte. Ich weiß, was euch bewegt und was euch dort in Nangog erwartet. Es gibt auf unserer ganzen Welt keinen Krieger, der so gut mit dem Schwert umgehen könnte wie diese Daimonenkinder. Aber sie haben keine Ahnung, was es heißt, sich mit Drusniern einzulassen. Sie werden uns in Stücke schneiden und verbrennen müssen, bis wir aufhören zu kämpfen. Ist es nicht so?«

»Ja!«, erklang es aus Hunderten Kehlen.

»Sie werden den Namen Drusna erst mit Respekt und dann mit Furcht nennen! Ist es nicht so?«

»Ja!« Jetzt waren es fast alle, die riefen.

»Sie werden lernen müssen, dass, ganz gleich wie oft man einen Drusnier niederschlägt, er immer wieder aufsteht. Ist es nicht so?«

»Ja!« Etliche schlugen nun mit ihren Schwertern auf die Schilde und veranstalteten ein infernalisches Getöse.

»Und wenn wir mit ihnen fertig sind, dann werden die verfluchten Daimonenkinder froh sein, wenn wir ihren letzten Überlebenden gestatten, zurück in ihre Heimat zu kriechen. Nangog ist unsere Welt! Und jeder, der versucht, sie uns zu nehmen, wird es bereuen!«

Inzwischen jubelten ihm alle zu. Volodi genoss es, ihre Begeisterung zu sehen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, ihr Anführer zu sein. Er weitete die Arme. Langsam ebbte das Rufen ab. »Die Zeit zu gehen ist gekommen. Schon bald wird der Große Bär uns ein Tor öffnen, das uns an den Ort führt, den uns die Götter bestimmt haben. Nehmt Abschied von allem, was ihr liebt, und dann kommt hierher zurück, wenn die Sonne im Zenit steht.« Mit diesen Worten stieg er vom Felsen herab.

Wieder jubelten ihm seine Krieger zu. Dutzende Männer streckten die Arme nach ihm aus, um ihn bei den Schultern zu berühren, als er sich mit Quetzalli vom weiten Ratsplatz zurückzog. Sie gingen ohne Leibwache, und es wurde ein schwerer Weg. Die meisten Krieger hatten längst ihren Abschied genommen. Ihre Heimat und ihre Familien lagen weit hinter ihnen.

Endlich gelangten sie bis ans vorderste Tor des Fürstensitzes. Hier erst traten Wachen den überschwänglichen Kriegern in den Weg.

Quetzalli zog ihn zu einem kleinen Gesindehaus nahe dem Tor. Ohne ihm zu sagen, was sie vorhatte, stieß sie die Tür auf. Drinnen brannte ein Feuer im Kamin, der Boden war mit Fellen ausgelegt, und auf einem schmalen Tisch standen ein Krug mit Wein, kalter Braten und Brot. Volodi sah sich verwundert um.

»Ich fand, dass wir von unserer letzten Stunde nicht zu viel Zeit mit Spaziergängen vergeuden sollten.« Sie legte das Kind in eine schmale Wiege nahe der Feuerstelle und lächelte. »Diese Geschichte von Kolja kannte ich noch gar nicht.«

Volodi grinste. »Na ja, in Wirklichkeit hat er auf seinen abgeschnittenen Arm gestarrt und geflucht. Ich fand, so hörte es sich besser an.«

Quetzalli trat ganz dicht an ihn heran, strich ihm zärtlich über die Wange und blickte zu ihm auf. »Du hast deine Sache gut gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein überzeugender Lügner bist.« In ihrer Stimme schwang noch immer der fremde Akzent ihrer Heimat. Sie sah ihn aus ihren wunderbaren, nachtschwarzen Augen an. »Bitte werde nie gut darin, mich zu belügen.«

Er küsste sie. »Ganz sicher nicht!«

»Ich weiß, dass du vor dem Kindergeschrei fortläufst. Davor, dass ich in der Nacht nicht mehr immer für dich da bin, wenn du mich begehrst, vor den dunklen Rändern unter den Augen und davor, dass Wanya mich bei jedem wachen Atemzug braucht. Du bist ein Unsterblicher und doch nicht anders als die meisten Männer. Sie laufen fort in dieser Zeit, und ich nehme dir das nicht übel. Aber bitte versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst. Komm wieder zu mir zurück!«

»Ich werde …«

Quetzalli legte ihm sanft die Hand auf den Mund. »Ich hatte dich doch gebeten, mich nicht zu belügen.« Sie lächelte. »Sag lieber nichts. Ich weiß, du meinst es gut und willst mir Mut machen.« Sie streifte den weiten Mantel aus schillernd bunten Federn ab, den er so gerne an ihr sah. »Lass uns unsere letzte Stunde nicht mit Worten vertun.«

Volodi zog sie zu sich heran und küsste sie voller Leidenschaft, während ihre Hände nach seinem Schwertgurt tasteten. Er liebte sie, und er würde zu ihr zurückkehren; wohin immer die Götter ihn auch führen würden, er käme zu ihr zurück. Sie war sein Zuhause, mehr noch als der kleine Wanya mit seinem goldenen Haar und der zart braunen Haut.

Er war so oft in den Krieg gezogen und hatte immer überlebt. Auch wenn sie es nicht hören wollte, war er sich ganz sicher, dass er zurückkehren würde. Nichts könnte ihn davon abhalten!

Polternd fiel sein schwerer Schwertgurt auf den mit Fellen ausgelegten Boden. Ihre Hand fand zwischen seine Schenkel, und er vergaß alles um sich herum.

Zu viele Hände

Lyvianne hasste diesen verdammten Wald. Seit Tagen regnete es ohne Unterlass, und sie konnte sich nicht mit einem Zauber gegen die Nässe schützen. Dies hier war das Land des Großen Bären, des Devanthar, der über Drusna wachte, und sie spürte seine Nähe, auch wenn sie ihn bisher nie zu Gesicht bekommen hatte. Er beobachtete sie. Ihr war nicht klar, warum er sie noch nicht angegriffen hatte. Aber lange würde dieses Spiel nicht mehr dauern. Sie war auf langen, verschlungenen Wegen aus dem Verbotenen Tal hierhergekommen. Sie trug die Grünen Geister von dort in sich. Lyvianne spürte deren Unruhe. Sie wollten nur eins: zurück in ihre Welt nach Nangog. Doch sie würde dem Goldenen nicht mit leeren Händen unter die Augen treten, nicht ohne die zweite Hälfte von Nangogs Herz. Vielleicht würde sie hier endlich mehr erfahren!

Lyvianne stand unter einer großen Eiche, durch deren Blätterdach der Regen in großen Tropfen rann. Leichter Wind strich durch den Wald und erfüllte die Nacht mit dem Flüstern feuchten Laubs. Waffen und Helme, die im Geäst um den Heiligen Hain hingen, schlugen leise klirrend gegeneinander. Sie spürte die Magie dieses Ortes. Die Macht aus dem Labyrinth aus Stämmen und Hecken, das sich auf dem Hügel in der Mitte der Lichtung erhob. Die Kraft der Steine, die in unregelmäßigen Abständen um die Lichtung standen, und das Pulsieren der Albenpfade, die sich ganz in der Nähe zu einem großen Stern vereinigten.

Lyvianne hatte die Gestalt eines Kriegers aus Luwien beibehalten. Sie hatte nicht gewagt, die Erinnerungen eines Menschenkindes zu stehlen, um dann auch dessen Gestalt anzunehmen. Zu aufmerksam waren die Devanthar. Ein solcher Frevel wäre ihnen nicht entgangen. Auch hatte sie nicht gewagt, eine ihrer früheren Gestalten anzunehmen. Nicht weit von hier hatte sie einst den jungen Bozidar von einem stolzen Krieger zu einem Greis werden lassen, als sie in einer langen Liebesnacht die Essenz seines Lebens bis fast zur Neige getrunken hatte. Auch in seinen Erinnerungen war der Stein, den sie suchte, stets zur Hälfte von Efeu verdeckt.

Der Wolkenhimmel brach auf, und Mondlicht tauchte die Waldlichtung in einen unwirklichen Glanz. Jetzt sah sie den Stein! Unsicher blickte sie zum Heiligtum. Es gab dort, hinter den Stämmen und Hecken verborgen, einen Priester. Die Elfe lauschte in die Nacht. Eines nach dem anderen verbannte sie jene Geräusche aus ihrer Wahrnehmung, die sie von dem ablenkten, was sie wissen wollte. In der Stille, die langsam in ihr erwuchs, hörte sie jetzt die heimlicheren Geräusche des Waldes: den unruhigen Herzschlag eines Hasen, der nicht weit von ihr unter einem Busch kauerte und sie beobachtete, das Geräusch von Federn, die über dünne Ästchen und raue Eierschalen rieben, eine Amsel, die sich unruhig in ihrem Nest hoch über Lyvianne regte.

Auch diese Geräusche verbannte sie aus ihrem Bewusstsein. Und jetzt, endlich, vernahm sie das Geräusch gleichmäßigen Atmens. Das musste der Priester sein. Er schlief und … Da war noch jemand! Ein zweites Atmen, das sich fast vollkommen dem langsamen, ruhigen Rhythmus der Atemzüge des Priesters angepasst hatte. Ihr Verfolger war hier!

Lyviannes Konzentration war dahin. Die Geräusche des Waldes brandeten wieder auf sie ein. Das Atmen war verschwunden, vielfach überlagert durch die zahllosen anderen Klänge der Nacht. Es blieb ihr nicht mehr die Zeit, sich erneut so sehr zu vertiefen, dass sie nur noch das Atmen hörte und es ihr vielleicht gelang herauszuhorchen, wo genau ihr Verfolger stand. Sie musste sich nun beeilen! Der nahe Albenstern erlaubte ihr zu fliehen. Sie konnte …

Ein bitteres Lächeln spielte um ihre Lippen. Natürlich würde der Verfolger dort auf sie warten. Ganz gewiss war es der Große Bär, der Hüter dieser verfluchten Wälder. Aber sie würde jetzt nicht aufgeben, sie musste wissen, welches Geheimnis der Stein barg.

Ohne noch auf irgendwelche Deckung zu achten, ging sie quer über die Lichtung am Heiligtum vorbei. Sie trat vor den mächtigen stehenden Stein, an dem sie in jener Nacht gelehnt hatte, in der sie Bozidar hier aufgelauert hatte. Entschlossen zerrte sie an den Efeuranken. Eine mit groben Linien in den Stein geschnittene Frau kam zum Vorschein. Das Bild, das Lyvianne schon kannte. Die geflügelte Išta. Die Göttin stach mit einer langen Lanze hinab. Lyvianne zerrte weiter am Efeu, das sich immer zäher an den Felsen klammerte, so als wollte es dessen Geheimnis auf keinen Fall preisgeben. Langsam kam ein sich windender, schlangenhafter Drache zum Vorschein. Er hatte den Kopf in den Nacken gerissen, sein Maul war weit geöffnet. Es sah aus, als schrie er seinen Schmerz in den Himmel hinauf. Ištas Lanze traf ihn mitten in die Brust, dort, wo sein Herz sein musste.

Lyvianne hatte inzwischen das Efeu bis auf Höhe ihrer Knie fortgezerrt. Dem Schlangenleib streckten sich von unten zwei Hände entgegen. Wer war das? Anatu, die Devanthar, die dem Purpurnen in blinder Liebe verfallen war?

Die Elfe zog ihren Dolch und durchtrennte die zähen Stränge der Efeuranken dicht über dem Boden. Ungeduldig riss sie das Grün von dem stehenden Stein. Und endlich kam eine Frauengestalt zum Vorschein, die ihre Hände bittend über den Kopf erhoben hatte. Ihre Hochfrisur hatte sich aufgelöst. Einzelne Haarsträhnen hingen ihr über die Schultern herab. Sie trug ein langes, ärmelloses Kleid. Um ihre schmalen Hüften wand sich ein breiter Gürtel. Alles, was unterhalb der Hüften war, lag im dunklen Erdreich verborgen. Deutlich waren zwei Hände zu erkennen, die sie bei der Taille gepackt hatten.

Lyvianne rammte den Dolch in die Erde und hebelte dichtes Wurzelwerk zur Seite. Wie besessen arbeitete sie und ließ alle Vorsicht fahren. Wer war dort noch abgebildet? In allen Geschichten, die sie je über den Mord am Purpurnen gelesen hatte, hatte allein Išta gekämpft.

Die schwarze Erde blieb in den Linien haften, die in den Stein geschnitten waren. Lyvianne hielt den Atem an: Sie erkannte zwei Arme, die mit Schuppen bedeckt waren! Und nach Anatus linkem Knie griff eine weitere Hand, die Lyvianne unnatürlich groß erschien. Was zeigte dieses Bild nur als Ganzes? Und warum stand es hier, mitten in den Wäldern Drusnas, Hunderte Meilen von dem Ort entfernt, an dem Anatu und der Purpurne sich getroffen haben mussten.

Du irrst dich, erklang eine Stimme in ihrem Kopf. Es war hier in Drusna, wo Išta die beiden aufspürte. Meine Schwester erzählt gerne von dem Kampf. Sie behauptet, der Purpurne habe mit seinem mächtigen Leib den Wald von Horizont zu Horizont verwüstet. Glaubt man ihr, dann dauerte ihr Duell mit der Himmelsschlange viele Stunden, und ringsherum stand der verwüstete Wald in hellen Flammen, als sie ihm den Todesstoß versetzte.

Lyvianne richtete sich langsam auf und drehte sich, sodass sie mit dem Rücken zum Stein stand. Das Versteckspiel war also zu Ende. Vielleicht dreißig Schritt entfernt stand eine Gestalt halb im Schatten einer mächtigen Eiche. Die Erscheinung entsprach nicht im Mindesten ihrer Vorstellung vom Großen Bären. Der Kerl dort war gut gebaut. Ohne Scham stellte er seine Männlichkeit zur Schau. Er trug keinen Faden Stoff am Leib, soweit sie das erkennen konnte. Allerdings wirkten seine Beine unterhalb der Knie unnatürlich dünn und waren mit dichtem Fell bedeckt. Dicht oberhalb des Nabels lag der Körper im Schatten. Vom Kopf war nicht einmal eine Silhouette zu erahnen. Soweit Lyvianne erkennen konnte, trug der Fremde keine Waffe. Aber wenn es sich um einen Devanthar handelte – und was sonst sollte er sein, da er in ihre Gedanken dringen konnte –, dann würde er weder Speer noch Schwert oder Bogen benötigen, um mit ihr fertigzuwerden. Deutlich spürte sie die Macht, die von ihm ausging. Er war wie ein Gott!

Ich muss gestehen, dass du mich für meinen Bruder, den Großen Bären, hältst, beleidigt mich ein wenig. Ich bin wesentlich schöner anzuschauen als er. Kaum waren diese Worte in ihren Gedanken verklungen, trat die Gestalt ins helle Mondlicht. Der wuchtige Eberkopf auf seinen Schultern ließ ihn leicht gebückt gehen, und dennoch ragte er mehr als zwei Schritt auf. Seine Finger endeten in langen, schwarzen Krallen. Er war eine Schreckenskreatur. Einzig in seinen himmelblauen, durchdringenden Augen lag Schönheit.

Du hast mich beschämt, Lyvianne. Während seine Stimme noch immer in ihren Gedanken klang, kam er langsam auf sie zu. Er wirkte misstrauisch und angespannt; auch wenn er sich darum bemühte, einen leichten Plauderton zu pflegen, war unübersehbar, dass er jeden Augenblick mit einem Angriff von ihr rechnete. Wenn sie nur die kleinste Hoffnung haben wollte zu entkommen, dann musste sie ihn überraschen. Sie durfte nicht darüber nachdenken, was sie tun wollte. Wie es schien, las er jeden ihrer Gedanken.

Da hast du recht. Seine Lefzen zogen sich zurück. Mächtige Hauer ragten aus seinen Kiefern. Nein, du kannst mich nicht überraschen! Wie sollte dir das auch gelingen? Immerhin bist du ja davon überzeugt, so etwas wie einen Gott vor dir zu haben.

Er blieb stehen. Seine Krallenhände öffneten und schlossen sich mit leisem Klicken. Unwillkürlich stellte sich Lyvianne vor, wie sich diese Pranken in ihre Brust gruben.

Es liegt ganz bei dir, ob dies geschieht, Elfe. Du hast etwas, das mich interessiert. Setze es klug ein, und du bist nicht in Gefahr.

Lyvianne verstand nicht, wovon er sprach.

Ich habe dich im Verbotenen Tal beobachtet. Du warst auf der richtigen Fährte. Ein ganzes Zeitalter lang haben wir dort das Herz Nangogs verborgen. Hunderte von Jahren. Erst vor wenigen Wochen haben wir es fortgebracht. Jeder der freien Devanthar musste dort als Wächter dienen. Ausgenommen waren nur jene sieben, die über die großen Königreiche wachen. Ich war alles in allem viele Jahre dort. Ungezählte, langweilige Stunden. Und doch bin ich nie auf die Idee gekommen, mir die zerschlagenen Reliefs genauer anzusehen und mich zu fragen, ob hinter den Zerstörungen mehr als einfach nur die Raserei von Menschenkindern steckte, die von den Grünen Geistern besessen waren. Eigentlich hätte ich dich dort töten sollen … Aber ich wollte sehen, wohin du als Nächstes gehst. Also folgte ich dir stattdessen. Du warst sehr umsichtig, bist viele Irrwege im Goldenen Netz gegangen. Zweimal hätte ich dich fast verloren. Und nun stehen wir hier. Überrasche mich erneut, Lyvianne.

Die Elfe erinnerte sich an die Geschichten, die ihr Bidayn erzählt hatte. Ihre Schülerin war diesem Ungeheuer einmal auf Nangog begegnet, und Nandalee hatte es zurückgedrängt. Die Devanthar fürchteten die von den Himmelsschlangen geschmiedeten Klingen. Doch Lyvianne hatte ihr Schwert in Albenmark zurückgelassen. Sie besaß nur das vom Goldenen nach Menschenart geschmiedete Schwert, das zu ihrer Maskerade gehörte. Eine Waffe, die der Devanthar nicht zu fürchten brauchte.

Die Krallen des Ebermanns klickten bedrohlich. Er machte einen Schritt in ihre Richtung.

»Išta war nicht allein, als sie hierherkam. Nach dem Bild auf diesem Stein hatte sie mindestens zwei Begleiter.«

Der Ebermann kniff die Augen zusammen, dann stürmte er plötzlich auf sie zu.

Lyvianne wich zur Seite aus und zog im Reflex ihre nutzlose Waffe, doch der Devanthar griff sie nicht an. Er kniete neben der Stele nieder und tastete mit seinen Krallen über die Linien, die von ungelenker Hand in den Stein geschlagen worden waren, ganz so, als wollte er sich überzeugen, dass seine Augen ihm kein Trugbild vorgaukelten.

Lange blieb er so knien. Sein Atem ging schwer. Lyvianne hätte viel darum gegeben, seine Gedanken zu kennen. Sie trat ein Stück zurück und schob ihr Schwert in die Scheide.

Endlich erhob sich der Ebermann. Wortlos ging er in Richtung des Heiligtums inmitten der Lichtung und verschwand hinter den Hecken und Pfählen. Einen Augenblick später hörte Lyvianne ein erschrockenes Keuchen, dann wurde leise geredet.

Erstes Morgenlicht hüllte den Wald in zartes Silbergrau, als der Ebermann endlich zurückkehrte. Er wirkte tief in Gedanken. Wir müssen reisen. Die Drusnier haben die Stele von einem Raubzug mitgebracht. Wir müssen zum Berg Luma nach Luwien, dorthin, wo Anatu einst ihren Palast aus Mondenlicht errichtet hatte. Ich glaube, alles, was wir bislang über den Tod des Purpurnen und den Verrat Anatus zu wissen glaubten, ist eine Lüge.

Er verließ die Lichtung und folgte einem der Pfade, die zum nahegelegenen Albenstern führten.

Lyvianne zögerte. Der Devanthar hatte von »wir« gesprochen. Erfolglos nach Albenmark heimzukehren war keine Alternative. Ging sie mit dem Devanthar, würde der Weg sie entweder in den Tod oder zu neuem Ruhm führen.

Sie straffte sich. Sie war eine Drachenelfe, sie hatte nicht wirklich eine Wahl.

Der Palast aus Mondenlicht

»Worauf warten wir?« Lange hatte Lyvianne gezögert zu fragen. Doch nun kauerten sie schon über eine Stunde hinter der rußgeschwärzten Lehmmauer. Der Ebermann hatte sie durch das Goldene Netz an einen einsamen Ort am Rande einer weiten, von verkrüppelten Büschen und windzerzausten Disteln bewachsenen Ebene geführt. Sie verbargen sich inmitten der Ruinen eines armseligen Bauerndorfes.

»Wir warten auf den Mond.«

Klang seine Stimme belegt, oder bildete sie sich das ein? Seit ihrer ersten Begegnung kam der Elfe ihr Zusammensein unwirklich vor. Er war ein Devanthar, der Todfeind. Statt sie hierherzubringen, hätte er sie augenblicklich töten sollen. Was hielt ihn davon ab? War es nur eine Laune, sie zu verschonen? Jetzt, in diesem Augenblick, schien er jedenfalls nicht an ihren Tod zu denken. Auch wenn er neben ihr kauerte, war er zugleich weit fort.

»Sie hat diesen Ort geliebt«, sagte der Ebermann unvermittelt.

Lyvianne schwieg und hoffte, er würde vielleicht noch mehr sagen. Wie man diesen Ort lieben konnte, war ihr ein Rätsel. Vor ihnen erhob sich ein einsamer Hügel, aus dessen sandigem Grund sich einzelne schroffe Felsen und ein Labyrinth aus Ruinen schoben. Ringsherum breitete sich eine Steppenlandschaft aus. Trockene Bachbetten durchzogen das Land als tiefe, gewundene Furchen.

Auf dem Weg hierher waren Lyvianne zwei verlassene Dörfer aufgefallen. Sie hatte Fuchsspuren im Sand gesehen und die Hufabdrücke wilder Ziegen. Es schien kaum Wasser zu geben, und ganz offensichtlich wurde diese Gegend von Menschenkindern gemieden.

»Ihr Zauber ist immer noch nicht ganz vergangen.«

Sprach er von Anatu?

»Einen Augenblick noch.« Der Ebermann deutete zum wolkenverhangenen Nachthimmel. »Jetzt gleich wirst du es sehen!«

Der Mond brach zwischen den Wolken hervor, und plötzlich veränderte sich der ganze Hügel. Strahlen aus silbernem Licht stiegen zwischen den Felstrümmern empor, tasteten hoch in den Himmel hinauf oder zauberten verwunschene Lichtbögen in die Nacht. Durchscheinende Mauern entstanden, Kuppeln und Giebel aus flüchtigem Silber. Doch klafften auch Lücken in den Wänden. Manche Strahlen stachen wie Speere weit über das flache Land. Andere bebten wie Mauern unter dem Ansturm eines mächtigen Rammbocks.

»Er ist nur noch ein Schatten dessen, was er einmal war. Anatus Palast aus Mondenlicht, errichtet auf dem Hügel Luma. Eine Legende unter den Menschenkindern. Ein Hort der Schönheit und des Wissens. Dahin …«

Wolken schoben sich vor den Mond, und das Lichtspiel auf dem Hügel verblasste so plötzlich, wie es gekommen war.

»Früher einmal bin ich gerne hierhergekommen und war ein willkommener Gast. Ich habe nie verstanden, warum sie sich auf den Purpurnen eingelassen hat. Eine Bestie. Den Feind. Ausgerechnet sie, die nur danach trachtete, Schönheit in die Welt zu bringen.«

Hatte der Ebermann Anatu geliebt? Lyvianne wagte es nicht, ihn zu fragen. Und wie konnte er von Ungeheuern sprechen, diese ungeschlachte Gestalt mit Klauenhänden und dem Kopf eines Ebers! »Warum hast du sie nicht gefragt? Fragst sie jetzt? Sie ist doch eure Gefangene im Gelben Turm.«

Der Devanthar sah mit seinen himmelblauen Augen auf sie herab. »Sie wurde im Kampf schwer verwundet. Išta hat ihr einen Speer durch den Kiefer hinauf ins Hirn gestoßen. Ihre halbe Zunge wurde abgetrennt, und sie hat den Verstand verloren. Sie vermag nur noch zu lallen, spricht unzusammenhängend. Der Wahnsinn führt ihre Zunge. Immer wieder redet sie vom lebenden Spiegel. Wenn ich sie richtig verstehe …« Er seufzte. »Sie vermag nicht mehr zu erklären, was sie damit meint. Vielleicht glaubt sie auch, sie hat es getan. Ihr Verstand ist wie ihr Palast aus Mondenlicht, nur noch eine Ruine.«

»Und du bist nie hierher zurückgekehrt?«

Sein schweres Haupt sank ihm auf die Brust. »Manchmal in Vollmondnächten stehe ich hier. Ich warte darauf, dass ihr Palast wiederersteht, und träume von dem, was für immer verloren ist.«

»Ihr seid die Götter dieser Welt. Hättet ihr Anatu nicht heilen können?«

Er schüttelte den Kopf. »Natürlich hätten wir das gekonnt. Aber meine Brüder und Schwestern haben entschieden, dass es Teil ihrer Strafe sein soll, nicht geheilt zu werden. Ihre Wunden brechen immer wieder auf. Sie kann nicht gesunden und auch nicht sterben. Sie hat uns alle verraten, sich mit dem Feind gepaart. Mit einem Drachen!« Die letzten Worte schrie er in die Nacht hinaus.

Lyvianne wich ein Stück vor ihm zurück. Sein Zorn war wie ein sengendes Feuer, das nach ihrem Verstand griff. Jetzt war sie sich sicher, dass er Anatu einst geliebt hatte. Und er vermochte ihr nicht zu vergeben, dass sie einen anderen erwählt hatte.

»Warum bist du nie mehr auf den Hügel gestiegen.«

»Zu viele Erinnerungen«, entgegnete er düster. »Aber in dieser Nacht will ich mich ihnen stellen. Einst gab es dort oben einen Tempel. Die Zunge der Göttin war die Hohepriesterin. Eine Menschentochter, durch die meine Schwester sprach, mit der sie all ihre Gedanken und Gefühle teilte. Die Seele der Hohepriesterin war mit der ihren verbunden. Diese Priesterin kannte sie besser als wir, ihre Geschwister. Wir werden sie suchen und Antworten von ihr einfordern.«

»Wie kannst du hoffen, sie noch lebend anzutreffen? Sie ist nur eine Menschentochter. Sie muss längst tot sein.«

Er fuhr herum und funkelte sie wütend aus seinen kalten Augen an. »Hast du vergessen, wer ich bin? Ein Gott der Menschenkinder! Ich bekomme meine Antworten von ihnen, auch über den Tod hinaus. Sie gehören uns Devanthar. Für immer!« Mit diesen Worten stieg er über die niedrige Mauer hinweg und ging dem Berg entgegen.

Lyvianne folgte ihm mit klammem Gefühl. Wenn er so über die Menschenkinder dachte, was hielt er dann von ihr? Sah er in ihr auch nur ein nach seinem Belieben verfügbares Hilfsmittel? Etwa so, wie sie die Kobolde ihrer Heimat sah? Sie würde keinen Gedanken daran verschwenden, einen oder auch ein Dutzend von Kobolden zu opfern, wenn sie damit erreichte, was sie anstrebte. Sie sollte auf der Hut sein. Entkommen konnte sie dem Devanthar nicht, auch wenn er jetzt mit den Gedanken woanders war.

Zwischen Disteln und gestürzten Säulen stiegen sie den Hang hinauf. Was immer hier einst außer dem Palast aus Mondenlicht gestanden hatte, war gründlicher zerstört, als es Menschenzorn allein vermocht hätte. Ein Erdbeben schien den Hügel erschüttert zu haben. Oder vielleicht auch die Wut der Devanthar über die Verräterin Anatu.

Etwa in der Mitte des Hügels stießen sie auf eine massive Mauer aus mächtigen Quadern. Säulenfragmente lagen wie große, steinerne Fässer entlang der Mauer. Von Sand und Zeit fast abgeschliffene Bilder schmückten die behauenen Steine.

Von einem Moment auf den nächsten erhob sich dicht vor der Mauer ein Wall aus durchscheinendem Licht. Erschrocken zuckte Lyvianne zurück und strauchelte, als sich ihr Waffenrock in einem Distelgestrüpp verfing. Der Mond war wieder hinter den Wolken hervorgetreten.

Die Elfe schalt sich stumm für ihre Schreckhaftigkeit. Sie war in Gedanken ganz bei den Bildern gewesen, hatte für den Augenblick den verwunschenen Palast vergessen.

Der Ebermann drehte sich um und sah spöttisch zu ihr herab. Das Fell an seinen Beinen hing voller Kletten. Plötzlich wurden seine Augen schmal. Er hob die Rechte und beugte sich vor. Seine Krallenhand schnellte ihr entgegen. Lyvianne rollte sich zur Seite und zog ihr Schwert. Auch wenn es dieses gedankenlesende Ungeheuer nicht überraschen würde, würde sie sich nicht kampflos geschlagen geben.

»Ruhig!« Seine dunkle Stimme drang der Elfe bis ins Mark. Er hob etwas auf, das direkt vor ihren Füßen zwischen Steinen und verdorrtem Gras gelegen hatte. Ein Schädel!

»Der Priester im Heiligen Hain konnte mir nicht viel über den Stein beim Heiligtum erzählen. Nur dass vor vielen hundert Jahren ein silberner Löwe aus dem Albenstern trat und den Hetmann von Drei Eichen aufforderte, eine Kriegerschar zusammenzurufen. Er versprach ihnen reiche Beute, wenn sie hierherkämen, um jene Frevlerinnen zu töten, die noch immer die Verräterin Anatu verehrten.«

Lyvianne hatte den silbernen Löwen vor Augen, der Bidayn angegriffen hatte, als sie beide versucht hatten, Nangog zu verlassen. Diese Kreaturen aus lebendem Metall waren machtvolle Geschöpfe. »Was ist die Aufgabe der Löwen?«

»Sie sind die Boten der Götter«, erklärte der Ebermann und legte den Schädel auf einer der Säulentrommeln ab. »Wir schicken sie, um Nachrichten zu überbringen oder um Tore in das Goldene Netz zu öffnen. Die Menschenkinder fürchten und verehren sie. Niemals würden sie es wagen, sich dem Wunsch eines silbernen Löwen zu widersetzen. Ich frage mich nur, wer den Löwen nach Drusna geschickt hat. Išta war es ganz sicher nicht. Sie hat die Priesterinnen hier mit Respekt behandelt. Widerwillig zwar, aber es hätte ein schlechtes Licht auf sie geworfen, wenn sie gegen die Priesterschaft vorgegangen wäre.«

»Warum?« Dieser Gedanke erschien Lyvianne zutiefst unlogisch. Išta hätte doch stets Missgunst und Intrigen der Priesterinnen fürchten müssen.

»Wir alle wussten, dass Išta sich übergangen fühlte, als wir sieben aus unseren Reihen wählten, die zu den Leitgöttern der sieben mächtigsten Königreiche der Menschenkinder werden sollten. Viele von uns wollten diese Aufgaben nicht. Uns allen war klar, wie viel wir von unserer Freiheit würden aufgeben müssen, wenn die Wahl auf uns fiel. Die Leitgötter würden wie Schäfer sein, die ihre Herde nicht aus dem Blick verlieren dürfen – Leitbilder und Hüter ihrer Völker zu aller Zeit. Anatu hat sich gegen diese Bürde gesträubt. Sie wollte keine Göttin der Menschenkinder sein. Und doch konnte sie die Wahl nicht ablehnen.«

»Aber warum habt ihr sie zur Göttin von Luwien gemacht, wenn sie es nicht wollte?« Lyvianne war erstaunt, wie überaus irrational die Devanthar vorgingen, versuchte diesen Gedanken aber sofort zu unterdrücken. Dabei ging ihr noch etwas auf. Je mehr der Ebermann ihr erzählte, desto geringer war ihre Aussicht, lebend davonzukommen! Sie war eine Drachenelfe, und er wusste das. Alles, was sie erfuhr, würde sie dem Goldenen berichten, der auch in ihren Gedanken lesen konnte. Nicht einmal wenn sie es wollte, könnte sie ihrem Meister etwas verheimlichen.

»Anatu war die Richtige, weil sie, solange ich sie kannte, die Welt zu einem schöneren Ort machen wollte; Išta hingegen ging es allein um Macht. Wäre Anatus Verrat nicht so offensichtlich gewesen, und hätte Išta uns nicht den Kopf des Purpurnen als Beweis gebracht, sie wäre niemals die Göttin der Luwier geworden. Selbst die Priesterinnen Anatus haben bezeugt, wie sie ihre Herrin gemeinsam mit der Himmelsschlange gesehen haben. Sie waren nicht Teil des Komplotts, und deshalb wurden sie nicht bestraft.«

Lyvianne blickte über die Ruinen. »Und doch wurden sie ermordet. Warum? Wer schickte den silbernen Löwen nach Drusna.«

»Unsere Völker streiten untereinander. Kriege und Überfälle sind an der Tagesordnung. Allerdings ist es schon ungewöhnlich, dass die Drusnier es wagten, einen Raubzug so tief nach Luwien zu unternehmen.« Er schüttelte verärgert sein mächtiges Haupt. »Vielleicht hat der Große Bär seinen Löwen geschickt, um den Hetmann von Drei Eichen mit leichter Beute zu belohnen? Den stehenden Stein haben sie mitgenommen, weil dem Hetmann das Bild darauf gefiel und weil sie über die Albenpfade gingen. Über Land hätten sie niemals den schweren Stein transportiert. Suchen wir nun nach Antworten!« Mit diesen Worten hob der Devanthar seine mächtigen Pranken zum Himmel empor und rief eine Folge seltsamer, gurgelnder Laute.

Lyvianne spürte, wie sich das magische Netz um sie herum veränderte. Es wurde kühler, bis ihr schließlich der Atem vor dem Mund stand. Der Zauber, den der Ebermann wob, war ihr fremd. Es war eine Art von Magie, die nicht in Einklang mit der Natur stand. Sie zehrte von der Welt, nahm der Nacht die Wärme, zerrte an den Kraftlinien, und Lyvianne spürte mit Schrecken, wie sogar ihre eigene Aura in den Zauber eingewoben wurde, um ihn zu unterstützen. Ein Schauder überlief sie. Sie war ein Teil dessen geworden, was nun geschah.

Immer noch schleuderte der Ebermann dem Himmel seinen Bannspruch entgegen. Die Stimme des Devanthar wurde nun mit jedem Wort dunkler. Ein seltsamer Hall haftete ihr nun an, so als riefe er in einen tiefen Brunnenschacht. Die Wolken zogen sich vor dem Mond zusammen und verschlangen sein Licht. Der Palast der Anatu verblasste. Als selbst die Sterne am Himmel verschwanden, legte sich vollkommene Finsternis auf den Hügel.

In diesem Moment absoluter Schwärze erglomm ein Licht hinter den leeren Augenhöhlen des Menschenschädels. Es war von dunklem Rot wie die ersterbende Glut eines Feuers.

»Wer bist du?«, fragte der Devanthar.

»Alavašhi, Dienerin der Anatu.« Die Stimme war nur ein Flüstern, das die Elfe umgab wie ein plötzlicher Windstoß, der einen nahenden Sturm ankündigte.

Lyvianne spürte, wie das magische Netz versuchte, den widernatürlichen Zauber zu brechen, doch der Devanthar entzog ihm nur noch mehr Macht.

»Wer hat dich getötet?«

»Männer, deren Haar vom Gold und Rot der Morgenröte war. Sie haben den Tempel geschändet. Und nicht nur ihn …«

»Ein silberner Löwe begleitete die Räuber. Hast du ihn erkannt, Alavašhi? Welchem Gott diente er?«

»Er war mir fremd.«

»Gab es irgendeine Besonderheit an ihm? Hatte er eine goldene Mähne?«

Eine Zeit lang herrschte Stille. »Nein«, flüsterte es schließlich aus dem Dunkel der Nacht.

Der Ebermann wirkte verärgert.

»Darf ich?«, fragte Lyvianne leise. Selbst ihre eigene Stimme klang nun dunkler und fremd in ihren Ohren.

Der Devanthar machte eine unwirsche Geste, die Lyvianne als Zustimmung auffasste.

»Die Räuber haben einen stehenden Stein gestohlen, der das Bild Ištas zeigt, wie sie den Purpurnen mit ihrer Lanze durchbohrt. Weiter unten auf dem Bild ist Anatu abgebildet. Sie wird festgehalten. Wer hat sie gehalten?«

»Langarm und der Federmann«, raunte es aus der Nacht.

»Wer ist das?« Die Frage brachte Lyvianne einen bösen Blick des Ebermanns ein.

»Der Feind!«

»Was zeigt das Bild auf der Stele?«, fuhr der Ebermann auf.

»Die Wahrheit hinter dem Spiegel.«

Der Devanthar fluchte. »Dasselbe verrückte Gerede wie bei Anatu!«

»Wer hat das Bild erschaffen?«, fragte Lyvianne.

»Katakata, die Steinmetzin.«

»Wer gab ihr den Auftrag dazu?«, mischte sich der Ebermann ungeduldig ein.

»Iyali, die Zunge der Göttin«, antwortete die Grabesstimme.

»Hat sie euch erklärt, was es bedeutet?«

»Es ist ein Bild, das immer wieder in den Gedanken der Göttin war.«

»So kommen wir nicht weiter«, fluchte der Ebermann. »Wo liegt das Grab der Iyali? Sag mir, wo sie ist!«

»Das wollten auch die Männer mit den Haaren aus Morgenlicht wissen. Sie waren sehr grausam, aber wir haben Iyali nicht verraten.«

»Du wirst mir …«

»Was, Ebermann? Was könntest du mir antun? Ich bin ermordet. Meine Blutlinie ist längst versiegt. Alles, was in meinem Leben von Bedeutung war, ist ausgelöscht. Wovor sollte ich mich noch fürchten? Ich bin nur noch eine Stimme.«

Der Ebermann schwieg. All seine Wut schien verflogen zu sein. Die Anspannung wich aus seinen Gliedern. Er hatte begriffen, dass Alavašhi die Wahrheit sagte.

Lyvianne war nicht bereit aufzugeben. Die Hohepriesterin hatte mit dem Steinbild ein Zeichen gesetzt. Vielleicht gab es noch andere Bilder. »Ich glaube, dass Anatu ein großes Unrecht widerfahren ist. Wir sind hier, um ihren Namen reinzuwaschen. Bitte hilf uns, Alavašhi.«

»Wer bist du? Ich kenne deine Stimme nicht. Bist du seine neue Geliebte? Seine Stimme hat sich nicht verändert in all den Jahrhunderten«, hallte es aus dem Dunkel.

»Eine Freundin«, beeilte sich der Ebermann zu sagen, und bei dem Gedanken daran, was das bedeutete, lief Lyvianne ein Schauder über den Rücken. Er strahlte Macht aus. Aber dieser Kopf. Und die Krallenhände. Sich vorzustellen, wie sie nach ihr griffen …

»Du bleibst nie lange allein.« Die Stimme der Priesterin klang enttäuscht. »Sie hat so lange auf dich gewartet. Auf dich gehofft. Iyali hat uns davon erzählt.«

»Ich war bei ihr. Sie hat den Verstand verloren. Sie redet wirr. Es ist kein Wort zu verstehen.«

»Iyali ist in Anatus Gedanken gewesen. Sie war die Zunge der Göttin. Sie teilte jedes ihrer Geheimnisse. Du hättest nur kommen müssen und hättest alles erfahren! Sie hat so sehr auf dich gewartet. Wo warst du?«

Lyvianne konnte sehen, wie sehr dem Ebermann die drängenden Fragen zu schaffen machten. Er senkte das Haupt. Seine Nüstern blähten sich. Sein Atem ging schwer. »Es war eine dunkle Zeit. Wir alle haben uns bespitzelt. Alle hatten Sorgen, dass es noch weitere Verräter gäbe. Wenn Anatu, die in allem stets vorbildlich gewesen war, sich mit den Himmelsschlangen eingelassen hatte, wem konnte man dann noch trauen?«

»Als Iyali verstanden hat, dass du nicht mehr kommen würdest, hat sie Katakata befohlen, die Stele zu fertigen, die Langarm und den Federmann zeigte. Es sollten weitere Bilder folgen. Katakata hat sieben Monde an dem Steinbild gearbeitet.«

»Wie sollten die anderen Bilder aussehen?«, drängte der Devanthar.

»Ich weiß es nicht. Iyali war die Zunge der Göttin! Sie ist nicht zu uns einfachen Priesterinnen gekommen, um ihre Geheimnisse mit uns zu teilen. Sie wollte sie in Katakatas Bildern verstecken, damit du sie finden kannst. Anatu hat wohl niemals die Hoffnung verloren, dass du eines Tages in ihren Palast zurückkehren würdest. Aber statt dir kamen die Männer mit dem Haar in den Farben des Morgenlichts. Und alles verging.«

»Was wurde aus Iyali?«, drängte der Ebermann.

Die Stimme schwieg. Nur das Flüstern des Windes in den Ruinen war noch zu hören. Dann brach der Zauberbann des Devanthars, und das Mondlicht kehrte zurück. Aufs Neue erstand der verwunschene Palast der Anatu.

»Sie ist fort«, sagte der Ebermann leise und kniete nieder. »Sie ist lieber gestorben, als den Drusniern dies letzte Geheimnis zu verraten. Warum sollte sie es mir sagen, nachdem ich sie so enttäuscht habe.« Mit diesen Worten versenkte er seine Krallenhände im steinigen Boden und grub ein Loch. Als es etwa einen Fuß tief war, erhob er sich und nahm behutsam den Schädel von der Säulentrommel. »Entschuldige, dass ich deinen Schlaf gestört habe, Alavašhi«, sagte er mit erstaunlich sanfter Stimme. »Mögest du von nun an in Frieden ruhen. Und wisse, ich werde das Unrecht, das Anatu widerfahren ist, ans Licht bringen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde.«

Lyvianne sah ihn überrascht an. Eine solche Geste der Großmut hätte sie nie von einem Devanthar erwartet. Waren sie doch anders, als man ihr erzählt hatte?

Vorsichtig bettete der Ebermann den Schädel in die kleine Grube. Dann füllte er das Loch mit Sand und Geröll. Zuletzt brach er eine lila Distelblüte ab und legte sie auf das Grab. Grimmig richtete er sich auf. »Wir werden hinter dem Stein suchen. Das war der sicherste Ort hier im Tempel. Dort sollten wir die Gebeine Iyalis finden, denn die Tür zu diesen Kammern konnte nur von außen geöffnet werden. Wenn die Priesterinnen starben, ohne ihr Versteck verraten zu haben, muss sie dort verdurstet sein.«

Das Wasser des Schweigens

Der Devanthar führte Lyvianne durch das Ruinenfeld und die durchscheinenden Mauern des Palastes aus Mondenlicht weiter den Hügel hinauf. Immer öfter sah sie bleiche Knochen zwischen den Disteln liegen. Die Tempelanlage musste riesig gewesen sein. Sie stiegen über Treppen mit zersplitterten Stufen, gingen vorbei an halb verschütteten Türöffnungen, die einst ins Innere des Hügels geführt haben mussten.

An einigen der Mauern hatten sich Reste von Malereien erhalten. Sie zeigten weite Blumenwiesen voller Vögel und kleinem Getier. Auf anderen Bildern sah Lyvianne Frauen in weißen Gewändern bei der Kornernte. Priesterinnen?

Schließlich erreichten sie einen Hof, der auf drei Seiten von breiten Treppen gleich angelegter Terrassen umgeben war. Hier wogte ein wahres Meer von Disteln, die einen schweren Blütenduft verströmten. Vereinzelt erhoben sich Blumen zwischen dem Unkraut sowie halb im Distelgestrüpp verborgene Baumstümpfe.

»Dies war einst Anatus Garten«, erklärte der Ebermann, und in seiner Stimme lag die Melancholie der Erinnerung an längst vergangene, glückliche Tage. »Er war weit über die Grenzen Luwiens hinaus bekannt. Hier wuchsen Blumen und Bäume aus allen Teilen der Welt. Die Luft war erfüllt von munterem Vogelgezwitscher und dem Wohlgeruch exotischer Blüten. Anatu hat hier viele Stunden verbracht.«

Auf dem Hof erhoben sich drei Stelen. Die Steine waren doppelt so groß wie Lyvianne. Neugierig umrundete die Elfe sie und strich leicht über die glatt polierten Oberflächen der Stelen. Sie schien nie ein Bild geschmückt zu haben. Am Ende der kurzen Stelenreihe gab es noch einen Sockel, um den zerbrochenes Gestein lag.

»Die Stelen sind neu«, bemerkte der Ebermann und hob einen der zerschlagenen Steine auf. »Früher war hier ein Sonnensegel aufgespannt, und ein Brunnenbecken kühlte die Luft an heißen Tagen.«

Lyvianne trat zu ihm und betrachtete das Stück in seiner Krallenhand. »Es ist dasselbe Gestein, aus dem die Stele im Heiligen Hain in Drusna gefertigt ist.« Sie sah sich um und drehte mit dem Fuß einen der größeren Felsbrocken um. Hier war der Umriss eines Oberarmes zu erkennen. Jemand hatte so lange auf das Relief eingedroschen, bis nur noch die Außenlinien des Bildes übrig geblieben waren.

Langarm und der Gefiederte, dachte Lyvianne. Nichts von dem, was hiergeblieben war, bewies, dass sie einst auf der Stele abgebildet gewesen waren. Warum tauchten sie in der Legende von Ištas Kampf gegen den Purpurnen nicht auf? Hatte die Devanthar ihren Ruhm nicht teilen wollen, oder gab es ein anderes, dunkleres Geheimnis?

Der Ebermann legte den Stein zurück und ging zu einer Treppe, die zwischen den Terrassen an der Nordseite des Hofes hinaufführte. Lyvianne folgte ihm bis zur dritten Ebene, wo er kurz stehen blieb, sich nach Westen wandte und schließlich zwischen den trockenen Disteln hindurch bis zu der Wand schritt, die die Terrasse abschloss. Hier erhob sich ein Dornengestrüpp, das sich fest ans Mauerwerk gekrallt hatte.

Der Ebermann fegte die Ranken mit ärgerlichen Prankenhieben zur Seite, hielt abrupt inne und fluchte. Ein Loch war in das Mauerwerk vor ihnen gebrochen.

»Sie haben auch die Kammern hinter dem Stein gefunden«, sagte der Devanthar resignierend. Er sprach ein Wort der Macht, und silbernes Licht leuchtete im Dunkel jenseits der Dornenranken auf.

Der Durchgang war fast hüfthoch mit Gesteinsbrocken und Flugsand gefüllt. Es fiel dem Devanthar schwer, sich hindurchzuzwängen. Auch Lyvianne musste kriechen, um in die versteckten Kammern zu gelangen. Wie es schien, hatten sich drei Devanthar verbündet, um den Untergang Anatus herbeizuführen. Auch das Versteck von Anatus Hohepriesterin war ihnen nicht verborgen geblieben. Wie konnte der Ebermann hoffen, hier noch eine Spur zu finden? Sie würden nichts zurückgelassen haben.

Neugierig sah die Elfe sich um. Auch die Wände der geheimen Kammern waren bemalt. Sie zeigten eine Löwenjagd in hohem Schilfgras. Anatu trug einen Bogen und Köcher. An ihrer Seite schritt ein Krieger mit einem Eberzahnhelm. Selbst im Silberlicht, das die Farben in den falschen Tönen erstrahlen ließ, war deutlich zu erkennen, dass der Krieger himmelblaue Augen hatte.

»Etwas gefunden?« Der Devanthar musterte sie skeptisch.

»Du kennst meine Gedanken.«

»Und du versuchst, was von Bedeutung ist, hinter einer Flut von Belanglosigkeiten zu verstecken. Hoffst du, dass mich die Banalitäten so sehr ermüden, dass ich aufgebe, bis auf den Grund zu sehen?«

Lyvianne schluckte. Dann dachte sie fest an das Kinderlied, das sie ihren Kleinen so oft vorgesungen hatte.

Schattenweber,

Träumegeber,

wandern durch die Nacht.

Schleichen, sacht, sacht, sacht.

Sie sind Freunde, wohlvertraut,

haben in dein Herz geschaut …

»Lass diese Spiele, Lyvianne. Ja, es ist wahr, ich hatte eine stürmische Liebesaffäre mit Anatu. Ich war oft hier, und es war meine verletzte Eitelkeit, die mich davon abgehalten hat, dem, was hier geschehen ist, auf den Grund zu gehen … Wie hatte sie eine Echse mir vorziehen können? Ein Ungeheuer! Unseren Todfeind! Deshalb habe ich nicht versucht, etwas von dem, was hier geschehen ist, zu verhindern. Und sie hat nie aufgehört, auf mich zu hoffen, wie es scheint. Išta hat dafür gesorgt, dass sich Anatu nicht mehr mitteilen konnte. Und alle Beweise gegen sie waren übermächtig. Was zählte schon, dass es eigentlich gar nicht zu ihr passte, uns zu hintergehen, wenn Išta den Kopf der Himmelsschlange zum Gelben Turm bringen konnte, der Anatus Geliebter gewesen war? Und selbst die Priesterinnen dieses verfluchten Tempels hatten ihn gesehen. Er war hier und hat sich vor aller Augen mit Anatu getroffen. Sie wollten ihrer Herrin nicht schaden, aber sie vermochten ihre Erinnerungen und Gedanken noch viel weniger zu verbergen als du, Lyvianne. Die Beweise gegen Anatu waren vernichtend. Ich, wir alle wollten ihr nicht helfen. Wir wollten sie nicht heilen und ihre Lügen hören. Wir wollten sie leiden sehen für ihren Verrat. Nicht einmal ich habe dagegen gestimmt, sie in den Schädel ihres Geliebten einzusperren, im Gelben Turm, dort, wo wir sie alle immer wieder sehen mussten, auf dass niemand von uns den Preis für Verrat vergisst … Ich wusste um die Gabe Iyalis, der Zunge der Göttin. Aber warum hätte ich zu ihr gehen sollen? Ich habe an Anatus Schuld geglaubt, habe das Flehen in Anatus Augen ignoriert, wann immer ich an ihrem Gefängnis vorüberging, ihrem Gestammel nicht gelauscht. Oh, verletzte Eitelkeit ist meine große Schwäche. Išta hat das wohl klar erkannt.

Aber sie scheint Sorge gehabt zu haben, dass ich irgendwann wieder klar denken würde. Also musste Iyali verschwinden. Wie genau sie das gemacht hat, weiß ich nicht. Ganz sicher war es nicht ihr silberner Löwe, der die Drusnier hierhergebracht hat. Vielleicht hat sie dem Großen Bären von den Schätzen des Tempels erzählt und darauf spekuliert, dass er einen seiner Hetleute mit diesem lukrativen Raubzug belohnen würde? Vielleicht haben Langarm oder der Federmann ihr den Silberlöwen geliehen? Wie genau sie die Drusnier hierhergebracht hat, ist letztlich unerheblich – ich bin mir sicher, Išta ist die Kraft, die hinter all dem steht, was hier geschehen ist.« Endlich machte er eine Pause. Versonnen sah er den Gang mit den bunt bemalten Wänden entlang, auf den sich drei Türen öffneten. Aus der Tür zu ihrer Linken hatten Rauchzungen über den steinernen Rahmen hinauf zur Decke geleckt.

»Du glaubst, Išta war hier, nachdem die Drusnier abgezogen sind? Dann hat sie die Reste der Bilder von den zerbrochenen Steinen bei den Stelen gelöscht und hat jeden Hinweis darauf verschwinden lassen, was Anatu nicht mehr sagen, aber vielleicht noch denken und auf diese Weise ihrer Zunge, der Hohepriesterin Iyali, mitteilen konnte. Wenn das so ist, wirst du nichts mehr finden.«

Der Ebermann lachte kalt. »So wie meine Schwester mich und meine Schwächen kennt, kenne ich auch sie. Ihr Makel ist Überheblichkeit. Sie war sich sicher, dass die geraubte Stele in den endlosen Wäldern Drusnas niemals gefunden würde. Dir aber ist sie aufgefallen. Und du hast dir die zerstörten Bilder im Tempel im Verbotenen Tal angesehen. Ein Ort, an dem ich Tausende Stunden verbracht habe, ohne hinter dem Zerstörungswerk je etwas anderes zu sehen als das blinde Wüten naiver Menschenkinder. Du bist meine Hoffnung, Lyvianne. Du siehst die Welt mit anderen Augen als ich und denkst anders als wir Devanthar. Du vermagst Dinge zu entdecken, an denen ich achtlos vorübergehe. Und ganz gleich, wie klug und vorausschauend Išta auch sein mag, daran, dass ich mich mit einem Albenkind verbünden könnte, um ihre Intrigen aufzudecken, wird sie nicht gedacht haben.«

Seine Erwartungen lasteten wie ein Berg auf Lyvianne. Auch fragte sie sich, was er tun würde, wenn sie ihn enttäuschte. Das Herz voller Zweifel, trat sie instinktiv durch die Tür zu ihrer Linken, in jene Kammer, in der das Feuer gewütet hatte. Hier gab es nur noch Ruß und geschwärzte Tonscherben, die fast den ganzen Boden bedeckten.

Die Elfe kniete nieder und nahm einige der Scherben auf. Es waren einst Tontafeln gewesen. Die größten Fragmente, die sie finden konnte, waren kleiner als ihr Daumennagel. Sollte Iyali hier eine letzte Botschaft hinterlassen haben, wäre zwar noch alles hier, und doch wäre es unmöglich, irgendeinen der Texte wiedererstehen zu lassen, die hier gelagert hatten. Es mussten Millionen von Scherben sein, die den Boden der weiten Kammer bedeckten.

Aufmerksam musterte Lyvianne die dunklen Wände. Wahrscheinlich hatten hölzerne Regale entlang der Mauern gestanden, die den Flammen zum Opfer gefallen waren.

»Hier werden wir nichts finden«, sagte sie und versuchte, energisch und nicht niedergeschlagen zu klingen, als sie sich erhob und den Raum wieder verließ.

Der Ebermann folgte ihr, als sie die Kammer am Ende des Ganges betrat. Es war ein weiter Raum mit überraschend hoher Decke. Früher einmal schien es hier Vorhänge gegeben zu haben, von denen nur noch Fetzen geblieben waren. In der Mitte des Raums erhob sich ein gemauertes Podest, auf dem Reste von dicken Teppichen lagen. War dies Anatus verborgenes Liebeslager gewesen? Der Devanthar war in der Tür stehen geblieben. Ihm schien es unangenehm zu sein, den Raum zu betreten. Hatte er seine Eifersucht immer noch nicht überwunden, oder gab es noch einen anderen Grund, dass er diese Kammer mied?

Auch hier sah Lyvianne sich aufmerksam um. Sie zog Teppichfetzen zur Seite und untersuchte die Wände, auf denen Bilder Blütenhaine voller Singvögel zeigten. Die Elfe öffnete ihr Verborgenes Auge und betrachtete eingehend die Linien des magischen Netzes, die den Raum durchzogen. Es waren nicht viele, und sie vibrierten in sanftem Gold. Hier herrschten Ruhe und Harmonie. Kein verborgener Zauber wirkte nach, und auch das Drama, das sich hier einst abgespielt hatte, als Anatu dem Purpurnen in Liebe verfiel, hatte keine Spuren in der magischen Matrix hinterlassen. Zudem wies nichts darauf hin, dass die Zunge der Göttin hier Zuflucht gesucht hatte. Selbst Ištas allumfassende Zerstörungswut hatte diesen Raum verschont, es war allein die Zeit, die hier ihr Werk getan hatte.

»Nichts«, sagte Lyvianne nüchtern, als sie das Zimmer verließ. Sie sah dem Ebermann die Enttäuschung an. Was die dritte Kammer anging, schien er keine Hoffnungen mehr zu haben.

Die Elfe trat an ihm vorbei. Sie kam ihm so nah, dass sie seinen Schweiß roch. Ein animalischer Duft, der tief in ihr etwas berührte. Er war nicht unangenehm. Warum hatte der Devanthar sich entschieden, wie ein Ungeheuer auszusehen? Wenn der Mann mit den blauen Augen aus der Jagdszene am Eingang ihn in seiner früheren Erscheinung zeigte, dann war er einst wirklich attraktiv gewesen.

Lyvianne bemerkte, wie er sie ansah, und errötete. Sie hatte völlig verdrängt, dass er jeden ihrer Gedanken lesen konnte, wenn er es wollte. Zudem stand sie in Gestalt eines Mannes vor ihm! Eilig trat sie durch die Tür in die letzte Kammer.

Der Raum war, anders als der vorherige, klein und enthielt nur ein Badebecken, das von einer dicken Schicht Staub überzogen war, sowie etliche gläserne Flaschen, die neben dem Becken aufgereiht standen. Lyviannes Blick schweifte über die Wände, in der verzweifelten Hoffnung, einen versteckten Hinweis zu finden. Hier war der Putz rissig. Die Kammer war durch das Beben, das den Hügel erschüttert hatte, mehr in Mitleidenschaft gezogen worden als die anderen beiden Räume. Die blau gefärbten Wände zeigten Fische, Oktopusse und Delphine.

Lyvianne beugte sich über das Becken und strich durch den Staub. Darunter kam dickes, dunkelgrünes Glas zum Vorschein. Ganz in der Ecke lag etwas.

»Keine Spur von Iyali«, sagte die Elfe, als der Devanthar neben sie trat. »Es scheint, als wäre Išta sehr gründlich gewesen.«

»Nein«, widersprach der Ebermann und deutete auf die lange Reihe gleich aussehender Flaschen auf dem Boden. »Es scheint, als wäre Iyali sehr tapfer gewesen. Sie ist in das Wasser des Schweigens gestiegen. Das erfordert viel Mut!«

Lyvianne hörte nur mit einem Ohr zu, sie beugte sich weit vor und hob den Gegenstand am Boden des flachen Beckens auf. Es war ein von eingetrocknetem Schlamm verkrusteter goldener Ring in Form einer sich in Spiralen windenden Schlange. Für eine Arbeit von Menschenhand war er gut geraten. Jede Schuppe der Schlange war dargestellt, und Rubinsplitter waren als Augen eingesetzt worden. »Was ist das Wasser des Schweigens? Meinst du, sie hat sich hier im Becken ertränkt?«

»Damit hätte sie die Geheimnisse, die Anatu ihr anvertraut hat, nicht schützen können. Du weißt, was ich mit Alavašhi getan habe. Išta wäre ebenfalls nicht davor zurückgeschreckt, Iyalis Stimme aus dem ewigen Dunkel zu rufen. Sie hätte die Priesterin erpresst. Es war noch nicht viel Zeit seit Ištas Kampf gegen den Purpurnen vergangen. Vielleicht hätte sie lebende Verwandte Iyalis aufgespürt oder ihr gedroht, all ihre Priesterinnen grausam ermorden zu lassen. Wer weiß … Išta ist sehr erfahren darin, die Schwachpunkte von Menschen und Devanthar zu finden. Selbst der Tod hätte Iyali nicht vor meiner grausamen Schwester bewahrt. Alles, was wir Devanthar brauchen, um die Stimmen der Verstorbenen zu rufen, ist ein Knochen oder eine Haarsträhne. Iyali ist in ein Bad aus Säure gestiegen, damit nichts mehr von ihr bleibt. Das Wasser des Schweigens. Der einzige Weg, für immer Frieden zu finden.«

Lyvianne versuchte sich vorzustellen, was die Priesterin erduldet hatte. Wie war sie in das Bad gestiegen? Wie hatte sie den Schmerz ertragen, als die Säure ihre Haut auflöste und das Muskelfleisch zerfraß? Wie hatte sie dem Drang widerstanden, sich aus dem Bad zu winden, damit der Schmerz aufhörte?

»Wie konnte Išta den Ring übersehen?«

Der Ebermann schnaubte. »In den ersten Stunden nach Iyalis Selbstmord wird die Säure trübe gewesen sein. Man konnte nicht bis auf den Grund des Beckens blicken. Und danach … Wer immer seine Hand nach dem Ring ausgestreckt hat, wird es bitter bereut haben.«

»Aber Išta, hätte sie den Ring nicht an sich nehmen müssen?«

»Warum, Gold bedeutet uns Devanthar nichts. Und der Ring ist von keinerlei Nutzen, um den Geist Iyalis zu rufen. Išta wird vor Wut geschäumt haben, als sie hier war. Iyali ist ihr mit ihrem Selbstmord für immer entschlüpft, und meine Schwester Išta wird sich niemals ganz sicher sein können, ob die Zunge der Göttin nicht doch noch einen Hinweis auf die Intrige gegen ihre Herrin hinterlassen hat.«

»Nun, nicht hier, wie es scheint.« Lyvianne schloss die Hand um den Ring. »Ich konnte nichts entdecken. Ich …« Er würde es merken. Es wäre ein Fehler zu versuchen, ihn zu hintergehen.

»Gut, dass du das weißt«, sagte der Devanthar schroff. »Mir entgeht keiner deiner Gedanken. Was also willst du mit dem Ring?«

»Es gibt viele Spielarten der Magie in Albenmark. Ich kenne jemanden, der weit auf dunklen Pfaden geschritten ist. Vielleicht könnte sie mithilfe des Ringes eine Verbindung zu Iyali herstellen. Dafür müsstest du mich mit dem Ring gehen lassen und mir vertrauen.«

»Wenn ich dich ziehen lasse, wirst du zu deinem Meister, dieser Echse, gehen.«

Lyvianne nickte. »Ich habe dem Goldenen die Treue geschworen. Ich würde ihn niemals verraten. Aber zuerst werde ich die Zauberweberin besuchen, die mir mit dem Ring …«

»Ich sehe die Dunkelheit in deinem Herzen, Elfe. Ich sehe, was du mit deinen Kindern getan hast. Warum sollte ich dir vertrauen?« Er machte einen Schritt auf sie zu. Wieder umfing Lyvianne sein animalischer Geruch. »Ich sollte dich töten. Deine Welt würde ein besserer Ort werden, wenn du nie wieder zurückkehrst.« Seine Krallenhand schloss sich um ihre Kehle.

»Du wirst niemals die Wahrheit über Anatu erfahren, wenn du mich jetzt tötest.«

Der Druck der Krallenhand ließ ein wenig nach. »Das werde ich auch nicht, wenn ich dich gehen lasse – denn du hast keinen Grund zurückzukehren.«

»Ich werde zurückkehren, um Išta stürzen zu sehen. Ihr Untergang ist auch ein Sieg für Albenmark.«

Der Devanthar keuchte. Er ließ sie los und wich von ihr zurück. »Das meinst du wirklich ernst.« Fassungslos sah er sie an. »Geh! In achtundzwanzig Tagen, wenn erneut Anatus Palast aus Mondenlicht über diesem Hügel steht, erwarte ich dich im Garten der Göttin.«

»Und wenn ich mehr Zeit brauche? Die Zauberweberin, die ich um Hilfe bitten muss, ist launisch. Es könnte Wochen dauern, sie dazu zu bewegen. Sie wird sich mit Blut bezahlen lassen.«

»Mich interessiert nicht, was du tun musst. In sechsundfünfzig Tagen, zur zweiten Vollmondnacht, werde ich noch einmal hier sein, um dich zu erwarten. Kommst du auch dann nicht, werde ich nach Albenmark kommen. Und glaube mir, ich werde dich schneller finden, als dein Beschützer, die goldene Echse, mich aufspüren wird. Versuche nicht, mich zu hintergehen, Lyvianne!« Mit diesen Worten verließ er die Kammer. Sie hörte seine Eberhufe draußen im Gang widerhallen. Dann war es still bis auf das Rascheln der trockenen Disteln im Wind.

Die Elfe betrachtete das Becken, in dem Iyali auf so schreckliche Weise gestorben war. »Man ist niemals in Sicherheit, Hohepriesterin. Ganz gleich, welches Opfer man bringt.«

Das letzte Quartier

»Heh, Galar!« Ein Gesicht, umrahmt von einem eisengrauen Bart, erschien unter dem Schutz aus Blättern, den sie sich gebaut hatten. »Schnapp dir den Krüppel und die beiden anderen Pfeifen, mit denen du aufgetaucht bist!«, blaffte ihn Hauptmann Hartwig an. »Ich habe eine schöne Aufgabe für euch.«

Hartwig war der Kommandeur, in dessen Truppe sie untergeschlüpft waren. Er war ein Eisenfresser. Ein Veteran aus dem Krieg zwischen dem Koboldvolk der Eisbärte und den Zwergen von Ishaven, von denen Galar bis vor einer Woche nur wenig gehört hatte. Es war eine lange, blutige Angelegenheit gewesen, und sie hatte Hartwig hart wie Granitbrocken gemacht. Ihr Kommandeur hatte vom ersten Tag an gerochen, dass mit Galar und seinen Kameraden etwas nicht stimmte.

»Los, los, los!«, blaffte er nun. »Oder soll ich euch Beine machen?«

Galar weckte Nyr, Glamir und Bailin. Die drei hatten sich eng in ihre Kapuzenmäntel gerollt und waren eingeschlafen, obwohl der Boden ein eisiger Schlamm war.

Glamir war als Erster wach. Er tat einen tiefen Seufzer, als er die Augen aufschlug. Er jammerte nie, aber Galar wusste, wie sehr die nasse Kälte seinem Gefährten zusetzte. »Harti hat wohl Lust, uns zu ärgern«, zischte er.

»Das habe ich gehört!«, schnarrte der Hauptmann. »Und ich sage dir, du hast keine Ahnung, was Ärger bedeutet. Bisher habe ich euch gehätschelt wie meine Enkelkinder, aber damit ist jetzt Schluss!« Er schlug mit dem schweren Rebstock, der Zeichen seines Ranges war, auf das provisorische Laubdach. Beim dritten Hieb stürzte es zusammen.

Fluchend schob Galar die nassen Äste zur Seite und zog Glamir hoch. Nyr und Bailin waren inzwischen ebenfalls auf den Beinen. Gemeinsam traten sie auf den rutschigen Pfad, der hinab zum Tal führte. Keiner sah zu ihrem Unterstand zurück; außer ihren Mänteln und den Kleidern darunter besaßen sie ohnehin nichts. Nur Bailin trug eine Axt am Gürtel.

Unablässig prasselte eisiger Regen auf sie nieder. Die Tropfen ließen den Schlamm aufspritzen. Dünne Rinnsale hatten Furchen in den steilen Weg geschnitten. Dicker Rauch sickerte den Hang hinab, als würde auch er vom Regen talwärts getrieben. Hunderte Zwerge lagerten wie sie unter den Kiefern, die sich an die Bergflanke klammerten. Manche hatte Unterstände in das Erdreich getrieben. Rußgeschwärzte Löcher, aus denen blaugrauer Qualm hervorquoll. Die meisten jedoch hatten, aus Angst vor Schlammlawinen, nur Unterstände aus Astwerk errichtet, die mehr schlecht als recht vor dem unaufhörlichen Regen schützten. Es gab kein trockenes Holz mehr. Jedes Feuer räucherte die Männer, die sich daran niedergelassen hatten. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt.

Niemand, nicht einmal ihre Hauptleute, schien zu wissen, wo dieses Tal lag, zu dem sie der Albenstern geführt hatte. Es war völlig ungewiss, warum alles so geheim gehalten wurde. Sie waren noch in Albenmark, da war sich Galar ganz sicher. Was sollte ihnen hier geschehen, außer dass sie sich gegenseitig an die Gurgel gingen?

Unten im Tal erklangen dumpfe Axtschläge. Seit sie hier angekommen waren, hörten sie diesen Lärm. Selbst nachts war es nicht still.

Galar stützte Glamir, der sich mit seiner Krücke auf dem rutschigen Weg kaum auf dem verbliebenen Bein halten konnte. Für was für eine Aufgabe sie wohl ausgewählt waren?

Als sie tiefer hinabstiegen, verschwanden die Kiefern auf den Hängen. Nur Baumstümpfe waren noch geblieben. Nicht weit vom schlammbraunen Bach am Talgrund waren Dutzende Langhäuser errichtet worden, die Galar ungewöhnlich groß erschienen. Fundamente für etliche weitere Hütten waren gelegt. Fluchende Zwerge standen in halb gefluteten Löchern, um mit mächtigen Grubensägen aus den Fichtenstämmen Bretter zu schneiden. Einer balancierte jeweils auf dem Stamm, während der zweite unten in der Grube die Säge zu sich herabzog. Eine elende Plackerei, die Galar ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Es gab Schlimmeres, als bei diesem Scheißwetter über schlammige Pfade geführt zu werden.

Sie erreichten die neu entstandene Siedlung zugleich mit einer Maultierkarawane. Neugierig sah Galar zu, wie Fässer und schwere, in Öltuch geschlagene Bündel in eines der neuen Lagerhäuser getragen wurden.

»Glotz nicht!«, schnauzte Hartwig ihn an, der ihnen dichtauf gefolgt war. »Da geht es für euch lang!« Dabei deutete der Hauptmann mit seinem Rebstock auf eine Scheune, die ganz am Ende der Siedlung stand. Das Tor, in das eine kleine Pforte eingelassen war, war so groß, dass ohne Weiteres ein hoch beladener Heuwagen hätte einfahren können.

»Mit der Hütte stimmt was nicht«, murmelte Glamir, als sie darauf zustapften. »Das Knie, das mir eigentlich fehlt, zwackt. Das passiert immer, wenn Ärger ansteht. Diese Bude da verheißt nichts Gutes.«

Vor der Scheune tippte der Hauptmann Bailin mit dem Stock vor die Brust. »Du kannst wieder mit mir kommen. Bist kein übler Kerl.«

Ihr rotbärtiger Retter aus den Ehernen Hallen lächelte spöttisch. »Danke für dein Lob, aber wenn ich täte, was du mir anbietest, wäre ich nicht der, für den du mich hältst.«

Hartwig runzelte die Stirn, als brauchte er einen Augenblick, um zu verstehen, was Bailin gemeint hatte. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf. »Komm lieber mit mir. Es wird dir leidtun, wenn du da hineingehst. Ich konnte vorhin einen kurzen Blick hineinwerfen.«

»Ich bleibe bei meinen Kameraden«, entgegnete Bailin, ohne zu zögern. »Irgendeiner muss ja auf sie aufpassen.«

Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte der Rotbart sich ruhig verpissen dürfen, dachte Galar ärgerlich. Dass er blieb, hatte nicht im Mindesten mit Loyalität zu tun. Er traute ihnen noch immer nicht über den Weg.

»Nun denn«, sagte Hartwig ruhig. »Jeder ist seines Glückes Schmied.« Mit diesen Worten öffnete er die kleine Pforte und schob sie in die Scheune.

Im ersten Augenblick konnte Galar kaum etwas sehen. Es roch nach Kiefernharz, frisch geschnittenem Holz und noch etwas anderem, Ranzigem, das er nicht sofort zuordnen konnte, ihm aber doch vertraut vorkam. Der Regen trommelte auf das Dach, an einigen Stellen tröpfelte Wasser durch Löcher in den Schindeln in die Scheune. Ein wenig Licht fiel durch Spalten in den Wänden aus groben Holzbrettern.

Im Dunkel am anderen Ende der Scheune rumorte es, dann fragte eine erstaunlich laute, tiefe Stimme etwas in einer Sprache, die Galar nicht verstand. Im selben Moment schloss sich hinter ihnen die Pforte.

Der hölzerne Boden erbebte unter schweren Schritten.

»Bei den Titten meiner Amme«, stöhnte Glamir neben ihm. Es war das erste Mal, dass Galar Angst in der Stimme seines Gefährten hörte. »Da sind Trolle!«

Jetzt sah der Schmied sie auch. Das hier war keine Scheune! Es war ein Quartier, dessen Abmessungen den riesigen Leibern von Trollen angepasst waren. Fünf große, graue Gestalten kamen durch das Zwielicht auf sie zu. Bis auf ihre schmuddeligen Lendenschurze und Lederriemen, von denen Dutzende Talismane hingen, waren die Trolle nackt. Wulstige Schmucknarben zierten ihre Leiber. Ein jeder von ihnen hielt eine schwere Keule, die aus einem jungen Baumstamm geschnitzt war.

Galar griff an seinen Gürtel, doch da war keine Waffe. Nicht einmal ein Messer.

Bailin drängte sich vor sie und hob seine Axt.

»Scheiße!«, zischte Nyr.

Einer der Trolle sagte etwas Unverständliches, woraufhin ein anderer mit grässlichem Akzent in kaum verständlichem Zwergisch antwortete: »Du hast recht, Bolbur, sie haben das Abendessen gebracht.«

Ein einfacher Plan

Es wird in Zukunft von großer Bedeutung sein, zu beobachten, was auf den Schlachtfeldern Nangogs geschieht, ohne dort anwesend zu sein. Ich würde vorschlagen, dass wir im Nichts abwarten, in der Nähe eines Albenpfades, über den wir schnell zum Kampfplatz kommen können, falls sich die Devanthar entscheiden sollten, in die Schlacht einzugreifen. Sobald sie dies tun, greifen wir an und vollenden, was in Selinunt missglückt ist.

Der Dunkle blickte zu den Dünenkämmen in der Ferne. Es ermüdete ihn, seinem Bruder, dem Goldenen, zuzuhören. Der Zweitgeschlüpfte hörte sich zu gerne reden. Seit fast einer halben Stunde berichtete er nun schon. Über die Truppen, die sich versammelten, und über seine großartigen Pläne, aber bislang war wenig Konkretes zu hören gewesen.

Zumindest der Flammende war von den Reden des Goldenen genauso gelangweilt wie er. Der Schweif seines Nestbruders zerwühlte den Sand, und er blickte hinauf zum weiten Sternenhimmel über der Wüste.

Entschuldige, Bruder, aber was für ein Zauber ist das, den du da weben möchtest?, mischte sich der Frühlingsbringer ein. Werden die Devanthar ihn nicht sofort bemerken und stören?

Ich denke nicht, entgegnete der Goldene auf provozierend selbstsichere Art. Wir werden von Natur aus von Magie durchdrungene Geschöpfe als Träger des Zaubers verwenden. Es werden wohl überwiegend Elfen sein. Kein Devanthar wird sich wundern, wenn ein Elf eine ausgeprägte Aura hat, die auf vielfache Art in Verbindung mit dem magischen Netz steht. Der Zauberbann, unter dem sie stehen, wird nur den alleraufmerksamsten Beobachtern auffallen. Und ich bin sicher, in der Hitze des Gefechts werden die Devanthar anderes im Sinn haben, als sich Elf für Elf ganz genau anzuschauen. Wir werden durch die Augen der Elfen sehen, und wir könnten sie sogar mit unseren Stimmen sprechen lassen, um durch sie Befehle zu geben und auf die Ereignisse der Schlacht zu reagieren.

Diesen Zauber musst du uns näher erläutern, Bruder. Der Smaragdene hatte den Kopf vorgestreckt, und in seinen Zügen spiegelte sich Wissbegier. Selten hatte der Dunkle ihn so aufgewühlt gesehen. Sonst strebte sein Bruder eher Ruhe und Ausgleich an. Allerdings war er auch derjenige von ihnen, der die meiste Zeit damit verbrachte, den Geheimnissen der Schöpfung der Alben nachzuspüren. Insbesondere jenen, die mit dem Goldenen Netz und der Zauberweberei in Verbindung standen.

Der Goldene begann eine weitschweifige Erklärung, aber ganz gegen seine Art unterbrach ihn der Smaragdene ungeduldig. Ich weiß, ich weiß … Ich bin diesen Weg selbst schon gegangen. Aber wie verhinderst du, dass die Albenkinder unter deinem Zauberbann Schaden nehmen? Ich habe mich selbst vor vielen Jahren in diesem Gebiet der Beherrschungsmagie versucht, und alle Albenkinder, mit denen ich gearbeitet habe, haben dauerhaften Schaden genommen. Ich konnte keinen Weg finden, es zu verhindern. Ihr Hirn kämpft gegen die Besessenheit an. Natürlich ist es eine Kleinigkeit, diesen Widerstand zu überwinden. Aber es zerstört Teile ihres Hirns. Sie verlieren ihre eigene Antriebskraft. Wenn wir uns zurückziehen, sind sie völlig apathisch. So als hätten wir durch den Zauber ihre Persönlichkeit ausgelöscht.

Ist das wirklich tragisch?, fragte der Goldene. Es gibt genug Elfen. Opfern wir ein paar. Der Nutzen übertrifft den Schaden bei Weitem. Natürlich werden wir keine Drachenelfen einsetzen.

Nachtatem hasste seinen Nestbruder für diese Art. Auch der Smaragdene und der Frühlingsbringer schätzten diese kalte Vorgehensweise nicht. Sie hielten ihre Gefühle nicht zurück, ließen alle anderen Drachen an ihren Gedanken teilhaben.

Wir dürfen nie aus den Augen verlieren, was für einen Krieg wir hier führen, brachte die Stimme des Goldenen sie zum Schweigen. Er ist anders als jeder andere Krieg, von dem wir bisher auch nur gehört haben. Es geht um die völlige Vernichtung einer Seite. Nach der Katastrophe von Selinunt haben wir keine andere Wahl mehr, als bis zum bitteren Ende zu kämpfen.

Bei den letzten Worten sah er zu ihm hinüber. Alle anderen Blicke folgten. Nachtatem wusste, dass die Mehrheit der Himmelsschlangen vermutete, dass er etwas mit dem Fehlschlag in Selinunt zu tun hatte. Schließlich hatte er den abtrünnigen Drachenelfen Gonvalon bei sich aufgenommen. Jenen Elf, der das Signal zum Angriff gegeben hatte, obwohl sich die Devanthar nicht zur geplanten Zeit in Selinunt versammelt hatten.

Wer über Nangog herrscht, der wird bald über alle drei Welten herrschen, fuhr der Goldene fort. Die Menschen und Devanthar nutzen die Ressourcen dieser Welt, um stärker zu werden. Lassen wir sie noch einige Jahre gewähren, dann werden sie so mächtig sein, dass wir sie nicht besiegen können, wenn sie auch nach Albenmark greifen. Die Heere an Menschenkindern, die sie aufzubieten vermögen, sind ohne Zahl. Für einen Krieger von uns können sie zwanzig Menschen in die Schlacht schicken. Sie können uns buchstäblich unter den Leibern ihrer Toten begraben und immer noch weiterkämpfen, wohingegen wir Mühe haben werden, unsere Verluste zu ersetzen. Der Goldene ließ die Worte wirken. Was er sagte, war wahr, jeder von ihnen wusste das. Wenn sie es nicht schafften, die Devanthar zu vernichten, wenn sie auf Frieden hofften oder auch einfach nur abwarteten, was geschah, dann würden sie untergehen.

Was also willst du tun?, fragte der Flammende bedrückt, was ganz und gar nicht seiner sonst so aufbrausenden Art entsprach. Er wirkte niedergeschlagen, als hätte er sich bereits mit dem scheinbar Unausweichlichen abgefunden. Selbst die Farben seiner Schuppen, die sonst in allen Schattierungen zwischen einem dunklen Gelb und leuchtendem Karmesin erstrahlten, wirkten unter dem Sternenlicht matt, so als wäre sein Feuer verloschen.

Ich werde zweihundert unserer Krieger opfern, entgegnete der Goldene. Männer, auf die wir verzichten können. Die Hauptleute sind angewiesen, Querulanten und Faulpelze auszusuchen. Männer, die die Disziplin der Truppe untergraben, zudem Dummköpfe und Krüppel. All jene, um die es nicht schade ist, wenn sie schon zu Beginn des Feldzugs sterben. Wir werden sie wie einen Köder auswerfen. Sie sollen eine abgelegene Siedlung überfallen und den Feind dazu verleiten, mit aller Kraft zurückzuschlagen. Wir werden uns bemühen, ihnen vorzugaukeln, dass die Zahl unserer Krieger viel größer ist. Und sie sollen mindestens hundert Mann für einen von unseren schicken.

Ich verstehe, sagte der Nachtblaue, und ein gieriges Funkeln flammte in seinen Augen. Dann werden wir über die Menschenkinder herfallen. Sie mit unseren Flammen verbrennen und mit unseren Krallen zerfetzen. Sein Schwanz peitschte voller Vorfreude auf das Massaker den feinen Wüstensand auf.

Der Goldene schüttelte sein mächtiges Haupt. Nein, das wäre zu einfach. Darauf werden die Devanthar vorbereitet sein. Ich bin sicher, sie werden unser Eingreifen ebenso in ihrer Planung berücksichtigt haben wie wir das ihre. Wer zuerst auf dem Schlachtfeld erscheint, der läuft in einen Hinterhalt. Wir können in diese Schlacht nicht eingreifen.

Welchen Nutzen soll das Ganze dann haben?, fauchte der Nachtblaue übellaunig, und seine Gedanken schnitten wie Messer in ihre Köpfe. Wir opfern zweihundert Kämpfer und schenken den Menschenkindern einen leichten Sieg. Das wird schlecht für die Moral unserer Kämpfer sein.

Unser Weg, in diesem Krieg zu siegen, besteht darin, die Menschenkinder mit fünfzig Toten für einen von unseren Kriegern bezahlen zu lassen. Sie werden das vielleicht einige Jahre durchstehen, aber nicht für lange Zeit. Wenn wir das erreichen, dann werden die Devanthar gar keine andere Wahl haben, als den Menschen früher oder später auf dem Schlachtfeld zu Hilfe zu eilen. Und wer sich als Erster zeigt, der wird verwundbar sein. Sobald sie diesen Fehler machen, werden wir zuschlagen, und wir werden zu Ende bringen, was in Selinunt missglückt ist.

Der Dunkle spürte, wie der Goldene ihre Nestbrüder auf seine Seite zog. Sie wollten ihm glauben, denn von ihrem Sieg hing tatsächlich ihr Überleben ab. Er musste eingreifen. Entschuldigt meine Dummheit, aber ich habe immer noch nicht ganz verstanden, wie zweihundert Mann, und noch dazu die schlechtesten, die wir aufzubieten haben, ein solches Massaker anrichten sollen.

Das Massaker wird Nangog anrichten, entgegnete der Goldene triumphierend.

Nangog? Nachtatem genoss das ungläubige Staunen seiner Brüder. Nun war offenbar geworden, wie haltlos der Plan seines Bruders war. Sie ist nicht vollständig erwacht, und die Devanthar bemühen sich, sie wieder ganz und gar in Fesseln zu schlagen. Wie sollte sie uns helfen, ist sie doch nicht einmal in der Lage, ihren eigenen Kindern zu helfen, die allerorten niedergemacht werden.

Der Goldene hob den Kopf in einer Geste arroganter Überlegenheit. Aber ich sprach doch nicht von der Gefesselten Göttin. Auf sie zu hoffen wäre in der Tat töricht. Ich sprach von der Welt Nangog. Es ist die Wahl des Schlachtfeldes, die über den Verlauf der Kämpfe entscheiden wird. Dieses Schlachtfeld wird den Menschen so zusetzen, dass wir mit der zweiten Streitmacht, die wir einsetzen, sobald die Menschenkinder unseren Köder verschlungen haben, leichtes Spiel haben werden. Wir werden sie zu Hunderten töten, aber auch genügend von ihnen entkommen lassen, dass sich die Kunde über diese Niederlage wie ein Lauffeuer verbreitet und Furcht in ihre Herzen sät. Wir werden Folgendes tun …

Die Meisterin des Todes

»Gib mir die Axt. Schnell!«, zischte Galar.

Als Bailin sich nicht regte und wie versteinert die Trolle ansah, die auf sie zukamen, stürmte der Schmied vor, schrie aus Leibeskräften und winkte dabei mit den Armen.

»Der kleine Kerl glaubt, man kann uns erschrecken wie Wölfe«, sprach der Anführer und brabbelte danach noch etwas Unverständliches. Einer seiner Krieger deutete auf Glamir und sagte etwas. Allgemeines Gelächter folgte.

»Ich soll dich fragen, wer deinen Freund angefressen hat«, erklärte der Wortführer. »Scheint wohl nicht sonderlich zu schmecken. Den heben wir für magere Zeiten auf.« Während er sprach, kamen die Trolle weiter auf sie zu. Dabei schwangen sie die Keulen auf Kniehöhe hin und her.

Sie waren jetzt nur noch drei Schritt entfernt. Galar war sich bewusst, dass er damit schon in Reichweite der wuchtigen Keulen war. Mit etwas Glück könnte er die Hiebe unterlaufen und sich zwischen den unförmigen Beinen der Hünen hindurchducken. Aber was brachte das groß? Auch wenn er in ihrem Rücken stand, wäre er immer noch waffenlos. Vielleicht würde es ihm gelingen, das ganze Trollrudel abzulenken, und seine Gefährten könnten durch die Pforte entkommen.

»Schnapp mich, du Riesenhaufen Trollscheiße!«, rief Galar, machte einen Satz nach vorne und ließ sich fallen, als die Keule des Anführers in seine Richtung schwang. Er rollte nach vorne, kam in die Hocke und huschte zwischen den Beinen des Trolls hindurch. Im Halbdunkel sah er ein Stück hinter den Trollen eine schlanke schneeweiße Gestalt. Er wollte gerade herumfahren, als ihn ein Tritt traf.

Der Zwerg wurde von den Beinen gerissen, flog ein Stück nach hinten und landete hart auf dem Bretterboden. Noch bevor er sich aufrappeln konnte, senkte sich ein riesiger Trollfuß auf seine Brust. »Jetzt bist du begraben unter Trollscheiße«, wurde er verhöhnt. »Und wenn ich ein bisschen drücke, läufst du durch die Ritzen im Boden.«

Galar hörte, wie Bailin einen Schlachtruf ausstieß. Dann ertönte ein dumpfer Schlag.

»Es genügt!« Aus den Augenwinkeln sah Galar die weiße Gestalt näher kommen, verschwommen, denn der Druck auf seine Rippen und Lunge ließ ihn vor Schmerz fast ohnmächtig werden.

»Es reicht, Groz!« Es war eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Leise, doch durchdringend.

Der Druck auf Galars Brust ließ nach. Japsend rang er um Luft und setzte sich auf.

Vor ihm stand eine Elfe. Sie war in ein langes, weißes Kleid mit steifem Stehkragen gekleidet. Völlig unpassend für dieses im Schlamm versinkende Heerlager am Ende der Welt. Sie ging barfuß. Nicht der kleinste Schmutzspritzer zeigte sich auf ihrem Gewand. Die Elfe vor ihm war erstaunlich klein, war der erste Gedanke, der Galar durch den Kopf ging. Wenn er stand, würde sie ihn höchstens um zwei Köpfe überragen. Sie wirkte zerbrechlich wie ein Eiskristall und ebenso kalt. Sie sah auf ihn hinab, als wäre er nicht mehr als ein Mistkäfer.

»Mein Name ist Ailyn, und euer Schicksal ist es, in Zukunft meinen Befehlen zu gehorchen. Ich erwarte nicht, dass ihr einander respektiert. Es genügt mir, wenn ihr euch nicht die Kehlen durchschneidet oder gegenseitig auffresst.« Bei den letzten Worten warf sie den Trollen einen kühlen Blick zu. »Habt ihr mich verstanden?« Sie sagte noch etwas in der gurgelnden, unverständlichen Sprache der Trolle, und erstaunlicherweise senkten die hünenhaften Krieger ihre Köpfe, als wären sie Kinder, die gerade wegen eines Streichs gescholten wurden.

»Steh auf«, sagte Ailyn zu ihm, als wäre es eine Kleinigkeit, unter einem ungewaschenen Trollfuß halb zerquetscht worden zu sein.

Groz und seine Kumpane machten der Elfe Platz, sodass Galar nun seine Gefährten sehen konnte. Bailin lag am Boden und spuckte Blut. Nyr hatte dessen Axt aufgehoben und sah aus, als wollte er jeden Augenblick über die Trolle herfallen. Glamir wirkte einfach nur verzweifelt. Einarmig und einbeinig war er nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Und ganz offensichtlich war er zu dickköpfig, um zu flüchten.

Die Elfe bedachte Bailin mit einem forschenden Blick, dann schnippte sie mit den Fingern. »Auf mit dir! Du kannst noch laufen.«

Der Hauptmann zog die Nase hoch und spie blutigen Schleim. Es fiel ihm sichtlich schwer, auf die Beine zu kommen, aber mit verbissenem Gesicht kämpfte er sich hoch.

»Aus welcher Gegend kommt ihr?«

»Eherne Hallen«, antwortete Glamir für sie alle.

Die Elfe hielt inne und sah sie der Reihe nach forschend an. Sie hatte ein schmales Gesicht, das nur aus geraden Linien zu bestehen schien. Es wirkte hart, wie aus Stein geschnitten. Und Galar hatte das beklemmende Gefühl, dass ihr langes Leben jedes bisschen Mitgefühl aus diesen Zügen gemeißelt hatte. »Ich hatte mir Zwerge gewünscht, die an ein raues Klima gewöhnt sind.«

»Sehen wir aus wie Weicheier?«, fragte Glamir erbost.

Der Anflug eines Lächelns spielte um die Lippen der Elfe. »Zumindest du siehst so aus, als würdest du dich weigern zu akzeptieren, dass du schon längst tot sein solltest.«

»Du solltest mal diese verdammten Spinnen sehen. Bin der Einzige, der einen Kampf mit ihnen überlebt hat.«

»Spinnen?« Eine Braue der Elfe stieg in die Höhe.

Hatte sie leise geseufzt? Galar war sich nicht ganz sicher. Ailyn war ihm so sympathisch wie ein toter Fisch. Gerne hätte er ihr von den verfluchten Smaragdspinnen erzählt, aber das wäre dumm. Die Elfen waren die Diener der Himmelsschlangen. Jedes Wort zu viel mochte sie auf die Spur des geheimnisvollen Metalls bringen, das sie unter Glamirs Turm abgebaut hatten. Sie durften auf keinen Fall von den Drachentöterpfeilen erfahren! Er warf seinem Gefährten einen eindringlichen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf.

Doch Ailyn schien nicht weiter an den Spinnen interessiert zu sein. »Folgt mir! In diesen Lumpen werdet ihr dort, wo wir hingehen, keinen Tag überleben.« Mit diesen Worten öffnete sie die Pforte und trat hinaus. Ohne sich umzublicken, ob sie ihr folgten, ging sie die schlammige Straße entlang, an der Maultierkarawane vorüber, deren Lasten noch immer von fluchenden Kobolden in eine der großen Hütten getragen wurden.

»Meinen Namen kennt ihr schon«, erklärte die Elfe, während sie ihnen voranschritt. »Ich führe den Befehl über eine Gruppe aus fünfzig Trollen, fünfzig Zwergen und etwa hundert Kobolden. Ihr habt das Pech, mir zugeteilt worden zu sein. Wir werden die erste Schlacht auf Nangog ausfechten.«

»Zusammen mit Trollen und etwa hundert Kobolden?«, fragte Galar ungläubig.

»Hundert oder hundertzwanzig … Es ist Kobolden nicht gegeben, sich in ordentlichen Reihen aufzustellen.« Ailyn gab sich keine Mühe, die Geringschätzung, die sie vor dem kleinen Volk empfand, zu verhehlen. »Schon mal Kobolden begegnet? Sie stehen nicht lange genug still, um hundert von ihnen durchzählen zu können. Und sie sind allesamt Betrüger. Sie werden ganz sicher weniger Krieger schicken und versuchen, es zu verschleiern. Ich habe um Krieger aus dem Volk der Eisbärte gebeten. Hoffentlich bekomme ich sie. Mit anderen wird nichts anzufangen sein.«

Galar tauschte einen kurzen Blick mit Glamir an seiner Seite. Der Schmied verdrehte die Augen. Auch er hatte offensichtlich schon von den Eisbärten gehört. Der Koboldstamm lebte nördlich der Zwergensiedlung Ishaven. Vor einigen Jahren hatte es einen Krieg mit ihnen gegeben, weil sie auf die Idee gekommen waren, Aale in den unterirdischen Strömen zu entern, leckzuschlagen, sodass die Besatzungen ertranken, und dann die Tauchboote auszuplündern. Sie waren hartgesottene kleine Bastarde. Selbst heute galten die Routen nach Ishaven nicht als völlig sicher. Nie waren alle Piraten gestellt worden.

Galar hörte, wie auch Bailin und Nyr miteinander tuschelten. Kein Koboldvolk hatte unter Zwergen einen so schlechten Ruf wie die Eisbärte. Es war eine Sache, bis aufs Blut miteinander Krieg zu führen, und eine ganz andere, wehrlose Zwerge in Fässern ersaufen zu lassen. Galar konnte sich nicht vorstellen, wie Zwerge und Eisbärte gemeinsam in die Schlacht ziehen sollten. Das war ja noch schlimmer, als mit Trollen ein Quartier zu teilen. Legten es die Elfen darauf an, dass dieser Feldzug in einer Katastrophe endete?

»Ich weiß, was ihr denkt«, sagte Ailyn ruhig. »Und dazu muss ich nicht einmal einen Zauber weben. Dort wo wir hingehen, werden wir entweder alle gemeinsam kämpfen oder jeder für sich allein sterben. Das sind keine leeren Worte. Überlegt also besser schon einmal, ob alte Feindschaften es wert sind, ihnen euer Leben zu opfern.«

»Pathetisches Elfengeschwätz«, murmelte Glamir. »Die kann mich mal mit ihrem schalen Gerede.«

Galar war sich ganz sicher, dass Ailyn ihn gehört hatte, auch wenn sie unbeirrt weiterging. Es lag ihm auf der Zunge, in das Gemaule einzustimmen, aber ausnahmsweise beherrschte er sich. Es wäre klüger, Ailyn ein wenig besser kennenzulernen und sich nicht sofort mit ihr anzulegen. Eisbärte und Trolle waren ein Dreck gegen einen Feind wie sie. Sie war keine gewöhnliche Elfe, da war er sich ganz sicher, obwohl Galar erst zweimal in seinem Leben Elfen gesehen hatte.

Das erste Mal während einer Waffenmesse in der Tiefen Stadt und das zweite Mal, als seine Heimat von Elfen und Drachen zerstört worden war. Bei der Erinnerung daran ballte er unwillkürlich die Fäuste. »Ich glaube, dass Elfen lügen, wenn sie nur das Maul aufreißen«, platzte es dann doch wider besseres Wissen aus ihm heraus.

Seine Worte lasteten wie Blei auf der kleinen Gruppe, denn sie waren eine Kriegserklärung an die Elfe gewesen. Keiner sprach mehr, bis sie fast den Anfang der Ansammlung von neuen Häusern am Talgrund erreicht hatten. Vor ihnen lag eine lang gestreckte Hütte, die im Gegensatz zu allen anderen aus massiven Baumstämmen gefertigt worden war. Zusätzlich war das untere Drittel mit einer Bruchsteinmauer ummantelt. Vor der Tür standen unter einem Vordach zwei Elfen auf Wache. Sie trugen silbern glänzende, knielange Kettenhemden und stützten sich auf Speere mit schwertlangen Stichblättern. Als sie Ailyn sahen, nahmen sie Haltung an. Einer von ihnen öffnete die schwere, mit breiten Messingbändern verstärkte Eichentür. Galar hatte den Eindruck, dass Ailyn an diesem Tag nicht zum ersten Mal hierherkam. Als er die Wachen passierte, warf er einen kritischen Blick auf die Kettenhemden. Sie waren aus kleinen Ringen gefertigt, jeder einzelne genietet und mit sechs anderen Ringen verbunden. Das Kettenhemd war stark und würde den meisten Stichen standhalten. Er sah genauer hin. Runzelte die Stirn. Das war kein poliertes Eisen. Wie den meisten Albenkindern war es auch den Elfen unangenehm, Eisen zu berühren. Diese Rüstungen waren aus Silberstahl gefertigt. Ebenso die beiden Helme mit den weißen Federbüschen, die die Wachen trugen. Sie waren ein Vermögen wert! Die Elfen machten ein Geheimnis daraus, wie sie diesen Stahl herstellten. Vermutlich gelang es allein durch Zauberei. Generationen von Zwergenschmieden hatten versucht, das Geheimnis des Silberstahls zu ergründen, und alle waren gescheitert.

»Glotz nicht so!« Glamir stieß ihn an und drängte ihn weiterzugehen. »Dir fallen noch die Augen aus dem Kopf.«

»Aber hast du gesehen …«

»Was? Dass diese verdammten Elfen Angeber sind? Protzerei mit Reichtum beeindruckt mich nicht im Geringsten!«, sagte Glamir, und doch entging Galar nicht, dass auch sein Gefährte im Vorübergehen die Rüstungen der beiden Wachen eingehend gemustert hatte.

Das Innere der Hütte war von Dutzenden Öllampen blendend hell erleuchtet. Es roch intensiv nach Waffenfett, und der unverwechselbare Geruch glühenden Metalls hing in der Luft. Überwältigt sah Galar sich um. Die Kettenhemden der Wachen waren ein Scheißdreck im Vergleich zu dem, was hier lagerte: Hunderte von Äxten und Schwertern hingen in Gestellen entlang der Wände. Speere in den unterschiedlichsten Längen waren mit Lederriemen zu Bündeln verschnürt. Mitten im Gang standen drei Speerschleudern, die ihrer Drachenflitsche nicht unähnlich waren. Seitlich der Geschütze hingen Trageriemen herab. Sollten Trolle die Speerschleudern ins Gefecht schleppen? Nyr war sofort bei den Geschützen und musterte sie kritisch.

»Du kennst dich damit aus?«, fragte Ailyn neugierig.

»Jeder Zwerg kennt solche Geschütze«, mischte sich Galar ein, bevor seinem Freund etwas Verräterisches herausrutschen konnte. »Wir nutzen sie zur Verteidigung unserer Städte.«

»Und du sprichst gerne für andere«, stellte Ailyn nüchtern fest. Sie sah ihn auf eine Art an, dass ihm ganz mulmig wurde. Sie ahnte etwas, da war er sich sicher. Er war es, der Mist gebaut hatte. Wahrscheinlich hätte sich Nyr auch gut alleine aus der Affäre gezogen.

»Mich interessiert nicht, wer ihr seid. Was mich angeht, ist euer früheres Leben ausgelöscht. Ihr seid von heute an meine Krieger. Ich erwarte, dass ihr meinen Befehlen gehorcht. Das ist alles.«

»Auch wenn die Befehle dumm sind?« Glamir grinste sie frech an. »Woher sollen wir wissen, was du als Anführerin taugst.«

Ihre Lippen wurden schmal. Ihr Mund sah jetzt aus wie ein Schnitt durch ihr Gesicht. »Als Krieger ist es nur eure Aufgabe, zu gehorchen, zu kämpfen und zu töten, wann immer ich es befehle. Das Denken übernehme ich.«

»Du siehst auch nicht aus, als ob du kämpfen würdest«, setzte Glamir nach. »So klein und zart. Du trägst ja nicht einmal eine Waffe. Ich glaube gern, dass du den anderen die Blutarbeit überlässt, wenn es so weit ist. Und du wirst dich schön aus der Gefahr halten, wie Elfen es immer tun.«

»Ich beginne die Spinnen zu verstehen, denen du begegnet bist.« Sie bedachte Glamir mit einem Lächeln, das Galar das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Mach nur so weiter, und du wirst dir sehr schnell wünschen, du hättest nur ein paar Spinnen verärgert.« Mit weit ausholender Geste wies sie auf die Waffen ringsherum. »Sucht euch aus, was immer ihr braucht. Deckt euch mit allem ein. Ihr werdet nur ein einziges Mal hierherkommen. Und wenn ihr fertig seid, dann geht ins Nachbarhaus. Am besten verbrennt ihr dort die Lumpen, die ihr am Leib tragt. Nehmt warme Kleidung mit. Der Ort, an den wir gehen werden, ist so kalt, dass dort selbst Trolle frieren.« Mit diesen Worten verließ Ailyn das Waffenlager.

»Da läuft sie weg«, murmelte Glamir. »Das kann ja was werden, wenn wir erst mal richtig in der Scheiße stecken. Aber sich hier bedienen zu können …« Er sah sich mit weiten Augen um. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß nicht, warum sie mich verdammten Krüppel ausgesucht haben. Ich bin genauso ein Maulheld wie diese Elfe. Ich kann nicht mal mehr eine Waffe halten. Selbst ein Koboldkind kann mich mit einem Tritt gegen meine Krücke von meinem letzten Bein holen.« Sehnsüchtig glitt sein Blick über all die Äxte. »Das ist wie einen Eunuchen ins Bordell zu schicken!«

»Ich bin mir sicher, sie hat dich wegen des Zorns, den du in deinem Herzen trägst, in ihrer Schar behalten.« Zwischen den Regalen trat ein hochgewachsener Elf hervor. Er trug eine altersdunkle Lederschürze und darunter ein Gewand, das Galar frappierend an ein ärmelloses Kleid erinnerte.

»Was bist du denn für ein Schleicher?«, giftete Glamir ihn an. »Hat man dir nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, andere zu belauschen? Was stellst du überhaupt dar? Bist du ein Mann oder noch so ein verdammtes Elfenweib.«

Auch wenn der Fremde bartlos war und fein geschnittene Züge hatte, besaß er in Galars Augen nichts Weibisches.

»Ich entschuldige mich für meinen Kameraden«, erklärte Bailin, dem Glamirs Auftreten sichtlich peinlich war.

»Nicht doch.« Der weißhaarige Elf lächelte verständnisvoll. »Ich bin lautlos aus dem Nichts aufgetaucht. Ich sollte mich entschuldigen. Es war nicht meine Absicht, mich anzuschleichen. Es ist einfach die Art der Elfen, leise zu sein. Ich hätte bedenken müssen, dass das unschicklich ist, und euch früher auf mich aufmerksam machen sollen. Dir fehlt ein Auge, zorniger Zwerg, und ich bin aus dem toten Winkel plötzlich in dein Gesichtsfeld getreten. Das ist unverzeihlich.« Damit verbeugte sich der Elf, und Galar hatte den Eindruck, dass er es wirklich ernst meinte. Innerlich seufzte er auf. Das war das Letzte, was Glamir brauchte. Mitleid wegen seiner verstümmelten Glieder trieb ihn zur Weißglut.

»Wenn du denkst, ich hätte was mit den Ohren und ich hätte dich nicht hier herumschleichen hören …«, polterte Glamir auch schon los.

»Was ich denke, Zwerg, ist, dass du eine Waffe brauchst, die für dich maßgefertigt ist. Dann wird sich deine Laune verbessern. Ailyn ist niemand, der sehr duldsam ist. Reize sie besser nicht noch mehr.«

Glamir spuckte auf den Boden. »Willst du einen Krüppel verscheißern?« Er lachte bitter. »Endlich mal ein Elf nach meinem Geschmack, der sich einen Dreck um geheuchelte Scheißhöflichkeit schert. Und nur falls mir entgangen sein sollte, dass du blind bist: Mir fehlen ein Arm, ein Bein und ein Auge. Es gibt keine Waffe auf dieser Welt, die ich sinnvoll einsetzen könnte. Diese Zeiten sind vorbei für mich.«

»Ich dachte an eine Armbrust mit einem ausklappbaren Stützbein und einem speziellen maßgeschneiderten Kolben. Dazu ein Magazin mit Bolzen, damit du nicht die Geschosse auf die Führungsschiene legen musst.«

Glamir wirkte einen Augenblick lang verdutzt, dann schüttelte er den Kopf. »Netter Versuch. Aber wie sollte ich die Armbrust spannen?« Er hob resignierend den Stumpf, der von seinem Arm übrig geblieben war. »Das hier taugt zu nichts mehr. Ich werde nie mehr etwas tun, wofür man zwei Hände braucht.«

»Ich dachte an einen Fuß am unteren Ende der Armbrust und eine seitlich angebrachte Kurbel, die es dir erlaubt, den Bogen zu spannen.«

Glamir runzelte die Stirn. »Reichlich kompliziert, aber es könnte klappen.« Dann schnitt er eine Grimasse. »Nur wird die Zeit, bis wir abrücken, nicht mehr reichen, um die Waffe zu bauen.«

»Vielleicht könntet ihr mir ja helfen. Steckt nicht in jedem Zwerg ein Schmied?«

»Vor dir stehen sogar zwei Schmiede«, entgegnete Glamir und nickte in Galars Richtung. »Wenn wir deine Werkstatt benutzen dürften …«

Der Elf wies mit einladender Geste in den hinteren Teil der Hütte. »Willkommen in meinem Reich. Übrigens heiße ich Gobhayn.«

»Gobhayn?« Bailin hatte sich von den Regalen mit den Waffen abgewandt und sah den Schmied ungläubig an. »Der Gobhayn?«

»Du hast dein Handwerk bei den Himmelsschlangen gelernt, heißt es«, sagte nun Galar und sah den Elfen mit gemischten Gefühlen an. Der Schmied war eine lebende Legende. Aber er hatte sich auch ganz und gar den Götterdrachen verschworen, die die Tiefe Stadt zerstört hatten. »Du hast mit ihnen zusammen die verwunschenen Klingen der Drachenelfen erschaffen.«

»Nur einige der Schwerter, nicht alle.«

»Und du willst für mich eine Armbrust fertigen?« Glamir drängte sich dicht vor den Elfen. »Das würdest du wirklich tun?«

»Ich habe es dir versprochen, und ich stehe zu meinem Wort.«

Glamir streckte seine verbliebene Hand vor. »Schlag ein!«

Gobhayn ergriff die Hand und drückte sie. »Machen wir uns ans Werk.«

Galar gefiel das nicht. Es war nicht gut, jemandem, der ein Vertrauter der Himmelsschlangen war, so nahe zu kommen! Eigentlich hätten sie sich auch vorstellen müssen, nachdem Gobhayn seinen Namen genannt hatte. Die Höflichkeit hätte es geboten. Dass sie es nicht getan hatten, würde dem Elfenschmied zu denken geben, auch wenn er mit keinem Wort auf das Versäumnis eingegangen war.

»Ist der Bogen dieser Speerschleuder aus Silberstahl?«, fragte Nyr, der die ganze Zeit über bei den Geschützen stehen geblieben war.

Der Elf bejahte es.

»Dann muss die Speerschleuder ein Vermögen wert sein.«

»Sie ist einfach nur eine schön gefertigte Waffe, genauso wie die Rüstungen, Schwerter und Äxte, die dort weiter vorne nah dem Schmiedefeuer hängen. Ich hatte überlegt, die Holzteile mit Intarsien oder zumindest mit Schnitzwerk zu versehen. Auch wenn es ein Instrument zum Töten ist, darf es doch eine gewisse Schönheit besitzen. Meist wird es nur betrachtet und nicht benutzt werden.« Er seufzte. »Aber die Himmelsschlangen wollen zu viele Waffen. Die Schönheit ist das erste Opfer des Krieges, der aufzieht.«

Die vier Zwerge folgten dem Elfenschmied in den hinteren Teil des Langhauses. Dort befanden sich eine große Feuerstelle, in der nur noch dunkle Glut glomm, verschiedene Ambosse, Wasserbecken, Blasebälge und Dutzende Zangen und Hämmer. Nichts fehlte in der Werkstatt des Elfen. Alles war von bester Qualität. Mit Befremden sah Galar, dass Gobhayn sogar seine Werkzeuge geschmückt hatte. Die Hämmer waren an den Seitenflächen ziseliert oder zeigten eine seltsame Form. Die hölzernen Griffe der Zangen waren mit Ranken und Blüten aus Perlmutt verziert.

»Wir können uns wirklich nehmen, was wir wollen?« Bailin hatte einen prächtigen Helm von einem Haken an der Wand gehoben. Der Helmkamm war wie ein gestreckter Schwanenleib gefertigt, dessen Kopf den Nasenschutz bildete und dessen Flügel die Wangenklappen des Helms bildeten.

»Ihr habt die freie Wahl«, erklärte Gobhayn leichthin.

»Wenn du den trägst, hält dich jeder für einen Anführer«, gab Galar zu bedenken. »Dann werden sich die Menschenkinder besondere Mühe geben, dich umzubringen.«

»Nicht vor den Menschenkindern müsst ihr euch hüten. Seid lieber vorsichtiger im Umgang mit Ailyn. Sie ist wie die Glut in der Esse.« Mit diesen Worten drückte Gobhayn den Hebel des Blasebalgs neben dem Feuer nieder. Zischend fuhr die Luft in die Holzkohle, und binnen eines Augenblicks tanzten über der Glut wieder helle Flammen. »Sie wirkt sehr ruhig, doch das täuscht. Eine Kleinigkeit mag genügen, und ihr Temperament geht mit ihr durch. Ich weiß, dass sie einige Schüler der Weißen Halle während der Fechtstunden halb totgeprügelt hat.«

»Wir sind keine verschüchterten Schüler«, erklärte Glamir grinsend. »Sie mag anderthalb Köpfe größer sein als ich, aber selbst als ein Krüppel mit fehlenden Gliedern bringe ich mehr Kampfgewicht auf die Waage. Dieses zierliche Elfchen wird mich nicht umhauen.«

»Hattest du dir nicht eben noch Sorgen gemacht, dass selbst ein Koboldkind dich zu Boden bringen könnte?«, fragte Gobhayn. Dann wurde er ernst. »Unterschätzt sie nicht. Ich erzähl euch jetzt eine Geschichte über sie, und ich hoffe, ihr überdenkt dann noch einmal euren Umgang mit ihr. Vor ein paar Jahren hat eine junge Elfe den einzigen Sohn des Trollkönigs Bromgar ermordet. Daraufhin hat Bromgar all seine Krieger und Jäger aufgeboten, um die Mörderin zu Tode zu hetzen. Auch die Himmelsschlangen wurden auf die Ereignisse aufmerksam, und sie entschieden, dass aus der Mörderin eine Drachenelfe werden solle. Sie schickten den Meister Gonvalon und die Meisterin Ailyn, um die junge Elfe zu retten. Dabei wurde Ailyns Pegasus getötet, und sie blieb allein inmitten einer Schar von Trollen zurück. Wie ihr sehen konntet, hat sie das nicht umgebracht. Die Trolle behandeln sie seither mit größtem Respekt. Es heißt, sie habe mit bloßen Händen mehr als ein Dutzend ihrer Krieger getötet.«

Einen Moment war nur das leise Knistern der Holzkohle in der Esse zu hören. »Werden solche Geschichten nicht immer größer mit den Jahren?«, fragte Glamir, und er klang dabei ganz und gar nicht mehr überheblich.

»Ihr habt Ailyn gesehen. Die Himmelsschlangen haben sie zu einer Meisterin des Todes gemacht. Habt sie an eurer Seite, und ihr seid fast unbesiegbar. Macht sie euch zur Feindin, und ihr habt euch euer Grab ausgehoben.«

Aus dem Tagebuch des Hartapu

6. Tag nach dem Abflug von Wanu

Wir wagen es kaum noch, das Heiligtum unter dem Schiffsbaum zu verlassen. Gestern Nacht erschien einer der Sturmgeister, der sich des Körpers des unglückseligen Sangan bemächtigt hat, um uns allen mit einem schrecklichen Tod zu drohen. Nicht einmal die klugen und mutigen Worte Barnabas vermochten uns danach wieder aufzurichten. Unser bevorstehender Untergang ist zu offensichtlich.

8. Tag nach dem Abflug von Wanu

Heute kurz an Deck gewesen. Die Tage währen nur noch drei Stunden. Der Rest ist Dunkelheit. Wir fliegen in die ewige Nacht. Habe lange an der Reling gestanden und überlegt zu springen. Manchmal ist ein schnelles Ende besser. Auch der Wolkensammler stirbt. Überall auf dem Deck lagen Stücke erfrorener Tentakel, die der Sturmwind abgerissen hat.

9. Tag nach dem Abflug von Wanu

Der Sturm hat nachgelassen. Die ganze Welt ist Licht! Ich habe so etwas noch nie gesehen. Die Sonne steht tief über dem Horizont. Das endlose Weiß der Eisebene erstrahlt so hell, dass ich kaum ein paar Herzschläge hinsehen konnte. Das Licht kommt überallhin. Selbst ins Heiligtum hat es durch verborgene Ritzen gefunden. Es ist immer noch tödlich kalt. Unser eigener Atem zaubert uns Eisbärte, wenn wir an Deck sind. Ich glaube, das Licht ist auch bis in unsere Herzen gedrungen. Barnaba hat eine ergreifende Rede an Deck gehalten. Das Schlimmste ist überstanden. Wir können es schaffen!

10. Tag nach dem Abflug von Wanu

Etwas mehr als drei Stunden währt der Tag. Dann kommt die Dunkelheit. Trotz der Kälte war ich die ganze Zeit an Deck. Kolja hat uns Lederbinden für die Augen gemacht, in denen nur schmale Sehschlitze sind. So blendet das gleißende Licht weniger. Wie kann die Welt so schön und zugleich so tödlich sein? Im Licht zu stehen gibt uns allen neue Hoffnung. Die Abenddämmerung ist ein blutiges Spektakel. Die meisten scheuen davor zurück und flüchten sich ins Heiligtum. Ich war bis zuletzt draußen. Ich ertrage dieses stickige Gefängnis nicht mehr. Habe überlegt, an Deck zu bleiben und auf die Sturmgeister zu warten. Heute quält uns kein scharfer Wind. Vielleicht können sie ohne den Wind ja nicht kommen?

11. Tag nach dem Abflug von Wanu

Bin gestern an Deck geblieben. Es blieb windstill. Habe beobachtet, wie der tote Sangan den mittleren Mast steuerbord herabgekrochen kam. Er bewegt sich nicht mehr wie ein Mensch. Seltsam ruckartig. Bin ins Heiligtum geflohen, bevor er das Deck erreichte. Heute hat uns Nangog wieder drei Stunden Sonnenschein vor wolkenlosem Himmel geschenkt. Habe im Abendlicht etwas Seltsames gesehen. Am Horizont stand ein roter Turm. So erschien es mir zumindest, auch wenn mein Verstand sich weigert zu glauben, dass es Geschöpfe gibt, die hier im ewigen Eis überleben könnten. Wagte es nicht länger, an Deck zu bleiben. Hatte Angst, dass Sangan mir den Rückweg zum Heiligtum abschneiden könnte. Bin gemeinsam mit Kolja zum Heiligtum hinabgestiegen. Unser Schiff hält Kurs auf den Turm.

Zitiert nach: Hartapus Tagebuch

Verfasser: Hartapu, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, Saal für obskure Schriften, Regal CCCXXII, Brett XII, Truhe III.

Anmerkung: Das Schriftstück wurde in den eisverkrusteten, hölzernen Überresten eines Bauwerks unklarer Funktion gefunden (ein Wolkenschiff?). Das Dokument endet mit der Eintragung über die Entdeckung des Roten Turms.

Der Rote Turm

Dieser verdammte Schreiberling machte sie alle ganz verrückt mit seinem Geschwätz über den Roten Turm. Die ganze Mannschaft fand keine Ruhe.

Kolja hatte seine Decke zusammengerollt und benutzte sie als Kopfkissen. Die Kälte war für ihn weniger schlimm als für die anderen. Aus Drusna war er eisige Winter gewöhnt. Nur tief in seinen Knochen spürte er einen unstet flackernden Schmerz. Er peinigte eher seine Seele als seinen Körper. Der Schmerz erinnerte ihn daran, dass die Tage seiner Jugend vorüber waren. Bald schon würde er den Preis für all die Feldzüge, die Nächte im Freien, die Wunden und Entbehrungen der letzten Jahre zahlen müssen. Die Gicht begann sich in seinen Knochen einzunisten.

Morgens, wenn er erwachte, waren seine Glieder steif und wehrten sich dagegen, gekrümmt zu werden. Als Erstes ballte er immer seine Faust. Manchmal knackten seine Gelenke dann laut. Kolja lauschte auf das Getuschel der Wolkenschiffer über den Roten Turm und lächelte grimmig. Wenn er Glück hatte, wurde er nicht mehr alt genug, um ein grantiger, von der Gicht gekrümmter Krüppel zu sein. Diese Reise stand unter keinem guten Stern. Keiner von ihnen würde zurückkehren.

Den anderen gegenüber würde er das nicht sagen. Er würde bis zuletzt die Fahne hochhalten, aber es war unübersehbar, dass ihr Wolkensammler starb. Und wie sollten sie ohne ihn Hunderte Meilen Eiswüste durchqueren?

Barnabas Traum würde für sie alle mit einem tödlichen Erwachen enden. Der Drusnier schloss die Augen und dachte an seine Erfolge als Faustkämpfer, an den Jubel in den Arenen, als er noch ein hübscher, blonder Jüngling gewesen war, dem die Herzen der Frauen zugeflogen waren. Die Seidene begleitete ihn in seine Träume. Hätte sie ihn so gekannt, dann hätte sie sich vielleicht in ihn verliebt. Er lachte leise, schon halb im Schlaf. Das war töricht, Kurtisanen verliebten sich nicht. Liebe war für sie nur ein Geschäft. Bestimmt hatte sie sich schon an Tarkon Eisenzunge herangemacht. Nie zuvor war Kolja einer Frau begegnet, die sich so gut darauf verstanden hatte, die Herzen der Mächtigen zu gewinnen. Was gäbe er dafür, noch einmal in ihren Armen zu liegen? Vielleicht liebte sie ihn ja in seinen Träumen?

Ein plötzlicher Ruck riss Kolja aus dem Halbschlaf. Barnaba eilte an seine Seite. Müde blinzelnd registrierte der Drusnier, dass alle in der stickigen Kammer ihn und den Priester anstarrten.

»Wie es scheint, haben wir angelegt«, erklärte der Priester. Dann senkte er die Stimme. »Am Roten Turm.«

Der Drusnier blickte zu den Feuerschalen am einzigen Zugang zum Heiligtum. Die Flammen reichten fast einen Schritt hoch und ließen sie in der Kammer fast ersticken.

»Wir können nichts tun«, erklärte Kolja schläfrig. »Jetzt hinauszugehen wäre Selbstmord. Wir müssen warten, bis es hell wird. Sorgt dafür, dass die Feuer nicht verlöschen.« Mit diesen Worten drehte er sich um. Barnaba sagte nichts mehr zum Roten Turm. Auch er schien nichts über dieses rätselhafte Bauwerk, das nur Hartapu gesehen hatte, zu wissen. Wie konnte das sein? Er war doch ein Vertrauter der Schlafenden Göttin.

Als Kolja mit Hartapu an Deck gewesen war, hatte er den Turm nicht ausmachen können. Allerdings musste das nichts heißen. Der junge Luwier hatte gewiss bessere Augen. So aufgeregt, wie er gewesen war, hatte er ganz gewiss etwas gesehen. Doch dieses Geheimnis würde sich erst erschließen, wenn die Sonne wieder ihr Haupt erhob. Vorher hinauszugehen war reiner Selbstmord.

Kolja schob die Gedanken an den nächsten Tag zur Seite. Sich jetzt zu sorgen war müßig. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als zu warten. Er dachte an die Seidene, an ihre zarte Haut, ihr langes, schwarzes Haar, das sie wie ein durchscheinendes Gewand aus gesponnener Nacht umgeben hatte. Könnte er sie nur in seinen Träumen treffen …

»Kolja!« Jemand rüttelte unsanft an seiner Schulter. »Kolja!«

Ärgerlich ballte der Drusnier seine Faust. Die Fingerglieder schmerzten. Er hatte auch Kopfschmerzen. Die Luft im Heiligtum war von öligem Rauch gesättigt. Widerwillig schlug er die Augen auf. Barnaba beugte sich über ihn. »Der Morgen kommt. Wir müssen hinausgehen, und ich will dich an meiner Seite haben.«

Bei diesen Worten verflogen endgültig die letzten Erinnerungen an Zarah. Kolja setzte sich auf. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihm jemand einen Dolch durchs Auge gestoßen, um mit der Spitze an der Innenseite seines Schädels zu kratzen. Ein pelziger Geschmack lag ihm auf der Zunge. Er tastete nach dem Weinschlauch neben seinem Lager, zog mit den Zähnen den Korken und trank einen kleinen Schluck, den er durch den Mund kreisen ließ, um den widerwärtigen Geschmack des Morgens zu vertreiben. Wie es wohl war, einen solchen Mund leidenschaftlich zu küssen, dachte er, und ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. Zarah hatte sich niemals etwas anmerken lassen. Sie war wirklich gut gewesen. Wer ihre Gunst genoss, dem fiel es leicht zu glauben, er sei der Einzige, den sie wirklich liebte. Er hatte nie eine andere Hure getroffen, die ihm das so vollkommen vorgespielt hatte. Dann erinnerte sich Kolja daran, wie oft sie gestritten hatten. Er spuckte den Wein aus. Letzten Endes war immer klar gewesen, wie es zwischen ihnen stand. Leider.

Er streckte sich und sah den Priester an. Wie allen Männern an Bord war ihm ein dichter Bart gewachsen. Barnabas Augen waren rot entzündet. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Das war schlecht. Unausgeschlafene Männer neigten dazu, unkluge Entscheidungen zu treffen.

»Also gut, gehen wir.« Mit einem Seufzer kam der Drusnier auf die Beine und federte in den Knien. Seine Gelenke knackten hörbar. Mit einer Drehung ließ er die Klinge aus seiner Prothese schnellen. Barnaba wich erschrocken zurück.

»Keine Sorge. Wollte nur sehen, ob sie noch gut gefettet ist. Wäre ziemlich dumm, wenn ich sie brauche und sie im Leder festklemmt.« Mit diesen Worten hob er seinen Waffengurt auf und schnallte ihn um, was mit nur noch einer Hand von einer alltäglichen zu einer lästigen Angelegenheit geworden war.

»Wer kommt mit nach draußen?«, fragte er grinsend in die Runde. Alle Wolkenschiffer wichen seinem Blick aus. Verdammte Bande von Feiglingen! Nur Nabor, der alte Lotse mit seinem Äffchen auf der Schulter, stand bereits bei den Feuerschalen neben der Tür. Der und der Priester waren die Einzigen mit Mumm in den Knochen!

Kolja warf sich seinen schweren Umhang aus Bärenfell um die Schultern und hakte die schwere, goldene Schließe unter dem Kinn ein. Hoffentlich war die Kälte der einzige Feind, der sie draußen erwartete. Dann sprang er über die beiden Feuerschalen und atmete tief durch. Wenn da draußen ein Turm war, dann gab es auch eine Turmbesatzung. Er legte die Hand auf den Sperrriegel an der massiven Tür, die das Heiligtum schützte, zog ihn mit einem Ruck zurück und riss die Tür auf.

Rotes Morgenlicht blendete ihn. Ein frischer Wind blies ihm ins Gesicht. Kolja trat hinaus auf das Deck. Hinter sich hörte er Barnaba und Nabor. Das Wolkenschiff war an einem turmgroßen Pfeiler vor Anker gegangen. Die letzten nicht erfrorenen Tentakel von Wind vor regenschwerem Horizont hatten sich um den Monolithen geschlungen und hielten das Schiff vertäut. Sie sollten es schnell mit weiteren Seilen sichern.

Überall auf dem mit Eis verkrusteten Deck lagen verkrümmte, gefrorene Tentakelstücke. Manche so dünn wie ein Finger, andere mächtiger als sein Oberschenkel. Der Frost hatte sie fest mit dem Deck verwachsen lassen. Wenn die Tentakel erfroren, wurden sie brüchig wie sprödes Glas. Dem durften sie nicht die Sicherheit des Schiffes anvertrauen! Er wandte sich zu Nabor. »Wir brauchen die Mannschaft an Deck. Sorg dafür, dass wir ordentlich vertäut werden. Der nächste Sturmwind kann uns wieder losreißen, und ich glaube nicht, dass Wind vor regenschwerem Horizont die Kraft hat, noch einmal hierher zurückzukehren.«

»Die hat er ganz sicher nicht«, sagte der Lotse betrübt. »Er stirbt. Ich konnte gestern Nacht spüren, wie glücklich er war, dass er es bis hierher geschafft hat. Wir werden keine Rückreise mehr erleben. Wir werden …«

»Schweig!«, unterbrach ihn Barnaba. »Sag das nie wieder! Die Große Göttin hält ihre schützende Hand über uns. Wir finden einen Weg zurück. Ich weiß es! Nimm der Mannschaft nicht den Glauben daran.«

Nabor nickte, aber Kolja bemerkte, wie der kleine Affe auf Nabors Schulter Barnaba durchdringend ansah, fast als wäre er dem Prediger böse, weil er sich gegen seinen Herrn im Ton vergriffen hatte. Gabott war Kolja unheimlich. Er war sich ganz sicher gewesen, dass der kleine Affe während der Gewitternacht in der Lotsenkanzel gestorben war. Er hatte ihn erzittern sehen, als die Schattenhand ihn berührt hatte. Hatte gesehen, wie er unter dem Schatten leblos in sich zusammengesunken war. Oder konnten Affen etwa ohnmächtig werden? Seither hatte das kleine Biest etwas Heimtückisches an sich: Er blickte verschlagen, bewegte sich ungelenk, und was das Auffälligste war, die Kälte schien ihm nichts mehr auszumachen.

Der Prediger deutete auf den Pfeiler, an dem ihr Wolkenschiff vertäut lag. »Lasst uns zum Roten Turm gehen. Das Abendrot auf dem spiegelnden Eis muss ihm gestern seine Farbe gegeben haben.« Mit diesen Worten überquerte er das Deck und ging zur Reling.

Kolja betrachtete den Turm, der jetzt blassrosa aussah. Die Farbe des Morgenlichts. Ganz offensichtlich hatte Barnaba recht. Er kniff die Augen zusammen – da war noch etwas, ein Stich ins Grünliche … Ein Schrei riss den Drusnier aus seiner Betrachtung. Barnaba gestikulierte wild mit den Armen und deutete in die Tiefe.

»Wir haben es! Das ist es! Wir sind endlich da!«

Gemeinsam mit Nabor eilte Kolja an die Seite des Predigers. Unter ihnen lag keine verschneite Ebene mehr. Vielmehr gähnte dort ein bodenloser Abgrund, der sich im Dunkel verlor. Er war bei Weitem nicht so riesig wie der Weltenschlund bei der Goldenen Stadt und maß etwa drei Meilen im Durchmesser. Vielleicht auch weniger. In dieser Landschaft ohne Bäume oder andere klare Geländemerkmale, überstrahlt von immer heller werdendem Licht, war es schwer, Entfernungen zu schätzen.

Die Felsnadel, an der sie vor Anker gegangen waren, erhob sich direkt am Rand des Kraters. Ihr großes Schiff ragte ein Stück über den Abgrund hinaus, sodass sie einen guten Blick auf dieses riesige Loch am Ende der Welt hatten. Die Innenwände des Kraters bestanden aus grauem Fels, der von Schnee und Eis überkrustet war. Das Gestein war zerfurcht. Es gab Hunderte von kleinen Höhlen und Nischen.

Kolja fragte sich, ob es eine Laune der Natur war oder ob andere Mächte diese Höhlungen erschaffen hatten. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er ein Muster in der Anordnung der Höhlen zu erkennen oder eine Bewegung in den dunklen Öffnungen. Aber da war nichts, das sein Misstrauen untermauert hätte.

»Wir müssen in diese Höhlen«, erklärte Barnaba vollmundig. »Dort werden wir das Traumeis finden.«

Kolja zog sich der Magen zusammen. Er hatte kein gutes Gefühl dabei.

»Wie sollen wir dort hinunter?«, fragte Nabor. »Kein Mensch kommt diese Steilwände hinab.«

»Wir bringen eine Seilwinde an den seitlichen Masten an. Ich lasse mich dann abseilen«, sagte Kolja.

Der Lotse schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee. Wir sind nur an einem einzigen Ankerpunkt vertäut. Das Schiff wird herumschwingen, wenn Wind aufkommt, und wer immer am Seil hängt, wird an der Felswand zerschmettert werden.«

»Dann finde einen zweiten Ankerpunkt! Ich habe dir schon gesagt, du sollst die Mannschaft holen und das Schiff vertäuen!«, zischte Kolja. Er wollte diese verfluchte Suche so schnell wie möglich zu einem Ende bringen. Allein die Götter wussten, wie viele Tage sich Wind vor regenschwerem Horizont noch in der Luft halten konnte. Sie mussten nach dieser verfluchten Traumeissuche so weit wie möglich nach Süden kommen, bevor er starb. Dann würden sie mit ein wenig Glück vielleicht Wanu erreichen können. »Beeil dich, Lotse. Wir haben weniger als drei Stunden Zeit, bis es wieder finster ist. Ich werde mich als Erster abseilen.«

Der Beifall der Arena

Sich als Einarmiger darauf einzulassen, an einem Seil über einem bodenlosen Abgrund zu hängen, war keine gute Idee gewesen. Kolja spürte, wie ihm trotz der eisigen Kälte der Schweiß den Rücken hinabrann. Das verdammte Seil pendelte so stark hin und her, dass er bei jedem Ausschlag mit den Füßen an die Wand stieß.

Von oben wurde Seil nachgelassen. Er klammerte sich an der Schlinge fest, die er in das Tau geknüpft hatte. Der Hanf, aus dem das Seil gedreht war, war ganz spröde vom Frost.

Kolja versuchte, nicht nach unten zu blicken. Wieder ging es mit einem Ruck ein Stück tiefer. Irgendwo über ihm hallten die dumpfen Schläge schwerer Hämmer. Nabor war mit einem Dutzend Wolkenschiffer draußen auf der Ebene. Sie schlugen Holzpflöcke ins Eis, um den Wolkensammler und das Schiff mit weiteren, drahtverstärkten Seilen zu sichern. Es war eher eine Geste der Verzweiflung als eine Hilfe. Ebenso gut hätte man versuchen können, ein Wildpferd mit einem Wollfaden anzuleinen. Wenn eine heftige Bö den Wolkensammler packte, würde er an dem riesigen Eispfeiler herumschwingen. Die dünnen Seile hätten dem Gewicht der Kreatur so gut wie nichts entgegenzusetzen.

Er sollte weniger nachdenken, schalt sich Kolja. Vor allem nicht über Dinge, an denen er ohnehin nichts ändern konnte. Nun blickte er doch nach unten; an der Wand unter ihm, nur ein kleines Stück unter seinen klobigen, mit Schaffell gefütterten Stiefeln, gab es eine Öffnung im Fels. Dort würde er mit seiner Suche beginnen! Er stieß sich von der Steilwand ab und federte hinaus ins Leere. Wieder wurde oben ein Stück Seil nachgelassen. Als er zurück zum Felsen schwang, war er auf Höhe der Höhle. Er streckte die Beine, verfehlte aber um einige Zoll den Boden des Höhleneingangs. Verzweifelt holte er mit seinem verstümmelten Arm aus. Er hatte sich eine Dornaxt an die Lederprothese gebunden, doch die Axtspitze kratzte nur über den Felsen und fand keinen Halt.

Schon zog ihn das pendelnde Seil wieder aus der Höhle heraus. »Noch fünf Zoll!«, schrie er nach oben. Es gab einen leichten Ruck, und als er wieder zurückschwang, landete er auf den Füßen. Kolja ließ die Schlaufe im Seil los und starrte in die Finsternis, die vor ihm lag.

Wieder pendelte das Seil fort. Der Eingang der Höhle wurde vom hellen Tageslicht, das in den Krater fiel, ausgeleuchtet. Kolja betrachtete die Höhlenwand. Keine Meißelspuren. Sie schien natürlichen Ursprungs zu sein.

Als das Seil zurückschwang, fing er es ein, zog es ganz zu sich herauf und löste die Blendlaterne aus Messing, die am unteren Ende festgeknotet war. Die kleine Flamme darin war zum Glück nicht verloschen.

Ein lang gezogenes Seufzen ließ ihn aufhorchen. Es kam von oben. Kolja trat dicht an den Abgrund und spähte zum Rumpf des Schiffes hinauf. Ein zweiter Mann wurde an einem Seil heruntergelassen. Barnaba!

Der Drusnier fluchte. Der verdammte Prediger hätte oben bleiben sollen. Niemand wusste, was sie hier erwartete. Barnaba durfte sein Leben nicht riskieren! Er war zu wertvoll. Sein Glaube musste sie nach Hause bringen.

Der Prediger winkte ihm zu, während er rasch näher kam.

Wieder erklang das seltsame Seufzen. Lauter noch als vorhin. Jemand auf dem Schiff schrie auf, doch Kolja konnte die Worte nicht verstehen. Im nächsten Augenblick sackte das Schiff tiefer und schlug mit seinem vorderen Teil unter ohrenbetäubendem Getöse auf den Rand des Kraters. Masten brachen. Das Holz des Rumpfes zersplitterte. Ein Schauer von Holztrümmern, Tauen und erfrorenen Tentakeln stürzte in den Abgrund.

Barnaba wurde von einem Balken am Rücken getroffen und schrie auf. Mit letzter Kraft klammerte sich der Prediger an sein Seil, das nun wie der Schlägel einer Glocke hin und her schlug.

Ohne zu zögern, griff Kolja nach seinem Seil, packte mit der gesunden Hand die Schlaufe und stieß sich vom Höhlenboden ab. Ein gefrorener Tentakel schlug ihm ins Gesicht. Stumm betete er zum Großen Bären, dass er diese Dummheit überleben möge. Knapp verfehlte ihn ein Fass, ein steif gefrorenes Tau peitschte über seinen Hinterkopf. Der Große Bär schien gerade anderweitig beschäftigt zu sein.

»Bring dich in Sicherheit«, keuchte Barnaba.

Er hing inzwischen tiefer als Kolja. Wie um seine Worte zu verhöhnen, traf ihn ein gesplittertes Brett an der Schulter.

Der Drusnier ignorierte ihn. Ohne den Priester auch nur einen Herzschlag aus den Augen zu lassen, pendelte er zurück und schaffte es, sich mit einem Fuß kräftig von der Felswand abzustoßen.

Die Schiffswand war steuerbord aufgebrochen, und nun ergoss sich ein Strom von Säcken, zersplitterten Amphoren, Trockenfisch und Bohnen in die Tiefe. Ihre Vorräte! Selbst wenn sie diesen Schiffbruch am Kraterrand überleben sollten, waren sie erledigt. Ein Hagelsturm von Erbsen prasselte auf Kolja nieder, als er mit der Dornaxt das Seil des Predigers einfing. Doch nun wurde der Schwung des Seils durch das zusätzliche Gewicht gebremst! Sie würden nur einen Versuch haben, um in die Höhle zu kommen; danach würden sie hilflos über dem Abgrund hängen.

»Schneid mich los«, befahl der Prediger. »Die Große Göttin wird mich retten.«

Barnaba hatte wohl einen ordentlichen Schlag auf den Kopf bekommen. Kolja ignorierte ihn und konzentrierte sich ganz auf den Höhleneingang, dem sie langsam entgegenschwangen. Es würde knapp werden! Über ihnen erklang aufs Neue das Bersten von Holz. Kolja warf einen hastigen Blick nach oben. Das Geräusch stammte von den Masten, die seitlich aus dem Rumpf des Wolkenschiffs ragten. Sie waren gegen die Steilwand gedrückt worden, und nun ruhte fast das gesamte Gewicht des Schiffes und des sterbenden Wolkensammlers auf ihnen. Schon gaben sie einer nach dem anderen nach. Rahen brachen und stürzten mit der Takelage in die Tiefe. Der Mast schoss keine zehn Schritt an Kolja vorbei, als er mit ausgestreckten Füßen versuchte, Halt am Eingang zur Höhle zu finden. Kaum ein Fußweit fehlte noch, als die Pendelbewegung des Seils den größten Ausschlag erreicht hatte und er zurück in den Krater schwang.

Der Drusnier schrie vor Wut und Verzweiflung auf. Segelfetzen trieben wie große Vögel durch den Krater. Aus dem Schwarz unter ihnen stieg warmer Wind auf. Plötzlich bewegte sich etwas Großes mit dem Kopf nach unten an der Steilwand – wie ein riesiges Eichhörnchen, das einen Stamm hinablief, nur dass dieser Kreatur der buschige, rotbraune Schwanz fehlte. Kolja drehte den Kopf in den Nacken, um es besser zu sehen, als ihn dicht über der Hüfte ein Schlag in die Nieren traf. Eine Rah, die ein Gespinst halb zerrissenen Takelwerks noch mit dem sterbenden Schiff verband, hatte ihn getroffen. Er wurde der Höhle entgegengeschleudert. Und landete darin!

Halb ohnmächtig stemmte er die Füße auf den Boden, hieb die Dornaxt mit letzter Kraft in die vereiste Wand. Das Seil zerrte an seinem gesunden Arm, aber er wurde nicht zu Boden gerissen. Immer noch hielt er das Tau, an dem Barnaba hing, mit der Faust umklammert.

Gleißende Lichter tanzten ihm vor den Augen. Verzweifelt zerrte er an dem Seil, zog es Zoll um Zoll unendlich langsam höher, bis das blutüberströmte Gesicht des Predigers im Höhleneingang erschien.

Barnaba lächelte, und das Blut aus seiner Wunde an der Stirn sammelte sich in den Falten um die Mundwinkel. »Ich habe dir doch gesagt, dass die Göttin ihre schützende Hand über mich hält.«

Kolja krümmte sich vor Schmerzen. Nie in seinem ganzen Leben hatte er einen solchen Schlag in die Nieren bekommen. Er vermochte kaum zu atmen. Sich aufzurichten war unmöglich. Er kroch ein Stück in die Höhle hinein und lehnte sich gegen den Fels. Immer noch tanzten ihm Sterne vor den Augen. Seine Lider wurden ihm schwer. Der eiserne Geschmack von Blut füllte seinen Mund. Hatte er sich die Lippen durchgebissen? Kolja wusste, dass man an einem Nierenschlag sterben konnte. Er hatte es zweimal gesehen während der Jahre, die er in den Arenen Luwiens gekämpft hatte.

Er hustete, und Blut sprühte vor ihm auf den mit Raureif überzogenen Boden. Kolja riss die Augen auf, er durfte sie jetzt nicht schließen, musste weiter durchhalten, sich dem Tod verweigern. Und dieser Narr Barnaba glaubte, die Große Göttin habe ihre schützende Hand über ihn gehalten. Einen verdammten Dreck hatte sie getan!

Benommen sah Kolja zu, wie der Priester die Blendlaterne aufhob, ins Innere der Höhle leuchtete und dann entschlossen über ihn hinwegstieg. Der Drusnier kämpfte seinen Hustenreiz nieder. Dumpfer, lähmender Schmerz hatte sich in seinem unteren Rücken eingenistet. Er versuchte sich hochzustemmen, schaffte es aber nicht. Als ihn erneut ein Hustenanfall schüttelte, fühlte es sich an, als würde ihm ein Pferd in den Rücken treten.

»Das ist es!«, rief der Prediger verzückt aus. »Wir sind am Ziel! Sieh nur, Kolja, wir haben es gefunden. Das Traumeis! Wie schön es ist. So zart, so zerbrechlich.«

Kolja wandte den Kopf. Und sah überrascht, dass die Höhle nicht sonderlich tief ins Felsgestein führte. Vielleicht fünf oder sechs Schritt. An ihrem Ende, dort wo Barnaba hinleuchtete, funkelte es grünlich auf dem glatten Granit. Kolja kniff die Augen zusammen. Noch immer behinderten grelle Lichtpunkte seine Sicht. Etwas ragte senkrecht aus der Wand. Ein schillernder Kristall, etwa doppelt so lang wie sein kleiner Finger, aber nicht einmal ein Viertel so dick. Eine Kristallnadel, durch die ein unheimliches Leuchten geisterte, als wäre ein Licht in ihrem Inneren gefangen.

Kolja blinzelte erneut. Langsam sah er wieder klarer. Es gab noch mehr Kristalle. Die meisten sahen aus wie kleine Nester aus zarten Nadeln. Das musste Barnaba gemeint haben! Das Traumeis wirkte zerbrechlich wie Blütenstängel. Und auch in ihnen war dieses unheimliche Licht gefangen.

Unwillkürlich dachte Kolja an die Kristallhöhle, vor der er seinen Arm verloren hatte. Auch wenn jene Kristalle ebenfalls grün gewesen waren, sahen diese Gebilde hier ganz anders aus. Sie hatten etwas an sich … Man betrachtete sie und ließ die Gedanken schweifen. Fand zurück zu seinen besten Erinnerungen. Jene Tage in der Arena, als sein Gesicht noch nicht von den eisenbeschlagenen Lederbändern entstellt gewesen war, die sie sich für den Faustkampf um die Hände gewickelt hatten. Als Tausende begeistert seinen Namen gerufen hatten und ihm auf den rauschenden Festen nach seinen Siegen die Blicke der schönsten Frauen gefolgt waren. Er lächelte melancholisch. Das war so lange vorbei. Nun war er ein vernarbtes Ungeheuer, ohne Augenbrauen, mit zu kleinen Knorpeln geschrumpften Ohren, dem obendrein noch ein Arm fehlte. Aber er würde nicht in diesem Eisloch verrecken, das schwor er sich!

Kolja musste erneut husten und spuckte Blut. Das war nichts, redete er sich wider besseres Wissen ein und sah wieder zu den Kristallen. Sie waren schön … Aber waren sie all die Opfer wert gewesen? Wie sollten sie die Welt verändern? Schwerter vermochten das und der Wille, über Leichen zu gehen, um zur Macht zu gelangen. Schöne Dinge, Kunst, das war etwas für Träumer.

Mit einem Mal wurde es deutlich kälter in der Höhle. Der Raureif auf dem Boden und den Wänden knisterte leise. Ein Geräusch ließ Kolja herumfahren: Sangan stand im Eingang zur Höhle und sah ihn mit seinen beängstigenden Winteraugen an.

»So sehen wir uns wieder, Kolja«, sagte die seltsam körperlose Stimme Sangans. Obwohl ein langer Holzsplitter im Oberschenkel des ehemaligen Schiffskochs steckte, schien er es nicht zu bemerken. Die Wunde blutete nicht einmal.

»Bist nicht hübscher geworden seit dem letzten Mal«, röchelte Kolja. »Ich glaube, du wirst nicht viel Erfolg bei den Frauen haben.«

Die Gestalt, die einmal Sangan gewesen war, lächelte ihn an. »Ich schätze, da kennst du dich aus.«

Jetzt endlich wandte sich auch Barnaba dem Besucher zu. »Geh!«, sagte der Prediger schlicht. »Du bist hier unerwünscht!«

Kolja traute seinen Ohren nicht. Er fragte sich, ob das Mut oder Wahnsinn war. Barnaba verhielt sich, als stünde er in der Mitte seines Tempels, umgeben von Hunderten von Gläubigen, einem Ort also, an dem er alle Macht hatte und nichts zu befürchten war. Das Blut aus seiner Stirnwunde war dem Prediger in seinen Bart gefroren und bildete einen rot funkelnden Eispanzer auf seinem Obergewand. »Geh!«, wiederholte Barnaba noch einmal entschieden und wies mit ausgestrecktem Arm zum Höhlenausgang in den Krater zurück, dem Sangan entstiegen war.

Sangan lachte, ein Laut, der wie Donnergrollen durch den Krater brandete. »Ich war hier, als dieses Land geboren wurde, und ich werde noch hier sein, wenn nicht nur dein Name, sondern sogar die Sprache, in der du sprichst, längst vergessen sein wird. Du stehst in meinem Haus und wagst es, mir die Tür zu weisen?« Er kam einen Schritt näher.

»Kehre um zu Nangog, und sie wird dir verzeihen«, entgegnete Barnaba freundlich. »Du bist eines ihrer Kinder, und das Herz jeder Mutter ist groß. Die Zeit des Wandels ist gekommen. Die Zeit, auf die ihr so lange gewartet habt.«

»Mit dem Warten kenne ich mich in der Tat aus.« Sangan machte einen weiteren Schritt in die Höhle.

Kolja stemmte sich mit dem Rücken an der Höhlenwand hoch. Er hatte kaum die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, und die Hand, mit der er nach dem Schwert an seiner Seite griff, zitterte.

»Und mit den Versprechen Nangogs auch. Sie wollte uns in Fleisch kleiden, aber eure Menschengötter haben es verhindert! Warum also sollte ich freundlich zu euch sein? Ich werde mir euer Fleisch nehmen, um meiner Seele ein Gewand zu geben. Und die Letzte, die mich daran hindern wird, ist Nangog.« Er warf einen verächtlichen Blick auf Kolja und trat dicht vor ihn. »Und auch du wirst mich nicht aufhalten, Krieger. Ich schätze Mut, deshalb schenke ich dir einen schnellen Tod – anders als diesem Großmaul!«

»Vergib ihm, Große Mutter! Sein Hass hat ihn verblendet …«, rief Barnaba so laut, als predigte er vor einer großen Menschenmenge.

Kolja versuchte, sein Schwert zu ziehen, doch die Waffe wollte nicht aus der ledernen Scheide gleiten. Vielleicht war das Waffenfett gefroren und verband nun Stahl und Leder miteinander. Oder er war einfach zu schwach.

Sangan packte ihn bei der Brust und hob ihn mit einer Leichtigkeit hoch und wirbelte ihn herum, als wöge er nicht mehr als ein Sack voller Daunen. »Soll euer Traum das Ende deiner Träume besiegeln, Kolja. Stirb wohl, Krieger.«

Kolja wollte mit seiner verbliebenen Hand nach Sangans Kehle greifen. Doch sein Arm war zwischen ihren beiden Leibern so fest eingeklemmt, dass er ihn nicht bewegen konnte. Er keuchte auf. Sangan ließ Kolja ein wenig sinken, sodass seine Fußspitzen wieder den Boden berührten. Ein eisiger Schmerz durchfuhr den Drusnier. Etwas bohrte sich in seinen Rücken. Das Traumeis! Der einzelne Kristalldorn, der aus der Felswand gewachsen war!

Noch einmal versuchte Kolja, seine Finger nach Sangans Kehle auszustrecken, aber der drückte ihn unerbittlich gegen die Felswand. Er spürte deutlich, wie sich der Dorn stetig in sein Fleisch schob. Alle Kraft verließ seine Glieder. Er war wie eine Forelle, die man auf einen eisernen Haken im Räucherhaus gespießt hatte.

»Wo ist deine Göttin, Priester?«, höhnte Sangan und trat einen Schritt von Kolja zurück. »Warum hilft sie dir nicht?«

Auf den Kristall gespießt, durchliefen Krämpfe Koljas Leib. Sein ganzer Körper erzitterte.

Barnaba schüttelte den Kopf, als wollte er nicht glauben, was geschehen war. »Das … das ist nicht das Ende«, stammelte er.

»Stimmt, das wird noch ein Weilchen auf sich warten lassen. Jetzt gehörst du ganz mir, denn gleich schon wird einer meiner Brüder von Kolja Besitz ergreifen – sobald dessen Seele seinen Körper verlässt. Er hat keinen hübschen Leib, aber er ist erstaunlich stark. Von dir aber wird nicht mehr viel übrig sein, wenn ich mit dir fertig bin. Dich wird keiner meiner Brüder haben wollen. Ich werde dich …«

Weiter hörte Kolja nicht … Er fühlte sich plötzlich ganz leicht. Alles Gewicht war von seinen Gliedern gewichen. Blut rann ihm den Rücken hinab und sammelte sich über seinem Waffengurt. Es war unangenehm kalt und hielt ihn wach. Was für ein verdammtes Ende, dachte er ärgerlich. Von einem Schwätzer aufgespießt werden, um auszubluten wie ein Schwein. Er biss die Zähne zusammen. Es kostete so viel Kraft, die Augenlider offen zu halten. Der verdammte Schwätzer stand genau vor ihm. So nah … Kolja wusste, er würde sein Schwert nicht ziehen können. Aber der Arm mit der Prothese war nicht länger eingeklemmt. Dieses überhebliche Großmaul …

Der Drusnier sammelte all seine Wut und seine Verzweiflung. Er wusste, er war am Ende seines Weges angelangt. Aber ihn würde er noch mitnehmen. So würde er nicht abtreten. Er dachte an die Arena, an den tosenden Beifall, an die Blumen, die hinab in den blutigen Sand geworfen wurden, und daran, wie er der blonde Held gewesen war. Seitdem hatte er vieles getan, worauf er nicht stolz war. Eine letzte Heldentat würde das nicht ungeschehen machen, aber sie mochte seinem Abgang ein kleines bisschen Würde geben.

»He, Schwafelkopf!«

Sangan fuhr zu ihm herum. Die Bewegung kam Kolja gelegen: Sie lief genau gegenläufig zu dem Schlag, den er führte, und verlieh dem Treffer so noch zusätzliche Wucht. Die Dornaxt erwischte das Ungeheuer mit den Eisaugen an der Schläfe. Ohne Mühe durchschlug die Bronzespitze den Schädelknochen und versank tief im Kopf. Erstaunen lag auf Sangans Antlitz. Seine Augen verdrehten sich, sein Mund klappte auf, und ein eisiger Wind fuhr durch die Höhle. Dann brach die Kreatur, die einmal ihr Schiffskoch gewesen war, in sich zusammen.

Koljas Arm sank kraftlos herab. Blut troff ihm von den Lippen, aber er lächelte. Jetzt hörte er ihn wieder, den tosenden Beifall der Arena, den er so viele Jahre lang vermisst hatte.

Die Verlorenen

»Vielleicht bringt es ihn schon um, wenn wir ihn in das Fass heben. Wir sollten ihn hierlassen. Hier kann er in Frieden sterben.«

»Ich bleibe, wo er ist«, sagte Barnaba entschieden. »Er hat mir das Leben gerettet.«

Nabor verdrehte unwillig die Augen. »Herr, wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Dämmerung hat bereits begonnen, und dann werden die Windgeister kommen.« Der Lotse bedachte den am Boden liegenden Sangan mit einem misstrauischen Blick. »Wir wissen nicht einmal, ob der sich wieder erheben wird. Ich bitte dich …«

Barnaba schnitt dem Lotsen mit einer harschen Geste das Wort ab. »Kolja kommt mit. Lass ihn uns in das Fass heben!«

Der Lotse seufzte, gab seinen Widerstand aber auf und winkte den beiden Wolkenschiffern, die sich mit ihm abgeseilt hatten. Vorsichtig hoben sie Kolja auf. Nur die zarten Atemwölkchen, die sich in unregelmäßigen Abständen um seine Nase bildeten, verrieten, dass er noch lebte. Seine Augen blickten starr zur Decke der Höhle.

Barnaba fühlte sich elend. Er war zu begierig gewesen, hierherzukommen, und dafür hatte die Göttin ihn gestraft. Er wusste das genau, auch wenn er es niemals gegenüber einem seiner Männer eingestehen würde. Auch Nabor war sich dessen bewusst, dass es klüger gewesen wäre, Kräne am Rand des Kraters zu errichten, so wie er es nun getan hatte. So war es leichter, in die Höhlen zu kommen, denn man ersparte sich das Seilschwingen, und die Kräne standen obendrein noch auf sicherem Grund. So hätten sie von Anfang an vorgehen sollen. Es hätte den Abstieg zu den Höhlen um zwei oder drei Stunden verzögert, aber alles wäre sicherer gewesen.

Hätten alle Männer Nabor dabei geholfen, Pflöcke ins Eis zu schlagen, um den Wolkensammler und das Schiff zu sichern, so wie Nabor es gefordert hatte, dann hätte es vielleicht gar keine Toten gegeben. Hätte, hätte, hätte … Er sollte aufhören, sich den Kopf zu zerbrechen. Es war das Los von Anführern, gelegentlich falsche Entscheidungen zu treffen. Aber ohne Anführer wurden gar keine Entscheidungen gefällt! Sie hatten das Traumeis gefunden. Das allein zählte im Augenblick. Und er würde an Koljas Seite sein, wenn der Drusnier starb. Das war alles, was er tun konnte.

Barnaba sah, wie Kolja kraftlos im Fass zusammensackte, als es aufgerichtet wurde.

»Er blutet wieder aus der Wunde im Rücken.« Nabor bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Sie ist erneut aufgebrochen, als wir ihn bewegt haben.«

Selbst der Affe auf Nabors Schulter schien sich über seine Entscheidungen zu empören. Das kleine Biest griente Barnaba an. Es wirkte fast spöttisch.

»Zieht ihn schnell hoch!«, befahl der Prediger entschlossen.

Der Lotse trat an den Eingang der Höhle und winkte den Männern, die am Kraterrand die beiden Kräne bedienten. »Auf mein Zeichen zieht ihr das Fass hoch.«

Die beiden Wolkenschiffer, die mit ihm gekommen waren, schoben das Fass zum Höhleneingang. Es schien nicht ganz dicht zu sein. Offensichtlich hatte es wie alles heute Schaden genommen – eine Blutspur blieb auf dem Boden zurück, als es bewegt wurde.

»Jetzt!«, rief Nabor.

Die Seile, mit denen das Fass gesichert war, knarrten. Puderfeiner Raureif rieselte aus den Hanffasern, als die Taue sich spannten. Dann erhob es sich leicht schwankend und schwebte dem Kraterrand entgegen.

»Wir müssen uns beeilen!«, drängte der alte Lotse. »Es ist schon fast dunkel.« Er wies die beiden Wolkenschiffer an, an den zusätzlichen Seilen, die inzwischen an der Steilwand hinabgelassen worden waren, hinaufzuklettern.

»Wie viele Tote haben wir?« Barnaba wusste nun, worauf die Eisgeister aus waren und wie er es ihnen verweigern konnte.

»Ein Mann wurde durch einen herausgerissenen Pflock gepfählt, als das Schiff fast in den Abgrund gestürzt wäre. Ein weiterer wurde durch ein durch die Luft peitschendes Seil getötet«, zählte Nabor grimmig auf. »Von den vier Mann, die geholfen haben, dich und Kolja abzuseilen, sind zwei in den Abgrund gerissen worden. Außerdem haben wir sieben Verletzte. Einer von ihnen wird die Nacht wohl nicht überleben. Und dann ist da noch Kolja … Wir haben mehr Männer verloren, als wir uns leisten können.« Er schnaubte und fuhr fort: »Aber wir haben ja auch kein Schiff mehr, das wir bemannen müssten. Es ist im Grunde also egal.«

»Wir werden von heute an unsere Toten verbrennen. Die ersten noch in dieser Nacht.«

Nabor sah ihn verständnislos an.

»Sie sind wegen unserer Körper hier! Wenn wir ihnen die verweigern, werden die Sturmgeister sich andere Opfer suchen.«

Der Affe stieß ein schrilles Kreischen aus und drohte Barnaba mit seinen winzigen Fäusten, bis Nabor das Tier unter seinen Umhang schob.

»Wir werden trotzdem verrecken. Der größte Teil unserer Vorräte ist in den Abgrund gestürzt, und Wind vor regenschwerem Horizont wird uns nicht mehr zurückbringen«, sagte der Alte verzweifelt. »Ohne seine Hilfe verrecken wir hier. Was spielt es da für eine Rolle, ob wir verhungern, erfrieren oder von den Sturmgeistern geholt werden. Wir sind verloren.«

»Nangog wird uns schützen!«, beharrte Barnaba. Die Verzweiflung seines Lotsen begann ihn zunehmend zu ärgern. Dies war ein strahlender Tag. Der Tag, an dem sie endlich das Traumeis gefunden hatten. »Wir werden die Welt verändern, Nabor! Von heute an wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.«

Nabor sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts mehr.

Das Fass wurde wieder heruntergelassen.

»Nimm du das Fass«, sagte Nabor mit belegter Stimme. »Ich lass mich am Seil hochziehen.«

»Ich bin jünger. Ich kann …«

Der Lotse schüttelte entschieden den Kopf. »Das Fass ist sicherer. Besser die jungen Träumer überleben als die alten Nörgler.« Mit diesen Worten half er Barnaba in das Fass und schob es zum Rand des Abgrunds.

Während der Priester sicher nach oben schwebte, sah er, wie sich der Lotse eines der Seile griff, die hinabhingen, und sich ebenfalls hochziehen ließ. Das Fass war rutschig vom Blut Koljas. Barnaba fühlte sich schuldig. Warum hatte er nichts gegen Sangan unternommen? Er war einfach ein Feigling. Ganz anders als der Drusnier, der niemals aufgab zu kämpfen.

Am Kraterrand halfen ihm zwei Wolkenschiffer, aus dem Fass zu steigen. Barnaba streckte sich und sah sich um. Die endlose verschneite Ebene rund um den Krater war in das dunkle Rot des letzten Abendlichts getaucht. Schon berührte die Sonne den Horizont, und hoch über ihnen zeigten sich die Zwillingsmonde der neuen Welt am Himmel. Ein leichter Wind trieb Schneewirbel vor sich her, die wie Geister über das flache Land zogen.

Wind vor regenschwerem Horizont hatte sich am Roten Turm festgeklammert. Der Wolkensammler hing schlaff an dem Pfeiler herab. Nur am oberen Ende klammerte er sich noch mit seinen Tentakeln fest. Die übrigen, nicht erfrorenen Fangarme hatte er eng um seinen Leib geschlungen. Er wirkte nun kleiner, dünner. Fast wie die Puppe eines Schmetterlings, die von einem Ast hing, nur dass es eine turmhohe Puppe war.

Ein Gespinst von Seilen reichte ein Stück auf die Ebene hinaus. Einige waren zerrissen. An einer Stelle sah Barnaba deutlich Blut durch frischen Schnee schimmern. Hätte Nabor nicht die Seile spannen lassen, wäre vielleicht der ganze Wolkensammler in den Krater gestürzt.

Wind vor regenschwerem Horizont sah einfach nur noch elend aus. Es ließ sich nicht mehr leugnen, er lag im Sterben. Nie wieder würde er sich in den Himmel erheben. Sie mussten einen anderen Weg finden, um von hier fortzukommen.

»Komm, wir müssen Schutz im Unterstand suchen!«, riss ihn der alte Lotse aus seinen Gedanken.

Barnaba ging auf die notdürftige Baracke aus den großen Landungskörben des Schiffes zu, die etwa dreißig Schritt vom Turm entfernt aufgebaut worden waren. Auch sie waren mit schweren Pflöcken im Eis befestigt. Nabor hatte Segeltuch darüberspannen lassen, um das Weidengeflecht winddicht zu machen. Alle Körbe waren auf den Kopf gestülpt auf das Eis gesetzt. In die kurzen Seiten waren auf Nabors Befehl Löcher geschnitten worden, gerade groß genug, dass ein Mann sich hindurchducken konnte. Auf Anstoß hintereinandergestellt, ergaben die Landungskörbe einen fünfzehn Schritt langen und etwas über einen Schritt hohen Unterschlupf.

»Wo sind unsere Toten?«, fragte Barnaba.

Der Lotse wies auf zwei reglose Gestalten unter Wolldecken, die ein Stück entfernt vom Unterschlupf auf dem Eis lagen.

»Wir müssen drei Scheiterhaufen errichten«, entschied der Prediger. »Gibt es noch Öl?«

»Dafür bleibt uns keine Zeit mehr!«, fuhr Nabor ihn an. »Im Namen der Götter! Sieh doch nur zum Horizont! Diese verfluchten Sturmgeister werden jeden Augenblick über uns herfallen!«

Die Sonne war schon mehr als zur Hälfte hinter den Horizont getaucht. Nabor hatte recht, es war an der Zeit, in den Unterschlupf zu kriechen. Aber wenn sie das taten, würden sie es bald bereuen.

»Zur Not mache ich es alleine! Die Leichen müssen brennen. Nur deshalb suchen die Sturmgeister uns heim. Sie wollen unsere Toten!«

Der Lotse fluchte etwas Unverständliches, dann rief er einige der Wolkenschiffer herbei. Holztrümmer lagen genug herum, und so waren die Scheiterhaufen schnell errichtet. Zwei Männer kümmerten sich darum, Fackeln zu entzünden und bei den Holzstößen in den Boden zu rammen, bevor sie nach Ölkrügen suchten. Schwieriger wurde es, die Leichen herüberzuschaffen. Sie waren auf dem blanken Eis angefroren.

Die Sonne war indessen hinter dem Horizont verschwunden, und die Männer wurden unruhig. Im Licht von drei Fackeln arbeiteten sie wie besessen weiter, während der eisige Wind auffrischte. Schatten tanzten um sie herum, die nicht zu ihnen gehörten. Die Abbilder verzerrter Leiber mit überlangen Gliedern.

Die Zeit lief ihnen davon. Jede Hand wurde gebraucht. Barnaba kniete neben einem der Toten. Er hackte mit seinem Dolch auf das Eis ein und durchtrennte das schwarze Haar des Wolkenschiffers, das eins mit dem Eispanzer geworden war. Nabor schob eine zersplitterte Planke unter den Körper, und ihr Segelmacher benutzte einen abgebrochenen Schaufelgriff als Hebel. Nabors Affe tanzte feixend auf der Brust des Toten. Am liebsten hätte Barnaba der kleinen Bestie seinen Dolch in den Leib gestoßen. Das Tier verhöhnte sie! Die unheimlichen Schatten schienen ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken.

Endlich löste sich mit einem Ruck der Leichnam. Nabor machte sich gar nicht erst die Mühe, die Planke anzuheben. Wie einen Schlitten schob er sie über das Eis zu den Scheiterhaufen. Barnaba lief neben ihm her.

Es war deutlich kälter geworden. Wie Messer schnitt ihm die eisige Luft in die Lunge. Der Prediger spürte die Anwesenheit der Geister, die Aura aus Zorn und Düsternis, die sie umgab.

Als sie den Scheiterhaufen erreichten, packte Barnaba den Toten bei den Füßen. »Hoch mit ihm! Schnell!«

Nabor hob den Kopf. Gemeinsam wuchteten sie den Wolkenschiffer auf den hüfthohen Stoß aus gesplitterten Brettern und Balken.

Als er gerade loslassen wollte, spürte Barnaba, wie sich der Fuß des Toten streckte. Der Sturmwind heulte auf. »Es fängt an!«, schrie er und bückte sich nach dem tönernen Ölgefäß neben dem Scheiterhaufen. »Lass ihn nicht aufstehen!«

Nabor riss das Brett hoch, auf dem er den Wolkenschiffer hierhergeschoben hatte, und rammte es dem Liegenden vor die Brust. Im selben Augenblick öffnete der Tote die Augen. Es waren Augen aus Eis. Abgründe des Bösen.

»Große Mutter, Herrin der Welt, verschone uns vor deinen Kindern. Nimm von uns diese Kreaturen der Finsternis!«, rief Barnaba und schüttete das Öl über den Wiedergänger und den Scheiterhaufen.

Der Tote bäumte sich auf. Seine Bewegungen waren ungelenk. Noch schaffte er es nicht, den Körper, den er sich angeeignet hatte, wirklich zu beherrschen. Mit rudernden Armen versuchte er, das Brett zur Seite zu schlagen, mit dem Nabor ihn niedergedrückt hielt. Die Kreatur erinnerte an einen Käfer, der wehrlos auf dem Rücken liegend mit seinen Beinen strampelte. Aber wie lange noch?

Barnaba schleuderte den leeren Ölkrug zur Seite und griff nach der Fackel, die neben dem Scheiterhaufen im Eis steckte. Entschlossen schlug er sie dem Wiedergänger gegen die Brust, und augenblicklich leckten Flammen über dessen ölgetränkte Kleider. Ein Schrei kam aus der Weite der Ebene, noch bevor die Kreatur den Mund aufriss. Wut, nicht Schmerz, klang aus dem schrillen Heulen.

»Halte ihn unten!«, rief Barnaba, als ein zweiter Schrei ihn herumfahren ließ. Auch der andere Leichnam hatte sich erhoben und einen der Wolkenschiffer bei der Kehle gepackt.

Brennende Wut

Wild mit der Fackel schwenkend, lief der Prediger zu seinen Reisegefährten auf dem Eis. Die Schiffsbesatzung hatte ihren Kameraden im Stich gelassen und rannte der Zuflucht aus Landungskörben entgegen, vor deren Eingang inzwischen Flammen in einer Feuerschale loderten.

Der Wiedergänger schüttelte sein Opfer, und trotz des heulenden Windes hörte Barnaba, wie das Genick des Mannes brach. Er musste sie aufhalten! Sie alle würden in dieser Nacht sterben, wenn die wütenden Sturmgeister noch mehr Leiber erbeuteten.

»Weiche von meinen Gefährten!«, schrie er aus Leibeskräften. »Zurück mit dir! Die Große Mutter wird euch auf ewig strafen, wenn ihr nicht von meinen Männern ablasst!«

Der Wiedergänger ließ sein Opfer fallen und drehte sich zu Barnaba um. Augen aus Eis fixierten den Prediger, als er mit unsicheren Schritten und ausgestreckten Armen auf ihn zukam, die Beine so steif, als hätten sie keine Kniegelenke. Er streckte die Arme vor. Die Hände öffneten und schlossen sich. »Wir fürchten Nangog schon lange nicht mehr«, hallte es im Sturmwind. »Wir sind die Herren des Nordens! Nichts kann uns aufhalten.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, flammte ein gezackter Blitz quer über den Himmel. Ein Schatten, der nicht im Mindesten dem kleinen, stämmigen Wolkenschiffer ähnelte, den die Kreatur in Besitz genommen hatte, fiel neben Barnaba auf das Eis. Der Schattenarm streckte sich vor. Krallen fuhren aus langen Fingern.

Erschrocken wich der Prediger zurück. Er dachte an die Geschichte, die Kolja ihm erzählt hatte. Die Geschichte der Schattenhand, die nach Nabors Affen gegriffen hatte.

»Ihr könnt nicht siegen«, höhnte die Stimme im Wind. »Verkriecht euch nur in euren armseligen Körben. Ein paar Tage noch, dann haben wir euch alle.«

Barnaba wich weiter zurück. Dann fuhr seine Hand zu dem Messer am Gürtel. Der verfluchten Klinge, die er auf dem Schlachtfeld von Kush aufgelesen hatte. Das Messer, das das Schicksal des Unsterblichen Aaron besiegeln sollte, wenn er eines Tages vor ihm stand. Diese Waffe war dafür geschaffen, Böses zu tilgen, das hatte er schon gewusst, als er sie das erste Mal berührt hatte. Sie war für Kreaturen wie diesen Wiedergänger erschaffen.

»Zurück mit dir!«, rief er erneut.

»Worte werden nicht ausreichen, um uns aufzuhalten, Prediger!«, spottete die Stimme im Wind. »Lauf, verkriech dich wie ein Hase in seinem Bau, und ich schenke dir noch eine Nacht.«

Immer noch wankte die Kreatur, die einmal ein Mensch gewesen war, ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Barnaba nahm all seinen Mut zusammen und blieb stehen.

»Also doch schon in dieser Nacht, Priester. Die Dunkelheit erwartet dich.«

Ein Blitz zerteilte hoch über ihnen das Firmament, und diesmal folgte das Donnergrollen augenblicklich. Ein langer Schatten fiel vom Wiedergänger nach hinten. Barnaba sprang vor, das Messer in der Faust, und rammte der Kreatur die Klinge mitten ins Gesicht. Sie drang ihm an der Nase vorbei in die Mundhöhle. Augen aus trübem Eis starrten Barnaba entgegen.

Mit einem Ruck riss er das Messer zurück und stieß erneut zu, obwohl sich eine eisige Hand in seine Hüfte krallte.

Diesmal hatte Barnaba ins Auge getroffen. Als der Stahl seitlich aus dem Schädel austrat, schlug ihm eisiger Atem ins Gesicht. Doch noch immer hielt ihn die Krallenhand gepackt, und nun erreichten die eisigen Finger sein Fleisch. Barnaba ließ die Fackel, die er immer noch in der Linken gehalten hatte, fallen. Statt zu schreien, konnte er nur keuchen. In seinem ganzen Leben hatte er nicht solchen Schmerz empfunden! Das konnte nicht sein. Es war ihm nicht bestimmt, hier zu sterben! Das war unmöglich.

Flammen leckten über seine mit Gamaschen aus zerschnittenen Wolldecken umwickelten Hosenbeine. Der Stoff war mit dem Öl durchtränkt, das er eben in achtloser Hast über den Scheiterhaufen geschüttet hatte. Als er seine Fackel losließ, hatte er sich selbst entflammt.

Doch bevor der Priester reagieren konnte, schlossen sich die Arme des Wiedergängers fest um seine Hüften. Ihn kümmerten die Flammen und die Hitze nicht. »Gehen wir also zusammen«, hallte die Stimme im Wind. »Ich werde zurückkehren und meine Seele erneut in Fleisch kleiden. Du nicht, Menschensohn. Für dich ist nun das Ende all deiner Träume gekommen!«

»Niemals!«, kreischte Barnaba, und selbst in seinen Ohren klang seine Stimme wie der Schrei eines wilden Tiers. Mit blinder Wut stieß er ein drittes Mal mit dem Messer zu. Diesmal bohrte sich die Klinge durch die Stirn des Toten. Ein Zittern durchlief die widernatürliche Kreatur. Die Kraft der Umklammerung ließ nach, und schließlich sanken die Arme zur Seite. Doch das verfluchte Messer war bis zum Heft in der Stirn versunken.

Der Wiedergänger taumelte ein Stück zurück. Auch seine Kleider brannten. Es stank nach schwelender Wolle und gebratenem Fleisch.

Entsetzt sah Barnaba an sich herab. Seine Hosenbeine waren ein Flammenmeer, und auch über die dicke Schaffellweste leckten schon Flammen. Verzweifelt warf er sich zu Boden, wälzte sich über das Eis und schlug mit seinen Händen auf seine brennenden Hosenbeine. Er spürte, wie die Hitze die Haut seiner Beine aufplatzen ließ, und schrie in blindem Schmerz, als sich ein schwerer Fuß auf seine Brust setzte und ihn fest zu Boden drückte. Über ihm stand der Wolkenschiffer, den der Wiedergänger kurz vor seinem Eintreffen getötet hatte. Und auch er hatte Augen aus Eis.

»Meine Brüder und Schwestern waren so freundlich, mir diesen Körper zu überlassen, damit ich zu Ende bringen kann, was ich begonnen habe. Was willst du nun tun? Mir scheint, du hast vergessen, dein Messer aus dem Kopf meines vorherigen Körpers zu ziehen.«

Seine Wut half Barnaba, den Schmerz niederzuringen. »Die Göttin … sie wird mir helfen«, stammelte er. »Ihr seid ihre verfluchten Kinder. Ihr seid für immer verloren.«

»Du findest, ich sei verloren?« Er hob den Fuß von Barnabas Brust. »Wo sind deine Freunde? Wer ist hier, um dir zu helfen?« Er ging ein paar Schritt zurück und hob die Fackel auf, deren Flamme zu roter Glut verloschen war.

»Zu schade, dass diese toten Körper weder schmecken noch riechen können. Ihr Menschenkinder esst doch gerne gebratenes Fleisch.« Er wirbelte den Arm mit der Fackel herum, und Flammen schlugen aus der Glut. »Vielleicht holen sich deine Gefährten ja ein paar Stücke von dir. Viele Vorräte sind euch nicht mehr geblieben.«

Barnaba blickte zu dem Toten, dem sein Dolch im Kopf steckte. Er versuchte sich aufzurichten, sank aber sofort wieder stöhnend zurück. Es war aussichtslos. Er würde niemals an die Waffe gelangen. Aus den Augenwinkeln sah er eine weitere schwankende Gestalt auf sich zukommen. Also war noch ein Wolkenschiffer tot.

Der Wiedergänger strich mit der Fackel über seine Weste aus Schaffell, und sofort fing das Öl darauf wieder Feuer. »Brenne, Prediger!«, rief die Stimme im Wind.

Der Schmerz löschte alle Gedanken Barnabas aus. Er schrie, bis er glaubte, seine Kehle müsse zerreißen. Auch seine Beinkleider standen nun wieder in hellen Flammen. Er wälzte sich herum, doch vermochte er das Feuer nicht zu ersticken. Immer wieder stieß die Fackel gegen seinen Leib und legte neue Brände. Dann plötzlich fiel etwas neben ihm zu Boden. Der Kopf des Wiedergängers.

Durch einen Schleier von Tränen sah er Kolja über sich stehen. Wie war das möglich? War auch er ein Wiedergänger geworden?

Barnaba versuchte, die Tränen fortzublinzeln. Er musste dem Drusnier in die Augen sehen! Aber das Antlitz seines Gefährten war nur ein Schatten vor dem hellen Licht der beiden Monde, die hinter ihm am Himmel standen. Dann kniete Kolja neben ihm nieder und warf Schnee auf die Brände. Würde das ein Wiedergänger tun? Aber wie konnte sein Gefährte noch leben? Er hatte so viel Blut verloren! War dies ein letztes makaberes Spiel der Sturmgeister, um sein Leben und seine Qualen noch etwas zu verlängern?

»Die Schwelbrände haben sich zu tief in deine Beinkleider gefressen«, erklang eine Stimme von irgendwoher. War er kurz ohnmächtig gewesen? Kolja hielt jetzt einen Dolch in seiner verbliebenen Hand. Wo kam der her?

Die Waffe senkte sich. Barnaba hörte Stoff reißen. Er wünschte sich, ohnmächtig zu werden. Die Schmerzen … Nicht einmal damals, als er in seinem verborgenen Tal abgestürzt war, hatte er solche Schmerzen gelitten. Und diesmal würde ihm keine Xana helfen. Tränen blendeten seinen Blick. Er hatte sein Glück gefunden gehabt, und Aaron hatte es ihm wieder entrissen. Er würde den verdammten Unsterblichen töten. Das war sein Lebensziel.

»Der Dolch …«, stammelte er. Er brauchte die verfluchte Waffe dazu. Sie durfte auf keinen Fall hier zurückbleiben!

»Keine Sorge, ich bin vorsichtig. Ich werde dich nicht verletzen«, sagte die Stimme, die nach Kolja klang.

Barnaba stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. Es ging nicht um Koljas Dolch! Er musste dem Drusnier klarmachen, was er wollte.

Sein Gefährte begann damit, die verbrannten Hosenbeine zurückzustreifen. Der Stoff leistete zähen Widerstand. Kolja zog mit einem Ruck und hielt mit einem erschrockenen Keuchen inne.

Barnaba brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was er sah. Die Hose war bis zu den Knien herabgezogen. Darüber war nur noch rötlich schimmerndes Fleisch zu sehen. Etwas schwarz Verbranntes lugte zwischen dem Stoff hervor. Seine Haut! Sie war mit dem Stoff zurückgeglitten, so wie ein enger Strumpf, den man vom Bein abrollte.

Der Priester konnte nicht einmal schreien. Er starrte auf seine Beine und spürte keinen Schmerz. Das Entsetzen tilgte jedes Gefühl.

Kolja hob ihn hoch. Da war ein Feuer, nahe bei dem Pfeiler, von dem ihr sterbender Wolkensammler hing.

Er musste wirklich kurz ohnmächtig geworden sein. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierhergekommen war, doch jetzt lag er auf irgendetwas. Nicht auf dem Boden. War es ein Bett? Woher sollte hier in der Eiswüste ein Bett kommen. Hoch über ihm zerbrach der Himmel, und ein Spalt aus hellem Licht war hinter der Finsternis zu sehen. Feierliches Donnergrollen, wie ferner Trommelwirbel, rollte zum Horizont.

Barnaba fühlte sich schwindelig. Kälte sickerte in seine Glieder. Er war unendlich müde. Schmerzen spürte er nicht mehr.

»Du hast einen guten letzten Kampf gefochten, Prediger.«

War das Koljas Stimme? Sie klang fremd, schien von überallher zugleich zu kommen. Eine Schattengestalt stand neben ihm. Er musste die Augen sehen! Waren sie aus Eis? Oder waren es lebendige Augen?

»Deine Ahnen blicken auf dich herab, Barnaba. Sie werden stolz auf dich sein. Du hast deiner Sippe Ehre gemacht.«

Was sollte das? Das klang ja wie eine Grabrede! Sie sollten ihn in den Unterstand bringen und seine Wunden versorgen. Er hatte noch lange nicht seinen letzten Kampf gefochten. Es war seine Bestimmung, den Unsterblichen Aaron zu töten! Nur dafür lebte er!

»Wir dürfen dich nicht den Sturmgeistern überlassen, mein Freund. Du weißt, sie würden kommen und dich holen.«

Barnaba wollte etwas sagen, aber er fand keine Kraft mehr. Kälte kroch seine Glieder hinauf. Er war so müde, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. Das musste ein Albtraum sein. Die Große Mutter beschützte ihn. Wahrscheinlich hatte ihn Wolken vor regenschwerem Horizont in sein Inneres gehoben, wie er es schon einmal getan hatte, um ihn zu heilen. Barnaba wusste, wie schrecklich seine Verletzungen waren. Aber er war der auserwählte Prediger Nangogs … Die Göttin würde ihn retten …

»Lebe wohl, mein tapferer Freund!« Die Gestalt, die wie Kolja aussah, hob eine Fackel und stieß sie dann in das seltsame Bett, auf das sie ihn gelegt hatten. Flammen loderten rings um Barnaba auf, aber er fühlte immer noch keine Schmerzen. Nur unendliche Müdigkeit. Das musste ein Albtraum sein. Wenn er erwachte, wäre alles wieder gut … Er hatte das Traumeis gefunden … Er würde Nangog befreien und den Unsterblichen Aaron stürzen … Das war sein Schicks…

Verlorene Unschuld

»Worauf wartet die?«, flüsterte Glamir.

»Sehe ich aus wie eine Elfe?«, zischte Galar zurück. »Woher soll ich denn wissen, was in ihrem Hirn vorgeht?«

Zwei Tage lang waren sie über schlammige Pfade bis über die Schneegrenze hinaus immer höher in die Berge gestiegen. Ailyn hatte ihnen nicht gesagt, wohin es ging. Auch wussten die Zwerge nicht, für was für einen Auftrag sie ausgewählt waren. So kauerten sie nun im Schnee unter tiefem Wolkenhimmel und beobachteten Ailyn, die etwa hundert Schritt entfernt kniete. Die Elfe hatte beide Hände im Schnee vergraben und wirkte angespannt. Wollte sie ein Tor in die neue Welt öffnen? Dass es nach Nangog gehen sollte, war das Einzige, was Galar erfahren hatte. Dafür mussten sie das Goldene Netz durchqueren. Aber warum öffnete Ailyn das verfluchte Tor nicht endlich? War sie eine Stümperin? Wollte ihr dieser Zauber nicht gelingen? Bestimmt würde sie sie alle ins Verderben führen.

Galar atmete langsam aus. Es brachte nichts, sich das Hirn mit Fragen zu zermartern. Er blickte die lange Reihe seiner neuen Kameraden an. Vor ihnen lagerten die Trolle. Drei Schritt hohe, grauhäutige Hünen, die am Berghang einen Weg durch den hohen Neuschnee gebahnt hatten. Sie waren äußerst gereizt, denn die Elfen hatten ihnen befohlen, alle schwere Ausrüstung der Expedition zu tragen. Zehn der neuen Speerschleudern und dazu etwa hundert große Lederköcher, in denen jeweils zwanzig Speere für die Geschütze steckten. Es war Galar schleierhaft, wofür sie so viel Feuerkraft brauchten.

Die Trolle nannten die Speerschleudern Waffen für Feiglinge! Für sie war es eine Frage der Ehre, jedem Gegner von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten. Galar schnaubte. Das würde er auch so sehen, wenn er drei Schritt groß wäre.

»Siehst du, wie diese Rattengesichter uns beobachten?«, raunte Glamir. »Die warten nur auf eine Gelegenheit, uns in den Rücken zu schießen. Spätestens wenn diese verdammte Elfe verreckt ist, sind wir dran. Und das wird nicht lange dauern. Wie kann man ohne ein Schwert in die Schlacht ziehen? Ihre Arroganz wird noch mal ihr Untergang sein!«

»Und was schert es uns Zwerge, wenn die Elfen untergehen?«, fragte Bailin. »Das kann uns doch nur recht sein.«

»Mich schert, dass wir von ihr in die Schlacht geführt werden und mit ihr zusammen untergehen!«, raunzte Glamir. »Schau mal nach hinten. Die haben diese ganzen dreckigen Kobolde mit Windenarmbrüsten ausgerüstet. Wenn Ailyn nicht mehr unter uns weilt, eröffnen die sofort das Feuer auf uns.«

»Ob die Trolle wohl dasselbe von uns denken?«

Alle drei sahen Nyr an, der die Frage gestellt hatte.

»Wie kommst du darauf, dass Trolle überhaupt denken?« Glamir grinste breit. »Die sind nur Fleisch.«

»Die drehen sich auch dauernd zu uns um und tuscheln. Und mit den Speerschleudern könnten wir auch Trolle über den Haufen schießen.«

»Fällt dir der kleine Unterschied zwischen den Trollen, uns und den verfluchten Eisbärten auf?«, fragte Bailin ruhig. »Die Trolle tragen die Waffen, mit denen wir ihnen was antun könnten. Die verfluchten Kobolde aber halten die Waffen, mit denen sie uns hinterrücks niederschießen könnten, schon in den Händen.«

»Bist du sicher, dass Trollen dieser kleine Unterschied auffällt. Die sind doch nur Fleisch.«

Galar war überrascht, wie sehr sich Nyr für die Trolle einsetzte. Vom kleinen Frar getrennt zu sein bekam ihm offensichtlich nicht gut. Er war reizbar geworden und hatte seltsame Ideen.

Missmutig blickte Galar den Hang hinab zu den Kobolden. Es waren ganz sicher mehr als hundert. Sie wuselten durcheinander, tuschelten und blickten mit ihren harten, schwarzen Augen den Hang hinauf. Galar glaubte, den Hass in den Augen sehen zu können. Die Mistkerle waren gut ausgerüstet. Ihre Winterkleidung hatten sie selbst mitgebracht. Dicke, mit Wolle gepolsterte Steppmäntel. Mützen, gefüttert mit dem Fell von Schneehasen, und kniehohe, weiße Stiefel. Dazu trugen sie weiße Fransenschals, die ihnen den Spitznamen Eisbärte eingebracht hatten. Wenn sie sich in den Schnee warfen, verschmolzen sie mit der Umgebung. Neu waren nur die Windenarmbrüste, die sie vom Elfenschmied Gobhayn bekommen hatten. Und auch diese hatten sie mit weißer Farbe eingeschmiert. Ein paar der Kobolde trugen auffällige, rote Wollmützen, die so gar nicht zu ihrer Tarnkleidung passten. Galar hatte Geschichten über diese Mützen gehört – angeblich waren sie im Blut toter Zwerge rot gefärbt worden. Wenn das stimmte, hatten sie zwei Dutzend Zwergenmörder im Rücken, sobald sie in die Schlacht zogen. Galar schauderte es bei dem Gedanken. Bislang hatte er mit keinem der Kobolde auch nur ein Wort gewechselt. Für ihn sahen die kleinen Mistkerle ohnehin alle gleich aus.

Wenn er auf die fünfzig Zwerge blickte, zu denen er gehörte, musste er sich eingestehen, dass die verdammten Eisbärte auf einen Winterkrieg besser vorbereitet waren. Von den Zwergen hatte sich keiner getarnt. Sie trugen wehende Umhänge, meist rot oder blau, über polierten, knielangen Kettenhemden. Darunter die gepolsterten Waffenröcke, die sie warm hielten. Sie waren ein von Weitem sichtbarer Farbklecks auf diesem weißen Hang. Die grauhäutigen Trolle mochten von ferne als Granitfelsen durchgehen. Ailyn trug ebenfalls Weiß. Nur sie waren ganz ohne Tarnung. Steckte da Absicht dahinter? Er sah zur Elfe. Wenn es nur endlich losgehen …

Er hatte den Gedanken noch nicht beendet, als sich eine Schlange aus rotem und eine zweite Schlange aus gelbem Licht aus dem Schnee erhoben. Es lag eine Spannung in der Luft wie an einem schwülen Sommerabend. Die Haare seines Bartes sträubten sich. Die Trolle vor ihm grunzten unruhig, während die beiden Schlangen ihre Häupter einander zuneigten, sodass ein Torbogen entstand, ausgefüllt von undurchdringlicher Dunkelheit.

»Jetzt!«, rief Ailyn. »Und weicht nicht vom Weg ab!« Sie wiederholte den Befehl noch in der Sprache der Trolle und dem Kauderwelsch, in dem sich die Kobolde unterhielten.

Mutig waren sie, die verdammten Trolle, dachte Galar, während er zusah, wie die Hünen, ohne zu zögern, durch das Tor stürmten. Die Zwerge folgten mit etwas weniger Enthusiasmus. Galar hielt sich an Glamirs Seite. Der Weg aus goldenem Licht war dem Schmied unheimlich. Er konnte sehen, dass dieses Licht wohl fest wie Stein sein musste, denn es trug die Zwergenkrieger, die vor ihm gingen, so sicher wie eine gepflasterte Straße. Als er den ersten Fuß auf den magischen Pfad setzte, versank er ein wenig. Es fühlte sich an, als träte er auf eine Wiese, die gerade erst von Schafen abgeweidet war, wo das kurze Gras die Schritte federn ließ.

»Aale sind mir lieber«, murrte Glamir neben ihm und tastete mit seiner Krücke vorsichtig über den Weg.

»Macht voran, ihr Feiglinge!«, rief irgendwo hinter ihnen ein Kobold.

Glamir fluchte und stakste weiter.

Voraus erklangen wütende Schreie. Jemand kreischte wie eine angestochene Sau. Und dann erscholl der tiefe, markerschütternde Schlachtruf der Trolle. Galar löste die Axt von seinem Gürtel, während die Männer hinter ihm vorwärtsdrängten.

Rechts und links des Goldenen Pfades, auf dem sie schritten, herrschte undurchdringliche Finsternis. Galar wusste aus den Erzählungen über die Albenpfade, dass sie wie Brücken über einen bodenlosen Abgrund waren. Wer hier einen falschen Schritt machte, war rettungslos verloren.

Der Schlachtlärm voraus wurde lauter. Galar sah ein Stück roten Himmel. Die andere Seite war also nicht mehr fern! Die Trolle schienen schon alle durch das magische Tor zu sein. Der Druck der nachschiebenden Zwerge wurde größer. Glamir kam auf seiner Krücke zu langsam voran. Es war unverantwortlich, den verstümmelten Schmied aus den Ehernen Hallen mit in eine Schlacht zu nehmen.

Bailin erschien hinter ihnen. Mit seitlich ausgestreckten Armen versuchte er, etwas von dem Druck auf sich zu nehmen.

»Ich schaffe das!«, erklärte Glamir atemlos. Ihm stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Er wusste nur zu gut, dass er ein Hindernis war.

Plötzlich erschien eine Gestalt keine fünf Schritt entfernt in der Finsternis. War das ein Menschenkind? Es lief vom roten Himmelslicht voraus davon. Tränen rannen ihm über die Wangen. Der Mann hatte ein abgehärmtes, dunkles Gesicht ohne jeden Bart. Sein schwarzes Haar reichte ihm bis zu den Schultern. Er trug eine dicke Fellweste und hatte Wollbänder um die Beine gewickelt. Einen, zwei Herzschläge sah Galar den Flüchtling, dann verschwand der Mann im Dunkel. Es gab einen zweiten Albenpfad, der in spitzem Winkel zu ihrem Weg auf das Tor zulief! Jetzt kamen noch weitere Menschen. Einige waren verletzt. Alle blickten immer wieder verängstigt über die Schulter.

Eisiger Wind schnitt Galar ins Gesicht. Er trat aus der Leere zwischen den Welten auf eine weite, verschneite Ebene mitten in ein wütendes Gefecht. Vor dem Tor war der Schnee von Blut durchtränkt. Schreie gellten dem Zwerg in den Ohren.

»Deckung!«, schrie Glamir, warf sich zu Boden und zog Galar mit sich. Ein Troll taumelte rückwärts in ihre Richtung. Auf seiner Brust kauerte eine Bestie, wie Galar sie nie zuvor gesehen hatte: Ein schwarzes Tier mit einem übergroßen Kopf, durch dessen weit aufgerissenes Maul schemenhaft ein Gesicht zu sehen war. Eine Krallenhand des Ungeheuers hatte sich tief in den Bauch des Trolls gegraben. Sich darauf aufstützend, schwang sich die Bestie in die Höhe, und die zweite Krallenhand des Ungeheuers zerfetzte dem wankenden Troll die Kehle. Krachend schlug der Hüne nur wenige Zoll neben Glamir und Galar in den Schnee. Doch noch im Sterben umklammerte er die schwarze Bestie mit seinen mächtigen Armen und presste sie fest gegen seinen Leib. Ein Kobold stürmte aus dem Nichts und setzte der sich windenden Kreatur eine Armbrust an den Kopf. Der Bolzen durchschlug den mächtigen Schädel und schoss in einer Blutfontäne auf der anderen Seite wieder heraus.

Galar rappelte sich auf und packte seinen Gefährten. Sie mussten fort vom Eingang zum Goldenen Netz. Hier tobten die heftigsten Kämpfe.

Mitten im Getümmel entdeckte er Bailin und Nyr, die versuchten, eine der Speerschleudern aufzurichten, die von den Trollen achtlos zur Seite geworfen worden war.

In blindem Zorn wüteten ihre hünenhaften Verbündeten unter den Menschenkindern. Die meisten von ihnen leisteten kaum Widerstand, ja sie schienen nicht einmal bewaffnet zu sein. Gefährlich schienen allein die schwarzen Bestien zu sein, von denen Galar noch zwei weitere entdeckte, die sich katzengleich durch das Kampfgetümmel bewegten und mit ihren Krallenhänden blutige Schneisen schlugen.

Überall zwischen den Kämpfenden lagen große Körbe und Säcke herum, als hätten sie eine Lastkarawane angegriffen. Doch konnte Galar kein einziges Maultier entdecken.

»Achtung!«, schrie Glamir hinter ihm.

Galar fuhr halb herum und riss seine Axt hoch. Kreischend fuhren stählerne Krallen über das breite Blatt der Waffe und streiften gerade eben noch sein Kettenhemd aus erlesenem Silberstahl. Der Zwerg starrte geradewegs in ein wutverzerrtes Gesicht, das von zwei mächtigen Kiefern eingerahmt wurde. War das eine Art Helm?

In rasender Folge droschen Prankenhiebe auf ihn nieder – viel zu schnell, um sie parieren zu können. Galar vertraute ganz dem Schutz durch das exzellente Kettenhemd und versuchte seinerseits, einen Treffer mit der Axt zu landen. Sein Gegner schien nicht recht bei Sinnen zu sein. Er achtete kaum auf seine Deckung. Allein die Wucht seiner Hiebe, die Galar bei jedem Treffer zurücktaumeln ließ, bewahrte ihn davor, dass die kurzstielige Axt zwischen seine Rippen fuhr.

Der Schmied wurde sich nur allzu bewusst, dass er kein ausgebildeter Kämpfer war. Er rutschte auf dem blutgetränkten Schnee, versuchte, mit ausgestreckten Armen das Gleichgewicht zu halten, und steckte einen Treffer ein, der ihm die Axt aus der Hand prellte. Gleich im Anschluss folgte ein gerader Stoß, der auf sein Gesicht zielte.

Galar ließ sich fallen, doch gewann er damit keine Zeit. Mit einem Satz war der Krieger mit der Raubkatzenmaske über ihm, drückte ihn mit einem Knie zu Boden und hob die Hand zum Todesstoß, als ein Schatten so dicht über Galar hinwegschwang, dass er einen Luftzug auf seinem schweißüberströmten Gesicht spürte.

Der Tiermensch wurde zur Seite geschleudert, und eine riesige Gestalt setzte mit einem weiten Schritt über den Zwerg hinweg. Es folgten ein röhrender Kriegsschrei und ein zweiter Hieb.

Als Galar sich aufsetzte, drehte der Troll sich zu ihm um. Triumphierend hob er den halb zerschmetterten Maskenhelm hoch. »Tapferer Kerl!«, grunzte er, und Galar erkannte, dass es Groz war, der vor ein paar Tagen erst versucht hatte, Bailin zu töten.

Der Schlachtenlärm war plötzlich verstummt. Nur leises Stöhnen war noch zu hören. Noch benommen von den harten Treffern, sah Galar sich um. Einige der Kobolde schnitten den verwundeten Menschenkindern die Kehlen durch. Ailyn sah dabei zu und schritt nicht ein.

Langsam wurde der Zwerg sich bewusst, dass die meisten ihrer toten Gegner tatsächlich gar keine Waffen in Händen hielten. Einige trugen noch Lastkörbe auf dem Rücken. Was hatten sie von hier fortbringen wollen, das so wichtig war, dass sie zum Angriffsziel geworden waren?

Galar erhob sich, ging zu einem der Toten und öffnete den Sack, der im Tragekorb steckte. Etwas Weißes, Krümeliges quoll daraus hervor. Der Zwerg zerrieb es zwischen den Fingern, dann roch er daran. »Das ist Vogelscheiße«, sagte er verwundert. »Vogelscheiße!«, wiederholte er nun lauter. »Wir haben einen Trupp unbewaffneter Vogelscheißeträger niedergemetzelt!«

Groz hatte seinem toten Gegner mit seinem Steinmesser eine der Krallenhände abgetrennt und hielt sie hoch. »Nicht unbewaffnet«, sagte er lapidar.

»Sie hatten drei oder vier Wachen. Wir sind mehr als zweihundert!« Er wandte sich Ailyn zu. »Was hat das zu bedeuten? Gegen wen führen wir hier Krieg?«

Die Elfe schien all dies nicht zu berühren. »Die Unschuld ist das erste Opfer des Krieges«, entgegnete sie kühl. »Offenbar gab es einen Fehler. Macht euch jetzt abmarschbereit.« Sie sah zum Horizont, der die blutig-rote Sonne verschluckt hatte. Eisiger Wind wehte von Norden. »Gehen wir!«, rief sie dann lauter. »Lasst die Toten liegen. Wir müssen nach Norden. Dort liegt die Stadt, die wir erobern sollen. Es ist besser, wenn wir sie noch in der Nacht erreichen und wir unsere Feinde im Schlaf erwischen!«

»Und die Toten?«, begehrte ein Kobold mit roter Mütze auf. Er war Galar schon zuvor als Wortführer des kleinen Volks aufgefallen. Der Mistkerl trug einen zwergischen Waffengurt, der mit schweren Silbermünzen beschlagen war, quer über der Brust. Über seinem Rücken ragte der Griff eines Kurzschwertes auf.

»Nach meiner Erfahrung ist es Toten reichlich egal, wo sie herumliegen.« Eine Bö ließ das hochgeschlitzte Kleid der Elfe aufwirbeln. »Wenn wir uns jetzt mit Begräbnisfeiern aufhalten, werden wir bis morgen Abend noch wesentlich mehr Tote zu beklagen haben.«

»Kurz warten!«, rief Groz und brach den Brustkorb des Katzenmanns auf, um dessen totes Herz herauszureißen und vor aller Augen zu verschlingen, was die übrigen Trolle mit wilden Rufen feierten.

Galar wandte sich ab. Es waren die Himmelsschlangen, die diesen Wahnsinn entfesselt hatten. Sie mussten aufgehalten werden, deshalb war er hier! Und deshalb würde er durchhalten und sich nicht vom Strudel der Grausamkeiten mitreißen lassen. Er durfte nicht auffallen. Durfte nichts sagen. Wenn er hoffen wollte, Himmelsschlangen zu töten, dann musste er sie alle überraschen.

Aus den Augenwinkeln sah er Bailin. Der Hauptmann aus den Ehernen Hallen war leichenblass. Wie lange würde er dem Wahnsinn widerstehen? Galar mochte Bailin nicht sonderlich, aber der Krieger war ein aufrechter Mann, für den Ehre mehr als nur hohles Pathos war. Er würde an dem, was hier geschah, zerbrechen.

Galar blickte nach vorne. Vor dem schneidenden Nordwind wanderten Wirbel aus Schnee über die Ebene. Fast sahen sie aus, als hätten die Geister des Landes sich erhoben, um zu sehen, wie die Albenkinder ihre Unschuld verloren hatten. Der Zwerg lachte bitter auf und trat neben Glamir, der den Kopf gesenkt hielt. Das war natürlich romantischer Unsinn! Er klopfte sich den Schnee aus den Kleidern und folgte der unheimlichen Elfe. In ihrem langen, weißen Kleid sah sie selbst wie aus Schnee geboren aus, und Galar hatte nicht den geringsten Zweifel, dass statt eines Herzens ein Eisblock in ihrer Brust steckte.

Che

Es lag Magie im Wind, der von Norden wehte. Immer wieder öffnete Ailyn ihr Verborgenes Auge und spähte hinaus in die Nacht. Mit diesen Wirbeln, die der Wind übers Eis blies, stimmte etwas nicht. In ihnen leuchteten schwache Auren, als verbärge sich etwas hinter den dünnen Schneeschleiern.

»Macht voran!«, trieb sie ihre Truppen an. Die kurzbeinigen Kobolde und dieser verkrüppelte Zwerg kosteten sie zu viel Zeit. Sie wünschte, die Himmelsschlangen hätten sie mit fünf Drachenelfen hierhergeschickt statt mit diesen zweihundert Lahmen! Als kleiner Trupp hätten sie mehr erreicht. Sie wären schneller und wendiger gewesen. Und es hätte auch nicht schon im ersten Gefecht eigene Opfer zu beklagen gegeben. Diese Jaguarmänner kämpften gut! Hoffentlich erwarteten sie in der Siedlung, die sie stürmen sollten, nicht noch mehr von diesen todesverliebten Berserkern.

Ailyn war der Sinn dieser Mission nicht klar. Sie hatte ausdrücklichen Befehl gehabt zu warten, bis sie spürte, dass der Albenstern an ihrem Zielpunkt geöffnet wurde. Die Himmelsschlangen waren genau darüber informiert gewesen, zu welcher Tageszeit damit zu rechnen war. Aber welchen Sinn hatte es, eine Kolonne von Lastenträgern zu morden? Als Drachenelfe hatte sie gelernt, die Aufträge der Himmelsschlangen nicht zu hinterfragen. Aber das galt nicht für ihre Männer. Sie wusste nicht, wie sie mit diesem aufmüpfigen Zwerg, Galar, umgehen sollte, der sie dafür verachtete, was geschehen war, und der nicht aufhören würde, Fragen zu stellen, auf die sie keine Antworten hatte. Es wäre besser gewesen, nur mit Trollen und Kobolden in diese Schlacht zu ziehen. Die zerbrachen sich nicht den Kopf darüber, was geschah.

Wieder blickte sie auf die nächtliche Ebene. Obwohl die beiden Monde hinter Wolken verborgen blieben, war es erstaunlich hell. Die weiten Eisebenen reflektierten das Licht der Sterne. Deutlich sah sie die kleinen Schneewirbel tanzen. Was war das? Sie fühlte sich beobachtet. All ihre Instinkte warnten sie vor einem Feind, der dort lauerte. Einer Gefahr, vor der sie die Himmelsschlangen nicht gewarnt hatten.

Vor ihnen wogte Nebel über dem Eis. Der verharschte Weg, dem sie bislang gefolgt waren, führte geradewegs darauf zu. Die Nebelbank lag wie eine weiße Mauer über der Ebene. Ailyn hob die Hand und gab den anderen ein Zeichen, stehen zu bleiben. Sie hörte leises Murmeln und seufzte innerlich. Sie waren auf sich allein gestellt in Feindesland! Warum konnten diese Deppen nicht einfach still sein. Niemand wusste, was dort im Nebel lauerte.

Erstaunlicherweise waren es ausgerechnet die Kobolde, die ohne Befehl die Kolonne verließen, sich auffächerten und in Senken duckten, sodass sie in ihrer weißen Kleidung fast mit der Umgebung verschmolzen. Sogar ihre albernen, roten Mützen hatten sie abgenommen. Ganz offensichtlich hatten sie schon oft schlechte Erfahrungen gemacht.

Ailyn wich ein Stück vom Weg ab und schlich in den Nebel. Sie hörte Wasser, das sich an Felsen brach. Der Schnee unter ihren Füßen war pappig und klebte an ihren Stiefeln. Dann sah sie einen dunklen Fluss, aus dem der Nebel stieg, und den Schemen einer Holzbrücke, deren fernes Ende im wirbelnden Dunst verborgen blieb.

Vorsichtig schlich sie zum Weg zurück und näherte sich der Brücke. Es gab keine Wachen. Keine Befestigungen an der Brücke. Kein Torhaus. Ganz offensichtlich rechneten die Menschenkinder nicht damit, dass sie hier angegriffen werden könnten.

Ganz wie die Drachen befohlen hatten, waren etliche der Menschenkinder ins Goldene Netz entkommen. Wie lange mochte es dauern, bis sie mit Verstärkungen zurückkamen? Einen Tag? Zwei?

Zur Stadt hin war niemand entkommen. Dort ahnte man nicht, was auf sie zukam.

Ailyn schlich zurück zu ihren Kriegern. »Voraus liegt eine Brücke. Sie scheint nicht baufällig zu sein, trotzdem gehen deine Trolle nur einzeln und mit drei Schritt Abstand zueinander darüber. Hast du das verstanden, Groz?«

»Glaubst du, ich bin dumm?«, kam es beleidigt zurück. »Was ist mit Flitschen?«

Ailyn brauchte einen Moment, um zu verstehen. »Du meinst die Speerschleudern?«

»Genau! Feiglingswaffen!«

»Auf der Brücke gehen die Lastenträger nicht in Paaren. Schafft ihr es, ein Stück weit eine Speerschleuder alleine zu tragen?«

»Leicht.«

Lag da eine Spur von Überheblichkeit in der Stimme des Trolls? »Dann macht es so.«

Groz raunte seinen Männern Befehle zu und wies in den Nebel. Ohne irgendwelche Fragen fügten sie sich und teilten sich auf.

Ailyn sah sich nach den Kobolden um. Sie hatten sich inzwischen noch weiter vom Weg entfernt. Würden sie desertieren? Die Elfe öffnete ihr Verborgenes Auge. Die Auren verrieten das kleine Volk. Sie hatten einen rebellischen Geist. Wenn es hart auf hart kam, sollte sie besser nicht auf sie zählen.

»Che!« Ailyn deutete auf den Kobold, der etwa hundert Schritt entfernt in Deckung lag. Ohne ihr Verborgenes Auge hätte sie ihn nicht sehen können, aber seine Aura war unverwechselbar. Das Purpur reiner Rachsucht mischte sich mit dem Gold edler, uneigennütziger Gefühle. Bei keinem anderen Kobold waren diese Widersprüche so ausgeprägt. Che hätte lieber weiter Zwerge bekämpft. In einen Krieg gegen die Menschenkinder gezwungen zu werden passte ihm nicht. Er träumte davon, ein freies Königreich der Kobolde zu errichten, wo sie weder von Trollen noch von Zwergen versklavt wurden oder von Elfen, die die Kobolde als Diener schlechter behandelten als ihre Jagdhunde. Um diesen Traum zu verwirklichen, würde er ohne zu zögern jeden Preis zahlen. Sein ganzes Leben hatte er ihm verschrieben.

Che ließ sie nicht warten. Sollte es ihn erschreckt haben, dass sie ihn mit solcher Leichtigkeit gefunden hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Mit herausforderndem Lächeln trat er ihr entgegen. »Was ist los, hübsche Elfe? Suchst du einen richtigen Mann? Du hast Glück. Der steht vor dir.«

»Schön, dann pfeif mal all die anderen richtigen Männer deiner Größe zusammen und führ sie über die Brücke. Folgt den Trollen. Die Zwerge bilden von nun an den Abschluss der Gruppe.«

Er machte eine übertriebene Verbeugung. »Deine Wünsche sind mir Befehl, meine Schöne, obwohl es eine Schande ist, die Nächte mit dir spazieren gehend zu verbringen.«

»Man weiß nie, wie eine Nacht enden wird«, entgegnete sie schmunzelnd.

Che sah überrascht zu ihr auf. Dann grinste er breit. »Ich bin für jede Überraschung zu haben.« Mit diesen Worten machte er sich beschwingten Schritts davon. Er war ein Halsabschneider und Dieb, ein Unruhestifter und Lügner, aber sie mochte ihn. Er hatte etwas an sich, das sie nicht in Worte fassen konnte … Er schien das Wort unmöglich nicht zu kennen oder zumindest nicht zu akzeptieren. Sein Enthusiasmus hatte etwas Ansteckendes.

Ihr Herz war Ailyn ein klein wenig leichter, als sie hinter den Zwergen als Letzte über die Brücke ging. Obwohl ihnen etwas folgte, das konnte sie spüren. Aber was es auch war, sie würde sich ihm stellen, wenn es an der Zeit war. Sie war eine Drachenelfe! Sie vermochte dem Unmöglichen neue, enge Grenzen zu ziehen. Beschämend, dass es eines Kobolds bedurft hatte, sie daran zu erinnern!

Die Zurückgebliebenen

Fast eine Meile nördlich der Brücke fanden sie die Stadt. Galar war überrascht, was die Menschenkinder so Stadt nannten. Es gab keine schützende Mauer. Die beiden einzigen Türme waren seltsame Bauwerke, aus deren Seitenwänden lange Balken ragten. Sie lagen mitten in einer Ansammlung flacher Häuser an einem weiten Platz. Welchen Zweck sie erfüllen sollten, vermochte Galar sich nicht vorzustellen. Zur Verteidigung dienten sie wohl nicht.

»Riechst du das?«, flüsterte Nyr.

Sie beide standen mit dem Rücken an einer Hauswand, dicht vor einer Straßenecke, hinter der der weite Platz lag. Ailyn hatte entschieden, dass sich die Zwerge vorsichtig ins Zentrum der Siedlung vorarbeiten sollten, während die Kobolde sich um die Häuser am Stadtrand kümmerten. Die Trolle von Groz hatte sie als Reserve zurückgehalten.

Galar sog die kalte Luft ein. Der bittere Frost machte ihm zu schaffen. Er hatte wohl zu lange in Höhlen gelebt. Er war richtige Kälte nicht mehr gewöhnt. Selbst die warme Kleidung vermochte sie nicht fernzuhalten.

»Hier irgendwo brennt ein Feuer«, raunte ihm Nyr zu. »Die Stadt ist also doch nicht verlassen.«

Galar nickte. Auch wenn er sich gewundert hatte, bisher noch keinen Menschen gesehen zu haben, war er nicht davon ausgegangen, dass es hier niemanden gab. Welchen Sinn hätte es gehabt, wenn die Drachen ihnen befohlen hätten, eine verlassene Stadt anzugreifen?

Bailin erschien auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Er ging geduckt und hielt dabei seine gespannte Armbrust schussbereit schräg vor der Brust. Plötzlich blieb er stehen und winkte ihnen. Von seiner Position aus konnte man den Platz hinter der Häuserecke einsehen. Er hob zwei Finger zu den Augen und deutete dann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Platz. Er sah also etwas.

Galar prüfte, ob der Bolzen auf der Führungsschiene seiner Armbrust nicht verrutscht war. Die Waffe war gespannt. Es war an der Zeit, sich den Bewohnern dieser verwaisten Stadt zu stellen! Entschlossen trat er um die Hausecke. Nichts Lebendes zeigte sich auf dem Platz. Im hellen Licht der Monde war es fast taghell. Wind trieb feinen Pulverschnee vor sich her, der in drei Wirbeln in der Mitte des Marktplatzes kreiste. Auf der anderen Seite lag ein großes Gebäude, von dessen vorkragendem Dach lange Eiszapfen herabhingen. Hinter einem großen Schneehaufen dicht bei der Mauer leuchtete flackernd gelbes Licht. Rauch stieg auf.

Ohne sich weiter um seine Deckung zu scheren, marschierte Galar mitten über den Platz. Die Armbrust hielt er schussbereit gesenkt, entschlossen jeden zu töten, der ihn aufhalten wollte. Ihm folgten die knirschenden Schritte seiner Gefährten.

Nichts regte sich. Galar blickte misstrauisch zu den Fenstern der umgebenden Häuser. Sie waren mit Brettern vernagelt. Nirgends war ein Lichtschein zu sehen. Nur dort vor ihnen, wo der Abglanz von Flammen auf der Häuserwand tanzte. Dem Zwerg rann Schweiß den Nacken hinab. Etwas war hier und belauerte ihn. Er spürte es ganz deutlich. Eine böse Macht, die auf seinen Untergang sann. Er war kein Feigling, aber gegen einen Feind zu marschieren, der sich nicht zeigte, das war nicht seine Sache!

Er umrundete den Schneehaufen und blickte auf eine eisverkrustete Treppe, die an der Hauswand hinab zu einem Keller führte. Auf ihren Stufen spiegelte sich das Licht eines verborgenen Feuers. Öliger Rauch quoll aus dem Treppenschacht herauf und brannte Galar in den Augen.

»Wir sollten Ailyn holen«, flüsterte Bailin, der an seine Seite getreten war und ebenfalls die Treppe hinabblickte. »Wir wissen nicht, was uns dort unten erwartet.«

»Doch, das wissen wir! Da finden wir die Antwort, warum die Stadt verwaist ist. Ich will sie mir selbst holen und nicht darauf vertrauen, was mir eine verlogene Elfe erzählt. Ich will sehen, was dort ist!« Mit diesen Worten stieg er die Treppe hinab. Das Eis knarzte unter seinen schweren, genagelten Stiefeln. Der Rauch brannte ihm nun auch in der Lunge. Wussten diese verfluchten Menschenkinder nicht, wie man einen Kamin baute? Ließen sie den Rauch ihrer Feuer einfach durch irgendeine Öffnung abziehen?

Am Ende der Treppe fand sich eine offene Tür. Mitten im Durchgang stand eine große Feuerschale, in der mannshohe Flammen tanzten. Geblendet durch das Feuer konnte Galar nur undeutlich sehen, was sich dahinter verbarg. Er erkannte nur andere, kleinere Lichter und schattenhafte Gestalten. Kehlige Stimmen raunten in einer fremden Sprache.

Galar schob mit dem Stiefel die Feuerschale aus der Mitte des Durchgangs zur Wand hin, sodass eine Lücke entstand, durch die er sich an den Flammen vorbeizwängen konnte. Aufgebrachte Rufe erklangen.

Plötzlich sprang neben ihm eine weiße Gestalt durch die Flammen. Angstschreie gellten in dem Keller. Dann erhob sich eine nur zu bekannte Stimme. Ailyn! Galar verstand nicht, was sie sagte. Sie redete eindringlich auf die Menschenkinder ein, wurde aber von einer lauten, klagenden Stimme unterbrochen.

Galar drängte sich am Feuer vorbei neben die Elfe in den Keller. Der Raum war größer, als er erwartet hatte. Offenbar erstreckte er sich nicht nur über die ganze Länge des Hauses, sondern reichte auch noch unter den Marktplatz hinaus. Überall, auch in den zahllosen Nischen, stapelten sich schmutzige Säcke, auf denen hagere, abgehärmte Gestalten kauerten.

»Schieb die Feuerschale zurück an ihren Platz«, befahl ihm Ailyn harsch. »Soweit ich verstanden habe, sollen die Flammen die bösen Geister der Nacht fernhalten.«

Was für ein kindischer Unsinn, dachte Galar bei sich, aber er gehorchte.

Kaum stand die Schale wieder an ihrem ursprünglichen Platz, ging ein erleichtertes Aufatmen durch den weiten Keller. Vor Ailyn schienen die Menschenkinder keine Angst zu haben. Vielleicht hielten sie die hochgewachsene Elfe, die so meisterlich ihre Sprache beherrschte, ja für ihresgleichen. Ihn hingegen musterten sie mit Misstrauen.

Als Ailyn gestikulierend weitersprach, beobachtete Galar sie verstohlen. Woher kannte sie die Sprache der Menschen so gut? Und was beredeten sie? Kein Wort von dem zu verstehen, was besprochen wurde, ärgerte ihn zutiefst. Die Elfe könnte ihm jedes Märchen darüber erzählen. Oder auch die Wahrheit … Er würde es niemals wissen. Gerade deutete Ailyn wieder auf die Tür, durch die sie gekommen war.

Eine ganze Weile ging die Debatte hin und her. Dann endlich wurde es ruhiger, und die Elfe wandte sich an Galar. Die erbärmlichen Gestalten im Keller wirkten niedergeschlagen. »Hinaus jetzt!«, befahl Ailyn.

Galar schob die Feuerschale ein wenig zur Seite und drängte sich daran vorbei. Kaum war auch Ailyn über das Feuer gesprungen, wurde die Schale von innen an ihren ursprünglichen Ort gerückt. »Ich werde nicht mitmachen, wenn du sie auch umbringen willst«, sagte er, als sie gemeinsam die vereiste Treppe hinaufstiegen. Er hatte keine Ahnung, was dort unten eben vor sich gegangen war, aber er würde sich wehren.

»Wie kommst du darauf, dass ich sie töten will?«, fuhr Ailyn ihn schroff an.

»Die Erfahrungen am Albenstern …«

Sie wandte sich abrupt zu ihm um. »Was dort geschehen ist, kann ich nicht mehr rückgängig machen. Das dort im Keller sind keine Krieger. Es sind Seeleute und Lastenträger. Wie dir vielleicht aufgefallen ist, sind sie völlig verängstigt. Sie haben mich für eine ihrer Priesterinnen gehalten. Es war allerdings ziemlich schwer zu erklären, was du bist. Ich habe erzählt, du seist ein missgestalteter Kleinwüchsiger. Ein Geschenk aus den Königreichen jenseits des Großen Wassers an meinen Tempel.«

»Danke!«, knurrte Galar eisig.

»Sie fürchten sich vor irgendwelchen Geistern, die hier durch die Nacht streifen. Deshalb haben sie sich in diesem Keller versammelt. Angeblich hält das Feuer die Geister fern.«

»Geister? Du glaubst ihnen doch nicht?«

Ailyn wirkte unschlüssig. »Wären wir in Albenmark, würde ich das für alberne Ammenmärchen halten. Aber das hier ist eine andere Welt …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es dummes Geschwätz, aber wir werden vorsichtig sein. Bei Tageslicht besteht angeblich keine Gefahr. Die Geister kommen nur nachts. Die Menschenkinder sagen, sie reiten auf dem Nordwind.«

»Und was machen diese Hasenfüße bei Tageslicht? Kommen sie dann aus ihrem Keller raus?«

Ailyn lächelte kühl. »Nein. Sie werden ihr Versteck nicht mehr verlassen. Ich habe ihnen gesagt, dass nun auch noch graue Riesen von Norden gekommen sind. Grässliche Menschenfresser, die es auf sie abgesehen haben. Unsere Freunde sind überzeugt, nur noch dort unten sicher zu sein. Sie haben Lebensmittel und Tran, um Feuer zu machen. Sie werden die nächsten Tage überstehen, bis hier alles vorbei ist.«

»Was wird denn in den nächsten Tagen geschehen?«

Ailyn maß ihn mit einem so abschätzend arroganten Blick, wie nur Elfen es konnten. »Zunächst einmal werden zwei von unseren Trollen hierbleiben. Die beiden Dümmsten aus dieser Schar der Einfältigen.«

»Ah, die grauen Riesen«, sagte Galar.

»Ganz genau. Sollte doch eines der Menschenkinder den Keller verlassen und die Trolle sehen, dann wird es schnell unter die Erde zurückkriechen.«

Galar gefiel diese Formulierung nicht. Es gab nichts Anstößiges daran, unter der Erde oder tief im Fels zu leben!

»Außerdem wird dein einbeiniger Gefährte hierbleiben. Er soll das Hirn der beiden Trolle sein.«

»Ich glaube nicht, dass Glamir das gefallen wird. Er ist …«

»Was ihm gefällt oder nicht, spielt keine Rolle. Er erhält einen Befehl, und dem wird er gehorchen! Es ist das Beste für ihn. Wir anderen gehen zurück zur Brücke. Dort werden wir unsere Schlacht schlagen, denn sie ist gut zu verteidigen. Diese Stadt ohne Mauern hingegen ist nicht zu halten. Sie ist eine einzige große Falle.«

»Was für ein Angriff wird uns denn erwarten?«

Die Elfe sah ihn an, als wäre er ein Idiot. »Was glaubst du denn? Meinst du etwa, es fallen diese Geister über uns her? Menschenkinder werden kommen! Tausende von ihnen. Unsere Anwesenheit hier ist eine Provokation. Mit uns hat die Invasion Nangogs durch die Albenkinder begonnen. Sie werden uns um jeden Preis vernichten wollen.«

Galar durchschaute immer noch nicht, was das alles bedeuten sollte. »Worum kämpfen wir überhaupt? Hier gibt es doch, so wie es aussieht, nichts als Vogelscheiße. Haben wir davon nicht genug in Albenmark?«

Ailyn stieß ein abgehacktes, freudloses Lachen aus. »Hier geht es nicht um etwas so Greifbares wie Scheiße. Wir kämpfen für die Freiheit Albenmarks und Nangogs. Für hehre Ideale werden wir unser Blut vergießen. Wir sind die Streiter des Lichtes und vertreiben die Dunkelheit aus dieser Welt.«

Galar war sich nicht sicher, ob sie das ironisch oder ernst meinte. »Für Streiter des Lichtes haben wir verdammt viel unschuldiges Blut an den Händen.«

Ailyns spöttisches Gehabe war plötzlich wie weggewischt. Sie nickte. »Und damit es sich nicht wiederholt, lassen wir deinen Freund und die Trolle hier. Wir werden an der Brücke viele Menschenkinder töten. Aber diesmal werden es wenigstens Krieger sein. Zuletzt werden sie uns einfach überrennen. Dir ist aufgefallen, dass sie längere Beine haben als du, oder?«

Galar nickte.

»Wenn sie unsere Linien durchbrechen, dann ist es besser, wenn Glamir nicht dort ist.«

»Du kennst also doch seinen Namen!« Der Zwerg war überrascht. Er war überzeugt gewesen, dass sie alle für die kaltherzige Elfe ohne jede Bedeutung seien.

»Natürlich kenne ich euch. Jeden einzelnen Namen. Glamir wäre der Erste, der stirbt, wenn die Zeit des Kämpfens vorbei ist und es nur noch darum geht, wer schneller läuft. Deshalb wird er hierbleiben.«

Galar konnte nicht fassen, was sie da sagte. »Besteht denn keine Hoffnung, dass wir gewinnen?« Er durfte hier nicht sterben! Sein Schicksal war es, die Himmelsschlangen zu stürzen. Er war zu Höherem bestimmt!

»Den Menschenkindern wird ein Sieg hier sehr wichtig sein, und es wäre töricht, sie zu unterschätzen. Ich bin mir ganz sicher, dass es ihnen gelingen wird, uns zu überraschen.«

»Ja, aber haben wir denn keine Bedeutung für die Himmelsschlangen? Man fängt doch einen Krieg nicht an, wenn man nicht glaubt, dass man siegen kann.«

»Ich bin überzeugt, dass wir Albenkinder am Ende gewinnen. Nur ob wir das Ende des Krieges noch erleben werden, wage ich zu bezweifeln. Wir sind nicht mehr als ein Staubkorn in dem Sturm, der aufzieht.«

Galar fluchte. »Also ist alles, was wir tun, sinnlos?«

»Aber nein«, widersprach Ailyn leidenschaftlich. »Wir sind der Funke, der die Flamme des Krieges entzündet.«

»Das war ja eine tolle Rede vor der Schlacht! Ich wünschte, ich wüsste nichts von alledem!«

»Du hast mich gefragt, ob wir hier nur um einen Haufen Scheiße kämpfen. Dieser Krieg beginnt, weil die Herrschenden auf beiden Seiten Angst haben. Die Devanthar glauben, dass die Menschenkinder ohne die Nahrung, die sie auf Nangog stehlen, nicht mehr leben können. Und die Himmelsschlangen fürchten, dass die Menschen als Nächstes nach Albenmark greifen, wenn sie sich Nangog erst einmal untertan gemacht haben. Ein Haufen Scheiße wäre wirklich etwas Handfestes! Wir kämpfen wegen der Ängste der Mächtigen.«

»Warum sagst du mir das alles? Hast du keine Angst, dass ich davonlaufe?«

»Nein«, entgegnete Ailyn, ohne zu zögern. »Dich schätze ich so ein, dass du eine ausgesprochene Vorliebe für aussichtslose Unternehmungen hast. Du willst aller Welt beweisen, dass du vollbringen kannst, was jeder für unmöglich hält. Deshalb wirst du bis zum Ende an der Brücke ausharren. Ich habe dir all dies erzählt, damit du überzeugend bist, wenn du gleich mit Glamir sprichst. Mir ist egal, welche Lügen du ihm auftischst. Ich wünsche nur, dass du erreichst, dass er hierbleibt. Wenn dir klar ist, dass er an der Brücke auf jeden Fall sterben wird, dann wirst du viel überzeugender sein. Also, mach deine Sache gut!« Mit diesen Worten ging sie über den weiten Platz davon.

Galar blieb verstört zurück. Sie hatte ihm freigestellt, Glamir irgendwelche Lügen zu erzählen, damit sein Kamerad das tat, was sie wollte. Hatte Ailyn dasselbe mit ihm getan? Ärgerlich umrundete er den großen Schneehaufen, der die Treppe abschirmte. Er würde an der Brücke sein, um herauszufinden, was Wahrheit und was Lüge war.

»Was habt ihr da unten so lange besprochen?« Glamir stand im Windschatten des Schneehaufens und sah erbärmlich verfroren aus.

»Sie will Trolle hierlassen, um auf die verdammten Menschenkinder dort unten im Keller aufzupassen.«

Glamir runzelte die Stirn. »Warum?«

»Wir werden bei der Brücke kämpfen. Sie hat Sorge, dass sich die Trottel bewaffnen und uns in den Rücken fallen. Das sagt sie zumindest. Angeblich ist ihr das Massaker bei unserem Eintreffen zu Herzen gegangen, aber ich glaube ihr kein Wort. Wenn sie wirklich Sorgen um das Leben der Menschenkinder hätte, dann würde sie doch keine Trolle hierlassen.«

Glamir kratzte sich nachdenklich den Bart. »Da ist was dran.«

»Du erinnerst dich, was Groz als Erstes nach der Schlacht getan hat? Gefressen! Genau das werden die Trolle wieder tun, wenn Ailyn mit uns zur Brücke zurückkehrt. Die werden aus dem Keller ein Schlachthaus machen, und die Menschen werden das Festmahl für unsere Siegesfeier. Aber Ailyn ist das egal.«

»Elfenschlange«, zischte Glamir. »Die ist nicht besser als die verfluchten Drachen.«

»Wir haben uns geschworen, dass die von den Himmelsschlangen angezettelten Massaker ein Ende haben müssen. Hier können wir unseren Eid wahr werden lassen.«

»Was hast du vor?«

»Mit deiner Krücke bist du langsam. Es wird nicht auffallen, wenn du in der Marschkolonne zurückfällst. Während die anderen zur Brücke ziehen, kommst du heimlich hierher zurück und behältst die Trolle im Auge. Und wenn sie die Menschen schlachten wollen, dann benutzt du die Armbrustbolzen, die wir mit Drachentöterpfeilspitzen bestückt haben.«

Glamir schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht. Im Grunde sind mir die Menschenkinder egal.«

»So darfst du das nicht sehen«, widersprach Galar entschieden. »Wir kämpfen ja nicht für die Menschen. Wir kämpfen gegen die Willkür der Himmelsschlangen! Wenn diese Menschenkinder hier überleben, dann ist das unser erster Sieg im geheimen Krieg gegen die Drachen.« Er sah das Funkeln im verbliebenen Auge seines Gefährten und wusste, dass er gewonnen hatte. Ganz gleich, was bei der Brücke geschah, es würde ein Zwerg übrig bleiben, der Drachentöterpfeile besaß. Das war das Einzige, worauf es ankam.

Befreite Geister

Eine angenehm kalte Brise schlug Lyvianne entgegen, als sie durch den Torbogen aus Licht nach Nangog trat. Die Albenpfade hatten sie auf einen kargen Hang hoch in den Bergen geführt. Der Wind trieb unter ihr ein Wolkenmeer in ein enges Tal.

Wunderbar klares Licht strahlte über den rötlichen Felsen. Die Elfe kauerte sich nieder und betrachtete gedankenverloren die majestätische Landschaft. Sie befand sich kaum mehr als zwanzig Schritt über den Wolken. Das wirbelnde Weiß zu beobachten schenkte ihrer Seele Frieden. Sie dachte an ihre toten Kinder und an Anatu.

Was hatte die Devanthar getan? Die Geschichte ihrer Liebe zum Purpurnen schien anders verlaufen zu sein, als die alten Legenden berichteten. Lyvianne zweifelte nicht daran, dass Anatu dem Drachen verfallen war. Sie selbst kannte das unwiderstehliche Charisma der Himmelsschlangen nur zu gut. Wenn ihr Blick auf einen fiel, so bedeutete das höchstes Glück und seelenpeinigende Not zugleich. Glück, weil sie einem Aufmerksamkeit schenkten, und Not, weil nichts schrecklicher war, als unter ihrem kritischen Blick als unwert zu gelten. Ob auch Anatu so empfunden hatte? Was hatten sie und der Purpurne erreichen wollen? Und wie genau waren sie zu Tode gekommen? Wer waren die heimlichen Helfer, die Išta in ihrem Kampf gegen Anatu und den Purpurnen zur Seite gestanden hatten?

Versonnen betrachtete sie den Ring der toten Hohepriesterin Iyali, den sie sich über den linken Daumen gestreift hatte. Ihre übrigen Finger waren zu feingliedrig gewesen, um dem Ring sicheren Halt zu geben. Sie hatte Respekt vor der Toten. Wie viel Hingabe es wohl erfordert hatte, sich in ein Bad mit Säure zu setzen?

Sie musste ihren Geist aus dem Dunkel der Zeit heraufbeschwören. Wenn es stimmte, was der Ebermann behauptet hatte, und die Zunge der Göttin tatsächlich alle Gedanken ihrer Herrin gekannt hatte, dann wusste sie um die Intrige, der Anatu und der Purpurne zum Opfer gefallen waren. Nur ein einziges Geschöpf auf Albenmark war vielleicht in der Lage, einen solchen Zauber zu weben. Ihr selbst würde es nie gelingen, den Geist einer Priesterin zu rufen, die vor Jahrhunderten auf einer anderen Welt gestorben war.

Lyvianne lehnte sich gegen einen Felsen und sah dem Strom der Wolken zu. Sie hätte bis in alle Ewigkeit so stehen können, gefangen vom Schauspiel der Natur und ihren Zweifeln. Es war richtig, erst mit Ergebnissen zum Goldenen zu gehen, entschied sie. Würde sie ihn um Hilfe bei der Totenbeschwörung der Priesterin bitten, wie hoch wäre dann noch ihr Anteil an der Lösung des Rätsels? Sie wollte vor ihm glänzen und nicht als Bittstellerin kommen.

Sie spürte die Unruhe der Grünen Geister, die in ihrem Körper Zuflucht gesucht hatten. Sie war ihnen ihre Freiheit schuldig. Sie waren es gewesen, die sie auf diese Spur geführt hatten. Ein ganzes Zeitalter waren sie in jenen Höhlen gefangen gewesen, in denen die Devanthar ihre Hälfte von Nangogs Herz versteckt hatten. Ob es ihnen Trost gab, endlich wieder in ihrer Welt zu sein, auch wenn sie keine körperliche Gestalt annehmen konnten?

Lyvianne entspannte sich und lockerte die magischen Fesseln, die sie den Kreaturen der Alten Göttin auferlegt hatte. Sie atmete lang aus, ließ los, und sie strömten aus ihr heraus: Blassgrünes Licht wand sich wie Würmer aus ihrem Mund und ihrer Nase. Es tanzte in Spiralen um ihren Leib, wirbelte hinauf in den Himmel und verharrte. Gegen das klare Licht der Sonne waren sie fast unsichtbar. Einige Herzschläge lang verharrten die Grünen Geister hoch über ihr, dann kamen sie herab wie Schlangen, die einen Baumstamm hinabglitten. In engen Spiralen tanzten sie erneut um Lyvianne.

Eisige Kälte umfing die Elfe. Gleichzeitig erfüllte sie eine euphorische Zuversicht, wie sie sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Vielleicht war es die pure Freude der heimgekehrten Seelen, die auch auf sie übergriff. All ihre Zweifel verflüchtigten sich wie Morgendunst unter den Strahlen der erstarkenden Sonne.

Lyvianne würde sich der einen stellen, die ihr helfen konnte. Der, die ihr den höchstmöglichen Preis für ihr Entgegenkommen abverlangen würde. Der, die in ihrem blinden Zorn ganz gewiss vergessen hatte, wem sie ihr Überleben verdankte. Matha Naht!

Die Grünen Geister eilten davon. Sie verschmolzen mit den ziehenden Wolken. Einen Moment lang erinnerte ihr Licht im weißen Dunst an fernes Wetterleuchten, dann waren sie verschwunden.

Die Drachenelfe sprach ein Wort der Macht, und das Tor zum Abgrund zwischen den Welten öffnete sich.

Wer hinter die Spiegel schaut

Išta war überrascht, ihren Bruder, den Ebermann, vor dem großen Schädel knien zu sehen. Hier war er lange nicht mehr gewesen. Jeder, der zur großen Versammlungshalle wollte, musste am Schädel des Purpurnen vorbei, sodass Anatus Verrat niemals in Vergessenheit geraten würde, ebenso wenig wie die Strafe, die sie erhalten hatte. Doch von ihren Brüdern und Schwestern blieb schon lange niemand mehr stehen, um dem wirren Gestammel Anatus zu lauschen.

Lautlos schritt sie durch den von zwei Säulenreihen gegliederten Saal und fluchte stumm über die Zauber, die in dieses Gemäuer gewoben waren. Sie selbst hatte sie ersonnen. Das Gefüge der Wirklichkeit war hier verschoben. Raum und Zeit verzerrt. Fast so schlimm wie in jenem Versammlungssaal, in den sie alle gerufen worden waren. Die Zauber bewirkten, dass sie hier unangreifbar waren. Selbst wenn der Turm ringsherum zusammenbrechen würde, wären sie in Sicherheit, denn die Versammlungshalle lag, auch wenn es so schien, nicht wirklich innerhalb seiner Mauern. Wo genau sie tatsächlich waren, vermochte nicht einmal Išta zu sagen. Zu fremd war diese Magie, und sie hatte es nicht gewagt, diesen Weg weiter zu beschreiten. Vielleicht führte er ja an jenen Ort, den die Alben das Mondlicht nannten.

Der Drachenschädel lehnte an der gegenüberliegenden Wand, nahe der Tür, die zur Versammlungshalle führte. Išta ging entschlossen darauf zu, doch als sie den Schädel fast erreicht hatte, stand sie wie von Zauberhand versetzt wieder bei der Treppe, die hinauf in dieses Gewölbe führte, das Anatu zur Gruft geworden war. Es lag auch an ihrem dunklen Zauber, dass Anatus Wunden nicht heilten, dass der Schock der Verwundung nicht verging und sie seit Jahrhunderten den immer gleichen, schrecklichen Augenblick der Verletzlichkeit und des Ausgeliefertseins durchlebte, ohne dass sie ihre Gedanken in verständliche Worte fassen konnte. Würde man sie aus dem Schädel herausholen und an einen anderen Ort bringen – vielleicht würde sie genesen und das Geheimnis um den Tod des Purpurnen preisgeben. Aber niemand würde Anatu befreien, außer vielleicht ihr Bruder, der Ebermann.

Išta wusste, dass er ihre Schwester geliebt hatte. Doch gerade deshalb hatte sie seine Neugier bislang am allerwenigsten gefürchtet. Zu groß war sein Entsetzen gewesen, als er erfahren hatte, dass seine Geliebte sich auf eine Affäre mit einem der alten Drachen eingelassen hatte. Warum kam er ausgerechnet jetzt hierher, nachdem er Anatu für Jahrhunderte gemieden hatte?

Entschlossen ging Išta ein zweites Mal auf den Drachenschädel zu. Hatte sich da in den tiefen Schatten der Augenhöhlen etwas bewegt? Sah Anatu zu ihr hinüber? Warnte sie den Ebermann?

Wieder wurde Išta durch den Raum zurückgetragen. Das steinerne Kreuzgewölbe über ihr knirschte, und einen flüchtigen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, dass die Säulen ganz am Rand ihres Gesichtsfeldes nach hinten rückten.

Ein drittes Mal ging Išta dem Drachenschädel entgegen. Man wusste in diesem Saal nie, wie oft man seinen Weg machen musste, um wirklich zur Tür am anderen Ende zu gelangen. Plötzlich stand sie neben dem Ebermann, als hätte sie einen gewaltigen Sprung durch die Luft getan. Erschrocken fuhr er zu ihr herum, und sie hörte Anatus wimmernde Stimme sagen: »Hinter dem Spiegel … Du musst hinter dem Spiegel suchen! Dort liegt die Wahrheit!« Ihre Schwester hatte eine Hand zwischen den schwertlangen Zähnen des Drachen hindurchgeschoben. Sie war schmutzig und von Grind überzogen, die Finger gekrümmt wie Tierkrallen, ihre Nägel verwachsen und rissig.

»Tut sie dir leid?«, fragte Išta mit gespieltem Mitgefühl.

Der Ebermann brauchte ein klein wenig zu lange, bis er antwortete. »Sie hat eine Strafe erhalten, die dem Ausmaß ihres Verrats angemessen ist.«

Er griff nicht nach Anatus Hand, die sich ihm so verzweifelt entgegenstreckte. Stattdessen wandte er sich zu ihr, Išta, um. »Verrat verjährt niemals und verdient es auch noch nach einem Jahrtausend, bestraft zu werden.«

Es schwang ein Ton in diesen Worten, der Išta beunruhigte. Auch wenn Anatu wie stets nur wirr davon sprach, dass die Wahrheit hinter dem Spiegel lag, schien es fast, als ahnte der Ebermann etwas. Er stand bei ihren Brüdern und Schwestern nicht in dem Ruf, der Hellste zu sein. War es möglich, dass er dem Geheimnis um Anatu auf die Spur gekommen war? Aber wo? Was hatte sie übersehen? Welche Fährte hatte er nach so langer Zeit noch aufnehmen können?

»Dein Gerechtigkeitssinn ehrt dich, Bruder«, sagte sie lächelnd. »Doch nun lass uns die Versammlungshalle betreten. Wir werden erwartet. Der Gefiederte läuft herum und gackert wie ein aufgescheuchtes Huhn.«

Ihr eberhäuptiger Bruder lächelte. »Ja, gehen wir. Lösen wir das Geheimnis.«

Was sollte diese Bemerkung? Meinte er das Verhalten des Gefiederten oder etwas anderes? Das war nicht der leichtfertige Bruder, den sie kannte. Was hatte ihn verändert? Oder war sie es, die den Worten eine tiefere Bedeutung gab, als in ihnen lag?

Die hohe Tür zur Versammlungshalle schwang auf. Dieser Ort war ihr Meisterstück der Zauberweberei. Fast alle ihre Brüder und Schwestern hatten ihr geholfen, diesen Ort zu erschaffen, der außerhalb der Ordnung der Dinge lag. Aber sie war es gewesen, die den Zauber dazu ersonnen hatte. Sie war enger als alle anderen mit dieser Halle verbunden. Vielleicht war ein Teil von ihrem Selbst in diese Mauern gebunden? Jedenfalls vermochte sie die Halle nicht zu betreten, ohne ein Unwohlsein zu empfinden, das sich hin zur Übelkeit steigerte, je länger sie verweilte und der bizarren Ordnung dieses Raumes ausgesetzt war. Säulen aus leuchtender Finsternis wanderten durch den Raum und rangen mit einem Licht, dessen Glanz nicht reichte, um Schatten zu werfen.

»Endlich sind wir vollzählig!«, rief der Gefiederte erbost. »Was hat euch so lange aufgehalten?«

»Die Vergangenheit«, entgegnete der Ebermann ruhig. Išta bemerkte den kurzen Blick, den ihr Bruder ihr zuwarf. Das war nicht gut! Er wusste etwas!

Der Gefiederte überging die Antwort. »Die Albenkinder sind nach Nangog gekommen«, verkündete er mit sich vor Zorn überschlagender Stimme. »Sie haben eine Karawane, die aus Wanu kam, angegriffen. Meine Männer berichten von grauen Riesen, die über sie hergefallen sind, und von heimtückischen, kleinwüchsigen Ungeheuern, die einen Hagel von Pfeilen auf sie niedergehen ließen. Sie sind also mit Trollen gekommen, und wahrscheinlich haben sie jetzt, in dieser Stunde, bereits die erste unserer Städte in Nangog besetzt. Wir müssen reagieren! Wir müssen dieser Invasion Einhalt gebieten, bevor die Albenkinder Fuß auf Nangog fassen!«

»Ist es nicht ein wenig übertrieben, Wanu eine Stadt zu nennen, Bruder?«, warf der Löwenhäuptige skeptisch ein. »Und welchen Nutzen sollte dieser Angriff bringen? Wären die Albenkinder ins Herz der besiedelten Regionen auf Nangog vorgestoßen, würde ich deine Sorgen teilen. Aber Wanu …? Wohin sollten sie von dort aus gehen? Es wird sich schwerlich ein abgelegenerer Ort auf Nangog finden lassen.«

»So würdest du wohl nicht sprechen, wäre eine deiner Städte besetzt worden«, entgegnete der Gefiederte scharf. »Was ist dein Vorschlag? Einfach zusehen, was sie als Nächstes tun?«

»In der Tat. Genau das würde ich vorschlagen.« Der Löwenhäuptige machte einen Schritt zur Seite und wich einer der Säulen aus Finsternis aus, die durch den weiten Saal wanderten, ihn unübersichtlich machten und ihm seine unheimliche Atmosphäre verliehen.

»Das Reich der Zapote braucht den Dünger, den sie bei Wanu abbauen«, mischte sich Išta ein. Ihr kam gelegen, dass der lang erwartete Krieg mit Albenmark endlich begonnen hatte. Er würde ihre Brüder und Schwestern beschäftigen und zudem eine Ausrede liefern, sollte sie etwas gegen den Eberhäuptigen unternehmen müssen. »Ist es nicht so, dass die Zapote in diesem Jahr eine außergewöhnlich schlechte Ernte erwarten? Wenn nun auch noch der Dünger für ihre ohnehin kargen Felder fehlt, erwartet das Reich unseres Bruders eine schreckliche Hungersnot. Ich bin mir sicher, dass die Himmelsschlangen davon wissen! Das ist der Grund, warum sie Wanu angegriffen haben. Und da sie heimtückisch sind, spekulieren sie bestimmt darauf, dass wir unserem Bruder nicht helfen werden, weil Wanu so weit von allen großen Städten und reichen Landstrichen entfernt liegt.« Sie sah sich beifallheischend um und fuhr selbstbewusst fort: »Auf den ersten Blick scheint Wanu in der Tat bedeutungslos. Bedenkt man es aber genauer, so mag es ein Spaltkeil für unsere Verbundenheit untereinander werden. Wenn wir schon beim ersten Angriff nicht Schulter an Schulter stehen, wie sollen wir den Krieg gewinnen können, der damit begonnen hat?«

Flammen schlugen aus einer der Säulen aus Finsternis, und aus dem Lebenden Licht formte sich die Gestalt eines wohlgewachsenen Kriegers mit Adlerkopf. »Wohl gesprochen, Schwester! Ich bin dafür, dass wir mit aller Entschiedenheit auf diesen Angriff reagieren. Vernichten wir die Albenkinder in Wanu! Schicken wir ein Heer, so stark, dass sie ihm nicht widerstehen können. Endet schon ihr erster Angriff in einem Desaster, dann werden sie es sich gut überlegen, weitere Überfälle zu unternehmen.«

Išta musste über die Vorliebe ihres Bruders für melodramatische Auftritte lächeln. Er liebte diese Auftritte ebenso wie sein Schützling, der Unsterbliche Ansur, Herrscher von Valesia, dessen Stadt Selinunt die Himmelsschlangen vernichtet hatten.

»Schicken wir ein großes Heer!«, forderte nun auch der sonst eher behäbige Große Bär. »Zerschmettern wir sie!«

»Euer Ungestüm in Ehren, Brüder!«, zischte die Sturmruferin. »Aber vergesst nicht alle Vernunft!«

Išta mochte ihre schöne Schwester mit dem sich windenden Schlangenhaar nicht. Sie wäre gerne die Herrscherin über eines der Sieben Großreiche geworden, auch wenn sie sich gerne frei und ungebunden gab. Sie hatte sich nie damit abgefunden, dass Išta den Platz von Anatu eingenommen hatte.

»Ihr bedenkt, wo Wanu liegt?«, fuhr die Sturmruferin fort. »Schickt Männer aus den Steppen Arams oder aus dem Süden von Valesia, und die Albenkinder werden nicht ihre Waffen erheben müssen, um sie zu besiegen. Nangog selbst wird das Töten übernehmen. Dort herrscht strenger Frost, und wütende Stürme fegen über die Eisebenen. Wir brauchen Männer, die an ein solches Klima gewöhnt sind, und sie müssen für einen Krieg im Winter ordentlich ausgerüstet sein.«

»Nein, wir müssen vor allem schnell und entschieden zuschlagen«, widersprach der Adlerhäuptige. »Dieser Kampf wird nur wenige Stunden dauern. Wir bringen unsere Männer durch das Goldene Netz nach Wanu und ziehen sie sofort wieder zurück.«

»Und doch kann Vorsicht nicht schaden«, bellte der Weiße Wolf mit tiefer Stimme. »Ich stelle tausend meiner Steppenreiter aus Ischkuza für diesen Feldzug. Sie sind an Entbehrungen und lange, harte Winter gewöhnt.«

»Ich schicke zweitausend Drusnier unter dem Unsterblichen Volodi«, brummte der Große Bär. »Die sind hart. Wenn denen nicht kalt ist, fühlen die sich gar nicht wohl. Volodi sollte den ganzen Heerhaufen anführen. Er hat Erfahrung im Winterkrieg.«

Išta erinnerte sich, dass Volodi auf der Ebene von Kush am falschen Ende des Schlachtfeldes gestanden hatte, aber sie widersprach dem Großen Bären lieber nicht. Wenn genug Krieger zusammenkamen, dann konnte auch ein Heerführer wie Volodi nicht viel falsch machen.

Weitere Truppenkontingente wurden geboten. Am Ende stand fest, dass der Drusnier mehr als siebentausend Krieger in die Schlacht führen würde. Und es sollte schnell gehen. Bis zum Angriff sollten nicht mehr als zwei Tage verstreichen.

Als die Versammlung endete, nahm Išta ihren Bruder Langarm zur Seite, den Schmied, der die Silberlöwen und so viele andere Wunderwerke erschaffen hatte. Er war kleinwüchsig und so hässlich, dass sie es kaum ertragen konnte, ihn anzusehen.

»Der Ebermann scheint seine alte Liebe für Anatu wiederentdeckt zu haben.«

Ihr missgestalteter Bruder sah sie mit lüsternem Lächeln an. »Ich hatte auch schon mal überlegt, zu ihr in den Drachenschädel zu steigen.«

»Er redet mit ihr, meine ich.«

Langarm lachte. »Da wird er ja nicht viel Vernünftiges zu hören bekommen. Sie spricht doch immerzu nur davon, dass man etwas hinter dem Spiegel suchen soll. Das wird er schnell leid sein.«

»Mich wundert, dass er überhaupt bei ihr war. Keiner hat Anatu so gemieden wie er. Und plötzlich steht er vor dem Schädel und hört ihrem Gestammel zu. Wir sollten ihn im Auge behalten.«

Ihr Bruder schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich kann nicht. Hast du eine Vorstellung davon, wie viel Arbeit ich habe? All die Geflügelten Löwen! Der Unsterbliche Aaron hat sich Dutzende davon gewünscht. Und bessere Waffen für den Krieg und Pläne für Umbauten auf den Wolkenschiffen und Rüstungen …«

»Seit wann hörst du auf die Wünsche von Menschenkindern?«, spottete Išta.

»Es ist der Löwenhäuptige, der mir zusetzt, aber auch unser Bruder, der sich gerne in eine Flamme verwandelt. Sogar der Weiße Wolf bedrängt mich. Die denken alle, ich muss nur einmal mit den Fingern schnippen und …«

Išta hob abwehrend die Hände. »Genug! Ich habe verstanden. Ich werde mit dem Gefiederten sprechen. Aber du wärest gut beraten, dir auch etwas Zeit zu nehmen. Wenn herauskommt, wie unsere Schwester Anatu zum Purpurnen gefunden hat, dann wird das nicht nur meinen Kopf kosten.« Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit.

»Wie sollte das nach all den Jahrhunderten herauskommen? Wir waren so oft bei ihrem Tempel. Da gibt es nichts mehr. Jede Spur hat sich längst verloren.«

»Und wenn wir doch etwas übersehen haben?«

Langarm lachte. »Dann ist der verdammte Eberkopf bestimmt nicht derjenige, der darüber stolpern wird. Dazu hat er kein Talent. Allerdings …« Er rieb sich mit der mächtigen, vom Schmiedefeuer rußgeschwärzten Hand über das Kinn. »Es gibt da etwas, was ich tun könnte. Ich sorge dafür, dass wir es merken werden, wenn er im Tempel herumschnüffelt.« Er sah sie an, und sein lüsternes Lächeln kehrte zurück. »Du müsstest allerdings einen Armreif von mir als Geschenk annehmen.«

»Wozu?«

»Das werde ich dir erklären.« Er trat so dicht an sie heran, dass sie seinen Atem auf den Armen spüren konnte. »Ich vermisse dich«, hauchte er leise.

Išta waren diese Liebesbezeugungen zuwider. Unwillkürlich wich sie um wenige Zoll zurück. Langarms Enttäuschung war unübersehbar. »Noch zweiundvierzig Tage bis zur nächsten Himmlischen Hochzeit«, sagte er triumphierend. »Ich zähle die Tage.«

Ich auch, dachte Išta. Es war ein Fehler gewesen, ihm damals ein Versprechen für die Ewigkeit zu geben. Aber sie hatte ihn gebraucht, ohne ihn hätte sie den Federmann nicht für ihren Plan gewonnen.

»Der Armreif …«, begann Langarm, doch Išta blendete seine Worte aus. Ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit, an jenem Tag, an dem sie den Pakt geschlossen hatte, der ihr ganzes Leben verändert hatte.

Durch fremde Augen

Der Goldene fluchte. Was war geschehen? Warum sah er Ailyn nicht mehr? Oder all die anderen. Nur dieser verkrüppelte Zwerg war geblieben.

Er hatte für seinen Zauber zwei Trolle ausgewählt, um die Ereignisse auf Nangog durch ihre Augen zu sehen. Anders als Kobolde oder Zwerge, die ein einzelner verirrter Pfeil töten konnte, waren Trolle nicht leicht umzubringen. Er hatte zwei ausgewählt, die nicht zu klug waren. So würde nicht auffallen, wenn der Zauber ihnen zusetzte und ihren Verstand angriff. Bei ihnen war davon ohnehin kaum etwas vorhanden.

Doch vielleicht war gerade das der Fehler gewesen. Er hatte alles so gut bedacht und war völlig in die Irre gegangen. Warum waren die beiden in der Stadt der Menschenkinder? Wo steckte der Rest der kleinen Armee? Es war wichtig, dass er wusste, was in Wanu vor sich ging. Er brauchte Späher, um im richtigen Augenblick das Ruder herumzureißen und eine sichere Niederlage in einen vernichtenden Sieg zu verwandeln.

Wieder schloss er die Augen und konzentrierte sich auf die beiden Trolle. Ein paar Herzschläge vergingen. Er rief ein Wort der Macht und spürte, wie sich das magische Netz um ihn herum zusammenzog. Dann sah er erneut durch die Augen eines der Trolle. Er hatte sich nicht einmal ihre Namen gemerkt.

Die Himmelsschlange blickte über einen trostlosen, vereisten Platz, der von schäbigen Häusern umstanden war. Der zweite Troll erschien in seinem Gesichtsfeld. Die Lippen des hässlichen Hünen bewegten sich, aber der Goldene hörte nichts. Er vermochte nur zu sehen. Er könnte auch durch den Troll sprechen, dessen Verstand der Zauber zerfraß wie ein Wurm, der sich in Aas bohrte. Allerdings würde er die Antworten nicht hören. Es wäre nutzlos, diese Anstrengung zu unternehmen.

Der Blick des Trolls senkte sich, und jetzt sah er den Zwerg. Was hatte so ein Kerl in Ailyns Truppe verloren? Ihm fehlten ein Arm, ein Bein und ein Auge. Er war nichts mehr wert. Warum war er dort, wo allein die besten Krieger hätten stehen sollen?

Der Goldene atmete schwer aus und durchtrennte das magische Band, das in die andere Welt reichte. Es kostete viel Kraft, diesen Zauber zu wirken. Er fühlte sich ein wenig schwindelig.

Was konnte er tun? Sein Versagen gegenüber seinen Brüdern eingestehen? Sollte er ihnen sagen, dass er die Kontrolle verloren hatte, noch bevor der Kampf wirklich begonnen hatte? Wie würde er dastehen? Nur zu gut konnte er sich die Häme des Dunklen vorstellen. Der Erstgeschlüpfte würde seine Vormachtstellung im Rat zurückgewinnen, wenn herauskam, was geschehen war.

Verdrossen stieß er einen langen, zischenden Seufzer aus. Wenigstens war er allein. Niemand konnte ihn in dieser Stunde der Verzweiflung sehen. Er würde einen Späher schicken, ganz altmodisch. Einen, dem er blind vertrauen konnte und der noch schwerer zu töten war als ein Troll. Gewiss hatten die Devanthar ihre Truppen noch nicht in Marsch gesetzt. Noch könnte sein Späher durch den Albenstern bei Wanu treten und zurückkehren, ohne bemerkt zu werden. Der Späher durfte nicht lange verweilen. Er sollte nur herausfinden, wo Ailyn und ihre Truppen abgeblieben waren.

Der Goldene weitete seine Flügel. Eine halbe Stunde vielleicht. Länger müsste er nicht fliegen, um seinen Boten zu finden.

Der zweite Tod

Ailyn schritt die Geschützstellungen rechts und links der Brücke ab und hoffte, dass man ihr die Unruhe nicht allzu sehr anmerkte. Alle zehn Speerschleudern waren auf die Brücke ausgerichtet, die kaum mehr als drei Schritt breit war. Sie dennoch überqueren zu wollen wäre reiner Selbstmord. Aber war den Menschenkindern nicht jede Unvernunft zuzutrauen?

Wenn nur diese verfluchte Nacht endlich endete! Sie wusste, dass zu dieser Jahreszeit die Tage im hohen Norden nur sehr kurz waren, aber es zu wissen und es zu erleben waren zwei grundverschiedene Dinge. Die beiden Monde standen tief am Himmel und tauchten die verschneite Landschaft in ein klares, silbernes Licht, das dem wogenden Nebel über dem Fluss eine unheimliche Aura verlieh.

Ailyns Zwerge standen bei den Speerschleudern. Sie redeten kaum und starrten in den Nebel, als könnten Blicke den weißen Dunst durchlöchern. Auch sie waren begierig darauf, dass die Schlacht begann. Aber es konnte noch dauern. Dennoch spürte Ailyn, dass dort draußen etwas war. Das war es, was sie so nervös machte. Die Menschen brauchten Zeit, um ihre Herrscher zu erreichen, Zeit, um Truppen zu sammeln, und noch einmal Zeit, um schließlich hierherzukommen. Es war unmöglich, dass sie jetzt schon dort drüben am anderen Ufer standen.

Die Elfe ging zur Brücke. Der Nebel dort würde wohl niemals nachlassen. Die Sicht betrug kaum zwanzig Schritt. Das war nicht gut für den Einsatz der Speerschleudern. Sie würden kaum Zeit zum Nachladen haben. Galar hatte vorgeschlagen, keine Salven zu schießen, sondern Geschütz für Geschütz einzeln auf Kommando. So wäre die erste Speerschleuder wieder nachgeladen, bevor das letzte Geschütz abgeschossen wurde. Es war ein guter Vorschlag, denn für die Moral der Angreifer war es viel schlimmer, wenn ununterbrochen die tödlichen Speere in ihre Reihen schlugen, als wenn sie ein einziges Mal eine mörderische Salve traf. Hoffentlich schickten sie nicht diese Katzenmänner. Die würde gar nichts aufhalten.

Ailyn trat ein Stück auf die Brücke hinaus. Die alten Bohlen knarrten kaum vernehmbar unter ihren Füßen. Etwas platschte im Wasser. Sie blickte auf den grauen Strom hinab, sah aber nichts. Die Zwerge behaupteten, ein paar ungewöhnlich große Fische gesehen zu haben. Ailyn verstand nicht, warum die Himmelsschlangen vorab keine Späher hierhergeschickt hatten. Es war besser, das Land zu kennen, auf dem man kämpfte. Gab es Raubfische im Fluss oder andere Kreaturen, die ihnen gefährlich werden konnten?

Die Elfe wandte sich um und ging zurück zum Ufer. Sie sollte sich weniger den Kopf zerbrechen! Che und seine Krieger lagen eingerollt in Decken in einer Mulde am Ufer und schliefen. Die Trolle saßen ein Stück entfernt und dösten. Nur die Zwerge hielten Wache. Sie würden ihre Sache sicherlich gut machen. Dieser Galar war ein kluger Kopf und wirkte zuverlässig. Sie konnte ihm die Wache überlassen und sich selber etwas hinlegen. Allzu bald würde sie keine Zeit mehr zum Schlafen haben.

Ein Knarren hinter ihr ließ Ailyn herumfahren. Da war etwas im Nebel. Eine schemenhafte Gestalt, groß wie ein Troll, kam über die Brücke. Er hatte einen seltsam schleppenden Gang. Lebte der Trollkrieger etwa noch, der bei den Kämpfen am Albenstern gefallen war? Eigentlich war das nicht möglich … Anderseits, Trolle waren schwer umzubringen. Ailyn entschied sich, ihm entgegenzugehen.

»Darp?«

Der Troll reagierte nicht. So wie er zugerichtet gewesen war, musste er mehr tot als lebendig sein. Wahrscheinlich schleppte er sich gerade noch mit letzter Kraft weiter.

Die Gestalt schob sich aus dem Nebel, und mit aller Deutlichkeit sah Ailyn nun die schrecklichen Wunden des Trolls: Seine Brust war voller gefrorenem Blut, seine Kehle zerfetzt. Dass er sich noch auf den Beinen halten konnte, grenzte an ein Wunder.

»Ich rufe deine Brüder, Darp. Sie sollen dich stützen.«

Der Troll drehte den Kopf ein wenig, der daraufhin mit einem Ruck nach vorn sackte. Augen aus zerfurchtem, schmutzigem Eis starrten Ailyn an. Als er sich vorbeugte und seine mächtige Pranke nach ihr ausstreckte, wich Ailyn aus. Er taumelte. Einen Herzschlag lang fürchtete sie, er würde stürzen. Waren ihm in der eisigen Nacht die Augen gefroren? Jetzt sah sie noch weitere Schemen im Nebel. Drei … nein, vier. Sie schwankten ähnlich wie der Troll.

»Darp!«, rief sie in scharfem Befehlston. »Was ist los mit dir? Antworte!«

»Dein Leib ist viel schöner als meiner«, erklang eine dunkle Stimme irgendwo in den Nebeln.

Erschrocken trat die Elfe einen Schritt zurück.

Darp hob den Kopf und folgte ihr mit vorgestreckten Armen, als wollte er nach ihr greifen.

»Ich will dich«, tönte die Stimme im Nebel.

Das mussten die Geister sein, von denen die Zapote gesprochen hatten.

»Wer kommt da?«, rief Bailin hinter ihr vom Ufer. »Wer ist bei dir auf der Brücke, Kommandantin?«

Mit unbarmherziger Deutlichkeit zeigte das Mondlicht die Wunde an Darps Kehle. Sie war zu tief. Er musste ausgeblutet sein. Eine solche Verletzung konnte niemand überleben, nicht einmal ein Troll.

Ailyn duckte sich unter den grapschenden Händen weg, wich seitlich aus, packte mit der Linken in das Lederseil, das den Lendenschurz des Trolls hielt, zog sich hoch und hämmerte mit ihrem rechten Ellbogen auf den Nervenknoten dicht unter dem dritten Nackenwirbel. Es war, als schlüge sie auf Eis ein. Darp zeigte keinerlei Reaktion. Jeder andere Troll wäre mit zuckenden Gliedern wehrlos in die Knie gegangen. Jeder außer einem toten Troll, dessen Körper halb gefroren war!

Darp griff sich mit der Linken über seine rechte Schulter, um sie zu packen zu bekommen, aber Ailyn glitt bereits den Rücken des Hünen hinab. Federnd landete sie auf den Füßen und starrte auf den Jaguarmann mit dem aufgebrochenen Brustkorb, der aus dem Nebel kam. Ihm folgte ein Lastenträger, dem ein Troll den rechten Arm abgerissen hatte.

Ailyn wog ihre Alternativen ab: Gegen Tote, die sich aus ihren Gräbern erhoben hatten, würde sie mit Fäusten und Tritten allein nicht ankommen. Sie lief über die Brücke zurück und rief den Zwergen zu: »Die Speerschleudern bereit machen!«

Sofort wurden die ledernen Planen, die die geölte Mechanik des Abschussmechanismus gegen den Frost schützten, zurückgezogen.

Ailyn sprang auf das Ufer und schrie: »Schießt auf den Troll!«

Galar sah sie fragend an. »Auf einen unserer Verbündeten?«

»Schießt!«, befahl sie entschieden.

Die Speerschleudern schwenkten auf Darp ein, der nun für alle deutlich zu sehen war.

»Geschütz eins!«, rief Galar. »Schießt!«

Mit einem metallischen Singen entspannte sich der Bogen des Geschützes und schleuderte den Speer der Brücke entgegen. Um ihren Flug zu stabilisieren, waren die Geschosse der Speerschleudern auf den letzten zehn Zoll befiedert, so wie es Pfeile für Bögen waren. Ailyn sah, wie sich der Speer im Flug um seine eigene Achse drehte. Die Zeit schien langsamer zu laufen, so überdeutlich sah sie selbst kleinste Details: Eiskristalle, die sich aus der Befiederung lösten und im Mondlicht aufblitzten, die polierte, um die eigene Achse wirbelnde Speerspitze.

Der Speer traf Darp in den Magen. Die Wucht des Aufschlags ließ den Troll zurücktorkeln. Seine mächtigen Arme ruderten durch die Luft. Einen Herzschlag lang sah es aus, als würde er auf den Zapote stürzen, der hinter ihm ging, doch dann fing er sich wieder.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Zwerge an den Geschützen.

»Was ist das?«, fragte Galar.

»Unser Untergang, wenn wir sie nicht aufhalten!«

»Zweites Geschütz! Schießt!« rief der Zwerg. »Drittes Geschütz. Höher halten. Zielt auf den Kopf!«

»Was tut ihr!«, brüllte Groz und kam auf sie zu. Hinter ihm ertönte das erboste Geheul der anderen Trolle, die aufgewacht waren und nun sahen, wie die Speerschleudern einem ihrer Brüder zusetzten.

Der zweite Speer traf Darp dicht unter der rechten Schulter. Er wurde herumgerissen, drehte eine halbe Pirouette und stürzte. Der Zapote hinter ihm schritt unbeeindruckt weiter.

»Das ist nicht mehr euer Bruder!«, rief Ailyn. »Die bösen Geister aus dem Eis sind in die Toten gefahren, und nun wollen sie sich die Lebenden holen.«

Che, der unbemerkt zu ihnen getreten war, sah zu ihr auf. »Hätte ich mir denken können. Wenn man mit Drachenelfen auf eine Mission geschickt wird, dann reiten die einen nicht einfach nur in die Scheiße, nein, es muss gleich ein Riesenhaufen Scheiße sein.«

»Dein Schwert!«, befahl Ailyn harsch.

Der Troll war wieder auf die Beine gekommen. Beide Speere hatten seinen massigen Leib durchschlagen. Ihre Spitzen ragten ihm einen Fuß weit aus dem Rücken, doch das hielt ihn nicht auf. Schwankenden Schritts nahm er seinen Marsch zu den Speerschleudern wieder auf.

Che zog die Waffe, die er im Gurt auf dem Rücken trug, und reichte sie ihr mit dem Griff voran. Das Zwergenschwert war gut ausgewogen. Blanker Stahl und ein entschlossener Angriff würden vielleicht helfen, diese Toten wieder zur Ruhe zu legen.

»Drittes Geschütz! Schießt!«, rief Galar. Der Speer zischte davon. Diesmal verfehlte er sein Ziel.

»Nicht weiterschießen!«, befahl Ailyn und lief los. »Nur wenn ich stürze.«

Darp hatte fast das Ende der Brücke erreicht.

»Das ist mein Mann!« Der Boden erbebte unter dem schweren Tritt von Groz, der Ailyn folgte. »Mein Kampf!« Mit diesen Worten schwang er seine wuchtige Keule und versuchte, sich an Ailyn vorbeizudrängen.

Die Elfe ließ ihm gerne den Vortritt, blieb stehen und öffnete ihr Verborgenes Auge. Eine Aura aus dunklem Lila wogte um den Körper des Trolls, sie war aus dem grellen Rot des Zorns und dem Nachtblau jahrhundertealter Trauer geboren. Am stärksten leuchtete die Aura um den Kopf des Trolls. Ailyn blickte weiter die Brücke hinab. Auch die anderen Gestalten waren von einem Lichtkranz aus dunklem Lila umgeben. In der Welt, wie die Elfe sie durch das Verborgene Auge sah, gab es keinen Nebel. Deutlich erkannte sie die Gestalten weiter hinten auf der Brücke. Dutzende Tote hatten sich erhoben. Sie schienen abzuwarten, wie ihr Voraustrupp sich schlug.

Ein wütender Schrei ließ Ailyn den Zauber beenden. Groz drosch mit seiner Keule auf Darp ein. Sein früherer Kamerad hob einen Arm, um sich zu schützen.

Deutlich hörte die Elfe Knochen knacken, als die schwere Waffe auf den Arm traf. Sie eilte an die Seite von Darp und stieß ihm ihr Schwert in die linke Kniekehle. Doch obwohl Ailyn spürte, wie die Klinge zwischen dem Gelenk hindurch bis zur Innenseite der Kniescheibe stieß, gab der Troll keinen Schmerzenslaut von sich. Erst als ein weiterer Keulenhieb von Groz ihn traf, schwankte er.

Der tote Zapote versuchte Ailyn seine verbliebene Krallenhand ins Gesicht zu stoßen. Die Elfe ließ ihr Schwert los, das sich zwischen den Knochen des Trolls verkeilt hatte, wich dem Angriff aus und hieb dem Jaguarmann in die Armbeuge, sodass der Arm mit der Waffe einknickte und die Krallen auf sein Gesicht zeigten. Ein kurzer, harter Stoß gegen den Ellenbogen des Kriegers trieb ihm seine eigenen Krallen ins Gesicht. Er gab einen gurgelnden Laut von sich. Eine der Krallen war ihm durchs Auge tief in den Kopf gedrungen.

Ein Luftzug strich über die Brücke und griff nach den Säumen von Ailyns Kleid. Wie ein gefällter Baum ging der Zapote zu Boden. Die Elfe flüsterte ein Wort der Macht und öffnete ihr Verborgenes Auge erneut. Die Aura des Jaguarmanns war verschwunden. Nur wenige, schwache Kraftlinien verbanden ihn noch mit dem Netz aller Dinge. Jetzt war er wirklich tot. Was immer ihn beherrscht hatte, war gegangen.

Aber da waren noch so viele andere!

Groz keuchte auf. Ailyn blinzelte kurz. Sie wagte es nicht, schon wieder die Sicht auf die Welt zu verändern. Sie wäre einen kurzen Augenblick geblendet – töricht, diesen Zauber mitten in einem Gefecht anzuwenden!

Darp war in die Knie gebrochen. Er hatte die Arme um die Beine von Groz geschlungen. »Zerschmettere ihm den Schädel!«, rief Ailyn. Sie wusste, dass Trolle aus irgendwelchen rituellen Gründen davor zurückschreckten, Schädel zu zerstören, insbesondere bei ihresgleichen. Sie befürchteten, dass der Geist eines solchen Kriegers sie rastlos verfolgen würde. Es sah aus, als versuchte Darp seinem Anführer ins Bein zu beißen, während Groz immer wieder den Griff seiner Keule auf die Schultern des Kriegers hämmerte, in der Hoffnung, dass dieser endlich seine verzweifelte Umklammerung löste.

Eine kleine Gestalt erschien hinter Groz. Seine Aura war unverwechselbar. Gold und Purpur, jetzt mit einem unübersehbaren Anteil an kaltem Blau, der Farbe der Furcht. Es war Che, der Anführer der Kobolde.

»Nimm deine Armbrust und schieß denen, die dort hinten kommen, in den Kopf. Nur so kannst du sie aufhalten. Ich werde dir helfen, sobald ich das Schwert zurückgeholt habe.«

Ailyn sah, wie das Blau noch stärker wurde, doch Che überwand seine Angst. Er ging auf die unheimlichen Gestalten zu, hob die Waffe an die Schulter, und seine Hände zitterten nicht, als er zum ersten Mal schoss.

Ailyn kniete neben Darp nieder und packte den Schwertgriff. Sie musste es gegen die Gelenkknochen hebeln und mehrfach auf und nieder bewegen, um die Klinge zu befreien, doch Darp schien davon nichts zu bemerken. Er war ganz in sein Ringen mit Groz vertieft und fühlte offensichtlich keine Schmerzen.

Endlich kam das Zwergenschwert frei. Ailyn setzte die Waffe im Nacken des Trolls an. An der Stelle, an der die Wirbelsäule in den Schädel mündete. Mit einem Fausthieb auf den runden Knauf der Waffe trieb sie die Klinge ins Hirn des Trolls. Augenblicklich sackte er in sich zusammen, und wieder spürte die Elfe den eisigen Luftzug, so wie eben, als sie den Zapote besiegt hatte.

»Sie ziehen sich zurück!«, rief Che erleichtert. »Ich habe sie in die Flucht geschlagen!«

Ailyn ließ den Zauber weichen, der ihr den Blick in die magische Welt erlaubte. Einen Herzschlag lang fühlte sie sich desorientiert. Selbst das silberne Licht der schwindenden Vollmondnacht erschien ihr unangenehm grell. Dann sah sie wieder klar. Vor ihr stand Groz, ein Hüne, mehr als drei Schritt hoch, einer der machtvollsten Kämpfer seines Volkes, und sein Antlitz war eine Maske des Grauens. Blutige Striemen liefen über seine Brust, und kreisrunde Bisswunden zeichneten seine Oberschenkel.

»Schluss mit Schreien«, grollte der Troll. »Das ist kein Sieg!«

Che war unübersehbar beleidigt, wagte es aber nicht, Groz herauszufordern.

»Stoßt die Toten in den Fluss«, befahl Ailyn müde. »Soll das Wasser sie ins Meer tragen, zum Fraß für die Ungeheuer, die dort leben.« Sie fixierte den Troll. »Und diesmal ehrt ihr keine Helden, indem ihr Teile von ihnen verschlingt. Diese Körper waren besessen. Ich weiß nicht, ob ihr es dem Feind leichter macht, nach euch zu greifen, wenn ihr dieses Fleisch verschlingt.« Sie sah zu Che. »Oder wenn ihr Mützen in das Blut dieser Toten taucht.«

»Was geht hier eigentlich vor sich?« Che hatte trotz seines Sieges noch nicht zu seiner selbstsicheren, überheblichen Art zurückgefunden.

Ailyn stieß sein Zwergenschwert vor ihm in die Bohlen der Brücke. »Deine Waffe.«

»Werden sie zurückkommen?«, wollte nun auch Groz wissen.

»Wenn sie dumm sind«, entgegnete Ailyn ruhig. »Wir wissen nun, wie man sie tötet. Wir werden sie auch ein zweites Mal besiegen.«

Mit diesen Worten ging sie zum Lagerplatz am Ufer zurück. Kurz überlegte die Drachenelfe, ob sie den Kampf um Wanu nicht aufgeben sollten, solange sie noch zurückkonnten. An einem Ort eine Schlacht zu schlagen, an dem die Toten sich wieder erhoben, um erneut zu kämpfen, war der blanke Wahnsinn. Aber sie wusste, was der Goldene und die anderen Himmelsschlangen sagen würden. Sie waren nicht hier, um zu siegen. Sie waren der Köder. Es war längst ausgemacht, dass sie verschlungen werden würden.

Die Stadt der toten Kinder

»Aufstehen, Mädels!« Kiras Rufe wurden von dröhnenden Schlägen auf den großen, leeren Suppentopf begleitet. »Aufstehen!«

Shaya rollte sich aus ihren Decken und tastete als Erstes nach den Kissen, in die sie ihre Kräuter eingenäht hatte. Die Frauen stahlen wie die Raben! Erleichtert stellte sie fest, dass noch alles da war. Gut, denn sie hatte sich geschworen, zurückhaltend zu sein. Wenn sie in einer Prügelei ihr Können nutzte, würde Aaron davon erfahren. Sie musste unauffällig bleiben. Inzwischen war ihr bewusst, dass es ein Fehler gewesen war, sich dem Tross der Truppen Arams anzuschließen, aber sie hatte wenigstens für dieselbe Sache kämpfen wollen wie ihr Geliebter.

»Endlich wach?«, rief Kira. »Bewegt eure Ärsche aus den Decken! Seht mal, wer zu Besuch ist. Ein hübscher Kerl steht hier neben mir, und er ist ganz versessen darauf, gleich ein paar von euch abzuschleppen.«

Diese Worte wirkten. Dem Namen nach waren sie Näherinnen, Köchinnen oder Wäscherinnen, zuständig für all die kleinen Arbeiten, ohne die ein Heer nicht wirklich marschierte. Doch dafür wurden sie so schlecht entlohnt, dass es nicht zum Leben reichte. Fast alle verdienten sich in den Nachtstunden ein paar Kupferstücke dazu, indem sie sich verkauften. Ein Geschäft, das nie versiegte, selbst wenn die Krieger zerlumpt und barfuß marschierten.

Shaya würde diesen Weg nicht gehen. Sie hatte für all ihre Münzen Heilkräuter gekauft. Sie wollte das Wissen nutzen, das ihr Shen Yi Miao Shou geschenkt hatte, als er wusste, dass er dafür, dass er ihrem Vater, dem Unsterblichen Madyas, einen Gefallen getan hatte, der ein Staatsgeheimnis bleiben musste, mit dem Leben bezahlen würde. Der alte Heilkundige vom Seidenfluss hatte ihre Jungfräulichkeit wiederhergestellt, damit sie zur Heiligen Hochzeit an den Unsterblichen Muwatta verschachert werden konnte. Ein Geschäft, das ihren beiden Staaten Frieden und ihrem Vater tausend Pferde eingebracht hatte.

Sie lächelte müde. Einst war sie tausend Pferde wert gewesen, und heute war sie schon froh, wenn sie am Ende des Tages eine Handvoll Reis hatte und sich nicht hungrig in ihre Decke rollen musste.

»Meine Damen …«

Die Anrede durch den Hauptmann wurde mit allgemeinem Gekicher quittiert. Die Frauen hier waren es nicht gewohnt, Dame genannt zu werden. Allerdings hatte er es damit geschafft, dass auch die verschlafenste Trosshure zu ihm blickte und aufmerksam lauschte.

»Meine Damen«, wiederholte er und hob die Arme, um sie zur Ruhe zu rufen. Er war noch jung. Ihm spross kaum der erste Bart. Er trug einen Leinenpanzer, auf den ein Löwenhaupt gestickt war. Über die Schultern hing ein Umhang aus schwerer roter Wolle, der von einer goldenen Brosche in Form eines Vogels gehalten wurde.

Ein wenig unmännlich, dachte Shaya. Vielleicht ein Geschenk seiner Geliebten. So wie er gekleidet war, stammte er gewiss aus reichem Hause.

»Hört auf zu kichern, ihr dummen Gänse!«, fluchte nun Kira. Sie war ganz und gar das Gegenteil des jungen Hauptmanns – so dürr, wie man nur sein konnte, wenn man seit Langem hungerte oder Würmer hatte. Ihr Gesicht war schmal, die Augen hart, das dunkelbraune Haar lang und strähnig. »Lasst ihn reden!«

»Der Unsterbliche Aaron schickt mich«, begann der Jüngling etwas unbeholfen. »Ich soll fünfzig Damen aussuchen, die einen Teil unseres Heeres in den hohen Norden begleiten sollen. Es dürfen nur Damen sein, die an die Unbilden harter Winter gewöhnt sind …«

»Wir sind an ganz andere Unbilden gewöhnt als an pfeifende Winde«, rief Ninwe dazwischen. »Du hättest mal sehen sollen, was mich gestern Nacht besucht hat. Bei den Göttern, hat der gestunken! Ich dachte, mir bleibt die Luft weg. Zum Glück wollte er von hinten ran.« Wieder wurde gekichert. Ungewaschene Liebhaber kannte jede hier. Ninwe war die dickste unter den Frauen und bei den Männern außergewöhnlich beliebt. Vielleicht weil sie sich ihr gelocktes Haar rot färbte und angeblich auch jedes andere Haar an ihrem Körper, oder einfach nur, weil es sich angenehm anfühlte, sie anzufassen. Hätte Kira nicht ihren Kupferkessel besessen, wäre ganz sicher Ninwe die Wortführerin der Frauen gewesen; sie war allgemein beliebt.

»Der Feldzug wird nur wenige Tage dauern«, fuhr der Jüngling diesmal unbeirrt fort. »Aber diese Tage werden euch alles abverlangen. Sie werden eine schreckliche Strapaze sein. Nur wer gut bei Kräften ist, kalte Winter kennt und warme Kleidung besitzt, darf mit in den Norden gehen. Und noch eines. Ihr dürfte keine Angst haben, ein weiteres Mal durch das große Dunkel zwischen den Welten zu schreiten. Das wird der Weg sein, auf dem wir nach Norden reisen.«

»Und was wollt ihr da im Norden?«, fragte Ninwe skeptisch. »Wir sitzen hier mit einem Riesenhaufen von Bastarden fest, denen es langweilig ist. Das ist gut für das Geschäft! Was machst du eigentlich heute Abend? Schenk mir das hübsche Vögelchen an deinem Umhang, und ich lehre dich ein paar Dinge über das Vögeln, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst.«

Der junge Hauptmann wurde rot und räusperte sich. »Ich werde mit nach Norden ziehen. Wir werden schon heute am frühen Abend gehen. Gegen wen gekämpft werden soll, weiß ich nicht, dafür bin ich nicht bedeutend genug, doch es heißt, dass die Unsterblichen ein großes Heer zusammenziehen, um eine Schlacht zu schlagen.«

Ein leises Raunen ging durch die Reihen der Frauen. Eine Schlacht verhieß schnelles Gold. Sie konnten die Toten und Verwundeten auf dem Schlachtfeld ausplündern, sobald die Kämpfe vorüber waren, und die Überlebenden waren meist sehr großzügig mit der Beute, die sie gemacht hatten. Eine Nacht lang einen Krieger die Schrecken des Gemetzels vergessen zu lassen konnte einer Hure leicht so viel einbringen wie die Arbeit eines ganzen Mondes in Friedenszeiten. Angeblich war Kira auf diese Art zu ihrem Kupferkessel gelangt. Sie hatte ihn nach der Schlacht auf der Hochebene von Kush bekommen.

»Ich mag gut gewaschene Jünglinge«, rief Ninwe und fasste sich mit großer Geste an ihren üppigen Busen. »Da wo du hingehst, da will auch ich sein!«

»Dein sonniges Gemüt wird uns sicherlich wärmen, wenn wir in den Norden ziehen«, erwiderte der Hauptmann, war dabei aber immer noch rot und wirkte reichlich verlegen. »Wer von euch mitkommen will, soll sich bis zur Mittagsstunde auf dem Markt der Langhornrinder einfinden. Von dort werden die Truppen abmarschieren. Uns werden überwiegend Männer aus den östlichen Provinzen begleiten. Aus Issedon und den beiden Garagum. Wer damit ein Problem hat, sollte besser nicht mitkommen.«

Es wurde schlagartig still. Die Männer aus Garagum galten als Barbaren, die ihre Frauen gerne schlugen. Mit den Issedonen war es noch schlimmer. Es gab Gerüchte, dass, starb einer ihrer Krieger oder Jäger, sie beim Leichenschmaus dem Toten das Fleisch von den Knochen schnitten, es zusammen mit dem Fleisch eines Rinderbullen schmorten und als Leichenschmaus auftischten. Auch hieß es, dass die Söhne ihre Väter so sehr liebten, dass sie deren Schädel in Gold einfassten und deren Gräber zum Jahrestag ihres Todes öffneten, um mit ihnen gemeinsam zu feiern.

Kira schlug mit dem Schöpflöffel, den sie immer noch in der Hand hielt, gegen den leeren Kupferkessel. »Mir macht’s nichts aus, mit Issedonen zu tun zu haben. Ich bring sogar einen Kessel mit, wenn’s ans Fleischschmoren geht.«

Diesmal lachte niemand.

»Ihr wisst nun also Bescheid.« Auch der junge Hauptmann wirkte peinlich berührt über diese Bemerkung. »Wen das alles nicht schreckt, der soll sich zur Mittagsstunde am Markt der Langhornrinder einfinden. Es soll euer Schaden nicht sein.« Er hob etwas linkisch die Hand zum Gruß, sah aber niemand Bestimmtes dabei an. Dann verließ er den Karawanenhof, auf dem die Frauen ihr Lager zugewiesen bekommen hatten.

Ninwe pfiff ihm hinterher, aber er drehte sich nicht mehr um. »Netter Kerl, aber sich mit Issedonen abgeben …« Sie spuckte aus.

Shaya erhob sich von ihrem Lager und schichtete ihre in Stoff gewickelten Kräuterpäckchen auf ihre Wolldecke.

»Willst du wirklich mit ihm gehen?«, fragte Ninwe ungläubig.

»Die Kleine hat doch recht!«, mischte sich Kira ein. »Ich werde auch gehen. Auf Schlachtfeldern wird man reich.«

»Du solltest nicht nur an die Krieger denken.« Ninwe drehte ihre langen Locken und lächelte verschmitzt. »Nangog ist der beste Platz, den eine Hure sich nur wünschen kann. Wir können hier nicht aus Versehen schwanger werden, und auf mehr als hundert Männer kommt nur eine Frau. Zwei, drei Jahre hier, und jede von uns kehrt als reiche Matrone nach Hause zurück. Seid also nicht dumm und lauft den Kriegern nach! Wenn ihr euch in einen verliebt, verreckt er im nächsten Mond. Wird vom Fleckfieber dahingerafft, stirbt an Entkräftung, wird als Deserteur zu Tode geprügelt, weil er zu sehr euren Rockzipfeln nachgelaufen ist, wird beim Würfelspiel erdolcht oder von den Feinden des Unsterblichen Aaron auf dem Schlachtfeld massakriert. Glaubt mir, Kinder, ich weiß, wovon ich rede. Ich angele mir hier einen reichen Kaufmann oder einen Rinderfürsten aus der Messergras-Steppe oder einen Goldsucher, der sein Glück gemacht hat.«

»Träum nur weiter.« Kira spuckte auf einen schmutzigen Lappen und begann damit, ihren Kessel zu putzen. »Glaubst du, einer mit Geld will eine von uns. Der holt sich ein Liebchen von zu Hause hierher.«

»Nur dass nicht viele Liebchen hierherkommen wollen«, entgegnete Ninwe triumphierend. »Naga – die Stadt der toten Kinder. Wer kennt ihre Geschichte nicht und die des unglücklichen Satrapen Siran. Hier will keine normale Frau hin. Und die Männer geben dir ihr letztes Hemd für eine schöne Nacht. Wir müssen es nur richtig anfangen, Mädels, und jede von uns wird reich. Ich hab eine Geschichte über eine Hure in der Goldenen Stadt gehört, die man die Seidene nannte. Sie besaß einen eigenen Palast, und die Statthalter der Unsterblichen bettelten um ihre Gunst.«

»Siran soll ein Geizkragen sein, und seit den Ereignissen mit den …« Kira stockte. Sie, die sich sonst immer so kaltherzig gab, wirkte plötzlich aufgewühlt. »Also seit das damals passiert ist, hat er angeblich keine Frau mehr angerührt. Da ziehe ich lieber auf ein Schlachtfeld. Das ist das sicherere Geschäft.«

Shaya dachte an ihre Kinderfrau, die ihr vor langer Zeit die Geschichte über die Stadt der toten Kinder erzählt hatte. Naga war aus den dunklen Basaltblöcken erbaut, die man in der Steppe fand. Die Stadt war schwarz und abweisend – vor allem war sie viel zu groß für die wenigen Einwohner, die hier lebten. Sie hatte einen Hafen mit Liegeplätzen für mehr als hundert Flussschiffe, zwei Dutzend Karawansereien lagen in den Außenbezirken und verfielen nun langsam. Siran hatte geglaubt, dass Naga ein wichtiges Handelszentrum werden würde. Der Ort, an dem sich die Karawanenstraßen aus Nord und Ost trafen. Wo die Güter aus der weiten Steppe auf den Gelben Fluss verschifft wurden, um zu den reichen Hafenstädten am Meer der Silberrücken gebracht zu werden. Doch die düsteren Basaltmauern bedrückten die Menschen, die hier lebten. Kein Lachen erklang in den weiten Prachtstraßen Nagas, und bald wurde die Stadt gemieden.

Da beschloss Siran, dass die Straßen von Kinderlachen widerhallen sollten, und er befahl, die düsteren Mauern unter weißem Putz zu verstecken. Aus seiner Heimatsatrapie ließ er schwangere Frauen nach Naga bringen, und auch alle Waisenkinder wurden in die düstere Stadt gebracht.

Doch in der Stadt am Gelben Fluss schien der Fluch Nangogs noch schlimmer zu wüten als anderswo. Der Putz bröckelte immer wieder von den Mauern, und von den schwangeren Frauen brachte nicht eine ein lebendes Kind zu Welt. Auch die Waisen verkümmerten. Nach einem Jahr lebte nicht ein einziges Kind mehr in der Stadt, und statt Lachen erklang Heulen und Wehklagen in den weiten Prachtstraßen.

Shaya erinnerte sich noch genau, wie ihre Kinderfrau die Geschichte beendet hatte. Immer noch sucht der Satrap Siran nach Kindern für seine Stadt, und seine Schergen durchstreifen jedes Land. Sie holen sich jene Kinder, die widerborstig sind, die zu weit in die Steppe hinausreiten oder sich nachts heimlich aus den Jurten schleichen.

Shaya hatte ihr Verhalten nach dieser Geschichte nicht wirklich geändert, aber der Schatten des Satrapen Siran hatte auf ihrer frühen Kindheit gelegen. Wann immer sie sich davongeschlichen hatte, hatte sie an ihn denken müssen. Und nun, nach all den Jahren, hatte das Schicksal sie in seine Stadt verschlagen. Sie hatte zum Tross der fünftausend Krieger gehört, die hierher verlegt worden waren, weil die Rinderherden der Steppe genug Nahrung boten und sie in den leerstehenden Karawansereien und Lagerhäusern Quartiere beziehen konnten. Shaya hatte nur die Wahl gehabt, mitzugehen oder in Aram zurückzubleiben. Doch in dieser verfluchten Stadt wollte sie keinen Tag länger als nötig verweilen.

Aaron hatte seine Krieger bisher immer selbst in die Schlacht geführt. Ganz sicher würde auch er nach Norden gehen. Und sie wollte doch in seiner Nähe bleiben, um ihn zumindest manchmal von ferne zu sehen. Das war noch ein zweiter Grund, Naga zu verlassen.

Shaya rollte die Decke mit den Kräuterpäckchen zusammen und schnürte beide Enden fest mit einer Schnur zusammen. Dann warf sie sich die lange Rolle über die Schulter und griff nach dem Tragekorb, in dem sich ihre restlichen Habseligkeiten befanden. Sie würde nicht bis zur Mittagsstunde warten, sie würde schon jetzt zur Sammelstelle gehen.

»Das ist nicht dein Ernst, Kleine«, rief Ninwe ihr nach. »Das wird keine Schlacht wie in unserer Heimat werden. Dort gibt es Ungeheuer, die einem das Fleisch von den Knochen reißen, und böse Zauberer, die Menschen in unheimliche Gestalten, halb Mensch, halb Tier, verwandeln.«

»Lass dich von der fetten Kuh nicht verrückt machen.« Kira war ebenfalls aufgestanden und hob sich nun ihren schweren Kupferkessel auf den Rücken. »Warte, Shaya, ich komm mit dir. Wenn das Heer marschiert, dann steht eine Schlacht bevor, und ich habe noch nie gehört, dass ein Feldherr eine Armee von Ungeheuern aufgestellt hätte. Nicht einmal hier in Nangog.«

Gemeinsam durchquerten die beiden das verfallene Tor der Karawanserei. Jetzt erst bemerkte Shaya den weißen Putz, der am Fuß der Mauern lag. Er war zerbrochen wie ihre Träume. So wie Naga, der Stadt des verfluchten Satrapen Siran, waren auch ihr nur noch ihre Ängste geblieben.

Der Feind

Kolja saß auf seiner Decke und tastete über seinen Rücken. Da war noch das Loch in der Weste, wo der Kristall in seinen Rücken gedrungen war. Er schob einen Finger durch die zerrissene Kleidung und tastete tiefer, bis hinab zur Wunde. Schorf hatte sich über der Verletzung gebildet. Er drückte leicht auf die Kruste, und ein dumpfer Schmerz pulste in seinem Rücken. Langsam verstärkte er den Druck. Er müsste diesen verfluchten Kristall doch fühlen können! Das Ding war so lang wie ein Finger gewesen. Hatte es sich etwa aufgelöst und vergiftete ihn langsam? Im Gesicht und an den Armen spürte er seit Stunden ein unangenehmes Kribbeln, so als würden Tausende Kakerlaken auf ihm ein Tanzfest veranstalten. Es war unmöglich, so zu schlafen. Auch pochte in seinem Armstumpf ein dumpfer Schmerz. Nur dieser Kristall, der in seinem Rücken steckte, fehlte in der Sammlung der Unannehmlichkeiten. Es war, als wäre er verschwunden.

Kolja streckte sich auf seinem Lager, fand aber weiterhin keinen Schlaf. Die Ereignisse des Abends gingen ihm durch den Kopf. Die Männer standen unter Schock. Dass der Prediger tot war, hatten sie noch gar nicht richtig begriffen. Ausgerechnet er, der Auserwählte der Großen Göttin. Sobald sie die Wahrheit akzeptierten, würde es Ärger geben. Doch Kolja war entschlossen, den Plan des Predigers zu Ende zu führen und das Traumeis zu ernten. Und dann würde er sich auf den Weg nach Süden machen. Er war keiner, der einfach aufgab und darauf wartete zu verrecken. Vielleicht müsste er ein oder zwei der Wolkenschiffer in den Krater werfen, damit die anderen einsahen, dass es besser war, von nun an ihm zu gehorchen.

Er brütete darüber, wer von den paar Mann am besten als abschreckendes Beispiel taugte. Wessen Tod würde den größten Eindruck hinterlassen? Sollte er Nabor umbringen? Nein, als Lotse kannte er den Weg nach Süden besser als jeder andere. Wenn ihre Kräfte so weit reichten, wäre er es, der sie nach Wanu führen könnte. Und trotz seines Alters war er ein zäher Hund. Er würde sich durchbeißen, wo jüngere Männer aufgaben.

Ein Geräusch, das nicht zum nächtlichen Lärmen in ihrer engen Zuflucht passte, riss Kolja aus seinen Gedanken. Angespannt lauschte er. Ein Ende der Segeltuchplane, mit der sie die Landungskörbe abgedeckt hatten, die ihre notdürftige Zuflucht bildeten, hatte sich losgerissen und flatterte im Wind. Einige der Männer schnarchten, andere atmeten schwer, und Nabor stieß im Schlaf unregelmäßig einen pfeifenden Laut aus. Aber da war noch etwas. Ein heimlicher Laut, der nicht in diese Symphonie der Nacht passte. Ein Geräusch, wie man es nur machte, wenn man argwöhnisch darauf achtete, kein Geräusch zu verursachen. Ein leises Schaben.

Kolja öffnete die Augen einen winzigen Spalt, achtete aber sorgsam darauf, sich nicht zu bewegen. Die Flammen in der Feuerschale am Eingang ließen unstetes Licht über die aus Astwerk geflochtenen Wände der Landungskörbe tanzen. Die Männer rechts und links neben ihm lagen still. Kolja verdrehte die Augen bis zum Äußersten.

Nabors Affe war aus dem Nest in den Armen des Lotsen gestiegen und auf eines der wenigen Fässer mit Salzheringen geklettert, das sie aus den Vorräten des Schiffes hatten retten können. Das Vieh sah misstrauisch in Koljas Richtung, als spürte es, dass es beobachtet wurde. Es hatte den Dolch Barnabas in der Hand. Jene Waffe, die der Prediger einem der wandelnden Leichname in den Schädel gerammt hatte. Kolja hatte sie nach den Kämpfen geborgen. Es war eine meisterhaft geschmiedete Klinge, und der Drusnier hatte sich gefragt, wie ein Priester an eine solche Waffe gelangt war. Darauf würde er nie mehr eine Antwort bekommen. Was aber wollte der Affe mit dem Dolch? Spielen? Zu Beginn der Reise war er manchmal ausgelassen durch die Takelage des Wolkenschiffs geturnt und hatte dabei keckernde Freudenschreie ausgestoßen. Doch seit der Nacht in der Lotsenkanzel war der kleine Affe verändert. Kolja war immer noch davon überzeugt, gesehen zu haben, wie der Affe gestorben war, als der Schatten der Krallenhand auf ihn gefallen war.

Sollte er etwa …? Nein, er konnte kein Wiedergänger wie Sangan und die Toten dieser Nacht sein. Er hatte nicht diese Augen, die wie zerschrammtes Eis aussahen. Kolja drehte ein wenig den Kopf, um den Affen besser im Blick zu haben. Was hatte dieses kleine Biest nur vor?

Eine wütende Bö ließ die Wände aus Flechtwerk erbeben. Das grelle Licht eines Blitzes strahlte durch die feinen Spalten in den Korbwänden, wo der Wind die Plane gelöst hatte. Kolja hatte noch nie so viele Gewitter in so kurzer Zeit erlebt. Schlich etwa dieses Ding, dessen Schatten in der Lotsenkanzel auf den kleinen Affen gefallen war, draußen um ihren Unterschlupf?

Für den kleinen Affen war Barnabas Dolch so lang wie ein Speer für einen ausgewachsenen Mann. Er lehnte sich die Waffe gegen die Schulter, hielt sich mit einer Hand am Rand des Heringsfasses fest und ließ sich dann zu Boden gleiten. Kolja stutzte und dachte wieder an den Affen, der tollkühn durch die Takelage geturnt war. War das hier noch dasselbe Tier? Er bewegte sich plump und schwerfällig und so, als würde er alles vorher überdenken.

Hinter dem Fass war der Affe nun außer Sicht. Dafür erklang ein Knarren, als zerrte es an den Weidenruten, aus denen die Landungskörbe geflochten waren. Vorsichtig, ganz darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, setzte Kolja sich auf, aber es half nicht, der Affe war weiterhin außerhalb seines Sichtfeldes.

Was machte er sich Sorgen wegen des Tiers? Was konnte der kleine Affe schon ausrichten, selbst mit einem Messer … Der Drusnier kratzte sich die juckende Stirn. Was war nur mit ihm los? Auch sein gesunder Arm juckte so sehr, dass er sich am liebsten die Haut abgezogen hätte.

Der Drusnier stemmte sich auf die Knie und erhob sich. Ihre provisorische Unterkunft war so niedrig, dass er sich nur geduckt bewegen konnte. Das Geräusch vor ihm verstummte. Der verdammte Affe musste etwas gemerkt haben.

Mit einem Schritt stieg Kolja über den Mann, der neben ihm lag, und streifte den Arm des nächsten, der einen ärgerlichen Laut von sich gab und sich von ihm wegdrehte. Es herrschte drangvolle Enge. Jetzt ertönte das Knarren erneut, einen Herzschlag lang, bevor ein Donnerschlag draußen jedes Geräusch übertönte. Kolja stieg über Nabor hinweg und stand nun dicht bei dem Heringsfass. Endlich konnte er den Affen sehen. Er hatte das Messer mit beiden Händen gepackt und schnitt ein Loch in das Geflecht aus Weidenruten. Die Klinge glitt so leicht durch das verflochtene Astwerk, als wäre es nicht zäher als Stoff.

»Du kleines Biest«, zischte Kolja und wirbelte den Arm mit der Prothese herum, sodass die darin verborgene Klinge zischend aus dem Leder schoss.

Der Affe ignorierte ihn und verdoppelte seine Anstrengungen. Sein Dolch schnitt bis auf den Boden hinunter, und in der Wand des Landungskorbes klaffte ein Loch so groß wie der Deckel des Fasses daneben. Kolja stürmte vor, ohne noch weiter Rücksicht auf die Schlafenden zu nehmen. Jetzt wandte der kleine Affe den Kopf, griente ihn frech an und zerrte das ausgeschnittene Wandstück zur Seite.

Kolja warf sich nach vorne, den Arm mit der Klinge weit vorgestreckt. Er traf den Affen in die Brust. Mit knirschendem Geräusch fuhr der Stahl durch den kleinen Körper. Im Liegen sah Kolja deutlich das Stück Segeltuch hinter der Lücke, das sich im Sturmwind hob und senkte. Dort hatten die Pflöcke gehalten, an denen Nabor das Segel festgezurrt hatte. Als ein Blitz das Loch im Landungskorb in ein Fenster aus gleißendem Licht verwandelte, zeichnete sich der scharf umrissene Schatten einer Krallenhand ab, die in ihre Zuflucht hineingreifen wollte.

Kolja keuchte auf, zugleich erklang Nabors Wutgeschrei in seinen Ohren.

»Was hast du getan! Du Ungeheuer! Gabott! Mein Kleiner, was hast du ihm angetan …«

Der Drusnier stemmte sich hoch. Das Loch in der Wand war wieder von Dunkelheit ausgefüllt. Der kleine Affe aber umklammerte mit seinen Händchen die Klinge und versuchte sich rückwärts vom scharfen Stahl hinabzuschieben. Kein Blut war über das kurze Schwert an Koljas Prothese geflossen. Der Affe fixierte Kolja mit seinen schwarzen Augen.

»Es ist noch nicht zu Ende mit uns, Kleiner.« Er versetzte Nabor einen Stoß mit dem Ellenbogen, der den Alten gegen das Heringsfass schleuderte.

Alle waren inzwischen aufgewacht. Ihre Blicke hafteten auf dem Schwert und dem Affen, der hätte tot sein sollen, aber immer noch nicht aufgeben wollte. Er zerschnitt sich die kleinen Hände am Stahl, aber kämpfte immer weiter. Unendlich langsam schob er sich der Spitze der Klinge entgegen, die ihn durchbohrt hatte.

Kolja stampfte geduckt dem Eingang entgegen. Er nahm keine Rücksicht auf die Männer, die ihm im Weg lagen, und es war zu eng, um dem wütenden Drusnier auszuweichen. Er trampelte über Beine hinweg und trat einem Mann auf die Brust, dass dieser vor Schmerz keuchte. Doch Kolja hatte nur Augen für den Ausgang. Er musste ihn erreichen, bevor der Affe sich vom Schwert befreite.

»Mörder!«, keifte Nabor hinter ihm. »Er ist das Ungeheuer hier. Er ist unser Fluch!«

Der Affe hatte sich fast befreit, als Kolja sein Schwert in die Feuerschale am Eingang stieß. Der Drusnier genoss die Überraschung und dann das Entsetzen im Antlitz des kleinen Monsters. Ein Herzschlag nur, und sein Fell stand in hellen Flammen. Er schrie nicht. Sein Blick war starr auf Kolja gerichtet, als sich der kleine Körper in der Hitze krümmte. Ein eisiger Luftzug strich durch die Zuflucht der letzten Überlebenden.

»Für diese Nacht habt ihr gesiegt«, erklang eine unheimliche Stimme draußen in der Nacht. »Erfreut euch daran, denn es wird euer letzter Sieg gewesen sein.«

Spuren im Schnee

Volodi trat durch den Albenstern, und das Erste, was er sah, war gefrorenes Blut. Hier war gekämpft worden. Hier hatten die Daimonen die Karawane der Zapote überfallen. Aber er konnte nirgends Tote sehen. Und auch keine Gräber. Was hatten sie mit den Gefallenen gemacht? Verwundert ging er weiter und achtete darauf, nicht auf die Blutflächen im Eis zu treten. Er würde herausfinden, was hier geschehen war. Fröstelnd rieb er sich über die Arme. Er war harte Winter gewohnt, aber hier war es tatsächlich arschkalt.

Volodi trug nur eine wollene Tunika und dazu den Brustpanzer, den der Große Bär ihm geschenkt hatte. Die Rüstungen der Unsterblichen mit ihren Maskenhelmen, Beinlingen und langen Ärmeln fand er zu albern. Er wäre sich wie ein Idiot vorgekommen, wenn er sie angelegt hätte. Quetzalli hatte darauf gedrängt, aber wie konnte er sich in eine Rüstung hüllen, die ihn fast unverwundbar machte, während seine Krieger voller Todesverachtung den Klingen der Feinde entgegentraten. Das gehörte sich nicht! Und wenn er tausendmal der Unsterbliche war, in seiner Brust schlug das Herz eines einfachen Kriegers, und er würde auch weiterhin jede Gefahr mit ihnen teilen. Der Brustpanzer aus Lederschuppen war das einzige Zugeständnis, das er Quetzalli gemacht hatte. Jetzt aber fragte sich Volodi, ob seine Prunkrüstung ihn nicht nur vor den Klingen der Feinde, sondern auch vor der Kälte geschützt hätte.

Mehr und mehr Krieger traten durch den Albenstern. Auf den Gesichtern der Männer zeigte sich die Erleichterung, den Schrecken des Dunkels entflohen zu sein. Die Kälte hier war eine Kleinigkeit im Vergleich zum Abgrund zwischen den Welten. Viele der Männer hatten diesen Weg zum ersten Mal gemacht. Eben noch waren sie auf dem weiten Feld vor seinem Herrschersitz in Drusna gewesen, und nun standen sie auf einer vereisten Ebene irgendwo im Norden Nangogs.

»Vorwärts, Männer!«, rief Volodi mit volltönender Stimme, wandte sich vom östlichen Horizont ab, wo sich erstes Morgenlicht zeigte, und wies mit seinem Schwert nach Norden, wo dunkle Wolken bis hinab auf die Ebene gesunken waren. »Wir sind die Ersten. Offensichtlich sind die anderen zögerlicher, wenn es um einen Tanz mit Daimonen geht. Oder sie haben Angst, sich kalte Füße zu holen.«

Keiner lachte. Das mit den Reden vor der Schlacht war nicht so seine Sache, dachte Volodi bedrückt. Aaron hätte das besser gemacht. »Beschämen wir die anderen und bringen wir diese Sache hinter uns, bevor sie hier erscheinen!« Mit diesen Worten ging er entschlossen los. Eine breite Spur aus zertrampeltem Schnee wies ihnen deutlich den Weg, den die Daimonen genommen hatten.

Boltar, ein stämmiger Kriegerfürst, der in der Vergangenheit unzählige Überfälle auf die Valesier angeführt hatte, eilte an seine Seite. »Hast du diese Fußspuren gesehen?« Er deutete auf eine Fährte, die etwas abseits des breiten Pfades aus zertrampeltem Schnee verlief. »Die haben Riesen in ihren Reihen.«

Volodi waren die Spuren nicht entgangen. Manchmal sah man auch auf dem zerwühlten Weg deutlich einen einzelnen Fußabdruck. »Sie müssen auch Riesen haben, so wenige, wie sie sind«, erklärte er, wobei sich seine Stimme nicht ganz so entspannt anhörte, wie er es sich gewünscht hätte. »Sonst würde dies ein ziemlich ehrloser Kampf für uns.«

»Was?«, schnarrte Boltar gereizt.

»Aber sieh mal diese Spur da.« Im Abdruck eines nackten Riesenfußes war ein zweiter Fußabdruck zu sehen. Volodi stellte sich daneben und nahm Maß. Der Fuß des Riesen war fast doppelt so lang wie sein eigener, aber der zweite Abdruck war klein und schmal. Er musste zu einem Kinderfuß gehören. Zu einem Kind, das höchstens drei Jahre alt sein konnte, so winzig war er.

Boltar strich sich nachdenklich über seinen schwarzen Bart, der ihm bis weit auf die Brust hinabreichte. Inzwischen hatte sich eine ganze Gruppe Krieger um sie geschart. Alle betrachteten die Spuren im Schnee. »Warum bringen die Kinder hierher«, sagte der stämmige Krieger schließlich und schüttelte den Kopf. »Es weiß doch jeder, dass diese verfluchte Welt Kindern nicht gut bekommt.«

»Vielleicht wollen sie hier siedeln«, bemerkte ein rothaariger Krieger, dem eine wulstige Narbe quer über das Gesicht lief. Volodi erinnerte sich, dass er Ragnar hieß und im Ruf stand, ein guter Jäger zu sein.

»Hier, wo es nichts als Schnee und Eis gibt?«, entgegnete Boltar spöttisch. »Du hättest weniger billigen Branntwein saufen sollen. Offenbar hat er dir das letzte bisschen Hirn aus dem Schädel gebrannt. Hier gibt es nichts außer Schnee und Steinen.«

»Irgendwas muss hier sein, sonst hätten die Zapote hier keine Stadt errichtet«, gab Volodi zu bedenken. Allerdings konnte auch er sich keinen Reim darauf machen, warum die Riesen Kinder hierherbrachten.

»Zapote!« Boltar schnaubte verächtlich. »Nichts gegen deine Frau, Unsterblicher. Aber genau von ihr, Ketza … Ketcha …, also von deiner Frau mit ihrem unaussprechlichen Namen habe ich ein paar Geschichten über ihr Volk gehört. Die spinnen! Sie verkleiden ihre besten Krieger als Hühner und Kätzchen. Die haben noch weniger Verstand als unser Freund Ragnar hier. Obwohl … Vielleicht hoffen sie darauf, dass ihre Feinde sich totlachen, wenn sie einem Heer aus Federvieh gegenübertreten.«

Die Männer grinsten. Die Stimmung war endlich ein wenig besser, und Volodi entschied, nichts über die Jaguarmänner zu sagen, denen er begegnet war. »Gehen wir weiter!«

Sie schlugen ein gutes Tempo an und marschierten dem fernen Wolkenvorhang entgegen. Das Land war leicht gewellt. Volodi hatte ein paar Späher voraus und zu den Flanken geschickt. Nicht, dass er mit einem Hinterhalt rechnete, er wollte nur wissen, ob sie Gräber fanden. Es war schon seltsam, dass bei all dem Blut auf dem Eis nicht eine einzige Leiche auffindbar war.

Zwei Stunden marschierten sie, und bald wurde Volodi klar, dass nicht Wolken, sondern eine Nebelwand die Sicht versperrte. Die Sonne stieg schnell höher. Es würde ein kurzer Tag werden. Der Nebel löste sich nicht auf, wie er es bei einem so hellen Tag hätte tun sollen. Keine einzige Wolke stand über ihnen am weiten stahlblauen Himmel. Es blieb trotz der Sonne schneidend kalt.

Der Nebel beunruhigte den Unsterblichen. War es ein Zauber, den die Daimonen gewoben hatten? Und falls ja, was wollten sie darin verbergen? Wartete dort ein Heer aus Riesen und Kindern auf sie?

Volodi drehte sich um und winkte Ragnar zu sich. Der Rotbart eilte an seine Seite. Diese Narbe in seinem Gesicht … Es fiel Volodi schwer, ihn anzusehen. Die Wunde war schlecht behandelt worden. Sein ganzes Gesicht wirkte verrutscht.

»Was denkst du, wie viele Gegner haben wir zu erwarten?«

»Schwer zu sagen. Die Spuren überlagern einander. Vielleicht sechzig Riesen? Mit den Kindern ist es noch schwieriger. Es sind sicher über hundert. Wenn es überhaupt Kinder sind …«

Volodi sah ihn fragend an. »Was sollten sie sonst sein?«

Ragnar schüttelte den Kopf. »Ich kenn mich nicht mit Daimonen aus. Aber bei den Kleinen gibt es welche, die genagelte Stiefel tragen. Findest du das nicht seltsam? Die Eltern gehen alle barfuß, ihre Kinder aber nicht. Und wer würde seine Kinder auf einen Kriegszug mitnehmen. Die ganze Sache stinkt. Und dann dieser seltsame Nebel … Das Ganze riecht verdammt nach einer Falle.«

Einer der Späher kam zurückgelaufen. Ein großer, drahtiger Kerl, der ein Wolfsfell um die Schultern geschlungen hatte und den Schädel des Wolfes wie einen Helm auf dem Kopf trug. »Dort vorne ist ein breiter Fluss, Unsterblicher. Aus ihm steigt der Nebel auf. Das Wasser ist warm. Es gibt eine Holzbrücke.«

»Verdammter Dreck!« Warum suchten sich die Götter immer ihn aus, wenn ihnen nach schlechten Späßen zumute war.

Er hatte höchstens zweihundert Feinde vor sich. Und vielleicht waren über hundert davon Kinder oder irgendwelche kleinen Wichte. Ihm hingegen folgten mehr als zweitausend der besten Kämpfer Drusnas. Er könnte die Daimonen einfach überflügeln und einkesseln, wenn sie sich eine ordentliche Schlacht auf dieser Ebene geliefert hätten. Aber auf einer Brücke nutzte ihm seine Übermacht gar nichts. Dort könnte ein einzelner Riese ein ganzes Heer aufhalten.

»Wie heißt du?«

Der Späher sah ihn überrascht und auch ein wenig misstrauisch an. Vielleicht fürchtete er eine Strafe für die schlechten Nachrichten, die er überbracht hatte.

»Senja«, sagte er zögerlich.

»Ist schon irgendjemand von unseren Leuten über die Brücke gegangen?«

Er schüttelte den Kopf. »Die anderen Späher warten auf weitere Befehle. Sie werden sich ein bisschen am Ufer umsehen. Es gab da Spuren im Schnee. Nicht von den Riesen. Scheinen Zapote gewesen zu sein. Vielleicht gibt es eine Furt.«

Vielleicht irgendwelche Jäger, die zu der verdammten Stadt wollten, die irgendwo hinter der Brücke liegen musste, dachte Volodi. Bestimmt hatten sie die Fährten der Riesen gesehen und entschieden, ihnen lieber nicht auf der Brücke zu begegnen. Laut sagte er:

»Du siehst aus wie ein Jäger, Senja. Hast du schon mal einen Bären erlegt?«

»Ein kluger Mann geht Bären aus dem Weg«, entgegnete er vorsichtig.

»Und wenn du das nicht könntest, wie würdest du ihn jagen?«, setzte Volodi nach.

»Ich würde ihn sicher nicht nahe an mich heranlassen. Diese Geschichten über Helden, die einen Bären mit einem Messer getötet haben, sind alle erstunken und erlogen. Wenn du einem Bären so nahe kommst, dann richtet er sich auf und umarmt dich mit seinen Pranken. Und selbst wenn du ihm das Messer ins Herz stoßen kannst, wird er dir noch mit seinen Krallen bis auf die Rippen das Fleisch vom Rücken reißen.« Senja hatte sich sichtlich in Laune geredet. »Es wäre auch dumm, es mit Pfeilen zu versuchen. Ein Bär hat einen zu harten Schädel, als dass ein Pfeil ihn durchdringen könnte, es sei denn, man trifft mit Glück ein Auge. Und solange er sich nicht aufrichtet, schützen ihn sein dickes Fell, der Speck und die Muskeln vor tödlichen Treffern. Ich habe Geschichten über Bären gehört, die zahllose Pfeile in ihrem Leib stecken hatten und immer noch in Kampfeslaune waren.«

»Also keine Messer und keine Pfeile«, resümierte Volodi. »Wie würdest du es anfangen, wenn du einen Bären töten müsstest.«

»Tapfere Männer mit langen Speeren, das ist das Einzige, was hilft. So hält man ihn auf Abstand und kann ihn verwunden. Irgendwann hat er dann so viel Blut verloren, dass er zusammenbricht.«

»Du warst mir eine große Hilfe, Senja. Danke. Ich werde das nicht vergessen. Nun geh zur Brücke zurück und sorge dafür, dass keiner von deinen Kameraden auch nur einen Fuß auf sie setzt.«

Der Jäger sah ihn verblüfft an. Er hatte offensichtlich nicht begriffen, worum es gegangen war.

»Du meinst, so ein Riese ist so groß wie ein Höhlenbär, der sich aufrichtet?«, fragte Ragnar, als der Späher wieder außer Hörweite war.

Volodi zuckte leichthin mit den Schultern. »Ich hoffe, dass er nicht viel größer ist. Aber bei den Fußspuren würde ich drei Schritt oder etwas mehr schätzen. Such mir jetzt ein Dutzend Männer mit kräftigen Speeren, die den Tod nicht fürchten. Und bring mir auch ein paar Bogenschützen mit. Ich wette ein Fass Wein, dass uns mitten auf der Brücke ein Riese erwartet, und ich habe vor, ihn von dort zu vertreiben.«

Ein Herz aus Eis

Galar kniff die Augen zusammen. Da waren dunkle Schatten im vom Sonnenlicht weiß leuchtenden Nebel. Kamen die verfluchten Wiedergänger zurück? Er sah zu Ailyn. Die Elfe lehnte an dem vordersten Geschütz. Auch sie sah zur Brücke hin, doch wirkte sie dabei völlig gelassen.

»Da kommt was«, raunte Nyr neben ihm. Ohne einen Befehl abzuwarten, nahm er die Lederplane vom Geschütz und spähte prüfend über die Führungsschiene für den schweren Speer, den die mächtige Waffe ihren Feinden entgegenschleudern würde.

»Lasst sie aus dem Nebel treten«, befahl Ailyn ruhig.

Wieder blickte Galar zu der Elfe. Sie war eine schöne Frau. Etwas lang und unproportioniert, aber schön, wäre da nicht die Kälte, die sie umgab. Ihr schwarzes Haar hatte sie aus der Stirn zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz hochgesteckt. Keine einzige Strähne hatte sich gelöst. Ihre Frisur war so makellos wie das Weiß des langen Kleides, das sie trug. Kein Schmutzspritzer vom Schneematsch zeigte sich auf dem zarten Stoff. Nichts schien ihr etwas anhaben zu können. Nicht Wind noch Wetter und schon gar nicht Feinde aus Fleisch und Blut.

Ein großer, blonder Krieger trat aus dem Nebel. Galar konnte es auf die Entfernung nicht genau erkennen, aber er hatte den Eindruck, dass den Menschensohn etwas überrascht hatte. Hatte er etwa geglaubt, das Ufer sei unverteidigt? Nach kurzem Zögern rief er etwas und winkte mit seinem Schwert. Augenblicke später marschierten Schulter an Schulter Speerträger aus dem wogenden Dunst.

Der Blonde, wohl ein Kriegerfürst, ging den Männern voran.

»Warten«, sagte Ailyn eindringlich. »Wir lassen sie noch etwas näher kommen.«

Nyr räusperte sich. Die Menschenkinder waren kaum zwanzig Schritt entfernt. »Sollen wir warten, bis die uns auf den Stiefelspitzen stehen?«

»Kobolde! Bereit machen!«, kommandierte die Elfe.

Che und seine Männer, die im Halbkreis vor der Brücke standen, legten ihre Armbrüste an.

Den Speerträgern der Menschenkinder folgten ein paar Bogenschützen. Es waren nicht sonderlich viele Feinde, die angriffen. Vielleicht fünfzig. Ihr Anführer war ein tapferer Mann. Er musste die Kobolde und die Speerschleudern sehen, dennoch marschierte er ohne zu zögern vorwärts. Galar ertappte sich dabei, wie ihm der Kerl leidtat. Er und seine Krieger trugen nicht einmal Schilde. Jetzt waren sie nur noch zehn Schritt vom Ende der Brücke entfernt.

Der Blonde rief etwas, und die Männer hinter ihm verfielen in Laufschritt.

»Geschütz eins! Schießt!«, befahl Ailyn ungerührt. »Geschütz zwei. Schießt!«

Galar sah, wie der erste Speer den Blonden knapp verfehlte und hinter ihm in die Reihen der Krieger schlug. Ein Mann mit wildem, schwarzem Bart wurde nach hinten gerissen und auf den Mann hinter ihm gespießt. Auf so kurze Distanz hatten die Geschütze eine mörderische Durchschlagskraft. Auch das nächste Geschoss tötete gleich zwei Männer.

Der Blonde winkte wild mit seinem Schwert und lief noch schneller.

»Kobolde!«, befahl Ailyn. »Schießt! Geschütz drei! Schießt.«

Der Bolzenhagel der Koboldarmbrüste ließ den Angriff endgültig zusammenbrechen. Der Blonde wurde gleich von mehreren Geschossen getroffen. Es sah aus, als hämmerten unsichtbare Fäuste auf ihn ein. Er zuckte und taumelte auf groteske Weise.

Außer ihm standen nur noch zwei weitere Krieger. Rinnsale aus dampfendem Blut troffen seitlich von der Holzbrücke. Dunkle Schatten zerwühlten das Wasser zu sprühender Gischt. Kurz zerteilte eine leuchtend orange Finne die Fluten. Was für Bestien dort wohl lauerten?

»Geschütz vier!«, rief Ailyn.

»Etwas einschwenken«, murmelte Galar, doch Nyr hatte bereits von sich aus begonnen, die Ausrichtung seiner Speerschleuder zu korrigieren. Ruhig spähte der Geschützmeister über die Führungsschiene und nickte knapp. »Passt!«

Galar biss die Zähne zusammen. Der blonde Menschensohn hatte sich wieder gefangen und richtete sich auf. Sie hatten gesiegt. Es war nicht nötig, noch weiterzumachen.

»Schießt!«, erklang die gnadenlose Stimme der Elfe.

Nyr zog den Sperrhebel zurück. Mit scharfem Klacken schnellten die beiden stählernen Arme der Speerschleuder vor. Das Geschoss drehte sich im Flug um seine eigene Achse. Es war völlig windstill, und Nyr war der beste Richtschütze, den Galar je getroffen hatte. Unmöglich, dass dieser Speer sein Ziel verfehlte. Das gleißende Licht der Wintersonne brach sich auf der Speerspitze aus Silberstahl. Dann schlug das Geschoss in sein Ziel ein. Der Kriegerfürst stieß einen gellenden Schrei aus. Er wurde von den Beinen gerissen und drei Schritt weit durch die Luft geschleudert, um inmitten der anderen Toten und Sterbenden auf die Brücke zu schlagen.

»Das kann nicht sein«, murmelte Nyr fassungslos. »Hast du das gesehen?«

»Ein guter Schuss«, sagte Galar mit tonloser Stimme.

»Nein, nicht das. Der müsste aufgespießt sein wie ein Hühnchen auf einem Bratspieß. Ich hab ihn mitten in die Brust getroffen.«

Der Blonde setzte sich auf. Sofort eilten die beiden letzten Überlebenden an seine Seite.

»Harter Bursche!«, kommentierte Groz hinter ihnen. »Nicht leicht tot.«

»Geschütz fünf!«, rief Ailyn.

»Das reicht!« Galar lief an die Seite der Elfe. »Kennst du keine Gnade? Die drei hatten Glück. Sei großmütig und schenk ihnen ihr Leben.«

Ailyn hob eine einzelne Braue. »Ich hoffe für dich, dass die Menschenkinder auch großmütig zu dir sein werden, wenn deine Stunde gekommen ist.« Mit diesen Worten wandte sie sich der Geschützbedienung zu. »Nicht schießen. Wir lassen sie laufen. Wenn sie den Kriegern am anderen Ufer berichten, was sie hier erwartet, dann ist das für uns von größerem Wert als drei weitere Menschenleben. Ihren nächsten Angriff werden sie mit verzagten Herzen beginnen.«

»Danke«, sagte Galar leise.

Ailyn ging vor ihm in die Hocke. Ihr Gesicht war fast so weiß wie ihr Gewand, ihre blassen Lippen nur ein schmaler Strich. Diese Lippen haben noch nie einen leidenschaftlichen Kuss empfangen, ging es Galar kurz durch den Sinn. Wahrscheinlich hat nicht einmal ihre Mutter sie gemocht.

»Du hast gesehen, dass der blonde Krieger durch den Speer nicht zu töten war«, sagte sie so leise, dass die Umstehenden sie nicht hören konnten. »Dieser Krieger trägt eine Rüstung, die von den Göttern der Menschen gefertigt wurde, sonst wäre er wie die anderen gestorben. Weißt du, was das heißt, Zwerg?«

Galar schluckte. Dass der Krieger ein Fürst sein musste, war ihm klar gewesen. Aber wie es schien, war er noch erheblich mehr gewesen.

»Dieser Menschensohn muss einer der sieben Unsterblichen gewesen sein. Ein Freund der Götter. Kannst du ermessen, welche Konsequenzen dein Wunsch haben wird?«

»Warum hast du ihn dann laufen lassen?«, fragte Galar, der nicht begreifen konnte, dass sie den Unsterblichen hatte leben lassen.

»Weil es eine noble Geste von dir war, Zwerg. Du bist ein Mann von Ehre. Gäbe es mehr Männer wie dich, dann gäbe es weniger Kriege zwischen unseren Welten. Doch du schuldest mir nun etwas. Und ich hoffe, du verhältst dich genauso ehrenhaft, wenn ich diese Schuld eines Tages von dir einfordern werde … Vielleicht ist mein Preis etwas, was du nicht gerne tun wirst. Erinnere dich an diese Stunde, wenn es so weit ist.« Mit diesen Worten erhob sich Ailyn und winkte Che. »Nimm ein paar deiner Krieger und geh auf die Brücke hinaus. Schießt jedem der Toten einen Armbrustbolzen durch den Kopf. Wir wollen sie nicht ein zweites Mal umbringen müssen.«

»Den Wünschen schöner Frauen konnte ich noch nie widerstehen, Herrin!« Der Anführer der Kobolde verbeugte sich mit einem anzüglichen Grinsen. »Was machen wir, wenn es bei den Kerlen noch Überlebende geben sollte?«

»Mit denen verfahrt ihr genauso«, entgegnete Ailyn eisig. »Dies ist nicht der Ort, um zimperlich zu sein. Um Gefangene können wir uns nicht kümmern. Lasst die Toten auf der Brücke liegen. Sie werden die nächsten Angreifer beim Vorrücken behindern.«

Che rief einige seiner Kameraden und machte sich, ohne zu zögern, an sein grausiges Handwerk.

Plötzlich hob Ailyn den Kopf. Hoch über ihnen schwebte mit weit ausgebreiteten Schwingen eine riesige, schlangenhafte Kreatur. Galar duckte sich unwillkürlich. Das war ein Drache! Er war karmesinrot. So einen hatte der Zwerg noch nie gesehen. Aber er hatte von ihnen gehört, von den Sonnendrachen von Ischemon, den Prinzen der Himmelsschlangen.

»Was macht der hier«, flüsterte er, obwohl die Himmelsechse ihn ganz gewiss nicht hören konnte.

»Das wüsste ich auch gern!« Es war das erste Mal, dass Ailyn ein Gefühl zeigte. Sie wirkte zornig. Nur einen Herzschlag lang, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Er sollte nicht hier sein. Noch nicht jetzt!«

»Du kennst ihn?«

Sie sah auf Galar herab, als wäre er ein Nichts, das gerade die dümmste aller Fragen gestellt hatte. »Das ist Abendstern, einer der Vertrauten des Goldenen. Und glaube mir, du wünschst dir, ihn nicht kennenzulernen. Er mag Zwerge nicht.«

Weil es mir so gefällt

Die aufgeregten Rufe seiner beiden Trolle schreckten Glamir aus dem Schlaf. Die beiden Trottel deuteten zum Himmel, schrien ihm etwas in ihrer kehligen Sprache zu und begannen zu laufen.

Der Zwerg blinzelte den Schlaf aus den Augen und fluchte. Er hatte von einem netten Weib mit drallen Brüsten geträumt. Ein wenig hatte sie wie Amalaswintha ausgesehen, nur dass sie netter gewesen war. Hoffentlich hatten die zwei einen triftigen Grund, ihn aufzuschrecken. So einen guten Traum hatte er schon lange nicht mehr gehabt.

Mit einem Seufzer stemmte er sich hoch. Obwohl er sich in zwei Decken eingerollt hatte und an der Südwand eines der schäbigen Häuser am großen Marktplatz lehnte, dort, wo die Sonne am stärksten schien, war ihm die Kälte bis tief in die Gelenke gekrochen.

Er sah flüchtig zu dem Kellereingang, der durch den großen Schneehaufen abgeschirmt wurde. Sollte eines der Menschenkinder von dort hervorgekrochen sein? Wohl kaum! Vor ein paar Stunden, kurz nach Sonnenaufgang, war einer von ihnen die Treppe heraufgeschlichen. Aber kaum, dass er die beiden Trolle gesehen hatte, war er laut schreiend wieder im Keller verschwunden. Das waren wahrlich keine Krieger da unten!

Ein riesiger Schatten glitt über den Marktplatz. Glamir hob die Armbrust, die ihm Gobhayn gefertigt hatte. Der Schulterstutzen der Waffe war verlängert und wie eine Schlange geformt. Er schmiegte sich perfekt an das wenige, was ihm von seinem rechten Arm geblieben war. So konnte er die Waffe halbwegs sicher halten. Hastig drehte er mit der Linken an der Winde, die den stählernen Bogen spannte. Das leise, gleichmäßige Klicken des Mechanismus beruhigte ihn ein wenig, während er zum strahlend blauen Himmel aufblickte.

Plötzlich füllten karmesinrote Schwingen Glamirs ganzes Gesichtsfeld. Sie wirbelten den Schnee auf dem weiten Platz auf und ließen die Holzschindeln der Dächer klappern, als fürchteten sich selbst die armseligen Häuser vor der Kreatur, die sich mit erstaunlicher Anmut auf dem Platz niederließ.

Glamir stockte der Atem. Seit er an den Brüsten seiner Amme gelegen hatte, hatte er Drachengeschichten gehört, aber er hatte nie einen gesehen. Keinen richtigen. Nicht so etwas. Diese Bestie war von der Schnauze bis zum Schwanzende fast fünfzig Schritt lang. Mit leisem Scharren glitt die Schwanzspitze auf ihn zu, die in einem flachen Dorn endete, der wie eine überlange Schwertklinge aussah.

»Was ist hier geschehen, Wurm?«

Glamirs Barthaare sträubten sich, und ein Prickeln überlief ihn. Es lag eine Spannung in der Luft wie kurz vor einem Gewitter. Das Maul des Drachen hatte sich nicht bewegt, und doch war seine Stimme klar zu verstehen. Tief und volltönend erklang sie und hinterließ ein Gefühl der Beklemmung in Glamir, das er kaum zu beherrschen vermochte. Er hob den Kopf und sah in die bernsteinfarbenen Augen der Echse, die groß wie Rundschilde waren.

»Störe mich nicht in meinem Mittagsschlaf, wenn du gekommen bist, um mit Würmern zu reden!«

Die Schwanzspitze schnellte vor wie eine zustoßende Schlange und verharrte kurz vor Glamirs Kehle. »Mir steht der Sinn nicht nach Scherzen, Zwerg! Wo steckt Ailyn? Wo sind ihre Kämpfer?«

»Dort, wo sie die Schlacht erwartet.«

Die geschlitzten Pupillen des Drachen verengten sich, bis sie nur zwei schmale, tiefschwarze Spalten waren. »Du bist also ein Wurm, der gerne Witze macht.«

Glamir bekam kaum noch Luft. Die Stimme des Drachen durchdrang ihn. Sie schnürte ihm die Kehle zu, verwirrte seine Sinne und ließ seine verbliebenen Glieder schlottern. Nie zuvor in seinem Leben hatte er solche Furcht empfunden. Nicht einmal als die Smaragdspinnen über ihn hergefallen waren. In einem fernen Winkel seines Verstandes ahnte er, dass Magie dabei im Spiel sein musste. Er war kein Feigling! Und dennoch rannen ihm jetzt Tränen der Angst über die Wangen.

»Sie sind zur Brücke«, stieß er schluchzend hervor. »Ailyn hat entschieden, dass die Stadt nicht zu verteidigen ist. Sie will die Menschenkinder an der langen Holzbrücke aufhalten.«

»Und warum sind die beiden Trolle hier?«

Glamir wand sich unter der neuerlichen Frage und dem Zwang des Zaubers, unter dem er stand. »Ich weiß es nicht genau. Sie sagte etwas davon, dass die beiden besonders dumm seien. Gute Wachen.«

Der Drache schnaubte, und glutheißer Atem traf den Zwerg ins Gesicht. »Wachen wofür?«

Die Furcht fraß sich in Glamirs Seele. Er spürte, wie er das Wasser nicht mehr halten konnte und es ihm das Bein hinablief. »Wir haben Gefangene! Dort hinten im Keller. Menschenkinder!«

»Menschenkinder …« Eine lange, gespaltene Zunge schoss zwischen den Fangzähnen des Drachen hervor. Er drehte den Kopf zur Seite und sog laut Luft in seine Nüstern. »Ja, ich rieche sie. Dort vorne.« Die Schwanzspitze, die eben noch dicht vor Glamirs Gesicht verharrt hatte, zuckte zurück und peitschte über den hart gefrorenen Boden des Marktplatzes. »Warum macht ihr Gefangene? Das ist nur eine Last.«

»Sie sind nicht einmal Krieger, keine Gefahr.« Der Zwang, den der Drache ausgeübt hatte, war gewichen. Diesmal antwortete Glamir aus freien Stücken.

»Die beiden Trolle werden auf dem Schlachtfeld gebraucht. Diese Menschenkinder stören die Pläne des Goldenen.«

»Du kannst sie doch nicht einfach …«, begann Glamir, als der Kopf wieder zu ihm herumschnellte. Dieser Zauber, der ihm solche Angst einflößte, schien etwas mit den riesigen Augen zu tun zu haben. Glamir vermochte ihrem Blick nicht zu widerstehen. Wieder schnürte sich seine Kehle zu.

»Du willst dich mir in den Weg stellen?«

»Ja! Was du tust, ist böse. Und das Böse soll bekämpft werden!«, platzte es aus Glamir heraus. Sein gerechter Zorn bannte all seine Angst, als ihn ein ungeheuerlicher Schlag von seinem Bein riss. Unter Schock sah er noch das Ende der roten Schwanzspitze zurückzucken, dann stürzte er neben der Wand in eine warme Pfütze.

»Du wirst dich in niemandes Weg mehr stellen. Und du wirst dich von nun an fortbewegen, wie es einem Wurm geziemt.« Mit diesen Worten wandte sich der riesige Drache ab.

Dumpfer Schmerz durchfuhr Glamir. Erst jetzt sah er das Blut. Und das Bein, das an der Hauswand lehnte, als wäre es eine abgestellte Prothese. Der Drache hatte ihm das gesunde Bein genommen! Er hatte ihm seine letzte Würde geraubt. Glamir schrie auf. Nicht vor Schmerz. Es war ein Laut reiner Verzweiflung.

»Warum? Warum dieses sinnlose Massaker«, stöhnte er.

»Weil es mir so gefällt«, kam die höhnische Antwort, ohne dass das Ungeheuer ihn noch eines Blickes würdigte. Es stand nun direkt vor dem Kellereinstieg.

Glamir sah, wie sich der Rücken des Ungeheuers wölbte. Ein pfeifendes Geräusch war zu hören. Der Drache sog Luft tief in seine Lunge.

Mit zitternder Hand tastete der Zwerg nach der Ledertasche mit den Armbrustbolzen an seinem Gürtel. Ihm wurde langsam kalt. Sein Blut spritzte in pumpenden Stößen gegen die Hauswand. Eine der großen Adern in seinem Bein war durchtrennt. Wenn er den Gürtel löste, dann könnte er damit die Wunde vielleicht abbinden. Aber dann würden alle Menschenkinder im Keller sterben! Er könnte ein Leben retten oder Dutzende.

Der Verschluss der Ledertasche schnappte auf. Er griff nach den Bolzen, bekam gleich etliche zu packen und zerrte sie hervor.

Die Luft um den Drachen begann zu zittern. Glamir spürte die Hitze.

Die Bolzen – bis auf einen – fielen ihm aus der Hand. Da war er, der eine, der, den er mit Eulenfedern versehen hatte, damit er besonders sicher flog.

Der Drache hob seinen Kopf. Sein Hals erinnerte mit der edlen Krümmung an den Hals eines Schwans.

Glamir legte den Bolzen auf die Führungsschiene der Armbrust. Die Waffe war nur halb gespannt, doch es blieb keine Zeit mehr. Er hob den Arm und atmete aus. Im selben Moment zog er den Abzugsbügel.

Er mochte sie nicht einmal, diese Menschenkinder. Aber er würde nicht zusehen, wie sie starben. Trotz seiner Schwäche zitterte sein verstümmelter Arm nicht. Er zog den Abzugshebel durch und dachte: Für die Tiefe Stadt! Sagen konnte er es nicht mehr. Dazu war er zu schwach. Sein Arm sank nieder.

Er sah den Drachen nicht mehr. Nur noch ein grelles, weißes Licht. Glamir fühlte sich leicht. Und ein wenig müde. Er würde kurz die Augen schließen. Einen Atemzug lang nur. Ganz kurz …

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