Mit einem letzten magischen Stoß kehrte Lorkin den übrigen Staub, Haare, Essensreste und nicht identifizierbare Bröckchen zu einem kleinen Haufen, dann holte er einen Eimer, um den Unrat hineinzukippen. Einige Wochen waren verstrichen, seit man ihm ein Quartier im Männerraum zugewiesen hatte, und er kannte inzwischen die Namen der meisten seiner Mitbewohner.
Es war ein großer Raum, gefüllt mit Reihen schmaler Betten. Die meisten davon waren jetzt leer, aber die unter die Bettrahmen geschobenen Besitztümer machten klar, dass alle Betten normalerweise besetzt waren.
»Sie sind für Männer, die nicht länger bei ihrer Familie bleiben wollen und die nicht zu einer Frau gehören«, hatte Vytra ihm erklärt. »Wir haben nicht genug Platz, als dass jeder sein eigenes Zimmer haben könnte.«
»Gibt es auch Frauenräume?«, hatte Lorkin sich erkundigt.
»Sozusagen.« Sie hatte die Achseln gezuckt. »Manchmal teilen sich Freundinnen und Schwestern ein Zimmer.«
Zuerst war er etwas Neues für die Männer bei den Verräterinnen gewesen, und er hatte viele Fragen über Kyralia beantworten müssen, Fragen, wie er ins Sanktuarium gekommen sei und was er dort zu tun beabsichtige. Letztere Frage konnte er nicht zu ihrer Befriedigung beantworten. Er konnte ihnen kaum von seinem Interesse an Tyvara erzählen oder von seinen Plänen, Bündnisse zwischen ihren Leuten und den Verbündeten Ländern auszuhandeln.
»Du bist ein Magier«, hatte einer bemerkt. »Gewiss wird man dir etwas zu tun geben, das sich irgendwie um Magie dreht.«
Obwohl Savara den anderen Sprecherinnen gegenüber beteuert hatte, dass sie eine Arbeit für ihn finden würde, hatte man ihm bisher noch keine Aufgabe zugewiesen. Also hatten die Männer ihn damit betraut, ihr Zimmer ordentlich zu halten. Sie waren überrascht gewesen zu entdecken, dass er nicht wusste, wie man das machte, und es hatte sie beeindruckt, dass er in der Gilde für solch niedere Arbeiten Dienstboten gehabt hatte. Dies trug ihm jedoch keine andere Arbeit ein. Sie gaben ihm einige grobe Anweisungen, dann überließen sie es ihm, sich allein zurechtzufinden.
Er hatte seinerseits viele Fragen gestellt und mehr über die Regeln und Gesetze des Sanktuariums erfahren, einschließlich jener subtilen Regeln in Bezug auf Manieren und Gerechtigkeit, an die Menschen sich halten, um die Konflikte zu verringern, die sich ergeben, wenn man in engem Kontakt zueinander lebt.
Wie Chari ihn gewarnt hatte, wurde das Sanktuarium von Frauen beherrscht. Aber auch wenn Männern der Zugang zu den höchsten Machtpositionen verwehrt war, waren sie doch an allen anderen Aktivitäten in der Stadt beteiligt. Die Gründerinnen hatten beschlossen, dass das Sanktuarium in erster Linie ein Ort war, an dem Frauen das Sagen hatten, dass es aber darüber hinaus ein Ort sein müsse, an dem die Menschen einander ebenbürtig waren.
Es beeindruckte Lorkin, dass die Männer hier größere Freiheit und höheres Ansehen genossen als Frauen in Kyralia. Er hatte sich Sorgen gemacht, dass ihre Gesellschaft das genaue Gegenteil sein könnte. Dies ließ ihn auf eine Weise, die er noch nie zuvor bedacht hatte, erkennen, wie ungerecht die kyralische Gesellschaft Frauen behandelte. Obwohl sie erheblich besser war als die Gesellschaft einiger anderer Länder… wie die Lonmars zum Beispiel. Und wie der Rest von Sachaka.
Trotzdem gab es einige auffällige Punkte, in denen die Frauen hier den Männern vorgezogen wurden. Männer lehrte man Magie, aber nicht schwarze Magie. Nur Frauen wussten, wie man eine Schwangerschaft verhinderte, und alle Kinder gehörten ihnen.
In dem kleinen Lager abseits des Hauptraums fand Lorkin, wonach er gesucht hatte. Selbst hier lieferten in die Decke eingelassene Edelsteine Licht. Lorkin griff sich einen der stabilen Körbe, untersuchte ihn auf Löcher und wandte sich dann wieder der Tür zu.
»Ich schätze, es wird bald passieren.«
Die Stimme war männlich und kam aus dem Hauptraum. Lorkin zögerte.
»Nein«, erwiderte ein anderer Mann. »Es könnte noch Jahre dauern, bevor wir bereit sind.«
»Aber sie haben die Übungsstunden in Kampfkunst verdoppelt. Wir haben mehr Späher dort draußen als je zuvor.«
»Und wir haben Hunderte von Edelsteinen, die erst halb gewachsen sind. Bevor sie gereift sind, wird es nicht zum Krieg kommen, und das wird noch Monate dauern, wenn nicht sogar ein ganzes Jahr.« Der Mann seufzte. »Ich habe Hunger.«
Krieg? Lorkin betrachtete den Korb. Er wusste, wenn er hier verweilte und einer der Männer in den Lagerraum kam, um sich etwas zu essen zu holen, würden sie erfahren, dass er gelauscht hatte. Er zwang sich, den Raum zu verlassen, dann richtete er sich auf und lächelte, als er die Männer sah. Sie musterten ihn überrascht.
»Seid mir gegrüßt«, sagte er, obwohl er wusste, dass sie diese Begrüßungsformel seltsam fanden. »Ihr seid früh zurück. Kann ich euch irgendetwas holen?«
Die beiden Männer sahen einander an, dann ging derjenige, der gesagt hatte, dass er Hunger habe, auf das Lager zu. »Nein, aber danke für das Angebot.«
Lorkin begann den Unrat in den Korb zu kehren. Es war nicht einfach, die Staubpartikel in das Gefäß zu bekommen, und er konzentrierte sich so heftig, dass er den Überblick verlor, wo die anderen Männer sich aufhielten.
»Lorkin«, erklang dicht hinter ihm eine scharfe Frauenstimme.
Er erstarrte, was besser war, als sichtlich zusammenzuzucken, befand er. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, drehte er sich mit einem höflichen Lächeln zu der Frau um.
»Sprecherin Kalia«, erwiderte er.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er trug die schlichte Hose und die Tunika, die die anderen Männer bevorzugten – jene, die sich nicht für das Kleid entschieden, das sowohl Männer als auch Frauen trugen.
»Folge mir«, sagte sie.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und schritt auf die Tür zu. Lorkin stellte den Korb ab und eilte hinter ihr her. Er schaute zu den beiden Männern hinüber, die mitfühlend das Gesicht verzogen.
Kalia ging sehr schnell für eine Frau mit kurzen Beinen und einem rundlichen Leib. Lorkin stellte fest, dass er für zwei Schritte von ihr nur einen einzigen machen musste. Er überlegte, dass jeder, der sie beide sah, sofort wissen würde, wer das Sagen hatte. Definitiv nicht ich. Ah, wie tief bin ich gesunken, seit ich von zu Hause fortgegangen bin…
Weder ihr Schritt noch ihre Miene luden zu einem Gespräch ein, aber diese Frau hatte sich für eine Hinrichtung Tyvaras ausgesprochen. Er würde sich von ihr nicht einschüchtern lassen. Oder zumindest würde er sie nicht wissen lassen, dass er eingeschüchtert war.
»Wohin gehen wir?«, fragte er vorsichtig.
»Dorthin, wo man dir angemessenere Pflichten zuweisen kann als die Säuberung deines Zimmers.« Sie sah ihn an, und ihre Augen waren scharf und berechnend. »Hier im Sanktuarium versuchen wir, den Leuten Aufgaben zuzuweisen, die ihrem Temperament und ihren Talenten entsprechen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Aufgabe, die ich für dich habe, deinem Temperament entsprechen wird, aber sie wird definitiv deinen Talenten entsprechen.«
Irgendwie gelang es ihr, ihren Schritt noch weiter zu beschleunigen, womit sie andeutete, dass weitere Gesprächsversuche nicht willkommen waren. Als sie einen großen Torbogen erreichten, blieb sie stehen, ein wenig außer Atem. Sie sog tief die Luft ein und stieß sie wieder aus, dann deutete sie auf den Inhalt des großen Raums vor ihnen.
Wie im Männerraum fanden sich auch hier Reihen von Betten. Aber sie waren zu dieser Zeit nicht leer. Stattdessen waren viele von ihnen besetzt, mit Männern, Frauen und Kindern. Vertraute Gerüche drangen an Lorkins Nase, zusammen mit einigen, die er nicht erkannte.
Die Gerüche von Krankheit und Arzneimitteln.
Ihm wurde flau, aber nicht wegen der Anwesenheit so vieler kranker Menschen. Stattdessen war es die Erkenntnis, dass die Verräterinnen die beste Methode gefunden hatten, um sich an ihm für den Verrat seines Vaters zu rächen. Und um seine eigene Entschlossenheit auf die Probe zu stellen, sie nur dann in der Heilkunst zu unterrichten, wenn sie ihm als Gegenleistung etwas gleichermaßen Wichtiges gaben.
»Dies ist der Pflegeraum«, erklärte ihm Kalia. »Hier wirst du von jetzt an arbeiten.«