Zweiter Teil

16 Der Jäger

Während Sonea die besudelten Verbände mit Magie in der Luft hielt, sandte sie einen Hitzeblitz in den Stoff. Die Verbände gingen in Flammen auf und zerfielen schnell zu Asche. Der Geruch von verbranntem Tuch, vermischt mit einem widerwärtigen Gestank nach gekochtem Fleisch, lag in der Luft. Sonea ließ die Asche in einen Eimer fallen, der eigens zu diesem Zweck im Raum stand, dann erhitzte sie mit Magie ein wenig Duftöl in einer Schale, bis dessen würziger Geruch die anderen, weniger angenehmen überlagerte. Nachdem sie hinter dem letzten Patienten sauber gemacht hatte, ließ sie die Tür zum Untersuchungsraum aufspringen.

Der Mann, der hereinkam, war in mittleren Jahren, vertraut und eher klein. Ihr Herz machte einen Satz, als sie ihn erkannte.

»Cery!«, flüsterte sie. Sie sah sich hastig im Raum um, obwohl sie wusste, dass niemand außer ihr da war. »Was tust du hier?«

Er zuckte die Achseln und setzte sich auf einen der Stühle für Patienten und ihre Familien. »Ich habe es in deinen Räumen in der Gilde versucht, aber du warst nicht da.«

»Du hättest morgen Nacht zurückkommen können«, sagte sie. Wenn er erkannt wurde und jemand der Gilde seinen Besuch meldete, würden alle wissen, dass sie Verbindung zu einem Dieb hatte. Obwohl das jetzt nicht länger gegen irgendwelche Regeln verstößt. Aber man würde es als verdächtig ansehen, so kurz nachdem sie auf die Veränderung der Regel gedrängt hatte. Wenn es so aussah, als benutzte sie das Hospital, um sich mit Dieben zu treffen, konnte das alles gefährden, was sie hier erreicht hatte.

Ironischerweise war die Gefahr, dass er erkannt wurde, im Hospital größer als in der Gilde. Sonea bezweifelte, dass irgendjemand außer Rothen sich nach all den Jahren noch an Cery erinnern würde. Aber bei den Patienten im Hospital war es eher wahrscheinlich, dass sie wussten, wie Cery aussah, und sie könnten einem Helfer oder einem Heiler erzählen, mit wem sie sich traf.

»Es ist zu wichtig, um zu warten«, erklärte Cery.

Sie blickte ihm direkt in die Augen. Seine ernste Miene ließ ihn so anders aussehen als den Straßenjungen, mit dem sie als Kind so viel Zeit verbracht hatte. Er wirkte ausgezehrt und traurig, und ein frischer Stich des Mitgefühls durchzuckte sie. Er trauerte weiter um seine Familie. Sie holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus.

»Wie kommst du zurecht?«

Er hob die Schultern. »Recht gut. Ich beschäftigte mich mit der Suche nach einem wilden Magier in der Stadt.«

Sie blinzelte, dann konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ein wilder Magier, hm?«

»Ja.«

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Sprich weiter. Fang am Anfang an.«

Er lächelte. »Nun, begonnen hat alles, als mein Schlossmacher behauptete, die Schlösser zu meinem Versteck seien mit Magie geöffnet worden.«

Während er weitersprach, beobachtete sie ihn genau. Bei der Erwähnung seiner Familie zuckte er zusammen, als litte er Schmerzen. Die Trauer war noch frisch. Aber wann immer er von dem Jäger der Diebe sprach, glänzten seine Augen, und sein Kinn verhärtete sich. Diese Suche ist ebenso sehr eine Möglichkeit, sich von dem Verlust abzulenken, wie sie der Rache gilt.

Schließlich erzählte er ihr triumphierend, dass er die fremdländische Frau beobachtet habe, wie sie Magie benutzte, um den Tresor zu öffnen.

»Eine Frau«, wiederholte er. »Mit dunkler Haut wie ein Lonmar und glattem, schwarzem Haar. Aufgrund ihrer Stimme würde ich sagen, dass sie alt war, aber sie bewegte sich nicht wie ein alter Mensch. Und ihr Akzent war fremdländisch, aber keiner, den ich schon einmal gehört habe. Ich würde wetten, dass sie nicht aus einem der Verbündeten Länder kommt.«

»Sachakanerin?«

»Nein. Eine Sachakanerin hätte ich erkannt.«

In der Gilde gab es niemanden, auf den diese Beschreibung passte. Cery könnte sich geirrt haben, und die Frau war eine Lonmar, aber die Lonmar schickten keine Frauen in die Gilde. Obwohl das der Grund sein könnte, warum die Frau der Gilde nicht beigetreten ist. Wenn sie ein Naturtalent war und ihre Macht sich spontan entwickelt hatte, hätten die Lonmar sie lehren müssen, wie sie ihre Macht kontrollieren konnte. Aber danach… Wir sind uns nicht sicher, was die Lonmar tun. Wir nehmen an, dass sie den Frauen einfach verbieten, Magie zu benutzen, aber es ist möglich, dass sie ihre Kräfte blockieren. Diese wilde Magierin könnte weggelaufen sein, um einem solchen Schicksal zu entgehen.

Aber warum sollte sie nach Imardin kommen? Gewiss wusste sie, dass die Bedingungen des Bündnisses die Gilde zwangen, Lonmars Gesetze in Bezug auf weibliche Magier zu respektieren. Wenn sie sie fanden, würden sie sie nach Hause zurückschicken müssen.

Cery hat die Antwort darauf erraten: Bücher. Wenn sie weggelaufen ist, um frei zu sein, Magie zu erlernen und zu benutzen, dann war Imardin der Ort, an dem für sie die größte Wahrscheinlichkeit bestand, an magische Informationen heranzukommen. Aber Bücher über Magie können nicht billig sein. Stiehlt sie sie oder das Geld dafür den Dieben, die sie tötet, oder verdingt sie sich als Mörderin von Dieben?

Oder es war keins von beidem. Cery hatte gesagt, dass das Schloss zu seinem Versteck mit Magie geöffnet worden sei, nicht dass seine Familie damit getötet wurde. Sie runzelte die Stirn. »Wie kannst du dir sicher sein, dass diese Frau und der Jäger der Diebe ein und dieselbe Person sind?«

»Entweder ist sie der Jäger, oder sie arbeitet für den Jäger, oder es gibt da draußen zwei wilde Magier. Sobald du sie gefangen hast, kannst du ihre Gedanken lesen und es herausfinden.«

»Hast du den Verkäufer anschließend befragt?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir brauchen ihn und seinen Laden für eine weitere Falle.« Er grinste. »Nur dass du beim nächsten Mal bei mir sein wirst, und wir werden uns einen wilden Magier fangen.«

Sonea runzelte die Stirn. »Ich wünschte, das wäre möglich, aber heutzutage steht es mir nicht frei, in der Stadt herumzulaufen, Cery.«

Seine Schultern sackten in beinahe kindlicher Enttäuschung herab. Er wirkte nachdenklich. »Vielleicht wenn ich sie irgendwie hierherlocken könnte.«

»Ich bezweifle, dass sie sich freiwillig in die Nähe von Magiern begeben wird, und die Hospitäler sind immer voll von ihnen.«

»Es sei denn, du veranlasst, dass an einem Abend alle fortgehen, und wir setzen ein Gerücht in Umlauf, dass hier Bücher über Heilkunst herumliegen.«

»Ich würde den anderen Heilern meine Gründe nennen müssen, und wenn ich das tue, kann ich geradeso gut der Gilde von der wilden Magierin erzählen und es ihr überlassen, sie zu finden.«

»Kannst du dir keinen anderen Grund ausdenken?«

Sonea seufzte. Sie bezweifelte, dass es Cery kümmerte, ob man es ihm als Verdienst anrechnen würde, eine wilde Magierin entdeckt und der Gilde geholfen zu haben, sie zu fangen. Er wollte nur Rache – und zweifellos wollte er verhindern, dass er selbst zum nächsten Opfer des Jägers der Diebe wurde.

Ich würde ihm gern helfen. Aber wenn die Gilde von mir erwartet, dass ich die Neuigkeit über die wilde Magierin an sie weiterleite, und wenn ich das nicht tue, wird es ein Grund mehr sein, mir zu misstrauen.

Ihre makellose Vertrauenswürdigkeit seit der Ichani-Invasion würde durch die Lüge besudelt werden, und die Leute waren bereits so empfindlich, was ihre Vergangenheit und ihre Kenntnis schwarzer Magie betraf. Sie würden ihr die Freiheit nehmen, die Hospitäler zu leiten. Sie würden sie zwingen, das Gelände der Gilde nicht mehr zu verlassen.

Ich bin besser beraten, die Information an die Höheren Magier weiterzuleiten und es ihnen zu überlassen, darauf zu reagieren. Es spielt keine Rolle, ob ich diejenige bin, die die wilde Magierin findet, oder jemand anderer. Es zählt nur, dass sie gefunden wird. So oder so, Cery wird sowohl seine Rache haben als auch ein gewisses Maß an Sicherheit.

»Weißt du, wo die Frau jetzt ist?«, fragte sie.

Cery schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß jetzt, wie sie aussieht, und ihre Erscheinung ist so auffällig, dass ich andere beauftragen kann, ebenfalls nach ihr Ausschau zu halten.«

»Lass nicht zu, dass irgendjemand sie anspricht«, warnte sie. »Sie hat offensichtlich die Kontrolle über ihre Kräfte, und sie ist alt genug, um sie mit einiger Geschicklichkeit benutzen zu können.«

»Oh, sie ist ganz anders, als du warst«, pflichtete Cery ihr grinsend bei. »Du magst vor all jenen Jahren vielleicht den Wunsch gehabt haben, den einen oder anderen Dieb zu töten, aber du bist nie so weit gegangen, sie zu jagen und… oder…« Er wandte den Blick ab, und seine Miene war plötzlich grimmig.

… oder ihre Familien zu töten, beendete sie seinen Satz im Stillen, und abermals verspürte sie Mitgefühl. »Ich muss darüber nachdenken, aber ich werde wahrscheinlich die Gilde informieren und es ihr überlassen müssen, nach der wilden Magierin zu suchen.«

»Nein!«, protestierte er. »Sie werden es einfach verpfuschen, wie sie es bei dir gemacht haben.«

»Oder sie werden sich das, was sie aus jener Erfahrung gelernt haben, zu Herzen nehmen und diesen Fall anders angehen.«

Er runzelte finster die Stirn. »Ganz anders, hoffe ich.«

»Bist du bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten?«, fragte sie, suchte seinen Blick und hielt ihm stand.

Er verzog das Gesicht, dann seufzte er. »Vielleicht. Ja. Ich schätze, ich muss es tun. Ich habe keine große Wahl, oder?«

»Eigentlich nicht. Sag mir, wie sie sich mit dir in Verbindung setzen können.«

Cery seufzte. »Könntest du… darüber schlafen, bevor du es irgendjemandem erzählst?«

Sie lächelte. »In Ordnung. Ich werde mich vor der heutigen Nachtschicht entscheiden. Du wirst entweder von mir hören, oder die Gilde wird an deine Tür klopfen.«


Die Augen des Küchensklaven waren rund geworden, sobald er den Raum betreten und die Leiche entdeckt hatte, und während Dannyls gesamtem Verhör waren sie so groß geblieben. Doch er hatte gelassen und ohne Zögern geantwortet.

»Wann hast du Tyvara zum letzten Mal gesehen?«, fragte Dannyl.

»Gestern Abend. Ich bin im Flur an ihr vorbeigegangen. Sie war auf dem Weg zu diesen Räumen.« »Hat sie etwas gesagt?« »Nein.«

»Wirkte sie irgendwie anders als sonst? Vielleicht nervös?«

»Nein.« Der Sklave hielt inne. »Sie wirkte wütend, denke ich. Es war dunkel.«

Dannyl nickte und registrierte die kleine Einzelheit. Er hatte inzwischen eine recht ansehnliche Liste von Details, aber andererseits befragte er nun schon seit einigen Stunden die Sklaven.

»Du sagtest, sie und Riva hätten einander gekannt. Hast du sie jemals streiten sehen? Ist dir etwas Merkwürdiges zwischen den beiden Frauen aufgefallen?«

»Sie haben sich gestritten, ja. Tyvara hat Riva oft gesagt, was sie tun solle. Riva hat das nicht gefallen. Tyvara hatte kein Recht dazu. Aber«, der Mann zuckte die Achseln, »es kommt vor.«

»Dass einige Sklaven andere herumkommandieren?« Der Mann nickte. »Ja.«

»Hast du sie gestern irgendwann streiten sehen oder hören?«

Der Mann öffnete den Mund zu einer Antwort, hielt jedoch inne, als es leise an der Tür klopfte. Dannyl blickte auf. Der Sklave, der stets die Tür des Gildehauses öffnete, stand nervös im Eingang. Im nächsten Moment warf der Mann sich auf den Boden.

»Du darfst dich erheben. Was hast du mir zu sagen?«, fragte Dannyl.

»Ashaki Achati ist soeben eingetroffen.« Der Sklave rang die Hände, wie er es seit Dannyls Rückkehr ins Gildehaus jedes Mal getan hatte, wenn Dannyl ihn sah.

Dannyl wandte sich an den Küchensklaven, den er gerade befragt hatte. »Du darfst gehen.«

Beide Sklaven huschten davon, während Dannyl sich erhob und sein Notizbuch ins Gewand steckte. Er sah sich in Lorkins Räumen um, dann verließ er sie und machte sich auf den Weg in den Hauptraum. Er kam gerade rechtzeitig, um Achati zu begrüßen.

»Willkommen, Ashaki Achati«, sagte er.

»Botschafter Dannyl«, erwiderte Achati. »Ich fürchte, Euer Sklave hat einige Zeit gebraucht, um mich aufzuspüren. Was ist passiert? Er wollte mir nicht mehr erzählen, als dass es dringend sei.«

Dannyl bedeutete Achati, ihm zu folgen. »Kommt mit, und ich werde es Euch zeigen.«

Der Sachakaner folgte Dannyl durch das Gildehaus, und zu Dannyls Erleichterung schwieg er. Die späte Stunde und das langwierige Verhör der Sklaven forderten ihren Tribut. Aber es ist noch viel zu tun. Ich werde noch eine Weile auf Schlaf verzichten müssen. Er zog ein wenig Magie in sich hinein und benutzte sie, um die Müdigkeit zu lindern. Ich schätze, ich werde das in den kommenden Tagen noch einige Male tun müssen.

Sie erreichten Lorkins Räume. Dannyl führte Achati hinein und weiter zur Tür des Schlafzimmers. Die Lampen waren heruntergebrannt, aber der Anblick der Leiche war immer noch so schockierend wie zuvor.

»Eine tote Sklavin«, sagte Achati und trat in den Raum, um sie zu betrachten. »Ich verstehe, warum Ihr Euch Sorgen macht.«

»Gelinde gesagt.« »Hat Euer…?«

»Nein. Der Körper ist ohne jede Energie. Wer immer sie getötet hat, hat höhere Magie benutzt, in die Lorkin niemals eingewiesen wurde.«

Achati sah ihn an, dann runzelte er die Stirn und berührte den Arm der toten Frau. Obwohl die Gilde nicht wollte, dass die Sachakaner wussten, wie wenige kyralische Magier schwarze Magie benutzen konnten, hatten sie nicht von Dannyl verlangt, so zu tun, als verstünden sie sich alle darauf. Es würde plausibel erscheinen, dass Lorkin als Magier niederen Ranges noch nicht darin unterwiesen worden war. Es wird schwerer sein, die Tatsache zu verbergen, dass ich ebenfalls keine schwarze Magie wirken kann.

»Ihr habt recht«, sagte Achati, während er mit einer Grimasse des Abscheus die Hand zurückzog. »Aber das bedeutet, dass, wer immer sie getötet hat, in schwarzer Magie unterwiesen wurde.«

»Eine der anderen Sklavinnen, eine Frau namens Tyvara, ist ebenfalls verschwunden. Ich habe die meisten Sklaven hier befragt, und sie steht als die wahrscheinlichste Schuldige da.«

Statt Überraschung auszudrücken, wie Dannyl es erwartete, wirkte Achati besorgt. »Ihr habt ihre Gedanken gelesen?«

»Nein. Gildemagiern ist es nicht gestattet, ohne Erlaubnis die Gedanken anderer zu lesen.«

Achati zog die Augenbrauen hoch. »Woher wollt Ihr dann wissen, ob sie Euch die Wahrheit gesagt haben?«

»Die Sklaven haben damit gerechnet, dass ich ihre Gedanken lesen würde. Sie würden sich keine falsche Geschichte ausgedacht oder Antworten zurechtgelegt haben, bevor ich begann, sie zu befragen. Ich hatte dafür gesorgt, dass sie schweigend im Flur warten mussten, damit sie das nicht nachholen konnten, sobald ihnen klar wurde, dass ich ihre Gedanken nicht lesen würde.«

Der Sachakaner wirkte fasziniert. »Aber was könnt Ihr durch eine Befragung der Sklaven herausfinden, das Ihr nicht herausfinden würdet, indem Ihr ihre Gedanken lest?«

»Vielleicht gar nichts.« Dannyl zog sein Notizbuch hervor und lächelte. »Aber es hat möglicherweise Vorteile. Das werden wir erst wissen, wenn wir unsere Methoden vergleichen.«

Achati wirkte erheitert. »Soll ich jetzt ihre Gedanken lesen, um festzustellen, welche Methode die bessere ist, oder wollt Ihr mir erzählen, was Ihr herausgefunden habt?«

Dannyl betrachtete den Leichnam. »Es wäre besser, wenn ich es Euch erzählte, um Zeit zu sparen. Gebt Ihr mir recht, dass dies eher den Eindruck eines spontanen Mordes macht und nicht den eines geplanten?«

Achati nickte.

»Ich habe erfahren, dass Tyvara und die Tote, Riva, häufig miteinander gestritten haben. Riva scheint Tyvara unterstellt gewesen zu sein. Riva wollte am Tag von Lorkins Ankunft dessen Dienstsklavin werden, aber Tyvara hat ihren Platz eingenommen. Beide Frauen stammten offiziell aus Ashaki Tikakos Haushalt und erhielten oft Nachrichten von dortigen Sklaven – aber jede der beiden von einer anderen Person. Sie haben keine Nachrichten von Sklaven aus anderen Häusern erhalten, daher scheint mir Tikakos Haus der wahrscheinlichste Ort zu sein, an dem Tyvara und Lorkin vielleicht zu finden sein könnten.«

Achati runzelte die Stirn. »Wenn wir dort nach ihnen suchen sollen, müssen wir unserer Sache sicher sein. Könnte jemand anders ihn von hier fortgebracht haben?«

»Lorkin hatte keine anderen Besucher. Wenn er gegen seinen Willen weggebracht wurde, muss es sich bei dem Entführer um einen mächtigen Magier handeln. Wenn nicht…«

Dannyl zuckte die Achseln. »Dann muss der Betreffende über große Überredungskraft verfügen.«

Achati seufzte und nickte. »Wenn diese Tyvara tatsächlich über höhere Magie verfügt, ist sie wahrscheinlich keine echte Sklavin. Sie muss eine Spionin sein.«

»Eine Spionin für wen?«, fragte Dannyl.

»Das weiß ich nicht.« Achati verzog das Gesicht. »Keine Spionin des Königs, da er mir davon erzählt hätte. Aber wenn ihr Auftraggeber Lorkin hätte tot sehen wollen, wäre er tot. Wenn der Betreffende ihn lebendig haben wollte, muss er ein bestimmtes Ziel verfolgen.«

»Welches Ziel?«

»Vielleicht Erpressung?« Achati blickte nachdenklich drein. »Die Frage ist: Ist das Ziel König Amakira oder die Gilde – oder beide?«

Dannyl lächelte schief. »Es muss die Gilde sein. Wenn Tyvaras Auftraggeber den König in Verlegenheit stürzen wollte, hätte er mich entführen lassen. Ein entführter Botschafter ist für das Gastland viel peinlicher als ein bloßer Gehilfe.«

»Aber er ist kein bloßer Gehilfe«, bemerkte Achati und zog die Augenbrauen hoch. »Ihr habt doch nicht geglaubt, wir wüssten nicht um seine Herkunft, oder?«

Dannyl seufzte. »Ich schätze, es war naiv zu hoffen, Ihr hättet es nicht bemerkt.«

»Wenn es Euch beruhigt, wir dachten nicht, dass ihm deswegen Gefahr drohen würde. In Wahrheit glaubten wir, dass die Aussicht, seine Mutter könne ihre gerechte Rache üben, falls ihm etwas zustieße, genug sei, um törichte Taten wie diese zu verhindern. Obwohl…« Er brach ab, wandte sich wieder der toten Frau zu und runzelte die Stirn, als sei ihm ein Gedanke gekommen.

»Ja?«, hakte Dannyl nach.

Der Sachakaner schüttelte den Kopf. »Ich habe über eine andere Gruppe nachgedacht, aber sie hätte nichts von einer Entführung Lord Lorkins. Nein. Wir werden Ashaki Tikako einen Besuch abstatten. Wenn wir Glück haben, werden wir Euren Assistenten dort finden und ihn ins Gildehaus zurückbringen, bevor der Tag vorüber ist.« Er hielt inne. »Obwohl Ihr vielleicht den Wunsch habt, Euch vorher noch des Leichnams der Sklavin zu entledigen.«

Dannyl nickte zustimmend. »Nicht gerade ein angenehmes Willkommensgeschenk. Wenn Ihr mit Eurer Untersuchung der Toten fertig seid, werde ich den Sklaven befehlen, mit ihr zu tun, was immer sie mit ihren Toten tun.«


Da sie das neue Versteck nicht als Falle für den Jäger der Diebe benötigten, hatte Cery Anweisung gegeben, es zu versiegeln. Er und Gol waren in seine Wohnung in dem Lager neben der alten Stadtmauer zurückgekehrt.

Cery hatte Gol bis zum Morgen nichts von seinem Gespräch mit Sonea erzählt. Ihre Reaktion auf seine Neuigkeiten war so anders ausgefallen, als er erwartet hatte, dass er Zeit zum Nachdenken brauchte, Zeit, um seine Pläne noch einmal zu untersuchen und sich zu fragen, ob er bereuen würde, wozu er ja gesagt hatte.

»Warum macht sie sich nicht selbst auf die Suche nach der wilden Magierin?«, fragte Gol einmal mehr.

Cery seufzte und hob die Schultern. »Sie meinte, es stünde ihr heutzutage nicht frei, in der Stadt herumzulaufen. Sie muss sich bestimmten Einschränkungen fügen, die festlegen, wohin sie gehen darf und was sie tun kann.«

Gol runzelte die Stirn. »Undankbare Mistkerle. Nach allem, was sie getan hat, um die Stadt zu retten.«

Ja, aber die meisten Kyralier haben Angst vor ihr, dachte Cery. Sie gehen keine Risiken ein. Sie kennen sie nicht, daher trauen sie ihr nicht. Das kann ich verstehen. Aber es macht die Dinge für mich ein wenig unbequem.

»Also werden wir mit der Gilde zusammenarbeiten?«

»Wir müssen.« Cery verzog das Gesicht. »Niemand außer uns kann die wilde Magierin erkennen. Und vielleicht können wir helfen zu verhindern, dass sie das Ganze furchtbar vermasseln.«

Gols Gesichtsausdruck verriet Cery, wie wenig er an diese Möglichkeit glaubte. »Was ist mit Skellin? Wirst du es ihm erzählen?«

»Wir haben keine Beweise dafür, dass die Frau der Jäger der Diebe ist, nur dass sie Magie benutzt.«

»Was der Grund ist, warum du sie jetzt ›die wilde Magierin‹ nennst«, bemerkte Gol.

»Ja. Bis wir mit Bestimmtheit wissen, dass sie der Jäger ist.«

»Und damit du es Skellin nicht zu erzählen brauchst.« Gol verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast Angst, dich zum Narren zu machen.«

Cery sah seinen Freund tadelnd an. »Ich will seine Zeit nicht verschwenden. Oder ihm irgendetwas schuldig bleiben, wenn ich es vermeiden kann.«

»Aber du hast gesagt, er sei nicht das, wofür du ihn gehalten hast.«

Cery schnitt eine Grimasse. »Aber er ist trotzdem ein Dieb und ein Feuel-Händler. Bessere Männer als du und ich haben aus Gründen, die sie für gut hielten, schlimme Dinge getan.«

»Sie sind die Gefährlichen«, pflichtete Gol ihm bei. »Schütze Familie oder den Stolz eines Hauses oder die Verteidigung des Landes vor, und alles ist entschuldbar.«

Cery nickte. »Wenn es ums Geschäft geht, ziehe ich es vor, mir gegenüber ehrlich zu sein. Ich wollte wohlhabender sein als die meisten Hüttenbewohner. Ich wollte nicht als Bettler sterben. Und ich werde nicht so tun, als verfolgte ich höhere Ziele als dieses.«

»Du brauchst also Geld. Und um Geld zu bekommen, brauchst du Macht. Und wenn du nicht aus einem der Häuser stammst, hast du keine Chance, durch ein ehrliches Gewerbe Macht zu gewinnen.«

»Es geht stets ums Überleben. Und ich denke, genau das tut Skellin. Er sagte, er habe versucht, Feuel zu importieren, weil es eine Möglichkeit war, sich als Dieb zu beweisen.«

»Es hat funktioniert.«

Cery seufzte. »Das hat es. Und sein Gewissen plagt ihn nicht so sehr, dass er sich von dem Gewerbe abgewandt hätte.«

»Aber er sagte, er würde es tun.«

»Das werde ich erst glauben, wenn ich es sehe. Feuel hat ihn zu einem der mächtigsten Männer der Stadt gemacht. Die meisten Diebe arbeiten für ihn oder schulden ihm Gefälligkeiten. Ich glaube nicht, dass er das allzu schnell aufgeben wird.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, werde ich nicht das Risiko eingehen, in diese Sache hineingezogen zu werden.«

Gol schnaubte. »Du bist zu klug, um dich von ihm zu irgendetwas überreden zu lassen, Cery.«

Cery sah seinen Freund und Leibwächter an. »Du denkst, ich sollte es ihm erzählen?«

Der große Mann schürzte die Lippen. »Wenn dir irgendetwas sagt, dass du es nicht tun sollst, dann lass es. Aber wenn wir Schwierigkeiten haben, den Jäger der Diebe zu finden, schätze ich, wäre es interessant zu sehen, wozu Skellin imstande ist.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es nicht viel. Oder vielleicht würde er offenbaren, wie mächtig er wirklich ist.«

17 Gejagt

Obwohl er inzwischen mehrere Stunden in dem Raum verbracht hatte, brannten Lorkins Augen noch immer. Die Luft war schwer vom Gestank des Urins, der in offenen Fässern auf einer Seite des Raums gelagert wurde. Tyvara hatte ihm geraten, in flachen Zügen zu atmen, um sich nicht die Lunge zu verätzen, und die Augen geschlossen zu halten. Sie hatte ihm auch erklärt, dass nur Sklaven den Raum betreten würden und dass er Stillschweigen bewahren solle. Dann war sie wieder verschwunden.

Die Zeit verging sehr langsam, wenn jeder Atemzug einem die Kehle mit sauren Dämpfen von Exkrementen versengte. Außerdem machte es die Flucht in die Nacht hinaus zu einem weit weniger aufregenden Abenteuer, als es zuerst den Anschein gehabt hatte.

Nicht dass ich es um des Kitzels wegen getan hätte. Ich glaube tatsächlich, dass es meine einzige Chance war. Dass ich in Gefahr war. Und es immer noch sein könnte.

War er ein Narr, Tyvara zu glauben? Sein einziger Beweis dafür, dass sie die Wahrheit sagte, war die Reaktion der Sklavin, die sie getötet hatte.

»Du! Aber …er muss sterben. Du… Du bist eine Verräterin!«

Daraus hatte er drei Dinge geschlossen: Die Sklavin hatte Tyvara gekannt, sie hatte geglaubt, dass er getötet werden sollte, und sie hatte Tyvara für eine Verräterin gehalten. Was hatte Tyvara geantwortet?

»Ich habe dir gesagt, dass ich dir nicht erlauben würde, ihn zu töten. Du hättest meine Warnung ernst nehmen und verschwinden sollen.«

Daraus konnte er den Schluss ziehen, dass Tyvara um die Absicht der Frau gewusst und der Sklavin eine Chance gegeben hatte, von ihrer Mission abzulassen. Oder sie hatte es in der Hoffnung gesagt, dass ich genau das glauben würde. Aber welchen Grund könnte sie dafür haben, ihn zu täuschen? Vielleicht um mich davon zu überzeugen, dass sie der Frau eine Chance gegeben hatte fortzugehen. Dass sie keine so gnadenlose Mörderin war, wie es den Anschein hatte.

Eines war klar. Wenn Tyvara ihn hätte töten wollen, hätte sie es getan. Schließlich verstand sie sich auf schwarze Magie. Sie konnte ihn mühelos töten, wenn sie es wollte.

Aber in der Frage, ob es notwendig gewesen war, mit ihr zu fliehen, war er sich nicht sicher. Sobald Dannyl erfahren hätte, was geschehen war, hätte er gewiss einen besseren Schutz für ihn arrangiert. Aber wie sollte er das tun? Es wird mehrere Tage dauern, bis irgendwelche Magier von der Gilde hier ankommen, und keiner von ihnen ist so stark wie die meisten sachakanischen Magier. Nicht einmal Mutter oder Kallen, die sich mit schwarzer Magie würden stärken müssen, bevor sie aufbrechen. Was die sachakanischen Magier betrifft… Würden einige von ihnen sich dazu herablassen, als Leibwächter für den Gehilfen eines Gildebotschafters zu dienen? Wie könnten wir wissen, dass nicht gerade sie Riva geschickt hatten, um mich zu töten?

Was die Frage betraf, wer ihn tot sehen wollte, konnte er nur vermuten, dass es die Familien der Sachakaner waren, die seine Eltern während der Ichani-Invasion getötet hatten. Seine Mutter musste recht haben. Ihre Familien fühlten sich offensichtlich immer noch verpflichtet, Rache für den Tod ihrer Verwandten zu üben, obwohl diese Verwandten Ausgestoßene gewesen waren.

Die Höheren Magier waren davon überzeugt, dass diese Gefahr nicht bestand. Das Gleiche gilt für Lord Maron und die anderen Gildebotschafter, die hier gelebt haben. Haben diese Familien ihre Absichten in der Hoffnung verborgen, dass Mutter oder ich eines Tages nach Sachaka reisen würden?

Er dachte an den Ring in seiner Tasche. Sollte ich mich mit meiner Mutter in Verbindung setzen? Was wird sie sagen? Wahrscheinlich wird sie verlangen, dass ich ins Gildehaus zurückkehre und es Dannyl überlasse, sich um alles zu kümmern. Sie wird jetzt keine Mühe haben, die Gilde dazu zu überreden, meine Rückkehr zu befehlen. Ein Gefühl der Rebellion stieg in ihm auf, verebbte jedoch schnell wieder. Sie hatte recht, rief er sich ins Gedächtnis. Es war zu gefährlich für mich hierherzukommen. Doch irgendetwas sagt mir, dass eine Rückkehr ins Gildehaus im Augenblick auch nicht sicher wäre. Wenn Tyvara mich gerettet hat, will sie mich am Leben erhalten, und sie denkt offensichtlich nicht, dass ich im Gildehaus –

Die Tür zu dem Raum wurde abrupt geöffnet, und Lorkin zuckte zusammen. Es waren immer wieder Sklaven gekommen und gegangen, aber sie schienen nicht überrascht gewesen zu sein, ihn hier zu sehen. Beim ersten Mal war er gerade drauf und dran gewesen, den Blutring seiner Mutter zu benutzen, und hatte ihn gerade noch im Rücken seines Notizbuches verbergen können. Danach hatte er es nicht gewagt, es noch einmal zu versuchen, für den Fall, dass sie es mitbekamen und den Verdacht schöpften, dass er versuchte, sie zu verraten, und ihm den Ring wegnahmen.

Aber es war Tyvara, die in der Tür stand. Wie bei ihrer ersten Begegnung durchzuckte ihn der Gedanke, dass sie verlockend rätselhaft und exotisch war. Diesmal stand sie jedoch nicht mit gesenktem Blick vor ihm. Noch warf sie sich auf den Boden. Stattdessen musterte sie ihn voller Erheiterung, und ihre Haltung war selbstbewusst und entspannt.

Was definitiv eine Verbesserung ist, befand er.

»Wie geht es Euch?«, fragte sie und verzog angesichts des Geruchs das Gesicht.

»Ich atme noch«, antwortete er. »Obwohl ich beinahe wünschte, ich täte es nicht. Werdet Ihr mir das alles jetzt erklären?«

Sie lächelte schwach. »Ja. Kommt mit nach draußen.«

Er erhob sich und ging zur Tür, und als sie beiseitetrat, gelangte er in einen großen Arbeitsraum. Vier Sklavinnen saßen an einem breiten Tisch und beobachteten ihn mit unverhohlener Neugier, jedoch ohne eine Spur Freundlichkeit. Zwei von ihnen waren etwa in Tyvaras Alter, die beiden anderen waren älter, aber es ließ sich schwer einschätzen, ob ihre Falten von harter Arbeit und Sonnenlicht herrührten oder von vorgerückten Jahren. Als er sie anschaute, wandten sie den Blick ab, dann strafften sie sich und richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Als triebe Gewohnheit sie dazu, zunächst einmal jeden Blickkontakt zu vermeiden. Tyvara muss jedoch so tun, als sei sie eine Sklavin … Ich denke… ich denke, diese Frauen wurden als Sklavinnen erzogen, während Tyvara als freie Frau zur Welt kam.

»Setzt Euch«, lud Tyvara ihn ein und deutete auf einen Hocker neben dem Tisch. Während er Platz nahm, setzte sie sich auf die Kante eines anderen Hockers. »Ich würde Euch ja mit allen bekannt machen, aber es ist immer sicherer, es zu vermeiden, Namen auszutauschen. Ich kann Euch sagen, dass Ihr bei diesen Frauen sicher seid.«

Lorkin nickte ihnen höflich zu. »Dann danke ich Euch für Eure Hilfe.«

Die vier sagten nichts, aber sie hatten die Augenbrauen hochgezogen und tauschten einige schnelle Blicke.

»Wir sind eine Gruppe, die sich die Verräterinnen nennt«, erklärte Tyvara. »Vor einigen hundert Jahren, nachdem die Kyralier Sachaka erobert hatten, taten sich freie Frauen mit Sklavinnen zusammen und entkamen an einen entlegenen, verborgenen Ort. Dort bauten sie ein Zuhause auf, in dem niemand Sklave war und alle einander ebenbürtig.«

Lorkin runzelte die Stirn. »Eine Gesellschaft, die ausschließlich aus Frauen besteht? Aber wie –«

»Nicht ausschließlich aus Frauen.« Tyvara lächelte. »Es gibt dort auch Männer. Aber sie führen nicht über alles das Kommando, wie es überall sonst auf der Welt der Fall ist.«

Wie faszinierend. Lorkin musterte Tyvara eingehend. Natürlich. Es ist nicht nur so, dass sie als freie Frau geboren wurde. Sie ist es gewohnt, das Sagen zu haben. Dann wurde ihm etwas anderes klar. Sie hatte ihn immer an jemanden erinnert, und jetzt wusste er, wer es war. Meine Mutter! Bei diesem Gedanken wurde ihm flau im Magen. Das wäre vielleicht kein guter Gedanke, der mir in den Sinn kommen könnte, sollten wir jemals… nein, denk nicht darüber nach.

»Irgendwelche Fragen?«, wollte sie wissen.

»Warum nennt Ihr Euch ›die Verräterinnen‹?«

»Anscheinend wurden wir nach einer sachakanischen Prinzessin benannt, die von ihrem Vater dafür getötet wurde, dass einer seiner Verbündeten sie vergewaltigt hatte. Er nannte sie eine Verräterin, und aus Mitgefühl begannen Frauen jener Zeit, sich ebenfalls so zu nennen.«

Lorkin dachte daran, was die sterbende Sklavin gesagt hatte. Hatte sie »Verräterin« gemeint? Nein, das ergab keinen Sinn. Aber wenn Riva gewusst hatte, dass Tyvara eine Spionin war…

»Wusste Riva, dass Ihr eine Verräterin seid?«

»Ja.«

»Warum hat sie gesagt, Ihr wärt eine Verräterin an Eurem Volk?«

Tyvaras Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Lächeln. »Sie meinte das sachakanische Volk. Ich fürchte, die Tatsache, dass wir weder dem Herrscher noch dem Gesetz folgen und die Gewohnheit haben, uns in die sachakanische Politik einzumischen, bedeutet, dass die meisten Sachakaner uns für Verräter halten.«

»Wie verhindert Ihr, dass sachakanische Magier Euch alle finden? Gewiss brauchten sie nur Eure Gedanken zu lesen?«

»Wir haben eine Möglichkeit, unsere Gedanken vor ihnen verborgen zu halten. Sie werden nur sehen, was wir sie sehen lassen wollen. Es bedeutet, dass wir Leute in den Häusern mächtiger Ashaki überall im Land haben können.«

Lorkins Herz setzte einen Schlag aus. Magie, von der ich noch nie gehört habe!

»Könnt Ihr mir erzählen, wie Ihr das macht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir Verräterinnen geben unsere Geheimnisse nicht gern preis.«

Er nickte. Irgendetwas, das den Geist davor bewahrt, entblößt zu werden – ganz ähnlich, wie Blutsteine verhindern, dass Gedankenrede zwischen Magiern von anderen Magiern belauscht werden kann.

»Funktioniert es wie ein Blutsteinring?«, fragte er.

Eine der anderen Frauen lachte. Sie sah ihm kurz in die Augen, dann blickte sie Tyvara an. »Der junge Mann ist klug. Du wirst genau aufpassen müssen, was du sagst.«

Tyvara schnaubte leise. »Ich weiß.« Dann verebbte ihre Erheiterung. Seufzend wandte sie sich wieder an Lorkin. »Wir müssen von hier fortgehen. Das Gildehaus ist zu nah, und einige der Sklaven dort wussten, dass ich Verbindungen hierher habe. Ihr werdet diese hübschen Kleider hergeben und Euch als Sklave tarnen müssen. Könnt Ihr das tun?«

Lorkin blickte auf seine Roben hinab und unterdrückte ein Seufzen. »Wenn es sein muss.«

»Sein Gesicht ist zu blass«, bemerkte eine der jüngeren Sklavinnen. »Wir werden es färben müssen.«

Eine ältere Sklavin musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Er ist ziemlich mager für einen Sachakaner. Aber das ist besser als zu fett. Man findet nicht viele fette Sklaven.« Sie erhob sich. »Ich werde einige Kleider holen.«

»Ihr braucht auch einen Sklavennamen«, erklärte Tyvara. »Wie wäre es mit Ork? Das kommt Eurem wahren Namen so nah, dass die Leute es vielleicht nicht bemerken werden, falls ich Euch versehentlich Lorkin nennen sollte.«

»Ork«, wiederholte Lorkin achselzuckend. Klingt wie ein Ungeheuer. Meine Freunde zu Hause würden das sehr komisch finden. Dann durchzuckte ihn ein Stich des Kummers. Sie werden sich Sorgen um mich machen, wenn sie erfahren, dass ich verschwunden bin. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit – abgesehen davon, mich durch den Blutring mit Mutter in Verbindung zu setzen –, wie ich sie wissen lassen könnte, dass es mir gut geht. Er verzog das Gesicht. Nun, dass ich zumindest noch am Leben bin.

Die ältere Sklavin hatte ein langes, rechteckiges Tuch von einem Ständer gezogen, an dem mehrere solcher Tücher hingen. Mit dem Tuch und einem Seil kam sie auf ihn zu. Die Frauen feixten, während er sein Übergewand ablegte. Er wickelte den Stoff um seinen Körper und gürtete ihn wie geheißen mit dem Seil, dann zog er seine Hose aus. Er war froh, dass er den Blutring seiner Mutter im Rücken seines Notizbuchs versteckt hatte. Es wäre schwierig gewesen, ihn unbemerkt aus seinen Roben zu klauben.

»Das könnt Ihr nicht mitnehmen«, sagte Tyvara, als sie das Notizbuch bemerkte.

Lorkin blickte auf das Buch hinab. »Kann man es ins Gildehaus zurückschicken?«

Die Sklavinnen schüttelten den Kopf. »Das lässt sich kaum machen, ohne dass irgendjemand erfährt, dass es von dir gekommen ist«, erklärte eine der Frauen.

»Es muss zerstört werden«, beschloss Tyvara und streckte die Hand danach aus.

»Nein!« Lorkin riss es an sich. »Darin habe ich all meine Forschungsergebnisse notiert.«

»Was kein Sklave bei sich tragen würde.«

»Ich werde es versteckt halten«, erwiderte er. Er stopfte es in den Ausschnitt seines provisorischen Kittels.

»Und wenn ein Ashaki Eure Gedanken liest, wird er erfahren, dass Ihr es dort versteckt.«

»Wenn ein Ashaki seine Gedanken liest, wird er erfahren, dass er kein Sklave ist«, bemerkte eine der älteren Frauen grinsend. »Lass ihn sein Buch behalten.«

Tyvara runzelte die Stirn, dann seufzte sie. »Also schön. Haben wir irgendwelche Schuhe?«

Eine der anderen Frauen holte ein Paar schlichter Lederschuhe, die aus nicht viel mehr bestanden als einem Stück Leder, das zu einem fußförmigen Beutel vernäht war. Den Beutel band man dann mit einem anderen, dünneren Seil am Knöchel fest. Tyvara nickte anerkennend.

»Wir haben es fast geschafft. Während unsere Freundinnen hier die Farbe für Eure Haut zubereiten, sollte ich Euch besser erklären, welches Benehmen man von einem Sklaven erwartet«, sagte Tyvara. »Ich vermutete, das wird für Euch der schwierigste Teil werden. Wie überzeugend Ihr seid, könnte den Unterschied zwischen Überleben und Tod ausmachen.«

»Das werde ich im Kopf behalten«, erwiderte er. »Es ist etwas, was ich wohl kaum vergessen werde.«

Sie lächelte grimmig. »Man kann es sehr leicht vergessen, wenn man ausgepeitscht wird, nur weil jemand einen schlechten Tag hatte. Glaubt mir. Ich weiß es.«


Während Sonea den Flur des Magierquartiers hinunterging, gähnte sie. Die Sonne war bei ihrer Rückkehr über den Hügel hinter der Gilde gekrochen und hatte einen bleichen Schimmer über den Himmel geworfen. Jetzt hatte sie sich hinter die Stadt zurückgezogen und alles der Dunkelheit, dem Lampenlicht oder, für einige wenige Glückliche, magischer Beleuchtung überlassen.

Die Nachtschichten im Hospital waren die unbeliebtesten, daher übernahm sie sie, wann immer sie es einrichten konnte. Trotz der späten Stunde waren viele Patienten da gewesen – wobei einige der Heiler scherzhaft meinten, dass die nächtlichen Patienten die interessantesten seien. Sie hatte gewiss während dieser Schichten einige einzigartige Verletzungen behandelt. Sie argwöhnte, dass erheblich mehr nächtliche Besucher als jene, die gezwungen waren, aufgrund der Natur ihrer Erkrankung oder Verletzung ihr Gewerbe zuzugeben, in Geschäfte verstrickt waren, die die meisten Gildemagier und ihre Familien entsetzt hätten.

Cerys Neuigkeiten waren ihr viele Male durch den Kopf gegangen. Sie hatte unvernünftigerweise ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht bereit erklärt hatte, ihm bei der Suche nach der wilden Magierin zu helfen. Aber sie konnte nicht erkennen, wie sie das insgeheim hätte tun sollen, was ihr das Misstrauen und die Missbilligung der Gilde eingetragen hätte. Und das wiederum würde die Hospitäler gefährden.

Trotzdem ging sie nicht direkt zu Administrator Osen, als sie in der Gilde ankam. Stattdessen beschloss sie, darüber zu schlafen, wie Cery es vorgeschlagen hatte. Und jetzt, da sie wach war und der Schlaf ihr keine Gewissheit gebracht hatte, hatte sie sich vorgenommen, mit Rothen darüber zu sprechen. Er war schließlich derjenige gewesen, der damals, als sie selbst eine wilde Magierin gewesen war und sich vor der Gilde versteckt hatte, nach ihr gesucht und sie gefunden hatte.

An seiner Tür angekommen, klopfte sie. Eine vertraute Stimme antwortete ihr von der anderen Seite. Die Tür wurde geöffnet, und Rothen lächelte, als er sie sah.

»Sonea. Komm herein.« Er zog die Tür weiter auf und ließ sie eintreten. »Setz dich. Möchtest du etwas Raka?«

Sie ließ ihren Blick durch das Gästezimmer wandern, dann drehte sie sich wieder zu ihm um. »Cery war gestern Nacht bei mir. Er hat eine neue wilde Magierin in der Stadt entdeckt. Eine Frau, die volle Kontrolle über ihre Kräfte hat. Ich kann mich natürlich nicht selbst darum kümmern, aber… denkt Ihr, die Gilde wird es diesmal wieder vermasseln?«

Rothen sah sie überrascht an, dann blickte er über ihre Schulter.

»Ich wäre bereit, das Vermögen meiner Familie darauf zu verwetten, dass sie es genauso vermasseln werden wie beim letzten Mal«, erklang eine vertraute Stimme.

Soneas Schultern sackten herunter. Sie setzte eine ernste Miene auf und drehte sich um. Ein Mann trat aus dem Raum, der einst ihr Schlafzimmer gewesen war, und in der Hand hielt er eins der vielen Bücher, die Rothen jetzt dort aufbewahrte.

»Regin und ich haben über einige Schwierigkeiten unter den Novizen gesprochen«, sagte Rothen mit einem entschuldigenden Unterton in der Stimme.

Sonea musterte Regin. Verflucht soll er sein. Das bedeutet, dass ich es sofort den Höheren Magiern werde berichten müssen. Hoffentlich werden sie mir verzeihen, dass ich zuerst Rothen um Rat gefragt habe.

»Noch mehr Schwierigkeiten?«, fragte sie ihn.

»Oh, irgendeine Art von Schwierigkeiten gibt es immer«, antwortete Regin achselzuckend.

»Was diese wilde Magierin betrifft… Ich stimme Regin zu«, bemerkte Rothen. »Obwohl ich nicht ganz so pessimistisch sein würde wie er. Der Hohe Lord Balkan und Administrator Osen würden in ihrer Suche subtilere Methoden anwenden, aber sie haben nicht die Einblicke, die Erfahrung und die Möglichkeiten, die wir beide haben.«

Sonea drehte sich wieder zu ihm um. »Wie kann ich nach einer wilden Magierin suchen, wenn ich mich nicht ohne Erlaubnis in der Stadt bewegen darf?«

Rothen lächelte. »Bitte nicht um Erlaubnis.«

»Aber wenn sie herausfinden, dass ich in der Stadt umhergeschlichen bin oder es versäumt habe, dies den Höheren Magiern zu melden, oder sogar mit einem Dieb gesprochen habe, wird es die Meinung all jener Leute bestätigen, die sagen, man könne mir nicht trauen.«

»Und wenn Ihr eine wilde Magierin aufspürt, werden die Leute, die zählen, das übersehen«, meldete Regin sich zu Wort.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde auf keinen Fall die Hospitäler gefährden, damit ich etwas tun kann, das andere ebenso gut tun könnten.«

»Lady Vinara und die Heiler würden niemals irgendjemanden in die Nähe der Hospitäler lassen«, versicherte ihr Regin.

»Aber sie könnten mich daran hindern, dort zu arbeiten«, konterte Sonea.

»Das bezweifle ich. Selbst Eure Kritiker mussten zustimmen, dass das eine Vergeudung Eurer Talente wäre.«

Sie sah Regin einen Moment lang an, dann wandte sie den Blick ab. Er war viel zu entgegenkommend. Das machte sie argwöhnisch. Drängte er sie, heimlich nach der wilden Magierin zu suchen, um ihr Verhalten später aufzudecken? Es würde ihm nichts einbringen bis auf eine schäbige Befriedigung über meinen Niedergang.

»Wenn die Zeit kommt, unsere Methoden zu offenbaren, werde ich allen sagen, dass ich dich beraten und dir geholfen habe«, erklärte Rothen. Dann sah er Regin an. »Ich bin davon überzeugt, Regin wird mit Freuden das Gleiche tun.«

»Natürlich. Ich werde es aufschreiben und unterzeichnen, wenn Ihr das wünscht.« In Regins Stimme schwang ein leicht sarkastischer Unterton mit. Er weiß, dass ich ihm immer noch nicht traue, dachte sie und verspürte ein unerwartetes Gefühl der Schuld. Wenn sie früher mit ihm zusammengearbeitet hatte, hatte er keine Spur von Unehrlichkeit gezeigt oder den Drang, sie irgendwie zu manipulieren.

»Die Leute werden dir auch weiterhin Einschränkungen auferlegen, solange du es ihnen gestattest«, erklärte Rothen. »Du hast ihnen während der letzten zwanzig Jahre keinen Grund gegeben, dir zu misstrauen. Es ist –«

»Genau«, unterbrach ihn Regin. »Ich sehe Kallen nicht um Erlaubnis fragen, um in der Stadt umherzustreifen, ebenso wenig wie ich Euch dabei sehe, dass Ihr Eure Lakaien ausschickt, damit sie jede seiner Bewegungen beobachten.«

»Das liegt daran, dass ich keine Lakaien habe«, entgegnete Sonea. »Oder die Zeit, es selbst zu tun.«

»Aber wenn Ihr das eine oder das andere hättet, würdet Ihr es tun?«, fragte Regin.

Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Wahrscheinlich.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ihr haltet ihn für gefährlich?«

»Nein.« Stirnrunzelnd blickte sie zum Fenster. »Nicht für gefährlich. Aber eines Tages könnte seine… seine Gründlichkeit mehr Schaden als Nutzen stiften.«

»Wie zum Beispiel jetzt«, sagte Rothen. »Er hat dich zu gut unter Kontrolle, als dass du tun würdest, wozu du die geeignetste Person wärst: diese wilde Magierin zu finden und sie in die Gilde zu bringen.«

Sie starrte zum Fenster hinaus. Direkt dahinter lag die Universität und dahinter die Stadt und in ihr eine Frau, die Magie benutzte – wahrscheinlich, um damit zu töten. »Es wird nicht so sein wie früher. Cery sagte, sie sei älter, daher hat sie vielleicht schon viele Jahre lang Magie benutzt. Und er vermutet, dass sie der Jäger der Diebe ist.«

»Dann ist es noch wichtiger, sie schnell zu finden«, bemerkte Regin. »Bevor sie nicht nur Verbrecher tötet, sondern jeden, der ihr in die Quere kommt.«

Sonea dachte an Cerys Familie und schauderte. Sie könnte es bereits getan haben. Sie wandte sich vom Fenster ab und blickte von Regin zu Rothen. »Aber wenn ich den mir auferlegten Einschränkungen offen trotze, werde ich Aufmerksamkeit erregen und Tadel auf mich ziehen, bevor wir sie finden können.«

Rothen lächelte. »Sobald du etwas entdeckt hast, schick an uns beide eine Nachricht. Einer von uns kann der Sache dann auf den Grund gehen, wenn du dich nicht davonstehlen kannst, um es selbst zu tun.«

Sonea sah Regin an, der nickte. Sie spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Es war ein Kompromiss, aber kein perfekter Kompromiss. Es könnte immer noch Missbilligung erregen, wenn sie die Angelegenheit nicht den Höheren Magiern unterbreitete, aber zumindest würde sie das Risiko vermeiden, dass sie es, wenn sie sich selbst auf die Suche nach der Frau machten, vermasseln würden. Sowohl Cery als auch die Hospitäler würden sicher sein.

Aber es bedeutete, dass Rothen und Regin sich die Missbilligung der Gilde zuziehen würden, wenn offenbar wurde, dass sie diese Information nicht weitergeleitet hatten.

Hoffen wir, dass Regin recht hat und sie diesen Umstand übersehen werden, wenn sie sich um eine eingefangene wilde Magierin kümmern müssen.

»Ich sollte jetzt besser gehen«, sagte Regin und nickte Sonea zu. »Ich werde bereit sein, Euch meine Unterstützung zu gewähren, wenn Ihr sie braucht.« Er nickte Rothen zu, der die Geste erwiderte, dann ging er zur Tür und verließ den Raum.

Sobald er fort war, setzte Sonea sich hin und stieß einen Seufzer aus. Ich weiß, dass die Jagd in den richtigen Händen ist, dachte sie ironisch. Ich habe bereits genug Sorgen, mit Lorkin in Sachaka und den Hospitälern voller Feuelbenutzer.

»Du siehst müde aus«, bemerkte Rothen, während er zu dem Beistelltisch ging, um Sumi und Raka für sie beide zuzubereiten.

»Ich hatte die Nachtschicht.«

»Du bist in letzter Zeit sehr lange in den Hospitälern.«

Sie zuckte die Achseln. »Auf diese Weise habe ich etwas zu tun.« Dann stieß sie ein kurzes Lachen aus. »Und jetzt habe ich noch mehr zu tun, indem ich Informationen über die wilde Magierin an Euch und Regin weiterleiten muss.«

»Die Hospitäler werden sich um sich selbst kümmern«, entgegnete er. Dann ging er zu den Stühlen hinüber und reichte ihr eine Tasse dampfenden Raka. »Und wir werden uns um dich kümmern.«

Sonea zog eine Augenbraue hoch. »Ihr und Regin?«

Er nickte. »Ich habe es dir gesagt: Er ist zu einem vernünftigen jungen Mann herangereift.«

»Junger Mann?«, spottete Sonea. »Nur im Vergleich mit Euch selbst, alter Freund. Er ist lediglich ein oder zwei Jahre jünger als ich und hat zwei erwachsene Töchter.«

»Trotzdem«, erwiderte Rothen mit einem Lachen. »Er hat sich sehr gut entwickelt, seit du ihn als Novizen in der Arena verprügelt hast.«

Sie wandte den Blick ab. »So musste es wohl kommen, oder? Viel schlimmer hätte er nicht werden können.« Sie sah ihn forschend an. »Denkt Ihr, wir können ihm trauen?«

Er blickte ihr mit ernster Miene in die Augen. »Ich glaube es. Ihm waren Dinge wie die Gilde und die Rechtschaffenheit seines Hauses und seiner Familie stets teuer. Das war die Quelle seiner Arroganz als junger Mann und ist jetzt als Erwachsener sein Antrieb. Es bekümmert ihn, dass sich in diesen Bereichen so viel Gesetzlosigkeit breitgemacht hat. Dies ist eine weitere Möglichkeit, wie er helfen kann, die Dinge in Ordnung zu bringen. Und er ist vernünftig genug, um zu begreifen, dass wir das Problem am besten gemeinsam in Angriff nehmen sollten und im Geheimen. Die Gilde mag die Suche nach der wilden Magierin vielleicht nicht vermasseln, aber dafür gibt es keine Garantie. Wir können das Risiko nicht eingehen.«

»Ihr habt wahrscheinlich recht.« Sonea verzog das Gesicht. »Und Ihr solltet auch in Bezug auf Regin besser recht haben, denn wenn er mir das Leben unangenehm machen will, hat er jetzt gewiss die Möglichkeit dazu.«


Das Badehaus Zum Schwarzen Zuber war nicht so sauber, wie Cery es gern gehabt hätte. Es stank nach Moder und dem billigen Parfüm, das diesen Geruch überlagern sollte, und die Gewänder, die man ihm und Gol gegeben hatte, wiesen einige interessante Flecken auf. Aber das Badehaus war die einzige Einrichtung in Sichtweite des Pfandleihers, in der sie sich plausiblerweise über einen längeren Zeitraum hinweg aufhalten konnten, daher mussten sie es wohl oder übel einmal in Augenschein nehmen.

Man hatte sie in einen Umkleideraum geführt und dort allein gelassen. Er lag im Erdgeschoss, und billige, schmucklose Fensterschirme verbargen die Kunden vor Blicken von der Straße. Nachdem sie sich umgezogen hatten, war Gol aus dem Raum geschlüpft, um die Nebenräume zu erkunden, und Cery hatte einen Stuhl vor eins der Fenster gestellt. Jetzt zog Cery den Fensterschirm auf und lächelte zufrieden, als er feststellte, dass der Laden des Pfandleihers tatsächlich in Sichtweite war.

Die Tür wurde wieder geöffnet, aber es war nur Gol, der zurückkam.

»Was denkst du?«

»In den Räumen um uns herum ist niemand, aber für das obere Stockwerk kann ich mich nicht verbürgen. Wir können reden, sollten es aber leise tun.« Dann verzog er das Gesicht. »Es ist ziemlich heruntergekommen.«

»Und die Bedienung ist langsam«, pflichtete Cery ihm bei. »Wahrscheinlich haben sie zu wenig Personal.« Er deutete auf das Fenster. »Aber die Aussicht ist gut.«

Gol trat näher und spähte hinaus. »Das ist sie allerdings.«

»Wir sollten uns abwechseln. Der eine beobachtet den Laden, während der andere sich wäscht.«

Der große Mann schnitt eine Grimasse. »Ich hoffe nur, dass das Wasser nicht so übel ist wie der Geruch hier.« Er holte sich einen weiteren Stuhl und nahm Platz. »Hat deine Freundin etwas darüber gesagt, wie sie vorgehen will?«

Cery schüttelte den Kopf. Soneas Nachricht war kryptisch gewesen; sie hatte ihm lediglich mitgeteilt, dass sie sich um die Angelegenheit, auf die er sie aufmerksam gemacht hatte, kümmern werde. Außerdem hatte sie ihm für die Information gedankt und ihn gebeten, weitere Neuigkeiten ans Hospital zu schicken. Sie hat sich offensichtlich für den Fall so kryptisch ausgedrückt, dass der Brief abgefangen werden sollte. Wenn sie sich um die wilde Magierin kümmert, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie der Gilde etwas erzählt hat. Sie würden ihr die Aufgabe, die Frau zu suchen, nicht anvertrauen.

Es klopfte. Cery schob den Fensterschirm wieder vors Fenster.

»Herein«, rief er.

Dieselbe dünne junge Frau, die sie in den Umkleideraum geleitet hatte, öffnete die Tür und trat ein. Sie sah ihnen nicht in die Augen.

»Das Bad ist fast fertig. Möchtet Ihr es warm oder heiß haben?«

»Heiß«, antwortete Cery.

»Welchen Duft wünscht Ihr? Wir haben –«

»Nein«, unterbrach Gol sie entschlossen.

»Hast du ein wenig Salz?«, fragte Cery. Er hatte gehört, dass ein Salzbad gut für angeschlagene Muskeln sei, und er hatte noch immer Schmerzen von dem Übungsmesserkampf, den er am Morgen ausgefochten hatte. Außerdem war Salz auch gut zur Reinigung von schlechtem Wasser.

»Ja.« Sie nannte einen Preis, bei dem Gol die Augenbrauen hochzog.

»Wir nehmen es«, erklärte Cery.

Das Mädchen nickte höflich und verließ den Raum. Cery wandte sich dem Fenster zu, öffnete abermals den Schirm und schaute hinaus. Auf der Straße waren inzwischen mehr Menschen unterwegs.

»Sollen wir Makkin den Aufkäufer dazu überreden, uns zu helfen?«, fragte Gol. »Er hat ohnehin schon Angst vor ihr, daher wird es sie nicht argwöhnisch machen, wenn er ein wenig nervös ist.«

»Er ist der Typ Mann, der sich demjenigen fügt, vor dem er am meisten Angst hat«, erwiderte Cery. »Wenn er weiß, dass sie über Magie gebietet, wird er vor ihr mehr Angst haben als vor uns.«

»Sie hat ihn aus dem Raum geschickt, bevor sie den Tresor geöffnet hat. Das legt für mich die Vermutung nahe, dass er nichts von ihrer Magie weiß.«

»Ja, aber –«

Gol zischte. Cery schaute den Mann an und sah, dass er aus dem Fenster starrte.

»Was?«

»Ist sie das? Vor Makkins Laden.«

Cery wirbelte zum Fenster herum. Eine gebeugte Frau war vor dem Laden stehen geblieben. Ihr Haar war durchzogen von grauen Strähnen. Einen Moment lang war Cery davon überzeugt, dass Gol sich irrte – so sehr, dass er ihn gerade deswegen aufziehen wollte –, doch dann drehte die Frau den Kopf, um die Straße zu betrachten. Ein Schauder des Wiedererkennens durchlief ihn.

Er sah Gol an. Gol starrte ihn an. Dann blickten sie beide auf die Tücher hinunter, die sie trugen.

»Ich werde hingehen«, sagte Gol. »Du schaust zu.« Er sprang zu dem Stapel Kleider, die er abgelegt hatte, und begann sich hastig anzuziehen. Cery wandte sich wieder dem Fenster zu und beobachtete, wie sie den Laden betrat.

Sein Herz hämmerte. Er spürte, wie sämtliche Muskeln in seinem Körper sich langsam anspannten, und zählte jeden Atemzug.

»Ist sie noch drin?«

»Ja«, antwortete Cery. »Was immer du tust, lass sie nicht merken, dass du ihr folgst. Selbst wenn du jemanden bezahlen musst, um –«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Gol ungeduldig. Cery hörte, wie er die Tür öffnete. Zur gleichen Zeit sah er, dass die Ladentür geöffnet wurde und die Frau herauskam.

»Sie geht«, sagte er.

Gol antwortete nicht. Als Cery sich umdrehte, war der große Mann bereits verschwunden, und die Tür stand offen. Er blickte wieder auf die Straße hinab und konnte die Frau gerade noch sehen, bevor sie verschwand. Einen Moment später erschien Gol. Cery stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sein Freund und Leibwächter zuversichtlichen Schrittes in die gleiche Richtung ging.

Gib auf dich acht, alter Freund, dachte Cery.

»Ahm… tut mir leid, dass Ihr warten musstet.«

Er wandte sich dem Badehausmädchen zu, das in der Tür stand. Sie sah zuerst ihn an und dann den Fensterschirm, bevor sie zu Boden blickte. Cery schloss den Schirm und stand auf.

»Das Bad ist bereit?«

»Ja.«

»Gut. Mein Freund musste gehen. Bring mich zu der Badewanne.«

Bei der Nachrichten, dass sie einen Kunden verloren hatte, sanken ihre Schultern ein wenig herab, dann bedeutete sie ihm, ihr zu folgen, und führte ihn aus dem Raum.

18 Der Verräter

Während der Sklave wimmerte, sein Kopf eingezwängt zwischen den großen Händen von Ashaki Tikako, konnte Dannyl nicht verhindern, dass er zusammenzuckte. Obwohl es Dannyl selbst noch nie passiert war, dass ein Schwarzmagier seine Gedanken gelesen hatte, war es, wenn man nach der Reaktion der Sklaven dieses Mannes urteilen konnte, anscheinend keine angenehme Erfahrung.

Tikako gab einen verärgerten Laut von sich und stieß den Sklaven weg. Der Mann fiel auf eine Schulter, dann huschte er auf allen vieren davon, während sein Herr ihn anschrie, dass er verschwinden solle. Die Sklaven, die in der Nähe knieten und darauf warteten, befragt zu werden, duckten sich, als der Ashaki seine Aufmerksamkeit auf sie richtete.

Es waren nicht mehr viele Sklaven übrig. Dannyl hatte bisher mehr als achtzig gezählt. Keiner von ihnen hatte nützliche Informationen über Lorkin und Tyvara gehabt. Sie konnten nicht einmal bestätigen, ob Tyvara jemals mit irgendjemandem auf dem Gut gesprochen hatte.

Der Ashaki deutete mit dem Finger auf eine junge Frau, die widerstrebend auf den Knien herbeigerutscht kam, die von dem langen Verharren auf dem rauen Steinpflaster gerötet waren. Tikako packte ihren Kopf, bevor sie sich auch nur vor ihm niedergelassen hatte. Sie zog die Brauen zusammen, und Dannyl hielt den Atem an und hoffte, dass sie das Geheimnis um Lorkins Verschwinden würde lösen können, selbst wenn das bedeutete, dass sie wahrscheinlich getötet werden würde, weil sie die Information nicht preisgegeben hatte, als ihr Herr das erste Mal danach verlangte.

Nach einen langen Augenblick starrte Tikako sie an, dann warf er sie mit einem wortlosen Brüllen des Zorns von sich. Sie riss die Augen auf, als er sie durch den Raum schleuderte. Sie krachte gegen einen der großen Tonkrüge, die im Raum verteilt waren, und hübsche, blühende Pflanzen quollen aus dem Krug. Nachdem sie sich in eine sitzende Position erhoben hatte, blinzelte sie langsam und mit glasigen Augen.

Dannyl verkniff sich einen weiteren Fluch. Die Brutalität dieser Leute. Sie halten sich gern für so würdevoll, mit all ihren Ritualen und ihrer Hierarchie, aber darunter sind sie noch immer genauso grausam, wie die Historiker sie stets beschrieben haben. Nach dem heutigen Tag wusste Dannyl, dass er so leicht nicht vergessen würde, warum man die Sachakaner so sehr fürchtete, obwohl seine Gastgeber absolut respektvoll und wohlerzogen waren. Es war nicht die Macht, die sie besaßen, die sie grausam machte, sondern ihre Bereitschaft, sie gegen Menschen einzusetzen, die schwächer waren als sie selbst.

Die junge Frau hatte sich nicht erhoben, und es war auch keiner der anderen Sklaven herbeigekommen, um ihr zu helfen. Als Ashaki Tikako einen weiteren Sklaven zu sich rief, verließ Dannyl verstohlen Ashaki Achati und trat auf sie zu. Sie blinzelte ihn überrascht an, dann senkte sie hastig den Blick, als er neben ihr in die Hocke ging.

»Lass mich das sehen«, sagte er. Sie senkte passiv den Kopf, während er den hinteren Teil ihres Schädels untersuchte. Die Kopfhaut blutete und begann anzuschwellen. Er legte eine Hand auf die Wunde, konzentrierte sich und sandte heilende Magie hinein. Ihre Augen weiteten sich, und ihr Blick wurde wieder klar.

»Besser?«, fragte er, als er fertig war.

Sie nickte, dann beugte sie sich zu ihm vor. »Diejenigen, die Ihr sucht, sind fort«, sagte sie mit leiser Stimme. »Er ist jetzt wie ein Sklave gekleidet, und seine Haut ist gefärbt worden, damit er aussieht wie wir. Sie fahren mit einem Karren zu dem Landgut des Herrn im Westen.«

»Meinst du …?«, begann Dannyl. Aber sie schüttelte langsam den Kopf, als versuche sie, ihn frei zu bekommen, und wich vor ihm zurück.

»Verschwendet nicht Eure Kraft, Botschafter.« Als Dannyl aufblickte, sah er, dass Ashaki Tikako ihn angrinste. »Es wird nicht viel kosten, sie zu ersetzen.«

Dannyl erhob sich. »Euch ein wenig Geld zu sparen ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem Ihr so viel Zeit und Mühe darauf verwendet habt, Eure Sklaven zu befragen.«

»Ohne großen Erfolg, wie ich zugeben muss.« Tikako seufzte und betrachtete die letzten fünf Sklaven. Er winkte sie müde heran; sein Ärger hatte sich inzwischen in Resignation verwandelt.

Während der Ashaki begann, ihre Gedanken zu lesen, kehrte Dannyl zu Achati zurück. Der Mann sah ihn fragend an. Dannyl schüttelte schwach den Kopf. Er konnte Achati in Tikakos Hörweite nicht erzählen, was er erfahren hatte. Wenn Tikako mitbekam, dass es der Sklavin gelungen war, etwas vor seiner Durchleuchtung ihres Geistes verborgen zu halten, würde er sich gedemütigt fühlen. Die Sklavin würde abermals befragt und wahrscheinlich getötet werden. Das wäre gewiss keine nette Art, der jungen Frau für ihre Information zu danken.

Obwohl es möglich ist, dass es eine List war. Dannyl runzelte die Stirn. Warum hat sie es ihrem Herrn dann nicht erzählt, als er das erste Mal um Informationen gebeten hat? Sie wollte nicht, dass er erfuhr, was sie mir berichtet hat. Warum hat sie ihrem Herrn das Wissen nicht anvertraut? Arbeitet er mit der Frau zusammen, die Lorkin entführt hat?

Welches auch immer der Grund sein mochte, die sachakanische Methode des Gedankenlesens war nicht so gründlich, wie sie dachten. Ashaki Tikako schickte den letzten Sklaven weg und wandte sich Dannyl und Achati zu. Er entschuldigte sich dafür, dass es ihm nicht gelungen war, Lorkin zu finden. Dennoch klang seine Stimme nicht so, als müsse er sich verteidigen. Er fühlte sich bestätigt. Keiner seiner Sklaven hatte Flüchtlinge versteckt. Keiner hatte gelogen mit seiner Behauptung, nichts zu wissen.

Oder vielleicht wussten sie es durchaus, und er hat nur vorgegeben, nichts herausgefunden zu haben, um seinen Stolz und seine Ehre zu schützen – oder zu verbergen, dass er an der Entführung beteiligt gewesen war.

Achati schien jedoch zufrieden zu sein. Er dankte Tikako und erklärte, dass seine Unterstützung belohnt werden würde. Schon bald kehrten er und Dannyl zu ihrer Kutsche zurück, verabschiedeten sich von ihrem Gastgeber und stiegen ein. Die beiden Sklaven Achatis, zwei junge Männer, wirkten erleichtert, dass sie aufbrechen konnten.

Als der Wagen durch die Tore von Tikakos Herrenhaus gerollt war, wandte Achati sich Dannyl zu, die Stirn gerunzelt vor Sorge.

»Ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, wohin wir als Nächstes fahren sollen. Ich –«

»Nach Westen«, unterbrach ihn Dannyl. »Lorkin ist jetzt wie ein Sklave gekleidet, und er und Tyvara fahren in einem Karren zu Ashaki Tikakos Landgut.«

Achati starrte ihn an, dann lächelte er. »Das Sklavenmädchen. Sie hat Euch das erzählt?« »Ja.«

»Eure Untersuchungsmethoden, so unwahrscheinlich sie sein mögen, scheinen doch zu funktionieren.« Das Lächeln des Mannes verblasste. »Hmm. Das bedeutet… das legt die Vermutung nahe, dass eine der schlimmsten Möglichkeiten, die ich erwogen habe, die zutreffende sein könnte.«

»Dass Ashaki Tikako die Gedanken seiner Sklavin gelesen und uns nichts verraten hat, weil er an Lorkins Entführung beteiligt war, oder dass die sachakanischen Methoden des Gedankenlesens nicht so wirksam sind, wie sie sein sollten?«

Achati zuckte die Achseln. »Ersteres ist unwahrscheinlich. Tikako ist mit dem König verwandt und einer seiner größten Anhänger. Letzteres ist schon immer der Fall gewesen. Man braucht Zeit und Konzentration, um einen Geist zur Gänze zu durchsuchen.« Er verzog das Gesicht. »Aber es ist die Natur des Geistes, dass das, was er am dringendsten verbergen will, dazu neigt, die Oberfläche zu streifen, wenn die Gedanken des Betreffenden gelesen werden. Tikako hätte diese Information sehen sollen. Die Tatsache, dass es der jungen Frau gelungen ist, es zu verbergen, deutet auf Fähigkeiten hin, die sie nicht haben sollte. Fähigkeiten, über die nur die Mitglieder einer bestimmten Gruppe von Rebellen gebieten.«

»Rebellen?«

»Sie nennen sich die Verräterinnen. Sie benutzen Sklavinnen als Spione und zur Ausführung von Morden und Entführungen. Einige Leute – größtenteils Frauen – glauben, dass es sich bei den Verräterinnen um eine ausschließlich aus Frauen bestehende Gesellschaft handelt, weil es angeblich vor allem Frauen in schwierigen und unglücklichen Umständen sind, die sie aufnehmen. Ich habe den Verdacht, dass es sich dabei um ein Gerücht handelt, mit dessen Hilfe sie sich die Fügsamkeit ihrer Opfer sichern, und dass der wahre Grund für die Entführung der Frauen darin liegt, dass sie sie in die Sklaverei verkaufen, hier oder in einem anderen Land.«

Ein kalter Schauer überlief Dannyl. »Was wollen sie dann von Lorkin?«

»Ich bin mir nicht sicher. Manchmal mischen sie sich in Politik ein. Im Allgemeinen mit Bestechungen oder Erpressung, aber manchmal auch durch einen Auftragsmord. Der einzige Gewinn, den sie durch eine Entführung Lorkins haben können, ist meiner Meinung nach der, dass sie den König damit in Verlegenheit bringen würden.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Es sei denn, sie wollen einen Krieg zwischen unseren Ländern heraufbeschwören.«

»Wenn das ihre Absicht wäre, hätten sie Lorkin gewiss getötet.«

Achatis Miene war grimmig, als er Dannyl in die Augen sah. »Möglicherweise haben sie das immer noch vor.«

»Dann müssen wir sie schnell finden. Gibt es viele Straßen, die nach Westen führen, zu Tikakos Landgut?«

Der Sachakaner antwortete nicht. Seine Miene spiegelte Verwirrung und Geistesabwesenheit wider. »Aber warum es uns erzählen?«, fragte er.

»Wer?«, fragte Dannyl.

»Das Sklavenmädchen. Warum hat sie uns erzählt, wie wir Lorkin finden können, wenn sie eine Verräterin ist? Versucht sie, uns von der richtigen Spur abzubringen?«

»Vielleicht haben die Verräterinnen nichts damit zu tun und wollen vermeiden, dass man ihnen die Schuld an Lorkins Entführung gibt.«

Achati zog die Brauen zusammen. »Nun, es ist der einzige Hinweis, den wir haben. Ob es eine List ist oder nicht, wir haben keine andere Möglichkeit, als der Angelegenheit nachzugehen.«


Auf der Straße zu Tikakos Landgut herrschte ein ständiger Verkehrsstrom, der Lorkin zwang, während des größten Teils des Tages Tyvaras Rat zu befolgen und kein Wort zu sagen, für den Fall, dass sein kyralischer Akzent Aufmerksamkeit erregen sollte. Er konnte sie nicht nach dem Ziel ihrer Reise fragen oder um Informationen über die Leute bitten, die versucht hatten, ihn zu töten. Seine Haut juckte von der Farbe, die sie bedeckte. Wenn er sich kratzte, warf sie ihm einen missbilligenden Blick zu und trat ihm sachte gegen den Knöchel, wenn er sich vergaß und die Leute, an denen sie vorbeikamen, direkt anschaute. Das war ungeheuer frustrierend und machte das langsame Fortkommen des Karrens, der von einem uralt aussehenden Pferd gezogen wurde, fast unerträglich.

Von Zeit zu Zeit sah er sie verstohlen an und bemerkte die Anspannung ihres Körpers und wie sie auf ihrer Unterlippe kaute. Außerdem konnte er nicht umhin, ihre beinahe makellose braune Haut zu bewundern. Es war das erste Mal, dass er sie draußen im Freien und im Sonnenlicht sah, statt im Licht einer Lampe oder einer magischen Kugel. Ihre Haut hatte einen gesunden Schimmer, und er ertappte sich bei der Frage, ob sie sich so warm anfühlen würde wie die Haut von Riva. Dann kam die unausweichliche Erinnerung an Rivas Tod, an die blicklosen Augen, und er wandte sich ab.

Es ist gefährlich, sich zu Tyvara hingezogen zu fühlen, dachte er. Aber aus irgendeinem Grund machen das Rätsel, das sie umgibt, und der Umstand, dass ich nicht weiß, wie mächtig sie ist, sie noch reizvoller. Trotzdem, dies ist nicht der Zeitpunkt, um wegen einer Frau den Verstand zu verlieren. Es besteht eine sehr reale Gefahr, dass ich am Ende mehr verlieren könnte als nur den Verstand.

Als sie ihm schließlich zumurmelte, dass sie in Kürze ihr Ziel erreichen würden, schwebte die Sonne direkt über dem Horizont. Er verspürte eine Erleichterung, die sich alsbald in Luft auflöste, als sie ihm sagte, was er als Nächstes tun sollte. Sie würden ein weiteres Gut erreichen, in dem man sie erwartete. Dort würden sie essen und schlafen, aber Tyvara würde erst dann wissen, was sie danach tun sollten, wenn sie Verbindung zu ihren Leuten aufgenommen hatte.

Dies würde der erste Test seiner Fähigkeit sein, sich wie ein Sklave zu benehmen. Sie hatte ihm eingeschärft, dass er nicht mehr als nötig sprechen sollte, dass er den Blick stets gesenkt halten und ohne Zögern oder Protest gehorchen musste. Außerdem sollte er sich, wenn irgend möglich, in der Dunkelheit halten.

Jetzt deutete sie mit dem Kopf auf eine Lücke in der Mauer vor ihnen und wies ihn an, das Pferd darauf zuzulenken. Es war ein wenig seltsam, dass eine Haussklavin einen Liefersklaven begleitete, daher hatten sie sich eine Ausrede zurechtgelegt: Angeblich zeigte sie ihm den Weg und lehrte ihn, wie man den Karren fuhr, weil keine anderen Sklaven dafür freigestellt werden konnten. Er hatte die Fahrlektionen genossen, obwohl er nicht viele Fragen stellen konnte, weil sie befürchten mussten, belauscht zu werden.

Sie schafften es ohne Missgeschick durch die Lücke in der Mauer, obwohl der Wagen an einer Seite die Steine berührte. Lorkin schaute zu den Gebäuden hinüber. Gestalten bewegten sich zwischen ihnen hindurch – der Kleidung nach allesamt Sklaven. Als der Wagen sich näherte, blieben die Leute stehen, um einen Moment zuzuschauen, bevor sie ihre Pflichten wieder aufnahmen.

»Dort hindurch«, sagte Tyvara und deutete auf eine Toreinfahrt. Er lenkte den Karren auf einen kleinen Innenhof. Ein hochgewachsener Sklave, der das Kopfband eines Sklavenmeisters trug, trat aus einer Tür und bedeutete Lorkin anzuhalten.

Sie brachten den Wagen zum Stehen. Lorkin, der sich des durchdringenden Blicks des Sklavenmeisters vollauf bewusst war, schaute zu Boden. Zwei weitere Sklaven kamen herbei und traten neben den Kopf des Pferdes.

»Euch zwei habe ich noch nie gesehen«, bemerkte der Mann.

Tyvara nickte. »Das ist Ork. Er ist neu.«

»Ein bisschen mager für einen Liefersklaven.«

»Mit ein wenig Arbeit wird er schon Muskeln zulegen.«

Der Mann nickte. »Und du?«

»Vara. Ich musste ihm den Weg zeigen.« Sie klang selbstgefällig. »Niemand sonst war abkömmlich.«

»Hm.« Der Sklavenmeister machte ihnen ein Zeichen und wandte sich ab. »Du wirst froh sein, dass du dich ausruhen konntest. Der Herr will, dass der Wagen sofort beladen wird, damit ihr beim ersten Tageslicht aufbrechen könnt, und wir bekommen nichts zu essen, bevor die Arbeit getan ist.«

Tyvara sah Lorkin an, dann zuckte sie die Achseln. »Also komm, Ork.«

Sie stiegen vom Wagen. Einer der anderen Sklaven griff nach den Zügeln, während der zweite dem Pferd das Geschirr abnahm. Lorkin folgte Tyvara in einen großen, hölzernen Raum. Der schwere, süße Geruch von Reberwolle erfüllte die Luft.

»Das ist die Ladung.« Der Sklavenmeister deutete auf einen Haufen Vliesbündel, die in Öltuch eingewickelt waren. Die Fracht schien die doppelte Größe dessen zu haben, was der Karren tranportieren konnte. Der Mann blickte von Lorkin zu Tyvara. »Ihr wisst, wie man einen Wagen belädt?«

»Ich habe viele Male zugesehen«, antwortete Tyvara. Sie begann, die Vorgehensweise zu beschreiben.

Der Mann nickte und stieß ein anerkennendes Brummen aus. »Das Wesentliche hast du verstanden. Ich werde es überprüfen, wenn ich zurückkomme. Wenn es falsch ist«, er musterte Lorkin vielsagend, »werdet ihr ausladen und richtig wieder aufladen müssen, und das bedeutet, dass ihr bis morgen früh auf euer Essen werdet warten müssen.«

»In Ordnung«, erwiderte Tyvara und schaute Lorkin an. »Es wird Zeit, etwas Neues zu lernen.«

Lorkin war froh darüber, dass der Sklavenmeister nicht zurückblieb, um sie zu beobachten, aber es tauchten jede Menge weiterer Sklaven auf, von denen einige stehen blieben, um ihn und Tyvara zu mustern. Glücklicherweise schien sie tatsächlich zu wissen, wie man Karren belud, und gab acht, dass er nichts verkehrt machte. Aber es waren eine Menge Bündel, und er hatte während der vergangenen Nacht nur wenig Schlaf gefunden. Obwohl er seine Erschöpfung geheilt hatte, wann immer sie begann ihn zu behindern, kehrte die Müdigkeit mit jedem Mal schneller zurück.

Die Bündel waren alle gleich, doch irgendwie wurden sie schwerer, während er arbeitete. Er musste die letzten zu Tyvara hinaufwerfen, die auf dem Stapel im Karren balancierte. Als er Schritte hinter sich hörte, zuckte er zusammen und verfehlte sein Ziel. Tyvaras Hände rutschten ab, und das Bündel fiel zu Boden. Lorkin wich zurück, um es aufzuheben, doch stattdessen trat er auf irgendetwas.

»Narr!«, brüllte eine vertraute Stimme. Eine Hand kam aus dem Nichts und schlug Lorkin so heftig gegen den Kopf, dass ihm die Ohren dröhnten. Er hielt sich den Kopf und stolperte davon. Da er vermutete, dass es einem Sklaven ähnlicher sähe, sich auf den Boden zu kauern, als aufzustehen, duckte er sich und wartete ab.

»Sitz nicht da und schmolle. Heb das Bündel auf und beende die Arbeit«, befahl der Sklavenmeister.

Lorkin rappelte sich in gekrümmter Haltung hoch und vermied es, den Mann anzusehen. Dann lief er zu dem letzten Bündel und hob es vom Boden auf. Er blickte zu Tyvara empor. Sie runzelte besorgt die Stirn, streckte jedoch die Hände aus zum Zeichen, dass sie bereit war. Er warf und seufzte vor Erleichterung, als sie das Bündel auffing und geschickt zu den übrigen legte.

Dann drückte ihm der Sklavenmeister, der Lorkin offensichtlich verziehen hatte, dass er ihm auf den Fuß getreten war, Seile in die Hand und half ihnen, die Vliesballen auf dem Wagen festzubinden. Als sie fertig waren, nickte er anerkennend.

»Ich werde den Küchenjungen mit Essen und Decken hinausschicken. Ihr könnt im Lager schlafen. Haltet euch bereit, früh aufzubrechen.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und stolzierte davon. Als Lorkin ihm nachsah, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er widerstand der Versuchung, nach der Quelle Ausschau zu halten. Der Innenhof wurde nicht länger vom Licht des späten Nachmittags beleuchtet, und die Dunkelheit unter den Veranden war fast undurchdringlich. Schließlich tat Lorkin so, als betrachte er in dem verblassenden Licht seine Hände, dann schaute er darüber hinweg und machte eine weibliche Gestalt in einer Tür aus. Sie beobachtete ihn und Tyvara mit schmalen Augen.

»Ork«, rief Tyvara. Er drehte sich zu ihr um. Sie stand neben dem Karren. »Komm und hilf mir, das hier zu richten.«

Er trat neben sie. Sie zupfte an einem der Bündel, an dessen Platzierung nichts auszusetzen schien.

»Meine gewohnte Kontaktperson ist nicht erschienen«, murmelte sie. »Ich habe keine andere Tür zum Lager entdeckt. Lasst uns für den Augenblick hier draußen bleiben.«

»Da war vorhin eine Frau, die uns beobachtet hat«, erwiderte er. »Hast du sie gesehen?«

Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Als Schritte erklangen, spähte sie um den Wagen herum und lächelte. »Essen!«

Lorkin folgte ihr, als sie dem Jungen, der auf sie zukam, entgegenging. Seine Augen weiteten sich, dann senkte er hastig den Blick und hielt ihnen zwei faustgroße, noch dampfende Brötchen und zwei Becher hin. Die Flüssigkeit darin erzitterte, da die Hand des Jungen bebte.

Tyvara nahm das Essen und reichte Lorkin seinen Anteil. Sobald er frei von seiner Last war, drehte der Junge sich um, rannte zurück zu einer Tür und stürzte hindurch.

»Er hatte Angst«, murmelte Lorkin.

»Ja«, pflichtete Tyvara ihm bei. »Und er hätte keine Angst haben dürfen.« Sie ging zurück zum Wagen. »Außerdem hat er keine Decken mitgebracht. Folge mir.« Tyvara ging am Wagen vorbei auf das Lager zu. Lorkin schloss sich ihr an, wobei er achtgab, den Inhalt seines Bechers nicht zu verschütten. Jetzt erhellte eine einzelne Lampe den Raum und warf Schatten an die Wände. Sobald sie im Lager waren, nahm Tyvara ihm den Becher und das Brötchen ab und stellte beides zusammen mit ihrem Essen neben einen Eimer, der stark nach Urin roch.

»Wir können das nicht essen«, erklärte sie ihm, während sie sich im Raum umblickte. »Es könnte mit Drogen versetzt sein.«

»Drogen?« Er betrachtete das Brötchen und den Becher. »Sie wissen, wer wir sind?«

»Möglicherweise. Ah! Gut. Komm her.«

»Aber wie können sich die Neuigkeiten so schnell bis hierher rumgesprochen haben?«, fragte er, während er ihr zur gegenüberliegenden Wand folgte. Sie drehte sich um, und der Blick, den sie ihm zuwarf, besagte deutlich, dass sie seine Frage für idiotisch hielt.

»Benutzen Kyralier keine Blutringe?«

»Doch, aber –«

»Ich nehme an, ihr habt keine Sklaven, die hinter eurem Rücken schwatzen. Aber gewiss könnt ihr euch eines denken: Wenn wir zu Fuß gereist sind, konnte jeder mit einem Pferd die Neuigkeiten schneller verbreiten, als wir unser Ziel erreichen konnten.«

»Hm, ja…«

Sie verdrehte die Augen, dann wandte sie sich ab und schlüpfte hinter einige Kisten, die voller mit Wachspfropfen verschlossener Tonkrüge waren. Als er ihr folgte, sah er eine kleine Tür, die mit Brettern dauerhaft vernagelt war. Sie drehte sich zu der Lampe um, dann zu den Kisten mit Krügen. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und starrte die Kisten an. Sie begannen sich zu bewegen und schwankten gefährlich hin und her, als sie vorwärtsrutschten, um den Blick zum Eingang des Lagers zu versperren.

Dann wandte sie sich den Brettern über der kleinen Tür zu und starrte sie an, bis sie begannen, sich vom Türrahmen zu lösen.

»Lösch die Lampe«, befahl sie, ohne den Blick von ihrem Werk abzuwenden.

Lorkin schaute zu der Lampe hinüber, dann zog er Macht in sich hinein, sandte sie aus und formte sie zu einer kleinen Barriere, die die Flamme ausblies. Als Dunkelheit sich über den Raum legte, spürte er eine frische Brise und drehte sich um; wo die Tür gewesen war, erstreckte sich jetzt ein dunkelblaues Rechteck mit orangefarbenen Wolken. Er trat darauf zu, aber der Himmel verschwand, als Tyvara die Tür wieder zuschwang, und er spürte ihre Hand auf seiner Brust, um ihn aufzuhalten.

»Warte«, murmelte sie. »Lass dich nicht sehen.«

Vor der Tür des Hauptlagers ertönten Geräusche. Licht fiel in den Raum und bewegte sich, als die Quelle näher kam. Dann traten der Sklavenmeister und der Junge ein, gefolgt von einer Frau. Sie beide starrten auf die Becher und die Brötchen, die unberührt waren, dann sahen sie sich im Lager um.

»Sie sind weg«, sagte der Junge.

»Sie können nicht weit gekommen sein«, meinte die Frau. »Sollen wir mit der Suche beginnen?«

»Nein«, antwortete der Sklavenmeister. »Zu gefährlich. Wenn sie das sind, was du behauptest, kann nur der Herr mit ihnen fertig werden, und er ist in der Stadt.«

Die Frau sah aus, als wolle sie Einwände erheben, doch stattdessen nickte sie nur steif und verließ das Lager. Der Sklavenmeister sah sich abermals im Raum um. Einen Moment lang machte er den Eindruck, als würde er ihn vielleicht durchsuchen, aber dann schüttelte er den Kopf und ging zur Tür.

Sobald er fort war, verspürte Lorkin abermals die Brise. Tyvara packte ihn am Arm und zog ihn durch die Tür in eine Lücke zwischen zwei Gebäuden. Sie hielt seine Arme mit starkem Griff umfasst. Ihm wurde flau, als sie sich plötzlich in die Luft erhoben.

Levitation, dachte er und blickte hinab, wo die unsichtbare Kraft unter ihren Füßen sein musste. Ich hatte jahrelang keinen Grund mehr, das zu tun.

Sie traten auf das Dach des Lagers. Tyvara hockte sich hin und begann, langsam und leise über das Dach zu kriechen, wobei sie sich dicht unter dem First hielt, damit die Leute im Innenhof sie nicht sehen konnten. Lorkin folgte ihr und zuckte bei jedem Knarren der hölzernen Ziegel zusammen. Die Sklavenschuhe waren viel leiser als Magierstiefel und griffen überraschend gut auf den Dachziegeln.

Am Ende des Lagerdachs kletterten sie zum Nachbargebäude hinunter, dann weiter zum nächsten und schließlich zu einem, das im Schatten eines großen Schornsteins ein gutes Versteck bot. Von unten kam ein lautes Knirschen, das sämtliche Geräusche, die sie machten, überdecken würde.

Vielleicht kann ich ihr jetzt einige Fragen stellen.

»Wenn es richtig dunkel ist, werden wir zur Straße zurückkehren«, eröffnete ihm Tyvara.

»Und wenn wir jemandem begegnen?«

»Niemand wird uns allzu genau ansehen. Sklaven auf der Straße sind nichts Ungewöhnliches, nicht einmal bei Nacht. Aber wenn wir querfeldein gehen, werden wir zu Eindringlingen. Obwohl die Feldsklaven sich uns nicht nähern werden, werden sie uns ihrem Herrn melden. Selbst wenn wir wegkommen, bevor er Nachforschungen anstellt, wird jeder, der auf solche Berichte achtet, wissen, in welche Richtung wir uns bewegen.« Sie seufzte. »Ich hatte gehofft, weiter von der Stadt wegzukommen, bevor dies geschieht.«

»Du hast damit gerechnet?«

»Ja.«

»Sind deine Kontaktpersonen hier sicher?« »Ja.«

»Also… sie sind hier, aber das Gleiche gilt für die Leute, die versucht haben, mich zu töten?«

»Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber… es ist noch komplizierter.«

Er sah sie erwartungsvoll an, doch sie sagte nichts mehr, sondern starrte nur über die Felder hinweg. Sie will offensichtlich nicht darüber reden. Aber sie kann nicht andeuten, dass mehr dahintersteckt als das, was sie mir erzählt hat, ohne damit zu rechnen, dass ich nachhake.

»Warum ist es komplizierter?«, fragte er. Dann runzelte er überrascht die Stirn. Seine Stimme hatte härter geklungen als beabsichtigt.

Sie musterte ihn, und ihre Augen waren in der wachsenden Dunkelheit kaum sichtbar.

»Ich sollte nicht… aber ich schätze, es hat keinen Sinn, es noch länger geheim zu halten.« Sie holte tief Luft, dann stieß sie den Atem wieder aus. »Wir können jetzt keinen Sklaven mehr vertrauen, nicht einmal jenen, die Verräterinnen sind. Wir Verräterinnen… wir sind nicht immer der gleichen Meinung. Aufgrund sehr unterschiedlicher Meinungen zu einigen Fragen haben sich bei uns bestimmte Gruppen gebildet.«

»Parteien?«, fragte er nach.

»Ja, ich nehme an, so könnte man sie nennen. Die Partei, zu der ich gehöre, glaubt, dass du ein potenzieller Verbündeter seist und nicht getötet werden solltest. Die andere… glaubt das nicht.«

Lorkin schnappte nach Luft. Ihre Leute wollen mich tot sehen! Ein flaues Gefühl stieg in ihm auf, aber er schob es beiseite. Nein, nur einige von ihnen wollen das. Tyvara ist ein guter Mensch…

»Meine Partei hat mehr Einfluss auf unsere Leute«, erklärte sie ihm. »Wir sagen, dass deine Ermordung zu einem Krieg zwischen Sachaka und Kyralia führen könnte. Dass wir nur dann töten sollten, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Dass es die Denkweise der Sachakaner ist, ein Kind für die Taten der Eltern verantwortlich zu machen, nicht unsere. Aber…«

Sie hielt inne, und als sie weitersprach, senkte sie die Stimme. »Aber ich habe etwas getan, das das Machtverhältnis verändert haben könnte.« Sie holte erneut tief Luft, und diesmal zitterte ihr Atem ein wenig. »Die Frau, die ich getötet habe, um Euch zu retten – Riva –, war keine Auftragsmörderin, die von einer sachakanischen Familie geschickt worden war. Sie war eine Verräterin. Eine von der anderen Partei.«

»Du hast gelogen«, stellte Lorkin fest. »Ja. Andernfalls wärst du nicht mit mir gekommen, und dann wärst du inzwischen wahrscheinlich tot.«

Lorkin legte die Stirn in Falten. Welche anderen Lügen hatte sie ihm noch erzählt? Aber wenn alles andere, was sie sagte, der Wahrheit entsprach, vor allem in Bezug auf die Verräterinnen, verstand er die Täuschung. Ich wäre nicht mit ihr fortgegangen. Ich wäre zu verwirrt gewesen.

»Wenn meine Leute erfahren, dass ich sie getötet habe, wird die andere Partei an Unterstützung gewinnen«, fuhr Tyvara fort. »Und nach den Ereignissen hier zu urteilen, würde ich sagen, dass die Neuigkeit uns eindeutig überholt hat. Niemand von der anderen Partei wird uns helfen. Sie könnten versuchen, dich zu töten. Sie könnten versuchen, uns beide zu töten.«

»Und die Verräterinnen von deiner Partei?«

»Sie werden sich nicht sicher sein, was sie tun sollen. Sie werden nicht versuchen, uns zu töten, aber sie werden uns vielleicht auch nicht helfen, falls sie sich damit der Unterstützung einer Mörderin schuldig machen. Irgendwann werden die Nachrichten das Sanktuarium erreichen, und unsere Anführerinnen werden alle Befehle aufheben, die die Führungsleute der Kundschafter ausgegeben haben. Dann wird es offizielle Befehle von höchster Stelle geben.«

Lorkin schwirrte der Kopf von all diesen neuen Informationen. Überall in Sachaka gab es Leute – eine ganze Gesellschaft –, die darüber befanden, ob er getötet werden sollte oder nicht. Er schüttelte sich. Und was meinte sie mit »ein Kind für die Taten der Eltern verantwortlich machen«? Was haben meine Eltern getan, um sie so sehr in Wut zu versetzen? Er hatte zu viele Fragen, und sie konnten jeden Augenblick entdeckt werden. Am besten, er beschränkte sich auf die unmittelbareren. Wie zum Beispiel die Frage, welche Gefahr ihm von diesen Verräterinnen drohte.

»Also, wenn deine Partei die Oberhand hatte, warum hat Riva dann versucht, mich zu töten?«

Tyvara stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Sie hat ihre Befehle nicht befolgt. Sie hat mir nicht gehorcht.«

»Und niemand weiß das, daher denken sie, du hättest sie ermordet?«

Eine Pause folgte. »Ja, aber selbst wenn sie den Grund erfahren, warum ich sie getötet habe… Verräterinnen töten keine Verräterinnen. Es ist ein weit schwerwiegenderes Verbrechen als Befehlsverweigerung. Selbst meine eigene Partei wird mich dafür bestrafen wollen.«

»Sie werden dich töten?«

»Ich… ich weiß es nicht.« Sie klang so unsicher, so verängstigt, dass er plötzlich dem Drang widerstehen musste, die Arme um sie zu legen und ihr zu versichern, dass alles gut gehen würde. Aber die Worte wären eine Lüge gewesen. Er hatte keine Ahnung, was geschehen würde, wohin sie gehen sollten oder auch nur, wo er war. Sie hatte ihn von allem fortgeholt, was er verstand. Dies war ihre Welt. Sie war diejenige, die sich auskannte. Ob es ihm gefiel oder nicht, sie musste das Kommando führen.

»Wenn uns irgendjemand da rausbringen kann, dann bist du es«, erklärte er. »Also, was sollen wir jetzt tun? Nach Arvice zurückkehren? Nach Kyralia gehen?«

»Wir können weder das eine noch das andere tun. Wir haben fast in jedem Haushalt in Sachaka Verräterinnen. Jetzt, da meine Leute wissen, was ich getan habe, werden Verräterinnen den Pass im Auge behalten.« Er hörte das leise Geräusch von Fingern, die auf irgendetwas trommelten. »Wir können nicht weglaufen. Was wir tun müssen, ist Folgendes: Wir müssen zu meinen Leuten gehen – zu meiner Partei. Wir werden eine Chance haben, unser Verhalten zu erklären, und du wirst in Sicherheit sein. Ganz gleich was mit mir geschieht, sie werden dich beschützen.« Sie lachte leise. »Ich brauche dich nur sicher durch den größten Teil Sachakas und in die Berge zu bringen, ohne dass die andere Partei uns findet. Oder irgendwelche Kyralier und Sachakaner, die gewiss nach dir suchen.« »Die Berge, hm?«

»Ja. Und jetzt, da es dunkel ist, denke ich, ist es an der Zeit, dass wir aufbrechen. Wir werden an dieser Mauer herunterspringen und dann die Mauern entlang bis zur Straße gehen. Bist du bereit?«

Er nickte, dann grinste er kläglich, als ihm klar wurde, dass sie ihn nicht sehen konnte.

»Ja«, sagte er. »Ich bin bereit.«


Die junge Frau im Untersuchungsraum hatte dunkle Ringe unter den Augen. Auf ihrem Schoß zappelte ein kleines Kind, das das Gesicht verzog, während es mit beinahe unmenschlicher Stärke heulte.

»Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll«, gestand die Frau. »Ich habe alles versucht.«

»Lass mich mal sehen«, erbot sich Sonea.

Die Mutter reichte ihr das Kind. Sonea setzte sich den kleinen Jungen auf den Schoß und untersuchte ihn gründlich, sowohl mit den Händen und den Augen als auch mit ihrer Magie. Zu ihrer Erleichterung gab es keine Anzeichen für Verletzungen oder Krankheiten. Sie spürte jedoch ein alltäglicheres Problem.

»Es geht ihm gut«, versicherte sie der Mutter. »Er hat nur Hunger.«

»Jetzt schon?« Die junge Frau griff sich an die Brust. »Ich scheine nicht genug Milch –«

Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und Heilerin Nikea schlüpfte in den Raum.

»Es tut mir leid, dass ich stören muss«, sagte sie und sah die junge Frau entschuldigend an. Dann blickte sie zu Sonea hinüber. »Hier ist ein Bote für Euch. Er sagt, es sei dringend.«

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. War es Cery? Sie erhob sich und gab das Kind seiner Mutter zurück. »Ihr schickt ihn besser herein. Und könntet Ihr diese junge Frau zu Adrea bringen?« Sie sah die Mutter an und lächelte. »Adrea ist eine Expertin, was solche Probleme und alternative Speisen betrifft. Ich wünschte, ich hätte sie gekannt, als mein Sohn geboren wurde. Sie wird dir helfen.«

Die junge Frau nickte und folgte Nikea aus dem Raum. Die Tür schloss sich hinter ihnen. Sonea starrte sie an, während sie auf Cery wartete. Als die Tür endlich geöffnet wurde, war es jedoch ein massiger Mann, der den Raum betrat. Er kam ihr bekannt vor, und nach einem Moment des Nachdenkens fiel ihr wieder ein, wer er war.

»Gol, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ja, Mylady«, antwortete er.

Sie lächelte. Es war lange her, seit jemand sie das letzte Mal »Mylady« genannt hatte statt »Schwarzmagierin«. »Was gibt es Neues?«

»Wir haben sie gefunden«, sagte der große Mann, dessen Augen sich vor Aufregung weiteten. »Ich habe sie bis zu ihrem Wohnort verfolgt, und jetzt behält Cery sie im Auge, bis Ihr sie erreichen könnt.«

Abermals setzte Soneas Herz kurz aus, aber dann wurde ihr flau im Magen. Ich werde sie nicht erreichen. Ich muss nach Rothen schicken und nach Regin. Konnte sie es einfach unterlassen, Regin zu rufen? Nein, wenn diese Frau eine starke Magierin ist, könnte sie Rothen überwältigen. Vielleicht ihn sogar töten. Es ist besser, wenn zwei Magier sie zur Rede stellen als nur einer. Oh, ich wünschte, ich könnte mit ihm gehen! Aber wenn ich Regin vertrauen muss, dass er nichts darüber verlauten lässt, dass ich Informationen über eine Magierin zurückgehalten habe, dann muss er sich ebenfalls die Hände schmutzig machen.

»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte sie.

Gol zuckte die Achseln. »Als wir sie das letzte Mal gesehen haben, war sie gerade ins Bett gegangen, also… Ich nehme an, es hat keine Eile.«

»Dann würde ich gern nach Hilfe schicken. Zwei Magier sind in dieser Situation besser als einer.« Sie nahm ein Stück Papier und kritzelte hastig die Wort »Nordseite« und »Jetzt?« darauf. Dann faltete sie das Blatt zusammen, schrieb auf die Rückseite Regins Namen und Titel und verfasste anschließend die gleiche Nachricht für Rothen. »Gib dies Heilerin Nikea – der Frau, die dich hereingeführt hat.«

Gol nahm die Papiere entgegen und schlüpfte aus dem Raum.

Als die Tür wieder geöffnet wurde, erwartete Sonea, dass Gol noch einmal zurückgekommen war. Stattdessen war es Heilerin Nikea. Als die junge Frau näher trat, sah sie Sonea in die Augen und wandte den Blick dann wieder ab. Soneas Haut begann sofort zu kribbeln. Sie wird mich fragen, was es damit auf sich hatte. Vielleicht hat sie Gol erkannt oder herausgefunden, dass er für einen Dieb arbeitet. Ich bezweifle, dass sie mich schelten wird, aber Nikea ist nicht die Art Frau, die etwas, das sie missbilligt, unerwähnt lässt und ignoriert.

»Äh… ich wollte sagen…«, begann die junge Frau und rieb sich mit untypischer Nervosität die Hände.

»Ja?«, hakte Sonea nach.

»Was immer Ihr tut, ich weiß, dass es einem guten Zweck dienen muss.« Nikea straffte sich. »Wenn Ihr hier jemanden braucht, der… der ›Eure Spuren verwischt‹, wie man so schön sagt, könnt Ihr Euch auf mich verlassen. Und auch auf einige der anderen Heiler. Wir werden den Leuten erzählen, dass Ihr hier wart, falls Ihr ausgehen müsst.«

Sonea wurde bewusst, dass ihr vor Überraschung der Unterkiefer heruntergeklappt war, und sie schloss hastig den Mund.

»Wie viele von euch denken so?«, brachte sie schließlich heraus.

»Wir sind zu viert. Sylia, Gejen, Colea und ich.«

Erheitert unterdrückte Sonea den Drang zu lächeln. »Ihr habt das bereits besprochen?«

Nikeas Blick war fest. »Ja. Wir waren uns nicht sicher, was vorgeht, falls überhaupt etwas vorgeht. Aber wir alle dachten, es müsse wichtig sein und dass wir bereit wären, Euch zu helfen.«

Sonea spürte, dass ihr Gesicht heiß wurde. »Danke, Nikea.«

Die junge Frau zuckte die Achseln, dann ging sie rückwärts auf die Tür zu. »Natürlich würden wir liebend gern wissen, was vorgeht, falls Ihr es uns erzählen könnt.« Sie berührte die Klinke, dann blickte sie noch einmal hoffnungsvoll zurück.

Sonea lachte leise. »Wenn ich es kann, werde ich es tun.« Nikea grinste. »Ich werde den Boten wieder hereinschicken.«

»Vielen Dank. Noch einmal.«

Als sich die Tür hinter der Heilerin schloss, konnte Sonea sich ein Grinsen nicht verkneifen. Anscheinend denken nicht alle in der Gilde, dass ich mich, sobald sie mich nicht mehr sehen können, in eine verrückte, schwarze Magie benutzende Mörderin verwandle. Das Vertrauen der Heilerin berührte sie. Vielleicht konnte sie es doch riskieren, das Hospital zu verlassen. Was für Rothen und Regin sicherer wäre. Obwohl nichts darauf hindeutet, dass es sich bei der wilden Magierin um eine Schwarzmagierin handelt, könnte das Ganze sehr unangenehm werden, falls sich herausstellt, dass sie tatsächlich eine ist.

Und Sonea musste zugeben, dass die Vorstellung, wieder mit Cery in der Stadt umherzuschleichen, sie sowohl mit Wehmut als auch mit Erregung erfüllte. Es wäre nicht gerecht, wenn Rothen und Regin den ganzen Spaß haben würden, während sie nur dasitzen und auf Neuigkeiten warten durfte.


19 Das Versteck

Wie Gol berichtet hatte, war der Stadtteil, in dem die wilde Magierin lebte, überraschend respektabel und nicht die Art von Ort, an dem man herumlungern konnte, ohne aufzufallen. Cery hatte einige seiner Leute in umliegende Läden geschickt, um festzustellen, ob er die Frau aus einem von ihnen beobachten konnte. Einer seiner Männer hatte einen Ladenbesitzer sagen hören, dass sein Nachbar abgereist sei, um die Familie seiner Frau in Elyne zu besuchen, und einige aufgebrochene Schlösser später saß Cery im Gästezimmer des abwesenden Ladenbesitzers entspannt in einem gemütlichen Sessel an dem Fenster, das zur Straße hinausging, und beobachtete, wie die Nacht sich herabsenkte und Lampenanzünder die Straße nach und nach in helles Licht tauchten.

Außerdem hatte er einige Leute ausgeschickt, den Hintereingang des Hauses der wilden Magierin zu beobachten. Sie wohnte im Keller, den man durch den Laden darüber und durch eine eingefallene Hintertür erreichte. Regelmäßige Berichte versicherten ihm, dass sie nicht weggegangen war.

Doch Gol brauchte länger, als er hätte brauchen dürfen. Habe ich Soneas Nachricht missverstanden? Sie sagte, sie werde sich um »die Angelegenheit« kümmern und dass ich Informationen ins Hospital schicken solle. Nun, das habe ich getan.

Im unteren Stockwerk wurde eine Tür geöffnet, und Cery straffte sich. Die Schritte von zwei oder drei Leuten waren zu hören, die die Treppe heraufgestapft kamen. Waren es seine Leute, oder kehrten der Ladenbesitzer und seine Familie zurück? Er versteckte sich schnell hinter der offenen Tür, wo er hoffentlich unbemerkt aus dem Raum schlüpfen konnte, wenn es sein musste. Für den Fall, dass sie doch etwas bemerkten, schob er eine Hand in seinen Mantel, wo er sein beeindruckendstes Messer aufbewahrte.

»Cery?«, erklang eine vertraute Stimme.

Gol. Cery stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und trat hinter der Tür hervor. Sein Leibwächter und zwei Personen in langen Umhängen, die ihr Züge verbargen, näherten sich dem oberen Ende der Treppe. Er erkannte Sonea. Mit schmalen Augen betrachtete Cery den anderen Mann. Irgendwie kam er ihm vertraut vor. Als die drei ins Licht traten, stieg eine alte Erinnerung in Cerys Gedächtnis an die Oberfläche.

»Regin«, sagte er. »Oder heißt es jetzt Lord Regin?«

»So ist es«, erwiderte der Mann.

»So hieß er übrigens immer, Cery«, rief Sonea ihm ins Gedächtnis. »Aber es kommt einem immer ein wenig verfrüht vor, Novizen ›Lord‹ oder ›Lady‹ zu nennen. Lord Regin und Lord Rothen haben sich erboten, mir zu helfen, die wilde Magierin einzufangen, was sich als überaus wichtig erweisen könnte, sollte ich mich irgendwann einmal nicht unbemerkt aus dem Hospital fortschleichen können.«

»Wenn das Glück auf unserer Seite ist, wirst du dich nicht noch einmal davonstehlen müssen«, erwiderte Cery. »Kommt Lord Rothen ebenfalls?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hielt es für überflüssig, wenn ich hingehe.«

Cery beobachtete Regin, der Sonea in den Raum folgte. Sonea hatte früher einmal nicht viel für ihn übrig. Er hat ihr das Leben als Novizin schwer gemacht. Aber als Cery Regin während der Ichani-Invasion kennengelernt hatte, hatte der junge Mann sich freiwillig erboten, als Köder zu dienen, der einen sachakanischen Magier in Soneas und Akkarins Falle gelockt hatte. Es war ein mutiger Schritt gewesen. Wäre der Zeitpunkt falsch gewesen, hätte der Sachakaner Regin alle Magie und alles Leben ausgesaugt – und soweit Cery sich erinnerte, wäre es tatsächlich beinahe dazu gekommen.

Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte Cery niemals geglaubt, dass dieser Mann der Novize war, über dessen Streiche Sonea sich so bitter beklagt hatte. Lord Regins Gesicht schien zu einem permanenten Ausdruck der Ernsthaftigkeit verzogen zu sein. Obwohl sein Körperbau das gesunde Gewicht eines Menschen hatte, der ein privilegiertes Leben führte, sprachen die Linien um seine Brauen und seinen Mund von Sorge und Resignation. Aber in diesen Augen liegt unbestreitbar Intelligenz, bemerkte er. Ich würde wetten, dass er heute nicht weniger gefährlich ist als während seiner Novizenzeit. Trotzdem, Sonea vertraut ihm genug, um ihn in dieser Angelegenheit hinzuzuziehen. Dann blickte er sie an und sah die Wachsamkeit in ihrer Haltung, während sie ihren magischen Helfer betrachtete. Oder vielleicht hat sie keine andere Wahl. Ich sollte sie besser nach ihm fragen, sobald ich die Möglichkeit habe, allein mit ihr zu reden.

»Also, wo ist unsere wilde Magierin?«, fragte Sonea.

Cery trat ans Fenster. »Im Keller des Schuhmachers auf der anderen Seite der Straße.«

Sie spähte nach draußen. »Wie viele Eingänge?«

»Zwei. Beide werden beobachtet.«

»Dann sollten wir uns in zwei Gruppen aufteilen. Mit einem Magier in jeder Gruppe.«

Cery nickte zustimmend. »Ich werde mit dir durch die Vordertür gehen. Gol kann Regin durch die Hintertür hineinbringen. Wir werden uns im Keller treffen, wo ihr tun werdet, was immer ihr tun müsst.« Er sah die anderen an. Die beiden Männer nickten. »Irgendwelche Fragen?« Sie tauschten Blicke, dann schüttelten alle den Kopf. »Also schön, gehen wir.«

Am Fuß der Treppe angekommen, demonstrierte Cery einige Signale, die er und Gol als Warnungen benutzen würden oder um einen Rückzug zu veranlassen, dann traten sie ins Freie. Es war jetzt vollkommen dunkel. Die Lampen warfen Kreise aus Licht auf den Boden. Gol führte Regin in Richtung des Hintereingangs. Cery und Sonea gaben ihnen Zeit, ins Haus zu gelangen, dann überquerten sie die Straße zur Schuhmacherwerkstatt.

Sie gingen die Treppe hinauf und näherten sich der Tür. Cery förderte ein Ölkännchen zutage und schmierte die Türangeln hastig ein. Dann zog er einige Einbruchwerkzeuge aus seinem Mantel. Sonea, deren Gesicht im Schatten lag, sagte nichts, während er das Schloss öffnete. Ich schätze, sie könnte das mit Magie erledigen – wahrscheinlich schneller, als ich es kann. Warum schlage ich es dann nicht vor? Gehe ich hier etwa an?

Das Schloss klickte leise. Cery drehte langsam den Knauf, gewappnet für den Moment, in dem der Bügel aufsprang. Er zog die Tür auf, erleichtert, als sie nur ein leises Knarren von sich gab. Sonea trat hindurch, dann wartete sie auf ihn, während er die Tür hinter ihnen schloss.

Es war dunkel in der Werkstatt, und als seine Augen sich daran gewöhnt hatten, konnte er Reihen von Schuhen auf Regalen und einen Arbeitstisch erkennen. Der Tür gegenüber führte eine schmale Treppe nach unten und eine weitere nach oben. Seinen Spionen zufolge lag der Schuhmacher im oberen Stockwerk und schlief.

Sonea ging zur Treppe und betrachtete die Stufen, die nach unten führten. Sie schüttelte den Kopf, dann winkte sie Cery heran. Als er näher kam, fasste sie ihn am Arm und zog ihn an sich. Er starrte sie überrascht an, als ihm klar wurde, dass sie in dem fahlen Licht aussah wie das junge Mädchen, dem er vor so vielen Jahren geholfen hatte, sich vor der Gilde zu verstecken. Ihr Gesicht zeigte den gleichen eindringlichen, besorgten Ausdruck.

Dann spürte er, wie er in die Luft gehoben wurde, und alle Gedanken an die Vergangenheit waren vergessen. Er blickte hinab. Obwohl er etwas unter seinen Füßen fühlen konnte, konnte er es nicht sehen. Was immer es war, es trug ihn und Sonea die Treppe hinunter.

Ich schätze, das bedeutet, dass wir nicht Gefahr laufen, von knarrenden Stufen verraten zu werden.

Ein spärlich möblierter Raum wurde sichtbar, als sie sich dem Boden des Kellers näherten. Blendendes Licht erfüllte den Keller, als eine leuchtende Kugel über Soneas Kopf erschien. Cery suchte nach dem Bett, fand es und wurde dann von Enttäuschung übermannt. Es war leer.

Eine Tür öffnete sich, und sie fuhren beide herum, seufzten dann jedoch, als sie Regin und Gol den Raum betreten sahen. Beide runzelten die Stirn, als sie feststellen mussten, dass die wilde Magierin nirgends zu sehen war.

»Sucht«, sagte Sonea. »Aber vorsichtig.«

Sie entschieden sich jeder für eine Wand, beäugten die Möbel, schauten unter dem Bett nach und öffneten Schränke.

»Dieser Raum wird nicht benutzt«, bemerkte Regin. »Die Kleider in diesem Schrank sind staubig.«

Cery nickte und stieß gegen eine Schale mit schmutzigen Bechern, Tellern und Besteck darin. »Und diese Sachen sind schon so lange schmutzig, dass sie modrig werden.«

»Aha!«, rief Gol leise aus. Sie drehten sich um und sahen, dass er auf die Wand deutete. In einem Bereich waren die Ziegelsteine anders angeordnet als im übrigen Teil der Wand und ließen sich beiseitedrehen, als er gegen ein Ende drückte. Dahinter befand sich ein dunkler Raum. Cery ging hinein und schnupperte.

»Die Straße der Diebe«, erklärte er. »Oder ein Tunnel, der dort hinführt.«

Sonea lachte leise. »Also doch nicht zwei Eingänge. Es überrascht mich, dass du nicht nach unterirdischen Eingängen gesucht hast.«

Cery zuckte die Achseln. »Es ist eine neue Straße. Wenn der König die alten abreißt, sorgt er dafür, dass auch die Straße der Diebe verschwindet.«

»Diesmal war er nicht gründlich genug«, erwiderte sie. Sie trat näher und strich mit der Hand über das Mauerwerk. »Oder vielleicht war er es doch. Dies hier ist neu – kaum Staub oder Spinnweben darauf. Sollen wir feststellen, wo sie hinführt?«

»Wenn du die Gegend erkunden willst, nur zu«, entgegnete Cery. »Aber dies ist nicht mein Territorium. Ich darf nicht ohne Genehmigung eintreten. Wenn ich es doch tue, wird der Jäger einen Dieb weniger haben, den er um die Ecke bringen muss.«

»Ist dieser Tunnel ein Hinweis darauf, dass unsere wilde Magierin mit dem ansässigen Dieb zusammenarbeitet?«, fragte Regin.

Sonea sah Cery an. »Wenn sie der Jäger der Diebe ist, dann bezweifle ich es. Wenn sie es nicht ist, dann hat sie Fähigkeiten, die ein Dieb sehr nützlich finden würde.«

Mit anderen Worten, sie hält dies für einen Beweis, dass die wilde Magierin nicht der Jäger ist, dachte Cery.

Regin spähte mit konzentrierter Miene in den Tunnel. Er sah aus, als wolle er hineintreten, aber dann zog er sich zurück und richtete sich auf.

»Ich vermute, dass sie schon lange fort ist. Welches Vorgehen empfiehlst du uns jetzt, Cery?«, erkundigte er sich.

Cery sah den Magier überrascht an. Ein Magier, der ihn nach seiner Meinung fragte, war ein seltenes Ereignis. »Ich stimme zu, dass Ihr sie wohl kaum in den Tunneln finden werdet.« Er streckte die Hand aus und drehte die Ziegelsteine wieder in ihre frühere Position. »Wenn sie nicht bemerkt, dass wir in ihren Raum eingedrungen sind, benutzt sie ihn vielleicht weiterhin als Zugang zu den Tunneln. Wir sollten sicherstellen, dass alles genauso ist, wie wir es vorgefunden haben. Ich werde eine Wache vors Haus stellen und es Euch wissen lassen, sollte sie zurückkehren.«

»Und wenn sie doch etwas bemerkt?«, hakte Regin nach.

»Dann müssen wir hoffen, dass ein weiterer Glücksfall uns abermals zu ihr führen wird.«

Regin nickte, dann sah er Sonea an. Sie zuckte die Achseln. »Es gibt nicht viel, was wir jetzt noch tun können. Falls irgendjemand sie wiederfinden kann, dann ist es Cery.«

Freude stieg in Cery auf, gefolgt von einer nagenden Sorge, dass sie sich irren könnte. Er hatte die wilde Magierin durch Zufall entdeckt. Es würde vielleicht nicht so einfach sein, sie wiederzufinden. Zu viert bewegten sie sich eilig durch den Raum und sorgten dafür, dass alles wohlgeordnet war, bevor sie auf dem gleichen Weg wieder gingen, auf dem sie gekommen waren. Sonea verschluss die Vordertür mit Magie, dann schlüpften sie durch den Hintereingang hinaus. Wieder auf der Straße, tauschten sie Blicke, verhielten sich jedoch still. Die beiden Magier hoben zum Abschied die Hand, bevor sie davongingen. Cery und Gol kehrten in das verlassene Haus des Ladenbesitzers zurück.

»Nun, das war enttäuschend«, bemerkte Gol. »Ja«, pflichtete Cery ihm bei.

»Denkst du, die wilde Magierin wird zurückkommen?«

»Nein. Sie wird irgendeine Vorsichtsmaßnahme getroffen haben, die ihr verrät, ob jemand zu Besuch war.« »Was tun wir dann als Nächstes?«

»Das Haus beobachten und hoffen, dass ich mich irre.« Er sah sich in dem Raum um. »Und herausfinden, wann der Besitzer des Ladens zurückerwartet wird. Wir wollen ihn und seine Familie doch nicht halb zu Tode erschrecken, indem sie einen Dieb im Haus antreffen.«


Bevor er sich zu ihren Füßen auf den Boden warf, wirkte der Sklavenmeister überrascht, Dannyl und Ashaki Achati zu sehen – aber nicht weil ein mächtiger Sachakaner und ein kyralischer Magier zu Besuch gekommen waren. Auf dem Gut war man darauf vorbereitet, dass irgendjemand eintreffen würde.

»Ihr seid schneller gekommen, als wir gehofft hatten«, sagte der große Mann, als Achati erklärte, dass sie auf der Suche nach einer entflohenen Sklavin und einem als Sklaven verkleideten Kyralier seien.

»Hast du die beiden, die ich beschrieben habe, gesehen?«, wollte Achati wissen.

»Ja. Vor zwei Nächten. Eine der Sklavinnen dachte, es seien Leute, vor denen man uns gewarnt hatte, aber als wir sie befragen wollten, waren sie bereits weggelaufen.«

»Habt ihr nach ihnen gesucht?«

»Nein.« Der Mann neigte den Kopf. »Man hat uns gewarnt, dass sie Magier wären und dass nur Magier sie fangen könnten.«

»Wer hat euch diese Warnung zukommen lassen?«

»Der Herr, in einer Nachricht.«

»Wann ist die Nachricht eingetroffen?«

»Einen Tag, bevor die beiden hier angekommen sind.«

Achati sah Dannyl an, die Augenbrauen ungläubig hochgezogen. Wenn also Ashaki Tikako die Nachricht nicht geschickt hat, wer war es dann? Dannyls Herz setzte einen Schlag aus. Die Verräterinnen. Sie müssen sehr gut organisiert sein, um so schnell solche Nachrichten an ländliche Güter zu schicken.

»Wie lange ist es her, dass ihr die Nachricht geschickt habt, in der ihr euren Herrn von ihrem Auftauchen hier informiert habt?«

»Das war vor zwei Nächten – gleich nachdem die beiden verschwunden waren.«

Achati drehte sich zu Dannyl um. »Wenn er auf dem Weg hierher ist, wird er erst morgen eintreffen. Ich fürchte, wir werden warten müssen. Ich habe nicht die Befugnis, die Gedanken der Sklaven eines anderen Mannes zu lesen.«

»Habt Ihr die Befugnis, sie zu befragen?«, erkundigte sich Dannyl.

Der Magier runzelte die Stirn. »Es gibt keine Sitte und kein Gesetz, die mich daran hindern. Oder Euch.« »Dann sollten wir sie befragen.«

Achati lächelte. »Wir machen es auf Eure Weise? Warum nicht?« Er lachte leise. »Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich gern zusehen und von Euch lernen. Ich wüsste nicht, welche Fragen ich stellen müsste, die einen Sklaven dazu bringen könnten, uns mehr zu erzählen, als er will.«

»Es gibt dabei eigentlich keine Tricks«, versicherte ihm Dannyl.

»Welchen Sklaven wollt Ihr als ersten befragen?«

»Diesen Mann und jeden, der Lorkin und Tyvara gesehen hat. Und vor allem die Sklavin, die sie gesehen hat und dachte, sie könnten die Leute sein, vor denen man sie gewarnt hatte.« Dannyl zog sein Notizbuch heraus und betrachtete den Sklavenmeister. »Und ich brauche ein Zimmer – nichts Vornehmes –, wo ich sie allein befragen kann, ohne dass andere unsere Gespräche belauschen können.«

Der Mann blickte unsicher zwischen Dannyl und Achati hin und her.

»Veranlasse es«, befahl Achati. Als der Mann davoneilte, drehte der sachakanische Magier sich mit einem schiefen Lächeln zu Dannyl um. »Ihr müsst lernen, Eure Bitten wie Befehle zu formulieren, Botschafter Dannyl.«

»Ihr habt hier die größere Autorität«, erwiderte Dannyl. »Und ich bin ein Fremdländer. Es wäre unhöflich von mir, mir die Befehlsgewalt anzumaßen.«

Achati musterte ihn nachdenklich, dann zuckte er die Achseln. »Da habt Ihr wahrscheinlich recht.«

Der Sklavenmeister kehrte zurück und führte sie dann in einen kleinen Raum im Haus, der nach Getreide roch. Der Boden war bedeckt mit feinem Staub, durch den sich die Rillen eines Besens zogen. Staubflöckchen hingen in den Sonnenstrahlen, die durch ein hohes Fenster hereinfielen. Unter das Fenster hatte man zwei Stühle gestellt.

»Nun, es ist definitiv nicht vornehm«, bemerkte Achati, der sich nicht die Mühe machte, seine Erheiterung zu verbergen.

»Was würdet Ihr denn vorschlagen, wo wir sie befragen sollen?«, fragte Dannyl.

Achati seufzte. »Ich schätze, es wäre anmaßend, wenn wir sie in Tikakos Herrenzimmer befragten, und Gästezimmer würden allzu deutlich machen, dass wir hier nichts zu sagen haben. Nein, ich nehme an, dies ist ein passender Ort.« Er ging zu einem der Stühle und setzte sich.

Dannyl nahm auf dem anderen Stuhl Platz, dann befahl er dem Sklavenmeister einzutreten. Der Mann berichtete, dass die beiden Sklaven mit einem leeren Karren eingetroffen seien. Der Mann sei offensichtlich neu gewesen, aber ein wenig dünn für einen Liefersklaven, und die Frau habe ihn begleitet, um ihm den Weg zu zeigen. Während sie den Wagen beladen hatten, hatte eine der Küchensklavinnen ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei den beiden um die Leute handeln könnte, nach denen sie Ausschau halten sollten. Von ihr war auch der Vorschlag gekommen, ihr Essen mit einer Droge zu versetzen, da sie schlafend weniger gefährlich sein würden.

Bei der Erwähnung von Drogen im Essen musste Dannyl sein Entsetzen verbergen. Glücklicherweise waren Lorkin und Tyvara nicht in die Falle getappt. Sie waren geflohen.

Als Nächstes befragte er die Frau, die Verdacht geschöpft hatte, dass die beiden nicht die waren, die zu sein sie behauptet hatten. Als sie den Raum betrat, bemerkte er, dass ihr Blick scharf war, obwohl sie ihn nur kurz anschaute, bevor sie den Kopf senkte und sich zu Boden warf. Er befahl ihr aufzustehen, doch sie hielt den Blick weiter gesenkt.

Ihre Ausführungen passten zu denen des Sklavenmeisters, und sie stimmten auch mit dem überein, was dieser ihnen über die Nachricht erzählt hatte, die sie vor zwei gefährlichen Magiern gewarnt hatte, die sich als Sklaven ausgaben.

»Was hat dich auf den Gedanken gebracht, sie könnten die Leute sein, vor denen man euch gewarnt hatte?«, fragte Dannyl.

»Sie entsprachen der Beschreibung. Ein hochgewachsener Mann mit heller Haut und eine kleinere Sachakanerin.«

Helle Haut? Dannyl runzelte die Stirn. Der Sklavenmeister hat Lorkins Haut nicht erwähnt, und gewiss wäre sie ungewöhnlich genug gewesen, um aufzufallen. Moment… hatte die Frau, die ich bei Tikako zu Hause geheilt habe, nicht gesagt, Lorkins Haut sei gefärbt worden?

Hatte die Farbe sich abgenutzt, oder gab diese Frau ihm die Informationen, von denen sie dachte, er erwarte sie?

»Hochgewachsen, klein, männlich, weiblich – gewiss würde keine dieser Eigenschaften sie von anderen Sklaven unterscheiden. Was hat dich darauf gebracht, dass sie anders waren?«

Der zu Boden gerichtete Blick der Frau flackerte. »Die Art, wie sie sich bewegt und gesprochen haben. Als seien sie es nicht gewohnt, Befehle zu befolgen.«

Also nicht die helle Haut. Dannyl hielt inne, dann schrieb er ihre Antwort auf, während er über seine nächste Frage nachdachte. Vielleicht war es Zeit, direkter zu sein.

»Ein Sklave, mit dem ich vor einigen Tagen gesprochen habe, dachte, die Frau sei eine Verräterin und dass sie vorhätte, den Mann zu töten, den sie entführt hat. Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie ihn töten wird?«

Die Frau hielt sich sehr reglos, als sie antwortete: »Nein.«

»Weißt du von den Verräterinnen?«

»Ja. Das tut jeder Sklave.«

»Warum hältst du es für unwahrscheinlich, dass die Verräterinnen den Mann töten wollen?«

»Einfach deshalb: Wenn sie ihn tot sehen wollten, hätten sie ihn getötet und ihn nicht entführt.«

»Was haben sie deiner Meinung nach dann mit ihm vor?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nur eine Sklavin. Ich weiß es nicht.«

»Was denken denn die anderen Sklaven, was die Verräterinnen mit ihm vorhaben?«

Sie zögerte kurz und hob leicht den Kopf, bevor sie ihn wieder senkte, als widerstehe sie dem Drang, ihn anzusehen.

»Ich habe jemanden etwas sagen hören«, antwortete sie langsam. »Dass die Frau eine Mörderin sein soll. Dass die Verräterinnen wollen, dass Ihr sie findet.«

Ein Schauder überlief Dannyl. Tyvara hatte eine Sklavin getötet. Was war, wenn diese Sklavin die Verräterin gewesen war und nicht Tyvara?

»Wer hat das gesagt?«, fragte er.

»Ich… ich erinnere mich nicht.«

»Gibt es irgendwelche Sklaven, die so etwas eher sagen würden als andere?«

Sie hielt inne, dann schüttelte sie den Kopf. »Alle Sklaven tratschen.«

Nach einigen weiteren Fragen wusste er, dass er von ihr nicht mehr erfahren würde. Sie hatte alles gesagt, was sie sagen wollte, und wenn sie Informationen zurückhielt, würde sie sie nicht freiwillig preisgeben. Er schickte sie weg.

Ich möchte wetten, dass sie mehr weiß. Und dann ist da die Beschreibung von Lorkins heller Haut. Sie wollte, dass ich mir sicher bin, dass Lorkin hier war. Was Sinn ergibt, wenn dieses Gerücht, nach dem die Verräterinnen wollen, dass ich Tyvara und Lorkin finde, wahr ist.

Aber es konnte auch eine List sein. Trotzdem, die Sklavin, der er in Tikakos Haus geholfen hatte, hatte die Wahrheit gesagt. Tyvara und Lorkin waren tatsächlich auf seinem Landgut gewesen.

Was war, wenn die Verräterinnen von ihm wollten, dass er die beiden fand? Dann werden sie dafür sorgen, dass wir das auch tun. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass Tyvara sich kampflos von uns einfangen lassen wird. Und wir müssen auf jede erdenkliche Reaktion von Lorkin gefasst sein. Es ist möglich, dass sie ihn dazu überredet hat, sie zu begleiten – vielleicht hat sie ihn sogar verführt –, und er könnte sich gegen eine Rettung wehren.

Er wollte glauben, dass Lorkin dazu zu vernünftig war, aber er hatte in der Gilde die Gerüchte gehört, nach denen der junge Mann eine Schwäche für hübsche, kluge Frauen hatte. Als Sohn von Schwarzmagierin Sonea und dem verstorbenen Hohen Lord Akkarin hatte der junge Mann auch nicht zwangsläufig die Weisheit seiner Eltern geerbt. Diese Eigenschaften kamen nur mit der Erfahrung. Indem man Fehler machte und Entscheidungen traf und aus den Konsequenzen lernte.

Ich hoffe nur, dass dies kein Fehler ist und dass die Konsequenzen von der Art sind, aus der er lernen kann, nicht solche, die dazu führen werden, dass ich den Rest meines Lebens in Sachaka verbringen werde, aus Furcht vor dem, was Sonea mit mir machen könnte, sollte ich jemals in die Gilde zurückkehren.


Lorkin hätte gedacht, dass zwei Sklaven, die mitten in der Nacht über eine ländliche Straße gingen, Verdacht erregen würden, aber die wenigen Sklaven, an denen sie vorbeigekommen waren, hatten sie kaum angesehen. Einmal hatte eine Kutsche sie überholt, und Tyvara hatte ihm zugezischt, dass darin wahrscheinlich ein Magier saß oder ein Ashaki-Lord, aber sie hatte ihm lediglich befohlen, die Straße freizumachen und den Blick gesenkt zu halten.

»Sollte irgendjemand fragen: Man hat uns ausgeschickt, damit wir auf dem Gut von Ashaki Catika arbeiten«, hatte sie ihm zu Beginn der Nacht erklärt. »Wir sind beide Haussklaven. Wir reisen nachts, weil er will, dass wir bis morgen Abend dort sind, und das bedeutet, dass wir Tag und Nacht gehen müssen.«

»Ashaki Catika ist für diese Art Grausamkeit bekannt?«

»Dafür sind alle sachakanischen Magier bekannt.«

»Gewiss gibt es ein oder zwei gute Magier.«

»Es gibt einige, die ihre Sklaven besser behandeln als andere, aber die Versklavung einer anderen Person ist eine Grausamkeit an sich, daher würde ich keinen von ihnen als gut bezeichnen. Wären sie gut, würden sie ihre Sklaven freilassen und jene bezahlen, die bereit sind, zu bleiben und für sie zu arbeiten.« Sie hatte ihn angesehen. »Wie die Kyralier es tun.«

»Nicht alle Kyralier sind freundlich zu ihren Dienern«, hatte Lorkin erwidert.

»Zumindest können diese Diener fortgehen und sich einen neuen Arbeitgeber suchen.«

»Das können sie, aber es ist nicht so einfach, wie es klingt. Die Positionen von Dienern sind sehr gefragt, und ein Diener, der seine Stellung kündigt, wird vielleicht Schwierigkeiten haben, anderswo Arbeit zu finden. Die meisten Häuser neigen dazu, Dienstboten von derselben Familie einzustellen, statt es mit Dienern zu versuchen, die sie nicht kennen. Natürlich kann ein Diener sich an einer anderen Arbeit versuchen, wie zum Beispiel dem Handel, aber in diesem Fall müsste er mit Familien konkurrieren, die dem Gewerbe seit Generationen nachgehen.«

»Dann denkst du, die Sklaverei sei besser?«

»Nein. Auf keinen Fall. Ich sage nur, dass die Alternative nicht einfacher ist. Wie gut behandeln die Verräterinnen ihre Diener?«

»Wir sind alle Diener. So wie wir alle Verräterinnen sind«, hatte Tyvara erklärt. »Das ist kein Ausdruck wie ›Ashaki‹ oder ›Lord‹. Es ist ein Wort für einen Menschen.«

»Aber nicht für eine Rasse?«

»Nein. Wir sind Sachakanerinnen, obwohl wir uns nicht häufig so nennen.«

»Also üben selbst Magierinnen die Arbeiten von Dienern aus? Sie putzen und kochen?«

»Ja und nein.« Sie hatte das Gesicht verzogen. »Zuerst sollte es so funktionieren. Wir sollten alle die gleiche Arbeit tun. Eine Verräterin kann in einem Augenblick schmutziges Geschirr waschen und im nächsten dann bei wichtigen Entscheidungen mitstimmen, wie zum Beispiel der Frage, welche Getreidesorten angebaut werden sollen. Aber es hat nicht funktioniert. Es wurden einige schlechte Entscheidungen getroffen, weil die Leute, die nicht klug oder gebildet genug waren, um die Konsequenzen zu überblicken, eine schlechte Wahl trafen.

Wir haben eine Reihe von Prüfungen eingeführt, die dazu gedacht sind, das Talent einer Person zu ermitteln und weiterzuentwickeln, so dass die geeignetste Person am Ende die Aufgaben übernahm, für die ihre jeweiligen Fähigkeiten vonnöten waren. Obwohl das bedeutete, dass wir nicht länger alle die gleichen Dinge taten, war es immer noch besser als Sklaverei. Solange die für die Führung unseres Hauses und die Ernährung unserer Leute notwendigen Arbeiten getan wurden, wurde niemand aufgrund seines familiären Ansehens oder seiner Klasse dazu gezwungen, eine gewisse Aufgabe zu übernehmen, oder daran gehindert, etwas zu tun, für das er Talent hatte.«

»Klingt wunderbar«, hatte Lorkin bemerkt.

Sie zuckte die Achseln. »Meistens funktioniert es, aber wie alle Systeme ist es nicht perfekt. Es gibt einige Magier, die ihre Zeit lieber damit verbringen würden, sich zu beklagen und andere zu manipulieren, als ihre Magie für die Bestellung von Feldern oder die Heizung von Eisenerzöfen einzusetzen.«

»Die meisten Gildemagier würden es genauso sehen. Aber wir arbeiten dennoch für die Menschen. Wir halten den Hafen betriebsfähig. Wir bauen Brücken und andere Gebäude. Wir verteidigen das Land. Wir heilen die Kranken und –«

Bei dem Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, waren ihm die Worte im Hals stecken geblieben. Zuerst hatte sie ihn wild angestarrt, dann hatte sie bekümmert das Gesicht verzogen, und schließlich hatte sie sich von ihm abgewandt.

»Was ist los?«, hatte er gefragt.

»Da kommt jemand«, hatte sie geantwortet und die dunkle Straße vor ihnen entlanggeschaut. »Jeder, an dem wir vorbeikommen, könnte eine Verräterin sein. Wir sollten nicht reden. Irgendjemand könnte uns hören und begreifen, wer wir sind.«

Die herannahende Gestalt entpuppte sich als ein weiterer Sklave. Von da an wollte Tyvara nicht mehr reden und befahl ihm zu schweigen, wann immer er versuchte, ein weiteres Gespräch zu beginnen. Als der Himmel heller wurde, begann sie die Umgebung nach einem geeigneten Versteck abzusuchen, wie sie es am vergangenen Morgen getan hatte. Schließlich verließen sie die Straße und gingen zu einer Stelle, an der einige dünne Bäume nur mit knapper Not eine Feldmauer verdeckten.

Sie hatten sich am vergangenen Tag zwischen dichten, dornigen Büschen versteckt. Diese Bäume würden ihren Zweck jedoch nicht genauso gut erfüllen. Tyvara starrte zu Boden. Er nahm eine Vibration wahr, dann hörte er ein seltsames, reißendes Geräusch, dem ein dumpfer Aufprall und ein Knacken folgten. Eine Staubwolke erhob sich hinter der Mauer, und im nächsten Moment war die Luft erfüllt von Staub und dem Geruch nach Erde.

Vor ihren Füßen tat sich ein Loch auf.

»Hinein mit dir«, sagte Tyvara und deutete auf das Loch.

»Dort hinein?« Lorkin ging in die Hocke und spähte in die Dunkelheit. »Hoffst du, mich bei lebendigem Leib begraben zu können?«

»Nein, du törichter Kyralier«, blaffte sie. »Ich versuche, uns beide zu verstecken. Hinein mit dir, bevor uns jemand sieht.«

Er legte die Hände an die Seiten des Lochs und ließ die Beine hinabbaumeln. Da war kein Boden, den er erreichen konnte. Die Aussicht, in die Dunkelheit zu fallen, hatte keinen Reiz für ihn, daher schuf er einen Lichtfunken. Er erhellte einen gewölbten Boden nicht weit unter seinen Füßen. Er ließ sich fallen, dann hockte er sich hin, so dass er sich in dem Raum darunter bewegen konnte.

Es war ein kugelförmiger Hohlraum, der zum größten Teil unterhalb der Mauer lag. Ein weiteres Loch zeigte einen Kreis heller werdenden Himmels über dem Feld auf der anderen Seite. Durch dieses war die Erde entfernt worden, vermutete er. Zweifellos verhinderte Tyvara mit ihrer Magie, dass der ganze Hohlraum in sich zusammenfiel.

Sie ließ sich fallen und glitt neben ihn, wo sie sich sofort hinsetzte und ihm das Gesicht zuwandte. Der Raum war klein für zwei Personen, und ihre Beine berührten die seinen. Er hoffte, dass sich das Aufblitzen von Interesse, das sich in ihm regte, nicht irgendwie zeigte. Sie sah ihm kurz in die Augen, dann seufzte sie und wandte den Blick ab.

»Entschuldige, dass ich dich angefahren habe. Es kann nicht leicht für dich sein, mir zu vertrauen.«

Er lächelte kläglich. Das Problem ist, ich will ihr vertrauen. Ich sollte jeden Schritt, den sie tut, hinterfragen, vor allem nach dem, was sie mir neulich nachts erzählt hat. Nun, ich würde es tun, aber immer wenn ich sie zum Reden bringe, geschieht etwas, und sie verstummt wieder. Sie betrachtete ihn mit entschuldigender Miene. Vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen.

»Schon in Ordnung. Aber es ist nicht das erste Mal, dass ich dich heute Nacht verärgert habe. Was habe ich gesagt, als wir heute Abend über Diener und die Verräterinnen sprachen, das dich gestört hat?«, fragte er.

Ihre Augen weiteten sich, dann verzog sich ihr Mund zu einer dünnen Linie des Widerstrebens. Er dachte, dass sie nicht antworten würde, aber sie schüttelte den Kopf.

»Irgendwann werde ich es dir erklären müssen.« Sie verzog das Gesicht und blickte auf ihre Knie hinab. »Vor vielen Jahren bemerkten meine Leute, dass einer der Ichani, die durch das Ödland streiften, einen seltsamen Sklaven hatte. Einen blassen Mann, wahrscheinlich einen Kyralier.« Ihr Blick flackerte zu seinen Augen, dann wandte sie sich wieder ab. »Dein Vater. Sie haben ihn lange beobachtet und irgendwann begriffen, dass der Sklave ein Gildemagier war.

Das war ungewöhnlich, wie du vielleicht bereits weißt, da Sachakaner es nicht dulden, wenn Sklaven sich auf Magie verstehen. Falls ein Sklave auf natürlichem Wege Kräfte entwickelt, töten sie ihn. Die Versklavung eines fremdländischen Magiers – insbesondere eines Gildemagiers – war außerordentlich und verboten. Aber dies war kein gewöhnlicher Ichani. Er war schlau und ehrgeizig.

Während meine Leute die beiden beobachteten, errieten sie, dass dein Vater nicht über höhere Magie gebot. Eines Tages wurde dann die Tochter der Anführerin meiner Leute furchtbar krank, und schon bald war klar, dass sie im Sterben lag. Unsere Anführerin hatte von den Fähigkeiten der Gilde gehört, mit Magie zu heilen. Wir hatten selbst jahrelang versucht, das Geheimnis zu ergründen, doch ohne Erfolg. Also schickte unsere Anführerin eine von uns zu Eurem Vater, um ihm ein Angebot zu unterbreiten.« Tyvaras Miene verdüsterte sich. »Sie wollte ihn im Gegenzug für heilende Magie höhere Magie lehren.«

Sie sah zu ihm auf. Lorkin starrte sie an. Seine Mutter hatte nie erwähnt, dass sein Vater sich bereitgefunden hatte, eine Gegenleistung für schwarze Magie zu erbringen.

»Und?«, hakte er nach.

»Er war einverstanden.«

»Das darf – durfte – er nicht tun!«, platzte Lorkin heraus.

Tyvara runzelte die Stirn. »Warum nicht?«

»Es ist… es ist eine Entscheidung, die nur die Höheren Magier treffen können. Und dann wahrscheinlich auch nur mit Zustimmung des Königs. Ein so wertvolles Wissen einer anderen Rasse zu geben… einem Volk, das nicht zu den Verbündeten Ländern gehört… es ist zu riskant. Und es würde etwas im Gegenzug gegeben werden müssen.«

»Höhere Magie«, rief sie ihm ins Gedächtnis.

»Was sie niemals akzeptiert hätten. Es ist…« Er riss sich zusammen. Wenn er offenbarte, dass schwarze Magie in Kyralia verboten war, würde er die größte Schwäche der Gilde preisgeben. »Es stand ihm nicht zu, diese Entscheidung zu treffen.«

Tyvara presste missbilligend die Lippen zusammen. »Doch hat er das Angebot angenommen«, sagte sie. »Er hat sich bereit erklärt, zu uns zu kommen und uns das Heilen beizubringen – etwas, von dem er sagte, man könne es nicht binnen eines Augenblicks lernen, wie man es mit höherer Magie tun kann. Also lehrte man ihn höhere Magie, und er benutzte sie, um seinen Herrn zu töten. Dann verschwand er, kehrte nach Imardin zurück und brach sein Versprechen. Die Tochter unserer Anführerin starb.«

Lorkin konnte ihrem anklagenden Blick nicht standhalten. Er schaute zu Boden, griff nach einer Handvoll Erde und ließ sie zwischen seinen Fingern hindurchrieseln.

»Ich kann verstehen, warum deine Leute schlecht auf ihn zu sprechen sind«, sagte er matt.

Sie wandte den Blick ab. »Nicht alle. Eine Frau von meinen Leuten reiste später nach Imardin, als klar war, dass der Bruder des ehemaligen Herrn deines Vaters sich anschickte, Kyralia zu überfallen. Sie entdeckte, dass dieser Ichani schon seit einiger Zeit Spione nach Imardin schickte und dass dein Vater sie insgeheim tötete. Es könnte sein, dass dein Vater nach Hause zurückgekehrt war, weil er die Gefahr erkannte, die der Bruder seines Herrn darstellte.«

»Oder er hat angenommen, dass ihr verstehen würdet, dass er die Gilde überreden musste, ihm zu gestatten, euch die Heilkunst zu lehren, bevor er zurückkehren konnte.«

Sie sah ihn an. »Denkst du, das ist wahr?«

Lorkin schüttelte den Kopf. »Nein. Er hätte ihnen nicht von euch erzählen können, ohne zu offenbaren, dass er…« Dass er schwarze Magie erlernt hatte. »Dass er hier versklavt worden war.«

»Er hat aus Stolz sein Versprechen gebrochen?« Ihr Tonfall war missbilligend, wenn auch nicht so sehr, wie er erwartet hätte. Vielleicht verstand sie, warum es seinem Vater widerstrebt hatte, seine Geschichte zu erzählen.

»Ich bezweifle, dass das der einzige Grund war«, sagte er. »Er hat die Wahrheit durchaus enthüllt, als es notwendig war. Oder den größten Teil der Wahrheit, wie sich jetzt herausstellt«, fügte er hinzu.

»Nun«, sagte sie achselzuckend. »Was auch immer der Grund dafür war, er hat sein Versprechen nicht gehalten. Einige meiner Leute – die Partei, die ich neulich abends erwähnte – wollen dich dafür bestraft sehen.« Sie lächelte schief, als er sie entsetzt anstarrte. »Was der Grund ist, warum man Riva ausgeschickt hat, um dich zu töten, entgegen den Befehlen unserer Anführerin. Aber die meisten von uns vertreten das Prinzip, dass wir besser sind als unsere barbarischen sachakanischen Vetter. Wir bestrafen das Kind nicht für die Verbrechen des Vaters.«

Lorkin seufzte vor Erleichterung. »Freut mich, das zu hören.«

Sie lächelte. »Stattdessen geben wir ihm eine Chance zur Wiedergutmachung.«

»Aber was kann ich tun? Ich bin nur der Gehilfe eines Botschafters. Ich gebiete nicht einmal über höhere Magie.«

Ihre Miene wurde ernst. »Du kannst uns die Heilkunst lehren.«

Sie sahen einander lange an. Dann senkte sie den Blick.

»Aber wie du gerade erklärt hast, hast du nicht die Befugnis, uns dieses Wissen zu geben.«

Er schüttelte den Kopf. »Kann ich irgendetwas anderes tun?«, fragte er entschuldigend.

Sie runzelte die Stirn, den Blick auf die Erdmauer gerichtet, während sie überlegte. »Nein.« Sie verzog den Mund. »Das ist nicht gut. Wir haben verhindert, dass die andere Partei an Beliebtheit gewann, indem wir die Vorstellung vertraten, dass du uns geben kannst, was dein Vater versprochen hat. Wenn meine Leute begreifen, dass du ihnen die Heilkunst nicht geben kannst, werden sie enttäuscht sein. Und wütend.« Sie neigte den Kopf. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich dich nicht dorthin brächte. Vielleicht sollte ich dich nach Hause zurückschicken.«

»Willst du nicht, dass ich dir zu beweisen helfe, dass Riva mich entgegen ihren Befehlen zu töten versucht hat?«, fragte er.

»Es würde meine Position verbessern.«

»Wenn ich ins Sanktuarium ginge, um zu deinen Gunsten zu sprechen, würde das mein Ansehen unter deinen Leuten nicht verbessern?«

Sie runzelte die Stirn und sah ihn an. »Doch… aber zuerst mussten wir das Sanktuarium erreichen.«

Während Lorkin darüber nachdachte, stiegen widerstrebende Gefühle in ihm auf. Ich habe gehofft, sie nach Hause bringen und mehr über ihre Leute erfahren zu können – und herauszufinden, was sie über Steine mit magischen Eigenschaften wissen. Und was wird mit ihr geschehen? Sie hat eine der ihren getötet, um mich zu retten. Obwohl Riva Befehlen zuwidergehandelt hat, werden sie Tyvara vielleicht trotzdem bestrafen. Möglicherweise werden sie sie sogar hinrichten. Es scheint mir nicht recht zu sein, nach Hause zu laufen, wenn sie vielleicht dafür sterben wird, dass sie mir das Leben gerettet hat. Und mir gefallen auch meine Aussichten nicht, überhaupt nach Hause zu kommen – sei es allein oder mit Dannyls Hilfe –, solange schwarze Magie benutzende Verräterinnen in ganz Sachaka versuchen, mich zu töten.

»Dann werde ich hierbleiben und mit dir ins Sanktuarium gehen.«

Ihre Augen weiteten sich, und sie sah ihn an. »Bist du dir sicher?«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin der Gehilfe eines Botschafters. Vielleicht kein richtiger Botschafter, aber es ist trotzdem meine Aufgabe, dabei zu helfen, freundschaftliche Beziehungen zwischen Kyralia und Sachaka aufzubauen und zu erhalten. Wenn sich herausstellt, dass es einen Teil von Sachaka gibt, in dem wir keine freundschaftlichen Beziehungen aufbauen konnten, ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass dieser Teil nicht ignoriert oder vernachlässigt wird.«

Jetzt starrte sie ihn mit offenem Mund an, obwohl er nicht wusste, ob es aus Überraschung geschah oder weil er in ihren Ohren wie ein kompletter Idiot klang.

»Und da meine Vorgänger einen so schlechten Eindruck auf deine Leute gemacht haben, ist es noch wichtiger, dass ich alles in meiner Macht Stehende tue, um ihre Meinung über die Gilde und die Kyralier zu verbessern«, fuhr er fort. Dann hatte er plötzlich eine Eingebung, die ihn mit einem berauschenden Gefühl des Schwindels erfüllte. »Und um über die Möglichkeit zu reden, einen Austausch von magischem Wissen zu vereinbaren, diesmal unter Beteiligung der entsprechenden Parteien.«

Tyvara klappte den Mund zu, und einen Moment lang musterte sie ihn mit einer solchen Eindringlichkeit, dass er sie nur mit einem hoffnungsvollen, törichten Lächeln ansehen konnte. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. Das Lachen hallte in dem Loch wider, und sie schlug die Hand vor den Mund.

»Du bist verrückt«, sagte sie, als ihre Schultern aufgehört hatten zu zittern. »Zu deinem Glück ist es eine Verrücktheit, die mir gefällt. Wenn du wirklich dein Leben riskieren willst, indem du mich ins Sanktuarium begleitest, ob nun, um mich zu verteidigen oder um zu versuchen, meine Leute dazu zu überreden, dir im Gegenzug für etwas, das ihnen ihrer Meinung nach bereits zusteht, etwas zu geben … dann habe ich das eigensüchtige Gefühl, dass ich nicht versuchen sollte, es dir auszureden.«

Er zuckte die Achseln. »Es ist das Mindeste, was ich tun kann. Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast. Und dass deine Leute das Leben meines Vaters gerettet haben. Wirst du mich mitnehmen?«

»Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Und wenn du mir hilfst, dann werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen zu überleben, wenn du dort ankommst.«

»Auch das wäre mir sehr willkommen.«

Sie sah aus, als wolle sie noch etwas hinzufügen, aber dann wandte sie den Blick ab. »Nun, zuerst müssen wir unser Ziel erreichen. Es ist ein langer Fußmarsch. Du solltest besser ein wenig schlafen.«

Er beobachtete, wie sie sich auf dem Boden zusammenrollte und sich einen Arm unter den Kopf schob, dann legte er sich ebenfalls nieder. Es war unmöglich, auf dem gewölbten Boden eine bequeme Haltung zu finden, und schließlich ahmte er sie nach und rollte sich auf der Seite zusammen, wobei er ihr den Rücken zuwandte. Er konnte die Wärme ihres Körpers spüren. Nein, denk nicht daran, oder du wirst niemals einschlafen.

»Könntest du das Licht ausmachen?«, murmelte sie.

»Kann ich es stattdessen etwas dämpfen?« Die Aussicht, von absoluter Dunkelheit umgeben zu sein, behagte ihm überhaupt nicht.

»Wenn es sein muss.«

Er verkleinerte den Lichtfunken, bis er kaum noch sie beide beleuchtete. Dann lauschte er dem Geräusch ihres Atems und wartete auf den langsamen, tiefen Rhythmus des Schlafs. Er wusste, dass er ihren Körper so dicht neben seinem zu deutlich wahrnahm, um einschlafen zu können. Aber er war sehr müde…

Es dauerte nicht lange, da trieb er in merkwürdige Träume, in denen er am Rand einer Straße aus Erde entlangging. Die Erde war so weich, dass er hindurchwaten musste, während Tyvara, die leichter und beweglicher war, den Boden kaum aufwühlte und ihm immer weiter und weiter vorausging…

20 Verbündete und Feinde

In der Straße unter ihm blieb auf der anderen Seite ein Mann stehen und blickte zum Fenster empor. Cery widerstand dem Drang zurückzuweichen. Es war zu spät, um es zu vermeiden, gesehen zu werden, und die Bewegung würde bestätigen, dass er nicht hätte hier sein dürfen.

»Oh-oh«, sagte Gol. »Das ist der Ladenbesitzer von nebenan.«

»Sieht so aus, als sei er dahintergekommen, dass sein Nachbar ungebetene Gäste hat.«

Der Mann schaute weg, auf den Boden. Kurz darauf straffte er sich und schritt über die Straße auf den Laden zu. Ein lautes Klopfen folgte.

Gol stand auf. »Ich wimmele ihn für dich ab.«

»Nein.« Cery erhob sich und reckte sich. »Ich werde mich darum kümmern. Bleib hier und halte Wache. Wie war noch mal sein Name?«

»Tevan.«

Als Gol sich wieder hinsetzte, murmelte er etwas des Sinnes, dass das Ganze Zeitverschwendung sei. Er hat wahrscheinlich recht, dachte Cery. Die wilde Magierin wird nicht zurückkommen. Aber wir können geradeso gut Wache halten, denn wir werden ziemlich dumm dastehen, wenn wir uns irren und sie doch zurückkommt. Und wir haben keine anderen Hinweise, denen wir folgen könnten.

Er verließ den Raum und ging über die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Dann trat er durch die Tür des Ladens und sah sich interessiert um. Sie hatten die Hintertür benutzt, daher war er noch nie zuvor hier gewesen. Der Raum war voller feiner Keramikschalen. Er blinzelte und schaute genauer hin, dann kicherte er. Es waren allesamt Toilettenschüsseln, so kunstvoll bemalt und gemeißelt wie Vasen oder Essgeschirr.

Durch die trübe Glastür konnte er die gebeugte Silhouette des Ladenbesitzers von nebenan sehen. Der Mann hatte wahrscheinlich versprochen, den Laden und das Haus seines Nachbarn im Auge zu behalten, und fühlte sich verpflichtet, die Eindringlinge zur Rede zu stellen.

Die Vordertür war verschlossen, und es war kein Schlüssel im Schloss oder irgendwo in der Nähe. Cery stellte zu seiner Erheiterung fest, dass er das Schloss aufbrechen musste. Sobald er das getan hatte, öffnete er die Tür, lächelte den Ladenbesitzer an und ahmte den kultivierten Akzent nach, mit dem Händler gern reiche Kunden zu beeindrucken versuchten.

»Es tut mir leid, der Laden ist geschlossen.« Cery tat so, als bedenke er den Mann mit einem zweiten Blick. »Aber das wisst Ihr, nicht wahr? Ihr seid… Tevan? Euch gehört der Laden nebenan, richtig?«

Der Mann war von durchschnittlicher Größe und trug das überschüssige Gewicht eines Menschen in mittleren Jahren, der seit langer Zeit nicht gezwungen gewesen war, eine Mahlzeit auszulassen – falls überhaupt je.

»Wer seid Ihr, und was tut Ihr in Vendels Haus?«, fragte er scharf.

»Ich bin Vendels Cousin, Delin, und ich habe mir für die Woche sein Haus geliehen.«

»Vendel hat keinen Cousin. Er hat überhaupt keine Familie. Er hat es mir erzählt.«

»Cousin zweiten Grades, angeheiratet«, erklärte Cery. »Er hat Euch nicht erzählt, dass ich hier wohnen werde?« Er runzelte mit gespielter Verwirrung die Stirn. »Ich nehme an, es wurde erst sehr spät entschieden.«

»Er hat nichts davon gesagt. Und es ist etwas, das zu erzählen er kaum versäumt hätte.« Tevan kniff die Augen zusammen, dann machte er einen Schritt rückwärts. »Ich rufe jetzt die Wache. Wenn Ihr lügt, verschwindet Ihr besser, solange Ihr noch die Chance dazu habt.« Der Mann drehte sich um und machte einen Schritt in Richtung Gehsteig.

»Die Wache wird Euch und Vendel wahrscheinlich größere Schwierigkeiten machen als mir«, erwiderte Cery, ließ den Akzent Akzent sein und brachte den Tonfall der Hüttenviertel ins Spiel. »Die Wachen werden hier überall herumkriechen und auf der Suche nach Beweisen für unsere Anwesenheit alle möglichen Dinge zerbrechen, und am Ende werden sie sagen, Ihr hättet es erfunden. Lasst uns das unter uns regeln.«

Tevan war stehen geblieben und sah Cery jetzt mit einem besorgten Stirnrunzeln an.

»Ich brauche nur eine Woche hierzubleiben, vielleicht weniger«, erklärte Cery. »Vendel wird nichts davon merken, dass ich hier war. Ich würde ihm Miete zahlen, wenn er da wäre, aber da er nicht anwesend ist…« Er griff in seinen Mantel, wobei er das Heft eines Messers für einen kurzen Moment aufblitzen ließ, und zog einen flachen Beutel mit Goldmünzen heraus, den er dort für Augenblicke wie diesen bereithielt. Die Augen des Mannes weiteten sich.

»Eine Woche?«, wiederholte er. Er war wie gebannt von all dem Gold. »Oder weniger.«

Der Mann hob den Blick. »Die Miete hier in der Gegend ist teuer.«

»Euer Haus wäre billiger«, erwiderte Cery.

Tevan schluckte. Er schaute abermals auf die Münzen, dann nickte er. »An was hattet Ihr gedacht?«

»Ein halbes Goldstück pro Tag«, antwortete Cery. Er ließ den Beutel wieder in seinen Mantel gleiten. »Ihr werdet sie vor Eurer Hintertür finden, nachdem ich fort bin.«

Der Mann nickte, aber sein Mund war zu einer dünnen Linie der Ungläubigkeit verzogen. Trotzdem brachte er seine Zweifel nicht zum Ausdruck. Stattdessen blickte er über die Straße.

»Ihr beobachtet etwas«, sagte er. »Oder Ihr sucht nach jemandem. Irgendetwas, wobei ich helfen kann?«

»Hofft Ihr, mich früher loszuwerden?«, fragte Cery lächelnd. Ein Ausdruck der Verwirrung trat in die Augen des Mannes. Nein, vielleicht denkt er, er hat noch eine Möglichkeit gefunden, Profit zu machen. »Nun, wenn Ihr dort drüben etwas Verdächtiges beobachtet habt…«

Tevan runzelte die Stirn. »Da ist eine ausländische Frau, die zu seltsamen Stunden kommt und geht. Der Schuhmacher sagt, sie habe seinen Keller gemietet. Wir sind nie dahintergekommen, womit sie sich ihren Lebensunterhalt verdient. Zu alt und zu hässlich, um herumzuhuren… Meine Frau hat sie freitags morgens bei den Gewürz- und Kräuterverkäufern auf dem Markt gesehen. Wir denken, dass sie vielleicht…« Er kam näher und senkte die Stimme, »…jungen Frauen aus unerwünschten Situationen heraushilft.«

Cerys Herz setzte einen Schlag aus, aber er ließ sich nichts anmerken. Tevan sah ihn erwartungsvoll an.

»In diese Richtung geht mein Interesse nicht«, sagte er achselzuckend. »Noch irgendetwas anderes?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Dies ist ein sauberes, anständiges Viertel. Wenn etwas im Gange ist, geschieht es wohl im Verborgenen.« Er hielt inne. »Irgendetwas, das ich wissen sollte?«

Cery schüttelte den Kopf. »Nichts, was Ihr würdet wissen wollen.«

»In Ordnung.« Tevan trat wieder zurück. »Dann viel Glück.«

»Gute Nacht.«

Der Mann drehte sich um und ging auf den Laden nebenan zu. Cery schloss die Tür, verriegelte sie und lief dann die Treppe hinauf, wobei er zwei Stufen gleichzeitig nahm. Als er das obere Stockwerk erreicht hatte, hielt er inne, um wieder zu Atem zu kommen. Das Herz hämmerte ihm in der Brust.

»Was ist los?«, fragte Gol.

»Nichts. Nicht mehr… so jung… wie ich mal war«, keuchte Cery. Dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück. »Ich sollte häufiger rausgehen. Irgendeine Spur von unserer wilden Magierin?«

»Nein.«

»Hat irgendjemand dem nachbarschaftlichen Wortwechsel große Aufmerksamkeit geschenkt?« »Nein, eigentlich nicht.«

»Gut. Einer von uns muss morgen auf den Freitagsmarkt gehen. Zu den Gewürzverkäufern.« »Ach ja?«

»Unsere wilde Magierin scheint sie regelmäßig zu besuchen.«

»Das ist Skellins Territorium.«

Cery fluchte. Gol hatte recht. Während es einigen Dieben nichts ausmachte, wenn andere ohne Genehmigung in ihrem Territorium herumschnüffelten – solange das Schnüffeln nicht ihren Unternehmungen galt –, sahen andere das nicht so. Cery hätte wetten mögen, dass Skellin zu letzterer Sorte zählte.

»Ich bezweifle, dass er dir die Erlaubnis verwehren würde«, meinte Gol.

»Ja, aber um seine Erlaubnis zu bekommen, müsste ich erklären, was ich tue. Und dann würde er wissen, dass ich ihn nicht um seine Hilfe bei der Suche nach jemandem gebeten habe, den ich für den Jäger der Diebe hielt, obwohl ich ihm genau das zugesagt hatte.«

»Sag ihm einfach die Wahrheit: Du bist dir nicht sicher, ob es der Jäger ist, und du wolltest ihn nicht behelligen, bevor du Beweise hattest.«

»Wenn er denkt, es bestünde die Chance, dass ich recht habe, wird er uns bei der Suche nach ihr helfen wollen«, bemerkte Cery.

»Wir könnten Hilfe gebrauchen«, erwiderte Gol.

Cery seufzte. »Könnten wir. Aber was wird Sonea von uns halten, wenn wir einen anderen Dieb hinzuziehen?«

Gol sah ihn ernst an. »Es wird sie nicht kümmern, solange nur die wilde Magierin gefangen wird.«

»Was wird Skellin davon halten, mit der Gilde zusammenarbeiten zu müssen?«

»Er wird keine andere Wahl haben.« Gol lächelte. Und nach dem, was du über sein Interesse an Magiern gesagt hast, wird er die Chance vielleicht mit Begeisterung aufnehmen.«

Cery musterte seinen Freund nachdenklich. »Du willst, dass ich Skellin um Hilfe bitte, nicht wahr?«

Gol zuckte die Achseln. »Wenn diese Frau der Jäger ist, will ich, dass sie schnell gefangen wird. Je eher sie verschwindet, umso sicherer wirst du sein.«

»Und du.«

Der große Mann breitete die Arme aus. »Ist es falsch, das zu wollen?«

»Hmph.« Cery blickte hinaus und sah die ersten Lampenanzünder auftauchen. Es wurde bereits dunkel. »Ganz und gar nicht. Sobald Skellin begreift, dass es sich bei dem Jäger um eine Magierin handeln könnte, wird ihm klar sein, dass er keine andere Wahl hat, als mit der Gilde zusammenzuarbeiten. Er wird selbst nicht in der Lage sein, sie zu fangen oder zu töten.«

»Also wirst du zu ihm gehen?«

Cery seufzte. »Ich schätze, es muss sein.«


Da Achati Ashaki Tikako nichts von seiner Absicht erzählt hatte, sein Landgut zu besuchen – damit hätte er auf die demütigende Tatsache hingewiesen, dass der Mann die Gedanken seiner Sklaven nicht ordentlich gelesen hatte –, wollte er ihm nicht länger zur Last fallen, indem er die Nacht dort verbrachte. Stattdessen reisten er und Dannyl weiter die Straße entlang zu einem anderen Gut, das einem älteren Ashaki gehörte, und erbaten im Namen des Königs eine Mahlzeit und Betten.

Der alte Mann und seine Frau waren offensichtlich nicht an Gesellschaft gewöhnt und spielten nur widerstrebend Gastgeber und Gastgeberin. Aber die Tradition machte es unmöglich, dem Abgesandten des Königs etwas zu verwehren. Die beiden taten Achati leid, und er aß wenig und hastig, und die beiden Alten waren froh, als er sagte, dass er und Dannyl müde seien und sich früh für die Nacht zurückziehen wollten.

Als sie in den Gästezimmern untergebracht waren, gingen sie nicht sofort zu Bett, sondern saßen noch beisammen und sprachen über das, was sie erfahren hatten.

»Wenn die Verräterinnen wollen, dass wir sie finden, werden wir sie finden«, sagte Achati.

»Ihr glaubt, dass sie so viel Macht und Einfluss haben?«

Der Sachakaner verzog das Gesicht und nickte. »Bedauerlicherweise ja. Sie sind uns jahrhundertelang ausgewichen. Viele frühere Könige haben versucht, sie auszulöschen oder ihren Stützpunkt zu finden, aber sie sind in dem, was sie tun, nur besser geworden. König Amakira hat mir erklärt, dass es möglicherweise besser wäre, wenn wir sie in Ruhe lassen, da sie vielleicht schwächer werden, wenn sie nichts haben, wogegen sie kämpfen können.«

Dannyl lachte leise. »Er könnte recht haben, aber ich bezweifle es.«

»Warum?«

»Ohne Konflikte, die Einzelne von ihnen töten und ihre Zeit kosten, werden sie Familien großziehen. Sie werden vielleicht schwächer werden, was ihre kämpferischen Fähigkeiten betrifft, aber dafür wird ihre Zahl größer werden.«

Achati runzelte nachdenklich die Stirn. »Irgendwann wird es zu viele Mäuler zu füttern geben. Sie werden Hunger leiden.« Er lächelte. »Also hat der König vielleicht doch recht.«

»Nur wenn die Verräterinnen im Verborgenen bleiben.«

»Ihr denkt, sie werden gezwungen sein hervorzukommen? Um Essen zu erbetteln?«

»Oder sie werden sich dafür entscheiden, sich auf andere Weise zu offenbaren. Wie stark ist Eure Armee?«

Achati schnaubte verächtlich. »Höchstwahrscheinlich hundert Mal größer und stärker als ihre. Wir wissen, dass ihr Stützpunkt sich im Gebirge befindet, wo das Land hart und unfruchtbar ist. Sie können keine Bevölkerung ernähren, die es mit dem Rest des Landes aufnehmen kann, daher bezweifle ich, dass ihre Armee genauso groß ist wie unsere oder sogar noch größer.«

Dannyl nickte zustimmend. »Was der Grund ist, warum sie schlaue, heimlichtuerische Methoden benutzen. Ich frage mich… Denkt Ihr, sie könnten einen Umsturz bewirken, einfach indem sie die richtigen Personen ermorden oder manipulieren?«

Achatis Miene wurde ernst. »Es ist möglich, aber wenn sie es in der Vergangenheit hätten tun können, wäre es gewiss bereits geschehen.«

»Vielleicht hat sich noch keine Gelegenheit geboten. Es könnte eines neuen und außerordentlichen Faktors bedürfen.«

Achati zog die Augenbrauen hoch. »Wie der Chance, den Sohn einer mächtigen Gildemagierin zu entführen?«

»Denkt Ihr, das wäre außerordentlich genug?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Es wäre zu riskant, Kyralia und Sachaka dahingehend zu manipulieren, dass sie gegeneinander Krieg führen. Was ist, wenn Kyralia siegt? Was, wenn wir uns ihren Manipulationen widersetzten, uns zusammentäten und die Verräterinnen gemeinsam angriffen? Die Gilde könnte besser darin sein als wir, Jagd auf sie zu machen.« Er hielt inne. »Wobei mir etwas einfällt. Hat die Gilde bereits auf die Neuigkeit von Lorkins Entführung reagiert?«

»Nein.« Dannyl wandte den Blick. Ich werde dies nicht länger aufschieben können. Achati wird sich langsam fragen, warum wir so lange brauchen. »Nun… ich sollte schauen, welche Fortschritte sie machen.«

»Dann werde ich Euch jetzt allein lassen.« Achati erhob sich. »Es ist spät, und ich sollte ein wenig schlafen. Erzählt mir morgen, was sie gesagt haben.«

»Das werde ich.«


Als die Tür zum Raum des Sachakaners sich schloss, griff Dannyl in seine Robe und zog Administrator Osens Blutring hervor. Er betrachtete ihn lange, ging im Geiste alle Möglichkeiten durch, wie er die schlechten Nachrichten formulieren könnte, und entschied sich für das, wovon er hoffte, es sei das Beste. Dann streifte er den Ring über.

Als Sonea die Tür ihrer Gemächer öffnete, fand sie zu ihrer Überraschung Administrator Osen draußen vor, der gerade eine Hand gehoben hatte, um anzuklopfen. Der verblüffte Ausdruck auf seinem Gesicht verblasste, und er straffte sich.

»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er. »Ich muss mit Euch sprechen.«

»Es ist ein Glück, dass wir dich noch erwischt haben, bevor du zu den Hospitälern aufbrichst.« Als sie sich umdrehte, sah sie Rothen hinter dem Administrator stehen. Sofort wurde ihr flau im Magen, und ihr Herz begann zu rasen. Da ist wieder dieser Blick. Lorkin ist etwas zugestoßen…

»Kommt herein«, erwiderte sie, trat zurück und bedeutete ihnen ungeduldig, ihr zu folgen.

Osen kam herein, gefolgt von Rothen. Sie schloss die Tür und sah den Administrator erwartungsvoll an. Er betrachtete sie ernst.

»Ich muss Euch davon in Kenntnis setzen, dass Euer Sohn…« Osen hielt inne und runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, wie ich es formulieren soll. Es scheint, dass Lorkin entführt wurde.«

Soneas Beine verloren alle Kraft, und sie spürte, dass sie ein wenig schwankte. Rothen machte einen Schritt auf sie zu, aber sie bedeutete ihm, stehen zu bleiben. Sie holte tief Luft und wandte sich erneut Osen zu.

»Entführt?«, wiederholte sie.

»Ja. Von einer jungen Frau, die sich als Sklavin ausgegeben hat. Botschafter Dannyl glaubt, es bestehe eine gewisse Chance, dass Euer Sohn freiwillig mitgegangen ist, aber er sei sich nicht sicher.«

»Ah.« Eine verräterische und verführerische Erleichterung durchlief Sonea. Frauen. Wieso sind es bei Lorkin immer Frauen? Ihr Herzschlag verfiel wieder in einen ruhigeren Rhythmus. »Dies ist also eher eine Frage von gesellschaftlicher Ungehörigkeit als eine, bei der es um seinen bevorstehenden und gewissen Tod geht?«

»Wir hoffen es sehr. Aber es ist komplizierter. Anscheinend sind wir nicht das einzige Volk mit einer geheimen und nicht ganz gesetzmäßigen Untergrundgesellschaft, und diese Leute könnten damit zu tun haben.«

»Verbrecher?«

Osen schüttelte den Kopf. »Botschafter Dannyl hat sie als Rebellen beschrieben. Sie nennen sich die Verräterinnen. Es geht das Gerücht, dass es sich ausschließlich um Frauen handelt.« Osen zog die Augenbrauen hoch und deutete damit an, dass er dies für unwahrscheinlich hielt. »Sie sind außerdem Magierinnen – Schwarzmagierinnen. Die Frau, die Lorkin entführt hat, ist eindeutig eine. Sie hat in derselben Nacht eine andere Sklavin getötet und ihr alle Macht genommen. Dannyl ist sich nicht sicher, ob die Entführerin die Verräterin ist und die Sklavin ihr lediglich in die Quere kam oder ob die tote Sklavin eine Verräterin war und die Entführerin keine. So oder so, die Verräterinnen haben durchblicken lassen, dass sie sie und Lorkin finden wollen.«

Sonea nahm sich einen Moment Zeit, um das Gesagte zu verarbeiten. »Und wann wurde Lorkin weggebracht?« »In der Nacht vor drei Tagen.«

Soneas Herz blieb stehen. »Vor drei Tagen! Warum hat man mich nicht sofort informiert?«

»Ihr seid soeben informiert worden.« Osen lächelte schief. »Als ich dem neuen Botschafter eingeschärft habe, dass er sich nur im äußersten Notfall mit mir in Verbindung setzen dürfe, hat er mich zu ernst genommen. Er hatte erwartet, Lorkin schnell zu finden, und hat mir erst heute Nacht von der Situation berichtet.«

»Ich werde ihn umbringen«, murmelte sie und begann im Raum auf und ab zu gehen. »Wenn diese Frau eine Schwarzmagierin ist – gibt es dort überhaupt andere Magier? –, wie soll Dannyl sie dann zwingen, Lorkin zurückzugeben?«

»Er hat die Unterstützung des Beauftragten des sachakanischen Königs.«

»Was ist, wenn sie nicht gefunden werden will? Ob sie eine Spionin ist oder eine Rebellin, sie wird erwarten, dass der Beauftragte des Königs sie tötet, wenn man sie findet. Wer weiß, was sie tun wird, um zu überleben? Damit drohen, Lorkin zu töten?« Sonea blieb stehen, weil sie plötzlich außer Atem war. Sie hatte das Gefühl, als stieße ihre Lunge nicht so viel Luft aus, wie sie einatmete. Ihr Kopf begann sich zu drehen. Sie hielt sich an der Rückenlehne eines Stuhls fest und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Als ihr Kopf wieder klar war, wandte sie sich Osen zu. »Ich muss dort hinreisen. Ich muss dort sein, wenn sie ihn finden.«

Osens Gesichtsausdruck war offen und mitfühlend gewesen. Jetzt verschloss sich seine Miene und wurde hart.

»Ihr wisst, dass Ihr das nicht tun könnt«, sagte er.

Sie sah ihn mit schmalen Augen an, und ein tiefer Zorn stieg in ihr auf. »Wer würde es wagen, mich aufzuhalten?«

»Es müssen zu allen Zeiten zwei Schwarzmagier in der Gilde zugegen sein«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Der König wird Euch niemals gestatten, Imardin zu verlassen, geschweige denn Kyralia.«

»Hier geht es um meinen Sohn!«, blaffte sie.

»Und der sachakanische König wäre vielleicht nicht damit einverstanden, dass wir Euch in sein Land schicken – oder Euch die Reise dorthin gestatten«, fuhr Osen fort, »was eine politisch gefährliche Situation noch verschlimmern und andeuten würde, dass seine Leute ein solches Problem nicht selbst lösen können.« »Und was ist, wenn sie –«

»Lorkin ist nicht dumm, Sonea«, unterbrach Rothen sie leise. »Und Dannyl ist es auch nicht.«

Sie funkelte ihn an und bemühte sich, das Aufwallen von Kränkung und Ärger darüber zu unterdrücken, dass er gegen sie war. Aber wenn Rothen nicht denkt, dass ich gehen sollte…

»Ich glaube nicht, dass Lorkin mit dieser Frau gegangen wäre, hätte es dafür nicht einen guten Grund gegeben.«

»Was ist, wenn der Grund darin bestand, dass er keine Wahl hatte?«, wandte sie ein.

»Dann müssen wir Dannyl vertrauen. Du weißt, dass er uns sofort informiert hätte, wenn die Situation wahrhaft ernst wäre. Wenn Lorkin eine Geisel ist, dann wirst du für ihn nicht mehr tun können als Dannyl. Dannyl versteht sich besser als du auf die Kunst des Verhandeins. Und die Sachakaner helfen ihm.« Seine Stimme wurde härter. »Wenn du dich in diese Unternehmung hineinstürzt, könntest du die Situation viel schlimmer machen, nicht nur für Lorkin, sondern auch für Kyralia und Sachaka.«

Plötzlich fühlte sie sich schwach und kraftlos. Hilflos. Welchen Nutzen hat all diese Macht, wenn ich sie nicht einsetzen darf, um meinen eigenen Sohn zu retten?

Aber vielleicht braucht er nicht gerettet zu werden, sagte eine schwache Stimme irgendwo in ihrem Hinterkopf.

Osen seufzte. »Ich fürchte, ich muss Euch verbieten, die Stadt zu verlassen, Schwarzmagierin Sonea. Und mit irgendjemand anderem über diese Angelegenheit zu sprechen als mit mir, dem König, dem Hohen Lord Balkan und Lord Rothen.«

»Nicht einmal mit Akkarins Familie?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht einmal mit ihnen. Als Lorkins Mutter habt Ihr ein Recht zu wissen, was geschieht, und ich werde Euch über die Situation auf dem Laufenden halten. Ich werde heute Abend mit dem Hohen Lord Balkan über Möglichkeiten sprechen, wie wir Lord Dannyl helfen können, und es wird auch um die Frage gehen, ob wir jemanden zu seiner Unterstützung nach Sachaka schicken sollen. Wenn wir es tun, werde ich Euch so viele Einzelheiten wissen lassen, wie ich es gefahrlos tun kann.«

Das möchte ich dir auch geraten haben, dachte sie. »Ich werde regelmäßige Berichte erwarten«, sagte sie steif.

Er bedachte sie mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Gute Nacht, Schwarzmagierin Sonea.«

Sie folgte ihm zur Tür und öffnete sie mit Magie. Bevor er hindurchtrat, nickte er ihr höflich zu. Dann war er fort, und als sie hörte, dass seine Schritte sich den Flur hinunter entfernten, schloss sie die Tür.

Sie drehte sich zu Rothen um. »Ich werde trotzdem gehen«, erklärte sie ihm und machte sich dann auf den Weg in ihr Schlafzimmer. Auf dem Kleiderschrank lag ein kleiner Koffer. Sie hob ihn mit Magie an und stellte ihn auf den Boden.

»Man wird dich nicht ein zweites Mal zurückkehren lassen«, erwiderte Rothen von der Tür aus.

Sie ging zum Schrank hinüber und öffnete ihn. Er war voller schwarzer Roben. »Das ist mir gleich. Ich werde Lorkin finden, dann werden wir auf Reisen gehen. Es wird ihr Verlust sein, nicht meiner.«

»Ich meinte nicht die Gilde. Ich meinte das Land. Die Verbündeten Länder.«

»Ich weiß. Aber es gibt auch Länder jenseits des Bundes.«

»Ja. Doch während die Gilde einen anderen Schwarzmagier ausbilden kann, der an deine Stelle treten wird, wirst du keine andere Gilde finden, um sie zu ersetzen.

Dir mag das gleichgültig sein, aber wird Lorkin es genauso sehen?«

Sie starrte noch immer die Roben an. Sie waren nicht das, was ein Magier tragen sollte, wenn er die Fesseln der Gilde abschüttelte. Sonea war sich nicht sicher, was ein Magier tragen sollte, wenn er rebellierte und aus dem Land stürmte, nur dass dies ganz und gar nicht passend war. Aber es war alles, was sie zum Anziehen hatte.

Ich kann nicht glauben, dass ich mir in diesem Moment den Kopfüber Kleidung zerbreche!

»Du musst die wilde Magierin finden, Sonea.«

»Regin kann sie finden.«

»Cery traut ihm nicht.«

»Da kann ich ihm keine Vorwürfe machen«, murmelte sie. »Cery wird zurechtkommen müssen.«

Rothen seufzte. »Sonea.« Seine Stimme hatte jetzt einen väterlichen, strengen Tonfall angenommen.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, setzte ihren besten Komm-mir-nicht-in-die-Quere-ich-habe-es-schon-mit-schlimmeren-Gegnern-als-dir-aufgenommen-Blick auf, der dazu führte, dass Novizen zusammenzuckten und Magier ihre Worte noch einmal überdachten, und drehte sich zu ihm um. »Was?«

Wie immer blieb er unbeeindruckt.

»Du weißt, dass du nicht gehen kannst«, antwortete er. »Du weißt, dass du Lorkins Situation höchstwahrscheinlich verschlimmern wirst, statt sie zu verbessern, und dass er, wenn dies vorüber ist, eine gut geschützte Gilde braucht, in die er zurückkehren kann – mit seiner Mutter darin.«

Sie starrte ihn lange an, dann fluchte sie.

»Warum habt Ihr immer recht, Rothen?«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin älter und klüger als du. Und nun müssen wir beide reden und weniger durchschaubare und zerstörerische Pläne schmieden. Für den Anfang denke ich, dass wir jemanden nach Sachaka schicken sollten, der in deinem Namen handelt.« »Wen?«

Er lächelte. »Ich habe da einige Leute im Sinn. Setz dich hin, und ich werde es dir erzählen.«

21 Willkommene Unterstützung

Der Bach sah nicht sauber aus, nicht einmal im weichen Licht der herannahenden Morgendämmerung. Ein bloßes Rinnsal, das sich träge durch einen schmalen Graben wand, war er gesäumt von grünem Schleim und roch nach Moder und fauliger Vegetation. Tyvara war ungerührt. Sie ging in die Hocke und schöpfte eine Handvoll Wasser.

Lorkin beobachtete, wie sie das Wasser einen Moment lang betrachtete und es dann herunterschluckte. »Du wirst krank werden«, sagte er. Sie blickte zu ihm auf. »Keine Sorge. Ich sauge es erst aus.«

»Du saugst es aus?«

»Ich ziehe alles Leben darin heraus. Es ist immer noch körnig von Ablagerungen, aber das ist unangenehm, nicht gefährlich. Das ist viel schneller und wirksamer als das, was ihr tut, da ich Energie nehme, statt welche zu verbrauchen. Willst du nicht trinken? Wir können nicht wissen, wann wir wieder Wasser finden werden.«

Lorkin betrachtete ihre Hände, die noch schmutzig vom Wasser waren. »Ich dachte, Blut sei die einzige Substanz, aus der man Magie ziehen kann.«

Sie lächelte und schöpfte weiteres Wasser. »Du weißt, dass Menschen und die meisten Tiere einen Schutz gegen eindringende Magie haben, der normalerweise auf der Haut liegt?«

»Ja.«

»Um daran vorbeizugreifen, muss man diese Schicht aufbrechen, und das lässt sich am einfachsten bewerkstelligen, indem man die Haut zerschneidet. Natürlich führt das zu einer Blutung, so dass die Menschen denken, das Blut sei von entscheidender Bedeutung. Das ist es nicht.« Ihre Stimme wurde heiser, während sie sprach. Es war zu lange her, seit sie das letzte Mal Wasser gefunden hatten. Sie hielt inne, um das Wasser in ihren Händen zu betrachten, dann trank sie, bevor sie wieder zu ihm aufsah. »Es gibt winzige Lebensformen im Wasser – man kann es spüren, auch wenn man es nicht sehen kann –, und sie sind es, die einen Menschen krank machen. Aber sie haben anscheinend keine Schutzschicht, daher ist es einfach, ihre Energie herauszuziehen. Doch auf so eine schwächliche Quelle würde man sich nicht verlassen wollen.« Sie blickte hinab. »Pflanzen scheinen einen schwächeren Schutz zu haben als Tiere. Es ist möglich, ihnen die Macht zu entziehen, ohne sie aufzuschneiden, obwohl es langsam geht und man nur so wenig gewinnt, dass man sich die Mühe nicht machen würde.« Sie tauchte die Hand abermals ins Wasser.

Lorkin seufzte und setzte sich. Er zog Magie in sich hinein, sammelte etwa so viel Wasser aus dem Bach, wie in eine Tasse hineingepasst hätte, und hielt es innerhalb einer unsichtbaren Machtkugel. Die Flüssigkeit war trüb und wenig reizvoll. Er sandte weitere Magie aus und erhitzte das Wasser, bis es kochte.

In den Kursen zum Thema Heilkunst, in denen die Reinigung von Wasser gelehrt wurde, hatte er erfahren, dass man das Wasser am besten mehrere Minuten lang kochte. Aber Tyvara hatte schon bald genug getrunken und beobachtete ihn erwartungsvoll, offensichtlich erpicht darauf, wieder aufzubrechen. Er hörte auf, das Wasser zu erhitzen, und ließ es auf eine Temperatur abkühlen, bei der er es berühren und trinken konnte. Glücklicherweise hatte sich der Schmutz im Wasser auf dem Boden abgelagert, und er konnte saubereres Wasser von oben abschöpfen. Einige Schlucke später war er fertig, und sie standen auf. Lorkin sah Sonnenstrahlen durch die Wipfel der Bäume scheinen, die sie umringten. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass es so spät war.

»Wohin als Nächstes?«, fragte Lorkin.

»In den Wald. Ich dachte, es wäre dir vielleicht lieb, über dem Boden zu schlafen.«

Er verzog das Gesicht. Obwohl sie tagelang in einem Loch unter der Erde geschlafen hatten, fühlte er sich mit dem Wissen, dass ihn nur eine magische Barriere davor bewahrte, lebendig begraben zu sein, noch immer nicht wohler. »Das ist allerdings richtig.«

»Dann komm.«

Sie verließ die Straße und machte sich auf den Weg in den Wald, und Lorkin folgte ihr. Zuerst stolperte er über Hindernisse und wich Zweigen aus, die Tyvara weggeschoben hatte, so dass sie ihm entgegenschlugen. Seine dünnen Schuhe blieben immer wieder zwischen Steinen hängen, und der unebene Boden stellte seinen Gleichgewichtssinn auf die Probe. Er brauchte all seine Konzentration, um nicht hinzufallen. Tyvara entfernte sich immer weiter von ihm, bis sie bemerkte, dass er zurückfiel, und stehen blieb, um auf ihn zu warten.

»Bist du schon jemals in einem Wald gewesen?«, erkundigte sie sich.

»Nein.«

»Hast du vor dieser Reise jemals Imardin verlassen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Weil meine Mutter die Stadt nicht verlassen darf. Aber das konnte er ihr nicht erzählen, ohne den Grund dafür zu erklären, und er durfte nicht offenbaren, wie wenige Kyralier sich auf schwarze Magie verstanden.

»Ich hatte nie einen Grund dazu.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf, dann drehte sie sich um und setzte den Weg durch den Wald fort. Diesmal schien sie ihre Schritte sorgfältiger zu wählen, und ihr Weg wurde erheblich einfacher. Dann begriff er, dass es ein Weg war. Ein sehr schmaler Pfad, aber offensichtlich war irgendjemand oder irgendetwas oft genug hier vorbeigekommen, um eine Spur im Unterholz zu hinterlassen.

»Warst du schon einmal hier?«, fragte er.

»Nein.«

»Dann weißt du also nicht, wohin dieser Weg führt.« »Es ist ein Tierpfad.«

»Ah.« Er senkte den Blick, und sein Herz setzte einen Schlag aus. »Und warum sind dann hier Schuhabdrücke?«

Tyvara blieb stehen und folgte seinem Blick.

»Der Wald gehört dem Ashaki, dem auch dieses Land gehört. Es wird Sklaven geben, die im Wald etwas sammeln oder die Tiere jagen, die hier leben.« Sie runzelte die Stirn und sah sich um. »Ich nehme an, wir können es nicht riskieren, noch weiter zu gehen. Wir sollten uns trennen – aber bleib so nah bei mir, dass du mich sehen und hören kannst. Halte Ausschau nach dichter Vegetation. Oder einer Senke im Boden, die wir abdecken können. Wenn du irgendetwas findest, pfeif.«

Er ging nach rechts. Nachdem er eine Weile umhergestreift war, fand er eine Stelle, an der vor langer Zeit ein riesiger Baum umgestürzt war. Alles, was von dem Baum noch übrig war, war ein riesiger Stumpf. Wurzeln ragten wie schützende Arme aus dem Stumpf hervor, und um die aufgewühlte Erde herum waren dichte, niedrige Büsche gewachsen. In der Annahme, dass dort, wo einst die Wurzeln gewesen waren, eine Senke sein würde, zwängte er sich durchs Gebüsch. Ein Loch, halb so tief, wie er groß war, war zurückgeblieben.

Dichte Vegetation und eine Senke, dachte er befriedigt. Es ist perfekt.

Als er sich umdrehte, um nach Tyvara Ausschau zu halten, sah er, dass sie etwa zwanzig Schritte von ihm entfernt war. Er pfiff, und als sie aufblickte, winkte er sie heran. Sie kam auf ihn zu und zwängte sich durch die Büsche. Dann blieb sie am Rand des Lochs stehen und untersuchte es interessiert. Schließlich schnupperte sie.

»Riecht feucht. Du zuerst.«

Lorkin zog Magie in sich hinein, schuf eine Barriere in der Form einer Scheibe am Rand des Lochs und trat darauf. Dann ließ er sich in das Loch hinab. Die Erde unter der Barriere wurde flach gedrückt, als er unten ankam. Nachdem er die Barriere entfernt hatte, sank er noch weiter ein. Schlammiges Wasser stieg auf und floss ihm in die Schuhe. Mit einem Fuß berührte er festen Boden, aber der andere sank weiter hinab, und Lorkin riss die Arme hoch und versuchte, zur Seite zu treten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Aber der Schlamm hielt ihn fest. Er kippte hintenüber und landete mit einem lauten Spritzen in dem klebrigen, stinkenden Morast.

Der Wald hallte wider von Tyvaras Gelächter.

Lorkin blickte zu ihr auf und lächelte kläglich. Sie hat ein wunderbares Lachen, dachte er. Als würde sie nicht oft lachen, aber wenn sie es tut, dann genießt sie es. Er wartete, bis sie aufgehört hatte, dann klopfte er auf den Schlamm an seiner Seite.

»Komm herunter. Es ist feucht, aber viel weicher als diese Löcher im Boden«, erklärte er.

Sie kicherte noch ein wenig, schüttelte den Kopf und öffnete dann den Mund, um zu sprechen. Aber irgendetwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte auf, dann fluchte sie leise.

»Du da!«, erklang eine Stimme. »Komm her.«

Sie sah Lorkin nicht an, sondern zischte mit zusammengebissenen Zähnen: »Ashaki. Er hat mich gesehen. Bleib in deinem Versteck. Bleib hier.«

Dann ging sie davon und verschwand durch die Büsche. Lorkin hockte sich hin und stellte fest, dass der Boden des Lochs unter dem Schlamm flach war, wenn auch immer noch glitschig. Er lauschte aufmerksam und hörte irgendwo hinter sich das Klirren eines Pferdegeschirrs. Hinter dem am Boden liegenden Baum.

Nachdem er sich zu der Masse von Wurzeln bewegt hatte, richtete er sich auf und spähte zwischen ihnen hindurch. Ein Sachakaner stand neben einem Pferd und starrte etwas an, das auf dem Boden war. Seine Kleidung war nicht die kunstvolle Gewandung der Ashaki, die er bisher kennengelernt hatte, aber sie war gut geschneidert und besser fürs Reiten geeignet.

Dann sah Lorkin das Messer am Gürtel des Mannes. Sein Mund wurde trocken.

»Steh auf«, befahl der Ashaki.

Tyvara erhob sich vom Boden. Lorkin kämpfte gegen den Drang, ihr zur Seite zu eilen. Sie ist eine Magierin. Eine Schwarzmagierin. Sie kann auf sich selbst aufpassen. Und es wird ihr wahrscheinlich umso leichter fallen, wenn sie nicht noch gleichzeitig mich beschützen muss.

»Was tust du hier?«, fragte der Mann scharf.

Ihre Antwort war unterwürfig und leise.

»Wo ist deine Wasserflasche? Deine Vorräte?«

»Ich habe sie irgendwo abgelegt. Jetzt finde ich sie nicht wieder.«

Der Mann musterte sie nachdenklich. »Komm her«, sagte er schließlich.

Mit hängenden Schultern ging sie auf den Mann zu. Lorkins Herz erstarrte, als der Mann ihr die Hände an die Seiten des Kopfes legte. Ich sollte das verhindern. Er wird erfahren, wer wir sind. Aber warum sollte sie ihm gestatten, ihre Gedanken zu lesen? Gewiss hätte sie, sobald sie begriff, was er beabsichtigte, doch gegen ihn gekämpft?

Einen Moment später ließ der Mann sie los.

»Es scheint, als seist du genauso dumm, wie du sagst. Folge mir. Ich werde dich zur Straße zurückbegleiten.«

Als der Mann sich umdrehte, um auf sein Pferd zu steigen, schaute Tyvara zu Lorkin hinüber und lächelte. Der Triumph in ihren Zügen zerstreute seine frühere Besorgnis. Er beobachtete, wie sie dem Mann unterwürfig in den Wald folgte. Als die beiden nicht mehr zu sehen waren, drehte Lorkin sich um und setzte sich auf eine der dickeren unteren Wurzeln des Baums.

Bleib in deinem Versteck. Bleib hier, hat sie gesagt. Ich schätze, sie meint, dass sie zurückkommen wird, sobald der Magier sie zur Straße geführt hat und wieder seiner Wege gegangen ist. Er betrachtete die Position des Sonnenlichts, das durch die Bäume fiel, und kam zu dem Schluss, dass er, wenn sie nicht innerhalb einer Zeitspanne von ungefähr einer Stunde zurückkehrte, sich auf die Suche nach ihr machen würde.

Es war eine lange Stunde. Die Zeit schleppte sich dahin. Die Sonnenstrahlen krochen mit qualvoller Langsamkeit über das Unterholz. Während der Schlamm trocknete, kratzte er sich und wischte ihn sich von der Haut und den Kleidern. Er versuchte, sich nicht vorzustellen, was ihr zustoßen könnte, sollte der Magier entdecken, wer und was sie war, doch es gelang ihm nicht. Er versuchte, sich keine Sorgen darüber zu machen, dass der Magier von seinem Versteck erfuhr und zurückkam und …

»Gut zu sehen, dass du Befehle befolgen kannst«, erklang eine Stimme hinter ihm.

Er fuhr herum und sah sie oben auf dem Stumpf stehen und zu ihm herablächeln. Mit hämmerndem Herzen beobachtete er, wie sie in die Luft trat und herunterschwebte.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte er.

Sie runzelte die Stirn und betrachtete die schimmernde Scheibe aus Magie, die unter ihren Füßen gerade noch sichtbar war. »Genauso, wie du es gemacht hast.«

»Ich spreche nicht vom Schweben. Ich möchte wissen, wie du ihn daran gehindert hast, deine Gedanken zu lesen.«

»Ah, das.« Sie verdrehte die Augen. »Erinnerst du dich nicht, dass ich dir erzählt habe, dass wir eine Möglichkeit kennen, Magier das sehen zu lassen, was wir sie sehen lassen wollen?«

Er dachte an ihr erstes Versteck zurück und an die andere Sklavin. »Ah. Ja. Ich verstehe. Irgendeine Art von Blutstein, richtig?«

Sie lächelte. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Blutstein. Lorkins Herz schlug schneller. Ich hätte Mutters Ring benutzen können, während sie fort war, aber ich habe ihn vollkommen vergessen! Er hatte sich zu große Sorgen um Tyvara gemacht.

»Was ist los?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Was ist, wenn er mich entdeckt hätte? Wenn er meine Gedanken gelesen hätte?«

»Ich hätte ihn daran gehindert.« Sie zuckte die Achseln. »Obwohl es grundsätzlich das Beste ist, eine Konfrontation zu vermeiden, lässt sich das nicht immer bewerkstelligen.«

»Du würdest gegen ihn kämpfen? Würde das nicht Aufmerksamkeit auf uns lenken?«

»Vielleicht.« Sie deutete auf ihre Umgebung. »Aber wir sind gut versteckt. Ich würde versuchen, ihn schnell zu erledigen.«

»Du würdest ihn töten?«

»Natürlich. Wenn ich es nicht täte, würde er uns verfolgen.«

»Und wenn sein Leichnam entdeckt würde, würde jemand anders uns verfolgen. Wäre es nicht alles in allem besser, wenn ich meine Gedanken verbergen könnte?«

Sie kicherte. »Selbst wenn ich bereit wäre, den Verräterinnen noch einen Grund zu liefern, auf mich wütend zu sein, selbst wenn ich dächte, wir könnten das Sanktuarium nicht erreichen, ohne dass ich dir dieses Geheimnis offenbare, könnte ich es nicht tun. Ich habe einfach nicht die Materialien oder die Zeit dazu.«

Ihm stockte der Atem. »Es ist wie ein Blutstein, nicht wahr?«

Wieder verdrehte sie die Augen. »Leg dich hin und schlaf, Lorkin.«

Er blickte auf den Schlamm hinab, dann sah er sie ungläubig an. »Es war nur ein Scherz, als ich sagte, er würde ein weiches Bett abgeben.«

Sie seufzte und machte eine knappe Handbewegung. »Tritt zurück.«

Er gehorchte und setzte sich auf seinen früheren Platz, und da er erriet, was sie vorhatte, hob er die Füße und die durchweichten Schuhe aus dem Schlamm. Schon bald begann die Luft über dem Matsch zu dampfen. Für eine Weile wurden sie von heißem Dampf eingehüllt, dann klärte sich die Luft, und er sah, dass nur rissige, getrocknete Erde zurückgeblieben war. Tyvara stieg von der magischen Scheibe unter ihren Füßen auf den gehärteten Boden. Dann klopfte sie mit dem Fuß darauf.

»Du solltest schlafen, solange du kannst«, bemerkte sie.

»Ich werde dich in einigen Stunden wecken, dann kannst du Wache halten. Ich denke nicht, dass unser Gastgeber allzu bald zurückkehren wird, aber er unternimmt offensichtlich gern Ausritte auf seinem Gut. Wir sollten auf ihn gefasst sein.«

Seufzend legte Lorkin sich auf den harten Boden und versuchte zu tun, was sie vorgeschlagen hatte.


Ein sanfter Herbstregen begann auf den Garten des Sonnenhauses zu fallen, aber in der kleinen Steinhütte saßen Cery und Skellin im Trockenen. Gol stand in der Nähe und blinzelte sich Regen aus den Augen, während er Skellins Leibwächter beobachtete, der auf der gegenüberliegenden Seite der Hütte Position bezogen hatte. Sie waren allein, da bei dem trostlosen Wetter kaum jemand seine Behausung verließ; nur der Eigentümer des Grundstücks murmelte in einer anderen Ecke des Gartens vor sich hin.

Als Cery mit seiner kurzen Beschreibung dessen, was er und Gol vom Dach des Pfandleihers aus gesehen hatten, fertig war, wirkte Skellin nachdenklich.

»Eine Frau, ja? Konntet Ihr einen guten Blick auf sie werfen?«

Cery zuckte die Achseln. »Es war dunkel, und wir haben sie von oben beobachtet, aber ich schätze, ich würde sie wiedererkennen. Sie hat dunkle Haut und dunkles Haar. Sie ist etwa so groß…« Cery streckte ein Hand aus, um die geschätzte Größe der Frau zu demonstrieren.

»Jetzt, da du weißt, dass sie über Magie gebietet, wie willst du sie fangen?«

»Oh, ich brauche sie nur zu finden.« Cery hob die Schultern. »Es ist Aufgabe der Gilde, wilde Magier zu fangen. Was nur gut ist, denn wenn sie der Jäger ist, dürfen weder du noch ich hoffen, sie aufhalten zu können.«

Skellins Augen blitzten auf. »Du arbeitest für die Gilde!«

»Ich helfe der Gilde. Wenn ich für sie arbeitete, würde ich erwarten, entlohnt zu werden.«

»Du wirst nicht entlohnt?« Skellin schüttelte den Kopf, und seine Miene wurde wieder ernst. »Aber ich schätze, es gibt andere Vorteile. Als ich von deiner Familie hörte, dachte ich, du würdest Rache üben wollen.« Er lachte leise. »Aber deine Suche nach dem Mörder hat sich in eine Suche nach dem Jäger der Diebe verwandelt, und jetzt hat sich deine Suche nach dem Jäger in eine Suche nach einer wilden Magierin verwandelt.«

»Es waren ziemlich aufregende Wochen«, erwiderte Cery.

»Ich hoffe, du wirst mir verzeihen, wenn ich dich darauf hinweise, dass du ein wenig von der Spur abgekommen bist.«

Cery nickte. »Es könnte sich immer noch herausstellen, dass die drei ein und dieselbe Person sind. Ich schätze, wir werden es erfahren, sobald wir sie gefangen haben.«

»Falls du die Wahrheit aus ihr herausholen kannst.«

Cery öffnete den Mund, um Skellin ins Gedächtnis zu rufen, dass die Gilde jetzt im Stande war, die Gedanken von Personen zu lesen, die sich der Prozedur widersetzten. Dann besann er sich jedoch eines Besseren. Es hatte keinen Sinn, diese Information preiszugeben, bevor es unbedingt sein musste. »Bist du daran interessiert, uns zu helfen, sie zu finden?«

Der andere Dieb schürzte die Lippen, während er nachdachte, dann lachte er abermals. »Natürlich bin ich interessiert. Wenn sie sich als wilde Magierin entpuppen sollte, werde ich zumindest die Chance haben, einige Freunde in der Gilde zu gewinnen. Sollte sie sich als der Jäger der Diebe entpuppen, wird das für uns alle eine schöne Dreingabe sein.« Er rieb sich die Hände. »Also, erzähl es mir: Wo hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Wir haben eine Frau aus dem Laden des Pfandleihers kommen sehen, die aussah wie sie, daher habe ich Gol hinter ihr hergeschickt.« Während Cery den Keller beschrieb, den die Frau benutzt hatte, und den unterirdischen Tunnel, der von dem Keller wegführte, runzelte Skellin die Stirn.

»Ich wusste gar nicht, dass es dort Gänge gibt«, sagte er. »Sie hätten eigentlich beim Wiederaufbau zerstört werden sollen. Aber ich schätze, wenn man über Magie gebietet, wäre es einfach, sich einen neuen zu bauen.«

»Ich bin nicht ganz auf dem Laufenden, was die Grenzen betrifft. Zu wessen Territorium gehört das Gebiet gegenwärtig?«

Skellin verzog das Gesicht. »Tatsächlich gehört es zu meinem.« Er begegnete Cerys überraschtem Gesicht, dann lächelte er schief. »Weißt du zu jeder Zeit, was in jeder Ecke deines Territoriums vor sich geht?«

Cery schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Ich habe keine Gebiete, in denen so viel umgebaut wurde. Einer der anderen Ladenbesitzer meinte, sie sei auf dem Markt gesehen worden, wo sie Kräuter kaufte.«

»Ich werde es überprüfen«, erwiderte Skellin. »Und feststellen, ob einer meiner Verbindungsmänner von einer Frau gehört hat, auf die deine Beschreibung passt. Es klingt, als sei sie die Art Frau, die einem im Gedächtnis bleibt. Sollte ich etwas hören, werde ich es dich wissen lassen. Wir können ihr eine Falle stellen und nach deinen Gildefreunden schicken.«

Cery nickte. »Und ich werde es dich wissen lassen, falls ich sie aufspüre.«

»Ich werde dich beim Wort nehmen«, sagte Skellin lächelnd. »Ich möchte die Chance nicht versäumen, einige Gildemagier kennenzulernen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Es handelt sich nicht zufällig bei einem von ihnen um deine berühmte Kindheitsfreundin, oder?«

»Möglich wäre es. Aber wenn du Sonea kennenlernen willst, brauchst du nur in eins der Hospitäler zu gehen.«

»Dann müsste ich so tun, als sei ich krank.« Skellin zuckte die Achseln. »Und ich glaube nicht, dass sie es gern sähe, wenn ich den Platz von jemandem einnähme, der ihre Hilfe braucht.«

»Nein. Wahrscheinlich nicht. Du wirst also niemals krank?« »Niemals.« »Du Glückspilz.«

Skellin grinste. »Es war schön, wieder einmal mit dir zu reden, Ceryni von der Nordseite. Ich hoffe, wir werden das bald wiederholen und dass ich dann gute Neuigkeiten für dich habe.«

Cery nickte. »Ich freue mich darauf, und ich wünsche dir einen sicheren Heimweg.« »Dir auch.«

Der andere Dieb wandte sich seinem Leibwächter zu und ging davon. Cery trat aus der Hütte, stellte seinen Kragen hoch, um den Regen abzuhalten, und ging zu Gol hinüber. Der große Mann schwieg zuerst und lief stumm neben Cery her. Dann, als das Sonnenhaus bereits weit hinter ihnen lag, fragte er, wie die Besprechung gelaufen sei. Cery berichtete ihm die Einzelheiten.

»Ich wusste gar nicht, dass Skellins Territorium so weit reicht«, unterbrach er ihn.

»Ich auch nicht«, erwiderte Cery. »Es ist zu lange her, seit wir in Erfahrung gebracht haben, wo die Grenzen verlaufen.«

»Ich kann es für dich herausfinden.«

»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.«

Gol lachte. »Natürlich hattest du das gehofft.«


Warum hat er den Ring nicht benutzt?

Sonea erhob sich von ihrem Stuhl und trat ans Fenster. Sie schob den Papierschirm beiseite, schaute über das Gelände der Gilde und seufzte. Vielleicht hatte Lorkin den Blutring nicht gefunden. Vielleicht lag er noch immer im Gildehaus in Arvice, tief in seiner Reisetruhe.

Selbst der Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Wenn Dannyl und Lorkin beide nicht im Gildehaus waren, war es dann möglich, dass ein neugieriger Sklave den Ring fand? Wenn er in die falschen Hände fiel… Sie schauderte. Einer der sachakanischen Ichani, die vor zwanzig Jahren Kyralia überfallen hatten, hatte Rothen gefangen und aus seinem Blut einen Ring gemacht, den er danach benutzte, um Rothen geistige Bilder all seiner Opfer zu schicken. Wenn Lorkins Entführer den Ring fand und ihn benutzte, um ihr Bilder zu schicken, wie ihr Sohn gefoltert wurde…

Ihr stockte das Herz. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte. Ich würde ihren Forderungen zustimmen, ganz gleich worin sie bestünden. Und Rothen hat recht. Es würde die Situation noch verschlimmern, wenn ich dort wäre. Ich hoffe nur, dass sie, wenn sie den Ring finden, begreifen, dass der Hersteller zu weit entfernt ist, als dass sie ihn sinnvoll einsetzen könnten.

Sie entfernte sich vom Fenster und ging im Zimmer umher. Ihre Schicht im Hospital begann erst in einigen Stunden. Die Heiler waren kühner geworden, seit sie sich erboten hatten, ihre Abwesenheit zu vertuschen, sollte sie einmal in die Stadt hinausgehen müssen. Der Beschützertrieb, den sie ihr gegenüber entwickelt hatten, war inzwischen beinahe lästig, und sie plagten sie mit Fragen darüber, wie viel Schlaf sie bekäme, wann immer sie frühzeitig zu einer Schicht erschien oder länger blieb.

Aber wenn Cery die wilde Magierin findet, wird er mich im Hospital einfacher und schneller erreichen. Ich wünschte, er würde sich endlich melden. Die Jagd nach dieser Frau würde mir zumindest genug zu tun geben, um mich für eine Weile daran zu hindern, mich zu sehr um Lorkin zu sorgen.

Sofort tat sich wieder die tiefe Grube der Angst in ihrem Magen auf, und Gedanken an das, was ihrem Sohn zustoßen könnte, drohten herauszuquellen. Sie zwang sich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die wilde Magierin, dachte sie. Denk an die wilde Magierin.

Seit ihrem gescheiterten Versuch, die Frau zu fangen, waren nur wenige Tage vergangen, aber es kam ihr erheblich länger vor. Sie grübelte über den Tunneleingang nach, den sie gefunden hatten. Wenn die Frau Zugang zur Straße der Diebe hatte, bedeutete das, dass sie Verbindungen zu einem Dieb hatte? Früher einmal hätte es genau das bedeutet, aber die alten Regeln und Einschränkungen hatten in Imardins Unterwelt keine Gültigkeit mehr.

Eine andere Möglichkeit beunruhigte sie. Wenn die Frau Zugang zur Straße der Diebe hatte, wusste sie von den Tunneln unter der Gilde?

Ein Klopfen an der Haupttür unterbrach Soneas Gedanken. Sie erhob sich und eilte darauf zu. Vielleicht war es Rothen. Möglicherweise hatte er Neuigkeiten von Lorkin. Selbst wenn es jemand anderer war, würde er sie zumindest ein wenig von ihren Gedanken ablenken. Mit einem kleinen Stoß Magie entriegelte sie die Tür, und sie schwang nach innen auf.

Regin stand draußen. Er neigte höflich den Kopf.

»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er.

»Lord Regin.« Sie hoffte, dass er ihr ihre Enttäuschung nicht ansehen würde.

»Habt Ihr irgendetwas gehört?«, fragte er mit gesenkter Stimme.

»Nein.«

Er nickte und wandte den Blick ab. In dem Moment kam ihr der Gedanke, dass es unerwartet rücksichtsvoll von ihm war, vorbeizukommen und sich nach Lorkin zu erkundigen, und sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Feindseligkeit, die sie ihm gegenüber empfand. Sie öffnete den Mund, um ihm zu danken, aber er redete weiter, ohne zu bemerken, dass sie im Begriff gewesen war, etwas zu sagen.

»Ich habe einige Erkundigungen eingeholt, und sie haben zu ein paar kleinen Ideen geführt«, begann er, dann zuckte er die Achseln und sah sie an. »Wahrscheinlich nicht der Mühe wert, und sie könnten sich mit den Plänen Eures Freundes überschneiden, aber ich dachte, ich sollte mit Euch darüber reden.«

Mit den Plänen meines Freundes? Plötzlich verstand Sonea. Er sprach nicht von Lorkin, sondern von Cery und der Jagd nach der wilden Magierin. Sie schüttelte den Kopf. Natürlich, er weiß nicht einmal von Lorkin. Ich bin eine solche Närrin …

»Nein?« Regin trat einen Schritt zurück, zweifellos weil sie den Kopf geschüttelt hatte. »Ich kann ein andermal zurückkommen, wenn es Euch besser passt.«

»Nein – kommt herein. Ich würde Eure Ideen gern hören«, sagte sie und trat beiseite, um ihn eintreten zu lassen. Er sah sie fragend an, dann lächelte er schwach und folgte ihr in den Hauptraum. Sie deutete auf die Sessel und lud ihn ein, Platz zu nehmen, dann schloss sie mit Magie die Tür.

»Sumi?«, fragte sie.

Er nickte. »Danke.« Er beobachtete sie, während sie zu einem Schränkchen ging, in dem sie ein Tablett mit den Utensilien aufbewahrte, mit denen man Sumi machte. »Ich dachte, Ihr würdet keinen Sumi mögen.«

»Ich mag ihn auch nicht, aber ich lerne ihn langsam zu schätzen. Von Raka werde ich neuerdings ein wenig reizbar. Erzählt mir von Euren Ideen.«

Während er zu sprechen begann, brachte sie das Tablett zu den Sesseln hinüber und begann, das heiße Getränk zuzubereiten. Sie zwang sich, ihm zuzuhören. Er hatte sich mit einigen Magiern getroffen, von denen er vermutete, dass sie Verbindungen zu Unterwelthändlern hatten; vor ein paar Monaten hatte er sich mit diesen Magiern angefreundet, um Informationen für die Anhörung zu sammeln.

Regin verzog das Gesicht. »Sie waren ziemlich erfreut über das Ergebnis der Anhörung. Dadurch, dass es jetzt nur noch verboten ist, für Verbrecher zu arbeiten, statt mit ihnen Umgang zu pflegen, können sie ihren zwielichtigen Freunden ohne Weiteres helfen – solange sie nicht auf irgendeine offenkundige Art dafür bezahlt werden.« Er seufzte. »Sie sind ziemlich zufrieden mit uns, was zumindest den Vorteil hat, dass sie immer noch gern mit mir reden. Und sich über eine gewisse ausländische Magierin beklagen, die Geld als Gegenleistung für die Benutzung von Magie erhält.«

»Eine Ausländerin, hm?« Sonea reichte ihm eine Tasse. »Cery sagte, die wilde Magierin sei Ausländerin.«

»Ja.« Regins Miene wurde nachdenklich, und er legte den Kopf leicht schräg, während er sie musterte. »Das Gesetz, das jedem außerhalb der Gilde verbietet, Magie zu erlernen und auszuüben, ist nicht immer zweckdienlich. Es hat nur deshalb funktioniert, weil die Verbündeten Länder allesamt damit einverstanden waren. Aber was ist mit Magiern aus anderen Ländern? Wenn sie einen Fuß auf die Erde eines der Verbündeten Länder setzen und zufällig Magie benutzen, verstoßen sie sofort gegen ein Gesetz. Das scheint kaum gerecht zu sein.«

»Oder praktikabel«, pflichtete Sonea ihm bei. »Der König und die Höheren Magier diskutieren schon seit Jahren darüber. Natürlich hoffen wir, dass Sachaka irgendwann den Verbündeten Ländern beitreten wird und dass seine Magier Mitglieder der Gilde werden und damit an unsere Gesetze gebunden sind. Ersteres Ziel zu erreichen mag zu schwierig sein, da sie dazu die Sklaverei aufgeben mussten. Die Erreichung des zweiten Ziels scheint dagegen unmöglich zu sein.«

»Die andere Alternative besteht darin, das Gesetz zu ändern.«

»Ich bezweifle, dass die Gilde ihre Kontrolle über Magier aufgeben würde, insbesondere ihre Kontrolle über ausländische Magier.«

»Nur jene, die in den Verbündeten Ländern leben«, sagte Regin. »Aber es könnte Besuchern gestattet werden, unsere Länder zu bereisen ohne die Verpflichtung, der Gilde beizutreten.«

»Ich hoffe, dass ihrem Besuch in diesem Fall eine zeitliche Beschränkung auferlegt werden würde.«

»Natürlich. Und kein Gebrauch von Magie aus Gewinnsucht.«

Sonea lächelte. »Wir können nicht zulassen, dass die Gilde noch ärmer wird.«

Regin lachte. »Wenn die Reaktionen meiner Magierfreunde mit zweifelhaften Verbindungen ein Maßstab sind, würde kein fremdländischer Magier für lange Zeit die Erlaubnis erhalten, Handel zu treiben.«

»Wissen sie, wo diese fremdländische Magierin ist?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich könnte sie nach Informationen graben lassen, wenn Ihr glaubt, dass das nicht Cerys Plänen zuwiderlaufen wird.«

Sie nippte an ihrem Sumi und dachte nach. Dann nickte sie schließlich. »Ich werde ihn fragen. In der Zwischenzeit wird es nicht schaden, wenn sie die Ohren offen halten und Informationen an Euch weitergeben.«

Regin verzog das Gesicht und stellte seine leere Tasse ab. »Es wird nur meinem Sinn für guten Geschmack schaden. Das ist kaum die Art Gesellschaft, die ich bevorzuge. Ihre Vorstellung von Unterhaltung ist…« Er rümpfte die Nase. »Rüde.«

Sonea setzte eine neutrale Miene auf. Regin war immer ein Snob gewesen. Aber andererseits gab es viele Magier aus den Häusern und nicht nur aus den unteren Klassen, deren Vorliebe für Rauschmittel, Huren und Glücksspiel wohlbekannt war und missbilligt wurde. Wie einige von Lorkins Freunden, wie es scheint, dachte sie und erinnerte sich an den jungen Magier, den man in einem Bordell gefunden hatte. Vielleicht ist es ganz gut, dass Lorkin nicht in Imardin ist.

Dann kehrte die ganze schmerzliche Wahrheit über seine Abenteuer in Sachaka zurück, und sie zuckte zusammen. Sie erhob sich und brachte die Sumi-Utensilien und die leeren Tassen wieder zu dem Schränkchen.

»Hoffentlich wird Cery sie bald finden, und Ihr werdet Euch nicht um sie kümmern müssen«, sagte sie. Als sie sich Regin wieder zuwandte, war sie erleichtert zu sehen, dass er den Fingerzeig verstanden hatte und aufgestanden war. »Danke, dass Ihr vorbeigekommen seid.«

Er neigte den Kopf. »Ich danke Euch, dass Ihr mich angehört habt. Ich werde es Euch wissen lassen, sobald ich weitere Informationen habe.« Er drehte sich zur Tür um, und als sie sie mit Magie öffnete, verließ er den Raum.

Sie schloss die Tür, stützte sich auf die Rückenlehne eines Sessels und seufzte. Zumindest einige Minuten der Ablenkung. Ist es noch zu früh, um ins Hospital zu gehen? Sie betrachtete das mechanische Zeitgerät, das Rothen ihr im vergangenen Jahr geschenkt hatte. Ja.

Mit einem neuerlichen Seufzer begann sie abermals im Raum auf und ab zu gehen und sich um ihren Sohn zu sorgen.

22 Ein Wiedersehen

Nach einer Nacht im Haus des alten Ashaki waren Achati und Dannyl einen halben Tag lang in Richtung Nordwesten gereist und hatten dann auf dem Gut des Vetters von Achati, Ashaki Tanucha, Halt gemacht. Wenn auch nicht viel jünger als ihr vorheriger Gastgeber, war Tanucha offensichtlich ein weit wohlhabenderer und geselligerer Mann. Seine erheblich jüngere Gemahlin, eine Frau in mittleren Jahren, erschien nur beim Abendessen und war ansonsten damit beschäftigt, sich um ihre sieben Kinder zu kümmern, darunter fünf Jungen.

»Sieben! Ich weiß, es ist eher die Auffassung eines Städters, aber es scheint mir doch eine Spur verantwortungslos zu sein«, hatte Achati leise zu Dannyl gesagt, als sie sich nach dem Abendessen in die Gästezimmer zurückgezogen hatten. »Nur einer kann erben. Für die Übrigen muss er eine Beschäftigung finden. Die Töchter werden natürlich so gut wie möglich verheiratet. Aber die Söhne…« Er seufzte. »Ohne Land und abhängig von ihrem Bruder, ebenso wie ihre Söhne es sein werden – falls sie überhaupt Ehefrauen anlocken können.« Er schüttelte den Kopf. »So werden Ichani gemacht.«

»Sie rebellieren gegen ihre Brüder?«

»Gegen das ganze Land. Es ist besser, die jüngeren Söhne nicht in Magie ausbilden zu lassen, aber nur selten versagt ein Vater, der sein Kind liebt, ihm dieses Wissen, wenn es bedeutet, dass jüngere Söhne einen noch geringeren Status haben werden.«

»In Kyralia ist es gerade bei den jüngeren Söhnen am wahrscheinlichsten, dass sie Magier werden«, hatte Dannyl ihm erzählt. »Ein Magier sollte sich nicht in die Politik einmischen, und man hält es für besser, wenn der Sohn, der dazu bestimmt ist, eines Tages Oberhaupt der Familie zu sein, derjenige mit politischem Einfluss ist.«

Achati hatte nachdenklich genickt. »Ich denke, mir gefällt Eure Methode besser. Sie gibt sowohl den älteren als auch den jüngeren Söhnen Macht.«

Den nächsten Tag verbrachten sie mit Ausritten auf Tanuchas Gut und den Abend damit, zu essen und zu reden. Anschließend plauderten Achati und Dannyl bis spät in die Nacht hinein. Am nächsten Tag schliefen sie lange, dann erkundeten sie Tanuchas Bibliothek, die enttäuschend klein und vernachlässigt war. Obwohl Dannyl dankbar für die Ruhe war, konnte er sich nicht entspannen. Als sie sich für die Nacht in die Gästezimmer zurückzogen, fragte er Achati, wann sie Weiterreisen würden.

»Das hängt von den Verräterinnen ab, nicht wahr?«, erwiderte Achati, während er sich auf die Kissen im Raum legte.

»Gewiss werden wir nicht einfach darauf warten, dass sie Lorkin und Tyvara bei uns abgeben?«, hakte Dannyl nach und nahm auf einem der Hocker Platz. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, auf dem Boden zu liegen, wie die Sachakaner es taten.

»Warum nicht? Wenn wir keinen festen Standort haben, werden sie vielleicht nicht wissen, wo wir zu finden sind.

Oder wir könnten am Ende in die falsche Richtung reisen –weg von jenen, die sie zu uns bringen wollen.«

Dannyl runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, warum, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Verräterinnen mit Lorkin und Tyvara in Ketten am Tor von Tanuchas Gut erscheinen werden. Sie würden sich nicht auf solche Weise offenbaren.«

»Was denkt Ihr dann, was sie tun werden?«

Dannyl überlegte. »Wenn ich an ihrer Stelle wäre… ich würde uns zu Lorkin und Tyvara führen. Ich würde uns Hinweise zuspielen – wie sie es bereits getan haben –, damit wir den beiden irgendwann über den Weg laufen.«

»Haben sie uns in letzter Zeit irgendwelche Fingerzeige gegeben?«

»Nein«, sagte Dannyl. »Aber sie haben uns auch nicht aufgetragen zu bleiben, wo wir sind.«

Achati lachte. »Ich entwickle langsam eine echte Zuneigung zu Euch, Botschafter Dannyl. Ihr habt einen einzigartigen Verstand.« Er wandte sich einem seiner Sklaven zu, einem gutaussehenden jungen Mann, der sich hauptsächlich um seine Bedürfnisse kümmerte, während die Rolle des anderen Sklaven darin zu bestehen schien, schwere Arbeiten zu verrichten und die Kutsche zu fahren. »Hol uns noch etwas Wasser, Varn.«

Der Sklave griff nach einem Krug und eilte davon.

»Natürlich könnte es eine List von ihnen sein, uns zu sagen, sie wollten, dass wir Lorkin finden«, bemerkte Dannyl.

»Wenn es so wäre, wohin würden wir dann als Nächstes gehen?«

Dannyl schüttelte seufzend den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wenn die Verräterinnen tatsächlich wollten, dass wir das Mädchen und Lorkin nicht finden, wohin würden sie sie bringen?«

»In ihr Zuhause in den Bergen.«

»Und in welche Richtung waren die zwei unterwegs?« »In Richtung der Berge.«

»Sie sind wahrscheinlich vor uns.« Er warf Achati einen Blick zu. »Das ist die Richtung, in die ich gehen würde.«

Achati nickte, dann zog er warnend eine Augenbraue hoch. »Wir wissen nicht, wo ihr Zuhause ist«, rief er Dannyl ins Gedächtnis. »Nur dass es in den Bergen liegt.«

»Das habe ich nicht vergessen. Habt Ihr jemals Fährtensucher benutzt?«

»Gelegentlich. Wenn wir einer Sklavin folgen mussten, von der wir mit Sicherheit wussten, dass sie zu den Verräterinnen gehört.«

»Und weshalb ist es schiefgegangen?«

»Die Spuren brechen immer ab.« Achati zuckte die Achseln. »Die Verräterinnen sind keine Narren. Sie verstehen sich darauf, ihre Spuren zu verwischen. Was nicht schwierig ist, wenn das Land aus glattem Stein besteht und man in der Lage ist zu schweben.«

Dannyl runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Wenn die Verräterinnen wollten, dass wir an einem bestimmen Ort bleiben oder in eine andere Richtung Weiterreisen, hätten sie es uns wissen lassen.«

»Diese ganze Reise und all die Hinweise, denen wir gefolgt sind, könnten eine List gewesen sein«, bemerkte Achati. »Dazu gedacht, uns etwas zu tun zu geben und uns in die falsche Richtung zu schicken.«

»Dann spielt es keine Rolle, ob wir Weiterreisen. Sie haben uns bereits zu Narren gemacht. Aber wenn es eine Chance gibt, dass sie es nicht getan haben und wir auf der richtigen Spur sind, dann bin ich bereit, das Risiko einzugehen, einen noch größeren Narren aus mir zu machen, indem ich weiter in Richtung der Berge reise. Die Chance, Lorkin zu finden, ist es wert.«

Achati musterte Dannyl nachdenklich, dann nickte er. Der Sklave kehrte zurück und reichte ihm den Krug. »Dann werden wir aufbrechen. Reicht Euch morgen früh?« Er füllte seinen Kelch nach, hielt jedoch inne, um Dannyls Antwort abzuwarten.

Dannyl betrachtete den Mann und bemerkte Anzeichen von Widerstreben. Ich sollte ihn nicht zu sehr bedrängen, dachte er. Er nickte. »Natürlich. Aber eine Abreise am frühen Morgen wäre das Beste.«

Der Achati seufzte, nickte und leerte dann seinen Kelch. »Ich werde einen Sklaven ausschicken, damit er Tanucha davon in Kenntnis setzt, dass wir Weiterreisen werden, und um einige Vorräte für die Reise zu erbitten. Im Gebirge gibt es weniger Güter, und sie sind in der Regel nicht allzu wohlhabend. Außerdem werden wir einige magische Unterstützung benötigen. Ich werde mich mit dem König in Verbindung setzen und ihn bitten, uns jemanden zu schicken.« Mit einem Ächzen erhob er sich. »Wartet nicht auf mich. Geht zu Bett. Dies könnte einige Zeit dauern.«

Magische Unterstützung. Mit dem König in Verbindung setzen. Ein Stich der Sorge durchzuckte Dannyl. Er hält diese Verräterinnen wirklich für gefährlich.

»Ashaki Achati?«, sagte Dannyl.

Der Mann drehte sich zu ihm um. »Ja?«

Dannyl lächelte. »Danke.«

Achatis Stirnrunzeln verschwand, und in seine Augen trat ein warmer Ausdruck der Gutmütigkeit. »Ich denke, ich könnte mich an das kyralische Benehmen gewöhnen.« Dann wandte er sich um und verschwand durch die Tür in sein Zimmer.


Lorkin öffnete die Augen. Orangefarbene Wolken zogen über den Himmel. Er runzelte die Stirn. Er hatte geträumt, aber er konnte sich nicht an den Traum erinnern. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Er hatte dieses unangenehme, beunruhigende Gefühl, gestört worden zu sein. Aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, bevor er dazu bereit gewesen war.

Er spürte eine Berührung, und plötzlich hämmerte sein Herz.

Als er den Kopf hob, sah er, dass Tyvara im Sitzen eingeschlafen war. Gegen die Mauer der alten Ruine gelehnt, war sie zur Seite gerutscht und hatte instinktiv das rechte Bein angewinkelt, um nicht umzukippen. Ihr Knie war auf seinen Arm gesunken.

Ihre Haut war wunderbar warm – ein scharfer Kontrast zu dem kalten Boden unter ihm und der wachsenden Kühle der hereinbrechenden Nacht. Obwohl Sachaka tagsüber warm war, konnten die Abende überraschend kalt sein.

Was soll ich tun? Wenn ich mich bewege, wird sie aufwachen. Aber sie sollte Wache halten, und es ist ohnehin beinahe Zeit, wieder aufzubrechen. Doch sie brauchte den Schlaf. Sie hatte nachts länger Wache gehalten als er, obwohl er einwandte, dass er durchaus in der Lage war, die Last mit ihr zu teilen. Er brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass er die Erschöpfung auf magische Weise heilen konnte. Es wäre unsensibel gewesen, wenn man bedachte, was sein Vater den Verräterinnen versprochen und dann nicht gehalten hatte.

Die kalte Luft verriet ihm, dass sie auch den magischen Schild, der sie schützte, hatte fallen lassen, daher zog er einen eigenen Schild hoch und wärmte dann die Luft darin. Er hielt sich möglichst reglos, um sie nicht zu stören, und beobachtete sie im Schlaf. Die dunklen Ringe unter ihren Augen und die kleine Falte auf ihrer Stirn machten ihm Sorgen. Aber sie so eindringlich betrachten zu können, ohne sie zu beunruhigen oder in Verlegenheit zu stürzen… Er konnte die weibliche Wölbung ihres Kinns bewundern und den exotischen Schnitt ihrer Augen, die Wölbung ihrer Lippen…

Die plötzlich zuckten. Hastig wandte er den Blick ab.

Er spürte, wie sie schnell einen Schild hochriss, als sie aufwachte und feststellte, dass sie ihren alten Schild hatte sinken lassen, daher zog er seinen so weit zurück, dass er nur noch ihn selbst umgab. Während er lauschte, wie sie tief einatmete und dann gähnte, musterte er die Ruinen, in denen sie sich versteckten. Hoch oben auf einem felsigen Hügel gelegen, boten sie einen Blick auf die Stelle, an der die Straße, der sie gefolgt waren, auf eine weitere Straße stieß. Da die Sonne kurz nach ihrer Ankunft aufgegangen war, hatte er Einzelheiten des Gebirges erkennen können, das zuvor nur eine neblige, ungleichmäßige blaugraue Linie am Horizont gewesen war.

Jetzt, während die Nacht sich vertiefte, konnte er niedrige Hügel ausmachen. Hinter ihnen lag größtenteils ebenes Bauernland, hier und da unterbrochen von Obstplantagen oder kleinen Wäldern für das Wild und kreuz und quer durchzogen von niedrigen Mauern.

»Wie weit sind wir noch entfernt?«, hatte er gefragt.

»Wir werden noch drei oder vier Nächte durch die Vorhügel wandern und dann noch einige weitere, um in die Berge hinaufzuklettern.«

Obwohl Tyvara schon früher hier gewesen war, wusste sie nichts über die Ruine. Er sah sie an und stellte fest, dass sie wach war, wenn auch anscheinend noch ein wenig müde.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich umsehe?«, fragte er.

Sie blickte zum Himmel empor, der jetzt von einem dunklen Scharlachrot war, aber die Nacht war noch nicht dunkel genug, um sich weit vorzuwagen. »Geh nur. Aber sorg dafür, dass man dich von der Straße aus nicht sehen kann.«

»Natürlich.«

Sie hatten in einem offenen Geviert von Mauern Zuflucht gesucht. Er steuerte eine der Lücken an, um sich das Gebäude von außen näher anzusehen.

Eine Frau trat in die Lücke.

Er blieb wie angewurzelt stehen. Die Frau war wie eine Sklavin gekleidet, aber ihr Benehmen war vollkommen falsch. Sie lächelte ihn an, doch das Lächeln war nicht freundlich. Instinktiv stärkte er seinen Schild. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und kniff die Augen zusammen.

Sein Schild vibrierte heftig, als Magie dagegenschlug. Die Luft zwischen ihnen schimmerte. Er wich zurück. Der Blick der Frau war kalt und eindringlich. Er zweifelte nicht daran, dass sie ihn zu töten beabsichtigte. Sein Herz begann vor Furcht schneller zu schlagen. Er spürte den wachsenden Drang, die Flucht zu ergreifen. Was vernünftig wäre, dachte er. Sie muss eine Verräterin sein, was bedeutet, dass sie eine Schwarzmagierin ist, was bedeutet, dass sie erheblich stärker ist als ich. Aber bevor er diesen Gedanken auch nur zu Ende gedacht hatte, trat Tyvara an ihm vorbei. Der Blick der Frau wanderte zu ihr hinüber. Eine schwindelerregende Woge der Erleichterung schlug über ihm zusammen. Sie blieb einen Schritt vor ihm stehen, und er spürte, wie ihr Schild den seinen umschlang. Obwohl der magische Angriff abbrach, sorgte er dafür, dass sein Schild innerhalb dem von Tyvara stark blieb, für den Fall, dass ihrer ins Wanken geriet.

»Lass das, Rasha«, sagte Tyvara. »Nur wenn du es auch lässt«, erwiderte die Frau. »Schwörst du, dass du mich oder Lorkin nicht angreifen wirst?«

»Ich schwöre, dass ich dich nicht angreifen werde. Aber er…« Der Blick der Frau wanderte zu ihm herüber. »Er muss sterben.«

Lorkin schauderte. Doch er bemerkte auch, dass die Frau aufgehört hatte, Tyvara anzugreifen.

»Die Königin hat verboten, ihn zu töten.«

»Sie hat kein Recht, uns zu sagen, dass wir keine Rache üben dürfen«, zischte Rasha.

»Ishira war die Erste.«

Die Augen der Frau blitzten vor Wut auf. »Die Erste oder die Letzte, welche Rolle spielt das?«

»Sie war auch meine Spielkameradin. Denkst du, ich würde sie nicht vermissen? Denkst du, ich habe nicht getrauert?«

»Du weißt nicht, wie es ist, ein Kind zu verlieren!«, rief die Frau.

»Nein«, antwortete Tyvara mit einem scharfen Unterton. »Aber ich würde die Königin als ein Beispiel dafür ansehen, wie man mit dem Verlust lebt, nicht jene, die das Kind eines anderen wegen dessen Fehlern oder Verbrechen ermorden würden.«

Rasha starrte Tyvara an, ihr Gesicht eine Maske des Hasses. »Nicht jeder kann so versöhnlich sein. Nicht in einem solchen Fall. Und nicht, wenn es darum geht, dass du eine von uns ermordet hast.« Die Augen der Frau glänzten. »Du verschwendest deine Stärke auf seinen Schutz. Überlass ihn mir.«

»Was wirst du mit mir machen, nachdem du ihn getötet hast?« Tyvara klang bemerkenswert gelassen, wie Lorkin feststellte. Aber ihre Haltung war angespannt, als erwarte sie jeden Augenblick einen weiteren Angriff. Sie versucht, die Frau am Reden zu halten. Nun, ich hoffe, sie tut das. Sie könnte auch im Begriff stehen, mein Leben gegen das ihre einzutauschen.

»Du kommst mit mir zurück ins Sanktuarium. Alle Verräterinnen müssen wissen, dass es der Königin lieber ist, dass eine der unseren stirbt als der Sohn des Mannes, der ihre Tochter getötet hat.«

»Tatsächlich wäre es der Königin lieber, man würde ihre Befehle befolgen. Dann würde niemand getötet werden«, erklang eine hohe Stimme. »Es ist ein ziemlich vernünftiger Befehl und gut für alle.«

Rasha trat beiseite und drehte sich mit der gleichen Bewegung um. Eine weitere wie eine Sklavin gekleidete Frau stand hinter ihr und lehnte sich in einer bewusst lässigen Pose an die Mauer.

»Chari«, sagte Tyvara, in deren Stimme jetzt Erleichterung und Wärme lagen.

Sie schenkte ihnen allen ein fröhliches Lächeln, dann trat sie mit der ganzen Würde einer jungen Kyralierin, die bei einem Ball einen großen Auftritt hinlegte, in das Gebäude.

»Ich habe neue Befehle von der Königin«, eröffnete sie ihnen. »Lord Lorkin wird kein Haar gekrümmt. Tyvara soll ins Sanktuarium gebracht werden, um wegen der Ermordung Rivas vor Gericht gestellt zu werden.« Sie wandte sich an Rasha. »Da ich im Rang über dir stehe, fällt diese kleine Aufgabe mir zu. Du solltest besser loslaufen, bevor dein Herr feststellt, dass du fort bist, und einen Suchtrupp mit Peitschen hinter dir her schickt.«

Rasha starrte Chari einen Moment lang an, dann zischte sie und stolzierte durch die Lücke in der Mauer. Man konnte das Knacken und Knistern hören, als die Frau durch die stacheligen Büsche auf dem Hügel stapfte.

Chari wandte sich Tyvara zu. »Du steckst so tief in Schwierigkeiten.«

Tyvara zuckte die Achseln. »Danke, dass du eingegriffen hast. Woher wusstest du, wo wir sind?«

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Ich wusste es nicht. Ich habe natürlich nach dir Ausschau gehalten, aber ich hätte nicht gedacht, dass du hierherkommen würdest. Es ist das offensichtlichste Versteck in diesem Gebiet. Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Tyvara zuckte erneut die Achseln. »Ich weiß es nicht.« Sie rieb sich das Gesicht, und ihre Erschöpfung war ihr plötzlich deutlich anzumerken. »Wir hatten unsere Sache so gut gemacht… Ich dachte, die Leute würden vielleicht annehmen, dass wir gar nicht zum Sanktuarium gehen würden.«

Chari schüttelte den Kopf. »Nur gut, dass ich ein Auge auf Rasha gehalten habe. Sie ist auf dem Nachbargut die oberste Wächterin, und sie war überaus erpicht darauf, euch zu fangen. Als ich hörte, dass sie eine Gruppe zusammengestellt hatte und auf dem Weg war, euch zu holen, bin ich da vongeschlüpft und ihr gefolgt.«

»Eine Gruppe?« Tyvara runzelte die Stirn. »Wo sind denn die anderen?«

»Zu eurem Glück hat sie ihnen aufgetragen zu warten, damit sie vorgehen und deinen neuen Freund hier erledigen konnte.« Chari sah Lorkin an und lächelte. »Ich habe sie zuerst erwischt und nach Hause geschickt.«

»Ich stehe im Rang über dir«, hatte Lorkin sie zu Rasha sagen hören. Sie ist offensichtlich eine ziemlich mächtige Verräterin. Und wenn sie Ränge haben, dann sind sie doch nicht so gleichberechtigt, wie Tyvara behauptet.

»Nun… ich danke dir dafür.« Tyvara hielt inne. »Also, was hast du mit uns vor?«

Chari antwortete nicht. Sie senkte den Blick, schürzte die Lippen und kam näher. Einige Schritte entfernt blieb sie stehen. Dann sah sie Tyvara forschend an. »Ist es wahr?«

»Ja.«

Chari nickte und seufzte. »Riva war eine Unruhestifterin. Wenn dir irgendjemand einen Grund dazu geben würde, dann war sie es.«

Tyvara schüttelte den Kopf. »Wenn es irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte…«

»Nun, es ist gut, dass du es nicht abstreitest. Wie sehen deine Pläne aus?«

»Nach Hause gehen und es regeln.«

Charis Blick wanderte zu Lorkin, und sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Was ist mit ihm?«

Lorkin beschloss, die Initiative zu ergreifen. Er neigte höflich den Kopf. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Chari von den Verräterinnen.«

Die Frau grinste und trat vor ihn hin. »Ich mag ihn. Es ist mir ebenfalls eine Ehre, dich kennenzulernen.«

»Er hat sich erboten, mit mir zurückzukehren, um bei der Verhandlung zu meiner Verteidigung zu sprechen.«

Chari zog die Augenbrauen hoch. »Du willst mit ihr gehen?«, fragte sie ihn.

»Ja.«

Ein anerkennender und abschätzender Ausdruck trat in ihre Züge. »Du bist ein mutiger Mann. Wirst du uns geben, was dein Vater uns nicht gegeben hat?«

»Wir werden das besprechen, wenn wir dort angekommen sind«, erwiderte Tyvara, bevor er reagieren konnte.

Die Frau kicherte. »Davon bin ich überzeugt. Natürlich ist es nicht das, was eigentlich geschehen sollte. Du solltest nach Arvice zurückgebracht werden. Gewiss sollen wir dich nicht mit in unser geheimes Zuhause bringen. Dafür werde ich mir eine Erlaubnis einholen müssen.«

»Wie lange wird das dauern?«

Chari überlegte. »Sechs oder sieben Tage. Wir können die Zeit abkürzen, indem wir uns bei den Gerberhütten mit Sprecherin Savara treffen.« Sie wandte sich an Lorkin. »Sie war Tyvaras Mentorin – und meine – und ist eine unserer Anführerinnen. Wenn du immer noch ins Sanktuarium mitkommen willst, wirst du sie dazu überreden müssen, dich aufzunehmen.«

»Wie sollte ich das am besten angehen?«

Chari zuckte die Achseln.

»Mit deinem gewohnten Charme und deiner Begeisterung«, erwiderte Tyvara. »Aber mach keine Versprechen. Meine Leute würden dergleichen mit Argwohn betrachten, wenn sie dir überhaupt Glauben schenken. Du brauchst lediglich anzudeuten, dass du bereit wärst, darüber nachzudenken, Entschädigung für den Verrat deines Vaters zu leisten. Du brauchst nicht zu erwähnen, wie du das anstellen willst.«

Er nickte. »Das kann ich tun.«

Tyvara lächelte. »Ich freue mich darauf zu beobachten, wie du es versuchst.«

»Ich auch«, bemerkte Chari. Dann blickte sie auf seine Schuhe hinab. »Wie geht es deinen Füßen?«

»Sie sind viel benutzt worden.«

»Lust auf eine Fahrt im Wagen? Wir haben eine Fuhre Futter, die morgen zu einem der entlegenen Güter gebracht werden muss. Ich bin davon überzeugt, dass da noch Platz für zwei weitere Sklaven ist.«

Lorkin sah Tyvara an. »Können wir ihr trauen?«

Sie nickte. »Chari ist eine alte Freundin von mir. Wir sind zusammen ausgebildet worden.«

Er lächelte Chari an und neigte den Kopf. »Dann nehme ich dein Angebot an. Tatsächlich klingt es so, als sei es zu gut, um es abzulehnen.«

»Dann tut es auch nicht.« Chari lächelte strahlend. »Ich kann euch auf meinem Gut bequemere Betten anbieten als einen Flecken Erde in einer alten Ruine. Und«, sie beugte sich zu Lorkin vor und schnupperte, »es riecht, als hättest du dich seit Tagen nicht mehr gewaschen.«

Lorkin sah Tyvara an. Sie runzelte die Stirn.

»Was ist los?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts.« Seufzend sah sie Chari an. »Bist du dir sicher, dass Lorkin auf deinem Gut keine Gefahr droht?«

Die junge Frau grinste. »Der Herr ist ein lieber alter Trinker. Ich treffe alle Entscheidungen dort, und das bezieht sich auch darauf, welche Sklaven er kauft. Es gibt nicht einen einzigen Sklaven dort, den ich nicht billigen würde, und die wenigen Male, dass Sprecherin Tückisch versucht hat, eins ihrer Mädchen auf das Gut zu bringen, habe ich andere Plätze für sie gefunden.«

Tyvara schüttelte langsam den Kopf. »Du wirst eine sehr beängstigende Frau sein, solltest du jemals beschließen, dir einen Platz in der Führungsriege zu sichern.«

»Darauf kannst du wetten.« Chari grinste. »Also solltet ihr euch besser gut mit mir stellen. Und so wie es riecht, werdet ihr beide, was das betrifft, bessere Chancen haben, wenn ihr erst einmal ein Bad nehmt. Kommt jetzt. Lasst uns nach Hause gehen, bevor der Herr mich vermisst.«


»Sie würde nicht um ein Treffen mit dir bitten, wenn sie keinen guten Grund dazu hätte«, sagte Gol, während er hinter Cery hereilte.

»Soll ich mich jetzt besser fühlen?«, entgegnete Cery.

»Nun… ich sage nur, dass sie ein vernünftiges Mädchen ist.«

»Mir wäre es erheblich lieber, sie wäre nicht vernünftig und hätte keinen Grund, sich mit mir zu treffen.« Cery runzelte die Stirn. »Wenn sie vernünftig ist und einen guten Grund hat, dann besteht eine größere Chance, dass etwas Schlimmes geschehen ist.«

Gol seufzte und erwiderte nichts mehr. Cery schlängelte sich in der Gasse an Kisten mit verfaulendem Essen vorbei. Zumindest weiß ich, dass Anyi noch lebt, dachte er. Gol hatte gelegentlich versucht, sie zu finden, und Cery war erfreut gewesen, dass es ihm nicht gelungen war – und er hatte versucht sich einzureden, dass sein Freund sie deshalb nicht gefunden hatte, weil sie sich erfolgreich versteckte, und nicht, weil ihre Leiche niemals gefunden oder erkannt worden war.

Kurz vor dem Ende der Gasse blieb er stehen und hämmerte gegen eine Tür. Nach einem kurzen Moment der Stille schwang die Tür nach innen auf, und ein Mann mit einem vernarbten Gesicht geleitete sie hinein. Eine bekannte Frau trat aus einer Nebentür, um ihn zu begrüßen.

»Donia«, sagte Cery und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Was machen die Geschäfte?«

»Das Übliche«, antwortete sie und hob den Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Schön, dich wiederzusehen. Ich habe die Räume so eingerichtet, wie es dir gefällt. Sie wartet dort oben.«

»Danke.«

Er und Gol gingen die Treppe hinauf. Die Sorge machte ihn reizbar, und er konnte nicht umhin, durch Türen und um Ecken zu spähen, auf der Suche nach einem möglichen Hinterhalt. Obwohl Cery nicht glaubte, dass Donia ihn freiwillig verraten würde, hielt er es doch niemals für ausgeschlossen, dass jemand sich daran erinnern könnte, dass sie in ihrer Jugend Freunde gewesen waren, und ihm in ihrem Bolhaus eine Falle stellte. Oder ihm nachspionierte. Wenn er Versammlungen abhielt, ließ er Donia stets die Räume im oberen Stock zu beiden Seiten seines Zimmers und darunter freimachen, damit niemand lauschen konnte.

Als er die Tür zu demselben Raum erreichte, in dem er sich das letzte Mal mit Anyi getroffen hatte, sah er sie zu seiner Erheiterung in genau der gleichen Position dasitzen wie bei ihrer vorangegangenen Begegnung. Ohne sich eine Regung anmerken zu lassen, folgte er Gol hinein. Der große Mann sah sich im Raum um, dann schloss er die Tür. Cery betrachtete seine Tochter genauer.

Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, und sie schien noch dünner geworden zu sein, aber ihr Blick war scharf und furchtlos.

»Anyi«, sagte er. »Ich freue mich zu sehen, dass du dich aus Schwierigkeiten heraushalten konntest.«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Es ist auch schön zu sehen, dass du noch lebst. Hattest du Glück bei der Suche nach dem Mörder meiner Brüder?«

Ein vertrauter Stich des Kummers durchzuckte ihn. »Ja und nein.«

»Und das bedeutet was?«

Cery unterdrückte einen Seufzer. Auch ihre Mutter hatte nichts übrig gehabt für ausweichende Antworten.

»Ich habe jemanden verfolgt, aber bevor ich ihn gefangen habe, kann ich mir nicht sicher sein, ob es die richtige Person ist.«

Sie schürzte die Lippen und nickte. »Warum hast du zugelassen, dass auf der Nordseite Glühhäuser eröffnet wurden?«

Er blinzelte überrascht. »Das habe ich nicht getan.«

»Du weißt nichts davon?« Sie zog die Augenbrauen hoch und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Gol. »Er weiß es nicht?«

»Nein.« Cery sah Gol an. »Aber jetzt wissen wir es.«

»Du wirst sie schließen lassen?«

»Natürlich.«

Sie runzelte die Stirn. »Aber du wirst es nicht selbst tun, nicht wahr? Nicht persönlich.«

Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich nicht. Warum fragst du?«

»Eins hat neben dem Haus geöffnet, in dem ich gewohnt habe. Das ist der Grund, warum ich jetzt nicht mehr dort wohne. Sehr, sehr unangenehme Leute. Ich habe sie mit den früheren Bewohnern reden hören. Die Wände sind so dünn, dass es schwer war, nicht zu lauschen.« Sie kniff die Augen zusammen. »Sie haben dem Mann erklärt, dass sie sein Haus und den Laden übernehmen würden. Sie sagten, wenn er irgendjemandem davon erzähle, würden sie ihm und seiner Familie Dinge antun. Da war eine Frau mit einem seltsamen Akzent – nichts, was ich je zuvor gehört habe. Sie sagte etwas, woraufhin der Stiefelmacher zu brüllen begann. Anschließend, als sie fort waren, hörte ich den Schuhmacher seiner Frau erzählen, was geschehen war, als sie nach Hause kam. Er sagte, sie hätten ihm mit Magie Schmerzen zugefügt.« Anyi sah Cery durchdringend an. »Hältst du das für möglich, oder haben sie nur eine List angewandt?«

Cery hielt ihrem Blick stand. Wenn das die wilde Magierin ist… wenn sie der Jäger ist… schlängelt sie sich dann näher an Skellin heran, indem sie für seine Feuelverkäufer arbeitet? »Ein seltsamer Akzent«, wiederholte er.

»Ja.«

»Konntest du einen Blick auf sie werfen?«

»Nein. Aber in der Stadt kursieren schon seit Jahren Gerüchte über wilde Magier. Es ergibt durchaus Sinn, wenn es sich dabei um Fremdländer handelt. Magier, die nicht aus den Verbündeten Ländern stammen, werden nicht Teil der Gilde sein.« Sie hielt inne, dann zuckte sie die Achseln. »Natürlich hätte sie einen falschen Akzent annehmen können.«

Cery nickte und lächelte anerkennend. »Es war richtig von dir, von dort wegzugehen. Hast du ein anderes Versteck?«

Sie zog die Brauen zusammen. »Nein. Ich hatte einige, aber sie sind alle auf die eine oder andere Weise unbrauchbar gemacht worden.« Sie blickte zu ihm auf. »So wie es aussieht, geht es dir gut.«

»Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon auf mein Tun zurückgeht oder auf bloßes Glück«, gab er zu.

»Trotzdem, mit deinem Geld und deinen Verbindungen musst du eine bessere Chance haben als ich.«

Cery nickte. »Diese Dinge helfen.«

»Ja, nicht wahr? Nun, wie wäre es dann, wenn ich bei dir bliebe? Denn mit Verstecken verdiene ich kein Geld, und ich habe all meine Ersparnisse aufgebraucht, ebenso wie meine Beziehungen.«

Als Cery den Mund öffnete, um zu protestieren, sprang sie auf.

»Erzähl mir nicht, ich wäre sicherer, wenn ich mich nicht in deiner Nähe aufhielte. Niemand außer dir und Gol weiß, dass wir verwandt sind, und ich habe nicht die Absicht, es zu öffentlichem Klatsch zu machen. Ich werde nicht ständig bei dir sein, weil ich deine Tochter bin.« Sie straffte sich und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich werde als deine Leibwächterin da sein.«

Gol gab einen erstickten Laut von sich.

»Anyi…«, begann Cery.

»Sieh den Tatsachen ins Auge, du brauchst einen Leibwächter. Gol wird alt und langsam. Du brauchst jemand Junges, dem du genauso vertrauen kannst wie ihm.«

Aus dem erstickten Laut, den Gol von sich gegeben hatte, wurde ein Prusten.

»Jugend und Vertrauenswürdigkeit sind nicht alles, was ein Leibwächter haben muss«, bemerkte Cery.

Sie lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du glaubst nicht, dass ich kämpfen kann? Ich kann kämpfen. Ich hatte sogar eine gewisse Ausbildung. Ich werde es beweisen.«

Cery verkniff sich die skeptische Bemerkung, die er normalerweise gemacht hätte. Sie ist meine Tochter. Wir haben seit Jahren nicht mehr so viele Worte gewechselt. Ich werde nichts gewinnen, indem ich sie wegschicke. Und… vielleicht hat sie tatsächlich ein wenig von dem Talent ihres Vaters.

»Nun denn«, sagte er. »Wie wär’s, wenn du das tätest? Zeig mir, wie alt und langsam Gol ist.«

Bei dem Ausdruck auf dem Gesicht seines Leibwächters hätte er beinahe laut aufgelacht. Gols gekränkter, entsetzter Blick machte Wachsamkeit Platz, als Anyi sich ihm zuwandte und in die Hocke ging. In einer Hand blitzte Metall auf. Cery hatte sie nicht nach dem Messer greifen sehen. Er bemerkte, wie sie das Messer hielt, und nickte anerkennend.

Das könnte interessant werden.

»Aber töte ihn nicht«, erklärte er ihr.

Gol hatte sich inzwischen von seiner Überraschung erholt und näherte sich Anyi mit den vorsichtigen, gut ausbalancierten Schritten, die Cery so vertraut waren, und langsam zog er ein Messer. Der große Mann mochte nicht schnell sein, aber er war so massig wie eine Mauer und wusste, wie er den Schwung und das Gewicht eines Gegners gegen ihn einsetzen konnte.

Anyi bewegte sich ebenfalls auf Gol zu, aber Cery stellte zu seiner Freude fest, dass sie nichts überstürzte. Doch sie umkreiste Gol, und das war nicht gut. Ein Leibwächter sollte sich zwischen einem Angreifer und seinem Schutzbefohlenen halten. Das werde ich ihr noch beibringen müssen.

Dann fasste Cery sich wieder und runzelte die Stirn. Werde ich das tun? Sollte ich sie überhaupt in meiner Nähe halten, geschweige denn sie in eine Position bringen, in der die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs auf sie noch größer wird? Ich sollte ihr Geld geben und sie wegschicken.

Irgendwie wusste er, dass sie damit nicht zufrieden sein würde. Ob er sie wegschickte oder sie bei sich behielt, sie würde irgendetwas tun wollen. Und sie hat kein Versteck. Wie kann ich sie wegschicken?

Aber sie war zäh. Wenn er sie aus der Stadt schickte – vor allem wenn er ihr Geld gab –, würde sie neue Orte finden und sich dort verstecken. Oder sie wird zu dem Schluss kommen, dass sie es nicht länger ertragen kann, eingesperrt zu sein, und alle Vorsicht in den Wind schlagen.

Ein Wirbel von Bewegungen lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Kampf. Anyi hatte Gol angegriffen, wie er bemerkte. Wiederum nicht der beste Schritt für einen Leibwächter. Gol war ihrem Messer geschickt ausgewichen, hatte ihren Arm gepackt und ihren Sprung genutzt, um sie hinter sich auf den Boden zu befördern. Sie stieß ein Heulen des Protestes und des Schmerzes aus, als er ihr den Arm hinter den Rücken drehte und sie damit daran hinderte, sich zu erheben.

Cery trat vor, wand ihr das Messer aus der Hand und wich dann zurück.

»Lass sie aufstehen.«

Gol ließ sie los und zog sich zurück. Er begegnete Cerys Blick und nickte knapp. »Sie ist schnell, aber sie hat einige schlechte Angewohnheiten. Wir werden sie neu ausbilden müssen.«

Cery sah den Mann stirnrunzelnd an. Er hat bereits beschlossen, dass ich sie behalten werde!

Anyi erhob sich, musterte Gol mit zusammengekniffenen Augen, sagte jedoch nichts. Sie sah Cery an, dann blickte sie zu Boden.

»Ich werde lernen«, sagte sie.

»Du hast eine Menge zu lernen«, entgegnete Cery.

»Also wirst du mich als Leibwächterin zu dir nehmen?«

Er hielt inne, bevor er antwortete: »Ich werde darüber nachdenken, sobald du richtig ausgebildet bist, und wenn ich dich für gut genug halte. So oder so, du arbeitest jetzt für mich, und das bedeutet, dass du tun musst, was ich dir befehle. Keine Widerrede. Selbst wenn du nicht weißt, warum.«

Sie nickte. »Das ist gerecht.«

Er ging auf sie zu und gab ihr das Messer zurück. »Und Gol ist nicht alt. Er ist ungefähr im gleichen Alter wie ich.«

Anyi zog die Augenbrauen hoch. »Wenn du glaubst, das bedeute, dass er nicht alt ist, dann brauchst du wirklich einen neuen Leibwächter.«

23 Neue Helfer

Heilerin Nikea kam in den Untersuchungsraum, als Soneas letzte Patientin ging – eine Frau, die erfolglos versuchte, Feuel aufzugeben. Sonea hatte die Frau geheilt, aber ihr Verlangen war dadurch nicht gestillt worden. »Ich muss Euch etwas zeigen«, sagte Nikea. »Ja?« Sonea blickte von den Notizen auf, die sie sich gemacht hatte. »Und was?«

»Etwas«, antwortete Nikea. Sie lächelte und riss vielsagend die Augen auf.

Irgendwie brachte Soneas Herz es fertig, einen Schlag auszusetzen und ihr direkt danach in die Magengegend zu sinken. Wenn Cery eine Nachricht geschickt hatte, hätte Nikea sie ihr überbracht. Dieser vielsagende Blick legte die Vermutung nahe, dass mehr als eine Notiz angekommen war, und Sonea vermutete, dass dieses »Etwas« Cery war.

Er wusste, dass es ihr nicht recht war, wenn er hierherkam. Trotzdem, er musste einen guten Grund dafür haben.

Sie stand auf, verließ den Raum und folgte Nikea den Flur entlang. Sie kamen in den nicht öffentlichen Teil des Hospitals. Zwei Heiler standen im Gang und hatten tuschelnd die Köpfe zusammengesteckt. Ihr Blick ruhte auf der Tür zu einem Lagerraum, wanderte jedoch zu Sonea hinüber, als sie erschien. Sofort richteten sie sich auf und nickten ihr höflich zu.

»Schwarzmagierin Sonea«, murmelten sie, bevor sie davoneilten.

Nikea führte Sonea zu der Tür, die die beiden so interessant gefunden hatten, und öffnete sie. Darin saß auf einer kurzen Leiter eine vertraute Gestalt zwischen Regalreihen voller Bandagen und anderer Krankenhausvorräte. Er lächelte und stand auf. Seufzend trat Sonea ein und zog die Tür hinter sich zu.

»Cery«, sagte sie. »Gibt es gute Neuigkeiten oder schlechte?«

Er lachte leise. »Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Wie geht es dir?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Bestens.« »Du wirkst ein wenig reizbar.«

»Es ist mitten in der Nacht, doch aus irgendeinem Grund haben wir genauso viele Patienten wie tagsüber, nichts, was ich versuche, heilt die Feuelsucht, in der Stadt streunt eine wilde Magierin umher, und statt der Gilde davon zu erzählen, riskiere ich das wenige an Freiheit, was ich habe, indem ich mit einem Dieb zusammenarbeite, der darauf besteht, mich an einem öffentlichen Ort aufzusuchen, und mein Sohn ist noch immer in Sachaka verschollen. Und da soll ich guter Laune sein?«

Cery verzog das Gesicht. »Wohl eher nicht. Also… keine Neuigkeiten über Lorkin?«

»Nein.« Sie seufzte abermals. »Ich weiß, dass du nicht hergekommen wärst, wenn du keinen guten Grund hättest, Cery. Erwarte nur nicht von mir, dass ich dein Erscheinen hier vollkommen ruhig und gelassen aufnehme. Was gibt es Neues?«

Er setzte sich wieder. »Was würdest du davon halten, wenn noch ein Dieb dir helfen würde, die wilde Magierin zu finden?«

Sonea sah ihn überrascht an. »Ist es jemand, den ich kenne?«

»Das bezweifle ich. Er ist einer von den Neuen. Farens Nachfolger. Sein Name ist Skellin.«

»Er muss eine Menge zu bieten haben, wenn du sein Angebot in Erwägung ziehst.«

Cery nickte. »Das hat er. Er ist einer der mächtigsten Diebe in der Stadt. Er hat ein spezielles Interesse am Jäger der Diebe. Vor einer Weile hat er mich gefragt, ob ich ihn auf dem Laufenden halten würde, sollte mir etwas zu Ohren kommen. Er weiß, dass die wilde Magierin vielleicht nicht der Jäger der Diebe ist, hält es aber für lohnend, sie aufzuspüren, um es herauszufinden.«

»Was hat er davon?«

Er lächelte. »Er würde dich gern treffen. Es klingt, als hätte Faren ihm Geschichten erzählt, daher verspürt er den Wunsch, die Legende kennenzulernen.«

Sonea stieß einen wenig damenhaften Laut aus. »Solange er nicht die gleichen Vorstellungen hat wie Faren, was die Frage betrifft, wie nützlich ich ihm sein könnte…«

»Ich bin davon überzeugt, die hat er, aber er wird nicht erwarten, dass du diese Ideen mit ihm teilst.«

»Hat er eine bessere Chance als du, die wilde Magierin zu finden?«

Cery wurde ernst. »Es hat sich herausgestellt, dass sie einem Feuelhändler Gefälligkeiten erwiesen hat. Der Mann hatte sein Geschäft in meinem Gebiet aufgezogen, bis ich der Sache Einhalt geboten habe. Skellin kontrolliert den größten Teil des Handels, daher hoffe ich, er kann –«

»Der Dieb, mit dem wir zusammenarbeiten, ist die Hauptquelle von Feuel?«, unterbrach ihn Sonea.

Cery nickte und rümpfte angewidert die Nase. »Ja.«

Sie wandte sich ab. »Oh, das ist einfach wunderbar.« »Wirst du seine Hilfe annehmen?«

Sie sah ihn an. Sein Blick war hart und herausfordernd. Doch was hatte er gesagt? »…hatte sein Geschäft in meinem Gebiet aufgezogen, bis ich der Sache Einhalt geboten habe.« Vielleicht gefiel ihm genauso wenig wie ihr, was Feuel den Menschen antat. Aber er hatte keine andere Wahl, als mit Leuten wie Skellin zusammenzuarbeiten. »Er ist einer der mächtigsten Diebe in der Stadt.« Wenn die wilde Magierin für einen Feuelhändler arbeitete, dann machte es Sinn, sich der Hilfe eines Importeurs der Droge zu versichern. Vielleicht war sie süchtig nach der Droge, und der Verkäufer zwang sie, ihre Magie für Verbrecher einzusetzen, um Nachschub zu bekommen.

Sonea massierte sich die Schläfen, während sie nachdachte. Ich breche bereits einen ganzen Haufen Regeln. Ironischerweise wird dies die Dinge nicht schlimmer machen, soweit es die Gilde betrifft. Es wird sich nur für mich schlimmer anfühlen.

»Dann rekrutiere ihn. Solange er begreift, dass eine Begegnung mit mir nicht mehr bedeutet, als dass wir beide ein einziges Mal am selben Ort sein und uns für eine vernünftig bemessene Zeitspanne freundlich unterhalten werden – und solange du es für notwendig hältst, ihn mit einzubeziehen –, habe ich nichts dagegen einzuwenden.«

Cery nickte. »Ich denke tatsächlich, dass wir ihn brauchen. Und ich werde dafür sorgen, dass er versteht, dass man deine Dienste nicht mieten kann.«


Nachdem Dannyl und Achati aus der Kutsche gestiegen waren, drehten sie sich um, um ihre Umgebung zu betrachten. Die Straße, auf der sie in Richtung Norden unterwegs gewesen waren, endete an einer von Osten nach Westen verlaufenden Durchgangsstraße, die neben einem Fluss herführte. Hügel umgaben sie, und Felsbrocken ragten aus wilder Vegetation hervor.

»Wir werden hier warten«, sagte Achati.

»Was denkt Ihr, wie lange es dauern wird?«, fragte Dannyl.

»Eine Stunde, vielleicht zwei.«

Achati hatte veranlasst, dass die Gruppe einheimischer Magier, die ihnen magische Unterstützung gewähren wollten, sie an der Kreuzung traf. Sie brachten einen Fährtensucher mit. Er hatte ihnen erklärt, wie er die Dinge sah: Wenn sie bis zu den Bergen kamen und die Straße verlassen mussten, würde das Risiko, von den Verräterinnen angegriffen zu werden, dramatisch steigen.

Der Sachakaner drehte sich um und sprach mit seinen Sklaven, die er anwies, für ihn, Dannyl und sie selbst Wasser und Essen zu holen. Als die beiden jungen Männer gehorchten, ging Dannyl nicht zum ersten Mal durch den Kopf, dass Achati seine Sklaven gut behandelte. Er schien sie beinahe zu mögen.

Während sie die kleinen, flachen Pasteten verzehrten, die man ihnen auf dem letzten Gut mitgegeben hatte, betrachtete Dannyl abermals die Hügel. Die Felsvorsprünge erregten seine Aufmerksamkeit. Stirnrunzelnd bemerkte er, dass einige eher wie Mauern aus Felsblöcken wirkten. Und dass diese Felsblöcke sich so perfekt einer an den anderen fügten, dass es kaum noch allein auf eine Laune der Natur zurückgeführt werden konnte.

»Ist das eine Ruine dort oben?«, fragte er, an Achati gewandt.

Der Mann folgte Dannyls ausgestreckter Hand und nickte.

»Wahrscheinlich. Davon gibt es einige in diesem Gebiet.«

»Wie alt sind sie?«

Achati zuckte die Achseln. »Alt.«

»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich sie mir ansehe?«

»Natürlich nicht.« Achati lächelte. »Ich werde Euch ein Zeichen geben, wenn die anderen eintreffen.«

Dannyl aß die letzte Pastete, dann überquerte er die Straße und begann hügelaufwärts zu gehen. Der Hügel war steiler, als es von der Straße aus den Anschein gehabt hatte, und als Dannyl den ersten Haufen Felsbrocken erreichte, war er außer Atem. Bei deren Untersuchung kam er zu dem Schluss, dass es sich um einen Teil einer Mauer handelte. Eine Weile ging er auf dem Hang umher, fand weitere Mauerabschnitte und ruhte sich aus, um wieder zu Atem zu kommen. Als er sich erholt hatte, beschloss er festzustellen, was diese Befestigungsanlage umgab, und machte sich erneut auf den Weg hügelaufwärts.

Je näher er dem Gipfel kam, desto dichter und höher wurde die Vegetation. Nachdem sein Ärmel sich an einem Dornenstrauch verfangen hatte und es ihm gelungen war, den Stoff zu zerreißen, machte er um solche Pflanzen einen großen Bogen. Es war nicht weiter schwierig, Stoff mit Magie zu trocknen und sogar einige Flecken zu entfernen, aber das Flicken von Rissen überstieg sein Vermögen. Es mochte irgendwie möglich sein, die feinen Fäden wieder zusammenzufügen, aber das würde Zeit und Konzentration erfordern.

Enttäuscht stellte er fest, dass er zwar vor sich die Überreste weiterer Mauern sehen konnte, dass sie jedoch inmitten eines anscheinend undurchdringlichen Gürtels miteinander verwachsener Dornensträucher emporragten. Er schuf einen magischen Schild, damit er sich zwischen ihnen hindurchzwängen konnte. Oben befand sich ein flacher Bereich innerhalb der niedrigen Mauern, der alles war, was von einem Gebäude übrig geblieben war, aber darüber hinaus gab es nichts zu sehen als verwitterte Steine.

Hier werde ich nichts Neues erfahren, überlegte er. Nicht ohne all das auszugraben. Er verließ das Gebäude und machte sich auf den Rückweg zur Straße.

Ein kleines Stück weiter den Hang hinunter teilte sich die Vegetation, und er hatte einen unverstellten Blick auf die Kutsche und die Straße unter ihm. Achati saß in der schmalen Tür des Wagens. Der gutaussehende Sklave namens Varn kniete vor dem Magier und hielt die Hände hoch, die Innenflächen nach außen gekehrt. Etwas in Achatis Hand fing das Licht auf.

Ein Messer.

Dannyls Magen krampfte sich zusammen, und er blieb stehen. Achati hob die kunstvoll geschmückte Klinge, die normalerweise in ihrer Scheide an seiner Seite ruhte, und berührte damit leicht die Handgelenke des Sklaven. Er steckte das Messer weg und legte beide Hände um das Gelenk des Mannes. Während Dannyl das Schauspiel beobachtete, raste sein Herz. Nach kurzer Zeit ließ Achati den Sklaven los.

Ich schätze, das bedeutet, dass Varn Achatis Quellsklave ist, dachte Dannyl. Dann wurde ihm klar, dass sein Herz nicht vor Furcht raste. Eher vor Aufregung. Ich habe soeben ein uraltes schwarzmagisches Ritual beobachtet. Magie war vom Sklaven an seinen Herrn weitergereicht worden. Und dazu war es nicht vonnöten gewesen, jemanden zu ermorden. Das Ganze war bemerkenswert ruhig und würdevoll abgelaufen.

Der junge Mann stand nicht auf, sondern rückte näher an seinen Herrn heran. Statt den Blick wie üblich gesenkt zu halten, sah er zu Achati auf. Dannyl starrte den Mann an, fasziniert von seinem Gesichtsausdruck. Falls ich aus dieser Entfernung keinem Trugschluss erliege, würde ich sagen, dass es ein Ausdruck der Bewunderung ist. Er lächelte. Ich schätze, es wäre einfach, einen Herrn zu lieben, der einen gut behandelt.

Dann lächelte der Sklave und trat sehr nah an Achati heran. Der Magier legte dem jungen Mann eine Hand auf die Wange und schüttelte den Kopf. Dann beugte er sich vor und küsste Varn auf die Lippen. Der Sklave bewegte sich wieder von ihm weg, immer noch lächelnd.

Dannyl wurden mehrere Dinge gleichzeitig klar. Erstens, dass die beiden Männer sich als Nächstes umschauen würden, um festzustellen, ob jemand sie gesehen hatte. Er wandte den Blick ab und ging weiter den Hang hinunter, damit sie ihn nicht dabei ertappten, dass er sie beobachtet hatte. Zweitens, dass der Sklave seinen Herrn nicht nur mochte – er liebte seinen Herrn. Und drittens, dass die Art, wie Achati den jungen Mann liebkost hatte, vermuten ließ, dass es für ihn um mehr ging, als einen Sklaven zu seinem Vergnügen zu haben.

Ist das die einzige Art, wie es hier funktioniert, fragte er sich. Was ist mit Männern ähnlichen Ranges?

Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Als er durch die dichte Vegetation brach, blieb er stehen, um in westlicher Richtung auf die Straße hinabzuschauen, und sah nicht weit entfernt fünf Männer und einen Karren. Sie würden die Kreuzung bald erreichen. Dannyl eilte den Hügel hinunter, blieb auf der Straße stehen und winkte, als Achati ihn entdeckte. Der Sachakaner erhob sich und kam auf ihn zu.

»Ihr kommt genau zur richtigen Zeit, Botschafter Dannyl«, sagte er und schaute blinzelnd zu den Gestalten in der Ferne hinüber. »Habt Ihr dort oben etwas gefunden?«

»Jede Menge Dornenbüsche«, erwiderte Dannyl kläglich. »Ich fürchte, Eure Freunde werden in Kürze einen schäbigen Kyralier kennenlernen.«

Achati betrachtete Dannyls zerrissene Robe. »Ah ja. Die sachakanische Vegetation kann genauso widerborstig sein wie das Volk. Ich werde Varn auftragen, Eure Robe für Euch zu flicken.«

Dannyl nickte. »Vielen Dank. Und nun, gibt es irgendetwas Spezielles, was ich bei der Begrüßung unserer neuen Gefährten sagen oder tun sollte?«

Achati schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr Euch nicht sicher seid, überlasst das Reden mir.«


Der Bauernkarren war groß und bewegte sich langsam. Er war hoch beladen mit Viehfutterballen, und seine Ladung war mit vielen Seilen gesichert. Vier Gorin zogen den Wagen – das erste Mal, dass Lorkin die großen Tiere in Sachaka sah. Der Fuhrmann war ein kleiner, schweigsamer Sklave, der auf dem einzigen Sitz des Gefährts hockte.

Die drei anderen Passagiere saßen in einer Höhle innerhalb der Ballen. Lücken zwischen den Ballen, die das Dach bildeten, ließen ein wenig Luft in den engen Raum, aber die Wände der Höhle waren dicht gepackt. Drei kleine Bündel hatten sie dabei, und er vermutete, dass sie voller Essen und Vorräte für die Reise in die Berge waren. Sie saßen so, dass er Chari den Rücken zuwenden musste, um Tyvara anzusehen, und umgekehrt.

Chari stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Definitiv bequemer als zu gehen, richtig?«

»Definitiv. War das deine Idee?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, wir machen das schon seit Jahrhunderten so. Irgendwie muss man die Sklaven ja von einem Ort zum anderen bringen.«

Er runzelte die Stirn. »Würden da nicht Verräterinnen, die einen solchen Karren sehen, Verdacht schöpfen, dass jemand darin reist?«

Chari zuckte die Achseln. »Ja, aber solange sie keinen guten Grund haben, werden sie sich uns nicht nähern. Erst recht nicht tagsüber. Sklaven halten die Karren anderer Güter nicht auf. Das geht sie nichts an. Wenn ein Ashaki sie dabei erwischte, würde er das seltsam finden und der Sache nachgehen.« Sie runzelte die Stirn. »Indem wir dich versteckt halten, gewinnen wir noch den zusätzlichen Vorteil, Begegnungen wie die, die du mit Rasha hattest, zu vermeiden. Ich habe die Autorität, Verräterinnen wie sie aufzuhalten – keine Sorge, wir wollen dich nicht alle tot sehen –, aber es würde eine Verzögerung darstellen. Wenn andere Verräterinnen tatsächlich Verdacht schöpften, dass du hier drin bist, werden sie zu Recht vermuten, dass du nicht ohne Wissen anderer Verräterinnen hier bist. Das ist etwas, das du unmöglich allein arrangiert haben könntest.«

»Und lasst uns nicht die Leute vergessen, die nach Lorkin suchen«, fügte Tyvara hinzu. »Botschafter Dannyl und der Abgesandte des Königs, Ashaki Achati.«

»Diese beiden?« Chari machte eine abschätzige Handbewegung. »Wir haben dafür gesorgt, dass sie von der richtigen Fährte abgelenkt werden, wenn sie das nächste Mal auf einem Gut herumschnüffeln.« Sie lächelte. »Sie könnten an uns vorbeireiten, ohne zu ahnen, dass wir hier sind.« Sie blickte zu den Ballen über ihnen auf. »Obwohl es an heißen Tagen ein wenig stickig werden kann. Nur gut, dass ihr zwei gestern Abend ein Bad genommen habt, hm?«

Lorkin nickte und blickte an sich hinab. Der letzte Rest der Farbe war von seiner Haut verschwunden. Er klopfte auf das saubere Sklavengewand. »Und ich danke dir auch für die neuen Kleider.«

Sie sah ihn an und verzog das Gesicht. »Wir werden sie dir bald abnehmen und dich vernünftig einkleiden.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber ich vermisse meine Gilderoben«, lamentierte er.

»Warum hast du sie früher nicht gemocht?«

»Weil jeder Magier sie trägt. Es wird ein wenig langweilig. Die einzige Abwechslung, die man bekommt, erlebt man bei seinem Abschluss, wenn man vom Novizen zum Magier aufsteigt – es sei denn, man wird eines Tages einer der Höheren Magier, und die meisten von denen tragen lediglich eine Schärpe von anderer Farbe.«

»Ein Novize ist ein Schüler, richtig? Wie lange bleiben sie Novizen?«

»Ja. Alle Neuzugänge der Gilde sind Novizen. Sie verbringen etwa fünf Jahre an der Universität, bevor sie ihren Abschluss machen.«

»Welcher Art von Magie lernt ihr an der Universität?«

»Zuerst handelt es sich um eine ganze Palette von Dingen«, antwortete er. »Natürlich Magie, aber auch nichtmagische Studien wie Geschichte. Die meisten von uns sind in irgendeiner Disziplin besser als in den anderen, und am Ende dürfen wir uns eine der drei Disziplinen aussuchen, der wir folgen wollen: Heilkunst, Kriegskunst oder Alchemie.«

»Wofür habt Ihr Euch entschieden?«

»Alchemie. Man kann erkennen, wer die Alchemisten sind, weil wir Purpur tragen. Heiler tragen Grün und Krieger Rot.«

Chari runzelte die Stirn. »Was tun Alchemisten denn?«

»Alles, was Heiler und Krieger nicht tun«, erläuterte Lorkin. »Meistens geht es um Magie, aber manchmal auch nicht. Botschafter Dannyl, der Magier, mit dem ich hierhergekommen bin und dem ich behilflich sein sollte, ist Historiker, und bei diesem Fach ist überhaupt keine Magie im Spiel.«

»Kann man auch zwei Disziplinen wählen? Alchemist sein und Krieger – oder Alchemist und Heiler? Oder –«

»Das wissen wir bereits, Chari«, unterbrach Tyvara sie.

Lorkin drehte sich zu ihr um. Sie sah ihn entschuldigend an. »Wir lernen während unserer Ausbildung die Kultur vieler anderer Länder kennen und auch einiges über die Gilde«, erklärte sie ihm.

»Ja, aber ich habe damals nicht besonders gut aufgepasst«, erwiderte Chari. »Und es ist um so vieles interessanter, wenn man es von einem kyralischen Magier hört.«

Lorkin drehte sich wieder zu ihr um und sah, dass sie ihn erwartungsvoll musterte. »Was wolltet Ihr sagen?«, hakte sie nach.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, wir dürfen nicht mehr als eine Disziplin wählen, aber wir erhalten ohne Ausnahme eine grundlegende Ausbildung in allen drei Disziplinen.«

»Dann kannst du also heilen?«

»Ja, aber nicht mit dem Geschick und dem Wissen eines voll ausgebildeten Heilers.«

Chari öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, aber Tyvara kam ihr zuvor.

»Du kannst auch Fragen stellen«, sagte sie zu Lorkin. »Chari mag bei einigen davon nicht in der Lage sein, sie zu beantworten, aber wenn du alle Fragen ihr überlässt, wird sie dich den ganzen Weg bis zu den Bergen aushorchen.«

Er sah Tyvara überrascht an. Während ihrer Reise von Arvice hatte es ihr widerstrebt, seine Fragen zu beantworten. Als sie seinen Blick bemerkte, presste sie die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und schaute zu Chari hinüber. Er drehte sich zu der anderen Frau um. Chari betrachtete Tyvara mit einiger Erheiterung.

»Nun denn«, sagte sie an Lorkin gewandt. »Was würdest du gern wissen?«

Obwohl es Hunderte von Dingen gab, die er über die Verräterinnen und ihr geheimes Zuhause wissen wollte und Chari Fragen gegenüber viel aufgeschlossener wirkte, vermutete er, dass Tyvaras Neigung zur Heimlichkeit schon bald dazu führen würde, dass sie jedes Gespräch zwischen Chari und ihm unterbinden würde. Aber wie konnte er das vermeiden, wenn so viele Informationen über die Verräterinnen geheim waren?

Ich sollte definitiv nicht fragen, wie sie das Gedankenlesen abwehren. Obwohl ich immer noch den Verdacht habe, dass dazu ein Prozess gehört, ähnlich dem, der für die Herstellung eines Blutsteins vonnöten ist. Plötzlich erinnerte er sich an die Hinweise auf einen Lagerstein in den Unterlagen, die er für Dannyl gelesen hatte. Vielleicht war es das Beste, überhaupt nicht über die Verräterinnen zu reden.

War es ein Risiko, den Lagerstein zu erwähnen? Es war nicht so, als wüsste er, wo er zu finden war oder wie man einen herstellte, daher würde er niemandem eine Waffe in die Hand geben.

»Erinnerst du dich, dass ich gesagt habe, Botschafter Dannyl sei Historiker?«, fragte er.

Chari nickte.

»Er arbeitet an einer Geschichte der Magie. Wir haben hier in Sachaka beide ein wenig Nachforschungen angestellt. Dannyl interessiert sich mehr dafür, die Lücken in unserer Geschichte zu füllen – wie das Ödland geschaffen oder wann und wie Imardin zerstört und wieder aufgebaut wurde. Ich interessiere mich dagegen mehr dafür, wie alte Arten von Magie funktioniert haben.«

Er hielt inne, um ihre Reaktion einzuschätzen. Chari musterte ihn eindringlich, während Tyvara ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, was er dahingehend deutete, dass sie interessiert war und auch ein wenig überrascht.

»Als ich für Dannyl Notizen machte, fand ich einen Hinweis auf einen Gegenstand, der als Lagerstein bezeichnet wurde«, fuhr er fort, »und der sich in Arvice befand. Es war offensichtlich ein Gegenstand von großer Macht. Einige Jahre nach dem sachakanischen Krieg ging er verloren – anscheinend hat ein kyralischer Magier ihn gestohlen. Wisst ihr etwas darüber?«

Chari sah Tyvara an, die die Achseln zuckte und den Kopf schüttelte.

»Ich weiß zwar nichts über dieses Exemplar im Besonderen, wohl aber ein wenig über die Lagersteine im Allgemeinen. Schon der Name legt nahe, dass es sich um Steine handelte, die Macht aufspeicherten«, antwortete Chari. »Und das muss eine sehr nützliche Eigenschaft gewesen sein. Aber sie waren selten. So selten, dass man früher den einzelnen Steinen Namen gab und ihre Geschichte aufzeichnete, als seien sie Menschen. Aber alle Lagersteine, von denen wir gehört haben, wurden vor langer Zeit zerstört. Seit es das letzte Mal einen solchen Stein gegeben hat, sind wahrscheinlich tausend Jahre vergangen oder eher noch mehr. Sollte dieser Lagerstein kurz nach dem sachakanischen Krieg existiert haben, wäre er der jüngste, von dem etwas bekannt ist. Also habt ihr bisher nichts darüber gewusst?«

Er schüttelte den Kopf.

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Dann hat der Dieb ihn entweder zu gut versteckt, oder er wurde zerstört. Du sagtest, Imardin sei zerstört und wieder aufgebaut worden?«

»Ja.«

»Die Zerstörung eines Lagersteins ist angeblich gefährlich. Sie entfesselt die Magie darin auf eine unkontrollierte Art und Weise. Vielleicht war es das, was Imardin zerstörte.«

Lorkin runzelte die Stirn. »Ich halte das für möglich.«

Das Einzige, was mich an der Theorie stört, dass die Entfesselung von Tagins Macht hei seinem Tod die Stadt dem Erdhoden gleichgemacht haben soll, war die Frage, wie er nach dem Sieg über die Gilde noch mächtig genug sein konnte, um solche Zerstörung über das Land zu bringen. Aber wenn er den Lagerstein hatte?

»Wir könnten die Dokumentenhüter im Sanktuarium danach fragen«, sagte Chari. »Ich meine, nach älteren Lagersteinen. Ich bezweifle, dass sie etwas über Imardins Geschichte wissen.«

»Königin Zarala könnte etwas wissen«, bemerkte Tyvara.

Chari zog die Augenbrauen hoch. »Ich nehme an, wenn sie ihn in die Stadt lässt, wird sie ihn überprüfen wollen.«

»Das wird sie.« Tyvara musterte ihn mit einer seltsamen, selbstgefälligen Erheiterung. »Definitiv.«

Chari kicherte und wandte sich zu Lorkin um. »Bist du dir sicher, dass du ins Sanktuarium kommen willst?«

»Natürlich.«

»Tyvara hat dir erzählt, dass es von Frauen geleitet wird, nicht wahr? Männer können dort niemanden herumkommandieren. Nicht einmal Magier wie du.«

Er zuckte die Achseln. »Ich verspüre keinerlei Verlangen, irgendjemanden herumzukommandieren.«

Sie lächelte. »Du bist ein so vernünftiger Mann. Ich dachte immer, Kyralier seien arrogant und unehrlich. Ich schätze, ihr könnt nicht alle gleich sein. Tyvara würde dich nicht dorthin bringen, wenn du so wärst. Und es ist so lieb von dir, den ganzen weiten Weg zu machen und dein Leben für Tyvara zu riskieren.«

»Nun, sie hat mir das Leben gerettet.«

»Das ist wahr.« Chari streckte die Hand aus und tätschelte ihm sachte den Arm. »Ehrenhaft und gutaussehend. Ich schätze, du wirst deine Sache gut machen. Meine Leute werden ihre Meinung über die Kyralier ändern, sobald sie dich kennengelernt haben.«

»Ja, und im Nu werden wir Geschenke und Rezepte austauschen«, murmelte Tyvara trocken.

Lorkin drehte sich zu ihr um. Sie sah ihm kurz in die Augen, dann wandte sie stirnrunzelnd den Blick ab. Irgendetwas missfällt ihr, dachte er. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Denkt sie, dass Chari uns verraten wird?

»Also, erzähl mir mehr über die Gilde«, sagte Chari hinter ihm.

Tyvara verdrehte seufzend die Augen. Erleichterung und Erheiterung traten an die Stelle des besorgten Ausdrucks. Sie fand Charis Geplapper einfach lästig. Nun, ich hoffe, das ist es. Ich wünschte, ich könnte mit ihr reden. Seit Chari sie gefunden hatte, hatten sie keinen ungestörten Augenblick mehr zusammen gehabt.

Ein Stich der Frustration durchzuckte ihn. Ich wünschte, ich könnte mit vielen Leuten reden. Angefangen mit Mutter und Dannyl. Er dachte an den Blutstein, der noch immer im Rücken seines Notizbuchs verborgen war. Er hatte keine Chance gehabt, ihn zu benutzen, ohne ihn Tyvara zu offenbaren. Und jetzt, da Chari bei ihnen war, würde es erst recht keine Gelegenheit dazu geben. Vielleicht sollte er Tyvara wissen lassen, dass er diesen Stein besaß. Aber er ist meine einzige Verbindung zur Gilde. Wenn ich schon das Risiko eingehen muss, ihn zu verlieren, sollte ich warten, bis das Risiko sich nicht mehr vermeiden lässt. Und wenn ich irgendeine Art von Handel oder Bündnis zwischen der Gilde und den Verräterinnen aushandeln soll, werde ich eine Möglichkeit brauchen, um zwischen ihnen zu vermitteln.

In der Zwischenzeit konnte er genauso gut sein Bestes tun, um eine Grundlage für gute Beziehungen zwischen seinem Land und den Verräterinnen zu schaffen. Er wandte sich wieder Chari zu und lächelte.

»Mehr über die Gilde? Was würdest du denn gern erfahren?«

24 Die Verbündeten, die man braucht

Das Sonnenhaus machte seinem Namen alle Ehre. Warmes Sonnenlicht umhüllte den Garten und die Ruinen und ließ die farbenfrohen Blumen in dem Meer aus grüner Vegetation leuchten. Skellin erwartete Cery in derselben Hütte, in der sie sich beim letzten Mal getroffen hatten, und sein Wachposten stand in der Nähe.

Gol blieb ebenso weit von der Hütte entfernt wie der andere Wächter. Cery ging weiter, wobei er dem Drang widerstand, sich umzudrehen und hinter sich zu blicken, aber nicht wegen seines Freundes und Leibwächters. Wie immer hatte er dafür gesorgt, dass einige seiner Leute ihm folgten und Wache hielten, bereit zu helfen, falls er sie brauchte, oder um ihn vor nahenden Gefahren zu warnen. Er nannte sie seine »Schattenwache«. Nur dass diesmal ein neues Gesicht unter den vertrauten war.

Anyi. Sie lernte schnell. Sie war flink und beweglich und bisweilen ein wenig zu verwegen. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Risiken, die sie einging, häufiger auf Unwissenheit beruhten als auf Torheit, und sie nahm seine und Gols Unterweisung und Ratschläge mit beruhigender Begeisterung und Intelligenz auf. Ihm zu folgen und zu beobachten war die sicherste Methode, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie die Arbeit machte, die sie wollte, ohne das Risiko einzugehen, irgendjemandem ihre Identität zu offenbaren oder sie wirklich in Gefahr zu bringen.

Doch die Straßen, durch die sie gegangen waren, waren niemals vollkommen sicher, und er konnte nicht umhin, sich zu sorgen, dass irgendein törichter Straßenschläger sie provozieren und das dann zu einem Kampf führen könnte.

Als Cery die Hütte erreichte, stand Skellin auf, um ihn zu begrüßen.

»Was hast du mir zu sagen, Freund?«, fragte der andere Dieb.

»Neuigkeiten, die ich gestern bekommen habe.«

Die Geschichte von dem Feuelverkäufer und seiner fremdländischen Helferin trieb ein Stirnrunzeln auf das exotische Gesicht des Mannes. Cery log, was die Quelle der Information betraf, und behauptete, es sei eine Wäscherin gewesen, die das Gespräch belauscht hatte. Es war besser, Anyis Namen aus dieser Geschichte herauszuhalten.

»Hmm«, war alles, was Skellin von sich gab. Er wirkte verstimmt. Vielleicht sogar wütend.

»Ich habe meine Freundin außerdem darüber in Kenntnis gesetzt, dass du sie gern treffen würdest«, fügte Cery hinzu. »Sie ist damit einverstanden.«

Skellins Miene hellte sich auf, und er straffte die Schultern. »Ach ja?« Lächelnd rieb er sich die Hände. »Nun, das ist etwas, worauf ich mich freuen kann. Was deine ziemlich schlechten Neuigkeiten betrifft… Ich werde der Sache nachgehen.« Er seufzte. »Es sieht nicht gut aus, nicht wahr? Zuerst wird sie auf meinem Territorium gesehen, und jetzt arbeitet sie für meine Feuelhändler.«

»Es sei denn, es wären die Feuelhändler eines anderen.«

Der Mund des Diebes verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Was die Nachrichten nur noch schlimmer machen würde. Ich werde der Sache definitiv nachgehen.« Seine Stimme nahm einen härteren, beinahe drohenden Unterton an. Das ist eher das, was ich von einem Mann mit seiner Macht und seinem Gewerbe erwarte, dachte Cery. »Ich werde dich wissen lassen, was ich herausfinde.«

Cery nickte. Sie verabschiedeten sich höflich und gingen in verschiedene Richtungen davon. Nach all der Mühe, die ich hatte, um hierherzukommen, finde ich diese Treffen immer zu kurz. Aber es gefällt mir andererseits auch nicht, herumzusitzen und zu plaudern. Ich bin mir nicht sicher, warum. Wahrscheinlich weil ich immer darauf warte, dass er versucht, mich dazu zu bringen, für ihn Feuel zu verkaufen.

Gol gesellte sich zu ihm, und sie machten sich auf den Weg in die Stadt. Das Sonnenhaus lag mehrere Straßen hinter ihm, als eine Gestalt aus einer Tür trat und auf sie zukam. Cery straffte sich, dann entspannte er sich wieder, als er Anyi erkannte. Dann verhärteten sich seine Muskeln abermals, als ihm klar wurde, dass sie seinen Befehlen zuwiderhandelte. Sie sollte sich ihm eigentlich nicht nähern, bis sie wieder im Versteck waren.

Vielleicht muss sie mich vor irgendetwas warnen.

Anyi nickte ihm höflich und mit ernster Miene zu, dann ging sie neben ihm her.

»Also«, sagte sie mit leiser Stimme. »Du hast einen guten Grund, um mit dem König der Fäule zusammenzuarbeiten?«

Cery musterte sie erheitert. »Wer nennt ihn so?« »Die halbe Stadt«, antwortete sie. »Welche Hälfte?« »Die untere.«

»Ich komme aus der unteren Hälfte, warum habe ich also nichts davon gehört?«

Sie zuckte die Achseln. »Du bist alt und nicht mehr auf dem Laufenden. Also. Hast du einen guten Grund?«

»Ja.«

Schweigend gingen sie einige Schritte weiter.

»Denn ich hasse diesen Mann«, fügte sie plötzlich hinzu.

»Tatsächlich? Warum?«

»Bevor er kam, hatten wir hier keine Fäule.«

Cery verzog das Gesicht. »Wenn er sie nicht mitgebracht hätte, hätte ein anderer es getan.«

Sie zog die Stirn in Falten. »Warum verkaufst du es nicht?«

»Ich habe Maßstäbe. Ziemlich niedrige Maßstäbe, aber das war zu erwarten. Ich bin ein Dieb.«

»Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was du tust, und dem, was er tut.«

»Du hast keine Ahnung davon, was ich tue.«

»Das ist wahr.« Sie runzelte die Stirn. »Und ich habe es nicht eilig, es herauszufinden. Aber… warum handelst du nicht mit Feuel?«

Er zuckte die Achseln. »Feuel macht Menschen unzuverlässig. Wenn sie das Interesse daran verlieren, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wollen sie keine Darlehen. Wenn sie nicht arbeiten können, können sie die Darlehen nicht zurückzahlen. Wenn sie pleite sind, können sie nichts kaufen. Wenn sie sterben, sind sie niemandem mehr zu etwas nütze. Fäule ist nicht gut fürs Geschäft – es sei denn, es ist das Geschäft. Und wenn es nicht schlimmer wäre als Bol, würde ich Schlange stehen, um damit Handel treiben zu können.«

Anyi nickte, dann stieß sie einen langen Seufzer aus. »Es macht die Menschen tatsächlich unzuverlässig. Da war… ich hatte einen Freund. Wir haben zusammen gearbeitet, wir wollten… Dinge zusammen unternehmen. Mein Freund hat mir geholfen, als du mir gesagt hast, ich müsse mich verstecken.

Aber das Geld ging uns erheblich schneller aus, als es hätte der Fall sein dürfen. Ich wusste, dass mein Freund Feuel nahm, aber er war deshalb nie von Sinnen. Als ihm das Feuel ausging, verließ mein Freund das Versteck, um Nachschub zu besorgen. Ich ging nach nebenan, um mit der Frau des Nachbarn zu sprechen, daher war ich nicht zu Hause, als mein Freund zurückkehrte. Mit zwei Schlägern. Ich habe sie streiten hören. Mein sogenannter Freund wollte mich verkaufen.«

Cery fluchte. »Wusste er, warum du dich versteckt hattest?«

»Ja.«

»Dann wussten die Schläger es ebenfalls.«

»Ich nehme es an.«

Cery schaute zu Gol hinüber.

»Sie wollten sie wahrscheinlich an jemanden verkaufen, der in einer besseren Position war, um sie gegen dich zu benutzen«, sagte der große Mann. »Ihr Freund wird nur schnelles Geld gewollt haben.«

»Es gibt also zwei Schläger da draußen, die zu viel wissen«, murmelte Cery und wandte sich zu Anyi um. »Möchtest du, dass dieser frühere Freund getötet wird?«

Sie sah ihn scharf an. »Nein.«

Er lächelte. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich die Schläger töten ließe?«

Ihre Augen weiteten sich, dann wurden sie schmal. »Nein.«

»Gut, denn ich hätte sie in jedem Fall getötet, ob du etwas dagegen gehabt hättest oder nicht, aber ich möchte mir lieber sicher sein, dass wir die Richtigen erwischen, und das wird sich leichter machen lassen, wenn du sie uns herauspickst.«

Sie nickte. Dann warf sie ihm einen Seitenblick zu. »Weißt du, niemand nennt das heute noch ›rauspicken‹. Das ist die Sprache der Hüttenviertel vergangener Zeiten.«

»Ich bin ein altmodischer Mann.« Sie bogen in eine breitere Straße ein, die voller Wagen, Menschen und Lärm war. Er senkte die Stimme. »Nur damit du Bescheid weißt, der Grund für das heutige Treffen besteht darin, die Person zu finden, vor der du dich versteckt hast.«

Anyi, die sich auf der Straße umgeschaut hatte, hielt inne, um ihn anzusehen. »Ich schätze, das ist ein guter Grund. Darf ich zuschauen, wenn du ihn tötest?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich sie nicht töten werde. Ich bezweifle, dass ich es könnte, selbst wenn ich es versuchte.«

»Eine Frau. Warum kannst du sie nicht töten?« Sie warf ihm noch einen schnellen Blick zu, diesmal voller Verwirrung.

Er kicherte. »Keine Bange. Ich werde es dir erklären, wenn der rechte Zeitpunkt kommt.«


Ich wette, Regin wünscht, er wäre hier, dachte Sonea, als die junge Heilerin an die Stirnseite der Gildehalle geleitet wurde. Die Frau war keine von den Heilerinnen, die in den Hospitälern arbeiteten, daher kannte Sonea sie nicht gut. Vinara hatte berichtet, dass sie aus einem der weniger mächtigen Häuser der Stadt stammte – eine jüngere Tochter, die man in die Gilde geschickt hatte, damit sie der Familie zu höherem Ansehen und zu kostenlosen Heilungen verhalf.

Die Heilerin war belauscht worden, wie sie berichtete, dass sie Magie für einen Schmuggler benutzt hätte, und als die Information weitergeleitet worden war, hatten die Höheren Magier sie zu einer Anhörung bestellt. Die Gerüchte behaupteten, bei dem Schmuggler hätte es sich um ihren Vetter gehandelt. Es war das erste Mal, dass jemand angeklagt wurde, weil er gegen die neue Regel verstoßen hatte, die es Magiern untersagte, für Verbrecher zu arbeiten.

Es dürfte interessant werden zu sehen, wie die Höheren Magier damit umgehen. Regin wird es gewiss in den Fingern jucken zu erfahren, was entschieden wird. Ich vermute, dass er mir heute Abend einen Besuch abstatten wird, um die Einzelheiten zu hören.

Sie stellte fest, dass die Aussicht auf seinen Besuch ihr nicht allzu sehr zu schaffen machte. Obwohl sie sich in Regins Gesellschaft niemals ganz entspannen konnte, schien er ehrlich besorgt zu sein wegen der neuen Regel und ihrer Auswirkung auf das Wohlergehen von Magiern. Und er war natürlich erpicht darauf, mehr über die wilde Magierin zu erfahren. Aber er ritt nicht darauf herum, wie einige Magier es vielleicht getan hätten, und er blieb niemals länger, als er willkommen war.

Weil er ein Mann ist, der lieber zur Tat schreiten würde, als sich in Gejammer zu verlieren.

Sie verharrte überrascht. Hatte sie gerade etwas Bewundernswertes an Regins Charakter entdeckt? Gewiss nicht.

Über die wilde Magierin hatte es keine Neuigkeiten gegeben. In den meisten Nächten arbeitete Sonea im selben Hospital auf der Nordseite, da sie wusste, dass ein Bote von Cery sie dort am einfachsten würde finden können. Aber seit er sie persönlich aufgesucht hatte, um ihr mitzuteilen, dass er sich die Hilfe eines anderen Diebes gesichert habe, hatte es keine Nachrichten von ihm gegeben.

Unter ihr wandte Administrator Osen sich den Höheren Magiern zu.

»Lady Talie wird angeklagt, die neue Regel gebrochen zu haben, nach der es einem Magier verboten ist, Anteil zu haben an verbrecherischem Tun oder davon zu profitieren«, begann er. »Wir müssen entscheiden, ob dies der Wahrheit entspricht und wenn ja, wie sie bestraft werden soll.« Er wandte sich zwei Magiern zu, die an einer Seite des Raums standen. »Ich rufe Lord Jawen als Zeugen auf.«

Einer der beiden, ein Heiler in mittleren Jahren, trat vor. Er runzelte die Stirn, und sein Bemühen, Lady Talie nicht anzusehen, machte offenbar, dass es ihm Unbehagen bereitete, die Stimme gegen sie zu erheben.

»Erzählt uns bitte, was Ihr gehört habt«, forderte Osen den Mann auf.

Der Heiler nickte. »Eines Abends vor einigen Tagen holte ich Heilmittel aus einem Lagerraum, als ich im hinteren Teil des Raums Stimmen hörte. Eine der Stimmen gehörte Lady Talie. Ich hörte sie ziemlich deutlich sagen, dass das, was sich in einigen Kisten befände, illegal sei. Nun, das erregte meine Aufmerksamkeit, und ich hielt inne, um zu lauschen. Sie sagte ferner, dass sie nicht wissen wolle, was sich in diesen Kisten befände. Dass sie sie transportiert und einen Mann geheilt habe, bevor sie nach Hause ging.« Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Und dass irgendjemand dumm sei zu denken, ein einziger Mann könne etwas so Schweres und Großes von der Stelle bekommen.«

»Was habt Ihr danach getan?«, fragte Osen.

Jawen verzog das Gesicht. »Ich verließ den Raum und machte mich wieder an die Arbeit. Ich brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, was ich tun sollte. Einige Stunden später kam ich zu dem Schluss, dass ich Lady Vinara mitteilen müsse, was ich gehört hatte.«

»Das ist alles, was Ihr gehört habt?«

»Ja.«

»Dann soll uns das für den Augenblick genügen.« Als der Mann zu seinem früheren Platz zurückkehrte, wandte Osen sich der jungen Heilerin zu. »Lady Talie, tretet bitte vor.«

Sie gehorchte. Ihr Mund war zu einer dünnen Linie zusammengepresst, und zwischen ihren Augenbrauen stand eine Falte.

»Erklärt uns bitte, was Lord Jawen da mitangehört hat.«

Talie holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus, bevor sie antwortete. »Er hat das Wesentliche verstanden«, erklärte sie. »Ich habe tatsächlich gewissermaßen eine Kiste transportiert, die vermutlich voller illegaler Waren war – obwohl ich das nicht mit Bestimmtheit weiß. Als Lord Jawen mich belauschte, machte ich mir Sorgen, ob das bedeutete, dass ich gegen eine Regel oder ein Gesetz verstoßen hatte, und fragte eine Freundin nach ihrer Meinung.«

»Wie seid Ihr in eine Situation gelangt, in der Ihr die Legalität Eures Tuns hinterfragen musstet?«

Sie blickte zu Boden. »Ich wurde überlistet. Nun, nicht überlistet… aber ich hatte das Gefühl, als könnte ich nicht nein sagen.« Sie schüttelte den Kopf. »Was ich meine, ist, dass jemand, von dem ich wünschte, ich würde ihn nicht kennen, mich an den Ort brachte, an dem die Kisten waren; er hatte gesagt, jemand sei verletzt und brauche meine Hilfe. Er hat nicht wirklich gelogen. Es war tatsächlich jemand verletzt. Eine der Kisten war auf einen Mann gefallen, und sein Oberschenkelknochen war zerquetscht worden. Ich musste die Kiste von ihm herunterheben, damit ich ihn heilen konnte. Sobald ich das getan hatte, brachten sie mich wieder nach Hause.«

Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte Sonea. Die junge Frau hätte den verletzten Mann unmöglich sich selbst überlassen können. Natürlich hätte sie erst gar nicht mit dem Schmuggler mitgehen dürfen, aber sie war nicht aufgefordert worden, etwas Kriminelles zu tun. Doch obwohl das Heilen kein kriminelles Tun ist, könnte das Bewegen einer Kiste mit illegalen Waren als ein solches betrachtet werden.

»Eure einzige Tat bestand also darin, eine Kiste zu versetzen und einen Mann zu heilen?«, hakte Osen nach.

»Ja.«

»Und Ihr wisst nicht mit Bestimmtheit, ob die Waren darin illegal waren.«

Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Habt Ihr eine Entlohnung für Eure Hilfe bekommen?«

»Er versuchte, mir etwas zu geben, aber ich habe mich geweigert, es zu nehmen.«

»Ist das alles, was Ihr uns sagen könnt?«

Sie hielt inne, dann warf sie Lady Vinara einen unsicheren Blick zu. »Ich hätte diesen Mann auf jeden Fall geheilt. Und die Kiste von ihm heruntergenommen. Ich hätte ihn nicht so liegen lassen können.«

Osen nickte, dann wandte er sich an die Höheren Magier. »Habt Ihr irgendwelche Fragen an Lady Talie oder Lord Jawen?«

»Ich habe eine Frage an Lady Talie. Hat dieser Mann Euch schon früher um Gefälligkeiten oder Dienstleistungen gebeten?«, meldete Lord Garrel sich zu Wort.

»Nein.«

»In welcher Verbindung steht Ihr dann zu ihm?«

Talie sah Osen an und biss sich auf die Unterlippe. »Er hat für meine Familie gearbeitet und ihr gelegentlich Gefälligkeiten erwiesen, was allerdings Jahre zurückliegt. Es war, bevor irgendjemand wusste, dass er in illegale Geschäfte verstrickt war.«

»Könntet Ihr jemanden zu dem Gebäude bringen, in dem diese Waren gelagert wurden?«

»Nein. Er hat dafür gesorgt, dass die Fenster der Kutsche verhängt waren. Als wir ankamen, befand sich die Kutsche in einem großen Raum. Und selbst wenn ich wüsste, wo es war, ich bezweifle, dass die Waren noch dort sind.«

Bei dieser Bemerkung musste Sonea lächeln. Die junge Heilerin hatte wahrscheinlich recht. Aber indem sie das sagte, hatte sie auch angedeutet, dass sie mehr über Schmuggelgeschäfte wusste, als eine Magierin aus einem der Häuser wissen sollte.

Es kamen keine weiteren Fragen, daher schickte Osen Lord Jawen und Lady Talie aus der Halle. Als sie fort waren, stieß Lord Telano einen Seufzer aus.

»Das ist doch lächerlich«, sagte er. »Sie hat nur getan, was alle Heiler tun sollten. Dafür sollte sie nicht bestraft werden.«

»Sie wurde nicht bezahlt«, ergänzte Garrel. »Sie hat nicht davon profitiert. Ich sehe hier kein Unrecht.«

»Die Regel verbietet eine Beteiligung an kriminellen Taten ebenso wie den Profit daraus«, bemerkte Vinara. »Aber ich gebe Euch recht. Das Umsetzen einer Kiste kann man kaum als Beteiligung an einem Verbrechen bezeichnen.«

»Trotzdem sollten wir Magier nicht ermutigen, sich mit solchen Leuten einzulassen«, sagte Lord Peakin.

»Was, wie wir jüngst festgestellt haben, zu schwierig ist, um es zu erzwingen, und anscheinend ungerecht gegenüber einigen Mitgliedern der Gilde«, rief Garrel ihm ins Gedächtnis.

»Hat sie offenkundig eine Regel gebrochen?«, fragte Osen.

Keiner der Magier antwortete.

»Glaubt irgendjemand, dass sie bestraft werden sollte?«

Wieder meldete sich keiner der Magier zu Wort. Osen nickte. »Dann werde ich, sofern niemand mir widerspricht, erklären, dass sie gegen keine Regel verstoßen hat. Ich werde außerdem bekannt geben, dass Lord Jawen sich richtig verhalten hat, indem er das Gehörte meldete, und feststellen, dass Prüfungen der neuen Regel sinnvoll sind und ermutigt werden sollen. Wir wollen nicht, dass irgendjemand die heutige Entscheidung als Hinweis darauf deutet, dass Gefälligkeiten für zwielichtige Charaktere immer übersehen werden.«

»Denkt Ihr, Lady Talie würde diesen Mann für die Wache identifizieren und seine Geschäfte bestätigen?«, fragte Rothen, an Lady Vinara gewandt.

»Ich könnte mir vorstellen, dass ihr das widerstreben würde«, antwortete Vinara. »Wenn er genug Einfluss hatte, um sie dazu zu zwingen, dieses Lager zu betreten, dann hat er vielleicht auch genug Einfluss, um sie daran zu hindern, die Stimme gegen ihn zu erheben. Ich werde sie fragen, aber nur wenn die Wache ihrer Hilfe tatsächlich bedarf.«

»Sollte sie sich dazu bereitfinden und eine Verurteilung erzielt werden, wird das Verbrechern zur Abschreckung dienen, sich Magier zunutze zu machen«, sagte Osen. Er rief die junge Heilerin wieder herein und teilte ihr die Entscheidung mit. Sie wirkte erleichtert.

Und vielleicht ein wenig verärgert, dass sie dies über sich ergehen lassen musste, bemerkte Sonea. Osen erklärte die Versammlung für beendet, und die Höheren Magier schickten sich an, die Halle zu verlassen. Als sie von ihrem Platz herabgestiegen war, wartete Rothen auf sie.

»Was denkst du?«, murmelte er ihr zu.

»Ich denke, die neue Regel wird wirkungslos sein, was den Versuch betrifft, Magier und Verbrecher voneinander fernzuhalten«, erwiderte sie.

»Aber in der Vergangenheit wäre jemand von ihrem Rang niemals angezeigt worden, nicht einmal dann, wenn ihre Tat offensichtlich unrecht gewesen wäre.«

»Nein, aber nichts wird verhindern, dass diese Art von Vorurteilen zurückkehrt, während die Magier die Einschränkungen der neuen Regel begreifen. Ich werde erst dann davon überzeugt sein, dass es eine Verbesserung ist, wenn die Schikanen, denen Magier von niederer Herkunft ausgesetzt sind, nachlassen.«

»Denkst du, sie hätte dem Verletzten geholfen, wenn es keinen Anreiz gegeben hätte, dem Mann zu Gefallen zu sein, der sie darum gebeten hat?«

Sonea dachte über die Frage nach. »Ja, wenn auch nicht ohne eine gewisse Geringschätzung.«

Er lachte leise. »Nun, das ist jedenfalls eine Verbesserung gegenüber der Vergangenheit. Dank deiner Hospitäler hält man es nicht länger für akzeptabel, eine Heilung zu verwehren, weil der Patient sie sich nicht leisten kann.«

Sie sah ihn überrascht an. »So sehr haben die Dinge sich verändert? Aber gewiss hat Vinara nicht aufgehört, Geld von Patienten zu verlangen, die zu den Heilerquartieren kommen.«

»Nein.« Er lächelte. »Es ist eher eine Veränderung der Einstellung. Es ist nicht, nun ja, heilermäßig, jemanden zu ignorieren, über den man zufällig stolpert und der dringend der Heilung bedarf. Das heißt, wenn der Betreffende verletzt ist oder im Sterben liegt – nicht wenn er einen Kater hat oder den Winterhusten. Es ist so, als sei das Ideal, nach dem ein Heiler jetzt strebt, eine Person mit Vinaras Klugheit und deinem Mitgefühl.«

Sie starrte ihn ungläubig und bestürzt an.

Er lachte. »Ich würde liebend gern das Ende meines Lebens in dem Wissen erreichen, dass ich eine Veränderung zum Guten bewirkt habe, doch trotz all meiner Arbeit glaube ich nicht, dass es dazu kommen wird. Aber jetzt, da ich sehe, wie unbehaglich du dich bei dem Thema fühlst, frage ich mich, ob ich dafür nicht dankbar sein sollte.«

»Ihr habt etwas bewirkt, Rothen«, protestierte sie. »Ohne Euch wäre ich niemals Magierin geworden. Und was ist das für ein Gerede vom Ende Eures Lebens? Es wird noch Jahre – Jahrzehnte – dauern, bis Ihr anfangen müsst, einen Grabstein zu planen, der die Steine aller anderen in den Schatten stellt.«

Er verzog das Gesicht. »Ein schlichter Stein wird vollauf genügen.«

»Das ist gut, denn bis dahin wird es kein Gold mehr in den Verbündeten Ländern geben. Nun haben wir aber genug über Tod geredet. Regin geht zweifellos vor meiner Tür auf und ab und will wissen, wie wir uns entschieden haben, und ich würde dieses kleine Gespräch gern hinter mich bringen, damit ich vor der heutigen Nachtschicht noch ein wenig schlafen kann.«


Neun Männer ritten jetzt jeden Tag neben Achatis Kutsche her – vier sachakanische Magier, ihre Quellsklaven und einer der grauhäutigen Männer vom Stamm der Düna aus dem Norden, dessen Dienste als Fährtensucher man sich versichert hatte.

Dannyl war sich ständig bewusst, dass diese mächtigen Männer ihre behaglichen Häuser verlassen und sich der Suche aufgrund der bloßen Vermutung angeschlossen hatten, dass Lorkin und Tyvara auf dem Weg in die Berge waren und dass die Verräterinnen weiter versuchen würden, die beiden einzufangen. Wenn er sich irrte… es wäre überaus peinlich.

Falls die vier Magier an Dannyls Überlegungen zweifelten, wussten sie es gut zu verbergen. Sie und Achati hatten darüber gesprochen, wie sie sich den Bergen nähern und versuchen sollten, die Fährte aufzunehmen. An diesem Gespräch hatten sie Dannyl zwar beteiligt, ohne jedoch Zweifel daran zu lassen, dass er hier nicht das Kommando führte. Er kam zu dem Schluss, dass es das Beste sei, das zu akzeptieren, sie in allen Belangen um Rat zu fragen, aber stets klarzustellen, dass er entschlossen war, seinen Gehilfen zu finden, und sich nicht so leicht davon würde abbringen lassen.

Einer der Magier hatte Unh, den Düna, gefragt, ob er glaube, dass Lorkin und Tyvara auf dem Weg zu der Heimat der Verräterinnen seien. Der Mann hatte genickt und auf die Berge gezeigt.

Der Düna sprach nur selten, und wenn er es tat, benutzte er so wenige Worte wie möglich, um sich auszudrücken. Er trug nur einen Rock aus Tuch, über den er einen Gürtel gebunden hatte. An dem Gürtel hingen kleine Beutel, fremdartige Schnitzereien und ein Messer in einer hölzernen Scheide. Nachts schlief er im Freien, und obwohl er das Essen annahm, das die Sklaven ihm brachten, sprach er doch niemals mit ihnen oder kommandierte sie herum.

Ich frage mich, ob all seine Leute so sind. Still, wachsam…

»Woran denkt Ihr gerade?«

Dannyl blinzelte und sah Achati an. Der Sachakaner musterte ihn nachdenklich von dem gegenüberliegenden Sitz in der Kutsche.

»An Unh. Er hat so wenige Besitztümer und scheint so wenig zu brauchen. Und doch benimmt er sich nicht wie ein armer Mann oder ein Bettler. Er hat… Würde.«

»Die Düna leben seit Jahrtausenden auf die gleiche Art und Weise«, erklärte Achati. »Sie sind Nomaden und ununterbrochen auf Reisen. Ich nehme an, Ihr würdet ebenfalls lernen zu behalten, was Ihr am dringendsten braucht, wenn Ihr es ständig bei Euch tragen müsstet.«

»Warum reisen sie so viel?«

»Ihr Land ist unfruchtbar, versengt von der Asche der Vulkane im Norden. Alle paar hundert Jahre haben meine Leute versucht, das Land der Düna in ihren Besitz zu bringen, sei es durch Gewalt oder durch die Gründung von Städten und den Anspruch auf das Land, indem sie darauf siedelten. Im ersten Fall sind die Düna in den gefährlichen Schatten der Vulkane verschwunden, und in letzterem haben sie lediglich mit den Siedlern Handel getrieben und abgewartet. Es wird schnell klar, dass Ernten hier nicht wachsen und Tiere sterben, und jedes Mal hat mein Volk die Dörfer verlassen und ist nach Sachaka zurückgekehrt. Die Düna haben ihre alten Gepflogenheiten wieder aufgenommen und …« Achati brach ab, als die Kutsche um eine Biegung fuhr, und schaute aus dem Fenster. »Sieht so aus, als hätten wir unser Ziel erreicht.«

Sie beobachteten, wie niedrige weiße Mauern an der Kutsche vorbeiglitten, dann schließlich ein offenes Tor. Sobald die Kutsche anhielt, öffnete Achatis Sklave die Tür. Dannyl folgte Achati ins Freie und betrachtete den Innenhof des Gutes und die mit dem Gesicht nach unten auf dem staubigen Boden liegenden Sklaven. Der Rest der Magier, ihre Sklaven und der Düna saßen ab, und Achati trat vor, um nach dem obersten Sklaven zu fragen.

Ich frage mich, wie viele dieser Sklavinnen Verräterinnen sind, überlegte Dannyl. Auf jedem Gut, auf dem sie abgestiegen waren, hatten die Sachakaner mit Erlaubnis der Besitzer die Gedanken der Sklaven gelesen. Sie hatten erfahren, dass viele glaubten, dass einige der von Sklaven und auch einige der von Ashaki geführten Landgüter in Wahrheit unter der Kontrolle der Verräterinnen standen.

Dieses Gut wurde einem Ashaki geleitet. Dannyls Helfer waren zu dem Schluss gekommen, dass man hier am gefahrlosesten Nachforschungen anstellen konnte. Trotzdem überlief Dannyl bei dem Gedanken, dass sie sich an einem Ort befinden könnten, der von Verräterinnen kontrolliert wurde, ein kleiner Schauer der Erregung. Wenn die Sklaven alle Verräterinnen waren, bedeutete das, dass sie auch Magierinnen waren? Wenn dem so war, waren sie den Besuchern zahlenmäßig überlegen.

Aber selbst wenn sie alle Spioninnen und Schwarzmagierinnen waren, würden sie einen sehr guten Grund brauchen, um eine Gruppe zu Besuch weilender Ashaki anzugreifen. Die unausweichliche Vergeltung würde sie dazu zwingen, ihre Kontrolle über das Gut preiszugeben.

Der oberste Sklave brachte sie alle ins Herrenzimmer. Der Besitzer des Gutes, ein alter Mann, der humpelte, begrüßte sie herzlich. Als sie den Grund ihres Besuches erläuterten und erklärten, dass sie die Gedanken seiner Sklaven lesen mussten, stimmte er widerstrebend zu.

»Es ist wahrscheinlich, dass unter meinen Sklaven einige Verräterinnen sind«, gab er zu, »wenn man bedenkt, wie nah wir den Bergen sind. Aber sie scheinen eine Möglichkeit zu haben, diesen Umstand aus ihren Gedanken fernzuhalten.« Er zuckte die Achseln und deutete damit an, dass er den Versuch, sie zu entdecken, aufgegeben hatte.

Nach einer Stunde waren die Gedanken sämtlicher Sklaven bis auf einige Feldarbeiter gelesen worden. Die Ashaki in Dannyls Gefolge zogen sich in die Gästezimmer zurück, wo sie sich auf Kissen legten und über das Gehörte sprachen, nachdem sie zuerst die Sklaven weggeschickt hatten, die sie bedienen sollten.

»Gestern Abend war eine Sklavin von einem anderen Gut zu Besuch«, sagte einer der Ashaki. »Sie wollte etwas zu essen für vier Personen.«

Ein anderer nickte. »Einer der Feldarbeiter hat eine einzelne Frau ankommen und wieder weggehen sehen. Sie hat die Verpflegung zu einem Wagen mit Viehfutter gebracht.«

»Wir haben gestern Abend von diesem Karren gehört«, bemerkte Achati. »Ist es derselbe? Ist es ungewöhnlich, dass ein Karren mit Viehfutter eine solche Reise unternimmt?«

»Es ist für wohlhabendere Güter nichts Ungewöhnliches, Futter an weniger fruchtbare am Fuß der Berge zu schicken.«

»Sie sind in dem Karren«, erklärte eine neue Stimme. Alle blickten auf und sahen Unh in der Tür stehen. Er wirkte in dem Gebäude seltsam deplatziert, wie Dannyl bemerkte. Wie eine Pflanze, von der man weiß, dass sie wegen Mangel an Sonnenlicht sterben wird.

»Ein Sklave hat es mir soeben erzählt«, fuhr der Mann fort. Dann wandte er sich ab und ging davon.

Die Ashaki tauschten nachdenkliche Blicke. Keiner von ihnen hinterfragte Unhs Behauptung, wie Dannyl auffiel. Welchen Grund zu lügen hätte der Düna? Er wird dafür bezahlt, Lorkin und Tyvara zu finden.

Achati wandte sich an Dannyl. »Ihr hattet recht, Botschafter. Die Verräterinnen wollen in der Tat, dass wir sie finden, und sie haben uns endlich einen Hinweis gegeben.«

25 Die Nachrichten des Boten

Die schlichten Lederschuhe, die Sklaven trugen, waren zwar nicht so stabil wie die Stiefel, mit denen die Gilde Lorkin sein Leben lang versorgt hatte, aber dafür machten sie nur wenig Lärm. Das Bündel, das er bei sich trug, war ihm zu Anfang zu klein und zu leicht vorgekommen, aber das Gewicht schien gewachsen zu sein, seit er es das erste Mal geschultert hatte. Tyvara hatte die Führung übernommen und ging mit stetigen, gemessenen Schritten voran, während der Weg immer steiler und schwieriger wurde. Chari bildete mit untypischer Schweigsamkeit die Nachhut hinter Lorkin.

Sie hatten ihm geraten, nicht auf irgendeine offenkundige Art Magie zu benutzen, jetzt, da er sich in einem Gebiet befand, das von den Verräterinnen kontrolliert wurde. Wenn sie die Barriere wahrgenommen hatten, die er errichtet hatte, um sich zu schützen und die Luft um ihn herum warm zu halten, mussten sie zu dem Schluss gekommen sein, dass es keine offenkundige Benutzung von Magie war, da keine der Frauen etwas darüber bemerkt hatte. Obwohl er zuversichtlich war, dass die Verräterinnen ihn nicht angreifen würden, solange er mit zwei Frauen aus ihren Reihen zusammen war, hätte er doch nicht sein Leben darauf verwettet.

Sie hatten den Karren und die Straße vor einigen Stunden verlassen und wanderten zu Fuß über Hügel und durch Täler, die zunehmend steiler und steiniger wurden. Keine der Frauen sprach. Lorkin stellte fest, dass er Charis Geplapper und ihre ständigen Fragen vermisste. Tyvara zog sich immer mehr in sich zurück, je weiter sie kamen. Ihre finsteren Blicke hatten ihn mit einem vage schlechten Gewissen erfüllt, aber er war sich nicht sicher, warum.

Sie erwartet die Verurteilung durch ihre Leute, weil sie eine der ihren getötet hat, was nicht geschehen wäre, hätte sie mir nicht das Lehen gerettet.

Abrupt verlangsamte Tyvara ihren Schritt, und er blieb stehen, um nicht mit ihr zusammenzustoßen. Als er über ihre Schulter blickte, sah er, dass hinter einer Anhöhe eine Gruppe von Leuten vor zwei kleinen Hütten stand. Sie beobachteten, wie er, Tyvara und Chari näher kamen.

Die Hütten waren klein und alt und von einem niedrigen Zaun umgeben. Von den Dachsparren hingen Tierhäute, und an den Mauern lehnten mehrere Tragen, aber keiner der Versammelten sah aus wie ein Jäger. Alle trugen schlichte Kleidung aus feinem Tuch. Die meisten waren Frauen. Er bemerkte zwei Männer unter ihnen und verspürte einen Anflug von Überraschung. Nach allem, was Tyvara und Chari über ihre Leute gesagt hatten, hatte er beinahe erwartet, überhaupt keine Männer zu sehen.

Etwa hundert Schritte von der wartenden Gruppe entfernt blieb Tyvara stehen. Dann drehte sie sich zu Lorkin um und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Ich kann für dich sprechen, wenn du willst«, erbot sich Chari.

Tyvara funkelte sie an. »Ich kann für mich selbst sprechen«, blaffte sie. »Bleibt hier.« Dann drehte sie sich um und stolzierte auf ihre Leute zu, während Chari und Lorkin zurückblieben und einen verwunderten Blick tauschten.

»Habt ihr zwei euch wegen irgendetwas gestritten?«, fragte er.

Chari schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein. Warum fragst du?«

»Sie hat sich nicht so benommen, als wärt ihr Freundinnen.«

»Oh, zerbrech dir darüber nicht den Kopf.« Chari kicherte und schaute zu der Gruppe hinüber. »Sie ist nur eifersüchtig. Und sie weiß es nicht.«

»Eifersüchtig weshalb?«

Chari sah ihn hochmütig an. »Du weißt es wirklich nicht? Ich habe mich immer gefragt, wie es kommt, dass im Rest der Welt Männer das Sagen haben, obwohl sie doch ständig so begriffsstutzig sind.«

Er schnaubte leise. »Und ich brenne darauf zu erfahren, wie es den weiblichen Verräterinnen gelingt, an der Macht zu bleiben, wenn sie genauso wie Frauen überall sonst geneigt sind, sich mit indirekten Hinweisen und Anspielungen mitzuteilen.«

Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Oh, ich mag dich, Lorkin. Wenn Tyvara nicht zu sich kommt und…« Eine Stimme erklang, und sie wurde sofort wieder ernst. Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Sieht so aus, als sei es an der Zeit, dich vorzustellen.«

Er folgte ihr zu den wartenden Verräterinnen hinüber. Tyvara beobachtete sie mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. Chari sah ihre Freunde nicht an, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine Frau in mittleren Jahren, deren langes Haar von grauen Strähnen durchzogen war.

»Sprecherin Savara«, sagte sie respektvoll. Dann deutete sie mit einer anmutigen Bewegung auf Lorkin. »Lorkin, Gehilfe des Gildebotschafters Dannyl aus dem Land Kyralia.«

Die Frau lächelte. »Lord Lorkin«, sagte sie. »Falls ich mich nicht irre.«

»Du irrst dich nicht«, erwiderte er und neigte den Kopf. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Sprecherin Savara.«

Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Es ist höflich von dir, das zu sagen nach allem, was du durchgemacht hast.« Sie holte tief Luft. »Zuerst möchte ich dir von der Königin, aber auch von mir selbst, eine von Herzen kommende Entschuldigung wegen der Störung, der Furcht und der Bedrohung für dein Leben zukommen lassen. Ob Tyvaras Taten für gerechtfertigt gehalten werden sollten oder nicht, du hast eine Menge erdulden müssen, und dafür fühlen wir uns verantwortlich.«

Es schien kein guter Augenblick zu sein, um Tyvara zu verteidigen, daher nickte er nur. »Danke.«

»Wenn du zum Gildebotschafter zurückkehren willst, können wir dich seinem sicheren Schutz überstellen. Ich kann auch veranlassen, dass Führer dich an die kyralische Grenze bringen. Was würdest du vorziehen?«

»Noch einmal danke«, erwiderte Lorkin. »Ich bin mir darüber im Klaren, dass es eine Verhandlung geben wird, bei der Tyvaras Tun beurteilt werden wird, und ich würde wenn möglich gern zu ihrer Verteidigung aussagen.«

Savara zog die Augenbrauen hoch, und ein überraschtes Raunen ging durch die Reihen der Versammelten.

»Das würde bedeuten, dass man ihn ins Sanktuarium bringen müsste«, bemerkte jemand.

»Die Königin würde dem niemals zustimmen.«

»Es sei denn, wir halten die Verhandlung außerhalb des Sanktuariums ab.«

»Nein, das wäre zu gefährlich. Sollte es einen Hinterhalt geben, würden wir zu viele wertvolle Leute verlieren.«

»Niemand wird uns in einen Hinterhalt locken«, sagte Savara entschieden.

Sie drehte sich zu ihren Leuten um, und diese verfielen in Schweigen. Nachdem sie sich wieder Lorkin zugewandt hatte, musterte sie ihn nachdenklich. »Was du dir vorgenommen hast, ist bewundernswert. Ich werde darüber nachdenken. Wie viel weiß die Gilde über uns?«

Lorkin schüttelte den Kopf. »Überhaupt nichts. Nun, zumindest haben sie von mir nichts erfahren. Ich habe mich mit niemandem dort in Verbindung gesetzt.«

»Und was ist mit dem anderen Gildemagier hier?«

Er runzelte die Stirn. »Botschafter Dannyl?«

»Ja. Er ist euch gefolgt, seit ihr Arvice verlassen habt. Zusammen mit einem sehr mächtigen sachakanischen Ashaki.«

»Ich hatte auch keine Verbindung zu Dannyl«, erwiderte Lorkin mit fester Stimme. »Aber es überrascht mich nicht, dass er nach mir sucht. Er ist klug, und es ist unwahrscheinlich, dass er aufgeben wird.« Er hielt inne, während ihm die Wahrheit seiner Worte bewusst wurde. War Dannyl scharfsinnig und entschlossen genug, um ihm bis zum Sanktuarium zu folgen? »Wenn er mich bisher nicht aus den Augen verloren hat, dann geschah es ohne mein Zutun.«

»Aber zweifellos mit reichlich Hilfe von Verräterinnen«, murrte Tyvara.

Savara sah sie an. »Du hast den wahrscheinlichen Preis für das Betreten der Stadt erläutert?«

Tyvara zögerte kurz, dann wandte sie den Blick ab. »Nein. Ich hatte gehofft, dass wir eine Möglichkeit finden würden, das zu umgehen.«

Die Sprecherin runzelte die Stirn, dann seufzte sie und nickte. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Ruht euch aus und esst.«

Daraufhin zerstreute sich die Gruppe; einige der Leute gingen in die Hütten, andere setzten sich auf grobe, schmale Holzbänke, die er für einen primitiven Zaun gehalten hatte. Er, Chari und Tyvara gingen zu einer der Bänke und streiften ihre Bündel ab. Eine junge, wie eine Sklavin gekleidete Frau brachte ihnen kleine, mit Beeren gebackene Kuchen. Als er ihr dankte, lächelte sie.

»Lorkin«, sagte Tyvara.

Er wandte sich zu ihr um. »Ja?«

»Du solltest Savaras Angebot annehmen. Kehr nach Kyralia zurück.«

»Nicht nach Arvice?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich… ich vertraue der anderen Partei nicht. Sie könnten abermals versuchen, dich zu töten.«

»Und wie willst du beweisen, dass sie es schon einmal versucht haben?«

Sie presste die Lippen zusammen. »Ich werde ihnen erlauben, meine Gedanken zu lesen.«

Er hörte, wie Chari scharf die Luft einsog. »Das kannst du nicht tun«, zischte sie. »Du hast es versprochen…« Sie sah Lorkin an, dann biss sie sich auf die Unterlippe.

Tyvara seufzte. »Wir werden eine Möglichkeit finden, es zu vermeiden«, sagte sie zu Chari. An Lorkin gewandt, fügte sie hinzu: »Der Preis, von dem Savara gesprochen hat… Wenn du ins Sanktuarium kommst, besteht die Möglichkeit, dass man dir nicht gestatten wird, wieder fortzugehen. Wärst du bereit, den Rest deines Lebens dort zu bleiben?«

Er starrte sie ungläubig an. Den Rest seines Lebens? Niemals Mutter oder Rothen oder seine Freunde wiedersehen?

»Du hast es ihm nicht gesagt?«, fragte Chari, und ihre Stimme klang schockiert und ungläubig.

Tyvara wandte sich errötend ab. »Nein. Ich konnte ihn nicht nach Arvice zurückschicken. Irgendjemand hätte versucht, ihn zu töten. Ich wusste, sobald ich jemanden von unserer Partei fand, würde er in Sicherheit sein.« »Partei?«

»Lorkin hat den Ausdruck verwendet. Ich spreche von jenen von uns, die der gleichen Meinung sind wie die Königin und Savara, was die… meisten Dinge betrifft.«

Chari nickte. »Eigentlich kein schlechter Ausdruck.« Sie sah ihn an. »Wir haben es vermieden, uns irgendeinen Namen zu geben, weil das bedeutete, dass es einen Riss innerhalb der Verräterinnen gibt, und wenn wir den beiden Seiten Namen gäben, würde das die Leute nur dazu ermutigen, nun, für eine Seite Partei zu ergreifen.« Sie drehte sich zu Tyvara um. »Sie werden vielleicht nicht wollen, dass Lorkin bleibt, da er einer der Gründe für den Riss ist.«

»Niemand von der anderen Seite wird ihm genug vertrauen, um ihn gehen zu lassen, sobald er weiß, wo die Stadt sich befindet. Und ich denke, das Gleiche wird für die meisten Vertreter unserer Seite gelten.«

»Dann verbinden wir ihm die Augen und sorgen dafür, dass er die Stadt nicht wiederfinden kann.«

Tyvara seufzte. »Wir wissen alle, wie gut das beim letzten Mal funktioniert hat.«

»Beim letzten Mal war es ein Sachakaner, und er war ein Spion«, bemerkte Chari. »Bei Lorkin liegt der Fall anders. Und wie soll das Sanktuarium jemals Bündnisse mit anderen Nationen schließen und Handelsabkommen treffen, wenn wir niemals Besucher in die Stadt hinein- und wieder herauslassen?«

Tyvara öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. »Es ist noch zu früh dafür«, sagte sie. »Wir können nicht einmal einander trauen, geschweige denn Fremdländern.«

»Nun, irgendwann müssen wir damit anfangen.« Chari wandte den Blick ab. »Du hast ihn bis hierher gebracht, und jetzt willst du ihn wegschicken. Ich denke, du hast zu große Angst, für irgendjemanden die Verantwortung zu übernehmen.«

Tyvara riss den Kopf hoch und funkelte ihre Freundin an. »Das ist…« Aber sie unterbrach sich. Ihre Augen wurden schmal. Sie stand auf, stolzierte davon und nahm einige Schritte entfernt wieder Platz. Chari seufzte.

»Keine Sorge«, sagte sie zu Lorkin. »Sie ist nicht immer so mürrisch.« Sie sah ihn an und lächelte. »Ich meine es ernst. Wenn sie nicht gerade krank vor Sorge ist, ist sie klug, witzig und recht liebenswert. Und anscheinend ziemlich gut unter der Decke, wie wir hier sagen.« Sie zwinkerte, dann wurde sie wieder ernst. »Wenn auch wählerisch. Nicht irgendein Mann für unsere Tyvara. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.«

Er sah sie an, überrascht über diesen plötzlichen und unerwarteten Strom persönlicher Informationen, dann blickte er zu Boden und hoffte, dass seine Erheiterung und Verlegenheit nicht allzu offenkundig waren. Also, dies ist noch ein Punkt, in dem sich Verräterinnen von kyralischen Frauen unterscheiden. Er dachte an einige der Frauen zurück, mit denen er im vergangenen Jahr das Bett geteilt hatte. Nun, vielleicht sind sie doch nicht so anders, aber gewiss gehen sie offener damit um.

Was allerdings die Frage betraf, warum Chari versuchte, ihn zu beruhigen…

Plötzlich verstand er, was Chari ihm zu sagen versucht hatte. Sie dachte, zwischen ihm und Tyvara gebe es eine Art romantischer Beziehung. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Nun, es hat tatsächlich einen Anflug davon gegeben, auf eine bedauerlich einseitige Weise. Seit er Tyvara das erste Mal begegnet war, hatte er sie reizvoll gefunden. In der Nacht, in der er beinahe ermordet worden wäre, hatte er gedacht, sie sei die Frau in seinem Bett, und der Gedanke hatte ihm sehr gefallen.

Chari scheint nicht zu glauben, dass es einseitig ist. Hat sie recht?

Er warf einen verstohlenen Blick auf Tyvara. Sie hatte sich wieder erhoben und schaute, die Stirn in Sorgenfalten gelegt, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Als er sich umdrehte, sah er, was sie betrachtete. Zwei Frauen liefen den Pfad hinauf. Als sie vorbeikamen, hörte Lorkin, dass sie vor Anstrengung keuchten.

Sie verschwanden in einer Hütte, und ein Augenblick angespannten Schweigens folgte, während alle abwarteten, dann kam Savara heraus, gefolgt von einer Handvoll Verräterinnen und den beiden Frauen. Sie sagte etwas, und sofort verblassten die Lichtkugeln zu einem schwachen Schimmer.

»Wir müssen alle sofort aufbrechen«, erklärte sie. Sie schaute von einem zum anderen, bis ihr Blick schließlich auf Lorkin ruhte. »Die Magier, die Lord Lorkin suchen, kommen in diese Richtung, und sie sind jetzt zu sechst, einschließlich des Kyraliers. Teilt euch in drei Gruppen auf. Jede Gruppe wird von hier aus einer anderen Route folgen. Tyvara, Lorkin und Chari, ihr solltet mit mir kommen.«

Lorkin erhob sich und eilte auf sie zu. »Wenn ich mit Botschafter Dannyl rede, kann ich ihn gewiss davon überzeugen, die Suche einzustellen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihn könntest du vielleicht überzeugen, aber bei den anderen wird dir das nicht gelingen, wenn sie denken, dass sie uns diesmal vielleicht fangen können. Außerdem haben sie einen Mann bei sich – einen Fährtensucher –, der Erfolg haben könnte, wo andere gescheitert sind.« Sie lächelte grimmig. »Es tut mir leid. Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber das Risiko ist zu groß.«

Lorkin nickte. Die Leute um ihn herum packten hastig zusammen und räumten alle Spuren ihrer Anwesenheit fort. Eine Frau begann den Boden zu fegen, aber Savara hielt sie auf.

»Es hat keinen Sinn, sämtliche Spuren zu verbergen. Wir wollen, dass sie sich entweder aufteilen oder der falschen Fährte folgen.« Sie musterte Lorkin von Kopf bis Fuß. »Findet jemanden, dessen Füße von ähnlicher Größe sind wie seine, und lasst sie die Schuhe tauschen.«

Schon bald hatten die Verräterinnen drei Gruppen von beinahe gleicher Größe gebildet. Savara befahl ihnen, bis zum Morgen zu wandern, ohne ihre Spuren zu verwischen, und sich dann mit den üblichen Vorsichtsmaßnahmen auf den Weg zum Sanktuarium zu machen. Leise verabschiedeten sie sich von den anderen Gruppen, dann brachen sie auf. Lorkin kletterte mit Savaras Gruppe die steile Seite des Tals empor. Seine Aufmerksamkeit galt verschiedenen Fragen gleichzeitig: Er überlegte, ob sein Verdacht in Bezug auf Tyvara der Wahrheit entsprach, er brannte darauf zu erfahren, wie Savaras Entscheidung ausfallen würde, und er machte sich Sorgen, dass Dannyl und die Sachakaner sie einholen würden.

Und wenn letzterer Fall eintraf, was würden die Sachakaner dann tun? Was würden die Verräterinnen tun? Würde es zu einem Kampf kommen? Er wollte nicht, dass jemand seinetwegen starb. Nun, nicht noch jemand, räumte er ein.

Wenn es zum Kampf kam, was sollte er tun? Würde er sich Dannyl anschließen, um eine Schlacht zu vermeiden, oder würde er sich auf die Seite der Verräterinnen stellen, damit er Tyvara vor einer Hinrichtung retten konnte?


Cery drehte sich zu langsam, um dem Messer schnell und weit genug auszuweichen, das sich nun in seine Rippen drückte. Er hörte, dass Anyi ein leises Schnauben des Triumphs von sich gab.

»Gut«, sagte er und verkniff sich ein Lächeln, als er sie losließ und zur Seite trat. »Jetzt hast du’s begriffen.«

Sie grinste und nahm das hölzerne Übungsmesser wieder in die linke Hand.

»Obwohl du ein wenig zu hoch gezielt hast«, erklärte er ihr. »Du bist es gewohnt, mit Gol zu üben.«

»Ich hätte dich trotzdem geschnitten«, bemerkte sie.

»Ja, doch dein Messer wäre vielleicht an meinen Rippen abgeglitten.« Cery klopfte auf den unteren Teil seiner Brust, wo kurz zuvor ihr Messer gewesen war. »Was keine der fünf Schwachstellen ist. Augen, Kehle, Magen, Lenden, Knie.«

»Manchmal ist es besser, einem Angreifer die Knie zu zerschmettern und wegzulaufen, statt zu versuchen, ihm einen Dolch ins Herz zu rammen«, sagte Gol. »Es kann schwierig sein, das Herz zu treffen. Rippen könnten die Waffe ablenken. Wenn du dein Ziel verfehlst, kann er dich verfolgen. Wenn du seine Knie erwischt hast, kann er das nicht mehr. Und er wird es vielleicht nicht erwarten.«

»Ein Stich in die Eingeweide wird ebenfalls langsam töten«, ergänzte Cery. »Es macht nicht viel Spaß, verschafft dir aber genug Zeit, um es in Ruhe noch einmal zu versuchen.«

»Und du solltest nur dann töten, wenn du den Befehl dazu hast«, fügte Gol hinzu.

»Ich sollte dich mit kleineren Personen üben lassen.«

»Und mit jüngeren«, sagte Anyi. Gol schnaubte, und sie wandte sich zu ihm um. »Komm schon. Ihr seid beide nicht mehr so schnell, wie ihr mal wart, und wenn irgendjemand jemanden auf deine Fährte hetzt, wird er wohl kaum einen alten Auftragsmörder aus dem Ruhestand holen, um dir eine faire Chance zu geben.«

Gol kicherte. »Sie hat nicht unrecht.«

Es klopfte an die Tür, und sie drehten sich alle um. Sie befanden sich in einem der oberen Lagerräume eines Bolhauses, das Cery gehörte und das als »Die Mühle« bekannt war. Es war ein Ort, an dem er sich mit Personen aus seinem Territorium treffen konnte, die eine Audienz erbeten hatten. Die Geschäfte mussten weitergehen, und das bedeutete, dass er ab und zu zur Verfügung stehen musste. Wie bei all seinen Häusern gab es auch aus diesem jede Menge Fluchtwege.

Cery nickte Gol zu, der durch den Raum schritt, um die Tür zu öffnen. Der große Mann hielt inne, dann trat er beiseite. Im Eingang stand ein untersetzter, massiger Mann, der schon seit Jahren für Cery arbeitete.

»Ein Bote ist hier, um mit dir zu sprechen«, sagte er. »Von Skellin.«

Cery nickte. »Schick ihn herein.«

Gol nahm links von Cery Aufstellung, die Arme in seiner typischen beschützenden Pose über der Brust verschränkt. Anyi kniff die Augen zusammen, dann ging sie an Cery vorbei, um rechts von ihm Position zu beziehen. Als er sie ansah, erwiderte sie seinen Blick voller Trotz und forderte ihn heraus, ihr Tun infrage zu stellen. Er erstickte ein Lachen.

»Habe ich gesagt, der Unterricht sei vorüber?«, fragte er und blickte zwischen ihr und Gol hin und her. Sein Leibwächter blinzelte, dann sah er Anyi an. »Zurück an die Arbeit«, befahl Cery.

Er beobachtete, wie sie dorthin zurückkehrten, wo sie geübt hatten. Gol sagte etwas, worauf Anyi die Achseln zuckte und dann in Kampfstellung ging. Gut, dachte Cery. Falls Skellins Bote berichtet, dass ich einen neuen, weiblichen Leibwächter habe, kann er geradeso gut auch über ihre Fähigkeiten Bericht erstatten. Ich kann sie nicht für immer verstecken. Wenn irgendjemand mitbekommt, dass ich jemanden versteckt halte, wird er annehmen, dass es einen Grund dafür gibt, und anfangen, Fragen zu stellen.

Trotzdem kribbelte seine Haut, als eine Gestalt in die Tür trat. Es war eine Sache zu wissen, dass geliebte Menschen in Gefahr waren, weil man war, wer man war, aber eine ganze andere, sie tatsächlich in eine Position zu bringen, in der beträchtliche Gefahr herrschte.

Skellins Bote war hager und hochgewachsen und hielt sich mit der ständigen Gespanntheit eines Läufers. Er sah Cery in die Augen und nickte höflich. Dann wanderte sein Blick zu Gol und Anyi, wobei Letztere gerade zu einem Angriff losgesprungen war. Gol konterte geschickt, aber sie brachte sich anmutig außer Reichweite.

Wie Cery erwartet hatte, leuchtete in den Augen des Boten ein Funke Interesse auf, aber in seiner Miene stand mehr als nur professionelle Einschätzung. Plötzlich bedauerte Cery, dass er Anyi und Gol aufgetragen hatte, an die Arbeit zurückzukehren. Es kostete ihn große Anstrengung, einen gelassenen Gesichtsausdruck und eine entspannte Haltung beizubehalten.

»Du hast eine Nachricht für mich?«, fragte er.

»Du bist Cery von der Nordseite?«, fragte der Mann zurück, obwohl in seiner Stimme kein Zweifel lag. Es war eine Formalität.

»Ja.«

»Skellin hat mir aufgetragen, dir mitzuteilen, dass er die Beute gefunden hat und eine Falle stellen will. Wenn du heute Abend bei Sonnenuntergang deine Freunde in die alte Schlachterei in der Inneren Westseite bringst, können sie ihr neues Schoß tier in Besitz nehmen.«

Cery nickte. »Danke. Wir werden dort sein. Du kannst gehen.«

Der Mann machte eine leichte Verbeugung, dann verließ er den Raum. Gol ging zur Tür und schloss sie, bevor er sich umdrehte und Cery ernst betrachtete. »Du hast nur wenige Stunden Zeit.«

»Ich weiß.« Cery runzelte die Stirn. »Und meine Freundin wird noch nicht an ihrem Arbeitsplatz sein.«

»Sie werden von dort eine Nachricht an die Gilde schicken.«

»Die Gilde?«, wiederholte Anyi. Sie sah Cery durchdringend an. »Was geht hier vor? Ist das die Angelegenheit, von der du mir noch nichts erzählen konntest?«

Cery und Gol tauschten einen Blick. Der Leibwächter nickte knapp.

Sie hatten seit dem Treffen mit Skellin darüber gesprochen, wann sie Anyi einweihen sollten. Wenn sie ihr von der wilden Magierin erzählten – insbesondere, dass sie vermuteten, sie sei der Jäger der Diebe und die Mörderin seiner Familie –, würde sie mitkommen und zusehen wollen, wie die Frau gefangen wurde. Wenn er ihr befahl zurückzubleiben, würde sie ihm wahrscheinlich zuwiderhandeln und akzeptieren, dass er sie später dafür bestrafte.

Sie hatte es sich keineswegs zur Gewohnheit gemacht, ihm zu trotzen, aber bei etwas so Großem würde sie es tun. Er an ihrer Stelle würde es jedenfalls. Er konnte ihr einfach nicht von der wilden Magierin erzählen, aber es bestand trotzdem die Möglichkeit, dass sie sich davonschleichen und ihm folgen würde, nur um es herauszufinden. Und wiederum, es war das, was er selbst getan hätte.

Also waren er und Gol zu dem Schluss gekommen, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als sie bei der Gefangennahme der wilden Magierin einzubeziehen, indem sie ihr eine relativ ungefährliche Aufgabe zuwiesen. Einmal mehr würde sie eine seiner Schattenwachen sein. Diesmal würde sie um die Natur der Beute, auf die sie Jagd machten, wissen müssen. Bei diesem Feind half es nicht, sich einfach in den Kampf zu stürzen, falls etwas schiefging. Einen Magier mit dem Messer anzugreifen war sinnlos und selbstmörderisch.

»Ja, die Gilde. Es wird Zeit, dass du erfährst, womit wir es zu tun haben«, eröffnete ihr Cery. »Aber zuerst muss ich einige Nachrichten ausschicken. Es gibt drei Dinge, die du aus der heutigen Nacht lernen wirst: Selbst der mächtigste Dieb hat Grenzen, es zahlt sich aus, Freunde an hoher Stelle zu haben, und es gibt einige Dinge, die man am besten Magiern überlässt.«


Zwischen dem Moment, in dem Sonea an die Tür von Administrator Osens Büro klopfte, und dem, als sie endlich aufschwang, geschah lange Zeit gar nichts. Als Osen sie hereinbat, war sein Blick leicht abwesend.

»Schwarzmagierin Sonea, Lord Rothen«, sagte er zögernd. »Ich habe Euch hierhergerufen, weil Botschafter Dannyl und die Sachakaner, die sich erboten haben, ihm zu helfen, kurz davor stehen, Lord Lorkin und seine Entführer einzufangen.«

Soneas Herz hörte zu schlagen auf, dann begann es zu rasen. Sie öffnete den Mund, um zu fragen… Was? Was sollte sie als Erstes fragen? Wo war Lorkin? Verstanden die Sachakaner, dass sie ihn nicht töten durften?

»Wie lange wird es noch dauern, bis sie es tun?«, fragte Rothen.

»Dannyl kann es nicht genau sagen. Eine halbe Stunde. Vielleicht weniger. Ihr solltet es Euch besser bequem machen.«

Osen setzte sich hinter seinen Schreibtisch, und sie und Rothen benutzten Magie, um zwei Armsessel vor den Schreibtisch zu bewegen. Osen blickte ins Leere.

Er ist durch einen Blutring mit Dannyl verbunden, vermutete sie. Was kann er sehen? Sie wollte verlangen, dass er alles, was er beobachtete, detailliert beschrieb, doch stattdessen holte sie tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus.

»Ihr habt von Entführern im Plural gesprochen«, bemerkte sie. »Ist mehr als eine Person an der Entführung beteiligt?«

Osen hielt inne, und sein Blick wanderte zu einem Punkt weit jenseits der Wände des Büros. »Ja. Mehrere Verräterinnen. Unh denkt, es sind acht.«

»Unh?«

Der Administrator konzentrierte seinen Blick mit einiger Mühe auf Sonea. »Ein Mann vom Stamm der Düna. Er ist ihr Fährtensucher. Anscheinend macht er seine Sache ziemlich gut. Einen Moment…« Seine Miene veränderte sich, und ein eifriger Ausdruck trat in seine Züge. »Sie können sie sehen. Nur ganz flüchtig…«

Er schwieg und starrte qualvoll lange Augenblicke das Schreibpult an, ohne es zu sehen. Sonea wurde bewusst, dass sie die Armlehnen ihres Sessels umklammert hielt. Sie zwang sich, sich zu entspannen, und faltete stattdessen die Hände im Schoß.

»Ah.« Osen ließ vor Enttäuschung die Schultern sinken.

»Was?«, fragte Rothen. Sonea sah ihn an. Er beugte sich mit großen Augen vor.

Osen schüttelte den Kopf. »Er ist nicht da. Nicht bei dieser Gruppe. Sie folgen der falschen Spur – den falschen Leuten.« Er holte Luft, hielt den Atem an und seufzte schließlich. »Es gab anscheinend drei Spuren. Sie dachten, er sei bei dieser Gruppe, aber sie haben sich geirrt. Sie werden umkehren und es mit einer anderen Spur versuchen müssen.«

Sonea stieß einen frustrierten Seufzer aus. Rothen stöhnte und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Schweigen erfüllte den Raum. Niemand sprach. Osens Blick war wieder in die Ferne gerichtet. Rothen massierte sich die Stirn.

Dann zuckten sie alle zusammen, als ein lautes Klopfen an der Tür ertönte.

Osen machte eine Handbewegung. Die Tür wurde geöffnet, und ein Heiler trat ein. Der junge Mann sah Sonea an, lächelte und eilte dann auf sie zu. In der Hand hielt er ein Stück Papier.

»Verzeiht die Störung, Administrator«, sagte er. »Ich habe eine dringende Nachricht für Schwarzmagierin Sonea.«

Sie nahm das Papier von ihm entgegen und nickte zur Antwort, als er eine knappe Verbeugung machte. Dann eilte er aus dem Raum. Als die Tür geschlossen war, blickte sie auf die Notiz hinab und faltete sie auseinander.

Euer Freund in der Stadt sagt, sein Freund habe gefunden, worauf Ihr aus seid. Ihr müsst bis Sonnenuntergang bei der alten Schlachterei in der Inneren Westseite sein. Bringt Euren anderen Freund mit.

Wäre sie in besserer Stimmung gewesen, hätte sie über die vage und recht törichte Formulierung gelacht. Aber dies war das Letzte, was sie brauchte. Wie konnte sie in die Stadt davonstürmen, um die wilde Magierin zu fangen, wenn Lorkin jeden Augenblick gefunden werden konnte?

Eine Hand bewegte sich vor ihrem Gesicht und nahm ihr die Nachricht ab. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, aber es war nur Rothen. Er überflog die Notiz, sah Sonea an und kniff nachdenklich die Augen zusammen.

»Wie lange dauert es, bis sie an die Stelle zurückgekehrt sind, an der die Spuren sich getrennt haben?«

»Einige Stunden«, antwortete Osen, den Blick immer noch auf weit entfernte Dinge gerichtet.

»Und dann noch einige weitere, bevor sie die gleiche Strecke auf der anderen Spur zurückgelegt haben. Sollen wir dann zurückkehren?«

»Natürlich.« Osen schüttelte sich aus seiner Trance und sah seine beiden Besucher an. »Es tut mir leid. Diese Blutsteine erfordern eine bemerkenswert große Konzentration. Ich sollte Dannyl den Ring abnehmen lassen, bis er abermals kurz davorsteht, Lorkin zu finden.« Er machte eine Handbewegung. »Geht.«

Rothen erhob sich, dann sah er sie erwartungsvoll an. Sonea stand widerstrebend auf. Wie kann ich jetzt fortgehen? Aber es wird noch Stunden dauern. Ich kann nicht hier herumsitzen und abwarten, während die wilde Magierin entkommt. Und wenn wir nicht auftauchen und Cery die wilde Magierin selbst stellt, könnte er verletzt werden.

Sie zwang sich, sich zu bewegen, und folgte Rothen zur Tür und dann in den Flur hinaus. Lange Schatten zeichneten das Gelände der Gilde vor den Türen der Universität. Der Heiler wartete auf sie und lächelte nervös, als er sie bemerkte. Rothen winkte dem Mann zu.

»Hat jemand Lord Regin verständigt?«, murmelte er.

Der junge Mann runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Rothen wandte sich an Sonea. »Die Sonne wird bald untergehen. Du solltest dich besser sofort auf den Weg machen. Ich werde Regin finden und ihn zu dir ins Hospital schicken.«

Das Hospital. Natürlich. Ich kann nicht direkt zur Inneren Westseite gehen. Das bedeutet, dass wir wirklich nicht viel Zeit haben…

Endlich wurde ihr die Dringlichkeit ihrer Mission bewusst, und sie scheuchte Rothen weg. »Sagt ihm, er soll direkt dorthin gehen.« Dann wandte sie sich an den Heiler. »Seid Ihr mit einer Kutsche gekommen?«

Er nickte. »Sie steht draußen für Euch bereit.«

»Guter Mann.« Sie lächelte und rieb sich die Hände. »Dann sollten wir aufbrechen.«

26 Eine lange Nacht

Es war Unh gewesen, der die verstreuten Halme neben der Straße bemerkt hatte. Er sagte, es könne sich dabei um Futter handeln, das aus einem Karren gefallen war, als er an dieser Stelle Halt gemacht hatte. Die Ashaki hatten der Angelegenheit nicht weiter nachgehen wollen, weil sie darauf erpicht waren, dem Karren zu folgen, aber Achati hatte sich auf die Seite des Düna geschlagen und die anderen scherzhaft daran erinnert, dass sie Unh nicht eingestellt hatten, um jemanden zu haben, den sie ignorieren konnten.

Der Düna fand die Fährten von drei Personen – eines Mannes und zweier Frauen in Sklavenschuhen –, die von der Straße wegführten.

»Diesen Abdruck habe ich auch am letzten Ort gesehen«, erklärte Unh ihnen und deutete auf eine leichte Vertiefung in dem sandigen Boden. »Die Form ist länger und schmäler als bei einem sachakanischen Fuß.«

Sie waren alle von Unh beeindruckt gewesen. Jetzt waren sie nicht so zufrieden mit ihm. Sie hatten die Kutsche und die Pferde mit Achatis Fahrer zum nächsten Gut vorausgeschickt und den Weg zu Fuß fortgesetzt. Nachdem sie die Gerberhütten gefunden hatten, waren sie einer der drei klaren Spuren gefolgt, die von dort wegführten. Sie hatten es eilig gehabt, weil die Sonne dem Horizont entgegengesunken war. Lange Schatten und Zwielicht hätten es schwierig für den Fährtensucher gemacht, die feineren Einzelheiten der Fußabdrücke und anderer Spuren zu erkennen, denen er folgte. Die Sachakaner schufen kein Licht für ihn, da man sie in dieser offenen Landschaft schon von weitem hätte sehen können. Niemand machte sich jedoch Sorgen, da die Fährte noch klar genug war, um ihr folgen zu können.

Mit einem Aufwallen von Triumph hatte Dannyl die Gestalten in der Ferne ausgemacht. Aber das Gefühl war nicht von langer Dauer gewesen. Es hatte sich in Bestürzung verwandelt, als ihm klar geworden war, dass Lorkin nicht zu dieser Gruppe gehörte.

Viele Flüche waren gefolgt. Die Verräterinnen, die sie aufgespürt hatten, waren zu weit entfernt, als dass sie sie hätten fangen und befragen können. Das hätte zu viel Zeit gekostet, so dass Dannyl und seine sachakanischen Helfer zu den Hütten zurückgeeilt waren. Inzwischen war es Nacht, und es ließ sich nicht länger vermeiden, ein Licht für den Fährtensucher zu schaffen. Um das Licht dorthin zu richten, wo er es brauchte, mussten sie dicht hinter Unh bleiben, und mehrmals zertrampelten sie die Spuren, nach denen der Fährtensucher Ausschau hielt. Auf diese Weise kamen sie nur langsam und unter Mühen vorwärts, und als Unh einige Stunden später die Fährte vollends verlor, beschloss Achati, dass sie für die Nacht ein Lager aufschlagen und nach Sonnenaufgang weitergehen sollten.

Die Sklaven ließen ihre Lasten mit offenkundiger Erleichterung fallen. Aber obwohl sie augenscheinlich erschöpft waren, waren ihre Herren noch anspruchsvoller als gewöhnlich. Die Ashaki stöhnten und jammerten und ließen sich von ihren Sklaven Beine und Füße massieren. Zuerst war Dannyl verwirrt, dann erinnerte er sich daran, dass die eine Art von Magie, über die die Sachakaner nicht verfügten, die Kenntnis der Heilkunst war. Während er seine Schmerzen und zahlreiche Blasen geheilt hatte, war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als zu leiden.

Mir war überhaupt nicht klar, was für ein großer Vorteil das für uns ist. Es könnte ein bedeutsamer Vorteil sein, sollten unsere Länder jemals wieder gegeneinander kämpfen. Wenn wir beide einen langen Marsch auf uns nehmen müssen, um unseren Feind zu treffen, werden die Sachakaner diejenigen sein, die müde von der Anstrengung sind und unter Schmerzen leiden.

Der Düna erhob sich abrupt und verkündete, dass er versuchen wolle, die Fährte wiederzufinden. Dannyl stand auf.

»Möchtest du ein wenig Hilfe?«

Der Mann lächelte schwach und zuckte die Achseln. »Zwei Augenpaare sehen mehr als eins«, erwiderte er rätselhaft.

Dannyl sah Achati an. »Braucht Ihr mich hier?«

Der Magier schüttelte den Kopf. »Geht nur. Ich würde Euch raten, einen Schild um Euch beide herum aufrechtzuerhalten. Die Verräterinnen könnten uns beobachten. Sie werden es vielleicht nicht wagen, jemanden zu töten, aber wenn sie einen von uns verletzten, mussten wir uns aufteilen oder kämen langsamer voran.«

Als Dannyl Unh aus dem Lager folgte, schuf er eine Lichtkugel und ließ sie über dem Kopf des Mannes schweben. Er versuchte immer genau dort hinzutreten, wo der Düna hintrat, damit er auf keinen Fall irgendwelche anderen Spuren als die von Unh zertrampelte. Außerdem blieb er mehrere Schritte hinter dem Mann. Der Abstand zwischen ihnen machte es zu einer beträchtlichen Herausforderung, sie beide innerhalb eines Schildes zu behalten.

Die Sachakaner hatten ihr Lager in einer Senke zwischen zwei Höhenzügen aufgeschlagen. Unh ging um den kürzeren Ausläufer einer Anhöhe herum, ohne den Blick vom Boden zu heben. Nach einigen Schritten hockte er sich hin, starrte auf die Erde, blickte dann zu Dannyl auf und winkte ihn heran.

Dannyl trat näher und betrachtete die Stelle, auf die Unh deutete.

»Seht her«, sagte der Mann. »Auf diesen Stein ist jemand getreten, dann hat er ihn zurück in die Erde gestoßen. Ihr könnt erkennen, in welche Richtung er ging. In Gehrichtung vorn ist eine kleine Rinne in der Erde zurückgeblieben, und hinten ist etwas Erde aufgeworfen.«

Jetzt, da der Mann ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, war es ziemlich offenkundig.

»Woher weißt du, dass es ein Mensch war und kein Tier?«

Unh zuckte die Achseln. »Ich weiß es gar nicht. Aber es müsste ein großes Tier gewesen sein, und die meisten von denen sind schon vor langer Zeit ausgerottet worden.«

Er erhob sich und machte sich auf die Suche nach weiteren Spuren. Dannyl folgte ihm, ganz darauf konzentriert, den Schild aufrechtzuerhalten, die Lichtkugel zu lenken und nur dort hinzutreten, wo der Düna hintrat. Wieder und wieder machten sie Halt, und Unh deutete auf ein Stofffetzchen, das sich an einem der wenigen verkrüppelten Bäume verfangen hatte, oder auf deutliche Fußabdrücke an einer sandigen Stelle. Manchmal verbrachte Unh lange Augenblicke damit, den Boden zu untersuchen, und Dannyl nutzte die Gelegenheit, um sich umzuschauen, wobei er versuchte, sich nicht vorzustellen, dass jemand sie aus der Dunkelheit heraus beobachtete. Während eines dieser Augenblicke schaute Dannyl zur Seite, und ihn überlief ein Schaudern.

»Ist das eine Höhle?«, fragte er und deutete auf einen Spalt in dem steilen Hang.

Unh erhob sich und näherte sich der dunklen Öffnung im Fels. Dabei fuhr er fort, den Boden abzusuchen.

»Hier ist noch niemand entlanggegangen«, sagte er. Er berührte eine Seite der Öffnung. »Dies ist vor nicht allzu langer Zeit geschehen.«

Er winkte, und Dannyl eilte herbei. Gemeinsam spähten sie in die Dunkelheit. Dannyl zog Magie in sich hinein und schuf ein weiteres Licht, das er in die Höhle sandte. Steine füllten den unteren Teil des Spalts aus, der nach unten abfiel, bevor er wieder eben wurde. Von den Seitenwänden war nur ein kurzes Stück zu sehen, bevor sie im Dunkeln verschwanden.

»Dort drin ist ein größerer Raum. Wollt Ihr nachsehen?«, fragte Unh.

Dannyl blickte zurück in Richtung Lager, das weit außerhalb ihrer Sichtweite war, dann nickte er. Unh grinste, ein Gesichtsausdruck, der so gar nicht zu seiner gewohnten würdevollen Zurückhaltung passte. Ein Kribbeln durchlief Dannyl, nicht unähnlich der Erregung, die er vor so langer Zeit verspürt hatte, als er mit Tayend die Verbündeten Länder erkundet hatte.

Unh deutete auf die Öffnung. »Ihr zuerst.«

Dannyl lachte leise. Natürlich. Sollten sie ein wildes Tier überraschen oder auf Verräterinnen stoßen, waren seine Überlebenschancen höher als die des Düna.

Die Steine auf dem Boden waren locker, so dass er halb in den Spalt hineinrutschte. Als er sich umschaute, sah er nur Dunkelheit und die Andeutung von Wänden überall um sich herum. Er hielt inne, als Unh sich zu ihm gesellte, dann machte er sein Licht heller.

Und duckte sich, als Wände glitzernder Edelsteine vor ihm aufleuchteten. Ein Geräusch hallte in dem Raum wider, und ihm wurde klar, dass er einen wortlosen Ausruf der Furcht ausgestoßen hatte.

Keine unbarmherzigen magischen Angriffe kamen. Ihm wurde bewusst, dass er schwer atmete und dass sein Herz in der Brust hämmerte.

»Ihr habt so etwas schon einmal gesehen«, stellte Unh fest. Er musterte Dannyl interessiert.

Dannyl sah ihn an. »Ja.« Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Seine Reaktion war offenkundig gewesen.

»Das hier ist nicht gefährlich.«

Der Mann sprach mit Zuversicht und Autorität. Jetzt war es an Dannyl, seinen Gefährten neugierig zu betrachten. »Du weißt, was das ist?«

Unh nickte und sah sich um, und seine Miene war wissend und glücklich. »Ja. Diese Steine haben keine Macht. Sie sind nicht dazu geschaffen worden, Macht zu haben. Sie sind natürlich. Sicher.«

»Also wurden die Steine an dem Ort, an dem ich früher war, dazu geschaffen, gefährlich zu sein?«

»Ja. Von Menschen. Wo war dieser Ort?«

»In Elyne. Unter einer uralten Ruinenstadt.«

Unh nickte abermals. »In den Bergen hier lebte einst ein Volk. Es wusste um das Geheimnis der Steine. Aber es ist fort. Alle Dinge enden.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht alle«, korrigierte er sich. »Einige Geheimnisse haben die Düna bewahrt.«

»Du weißt, wie man Edelsteine mit Magie darin macht?«

»Nicht ich. Einige von meinem Volk. Die Vertrauenswürdigen.« Seine Miene verdüsterte sich. »Und die Verräterinnen. Vor langer Zeit kamen sie und schlossen einen Pakt. Aber sie haben ihn gebrochen und die Geheimnisse gestohlen. Das ist der Grund, warum ich den Sachakanern helfe, trotz der Dinge, die sie meinem Volk angetan haben. Die Düna haben den Verräterinnen nicht vergeben.«

»Wissen die Verräterinnen, wie man Höhlen wie die in Elyne macht?«, fragte Dannyl. Wenn er das gewusst hätte, wäre er in diese Höhle niemals eingetreten wie ein Kind, das aus Spaß umherstreifte.

»Nein«, antwortete Unh. »Das weiß niemand. Selbst die Düna vergessen einige Dinge.«

»Das ist etwas, das man wahrscheinlich tatsächlich am besten vergisst.«

»Ja.« Unh grinste. »Ich mag Euch, Kyralier.«

Dannyl blinzelte überrascht. »Danke. Ich mag dich auch.«

Der Mann wandte sich ab. »Wir gehen jetzt zurück zum Lager. Ich habe die Fährte gefunden.«

Es war viel schwieriger, die Höhle zu verlassen, als sie zu betreten, da die Steine unter ihren Füßen wegrutschten, aber der Düna bohrte die Zehen in die raue Oberfläche an einer Seite der Öffnung und kletterte hindurch. Dannyl schuf eine kleine magische Scheibe unter seinen Füßen und schwebte darauf aus der Höhle. Unh schien das sehr komisch zu finden.

Auf dem Rückweg zum Lager waren sie viel schneller, da Unh nicht länger stehen bleiben und den Boden untersuchen musste. Dannyl stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Magier ihren Sklaven erlaubt hatten zu schlafen und diese hinter ihnen auf dem Boden lagen. Sie tranken irgendeine Art von Schnaps aus den kunstvollen Bechern, die sie mitgebracht hatten. Dannyl nahm ein Glas von der feurigen Flüssigkeit entgegen. Nur mit halbem Ohr lauschte er ihrem Gespräch über den Sohn eines Ashaki, der keinerlei Talent als Händler besaß und seine Familie in den Ruin treiben würde.

Im Geiste kehrte er immer wieder zu der Furcht zurück, die ihn befallen hatte, als er die Wand aus Edelsteinen gesehen hatte. Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, über den Wert dieser Steine als bloße Juwelen nachzudenken, nicht einmal, nachdem ich mich beruhigt hatte. Hm. Ich glaube, beim letzten Mal ist mir dieser Gedanke auch nicht gekommen. Aber andererseits war ich ziemlich abgelenkt…

Eine Erinnerung blitzte in ihm auf, die Erinnerung daran, dass er damals beim Aufwachen hatte feststellen müssen, dass alle Macht aus ihm gewichen war. Die Erinnerung an Tayend und die Erkenntnis dessen, was er während des größten Teils seines Lebens vor sich selbst verborgen gehalten hatte. Dass er ein »Knabe« war. Dass er Tayend liebte.

Eine Welle der Traurigkeit überflutete ihn. Ein Jammer, dass wir uns so sehr verändern mussten. Statt umeinander herumzuwachsen in dieser romantischen Vorstellung von Paaren, die ineinander verschlungenen Bäumen ähneln, haben wir uns unbehaglich ineinander verheddert und wetteifern jetzt um Wasser und Erde.

Er schnaubte leise. Solch törichte Bilder entsprachen eher dem Geschmack von Tayends Dichterfreunden. Er betrachtete die Sachakaner und Unh. Sie würden solche Ideen töricht finden, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.

Wissen die Verräterinnen von der Höhle? Unh sagte, die Öffnung sei erst unlängst entstanden. Ich bezweifle, dass die Sachakaner davon wissen. Soweit ich mich erinnere, ist der wesentliche Handelszweig der Düna der Verkauf von Edelsteinen. Ich frage mich, ob Unh vorhat, mit einigen seiner Leute zurückzukommen und sie zu ernten, bevor die Verräterinnen sie entdecken.

Dann erinnerte er sich an etwas, das Unh gesagt hatte. Die Düna verstanden sich darauf, Edelsteine mit magischen Eigenschaften zu fertigen. Es war schwer vorstellbar, dass ein solches Volk Zugang zu derart seltenem Wissen hatte und doch ein einfaches Nomadenleben führte.

Vielleicht ist es gar nicht so einfach.

Wie kam es, dass die Verräterinnen solche Macht besaßen, aber ihre verborgene Stadt niemals verließen? Offensichtlich hatten die Edelsteine Einschränkungen. Vielleicht mussten sie, um zu funktionieren, an einer Oberfläche befestigt sein, in einer Höhle und in großer Zahl.

Die Dokumente über den Lagerstein haben nicht besagt, dass er an irgendetwas befestigt war. Wenn er es gewesen wäre, hätte es ihn wertlos gemacht, wenn man ihn davon entfernt hätte. Warum also machten sie sich die Mühe, den Dieb zu jagen?

Was er heute Nacht in Erfahrung gebracht hatte, würde Lorkin sehr interessieren. Aber Lorkin war bei den Verräterinnen …

… und die Verräterinnen hatten Kenntnis von magischen Edelsteinen.

Dannyl schnappte nach Luft.

Plötzlich begriff er etwas, das ihn in eine sehr unangenehme Lage bringen würde, was die Männer betraf, mit denen er zusammen war, den sachakanischen König, die Gilde und nicht zuletzt Lorkins Mutter.

Ihm war mit einem Mal klargeworden, dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass Lorkin nicht gefunden werden wollte.


Nicht lange nach Sonnenaufgang hatte Savara auf einem hohen, den Elementen preisgegebenen Felskamm Halt machen lassen. Der Weg war im Laufe der Nacht immer steiler und zerklüfteter geworden, und sie alle hatten winzige, schwache Lichter benutzt, die dicht über dem Boden schwebten und den Weg erhellten. Nachdem sie Wachen postiert und Späher ausgesandt hatten, gab Savara dem Rest der Gruppe Anweisung, sich direkt unterhalb des Gipfels des Felsenkamms, wo man sie nicht sehen konnte, niederzulassen und zu versuchen, ein wenig zu schlafen.

»Unsere Verfolger sind jetzt mehrere Stunden hinter uns«, sagte sie. »Sie werden ebenfalls Rast machen müssen, und sie sind im Gegensatz zu uns nicht daran gewöhnt, in solch unwirtlichem Territorium zu reisen. Wir werden unseren Weg nach Sonnenuntergang fortsetzen.«

Die übrigen Verräterinnen trugen kleine Bündel wie die, die Lorkin, Tyvara und Chari getragen hatten, seit sie den Wagen verlassen hatten. Jetzt stellte er fest, worum es sich bei dem Bündel aus dickem Tuch handelte. Die Verräter entrollten ihre Bündel, um sie als Matratze zu benutzen. Er hatte angenommen, es handele sich um eine Art Decke. Aber es ergab Sinn, dass sie eine Matratze einer Decke vorzogen: Ein Magier konnte die Luft erhitzen, aber er konnte den Boden nicht weicher machen.

Gewiss nicht in dieser Gegend, dachte er, während er sich neben Chari und Tyvara ausstreckte. Das Gebiet bestand ganz aus Fels und Stein, und nur gelegentlich sah man einen verkümmerten Baum. Als er Schritte hörte, drehte er sich um und stellte fest, dass es Savara war. Hastig stand er wieder auf.

»Ich habe deinen Vorschlag überdacht und mich mit der Königin beraten«, erklärte sie ihm. Zweifellos mithilfe eines Blutrings, dachte er. »Wenn du immer noch wünschst, uns zum Sanktuarium zu begleiten, wird sie es gestatten. Aber nicht sie wird diejenige sein, die darüber entscheidet, ob man dir gestattet, wieder fortzugehen. Diese Entscheidung wird durch eine Abstimmung getroffen, was es wahrscheinlich macht, dass du wirst bleiben müssen. Es gibt viele, die fürchten werden, dass du die Lage der Stadt verraten wirst, wenn man dich gehen lässt.«

Lorkin nickte. »Ich verstehe.«

»Nimm dir ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken«, sagte sie. »Aber ich werde deine Entscheidung brauchen, bevor wir heute Nacht wieder aufbrechen.«

Sie ging davon, kletterte die Anhöhe hinauf und setzte sich in den Schatten eines großen Felsens. Sie hält Wache, überlegte Lorkin. Er legte sich wieder nieder, obwohl er wusste, dass er aufgrund der Entscheidung, die er treffen musste, nicht würde schlafen können.

»Niemand würde schlecht von dir denken, wenn du nach Hause gehen würdest«, erklang eine Stimme in der Nähe.

Er rollte sich herum und sah, dass Chari ihn beobachtete.

»Diese andere Partei – die, die jemanden ausgeschickt hat, um mich zu töten –, wird sie es noch einmal versuchen, wenn ich ins Sanktuarium gehe?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Eine unserer Königinnen hat vor langer Zeit entschieden, dass es so etwas wie Morde im Sanktuarium nicht geben dürfe. Ich denke, sonst wären einige unserer Leute zu dem Schluss gekommen, dass Mord, wenn er außerhalb des Sanktuariums ein nützliches politisches Werkzeug ist, das auch innerhalb des Sanktuariums wäre. Im Sanktuarium ist Mord Mord, es sei denn, es handelt sich um eine Hinrichtung, was die Strafe für Mord ist.«

Lorkin nickte. Und das ist es, was Tyvara droht.

»Besteht die Möglichkeit, dass eine Verräterin meine Gedanken wird lesen wollen?«

»Sie werden alle einen Blick in deinen Kopf werfen wollen. Aber das ist ihnen nicht gestattet, es sei denn mit deiner Zustimmung. Es ist auch ein schwerwiegendes Verbrechen, die Gedanken eines anderen mit Gewalt zu lesen. Wenn wir das täten, hätten wir zu große Ähnlichkeit mit den Ashaki.«

»Wenn ich mich also weigere… Gewiss werden sie sich davon überzeugen wollen, dass ich gute Absichten habe, bevor sie mich in die Stadt lassen.«

»Sie würden es liebend gern tun. Aber Gesetz ist Gesetz. Einige der Gesetze sind ein wenig verrückt. Wie zum Beispiel das, nach dem die Königin entscheiden darf, ob ein Fremder die Stadt betreten darf, aber sie kann nicht entscheiden, ob der Betreffende die Stadt wieder verlassen darf.«

»Wenn ich nicht fortgehen darf, was wird man dann von mir erwarten?«

»Natürlich, dass du unsere Gesetze befolgst.« Sie zuckte die Achseln. »Dazu gehört auch, dass du dich an der Arbeit in der Stadt beteiligst. Du kannst nicht erwarten, dass man dir zu essen und ein Bett gibt, wenn du nicht in irgendeiner Weise mithilfst.«

»Das klingt gerecht.«

Chari lächelte. »Noch weitere Fragen?«

»Nein.« Lorkin rollte sich auf den Rücken. »Zumindest jetzt nicht.«

Er hatte viel nachgedacht, seit er sich Sprecherin Savara und ihren Gefährtinnen angeschlossen hatte, und er wusste jetzt, dass er das Sanktuarium vielleicht nicht wieder würde verlassen dürfen. Während dieser Zeit hatte er Gründe aufgelistet, die für ein Betreten des Sanktuariums sprachen, und solche, die dagegen sprachen. Die Liste der Gründe, warum er es nicht tun sollte, war kurz:

Ich bin nach Sachaka gekommen, um Dannyl zur Hand zu gehen, nicht um eigene Abenteuer zu verfolgen – selbst wenn diese Abenteuer zu einem günstigen Bündnis für die Gilde führen könnten.

Er besaß nicht die Vollmacht, um ein Bündnis auszuhandeln. Aber er brauchte die Verräterinnen nur dazu zu bringen, dass sie Verhandlungen überhaupt wünschten. Dann konnte die Gilde jemanden schicken, der besser geeignet war. Jemanden wie Dannyl.

Mutter wird das nicht gefallen.

Aber dies war eine Entscheidung, die er selbst treffen musste. Trotzdem, bei dem Gedanken an sie verspürte er Sehnsucht und Schuldgefühle. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, sie nie wiederzusehen. Oder nie wieder mit ihr zu sprechen. Er hatte noch immer keine Gelegenheit gehabt, ihren Blutring zu benutzen, ohne seine Existenz preiszugeben. Würde man ihn durchsuchen, wenn er das Sanktuarium betrat? Würden die Verräterinnen ihm den Ring abnehmen, wenn sie ihn fanden? Wenn sie ihm mit solchem Argwohn begegneten, würden sie gewiss nicht wollen, dass er eine magische Vorrichtung benutzte, die es ihm gestattete, all seine Erkenntnisse der Gilde zu übermitteln.

Er begann zu denken, dass er den Ring bald benutzen sollte, und sei es auch nur, um seine Mutter zu beruhigen. Und er sollte einen Platz suchen, an dem er ihn verstecken konnte.

Ich will den Ring behalten, und damit ist das ein Grund, nicht in das Sanktuarium zu gehen. Aber es ist nur ein kleiner Grund. Und einer, den ich ausräumen kann.

Es gab jedoch viel mehr Gründe, die für ein Betreten des Sanktuariums sprachen. Zunächst einmal war da Tyvara. Er konnte nicht einmal darüber nachdenken, sie im Stich zu lassen. Wenn er bei der Verhandlung nicht zu ihren Gunsten sprach, würde man sie vielleicht hinrichten. Sie hatte ihm das Leben gerettet und würde dafür womöglich sterben. Und das wäre dann ganz und gar seine Schuld.

Selbst wenn ich wüsste, dass ihr nichts passieren wird, der Gedanke, sie nie wiederzusehen… Ihm wurde eng um die Brust, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Er runzelte die Stirn. Dahinter steckt mehr als die Verpflichtung, ihr zu helfen. Ich mag sie wirklich. Sehr sogar. Aber ich weiß nicht, ob sie meine Gefühle erwidert.

Er dachte an die Andeutung, die Chari gemacht hatte. Die Frau glaubte, dass Tyvara tatsächlich Gefallen an ihm gefunden hatte. Aber Tyvara benahm sich nicht so. Sie schien entschlossen, ihn zurückzuweisen, sie setzte stets eine finstere Miene auf, wenn er mit ihr sprach, und sie versuchte, ihn dazu zu überreden, nach Hause zurückzukehren. Wann immer sie das tat, versicherte ihm Chari, dass Tyvara ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ihm nicht schon früher von dem Preis für das Betreten des Sanktuariums erzählt hatte, und dass sie nicht wollte, dass er um ihretwillen seine Freiheit opferte.

Aber wenn ich mich von ihr dazu überreden lasse, nach Hause zurückzukehren, hätte sie mich nicht nur gerettet, sondern möglicherweise auch ihr Leben für meines geopfert. Das kann ich nicht zulassen.

Tyvara war nicht der einzige Grund, warum er ins Sanktuarium gehen sollte. Da war auch die Möglichkeit von Handel und Bündnissen. So weit gekommen zu sein, diesen Verräterinnen so nahe gekommen zu sein und nicht zu versuchen, irgendeine Art von Übereinkunft mit ihnen auszuhandeln, wäre eine große Verschwendung gewesen. Er bezweifelte, dass Fremde häufig die Chance hatten, die Stadt der Verräterinnen zu betreten und solche Vorschläge zu machen. Selbst wenn die Verräterinnen keinen Gefallen an der Idee fanden, hätte er sie zumindest darauf aufmerksam gemacht.

Aber wie realistisch war es zu hoffen, dass Leute, die in solcher Heimlichkeit lebten, eines Tages beschließen würden, mit der Gilde Handel zu treiben?

Nun, wenn sie Kenntnisse über die Heilkunst erlangen wollen, wird ihnen nichts anderes übrig bleiben.

Es war möglich, dass die Verräterinnen entscheiden würden, es sei sicherer, auf die Heilkunst zu verzichten und weiter verborgen vor der Welt zu leben. Aber das Risiko war es wert. Er musste zugeben, dass er sich irgendwie verpflichtet fühlte, den Verrat seines Vaters wiedergutzumachen. Obwohl er ihnen Kenntnisse der Heilkunst niemals ohne Erlaubnis der Gilde geben würde, konnte er darauf hinwirken, diese Erlaubnis zu erhalten. Er hatte das Gefühl, es den Verräterinnen schuldig zu sein.

Und wenn alles plangemäß verläuft, werden wir als Gegenleistung auch etwas bekommen. Vielleicht nur diese Fähigkeit, den Geist gegen das Lesen von Gedanken zu beschirmen, aber ich habe das Gefühl, dass sie noch mehr zu bieten haben. Ich bin davon überzeugt, dass diese Blockade mit irgendeinem Stein – ähnlich einem Blutstein – bewerkstelligt wird. Das könnte ein ganzes neues Gebiet von Magie sein, das erkundet werden müsste.

Auf keinen Fall würde die Gilde einem Handel mit den Verräterinnen zustimmen, solange diese Lorkin gefangen hielten. Wenn die Verräterinnen Kenntnisse der Heilkunst wollten, würden sie ihn irgendwann gehen lassen müssen. In der Zwischenzeit… Chari hatte Dokumente erwähnt? Da sie mehrere Jahrhunderte lang im Verborgenen gelebt hatten, mussten die Verräterinnen über historische Informationen verfügen, auf die Dannyl noch nie zuvor gestoßen war. Dokumente, die zur Wiederentdeckung alter Magie führen könnten. Magie, die die Gilde zu ihrer Verteidigung benutzen konnte.

Angenommen, es gibt diese Magie tatsächlich und sie kann zur Verteidigung benutzt werden, und es gelingt mir, die Information der Gilde zukommen zu lassen…

Lorkin seufzte. Vielleicht war er zu optimistisch zu denken, dass die Verräterinnen eines Tages ein Bündnis mit der Gilde und den Verbündeten Ländern eingehen würden und er seine Freiheit zurückgewinnen würde. Vielleicht war es reines Wunschdenken.

Und doch waren die Verräterinnen viel bessere Menschen als jene, die den Rest von Sachaka regierten. Zum einen hassten sie Sklaverei. Für sie waren alle gleich, Männer und Frauen, Magier und Nichtmagier.

Außerdem hatten sie durch ihre Spione ein unglaubliches Maß an Einfluss auf das Land. Er musste zugeben, dass die Möglichkeit, sie könnten eines Tages Sachaka übernehmen, reizvoll war. Das Erste, was sie tun würden, wäre zweifellos die Abschaffung der Sklaverei. Aber er glaubte nicht, dass sie die schwarze Magie aufgeben würden. Trotzdem, es wäre ein großer Schritt hin zu dem Ziel, dass Sachaka eins der Verbündeten Länder wurde.

Wie kann ich nach Arvice zurückkehren, nach allem, was ich dort gesehen habe? Die Sklaven, die furchtbare, auf Erbe und schwarzer Magie beruhende Hierarchie. Schlimmer kann die Gesellschaft der Verräterinnen nicht sein.

So viele Gründe, um ins Sanktuarium zu gehen. So wenige, um nach Arvice zurückzukehren.

Erst als er auf den Füßen stand, wurde ihm klar, dass er sich erhoben hatte. Das Gefühl der Entschlossenheit war berauschend. Er ging vorbei an den schlafenden Frauen zu Savara, die mit geschlossenen Augen an der Felswand lehnte.

»Ich werde ins Sanktuarium mitkommen«, eröffnete er ihr, denn er vermutete, dass sie nicht schlief.

Sie riss die Augen auf und starrte ihn an; ihr Blick war beunruhigend intelligent. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie in ihrer Jugend eine bemerkenswerte Schönheit gewesen sein musste.

»Gut«, sagte sie.

»Aber du wirst mir erlauben müssen, mit Botschafter Dannyl zu reden«, fügte er hinzu. »Er wird nicht aufgeben. Wenn du meine Mutter kennen würdest, dann würdest du verstehen, warum. Irgendwann wird er entweder das Sanktuarium finden, oder ihr werdet ihn töten müssen. Ich mag ihn recht gern und wüsste es zu schätzen, wenn ihr ihn nicht töten würdet. Und wenn ihr es tätet, würde es wahrscheinlich Konsequenzen geben, die nicht gut für die Verräterinnen wären.«

»Wie willst du ihm ausreden, dir weiter zu folgen?«

Er lächelte grimmig. »Ich weiß, was ich ihm sagen werde. Aber ich werde allein mit ihm sprechen müssen.«

»Ich bezweifle, dass die Ashaki dich gehen lassen werden, wenn sie dich sehen.«

»Wir werden ihn von ihnen weglocken müssen.« Stirnrunzelnd dachte sie darüber nach. »Ich nehme an, das lässt sich arrangieren.« »Danke.«

»Jetzt schlaf weiter. Wir werden ihnen erlauben müssen, uns wieder einzuholen, daher können wir uns in der Zwischenzeit genauso gut ein wenig ausruhen.«

Er kehrte zu seiner Matratze zurück und stellte fest, dass Tyvara sich hingesetzt hatte. Sie funkelte ihn an.

»Was?«, fragte er.

»Du solltest besser nicht auf die Idee kommen, zwischen dir und mir sei mehr, als tatsächlich da ist, Kyralier«, sagte sie mit leiser Stimme.

Er musterte sie, und Zweifel beschlichen ihn. Sie wandte sich ab und legte sich, mit dem Rücken zu ihm, wieder nieder. Er ließ sich ebenfalls auf seine Matratze sinken, obwohl Sorgen an ihm nagten.

Vielleicht ist es tatsächlich einseitig…

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, flüsterte Chari. »Das tut sie immer. Je mehr sie jemanden mag, umso energischer stößt sie ihn weg.«

»Halt den Mund, Chari«, zischte Tyvara.

Lorkin, der auf dem harten Boden lag, wusste, dass an Schlaf nicht zu denken war. Es würde ein sehr langer Tag werden. Und er fragte sich langsam, ob es nicht vielleicht einen beträchtlichen Nachteil hatte, in einer Stadt voller Frauen wie dieser zu leben.


Während Regin über die letzten Stadien der Ichani-Invasion berichtete, verfluchte Sonea Cery noch einmal und versuchte, nicht zuzuhören.

Nachdem sie die Gilde verlassen hatte, waren sie und der Heiler, der ihr die Nachricht überbracht hatte, mit einer Kutsche ins Hospital geeilt. Es kam ihr wie etwas vor, das sich am vergangenen Tag ereignet hatte, nicht nur wenige Stunden zuvor. Es hatte eine Verzögerung gegeben, erinnerte sie sich. Ein Heiler, der neu im Hospital war, hatte sie mit Fragen bezüglich des Protokolls bombardiert. Sonea hatte dem Mann erklärt, dass er jeden der anwesenden Heiler fragen könne und sogar einige der Helferinnen, aber er schien ihnen nicht zu vertrauen. Als Sonea endlich weggekommen war, wartete Regin bereits auf sie.

Er kam in einem geschlossenen Wagen, der Vorräte zu dem Haus seiner Familie transportierte. Sie hatte sich seltsam deplatziert auf der Ladefläche eines alten Karrens gefühlt, auf der sie beide leere Kisten als Sitzflächen benutzt hatten. Aber es war ein kluger Schritt gewesen. Wenn sie in einer Kutsche der Gilde ankamen, würden sie zu viel Aufmerksamkeit erregen.

Er hatte einige fadenscheinige alte Mäntel mitgebracht, die sie über ihren Roben tragen konnten. Dafür war sie ungeheuer dankbar, obwohl sie sich auch ein wenig schämte, dass sie nicht darüber nachgedacht hatte, wie sie sich tarnen konnten.

Nun, ich habe eine Menge im Kopf. Viel mehr, als Regin weiß. Und obwohl Cery von Lorkins Entführung Kenntnis hat, hatte ich noch keine Chance, ihm zu erzählen, dass Dannyl bereits auf der Suche nach Lorkin ist.

Als sie ihr Ziel erreicht hatten, war ein Mann auf sie zugekommen und hatte ihnen mitgeteilt, dass ihr Gastgeber sie erwarte – sie brauchten nur an die letzte Tür auf der linken Seite der Gasse zu klopfen. Sie betraten die alte Schlachterei in der Nähe des Hafens und des Marktes, deren Besitzer gezwungen worden war, sein Geschäft zu verlegen, als das Viertel wohlhabender geworden war und seine Bewohner wählerischer, was ihre Nachbarn betraf.

Die Sonne ging unter. Wir haben uns Sorgen gemacht, dass wir zu spät kommen würden.

Man hatte sie in einen gut eingerichteten Raum geführt. Ein ungewöhnlich aussehender Mann hatte sich von einem der teuren Sessel erhoben, um sich vor ihnen zu verneigen. Er war dunkelhäutig wie ein Lonmar, aber seine Haut hatte einen rötlichen Ton, und seine seltsamen, länglichen Augen hatten sie an Zeichnungen der gefährlichen Raubtiere erinnert, die durch die Berge streiften.

Er hatte jedoch völlig akzentfrei gesprochen, sich als Skellin vorgestellt und ihnen ein Getränk angeboten. Sie hatten abgelehnt. Sie nahm an, dass es Regin ebenso wie ihr widerstrebte, seine Sinne vor einer möglichen magischen Auseinandersetzung zu benebeln.

Vielleicht hätte ich doch etwas trinken sollen.

Skellin war sichtlich aufgeregt, sie kennenzulernen. Als er endlich aufgehört hatte, lautstarke Bemerkungen darüber zu machen, dass er echte Magier zu Besuch habe – und die berühmte Schwarzmagierin Sonea persönlich –, erzählte er ihnen seine Geschichte. Er und seine Mutter hatten ihr Heimatland verlassen – ein Land hoch oben im Norden –, als er noch ein Kind gewesen war. Faren, der Dieb, für den sie einst Magie benutzt hatte als Gegenleistung dafür, dass er sie vor der Gilde verbarg, hatte ihn als seinen Erben großgezogen. Er erinnerte sich kaum noch an sein Heimatland und betrachtete sich als Kyralier.

Sonea hatte sich an dieser Stelle langsam für ihn zu erwärmen begonnen, obwohl sie nicht vergessen hatte, dass er ein Feuel-Importeur war. Schließlich war Cery eingetroffen, und Skellin war ernst geworden. Er hatte seine Falle erklärt. Die wilde Magierin arbeitete, wie er erfahren hatte, für einen Feuel-Verkäufer, der seine Ware in einem Lager in diesem Gebäude einkaufte. Es sollte bald weiteres Feuel abgeholt werden. Was den Zeitpunkt betraf, konnte man sich niemals sicher sein. Manchmal kamen sie am frühen Abend vorbei, manchmal erst sehr spät.

Skellin hatte Männer bereitstehen, die ihm mitteilen sollten, wann sie und der Händler eintrafen. Sie brauchten nur zu warten.

Und gewartet haben wir, dachte sie. Stunden und Stunden. Ich will jetzt nur noch zu Osen zurückkehren und herausfinden, ob Dannyl Lorkin schon eingeholt hat.

Stattdessen hatte man sie und Regin dazu gedrängt, Geschichten über die Gilde zu erzählen. Skellin wusste, wie sie zur Magierin geworden war, aber nicht, wie Regin zur Gilde gelangt war. Obwohl Regins Geschichte kaum aufregend oder ungewöhnlich war, faszinierte sie Skellin dennoch. Danach hatte er wissen wollen, wie ihr Studium an der Universität aufgebaut war. Welche Regeln sie befolgen mussten. Welche Disziplinen es gab und wie sie aussahen.

Weniger angenehm wurde es, als er sie drängte, die Ichani-Invasion zu beschreiben. »Ihr müsst erstaunliche Geschichten zu erzählen haben«, hatte der Dieb grinsend gesagt. »Ich war natürlich nicht dabei. Meine Mutter und ich waren noch nicht in Kyralia eingetroffen.«

Regin hatte es ihr erspart, die schmerzhaftere Zeit ihrer Vergangenheit noch einmal zu durchleben, indem er an diesem Punkt das Erzählen übernommen hatte. Sie fragte sich, ob er erraten hatte, wie schwierig es für sie gewesen wäre. So oder so, sie war ihm noch dankbarer als zuvor.

Das sind schon drei Dinge, für die ich ihm heute Nacht danken muss, dachte sie. Der Wagen, der Mantel und dass er mich davor gerettet hat, unangenehme Erinnerungen noch einmal durchleben zu müssen. Ich sollte mich besser konzentrieren, bevor wir dieser Frau gegenübertreten, oder ich werde…

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken. Skellin rief einige leise Worte, und ein hagerer Mann in schwarzen Kleidern öffnete die Tür.

»Sie sind da«, erklärte der Mann, dann verließ er den Raum wieder.

Sonea seufzte vor Erleichterung, so leise sie es fertigbrachte. Sie alle erhoben sich. Skellin sah sie der Reihe nach an.

»Wenn Ihr es wünscht, könnt Ihr Eure Mäntel hierlassen. Niemand außer meinen Männern und der Frau wird Euch sehen.« Er lächelte. »Ich freue mich darauf, Eure berühmten Kräfte aus erster Hand mitzuerleben. Folgt mir.«

Sie gingen durch eine weitere Tür in einen langen Flur. Die Fenster am gegenüberliegenden Ende leuchteten schwach.

Die Sonne wird bald aufgehen. Wir waren die ganze Nacht auf. Ein Stich der Furcht durchzuckte sie. Hat Dannyl Lorkin schon gefunden? Was ist, wenn Osen jemanden geschickt hat, um mich zu holen, und sie entdeckt haben, dass ich verschwunden bin? Selbst wenn er niemanden geschickt hat, wird es meinen Verbündeten im Hospital schwergefallen sein, den neuen Heiler daran zu hindern, nach mir zu suchen, um mir noch mehr Fragen zu stellen.

Mittlerweile muss irgendjemand meine Abwesenheit bemerkt haben.

Aber wenn das der Fall war, würde es dennoch keine Rolle spielen. Wenn sie und Regin mit der wilden Magierin zur Gilde zurückkehrten, brauchte sie nicht länger zu verbergen, dass sie gelegentlich heimlich die Hospitäler verließ. Wenn Rothen recht hatte, würde sich niemand darum scheren. Alle würden sich auf die Entdeckung einer Magierin konzentrieren, die in der Stadt gelebt hatte und die nicht nur kein Mitglied der Gilde war, sondern auch aktiv für Verbrecher gearbeitet hatte.

27 Die Falle ist zugeschnappt

Während Cery Skellin, Sonea und Regin aus dem Raum gefolgt war, hatte er sich vorgenommen, sich bei Sonea für die lange Nacht zu entschuldigen, die sie hatte ertragen müssen. Vielleicht hatte er nur deshalb bemerkt, wie unbehaglich sie sich bei Skellins Fragen nach der Ichani-Invasion gefühlt hatte, weil er sie schon so lange kannte.

Obwohl ich gedacht hätte, dass jemand, der klug genug ist, um in so kurzer Zeit ein so mächtiger Dieb zu werden wie Skellin, begreifen würde, dass sie wohl kaum über die Schlacht würde reden wollen, die zum Tod des Mannes geführt hatte, den sie liebte.

Cery war Regin unendlich dankbar gewesen, dass er an diesem Punkt übernommen und es Sonea erspart hatte, die Geschichte zu erzählen oder Skellins Bitte abzuschlagen. Die Ironie des Ganzen ließ Cery schmunzeln. Regin war der letzte Mensch, von dem er je gedacht hätte, dass er ihm einmal wegen seiner Rücksichtnahme dankbar sein würde.

Am Ende des langen Flurs gingen sie eine Treppe zum oberen Stockwerk des alten Gebäudes hinauf. Skellin führte sie zu einer geschlossenen Tür. Er hielt inne, während er eine Hand auf den Türknauf legte und Sonea und Regin ansah. »Bereit?«

Die beiden Magier nickten.

Skellin öffnete die Tür und ging hindurch, dann trat er beiseite, als sei er erpicht darauf, nicht zwischen die Magier und ihre Beute zu geraten. Cery folgte Sonea und Regin in einen riesigen Raum voller Kisten, der von etlichen Lampen erhellt wurde. Er bemerkte vier Personen, die sich umgedreht hatten, um festzustellen, wer eingetreten war. Drei waren Männer, und eine war eine Frau in einem Umhang; sie hatte die Kapuze hochgezogen, die alles bis auf die dunkle Haut ihres Kinns verbarg. Zwei der Männer wirkten angesichts der Störung sorglos und wenig überrascht. Der dritte schaute von Skellin zu den Magiern und senkte den Blick auf ihre Roben. Er wirkte erschrocken und verängstigt.

Aber die Reaktion der Frau war die dramatischste. Sie wich zurück, dann hob sie die Arme, als wolle sie einen Schlag abwehren. Die Luft vibrierte schwach. Sonea und Regin tauschten einen wissenden Blick. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Frau zu. Sie heulte überrascht auf und presste die Arme an den Körper.

Oder ist das eine unwillkürliche Bewegung?, überlegte Cery. Es sieht aus, als hätte sich etwas Unsichtbares um sie gelegt.

Die Magier hielten inne, als warteten sie auf etwas, aber nichts geschah. Sonea sah wieder zu Regin hinüber, dann ging sie auf die Frau zu.

»Wie ist Euer Name?«, fragte sie.

»F-Forlie«, antwortete die Frau, die Sonea mit großen Augen anstarrte.

»Wusstet Ihr, Forlie, dass alle Magier in den Verbündeten Ländern Mitglieder der Magiergilde sein müssen?«

Die Frau zuckte nicht mit der Wimper. Sie schluckte hörbar und nickte.

»Warum seid Ihr dann kein Mitglied der Gilde?«, hakte Sonea nach. Es lag keine Anklage in ihrer Stimme, nur Neugier.

Die Frau blinzelte, dann sah sie Skellin an. »Ich… ich wollte es nicht.«

Sonea lächelte, und obwohl es ein beruhigendes Lächeln war, lag doch auch Traurigkeit darin. »Wir müssen Euch jetzt in die Gilde bringen. Sie werden Euch nichts zuleide tun, aber Ihr habt ein Gesetz gebrochen. Sie werden entscheiden müssen, was mit Euch zu geschehen hat. Wenn Ihr keine Schwierigkeiten macht, wird das auf lange Sicht besser für Euch sein. Werdet Ihr still und leise mit uns kommen?«

Forlie sah abermals Skellin an, dann nickte sie. Sonea streckte eine Hand nach ihr aus. Welche Macht Sonea oder Regin auch immer benutzt hatte, um ihr die Arme an den Leib zu pressen, jetzt wurde sie zurückgenommen, und die Schultern der Frau entspannten sich. Zaghaft ergriff sie Soneas Hand. Die beiden gingen zu Regin hinüber. Alle im Raum entspannten sich, wie Cery bemerkte. Die drei Männer wirkten erleichtert. Skellin wirkte zufrieden. Sonea und Regin wirkten grimmig, aber ebenfalls erleichtert. Forlie…

Cery runzelte die Stirn, dann ging er auf die Frau zu und zog ihr die Kapuze vom Kopf. Als er ihr Gesicht sah, erschrak er.

»Das ist sie nicht. Das ist nicht die wilde Magierin.«

Es folgte ein Moment der Stille, dann hüstelte Skellin. »Natürlich ist sie es. Sie hat Magie benutzt, nicht wahr?« Er sah Sonea und Regin an.

»Ja«, stimmte Regin zu.

»Dann muss es zwei wilde Magierinnen geben«, sagte Cery. »Es mag dunkel gewesen sein, als ich sie gesehen habe, aber Forlie hat keinerlei Ähnlichkeit mit der Frau, die ich Magie habe wirken sehen.«

»Sie hat dunkle Haut und ist im richtigen Alter. Du hast sie nur von oben gesehen. Wie kannst du dir so sicher sein?«

»Die Form ihres Gesichts ist vollkommen falsch.« Außerdem war auch die Haut der Frau zu hell. Sie hatte Lonmar als Vorfahren, vermutete er, und den typischen Körperbau dieses Volkes. Aber die Frau, die er im Laden des Pfandleihers gesehen hatte, war von ganz anderem Wuchs gewesen. »Sie ist zu groß.«

»Das hast du mir bisher noch nicht erzählt«, bemerkte Skellin.

Cery musterte ihn. »Ich schätze, ich hielt es nicht für lohnend, Einzelheiten zu berichten, solange es nur eine Frau in der Stadt gab, die Magie wirkte.«

»Es wäre nützlich zu wissen gewesen.« Einen Moment lang trat eine Falte zwischen Skellins Brauen, dann zuckte er seufzend die Achseln. »Nun, ich schätze, es ist nach wie vor nützlich. Du kannst die andere Magierin für uns identifizieren.«

Als Cery Sonea anblickte, sah er, dass sie den Kopf schüttelte. Er erinnerte sich daran, welche Sorgen sie sich gemacht hatte, dass sie dabei ertappt werden könnte, wie sie ohne Erlaubnis durch die Stadt streifte.

»Wird das ein Problem für Euch sein?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Regin entschieden. »Aber es könnte ein Problem für dich sein. Sobald sich herumspricht, dass wir diese… dass wir Forlie gefangen haben, wird die andere wilde Magierin vorsichtiger sein. Es wird nicht leicht sein, sie zu finden.«

»Es war von vornherein nicht leicht, sie zu finden«, bemerkte Skellin.

Regin sah den Dieb an. »Wirst du uns abermals behilflich sein?«

»Selbstverständlich.« Skellin lächelte.

Als der Blick des Magiers in seine Richtung wanderte, verneigte sich Cery. »Wie immer.«

»Dann werden wir auf deine nächste Nachricht warten«, sagte Sonea. »In der Zwischenzeit müssen wir so schnell wie möglich in die Gilde zurückkehren.« Sie schaute weg. Als Cery ihrem Blick folgte, sah er, dass überall in dem riesigen Raum Fenster waren und dass das Licht der Morgendämmerung sie bereits erhellte.

»Ja«, ergriff Skellin das Wort. Er machte eine abschätzende Handbewegung in Richtung der drei Männer, die noch immer vor den Kisten standen und das Geschehen verwundert verfolgten. »Geht wieder an die Arbeit«, befahl er ihnen. »Und nun lasst mich Euch nach draußen geleiten«, sagte er zu den Magiern. »Hier entlang.«

Forlie sagte nichts, während sie die Magier und Diebe begleitete. Sie gingen wieder die Treppe hinunter, durch den breiten Flur und in den Raum, in dem sie den größten Teil der Nacht verbracht hatten. Die Magier holten sich ihre Mäntel und traten nach draußen in die Gasse. Skellin wünschte ihnen alles Gute und fügte hinzu, dass er sich melden werde, sobald er ihnen etwas zu berichten habe. Am Ende der Gasse blieb Cery stehen.

»Viel Glück und all das«, sagte er zu Sonea. »Ich melde mich.«

Sie lächelte. »Danke für deine Hilfe, Cery.«

Er zuckte die Achseln, dann wandte er sich ab und ging zu Gol hinüber, der, verborgen in der Dunkelheit eines Türeingangs gegenüber der alten Schlachterei, auf ihn wartete.

»Wer war das?«, fragte der große Mann, als er Cery entgegenkam.

»Schwarzmagierin Sonea und Lord Regin.« »Nicht sie.« Gol verdrehte die Augen. »Die Frau.« »Die wilde Magierin.«

»Nein, das ist sie nicht.«

»Nicht unsere wilde Magierin. Eine andere.«

»Du nimmst mich auf den Arm?«

Cery schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so. Anscheinend sind wir immer noch auf der Jagd nach unserer wilden Magierin. Ich werde es dir später erklären. Lass uns nach Hause gehen. Es war eine lange Nacht.«

»Und ob«, murmelte Gol. Er drehte sich um. Cery, der seinem Blick folgte, sah, dass Regin und Sonea immer noch vor ihrem Wagen standen und redeten.

»Das ist seltsam. Sonea hatte es eilig, in die Gilde zurückzukehren«, sagte Cery.

»Die ganze Angelegenheit war von Anfang an seltsam«, jammerte Gol.

Er hat recht, dachte Cery. Und nichts ist seltsamer als der Umstand, dass Sonea Forlie »gefangen« hat. Die Art, wie die Frau Skellin ansah, als Sonea ihr eine Frage stellte… als erwarte sie Anweisungen von ihm.

Es gab keinen Zweifel. Irgendetwas stimmte da nicht. Aber sie hatten eine wilde Magierin gefangen. Vielleicht nicht die wilde Magierin, von der er vermutete, dass sie etwas mit dem Tod seiner Familie zu tun hatte, aber zumindest gab es eine wilde Magierin weniger, die skrupellose Typen wie er selbst anheuern konnten. Das Leben in der Unterwelt der Stadt war gefährlich genug, auch ohne dass Magier ihre Dienste feilboten.

Obwohl es nützlich wäre, einen Magier zu haben, den man ab und zu in Dienst nehmen konnte. Es könnte die Suche nach dem Mörder meiner Familie erheblich vereinfachen.

Aber eines wusste er mit Bestimmtheit: Die nächste wilde Magierin würde sich nicht so leicht fangen lassen.


Lorkin saß auf einem ausgetrockneten alten Baumstamm und wartete. Irgendwo vor ihm waren mehrere sachakanische Magier und ihre Sklaven, ein Düna und der kyralische Botschafter auf dem Weg zu ihm. Irgendwo hinter ihm warteten Tyvara und Chari. Und überall um ihn herum machten Verräterinnen sich bereit, die Falle zuschnappen zu lassen, die sie geplant hatten. Er war allein.

Trotz der Zuversicht, die Sprecherin Savara zur Schau trug, wusste er, dass ihr Plan gefährlich war. Sie wollte ihm nicht erzählen, wie sie Dannyl von seinen Gefährten trennen wollten. Sie hatte nichts gesagt, als er gefragt hatte, ob sie beabsichtigten, jemanden zu töten. Er vermutete, dass dem nicht so war, denn sie schienen ängstlich darauf erpicht zu sein, dem sachakanischen König keinen Grund zu liefern, ihr Territorium zu betreten, und die Verpflichtung, für den Tod mehrerer Ashaki Vergeltung zu suchen, würde diesen Wunsch gewiss durchkreuzen.

Savara hatte ihm erklärt, dass er nicht viel Zeit haben würde. Sobald die Ashaki begriffen, dass man Dannyl bewusst von ihnen getrennt hatte, würden sie entschlossen sein, ihn zu finden. Und falls Lorkin dann immer noch bei Dannyl war, würde er gefangen werden.

Lorkin seufzte und betrachtete die kahle, felsige Landschaft. Er fühlte sich allein. Er war seit Wochen nicht mehr allein gewesen. Es hätte eine angenehme Abwechslung darstellen können, wären die Umstände andere gewesen. Aber er bezweifelte, dass er unbeobachtet war.

Wenn das nicht wäre, würde ich versuchen, mich mit Mutter in Verbindung zu setzen.

Der Blutring war inzwischen eine beunruhigende Last. Es würde ihn nicht überraschen, wenn die Verräterinnen ihn durchsuchten, bevor er in das Sanktuarium eingelassen würde. Obwohl sie ihn nicht so behandelten, als stelle er eine große Bedrohung dar, erwartete er auch nicht von ihnen, dass sie ihm vollkommen vertrauten.

Und wenn sie mich durchsuchen, werden sie Mutters Ring finden. Es ist zu offensichtlich, dass etwas in den Rücken meines Notizbuches geschoben wurde. Sie werden der Sache nachgehen. Sie werden den Ring finden und ihn mir wegnehmen, damit ich sie nicht wissen lassen kann, wo ich bin. Kann ich darauf vertrauen, dass sie den Ring sicher aufbewahren werden?

Er war nicht bereit, das Risiko einzugehen. Bisher waren ihm nur zwei Lösungen eingefallen: Er musste den Ring irgendwo verstecken oder ihn Dannyl geben.

Einen Moment mal… Wenn ich ihn jetzt benutze, kann ich ihn Dannyl geben, wenn wir miteinander reden. Es wird keine Rolle spielen, ob irgendjemand mich sieht und dahinterkommt, was ich tue. Dannyl wird ihn mitnehmen.

Die Erleichterung, die ihn durchflutete, überraschte ihn, jedoch nicht das jähe Widerstreben, das ihr folgte. Obwohl er seiner Mutter sein Tun erklären und ihr versichern wollte, dass es ihm gut ging, würde es einiges kosten, sie davon zu überzeugen.

Trotzdem, er musste es versuchen. Und er hatte nicht viel Zeit.

Er griff in seine Kleidung und holte das Notizbuch hervor. Nachdem er ein wenig geschoben und gedrückt hatte, hielt er den Ring in der Hand. Er holte tief Luft, dann streifte er ihn über.

Mutter?

Lorkin!

Erleichterung und Sorge durchströmten ihn wie gedämpfte Musik.

Geht es dir gut?, fragte sie.

Ja. Ich habe nicht viel Zeit für Erklärungen.

Nun… dann komm zur Sache.

Jemand hat versucht, mich zu töten, aber ich wurde von einer Frau gerettet, die zu einer Gruppe gehört, die sich die Verräterinnen nennt. Wir mussten Arvice verlassen, weil es wahrscheinlich war, dass irgendjemand abermals versuchen würde, mich zu töten, jetzt sind wir auf dem Weg zu der geheimen Stadt, aus der sie kommt. Ich gehe mit ihr, aber es besteht die Möglichkeit, dass sie mir nicht erlauben werden, die Stadt wieder zu verlassen, für den Fall, dass ich verrate, wo sie liegt. Musst du gehen?

Ja. Sie hätte die Person, die mich zu töten versuchte, nicht umbringen dürfen. Wenn ich nicht zu ihrer Verteidigung spreche, werden sie sie vielleicht wegen Mordes hinrichten. Sie hat dich gerettet, und jetzt möchtest du sie retten. Das ist gerecht. Aber ist es auch das Risiko wert, eingekerkert zu werden?

Ich denke, ich kann ihre Meinung ändern. Aber es könnte ein Weilchen dauern. In der Zwischenzeit… Wir wissen nichts über sie. Ich möchte so viel wie möglich lernen. Sie haben Magie, die wir noch nie zuvor gesehen haben.

Die Magie, um deretwillen du überhaupt nach Sachaka gereist bist?

Vielleicht. Ich werde es nicht wissen, bevor ich dort ankomme. Sie schwieg lange.

Ich kann dich nicht aufhalten – werde dich nicht auftauen –, falls es das ist, was du tun willst. Du solltest besser recht mit deiner Behauptung haben, dass du sie überreden kannst, dich gehen zu lassen. Andernfalls werde ich dich persönlich holen kommen.

Gib mir vorher ein paar Jahre Zeit. Jahre!

Natürlich werde ich versuchen, früher zurückzukehren. Nun… dann solltest du besser daran denken, ab und zu den Ring überzustreifen.

Ah, das wird ein Problem sein. Ich vermute, dass sie mich durchsuchen werden. Wenn sie einen Blutring bei mir finden, werden sie ihn mir wegnehmen. Sie sind ganz versessen darauf, die Lage ihrer Stadt geheim zu halten, und eingedenk dessen, wie der Rest von Sachaka aussieht, kann ich ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Ich werde den Ring Dannyl gehen.

Du hast noch nicht mit Dannyl gesprochen?

Nein. Aber ich werde es bald tun. Ich werde dafür sorgen, dass er aufhört, mir zu folgen, oder die Verräterinnen werden ihn töten. Ich nehme nicht an, dass du Osen dazu bewegen könntest, ihm zu befehlen, die Verfolgung aufzugeben?

Nicht sofort. Ich bin in der Stadt.

Eine Bewegung erregte Lorkins Aufmerksamkeit.

Ich muss Schluss machen.

Ich auch. Viel Glück, Lorkin. Sei vorsichtig. Ich hob dich sehr lieb.

Ich hob dich auch lieb.

Er streifte den Ring ab und stand auf. Die Bewegung, die er wahrgenommen hatte, war eine der Verräterinnen, die langsam am oberen Rand einer Schlucht entlangging. Sie schien auf etwas unter ihr konzentriert zu sein. Lorkins Herz setzte einen Moment aus. Ich hoffe nur, dass Dannyl einen starken Schild errichtet hat. Vor ihm blickte der Düna sich um, machte ein paar Schritte in eine andere Richtung und kehrte dann zum Ausgangspunkt zurück. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und winkte Dannyl. Aus irgendeinem Grund war der Düna jetzt eher geneigt, mit Dannyl zu sprechen, wann immer es etwas zu berichten gab.

»Die Spuren hören hier auf«, sagte der Mann und deutete zu Boden. Er schaute zu der Felswand empor, die an einer Seite vor ihnen aufragte. »Versuchen wir es dort?«

Dannyl blickte auf und schätzte die Entfernung ab. Der obere Rand der Wand war nicht allzu weit entfernt. Er zog Magie in sich hinein und schuf eine Scheibe der Macht unter ihren Füßen. Dann fasste er den Mann an den Oberarmen, und der Fährtensucher erwiderte die Geste. Sie hatten dies heute schon viele Male getan, entweder um sich zum Rand eines Felsenkamms oder einer Wand zu erheben oder um hinabzusteigen.

Aus solcher Nähe roch der Düna nach Schweiß und Gewürzen, eine Mischung, die nicht unbedingt angenehm war, aber auch nicht allzu störend. Dannyl konzentrierte sich und ließ die Scheibe mitsamt ihnen beiden in die Höhe steigen.

Die Felswand schoss vorüber und verschwand dann, als sie sich über den oberen Rand hinausbewegten. Sie endete oben in einem schmalen Grat. Dannyl brachte sie in dessen Mitte und landete dort. Jenseits der Felswand ragten hohe Berggipfel schroff in den Himmel.

»Wenn Magier das können, warum fliegen sie dann nicht über die Berge und suchen die Stadt der Verräterinnen?«, wollte Unh wissen.

Dannyl sah den Mann überrascht an. Er hatte bisher seine Fähigkeiten nicht hinterfragt. »Das Schweben erfordert Konzentration«, antwortete er. »Je weiter man sich vom Boden entfernt, desto mehr Konzentration ist vonnöten. Ich bin mir nicht sicher, warum das so ist. Aber je höher man gelangt, umso leichter ist es, die Orientierung zu verlieren, und umso tiefer kann man fallen.«

Der Mann schürzte die Lippen, dann nickte er. »Ich verstehe.«

Er wandte sich ab und schaute suchend zu Boden. Augenblicke später stieß er ein zufriedenes Schnauben aus. Er beugte sich über den Rand des Grats und blickte auf die Sachakaner hinab, die verwirrt zu ihnen emporstarrten.

»Die Spur geht hier weiter«, rief er. Dann machte er sich auf den Weg den Felsgrat entlang.

Dannyl wartete und sah zu, wie die Sachakaner sich selbst und ihre Sklaven der Reihe nach an der Felswand emporschweben ließen.

»Wir kommen immer tiefer in die Berge«, sagte einer der Ashaki und sah sich um. »Ist irgendjemand schon einmal so weit vorgedrungen?«

»Wer weiß?«, antwortete ein anderer Ashaki. »Wir versuchen seit Jahrhunderten, sie zu finden. Ich bin davon überzeugt, dass vor uns schon jemand hier gewesen sein muss.«

»Ich bezweifle, dass wir ihnen schon so nahe sind«, warf ein dritter Magier ein. »Sonst hätten sie mittlerweile versucht, uns aufzuhalten.«

Achati klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Sie werden das Risiko nicht eingehen, dass unser kyralischer Freund verletzt werden könnte. Es würde ihnen nichts ausmachen, uns anzugreifen, aber sie werden es nicht wagen, einen Gildemagier zu töten, für den Fall, dass das unsere Nachbarn dazu treibt, sich uns anzuschließen, um Sachaka von seinem Verräterinnenproblem zu befreien.«

»Dann sollten wir uns besser dicht bei dem Botschafter halten«, sagte der erste Ashaki. Dann senkte er die Stimme. »Wenn auch nicht so dicht, dass wir den Gestank unseres Fährtensuchers ertragen müssen.«

Die anderen lachten leise. Dannyl blickte an ihnen vorbei und sah, dass Unh etwa hundert Schritte entfernt stand und ihn heranwinkte. Es war offensichtlich, dass der Düna seine Hilfe der der Sachakaner vorzog. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen. Diese letzte Bemerkung hat klargemacht, dass sie auf sein Volk hinabblicken. Obwohl ich zugeben muss, dass der Mann tatsächlich nicht allzu gut riecht. Trotzdem, ich wette, ich rieche auch nicht besonders gut, nachdem ich tagelang ohne ein Bad oder frische Kleider durch die Berge gewandert bin.

Er schloss zu Unh auf, und sie setzten ihren Weg fort. Schon bald mussten sie auf der anderen Seite des Felskamms nach unten schweben und dann zwei weitere Wände hinauf. Jedes Mal fand Unh die Spur wieder. Die Zeit verstrich, und schon bald näherte sich die Sonne dem Horizont. Sie kamen in eine schmale Schlucht. Unh zögerte am Eingang, dann bedeutete er Dannyl, dass er neben ihm hergehen solle.

»Haltet Euren magischen Schild hoch«, sagte er. »Haltet ihn stark.«

Dannyl befolgte den Rat des Mannes. Er spürte einen Schauder im Nacken, als er und der Düna langsam durch die Mitte der Schlucht gingen. Als er sich umschaute, sah er, dass die Sachakaner ihnen mit grimmiger Miene folgten. Sie warfen argwöhnische Blicke auf die Wände der Schlucht.

Nach mehreren hundert Schritten zogen sich die Wände zurück, und der Boden der Schlucht verbreiterte sich und wurde vor ihnen zu einem kleinen Tal. Unh stieß einen Seufzer aus und murmelte etwas.

Dann erschütterte ein Krachen die Luft. Das Geräusch kam von irgendwo hinter ihnen. Dannyl und Unh fuhren herum und rissen die Hände hoch, als Steine auf sie zuflogen, trotz der Barriere, die sie schützte. Sie wichen zurück. Ein Staubnebel hatte die Schlucht erfüllt.

Langsam legte sich der Dunst, und ein riesiger Haufen Steine wurde sichtbar.

Wo sind die Sachakaner? Sind sie begraben? Dannyl machte einen Schritt vorwärts und wurde am Arm festgehalten. Er drehte sich zu Unh um, doch der Mann sah nicht ihn an, sondern schaute zum Tal hinüber. Als Dannyl seinem Blick folgte, sah er eine einzelne Gestalt auf sie zukommen. Sein Herz setzte einen Schlag aus.

Lorkin!

»Ihnen wird nichts geschehen«, sagte der junge Magier. »Sie hatten starke Barrieren. Es wird nur einige Minuten dauern, bis sie sich befreien und herausfinden, wie sie zu Euch durchkommen können, daher kann ich nicht lange bleiben.« Er lächelte und blieb einige Schritte entfernt von Dannyl stehen. »Wir müssen reden.«

»Das müssen wir allerdings«, stimmte Dannyl ihm zu.

Lorkin sah gesund aus. Er war sogar ein wenig braun geworden. Und obwohl er Sklavenkleidung trug, schien er sich darin seltsam wohl zu fühlen. Vielleicht lag das nur daran, dass er sie nun schon seit einigen Tagen trug.

»Setzen wir uns«, sagte Lorkin. Er ging zu einem niedrigen Steinbrocken und hockte sich hin. Dannyl suchte sich einen anderen Felsen. Unh blieb stehen. Der Düna beobachtete Lorkin mit neugieriger, wissender Miene.

Plötzlich verstummten alle Geräusche in der Schlucht. Dannyl vermutete, dass Lorkin eine Barriere geschaffen hatte, um zu verhindern, dass ihr Gespräch belauscht wurde. Belauscht von Unh oder auch von anderen?

»Ihr müsst viele Fragen haben«, begann Lorkin. »Ich werde mein Bestes tun, sie zu beantworten.«

Dannyl nickte. Wo sollte er anfangen? Vielleicht an dem Punkt, an dem alles begonnen hatte schiefzugehen.

»Wer hat die Sklavin in Eurem Zimmer getötet?«

Lorkin lächelte schief. »Die Frau, mit der ich gereist bin. Sie hat mir das Leben gerettet.«

»Tyvara?«

»Ja. Die Frau, die Ihr tot in meinem Zimmer aufgefunden habt, hat versucht, mich zu töten. Tyvara sagte, andere würden versuchen, ihre Aufgabe zu vollenden, und sie hat sich erboten, mich in Sicherheit zu bringen.«

»Wer will Euren Tod und warum?«

Lorkin verzog das Gesicht. »Das ist ziemlich kompliziert. Ich kann Euch nicht sagen, wer, aber ich kann Euch sagen, warum. Es liegt nicht daran, dass mein Vater irgendeinen Ichani getötet hat. Es geht um etwas anderes, das er getan hat. Oder vielmehr um etwas, das er nicht getan hat. Erinnert Ihr Euch daran, dass jemand ihm bei seiner Flucht aus Sachaka geholfen hat, indem er ihn schwarze Magie lehrte?«

Dannyl nickte.

»Nun, diese Person war eine Verräterin. Er hat sich bereit erklärt, ihnen etwas als Gegenleistung zu geben, aber er hat es nie getan. Tatsächlich war es etwas, das zu geben er nicht befugt war, aber ich schätze, er war verzweifelt darauf bedacht, nach Hause zurückzukehren, und hätte allem zugestimmt.« Lorkin zuckte die Achseln. »Ich muss das mit den Verräterinnen klären. Und… es gibt noch andere Dinge. Ich musss ihnen sagen, was mit Riva geschehen ist – der Sklavin, die Tyvara getötet hat –, oder Tyvara wird wegen Mordes angeklagt und hingerichtet werden. Also müsst Ihr aufhören, mir zu folgen.«

»Woher wusste ich nur, dass Ihr das sagen würdet?«, bemerkte Dannyl seufzend.

»Sie werden Euch töten, wenn Ihr es nicht tut«, erklärte Lorkin. Die Miene des jungen Mannes war ernster, als Dannyl sie je zuvor gesehen hatte. »Sie wollen es nicht tun. Ich glaube auch nicht, dass sie die Sachakaner töten wollen … Nun, ich vermute, sie würden sie liebend gern töten, nur nicht hier und jetzt. Ihnen ist eines absolut klar: Je mehr Menschen sie töten, um ihren Standort geheim zu halten, desto mehr Menschen werden versuchen, sie zu finden.«

Dannyl nickte. »Ihr wollt also, dass Unh und ich so tun, als hätten wir die Spur verloren.«

»Ja. Oder was immer Ihr sagen müsst, um der Suche ein Ende zu bereiten.«

Irgendwie glaube ich nicht, dass die Sachakaner nach diesem Zwischenfall groß überredet werden müssen, überlegte er und betrachtete die Felsen, die die Schlucht versperrten. Was ist mit Unh? Ich schätze, er wird Befehle befolgen. Dannyl dachte an die Edelsteine und sah Lorkin forschend an.

»Ihr tut das nicht nur wegen Eures Vaters und dieser Frau, nicht wahr?«

Der junge Mann blinzelte, dann lächelte er. »Nein. Ich will mehr über die Verräterinnen in Erfahrung bringen. Sie haben keine Sklaven, und ihre Gesellschaft ist vollkommen anderes strukturiert als unsere. Ich denke, sie haben möglicherweise Formen von Magie, von denen wir nie gehört haben – oder die wir seit Tausenden von Jahren nicht mehr gesehen haben. Möglicherweise wäre es nützlich, freundschaftliche Bande mit ihnen zu knüpfen. Ich denke… ich denke, dass wir uns gut mit ihnen stellen müssen, weil wir es eines Tages mit ihnen zu tun haben werden statt mit den Leuten, die heute über Arvice herrschen.«

Dannyl fluchte. »Wenn es zu einem Krieg kommt, bezieht auf keinen Fall Stellung«, warnte er. »Falls sie verlieren, seid Ihr möglicherweise nicht immun gegen die Konsequenzen.«

»Das würde ich auch nicht erwarten.« Lorkin zuckte die Achseln. »Aber mir sind die Probleme, die das der Gilde bereiten würde, durchaus bewusst. Für den Augenblick wäre es besser, wenn alle so täten, als hätte ich die Gilde verlassen. Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich hier werde bleiben müssen.« Er runzelte die Stirn. »Es besteht die Möglichkeit, dass sie mich nicht wieder fortlassen, falls ich anderen erzähle, wie sie zu finden sind. Ich habe das alles übrigens auch schon Mutter erklärt.«

»Oh. Gut.« Dannyl stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ist Euch klar, wie sehr ich mich davor gefürchtet habe, ihr von Eurem Verschwinden zu berichten?«

»Ja.« Lorkin lachte leise. »Das tut mir wirklich leid.« Dann wich die Erheiterung aus seinen Zügen, und er verzog das Gesicht. Er blickte hinab und öffnete die Finger einer Hand. Darin lag ein Blutring. Er hielt ihn Dannyl mit offensichtlichem Widerstreben hin. »Nehmt ihn. Ich wage nicht, ihn länger bei mir zu tragen. Wenn sie ihn bei mir fänden, würde sie das wohl kaum ermutigen, mir zu vertrauen, und ich will das Risiko nicht eingehen, dass er in andere Hände fällt.«

Dannyl nahm den Ring. »Er gehört Sonea?«

»Ja.« Aus dem Haufen Steine hinter ihnen kam ein gedämpftes Rumoren. Lorkins Blick wanderte in diese Richtung, und er stand auf. »Ich muss gehen.«

Als Unh die Bewegung wahrnahm, drehte er sich zu ihnen um. Einmal mehr musste Dannyl an die Höhle voller Edelsteine denken.

»Mein Freund hier – er kommt übrigens vom Stamm der Düna – hat mir gestern etwas Interessantes erzählt. Er sagte, sein Volk wisse, wie man Edelsteine wie jene schaffen könne, die in der Höhle der Höchsten Strafe zu finden sind.«

Lorkins Augen leuchteten vor Interesse.

»Er sagte auch«, fuhr Dannyl fort, »dass die Verräterinnen seinem Volk dieses Wissen gestohlen hätten. Ihr solltet das vielleicht im Kopf behalten. Eure neuen Freunde haben möglicherweise auch einige unangenehme Eigenschaften.«

Der junge Magier lächelte. »Wer hätte denn keine? Aber ich werde es im Kopf behalten. Es ist eine interessante Information. Sehr interessant.« Seine Augen wurden für einen Moment schmal, dann sah er Dannyl an und umfasste seinen Oberarm. »Lebt wohl, Botschafter. Ich hoffe, Euer neuer Gehilfe wird Euch von größerem Nutzen sein, als ich es gewesen bin.«

Dannyl erwiderte die Geste. Dann zuckte er zusammen, als das Geräusch von vorhin abermals laut wurde. Lorkin trat zurück und hielt inne, um im Vorbeigehen etwas zu dem Düna zu sagen. Dannyl erhob sich und stellte sich neben Unh, und gemeinsam beobachteten sie, wie der Magier davonschritt.

»Was hat er dir gesagt?«, fragte Dannyl, als Lorkin schließlich außer Sicht war.

»Er sagte: ›Du bist der Einzige, dem Gefahr droht‹«, antwortete Unh. »Die Verräterinnen fürchten, ich könnte Euch zu ihrer Stadt führen.«

»Nicht ohne die Hilfe eines Magiers, nehme ich an.«

Der Düna sah ihn an und lächelte. »Nein.«

»Also schaffen wir dich wohl besser so früh wie möglich hier weg. Wie wäre es, wenn wir über diesen Haufen Steine schweben und nachsehen, ob irgendwelche von unseren sachakanischen Gefährten sich bereits ausgegraben haben?«

»Eine gute Idee«, stimmte der Düna ihm zu.


Als sie sich endlich von Skellin verabschiedet hatten, hatte Sonea gleichzeitig vor Frustration schreien und vor Erleichterung jubeln wollen.

Aber inzwischen könnte Dannyl Lorkin nicht nur gefunden haben, hatte sie gedacht, es könnte auch eine Schlacht stattgefunden haben, Beerdigungen für die Toten könnten arrangiert und eine Siegesfeier abgehalten worden sein. Osen muss inzwischen aufgehört haben, sich zu fragen, wo ich stecke. Außerdem hat er sicher erfahren, dass ich nicht im Hospital war, und jetzt wird er Kallen Anweisung geben, sich zu stärken, um sich für die Suche nach mir bereit zu machen.

Und alles umsonst. Nun, nicht ganz umsonst. Sie hatten eine wilde Magierin gefunden. Nur nicht diejenige, nach der sie gesucht hatten. Aber zumindest war sie von Skellin weggekommen, hatte sie überlegt, und endlich auf dem Rückweg zur Gilde.

Dann war etwas geschehen, das ihr Verlangen zurückzueilen, um Neuigkeiten zu hören, vollkommen ausgelöscht hatte. Sie hatte Lorkins Stimme in ihrem Kopf vernommen. Und Hinweise darauf empfangen, was er empfunden hatte.

Es war sehr erhellend gewesen.

Sie hatte ganz vergessen, wie gut ein Blutring den Gemütszustand des Trägers übermitteln konnte. Binnen kurzer Zeit hatte sie nicht nur erfahren, dass Lorkin noch lebte, sondern auch, dass er nicht um sein Leben bangte. Obwohl er sich nicht ganz sicher gewesen war, wie seine Begleiterinnen ihn behandeln würden, respektierte er sie doch im Allgemeinen und glaubte, dass sie wohlmeinend waren. Er war hingerissen von der Frau, die ihn gerettet hatte, aber das Gefühl der Verpflichtung, das er ihr gegenüber hatte, basierte nicht allein auf Verlangen oder Zuneigung.

Ah, Lorkin. Warum muss immer eine Frau im Spiel sein?

Lorkin war so sicher, wie sie nur hoffen konnte, wenn man die Situation bedachte. Sie hätte ihn lieber zu Hause gehabt, und ihr gefiel die Andeutung nicht, dass diese Verräterinnen ihn nicht aus ihrer Stadt lassen würden, aber er hatte beschlossen, das Risiko einzugehen, und sie konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern.

Zumindest ist er weit entfernt von den Leuten, die versucht haben, ihn zu töten.

Als sie in den Wagen gestiegen waren, hatte sie sich schon viel besser gefühlt. Aber sie waren noch nicht weit gekommen, als Forlie begonnen hatte zu stöhnen, um sich Kopf und Magen zu halten. Eine schnelle Untersuchung sagte Sonea, dass die Frau besonders anfällig für Reisekrankheit war, daher hatten sie dem Fahrer Anweisung geben müssen, das Tempo zu drosseln.

Sie fragte sich, ob Lorkin schon auf Dannyl getroffen war. Und ob Osen nach ihr suchte, um ihr von den guten Neuigkeiten zu erzählen.

Die Kutsche wurde noch langsamer. Draußen rief eine Frau irgendetwas. Sonea tauschte einen besorgten Blick mit Regin, als der Wagen stehen blieb. Forlie begann vor Furcht zu wimmern.

Sie alle zuckten zusammen, als jemand an die Seite des Wagens hämmerte.

»Schwarzmagierin Sonea«, rief jemand. Eine junge Frau, vermutete Sonea. »Ihr müsst herauskommen. Ihr habt die Falsche erwischt.«

Sonea rutschte zur hinteren Lasche der Bedeckung der Kutsche und zog sie beiseite. Die Straße dahinter war leer bis auf einige Personen in der Ferne. Wieder klopfte jemand an den Wagen.

»Ich arbeite für Cery«, sagte die Frau. »Ich –«

»Wir wissen, dass sie die falsche Magierin ist«, rief Sonea zurück. »Cery hat es uns gesagt.«

Eine schlanke junge Frau erschien und eilte um den Wagen herum, um Sonea stirnrunzelnd zu mustern.

»Dann… habt Ihr nicht… wisst Ihr nicht…« Das Mädchen brach ab und holte tief Luft. »Ich weiß, wo die wahre wilde Magierin ist. Ich habe Euch und Cery vom Dach eines der anderen Gebäude aus beobachtet und gesehen, wie sie aufgetaucht ist, um das Gleiche zu tun. Ich denke, sie ist immer noch dort.«

Regin stieß einen Fluch aus. Sonea drehte sich zu ihm um.

»Geht«, sagte er. »Ich werde Forlie ins Hospital bringen und zurückkommen.«

»Aber…« Aber was ist, wenn die Frau bereits fortgegangen ist? Meine Abwesenheit ist vielleicht noch nicht bemerkt worden. Wenn es so ist, werde ich weiter nach ihr suchen können.

»Ihr solltet gehen«, sagte sie zu Regin. »Wenn ich gehe und sie bereits fort ist und ich erkannt werde, dann wird die Gilde nicht zulassen, dass ich weiter nach ihr suche…«

»Ihr müsst diejenige sein, die sie fängt.« Regin sah sie an, und sein Blick war eindringlich und unerwartet wütend. »Die Leute müssen sehen, wie Ihr es tut. Sie müssen sich daran erinnern, dass Ihr mehr seid als eine Heilerin. Dass die Einschränkungen, die man Euch auferlegt, eine Verschwendung sind.« Er streckte die Hand aus. »Geht! Bevor sie davonkommt!«

Sonea sah ihn einen Moment lang an, dann zog sie die Lasche weit auf und sprang auf die Straße. Ihr Mantel ging auf, und die Augen der jungen Frau weiteten sich, als sie die schwarzen Roben sah. Sonea knöpfte den Mantel zu. »Wie heißt du?«

»Anyi.« Das Mädchen straffte die Schultern. »Folgt mir.« Sie lief los, zurück in Richtung der alten Schlachterei.

»Hast du es Cery schon gesagt?«, fragte Sonea.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich konnte ihn nicht finden.«

Sie gelangten in ein Labyrinth aus Gassen und liefen von Schatten zu Schatten. Sonea stellte fest, dass eine seltsame Mischung aus lang vergessener Erregung und etwas Urtümlicherem ihr Herz schneller schlagen ließ. Ich bin wie ein Jäger, der im Begriff steht, seine Beute zu fangen, ging es ihr durch den Kopf. Dann fiel ihr wieder ein, wie es sich anfühlte, Angst zu haben und von mächtigen Magiern gejagt zu werden, und dieser Gedanke ernüchterte sie. Trotzdem, diese Frau ist kein unausgebildetes Kind. Warum hat sie uns beobachtet? Wusste sie von Skellins Falle?

Die Frau musste davon gewusst haben. Wie hatte sie es herausgefunden? Hatte sie Forlie an ihrer Stelle dort hingeschickt? In der Nähe der alten Schlachterei bog Anyi in eine Gasse ein. Am entgegengesetzten Ende konnte Sonea eine belebte Hauptstraße sehen.

»Sie war auf dem Dach dieses Gebäudes«, erklärte sie. »Da ist eine Stelle, die man von hier aus nicht sieht, wo man hinaufklettern kann…«

Das Mädchen war im Begriff gewesen, in eine kleine Sackgasse zu laufen, aber plötzlich blieb es stehen und wich zurück.

»Das ist sie!«, zischte sie und streckte die Hand aus.

Ihr Finger zeigte nach oben. Sonea blickte auf, nahm eine Bewegung wahr und spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief. Sie zog Magie in sich hinein und riss einen Schild um sie beide herum hoch. Eine Frau schwebte in die Seitengasse hinab und verschwand in der Dunkelheit.

»Könnt Ihr sie dort drin fangen?«, fragte Anyi. Plötzlich erklang das Geräusch von eilig näher kommenden Schritten.

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, antwortete Sonea und sah Anyi an. »Wenn Regin zurückkommt, bring ihn hierher.«

Anyi nickte und rannte davon. Sonea veränderte ihren Schild so, dass das Mädchen hinausgelangen konnte. Als sie sich wieder umdrehte, stand die Frau kurz davor, aus der Gasse zu erscheinen.

Sonea trat vor und riss eine Barriere hoch, um der Frau den Weg zu versperren.

Überraschung, Schock und Unwillen huschten über das dunkle Gesicht der Frau. Dann wurden ihre seltsamen, länglichen Augen schmal. Eine Macht hämmerte gegen die Barriere. Es war kein Testangriff, sondern ein Stoß, der stärker war, als Sonea erwartet hatte, und zur gleichen Zeit schoss ein weiterer Machtstrahl auf sie zu. Die Barriere schwankte und fiel, bevor Sonea eine Chance hatte, sie zu stärken.

Die Frau huschte aus der Sackgasse und rannte auf die Hauptstraße zu. Sonea lief hinter ihr her und warf eine weitere, stärkere Barriere aus, die sie umschlingen sollte, aber die Frau zerschmetterte dieses Hindernis mit einem heftigen Angriff. Einen Moment später hatte die wilde Magierin sich unter die Menschen gemischt, die auf der Straße ihrer Wege gingen.

Sonea erreichte den Eingang der Gasse einen Moment später. Sie sah die Frau innehalten und sich umdrehen, doch sie war bereits tief in den Strom der Menschen vorgedrungen. Als sie ihre unverkennbare rötlich braune Haut sah, begriff sie, warum Cery sich so sicher gewesen war, dass es sich bei Forlie nicht um die Frau handelte, die er gesehen hatte. Als Skellins Gesicht in Soneas Erinnerung aufblitzte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Die gleiche rötliche dunkle Haut. Die gleichen seltsamen Augen.

Diese Frau ist von derselben Rasse!

Ein Lächeln umspielte die Lippen der Frau. Ein gefährliches, triumphierendes Lächeln.

Sie denkt, ich werde es wegen all der Menschen hier nicht wagen, Magie zu benutzen, und sie hat recht. Außerdem will ich nicht das Risiko eingehen, ihr etwas anzutun. Obwohl es die Dinge für die Gilde gewiss vereinfachen würde, wenn die Frau zu Tode käme.

Um dieses Schicksal zu verdienen, müsste sie etwas viel Schlimmeres tun, als eine wilde Magierin zu sein, die als Erpresserin für Feuelverkäufer arbeitet.

Und es wäre viel schwieriger für Sonea, Verzeihung für diesen Verstoß gegen die Regeln zu erhalten, wenn ihr Ungehorsam dazu führte, dass jemand starb.

Außerdem brauchen wir sie lebend, um herauszufinden, woher sie gekommen ist und ob es dort weitere Magier wie sie gibt. Und um zu erfahren, warum sie uns dabei beobachtet hat, wie wir Forlie gefangen haben.

Sonea zog Magie in sich hinein. Unmengen von Magie. Sie hatte keine Ahnung, für wie lange sie die Frau aufhalten konnte. Obwohl sie über schwarze Magie gebot – und wusste, wie man Macht von Magiern, gewöhnlichen Menschen und sogar Tieren nahm und sie speicherte, bis sie benötigt wurde –, hatte Sonea dies doch seit über zwanzig Jahren nicht mehr getan. Es war ihr verboten, es sei denn, die Höheren Magier befahlen es ihr.

Sie war nicht mächtiger als zu der Zeit, bevor sie schwarze Magie erlernt hatte. Nicht mächtiger, als sie es als Novizin gewesen war.

Aber sie war eine außerordentlich mächtige Novizin gewesen.

Mit der angesammelten Magie griff Sonea über die Köpfe der Menschen zwischen ihr und der wilden Magierin hinweg und umgab die Frau mit einer Kugel aus Macht. Sofort begann die Frau in alle Richtungen anzugreifen, aber obwohl ihre Angriffe mächtig waren, hatte Sonea dies doch erwartet und sorgte dafür, dass die sie umgebende Barriere stark blieb.

Beim Aufblitzen und den Vibrationen von Magie waren die Menschen von der Frau weggehuscht. Sonea schlüpfte aus dem alten Mantel und warf ihn beiseite. Wenn die Menschen sich hinreichend erholt hatten, um innezuhalten und zuzuschauen, wollte sie nicht, dass sie sich fragten, warum sie den Mantel getragen hatte.

Der schwarze Stoff ihrer Roben regte sich in einer leichten Brise, als sie aus dem Eingang der Gasse trat und auf die wilde Magierin zuging. Sie hörte Ausrufe von beiden Seiten, wo sich zweifellos Zuschauer versammelten, hielt ihre Aufmerksamkeit jedoch auf die Frau gerichtet. Die wilde Magierin fauchte und griff die Barriere mit neuer Wucht an. Sonea stärkte sie weiter und versuchte, sich keine Sorgen darüber zu machen, wie schnell sie ihre magischen Reserven aufbrauchte.

Wie lange kann ich noch so weitermachen? Wie lange kann sie so weitermachen?

Links und rechts von ihr brandete Lärm auf. Zuerst begriff Sonea nicht, was es war, und als sie es begriff, geriet ihre Konzentration vor Erstaunen für einen Moment ins Wanken.

Die Menge jubelte.

Durch das Geräusch drang eine andere Art von Ausrufen. Aus dem Augenwinkel sah sie jemanden herannahen. Jemanden, der Purpur trug.

»Braucht Ihr Hilfe?«, erklang eine junge Männerstimme.

Ein Alchemist. Jedoch niemand, den sie kannte.

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»Ja«, sagte sie. »Kommt her.« Sie ließ ihn in ihre Barriere ein und hielt ihm eine Hand hin. »Sendet mir Eure Magie.«

»Auf die altmodische Weise?«, fragte er überrascht.

Sie lachte. »Natürlich. Ich denke, mit vereinten Kräften werden wir mit einer einzelnen wilden Magierin schon fertig.«

Er ergriff ihre Hand, und sie spürte, wie Magie in sie hineinströmte. Sie leitete sie in die Barriere. Der Alchemist stieß einen Ruf aus, und sie sah, dass eine weitere Magierin näher kam. Diesmal war es eine Heilerin. Als die Frau Soneas andere Hand ergriff, erwartete Sonea beinahe, dass die wilde Magierin aufgeben würde. Aber die Fremdländerin kämpfte weiter.

Doch ihre Angriffe wurden immer schwächer und schwächer. Sonea verspürte unerwartetes Mitgefühl, als die Frau ihre gesamte Stärke gegen die Barriere schleuderte, bis sie schließlich innehalten musste, magisch und körperlich erschöpft. Die Schultern der wilden Magierin sackten herunter. Sie wirkte ausgezehrt und resigniert.

Sonea ließ die Hände der beiden Magier los und sah sie an.

»Danke.«

Der Alchemist zuckte die Achseln, und die Heilerin murmelte etwas wie »Das ist doch selbstverständlich«. Sonea richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die wilde Magierin. Mit langsamen, gemessenen Schritten ging sie auf sie zu. Der Alchemist und die Heilerin begleiteten sie. Die wilde Magierin musterte Sonea mürrisch, als sie vor ihr stehen blieb.

»Wie ist Euer Name?«, fragte Sonea.

Die Frau gab keine Antwort.

»Kennt Ihr das Gesetz bezüglich der Magier in den Verbündeten Ländern? Das Gesetz, das besagt, dass alle Magier Mitglied der Magiergilde sein müssen?«

»Ich kenne es«, erwiderte die Frau.

»Und doch seid Ihr hier, eine Magierin, die kein Mitglied der Gilde ist. Warum?«

Die Frau lachte. »Ich brauche Eure Gilde nicht. Ich habe Magie gelernt, lange bevor ich in dieses Land kam. Warum sollte ich vor Euch katzbuckeln?«

Sonea lächelte. »In der Tat, warum?«

Die Frau funkelte sie an.

»Also«, fuhr Sonea fort. »Wie lange lebt Ihr schon innerhalb der Verbündeten Länder?« »Zu lange.« Die Frau spuckte aus.

»Wenn es Euch hier nicht gefällt, warum bleibt Ihr dann?« Die Frau starrte Sonea hasserfüllt an. »Wie lautet der Name Eures Heimatlandes?« Die wilde Magierin presste halsstarrig die Lippen zusammen.

»Also schön.« Sonea zog die Barriere um die Frau näher zu sich heran. »Ob es Euch gefällt oder nicht, die Magiergilde ist von Gesetzes wegen verpflichtet, sich um Euch zu kümmern. Wir bringen Euch jetzt in die Gilde.«

Wut verzerrte das Gesicht der Frau, und ein neuer Schwall von Macht hämmerte gegen die sie umgebende Barriere, aber es war ein schwacher Angriff. Sonea erwog die Möglichkeit abzuwarten, bis die Frau müde wurde, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie ließ die Barriere um die Frau zusammenschrumpfen, bewegte sie in die Mitte der Straße und begann anschließend, sie energisch, aber sanft vorwärtszudrängen. Die Heilerin und der Alchemist gaben ihr Geleit.

Und auf diese Weise eskortierten sie die zweite wilde Magierin, die sie an diesem Tag gefunden hatten, durch mit neugierigen Zuschauern gesäumte Straßen zur Gilde.

28 Fragen

Die Binde über Lorkins Augen juckte, aber seine Arme wurden von zwei Verräterinnen festgehalten. »Wir bleiben stehen«, sagte eine der Frauen und hielt ihn an. »Jetzt gehen wir weiter.«

Die andere Frau ließ seinen Arm los, und er nutzte die Gelegenheit, um sich zu kratzen. Als sie einen Augenblick später aufwärtsgingen, wappnete er sich. Sein Magen schlingerte. Lange Momente spürte er wieder den unebenen Boden unter den Füßen. Die Frau zog an ihm.

»Sei vorsichtig, der Boden hier steigt stark an. Zieh den Kopf ein.«

Er spürte eine plötzliche Kühle und vermutete, dass sie aus dem Sonnenlicht in die Dunkelheit getreten waren. Aber das war nicht alles. Es lag Feuchtigkeit in der Luft und ein schwacher Geruch nach faulender Vegetation oder Moder. Seine Führerin blieb stehen.

»Wir kommen jetzt zu einigen Stufen, die nach unten führen. Es sind vier.«

Er fand mit den Zehen die Kante und trat dann vorsichtig nach unten. Die Stufen waren breit und flach, und an der Art, wie die Geräusche widerhallten, erkannte er, dass sie eine Höhle oder einen Raum betreten hatten. Einige Schritte entfernt hörte er das Plätschern von Wasser. »Von jetzt an bleibt alles flach.«

Es war nicht die Wahrheit, wie er erkennen konnte, als er weiterging. Der Boden war glatt, aber er stieg definitiv allmählich an. Er lauschte auf das Geräusch der Schritte der Gruppe und auf das Fließen von Wasser. Falls es irgendwelche Biegungen gab, lagen sie zu weit auseinander, als dass er sie hätte wahrnehmen können.

Irgendwo vor ihm machte er das Geräusch von Wind aus. Von raschelnder Vegetation und fernen Stimmen. Nach einigen weiteren Schritten schloss er aus der Art, wie die Geräusche ihn umringten, dass er jetzt im Freien war. Er spürte die Wärme von Sonnenlicht auf dem Gesicht und eine kühle Brise auf der Haut. Dann hörte er jemanden Savaras Namen sagen.

Ohne Vorwarnung wurde ihm die Binde abgenommen, und er blinzelte in das grelle Licht der Mittagssonne. Bevor seine Augen sich angepasst hatten, zog die Verräterin, die ihn geführt hatte, ihn am Arm, um ihm zu bedeuten, dass er weitergehen solle.

Savara führte die Gruppe an und nahm einen Weg zwischen hohen, sich wiegenden Halmen hindurch. Ihm wurde klar, dass dies der Rand eines Getreidefelds war, und aus den obersten Blättern ragten große Samenköpfe. Der Pfad stieg steil an, und schon bald schaute er auf ein breites Tal hinab.

Zu beiden Seiten erhoben sich steile Wände, die sich am anderen Ende des Tals trafen. Felder zogen sich über den Boden, ein jedes in einer anderen Höhe, wie schlecht verlegte Fliesen, aber alle in sich eben. Die grünen Terrassen führten Stufe um Stufe zu einem langgestreckten, schmalen See hinab, dort, wo das Tal am tiefsten war. Nicht ein Fleckchen wird verschwendet, dachte er. Wie sonst sollten sie eine ganze Stadt ernähren? Aber wo sind die Gebäude?

Eine Bewegung an der Talwand, die ihm am nächsten war, beantwortete diese Frage. Jemand blickte durch ein Loch im Felsen. Einen Moment später erkannte er, dass die ganze Wand von Löchern durchsetzt war, von einem Ende des Tals zum anderen.

Eine in den Fels gehauene Stadt. Er schüttelte staunend den Kopf.

»Das war bereits hier, als wir das Tal fanden«, erklang eine vertraute Stimme an seiner Seite.

Er sah Tyvara überrascht an. Sie hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie sich Savaras Gruppe angeschlossen hatten.

»Natürlich haben wir die Stadt erheblich vergrößert«, fuhr sie fort. »Vieles von dem alten Teil ist eingestürzt und musste, sechzig Jahre nachdem die ersten Verräterinnen sich hier niederließen, ersetzt werden.«

»Wie tief sind die Höhlen?«

»Meistens nur ein oder zwei Räume tief. Die Stadt ist ungefähr halb so groß wie Arvice. Wir haben hier ab und zu Beben, und einzelne Teile stürzen ein. Obwohl wir erheblich besser darin geworden sind zu beurteilen, ob der Fels sicher ist, bevor wir neue Räume schaffen und sie dann mit Magie verstärken, fühlen die Menschen sich doch wohler, wenn sie in der Nähe der Außenwände leben.«

»Ich kann verstehen, warum sie so empfinden.«

Jetzt konnte er erkennen, dass ein Teil des Sockels der Wand durch stabile Torbögen unterbrochen wurde, durch die Menschen die Stadt betraten und verließen. Anderenorts gab es kleinere, in größeren Abständen verteilte Öffnungen. Die Bögen deuteten einen formelleren, öffentlichen Eingang an, und es überraschte ihn nicht, als Savara darauf zuhielt.

Aber nicht lange danach war sie gezwungen, stehen zu bleiben. Eine Menschenmenge hatte sich gebildet. Lorkin wunderte sich nicht darüber, dass viele von ihnen ihn anstarrten. Einige waren offensichtlich neugierig, aber andere wirkten argwöhnisch. Manche hatten eine zornige Miene aufgesetzt, aber ihr Zorn galt nicht ihm. Er galt Tyvara.

»Mörderin!«, riefen einige von ihnen. Es folgten hier und da zustimmende Laute. Aber andere Leute runzelten bei der Anklage die Stirn, und manche protestierten sogar.

»Aus dem Weg«, befahl Savara entschieden, aber nicht wütend.

Die Leute, die ihnen den Weg verstellten, gehorchten. Lorkin las Respekt in ihren Gesichtern, wenn sie Savara ansahen. Sie ist definitiv eine Verräterin, mit der man sich gutstellen sollte, ging es ihm durch den Kopf, während die Gruppe ihrer Anführerin zu den Bögen und hinein in die Stadt folgte.

Eine breite, aber niedrige Halle, die von mehreren Säulenreihen getragen wurde, lag vor ihnen.

»Sprecherin Savara«, erklang eine Stimme. »Es freut mich zu sehen, dass du sicher zurückgekehrt bist.«

Die Sprecherin war eine kleine, rundliche Frau, die vom hinteren Teil der Halle auf sie zukam. Ihre Stimme klang befehlsgewohnt. Savara verlangsamte ihre Schritte, während sie ihr entgegenging.

»Sprecherin Kalia«, erwiderte sie. »Hat die Tafel sich versammelt?«

»Alle, bis auf dich und mich.«

Lorkin spürte, dass etwas gegen seinen Arm stieß. Tyvara. Sie formte mit den Lippen einige Worte, aber er konnte sie nicht verstehen, daher beugte sie sich näher zu ihm.

»Andere Partei«, flüsterte sie. »Anführerin.«

Er nickte zum Zeichen, dass er verstand, dann musterte er die Frau eingehender. Das ist also diejenige, die befohlen hat, mich zu töten. Sie war älter als Savara, wahrscheinlich älter als seine Mutter, da die Rundheit ihres Gesichts die Falten glättete, die eine Frau ihres Alters normalerweise haben würde. Die Schärfe ihres Blicks und die Form ihrer Lippen straften ihr sanftes Auftreten Lügen. Sie verliehen ihr etwas Gemeines, befand er. Aber vielleicht wurde seine Wahrnehmung von dem Wissen getrübt, dass sie ihn tot sehen wollte. Vielleicht fanden andere sie anziehend und mütterlich.

Kalia ließ den Blick über die Mitglieder von Savaras Gruppe gleiten, und ihre Nase zuckte. Lorkin wurde bewusst, dass die Sklavengewandung, die er und einige der anderen trugen, jetzt deplatziert wirkte. Savara wandte sich an zwei ihrer Begleiterinnen.

»Bringt Tyvara in ihr Zimmer und bewacht die Türen.«

Sie nickten, und als sie Tyvara ansahen, trat diese ihnen entgegen. Ohne ihn anzuschauen oder ein Wort zu sagen, schritt sie davon. Savara blickte eine andere Verräterin an.

»Such Evana und Nayshia und lass sie so bald wie möglich Ishiya und Raiana ersetzen.« Sie sah die beiden letzten Frauen an. »Geht. Ruht euch etwas aus.«

Als die Frauen fort waren, wandte Savara sich an Lorkin. »Ich hoffe, du bist bereit, eine Menge Fragen zu beantworten.«

Er lächelte. »Das bin ich.«

Aber als sie und Kalia ihn flankierten und aus der Halle in einen breiten Flur führten, wurde ihm klar, dass er sich keineswegs bereit fühlte. Er wusste, dass es hier eine Königin gab, aber es war plötzlich klar, dass Tyvara und Chari versäumt hatten, ihm zu erzählen, wie die Macht unterhalb der königlichen Ebene aufgeteilt war. Er wusste, dass seine beiden Begleiterinnen Sprecherinnen waren, aber er hatte keine Ahnung, wie genau sie in die Hierarchie hineinpassten.

Savara hat gefragt, ob eine Tafel sich versammelt habe. Ich schätze, damit ist kein Möbelstück gemeint. Sie sind beide Teil davon, daher vermute ich, dass es sich um eine Art von Gruppe handelt wie die Höheren Magier. Mit jemandem, der die Formalitäten und Zeremonien leitet, wie Administrator Osen es bei Versammlungen der Gilde tut.

Das Licht im Flur war gedämpft, aber hell genug, um den Weg zu beleuchten. Außerdem hatte es Farbe – eine Farbe, die sich bewegte und veränderte. Auf der Suche nach der Quelle blickte er sich um und stellte fest, dass es von hellen, ins Dach eingelassenen Lichtpunkten kam.

Edelsteine! Magische Edelsteine! Er versuchte, im Vorbeigehen ihre Form auszumachen, aber sie waren zu hell, um direkt hineinzuschauen. Sie hinterließen Flecken, die vor seinen Augen trieben, daher zwang er sich, den Blick abzuwenden.

Der Flur war nicht lang, und Savara und Kalia führten ihn durch eine breite Tür in einen großen Raum. An einem Ende stand ein runder steinerner Tisch. Daran saßen vier Frauen, und zwei leere Stühle warteten. Am entgegengesetzten Ende des Tisches saß eine grauhaarige Frau, die den gleichen müden Blick hatte, den Osen immer zu haben schien.

Sie ist das Gegenstück der Verräterinnen zu unserem Administrator, möchte ich wetten.

Am näher gelegenen Ende stand ein weiterer leerer Stuhl, größer und mit Edelsteinen besetzt. Der Rest des Raums war fächerförmig mit dem Tisch als Zentrum. Der Boden erhob sich, von der Tafel ausgehend, in Stufen und war mit Polstern ausgelegt. Für die Zuhörer, obwohl heute keine hier sind.

Savara bedeutete ihm, vor den Tisch zu treten, dann nahmen sie und Kalia ihre Plätze ein.

»Willkommen, Lorkin von der Magiergilde Kyralias«, begann die müde Frau. »Ich bin Riaya, Vorsitzende der Tafel. Dies sind Yvali, Shaiya, Kalia, Lanna, Haiana und Savara, Sprecherinnen für die Verräterinnen.«

»Danke, dass ihr mir Einlass in eure Stadt gewährt habt«, antwortete er mit einer schwachen Verbeugung, die er an alle Frauen richtete.

»Man hat mir zu verstehen gegeben, dass du aus freien Stücken ins Sanktuarium gekommen bist«, fuhr Riaya fort.

»Ja.«

»Warum?«

»In erster Linie, um bei Tyvaras Verhandlung zu ihren Gunsten zu sprechen.« »Und warum noch?«

Er hielt inne, um darüber nachzudenken, wie er beginnen sollte. »Man hat mir berichtet, dass mein Vater eurem Volk ein Versprechen gab, das er nicht hätte geben sollen. Wenn ich kann, würde ich die Angelegenheit gern bereinigen.«

Die Sprecherinnen tauschten einen Blick. Einige wirkten skeptisch, andere hoffnungsvoll. »Ist das alles?«

Lorkin schüttelte den Kopf. »Obwohl ich nur ein Gehilfe des Gildebotschafters in Sachaka war, ist mir doch bewusst, dass ein Teil der Aufgabe – ein Teil des Grundes, warum man überhaupt Botschafter hat – darin besteht, friedliche Verbindungen mit anderen Völkern anzustreben und aufrechtzuerhalten. Die Verräterinnen sind ein Teil Sachakas; wenn wir also keine Verbindungen mit ihnen anstreben, vernachlässigen wir einen wichtigen Teil des Landes. Selbst nach dem wenigen, was ich über die Verräterinnen weiß, ist mir klar, dass eure Werte eher zu denen der Verbündeten Länder passen. Ihr lehnt zum Beispiel Sklaverei ab.« Er holte tief Luft. »Wenn eine Chance besteht, auf eine vorteilhafte Verbindung zwischen uns hinzuarbeiten, fühle ich mich verpflichtet, der Möglichkeit nachzugehen.«

»Welchen möglichen Vorteil hätte ein solches Bündnis für uns?«, fragte Kalia, in deren Stimme deutliche Ungläubigkeit mitschwang.

Lorkin lächelte. »Handel.«

Kalia stieß ein scharfes, freudloses Lachen aus. »Wir haben bereits ehrlichen Handel mit euresgleichen angestrebt und es bedauert.«

»Du beziehst dich natürlich auf meinen Vater«, erwiderte er. »Mir wurde gesagt, dass Verräterinnen sich bereitfanden, ihn schwarze Magie im Gegenzug für heilende Magie zu lehren?«

Die sieben Frauen runzelten die Stirn.

»Schwarze Magie?«, wiederholte Riaya.

»Höhere Magie«, erklärte Lorkin.

»Dann entspricht das der Wahrheit«, sagte Riaya.

Lorkin schüttelte den Kopf. »Einzig die Höheren Magier der Gilde hätten mit Erlaubnis der Häupter der Verbündeten Länder diese Entscheidung treffen können. Das Heilen ist ein zu großes Geheimnis. Mein Vater hatte kein Recht, es anzubieten.«

Die Frauen begann plötzlich alle durcheinanderzureden, aber obwohl Lorkin nicht verstehen konnte, was jede einzelne von ihnen sagte, war die allgemeine Meinung klar. Sie waren wütend, aber auch verwirrt.

»Warum sollte er dann das Versprechen geben? Hatte er die Absicht, sein Wort zu brechen?«

»Es ist offenkundig, warum er getan hat, was er tat«, antwortete Lorkin. »Er war –«

Aber Kalia und die Frau neben ihr redeten noch immer – nach den Wortfetzen, die er auffing, stimmten sie einander darin zu, dass man Kyraliern nicht trauen könne.

»Lasst ihn sprechen«, befahl Riaya, deren Stimme die der anderen übertönte. Die beiden Frauen schwiegen. Kalia verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn hochmütig an.

»Mein Vater war verzweifelt«, rief Lorkin ihnen ins Gedächtnis. »Er war viele Jahre lang ein Sklave gewesen. Er wusste, dass sein Land in Gefahr war. Wahrscheinlich fand er, dass seine persönliche Ehre ein geringer Preis für die Sicherheit seines Landes war. Und wenn ihr jahrelang… ein Sklave gewesen wärt, wie viel Würde wäre euch dann noch verblieben?«

Er brach ab, als er begriff, dass er zu viel Gefühl in seine Worte gelegt hatte. »Ich habe eine Frage an euch«, sagte er.

»Du hast uns keine Fragen zu stellen«, höhnte Kalia. »Du musst warten, bis –«

»Ich würde seine Frage gern hören«, unterbrach Savara. »Stimmt mir irgendjemand zu?«

Die übrigen Frauen zögerten kurz, dann nickten sie.

»Sprich weiter, Lorkin«, forderte Riaya ihn auf.

»Man hat mir berichtet, euer Volk habe gewusst, dass mein Vater eine Zeit lang ein Sklave war, bevor ihr ihm diesen Handel angeboten habt. Warum habt ihr gewartet, bis es für euch vorteilhaft war, bevor ihr ihm eure Hilfe angeboten habt? Warum habt ihr einen so hohen Preis für diese Hilfe verlangt, obwohl ihr eure eigenen Leute doch ständig vor einer Tyrannei dieser Art rettet?«

Seine letzten Worte gingen in Protestrufen unter.

»Wie kannst du es wagen, unsere Großzügigkeit in Zweifel zu ziehen?«, schrie Kalia.

»Er war ein Mann und ein Fremdländer!«, rief eine andere.

»Die einzige Tochter der Königin ist seinetwegen gestorben!«

»Und Hunderte weitere hätten gerettet werden können, hätte er sein Wort gehalten.«

Sein Blick wanderte über ihre wütenden Gesichter, und plötzlich bedauerte er seine Worte. Er musste diese Frauen bezaubern und umgarnen, statt sie gegen sich aufzubringen. Aber dann begegnete er Savaras Blick. Er sah sie anerkennend nicken.

»Wirst du uns geben, was dein Vater versprochen hat?«, verlangte Kalia zu erfahren.

Sofort wurden die Frauen still. Sie starrten ihn eindringlich an. Sie wollen die Heilkunst unbedingt, dachte er. Und warum auch nicht? Das Verlangen, geschützt zu sein vor Verletzungen und Krankheiten, ist sehr mächtig. Aber sie begreifen nicht, wie mächtig das Wissen wirklich ist. Welchen Vorteil es einem über einen Feind gibt. Dass es ebenso gut dazu benutzt werden kann, Schaden anzurichten.

»Ich bin nicht befugt, das zu tun«, antwortete er ihnen. »Aber ich bin bereit, euch zu helfen, dieses Wissen zu erwerben, indem ich mit der Gilde und den Verbündeten Ländern einen Austausch aushandele.«

»Einen Austausch?« Riaya runzelte die Stirn. »Wofür?«

»Für etwas von gleichem Wert.«

»Wir haben euch höhere Magie gegeben!«, rief Kalia.

»Ihr habt meinem Vater schwarze Magie gegeben«, stellte Lorkin fest. »Sie ist weder neu für die Gilde, noch würde man sie als angemessene Gegenleistung für die Heilkunst ansehen.«

Lorkin hatte daraufhin mehr Proteste erwartet, aber die Frauen waren in nachdenkliches Schweigen verfallen. Savara musterte ihn mit schmalen Augen. War das Argwohn, den er darin las?

»Was haben wir, das als gleichwertig betrachtet werden würde?«, fragte Riaya.

Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich bin gerade erst hier angekommen.«

Kalia stieß einen lauten Seufzer aus. »Es hat keinen Sinn, Zeit und Energie auf Fantasien über Geschäfte und Bündnisse zu verschwenden. Der Standort des Sanktuariums ist ein Geheimnis. Wir dulden kein Kommen und Gehen von Fremdländern, sei es zu Zwecken des Handels oder zu anderen Zwecken.«

Riaya nickte. Sie sah zuerst die Frauen an, dann Lorkin. »Wir sind noch nicht in einer Position, um über solche Dinge nachzudenken. Hat Savara dich gewarnt, dass man dir nicht gestatten würde, wieder fortzugehen, wenn du das Sanktuarium betrittst?«

»Das hat sie getan.«

Sie wandte sich an die Sprecherinnen. »Sieht eine von euch einen Grund dafür, warum dieses Gesetz nicht auf Lorkin angewandt werden sollte?«

Alle Frauen schüttelten den Kopf. Selbst Savara, wie er bemerkte. Ihm wurde flau im Magen.

»Akzeptierst du das?«, fragte Riaya ihn.

Er nickte. »Ja.«

»Dann bist du jetzt den Gesetzen des Sanktuariums Untertan. Also solltest du besser herausfinden, wie sie aussehen, und ihnen den geziemenden Respekt erweisen. Diese Versammlung ist vorüber.« Riaya sah Savara an. »Da du ihn mitgebracht hast, fällt es in deine Verantwortung sicherzustellen, dass er gehorsam und nützlich ist.«

Savara nickte, dann stand sie auf und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Als sie den Raum verließen, stieg in Lorkin eine seltsame Schwermut auf. Er hatte gewusst, dass es einen Preis haben würde, Savara ins Sanktuarium zu folgen. Obwohl er bereit war, ihn zu akzeptieren, rebellierte ein Teil von ihm trotzdem dagegen.

Und dann fiel ihm wieder ein, was Riaya gesagt hatte. »Wir sind noch nicht in einer Position, um über solche Dinge nachzudenken.« Noch nicht. Das bedeutete nicht »niemals«. Es könnte Jahre dauern, bis sie genug Kraft und Mut hatten, um sich über ihre Berge hinauszuwagen, aber sie würden es tun müssen, wenn sie wollten, was die Verbündeten Länder zu bieten hatten.

Obwohl sie die Edelsteinmagie von den Duna-Stämmen gestohlen haben, durchzuckte es ihn. Dann sollte ich besser gut achtgeben, dass sie nicht versuchen, etwas Ahnliches mit mir zu machen.


Anyi streckte die Hand aus, um das feine Leder des Kutschensitzes zu streicheln, dann strich sie über die goldenen Einlegearbeiten, die in den hölzernen Sockel der Sitzbank eingelassen waren. Als Cery auf den Boden sah, stellte er erheitert fest, dass auch dort das Symbol der Gilde – ein Y in einem Diamanten – zu erkennen war, diesmal in verschiedenfarbigem Holz ausgeführt.

»Wir sind da«, erklärte Gol mit großen Augen.

Cery schaute aus dem Fenster. Die Tore der Gilde schwangen auf. Die Kutsche verlangsamte ihr Tempo, als sie hindurchglitt, dann beschleunigte sie wieder, um sie zum Vordereingang der Universität zu bringen. Vor der Treppe hielt sie an, und der Fahrer sprang hinab, um ihnen die Tür zu öffnen. Als Cery ausstieg, tauchte aus dem Gebäude eine Gestalt in schwarzen Roben auf.

»Cery von der Nordseite«, sagte Sonea und grinste ihn an.

»Schwarzmagierin Sonea«, erwiderte er und machte eine übertriebene Verbeugung. Um seine Augen bildeten sich winzige Falten der Erheiterung. »Das ist Anyi«, fuhr er fort. »Und Gol kennst du bereits.«

Sonea nickte seiner Tochter zu. »Mir war nicht bewusst, dass du die Anyi bist«, murmelte sie. »Aber andererseits habe ich dich nicht mehr gesehen, seit du mir nur bis zu den Knien gereicht hast.«

Anyi verneigte sich. »Lasst uns das nicht weiter erörtern«, sagte sie. »Ich bin Cerys Leibwächterin, mehr nicht.«

»Und das ist alles, was die Gilde erfahren wird«, versicherte Sonea ihnen. Dann blickte sie zu Gol auf. »Du bist seit neulich nicht größer geworden, wie ich mit Freude feststelle.«

Der Mann machte eine hastige Verbeugung. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, eindeutig zu überwältigt von seiner Umgebung, um sich auf eine witzige Antwort zu besinnen.

»Kommt herein.« Sonea machte ihnen ein Zeichen und stieg die Treppe empor. »Alle freuen sich schon darauf, eure Geschichten zu hören.«

Als Cery ihren trockenen Tonfall bemerkte, sah er sie forschend an. Als sie ihn in die Gilde gerufen hatte, um die wilde Magierin zu identifizieren, war er gleichzeitig erfreut und entsetzt gewesen, aber sie hatte ihm versichert, dass sie ihn lediglich als einen alten Freund bezeichnet hatte. Es bestand die Möglichkeit, dass einige der älteren Magier ihn aus der Zeit vor zwanzig Jahren erkennen würden und dass sie wussten, dass er ein Dieb geworden war. Eine Identifikation könnte die Dinge später für ihn erschweren.

Aber wie er wusste, machte Sonea sich Sorgen, dass die Gilde ihrer Bewegungsfreiheit noch größere Einschränkungen auferlegen würde, nachdem sie jetzt wusste, dass sie ohne Erlaubnis durch die Stadt gestreift war. Die Tatsache, dass sie Verbindungen zu einem Dieb unterhalten hatte, würde ihre Situation nicht besser machen, obwohl das nicht länger gegen irgendwelche Gilderegeln verstieß. Wenn er ihr helfen konnte, indem er getarnt als ein alter Freund in die Gilde kam, würde er dieses Risiko auf sich nehmen.

Obwohl die Jagd nach der wilden Magierin vorüber war, war die Angelegenheit, soweit es die Gilde betraf, keineswegs beigelegt.

»Wie ist die Versammlung bisher gelaufen?«, erkundigte er sich.

»Es war eine endlose Diskussion«, begann sie.

»Natürlich.«

»Schlimmer als gewöhnlich. Ich hatte immer schon den Verdacht, dass dies geschehen würde, wenn ein Magier von außerhalb der Verbündeten Länder in einem unserer Länder leben wollte: Es würde dazu führen, dass wir unsere Gesetze hinterfragen müssen. Aber ich habe immer angenommen, dass es sich dann um einen sachakanischen Magier handeln würde.«

»Hat die wilde Magierin euch etwas darüber erzählt, woher sie kommt?«

»Nein. Sie weigert sich zu sprechen. Das Gleiche tut Forlie, obwohl ich denke, dass sie mehr aus Furcht handelt denn aus Halsstarrigkeit.«

Sie erreichten das obere Ende der Treppe, und Sonea führte ihn durch die Eingangshalle voller Wendeltreppen, an die Cery sich von seinem letzten, mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Besuch noch erinnern konnte. Gol und Anyi schauten sich beide mit vor Staunen offenem Mund um, und Cery musste ein Kichern unterdrücken. Sonea zögerte nicht, sondern führte sie in einen breiten Flur. Dieser endete in der gewaltigen Großen Halle, in der sich die alte Gildehalle befand. Cery glaubte nicht, dass Gol und Anyi den Mund noch weiter aufreißen könnten.

»Werdet ihr ihre Gedanken lesen?«, fragte Cery Sonea.

»Ich nehme an, dass wir das irgendwann tun werden. Das ist einer der Punkte, über den diskutiert worden ist. Da wir nichts über das Land wissen, aus dem sie kommt, wissen wir auch nicht, ob es als ein unverzeihlicher Verstoß gewertet werden würde, wenn wir ohne Erlaubnis ihre Gedanken lesen.«

»Aber ohne ihre Gedanken zu lesen, könnt ihr nicht herausfinden, woher sie gekommen ist«, sagte Anyi.

»Nein.«

»Und das ist der Grund, warum wir hier sind. Ihr braucht einen Beweis dafür, dass sie etwas Ungesetzliches getan hat.«

Sonea hatte die Türen zur Gildehalle erreicht, die sich langsam öffneten. Sie sah Anyi an und lächelte schief. »Ja.«

Als die Türen weit aufschwangen, schnappte Cery nach Luft. Die Halle war voller Magier. Es war ein Bild, von dem Cery vermutete, dass nur wenige Nichtmagier es je sehen würden, ohne sich eingeschüchtert zu fühlen.

Sieht so aus, als hätten sie die Magier, die sie während der Ichani-Invasion verloren haben, mühelos durch andere ersetzt, bemerkte er. Die in Reihen angelegten Sitze zu beiden Seiten waren besetzt, aber die Stuhlreihen in der Mitte des Raums waren leer. Diese Plätze sind für die Novizen, erinnerte er sich. Das ist gut. Unter ihnen finden sich wahrscheinlich mehr Leute von niederem Stand, die mich erkennen könnten.

Sonea schritt mit wehenden schwarzen Roben vor. Cery, der ihr folgte, sah Gol und Anyi an, die links und rechts neben ihm gingen. Beide schauten geradeaus auf die Szene vor ihnen.

Am entgegengesetzten Ende des Raums wartete ein Magier in blauen Roben. Der Administrator. Es war ein anderer Mann als der, den Cery vor langer Zeit diese Roben hatte tragen sehen. Hinter dem Administrator befanden sich weitere Sitzreihen. Die Höheren Magier. Cery betrachtete die Gesichter. Einige kamen ihm bekannt vor, andere nicht. Er erkannte Rothen, den Magier, der Sonea durch ihre frühen Jahre an der Universität geführt hatte. Der alte Mann begegnete Cerys Blick und nickte knapp.

Zwei Frauen standen vor den Höheren Magiern. Cery erkannte Forlie, die aussah, als sei sie von Sinnen vor Angst. Die andere Frau drehte sich um, um festzustellen, wer da näher kam, und Cerys Herz setzte einen Schlag aus.

Ja, das ist sie.

Während sie ihn anfunkelte, gefror Cery das Blut in den Adern. Im schwachen Licht des Dachbodens im Haus des Pfandleihers hatte er sie nicht allzu deutlich gesehen, wenn auch deutlich genug, um sie zu erkennen, als er ihr das nächste Mal begegnete. Und als er sie draußen auf der Straße vor dem Pfandleiher gesehen hatte, hatte einige Entfernung zwischen ihnen gelegen. Aber hier, im hellen Schein vieler magischer Lichtkugeln, bemerkte er etwas, das zu sehen er zuvor nicht die Gelegenheit gehabt hatte.

Sie hatte die gleichen seltsamen Augen wie Skellin. Sie gehörten derselben Rasse an.

Das ist etwas, das die Gilde nicht zu wissen braucht, entschied er. Skellin wäre nicht glücklich, wenn ich die Aufmerksamkeit der Gilde auf ihn lenke. Obwohl ich bezweifle, dass Sonea die Ähnlichkeit entgangen ist. Aber sie hat vielleicht noch mit niemandem darüber gesprochen…

Als Sonea vor den Höheren Magiern stehen blieb, verneigten sich Cery, Anyi und Gol. Sie stellte ihn und seine Leibwächter vor und erklärte, dass Cery der Freund sei, von dem sie gesprochen hatte, der Mann, der die wilde Magierin das erste Mal gesehen und sie darauf hingewiesen hatte. Als sie zum Ende gekommen war, sah der Administrator Cery an.

»Zunächst einmal möchte die Gilde dir für deine Unterstützung bei der Gefangennahme dieser wilden Magierin danken«, begann er. »Und zum Zweiten danken wir dir dafür, dass du uns heute hilfst.« Er deutete auf die beiden Frauen. »Erkennst du eine dieser beiden?«

Cery wandte sich Forlie zu. »Forlie habe ich vor einigen Tagen das erste Mal gesehen, als sie gefangen wurde.« Er deutete auf die andere Frau. »Die da habe ich vor einigen Monaten gesehen. Gol und ich waren auf der Fährte eines Mörders, und die Hinweise, die wir bekommen hatten, veranlassten uns, einen Ladenbesitzer und seine Kundin auszuspionieren – diese Frau. Wir haben gesehen, dass sie Magie benutzte, um einen Tresor zu öffnen.«

Die wilde Magierin starrte ihn immer noch an, und als sein Blick in ihre Richtung wanderte, kniff sie die Augen zusammen.

»Denkst du, dass diese Frau die Mörderin ist, die ihr sucht?«

Cery zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Bei dem Mord ist Magie benutzt worden. Sie verfügt über Magie. Aber ich habe keine Beweise dafür, dass sie es war.«

Der Administrator richtete seine Aufmerksamkeit auf Gol. »Du warst in der Nacht zugegen, als dein Auftraggeber dieser Frau nachspionierte.«

Gol nickte. »Ja.«

»War es so, wie er berichtet hat? Sind dir irgendwelche Einzelheiten aufgefallen, die ihm entgangen sind?«

»Er hat alles richtig erzählt«, antwortete der große Mann.

Jetzt sah der Administrator Anyi an. »Und warst du zugegen?«

»Nein«, erwiderte sie.

»Hast du beobachtet, dass diese Frau Magie gewirkt hat?«

»Ja. Ich habe sie das erste Mal ungefähr eine Stunde vor ihrer Gefangennahme gesehen – bevor Schwarzmagierin Sonea sie überwältigte. Sie hat beobachtet, wie Forlie gefangen wurde. Ich fand das ein wenig seltsam. Dann habe ich sie Magie benutzen sehen, um einige Vögel zu töten, die miteinander kämpften und so viel Lärm machten, dass sie möglicherweise Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hätten. Ich bin fortgegangen, um… um Schwarzmagierin Sonea zu holen.«

Der Administrator wirkte nachdenklich, dann sah er Cery, Anyi und Gol der Reihe nach an. »Könnt ihr uns sonst noch etwas über die eine oder andere dieser Frauen erzählen?«

»Nein«, antwortete Cery. Er sah seine Tochter und seinen Leibwächter an. Beide schüttelten den Kopf.

Der Administrator wandte sich an die Höheren Magier. »Irgendwelche Fragen?«

»Ich habe eine«, sagte der Magier in den weißen Roben. Dies war der Hohe Lord, erinnerte sich Cery. Sonea hatte ihm erzählt, dass die Farbe der Roben des Hohen Lords verändert worden war und er jetzt Weiß trug, nachdem man beschlossen hatte, dass die Schwarzmagier logischerweise Schwarz tragen sollten. »Habt ihr jemals jemanden mit den gleichen körperlichen Besonderheiten wie diese Frau gesehen?« Der Mann deutete auf die wilde Magierin. »Abgesehen natürlich von ihrem Geschlecht.«

»Vielleicht ein oder zwei Mal«, erwiderte Cery.

»Wisst ihr, woher diese Leute kommen?«

Cery schüttelte den Kopf. »Nein.«

Der Magier nickte, dann bedeutete er dem Administrator, dass er keine weiteren Fragen habe. Erleichtert stellte Cery fest, dass er froh sein würde, wenn er diesen Ort verlassen konnte. Er mochte in der Unterwelt der Stadt ein mächtiger Mann sein, aber er war es nicht gewohnt, von so vielen Menschen einer Prüfung unterzogen zu werden. Ein Dieb arbeitet am besten unbeachtet. Es ist immer besser, durch seinen Ruf bekannt zu sein als dadurch, dass man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.

»Danke für eure Unterstützung, Cery von der Nordseite, Anyi und Gol«, sagte der Administrator. »Ihr dürft jetzt gehen.«

Sonea geleitete sie wieder hinaus. Sobald sich die Türen der Gildehalle hinter ihnen geschlossen hatten, stieß Cery einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Hat das geholfen?«, fragte Anyi.

Sonea nickte. »Ich denke, ja. Sie haben jetzt Zeugenaussagen, die belegen, dass die Frau das Gesetz gebrochen hat.

Die einzige Magie, die sie in Anwesenheit von Magiern benutzt hat, galt wohl ihrer Verteidigung, als ich sie eingefangen und in die Gilde gebracht habe.«

»Wenn sie das Gesetz gebrochen hat, ist es also entschuldbar, ihre Gedanken zu lesen?«

»Das war es ohnehin schon.« Sonea lächelte grimmig. »Aber jetzt werden sie deswegen kein allzu schlechtes Gewissen haben.«

»Wirst du es tun?«, fragte Cery.

Ihr Lächeln verschwand. »Entweder ich oder Kallen. Ich vermute, dass sie sich für Kallen entscheiden werden, da er bei der Suche viel weniger stark beteiligt war und keine Regeln gebrochen hat.«

Cery runzelte die Stirn. »Werden sie dir deshalb Schwierigkeiten machen?«

»Ich glaube nicht«, antwortete sie mit einem besorgten Stirnrunzeln. »Kallen scheint nicht allzu begeistert zu sein. Er hatte bisher noch keine Zeit, das Thema zur Sprache zu bringen, aber irgendwann wird er es tun.« Sie seufzte und machte einen Schritt rückwärts in Richtung der Halle. »Ich sollte besser wieder hineingehen. Ich werde euch wissen lassen, was geschieht.« Sie hielt inne, dann lächelte sie. »Oh, und Lorkin hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Er lebt und ist wohlauf. Ich werde dir ein anderes Mal alles erzählen.«

»Wunderbare Neuigkeiten!«, sagte Cery. »Auf Wiedersehen.«

Sie winkte, dann drückte sie eine der Türen gerade weit genug auf, um hindurchzugelangen. Cery blickte zwischen Anyi und Gol hin und her. »Lasst uns feststellen, ob die Kutsche auf uns wartet.«

Sie grinsten und folgten ihm zurück durch die Halle.


Als sie die Straße erreichten, hielten Sklaven, die vorausgelaufen waren, die Kutsche und die Pferde schon bereit.

Die sachakanischen Helfer wandten sich zu Dannyl um, um ihm Lebewohl zu sagen.

»Ihr habt unser Mitgefühl«, bemerkte einer von ihnen. »Es muss ärgerlich für Euch sein, dass man Euren Gehilfen von Euch fortgelockt hat.«

»Ja«, erwiderte Dannyl. »Aber zumindest weiß ich, dass er freiwillig mitgegangen ist und ihm keine Gefahr droht – oder zumindest glaubt er, dass es so ist. Und… ich entschuldige mich noch einmal für sein Benehmen. Er hat Euch alle unnötig in Gefahr gebracht.«

Ein anderer Mann zuckte die Achseln. »Es hat sich schon für die Chance gelohnt, endlich etwas wegen dieser Verräterinnen unternehmen zu können. Und vielleicht ihren Stützpunkt zu finden.«

»Aber… gewiss hättet Ihr den Verräterinnen nicht viel weiter folgen können, ohne sie dazu zu zwingen, Euch zu töten«, wandte Dannyl ein.

Die Ashaki tauschten einen Blick, und plötzlich verstand Dannyl ihren scheinbaren Mangel an Besorgnis. Sie wollten nicht eingestehen, dass sie hoffnungslos in der Minderzahl gewesen waren oder in ihrer Aufgabe versagt hatten. In Wahrheit war ihnen das Risiko, das sie eingegangen waren, vollauf bewusst. Es wäre jedoch unhöflich gewesen, sie dazu zu zwingen, es laut auszusprechen.

»Nun, von Ashaki Achati weiß ich, dass wir weiter in ihr Territorium vorgedrungen sind, als das bisher irgendjemandem gelungen ist«, sagte er und legte Stolz und Bewunderung in seinen Tonfall.

Die Ashaki lächelte und nickten. »Wenn Ihr Eure Meinung ändert, und Euren Gehilfen zurückholen wollt, lasst es uns wissen«, erwiderte der redseligere der Männer. »Der König hätte keine großen Schwierigkeiten, für diesen Zweck eine kleine Armee zusammenzustellen. Wir suchen immer nach einem Vorwand, um sie zu jagen.«

»Das ist gut zu wissen«, versicherte er ihnen. »Und ich bin Euch sehr dankbar.« Er drehte sich zu Unh um. »Ich weiß, dass er auch gute Fährtensucher hat, die ihn unterstützen.«

Der Düna neigte leicht den Kopf, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos. Die Sachakaner sagten nichts, dann räusperte sich der stillere der Männer. »Was denkt Ihr, was die Gilde seinetwegen unternehmen wird?«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Aber sie werden mir einen neuen Gehilfen schicken müssen. Hoffentlich werden sie eine klügere Wahl treffen, als ich es getan habe.«

Die Sachakaner lachten leise. Dann rieb sich der redselige Ashaki die Hände. »Wir sollten uns jetzt wohl besser auf den Weg machen.«

Also verabschiedeten sie sich, und die Sachakaner ritten davon. Unh nickte Dannyl knapp zu, was irgendwie ein bedeutungsvolleres Lebewohl war als das der Sachakaner. Als die Gruppe aufbrach, wirbelte sie Staub auf.

Dannyl und Achati stiegen in die Kutsche, und die beiden Sklaven Achatis nahmen draußen ihre Positionen ein. Der Wagen setzte sich ruckartig in Bewegung und begann sachte zu schwanken, während er die andere Straße entlangrollte.

»So ist es besser«, bemerkte Achati. »Bequemlichkeit. Ungestörtheit. Regelmäßige Bäder.«

»Ich freue mich schon auf dieses Bad.«

»Ich nehme an, unsere Helfer sind genauso versessen darauf, wieder nach Hause zu kommen, obwohl sie keine Chance hatten, Sachaka von einigen Verräterinnen zu befreien.«

Dannyl zuckte zusammen. »Ich entschuldige mich noch einmal, dass ich Euch ohne Grund so viel Unbehagen bereitet und Euch einer großen Gefahr ausgesetzt habe.«

»Ihr habt das nicht ohne Grund getan«, korrigierte ihn Achati. »Ihr wart dazu verpflichtet, nach ihm zu suchen; meine Pflicht war es, Euch zu helfen. Ein junger Mann hätte in Gefahr sein können. Die Tatsache, dass er es nicht war, machte unsere Reise nicht weniger wichtig.«

Dannyl nickte, dankbar dafür, dass der Sachakaner sein Verhalten verstand. »Ich nehme an, ich entschuldige mich in Lorkins Namen. Ich bin davon überzeugt, dass er uns seine Entscheidung früher mitgeteilt hätte, hätte er die Gelegenheit dazu gehabt.«

»Er hat vielleicht erst kurz vor seinem Gespräch mit Euch entschieden, was er tun wollte.« Achati zuckte die Achseln. »Es war keine vergeudete Reise. Tatsächlich war es sehr informativ, sowohl was die Frage betrifft, wie Kyralier denken, als auch was Eure Denkweise betrifft. Ich habe zum Beispiel Mutmaßungen über Eure Entschlossenheit angestellt, Euren Gehilfen zu finden. Ich dachte, es würde vielleicht… über bloße Loyalität gegenüber einem anderen Magier und Kyralier hinausgehen.«

Dannyl sah Achati an. »Ihr dachtet, wir wären…?«

Die Miene des Mannes war jetzt wieder ernst. Er wandte den Blick ab. »Mein Sklave ist jung, gutaussehend und recht talentiert. Er bewundert mich. Aber es ist die Bewunderung, die ein Sklave für einen guten Herrn empfindet. Ich habe Euch um Euren Gehilfen beneidet.«

Außerstande, an sich zu halten, starrte Dannyl Achati überrascht an, während er vergeblich nach einer geziemenden Antwort suchte.

Achati lachte. »Gewiss wusstet Ihr das von mir.«

»Nun… ja, aber ich gestehe, dass ich recht lange gebraucht habe, um es zu bemerken.«

»Ihr wart beschäftigt.«

»Ich nehme an, Ihr habt keine großen Mutmaßungen über mich angestellt?«

Achati schüttelte den Kopf. »Wir sorgen dafür, dass wir so viel wie möglich über die Botschafter in Erfahrung bringen, die die Gilde zu uns schickt. Und Eure Wahl von Gefährten ist in Imardin nicht gerade ein Geheimnis.«

»Nein«, pflichtete Dannyl ihm bei und dachte an Tayend und seine Feste.

Achati seufzte. »Ich kann mir einen Gefährten kaufen – tatsächlich habe ich es viele Male getan. Jemanden, der schön ist, jemanden, der gut darin ausgebildet ist, einem Herrn zu gefallen. Ich mag vielleicht sogar jemanden finden, der intelligent und witzig genug ist, um mit ihm ein Gespräch zu führen. Ich mag sogar so viel Glück haben, von diesem Sklaven geliebt zu werden. Aber etwas wird immer fehlen.«

Dannyl musterte Achati eingehend. »Und was ist das?«

Der Mund des Mannes verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Risiko. Nur wenn man weiß, dass der andere einen ohne Weiteres verlassen könnte, weiß man es zu schätzen, wenn er bleibt. Nur wenn es für ihn einfacher ist, Euch nicht zu mögen, als Euch wirklich zu mögen, wisst Ihr es zu schätzen, wenn er es tut.«

»Ein Gleichgestellter.«

Achati zuckte die Achseln. »Oder jemand, der annähernd gleichgestellt ist. Wenn ich nach einem Gefährten suchte, der mir wahrhaft gleichgestellt ist, würde das meine Auswahl zu sehr einschränken. Als Beauftragter des Königs bin ich schließlich einer der mächtigsten Männer im Land.«

Dannyl nickte. »Ich musste niemals über solche Unterschiede im Rang nachdenken. Obwohl ich es vielleicht getan hätte, wenn mein Gefährte ein Dienstbote wäre.«

»Aber ein Dienstbote kann fortgehen.«

»Ja.«

»Machen Dienstboten gute Konversation?« »Ich nehme an, einige würden es vielleicht tun.«

Achati ließ die Schultern kreisen, dann entspannte er sich. »Ich genieße unsere Gespräche.«

Dannyl lächelte. »Was nur gut ist. Ihr werdet zwischen hier und Arvice nur mich zum Reden haben.«

»In der Tat.« Die Augen des anderen Mannes wurden schmal. »Ich denke, ich würde mehr als nur Gespräche mit Euch genießen.«

Einmal mehr war Dannyl sprachlos. Überraschung folgte Verlegenheit und wurde dann von Neugier überlagert und einem nicht geringen Gefühl des Geschmeicheltseins. Dieser Sachakaner – der gerade darauf hingewiesen hat, dass er einer der mächtigsten Männer im Land ist – macht mir tatsächlich einen Antrag! Was soll ich tun? Wie weise ich jemanden wie ihn ab, ohne unhöflich zu sein oder politischen Aufruhr zu verursachen? Und will ich es überhaupt?

Ein Schauer überlief ihn. Er ist jünger als ich, aber nicht um viele Jahre. Er sieht gut aus auf eine sachakanische Art und Weise. Es ist angenehm, ihn um mich zu haben. Er ist nett zu seinen Sklaven. Aber oh, eine solche Affäre wäre politisch gefährlich!

Achati lachte abermals. »Ich erwarte nichts von Euch, Botschafter Dannyl. Ich bringe nur eine Meinung zum Ausdruck. Und eine Möglichkeit. Etwas, worüber Ihr nachdenken könnt. Für den Augenblick wollen wir uns auf Gespräche beschränken. Schließlich wäre es mir grässlich, unsere Freundschaft ruiniert zu haben, indem ich etwas vorschlage, das Euch Unbehagen bereitet.«

Dannyl nickte. »Wie ich schon sagte, ich bin ein wenig langsam.«

»Ganz und gar nicht.« Achati grinste. »Andernfalls würde ich Euch nicht so sehr mögen. Ihr wart beschäftigt. Auf ein Ziel konzentriert. Diese Ablenkung existiert nicht mehr. Jetzt könnt Ihr an andere Dinge denken. Wie zum Beispiel die Frage, wie lange die Gilde brauchen wird, um einen neuen Gehilfen auszuwählen und zu Euch zu schicken.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sich jemand nach dem, was Lorkin zugestoßen ist, freiwillig für die Position melden wird.«

Achati kicherte. »Da wärt Ihr vielleicht überrascht. Es könnte jemand in der Hoffnung kommen, an einen geheimen Ort, der von exotischen Frauen regiert wird, entführt zu werden.«

Dannyl stöhnte. »Oh, das hoffe ich nicht. Das hoffe ich ganz eindeutig nicht.«

29 Antworten und neue Fragen

Sonea lehnte sich auf ihrem Platz zurück und wartete darauf, dass die Höheren Magier aufhörten, dem Unvermeidlichen auszuweichen.

Sie hatte versucht zu verhindern, dass Cery in die Gilde kam, aber sobald bekannt wurde, dass sie und Regin bei der Suche nach den wilden Magierinnen Hilfe gehabt hatten, machte die Gewohnheit der Gilde, alle Seiten einer Situation zu erkunden, es unvermeidlich. Sie hatte ihnen erzählt, Cery sei ein alter Freund, nicht dass er ein Dieb war. Einige wenige würden vielleicht die Verbindung zu einem Dieb namens Cery herstellen, der ihr und Akkarin während der Ichani-Invasion geholfen hatte, aber die meisten hatten diese Einzelheiten gewiss vergessen. Jene, die es vorzogen, ihren Anteil an dem Sieg über die Eindringlinge zu ignorieren, hatten wohl kaum auf die Namen ihrer Helfer geachtet, und die wenigen, die ihre Rolle bei der Invasion nicht ignorierten, verstanden, wie sie hoffte, warum sie keine allzu große Aufmerksamkeit auf ihren alten Freund lenken wollte.

Einzig Kallen, der ihr ohnehin bereits zu viel Aufmerksamkeit schenkte, würde die Verbindung vielleicht herstellen und darauf zu sprechen kommen. Aber wenn er irgendetwas war, dann diskret. Er würde es nicht der ganzen Gilde gegenüber verkünden. Er würde sich mit anderen Höheren Magiern besprechen.

Was Sonea ärgerte, war die Tatsache, dass Cerys Besuch in der Gilde nichts bewiesen hatte, was sie nicht ohnehin bereits wussten. Die Frau war offensichtlich eine wilde Magierin. Sie hatte vor Hunderten von Zeugen Magie benutzt, darunter auch der Alchemist und die Heilerin, die Sonea geholfen hatten. Außerdem hatte die Frau Magie in einem vergeblichen Versuch benutzt, sich den Magiern zu widersetzen, die sie in die Kuppel gebracht hatten, in ihr vorübergehendes Gefängnis.

Aber die Gildemitglieder – und höchstwahrscheinlich auch der König – machten sich Sorgen, dass sie ein fremdes Land gegen sich aufbringen könnten.

Zu Beginn der Versammlung hatte ein Berater des Königs Karten vorgelegt und einige der fernen Länder darauf beschrieben. Die Frau hatte Stillschweigen bewahrt und sich zu antworten geweigert, als man sie fragte, woher sie stamme. Der Berater hatte aufgrund ihrer Erscheinung einige Vermutungen angestellt. Falls er recht gehabt hatte, hatte sie sich nichts anmerken lassen.

»Ich sehe keine andere Möglichkeit«, sagte der Hohe Lord Balkan, und in seinem Tonfall lag etwas Endgültiges. »Wir müssen ihre Gedanken lesen.«

Administrator Osen nickte. »Dann bitte ich Schwarzmagier Kallen und Schwarzmagierin Sonea herunterzukommen. Schwarzmagier Kallen wird die Gedanken der wilden Magierin lesen, deren Namen wir nicht kennen, und Schwarzmagierin Sonea wird Forlies Gedanken lesen.«

Obwohl sie das erwartet hatte, verspürte Sonea einen Anflug von Enttäuschung. Es gab viele Antworten, die sie gern von der fremdländischen Frau gehabt hätte, aber sie konnte Kallen nicht bitten, danach zu suchen. Zum Beispiel interessierte sie die Frage, ob die Frau Cerys Familie getötet hatte.

Während sie Kallen die Treppe hinunterfolgte, hielt sie den Blick auf Forlie gerichtet. Die Frau war erbleicht und starrte Sonea mit großen Augen an.

»Ich werde Euch alles erzählen«, stieß Forlie hervor. »Ihr braucht meine Gedanken nicht zu lesen.«

»Törichte Frau«, erklang eine Stimme mit einem seltsamen Akzent. »Wisst Ihr denn nicht, dass sie Eure Gedanken nicht lesen können, wenn Ihr es nicht wollt?«

Sonea wandte sich der ausländischen Magierin zu und stellte fest, dass alle Magier das Gleiche getan hatten. Die Frau schaute von Gesicht zu Gesicht, und ihre Miene veränderte sich, als sie Erheiterung und Mitgefühl bei den anderen Magiern las. Als Kallen vor ihr stehen blieb, stahl sich zuerst Zweifel in ihre Augen, dann Furcht.

Als er die Hände nach ihr ausstreckte, wurden seine Arme von Magie weggeschlagen.

Sonea, die den Kampf nicht beobachten wollte, konzentrierte sich wieder auf Forlie, die vor ihr zurückwich. »Ich bin keine Magierin«, sagte die Frau und blickte von Sonea zu den Höheren Magiern hinüber. »Man hat mich dazu gebracht zu lügen. Sie sagten… sie sagten, sie würden meine Tochter und ihre Kinder töten, wenn ich es Euch verrate.« Sie holte bebend Atem, dann brach sie in Tränen aus.

Sonea legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Weißt du, wo sie sind?«

»Ich… ich glaube, ja.«

»Sie wissen noch nicht, dass du uns irgendetwas verraten hast. Wir werden die Kinder holen, bevor sie es herausfinden.«

»D-danke.«

»Ich fürchte, dass ich trotzdem überprüfen muss, ob du uns die Wahrheit gesagt hast. Ich verspreche dir, das Gedankenlesen tut nicht weh. Tatsächlich wirst du überhaupt nichts spüren. Du wirst nicht einmal wissen, dass ich da bin. Und ich mache so schnell, wie ich nur kann.«

Forlie sah Sonea an, dann nickte sie.

Sonea berührte die Frau sachte an den Schläfen und sandte ihren Geist aus. Furcht und Sorge überfluteten sie, als sie den Geist der Frau berührte. Sie ließ sich in Forlies Gedanken hineintreiben, Gedanken, die ihrer Tochter und zwei Enkelkindern galten und den Männern, die sie fortgeholt hatten. Sonea erkannte den Mann, der Forlie erpresst hatte – er war der Feuelverkäufer, mit dem Forlie bei ihrer Gefangennahme zusammen gewesen war.

Als Sonea an diesen Augenblick dachte, erinnerte sie sich an die magische Kraft, die sie bei Forlie gespürt hatte. Jemand anderer musste sie ausgesandt haben. Vielleicht die wahre wilde Magierin, die sie durch die Fenster beobachtet hatte.

Wer hat Magie benutzt, als wir dich fanden?

Ich weiß es nicht.

Wo sind deine Tochter und deine Enkelkinder jetzt?

Ein Labyrinth von Gassen und provisorischen Häusern blitzte in Soneas Geist auf, bis ein spezielles Haus in den Vordergrund trat. Forlies Familie war in einem der verbliebenen Armenviertel der Stadt.

- Wir werden sie finden, Forlie. Wir werden die Leute, die das getan haben, bestrafen.

Sonea öffnete die Augen und ließ die Hände sinken. Forlies Gesichtsausdruck war jetzt hoffnungsvoll und entschlossen.

»Danke«, flüsterte sie.

An die Höheren Magier gewandt, berichtete Sonea, was sie erfahren hatte. »Ich empfehle, dass einer oder mehrere von uns Forlie begleiten, um ihre Kinder so bald wie möglich zu befreien.«

Viele Magier nickten zustimmend. Ein leises Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Fremdländerin. Ihr Gesicht, gefangen zwischen Kallens Händen, drückte eine Mischung von Überraschung und Entsetzen aus.

Alle schauten schweigend zu, und als Kallen sie endlich losließ, hörte Sonea ein allgemeines Seufzen der Erleichterung. Kallen trat zurück und wandte sich an die Höheren Magier.

»Ihr Name ist Lorandra«, erklärte er. »Sie stammt aus Igra, dem Land jenseits der großen Wüste im Norden. Es ist ein seltsamer Ort, an dem jedwede Magie tabu ist und mit dem Tod bestraft wird. Doch jene, die nach Magiern Ausschau halten und sie bestrafen, sind selbst Magier. Sie stehlen die Kinder jener, die sie hinrichten, um sich Nachwuchs zu sichern.« Er schüttelte erstaunt den Kopf angesichts dieser Scheinheiligkeit und Grausamkeit.

»Lorandra hat als junge Frau Magie erlernt und war gezwungen, mit ihrem neugeborenen Sohn aus ihrem Land zu fliehen. Es ist ihnen gelungen, durch die Wüste nach Lonmar zu wandern und dann weiter durch Elyne nach Kyralia. Hier wurden sie von einem Dieb aufgenommen, der sie als Gegenleistung für magische Gefälligkeiten beschützte. Der Dieb adoptierte den Jungen schließlich und machte ihn zu seinem Erben. Er bildete ihn in seinem Gewerbe aus, während seine Mutter ihn in Magie unterwies.«

Kallen sah Sonea an und runzelte die Stirn. »Der Name des Sohnes ist Skellin, einer der Diebe, deren Hilfe Schwarzmagierin Sonea und Lord Regin sich gesichert haben, um die wilde Magierin zu finden. Natürlich wollte er nicht, dass sie seine Mutter fanden. Daher hat er dafür gesorgt, dass Forlie an ihrer Stelle gefangen wurde. Er hat sogar seine eigene Magie benutzt, damit es so aussah, als hätte sie sie angegriffen.«

Er blickte wieder zu den Höheren Magiern auf. »Seit Skellin an die Macht gekommen ist, hat er seine Mutter ausgeschickt, um rivalisierende Diebe zu töten. Mit Hilfe von Mord und Bündnissen wollte er sich zum König der Unterwelt der Stadt machen.«

Soneas Herz begann schneller zu schlagen. Diese Frau ist die Jägerin der Diebe!

Kallen hielt inne, und die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Und er hat Feuel importiert, um Menschen an sich zu binden. Nicht nur die Armen, sondern auch die Reichen. Und Magier. Er schien zu denken, dass wir leicht zu manipulieren sein würden, sobald wir alle Bekanntschaft mit der Droge gemacht hätten.«

Ein Raunen erhob sich, als die Magier begannen, über das Gehörte zu sprechen. Sonea fing einige abschätzige Bemerkungen über Skellins Trugschlüsse auf, aber bei der Erwähnung von Feuel hatte sie ein Schauder überlaufen. Sie dachte an den Steinmetz Berrin, dessen Sucht sie vergeblich zu heilen versucht hatte. Wenn die Feuelsucht nicht geheilt werden konnte und Skellin das wusste, dann hätte sein großartiger Plan vielleicht Erfolg haben können.

»Was seid Ihr?«, fragte die Fremdländerin. Sie starrte Kallen an, dann wanderte ihr Blick zu Sonea hinüber. »Und Ihr?«

Sonea beantwortete die Frage mit einem kleinen Lächeln. Skellin und seine Mutter waren Magier, aber sie waren offensichtlich keine Schwarzmagier. Das ist immerhin etwas, wofür wir dankbar sein können. Hoffentlich können wir davon ausgehen, dass Igra nicht auch ein Land von Schwarzmagiern ist. Wir brauchen kein weiteres Sachaka, um das wir uns sorgen müssen.

Administrator Osen wandte sich der Halle zu und hob die Arme. Die Stimmen verebbten, bis es beinahe still im Raum war.

»Wir kennen jetzt die Wahrheit. Eine unserer Gefangenen ist unschuldig, die andere ist eine Mörderin und eine wilde Magierin, und wir haben noch einen wilden Magier in unserer Stadt, den wir finden und um den wir uns kümmern müssen. Lorandra wird eingekerkert und verurteilt werden, sobald ihr Sohn gefunden ist. Die Suche muss unverzüglich eingeleitet werden, daher erkläre ich diese Versammlung hiermit für beendet.«

Im nächsten Moment war die Halle erfüllt vom Geräusch von Hunderten von Magiern, die aufstanden und zu reden begannen. Osen ging auf Sonea zu.

»Nehmt Forlie und findet ihre Kinder«, befahl er leise. »Bevor Lorandra daran denkt, Skellin von ihrem Verrat in Kenntnis zu setzen.«

Sonea sah ihn überrascht an, dann nickte sie. Natürlich. Sie braucht sich lediglich mittels Gedankenrede mit ihm in Verbindung zu setzen und ihm mitzuteilen, was hier geschehen ist. »Ich werde Lord Regin als Verstärkung mitnehmen, falls das akzeptabel ist.«

Er nickte. »Ich werde Kallen auf Skellins Fährte setzen, sobald sie in Sicherheit sind.«

Sonea wurde warm ums Herz vor Dankbarkeit. Osen mochte ihr gegenüber kalt sein, aber er war ein Mann, der durchaus Mitgefühl mit anderen empfand. Als er davonging, sah sie sich im Raum um und entdeckte Regin, der an einer der Treppen stand und sie beobachtete. Sie winkte ihn heran.

»Ist das wirklich angebracht?«

Kallens Stimme erreichte sie über den Lärm der Gespräche und Schritte der Höheren Magier hinweg. Sie schaute zu ihm hinüber und sah, dass er Osen stirnrunzelnd musterte.

»Wenn Ihr innerhalb der nächsten fünf Minuten eine Mehrheit von Höheren Magiern zusammenbringen könnt, die dagegen sind, dass Sonea ausgeschickt wird, werde ich in Erwägung ziehen, jemand anderen mit dem Auftrag zu betrauen.«

Kallen betrachtete die Magier, die das Gebäude verließen, dann sah er Sonea an, und seine Lippen wurden schmal.

»Es ist Eure Entscheidung«, erwiderte er. »Nicht meine.«

Als Regin neben sie trat, lächelte Sonea vor sich hin und kostete einen Moment lang ihren Triumph aus. Wenn Osen ihr jetzt genug vertraute, um sie in die Stadt zu schicken, würde der Rest der Gilde ihr vielleicht verzeihen, dass sie während der letzten Wochen so häufig die Regeln gebrochen hatte.

»Habt Ihr Lust, mir bei meinem nächsten Auftrag zu helfen?«, fragte sie Regin.

Er zog die Augenbrauen hoch und brachte beinahe ein Lächeln zustande. »Immer.«

Sie hakte Forlie unter. »Lass uns gehen und deine Familie suchen.«


Lorkin war sich nicht ganz sicher, wie viel Zeit verstrichen war, seit man ihn in den Raum geführt hatte. Es gab kein Fenster, daher hatte er kein Sonnenlicht, anhand dessen er die Tageszeit hätte feststellen können. Er hatte in letzter Zeit manchmal bei Nacht und manchmal bei Tag geschlafen, daher war auch der Schlaf kein Hinweis auf die Tageszeit. Er konnte es ebenso wenig aufgrund seines Hungers feststellen, da er gegessen hatte, wann immer sich die Gelegenheit bot, und nicht zu regelmäßigen Zeiten.

Es wurden ihm jedoch in regelmäßigen Abständen Mahlzeiten gebracht, und sie schienen einem Muster zu folgen, daher zählte er die Tage auf diese Weise. Ein simpler, körniger süßer Brei und Früchte, gefolgt von einer größeren Mahlzeit mit Fleisch und Gemüse, gefolgt von einem leichten Mahl aus Fladenbrot und einer Tasse gewärmter Milch.

Einfache Speisen, gewiss, aber wunderbar nach der kargen Kost, die er während der Wochen, in denen er mit Tyvara auf Reisen gewesen war, zu sich genommen hatte.

Man hatte ihm gesagt, dass er bis zu Tyvaras Verhandlung würde dort bleiben müssen. Nach seiner Schätzung waren inzwischen zweieinhalb Tage vergangen. Er vertrieb sich die Zeit, indem er in seinem Notizbuch las und sich alles notierte, was er bisher über die Verräterinnen in Erfahrung gebracht hatte. Außerdem listete er Fragen auf, auf die er Antworten zu finden versuchen würde, falls es ihm freistand. Wann immer ihm Essen gebracht wurde, erblickte Lorkin die Verräterin, die an seiner Tür Wache hielt. Es war stets eine Frau, aber nicht immer dieselbe. Gab es hier keine männlichen Magier? Oder vertrauten sie einem Mann die Aufgabe nicht an, einen anderen Mann zu bewachen?

Außerdem hatte er viel Zeit damit verbracht zu schlafen. Obwohl er körperliches Ungemach und Erschöpfung hatte heilen können, war es immer besser, einen Körper seine Energie und Gesundheit auf natürlichem Wege wiedererlangen zu lassen.

Licht kam von einem in die Decke eingelassenen Edelstein. Wenn er auf das Bett stieg, konnte er sich den Stein genauer ansehen. Er war allerdings zu hell, um ihn lange zu betrachten. Er streckte die Hand danach aus und stellte fest, dass er keine Hitze abgab. Die Oberfläche war in Facetten geschliffen wie Steine in Schmuckstücken.

War die Form des Steins natürlich, oder hatte ein Mensch ihn bearbeitet? Würde er für immer weiterleuchten oder irgendwann verblassen?

Die unbeantworteten Fragen vermehrten sich in seinem Kopf und seinem Notizbuch ziemlich rasch.

Er fragte sich, wie er etwas über die Gesetze des Sanktuariums herausfinden sollte, wie Riaya es vorgeschlagen hatte. Erwartete man von ihm, dass er um jemanden bat, der ihn darin unterwies? Was würde geschehen, wenn er klopfte, um die Aufmerksamkeit seiner Wächterin auf sich zu ziehen und dann um eine Lehrerin zu bitten?

Er dachte eine Weile darüber nach. Bevor er die Entschlossenheit aufbringen konnte, es zu versuchen, hörte er Stimmen draußen vor der Tür. Er richtete sich auf und wandte sich der Tür zu, als diese geöffnet wurde.

Eine Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, musterte ihn von Kopf bis Fuß.

»Lord Lorkin!«, sagte sie. »Du sollst mit mir kommen.«

Die Atmosphäre in der Stadt war jetzt anders, bemerkte er. Es waren mehr Menschen unterwegs, und viele sahen so aus, als warteten sie auf etwas. Wenn sie ihn bemerkten, musterten sie ihn voller Neugier, aber die Erwartung, die in der Luft lag, galt offensichtlich etwas anderem.

Tyvaras Verhandlung?, überlegte er. Nun, warum sonst hätten sie kommen und mich holen sollen?

Seine Annahme erwies sich als richtig, als sie denselben Raum betraten, in dem er Bekanntschaft mit der Tafel der Sprecherinnen gemacht hatte. Dieselben sieben Frauen wie zuvor saßen an dem runden Tisch, aber diesmal hatte auch jemand auf dem mit Edelsteinen besetzten Stuhl Platz genommen. Eine alte Frau saß dort und beobachtete ihn nachdenklich.

Der Rest des Raums war voller Menschen. Die Polster auf den Stufen waren dicht besetzt, und viele weitere Männer und Frauen standen an den Wänden. Dem Eingang gegenüber befand sich eine kleinere Tür, die ihm beim letzten Mal nicht aufgefallen war. Darin standen Tyvara und zwei andere Frauen.

»Du verbeugst dich nicht vor Königin Zarala«, murmelte seine Führerin ihm zu. »Du legst eine Hand auf die Brust und siehst Zarala an, bis sie dir zunickt. Jetzt tritt vor die Tafel und beantworte ihre Fragen.«

Er tat wie geheißen. Die Königin lächelte und nickte, als er die vorgeschriebene Geste machte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Riaya.

»Lord Lorkin, ehemaliger Gehilfe des Gildebotschafters in Sachaka, Dannyl«, sagte die Vorsitzende, deren Stimme den Raum erfüllte. »Du bist ins Sanktuarium gekommen, um bei dieser Verhandlung zu Tyvaras Verteidigung zu sprechen. Die Zeit ist gekommen. Erzähl uns, wie du Tyvara kennengelernt hast.«

»Sie war eine Sklavin im Gildehaus.«

»Wo du auch Riva kennengelernt hast.«

»Ich bin Riva erst in der Nacht begegnet, in der sie starb.«

Riaya nickte. »Wie ist Riva in jener Nacht in dein Zimmer gelangt?«

Lorkin biss sich auf die Unterlippe. »Sie ist hereingeschlichen, während ich schlief.« »Und was hat sie getan?«

»Mich geweckt.« Er schob das Widerstreben beiseite, das er dabei empfand, das Wie beschreiben zu müssen. »Indem sie in mein Bett kam und… äh… erheblich netter zu mir war, als notwendig gewesen wäre.«

Ein schwaches Lächeln glitt über Riayas Lippen. »Du hattest also nicht die Gewohnheit, Sklavinnen mit in dein Bett zu nehmen?«

»Nein.«

»Aber du hast sie nicht weggeschickt?« »Nein.«

»Was ist als Nächstes geschehen?«

»Es wurde hell im Zimmer. Ich sah, dass Tyvara Riva erstochen hatte.« »Und dann?«

»Tyvara erklärte mir, dass Riva beabsichtigt habe, mich zu töten.« Er spürte, dass sein Gesicht heiß wurde. »Mit einer Art von Magie, von der ich noch nie zuvor gehört hatte. Sie sagte, wenn ich im Gildehaus bliebe, würden andere versuchen, mich zu ermorden.«

»Du hast ihr geglaubt?«

»Ja.«

»Warum?«

»Die andere Sklavin – Riva – sagte etwas.« Er dachte zurück. »Sie sagte: ›Er muss sterben.‹«

Riaya zog die Augenbrauen hoch. Sie betrachtete die sechs Frauen und die Königin und wandte sich schließlich wieder Lorkin zu.

»Was ist dann geschehen?«

»Wir sind aufgebrochen und zu einem Gut gegangen – zu den Sklavenquartieren. Die Sklaven dort waren hilfsbereit. Aber auf dem Gut, das wir als nächstes besuchten, hatten die Sklaven uns eine Falle gestellt. Sie versuchten, uns unter Drogen zu setzen. Danach vertrauten wir niemandem mehr – bis wir Chari trafen.«

Riaya nickte, dann wandte sie sich dem Tisch zu. »Irgendwelche Fragen an Lord Lorkin?«

Die erste Frau nickte. Lorkin rief sich ihren Namen von der letzten Begegnung ins Gedächtnis. Yvali, denke ich. Sie bedachte Lorkin mit einem direkten Blick.

»Hast du jemals das Bett mit Tyvara geteilt?«

»Nein.«

Ein Raunen durchlief die Reihen der Zuschauer. Es klang wie ein Protest, bemerkte Lorkin. Yvali öffnete den Mund, um noch eine Frage zu stellen, besann sich dann jedoch eines anderen. Sie sah die Übrigen an.

»Hat Tyvara noch irgendjemanden getötet, während ihr zusammen auf Reisen wart?«, fragte Lanna. »Nicht soweit ich weiß.«

»Warum bist du nicht nach Kyralia gegangen?«, erkundigte sich Shaiya.

»Tyvara sagte, es sei das Naheliegendste, daher würden wir dort gewiss auf Auftragsmörder stoßen, die auf uns warteten.«

»Was hast du Botschafter Dannyl gegeben, nachdem du ihn dazu überredet hattest, die Verfolgung einzustellen?«, fragte Savara.

Lorkin sah sie überrascht an, aber seine Überraschung galt nicht dem plötzlichen Themenwechsel. Wenn sie das beobachtet hatte, warum hatte sie ihn nicht vorher deswegen befragt? Ihre Miene war undeutbar. Er befand, dass es das Beste war, die Wahrheit zu sagen.

»Den Blutring meiner Mutter. Ich wusste, dass man ihn mir wahrscheinlich wegnehmen würde, wenn ich hierherkam, und ich denke nicht, dass es ihr gefallen hätte, wenn er in fremde Hände gefallen wäre.«

Wiederum ging ein Raunen durch den Raum, das jedoch schnell verebbte.

»Hast du ihn irgendwann, nachdem Tyvara Riva getötet hatte, benutzt?«

»Nein. Tyvara wusste nicht, dass ich ihn hatte… denke ich.« Er widerstand der Versuchung, in ihre Richtung zu schauen.

»Hast du noch andere Blutringe?«

»Nein.«

Savara nickte zum Zeichen, dass sie keine weiteren Fragen hatte.

»Wirst du einwilligen, dass jemand deine Gedanken liest, um die Wahrheit deiner Worte zu bestätigen?«, fragte Kalia. Plötzlich herrschte tiefes Schweigen im Raum.

»Nein!«, erwiderte Lorkin.

Gemurmelte Worte und Ausrufe folgten. Er begegnete Kalias Blick und hielt ihm stand. Für wie dumm hält sie mich? Wenn ich jemandem erlaube, meine Gedanken zu lesen, werden sie nach dem Geheimnis der Heilkunst suchen, und dann kann ich meine Hoffnung vergessen, jemals wieder von hier fortzukommen.

Es gab keine weiteren Fragen. Riaya tauschte einen Blick mit allen Frauen am Tisch, dann sah sie Lorkin an.

»Vielen Dank, Lorkin, dass du uns Auskunft gegeben hast. Bitte, tritt an den Eingang.«

Er nickte ihr gewohnheitsmäßig respektvoll zu, dann nickte er auch den sechs Frauen und der Königin zu, damit man seine Geste nicht dahingehend deutete, dass er der Vorsitzenden eine ungehörige Gunst erwies. Als er in der Nähe des Eingangs die Führerin entdeckt hatte, die ihn in den Raum gebracht hatte, ging er zu ihr hinüber.

Sie musterte ihn nachdenklich, dann nickte sie. »Das hast du gut gemacht«, murmelte sie.

»Danke«, erwiderte er. Er schaute durch den Raum zu Tyvara hinüber. Sie runzelte die Stirn, aber als er ihrem Blick begegnete, schenkte sie ihm ein angespanntes Lächeln.

»Wir werden jetzt beraten«, erklärte Riaya.

Während die acht Frauen am Tisch sich zu unterhalten begannen, schwiegen auch die Zuschauer nicht länger. Lorkin versuchte, einzelne Gespräche in dem Stimmengewirr auszumachen, konnte aber nicht mehr auffangen als hier und da einige Worte. Die Anführerinnen am Tisch hatten offensichtlich eine magische Barriere errichtet, die sie gegen den Lärm abschirmte. Also betrachtete er, statt zu lauschen, die Menschen im Raum in der Hoffnung, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, bevor man ihn in den fensterlosen Raum zurückbrachte.

Auf den Stufen saßen viele Paare, wie ihm auffiel, aber alle anderen waren ausschließlich Frauen. Die Menschen, die an den Wänden standen, waren dagegen größtenteils männlichen Geschlechts. Die Kleidung aller Anwesenden war schlicht, obwohl einige der Verräterinnen – Männer wie Frauen – praktischere Hosen und Tuniken trugen, während andere mit langen, gegürteten Gewändern aus feinerem Tuch bekleidet waren. Es überraschte ihn zu sehen, dass sowohl Männer als auch Frauen diese langen Kleider trugen.

Die Farbe des Stoffs reichte von ungefärbtem Weiß zu dunklen Farben, aber keine davon war leuchtend oder kräftig. Er vermutete, dass es schwer war, Farbstoffe in die Stadt zu bringen, und angesichts des begrenzten Raums, um Getreide anzubauen, hatten gewiss Pflanzen Vorrang, die der Ernährung dienten.

Obwohl er versuchte, seine Aufmerksamkeit auf das Publikum zu richten, konnte er nicht umhin, ab und an zu Tyvara hinüberzuschauen. Wann immer er das tat, ertappte er sie dabei, dass sie ihn beobachtete. Sie lächelte jedoch nicht noch einmal. Sie wirkte nachdenklich und besorgt.

Schließlich erhob sich Riayas Stimme über den Lärm im Raum. »Wir haben unsere Beratungen beendet«, verkündete sie.

Stille kehrte ein. Riaya sah die anderen Frauen am Tisch an, dann wandte sie sich Tyvara zu.

»Du hast angeboten, Sprecherin Savara zu gestatten, deine Gedanken zu lesen. Wir haben, wie das Gesetz es verlangt, alle anderen Möglichkeiten in Betracht gezogen, aber ich kann keinen anderen Weg entdecken, deine Behauptungen zu bestätigen. Tritt bitte vor.«

Aus den Reihen der Zuschauer kamen leise Stimmen und Getuschel. Lorkin dachte an ein Bruchstück eines Gesprächs zwischen Chari und Tyvara zurück, von der Reise in die Berge. Tyvara hatte gesagt, sie werde den Verräterinnen erlauben, ihre Gedanken zu lesen. Chari war schockiert gewesen. »Dös kannst du nicht«, hatte sie gezischt. »Dw hast es versprochen…«

Lorkin beobachtete, wie die Frau, die ihm das Leben gerettet hatte, mit hocherhobenem Kopf vor ihre Anführerinnen trat. Eine Woge jäher, schwindelerregender Zuneigung schlug über ihm zusammen. Sie ist so stolz. So schön. Dann verdarben ihm ein vertrauter Zweifel und Ärger den Augenblick. Ich wünschte, ich wüsste, ob Chari recht hat oder nicht. Wenn sie unrecht hat, möchte ich mich nicht zum Narren machen, indem ich versuche, Tyvara für mich zu gewinnen. Aber wenn sie recht hat… wenn Tyvara mich mag …es sich aber zur Gewohnheit macht, jene wegzustoßen, die sie bewundern… habe ich die Entschlossenheit, weiter um sie zu werben?

Jede Faser seines Wesens war davon überzeugt, dass er in der Tat genug Entschlossenheit besaß.

Er beobachtete, wie Savara aufstand und ein Zeichen machte. Tyvara trat an den Tisch und neigte den Kopf. Die ältere Frau umfasste Tyvaras Kopf und schloss die Augen.

Eine lange Pause folgte, während derer alle die beiden erwartungsvoll beobachteten. Als Savara schließlich die Hände sinken ließ, sagte sie nichts. Sie setzte sich, und Tyvara kehrte an ihren früheren Platz zurück.

»Was hast du erfahren?«, fragte Riaya.

»Alles, was Tyvara uns erzählt hat, ist wahr«, antwortete Savara.

Ein allgemeines Seufzen lief durch den Raum. Riaya legte die Hände auf den Tisch.

»Dann wird es Zeit abzustimmen.« Sie sah zuerst Tyvara an, dann die Zuschauer. »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Tyvara Riva nicht hätte töten müssen. Sie hätte Riva von Lorkin wegstoßen oder die beiden auf andere Weise trennen sollen. Aber wir räumen auch ein, dass kaum Zeit zum Nachdenken war. Tyvara handelte, um sicherzustellen, dass die Wünsche der Königin erfüllt wurden, und um eine Situation zu verhindern, die vielleicht zu einer Bedrohung für das Sanktuarium geführt und unsere Leute in Sachaka noch mehr gefährdet hätte.« Sie hielt inne und sah die Sprecherinnen an. »Soll Tyvara für die Ermordung Rivas hingerichtet werden?«

Von den sechs Frauen am Tisch hoben zwei die Hand. Die übrigen hielten die Hände unten. Da Kalia die Hand gehoben hatte, vermutete Lorkin, dass dies das Zeichen der Zustimmung war.

»Vier dagegen, zwei dafür«, fasste Riaya zusammen. Sie betrachtete die Zuschauer. Zu Lorkins Überraschung machten auch sie die eine oder andere Geste. »Die Mehrheit ist dagegen«, erklärte Riaya. Sie sah die Königin an, die jetzt die Hand ausstreckte, die Innenfläche nach unten geneigt. »Wir sind alle der gleichen Meinung.«

Die Hände wurden heruntergenommen. Riaya wirkte erfreut, wie Lorkin bemerkte.

»Der Tod einer Mitverräterin ist eine ernste Angelegenheit«, fuhr sie fort. »Und ganz gleich was der Grund dafür war, eine Strafe muss folgen. Tyvara muss für die nächsten drei Jahre im Sanktuarium bleiben; danach darf sie eine Stellung als Späherin oder Wächterin annehmen und darauf hinarbeiten, die Verantwortung, die sie früher hatte, erneut zu übernehmen. Während dieser drei Jahre soll sie einen Tag von jeweils sechs dem Wohl von Rivas Familie widmen.« Riayas Blick wanderte wieder zu Tyvara hinüber. »Akzeptierst du dieses Urteil?«

»Ja.«

»Dann ist es entschieden. Es steht dir frei zu gehen. Diese Verhandlung ist beendet, und die Gesetze des Sanktuariums wurden gewahrt. Mögen die Steine weiter singen.«

»Mögen die Steine weiter singen«, erwiderten die Zuschauer.

Unruhe brach im Raum aus, als alle sich erhoben. Lorkin beobachtete Tyvara. Sie blickte zu Boden. Sie schüttelte schwach den Kopf, dann sah sie Savara an. Die ältere Frau lächelte wohlwollend. Dann zog sie fragend die Augenbrauen hoch, und ihr Blick wanderte zu Lorkin hinüber. Er blinzelte und sah, dass Tyvara die Augen verdrehte. Dann wandte sie sich um und schritt auf die Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes zu. Er konnte Chari dort stehen sehen. Die junge Frau grinste. Sie blickte zu ihm herüber und zwinkerte ihm zu.

Jemand zupfte an seinem Ärmel. Die Führerin lächelte ihn an.

»Ich soll dich als Nächstes in dein Quartier geleiten.« Ihr Lächeln wurde breiter. »In dein neues Quartier.«

Die Niedergeschlagenheit, die sich gerade in ihm hatte breitmachen wollen, verschwand wieder. »Es hat nicht zufällig ein Fenster, oder?«

Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Nein. Aber du wirst Gesellschaft haben, und es steht dir frei, zu kommen und zu gehen, wie es dir gefällt – natürlich solange du das Sanktuarium nicht verlässt. Ich bin übrigens Vytra.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Vytra.«

Sie kicherte. »Ihr Kyralier habt komische Sitten«, sagte sie. »So höflich.«

»Wenn du willst, kann ich auch unfreundlich sein.«

Sie lachte. »Das wäre eine Schande. Nun, unterwegs sollte ich dir einige Hinweise geben, wie du mit den Leuten hier zurechtkommen kannst.«

Lorkin, der aufmerksam zuhörte, folgte der Frau hinaus in die Stadt.


Cery beobachtete seine Tochter mit nachdenklicher Miene. Sie hielt sich bei ihren heutigen Lektionen nicht besonders gut, aber andererseits waren auch Gol einige untypische Schnitzer unterlaufen. Beide waren noch immer zu erregt von ihrem morgendlichen Besuch in der Gilde, um sich ganz auf die Übungsstunde zu konzentrieren.

Sie dürften nicht zulassen, dass das ihre Konzentration beeinträchtigt, dachte er. Ich schätze, ich werde dafür sorgen müssen, dass ich mich selbst schützen kann, wenn meinen Leibwächtern jemals wieder ein Blick auf das Leben der Reichen und Mächtigen gestattet werden sollte.

Ein Klopfen an der Tür erregte ihrer aller Aufmerksamkeit. Sie befanden sich im »Mühle«-Bolhaus, und Cery hatte seine Leute ausgeschickt, um die Personen, die um ein Treffen mit ihm gebeten hatten, darüber in Kenntnis zu setzen, dass er jetzt für sie zu sprechen war.

Auf ein Nicken von Cery hin ging Gol zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit, bevor er sie ganz aufzog. Der Mann, der draußen im Flur stand, zeigte den gleichen ehrfürchtigen Gesichtsausdruck, den Anyi und Gol noch Stunden nach ihrem Besuch bei der Gilde zur Schau gestellt hatten.

»Schwarzmagierin Sonea, Lord Regin und zwei Frauen sowie zwei Kinder möchten dich sprechen«, sagte der Mann.

»Schick sie herauf.«

Der Mann nickte und eilte davon. Anyi und Gol grinsten einander an.

»Nun kommt. Nehmt eure Plätze ein«, befahl Cery.

Sie beeilten sich, zu beiden Seiten seines Stuhls ihre Posten zu beziehen. Gol nahm eine Haltung ein, die eher lächerlich als imposant wirkte. Anyi bog die Finger durch, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. Cery seufzte kopfschüttelnd und wartete ab.

Das Geräusch von Schritten wurde lauter, dann schien sich der Raum mit Magierroben zu füllen. Zuerst kamen Soneas schwarze Roben, dann Regins rote. Den beiden folgte Forlie, die sehr unterwürfig wirkte, sowie eine jüngere Frau. Letztere trug ein kleines Mädchen auf einem Arm, während sich ein um eine Spur älterer Junge an ihre andere Hand klammerte.

Anyi und Gol verneigten sich unbeholfen, aber mit Begeisterung.

»Cery«, sagte Sonea, dann nickte sie seiner Tochter und seinem Freund zu. »Anyi und Gol. Danke, dass ihr in die Gilde gekommen seid. Ich habe versucht, es zu verhindern, aber wenn die Gilde eine so ernsthafte Angelegenheit wie einen wilden Magier untersucht, neigt sie zu übertriebener Gründlichkeit.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Cery und wandte sich dann an Gol. »Hol ihnen Stühle.«

Die klobigen alten Sessel, die normalerweise in der Mitte des Raums standen, waren an die Seite geräumt worden, um Platz für die Übungsstunden zu schaffen. Gol machte einen Schritt darauf zu, aber Sonea hob eine Hand, um ihn daran zu hindern.

»Ich werde es tun.«

Anyi, Forlie und die andere Frau sogen scharf die Luft ein, als die schweren Sessel sich erhoben und in die Mitte des Raums schwebten, wo sie sich in einem Viereck rund um Cerys Platz gruppierten. Gol grinste lediglich mit wissender Befriedigung. Damals, als Cery für den früheren Hohen Lord gearbeitet hatte, hatte er jede Menge Magie zu sehen bekommen.

»Wir sind hier, um euch von den Ergebnissen unserer Nachforschungen zu erzählen«, erklärte Sonea, während sie Platz nahm. »Und um einen Gefallen zu erbitten.«

»Einen Gefallen?« Cery verdrehte mit gespielter Verärgerung die Augen. »Da geht es schon wieder los.«

Sie lächelte. »Ja. Kannst du für Forlie, ihre Tochter und ihre Enkelkinder ein sicheres Versteck finden?«

Cery sah die Frauen an. Sie lächelten ihm zaghaft zu. Die jüngere Frau hatte keins der beiden Kinder losgelassen, als sie sich gesetzt hatte. Das Mädchen lag auf ihrem Schoß, und der Junge saß auf der Armlehne des Sessels. »Sie sind in Gefahr?«

»Ja. Ihr wurde befohlen, den Platz von Lorandra einzunehmen – der wahren wilden Magierin.«

»Aber ihr habt die wahre wilde Magierin… nicht wahr?«

»Allerdings.« Sonea hielt inne und betrachtete ihn einen Moment lang. »Lorandra ist Skellins Mutter.«

Ein Frösteln befiel Cery, das von irgendwo hinter seinem Sessel kam und durch seinen ganzen Körper floss. Das Herz begann ihm in der Brust zu hämmern. Skellins Mutter. Deshalb war er verärgert darüber, dass ich die wilde Magierin gesehen und ihm nicht davon erzählt hatte. Es hätte ihm verraten, dass sein Plan, Forlie vorzuschieben, nicht funktionieren würde. Nun, der Plan wäre ohnehin gescheitert, weil er nicht wusste, dass einige der Gildemagier Gedanken lesen können.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er im Augenblick ein besonders glücklicher Mann ist«, erwiderte Cery trocken.

Regin lachte leise. »Nein. Zu unser aller Pech ist er den Magiern ausgewichen, die ihn gefangen nehmen sollten, daher haben wir jetzt einen wilden Magier auf freiem Fuß in der Stadt, der weiß, dass wir hinter ihm her sind.«

Cery starrte ihn an. »Skellin ist ein Magier?«

Sonea nickte. »Was der Grund ist, warum du Forlie helfen musst. Er hat sie erpresst, indem er ihre Tochter und ihre Enkelkinder entführt und gedroht hat, sie zu töten. Wir hoffen, dass er zu sehr damit beschäftigt sein wird, sich vor uns zu verstecken, als dass er sich Gedanken über eine mögliche Rache an ihr machen würde, aber wir möchten dieses Risiko lieber nicht eingehen.«

Er sah Forlie an und zuckte die Achseln. »Natürlich werde ich ihr helfen.«

»Du solltest auch einige zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen«, fügte Regin hinzu.

Cery lächelte angesichts dieser Untertreibung. Es ist erheblich wahrscheinlicher, dass er sich wegen der Gefangennahme seiner Mutter an mir zu rächen versucht als an Forlie. Vielleicht sollte ich feststellen, ob ein anderer Dieb sich für mich um sie kümmern kann, jemand, der Skellin nicht mag…

»Es kommt noch mehr«, fuhr Sonea fort. »Lorandra ist – war – der Jäger der Diebe. Skellin hat sie ausgeschickt, um seine Rivalen zu töten. Er hatte große Pläne für sich selbst. Er wollte zum König der Unterwelt werden. Und er wollte Fäule benutzen, um alle in Schach zu halten.«

Als Cery daran dachte, wie mächtig Skellin bereits geworden war, erschien ihm dies nicht so unmöglich, wie es klang. Wie viele Leute hatte er schon unter seiner Kontrolle? Ich werde sehr vorsichtig sein müssen, mit wem ich jetzt Geschäfte mache.

»Wisst Ihr, ob Lorandra Cerys Familie getötet hat?«, fragte Anyi.

Cerys Herz krampfte sich zusammen. Er sah seine Tochter an; er war ihr dankbar, dass sie es ihm erspart hatte, die Frage selbst zu stellen, aber er fürchtete auch die Antwort.

Sonea verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht. Nicht ich war diejenige, die ihre Gedanken gelesen hat, und ich konnte Kallen nicht in aller Öffentlichkeit darum bitten, es herauszufinden.«

Was mehr über mich enthüllt hätte, als mir lieb gewesen wäre.

»Ich werde versuchen, es herauszufinden«, versprach sie. »Selbst wenn sie sie nicht getötet hat und es nur ihre Aufgabe war, mithilfe von Magie in dein Versteck einzubrechen, wird sie doch wissen, wer deine Familie ermordet hat. Oder wer den Befehl dazu gegeben hat.«

»Höchstwahrscheinlich Skellin«, sagte Regin. »Es sei denn, sie hat nebenbei gelegentlich für andere Kunden gearbeitet.«

»Zumindest wissen wir, dass Skellin nicht der Mörder gewesen sein kann«, erklärte Gol. »Er hat zu der Zeit mit Cery geredet.«

Anyi schnaubte leise. »Es ergibt keinen Sinn. Warum jemanden ausschicken, die Familie eines anderen Diebs zu töten, während man ihn gleichzeitig einlädt, ein Bündnis einzugehen?«

Für einen langen Augenblick verfielen sie alle in nachdenkliches Schweigen.

»Vielleicht weiß Lorandra es«, überlegte Gol laut.

Cery schüttelte den Kopf. »Nun, eines weiß ich mit Bestimmtheit. Wir müssen noch einen wilden Magier fangen.«

»Falls er sich noch in Kyralia aufhält«, sagte Regin.

»Oh, er ist immer noch hier«, versicherte ihm Cery. »Er hat nicht so viel Zeit und Mühe auf sein kleines Reich verwandt, um die Flucht zu ergreifen. Nein, es gibt Leute hier, reiche wie arme, die sich überschlagen werden, ihm zu helfen, einige, weil sie es tun müssen, viele, weil sie davon profitieren werden. Das wird er anderswo nicht haben.«

Sonea nickte. »Sein Einfluss auf die Stadt ist bereits gefährlich stark, aber ich vermute, wenn man ihn aus dem Spiel nimmt, wird sein Reich in sich zusammenstürzen. Wir müssen ihn finden.« Sie sah Cery an. »Wirst du uns abermals helfen?«

Er nickte. »Den Spaß würde ich mir nicht entgehen lassen.«

Sie lächelte und stand dann auf. Regin folgte ihrem Beispiel. »Wir müssen in die Gilde zurückkehren. Danke, dass du dich um Forlie und ihre Familie kümmerst.«

Cery sah die Frau an, die ihn erwartungsvoll beobachtete. »Ich werde für euch alle einen sicheren Platz finden. Wo ist der Vater der Kinder?« Beide Frauen runzelten so grimmig die Stirn, dass Cery sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. »Das ist also kein Problem.« Er wandte sich wieder an Sonea und geleitete sie zur Tür. »Ich wette, ihr habt auf dem Weg hierher eine Menge Aufmerksamkeit erregt.«

Sie lachte kläglich. »Ja. Und die Kunden unten werden noch monatelang darüber reden.«

»Was vielleicht gar nicht schlecht ist«, warf Regin ein, während er ihr zur Tür hinaus folgte. »Das wird die Leute, die es vielleicht erwägen, Skellin zu helfen, daran erinnern, dass du mächtige Freunde hast.«

»Nun, es würde nicht schaden, wenn sie dächten, dass ihr immer noch hier seid, so dass wir vor unserem Aufbruch Pläne schmieden können. Der privatere Weg führt durch die Küche und durch den Nebeneingang.«

»Dann werden wir dort entlanggehen. Danke für deine Hilfe«, sagte Sonea. »Und passt auf euch auf.«

»Das tue ich doch immer«, rief er ihnen nach, während sie durch den Flur zur Treppe gingen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, wandte er sich den verbliebenen Personen im Raum zu. Bei einem Blick auf die Kinder tat ihm das Herz weh, und er schob die schmerzlichen Erinnerungen beiseite. »Gol, bring Forlies Familie nach unten und sorge dafür, dass sie und die Kleinen zu essen bekommen.«

»In Ordnung«, erwiderte Gol. Er gab den beiden Frauen ein Zeichen, und sie folgten ihm mit den Kindern aus dem Raum. Cery kehrte zu seinem Sessel zurück und stieß einen Seufzer aus.

Er blickte Anyi an. Sie runzelte die Stirn. Es war kein besorgtes Stirnrunzeln, sondern ein verwirrtes. »Was gibt es?«, fragte er.

Sie sah ihn an, dann wandte sie den Blick wieder ab. »Erinnerst du dich an diesen Magier in der Gilde, der genauso gekleidet war wie Sonea?«

»Ja. Schwarzmagier Kallen.«

»Er kam mir bekannt vor. Zuerst habe ich ihn wegen der Roben nicht erkannt.« »Du hast ihn ohne Roben gesehen?« Sie blickte zu ihm auf und lachte. »Nicht so, wie du es gerade ausgedrückt hast. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, konnte ich nicht erkennen, was er anhatte.« »Was hat er getan?«, fragte er.

Eine Falte erschien zwischen ihren Brauen, dann glättete sich ihre Stirn, und sie riss die Augen auf. »Ah! Das ist es. Ich war eines Tages mit meinem Freund unterwegs, um Fäule zu kaufen. Natürlich nicht für mich.« Ihr Blick flackerte, ernst und besorgt, zu seinem Gesicht hinüber. »Inmitten der Verhandlung fuhr eine Kutsche vor. Der Mann darin wollte Fäule, aber er wollte nicht warten. Ich konnte einen Blick auf sein Gesicht werfen.«

»Kallen?«

»Ja.«

»Bist du dir sicher?«

»Oh ja.« Ihre Augen funkelten. »Ich merke mir jeden, der so aussieht, als täte er vielleicht etwas, das er nicht tun darf.«

Cery schnaubte. »Das würde so ziemlich auf jeden in der Stadt zutreffen.«

Sie grinste. »Und ganz besonders dann, wenn es so aussieht, als könnte das, was ich über die betreffende Person in Erfahrung bringe, eines Tages nützlich sein«, räumte sie ein. »Denkst du, dass Sonea sich dafür interessieren würde? Viele Magier nehmen Fäule, habe ich gehört.«

»Oh, ich denke, sie wird das interessant finden«, antwortete Cery. »Ich denke, sie wird es sehr interessant finden. Es wird ein guter Vorwand sein, um mich abermals in ihr Hospital zu schleichen. Oder vielleicht werde ich warten, bis ich ihr etwas Nützliches über Skellin zu berichten habe.« Er sah Anyi an und verzog das Gesicht. »Wir müssen sehr vorsichtig sein, wem wir vertrauen. Skellin hat viele Freunde, und ich bezweifle, dass ich jetzt noch einer davon bin. Wir müssen bei der Suche nach ihm helfen, ohne selbst geschnappt zu werden. Auf uns kommen stürmische Zeiten zu.«

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