Erster Teil

1 Das Alte und das Neue

Das erfolgreichste und meistzitierte Stück des Dichters Rewin, der größte Redefluss, der aus der Neuen Stadt hervorgegangen war, hieß Stadtlied. Es fing ein, was man des Nachts in Imardin hörte, wenn man sich die Zeit nahm, innezuhalten und zu lauschen: eine nie endende, gedämpfte und ferne Mischung von Geräuschen. Stimmen. Gesang. Ein Lachen. Ein Stöhnen. Ein Ächzen. Ein Schrei.

In der Dunkelheit von Imardins Neuem Südquartier erinnerte sich ein Mann des Gedichts. Er hielt inne, um zu lauschen, aber statt das Lied der Stadt in sich aufzunehmen, konzentrierte er sich auf ein einziges misstönendes Echo. Ein Geräusch, das nicht hierhergehörte. Ein Geräusch, das sich nicht wiederholte. Er schnaubte leise und setzte seinen Weg fort.

Einige Schritte später trat vor ihm eine Gestalt aus der Dunkelheit. Die Gestalt war männlich und ragte drohend über ihm auf. Licht fing sich auf der Schneide einer Klinge.

»Dein Geld«, sagte eine grobe Stimme, hart vor Entschlossenheit.

Der Mann erwiderte nichts und verharrte reglos. Vielleicht war er vor Entsetzen erstarrt. Vielleicht war er tief in Gedanken versunken.

Als er sich dann doch bewegte, geschah es mit unheimlicher Geschwindigkeit. Ein Klicken, ein Rascheln des Ärmels, und der Räuber keuchte auf und sank auf die Knie. Ein Messer fiel klappernd zu Boden. Der Mann klopfte ihm auf die Schulter.

»Tut mir leid. Falsche Nacht, falsches Opfer, und ich habe keine Zeit zu erklären, warum.«

Als der Räuber mit dem Gesicht nach unten auf das Pflaster fiel, stieg der Mann über ihn hinweg und ging weiter. Dann blieb er stehen und blickte über die Schulter, auf die andere Seite der Straße.

»He! Gol. Du sollst doch angeblich mein Leibwächter sein.«

Aus der Dunkelheit tauchte eine weitere große Gestalt auf und eilte an die Seite des Mannes.

»Ich schätze, du brauchst eigentlich keinen, Cery. Ich werde langsam auf meine alten Tage. Ich sollte dich dafür bezahlen, mich zu beschützen.«

Cery runzelte die Stirn. »Deine Augen und Ohren sind immer noch scharf, nicht wahr?«

Gol zuckte zusammen. »So scharf wie deine«, erwiderte er mürrisch.

»Nur allzu wahr.« Cery seufzte. »Ich sollte in den Ruhestand gehen. Aber Diebe bekommen keine Gelegenheit, das zu tun.«

»Außer indem sie aufhören, Diebe zu sein.« »Außer indem sie zu Leichen werden«, korrigierte ihn Cery.

»Aber du bist kein gewöhnlicher Dieb. Ich schätze, für dich gelten andere Regeln. Du hast nicht auf die übliche Art angefangen, warum solltest du also auf die übliche Art aufhören?«

»Ich wünschte, alle anderen wären der gleichen Meinung.«

»Das wünschte ich auch. Die Stadt wäre ein besserer Ort.«

»Wenn alle deiner Meinung wären? Ha!« »Für mich wäre es besser.«

Cery lachte leise und setzte seinen Weg fort. Gol folgte in kurzem Abstand. Er verbirgt seine Furcht gut, dachte Cery. Hat es immer getan. Aber er muss denken, dass wir beide diese Nacht vielleicht nicht überstehen. Zu viele von den anderen sind bereits gestorben.

Mehr als die Hälfte der Diebe – der Anführer der kriminellen Gruppen in Imardins Unterwelt – war während der letzten Jahre umgekommen. Jeder auf eine andere Weise und die meisten durch unnatürliche Ursachen. Erstochen, vergiftet, von einem hohen Gebäude gestoßen, in einem Feuer verbrannt, ertrunken oder in einem eingestürzten Tunnel zerquetscht. Einige sagten, eine einzelne Person sei dafür verantwortlich, ein Freischärler, den man den Jäger der Diebe nannte. Andere glaubten, es seien die Diebe selbst, die alte Zwistigkeiten regelten.

Gol sagte, die Wetter setzten ihr Geld nicht darauf, wer als Nächster das Zeitliche segnen würde, sondern wie.

Natürlich hatten jüngere Diebe den Platz der alten eingenommen, manchmal friedlich, manchmal nach einem schnellen, blutigen Kampf. Das war zu erwarten. Aber selbst diese kühnen Neulinge waren nicht immun gegen den Jäger. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie das nächste Opfer wurden, war genauso groß wie bei einem älteren Dieb.

Es gab keine offenkundigen Verbindungen zwischen den Morden. Obwohl unter den Dieben jede Menge Streitigkeiten herrschten, konnte keine davon der Grund für so viele Morde sein. Und während Anschläge auf das Leben von Dieben nicht gar so ungewöhnlich waren – das war etwas, womit jeder Dieb rechnen musste –, war der Erfolg dieser Anschläge sehr wohl ungewöhnlich. Und dass der Mörder oder die Mörder weder damit geprahlt hatten noch dabei gesehen worden waren.

In der Vergangenheit hätten wir eine Zusammenkunft abgehalten. Strategien erörtert. Zusammengearbeitet. Aber es ist lange her, seit die Diebe Hand in Hand gearbeitet haben, und wir wüssten heutzutage vermutlich gar nicht mehr, wie wir das anstellen sollten.

Er hatte die Veränderung in den Tagen nach dem Sieg über die Ichani kommen sehen, aber nicht, wie schnell es gehen würde. Sobald die Säuberung – der alljährliche erzwungene Exodus der Obdachlosen aus der Stadt in die Elendsviertel – geendet hatte, waren die Elendsviertel zu einem Teil der Stadt erklärt worden, und die alten Grenzen waren seither Geschichte. Bündnisse zwischen Dieben erloschen, und neue Rivalitäten flammten auf. Diebe, die während der Invasion zusammengearbeitet hatten, um die Stadt zu retten, wandten sich gegeneinander, um ihre Territorien zu behaupten oder auszudehnen, um sich wiederzuholen, was sie an andere verloren hatten, und um neue Gelegenheiten auszunutzen.

Cery ging an vier jungen Männern vorbei, die an einer Mauer lehnten, wo die Gasse auf eine breitere Straße stieß. Sie musterten ihn, und ihr Blick fiel auf das kleine Medaillon, das an Cerys Mantel steckte und ihn als einen Mann der Diebe auswies. Alle drei nickten respektvoll. Cery nickte knapp zurück, dann blieb er am Ende der Gasse stehen und wartete, bis Gol an den Männern vorbei war und zu ihm aufschloss. Der Leibwächter war vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass er mögliche Gefahren besser ausmachen konnte, wenn er nicht direkt neben Cery herging – und mit den meisten brenzligen Situationen wurde Cery sehr gut selbst fertig.

Quer über den Eingang der Gasse war eine rote Linie gemalt; bei ihrem Anblick lächelte Cery erheitert. Nachdem der König die Hüttenviertel zu einem Teil der Stadt erklärt hatte, hatte er mit wechselndem Erfolg versucht, die Kontrolle darüber zu erlangen. Verbesserte Bedingungen in einigen Gegenden führten zu erhöhten Mieten, was ebenso wie der Abriss unsicherer Häuser die Armen in noch ärmlichere Stadtteile zwang. Sie setzten sich dort fest und machten sich diese Orte zu eigen, und wie in die Enge getriebene Tiere verteidigten sie sie mit grimmiger Entschlossenheit und gaben ihren Nachbarschaften Namen wie Finstergassen und Wohnfeste. Es gab inzwischen Grenzen, einige markiert, andere nur nach Namen und ungefährer Lage, die kein Stadtwächter zu übertreten wagte, es sei denn, er befand sich in Gesellschaft mehrerer Kollegen – und selbst dann mussten sie mit einem Kampf rechnen. Einzig die Anwesenheit eines Magiers war eine wirkliche Garantie für ihre Sicherheit.

Als sein Leibwächter zu ihm aufschloss, wandte Cery sich ab, und sie überquerten gemeinsam die breitere Straße. Eine Kutsche rollte vorbei, beleuchtet von zwei hin und her schwingenden Laternen. Die allgegenwärtigen Wachsoldaten der Stadt schlenderten paarweise mit Laternen umher, niemals außer Sichtweite anderer Wachen vor oder hinter ihnen.

Dies war eine neue Durchgangsstraße, die den gefährlichen Stadtteil Wildwegen querte. Cery hatte sich zuerst gefragt, warum der König sich Mühe gemacht hatte, diese Straße bauen zu lassen. Jeder, der allein unterwegs war, lief Gefahr, von den Bewohnern links oder rechts der Straße überfallen zu werden und dabei wahrscheinlich ein Messer in den Leib gerammt zu bekommen. Aber andererseits war die Straße breit und bot Räubern wenig Deckung, und die Tunnel darunter, einst ein Teil des Untergrundnetzwerkes, das allenthalben die Straße der Diebe genannt wurde, waren während des Baus verfüllt und verschüttet worden. Manche der alten, von viel zu vielen Menschen bewohnten Gebäude zu beiden Seiten waren abgerissen und durch große, sichere Häuser ersetzt worden, die sich im Besitz von Kaufleuten befanden.

Die neue Straße hatte wichtige Verbindungen des alten Wildwegen zerschnitten. Es würden sicherlich bereits Anstrengungen unternommen, neue Tunnel zu bauen – davon war Cery überzeugt –, aber das würde seine Zeit dauern, und da fast die Hälfte der ehemals ansässigen Bevölkerung zum Wegzug gezwungen worden war, schien sich der Charakter des Viertels bereits unwiderruflich geändert zu haben.

Cery fühlte sich im Freien wie immer unbehaglich. Und nach der Begegnung mit dem Räuber war seine Unruhe noch gewachsen.

»Denkst du, er ist ausgeschickt worden, um mich zu prüfen?«, fragte er Gol.

Gol antwortete nicht sofort, und sein langes Schweigen sagte Cery, dass er gründlich über die Frage nachdachte.

»Ich bezweifle es. Höchstwahrscheinlich hatte er lediglich fatales Pech.«

Cery nickte. Ich bin seiner Meinung, aber die Zeiten haben sich verändert. Die Stadt hat sich verändert. Manchmal ist es so, als lebe man in einem fremden Land. Oder so, wie ich mir das Leben in einer anderen Stadt vorstelle, da ich Imardin niemals verlassen habe. Unvertraut. Andere Regeln. Gefahren, wo man sie nicht erwartet. Man kann gar nicht genug aufpassen. Und ich stehe schließlich vor der Begegnung mit dem meistgefürchteten Dieb in Imardin.

»Ihr da«, erklang eine laute Stimme. Zwei Wachsoldaten kamen auf sie zu; einer von ihnen hielt seine Laterne hoch. Cery berechnete die Entfernung zur anderen Straßenseite, dann seufzte er und blieb stehen.

»Ich?«, fragte er und wandte sich den Wachsoldaten zu. Gol sagte nichts.

Der größere der beiden Männer blieb einen Schritt hinter seinem untersetzten Gefährten stehen. Er antwortete nicht, sondern schaute einige Male zwischen Gol und Cery hin und her, bis sein Blick schließlich auf Cery ruhen blieb.

»Nennt eure Adresse und eure Namen«, befahl er.

»Cery von der Flussstraße, Nordseite«, antwortete Cery.

»Ihr beide?«

»Ja. Gol ist mein Diener. Und Leibwächter.«

Der Wachmann nickte und würdigte Gol kaum eines Blickes. »Euer Ziel?«

»Eine Besprechung mit dem König.«

Der stillere Wachsoldat sog scharf den Atem ein, was ihm einen Blick von seinem Vorgesetzten eintrug. Cery beobachtete die Männer, und es erheiterte ihn, dass beide – erfolglos – versuchten, ihr Entsetzen und ihre Furcht zu verbergen. Man hatte ihm aufgetragen, ihnen diese Information zu geben, und obwohl es eine geradezu lächerliche Behauptung war, machte der Wachmann den Anschein, als glaube er ihm. Oder – was wahrscheinlicher war – er verstand, dass es sich um eine verschlüsselte Nachricht handelte.

Der größere Wachmann straffte die Schultern. »Dann setzt euren Weg fort. Und… gebt auf euch acht.«

Cery drehte sich um und ging, dicht gefolgt von Gol, über die Straße. Er fragte sich, ob die Nachricht ihnen verraten hatte, mit wem genau Cery sich traf, oder ob sie nur wussten, dass jemand, der diese Worte sagte, nicht aufgehalten werden durfte.

So oder so, er bezweifelte, dass er und Gol zufällig auf eine korrupte Wache gestoßen waren. Es hatte schon immer Wachsoldaten gegeben, die bereit waren, mit den Dieben zusammenzuarbeiten, aber der Hang zur Korruption hatte zugenommen und war allgegenwärtiger denn je. Es gab noch ehrliche, anständige Männer in der Wache, die danach trachteten, schwarze Schafe in ihren Reihen bloßzustellen und zu bestrafen, aber sie standen in einer Schlacht, die eigentlich schon seit einiger Zeit verloren war.

Alle sind mit der einen oder anderen Form von internen Streitigkeiten beschäftigt. Die Wache kämpft gegen die Korruption in ihren Reihen, die Häuser liegen untereinander in Fehde, die reichen und armen Novizen und Magier in der Gilde hacken aufeinander herum, die Verbündeten Länder können sich in der Sachaka-Frage nicht einigen, und die Diebe liegen miteinander im Krieg. Faren hätte das alles sehr unterhaltsam gefunden.

Aber Faren war tot. Im Gegensatz zu den übrigen Dieben war er im Winter vor fünf Jahren an einer vollkommen normalen Lungenentzündung gestorben. Cery hatte zuvor schon jahrelang nicht mit ihm gesprochen. Der Mann, den Faren zu seinem Nachfolger ausgebildet hatte, hatte die Zügel seines kriminellen Reiches ohne Wettbewerb oder Blutvergießen übernommen. Der Mann, der sich Skellin nannte.

Der Mann, mit dem Cery sich heute Nacht treffen würde.

Während Cery durch den kleineren der beiden noch erhaltenen Teile von Wildwegen ging und dabei die Rufe von Huren und Buchmacherjungen ignorierte, überdachte er, was er über Skellin wusste. Faren hatte die Mutter seines Nachfolgers bei sich aufgenommen, als Skellin noch ein Kind gewesen war, aber ob die Frau Farens Geliebte oder seine Ehefrau gewesen war oder ob sie nur für ihn gearbeitet hatte, war unbekannt. Der alte Dieb hatte die beiden abgeschirmt und geheim gehalten, wie die meisten Diebe es mit Menschen, die sie liebten, tun mussten. Skellin hatte sich als ein talentierter Mann erwiesen. Er hatte viele Unternehmen der Unterwelt übernommen und etliche selbst ins Leben gerufen, und dabei hatte es nur wenige Fehlschläge gegeben. Er stand in dem Ruf, gerissen und kompromisslos zu sein. Cery glaubte nicht, dass Faren Skellins absolute Skrupellosigkeit gebilligt hätte. Doch die Geschichten waren wahrscheinlich im Laufe der Zeit ausgeschmückt worden, so dass man nicht beurteilen konnte, wie verdient der Ruf des Mannes war.

Cery kannte kein Tier, das als »Skellin« bezeichnet wurde. Farens Nachfolger war der erste neue Dieb gewesen, der mit der Tradition, Tiernamen zu benutzen, gebrochen hatte. Es bedeutete natürlich nicht, dass »Skellin« zwangsläufig sein richtiger Name war. Jene, die das glaubten, hielten es für mutig von ihm, seinen Namen zu enthüllen. Jene, die es nicht glaubten, scherten sich nicht darum.

Sie bogen in eine andere Straße ein und gelangten in einen sauberen Teil des Bezirks. Sauber jedoch nur dem Anschein nach. Hinter den Türen dieser respektabel aussehenden Häuser lebten lediglich wohlhabendere Huren, Hehler und Auftragsmörder. Die Diebe hatten in Erfahrung gebracht, dass die – zu dünn besetzte – Wache nicht so genau hinsah, wenn nur der äußere Anschein respektabel war. Und im Zweifelsfall konnten auch ein paar kleine Spenden für die bevorzugten Wohltätigkeitsprojekte in der Stadt dem guten Ruf sehr förderlich sein.

Wie zum Beispiel die Hospitäler, die Sonea leitete, immer noch eine Heldin der Armen, obwohl die Reichen nur von Akkarins Bemühungen und Opfern während der Ichani-Invasion sprachen. Cery fragte sich häufig, ob sie ahnte, wie viel von dem Geld, das ihrer Sache gespendet wurde, aus korrupten Quellen kam. Und wenn sie es ahnte, kümmerte es sie?

Er und Gol verlangsamten ihr Tempo, als sie die Kreuzung erreichten, die Cery als Treffpunkt genannt worden war. Dort bot sich ihnen ein seltsamer Anblick.

Wo einst ein Haus gestanden hatte, füllte ein grüner, mit bunten Farben gesprenkelter Grasteppich die Lücke in der Bebauung. Zwischen den alten Grundfesten und eingestürzten Mauern wuchsen Pflanzen aller Größen. Und alle wurden von Hunderten von Lampen beleuchtet. Das »Sonnenhaus« war während der Ichani-Invasion zerstört worden, und der Besitzer hatte es sich nicht leisten können, es wieder aufzubauen. Er hatte sich im Keller der Ruine eingerichtet und seine Tage damit verbracht, seinen geliebten Garten dazu zu ermutigen, das Anwesen in Besitz zu nehmen – und die Einheimischen, ihn zu besuchen und sich daran zu erfreuen.

Es war ein seltsamer Treffpunkt für Diebe, aber Cery sah durchaus seine Vorteile. Das Grundstück war relativ offen – niemand konnte sich unbemerkt nähern oder lauschen – und doch öffentlich genug, dass jeder Kampf oder Überfall beobachtet werden würde, was hoffentlich Verrat und Gewalt vorbeugte.

Die Anweisungen hatten besagt, dass er neben der Statue warten solle. Als Cery und Gol den Garten betraten, sahen sie in der Mitte der Ruine eine steinerne Gestalt auf einem Sockel. Die Statue war aus schwarzem, mit grauen und weißen Adern durchzogenem Stein. Sie zeigte einen mit einem Umhang bekleideten Mann, der nach Osten gewandt war, dabei aber nach Norden blickte. Als er näher kam, stellte Cery fest, dass die Gestalt etwas Vertrautes hatte.

Es soll Akkarin sein, erkannte er mit einem leichten Schock. Er hat sich der Gilde zugewandt, blickt aber nach Sachaka. Er trat näher heran und betrachtete die Züge der Statur. Aber es ist kein gutes Abbild.

Gol stieß ein leises, warnendes Geräusch aus, und Cery konzentrierte sich sofort wieder auf seine Umgebung. Ein Mann kam auf sie zu, und ein anderer folgte ihm mit einigen Schritten Abstand.

Ist das Skellin? Er sieht definitiv fremdländisch aus. Aber dieser Mann stammte von keiner Rasse ab, der Cery bisher begegnet war. Sein Gesicht war lang und schmal mit hohen Wangenknochen und spitzem Kinn. Dies ließ den stark geschwungenen Mund zu groß für sein Gesicht wirken. Aber seine Augen und seine dichten Brauen passten gut zueinander – fast hätte man sie als schön bezeichnen können. Seine Haut war dunkler als die der Bewohner Elynes oder Sachakas, aber nicht bläulich schwarz wie die der Leute aus Lonmar, sondern leicht rötlich getönt. Und das dunkle Rot seines Haares würde man bei anderen Bewohnern dieser drei Länder lange suchen.

Er sieht aus, als sei er in ein Fass mit Farbe gefallen, die noch nicht ganz herausgewaschen ist, ging es Cery durch den Kopf. Ich würde sagen, er ist etwa fünfundzwanzig.

»Willkommen bei mir zu Hause, Cery von der Nordseite«, sagte der Mann, in dessen Stimme kein Anflug eines fremdländischen Akzents lag. »Ich bin Skellin. Skellin, der Dieb, oder Skellin, der Schmutzige Ausländer, je nachdem, mit wem du redest und wie berauscht der Betreffende ist.«

Cery war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. »Wie soll ich dich nennen?«

Skellins Lächeln wurde breiter. »Skellin genügt. Ich habe nichts übrig für fantastische Titel.« Sein Blick wanderte zu Gol hinüber.

»Mein Leibwächter«, erklärte Cery.

Skellin nickte Gol einmal knapp zu, dann wandte er sich wieder an Cery. »Können wir unter vier Augen reden?«

»Natürlich«, antwortete Cery. Er nickte Gol zu, der sich außer Hörweite begab. Auch Skellins Mann zog sich zurück.

Der andere Dieb ging zu einer der niedrigen Mauern der Ruine und setzte sich. »Es ist eine Schande, dass die Diebe dieser Stadt sich nicht mehr treffen und zusammenarbeiten«, begann er. »Wie in alten Tagen.« Er sah Cery an. »Du kennst die alten Traditionen und bist früher einmal den alten Regeln gefolgt. Vermisst du sie?«

Cery zuckte die Achseln. »Veränderungen passieren ständig. Man verliert etwas und gewinnt etwas anderes.«

Skellin zog eine seiner elegant geschwungenen Augenbrauen hoch. »Wiegen die Gewinne schwerer als die Verluste?«

»Für manche mehr als für andere. Ich habe nicht viel von der Spaltung profitiert, aber ich habe immer noch einige Übereinkünfte mit anderen Dieben.«

»Das ist gut zu hören. Denkst du, es besteht eine Chance, dass wir zu einer Übereinkunft kommen könnten?«

»Eine Chance besteht immer.« Cery lächelte. »Es hängt davon ab, worin wir deiner Meinung nach übereinkommen sollen.«

Skellin nickte. »Natürlich.« Er hielt inne, und seine Miene wurde ernst. »Es gibt zwei Angebote, die ich dir gern machen würde. Das erste ist eins, das ich bereits einigen anderen Dieben unterbreitet habe, und sie waren alle damit einverstanden.«

Ein Prickeln überlief Cery. Alle? Aber andererseits sagt er auch nicht, wie viele »einige« sind.

»Du hast von dem Jäger gehört?«, fragte Skellin.

»Wer hat nicht von ihm gehört?«

»Ich glaube, dass es ihn tatsächlich gibt.«

»Eine einzige Person hat all diese Diebe getötet?« Cery zog die Augenbrauen hoch; er machte sich nicht die Mühe, seine Ungläubigkeit zu verbergen.

»Ja«, sagte Skellin entschieden und hielt Cerys Blick stand. »Wenn du dich umhörst – die Leute fragst, die etwas gesehen haben –, weisen die Morde Ähnlichkeiten auf.«

Ich werde Gol der Sache noch einmal nachgehen lassen müssen, überlegte Cery. Dann kam ihm ein Gedanke. Ich hoffe, Skellin glaubt nicht, dass ich diesen Jäger der Diebe für ihn finden kann, nur weil ich dem Hohen Lord Akkarin bei der Suche nach den sachakanischen Spionen geholfen habe.

»Also… was willst du seinetwegen unternehmen?«

»Ich hätte gern dein Wort, dass du mir davon berichtest, falls du etwas über den Jäger hören solltest. Ich habe mir sagen lassen, dass viele Diebe nicht miteinander reden, daher biete ich mich stattdessen selbst als Empfänger für Informationen über den Jäger an. Wenn alle zusammenarbeiten, werde ich ihn euch vielleicht vom Hals schaffen können. Oder ich werde zumindest in der Lage sein, diejenigen zu warnen, die angegriffen werden sollen.«

Cery lächelte. »Letzteres ist eine Spur optimistisch.«

Skellin zuckte die Achseln. »Ja, es besteht immer die Chance, dass ein Dieb eine Warnung nicht weitergibt, wenn er weiß, dass der Jäger einen Rivalen töten wird. Aber vergiss nicht, dass jeder getötete Dieb eine Informationsquelle weniger bedeutet, die uns helfen könnte, uns des Jägers zu entledigen und unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten.«

»Sie würden schnell genug durch andere ersetzt werden.«

Skellin runzelte die Stirn. »Von jemandem, der vielleicht nicht so viel weiß wie sein Vorgänger.«

»Kein Sorge.« Cery lächelte. »Im Augenblick gibt es niemanden, den ich genug hasse, um das zu tun.«

Der andere Mann lächelte ebenfalls. »Also sind wir uns einig?«

Cery dachte nach. Obwohl ihn die Art von Gewerbe, die Skellin betrieb, nicht gefiel, wäre es dumm gewesen, dieses Angebot abzulehnen. Die einzigen Informationen, die der Mann wollte, bezogen sich auf den Jäger der Diebe, auf nichts sonst. Und er bat nicht um einen Pakt oder ein Versprechen – wenn Cery außerstande war, Informationen weiterzugeben, weil sie seine Sicherheit oder sein Geschäft gefährdeten, konnte niemand behaupten, er habe sein Wort gebrochen.

»Ja«, antwortete er.

»Dann haben wir schon eine Übereinkunft erzielt«, sagte Skellin lächelnd. »Jetzt lass uns sehen, ob wir nicht zwei daraus machen können.« Er rieb sich die Hände. »Du weißt sicher, welches das wichtigste Produkt ist, das ich importiere und verkaufe.«

Cery machte sich nicht die Mühe, seinen Abscheu zu verbergen, und nickte. »Feuel oder ›Fäule‹, wie manche es nennen. Nichts, woran ich Interesse hätte. Und wie ich höre, hast du das Geschäft fest in der Hand.«

Skellin nickte. »Allerdings. Als Faren starb, hinterließ er mir ein schrumpfendes Territorium. Ich brauchte eine Möglichkeit, mir Geltung zu verschaffen und meine Macht zu stärken. Ich habe es mit verschiedenen Gewerben versucht. Die Beschaffung von Feuel war neu und unerprobt. Es hat mich erstaunt, wie schnell die Kyralier sich dafür erwärmt haben. Es hat sich als sehr profitabel erwiesen, und nicht nur für mich. Die Häuser beziehen ein hübsches kleines Einkommen aus der Miete für die Glühhäuser.« Skellin hielt inne. »Du könntest ebenfalls Gewinn aus dieser kleinen Industrie ziehen, Cery von der Nordseite.«

»Nenn mich einfach Cery.« Cery lächelte, dann ließ er seine Miene wieder ernst werden. »Ich fühle mich geschmeichelt, aber die Nordseite ist die Heimat von Menschen, die größtenteils zu arm sind, um Feuel bezahlen zu können. Es ist eine Gewohnheit für die Reichen.«

»Aber die Nordseite wird immer wohlhabender, dank deiner Bemühungen, und Feuel wird billiger, je mehr davon auf den Markt kommt.«

Cery verkniff sich ein zynisches Lächeln angesichts der Schmeichelei. »Aber noch nicht billig genug. Der Handel würde aufhören zu wachsen, wenn man zu viel Feuel zu schnell ins Land brächte.« Und ich käme zurecht, auch wenn wir überhaupt keine Fäule hätten. Er hatte gesehen, was Feuel mit Männern und Frauen machte, die sich ihm hingaben – sie vergaßen, zu essen oder zu trinken, vergaßen, ihre Kinder zu füttern, es sei denn, um ihnen etwas von der Droge zu geben, damit sie aufhörten, über Hunger zu klagen. Aber ich bin nicht töricht genug zu denken, ich könnte es für immer von der Nordseite fernhalten. Wenn ich es nicht beschaffe, wird jemand anders es machen. Ich werde einen Weg finden müssen, um es zu tun, ohne allzu großen Schaden anzurichten. »Es wird einen richtigen Zeitpunkt geben, um Feuel auf die Nordseite zu bringen«, sagte Cery. »Und wenn dieser Zeitpunkt kommt, werde ich wissen, an wen ich mich wenden muss.«

»Warte nicht zu lange damit, Cery«, warnte Skellin. »Feuel ist beliebt, weil es neu und modisch ist, aber schließlich wird es so sein wie Bol – einfach eine weitere Last der Stadt, angebaut und zubereitet von jedem. Ich hoffe, dass ich bis dahin neue Gewerbe aufgebaut habe, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen.« Er hielt inne und wandte den Blick ab. »Eins der alten, ehrenwerten Diebesgewerbe. Oder vielleicht sogar etwas Gesetzliches.«

Er drehte sich wieder um und lächelte, aber in seinen Zügen lag ein Anflug von Traurigkeit und Unzufriedenheit. Vielleicht steckt in dieser Haut ein ehrlicher Kerl, dachte Cery. Wenn er nicht erwartet hat, dass Feuel sich so schnell ausbreitet, hat er vielleicht auch nicht erwartet, dass es so große Schäden anrichten loürde… Aber das wird mich nicht dazu bewegen, selbst in das Gewerbe einzusteigen.

Skellins Lächeln verblasste, und an seine Stelle trat ein ernstes Stirnrunzeln. »Es gibt Leute, die gern deinen Platz einnehmen würden, Cery. Feuel könnte deine beste Verteidigung gegen sie sein, wie es das auch für mich war.«

»Es gibt immer Leute, die mich von meinem Platz vertreiben wollen«, erwiderte Cery. »Ich werde gehen, wenn ich so weit bin.«

Der andere Dieb wirkte erheitert. »Du glaubst wirklich, dass du die Zeit und den Ort wirst wählen können?«

»Ja.«

»Und deinen Nachfolger?« »Ja.«

Skellin lachte leise. »Mir gefällt dein Selbstbewusstsein. Faren war sich seiner selbst ebenfalls sicher. Er hatte zumindest zur Hälfte recht: Er konnte seinen Nachfolger wählen.«

»Er war ein kluger Mann.«

»Er hat mir viel von dir erzählt.« Ein neugieriger Ausdruck trat in Skellins Augen. »Dass du nicht auf die gewohnte Weise zum Dieb geworden bist. Dass der berüchtigte Hohe Lord Akkarin es arrangiert hat.«

Cery widerstand dem Drang, zu der Statue hinüberzusehen. »Alle Diebe gewinnen Macht durch mächtigen Leuten erwiesene Gefälligkeiten. Ich habe zufällig mit einem sehr mächtigen Mann Gefälligkeiten ausgetauscht.«

Skellin zog die Augenbrauen hoch. »Hat er dich jemals Magie gelehrt?«

Cery lachte auf. »Schön wär’s!«

»Aber du bist mit einer Magierin aufgewachsen und hast deine Position mithilfe des ehemaligen Hohen Lords errungen. Gewiss hast du etwas aufgeschnappt.«

»So funktioniert Magie nicht«, erklärte Cery. Aber das weiß er gewiss. »Man braucht die Gabe dazu und einen Lehrer, der einem beibringt, sie zu kontrollieren und zu benutzen. Man kann es nicht lernen, indem man jemanden beobachtet.«

Skellin nickte, einen Finger ans Kinn, und musterte Cery nachdenklich. »Aber du hast immer noch Verbindungen in die Gilde, nicht wahr?«

Cery schüttelte den Kopf. »Ich habe Sonea seit Jahren nicht mehr gesehen.«

»Wie enttäuschend nach allem, was du getan hast – was alle Diebe getan haben –, um ihnen zu helfen.« Skellin lächelte schief. »Ich fürchte, dein Ruf als Freund von Magiern ist nicht annähernd so aufregend wie die Realität, Cery.«

»So ist das mit dem Ruf. Im Allgemeinen.«

Skellin nickte. »In der Tat. Nun, ich habe unser Gespräch genossen und meine Angebote gemacht. Wir sind zumindest zu einer Übereinkunft gelangt. Ich hoffe, wir werden mit der Zeit zu einer weiteren kommen.« Er stand auf. »Danke, dass du dich mit mir getroffen hast, Cery von der Nordseite.«

»Danke für die Einladung. Viel Glück bei der Suche nach dem Jäger.«

Skellin lächelte, nickte höflich, drehte sich dann um und schlenderte den gleichen Weg zurück, über den er gekommen war. Cery beobachtete ihn einen Moment lang, dann warf er noch einen schnellen Blick auf die Statue. Es war wirklich kein gutes Abbild.

»Wie ist es gelaufen?«, murmelte Gol, als Cery sich wieder zu ihm gesellte.

»Wie erwartet«, antwortete Cery. »Nur dass…«

»Nur dass?«, wiederholte Gol, als Cery den Satz nicht beendete.

»Wir sind übereingekommen, Informationen über den Jäger der Diebe auszutauschen.« »Dann gibt es ihn also wirklich?«

»Das glaubt Skellin.« Cery zuckte die Achseln. Sie überquerten die Straße und gingen auf Wildwegen zu. »Das war jedoch nicht das Seltsamste.«

»Tatsächlich?«

»Er hat gefragt, ob Akkarin mich Magie gelehrt habe.« Gol schwieg einen Moment lang. »Aber das ist eigentlich nicht so seltsam. Faren hat Sonea versteckt, bevor er sie der Gilde auslieferte, und zwar in der Hoffnung, dass sie Magie für ihn wirken würde. Skellin muss alles darüber gehört haben.«

»Glaubst du, er hätte gern seinen eigenen Schoßmagier?«

»Sicher. Obwohl er dich natürlich nicht in Dienst würde nehmen wollen, da du ein Dieb bist. Vielleicht denkt er, er könnte durch dich die Gilde um Gefälligkeiten bitten.«

»Ich habe ihm gesagt, ich hätte Sonea seit Jahren nicht mehr gesehen.« Cery verzog das Gesicht. »Wenn ich sie das nächste Mal treffe, werde ich vielleicht fragen, ob sie einem meiner Diebesfreunde helfen würde, nur um den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen.«

In der Gasse vor ihnen erschien eine Gestalt, die auf sie zugeeilt kam. Cery verlangsamte seine Schritte und registrierte dabei die möglichen Ausgänge und Verstecke um sie herum.

»Du solltest ihr sagen, dass Skellin Erkundigungen einholt«, riet Gol ihm. »Er könnte versuchen, jemand anderen anzuwerben. Und es könnte funktionieren. Nicht alle Magier sind so unbestechlich wie Sonea.« Auch Gol wurde jetzt langsamer. »Das ist… das ist Neg.«

Der Erleichterung darüber, dass es kein weiterer Angreifer war, folgte Sorge. Neg hatte Cerys Hauptversteck bewacht. Das tat er lieber, als durch die Straßen zu streifen, da freie Flächen ihn nervös machten.

Etwas auf seinem Gesicht leuchtete selbst im schwachen Straßenlicht, und Cery spürte, wie sein Herz ihm in die Hose, nein, in die Schuhe rutschte. Ein Verband. Neg keuchte, als er die beiden anderen Diebe erreichte.

»Was ist los?«, fragte Cery mit einer Stimme, die er kaum als seine erkannte.

»T… tut mir leid«, keuchte Neg. »Schlimme Neuigkeiten.« Er holte tief Luft, dann stieß er den Atem heftig aus und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Sag es«, befahl Cery.

»Sie sind tot. Alle. Selia. Die Jungen. Hab nicht gesehen, wer. Sind an allem vorbeigekommen. Weiß nicht, wie. Kein Schloss aufgebrochen. Als ich zu mir kam…«

Während Neg weiterredete, sich entschuldigte und erklärte und seine Worte sich überschlugen, erfüllte ein Rauschen Cerys Ohren. Sein Verstand versuchte einen Moment lang, eine andere Erklärung zu finden. Er muss sich irren. Er hat sich den Kopf angeschlagen und leidet an Wahnvorstellungen. Er hat es geträumt.

Aber er zwang sich, sich der wahrscheinlichen Wahrheit zu stellen. Was er jahrelang gefürchtet hatte – was ihn in Albträumen verfolgt hatte –, war geschehen.

Jemand hatte es an all den Schlössern und Wachen und Schutzvorrichtungen vorbeigeschafft und seine Familie ermordet.

2 Fragwürdige Verbindungen

Es war weit vor der Zeit, zu der sie normalerweise erwachte. Der Morgen würde erst in einigen Stunden heraufdämmern. Sonea blinzelte in der Dunkelheit und fragte sich, was sie geweckt hatte. Ein Traum? Oder hatte etwas Reales sie mitten in der Nacht in diesen Zustand plötzlicher Wachsamkeit versetzt?

Dann hörte sie im Nebenzimmer ein Geräusch, schwach, aber unleugbar.

Mit hämmerndem Herzen und prickelnder Kopfhaut stand sie auf und bewegte sich leise auf die Schlafzimmertür zu. Sie hörte einen Schritt hinter der Tür, dann noch einen. Eine Hand auf die Klinke gelegt, zog sie Magie in sich hinein, riss einen Schild empor und holte tief Luft.

Die Klinke drehte sich lautlos. Sonea zog die Tür ein klein wenig auf und spähte hindurch. Im schwachen Mondlicht, das zwischen den Fensterläden ins Gästezimmer fiel, sah sie eine Gestalt auf und ab gehen. Männlich, eher klein von Wuchs und eindeutig vertraut. Erleichterung durchflutete sie.

»Cery«, sagte sie und zog die Tür ganz auf. »Wer sonst würde es wagen, sich mitten in der Nacht in meine Räume zu schleichen?«

Er drehte sich zu ihr um. »Sonea«, sagte er. Er atmete tief durch, sagte aber sonst nichts mehr. Eine lange Pause folgte, und Sonea runzelte die Stirn. Es sah ihm nicht ähnlich zu zögern. War er gekommen, um einen Gefallen zu erbitten, von dem er wusste, dass er ihr nicht gefallen würde?

Sie konzentrierte sich und schuf eine kleine Lichtkugel, gerade groß genug, um den Raum mit einem sanften Schein zu erfüllen. Einen Moment lang stockte ihr der Atem. Sein Gesicht war voller tiefer Falten. Die Jahre der Gefahr und der Sorge eines Lebens als Dieb hatten ihn schneller altern lassen als jeden anderen, den sie kannte.

Ich trage selbst jede Menge Spuren meiner Jahre, dachte sie, aber die Schlachten, die ich gekämpft habe, waren nur kleinliche Zankereien zwischen Magiern; ich brauchte nicht in der kompromisslosen und häufig grausamen Unterwelt zu überleben.

»Also… was führt dich mitten in der Nacht in die Gilde?«, fragte sie, während sie ins Gästezimmer trat.

Er betrachtete sie nachdenklich. »Du fragst mich nie, wie ich unbemerkt hier hereinkomme.«

»Ich will es gar nicht wissen. Ich will das Risiko nicht eingehen, dass jemand anderer es erfahren könnte, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich jemandem erlauben muss, meine Gedanken zu lesen.«

Er nickte. »Ah. Wie laufen die Dinge hier?«

Sie zuckte die Achseln. »Wie immer. Reiche und arme Novizen zanken sich. Und jetzt, da einige der ehemals armen Novizen ihren Abschluss gemacht haben und Magier geworden sind, haben wir Gezänk auf einer neuen Ebene. Eins, das wir ernst nehmen müssen. In wenigen Tagen werden wir eine Versammlung haben, bei der wir die Abschaffung der Regel überdenken, nach der es Novizen und Magiern verboten ist, Umgang mit Verbrechern oder Personen von schlechtem Ruf zu pflegen. Wenn die Zusammenkunft Erfolg hat, werde ich nicht länger eine Regel brechen, wenn ich mit dir rede.«

»Ich kann dann durchs Vordertor kommen und offiziell um eine Audienz ersuchen?«

»Ja. Nun, das ist ein Szenario, das den Höheren Magiern einige schlaflose Nächte bescheren wird. Ich wette, sie wünschten, sie hätten den unteren Klassen niemals gestattet, der Gilde beizutreten.«

»Wir haben immer gewusst, dass sie es bereuen würden«, sagte Cery. Er seufzte und wandte den Blick ab. »Ich wünsche mir langsam, die Säuberungen hätten niemals aufgehört.«

Sonea runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust; ein Stich des Ärgers und der Ungläubigkeit durchzuckte sie. »Das ist doch gewiss nicht dein Ernst.«

»Alles hat sich zum Schlechteren gewendet.« Er trat an ein Fenster und sah hinaus. Doch es wurde nichts sichtbar als die Dunkelheit dahinter.

»Und das liegt daran, dass die Säuberung aufgehört hat?« Sie betrachtete mit schmalen Augen seinen Rücken. »Es hat nichts mit einem gewissen neuen Laster zu tun, das das Leben so vieler Menschen in Imardin zerstört, reicher wie armer?«

»Feuel?«

»Ja. Die Säuberung hat Hunderte getötet, aber Feuel hat Tausende geholt – und noch mehr versklavt.« Jeden Tag sah sie die Opfer in ihren Hospitälern. Nicht nur jene, die den Verlockungen der Droge verfallen waren, sondern auch deren verzweifelte Eltern, Ehegatten, Geschwister, Kinder und Freunde.

Und nach allem, was ich weiß, könnte Cery einer der Diebe sein, die es importieren und verkaufen, konnte sie nicht umhin zu denken, und das nicht zum ersten Mal.

»Es heißt, es würde dafür sorgen, dass man aufhört, Anteil an den Dingen zu nehmen«, sagte Cery leise und wandte ihr das Gesicht zu. »Keine Probleme oder Sorgen mehr. Keine Furcht. Keine… Trauer.«

Seine Stimme brach beim letzten Wort, und plötzlich spürte Sonea, dass all ihre Sinne schärfer wurden.

»Was ist passiert, Cery? Warum bist du hergekommen?«

Er holte tief Luft. Stieß den Atem langsam wieder aus. »Meine Familie«, antwortete er, »ist heute Nacht ermordet worden.«

Sonea zuckte zurück. Die Schärfe eines schrecklichen Schmerzes traf sie wie ein Dolchstoß und erinnerte sie daran, dass manche Verluste niemals vergessen werden konnten – oder vergessen werden sollten. Aber sie hielt sich zurück. Sie würde Cery keine Hilfe sein, wenn sie sich von diesem Gefühl verzehren ließ. Er wirkte so verloren. In seinen Augen standen unverhohlener Schock und Qual. Sie ging auf ihn zu und zog ihn in die Arme. Er versteifte sich einen Moment lang, dann entspannte er sich.

»Es gehört zum Leben eines Diebs«, sagte er. »Du tust alles, was du kannst, um deine Leute zu beschützen, aber es besteht immer Gefahr. Vesta hat mich verlassen, weil sie nicht damit leben konnte. Es nicht ertragen konnte, eingesperrt zu sein. Selia war stärker. Mutiger. Nach allem, was sie ertragen hat, hat sie es nicht verdient… und die Jungen…«

Vesta war Cerys erste Frau gewesen. Sie war klug gewesen, aber widerspenstig und aufbrausend. Mit Wutanfällen hatte man bei ihr immer rechnen müssen. Selia hatte erheblich besser zu ihm gepasst, sie war ruhig gewesen und hatte die stille Weisheit eines Menschen besessen, der die Welt mit offenen und versöhnlichen Augen betrachtete. Sonea hielt ihn im Arm, während er von Schluchzen geschüttelt wurde. Auch ihre eigenen Augen füllten sich mit Tränen. Kann ich mir vorstellen, wie es sein muss, ein Kind zu verlieren? Ich kenne die Angst, alles zu verlieren, aber nicht den Schmerz des tatsächlichen Verlustes. Ich denke, es wäre schlimmer, als ich es mir jemals vorstellen könnte. Zu wissen, dass die eigenen Kinder niemals erwachsen werden… Nur… was war mit seinem anderen Kind? Obwohl sie inzwischen bereits erwachsen sein musste.

»Geht es Anyi gut?«, fragte sie.

Cery war einen Moment lang ganz ruhig, dann löste er sich von ihr. Seine Miene war angespannt. »Ich weiß es nicht. Nachdem Vesta und Anyi gegangen waren, habe ich die Leute glauben lassen, mir läge nichts mehr an ihnen, zu ihrem eigenen Schutz – obwohl ich gelegentlich dafür gesorgt habe, dass Anyi und ich einander über den Weg gelaufen sind, so dass sie mich zumindest weiterhin erkennen würde.« Er schüttelte den Kopf. »Wer immer das getan hat, hat die besten Schlösser überwunden, die man mit Geld kaufen kann, und Leute, denen ich uneingeschränkt vertraut habe. Der Betreffende hat seine Hausaufgaben gemacht. Er könnte von ihr wissen. Aber er weiß vielleicht nicht, wo sie sich aufhält. Wenn ich nach ihr sehe, könnte ich ihn zu ihr führen.«

»Kannst du ihr eine Warnung zukommen lassen?«

Er runzelte die Stirn. »Ja. Vielleicht…« Er seufzte. »Ich muss es versuchen.«

»Was wirst du ihr raten?«

»Sich zu verstecken.«

»Dann wird es keine Rolle spielen, ob du den Mörder zu ihr führst oder nicht, nicht wahr? Sie wird sich ohnehin verstecken müssen.«

Er wirkte nachdenklich. »Ja, wahrscheinlich.«

Sonea lächelte, als ein Ausdruck der Entschlossenheit seine Züge verhärtete. Sein ganzer Körper war jetzt angespannt vor Zielstrebigkeit. Er sah sie an, und ein entschuldigender Ausdruck trat in seine Züge.

»Geh nur«, sagte sie. »Und warte beim nächsten Mal nicht so lange, bis du mich besuchst.«

Er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich verspreche es. Oh. Da ist noch etwas anderes. Es ist vermutlich keine große Sache, aber ich schätze, einer der anderen Diebe, Skellin, hätte gern seinen eigenen Magier. Er ist ein Feuel-Lieferant, daher solltest du besser hoffen, dass keiner von deinen Magiern eine Schwäche für das Zeug hat.«

»Sie sind nicht meine Magier, Cery«, rief sie ihm ins Gedächtnis, und das nicht zum ersten Mal.

Statt mit seinem gewohnten Grinsen antwortete er mit einer Grimasse. »Ja. Wie dem auch sei. Wenn du nicht wissen willst, wie ich hierher und wieder fortkomme, solltest du besser den Raum verlassen.«

Sonea verdrehte die Augen, dann ging sie auf die Schlafzimmertür zu. Bevor sie sie hinter sich schloss, drehte sie sich noch einmal um. »Gute Nacht, Cery. Das mit deiner Familie tut mir so leid, und ich hoffe, dass Anyi lebt und nicht in Gefahr ist.«

Er nickte, dann schluckte er. »Das hoffe ich auch.«

Dann schloss sie die Tür hinter sich und wartete. Aus dem Gästezimmer kamen einige leise Geräusche, und wenige Augenblicke später war alles still. Sie zählte bis hundert, dann öffnete sie die Tür abermals. Cery war spurlos verschwunden.

Inzwischen dämmerte es bereits, und Sonea spähte zwischen den Läden hindurch nach draußen, wo im ersten Morgenlicht Gestalten und Formen gerade erkennbar wurden. War das die mächtige Silhouette der Residenz des Hohen Lords, oder bildete sie sich das nur ein? So oder so, bei dem Gedanken daran überlief sie ein Schauer.

Hör auf damit. Er ist nicht dort.

Balkan hatte die letzten zwanzig Jahre dort gelebt. Sie hatte sich oft gefragt, ob er sich vom Schatten des ehemaligen Bewohners der Residenz verfolgt fühlte, doch sie hatte nie gefragt, denn sie war davon überzeugt, dass eine solche Frage taktlos gewesen wäre.

Er ist oben auf dem Hügel. Hinter dir.

Sie drehte sich um, den Blick durch die Wände ihrer Zimmer hindurch in die Ferne gerichtet, und in ihrer Fantasie sah sie auf dem Friedhof die neuen glänzenden, weißen Grabsteine zwischen den alten grauen aufragen. Eine alte Sehnsucht machte sich in ihr breit, aber sie zögerte. Sie hatte heute viel zu tun. Doch es war noch früh – die Dämmerung hatte gerade erst begonnen. Ihr blieb noch Zeit genug. Und es war schon eine Weile her. Cerys schreckliche Nachricht erfüllte sie mit dem Verlangen zu… was zu tun? Vielleicht, seinen Verlust anzuerkennen, indem sie sich an ihren eigenen erinnerte. Sie musste mehr tun, als nur dem gewohnten Alltagstrott zu folgen und vorzugeben, es sei nichts Schreckliches geschehen.

Nachdem sie in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt war, wusch sie sich hastig und kleidete sich an, dann warf sie sich einen Umhang um die Schultern, Schwarz über Schwarz. Schließlich schlüpfte sie durch die Haupttür zu ihrem Zimmer und ging so leise sie konnte durch den Flur der Magierquartiere bis zum Eingang. Dort verließ sie das Gebäude und machte sich auf den Weg zum Friedhof.

Seit sie vor über zwanzig Jahren mit Lord Rothen zum ersten Mal dort gewesen war, hatte man neue Pfade angelegt. Das Unkraut wurde gejätet, aber der Wall schützender Bäume rund um die äußeren Gräber war unverändert geblieben. Sie betrachtete die glatten Quader der neueren Grabsteine. Bei der Errichtung einiger von ihnen war sie dabei gewesen. Wenn ein Magier starb, wurde jedwede Magie, die in seinem oder ihrem Körper verblieben war, freigelassen, und wenn genug davon vorhanden war, wurde der Leichnam davon verzehrt. Also waren die alten Gräber ein Rätsel gewesen. Wenn es keine Leiche zu begraben gab, warum waren dann Gräber hier?

Die Wiederentdeckung schwarzer Magie hatte diese Frage beantwortet. Die letzte Magie dieser altertümlichen Magier war von einem Schwarzmagier aufgesogen worden, und so war eine Leiche zurückgeblieben, die man begraben konnte.

Jetzt, da schwarze Magie nicht länger ein Tabu war – obwohl strikt kontrolliert –, waren Begräbnisse wieder in Mode gekommen. Die Aufgabe, die letzte Magie eines Magiers in sich aufzunehmen, fiel den beiden Schwarzmagiern der Gilde zu, ihr und Schwarzmagier Kallen.

Sonea fand, dass sie, wenn sie beim Tod eines Magiers seine letzte Macht genommen hatte, auch bei der Beerdigung zugegen sein sollte. Ich frage mich, ob Kallen sich auf gleiche Weise verpflichtet fühlt, wenn ein Magier ihn auswählt. Sie ging zu einem schlichten, schmucklosen Stein und trocknete mit magischer Hitze den Tau auf einer Ecke, so dass sie sich setzen konnte. Ihr Blick fand den in den Stein gemeißelten Namen. Akkarin. Es hätte dich erheitert zu sehen, wie viele der Magier, die so vehement dagegen waren, die Benutzung schwarzer Magie wiederzubeleben, am Ende darin Zuflucht suchen, damit ihr Fleisch nach ihrem Tod im Boden verwesen kann. Vielleicht wärst du wie ich zu dem Schluss gekommen, dass es für einen Magier passender sei, seinen Körper von seiner letzten Magie verzehren zu lassen, und – sie betrachtete den zunehmend kunstvoller werdenden Schmuck auf den neuen Gräbern der Gilde – beträchtlich weniger kostspielig.

Sie las die Worte auf dem Grabstein, auf dem sie saß. Ein Name, ein Titel, ein Hausname, ein Familienname. Später waren in kleinen Buchstaben die Worte »Vater von Lorkin« ergänzt worden. Doch ihr eigener Name war nicht erwähnt. Und wird es niemals werden, solange deine Familie etwas damit zu tun hat, Akkarin. Aber zumindest haben sie deinen Sohn akzeptiert.

Sie schob ihre Verbitterung beiseite, dachte für eine Weile an Cery und dessen Familie und überließ sich der Trauer und dem Schmerz des Mitleids. Gestattete den Erinnerungen zurückzukehren, von denen einige willkommen waren, andere nicht. Nach einer Weile riss sie das Geräusch von Schritten aus ihren Gedanken, und sie stellte fest, dass inzwischen die Sonne aufgegangen war.

Langsam drehte sie sich zu dem Besucher um und lächelte, als sie Rothen auf sich zukommen sah. Einen Moment lang war sein runzliges Gesicht eine Maske der Sorge, dann entspannte es sich zu einem Ausdruck der Erleichterung.

»Sonea«, sagte er, bevor er innehielt, um wieder zu Atem zu kommen. »Ein Bote hat nach dir gesucht. Niemand wusste, wo du warst.«

»Und ich wette, das hat eine Menge unnötigen Wirbel und Aufregung verursacht.«

Er sah sie stirnrunzelnd an. »Dies ist kein guter Zeitpunkt, um die Gilde an ihrem Vertrauen zu einer gemeingeborenen Magierin zweifeln zu lassen, Sonea, wenn man an die Veränderung der Regeln denkt, die in Kürze vorgeschlagen werden soll.«

»Gibt es jemals einen guten Zeitpunkt dafür?« Sie erhob sich und seufzte. »Außerdem habe ich gerade doch nicht die Gilde zerstört und alle Kyralier zu Sklaven gemacht, nicht wahr? Ich habe nur einen Spaziergang unternommen. Überhaupt nichts Finsteres.« Sie sah ihn an. »Ich habe die Stadt seit zwanzig Jahren nicht verlassen, und das Gelände der Gilde verlasse ich nur, um in Hospitälern zu arbeiten. Ist das nicht genug?«

»Für einige Leute nicht. Und gewiss nicht für Kallen.«

Sonea zuckte die Achseln. »Das erwarte ich von ihm. Es ist seine Aufgabe.« Sie legte eine Hand um seinen Ellbogen, und gemeinsam gingen sie den Pfad wieder hinunter.

»Macht Euch wegen Kallen keine Sorgen, Rothen. Mit dem werde ich schon fertig. Außerdem würde er es nicht wagen, sich darüber zu beschweren, dass ich Akkarins Grab besuche.«

»Du hättest Jonna eine Nachricht hinterlassen und ihr mitteilen sollen, wo du hinwolltest.«

»Ich weiß, aber solche Besuche macht man ja meist ziemlich spontan.«

Er sah sie an. »Geht es dir gut?«

Sie lächelte. »Ja. Ich habe einen Sohn, der lebt und sich prächtig macht, Hospitäler in der Stadt, in denen ich ein wenig Gutes tun kann, und Euch. Was brauche ich mehr?«

Er hielt inne, um nachzudenken. »Einen Ehemann?«

Sie lachte. »Ich brauche keinen Ehemann. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich einen will. Ich dachte, ich würde mich einsam fühlen, nachdem Lorkin bei mir ausgezogen ist, aber ich stelle fest, dass es mir gefällt, ein wenig mehr Zeit für mich zu haben. Ein Ehemann wäre… im Weg.«

Rothen kicherte.

Oder er wäre eine Schwäche, die ein Feind ausnutzen könnte, fuhr es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Aber dieser Gedanke ging eher auf Cerys Unglück zurück, das ihr noch so gegenwärtig war, als auf irgendeine reale Bedrohung. Obwohl man kaum sagen konnte, dass sie keine Feinde hatte, missbilligten diese Leute sie lediglich wegen ihrer niederen Herkunft oder fürchteten die schwarze Magie, über die sie gebot. Nichts, was einen von ihnen dazu veranlassen würde, jenen, die sie liebte, Schaden zuzufügen. Anderenfalls hätten sie Lorkin bereits ins Visier genommen.

Als sie an ihren Sohn dachte, stiegen Erinnerungen an ihn als Kind in ihr auf, ungeordnet, ältere und jüngere, glückliche und enttäuschende, und sie nahm eine vertraute Enge ums Herz wahr, die teils Freude und teils Schmerz war. Wenn er still und grüblerisch war, angestrengt nachdachte oder sich besonders klug verhielt, erinnerte er sie so sehr an seinen Vater. Aber er hatte auch eine selbstbewusste, charmante, halsstarrige, gesprächige Seite – und Rothen behauptete, dieser halsstarrige und gesprächige Teil seines Wesens sei definitiv ihr Erbe.

Als sie aus dem Wald traten, hatten sie einen guten Blick über das Gelände der Gilde. Der ihnen zunächst gelegene langgestreckte, rechteckige Bau mit den Magierquartieren beherbergte jene Magier, die sich dafür entschieden hatten, auf dem Gelände zu leben. Daran schloss sich ein Innenhof an, hinter dem ein weiteres Gebäude wie ein Spiegelbild des ersten aufragte – die Novizenquartiere.

An der dritten und von ihrem Standpunkt aus jetzt fernsten Seite des Innenhofes lag das prächtigste und höchste Gebäude der Gilde, die Universität. Selbst nach zwanzig Jahren verspürte Sonea eine Spur von Stolz, dass es ihr und Akkarin gelungen war, die Universität zu retten. Und wie immer folgten diesem Gefühl Traurigkeit und Bedauern angesichts des Preises, den sie dafür gezahlt hatten, dass sie das Gebäude verteidigt und jene nicht hatten sterben lassen, die darin verblieben waren. Hätten sie es den Feinden überlassen und währenddessen die Macht der Arena genommen, wäre Akkarin vielleicht am Leben geblieben.

Aber es hätte keine Rolle gespielt, wie viel Macht wir gesammelt hätten. Nachdem er verletzt war, hätte er sich trotzdem dafür entschieden, mir all seine Macht zu geben und zu sterben, statt sich selbst zu heilen – oder mir zu erlauben, ihn zu heilen – und das Risiko einzugehen, dass wir von den Ichani besiegt werden. Und ganz gleich, wie viel Macht wir genommen hätten, ich hätte niemals die Zeit gehabt, Kariko zu besiegen und Akkarin zu heilen. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht hat Lorkin seine Halsstarrigkeit ja doch nicht von mir.

»Fühlst du dich versucht, zugunsten des Antrags zu sprechen?«, fragte Rothen, als sie ein paar Schritte gegangen waren. »Ich weiß, dass du dafür bist, die Regel abzuschaffen.«

Sie schüttelte den Kopf.

Rothen lächelte. »Warum nicht?«

»Ich würde ihrer Sache mehr schaden als nutzen. Schließlich ist jemand, der in den Hüttenvierteln aufgewachsen ist, dann einen Schwur gebrochen, fremdländische Magie erlernt und den Höheren Magiern und dem König in einem solchen Maß getrotzt hat, dass sie gezwungen waren, ihn ins Exil zu schicken, kaum geeignet, um Vertrauen in Magier von geringerer Herkunft zu wecken.«

»Du hast das Land gerettet.«

»Ich habe Akkarin geholfen, das Land zu retten. Das ist ein großer Unterschied.«

Rothen verzog das Gesicht. »Du hast eine ebenso große Rolle gespielt – und den letzten Schlag geführt. Daran sollten die Menschen sich erinnern.«

»Und Akkarin hat sich geopfert. Selbst wenn ich nicht aus den Hüttenvierteln käme und keine Frau wäre, würde es mir schwerfallen, damit zu konkurrieren.« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin nicht interessiert an Dank und Anerkennung, Rothen. Für mich zählen nur Lorkin und die Hospitäler. Und Ihr natürlich.«

Er nickte. »Aber was wäre, wenn ich dir erzählte, dass Lord Regin sich erboten hat, die Gegner der Petition zu repräsentieren.«

Bei dem Namen krampfte sich Soneas Magen zusammen. Obwohl der Novize, ihr Peiniger während ihrer frühen Jahre an der Universität, inzwischen ein verheirateter Mann mit zwei erwachsenen Töchtern war und sie seit der Ichani-Invasion stets nur mit Höflichkeit und Respekt behandelt hatte, konnte sie nicht umhin, ein Echo von Misstrauen und Abneigung zu verspüren.

»Das überrascht mich nicht«, sagte sie. »Er hielt sich schon immer für etwas Besseres.«

»Ja, obwohl sich sein Charakter seit euren Novizentagen erheblich verbessert hat.«

»Er hält sich immer noch für etwas Besonderes, trägt das aber mit besseren Manieren vor.«

Rothen lachte leise. »Fühlst du dich jetzt versucht?«

Sie schüttelte abermals den Kopf.

»Nun, du solltest besser damit rechnen, dass man dich nach deiner Meinung zu dem Thema fragen wird«, warnte er. »Viele Leute werden deine Ansichten hören wollen und dich um Rat bitten.«

Als sie den Innenhof erreichten, seufzte Sonea. »Ich bezweifle es. Aber für den Fall, dass Ihr recht habt, werde ich darüber nachdenken, auf welche Fragen ich gefasst sein muss und wie ich darauf antworten werde. Ich will auch kein Hemmnis für die Antragsteller sein.«

Und wenn Regin die Opposition repräsentiert, sollte ich auf jeden Fall mit seinen Ränken rechnen. Seine Manieren mögen sich verbessert haben, aber er ist immer noch so intelligent und verschlagen wie eh und je.


In der Gliarstraße West im Nordviertel gab es eine kleine, ordentliche Schneiderei, die in einigen privaten Räumen im ersten Stock den jungen, reichen Männern der Stadt Unterhaltung bot, so sie denn die richtigen Leute kannten, um dort Zugang zu erhalten.

Lorkin war vor vier Jahren von Dekker, seinem Freund und Mitschüler, zum ersten Mal mit hierher genommen worden. Wie immer war es Dekkers Idee gewesen. Er war der Draufgänger unter Lorkins Freunden – kein ganz untypischer Charakterzug für einen jungen Krieger. Zu ihrem Freundeskreis gehörten Sherran, Reater und Orion; Sherran hatte stets getan, was immer Dekker vorschlug, während Reater und Orion sich nicht so leicht zu Unfug hinreißen ließen. Vielleicht war es nur natürlich, dass Heiler zur Vorsicht neigten. Aus welchem Grund auch immer, Lorkin hatte sich nur bereitgefunden, Dekker zu begleiten, weil die beiden Freunde es ebenfalls getan hatten.

Vier Jahre später waren sie alle examinierte Magier, und die Schneiderei war ihr Lieblingstreffpunkt. Heute hatte Perler seine Cousine Jalie aus Elyne zu ihrem ersten Besuch dort mitgebracht.

»Dies ist also die Schneiderei, von der ich so viel gehört habe«, sagte die junge Frau, während sie sich im Raum umschaute. Die Möbel waren kunstvoll gefertigt, abgelegte Stücke aus den wohlhabenderen Häusern der Stadt. Die Bilder an den Wänden und auf den Fensterläden dagegen konnte man nur billig nennen, sowohl was ihre Thematik als auch die Ausführung betraf.

»Ja«, erwiderte Dekker. »Alle Freuden, nach denen es dich vielleicht gelüstet.«

»Zu einem Preis«, bemerkte sie und sah ihn von der Seite an.

»Zu einem Preis, den wir um deinetwillen vielleicht zu zahlen bereit sind, um des Vergnügens deiner Gesellschaft willen.«

Sie lächelte. »Du bist so lieb!«

»Aber nicht ohne Zustimmung ihres älteren Cousins«, fügte Perler hinzu und sah Dekker dabei fest an.

»Natürlich«, erwiderte der junge Mann und verbeugte sich leicht in Perlers Richtung.

»Also, welche Freuden hat man hier zu bieten?«, fragte Jalie.

Dekker machte eine knappe Handbewegung. »Freuden des Körpers, Freuden des Geistes.« »Des Geistes?«

»Ooh! Lasst uns ein Kohlenbecken hereinholen«, sagte Sherran mit glänzenden Augen. »Gönnen wir uns ein wenig Feuel, um uns zu entspannen.«

»Nein«, widersprach Lorkin. Als er eine andere Stimme ebenfalls protestieren hörte, drehte er sich um, um Orion dankbar zuzunicken, den die Droge ebenso abstieß wie ihn selbst.

Sie hatten es einmal ausprobiert, und Lorkin hatte die Erfahrung beunruhigend gefunden. Es war nicht der Umstand gewesen, dass das Feuel Dekkers grausame Seite zum Vorschein gebracht hatte, so dass er das Mädchen, das zu jener Zeit in ihn vernarrt gewesen war, gereizt und gequält hatte, sondern vielmehr der Umstand, dass Dekkers Verhalten ihn plötzlich nicht mehr gestört hatte. Tatsächlich hatte er es witzig gefunden, obwohl er später nicht mehr verstehen konnte, warum.

Die Schwärmerei des Mädchens hatte an jenem Tag geendet, und Sherrans Liebesgeschichte mit Feuel hatte begonnen. Vor jener Zeit hätte Sherran alles getan, worum Dekker ihn bat. Seit diesem Tag tat er es nur noch dann, wenn es ihn nicht von seinem Feuel abhielt.

»Lasst uns stattdessen etwas trinken«, schlug Perler vor. »Etwas Wein.« Er betrachtete die Dienstmagd, die zögernd an der Tür stand, und nickte, woraufhin die Frau lächelte und davoneilte.

»Trinken Magier denn?«, fragte Jalie. »Ich dachte, das dürften sie nicht.«

»Wir dürfen durchaus«, erwiderte Reater, »aber es ist keine gute Idee, sich allzu sehr zu betrinken. Wenn man die Kontrolle verliert, wirkt sich das wahrscheinlich auf die Magie genauso aus wie auf den Magen oder die Blase.«

»Ich verstehe«, sagte sie. »Also muss die Gilde sicherstellen, dass keine der ProIiis, die sie aufnimmt, Trinker sind?«

Die anderen sahen Lorkin an, und er lächelte unwillkürlich. Sie wussten genau, dass er den Raum verlassen würde, wenn sie mehr als den gelegentlichen Scherz über die einfachen Leute machten.

»Es gibt wahrscheinlich mehr Schnösis, die Trinker sind, als ProIiis«, erklärte Dekker ihr. »Wir haben Methoden, mit ihnen zu verfahren. Was möchtest du trinken?«

Lorkin wandte den Blick ab, als das Gespräch sich dem Thema Getränke zuwandte. »ProIiis« und »Schnösis« waren die Namen, die die reichen und die armen Novizen einander gegeben hatten, nachdem die Gilde beschlossen hatte, auch junge Leute außerhalb der Häuser zur Magierausbildung an der Universität zuzulassen.

Lorkin passte in keine der beiden Gruppen. Seine Mutter stammte aus den Hüttenvierteln, und sein Vater war der Spross eines der mächtigsten Häuser Imardins gewesen. Er war in der Gilde aufgewachsen, fernab von den politischen Manipulationen und Verpflichtungen der Häuser oder dem harten Leben der Hüttenviertel. Die meisten seiner Freunde waren Schnösis. Er hatte es nicht mit Absicht vermieden, sich mit ProIiis zu befreunden, aber obwohl die meisten ProIiis für ihn nicht die gleiche Abneigung wie für die Schnösis zu empfinden schienen, war es schwierig gewesen, mit ihnen zu reden. Erst nach einigen Jahren, als Lorkin einen festen Kreis von Schnösi-Freunden hatte, war ihm klar geworden, dass die ProIiis sich von ihm – oder vielmehr von dem Mann, der sein Vater gewesen war – eingeschüchtert fühlten.

»… Sachaka? Halten sie dort wirklich immer noch Sklaven?«

Lorkin schaltete sich wieder in das Gespräch ein. Beim Namen des Landes, aus dem der Mörder seines Vaters gekommen war, überlief ihn stets ein Schauer. Doch während es früher ein Schauer der Angst gewesen war, rührte er jetzt auch von einer seltsamen Erregung. Seit der Ichani-Invasion hatten die Verbündeten Länder ihre Aufmerksamkeit auf den zuvor lange ignorierten Nachbarn gerichtet. Magier und Diplomaten hatten sich nach Sachaka hineingewagt, in der Hoffnung, zukünftige Konflikte durch Verhandlungen, Geschäfte und Übereinkünfte vermeiden zu können. Wann immer sie zurückkehrten, brachten sie Beschreibungen von einer seltsamen Kultur und einer noch seltsameren Landschaft mit.

»Das tun sie allerdings«, erwiderte Perler. Lorkin setzte sich ein wenig gerader hin. Reaters älterer Bruder war vor einigen Wochen aus Sachaka zurückgekehrt, nachdem er dort ein Jahr lang als Gehilfe des Gildebotschafters gearbeitet hatte. »Obwohl man die meisten von ihnen gar nicht zu sehen bekommt. Deine Roben verschwinden aus deinem Zimmer und tauchen gesäubert wieder auf, aber du siehst niemals, wer sie holt. Den Sklaven, der abgestellt wurde, dich zu bedienen, siehst du natürlich. Wir haben alle einen.«

»Du hattest einen eigenen Sklaven?«, fragte Sherran. »Verstößt das nicht gegen das Gesetz des Königs?«

»Sie gehören uns nicht«, erwiderte Perler achselzuckend. »Die Sachakaner wissen nicht, wie man Dienstboten richtig behandelt, daher müssen wir es ihnen erlauben, uns Sklaven zuzuweisen. Entweder das, oder wir müssten unsere Kleider selbst waschen und unsere Mahlzeiten selbst zubereiten.«

»Was entsetzlich wäre«, bemerkte Lorkin mit gespieltem Grauen. Ihre Dienerin war die Tante seiner Mutter, deren Angehörige ebenfalls als Dienstboten für reiche Leute ihr Geld verdienten. Dennoch besaßen sie eine Würde und Findigkeit, die er respektierte. Er war fest entschlossen, dass er, sollte er jemals häusliche Arbeiten verrichten müssen, sich durch diese Tätigkeiten niemals so gedemütigt fühlen würde wie die anderen Magier.

Perler sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Dafür bleibt keine Zeit. Es gibt immer so viel Arbeit zu erledigen. Ah, da sind die Getränke.«

»Welche Art von Arbeit?«, fragte Orion, während Wein eingeschenkt und Gläser herumgereicht wurden.

»Es müssen Geschäftsabschlüsse ausgehandelt werden, und es gilt zu versuchen, die Sachakaner dazu zu ermuntern, der Sklaverei abzuschwören, um sich den Verbündeten Ländern anzuschließen. Außerdem muss man die sachakanische Politik verfolgen – es gibt eine Gruppe von Rebellen, von denen Botschafter Maron gehört hatte und über die er mehr in Erfahrung zu bringen versuchte, bis er zurückkehren musste, um die Probleme seiner Familie zu lösen.«

»Klingt langweilig«, meinte Dekker.

»Tatsächlich war es ziemlich aufregend.« Perler grinste. »Ein wenig beängstigend bisweilen, aber ich hatte das Gefühl, als täten wir etwas, nun, Historisches. Als bewirkten wir etwas. Als veränderten wir die Dinge zum Besseren – und sei es auch nur mit winzigen Schritten.«

Ein seltsames Gefühl der Erregung durchlief Lorkin. »Denkst du, sie werden beim Thema Sklaverei einlenken?«, fragte er.

Perler zuckte die Achseln. »Einige tun es, aber es ist schwer zu sagen, ob sie es nur vortäuschen, um höflich zu wirken oder um etwas dadurch zu gewinnen. Maron denkt, man könne sie viel eher dazu überreden, die Sklaverei aufzugeben als die schwarze Magie.«

»Es wird schwer sein, sie zur Aufgabe der schwarzen Magie zu überreden, solange wir selbst zwei schwarze Magier haben«, bemerkte Reater. »Kommt mir ein wenig scheinheilig vor.«

»Sobald sie schwarze Magie verbieten, werden wir es ebenfalls tun.«

Dekker drehte sich mit einem Grinsen zu Lorkin um.

»Wenn das geschieht, wird Lorkin das Amt seiner Mutter nicht übernehmen.«

Lorkin schnaubte verächtlich. »Als ob sie mir das erlauben würde. Nein, ihr wäre es viel lieber, wenn ich die Leitung der Hospitäler übernähme.«

»Wäre das so schlimm?«, fragte Orion leise. »Nur weil du Alchemie gewählt hast, bedeutet das nicht, dass du den Heilern nicht helfen könntest.«

»Um etwas Derartiges zu tun, muss man von einer absoluten, unbeirrbaren Hingabe angetrieben werden«, erwiderte Lorkin. »Diese Hingabe besitze ich nicht. Obwohl ich beinahe wünschte, ich hätte sie.«

»Warum?«, fragte Jalie.

Lorkin breitete die Hände aus. »Ich würde gern etwas Nützliches mit meinem Leben anfangen.«

»Pah!«, sagte Dekker. »Wenn du es dir leisten kannst, dein Leben in Müßiggang zu verbringen, warum solltest du es dann nicht tun?«

»Langeweile?«, meinte Orion.

»Wer langweilt sich?«, erklang eine neue Frauenstimme.

Eine ganz andere Art von Erregung durchlief Lorkin. Ihm stockte der Atem, und sein Magen krampfte sich unangenehm zusammen. Alle drehten sich um und sahen eine dunkelhaarige junge Frau eintreten. Sie lächelte, als sie sich im Raum umschaute. Als ihr Blick auf Lorkin fiel, geriet ihr Lächeln ins Wanken, aber nur für einen Moment.

»Beriya.« Er sprach ihren Namen, beinahe ohne es zu wollen, und sofort hasste er die Art, wie es geklungen hatte, ein schwaches, jämmerliches Ächzen.

»Setz dich doch zu uns«, lud Dekker sie ein.

Nein, hätte Lorkin gern gesagt, aber er war angeblich über Beriya hinweg. Es war zwei Jahre her, seit ihre Familie sie nach Elyne gebracht hatte. Als sie Platz nahm, wandte er den Blick ab, als habe er kein Interesse an ihr, und versuchte, die Muskeln zu entspannen, die sich beim ersten Klang ihrer Stimme versteift hatten. Und es waren die meisten seiner Muskeln betroffen.

Sie war die erste Frau, in die er sich verliebt hatte – und bisher auch die einzige. Sie hatten sich bei jeder Gelegenheit getroffen, offen und insgeheim. Sie war jeden wachen Augenblick in seinen Gedanken gewesen, und sie hatte behauptet, ihr gehe es umgekehrt genauso. Er hätte alles für sie getan.

Einige Leute hatten sie ermutigt, andere hatten halbherzige Versuche unternommen, um ihm zu helfen, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben – zumindest soweit es seine magischen Studien betraf. Das Problem war, es gab keinen Grund, warum seine Mutter oder Beriyas Familie etwas gegen die Verbindung hätte haben können. Und es stellte sich heraus, dass er der Typ Mann war, der in der Liebe derart aufging, dass kein noch so großes Maß an Mitgefühl oder strengen Belehrungen, nicht einmal von Lord Rothen, den er wie einen Lieblingsgroßvater respektierte und liebte, ihn in der Realität hatte verankert halten können. Alle hatten beschlossen zu warten, bis er so weit wieder bei Verstand war, dass er sich auf etwas anderes als Beriya konzentrieren konnte, um ihm dann zu helfen, Versäumtes nachzuholen.

Irgendwann hatte ihre Cousine sie jedoch zusammen im Bett erwischt, und ihre Familie hatte darauf bestanden, dass die beiden jungen Leute so bald wie möglich heiraten sollten. Es spielte keine Rolle, dass er als Magier eine Schwangerschaft verhindern konnte. Wenn sie nicht heirateten, würde jeder künftige Verehrer sie als »besudelt« betrachten.

Lorkin und seine Mutter waren einverstanden gewesen. Es war Beriya, die nicht mitspielte. Sie hatte sich außerdem geweigert, ihn zu sehen. Als es ihm eines Tages endlich gelungen war, ihr aufzulauern, hatte sie ihm erklärt, dass sie ihn nie geliebt habe. Dass sie ihn ermutigt habe, weil sie gehört hätte, dass Magier Liebe machen könnten, ohne Gefahr zu laufen, ein Kind zu zeugen. Dass es ihr leidtue, ihn belogen zu haben.

Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass die schreckliche Art, wie er sich fühlte, ihm eine winzige Ahnung vermittele, wie es ein Nichtmagier empfinde, krank zu sein. Die beste Kur seien Zeit und die Freundlichkeit von Familie und Freunden. Und dann hatte sie einige Worte benutzt, um Beriyas Verhalten zu beschreiben, die er in der Gesellschaft der meisten Leute, die er kannte, nicht hätte wiederholen können.

Glücklicherweise hatte Beriyas Familie sie nach Elyne gebracht, so dass sie außer Sichtweite gewesen war, als sein Schmerz so weit abgeklungen war, dass er wütend werden konnte. Er hatte geschworen, sich nicht noch einmal zu verlieben, aber als ein Mädchen in seiner Alchemieklasse Interesse bekundet hatte, war seine Entschlossenheit ins Wanken geraten. Er schätzte ihre praktische Natur. Sie war alles, was Beriya nicht gewesen war. Und in der kyralischen Kultur gab es eine seltsame Scheinheiligkeit: Niemand erwartete von weiblichen Magiern, dass sie keusch blieben. Als ihm klar geworden war, dass er sie nicht liebte, war sie zutiefst in ihn vernarrt gewesen. Er hatte alles in seiner Kraft Stehende getan, um diese Liebelei so sanft wie möglich zu beenden, aber er wusste, dass sie jetzt einen tiefen Groll gegen ihn hegte.

Liebe, hatte er befunden, war eine unerfreuliche Angelegenheit.

Beriya ging zu einem Stuhl hinüber und ließ sich anmutig darauf niedersinken. »Also, wer langweilt sich?«, fragte sie.

Während die anderen es bestritten, dachte Lorkin über sie und die Lektionen nach, die er gelernt hatte. Im vergangenen Jahr war er einigen Frauen begegnet, die sowohl gute Kameradinnen als auch gute Geliebte waren, die aber nicht mehr wollten als das. Er hatte festgestellt, dass er diese Art von Begegnungen bevorzugte. Die ständigen Verführungen, auf die Dekker aus war und die nur mit Kränkungen und Skandalen – oder Schlimmerem – endeten, hatten keinen Reiz für ihn. Und die zuneigungslose Ehe, zu der Reater von seinen Eltern gezwungen worden war, klang wie sein schlimmster Albtraum.

Vaters Familie hat jetzt schon seit einer ganzen Weile nicht mehr versucht, eine Braut für mich zu finden. Vielleicht fangen sie an zu begreifen, wie viel Vergnügen es Mutter bereitet, all ihre Pläne für mich zu durchkreuzen. Obwohl ich mir sicher bin, dass sie nichts hintertreiben würde, wenn ich es wollte.

Er richtete seine Gedanken wieder auf die Gegenwart, während sich das Gespräch den Taten gemeinsamer Freunde von Beriya und Dekker zuwandte. Lorkin lauschte und ließ den Nachmittag an sich vorbeirauschen. Irgendwann brachen die beiden Heiler auf, um eine neue Rennbahn zu besuchen, und Beriya machte sich auf den Weg, um einige Kleider anzuprobieren. Dekker, Sherran und Jalie brachen zu Fuß zu den Häusern ihrer Familien auf, die in der gleichen Hauptstraße des Inneren Rings lagen, so dass Lorkin allein in die Gilde zurückkehrte.

Während er durch die Straßen des Inneren Rings ging, besah Lorkin sich nachdenklich die prächtigen Gebäude. Dies war sein Leben lang sein Zuhause gewesen. Er hatte niemals außerhalb dieses Ortes gelebt. Niemals war er in einem fremden Land gewesen. Er hatte nicht einmal die Stadt je verlassen. Vor sich konnte er die Tore der Gilde sehen.

Sind sie für mich die Gitterstäbe eines Gefängnisses oder eine Mauer, um die Gefahr fernzuhalten? Dahinter war die Vorderfront der Universität zu sehen, wo seine Eltern einst in einer letzten verzweifelten Schlacht gegen sachakanische schwarze Magier gekämpft hatten. Diese Magier waren nur Ichani, die sachakanische Version von kriminellen Ausgestoßenen. Wie hätte die Schlacht damals geendet, wären sie Ashaki gewesen, noble Krieger, die schwarze Magie benutzten? Wir können von Glück sagen, diese Schlacht gewonnen zu haben. Das weiß jeder. Schwarzmagier Kallen und meine Mutter wären vielleicht nicht in der Lage, uns zu retten, sollten die Sachakaner sich jemals für einen richtigen Krieg entscheiden.

Eine vertraute Gestalt näherte sich von innen den Toren und entlockte Lorkin unwillkürlich ein Lächeln. Er kannte Lord Dannyl durch seine Mutter und Lord Rothen. Es war eine Weile her, seit er den Historiker das letzte Mal gesehen hatte. Wie immer trug Dannyl ein leicht geistesabwesendes Stirnrunzeln zur Schau, und Lorkin wusste, dass der ältere Magier durchaus an ihm vorbeigehen konnte, ohne ihn zu sehen.

Lord Dannyl, rief Lorkin, wobei er seine Gedankenstimme leise hielt. Gedankenrede wurde missbilligt, da alle Magier sie hören konnten – Freunde wie Feinde. Aber den Namen eines anderen Magiers zu rufen wurde als sicher betrachtet, da man damit einem eventuellen Lauscher gegenüber nur wenig an Information preisgab.

Der hochgewachsene Magier blickte auf und sah Lorkin, und sein Stirnrunzeln verschwand. Sie gingen aufeinander zu und trafen sich am Eingang der Straße, in der Dannyl lebte.

»Lord Lorkin. Wie geht es Euch?«

Lorkin zuckte die Achseln. »Recht gut. Wie machen sich Eure Forschungen?«

Dannyl blickte auf das Bündel hinab, das er in Händen hielt. »Die Große Bibliothek hat einige Unterlagen an mich weitergeleitet, von denen ich gehofft hatte, dass sie mir weitere Einzelheiten über den Zustand von Imardin nach Tagins Tod liefern würden.«

Lorkin konnte sich nicht daran erinnern, wer Tagin war, aber er nickte trotzdem. Dannyl war schon so lange ganz und gar mit seiner Geschichte der Magie beschäftigt, dass er häufig vergaß, dass andere mit den Einzelheiten nicht so vertraut waren wie er. Es muss eine Erleichterung sein zu wissen, welchem Ziel man sein Leben widmen will, dachte Lorkin. Keine dieser Fragen, was man mit sich anfangen soll.

»Wie… wie seid Ihr auf die Idee gekommen, eine Geschichte der Magie zu schreiben?«, erkundigte sich Lorkin.

Dannyl sah Lorkin an und zuckte die Achseln. »Die Aufgabe hat mich gefunden«, antwortete er. »Ich wünschte manchmal, sie hätte es nicht getan, aber dann finde ich eine neue Information, und«, er lächelte schief, »ich erinnere mich daran, wie wichtig es ist, dass die Vergangenheit nicht verloren geht. Die Geschichte hat uns einiges zu lehren, und vielleicht werde ich eines Tages über ein Geheimnis stolpern, von dem wir profitieren können.«

»Wie die schwarze Magie?«, meinte Lorkin.

Dannyl verzog das Gesicht. »Vielleicht etwas, das mit weniger Risiken und Opfern verbunden ist.«

Lorkins Herz setzte einen Schlag aus. »Eine andere Art von defensiver Magie? Das wäre eine großartige Entdeckung.« Es würde die Gilde nicht nur davon befreien, schwarze Magie benutzen zu müssen, sondern könnte entweder als Verteidigung gegen die Sachakaner dienen oder die Sachakaner dazu bewegen, schwarze Magie und Sklaverei aufzugeben und sich den Verbündeten Ländern anzuschließen. Wenn ich eine solche Entdeckung machen würde… aber dies ist Dannyls Idee, nicht meine…

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich werde vielleicht überhaupt nichts finden. Aber um die Wahrheit zu sagen, ist es für mich Leistung genug, die Geschichte aufzuzeichnen und zu bewahren.«

Nun… wenn es Dannyl nichts bedeutet… Ob er etwas dagegen hätte, wenn ein anderer nach einer Alternative zur schwarzen Magie suchen würde? Ob er etwas dagegen hätte, wenn ich es täte?

Lorkin holte tief Luft. »Könnte… könnte ich mir einmal die Arbeit ansehen, die Ihr bisher geleistet habt?«

Der ältere Magie zog die Augenbrauen hoch. »Natürlich. Ich wäre sehr daran interessiert zu hören, was Ihr davon haltet. Euch könnte etwas auffallen, das mir entgangen ist.« Er schaute die Straße hinunter, dann zuckte er die Achseln. »Warum kommt Ihr nicht zum Abendessen mit zu Tayend und mir? Danach werde ich Euch meine Notizen und Quellen zeigen und Euch die Lücken in der Geschichte erklären, die ich zu füllen versuche.«

Lorkin nickte. »Danke.« Wenn er in sein Zimmer in der Gilde zurückkehrte, würde er am Ende nur abwechselnd über Beriya nachgrübeln und sich sagen, dass sein Leben ohne sie besser sei. »Ich bin davon überzeugt, dass es faszinierend sein wird.«

Dannyl deutete auf sein Haus, ein prächtiges, zweigeschossiges Gebäude, das er gemietet hatte, nachdem er von seiner Position als Gildebotschafter in Elyne zurückgetreten war. Obwohl allenthalben bekannt war, dass Dannyl und Tayend mehr als nur Freunde waren, wurde dieser Tage nur wenig darüber gesprochen. Dannyl hatte sich dafür entschieden, in der Stadt zu leben, statt auf dem Gelände der Gilde, weil, wie er sagte, eine Art stillschweigender Übereinkunft bestehe: »Die Gilde heuchelt Blindheit, daher geben wir ihr nichts zu sehen.«

»Müsst Ihr zuerst in die Gilde zurückkehren?«

Lorkin schüttelte den Kopf. »Nein, aber wenn Ihr Tayend und den Dienern eine gewisse Vorwarnung geben müsst…«

»Nein, sie werden nichts dagegen haben. Tayend bringt ständig unerwartete Besucher mit nach Hause. Unsere Diener sind daran gewöhnt.«

Er bedeutete Lorkin, ihm zu folgen, und ging auf sein Haus zu, und Lorkin schloss sich ihm an.

3 Sichere Orte, gefährliche Ziele

Auf seinem Schreibtisch herrscht immer ein solches Chaos«, sagte Tayend zu Lorkin. Dannyl sah den Gelehrten stirnrunzelnd an. Eine Falte zwischen Tayends Brauen hatte sich vertieft und ließ ihn älter aussehen, als er war. Beinahe so alt wie ich, ging es Dannyl durch den Kopf. Ich verwandle mich in ein runzeliges Skelett, während Tayend… Tayend sah besser aus denn je, bemerkte er. Er hatte ein wenig zugenommen, aber es stand ihm gut.

»Es sieht lediglich so aus«, erklärte Dannyl nicht zum ersten Mal. »Ich weiß, wo alles ist.«

Tayend kicherte. »Ich bin davon überzeugt, es ist nur eine List, um sicherzustellen, dass niemand seine Forschungen und seine Ideen stiehlt.« Er grinste Lorkin an. »Nun, erlaubt ihm nicht, Euch zu Tode zu langweilen. Wenn Ihr das Gefühl habt, dass Euer Geist zu schrumpeln beginnt, kommt und unterhaltet Euch mit mir, und wir werden noch eine Flasche Wein öffnen.«

Lorkin nickte lächelnd. »Das mache ich.«

Der Gelehrte hob zum Abschied die Hand, dann schlug er einen bewusst schnellen Schritt an und verließ den Raum. Dannyl widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen und zu seufzen, und wandte sich wieder Soneas Sohn zu. Der junge Mann betrachtete zweifelnd die Stapel mit Dokumenten und Büchern auf Dannyls Schreibtisch.

»Dieser Wahnsinn hat Methode«, versicherte ihm Dannyl. »Es fängt hinten an. Der erste Stapel enthält alles, was sich auf die frühesten Aufzeichnungen über Magie bezieht. Was bedeutet, dass er voller Beschreibungen von Orten ist wie den Gräbern der Weißen Tränen und Mutmaßungen darüber, was die Glyphen in Bezug auf die Benutzung von Magie andeuten.« Dannyl zog die Skizzen hervor, die Tayend gemacht hatte, als sie vor über zwanzig Jahren die Gräber besucht hatten. Er zeigte auf die Glyphe eines Mannes, der vor einer Frau kniete, die seine erhobenen Handflächen berührte.

»Diese Glyphe bedeutet ›hohe Magie‹.«

»Schwarze Magie?«

»Vielleicht. Aber es könnte auch heilende Magie gemeint sein. Es könnte nur ein Zufall sein, dass unsere Vorgänger die schwarze Magie ›höhere Magie‹ genannt haben.« Dannyl blätterte in dem Stapel, und eine andere Zeichnung, diesmal von einem Halbmond und einer Hand, kam zum Vorschein.

»Was ist das?«, fragte Lorkin.

»Ein Symbol, das wir in der zerstörten Stadt Armje gefunden haben. Es war ein Symbol, das für die königliche Familie jener Stadt stand, so wie die Incals die kyralischen Häuser symbolisieren. Man nimmt an, dass Armje vor mehr als zweitausend Jahren verlassen wurde.«

»Wo genau habt Ihr das Symbol gefunden?«

»Es war in den Türsturz von Häusern eingeritzt, und wir haben es einmal auf etwas gesehen, das ich für einen Blutring halte.« Dannyl lächelte bei der Erinnerung an Dem Ladeiri, den exzentrischen Adligen und Sammler, bei dem er und Tayend in einer alten Burg in den elynischen Bergen gewohnt hatten, in der Nähe von Armje. Dann verblasste sein Lächeln, als er sich an das unterirdische Gewölbe erinnerte, das er unter den Trümmern liegend entdeckt hatte. Das Gewölbe trug den Namen »Höhle der Höchsten Strafe«. Seine seltsamen, kristallinen Wände hatten ihn mit Magie angegriffen und hätten ihn getötet, hätte Tayend ihn nicht gerade in dem Moment, als sein Schild versagt hatte, hinausgeschleppt.

Akkarin hatte Dannyl gebeten, die Höhle geheim zu halten, damit nicht andere Magier in ihren Tod stolperten. Nach der Invasion der Ichani hatte Dannyl dem Hohen Lord Balkan von der Höhle erzählt, und der Krieger hatte ihm befohlen aufzuzeichnen, was er wusste, diese Aufzeichnungen dann jedoch ebenfalls geheim zu halten. Wenn das Buch fertig war, würde Balkan noch einmal darüber nachdenken, ob anderen gestattet sein sollte, von dem Ort zu erfahren.

Hat Balkan jemanden dorthin geschickt, um Nachforschungen anzustellen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Krieger der Versuchung widerstehen könnte, nach einer Möglichkeit zu suchen herauszufinden, wie die Höhle funktioniert. Vor allem, da sie ein solches Potenzial als Verteidigungswaffe hat.

»Also wusste man schon vor zweitausend Jahren, wie man Blutringe fertigt?«

Dannyl blickte zu Lorkin auf, dann nickte er. »Und wer weiß, was noch? Aber dieses Wissen ist verloren gegangen.« Er deutete auf den zweiten, kleineren Stapel. »Das ist alles, was ich über die Zeit habe, bevor das Sachakanische Reich vor über tausend Jahren Kyralia und Elyne eroberte. Die wenigen Unterlagen in unserem Besitz sind nur erhalten geblieben, weil es sich um Kopien handelt, und sie legen die Vermutung nahe, dass es lediglich zwei oder drei Magier gab und dass jene über begrenzte Fähigkeiten und Macht verfügten.«

»Wenn also die Leute, die wussten, wie man Blutringe fertigt und was immer höhere Magie sonst noch bedeutete, gestorben sind, ohne dieses Wissen weiterzugeben…«

»… sei es, weil sie niemandem genug trauten, um ihn zu unterweisen, sei es, dass sie niemals jemanden fanden, der begabt genug für eine Unterweisung gewesen wäre…«

»…ist es verloren.« Lorkin blickte nachdenklich drein – und definitiv nicht gelangweilt, wie Dannyl mit Erleichterung feststellte. Der junge Magier richtete seine Aufmerksamkeit auf den dritten Stapel.

»Drei Jahrhunderte sachakanischer Herrschaft«, erklärte Dannyl. »Ich habe die Informationen, die wir über diese Zeit haben, mehr als verdoppelt, obwohl das nicht schwer war, weil es vorher so wenig darüber gab.«

»Als Kyralier Sklaven waren«, sagte Lorkin mit grimmiger Miene.

»Und Sklavenbesitzer«, rief Dannyl ihm ins Gedächtnis. »Ich glaube, dass die Sachakaner die höhere Magie nach Kyralia gebracht haben.«

Lorkin sah ihn ungläubig an. »Gewiss hätten sie ihre Feinde nicht schwarze Magie gelehrt!«

»Warum nicht? Nach der Eroberung Kyralias wurde das Land dem Sachakanischen Reich einverleibt. Die Sachakaner töteten nicht jeden Adligen, sondern nur jene, die dem Reich keine Treue schwören wollten. Natürlich gab es Mischehen und Erben gemischten Blutes. Dreihundert Jahre sind eine lange Zeit. Die Kyralier waren damals Bürger Sachakas.«

»Aber sie haben trotzdem darum gekämpft, ihr Land zurückzugewinnen und sich der Sklaverei zu entledigen.«

»Ja.« Dannyl klopfte auf den Stapel. »Und das findet sich offenkundig aufgezeichnet in Dokumenten und Briefen, die der Entscheidung des Kaisers, Kyralia und Elyne ihre Unabhängigkeit zuzugestehen, vorausgingen und nachfolgten.

Beide Länder schworen der Sklaverei ab, obwohl es einigen Widerstand gab.«

Lorkin betrachtete den Stapel Bücher, Dokumente und Notizen. »Das ist aber nicht das, was man uns in der Universität beibringt.«

Dannyl lachte. »Nein. Und die Version der Geschichte, die man Euch lehrt, ist noch weniger geschönt als das, was ich gelernt habe.« Er klopfte auf den nächsten Stapel. »Meine Generation hat nie erfahren, dass kyralische Magier einst schwarze Magie benutzten und Kraft von ihren Novizen im Austausch gegen magische Unterweisung genommen haben. Dies war für uns eine der Wahrheiten, die zu akzeptieren uns am schwersten fiel.«

Der jüngere Magier betrachtete den Stapel Bücher mit vorsichtiger Neugier. »Sind das die Bücher, die mein Vater unter der Gilde gefunden hat?«

»Einige von ihnen sind Kopien der Schriften, die er ausgegraben hat, ja. Aber alle gefährlichen Informationen über schwarze Magie sind daraus getilgt worden.«

»Wie wollt Ihr eine Geschichte jener Zeit schreiben, ohne Informationen über schwarze Magie einfließen zu lassen?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Solange nichts dabei ist, was den Gebrauch schwarzer Magie beschreibt, besteht keine Gefahr, dass irgendjemand aufgrund meiner Ausführungen etwas über ihre Benutzung erfährt.«

»Aber… Mutter sagt, man müsse schwarze Magie aus dem Geist eines Schwarzmagiers lernen. Gewiss kann man sie nicht aus Büchern lernen?«

»Wir glauben nicht, dass man es kann, aber wir gehen kein Risiko ein.«

Lorkin nickte mit nachdenklicher Miene. »Also kommt… der Sachakanische Krieg als Nächstes? Das ist ein großer Stapel Bücher.«

»Ja.« Dannyl betrachtete die Bücher und Aufzeichnungen neben denen zum Thema Unabhängigkeit. »Ich habe bekannt gemacht, dass ich gern Unterlagen aus jener Zeit hätte, und seither hat mich ein stetiger Strom von Tagebüchern, Berichten und Dokumenten aus den Verbündeten Ländern erreicht.« Oben auf dem Stapel lag ein kleines Buch, das er vor zwanzig Jahren in der Großen Bibliothek gefunden und das ihn zum ersten Mal auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht hatte, dass die Geschichtsdarstellung der Gilde falsch sein könnte.

»Ihr müsst eine Menge über diese Zeit wissen.«

»Aber nicht alles. Die meisten dieser Unterlagen stammen aus anderen Ländern als Kyralia. Es gibt immer noch Lücken in der Geschichte. Wir wissen, dass kyralische Magier die sachakanischen Eindringlinge vertrieben und den Krieg gewonnen haben und dass sie Sachaka anschließend erobert und eine Zeit lang regiert haben. Wir wissen, dass das Ödland, das das Land geschwächt hat, erst mehrere Jahre nach dem Krieg geschaffen wurde. Aber wir wissen nicht, wie man die sachakanischen Magier unter Kontrolle gehalten hat oder wie das Ödland geschaffen wurde.« Und welches der Schatz ist, von dem die Elyner behaupteten, sie hätten ihn den Kyraliern geliehen oder geschenkt, jener Schatz, der anschließend zusammen mit seinen Geheimnissen verloren ging…

»Warum habt Ihr keine Unterlagen aus Kyralia?«

Dannyl seufzte. »Es ist möglich, dass sie zerstört wurden, als die Gilde schwarze Magie mit einem Verbot belegte. Oder sie könnten während des Krieges verloren gegangen sein. Ein so großer Teil der Geschichte ist durcheinandergeraten. Zum Beispiel: Man lehrt uns, dass Imardin während des Sachakanischen Krieges dem Erdboden gleichgemacht worden sei, aber ich habe jetzt Karten aus der Zeit vor und nach dem Krieg, die ein ähnliches Straßenmuster zeigen. Einige Jahrhunderte später haben wir jedoch ein vollkommen neues Straßenmuster – das, das wir heute kennen.«

»Also… ist das Alter der Karten falsch, oder irgendetwas hat die Stadt später dem Erdboden gleichgemacht. Ist nach dem Sachakanischen Krieg etwas Dramatisches geschehen?«

Dannyl griff nach dem obersten Buch des nächsten, viel kleineren Stapels. Lorkin stieß einen leisen Laut des Erkennens aus.

»Die Aufzeichnungen aus der Gilde.« Seine Augen weiteten sich. »Es war der verrückte Novize!« Lorkin nahm das Buch von Dannyl entgegen und blätterte zu den letzten Einträgen weiter. »Es ist vorüber«, las er. »Als Alyk mir die Neuigkeit überbrachte, wagte ich nicht, es zu glauben, aber vor einer Stunde habe ich die Stufen des Ausgucks erklommen und die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen. Es ist wahr. Tagin ist tot. Nur er konnte in seinen letzten Augenblicken solche Zerstörung anrichten. Sie hat ihn vergiftet. Seine Macht wurde freigesetzt und hat die Stadt zerstört.«

Dannyl schüttelte den Kopf, nahm Lorkin das Buch ab und legte es wieder auf den Stapel. »Tagin hatte gerade die Gilde besiegt. Es konnte ihm nicht mehr viel Macht verblieben sein. Nicht genug, um eine Stadt dem Erdboden gleichzumachen.«

»Vielleicht unterschätzt Ihr ihn, so wie es die Gilde jener Zeit offenkundig getan hat.«

Der junge Magier zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch. Dannyl hätte angesichts der Herausforderung beinahe gelächelt. Lorkin war ein intelligenter Novize gewesen, stets bereit, all seine Lehrer zu hinterfragen.

»Vielleicht tue ich das.« Dannyl blickte auf ein kleines Häufchen Dokumente und Bücher hinab. »Die Gilde… nun, es ist, als hätte sie sich nicht nur darangemacht, jedwedes Wissen über schwarze Magie auszulöschen, sondern auch die peinliche Tatsache, dass ein bloßer Novize sie um ein Haar zerstört hätte. Und ohne den Meister der Aufzeichnung, Gilken, hätten wir nicht einmal die Bücher, die Akkarin fand, um zu erfahren, was geschehen war.«

Gilken hatte Informationen über schwarze Magie gerettet und vergraben, aus Furcht, dass die Gilde sie eines Tages zur Verteidigung des Landes benötigen würde.

Wir hatten fünfhundert Jahre Frieden, in denen wir den Schatz vergessen konnten, fünfhundert Jahre, in denen wir überhaupt keine schwarze Magie benutzt haben und in denen unser uralter Feind jenseits der Berge, Sachaka, sie nach wie vor praktiziert hat. Hätte Akkarin das geheime Versteck nicht gefunden – und schwarze Magie erlernt –, wären wir jetzt entweder tot oder Sklaven.

»Der letzte Stapel«, sagte Lorkin. Dannyl sah, dass Lorkin ein dickes, in Leder gebundenes Notizbuch am Ende des Tisches betrachtete.

»Ja.« Dannyl nahm es in die Hand. »Es enthält die Geschichten, die ich von jenen gesammelt habe, die Zeugen der Ichani-Invasion waren.«

»Auch die meiner Mutter?«

»Natürlich.«

Lorkin nickte, dann lächelte er schief. »Nun, das muss ein Teil der Geschichte sein, zu dem Ihr keine weiteren Nachforschungen werdet anstellen müssen.«

»So ist es«, stimmte Dannyl ihm zu.

Der Blick des jungen Magiers wanderte über die Stapel von Büchern, Dokumenten und Aufzeichnungen. »Ich würde gern lesen, was Ihr habt. Und… kann ich Euch bei den Nachforschungen irgendwie helfen?«

Dannyl sah Lorkin überrascht an. Er hätte nie gedacht, dass Soneas Sohn ein Interesse an Geschichte haben könnte. Vielleicht langweilte sich der junge Mann und suchte nach etwas, mit dem er sich beschäftigen konnte. Möglicherweise würde er das Interesse schnell wieder verlieren, vor allem wenn ihm klar wurde, dass Dannyl bereits alle Informationsquellen erschöpft hatte. Es bestand nur eine geringe Chance, dass einer von ihnen die Lücken in der Geschichte jemals würde füllen können.

Wenn er das Interesse verliert, ist kein Schaden entstanden. Ich wusste nicht, warum ich ihm nicht erlauben sollte, es zu versuchen.

Und ein frischer Blick, eine andere Herangehensweise würde vielleicht neue Entdeckungen zutage fördern.

Und es wäre gut, hier in Kyralia jemanden zu haben, der mit Dannyls bisher geleisteter Arbeit vertraut war, sollte er sich dazu entschließen, das Land zu verlassen, um nach neuen Informationsquellen zu suchen.

Was eher früher als später geschehen könnte.

Dannyl hatte im Laufe der Jahre die Gildebotschafter befragt und sie gebeten, nach Material für sein Buch Ausschau zu halten. Sie hatten ihm einige Informationen geliefert, aber sie wussten nicht, wonach sie suchen sollten, und was sie ihm geschickt hatten, hatte verlockende Hinweise auf unzensierte Unterlagen enthalten, die ein neues Licht auf viele historische Ereignisse werfen konnten, Aufzeichnungen, die sich in Sachaka befanden.

Seit der Ichani-Invasion hatten Sachaka und Kyralia einander genau beobachtet. Glücklicherweise war beiden Seiten offenbar daran gelegen, künftig Konflikte zu vermeiden. Beide hatten in das jeweils andere Land einen Botschafter mit einem Gehilfen entsandt. Andere Magier durften die Grenze jedoch nicht überschreiten.

Das Amt des Botschafters wurde alle paar Jahre verfügbar, aber Dannyl hatte sich nicht dafür beworben. Zuerst, weil er Angst davor gehabt hatte. Der Gedanke, ein Land voller schwarzer Magie zu betreten, war erschreckend. Er war es gewohnt, für selbstverständlich zu halten, dass er eine der mächtigsten Personen in seiner Gesellschaft war. In Sachaka würde er nicht nur schwach und verwundbar sein, allen Berichten zufolge betrachteten die sachakanischen Meister der höheren Magie solche Magier, die sich nicht auf schwarze Magie verstanden, mit Abscheu, Misstrauen oder Geringschätzung.

Aber sie gewöhnten sich langsam an die Idee, hatte man ihm berichtet. Heutzutage behandelten sie Gildebotschafter mit mehr Respekt. Sie hatten sogar protestiert, als der letzte Botschafter aufgrund von Problemen mit dem Vermögen seiner Familie nach Kyralia zurückkehren musste. Sie hatten tatsächlich eine gewisse Zuneigung zu ihm gefasst.

Wodurch die Stelle des Botschafters frei geworden war, ein Umstand, dem Dannyl kaum widerstehen konnte. Er hatte schon früher in der Position gearbeitet, in Elyne, daher war er zuversichtlich, dass die Höheren Magier ihn für das Amt in Erwägung ziehen würden. Wenn es nicht funktionierte, konnte er einfach vor der Zeit wieder nach Imardin zurückkehren – und er wäre nicht der Erste, der das tat. Solange er in Sachaka war, konnte er nach Aufzeichnungen suchen, die die Lücken in seiner Geschichte der Magie füllten, und vielleicht ganz neue Zweige dieser Geschichte entdecken.

»Lord Dannyl?«

Dannyl schaute zu Lorkin auf, dann lächelte er. »Es wäre mir ein Vergnügen, wenn mir ein Kollege bei meinen Nachforschungen helfen würde. Wann möchtet Ihr anfangen?«

»Wäre morgen genehm?« Lorkin blickte auf den Tisch. »Ich vermute, ich werde eine Menge zu lesen haben.«

»Natürlich ist es genehm«, antwortete Dannyl. »Obwohl … wir sollten Tayend fragen, was er geplant hat. Lasst uns jetzt mit ihm reden – und diese Flasche Wein trinken.«

Als er den jungen Magier in das Gästezimmer führte, in dem sich Tayend abends für gewöhnlich entspannte, kehrten Dannyls Gedanken nach Sachaka zurück.

Mir sind die Quellen ausgegangen. Mir fällt nichts mehr ein, wo ich die fehlenden Stücke meiner Geschichte noch suchen könnte. Die Gelegenheit ist gekommen, und ich denke, ich habe den Mut, sie zu ergreifen.

Aber der andere Grund, warum er nie danach getrachtet hatte, Sachaka zu besuchen, lag darin, dass es bedeutete, Tayend zurückzulassen. Der Gelehrte würde den elynischen König um die Erlaubnis bitten müssen, nach Sachaka zu reisen, und es war unwahrscheinlich, dass er sie bekommen würde. Zum Teil lag das daran, dass Tayend weder allgemein bekannt war noch sich der Gunst des Hofes erfreute. Das war schon so gewesen, bevor er nach Kyralia gezogen war, um mit Dannyl zusammenzuleben. Zum Teil lag es daran, dass er ein »Knabe« war – ein Mann, der Männer Frauen vorzog. Die sachakanische Gesellschaft war in Bezug auf Knaben nicht so tolerant wie die elynische, sondern ähnelte in diesem Punkt eher der kyralischen Gesellschaft – solche Dinge wurden verborgen und ignoriert. Der elynische König würde ein Land nicht vor den Kopf stoßen wollen, das sein Reich immer noch mühelos besiegen könnte, indem er einen Mann dorthin schickte, den die Sachakaner missbilligen würden.

Aber was ist mit mir? Warum denke ich, dass der kyralische König oder die Gilde meine Bewerbung nicht aus demselben Grund zurückweisen würden?

Die Wahrheit war, Tayend verstand sich nicht so gut wie Dannyl darauf zu verbergen, was er war. Nicht lange nachdem er sich in Imardin niedergelassen hatte, hatte der Gelehrte einen Kreis von Freunden um sich geschart. Er war entzückt gewesen festzustellen, dass es in den kyralischen Häusern ebenso viele Knaben gab wie in den besten Kreisen Elynes, und sie hatten seine elynische Gewohnheit, Feste zu veranstalten, begeistert willkommen geheißen. Sie bezeichneten sich als den Geheimen Klub. Doch der Klub war nicht besonders geheim. Viele Mitglieder der kyralischen Gesellschaft wussten von ihm, und etliche hatten ihre Missbilligung zum Ausdruck gebracht.

Dannyl wusste, dass sein Unbehagen seinen Grund in den langen Jahren hatte, da er seine Natur hatte verbergen müssen. Vielleicht bin ich ein Feigling, oder vielleicht bin ich übervorsichtig, aber ich würde mein Privatleben lieber… nun… privat halten. Bei Tayend habe ich niemals die Wahl. Er hat mich niemals gefragt, wie ich leben wolle oder ob es mir recht sei, wenn ganz Kyralia weiß, was wir sind.

Hinter seinem Groll verbarg sich jedoch noch mehr. Im Laufe der Jahre hatte Tayend seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf seine Freunde gerichtet. Obwohl sich in dem Kreis einige fanden, deren Gesellschaft Dannyl genoss, waren die meisten doch nur verzogene Bälger aus den höheren Klassen. Und manchmal ähnelte Tayend ihnen mehr als dem jungen Mann, mit dem Dannyl vor all jenen Jahren auf Reisen gewesen war.

Dannyl seufzte. Er wollte nicht mit dem Mann, zu dem Tayend geworden war, auf Reisen gehen. Er hatte ein wenig Angst davor, dass es zu einem dauerhaften Bruch führen könnte, wenn sie in einem anderen Land aufeinander angewiesen sein würden. Auch konnte er nicht umhin, sich zu fragen, ob eine gewisse Zeit der Trennung nicht dazu führen würde, dass sie die Gesellschaft des anderen mehr zu schätzen wüssten.

Aber auch wenn einige Wochen oder Monate der Trennung uns vielleicht guttun würden – könnten wir eine Trennung von zwei Jahren überleben?

Als er in das Gästezimmer trat und feststellte, dass Tayend die Flasche bereits geöffnet und die Hälfte des Inhalts getrunken hatte, schüttelte er den Kopf.

Falls er jemals die Lücken in dieser Geschichte der Magie – seinem großen Lebenswerk – füllen wollte, konnte er nicht herumsitzen und hoffen, dass jemand ihm die richtigen Aufzeichnungen oder Dokumente schickte. Er musste selbst nach Antworten suchen, auch wenn das bedeutete, sein Leben aufs Spiel zu setzen oder Tayend zurückzulassen.

Einer Sache bin ich mir sicher. Auch wenn es Seiten an Tayend gibt, die mir nicht gefallen, bedeutet er mir doch so viel, dass ich sein Leben nicht riskieren will. Er wird mich begleiten wollen, und ich werde es ablehnen, ihn mitzunehmen.

Und Tayend würde nicht glücklich darüber sein. Ganz und gar nicht glücklich.


Sie war nicht größer geworden, seit Cery sie das letzte Mal gesehen hatte. Ihr dunkles Haar war schlecht geschnitten, ungleichmäßig, wo es ihr knapp auf die Schultern fiel. Den Pony trug sie schräg zur Seite gekämmt, so dass er eine ihrer geraden Brauen bedeckte. Und ihre Augen… diese Augen, die ihn, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, immer schwach gemacht hatten. Groß, dunkel und ausdrucksvoll.

Aber im Moment war alles, was sie ausdrückten, skrupellose Entschlossenheit, während sie mit einem Kunden feilschte, der beinahe doppelt so groß und schwer war wie sie selbst. Cery konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber ihr Selbstbewusstsein und ihre trotzige Haltung entfachten in ihm einen törichten Stolz.

Anyi. Meine Tochter, dachte er. Meine einzige Tochter. Und jetzt mein einziges noch lebendes Kind…

Etwas krampfte ihm die Eingeweide zusammen, als er von Erinnerungen an die zerschlagenen Leiber seiner Söhne überflutet wurde. Er schob sie beiseite, aber der Schock und die Furcht blieben.

»Was soll ich tun, Gol?«, murmelte er. Sie befanden sich in einem privaten Raum im oberen Stockwerk eines Bolhauses, von dem aus man einen Blick auf den Markt hatte, zu dem der Stand seiner Tochter gehörte.

Sein Leibwächter machte Anstalten, sich dem Fenster zuzuwenden, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne. Mit unsicherem Blick sah er Cery an.

»Ich weiß es nicht. Mir scheint, es ist gefährlich, mit ihr zu reden, und gefährlich, es nicht zu tun.«

»Und Zeit auf die Entscheidung zu verschwenden ist das Gleiche, als entscheide man gar nichts.«

»Ja. Wie weit vertraust du Donia?«

Cery dachte über Gols Frage nach. Die Besitzerin des Bolhauses, die nebenbei verschiedene »Dienste« anbot, war eine alte Kindheitsfreundin. Cery hatte ihr geholfen, das Lokal aufzubauen, nachdem ihr Mann, Cerys alter Freund Harrin, vor fünf Jahren an einem Fieber gestorben war, und seine Männer sorgten dafür, dass niemand ihr Schutzgeld abpressen konnte. Selbst wenn sie diese Verbindung nicht gehabt hätten oder sie ihm nicht dankbar für seine Hilfe gewesen wäre, schuldete sie ihm Geld und kannte die Gepflogenheiten der Diebe gut genug, um zu wissen, dass man sie nicht ohne Konsequenzen verriet.

»Mehr als irgendjemandem sonst.«

Gol lachte kurz auf. »Was nicht viel ist.«

»Nein, aber ich habe ihr bereits aufgetragen, ein Auge auf Anyi zu haben, obwohl sie nicht weiß, warum. Sie hat mich nicht enttäuscht.«

»Dann wird es nicht seltsam erscheinen, wenn du darum bittest, dass man das Mädchen zu dir führt, oder?«

»Nicht seltsam, aber… sie wäre neugierig.« Cery seufzte. »Bringen wir es hinter uns.«

Gol richtete sich auf. »Ich werde alles Notwendige veranlassen und dafür sorgen, dass niemand lauscht.«

Cery betrachtete den Mann, dann nickte er. Er schaute aus dem Fenster, während sein Leibwächter auf die Tür zuging, und bemerkte, dass ein neuer Kunde an die Stelle des letzten getreten war. Anyi beobachtete, wie der Mann mit einem Finger über die Klinge eines ihrer Messer strich, um die Schneide zu prüfen. »Und sorg dafür, dass ihr Stand bewacht wird, während sie hier ist.« »Natürlich.«

Nach einigen Minuten tauchten vier Männer aus dem Bolhaus auf und näherten sich Anyis Stand. Cery bemerkte, dass die anderen Standbesitzer so taten, als achteten sie nicht darauf. Einer der Männer richtete das Wort an Anyi. Sie schüttelte den Kopf und funkelte ihn an. Als er nach ihrem Arm griff, trat sie zurück und förderte blitzschnell ein Messer zutage, das sie auf ihn richtete. Er hob die Hände, die Innenflächen nach außen.

Ein langes Gespräch folgte. Anyi ließ die Hand mit dem Messer langsam sinken, steckte es aber nicht weg und hörte auch nicht auf, ihn anzufunkeln. Einige Male blickte sie flüchtig zum Bolhaus hinüber. Schließlich reckte sie das Kinn vor, und als er von ihrem Stand zurücktrat, stolzierte sie an ihm vorbei auf das Bolhaus zu, während sie ihr Messer wieder verschwinden ließ.

Cery stieß den Atem aus, den er angehalten hatte, und begriff, dass sein Magen in Aufruhr war und sein Herz zu schnell schlug. Plötzlich wünschte er, es wäre ihm in der vergangenen Nacht gelungen, ein wenig zu schlafen. Er wollte hellwach sein. Wollte keine Fehler machen. Wollte keinen Augenblick dieser einen Begegnung mit seiner Tochter versäumen, von der er hoffte, dass er sie sich erlauben konnte. Er hatte seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen, und damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie eine junge Frau. Wahrscheinlich suchten junge Männer ihre Aufmerksamkeit und ihr Bett…

Denk nicht zu viel darüber nach, sagte er sich.

Er hörte Stimmen und Schritte im Treppenhaus vor dem Zimmer, und sie kamen langsam näher. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich der Tür zu. Es folgte ein Moment der Stille, dann sagte eine vertraute Männerstimme einige ermutigende Worte, und nach dem Klang der Schritte zu urteilen setzte nur noch eine Person ihren Weg fort.

Als sie durch die Tür spähte, erwog er ein Lächeln, aber er wusste, dass er nicht in der Stimmung war, um damit überzeugen zu können. Er begnügte sich damit, ihren Blick mit einem Ausdruck zu erwidern, von dem er hoffte, dass er freundlichen Ernst übermittelte.

Sie blinzelte, dann weiteten sich ihre Augen, dann runzelte sie die Stirn und kam herein.

»Du!«, sagte sie. »Ich hätte erraten müssen, dass du es sein würdest.«

In ihrem Blick brannten Ärger und Anklage. Einige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. Er zuckte unter ihrem Blick nicht zusammen, obwohl er ein vertrautes Gefühl der Schuld in ihm heraufbeschwor.

»Ja. Ich«, erwiderte er. »Setz dich. Ich muss mit dir reden.«

»Nun, ich will aber nicht mit dir reden!«, erklärte sie und wandte sich zum Gehen.

»Als ob du eine Wahl hättest.«

Sie hielt inne und blickte mit schmalen Augen über ihre Schulter. Langsam drehte sie sich wieder zu ihm um und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Also, was willst du?«, fragte sie, bevor sie einen dramatischen Seufzer ausstieß. Er hätte um ein Haar gelächelt. Die mürrische Resignation, gepaart mit Verachtung, war etwas, das viele Väter von jungen Menschen ihres Alters ertragen mussten. Aber ihre Resignation rührte eher von dem Wissen, dass er ein Dieb war, nicht von Respekt vor väterlicher Autorität.

»Dich warnen. Dein Leben ist… in noch größerer Gefahr als normalerweise. Es besteht die Möglichkeit, dass bald jemand versuchen wird, dich zu töten.«

Ihre Miene veränderte sich nicht. »Tatsächlich? Und warum?«

Er zuckte die Achseln. »Wegen der bloßen unglücklichen Tatsache, dass du meine Tochter bist.«

»Nun, das habe ich bisher recht gut überlebt.«

»Jetzt ist es etwas anderes. Das hier ist erheblich… unbändiger.«

Sie verdrehte die Augen. »Niemand benutzt dieses Wort noch.«

»Dann bin ich ein Niemand.« Er runzelte die Stirn. »Ich meine es ernst, Anyi. Denkst du, ich würde unser beider Leben aufs Spiel setzen, indem ich mich mit dir treffe, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass es weit schlimmer sein könnte, wenn wir uns nicht treffen würden?«

Alle Verachtung und aller Ärger wichen plötzlich aus ihren Zügen, doch jetzt zeigte sie ihm eine Miene, die er nicht deuten konnte. Dann wandte sie den Blick ab.

»Warum bist du dir so sicher?«

Er holte tief Atem und stieß die Luft langsam wieder aus. Weil meine Frau und meine Söhne tot sind. Bei dem Gedanken überflutete ihn Schmerz. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es laut aussprechen kann. Er suchte nach Worten, dann holte er abermals tief Luft.

»Weil du seit gestern Nacht mein einziges lebendes Kind bist«, erklärte er.

Ihre Augen weiteten sich langsam, während sie die Nachricht aufnahm. Sie schluckte und schloss die Augen. Einen Moment lang blieb sie vollkommen reglos, eine Falte zwischen den Brauen, dann öffnete sie die Augen wieder und musterte ihn erneut.

»Hast du es Sonea erzählt?«

Die Frage verwunderte ihn. Warum hatte sie sie gestellt? Ihre Mutter war immer ein wenig eifersüchtig auf Sonea gewesen, vielleicht weil sie gespürt hatte, dass er einmal in das Hüttenmädchen, das später zur Magierin geworden war, verliebt gewesen war. Gewiss hatte Anyi Vestas Eifersucht nicht geerbt. Oder wusste Anyi mehr über Cerys fortgesetzte geheime Verbindung zu der Gilde, als sie wissen sollte?

Wie beantwortete man eine solche Frage? Sollte er überhaupt antworten? Er erwog die Möglichkeit, das Thema zu wechseln, war jedoch neugierig zu erfahren, wie sie auf die Wahrheit reagieren würde.

»Ja«, sagte er. Dann zuckte er die Achseln. »Zusammen mit anderen Informationen.«

Anyi nickte und erwiderte nichts und verriet damit frustrierend wenig über den Grund ihrer Frage. Sie seufzte und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere.

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

Verspätet begriff er, dass er sich nicht sicher war, was er ihr raten sollte. »Gibt es einen sicheren Ort, an den du gehen könntest? Menschen, denen du vertraust? Ich würde dir anbieten, dich zu beschützen, nur dass… Nun, sagen wir einfach, es hat sich herausgestellt, dass deine Mutter die richtige Entscheidung getroffen hat, als sie mich verließ, und…« Er hörte Bitterkeit in seiner Stimme und konzentrierte sich auf andere Gründe. »Meine eigenen Leute könnten umgedreht worden sein. Es wäre besser, wenn du dich nicht auf sie verlassen würdest. Bis auf Gol natürlich. Obwohl… es wäre klug, wenn wir eine Möglichkeit hätten, miteinander in Verbindung zu treten.«

Sie nickte, und es ermutigte ihn zu sehen, dass sie sich entschlossen aufrichtete. »Ich werde zurechtkommen«, sagte sie. »Ich habe… Freunde.«

Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Das war alles, was sie ihm erzählen würde, vermutete er. Kluge Entscheidung.

»Gut«, erwiderte er und stand auf. »Gib acht auf dich, Anyi.«

Sie musterte ihn nachdenklich, und einen Moment lang zuckten ihre Mundwinkel. Eine jähe Hoffnung stieg in ihm auf, dass sie verstand, warum er sich all die Jahre von ihr ferngehalten hatte.

Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und stolzierte aus dem Raum, ohne auf eine Erlaubnis zu warten oder Lebewohl zu sagen.

4 Neue Verpflichtungen

Die Bäume und Büsche des Gildegartens kühlten den spätsommerlichen Wind zu einer angenehmen Brise ab. In einer der Nischen des Gartens saßen, gut beschattet von einem großen, dekorativen Pachi-Baum, zwei junge Magier. Während die letzten Spuren seines Katers zu verfliegen begannen, lehnte Lorkin sich an die Rückenlehne des Gartenstuhls und schloss die Augen. Der Gesang von Vögeln vermischte sich mit dem Klang ferner Stimmen und Schritte – und dem schrillen Geräusch von Verspottungen und Protesten irgendwo hinter ihm.

Dekker drehte sich zur gleichen Zeit um wie Lorkin. Hinter ihnen war eine Wand aus Büschen und Bäumen, so dass sie beide aufstanden, um über das Blätterwerk hinwegzuspähen. Auf der anderen Seite hatten vier Jungen einen weiteren umzingelt und stießen ihr Opfer hin und her.

»Blö-der Prol-li«, sangen sie. »Hat keine Fa-mi-lie. Immer schmud-delig. Im-mer stin-kig.«

»He!«, rief Dekker. »Lasst das! Oder ich werde dafür sorgen, dass ihr freiwillige Hilfe in den Hospitälern leistet.«

Lorkin verzog das Gesicht. Seine Mutter war nie glücklich über Lady Vinaras Idee gewesen, Novizen zu bestrafen, indem man sie zwang, in den Hospitälern zu helfen. Sie sagte, sie würden diese Arbeit niemals für lohnend oder nobel halten, wenn man von ihnen erwartete, dass sie den Wunsch hatten, sie zu meiden. Aber sie hatte nie genug Freiwillige, daher konnte sie sich nicht dazu überwinden, dagegen zu protestieren. Einige der Novizen, die man ihr zur Strafe geschickt hatte, hatten sich später tatsächlich für die heilende Disziplin entschieden, weil die Arbeit mit ihr sie inspiriert hatte, aber dafür hatten sie den Spott ihrer Mitschüler in Kauf nehmen müssen.

Die Novizen murmelten einige Entschuldigungen und flohen in verschiedene Richtungen. Als Lorkin und Dekker sich wieder setzten, erschienen im Eingang ihrer Nische zwei Magier.

»Ah! Dachte ich’s mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe, Dekker«, sagte Reater. Perlers besorgtes Stirnrunzeln verblasste, als er die Freunde seines Bruders erkannte. »Habt ihr was dagegen, wenn wir uns zu euch gesellen?«

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Dekker und deutete auf die gegenüberliegende Bank.

Lorkin blickte von einem Bruder zum anderen und fragte sich, warum Perler die Stirn gerunzelt hatte. Reater schien sich allzu sehr darüber zu freuen, über sie gestolpert zu sein.

»Perler hat heute Morgen schlechte Neuigkeiten bekommen«, verkündete Reater. Dann wandte er sich an seinen Bruder. »Erzähl es ihnen.«

Perler sah Reater an. »Nicht schlecht für dich, hoffe ich.« Sein Bruder zuckte die Achseln und antwortete nicht, daher seufzte er und sah Dekker an. »Lord Maron ist von seinem Botschafterposten zurückgetreten. Er wird länger als erwartet brauchen, um die Angelegenheiten seiner Familie zu regeln. Also werde ich nicht nach Sachaka zurückkehren.«

»Du wirst dem neuen Botschafter nicht zur Seite stehen?«, fragte Lorkin.

Perler zuckte die Achseln. »Ich könnte, wenn ich wollte. Aber…« Er betrachtete seinen Bruder. »Auch ich habe einige Familienangelegenheiten, um die ich mich kümmern muss.«

Reater zuckte zusammen.

»Wer wird ihn denn ersetzen?«, wollte Dekker wissen.

»Irgendjemand meinte, Lord Dannyl habe sich beworben.« Reater grinste. »Vielleicht will er sich einmal die sachakanischen Männer –«

»Reater«, mahnte Perler streng.

»Was? Jeder weiß, dass er ein Knabe ist.«

»Weshalb es nicht komisch ist, wenn man rüde Witze darüber macht. Werd erwachsen und komm darüber hinweg.« Er verdrehte die Augen. »Außerdem will Lord Dannyl gar nicht nach Sachaka gehen. Er ist zu beschäftigt damit, Nachforschungen für sein Buch anzustellen.«

Lorkins Herz setzte einen Schlag aus. »Er hat mir gestern Abend erzählt, dass seine Forschungen nur langsam vorangehen. Vielleicht… vielleicht hofft er, dort ein wenig forschen zu können.«

Reater sah seinen Bruder von der Seite an. »Ändert das etwas an deiner Meinung? Au!« Er rieb sich den Arm, wo Perler ihn soeben geboxt hatte. »Das hat wehgetan.«

»Was der Sinn der Übung war.« Perler blickte nachdenklich drein. »Es wird interessant sein zu sehen, ob sich irgendjemand freiwillig für das Amt seines Gehilfen meldet. Die meisten Leute mögen bereit sein, Lord Dannyls Gepflogenheiten zu ignorieren, aber die wenigsten werden das Risiko eingehen wollen, dass man Spekulationen darüber anstellt, warum sie sich um das Amt seines Gehilfen beworben haben.«

Lorkin zuckte die Achseln. »Ich würde gehen.«

Die anderen starrten ihn an. Lorkin betrachtete ihre schockierten Gesichter und lachte.

»Nein, ich bin kein Knabe. Aber man kann mit Lord Dannyl gut auskommen, und seine Nachforschungen sind interessant – und lohnend. Ich wäre stolz, dazu beitragen zu können.« Zu seiner Überraschung wirkten sie weiterhin besorgt. Bis auf Perler, wie er bemerkte.

»Aber… Sachaka«, sagte Reater.

»Wäre das klug?«, fragte Dekker.

Lorkin blickte von einem zum anderen. »Perler hat es überlebt. Warum nicht auch ich?«

»Weil deine Eltern vor einigen Jahren ein paar Sachakaner getötet haben«, bemerkte Dekker in einem Tonfall, der nahelegte, dass Lorkin dumm war. »Sie neigen dazu, an solchen Dingen Anstoß zu nehmen.«

Lorkin breitete die Arme aus, wie um die Gilde als Ganzes zu umfassen. »Das Gleiche haben alle Magier während der Schlacht getan und die Novizen. Warum sollte das, was meine Eltern getan haben, etwas anderes sein?«

Dekker öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus, und er schloss ihn wieder. Dann sah er Perler an, der kicherte.

»Schau nicht mich an, damit ich dich in dieser Sache unterstütze«, sagte der ältere Magier. »Lorkins Herkunft mag ihn für die Sachakaner ein wenig interessanter machen als andere Magier, aber solange er nicht ständig darauf hinweist, bezweifle ich, dass er in größerer Gefahr wäre, als ich es gewesen bin.« Er sah Lorkin an. »Trotzdem, ich würde das die Höheren Magier entscheiden lassen. Es könnte einen Grund geben, warum du nicht hingehen solltest, über den sie bisher nicht gesprochen haben.«

Lorkin drehte sich um, um Dekker triumphierend anzusehen. Sein Freund erwiderte seinen Blick, runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf.

»Melde dich bloß nicht freiwillig, um zu beweisen, dass ich unrecht habe.«

Lorkin lachte. »Würde ich das tun?«

»Wahrscheinlich.« Dekker lächelte schief. »Oder nur um mich zu ärgern. Wenn man weiß, wie deine Familie ist, wirst du eine wichtige Rolle dabei spielen, die Sachakaner dazu zu bringen, die Sklaverei aufzugeben und den Verbündeten Ländern beizutreten, und in wenigen Jahren werde ich sachakanische Novizen in die Kriegskunst einführen.«

Lorkin widerstand dem Drang, eine Grimasse zu schneiden, und zwang sich zu einem Lächeln. Da fängt es schon wieder an. Diese Erwartung, dass ich etwas Wichtiges tun werde. Aber das wird niemals geschehen, solange ich in der Gilde herumsitze und gar nichts tue.

»Das wird für den Anfang genügen«, sagte er. »Gibt es sonst noch etwas?«

Dekker stieß einen ungehobelten Laut aus und wandte den Blick ab. »Erfinde einen Wein, der keinen Kater verursacht, und ich werde dir alles verzeihen.«


Nachdem Sonea und Rothen die Universität betreten hatten, gingen sie durch die Halle in den Hauptflur. Dieser führte direkt in die Große Halle, einen drei Geschosse hohen Saal im Zentrum des Gebäudes. Glasvertäfelungen bedeckten das Dach und ließen Licht ein.

Dieser Saal war aus einem älteren, schlichten Bau hervorgegangen, der Gildehalle. Sie war der erste Sitz der Gilde gewesen, und als man die prächtigere Universität um diese Halle herum und mit ihr als Zentrum errichtet hatte, war es das Einfachste gewesen, deren Innenmauern abzureißen und daraus eine einzige große Halle für die regelmäßigen Versammlungen und gelegentlichen Anhörungen zu machen.

Die heutige Zusammenkunft war eine offene Anhörung, es konnte also neben den Höheren Magiern, die zur Anwesenheit verpflichtet waren, auch jeder andere Magier daran teilnehmen. Sonea fand es gleichzeitig ermutigend und beunruhigend, die große Menge von Magiern zu sehen, die am gegenüberliegenden Ende der Halle wartete. Es ist gut, dass so viele sich dafür interessieren, aber ich kann nicht umhin zu bezweifeln, dass viele von ihnen dem Antrag positiv gegenüberstehen.

Die Höheren Magier hatten sich am Seiteneingang der Gildehalle versammelt. Der Hohe Lord Balkan stand mit vor der Brust verschränkten Armen da und blickte stirnrunzelnd auf den Mann hinab, der mit ihm sprach. Seine weißen Roben betonten seine Körpergröße und die breiten Schultern, verrieten jedoch auch Weichheit und Fülligkeit, wo er einst muskulös gewesen war. Seine Pflichten als Hoher Lord hielten ihn davon ab, sich in den Kriegskünsten zu üben, vermutete Sonea.

Der Mann, den er mit einem Stirnrunzeln betrachtete, war Administrator Osen. Sonea konnte das Blau der Robe des Administrators nicht sehen, ohne sich an seinen Vorgänger zu erinnern und einen Stich des Schuldgefühls und der Traurigkeit zu verspüren. Administrator Lorlen war während der Ichani-Invasion ums Leben gekommen. Obwohl Osen genauso tüchtig war wie Lorlen, mangelte es ihm an der Wärme seines Vorgängers. Und er hatte ihr nie verziehen, dass sie schwarze Magie erlernt und sich Akkarin im Exil angeschlossen hatte.

Eine Gruppe von drei anderen Magiern wartete geduldig, beobachtete die Übrigen und bemerkte Sonea und Rothen. Sonea hatte während der letzten zwanzig Jahre eine gewisse Zuneigung zu Lord Peakin entwickelt, dem Oberhaupt der Alchemisten. Er war für Neues offen und einfallsreich, und während er älter geworden war und sich in seine Rolle gefügt hatte, hatte er einen trockenen Humor und großes Mitgefühl offenbart. Lady Vinara hatte den Krieg überlebt und schien entschlossen, trotz fortgeschrittenen Alters noch für viele Jahre das Oberhaupt der Heiler zu bleiben. Ihr Haar war jetzt vollkommen weiß, aber ihre Augen waren scharf und wachsam.

Der Anblick des Oberhaupts der Krieger weckte in Sonea stets ein säuerliches, unbehagliches Gefühl. Lord Garrel hatte die Angelegenheiten seiner Disziplin ohne Skandal oder größere Fehlschläge verwaltet und war ihr gegenüber immer von steifer Höflichkeit, aber sie konnte nicht vergessen, dass er seinem als persönlichen Schützling angenommenen Novizen, Regin, erlaubt hatte, sie während ihrer frühen Jahre in der Universität zu quälen; mehr noch, Garrel hatte ihn förmlich dazu ermuntert. Sie hätte diese Geschichte vielleicht vergessen können, wenn er nicht außerdem gerade mit den kyralischen Häusern verbunden gewesen wäre, die sich für die Säuberungen besonders stark gemacht hatten, in ruchlose politische Machenschaften verstrickt waren und angeblich von Geschäften mit den Dieben profitierten.

Wie kann ich ein Urteil fällen, nachdem heute Morgen erst ein Dieb in meinen Räumen war? Aber Cery ist anders. Zumindest hoffe ich das. Ich hoffe, er hat immer noch einige Prinzipien – einige Grenzen, die er nicht überschreitet. Und ich habe nichts mit seinen Geschäften zu tun. Ich bin nur eine Freundin.

In der Nähe der Oberhäupter der Disziplinen standen drei weitere Magier. Zwei waren die Studienleiter Lord Telano und Lord Erayk, und der andere war Rektor Jerrik. Der alte Leiter der Universität hatte sich kaum verändert. Er war noch immer der gleiche mürrische, säuerliche Mann, aber jetzt ging er gebeugt, und Falten hatten sein Stirnrunzeln zu etwas Dauerhaftem gemacht, selbst bei den wenigen Gelegenheiten, da er lächelte. Sie war in den letzten Jahren nicht selten in seine Amtsstube gerufen worden: Lorkin war ebenso oft der Schuldige wie das Opfer bei Novizenstreichen gewesen, die zu weit gegangen waren. Ich möchte wetten, dass er erleichtert ist, dass Lorkin und seine Freunde ihre Ausbildung beendet haben.

Rothen als Oberhaupt der Alchemistischen Studien hatte offensichtlich die Absicht, sich diesen dreien zuzugesellen. Es erheiterte sie immer, dass die Höheren Magier sich stets zu ihresgleichen hingezogen fühlten. Doch als sie eine Gestalt auf die kleine Gruppe zuschreiten sah, einen Mann, der die gleichen schwarzen Roben trug wie sie, verspürte sie keinerlei Verlangen, es ihm gleichzutun.

Schwarzmagier Kallen.

Nachdem die Gilde neue Höhere Magier gewählt hatte, um jene zu ersetzen, die während der Ichani-Invasion ihr Leben gelassen hatten, hatte man lange darüber debattiert, wie man mit dem Thema schwarze Magie verfahren solle… und mit ihr. Die Magier wussten, dass sie dieses Wissen nicht wieder verlieren durften, für den Fall, dass die Sachakaner abermals versuchen sollten, Kyralia zu bezwingen, aber sie fürchteten, dass jeder, dem sie dieses Wissen gestatteten, versuchen könnte, selbst die Kontrolle über Kyralia zu ergreifen.

So war es schließlich in der Vergangenheit geschehen, als Tagin, der verrückte Novize, schwarze Magie erlernt und die Gilde beinahe zerstört hatte. Die Gilde jener Zeit war der Ansicht gewesen, dass man schwarze Magie zur Gänze verbieten müsse, um zu verhindern, dass eine einzelne Person diese Macht abermals missbrauchte.

Bedauerlicherweise waren die Gilde und sämtliche Verbündete Länder dadurch verletzbar geworden.

Die Lösung der gegenwärtigen Gilde hatte darin bestanden, nur zwei Magiern Kenntnisse der schwarzen Magie zu gestatten. Einer konnte verhindern, dass der andere die Macht ergriff. Jeder hatte die Aufgabe, den anderen Schwarzmagier zu überwachen und nach irgendwelchen Anzeichen für verderbte Ambitionen bei ihm Ausschau zu halten. Diener wurden regelmäßig befragt, und man las ihre Gedanken, um festzustellen, ob der Magier, dem sie dienten, sich stärkte.

Sonea hatte keine andere Wahl gehabt, als zuzustimmen. Es war nicht so, als hätte sie die einmal erlernte schwarze Magie wieder vergessen können. Man hatte ihr mehrere der Kandidaten für die Position ihres Wächters vorgestellt und sie nach ihrer Meinung befragt. Kallen, dem sie zuvor nie begegnet war, da er vor der Invasion als Botschafter in Lan tätig gewesen war, hatte sie weder gemocht noch missbilligt. Aber die Höheren Magier hatten in ihm etwas gesehen, das ihnen gefiel, und Sonea hatte bald entdeckt, dass es seine unermüdliche Hingabe an jedweden Auftrag war, den man ihm zuwies.

Bedauerlicherweise bestand sein Auftrag nun darin, sie zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu machen. Obwohl er niemals unhöflich war, waren seine steten Anstrengungen sie betreffend ermüdend. Es wäre schmeichelhaft gewesen, wenn es nicht so lästig gewesen wäre – und so absolut notwendig. Es war eine gute Entscheidung. Wenn ich tot bin, muss jemand meinen Platz einnehmen. Hoffentlich wird die Gilde eine kluge Wahl treffen, aber wenn sie es nicht tut, dann wird Kallens Vorsicht sie vielleicht retten.

Ohne Kallen aus den Augen zu lassen, beobachtete sie, wie er näher kam. Er erwiderte ihren Blick mit leidenschaftsloser Miene. Sie war nicht so hingebungsvoll darin, Kallen zu beobachten, wie er es in ihrer Überwachung war. Es war nicht so einfach, wenn man einen Sohn großzuziehen hatte. Aber wann immer Kallen in der Nähe war, heuchelte sie aufmerksame Wachsamkeit und hoffte, es würde die wenigen Magier beruhigen, denen in den Sinn gekommen sein könnte, dass er einer Überwachung ebenso bedurfte wie das ehemalige Hüttenmädchen, das zu früh und weit über jedes verdiente Maß hinaus in eine mächtige Position aufgestiegen war.

Das Raunen der Stimmen um sie herum brach kurz ab, und ihre Aufmerksamkeit wurde auf Administrator Osen gelenkt.

»Novizendirektor Narren ist in Elyne, und die Ratgeber des Königs werden nicht an der Anhörung teilnehmen«, eröffnete er ihnen. »Da wir Übrigen zugegen sind, können wir genauso gut anfangen.«

Die Höheren Magier folgten ihm durch den Seiteneingang der Gildehalle und gingen auf ihre Plätze in den stufenförmigen Sitzreihen am Kopfende des Saals zu. Die Sitzordnung war nach Rang gestaffelt von oben nach unten. Sonea stieg neben dem Hohen Lord Balkan zu ihrem Platz hinauf und sah zu, wie die Türen am anderen Ende geöffnet wurden und der Saal sich mit Magiern füllte. Zwei kleine Gruppen versammelten sich links und rechts vor den Sitzreihen der Höheren Magier. Es waren Antragsteller und die aktiven Gegner des Antrags. Die übrigen Magier nahmen Plätze zu beiden Seiten der Halle ein.

Sobald alle saßen, eröffnete Osen die Anhörung.

»Ich rufe Lord Pendel auf, den Sprecher der Antragsteller, damit er ihre Sache darlegen möge.«

Ein gutaussehender junger Mann, dessen Vater ein Unternehmen mit Schmieden, Gießereien und Schlossereien betrieb, trat vor.

»Als vor zwei Jahrzehnten Männern und Frauen der unteren Klassen Imardins gestattet wurde, der Gilde beizutreten, wurden viele weise und praktische Regeln erlassen«, las Pendel von einem Stück Papier ab, das er in der Hand hielt. »Aber eine so unerwartete und zwangsläufig hastige Veränderung der Praktiken der Gilde schloss, wenig überraschend, einige Regeln ein, die sich mit der Zeit als unpraktisch erwiesen haben.«

Die Stimme des jungen Mannes war ruhig und klar, wie Sonea anerkennend feststellte. Er war als Sprecher für die Antragsteller eine gute Wahl.

»Eine solche Regel verfügt, dass Novizen und Magier keine Verbindung zu Kriminellen und Leuten schlechten Rufes haben dürfen«, fuhr Pendel fort. »Obwohl es Fälle gegeben hat, bei denen Novizen verdientermaßen aus der Gilde entfernt wurden und ihnen aufgrund fortbestehender Verbindung mit zwielichtigen Personen oder Gruppen in der Stadt der Zugang zur Magie verwehrt wurde, gibt es weit mehr Fälle, da die Auslegung dieser Regel zu Ungerechtigkeit geführt hat. In den vergangenen zwanzig Jahren haben letztere Fälle bewiesen, dass die allgemeine Auslegung von ›schlechtem Ruf‹ jede Person von gemeiner Herkunft einschließt. Diese Regel hat ungerechterweise Väter und Mütter von ihren Söhnen und Töchtern ferngehalten und unnötigen Kummer und Groll verursacht.«

Pendel hielt inne, um sich im Raum umzuschauen. »Diese Regel gibt der Gilde den Anstrich der Scheinheiligkeit, denn es sind niemals Magier aus höheren Klassen für einen Verstoß dagegen bestraft worden, obwohl man sie regelmäßig in Spielhäusern, Glühhäusern und Bordellen antrifft.«

Pendel blickte zu den Höheren Magiern auf und lächelte nervös.

»Trotzdem bitten wir nicht darum, dass die Magier und Novizen höherer Klassen genauer beobachtet und eingeschränkt werden. Wir bitten nur um die Aufhebung der existierenden Regel, damit jene von uns, die in niedere Klassen geboren wurden, ihre Familien und Freunde ungestraft besuchen können.« Er verneigte sich. »Danke, dass Ihr unseren Antrag angehört habt.«

Osen nickte, dann wandte er sich der anderen kleinen Gruppe von Magiern zu, die vorne im Raum an der Seite standen.

»Ich rufe Lord Regin auf, den Sprecher der Antragsgegner. Er möge vortreten und antworten.«

Als ein Mann aus der Gruppe der Gegner seinen Platz einnahm, regte sich in Sonea eine alte Abneigung. Mit ihr kamen Erinnerungen daran, verspottet und überlistet worden zu sein, Erinnerungen an Sabotage ihrer Arbeiten, Erinnerungen daran, als Diebin betrachtet zu werden, nachdem sich ein gestohlener Stift unter ihren Besitztümern gefunden hatte. Auch war sie einst Gegenstand von Spekulationen gewesen, als bösartige Gerüchte ausgestreut worden waren, nach denen ihre Beziehung zu Rothen mehr sei als nur die einer Novizin zu ihrem Lehrer.

Diese Erinnerungen brachten Ärger mit sich, aber es gab noch andere, bei denen sie noch immer schauderte. Erinnerungen daran, durch die Flure der Universität gejagt zu werden, von einer Bande von Novizen in die Enge getrieben, gefoltert, gedemütigt und magisch wie körperlich erschöpft zurückgelassen zu werden.

Der Anführer dieser Bande und Drahtzieher all ihrer Leiden in jenen frühen Jahren an der Universität war Regin gewesen. Obwohl sie ihn zu einem fairen Kampf in der Arena herausgefordert und dort besiegt hatte, hatte er während der Ichani-Invasion mutig sein Leben riskiert, und obwohl er sich sogar für all das entschuldigt hatte, was er ihr angetan hatte, konnte sie ihn nicht ansehen, ohne ein Echo der Demütigung und der Furcht zu verspüren, die sie einst erlitten hatte. Und diese Gefühle brachten Wut und Abneigung mit sich.

Ich sollte darüber hinwegkommen, dachte sie. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es kann. Geradeso, wie ich nicht denke, dass ich jemals aufhören werde, einen Hauch Selbstgefälligkeit zu verspüren, wann immer einer der Magier aus den Häusern vorgestellt wird, ohne dass Name und Titel seiner Familie verkündet werden.

Neben der Entscheidung, auch Personen von außerhalb der Häuser in die Gilde aufzunehmen, hatte man beschlossen, dass die Namen von Familie und Haus bei Zeremonien der Gilde nicht länger benutzt werden sollten. Von allen, die Magier wurden, erwartete man, dass sie ihr Leben für die Verteidigung der Verbündeten Länder aufs Spiel setzten, daher sollte allen das gleiche Maß an Respekt gezollt werden. Da außerhalb der Häuser geborene Imardianer keine Familien- oder Hausnamen hatten, wurde die Gewohnheit, diese Namen für jene auszurufen, die sie besaßen, vollkommen fallengelassen.

Falls Regin sich durch die Weglassung seines Familien- und Hausnamens herabgesetzt fühlte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Auch die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, verstörte ihn nicht im Mindesten. Er wirkte beinahe gelangweilt. Er hatte keine Notizen mitgebracht, aus denen er vorlesen konnte, sondern ließ lediglich den Blick einmal durch den Raum wandern und begann dann zu sprechen.

»Bevor wir darüber nachdenken, ob diese Regel verändert oder außer Kraft gesetzt werden sollte, bitten wir darum, dass alle sich daran erinnern mögen, warum sie geschaffen wurde. Nicht um gute Leute daran zu hindern, ihre Familie zu besuchen, und nicht einmal um das harmlose Vergnügen eines Abends zu verderben, sondern um Magier jedweder Herkunft oder Stellung daran zu hindern, sich in verbrecherische Machenschaften oder Geschäfte hineinziehen zu lassen. Die Regel ist ebenso sehr Abschreckungsmittel wie Leitlinie für das Verhalten. Wenn wir sie außer Kraft setzten, würden wir damit eine wertvolle Motivation für Magier verlieren, jenen zu widerstehen, die danach trachten, sie für ihre Zwecke anzuwerben oder zu bestechen.«

Während Regin fortfuhr, musterte Sonea ihn nachdenklich. Sie erinnerte sich an den jungen Novizen, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um während der Invasion einen Ichani zu ködern. Seit jenem Tag hatte er ihr gegenüber nichts anderes als Respekt gezeigt, und gelegentlich hatte er sich sogar für eines ihrer Anliegen ausgesprochen.

Rothen denkt also, Regins Charakter habe sich verbessert, überlegte sie. Aber ich würde Regin immer noch nicht trauen, weil ich weiß, wie er als Novize war. Wenn er erführe, dass ich mich neulich mit einem Dieb getroffen habe, der sich auf das Gelände der Gilde geschlichen hat, wäre er gewiss der Erste, der mich wegen eines Verstoßes gegen diese Regel anzeigen würde.

»Es ist Sache der Höheren Magier festzulegen, ob eine Person ein Verbrecher ist oder in schlechtem Ruf steht, und wir sollten es dabei belassen«, sagte Regin. »Stattdessen sollten wir bei der Beleuchtung der Aktivitäten aller Novizen und Magier gründlicher und fairer sein.«

Das Ärgerliche ist, dass er nicht ganz unrecht hat, ging es ihr durch den Kopf. Eine Außerkraftsetzung der Regel wird es schwieriger machen, Magier davon abzuhalten, sich in Verschwörungen der Unterwelt zu verstricken. Aber die Gilde wendet die Regel nicht oft genug an, um viel zu bewirken. Sie ist als Abschreckungsmittel so gut wie nutzlos, weil die reichen Novizen wissen, dass sie in ihrem Fall nicht zur Anwendung gebracht werden wird. Wenn wir uns dieser Regel entledigen, werden wir aufhören, Zeit und Aufmerksamkeit an Novizen zu verschwenden, deren Mütter Huren sind, und dann werden wir uns vielleicht jene Magier gründlicher ansehen, deren reiche Familien Geschäfte mit Dieben machen.

Regin kam zum Ende und verneigte sich. Als er zu den Gegnern der Antragsteller zurückkehrte, fragte Sonea sich nicht zum ersten Mal, woran es lag, dass sie ihn nicht mehr so sehr hasste wie früher. Ich schätze, wir sind beide erwachsen geworden. Aber das bedeutet nicht, dass ich ihn mögen muss.

»Dies ist eine Angelegenheit, die einer gründlichen Erörterung bedarf«, erklärte Administrator Osen den versammelten Magiern. »Es ist überdies unklar, ob die Entscheidung durch die Höheren Magier oder durch eine allgemeine Abstimmung getroffen werden sollte. Daher werde ich eine Entscheidung aufschieben, bis ich mich davon überzeugt habe, welches Vorgehen das beste wäre, und all jenen, die Einblick und Informationen über die Angelegenheit wünschen, die Gelegenheit geben, ein Treffen mit mir zu verabreden.« Er verneigte sich. »Ich erkläre diese Anhörung für beendet.«

Sonea brauchte mehrere Minuten, um auf den Boden der Halle hinabzugelangen, da Lady Vinara beschloss, sie nach der Versorgung der Hospitäler zu befragen. Nachdem sie sich endlich von der Heilerin gelöst hatte, entdeckte sie Rothen in der Nähe. Als er auf sie zukam, verkrampfte sich ihr Herz. Er zeigte einen Gesichtsausdruck, den sie lange nicht mehr gesehen hatte, den sie jedoch sofort zu erkennen gelernt hatte. Es war der Gesichtsausdruck, den er zeigte, wenn Lorkin in Schwierigkeiten steckte.

»Was hat er jetzt wieder angestellt?«, murmelte sie und blickte sich um, um sich davon zu überzeugen, dass niemand nahe genug stand, um ihr Gespräch mit anzuhören.

»Ich habe soeben gehört, dass Lord Dannyl sich um die Position des Gildebotschafters in Sachaka beworben hat«, eröffnete ihr Rothen.

Das ist also alles. Erleichterung durchflutete sie. »Damit hätte ich nicht gerechnet. Andererseits ist es auch wieder keine so große Überraschung. Er war schon früher als Botschafter tätig. Hat er sein Buch beendet oder das Projekt aufgegeben?«

Rothen schüttelte den Kopf. »Weder das eine noch das andere, vermute ich. Er geht wahrscheinlich dorthin, um irgendeiner neuen Spur zu folgen.«

»Natürlich. Ich frage mich, ob er…« Sie brach ab, als ihr klar wurde, dass Rothen noch immer die Miene eines Menschen zur Schau trug, der drauf und dran war, schlechte Nachrichten zu übermitteln. »Was?«

Rothen verzog das Gesicht. »Lorkin hat sich freiwillig für das Amt seines Gehilfen gemeldet.«

Sonea erstarrte.

Lorkin.

In Sachaka.

Lorkin hatte sich erboten, nach Sachaka zu gehen.

Sie begriff, dass sie ihn mit offenem Mund angestarrt hatte, und presste die Lippen aufeinander. Ihr Herz hämmerte. Ihr war übel. Rothen fasste sie am Arm und führte sie aus der Gildehalle, fort von den Magiern, die in Grüppchen herumstanden, um über den Antrag zu diskutieren. Sie nahm sie kaum wahr.

Sachakaner und Lorkin. Sie werden ihn töten. Nein – sie würden es nicht wagen. Aber Familien sind verpflichtet, Todesfälle in ihren Reihen zu rächen. Selbst wenn es sich bei den Toten um Ausgestoßene handelt. Und wenn sie nicht an dem Mörder Rache nehmen können, dann an seinen Nachkommen…

Sie straffte sich entschlossen. Die Sachakaner würden ihrem Sohn kein Haar krümmen. Sie würden es nicht tun, weil sie Lorkin nicht gestatten würde, zu einer derart dummen und gefährlichen Unternehmung aufzubrechen.

»Osen wird dem niemals zustimmen«, stieß sie hervor.

»Warum sollte er nicht? Er kann Lorkins Ersuchen nicht lediglich aufgrund seiner Herkunft ablehnen.«

»Ich werde mich an die Höheren Magier wenden. Sie müssen wissen, dass ihm größere Gefahr drohen wird als jedem anderen Magier – und das bedeutet, dass er eine Belastung ist. Dannyl kann nicht all seine Zeit damit verbringen, Lorkin zu beschützen. Und die Sachakaner könnten sich weigern, mit Dannyl zu reden, wenn sie erst wissen, wer der Vater seines Gehilfen war.«

Rothen nickte. »Alles gute Argumente. Aber es könnte sein, dass Lorkin, wenn du gar nichts sagst, Zeit haben wird, über all die Dinge nachzudenken, die schiefgehen könnten, und dann vielleicht seine Meinung ändert. Je mehr du dich bemühst, Lorkin aufzuhalten, desto größer wird vermutlich seine Entschlossenheit werden, Dannyl zu begleiten.«

»Ich kann das Risiko nicht eingehen, dass er nicht zu Verstand kommen wird.« Sie sah ihn an. »Wie würdet Ihr Euch fühlen, wenn Ihr ihn ziehen ließet und ihm etwas zustieße?«

Rothen hielt kurz inne, dann verzog er das Gesicht. »Also schön. Ich schätze, dann haben wir einiges zu tun.«

Eine Welle der Zuneigung stieg in ihr auf, und sie lächelte. »Danke, Rothen.«


Dannyl sah sich im Speisezimmer um und seufzte anerkennend. Ein Vorteil des Verzichts auf sein Zimmer in der Gilde und des Umzugs in ein Haus im Inneren Ring war der plötzliche Reichtum an Raum gewesen. Obwohl er jetzt einen großen Teil seines Einkommens für die Miete brauchte, war der Luxus von eigenen Räumen es wert. Er hatte nicht nur seine eigene großzügige Amtsstube und dieses geschmackvoll eingerichtete Speisezimmer, sondern auch seine persönliche Bibliothek und Räume für Gäste. Nicht dass er häufig Gäste im Haus hatte – nur gelegentlich einmal einen Gelehrten, der sich für Dannyls Geschichte interessierte, oder Tayends elynische Freunde.

Wie sehen eigentlich sachakanische Häuser aus?, fragte er sich. Ich sollte es in Erfahrung bringen, bevor ich aufbreche. Falls ich aufbreche.

Administrator Osen hatte gesagt, er könne keinen Grund sehen, warum man Dannyl die Position nicht geben sollte, da er gute Voraussetzungen mitbrachte und niemand sonst sich für das Amt beworben hatte.

Aber ich werde dieses Haus vermissen. Es wird gewiss Zeiten geben, da ich mir wünschen werde, ich könnte mir ein Buch aus meiner Bibliothek holen oder bei dem braven alten Yerak mein Lieblingsessen bestellen oder…

Er blickte auf, als draußen vor dem Raum Schritte laut wurden. Es folgte eine Pause, dann spähte Tayend um den Bogengang. Seine Augen wurden schmal.

»Wer seid Ihr, und wo ist der echte Lord Dannyl?«

Dannyl runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was redest du da?«

»Ich habe deinen Schreibtisch gesehen.« Der Gelehrte trat ein und sah Dannyl mit gespieltem Argwohn an. »Er ist aufgeräumt.«

»Ah.« Dannyl lachte leise. »Ich werde es dir gleich erklären. Setz dich. Yerak wartet, und ich bin im Augenblick zu hungrig für Erklärungen.«

Als Tayend Platz nahm, sandte Dannyl ein wenig Magie in Richtung des Essensgongs, so dass der Klöppel sachte gegen die Scheibe tippte.

»Du warst heute in der Gilde?«, fragte Tayend.

»Ja.«

»Neue Bücher?«

»Nein, ich hatte eine Besprechung mit Administrator Osen.«

»Wirklich? Worum ging es?«

Die Tür zur Küche öffnete sich und ersparte Dannyl eine Antwort. Diener kamen mit dampfenden Platten und Schalen voller Essen herein. Dannyl und Tayend füllten sich ihre Teller und begannen zu essen.

»Was hast du heute getan?«, fragte Dannyl zwischen zwei Bissen.

Der Gelehrte zuckte die Achseln, dann erzählte er eine Geschichte, die er von einem anderen im Ausland lebenden Elyner gehört hatte. Er hatte den Mann am Morgen besucht, und dieser hatte von einigen Feuelschmugglern aus Vin berichtet, die von ihren Waren gekostet hatten und nackt und mit Wahnvorstellungen an einem Flussufer gefunden worden waren.

»Also, was hatte Administrator Osen zu sagen?«, erkundigte sich Tayend, als die Teller abgeräumt waren.

Dannyl zögerte kurz, dann holte er tief Luft. Ich kann es nicht länger hinausschieben. Er sah Tayend an und setzte eine ernste Miene auf.

»Er sagte, es gäbe keine anderen Bewerber für die Position des Gildebotschafters in Sachaka, daher sei es sehr wahrscheinlich, dass ich die Position bekommen würde.«

Tayend blinzelte, dann klappte ihm der Unterkiefer herunter. »Botschafter?«, wiederholte er. »Sachaka? Das ist nicht dein Ernst.«

»Oh doch.«

In Tayends Augen leuchtete Erregung auf. »Ich war noch nie in Sachaka! Und um dort hinzugelangen, braucht man nicht einmal übers Meer zu reisen.«

Dannyl schüttelte den Kopf. »Du kommst nicht mit, Tayend.«

»Ich komme nicht mit?« Tayend starrte ihn an. »Natürlich komme ich mit!«

»Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen, aber…« Dannyl breitete die Hände aus. »Alle Besucher Sachakas brauchen eine Genehmigung, entweder von der Gilde oder von ihrem König.«

»Dann werde ich ein Gesuch an meinen König richten.«

Wieder schüttelte Dannyl den Kopf. »Nein, Tayend. Ich… es wäre mir lieber, wenn du es nicht tätest. Zunächst einmal ist es ein gefährliches Land, und obwohl Magier und die meisten Händler lebendig zurückkehren, weiß noch niemand, wie die Sachakaner auf einen adligen Nichtmagier reagieren, der in ihr Land reist.«

»Dann werden wir es herausfinden.«

»Außerdem wäre da noch die Etikette zu bedenken. Soweit ich bisher in Erfahrung bringen konnte, sind Sachakaner Knaben gegenüber weder tolerant, noch haben sie die Gewohnheit, uns hinrichten zu lassen. Sie betrachten uns jedoch als Personen von niederem Ansehen, und sie weigern sich häufig, Umgang mit Leuten zu pflegen, die in ihren Augen in der gesellschaftlichen Hierarchie zu weit unter ihnen stehen. Das wird weder in meiner Position hilfreich sein noch bei meiner Suche nach historischen Aufzeichnungen.«

»Sie werden es nicht erfahren, wenn wir diskret sind«, sagte Tayend. Dann runzelte er die Stirn und funkelte Dannyl an. »Das ist der Grund, warum du das tust, nicht wahr? Weitere Nachforschungen!«

»Natürlich. Dachtest du, ich hätte plötzlich das Verlangen, wieder Botschafter zu sein oder in Sachaka zu leben?«

Tayend erhob sich und begann im Raum auf und ab zu gehen. »Jetzt ergibt es einen Sinn.« Er hielt inne. »Über welchen Zeitraum sprechen wir?«

»Zwei Jahre, aber ich kann wenn nötig früher zurückkehren. Und ich kann zu Besuch nach Hause fahren.«

Tayend setzte sein Auf und Ab fort und tippte sich mit einem Finger ans Kinn. Plötzlich runzelte er die Stirn.

»Wer wird dein Gehilfe sein?«

Dannyl lächelte. »Lord Lorkin hat Interesse bekundet.«

Tayends Schultern entspannten sich. »Nun, das ist eine Erleichterung. Er wird dich nicht verführt haben, um dich dazu zu bringen, mich zurückzulassen.«

»Was macht dich da so sicher?«

»Oh, Soneas Sohn hat einen beachtlichen Ruf unter den Damen. Wahrscheinlich maßlos übertrieben wie immer. Aber es gibt eine hübsche Anzahl von Frauen, die es gern selbst herausfinden würden.«

Ein Stich der Neugier durchzuckte Dannyl. »Wirklich? Warum haben sie es dann nicht getan?« »Anscheinend ist er wählerisch.«

Dannyl lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Also, werde ich ihn in Sachaka im Auge behalten müssen oder nicht?«

Ein verschlagener Ausdruck glitt über die Züge des Gelehrten. »Ich könnte auf ihn aufpassen. Dann wärst du frei für deine Forschung.«

»Nein, Tayend.«

Tayends Gesicht spiegelte Ärger und Frustration wider, dann holte er tief Luft und atmete schnaubend aus.

»Du solltest deine Meinung besser noch ändern«, sagte er. »Und du solltest außerdem wissen, dass ich, wenn du deine Meinung nicht änderst…« Er hielt inne, dann straffte er die Schultern. »Dann wirst du mich vielleicht nicht länger hier vorfinden, wenn du in zwei Jahren nach Kyralia zurückkehrst.«

Dannyl sah seinen Geliebten an, plötzlich unsicher, was er sagen sollte. Sein Herz hatte bei der Drohung einen Satz getan, doch irgendetwas veranlasste ihn, Schweigen zu bewahren. Vielleicht war es die Tatsache, dass Tayend nicht versuchte, ihn zum Bleiben zu überreden. Er suchte lediglich die Chance zu einem weiteren Abenteuer.

Der Gelehrte erwiderte seinen Blick mit großen Augen. Dann schüttelte er den Kopf, drehte sich um und stolzierte aus dem Raum.

5 Vorbereitungen

Als Cery die Hand ausstreckte, um die Mauer zu berühren, verspürte er eine merkwürdige Zuneigung. Früher einmal war die Befestigung des äußeren Rings der Stadt ein Symbol für die Trennung zwischen Arm und Reich gewesen – eine Barriere, die nur Diebe und ihre Freunde überschreiten konnten, wenn die Säuberung alle Heimatlosen und die Bewohner der überfüllten Schlafhäuser jeden Winter aus der Stadt in die Hüttenviertel getrieben hatte.

Jetzt hatte die Stadtmauer für die Bewohner Imardins keine andere Bedeutung mehr als eine Erinnerung an die Vergangenheit. Hier, auf einem von Cerys Grundstücken, war sie sogar als praktische Außenmauer für ein weitläufiges Lagerhaus verwendet worden, in dem Händler sowohl legal importierte als auch geschmuggelte Waren lagerten. Es gab noch immer einige Eingänge zu dem unterirdischen Netzwerk von Tunneln, die als die Straße der Diebe bekannt waren, aber sie wurden selten benutzt. Er hatte sie nur als mögliche Fluchtrouten bewahrt, aber heutzutage war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Dieb, der diese Straße benutzte, auf Schwierigkeiten stieß, genauso groß wie die, dass er unbehelligt fliehen konnte.

Cery trat von der Mauer weg und setzte sich. Er war zu dem Schluss gekommen, dass die gut eingerichtete Wohnung im Obergeschoss des Lagerhauses zum Leben geradeso gut geeignet war wie jeder andere Ort. Eine Rückkehr in sein altes Versteck war undenkbar. Selbst wenn es nicht schmerzhafte Erinnerungen beherbergt hätte, war es doch offenkundig nicht sicher genug gewesen. Nicht dass irgendeins seiner anderen Verstecke besser geschützt wäre, aber es bestand zumindest die Chance, dass der Mörder seiner Familie nicht wusste, wo sie sich befanden.

Er hatte jedoch nicht die Absicht, sich zu verstecken. Wie immer war er angreifbar, sobald er sich in die Stadt wagte, sei es in seinen eigenen Bezirk oder anderswohin. Was ihn auf die Frage brachte, ob er sich in der Annahme irrte, dass er das wahre Ziel des Mörders gewesen war.

Nein. Obwohl er gewartet hat, bis ich fort war, um meine Familie zu töten, war ich doch das wahre Ziel. Selia und die Jungen hatten keine Feinde.

Beim Gedanken an sie schnürte sich ihm die Brust zusammen, und einen Moment lang konnte er nicht atmen. Wenn der Mörder oder die Mörder oder ihr Auftraggeber beabsichtigt hatten, Cery zu verletzen, dann war es ihnen gelungen. Es war wichtiger herauszufinden, wer seine Familie getötet hatte und warum, als in Erfahrung zu bringen, wie es ihnen gelungen war, seine Wohnung zu finden und dort einzubrechen.

Er holte einige Male tief Luft. Gol hatte die Vermutung geäußert, dass der Jäger sie vielleicht getötet hatte, aber Cery hielt nichts von der Idee. Der legendäre Freischärler nahm nicht die Familien aufs Korn und tötete sie, um Diebe zu verletzen. Er tötete nur Diebe.

Ein schwaches Läuten drang an seine Ohren, in einem Muster, das er erkannte, daher stand er auf, ging zu einem Rohr, das aus der Wand ragte, und legte das Ohr daran. Die Stimme, die darin widerhallte, war verzerrt, aber erkennbar. Cery bewegte sich durch den Raum, zog an Hebeln und drehte Knäufe, bis ein Teil der Wand aufglitt. Gol trat ein.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Cery, während er zu seinem Stuhl zurückkehrte. Gol nahm ihm gegenüber Platz und rieb sich die Hände.

»Das Gerücht macht bereits die Runde. Keine Ahnung, ob jemand von uns etwas ausgeplaudert hat oder ob das Messer geprahlt hat.« Cery nickte. Einige Auftragsmörder rühmten sich gern ihrer hochkarätigen Opfer, als demonstriere das ihre Gerissenheit. »Ich bezweifle, dass Anyi etwas sagen würde.«

»Sie würde es vielleicht tun, wenn sie es müsste. Hast du deine gewohnten Runden gemacht?«

Gol nickte.

»Und wie laufen die Geschäfte?«

Cery lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hörte zu, während sein Leibwächter und Freund berichtete, wo er gewesen war und mit wem er gesprochen hatte, seit er am frühen Morgen fortgegangen war. Es kostete ihn einige Anstrengung, den Worten des Mannes zu folgen, aber Cery zwang sich dazu. Zu seiner Erleichterung schienen die Geschäfte in seinem Bezirk weiterzugehen, wie sie das immer taten. Gol hatte keine Hinweise darauf gefunden, dass jemand jetzt schon Cerys Situation ausnutzte.

»Also«, sagte Gol. »Was wirst du jetzt tun?«

Cery zuckte die Achseln. »Gar nichts. Offensichtlich will irgendjemand, dass ich irgendwie reagiere. Ich werde ihm den Gefallen nicht tun. Ich werde meine Geschäfte wie gewöhnlich weiterführen.«

Gol runzelte die Stirn, öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, ohne etwas zu sagen. Cery brachte ein freudloses Lächeln zustande.

»Oh, denk nicht, die Ermordung meiner Familie hätte mich nicht wütend gemacht, Gol. Ich werde meine Rache bekommen. Aber wer immer in das Versteck eingebrochen ist, war klug und vorsichtig. Es wird seine Zeit dauern herauszufinden, wer es war und warum.«

»Sobald wir das Messer haben, werden wir in Erfahrung bringen, wer es bezahlt hat«, versicherte ihm Gol.

»Wir werden sehen. Ich habe so das Gefühl, dass mehr dazugehören wird.«

Gol nickte und runzelte die Stirn.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Cery.

Der große Mann biss sich auf die Unterlippe, dann seufzte er. »Nun… du weißt, dass Neg dachte, es müsse Magie benutzt worden sein, um in dein Versteck einzubrechen?«

»Ja.« Cery zog die Brauen zusammen.

»Dern stimmt ihm zu. Er meinte, es gebe keine Spuren eines Versuchs, die Tür zu öffnen. Er hat ein wenig Kitt in das Schloss gegeben, als er es fertigte, damit er genau das würde erkennen können.«

Dern war der Schlossmacher, der das Schließsystem von Cerys Versteck entworfen und angebracht hatte.

»Könnte es ein sehr geschickter Einbrecher gewesen sein? Oder sogar Dern selbst?«

Gol schüttelte den Kopf. »Er hat mir einen Hebel gezeigt, der sich nur drehen lässt, wenn das Schloss von innen geöffnet wurde – das heißt, aus dem Inneren des Schlosses heraus –, was nur mit Magie zu bewerkstelligen ist. Ich habe ihn gefragt, warum er sich diese Mühe gemacht hat, und er sagte, er habe es getan, um sich selbst zu schützen. Er verspricht niemals, dass seine Schlösser vor Magie sicher seien, daher muss er beweisen können, dass das der Grund ist, falls sie jemals aufgebrochen werden. Ich weiß nicht. Es scheint mir ein wenig übertrieben. Könnte sein, dass er es erfunden hat, um seine Spuren zu verbergen.«

Oder vielleicht auch nicht. Ein Kribbeln überlief Cery. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht war es wichtig, in Erfahrung zu bringen, wie die Mörder an seine Familie herangekommen waren.

Er würde Dern selbst befragen und das Schloss untersuchen, um sicher zu sein. Aber wenn es sich als wahr erwies, dann hatte er immerhin einen Hinweis auf die Mörder seiner Familie. Einen Hinweis, der zwar beunruhigend war, aber immerhin ein Anfang.

»Ich werde wohl mit unserem Schlossmacher reden müssen.«

Gol nickte. »Ich werde sofort ein Gespräch arrangieren.«


Perler lächelte und nickte Lorkin zu, als er den Raum betrat. Lord Maron runzelte jedoch die Stirn.

»Vielen Dank, dass Ihr bereit wart, uns so kurzfristig ins Bild zu setzen«, sagte Lord Dannyl. Er deutete auf die Tische und Stühle, die einzigen Möbelstücke in dem kleinen Raum in der Universität, in dem Osen das Treffen arrangiert hatte, und sie alle nahmen Platz.

Marons Aufmerksamkeit verlagerte sich von Lorkin auf Dannyl, dann lächelte er. »Ihr müsst zuversichtlich sein, dass die Höheren Magier Lorkins Bitte, Euch nach Sachaka begleiten zu dürfen, gewähren werden«, sagte er. »Und dass Schwarzmagierin Soneas Protest scheitern wird.«

Dannyl lachte leise. »Nicht gänzlich zuversichtlich. Ich würde niemals den Einfluss seiner Mutter unterschätzen, und es könnte Faktoren geben, die die anderen Höheren Magier umstimmen könnten und von denen niemand von uns etwas weiß. Aber wenn wir die Entscheidung abwarten, bevor wir Lorkin über die Lage ins Bild setzen, dann wird er vielleicht schlecht informiert sein, wenn wir aufbrechen – und das wäre ein Fehler.«

»Ein Ersatzmann würde ebenfalls schlecht informiert sein, sollten sie sich entscheiden, dass Lorkin Euch nicht begleiten darf.«

Dannyl nickte zustimmend. »Ich hätte einen möglichen Ersatzkandidaten mitgebracht, aber es hat keine anderen Freiwilligen gegeben.«

»Nun, falls es dazu kommt, werde ich einen anderen Gehilfen finden, ihn für Euch informieren und zu Euch schicken, wenn er so weit ist«, erbot sich Maron.

»Das wäre sehr freundlich«, erwiderte Dannyl mit einem dankbaren Nicken.

Lorkin behielt unterdessen einen neutralen Gesichtsausdruck bei. Es war ein wenig ärgerlich, dass sie über ihn sprachen, als wäre er nicht zugegen. Andererseits hätte man ihn ohne Weiteres von der Zusammenkunft ausschließen können, und er war Dannyl dankbar dafür, dass er ihn mitgenommen hatte.

»Also, wo soll ich anfangen?«, fragte Maron, während er eine Tasche öffnete und mehrere Bögen Papier herausholte. »Dies sind die Notizen, die ich gestern Abend zusammengestellt habe und die die Notizen meiner Vorgänger ergänzen. Ihr habt alle Berichte früherer Gildebotschafter in Sachaka erhalten?«

»Ja. Und ich habe sie alle gelesen. Es ist eine faszinierende Lektüre.«

Maron lachte trocken. »Sachaka unterscheidet sich sehr von Kyralia. Und von allen anderen Verbündeten Ländern. Die offensichtlichen Unterschiede haben ihren Ursprung in der allgemeinen Benutzung schwarzer Magie und in der Sklaverei, aber es gibt auch feinere Unterschiede. Zum Beispiel, wie sie ihre Frauen betrachten. Obwohl die Männer den Frauen ihrer Familie gegenüber einen stark ausgeprägten Beschützerinstinkt haben, betrachten sie doch alle anderen Frauen mit Argwohn und Furcht. Sie leben in dem seltsamen Glauben, dass Frauen sich abseits der Männer zusammenrotten und alle möglichen Arten von Unfug planen. Einige Sachakaner glauben sogar, es gebe eine geheime Organisation oder einen Kult, der Frauen von ihren Familien fortholt und mit Magie ihren Geist beeinflusst, um seine Opfer von seinen Ideen zu überzeugen.«

»Denkt Ihr, dass das der Wahrheit entspricht?«, erkundigte sich Lorkin.

Maron zuckte die Achseln. »Höchstwahrscheinlich ist es eine Übertreibung. Eine beunruhigende Geschichte, um Frauen daran zu hindern zusammenzukommen, zu tratschen und Ideen darüber auszutauschen, wie sie ihre Männer manipulieren können.« Er kicherte, dann seufzte er und wirkte plötzlich bekümmert. »Die wenigen Frauen, denen ich begegnet bin, waren unterwürfig und einsam. Ich habe die Gesellschaft gebildeter, selbstbewusster Frauen vermisst, obwohl ich den Verdacht habe, dass ich das überwinden werde, sobald ich mich mit meiner Schwester unterhalten habe.« Er machte eine knappe Handbewegung. »Aber ich schweife vom Thema ab. Wichtig zu wissen ist, dass Ihr Frauen nicht ansprechen dürft, es sei denn, Ihr werdet dazu aufgefordert.«

Während der ehemalige Botschafter weitersprach, begann Lorkin, sich in einem unbenutzten, in Leder gebundenen Notizbuch, das aus seinen Novizentagen übrig geblieben war, Anmerkungen zu machen. Maron ließ das Thema Frauen hinter sich und wandte sich den Themen Ehe, Familienleben und Erbschaften zu, bevor er auf die vielschichtigen Bündnisse und Konflikte zwischen den wichtigsten sachakanischen Familien zu sprechen kam. Zu guter Letzt brachte er die Rede auf die Protokolle, denen es in Bezug auf den König zu folgen galt.

»Es gab früher einen sachakanischen Kaiser«, bemerkte Dannyl. »Jetzt haben sie einen König. Ich konnte diese Veränderung lediglich auf die ersten Jahrhunderte nach dem sachakanischen Krieg einengen. Wisst Ihr, wann es zu der Veränderung kam und warum die Sachakaner nicht dazu zurückgekehrt sind, ihre Anführer ›Kaiser‹ zu nennen, nachdem sie begonnen haben, sich wieder selbst zu regieren?«

»Ich fürchte, es ist mir nie in den Sinn gekommen, jemanden danach zu fragen«, gestand Maron. »Ich hielt es für das Beste, nicht allzu offen auf die Tatsache anzuspielen, dass die Gilde einmal über Sachaka geherrscht hat. Denn deswegen gibt es großen Groll…« Er hielt inne und runzelte die Stirn. »Ich vermute allerdings, es hat mehr mit dem Ödland zu tun als mit den Veränderungen, die die Gilde in ihrer Gesellschaft bewirkt – oder zu bewirken versäumt – hat.«

»Wissen die Sachakaner, wie das Ödland geschaffen wurde?«, hakte Dannyl nach.

Maron schüttelte den Kopf. »Wenn sie es wissen, haben sie es mir gegenüber nie erwähnt. Ihr werdet diese Fragen selbst stellen müssen. Seid nur vorsichtig damit, wie und wann Ihr es tut. Nach allem, was ich gesehen habe, pflegen sie jede Art von Groll sehr lange.«

Dannyl sah Lorkin an. »Denkt Ihr, es wird für Lorkin gefährlich sein, nach Sachaka zu reisen?«

Lorkin hielt in seiner Mitschrift inne und blickte zu dem ehemaligen Botschafter auf. Sein Herz schlug ein wenig schneller. Seine Haut kribbelte.

Maron betrachtete Lorkin nachdenklich. »Im Prinzip droht ihm nicht mehr Gefahr als jedem anderen jungen Magier. Ich würde allerdings den Namen Eures Vaters nicht allzu oft erwähnen«, sagte er zu Lorkin. »Sie werden ihn als einen Verteidiger Kyralias respektieren, aber nicht für das, was vorher geschehen ist. Doch gleichzeitig räumen sie ein, dass Dakova, der Ichani, den Akkarin getötet hat, ein Ausgestoßener und ein Narr war, dass er einen Magier und Fremdländer versklavt hat und dass er sein Schicksal verdient habe. Ich denke nicht, dass irgendjemand außer Dakovas Bruder sich verpflichtet fühlen würde, Rache zu üben – und der ist bei der Invasion gefallen.«

Lorkin nickte, und Erleichterung löste die Anspannung in seinem Körper.

»Trotzdem«, beharrte Dannyl. »Sollte Lorkin von den Sachakanern oder ihren Sklaven erwarten, dass sie ihm Steine in den Weg legen werden?«

»Natürlich.« Maron lächelte und sah Perler an, der das Gesicht verzog. »Sie werden Euch bisweilen Steine in den Weg legen, ganz gleich wer Ihr seid. Abgesehen von den allgemeinen Problemen von Rang und Hierarchie sind die Sklaven ein wenig gewöhnungsbedürftig. Sie sind vielleicht nicht in der Lage, irgendetwas Bestimmtes für Euch zu tun, aber sie werden es nicht sagen, denn das wäre gleichbedeutend mit Befehlsverweigerung. Ihr müsst lernen zu deuten, was sie sagen und tun – es gibt Signale und Gesten, die Ihr irgendwann mitbekommen werdet –, und ich werde Euch erklären, wie Ihr einen Befehl am besten ausdrücken könnt.«

Es folgte ein komplizierter, aber überraschend logischer Kodex für das Verhalten im Umgang mit Sklaven, und Lorkin war ärgerlich, als sie einige Zeit später von einem Klopfen an der Tür unterbrochen wurden. Dannyl deutete auf die Tür, und sie schwang auf. Lorkin wurde prompt ein wenig flau, als er den Magier erkannte, der dahinter stand.

Oh-oh. Was hat Mutter jetzt wieder getan?

»Entschuldigt die Unterbrechung«, sagte Lord Rothen, dessen verrunzeltes Gesicht sich zu einem Lächeln verzog. »Könnte ich für einen Moment mit Lord Lorkin sprechen?«

»Natürlich, Lord Rothen«, sagte Dannyl mit einem breiten Lächeln. Er sah Lorkin an, dann deutete er mit dem Kopf auf den älteren Magier. »Geht nur.«

Lorkin unterdrückte ein Seufzen und erhob sich. »Ich werde so schnell wie möglich zurück sein«, sagte er zu den anderen, dann ging er zur Tür und trat an Rothen vorbei in den Flur dahinter. Als die Tür sich schloss, verschränkte Lorkin die Arme vor der Brust und wappnete sich für den Vortrag, der gewiss folgen würde.

Rothen wirkte wie immer sowohl streng als auch erheitert. »Bist du dir sicher, dass du nach Sachaka gehen willst, Lorkin?«, fragte er leise. »Du tust es nicht nur, um deine Mutter zu ärgern?«

»Ja«, antwortete Lorkin. »Und nein. Ich will nach Sachaka reisen, und ich versuche nicht, Mutter gegen mich aufzubringen.«

Der ältere Magier nickte, und seine Miene wirkte jetzt nachdenklich. »Du bist dir über die Risiken im Klaren?« »Selbstverständlich.«

»Dann gibst du also zu, dass es Risiken gibt.«

Ha. Überlistet! Lorkin musste sich ein Lächeln verkneifen, als eine Woge der Zuneigung zu dem alten Mann in ihm aufstieg. Während all der Jahre von Lorkins Leben war Rothen da gewesen, er hatte sich um ihn gekümmert, wenn die Pflichten seiner Mutter sie fortriefen, und ihm geholfen, wenn er Verteidigung oder Unterstützung brauchte, er hatte ihn belehrt und gelegentlich bestraft, wenn er etwas Törichtes getan oder Gilderegeln gebrochen hatte.

Dies war etwas anderes, und Rothen musste es wissen. Lorkin brach keine Regeln. Er brauchte seinen alten Freund und Beschützer nur davon zu überzeugen, dass er nichts Törichtes tat.

»Natürlich gibt es Risiken – es gibt Risiken bei allem, was ein Magier tut«, wiederholte Lorkin etwas, das Rothen gern zu Novizen sagte.

Die Augen des alten Magiers wurden schmal. »Aber sind sie zu groß?«

»Das zu entscheiden wird bei den Höheren Magiern liegen«, antwortete Lorkin.

»Und du wirst ihre Entscheidung akzeptieren, ganz gleich wie sie ausfällt?« »Natürlich.«

Rothen senkte den Blick, dann sah er Lorkin wieder in die Augen, und seine eigenen Augen waren voller Mitgefühl. »Ich verstehe, dass du etwas mit deinem Leben anfangen willst. Die Erwartungen an dich sind gewiss hoch. Du weißt, dass Sonea und ich für dich niemals etwas anderes wollten als ein sicheres, glückliches Leben?«

Lorkin nickte.

»Es wird andere Möglichkeiten geben, wie du etwas bewirken kannst«, erklärte Rothen. »Möglichkeiten, die genauso befriedigend sind und erheblich weniger riskant. Du brauchst nur Geduld zu haben und bereit zu sein, Möglichkeiten zu ergreifen, wenn sie sich bieten.«

»Und das werde ich tun. Ich habe die Absicht, Sachaka zu überleben und zu irgendwelchen anderen Möglichkeiten zurückzukehren, die sich mir bieten«, sagte Lorkin entschlossen. »Aber für den Augenblick ist es dies, was ich tun will.«

Rothen sah Lorkin lange schweigend an, dann zuckte er die Achseln und trat einen Schritt zurück. »Solange du dir sicher bist und du die vollen Konsequenzen bedacht hast… Oh, und bevor ich es vergesse, deine Mutter hat mich gebeten, dir auszurichten, dass sie sich freuen würde, wenn du dich heute Abend zum Essen zu ihr gesellen würdest.«

Lorkin verkniff sich ein Stöhnen. »Danke. Ich werde kommen.«

Als ob ich eine Wahl hätte, dachte er. Er hatte auf harte Weise gelernt, dass eine Ablehnung einer Einladung zum Abendessen etwas war, das seine Mutter nicht leicht verzieh. Es gab da ein einziges versäumtes Abendessen vor fünf Jahren – was nicht einmal zur Gänze seine Schuld gewesen war –, und sie schaffte es immer noch, ihm deswegen ein schlechtes Gewissen zu machen.

Rothen wandte sich zum Gehen. Lorkin drehte sich wieder zur Tür um, dann hielt er noch einmal inne und blickte über die Schulter.

»Werdet Ihr mit uns essen, Rothen?«

Der alte Mann lächelte. »Oh nein. Heute Abend wird sie dich ganz für sich allein haben.«

Diesmal schaffte Lorkin es nicht, ein Stöhnen zu unterdrücken. Als er Magie aussandte, um den Türknauf zu drehen, hörte er Rothen leise lachen, während er davonging.


Sonea betrachtete den Mann, der ihr gegenüber am Tisch saß, und fragte sich nicht zum ersten Mal an diesem Abend, warum er sich die Mühe gemacht hatte, sie aufzusuchen. Es war sowohl für Antragsteller als auch ihre Gegner normal zu versuchen, die Höheren Magier zu beeinflussen; es wurde sogar von ihnen erwartet. Aber gewiss musste offensichtlich sein, wie sie abstimmen würde, da sie selbst aus der unteren Klasse kam, der ihre ganze Sympathie gehörte. Warum die Zeit verschwenden, wenn er seine Bemühungen besser darauf richten sollte, andere Höhere Magier dazu zu überreden, sich auf seine Seite zu schlagen?

»Die Regel ist offenkundig am häufigsten im Fall von Novizen aus den unteren Klassen ungerecht angewandt worden«, räumte Regin ein. »Aber Tatsache ist, dass einige wirklich aus Familien kommen, die in kriminelle Machenschaften verstrickt sind.«

»Ich heile regelmäßig Menschen, die in kriminelle Machenschaften verstrickt sind«, erwiderte sie. »Und ich kenne Leute in der Stadt, die ihr Geld nicht auf legale Weise verdienen. Das macht mich nicht zur Verbrecherin. Ebenso wenig wird ein Magier zum Verbrecher, weil ein Verwandter zufällig einer ist. Gewiss ist es genug, dass ein Magier – oder Novize – sich so benimmt, wie wir es von ihm wünschen.«

»Wenn wir nur darauf vertrauen könnten, dass sie es tun«, entgegnete Regin. »Aber ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Vermögens trifft es auf alle Magier und Novizen zu, dass jene, die durch Familie oder Freunde unehrlichen Leuten und Geschäften ausgesetzt sind, eher der Versuchung einer kriminellen Verstrickung erliegen als jene, die diesen Einflüssen nicht ausgesetzt sind.« Er verzog das Gesicht. »Ich glaube, dass diese Regel ihnen hilft, insbesondere dann, wenn sie sich nicht selbst helfen können. Es kann eine Ausrede sein, um sich aus einer Situation zurückzuziehen, wenn man von anderen unter Druck gesetzt wird.«

»Oder es kann sie zur Rebellion treiben, wenn sie sehen, dass die Regel ungerecht angewandt wird. Oder wenn sie versehentlich gebrochen wird, könnte der Betreffende denken, dass es, wenn man erst eine Regel gebrochen hat, nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen wird, wenn er noch eine bricht. Und dann sind da jene, die gerade das Verbotene am aufregendsten finden.«

»Weshalb wir die abschreckende Wirkung der Regel brauchen.«

»Ist sie abschreckend oder, verdrehterweise, ermutigend?« Sie seufzte. »Die Schwäche dieser Regel liegt darin, dass sie nicht durchgängig angewandt wird – und ich glaube nicht, dass sich dieses Problem lösen lässt.«

»Ich stimme zu, dass es eine Schwäche ist, aber nicht, dass das Problem sich nicht lösen lässt.« Regin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. »Die Sache ist die, die Dinge haben sich verändert. Das Verbrechen ist in die höheren Klassen eingesickert wie Feuchtigkeit in Wände. Sie sind es, für die wir die Regel brauchen, nicht die unteren Klassen.«

Sonea zog die Augenbrauen hoch. »Gewiss glaubt Ihr nicht, dass die höheren Klassen in der Vergangenheit nicht gespielt und gehurt haben? Ich kann Euch einige Geschichten erzählen…«

»Nein.« Regin öffnete die Augen wieder und sah sie an. »Ich rede nicht von den üblichen Missetaten. Was ich meine, ist größer. Bösartiger. Und erheblich besser organisiert.«

Sonea öffnete den Mund, um ihn um eine nähere Erklärung zu bitten, wurde jedoch von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Sie wandte sich ab und sandte ein wenig Magie aus, um die Tür zu entriegeln, und als sie einwärtsschwang, hob sich ihre Laune, denn Jonna trat ein, in den Händen ein großes, mit verschiedenen Speisen beladenes Tablett.

Soneas Tante und Dienerin blickte von ihr zu Regin und verneigte sich dann höflich. »Lord Regin.« Sie stellte das Tablett ab, schaute Sonea an und trat einen Schritt zurück.

»Geh nicht meinetwegen.« Regin erhob sich und drehte sich zu Sonea um. »Ich werde ein andermal wiederkommen.« Er neigte den Kopf. »Danke, dass Ihr mich angehört habt, Schwarzmagierin Sonea.«

»Gute Nacht, Lord Regin«, erwiderte sie.

Jonna trat beiseite, um ihn vorbeizulassen. Als die Tür sich hinter ihm schloss, kam die Frau herbei und stellte das Tablett auf den Tisch.

»Habe ich gestört?«, fragte sie.

»Ja. Gerade rechtzeitig. Danke.«

Während ihre Tante die abgedeckten Schalen auf den Tisch stellte, seufzte Sonea und blickte sich im Raum um.

Als man sie das erste Mal in die Räume im Magierquartier geführt hatte, hatte der Luxus sie beeindruckt, aber ihr war nichts Ungewöhnliches an der Größe dieser Räume aufgefallen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie klein waren im Vergleich zu den Häusern, in denen die meisten Männer und Frauen der höheren Klasse lebten. Jede Zimmerflucht umfasste zwei bis vier Räume, je nach Größe der Familie des Magiers, und die Räume waren von bescheidenen Ausmaßen.

Abgesehen von gelegentlichen Klagen waren die meisten Magier bereit, in solch kleinen Quartieren zu leben, um innerhalb der Gilde wohnen zu können. Sie hatten sich an die Einschränkungen angepasst. So aßen sie zum Beispiel nicht an einem Esstisch; stattdessen wurden Mahlzeiten auf einem niedrigen Tisch serviert, den man vor die Stühle im Gästezimmer gestellt hatte. Die einzigen Ausnahmen waren die formellen Mahlzeiten der Gilde, und diese wurden an einem langen Esstisch im Bankettsaal innerhalb eines zweckmäßig gestalteten Gebäudes serviert.

Obwohl es noch eine andere Ausnahme gab – den kleinen Speiseraum in der Residenz des Hohen Lords.

Eine Erinnerung an diesen Raum flammte in ihr auf und an Speisen, die sie seit Jahren nicht mehr gekostet hatte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was aus Takan geworden war, Akkarins Diener, einem ehemaligen sachakanischen Sklaven, der solch wunderbare Gerichte gekocht hatte. Seit der Invasion hatte man nichts mehr von ihm gehört oder gesehen. Sie hatte immer gehofft, dass er überlebt hatte.

Jonna ließ sich mit einem schweren Seufzer der Erleichterung auf ihren Stuhl sinken. Sonea betrachtete die abkühlenden Gerichte auf dem Tisch. Es war keine exotische Mahlzeit, nur die gewohnte Kost aus der Küche der Gilde. Sie runzelte die Stirn. Es hätte Lorkin sein sollen, der Regin unterbrach.

»Er wird bald hier sein«, versicherte ihr Jonna, die die Quelle ihrer Sorge erraten hatte. »Er würde es nicht wagen, eine Mahlzeit mit seiner Mutter zu versäumen.«

Sonea stieß einen mürrischen Laut aus. »Er scheint durchaus bereit, mir zu trotzen und sich in Sachaka umbringen zu lassen. Warum sollte ihn ein bloßes versäumtes Abendessen kümmern?«

»Weil er in diesem Fall auch mir Rede und Antwort stehen müsste«, antwortete Jonna.

Sonea sah ihrer Tante in die Augen und lächelte. »Du kannst ruhig gehen. Ich werde dir ohnehin nur in den Ohren liegen.«

»Meine Ohren sind recht robust. Außerdem, wenn er nicht erscheint, dürfen wir all dieses Essen nicht verderben lassen.«

»Weißt du, ich werde ohnehin warten, bis es verdorben ist, daher hat es keinen Sinn, dass wir beide hungrig bleiben. Geh. Ranek hat gewiss auch Hunger.«

»Er arbeitet heute bis spät in den Abend hinein und wird drüben in den Dienstbotenquartieren essen.« Jonna erhob sich, betrachtete die Bücherregale und zog dann einen Lumpen aus ihrer Uniform, um eins davon abzuwischen.

Ich werde sie nicht umstimmen können, dachte Sonea. Nachdem sie in die Gilde umgezogen waren, um Sonea durch Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft zu helfen, hatten Jonna und Ranek sich eingelebt und Stellen als Dienstboten gefunden – Jonna als Soneas Dienerin und Ranek bei den Robenmachern. Ihre beiden Kinder waren hier aufgewachsen, hatten mit Lorkin gespielt und später gut bezahlte Stellen als Dienstboten in reichen Häusern in der Stadt gefunden. Jonna war sehr erfreut darüber. Es war das Beste, worauf ein Mitglied ihrer Klasse hoffen konnte. Nur indem man Magier wurde, konnten außerhalb der Häuser geborene Menschen in die Adelsklasse des Landes vordringen.

Ein Klopfen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Tür. Sonea holte tief Luft, bevor sie ein wenig Magie zu dem Türriegel sandte. Der Riegel öffnete sich mit einem Klicken, und Lorkin trat mit zerknirschter Miene ein. Sie seufzte vor Erleichterung.

»Entschuldigt, dass ich mich verspätet habe«, sagte er. »Mutter. Jonna.« Er nickte beiden Frauen zu. »Die Besprechung ist erst vor wenigen Minuten zu Ende gegangen.«

»Nun, du kommst genau rechtzeitig«, erwiderte Jonna und ging zur Tür. »Wenn es noch länger gedauert hätte, hätte ich deine Mahlzeit für dich gegessen.«

»Warum bleibst du nicht und leistest uns Gesellschaft?«, fragte er mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

Sie bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. »Damit wir beide dir sagen, was für ein Narr du bist?«

Er blinzelte, dann grinste er kläglich. »Gute Nacht, Jonna.«

Sie schnaubte erheitert, bevor sie zur Tür hinausschlüpfte und sie hinter sich zuzog.

Sonea schaute ihn an. Er sah ihr für einen kurzen Moment in die Augen und blickte sich dann im Raum um.

»Ist irgendetwas anders als sonst?«, fragte er.

»Nein.« Sie deutete auf den anderen Stuhl. »Setz dich. Iss. Es hat keinen Sinn, das Essen noch kälter werden zu lassen.«

Er nickte, und sie begannen ihre Teller zu füllen. Sonea bemerkte, dass er mit seiner gewohnten Begeisterung aß. Oder war er in Eile? Wollte er diese Mahlzeit hinter sich bringen? Um seiner herrischen Mutter zu entfliehen und nicht länger an Dinge erinnert zu werden, die er lieber ignorieren wollte – wie die Risiken einer Reise nach Sachaka?

Sie wartete, bis das Essen vorüber war und er erheblich entspannter wirkte, bevor sie das Thema anschnitt, von dem er wissen musste, dass es der Grund für seine Einladung hierher gewesen war.

»Also«, begann sie. »Warum Sachaka?«

Er blinzelte und wandte sich ihr zu. »Weil… weil das das Land ist, in das ich reisen will.«

»Aber warum willst du dorthin reisen? Von allen Orten ist es der gefährlichste – gerade für dich.«

»Lord Maron denkt das nicht. Ebenso wenig wie Lord Dannyl. Zumindest glauben sie nicht, dass es für mich gefährlicher sein wird als für jeden anderen.«

Sonea musterte ihn eingehend. »Das liegt nur daran, dass sie nichts glauben, bevor sie einen Beweis dafür sehen. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu beweisen, dass eine Reise nach Sachaka für dich gefährlich ist, besteht darin, dich dort hinzubringen und zu beobachten, wie dir etwas Schlimmes zustößt.«

Er kniff die Augen zusammen. »Dann hast du auch keinen Beweis dafür.«

»Nicht diese Art von Beweis.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich wäre kaum eine verantwortungsbewusste Mutter, wenn ich dich nach Sachaka brächte, nur um zu überprüfen, ob meine Einschätzung der Gefahr zutreffend ist.«

»Woher weißt du dann, ob es gefährlich ist?«

»Ich weiß es wegen der Dinge, die dein Vater mir erzählt hat. Wegen der Dinge, die Gildebotschafter und Händler seither bestätigt haben. Sie alle stimmen darin überein, dass Sachakaner durch ihren Ehrenkodex verpflichtet sind, Rache für den Tod eines Familienmitglieds zu nehmen – selbst wenn sie dieses Familienmitglied nicht mochten und selbst wenn dieses Familienmitglied ein Ausgestoßener war.«

»Aber die Gildebotschafter sind der Sache nachgegangen. Sie haben gesagt, dass die Familie von Kariko und Dakova keine Rache will. Die Brüder waren eine Belastung für sie, und sie haben ihren Tod offensichtlich als Erleichterung empfunden.«

»Sie haben auch gesagt, dass die Familie wegen der tollkühnen Invasion des Bruders einige Bewunderung gewonnen habe, trotz der Tatsache, dass sie Ausgestoßene waren und die Invasion gescheitert ist.« Sonea zuckte die Achseln. »Es ist einfacher, Dankbarkeit und Loyalität für jemanden zu empfinden, nachdem er tot ist. Du kannst die Tatsache nicht von der Hand weisen, dass die Botschafter nur mit einigen Familienmitgliedern gesprochen haben, nicht mit allen. Und dass, wenn das Oberhaupt der Familie eine Meinung äußert, andere, die eine abweichende Meinung vertreten, Stillschweigen bewahren würden.«

»Aber sie würden auch nicht gegen den Willen des Familienoberhaupts verstoßen«, bemerkte er.

»Nicht auf eine Art und Weise, die man zu ihnen zurückverfolgen könnte.«

Lorkin schüttelte frustriert den Kopf. »Niemand wird mir Gift ins Essen mischen oder mir im Schlaf die Kehle aufschlitzen. Selbst wenn ich keine Magie benutzen könnte, um das eine zu behandeln und mich gegen das andere zu beschirmen, wird niemand das Risiko eingehen, den Frieden zwischen unseren Ländern zu brechen.«

»Oder aber sie werden dich als den perfekten Vorwand dafür ansehen.« Sonea beugte sich vor. »Sie könnten Anstoß daran nehmen, dass die Gilde ihnen Akkarins Sohn geschickt hat. Deine kleine Vergnügungsreise könnte alles zerstören, wofür die Gilde seit der Invasion gearbeitet hat.«

Seine Augen weiteten sich, dann verhärteten sich seine Züge. »Es ist keine Vergnügungsreise. Ich… ich will Lord Dannyl helfen. Ich denke, was er zu tun versucht, ist… ist… es könnte uns helfen. Indem wir in die Vergangenheit schauen, könnten wir neues Wissen entdecken – neue Magie –, die uns helfen könnte, uns zu verteidigen. Vielleicht werden wir dann nicht länger schwarze Magie benutzen müssen.«

Einen Moment lang konnte Sonea nicht sprechen. Der Überraschung folgte schnell eine Woge des Schuldbewusstseins.

»Du ziehst doch nicht zu einer Mission aus, um mich zu retten, oder?«, fragte sie, und ihre Stimme klang schwächer als beabsichtigt.

»Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir solche Magie fänden, würde sie uns allen helfen. Sie könnte sogar den Sachakanern helfen. Wenn sie keine schwarze Magie brauchten, wäre ihr Widerstand gegen eine Beendigung der Sklaverei vielleicht geringer.«

Sonea nickte. »Mir scheint, dass jeder sich auf die Suche nach dieser neuen Magie machen könnte. Lord Dannyl sucht bereits danach. Warum musst du gehen?«

Lorkin hielt inne. »Lord Dannyl interessiert sich nur dafür, die Lücken in der Geschichte zu füllen. Mich interessiert mehr, wie diese Geschichte – dieses Wissen – jetzt genutzt werden könnte. Und in der Zukunft.«

Ein kalter Schauer überlief sie. Eine Reise ins Ungewisse, um magisches Wissen zu gewinnen. Genau das, was Akkarin dazu getrieben hatte, die Welt zu erkunden und zu guter Letzt nach Sachaka zu reisen. Und seine Reise hatte ein sehr, sehr schlimmes Ende genommen.

»Ein solches Verlangen nach Wissen hat dazu geführt, dass dein Vater zum Sklaven wurde«, erklärte sie ihm, »und er konnte von Glück sagen, dass es nur dazu führte und nicht zu seinem Tod.«

Ein nachdenklicher Ausdruck glitt über Lorkins Züge, dann straffte er sich und schüttelte den Kopf. »Aber dies ist etwas anderes. Ich wandere nicht unwillkommen und schlecht informiert in ein feindseliges Land. Die Gilde weiß heute viel mehr über Sachaka. Die Sachakaner wissen mehr über uns.«

»Die Gilde weiß nur, was die Sachakaner uns zu wissen erlaubt haben. Es muss – es wird – eine Menge Dinge geben, die man vor unseren Botschaftern geheim gehalten hat. Sie können nicht mit absoluter Gewissheit sagen, dass du dort sicher sein wirst.«

Er nickte. »Ich werde nicht behaupten, dass es kein Risiko gäbe. Aber es liegt bei den Höheren Magiern zu entscheiden, ob das Risiko für mich größer wäre als für andere.«

Er hat Zweifel, ging es ihr durch den Kopf. Er ist nicht blind gegen die Risiken.

»Und ich bin davon überzeugt, dass du sie dazu bringen wirst, über jede mögliche Konsequenz genau nachzudenken«, fügte er hinzu und sah sie eindringlich an. »Wenn ich verspreche, dass ich nach Hause kommen werde, sobald Lord Dannyl oder ich auch nur das leiseste Anzeichen von Gefahr wahrnehmen, wirst du deinen Protest dann zurückziehen?«

Sie lächelte schief. »Natürlich nicht.« Er runzelte die Stirn.

»Ich bin deine Mutter«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Es ist meine Aufgabe, dich daran zu hindern, dir Schaden zuzufügen.«

»Ich bin kein Kind mehr. Ich bin zwanzig Jahre alt.«

»Aber du bist immer noch mein Sohn.« Sie sah ihn an und hielt seinem Blick trotz des Ärgers in seinen Augen stand. »Ich weiß, dass du wütend auf mich sein wirst, wenn es mir gelingt, deine Reise zu verhindern. Das wäre mir lieber, als dich tot zu sehen. Es wäre mir lieber, du würdest dem Lonmar-Kult beitreten und ich würde dich nie wiedersehen. Dann wüsste ich zumindest, dass du lebst und glücklich bist.« Sie hielt inne. »Du sagst, du seist kein Kind mehr. Dann stell dir einmal folgende Fragen: Tust du dies, und sei es auch nur zum Teil, um deiner Mutter zu trotzen? Wie weit beruht dein Wunsch, diese Reise zu machen, auf dem Wunsch, dich als Erwachsener zu beweisen? Wenn du diese beiden Wünsche abziehst, würdest du dann immer noch so unbedingt nach Sachaka gehen wollen?«

Lorkin sagte nichts, aber sein Gesicht war angespannt vor Ärger. Plötzlich stand er auf.

»Du verstehst nicht. Endlich finde ich etwas, das sich zu tun lohnt, und du… du musst versuchen, es mir zu verderben. Warum kannst du mir nicht einfach Glück wünschen und dich darüber freuen, dass ich vielleicht mit meinem Leben etwas bewirke, statt herumzusitzen und mich zu betrinken oder Feuel zu nehmen?«

Mit rotem Gesicht stolzierte er zur Tür und verließ den Raum.

Sonea blieb wie gelähmt zurück, außerstande, etwas anderes zu tun, als die Tür anzustarren. Ihr Herz war hin- und hergerissen zwischen Liebe und Stolz, der Entschlossenheit, ihn zu beschützen, und der Angst, dass sie versagen könnte.

6 Die Anhörung

Vor der Gildehalle hatte sich eine beträchtliche Menge versammelt, wie Dannyl sah, als er die Große Halle betrat. Dankenswerterweise hatte Osen beschlossen, dass an der Anhörung zu der Frage, ob Lorkin nach Sachaka geschickt werden sollte, lediglich die Höheren Magier, Lorkin, er selbst und die früheren Gildebotschafter in Sachaka teilnehmen sollten. Während er die neugierigen Gesichter in der Menge betrachtete, fragte sich Dannyl, warum diese anderen Magier sich die Mühe gemacht hatten herzukommen, obwohl man sie nicht einlassen würde. Was hofften sie zu sehen? Wollten sie möglichst schnell herausfinden, welche Entscheidung getroffen wurde? Betraf der Ausgang sie in irgendeiner Weise?

Die Frage, ob Lorkin nach Sachaka reisen durfte oder nicht, konnte Hinweise darauf geben, ob auch andere Magier eine Chance hatten, das Land zu besuchen. Nein, das kann es nicht sein. Es gibt immer nur wenige Freiwillige für Positionen dort. Dannyl bemerkte ein vertrautes Gesicht in der Menge. Regin. Was hat er dabei zu gewinnen, ob Lorkin geht oder bleibt? Er runzelte die Stirn. Vielleicht eine gewisse Befriedigung, wenn Soneas Protest überstimmt wird. Aber Regin hat seit ihrer Novizenzeit keine Anzeichen von Feindseligkeit oder Missbilligung ihr gegenüber an den Tag gelegt. Wenn er irgendeinen Groll hegt, hat er ihn gut verborgen.

Die übrigen Magier wollten vielleicht einfach Soneas Reaktion sehen, falls es ihr nicht gelang zu verhindern, dass ihr Sohn nach Sachaka ging. Die Tatsache, dass die erste Schwarzmagierin der Gilde im Widerstreit mit dem Sohn des ehemaligen Hohen Lords lag, musste für eine Menge Tratsch gesorgt haben. Dannyl bedauerte beinahe, dass er sich abgewöhnt hatte, die geselligen Abende der Gilde im Abendsaal zu besuchen. Dann hätte er bereits gewusst, was die Menge heute angezogen hatte und was sie zu erleben hoffte und fürchtete.

Als Dannyl sich den Türen der Gildehalle näherte, trat ein anderer Magier aus einem Nebeneingang.

Schwarzmagier Kallen. Ich frage mich… machen all die Neugierigen sich Sorgen, dass Sonea die Fassung verlieren und schwarze Magie benutzen wird, sollte es ihr nicht gelingen, Lorkin an einer Reise nach Sachaka zu hindern?

Wenn es so war, hätten sie sich lieber rar machen sollen. Eine zornige Schwarzmagierin konnte für jeden fatal sein, der sich in der Nähe befand. Aber sie vermuteten wahrscheinlich, dass Kallen sie aufhalten und dass die Konfrontation eher unterhaltsam als gefährlich sein würde.

Als Dannyl in die Gildehalle trat, sah er, dass die meisten der Höheren Magier ihre Plätze eingenommen hatten. Lorkin wartete bereits auf einer Seite des Raums. Er ging zu dem jungen Mann hinüber, der ihn mit einem wachsamen Lächeln begrüßte.

»Nervös?«

Lorkin lächelte schief. »Ein wenig.« »Wie ist das Essen mit Eurer Mutter gestern Abend verlaufen?«

»Nicht gut.« Lorkins Lächeln verblasste, und er seufzte.

»Ich hasse es, mich mit ihr zu streiten. Aber ich hasse es auch, immer streiten zu müssen, um tun zu können, was ich tun will.«

»Immer?«, wiederholte Dannyl.

Lorkin verzog das Gesicht und wandte den Blick ab. »Nun, ich nehme an, nicht immer. Eigentlich überhaupt nicht oft. Nur jetzt, da es zählt. Da ich endlich etwas Wichtiges gefunden habe, an dem ich Anteil haben möchte.«

»Die Reise nach Sachaka ist Euch wirklich ein Anliegen?«, fragte Dannyl, ohne seine Überraschung zu verbergen.

»Natürlich.« Lorkin schaute in Dannyls fragende Augen. »Warum denkt Ihr, dass ich hingehen will? Doch gewiss nicht nur, um meiner Mutter zu trotzen?«

»Nein.« Dannyl zuckte die Achseln. »Ich dachte, Ihr würdet ein Abenteuer wollen. Von der langweiligen Gilde wegkommen, die Euch nur mit Einschränkungen belegt.« Er lächelte. »Ich hatte keine Ahnung, dass Ihr die Arbeit wirklich für so wichtig haltet.«

»Das tue ich«, versicherte Lorkin ihm. »Sowohl die Pflege guter Beziehungen mit Sachaka als auch die Erforschung der magischen Geschichte. Obwohl mich bei Letzterem mehr die Frage interessiert, was wir mit dem, was wir finden, machen können.«

Dannyl musterte Lorkin nachdenklich. Er hatte gehofft, dass der junge Magier schlechtestenfalls nützlich und bestenfalls ein guter Gefährte sein würde. Jetzt war er sehr zufrieden mit der Entdeckung, dass er vielleicht nicht nur bei seinen diplomatischen Pflichten, sondern auch bei seinen Forschungen einen Gehilfen haben würde, obwohl er sich ein wenig Sorgen machte, dass es ihm vielleicht nicht leichtfallen würde, Lorkin die minder wichtigen Pflichten zu überlassen, wenn er sich ein wenig Zeit wünschte, seinen eigenen Interessen nachzugehen.

Ein leises Raunen erfüllte die Halle, und Dannyl blickte sich um, um festzustellen, was es verursacht hatte. Sonea stand im Eingang, um – ausgerechnet – mit Lord Regin zu sprechen. Sie schien leicht verwirrt, nickte jedoch und wandte sich ab. Statt die Stufen an der Vorderseite der Halle zu ihrem gewohnten Platz hinaufzugehen, blieb sie Dannyl und Lorkin gegenüber stehen, während Regin fortging –

Sie wirkte gelassen, ja sogar ein wenig erheitert. Die übrigen Höheren Magier waren inzwischen eingetroffen. Zweifellos hat sie ihre Ankunft so berechnet, dass sie eine der Letzten sein würde, um ihrem Sohn die Peinlichkeit ihrer Anwesenheit als Gegnerin zu ersparen. Osen begann seinen langsamen Marsch entlang der Stirnseite der Halle, der darauf hinwies, dass er bereit war zu beginnen, und schon bald verstummten die Magier.

»Wenn es keinen Grund gibt, der dagegen spricht, erkläre ich die Anhörung jetzt für eröffnet«, sagte Osen. Er hielt inne, dann nickte er, als keine Stimme laut wurde, um ihm Einhalt zu gebieten. »Als Erstes werde ich unsere Gründe für die heutige Zusammenkunft umreißen«, fuhr er fort. »Lord Lorkin hat sich erboten, die Position des Assistenten des Gildebotschafters in Sachaka zu übernehmen. Als Botschafter wurde kürzlich Lord Dannyl ernannt. Schwarzmagierin Sonea hat Protest dagegen eingelegt, dass wir Lord Lorkin in dieser Rolle akzeptieren.« Er wandte sich an Sonea. »Aus welchem Grund protestiert Ihr?«

»Weil für Lorkin als meinem und dem Sohn des ehemaligen Hohen Lords Akkarin die Gefahr bestehen wird, dass die Familie von Kariko und Dakova – Ersteren habe ich selbst während der Ichani-Invasion getötet, und Letzteren hat Akkarin viele Jahre zuvor umgebracht – Rache für deren Tod suchen wird. Das Gleiche könnte für die Familien der anderen Ichani gelten, die während der Invasion umkamen. Selbst wenn ihre Familien nicht nach Rache trachten, könnte es als eine Beleidigung angesehen werden, ihn nach Sachaka zu schicken. In jedem Fall könnte seine Anwesenheit die Bemühungen um Frieden zwischen unseren beiden Ländern behindern.«

Osen wandte sich an Lorkin und Dannyl. »Und was sagt Ihr, Lord Lorkin, zur Antwort darauf?«

»Ich überlasse die Beurteilung, ob das Risiko so groß ist wie Mutt… Schwarzmagierin Sonea glaubt, den Höheren Magiern und werde jede Entscheidung akzeptieren, die sie fällen«, erwiderte Lorkin.

Ein schwaches Lächeln der Anerkennung glitt über Osens Züge. Dann wandte er den Blick Lord Dannyl zu.

»Und was sagt Ihr, Botschafter Dannyl?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich vertraue auf die Beobachtungen und die Einschätzungen der ehemaligen Gildebotschafter in Sachaka. Sie haben mir erklärt, dass Lord Lorkins Anwesenheit in Sachaka ihrer Meinung nach kein Hindernis für meine Arbeit und keine Gefahr für sein Leben und Wohlergehen darstellen wird. Seine Unterstützung wäre mir sehr willkommen.«

»Dann rufe ich Lord Stanin und Lord Maron auf, ihre Ansichten zu der Angelegenheit zu äußern.«

Als der Administrator sich abwandte, konnte Dannyl Soneas Blick auf sich spüren. Sie ist nicht glücklich darüber, dass ich Lorkin ermutige, aber ich kenne sie zu gut, um mich von ihren Blicken einschüchtern zu lassen. Er sah auf und schaute ihr in die Augen. Ein verräterischer Schauder überlief ihn. Es war nicht so, dass ihr Gesichtsausdruck auch nur eine Spur von Anklage übermittelt hätte. Er verriet gar nichts, doch er war von einer solchen Intensität, dass Dannyl das Gefühl hatte, sie streife seine Haut beiseite und lese die Gedanken darunter. Er schaute weg. Na schön. Vielleicht schüchtern ihre Blicke mich doch ein klein wenig ein.

Noch bevor sie Novizin geworden war – lange bevor sie eine schwarze Magierin wurde –, hatte sie ihn bereits ein wenig nervös gemacht. Das war nur vernünftig, wenn man bedachte, dass sie als bloßes Straßenkind aus den Hüttenvierteln es fertiggebracht hatte, ihm einen Dolch ins Bein zu rammen. Wenn sie damals zu dieser Tat fähig gewesen war, bevor man sie dazu ausgebildet hatte, ihre Kräfte zu benutzen, war es keine Überraschung, dass sie ihn jetzt einschüchterte.

Er wollte nicht darüber nachdenken, was sie möglicherweise mit ihm machen würde, wenn Lorkin in Sachaka tatsächlich etwas zustieß, daher richtete er seine Aufmerksamkeit auf die ehemaligen Botschafter, die gerade sprachen. Die Höheren Magier stellten ihnen Fragen, und die Antworten waren eindeutig: Obwohl sie einräumten, dass kein Kyralier in Sachaka jemals ganz sicher sei, dachte keiner der Männer, dass Lorkin größere Gefahr drohen würde als jedem anderen Magier. Falls Lorkin sich überhaupt deswegen den Kopf zerbrach, sollte er es vermeiden, von seiner Herkunft zu sprechen. Aber da er in einer untergeordneten Rolle erscheinen würde, die man normalerweise einem Sklaven überließ, war es unwahrscheinlich, dass die Sachaka ihm überhaupt große Aufmerksamkeit schenken würden.

Jetzt wurde ein Händler aufgerufen, der Soneas vorsichtige Position teilte. Er erzählte von Fällen von Blutrache zwischen sachakanischen Familien, die jahrzehntelang gedauert hatten, wie er bei seinen alljährlichen Besuchen festgestellt hatte. Auch ihn befragten die Höheren Magier eingehend.

Schließlich bat Osen alle bis auf die Höheren Magier mit Ausnahme Soneas, die Halle zu verlassen, damit sie debattieren und zu einer Entscheidung kommen konnten. Dannyl hörte Lorkin erleichtert aufseufzen, als Sonea sich hastig umdrehte und mit plötzlich geistesabwesender Miene den Raum verließ. Als Dannyl in die überfüllte Große Halle hinaustrat, hielt er nach ihr Ausschau, aber sie war verschwunden.


Die Stimmen der Magier draußen vor der Gildehalle verklangen schnell, während Sonea in die Flure der Universität eilte, und wurden ersetzt durch höhere Stimmen, als sie sich dem Hauptflur zu den Klassenräumen näherte. Die Morgenkurse waren gerade zu Ende, und die Novizen waren unterwegs zur Speisehalle, wo sie ihre Mittagsmahlzeit einnahmen.

Als sie in den Flur hinaustrat, bereit, sich einen Weg durch die Novizen zu bahnen, verstummten die Stimmen abrupt. Sie schaute sich um und stellte fest, dass alle sie ansahen. Die Novizen in der Mitte des Flurs zogen sich hastig zurück, dann fiel ihnen allen gleichzeitig plötzlich wieder ihr gutes Benehmen ein, und sie verbeugten sich.

Sonea verkniff sich ein Lächeln und hoffte, dass man ihr den Anflug von Verlegenheit nicht ansah. Ich weiß genau, was sie denken und fühlen. In ihren Gedanken blitzte eine Erinnerung auf: Ein hochgewachsener, stirnrunzelnder Mann in schwarzen Roben schritt den Universitätsflur entlang, was unter ihren Mitschülern die gleiche furchtsame Erstarrung ausgelöst hatte. Wenn ich zurückblicke, erstaunt mich unsere Angst vor Akkarin, als hätten wir irgendwie gewusst, dass er mächtiger war, als er sein sollte. Bei der Erinnerung schnürte sich ihr die Brust zu, dennoch hielt sie daran fest. Sie kostete sie für einen Moment aus, dann ließ sie sie verblassen.

Ihr Schritte führten sie weiter bis zum vorletzten Klassenzimmer, das leer war bis auf einen rot gewandeten Magier, der ihr einst den Weg durch diese Flure zur Qual gemacht hatte.

»Lord Regin«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt. Was wolltet Ihr mir so dringend mitteilen?«

Er blickte zu ihr auf und nickte höflich. »Danke für Euer Kommen, Schwarzmagierin Sonea«, sagte er. »Ich werde sofort zur Sache kommen. Jemand, dessen Wort ich vertraue, hat mir berichtet, dass Pendels Anhänger eine Art Überfall oder einen Hinterhalt planen, mit dem sie die kriminellen Verbindungen reicher Novizen aufdecken wollen.«

Sonea seufzte. »Narren. Das wird ihrer Sache nicht dienlich sein. Ich hätte Pendel für klüger gehalten.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Pendel davon weiß. Das Problem ist, wenn er es nicht weiß, wird er vielleicht nicht geneigt sein, mir zu glauben, wenn ich es ihm erzähle, und wenn er es weiß, könnte ich unbeabsichtigt meinen Informanten preisgeben.«

»Ihr wollt, dass ich mit ihm rede?«, fragte Sonea.

»Ja. Aber…« Regin runzelte die Stirn. »Mein Informant war sich in Bezug auf den Zeitpunkt nicht sicher. Ich fürchte, es könnte sehr bald passieren. Vielleicht schon heute. Es sei davon gesprochen worden, dass man sich den Umstand zunutze machen wolle, dass die Gilde abgelenkt sei. Die Magier, von denen ich vermute, dass sie damit zu tun haben, habe ich heute noch nicht gesehen.«

Sie blickte ihn an. »Ich muss zu der Anhörung zurückkehren, Lord Regin.«

»Natürlich. Aber…« Er verzog das Gesicht. »Wenn Ihr so bald wie möglich mit ihm sprechen könntet… Ich denke, er würde auf Euch hören.«

»Das werde ich tun«, erwiderte sie. »Aber jetzt sollte ich besser in die Halle zurückkehren. Ich darf Administrator Osen nicht warten lassen.«

Seine Mundwinkel zuckten nach oben, aber sein Blick blieb beunruhigt. Sonea wandte sich ab und eilte aus dem Klassenzimmer zurück in den Flur, wo die verbliebenen Novizen erstarrten und sich nicht rechtzeitig erholten, um sich zu verbeugen, bis sie schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt hatte. Sobald sie außer Sicht war, begann sie zu laufen und verlangsamte ihre Schritte nur, wenn sie von einem Flur in den nächsten einbog, damit sie nicht mit jemandem zusammenstieß. Schließlich hatte sie es in die Große Halle zurückgeschafft. Zu ihrer Erleichterung standen Dannyl und Lorkin draußen vor der Gildehalle und warteten noch immer darauf, hineingerufen zu werden.

Eine von Verlegenheit erfüllte Wartezeit folgte. Sie wollte weder das Unbehagen ihres Sohnes noch vergrößern, indem sie sich zu ihm und Dannyl gesellte, noch war es geziemend für sie, mit den ehemaligen Botschaftern und dem Händler zu sprechen, die miteinander plauderten. Niemand aus der Menge schien geneigt zu sein, an sie heranzutreten, und sie entdeckte niemanden, den sie kannte und der im Moment nichts gegen ihre Gesellschaft einzuwenden gehabt hätte. Pendel war nirgends zu sehen. Also musste sie allein dastehen und warten.

Nach etlichen langen Minuten wurden die Türen der Gildehalle endlich geöffnet. Erleichtert beobachtete Sonea, wie Osen Dannyl und Lorkin bedeutete einzutreten. Er blickte auf und nickte ihr zu. Ausnahmsweise einmal war seine Miene nicht kalt und abweisend. Er wirkte beinahe mitfühlend.

Oh-oh. Bedeutet das, dass sie meinen Protest überstimmt haben?

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Dann begann ihr Herz schneller zu schlagen. Sie hielt ihre Miene so neutral wie möglich, während sie an der Menge vorbei in die Halle ging. Dort angekommen, konnte sie nicht umhin, die Gesichter der Höheren Magier zu betrachten. Vinaras faltiges Antlitz schien Schuldgefühle auszudrücken. Peakin runzelte mit einem Ausdruck die Stirn, den man als Unsicherheit deuten konnte, aber Garrel wirkte selbstgefällig. Ihr Magen krampfte sich noch weiter zusammen.

Als sie höher hinaufschaute, begegnete sie Balkans Blick. Seine Miene verriet nichts. Aber Kallen… Kallen wirkte verärgert. Hoffnung stieg in ihr auf.

Dann sah sie Rothen an, und ihr Herz hörte auf zu schlagen. Er wusste, dass sie ihn heutzutage nur allzu gut durchschauen konnte, daher versuchte er nicht einmal, etwas zu verbergen. In seinen Augen stand eine ehrliche Entschuldigung, und er schüttelte den Kopf.

»Schwarzmagierin Sonea, die Höheren Magier haben Euren Protest sorgfältig erwogen. Sie sind zu der Feststellung gekommen, dass es keine handfesten Beweise dafür gibt, dass Lord Lorkin ernsthafte Gefahr droht, wenn er nach Sachaka reist, solange er unter dem Schutz von Lord Dannyl und dem Gildehaus verbleibt und nicht unnötig mit seiner Herkunft prahlt. Akzeptiert Ihr diese Entscheidung?«

Sie sah Osen an, holte tief Luft, zwang ihr Gesicht, keine Spuren des Aufruhrs zu zeigen, der in ihr tobte, und nickte.

»Das tue ich.«

»Dann erkläre ich diese Anhörung für beendet.«


Ungläubigkeit und dann Jubel erfüllten Lorkin, nachdem Lord Osen die Entscheidung der Höheren Magier verkündet hatte, und er verspürte den jähen Drang, in Freudengeheul auszubrechen. Aber das wäre in der würdevollen Umgebung der Gildehalle unpassend gewesen und seiner Mutter gegenüber nicht freundlich.

Wie immer ließ sie sich wenig von ihren Gedanken oder Gefühlen anmerken. Wie sie das fertigbrachte, konnte er nicht sagen. Lange Übung? Er hoffte, dass er diese Fähigkeit eines Tages erben würde. Trotzdem sah er kleine Hinweise, die anderen entgingen. Die leicht gebeugten Schultern. Das Zögern, bevor sie Osens letzte Frage beantwortet hatte. Und als sie auf ihn zukam, sah er, wie geweitet ihre Pupillen waren. Aber weit vor Ärger oder vor Angst?

»Macht Euch keine Sorgen wegen Lorkin«, sagte Dannyl leise zu ihr. »Ich werde dafür sorgen, dass ihm nichts zustößt. Das verspreche ich Euch.«

Sie sah ihn an, und ihre Augen wurden schmal. »Ich werde Euch beim Wort nehmen.«

Dannyl zuckte tatsächlich zusammen. »Ich weiß.«

»Und du«, sagte sie und sah jäh zu Lorkin hinüber. »Du solltest besser vorsichtig sein. Wenn irgendein Sachakaner dich im Schlaf ermordet, werde ich dir erscheinen und dich dazu zwingen zuzugeben, dass du dich geirrt hast.« Das winzige Zucken eines Lächelns hob ihre Mundwinkel an.

»Ich werde es nicht vergessen«, erwiderte er. »Mich nicht ermorden lassen.«

Das Lächeln verblasste, und sie musterte ihn einen Moment lang schweigend. Dann drehte sie sich abrupt zu Dannyl um.

»Wann werdet Ihr aufbrechen?«, fragte sie.

»So bald wie möglich, fürchte ich«, antwortete er entschuldigend. »Der Gilde wäre es lieber gewesen, es hätte jemand nach Sachaka gehen und sich dort von Lord Maron in seine Pflichten einweisen lassen können, bevor er sein Amt antritt, aber Maron musste ja in aller Eile nach Kyralia zurückkehren. Die Sache ist anscheinend die: Wenn wir das Gildehaus zu lange ohne einen Botschafter lassen, werden sie eine andere Verwendung dafür finden, und wir werden auf dem Land leben müssen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wie lang ist zu lange?«

»Das wissen wir nicht. Sie haben es uns nicht gesagt.«

Sonea schnaubte leise. »Also halten sie Euch an der kurzen Leine. Ich bin froh, dass Ihr hingeht, nicht ich. Nicht dass ich es könnte, selbst wenn ich es wollte.« Sie drehte sich zu den Höheren Magiern um, von denen fast alle von ihren Plätzen heruntergekommen waren und die nun den Raum verließen. Osen schaute zu ihnen hinüber.

»Wir sollten besser gehen«, sagte Dannyl.

»Ja«, pflichtete Sonea ihm bei. Sie runzelte die Stirn, und ein abwesender Ausdruck trat in ihre Züge. »Ich muss mich um eine ziemlich dringende Angelegenheit kümmern.« Sie sah sie beide an und brachte ein dünnes Lächeln zustande. »Reist nicht ab, ohne Lebewohl zu sagen, ja?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stolzierte sie in Richtung Tür davon. Dannyl und Lorkin folgten ihr, wenn auch in langsamerem Tempo. Lorkin beobachtete, wie seine Mutter durch die Tür der Gildehalle verschwand.

»Ich habe nicht die Absicht, in Sachaka zu sterben«, erklärte Lorkin. »Tatsächlich werde ich mich so bedeckt wie möglich halten. Schließlich wird sie mich hierher zurückholen, sollte auch nur die leiseste Andeutung einer Torheit den Weg hierher finden.«

»Tatsächlich kann sie genau das nicht tun«, erwiderte Dannyl.

Lorkin sah den hochgewachsenen Magier stirnrunzelnd an.

»Vergesst nicht, sie ist eine Schwarzmagierin. Es ist ihr verboten, die Stadt zu verlassen. Wenn sie gegen diese Bedingung verstößt, wird man sie aus den Verbündeten Ländern verbannen.«

Ein kleiner, aber scharfer Stich der Angst durchzuckte Lorkin. Also kann sie nicht zu meiner Rettung kommen, wenn ich in Schwierigkeiten gerate. Nun, dann sollte ich besser dafür sorgen, dass es keine Schwierigkeiten gibt. Oder ich sollte vielmehr darauf vorbereitet sein, mich auch wieder aus möglichen Schwierigkeiten zu befreien. Er setzte ein strahlendes Lächeln auf und wandte sich an Dannyl.

»Aber ich brauche keine Mutter. Falls etwas geschieht, weiß ich, dass Ihr mich retten werdet.«

Dannyl zog die Augenbrauen hoch. »Schön zu wissen, dass Ihr solches Zutrauen in mich habt.«

»Oh, nichts dergleichen«, erwiderte Lorkin grinsend. »Ich weiß nur, dass Ihr vor meiner Mutter größere Angst habt als vor den Sachakanern.«

Der ältere Magier schüttelte seufzend den Kopf. »Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Warum musste ich mir von allen Gehilfen, die infrage gekommen wären, ausgerechnet den mit der beängstigendsten Mutter aussuchen und den, dessen Herkunft die größten Schwierigkeiten mit sich bringen würde? Mein Schicksal ist besiegelt.«

7 Eine Reise beginnt

Als die Kutsche vor der Universität vorfuhr, kamen Sonea und Lorkin, gefolgt von Rothen, aus dem Gebäude. Eine Gruppe männlicher junger Magier, die im Schutz des Gebäudes herumgelungert hatten, winkten und riefen, und Lorkin wandte sich um, um zurückzuwinken. Auf eine weitere Geste hin eilte ein Diener mit einer einzigen kleinen Truhe herbei.

Ah, gut. Der junge Mann reist mit leichtem Gepäck, dachte Dannyl.

Frühherbstlicher Regen klatschte gegen einen unsichtbaren Schild über ihren Köpfen. Als Mutter und Sohn die Kutsche erreichten, hörte Dannyl, wie das Trommeln des Regens auf dem Dach abbrach, und er vermutete, dass derjenige Magier, der den Schild aufrechterhielt, ihn auf das Gefährt ausgedehnt hatte. Er öffnete die Tür und stieg hinunter, um sie zu begrüßen.

»Botschafter Dannyl«, sagte Sonea mit einem höflichen Lächeln. »Ich hoffe, Eure Truhen sind wasserdicht. Dieser Regen sieht nicht so aus, als würde er demnächst nachlassen.«

Dannyl blickte zu den beiden Kisten, die auf der Rückseite der Kutsche befestigt waren; der Diener und ihr Fahrer banden soeben Lorkins Truhe obenauf. »Sie sind neu und unerprobt, aber der Kistenmacher hatte gute Empfehlungen.« Er drehte sich wieder um, um sie anzusehen. »Ich habe keine Originale dort drin. Nur Kopien. Eingewickelt in Ölhaut.«

Sie nickte. »Sehr klug.« Dann wandte sie sich an Lorkin, der ein wenig blass aussah. »Wenn du irgendetwas brauchst, weißt du, was zu tun ist.«

Er schenkte ihr zur Antwort ein schnelles Lächeln. »Ich bin davon überzeugt, dass ich alles werde kaufen können, was ich vergessen habe. Die Sachakaner mögen einige barbarische Sitten haben, aber es hört sich so an, als mangele es ihnen weder an Luxus noch an praktischen Dingen.«

Einen langen, verlegenen Moment sahen sie einander schweigend an.

»Nun, dann ab mit dir.« Sie deutete auf die Kutsche, als scheuche sie ein Kind, was den Eindruck von einem jungen Mann, der sich unabhängig in die Welt hinauswagte, gründlich verdarb. Dannyl vermutete, dass sie ihren Sohn lieber in die Arme geschlossen hätte, wusste aber, dass es ihm vor seinen Freunden peinlich gewesen wäre. Dannyl tauschte einen wissenden Blick mit Rothen. Sie beobachteten, wie Lorkin in die Kutsche stieg, einen Lederbeutel an die Brust gedrückt.

»Ich werde Euch auf Euer Versprechen festnageln, Dannyl«, sagte Sonea leise.

Der Drang zum Lächeln verschwand. Er wandte sich um, bereit, ihr noch einmal Mut zuzusprechen, aber in ihren Augen stand ein Funke der Erheiterung. Er drückte den Rücken durch. »Und ich beabsichtige, mein Versprechen zu halten«, erwiderte er. »Obwohl – wenn er nach seiner Mutter schlägt, kann man mich nicht zur Gänze dafür verantwortlich machen, falls er es sich in den Kopf setzen sollte, uns allen zu trotzen.«

Von Rothen hörte er ein leises Schnauben der Erheiterung. Sonea zog die Augenbrauen hoch, und er erwartete, dass sie Protest erheben würde, aber stattdessen zuckte sie nur die Achseln. »Nun, beklagt Euch nicht bei mir, wenn er Schwierigkeiten macht. Ihr hättet ihn nicht als Euren Gehilfen auszuwählen brauchen.«

Dannyl heuchelte Besorgnis. »Ist er wirklich so schlimm? Ich kann meine Meinung immer noch ändern und ihn zu Hause lassen, nicht wahr?«

Sonea musterte ihn eingehend. »Führt mich nicht in Versuchung, Dannyl.« Dann holte sie tief Luft und seufzte. »Nein, so schlimm ist er nicht. Und ich wünsche Euch Glück, Dannyl. Ich hoffe, Ihr findet, wonach Ihr sucht.«

»Noch einmal Lebewohl, alter Freund«, sagte Rothen. Wie damals, als er Dannyl an ebendiesem Ort zu dessen Reise nach Elyne und zu seinem ersten Posten als Botschafter verabschiedet hatte.

Wo ich Tayend kennengelernt habe…

»Gehab dich wohl, noch älterer Freund«, entgegnete Dannyl. Rothen lachte, und die Runzeln auf seinem Gesicht vertieften sich. Er sieht heutzutage so alt aus, dachte Dannyl. Aber andererseits tue ich das wohl auch. Ein Stich des Bedauerns durchzuckte ihn, weil er seinen alten Mentor und Freund während der letzten Jahre nicht öfter besucht hatte. Ich werde es wiedergutmachen müssen, wenn ich zurück bin.

»Dann fort mit dir.« Rothen machte die gleiche Handbewegung wie zuvor Sonea, als scheuche er ihn weg. Dannyl lachte leise und gehorchte und stieg in die Kutsche, um neben Lorkin Platz zu nehmen. Er wandte sich dem jungen Mann zu.

»Bereit?«

Lorkin sah ein wenig krank aus, aber er nickte, ohne zu zögern.

»Kutscher! Es kann losgehen!«, rief Dannyl.

Eine Stimme erscholl, und der Wagen setzte sich ruckend in Bewegung. Dannyl blickte aus dem Fenster und sah, dass Sonea und Rothen die Kutsche beobachteten. Beide runzelten die Stirn, doch als sie ihn bemerkten, lächelten sie und winkten, ebenso wie die jungen Männer, die sich unter dem Eingang der Universität zusammengefunden hatten. Er winkte zurück, dann fuhr die Kutsche durch die Tore, und sie waren nicht länger zu sehen.

Sie wird sich die ganze Zeit, während er fort ist, Sorgen machen. So ist das Leben für Eltern. Er unterdrückte einen Seufzer. Warum diese Melancholie? Die Aussicht auf das bevorstehende Abenteuer sollte mich mit Erregung erfüllen. Als er zu Lorkin hinüberschaute, sah er, dass der junge Mann aus dem anderen Fenster blickte. Ich bin also nicht der Einzige. Ich schätze, jede Reise macht es notwendig, irgendeinen Ort zu verlassen, und das bringt häufig ein wenig Kummer mit sich. Nun, zumindest hatte Lorkin jemanden, der ihn verabschiedet hat.

Er runzelte die Stirn, als er an die vergangenen Tage zurückdachte. Seit ihrem Streit hatte Tayend kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Nicht einmal als Dannyl ihm eröffnet hatte, dass er am nächsten Tag aufbrechen werde. Nicht ein einziges Wort zum Abschied. Er war auch nicht zugegen gewesen, als Dannyl seine Truhen auf die Kutsche geladen hatte und davongefahren war.

Warum muss er sich so verhalten? Es ist ja nicht so, als wollte er nach wie vor Anteil an den Forschungen nehmen. Tayend hatte im Laufe der Jahre immer weniger Interesse an der Arbeit gezeigt. Er fand den Klatsch und Tratsch des Hofes aufregender.

Dannyl hatte dem schweigenden Gelehrten erklärt, dass er, wenn er Sachaka für sicher genug halte, eine Nachricht schicken würde, und wenn Tayend dann immer noch darauf brenne, sich ihm anzuschließen, könne er den elynischen König um seine Zustimmung bitten. Aber der Gelehrte hatte Dannyl nur angefunkelt und den Tisch verlassen, ohne seine Mahlzeit beendet zu haben.

Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen. Es ist unvernünftig. Meine Forschungen werden keine Fortschritte machen, wenn ich nicht nach Sachaka gehe. Nun, ich hoffe, sie werden Fortschritte machen. Es wäre auch möglich, dass ich dort nichts finde.

Aber das würde er niemals wissen, wenn er es nicht versuchte.

Die Kutsche fuhr durch die Innere Stadtmauer hinaus ins Nordviertel. Lorkin starrte immer noch aus dem Fenster. Er wirkte in sich gekehrt und nachdenklich, was die Ähnlichkeit mit seinem Vater betonte.

Akkarin hat immer über irgendetwas nachgegrübelt. Nun, es stellte sich heraus, dass er allen Grund dazu hatte. Wer hätte gedacht, dass der Mann, dem so viele Magier mit Ehrfurcht begegneten, einst ein Sklave gewesen war? Gewiss hatte niemand Verdacht geschöpft, dass ihr Hoher Lord schwarze Magie beherrschte und sich in die Stadt hinausgewagt hatte, um sachakanische Spione zu töten.

Waren auch jetzt sachakanische Spione in der Stadt? Er lächelte. Natürlich waren welche da. Nur nicht die Art, die Akkarin gejagt hatte – ehemalige Sklaven, die von ihren Ichani-Herren nach Kyralia geschickt worden waren. Nein, die heutigen Spione würden von der altmodischen Art sein, ausgesandt oder in Dienst genommen von den Herrschern anderer Länder, um ein Auge auf ihre Nachbarn zu halten. Und sie würden sich nicht mit den ärmeren Bezirken abgeben, sondern stattdessen nach nützlichen Positionen mit Zugang zu Hof und Handel Ausschau halten.

Dannyl blickte aus dem Fenster. Er sah zu, wie die adretten Steinhäuser des Nordviertels an ihnen vorbeizogen, dann passierte die Kutsche die Äußere Stadtmauer und erreichte den Stadtteil, in dem einst die Hüttenviertel gelegen hatten.

Es hat sich so sehr verändert, ging es Dannyl durch den Kopf. Wo früher klapprige Hütten das Bild beherrscht hatten, standen jetzt saubere Ziegelsteinhäuser. Er wusste, dass manche Gebiete der Hüttenviertel nach wie vor schmutzig und gefährlich waren, aber sobald die Säuberung aufgehört hatte, war schnell klar geworden, dass der alljährliche, erzwungene Exodus die Ausdehnung der Stadt ebenso blockiert hatte, wie er die Armen an ihrem Betreten gehindert hatte.

Und die Armen hatten nicht nur Zugang zur Stadt, sondern konnten jetzt auch der Gilde beitreten – wenn sie über ausreichend starke magische Fähigkeiten geboten. Der Wohlstand, der mit einem solchen Privileg einherging, hatte mehr als nur wenige Familien aus der Armut befreit. Obwohl der Zustrom von Novizen aus den Klassen der Armen und der Dienstboten der Gilde einige Probleme bereitet hatte. Wie dieses jüngste Durcheinander, bei dem Magier und Novizen der höheren Klassen in einem von Schmugglern betriebenen Feuel- und Spielhaus gefunden worden waren. Sie hatten danach behauptet, die »Proliis« hätten ihnen den Weg zu dem Haus beschrieben. Das Beunruhigendste daran war der Umstand, dass es in einer Gasse im Inneren Ring lag, einem Stadtteil, von dem man immer geglaubt hatte, er sei frei von solch üblen Einrichtungen. Und es war nicht allzu weit entfernt von Dannyls und Tayends Zuhause gewesen.

Aber das war jetzt die Sorge anderer. Während die Kutsche an den letzten Häusern vorbeifuhr und auf die Nordstraße einbog, nickte Dannyl vor sich hin. Seine und Lorkins Zukunft lag vor ihnen, in dem uralten Land Sachaka.

Die Gute Gesellschaft war eins der größten Bolhäuser im Süden der Stadt. Als Cery und Gol eintraten, schlugen ihnen die warmen Ausdünstungen der zahlreichen Gäste, das Tosen von Stimmen und der schwere, süße Geruch von Bol entgegen. Es waren mehr Männer als Frauen dort, aber beide Geschlechter standen vor am Boden befestigten Tischen. Stühle gab es keine. Stühle hielten nicht lange. Das Lokal war in der ganzen Stadt für seine Schlägereien berüchtigt.

Während Cery sich einen Weg durch die Menge bahnte, nahm er die Atmosphäre in sich auf und betrachtete die Kundschaft, ohne eine einzelne Person lange genug anzusehen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Im hinteren Teil des riesigen Raums waren Türen. Diese führten in den Keller hinunter, wo eine ganz andere Art von Gesellschaft darauf wartete, dass man ihre Dienste mietete.

Auf einer Bank in der Nähe der Türen saß eine rundliche Frau mittleren Alters in farbenprächtiger, übertrieben eleganter Kleidung.

»Wie kommt es, dass Hausmütter immer gleich aussehen?«, murmelte Gol.

»Die Verschlagene Lalli ist groß und schlank«, bemerkte Cery. »Die Brave Sis ist klein und zierlich.«

»Aber ich nehme an, die Übrigen sind sich ziemlich ähnlich. Groß, vollbusig und –«

»Still. Sie kommt her.«

Die Frau hatte bemerkt, dass sie sie beobachteten, und sich auf die Füße gehievt. Jetzt kam sie auf sie zu. »Ihr sucht nach Tantchen? Sie ist dort drüben.« Sie zeigte mit dem Finger durch den Raum. »He, Tantchen!«, rief sie.

Beide Männer drehten sich um und sahen eine hochgewachsene, elegante Frau mit langem, rotem Haar, die sich auf dem Absatz umdrehte, um sie zu betrachten. Auf einen Wink der rundlichen Frau lächelte sie und kam herbei.

»Wir sind wohl hier, um ein wenig gute Gesellschaft zu finden, hm?«, fragte sie. Sie sah Gol an, der beobachtete, wie die andere Frau zu ihrem Platz zurückkehrte. »Die Leute nehmen immer an, es sei Martia, die das Lokal führt«, sagte sie. »Aber sie ist hier, um ein Auge auf ihren Sohn zu halten, der im Ausschank arbeitet. Möchtet Ihr nach unten gehen?«

»Ja. Ich bin hier, um eine alte Freundin zu sehen«, erklärte Cery.

Sie lächelte wissend. »Das sind wir doch alle. Und welche alte Freundin wäre das?« »Terrina.«

Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Ach, die? Nun, kein Mann fragt nach ihr, der nicht bereits weiß, was er bekommt. Ich werde dich zu ihr bringen.«

Sie führte sie durch die Tür, eine kleine Treppenflucht hinunter und in einen Raum unter dem Bolhaus. Er war so groß wie der Raum darüber, aber voller Reihen mit kleinen Zellen. Papierne Wandschirme dienten als deren Türen, und die meisten waren geschlossen, um das Innere zu verbergen – und nach den Geräuschen zu urteilen, die von allen Seiten kamen, wurden die meisten zu dem Zweck benutzt, zu dem sie erbaut worden waren.

Tantchen führte sie zu einer Zelle in der Nähe der Mitte des Raums. Die Wandschirme waren offen. In der Zelle stand ein einzelner Sessel. Es war ein großzügig bemessener Sessel mit einer breiten, gepolsterten Sitzfläche und stabilen Armlehnen. Alle Räume waren in dieser Art möbliert. Die Frauen hier wollten nicht, dass ihre Kunden es so bequem hatten, dass sie einschliefen und sie daran hinderten, weitere Kunden zu bedienen. Cery nickte Gol zu, der daraufhin in einigen Schritten Entfernung vor einem anderen leeren Raum Position bezog.

Als Cery in die Zelle trat, schloss Tantchen die Wandschirme. Er setzte sich, lauschte auf die Geräusche um ihn herum und konzentrierte sich dann inmitten des Stöhnens und des Gelächters auf Geräusche, die nicht dort hingehörten. Das Geräusch von Atem. Von Schritten. Das Rascheln von Kleidern.

Seine Nase fing einen Duft auf, der einen Strom von Erinnerungen heraufbeschwor, Erinnerungen, die viele Jahre alt waren. Er lächelte.

»Terrina«, murmelte er und wandte sich der hinteren Seite des kleinen Raums zu.

Ein Wandpaneel glitt beiseite und offenbarte eine Frau mit kurzem Haar und dunkler Kleidung. Sie sieht aus wie immer. Vielleicht ist diese kleine Falte zwischen ihren Brauen eine Spur tiefer. Sie war ein wenig zu mager und zu muskulös, um schön genannt zu werden, aber Cery hatte ihren athletischen Körperbau stets attraktiv gefunden. Als sie ihn erkannte, zog sie die Augenbrauen hoch und entspannte sich.

»Nun, nun. Ich habe dich lange nicht gesehen. Fünf Jahre?«

Cery zuckte die Achseln. »Ich habe dir gesagt, dass ich heiraten wollte.«

»Das hast du getan.« Die Auftragsmörderin lehnte sich an die Wand der Zelle und neigte den Kopf zur Seite. Ihre dunklen Augen waren so undeutbar wie eh und je. »Du hast auch gesagt, du seist der loyale Typ. Ich habe angenommen, du hättest ein anderes, sagen wir, Nebeninteresse gefunden.«

»Du warst niemals ein Nebeninteresse«, erwiderte Cery. »Das Leben ist zu kompliziert für mehr als eine Geliebte gleichzeitig.«

Sie lächelte. »Lieb von dir, das zu sagen. Ich kann von mir nicht das Gleiche behaupten – aber das wusstest du.« Dann wurde ihre Miene erst. Sie trat ein und zog das Paneel zu. »Du bist wegen des Geschäftes hier, nicht wegen des Vergnügens.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Du hast mich schon immer allzu leicht durchschaut«, erwiderte er.

»Nein, ich tue nur so als ob. Wen möchtest du tot sehen?« Ihre Augen blitzten vor Eifer und Erregung. »Hat dich in letzter Zeit jemand geärgert?«

»Ich brauche Informationen.«

Ihre Schultern sackten vor Enttäuschung herunter. »Warum, warum, warum? Ständig wollen sie Informationen.« Sie warf die Hände hoch. »Oder wenn sie das ganze Paket wollen, machen sie einen Rückzieher, bevor ich auch nur meine Messer schärfen kann.« Sie schüttelte den Kopf, dann sah sie ihn hoffnungsvoll an. »Werden die Informationen zu dem ganzen Paket führen?«

Sie genießt ihre Arbeit viel zu sehr, dachte Cery. Hat es immer getan. Es war einer der Gründe, warum sie so aufregend war.

»Möglicherweise, aber dann würde ich die Sache lieber selbst erledigen.«

Terrina zog einen Schmollmund. »Typisch.« Dann lächelte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber ich kann es dir nicht übel nehmen, wenn es etwas Persönliches ist. Also, was musst du wissen?«

Cery holte tief Luft und wappnete sich gegen den Stich des Schmerzes, der mit seinen nächsten Worten einhergehen würde.

»Wer in mein Versteck eingedrungen ist und meine Frau und meine Söhne getötet hat«, sagte er leise, damit keiner der anderen Gäste es hörte. »Wenn du es nicht mit Bestimmtheit weißt, dann genügt mir auch Tratsch, den du aufgeschnappt hast.«

Sie blinzelte und starrte ihn an.

»Oh«, war alles, was sie sagte. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Der Tratsch von Auftragsmördern ging nur selten über ihre eigenen Reihen hinaus. Alle akzeptierten, dass man ihn zu einem hohen Preis kaufen konnte, aber wenn das dazu führte, dass ein anderer Auftragsmörder ein Geschäft verlor oder getötet wurde, wurde der Verkäufer streng bestraft. »Du weißt, wie viel das kosten wird?«

»Natürlich… Es hängt allerdings davon ab, ob du die Information hast, die ich brauche.«

Sie nickte, ging in die Hocke, so dass sie mit ihm auf gleicher Augenhöhe war, und sah ihn ernst an. »Nur für dich, Cery. Wie lange ist es her?«

»Neun Tage.«

Sie runzelte die Stirn und schaute ins Leere. »Ich habe nichts Derartiges gehört. Die meisten Auftragsmörder hätten inzwischen davon geredet. Ein Einbruch in das Versteck eines Diebes ist beeindruckend. Er wird versucht haben, dich dort zu töten, weil es beweist, wie gerissen er ist. Erzähl mir, wie er es gemacht hat.«

Er beschrieb die unangetasteten Schlösser, die in einen Hinterhalt gelockten Wachen, ließ jedoch aus, was der Schlossmacher über Magie gesagt hatte.

»Ich nehme an, er würde den Mund halten, wenn man ihm genug bezahlt hat. Es würde einiges kosten. Der Kunde ist also reich oder hat lange gespart. Entweder das, oder er hat es selbst getan, oder es war jemand, der dir nahesteht und der den Weg hinein kannte – aber ich schätze, das hast du überprüft. Oder…« Sie sah ihn jäh an. »Oder es war der Jäger der Diebe.«

Cery runzelte die Stirn. »Doch warum sollte er warten, bis ich fort war, und dann meine Familie töten?«

»Vielleicht wusste er nicht, dass du ausgegangen warst. Vielleicht wusste er nicht, dass du eine Frau und Kinder hattest. Ich habe niemandem erzählt, dass du heiraten wolltest, obwohl das daran lag, dass ich es nicht geglaubt habe. Und wenn du sie gut genug versteckt hast…« Sie zuckte die Achseln. »Er ist reingegangen, sie haben ihn gesehen, er musste sie töten, weil sie ihn hätten erkennen können.«

»Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, wie ich mir sicher sein könnte.« Cery seufzte.

»Jeder Mörder hinterlässt seine Spuren. Bestimmte Zeichen. Hat seine eigenen Angewohnheiten und Fähigkeiten. Anhand dieser Dinge kannst du sie erkennen, wenn du genug Morde hast, die du vergleichen kannst.« Sie stand auf. »Ich würde dir Einzelheiten über den Jäger nennen können, nur dass wir sie für den Augenblick für uns behalten, für den Fall, dass einer von uns der Mörder ist.«

Cery nickte. Wenn Terrina sagte, dass sie keine weiteren Informationen preisgeben würde, konnte man sie ihr mit nichts entlocken. »Hast du irgendeine Ahnung, warum der Jäger uns einen nach dem anderen tötet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich war keine große Hilfe. Ich kann nichts anderes tun, als dir Angst vor jemandem zu machen, von dem du bereits weißt und von dem ich dir nichts Nützliches berichten kann.« Sie wandte den Blick ab und runzelte die Stirn. »Dafür kann ich dir wirklich nicht viel berechnen.«

Cery öffnete den Mund, um um das Honorar zu feilschen, das er ihr für die Mühe, sich mit ihm zu treffen, bezahlen würde, aber sie blickte plötzlich auf.

»Oh, eines kann ich dir durchaus erzählen, weil niemand es ernst nimmt.«

»Ja?«

»Die Leute glauben, der Jäger der Diebe benutze Magie.«

Eine Woge der Kälte schlug über Cery zusammen. Er starrte sie an. »Warum sagen sie das?«

»Ich dachte, die Leute glaubten nur deshalb, er müsse Magie benutzen, weil er so gut ist. Aber ich habe einmal in einem Bolhaus mit einem Wachsoldaten geplaudert, der für einen der ermordeten Diebe gearbeitet hatte, und er sagt, er habe einen Lichtstrahl gesehen und Dinge, die durch die Luft flogen. Natürlich meinen alle, es sei der Schlag auf den Kopf gewesen, der dazu geführt hat, dass er Dinge sah, aber… er war sich so sicher, und er ist ein Mann, der durchaus mit gesundem Menschenverstand gesegnet ist.«

»Wie interessant«, erwiderte Cery. Es könnte dennoch bloße Fantasie sein und die Wirkung von schon umlaufenden Gerüchten. Wenn ich nicht mit eigenen Augen die Beweise des Schlossmachers gesehen hätte, würde ich es nicht glauben. Aber zusätzlich zu den anderen Gerüchten über Magie, die dort auftauchte, wo sie nichts zu suchen hatte, begann er sich langsam zu fragen, wie viel Wahrheit darin steckte.

Wenn es wahr war, dann beschäftigt sich entweder ein Gildemagier mit Dingen, von denen er die Finger lassen sollte, oder es gab einen wilden Magier in der Stadt. So oder so, der Betreffende konnte mit der Ermordung seiner Familie durchaus zu tun haben.

Plötzlich musste er an Skellins offenkundigen Wunsch denken, seinen eigenen wilden Magier in Dienst zu nehmen. Wenn dieser Jäger ein wilder Magier ist, wird er keine Mühe haben, an Skellin heranzukommen. Hmm, sollte ich Skellin warnen? Aber gewiss hat er bereits von den Gerüchten über Magie gehört… Ah! Vielleicht ist das der Grund, warum er mich nach Magie gefragt hat. Er wusste, dass ich in der Vergangenheit Beziehungen zur Gilde hatte, und hat mich auf die Probe gestellt, um zu erfahren, ob ich diese Beziehungen immer noch habe. Was bedeuten würde, dass er den Verdacht hatte, ich hätte den Jäger in Dienst genommen.

Dann kam ihm eine andere Möglichkeit in den Sinn.

Ist ein Dieb zu dieser Schlussfolgerung gelangt und hat einen Auftragsmörder ausgeschickt, der mich töten sollte, ohne zu ahnen, dass er ebenden magiebegabten Mörder anheuerte, vor dem alle solche Angst haben? Er runzelte die Stirn. Zumindest weiß ich, dass es nicht Skellin gewesen sein kann, da er mich wohl kaum in sein Haus eingeladen und einen Auftragsmörder losgeschickt hätte, der mich gleichzeitig in meinem eigenen Haus töten sollte.

Er schüttelte den Kopf. Die Möglichkeiten schienen endlos. Aber hier war abermals Magie erwähnt worden. Sie war benutzt worden, um das Schloss seines Verstecks zu öffnen, und man glaubte, dass der Jäger Magie benutzte. Zufall? Vielleicht. Aber es war der einzige Hinweis, den er hatte, also konnte er ihm geradeso gut nachgehen.


Wann immer Sonea die Amtsstube des Administrators betrat, stiegen Erinnerungen in ihr auf. Obwohl Osen die Möbel anders aufgestellt hatte und den Raum stets mit einer Lichtkugel erhellte, konnte sie sich noch immer daran erinnern, wie es hier ausgesehen hatte, als Lorlen noch lebte. Und sie fragte sich stets, ob Osen wusste, dass es hinter der Vertäfelung einen Eingang zu den geheimen Gängen der Universität gab.

Lorlen wusste es nicht, daher bezweifle ich, dass Osen es weiß.

»Erzählt mir, wie es gekommen ist, dass man Euch im Namenlosen angetroffen hat?«, fragte Osen die beiden jungen Magier, die links von seinem Schreibpult standen.

Alle drehten sich um, um Reater und Sherran anzusehen. Sonea war entsetzt über die Entdeckung gewesen, dass die beiden Magier, die man in dem Haus gefunden hatte, Lorkins Freunde waren. Die beiden sahen zuerst einander an, dann blickten sie zu Boden.

»Man hat uns einen Zettel gegeben«, antwortete Reater. »Darauf wurde der Weg zu dem besten neuen Spielhaus in der Stadt beschrieben. Für die ersten fünfzig Kunden sollte es verschiedene Dinge kostenlos geben.«

»Und das Haus liegt im Inneren Ring, daher haben wir gedacht, es sei sicher«, ergänzte Sherran.

»Wo ist dieser Zettel jetzt?«, fragte Osen.

Lord Vonel, einer der beiden älteren Magier, die rechts von Osen standen, trat vor und überreichte dem Administrator einen winzigen weißen Papierstreifen. Osen begann stirnrunzelnd zu lesen, dann ertastete er die Dicke des Papiers und drehte es um, um die Rückseite zu untersuchen.

»Es ist von guter Qualität. Ich werde die Alchemisten, die die Druckmaschinen betreiben, bitten, das Papier zu untersuchen und festzustellen, ob sie uns etwas über die Herkunft sagen können.«

»Haltet es ins Licht«, schlug Vonel vor.

Osen folgte dem Vorschlag und kniff die Augen zusammen. »Ist das ein Teil des Wappens der Gilde?«

»Ich glaube, ja.«

»Hmm.« Osen legte den Zettel auf den Tisch, dann blickte er wieder zu Vonel auf. »Also, wie habt Ihr von dem Namenlosen erfahren?«

»Ein Novize hat mir das da gegeben«, antwortete Vonel und deutete mit dem Kopf auf das Papier.

»Und?«

»Ich habe Carrin gebeten, mich dorthin zu begleiten, damit wir feststellen konnten, um was für ein Lokal es sich bei diesem ›Spielhaus‹ handelte und ob Mitglieder der Gilde das Angebot genutzt hatten.«

»Und was habt Ihr bei Eurem Eintreffen vorgefunden?«

»Glücksspiel, Alkohol, Glühbecken für Feuel und Frauen, deren Dienste man kaufen konnte«, erwiderte Carrin. »Lord Reater machte hohe Verluste bei einem neuen Spiel, Lord Sherran war vom Feuelrauch einem Koma nah. Insgesamt haben wir dort diese beiden sowie zwölf Novizen entdeckt, die die volle Palette der angebotenen Produkte kosteten.«

Osen griff nach einem Bogen Papier. »Produkte, die hier aufgelistet sind.«

»Ja.«

Der Administrator überflog die Liste, dann legte er sie beiseite und blickte zu Regin und Sonea auf.

»Und welche Rolle habt Ihr gespielt, Lord Regin und Schwarzmagierin Sonea?«

»Mich hat ein besorgter Novize informiert, der mitangehört hatte, dass da möglicherweise irgendwelche Missetaten im Gange waren, obwohl er keine Einzelheiten nennen konnte«, antwortete Regin. »Da ich weiß, dass Schwarzmagierin Sonea sich für die Debatte über das Verbot für Magier, sich mit Kriminellen einzulassen, interessiert, habe ich ihr davon erzählt und gehofft, sie hätte genauere Informationen. Sie hatte keine.«

»Aber als ich Zeit dazu hatte, habe ich mich auf die Suche nach dem Lokal gemacht«, ergänzte Sonea. »Und ich bekam eine Adresse. Ich ersuchte um Erlaubnis, die Gilde verlassen zu dürfen, um der Angelegenheit nachzugehen, aber als ich die Erlaubnis bekam, waren bereits zwölf Magier in das Spielhaus gelockt worden.«

»Warum habt Ihr nicht veranlasst, dass jemand anderer hinging?«, hakte Osen nach.

Ärger flammte in Sonea auf. Warum sollte sie das Gelände nicht verlassen, wenn sie lediglich versuchte zu verhindern, dass einige Novizen und Magier in eine Falle tappten? Aber sie und Regin hatten nicht genug Beweise dafür, dass es sich tatsächlich um eine Falle handelte. Viele Magier, Osen eingeschlossen, dachten noch immer, dass sie die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit verdiene, als Strafe dafür, dass sie vor all jenen Jahren schwarze Magie erlernt und der Gilde getrotzt hatte.

»Wir dachten, je weniger Personen von diesem Ort Kenntnis hätten, umso besser wäre es«, erklärte Regin. »Nur Ihr selbst, Lord Vonel und Lord Carrin.«

Dankbarkeit stieg in ihr auf, gefolgt von Erheiterung darüber, dass diese Dankbarkeit ausgerechnet Regin galt.

Osen besah sich abermals die Liste der Novizen. »Dafür ist es jetzt zu spät. Die Wache hat das Spielhaus geschlossen, daher stellt es für niemanden mehr eine Versuchung dar. Jetzt gibt es nicht mehr zu tun, als über die Bestrafung zu entscheiden.« Er drehte sich zu Reater und Sherran um, die sich wanden und überall hinschauten, nur nicht zu den anderen Magiern. »Von Euch wird wie von allen Magiern erwartet, dass Ihr jenen gegenüber, die sich noch in den Jahren ihrer Ausbildung befinden, ein Vorbild an Zurückhaltung und geziemendem Verhalten seid. Ihr habt ferner die Pflicht, die Gilde als eine ehrenhafte und vertrauenswürdige Institution zu repräsentieren. Aber Euer Abschluss liegt noch nicht lange zurück, und wir alle nehmen einige der törichten Neigungen der Novizenzeit in unsere ersten Jahre als Magier mit. Ich werde Euch beiden noch eine Chance geben, Euch zu bessern.«

Die beiden jungen Männer entspannten sich sichtlich. Wenn sie das Missgeschick gehabt hätten, aus einer der unteren Klassen zu stammen, wäre das Ergebnis ganz anders ausgefallen, dachte Sonea düster.

»Die Novizen…« Osen klopfte auf die Liste. »Sollten nach den Regeln der Universität bestraft werden. Ich werde die Angelegenheit dem Universitätsadministrator übergeben.«

Oh, wunderbar, dachte Sonea. Wie ich mein Glück kenne, werden sie in den Hospitälern landen, wo alle Laster, die sie in Schwierigkeiten gebracht haben, nur wenige Straßenzüge entfernt zu haben sind. Sie werden sich davonschleichen, sobald sie eine Chance dazu bekommen, und mir wird man die Schuld daran geben.

»Ihr habt getan, wozu man Euch ausgesandt hat«, sagte Osen und nickte Vonel und Carrin zu. »Ich habe einen Brief an die Wache geschickt und mich dafür bedankt, dass sie so schnell gehandelt hat.« Er sah Regin an. »In Zukunft sollten wir alle zusammenarbeiten, damit etwas Derartiges nicht noch einmal vorkommt. Ihr dürft gehen.«

Sonea drehte sich um, ging auf die Tür zu, die sie mit ein wenig Magie öffnete, und trat in den Flur hinaus. Regin folgte ihr, und vor der Tür blieben sie beide stehen und warteten, bis die zwei jüngeren Magier erschienen. Sonea vertrat ihnen den Weg. Reater und Sherran sahen sie entsetzt an.

Sie lächelte mitfühlend. »Ihr seid also nur wegen des Feuel dorthin gegangen. Was hat es eigentlich damit auf sich? Was ist so reizvoll daran, dass Ihr Euch dafür in die Hände von offenkundigen Verbrechern begeben habt?«

Reater zuckte die Achseln. »Es gibt einem ein gutes Gefühl. Man hat keine Sorgen mehr.«

Sonea nickte, aber ihr war aufgefallen, dass in Sherrans Zügen ein Ausdruck der Sehnsucht aufgeflackert war, während Reater lediglich resigniert wirkte. Sie beugte sich vor und senkte die Stimme.

»Hat Lorkin jemals…?«

Sherran sah sie an, dann blickte er hastig wieder zu Boden. »Einmal. Es hat ihm nicht gefallen.«

Sonea richtete sich auf. Er konnte durchaus lügen, weil er fürchtete, sie werde ihm Vorwürfe machen, falls er eine andere Antwort gab. Aber dann hätte er mir erzählt, Lorkin habe es niemals versucht. Ich denke, dies ist die Wahrheit.

»Ihr zwei habt Glück, dass Administrator Osen sich in diesem Fall entschieden hat, Nachsicht zu üben. Ich würde seine Bereitschaft, das wieder zu tun, nicht auf die Probe stellen.«

Die beiden jungen Männer nickten schnell. Sie lächelte und bedeutete ihnen, dass sie gehen könnten, woraufhin sie davoneilten.

»Lorkin ist zu klug, um sich beim Feuelrauchen erwischen zu lassen«, murmelte Regin. »Und der gleiche gesunde Menschenverstand wird verhindern, dass er in Sachaka in Schwierigkeiten gerät.« Er seufzte. »Ich wünschte nur, meine eigenen Töchter wären halb so reif wie er.«

Sie sah ihn an, überrascht und erheitert. »Machen sie Euch immer noch Ärger?«

Er verzog das Gesicht. »Sie schlagen nach ihrer Mutter, obwohl in ihrer Rivalität genug Grausamkeit steckt, um mich an mich selbst in ihrem Alter zu erinnern.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist schlimm genug zurückzublicken und seine jugendliche Arroganz zu bedauern, auch ohne dann noch die Arroganz seiner Sprösslinge bedauern zu müssen.«

8 Zeichen

Nach zwei Tagen Kutschfahrt über zunehmend holprige Straßen hatte Lorkin das Gefühl, das vorrangige Ziel dieser Reise müsse darin bestehen, sämtliche Knochen in seinem Leib durcheinanderzuschütteln und in einer möglichst schmerzhaften Weise vollkommen neu zu arrangieren. Er musste ständig die Wehwehchen seines Körpers heilen und Kopfschmerzen mildern, aber vor allem langweilte er sich. Nach Stunden des Unbehagens war er zu müde und zu mürrisch für Gespräche, und er hatte die Entdeckung gemacht, dass das Holpern der Kutsche auf den Straßen ihm Übelkeit bescherte, wenn er zu lesen versuchte.

Offenkundig hatte die Aufregung des Reisens keinen Anteil an der eigentlichen Reise. Wahrscheinlich war das Ankommen das Interessantere. Obwohl er argwöhnte, dass er, wenn sie Arvice erreichten, eher Erleichterung als Erregung empfinden würde.

Lord Dannyl – oder Botschafter Dannyl, wie er ihn jetzt zu nennen nicht vergessen durfte – ertrug die Fahrt mit einer seltsamen Art glücklicher Resignation, was Lorkin ein wenig Hoffnung machte, dass das Ganze sich lohnen würde. Oder vielleicht war eine holprige Kutschfahrt einfach nur verhältnismäßig erträglich im Vergleich zu den Unannehmlichkeiten einer Seereise oder langer Stunden im Sattel – Strapazen, die Dannyl von seinen Reisen vor über zwanzig Jahren zur Genüge kannte.

Lorkin wusste, dass der ehemalige Administrator Dannyl damals aufgetragen hatte, auf der Suche nach altem, magischem Wissen Akkarins Reise nachzuvollziehen. Die Geschichten, die Dannyl erzählte, waren faszinierend und weckten in Lorkin den Wunsch, die Gräber der Weißen Tränen und die Ruinen von Armje selbst zu besuchen.

Aber ich reise an einen Ort, den weder mein Vater noch Dannyl je zuvor gesehen haben: in die Hauptstadt Sachakas.

Es würde ein vollkommen anderes Sachaka sein als das, in das sein Vater hineingestolpert war. Es würde keine Ichani geben, die darauf warteten, ihn zu versklaven. Wenn überhaupt, würden Perlers Berichten zufolge die mächtigen Männer und Frauen der Hauptstadt, insbesondere die Ashaki-Patriarchen, sich nur widerstrebend dazu herablassen, von dem Gehilfen eines Botschafters Notiz zu nehmen.

Trotzdem fand er das leichte Gewicht des Rings, der tief in der Tasche seiner Robe verborgen lag, beruhigend. Er hatte ihn am Morgen in seiner Truhe gefunden, in einer kleinen Schatulle tief zwischen seinen Besitztümern. Es hatte keine Notiz oder Erklärung beigelegen, aber er erkannte den schlichten, goldenen Ring und den glatten, darin eingelassenen roten Edelstein. Hatte seine Mutter ihren Blutsteinring heimlich in seine Truhe geschmuggelt, weil sie nicht die Erlaubnis hatte, ihn ihm zu geben, oder weil sie nicht hatte riskieren wollen, dass er sich weigern würde, ihn anzunehmen?

Er und Dannyl begannen jeden Reisetag, indem sie mehrmals die Mitglieder der mächtigsten sachakanischen Familien aufzählten, sich wesentliche Eigenschaften und Bündnisse ins Gedächtnis riefen und einander dabei halfen, sich diese Dinge einzuprägen. Sie waren alles durchgegangen, was sie über die sachakanische Gesellschaft wussten, und hatten spekuliert, wo ihr Wissen lückenhaft war. Lorkin fühlte sich dem älteren Magier beinahe ebenbürtig, aber er war davon überzeugt, dass sich das ändern würde, sobald sie Sachaka erreichten und ihre jeweiligen Rollen einnehmen mussten.

Das Schwanken der Kutsche veränderte sich, und Lorkin blickte auf. Nur Dunkelheit lag hinter den Fenstern, aber das dumpfe Klappern der Hufe auf der Straße hatte sich verlangsamt. Dannyl richtete sich höher auf und lächelte.

»Entweder liegt ein Hindernis auf der Straße, oder wir werden gleich für die Nacht aus unserem Käfig befreit«, murmelte er.

Als die Kutsche zum Stehen kam, schwankte sie sachte auf ihren Federn, dann rührte sie sich nicht mehr. Lorkin konnte durch das linke Fenster ein von Lampenlicht erhelltes Gebäude sehen. Der Fahrer gab einen unverständlichen Laut von sich, den Dannyl irgendwie als ein Zeichen zum Aussteigen deutete. Der Magier öffnete die Tür und kletterte aus der Kutsche.

Während Lorkin ihm folgte, atmete er die frische Nachtluft ein und spürte, dass sein Kopf klarer wurde. Er sah sich um. Sie waren in einem winzigen Dorf angekommen, das lediglich aus wenigen Gebäuden zu beiden Seiten der Straße bestand. Es existierte wahrscheinlich nur zur Bedienung Reisender. Das größte Gebäude, vor dem sie vorgefahren waren, war ein Bleibehaus. Im Eingang stand ein untersetzter Mann, der sie heranwinkte.

»Willkommen, Mylords, in Ferguns Rasthaus«, sagte er. »Ich bin Fondin. Meine Stallarbeiter werden sich um Eure Pferde kümmern, wenn Ihr sie nach hinten bringt. Wir haben saubere Betten und gutes Essen, alles dargeboten mit einem Lächeln.«

Auf Dannyls Gesicht lag ein Ausdruck der Überraschung und Erheiterung, dann zuckte er die Achseln und ging hinein. Lorkin überlegte, ob der Mann wohl mit Absicht angedeutet hatte, dass seine Betten mit einem Lächeln dargeboten würden. Durchaus möglich. Die Bleibehäuser auf dem Land stehen häufig in diesem Ruf.

Dannyl stellte sie vor und bestellte etwas zu essen für sie und den Fuhrmann. Der Besitzer führte sie in einen großen Speisesaal. Nur eine weitere Gruppe von Gästen befand sich im Raum. Händler, wie es aussah. Sie unterhielten sich leise und warfen Lorkin und Dannyl bloß einige wenige neugierige Blicke zu.

Es dauerte nicht lange, bis das Mahl gebracht wurde: Eine junge Frau erschien mit einem Tablett mit mehreren Sorten Fleisch, wohlschmeckenden Brötchen, gedämpftem Gemüse und kleinen, wahrscheinlich einheimischen Früchten. Ihr höfliches Lächeln galt beiden Magiern, aber für Lorkin war es um einiges strahlender. Als sie später mit Bol auf Kosten des Hauses zurückkehrte, hielt sie kurz inne, um ihm einen koketten Blick zuzuwerfen, bevor sie ihm seinen Becher reichte. Dann ging sie wieder, mit einladend wiegenden Hüften, und warf noch einen kurzen Blick zurück. Lorkin hatte ihr nachgeschaut, und ihr Mienenspiel machte deutlich, dass sie ihm noch weitere Gunst erweisen würde.

»Ich frage mich, ob Sonea von mir erwartet, dass ich Eure Tugend schütze, während Ihr nicht in der Gilde seid«, bemerkte Dannyl.

Lorkin kicherte und wandte sich wieder dem anderen Magier zu. Dannyl füllte seinen Teller von dem Tablett und blickte nicht auf.

»Tugend?«

»Ja, hm, ich schätze, auf Eure Tugend müsst Ihr selbst achtgeben. Aber als älterer und weiserer Gefährte verspüre ich in diesem Moment einen seltsamen Drang, Euch um Eurer Gesundheit und Eurer Brieftasche willen von der Versuchung abzulenken.«

»Eure Sorge ist vermerkt«, erwiderte Lorkin lächelnd. »Soll ich Euch meinerseits den gleichen Dienst anbieten?«

Dannyl blickte zu Lorkin auf, und seine Miene war für einen Moment wachsam und ernst. Dann lächelte er. »Natürlich. Wir werden aufeinander aufpassen.« Er stieß ein kurzes, leises Lachen aus. »Obwohl ich vermute, dass Eure Aufgabe die leichtere sein wird.«


Der Boden vibrierte auf eine Weise, die in Cery alte Erinnerungen wachrief. Früher hatten die Diebe die Abwasserkanäle benutzt, die auch diesen Abschnitt der äußeren Stadtmauer unterquerten, um von den Hüttenvierteln in die Stadt und zurück zu gelangen. Es war eine unangenehme und manchmal gefährliche Route gewesen. Die Stadtwache hatte irgendwann entdeckt, dass die Kanalisation als Weg in die Stadt benutzt wurde, und begonnen, sie in regelmäßigen Abständen zu fluten. Die Diebe waren übereingekommen, Wächter aufzustellen, die ein Signal gaben, wenn eine Flutung begann, und so war diese Gefahr gebannt worden. Es war ein größtenteils verlässliches System gewesen, und er hatte es vor vielen Jahren benutzt, um Sonea in die Gilde zu bringen, bevor sie Magierin geworden war.

Aber jetzt war die Kanalisation unter den Dieben aufgeteilt, durch deren Territorium sie verlief, und viele von ihnen waren Rivalen. Der Wegezoll, den sie für die Benutzung der Kanäle erhoben, kostete ein Vermögen, und die Wächter waren nicht länger verlässlich. Es hieß, der Dieb, der ertrunken war, sei umgekommen, weil der Jäger einen stromaufwärts postierten Wächter getötet hatte. Mit dem Dieb waren alle Wächter weiter stromabwärts ertrunken.

Jetzt, da die Säuberung geendet hat, gibt es nicht mehr viele Gründe für die Benutzung der Kanalisation, dachte Cery. Sie ist nur dann von Nutzen, wenn man triftige Gründe hat, sich ungesehen fortzubewegen.

Da er auch die Straße der Diebe nicht mehr benutzte, um lange Strecken zu überwinden, ging Cery tagsüber wie die meisten Bürger durch die Straßen von Imardin. Das war immer noch das Sicherste – trotz der Gefahr, die durch Räuber oder Banden drohte. Erstere schreckte der massige Gol ab, während Cerys Ansehen ihn noch immer vor Letzteren schützte.

Ich sollte mich wahrscheinlich nicht zu sehr darauf verlassen. Oder darauf, dass der arme Gol mögliche Angreifer einschüchtert. Eines Tages wird das eine oder andere nicht mehr reichen, um Angreifer abzuschrecken, und wir werden in Schwierigkeiten geraten. Aber wenn ich nicht auf Schritt und Tritt von einer Truppe von Wachsoldaten umringt sein will, ist das ein Risiko, das ich eingehen muss.

Nachdem er einen der neuen, in die alte Mauer eingelassenen Bögen passiert hatte, machte Cery sich auf den Weg in seinen eigenen Teil der ehemaligen Hüttenviertel. Gol ging neben ihm her.

»Was hältst du von Thims Geschichte, Gol?«

Der große Mann runzelte die Stirn. »Wir haben nichts Neues erfahren. Niemand hat irgendwelche Informationen, aber dafür gibt es jede Menge von den gleichen alten Gerüchten.«

»Ja. Doch zumindest lauten sie gleich. Alle denken, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Alle haben die gleichen Ideen, was die Fähigkeiten dieser Person betrifft.«

»Aber jeder hat einen anderen Grund, auf diese Ideen zu kommen«, bemerkte Gol.

»Ja. Dinge bewegen sich durch die Luft, die dazu kein Recht haben. Seltsame Brandspuren. Schattenhafte Gestalten, die man nicht erdolchen kann. Blitzende Lichter. Unsichtbare Mauern. Was glaubst du, Gol?«

»Dass es immer besser ist, übervorsichtig zu sein als tot.«

Erheiterung blitzte in Cery auf. Er blieb stehen und drehte sich zu Gol um. »Also benehmen wir uns so, als sei der Jäger der Diebe real, als benutze er Magie und habe bereits einen Anschlag auf mich verübt.«

Gol zog die Brauen zusammen und blickte sich um, um festzustellen, ob jemand Cery gehört hatte. »Du hast gehört, was ich darüber gesagt habe, dass wir übervorsichtig sein sollten?«, fragte er mit einem Anflug von Ärger in der Stimme.

»Ja.« Cery seufzte. »Aber welchen Unterschied macht es, ob jemand uns hört? Wenn mein Feind ein Magier ist, ist mein Schicksal besiegelt.«

Die Falte zwischen Gols Brauen wurde noch tiefer. »Was ist mit der Gilde? Sie würden es wissen wollen, wenn… sie würden dies hier wissen wollen. Du könntest es… deiner alten Freundin erzählen.«

»Könnte ich. Aber solange ich nichts Greifbares habe, was ich ihr erzählen kann, wird sie nicht in der Lage sein, etwas zu unternehmen. Wir müssen uns Gewissheit verschaffen.«

»Dann müssen wir eine Falle stellen.«

Cery sah Gol überrascht an, dann schüttelte er den Kopf. »Und was denkst du, wie wir diese Art von Gefangenen darin festhalten sollen?«

»Keine Falle, um ihn zu fangen.« Gol zuckte die Achseln. »Nur um zu bestätigen, dass er ein Magier ist. Indem wir ihn irgendwo hinlocken und dazu verleiten zu benutzen, was er benutzen kann, während wir ihn beobachten. Das Beste wäre, wenn er gar nicht begriffe, dass es sich um eine Falle handelt.«

Cery setzte sich wieder in Bewegung und dachte über die Idee nach. Sie war nicht schlecht. »Ja. Wir sollten ihn nicht wütend machen… Und wenn er nicht begreift, dass er beim ersten Mal in eine Falle getappt ist, könnten wir ihn abermals in die Falle locken – während meine Freundin zugegen ist, um es zu beobachten.«

»Jetzt begreifst du langsam«, sagte Gol mit einem übertriebenen Seufzer. »Manchmal dauert es bei dir so lange, bis du verstehst…«

»Natürlich müsste ich der Köder sein«, sagte Cery.

Gols neckender Ton verschwand. »Nein, wirst du nicht. Nun, du brauchst nicht wirklich der Köder zu sein. Es wird das Gerücht die Runde machen, dass du dort sein wirst.«

»Es wird ein ziemlich überzeugendes Gerücht sein müssen«, erwiderte Cery.

»Wir werden uns etwas einfallen lassen.«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Cery plante im Geiste bereits Einzelheiten. Also, wohin können wir den Jäger locken? Es wird ein Ort sein müssen, an dem man erwartet, mich zu sehen. Terrina sagte, er habe sich das Versteck vorgenommen, weil es als besonderes Kunststück gelte, mich an meinem sichersten Ort zu töten. Also muss ich mich in einem neuen Versteck niederlassen und dafür sorgen, dass einige Leute es ausplaudern und erzählen, um wie viel sicherer es sei als mein altes Versteck. Es wird einige gute Gucklöcher haben müssen und den einen oder anderen Fluchtweg. Und es muss den Jäger dazu bringen, seine Kräfte auf eine augenfällige Weise einzusetzen.

Zum ersten Mal seit Wochen durchdrang ein Kitzel der Erregung die Oberfläche der Düsternis, die ihn eingehüllt hatte. Selbst wenn die Falle ihm zunächst keine Rache für den Tod seiner Familie verschaffen sollte, würden ihn die Planung und der Aufbau der Falle davon abhalten, über ihren Tod nachzugrübeln.


Die steile, gewundene Bergstraße, die zum Pass führte, erinnerte Dannyl an jene Straßen, die er und Tayend vor so vielen Jahren in Armje bereist hatten. Was wenig überraschend war, da die Hänge hier zu dem gleichen Gebirgszug gehörten, der Sachaka von den Verbündeten Ländern trennte. Auch hier wurde der Wald am Rand der Berge dünner und machte verkümmerten Pflanzen und felsigen Hängen Platz.

Die Kutsche fuhr langsam, während die Pferde sie stetig hügelaufwärts zogen. In Lorkins Augen lag ein inzwischen vertrauter Ausdruck der Langeweile, während er mit düsterer, resignierter Miene aus dem Fenster starrte. Sie waren beide bereits über das Stadium hinaus, in dem sie noch hätten Gespräche führen mögen, obwohl es noch nicht einmal Mittag war, und das Schweigen machte das Kriechtempo nur noch unerträglicher.

Dann umrundete die Kutsche ohne Vorwarnung abrupt eine Biegung und nahm Geschwindigkeit auf, während die Straße ebener wurde. Sie fuhren jetzt zwischen zwei glatten Felswänden hindurch. Lorkin richtete sich auf, entriegelte das Fenster an seiner Seite und spähte hinaus.

»Wir sind da«, sagte er.

Ein Prickeln der Erregung breitete sich auf Dannyls Haut aus. Er lächelte erleichtert, und Lorkin grinste. In angespannter Erwartung saßen sie da, alle Aufmerksamkeit auf die Bewegungen der Kutsche konzentriert, die vorbeiziehenden Wände und das Geräusch der Hufschläge, bis der Fuhrmann einen Ruf ausstieß und das Gefährt langsam zum Stehen kam.

An dem Fenster neben Lorkin erschien ein Gesicht – ein Mann in roten Roben blickte zwischen Lorkin und Dannyl hin und her und nickte höflich.

»Willkommen im Fort, Botschafter Dannyl und Lord Lorkin. Ich bin Wächter Orton. Werdet Ihr über Nacht hierbleiben oder die Reise nach Sachaka fortsetzen?«

»Bedauerlicherweise können wir nicht verweilen, da Administrator Osen erpicht ist, uns so schnell wie möglich in Sachaka niedergelassen zu sehen«, antwortete Dannyl.

Der Mann lächelte mitfühlend. »Dann lade ich Euch ein, Euch die Beine zu vertreten und Euch umzusehen, während wir Eure Pferde gegen frische austauschen.«

»Ein Angebot, das wir mit Freuden annehmen.«

Lorkin entriegelte die Tür und folgte Dannyl dann aus der Kutsche. Sobald der junge Mann einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, blickte er auf und sog scharf die Luft ein.

»Ah ja. Es ist ein beeindruckendes Gebäude«, bemerkte Orton, der Lorkins Blick gefolgt war.

Dannyl schaute ebenfalls hoch, und ein Schauer überlief ihn. Die Front des Forts ragte über ihm auf und spannte sich von einer Seite der schmalen Schlucht zur anderen. Der Stein war glatt und makellos bis auf die Stellen, an denen die Schatten gewaltige, mit weiterem Stein gefüllte Risse in der Fassade zeigten, wo Reparaturen vorgenommen worden waren.

»Sind das Schäden, die bei der Ichani-Invasion entstanden sind?«, erkundigte sich Lorkin.

»Ja, obwohl es drinnen schlimmer aussah«, antwortete Orton. Er setzte sich in Bewegung und führte sie in eine höhlenartige Öffnung. Dannyls Augen brauchten einige Sekunden, um sich anzupassen, dann konnte er von Lampen beleuchtete Tunnelwände vor sich sehen. Geringfügige Unterschiede in der Farbe zeigten, wo Bereiche mit neuem Stein ausgebessert worden waren. »An einigen Stellen waren Lücken, die mehrere Stockwerke emporreichten.«

»Haben wir die ursprünglichen Fallen hier durch neue ersetzt?«, fragte Dannyl.

»Einige davon.« Orton zuckte die Achseln. »Die meisten waren simple Barrieren, dazu gedacht, Angreifer aufzuhalten und ihre Kräfte aufzuzehren. Wir haben an ihrer Stelle komplexere Verteidigungssysteme errichtet. Tricks, die einen Eindringling vielleicht zu Fall bringen, wenn er nicht wachsam ist. Illusionen, die seine Macht vergeuden. Aber nichts, was eine Gruppe mächtiger sachakanischer Schwarzmagier lange aufhalten könnte, was der Grund ist, warum wir so viel Zeit und Energie darauf verwenden, auch Fluchtwege aus dem Fort zu schaffen. Zu viele sind bei der Invasion gestorben, die nicht hätten sterben müssen. Ah – hier haben wir ein Andenken an jene, die bei der tapferen Verteidigung des Passes ihr Leben gelassen haben.«

Zwischen zwei Lampen war in die Wand eine Liste mit Namen eingemeißelt worden. Dannyl verspürte eine Mischung aus Beunruhigung und Erheiterung, als sein Blick auf einen vertrauten Namen fiel. Soweit ich mich erinnere, wurde Fergun von den Sachakanern aus irgendeinem Versteck gezerrt. Wohl kaum das, was ich eine tapfere Verteidigung des Passes nennen würde. Aber die Übrigen… sie starben, ohne zu verstehen, womit sie es zu tun hatten, weil die Gilde Akkarins Warnungen keinen Glauben geschenkt hatte. Sie war nicht in der Lage gewesen, die von ihm geschilderte Bedrohung zu begreifen, da sie vergessen hatte, wozu schwarze Magie einen Magier befähigen konnte.

Sie standen lange schweigend da, dann hallten Hufgetrappel und das Knarren von Rädern im Tunnel wider. Als Dannyl sich umdrehte, sah er, dass der Fahrer frische, an die Kutsche geschirrte Pferde auf sie zuführte.

»Gleich werdet Ihr das Fort von der sachakanischen Seite sehen«, sagte Orton, während er seinen Weg durch den Tunnel fortsetzte.

Dannyl und Lorkin folgten ihm. Der Lärm der Kutsche war unangenehm in dem beengten Raum, daher sprachen sie kein Wort, bis sie aus dem Tunnel traten. Wiederum erhoben sich zu beiden Seiten steile Felswände. Vor ihnen machte die Schlucht eine Biegung, so dass sie von Sachaka noch nicht viel sahen. Als Orton sich umdrehte und aufblickte, folgten Lorkin und Dannyl seinem Beispiel. Zwischen den Wänden der Schlucht, durchbrochen von vielen kleinen Fenstern, erstreckte sich eine weitere glatte Wand. Zwei riesige Steinquader, die offensichtlich früher einmal ein einziger Stein gewesen waren, lagen an einer Seite an der Felswand der Schlucht.

»Das war einmal eine Art Tür«, erklärte Orton. »Sie wurde hinuntergeworfen, um den Tunnel zu versperren.« Er zuckte die Achseln. »Ich frage mich allerdings, warum die Magier, die das Fort erbauten und die selbst Schwarzmagier waren, glaubten, solche Dinge würden einen Eindringling aufhalten.«

»Jedes noch so kleine Fünkchen Macht, das der Feind verbraucht, könnte ein gerettetes Leben bedeuten«, meinte Lorkin.

Orton sah den jungen Mann an und nickte. »Vielleicht.« Die Kutsche tauchte aus dem Tunnel auf, und der Fahrer hielt die Pferde neben ihnen an. Orton wandte sich an Dannyl. »Frische Pferde sowie Futter und Wasser für die drei Tage, die Ihr für die Durchquerung des Ödlands benötigen werdet. Außerdem haben wir Vorräte für Euch selbst eingepackt, und ich habe den Koch gebeten, für Eure nächste Mahlzeit etwas Besonderes zusammenzustellen. Nichts Großartiges, aber es könnte für einige Zeit Eure letzte kyralische Mahlzeit sein.«

»Vielen Dank, Wächter Orton.«

Der Mann lächelte. »Es war mir ein Vergnügen, Botschafter Dannyl.« Dann sah er Lorkin an. »Ich hoffe, Ihr und Lord Lorkin werdet sicher ans Ziel kommen und könnt bei Eurer Rückkehr nach Kyralia für ein Weilchen hier haltmachen.«

Dannyl nickte. »Wir werden unser Bestes tun, um mögliche Eindringlinge davon abzuhalten, Eure neuen Verteidigungseinrichtungen zu erproben.«

Orton lachte leise und drehte sich zu der Kutsche um. »Ich weiß, dass Ihr das tun werdet.«

Die Kutschentür schwang auf, geöffnet zweifellos durch Ortons Magie. Dannyl stieg ein und setzte sich, dann wappnete er sich gegen das Schaukeln des Gefährts, als Lorkin ihm eifrig folgte. Sie winkten Orton zum Abschied zu und riefen noch einige Dankesworte, während die Kutsche davonrollte und Orton außer Sicht geriet.

Dannyl sah Lorkin an, der zurückgrinste.

»Ich nehme an, Wächter Orton bekommt nicht viele Besucher zu Gesicht.«

»Nein. Ihr seht erheblich besser gelaunt aus als heute Morgen«, bemerkte Dannyl.

Lorkins Grinsen wurde breiter. »Wir sind in Sachaka.«

Ein Schauder überlief Dannyl. Er hat recht. Als wir aus dem Tunnel traten, waren wir nicht länger in unserem eigenen Land. Wir sind im exotischen Sachaka, dem Herzen des ehemaligen Reiches, das einst Kyralia und Elyne umschloss. Dem Land der Schwarzmagier. Alle so viel mächtiger als ich…

So musste sich ein Händler oder Diplomat fühlen, der in den Verbündeten Ländern mit Magiern zu tun hatte und sich stets darüber im Klaren war, wie hilflos er im Angesicht von Magie sein würde, der sich jedoch auf Diplomatie verließ und auch die Drohung eines Vergeltungsschlags von Seiten seines Heimatlandes, um sicher vor Schaden zu sein. Dannyl dachte an den Blutring, den Administrator Osen ihm gegeben hatte, geschaffen von Schwarzmagier Kallen aus Osens Blut, damit Dannyl sich mit ihm in Verbindung setzen konnte. Für allmonatliche Berichte. Davon abgesehen darf er nur in Notfällen benutzt werden. Als ob er aus dieser Entfernung einen Schwarzmagier daran hindern könnte, mich zu töten…

Plötzlich war die Felswand neben ihm verschwunden und hatte einer großen, hellen Fläche Platz gemacht. Lorkin stieß einen überraschten Laut aus, wechselte auf den Sitzplatz Dannyl gegenüber und rückte nah ans Fenster, um hinauszuschauen.

»Das ist also das Ödland«, sagte er leise.

Ein baumloser Hang fiel steil vom Rand der Straße zu den felsigen, erodierten Hügeln unter ihnen ab. An ihnen züngelte wie ein gefrorenes Meer die Wüste, deren Dünen sich durchs Land wellten. Die Luft war trocken, wie Dannyl plötzlich bemerkte, und schmeckte nach Staub.

»Ich schätze, so ist es«, erwiderte er.

»Es ist… größer, als ich dachte«, sagte Lorkin.

»Man lehrt uns, dass das Ödland eine Barriere sein soll«, erklärte Dannyl. »Aber die älteren Aufzeichnungen besagen nur, dass es als eine solche dienen könne. Das legt die Vermutung nahe, dass das Ödland nicht ganz absichtlich geschaffen wurde. Dass es zumindest nicht von der Gilde geplant worden war.«

»Also weiß niemand mit Bestimmtheit, warum es geschaffen wurde, geschweige denn, wie?«

»In einigen Unterlagen findet sich der Hinweis, dass die Schöpfer des Ödlandes Sachaka schwächen wollten, indem sie sein fruchtbarstes Land zerstörten. Ich habe Briefe gefunden, in denen Magier die Idee unterstützten, und andere, wo es für eine schreckliche Idee gehalten wurde. Aber die Briefe machen den Eindruck, als drehten sie sich um Gerüchte, nicht um eine offizielle Entscheidung.«

Lorkin verzog das Gesicht. »Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass jemand unabhängig von der Gilde gehandelt hätte.«

»Nein.« Dannyl fragte sich, ob Lorkin auf seine Eltern anspielte. Sein Tonfall war trocken gewesen.

Einige Minuten lang betrachteten sie das Ödland, ohne zu sprechen. Dann schüttelte Lorkin den Kopf und seufzte.

»Das Land hat sich nie erholt. Nicht nach siebenhundert Jahren. Hat irgendjemand versucht, es wiederherzustellen?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht.«

»Vielleicht ist es gut, dass niemand weiß, wie es entstanden ist. Wenn wir es jemals mit einem richtigen Krieg zu tun bekämen – statt mit einem Haufen Ausgestoßener –, wären wir in ernsten Schwierigkeiten.«

Dannyl, der über das verwüstete Land blickte, musste ihm recht geben. »Nach allem, was man hört, waren die Sachakaner furchtbar wütend über die Zerstörung. Wenn sie gewusst hätten, wie sie zurückschlagen können, wäre das gewiss geschehen. Ich glaube nicht, dass sie mehr wissen als wir.«

Lorkin nickte. »Es ist wahrscheinlich besser so.« Dann runzelte er die Stirn und sah Dannyl an. »Aber wenn wir doch etwas finden…«

»Dann werden wir es geheim halten müssen. Zumindest bis wir die Information an den Hohen Lord Balkan weiterleiten können. Es wäre noch gefährlicher als die Kenntnis der schwarzen Magie.«

9 Auf der Suche nach Wahrheiten

Wie viele niedrig geborene Novizen aus den ärmeren Teilen der Stadt war Norrin von kleinem Wuchs. Und zwischen den beiden Kriegern, die ihn in die Gildehalle eskortierten, wirkte er noch kleiner. Soneas Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen, als er zu den Reihen der Magier emporblickte, die von beiden Seiten auf ihn herabstarrten. Er wurde weiß im Gesicht, dann blickte er zu Boden.

Es ist grausam, ihn vor die ganze Gilde zu zerren, dachte sie. Eine Anhörung vor den Höheren Magiern wäre einschüchternd und demütigend genug gewesen. Aber irgendjemand wollte an ihm ein Exempel statuieren.

Nach den Regeln der Gilde wurde jeder Novize, der nicht am Unterricht in der Universität teilnahm oder sich weigerte, auf dem Gelände der Gilde zu leben, als potenzieller wilder Magier betrachtet und musste vor die versammelte Gilde gebracht werden, um sein Verhalten zu erklären, selbst wenn nur die Höheren Magier seine Taten beurteilten und über eine Strafe entschieden.

Wenn er nicht unmittelbar vor einer Vollversammlung der Gilde erwischt worden wäre, wäre ihm dies vielleicht erspart geblieben. Aber es ist viel leichter, eine Anhörung am Ende einer Versammlung anzuberaumen, als eigens dafür eine Versammlung einzuberufen. Wenn Osen nur für diese Anhörung die ganze Gilde hätte zusammenrufen müssen, hätte er die Regeln wahrscheinlich gebeugt und es bei den Höheren Magiern belassen.

Die Eskorte und Norrin blieben stehen und verneigten sich vor den Höheren Magiern. Administrator Osen schaute zu den Höheren Magiern hinüber – zu Sonea. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, dann sah er weg.

Andere hatten diesen Blickwechsel bemerkt, und der Hohe Lord Balkan, Lady Vinara und Direktor Jerrik musterten Sonea neugierig. Sie widerstand dem Drang, die Achseln zu zucken, um anzudeuten, dass sie keine Ahnung hatte, warum Osen diesen Moment ausgewählt hatte, um sie anzusehen. Stattdessen ignorierte sie die fragenden Blicke und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Novizen.

Der Administrator näherte sich Norrin, der die Schultern sinken ließ, aber nicht aufsah.

»Novize Norrin«, begann Osen. »Ihr seid der Universität und dem Gelände der Gilde zwei Monate lang ferngeblieben. Ihr habt Bitten um Eure Rückkehr ignoriert und uns gezwungen, Euch in Gewahrsam zu nehmen. Ihr kennt das Gesetz, dass die Freizügigkeit eines Novizen einschränkt und festlegt, wo er wohnen darf. Warum habt Ihr es gebrochen?«

Norrins Schultern hoben und senkten sich, als er tief Luft holte und den Atem wieder ausstieß. Er straffte sich und schaute zu dem Administrator auf.

»Ich will kein Magier werden«, sagte er. »Ich würde es wollen, wenn ich mir nicht noch mehr wünschte, mich um meine Familie kümmern zu können.« Er brach ab und senkte den Blick wieder. Sonea konnte Osens Gesicht nicht sehen, aber seine Haltung verriet nichts als geduldiges Abwarten.

»Eure Familie?«, hakte er nach.

Norrin blickte sich um, dann errötete er. »Meine jüngeren Geschwister. Mutter kann sich nicht um sie kümmern. Sie ist krank.«

»Und niemand sonst kann diese Verantwortung übernehmen?«, fragte Osen.

»Nein. Meine Schwester – nach mir die Älteste – ist im vergangenen Jahr gestorben. Die Übrigen sind zu jung. Ich habe nicht ein einziges Mal Magie benutzt«, fügte er hastig hinzu. »Ich weiß, dass mir das nicht gestattet ist, wenn ich kein Magier werde.«

»Wenn Ihr nicht den Wunsch habt, Magier zu werden – wenn Ihr den Wunsch habt, die Gilde zu verlassen –, müssen Eure Kräfte blockiert werden«, erklärte ihm Osen.

Der Novize blinzelte, dann schaute er mit solcher Hoffnung zum Administrator auf, dass es Sonea einen Stich versetzte. »Das könnt Ihr tun?«, fragte Norrin mit kaum hörbarer Stimme. »Dann kann ich mich um meine Familie kümmern, und es wird niemanden stören?« Er runzelte die Stirn. »Es kostet doch nicht viel, oder?«

Osen sagte nichts, dann schüttelte er den Kopf. »Es kostet gar nichts außer verlorene Möglichkeiten für Euch selbst. Könnt Ihr nicht noch einige Jahre warten? Wäre es für Eure Familie nicht besser, wenn Ihr ein Magier wärt?«

Norrins Gesicht verdüsterte sich. »Nein. Ich darf sie nicht besuchen. Ich darf ihnen kein Geld geben. Ich kann die… Krankheit meiner Mutter nicht heilen. Und die anderen sind zu jung, um sich selbst überlassen zu bleiben.«

Osen wandte sich den Höheren Magiern zu. »Ich schlage vor, dass wir darüber diskutieren.«

Sonea nickte zustimmend, ebenso wie die anderen. Der Administrator bedeutete der Eskorte, den Jungen aus der Halle zu führen. Sobald die Türen sich schlossen, stieß Lady Vinara einen lauten Seufzer aus und wandte sich den übrigen Magiern zu.

»Die Mutter des Jungen ist eine Hure. Sie ist nicht krank, sie ist süchtig nach Feuel.«

»Das ist wahr«, bekräftigte Universitätsdirektor Jerrik. »Aber er hat die Gewohnheiten seiner Mutter nicht übernommen. Er ist ein vernünftiger junger Mann, fleißig und wohlerzogen und mit starken Kräften. Es wäre ein Jammer, ihn zu verlieren.«

»Er ist zu jung, um zu wissen, was er aufgibt«, fügte Lord Garrel hinzu. »Er wird es bedauern, dass er die Magie um seiner Familie willen geopfert hat.«

»Aber er würde es noch mehr bedauern, wenn er seine Familie um der Magie willen opferte«, konnte Sonea nicht umhin zu bemerken.

Etliche der Anwesenden wandten sich zu ihr um. Sie hatte es sich während der vergangenen zwanzig Jahre nicht zur Gewohnheit gemacht, an den Debatten der Höheren Magier teilzunehmen. Zuerst hatte sie es nicht getan, weil sie sich zu jung fühlte und zu unerfahren in Bezug auf die Politik der Gilde, später weil ihre Position unter ihnen ihr nicht aus Respekt zugebilligt worden war, sondern weil man widerstrebend ihre Kräfte und ihre Mitwirkung bei der Verteidigung des Landes anerkannte.

Doch wann immer ich spreche, scheine ich erheblich mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als die Angelegenheit es rechtfertigt.

»Ihr habt viel mit Norrin gemeinsam«, begann Osen. »Auch Ihr wolltet der Gilde nicht beitreten – wenn auch nicht aus familiären Gründen«, fügte er hinzu. »Was würdet Ihr vorschlagen, das wir tun sollen, um ihn zum Bleiben zu überreden?«

Sonea widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. »Er will seine Familie besuchen und ihr helfen. Gewährt ihm das, und ich bin davon überzeugt, dass er überglücklich wäre, bei uns zu bleiben.«

Die Höheren Magier tauschten Blicke. Sonea sah Rothen an. Er verzog das Gesicht und übermittelte ihr mit diesem einen Blick, wie unwahrscheinlich es war, dass die Höheren Magier dem zustimmen würden.

»Aber das würde dazu führen, dass Geld der Gilde an eine Hure ginge und zweifellos für die Befriedigung ihrer Sucht verbraucht werden würde«, stellte Garrel fest.

»Es fließt erheblich mehr Geld der Gilde jede Nacht in die Bezahlung von Huren, als notwendig wäre, um Norrins Familie übers Jahr zu ernähren und mit einem Dach überm Kopf zu versorgen«, erwiderte Sonea, dann zuckte sie angesichts der Schärfe ihres Tonfalls zusammen.

Die Magier zögerten abermals. Und auch das scheint immer zu geschehen, wenn ich es wage zu sprechen, überlegte sie. Lady Vinara hatte sich, wie sie bemerkte, eine Hand vor den Mund gelegt.

»Es wird Norrins Aufgabe sein sicherzustellen, dass das Geld, das er seiner Mutter gibt, nicht in Feuel umgesetzt wird«, erklärte Sonea ihnen in einem Tonfall, von dem sie hoffte, dass er versöhnlicher klang. »Es ist offensichtlich nicht sein Ziel, seine Mutter umzubringen.« Dann hatte sie plötzlich eine Inspiration. »Wenn er sich bereit erklärt zu bleiben, schickt ihn zur Arbeit in die Hospitäler, als Strafe, wenn es sein muss. Ich werde dafür sorgen, dass seine Familie ihn dort besuchen kann. Auf diese Weise kann er sie sehen, und wir machen deutlich, dass er wegen des Verstoßes gegen das Gesetz bestraft wird.«

Die Magier im Raum nickten.

»Eine hervorragende Lösung«, sagte Lord Osen. »Vielleicht könnt Ihr seine Mutter gleichzeitig dazu überreden, die Droge aufzugeben.« Er sah sie erwartungsvoll an. Sie erwiderte nichts, sondern schaute ihm nur direkt in die Augen. Ich bin nicht dumm genug, um irgendwelche Versprechungen zu machen, wenn es um Feuel geht.

Osen wandte den Blick ab und drehte sich zu den anderen um. »Hat irgendjemand Einwände oder einen anderen Vorschlag?«

Die Höheren Magier schüttelten den Kopf. Osen rief die Eskorte und Norrin herein. Als man ihm Soneas Vorschlag unterbreitete, sah er mit offener Dankbarkeit zu ihr empor. Da ist ein bisschen zu viel Bewunderung, ging es ihr durch den Kopf. Ich sollte besser dafür sorgen, dass er hart arbeiten muss, damit er nicht anfängt, mich zu idealisieren – oder, wichtiger noch, zu denken, dass das Brechen von Regeln dazu führt, dass er seinen Willen bekommt.

Als Osen die Anhörung und die Versammlung für beendet erklärte und Sonea sich erhob und die Stufen hinabsteigen wollte, vertrat Lady Vinara ihr den Weg.

»Es ist schön zu sehen, dass Ihr endlich Eure Meinung sagt«, erklärte die ältere Heilerin. »Ihr solltet das häufiger tun.«

Sonea blinzelte überrascht und wusste nichts zu erwidern, das nicht abgedroschen geklungen hätte. Vinaras Lächeln wich einem ernsteren Ausdruck. Sie blickte zu der Stelle hinab, an der Norrin gestanden hatte.

»Dieser Fall demonstriert eindeutig die Notwendigkeit, eine prompte Entscheidung darüber zu treffen, ob die Regel gegen die Verbindung mit Kriminellen und Personen schlechten Rufes verändert oder abgeschafft werden soll.« Sie senkte die Stimme. »Ich bin für eine Klärung. Die Regel lässt sich zu leicht auf eine Weise auslegen, die die Arbeit meiner Heiler einschränken würde.«

Sonea nickte und brachte ein Lächeln zustande. »In meinem Fall ist es noch schlimmer. Was denkt Ihr, wann der Administrator zu einer Entscheidung rufen wird?«

Vinara runzelte die Stirn. »Er hat noch nicht festgelegt, ob es eine Entscheidung für uns oder für die Gilde sein sollte. Es mag als ungerecht angesehen werden, sollte er sich für Ersteres entscheiden, da Ihr die einzige Höhere Magierin seid, die die Magier und Novizen von niederer Herkunft repräsentieren würde. Aber wenn wir die Frage der ganzen Gilde vorlegen…«

»Dann würde das vielleicht keinen allzu großen Unterschied machen«, beendete Sonea ihren Satz. »Und es würden gewiss Bemerkungen fallen, die, wenn sie öffentlich gemacht werden, dauerhaften Groll verursachen könnten.«

Vinara zuckte die Achseln. »Oh, ich glaube nicht, dass wir das vermeiden können. Aber es wird erheblich mehr Aufhebens und Arbeit verursachen, und Osen ist sich nicht sicher, ob das Thema diesen Aufwand rechtfertigt.«

»Nun denn.« Sonea lächelte grimmig und trat an der Frau vorbei. »Vielleicht wird Norrins Fall seine Meinung ändern.«


Lorkin blickte über die Felder neben der Straße und fragte sich, wie lange er brauchen würde, um sich an all das Grün zu gewöhnen. Drei Tage lang waren sie durch das Ödland gereist, und es fühlte sich so an, als hätte die staubige Trockenheit jede Falte seiner Haut und jeden Hohlraum seiner Lunge gefüllt. Er freute sich mehr als je im Leben auf ein Bad.

Nachts hatten sie abwechselnd Wache gehalten für den Fall, dass sich ihnen Ichani näherten, oder in der Kutsche geschlafen. Das Ödland galt als der gefährlichste Teil ihrer Reise – daher die Vorsichtsmaßnahmen –, aber niemand hatte jemals Magier der Gilde überfallen. Frühere Gildebotschafter hatten in der Ferne Gestalten gesehen, die sie beobachteten, aber keine davon hatte sich je genähert.

Lorkin bezweifelte, dass sie einem Überfall durch Ichani-Banditen lange hätten trotzen können, aber der frühere Botschafter hatte ihnen erklärt, dass sie sich immer darauf verlassen hatten, dass es Abschreckung genug sei, den Eindruck zu erwecken, als seien sie auf einen Kampf vorbereitet. Die Ichani, die im Ödland und in den Bergen umherstreiften, wussten, dass die Gilde es geschafft hatte, Kariko und seine Bande zu töten, obwohl sie keine Ahnung von dem Wie hatten, und so hielten sie sich von jedweden in Roben gewandeten Besuchern fern.

Am zweiten Tag hatte ein Sandsturm Dannyl gezwungen, neben dem Fahrer Platz zu nehmen und mit einer magischen Barriere Pferd und Kutsche zu schützen und dafür zu sorgen, dass die Straße sichtbar blieb. Am dritten Tag hatte die Sandfläche Grasbüscheln und verkümmerten Büschen Platz gemacht. Während die Pflanzenwelt dichter wurde, waren auch grasende Tiere erschienen. Dann wichen diese Flächen den ersten kümmerlichen Getreidefeldern, die langsam gesünder und üppiger wirkten, bis alles angenehm und ländlich aussah – solange man nicht allzu genau zum südwestlichen Horizont blickte.

Ab und zu tauchten Ansammlungen weißer Gebäude und Mauern mehrere hundert Schritte von der Straße entfernt auf. Es waren die Güter von Sachakas mächtigen Landbesitzern, den Ashaki. Erst als sie die ersten dieser Güter passierten, wurde Lorkin klar, dass die Ruinen im Ödland wahrscheinlich einst genauso ausgesehen hatten.

Heute Abend sollten Lorkin und Dannyl bei einem Ashaki übernachten. Lorkin war sich nicht sicher, wie viel von seiner nervösen Gespanntheit, endlich einem Sachakaner zu begegnen, auf Aufregung zurückzuführen war und wie viel auf Furcht. Dannyl hatte sich in Imardin mit dem sachakanischen Botschafter getroffen, aber Lorkin war damals offiziell noch nicht sein Gehilfe gewesen und hatte daher nicht an dem Treffen teilgenommen.

Ich will, dass wir uns beeilen und unser Ziel erreichen, aber wie viel davon ist auf Hunger und den Wunsch nach einem bequemen Bett und einer durchgeschlafenen Nacht zurückzuführen?

Die Kutsche verlangsamte ihr Tempo, dann bog sie von der Hauptstraße ab. Lorkins Herz begann zu rasen. Als er sich dichter zum Fenster hinüberbeugte, sah er weiße Gebäude am Ende der schmalen Straße, der die Kutsche folgte. Die Wände waren glatt und gewölbt, ohne scharfe Kanten. Als sie näher kamen, konnte er durch einen Torbogen vor ihnen schlanke, umherhuschende Gestalten sehen. Eine davon blieb im Torbogen stehen, dann drehte sie sich um und winkte den anderen, bevor sie verschwand.

Als sie durch das Tor fuhren, fanden sie sich in einem beinahe verlassenen Innenhof wieder. Wer immer die Leute waren, sie hatten sich zurückgezogen. Ein einzelner Mann trat aus einer schmalen Tür, als die Kutsche zum Stehen kam, und ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden fallen.

Er war offensichtlich ein Sklave. Lorkin sah Dannyl an, der grimmig nickte und ausstieg. Der Mann auf dem Boden rührte sich nicht. Lorkin folgte Dannyl und schaute zu dem Fahrer auf. Der Mann runzelte missbilligend die Stirn.

Nun, man hat uns gesagt, dass wir dies erwarten müssten. Das macht es allerdings nicht weniger beunruhigend. Trotzdem, die Dinge werden hier anders gehandhabt. Der Herr des Hauses erscheint nicht, um seine Gäste zu begrüßen. Er heißt sie willkommen, sobald sie eingetreten sind.

»Bring uns zu deinem Herrn«, wies Dannyl den Mann an. Sein Tonfall war weder befehlend, noch klang er wie eine Bitte. Lorkin kam zu dem Schluss, dass dies ein guter Kompromiss sei, und nahm sich vor, das Gleiche zu tun, wenn er einen Sklaven ansprach.

Der liegende Mann erhob sich, und ohne aufzublicken oder etwas zu sagen, kehrte er durch die Tür in das Gebäude zurück. Dannyl und Lorkin folgten ihm in einen Flur. Die Innenwände waren genauso wie die äußeren Mauern, wenn auch vielleicht eine Spur glatter. Als Lorkin genauer hinschaute, sah er Fingerabdrücke auf der Oberfläche. Die Wände waren mit einer Art Putz bestrichen worden. Er fragte sich, ob sich darunter ein Mauerkern aus massivem Stein oder Ziegelsteinen verbarg oder ob es sich um reine, aus mehreren Schichten aufgebaute Lehmwände handelte.

Am Ende des Flurs angelangt, trat der Sklave beiseite und warf sich zu Boden. Dannyl und Lorkin gingen in einen großen Raum, dessen weiße Wände mit Wandbehängen und Schnitzereien geschmückt waren. Auf einem von drei niedrigen Hockern saß ein Mann, der jetzt aufstand und sie anlächelte.

»Willkommen. Ich bin Ashaki Tariko. Ihr müsst Botschafter Dannyl und Lord Lorkin sein.«

»So ist es«, erwiderte Dannyl. »Es ist uns eine Ehre, Euch kennenzulernen, und wir danken Euch für die Einladung in Euer Heim.«

Der Mann war einen Kopf kleiner als Dannyl, aber sein kräftiger Körperbau weckte den Eindruck von Stärke. Seine Haut war von dem typisch sachakanischen Braunton – heller als die eines Lonmars, aber dunkler als der honigbraune Teint eines Elyners. Aufgrund der Falten um Mund und Augen schätzte Lorkin ihn auf ein Alter zwischen vierzig und fünfzig. Er trug eine mit bunter Stickerei bedeckte kurze Jacke über einem schlichten Untergewand sowie eine Hose aus dem gleichen Tuch wie die Jacke, wenn auch nicht so kunstvoll geschmückt.

»Kommt und setzt Euch zu mir«, lud Ashaki Tariko sie ein und deutete auf die Hocker. »Ich habe Wächter auf der Straße postiert, die mich über Euer Kommen verständigt haben, so dass ich eine Mahlzeit für Eure Ankunft bereithalten konnte.« Er wandte sich an den auf dem Boden liegenden Sklaven. »Melde der Küche, dass unsere Gäste eingetroffen sind«, befahl er.

Der Mann sprang auf und eilte davon. Während Lorkin Dannyl zu den Hockern folgte, sah er ein Aufblitzen von etwas Metallischem an Tarikos Hüfte und schaute genauer hin. Der Ashaki trug am Gürtel eine reich verzierte Scheide, aus der der ebenfalls kunstvoll gearbeitete Griff eines Messers ragte. Die Waffe war recht schön, mit Juwelen besetzt und mit goldenen Einlegearbeiten versehen.

Dann überlief Lorkin ein kalter Schauer.

Es ist das Messer eines Schwarzmagiers. Ashaki Tariko ist ein Schwarzmagier. Einen Moment lang stieg eine Woge der Furcht in ihm auf, die seltsam berauschend war, aber das Gefühl verebbte schnell und ließ einen enttäuschenden Zynismus zurück.

Ja, und das Gleiche gilt für deine Mutter, dachte er, und plötzlich wusste er, dass das Leben in einem Land voller Schwarzmagier nicht gar so aufregend und neuartig sein würde, wie er es sich vorgestellt hatte.

Seine Gedanken wurden durch einen Strom von Männern und Frauen unterbrochen, die sehr schlicht gekleidet waren: Sie hatten sich ein Tuch um den Leib gewickelt, das von einer Schnur um die Taille zusammengehalten wurde. Jeder trug ein Tablett voller Speisen oder Krüge und Kelche. Exotische Gerüche drangen an seine Nase, und sein Magen begann zu knurren. Jeder Sklave ging auf Ashaki Tariko zu, streckte ihm mit gesenktem Kopf seine Last entgegen und kniete dann vor ihm nieder. Der Erste hielt die Utensilien, mit denen der Gastgeber und seine Gäste essen würden: für jeden einen Teller und ein Messer mit einer gegabelten Spitze. Dann wurden die Kelche dargeboten und mit Wein gefüllt. Zu guter Letzt wurden Schalen dargeboten, von denen der Herr des Hauses die erste auswählte, dann Dannyl, dann Lorkin. Tariko entließ jeden Sklaven mit einem leisen »Geh«.

Der Herr des Hauses zuerst, sagte Lorkin sich im Stillen vor. Magier vor Nichtmagiern, Ashaki vor landlosen freien Männern, Alter vor Jugend, Männer vor Frauen. Nur wenn eine Frau Magierin und Oberhaupt ihrer Familie war, wurde sie vor den Männern bedient. Und Frauen essen ohnehin oft getrennt von den Männern. Ich frage mich, oh Ashaki Tariko eine Ehefrau hat.

Das Essen war kräftig gewürzt, manches davon so scharf, dass er innehalten und sich zwischen den Bissen den Mund mit Wein abkühlen musste. Er widerstand so lange wie möglich, sowohl in der Hoffnung, dass er sich später an die Schärfe gewöhnen würde, als auch, weil er sich nicht bis zur Besinnungslosigkeit betrinken wollte – schon gar nicht an seinem ersten Abend als Gast im Haus eines sachakanischen Schwarzmagiers.

Während Dannyl und ihr Gastgeber über die Reise durch das Ödland, das Wetter, das Essen und den Wein sprachen, beobachtete Lorkin die Sklaven. Diejenigen von ihnen, die als Letzte ihre Lasten präsentiert hatten, hatten am längsten gewartet, doch ihre Arme zitterten nicht. Es war sehr seltsam, diese stummen Menschen im Raum zu haben, die praktisch ignoriert wurden, während Tariko und Dannyl sich unterhielten.

Diese Leute sind Tarikos Besitz, rief er sich ins Gedächtnis. Man lässt sie wie Vieh arbeiten und züchtet sie auch wie Vieh. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein solches Leben wäre, und schauderte. Erst als die letzte Speise dargeboten und der letzte Sklave entlassen war, konnte Lorkin seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch richten.

»Wie ist es, so nah am Ödland zu leben?«, erkundigte sich Dannyl.

Tariko zuckte die Achseln. »Wenn der Wind aus dieser Richtung kommt, saugt er die Feuchtigkeit aus allen Dingen. Er kann eine Ernte zerstören, wenn er zu lange weht. Anschließend ist alles von einer feinen Sandschicht bedeckt, drinnen wie draußen.« Er blickte auf, über die Mauern hinweg in Richtung des Ödlands. »Die Ödländer werden mit jedem Jahr ein wenig größer. Eines Tages, vielleicht in tausend Jahren, werden die Sandflächen sich mit jenen im Norden vereinen, und ganz Sachaka wird eine Wüste sein.«

»Es sei denn, es lässt sich umkehren«, sagte Dannyl. »Hat irgendjemand hier versucht, den Ödländern das Land wieder abzuringen?«

»Viele.« Natürlich haben wir es versucht, schien Tarikos Gesichtsausdruck zu sagen. »Manchmal mit Erfolg, aber niemals dauerhaft. Jene, die die Ödländer studiert haben, sagen, dass die fruchtbare obere Schicht des Landes weggerissen wurde, und ohne sie lässt sich das Wasser nicht festhalten, und Pflanzen können nicht zurückkehren.«

Interesse glitzerte in Dannyls Blick. »Aber Ihr habt keine Ahnung, wie?«

»Nein.« Tariko seufzte. »Alle paar Jahre fällt in der nördlichen Wüste Regen, und binnen weniger Tage wird das Land grün. Die Erde ist reich an Asche von den Vulkanen. Einzig der Mangel an Regen führt dazu, dass das Land eine Wüste bleibt. Hier haben wir jede Menge Regen, aber es wächst trotzdem nichts.«

»Das klingt wie ein Wunder, das man gesehen haben muss«, murmelte Lorkin. »Ich meine, die nördliche Wüste in Blüte.«

Tariko lächelte ihn an. »Das ist es auch. Die Duna-Stämme kommen nach Süden, um die Wüstenpflanzen abzuernten und die getrockneten Kräuter, Früchte und Samen in Arvice zu verkaufen. Wenn Ihr Glück habt, wird ein solches Ereignis während Eures Aufenthalts stattfinden, und Ihr werdet die Gelegenheit haben, einige seltene Gewürze und Delikatessen zu kosten.«

»Ich hoffe es«, sagte Lorkin. »Obwohl ich mir nichts Exotischeres und Köstlicheres vorstellen kann als die Mahlzeit, die wir gerade genossen haben.«

Der Sachakaner lachte leise, erfreut über die Schmeichelei. »Ich sage immer, dass von allen Sklaven gute Köche die zusätzlichen Ausgaben am meisten lohnen. Und Pferdeausbilder.«

Lorkin gelang es nur mit knapper Not zu verhindern, dass er angesichts einer solch lässigen Bemerkung über den Kauf von Menschen zusammenzuckte, und er war froh, dass Tariko nicht weiter darüber sprach. Nach einer Erörterung der einheimischen sachakanischen Speisen, während derer Tariko ihnen empfahl, bestimmte Gerichte zu kosten und andere zu meiden, straffte sich der Ashaki.

»Nun, Ihr müsst müde sein, und nachdem Ihr jetzt gegessen habt, will ich Euch nicht länger von einem Bad und Eurem Bett fernhalten.«

Dannyl wirkte enttäuscht, als ihr Gastgeber sich erhob, protestierte jedoch zu Lorkins Erleichterung nicht dagegen. Ein Gong erschallte, und zwei junge Frauen kamen hereingeeilt, um sich auf den Boden zu werfen.

»Bringt unsere Gäste in ihre Zimmer«, befahl er. Dann lächelte er Dannyl und Lorkin zu. »Ruht wohl, Botschafter Dannyl und Lord Lorkin. Ich werde Euch morgen früh wiedersehen.«


Cery schob die Kappe darüber nach oben, legte ein Auge an das Guckloch hin und spähte in den Raum dahinter. Er war schmal, aber sehr lang, so dass er insgesamt geräumig wirkte. Die Form hatte ihm nicht gefallen, aber man konnte den Raum in eine Reihe kleinerer Zimmer mit zahlreichen Fluchtmöglichkeiten unterteilen.

Mehrere Männer arbeiteten in dem Raum; sie bedeckten die Ziegelsteinmauern mit Vertäfelung, bauten das Gerüst für die Trennwände und kachelten den Boden. Zwei arbeiteten am Kamin und beseitigten eine Verstopfung. Sobald sie alle fertig waren und man gründlich sauber gemacht hatte, würde es ans Einrichten gehen, und Cerys neues Versteck – und die Falle für den Jäger der Diebe – würde zu einer geschmackvollen, luxuriösen Wohnung werden.

»Bist du dir sicher, dass du denselben Schlossmacher benutzen willst?«, fragte Gol.

Cery drehte sich um und sah das Auge seines Leibwächters, das von einem kleinen Lichtkreis hinter einem anderen Guckloch erhellt wurde.

»Warum sollte ich nicht?«

»Du hast gesagt, du glaubtest nicht, dass Dern dich verraten habe, und wenn niemand dich verrät, dann wird der Diebesjäger auch niemals in unsere Falle tappen.«

Cery, der sich wieder dem Guckloch zuwandte, beobachtete die Männer bei der Arbeit. »Ich will nicht, dass die Leute denken, ich gäbe ihm die Schuld.«

»Ich bin trotzdem immer noch ein wenig argwöhnisch, was das Schloss betrifft. Warum sollte Dern es so bauen, dass man erkennen kann, ob Magie benutzt wurde, wenn es so unwahrscheinlich ist, dass Magie überhaupt benutzt werden würde?«

»Vielleicht dachte er, es sei durchaus wahrscheinlich. Schließlich bin ich ein Dieb. Diebe werden jetzt schon seit einigen Jahren ermordet.«

»Dann muss er einen Grund zu der Annahme haben, sie seien durch Magie getötet worden.«

»Vielleicht hat er diesen Grund. Vielleicht ist das, was Auftragsmörder wissen, nicht so geheim, wie sie glauben. Aber mir schien Dern stets gewohnheitsmäßig so gründlich zu sein, dass es schon ans Lächerliche grenzte, und ich denke, das ist der Grund, warum er das Schloss so gebaut hat, nicht der Umstand, dass er etwas über den Jäger und dessen Methoden wusste.«

Gol seufzte. »Ja… manchmal macht er tatsächlich diesen Eindruck. Und obwohl er dankbar dafür war, weitere Aufträge von dir zu erhalten, wirkte er auch, nun ja, nervös. Angespannt. Er sagte immer wieder, wenn der Jäger und der wilde Magier tatsächlich real seien und ein und dieselbe Person, welche anderen Legenden könnten dann noch wahr sein? Wie die Legende von den Riesen-Ravis, die Menschen bei lebendigem Leib fressen, wenn sie sich in die Kanalisation begeben, oder plötzlich daraus auftauchen und Leute von der Straße der Diebe wegreißen.«

»Es ist nur natürlich, dass er sich solche Fragen stellt.« Cery schüttelte den Kopf. »Ich habe den wilden Magier auch immer für einen Mythos gehalten. Die Leute erzählen sich, es habe sich zwanzig Jahre lang ein Magier in der Stadt versteckt, obwohl Senfel sich der Gilde wieder angeschlossen hat, nachdem man ihm Straffreiheit gewährt hatte, und er ist an Altersschwäche gestorben… Wann war das noch? Vor neun oder zehn Jahren?«

»Senfel hat die Leute auf diese Idee gebracht – genauso wie Sonea. Jetzt ist jedes seltsame Ereignis, das magischer Natur sein könnte, Beweis dafür, dass weitere wilde Magier in der Stadt leben.«

»Sieht so aus, als könnten sie da recht haben.« Cery runzelte die Stirn. »Aber das ist ein Grund mehr, warum wir uns sicher sein müssen, bevor wir es Sonea sagen.«

Gol brummte zustimmend. »Denkst du, wir sollten Skellin erzählen, was wir tun?«

»Skellin?« Einen Moment lang fragte sich Cery, warum, dann fiel ihm die Übereinkunft wieder ein, die er mit dem anderen Dieb geschlossen hatte. »Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, ob die Person, die wir in die Falle locken wollen, tatsächlich der Jäger ist. Es könnte auch jemand sein, der es einfach auf mich abgesehen hat. Und der Magie benutzt.«

»Der wilde Magier?«

»Vielleicht. Wir werden es bald wissen. Und wenn es dann einen guten Grund zu der Annahme gibt, er sei der Jäger, werden wir es Skellin erzählen.«

Für eine Weile blickten sie beide nur schweigend durch die Gucklöcher, dann ließ Cery die Kappe seines Gucklochs zurückschwingen. Die Arbeiter kannten die Fluchtwege, die sie bauten, aber keinen von denen, die bereits existierten. Ebenso wenig wussten sie von den Gucklöchern, durch die Cery und Gol sie beobachteten.

»Lass uns gehen.«

Das Loch aus Licht vor Gols Auge verschwand. Cery setzte sich in Bewegung und strich dabei mit einer Hand an der Wand entlang.

Ich frage mich, welcher der Arbeiter, die ich eingestellt habe, den Standort meines neuen Verstecks durchsickern lassen wird. Obwohl Cery Arbeiter immer gut behandelte und sie gerecht und ohne Verzug entlohnte, konnte er sich ihrer Loyalität oder ihrer Fähigkeit, Geheimnisse zu hüten, niemals ganz sicher sein. Er brachte so viel wie möglich über sie in Erfahrung: ob sie Familie hatten, ob ihnen diese Familie am Herzen lag, ob sie Schulden hatten, für wen sie in der Vergangenheit gearbeitet hatten, wer für sie gearbeitet hatte. Ob es jemanden – insbesondere die Wache – gab, dem sie lieber nicht begegnen wollten.

Nicht diesmal. Gol hat begonnen, Informationen zusammenzutragen, aber es ist nicht genug Zeit, um gründlich zu sein. Damit die Falle funktionierte, brauchte Cery jemanden, der Informationen darüber preisgab. Aber wenn ich nicht gewisse Vorkehrungen treffe, könnte der Jäger vielleicht denken, es sei untypisch für mich, und argwöhnisch werden.

Der Gang machte eine Biegung und dann noch eine.

»Du kannst die Lampe jetzt wieder öffnen«, murmelte Cery.

Nach einem Moment der Stille folgte ein schwaches Quietschen, und plötzlich war der Tunnel sichtbar.

»Weißt du, jeder dieser Arbeiter könnte der Jäger sein.«

Cery blickte über die Schulter zu seinem Freund hinüber. »Gewiss nicht.«

Gol zuckte die Achseln. »Selbst der Jäger muss essen und braucht ein Dach überm Kopf. Er muss irgendeine Art von Arbeit haben.«

»Es sei denn, er ist reich«, bemerkte Cery, bevor er sich wieder umdrehte.

»Es sei denn, er ist reich«, pflichtete Gol ihm bei.

Früher hätte man mit Sicherheit davon ausgehen können, dass der Jäger reich war. Nur reiche Leute erlernten Magie. Aber heutzutage konnten alle Klassen der Gilde beitreten. Und wenn der Jäger es sich nicht leisten konnte, Leute zu bestechen, konnte er sie immer noch erpressen und bedrohen – möglicherweise noch wirksamer mit Magie, mit der er seine Opfer einschüchtern konnte.

Ich wünschte, ich könnte Sonea fragen, ob irgendwelche Magier oder Novizen verschwunden sind. Aber ich will kein erneutes Treffen mit ihr riskieren, bis ich Beweise dafür habe, dass sich ein wilder Magier in der Stadt aufhält.

Und in der Zwischenzeit sollte er am besten dafür sorgen, dass er diesen Beweis bekam, ohne dabei getötet zu werden.

10 Eine neue Herausforderung

Der ehemalige Gildebotschafter in Sachaka hatte Dannyl gesagt, dass Arvice nicht von Mauern umschlossen war. Das heißt, nicht von Mauern, die zur Verteidigung gedacht waren. Davon abgesehen gab es jede Menge Grenzmauern in Sachaka. Höher als ein Mann oder so niedrig, dass man darüber hinwegsteigen konnte, und immer weiß getüncht, markierten sie die Grenzen von Besitztümern. Der einzige Hinweis darauf, dass er und Lorkin die Stadt erreicht hatten, war der Umstand, dass jetzt hohe Mauern die Straßen säumten statt niedriger, mit Ausnahme der Stellen, an denen sie eingestürzt und nicht repariert worden waren.

Wir haben eine Menge Ruinen gesehen, ging es Dannyl durch den Sinn. Draußen im Ödland und dann gelegentlich eingestürzte Mauern innerhalb von Gütern, die aussahen, als wären sie einst Herrenhäuser gewesen. Und jetzt dies… Die Kutsche fuhr an einer weiteren eingestürzten Mauer vorbei, und durch die Lücke konnte er die versengten, verfallenen Überreste eines Gebäudes sehen. Es ist so, als liege der sachakanische Krieg nur wenige Jahre zurück und als hätten sie noch keine Zeit für den Wiederaufbau gehabt.

Aber wenn die Erschaffung des Ödlands die Nahrungsmittelproduktion Sachakas halbiert hatte, wie Ashaki Tariko behauptete, dann war die Bevölkerung vielleicht in gleichem Maße geschrumpft. Häuser würden nicht wieder aufgebaut werden, wenn es niemanden gab, der in ihnen leben wollte.

Der Krieg liegt siebenhundert Jahre zurück. Gewiss sind die Häuser, die damals verlassen wurden, längst verschwunden. Diese Ruinen müssen jüngeren Datums sein. Vielleicht geht die Bevölkerung immer noch langsam zurück. Oder vielleicht sind die Besitzer zu arm, um sich Reparaturen oder einen Wiederaufbau leisten zu können.

Die Kutsche näherte sich einer jungen Frau, die barfuß die Straße entlangging und das schlichte, gegürtete Gewand einer Sklavin trug. Beim Näherkommen des Gefährts blickte sie auf, dann weiteten sich ihre Augen. Sie ging aus dem Weg, verbeugte sich und richtete den Blick zu Boden, als die Kutsche vorüberfuhr.

Dannyl runzelte die Stirn, dann beugte er sich näher zum Fenster vor, damit er nach vorn schauen konnte: Weitere Sklaven waren auf der Straße zu sehen. Auch sie reagierten mit Furcht, als die Kutsche näher kam. Einige drehten sich um und rannten davon. Jene, die in der Nähe von Nebenstraßen waren, machten sich diese zunutze. Andere erstarrten und pressten sich gegen die nächste Mauer.

Ist das ein normales Verhalten für Sklaven? Weichen sie vor allen Kutschen zurück, oder liegt es daran, dass dies eine Kutsche der Gilde ist? Wenn Letzteres zutrifft, warum fürchten sie uns? Haben irgendwelche von meinen oder Lorkins Vorgängern ihnen Grund zur Furcht gegeben? Oder fürchten sie Kyralia nur wegen vergangener Ereignisse?

Die Kutsche bog in eine andere Straße ein und überquerte dann eine breitere Durchgangsstraße. Dannyl bemerkte, dass die Sklaven hier nicht ganz so furchtsam waren, obwohl sie durchaus einen großen Bogen um die Kutsche machten. Nach einigen weiteren Biegungen fuhr die Kutsche plötzlich zwischen zwei Toren hindurch in einen Innenhof und blieb stehen. Ein Aufblitzen von Gold erregte seine Aufmerksamkeit, und er sah die Tafel an der Seite des Hauses: Gildehaus von Arvice.

Dannyl drehte sich zu Lorkin um. Der jüngere Mann saß sehr aufrecht da, und seine Augen leuchteten vor Erregung. Er sah Dannyl an, dann deutete er auf die Kutschentür.

»Der Botschafter zuerst«, sagte er grinsend.

Dannyl öffnete die Tür und stieg aus. In ihrer Nähe lag ein Mann auf dem Boden. Einen Moment lang zuckte Sorge in Dannyl auf, denn er fürchtete, der Fremde sei zusammengebrochen. Dann fiel es ihm wieder ein.

»Ich bin Gildebotschafter Dannyl«, sagte er. »Dies ist Lord Lorkin, mein Gehilfe. Du darfst dich erheben.«

Der Mann rappelte sich hoch, wobei er den Blick weiter zu Boden gerichtet hielt. »Mir wurde aufgetragen, Euch willkommen zu heißen, Botschafter Dannyl und Lord Lorkin, und Euch ins Haus zu geleiten.«

»Danke«, erwiderte Dannyl automatisch und erinnerte sich zu spät daran, dass derartige gesellschaftliche Gewohnheiten von Sachakanern als erheiternd und töricht angesehen wurden. »Führe uns hinein.«

Der Mann deutete auf eine nahe Tür, dann drehte er sich um und trat hindurch. Er blickte zurück, um sich davon zu überzeugen, dass sie ihm folgten, während er einen Flur entlangging. Geradeso wie in Ashaki Tarikos Haus führte er zu einem großen Raum – dem Herrenzimmer. Aber in diesem Raum herrschte Stimmengewirr. Es überraschte Dannyl, dass mindestens zwanzig Männer dort standen, alle in den üppig verzierten kurzen Jacken, die offensichtlich unter sachakanischen Männern gerade in Mode waren.

Bei seinem Eintritt drehten sich alle nach ihm um, und die Stimmen verstummten sofort.

»Botschafter Dannyl und Lord Lorkin«, verkündete der Sklave.

Einer der Männer trat lächelnd vor. Er hatte den typischen breitschultrigen Körperbau seiner Rasse, aber in seinem Haar waren einige graue Strähnen, und die Falten um Mund und Augen verliehen seinem Gesicht einen fröhlichen Ausdruck. Seine Jacke war dunkelblau und mit Goldstickerei besetzt, und an seinem Gürtel hing ein Schmuckmesser.

»Willkommen in Arvice, Botschafter Dannyl, Lord Lorkin«, sagte er und sah Lorkin kurz an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Dannyl richtete. »Ich bin Ashaki Achati. Meine Freunde und ich haben darauf gewartet, Euch zu begrüßen und Euch sachakanische Gastfreundschaft zuteilwerden zu lassen.«

Ashaki Achati. Erregung durchzuckte Dannyl, als er sich an den Namen erinnerte. Ein wichtiger Mann und Freund des sachakanischen Königs.

»Danke«, erwiderte Dannyl. »Ich…« Er sah Lorkin an und lächelte. »Wir fühlen uns geschmeichelt und geehrt.«

Ashaki Achatis Lächeln wurde breiter. »Erlaubt mir, Euch alle anderen vorzustellen.«

Wieder erfüllten Stimmen den Raum, während Achati die übrigen Männer einzeln oder paarweise herbeirief, um sie mit Dannyl bekannt zu machen. Ein fülliger Mann wurde als königlicher Meister des Handels vorgestellt, ein kleiner, gebeugter Mann entpuppte sich als der Meister des Gesetzes. Der Meister des Krieges schien eine eigenartige Wahl für dieses Amt zu sein – dünn für einen Sachakaner und übertrieben respektlos im Benehmen für eine so gewichtige und ernste Rolle. Die Freundlichkeit des Meisters der Dokumente wirkte erzwungen, aber Dannyl sah keine Abneigung in seinem Benehmen, nur eine Spur Langeweile.

»Und, habt Ihr schon irgendwelche Pläne zu Eurer Unterhaltung, falls Ihr von Euren diplomatischen Pflichten einmal nicht beansprucht seid?«, fragte ein Mann namens Ashaki Vikato, nachdem sie miteinander bekannt gemacht worden waren.

»Ich finde die Vergangenheit faszinierend«, antwortete Dannyl. »Ich würde gern mehr über Sachakas Geschichte erfahren.«

»Ah! Nun, dann solltet Ihr mit Kirota sprechen.« Der Mann deutete auf den Meister des Krieges. »Er redet immer über irgendwelche obskuren Teile der Vergangenheit oder liest alte Bücher. Was für die meisten sachakanischen Jungen eine lästige Pflicht ist, ist für ihn ein angenehmer Zeitvertreib.«

Dannyl schaute zu dem dünnen Mann hinüber, der über irgendeine Bemerkung grinste.

»Nicht mit dem Meister der Dokumente?«

»Nein«, sagte Ashaki Achati kopfschüttelnd. »Es sei denn, Ihr habt Probleme mit dem Einschlafen.«

Ashaki Vikato lachte leise. »Der alte Richaki hat mehr Interesse daran, die Gegenwart zu dokumentieren, als die Vergangenheit ans Licht zu zerren. Meister Kirota!«

Der dünne Mann drehte sich um und lächelte dann, als Vikato ihn heranwinkte. Er bahnte sich einen Weg durch den Raum.

»Ja, Ashaki Vikato?«

»Botschafter Dannyl interessiert sich für Geschichte. Was würdet Ihr vorschlagen, wie er diesem Interesse nachgehen kann, während er sich in Arvice aufhält?«

Kirota zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich?« Dann runzelte er die Stirn und dachte nach. »Es ist nicht leicht, Zugang zu Aufzeichnungen oder Bibliotheken zu erhalten«, warnte er. »All unsere Bibliotheken befinden sich in Privatbesitz, und Ihr müsstet Meister Richaki um Erlaubnis bitten, die Palastdokumente einsehen zu dürfen.«

Achati nickte. »Ich stehe mit den meisten Bibliotheksbesitzern in Arvice auf gutem Fuß. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch mit ihnen bekannt machen und feststellen, ob wir zu einigen der Bibliotheken Zutritt erlangen können.«

»Dafür wäre ich Euch überaus dankbar«, erwiderte Dannyl.

Achati lächelte. »Es wird keine Probleme geben. Sie werden alle den derzeitigen Gildebotschafter kennenlernen wollen. Die einzige Schwierigkeit könnte darin bestehen, ihnen die Erlaubnis abzuringen, Euch lange genug allein zu lassen, um etwas zu lesen. Gibt es irgendeinen Aspekt der Geschichte, der Euch besonders interessiert?«

»Je älter, desto besser. Und…« Dannyl hielt inne, um darüber nachzudenken, wie er sein Anliegen ausdrücken sollte. »Obwohl ich gerne meine Wissenslücken in Bezug auf die sachakanische Geschichte füllen würde, interessiert mich doch auch alles, was einige der Lücken in der kyralischen Geschichte füllen könnte.«

»Ihr habt Lücken?« Kirota zog abermals die Augenbrauen hoch. »Aber andererseits – haben wir die nicht alle?« Er lächelte, und die Linien auf seinem dünnen Gesicht vertieften sich, so dass Dannyl bewusst wurde, dass der Mann älter sein musste, als er anfangs vermutet hatte. »Vielleicht könnt Ihr mir ja helfen, auch einige der Lücken in unserer Geschichte zu füllen, Botschafter Dannyl.«

Dannyl nickte. »Ich werde tun, was ich kann.«

Während Achati sich im Raum umsah, vielleicht um festzustellen, ob er es versäumt hatte, irgendjemanden mit den Neuankömmlingen bekannt zu machen, bemerkte Dannyl, dass er sich vollkommen wohlfühlte, obwohl er von Schwarzmagiern umringt war. Dies waren Männer von Macht und Einfluss, und mit solchen Männern hatte er in der Vergangenheit häufig zu tun gehabt. Vielleicht wird meine Aufgabe nicht viel schwerer sein, als sie es in Elyne gewesen war. Nicht dass es dort ein Zuckerschlecken gewesen wäre. Und mir scheint, dass auch schwarze Magie niemanden daran hindert, gelehrten Interessen nachzugehen. Ein Prickeln der Erwartung durchlief ihn bei dem Gedanken an die Dokumente, über die er vielleicht in diesen privaten Bibliotheken stolpern würde, die Achati erwähnt hatte. Dann durchzuckte ihn ein Stich des Schuldgefühls und des Kummers. Es wäre schön gewesen, diese Entdeckungen mit Tayend zu teilen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er sich jetzt noch so sehr dafür interessiert. Und so freundlich diese Männer wirken, er ist daheim in Kyralia sicherer aufgehoben.


Die Menschenmenge vor dem Nordseite-Hospital war kleiner als gewöhnlich. Bleiche Gesichter wandten sich der Kutsche zu, und die Augen der Menschen leuchteten vor Hoffnung, obwohl ihre Mienen wachsam blieben. Sonea fuhr mit ihrem Wagen durch das Tor und musste unwillkürlich seufzen.

Als die Hospitäler seinerzeit eröffnet worden waren, hatten sich Horden kranker Menschen draußen vor den Toren versammelt und sich zu denen gesellt, die nur gekommen waren, um die legendäre Magierin aus den Hüttenvierteln, die ehemalige Verbannte und Verteidigerin Kyralias zu sehen. Jene Menschen, die ihre schwarzen Roben nicht eingeschüchtert hatten, hatten sie bettelnd umringt und es ihr erschwert, ins Hospital zu gelangen und die Arbeit zu tun, die sie tun musste. Sie hatte sich nicht dazu überwinden können, die Bittsteller mithilfe ihrer Magie fortzuschieben. Andere Heiler hatten ähnliche Probleme gehabt, wenn die Kranken, die noch nicht im Hospital aufgenommen worden waren, oder ihre Familien um Hilfe bettelten.

Daher hatte man geschlossene Kutschenwege neben den Hospitälern erbaut, mit Wachen an den Toren und einem Nebeneingang. Diese ermöglichten es den Heilern, unbehelligt im Hospital anzukommen und aus der Kutsche zu steigen. Sonea wartete, bis die Wachen ihr zuriefen, dass der Weg frei sei, dann stieg sie aus der Kutsche. Als sie sich den Männern zuwandte, um ihnen zum Dank ein Lächeln zu schenken, verbeugten die beiden Wachen sich. Dann hörte sie, dass die Nebentür des Hospitals geöffnet wurde.

»… und es wird auch Zeit – oh!«

Als Sonea sich umdrehte, sah sie Heilerin Ollia, die sie entsetzt anstarrte.

»Entschuldigung, ähm, Schwarzmagierin Sonea. Ich war… wir waren…«

»Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte.« Sonea lächelte. »Ich bin spät dran, weil ich unerwartet für Heiler Draven einspringen muss. Seine Mutter ist plötzlich erkrankt.« Sie trat beiseite und nickte in Richtung Kutsche. »Fahrt nur. Ihr müsst müde sein.«

»Ähm. Danke.« Errötend eilte Ollia an ihr vorbei und stieg in die Kutsche.

Sonea wandte sich ab und ging hinein. Im Hospital bildete ein großer Raum voller Vorräte mit einem zentralen Sitzbereich für erschöpfte Heiler und Helfer einen Hort der Ungestörtheit zwischen dem Personaleingang und den öffentlichen Räumen. Auf einem der Stühle saß eine junge Frau in grünen Roben, deren Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln emporzuckten.

»Guten Abend, Schwarzmagierin Sonea«, begrüßte Nikea sie.

»Heilerin Nikea«, erwiderte Sonea. Sie mochte Nikea. Die junge Heilerin hatte sich, nicht lange nachdem sie der Gilde beigetreten war, freiwillig gemeldet, um im Hospital auszuhelfen, und ihre Liebe sowohl zum Heilen als auch zum Helfen entdeckt. Ihre Eltern waren Dienstboten in einem der weniger mächtigen Häuser. »Sieht still aus heute Abend.«

»Mehr oder weniger.« Nikea zuckte die Achseln. »Habe ich richtig gehört? Ihr springt für Heiler Draven ein?« »Ja.«

Nikea erhob sich. »Dann sollte ich Adrea besser wissen lassen, dass Ihr hier seid.« »Ich werde Euch begleiten.«

Sonea folgte ihr durch die Tür in den Hauptteil des Hospitals und schloss sie hinter sich mit Magie. Während sie den Flur entlanggingen, lauschte sie auf die Geräusche, die aus den Behandlungsräumen drangen. Schnarrendes Keuchen sagte ihr, dass sich in einem Raum ein Patient mit Atemproblemen befand, und Stöhnen hinter einer anderen Tür deutete auf Schmerzen hin. Alle Räume waren wie immer besetzt – einige sowohl mit einem Patienten als auch den beiden Familienmitgliedern, denen es gestattet war, zu bleiben und bei der Pflege zu helfen.

Es waren zu wenig Heiler bereit, in den Hospitälern zu arbeiten, um die Vielzahl der Kranken, die sie besuchten, zu behandeln, und selbst mit vereinten Kräften hatten sie nicht genug Macht, um die Nachfrage zu befriedigen. Aber auch wenn alle Heiler der Gilde gezwungen würden, täglich in den Hospitälern zu arbeiten, würde ihre Zahl immer noch nicht ausreichen. Sonea hatte gewusst, dass sie in diesen Häusern mit einem begrenzten Kontingent magischer Heilkraft auskommen müssten.

Daher hatte sie dafür gesorgt, dass man heilende Magie bei der Behandlung wie eine seltene und machtvolle Medizin einsetzte. Nur jene, die ohne sie nicht überleben würden, wurden mit Magie geheilt. Die Übrigen behandelte man mit Medikamenten und Operationen.

Dadurch indes war offenbart worden, dass die Heiler der Gilde nicht so viel über nichtmagische Heilung wussten, wie sie gedacht hatten. Diejenigen Heiler, die Sonea bei der Behandlung der Armen unterstützten, hatten begonnen, ihr Wissen auf Gebieten zu erweitern, die lange Zeit vernachlässigt worden waren. Einige Heiler betrachteten das Heilen ohne Magie als primitiv und unnötig, aber Lady Vinara, das Oberhaupt der Heiler, war nicht geneigt, ihnen recht zu geben. Sie schickte Sonea jetzt Novizen, die eine Vorliebe für die heilende Disziplin zeigten, damit sie lernten, wie man nichtmagische Heilung anwandte und warum sie immer noch benötigt wurde.

Nikea bog in den Hauptflur ein und führte Sonea in den allgemeinen Eingangsraum des Hospitals. Dort ging eine kleine, rundliche Frau mit grauen Strähnen im Haar auf und ab und beobachtete mit vor der Brust verschränkten Armen und strenger Miene die Menschen, die auf Bänken an den Wänden saßen. Sonea verkniff sich ein Lächeln.

Adrea. Eine unserer ersten nichtmagischen Helferinnen.

Als die ersten Hospitäler eröffnet worden waren, hatten die Heiler zu viel Zeit damit verbracht, mit allen Besuchern zu reden, um herauszufinden, wer krank war und wer nicht. Außerdem mussten sie entscheiden, wie ernst die Krankheit oder Verletzung war, und den Patienten an einen Heiler mit der entsprechenden Erfahrung und dem notwendigen Wissen weiterleiten. Schon bald klagten Heiler darüber, dass sie ihre Zeit damit verbrächten, Leute hin und her zu schicken, statt sie zu heilen. Sie versuchten, die Aufgabe Novizen zu übertragen, aber die neuen Novizen waren entweder zu jung oder zu unerfahren, um mit beunruhigten Patienten und ihren Familien fertigzuwerden, und die älteren mussten mehr lernen, als Krankheiten zu diagnostizieren und Leute hin und her zu schaffen.

Es war Lady Vinaras Idee gewesen, in den Häusern nach Freiwilligen für die Hospitäler zu suchen. Sonea hatte keine Reaktion darauf erwartet, daher hatte es sie überrascht, als einige Tage später drei Frauen an der Tür erschienen waren. Sie hatte sich binnen kurzem nützliche Aufgaben ausdenken müssen, die für Frauen aus den höheren Klassen nicht zu einfach, aber auch nicht so wichtig waren, dass allzu viele Probleme aufgeworfen oder größere Schäden angerichtet wurden, wenn man ihnen mehr schlecht als recht nachkam.

Nur eine dieser Frauen war nach jenem ersten Tag ins Hospital zurückgekehrt, aber nach einigen Wochen hatte sie nicht nur bewiesen, dass sie tüchtig war, sie überredete auch bald drei andere Frauen – Freundinnen und Verwandte –, es einmal als »Hospitalhelferinnen« zu versuchen.

Einige Wochen später waren weitere Helferinnen gekommen. Gerüchte über die ursprünglichen Helferinnen hatten die Runde gemacht, und man fand allenthalben, dass sie Bewunderung für ihre noble Bereitschaft verdienten, zum Wohl der Stadt Zeit zu opfern und ihre persönliche Sicherheit zu riskieren. Plötzlich kam es regelrecht in Mode, in den Hospitälern zu helfen, und es gab eine Flut von Freiwilligen.

Die Realität der Arbeit dämpfte aber bald vielfach die Begeisterung der Helfer, und die Zahl neuer Freiwilliger sank wieder. Die Helfer, die verblieben, setzten ihre Arbeit in den Hospitälern nicht nur fort, sondern organisierten sich zu Schichten und hielten Versammlungen ab, um über neue oder bessere Möglichkeiten zu sprechen, wie Nichtmagier den Armen und den Heilern helfen konnten.

»Adrea!«, rief Nikea.

Die Frau drehte sich um, und als sie Sonea sah, verneigte sie sich tief. »Schwarzmagierin Sonea«, sagte sie.

»Adrea«, erwiderte Sonea. »Ich nehme heute Abend den Platz von Heiler Draven ein. Gebt mir ein paar Minuten, und dann schickt den ersten herein.«

Die Frau nickte. Sonea wandte sich wieder dem Flur zu, machte einen Schritt in Richtung des Untersuchungsraums und blieb dann stehen, um Nikea noch einmal anzusehen.

»Hier gibt es nichts, was spezieller Aufmerksamkeit bedürfte?«, fragte sie und deutete den Flur entlang zu den Patientenräumen.

Nikea schüttelte den Kopf. »Nichts, womit wir nicht fertigwerden können. Wir kümmern uns zu dritt um die Räume. Alle Patienten haben zu essen bekommen, und die Hälfte von ihnen schläft wahrscheinlich bereits. Ich werde es Euch wissen lassen, wenn sich etwas ergeben sollte.«

Sonea nickte. Sie trat vor die erste Tür auf der linken Seite und öffnete sie. Der Raum dahinter war groß genug für zwei Stühle, einen verschlossenen Schrank und ein schmales Bett an einer der Wände. Es war dunkel, daher schuf sie eine Lichtkugel und ließ sie in der Mitte des Raums unter der Decke schweben.

Nachdem sie sich auf einen der Stühle gesetzt hatte, holte sie tief Luft und bereitete sich auf den ersten Patienten vor. Adrea würde einen Gong läuten, wenn jemand kam, der sofort behandelt werden musste. Die Übrigen wurden in den Untersuchungsraum geschickt, wo ein Heiler sie befragte, bevor er sie entweder mit Magie heilte oder mit Medikamenten oder einer kleineren Operation behandelte. Wenn größere Operationen vonnöten waren, baten sie den Patienten, an einem anderen Tag wieder herzukommen.

Es klopfte an der Tür. Sonea zog ein wenig Magie in sich hinein und sandte sie zur Tür, drehte den Knauf und zog sie nach innen auf. Der Mann auf dem Flur wirkte überrascht, als er niemanden hinter der Tür stehen sah, obwohl er das Hospital bereits einige Male zuvor besucht hatte. Als sie ihn erkannte, hob sich ihre Stimmung sofort.

»Steinmetz Berrin«, sagte Sonea. »Kommt herein.«

Als er sie sah, wirkte er erleichtert. Er verneigte sich, schloss die Tür, ging zu dem Stuhl und setzte sich.

»Ich hatte gehofft, dass Ihr hier sein würdet«, erklärte er. Sie nickte. »Wie geht es Euch?«

Der Mann rieb sich die Hände und hielt inne, um nachzudenken, bevor er antwortete: »Ich glaube nicht, dass es funktioniert hat.«

Sonea musterte ihn nachdenklich. Er war vor fast einem Jahr zum ersten Mal ins Hospital gekommen und hatte sich geweigert zu erzählen, was ihm fehlte. Sie hatte etwas Peinliches und Privates vermutet, aber was er dann langsam und widerstrebend enthüllt hatte, war eine Abhängigkeit von Feuel.

Es hatte einigen Mut gekostet, das zuzugeben, das wusste sie. Er war der Typ Mann, der hart arbeitete und sich rühmte, »ehrliche« Arbeit zu tun. Aber als seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes, das nicht überlebt hatte, gestorben war, war er so voller Trauer und Schuldgefühle gewesen, dass er die Ware eines Feuelverkäufers mit Hingabe gekostet hatte. Als der Schmerz weit genug zurückgegangen war, um seine frühere Arbeit wiederaufzunehmen, hatte er festgestellt, dass er die Droge nicht mehr aufgeben konnte.

Zuerst hatte sie ihn ermutigt, seinen Verbrauch von Feuel zu reduzieren und die Schmerzen, das ständige Verlangen und die Übellaunigkeit, die damit einhergingen, schlicht mannhaft zu ertragen. Er hatte sich gut gemacht, aber es hatte ihn erschöpft. Und sein Verlangen nach dem betäubenden, befreienden Gefühl des Feuel hatte dadurch nicht im Mindesten nachgelassen. Schließlich, nach etlichen Monaten, hatte Sonea Mitleid mit ihm und beschloss zu sehen, ob Magie den Prozess beschleunigen könnte.

Alle Heiler waren übereingekommen, dass die Abhängigkeit von Feuel keine Krankheit sei; daher galt die Benutzung von Magie zur Heilung der Sucht als eine Verschwendung des kostbaren Gutes. Sonea hatte ihnen zugestimmt, aber Berrin war ein guter Mann, den man verleitet hatte, als er am verletzlichsten gewesen war. Sie hatte ihn heimlich geheilt.

»Warum denkt Ihr, dass es nicht funktioniert hat?«, fragte sie ihn.

Er senkte den Blick, und seine Augen waren groß vor Kummer. »Ich will es immer noch. Nicht mehr so sehr wie früher. Ich dachte, es würde immer weniger werden. Aber so ist es nicht. Es ist wie… ein tropfender Hahn. Leise, aber wenn man innehält und lauscht, ist es da und nagt an einem.«

Sonea runzelte die Stirn, dann bedeutete sie ihm, näher zu kommen. Er schob den Stuhl neben ihren. Sie beugte sich vor, legte ihm die Hände an die Seiten des Kopfes und schloss die Augen.

Es war eine seltsame Erfahrung gewesen, ihn zu heilen. Es hatte ihm nichts Offenkundiges gefehlt. Kein Bruch, kein Riss und keine Infektion, mit der sein Körper bereits fertig zu werden versuchte. Meistens konnte ein Heiler aus dem Körper ersehen, was nicht stimmte, und sich von ihm bei der Anwendung von Magie zur Behebung des Schadens leiten lassen. Manchmal war das Problem zu unterschwellig, aber wenn man dem Körper erlaubte, Magie zu benutzen, um den Fehler zu bereinigen, funktionierte das fast immer.

In Berrin hatte sie einen Kummer, einen Schmerz gespürt, der an verschiedenen Stellen in ihm wohnte – in den Pfaden seiner Wahrnehmung und in seinem Gehirn. Aber er war so schwer greifbar gewesen, dass sie nicht verstanden hatte, wie sie das Problem beheben sollte. Also hatte sie sich von seinem Körper leiten lassen, und als das Gefühl des Kummers verschwunden war, hatte sie gewusst, dass ihre Arbeit getan war.

Die Schmerzen waren verschwunden, und seine Stimmung hatte sich gebessert. Er hatte jedoch nichts davon erzählt, dass ein schleichendes Verlangen nach Feuel zurückgeblieben war. Aber vielleicht war es anfangs zu gering gewesen, als dass er es wahrgenommen hätte. Oder vielleicht hat er wieder angefangen, es zu inhalieren.

Sonea sandte ihren Geist aus und suchte in seinem Körper nach dem Gefühl des Kummers. Zu ihrer Überraschung fand sie nichts. Sie konzentrierte sich angestrengter und nahm einen natürlichen Heilungsprozess rund um einige Blasen an seinen Händen wahr und einige angespannte Muskeln in seinem Rücken. Aber was seinen Körper betraf, war er gesund und kräftig.

Sie öffnete die Augen und ließ die Hände sinken.

»Euch fehlt nichts«, sagte sie lächelnd. »Ich kann keinen der Hinweise finden, die ich zuvor verspürt habe.«

Er machte ein langes Gesicht und sah sie forschend an. »Aber… ich lüge nicht. Das Verlangen ist immer noch da.«

Sonea runzelte die Stirn. »Das ist… seltsam.« Sie betrachtete seinen festen Blick und bedachte, was sie über ihn wusste. Er ist nicht der Typ, der lügt. Die bloße Vorstellung, jemand könne denken, er würde lügen, bereitet ihm Unbehagen. Tatsächlich ahne ich, wie seine nächste Frage lauten wird…

»Denkt Ihr, ich erfinde es?«, fragte er mit leiser, furchtsamer Stimme.

Sie schüttelte den Kopf. »Aber es ist verwirrend. Und frustrierend. Wie kann ich heilen, was ich nicht wahrnehmen kann?« Sie breitete die Hände aus. »Ich kann nur sagen, gebt der Sache Zeit. Es könnte sein, dass da noch ein Echo des Verlangens ist. Wie die Erinnerung an die Berührung eines Menschen oder an den Klang einer Stimme. Wenn Ihr diese Erinnerung nicht auffrischt, wird Euer Körper sie mit der Zeit vergessen.«

Er nickte, und seine Miene war jetzt nachdenklich. »Das kann ich tun. Das ergibt einen Sinn.« Er richtete sich auf und sah sie erwartungsvoll an.

Sie erhob sich, und er folgte ihrem Beispiel. »Gut. Kommt zurück und sprecht mit mir, falls es schlimmer wird.«

»Vielen Dank.« Er verneigte sich unbeholfen, ging auf die Tür zu, drehte sich noch einmal kurz um und lächelte nervös, als die Tür durch ein Ziehen ihrer Magie aufschwang.

Als die Tür sich hinter ihm schloss, dachte Sonea über das nach, was sie in seinem Körper gefunden – oder eben nicht gefunden – hatte. War es möglich, dass Magie Sucht nicht heilen konnte? Dass Feuel eine Art körperlicher Veränderung bewirkte, die dauerhaft und unaufspürbar war?

Wenn das der Fall ist, kann der Körper eines Magiers dann die Wirkung seiner eigenen Feuelsucht heilen? Der Körper eines Magiers heilte sich selbsttätig; daher waren Magier selten krank und lebten häufig länger als Nichtmagier. Wenn der Körper es nicht heilen kann, dann wäre es möglich, dass auch ein Magier nach der Droge süchtig wird.

Aber gewiss nicht sofort. Viele Novizen hatten Feuel probiert und waren nicht süchtig geworden. Vielleicht waren nur einige Leute anfällig für Sucht. Oder vielleicht sammelte sich das Gift im Körper – es musste sich genug davon anhäufen, bevor dauerhafter Schaden entstand.

So oder so, es konnte sowohl tragische als auch gefährliche Konsequenzen haben. Nach Feuel süchtige Magier konnten von ihren Lieferanten bestochen und beherrscht werden. Und die Lieferanten waren höchstwahrscheinlich Verbrecher oder mit der Unterwelt verbunden.

Plötzlich erinnerte sie sich an Regins Behauptung, dass Novizen und Magier der höchsten Klassen sich heutzutage häufiger mit Kriminellen einließen. Sie hatte geglaubt, die Situation sei nicht schlimmer, als sie es immer gewesen war. Hatte er recht? Und war Feuel der Grund? Ein kalter Schauer überlief sie.

Als es abermals an der Tür klopfte, holte sie tief Luft und schob den Gedanken beiseite. Für den Augenblick galt ihre Sorge den Kranken der unteren Klassen. Mit den törichteren Mitgliedern der Häuser würde die Gilde fertigwerden müssen.

Aber es schadet gewiss nicht festzustellen, ob jemand von den anderen Heilern – oder sogar den Hospitalhelfern – von Magiern gehört hat, die nach Feuel süchtig geworden sind oder in die Welt der Verbrecher hineingezogen wurden. Und es wird nützlich sein, sie auch einige Fragen an ihre Patienten stellen zu lassen. Es gibt nichts, was gelangweilte Patienten und ihre Familien zum Zeitvertreib lieber tun, als zu tratschen.


Lorkin hatte keine Ahnung, wie spät es war, als die Besucher endlich gingen und er und Dannyl frei waren, sich für die Nacht zurückzuziehen. Sobald der letzte Gast das Haus verlassen hatte, sahen sie einander an und verzogen vor Erleichterung das Gesicht.

»Sie sind freundlicher, als ich erwartet habe«, bemerkte Dannyl.

Lorkin nickte zustimmend. »Ich könnte eine Woche lang schlafen.«

»So wie es sich anhört, werden wir uns glücklich schätzen können, wenn wir einen Tag Zeit haben, um uns von der Reise zu erholen. Am besten wir schlafen, solange wir können.« Dannyl wandte sich an eine Sklavin – eine junge Frau, die sich prompt mit dem Gesicht nach unten auf den Boden warf. »Bring Lord Lorkin in seine Zimmer.«

Sie sprang wieder auf, sah Lorkin kurz an und deutete dann auf eine Tür.

Während Lorkin ihr durch einen Gang folgte, sank seine Stimmung ein wenig. Wann immer sie das tun, fühlt es so falsch an. Liegt das nur daran, dass ich weiß, dass sie Sklaven sind? Es verneigen sich auch Leute vor mir, weil ich ein Magier hin, und es macht mir nichts aus. Wo liegt der Unterschied?

Die Leute, die sich vor ihm verneigten, hatten die Wahl. Sie taten es, weil das gute Benehmen es so verlangte. Niemand würde sie auspeitschen oder hinrichten lassen oder was immer die Sachakaner mit ungehorsamen Sklaven machten.

Der Flur bog nach links ab und folgte der merkwürdigen runden Form des Herrenzimmers. Dann teilte er sich, und die Sklavin wählte die rechte Abzweigung. Ich frage mich, warum sie ihre Wände nicht gerade bauen. Ist es leichter, sie so zu konstruieren? Oder schwerer? Ich wette, dadurch entstehen hier und dort seltsame kleine Nischen. Er streckte die Hand aus, um die glatte Wand zu berühren. Es hat einen seltsamen Reiz. Keine scharfen Kanten. Die Sklavin trat abrupt durch eine Tür. Lorkin folgte ihr und blieb in der Mitte eines weiteren, seltsam geformten Raumes stehen.

Er war beinahe, aber nicht ganz rund. Beleuchtet wurde er von kleinen Lampen, die auf im Raum verteilten Ständern ruhten. Die Wände waren mit Stoffbehängen oder in Nischen eingelassenen Schnitzereien geschmückt. Zwischen den Nischen befanden sich Durchgänge. In der Mitte des Raums standen Hocker und lagen große Polster. Seine Reisetruhe stand neben einem der Durchgänge auf dem Boden. Der Raum dahinter wurde ebenfalls durch Lampen erhellt, und er konnte ein Bett erkennen, das zu seiner Erleichterung nicht anders aussah als ein gewöhnliches kyralisches Bett.

Die Sklavin blieb neben einer Wand stehen, den Kopf gesenkt und den Blick zu Boden gerichtet. Wird sie hierbleiben oder gehen? Vielleicht wird sie gehen, sobald ich zu erkennen gegeben habe, dass ich mit den Räumen zufrieden bin.

»Danke«, sagte er. »Es gefällt mir gut.«

Sie tat nichts, sagte nichts. Ihr Gesichtsausdruck – das wenige, was er davon sehen konnte – veränderte sich nicht.

Was wird sie tun, wenn ich ins Schlafzimmer gehe? Er trat an ihr vorbei in die Schlafkammer und betrachtete das Bett. Ja, es sieht definitiv aus wie ein normales Bett. Als er sich umdrehte, sah er, dass sie jetzt an der Wand der Schlafkammer stand, in der gleichen Haltung. Ich habe nicht mal gehört, dass sie mir gefolgt ist.

Er konnte sie wahrscheinlich wegschicken, aber als er den Mund öffnete, um zu sprechen, zögerte er. Ich sollte die Gelegenheit nutzen herauszufinden, wie es zwischen Herren und Sklaven genau zugeht. 1st sie meine persönliche Dienerin, oder haben verschiedene Diener unterschiedliche Aufgaben?

»Nun«, begann er, »wie heißt du?«

»Tyvara«, antwortete sie. Ihre Stimme war unerwartet tief und melodisch.

»Und was ist deine Rolle hier, Tyvara?«

Sie zögerte kurz, dann blickte sie auf und lächelte. So ist es schon besser, dachte er. Aber als er in ihre Augen blickte, sah er, dass das Lächeln nicht bis dorthin reichte. Die Augen verrieten nichts. Sie waren so dunkel, dass er kaum erkennen konnte, wo die Pupillen begannen und die Farbe endete. Ihn überlief ein Gefühl, das nicht ganz ein kalter Schauder war, noch war es wirklich ein Prickeln der Erregung.

Sie stieß sich von der Wand ab und kam auf ihn zu. Ihr Blick ruhte auf seiner Brust. Sie streckte eine Hand aus, griff nach der Schärpe seiner Robe und begann sie zu öffnen.

»Wa-was tust du da?«, fragte er und ergriff ihre Handgelenke, um sie aufzuhalten.

»Eine meiner Pflichten«, sagte sie stirnrunzelnd und ließ die Schärpe los.

Sein Herz raste. Sein Körper hatte sich dafür entschieden, sich eher auf die Seite der Erregung zu stellen. Ich darf hier keine voreiligen Schlüsse ziehen, ermahnte er sich. Außerdem ist es beunruhigend genug, von jemandem bedient zu werden, der keine Wahl hat; ich schätze, es wäre noch abstoßender, das Bett mit einer Frau zu teilen, die keine Wahl hat. Er stellte sich vor, in diese dunklen, leeren Augen zu blicken, und alles Interesse zerstob.

»Wir Kyralier ziehen es vor, uns selbst auszukleiden«, erklärte er und ließ ihre Hände los.

Sie nickte und trat zurück, und ihre rätselhaften Augen drückten Verwirrung und Duldung aus. Besser das als gar nichts. Nachdem sie sich an die Wand zurückgezogen hatte, nahm sie wieder ihre frühere Haltung ein. Er unterdrückte einen Seufzer.

»Du darfst gehen«, sagte er zu ihr.

Sie zögerte einen winzigen Moment, und ihre Augenbrauen zuckten in die Höhe. Dann löste sie sich schnell von der Wand und verschwand durch die Tür. Ihre Schritte waren lautlos.

Lorkin ging zum Bett hinüber und setzte sich.

Nun, das war peinlich und unangenehm. Und ein wenig seltsam. Sie hatte seine Frage nicht beantwortet. Aber andererseits, wenn man eine Sklavin, die in einem Schlafzimmer stand, nach ihrer Rolle befragte, war das vielleicht ein massiver Hinweis, dass man sie in seinem Bett haben wollte.

Ich bin ein Idiot. Natürlich ist es so. Er seufzte. Ich habe noch viel zu lernen, dachte er kläglich. Und da Dannyl die einzige weitere freie Person hier ist, kann ich nur von den Sklaven lernen. Wenn Tyvara meine persönliche Dienerin ist, dann werde ich sie am häufigsten von allen Sklaven sehen. Und wenn ich einen Sklaven befragen will, sollte ich das besser an einem Ort tun, wo kein Sachakaner hören kann, wie ich meine Unwissenheit offenbare.

Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, beschloss er, würde er sie nach der Etikette zwischen Herr und Sklave befragen.

Und hoffentlich können wir einige Regeln für unser Miteinander aufstellen. Diese ganze Unterwürfigkeitsgeschichte auf einen Punkt verringern, an dem es für mich nicht so beunruhigend ist, ohne so weit zu gehen, dass sie sich dabei unbehaglich fühlt.

Einfach ausgedrückt, er würde sich mit ihr anfreunden müssen. Und das sollte nicht zu schwierig sein. Er hatte in der Vergangenheit nie große Probleme gehabt, Frauen für sich zu gewinnen, obwohl ihm das gelegentlich mehr Scherereien eingetragen hatte, als es wert war. Herauszufinden, wie man sich mit einer sachakanischen Sklavin anfreundete, mochte eine neue Herausforderung ein, aber gewiss eine, die seine Fähigkeiten nicht überforderte.

11 Verlockende Informationen

Allein in dem neuen Versteck lauschte Cery in die Stille. Wenn alles so ruhig war, wenn Gol fort war, um Dinge zu erledigen, konnte Cery die Augen schließen und die Erinnerungen an die Oberfläche steigen lassen. Zuerst kam der Klang der Stimmen und des Gelächters seiner Kinder. Akki, der Ältere, der Harrin neckte. Dann die sanfte Schelte von Selia.

Wenn er Glück hatte, sah er sie lächelnd und lebendig. Aber wenn nicht, stieg die Erinnerung an ihre Leiber in ihm auf, und er verfluchte sich dafür, sie sich angesehen zu haben, obwohl er gewusst hatte, dass die Bilder ihn für immer quälen würden. Aber sie haben es verdient, gesehen zu werden. Verabschiedet zu werden. Und wenn ich sie nicht gesehen hätte, würde ich mich vielleicht an den Gedanken klammern, der mir kommt, wenn ich am Morgen aufwache, dass sie nämlich noch da sind und auf mich warten.

Ein grobes Klirren unterbrach seine Gedanken, aber als er sich aus seiner Versunkenheit hochrappelte, beschloss er, dass es ihm nichts ausmachte. Trauer war zu erwarten gewesen, aber sich dadurch von seiner Aufgabe ablenken zu lassen konnte dazu führen, dass er genauso endete wie seine Familie. Das Geräusch war ein Signal, dass sich jemand dem Versteck näherte.

Cery erhob sich von seinem Stuhl und ging langsam im Raum auf und ab. Das erste Geräusch war inzwischen erstorben, und ein neues war an seine Stelle getreten. Jede Stufe der Treppe, die von der Bolbrauerei über dem Versteck hinabführte, bog sich leicht unter dem Gewicht eines Menschen und löste einen Mechanismus aus, der ein Klappern durch die Räume darunter hallen ließ. Cery zählte die Schritte und spürte, dass sein Herzschlag sich beschleunigte.

Ist das der Jäger der Diebe? Er betrachtete die Vertäfelung, hinter der die nächste sichere Fluchtroute lag. Ich bin seit über einer Woche hier. Das ist nicht sehr lange. Ich würde gründlich planen wollen, wenn ich beabsichtigte, einen Dieb zu töten. Ich würde mir so viel Zeit nehmen, wie ich glaubte, mir leisten zu können, und mein Opfer auskundschaften. Er runzelte die Stirn. Aber ich will nicht wochenlang hier warten. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, wie wir den Jäger der Diebe auf den Gedanken bringen können, dass er nicht viel Zeit hat…

Es folgte ein Augenblick der Stille. Dann erklang ein Läuten in vertrautem Rhythmus, und Cery stieß den Atem aus, von dem er gar nicht bemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte. Es war Gols Signal.

Cery ging zu der anderen Wand hinüber, schob einen der Papierschirme beiseite, die an den Wänden angebracht waren, um Fenster nachzuahmen und das bedrückende Gefühl zu lindern, unter der Erde zu sein. Dahinter befand sich in einer flachen Nische ein Luftschachtrost. Er klappte den Rost auf und drückte den Hebel in der Nische. Dann spähte er durch verdunkeltes Glas, um sich davon zu überzeugen, dass die herannahende Person tatsächlich Gol war.

Als die Gestalt in den Flur hinter der Glasscheibe trat, erkannte Cery seinen Freund ebenso sehr an seinen Bewegungen wie an seiner Statur und seinem Gesicht. Der große Mann ging ans Ende des Flurs und wartete. Cery trat wieder an den Rost und drückte den Hebel nach oben.

Einen Moment später schwang die Tür des Verstecks auf, und Gol kam herein. Er zog die Augenbrauen hoch.

»Keine Besucher, während ich fort war?«

Cery zuckte die Achseln. »Kein einziger. Ich bin wohl nicht mehr so beliebt wie früher.«

»Ich habe immer gesagt, es sei besser, einige wenige gute Freunde zu haben als viele schlechte.«

»Jemand wie ich hat keine große Wahl.« Cery trat zu einem der Schränke und öffnete ihn. »Wein?«

»So früh?«

»Die einzige Alternative ist, dass wir spielen und du wieder verlierst.«

»Also dann Wein.«

Nachdem er eine Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank genommen hatte, trug Cery sie zu dem kleinen Tisch zwischen den luxuriösen Sesseln in der Mitte des Raums. Gol nahm ihm gegenüber Platz, ergriff die Flasche und machte sich daran, den Korken herauszuziehen.

»Ich habe heute einige gute Neuigkeiten aufgeschnappt«, berichtete Gol.

»Tatsächlich?«

»Ich habe gehört, dass du ein neues Versteck hättest und dass es sicherer sei als das eines jeden anderen Diebes in der Stadt.« Der Korken löste sich, und Gol begann, ein wenig Wein in die Gläser zu gießen.

»Ist das so?«

»Ja, und dass du nicht so klug bist, wie du denkst. Es gibt eine Möglichkeit einzubrechen, wenn man weiß, wie.« Gol hielt Cery ein Glas hin.

Cery heuchelte Besorgnis, als er es entgegennahm. »Wie schrecklich. Ich muss die Zeit finden, das in Ordnung zu bringen. Irgendwann.« Er trank einen Schluck. Der Wein schmeckte würzig und voll. Er wusste, dass er exzellent war, aber es erregte ihn nicht. Er hatte nie echten Gefallen an Wein gefunden und zog einen wärmenden Becher Bol vor. Aber in mancher Gesellschaft zahlte es sich aus, einen guten Wein von einem schlechten unterscheiden zu können, und gute Jahrgänge konnten eine einträgliche Investition sein.

Er stellte das Glas ab und seufzte. »Ich denke, ich weiß jetzt, wie Sonea sich vor all jenen Jahren gefühlt hat, als sie in Farens Versteck eingesperrt war. Obwohl ich nicht versuche zu lernen, wie man Magie kontrolliert, und stattdessen die Möbel in Brand stecke.«

»Nein, aber es geht trotzdem nur um Magie.« Gol nippte an dem Wein und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe neulich abends über diesen Jäger nachgegrübelt. Was denkst du, wie gut er sich auf seine Magie versteht?«

Cery zuckte die Achseln. »Gut genug, um ein Schloss zu öffnen.« Er runzelte die Stirn. »Er muss Kontrolle darüber haben, da er die Magie seit Jahren benutzt, wenn die Gerüchte der Wahrheit entsprechen. Wäre es anders, hätte die Magie ihn schon vor langer Zeit getötet.«

»Dann muss ihn jemand unterwiesen haben, richtig?«

»Ja.«

»In dem Fall gibt es entweder einen anderen wilden Magier, der es ihm beigebracht hat, oder ein Gildemagier war sein Lehrer.« Gol blinzelte, als ihm ein Gedanke kam. »Vielleicht war es Senfel, bevor er starb.«

»Ich denke nicht, dass Senfel derart vertrauensvoll gewesen wäre.«

Gols Augen weiteten sich. »Hast du mal in Erwägung gezogen, dass der Jäger ein Gildemagier sein könnte, der versucht, die Stadt von allen Dieben zu befreien?«

»Natürlich.« Ein kalter Schauer überlief Cery. Der verstorbene Hohe Lord hatte jahrelang in der Stadt sachakanische Schwarzmagier gejagt, ohne dass die Gilde davon wusste. Ein Magier, der versuchte, die kriminellen Unterweltführer auszulöschen, war im Vergleich dazu gar keine so weit hergeholte Idee.

Nun, wenn der Jäger in meine Falle tappt, werden wir es herausfinden.

»Ich wünschte, es würde nicht so lange dauern«, seufzte Cery. Er erwog seinen früheren Gedanken, dass er dem Jäger vielleicht Grund zu der Annahme geben könnte, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Dass die Chance kurzlebig sein würde. Vielleicht setze ich das Gerücht in Umlauf, dass ich Imardin in Bälde verlassen werde.

Doch ein solches Gerücht würde den Jäger der Diebe wahrscheinlich von seinem Vorhaben abhalten. Der Mann musste bereit sein, sich Zeit zu lassen, da er die Diebe im Laufe vieler Jahre getötet hatte. Ich bin die Art von Köder, die Geduld haben muss. Niemand wird einen Dieb ohne ausgiebige Planung angreifen.

Gab es noch eine andere Art von Köder, bei dem der Jäger vielleicht nicht so vorsichtig oder geduldig wäre? Etwas, das man an einem Ort liegen lassen konnte, der weniger gut geschützt war, ohne dass es untypisch und verdächtig wirkte?

Was würde einen wilden Magier so in Versuchung führen, dass er Jagd darauf machen oder es stehlen wollte?

Die Antwort wurde von einer Woge der Erregung begleitet, und Cery sog scharf die Luft ein.

Magisches Wissen! Cery richtete sich in seinem Sessel auf. Wenn unser Jäger ein wilder Magier ist, muss er außerhalb der Gilde Magie gelernt haben. Denn wenn ein Magier die Gilde verlassen hätte, aber in Imardin geblieben wäre, hätte die Gilde ihn inzwischen gewiss zur Strecke gebracht. Also muss es ihn nach der großen Menge an Wissen gelüsten, über das die Gilde verfügt. Selbst wenn er ein Gildemagier wäre, wäre er verpflichtet, einem solchen Gerücht nachzugehen und jedwedes magisches Wissen auszulöschen, das in die falschen Hände geraten war oder geraten könnte.

»Was ist los?«, fragte Gol. Er sah sich um. »Ist ein Alarm losgegangen?«

»Nein«, versicherte ihm Cery. »Aber ich glaube nicht, dass es noch länger eine Rolle spielt. Mir ist eine noch bessere – und schnellere – Möglichkeit eingefallen, unsere Beute dazu zu verlocken, sich zu offenbaren.« Er begann seine Idee zu erklären und beobachtete, wie Gols Miene von Überraschung zu Aufregung wechselte und dann zu Bestürzung.

»Du wirkst enttäuscht«, bemerkte Cery.

Gol zuckte die Achseln und deutete mit einer Handbewegung auf den Raum. »Ich schätze, wir werden all das jetzt nicht mehr benötigen. So viel Arbeit und Geld sind in dieses Versteck geflossen. Und wir haben all diese Mängel eingebaut, so dass du später nicht zurückkommen und hierbleiben kannst. Das scheint mir eine Schande zu sein.«

Cery sah sich nachdenklich um. »Das ist es wohl. Wenn all dies vorüber ist und die Leute es vergessen haben, können wir die Mängel vielleicht beheben. Aber für den Augenblick ist es kein guter Ort, um unseren neuen Köder auszulegen. Wir brauchen etwas, das weniger sicher ist, so dass er umso schneller zuschlagen wird.«

»Dann sollte ich wohl besser gehen und dir einige Bücher über Magie kaufen«, meinte Gol und stellte sein Glas weg.

»So ohne Weiteres wirst du sie nicht finden. Wenn du es könntest, hätte es keinen Sinn, sie als Köder zu benutzen.«

Gol lächelte. »Oh, ich habe nie gesagt, dass es echte Bücher sein würden. Gute Fälschungen werden viel mehr Gerede verursachen als nicht existente Bücher. Und vielleicht ist alles, was wir brauchen, das Gerücht, dass irgendwo Bücher zu finden seien.«

»Also schön, dann lass einige Fälschungen herstellen.« Cery verzog das Gesicht. »Nur… sieh zu, dass die Fälscher nicht so lange brauchen wie richtige Buchkopierer, oder ich kann genauso gut hierbleiben und darauf warten, dass der Jäger mich findet.«


Dannyl überließ seinen Teller der Sklavin und widerstand dem Drang, sich zufrieden auf den Bauch zu klopfen. Langsam gewann er Gefallen an der seltsamen Art und Weise, in der man in Sachaka Mahlzeiten servierte. Indem man die Gäste Speisen von den dargebotenen Tabletts wählen ließ, gestattete man es ihnen, so viel oder so wenig zu essen, wie sie mochten. Zuerst hatte er sich verpflichtet gefühlt, jede Speise zu kosten, aber ihm war aufgefallen, dass andere Gäste das nicht taten – wenn überhaupt, so trugen sie einen wählerischen Geschmack zur Schau, der dem Gastgeber nichts auszumachen schien.

Außerdem war ihm aufgefallen, dass niemand hier eine Bemerkung zu dem Essen machte. Was eine Erleichterung war, denn einige der Speisen waren so scharf gewürzt oder aber unerwartet bitter oder salzig, dass er nicht aufessen konnte, was er sich genommen hatte. In Sachaka gab es anscheinend keinen Nachtisch, obwohl man, wenn man tagsüber Besuch empfing, dafür Sorge trug, dass auf den Tischen Teller mit Nüssen, süßen Früchten oder Konfekt standen.

An diesem Abend war Dannyls Gastgeber ein wohlbeleibter Sachakaner namens Ashaki Itoki. Er wusste, dass der Mann zu den mächtigsten in Sachaka zählte und ein Cousin des sachakanischen Königs war. Anscheinend hatte man Ashaki Achati, dem Mann, der Dannyl und Lorkin bei ihrer Ankunft im Gildehaus begrüßt hatte, die Aufgabe übertragen, dafür zu sorgen, dass Dannyl den richtigen Leuten in der richtigen Reihenfolge vorgestellt wurde. Obwohl er Dannyl dies nicht offen erklärt hatte, hatte er es doch angedeutet.

»Was wollen wir jetzt tun?«, fragte Itoki und blickte zwischen Dannyl und Achati hin und her. »Trinken oder reden? Meine Bäder sind groß genug, um Gäste aufzunehmen, und meine Sklaven sind gut ausgebildet in der Kunst der Massage.«

»Botschafter Dannyl interessiert sich vielleicht für diese alten Karten, die Ihr sammelt«, schlug Achati vor.

Hoffnung blitzte in Dannyl auf. Er hatte alte Karten immer faszinierend gefunden, und es war jederzeit möglich, dass sie für seine Forschungen wichtige Informationen enthielten.

»Ich möchte meinen Gast nicht gern langweilen«, erwiderte Itoki zweifelnd.

»Vergesst nicht, ich habe Euch erzählt, dass Botschafter Dannyl Historiker ist. Ich bin mir sicher, dass er sie sehr interessant finden wird.«

Itoki sah Dannyl hoffnungsvoll an. Dannyl nickte zustimmend. »Es wäre mir ein Vergnügen.«

Der Mann lächelte breit, dann rieb er sich die Hände. »Oh, Ihr werdet beeindruckt sein, davon bin ich überzeugt. Die fortschrittlichsten Karten, die je gezeichnet wurden.« Er erhob sich, und Achati und Dannyl folgten seinem Beispiel. »Ich werde Euch in die Bibliothek bringen.«

Sie gingen durch kurvige, weiße Flure zu einer Flucht von Räumen ähnlich denen, die man Dannyl im Gildehaus zugewiesen hatte oder die er und Lorkin während ihres Aufenthalts bei Ashaki auf ihrer Reise nach Arvice benutzt hatten. Es war interessant zu sehen, dass andere sachakanische Häuser demselben Muster folgten. Waren sie alle gleich? Wie lange bauten die Sachakaner ihre Häuser schon so?

In dem zentralen Raum fanden sich einige Hocker und ein großer Stapel Polster in der Mitte, und an den Wänden standen mehrere Schränke. Durchgänge führten zu allen Seiten aus dem Raum, und hinter ihnen sah man weitere Türöffnungen. Itoki ging zu einem der Schränke hinüber und nahm einen Schlüssel aus einer Innentasche seiner Jacke. Er öffnete das Schloss des Schranks und zog die Türen auf.

Darin standen mehrere Metallröhren. Itoki strich ehrfürchtig darüber, dann wählte er eine aus und nahm sie heraus. Er ging zu den Kissen hinüber, schob mehrere beiseite, um Platz auf dem Boden zu schaffen, und ließ sich schließlich mit einem Ächzen auf einem Hocker nieder.

»Wenn Ihr dort und dort Platz nehmen wollt«, sagte er und wies auf andere Hocker, »können wir jeder eine Ecke festhalten und die vierte beschweren.« Achati schob einen Hocker auf einen der angewiesenen Plätze, und Dannyl tat das Gleiche mit dem zweiten Hocker. Sie setzten sich und beobachteten, wie Itoki den Deckel der Röhre abnahm und eine Rolle vergilbten Papiers herauszog.

»Dies ist natürlich nicht das Original«, sagte der Mann. »Es ist eine Kopie, aber sie ist trotzdem über vierhundert Jahre alt und ein wenig empfindlich.« Er legte die Rolle auf den Boden und öffnete sie. Dannyl griff automatisch nach der Kante, die ihm am nächsten war, damit sie nicht zurücksprang. Achati tat das Gleiche. Auf einen Blick von Itoki hin erhob sich ein Hocker und schwebte zu der letzten Ecke hinüber, um sie zu beschweren.

Eine große kreiselnde Masse von Linien wurde sichtbar. Blaue Flüsse schlängelten sich durch sie hindurch, und neben etlichen von ihnen passten sich Straßen jeder Biegung an. Winzige Zeichnungen von Gebäuden, Feldern und den niedrigen Grenzmauern bedeckten die Karte. Konturlinien auf einer vierhundert Jahre alten Karte? Die Gilde hat die Benutzung von Konturlinien erst vor zweihundert Jahren entwickelt. Aber… dies ist eine Kopie.

»Wie alt war die ursprüngliche Karte?«, erkundigte er sich.

»Über siebenhundert Jahre«, erwiderte Itoki mit einem Anflug von Stolz. »Sie sind seit dem Sachakanischen Krieg in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben worden.«

»Habt Ihr auch die Originale?«

»Ja.« Itoki grinste. »Aber nur Bruchstücke, und sie sind zu empfindlich, um sie zu benutzen.«

Dannyl blickte erneut auf die Karte hinab. »Was zeigt diese Karte?«

»Eine Region im westlichen Sachaka, in der Nähe der Berge. Ich will Euch auch noch die anderen zeigen.« Itoki erhob sich wieder und holte zwei weitere Metallröhren aus dem Schrank. Die Karte, die er als Nächstes entrollte, zeigte ein Küstengebiet; in die Nähe der Gewässer waren winzige Boote gezeichnet, und neben Felsen und Riffen waren Warnungen geschrieben. Die nächste Karte zeigte ein weiteres ländliches Gebiet.

»Dies ist – war – im Süden«, erklärte Itoki ihnen.

Wo das Ödland liegt, dachte Dannyl. Er spricht es nicht aus. Das muss er auch nicht. Die Felder und Güter deuteten auf fruchtbares, grünes Land hin, wo jetzt Sand und Staub vorherrschten.

Sie betrachteten die Karten einige Zeit lang, bis Itoki auf ein Zeichen von Achati hin begann, sie vorsichtig aufzurollen und zurück in ihre Röhren zu schieben.

»Für welche Bereiche der Geschichte interessiert Ihr Euch denn?«, fragte er Dannyl.

Dannyl zuckte die Achseln. »Für die meisten. Obwohl ich annehme, je älter, desto besser, und natürlich interessieren mich sämtliche Hinweise auf Magie.«

»Natürlich. Das schließt die Geschichte der Gilde mit ein, oder ist diese bereits gut dokumentiert?«

»Ja und nein. Es schließt sie in der Tat mit ein, aber es gibt einige Lücken in der Geschichte der Gilde, die ich zu füllen versuche.«

»Ich bezweifle, dass ich Euch dabei helfen könnte, obwohl ich durchaus einige Dokumente aus der kurzen Zeit habe, während derer Kyralia Sachaka regiert hat.« Itoki erhob sich, kehrte zu dem Schrank zurück, um die Kartenröhren wieder hineinzulegen, verschloss den Schrank dann und bedeutete ihnen, ihm in eins der Nebenzimmer zu folgen. Dannyl und Achati taten wie geheißen. Die hohen, schweren Schränke im Raum waren wie Soldaten, die im Dienst Wache standen, still und reglos. Itoki ging zu einem hinüber und öffnete die Türen. Die nicht verschlossen sind, bemerkte Dannyl. Was sich in diesen Schränken befindet, ist offensichtlich nicht so wertvoll wie die Kopien der Landkarten.

Der vertraute Geruch von altem Papier und alten Bindungen wehte ihnen entgegen. In dem Schrank fanden sich mehrere alte Bücher mit fehlenden oder zerrissenen Buchdeckeln, außerdem ausgefranste Papierrollen und Umschläge aus Leder, die um Papierstapel gewickelt waren. Itoki durchsuchte sie vorsichtig, dann nahm er einen Stapel Papiere und ein Buch heraus.

»Dies sind Briefe und Dokumente eines Gildemagiers, der während der Jahre der Besetzung in Sachaka lebte. Ich habe sie aus einem alten Gut am Rand des Ödlands, das in die Hände des Königs gefallen war, nachdem kein legitimer Erbe sich meldete, um es für sich zu fordern.«

Er überreichte Dannyl das Buch. Dannyl öffnete es und blätterte vorsichtig die ersten brüchigen Seiten durch. Wie viele der alten Dokumente kyralischer Magier enthielten sie sowohl Rechnungslisten als auch Tagebucheinträge. In dem Wissen, dass die beiden Männer ihn beobachteten, begann er, den Inhalt zu überfliegen.

»… angeboten, unser Haus zu erwerben. Ich habe natürlich abgelehnt. Das Gebäude gehört seit über zweihundert Jahren meiner Familie. Obwohl der Preis eine Versuchung war. Ich erklärte, dass wir, wenn wir kein Haus in Imardin besäßen, das Recht verlieren würden, uns Lord und Lady zu nennen. Er sagte, Landbesitz sei auch hier in Sachaka ein wichtiger Faktor von Macht und Einfluss.«

Dannyl runzelte die Stirn. Dies wurde nach dem Krieg geschrieben, und doch findet sich hier ein Hinweis auf ein Gebäude, das mindestens zweihundert Jahre alt ist und noch steht. Es ist ein Beweis dafür, dass Imardin während des Krieges nicht dem Erdboden gleichgemacht wurde, wie unsere Geschichtsbücher behaupten. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er blickte zu den beiden Sachakanern auf. Offensichtlich würde er nicht das ganze Buch lesen und sich Notizen machen können, während sie warteten.

»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mir diese Passage abschreibe?«, fragte er.

Itoki schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Ihr habt etwas Bemerkenswertes gefunden?«

»Ja.« Dannyl zog das Notizbuch und einen eingewickelten Stab aus gepresster Kohle heraus, die er immer in seinen Roben trug. »Es bestätigt, was ich vermutet habe.«

»Und das wäre?«, hakte Achati nach.

Dannyl hielt inne, um den Eintrag abzuschreiben, dann blickte er auf. »Dass Imardin während des Sachakanischen Krieges nicht zerstört wurde.«

Itoki zog die Augenbrauen hoch. »So etwas habe ich noch nie gehört. Unseren historischen Dokumenten zufolge ereignete sich die letzte Schlacht vor den Toren, und unsere Armeen wurden besiegt.«

Dannyl stutzte. »Armeen? Es gab mehr als eine?«

»Ja. Sie haben sich zu der letzten Schlacht vereint. Ihr müsstet Meister Kirota nach Einzelheiten fragen, aber ich kann Euch einige Karten zeigen, die nach dem Krieg gezeichnet wurden und die drei Routen der Armeen darstellen. Aber sie sind nicht so alt, und sie haben auch nichts mit Magie zu tun.«

»Nein, doch es hört sich so an, als wären sie sehr interessant.«

Als der Mann Dannyl das Buch abnahm und es zusammen mit dem Stapel Briefe zurück in den Schrank legte, durchzuckte Dannyl ein Stich der Enttäuschung. In den wenigen kurzen Augenblicken, die er Zugang zu der Bibliothek dieses Mannes gehabt hatte, hatte er etwas bestätigt gefunden, das jahrelang an ihm genagt hatte. Wie viel mehr konnte er hier noch lernen?

Aber es war spät, und er durfte seinem Gastgeber nicht allzu sehr zur Last fallen. Und zweifellos würde Ashaki Achati bald nach Hause zurückkehren wollen. Vielleicht kann ich irgendwann einmal hierher zurückkommen. Dann verließ ihn plötzlich der Mut. Aber es wird wohl eine ganze Weile dauern, denn ich muss zuerst alle anderen Sachakaner besuchen, die den neuen Gildebotschafter kennenlernen wollen, sonst könnte man mir vorwerfen, dass ich einen von ihnen bevorzuge. Verflucht sei die Politik dieses Landes!

Er würde sein Bestes tun, um einen weiteren Besuch zu arrangieren. In der Zwischenzeit musste er sich sämtliche Möglichkeiten zunutze machen, die sich ihm boten. Als Ashaki Itoki ihnen voran den Raum verließ, um ihm die Schlachtenkarten zu zeigen, schluckte Dannyl seine Ungeduld herunter und folgte ihm.


Heilerin Nikea erwartete Sonea an der Tür zum Hospital.

»Ich habe einen Raum für uns beschafft, Schwarzmagierin Sonea«, sagte sie lächelnd und drehte sich um, um Sonea den Weg zu weisen. »Er ist klein, aber wir werden uns alle hineinzwängen können.« »Alle?«

Nikea blickte über die Schulter. »Ja. Einige der Heiler, mit denen ich gesprochen habe, hatten interessante Geschichten zu erzählen, und wir waren uns alle einig, dass Ihr sie aus erster Hand hören solltet.«

Sonea bedachte den Rücken der jungen Frau mit einem schiefen Lächeln. Die meiste Zeit ist es eine Erleichterung, mit jemandem zusammen zu sein, der mir nicht mit Furcht oder Argwohn begegnet, aber manchmal hat es auch seine Nachteile. Ich wünschte, Nikea hätte mich in dieser Angelegenheit zuerst gefragt. Ich möchte nicht, dass zu viele Leute erfahren, dass ich mich nach reichen Magiern erkundige, die mit Kriminellen Umgang pflegen.

Der Raum, zu dem die junge Heilerin sie führte, war ein schmaler Lagerraum mit beunruhigend wenigen Vorräten darin. Entlang der Wände waren mehrere Stühle aufgestellt worden. Nikea trat nicht ein, sondern wartete, bis ein anderer Heiler im Flur an ihr vorbeiging, und fragte ihn: »Heiler Gejen, könntet Ihr die Übrigen zusammenrufen?«

Er nickte und eilte davon. Einige Minuten später kehrte er mit fünf weiteren Frauen zurück. Zwei waren Helferinnen, wie Sonea bemerkte. Alle traten in den Raum und setzten sich, dann bedeutete Nikea Sonea, ihnen zu folgen. Schließlich schloss sie die Tür hinter sich.

Eine Lichtkugel mit scharfer Helligkeit leuchtete auf. Alle sahen Sonea erwartungsvoll an, bis auf Nikea.

»Nun denn«, begann Nikea. »Wer möchte als Erster sprechen?«

Nach einer kurzen Pause räusperte sich eine der Helferinnen. Es war Irala, eine stille Frau in mittleren Jahren. Eine tüchtige Frau, wenn auch bisweilen ein wenig kalt zu den Patienten.

»Ich werde sprechen«, erbot sie sich. Ihr Blick wanderte zu Sonea hinüber. »Es wird langsam Zeit, dass die Gilde aufhört, dieses Problem zu ignorieren.«

»Von welchem Problem genau sprecht Ihr?«, fragte Sonea.

»Feuel. Und jenen, die es verkaufen. Es ist überall. In den Häusern heißt es, die Droge habe sich wie eine Seuche von den Hüttenvierteln aus verbreitet, aber hier draußen heißt es, die Häuser verbreiteten sie, um die Armen zu unterdrücken und ihre Zahl zu verringern. Niemand weiß wirklich, woher sie kommt. Ich habe jedoch Gerüchte und Geschichten gehört, die besagen, dass diejenigen, die Feuel verkaufen, reich sind und so mächtig wie die Häuser, dass sie aber mit den Füßen in der Unterwelt verwurzelt seien.«

»Ich habe viele Leute sagen hören, die Diebe benutzten es, um die Stadt zu übernehmen«, fügte Gejen hinzu. »Eine Person erzählte mir, Feuel würde von Fremdländern eingeführt, um uns zu schwächen, bevor sie Kyralia überfallen wollten. Der Betreffende hatte die Elyner in Verdacht.« Die anderen belächelten diese Idee. Offensichtlich glaubte keiner von ihnen daran.

»Hat einer von euch von Novizen oder Magiern gehört, die nach Feuel süchtig sind? Die nicht aufhören können, es zu nehmen?«

Die andere Helferin und eine der Heilerinnen nickten. »Ein… ein Verwandter von mir«, sagte die Helferin, dann zuckte sie entschuldigend die Achseln. »Er hat mich schwören lassen, es niemals jemandem zu erzählen, daher werde ich seinen Namen nicht nennen. Er sagt, ganz gleich, wie lange er widerstehe, das Verlangen gehe nicht weg. Ich erkläre ihm immer wieder, dass er einfach so lange aufhören müsse, bis sein Körper wirklich geheilt ist, aber er tut es nicht.«

Sonea wurde schwer ums Herz. »Wisst Ihr, von wem er das Feuel kauft?«

»Nein, er will es mir nicht sagen, aus Furcht, dass ich seinen Nachschub irgendwie zum Erliegen bringen könnte.« Die Frau runzelte die Stirn. »Und er sagte etwas des Sinnes, dass die Quelle ein Freund sei. Wenn er einen anderen Verkäufer finden müsste, würde der Betreffende vielleicht mehr als Geld verlangen.«

Sonea nickte und sah die anderen an. »Habt Ihr je von Novizen oder Magiern gehört, die sich mit Verbrechern eingelassen haben – seien es Feuelverkäufer oder andere? Ich rede nicht von Besuchen in Freudenhäusern. Ich meine solche Personen, die über Verbrecher oder mit ihnen Geschäfte machen und Magie gegen Geld oder Gefälligkeiten wirken?«

»Ich habe etwas Derartiges gehört«, sagte die andere Heilerin. Sie war in den Dreißigern und hatte eine junge Familie, über die ihr nichtmagischer Ehemann wachte, während sie im Hospital arbeitete – ein praktisches Arrangement, das nur die Heiler nicht bemerkenswert zu finden schienen. »Vor einigen Jahren, vor meiner Heirat mit Torken, hat ein Freund, den ich seit unseren Universitätstagen kannte, sich aus unserer Gesellschaft zurückgezogen – das heißt von uns und meinen anderen Freunden von der Universität. Er bevorzugte einige nichtmagische Freunde in der Stadt, die sich in einem dieser Lusthäuser trafen. Er erzählte uns, er habe kein Interesse an den Dingen, die die Leute dort kauften; es gehe ihm nur um das Arrangement, das er mit den Besitzern hätte. Eine Art von Importarrangement. Er wollte uns nie verraten, worum es sich handelte. Jetzt lebt er nicht einmal mehr in der Gilde. Er ist in ein Haus in der Stadt umgezogen und verbringt seine ganze Zeit damit, seinen neuen Freunden zu helfen.«

»Denkt Ihr, die Geschäfte sind illegal?«

Sie nickte. »Aber ich habe keinen Beweis dafür.«

»Ist er süchtig nach Feuel?«

Die Heilerin schüttelte den Kopf. »Dafür ist er zu klug.«

Sonea runzelte die Stirn. Das waren schlimme Neuigkeiten und etwas, für das Regin sich interessieren würde, aber es bewies nicht, dass Feuel benutzt wurde, um Magier zu kriminellen Taten zu verlocken.

»Nun, es war immer bekannt, dass einige Novizen aus den Häusern mit Dieben zu tun haben«, sagte die andere Frau. Sie war eine dünne Frau namens Sylia und eine mächtige und begabte Heilerin.

»Aber sind das Gerüchte, oder gibt es Beweise?«, fragte Sonea.

»Es gibt niemals Beweise.« Sylia zuckte die Achseln. »Aber junge Novizen haben immer damit geprahlt. Häufig um sich aus Schwierigkeiten mit anderen Novizen herauszuwinden, aber wenn man genug Fragen stellte, stieß man immer auf einige Gerüchte, die einen höheren Wahrheitsgehalt zu haben schienen als andere.«

Die übrigen Frauen nickten. »Es steckt Wahrheit in diesen Gerüchten«, bekräftigte Gejen. »Es ist nur schwierig zu wissen, welches Gerücht ein Körnchen Wahrheit in sich trägt.«

»Nun… denkt Ihr, dass die Regel gegen die Verbindung von Novizen oder Magiern mit Verbrechern oder Personen von schlechtem Ruf überhaupt eine Wirkung auf Novizen höherer Klassen hat?«

Sie tauschten erwartungsvolle Blicke.

»Ja und nein«, antwortete Gejen. »Es besteht kein Zweifel daran, dass die Regel einige daran hindert, das Risiko einzugehen, aber jene, die töricht sind oder deren Familien bereits mit Verbrechen zu tun haben, wird das nicht abhalten.« Die anderen nickten zustimmend, und einige lächelten wissend.

»Und wenn die Regel außer Kraft gesetzt würde, würden sich dadurch mehr Novizen versucht fühlen?«

Die Frauen sahen einander an.

»Wahrscheinlich«, sagte Sylia und zuckte die Achseln. »Wenn die Diebe dahinterstecken und reich und mächtig genug sind, um eine verlockende Entlohnung anzubieten.«

»Und dann ist da noch das Feuel«, fügte Irala hinzu.

»Alles, was die Zahl von Novizen und Magiern verringert, die sich mit Glücksspiel, Alkohol und Feuel beschäftigen, ist in meinen Augen gut«, erklärte Gejen. Die anderen murmelten zustimmend.

»Aber die Regel ist ungerecht und wenig wirksam, so wie sie jetzt besteht«, fügte Sylia hinzu. »Sie sollte nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur verändert werden.«

Während die Frauen über das Wie diskutierten, einige von ihnen recht leidenschaftlich, überlief Sonea ein Schauder der Erkenntnis. Sie alle haben über dieses Thema nachgedacht. Und es erörtert. Haben andere Magier der Regel genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt? Diskutieren sie alle darüber? Dann setzte ihr Herz mit einem Mal einen Schlag aus. Kann ich von ihrer Meinung darauf schließen, wie die Gilde vielleicht abstimmen wird, falls die Angelegenheit der gesamten Gilde übergeben werden sollte?

Sie hörte genau zu, und während die Frauen redeten, legte sie sich noch weitere Fragen zurecht, die sie ihnen stellen wollte. Diese Versammlung würde mehr nützliche Informationen liefern, als sie geplant oder erwartet hatte.

12 Entdeckungen

Während Lorkin dem Sklaven durch den Flur in Ashaki Itokis Haus folgte, holte er tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus. Trotz allem, was sein Freund Perler ihm erzählt hatte, war Lorkin sich noch immer nicht ganz sicher, wie er sich dem Ashaki gegenüber verhalten sollte. Magier und Landbesitzer genossen abgesehen vom König das höchste Ansehen in der sachakanischen Gesellschaft. Ein Magier, der kein Land besaß, jedoch Erbe eines Ashaki war, stand im Ansehen eine Stufe unter dem Ashaki. Ein Magier, der kein Erbe war, kam als Nächster, dann alle freien Nichtmagier – sie waren in Bezug auf ihr Einkommen abhängig von einem Ashaki und auf dessen Vermittlung angewiesen, wenn sie Verträge schließen oder heiraten wollten.

Wenn Sachakaner von niederem Ansehen wichtige Aufgaben zugewiesen bekamen – wie zum Beispiel Kirota in seiner Rolle als Meister des Krieges –, gewannen sie dadurch genug zusätzliches Ansehen, um sich unter mächtigeren Männern bewegen zu können. Dannyl besaß kein Land, aber seine Rolle als Botschafter hob sein Ansehen so sehr, dass die Ashaki mit ihm Umgang pflegen konnten. Lorkin dagegen war ein bloßer Gehilfe – nicht ganz auf gleicher Stufe mit einem erblosen sachakanischen Magier, weil er keine schwarze Magie beherrschte. Perler hatte ihn gewarnt, dass in den Augen einiger Sachakaner die Rolle eines Gehilfen nicht viel besser war als die eines Dieners. Und dass man ihn tatsächlich mit geringerem Respekt behandeln würde als einen freien Nichtmagier.

Ashaki Itoki ist einer der mächtigsten Männer Sachakas. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Und als wäre das nicht schon genug, kann ich mich noch immer nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass diese Männer Schwarzmagier sind, die möglicherweise über ungeheure magische Macht gebieten und mich, sollte ich sie versehentlich kränken, wahrscheinlich zu Asche verbrutzeln könnten.

Der Sklave erreichte das Ende des Flurs, trat einige Schritte in den Raum hinein und warf sich auf den Boden. Lorkins Magen krampfte sich zusammen, und ein unbehagliches Gefühl rieselte ihm den Rücken herunter. Ich kann mich auch nicht daran gewöhnen, Menschen das tun zu sehen. Und es ist schlimmer, wenn sie es mir gegenüber tun.

Als er aufblickte, sah er einen großen Mann, dessen protzige, allzu reich verzierte Kleider sich straff über seine üppige Leibesfülle spannten. Als der Sklave ihm Lorkins Namen mitteilte, lächelte der Mann dünn.

»Willkommen, Lord Lorkin. Ihr habt eine langwierige Aufgabe vor Euch, also will ich Euch nicht aufhalten. Mein Sklave wird Euch in meine Bibliothek bringen und sein Bestes tun, um Euch alles zu verschaffen, was Ihr braucht.«

Lorkin neigte den Kopf. »Vielen Dank, Ashaki Itoki.«

»Okka. Bring Lord Lorkin in die Bibliothek«, befahl der Sachakaner. Der Mann sprang auf die Füße, machte Lorkin mit gesenktem Blick ein Zeichen und ging dann auf eine Tür zu. Lorkin nickte Itoki abermals zu und folgte dem Sklaven aus dem Raum.

Außer Hörweite des Ashaki stieß Lorkin einen Seufzer der Erleichterung aus. Er würde sich nicht vollauf entspannen, bevor er das Haus des Mannes verlassen hatte. Oder vielleicht auch erst, wenn er zurück im Gildehaus war. Aber ich bin nicht hier in Sachaka, um mich zu entspannen oder mich sicher und behaglich zu fühlen. Ich bin hier, um Dannyl bei seinen Forschungen zu helfen.

Der Sklave führte ihn in einen zentralen großen Raum und von dort aus weiter in einen der Nebenräume. Vor einem Schrank blieb er stehen.

»Mein Meister sagt, die Unterlagen, die Ihr sehen wollt, seien hier drin«, erklärte er und streckte eine Hand danach aus. Dann ging er zu der Wand neben der Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, so wie die Sklaven im Gildehaus es taten, wenn sie nicht beschäftigt waren oder entlassen wurden.

Er ist bereit, mir zu Diensten zu sein, falls ich es wünsche. Und vielleicht ein Auge auf mich zu halten und dafür zu sorgen, dass ich mir nichts ansehe, was ich nicht sehen soll. Oder etwas stehle.

Lorkin öffnete die Doppeltüren und untersuchte die Stapel in Leder eingewickelter Papiere, die Pergamentrollen und die Bücher. Er fand das Buch, das Dannyl ihm beschrieben hatte, und nahm es heraus, bevor er sein Notizbuch aus seinen Roben zog. Als er sich umschaute, stellte er fest, dass sich nirgendwo eine Sitzgelegenheit befand oder ein Tisch, an dem er hätte arbeiten können. Er wandte sich an den Sklaven.

»Kann ich mich irgendwo hinsetzen?«

Der Sklave zögerte, dann nickte er. Verflucht, ich habe es schon wieder getan. Ich muss daran denken, Bitten wie Befehle zu formulieren und nicht wie Fragen.

»Bring mir eine Sitzgelegenheit«, sagte er und verkniff sich das »Bitte«, das er normalerweise hinzugefügt hätte.

Er hatte herausgefunden, dass es irgendwie unpassend klang und dass sowohl freie Sachakaner als auch Sklaven es seltsam und erheiternd zu finden schienen.

Der Mann ging in den Hauptraum und brachte einen der schlichten Hocker herein, die die Sachakaner anscheinend bevorzugten. Seltsam, dass ein Volk mit so viel Macht und allem Reichtum seines Landes solch primitive Möbel benutzt. Ich hätte erwartet, dass sie in Sesseln liegen würden, die genauso groß und übertrieben schmuckvoll sind wie sie selbst.

Es schien im Hauptraum nichts zu geben, was einem Tisch ähnelte, daher zog Dannyl eins der größeren Bücher aus dem Schrank. Er setzte sich, legte das Buch auf die Knie und sein Notizbuch darüber. Dann begann er, in den alten Aufzeichnungen zu lesen.

Binnen weniger Seiten hatte Lorkin mit Unsicherheit zu kämpfen. Offensichtlich konnte er in der ihm zugebilligten Zeit nicht den ganzen Inhalt kopieren. Dannyl hatte ihm nicht aufgetragen, irgendeine bestimmte Passage zu kopieren, sondern sich einfach alles zu notieren, was von Bedeutung sein könnte. Es war schmeichelhaft, dass der Magier darauf vertraute, dass Lorkin zu beurteilen vermochte, was von Bedeutung war – oder er hatte keine andere Wahl, als die Entscheidung mir zu überlassen –, aber das machte die Aufgabe nicht leichter.

Das Buch war auch nicht die reiche Informationsquelle, die Lorkin sich erhofft hatte. Es war zum Teil Rechnungsbuch, zum Teil Tagebuch, wie es die Dokumentenbücher landbesitzender Magier in jenen Zeiten häufig gewesen waren. Er konnte es sich nicht leisten, irgendetwas zu überfliegen oder sich ablenken zu lassen, sonst würde er womöglich etwas übersehen. Aber die Listen von Haushaltseinkäufen und die Beschreibungen von Handelsabschlüssen waren kaum eine faszinierende Lektüre.

Er notierte sich jeden Hinweis auf Magie sowie die Namen der Besucher im Haus des Magiers. Als er fertig war, legte er das Buch zurück und begann, ein Bündel Briefe zu lesen. Diese waren alt, aber gut erhalten, geschrieben auf kleinen, quadratischen Papieren, die nicht zusammengefaltet worden waren, so dass sie nicht in Stücke brachen. Ein Freund in Imardin hatte die Briefe an den Magier geschickt. Lorkin konnte nicht ermitteln, ob der Freund ein Magier gewesen war oder nicht, da er wusste, dass der Titel »Lord« zu jener Zeit nur von Landbesitzern und ihren Erben benutzt worden war. Der Freund erkundigte sich in den meisten Briefen nach Fortschritten in dem Bemühen, der Sklaverei in Sachaka ein Ende zu machen, was ihm und anderen in Imardin ein ernsthaftes Anliegen war.

Wie es sich anhört, war das eine Angelegenheit von größter Dringlichkeit, überlegte Lorkin. Aber ich nehme an, es war damals noch nicht so lange her, seit Kyralier Sklaven gewesen waren.

Als er mit den Briefen fertig war, untersuchte er die Pergamentrollen, die sich als Rechnungsbücher erwiesen. Andere Mappen enthielten weitere Briefe, diesmal von der Schwester des Magiers. Sie schien sich sehr dafür zu interessieren, wie es den befreiten Sklaven erging, und Lorkin stellte fest, dass ihm die mitfühlenden und auch praktischen Vorschläge der Frau gefielen.

Ich wünschte, ich könnte seine Erwiderungen lesen. Ich würde die Antworten auf die Fragen, die sie nach den Plänen der Gilde für Sachaka stellte, wirklich gern erfahren. Vielleicht würde uns das Hinweise darauf geben, warum die Gilde Sachaka verlassen hat.

Ein Sklave kam mit Essen und Trinken. Lorkin aß schnell, dann machte er sich wieder an die Arbeit. Als er schließlich alles im Schrank gelesen hatte, wurde ihm klar, dass mehrere Stunden vergangen waren. Er betrachtete sein Notizbuch und verspürte eine vage Enttäuschung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas besonders Nützliches gefunden habe, aber vielleicht wird Dannyl ja etwas auffallen, was mir nicht aufgefallen ist.

Als er die Hand ausstreckte, um die Schranktüren zu schließen, wurde ihm bewusst, dass er noch immer das Buch, das er als Stütze für sein Notizbuch benutzt hatte, in Händen hielt. Er schlug es auf und stellte fest, dass es sich um weitere Aufzeichnungen handelte. Es schien dort einzusetzen, wo das vorige geendet hatte, aber nur ein Drittel der Seiten war beschrieben.

Nachdem Lorkin den letzten Eintrag erreicht hatte, begann er zu lesen. Sofort begann seine Haut zu kribbeln. Die Eintragung war kurz und hastig hingekritzelt worden.

Schreckliche Neuigkeiten. Der Lagerstein ist verschwunden. Lord Narvelan ist ebenfalls verschwunden, und viele halten ihn für den Dieb. Der Narr weiß, dass wir den Stein unbedingt für die Kontrolle der Sachakaner benötigen. Ich muss jetzt aufbrechen und mich der Suche nach ihm anschließen.

Die leeren Seiten nach diesem Eintrag waren plötzlich voller Fragen und Möglichkeiten. Warum hatte der Magier seine Aufzeichnungen nicht fortgesetzt? War er gestorben? Hatte er diesen Lord Narvelan zur Rede gestellt und war infolge dieser Begegnung ums Leben gekommen?

Und was hat es mit diesem »Lagerstein« auf sich, der offenbar so wichtig für die Kontrolle der Gilde über Sachaka war? Wurde er wiedergefunden? Wenn nicht, war das der Grund, warum die Gilde die Kontrolle über Sachaka aufgab?

Und wenn der Stein nie wiedergefunden wurde – was war mit ihm geschehen? Gab es einen magischen Gegenstand, dessen Macht so groß war, dass man damit eine Nation – ein gefürchtetes Reich schwarzer Magier – unterwerfen konnte? Lorkin setzte sich wieder auf den Hocker und begann den Eintrag zu kopieren.

Ich habe recht. Es gibt eine Art alter Magie, die helfen könnte, Kyralia zu schützen. Sie ist seit über siebenhundert Jahren verloren, und ich werde sie finden.


Gol hatte bei seinen Nachforschungen gute Arbeit geleistet. Der Laden war auf den Kauf und Wiederverkauf der Besitztümer von Schuldnern und Verzweifelten spezialisiert. Außerdem lag er in einem Stadtteil, in dem man Cery wahrscheinlich nicht erkennen würde. An einer Ecke lehnten papierene Fensterschirme aller Größen und Formen an der Wand. An Ständern hingen Mäntel und Umhänge, und darunter standen zu Paaren angeordnete Schuhe. Alle möglichen Haushaltsgegenstände aus Ton, Glas, Metall und Stein sowie andere Dinge füllten Regale hinter dem Stuhl und dem Tisch des Besitzers. Und in einem schweren, kunstvollen Käfig aus Schmiedeeisen lagen Tabletts mit Schmuck – obwohl es sich bei den meisten Stücken allem Anschein nach um Fälschungen handelte oder Dinge, die einfach schlecht gemacht waren.

Auf weiteren Regalen standen Bücher aller Größen. Einige waren in Papier gebunden, und die Fäden der Bindung lagen bloß und waren ausgefranst. Mehrere waren in Leder gebunden, und auch von denen waren die meisten abgenutzt und brüchig, aber einige glänzten noch immer, als seien sie neu.

»Bücher über Magie?«, fragte der Besitzer des Pfandgeschäfts. Seine Stimme schwoll an, und dann lachte er. »Ich bekomme von Zeit zu Zeit welche herein. Oh, dort werdet Ihr keine finden, junger Mann.«

Cery drehte sich um und stellte fest, dass der Mann ihn ansah. Sein Lächeln geriet für einen Moment ins Schwanken, als er seinen Fehler erkannte.

»Die Gilde nimmt sie Euch ab?«, fragte Cery.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, die Wache kommt ab und zu vorbei, um nachzusehen, aber ich bin kein Narr, dass ich derartige Dinge zur Schau stellen würde. Außerdem gehen die Bücher dafür zu schnell weg.«

»Wie bringt Ihr sie denn in Euren Besitz – wenn Ihr mir die Frage gestattet?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Meistens bekomme ich sie von Novizen. Von denjenigen, die hier aus der Gegend stammen. Aus irgendeinem Grund können sie ihren Familien nicht direkt Geld schicken, daher stehlen sie Bücher und verkaufen sie mir, und ich leite das Geld dann weiter.«

»Gegen ein Honorar«, ergänzte Cery.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Oh, ich mache genug Profit beim Verkauf der Bücher. Ich behandle meine Novizen gut, denn wenn ich es nicht täte, gäbe es jede Menge anderer Leute, an die sie sich wenden könnten.« Er runzelte die Stirn. »Natürlich versuchen einige von ihnen, mich dazu zu bewegen, das Geld stattdessen an Feuelverkäufer weiterzuleiten. Das dulde ich nicht. Abscheuliche Leute, diese Feuelverkäufer. Mit denen will ich nichts zu tun haben.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Cery. »Woher wisst Ihr, ob ein Buch echt ist oder eine Fälschung?«

Der Mann straffte sich. »Viele Jahre Erfahrung. Und einige davon habe ich für die Gilde gearbeitet, als ich noch ein junger Mann war.«

»Wirklich? Ihr habt für die Gilde gearbeitet?« Cery beugte sich zu dem Mann vor. »Weshalb hat man Euch hinausgeworfen?«

Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. »Habe ich etwa gesagt, dass ich hinausgeworfen wurde?«

Cery sah den Mann mit hartem Blick an. »Ihr habt eine solche Stellung aufgegeben?«

Der Verkäufer zögerte, dann zuckte er die Achseln. »Es gefiel mir nicht, ständig gesagt zu bekommen, was ich tun soll. Wie meine verstorbene Frau sagte, es ist nichts für jeden. ›Makkin der Aufkäufer‹. ist der Name, der am besten zu mir passt.«

»Kann ich verstehen«, erwiderte Cery. »Ich glaube, ich könnte mich auch nicht damit abfinden. Also… was denkt Ihr, wann Ihr vielleicht einige neue Bücher hereinbekommen werdet und welche Art von Büchern ich kaufen kann?«

Makkins Augen glänzten vor Freude. »In ein paar Tagen. Ich kann versuchen, Euch zu beschaffen, was Ihr wollt, aber es ist nicht immer möglich – oder aber es wird länger dauern. Der Preis hängt von der Schwierigkeit ab, und ich muss Euch warnen, manchmal interessiert sich einer meiner, ähm, einflussreicheren Kunden für mein Geschäft und kauft alles, was ich habe.« Der Mann rieb sich die Hände. »Worauf seid Ihr denn besonders aus?«

»Auf etwas… Ungewöhnliches, Seltenes. Zu einem speziellen Thema. Nicht nur Novizenbücher.«

Der Mann nickte. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Kommt in einigen Tagen wieder her, und ich werde Euch sagen, was meine Jungs haben oder beschaffen können.« Er strahlte Cery an. »Immer schön, einen neuen Kunden zu haben.«

Cery nickte. »Immer.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ich nehme nicht an, dass Ihr uns verraten könnt, wer Eure anderen Kunden sind? Nur damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.«

Makkin schüttelte den Kopf. »Wenn ich das täte, wäre ich nicht mehr lange im Geschäft.«

»Ja, da habt Ihr wahrscheinlich recht.« Cery wandte sich der Tür zu, dann drehte er sich noch einmal mit nachdenklicher Miene um. »Nur aus Neugier: Wie viel müsste ein Mann Euch anbieten, damit es sich für Euch lohnen würde, das Risiko einzugehen?«

»Ich lebe zu gern, als dass ich auch nur darüber nachdächte.«

Cery zog die Augenbrauen hoch. »Ihr müsst sehr einflussreiche Kunden haben.«

Der Mann lächelte. »Ich freue mich darauf, mit Euch Geschäfte zu machen.«

Cery verkniff sich ein Lachen und wandte sich ab. Gol öffnete ihm die Tür, und sie traten auf die Straße hinaus.

Die Sonne würde bald untergehen, und die Menschen, die noch draußen waren, eilten rasch und entschlossen ihrer Wege, zweifellos weil sie begierig darauf waren, ihr Ziel zu erreichen. Als sie sich einige Schritte von dem Laden entfernt hatten, überquerte Cery die Straße und trat in den Schatten der gegenüberliegenden Gebäude. Dann blieb er stehen und blickte zurück.

»Was geht dir im Kopf herum?«, fragte Gol. »Du hast diesen Blick.«

»Ich denke, dass Makkin und sein Laden ein guter Platz für unsere Falle sein könnten.«

»Was? Willst du dafür sorgen, dass ihm etwas Besonderes in die Hände fällt, und feststellen, wer kommt, um es zu kaufen?«

»Ja. Obwohl wir unserer Beute einen Grund liefern müssen, Magie zu benutzen, um es zu bekommen. Ich frage mich… er sagte, er bewahre diese Bücher an einem anderen Ort auf als die übrigen. Vielleicht in einem Tresor?«

»Ich werde es herausfinden. Wir werden dafür sorgen müssen, dass Makkin es niemand anderem verkauft. Hoffentlich wird das den Jäger dazu bringen einzubrechen, um es sich zu holen.«

»Und Magie zu benutzen.« Cery nickte. »Wir werden einen sicheren Ort brauchen, von dem aus wir den Laden beobachten können. Und Sorge tragen, dass wir wegkommen, falls etwas schiefläuft oder Makkin herausfindet, was vorgeht.«

Gol nickte. »Ich werde mich damit beschäftigen.«


Es war bereits spät, als Dannyl endlich durch die Tür zu seinen Räumen im Gildehaus trat. Er hatte am Abend einen alten Ashaki besucht, der darauf bestanden hatte, Dannyl über die geschäftlichen Leistungen seiner sämtlichen Vorfahren ins Bild zu setzen. Außerdem hatte er mit übertriebener Häme geschildert, wie seine Familie andere Händler durch großangelegten Betrug in den Ruin trieb.

Er schaute ins Nebenzimmer, das er wie frühere Botschafter als Büro benutzte, und als er etwas Neues auf dem Schreibtisch liegen sah, blieb er stehen und betrachtete es sich näher. Ein Notizbuch lag dort. Er ging in den Raum und nahm es in die Hand. Als er die Seiten aufblätterte, erkannte er Lorkins Handschrift, und plötzlich fiel alle Müdigkeit, die er während der letzten Stunden verspürt hatte, von ihm ab.

Irgendwann hatte ein früherer Botschafter einen gewöhnlichen Stuhl mit Rückenlehne für das Büro gekauft oder anfertigen lassen. Dannyl setzte sich mit einem zufriedenen Seufzer darauf und begann zu lesen. Die ersten Passagen, die Lorkin kopiert hatte, stammten aus dem Dokument, das Dannyl bereits überflogen hatte. Es waren nicht viele Einträge, stellte er fest, und ein Stich der Sorge durchzuckte ihn, als ihm bewusst wurde, dass der junge Mann den Eintrag über das Haus in Imardin nicht kopiert hatte. Dannyl hatte ihn nicht erwähnt, weil er neugierig darauf war zu sehen, ob Lorkin ebenfalls darauf stoßen würde.

Aber es war kein augenfälliger Hinweis. Lorkin wird zweifellos andere Dinge sehen. Obwohl er nicht alles aufnehmen wird, was ich aufgenommen hätte, könnte er einige Dinge finden, die ich nicht finden würde.

Die Idee, Lorkin an Dannyls Stelle auszuschicken, war eine brillante Lösung des Problems gewesen, dass er wichtige Sachakaner nicht zweimal hintereinander besuchen konnte, weil er fürchten musste, ungebührliche politische Bevorzugung an den Tag zu legen. Es würde nicht das Gleiche sein, als hätte er die Nachforschungen persönlich angestellt, aber indem er Lorkin damit beauftragte, bekam er zumindest einiges an Material, das er untersuchen und bedenken konnte, bis es ihm freistand, den Ashaki selbst noch einmal aufzusuchen.

Während er weiterlas, verebbte seine Aufregung langsam. Hier fand sich nur wenig, was von Nutzen war. Dann wurde Lorkins Handschrift plötzlich kühner und eckiger, und ein Wort war wiederholt unterstrichen. Dannyl las den Eintrag und las ihn abermals, ebenso wie Lorkins Überlegungen dazu, und seine Stimmung hob sich wieder.

Lorkin hat recht. Dieser »Lagerstein« ist offensichtlich wichtig. Obwohl er annimmt, dass es sich dabei um einen magischen Gegenstand handelt… Nun, es könnte aber auch etwas von – politischem Wert sein – ein Gegenstand, der darauf hinweist, dass der Besitzer wichtig ist, wie der Ring eines Königs oder der Schatz eines religiösen Führers.

Der Name »Narvelan« kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht daran erinnern, warum. Er rieb sich die Stirn und stellte fest, dass sein Kopf zu schmerzen begann und er Durst hatte. Die Mahlzeit war übermäßig salzig gewesen, und als einziges Getränk hatte man ihm Wein angeboten. Als er durch die Tür in den Hauptraum schaute, sah er, dass ein Sklave an der gegenüberliegenden Wand stand.

»Hol mir etwas Wasser, ja?«, rief er.

Der junge Mann eilte davon. Dannyl wandte sich wieder Lorkins Notizen zu, las sie noch einmal durch und versuchte, sich daran zu erinnern, wo er den Namen »Narvelan« schon einmal gehört hatte. Als er den Sklaven zurückkehren hörte, blickte er auf. Statt des jungen Mannes stand ein Junge da und hielt ihm einen Krug und ein Glas hin.

Dannyl zögerte, dann nahm er beides entgegen, wobei er sich fragte, warum er jetzt von einem anderen Sklaven bedient wurde. Der Junge schaute zu Boden und mied seinen Blick. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wer darüber entschied, welche Sklaven was taten. Wahrscheinlich der Sklavenmeister, der sich am ersten Tag vorgestellt hatte. Lord Maron hatte ihm erklärt, dass die Sklaven eigentlich dem König gehörten, aber eine »Leihgabe« an das Gildehaus seien. Dies hinderte die Gilde daran, in Sachaka das Gesetz gegen die Versklavung anderer durch Kyralier zu brechen – eine Regel, die verhindern sollte, dass Kyralier Gefallen an der Idee fanden und versuchten, sie in ihrem Heimatland einzuführen.

Der Junge biss sich auf die Unterlippe, dann machte er einen Schritt auf Dannyl zu.

»Wünscht mein Meister heute Nacht Gesellschaft im Bett?«, fragte er.

Dannyl erstarrte innerlich, dann schlug eine Woge des Entsetzens über ihm zusammen.

»Nein«, sagte er schnell und entschieden. Dann fügte er hinzu: »Du darfst jetzt gehen.«

Der Junge tat wie geheißen und verriet weder durch seinen Gang noch durch seine Haltung Enttäuschung oder Erleichterung. Dannyl schauderte. Gerade als ich mich daran gewöhne, überall Sklaven zu sehen… Aber vielleicht war es besser, kein allzu großes Wohlbehagen zu entwickeln. Vielleicht war es gut, daran erinnert zu werden, wie barbarisch das sachakanische Volk sein konnte.

Aber warum ein Junge? Keine der Sklavinnen ist so keck gewesen. Es war wahrscheinlich, dass die Spione des sachakanischen Königs seine Vergangenheit durchleuchtet hatten und auf seine skandalöse, jedoch nicht gar so geheime Vorliebe für Männer in seinem Bett gestoßen waren. Aber das bedeutet nicht, dass ich ein bloßes Kind mit ins Bett nähme.

Oder einen Sklaven, der in der Angelegenheit keine Wahl hat. Letzteres stieß ihn ab, aber Ersteres erfüllte ihn mit Abscheu.

Hat Lorkin ein ähnliches Angebot erhalten? Die Frage erfüllte ihn für einen Moment mit Furcht, aber dann erinnerte er sich an den Gesichtsausdruck, den Lorkin stets zeigte, wenn ein Sklave sich vor dem jungen Mann niederwarf. Wenn er ein solches Angebot erhalten hat, denke ich nicht, dass er es angenommen hat. Trotzdem, ich muss ein Auge auf ihn halten.

Aber nicht heute Nacht. Es war spät, und Lorkin schlief wahrscheinlich schon längst. Dannyl sollte sich ebenfalls zurückziehen. Morgen Abend würde er einen anderen Ashaki besuchen und ihm zuhören müssen und am Abend darauf ebenfalls, und auch die Liste mit Belangen von Handel und Diplomatie, die es tagsüber abzuarbeiten galt, begann zu wachsen.

Doch als er endlich im Bett lag, träumte er, er habe einen Streit mit Tayend, der sich irgendwie in einen sachakanischen Ashaki verwandelt hatte; in dem Streit ging es um die umwerfend gut aussehenden männlichen Sklaven in seinem Besitz. Tu, was die Einheimischen tun, erklärte ihm Tayend. Wir würden das Gleiche von ihnen erwarten, wenn sie nach Kyralia kämen. Und denk daran, ich bin nicht der erste Gildemagier, der Sklaven besitzt. Denk daran, morgen früh.

13 Die Falle

Als die Kutsche vor der Tür von Regins Haus stehen blieb, beschlich Sonea ein Gefühl des Widerstrebens. Sie blieb sitzen, während Erinnerungen daran in ihr aufstiegen, erschöpft und hilflos zu sein, spätnachts in den Tiefen der Universität gepeinigt von einem jungen Novizen und seinen Freunden.

Dann erinnerte sie sich daran, dass derselbe Novize vor einem sachakanischen Ichani zurückgewichen war, nachdem er sich freiwillig erboten hatte, als Köder zu dienen, der leicht auch hätte verschluckt werden können. Und sie erinnerte sich an seine Worte: »…falls ich all das überleben sollte, werde ich versuchen, es wiedergutzumachen.«

Hatte er das getan? Sie schüttelte den Kopf. Nach dem Krieg hatten viele von Imardins großen Häusern darauf gebrannt, Familienmitglieder zu ersetzen, die in der Schlacht gestorben waren, wohl wissend, dass mit der Zahl der Magier eines jeden Hauses auch das Prestige wuchs. Regin hatte kurz nach dem Abschluss geheiratet, und den Gerüchten zufolge, die in der Gilde die Runde machten, mochte er die Ehefrau, die seine Familie für ihn ausgewählt hatte, nicht besonders.

Seit jenen frühen Tagen an der Universität hatte er Sonea nichts Unerfreuliches mehr angetan. Gewiss hatte es keine der schäbigen Streiche des Novizen mehr gegeben, aber er hatte auch als Erwachsener keine Schritte gegen sie unternommen. Warum also widerstrebte es ihr derart, ihm in seinem eigenen Haus gegenüberzutreten? War sie immer noch auf der Hut vor ihm? Oder machte sie sich Sorgen, dass sie aus alter Abneigung und Misstrauen gegen ihn unhöflich sein würde? Es war kindisch, ihm Dinge zu verübeln, die er ihr angetan hatte, als er jung und töricht gewesen war. Rothen hatte recht damit, dass Regin zu einem vernünftigen Mann herangereift war.

Aber alte Gewohnheiten wird man ebenso schwer los wie alte Flecken, dachte sie.

Schließlich zwang sie sich, sich zu erheben, und stieg aus der Kutsche. Wie immer hielt sie kurz inne, um ihre Umgebung in sich aufzunehmen. Da Kallen jedes Mal einen Grund zu hören verlangte, wenn sie das Gelände der Gilde verließ, hatte sie nicht häufig Gelegenheit, die Straßen der Stadt zu sehen.

Natürlich lag diese Straße im Inneren Ring, da Regins Familie und Haus alt und mächtig waren und nur die Wohlhabendsten und Einflussreichsten es sich leisten konnten, so nah beim Palast zu leben. Die Straße sah ziemlich genauso aus, wie es die Straßen im Inneren Ring immer getan hatten, mit großen zwei- und dreigeschossigen Gebäuden, von denen viele unterschwellige Anzeichen von Reparaturen zeigten oder gänzlich neu gefertigte Fassaden, Arbeiten, die bald nach der Ichani-Invasion vollendet worden waren.

Sonea richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Menschen auf der Straße. Einige Männer und Frauen schlenderten vorbei, und ihre Kleidung verriet ihren hohen Rang. Auch einen Magier entdeckte sie. Die Übrigen waren Dienstboten. Aber dann bemerkte sie eine Gruppe von vier Männern, die ein Gebäude am Ende der Straße verließen und in eine Kutsche stiegen. Obwohl sie den Prunkstaat reicher Menschen trugen, hatten ihre Haltung und ihre Bewegungen etwas an sich, das Sonea an die selbstbewusste Brutalität von Straßenbanden erinnerte.

Möglich, dass ich es mir nur einbilde, sagte sie sich. Ich könnte die Verbindung herstellen, nur weil ich Regin in letzter Zeit so oft über kriminelle Verbindungen in den Häusern habe sprechen hören.

Sie wandte sich ab, ging auf die Tür von Regins Haus zu und klopfte an. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet, und ein schlanker, säuerlich dreinblickender Diener begrüßte sie mit einer tiefen Verbeugung.

»Schwarzmagierin Sonea«, sagte er mit unerwartet tiefer Stimme. »Lord Regin erwartet Euch. Ich werde Euch zu ihm geleiten.«

»Danke«, erwiderte sie.

Er führte sie durch eine große Halle und eine gewundene Treppe hinauf. Nachdem sie eine weitere Halle durchquert hatten, gelangten sie in einen großen Raum voller dick gepolsterter Sessel. Durch hohe Fenster an einer Seite fiel Sonnenlicht. Der Stoff, der die Sessel bedeckte, sowie die Wände und die Papierschirme waren in leuchtenden Farben gehalten.

Zwei Personen erhoben sich von ihren Plätzen – Regin und eine Frau, die Sonea für seine Ehefrau hielt. Die Frau trat mit ausgestreckten Armen auf Sonea zu, als wolle sie ihre Besucherin an sich ziehen, aber im letzten Moment verschränkte sie die Hände.

»Schwarzmagierin Sonea!«, rief sie aus. »Es ist eine solche Ehre, Euch in unserem Haus zu haben.«

»Das ist Wynina, meine Gemahlin«, erklärte Regin.

»Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen«, sagte Sonea zu Wynina.

Die Frau strahlte. »Ich habe so viel von Euch gehört. Es kommt nicht oft vor, dass wir eine historische Gestalt in unserem Heim begrüßen dürfen.«

Sonea versuchte, sich auf eine Antwort zu besinnen, brachte aber keine zustande. Die Frau errötete und schlug die Hand vor den Mund. »Nun«, sagte sie und blickte zwischen Regin und Sonea hin und her. »Ihr zwei habt ernste Dinge zu besprechen. Ich werde Euch allein lassen.«

Sie ging auf die Tür zu, drehte sich noch einmal um, um Sonea zuzulächeln, und verschwand dann im Flur dahinter.

Regin lachte leise. »Sie ist ziemlich eingeschüchtert von Euch«, sagte er mit leiser Stimme und deutete einladend auf die Sessel.

»Wirklich?«, erwiderte Sonea, während sie zu einem der Sessel hinüberging und Platz nahm. »Diesen Eindruck machte sie gar nicht auf mich.«

»Oh, sie ist normalerweise viel redseliger.« Er lächelte dünn. »Aber ich nehme an, Ihr seid wegen wichtigerer Dinge hergekommen?«

»Ja.« Sonea hielt inne, um Luft zu holen. »Ich habe in den Hospitälern Heiler und Helfer befragt, und das Ergebnis dieser Gespräche führt mich dazu, Euch recht zu geben: Es wäre schädlich, die Regel gegen eine Verbindung mit Kriminellen außer Kraft zu setzen.«

Sie hatte beschlossen, nichts von ihrem Verdacht zu erwähnen, dass Feuel möglicherweise im Körper eines Magiers dauerhafte Spuren hinterlassen könnte. Als sie ihren Verdacht Lady Vinara gegenüber erwähnt hatte, hatte die Frau höfliche Ungläubigkeit zum Ausdruck gebracht. Es würde erheblich mehr dazugehören als die Behauptungen eines einzelnen Steinmetzen, um Magier davon zu überzeugen, dass sie die Wirkung der Droge nicht einfach »heilen« konnten. Bis sie Zeit gefunden hatte, ihre Theorie zu überprüfen, würde sie die Idee für sich behalten. Und selbst wenn sie es beweisen konnte, gab es manch einen in der Gilde, der die Schuld an dem Problem bei den unteren Klassen suchen würde, und das würde die Situation nur verschlimmern, in die die Regel die »ProIiis« gebracht hatte.

Er richtete sich auf und zog die Augenbrauen leicht hoch. »Ich verstehe.«

»Aber ich glaube immer noch, dass die Regel ungerecht gegenüber Novizen und Magiern aus den unteren Klassen ist und dass wir etwas tun müssen, um dieses Problem zu lösen, oder wir werden talentierte und mächtige Novizen verlieren oder sie sogar zur Rebellion verleiten.«

Regin nickte. »Ich gebe Euch in diesem Punkt inzwischen recht. Und aus gänzlich anderen Gründen habe ich das Gefühl, dass wir einen Punkt gewährleisten müssen: Die Magier, die damit beauftragt sind, dafür zu sorgen, dass die Regel befolgt wird, und jene zu bestrafen, die dagegen verstoßen, müssen dies gerecht und ohne Begünstigung tun.«

Lange Sekunden musterten sie einander, dann lächelte Sonea. »Nun, das war einfacher, als ich gedacht hatte.«

Er lachte leise. »Ja. Jetzt kommen wir zu dem schwierigen Teil. Wie sollte die Regel verändert werden, und wie überzeugen wir die Höheren Magier – oder den Rest der Gilde –, so abzustimmen, wie wir es wollen?«

»Hm.« Sonea runzelte die Stirn. »Es wäre vielleicht einfacher, unser Vorgehen zu planen, wenn wir wüssten, wer abstimmen wird.«

Regin legte die Fingerspitzen aneinander. »Die Wahrscheinlichkeit, dass Osen in unserem Sinne entscheidet, wird größer sein, wenn wir beide das Gleiche vorschlagen. Wir müssen getrennt zu ihm gehen und ihn über unsere Wünsche in Kenntnis setzen. Oder Ihr müsst Lord Pendel dazu überreden, es zu tun, da er der Anführer jener ist, die die Abschaffung der Regel erstreben.«

Sonea nickte. »Ich denke, er wird auf mich hören. Aber ich werde ihm gute Gründe nennen müssen, warum er das eine oder das andere vorschlagen sollte.«

»Dann müssen wir die Vor- und Nachteile beider Möglichkeiten ausloten.«

»Angesichts der Entscheidung zwischen einer Abschaffung der Regel, ihrer Beibehaltung oder ihrer Veränderung vermute ich, dass die meisten Höheren Magier dafür stimmen würden, die Dinge so zu belassen, wie sie sind.«

»Wahrscheinlich habt Ihr recht. Wenn wir die ganze Gilde abstimmen lassen, ist der Ausgang vielleicht weniger berechenbar, wird aber höchstwahrscheinlich zu der Suche nach einem Kompromiss führen – und das wird die Veränderung der Regel sein. Der eigentliche Kern der Debatte wird die Frage sein, wie die Regel verändert werden soll.«

»Ja.« Sonea lächelte schief. »Was uns zu der schwierigsten Frage zurückführt: Wie wollen wir die Regel verändern?«

Regin nickte. »Nun, ich habe einige Ideen. Soll ich anfangen?« Sie nickte. »Nur zu.«

Während er begann die Veränderungen zu erklären, die ihm vorschwebten, konnte Sonea nicht umhin, eine widerstrebende Bewunderung für die Umsicht zu empfinden, mit der er an das Problem herangegangen war. Es war offenkundig, dass er nicht erst während der wenigen Wochen darüber nachgedacht hatte, seit das Thema in der Gilde diskutiert wurde. Doch im Gegensatz zu einigen der Frauen und Männer, die sie befragt hatte, waren die Lösungen, die er vorschlug, praktisch und unvoreingenommen. Wo ist der arrogante, mit Vorurteilen behaftete Snob, den ich als Novizen gekannt habe? Versteht er sich heute lediglich besser darauf, diese Dinge zu verbergen?

Oder hatte er sich wirklich verändert? Selbst wenn dem so war, würde es mehr brauchen als einige kluge Lösungen für ein Klassenproblem innerhalb der Gilde, um sie davon zu überzeugen, dass sie ihm trauen konnte. Ganz gleich, was er sagte, sie würde immer darauf warten, dass die grausame Seite, von der sie wusste, dass Regin sie besaß, wieder an die Oberfläche trat.


Nachdem Dannyl für den Abend ausgegangen war und die Sklaven das Essen serviert hatten, war Lorkin in seine Räume zurückgekehrt. Noch gab es nicht viel für ihn zu tun. Abgesehen von dem einen Besuch in Ashaki Itokis Haus hatte er das Gildehaus nicht verlassen. Dannyl konnte von der Arbeit, die er tagsüber erledigte, nur einen kleinen Teil Lorkin überlassen, so dass dieser die Abende damit verbrachte, zu lesen oder die Sklaven zu befragen.

Letzteres erwies sich als schwieriger, als er erwartet hatte. Obwohl die Sklaven seine Fragen immer beantworteten, boten sie ihm nie mehr als die grundlegendsten Tatsachen an. Wenn er sie fragte, ob es noch irgendetwas sonst gebe, das er wissen müsse, wirkten sie verwirrt und ängstlich.

Aber es ist wahrscheinlich unmöglich für sie zu ahnen, was ich wissen muss, dachte er. Und es widerstrebt ihnen, einfach nur zu raten für den Fall, dass sie etwas falsch machen und mich verärgern. Initiative ist wahrscheinlich eine Eigenschaft, zu der man einen Sklaven nicht gerade ermutigt.

Er hatte das Gefühl, dass das dunkeläugige Mädchen, das ihn an ihrem ersten Tag in sein Zimmer geführt hatte – Tyvara –, vielleicht offener wäre, obwohl er sich nicht sicher war, warum er so dachte. Seit jenem ersten Abend hatte sie ihn jedoch nicht wieder bedient. Heute Abend hatte er nichts Wichtiges zu tun, daher bat er die Sklavin, die ihn bediente, sie zu ihm zu bringen.

Sie denken wahrscheinlich alle, dass ich sie in mein Bett nehmen will, überlegte er und dachte an ihr Missverständnis an jenem ersten Abend. Tyvara wird wahrscheinlich das Gleiche vermuten. Ich werde ihr versichern müssen, dass dies nicht meine Absicht ist. Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie ich sie dazu ermutigen kann, frei zu sprechen?

Er schaute sich um, und sein Blick blieb an dem Schrank haften, in dem Wein und Gläser für seine eigene Benutzung oder für eventuelle Gäste bereitstanden. Bevor er den Raum durchqueren konnte, um sie zu holen, sah er eine Bewegung an der Tür. Tyvara kam herein und blieb einige Schritte entfernt stehen, um sich zu Boden zu werfen.

»Steh auf, Tyvara«, sagte er. Sie erhob sich, hielt den Blick jedoch weiterhin zu Boden gerichtet. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und er war sich nicht sicher, ob er sich nur einbildete, dass sie ein wenig angespannt wirkte. »Hol mir zwei Gläser und etwas Wein«, befahl er.

Sie gehorchte; ihre Bewegungen waren schnell, aber anmutig. Er setzte sich auf einen der Hocker in der Mitte des Raums und wartete auf sie. Sie stellte die Gläser und eine Flasche auf den Boden, dann kniete sie daneben nieder.

»Öffne die Flasche«, wies er sie an. »Und füll beide Gläser. Eins ist für dich.«

Sie hatte die Hände nach der Flasche ausgestreckt, aber dann zögerte sie. Einen Moment später tat sie wie geheißen. Als beide Gläser gefüllt waren, reichte sie ihm eins davon. Er nahm es entgegen und deutete auf das andere.

»Trink. Ich habe einige Fragen an dich. Nur Fragen«, fügte er hinzu. »Hoffentlich nichts, was dich irgendwie gefährden wird. Wenn ich etwas frage, für dessen Antwort du Schwierigkeiten bekommen wirst, sag mir das einfach.«

Sie betrachtete das Glas, dann ergriff sie es mit offenkundigem Widerstreben. Er nippte an dem Wein. Sie folgte seinem Beispiel, und die Muskeln um ihren Mund verzogen sich zu einer schwachen Grimasse.

»Der Wein schmeckt dir nicht?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

»Oh.« Er sah sich um. »Dann trink ihn nicht. Stell ihn beiseite.«

Die Art, wie sie das Glas so weit entfernt von sich wegstellte wie möglich, verriet deutliche Abneigung. Er nahm noch einen Schluck von seinem eigenen Glas und überlegte, was er als Nächstes fragen sollte.

»Sollte… sollte ich mich den Sklaven hier gegenüber auf eine Art benehmen, die ich bisher vermissen lasse… oder falsch anwende?«

Sie schüttelte schnell den Kopf. Zu schnell. Er überdachte die Frage.

»Könnte ich mein Verhalten gegenüber den Sklaven hier irgendwie verbessern? Die Dinge einfacher machen?«

Wieder schüttelte sie den Kopf, aber nicht so schnell wie zuvor.

»Mache ich mich total zum Narren, wenn ich mit Sklaven zu tun habe?«

Der denkbar winzigste Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen, dann schüttelte sie ein drittes Mal den Kopf.

»Du hast gerade gezögert«, bemerkte er und beugte sich vor. »Da ist doch etwas, nicht wahr? Ich mache mich nicht zum Narren, aber stattdessen tue ich etwas Unnötiges oder Dummes, richtig?«

Sie zögerte, dann zuckte sie die Achseln.

»Was ist es?«

»Ihr braucht uns nicht zu danken«, sagte sie.

Ihre melodische, heisere Stimme war eine Offenbarung nach all den schweigenden Gesten. Ein Schauder überlief ihn. Wenn sie keine Sklavin wäre, denke ich, würde ich sie ungeheuer faszinierend finden. Und wenn sie nicht dieses abscheuliche Wickelkleid trüge, fände ich sie wahrscheinlich auch ziemlich attraktiv.

Aber er hatte sie nicht hergerufen, um sie zu verführen.

»Ah«, erwiderte er. »Das ist eine Angewohnheit – etwas, das in Kyralia als gutes Benehmen gilt. Aber wenn es die Dinge leichter macht, werde ich versuchen, es nicht zu tun.«

Sie nickte.

Was jetzt? »Abgesehen davon, dass ich Sklaven unnötig danke, gibt es irgendetwas, das ich oder Dannyl den Sklaven gegenüber getan haben und das uns in den Augen von freien Sachakanern wie Narren erscheinen lassen würde?«

Sie runzelte die Stirn, und ihr Mund öffnete sich, aber dann schien sie zu erstarren. Er sah, wie sie den Blick über den Boden gleiten ließ und kurz bei seinen Füßen verweilte. Sie hat Angst, wie ich auf ihre Antwort reagieren werde.

»Die Wahrheit wird mich nicht verärgern, Tyvara«, sagte er sanft. »Stattdessen könnte sie eine große Hilfe für uns sein.«

Sie schluckte, dann senkte sie den Kopf noch weiter.

»Ihr werdet Ansehen verlieren, wenn Ihr keine Sklavin ins Bett nehmt.«

Ein Gefühl des Schocks durchzuckte ihn, gefolgt von Erheiterung. Fragen schossen ihm durch den Kopf. Kümmerte es ihn oder Dannyl, wenn sie aus solch einem Grund Ansehen verloren? Sollte es sie kümmern? Wie schädlich war ihre Untätigkeit? Hatten frühere Gildebotschafter und ihre Assistenten die Sklaven hier in ihr Bett geholt?

Aber, wichtiger noch, woher erfuhren die anderen Sachakaner, ob der neue Gildebotschafter und sein Gehilfe mit ihren Sklaven das Bett teilten oder nicht?

Gewiss wird eine solche Information nicht geheim gehalten. Schließlich sind die Sklaven hier Besitz des sachakanischen Königs. Es wäre töricht zu denken, dass unsere Leistungen im Schlafzimmer nicht erörtert und bewertet werden würden.

Und dann lächelte er bei dem Gedanken an all die mächtigen sachakanischen Ashaki, die wie alte Weiber klatschten.

Er sollte herausfinden, wie die Konsequenzen aussahen, solange Tyvara mit ihm redete.

»Wie viel an Ansehen werden wir verlieren?«, erkundigte er sich.

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie Euch weniger respektieren werden.«

Bedeutet das, dass keiner der früheren Bewohner des Gildehauses dies herausgefunden hat, weil keiner von ihnen die Gelegenheit ausgeschlagen hat? Er sah Tyvara an. Wenn sie mich doch nur anschauen würde. Und zwar ohne Zögern oder Unterwürfigkeit. Wenn ich sie hoch aufgerichtet mit Selbstvertrauen und ohne Furcht dastehen sähe oder diese dunklen Augen echtes, williges Verlangen ausdrückten, würde ich sie ohne zu zögern in mein Bett nehmen. Aber dies… ich könnte es nicht tun. Nicht einmal, um Dannyl zu helfen, in den Augen der Ashaki Respekt zu erringen.

Und es war auch unwahrscheinlich, dass Dannyl irgendwelche weiblichen Sklaven in sein Bett holte.

»Mir ist mein Ansehen gleich«, erklärte er Tyvara. »Ein Mann sollte nach seinem Anstand beurteilt werden, nicht nach der Zahl der Frauen, die er in sein Bett nimmt – Sklavinnen oder Freie, Willige oder Unwillige.«

Sie sah ihn für einen winzigen Moment an, einen brennenden Blick in den Augen, aber dann senkte sie den Kopf hastig wieder. Er sah ihre Zähne aufblitzen, als sie sich auf die Unterlippe biss, dann verzog sie das Gesicht.

»Was ist los?«, fragte er. Sie hat Angst. Wie wirkt das auf sie? Natürlich! Sie wird bestraft, wenn man denkt, sie habe mir kein Vergnügen bereitet. »Was werden sie mit dir machen?«

»Sie werden… sie werden jemand anderen schicken. Und noch jemanden.« Und sie werden alle bestraft werden, schienen ihre Worte anzudeuten.

Er unterdrückte einen Fluch. »Wenn sie das tun, werde ich nach dir fragen. Natürlich nur, wenn du es willst«, fügte er hinzu. »Wir werden reden. Einander von uns selbst und von unseren Ländern erzählen oder irgendetwas. Ich sehe nicht, wie ich sonst etwas über Sachaka erfahren soll, eingesperrt im Gildehaus – und ich würde wirklich gern mehr über dein Volk erfahren. Und über dich selbst. Wie klingt das? Wird es funktionieren?«

Sie zögerte kurz, dann nickte sie. Erleichtert holte er tief Luft und stieß den Atem wieder aus. »Also, dann erzähl mir etwas über dich. Wo wurdest du geboren?«

Noch während sie die Zuchtstation beschrieb, in der sie aufgewachsen war, spürte er, wie das Grauen ihrer Geschichte von etwas Unerklärlichem gelindert wurde. Sie redete mit ihm. Endlich erfuhr er von einem Sachakaner über Befehle und Antworten hinaus etwas Näheres. Während er ihr zuhörte, stellte er fest, dass sie plötzlich viel menschlicher wirkte – etwas, das er später vielleicht bereuen würde. Aber für den Augenblick entspannte er sich, lauschte der schönen, hypnotischen Stimme dieser Sklavin und kostete jedes Wort aus.


Das Dach des Pfandhauses war überraschend solide gebaut. Cery und Gol waren vor einigen Stunden hinaufgeklettert, als die volle Dunkelheit der Nacht sich herabgesenkt hatte. Sie hatten die Ziegel abgenommen, die zu lockern sie früher am Tag ein Straßenkind ausgeschickt hatten, und blickten jetzt durch Ritzen in den Raum hinab, in dem Makkin der Aufkäufer seinen Tresor stehen hatte.

In dem Tresor befanden sich Makkins wertvollste Bücher, darunter ein Band über heilende Magie. Nachdem Cery den Laden besucht, sich das Buch angesehen und sichergestellt hatte, dass Makkin es nicht verkaufte, bevor er mit dem Geld dafür zurückkehren konnte, hatte er einige von ihm kontrollierte Bolhäuser aufgesucht, um mit dem besonderen Buch zu prahlen, das er zu kaufen plane, sobald jemand seine Schuld bei ihm beglich – was wahrscheinlich morgen geschehen würde.

Es könnte eine lange Nacht werden, dachte Cery, während er vorsichtig die Steifheit aus seinem Bein schüttelte. Aber wenn alles plangemäß verläuft, werden wir nur eine Nacht hier draußen in der Kälte ausharren müssen. Wir müssen einfach hoffen, dass der Jäger tatsächlich ein Magier ist… und den Hunger nach Wissen hat, den wir bei ihm vermuten… und dass ihm meine Prahlerei heute zu Ohren gekommen ist… und dass er heute Nacht nichts Wichtigeres zu tun hat.

Cery musste zugeben, dass er einzig aufgrund von Gerüchten und Vermutungen handelte. Er könnte sich in etlichen Dingen durchaus irren. Aber es ist keine so verrückte Idee, dass es sich nicht lohnte, den Versuch zu machen.

Er verlagerte sein Gewicht und streckte das andere Bein aus. In Zeiten wie dieser war ihm nur allzu bewusst, dass er älter wurde. Er konnte nicht mehr mithilfe weniger Steinlücken im Mauerwerk oder einem Seil an Gebäuden hinaufklettern oder gar furchtlos über die Lücken zwischen den Dächern springen. Seine Muskeln wurden in der kalten Luft schnell steif, und es dauerte länger, bis er sich davon erholte.

Und ich habe keine schöne Sachakanerin bei mir, die mich mit ihrer Magie auffängt, sollte das Dach einstürzen.

Erinnerungen blitzten in ihm auf. Savara. Rätselhaft. Verführerisch. Gefährlich. Eine begabte Kämpferin. Die Übungskämpfe, die er mit ihr ausgefochten hatte, waren aufregend gewesen und eine Herausforderung, und er hatte mehr als nur eine Handvoll neuer Tricks gelernt. Sie hatte zu viel über das Abkommen gewusst, das er mit dem Hohen Lord Akkarin getroffen hatte, um die sachakanischen Sklaven zu töten, die die Ichani nach Imardin geschickt hatten, damit sie die Schwächen der Gilde erprobten. Aber er hatte auch gespürt, dass er sie nicht leicht würde loswerden können. Dass es besser war, ihr etwas zu tun zu geben, indem er sie denken ließ, sie helfe ihm, ohne ihr zu erlauben, der Wahrheit zu nahe zu kommen.

Das hatte sie ziemlich schnell begriffen. Und dann war da jene Nacht gewesen, in der sie beobachtet hatten, wie Sonea und Akkarin gegen eine Ichani gekämpft und sie getötet hatten. Während des Kampfes war das Dach unter ihnen eingestürzt, aber Savara hatte seinen Sturz mit Magie gebremst. Und dann waren die Dinge erheblich persönlicher geworden…

Nach der Ichani-Invasion war sie fortgegangen, war zu den Leuten zurückgekehrt, für die sie arbeitete. Er hatte sie nie wiedergesehen, obwohl er sich oft gefragt hatte, wo sie war und ob sie lebte und in Sicherheit war. Höchstwahrscheinlich hatte sie sich wieder und wieder um ihres Volkes willen in gefährliche Situationen begeben, so dass es durchaus möglich war, dass eine davon zu ihrem Tod geführt hatte.

Ich war nie verliebt in sie, rief er sich ins Gedächtnis. Ebenso wenig war sie in mich verliebt. Ich habe sie bewundert, sowohl ihren Körper als auch ihren Verstand. Sie hatte in mir einen nützlichen und unterhaltsamen Verbündeten und eine Ablenkung gefunden. Wenn sie geblieben wäre, wären wir nicht…

Ein Geräusch unter ihm holte ihn in die Gegenwart zurück. Cery spähte wieder durch den Ritz zwischen den Dachziegeln und sah zwei Personen die Treppe in den kleinen Raum unter ihm hinaufgehen. Eine erkannte er sofort: Es war Makkin, und er trug eine Lampe. Die andere Person war eine dunkelhäutige Frau.

»Ist es das?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte einen seltsamen Akzent und die Heiserkeit des Alters, aber sie bewegte sich mit der Vitalität einer jüngeren Frau. Der Jäger der Diebe ist eine Frau, dachte Cery. Das ist… interessant. Wie es aussieht, bin ich dazu verurteilt, entweder der Verbündete oder die Zielscheibe sehr mächtiger und gefährlicher Frauen zu werden.

»Ja«, antwortete Makkin. »Das ist es. Sie sind dort drin. Aber –«

»Öffne es!«, befahl die Frau.

»Ich kann nicht! Sie haben den Schlüssel mitgenommen. Sie meinten, auf diese Weise könne ich es niemand anderem verkaufen, bevor sie mit dem Geld zurückkommen würden.«

»Was? Du lügst!«

»Nein! Neinneinneinneinnein!« Der Besitzer des Pfandhauses warf die Arme hoch und wich vor ihr zurück. Sein Verhalten war ein wenig extrem für jemanden, der einen Kopf größer war als die Frau, die drohend auf ihn zukam. Als wüsste er, dass sie gefährlicher ist, als sie zu sein scheint.

Die Frau wedelte mit den Armen. »Geh!«, befahl sie. »Lass die Lampe hier, verlass diesen Laden und komm nicht vor morgen zurück.«

»Ja! Danke! Es tut mir leid, dass ich Euch nicht –«

»HINAUS!«

Er rannte die Treppe hinunter, als sei ihm eine wilde Bestie auf den Fersen. Die Frau wartete, während sie auf Makkins Schritte lauschte. Das Geräusch der Ladentür, die zugeschlagen wurde, hallte zu Cery hinauf.

Die Frau wandte sich um, um den Tresor zu betrachten, dann straffte sie die Schultern. Sie näherte sich ihm langsam, ging davor in die Hocke und wurde vollkommen reglos. Cery konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber er sah, wie ihre Schultern sich hoben und senkten, während sie tief atmete.

Einen Moment später sprang das Schloss mit einem Klicken auf.

Gol keuchte leise. Cery lächelte grimmig. Schlösser öffnen sich nicht einfach von selbst. Sie muss Magie benutzt haben. Ich habe den Beweis, dass wir eine wilde Magierin in der Stadt haben. Das war jedoch nicht der Beweis, dass sie die Jägerin war; was, wenn es sich so verhielt? Bei dem Gedanken überlief ihn ein Schauer. War die Frau dort unten wirklich der Mörder, der so viele Diebe getötet hatte?

Sie betrachtete jetzt die Bücher im Tresor. Er erkannte den Band über Magie. Seine Entdeckung hatte Cery und Gol die Mühe, die Zeit und die Kosten für die Anfertigung einer Fälschung erspart und außerdem das Risiko, dass Makkin es bemerkt hätte, aber das Buch war nicht annähernd so bemerkenswert, wie er in den Bolhäusern prahlerisch behauptet hatte. Die Frau öffnete es, blätterte die Seiten durch, murmelte dann etwas und warf es beiseite. Danach griff sie nach einem anderen Buch und untersuchte auch dieses gründlich. Als sie sich sämtliche Bücher angesehen hatte, stand sie langsam auf. Sie ballte die Fäuste und sprach ein fremdartiges Wort.

Was hat sie gesagt? Er runzelte die Stirn. Einen Moment mal. Das war eine andere Sprache. Sie ist eine Fremdländerin. Aber sie hatte zu wenig gesagt, als dass er die Sprache oder auch nur ihren Akzent hätte erkennen können. Wenn sie doch nur noch einmal sprechen würde. Einen ganzen Satz, nicht nur ein Fluchwort.

Aber die Frau bewahrte Stillschweigen. Sie erhob sich und wandte dem Tresor und seinem Inhalt, der jetzt im Raum verteilt lag, den Rücken zu. Dann durchquerte sie den Raum, ging zur Treppe und verschwand in der Dunkelheit des Ladens darunter. Wieder schlug die Tür zu. Schwache Schritte verklangen auf der Straße.

Cery blieb stumm und reglos sitzen und wartete, bis sie sicher waren, dass jemand, der den Ausruf der Frau gehört hatte und den Laden deshalb beobachtete, inzwischen das Interesse verloren haben würde. Währenddessen dachte er über seinen Plan nach. Wir haben die Information, die wir brauchten. Die einzige Überraschung war der Umstand, dass der wilde Magier eine Frau und eine Fremdländerin ist. Das macht sie nicht weniger gefährlich, ob sie nun die Jägerin der Diebe ist oder nicht. Und wenn fremdländische Magier in Imardin Quartier beziehen, wird Sonea das definitiv erfahren wollen.

Und Skellin. Sollte er es dem anderen Dieb erzählen?

Ich habe keinen Beweis dafür, dass sie der Jäger ist. Mir wäre es lieber, Skellin würde nicht erfahren, dass Sonea und ich immer noch in Verbindung stehen. Wenn die Gilde die wilde Magierin einfängt, werden sie ihre Gedanken lesen und endgültig feststellen, ob sie die Mörderin ist. Wenn sie es nicht ist, dann habe ich Skellin nichts zu sagen.

Und wenn sie es doch war… Nun, dann brauchte Cery Sonea nur zu erzählen, was er wusste, und es würde keinen Jäger der Diebe mehr geben, über den man etwas zu berichten hatte.

14 Unerwartete Verbündete

»Also, wen treffe ich heute Abend?«, fragte Dannyl Ashaki Achati, als die Kutsche vor dem Gildehaus losfuhr.

Der sachakanische Magier lächelte. »Euer Plan, nicht zu bitten und zu insistieren, den König zu sehen, hat funktioniert. Er hat Euch in den Palast eingeladen.«

Dannyl blinzelte überrascht, dann bedachte er alles, was Lord Maron ihm über den sachakanischen König und das Protokoll berichtet hatte. Der ehemalige Botschafter hatte gesagt, dass der König eine Audienz geradeso oft ablehnte, wie er eine gewährte. »Mir war nicht klar, dass ich etwas hätte unternehmen sollen. Sollte ich mich dafür entschuldigen?«

Achati kicherte. »Nur wenn Ihr das Gefühl habt, Ihr müsstet es tun. Da ich der Mittler zwischen dem Gildehaus und dem König bin, liegt es an mir, Euch zu raten, wie und wann Ihr um eine Audienz bei ihm ersuchen solltet. Ich hätte Euch geraten zu warten, bis er Euch einlädt. Da Ihr keine Fehler gemacht habt, gab es wenig Grund, das Thema anzusprechen.«

»Also war es kein Fehler, nicht um eine Audienz zu bitten.«

»Nein. Obwohl eine Demonstration von Desinteresse irgendwann möglicherweise als Kränkung betrachtet worden wäre.«

Dannyl nickte. »Als ich Zweiter Gildebotschafter in Elyne war, wurde von mir verlangt, mich einmal dem König zu präsentieren, was der Erste Gildebotschafter für mich arrangiert hat. Danach folgten nur noch Besprechungen in wichtigen Angelegenheiten, wobei sich der Erste Botschafter in der Regel darum gekümmert hat.«

»Das ist interessant. Dann habt Ihr also zwei Botschafter in Elyne?«

»Ja. Für eine Person gibt es dort zu viel Arbeit. Irgendwie hatten wir genauso viel Arbeit, die nichts mit der Gilde und Magiern zu tun hatte, wie solche Arbeit, die sich um diese Belange drehte.«

»Eure Arbeit hier hat noch weniger Bezug zu Magie und Magiern«, bemerkte Achati. »Ihr braucht keine neuen Rekruten zu prüfen oder den Überblick über Magier zu behalten, die ihren Abschluss bereits gemacht haben. Größtenteils habt Ihr es hier mit Handelsfragen zu tun.«

Dannyl nickte. »Die Arbeit hier ist vollkommen anders, doch bisher war sie sehr angenehm. Ich nehme an, sobald ich alle wichtigen Leute kennengelernt habe, wird man mich nicht länger mit abendlichen Mahlzeiten und Gesprächen verwöhnen.«

Achati zog die Augenbrauen hoch. »Oh, sobald von mir nicht länger erwartet wird, Euch zu begleiten, werdet Ihr vielleicht feststellen, dass Ihr noch gefragter seid als zuvor. Es kann eine anstrengende und politisch gefährliche Übung sein, einen anderen Sachakaner zu bewirten. Ihr seid sowohl exotisch als auch nicht leicht zu kränken und daher ein angenehmer Gast.« Er deutete auf das Kutschenfenster. »Schaut nach draußen, wenn wir um die Ecke fahren.«

Die Kutsche wurde langsamer, und die Mauer neben ihnen endete. Eine breite Straße kam in Sicht. Langgestreckte Blumenbeete erschienen, beschattet von riesigen Bäumen. Wo diese Gärten endeten, stand ein großes Gebäude. Weiße Mauern beschrieben von einem zentralen Torbogen aus weite Kurven wie sorgfältig drapierte Vorhänge. Über ihnen erhoben sich flache, im Sonnenlicht glänzende Kuppeln. Der Anblick tat Dannyl gut.

»Es ist wunderschön«, sagte er und beugte sich vor, um das Gebäude im Blick zu behalten, während die Kutsche auf die Straße einbog. Aber schon bald konnte er nur noch die weißen Mauern der Herrenhäuser am Straßenrand sehen. Er wandte sich wieder zu Ashaki Achati um und stellte fest, dass der Mann anerkennend lächelte.

»Es ist über tausend Jahre alt«, sagte der Sachakaner voller Stolz. »Natürlich mussten im Laufe der Jahre einige Teile wieder aufgebaut werden. Die Mauern sind zweifach verstärkt, so dass Verteidiger sich darin verstecken und Eindringlinge durch Löcher und Luken angreifen können.« Er zuckte die Achseln. »Nicht dass sie jemals zu diesem Zweck benutzt worden wären. Als die kyralische Armee hier eintraf, war unsere Armee bereits besiegt, und der letzte Kaiser hat sich ohne Widerstand ergeben.«

Dannyl nickte. So viel wusste er bereits aus den grundlegenden historischen Kursen an der Universität, und seine Nachforschungen hatten es bestätigt.

»Der dritte König hat die Kuppeln mit Gold überziehen lassen«, fuhr Achati fort. Dann schüttelte er den Kopf. »Ein frivoler Luxus war das in einer Zeit des Hungers, aber sie sind so schön, dass niemand sie je entfernt hat, und von Zeit zu Zeit sorgt ein König dafür, dass sie gereinigt und neu poliert werden.«

Die Kutsche wurde langsamer und umrundete eine Kurve, und Dannyl schaute eifrig aus dem Fenster, als der Palast wieder in Sicht kam. Sobald er und Achati ausgestiegen waren, hielten sie inne, um für einen Moment voller Bewunderung zu dem Gebäude aufzublicken, bevor sie auf den zentralen Torbogen zugingen.

Wachsoldaten zu beiden Seiten des Eingangs behielten ihre starre Haltung und ihren in die Ferne gerichteten Blick bei. Sie waren keine Sklaven, erinnerte sich Dannyl, sondern wurden aus den niedersten Rängen der sachakanischen Familien rekrutiert. Ich nehme an, es wäre nicht besonders nützlich, seinen Palast von Sklaven bewachen zu lassen. Wachen, die sich auf den Boden werfen, wann immer jemand Wichtiges vorbeikommt, werden kaum schnell reagieren, um irgendetwas oder irgendjemanden zu verteidigen.

Sie gingen durch zwei offene Türen, dann folgten sie einem breiten Flur ohne Nebeneingänge. Am Ende dieses Flurs befand sich ein großer Raum voller Säulen, dessen Boden und Wände aus poliertem Stein waren und in dem ihre Schritte widerhallten. Am Ende des Raums stand ein großer, steinerner Stuhl, und darauf saß ein alter Mann, der die kunstvollsten Kleider trug, die Dannyl seit seiner Ankunft bei irgendeinem Sachakaner gesehen hatte.

Und es sieht nicht so aus, als fühle er sich wohl, bemerkte er. Es wirkt, als würde er gern bei der ersten sich bietenden Gelegenheit von diesem Thron aufstehen.

Einige Männer standen im Raum, allein oder in Gruppen von zwei oder drei Personen. Schweigend beobachteten sie, wie Dannyl und Ashaki Achati näher kamen. Etwa zwanzig Schritte vom König entfernt blieb Achati stehen und sah Dannyl an.

Der Blick war ein Signal. Achati machte eine tiefe Verbeugung. Dannyl ließ sich auf ein Knie fallen.

Lord Maron hatte erklärt, dass die traditionelle kyralische und elynische Geste des Gehorsams einem König gegenüber am passendsten sei, trotz der Tatsache, dass Sachakaner vor ihrem eigenen König nicht niederknieten.

»Erhebt Euch, Botschafter Dannyl«, erklang eine alte Stimme. »Seid mir gegrüßt, Ihr und mein guter Freund, Ashaki Achati.«

Dannyl war dankbar dafür, dass die Berührung mit dem Boden kurz ausgefallen war. Der Stein war kalt. Er blickte zum König auf und stellte zu seiner Überraschung fest, dass der Mann vom Thron aufgestanden war und auf sie zukam.

»Es ist mir eine Ehre, Euch kennenlernen zu dürfen, König Amakira«, erwiderte er.

»Und mir ist es eine Freude, endlich den neuen Gildebotschafter kennenzulernen.« Die Augen des alten Mannes waren dunkel und undeutbar, aber die Runzeln darum herum vertieften sich zu einem echten Lächeln. »Würdet Ihr gern mehr vom Palast sehen?«

»Ja, Euer Majestät«, antwortete Dannyl.

»Kommt. Folgt mir, und ich werde Euch herumführen.«

Ashaki Achati machte eine Handbewegung, um Dannyl zu bedeuten, dass er neben dem König hergehen solle, dann bildete er selbst die Nachhut, während der Herrscher sie durch einen Nebeneingang aus der Halle führte. Ein breiter Flur verlief entlang der Halle und zweigte dann in eine andere Richtung ab. Während der König wiederholte, was Achati Dannyl über das Alter des Palastes erzählt hatte, führte er sie durch mehrere gewundene Flure und seltsam geformte Räume. Schon bald hatte Dannyl jede Orientierung verloren. Ich frage mich, ob das der Sinn all der gewundenen Mauern ist. Und ob der Eingangsflur und die Empfangshalle die einzigen eckigen Räume im Gebäude sind.

»Ich höre, Ihr interessiert Euch für Geschichte«, sagte der König und sah Dannyl mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ja. Ich schreibe eine Geschichte der Magie, Euer Majestät.«

»Ein Buch! Ich würde auch gern eines Tages ein Buch schreiben. Wie nahe seid Ihr der Fertigstellung?«

Dannyl zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Es gibt einige Lücken in der kyralischen Geschichte, die ich gern füllen würde, bevor ich das Buch drucken lasse.«

»Was sind das für Lücken?«

»Gemäß der Geschichte, die an der Universität der Gilde gelehrt wird, wurde Imardin während des Sachakanischen Krieges dem Erdboden gleichgemacht, aber ich habe keine Beweise dafür gefunden. Tatsächlich habe ich in Ashaki Itokis Sammlung einige Beweise für das Gegenteil gefunden.«

»Natürlich wurde die Stadt nicht dem Erdboden gleichgemacht!«, rief der König lächelnd. »Wir haben die letzte Schlacht verloren!«

Dannyl breitete die Hände aus. »Sie könnte vor dieser Schlacht zerstört worden sein.«

»Nicht nach unseren Unterlagen. Obwohl… nur wenige Sachakaner überlebten die letzte Schlacht, und noch weniger kehrten nach Hause zurück, daher haben wir die meisten Informationen von den Kyraliern, die uns erobert haben. Ich schätze, sie hätten ein besseres Bild zeichnen können, als es die Wirklichkeit gewesen war.« Der König zuckte die Achseln. »Also, was glaubt Ihr, woher diese Idee stammt, die Stadt sei dem Erdboden gleichgemacht worden?«

»Von Karten und dem Alter der Gebäude«, antwortete Dannyl. »Es gibt keine Gebäude, die älter sind als vierhundert Jahre, und die wenigen Karten, die wir aus der Zeit vor dem Sachakanischen Krieg haben, zeigen einen ganz anderen Straßenplan.«

»Dann solltet Ihr Euch die Ereignisse vor vierhundert Jahren ansehen«, schlussfolgerte der König. »Gab es zu der Zeit irgendeine Schlacht, die in der Stadt ausgefochten wurde? Oder eine Katastrophe wie eine Überschwemmung oder ein Feuer?«

Dannyl nickte. »Die gab es, aber nur wenige Magier glauben, dass sie dramatisch genug war, um die Stadt zu zerstören. Es wurden jedoch viele Unterlagen aus jener Zeit vernichtet.« Er hielt inne und hoffte, dass der König nicht um Einzelheiten bitten würde. Es schien ihm keine gute Idee zu sein, den sachakanischen König daran zu erinnern, dass die meisten Gildemagier keine schwarze Magie erlernten, und die Geschichte von Tagin, dem Verrückten Novizen, war die Geschichte, warum schwarze Magie verbannt worden war.

»Wenn dieses Ereignis bedeutend genug war, um eine Stadt zu zerstören, hätte es auch sämtliche Unterlagen innerhalb der Stadt vernichtet.«

Dannyl nickte. »Aber die Gilde wurde nicht zerstört. Ich habe viele Hinweise auf die Bibliothek gefunden, die dort untergebracht war. Allen Berichten zufolge war sie gut ausgestattet.«

»Vielleicht wurden diese Bücher an einen anderen Ort gebracht.«

Dannyl runzelte die Stirn. Ich schätze, es ist möglich, dass Tagin den Inhalt der Gildebibliothek in den Palast bringen ließ. Er war nur ein Novize, daher musste er Wissenslücken haben, die zu füllen er erpicht war. Ich hatte angenommen, dass die Bücher alle mit Absicht zerstört wurden. Aber wenn sie zerstört wurden, als Tagin starb, dann wäre das gar nicht mehr nötig gewesen.

»Es überrascht mich, dass die kyralische Geschichte so verworren ist. Aber auch wir haben Lücken in unserer Geschichte. Kommt hier herein.« Der König geleitete Dannyl und Achati in einen kleinen, runden Raum. Die Wände und der Boden waren ebenso wie die Decke aus poliertem Stein. Es gab nur einen einzigen Eingang. In der Mitte stand eine etwa hüfthohe Säule.

»Hier hat einst etwas Wichtiges gelegen«, sagte der König und strich mit einer Hand über die flache Oberseite der Säule. »Wir wissen nicht, was es war, aber zwei Dinge wissen wir durchaus: Es war etwas von großer Macht, entweder magischer oder politischer Macht, und die Gilde hat es gestohlen.«

Dannyl sah zuerst den König an, dann wieder die Säule. Der Lagerstein, auf den Lorkin Hinweise gefunden hat? Die Miene des Königs war ernst, und er beobachtete Dannyl genau.

»Ich habe einen Hinweis auf ein Artefakt gefunden, das aus diesem Palast entfernt wurde«, erklärte Dannyl. »Aber vor meinem Eintreffen in Sachaka hatte ich noch nichts darüber gehört. Dieser Hinweis klang so, als sei der Gegenstand von den Gildemagiern gestohlen worden.«

Der König zuckte die Achseln. »Nun, das ist es, was die Palastfolklore behauptet. Unsere Unterlagen besagen nicht mehr, als dass etwas, das man einen ›Lagerstein‹ nannte, von einem Gildemagier gestohlen wurde.« Er trommelte mit beiden Händen auf die Oberseite der Säule. »Nicht lange nach seinem Verschwinden entstand das Ödland. Manche Leute glauben, dass die Entfernung des Talismans eine Art magischen Schutz vom Land genommen hat, der für seine Fruchtbarkeit gesorgt hatte.«

»Nun, das ist eine neue und interessante Idee«, bemerkte Dannyl. Lorkin wird fasziniert sein, dies zu hören. Er scheint überaus interessiert am Ödland und dessen Erschaffung zu sein und möglicherweise auch an dessen Wiederherstellung. »Man hat mir erzählt, es seien Versuche unternommen worden, das Ödland in seinen früheren Zustand zurückzuversetzen, dass diese Versuche jedoch erfolglos gewesen seien.«

Der König zog die Augenbrauen hoch. »Oh ja. Viele haben es versucht; alle sind gescheitert. Selbst wenn wir wüssten, wie wir den Schutz, der entfernt wurde, wieder aufbauen könnten, vermute ich, dass es eine zu große Aufgabe für einige wenige Magier wäre. Es würde Tausender bedürfen.« Er lächelte schief. »Und Sachaka stehen nicht länger Tausende von Magiern zur Verfügung – und selbst die zu einen, die wir haben, wäre wie der Versuch, den Aufgang der Sonne zu verhindern oder das Steigen des Meeres bei Flut.«

Dannyl nickte. »Aber es gab nur einen einzigen Talisman, nicht wahr? Manchmal bedarf es nur eines einzigen Mannes und ein klein wenig Wissens, um große Dinge zu tun.«

Wieder lächelte der König. »Ja. Und manchmal bedarf es eines einzigen Mannes und ein wenig Wissens, um großen Schaden anzurichten.« Er trat von der Säule zurück und deutete auf die Tür. »Ihr scheint mir nicht diese Art von Mann zu sein, Botschafter Dannyl.«

»Ich bin froh, dass Ihr das so seht«, erwiderte Dannyl.

Der König lachte leise. »Genauso wenig wie ich. Kommt, es wird Zeit, dass ich Euch die Bibliothek zeige.«


Von ihrem Platz hoch oben an der Frontseite der Gildehalle beobachtete Sonea, wie sich der Raum mit Magiern füllte. Einige Fleckchen aus Purpur, Rot und Grün hatten sich gebildet, was ein jüngeres Phänomen war. Magier aus den Häusern neigten dazu, bei Familienmitgliedern und Verbündeten zu sitzen, statt bei Mitgliedern ihrer eigenen Disziplin, und das führte zu einer Mischung von Robenfarben. Aber Magier von außerhalb der Häuser neigten dazu, Freundschaften mit Vertretern derselben Disziplin zu schließen, und das Ergebnis war eine Ansammlung der gleichen Robenfarbe im Publikum.

Als die letzten Nachzügler ihre Plätze einnahmen, holte sie tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus. Wie werden sie abstimmen? Werden sie aus der Furcht heraus handeln, dass die »ProIiis« gegen die Regeln der Gilde rebellieren könnten, falls sie zu streng sein sollten? Werden sie aus der Furcht heraus handeln, dass kriminelle Gruppen zu viel Einfluss auf Magier gewinnen könnten? Oder werden sie die Regel abschaffen wollen, damit sie sich in Freudenhäusern und anderen Lokalen tummeln können, die von Dieben betrieben werden, ohne Strafe befürchten zu müssen? Oder um weiterhin von ihren illegalen Unternehmungen zu profitieren, und das mit einer geringeren Gefahr, entdeckt zu werden?

Ein Gong erklang. Als Sonea hinabblickte, sah sie Osen zu seinem Platz im vorderen Teil der Halle gehen. Das Stimmengewirr verebbte sofort, und als es ganz still geworden war, erklang die Stimme des Administrators.

»Heute haben wir uns versammelt, um zu entscheiden, ob die von Lord Pendel und anderen vorgetragene Bitte gewährt werden soll oder nicht. Es geht darum, eine Regel abzuschaffen, die besagt: ›Kein Magier oder Novize darf Verbindung zu Kriminellen und Personen von unzuträglicher Art pflegen. ‹ Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dies eine Entscheidung ist, die von allen Magiern getroffen werden sollte, und zwar durch Abstimmung. Ich bitte jetzt darum, dass die Seite, die für die Abschaffung der Regel ist, ihre Position und ihre Argumente zusammenfasst.«

Lord Pendel hatte am Rand des Raums gestanden und trat nun vor. Er wandte sich der Mehrheit der Magier zu und begann zu sprechen.

Sonea hörte genau zu. Es war nicht leicht gewesen, ihn dazu zu überreden, der Gilde einen Kompromiss anzubieten, und nicht einmal jetzt war sie sich ganz sicher, ob er es tun würde. Er begann mit Hinweisen darauf, wo die Regel versagt hatte oder ungerecht angewandt worden war. Dann griff er die Argumente jener an, die gegen eine Abschaffung der Regel waren. Anschließend entwarf er als Schlussfolgerung das Bild einer Gilde, in der mehr innere Einheit herrschte, als es jetzt der Fall war. Sonea runzelte die Stirn.

Er wird seine Ansprache beenden, ohne auch nur einen Hinweis darauf zu geben, dass ein Kompromiss möglich sein könnte.

»Wenn es eine Regel geben soll, die Magier und Novizen daran hindert, sich auf kriminelle Unternehmungen einzulassen – und ich denke tatsächlich, dass es eine solche Regel geben sollte –, dann sollte sie zu diesem Zweck formuliert sein. Die von mir beschriebenen Fälle machen klar, dass die bestehende Regel für diesen Zweck ungeeignet ist. Sie ist unwirksam und sollte abgeschafft werden.«

Ich nehme an, die Botschaft ist darin verborgen, wenn auch nur sehr unterschwellig, dachte Sonea. Und jetzt wollen wir sehen, ob Regin seine Seite unserer Übereinkunft einhält.

Als Lord Pendel sich vor dem Publikum verneigte und beiseitetrat, kehrte Administrator Osen nach vorn zurück.

»Ich rufe jetzt Lord Regin als Sprecher für die Gegner der Abschaffung der Regel auf.«

Regin ging nach vorn. Wenn er von Pendels Bemühung, einen Kompromiss vorzuschlagen, enttäuscht war, so ließ er es sich nicht anmerken. Er wandte sich der Halle zu und begann zu sprechen.

Angesichts dessen, was sie über die Korruption unter den Novizen höherer Klassen wusste, konnte Sonea nicht umhin zu bewundern, wie Regin es fertigbrachte, nichts auszusprechen, was direkt darauf hinwies, wer die Schuldigen und die Opfer waren. Dennoch schreckte er nicht vor der Behauptung zurück, dass es eine derartige Korruption tatsächlich gebe, und Sonea hörte nur einige wenige Protestbekundungen von den in der Halle anwesenden Magiern.

Ich wünschte, ich hätte ihm Beweise für die dauerhaften Wirkungen von Feuel auf Magier liefern können. Es hätte uns vielleicht geholfen, Magier davon zu überzeugen, dass die Regel nicht abgeschafft, sondern verändert werden sollte.

Als Regin zum Ende seiner Ansprache kam, setzte Soneas Herz einen Schlag aus. Er hatte keinen Kompromiss vorgeschlagen. Aber als er seine Argumente zusammenfasste, begriff sie, dass in seinen Worten der Anflug eines Eingeständnisses lag, dass die bestehende Regel unwirksam war. Eine subtile Veränderung seiner Position, aber auch nicht stärker oder schwächer als die von Pendel.

Hatte er das vorhergesehen, oder hatte er seine Taktik in Reaktion auf Pendels Ansprache geändert? Oder hatte er für den Fall verschiedener Möglichkeiten unterschiedliche Vorgehensweisen geplant? Sie schüttelte den Kopf. Ich hin nur froh, dass ich nicht dort unten stehe und an seiner Stelle spreche.

»Ich gebe jetzt zehn Minuten Zeit für Diskussionen«, sagte Osen. Der Gong erklang ein zweites Mal, und sofort füllte sich die Halle mit Stimmen. Sonea drehte sich um, um den Höheren Magiern zuzuhören.

Zuerst sagte niemand etwas. Alle wirkten zögerlich und unentschlossen. Dann seufzte der Hohe Lord Balkan.

»Beide Seiten haben etwas für sich«, erklärte er. »Bevorzugt einer von euch die eine oder andere?«

»Ich bin dafür, die Regel beizubehalten«, erwiderte Lady Vinara. »Dies sind schlechte Zeiten, um die Kontrolle über Magier zu lockern. Die Stadt ist verderbter denn je, und jetzt, da wir nicht länger alle ähnliche Stärken und Schwächen haben, ist es noch komplizierter geworden, uns dagegen zu wehren.«

Sonea verkniff sich ein Lächeln. »Stärken und Schwächen«. Eine kluge Art, darauf hinzuweisen, dass wir aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen, ohne das eine besser als das andere klingen zu lassen.

»Aber es ist klar, dass die Regel ungerecht ist, und wir riskieren in der Tat schlimmstenfalls eine Rebellion oder bestenfalls den Verlust dringend benötigter Talente«, wandte Lord Peakin ein.

»Mangelhaft ist nur die Anwendung der Regel«, entgegnete Vinara.

»Ich glaube nicht, dass die ProIiis ein Versprechen, in Zukunft gerechter zu sein, akzeptieren werden«, bemerkte Lord Erayk. »Sie werden eine echte Veränderung wollen.«

»Veränderung klingt für mich nach der richtigen Lösung«, sagte Lord Peakin. »Eine Veränderung der Regel. Was ist schließlich eine ›Person von unzuträglicher Art‹?« Er zog die Augenbrauen hoch und sah sich um. »Ich würde zum Beispiel jemanden, der schlecht riecht, für unzuträglich befinden. Das ist jedoch kaum eine Rechtfertigung, um einen Magier zu bestrafen.«

Gekicher wurde laut.

»Schwarzmagierin Sonea.«

Soneas Schultern sanken ein wenig herab, als sie Kallens Stimme erkannte. Sie blickte an dem Hohen Lord Balkan vorbei zu dem Mann hinüber.

»Ja, Schwarzmagier Kallen?«, erwiderte sie.

»Ihr habt Euch mit Vertretern beider Seiten getroffen. Zu welchem Schluss seid Ihr gekommen?«

Die anderen sahen sie jetzt erwartungsvoll an. Sie hielt inne, um über ihre Antwort nachzudenken.

»Ich bin dafür, die Regel zu verändern. Die Entfernung des Ausdrucks ›Personen von unzuträglicher Art‹ lockert nicht nur die Einschränkungen und kann helfen, Vorurteile gegenüber Novizen und Magiern aus ärmeren Schichten abzubauen, es stärkt auch die Betonung von ›Kriminellen‹ als jenen, zu denen Mitglieder der Gilde keinen Kontakt haben sollten.«

Zu ihrer Bestürzung wirkte keiner der Höheren Magier überrascht. Nicht einmal Rothen. Sie haben offenkundig erwartet, dass ich diese Position einnehmen würde. Ich hoffe, das liegt daran, dass es gerechter ist, nicht daran, dass ich in den alten Hüttenvierteln aufgewachsen bin.

»Selbst mit dieser Veränderung liegt die Schwäche der Regel in der Unklarheit der Frage, was ein Krimineller ist oder ob ein bestimmtes Tun als Verbrechen gilt«, sagte Lord Erayk.

»Der König wird es vielleicht nicht gern hören, wenn Ihr seine Gesetze als ›unklar‹ bezeichnet«, meldete sich Lord Peakin zu Wort.

»Ich stimme zu, dass gewisse Taten definiert werden müssen«, sagte Lady Vinara. »Beim heutigen Stand der Gesetze ist es schwierig für uns zu verhindern, dass Verbrecher Magier ausnutzen, wenn diese sich in ihren Lusthäusern aufhalten – indem sie sie dazu verleiten, Spielschulden zu machen, ihren Geist mit Alkohol verwirren, sie mit kostenlosen Huren belohnen oder sie mit Feuel vergiften. Wenn es nach mir ginge, wäre der Verkauf von Feuel ein Verbrechen.«

»Warum Feuel?«, hakte Lord Telano nach. »Es unterscheidet sich nur geringfügig von Alkohol, und ich bin davon überzeugt, dass keiner von uns es gern sähe, wenn Wein für illegal erklärt würde.« Er blickte in die Runde, lächelte und bekam von vielen der Anwesenden zur Antwort ein Nicken.

»Feuel verursacht weit mehr Schaden«, entgegnete Vinara. »Wie das?«

Sie öffnete den Mund, schüttelte dann jedoch den Kopf, als der Gong abermals erklang. »Kommt in die Heilerquartiere – oder in die Hospitäler von Schwarzmagierin Sonea –, und ihr werdet die Wahrheit sehen.«

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Hatte Vinara die Wirkungen von Feuel untersucht, seit Sonea ihr davon erzählt hatte? Sie sah Vinara an, aber die Aufmerksamkeit der Frau galt jetzt Telano. Er hatte sich abgewandt, und Vinara beobachtete ihn mit einem besorgten Stirnrunzeln.

Auch Lord Telano machte ein finsteres Gesicht, wie Sonea auffiel. Ich frage mich, warum Vinaras Position ihn so sehr stört. Und als Heiler hat er gewiss gesehen, welche Wirkung Feuel auf seine Opfer hat – selbst wenn ihm nicht klar ist, dass die Schäden dauerhaft sein könnten. Ich muss mir unser Oberhaupt der Heilenden Studien und seine Familie einmal genauer ansehen. Außerdem sollte ich noch einmal mit Lady Vinara sprechen.

Administrator Osen verkündete das Ende der Diskussionszeit, und alle kehrten auf ihre Plätze zurück. »Wünscht irgendjemand noch etwas zu diesem Thema zu sagen, das bisher noch nicht angesprochen wurde?«, fragte er.

Einige Magier hoben die Hand. Sie wurden nach unten gerufen. Der erste schlug vor, dass Magier denselben Gesetzen unterworfen werden sollten wie gewöhnliche Kyralier und dass es überhaupt keine Gilderegeln geben solle. Seine Idee traf allenthalben auf ein Gemurr der Missbilligung. Ein zweiter Magier erklärte, dass die Regel verändert werden sollte, aber sein Vorschlag sah vor, dass die Regel Magiern jedwede Beteiligung an kriminellen Aktivitäten oder einen Profit durch solche verbieten sollte. Daraufhin ging ein nachdenkliches Raunen durch die Reihen der anwesenden Magier. Der letzte Sprecher sagte nur, dass die Entscheidung beim König liegen sollte.

»Der König weiß und hat akzeptiert, dass die Regeln der Gilde im Gegensatz zu den Gesetzen von der Gilde gemacht werden«, versicherte Osen ihnen allen. Dann wandte er sich nach vorn. »Möchte einer der Höheren Magier noch etwas hinzufügen?«

Bisher hatte noch niemand die simple Veränderung vorgeschlagen, den Ausdruck »und Personen von unzuträglicher Art« aus der Regel herauszunehmen. Sonea holte tief Luft und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Ich habe noch etwas zu sagen«, erklärte der Hohe Lord Balkan. Sonea sah ihn an, dann entspannte sie sich. Er stand auf. »Eine kleine Veränderung kann einen großen Unterschied ausmachen. Ich schlage vor, dass wir den Wortlaut der Regel verändern und den Teil über Personen von unzuträglicher Art weglassen, da er unklar ist und zu ungerechter Deutung einlädt.«

Osen nickte. »Danke.« Er wandte sich wieder der Halle zu. »Es besteht wohl Einigkeit darüber, dass wir vier annehmbare Möglichkeiten haben: Wir können die Regel als Ganzes abschaffen, sie so belassen, wie sie ist, den Hinweis auf Personen von unzuträglicher Art streichen oder die Regel dahingehend zuspitzen, dass sie nur die Verstrickung in und Profit durch kriminelle Aktivitäten verbietet. Formt jetzt eure Lichtkugeln und bringt sie in die richtige Position.«

Sonea konzentrierte ein wenig Macht, schuf eine Lichtkugel und sandte sie empor zu der kleinen Wolke anderer Lichtkugeln, so dass sie unter der Decke der Gildehalle schwebte. Hunderte weiterer Lichter gesellten sich dazu. Die Wirkung war sinnbetörend.

»Diejenigen, die für eine Abschaffung der Regel sind, färben ihre Lichter blau«, befahl Osen. »Diejenigen, die für eine Veränderung der Regel sind, machen ihr Licht grün. Wer überhaupt keine Veränderung will, lässt sein Licht rot leuchten.«

Das blendende Weiß verwandelte sich in eine strahlende Mischung von Farben. Sonea blinzelte nach oben. Viele rote Lichter sind nicht dabei. Ein wenig mehr blaue als rote. Aber die grünen Lichter sind eindeutig in der Mehrheit.

»Die Magier, die sich für eine Abschaffung der Regel oder einen Verzicht auf jewede Veränderung ausgesprochen haben, mögen ihre Lichtkugeln bitte entfernen«, rief Osen. Die roten und blauen Lichter erloschen. »Jetzt bewegen bitte alle, die für die Streichung der ›Personen von unzuträglicher Art‹ plädieren, ihr Licht in den vorderen Teil der Halle, und alle, die die Regel so geändert sehen wollen, dass sie lediglich Verstrickung in und Profit durch kriminelle Machenschaften verbietet, lenken ihr Licht bitte in den hinteren Teil der Halle.«

Bälle grünen Lichts schossen in unterschiedliche Richtungen. Es folgte ein langer Augenblick, während Osen zur Decke hinaufschaute. Seine Lippen bewegten sich, während er zählte. Dann wandte er sich den Höheren Magiern zu.

»Wie viele Lichter von jeder Sorte zählt Ihr?«

»Fünfundsiebzig hinten, neunundsechzig vorn«, erwiderte Lord Telano.

Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Aber das bedeutet…

Osen nickte. »Meine Zählung stimmt mit der von Lord Telano überein.« Er wandte sich der Halle zu. »Die Abstimmung ist beendet. Wir werden die Regel verändern. Sie wird fortan Magiern verbieten, sich an kriminellen Aktivitäten zu beteiligen oder davon zu profitieren.«

Sonea, die zu den Lichtkugeln hinaufblickte, beobachtete, wie sie erloschen, bis nur noch eine übrig war. Ihre. Sie löschte sie ebenfalls, dann sah sie zu Regin hinab. Seine Miene spiegelte wider, was sie selbst empfand. Überraschung. Erstaunen. Sie haben eine Möglichkeit gewählt, die im letzten Moment eingeführt wurde und die die Regel vollkommen verändert hat. Die sie schwächt und ihre Wirksamkeit enger eingrenzt. Magier und Novizen können nicht länger für Besuche in Lusthäusern bestraft werden, weil es ihnen nicht länger verboten ist, Umgang mit Verbrechern zu pflegen. Aber zumindest dürfen sie sich nicht zu kriminellen Taten verleiten lassen, und das zu verhindern war der ursprüngliche Sinn der alten Regel.

Regin sah zu ihr auf und zog leicht die Augenbrauen hoch. Sie hob die Schultern ein wenig und ließ sie wieder sinken. Er schaute weg, und sie folgte seinem Blick zu Pendel hinüber. Der junge Mann lächelte und winkte seinen Anhängern zu.

Er hat ein besseres Ergebnis erzielt, als er sich erhofft hatte. Aber Regin wirkt jetzt besorgt, dachte Sonea. Oje. Ich kann nicht glauben, dass ich es tatsächlich kaum erwarten kann, mich abermals mit ihm zu treffen und zu hören, was er davon hält.

Aber sie hätte auch nie gedacht, dass sie sich jemals mit ihm beraten und mit ihm Pläne schmieden würde. Ich schätze, das ist der Preis, den man bezahlt, wenn man sich in die Politik der Gilde hineinziehen lässt. Plötzlich muss man zu alten Feinden höflich sein. Nun, glücklicherweise ist jetzt alles entschieden. Ich brauche nicht noch einmal mit Regin zu sprechen.

Sie schaute noch einmal zu ihm hinab. Er wirkte definitiv besorgt. Sie seufzte.

Ich schätze, es wird nichts schaden, noch einmal mit ihm zu reden.

15 Nächtliche Besucher

Die Wände des Raums waren rund wie das Innere einer Kugel. Wie die Kuppel in der Gilde, dachte Lorkin. Sind wir bereits zu Hause?

Ein großer Stein lag auf dem Boden, an der tiefsten Stelle. Er hatte ungefähr die Größe eines kleinen, zusammengerollten Kindes, aber als Lorkin die Hand danach ausstreckte, stellte er fest, dass der Stein klein genug war, um auf seine Handfläche zu passen. Als er die Finger um den Stein legte, schrumpfte er schnell und verschwand dann.

Oh nein! Ich habe den Lagerstein gefunden, aber ich habe ihn wieder verloren. Ich habe ihn zerstört. Wenn die Sachakaner das herausfinden, werden sie erzürnt werden! Sie werden mich und Dannyl töten!

Doch das Gefühl der Furcht verblasste schnell. Stattdessen fühlte er sich gut. Nein, er fühlte sich sehr gut. Als würden die Laken auf seinem Bett über seine Haut gleiten und ziemlich persönliche Stellen seines Körpers berühren…

Plötzlich war er hellwach.

Da war noch jemand, ganz nah. Der sich über ihn beugte. Glatte Haut strich über seine. Ein angenehmer Duft drang an seine Nase. Das Geräusch von Atem liebkoste sein Ohr.

Er konnte nichts sehen. Es war vollkommen dunkel im Raum. Tyvara!

Er konnte spüren, dass sie nackt war. Und jetzt machte sie es sich auf ihm bequem. Er hätte entsetzt sein sollen – hätte sie wegstoßen sollen –, doch stattdessen durchflutete ihn eine Woge des Interesses. Sie wählte diesen Augenblick, um seine Erregung auszunutzen, und er keuchte angesichts der unerwarteten Wonne, die ihr Körper und ihre nunmehr innige Verbindung ihnen verschafften. Verräter, tadelte er seinen Körper. Ich sollte sie aufhalten. Aber er tat es nicht. Es ist nicht so, als wäre sie nicht willig, kam ihm ein anderer Gedanke.

Er dachte kurz an die Zeit, die sie im Gespräch verbracht hatten, und dass er unter der erzwungenen Unterwürfigkeit eine kluge, starke Frau gesehen hatte, die er zu mögen gelernt hatte. Du magst sie, versicherte er sich. Das bedeutet, dass es in Ordnung ist, nicht wahr? Aber es fiel ihm immer schwerer zu denken. Seine Gedanken lösten sich wieder und wieder unter Wellen puren körperlichen Vergnügens auf.

Ihre Atmung und ihre Bewegungen begannen sich zu beschleunigen, und das Gefühl wurde intensiver. Er hörte auf zu versuchen, an irgendetwas zu denken, und gab nach. Dann versteifte sich ihr Körper; sie zuckte und bäumte sich über ihm auf. Er lächelte. Nun, das beweist, dass sie es ebenfalls genießt. Dann stieß sie einen gedämpften Schrei aus.

Gedämpft?

Plötzlich drang grelles Licht an seine Augen. Er blinzelte, während seine Augen sich an das Licht gewöhnten, dann wurden ihm zwei Dinge klar.

Eine Hand bedeckte Tyvaras Mund.

Und es war nicht Tyvara.

Eine andere Frau ragte über ihm und der Fremden auf, und ihn durchzuckte jähes Begreifen, als er sie erkannte. Dies war Tyvara.

Aber ihr Gesicht war zu einer grimmigen Maske verzerrt. Sie mühte sich, die Fremde festzuhalten, die immer noch gedämpfte Laute von sich gab. Etwas Warmes und Nasses tropfte ihm auf die Brust. Er blickte hinab. Es war rot, und ein Rinnsal davon lief die Seite der Fremden hinunter.

Blut!

Er fror plötzlich, dann gab ihm das Entsetzen neue Kraft, und er stieß die Fremde und Tyvara von sich und kroch von den beiden weg. Durch den Stoß hatte Tyvara die Hand vom Mund der Fremden genommen und wäre beinahe vom Fußende des Bettes gefallen. Als die Fremde sich auf die Seite rollte, starrte sie Tyvara wild in die Augen.

»Du! Aber… er muss sterben. Du…« Blut sickerte aus ihrem Mund. Sie hustete. Ihre Miene verzerrte sich vor Hass, während sie gleichzeitig an Kraft zu verlieren schien. »Du bist eine Verräterin an deinem Volk«, zischte sie.

»Ich habe dir gesagt, dass ich dir nicht erlauben würde, ihn zu töten. Du hättest meine Warnung ernst nehmen und verschwinden sollen.«

Die Frau öffnete den Mund zu einer Antwort, dann erstarrte sie, als ein Krampf ihre Muskeln erfasste. Tyvara packte den Arm der Frau.

Sie stirbt, durchzuckte es Lorkin. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber ich kann sie nicht einfach sterben lassen. Er sandte seine Magie aus, umfasste Tyvara damit, um sie wegzustoßen, sprang aufs Bett und griff nach der sterbenden Frau.

Und spürte, dass ihm selbst und seiner Magie mühelos eine andere Kraft entgegengesetzt wurde. Sie zerschmetterte seine magischen Bande und rollte ihn vom Bett, so dass er hart auf dem Boden aufschlug. Benommen lag er da. Sie hat Magie. Tyvara hat Magie. Sie ist nicht, was sie zu sein vorgibt. Und… autsch!

»Es tut mir leid, Lord Lorkin.«

Als er aufblickte, sah er, dass Tyvara über ihm stand. Wie stark ist sie? Er musterte sie zweifelnd. Ist sie eine sachakanische Schwarzmagierin? Aber sie lehren Frauen keine Magie. Nun, ich nehme an, sie würden es vielleicht tun, wenn sie einen Spion brauchten…

»Diese Frau stand im Begriff, Euch zu töten«, erklärte sie ihm.

Er starrte sie an. »Da habe ich aber einen anderen Eindruck gewonnen.«

Sie lächelte, doch es lag keine Freude in diesem Lächeln. »Doch, sie wollte Euch töten. Sie ist hierhergeschickt worden, um es zu tun. Ihr habt Glück, dass ich rechtzeitig gekommen bin, um sie daran zu hindern.«

Sie ist wahnsinnig, dachte er. Aber sie war auch eine Magierin, und er hatte keine Ahnung, wie groß ihre Macht war. In jedem Fall wäre es sicherer, mit ihr zu reden, anstatt zu versuchen, um Hilfe zu rufen. Und wenn er mit ihr reden wollte, würde es überzeugender sein, wenn er nicht unbekleidet auf dem Boden hockte.

Langsam stand er auf. Sie machte keine Anstalten, ihn daran zu hindern. Er sah, dass die Frau, die sie erstochen hatte, zur Decke emporstarrte. Oder darüber hinaus. Und sie sieht absolut nichts – und wird nie wieder etwas sehen. Er schauderte.

Dann wich er rückwärts zu den an der Wand hängenden Roben zurück, die die Sklaven für ihn gereinigt und bereitgelegt hatten, und ergriff die Hose. Auf seiner Brust waren Blutflecken. Er wischte das Blut mit einem Tuch ab, das die Sklaven jeden Abend in seinem Zimmer ließen, zusammen mit einer Schale Wasser, damit er sich am Morgen waschen konnte.

»Ich entnehme Eurer Skepsis, dass Ihr den ›Liebestod‹ nicht kennt«, sagte Tyvara. »Es ist eine Form höherer Magie. Wenn ein Mann oder eine Frau während der Liebe den Gipfel der Lust erreicht, versagt sein oder ihr natürlicher körpereigener Schutz gegen das Eindringen fremder Magie, und der Betreffende ist so verletzbar, dass man ihm alle Macht – und sein Leben nehmen kann. Sachakanische Männer wissen um den ›Liebestod‹ und sind davor auf der Hut, aber sie wissen nicht, wie er praktiziert wird. Früher wussten sie es anscheinend, verloren das Wissen jedoch, als sie aufhörten, Frauen in Magie zu unterweisen.«

»Du bist eine Frau«, bemerkte Lorkin, während er seine Hose anzog. »Wie kommt es also, dass du Magie beherrschst?«

Sie lächelte. »Männer haben aufgehört, Frauen in der Magie zu unterweisen. Die Frauen jedoch haben nicht damit aufgehört.«

»Weißt du ebenfalls, wie man diesen ›Liebestod‹ wirkt?« Sein Notizbuch und der Blutring seiner Mutter lagen auf dem Tisch. Er hob den Ring auf, während er nach der Robe an der Wand griff, und hoffte, dass sie nur letztere Bewegung wahrnehmen würde. Als er die Robe überstreifte, hielt er den Ring fest in der Hand. Dann griff er nach seinem Notizbuch, schob es in die Innentasche und ließ gleichzeitig den Ring hineinfallen.

»Ja. Obwohl es nicht meine bevorzugte Methode des Auftragsmordes ist.« Sie sah die Fremde an. Lorkin, der ihrem Blick folgte, betrachtete den Leichnam. Wenn Tyvara eine Methode höherer Magie kennt, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie noch andere kennt. Und dass sie viel, viel stärker ist als ich.

»Was bist du wirklich? Du bist offensichtlich keine echte Sklavin.«

»Ich bin eine Spionin. Ich wurde hierhergeschickt, um Euch zu beschützen.« »Von wem?«

»Das kann ich Euch nicht sagen.«

»Aber wer immer es ist, er oder sie will, dass ich am Leben bleibe?« »Ja.«

Er blickte zu der toten Frau hinüber. »Du… äh, Ihr habt sie getötet, um mich zu retten.«

»Ja. Wenn ich sie nicht hier bei Euch gefunden hätte, wärt Ihr die Leiche gewesen, nicht sie.« Sie seufzte. »Ich entschuldige mich. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich dachte, Ihr wärt in Sicherheit. Schließlich habt Ihr mir erklärt, dass Ihr nicht die Absicht hättet, irgendwelche Sklavinnen in Euer Bett zu nehmen. Ich hätte Euch nicht glauben sollen.«

Er spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Es war auch nicht meine Absicht.«

»Ihr habt nicht gerade versucht, sie aufzuhalten.«

»Es war dunkel. Ich dachte, sie sei…« Er riss sich zusammen. Tyvara war nicht die Person, für die er sie gehalten hatte. Sie war eine Schwarzmagierin, wahrscheinlich eine Spionin, und sie hatte zugegeben, bevorzugte Methoden des Auftragsmordes zu haben. Es war vielleicht keine gute Idee, sie denken zu lassen, dass er Gefallen an ihr gefunden hatte. Und ich bin mir nicht sicher, ob mir die Person, die sie wirklich ist, tatsächlich gefällt.

Ihre Augen waren dunkler denn je. Dann wurden sie schmal. »Ihr dachtet, sie sei was?«

Er sah weg, dann zwang er sich, ihrem Blick zu begegnen. »Jemand anderer. Ich war nicht richtig wach. Ich dachte, ich würde träumen.«

»Ihr müsst interessante und angenehme Träume haben«, bemerkte sie. »Und jetzt nehmt Eure Sachen.«

»Sachen?«

»Was immer Ihr nicht zurücklassen wollt.« »Ich gehe fort?«

»Ja.« Wieder schaute sie zu der toten Frau hinüber.

»Wenn die Leute, die sie geschickt haben, begreifen, dass es ihr nicht gelungen ist, Euch zu töten, werden sie jemand anderen herschicken, der die Aufgabe erledigt. Und sie werden gleichzeitig jemanden ausschicken, der mich tötet. Es ist für keinen von uns sicher hier, und ich brauche Euch lebendig.«

»Und D… Botschafter Dannyl?«

Sie lächelte. »Er ist kein Ziel.«

»Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?«

»Weil er nicht der Sohn des Mannes ist, der ihnen in die Quere gekommen ist.«

Er erstarrte vor Überraschung. Hatte Mutter recht? Sie war sich so sicher, dass jemand wegen meiner Eltern einen Groll gegen mich hegen würde.

Sie machte einen Schritt auf die Tür zu. »Beeilt Euch. Wir haben nicht viel Zeit.«

Er bewegte sich nicht. Glaube ich ihr? Habe ich eine Wahl? Sie versteht sich auf schwarze Magie. Sie kann mich wahrscheinlich dazu zwingen, sie zu begleiten. Und wenn sie mich tot sehen will, warum sollte sie mir dann das Leben retten? Es sei denn, es war eine Lüge, und sie hat soeben eine unschuldige Sklavin getötet, um mich davon zu überzeugen …um mich von irgendetwas zu überzeugen.

Dann erinnerte er sich an den Ausdruck auf dem Gesicht der Fremden, als sie Tyvara erblickte. »Aber …er muss sterben«, hatte sie gesagt. Das bestätigte, dass sie die Absicht gehabt hatte, ihn zu töten. »Du bist eine Verräterin an deinem Volk!«, hatte sie außerdem zu Tyvara gesagt. Bezog sich »an deinem Volk« auf das sachakanische Volk? Plötzlich erschienen ihm die Sorgen seiner Mutter allzu real. Zumindest scheint Tyvara mich am Leben lassen zu wollen. Wenn ich hierbleibe, wer weiß, was dann geschehen wird? Nun, Tyvara glaubt, dass jemand anderer versuchen wird, mich zu töten.

Er steckte in Schwierigkeiten. Aber er erinnerte sich an das, was er bei der Anhörung beschlossen hatte. In welche Schwierigkeiten er auch geraten sollte, er musste das Problem selbst lösen. Während er die Möglichkeiten abwog, die er hatte, entschied er sich für das, wovon er hoffte, es sei die beste dieser Möglichkeiten.

Er blickte sich im Raum um. Brauchte er sonst noch etwas? Nein. Er ging zu Tyvara hinüber.

»Ich habe alles, was ich brauche.«

Sie nickte, wandte sich der Tür zu und spähte in den Flur hinaus.

»Also, was sagtet Ihr noch, wer genau es war, dem mein Vater in die Quere gekommen sei?«, fragte er.

Sie verdrehte die Augen. »Wir haben keine Zeit für Erklärungen.«

»Ich wusste, dass Ihr das sagen würdet.«

»Aber ich werde es Euch später erklären.«

»Ich nehme das als Versprechen«, erwiderte er.

Sie runzelte die Stirn, legte eine Hand auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu ermahnen, dann bedeutete sie ihm, ihr zu folgen, und schlüpfte leise in die dunklen Flure des Gildehauses hinaus.


Früher hätte Cery sich ohne ein Licht durch die vertrauten Teile der Straße der Diebe bewegt. In der Dunkelheit war die Gefahr gering gewesen, einem Messer zu begegnen, da nur jene, die von den Dieben gebilligt wurden, das Netzwerk der Gänge unter der Stadt benutzt hatten, und der Waffenstillstand zwischen den Dieben hatte dafür gesorgt, dass nur von den Dieben gebilligte Mörder in den Tunneln anzutreffen gewesen waren.

Jetzt gab es keinen Waffenstillstand, und jeder, der es wagte, konnte die Straße benutzen. Es war schnell so gefährlich geworden, dass nur wenige es taten, was ironischerweise die verlassenen Teile umso sicherer machte. Und Geschichten über übergroße Nagetiere und Ungeheuer hielten alle bis auf die Kühnsten von Erkundungszügen ab.

Aber ich würde trotzdem nicht ohne ein Licht weitergehen, dachte Cery, als er eine Ecke umrundete. Sein Herz hatte, seit sie auf der Straße angekommen waren, unbehaglich schnell geschlagen. Er würde sich erst wieder entspannen, wenn sie sie verließen. Nachdem er um die Biegung geschaut hatte, hob er die Lampe, und eine neuerliche Welle der Erleichterung schlug über ihm zusammen, als er sah, dass sich niemand im Tunnel vor ihnen aufhielt. Dann wurde ihm klar, dass das, was er für die nächste Biegung gehalten hatte, tatsächlich Schutt war, der ihm den Weg versperrte. Seufzend drehte er sich zu Gol um.

»Eine weitere Blockade«, sagte er.

Gol zog die Augenbrauen hoch. »Die war letztes Mal nicht da.«

»Nein.« Cery blickte zur Decke auf. Als er den Riss dort sah, wo sich das Mauerwerk aus Ziegeln teilte, zuckte er zusammen. »Niemand kümmert sich heutzutage noch um die Wartung. Wir werden darum herumgehen müssen.«

Sie gingen ein Stück zurück, und Cery wählte einen nach rechts führenden Gang. Gol zögerte, bevor er ihm folgte.

»Kommen wir da nicht…?«, begann der große Mann.

»…der Schneckenstadt ziemlich nahe?«, beendete Cery seine Frage. »Ja. Wir sollten besser leise sein.«

Die Schnecken waren eine Gruppe von Straßenkindern gewesen, die Zuflucht in den unterirdischen Gängen gefunden hatten, nachdem ihre Gegend der Hüttenviertel neuen Straßen und Gebäuden hatte weichen müssen. Sie hatten sich unter der Erde eingerichtet und kamen nur nach oben, um Essen zu stehlen. Irgendwie hatten sie überlebt, waren erwachsen geworden und hatten in der Dunkelheit ihrerseits Kinder bekommen, und jetzt verteidigten sie ihr Territorium mit grimmiger Wildheit.

Der Dieb, der in dem Gebiet über der Schneckenstadt arbeitete, hatte einmal versucht, sie unter seine Kontrolle zu bringen. Sein Leichnam und die seiner Männer waren einige Tage später aus der Kanalisation gespült worden.

Danach hatten die Menschen, die über der Schneckenstadt lebten, begonnen, an bekannten Tunneleingängen Essen zurückzulassen, in der Hoffnung, sich die Schnecken gewogen zu halten.

An jedem Tunneleingang hob Cery seine Lampe und betrachtete das Steinwerk. Die Schnecken zeichneten an die Wände an den Grenzen ihres Territoriums stets ein Symbol. Erst als er und Gol die Domäne der Unterweltbürger hinter sich gelassen hatten, hörte er auf, nach Spuren von ihnen Ausschau zu halten. Unglücklicherweise stieß er wiederum auf eingestürzte Tunnel und Anzeichen von Verfall. Aber schon bald erreichten sie den alten Eingang zu den Gängen unter der Gilde.

Der Eingang war nach der Ichani-Invasion zerstört worden, aber Cery hatte dafür gesorgt, dass ein neuer Tunnel gegraben wurde. Als Vorsichtsmaßnahme hatte er falsche Eingänge und kluge Täuschungsmanöver eingerichtet, die mögliche Entdecker wieder in andere Richtungen führten. Jetzt hielt er inne, um zu lauschen und nach möglichen Beobachtern Ausschau zu halten, dann schlüpfte er, gefolgt von Gol, durch den richtigen Eingang.

»Viel Glück«, sagte Gol, als er neben der Nische stehen blieb, wo er normalerweise wartete, wenn Cery eine seiner Wanderungen unternahm, um sich mit Sonea zu treffen.

»Dir auch«, erwiderte Cery. »Und sprich nicht mit Fremden.«

Der große Mann stieß ein unverständliches Brummen aus und hob seine Lampe, um die Nische in Augenschein zu nehmen. Nachdem er einige Faren-Netze weggewischt hatte, setzte er sich auf den Vorsprung und gähnte. Cery wandte sich ab und machte sich auf den Weg in die Gänge unter dem Gelände der Gilde.

Wie große Teile der Straße der Diebe waren diese Tunnel verfallen. Sie waren ohnehin nie in gutem Zustand gewesen, außer an den Stellen, wo der Hohe Lord Akkarin Reparaturen vorgenommen hatte. Aber der heimlichtuerische Magier war nicht imstande gewesen, allzu viele Baumaterialien aufzutreiben, da ein solches Tun Verdacht erregt hätte, so dass er im Wesentlichen Ziegelsteine aus anderen Teilen des Labyrinths benutzt hatte, um die Wände auszubessern. Die tiefer liegenden Probleme von Feuchtigkeit und sich bewegender Erde waren nie gelöst worden.

Ich bin davon überzeugt, der Gilde wäre es lieber, sie würden zugeschüttet. Ich würde sie ja selbst in Ordnung bringen, aber wenn die Gilde einen Dieb dabei ertappte, wie er ihre unterirdischen Gänge reparierte, glaube ich nicht, dass sie allzu erfreut wären. Ich bezweifle, dass sie die Entschuldigung akzeptieren würden, dass ich lediglich die Möglichkeit haben will, mich ab und zu mit Sonea zu treffen.

Cerys Herz hämmerte noch immer, aber jetzt mehr vor Aufregung als vor Furcht. Es versetzte ihn stets in kindliche Erregung, wenn er sich in die Gilde schlich. Die Notwendigkeit, gefährliche Bereiche oder Tunneleinstürze zu meiden, zwang Cery zu einer komplizierteren Route, aber sobald er sich unter den Grundmauern der Universität befand, verbesserte sich die Situation. Am heikelsten war der Gang von der Universität zu den Magierquartieren, da dieser die einzige unterirdische Route zwischen den Gebäuden war. Seine Hauptfunktion war die eines Abwasserrohrs, an dessen Seite ein schmaler Gang für Wartungsarbeiten verlief. Aber er vermutete, dass hier seit Jahren nichts mehr getan worden war. Wasser floss aus Rissen in den Wänden und sickerte durch die Kuppeldecke.

Eines Tages wird es einen Einsturz geben, und sie werden feststellen, dass die Vernachlässigung ihrer Kanalisation einen ziemlich stark riechenden Nachteil hat.

Sobald er unter den Grundmauern der Magierquartiere angekommen war, wurde der Gang ein wenig breiter. Unter rechteckige Löcher in der Decke waren Zahlen eingemeißelt worden. Er fand das Loch, nach dem er suchte, stellte seine Lampe an einer trockenen Stelle ab und kletterte dann die Wand hinauf in die Öffnung.

Dies war der schwierigste Teil der Reise. Die Öffnungen bildeten das untere Ende von Schächten oder Kaminen, die bis zum Dach des Gebäudes darüber führten. Durch diese Schächte floss ständig frische Luft herunter. Cery hatte zwei Lieblingstheorien: Entweder handelte es sich um ein Belüftungssystem, um zu verhindern, dass die Luft in der Kanalisation allzu giftig wurde, oder es waren Abfallrohre, die so angelegt waren, dass der Geruch der Kanalisation nicht in ihnen aufsteigen konnte.

Die Schächte waren eng, aber glücklicherweise trocken. Er kletterte langsam hinauf, wobei er sich Zeit ließ und häufig Pausen einlegte. Eines Tages werde ich zu alt dafür sein. Dann werde ich vorn durch die Tore gehen müssen. Oder Sonea wird zu mir kommen müssen.

Endlich erreichte er die Wand hinter ihren Räumen. Er hatte vor langer Zeit einen Teil des Mauerwerks entfernt und die Holzvertäfelung dahinter bloßgelegt. Jetzt legte er ein Auge an das Guckloch, das er in das Holz gebohrt hatte.

Der Raum dahinter war dunkel und leer. Aber das war die gewohnte Situation zu dieser Zeit der Nacht. Vorsichtig und leise legte er die Hände auf die Griffe, die er an die hintere Seite der Vertäfelung angebracht hatte, hob sie hoch und drehte.

Die Vertäfelung quietschte ein wenig, als sie sich löste. Ich sollte heim nächsten Mal etwas Wachs mitbringen, um das zu beheben, dachte er. Er trat durch die Öffnung, dann schob er die Vertäfelung wieder an ihren Platz.

Es erfüllte ihn mit einigem Stolz und Befriedigung, dass Sonea ihn nie auf diese Weise hatte hereinkommen sehen. Sie bestand darauf, nicht zu erfahren, wie er in ihre Räume gelangte oder sie wieder verließ. Je weniger sie wusste, desto besser war es für sie beide. Es war nicht lebensgefährlich hierherzukommen, aber die Konsequenzen für Sonea würden nicht gut sein, sollten seine Besuche entdeckt werden, und dieses Wissen dämpfte seine schelmische Freude darüber, ihr Quartier unbemerkt erreichen zu können.

Er machte bewusst einige Geräusche, polterte gegen Möbelstücke und trat auf ein Dielenbrett, von dem er wusste, dass es knarrte, dann wartete er ab. Aber sie kam nicht aus dem Schlafzimmer. Also bewegte er sich auf die Tür zu und öffnete sie einen Spaltbreit. Das Bett war gemacht und unbenutzt. Der Raum war leer.

Enttäuschung ließ die verbliebene Erregung über seine Wanderung durch die Tunnel erlöschen. Er setzte sich. Er hatte sie bisher stets angetroffen. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass sie nicht hier sein könnte. Was mache ich jetzt? Auf sie warten?

Aber wenn sie nicht allein, sondern in Begleitung zurückkehrte, könnte es ein wenig unangenehm werden. Er würde keine Zeit haben, in den Schacht zu entkommen. Und der Schacht war ein zu unbequemer Ort, um dort zu warten und nach ihr Ausschau zu halten.

Leise fluchend stand er wieder auf und untersuchte sorgfältig den Inhalt ihrer Möbelstücke. Schließlich fand er Papier und einen Stift. Er riss eine kleine Ecke von einem Blatt ab, zeichnete ein winziges Bild eines Ceryni, des Nagetiers, das sein Namensvetter war, und schob es unter der Tür zu ihrem Schlafzimmer hindurch.

Dann kehrte er zu der Vertäfelung zurück und machte sich auf den langen Heimweg.


Der Sklave, der Dannyl an der Tür des Gildehauses begrüßte, hatte es besonders eilig, sich zu erniedrigen. Zu viele aufregende Entdeckungen beschäftigten Dannyl jedoch, und er nahm nicht wahr, was der Mann sagte. Auf dem Rückweg vom Palast hatte er in seinem Notizbuch so viel wie möglich von dem, was der König ihm über sachakanische Geschichte erzählt hatte, niedergeschrieben, aber noch während er den Flur entlangging, fiel ihm etwas ein, das er vergessen hatte.

Ich muss mich hinsetzen und all das zu Papier bringen. Es wird eine lange Nacht werden, vermute ich. Ich frage mich, ob Achati morgen für mich einen stillen Abend arrangieren könnte… Was ist das?

Im Hauptraum bedeckte ein Meer von Sklaven den Boden. Der Türsklave hatte sich neben sie gelegt. Es war ein so unwirklicher Anblick, dass er für einen Moment nicht sprechen konnte.

»Erhebt euch«, befahl er.

Wie aufs Stichwort erhob sich die Gruppe langsam auf die Füße. Er sah Männer und Frauen, die er nicht erkannte: einige in der robusten Kleidung für die Arbeit im Freien, andere mit Lederschürzen mit Essensflecken darauf.

»Warum seid ihr alle hier?«, fragte er.

Die Sklaven tauschten Blicke, dann schauten sie zu dem Türsklaven hinüber. Der Mann beugte sich vor, als hätten ihre Blicke Gewicht.

»L-Lord Lorkin ist… ist… ist…«

Dannyls Herz setzte einen Schlag aus, dann begann es zu rasen. Nur etwas Schreckliches konnte dieses Maß an Unterwürfigkeit rechtfertigen.

»Er ist was? Tot?«

Der Mann schüttelte den Kopf, und eine Welle der Erleichterung schlug über Dannyl zusammen. »Was dann?« »W-weg.«

Der Mann warf sich abermals zu Boden, und der Rest der Sklaven folgte seinem Beispiel. Verärgert holte Dannyl tief Luft und zwang sich, gelassen zu bleiben.

»Wohin weg?«

»Das wissen wir nicht«, antwortete der Türsklave mit erstickter Stimme. »Aber… er hat… in seinem Zimmer… gelassen.«

Er hat etwas in seinem Zimmer zurückgelassen. Höchstwahrscheinlich einen Brief, in dem er erklärt, warum er fortgegangen ist. Und aus irgendeinem Grund denken die Sklaven, dass ich wütend sein werde. Hat Lorkin es sich in den Kopf gesetzt, nach Hause zu reisen?

»Steht auf«, befahl er. »Ihr alle. Kehrt an eure Arbeit zurück. Nein. Wartet.« Die Sklaven hatten begonnen, sich hochzurappeln. Möglicherweise werde ich sie befragen müssen. »Bleibt hier. Du«, er zeigte auf den Türsklaven, »du kommst mit mir.«

Das braune Gesicht des Mannes nahm eine teigige Farbe an. Stumm folgt er Dannyl durch das Gildehaus zu Lorkins Gemächern. Überall im Hauptraum waren Lampen entzündet worden, und im Schlafzimmer brannte ebenfalls noch eine.

»Lord Lorkin?«, rief Dannyl, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Wenn Lorkin ihnen gesagt hatte, dass er fortgehe, würde er wohl kaum hier sein. Trotzdem ging Dannyl zum Schlafzimmer hinüber und schaute hinein.

Bei dem Anblick, der sich ihm bot, gefror ihm das Blut zu Eis.

Eine nackte Sachakanerin lag dort, so verrenkt, dass ihr Gesicht der Decke zugewandt war, ihr Rücken jedoch zu ihm zeigte. Ihre Augen waren starr. Die Laken um sie herum waren voller dunkelroter Flecken. An manchen Stellen glänzten sie noch feucht. Er konnte das Messer sehen, das in ihrem Rücken steckte.

Einen Moment später fuhr Dannyl herum und bedachte den Türsklaven mit einem strengen Blick. »Wie ist das geschehen?«

Der Mann wand sich. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Wir haben Geräusche gehört. Stimmen. Nachdem sie verstummt waren, sind wir hergekommen, um nachzusehen.« Sein Blick wanderte zu der Leiche, dann sah er schnell wieder weg.

Hat Lorkin das getan?, hätte Dannyl gern gefragt. Aber wenn der Mann sagt, er wisse nicht, was geschehen ist, wird er auch nicht wissen, ob Lorkin dafür verantwortlich ist.

»Wer ist sie?«, fragte Dannyl stattdessen.

»Riva.«

»Ist sie eine der Sklavinnen dieses Hauses?« »J-ja.«

»Ist sonst noch jemand verschwunden?«

Der Mann runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen. »Tyvara.«

»Noch eine Sklavin?«

»Ja. Wie Riva. Eine Dienstsklavin.«

Dannyl betrachtete noch einmal die Tote. Hatte diese Tyvara irgendwie mit dem Mord zu tun? Oder hatte sie das gleiche Schicksal erlitten?

»Waren Riva und Tyvara… miteinander befreundet?«, fragte Dannyl. »Hat irgendjemand sie miteinander sprechen sehen?«

»I-ich weiß nicht.« Der Mann blickte zu Boden. »Ich werde fragen.«

»Nein«, erwiderte Dannyl. »Bring die Sklaven zu mir. Sie sollen sich draußen im Flur in einer Reihe aufstellen, und sag ihnen, dass sie nicht miteinander sprechen sollen.« Der Mann eilte davon. Ich nehme an, sie hatten bereits Zeit, ihre Aussagen aufeinander abzustimmen und sich gute Alibis oder Entschuldigungen auszudenken. Aber sie werden ihre Geschichte nicht abändern können.

Er würde unverzüglich eine Nachricht an Ashaki Achati schicken müssen. Die Sklaven gehörten dem König. Dannyl war sich nicht sicher, ob die Ermordung eines dieser Sklaven ein großes Problem darstellen würde. Aber Lorkins Verschwinden war ein Problem. Vor allem wenn man ihn gegen seinen Willen aus dem Gildehaus weggebracht hatte. Vor allem wenn er die Sklavin ermordet hatte.

Achati wird zweifellos alle Sklaven selbst befragen. Er wird wahrscheinlich ihre Gedanken lesen. Es ist möglich, dass er Informationen, die er vor mir geheim halten will, verbergen wird. Also muss ich so viel wie möglich in Erfahrung bringen, bevor Achati eintrifft.

Er richtete sich auf, als ihn ein kalter Schauer überlief.

Ist es ein Zufall, dass ich in der Nacht in den Palast eingeladen werde, in der eine der Sklavinnen des Königs hier ermordet wird?

Hatte Lorkin die Sklavin getötet? Gewiss nicht. Aber es sah eindeutig so aus. War es Selbstverteidigung gewesen? Ich sollte auch nach Beweisen für das eine oder das andere suchen, bevor die Männer des Königs erscheinen. Dannyl ging weiter in den Raum hinein und starrte die Leiche an. Abgesehen von der Messerwunde sah er auf ihrem Arm eine Linie roten, geperlten Blutes entlang eines flachen Schnitts. Interessant. Das sieht aus wie ein Beweis für schwarze Magie. Er zwang sich, den Schenkel der Frau zu berühren und mit seinen Sinnen zu suchen. Und tatsächlich, jemand hatte die Energie aus dem Körper gesogen. Es war schwarze Magie benutzt worden. Seine Erleichterung war überwältigend. Es kann nicht Lorkin gewesen sein.

Warum war Lorkin dann verschwunden? War er ein Gefangener eines sachakanischen Schwarzmagiers? Plötzlich wurde Dannyl übel.

Wenn Sonea das herausfindet… Aber würde sie es erfahren müssen? Wenn es ihm gelang, Lorkin schnell aufzuspüren, würde es keine schlechten Nachrichten zu überbringen geben.

Er musste Lorkin finden, und zwar schnell. Geräusche aus dem Flur verrieten ihm, dass die Sklaven zu der Befragung eingetroffen waren. Er seufzte. Es würde eine lange Nacht werden. Aber nicht aus den Gründen, die er vorgezogen hätte.

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