Seit Langem herrscht die Meinung vor, dass die Luft (von manchen auch Argon genannt) der Quell des Lebens sei. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall, und so graviere ich diese Worte, um zu berichten, wie ich herausfand, was der wahre Quell des Lebens ist und – was damit zusammenhängt – auf welche Weise das Leben eines Tages enden wird.
Die Ansicht, dass die Luft unser Leben ermöglicht, galt im Laufe der Geschichte als so selbstverständlich, dass es nicht einmal nötig war, sie zu erklären. Jeden Tag verbrauchen wir zwei mit Luft gefüllte Lungen; jeden Tag entfernen wir die leeren Lungen aus unserer Brust und ersetzen sie durch volle. Jemand, der so unbedacht ist, seinen Luftpegel zu weit absinken zu lassen, spürt, wie seine Glieder allmählich schwer werden und sich der Drang verstärkt, die Lungen wieder aufzufüllen. Äußerst selten kommt es vor, dass jemand nicht wenigstens eine Lunge rechtzeitig auswechseln kann, bevor das ihm eingesetzte Paar völlig leer ist. Geschieht so ein Unglück einmal – wenn jemand irgendwo feststeckt, sich nicht bewegen kann und niemand in der Nähe ist, der ihm hilft –, stirbt er, sobald sein Luftvorrat zur Neige gegangen ist.
Im normalen Verlauf des Lebens verschwenden wir kaum einen Gedanken darauf, dass wir Luft benötigen, und viele würden sogar sagen, dass dieses Bedürfnis der unerheblichste Grund dafür ist, warum wir die Füllstationen aufsuchen. Diese Füllstationen sind der wichtigste Treffpunkt für den tagtäglichen gesellschaftlichen Austausch – hier stillen wir sowohl unsere emotionalen, als auch unsere körperlichen Bedürfnisse. Jeder hat Ersatzlungen zu Hause, doch alleine die eigene Brust zu öffnen und seine Lungen auszuwechseln, wird schnell zur lästigen Pflicht. Im Beisein anderer wird aus dieser Notwendigkeit allerdings eine gemeinschaftsstiftende Aktivität, eine geteilte Freude.
Ist man gerade sehr beschäftigt oder ungesellig, kann man einfach ein volles Paar Lungen mitnehmen, sie einsetzen und die leeren Lungen auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes abstellen. Hat man jedoch ein wenig Zeit übrig, gebietet es die Höflichkeit, die leeren Lungen an den Luftspender anzuschließen, um sie für den nächsten aufzufüllen. Für gewöhnlich bleibt man aber eine Weile, erfreut sich der Gesellschaft anderer, tauscht Neuigkeiten mit Freunden und Bekannten aus und reicht seinen Gesprächspartnern beiläufig frisch gefüllte Lungen. Auch wenn diese Praxis keine Luftgemeinschaft im strengen Sinn des Wortes darstellt, stiftet sie eine gewisse Kameradschaft, die auf dem Wissen aller beruht, dass die Luft aus derselben Quelle stammt, denn die Luftspender sind nur die sichtbaren Endpunkte der Leitungen, die zum Vorratsspeicher tief unter der Erde führen, der großen Lunge der Welt, dem Quell all unserer Nahrung.
Viele Lungen werden am nächsten Tag zum selben Luftspender zurückgebracht, doch genauso viele gelangen zu anderen Stationen, wenn die Leute einen benachbarten Bezirk besuchen. Die Lungen sehen alle gleich aus – glatte Zylinder aus Aluminium –, sodass sich nicht sagen lässt, ob eine bestimmte Lunge stets in der Nähe geblieben ist, oder ob sie eine lange Reise hinter sich hat. Und ganz so, wie die Lungen von einer Person zur nächsten, von einem Bezirk zum anderen wandern, verbreiten sich auch Nachrichten und Tratsch. Auf diese Weise erfährt man Neuigkeiten aus den entlegensten Bezirken, selbst aus jenen vom Rand der Welt, ohne dass man sich von zu Hause fortbegeben muss, allerdings reise ich selbst gerne. Ich habe den ganzen weiten Weg bis zum Rand der Welt zurückgelegt und die massive Chromwand gesehen, die sich vom Boden aufwärts in die Unendlichkeit des Himmels erstreckt.
Bei einer der Füllstationen hörte ich zum ersten Mal von jenen Gerüchten, die mich zu meinen Untersuchungen anregten, welche schließlich zu meiner Erleuchtung führten. Es begann durchaus harmlos mit einer Bemerkung des Ausrufers unseres Bezirks. Wie es Brauch ist, rezitiert der Ausrufer an jedem Mittag des ersten Tages eines Jahres Verse – eine Ode, die vor langer Zeit für dieses jährliche Fest verfasst wurde und die vorzutragen genau eine Stunde dauert. Der Ausrufer erwähnte, dass die Turmuhr bei seiner jüngsten Darbietung der Verse bereits zur vollen Stunde schlug, bevor er seine Rezitation beendet hatte. Dergleichen war noch nie geschehen. Ein anderer, der sich in der Füllstation aufhielt, meinte, das sei aber ein Zufall gewesen, denn er sei gerade aus einem nahegelegenen Bezirk zurückgekehrt, und dort hätte sich der Ausrufer über dasselbe Missverhältnis beklagt.
Niemand machte sich allzu viele Gedanken über diese Vorfälle, außer sie zur Kenntnis zu nehmen. Erst einige Tage später, als man von einer ähnlichen Abweichung zwischen den Versen des Ausrufers und dem Lauf der Turmuhr in einem dritten Bezirk erfuhr, vermutete man, diese Unstimmigkeiten könnten auf einen Defekt im Mechanismus der Turmuhren zurückzuführen sein, auch wenn es seltsam erschien, dass die Uhren schneller gingen und nicht langsamer. Horologen untersuchten die drei Turmuhren, aber sie konnten keinen Fehler entdecken. Als man die Turmuhren mit den für solche Eichungen verwendeten Uhren verglich, zeigte es sich sogar, dass sie die Zeit weiterhin akkurat maßen.
Ich selbst fand diese Probleme äußerst faszinierend, war aber zu sehr in meine eigenen Studien vertieft, um diesen Vorgängen meine Aufmerksamkeit zu widmen. Ich forsche auf dem Gebiet der Anatomie, und damit der größere Zusammenhang meines weiteren Vorgehens verständlich ist, will ich kurz von meiner Beziehung zu meinem Forschungsfeld erzählen.
Da wir sehr langlebig und tödliche Unglücksfälle die Ausnahme sind, stirbt glücklicherweise nur selten jemand, was jedoch die Erforschung der Anatomie erschwert, insbesondere da viele Unfälle, die so schwer sind, dass dabei jemand stirbt, die Überreste der Verunglückten zu sehr beschädigen, als dass sie noch für Studienzwecke brauchbar wären. Platzt eine volle Lunge, zerfetzt die Wucht ihrer Explosion den Körper und reißt das Titan wie Blech in Stücke. Anatomieforscher widmeten sich deshalb früher vor allem den Gliedmaßen, da diese noch am ehesten unversehrt blieben. In der ersten Anatomiestunde, der ich vor hundert Jahren beiwohnte, zeigte uns der Dozent einen abgetrennten Arm, dessen Verkleidung entfernt worden war, um die eng beieinander liegenden Stangen und Kolben freizulegen. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie der Dozent, nachdem er die Arterienschläuche mit einer an der Wand des Labors angebrachten Lunge verbunden hatte, die Stangen am Stumpf des Armes bewegen konnte, sodass die Hand daraufhin ruckartig eine Faust bildete und sich wieder öffnete.
In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich die Anatomieforschung so weit, dass Anatomen beschädigte Gliedmaßen reparieren, gelegentlich sogar abgetrennte Glieder wieder anbringen konnten. Zudem haben wir es geschafft, die Physiologie lebender Subjekte zu studieren. Für meine Studenten habe ich die erste Lektion, die ich selbst besucht hatte, dahingehend abgeändert, dass ich die Verkleidung meines eigenes Armes freilegte, um den Erstsemestern zu zeigen, wie sich die Stangen dehnten und zusammenzogen, wenn ich meine Finger bewegte.
Trotz dieser Fortschritte konnte eines der größten Geheimnisse von der Anatomieforschung bisher nicht gelöst werden – nämlich die Frage, wie unser Gedächtnis funktioniert. Zwar wissen wir ein wenig über die Beschaffenheit unserer Gehirne, doch die Physiologie des Gehirns lässt sich wegen seiner großen Empfindlichkeit weiterhin kaum untersuchen. Wird bei tödlichen Unfällen der Schädel verletzt, tritt das Gehirn explosionsartig in Gestalt einer goldenen Wolke aus, und außer zerfetzten Drähten und Plättchen, aus deren Untersuchung sich keine Erkenntnisse gewinnen lassen, bleibt nichts übrig. Die jahrzehntelang vorherrschende Theorie des Gedächtnisses besagte, dass die Erfahrungen einer Person auf feine Goldplättchen graviert werden; jene Goldplättchen eben, die nach einem Unglück von der Kraft der Explosion zerrissen werden und als kleine Flöckchen zurückbleiben. Anatomieforscher haben diese Goldplättchenfragmente – die so fein und dünn sind, dass Licht grünlich durch sie hindurchschimmert – früher gesammelt und Jahre damit zugebracht, ihre ursprüngliche Anordnung zu rekonstruieren, alles in dem Glauben, irgendwann die Symbole entziffern zu können, mit denen die letzten Erinnerungen der Verstorbenen aufgezeichnet wurden.
Ich bin kein Anhänger dieser sogenannten »Einschreibungs-Hypothese«, und zwar deshalb, weil sie nicht begründet, warum unsere Erinnerungen unvollständig sind, obwohl sie der Theorie zufolge lückenlos aufgezeichnet werden. Fürsprecher der Einschreibungs-Hypothese erklären das Vergessen damit, dass sich im Laufe der Zeit die Position der Goldplättchen zum Gedächtnis-Lesestift verschiebt und die ältesten Plättchen schließlich gar keinen Kontakt mehr zu diesem Stift haben. Mich hat das aber nie überzeugt, obwohl ich nachvollziehen kann, was an dieser Theorie so verlockend ist. Ich habe ebenfalls viele Stunden damit verbracht, Goldplättchenfragmente durch das Mikroskop zu betrachten, und kann mir denken, wie befriedigend es wäre, am Rädchen der Schärferegulierung zu drehen und plötzlich lesbare Symbole erkennen zu können.
Und wie wunderbar wäre es erst, wenn sich die ältesten Erinnerungen eines Verstorbenen entziffern ließen – Erinnerungen, deren er sich selbst nicht mehr zu entsinnen vermag! Keiner von uns kann sich weiter als etwa hundert Jahre zurückerinnern, und unsere schriftlichen Zeugnisse – die wir selbst geschrieben, aber längst vergessen haben – reichen nur einige Jahrhunderte weiter in die Vergangenheit zurück. Wie viele Jahre lebten wir bereits vor dem Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen? Woher stammen wir? Es ist die Aussicht, in unseren eigenen Gehirnen Antworten auf diese Fragen zu finden, die die Einschreibungs-Hypothese so verführerisch macht.
Ich selbst war Verfechter einer konkurrierenden Denkschule, der zufolge unsere Erinnerungen mittels einer Methode gespeichert werden, bei der es ebenso einfach ist, Erinnerungen zu löschen, wie sie aufzuzeichnen: möglicherweise durch die Rotation eines Getriebes oder die Stellung einer Reihe von Schaltern. Gemäß dieser Theorie war alles, was wir vergessen hatten, ein für alle Mal verloren, und unsere Gehirne bargen keine Erinnerungen an die Vergangenheit, die weiter zurückreichten als unsere Bibliotheken. Für diese Theorie sprach unter anderem, dass sie zu erklären vermochte, warum Verstorbene, wenn man sie durch das Einsetzen einer neuen Lunge wiederbelebt, keine Erinnerungen haben, sondern völlig gedächtnislos sind, da der Schock des Todes alle Getrieberäder oder Schalter zurückgesetzt hat. Die Vertreter der Einschreibungs-Hypothese behaupteten, dass durch den Todesschock lediglich die Anordnung der Plättchen durcheinandergebracht würde. Niemand aber wagte es, eine lebende Person zu töten, auch keinen Schwachsinnigen, um diesen strittigen Punkt zu klären. Ich hatte ein Experiment ersonnen, mit dem sich die Wahrheit endgültig ermitteln ließ, aber es war ein gefährliches Experiment, das sorgfältiger Erörterung bedurfte, bevor ich es wagen konnte. Ich war sehr lange unentschlossen, bis ich schließlich erneut von den ungenau laufenden Uhren hörte.
Ich erfuhr, dass auch in einem entfernteren Bezirk der Ausrufer festgestellt hatte, dass die Turmuhr zur vollen Stunde schlug, bevor er seinen Neujahrsvortrag beendet hatte. Bemerkenswert daran war, dass die Uhr dieses Bezirks mit einem anderen Mechanismus betrieben wurde, bei dem die Stunden durch das Fließen von Quecksilber in einen Behälter gemessen wurden. Hier konnte die Abweichung nicht auf einem einfachen mechanischen Fehler beruhen. Die meisten Leute vermuteten, dass ein Schabernack die Ursache war, ein schlechter Scherz, den Unruhestifter verbrochen hatten. Ich hegte einen anderen Verdacht, einen beunruhigenderen, den ich nicht auszusprechen wagte, der aber mein weiteres Vorgehen bestimmte. Nun hielt ich es für zwingend notwendig, mein Experiment durchführen.
Das erste Gerät, das ich baute, war äußerst einfach. In meinem Labor montierte ich vier Prismen auf Haltebügeln und positionierte sie mit großer Sorgfalt so, dass ihre Spitzen die Ecken eines Rechtecks bildeten. In dieser Anordnung lenkten sie einen Lichtstrahl zu einem der unteren Prismen, welches das Licht in einer vierseitigen Schleife zuerst aufwärts reflektierte, dann zurück, dann nach unten und zuletzt wieder nach vorne. Somit konnte ich, wenn ich mich mit den Augen auf gleicher Höhe mit dem ersten Prisma befand, meinen eigenen Hinterkopf betrachten. Dieses solipsistische Periskop war die Grundlage für alles Weitere.
Eine ähnliche, zu meinem erweiterten Gesichtsfeld passende rechteckige Anordnung aus Schaltstangen ermöglichte es mir, auch meine Reichweite zu vergrößern. Die aus Schaltstangen bestehende Vorrichtung war weit umfangreicher als das Periskop, aber immer noch vergleichsweise simpel. Um einiges ausgefeilter allerdings waren die Instrumente, die ich am Ende der jeweiligen Mechanismen anbrachte. An das Periskop montierte ich ein Binokularmikroskop auf einer Armatur, die sich horizontal und vertikal bewegen ließ. Das Ende der Schaltstangen versah ich mit einer Reihe von Präzisionsinstrumenten, auch wenn diese Bezeichnung eine grobe Untertreibung für diese Meisterwerke der Mechanik ist. Dank des Erfindungsreichtums der Anatomen und der durch das Studium körperlicher Strukturen gewonnenen Anregungen ließen sich mit diesen Werkzeugen Bewegungen vollziehen, die man sonst mit den eigenen Händen ausführte, jedoch in einem viel kleineren Maßstab.
Da ich so sorgfältig wie möglich vorgehen musste, dauerte es Monate, bis ich diese Vorrichtung zusammengebaut hatte. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, konnte ich mit meinen Händen eine Reihe von Knöpfen und Hebeln vor mir bedienen, mit denen ich die beiden Werkzeugarme steuerte, die hinter meinem Kopf endeten, und dabei durch das Periskop mein Werk beobachten. So war ich in der Lage, mein eigenes Gehirn zu sezieren.
Mir ist klar, dass sich diese Idee äußerst verrückt anhört, und ich wäre von meinen Kollegen an der Umsetzung meines Vorhabens gehindert worden, hätte ich ihnen davon erzählt. Jemand anderen zu bitten, sein Leben für diese anatomische Untersuchung zu riskieren, kam für mich nicht infrage, und lediglich das passive Objekt einer solchen Operation zu sein, hätte mich ebenso wenig zufriedengestellt. So blieb mir keine andere Möglichkeit, als mich selbst zu sezieren.
Ich besorgte mir ein Dutzend gefüllter Lungen und schloss sie an ein Verteilerrohr an. Diese Lungenbatterie platzierte ich unter dem Tisch, an dem ich arbeiten würde, und verband sie mit dem Bronchialstutzen in meiner Brust. So war ich sechs Tage lang mit Luft versorgt. Für den Fall, dass ich mein Experiment nicht innerhalb dieses Zeitraums zum Abschluss bringen konnte, hatte ich einen Kollegen gebeten, mir am Ende der sechstägigen Frist einen Besuch abzustatten. Aber ich ging davon aus, dass es mir nur dann nicht gelingen würde, die Operation rechtzeitig zu beenden, wenn ich dabei versehentlich meinen eigenen Tod herbeiführte.
Ich begann damit, die gewölbte Platte, die meinen Scheitel bis zur Kopfrückseite bedeckt, sowie die flacheren Seitenplatten links und rechts zu entfernen. Lediglich meine Gesichtsplatte blieb in ihrer Halterung verankert, und ihre Innenseite konnte ich durch mein Periskop nicht sehen. Was ich dagegen sah, war mein nun offenliegendes Gehirn. Es bestand aus etwa einem Dutzend kleinerer Komponenten, deren Äußeres aus kompliziert geformten Schalen bestand. Als ich das Periskop auf die feinen Fugen ausrichtete, die diese Schalen trennten, konnte ich einen ersten Blick auf die wundersamen Mechanismen in ihrem Innern werfen. Obwohl ich nicht viele Einzelheiten erkennen konnte, war dies doch die schönste und komplexeste Maschine, die ich je gesehen hatte; sie war jeder von Menschen gemachten Apparatur derart weit überlegen, dass sich ihr göttlicher Ursprung nicht anzweifeln ließ. Was ich sah, war sowohl aufregend, als auch verwirrend, und mit einem leichten Schwindelgefühl gab ich mich einige Minuten lang dem reinen ästhetischen Genuss dieses Anblicks hin, bevor ich mit meiner Erkundung fortfuhr.
Im Allgemeinen wurde angenommen, dass das Gehirn aus einem zentralen Apparat bestand, in dem die eigentlichen Denkvorgänge stattfanden, der wiederum von mehreren Komponenten umgeben war, in denen die Erinnerungen gespeichert wurden. Was ich sehen konnte, schien diese Theorie zu bestätigen, denn die außen liegenden Komponentencluster schienen einander zu gleichen, während die Komponenten im Inneren unterschiedlicher aussahen, heterogener waren und aus mehreren beweglichen Teilen bestanden. Allerdings lagen diese Komponenten zu dicht beieinander, sodass ich die Vorgänge in ihnen nicht genauer beobachten konnte. Wollte ich mehr herausfinden, musste ich näher herangelangen.
Die peripheren Komponentencluster verfügten über einen eigenen Luftspeicher, der aus einer Leitung gespeist wurde, die von einem Regler an der Basis meines Gehirns dorthin führte. Ich richtete mein Periskop auf den hintersten Komponentencluster aus und ersetzte mithilfe meiner Präzisionsinstrumente die zuführende Luftleitung durch ein längeres Verbindungsstück. Diese Prozedur hatte ich unzählige Male geübt, sodass ich in der Lage war, sie in wenigen Augenblicken durchzuführen. Trotzdem war ich unsicher, ob ich den Leitungswechsel schnell genug vornehmen konnte, bevor der Luftspeicher der Komponentencluster erschöpft war. Erst als ich beruhigt feststellte, dass die Tätigkeit der Komponentencluster nicht ausgesetzt hatte, wagte ich es, meine Arbeit fortzusetzen. Die längere Luftleitung richtete ich so aus, dass ich das, was in der Fuge hinter dem Komponentencluster lag, genauer in Augenschein nehmen konnte. Dort fand ich weitere Leitungen, welche den Komponentencluster mit seinen Nachbarn verbanden. Mit den feingliedrigsten Präzisionsinstrumenten wagte ich mich in den Spalt hinein und tauschte eine Leitung nach der anderen gegen längere aus. Schließlich hatte ich mich um den ganzen Komponentencluster herumgearbeitet und alle Leitungen ausgewechselt, die ihn mit dem Rest meines Gehirns verbanden. Nun konnte ich den Komponentencluster von dem Rahmen, an dem er befestigt war, lösen und die ganze Einheit aus dem hinteren Teil meines Kopfes herausnehmen.
Natürlich war es möglich, dass ich mit diesem Eingriff meine Denkfähigkeit beeinträchtigt hatte, doch einige einfache mathematische Probeaufgaben bestätigten, dass ich unverletzt geblieben war. Nun, da einer der Komponentencluster an einem Gerüst oberhalb meines Kopfes befestigt war, hatte ich freie Sicht auf den Denkapparat im Zentrum meines Gehirns, aber immer noch nicht genug Platz, um die Mikroskoperweiterung für eine nähere Inspektion auszurichten. Um die Vorgänge in meinem Gehirn genauer zu untersuchen, musste ich mindestens ein halbes Dutzend weiterer Unterkomponenten entfernen.
Mit mühseliger Sorgfalt wiederholte ich die Prozedur, die Leitungen anderer Komponentencluster auszuwechseln, und verlegte eine Komponente weiter nach hinten, zwei andere nach oben und zwei weitere zur Seite hin, und befestigte schließlich alle an dem Gerüst, das meinen Kopf umgab. Als ich damit fertig war, sah mein Gehirn aus wie eine Explosion einen Sekundenbruchteil nach der Detonation, und als mir das bewusst wurde, überkam mich erneut ein Schwindelgefühl. Immerhin lag nun mein Denkapparat frei auf einer Säule aus Luftleitungen und Schaltstangen, die in meinen Torso hinabführten. Nun hatte ich genug Platz, um mein Mikroskop in Stellung zu bringen und es um dreihundertsechzig Grad zu drehen, um das Innere der Komponentencluster, die ich entfernt hatte, zu begutachten. Was ich da sah, war ein Mikrokosmos goldener Mechanismen, eine Landschaft aus kleinsten sich drehenden Walzen und sich auf- und abbewegender Zylinder.
Als ich über diesen Anblick nachdachte, fragte ich mich, wo denn nun eigentlich mein Körper war. Die Verbindungsstücke, die es mir gestatteten, alles zu betrachten und daran zu arbeiten, unterschieden sich nicht von den Komponenten, die meine Augen und Hände mit meinem Gehirn verbanden. Ersetzten die Präzisionsinstrumente für die Dauer des Experiments nicht meine Hände? Und waren die Vergrößerungslinsen am Ende des Periskops nun nicht meine Augen? Ich war eine umgestülpte Person, und mein kleiner, fragmentierter Körper befand sich in der Mitte meines eigenen Gehirns. In dieser unwahrscheinlichen Anordnung begann ich damit, mich selbst zu erforschen.
Ich wandte mein Mikroskop einem der Komponentencluster zu, die meine Erinnerungen enthielten, und studierte seine Gestalt. Ich erwartete nicht, meine Erinnerungen entziffern zu können, sondern wollte lediglich in Erfahrung bringen, wie sie aufgezeichnet wurden. Wie ich angenommen hatte, fand ich keine Anordnung unzähliger Blattmetallseiten vor, konnte aber zu meiner Überraschung auch keine Zahnräder oder Schalter erkennen. Stattdessen schien der Komponentencluster fast vollständig aus einer Reihe von Luftröhrchen zu bestehen. In den Zwischenräumen zwischen den Röhrchen erhaschte ich einen Blick auf Wellen, die sich durch das Innere fortbewegten.
Bei stärkerer Vergrößerung und sorgfältiger Betrachtung sah ich, wie sich die Röhrchen zu Kapillaren verzweigten, die mit einem engen Drahtgeflecht verwoben waren, an welchem Goldplättchen hingen. Die aus den Kapillaren austretende Luft hielt diese Plättchen in unterschiedlicher Position. Das waren keine Schalter im herkömmlichen Sinn, denn ohne den steten Luftstrom verharrten sie nicht in ihrer Stellung, aber ich vermutete, dass dies die Vorrichtung war, nach der ich gesucht hatte – das Medium, das Erinnerungen aufzeichnete. Die Wellenbewegungen, die ich sehen konnte, mussten Erinnerungsvorgängen entsprechen, bei dem das Arrangement der Plättchen ausgelesen und zurück an den Denkapparat übermittelt wurde.
Mit diesen neuen Erkenntnissen gewappnet, richtete ich das Mikroskop nun auf den Denkapparat selbst. Hier konnte ich ebenfalls ein Drahtgeflecht erkennen, das aber keine in einer bestimmten Position gehaltene Plättchen trug; stattdessen bewegten sich die Plättchen hier ständig vor und zurück, fast zu schnell, um den Bewegungen folgen zu können. Tatsächlich schien das Innere des Denkapparates in ständiger Bewegung zu sein und mehr aus Plättchen denn aus Luftkapillaren zu bestehen, und ich fragte mich, wie die Luft auf sinnfällige Weise zwischen all den Goldplättchen verteilt wurde. Viele Stunden lang untersuchte ich die Plättchen, bis ich begriff, dass sie selbst die Rolle von Luftkapillaren spielten. Die Plättchen bildeten temporäre Leitungen und Ventile, die lange genug bestanden, um Luftströme auf andere Plättchen zu übertragen, bis sie sich wieder auflösten. Das hier war eine Maschine, die sich im ständigen Wandel befand, ja, die sich während ihrer Operationen sogar selbst modifizierte. Das Drahtgeflecht war nicht so sehr eine Maschine, sondern eher eine Seite, auf der die Maschine geschrieben wurde und auf die sich die Maschine selbst unablässig schrieb.
Mein Bewusstsein wurde sozusagen durch die Positionierung der feinen Plättchen bestimmt, aber noch präziser wäre es zu sagen, dass mein Bewusstsein auf dem sich stetig wandelnden Muster der diese Plättchen bewegenden Luft beruhte. Während ich die oszillierenden Goldplättchen längere Zeit beobachtete, stellte ich fest, dass die Luft, anders, als vermutet wurde, nicht einfach nur der Antrieb unserer Gedanken ist. Die Luft ist vielmehr selbst das Medium unserer Gedanken. Alles, was uns ausmacht, gründet auf einem Muster aus Luftströmungen. Meine Erinnerungen wurden weder durch Riefen auf Folien, noch durch die Ausrichtung von Schaltern bestimmt, sondern durch ununterbrochene Argonströme.
Nachdem ich die Funktionsweise des Geflechts begriffen hatte, suchte eine rasche Folge von Erkenntnissen mein Bewusstsein heim. Die erste und banalste war die Antwort auf die Frage, warum Gold, das formbarste und biegsamste Metall überhaupt, das einzige Material war, aus dem unsere Gehirne bestehen konnten. Nur die feinsten Folienplättchen konnten sich schnell genug bewegen, um einen solchen Mechanismus zu bilden, und nur die filigransten Drähte konnten als Aufhängung für sie dienen. Besser und schneller als mit jeder denkbaren Anordnung von Schaltern oder Rädchen ließen sich in diesem Medium Informationen aufzeichnen oder löschen. Verglichen mit den Goldplättchen sind die Kupferspäne, die entstehen, während ich mit meinem Stift diese Worte graviere, so grob und schwer wie Schrott.
Als Nächstes wurde mir klar, warum jemand, der gestorben war, durch das Einsetzen neuer Lungen nicht wiederbelebt werden konnte. Die Plättchen innerhalb des Drahtgeflechts blieben im Gleichgewicht, weil zahllose Luftpolster sie dort hielten. Auf diese Weise wurden die Plättchen rasch vor und zurück bewegt, was aber auch bedeutete, dass alles gelöscht wurde, wenn der Luftstrom ausblieb. Alle Plättchen fielen dann in die gleiche Ruhestellung, und das Muster, welches das Bewusstsein hervorbrachte, war unwiederbringlich verloren. Eine Wiederherstellung des Luftstromes konnte das nicht rückgängig machen. Das war der Preis für die Schnelligkeit, mit der sie ihren Zweck erfüllten. Ein stabileres Medium für die Speicherung von Mustern hätte zur Folge, dass unser Bewusstsein weit langsamer wäre.
Nun konnte ich mir auch erklären, woher die Unstimmigkeiten mit den Turmuhren rührten. Ich begriff, dass die Geschwindigkeit, mit der sich die Goldplättchen bewegten, davon abhing, dass sie von Luftströmen getragen wurden. Bei ausreichender Luftströmung konnten die Plättchen fast reibungslos ihre Position wechseln. Wenn sie sich nun langsamer bewegten, lag das daran, dass sie einer erhöhten Reibung ausgesetzt waren, und die Ursache dafür konnte nur sein, dass die Luftpolster dünner wurden und die durch das Drahtgeflecht strömende Luft sich mit geringerer Kraft bewegte.
Nicht die Turmuhren liefen schneller. Unsere Gehirne arbeiteten langsamer. Die Turmuhren wurden durch Pendel oder das Fließen von Quecksilber angetrieben, und weder der Takt der Pendel, noch die Fließgeschwindigkeit des Quecksilbers konnte sich verändern. Unsere Gehirne allerdings hängen ganz von Luftströmungen ab, und wenn diese sich langsamer bewegen, verlangsamen sich auch unsere Gedanken, wodurch die Uhren schneller zu laufen scheinen.
Ich hatte schon befürchtet, dass unsere Gehirne langsamer gehen könnten, und das war auch der Grund, weshalb ich meine Selbstsezierung gewagt hatte. Doch ich war davon ausgegangen, dass unsere Denkapparate zwar von Luft angetrieben würden, letztendlich aber mechanischer Art waren, und dass die Verminderung ihrer Geschwindigkeit darauf beruhte, dass sich einige Bestandteile dieses Mechanismus durch Abnutzungserscheinungen verformt hätten. Zwar wäre das furchtbar gewesen, aber zumindest hätten wir hoffen dürfen, dass es uns gelingen könnte, den Mechanismus zu reparieren und die ursprüngliche Arbeitsgeschwindigkeit unserer Gehirne wiederherzustellen.
Beruhten unsere Gedanken allerdings lediglich auf Luftmustern, und nicht auf der Bewegung von Zahnrädern, war das Problem um einiges schwerwiegender, denn was konnte die Ursache dafür sein, dass die Geschwindigkeit der Luftströmungen in unseren Gehirnen abnahm? Es konnte unmöglich daran liegen, dass der Luftdruck in unseren Füllstationen gesunken war, denn der Druck in unseren Lungen ist so stark, dass er von einer Reihe von Regulatoren abgemindert werden muss, bevor die Luft unsere Gehirne erreicht. Meine Vermutung lautete, dass das Absinken des Drucks woanders seinen Ursprung hatte: Der uns umgebende Atmosphärendruck nahm zu.
Woran konnte das liegen? Kaum hatte ich diese Frage in Gedanken formuliert, drängte sich mir die offensichtliche Antwort auf: Unser Himmel war offenbar nicht unendlich hoch. Irgendwo jenseits unseres Gesichtsfeldes mussten sich die Chromwände, welche unsere Welt umgaben, nach innen krümmen, um eine Kuppel zu bilden. Unser Universum ist ein geschlossener Raum, kein offener Brunnenschacht. Und in diesem Raum sammelt sich langsam die Luft an, bis die Druckverhältnisse in der Kammer und im darunter liegenden Speicher sich angeglichen haben.
Das ist der Grund, weshalb ich zu Beginn dieses gravierten Berichts feststellte, dass nicht die Luft der Quell des Lebens ist. Luft kann weder hergestellt noch abgebaut werden; die Gesamtmenge an Luft im Universum bleibt gleich, und bräuchten wir nur Luft zum Leben, müssten wir niemals sterben. Die Wahrheit aber ist, dass unterschiedlicher Luftdruck der Quell des Lebens ist – Luftströme aus Bereichen mit hohem in solche mit niedrigem Luftdruck. Unsere Gehirnaktivität, die Bewegungen unserer Körper, die Verrichtungen der Maschinen, die wir bauen – all das wird angetrieben durch Luftströme, durch eine Kraft, die darauf beruht, dass Bereiche mit unterschiedlich starkem Druck einen Ausgleich anstreben. Wenn überall im Universum derselbe Druck herrscht, verfällt die Luft in Bewegungslosigkeit und wird unbrauchbar. Eines Tages werden wir von stillstehender Luft umgeben sein und keinen Nutzen mehr aus ihr ziehen können.
Es ist keineswegs so, dass wir wirklich Luft verbrauchen. Die Luftmenge, die ich jeden Tag aus einem neuen Paar Lungen beziehe, entspricht genau der Luftmenge, die aus den Gelenken meiner Gliedmaßen und den Nähten meiner Verkleidung entweicht und sich dann mit der Luft in der mich umgebenden Atmosphäre vereint. Ich überführe lediglich Luft aus einem Bereich mit hohem Druck in einen mit niedrigerem. Mit jeder Bewegung meines Körpers trage ich etwas zum Ausgleich des Luftdrucks in unserem Universum bei. Mit jedem Gedanken, den ich denke, bringe ich uns jenem tödlichen Druckausgleich näher.
Unter anderen Umständen wäre ich aufgrund dieser Erkenntnis von meinem Stuhl aufgesprungen und auf die Straße gerannt, aber in meiner derzeitigen Situation – mein Körper eingezwängt in ein Gerüst, mein Gehirn offengelegt – war mir das nicht möglich. Ich konnte sehen, wie der Aufruhr meiner Gedanken die Plättchen meines Gehirns schneller flattern ließ, was wiederum meine Aufgeregtheit darüber steigerte, zur Bewegungslosigkeit verdammt zu sein.
Ein Panikanfall hätte mich in diesem Augenblick das Leben kosten können, wenn ich in albtraumhafter Verkrampfung darüber, zugleich gefangen zu sein und die Kontrolle zu verlieren, gegen meine Fesseln angekämpft hätte, bis mir die Luft ausgegangen wäre. Ein glücklicher Zufall und mein Instinkt sorgten jedoch dafür, dass meine Hände die Steuerung so bewegten, dass ich nicht mehr durch das Periskop auf das Drahtgeflecht blickte, sondern die glatte Oberfläche meines Arbeitstisches betrachtete. Da ich nun nicht mehr meine Ängste direkt anstarrte (und dadurch verstärkte), fand ich allmählich meine Beherrschung wieder. Als ich mich hinreichend beruhigt hatte, machte ich mich an die langwierige Prozedur, mich wieder zusammenzusetzen. Schließlich hatte ich die ursprüngliche kompakte Anordnung meines Gehirns wiederhergestellt, befestigte die Kopfplatten an ihrem angestammten Platz und befreite mich von den Klammern, die mich hielten.
Als ich anderen Anatomieforschern von meiner Entdeckung berichtete, schenkten sie mir anfänglich keinen Glauben, aber in den Monaten nach meiner ersten Selbstsezierung schlossen sich mehr und mehr Kollegen meinen Ansichten an. Die Gehirne anderer Personen wurden untersucht, man nahm weitere Messungen des atmosphärischen Drucks vor, und alle Ergebnisse bestätigten meine Behauptungen. Der allgemeine Luftdruck unseres Universums stieg tatsächlich an und verlangsamte so unsere Denkprozesse.
In der Zeit, nachdem diese Wahrheit sich herumgesprochen hatte, kam es zu einer weit um sich greifenden Panik, als die Leute zum ersten Mal mit der Idee konfrontiert wurden, dass der Tod unvermeidlich war. Von vielen wurde eine strenge Kontingentierung jeglicher Aktivitäten verlangt, um die Verdichtung unserer Atmosphäre möglichst gering zu halten. Anschuldigungen, jemand würde Luft verschwenden, hatten wütende Handgreiflichkeiten zur Folge, und in einigen Bezirken gab es sogar Tote. Die Betroffenheit über diese Todesfälle sowie die Einsicht, dass noch viele Jahrhunderte verstreichen würden, bis unser Atmosphärendruck sich dem des unterirdischen Speichers angeglichen hatte, sorgten dafür, dass die Panik nachließ. Wie viele Jahrhunderte es bis zum Druckausgleich dauern wird, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Weitere Messungen und Berechnungen werden gerade durchgeführt und ausgewertet. In der Zwischenzeit wird viel darüber diskutiert, wie wir die Zeit, die uns noch bleibt, nutzen sollten.
Eine Sekte, die sich vorgenommen hat, den Druckausgleich umzukehren, findet viele Anhänger. Die Mechaniker dieser Sekte haben eine Maschine entwickelt, mit der sie Luft aus unserer Atmosphäre auf ein kleineres Volumen zusammendrücken. Sie nennen diesen Vorgang »Kompression«. Ihre Maschine erhöht den Luftdruck auf das Niveau, das sie ursprünglich im Speicher hatte, und diese Reversalisten kündigten aufgeregt an, diese Luft würde die Grundlage für neuartige Füllstationen bilden, die mit jeder Lunge, die dort aufgefüllt wurde, nicht nur dem Einzelnen, sondern dem Universum neues Leben einhauchen würden. Leider brachte eine genauere Untersuchung dieser Maschine ihre fatale Fehlkonstruktion ans Licht. Die Maschine selbst wird durch Luft aus dem Speicher angetrieben, und für jede Ersatzlunge, die sie auffüllte, verbrauchte sie nicht nur eine Lunge voll Luft, sondern etwas mehr als diese Menge. Sie war also nicht geeignet, den Druckausgleich umzukehren, sondern verschärfte, wie alles in der Welt, das Problem nur.
Einige Reversalisten gaben nach diesem Rückschlag auf, aber die Sekte selbst strebte ihr Ziel unbeirrt weiter an und begann, andere Kompressoren zu entwickeln, die mit Federmechanismen oder durch das Absenken von Gewichten angetrieben wurden. Aber diese Vorrichtungen brachten keine Verbesserung. Jedes Federwerk wird von einer Person aufgezogen, die Luft in die Atmosphäre entweichen lässt; und jedes Gewicht, das sich über dem Erdboden befindet, muss von einer Person hochgezogen werden, die ebenfalls Luft in die Atmosphäre entweichen lässt. Im ganzen Universum gibt es keine Energiequelle, deren Wirken in letzter Konsequenz nicht auf dem Druckunterschied beruht, und entsprechend gibt es keine Maschine, die dem Druckausgleich entgegenwirken könnte.
Die Reversalisten setzten ihre Anstrengungen fort, im festen Vertrauen darauf, dass es ihnen eines Tages gelingen würde, eine Maschine zu bauen, die einen höheren Druck liefert, als sie verbraucht, eine nicht versiegende Energiequelle, mit der sich die schwindende Lebenskraft des Universums wiederherstellen lässt. Ich teile den Optimismus dieser Leute nicht. Ich glaube, dass wir nichts gegen den Druckausgleich unternehmen können. Die Luft wird sich in unserem Universum irgendwann gleichmäßig verteilt haben und nirgendwo dichter oder dünner vorhanden sein als anderswo. Damit wird sie nicht mehr in der Lage sein, einen Kolben anzutreiben, einen Rotor zu drehen oder ein Plättchen Goldfolie zu bewegen. Das wird das Ende des Drucks sein, das Ende der Antriebskraft, das Ende des Denkens. Das Universum wird dann ein vollkommenes Gleichgewicht erlangt haben.
Für manche entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass uns das Studium unserer Gehirne nicht die Geheimnisse der Vergangenheit offenbarte, sondern gezeigt hat, was uns erst noch bevorsteht. Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir durchaus etwas Wesentliches über die Vergangenheit erfahren haben. Das Universum hat mit einem gigantischen Atemanhalten seinen Anfang genommen. Wer könnte schon sagen, warum das so war? Was auch der Grund gewesen sein mag, ich bin dankbar dafür, denn dieser Tatsache verdanke ich meine Existenz. Alle meine Sehnsüchte und Überlegungen sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als Luftströmungen, die auf dem allmählichen Ausatmen unseres Universums beruhen. Und solange dieses große Ausatmen nicht endet, leben meine Gedanken weiter.
Damit unsere Gedanken so lange wie möglich fortbestehen, entwerfen Anatomieforscher und Mechaniker neue Regler für unsere Gehirne – Regler, die in der Lage sein sollen, den Luftdruck in unseren Gehirnen nach und nach zu steigern, sodass er stets etwas höher ist als der uns umgebende Luftdruck. Sind diese neuen Ventile erst einmal eingebaut, werden unsere Gedanken in etwa mit der gleichen Geschwindigkeit weiterarbeiten, selbst wenn um uns herum die Luft immer dichter wird. Das bedeutet aber nicht, dass das Leben unverändert weitergehen wird, denn schließlich wird es soweit kommen, dass der Druckunterschied so stark abfällt, dass unsere Gliedmaßen schwach und unsere Bewegungen träge werden. Wir könnten dann versuchen, unsere Gedanken zu verlangsamen, damit wir unsere körperliche Erstarrung nicht so deutlich wahrnehmen. Das hätte allerdings zur Folge, dass sich das, was in der Welt passiert, aus unserer Sicht beschleunigen würde. Das Ticken von Uhren wird dann zu einem fortwährenden Klappern anschwellen, während Pendel hektisch hin und her schwingen; fallende Gegenstände werden wie von Federkraft nach unten geschleuderte Projektile auf dem Boden einschlagen; Wellenbewegungen werden an Kabeln entlangrasen wie Peitschenschläge.
Unsere Arme und Beine werden irgendwann gänzlich aufhören, sich zu bewegen. Über die genaue Reihenfolge der Geschehnisse kurz vor dem Ende bin ich mir nicht im Klaren, aber ich stelle mir vor, dass wir weiterhin denken, also bei Bewusstsein, aber völlig erstarrt sein werden, so bewegungslos wie Statuen. Vielleicht werden wir dann noch für eine Weile sprechen können, denn unser Kehlkopf arbeitet mit geringerem Druck als unser Körper. Wenn wir uns jedoch nicht mehr zu einer Füllstation begeben können, wird jede Äußerung die Luftmenge verringern, die uns für das Denken zur Verfügung steht, und uns dem Augenblick näher bringen, da auch unsere Gedanken vollständig versiegen. Wird es dann besser sein zu schweigen, um noch eine Weile denken zu können, oder zu reden bis zum bitteren Ende? Ich weiß es nicht.
Vielleicht wird es einigen von uns, bevor wir uns nicht mehr bewegen können, gelingen, die Reglerventile unserer Gehirne direkt an eine Füllstation anzuschließen und damit die eigene Lunge durch die große Lunge unserer Welt zu ersetzen. In diesem Falle würden diese wenigen bei Bewusstsein bleiben bis zu jenem allerletzten Augenblick, bevor der vollständige Druckausgleich eintritt. Der letzte Rest des Luftdrucks in unserem Universum würde dafür aufgewendet werden, die Gedanken einer Person anzutreiben.
Unser Universum wird sich dann im Zustand des vollkommenen Gleichgewichts befinden. Alles Leben und alles Denken wird aufhören und damit auch die Zeit selbst.
Ich hege jedoch eine vage Hoffnung.
Unser Universum mag in sich geschlossen sein, aber womöglich ist es nicht die einzige Luftkammer in der grenzenlosen Weite der Chromlandschaft. Ich stelle mir vor, dass es irgendwo noch eine weitere Luftblase gibt, ein anderes Universum als das Unsrige, eines, das sogar noch größer ist. Es könnte doch sein, dass in diesem hypothetischen anderen Universum der gleiche oder ein noch höherer Luftdruck als in unserem Universum besteht. Aber einmal angenommen, dort herrscht ein weit niedrigerer Luftdruck, vielleicht sogar ein absolutes Vakuum!
Das Chrom, das uns von diesem möglicherweise vorhandenen Nachbaruniversum trennt, können wir nicht durchbohren, dafür ist es zu dick und zu hart. Deshalb können wir nicht dorthin gelangen oder überschüssigen Druck dorthin ableiten, um unsere Antriebskraft wiederherzustellen. Aber ich erlaube mir die Vorstellung, dass dieses Nachbaruniversum ebenfalls bewohnt ist, und zwar von Leuten, deren Fertigkeiten die unseren übertreffen. Was wäre, wenn es ihnen gelänge, eine Verbindung zwischen unseren beiden Universen herzustellen und Ventile zu installieren, mit denen man Luft aus unserem Universum ablassen kann? Vielleicht werden sie unser Universum als Speicher nutzen, um ihre eigenen Lungen aufzufüllen, und unsere Luft dazu verwenden, ihre eigene Zivilisation anzutreiben.
Es bereitet mir Freude, mir auszumalen, wie die Luft, die einst mich antrieb, andere mit Energie versorgen könnte, und daran zu glauben, dass der Atem, der es mir ermöglicht hat, diese Worte zu gravieren, eines Tages durch den Körper eines anderen strömt. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass ich selbst auf diese Weise weiterleben könnte, denn ich bin nicht diese Luft, sondern das Muster, das es für eine Weile annimmt. Das Muster, das mich ausmacht, die Muster, aus denen die ganze Welt besteht, in der ich lebe, werden dann verloren sein.
Aber ich hege eine noch schwächere Hoffnung: dass die Einwohner eines Nachbaruniversums unser Universum nicht nur als Speicher verwenden, sondern dass sie, wenn sie unsere Welt aller Luft entleert haben, als Entdecker unser Universum betreten werden. Vielleicht werden sie dann durch unsere Straßen gehen, unsere erstarrten Körper sehen, unser Hab und Gut untersuchen und sich fragen, wie wir gelebt haben.
Ich schreibe diesen Bericht in der Hoffnung, dass Du einer dieser Entdecker bist. Ich hoffe, dass Du diese Kupferplatten finden wirst und die auf ihr eingravierten Worte entschlüsseln kannst. Dein Gehirn mag von derselben Luft beflügelt sein, die das meine angetrieben hat, oder auch nicht, aber dadurch, dass Du diese Worte liest, werden die Muster in Deinem Gehirn ein Widerhall der Muster in meinem sein. Auf diese Weise werde ich noch einmal leben, durch Dich.
Deine Entdeckerkameraden werden noch andere von uns zurückgelassene Bücher finden und lesen, und dank der gemeinsamen Anstrengung eurer Vorstellungskraft wird meine gesamte Zivilisation wiederauferstehen. Wenn Du durch unsere stillen Bezirke schreitest, dann stelle sie Dir vor, wie sie einst waren; wie die Turmuhren zur vollen Stunde schlagen, wie Nachbarn sich bei den Füllstationen auf ein Schwätzchen treffen, wie Ausrufer auf den öffentlichen Plätzen Verse rezitieren, wie Anatomieforscher in Unterrichtsräumen Vorträge halten. Stelle Dir all das vor, wenn Du Dich das nächste Mal in unserer erstarrten Welt umschaust, und sie wird in Deinem Geist noch ein Mal von Leben erfüllt sein.
Werter Entdecker, ich wünsche Dir alles Gute, frage mich jedoch auch: Erwartet euch das gleiche Schicksal, das mich ereilte? Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen, denn die Neigung zum Druckausgleich kann nicht nur auf unser Universum beschränkt sein, sondern muss sich auf alle Universen erstrecken. Vielleicht ist aber auch nur mein Denken beschränkt, und ihr habt eine Druckquelle entdeckt, die wahrhaft unerschöpflich ist. Meine Spekulationen sind jedoch schon phantastisch genug. Ich nehme an, dass auch Deine Gedanken eines Tages aufhören werden, wobei ich mir allerdings nicht vorstellen kann, in welcher fernen Zukunft das geschehen wird. Euer Leben wird genau so enden wie unseres, so wie alles Leben enden muss. Ganz gleich, wie lange es dauern wird, irgendwann wird ein Gleichgewicht erreicht sein.
Ich hoffe, dass dieses Wissen Dich nicht traurig stimmt. Ich hoffe, dass eure Expedition mehr sein wird als nur die Suche nach anderen Universen, die als Speicher dienen können. Ich hoffe, Dich hat die Sehnsucht nach Wissen angetrieben, das Verlangen zu erfahren, was durch das Ausatmen des Universums entstehen kann. Denn selbst wenn die Lebensdauer eines Universums berechenbar ist, die Vielfalt des Lebens, die es hervorbringen kann, ist es nicht. Die Gebäude, die wir errichtet, die Kunst und Musik, die wir erschaffen, das Leben, das wir geführt haben – nichts davon hätte vorhergesagt werden können, denn nichts davon war unausweichlich. Unser Universum mag das Stadium des Druckausgleichs mit kaum mehr als einem leisen Zischen erreichen. Die Tatsache jedoch, dass es die Heimat solch einer Vielfalt war, ist nicht weniger als ein Wunder, dem nur gleichkommt, dass Dein Universum euch hervorgebracht hat.
Auch wenn ich, werter Entdecker, schon lange tot bin, wenn Du diese Zeilen liest, so höre doch meine Abschiedsworte. Erfreue Dich daran, dass Du Dir des Wunders bewusst sein kannst, dass es Dich gibt. Ich glaube, das Recht zu haben, Dir das sagen zu dürfen, denn während ich diese Worte niederschreibe, empfinde ich genauso.