Gleich wird dein Vater mich fragen. Ich will ihm meine ganze Aufmerksamkeit widmen, auf jede Kleinigkeit achten, denn das ist der wichtigste Augenblick unseres Lebens. Dein Vater und ich haben einen gemeinsamen Abend im Kino und in einem Restaurant verbracht, und es war schon nach Mitternacht, als wir zurückkehrten. Wir sind auf die Terrasse hinausgegangen, um den Vollmond zu bewundern. Daraufhin sagte ich deinem Vater, dass ich tanzen wolle, und er tat mir den Gefallen, also tanzen wir jetzt, ein Paar über dreißig, das sich langsam im Mondschein wiegt wie kleine Kinder. Die nächtliche Kühle spüre ich kaum. Und dann sagt dein Vater: »Willst du ein Kind?«
Dein Vater und ich sind seit etwa zwei Jahren verheiratet und wohnen in der Ellis Avenue. Du warst noch zu klein, um dich daran zu erinnern, wie wir aus dem Haus ausgezogen sind, aber wir werden dir Fotos zeigen und dir Geschichten davon erzählen. Gerne hätte ich dir die Geschichte dieses Abends erzählt, der Nacht, als du gezeugt wurdest, doch der passende Zeitpunkt dafür wäre erst, wenn du selbst alt genug bist, um Kinder zu haben, und diese Gelegenheit werden wir nie haben.
Dir von diesem Abend zu erzählen, würde nichts bringen. Du wirst die meiste Zeit deines Lebens nicht still sitzen, um dir so eine romantische Geschichte anzuhören – rührselig, wie du das nennen wirst. Ich erinnere mich, wie du mir als Zwölfjährige erklären wirst, warum du auf der Welt bist.
»Du wolltest ein Dienstmädchen haben, das du nicht bezahlen musst. Das ist der einzige Grund, warum du mich bekommen hast«, wirst du verbittert sagen, während du den Staubsauger aus der Putzkammer zerrst.
»Genau so ist es«, werde ich sagen. »Vor dreizehn Jahren wusste ich bereits, dass die Teppiche ungefähr jetzt gesaugt werden müssen, und ein Baby zu bekommen schien mir die billigste und einfachste Art zu sein, das zu erledigen. Also fang jetzt bitte damit an.«
»Das ist nur deshalb legal, weil du meine Mutter bist«, wirst du wütend sagen, während du das Stromkabel abwickelst und in die Steckdose steckst.
Das wird in dem Haus in der Belmont Street sein. Ich werde erleben, wie andere Menschen in beiden Häusern wohnen: in dem Haus, in dem du gezeugt wurdest, und in dem, in dem du aufgewachsen bist. Dein Vater und ich werden das Erste verkaufen, kurz nachdem wir dich bekommen haben. Das Zweite werde ich kurz nach deinem Fortgehen verkaufen. Zu dem Zeitpunkt werden Nelson und ich bereits in unser Bauernhaus umgezogen sein, und dein Vater wird mit dieser Frau zusammenleben, deren Namen ich nicht wissen will.
Ich weiß, wie diese Geschichte enden wird; ich denke viel darüber nach. Ich denke auch oft daran, wie sie vor ein paar Jahren begonnen hat, als Raumschiffe in der Umlaufbahn und Artefakte auf den Wiesen auftauchten. Die Regierung hat so gut wie nichts darüber verlauten lassen, während die Regenbogenpresse alles Mögliche berichtete.
Dann bekam ich einen Anruf, eine Aufforderung zu einem Treffen.
Sie warteten im Flur vor meinem Büro, unübersehbar. Ein seltsames Paar. Der eine trug Militäruniform, hatte einen Bürstenhaarschnitt und einen Aluminiumkoffer in der Hand. Er schien seine Umgebung mit kritischem Blick zu mustern. Der andere war leicht als Akademiker zu erkennen: Vollbart und Schnauzer, Kordanzug. Er blätterte in den zusammengehefteten Notizen, die an einem schwarzen Brett hingen.
»Colonel Weber, nehme ich an?« Der Soldat und ich gaben uns die Hände. »Louise Banks.«
»Dr. Banks. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns zu sprechen«, sagte er.
»Keine Ursache. Ist eine gute Ausrede, nicht zur Fakultätssitzung gehen zu müssen.«
Colonel Weber deutete auf seinen Begleiter. »Das ist Dr. Gary Donelly, der Physiker, den ich am Telefon erwähnt habe.«
»Gary, wenn es Ihnen recht ist«, sagte er, als wir uns die Hände gaben. »Ich bin gespannt auf Ihre Meinung.«
Wir gingen in mein Büro. Ich räumte einen Stapel Bücher vom zweiten Gästestuhl, und wir setzten uns. »Sie sagten, dass ich mir eine Tonaufnahme anhören soll. Ich darf vermuten, dass das etwas mit den Außerirdischen zu tun hat?«
»Hören Sie sich die Aufnahme erst einmal an«, sagte Colonel Weber.
»In Ordnung. Also los.«
Colonel Weber holte einen Rekorder aus seinem Koffer und drückte auf PLAY. Die Aufnahme klang entfernt nach einem nassen Hund, der sich das Wasser aus dem Fell schüttelt.
»Was können Sie uns dazu sagen?«, fragte er.
Den Vergleich mit dem nassen Hund verkniff ich mir. »In welchem Kontext wurde diese Aufnahme gemacht?«
»Ich bin nicht befugt, Ihnen das zu sagen.«
»Es würde mir bei der Interpretation der Geräusche helfen. Konnten Sie den Außerirdischen sehen, während er sprach? Hat er irgendetwas dabei gemacht?«
»Die Aufnahme ist alles, was ich Ihnen bieten kann.«
»Sie würden nichts verraten, wenn Sie mir sagen, dass Sie die Außerirdischen gesehen haben. Davon geht die Öffentlichkeit bereits aus.«
Colonel Weber gab nicht nach. »Können Sie uns eine Einschätzung des Sprachvermögens geben?«, fragte er.
»Nun, es ist offensichtlich, dass sich ihr Stimmbereich grundlegend von dem der Menschen unterscheidet. Darf ich annehmen, dass die Außerirdischen nicht wie Menschen aussehen?«
Der Colonel setzte zu einer unverbindlichen Antwort an, als Gary Donelly fragte: »Können Sie aufgrund der Aufnahme irgendwelche Vermutungen anstellen?«
»Nur sehr eingeschränkt. Es klingt nicht so, als ob die Außerirdischen einen Kehlkopf gebrauchen, um die Laute hervorzubringen, aber das sagt mir nichts darüber, wie sie aussehen.«
»Sonst noch etwas – können Sie uns noch irgendetwas anderes sagen?«, fragte Colonel Weber.
Offensichtlich war er es nicht gewohnt, sich von Zivilisten beraten zu lassen. »Lediglich, dass durch den anatomischen Unterschied jegliche Verständigung wirklich schwierig wird. Es ist so gut wie sicher, dass sie Laute hervorbringen, die der menschliche Stimmapparat nicht nachahmen und die das menschliche Ohr möglicherweise nicht hören kann.«
»Sie meinen Frequenzen im Infra- und Ultraschallbereich?«, fragte Gary Donelly.
»Nicht unbedingt. Ich will damit nur sagen, dass das menschliche Gehörsystem nicht alles aufnehmen kann, was es hört, sondern darauf spezialisiert ist, Laute zu erkennen, die von einem menschlichen Kehlkopf erzeugt werden. Bei einem fremdartigen, außerirdischen Stimmapparat ist alles möglich.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wird es uns mit einiger Übung möglich sein, Phoneme zu unterscheiden, aber es kann auch sein, dass unsere Ohren schlicht die Unterschiede nicht wahrnehmen können, die für sie von Bedeutung sind. In diesem Fall bräuchten wir einen Schall-Spektrografen, um zu wissen, was ein Außerirdischer sagt.«
Colonel Weber fragte: »Nehmen wir an, ich gebe Ihnen Aufnahmematerial mit einer Laufzeit von einer Stunde. Wie lange bräuchten Sie, um sicher sagen zu können, ob wir diesen Schall-Spektrografen brauchen oder nicht?«
»Das könnte ich so nicht entscheiden, egal, wie viel Material Sie mir zur Verfügung stellen. Ich muss direkt mit den Außerirdischen sprechen.«
Der Colonel schüttelte den Kopf: »Das ist unmöglich.«
Ich versuchte es ihm schonend beizubringen. »Das bestimmen natürlich Sie. Doch der einzige Weg, eine fremde Sprache zu lernen, besteht darin, mit einem Muttersprachler zu interagieren. Damit meine ich, dass man Fragen stellt, sich unterhält, etwas in der Art. Sonst klappt das nicht. Wenn Sie also die Sprache der Außerirdischen lernen wollen, dann müssen Sie einen ausgebildeten Sprachwissenschaftler – mich oder jemand anderen – mit einem Außerirdischen reden lassen. Aufnahmen allein reichen da nicht aus.«
Colonel Weber runzelte die Stirn. »Sie meinen also, dass kein Außerirdischer in der Lage ist, nur durch das Studium unserer Medien die menschliche Sprache zu lernen.«
»Ich bezweifle es zumindest. Sie bräuchten Unterrichtsmaterial, das speziell dafür entwickelt wurde, Nichtmenschen die menschliche Sprache beizubringen. Entweder das, oder sie müssten mit Menschen interagieren. Stünde ihnen eines davon zur Verfügung, könnten sie aus Fernsehsendungen viel lernen, andernfalls nicht. Ihnen würde ein Anknüpfungspunkt fehlen.«
Das fand der Colonel offensichtlich bedeutsam. Seine Philosophie lautete offenbar, dass die Außerirdischen so wenig wie möglich wissen sollten. Gary Donelly deutete die Mimik des Colonels genauso und verdrehte die Augen. Ich unterdrückte ein Grinsen.
Dann fragte Colonel Weber: »Nehmen wir an, Sie lernen eine Sprache, indem Sie mit einem Muttersprachler reden. Könnten Sie das tun, ohne ihnen damit Englisch beizubringen?«
»Das hinge davon ab, wie kooperativ die Muttersprachler wären. Sicherlich würden sie das eine oder andere aufschnappen, während ich ihre Sprache lerne, aber das muss nicht allzu viel sein, wenn sie bereit sind, uns zu unterrichten. Andererseits würde es die Sache erschweren, wenn sie mehr darauf aus sind, Englisch zu lernen, als uns ihre Sprache beizubringen.«
Der Colonel nickte. »Ich komme in dieser Sache auf Sie zurück.«
Die Aufforderung zu diesem Treffen war vielleicht der zweitwichtigste Telefonanruf meines Lebens. Wichtiger noch war natürlich der Anruf von der Bergwacht. Zu der Zeit werden dein Vater und ich höchstens noch einmal im Jahr miteinander reden. Doch nach diesem Anruf werde ich als Erstes mit ihm Verbindung aufnehmen.
Er und ich werden zusammen zur Identifizierung fahren und auf der ganzen langen Strecke kaum ein Wort wechseln. Ich erinnere mich an das Leichenschauhaus, das ganz aus Kacheln und Edelstahl bestand, an das Summen der Kühlfächer und den Geruch von Desinfektionsmitteln. Ein Krankenpfleger wird das Laken zurückschlagen, um dein Gesicht zu entblößen. Dein Gesicht wird irgendwie verkehrt aussehen, doch ich werde wissen, dass du es bist.
»Ja, das ist sie«, werde ich sagen. »Das ist meine Tochter.«
Du wirst fünfundzwanzig sein.
Der Militärpolizist kontrollierte mein Namensschild, notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett und machte das Tor auf. Ich fuhr den Geländewagen in das Feldlager, einem kleinen Dorf aus Zelten, das die Armee auf dem sonnenverbrannten Weideland eines Farmers errichtet hatte. In der Mitte des Lagers befand sich eine der Vorrichtungen der Außerirdischen, denen man den Spitznamen »Spiegel« gegeben hatte.
In den Einsatzbesprechungen, bei denen ich anwesend war, hieß es, dass es in den Vereinigten Staaten neun dieser Spiegel gab und einhundertzwölf auf der ganzen Welt. Die Spiegel fungierten als Kommunikationsapparate, wahrscheinlich zu den Raumschiffen in der Umlaufbahn. Niemand wusste, warum die Außerirdischen nicht direkt mit uns sprechen wollten. Vielleicht aus Angst vor Läusen. Jedem Spiegel war ein Wissenschaftsteam zugewiesen, dem ein Physiker und ein Sprachwissenschaftler angehörten. Gary Donelly und ich sollten hier arbeiten.
Gary erwartete mich auf dem Parkplatz. Wir suchten uns einen Weg durch den Irrgarten aus kreisförmig angeordneten Betonbarrieren, bis wir das große Zelt erreichten, in dem sich der Spiegel befand. Vor dem Zelt stand ein Gerätewagen, auf dem sich allerlei teure Instrumente befanden, die ich mir aus dem Sprachlabor der Schule geliehen hatte. Ich hatte ihn vorausgeschickt, damit die Armee ihn in aller Ruhe inspizieren konnte.
Vor dem Zelt standen außerdem Videokameras auf dreibeinigen Stativen, die Objektive durch Fenster in der Zeltwand auf das Zeltinnere gerichtet. Alles, was Gary und ich machten, würde von unzähligen anderen überprüft werden, den militärischen Abschirmdienst eingeschlossen. Außerdem würden wir täglich Berichte schreiben. Mein Bericht sollte eine Einschätzung enthalten, wie viel Englisch die Außerirdischen verstanden.
Gary hielt den Zelteingang auf und bedeutete mir mit einer Handbewegung einzutreten. »Hereinspaziert, hereinspaziert«, sagte er wie ein Zirkusausrufer. »Bestaunen Sie Kreaturen, wie sie auf Gottes schöner Erde noch nie zu sehen waren.«
»Und das alles für nur wenige Groschen«, murmelte ich, als ich durch die Öffnung trat. Der Spiegel war nicht aktiv und glich einem normalen halbkreisförmigen Spiegel; er war über drei Meter hoch und fast sieben Meter breit. Vor dem Spiegel war mit weißer Sprühfarbe ein Halbkreis auf das braune Gras gesprüht, der den Aktionsradius markierte. Im Moment befanden sich in diesem Bereich nur ein Tisch, ein Paar Klappstühle und eine Steckdosenleiste, deren Anschlusskabel zu einem Generator außerhalb des Zeltes führte. Das Summen von Leuchtstoffröhren, die an Schienen entlang der Zeltwände hingen, vermischte sich in der drückenden Hitze mit dem Surren von Fliegen.
Gary und ich schauten uns an und begannen, den Karren mit der Ausrüstung zum Tisch zu schieben. Als wir die Farblinie überquerten, schien der Spiegel durchsichtig zu werden, als würde hinter einer getönten Scheibe jemand langsam die Helligkeit erhöhen. Die Illusion räumlicher Tiefe war verblüffend. Ich hatte den Eindruck, geradewegs hineingehen zu können. Als der Spiegel voll erleuchtet war, wirkte er wie das lebensgroße Diorama eines halbrunden Raumes. Einige größere Gegenstände, die vielleicht Möbel darstellten, befanden sich in dem Raum, allerdings keine Außerirdischen. In der gekrümmten Wand am Ende des Raumes war eine Tür.
Wir beeilten uns, alles anzuschließen: Mikrofone, Sonagrafen, Laptops und Lautsprecher. Während wir das taten, erwartete ich gespannt die Ankunft der Außerirdischen und schaute immer wieder zu dem Spiegel hinüber. Dennoch erschrak ich, als schließlich einer von ihnen eintrat.
Er sah aus wie ein Fass, das sich im Schnittpunkt von sieben Gliedmaßen befand, polysymmetrisch, sodass jedes Glied als Arm oder Bein fungieren konnte. Der Außerirdische ging auf vier Beinen, während er drei nicht benachbarte Arme an der Seite zusammengerollt hatte. Gary nannte sie »Heptapoden«.
Obwohl man mir Videoaufnahmen gezeigt hatte, sperrte ich die Augen auf. An den Gliedmaßen waren keine Gelenke zu erkennen. Anatomen vermuteten, dass ihnen so etwas wie Wirbelknochen Festigkeit verliehen. Egal, wie ihr innerer Aufbau beschaffen war, das Zusammenspiel der Gliedmaßen war auf verstörende Art und Weise fließend. Der »Oberkörper« schwebte wie ein Luftkissenboot auf den wogenden Gliedern.
Sieben lidlose Augen waren ringförmig um das obere Ende des Heptapodenkörpers angeordnet. Das Wesen bewegte sich wieder auf die Türöffnung zu, aus der es gekommen war, gab einige zischende Töne von sich und kehrte, gefolgt von einem zweiten Heptapoden, in die Mitte des Raumes zurück. Dabei hatte es sich nicht einmal umgedreht. Unheimlich, aber logisch, denn mit Augen auf allen Seiten konnte jede Richtung »vorne« sein.
Gary hatte meine Reaktionen beobachtet. »Bereit?«, fragte er.
Ich holte tief Luft. »So weit eben möglich.« Früher hatte ich öfter Feldforschung im Amazonasgebiet betrieben, doch das waren immer bilinguale Begegnungen gewesen: Entweder konnten meine Informanten ein wenig Portugiesisch, auf dem ich dann aufbaute, oder die örtlichen Missionare hatten mir zuvor einige Grundkenntnisse der Eingeborenensprache vermittelt. Nun würde ich zum ersten Mal tatsächlich ein monolinguales Forschungsvorhaben durchführen. In der Theorie war das gar nicht so schwer ...
Ich ging auf den Spiegel zu, und einer der Heptapoden auf der anderen Seite tat es mir gleich. Das Bild wirkte so echt, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich konnte die Textur auf der grauen Haut erkennen, wie in Kringeln und Wirbeln angeordnete Kordsamtfurchen. Der Spiegel hatte keinen Geruch, was die Situation nur noch seltsamer machte.
Ich zeigte auf mich selbst und sagte langsam: »Mensch«, zeigte dann auf Gary: »Mensch.« Schließlich deutete ich auf jeden der beiden Heptapoden und sagte: »Was seid ihr?«
Keine Reaktion. Ich versuchte es noch einmal, zweimal.
Einer der Heptapoden zeigte mit einer Extremität auf sich selbst, die vier Finger am Ende zusammengelegt. Was für ein Glück. In einigen Kulturen deutet man mit dem Kinn auf andere Leute. Ich hätte nicht gewusst, auf welche Geste ich hätte achten sollen, wenn der Heptapode nicht eines seiner Gliedmaßen benutzt hätte. Ich hörte einen Haspellaut und sah, wie auf der Oberseite des Heptapoden eine runzelige Körperöffnung vibrierte. Er sprach. Dann zeigte er auf seinen Gefährten und haspelte noch einmal.
Ich ging zu meinem Computer, auf dessen Bildschirm zwei nicht zu unterscheidende Sonagramme die Haspellaute abbildeten. Ich markierte einen Ausschnitt, sodass ich ihn wiederholen konnte. Wieder zeigte ich auf mich und Gary und sagte jeweils »Mensch«, dann auf die Heptapoden und ließ über die Lautsprecher die Aufnahme des Haspellauts erklingen.
Der Heptapode gab weitere Haspellaute von sich. Die zweite Hälfte sah auf dem Sonagrafen wie eine Wiederholung aus. Wenn ich die erste Äußerung [Haspel1] nenne, dann war diese hier nun [Haspel2Haspel1].
Ich zeigte auf etwas, das ein Heptapoden-Stuhl sein mochte. »Was ist das?«
Der Heptapode zögerte, deutete dann auf den »Stuhl« und sagte etwas. Das Sonagramm dafür unterschied sich deutlich von den früheren Lauten: [Haspel3]. Wieder deutete ich auf den »Stuhl« während ich über die Anlage die Aufnahme [Haspel3] abspielte.
Der Heptapode antwortete. Dem Sonagramm zufolge sah es nach [Haspel3Haspel2] aus. Optimistische Deutung: Der Heptapode bestätigte meine Wiedergaben als richtig, was die Schlussfolgerung zuließ, dass die Art, wie Heptapoden eine Unterhaltung führten, mit der Art der Menschen kompatibel war. Pessimistische Deutung: Der Heptapode hatte einen lästigen Husten.
An meinem Computer grenzte ich bestimmte Abschnitte ein und gab ihnen vorläufige Namen: »Heptapode« für [Haspel1], »Ja« für [Haspel2] und »Stuhl« für [Haspel3]. Als Überschrift für alle Äußerungen schrieb ich »Sprache: Heptapode A«.
Gary sah zu, was ich tippte. »Wofür steht das ›A‹?«
»Das unterscheidet diese Sprache von anderen Sprachen, die von Heptapoden vielleicht gesprochen werden«, sagte ich. Er nickte.
»So, jetzt wollen wir, nur mal zum Spaß, etwas versuchen.« Ich zeigte auf jeden der Heptapoden und versuchte den Laut [Haspel1] »Heptapode« nachzuahmen. Nach einer längeren Pause sagte der erste Heptapode etwas zu dem zweiten, der daraufhin etwas anderes sagte, und die Sonagramme von alledem glichen in nichts dem bisher Geäußerten. Da sie keine Gesichter hatten, war mir unklar, ob sie miteinander oder mit mir redeten. Noch einmal versuchte ich [Haspel1] auszusprechen, was aber keine Reaktion auslöste.
»Noch nicht einmal nah dran«, grummelte ich.
»Ich bin beeindruckt, dass Sie überhaupt solche Laute von sich geben können«, sagte Gary.
»Dann sollten Sie erstmal meine Elchrufe hören. So schnell haben Sie die Viecher noch nie rennen sehen.«
Ich versuchte es noch einige Male, doch keiner der Heptapoden entgegnete etwas, das ich wiedererkannt hätte. Erst als ich die Aufnahme mit der Aussprache des Heptapoden ein weiteres Mal abspielte, erhielt ich eine Bestätigung; der Heptapode antwortete mit [Haspel2]: »Ja.«
»Wir kommen nicht weiter und sind darauf angewiesen, Aufnahmen zu verwenden?«, fragte Gary.
Ich nickte. »Vorläufig zumindest.«
»Und jetzt?«
»Jetzt überprüfen wir, ob die Außerirdischen nicht etwa ›Sind die nicht putzig‹ oder ›Schau, was sie jetzt machen‹ gesagt haben. Dann probieren wir aus, ob wir die Wörter, die wir haben, auch erkennen können, wenn sie der andere Heptapode ausspricht.« Ich bedeutete ihm sich zu setzen. »Machen Sie es sich bequem. Das wird eine Weile dauern.«
Im Jahr 1770 lief die Endeavor, das Schiff von Kapitän Cook, vor der Küste von Queensland, Australien auf Grund. Während einige seiner Männer das Schiff instand setzten, führte Cook einen Erkundungstrupp an Land und traf auf Eingeborene. Einer der Matrosen zeigte auf eines der herumhüpfenden Tiere, die ihren Nachwuchs in einem Bauchbeutel trugen, und fragte, wie diese Tiere heißen. Ein Eingeborener antwortete: »Känguru.« Und so bezeichneten Cook und seine Leute das Tier fortan mit diesem Wort. Erst später erfuhren sie, was es bedeutete: »Was hast du gesagt?«
Diese Geschichte erzähle ich jedes Jahr in meinen Einführungskursen. Hinterher erkläre ich, dass die Geschichte ziemlich sicher so nicht stimmt, aber es ist eine klassische Anekdote. Was meine Studienanfänger natürlich lieber hören wollen, sind Anekdoten über die Heptapoden. Sie sind der Grund, weshalb sich in meiner späteren Universitätslaufbahn viele Studenten in meine Kurse einschreiben werden. Also zeige ich ihnen die alten Videoaufnahmen meiner Sitzungen vor dem Spiegel und von Einsätzen anderer Linguisten. Die Aufnahmen sind lehrreich und werden sich als nützlich erweisen, falls wir jemals wieder von Außerirdischen besucht werden sollten, aber sie liefern nicht viele gute Anekdoten.
Meine Lieblingsanekdoten zum Thema Spracherwerb handeln davon, wie sich Kinder Sprache aneignen. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, du bist fünf Jahre alt und gerade vom Kindergarten heimgekommen. Du wirst mit deinen Buntstiften malen, während ich Hausarbeiten benote.
»Mama«, wirst du in jenem betont beiläufigen Tonfall sagen, den du dann anschlägst, wenn du etwas von mir willst, »darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich, mein Schatz. Frag nur.«
»Kann ich, äh, mehr Schweinchen haben als Sharon?«
Ich blicke von der Arbeit, die ich gerade korrigiere, auf. »Was meinst du damit?«
»Sharon hat in der Schule gesagt, dass sie mehr Schweinchen hat.«
»Wirklich? Hat sie erzählt, was das bedeuten soll?«
»Sie hatte Geburtstag, und ihre Eltern haben ihr mehr Schweinchen geschenkt.«
»Ah, ich verstehe. Du meinst, dass Sharon Meerschweinchen bekommen hat?«
»Ja, genau. Kann ich auch mehr Schweinchen haben?«
Gary und ich betraten den Fertigbau, in dem sich die Einsatzzentrale dieses Spiegelstandorts befand. Im Inneren sah es so aus, als würde jemand eine Invasion oder eine Evakuierung planen: Soldaten mit Bürstenhaarschnitt saßen um eine große Karte des Geländes herum oder arbeiteten mit Kopfhörern an klobigen Elektroapparaten. Man führte uns in das Büro von Colonel Weber, einen Raum im hinteren Teil des Gebäudes, wo eine Klimaanlage für kühle Luft sorgte.
Wir unterrichteten den Colonel über die Ergebnisse unseres ersten Tages. »Klingt nicht so, als hätten sie viel erreicht«, sagte er.
»Ich habe eine Idee, wie wir schneller vorankommen könnten«, sagte ich. »Aber Sie werden uns dafür weitere Ausrüstung genehmigen müssen.«
»Was brauchen Sie denn noch?«
»Eine Digitalkamera und einen großen Videobildschirm.« Ich zeigte ihm eine Zeichnung mit der von mir entworfenen Versuchsanordnung. »Ich will probieren, auch Schrift zu verwenden. Auf dem Bildschirm möchte ich geschriebene Wörter wiedergeben und mit der Kamera die Worte aufnehmen, die von den Außerirdischen geschrieben werden. Ich hoffe, dass die Heptapoden dasselbe machen werden.«
Weber begutachtete die Zeichnung zweifelnd. »Was für einen Vorteil soll das bringen?«
»Bisher bin ich so vorgegangen, als würden wir eine Sprache ohne Schrift studieren. Dann kam ich auf die Idee, dass die Heptapoden auch über Schrift verfügen müssten.«
»Und?«
»Falls die Heptapoden ihre Schrift auf technischem Weg wiedergeben, dann sollte ihre Schrift sehr regelmäßig und konsistent sein. Die entsprechenden Grapheme wären für uns leichter zu erkennen als die Phoneme. Statt zu versuchen, aus einem gesprochenen Satz einen Buchstaben herauszuhören, könnten wir versuchen, ihn in einem geschriebenen Satz zu erkennen.«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, gab er zu. »Und wie würden Sie ihnen antworten? Indem Sie ihnen die Wörter, die sie uns in ihrer Schrift zeigen, in unserer Schrift darstellen?«
»Im Grunde ja. Falls sie Leerzeichen zwischen ihren Wörtern lassen, dann wären Sätze, die wir in ihrer Schrift schreiben, viel verständlicher als gesprochene Sätze, die wir aus Aufnahmen zusammenstückeln.«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ihnen ist klar, dass wir ihnen so wenig wie möglich von unserer Technologie zeigen wollen.«
»Das verstehe ich, aber wir verwenden ja bereits Maschinen als Vermittlungsinstrumente. Wenn wir die Heptapoden dazu bewegen können, etwas zu schreiben, dann würden wir, glaube ich, schneller vorankommen, als wenn wir uns nur auf Sonagramme verlassen.«
Der Colonel wandte sich an Gary. »Ihre Meinung?«
»Klingt für mich nach einer guten Idee. Ich frage mich, ob die Heptapoden Schwierigkeiten haben könnten, etwas auf unseren Monitoren zu erkennen. Ihre Spiegel basieren auf einer völlig anderen Technologie als unsere Videomonitore. Soweit wir das einschätzen können, benutzen sie keine Pixel oder Bildzeilen, und sie bauen die Wiedergabe auch nicht mit einer Bild-für-Bild-Frequenz auf.«
»Glauben Sie also, dass der Bildzeilenaufbau unserer Monitore für die Heptapoden unlesbar sein wird?«
»Das ist möglich«, sagte Gary. »Um das herauszubekommen, müssen wir es ausprobieren.«
Weber ließ sich das durch den Kopf gehen. Für mich war das eine klare Sache, über die ich nicht nachdenken musste, aber von Webers Standpunkt aus war es eine schwierige Entscheidung. Als Soldat, der er war, traf er seine Entscheidung dennoch rasch. »Antrag genehmigt. Sagen Sie dem Sergeant draußen, was Sie benötigen. Bereiten Sie dann alles für morgen vor.«
Ich erinnere mich an einen Sommertag, als du sechzehn bist. Dieses eine Mal bin ich es, die auf ihre Verabredung wartet. Natürlich wirst du auch warten, weil du neugierig darauf bist, wie er aussieht. Eine Freundin von dir, ein blondes Mädchen mit dem unwahrscheinlichen Namen Roxie, wird auch da sein, und ihr kichert und amüsiert euch.
»Falls euch beide der Drang überkommt, Bemerkungen über ihn zu machen«, werde ich sagen, während ich mein Aussehen im Korridorspiegel prüfe, »haltet euch einfach zurück, bis wir weg sind.«
»Keine Sorge, Mama«, wirst du sagen, »wir werden darauf achten, dass er nichts merkt. Roxie, du fragst mich, was ich glaube, wie das Wetter heute Abend wird. Ich sage dann, was ich von Mutters Verabredung halte.«
»Okay«, wird Roxie sagen.
»Nein, das werdet ihr ganz sicher nicht tun«, werde ich sagen.
»Entspann Dich, Mama. Er wird nichts merken. Wir machen sowas andauernd.«
»Na, das ist ja beruhigend.«
Kurz darauf trifft Nelson ein, um mich abzuholen. Ich stelle alle einander vor, und wir plaudern ein wenig auf der vorderen Veranda. Nelson sieht gut aus, auf eine raue Art, was dir offensichtlich gefällt. Gerade als wir aufbrechen wollen, wird Roxie dich beiläufig fragen: »Also, was glaubst du, wie das Wetter heute Abend wird?«
»Es wird wohl richtig heiß werden«, wirst du antworten.
Roxie wird zustimmend nicken. Nelson wird sagen: »Wirklich? Ich dachte, es hieß, dass es heute eher kühl werden soll.«
»Ich habe einen sechsten Sinn für so etwas«, wirst du sagen. Dein Gesicht verrät nichts. »Ich glaube, es wird richtig heiß werden. Gut, dass du passend angezogen bist, Mom.«
Ich werde dich kurz empört anfunkeln und dir eine gute Nacht wünschen.
Als ich Nelson zum Auto begleite, wird er mich heiter fragen: »Irgendetwas entgeht mir hier, oder?«
»Ein Insiderwitz«, werde ich murmeln. »Bitte frag mich nicht, was er bedeutet.«
Bei unserer nächsten Sitzung vor dem Spiegel wiederholten wir unser Vorgehen, ließen aber diesmal das Wort, das wir gerade aussprachen, auf unserem Computerbildschirm erscheinen: Wir zeigten zum Beispiel MENSCH, während wir »Mensch« sagten, und so weiter. Schließlich verstanden die Heptapoden, was wir wollten, und stellten einen flachen, kreisrunden Schirm auf, der auf einem schmalen Podest ruhte. Einer der Heptapoden sagte etwas und steckte eines seiner Gliedmaßen in eine große Buchse im Podest. Auf dem Schirm erschien eine nicht besonders gut lesbare Handschrift.
Schon bald entwickelten wir eine gewisse Routine, und ich erstellte zwei parallele Datensammlungen: eine von gesprochenen Äußerungen und eine von geschriebenen Beispielen. Dem ersten Eindruck zufolge schien ihre Schrift logografisch aufgebaut zu sein, was enttäuschend war. Ich hatte gehofft, dass sie eine alphabetische Schrift verwenden würden, was das Erlernen ihrer Sprache erleichtert hätte. Zwar war es möglich, dass ihre Logogramme auch phonetische Informationen beinhalteten, aber diese zu erkennen, würde viel schwieriger sein als bei einem alphabetischen Schriftsystem.
Indem ich nahe an den Spiegel herantrat, konnte ich auf einzelne Körperteile der Heptapoden deuten, beispielsweise auf die Tentakel, die Finger, die Augen, und die dazu gehörigen Begriffe erfragen. Wie sich herausstellte, hatten die Außerirdischen eine von beweglichen Knochenstrukturen umschlossene Körperöffnung an ihrer Unterseite. Wahrscheinlich diente diese zur Nahrungsaufnahme, während sie mit der anderen Körperöffnung auf ihrer Oberseite atmeten und sprachen. Weitere erkennbare Körperöffnungen gab es nicht. Möglicherweise war ihr Mund zugleich ihr After. Derartige Fragen würden warten müssen.
Zudem versuchte ich, unsere beiden Informanten zu fragen, wie wir sie einzeln ansprechen sollten – wie ihre Eigennamen lauteten, falls sie denn welche hatten. Ihre Antworten waren für uns natürlich unverständlich, und so taufte ich die beiden für Garys und meine Zwecke auf die Namen Haspel und Himbeere. Ich hoffte, ich würde in der Lage sein, sie auseinanderzuhalten.
Am nächsten Tag beriet ich mich mit Gary, bevor wir das Zelt mit dem Spiegel betraten. »Für diese Sitzung werde ich Ihre Hilfe brauchen«, sagte ich zu ihm.
»Klar. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir müssen einige Verben klären, und mit Verbformen in der dritten Person ist es am einfachsten. Würden Sie die Bedeutung einiger Verben darstellen, während ich sie in den Computer eingebe? Wenn wir Glück haben, werden die Heptapoden verstehen, was wir machen, und es uns gleichtun. Ich habe einige Requisiten mitgebracht, die Sie benutzen können.«
»Kein Problem«, sagte Gary und ließ seine Fingergelenke knacken. »Allzeit bereit!«
Wir begannen mit einigen intransitiven Verben: gehen, hüpfen, sprechen, schreiben. Gary führte jedes mit einem bezaubernden Mangel an Befangenheit vor. Die Videokameras störten oder beeinflussten ihn dabei keineswegs. Bei den ersten Tätigkeiten, die Gary vorführte, fragte ich die Heptapoden: »Wie bezeichnet ihr das?« Schon bald hatten die Heptapoden verstanden, was wir vorhatten. Himbeere begann Gary nachzuahmen, während Haspel uns mit Hilfe des Heptapoden-Computers die schriftliche Darstellung zeigte und sie laut aussprach.
In den Sonagrammen ihrer Äußerungen erkannte ich das Wort »Heptapode« wieder. Der Rest der heutigen Äußerungen waren dann naheliegenderweise die Verbalphrasen. Es sah so aus, als ob sie etwas unseren Verben und Nomen Vergleichbares verwendeten. Gott sei Dank.
Bei ihrer Schrift herrschte allerdings keine solche Klarheit. Für jede Tätigkeit hatten sie uns ein einziges Logogramm gezeigt statt zwei verschiedene. Zuerst dachte ich, sie hätten etwas Ähnliches wie »geht« mit impliziertem Subjekt geschrieben. Warum aber sagte Haspel dann »der Heptapode geht«, während er »geht« schrieb, statt Gesprochenes und Schrift eins zu eins zu vermitteln? Dann fiel mir auf, dass einige der Logogramme dem Zeichen für »Heptapode« glichen, allerdings mit ein paar zusätzlichen Strichen auf der einen Seite. Vielleicht ließen sich bei ihnen die Verben als Affixe eines Substantivs schreiben. Falls das so war, warum hatte Haspel dann in einigen Fällen das Substantiv ausgeschrieben, in anderen nicht?
Ich beschloss, es mit einem transitiven Verb zu versuchen – das Austauschen der Objektwörter würde die Sache vielleicht klären. Unter den Requisiten, die ich mitgebracht hatte, waren ein Apfel und ein Stück Brot. »Also«, sagte ich zu Gary, »zeigen Sie ihnen das Essen, und essen Sie dann etwas. Erst den Apfel, dann das Brot.«
Gary deutete auf den Golden Delicious und biss dann hinein, während ich die »Wie bezeichnet ihr das?«-Phrase abspielte. Das wiederholten wir dann mit einer Scheibe Vollkornweizenbrot.
Himbeere verließ den Raum und kehrte mit etwas, das einer großen Nuss oder einem Kürbis glich, sowie einem gelatinösen Ellipsoiden zurück. Himbeere zeigte auf den Kürbis, während Haspel ein Wort sagte und ein Logogramm erscheinen ließ. Himbeere ließ den Kürbis anschließend zwischen seinen Beinen verschwinden, ein knuspernder Laut war zu hören, und der Kürbis erschien wieder, um ein abgebissenes Stück kleiner. Unter der Schale befanden sich maiskornartige Samen. Haspel sagte etwas und zeigte auf dem Bildschirm ein großes Logogramm. Das Sonagramm von »Kürbis« ließ Veränderungen erkennen, wahrscheinlich eine Kasusmarkierung. Das Logogramm war seltsam: Nach einigem Überlegen konnte ich einzelne graphische Elemente erkennen, die den Logogrammen für »Heptapode« und »Kürbis« glichen. Es sah so aus, als ob die beiden Zeichen miteinander verschmolzen und ihnen einige Striche hinzugefügt worden wären, die wahrscheinlich »essen« bedeuteten. Handelte es sich hier um eine Ligatur aus mehreren Wörtern?
Als Nächstes zeigten sie uns die gesprochenen und geschriebenen Namen für das Gelatine-Ei sowie die Bezeichnungen dafür, dass es gegessen wurde. Das Sonagramm für »Heptapode isst ein Gelatine-Ei« ließ sich analysieren. »Gelatine-Ei« wies wie erwartet eine Kasusmarkierung auf, aber die Reihenfolge der Wörter im Satz hatte sich verändert. Ein anderes Problem stellte die geschriebene Form dar, ein weiteres großes Logogramm. Diesmal brauchte ich viel länger, um etwas zu erkennen. Die einzelnen Logogramme waren nicht nur miteinander verschmolzen, zudem sah es so aus, als ob das Zeichen für »Heptapode« auf dem Rücken läge und sich oben das auf den Kopf gestellte Zeichen für »Gelatine-Ei« befände.
»Oje.« Noch einmal studierte ich die Beispiele einfacher Verb-Substantiv-Verbindungen, die mir bisher widersprüchlich erschienen waren. Nun erkannte ich, dass sie tatsächlich alle das Logogramm für »Heptapode« aufwiesen; einige davon hatte ich nicht gleich erkannt, denn das Zeichen war um die eigene Achse gedreht oder bei der Verschmelzung mit den verschiedenen Verben verzerrt worden. »Ihr wollt uns wohl auf den Arm nehmen«, murmelte ich.
»Was ist los?«, fragte Gary.
»Die Schrift trennt die Wörter nicht voneinander. Ein Satz wird gebildet, indem man die Zeichen der einzelnen Wörter miteinander verbindet. Das machen sie, indem sie die Logogramme drehen und verändern. Hier, schau.« Ich zeigte Gary, wie einige der Logogramme gedreht worden waren.
»Sie können also Wörter mühelos lesen, egal, wie sie gedreht wurden«, sagte Gary. Beeindruckt betrachtete er die Heptapoden. »Ich frage mich, ob die radiale Symmetrie ihrer Körper der Grund dafür ist. Ihre Körper haben kein Vorne oder Hinten, ihre Schrift also auch nicht. Hochgradig elegant!«
Ich konnte es nicht fassen. Ich arbeitete mit jemandem zusammen, der »elegant« mit »hochgradig« steigerte. »Das ist auf jeden Fall bemerkenswert«, sagte ich. »Es bedeutet aber auch, dass es für uns keine einfache Methode gibt, unsere Sätze in ihrer Schrift wiederzugeben. Wir können ihre Sätze nicht einfach in einzelne Wörter zergliedern und diese dann neu miteinander kombinieren. Wir werden die Regeln ihrer Schrift lernen müssen, bevor wir in der Lage sind, irgendetwas Lesbares zu schreiben. Wir haben hier das gleiche Problem wie beim Zusammenfügen von Sprachfragmenten, nur dieses Mal mit Schrift.«
Ich sah zu Haspel und Himbeere hinüber, die im Spiegel darauf warteten, dass wir weitermachten, und seufzte. »Ihr werdet es uns nicht leicht machen, hab ich recht?«
Fairerweise sei gesagt, dass die Heptapoden in jeder Hinsicht kooperativ waren. In den nächsten Tagen lehrten sie uns bereitwillig ihre Sprache, ohne von uns zu verlangen, ihnen mehr Englisch beizubringen. Colonel Weber und seine Leute zerbrachen sich die Köpfe darüber, was das bedeuten könnte, während ich und die Linguisten der anderen Spiegelstandorte unser gesammeltes Wissen über die Heptapodensprache mittels Videokonferenzen austauschten. Die Videokonferenzen irritierten mich. Verglichen mit den Spiegeln der Heptapoden waren unsere Videomonitore primitive Apparate, und meine Kollegen wirkten entfernter als die Außerirdischen. Das Vertraute war entrückt, doch das Bizarre schien mir nahe.
Es würde noch einige Zeit vergehen, bis wir die Heptapoden fragen konnten, warum sie gekommen waren, oder bis wir uns gut genug über Physik austauschen konnten, um mehr über ihre Technologie zu erfahren. Bis dahin arbeiteten wir an den Grundlagen: Phonemik/Graphemik, Wortschatz, Syntax. Bei allen Spiegeln gebrauchten die Heptapoden dieselbe Sprache, sodass wir in der Lage waren, unsere Daten zu bündeln und unsere Anstrengungen zu koordinieren.
Die »Schrift« der Heptapoden verwirrte uns am meisten. Statt wie richtige Schrift wirkte sie auf uns wie ein Haufen komplizierter Designergrafiken. Die Logogramme wurden nicht in Reihen oder Spiralen oder auf sonst eine lineare Weise angeordnet. Haspel und Himbeere schrieben stattdessen einen Satz, indem sie so viele Logogramme, wie sie benötigten, zu einem riesigen Sammelsurium zusammenfügten.
Diese Form des Schreibens hatte Ähnlichkeit mit primitiven Zeichensystemen, bei denen man den Inhalt einer Botschaft kennen musste, um sie zu verstehen. Solche Verfahren galten als zu beschränkt, um damit Information systematisch aufzuzeichnen. Aber es erschien unwahrscheinlich, dass die Heptapoden ihre fortgeschrittene Technologie nur durch mündliche Informationsweitergabe entwickelt hatten. Daraus ließen sich drei Schlussfolgerungen ableiten: Erstens, dass die Heptapoden über ein richtiges Schriftsystem verfügten, es uns aber nicht zeigen wollten. Colonel Weber neigte zu dieser Ansicht. Die zweite Schlussfolgerung besagte, dass die Heptpoden nicht die Schöpfer der Technologie waren, die sie nutzten, sondern dass sie Analphabeten waren und die Technologie von jemand anderem verwendeten. Die dritte und für mich interessanteste Möglichkeit war, dass die Heptapoden eine nicht-lineare Orthographie verwendeten, die alle Anforderungen eines Schriftsystems erfüllte.
Ich erinnere mich an eine Unterhaltung, die ich mit dir haben werde, als du auf der Highschool in der elften Klasse bist. Es wird Sonntagmorgen sein, und ich werde Rühreier machen, während du den Tisch deckst. Du wirst mir lachend von der Party erzählen, auf der du den Abend zuvor warst.
»O Mann«, wirst du sagen, »die reden keinen Quatsch, wenn sie sagen, dass das Körpergewicht eine Rolle spielt. Ich habe nicht mehr als die Kerle getrunken, war aber viel betrunkener.«
Ich werde versuchen, eine neutrale, gutwillige Haltung zu wahren. Ich werde mir wirklich Mühe geben. Dann wirst du sagen: »Ach, komm schon, Mom.«
»Was denn?«
»Du weißt, dass du genau die gleichen Dinge getan hast, als du in meinem Alter warst.«
So etwas habe ich nie getan, aber ich weiß, dass du, wenn ich das jetzt zugäbe, jeglichen Respekt vor mir verlieren würdest. »Dir ist klar, dass du unter keinen Umständen Auto fahren darfst, wenn du ...«
»Himmel, natürlich ist mir das klar. Glaubst du denn, dass ich eine Idiotin bin?«
»Nein, natürlich nicht.«
Was ich denken werde, ist, dass du ganz offensichtlich nicht ich bist, was mich in den Wahnsinn treibt. Das wird mich, wieder einmal, daran erinnern, dass du kein Klon von mir bist. Du kannst wundervoll sein, jeden Tag aufs Neue ein Grund zur Freude, aber du wirst niemals jemand sein, den ich alleine hätte hervorbringen können.
Das Militär hatte in der Nähe des Spiegelzeltes einen Wohnwagen aufgestellt, in dem sich unsere Büros befanden. Ich sah, wie Gary zu dem Wohnwagen hinüberging, und lief ihm rasch nach. »Es ist ein semasiografisches Schriftsystem«, sagte ich, als ich ihn eingeholt hatte.
»Wie bitte?«, sagte Gary.
»Hier, ich zeige es dir.« Inzwischen waren wir dazu übergegangen, uns zu duzen. Ich führte Gary in mein Arbeitszimmer. Dort ging ich zu einer Tafel und zeichnete einen Kreis, der von einer diagonalen Linie geteilt wurde. »Was bedeutet dieses Zeichen?«
»›Nicht gestattet‹?«
»Richtig.« Ich schrieb die Worte NICHT GESTATTET auf die Tafel. »Genauso wie das hier. Aber nur eines von beiden ist auch eine Abbildung von Sprache.«
Gary nickte. »Okay.«
»Linguisten bezeichnen eine Schrift wie diese hier« – ich zeigte auf die geschriebenen Wörter – »als ›Glottografie‹, denn sie repräsentiert Sprache. Alle geschriebenen menschlichen Sprachen gehören zu dieser Kategorie. Dieses Symbol allerdings« – und ich deutete auf den Kreis mit der Diagonalen – »ist ein ›semasiografisches‹ Zeichen, denn es vermittelt einen Inhalt, ohne sich dabei auf Sprache zu beziehen. Zwischen seinen Bestandteilen und bestimmten Lauten besteht kein Zusammenhang.«
»Und du bist der Meinung, dass die ganze Heptapodenschrift so funktioniert?«
»Nach dem, was ich bisher davon gesehen habe, ja. Sie ist weit komplizierter als eine einfache Bilderschrift. Sie verfügt über ein eigenes Regelwerk, wie man Sätze bildet – wie eine visuelle Syntax, die nichts mit der Syntax ihrer mündlichen Sprache zu tun hat.«
»Eine visuelle Syntax? Kannst du mir ein Beispiel zeigen?«
»Kommt sofort.« Ich setzte mich an den Schreibtisch und ließ auf dem Computer ein Bild der Aufnahme der gestrigen Unterhaltung mit Himbeere erscheinen. Ich drehte den Monitor so, dass Gary es sehen konnte. »In ihrer mündlichen Sprache bekommt ein Nomen eine Kasusmarkierung, die anzeigt, ob es ein Subjekt oder ein Objekt ist. In ihrer geschriebenen Sprache jedoch wird durch die Ausrichtung des Nomen-Logogramms zum Verb bestimmt, ob es ein Objekt oder ein Subjekt ist. Hier, schau.« Ich deutete auf eine der Abbildungen. »Wenn zum Beispiel ›Heptapode‹ auf diese Weise mit ›hört‹ verbunden wird, mit diesen parallelen Strichen, zeigt es an, dass der Heptapode etwas hört.« Ich zeigte Gary eine andere Abbildung. »Wenn die Zeichen aber so verbunden werden und die Striche im rechten Winkel zueinander verlaufen, bedeutet es, dass der Heptapode gehört wird. Diese Morphologie funktioniert bei etlichen Verben so. Ein weiteres Beispiel ist die Flexion, also die Beugung von Wörtern.« Ich wählte eine andere Aufnahme. »In ihrer Schriftsprache bedeutet dieses Logogramm in etwa ›klar zu hören‹ oder ›deutlich zu hören‹. Erkennst du die Elemente, die dem Logogramm für ›hören‹ gleichen? Man kann dieses Logogramm auf die gleiche Weise mit dem Zeichen für ›Heptapode‹ kombinieren, um auszudrücken, dass der Heptapode etwas klar hören kann, oder deutlich zu hören ist. Wirklich interessant ist aber, dass die Modulation von ›hören‹ zu ›deutlich hören‹ kein besonderer Fall ist; kannst du die Veränderung erkennen, die sie vorgenommen haben?«
Gary zeigte darauf und nickte. »Sieht so aus, als ob sie die Idee ›deutlich‹ ausdrücken, indem sie die Krümmung dieser Striche in der Mitte verändern.«
»Genau. Diese Anpassung lässt sich auf viele Verben anwenden. Das Logogramm für ›sehen‹ kann auf diese Weise modifiziert werden, um ›deutlich sehen‹ zu bezeichnen, und so ist es auch bei dem Logogramm für ›lesen‹ und bei vielen weiteren. Für diese Art und Weise, die Krümmung der Striche zu verändern, gibt es in ihrer Lautsprache keine Entsprechung. Bei der gesprochenen Variante dieser Verben fügen sie den Wörtern ein Präfix hinzu, um Leichtigkeit des Ausdrucks zu bezeichnen, und die Präfixe für ›sehen‹ und ›hören‹ unterscheiden sich. Es gibt noch weitere Beispiele dafür, aber du verstehst, was ich meine. Im Grunde ist es eine Grammatik in zwei verschiedenen Dimensionen.«
Gary fing an, nachdenklich auf und ab zu gehen. »Gibt es bei menschlichen Schriftsystemen etwas Vergleichbares?«
»Mathematische Gleichungen, Notationen für Musik und Tanzchoreografie. Aber diese Systeme sind hochgradig spezialisiert, und mit ihnen könnten wir zum Beispiel unsere Unterhaltung nicht aufzeichnen. Aber ich glaube, dass wir unser Gespräch mit der Heptapodenschrift aufschreiben könnten, wenn wir sie gut genug kennen würden. Ich glaube, dass es sich dabei um eine voll ausgebildete, universell einsetzbare grafische Sprache handelt.«
Gary runzelte die Stirn. »Ihre Schrift und ihre Lautsprache sind also zwei völlig verschiedene Sprachen, richtig?«
»Genau. Es wäre in der Tat korrekter, ihre Schrift als ›Heptapod B‹ zu bezeichnen, und mit ›Heptapod A‹ ausschließlich auf ihre Lautsprache zu verweisen.«
»Einen Augenblick. Warum überhaupt zwei verschiedene Sprachen verwenden, wenn eine ausreichen würde? Das setzt doch einen unnötig großen Lernaufwand voraus.«
»So wie die englische Rechtschreibung?«, sagte ich. »Ob sich etwas leicht und einfach lernen lässt, ist nicht der wichtigste Faktor in der Entwicklung einer Sprache. Schreiben und Sprechen erfüllen bei den Heptapoden vielleicht kulturell und kognitiv derart unterschiedliche Zwecke, dass es für sie sinnvoller ist, zwei verschiedene Sprachen zu nutzen, anstatt nur eine.«
Gary ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ich verstehe, was du meinst. Womöglich denken sie, dass unsere Art zu schreiben redundant ist, ganz so, als ob wir einen zweiten Kommunikationskanal nicht nutzen würden.«
»Gut möglich. Herauszufinden, warum sie eine zweite Sprache als Schrift verwenden, würde uns eine ganze Menge über sie verraten.«
»Wenn ich es richtig verstehe, wird uns ihre Schriftsprache nicht helfen, ihre Lautsprache zu lernen.«
Ich seufzte. »Richtig, das ist die wichtigste Schlussfolgerung. Aber ich denke nicht, dass wir Heptapod A oder B ignorieren sollten. Wir sollten zweigleisig vorgehen.« Ich deutete auf den Bildschirm. »Ich wette mit dir, dass uns, wenn wir ihre zweidimensionale Grammatik lernen, das helfen wird, wenn es so weit ist, ihre mathematische Notation zu begreifen.«
»Da hast du wohl recht. Können wir also damit anfangen, ihnen Fragen über ihre Mathematik zu stellen?«
»Noch nicht. Erst einmal müssen wir ihr Schriftsystem besser verstehen, bevor wir mit etwas anderem weitermachen«, sagte ich und lächelte, als Gary enttäuscht das Gesicht verzog. »Geduld, werter Herr. Geduld ist eine Tugend.«
Du wirst sechs Jahre alt sein, als dein Vater zu einer Konferenz nach Hawaii fliegt und wir ihn begleiten. Du wirst so aufgeregt sein, dass du schon Wochen vorher beginnst, dich darauf vorzubereiten. Du wirst mich über Kokosnüsse und Vulkane und Surfen ausfragen und vor dem Spiegel Hula üben. Du wirst einen Koffer mit den Kleidern und Spielsachen packen, die du mitnehmen möchtest, und ihn im Haus herumschleppen, um herauszufinden, wie lange du ihn tragen kannst. Du wirst mich fragen, ob ich deine Zaubertafel in meine Tasche packen kann, weil du in deinem Gepäck keinen Platz mehr dafür hast und ohne sie nicht reisen willst.
»Das alles wirst du gar nicht brauchen«, werde ich sagen. »Es wird dort so viele tolle Dinge geben, die du unternehmen kannst, dass du gar nicht dazu kommst, mit deinen Sachen zu spielen.«
Darüber wirst du nachdenken. Über deinen Augenbrauen werden sich Grübchen bilden, während du ins Grübeln verfällst. Schließlich wirst du weniger Spielzeug einpacken, aber deine Vorfreude wird sich nur noch mehr steigern.
»Ich will jetzt in Hawaii sein«, wirst du quengeln.
»Manchmal ist es gut zu warten«, werde ich sagen. »Je mehr beim Warten die Spannung steigt, um so größer ist die Freude, wenn es dann endlich so weit ist.«
Daraufhin wirst du schmollen.
In meinem nächsten Bericht erklärte ich, der Begriff »Logogramm« führe in die Irre, da er nahelegt, dass jedes Zeichen einem gesprochenen Wort entspricht. Dabei bezogen sich die Zeichen keineswegs auf Worte in unserem Sinne. Den Begriff »Ideogramm« wollte ich ebenfalls vermeiden, da er bereits besetzt war, und so schlug ich die Bezeichnung »Semagramm« vor.
Es hatte den Anschein, dass ein Semagramm hier in etwa mit einem geschriebenen Wort in der menschlichen Sprache übereinstimmte: Wenn es alleinstand, hatte es eine ganz bestimmte Bedeutung, und mit anderen Semagrammen kombiniert ergab es eine unbegrenzte Anzahl von Aussagen. Ganz genau ließ es sich nicht definieren, aber bisher hat auch niemand wirklich zufriedenstellend den Begriff »Wort« definiert. Die Angelegenheit wurde jedoch um einiges verwirrender, wenn es um Sätze in Heptapod B ging.
Die Sprache verfügte über keine geschriebene Interpunktion: Ihre Syntax wurde durch die Art und Weise vermittelt, wie Semagramme miteinander kombiniert wurden, und es war nicht nötig, Sprach-Rhythmus und -Betonung festzuhalten. Eine einfache Methode, Subjekt-Prädikat-Pärchen zu isolieren, um Sätze zu bilden, gab es nicht. Ein »Satz« bestand schlicht aus einer beliebig großen Menge an Semagrammen, die ein Heptapode miteinander verbinden wollte. Der einzige Unterschied zwischen einem Satz, einem Absatz oder einer Seite bestand in der Größe des ganzen Gebildes.
Die visuelle Kraft eines Satzes in Heptapod B, der eine bestimmte Größe erreichte, war erstaunlich. Wenn ich nicht versuchte, sie zu entziffern, glich die Schrift einer phantasievollen Zeichnung von Gottesanbeterinnen, die – schwungvoll hingeworfen – ineinander verzahnt waren und zusammen ein Netzwerk bildeten, das den Werken von M. C. Escher ähnelte.
Die längsten Sätze hatten eine Wirkung, die der von psychedelischen Postern gleichkam – manchmal atemberaubend, manchmal hypnotisch.
Ich erinnere mich an ein Foto von dir, das bei der College-Abschlussfeier aufgenommen wurde. Auf dem Bild wirfst du dich für die Kamera in Pose, den Doktorhut schräg auf dem Kopf, eine Hand an der Sonnenbrille, die andere Hand auf der Hüfte, und dabei hältst du die Robe auf, um Tank Top und Shorts zu enthüllen, die du darunter trägst.
Ich erinnere mich noch gut an deine Abschlussfeier. Dass Nelson, dein Vater und Wie-heißt-sie-noch-mal da sein werden, wird mich ein wenig stören, ist aber nicht allzu schlimm. Während du das Wochenende damit verbringst, uns deine Klassenkameraden vorzustellen und alle ausgiebig zu umarmen, werde ich vor lauter Staunen kein Wort herausbringen. Ich kann es nicht fassen, dass du, eine erwachsene Frau, die größer ist als ich und so schön, dass es mir das Herz bricht, das Mädchen sein wirst, das ich hochheben musste, damit es vom Wasserspender trinken konnte, das gleiche Mädchen, das immer mal wieder aus meinem Schlafzimmer stolperte, in einem meiner Kleider, mit Hut und vier Schals aus meinem Kleiderschrank.
Nach der Abschlussfeier wirst du als Finanzanalytikerin arbeiten. Ich werde nicht begreifen, was du da machst, ich werde nicht einmal deine Faszination für Geld verstehen oder wie wichtig dir Gehaltsfragen sind, wenn du um einen neuen Job verhandelst. Mir wäre es lieber, wenn du ein bestimmtes Ziel verfolgen würdest, ohne nur auf das Geld zu achten, aber ich werde mich nicht beklagen. Meine Mutter hat nie verstanden, warum ich nicht einfach Englisch an der Highschool unterrichten wollte. Du wirst tun, was dich glücklich macht, und mehr werde ich nicht verlangen.
Die Forscherteams der verschiedenen Spiegel-Standorte bemühten sich im Laufe der Zeit, die Heptapod-Terminologie für elementare Mathematik und Physik zu erlernen. Zusammen entwickelten wir Präsentationen, wobei die Linguisten sich um die Verfahrensweise und die Physiker um die Inhalte kümmerten. Die Physiker machten uns mit bereits existierenden Systemen bekannt, die nun zur Kommunikation mit Außerirdischen dienen sollten. Diese Systeme waren jedoch für den Austausch mittels Radioteleskopen gedacht, und so überarbeiteten wir sie für die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht.
Unsere Teams konnten bei einfacher Arithmetik Erfolge verbuchen, aber mit Geometrie und Algebra steckten wir in einer Sackgasse. Angeregt von der Anatomie der Heptapoden, gaben wir unser rechtwinkliges Koordinatensystem zugunsten eines kreisförmigen auf, was aber keinerlei Fortschritte brachte. Die Heptapoden schienen einfach nicht zu begreifen, was wir meinten.
Die Gespräche über Physik verliefen genauso erfolglos. Lediglich bei den einfachsten Begriffen, wie den Namen für die Elemente, kamen wir weiter. Nach einigen Versuchen, ihnen das Periodensystem zu vermitteln, verstanden die Heptapoden, was wir ihnen zeigten. Doch bei allem, was auch nur etwas abstrakter war, hätten wir genau so gut Kauderwelsch reden können. Wir versuchten, elementare physikalische Eigenschaften wie Masse und Geschwindigkeit zu demonstrieren, um die entsprechenden Heptapoden-Begriffe zu erfahren, aber jedes Mal baten sie uns darum, präziser darzustellen, was wir meinten. Um Wahrnehmungsverzerrungen auszuschließen, die mit einem bestimmten Übermittlungsmedium zusammenhängen mochten, versuchten wir es mit praktischen Demonstrationen sowie mit Strichzeichnungen, Fotos und Animationen, doch nichts funktionierte. Aus ergebnislosen Tagen wurden Wochen, und den Physikern schwand alle Hoffnung.
Im Gegensatz dazu erzielten die Linguisten bessere Resultate. Wir kamen gut damit voran, die Grammatik der gesprochenen Sprache, Heptapod A, zu entschlüsseln. Wie erwartet folgte sie keinem menschlichen Sprachmuster, ließ sich aber dennoch begreifen: Die Wortfolge unterlag keinen Regeln, auch dann nicht, wenn es sich um die Satzglieder von Konditionalsätzen handelte, und war damit im Unterschied zu allen menschlichen Sprachen »universell«. Anscheinend hatten die Heptapoden auch keine Hemmungen, viele Sätze ineinander zu verschachteln, was bei Menschen leicht dazu führt, dass sie die Übersicht verlieren. All das war zwar eigenartig, entzog sich aber nicht grundsätzlich jedem Verständnis.
Sehr viel interessanter waren die jüngsten Entdeckungen zu den morphologischen und grammatikalischen Eigenheiten von Heptapod B, die ausschließlich auf deren zweidimensionaler Anordnungsweise beruhten. Je nach Deklination eines Semagramms wurde seine Beugung durch die Krümmung eines Strichs, seiner Dicke oder die Art seines Wellenverlaufs bestimmt, oder – neben anderen Methoden – durch die Variation der relativen Größe zweier Wortstämme, ihren Abstand zu einem anderen Wortstamm oder ihre Ausrichtung. Dabei handelte es sich um nicht-segmentierbare Grapheme, die man nicht von dem übrigen Semagramm trennen konnte. Im Unterschied zu der Verwendung solcher Eigenschaften bei menschlicher Schrift, hatten sie hier nichts mit kalligrafischem Stil zu tun. Die Bedeutung der Semagramme war bei Heptapod B durch eine konsistente und unzweideutige Grammatik bestimmt.
Immer wieder fragten wir die Heptapoden, warum sie gekommen waren. Jedes Mal antworteten sie: »um zu sehen« oder »um zu beobachten«. Manchmal zogen sie es tatsächlich vor, uns still zu betrachten, statt auf unsere Fragen einzugehen. Vielleicht waren sie Wissenschaftler, vielleicht auch Touristen. Das Außenministerium hatte uns eingetrichtert, so wenig wie möglich über die Menschheit zu enthüllen, für den Fall, dass diese Informationen bei zukünftigen Verhandlungen zu unserem Vorteil verwendet werden konnten. Wir fügten uns, was uns nicht besonders schwerfiel: Die Heptapoden stellten niemals irgendwelche Fragen. Egal, ob sie Wissenschaftler oder Touristen waren, besonders neugierig wirkten sie nicht.
Ich erinnere mich, wie wir einmal in ein Einkaufszentrum fahren werden, um für dich neue Kleider zu kaufen. Du wirst dreizehn sein. Du wirst dich, ganz Kind, völlig unbefangen auf den Beifahrersitz lümmeln, und einen Augenblick später wirst du, wie ein Fotomodell, deine Haare mit einstudierter Lässigkeit zurückwerfen.
Während wir parken, wirst du mir einige Anweisungen erteilen. »Also, Mom, gib mir eine der Kreditkarten, und wir treffen uns dann in zwei Stunden wieder hier am Eingang.«
Ich werde lachen. »Auf keinen Fall. Die Kreditkarten bleiben schön bei mir.«
»Das meinst du doch nicht ernst!« Die Verzweiflung wird dir ins Gesicht geschrieben stehen. Wir werden aus dem Wagen steigen, und ich werde auf den Eingang des Einkaufszentrums zugehen. Als du begreifst, dass ich nicht nachgeben werde, wirst du rasch deine Vorgehensweise ändern.
»Okay, Mom, okay. Du kannst mich begleiten, aber bleib immer hinter mir, damit es nicht so aussieht, als ob wir zusammengehören. Wenn wir irgendwelchen Freunden von mir begegnen, werde ich stehen bleiben und mit ihnen plaudern, aber du wirst einfach weitergehen, okay? Ich komme dann nach.«
Ich werde stehen bleiben. »Wie bitte? Ich bin doch nicht dein Hausdiener oder irgendeine entfernte Verwandte, für die du dich schämen musst.«
»Aber Mom, ich kann mich nicht mit dir zusammen sehen lassen.«
»Wie meinst du das? Ich kenne deine Freunde doch alle. Sie waren schon bei uns zu Hause.«
»Das ist was anderes«, wirst du sagen, fassungslos darüber, dass du mir das erklären musst. »Ich möchte alleine einkaufen.«
»So ein Pech aber auch.«
Dann die Explosion: »Du tust nicht das Geringste dafür, um mich glücklich zu machen! Ich bin dir vollkommen egal!«
Es wird noch gar nicht so lange her sein, dass du gerne mit mir einkaufen gegangen bist. Es wird mich immer wieder verblüffen, wie schnell du aus einer Phase heraus- und in eine andere hineinwächst. Mit dir zusammenzuleben ist, als würde man ein bewegliches Ziel anvisieren. Du wirst immer schon ein Stückchen weiter sein, als ich erwarte.
Ich betrachtete einen Satz in Heptapod B, den ich gerade mit einem einfachen Stift auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. Wie alle von mir selbst geschriebenen Sätze sah dieser unförmig aus, wie ein Satz, den ein Heptapode geschrieben hatte und den man dann mit einem Hammer zertrümmert und wieder ungeschickt zusammengeflickt hatte. Auf meinem Schreibtisch lagen viele Blätter mit solchen uneleganten Semagrammen herum – ab und zu wellten sie sich, wenn der Ventilator sich in ihre Richtung drehte.
Es war sonderbar, eine Sprache zu lernen, die keine gesprochene Form hatte. Statt die Aussprache zu üben, schloss ich die Augen und versuchte, Semagramme auf die Innenseite meiner Lider zu zeichnen.
Jemand klopfte an die Tür, und bevor ich reagieren konnte, trat Gary mit einem freudigen Gesichtsausdruck ins Zimmer. »Das Team in Illinois meldet eine Bestätigung in Physik.«
»Wirklich? Das ist großartig! Wann war das?«
»Vor ein paar Stunden. Ich war gerade bei der Videokonferenz. Komm, ich zeig es dir.« Er begann meine Schreibtafel zu löschen.
»Ach, macht nichts. Das brauche ich sowieso nicht mehr.«
»Gut.« Er griff nach einem Kreidestummel und zeichnete ein Diagramm:
»Also, das hier ist der Verlauf eines Lichtstrahls, wenn er von Luft in Wasser übergeht. Das Licht bewegt sich in gerader Linie fort, bis es auf die Wasseroberfläche trifft. Wasser hat einen anderen Brechungsindex als Luft, und so ändert das Licht seine Richtung. Das ist dir bekannt, oder?«
Ich nickte. »Natürlich.«
»Der Verlauf, den das Licht nimmt, hat eine interessante Eigenschaft. Das hier ist der kürzeste Weg zwischen den beiden Punkten.«
»Wie bitte?«
»Nimm einfach mal an, dass das Licht diesen Verlauf nimmt.« Er zeichnete auf dem Diagramm eine gepunktete Linie ein:
»Dieser hypothetische Weg ist kürzer als der Verlauf, den das Licht tatsächlich nimmt. Allerdings ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht im Wasser geringer als in der Luft, und hier verläuft ein größerer Anteil des Weges im Wasser. Das Licht bräuchte daher entlang dieses Weges länger als entlang des tatsächlichen Weges.«
»Okay, das verstehe ich.«
»Stell dir nun vor, dass das Licht diesen Verlauf nimmt.« Er zeichnete eine zweite gepunktete Linie ein.
»Dieser Weg verkürzt die Strecke, die das Licht im Wasser zurücklegen muss, aber die Gesamtstrecke ist länger. Das Licht würde wiederum länger für die Strecke von A nach B benötigen als auf dem tatsächlichen Weg.«
Gary legte die Kreide weg und deutete mit weißen Fingerspitzen auf die Tafel. »Auf allen vorstellbaren Wegen würde das Licht länger für die Strecke brauchen. Anders gesagt: Der Weg, den das Licht einschlägt, ist immer der schnellstmögliche Weg zwischen zwei Punkten. Das ist das Fermatsche Prinzip der kürzesten Zeit.«
»Hm, interessant. Und darauf haben die Heptapoden reagiert?«
»Genau. Moorehead vom Spiegelteam in Illinois hat den Heptapoden eine Animation des Fermatschen Prinzips vorgeführt, und sie haben es wiederholt. Nun versucht er, es mit Symbolen zu beschreiben.« Er grinste breit. »Ist das nicht toll?«
»Ja, das ist wirklich toll, aber warum habe ich bis jetzt noch nie etwas von diesem Prinzip gehört?« Ich nahm einen Aktenordner – eine Richtliniensammlung, die vorgab, welche Bereiche der Physik wir mit den Heptapoden angehen sollten, und wedelte damit in Garys Richtung. »Hier drin steht alles Mögliche über die Planck-Masse und den Spin-Flip bei Wasserstoffatomen, aber nichts über die Brechung von Licht.«
»Wir haben uns geirrt, welches Wissen für euch am nützlichsten ist«, sagte er ohne jede Verlegenheit. »Es ist wirklich eigenartig, dass wir den ersten Durchbruch mit dem Fermatschen Prinzip erzielen konnten. Obwohl es sich leicht erklären lässt, braucht man die Differentialrechnung, um es mathematisch zu beschreiben – sogar die Variationsrechnung, um genau zu sein. Und wir dachten, dass uns mit einem einfachen geometrischen oder algebraischen Theorem der erste Durchbruch gelingen würde.«
»Wirklich sonderbar. Glaubst du denn, dass sich die Vorstellung der Heptapoden davon, was einfach ist, nicht mit der unsrigen deckt?«
»Genau. Deshalb bin ich schon sehr gespannt darauf herauszufinden, wie ihre mathematische Beschreibung des Fermatschen Prinzips aussieht.« Er begann beim Reden hin und her zu gehen. »Wenn sich herausstellt, dass ihre Version der Variationsrechnung für sie simpler ist als ihre Version der Algebra, erklärt das vielleicht, warum wir solche Schwierigkeiten hatten, uns mit ihnen über Physik zu verständigen. Kann gut sein, dass ihr ganzes mathematisches System, verglichen mit dem unsrigen, auf dem Kopf steht.« Er zeigte auf den Ordner mit den Richtlinien. »Auf alle Fälle werden wir das da überarbeiten müssen.«
»Könnt ihr auf dem Fermatschen Prinzip aufbauen und weitere Bereiche der Physik erschließen?«
»Wahrscheinlich. Es gibt viele physikalische Prinzipien wie das von Fermat.«
»Als da wären? Louises Prinzip des geringsten Platzes im Kleiderschrank? Seit wann ist Physik so minimalistisch?«
»Na ja, das Wort ›geringste‹ geht in die falsche Richtung. Das Fermatsche Prinzip der geringsten Zeitdauer ist nämlich unvollständig. In manchen Fällen folgt das Licht einem Verlauf, der eine längere Zeit benötigt als andere mögliche Wege. Richtiger wäre die Aussage, dass das Licht immer einen extremen Weg nimmt, einen, der die Zeitdauer entweder minimiert oder maximiert. Minimal- und Maximalwerte haben mathematisch gesehen bestimmte Eigenschaften gemeinsam, und so lassen sich beide mit derselben Gleichung beschreiben. Genau genommen ist das Fermatsche Prinzip also kein minimalistisches Prinzip, sondern etwas, das man ›Variationsprinzip‹ nennt.«
»Und es gibt noch mehr Variationsprinzipien?«
Er nickte. »In allen Bereichen der Physik. So gut wie jedes physikalische Gesetz lässt sich zu einem Variationsprinzip umformulieren. Der einzige Unterschied zwischen den verschiedenen Prinzipien besteht darin, welche Eigenschaften minimiert oder maximiert werden.« Er gestikulierte herum, als ob die verschiedenen Zweige der Physik vor ihm auf dem Tisch aufgereiht wären. »In der Optik, wo das Fermatsche Prinzip angewendet wird, ist es die Zeit, die einen Extremwert annehmen muss. In der Mechanik muss eine andere Eigenschaft extrem sein, und beim Elektromagnetismus ist es wieder etwas anderes. Aber all diese Prinzipien sind sich mathematisch ähnlich.«
»Wenn ihr also erst einmal die mathematische Beschreibung der Heptapoden für das Fermatsche Prinzip habt, solltet ihr auch die anderen Prinzipien entschlüsseln können.«
»Genau das hoffe ich. Nach so einem Ansatzpunkt, der uns einen Zugang zum physikalischen Denken der Heptapoden liefert, haben wir gesucht. Das muss gefeiert werden.« Er hörte auf, hin und her zu tigern, und sah mich an. »Hey, Louise, hast du Lust essen zu gehen? Ich lade dich ein.«
Ich war etwas überrascht. »Klar«, sagte ich.
Wenn du anfangen wirst, laufen zu lernen, wird mich das Tag für Tag an die Asymmetrie unserer Beziehung erinnern. Ständig wirst du dich davonmachen, und immer, wenn du gegen einen Türrahmen rennst oder dir das Knie aufschürfst, wird sich dein Schmerz wie mein eigener anfühlen. Als würde mir ein zusätzliches Körperteil wachsen, eine Erweiterung meiner selbst, deren Schmerzen ich zwar zu empfinden vermag, die aber meinen Bewegungsimpulsen nicht folgen will. Das ist äußerst ungerecht: Ich werde eine belebte Voodoo-Puppe meiner selbst auf die Welt bringen. Das habe ich in dem Vertrag, den ich unterschrieben habe, übersehen. War das Teil der Abmachung?
Und dann werden da die Augenblicke sein, in denen ich dich lachen sehen werde. Wie das eine Mal, als du mit dem jungen Hund der Nachbarn spielen, deine Hände durch die Lücken des Maschendrahtzauns strecken wirst, der die Grundstücke voneinander trennt, und dabei so heftig lachst, dass du einen Schluckauf bekommst. Der Hund wird in das Haus des Nachbarn laufen, und langsam wird dein Lachen leiser werden, und du wirst allmählich wieder zu Atem kommen. Der Hund wird dann wieder zum Zaun zurückkommen und dir die Finger ablecken, und du wirst aufkreischen und wieder anfangen zu lachen. Das wird das wundervollste Geräusch sein, das ich mir jemals vorstellen könnte, ein Geräusch, das mir das Gefühl gibt, ein Springbrunnen oder eine Quelle zu sein.
Könnte ich mich doch nur an dieses Geräusch erinnern, wenn deine unbekümmerte Gleichgültigkeit gegenüber deinem Selbsterhaltungstrieb mir wieder einmal fast einen Herzinfarkt beschert.
Nach dem Durchbruch mit dem Fermatschen Prinzip verlief der Austausch wissenschaftlicher Konzepte weit fruchtbarer. Es war zwar keineswegs so, dass wir plötzlich die Heptapoden-Physik völlig durchschaut hätten, aber wir machten beständig Fortschritte. Tatsächlich unterschied sich, laut Gary, die Art und Weise, wie die Heptapoden Physik verstanden, gänzlich von der unsrigen. Physikalische Eigenschaften, die wir Menschen mit Hilfe von Integralfunktionen beschrieben, galten für die Heptapoden als grundlegend. Als Beispiel nannte Gary eine Eigenschaft, die von Physikern mit dem verführerisch einfachen Begriff »Wirkung« bezeichnet wurde und die »den Unterschied zwischen kinetischer und potenzieller Energie über eine bestimmte Zeitspanne« beschrieb, was immer das auch bedeuten mochte. Integralfunktionen für uns, elementar für die Heptapoden.
Andererseits verwendeten die Heptapoden für Eigenschaften wie beispielsweise »Geschwindigkeit«, die von Menschen als fundamental angesehen wurden, mathematische Verfahren, die nach Garys Ansicht »höchst seltsam« waren. Letztendlich waren die Physiker in der Lage nachzuweisen, dass die Mathematik der Heptapoden und der Menschen miteinander vergleichbar waren, und dass, obwohl die Herangehensweisen beider Systeme fast die Umkehrung des jeweils anderen darstellten, beide dasselbe physikalische Universum beschrieben.
Ich versuchte, einige der Gleichungen, die sich die Physiker ausdachten, nachzuvollziehen, aber es war sinnlos. Die Bedeutung einer physikalischen Eigenschaft wie »Wirkung« begriff ich ebenso wenig, wie ich nicht verstand, was so wesentlich daran war, eine solche Eigenschaft als fundamental anzusehen. Dennoch gab ich mir Mühe, diese Fragen in mir vertrautere Worte zu fassen: Was für eine Sicht der Welt hatten die Heptapoden, um das Fermatsche Prinzip für die einfachste Erklärung der Brechung von Licht zu halten? Was für eine Art der Wahrnehmung sorgte dafür, dass sich ihnen Minimal- und Maximalwerte mühelos erschlossen?
Deine Augen werden blau sein wie die deines Vaters, nicht erdfarben wie meine. Die Jungs werden sich genauso in diesen Augen verlieren wie ich mich in den Augen deines Vaters, genauso überrascht und bezaubert darüber, wie ich es war und bin, wie sie mit deinen schwarzen Haaren zusammenwirken. Du wirst viele Verehrer haben.
Ich erinnere mich noch daran, wie du mit fünfzehn nach einem Wochenende bei deinem Vater nach Hause kommen und fassungslos sein wirst, weil er dich endlos über den Jungen ausgefragt hat, mit dem du gerade gehst. Du wirst dich auf das Sofa fläzen und mir von den jüngsten Verstößen deines Vaters gegen den gesunden Menschenverstand berichten: »Weißt du, was er gesagt hat? Er meinte: ›Ich weiß, was in halbstarken Jungs vorgeht.‹« Du wirst mit den Augen rollen: »Als ob ich das nicht selbst wüsste!«
»Nimm ihm das nicht übel«, werde ich sagen. »Er ist dein Vater, da kann er nicht anders.« Da ich miterlebt habe, wie du mit deinen Freunden umgehst, mache ich mir keine Sorgen, einer von ihnen könnte zu weit gehen. Wenn überhaupt, dann scheint mir das Gegenteil wahrscheinlicher. Darüber werde ich mir Sorgen machen.
»Ihm wäre es am liebsten, ich wäre immer noch ein Kind. Er hat keinen Schimmer, wie er sich mir gegenüber verhalten soll, seit ich Brüste habe.«
»Na ja, das war ein ziemlicher Schock für ihn. Gib ihm Zeit, sich davon zu erholen.«
»Das ist Jahre her, Mom. Wie lange soll das noch dauern?«
»Ich werde dir Bescheid sagen, sobald mein Vater sich an meine Brüste gewöhnt hat.«
Bei einer Videokonferenz der Linguisten stellte Cisnero vom Spiegelteam in Massachusetts eine interessante Frage: Gab es eine bestimmte Reihenfolge, in der die Semagramme in einem Satz in Heptapod B geschrieben wurden? Wir wussten bereits, dass die Wortreihenfolge beim gesprochenen Heptapod A so gut wie keine Rolle spielte. Wenn wir von einem Heptapoden verlangten, einen Satz zu wiederholen, war es sehr wahrscheinlich, dass er die Worte anders anordnete, es sei denn, wir baten ihn ausdrücklich darum, das nicht zu tun. War die Reihenfolge beim Schreiben von Heptapod B ebenso unwichtig?
Bisher hatten wir uns nur darauf konzentriert, wie ein Satz in Heptapod B aussah, wenn er fertig war. Soweit wir feststellen konnten, gab es beim Lesen der Semagramme in einem Satz keine bevorzugte Richtung. Man konnte beinahe überall in dem Bündel beginnen und den sich verzweigenden Gliedern folgen, bis man das ganze Ding gelesen hatte. Das galt für das Lesen, aber traf das auch auf das Schreiben zu?
Während meines letzten Treffens mit Haspel und Himbeere hatte ich die beiden gebeten, uns die Semagramme nicht erst zu zeigen, wenn sie fertig waren, sondern uns aufzeichnen zu lassen, wie sie die Semagramme schrieben. Das taten sie. Ich schob die Videokassette in den Rekorder und verglich die Aufzeichnung mit meinen Protokollen der Sitzung.
Ich nahm mir eine längere Äußerung der Unterhaltung vor. Haspel hatte erklärt, der Heimatplanet der Heptapoden habe zwei Monde, einer davon deutlich größer als der andere, die drei häufigsten Elemente in der Atmosphäre des Planeten seien Stickstoff, Argon und Sauerstoff, und 15/28stel der Planetenoberfläche seien von Wasser bedeckt. Die wörtliche Übersetzung der ersten Worte dieser Äußerung lautete »Ungleichheit-der-Größe Fels-Satellit Fels-Satelliten Verhältnis-zueinander-wie-Erst-zu-Zweit«.
Dann spulte ich das Video zurück, bis die Zeitsignatur mit der der Transkription übereinstimmte. Ich begann das Band abzuspielen und sah zu, wie sich das Gefüge der Semagramme wie ein Tintennetz aus Spinnenseide ausbreitete. Einige Male spulte ich das Band zurück und ließ es laufen. Schließlich drückte ich auf Pause, genau in dem Moment, als der erste Strich fertig war und bevor der zweite begonnen wurde. Nun war auf dem Bildschirm lediglich eine gewundene Linie zu sehen.
Als ich diesen ersten Strich mit dem ganzen Satz verglich, wurde mir klar, dass dieser Strich sich über mehrere verschiedene Teile des Satzes erstreckte. Er begann im Semagramm für »Sauerstoff«, und zwar als der Faktor, der es von anderen Elementen unterschied, führte dann abwärts, um ein Morphem des Vergleiches in der Beschreibung der Größe der beiden Monde zu bilden, und endete schließlich als geschwungener Hauptstrich des Semagramms für »Ozean«. Und doch war dieser Strich eine einzige fortlaufende Linie und die erste, die Haspel gezeichnet hatte. Bevor der Heptapod den allerersten Strich ausführte, musste er also wissen, wie der ganze Satz lauten würde.
Auch die folgenden Striche des Satzes gehörten zu mehreren Satzteilen und waren so mit den anderen Linien verflochten, dass man keinen Strich wegnehmen konnte, ohne den ganzen Satz zu verändern. Die Heptapoden schrieben nicht ein Semagramm nach dem anderen, sondern fügten einen Satz, unabhängig von einzelnen Semagrammen, aus Strichen zusammen. Ein derart ausgefeiltes Ineinandergreifen von Strichen hatte ich schon bei einigen kalligrafischen Kunstwerken gesehen, besonders bei solchen, die sich des arabischen Alphabets bedienten. Doch diese Konstruktionen hatten der sorgfältigen Planung meisterhafter Kalligrafiekünstler bedurft. Niemand konnte ein derart ausgeklügeltes Gefüge schnell genug erstellen, um damit den Verlauf einer Unterhaltung aufzuzeichnen. Zumindest kein Mensch.
Ich habe mal einen Witz von einer Komikerin gehört, der etwa so geht: »Ich bin nicht sicher, ob ich Kinder haben soll. Also habe ich eine Freundin gefragt, die Mutter ist: ›Mal angenommen, ich bekomme Kinder. Was mache ich, falls sie, wenn sie groß sind, mir für alles, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist, die Schuld geben?‹ Da lachte die Freundin und sagte: ›Was meinst du damit: falls?‹«
Das ist mein Lieblingswitz.
Gary und ich saßen in einem kleinen chinesischen Restaurant, eines der örtlichen Lokale, die wir öfter besuchten, wenn wir dem Lager entfliehen wollten. Wir ließen uns die Vorspeisen schmecken: Jiaozi, wie ich sie am liebsten mochte – stark nach Schweinefleisch und Sesamöl duftend.
Ich tunkte eine der Teigtaschen in Sojasoße und Essig: »Und, wie kommst du mit deinen Heptapod B-Übungen voran?«, fragte ich.
Garys Blick wanderte zur Decke des Restaurants. Ich versuchte, ihm in die Augen zu sehen, aber er wich mir weiter aus.
»Du hast das Handtuch geworfen, hab ich recht?«, sagte ich. »Du versuchst es nicht mal mehr.«
Er sah mich an wie ein reuiger Hund. »Sprachen sind einfach nicht mein Ding«, gestand er. »Ich dachte, Heptapod B zu lernen wäre eher wie Mathematik pauken, statt zu versuchen, eine andere Sprache zu sprechen. Das ist es aber nicht. Es ist zu fremdartig für mich.«
»Es würde dir dabei helfen, mit ihnen über Physik zu reden.«
»Wahrscheinlich, aber seit unserem Durchbruch komme ich auch mit den paar Sätzen aus, die ich kann.«
Ich seufzte. »Ist wohl nur fair. Ich muss zugeben, dass ich es aufgegeben habe, Mathematik zu lernen.«
»Wir sind also quitt?«
»Das sind wir.« Ich nippte an meinem Tee. »Aber eine Frage habe ich noch, und zwar zu dem Fermatschen Prinzip. Irgendetwas daran kommt mir seltsam vor, aber ich kann nicht genau sagen, was. Es klingt eigentlich gar nicht wie ein physikalisches Gesetz.«
Ein Funkeln blitzte in Garys Augen auf. »Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst.« Er zerdrückte mit seinen Essstäbchen eine Teigtasche in zwei Hälften. »Du bist es gewohnt, Lichtbrechung als etwas anzusehen, das auf Ursache und Wirkung beruht: Die Ursache ist, dass Licht sich durch Luft ausbreitet und auf Wasser trifft, und die Richtungsänderung unterhalb der Wasseroberfläche ist die Wirkung. Das Fermatsche Prinzip klingt ungewöhnlich, weil es das Verhalten des Lichtes zielorientiert beschreibt. Es hört sich an, als ob es einem Lichtstrahl einen Befehl erteilt: ›Du sollst die Zeit, die du brauchst, um dein Ziel zu erreichen, minimieren oder maximieren.‹«
Ich dachte darüber nach. »Und weiter?«
»Für die Philosophen unter den Physikern ist das ein altbekanntes Problem. Darüber wird diskutiert, seit Fermat das Prinzip im 17. Jahrhundert zum ersten Mal formuliert hat. Planck hat ganze Bände zu dem Thema verfasst. Der Knackpunkt ist, dass physikalische Gesetze für gewöhnlich so formuliert sind, dass sie von einer Ursache ausgehen. Variationsprinzipien wie das von Fermat sind dagegen zielgerichtet, fast schon teleologisch.«
»Hmm, das ist eine interessante Art, das auszudrücken. Lass mich mal eine Weile darüber nachdenken.« Ich zog einen Filzstift aus der Tasche und zeichnete auf meine Serviette das Diagramm, das Gary auf die Tafel meines Arbeitszimmers skizziert hatte. »Also«, sagte ich, laut nachdenkend, »die Absicht des Lichts ist es, den schnellsten Weg zu nehmen. Was macht das Licht, um das zu erreichen?«
»Nun, wenn ich es anthropomorphisierend beschreiben darf: Das Licht muss alle möglichen Wege prüfen und berechnen, wie lange es für jeden davon brauchen würde.« Er pflückte sich die letzte Teigtasche vom Servierteller.
»Um das zu tun«, fuhr ich fort, »muss das Licht wissen, wo sich sein Ziel befindet. Wenn der Bestimmungsort woanders wäre, würde auch der schnellste Weg anders verlaufen.«
Wieder nickte Gary. »Das stimmt. Die Idee eines ›schnellsten Weges‹ ist bedeutungslos, solange man keinen genauen Bestimmungsort hat. Und um den schnellsten Weg errechnen zu können, muss man auch wissen, was sich wo auf diesem Weg befindet, beispielsweise wo die Wasseroberfläche ist.«
Ich starrte das Diagramm auf der Serviette an. »Und der Lichtstrahl muss das alles im Voraus wissen, bevor er sich auf den Weg macht, richtig?«
»Sozusagen«, erwiderte Gary. »Das Licht kann nicht in eine x-beliebige Richtung aufbrechen und unterwegs den Kurs korrigieren, denn der Verlauf, den es dann nehmen würde, wäre nicht der schnellstmögliche. Das Licht muss alle seine Berechnungen ganz am Anfang anstellen.«
Im Stillen dachte ich mir: Der Lichtstrahl muss wissen, wo er am Ende ankommen wird, bevor er sich für eine Richtung entscheiden kann, in die er aufbrechen will. Ich wusste, woran mich das erinnerte. Ich sah Gary an. »Das war es, was mir keine Ruhe gelassen hat.«
Ich erinnere mich, wie du vierzehn bist. Du wirst aus deinem Zimmer kommen, ein mit Graffiti bekritzeltes Notebook in der Hand, während du gerade an einem Schulaufsatz arbeitest.
»Mom, wie nennt man eine Situation, bei der beide Seiten gewinnen können?«
Ich werde von meinem Computer und dem Text, den ich schreibe, aufblicken. »Wie, du meinst eine Win-Win-Situation?«
»Es gibt einen Fachausdruck dafür, irgendein Mathe-Wort. Weißt du noch, als Papa da war und über Börsenhandel sprach. Da hat er das Wort benutzt.«
»Hmm, hört sich ganz danach an, aber ich kann mich nicht erinnern, was er gesagt hat.«
»Ich muss es wissen. Ich will den Ausdruck in meinem Sozialkundereferat unterbringen. Ich finde noch nicht einmal vernünftige Infos dazu, solange ich nicht weiß, wie man das nennt.«
»Tut mir leid, ich weiß es auch nicht. Warum rufst du nicht deinen Vater an?«
Nach deinem Gesichtsausdruck zu urteilen wird das mehr Aufwand sein, als es dir wert ist. Zu der Zeit werden dein Vater und du nicht allzu gut miteinander auskommen. »Kannst du ihn anrufen und fragen? Aber erzähl ihm nicht, dass ich es wissen will.«
»Ich glaube doch, dass du ihn selber anrufen solltest.«
Das wird dich wütend machen: »Himmel, Mom, niemand hilft mir mehr bei den Hausaufgaben, seit du und Papa euch getrennt habt.«
Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich die Anlässe sein können, bei denen du dieses Thema anschneidest. »Ich hab dir bei den Hausaufgaben geholfen.«
»Ja, vor etwa einer Million Jahren, Mom.«
Das überhöre ich geflissentlich. »Ich würde dir ja jetzt gerne helfen, wenn ich könnte, aber mir fällt der Begriff auch nicht mehr ein.«
Wutschnaubend wirst du zurück in dein Zimmer gehen.
Alleine und zusammen mit anderen Linguisten übte ich, so oft ich konnte, Heptapod B. Eine semasiografische Sprache zu lesen, war so neu, dass es mich mehr fesselte als Heptapod A. Zudem fand ich meine Fortschritte beim Schreiben aufregend. Mit der Zeit gerieten die Sätze, die ich schrieb, schöner und zusammenhängender. Schließlich war ich so weit, dass ich bessere Ergebnisse erzielte, wenn ich nicht allzu viel nachdachte. Statt einen Satz sorgfältig zu planen, bevor ich ihn schrieb, konnte ich einfach loslegen; die ersten Linien entsprachen fast immer einer eleganten Wiedergabe dessen, was ich ausdrücken wollte. Ich war dabei, ein Sprachvermögen zu entwickeln, das dem der Heptapoden glich.
Noch interessanter war, dass Heptapod B meine Denkweise veränderte. Zu denken bedeutete für mich normalerweise, mit einer inneren Stimme zu sprechen. Meine Gedanken waren phonologisch kodiert, wie es in der Sprache meines Berufes heißt. Meine innere Stimme redete meist Englisch, doch das musste nicht zwangsläufig so sein. Während des Sommers nach meinem letzten Jahr an der Highschool hatte ich an einem Russisch-Intensivkurs teilgenommen. Als der Sommer zu Ende ging, dachte ich nicht nur auf Russisch, sondern träumte auch in dieser Sprache. Es war aber immer gesprochenes Russisch. Andere Sprache, gleicher Modus: eine Stimme, die im Stillen redete.
Schon immer hat mich die Vorstellung fasziniert, in einem sprachlichen, aber nicht phonetischen Modus zu denken. Ein Freund von mir hatte taube Eltern und war mit der amerikanischen Zeichensprache aufgewachsen. Er erzählte mir, dass er oftmals in Zeichensprache und nicht auf Englisch dachte. Ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, wenn die eigenen Gedanken manuell kodiert wären – wenn man sich beim Denken ein Paar gestikulierender Hände vorstellen würde statt einer inneren Stimme.
Mit Heptapod B erlebte ich etwas, das genauso fremdartig war: Meine Gedanken wurden grafisch kodiert. In tranceartigen Zuständen formten sich meine Gedanken nicht mittels einer inneren Stimme, sondern ich sah vor meinem geistigen Auge Semagramme, die sich ausbreiteten wie Eisblumen auf einer Fensterscheibe.
Mit zunehmender Sicherheit erschienen voll ausgestaltete semagrafische Entwürfe vor meinem geistigen Auge, mit denen ich sogar komplexe Vorstellungen ausdrücken konnte. Das bedeutete allerdings nicht, dass sich mein Denken beschleunigte. Statt sich vorwärts zu bewegen, schwebte mein Geist im Gleichgewicht über der den Semagrammen zugrundeliegenden Symmetrie. Die Semagramme schienen mehr als nur eine Sprache zu sein – fast wirkten sie wie Mandalas. Ich merkte, wie ich in einen meditativen Zustand verfiel, in dem ich über die Art und Weise nachgrübelte, wie sich Prämissen und Schlussfolgerungen austauschen ließen. Es gab keine festgelegte Richtung, wie Aussagen miteinander verknüpft wurden, keinen »Gedankengang«, der einem bestimmten Pfad gefolgt wäre; die einzelnen Bestandteile einer Überlegung waren von gleicher Wichtigkeit, sie hatten alle die gleiche Priorität.
Ein Vertreter des Außenministeriums namens Hossner hatte die Aufgabe, die US-Wissenschaftler darüber zu informieren, wie wir mit den Heptapoden umzugehen hatten. Wir saßen im Videokonferenzraum und hörten seinem Vortrag zu. Unsere Mikrofone waren ausgeschaltet, und so konnten Gary und ich uns austauschen, ohne Hossner zu unterbrechen. Gary rollte beim Zuhören derart oft die Augen, dass ich mir schon Sorgen um sein Sehvermögen machte.
»Sie müssen einen Grund gehabt haben, den weiten Weg zu uns zurückzulegen«, sagte der Diplomat; seine Stimme klang blechern aus den Lautsprechern. »Gott sei Dank sieht es nicht so aus, als wollten sie uns überfallen. Was ist aber dann ihre Absicht? Sind sie auf der Suche nach Rohstoffen? Sind sie Anthropologen? Missionare? Was auch immer ihre Motive sein mögen, es muss etwas geben, was wir ihnen anbieten können. Vielleicht das Recht auf Erzabbau in unserem Sonnensystem. Vielleicht wollen sie Informationen über uns. Vielleicht wollen sie die Erlaubnis, zu unserer Bevölkerung predigen zu dürfen. Wir wissen es nicht genau, aber wir können sicher sein, irgendetwas wollen sie.
Was ich sagen will, ist Folgendes: Es mag nicht ihre Absicht sein, Handel zu treiben, aber das heißt nicht, dass wir nicht mit ihnen Handel treiben können. Alles, was wir wissen müssen, ist, warum sie hier sind und was wir ihnen anbieten können. Sobald wir das in Erfahrung gebracht haben, können wir anfangen zu verhandeln.
Ich möchte betonen, dass unsere Beziehung zu den Heptapoden keine feindliche sein muss. Schließlich muss nicht jeder Gewinn für sie ein Verlust für uns sein, und umgekehrt. Wenn wir es richtig anpacken, können wir ebenso als Gewinner aus dieser Sache hervorgehen wie die Heptapoden.«
»Du meinst, das ist ein Nullsummenspiel?«, sagte Gary mit gespielter Ungläubigkeit. »Ach du meine Güte!«
Ein Nullsummenspiel.«
»Was?« Du wirst dich auf dem Absatz umdrehen und aus deinem Zimmer zurückkommen.
»Wenn beide Parteien gewinnen können: Mir ist gerade wieder eingefallen, dass man das ein Nullsummenspiel nennt.«
»Genau!«, wirst du sagen und es in dein Notebook tippen. »Danke, Mom!«
»Anscheinend habe ich es doch gewusst«, werde ich sagen. »In all den Jahren mit deinem Vater musste ja irgendetwas hängen bleiben.«
»Ich wusste, dass du es weißt«, wirst du sagen. Du wirst mich kurz umarmen, und deine Haare werden nach Äpfeln riechen. »Du bist die Beste.«
Louise?«
»Hmm? Entschuldige, ich habe nicht aufgepasst. Was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, was du von unserem Mr Hossner hältst.«
»Dazu sage ich besser nichts.«
»Damit habe ich es auch versucht: in der Hoffnung, dass die Regierung vielleicht verschwindet, wenn ich sie ignoriere. Klappt aber leider nicht.«
Wie um Garys Behauptung zu bestätigen, faselte Hossner weiter: »Ihre derzeitige Aufgabe ist es zusammenzutragen, was Sie bisher erfahren haben. Suchen Sie nach irgendetwas, das uns helfen könnte. Gab es irgendwelche Andeutungen darüber, was die Heptapoden möchten? Oder was für sie von Wert ist?«
»Na so was. Ist uns nie in den Sinn gekommen, die Sache so zu sehen«, sagte ich. »Werden wir gleich erledigen, Sir.«
»Das Traurige ist, dass das alles ist, was sie von uns erwarten«, sagte Gary.
»Hat jemand eine Frage?«, wollte Hossner wissen.
Burghart, der Linguist des Spiegelstandorts von Fort Worth, meldete sich: »Wir sind das viele Male mit den Heptapoden durchgegangen. Sie beharren weiterhin darauf, dass sie hier sind, um zu beobachten, und dass man mit Informationen nicht handeln kann.«
»Die möchten wohl, dass wir das glauben«, sagte Hossner. »Aber bedenken Sie: Wie kann das wahr sein? Mir ist bekannt, dass die Heptapoden immer wieder für kurze Zeit aufgehört haben, mit uns zu sprechen. Das könnte ein Hinweis auf taktisches Verhalten sein. Wenn wir nun ab morgen für einige Zeit aufhören mit ihnen zu sprechen ...«
»Weck mich, wenn er etwas Interessantes sagt«, brummte Gary.
»Darum wollte ich dich gerade bitten.«
An dem Tag, als Gary mir zum ersten Mal Fermats Prinzip erklärte, hatte er auch erwähnt, dass sich fast jedes physikalische Gesetz als Variationsprinzip formulieren lässt. Menschen bevorzugen es allerdings bei ihrer Arbeit mit physikalischen Gesetzen, diese als Ausdruck einer Beziehung zwischen Ursache und Wirkung aufzufassen. Das konnte ich nachvollziehen: Alle physikalischen Eigenschaften, die Menschen intuitiv verstehen, beispielsweise kinetische Energie oder Beschleunigung, sind Eigenschaften eines Objektes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und diese lassen sich von der chronologischen, kausalen Auslegung von Ereignissen ableiten: ein Moment, der auf einen vorhergehenden folgt, Ursache und Wirkung, die eine Kettenreaktion bilden, die von der Vergangenheit in die Zukunft verläuft.
Im Gegensatz dazu haben die physikalischen Eigenschaften, welche die Heptapoden intuitiv auffassen, wie zum Beispiel »Wirkung« oder andere durch Integrale dargestellte Zusammenhänge, nur dann eine Bedeutung, wenn man einen Zeitabschnitt ins Auge fasst. Diese Eigenschaften lassen sich von einer teleologischen Betrachtung der Ereignisse ableiten: Wenn man Ereignisse über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet, erkennt man Anforderungen, die erfüllt werden müssen, eine Zielvorgabe geringster oder maximaler Werte. Die Ausgangs- und Endzustände dieser Ereignisse mussten bekannt sein, um dieses Ziel zu erfüllen. Bevor die Ursachen in Kraft treten konnten, musste man die Wirkungen kennen.
Auch das verstand ich allmählich.
Warum?«, wirst du fragen. Du wirst drei Jahre alt sein.
»Weil nun Zeit ist, ins Bett zu gehen«, werde ich noch einmal sagen. Wir haben es bereits geschafft, dich zu baden und dir deinen Schlafanzug anzuziehen, aber weiter sind wir noch nicht gekommen.
»Aber ich bin nicht müde«, wirst du jammern. Du wirst vor dem Bücherregal stehen und eine Videokassette, die du anschauen willst, herausziehen: dein neuestes Ablenkungsmanöver, um deinem Bett fernzubleiben.
»Das spielt keine Rolle: Du musst jetzt trotzdem ins Bett.«
»Aber warum?«
»Weil ich die Mama bin und es so will.«
Das werde ich tatsächlich sagen, nicht wahr? Allmächtiger, jemand möge mich bitte erschießen.
Ich werde dich hochheben, mir unter den Arm klemmen und dich, während du die ganze Zeit kläglich heulst, zu deinem Bett tragen. Meine Gedanken werden sich aber nur um meine eigene Hilflosigkeit drehen. All die Schwüre, die ich in meiner Kindheit abgelegt habe, dass ich als Mutter nur vernünftige Antworten geben werde, dass ich mein eigenes Kind wie eine intelligente, denkende Person behandeln werde, sind zum Teufel: Ich werde mich in meine eigene Mutter verwandeln. Ich kann dagegen ankämpfen, so viel ich will, aber nichts wird meinen Abstieg auf diesem langen, furchtbaren Pfad aufhalten können.
War es möglich, die Zukunft nicht einfach nur zu erraten, sondern mit absoluter Gewissheit und bis ins kleinste Detail zu wissen, was sich tatsächlich ereignen würde? Gary hat mir einmal gesagt, dass die fundamentalen Gesetze der Physik zeitsymmetrisch sind und es aus ihrer Sicht keinen physikalischen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. So gesehen, könnte man die Frage mit »Ja, in der Theorie« beantworten. Aber pragmatischer gesehen, unter Berücksichtigung des freien Willens, müsste man »Nein« antworten.
Ich malte mir die Erwiderung gerne in Form einer Fabel aus, die von Borges stammen könnte: Man stelle sich eine Person vor, die das Buch der Zeit konsultiert, eine Chronik, in der jedes Ereignis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verzeichnet ist. Selbst wenn man die Originalausgabe stark verkleinern würde, wäre die Chronik unfassbar groß. Mit einem Vergrößerungsapparat würde die Person die hauchdünnen Seiten durchblättern, bis sie die Geschichte ihres Lebens findet. Sie gelangt zu der Stelle im Text, die beschreibt, wie sie das Buch der Zeit liest, und sie blättert weiter zu der Stelle, an der bis ins Kleinste ausgeführt wird, was diese Person später an diesem Tag macht: mit Hilfe der Informationen des Buches wird diese Person 100 Dollar auf das Rennpferd Devil May Care setzen und das Zwanzigfache gewinnen.
Der Person war zwar genau das durch den Kopf gegangen, aber weil sie gerne das Gegenteil von dem tut, was von ihr erwartet wird, beschließt sie nun, das Pferdewetten überhaupt sein zu lassen.
Das ist die Crux. Das Buch der Zeit kann keine falschen Informationen enthalten. Das Gedankenspiel geht davon aus, dass eine Person Wissen über die tatsächliche Zukunft erhält, nicht über eine mögliche Zukunft. Bei einem griechischen Mythos würden die Umstände dazu führen, dass die Person ihr Schicksal erfüllen muss, egal wie sehr sie dagegen ankämpft. Doch mythische Prophezeiungen sind berüchtigterweise ziemlich vage; das Buch der Zeit aber ist sehr konkret, und es gibt keine Möglichkeit, jemanden dazu zu zwingen, auf die beschriebene Weise auf ein Rennpferd zu wetten. Daraus ergibt sich ein Widerspruch: Laut Definition muss das Buch der Zeit recht haben, doch was auch immer das Buch darüber aussagt, was eine Person tun wird, sie kann sich anders entscheiden. Wie lassen sich diese beiden Aussagen miteinander in Einklang bringen?
Gar nicht, lautet die geläufige Antwort. Ein Werk wie das Buch der Zeit ist eine logische Unmöglichkeit, genau deshalb, weil seine Existenz zu den angeführten Widersprüchen führen würde. Man könnte auch etwas nachsichtiger argumentieren, dass das Buch der Zeit durchaus existieren könnte, aber nur, wenn es niemand lesen kann: Das Werk wird in einer besonderen Abteilung aufbewahrt, und niemand ist berechtigt, es einzusehen.
Das Vorhandensein des freien Willens bedeutet also, dass wir die Zukunft nicht kennen können. Und dass es einen freien Willen gibt, wissen wir, weil wir ihn unmittelbar erleben. Willensentscheidungen sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Bewusstseins.
Stimmt das wirklich? Was wäre, wenn das Wissen um die Zukunft eine Person von Grund auf verändern würde? Was wäre, wenn dieses Wissen ein dringliches Verlangen zur Folge hätte, ein Gefühl der Verpflichtung, genau so zu handeln, wie die Person wusste, dass sie handeln würde?
Am Ende des Arbeitstages schaute ich in Garys Büro vorbei. »Ich mache Schluss für heute. Hast du Lust, etwas essen zu gehen?«
»Klar, warte noch einen Augenblick«, sagte er. Er schaltete seinen Computer aus und sortierte seine Unterlagen. Dann sah er zu mir auf. »Willst du heute Abend mit zu mir kommen? Ich koche.«
Argwöhnisch sah ich ihn an. »Du kannst kochen?«
»Nur ein Gericht«, gab er zu. »Aber das kann ich gut.«
»Warum nicht?«, erwiderte ich. »Ich bin dabei.«
»Toll. Wir müssen nur noch kurz ein paar Zutaten einkaufen.«
»Mach dir keine Umstände ...«
»Auf dem Weg zu meiner Wohnung gibt es einen Laden. Es dauert nicht lange.«
Wir fuhren in zwei Autos; ich folgte ihm. Fast hätte ich ihn aus den Augen verloren, als er plötzlich auf einen Parkplatz einbog. Es war ein Feinkostladen, nicht groß, aber nobel; neben den Regalen mit dem besonderen Edelstahlgeschirr und den Küchenutensilien befanden sich große Glasgefäße voller importierter Lebensmittel.
Ich begleitete Gary, während er Basilikum, Tomaten, Knoblauch und Linguini kaufte. »Nebenan ist ein Fischmarkt, dort bekommen wir frische Muscheln«, sagte er.
»Hört sich gut an.« Wir gingen an den Regalen mit den Küchenutensilien vorbei. Mein Blick schweifte über die Regale – Pfeffermühlen, Knoblauchpressen, Salatzangen – und blieb an einer hölzernen Salatschüssel hängen.
Wenn du drei Jahre alt bist, wirst du ein Geschirrtuch vom Küchentisch ziehen, und ebendiese Salatschüssel wird auf dich hinabfallen. Ich werde nach der Schüssel greifen, sie aber nicht erwischen. Der Rand der Schüssel wird dir einen Schnitt auf der Stirn beibringen, der mit einem Stich genäht werden muss. Dein Vater und ich werden dich, bekleckert mit Caesar-Salatsoße und schluchzend, auf dem Arm halten, während wir stundenlang in der Notaufnahme warten.
Ich streckte den Arm aus und nahm die Schüssel aus dem Regal. Die Bewegung fühlte sich nicht wie etwas an, zu dem ich gezwungen wurde. Vielmehr scheint die Bewegung genau so dringlich zu sein wie mein Versuch, die Schüssel aufzufangen, als sie auf dich fällt: ein Instinkt, dem nachzugeben sich richtig anfühlt.
»So eine Salatschüssel könnte ich brauchen.«
Gary sah sich die Schüssel an und nickte zustimmend. »War doch gut, dass wir in diesem Laden vorbeigeschaut haben, oder?«
»Das war es.« Wir stellten uns an, um unsere Einkäufe zu bezahlen.
Betrachten wir den zweideutigen englischen Satz »The rabbit is ready to eat«. Interpretieren wir »the rabbit« als Objekt zu »to eat«, wäre der Satz eine Ankündigung, dass in Kürze das Essen serviert werden wird, und der Satz müsste mit »Das Kaninchen ist zum Essen zubereitet« übersetzt werden. Interpretiert man aber »the rabbit« als Subjekt zu »to eat«, könnte der Satz ein Hinweis sein, wie ihn ein kleines Mädchen ihrer Mutter gibt, damit sie eine Packung mit Tierfutter aufmacht, und er müsste in diesem Fall mit »Das Kaninchen ist bereit zu essen« übersetzt werden.
Betrachten wir das Phänomen, dass Licht in einem bestimmten Winkel auf Wasser trifft, seinen Weg jedoch in einem anderen Winkel fortsetzt. Erklärte man es so, dass der unterschiedliche Brechungsindex den Richtungswechsel des Lichtes verursachte, dann sah man die Welt, wie wir Menschen sie verstanden. Erklärte man es aber damit, dass das Licht die Zeitdauer verkürzte, die es bis zu seinem Bestimmungsort benötigte, dann sah man die Welt so, wie sie die Heptapoden verstanden. Zwei sehr unterschiedliche Auslegungen.
Das materielle Universum war eine Sprache mit einer vollkommen zweideutigen Semantik. Jedes physikalische Ereignis war eine Äußerung, die auf zwei völlig verschiedene Arten formuliert werden konnte, eine davon kausal, die andere teleologisch. Beide waren stichhaltig, und keine konnte ausgeschlossen werden, ganz gleich, wie umfangreich die Informationen über den Zusammenhang waren.
Als die Vorfahren der Menschen und der Heptapoden vom ersten Bewusstseinsfunken durchzuckt wurden, nahmen sie beide dieselbe physikalische Welt wahr, aber ihre Wahrnehmungen formulierten sie unterschiedlich. Die Weltbilder, die sich daraus entwickelten, waren das Ergebnis dieses Unterschiedes. Das Weltbild der Menschen gründete auf einer sequenziellen Wahrnehmung der Wirklichkeit, das Weltbild der Heptapoden dagegen auf einer simultanen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wir erlebten die Welt als Abfolge von Ereignissen und nahmen ihre Beziehung zueinander als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung wahr. Die Heptapoden erlebten alle Ereignisse als gleichzeitig und nahmen die minimierende oder maximierende Zielsetzung wahr, die ihnen allen zugrunde lag.
Ich habe einen immer wiederkehrenden Traum, in dem du stirbst. Darin bin ich diejenige, die Felsen hinaufklettert – ich, kannst du dir das vorstellen? –, und du bist drei Jahre alt und sitzt in einem Tragegestell, das ich auf dem Rücken habe. Wir befinden uns nur ein kleines Stück unterhalb eines Felsvorsprungs, auf dem wir uns ausruhen können, und du kannst nicht warten, bis ich ihn erreicht habe. Du beginnst aus dem Tragegestell zu steigen; ich sage dir, dass du das lassen sollst, aber natürlich hörst du nicht auf mich. Ich spüre, wie sich dein Gewicht von einer Seite auf die andere verlagert, als du aus dem Gestell kraxelst; dann spüre ich deinen linken Fuß auf meiner Schulter, dann deinen rechten. Ich schreie dich an, aber ich habe keine Hand frei, um nach dir zu greifen. Ich kann das Wellenmuster auf deinen Turnschuhen sehen, als du zu klettern beginnst, und dann sehe ich, wie sich unter einem deiner Schuhe ein Steinsplitter lockert. Du rutschst geradewegs an mir vorbei, und ich kann keinen Finger rühren. Ich blicke nach unten und sehe, wie du unter mir immer kleiner wirst.
Dann befinde ich mich plötzlich in der Leichenhalle. Ein Sanitäter lüftet das Tuch von deinem Gesicht, und ich sehe, dass du fünfundzwanzig bist.
»Alles in Ordnung?«
Ich saß aufrecht im Bett. Gary war von meiner plötzlichen Bewegung wachgeworden. »Es geht mir gut. Ich war nur etwas durcheinander. Wusste für einen Augenblick nicht, wo ich bin.«
Verschlafen sagte er: »Wir können das nächste Mal bei dir bleiben.«
Ich küsste ihn. »Keine Sorge. Deine Wohnung ist schon in Ordnung.« Wir schmiegten uns aneinander, mein Rücken gegen seine Brust gedrückt, und schliefen wieder ein.
Wenn du drei Jahre alt sein wirst, werden wir eine steile Wendeltreppe hinaufgehen, und ich werde deine Hand ganz besonders fest halten. Du wirst deine Hand wegziehen. »Ich kann das alleine«, wirst du behaupten und dich von mir wegbewegen, um es zu beweisen, und ich werde mich an diesen Traum erinnern. Diese Szene wird sich in deiner Kindheit unzählige Male wiederholen. Wenn ich deine Veranlagung bedenke, allem und jedem zu widersprechen, könnte ich mir fast einreden, dass es meine Versuche waren, dich zu beschützen, die deine Liebe zum Klettern weckten: erst die Gerüste auf dem Spielplatz, dann die Bäume in den Grünanlagen am Rande unseres Viertels, die Kletterwände im Sportverein und schließlich die Felsmassive in den Nationalparks.
Ich vollendete den letzten Wortstrang des Satzes, legte die Kreide beiseite und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl. Dann lehnte ich mich zurück und ließ meinen Blick über den riesigen Heptapod B-Satz schweifen, den ich geschrieben hatte und der sich über die gesamte Tafel meines Büros erstreckte. Der Satz umfasste mehrere komplexe Teilsätze, und ich hatte es geschafft, sie alle recht elegant miteinander zu verbinden.
Beim Betrachten eines solchen Satzes verstand ich, warum die Heptapoden ein semasiografisches Schriftsystem wie Heptapod B entwickelt hatten. Es eignete sich besser für eine Lebensform, deren Bewusstsein simultan arbeitete. Für Heptapoden war Sprache ein Nadelöhr, da sie Worte in sequenzieller Folge aneinanderreihen mussten. Ihre Schrift allerdings gestattete es ihnen, sämtliche Zeichen auf einem Blatt gleichzeitig zu betrachten. Warum also sollten sie ihr Schriftsystem in eine glottografische Zwangsjacke stecken, die dazu führte, dass das Schreiben genauso sequenziell wurde wie das Sprechen? Das käme ihnen nie in den Sinn. Semasiografische Schrift nutzte ganz selbstverständlich die Vorzüge der Zweidimensionalität eines Blattes; statt Morpheme einzeln aneinanderzureihen, konnte man sie mit einem Blick auf die Seite alle gleichzeitig erfassen.
Nun also, nachdem Heptapod B mich mit einem simultanen Bewusstseinszustand vertraut gemacht hatte, verstand ich den Sinn der Grammatik von Heptapod A: Das, was meinem an sequenzielle Abfolgen gewöhnten Verstand unnötig verzwickt erschien, begriff ich nun als Versuch, innerhalb der Beschränkungen sequenzieller Sprache ein gewisses Maß an Flexibilität einzuführen. Obwohl es mir nun leichter fiel, mit Heptapod A umzugehen, kam es mir immer noch wie ein ärmlicher Ersatz für Heptapod B vor.
Es klopfte an der Tür, und Gary schaute in mein Büro. »Colonel Weber wird gleich da sein.«
Ich verzog das Gesicht. »In Ordnung.« Weber wollte einer Sitzung mit Haspel und Himbeere beiwohnen. Ich sollte dabei als Übersetzerin fungieren, eine Aufgabe, für die ich nicht ausgebildet war und die ich verabscheute.
Gary trat in mein Büro und machte die Tür hinter sich zu. Er zog mich von meinem Stuhl und küsste mich.
Ich lächelte. »Versuchst du mich aufzumuntern, bevor er hier eintrifft?«
»Nein, ich versuche mich aufzumuntern.«
»Du warst überhaupt nicht daran interessiert, mit den Heptapoden zu sprechen, oder? Du hast nur deshalb bei diesem Projekt mitgemacht, um mich ins Bett zu kriegen.«
»Ah, du hast mich durchschaut.«
Ich sah ihm in die Augen. »Darauf kannst du dich verlassen«, sagte ich.
Ich erinnere mich, wie du einen Monat alt sein wirst und ich aus dem Bett taumle, um dich um zwei Uhr morgens zu füttern. Dein Kinderzimmer wird von diesem »Babygeruch« nach Popocreme und Talkumpuder erfüllt sein, mit einer vagen Ammoniaknote aus der Ecke mit dem Eimer voller Windeln. Ich werde mich über dein Bettchen beugen, dich schreiendes Etwas hochheben und mich in den Schaukelstuhl setzen, um dich zu stillen.
Das englische Wort »infant« – »Säugling« – leitet sich von dem lateinischen Ausdruck für »nicht fähig zu sprechen« ab, aber eines kannst du perfekt ausdrücken, ohne zu sprechen: »Ich leide«, und das wirst du ohne zu zögern unablässig tun. Ich bewundere dich wirklich dafür, wie hingebungsvoll du dich dieser Äußerung widmest; wenn du schreist, wirst du zur leibhaftigen Empörung selbst, jede Faser deines Körpers dient dem Ausdruck dieses Gefühls. Schon komisch: Wenn du zufrieden bist, scheinst du zu leuchten, und wenn jemand ein Portrait von dir in diesem Zustand malen wollte, würde ich darauf bestehen, dass er den Lichtkranz nicht vergisst. Aber wenn du unzufrieden bist, wirst du zu einer Sirene, nur dazu gemacht, Lärm von dir zu geben. Ein Portrait von dir sähe dann einfach aus wie eine Alarmglocke.
In diesem Abschnitt deines Lebens wird für dich keine Vergangenheit oder Zukunft existieren; bis ich dir meine Brust gebe, wirst du keine Erinnerungen an zurückliegende Befriedigungen haben oder Erwartungen auf zukünftige Linderungen hegen. Sobald du zu nuckeln beginnst, wird sich alles ändern, und die Welt wird wieder in Ordnung sein. JETZT ist der einzige Augenblick, den du zur Kenntnis nehmen wirst; du wirst in der Gegenwart leben. Das ist in vielerlei Hinsicht ein beneidenswerter Zustand.
Die Heptapoden sind weder frei, noch folgen sie einem Zwang, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir diese Begriffe verstehen. Sie folgen nicht ihrem Willen, sind aber auch keine hilflosen Automaten. Das Bewusstsein der Heptapoden zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass ihre Handlungen mit dem Lauf der Geschichte übereinstimmen, sondern ihre Absichten richten sich auch nach den Zielen der Geschichte. Sie handeln, um die Zukunft hervorzubringen, um die Chronologie der Ereignisse in die Tat umzusetzen.
Freiheit ist keine Illusion. Im Rahmen eines sequenziell operierenden Bewusstseins ist sie zweifellos real. Aus der Sicht eines simultan arbeitenden Bewusstseins jedoch ist Freiheit, genauso wie Zwang, bedeutungslos. Lediglich der Kontext ist ein anderer, wenngleich keiner von beiden eine größere Berechtigung hat. Das ist wie bei dieser berühmten optischen Täuschung, der berühmten Strichzeichnung, auf der man entweder eine elegante junge Frau mit vom Betrachter abgewandtem Gesicht oder eine warzennasige Greisin mit auf die Brust gesenktem Kinn sieht. Es gibt keine »richtige« Auslegung der Zeichnung, beide Interpretationen sind gleichermaßen gültig. Aber man kann nicht beide Motive zugleich sehen.
Genauso verhält es sich mit dem freien Willen und dem Wissen um die Zukunft. Sie schließen sich wechselseitig aus. Das, was mich befähigt, frei zu entscheiden, schließt zugleich aus, dass ich die Zukunft kennen kann. Und jetzt, da mir die Zukunft bekannt ist, werde ich niemals im Widerspruch zu dieser Zukunft handeln, was auch zur Folge hat, dass ich anderen nicht sagen kann, was ich weiß: Wer die Zukunft kennt, spricht nicht von ihr. Niemand gibt zu, das Buch der Zeit gelesen zu haben.
Ich schaltete den Videorekorder ein und spielte eine Kassette mit der Aufzeichnung einer Sitzung in Fort Worth ab. Zu sehen war ein diplomatischer Unterhändler, der mit den Heptapoden sprach. Burghart diente als Übersetzer.
Der Diplomat schilderte den Heptapoden menschliche Moralvorstellungen und versuchte dabei, ihnen die Grundlagen des Altruismus zu vermitteln. Ich wusste, dass den Heptapoden der Ausgang des Gespräches bereits bekannt war, an dem sie sich dennoch mit Eifer beteiligten.
Könnte ich jemandem, der nicht damit vertraut war, davon erzählen, würde sie vielleicht fragen: Wozu benutzen die Heptapoden überhaupt Sprache, wenn ihnen schon alles, was sie sagen oder hören, bekannt ist? Eine einleuchtende Frage. Aber Sprache dient nicht nur der Mitteilung von etwas, sie ist selbst auch eine Form des Handelns. Folgt man der Sprachtheorie, dann sind Aussagen wie »Sie sind verhaftet«, »Hiermit taufe ich dieses Schiff« oder »Ich verspreche« performative Akte. Ein Redner kann diese Dinge nur tun, indem er die dazu passenden Worte spricht. Das Vorwissen darüber, was gesagt werden wird, ändert nichts an solchen Handlungen. Bei einer Hochzeit fiebern alle den Worten »Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau« entgegen, und solange der Pfarrer sie nicht wirklich gesprochen hat, ist der zeremonielle Akt nicht gültig. Bei performativen Sprechakten sind Reden und Tun eins.
Für die Heptapoden war alles Reden performativ. Sprache war für sie kein Werkzeug, um Information auszutauschen, sondern um Dinge wirklichkeitsgetreu darzustellen. Heptapoden wussten natürlich bei allen Gesprächen, wie sie verlaufen würden; damit ihr Wissen aber wahr sein konnte, musste das Gespräch erst stattfinden.
Zuerst probierte Goldlöckchen von Papabärs Teller, aber der Teller war voller Rosenkohl, und den mochte sie nicht.«
Du wirst lachen. »Nein, das stimmt nicht!« Wir werden nebeneinander auf dem Sofa sitzen, das dünne, überteuerte Kinderbuch geöffnet auf unserem Schoß.
Ich werde weiterlesen. »Dann probierte Goldlöckchen von Mamabärs Teller, aber der Teller war voller Spinat, den Goldlöckchen genauso wenig mochte.«
Du wirst deine Hand auf die Buchseite legen, damit ich aufhöre. »Du musst es richtig lesen!«
»Ich lese genau das, was da steht«, werde ich ganz unschuldig beteuern.
»Nein, tust du nicht. So geht die Geschichte nicht.«
»Also, wenn du schon weißt, wie die Geschichte geht, warum soll ich sie dir dann noch mal vorlesen?«
»Weil ich sie hören will!«
Die Klimaanlage in Webers Büro entschädigte einen fast dafür, überhaupt mit ihm reden zu müssen.
»Die Heptapoden sind bereit, sich auf so etwas wie einen Austausch einzulassen«, erklärte ich, »aber es ist kein Handel, kein Geschäft. Wir werden ihnen einfach etwas geben, und dafür werden sie uns etwas geben. Keine der beiden Seiten sagt der anderen im Voraus, was sie erhalten wird.«
Colonel Webers Stirn runzelte sich ein wenig. »Wollen Sie damit sagen, die Heptapoden sind bereit, Geschenke mit uns auszutauschen?«
Mir war klar, was ich zu sagen hatte. »Wir sollten es nicht als ›Geschenkeaustausch‹ auffassen. Wir wissen nicht, ob dieser Austausch für die Heptapoden eine ähnliche Bedeutung hat wie für uns, wenn wir einander etwas schenken.«
»Gibt es einen Weg« – er dachte nach, wie er es ausdrücken sollte – »ihnen einen Tipp zu geben, was für ein Geschenk wir gerne hätten?«
»Darauf lassen sich die Heptapoden bei dieser Art von Austausch nicht ein. Ich habe sie gefragt, ob wir sie um etwas bitten dürfen, und sie haben geantwortet, dass wir das tun können, sie uns aber trotzdem nicht sagen, was sie uns geben werden.« Plötzlich kam mir in den Sinn, dass ein morphologischer Verwandter von »performativ« der englische Begriff für Theateraufführungen und andere Darbietungen, also »Performance« war, der unter anderem das Gefühl beschreiben konnte, an einer Unterhaltung teilzunehmen, deren Verlauf einem bekannt war, etwa bei der Aufführung eines Theaterstückes.
»Aber würde es sie eher dazu bringen, uns zu geben, was wir verlangen?«, fragte Colonel Weber. Er hatte keine Ahnung, welche Rolle er spielte, und dennoch richteten sich seine Reaktionen nach dem ihm zugewiesenen Text.
»Das können wir nicht wissen«, erwiderte ich. »Ich bezweifle es jedoch, denn dieses Vorgehen ist bei den Heptapoden nicht üblich.«
»Wenn wir ihnen unser Geschenk zuerst geben – wird der Wert unseres Geschenkes dann einen Einfluss darauf haben, was sie uns geben?« Er improvisierte, während ich mich sorgfältig auf das Gespräch vorbereitet hatte, das nur so und nicht anders verlaufen konnte.
»Nein«, sagte ich. »Soweit wir wissen, ist der Wert der Gegenstände bedeutungslos.«
»Wenn das in meiner Familie nur auch so wäre«, murmelte Gary trocken.
Ich beobachtete, wie Colonel Weber sich an Gary wandte. »Haben die Gespräche über Physik irgendetwas Neues ergeben?«, fragte er wie aufs Stichwort.
»Nein, falls Sie damit etwas meinen, das für die Menschheit etwas Neues darstellt«, sagte Gary. »Die Heptapoden sind nicht von ihrem gewohnten Verhalten abgewichen. Wenn wir ihnen etwas vorführen, dann zeigen sie uns ihre Art, die Sache zu formulieren, aber sie bieten uns nichts Neues und beantworten keine unserer Fragen bezüglich ihres Wissens.«
Eine Äußerung, die im Zusammenhang menschlicher Kommunikation spontan und aufgeschlossen erschien, wurde zu einer rituellen Rezitation, wenn man sie im Lichte von Heptapod B betrachtete.
Webers Miene verfinsterte sich. »Also gut. Warten wir ab, was das Außenministerium dazu sagt. Vielleicht können wir eine Geschenkzeremonie arrangieren.«
Wie bei jedem physikalischen Ereignis, mit seinen kausalen und teleologischen Auslegungen, gab es auch bei sprachlichen Handlungen zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten: zum einen als Austausch von Information, zum anderen als Verwirklichung eines Planes.
»Ich denke, das ist eine gute Idee, Colonel«, sagte ich.
Die Zweideutigkeit meiner Worte blieb den meisten Zuhörern verborgen. Ein Insiderwitz. Bitte erwarten Sie nicht, dass ich ihn erkläre.
Obwohl ich mit Heptapod B zurechtkomme, ist mir klar, dass ich die Wirklichkeit nicht so erlebe wie ein Heptapode. Mein Bewusstsein war durch menschliche, sequenzielle Sprache geformt worden, und keine noch so intensive Auseinandersetzung mit einer fremden Sprache konnte es vollständig verändern. Mein Weltbild ist teils menschlich, teils heptapodisch.
Bevor ich gelernt habe, in Heptapod B zu denken, wuchsen meine Erinnerungen wie die Asche an der Spitze einer Zigarette, wobei das Verbrennen dem Vorgang in meinem sequenziellen Bewusstsein gleicht. Nachdem ich Heptapod B gelernt hatte, fügten sich neue Erinnerungen wie Bausteine zusammen, von denen jeder einer Zeitspanne von mehreren Jahren entsprach, und obwohl sie weder in chronologischer Reihenfolge Gestalt annahmen, noch ein zusammenhängendes Ganzes bildeten, umspannten sie bald einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten. Das entspricht dem Zeitraum, in dem ich Heptapod B so sicher beherrsche, um in dieser Sprache zu denken, von meinen Gesprächen mit Haspel und Himbeere bis zu meinem Tod.
Der Einfluss von Heptapod B macht sich normalerweise nur bei meinem Gedächtnis bemerkbar. Mein Bewusstsein kriecht weiterhin als dünne Glutsäule vorwärts den Zeitstrom entlang, nur dass die Asche meiner Erinnerungen sich dabei in beide Richtungen erstreckt und eine Verbrennung nicht mehr wirklich stattfindet. Ab und zu allerdings, wenn Heptapod B die Oberhand gewinnt, kann ich für einen kurzen Augenblick das ganze Gefüge aus Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig sehen. Mein Bewusstsein ist dann ein Glutstück von der Länge eines halben Jahrhunderts, das außerhalb der Zeit brennt. In diesen Momenten nehme ich die ganze Zeitspanne auf einmal wahr, eine Zeitspanne, die den Rest meines und die Gesamtheit deines Lebens umfasst.
Ich schrieb die Semagramme für »Vorgang Abschluss-machen mit-uns«, womit ich »Fangen wir an« meinte. Himbeere stimmte mir zu, und die Vorführung der Bilder begann. Wie auch auf unseren Videomonitoren erschienen auf einem zweiten Bildschirm, den die Heptapoden aufgestellt hatten, eine Folge von Semagrammen und Gleichungen.
Es war der zweite »Geschenkaustausch«, an dem ich teilnahm, insgesamt der achte und, wie ich wusste, der letzte. Viele Leute hatten sich in dem Spiegelzelt zusammengefunden. Burghart aus Fort Worth, Gary und ein Nuklearphysiker, verschiedene Biologen, Anthropologen, und Vertreter des Militärs und Diplomaten waren ebenfalls da. Gott sei Dank war eine Klimaanlage aufgestellt worden. Die Bilder der Heptapoden würden wir später auswerten, um herauszubekommen, was deren »Geschenk« war. Unser »Geschenk« war eine Darbietung der Höhlenbilder von Lascaux.
Wir drängten uns alle um den Bildschirm der Heptapoden und versuchten zu erkennen, was für eine Botschaft sie uns mit den gezeigten Darstellungen vermitteln wollten. »Erste Einschätzungen?«, fragte Colonel Weber.
»Sie schicken uns nichts zurück«, sagte Burghart. Bei einem früheren Austausch hatten die Heptapoden uns Informationen über uns selbst gezeigt, die wir ihnen übermittelt hatten. Das Außenministerium hatte wütend reagiert, aber nichts deutete darauf hin, dass es eine Beleidigung sein sollte: Wahrscheinlich bedeutete es nur, dass es bei diesen Tauschaktionen nicht auf den Handelswert ankam. Und es schloss nicht aus, dass die Heptapoden uns nicht doch noch ein heißersehntes Wunder zeigen würden, beispielsweise den Bauplan eines neuen Weltraumantriebs oder eines kalten Fusionsreaktors.
»Sieht nach anorganischer Chemie aus«, sagte der Nuklearphysiker und zeigte auf eine Gleichung, bevor sie von einem neuen Bild abgelöst wurde.
Gary nickte. »Könnte sich um Materialtechnik handeln«, sagte er.
»Möglicherweise erzielen wir endlich doch noch Ergebnisse«, sagte Colonel Weber.
»Ich würde gerne noch mehr Tierbildchen sehen«, flüsterte ich so leise, dass nur Gary mich hören konnte, und zog dazu einen Schmollmund wie ein Kind. Er grinste und stupste mich an. Aber ich wünschte mir tatsächlich, dass die Heptapoden uns eine weitere Xenobiologie-Vorführung bieten würden, so wie bei zwei früheren Treffen. Den dort gezeigten Bildern zufolge waren wir Menschen den Heptapoden ähnlicher als irgendeine der anderen Arten, denen sie bisher begegnet waren.
Auch eine weitere Vorführung zur Heptapoden-Geschichte wäre mir lieber gewesen; diese waren interessant gewesen, obwohl sie anscheinend nur unzusammenhängende Bilder gezeigt hatten. Ich wollte nicht, dass die Heptapoden uns neue Technologien übermittelten, denn mir war unwohl bei dem Gedanken, was unsere Regierung damit anstellen würde.
Während des Informationsaustausches beobachtete ich Himbeere und achtete auf ungewöhnliche Verhaltensweisen. Wie sonst auch stand er die ganze Zeit über fast reglos da. Nichts gab mir einen Hinweis darauf, was gleich geschehen würde.
Kurz darauf erschienen keine neuen Bilder mehr auf dem Schirm der Heptapoden, und dann endete auch auf unserem Monitor die Vorführung. Gary und die meisten der anderen Wissenschaftler versammelten sich um einen kleinen Videomonitor, um eine Wiederholung der Heptapoden-Darbietung zu begutachten. Ich konnte hören, wie sie sagten, dass ein Festkörperphysiker konsultiert werden sollte.
Colonel Weber wandte sich an uns. »Sie beide«, sagte er und deutete auf mich und Burghart, »vereinbaren Sie Zeit und Ort für den nächsten Austausch.« Dann schloss er sich wieder den anderen an, die den Bildschirm mit der Wiederholung studierten.
»Wird sofort erledigt«, sagte ich. »Wollen Sie die ehrenvolle Aufgabe übernehmen, oder soll ich das tun?«, fragte ich Burghart.
Ich wusste, dass Burghart Heptapod B fast genauso gut beherrschte wie ich. »Es ist Ihr Spiegelstandort«, sagte er. »Sie sind dran.«
Ich setzte mich an den Computer. »Wollen wir wetten, dass Sie als Student nicht damit gerechnet haben, mal als Übersetzer für das Militär zu arbeiten?«
»Darauf können Sie Gift nehmen«, sagte er. »Selbst jetzt kann ich es kaum glauben.« Ich hatte das Gefühl, dass alles, was wir miteinander redeten, den behutsamen, oberflächlichen Floskeln von Spionen glich, die sich, ohne ihre Tarnung gefährden zu wollen, in der Öffentlichkeit trafen.
Ich schrieb die Semagramme für »Ort Tausch-Vorgang Unterhaltung mit-uns« einschließlich einer Modulation des projektiven Aspekts.
Himbeere schrieb seine Antwort. Das war mein Stichwort, die Stirn zu runzeln, und für Burghart, um zu fragen: »Was meint er bloß damit?« Besser hätte er es nicht ausdrücken können.
Ich schrieb eine Bitte um Bestätigung, und die Antwort von Himbeere war dieselbe wie zuvor. Dann sah ich ihm nach, wie er aus dem Raum glitt. Der Vorhang, der diese Vorstellung beenden würde, würde gleich fallen.
Colonel Weber trat zu uns. »Was geht hier vor? Wo ist er hin?«
»Er sagte, dass uns die Heptapoden nun verlassen werden«, sagte ich. »Nicht nur er, sondern alle.«
»Rufen Sie ihn zurück. Fragen Sie ihn, was das heißen soll.«
»Äh, ich fürchte, dass Himbeere keinen Piepser bei sich hat«, sagte ich.
Das Abbild des Raumes im Spiegel verschwand so rasch, dass es eine Weile dauerte, bis meine Augen erkannten, was sie nun stattdessen sahen: die andere Hälfte des Zeltes. Der Spiegel war vollkommen durchsichtig geworden. Die Gespräche am Monitor, auf dem die Wiederholung lief, verstummten.
»Was zur Hölle geht hier vor?«, sagte Colonel Weber.
Gary schritt zum Spiegel hinüber und dann darum herum auf die andere Seite. Er berührte die Rückseite des Spiegels. Ich konnte die blassen Ovale erkennen, die seine Fingerspitzen auf der Scheibe bildeten. »Ich glaube«, sagte er, »wir wurden gerade Zeuge einer raumüberbrückenden Übertragung.«
Ich konnte schwere Stiefelschritte auf trockenem Gras hören. Ein Soldat mit einem riesigen Funkgerät trat durch den Zelteingang, ganz außer Atem, so schnell war er gerannt. »Colonel, eine Nachricht von ...«
Weber riss ihm das Funkgerät aus der Hand.
Ich erinnere mich, wie es sein wird, dich anzuschauen, wenn du einen Tag alt bist. Dein Vater wird kurz fort sein, um in das Café des Krankenhauses zu gehen. Du wirst in deinem Stubenwagen liegen, und ich werde mich über dich beugen.
So kurze Zeit nach der Geburt werde ich mich noch immer wie ein ausgewrungenes Handtuch fühlen. Du wirst mir unfassbar klein vorkommen, wenn ich bedenke, wie dick ich mich während der Schwangerschaft gefühlt habe. Ich könnte schwören, dass in mir Platz für jemand war, der viel größer und robuster ist als du. Deine Hände und Füße werden noch nicht pummelig, sondern lang und dünn sein. Dein Gesicht wird noch ganz rot und schrumpelig sein, deine verquollenen Augen noch zugekniffen. Die koboldhafte Phase, die der engelsgleichen vorausgeht.
Ich werde dir mit dem Finger über den Bauch streichen, die unglaubliche Zartheit deiner Haut bewundern, mich fragen, ob Seide dich wund reiben würde wie Sackleinen. Dann wirst du dich winden, deinen Körper drehen und deine Beine ausstrecken, eines nach dem anderen, und ich werde diese Bewegungen wiedererkennen, da ich sie so oft in mir gespürt habe. So sieht das also aus.
Dieser Beweis einer einzigartigen Mutter-Kind-Bindung, diese Gewissheit, dass ich dich in mir getragen habe, wird mich mit Freude erfüllen. Selbst wenn ich dich nie zuvor gesehen hätte, könnte ich dich aus einem Meer von Babys herauspicken: Die da nicht. Die da auch nicht. Moment, die da drüben ist es.
Ja, das ist sie. Sie gehört zu mir.
Der letzte »Geschenkaustausch« war zugleich der letzte Kontakt, den wir mit den Heptapoden hatten. Auf einen Schlag wurden überall auf der Welt die Spiegel durchsichtig, und die Raumschiffe der Heptapoden verließen die Umlaufbahn. Eine sich anschließende Untersuchung der Spiegel ergab, dass es sich dabei um einfache, vollkommen inaktive Scheiben aus Kieselglas handelte. Die Informationen des letzten Austausches beschrieben eine neue Art supraleitfähigen Materials, aber es stellte sich später heraus, dass ein japanisches Labor vor Kurzem zu den gleichen Ergebnissen gekommen war, es sich also um nichts Neues für die Menschheit handelte.
Wir haben nie erfahren, warum uns die Heptapoden verlassen haben, und genauso wenig wissen wir, warum sie uns überhaupt besucht oder warum sie sich so verhalten haben, wie sie es taten. Selbst mit meiner neuen Art, die Dinge zu sehen, konnte ich dafür keine Erklärung finden. Von einem simultanen Blickwinkel aus betrachtet, war das Verhalten der Heptapoden wahrscheinlich folgerichtig, aber wir haben keine Erklärung dafür gefunden.
Ich hätte gerne noch mehr über die Weltsicht der Heptapoden gewusst, hätte gerne gelernt zu empfinden, wie sie empfanden. Dann wäre ich vielleicht in der Lage gewesen, so wie sie voll und ganz in die Notwendigkeit der Ereignisse einzutauchen, statt den Rest meines Lebens nur in der Brandung herumzuwaten. Doch dazu wird es niemals kommen. Wie die anderen Linguisten der Spiegelteams werde ich mich weiterhin in den Heptapod-Sprachen üben, aber keiner von uns wird je über das Niveau hinauskommen, das er oder sie zu der Zeit erreicht hatte, als die Heptapoden bei uns waren.
Die Arbeit mit den Heptapoden hat mein Leben verändert. Ich bin deinem Vater begegnet und habe Heptapod B gelernt, und beides hat mir ermöglicht, jetzt und hier auf der Veranda im Schein des Mondes mit dir zusammenzusein. Irgendwann, in vielen Jahren, werde ich ohne deinen Vater und ohne dich sein. Alles, was mir dann von diesem Augenblick bleiben wird, ist die Heptapoden-Sprache. Und so passe ich genau auf und merke mir jede Einzelheit.
Ich habe meine Bestimmung von Anfang an gekannt und entsprechend meinen Weg gewählt. Doch was strebe ich an? Höchste Freude oder äußersten Schmerz? Werde ich ein Minimum oder ein Maximum erreichen?
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als dein Vater mich fragt: »Möchtest du ein Kind?« Und ich lächle und antworte: »Ja«, und ich löse mich aus seiner Umarmung, und wir nehmen uns bei der Hand, während wir ins Haus gehen, um miteinander zu schlafen – um dich zu zeugen.