Der Kaufmann am Portal des Alchemisten

O mächtiger Kalif und Herrscher über die Gläubigen, demütigst verneige ich mich vor dem Glanz Eurer Gegenwart; einen größeren Segen kann sich ein Mann in seinem Leben nicht erhoffen. Eine wahrhaft seltsame Geschichte habe ich Euch zu erzählen, und selbst wenn man sie in ihrer ganzen Länge auf einen Augapfel tätowieren würde, so könnte das Wunder ihrer Darbietung das ihres Inhaltes nicht übertreffen, denn sie ist jenen eine Warnung, die gewarnt sein, und jenen eine Lehre, die lernen wollen.

Mein Name ist Fuwaad ibn Abbas, und ich wurde hier in Bagdad, der Stadt des Friedens, geboren. Mein Vater war ein Getreidehändler, doch ich selbst habe die meiste Zeit meines Lebens als Lieferant feiner Stoffe gearbeitet. Ich habe mit Seide aus Damaskus und Leinen aus Ägypten gehandelt und mit von Gold durchwirkten Tüchern aus Marokko. Ich war wohlhabend, doch Sorge erfüllte mein Herz, und weder das Schwelgen in Luxus, noch das Spenden von Almosen konnten es besänftigen. Nun stehe ich zwar ohne einen einzigen Dirham in meiner Tasche vor Euch, doch habe ich Frieden gefunden.

Allah ist aller Dinge Anfang, doch mit der Erlaubnis Eurer Majestät lasse ich meine Geschichte mit jenem Tag beginnen, an dem ich durch das Viertel der Metallschmiede spazierte. Ich wollte für einen Mann, mit dem ich Geschäfte machte, ein Geschenk kaufen, und hatte gehört, dass er an einer Silberdose Gefallen finden würde. Nachdem ich mich eine halbe Stunde lang umgesehen hatte, bemerkte ich, dass eines der größten Geschäfte des Marktes von einem neuen Inhaber übernommen worden war. Das Ladenlokal war hoch angesehen, und sein Erwerb musste teuer gewesen sein, also ging ich hinein, um mir sein Angebot anzusehen.

Noch nie zuvor hatte ich so eine herrliche Auswahl an Waren gesehen. In der Nähe des Eingangs befand sich ein Astrolabium mit sieben silberverzierten Scheiben, eine Wasseruhr, die zu jeder Stunde schlug, und eine Nachtigall aus Messing, die sang, wenn der Wind wehte. Weiter im Ladeninneren harrten noch mehr ausgeklügelte Mechanismen ihrer Käufer, und wie ein Kind einen Jongleur anstarrte, starrte ich diese an, als aus einem Durchgang im hinteren Teil des Ladens ein alter Mann hervortrat.

»Willkommen in meinem bescheidenen Geschäft, mein Herr«, sagte er. »Mein Name ist Bashaarat. Wie kann ich Euch dienen?«

»Das sind erstaunliche Dinge, die Ihr hier feilbietet. Ich stehe im Kontakt mit Kaufleuten aus allen Weltgegenden und habe doch niemals dergleichen gesehen. Woher, wenn ich fragen darf, bezieht Ihr eure Waren?«

»Ich danke Euch für die lobenden Worte«, sagte er. »Alles, was Ihr hier seht, wurde in meiner Werkstatt hergestellt, von mir selbst oder unter meiner Anleitung von meinen Gehilfen.«

Ich war beeindruckt, dass dieser Mann in derart vielen Künsten so wohlbewandert war. So befragte ich ihn zu den verschiedenen Instrumenten in seinem Laden und lauschte seinen gelehrten Ausführungen über Astrologie, Mathematik, Geomantik und Medizin. Über eine Stunde lang unterhielten wir uns, und wie eine Blume im Morgengrauen erblühten meine Faszination und mein Respekt für ihn, bis er seine alchemistischen Experimente erwähnte.

»Alchemie?«, sagte ich. Ich war überrascht, denn er schien mir nicht zu den Menschen zu gehören, die derart betrügerischen Unternehmungen nachgingen. »Ihr meint, Ihr könnt unedles Metall in Gold verwandeln?«

»Das kann ich, mein Herr, doch das ist es nicht, was die meisten sich von der Alchemie erhoffen.«

»Was erhoffen sich die meisten denn davon?«

»Sie trachten nach einem billigeren Weg, Gold zu gewinnen, als Erz aus der Erde zu schürfen. Die Alchemie kennt einen Weg, Gold herzustellen, doch die Prozedur ist so beschwerlich, dass das Graben im Berg im Vergleich dazu so einfach erscheint wie das Pflücken eines Pfirsichs.«

Ich schmunzelte. »Eine kluge Erwiderung. Niemand könnte bezweifeln, dass Ihr ein gelehrter Mann seid, doch bin ich nicht so unklug, die Alchemie ernst zu nehmen.«

Bashaarat sah mich an und dachte einen Moment nach. »Erst kürzlich habe ich etwas gebaut, das Eure Meinung vielleicht zu ändern vermag. Ihr wäret der Erste, dem ich es zeigen würde. Möchtet Ihr es sehen?«

»Das wäre mir eine große Freude.«

»Bitte folgt mir.« Er führte mich durch die Tür in den hinteren Teil des Ladens. Der sich anschließende Raum war eine Werkstatt, in der sich Vorrichtungen befanden, deren Sinn und Zweck ich nicht zu erraten vermochte – Metallstangen, die mit so viel Kupferdraht umwickelt waren, dass er abgerollt bis zum Horizont gereicht hätte, kreisrunde Spiegel mit Granitrahmen, die in Quecksilber schwammen –, doch Bashaarat ging an alldem vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen.

Stattdessen führte er mich zu einem massiven brusthohen Sockel, auf dem hochkant ein breiter Metallreif aufgestellt war. Die Öffnung des Reifs war so breit wie zwei ausgestreckte Hände und sein Rand so dick, dass es dem stärksten Mann große Mühe bereitet hätte, ihn zu tragen. Das Metall war schwarz wie die Nacht, doch so sorgfältig poliert, dass es als Spiegel hätte dienen können, wäre es von anderer Farbe gewesen. Bashaarat forderte mich auf, mich so hinzustellen, dass ich den Reif von der Seite betrachtete, während er sich zur Öffnung begab.

»Bitte passt genau auf«, sagte er.

Bashaarat streckte den Arm von rechts durch den Reif, doch er ragte auf der linken Seite nicht heraus. Stattdessen sah es so aus, als wäre sein Arm am Ellenbogen abgeschnitten worden, und er hob und senkte den Stumpf – und zog seinen Arm unversehrt wieder heraus.

Ich hatte nicht erwartet, dass ein derart gelehrter Mann einen Zaubertrick zum Besten geben würde, aber die Darbietung war gut ausgeführt gewesen, und so applaudierte ich höflich.

»Nun wartet einen Augenblick«, sagte er und trat einen Schritt zurück.

Ich wartete, und siehe da, aus der linken Seite des Reifs streckte sich ein körperloser Arm, dessen Ärmel zu dem Gewand, das Bashaarat trug, passte. Der Arm hob und senkte sich ebenfalls und zog sich dann in den Reif zurück, bis er ganz verschwunden war.

Den ersten Trick hatte ich noch für eine raffinierte Täuschung gehalten, doch diese Darbietung übertraf sie bei Weitem, denn Sockel und Reif waren zu schmal, als dass sich jemand hätte darin verbergen können. »Sehr raffiniert!«, rief ich begeistert.

»Ich danke Euch, aber was Ihr gesehen habt, war kein einfacher Taschenspielertrick. Die rechte Seite des Reifs ist der linken um einige Sekunden voraus. Durch den Reif zu greifen bedeutet, dass man diese Zeitspanne unverzüglich überspringt.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte ich.

»Lasst mich die Demonstration wiederholen.« Wieder streckte er seinen Arm durch den Reif, und der Arm verschwand. Er lächelte und bewegte seinen Arm vor und zurück, als zöge er an einem Seil. Dann ließ er den Arm wieder aus dem Reif auftauchen und zeigte mir seine offene Handfläche. In ihr lag ein Ring, den ich gut kannte.

»Das ist mein Ring!« Ich sah auf meine Hand und stellte fest, dass sich mein Ring immer noch an meinem Finger befand. »Ihr habt ein Duplikat herbeigezaubert.«

»Nein, das ist wirklich Euer Ring. Wartet.«

Wiederum streckte sich ein Arm aus der linken Seite des Reifs. In dem Wunsch, dem Mechanismus auf die Schliche zu kommen, eilte ich hinüber und packte die Hand. Es war keine künstliche Hand, sondern sie war so warm und lebendig wie meine. Ich zog an der Hand, und sie widersetzte sich mir. Mit der Geschicklichkeit eines Taschendiebs streifte die Hand mir den Ring vom Finger, und der Arm verschwand wieder im Reif, bis er nicht mehr zu sehen war.

»Mein Ring ist weg!«, rief ich.

»Nein, mein Herr«, sagte er. »Hier ist Euer Ring.« Und er gab mir den Ring, den er in der Hand hielt. »Verzeiht mir diese Spielerei.«

Ich steckte mir den Ring an den Finger. »Ihr hattet diesen Ring, bevor er mir genommen wurde.«

In diesem Augenblick streckte sich ein Arm aus dem Reif, diesmal auf der rechten Seite. »Was ist das!«, rief ich aus. Wiederum erkannte ich, bevor sich der Arm zurückzog, am Ärmel, dass es Bashaarats Arm war, aber ich hatte nicht gesehen, dass er ihn durch den Reif gestreckt hatte.

»Erinnert euch«, sagte er, »die rechte Seite des Ringes ist der linken voraus.« Und er ging auf die linke Seite des Reifs und streckte seinen Arm von dort aus hindurch, und wieder verschwand der Arm.

Eure Majestät hat es zweifellos längst begriffen, doch mir wurde es damals erst in diesem Moment klar: Was auch immer auf der rechten Seite des Reifs geschah, wurde einige Sekunden später durch ein Ereignis auf der linken Seite ergänzt. »Ist das Zauberei?«, fragte ich.

»Nein, mein Herr. Ich bin niemals einem Dschinn begegnet, und wenn, würde ich nicht darauf vertrauen, dass er tut, was ich ihm auftrage. Was Ihr hier seht, ist eine Form von Alchemie.«

Er erklärte es mir, erzählte davon, wie er nach winzigen Poren in der Haut der Wirklichkeit gesucht hatte, den Löchern gleich, welche Würmer in das Holz fressen, und wie er, nachdem er ein solches Loch gefunden hatte, es vergrößert hatte, so wie ein Glasbläser einen Klumpen geschmolzenen Glases zu einer langhalsigen Röhre zu formen vermag, und wie er darin die Zeit auf der einen Seite wie Wasser fließen und sich auf der anderen Seite wie Sirup verdicken lassen konnte. Ich muss gestehen, dass ich seine Worte nicht ganz verstand und für ihre Glaubwürdigkeit nicht bürgen kann. Alles, was ich zu antworten wusste, war: »Ihr habt fürwahr etwas wirklich Erstaunliches geschaffen.«

»Ich danke Euch«, sagte er. »Doch das ist nur ein Vorspiel zu dem, was ich Euch eigentlich vorführen will.« Er bat mich, ihm nach hinten zu folgen. Dort stand, aufgerichtet in der Mitte eines Raumes, ein kreisförmiges Portal, dessen massiver Rahmen aus dem gleichen glänzenden schwarzen Metall gemacht war wie der des Reifs.

»Eben habe ich Euch das ›Tor der Sekunden‹ gezeigt«, sagte er. »Dies hier ist das ›Tor der Jahre‹. Die beiden Seiten der Öffnung trennt eine Zeitspanne von zwanzig Jahren.«

Ich muss gestehen, dass ich diese Bemerkung nicht sogleich verstand. Ich stellte mir vor, wie er seinen Arm auf der rechten Seite des Tors hineinstreckte und zwanzig Jahre wartete, bis er links wieder erschien. Das schien mir ein sehr eigenartiger Zaubertrick zu sein. Das sagte ich ihm, und er lachte. »Das wäre eine Möglichkeit, sich des Tores zu bedienen«, sagte er, »aber bedenkt, was geschehen würde, wenn Ihr durch das Portal hindurchginget.« Er stand auf der rechten Seite, bedeutete mir näherzutreten und zeigte dann auf die Portalöffnung. »Schaut.«

Ich blickte hindurch und sah, dass sich auf der anderen Seite offenbar andere Teppiche und Kissen befanden, als ich beim Betreten des Raumes gesehen hatte. Ich bewegte meinen Kopf hin und her und stellte fest, dass ich, wenn ich durch das Portal blickte, einen anderen Raum sah als den, in dem ich gerade stand.

»Ihr seht den Raum, wie er in zwanzig Jahren sein wird«, sagte Bashaarat.

Ich blinzelte, so wie jemand, der ein Trugbild in der Wüste sieht, doch das, was ich sah, veränderte sich nicht. »Und Ihr sagt, ich könnte hindurchgehen?«, fragte ich.

»Das könntet Ihr. Und mit diesem Schritt würdet Ihr das Bagdad von in zwanzig Jahren besuchen. Ihr könntet Euer älteres Selbst ausfindig machen und Euch mit ihm unterhalten. Danach könntet Ihr durch das ›Tor der Jahre‹ in die heutige Zeit zurückkehren.«

Als ich Bashaarats Worte vernahm, war mir, als würde ich das Gleichgewicht verlieren. »Ihr habt das getan?«, fragte ich ihn. »Ihr seid hindurchgegangen?«

»Das bin ich, wie auch viele meiner Kunden.«

»Vorhin habt Ihr mir gesagt, ich wäre der Erste, dem Ihr dieses Portal zeigt.«

»Dieses Tor hier, ja. Aber ich habe viele Jahre lang ein Geschäft in Kairo betrieben, wo ich erstmals ein ›Tor der Jahre‹ gebaut habe. Dort gab es viele, denen ich das Tor zeigte und die es benutzt haben.«

»Was haben diese Leute erfahren, als sie mit ihrem älteren Ich gesprochen haben?«

»Jeder Mensch erfährt etwas anderes. Wenn Ihr es wünscht, dann erzähle ich Euch von einem solchen Zeitreisenden.« Bashaarat begann, mir eine Geschichte zu erzählen, und wenn es Eurer Majestät gefällt, will ich sie hier wiedergeben.


Die Geschichte des glücklichen Seilers


Es war einmal ein junger Mann mit Namen Hassan, ein Seiler. Er trat durch das ›Tor der Jahre‹, um Kairo in zwanzig Jahren zu sehen, und wie er dort ankam, staunte er, wie prächtig die Stadt gediehen war. Es kam ihm so vor, als hätte er die Szenerie eines gestickten Wandteppichs betreten, und obwohl die Stadt nicht mehr und nicht weniger als Kairo war, bestaunte er die gewöhnlichsten Dinge wie Wunder.

Er kam am Zuweyla-Tor vorbei, wo die Schwerttänzer und Schlangenbeschwörer auftreten, als ein Astrologe ihn ansprach: »Junger Mann! Wollt Ihr Eure Zukunft erfahren?«

Hassan lachte. »Die kenne ich bereits«, sagte er.

»Ich wollt doch sicherlich wissen, ob Euch Wohlstand erwartet, oder?«

»Ich bin Seiler. Ich weiß, dass ich nicht reich werde.«

»Könnt Ihr Euch da so sicher sein? Was ist mit dem angesehenen Kaufmann Hassan al-Hubbaul, der einst ein Seiler war?«

Da seine Wissbegier geweckt war, fragte Hassan auf dem Markt nach anderen, die von diesem reichen Kaufmann gehört hatten, und fand heraus, dass sein Name allseits bekannt war. Man sagte ihm, dieser Kaufmann wohne im vornehmen Habbaniya-Viertel der Stadt, und so ging Hassan dorthin und fragte die Menschen nach dem Haus des Kaufmanns, und wie sich herausstellte, war es das größte Gebäude des Viertels.

Er klopfte an die Tür, und ein Diener führte ihn in einen großen und schön eingerichteten Vorraum mit einem Brunnen in seiner Mitte. Während der Diener den Herrn des Hauses holte, wartete Hassan, doch als er all das polierte Elfenbein und den Marmor um sich sah, fühlte er sich in dieser prächtigen Umgebung fehl am Platze und wollte das Haus schon verlassen, als sein älteres Ich eintrat.

»Endlich bist du da!«, sagte der Mann. »Ich habe dich erwartet.«

»Habt Ihr das?«, sagte Hassan erstaunt.

»Selbstverständlich, denn ich habe mein älteres Ich besucht, so wie du mich besuchst. Das ist schon so lange her, dass ich den genauen Tag vergessen habe. Komm, speise mit mir.«

Die beiden gingen in das Esszimmer, wo ihnen Diener mit Pistazien gefüllte Hühnchen, in Honig getränktes Schmalzgebäck und geröstetes Lamm mit Granatäpfeln servierten. Der ältere Hassan erzählte nur wenige Einzelheiten aus seinem Leben: Er erwähnte seine vielfältigen Geschäftsinteressen, sagte aber nichts darüber, wie er Kaufmann geworden war; er erwähnte seine Frau, sagte aber, dass es noch nicht an der Zeit für den jüngeren Hassan sei, sie kennenzulernen. Stattdessen bat er den jungen Hassan, ihm von den Streichen zu erzählen, die er als Kind angestellt hatte, und lachte über die Geschichten, die in seinem Gedächtnis verblasst waren.

Schließlich fragte der jüngere Hassan den älteren: »Wie habt Ihr es vollbracht, das Schicksal zu Euren Gunsten zu wenden und so vermögend zu werden?«

»Alles, was ich dir im Augenblick erzählen will, ist dies: Wenn du auf den Markt gehst, um Hanf zu kaufen, und dabei der Straße der Schwarzen Hunde folgst, dann gehe nicht die Südseite der Straße entlang, wie du es sonst zu tun pflegst. Gehe die Nordseite entlang.«

»Und das wird mir ermöglichen, mich über meinen Stand zu erheben?«

»Tue einfach, was ich dir sage. Geh jetzt nach Hause zurück, du musst Seile machen. Du wirst wissen, wann du mich wieder besuchen sollst.«

Der junge Hassan kehrte in seine Zeit zurück und tat, wie ihm geheißen, und er blieb auf der Nordseite der Straße, auch wenn es dort keinen Schatten gab. Einige Tage später wurde er Zeuge, wie ein wild gewordenes Pferd auf der Südseite der Straße, ihm genau gegenüber, durchging, mehrere Leute trat, einen Mann verwundete, indem es einen schweren Krug mit Palmöl umstieß, und einen weiteren sogar unter seinen Hufen zertrampelte. Nachdem die Unruhe sich gelegt hatte, betete Hassan zu Allah, er möge die Verwundeten heilen und den Toten in Frieden ruhen lassen, und er dankte Allah dafür, dass er ihn verschont hatte.

Am nächsten Tag trat Hassan abermals durch das ›Tor der Jahre‹ und besuchte sein älteres Ich. »Wurdet Ihr durch das Pferd verletzt, als Ihr ihm begegnet seid?«, fragte er.

»Nein, denn ich habe die Warnung meines älteren Ichs beachtet. Vergiss nicht, dass du und ich dieselbe Person sind; alles, was dir zustößt, ist einst auch mir geschehen.«

Und so gab der ältere Hassan dem jüngeren Weisungen, und der jüngere befolgte sie. Er kaufte keine Eier bei seinem gewohnten Händler und wurde so von einer Krankheit verschont, die alle Kunden befiel, welche Eier aus dem verdorbenen Korb gekauft hatten. Er besorgte sich Hanf auf Vorrat und hatte somit Material für seine Arbeit, während andere wegen einer verspäteten Karawane einen Engpass hinnehmen mussten.

Hassan vermied so manches Ungemach, indem er die Anweisungen seines älteren Ichs befolgte, doch er fragte sich, warum sein älteres Ich ihm nicht mehr offenbarte. Wen würde er heiraten? Wie würde er reich werden?

Eines Tages dann, nachdem er all seine Seile verkauft und sich einer ungewöhnlich vollen Börse erfreute, stieß Hassan auf der Straße mit einem Jungen zusammen. Er tastete nach seiner Börse, merkte, dass sie fort war, und wandte sich rufend um, um nach dem Taschendieb zu suchen. Der Junge vernahm Hassans Rufe und floh sofort durch die Menge. Hassan sah noch, dass die Tunika des Jungen am Ellbogen zerrissen war, verlor ihn aber dann bald aus den Augen.

Einen Moment lang war Hassan fassungslos, dass ihm so etwas widerfahren konnte, ohne dass ihn sein älteres Ich gewarnt hatte. Seine Überraschung aber wich bald seinem Zorn, und er nahm die Verfolgung auf. Er rannte durch die Menge, begutachtete die Ellbogen der Tuniken vieler Jungen, bis er den Taschendieb durch Zufall unter einem Obstkarren entdeckte. Hassan packte ihn und rief laut, dass er einen Dieb gefasst habe und jemand die Stadtwache verständigen solle. Aus Angst, verhaftet zu werden, ließ der Junge Hassans Börse fallen und begann zu weinen. Hassan schaute den Jungen lange an, und als sein Ärger schließlich verflogen war, ließ er ihn gehen.

Als er sein älteres Ich das nächste Mal traf, fragte Hassan: »Warum habt Ihr mich nicht vor dem Taschendieb gewarnt?«

»Hat dich dieses Erlebnis etwa nicht mit Freude erfüllt?«, fragte sein älteres Ich.

Hassen wollte schon verneinen, doch dann hielt er inne. »Das hat es«, gab er zu.

Die Jagd auf den Jungen hatte, ohne die Gewissheit, ob er Erfolg haben würde oder nicht, sein Blut in Wallung gebracht wie schon seit vielen Wochen nicht mehr. Und die Tränen des Knaben erinnerten ihn an die Lehren des Propheten über den Wert der Barmherzigkeit, und dass er den Knaben hatte ziehen lassen, erfüllte Hassan mit dem Gefühl, tugendhaft zu sein.

»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dir dieses Erlebnis verwehrt?«

So, wie wir im Laufe der Jahre den Wert von Sitten und Bräuchen verstehen, die uns als Jugendliche unnütz erscheinen, begriff Hassan nun, dass das Zurückhalten von Wissen ebenso sinnvoll sein konnte wie dessen Weitergabe. »Nein«, sagte er, »es war durchaus richtig von Euch, mich nicht zu warnen.«

Der ältere Hassan sah, dass er verstanden hatte. »Nun werde ich dir etwas sehr Wichtiges sagen. Miete ein Pferd. Ich werde dir den Weg zu einem Ort im Vorgebirge westlich der Stadt beschreiben. Dort wirst du in einem Hain einen Baum finden, der vom Blitz getroffen wurde. Suche am Fuße des Baumes nach dem größten Stein, den du bewegen kannst, und grabe dann unter ihm.«

»Wonach soll ich suchen?«

»Das wirst du wissen, wenn du es findest.«

Am darauffolgenden Tag ritt Hassan hinaus ins Vorgebirge und suchte, bis er den Baum gefunden hatte. Die Erde um den Baum herum war mit Steinen bedeckt, und Hassan wälzte einen großen Stein zur Seite, um darunter zu graben, dann noch einen, und noch einen. Schließlich traf sein Spaten auf etwas anderes als Erde und Stein. Er schaufelte die Erde beiseite und stieß auf eine Bronzekiste, die mit Golddinaren und verschiedenen Edelsteinen gefüllt war. In seinem ganzen Leben hatte Hassan noch nichts dergleichen gesehen. Er lud die Kiste auf das Pferd und ritt zurück nach Kairo.

Als er das nächste Mal mit seinem älteren Ich sprach, fragte er: »Woher habt Ihr gewusst, wo der Schatz versteckt war?«

»Das habe ich von mir selbst erfahren«, sagte der ältere Hassan, »genau so wie du. Aber wie wir überhaupt von dem Versteck Kenntnis erlangt haben, kann auch ich nicht erklären, abgesehen davon, dass es dem Willen Allahs entsprach, und was für eine andere Erklärung könnte es sonst für irgendetwas auf der Welt geben?«

»Ich gelobe, dass ich mich dieser Reichtümer, mit denen Allah mich gesegnet hat, mit Bedacht bedienen werde«, sagte der jüngere Hassan.

»Und ich erneuere dieses Gelöbnis«, sagte der ältere. »Es ist dies das letzte Mal, dass wir miteinander reden. Du wirst nun deinen eigenen Weg gehen. Friede sei mit dir.«

Also kehrte Hassan nach Hause zurück. Mit dem Gold konnte er große Hanfvorräte erwerben, Arbeiter anstellen und ihnen einen gerechten Lohn zahlen und Seile mit Gewinn an alle verkaufen, die welche benötigten. Er heiratete eine schöne und kluge Frau, auf deren Rat hin er damit begann, auch mit anderen Gütern zu handeln, bis er ein wohlhabender und angesehener Kaufmann war. Während all dieser Zeit spendete er großzügig den Armen und lebte als ehrenwerter Mann. Auf diese Weise lebte Hassen ein glückliches Leben, bis der Tod, der Zerstörer aller Bande und Freuden, ihn heimsuchte.


Das ist eine bemerkenswerte Geschichte«, sagte ich. »Einen überzeugenderen Anreiz für jemanden, der sich nicht sicher ist, ob er das Tor benutzen soll oder nicht, kann ich mir nicht vorstellen.«

»Es ist weise von euch, skeptisch zu sein«, sagte Bashaarat. »Allah belohnt jene, die er zu belohnen wünscht, und straft, wen er zu strafen wünscht. Das Tor ändert nichts daran, was er von Euch hält.«

Ich nickte, in dem Glauben, verstanden zu haben. »Selbst wenn es jemandem gelingt, Unglück abzuwenden, das einem älteren Selbst widerfahren ist, gibt es keine Gewissheit, dass einem kein anderes Unglück widerfährt.«

»Nein, verzeiht einem alten Mann die Dunkelheit seiner Worte. Durch das Tor zu gehen, ist nicht dasselbe, wie ein Los zu ziehen, wo man jedes Mal eine neue Chance bekommt. Durch das Tor zu gehen, ist vielmehr so, wie wenn man einen Geheimgang in einem Palast benutzt, einen Weg, der einen schneller zu einem Zimmer führt als der Weg über die Flure. Das Zimmer aber bleibt dasselbe, ganz gleich, durch welche Tür man hineingelangt.«

Das überraschte mich. »Die Zukunft ist also unabänderlich? So wie die Vergangenheit?«

»Es heißt, dass Reue und Sühne die Vergangenheit ungeschehen machen können.«

»Das habe ich auch vernommen, aber meiner Erfahrung nach ist das nicht wahr.«

»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Bashaarat. »Alles, was ich Euch sagen kann, ist, dass die Zukunft sich nicht ändern lässt.«

Darüber dachte ich eine Zeit lang nach. »Wenn man also erfährt, dass man in zwanzig Jahren tot sein wird, dann kann man nichts unternehmen, um seinen Tod abzuwenden?« Er nickte. Zuerst erschien mir das sehr entmutigend, doch dann fragte ich mich, ob es nicht auch eine gewisse Sicherheit verhieß. Ich sagte: »Nehmen wir an, man erfährt, dass man in zwanzig Jahren noch leben wird. Nichts könnte einen also in den nächsten zwanzig Jahren umbringen. Man könnte an den waghalsigsten Kämpfen teilnehmen, denn es ist sicher, dass man überlebt.«

»Das ist möglich«, sagte er. »Es ist aber auch möglich, dass jemand, der sich auf diese Gewissheit verlassen würde, sein älteres Ich nicht mehr lebend vorfindet, wenn er das Tor zum ersten Mal durchschreitet.«

»Aha«, sagte ich. »Dann begegnen also nur die Besonnenen ihrem älteren Ich.«

»Ich will Euch die Geschichte eines anderen Mannes erzählen, der durch das Tor gegangen ist, und Ihr selbst mögt entscheiden, ob er weise war oder nicht.« Bashaarat begann mir die Geschichte zu erzählen, und wenn es Eurer Majestät gefällt, will ich sie hier wiedergeben.


Die Geschichte des Webers, der sich selbst bestahl


Es war einmal ein junger Weber, der Ajib hieß und ein bescheidenes Leben als Teppichweber führte, sich jedoch danach sehnte, die Annehmlichkeiten der Reichen zu genießen. Nachdem er die Geschichte von Hassan gehört hatte, schritt Ajib ohne zu zögern durch das ›Tor der Jahre‹, um sein älteres Ich aufzusuchen, das, so war er sich sicher, genauso reich und selbstlos sein würde wie Hassan.

Als er das Kairo in zwanzig Jahren betrat, begab er sich in das vornehme Habbaniya-Viertel der Stadt und fragte die Leute nach dem Haus von Ajib ibn Taher. Er hatte vor, sich als gerade aus Damaskus eingetroffener Sohn von Ajib auszugeben, falls ihn jemand auf die Ähnlichkeit mit dem reichen Händler ansprechen sollte. Doch es ergab sich keine Gelegenheit, diese Geschichte zu erzählen, denn niemandem, den er fragte, sagte der Name etwas.

Schließlich beschloss er, in seine alte Nachbarschaft zurückzukehren, um sich umzuhören, ob dort jemand wusste, wohin er umgezogen war. Als er in seine alte Straße gelangte, hielt er einen Jungen an und fragte ihn, ob er wisse, wo er einen Mann mit Namen Ajib finden könne. Der Junge wies ihm den Weg zu seinem alten Haus.

»Dort hat er einmal gewohnt«, sagte Ajib. »Wo aber wohnt er heute?«

»Falls er seit gestern woandershin gezogen ist, weiß ich das nicht«, sagte der Junge.

Ajib konnte es nicht glauben. War es möglich, dass sein älteres Ich nach zwanzig Jahren immer noch im selben Haus wohnte? Das würde ja bedeuten, dass er niemals reich geworden war und ihm sein älteres Ich keinen Rat würde geben können, zumindest keinen, von dem Ajib profitieren würde. Wie war es möglich, dass sein Schicksal sich so sehr von dem des glücklichen Seilers unterschied? In der Hoffnung, dass sich der Junge irrte, wartete Ajib vor dem Haus und beobachtete es.

Nach einiger Zeit sah er, wie ein Mann aus dem Haus kam, und mit wachsendem Entsetzen erkannte er in ihm sein älteres Ich. Eine Frau, die wahrscheinlich seine Frau war, folgte dem älteren Ajib, doch der jüngere Ajib gab kaum Acht auf sie, denn alles, was er wahrnahm, war sein eigenes Scheitern. Bestürzt starrte er die einfachen Kleider an, die das alte Ehepaar trug, bis er sie nicht mehr sehen konnte.

Getrieben von jener Art Neugier, die so manchen dazu verleitet, sich die Köpfe von Hingerichteten anzusehen, wandte sich Ajib der Tür seines Hauses zu. Sein eigener Schlüssel passte noch immer in das Schloss, und so trat er ein. Die Einrichtung mochte nicht mehr dieselbe sein, doch sie war schlicht und abgenutzt, und Ajib schämte sich bei ihrem Anblick. Nach zwanzig Jahren konnte er sich immer noch keine besseren Kissen leisten?

Einer plötzlichen Regung folgend ging er zu einer Holzkiste, in der er für gewöhnlich seine Ersparnisse aufbewahrte, und sperrte sie auf. Er öffnete den Deckel und sah, dass die Kiste mit Golddinaren gefüllt war.

Ajib war bass erstaunt. Sein älteres Ich besaß eine Kiste voll Gold, und dennoch trug es so einfache Kleidung und lebte immer noch in demselben kleinen Haus wie vor zwanzig Jahren. Was musste sein älteres Ich für ein geiziger, freudloser Mensch sein, dachte Ajib bei sich, so reich zu sein und es nicht zu genießen! Ajib wusste schon seit Langem, dass man seinen Reichtum nicht mit ins Grab nehmen konnte. War es möglich, dass er dies vergessen hatte, als er älter wurde?

Ajib gelangte zu der Auffassung, dass dieser Reichtum jemandem gehören sollte, der ihn zu schätzen wusste, und das war er selbst. Die Ersparnisse seines älteren Ichs an sich zu nehmen, wäre kein Diebstahl, so redete er sich ein, denn er selbst wäre ja der Nutznießer des Diebstahls. Er wuchtete sich die Kiste auf die Schulter, und mit großer Mühe brachte er sie zurück durch das ›Tor der Jahre‹ in das Kairo, das er kannte.

Einen Teil seines neu gefundenen Reichtums hinterlegte er bei einem Bankier, trug aber immer eine schwere Börse mit Gold bei sich. Künftig trug er ein Damaszener Gewand und Schuhe aus Korduanleder und einen Chorasan-Turban, den ein Edelstein schmückte. Er mietete ein Haus im Viertel der Reichen, stattete es mit den feinsten Teppichen und Sitzmöbeln aus und stellte einen Koch an, der ihm opulente Gerichte zubereitete.

Schließlich suchte er den Bruder einer Frau auf, die er seit Langem aus der Ferne begehrte, einer Frau mit dem Namen Taahira. Ihr Bruder war ein Apotheker, und Taahira half ihm im Laden. Ajib kam ab und zu vorbei und kaufte ein Heilmittel, um einen Vorwand zu haben, mit ihr zu sprechen. Einmal hatte er gesehen, wie ihr Schleier zur Seite glitt, und ihre Augen waren dunkel und schön wie die einer Gazelle. Taahiras Bruder hätte einer Heirat mit einem einfachen Weber niemals zugestimmt, doch nun konnte Ajib sich als ausgezeichnete Partie präsentieren.

Taahiras Bruder erteilte seinen Segen, und Taahira selbst stimmte bereitwillig zu, denn auch sie begehrte Ajib. Ajib scheute keine Kosten für die Hochzeit. Er mietete einen der Lustprahme, die auf den Kanälen südlich der Stadt schwammen, veranstaltete ein Fest mit Musikanten und Tänzern und beschenkte Taahira mit einer wunderschönen Perlenkette. Im ganzen Viertel sprach man angeregt über diese Festlichkeiten.

Ajib schwelgte in der Freude, die ihm das Geld und Taahira bereiteten, und eine Woche lang verbrachten die beiden die schönste Zeit ihres Lebens. Eines Tages dann kam Ajib nach Hause und fand die Tür zu seinem Haus aufgebrochen und seinen Hausrat um alle Silber- und Goldgegenstände erleichtert. Der verängstigte Koch wagte sich aus seinem Versteck hervor und berichtete ihm, dass Räuber Taahira entführt hätten.

Ajib betete zu Allah, bis er erschöpft vor Sorge in den Schlaf sank. Am nächsten Morgen wurde er von einem Klopfen an der Tür geweckt. Ein Fremder sprach ihn an: »Ich habe eine Botschaft für dich.«

»Was für eine Botschaft?«, fragte Ajib.

»Deine Frau ist in Sicherheit.«

Ajib spürte, wie Angst und Wut in seinem Magen gleich schwarzer Galle schäumten. »Wie lautet die Lösegeldforderung?«, fragte er.

»Zehntausend Dinare.«

»Das ist mehr als alles, was ich besitze!«, rief Ajib aus.

»Feilsch nicht mit mir«, sagte der Räuber. »Ich habe gesehen, dass du Geld ausgibst, wie andere Wasser verschütten.«

Ajib sank auf die Knie. »Ich war verschwenderisch. Ich schwöre beim Namen des Propheten, dass ich nicht so viel Geld besitze«, sagte er.

Der Räuber musterte ihn eindringlich. »Trage alles Geld zusammen, das du hast«, sagte er, »und bringe es morgen zur gleichen Stunde hierher. Wenn ich den Eindruck habe, dass du uns etwas vorenthältst, wird deine Frau sterben. Wenn ich glaube, dass du ehrlich bist, werden meine Männer sie dir zurückbringen.«

Ajib sah keine andere Möglichkeit. »Einverstanden«, sagte er, und der Räuber ging davon.

Am nächsten Tag ging Ajib zu seinem Bankier und ließ sich von ihm alles noch vorhandene Geld aushändigen. Er gab es dem Räuber, der die Verzweiflung in Ajibs Augen sah und sich mit dem begnügte, was er bekommen hatte. Der Räuber hielt sein Wort, und am Abend wurde Taahira freigelassen.

Nachdem sie sich umarmt hatten, sagte Taahira: »Ich habe nicht geglaubt, dass du so viel Geld für mich bezahlen würdest.«

»Ohne dich hätte ich keine Freude daran gehabt«, sagte Ajib, und zu seiner Überraschung wurde ihm bewusst, das es die Wahrheit war. »Nun aber bedauere ich, dass ich dir nicht zu kaufen vermag, was dir zusteht.«

»Du brauchst mir nie wieder etwas zu kaufen«, sagte sie.

Ajib beugte sein Haupt. »Mir scheint, ich bin für meine Missetaten bestraft worden.«

»Was für Missetaten?«, fragte Taahira, doch Ajib antwortete nicht. »Bisher habe ich dich nie gefragt«, fuhr sie fort. »Aber ich weiß, dass du all das Geld nicht geerbt hast. Sage mir: Hast du es gestohlen?«

»Nein«, sagte Ajib, nicht Willens, ihr oder sich selbst die Wahrheit einzugestehen. »Man hat es mir gegeben.«

»Also ein Kredit?«

»Nein, ich muss es nicht zurückzahlen.«

»Und du willst es auch nicht zurückzahlen?«, fragte Taahira bestürzt. »Du gibst dich also zufrieden damit, dass ein anderer für unsere Hochzeit bezahlt hat? Dass ein anderer mein Lösegeld gezahlt hat?« Sie schien den Tränen nahe zu sein. »Bin ich deine Frau, Ajib, oder die eines anderen Mannes?«

»Du bist meine Frau«, sagte er.

»Wie kann das sein, wenn ich mein Leben einem anderen verdanke?«

»Ich möchte nicht, dass du an meiner Liebe zweifelst«, sagte Ajib. »Ich schwöre dir, dass ich das Geld zurückzahlen werde, alles bis auf den letzten Dirham.«

Und so zogen Ajib und Taahira wieder in Ajibs altes Haus und begannen zu sparen. Beide arbeiteten für Taahiras Bruder, den Apotheker, und als dieser schließlich als Parfümhändler für die Reichen erfolgreich wurde, übernahmen sie sein Geschäft und verkauften Heilmittel an Kranke. Es ging ihnen gut, doch sie gaben so wenig wie möglich aus, lebten bescheiden und ließen ihre Möbel reparieren, statt sich neue zu kaufen. Jahrelang lächelte Ajib, wann immer er eine Münze in seine Kiste fallen ließ, und erzählte Taahira, dass dies ein Zeugnis dafür sei, wie viel sie ihm wert war. Er sagte, dass er selbst dann, wenn er die Kiste bis zum Rand füllte, immer noch ein gutes Geschäft gemacht hätte.

Aber es ist nicht leicht, eine Kiste mit Gold zu füllen, wenn man nur ab und zu ein paar Münzen übrig hat, und was als Sparsamkeit begonnen hatte, wandelte sich zu Geiz, und bedachte Entscheidungen wurden zu knauserigen. Schlimmer noch war, dass Ajibs und Taahiras Zuneigung füreinander im Lauf der Zeit verblasste und sie wegen dem Geld, das sie nicht ausgeben konnten, anfingen, einander mit Groll zu behandeln.

Auf diese Weise vergingen die Jahre, und Ajib wurde älter und wartete darauf, dass ihm das Gold zum zweiten Mal gestohlen wurde.


Was für eine seltsame und traurige Geschichte«, sagte ich.

»In der Tat«, entgegnete Bashaarat. »Würdest du sagen, dass Ajib weise gehandelt hat?«

Ich zögerte, bevor ich antwortete. »Es steht mir nicht zu, über ihn zu richten«, sagte ich. »Er muss mit den Folgen seiner Taten leben, so wie ich mit den meinen.« Ich schwieg für einen Moment und sagte dann: »Ich bewundere Ajibs Aufrichtigkeit, dass er dir alles erzählt hat, was er getan hat.«

»Ah, aber Ajib hat mir seine Geschichte nicht erzählt, als er ein junger Mann war«, sagte Bashaarat. »Nachdem er mit der Kiste aus dem ›Tor der Jahre‹ trat, habe ich ihn zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Ajib war ein weit älterer Mann, als er zurückkam, um mich zu besuchen. Er war nach Hause gekommen und bemerkte, dass jemand die Kiste gestohlen hatte, und aufgrund des Wissens, dass er seine Schuld beglichen hatte, sah er sich in der Lage, mir alles, was sich zugetragen hatte, zu erzählen.«

»Tatsächlich? Ist auch der alte Hassan aus deiner ersten Geschichte zu dir gekommen, um dir alles zu erzählen?«

»Nein. Hassans Geschichte hat mir sein jüngeres Ich erzählt. Der ältere Hassan ist nie wieder in mein Geschäft zurückgekehrt, aber an seiner statt hatte ich einen anderen Besucher, jemand, der mir eine Geschichte über Hassan erzählte, die er mir selbst niemals hätte erzählen können.« Bashaarat begann, mir die Geschichte dieses Besuchers zu erzählen, und wenn es Eurer Majestät gefällt, will ich sie hier wiedergeben.


Die Geschichte der Ehefrau und ihres Geliebten


Raniya war seit vielen Jahren mit Hassan verheiratet, und sie waren äußerst glücklich miteinander. Eines Tages sah sie, wie ihr Gatte mit einem jungen Mann speiste, der dem jungen Hassan, den sie geheiratet hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten war. So groß war ihre Verwunderung, dass sie sich kaum beherrschen konnte, das Gespräch der beiden zu stören. Nachdem der junge Mann gegangen war, bedrängte sie Hassan, ihr zu erklären, wer das gewesen war, und Hassan erzählte ihr seine unglaubliche Geschichte.

»Hast du ihm von mir berichtet?«, fragte sie. »Wusstest du damals, was dir bevorstand, als wir uns das erste Mal begegnet sind?«

»Von dem Augenblick an, da ich dich sah, wusste ich, dass ich dich heiraten würde«, sagte Hassan lächelnd. »Aber nicht etwa, weil mir das jemand gesagt hätte. Weib, sicherlich würdest du ihm diesen Augenblick doch nicht verderben wollen?«

Raniya sprach also nicht mit dem jüngeren Ich ihres Gatten, sondern belauschte nur die Unterhaltung der beiden und warf verstohlene Blicke auf den jüngeren Hassan. Ihr Puls beschleunigte sich beim Anblick seiner jugendlichen Gestalt; unsere Erinnerungen täuschen uns zuweilen mit ihrer Süße, doch wie sie die beiden Männer einander gegenübersitzen sah, wurde ihr die ganze Schönheit des jüngeren Ichs ohne Übertreibung gewahr. Des Nachts lag sie wach und dachte an ihn.

Einige Tage nachdem Hassan sein jüngeres Ich verabschiedet hatte, brach er nach Damaskus auf, um einige Geschäfte mit einem Kaufmann zu tätigen. Während seiner Abwesenheit suchte Raniya das Geschäft auf, welches Hassan ihr beschrieben hatte, und schritt durch das ›Tor der Jahre‹ in das Kairo ihrer Jugend.

Sie erinnerte sich, wo der junge Hassan damals gelebt hatte, und machte ihn so ausfindig und folgte ihm. Bei seinem Anblick fühlte sie, wie ihr Verlangen für ihn mächtiger war als alles, was sie seit Jahren für den alten Hassan empfunden hatte, so lebhaft waren ihre Erinnerungen an ihre jugendlichen Liebesspiele. Sie war immer eine ergebene und treue Ehefrau gewesen, doch hier bot sich eine Gelegenheit wie keine zweite. Entschlossen, ihrem Verlangen nachzugeben, mietete Raniya ein Haus und begann es in den folgenden Tagen einzurichten.

Als das Haus hergerichtet war, folgte sie Hassan unauffällig und versuchte dabei Mut zu schöpfen, um ihn anzusprechen. Im Bezirk der Juweliere beobachtete sie, wie er zu einem Juwelier ging, dem er eine Halskette mit zehn Schmucksteinen zeigte, und wie er den Händler fragte, was er dafür bekommen könnte. Raniya erkannte die Kette wieder. Er hatte sie ihr in den Tagen nach der Hochzeit geschenkt; sie hatte nicht gewusst, dass er einst versucht hatte, sie zu verkaufen. Sie stand ein wenig abseits und lauschte, wobei sie vorgab, einige Ringe zu begutachten.

»Bring mir die Kette morgen, und ich werde dir tausend Dinare dafür zahlen«, sagte der Juwelier. Der junge Hassan akzeptierte den Preis und ging.

Wie sie ihm nachblickte, hörte Raniya, wie zwei Männer sich nahebei unterhielten.

»Hast du diese Halskette gesehen? Das ist eine von unseren.«

»Bist du da sicher?«, sagte der andere Mann.

»Das bin ich. Das ist der Lump, der unsere Kiste ausgegraben hat.«

»Lass uns das dem Hauptmann berichten. Wenn dieser Kerl die Kette verkauft hat, erleichtern wir ihn um sein Geld und noch mehr.«

Die beiden Männer gingen davon, ohne Raniya zu bemerken, die mit rasendem Herzen und reglos dastand wie ein Reh, an dem ein Tiger vorbeistreunte. Sie begriff, dass der Schatz, den Hassan gehoben hatte, einer Räuberbande gehört haben musste, und dass diese beiden Männer Mitglieder der Bande waren. Diese Bande behielt die Juweliere von Kairo im Auge, um denjenigen ausfindig zu machen, der ihre Beute entwendet hatte.

Raniya wusste, dass der junge Hassan die Halskette nicht verkauft haben konnte, denn sie befand sich in ihrem Besitz. Auch wusste sie, dass die Räuber den jungen Hassan nicht getötet hatten. Doch es konnte nicht Allahs Wille sein, dass sie nichts unternahm. Allah hatte sie gewiss hierhergeführt, um sich ihrer in seiner Weisheit zu bedienen.

Raniya kehrte zum ›Tor der Jahre‹ zurück, schritt hindurch in ihre eigene Zeit und holte in ihrem Haus die Halskette aus der Schmuckschatulle. Wieder nutzte sie das ›Tor der Jahre‹, doch statt durch die linke Seite zu gehen, ging sie durch die rechte, sodass sie das zwanzig Jahre in der Zukunft liegende Kairo betrat. Dort suchte sie ihr älteres Ich auf, nun eine gealterte Frau. Die ältere Raniya begrüßte sie herzlich und holte aus ihrer eigenen Schatulle die Halskette. Dann besprachen sich die beiden Frauen, wie sie dem jungen Hassan zur Seite stehen konnten.

Die beiden Räuber kehrten am nächsten Tag mit einem dritten Mann zurück, von dem Raniya annahm, dass er der Hauptmann der Banditen war. Sie alle beobachteten, wie Hassan dem Juwelier die Halskette zeigte.

Der Juwelier untersuchte die Halskette, als Raniya zu ihnen trat und sprach: »Was für ein Zufall! Juwelier, ich möchte eine Halskette verkaufen, die genauso aussieht wie diese hier.« Aus dem Beutel, den sie trug, holte sie ihre Kette hervor.

»Das ist unglaublich«, sagte der Juwelier. »Niemals habe ich zwei Halsketten gesehen, die sich derart gleichen.«

Dann trat die alte Raniya zu ihnen. »Was sehe ich da? Meine Augen täuschen mich sicherlich!« Und mit diesen Worten zog sie eine dritte Halskette hervor, die den beiden anderen glich. »Der Mann, der mir diese Kette verkaufte, versicherte mir, dass sie einzigartig sei. Das hier beweist wohl, dass er ein Lügner war.«

»Ihr solltet sie vielleicht umtauschen«, sagte Raniya.

»Das kommt darauf an«, sagte die ältere Raniya. Sie fragte Hassan: »Wie viel will der Juwelier Euch für Eure Kette bezahlen?«

»Eintausend Dinare«, sagte Hassan verwirrt.

»Wirklich? Juwelier, würdet Ihr diese hier auch kaufen wollen?«

»Ich muss mein Angebot überdenken«, sagte der Juwelier.

Während Hassan und die ältere Raniya mit dem Juwelier feilschten, entfernte sich Raniya weit genug von ihnen, um zu hören, wie der Räuberhauptmann die beiden Diebe schalt. »Ihr Narren«, sagte er. »Das ist eine gewöhnliche Halskette. Fast hätten wir wegen euch die Hälfte der Juweliere Kairos gemeuchelt und die Stadtwache auf uns aufmerksam gemacht.« Er gab den beiden eine Backpfeife und führte sie weg.

Raniya wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Juwelier zu, der sein Angebot, Hassans Halskette zu kaufen, zurückzog. Die ältere Raniya sagte: »Also gut. Ich werde versuchen, die Kette dem Mann zurückzugeben, von dem ich sie gekauft habe.« Als die alte Frau den Laden verließ, konnte Raniya sehen, dass sie unter ihrem Schleier lächelte.

Raniya sprach Hassan an. »Mir scheint, heute wird keiner von uns beiden eine Halskette verkaufen.«

»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte Hassan.

»Ich werde meine Kette wieder nach Hause bringen und aufbewahren«, sagte Raniya. »Wollt Ihr mich begleiten?«

Hassan erklärte sich einverstanden und ging mit Raniya zu dem Haus, das sie gemietet hatte. Sie bat ihn herein, bot ihm Wein an, und nachdem sie beide getrunken hatten, führte sie ihn in ihr Schlafgemach. Sie zog die schweren Vorhänge vor die Fenster und löschte alle Lampen, sodass es in dem Raum so finster war wie die Nacht. Erst dann lüftete sie ihren Schleier und nahm Hassan zu sich ins Bett.

Raniya war wie berauscht, so sehr hatte sie sich nach diesem Augenblick gesehnt, und entsprechend überrascht war sie, als sie bemerkte, wie plump und ungeschickt Hassan sich anstellte. Nur zu gut erinnerte sie sich an ihre Hochzeitsnacht; da war er selbstsicher gewesen, und seine Berührungen hatten ihr den Atem geraubt. Sie wusste, dass Hassan der jungen Raniya bald begegnen würde, und für einen Augenblick war es ihr ein Rätsel, wie dieser linkische Junge sich so schnell ändern konnte. Doch natürlich kam sie bald auf des Rätsels Lösung.

So also traf Raniya Hassan viele Tage lang in ihrem gemieteten Haus und unterwies ihn in der Kunst der Liebe; sie offenbarte ihm, dass, wie man sagt, die Frauen die wunderbarste Schöpfung Allahs sind. Sie sprach zu ihm: »Das Vergnügen, das du gibst, wird belohnt durch das Vergnügen, das du empfängst«, und bei sich lächelte sie, als sie daran dachte, wie wahr ihre Worte tatsächlich waren. Es dauerte nicht lange, und er verfügte über das Geschick, an das sie sich erinnerte, und sie selbst erfreute sich dabei größeren Entzückens, als sie es als junge Frau empfunden hatte.

Allzu bald schon brach der Tag an, an dem Raniya dem jüngeren Hassan sagen musste, dass es für sie an der Zeit sei, ihn zu verlassen. Er war so klug, sie nicht nach ihren Gründen zu fragen, wollte aber von ihr wissen, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Nein, antwortete sie ihm sanft. Dann verkaufte sie die Einrichtung an den Besitzer des Hauses und kehrte durch das ›Tor der Jahre‹ zurück in das Kairo ihrer eigenen Zeit.

Als der ältere Hassan von seiner Reise nach Damaskus zurückkehrte, erwartete Raniya ihn bereits. Sie begrüßte ihn herzlich, behielt aber ihr Geheimnis für sich.


Als Bashaarat diese Geschichte beendet hatte, hing ich meinen eigenen Gedanken nach, bis er sprach: »Ich merke, dass diese Geschichte Euch auf eine Weise fasziniert, wie es die anderen nicht taten.«

»Da habt Ihr wohl recht«, gab ich zu. »Ich begreife nun, dass man dem Unvorhergesehenen begegnen kann, wenn man die Vergangenheit aufsucht, auch wenn sie unabänderlich ist.«

»So ist es. Versteht Ihr jetzt, warum ich sagte, dass Vergangenheit und Zukunft einander gleichen? Beides können wir nicht ändern, aber beides können wir besser verstehen.«

»Das begreife ich; Ihr habt mir die Augen geöffnet, und ich möchte nun durch das ›Tor der Jahre‹ treten. Welchen Preis verlangt ihr?«

Er winkte ab. »Die Reise durch das Tor ist nicht käuflich«, sagte er. »Allah führt in meinen Laden, wen er wünscht, und ich bin es zufrieden, ein Werkzeug seines Willens zu sein.«

Von jedem anderen Mann hätte ich angenommen, dass diese Worte der Auftakt zu längerem Feilschen wären, aber nach allem, was mir Bashaarat erzählt hatte, wusste ich, dass er es ernst meinte. »Eure Großzügigkeit ist so grenzenlos wie Eure Weisheit«, sagte ich und verbeugte mich. »Wenn es jemals etwas gibt, wobei Euch ein Stoffhändler zu Diensten sein kann, dann lasst es mich bitte wissen.«

»Ich danke Euch. Sprechen wir nun über Eure Reise. Es gibt einige Dinge, die wir klären müssen, bevor Ihr das Bagdad von in zwanzig Jahren besucht.«

»Ich möchte nicht in die Zukunft«, erklärte ich ihm. »Ich möchte durch die andere Seite treten, um meine Jugendzeit wiederzusehen.«

»Ah, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Dorthin kann Euch dieses Portal nicht bringen. Ich habe es erst vor einer Woche gebaut. Vor zwanzig Jahren gab es hier kein Tor, aus dem Ihr herauskommen könntet.«

Meine Bestürzung war so groß, dass ich wie ein verzweifeltes Kind geklungen haben muss. Ich sprach: »Aber wohin führt dann die andere Seite des Portals?«, und ging um das kreisrunde Portal, um mir die gegenüberliegende Seite anzusehen.

Bashaarat trat zu mir und blieb neben mir stehen. Der Blick durch das Portal schien dasselbe zu zeigen wie außerhalb des Rahmens, doch als er seine Hand hindurchstrecken wollte, wurde sie aufgehalten, als stieße sie gegen eine unsichtbare Wand. Ich sah genauer hin und bemerkte, dass auf dem Tisch eine Messinglampe stand. Ihre Flamme flackerte nicht, sondern stand still und bewegungslos, als wäre der Raum in durchsichtigem Bernstein eingeschlossen.

»Was Ihr hier seht, ist dieser Raum, wie er vor einer Woche war«, sagte Bashaarat. »In zwanzig Jahren wird diese Seite des Portals Menschen Einlass gewähren und ihnen erlauben, so in die Vergangenheit zu gelangen. Oder«, sagte er und führte mich zurück auf die Seite des Portals, die er mir zuerst gezeigt hatte, »wir gehen durch die rechte Seite und besuchen diese Menschen selbst. Aber ich muss leider sagen, dass dieses Portal niemals genutzt werden kann, damit Ihr die Tage Eurer Jugend wiederseht.«

»Was ist mit dem ›Tor der Jahre‹, das Ihr in Kairo hattet?«, fragte ich.

Er nickte. »Das steht noch. Mein Sohn führt den Laden dort für mich.«

»Ich könnte also nach Kairo reisen, dort das Portal benutzen, um in das zwanzig Jahre in der Vergangenheit liegende Kairo zu gelangen. Von dort könnte ich dann zurück nach Bagdad reisen.«

»Ja, diesen Weg könntet Ihr gehen, wenn Ihr es wünscht.«

»Von ganzem Herzen«, erwiderte ich. »Werdet Ihr mir den Weg zu Eurem Geschäft in Kairo weisen?«

»Zuerst müssen wir einige Dinge besprechen«, sagte Bashaarat. »Ich frage nicht nach Euren Beweggründen, sondern warte damit gerne, bis Ihr bereit seid, sie mir anzuvertrauen. Ich möchte Euch aber daran erinnern, dass Ihr das, was geschehen ist, nicht rückgängig machen könnt.«

»Das weiß ich«, sagte ich.

»Und Ihr könnt den Euch zugewiesenen Prüfungen nicht aus dem Weg gehen. Ihr müsst akzeptieren, was Allah Euch gegeben hat.«

»Dessen erinnere ich mich an jedem Tag meines Lebens.«

»Dann ist es mir eine Ehre, Euch, soweit ich es vermag, zu helfen«, sagte er.

Er legte sich etwas Papier, einen Stift und Tinte zurecht und begann zu schreiben. »Ich gebe Euch einen Brief mit, der Euch auf Eurer Reise hilfreich sein wird.« Er faltete den Brief, tropfte etwas Wachs auf den Rand und drückte seinen Ring hinein. »Gebt ihn meinem Sohn, wenn Ihr Kairo erreicht, und er wird Euch durch das ›Tor der Jahre‹ treten lassen.«

Ein Kaufmann wie ich musste wohlbewandert sein in der Kunst, seinem Dank Ausdruck zu verleihen, doch noch niemals zuvor habe ich jemandem so überschwänglich gedankt, wie ich nun Bashaarat dankte, und jedes meiner Worte kam von Herzen. Er erklärte mir den Weg zu seinem Geschäft in Kairo, und ich beteuerte, ihm alles zu erzählen, sobald ich zurückkehren würde. Ich war gerade dabei, seinen Laden zu verlassen, als mir etwas einfiel. »Das ›Tor der Jahre‹ hier führt in die Zukunft. Seid Ihr Euch denn sicher, dass dieser Laden in zwanzig Jahren und darüber hinaus noch vorhanden sein wird?«

»Ja, das wird er«, sagte Bashaarat.

Ich wollte ihn schon fragen, ob er seinem älteren Ich begegnet sei, hielt aber dann meine Worte zurück. Wäre seine Antwort nein gewesen, hätte das sicherlich bedeutet, dass sein älteres Ich bereits gestorben war, was mich zu der Frage geführt hätte, ob er wüsste, wann er sterben würde. Wer war ich, ihm so eine Frage zu stellen, wenn dieser Mann mir einen Gefallen tat, ohne meine Absichten wissen zu wollen? An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er wusste, was für eine Frage mir auf der Zunge lag, und ich senkte in demütiger Entschuldigung das Haupt. Mit einem Nicken deutete er mir seine Vergebung an, und ich kehrte nach Hause zurück, um Vorbereitungen zu treffen.

Die Reise der Karavane nach Kairo würde zwei Monate dauern. Was mir in dieser Zeit durch den Kopf ging? Nun, ich erzähle Eurer Majestät jetzt, was ich Bashaarat verschwiegen habe. Zwanzig Jahre vor alledem war ich mit einer Frau namens Najya verheiratet gewesen. So anmutig, wie die Äste des Weidenbaumes sich wiegen, bewegte sie ihren Körper, und ihr Antlitz war so liebreizend wie der Mond, doch war es ihr freundliches und sanftes Wesen, mit dem sie mein Herz für sich einnahm. Wir hatten geheiratet, als ich gerade mit meiner Laufbahn als Kaufmann begonnen hatte, und so waren wir zwar nicht wohlhabend, doch fehlte es uns auch an nichts.

Erst ein Jahr lang waren wir Mann und Frau, als ich nach Basra reiste, um mich mit einem Schiffskapitän zu treffen. Er bot mir eine Gelegenheit, mit dem Handel von Sklaven reichlich Gewinn zu machen, doch Najya hieß mein Vorhaben nicht gut. Ich rief ihr ins Gedächtnis, dass der Koran den Besitz von Sklaven nicht verbot, solange man sie gut behandelte – ja, dass sogar der Prophet selbst Sklaven sein Eigen genannt hatte. Sie erwiderte jedoch, dass ich unmöglich wissen konnte, wie die künftigen Besitzer mit ihren Sklaven umgehen würden, und dass es besser sei, mit Waren statt mit Sklaven Handel zu treiben.

Am Morgen meiner Abreise stritten Najya und ich miteinander. Ich sprach ungehalten mit ihr, und ich bitte Eure Majestät um Vergebung dafür, dass ich mich meiner groben Worte von damals so sehr schäme, dass ich sie hier nicht wiedergeben mag. Zornerfüllt reiste ich ab – und sah sie nie wieder. Ein paar Tage, nachdem ich aufgebrochen war, wurde sie beim Einsturz der Mauer einer Moschee schwer verletzt. Man brachte sie in das Bimaristan, doch die Ärzte dort konnten nichts für sie tun, und so verstarb sie bald darauf. Erst eine Woche später, bei meiner Rückkehr, erfuhr ich von ihrem Hinscheiden, und mir war, als hätte ich sie mit meinen eigenen Händen umgebracht.

Können die Qualen der Hölle schlimmer sein als das, was ich in den folgenden Tagen durchlitten habe? Fast schien es, als würde ich das bald herausfinden, so nahe brachte mich meine Seelenpein dem Tod. Diese Erfahrungen gleichen sich gewiss sehr, denn wie das Höllenfeuer brennt auch die Trauer, ohne zu verzehren; stattdessen macht sie das Herz nur noch verletzlicher für weiteres Leid.

Die Zeit meiner Trauer verging schließlich und ließ mich innerlich leer zurück, ein Hautsack ohne Eingeweide. Die Sklaven, die ich gekauft hatte, entließ ich in die Freiheit und wandte mich dem Handel mit Stoffen zu. Im Laufe der Jahre kam ich zu Wohlstand, heiratete aber nicht wieder. Einige der Männer, mit denen ich Geschäfte machte, versuchten mich mit ihren Töchtern oder Schwestern zu verkuppeln, und erklärten, die Liebe einer Gattin ließe einen den Schmerz der Vergangenheit vergessen. Vielleicht hatten sie recht damit, aber den Schmerz, den man anderen zugefügt hat, kann nichts vergessen machen. Wann immer ich mir vorstellte, mich wieder mit einer Frau zu vermählen, erinnerte ich mich des verletzten Ausdrucks in Najyas Augen, als ich sie zuletzt gesehen hatte, und mein Herz verschloss sich gegenüber allen anderen Frauen.

Ich sprach mit einem Mullah über meine Taten, und er war es, der mit sagte, dass Reue und Sühne die Vergangenheit auslöschen könnten. Ich bereute und tat Buße nach bestem Wissen und Gewissen; zwanzig Jahre führte ich das Leben eines aufrechten Mannes, betete und fastete, spendete den Unglückseligen Almosen und pilgerte nach Mekka, und dennoch wurde ich von Schuldgefühlen heimgesucht. Da Allahs Barmherzigkeit keine Grenzen kennt, musste der Grund dafür bei mir liegen.

Hätte mich Bashaarat gefragt, was ich mir erhoffte, hätte ich ihm keine Antwort geben können. Die Geschichten, die er erzählte, legten unmissverständlich dar, dass ich nicht würde ändern können, was, wie ich wusste, geschehen war. Niemand hatte mein jüngeres Ich davon abgehalten, sich bei unserem letzten Gespräch mit Najya zu streiten. Doch die Geschichte von Raniya, die sich in der Geschichte vom Leben Hassans verbarg, ohne dass er davon wusste, beflügelte mich mit vager Hoffnung: Vielleicht würde ich in die Geschehnisse eingreifen können, während mein jüngeres Ich unterwegs war, um Handel zu treiben.

War es nicht möglich, dass jemand einen Fehler begangen und meine Najya überlebt hatte? Vielleicht war es der Leichnam einer anderen Frau gewesen, den man während meiner Abwesenheit in ein Leichentuch gewickelt und begraben hatte. Vielleicht konnte ich Najya retten und in das Bagdad meiner eigenen Zeit mitnehmen. Mir war klar, dass ich mich töricht verhielt. Weise Männer sagen: »Vier Dinge gibt es, die nicht wiederkehren: das gesprochene Wort, der verschossene Pfeil, das vergangene Leben und die verschmähte Gelegenheit«, und niemand begreift besser als ich, wie wahr diese Worte sind. Dennoch wagte ich zu hoffen, dass Allah meine zwanzigjährige Reue und Buße für hinreichend erachtete, um mir die Gelegenheit zu gewähren, das wiederzuerlangen, was ich verloren hatte.

Die Reise mit der Karawane verlief ereignislos, und nach sechzig Sonnenaufgängen und dreihundert Gebeten erreichte ich Kairo. Dort musste ich mich im Gewirr der Straßen zurechtfinden, verglichen mit dem harmonischen Grundriss der Stadt des Friedens ein verwirrendes Labyrinth. Ich begab mich zur Bayn al-Qadrayn, der Hauptstraße, die durch das Fatmid-Viertel Kairos verläuft. Von dort aus fand ich die Straße, in der sich Bashaarats Geschäft befand.

Dem Ladenbesitzer erzählte ich, dass ich mit seinem Vater in Bagdad gesprochen hatte, und ich überreichte ihm Bashaarats Brief. Nachdem er diesen gelesen hatte, führte er mich in einen Raum im Inneren des Hauses, in dessen Mitte ein weiteres ›Tor der Jahre‹ stand, und er bedeutete mir, es von seiner linken Seite zu betreten.

Als ich vor dem wuchtigen Metallkreis stand, überlief mich ein kalter Schauer, und ich schalt mich für meine Nervosität. Mit einem tiefen Atemzug trat ich hindurch und fand mich in demselben Raum wieder, dessen Möbel nun aber andere waren. Ohne diesen Unterschied hätte ich das Tor für einen gewöhnlichen Durchgang gehalten. Dann bemerkte ich, dass der Schauer, den ich verspürt hatte, daher rührte, dass es in diesem Raum merklich kühler war, denn der Tag hier war nicht so heiß wie der Tag, den ich hinter mir gelassen hatte. Ich spürte den warmen Luftzug des zurückliegenden Tages, der wie ein Seufzen durch das Tor strömte.

Der Ladeninhaber folgte mir und rief: »Vater, du hast einen Besucher.«

Ein Mann betrat den Raum, und es war niemand anderer als Bashaarat, allerdings zwanzig Jahre jünger, als ich ihn zuletzt in Bagdad gesehen hatte. »Willkommen, mein Herr«, sagte er. »Ich bin Bashaarat.«

»Ihr erkennt mich nicht wieder?«, fragte ich.

»Nein. Ihr müsst meinem älteren Ich begegnet sein. Für mich ist dies unser erstes Treffen, doch ist es mir eine Ehre, Euch zu Diensten zu sein.«

Eure Majestät, wie es dieser Chronik meiner Unzulänglichkeiten geziemt, muss ich Euch nun gestehen, dass ich mich auf meiner Reise von Bagdad her allzu sehr meinem Kummer hingegeben hatte und folglich erst jetzt begriff, dass Bashaarat mich von dem Augenblick an, da ich seinen Laden zum ersten Mal betrat, wohl wiedererkannt haben musste. Als ich einst seine Wasseruhr und seinen Singvogel aus Messing bewunderte, muss er bereits gewusst haben, dass ich nach Kairo reisen würde ... und ob ich mein Ziel erreichen würde oder nicht.

Der Bashaarat, mit dem ich nun sprach, wusste jedoch nichts von diesen Dingen. »Ich bin für Eure Höflichkeit doppelt dankbar«, sagte ich. »Mein Name ist Fuwaad ibn Abbas, und ich bin soeben aus Bagdad eingetroffen.«

Bashaarats Sohn verabschiedete sich, und Bashaarat und ich berieten uns. Ich fragte ihn nach Tag und Monat und stellte fest, dass ich noch reichlich Zeit hatte, um wieder in die Stadt des Friedens zu reisen, und ich versprach, ihm bei meiner Rückkehr alles zu erzählen. Sein jüngeres Ich war ebenso liebenswürdig wie sein älteres. »Ich freue mich darauf, Euch wiederzusehen, und darauf, Euch in zwanzig Jahren helfen zu können«, sagte er.

Seine Worte ließen mich innehalten. »Hattet Ihr vor dem heutigen Tag schon die Absicht, ein Geschäft in Bagdad zu eröffnen?«

»Warum fragt Ihr?«

»Ich wundere mich nur über den Zufall, dass wir uns in Bagdad gerade rechtzeitig begegnet sind, damit ich die Reise hierher antreten, das Tor durchschreiten und wieder zurück nach Bagdad reisen kann. Nun frage ich mich, ob das womöglich überhaupt gar kein Zufall war. Ist meine heutige Ankunft hier der Grund, warum Ihr euch in zwanzig Jahren nach Bagdad aufmachen werdet, um einen Laden zu eröffnen?«

Bashaarat lächelte. »Zufall und Bestimmung sind wie die beiden Seiten eines Wandteppichs. Eine Seite mag für das Auge schöner zu betrachten sein, aber Ihr könnt nicht sagen, ob die andere Seite wahr oder falsch ist.«

»Wieder einmal eröffnet Ihr mir etwas, über das ich gründlich nachdenken muss«, erwiderte ich.

Ich dankte ihm und verabschiedete mich. Als ich das Geschäft verließ, eilte eine Frau an mir vorbei. Ich vernahm, wie Bashaarat sie als Raniya begrüßte, und hielt überrascht inne.

Von direkt vor der Schwelle konnte ich hören, wie die Frau sagte: »Ich habe die Halskette. Ich hoffe, mein älteres Ich hat sie nicht verloren.«

»Ich bin sicher, dass Ihr gut darauf aufgepasst habt, denn Ihr wusstet, dass Ihr kommen würdet«, sagte Bashaarat.

Ich begriff, dass dies Raniya aus der Geschichte war, die Bashaarat mir erzählt hatte. Sie war dabei, sich mit ihrem älteren Ich zu treffen, um mit ihr in die Tage ihrer Jugend aufzubrechen, dort die Diebe mit der doppelten Halskette zu verwirren und so ihren Ehemann zu retten. Das Gefühl, in eine Erzählung eingedrungen zu sein, ließ mich einen Augenblick lang zweifeln, ob ich wach war oder träumte. Die Vorstellung, mit den Figuren der Erzählung zu reden und an den Ereignissen teilnehmen zu können, war schwindelerregend. Ich geriet in Versuchung zu sprechen, um herauszufinden, ob ich eine versteckte Rolle in dieser Erzählung spielen konnte, doch dann besann ich mich und erinnerte mich daran, dass ich in meiner eigenen Geschichte eine verborgene Rolle spielen wollte. So ging ich also wortlos davon und suchte mir eine Karawane, der ich mich anschließen konnte.

Es heißt, Eure Majestät, dass das Schicksal über die Pläne der Sterblichen lacht. Zuerst schien es, dass mir das Glück hold war, denn noch innerhalb eines Monats brach eine Karawane in Richtung Bagdad auf. In den darauffolgenden Wochen begann ich jedoch, meinem Glück zu zürnen, denn die Reise dieser Karawane war von Hemmnissen geplagt. Die Quellen einer Stadt unweit von Kairo waren ausgetrocknet, und ein Trupp musste zurückgeschickt werden, um Wasser zu holen. In einem anderen Dorf erkrankten die Soldaten, welche die Karawane bewachten, an der Ruhr, und wir mussten Wochen warten, bis sie wieder genesen waren. Mit jeder Verzögerung musste ich neue Berechnungen anstellen, wann wir in Bagdad eintreffen würden, und allmählich wurde ich immer nervöser.

Die Sandstürme, die uns alsbald heimsuchten, schienen mir wie eine Warnung Allahs und ließen mich wahrlich die Weisheit meines Handelns bezweifeln. Wir hatten das Glück, bei einer Karawanserei westlich von Kufa zu rasten, als die Stürme zum ersten Mal über uns hereinbrachen. Doch unser Aufenthalt zog sich hin, zuerst tage-, dann wochenlang, als ein ums andere Mal der Himmel sich aufklarte, nur um sich wieder zu verfinstern, sobald unsere Kamele beladen waren. Der Tag von Najyas Unglück rückte näher und näher, und ich wurde immer verzweifelter.

Ich wandte mich an jeden einzelnen der Kamelführer mit der dringlichen Bitte, mit mir alleine vorauszureisen, aber ich konnte keinen von ihnen überzeugen. Schließlich fand ich einen, der bereit war, mir ein Kamel für einen Preis zu verkaufen, der unter anderen Umständen unverschämt hoch gewesen wäre, den ich aber nur zu bereitwillig zahlte. Dann machte ich mich alleine auf den Weg.

Es ist wohl kaum erstaunlich, dass ich während des Sturmes nur langsam vorankam, doch sobald der Wind nachließ, gelang es mir, ein rasches Tempo einzuschlagen. Allerdings war ich ohne die Wächter der Karawane ein leichtes Opfer für Räuber, und natürlich wurde ich nach zwei Tagen aufgehalten. Sie nahmen mir mein Geld und mein Kamel, verschonten jedoch mein Leben. Ob aus Mitleid, oder weil ich ihnen gleichgültig war, vermag ich nicht zu sagen. Ich kehrte zurück, um mich wieder der Karawane anzuschließen, doch quälte mich nun ein wolkenloser Himmel, und ich litt entsetzlich unter der Hitze. Als die Karawane mich fand, war meine Zunge geschwollen, und meine Lippen waren so rissig wie in der Sonne gebackener Lehm. Von da an hatte ich keine andere Wahl, als bei der Karawane zu bleiben.

Wie eine welke Rose, deren Blütenblätter eines nach dem anderen abfallen, schwand mit jedem Tag meine Hoffnung. Als die Karawane die Stadt des Friedens erreichte, wusste ich, dass es zu spät war, doch als wir durch das Stadttor einritten, fragte ich die Torwachen, ob sie von einer Moschee gehört hatten, die eingestürzt sei. Der erste Wachmann, den ich fragte, wusste nichts, und einen Herzschlag lang wagte ich zu hoffen, dass ich den Tag des Unglücks falsch in Erinnerung hatte und in der Tat noch rechtzeitig angekommen war.

Ein anderer Wächter sagte mir dann, dass tatsächlich erst gestern im Karkh-Viertel eine Moschee eingestürzt sei. Seine Worte trafen mich mit der Wucht eines Henkersbeils. So weit war ich gereist, nur um die schlimmste Nachricht meines Lebens ein zweites Mal zu hören!

Ich ging zu der Moschee und sah den Steinhaufen, wo einst eine Mauer gestanden hatte. Es war ein Anblick, der meine Träume seit zwanzig Jahren heimsuchte, doch dieses Mal verging das Bild auch dann nicht, als ich meine Augen aufschlug, sondern bot sich mir deutlicher dar, als ich zu ertragen vermochte. Ich wandte mich ab und irrte ziellos umher, bis ich mich vor meinem alten Haus wiederfand, dem Haus, in dem Najya und ich einst gelebt hatten. Verzweifelt und von Erinnerungen erfüllt stand ich auf der Straße.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als eine junge Frau zu mir trat und mich ansprach. »Mein Herr«, sagte sie, »ich suche nach dem Haus von Fuwaad ibn Abbas.«

»Ihr habt es gefunden«, sagte ich.

»Seid Ihr Fuwaad ibn Abbas, mein Herr?«

»Der bin ich, und ich bitte Euch, lasst mich allein.«

»Verzeiht mir, mein Herr. Mein Name ist Maimuna, und ich bin die Gehilfin eines Arztes im Bimaristan. Ich habe mich um Eure Frau gekümmert, bevor sie starb.«

Ich wandte mich ihr zu und sah sie an. »Ich habt Najya behandelt?«

»Das tat ich, mein Herr. Ich habe geschworen, Euch eine Mitteilung von ihr zu überbringen.«

»Was für eine Mitteilung?«

»Sie sagte, ich solle Euch wissen lassen, dass ihre letzten Gedanken bei Euch waren. Sie wollte, dass ich Euch ausrichte, dass ihr Leben zwar nur kurz gewesen sei, sie in der Zeit mit Euch jedoch glücklich war.«

Sie sah, wie mir Tränen über die Wangen rannen, und sagte: »Vergebt mir bitte, wenn meine Worte Euch Kummer bereiten, mein Herr.«

»Da gibt es nichts zu vergeben, mein Kind. Hätte ich nur die Mittel, Euch für diese Nachricht das zu geben, was sie mir wert ist. Ich könnte Euch ein ganzes Leben lang danken und stünde immer noch in Eurer Schuld.«

»Für Trauer schuldet man niemandem etwas«, sagte sie. »Friede sei mit Euch, mein Herr.«

»Friede sei mit Euch.«

Sie verließ mich, und ich irrte stundenlang durch die Straßen und weinte Tränen der Erlösung. Dabei dachte ich die ganze Zeit daran, wie wahr Bashaarats Worte doch gewesen waren: Die Vergangenheit und die Zukunft gleichen einander, und beides können wir nicht ändern, nur besser verstehen. Meine Reise in die Vergangenheit hatte nichts verändert, doch was ich erfahren hatte, veränderte alles, und nun begriff ich, dass es nicht anders hatte sein können. Wenn unsere Leben Geschichten sind, die Allah erzählt, dann sind wir gleichzeitig Zuhörer und Figuren, und indem wir diese Geschichten leben, werden wir belehrt.

Die Nacht brach herein, und die Stadtwache fand mich, wie ich in staubiger Kleidung nach der Sperrstunde durch die Straßen irrte, und sie fragte mich, wer ich sei. Ich sagte ihnen meinen Namen und wo ich wohnte, und die Wachleute brachten mich zu meinen Nachbarn, um zu prüfen, ob diese meinen Namen kannten, doch sie erkannten mich nicht, und so wurde ich ins Gefängnis gebracht.

Ich erzählte dem Hauptmann der Wache meine Geschichte, und er fand sie kurzweilig, auch wenn er mir keinen Glauben schenkte. Wer würde das schon? Dann erinnerte ich mich an etwas aus der Zeit meiner Trauer vor zwanzig Jahren und erzählte dem Hauptmann, dass der Sohn Eurer Majestät als Albino auf die Welt kommen würde. Als den Hauptmann einige Tage später die Kunde vom Zustand des Kindes erreichte, brachte er mich zum Statthalter des Viertels. Als der Statthalter wiederum meine Geschichte hörte, brachte er mich hierher in den Palast, und als der Colonele Kammerherr meine Geschichte vernahm, brachte er mich wiederum hier in den Thronsaal, damit mir die unermessliche Ehre zuteil werde, sie Eurer Majestät zu erzählen.

Meine Geschichte und mein Leben sind nun, ineinander verschlungen, am selben Punkt angelangt, und wie sie beide weitergehen, hängt von der Entscheidung Eurer Majestät ab. Ich weiß von vielen Dingen, die in den nächsten zwanzig Jahren hier in Bagdad geschehen werden, aber nichts über das, was vor mir liegt. Ich habe kein Geld mehr, um zurück nach Kairo und dem ›Tor der Jahre‹ dort zu reisen, und doch schätze ich mich grenzenlos glücklich, denn mir wurde die Gnade zuteil, mich den Fehlern meiner Vergangenheit zu stellen, und ich habe erfahren, welchen Trost Allah gewährt. Es wäre mir eine Ehre, alles mitzuteilen, was ich von der Zukunft weiß, falls Eure Majestät geneigt ist, danach zu fragen, doch für mich ist das kostbarste Wissen dieses:

Nichts kann die Vergangenheit auslöschen. Wir kennen Reue, wir kennen Sühne, und wir kennen Vergebung. Das ist alles. Aber es ist genug.


Загрузка...