III Ein Menschheitstraum

Es war eine grausame Ironie, dachte Odal, daß sie die Maschine jetzt dazu benutzten, ihn zu foltern. Denn Folter war es, egal wie sie es bezeichneten oder wie sie dabei lächelten.

Er saß in der engen Kabine, starrte die kahlen Wände an, den leeren Bildschirm, und wartete darauf, daß sie anfingen.

Der Preis für Versagen war hoch, zu hoch. Kanus hatte Odal zum Helden von Kerak gemacht, solange er erfolgreich war, solange er Keraks Gegner vernichtete.

Nun vernichteten sie ihn.

Nicht daß sie ihm körperlichen Schaden zufügten. Offiziell stand er nicht einmal unter Arrest. Er war lediglich für Experimente in Kors Hauptquartier, dem Informationsministerium, abkommandiert worden — einer weitläufigen, steinernen Burg auf einem Berggipfel, uralt und abweisend von außen; innen ein Labyrinth der Pein und des Terrors und Kors unersättlicher Gier nach neuen Opfern.

In der Duellmaschine waren die eingebildeten Schmerzen nicht weniger qualvoll als in der Realität. Odal lächelte zynisch. Die Männer, die er getötet hatte, starben zuerst in ihrer Phantasie. Aber dann hörten ihre Herzen sehr bald zu schlagen auf.

Okay, sind Sie bereit? Die Stimme ertönte in seinem Kopf, war in der Maschine erzeugt worden und über die Neurokontakte in sein Gehirn gespeist.

Wir werden heute etwas tiefer eindringen und versuchen, den Ursprung Ihrer paranormalen Fähigkeiten zu finden. Ich rate Ihnen dringend, sich zu entspannen und mitzuarbeiten.

Gestern waren sie zu dritt gewesen, hatten ihn von der anderen Seite der Maschine aus bearbeitet. Heute waren es mehr, merkte Odal. Sechs? Acht? Möglicherweise ein ganzes Dutzend.

Er spürte sie: fremde Gedanken, fremdartige Persönlichkeiten, die in seinen Geist eindrangen. Seine Hände zuckten unkontrolliert, sein Körper wand und krümmte sich.

Sie bemächtigten sich seiner Steuerzentren, berannten seine sensorischen Bezirke. Muskeln zuckten krampfartig, Nerven schrien gepeinigt auf, die Körpertemperatur schoß in die Höhe, Ohren schrillten, Augen zuckten flammende Röte, unerträglich grelle Sterne barsten. Jetzt drangen sie tiefer ein, vorbei an den physischen Reizzentren, gruben, bohrten durch ein langjährig aufgebautes neutrales Verteidigungsgefüge, tasteten mit einer rotglühenden, ultraharten Sonde nach seiner eigentlichen Persönlichkeit.

Odal hörte eine angstverzerrte Stimme: Sie sind hinter MIR her. Sie wollen MICH. Versteck dich! Versteck dich!

Es war seine eigene Stimme.


Trotz seiner Geräumigkeit, fand Leoh, wirkte das Amtszimmer des Premierministers bedrückend antiquiert. Es war in Blau und Gold gehalten, und das Gewicht längst vergangener Tradition und sentimentaler Erinnerung lastete schwerer über dem Raum als die golddurchwirkten Schärpen an Türen und Fenstern.

Es war keine große und spektakuläre Audienz gewesen. Martine hatte Leoh zu einem zwanglosen Gespräch geladen; Hector war geflissentlich vergessen worden. Ein gutes Dutzend Berater, Politiker und hohe Regierungsbeamte drängten sich um den Schreibtisch des Premiers, als er Leoh offiziell dafür dankte, Keraks Versuch, die Duellmaschine als Verschleierung für die Kriegsvorbereitungen zu benutzen, entlarvt zu haben.

»Eigentlich war es Lieutenant Hector von der Star Watch, der das Komplott aufgedeckt hat, nicht ich«, wandte Leoh ein.

Martine machte eine unwirsche Handbewegung. »Der Watchman ist nichts weiter als Ihr Assistent; Sie sind der Mann, den Kanus fürchtet.«

Nach einem knapp zehnminütigen Gespräch nickte Martine einem Mitarbeiter zu, der darauf zur Tür ging und einen Schwarm von Fotografen einließ. Der Premierminister kam um den Schreibtisch herum und postierte sich neben Leoh, den er um Haupteslänge überragte, während die Reporter ihre Aufnahmen machten. Dann war die Audienz zu Ende. Die Reporter zogen sich zurück, und auch die anderen Gesprächsteilnehmer brachen auf.

»Professor Leoh!«

Er war schon fast an der Tür, als Martine ihn rief. Leoh drehte sich um und sah den Premierminister in seinem hohen Schreibtischsessel sitzen. Die übliche kalte Reserviertheit war wie weggewischt, und ein warmes, beinahe freundliches Lächeln lag auf Martines Gesicht.

»Bitte schließen Sie die Tür und setzen Sie sich noch ein paar Minuten zu mir«, sagte Martine.

Leoh gehorchte verdutzt. Als er in einem Sessel neben dem Schreibtisch Platz nahm, sah er Martines Hand zielbewußt über das Schaltpult an seinem Schreibtisch wandern. Dann zog der Premierminister ein Schreibtischfach auf, und Leoh hörte das leise Klicken eines Schalters.

»Na bitte. Jetzt weiß ich, daß wir allein sind. Dieser Schalter schirmt den Raum vollständig ab. Nicht einmal mein Privatsekretär kann uns jetzt zuhören.«

Leohs Brauen kletterten bis zum Haaransatz.

»Sie haben allen Grund zur Überraschung, Professor. Und ich hätte allen Grund, ein zerknirschtes und demütiges Gesicht zu machen. Deshalb mußte ich sicherstellen, daß diese Unterredung absolut vertraulich bleibt.«

»Diese Unterredung?« wiederholte Leoh. »Dann war also die Audienz eben mit Ihren Beratern und den Presseleuten…?«

Martine lächelte breit. »Kanus ist nicht der einzige, der Verschleierungsmanöver inszenieren kann.«

»Verstehe. Nun denn, was wollten Sie mir sagen?«

»Zuerst einmal möchte ich Sie bitten, mich bei Lieutenant Hector zu entschuldigen. Er wurde nicht eingeladen aus Gründen, die eigentlich sehr offenkundig sind. Mir ist durchaus klar, daß er aus Odal die Wahrheit herausgeprügelt hat, wenn ich auch nicht ganz überzeugt bin, daß er so genau wußte, was er eigentlich tat.«

Leoh unterdrückte ein Lachen. »Hector hat sehr eigenwillige Methoden an sich.«

Martine nickte und wurde wieder ernst. »Okay, jetzt zu dem wirklichen Grund, warum ich privat mit Ihnen sprechen wollte: Ich habe mich wie ein halsstarriger alter Narr benommen. Das ist mir inzwischen klargeworden. Kanus hat nicht nur mich übertölpelt, sondern auch meine Regierung infiltriert. Als ich begriff, daß Lal Ponte ein kerakischer Agent ist… « Das Gesicht des Premierministers war grimmig.

»Was wollen Sie mit ihm anfangen?«

Achselzucken. »Ich kann gar nichts unternehmen. Odal hat ihn indirekt belastet. Es gibt keine Beweise, trotz eingehender Ermittlungen. Aber wenn Kanus den Acquataine Cluster tatsächlich unterjocht hätte, bin ich überzeugt, daß Ponte erwartete, zum Premierminister einer Marionettenregierung ernannt zu werden.«

Leoh schwieg.

»Ponte ist kein allzu großes Problem. Wenn ich etwas aus seinem Amt brauche, kann ich das von den Männern bekommen, die mir treu ergeben sind. Ponte kann an seinem Schreibtisch sitzen bleiben, bis ihm die Decke auf den Kopf fällt.«

»Aber er ist nicht Ihr einziges Problem.«

»Stimmt. Der militärische Aspekt ist es, der mir am meisten Kummer macht. Sie und Spencer hatten von Anfang an recht. Kerak bereitet sich auf einen Blitzangriff vor, und unser Verteidigungskonzept steckt noch so sehr in den Anfängen, daß es uns bei einem Überfall nicht allzuviel nutzt.«

»Dann wäre doch ein Beistandspakt mit dem Commonwealth…«

Martine machte ein unglückliches Gesicht. »Nach wie vor unmöglich. Die politische Lage hier ist zu instabil. Ich wurde mit einer hauchdünnen Mehrheit gewählt… dank Ponte. Wenn ich daran denke, daß Kanus meine Wahl arrangiert hat! Wir sind beide Marionetten gewesen, Professor; Schachfiguren!«

»Ich weiß.«

»Aber, verstehen Sie, nachdem Dulaq und Massan und alle ihre Vorgänger nie ein Bündnis mit dem Commonwealth eingegangen sind, würde es mir als ein Zeichen von Schwäche ausgelegt, wenn ich es versuchte. Es gibt starke pro-kerakische Kräfte im Parlament und noch viele andere, die so blind und dickköpfig sind, wie ich es einmal gewesen bin. Ich würde mich keine Woche halten können, wenn ich eine Allianz mit dem Commonwealth einzugehen versuchte.«

»Aber was können Sie sonst tun?« fragte Leoh.

»Sehr wenig. Sie können jedoch etwas tun. Mir ist es unmöglich, die Star Watch zu Hilfe zu rufen. Aber Sie können sich mit Ihrem Freund, Sir Harold, in Verbindung setzen und vorschlagen, daß er um meine Genehmigung ersucht, einen Star-Watch-Verband auf acquatainisches Hoheitsgebiet bringen zu dürfen. Jeder Vorwand ist mir recht… Routinemanöver, Forschungsexpedition, Kulturaustausch, was Sie wollen.«

Leoh rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum. »Ich soll also Sir Harold bitten, daß er Sie darum ersucht…«

»Ganz genau.« Martine nickte entschlossen. »Und es muß eine kleine Star-Watch-Flotte sein, ein sehr kleiner Verband. Für Acquatainia muß es offenkundig sein, daß die terranischen Schiffe kein Verteidigungsbeitrag gegen Kerak sind. Aber für Kanus muß es genauso offenkundig sein, daß er Acquatainia nicht angreifen kann, ohne dabei das Risiko einzugehen, Star Watchmen zu töten und damit sofort das Commonwealth in den Konflikt hineinzuziehen.«

»Ich verstehe, glaube ich«, sagte Leoh und lächelte bekümmert. »Einstein hatte schon recht: Nuklearphysik ist einfacher als Politik.«

Martine lachte, aber es klang bitter.


In brütendem Schweigen saß Kanus hinter seinem immensen Schreibtisch, das hagere bleiche Gesicht verkniffen. Die meisten seiner Kabinettsmitglieder befanden sich in dem übergroßen Arbeitszimmer und sahen entweder auf zu ihm hinter seinem geschickt erhöhten Schreibtisch oder wichen seinem finsteren Blick aus.

Nach längerem Schweigen räusperte sich der Führer. »Wir hatten den Acquataine Cluster bereits in der Tasche, und dann ließen wir ihn uns von einem senilen Professor und einem unbedarften Watchman wieder abnehmen. Kor! Sie haben behauptet, der Plan sei unfehlbar!«

Der Informationsminister blieb äußerlich ruhig, bis auf die verräterischen Schweißperlen auf seinem haarlosen Schädel. »Er war unfehlbar, bis…«

»Bis? Bis was? Ich will den Acquataine Cluster, keine Entschuldigungen!«

»Und Sie werden ihn bekommen«, versicherte Marschall Lugal. »Sobald die Streitkräfte voll einsatzfähig sind und…«

»Sobald! Sobald!« Kanus’ Stimme überschlug sich fast. »Wir hatten eine Eroberungsstrategie, und sie ist schmählich in die Hose gegangen! Ich sollte euch alle den Wölfen zum Fraß vorwerfen lassen! Und Sie, Kor; es war Ihre Operation, Ihr Plan. Sie haben diesen Gedankenleser aufgegabelt… Odal. Er sollte das Instrument meines Willens und meiner Macht sein. Und er hat versagt! Sie beide haben versagt. Zweimal! Können Sie mir einen einzigen Grund nennen, weshalb ich Ihnen erlauben sollte, weiterhin die Luft auf Kerak zu verpesten?«

»Die acquatainische Regierung ist nach wie vor sehr schwach und kann leicht gestürzt werden. Männer, die Ihnen treu ergeben sind, mein Führer, haben einflußreiche Posten in dieser Regierung erhalten. Des weiteren sind wir trotz des Versagens von Major Odal dabei, eine neue Geheimwaffe zu entwickeln, eine so ungeheuerliche Waffe, daß…«

»Eine Geheimwaffe?« Kanus’ Augen leuchteten auf.

Kor senkte die Stimme. »Es wäre möglich, glauben unsere Wissenschaftler, einen Telepathen wie Odal und die Duellmaschine dazu zu benutzen, Objekte von einem Ort an einen anderen zu transportieren — über jede Entfernung, praktisch ohne jede Zeitverzögerung.«

Kanus schwieg einen Moment und verdaute diese Information. Dann fragte er: »Ganze Armeen?«

»Ja.«

»Überall in der Galaxie?«

»Überall, wo es eine Duellmaschine gibt.«

Kanus erhob sich langsam und theatralisch und trat zu der riesigen Sternkarte, die eine ganze Wand des Raums einnahm. Mit einer allumfassenden Handbewegung rief er:

»Überall! Ich kann zuschlagen, wo ich will. Und niemand kann mich daran hindern!«

Begeistert tanzte er vor der Karte herum. »Jetzt wird uns nichts und niemand mehr aufhalten. Das Terranische Commonwealth ist so gut wie in unserer Hand. Die Galaxie wird uns gehören. Alle werden erzittern bei dem Gedanken an Kerak. Im Staub kriechen werden sie, wenn sie meinen Namen hören!«

Die Angehörigen seines Kabinetts nickten und murmelten zustimmend.

Plötzlich wurde Kanus’ Gesicht wieder finster, und er wirbelte zu Kor herum. »Ist es wirklich ein Geheimnis, oder arbeitet sonst noch jemand daran? Was ist mit diesem Leoh?«

»Es ist möglich«, erwiderte Kor in beruhigendem Ton, »daß Professor Leoh in der gleichen Richtung forscht. Die Duellmaschine ist schließlich seine Erfindung. Aber er hat keinen ausgebildeten Telepathen zur Verfügung — wie Odal.«

»Es gefällt mir nicht«, erwiderte Kanus finster, »daß Sie in Ihrer Arbeit von diesem Versager abhängig sind.«

Kor gestattete sich ein grausames Lächeln. »Wir sind nicht abhängig von ihm, mein Führer. Wir benutzen lediglich sein Gehirn. Er ist nichts weiter als ein Versuchskaninchen.«

Kanus erwiderte das Lächeln seines Ministers. »Seine neuen Aufgaben empfindet er doch nicht etwa als angenehm, will ich hoffen!«

»Kaum.«

»Sehr schön. Lassen Sie mich Aufzeichnungen dieser, äh, Experimente sehen.«

»Mit Vergnügen, mein Führer.«

Die Tür am anderen Ende des Zimmers öffnete sich, und Romis, der Außenminister, trat ein. Gespanntes Schweigen senkte sich über den Raum, als seine Schritte auf dem Marmorboden hallten. Groß, schlank, mit hocherhobenem Kopf, ging Romis schnurstracks auf den Führer zu. In der Hand hielt er eine längere Depesche, und sein Patriziergesicht war ernst.

»Ich habe unangenehme Nachrichten, Kanzler.«

Sie standen sich gegenüber, und jeder im Zimmer spürte den unversöhnlichen Haß zwischen ihnen. Kanus — klein, schmächtig, dunkel — funkelte den weißhaarigen Aristokraten an.

»Unsere Botschaft auf Acquatainia berichtet«, fuhr Romis mit frostiger Stimme fort, »daß Sir Harold Spencer um Genehmigung ersucht hat, eine Forschungsexpedition der Star Watch vorübergehend auf einem Grenzplaneten des Acquataine Clusters stationieren zu dürfen. Ein Planet dicht an unserer Grenze natürlich. Martine hat zugestimmt.«

Kanus erblaßte, dann lief er puterrot an. Er riß Romis die Depesche aus der Hand, überflog sie, knüllte sie dann zusammen und warf sie auf den Boden. Ein paar Sekunden lang brachte er kein Wort heraus. Dann begann die Tirade.

Anderthalb Stunden später, als der Führer sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, versicherten ihm seine Minister: »Die Terraner bleiben sicher nur vorübergehend…«

»Es ist nur eine kleine Flotte… militärisch völlig bedeutungslos…«

»Es ist ein schwächlicher Versuch von Martine und Spencer…«

Bei der Erwähnung von Spencers Namen bekam Kanus einen neuerlichen Wutanfall. Dann brach er unvermittelt ab.

»Romis! Glotzen Sie nicht aus dem Fenster! Sagen Sie mir lieber, wie Sie die Lage einschätzen.«

Der Außenminister drehte sich betont langsam um. »Sie müssen davon ausgehen, daß die Terraner auf unbestimmte Zeit in Acquatainia bleiben. Wenn nicht, um so besser. Aber bei Ihren Planungen müssen Sie davon ausgehen. Das heißt, Sie können Acquatainia militärisch nicht angreifen.«

»Warum nicht?« fuhr Kanus auf.

»Weil die Terraner sofort intervenieren«, erklärte Romis. »Man wird die gesamte Star Watch mobilisieren, sobald wir angreifen — unter dem Vorwand, die Forschungsexpedition zu schützen und zu sichern. Die Forschungsflotte dient lediglich als Rechtfertigung für ein Vorgehen gegen uns.«

Aber da hellte sich Kanus’ finsteres Gesicht auf. »Ich habe die Idee«, verkündete er. Dann, zu Kor gewandt: »Sie müssen die Entwicklung dieses Teletransporters mit allen Mitteln forcieren. Ich will umgehend ein funktionsfähiges Gerät. Haben Sie verstanden?«

»Jawohl, mein Führer.«

Kanus rieb sich vergnügt die Hände. »Aus dem Nichts tauchen unsere Truppen in der acquatainischen Hauptstadt auf. Wir werden den Cluster von innen heraus aufrollen! Überall, wo eine Duellmaschine steht, erscheinen wir unangemeldet und schlagen blitzschnell zu! Soll die Star Watch ruhig ihr Märtyrer-Kommando an der Grenze stationieren… die können dort Spinneweben ansetzen! Wir haben den gesamten Cluster in der Hand, bevor Spencer überhaupt mitbekommt, daß wir losgeschlagen haben.«

Kanus brach in wieherndes Gelächter aus, und alle seine Mitarbeiter fielen ein.

Nur Romis nicht.


Mißmutig saß Professor Leoh vor der Kommandokonsole der Duellmaschine. Hector lungerte unbehaglich in seiner Nähe.

»Wir haben genügend Power«, knurrte Leoh, »die Schaltung stimmt, alles scheint völlig normal zu sein.« Er warf Hector einen stirnrunzelnden Blick zu.

»Ich weiß… ich… ich schaffe es einfach nicht«, stammelte der Watchman.

Kopfschüttelnd sagte Leoh: »Wir haben die äußeren Bedingungen deines ersten Sprungs exakt reproduziert. Aber es klappt nicht. Nachdem nichts an der Maschine verändert ist, muß es irgendwie an dir liegen.«

Hector rollte verlegen mit den Schultern.

»Was ist es, mein Junge? Was bedrückt dich? Seit dem Abend, als du Odal erwischt hast, bist zu verändert.«

Hector antwortete nicht.

»Hör zu«, fuhr Leoh fort, »paranormalen Phänomenen kann man nur sehr schwer wissenschaftlich zu Leibe rücken. Seit Jahrhunderten sind Fälle bekannt, in denen Personen offensichtlich teleportiert haben oder telepathische Fähigkeiten zeigten. Es gibt unzählige dokumentierte Fälle von Poltergeistern — früher hat man sie tatsächlich für Geister gehalten. Ich bin überzeugt, daß es sich in Wirklichkeit um Telekinese handelte: Der ›Poltergeist‹ war ein ganz normaler Sterblicher, der unter außergewöhnlichem Streß stand und allein durch mentale Kräfte Objekte im Haus umherwarf — ohne es selbst zu wissen.«

»So wie ich auch nichts von meinem Sprung wußte«, sagte Hector.

»Genau. Nun hatte ich gehofft, daß die Duellmaschine deine paranormalen Fähigkeiten verstärken würde. Einmal hat sie es getan, aber jetzt funktioniert es nicht mehr.«

»Vielleicht besitze ich gar keine derartigen Fähigkeiten.«

»Auch möglich«, räumte Leoh ein. Dann beugte er sich vor und zielte mit dem Zeigefinger auf Hector. »Oder vielleicht beunruhigt dich etwas so sehr, daß deine Begabung verschüttet ist, überlagert, kurzgeschlossen.«

»Ist es Geri? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Wenn sie vielleicht hierherkommen könnte… schließlich gehörte sie mit zu den äußeren Bedingungen deines ersten Sprungs, nicht wahr?«

»Sie kommt nicht«, erwiderte Hector unglücklich.

»Was? Warum denn nicht?«

»Weil… weil… weil sie verlangte, daß ich Odal umbringe, und das wollte ich nicht tun, und da ist sie jetzt sauer auf mich und will nicht mal am Tri-Di mit mir sprechen…«, brach es aus dem Watchman hervor.

»Was? Wie war das? Noch mal ganz langsam zum Mitschreiben, Hector.«

Hector erzählte ihm die ganze Story, wie Geri ihn gedrängt hatte, Odal umzubringen, und wie er im letzten Moment zurückgeschreckt war.

Leoh lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem stattlichen Leib. »Hmmm. Eine begreifliche Reaktion, würde ich sagen. Die Acquatainier sind bekannt für diese Einstellung. Aber irgendwie hätte ich mehr von ihr erwartet.«

»Sie will nicht mal mit mir sprechen«, wiederholte Hector kläglich.

»Aber du hast das Richtige getan«, tröstete ihn Leoh. »Zumindest nach den moralischen Ansprüchen deiner Erziehung und deiner Star-Watch-Ausbildung. Rache ist ein äußerst dürftiges Motiv; ich finde, außer Notwehr gibt es keine Rechtfertigung, einen Menschen zu töten.«

»Sagen Sie ihr das.«

»Nein, mein Junge«, brummte Leoh und erhob sich ächzend. »Du mußt es ihr sagen. Und zwar klar und unmißverständlich.«

»Aber sie will ja nicht mal mit mir sprechen…!«

»Unsinn! Wenn du sie liebst, findest du Mittel und Wege, zu ihr vorzudringen. Mache ihr deinen Standpunkt klar. Wenn sie dich liebt, akzeptiert sie dich, so wie du bist und ist sogar noch stolz auf dich.«

Hector machte ein skeptisches Gesicht. »Und wenn sie mich nicht liebt?«

»Tja… so wie ich das acquatainische Temperament einschätze, schmeißt sie vielleicht mit harten Gegenstände nach dir.«

Der Watchman rührte sich nicht und starrte zu Boden.

Leoh packte ihn an den Schultern. »Jetzt hör mir mal zu, Junge. Was du getan hast, erforderte Mut, echten Mut. Es wäre einfach gewesen, Odal zu töten und damit Anerkennung bei ihr zu finden… jeder hätte dir Beifall gezollt, wenn man’s recht überlegt. Aber du hast das getan, was du für richtig hieltest. Und wenn du den Mut dazu hattest, dann bringst du bestimmt auch den Mut auf, einem unbewaffneten Mädchen gegenübertreten.«

Hector sah ihn an, und sein langes Gesicht war sehr ernst geworden. »Aber nehmen wir an… nehmen wir an, sie hat mich nie geliebt. Nehmen wir an, sie wollte mich nur als Werkzeug benutzen, um Odal zu töten?«

Dann sei froh, wenn du sie los bist, dachte Leoh. Aber das konnte er Hector nicht sagen.

»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, sagte er sanft.

Und fügte im stillen hinzu: Hoffe ich zumindest.


In seinem todesähnlichen Schlaf hörte Odal nicht, wie sich die Tür öffnete. Der Sergeant trat in die kahle, fensterlose Zelle und richtete seine Taschenlampe auf Odals Gesicht. Der kerakische Major regte sich und drehte sein Gesicht weg. Der Sergeant packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn unsanft.

Odal war mit einem Schlag hellwach, schlug dem Sergeanten die Hand weg und packte ihn an der Gurgel. Der Wächter ließ seine Lampe fallen und versuchte Odals Hand von seiner Kehle zu lösen. Ein paar Sekunden lang boten sie ein bizarres und tödliches Tableau, gespenstig beleuchtet von der am Boden liegenden Lampe — Odal, der aufrecht auf der Pritsche saß, und der Sergeant, der langsam auf die Knie sank.

Dann ließ Odal ihn los. Der Sergeant fiel auf alle viere und hustete röchelnd. Odal schwang die Beine aus dem Bett und stand auf.

»Wenn du mich weckst, wirst du das in Zukunft auf manierliche Weise tun«, zischte er. »Ich bin kein gemeiner Verbrecher, und ich lasse mich von dir nicht als solchen behandeln. Und wenn meine Tür auch von außen verschlossen ist, klopfst du in Zukunft an. Ist das klar?«

Der Sergeant stand auf und rieb sich den Hals. In seinen Augen lag eine Mischung aus Wut und Angst.

»Ich führe nur Befehle aus. Niemand hat mir gesagt, daß du bevorzugt behandelt werden sollst…«

»Ich sage es dir!« herrschte ihn Odal an. »Und solange ich meinen Dienstgrad noch habe, wirst du mich mit Sir anreden!«

»Jawohl, Sir!« murmelte der Sergeant verdrossen.

Odal entspannte sich etwas und knetete die Finger.

»Sie werden an der Duellmaschine verlangt… Sir.«

»Mitten in der Nacht? Auf wessen Befehl?«

Der Wärter zuckte die Achseln. »Hat man mir nicht gesagt, Sir.«

Odal lächelte. »Na schön. Warte draußen, während ich meine ›Uniform‹ anziehe.« Er deutete auf den ausgebeulten Drillich, der am Fußende der Pritsche hing.

Ein einzelner Meditechniker erwartete Odal vor der Duellmaschine, die bedrohlich in der düsteren Nachtbeleuchtung aufragte. Odal erkannte in ihm einen der Inquisitoren, die ihm in den vergangenen Wochen zugesetzt hatten. Wortlos deutete der Mann auf eine Kabine. Der Sergeant bezog Posten an der Tür des großen Raums, und der Meditechniker brachte die Neurokontakte an Odals Kopf und Schultern an. Dann verließ er die Kabine und verschloß die Tür von außen.

Ein paar Sekunden geschah nichts. Dann hörte Odal in seinem Kopf eine Stimme:

»Major Odal?«

»Natürlich«, dachte er zurück.

»Ja… natürlich.«

Irgend etwas stimmte nicht. »Sie… Sie sind nicht der…«

»Ich bin nicht der Mann, der Sie in die Duellmaschine gesetzt hat. Ganz recht.« Die Stimme klang gleichzeitig erfreut und besorgt. »Der Mann sitzt am Kontrollpult der Maschine, während ich auf der anderen Seite des Globus bin. Er hat einen Minitransceiver bei sich, über den ich jetzt mit Ihnen in Verbindung getreten bin. Diese Kommunikationsmethode ist unorthodox, kann aber wahrscheinlich nicht von Kor und seinen Helfershelfern angezapft werden.«

»Aber ich kenne Sie«, dachte Odal zurück. »Ich bin Ihnen schon mal begegnet.«

»Das ist richtig.«

»Romis! Sie sind Minister Romis!«

»Ja.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Ich habe erst heute morgen von Ihrer mißlichen Lage erfahren. Ich war schockiert darüber, wie man einen loyalen kerakischen Soldaten behandelt.«

Romis empfing die Gedanken in seinem Kopf, aber er spürte auch, daß Romis’ Worte nur die sorgfältig polierte Oberfläche bildeten, daß sich darunter eine andere, tiefere Bedeutung verbarg. Er sendete keine Gedanken aus und wartete, daß der Minister fortfuhr.

»Werden Sie schlecht behandelt?«

Odal lächelte gequält. »Nicht schlimmer als ein Meerschweinchen in einem Testlabor. Ich fühle mich ungefähr wie ein Versuchskaninchen, dem man ohne Narkose den Bauch aufschlitzt.«

Romis Geist sendete eine Welle von Entsetzen aus. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt und sagte: »Es gibt vielleicht Möglichkeiten, wie ich Ihnen helfen kann…«

Odal verlor die Geduld. »Sie haben nicht mitten in der Nacht mit Hilfe solch einer komplizierten Prozedur Kontakt mit mir aufgenommen, um sich nach meinem Wohlergehen zu erkundigen. Irgendwie sitzen Sie in der Patsche und glauben, daß ich Ihnen von Nutzen sein kann.«

»Können Sie tatsächlich meine Gedanken lesen?«

»Nicht in der Art, wie man ein Memotape liest. Aber ich spüre gewisse Dinge, und die Maschine verstärkt diese Fähigkeit.«

Romis zögerte einen Moment und fragte dann: »Können Sie… spüren… an was ich gerade denke?«

Jetzt zögerte Odal. War das eine Falle? Er blickte sich in der winzigen Kabine um, betrachtete die Tür, von der er wußte, daß sie von außen abgeschlossen war. Was können sie mir sonst noch an tun? Mich umbringen?

»Ich spüre einen Haß auf Kanus«, antwortete Odal. »Ein Haß, dem eine ebenso tiefe Angst vor Kanus gegenübersteht. Wenn Sie könnten, wie Sie wollten…«

»Ja?«

Odal sah es jetzt klar vor sich. »Dann würden Sie den Führer ermorden lassen.«

»Wie?«

»Von einem in Ungnade gefallenen Offizier, der allen Grund hat, Kanus zu hassen.«

»Sie haben allen Grund, ihn zu hassen«, betonte Romis.

»Vielleicht.«

»Vielleicht? Wie können Sie ihn nicht hassen?«

Odal schüttelte den Kopf. »Die Frage habe ich mir nie gestellt. Bisher habe ich ihn weder geliebt noch gehaßt, nur seine Befehle ausgeführt.«

»Pflichtbewußtsein bis zum bitteren Ende«, erwiderte Romis. »Sie sprechen fast wie ein Aristokrat.«

»Wie Sie einer sind. Und trotzdem wollen Sie den Führer ermorden lassen.«

»Ja! Weil ein Angehöriger des Adels seine Verpflichtung den Kerak-Welten gegenüber höher eingeschätzt als die Treue zu diesem Wahnsinnigen — diesem Usurpator, der unser aller Untergang sein wird, ob Adel oder gemeines Volk.«

»Ich bin nur ein Gemeiner«, betonte Odal maliziös. »Vielleicht fehlt mir der blaublütige Horizont, um wirklich beurteilen zu können, wem gegenüber ich verpflichtet bin. Auf jeden Fall habe ich im Moment keine Wahl.«

Romis unterdrückte seinen Ärger. »Hören Sie zu. Wenn Sie gemeinsame Sache mit uns machen, können wir Ihnen helfen, aus dieser unmenschlichen Experimentierstation zu entkommen. Wie Sie sehen, gehören ein paar von Kors Leuten zu uns; außerdem gibt es Gruppen in der Armee und in der Raumflotte. Wenn Sie uns helfen, können Sie erneut zum Helden von Kerak werden.«

Wenn ich Kanus ermorde und die Tat überlebe, sagte sich Odal. Und wenn ich nicht anschließend selbst von deinen Kumpanen beseitigt werde.

Romis fragte er: »Und wenn ich nicht gemeinsame Sache mit Ihnen mache?«

Der Minister schwieg.

»Verstehe«, sagte Odal. »Ich weiß jetzt zuviel, als daß Sie mich am Leben lassen könnten.«

»Es steht so viel auf dem Spiel, daß das Leben eines Einzelnen nicht zählt. Wenn Sie sich nicht entschließen, bei uns mitzumachen, bevor Sie die Duellmaschine verlassen, dann warten draußen der Meditechniker und der Sergeant auf Sie. Sie haben ihre Befehle.«

»Mich zu ermorden«, ergänzte Odal. »Bei einem Fluchtversuch erschossen, heißt es dann offiziell.«

»Ja. Ich muß es leider so brutal ausdrücken; aber die Entscheidung liegt bei Ihnen. Mitmachen oder Tod.«


Während Odal sich im nächtlichen Kerak die Entscheidung überlegte, war es später Nachmittag in der Hauptstadt von Acquatainia.

Hoch über der City kreiste Hector in einem gemieteten Aero-Car, das eigentlich schon längst auf den Abwrackplatz gehörte. Er starrte auf die Monitorschirme und saß angespannt im Pilotensitz; die anderen drei Plätze waren leer.

Ein Abschnitt seiner Kreisbahn führte ihn durch einen vielbeflogenen Luftkorridor, aber er ignorierte die anderen Aero-Cars und hatte den Autopiloten auf einen starren kreisförmigen Kurs fixiert, während der heimwärtsflutende Berufsverkehr um ihn herum lebensgefährliche Ausweichmanöver fliegen mußte. Wütende Fahrer stießen wüste Beschimpfungen über die Bordradios aus. Hector hatte sein Funkgerät ausgeschaltet; jeder Sinnesnerv war auf die Bildschirme konzentriert.

Die Tri-Di-Scanner des Aero-Cars waren auf Geri Dulaqs Haus am Stadtrand gerichtet. Hector interessierte sich für nichts anderes. Gleiter schwirrten an seiner Plastikkanzel vorbei, aufgebrachte Piloten ballten drohend die Fäuste. Er sah sie nicht. Der Wind pfiff verdächtig durch die Kabine, die eigentlich luftdicht sein sollte; das Aero-Car ächzte und vibrierte, statt geräuschlos und erschütterungsfrei dahinzugleiten. Er bemerkte es nicht.

Da ist sie! Er war wie elektrisiert, als er sie endlich im Garten neben ihrer Villa entdeckten.

Einen flüchtigen Moment zweifelte er, ob er wirklich den Mut dazu aufbringen würde, aber seine Hand hatte sich bereits um den Steuerknüppel verkrampft, und das Aero-Car setzte zu einem langen, heulenden Sturzflug auf die Villa an.

Die rötliche Sonne von Acquatainia schien Hector direkt in die Augen, obwohl die fotochromatische Kanzel eigentlich als Blendschutz wirken sollte. Irritiert kniff Hector die Augen zusammen und konnte mit Mühe das Haus ausmachen, das mit atemberaubendem Tempo auf ihn zugerast kam. Er riß den Steuerknüppel zurück, fuhr die Bremsklappen voll aus, schwenkte die heulenden Triebwerke in Landeposition und klatschte das Aero-Car inmitten einer riesigen Staubwolke direkt auf Geris Blumenbeet.

»Du!« schrie sie, als er die Kanzel aufstieß. Sie drehte sich um und rannte zum Haus. Hector wollte aus dem Cockpit springen, aber der Sitzgurt schnitt ihm schmerzhaft in Bauch und Schultern.

Bis Hector den Sicherheitsgurt ausgeklinkt hatte und neben dem Aero-Car auf dem Blumenbeet stand, war Geri bereits im Haus verschwunden. Aber die Tür stand noch offen. Hector sprintete los.

Ein ältlicher Bediensteter erschien auf dem Gehweg vor der Tür. Hector schlüpfte unter seinen abwehrend ausgebreiteten Armen durch und warf sich gegen die Tür, die jetzt zuschwang. Er schaffte es nur halb und fand sich plötzlich zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt.

Hector hörte ein Keuchen hinter der Tür und spürte, wie sich jemand dagegenstemmte, obwohl sich ein Arm und ein Bein von ihm bereits im Haus befanden. Er drückte kräftig gegen die Tür und hoffte, daß nicht Geri dahinter stand. Die Tür gab kaum nach. Das kann nicht Geri sein, sagte er sich. So gut es ging stützte er sich auf das eine, außerhalb stehende Bein und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie gab langsam nach, dann flog sie plötzlich auf. Hector verlor das Gleichgewicht und prallte mit dem stämmigen Butler zusammen, der ihn auszusperren versucht hatte. Beide purzelten auf den harten Plastiholzboden des Eingangs.

Hector richtete sich auf Händen und Knien auf und erhaschte einen Blick auf Geri oben am Ende der breiten, geschwungenen Freitreppe, welche die Eingangshalle der Villa beherrschte. Dann warf sich der Hausdiener über ihn und wollte ihn zu Boden drücken. Hector drehte sich unter ihm heraus, löste sich aus der unbeholfenen Umklammerung und stand auf.

»Zwingen Sie mich nicht, Ihnen die Knochen zu brechen!« stieß Hector mit nicht sonderlich fester Stimme hervor und nahm eine — wie er hoffte — drohende Haltung ein. Zwei schwächliche Arme umklammerten ihn von hinten. Der ältere Diener. Hector riß sich los und lief ein paar Schritte ins Haus hinein, wobei er den stämmigen Hausdiener, der am Boden kauerte und Gen fragend anblickte, nicht aus den Augen ließ.

Sie braucht nur zu nicken, dachte Hector, dann gehen die beiden sofort auf mich los.

»Ich habe dir doch gesagt, ich will dich nie mehr sehen!« schrie sie. »Nie mehr!«

»Ich muß unbedingt mit dir sprechen«, schrie er zurück. »Nur fünf Minuten…allein.«

»Kommt nicht in… deine Nase blutet.«

Er fuhr mit der Zunge über die Oberlippe und schmeckte salziges Blut.

»Ich… die Tür… wahrscheinlich habe ich die Tür auf die Nase gekriegt.«

Geri machte ein paar zögernde Schritte die Treppe hinunter, holte dann tief Atem und kam langsam in die Eingangshalle.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie zu den Bediensteten. »Ihr könnt gehen.«

Der Stämmige machte ein unsicheres Gesicht. Der Ältere piepste: »Aber wenn er…«

»Ich kann allein auf mich aufpassen«, versicherte Geri. »Ihr könnt im Nebenzimmer warten, wenn ihr wollt. Der Lieutenant bleibt nur fünf Minuten. Keine Sekunde länger!« fügte sie zu Hector gewandt hinzu.

Widerstrebend zogen die Bediensteten ab.

»Du hast mein Blumenbeet ruiniert«, sagte sie zu Hector. Aber ihre Stimme war weich, und um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Und du blutest immer noch aus der Nase.«

Hector wühlte in seinen Taschen. Geri zauberte ein Papiertuch hervor.

»Hier. Jetzt kannst du das Blut abwischen und wieder gehen.«

»Erst wenn ich das losgeworden bin, was ich dir zu sagen habe«, näselte Hector, das Taschentuch an die Nase gedrückt.

»Halt den Kopf hoch. Du bekleckerst den ganzen Fußboden.«

»So kann ich mich nicht unterhalten.«

Geri lächelte unwillkürlich. »Ist ja schließlich deine eigene Schuld. Man kommt auch nicht in anderer Leute Vorgarten geplumpst wie… wie…«

»Du wolltest ja nicht mit mir sprechen. Und ich mußte es dir einfach sagen.«

»Was mußtest du mir sagen?«

Hector ließ den Kopf sinken, wobei seine Halswirbel schmerzhaft knacksten. »Also… verdammt noch mal, Geri, ich liebe dich. Aber dein angeheuerter Killer will ich nicht sein. Und wenn du mich lieben würdest, wolltest du das auch nicht. Ein Mann darf kein Schoßhündchen sein… und apportieren, wenn sein Frauchen pfeift. Ich bin nicht…«

Ihr Gesicht wurde hart. »Ich habe dich nur um das gebeten, was ich selbst getan hätte, wenn ich ein Mann wäre.«

»Du hättest Odal getötet?«

»Selbstverständlich.«

»Weil er deinen Vater ermordet hat?«

»Ganz recht.«

Hector nahm das Tuch von der Nase. »Aber Odal führte nur Befehle aus. Kanus war es, der den Mord an deinem Vater angeordnet hat.«

»Dann würde ich auch Kanus töten, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte«, versetzte sie heftig.

»Du würdest jeden umbringen, der nur irgendwie beteiligt war?«

»Selbstverständlich.«

»Die anderen Soldaten, die Odal bei dem Duell geholfen haben, die würdest du auch umbringen?«

»Natürlich!«

»Jeden, der Odal geholfen hat? Die Raumschiffbesatzung, die ihn nach Acquatainia brachte?«

»Ja! Alle! Jeden einzelnen!«

Sanft legte ihr Hector die Hand auf die Schulter. »Dann mußt du auch mich töten, denn ich habe ihn gehen lassen. Ich habe ihm zur Flucht verholfen.«

Sie setzte zu einer Antwort an. Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen; schluchzend legte sie den Kopf an Hectors Schulter.

Er nahm sie in die Arme. »Ist ja gut, Geri, beruhige dich. Ich verstehe dich ja so gut. Es tut verdammt weh. Aber… du kannst einfach nicht verlangen, daß ich zu einem gemeinen Mörder werde… so wie er… ich meine, das kann ich einfach nicht…«

»Ich weiß«, schluchzte sie. »Ich weiß, Hector, ich weiß.«

Einen langen Moment standen sie eng umschlungen. Dann hob sie den Kopf und blickte ihn an. Hector küßte sie.

»Du hast mir gefehlt«, wisperte sie.

Hector grinste wie ein Zirkusclown. »Ich… also du hast mir auch sehr gefehlt, Geri.«

Sie lachten, und dann zog sie ein frisches Tuch hervor und tupfte an seiner Nase herum.

»Du, es tut mir leid um deine Blumen.«

»Halb so schlimm, das bringe ich schon wieder…« Sie verstummte und starrte zur Tür.

Als Hector den Kopf wandte, sah er einen blauschimmernden kistengroßen und kistenförmigen Roboter, der wichtigtuerisch auf den Klingelknopf drückte. Sein einzelnes Fotoauge schien bei Hectors Anblick aufzuleuchten.

»Sie sind Star-Watch-Lieutenant Hector H. Hector, der Pilot des Fahrzeugs, das dort draußen auf dem Blumenbeet verbotswidrig parkt?« erkundigte sich der Robot mit blecherner Stimme.

Hector nickte entgeistert.

»Sie werden folgender Vergehen und Übertretungen beschuldigt, Sir: Verletzung der Flugsicherheitsbestimmungen bezüglich der Benutzung von Luftkorridoren, Nichtannahme von Flugkontrollanrufen, nicht genehmigte Flugmanöver, Unterschreitung der Mindestflughöhe über Wohnbezirken, Landung auf einem nicht zur Landung freigegebenen Platz, widerrechtliches und gewaltsames Betreten eines Privatgrundstücks, Hausfriedensbruch unter Gewaltanwendung, Körperverletzung und Nötigung. Es wird Ihnen empfohlen, keine Erklärungen abzugeben oder Aussagen zu machen, bevor Sie nicht juristischen Beistand hinzugezogen haben. Sie sind aufgefordert, mit mir zu kommen, widrigenfalls Sie zusätzlich mit einer Anklage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu rechnen haben. Vielen Dank.«

Der Watchman war völlig am Boden zerstört.

Geri unterdrückte nur mit Mühe ein Kichern. »Mach dir keine Sorgen, Hector. Ich kümmere mich um einen Anwalt. Wenn sie dich ins Gefängnis stecken, besuche ich dich natürlich. Das stelle ich mir schrecklich romantisch vor.«


Odal saß in der dunklen Duellmaschinen-Kabine und dachte angestrengt nach. Wenn er weiterhin Kors Versuchskaninchen blieb, bedeutete das schimpfliche Behandlung und qualvolle Psychoexperimente. Am Ende stand der Tod. Wenn er sich Romis anschloß, bedeutete das einen Attentatsversuch auf den Führer; ein Versuch, der — erfolgreich oder nicht — nur mit seinem eigenen Tod enden konnte. Und wenn er Romis’ Angebot ablehnte, führte das ebenfalls zu seinem Tod — und zwar auf der Stelle.

Für welche Möglichkeit er sich auch entschied, das Endergebnis blieb das gleiche. Gelassen und beinahe unbeteiligt wog Odal die Alternativen ab, fast so, als ginge es gar nicht um sein persönliches Geschick. Es war beinahe zum Lachen, daß sich die Ereignisse so überwältigend negativ gegen einen einzelnen Menschen verschwören konnten.

Romis’ Stimme in seinem Kopf klang drängend. »Ich kann diese Verbindung nicht mehr lange aufrechterhalten, ohne das Risiko einer Entdeckung einzugehen. Wie haben Sie sich entschieden?«

So lange wie möglich am Leben zu bleiben, dachte Odal. Er hoffte, daß dieser Gedanke nicht zu Odal durchgedrungen war, und sagte: »Ich mache mit.«

»Freiwillig, aus eigenem Antrieb?«

Das Bild des bewaffneten Sergeanten, der draußen auf ihn wartete, stand Odal vor Augen. »Freiwillig, aus eigenem Antrieb«, versicherte er.

»Ausgezeichnet. Bleiben Sie, wo Sie sind, benehmen Sie sich, als sei nichts geschehen. In ein paar Tagen, spätestens in einer Woche, haben wir Sie aus Kors Klauen befreit.«

Erst als er sicher sein konnte, daß die Verbindung getrennt war, daß Romis und der Mann an der Kontrollkonsole ihn nicht mehr hören konnten, erlaubte sich Odal den Gedanken: Wenn ich dem Führer Romis und all die anderen Verschwörer auf einem silbernen Tablett präsentiere, machen sie mich bestimmt wieder zum Helden von Kerak.


Hector grinste über das ganze Gesicht, als er in den großen Saal geschlendert kam, wo die Duellmaschine stand. Geri an seiner Seite lächelte ebenfalls.

»So, nachdem ihr endlich wieder vereint seid und alle Strafbefehle bezahlt sind«, sagte Leoh vergnügt, »hoffe ich sehr, daß du jetzt die entsprechende innere Ruhe zum Arbeiten hast.«

»Warten Sie nur ab«, versprach Hector.

Sie begannen behutsam. Zuerst teleportierte Hector nur von der einen Duellkabine in die andere. Er schaffte es ein gutes Dutzend Mal am ersten Tag. Leoh maß die Transitzeit und den jeweiligen Energieverbrauch. Der Sprung dauerte durchschnittlich vier Picosekunden. Und laut dem kleinen Tischrechner, den Leoh neben der Kontrollkonsole aufgestellt hatte, entsprach der Energieverbrauch ungefähr dem eines Raumschiffs, wenn es seine Masse entsprechend Hectors Gewicht über die gegebene Entfernung transportierte.

»Ist euch klar, was das bedeutet?« fragte Leoh die beiden.

Hector lehnte wieder an der Kontrollkonsole, während Geri sich einen Stuhl neben Leoh gestellt hatte. Hector schlug einen seiner gefürchteten Trommelwirbel auf der Konsole und überlegte einen Moment. »Na ja… es bedeutet, daß wir Objekte genauso wirtschaftlich transportieren können wie ein Raumschiff…«

»Nicht ganz richtig«, korrigierte Leoh. »Wir können Gegenstände oder Personen so wirtschaftlich transportieren, wie ein Raumschiff seine Nutzlast transportiert. Wir brauchen weder Rumpf noch Triebwerke zu bewegen. Unser Triebwerk — die Duellmaschine — bleibt auf dem Boden. Nur die reine Nutzlast wird bewegt.«

»Ist die Geschwindigkeit genauso groß wie bei einem Raumschiff?« fragte Geri.

»Offenbar größer, wenn ich mir die Testergebnisse hier anschaue«, erwiderte Leoh.

»Bewege ich mich im Subspace«, erkundigte sich Hector, »so wie ein Raumschiff? Oder was?«

»›Oder was‹, würde ich sagen«, meinte Leoh. »Aber das ist nur eine Vermutung. Wir haben keine Ahnung, wie das funktioniert, wie schnell du wirklich bist, wie weit du teleportieren kannst, oder welche Grenzen dieses Phänomen hat. Da liegt ein Berg von Arbeit vor uns.«

In den darauffolgenden Tagen bewegte Hector Objekte, während er in einer der Duellkabinen saß. Er hob Gewichte, ohne sie zu berühren, und transportierte dann sogar Geri von einer Kabine in die andere. Aber es klappte nur, wenn er in der Maschine saß.

»Sieht so aus, als hätten wir hier ein neues interstellares Transportmittel«, sagte Leoh am Ende der Woche, erschöpft, doch hochzufrieden. »Auf der Empfangsseite muß allerdings eine Duellmaschine oder so etwas Ähnliches stehen.«


Der Schmerz war unerträglich. Odal schrie lautlos, innerlich, als sich Dutzende von weißglühenden Lanzenspitzen in seinen Körper bohrten. Er wand sich krampfhaft, Arme und Beine zuckten unkontrolliert, Magen und Gedärme verknoteten sich, sein Pulsschlag erreichte eine bedrohliche Frequenz. Er konnte nicht sehen, konnte nicht hören, konnte nur Blut in seinem Mund schmecken.

Romis! Wo bleibt Romis? Warum kommt er nicht? Er hätte seinen Peinigern alles verraten, alles, was sie nur hören wollten, nur damit sie endlich aufhörten. Aber sie stellten ihm nicht einmal Fragen. Sie waren nicht interessiert an seinen Erinnerungen oder an seinen Geständnissen.

Springe!

Teleportiere in die andere Kabine!

Du bist ein ausgebildeter Telepath, du mußt auch latente Teleportationsfähigkeiten besitzen.

Wir quälen dich so lange, bis du in die andere Kabine teleportierst. Und wir haben längst noch nicht alle Mittel ausgeschöpft.

SPRINGE!

Hector saß in der Duellmaschine auf Acquatainia und konzentrierte sich auf das nächste Experiment. In der anderen Kabine stand ein Karton mit Papieren, Tapes und Hologrammen. Hector sollte ihn zu der Duellmaschine auf der anderen Seite des Planeten transportieren. Es war der erste Langstreckentest.

Konzentration fiel ihm nicht leicht. Geri wartete draußen auf ihn. Und Leoh hatte schon den ganzen Tag mit ihm gearbeitet. Flüchtig dachte er an Odal: Was der jetzt treibt? Experimentiert er vielleicht mit Teleportation?

Er spürte ein kurzes Prickeln wie von einem schwachen Stromschlag.

»Komisch«, brummte er.

Stirnrunzelnd entfernte er die Neurokontakte von Kopf und Schultern, stand auf und öffnete die Kabinentür.

Die Techniker an den Kontrollkonsolen starrten ihn entgeistert an. Hector brauchte volle fünf Sekunden, bis es ihm aufging, daß sie kerakische Uniformen trugen. Zwei Wachtposten, die ebenso verdutzte Gesichter machten, griffen nach ihren Waffen, als sie das Star-Watch-Emblem an Hectors Overall entdeckten.

Er konnte gerade noch »Oh… oh… oh…« stammeln, bevor sie ihn mit Lähmungsstrahlern niederschossen.

Auf Acquatainia schüttelte Leoh mißmutig den Kopf, als er den Karton inspizierte, den Hector teleportieren sollte.

»Nichts«, murmelte er enttäuscht. »Es hat nicht geklappt.«

Geris Schrei unterbrach abrupt seine Grübeleien. Als er aufblickte, sah er sie hysterisch schreiend vor der Kontrollkonsole kauern. In der Tür der anderen Kabine stand die große, sehnige Gestalt von Odal.


»Absolut phantastisch«, sagte Sir Harold Spencer.

Leoh nickte. Der alte Wissenschaftler saß an seinem Schreibtisch in dem kleinen Arbeitszimmer hinter der Duellmaschine. Die nüchtern grauen Metallwände hinter Spencers Tri-Di-Bild ließen erkennen, daß sich der Commander in einem Raumschiff befand.

»Er ist tatsächlich von Kerak nach Acquatainia gesprungen, dieser Odal?« Spencer schien es noch immer nicht fassen zu können.

»In unter einer Sekunde«, bestätigte Leoh. »Vierhundertfünfzig Lichtjahre in weniger als einer Sekunde.«

Spencer kniff die buschigen Brauen zusammen. »Ist dir eigentlich klar, was du getan hast, Albert? Das militärische Potential dieser… dieser Teleportation. Und Kanus muß über das gleiche Wissen verfügen.«

»Ja. Und er hält Hector irgendwo auf Kerak gefangen, wenn mich nicht alles täuscht. Wir müssen ihn befreien… falls er überhaupt noch am Leben ist.«

»Ich weiß«, grollte Spencer. »Und was ist mit diesem kerakischen Killer? Ich hoffe doch, daß die Acquatainier ihn sicher verwahren?«

Leoh nickte bestätigend. »Die wissen nicht recht, was sie mit ihm anfangen sollen. Juristisch gesehen hat er sich nichts zuschulden kommen lassen. Und niemand hat das geringste Interesse, ihn nach Kerak zurückzuschicken.«

»Warum ist er abgehauen? Wieso kam er nach Acquatainia zurück?«

»Keine Ahnung. Odal hüllt sich in Schweigen und hat lediglich Asyl beantragt. Die meisten hier halten es wieder für einen raffinierten Trick.«

Spencer trommelte ungeduldig mit den Fingern. »Odal sitzt also auf Acquatainia hinter Gittern. Hector steckt vermutlich in einem kerakischen Gefängnis — wenn er noch lebt. Und ich habe einen Flottenverband zur acquatainisch-kerakischen Grenze geschickt mit einer Mission, die jetzt absolut sinnlos geworden ist. Kanus braucht sich nicht nach Acquatainia durchzukämpfen. Er kann mitten im Cluster auftauchen, überall wo eine Duellmaschine steht.«

»Wir könnten sie abschalten oder bewachen lassen«, schlug Leoh vor.

Spencer machte ein finsteres Gesicht. »Kanus kann in jeder kerakischen Botschaft im Cluster eine Duellmaschine installieren oder auch im Commonwealth. Daran läßt er sich bestimmt nicht hindern, höchstens durch einen Krieg.«

»Und Krieg ist genau das, was wir vermeiden wollen.«

»Wir müssen ihn vermeiden«, knurrte Spencer, »wenn wir das Commonwealth erhalten wollen.«

Spencers düstere Stimmung färbte auf Leoh ab. »Und Hector? Was ist mit ihm? Wir können ihn doch nicht einfach aufgeben… Kanus würde ihn umbringen.«

»Ich weiß. Ich rufe Romis an, den Außenminister. Er scheint der einzige aus der ganzen Bande um Kanus zu sein, dem man noch einigermaßen trauen kann.«

»Was willst du unternehmen, wenn sie Hector nicht freilassen?«

»Ich vermute, sie möchten ihn gegen Odal austauschen.«

»Aber Odal will nicht zurück«, argumentierte Leoh. »Und die Acquatainier geben ihn möglicherweise gar nicht heraus. Wenn sie Odal gefangenhalten und Kanus Hector behält, dann zwingen sie das Commonwealth…«

»… mit militärischem Eingreifen zu drohen, falls man Hector nicht freiläßt. Himmel noch mal, dieser Lieutenant kann genau den Krieg auslösen, den wir so unbedingt verhindern wollen!«

Spencers entsetztes Gesicht spiegelte Leohs Empfindungen wider.


Im Morgengrauen verließ Minister Romis sein Landhaus für seinen üblichen Ausritt. Er folgte dem Reitpfad jedoch nur so lange, bis er von Haus und von möglichen Spionen Kors nicht mehr gesehen werden konnte. Dann bog er vom Weg ab und trieb sein Pferd in den dichten Wald. Nach einem anstrengenden Aufstieg erreichte er eine kleine Lichtung auf einem Hügelkamm.

Mitten auf der Lichtung stand eine kleine Shuttle, deren offene Luke von zwei Posten bewacht wurde. Wortlos stieg Romis ab und kletterte in die Maschine. Ein identisch gekleideter Mann, der die gleiche Figur wie der Außenminister hatte, kam aus der Shuttle, bestieg das Pferd und ritt davon.

Sekunden später stieg die Shuttle mit schallgedämpften Jets auf und verließ kurz darauf die Atmosphäre von Kerak. Romis ging ins Cockpit und setzte sich neben den Piloten.

»Das ist ziemlich riskant, Sir«, sagte der Pilot. »Wir können leicht vom Boden aus entdeckt werden.«

»Die nächste Kontrollstation ist mit Freunden bemannt«, erwiderte Romis müde. »Zumindest waren es noch Freunde, als ich das letzte Mal mit ihnen sprach. Bei solchen Unternehmen muß man gewisse Risiken eingehen, und das größte Risiko scheinen Freunde zu sein, die die Seiten wechseln.«

Der Pilot nickte mißmutig. Zwölf Minuten nach dem Takeoff erreichte die Shuttle ein Raumschiff mit den Emblemen der kerakischen Flotte, das in großer Höhe den Planeten umkreiste.

Ein Captain mit tiefgefurchten Zügen empfing Romis an der Luftschleuse und führte ihn einen schmalen Korridor entlang zu einer kleinen, bewachten Kabine. Sie traten ein. Auf der Koje an der gekrümmten Außenwand lag die reglose Gestalt von Star-Watch-Lieutenant Hector. Davor saßen ein Soldat und ein Meditechniker. Sie erhoben sich und salutierten.

»Keiner von Kors Leuten weiß von ihm?« Romis sprach leise, aber drängend.

»Nein, Sir«, erwiderte der Meditechniker. »Die Verhörspezialisten verloren alle das Bewußtsein durch den plötzlichen Spannungsanstieg, als Odal und der Watchman teleportierten. Wir konnten den Watchman unbemerkt hierherschaffen.«

»Hoffen wir’s«, murmelte Romis. »Wie geht’s ihm jetzt?«

»Schläft wie ein Baby, Sir«, erklärte der Meditechniker. »Wir hielten es für das beste, ihm ein starkes Schlafmittel zu verabreichen.«

Romis nickte.

»Auf meinen Befehl«, fügte der Captain hinzu, »hat der Watchman mehrere Dosen Wahrheitsserum bekommen. Wir haben ihn ausgefragt. Solch eine Gelegenheit konnten wir uns nicht entgehen lassen.«

»Sehr gut«, lobte Romis. »Und was haben Sie erfahren?«

Die Miene des Captains verdüsterte sich. »Nicht das geringste. Entweder weiß er nichts… was ich mir nicht vorstellen kann, oder« — er blickte den Meditechniker an — »oder das Serum zeigt bei ihm keine Wirkung.«

Romis zuckte die Achseln und wandte sich wieder dem Meditechniker zu. »Und Sie sind sicher, daß Sie den Watchman unbemerkt weggebracht haben?«

»Jawohl, Sir. Auf der üblichen Route. Es wurden nur Männer eingeweiht, die loyal zu uns stehen.«

»Gut. Dann laßt uns hoffen, daß keiner unserer loyalen Freunde auf die Idee kommt, seine Loyalität einem anderen anzubieten.«

»Wie wollen Sie Odals Verschwinden erklären?« erkundigte sich der Captain. »Man wird doch sicher heute morgen den Führer informieren.«

»Zweifellos. Und ich habe nicht die Absicht, auch nur ein Wort zu sagen. Kor nimmt an, daß Odal, sein Bewacher und der Meditechniker mit der Duellmaschine entkommen sind. Soll er das weiterhin annehmen; auf uns fällt nicht der geringste Verdacht.«

Der Captain murmelte zustimmend.

Es klopfte. Der Captain öffnete die Tür, und der Wachtposten reichte ihm eine Nachricht. Der Captain überflog den Text und gab ihn dann an Romis weiter. »Ihre Tri-Di-Verbindung steht, Sir.«

Romis zerknüllte die Notiz. »Dann muß ich mich beeilen, bevor man den Beam anpeilt. Hier« — er reichte dem Meditechniker das zerknüllte Papier — »vernichten Sie das. Eigenhändig.«

Eilig lief Romis den Korridor entlang zu einer anderen Kabine, die als Kommunikationszentrale diente. Als er mit dem Captain eintrat, stand der Funktechniker auf, salutierte und zog sich diskret auf den Korridor zurück.

Romis setzte sich vor den Bildschirm und drückte auf eine Taste an der Konsole. Sofort erschien auf dem Schirm die massige Gestalt von Sir Harold Spencer. Er saß an einem Metallschreibtisch und war offensichtlich an Bord seines Raumschiffs.

Spencers Gesicht verhieß nichts Gutes. »Minister Romis! Ich wollte Sie gerade anrufen, als Ihr eigener Anruf hier einging.«

Romis lächelte diplomatisch und antwortete: »Aus Ihrem Gesichtsausdruck schließe ich, daß Sie den Grund meines Anrufs bereits kennen, Commander.«

Sir Harold erwiderte sein Lächeln nicht. »Sie sind ein gewiefter Diplomat, Romis. Ich bin nur einfacher Soldat. Kommen wir zur Sache.«

»Selbstverständlich. Ein Major der kerakischen Streitkräfte ist spurlos verschwunden, und ich habe Grund zu der Annahme, daß er sich in Acquatainia befindet.«

»Ein Star-Watch-Lieutenant ist verschwunden«, äffte ihn Spencer polternd nach, »und ich habe allen Grund zu der Annahme, daß er sich in Kerak befindet.«

»Ihr Verdacht ist nicht ganz unbegründet«, parierte Romis mit leisem Spott. »Und meiner?«

Der Star-Watch-Commander rieb sich das massige Kinn. »Sie haben gerade in der Ich-Form gesprochen, nicht in dem üblichen diplomatischen Plural. Wäre es denkbar, da Sie nicht für die kerakische Regierung sprechen?«

Romis warf dem Captain, der außerhalb des Kamerabereichs an der Tür stand, einen fragenden Blick zu. Der Captain runzelte nur die Stirn und bedeutete mit einer Geste, daß die Zeit knapp wurde.

»In der Tat«, sagte Romis zu Sir Harold, »ich spreche im Moment nicht im Auftrag meiner Regierung. Wenn sich der verschwundene kerakische Major in Ihren Händen befindet, können Sie unschwer von ihm Genaueres über meine derzeitige, äh, Situation erfahren.«

»Verstehe«, brummte Spencer. »Darf ich daraus entnehmen, daß sich Lieutenant Hector in Ihrer Gewalt befindet — und nicht in der Gewalt von Kanus und seiner Gangsterbande?«

Romis nickte.

»Sie möchten ihn gegen Major Odal austauschen?« erkundigte sich Sir Harold.

»Keineswegs. Im Augenblick ist der Major… sicherer… wo er sich jetzt befindet. Zur Zeit wollen wir ihn nicht zurückhaben. Später vielleicht. Ich möchte Ihnen jedoch versichern, daß Lieutenant Hector kein Leid geschieht — ganz egal, was sich hier auf Kerak ereignen sollte.«

Spencer schwieg eine ganze Weile. Schließlich sagte er: »Sie scheinen anzudeuten, daß in Kürze mit einer, äh, Veränderung in der kerakischen Regierung zu rechnen ist und daß Sie Lieutenant Hector als Faustpfand behalten wollen, um sicherzustellen, daß die Star Watch nicht interveniert. Ist das korrekt?«

»Sie drücken es ziemlich drastisch aus«, meinte Romis, »aber im Prinzip ist es korrekt.«

»Na schön«, knurrte Spencer, »dann machen Sie mal Ihre Palastrevolution. Aber ich muß Sie warnen: wenn einem einzigen Watchman ein Haar gekrümmt wird, dann haben Sie so schnell eine Invasion am Hals, wie meine Raumflotte Ihr System erreichen kann. Ich pfeife auf die Zustimmung des Terranischen Councils und auf sonstige Formalitäten. So wahr ich hier sitze — ich verwandele Kerak in einen rauchenden Trümmerhaufen! Ist das klar ausgedrückt?«

»Völlig klar«, erwiderte Romis gepreßt und mit hochrotem Kopf. »Völlig klar.«


Leoh mußte den längsten Korridor im acquatainischen Justizministerium passieren, eine Liftröhre ins tiefste Kellergeschoß nehmen, vier Checkpoints überwinden, die von Dutzenden schwerbewaffneter Posten bewacht wurden, kam dann in einen Vorraum, wo neben einem Tri-Di-Scanner zwei Soldaten saßen, und durfte schließlich — nachdem er angehalten, fotografiert, ausgefragt worden war und unzählige Male seinen speziellen Ausweis und seinen Paß vorgezeigt hatte — Odals Quartier betreten.

Es war eine komfortable Suite, tief unter der Erde, die man während des letzten kerakisch-acquatainischen Kriegs als Schutzbunker für den Justizminister gebaut hatte.

»Sie werden wirklich gut bewacht«, sagte der alte Wissenschaftler beim Eintreten zu Odal.

Der kerakische Major hatte auf einer luxuriösen Couch gesessen und ein Musiktape angehört. Er stellte die Musik ab und erhob sich. Die äußere Tür schloß sich automatisch hinter dem Wissenschaftler.

»Ich werde beschützt, heißt es offiziell«, erwiderte Odal, »und zwar sowohl vor der acquatainischen Bevölkerung wie auch vor der kerakischen Botschaft.«

»Werden Sie gut behandelt?« fragte Leoh, während er unaufgefordert in einem Sessel neben der Couch Platz nahm.

»Danke der Nachfrage. Ich habe Musik, Tri-Di, Essen und Trinken.« Odals Stimme hatte einen ironischen Unterton. »Ich darf sogar einmal am Tag die Sonne sehen, wenn ich meine Freiübungen im Gefängnishof mache.«

Als sich Odal wieder auf die Couch setzte, musterte ihn Leoh verstohlen. Er schien sich verändert zu haben. Kein eisiges Lächeln mehr, keine Arroganz. In seinem Gesicht gab es Falten, die der Schmerz dort eingegraben hatte. Aber nicht nur der Schmerz allein. Ernüchterung, Enttäuschung vielleicht. Die Welt war nicht länger seine persönliche Siegesarena. Er kämpft jetzt um das gleiche, worum wir alle kämpfen: ums Überleben, dachte Leoh.

Laut sagte er: »Sir Harold Spencer hat mit Außenminister Romis gesprochen.«

Odal verzog keine Miene.

»Harold hat mich gebeten, mit Ihnen zu reden und herauszufinden, wo Sie in der ganzen Sache stehen. Die Situation ist reichlich verworren.«

»Mir erscheint sie einfach«, entgegnete Odal. »Sie haben mich. Romis hat Hector.«

»Ja, aber wie soll es weitergehen? Greift Kanus Acquatainia an? Wird Romis Kanus entmachten? Harold hat versucht, einen Krieg zu verhindern, aber wenn Hector irgendwas zustößt, schlägt er mit seiner gesamten Star-Watch-Flotte zu. Und wo stehen Sie? Auf welcher Seite sind Sie?«

Odal lächelte verhalten. »Das frage ich mich selbst. Bis jetzt habe ich keine klare Antwort gefunden.«

»Diese Antwort ist wichtig für uns.«

»Wirklich?« meinte Odal und beugte sich etwas vor. »Warum eigentlich? Ich bin Gefangener. Ich kann hier nicht weg.«

»Sie brauchen nicht in Gefangenschaft zu bleiben. Ich bin überzeugt, daß Harold und Premierminister Martine Sie freilassen, wenn Sie bereit sind, uns zu helfen.«

»Ihnen helfen? Wie?«

»Zum einen«, erwiderte Leoh, »könnten Sie uns behilflich sein, Hector zurückzubekommen.«

»Also nach Kerak zurückkehren?« fragte Odal mit verkniffener Miene. »Das wäre ziemlich riskant für mich.«

»Sie würden die Sicherheit hier vorziehen, als ein Gefangener?«

»Warum eigentlich nicht?«

»Ich könnte mir vorstellen, daß Romis bei seinem Umsturzversuch mit Ihrer Unterstützung rechnet.«

»Möglich. Aber erst in dem Augenblick, wenn er bereit ist, direkt gegen Kanus vorzugehen. Bis dahin ist er vermutlich froh, daß ich sicher und aus dem Weg bin. Er wird mich rufen lassen, wenn er mich braucht. Ob ich allerdings gehe, ist eine andere Frage.«

Leoh stellte plötzlich fest, daß er nichts mehr zu sagen hatte. Es schien klar, daß Odal freiwillig niemandem helfen würde — nur sich selbst.

Er stand auf. »Lassen Sie sich die Sache durch den Kopf gehen. Viele Menschenleben stehen auf dem Spiel. Sie können dazu beitragen, sie zu erhalten.«

»Und mein eigenes Leben dabei verlieren«, sagte Odal trocken, während er sich ebenfalls erhob.

Leoh neigte den Kopf zur Seite. »Durchaus möglich. Das will ich nicht bestreiten.«

»Sie bewerten Hectors Leben höher als meines. Ich nicht.«

»Touché! Aber es geht außerdem um ein paar Milliarden Menschen in Kerak und in Acquatainia.«

Leoh ging zur Tür. Odal blieb an der Couch stehen. Dann rief er: »Professor! Dieses Mädchen… das sich so erschreckt hat, als ich in Ihrer Duellmaschine auftauchte. Wer war das?«

Leoh drehte sich um. »Geri Dulaq. Die Tochter des ermordeten Premierministers.«

»Ah, verstehe.« Einen flüchtigen Moment zeigte Odals ausdrucksloses Gesicht eine Empfindung: Enttäuschung, Bedauern?

»Sie haßt mich, nicht wahr?« fragte er.

»Um ihre eigenen Worte zu benutzen«, versetzte Leoh, »warum eigentlich nicht?«


Nachdenklich kratzte sich Hector den Schädel. »Das bringt mich in eine… äh… verzwickte Lage.«

Der kerakische Captain zuckte die Achseln. »Wir alle sind in einer äußerst prekären Lage.«

»Tja, vermutlich haben Sie recht, falls… ich meine… woher soll ich wissen, daß Sie die Wahrheit sagen?«

Das schroffe, faltige Gesicht des Captains verzog sich ärgerlich. Sie saßen auf der Kommandobrücke des Raumschiffs, wohin man Hector gebracht hatte. Hinter dem Schutzgeländer erstreckte sich eine Etage tiefer das Kontrollzentrum des gigantischen Raumkreuzers. Der Captain schluckte seinen Ärger hinunter und antwortete friedfertig:

»Ein kerakischer Offizier lügt nicht. Nie und unter keinen Umständen. Mein — Vorgesetzter, sagen wir mal — hat mit dem Commander der Star Watch gesprochen, wie ich Ihnen bereits erklärte. Sie trafen eine Vereinbarung, wonach Sie bis auf weiteres hier an Bord bleiben. Ich bin bereit, Ihnen volle Bewegungsfreiheit auf dem Schiff einzuräumen, mit Ausnahme des Kontrollzentrums, der Energiezentrale und der Luftschleusen. Ich glaube, das ist mehr als fair.«

Hector schlug mit den Fingern einen Trommelwirbel auf dem Kartentisch. »Ich habe wohl keine andere Wahl. Ich bin, hm, so eine Kreuzung zwischen einem Kriegsgefangenen und einem Kulturtouristen.«

Der Captain lächelte mechanisch und versuchte das nervtötende Getrommel zu ignorieren.

»Und ich bleibe vermutlich so lange bei Ihnen«, fuhr Hector fort, »bis ihr Kanus liquidiert habt.«

»SIND SIE WAHNSINNIG!« Der Captain sprang Hector fast ins Gesicht und versuchte ihm den Mund zuzuhalten.

»Oh. Weiß denn die Besatzung nicht Bescheid?«

Mit zittriger Hand fuhr sich der Captain über die Stirn. »Woher… wer… wie kommen Sie um Himmels willen auf die Idee, daß wir… daß wir etwas Derartiges vorhaben?«

Hector machte ein ratloses Gesicht. »Weiß ich selbst nicht. Eigentlich nur ein paar Indizien und Hinweise. Ein paar Brocken, die ich von meinen Wärtern aufgeschnappt habe. Und ich nehme an, daß Kanus inzwischen mein Gehirn zerpflückt hätte. Was Sie nicht getan haben. Ich werde hier beinahe wie ein Gast behandelt. Also arbeiten Sie nicht für Kanus. Trotzdem tragen Sie kerakische Uniformen. Deshalb müssen Sie…«

»Das reicht, das reicht! Sie brauchen wirklich nicht in Einzelheiten zu gehen.«

»Okay.« Hector stand auf. »Haben Sie was dagegen, wenn ich einen Rundgang durch das Schiff mache?«

»Nein, bis auf die erwähnten Ausnahmen.« Der Captain erhob sich ebenfalls. »Ach ja, noch eine Abteilung, die Sie nicht betreten dürfen: den Computerraum. Wie ich höre, waren Sie heute morgen dort.«

Hector nickte. »Die Wachen haben mich hineingelassen. Das war während meines Frühsports nach dem Frühstück. Die Wachen bestehen darauf. Auf dem Frühsport, meine ich.«

»Das ist jetzt irrelevant! Sie haben sich mit einem unserer Junior-Programmierer über Computertechnik unterhalten…«

»Ja. Ich bin ziemlich gut in Mathematik, verstehen Sie, und da… «

»Bitte! Ich weiß nicht, was Sie ihm alles erzählt haben, aber bei dem Versuch, Ihre sogenannten ›Verbesserungsvorschläge‹ in das Programm einzugeben, hat er drei Logikbänke in die Luft gejagt und den gesamten Zentralcomputer mehrere Stunden lahmgelegt.«

»Tatsächlich? Sehr komisch.«

»Komisch?« schnauzte der Captain.

»Merkwürdig, meine ich.«

»Ganz meine Meinung. In Zukunft betreten Sie mir den Computerraum nicht mehr.«

Hector zuckte die Achseln. »In Ordnung. Sie sind der Boß.«

Der junge Star Watchman drehte sich um und spazierte von dannen. Zurück blieb ein Captain, der kurz vor einem Schlaganfall stand. Der Kerl hatte nicht salutiert; er hatte nicht gewartet, bis ihm der ranghöhere Offizier das abtreten erlaubte; er war einfach davongelaufen, nein: davongelatscht wie… wie ein Zivilist! Und jetzt pfiff er auch noch vor sich hin! An Bord eines Kriegsschiffes! Erschüttert sank der Captain auf seinen Stuhl. Dieser Programmierer war nur das erste Opfer gewesen, schwante ihm plötzlich. Hoffentlich beeilt sich Romis. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns dieser Watchman alle zum Wahnsinn treibt.

Von der Brücke aus gelangte man, wie Hector herausfand, zu einer Anzahl technischer Stationen: in die Navigationsabteilung (zur Zeit unbemannt, nachdem das Raumschiff im Orbit kreiste), die Kommunikationszentrale (gut bewacht) und, am interessantesten, das Beobachtungsdeck.

Hier entdeckte Hector einen mittelgroßen Raum, vollgepackt mit Bildschirmen, auf denen fast alle Bereiche des Raumschiffs zu sehen waren. Außerdem gab es Monitore, die von Außenkameras gespeist wurden. Da sie Keraks Zentralplaneten umkreisten, waren die meisten der externen Sensoren auf den Boden gerichtet.

Hector freundete sich rasch mit der Bedienungsmannschaft an. Trotz des Star-Watch-Emblems an seinem Overall schienen sie ihn mehr als Leidensgenossen in einer militärischen Organisation denn als potentiellen Feind zu betrachten.

»Das ist die Hauptstadt«, bemerkte einer von ihnen.

Hector zeigte sich gebührend beeindruckt. »Steht dort die Duellmaschine?«

»Sie meinen die im Informationsministerium? Das liegt auf der anderen Seite des Planeten. Ich zeig’s Ihnen, wenn wir dieses Gebiet überfliegen.«

»Danke«, sagte Hector. »Würde ich mir gerne anschauen… sehr gerne.«


Jeden Morgen wurde Odal aus seinem Untergrundquartier geholt und für eine Stunde in den von Mauern umschlossenen Innenhof des Justizministeriums geführt. Unter den kalten Blicken seiner Bewacher zog er endlose Kreise um den Rasen in der Hofmitte, machte Liegestütze, Kniebeugen, gymnastische Übungen… alles mögliche, um der Monotonie zu entfliehen und die Wachen nicht merken zu lassen, wie elend und einsam er sich fühlte.

Romis, dachte er, ist kein Dummkopf. Er braucht mich erst, wenn seine Pläne spruchreif sind, wenn der Augenblick, den Führer zu ermorden, gekommen ist. Für ihn ist es doch ideal, mich hier schmoren zu lassen und dann — genau im richtigen Moment — den Watchman im Austausch für mich anzubieten. Spencer wird mich nach Kerak bringen lassen, und dann ist es zu spät, noch irgend etwas gegen Romis zu unternehmen.

An den vier Seiten des Hofs standen mächtige, aromatisch duftende Bäume, und in der Mitte befand sich ein wucherndes Wundergewächs mit glasharten goldenen Blättern, die wie Glöckchen tönten, wenn ein Windhauch sie bewegte. Als Odal sich nach einer langen Serie von Liegestützen schweratmend und durchgeschwitzt erhob, sah er Geri Dulaq auf einer Bank unter diesem Baum sitzen.

Er trocknete sich die Stirn mit einem Handtuch, warf es über die Schulter und schlenderte zu ihr hinüber. Beim ersten Mal hatte er gar nicht bemerkt, wie schön sie war. Ihr Gesicht war unbewegt, aber Odal spürte, daß sie nur mit Mühe die Fassung wahrte.

»Guten Morgen«, sagte er gelassen.

Sie nickte, antwortete aber nicht. Kein Lächeln, kein Stirnrunzeln. Er deutete fragend auf die Bank, und als sie erneut nickte, setzte er sich neben sie.

»Sie sind mein zweiter Besucher«, sagte Odal.

»Ich weiß«, erwiderte Geri. »Professor Leoh hat mir von seinem Besuch bei Ihnen erzählt. Wie Sie sich geweigert haben, Hector zu helfen.«

Odal lächelte. »Hatte ich mir schon gedacht, daß das der Grund Ihres Besuchs ist.«

Sie sah ihm voll ins Gesicht. »Sie können ihn nicht einfach in Kerak sitzen lassen! Wenn Kanus…«

»Hector befindet sich bei Romis. Dort ist er sicher.«

»Aber wie lange?«

»So lange wie wir alle.«

»Nein«, widersprach Geri. »Er ist Gefangener, und er befindet sich in Gefahr.«

»Sie lieben ihn tatsächlich?«

In ihren Augen glitzerten Tränen. »Ja«, murmelte sie.

Verständnislos schüttelte Odal den Kopf. »Wie kann man solch eine tölpelhafte, stotternde Witzfigur lieben…«

»Er ist stärker als Sie!« fuhr ihn Geri an. »Und tapferer. Er würde nie vorsätzlich einen Menschen töten, nicht einmal Sie. Er ließ Sie am Leben, als jeder andere hier auf dem Planeten — mich eingeschlossen — Sie wie einen tollwütigen Hund niedergeschossen hätte!«

Unwillkürlich rückte Odal ein Stück weg.

»Sie verdanken Hector Ihr Leben«, sagte sie.

»Und jetzt soll ich es aufs Spiel setzen, um seines zu retten?«

»Ganz recht. Das wäre anständig gehandelt. Im umgekehrten Fall würde er das gleiche für Sie tun.«

»Das bezweifle ich.«

»Natürlich bezweifeln Sie das. Sie wissen ja auch nicht, was Anstand ist.«

Er musterte sie eingehend und versuchte ihren Gesichtsausdruck, die in ihrer Stimme mitschwingenden Empfindungen zu ergründen. »Hassen Sie mich?« fragte er.

Ihr Mund formte ein Ja, aber sie zögerte. »Ich sollte Sie hassen; ich habe allen Grund dazu. Ich… ich weiß es nicht… ich möchte Sie hassen!«

Sie stand auf und lief rasch, mit gesenktem Kopf, zum Hoftor. Odal sah ihr einen Moment nach, dann folgte er ihr. Aber die Wachen stoppten ihn, als er sich dem Tor näherte. Geri lief weiter und entschwand seinem Blick, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.


»Feiglinge!« tobte Romis. »Erbärmliche rückgratlose Memmen!«

Er marschierte erregt in der mit Bücherregalen vollgestellten Bibliothek seiner Villa auf und ab und stieß die Worte so scharf wie Laserstrahlen hervor. Neben dem Kamin saß, in der Hand einen verzierten Glaskelch, der Captain des Raumschiffs, in dem Hector gefangengehalten wurde.

»Sie planen und intrigieren seit Monaten«, knurrte Romis, mehr zu sich selbst als zu dem Captain. »Tagelang streiten sie um die trivialsten Details. Sie winden sich wie Schlangen und wollen einen absolut narrensicheren Aktionsplan ausarbeiten. Und was passiert, wenn sie auch nur das geringste Anzeichen von Gefahr wittern?«

Der Captain hob das Glas an die Lippen.

»Sie kneifen!« brüllte Romis. »Sie bewerten ihr eigenes elendes Leben höher als das Wohl der Kerak-Welten. Sie lassen dieses Monster weiterleben aus Angst um ihr eigenes Leben.«

»Was erwarten Sie denn eigentlich«, meinte der Captain. »Sie können die Leute doch nicht zur Tapferkeit zwingen. Die Armeeführer vielleicht. Aber die sind fast alle verhaftet. Ganze Familien. Ihre politischen Freunde haben eine Heidenangst vor Kor. Mich wundert nur, daß er Sie noch nicht eingelocht hat.«

»Das wird er schön bleiben lassen«, erwiderte Romis mit einem hintergründigen Lächeln. »Solange er nicht weiß, wo Odal ist. Er fürchtet Odals Rückkehr. Er kennt schließlich die tödlichen Qualitäten seines einstmaligen Killers.«

»Sie bekommen Odal von Spencer nicht zurück, wenn Sie nicht den Watchman herausgeben. Und wenn der weg ist, können Sie damit rechnen, daß Spencer wie ein beutegieriger Geier über uns kreist.«

»Also, was soll ich tun? Soll ich Kanus eigenhändig liquidieren?«

»Das können Sie nicht.« Der Captain schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Glauben Sie, mir fehlt der…«

»Verehrter Freund, verlieren Sie doch nicht das Ziel aus dem Auge. Kanus ist ein Monster, richtig. Aber er hat sich mit vielen kleineren Monstern umgeben. Wenn Sie ein Attentat auf ihn versuchen, überleben Sie das nicht.«

»Und?«

»Wer übernimmt dann die Macht? Einer von Kanus’ Speichelleckern natürlich. Möchten Sie gerne Greber auf diesem Posten sehen? Oder Kor?«

Romis schüttelte sich. »Natürlich nicht.«

»Dann schlagen Sie sich die Idee, den Führer eigenhändig zu beseitigen, aus dem Kopf. Es wäre glatter Selbstmord.«

»Aber Kanus muß aufgehalten werden. Ich bin sicher, daß er noch vor Ende des Monats Acquatainia überfallen will.« Romis ging zum Kamin und starrte in die Flammen. »Ich glaube, wir müssen Odal zurückholen. Auch wenn wir dafür den Watchman freilassen müssen und Gefahr laufen, daß Spencer uns angreift.«

»Sind Sie entschlossen?«

»Was bleibt uns denn anderes übrig? Wenn wir das Attentat rasch genug durchführen, können wie Spencer aus Kerak heraushalten. Aber wenn wir noch viel länger zögern, sind wir plötzlich im Krieg mit Acquatainia.«

»Die Acquatainier schlagen wir.«

»Ich weiß«, erwiderte Romis. »Aber sobald uns das gelungen ist, wird Kanus beim Volk so beliebt sein, daß wir es nicht mehr wagen können, gegen ihn vorzugehen. Und anschließend greift dieser Verrückte die Terraner an. Das überlebt keiner von uns.«

»Hmmm.«

Romis blickte den Captain an. »Wir müssen den Watchman freilassen und Odal zurückholen. Schnellstens.«

»Gut«, meinte der Captain. »Offen gestanden, dieser Watchman ist die reinste Landplage. Er stellt mein ganzes Schiff auf den Kopf.«

»Wie kann ein einzelner Mann ein ganzes Raumschiff auf den Kopf stellen?«

Der Captain leerte sein Glas mit einem Schluck. »Sie kennen diesen einzelnen Mann nicht.«


Als sich der Captain mit seinem Gleiter dem Raumkreuzer näherte, spürte er instinktiv, daß etwas nicht stimmte.

Zu sehen war nichts, aber irgendwie schien das Raumschiff verändert. Seine Vorahnungen bestätigten sich, als die Fähre in einer der riesigen Schleusen andockte. Die Notbeleuchtung brannte, und zwar ziemlich trübe. Zwei Matrosen in Raumanzügen kurbelten mit der Hand die Außenluke zu, und die Notaggregate brauchten fast fünfzehn Minuten, die Schleusenkammer auf normalen Druck zu pumpen.

»Was in Dreiteufelsnamen ist denn hier passiert?« schnauzte der Captain einen Kadettoffizier an, als er aus seiner Shuttle kletterte.

»Der… der Strom, Sir. Der Strom ist… ausgefallen.«

»Ausgefallen?«

Der junge Offizier schluckte krampfhaft. »Jawohl, Sir. Ganz plötzlich… überall im Schiff… totaler Energieausfall!«

Der Captain fluchte lautlos. Dann bellte er: »Lassen Sie die Innenluke aufkurbeln und begleiten Sie mich zur Brücke!«

Die Matrosen machten sich hastig ans Werk, und wenige Minuten später hatten der Captain, der Kadettoffizier und die Decksmannschaft die Schleuse verlassen. Das Kapitänsboot blieb leer und unbewacht zurück.

Aus einer Schaltkabine am hinteren Ende der Schleuse trat Hector, sein schmales Gesicht gespannt und wachsam, um den Mund ein kleines, zufriedenes Lächeln.

Die müßten in ein paar Minuten die Ursache für den Energieausfall finden, sagte er sich. Und sobald die Hauptbeleuchtung wieder angeht, haue ich ab.

Hector schlich auf Zehenspitzen durch die Schleuse und manipulierte an den Pumpen und an dem Lukenmechanismus herum. Dann kletterte er in die Kapitänsfähre, klappte die Kanzel zu und studierte das Instrumentenbrett. Nicht zu kompliziert…glaube ich.

Der Blackout war lächerlich einfach zu bewerkstelligen gewesen. Hector hatte lediglich ein wenig Zeit gebraucht, bis seine Bewacher ihm Vertrauen entgegenbrachten und ihm erlaubten, bestimmte Bereiche des Schiffs unbegleitet zu durchstreifen. Er hatte viele Stunden auf dem Beobachtungsdeck verbracht, wo er sich mit den Layout des gigantischen Schiffs vertraut machte und sein eigentliches Ziel identifizierte — das Informationsministerium mit seiner Duellmaschine.

Vor einer Stunde hatte er seinen mittlerweile gewohnten Spaziergang zur Kommunikationszentrale gemacht. Seine Bewacher schenkten ihm keine übermäßige Aufmerksamkeit mehr, nachdem sie ihn inmitten einer Schar kerakischer Techniker in angeregte Unterhaltung vertieft sitzen sahen. Hector ließ einige Zeit verstreichen und schlenderte dann unauffällig zu der Bodenluke, die zur Schaltzentrale auf dem darunterliegenden Deck führte.

Beinahe hätte er alles verpatzt, als er die zweite Sprosse der Eisenleiter verfehlte und auf das Unterdeck plumpste. Einen langen Augenblick lag er auf der Nase und versuchte unsichtbar oder wenigstens tot zu erscheinen. Schließlich riskierte er einen Blick die Leiter hinauf. Niemand kam hinter ihm her; man hatte nichts bemerkt.

Rasch fand er, wonach er suchte: das Versorgungskabel von der Energiezentrale und die Anschlüsse der Sendeantennen. Er zog eine Platine aus einer Standby-Konsole und stellte damit eine elektrisch leitende Verbindung zwischen dem Hochspannungskabel und der Antennenzuleitung her. Obwohl es nach allen Regeln der Physik ein unmögliches Unterfangen war, wußte Hector aus früheren Erfahrungen auf einem Star-Watch-Kreuzer haargenau (bei der Erinnerung daran überlief ihn noch immer eine Gänsehaut), zu welchem Resultat diese »unbeabsichtigte« Verbindung fuhren würde.

Die Stromaggregate brauchten ungefähr fünfzehn Sekunden, um ihre gesamte Energie in diesem Kurzschluß und die Sendeantennen zu pumpen. Es lief sehr friedlich ab — keine Funken, kein Rauch, keine Explosion. Es passierte weiter nichts, als daß mit einem Schlag alle Lampen und sonstigen Stromverbraucher an Bord ausfielen. Natürlich schalteten sich sofort die Notaggregate ein. Aber im düsteren Schein der Notbeleuchtung und im Durcheinander der überraschten, verwirrten und ärgerlichen Männer fiel es Hector nicht sonderlich schwer, über sorgfältig geplante Schleichwege die Hauptschleuse zu erreichen.

Und nun saß er in der Fähre des Captains und wartete auf Strom. Die Hauptbeleuchtung flackerte kurz auf und strahlte dann in altgewohnter Helle. Die Pumpen liefen summend an, die Außenluke glitt auf. Hector gab seinem Triebwerk vorsichtig Power, die Fähre schwebte aus der Schleuse und entfernte sich dann rasch vom Mutterschiff.


Der kerakische Captain brauchte ungefähr zehn Minuten, um aus den einzelnen Katastrophenmeldungen ein Gesamtbild zu gewinnen: der absichtliche Kurzschluß in der Schaltzentrale; Hectors spurloses Verschwinden; der nicht autorisierte Abflug seiner persönlichen Shuttle.

»Er ist geflohen«, knurrte der Captain. »Geflohen! Und das, als wir ihn gerade austauschen wollten.«

»Was sollen wir tun, Sir? Wenn die Planetarische Patrouille das Beiboot ortet, kann er sich nicht ausreichend identifizieren. Die schießen ihn ab!«

Bei dieser Vorstellung leuchteten die Augen des Captains auf. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Wenn er umkommt, haben wir die gesamte Star Watch auf dem Hals.« Er überlegte einen Moment und sagte dann zu seinem Adjutanten: »Veranlassen Sie, daß unsere Kommunikationszentrale der Planetarischen Patrouille einen Flugplan schickt. Sagen Sie, meine Fähre und ein zweites Boot würden Soldaten und Offiziere ins Informationsministerium bringen. Und lassen Sie eines der Beiboote startklar machen. Nehmen Sie Ihre besten Männer. Wir stecken so tief in der Scheiße, daß es auf ein paar weitere Spritzer auch nicht mehr ankommt.«


Unermüdlich wanderte Odal durch seine Suite: vom Tri-Di-Schirm quer durch das Wohnzimmer, an der bewachten Tür vorbei zum Korridor, zur Schlafzimmertür. Hin und zurück, unaufhörlich, mit lautlosen Schritten auf dem dicken Teppich.

Er versuchte seinen Verstand wie einen leidenschaftslosen Computer zu benutzen, versuchte hundert verschiedene Faktoren abzuwägen, zu integrieren, zu kalkulieren. Aber jeder Faktor war anders, war nicht mathematisch erfaßbar, nicht numerisch. Und jeder einzelne konnte Odals Lebenserwartung entscheidend beeinflussen.

Kanus, Kor, Romis, Hector. Und Geri.

Wenn ich nach Kerak zurückkehre, würde mich dann Kanus voll rehabilitieren? Ich halte den Schlüssel zur Teleportation in der Hand, zu einer neuen, verheerenden Waffe, mit der man eine fremde Nation mühelos angreifen und unterwerfen kann. Oder hat Kanus inzwischen weitere paranormale Talente gefunden? Würde er mich als Verräter oder als Spion ansehen? Oder, noch schlimmer, als Versager?

Kor. Odal konnte ihm alles erzählen, was er über Romis’ Verschwörung und die Attentatspläne auf den Führer wußte. Was nicht viel war. Kor hatte vermutlich alle diese Informationen schon.

Und Romis? Ist er nach wie vor entschlossen, den Führer zu stürzen? Braucht er nach wie vor einen Killer?

Und der Watchman, dieser Tölpel. Aber ein Teleporter, und wahrscheinlich ebenso fähig wie Odal selbst. Ich hätte einen dicken Stein im Brett bei Leoh und Spencer, wenn ich Hector heraushaue. Es wäre natürlich riskant… aber bei dem Mädchen hätte ich dann auch einen Stein im Brett.

Das Mädchen. Geri Dulaq. Ja, Geri. Sie hat allen Grund, mich zu hassen, und doch liegt etwas anderes in ihren Augen, nicht Haß. Angst? Hilfloser Zorn? Man sagt, daß Haß und Liebe dicht nebeneinander liegen.

Das Tri-Di summte und riß Odal aus seinen Gedanken. Er klatschte in die Hände, worauf Leohs massige Gestalt auf dem Bildschirm erschien. Er saß an seinem Schreibtisch in der Universität. Durch die offenstehende Tür hinter ihm konnte man ein Stück von der Duellmaschine sehen.

»Ich wollte Sie nur informieren«, sagte Leoh ohne jede Einleitung, »daß Hector anscheinend aus Romis’ Gewahrsam entkommen ist. Ein Vertrauter von Romis in der Kerakischen Botschaft hat uns die Nachricht zugespielt, daß Hector verschwunden ist.«

Odal stand wie angewurzelt, mitten im Zimmer. »Verschwunden? Wie meinen Sie das?«

Leoh hob die Schultern. »Soweit wir wissen, wurde Hector an Bord eines Raumkreuzers gefangengehalten. Irgendwie hat er eine Shuttle gekapert und dürfte jetzt damit zu der kerakischen Duellmaschine unterwegs sein. Die gleiche, mit der Sie entkommen sind. Mehr wissen wir nicht.«

»Diese Maschine steht in Kors Informationsministerium«, hörte Odal sich sagen. Aber seine Gedanken überschlugen sich: Kor, Hector, Romis, Geri. »Schafft er nie. Das ist glatter Selbstmord.«

»Sie sind der einzige, der ihm jetzt noch helfen kann«, betonte Leoh.

Geri. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht Ihre verächtliche Stimme: »Sie wissen ja nicht, was Anstand ist.«

»Na gut«, sagte Odal. »Ich werde es versuchen.«

Er hatte erwartet, Erregung zu verspüren bei dem Gedanken, Geri einen Gefallen zu tun, oder aber eine neue Welle von Angst zu empfinden bei der Aussicht, sich wieder in Kors Hände zu begeben. Statt dessen fühlte er nichts. Absolut nichts. Seine Gefühle schienen gelähmt zu sein — vielleicht warteten sie auch nur gespannt, daß sich etwas ereignete.

Es war schon spät am Abend, als Odal schwer bewacht bei der Duellmaschine eintraf. Er trug Schwarz vom Hals bis zu den Stiefeln und wirkte wie ein grimmiger Schatten gegen das antiseptische Weiß des Saals.

Leoh erwartete ihn an der Kommandokonsole. Die acquatainischen Wachen hielten sich im Hintergrund.

»Sehr bedauerlich, daß Sie so lange gebraucht haben. Jede Minute Verzögerung kann Hector das Leben kosten. Und Ihres.«

Odal lächelte verzerrt.

»Ich mußte Martine zwei Stunden lang beknien«, fuhr der Professor fort, »bis er endlich seine Zustimmung gab. Und ich habe Sir Harold aus dem Bett geholt. Er war alles andere als erfreut.«

»Wenn ich den Zeitunterschied noch richtig im Kopf habe«, sagte Odal, »ist es in Kors Hauptquartier jetzt kurz vor Sonnenaufgang. Eine ideale Ankunftszeit.«

»Aber ist deren Duellmaschine eingeschaltet?« fragte Leoh. »Teleportation funktioniert nicht, wenn die Maschine auf der Empfängerseite keinen Strom hat.«

Odal überlegte einen Moment. »Kann durchaus sein. Als Kor mit mir… experimentierte, wurde die Maschine immer frühmorgens benutzt. Wenn ich eintraf, war die Maschine stets betriebsklar. Wahrscheinlich wird routinemäßig bei Tagesanbruch der Strom eingeschaltet.«

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, sagte Leoh und deutete auf die Duellmaschine.

Odal nickte. Der Moment war gekommen. Er kehrte nach Kerak zurück. Was erwartet mich dort? Tod oder Ruhm? Auf wessen Seite schlage ich mich? Kors oder Romis’ Seite? Töte ich Hector oder rette ich ihn?

Und das Bild, das er vor Augen hatte, als sie die Neurokontakte anbrachten und ihn dann in der Maschine allein ließen, war Geris Gesicht. Er versuchte sich auszumalen, wie sie aussah, wenn sie lächelte.


Es war nach Mitternacht, stockfinster und stürmisch, als Hector ein paar Kilometer vom Informationsministerium entfernt mit seiner geklauten Fähre in einer steilen Schlucht eine reichlich harte Landung hinlegte.

Er war schnell und niedrig geflogen und hatte gehofft, auf diese Weise der Entdeckung durch kerakische Scanner zu entgehen. Jetzt stand er auf dem Rumpf der etwas lädierten Fähre, spürte den Wind und hörte ihn durch die dunklen Bäume in der Schlucht heulen. Entschlossen wandte er seine Aufmerksamkeit den massigen Türmen des Informationsministeriums zu, die sich auf einem Hügelkamm dunkel gegen den helleren Sternhimmel abzeichneten.

Sieht aus wie eine mittelalterliche Festung, dachte Hector, ohne zu wissen, daß es tatsächlich eine alte Burg war.

Er schlüpfte durch die Luke in die Gerätekammer, suchte sich einen Jetgürtel und schnallte ihn um. Dann kletterte er nach vorne ins Cockpit und legte den Hauptschalter für die Energieversorgung um.

Vielleicht brauche ich die Mühle noch mal, wenn ich es nicht bis zur Duellmaschine schaffe.

In der Finsternis brauchte er zehn Minuten, um sich zur Ausstiegsluke vorzutasten. Zehn Minuten, drei Schienbeinprellungen und eine halbe Gehirnerschütterung später war er wieder glücklich aus der Luke geklettert. Er holte tief Luft, stellte sich mit dem Gesicht zum Informationsministerium und drückte die Zündtaste an seinem Gürtel.

Ohrenbetäubendes Brausen dröhnte durch die stille Nacht. Hector platzte fast das Trommelfell, als er mit zusammengekniffenen, tränenden Augen der Burg entgegenraste. Es dürfte leisere und weniger auffällige Anschleichmethoden geben, sagte er sich. Aber nun ragten die Zinnen vor ihm auf und kamen rasch näher. Hector schaltete den Antrieb aus, trudelte zu der abgeplatteten Spitze des höchsten Turms und plumpste auf den unangenehm harten Steinboden.

Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte er sein Gehirn und seine Ohren wieder zum Funktionieren zu bewegen. Taumelnd kam er auf die Beine und stellte mit Genugtuung fest, daß er die stümperhafte Landung ohne größere Schäden überstanden hatte. Die Plattform maß ungefähr zehn mal zehn Meter; in einer Ecke führte eine Treppe nach unten. Hat man mich kommen hören?

Wie als Antwort darauf vernahm er Stiefeltritte auf der Steintreppe. Rasch schnallte er den schweren Jetgürtel ab, packte ihn an einem Ende und rannte zur Treppenöffnung. Der Kopf eines Mannes tauchte auf. Er drehe sich um, während er die restlichen Stufen hinauflief, und flüsterte heiser: »Sind Sie da, Watchman? Ich…«

Durch einen wirkungsvollen Schlag über den Kopf mit dem schweren Jetgürtel schnitt ihm Hector das Wort ab. Während er dem bewußtlosen kerakischen Wächter die Uniform vom Leib riß und versuchte, sie über seinen eigenen Overall zu streifen, schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: Woher wußte er, daß er einen Watchman antreffen würde? Vielleicht ist er vom Captain des Raumkreuzers alarmiert worden? In diesem Fall stehen diese Leute nicht auf Kanus’ Seite.

Sobald Hector den Kampf mit der kerakischen Uniform gewonnen hatte, lief er die Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe, in einem steinernen Korridor, dessen weiterer Verlauf sich im Dunklen verlor, erwarteten ihn drei weitere Wachtposten. Die Beleuchtung war nicht allzu gut, aber Hector erkannte doch, daß es sich um drei große, stämmige, mit Pistolen bewaffnete Männer handelte. Hoffentlich fällt denen nicht auf, daß ich nicht der gleiche Mann bin, der ein paar Minuten zuvor die Treppe hinaufgegangen ist.

Hector grinste sie an und winkte freundlich. Tapfer ging er weiter und versuchte sich an dem Trio vorbeizuschieben.

»He, Sie sind doch…« begann der eine Soldat auf kerakisch.

Hector fiel das Herz in die Hosen. Er konnte die kerakische Sprache kaum verstehen und noch weniger sprechen. Das Grinsen gerann ihm zu einer Grimasse, und er ging ein bißchen schneller.

Der zweite Posten packte den ersten am Arm und unterbrach ihn. »Laß ihn durch«, flüsterte er. »Wir versuchen, unsere Leute unten zu benachrichtigen und ihn in die Duellmaschine zu schleusen. Aber laß dich nicht von Kors Leuten in seiner Nähe erwischen! Kapiert?«

»Okay, aber irgend jemand sollte lieber die Überwachungskameras in den Gängen ausschalten.«

»Können wir nicht machen, sonst laufen wir Gefahr, daß Kor etwas merkt!«

»Wir müssen es riskieren…andernfalls schnappen sie ihn sofort, in dieser Uniform, die ihm vier Nummern zu klein ist.«

Hector war jetzt an ihnen vorbei und lief stur geradeaus, wobei er sich vergeblich den Kopf zerbrach, was dieses Flüstern zu bedeuten hatte. Hinter einer Biegung des Korridors erblickte er eine offene Liftröhre, deren steinerne Umkleidung brandneu aussah. Die Röhre war erleuchtet und in Betrieb. Hector trat hinein, sagte auf pidgin-terranisch »Duellmaschinenetage« zu dem einfachen Robot, der die Röhre bediente, und schloß die Augen.

»Duellmaschinenetage«, schepperte die blecherne Stimme des Robots. »Links abbiegen, geradeaus, dann rechts.« Hector schlug die Augen auf und trat aus der Röhre. Der Korridor war breiter und besser beleuchtet. Aber auch hier zeigte sich keine Menschenseele.

Es war wie verzaubert. Hector marschierte durch die endlosen Gänge der alten Festung, ohne einem Menschen zu begegnen. Er kam an Checkpoints vorbei, wo dampfende Kaffeebecher auf den Tischen standen, an offenen Türen, die in große leere Zimmer führten, an toten Bildschirmen. Er sah die Überwachungskameras, die alle paar Meter hoch oben an den Korridorwänden installiert waren, aber sie schienen ausgeschaltet zu sein. Ein- oder zweimal vermeinte er dumpfe Geräusche und erstickte Laute wie von einem Handgemenge zu hören, aber keine Menschenseele lief ihm über den Weg.

Dann kam die große Doppeltür der Duellmaschinenkammer in Sicht. Ein Türflügel stand offen, und er konnte die schwach beleuchtete Maschine erkennen.

Noch immer niemand zu sehen!

Hector sprintete in den riesigen Gewölbesaal und rannte schnurstracks zur Kommandokonsole. Er war gerade dabei, die notwendigen Einstellungen vorzunehmen, als die Deckenbeleuchtung in dem großen Raum aufflammte.

Aus allen Türen quollen weißbehelmte Wachen mit gezogenen Waffen. Ein Bildschirm hoch oben an der Wand leuchtete auf, und ein wütender Mann mit kahlem Rundschädel brüllte:

»Da ist er! Schnappt ihn!«

Bevor Hector reagieren konnte, spürte er den flammenden Schmerz eines Lähmungsstrahlers und wurde gegen die Kontrollkonsole geschleudert. Während er zu Boden sank und das Bewußtsein verlor, hörte er noch Kors Befehl:

»Und jetzt nehmt ihr die Verräter fest, die ihm geholfen haben. Wer Widerstand leistet, wird erschossen!«


Hector dröhnte der Schädel. Er bekam die Augenlider nur zur Hälfte auf. Er schien in einer winzigen dunklen Zelle zu sitzen, um sich herum Metallwände, vor sich einen leeren Bildschirm. Irgend etwas befand sich auf seinem Kopf, etwas anderes war um seine Brust geschnallt. Seine Hände konnte er nicht sehen; sie lagen auf seinem Schoß, und sein Kopf ließ sich nicht weit genug vorbeugen. Auch seine Hände verweigerten ihm den Dienst, trotz aller Willensanstrengung.

Er hörte Stimmen. Ob sie außerhalb der Zelle oder in seinem Kopf erklangen, konnte er nicht sagen.

»Was meinen Sie damit, nichts? Er muß doch irgendwelche Gedanken in seinem Kopf haben!«

»Ja, Minister Kor, hat er auch. Aber sie sind so ziellos, so verworren, so… so zufällig… solch ein Gehirn ist mir noch nie untergekommen. Ich begreife nicht, wie dieser Mensch aufrecht gehen kann, ganz zu schweigen von logischem Denken.«

»Er ist ein natürlicher Telepath«, unterbrach ihn Kors barsche Stimme. »Vielleicht verbirgt er seine wahren Gedanken vor Ihnen?«

»Bei den Drogen, die wir ihm verabreicht haben? Unmöglich.«

»Vielleicht ist er immun gegen die Drogen.«

»Nein, das kann nicht sein. Seine körperlichen Reaktionen beweisen, daß ihn die Drogen fast vollständig gelähmt haben.«

Eine neue Stimme meldete sich. »Der Monitor zeigt an, daß die Wirkung der Drogen nachläßt; er ist dabei, das Bewußtsein wiederzuerlangen.«

»Geben Sie ihm noch eine Dosis«, befahl Kor.

»Noch mehr Drogen? Das könnte fatale Nachwirkungen haben… vielleicht sogar tödliche.«

»Muß ich mich wiederholen? Der Watchman ist ein natürlicher Telepath. Wenn er in der Duellmaschine sein volles Bewußtsein erlangt, kann er jeden Moment teleportieren. Die Konsequenzen daraus werden tödlich sein… für Sie!«

Hector versuchte die Augen aufzubekommen, aber die Lider schienen verklebt zu sein. In der Duellmaschine! Wenn ich mich zusammenreißen kann, bevor sie mich wieder narkotisieren… Seine Hände wogen mindestens zweihundert Kilo, und seinen Kopf konnte er noch immer nicht bewegen. Aber durch seine halboffenen Augenlider bemerkte er, daß der Bildschirm unmerklich glomm, obwohl er leer war. Die Maschine lief also. Sie haben versucht meine Gedanken zu lesen, dämmerte es ihm.

»Hier ist die Spritze, Doktor«, sagte eine andere Stimme. »Schon aufgezogen.«

Verzweifelt suchte Hector sein schläfriges Gehirn auf Touren zu bringen. Konzentriere dich auf Acquatainia, befahl er sich. Konzentrieren! Aber schon hörte er näher kommende Schritte.

Und dann schien sein Kopf zu explodieren. Sein Körper verwandelte sich in ein zuckendes Nervenbündel, als eine Flut fremder Gedanken ihn überschwemmte.


Gerade hatte Odal noch in der acquatainischen Duellmaschine gesessen und an Geri Dulaq gedacht. Im nächsten Augenblick wußte er, daß er in Kerak war und daß sich noch jemand in der Kabine befand. Hector! Sein Geist lag wie aufgeschlagen vor ihm wie ein Buch. Ein blendender Blitz wie die Explosion einer Supernova erschütterte jede einzelne Faser von Odals Körper. Zwei Seelen, zwei Gehirne, einander völlig und rückhaltlos preisgegeben, verstärkt und verbunden durch die Duellmaschine, verschmolzen unauflöslich miteinander. Jeder Nerv, jeder Muskel im Körper der beiden krümmte sich zuckend, als seien hunderttausend Volt an ihn angelegt.

Odal! dachte Hector. Er konnte in Odals Hirn lesen, als sei es sein eigener Kopf. Auf eine seltsame Art, wie bei einer Doppelbelichtung, war er Odal… war er Hector und gleichzeitig Odal. Und Odal, dessen Geist sich mit Hectors Geist vereint hatte, wurde zu Hector.

Hector sah endlose Reihen von Kadetten in schweren grauen Uniformen marschieren, spürte das Gewicht des unbequemen Tornisters, der feldmäßigen Ausrüstung, schwitzte unter der glühenden Sonne.

Odal spürte die Erregung eines Jungen, der zum ersten Mal im Leben ein Raumschiff sieht, wie es majestätisch abhebt und sich in die Höhe schraubt.

Jetzt rannte Hector durch die schmalen Gassen einer pittoresken Stadt, rannte mit einem Dutzend junger Burschen in braunen Uniformen, knüppelschwingend, brüllend; schlug Scheiben an bestimmten Läden und Häusern ein, wo nur wenige Minuten zuvor ein primitives Symbol aufgemalt worden war. Und wenn jemand auf die Straße kam und protestieren wollte, schlugen sie ihn zusammen.

Odal sah einen Star-Watch-Ausbilder fassungslos den Kopf schütteln über seine/Hectors verzweifelten Versuche, die Brücke eines Trainingsschiffs zu befehligen.

In Hab-Acht-Stellung, das Gesicht eine grimmig-entschlossene Maske, während der Führer vor einer halben Million Soldaten und Zivilisten eine flammende Ansprache hält zum Jahrestag seiner Machtübernahme.

Hinter älteren Jungen herlaufend, Bitten und Betteln, daß sie dich bei ihren Spielen mitmachen lassen; aber sie sagen, du bist zu klein, zu dumm, und vor allem zu tolpatschig.

Nur mit Mühe Tränen der Wut und der Angst zurückhaltend, während der Captain dir geduldig erklärt, warum sie deine Eltern abgeholt haben. Er benutzt eine fast kindliche Ausdrucksweise. Es ist ihm unangenehm, er schickt Erwachsene nicht gern dorthin, wo böse Menschen eben hingeschickt werden. Aber Vater und Mutter seien böse Menschen. Sie hätten schlimme Dinge über den Führer gesagt. Und nun würde er Soldat werden und dem Führer helfen, alle diese schlechten Menschen auszurotten.

Ballspielen bei Null-G mit vier anderen Kadetten, schwereloses Schweben in der riesigen, sphäroidischen Sporthalle, Lachen, angestrengte Versuche, den Ball so zu werfen, daß man selbst dabei nicht in unkontrolliertes Trudeln geriet.

Einem grinsenden Herrensöhnchen, das deine Eltern als Verräter bezeichnet hat, die Nase einschlagen. Sein blutiges, verdutztes Gesicht. Mit Fäusten, Knien, Stiefeln ihn zum Schweigen bringen. Niemand wagt mehr, dieses Thema anzusprechen.

Aufrecht, zitternd vor Erregung und Angst, die Waffe angeschlagen, du willst den Wunsch des Mädchens erfüllen, das seinen Tod fordert, aber du blickst den am Boden liegenden Mann ins Gesicht und begreifst daß es keine, KEINE Rechtfertigung gibt, einen Menschen zu töten.

Mit dem Knüppel auf den pausbäckigen Dulaq einschlagend; völlig von Sinnen drischst du und die fünf anderen ihn zu Tode, sagst dir immer wieder, er ist ein Feind, ein Feind, wenn ich ihn nicht umbringe, bringt er mich um, wenn ich ihn nicht töte, findet der Führer einen anderen, der ihn tötet.

Flüchtige Gedanken, Gefühle, Erinnerungen. Das Gesicht der Mutter, der besondere Geruch deines Zimmers, ein bestimmtes Lachen. Die vergessene, die verschüttete Kindheit, die Wärme des Kaminfeuers zu Hause nach einem Tag im Schnee, der Duft von Vaters Pfeife, das zufriedene Schnurren des Kätzchens in deinen Armen.

Abschied von zu Hause. Papa glaubt nach wie vor nicht, daß du in die Star Watch gehörst. Abfahrt mit dem Captain, weg von dem Haus, das jetzt leersteht. Mühsame Ausbildungsjahre, irgendwie wurstelst du dich durch, bestehst die Prüfungen, aber immer mit knapper Not, mit Hängen und Würgen. Immer der Beste, immer der Erste: der beste Schüler, der beste Sportler, der beste Soldat. Immer an der Spitze. Die wahre Aufgabe der Star Watch begreifen: Schutz und Sicherung des Friedens. Lernen, wie man haßt, wie man tötet, und, am allerwichtigsten, wie du an Acquatainia Vergeltung üben kannst.

Gegenseitiges Berühren und Verschmelzen, Verflechtung zweier lebenslanger Erinnerungsbahnen, nahtloses Verzahnen, neue Anordnung von Synapsen, unmerkliche chemoelektrische Veränderungen. Zwei Leben, zwei Biografien, zwei Persönlichkeiten gingen vollkommen ineinander auf, als es je zwei Geistern gelungen war. Hector und Odal, Odal/Hector — in diesem blitzartigen Moment, als sie in der Duellmaschine aufeinandertrafen, wurden sie für kurze Zeit zu einem einzigen Wesen.


Und als ein kerakischer Meditechniker den plötzlichen hohen Stromverbrauch der Maschine bemerkte und sie abschaltete, wurden die beiden jungen Männer wieder zu getrennten Individuen. Aber sie hatten sich verändert. Keiner war mehr der, der er vorher gewesen war.


»Was war das?« bellte Kor. »Warum hat die Maschine auf einmal so viel Energie verbraucht?«

Der Meditechniker in seinem weißen Kittel zuckte die Achseln. »Der Watchman sitzt ganz allein in der Kabine. Ich verstehe das nicht…«

Wutschnaubend stürzte Kor zu Hectors Kabine. »Wenn er aufgewacht und entkommen ist, werde ich…«

Beide Türen flogen auf. Aus der einen Kabine trat Hector, sein Blick klar und fest, hochaufgerichtet, groß und schlank und blond. Seine Miene war seltsam verklärt. Er spähte zu der anderen Kabine hinüber.

Odal stand dort. Ebenso groß und schlank und blond, mit einem fast identischen Gesichtsausdruck: einem wissenden Ausdruck, eine innere Zufriedenheit, die ihm nichts und niemand mehr nehmen würde.

»Sie!« rief Kor. »Sie sind zurückgekommen!«

Eine halbe Sekunde lang standen alle wie angewurzelt: Hector und Odal zu beiden Seiten der Duellmaschine, Kor etwa in der Mitte zwischen ihnen, vier Meditechniker an den Kontrollkonsolen, zwei Bewaffnete ein paar Meter hinter Kor. Keraks fahle bläuliche Sonne sandte kaltes Morgenlicht durch das gerippte Steinfenster.

»Sie stehen unter Arrest«, sagte Kor zu Odal. »Und was Sie betrifft, Watchman, mit Ihnen sind wir auch noch nicht fertig!«

»Doch, das sind Sie«, entgegnete Hector gelassen, während er langsam und drohend auf den Geheimdienstchef zuging.

Kor runzelte die Stirn. Dann sah er Odal ebenfalls auf sich zukommen. Er wich einen Schritt zurück, drehte sich dann zu seinen Leibwächtern um. »Packt sie…«

Zu spät. Wie eine perfekt synchronisierte Kampfmaschine stürzten sich Odal und Hector auf die beiden Wachtposten und schlugen sie nieder, noch bevor Kor ein Wort sagen konnte. Odal nahm die Pistole des einen Soldaten an sich und richtete sie auf Kor. Hector griff sich die andere Waffe und hielt die verstörten Meditechniker in Schach.

»In die Gefängniszellen mit euch!« befahl Odal.

»Das wirst du mit dem Leben bezahlen!« tobte Kor.

Odal stieß ihm die Strahlpistole in die Rippen. »Jeder muß einmal sterben. Darf es hier und sofort sein?«

Kor wurde leichenblaß. Mit weichen Knien wankte er aus dem Saal und ging in Richtung Zellenblock.

Der Gefängnistrakt wurde von Soldaten bewacht. Unter ihnen erkannte Odal einen Gefolgsmann von Romis. Sie sperrten die anderen ein und liefen dann die Treppen hinauf zu Kors Büro.

»Sie nehmen die Pistole«, sagte Odal zu dem Wachtposten, während sie die Steinstufen hinaufhasteten. »Wenn wir jemand begegnen, sagen Sie, Sie würden uns zum Verhör zum Minister bringen.«

Der Wächter nickte. Hector ließ seine Pistole unter dem Overall verschwinden.

»Es bleiben uns nur ein paar Minuten, bevor man Kor im Zellentrakt entdeckt«, sagte Odal zu Hector. »Wir müssen Romis erreichen und dann von hier verschwinden.«

Zweimal wurden sie in den Gängen von Kontrollposten angehalten, aber jedesmal ließ man sie passieren. Kors Vorzimmer war leer; seine Mitarbeiter hatten ihren Dienst noch nicht begonnen.

Mit Kors Tisch-Communicator stellte der Wächter eine Verbindung zu Romis her; seine Hände bebten sichtlich, als er die geheiligte Apparatur des Ministers benutzte.

Romis’ verschlafenes Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm. Als er Odal erkannte, weiteten sich seine Augen.

»Was…?«

Hector trat vor die Kamera. »Ich bin aus Ihrem Schiff geflohen«, sagte er rasch und ohne jedes Stottern, »wurde aber von Kors Leuten geschnappt, als ich versuchte, die Duellmaschine zu erreichen. Odal ist von Acquatainia teleportiert. Kor sitzt im Moment in seinem eigenen Knast. Wenn Sie gegen Kanus losschlagen wollen, dann ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt. Sie haben nur ein paar Minuten.«

Romis verschlug es fast die Sprache. »Sie… Sie haben Kor eingesperrt? Sie sind im Informationsministerium?«

»Ja«, bestätigte Odal. »Wenn Sie über Truppen verfügen, die Ihnen treu ergeben sind, dann schaffen Sie die sofort hierher. Wir werden so viele von Kors Gefangenen wie möglich freilassen, aber wir brauchen mehr Männer und Waffen, um dieses Gebäude gegen Kors Privatarmee zu verteidigen. Wenn wir uns hier halten können und außerdem zu Kanus vordringen, wird sich der größte Teil der Armee wahrscheinlich auf Ihre Seite schlagen. Vielleicht geht es sogar ohne großes Blutvergießen ab. Aber Sie müssen rasch handeln!«


Romis saß auf dem Bettrand, starrte die beiden jungen blonden Männer auf seinem Bildschirm an und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

»Also gut. Ich schicke alle Einheiten, auf die ich mich verlassen kann, als Verstärkung zum Informationsministerium. Major Odal, Sie sprechen vielleicht ein paar Ihrer Freunde in der Armee an.«

»Okay«, stimmte Odal zu. »Viele Offiziere sind bereits hier — wenn auch als Gefangene.«

Romis nickte. »Ich rufe sofort Marschall Lugal an. Ich glaube, er schließt sich uns an.«

»Aber wir müssen Kanus kaltstellen, bevor er die Armee mobilisieren kann«, warf Hector ein.

»Ja, natürlich. Kanus ist auf seinem Landsitz im Gebirge. Dort ist noch Nacht. Wahrscheinlich schläft er noch.«

»Gibt es dort eine Duellmaschine?« fragte Odal.

»Ich weiß es nicht. Möglich. Ich habe Gerüchte gehört, daß er dort heimlich eine private Maschine installiert haben soll…«

»Schön«, sagte Hector. »Vielleicht können wir direkt teleportieren.«

»Aber erst, wenn wir alle Gefangenen befreit und die Verteidigung des Gebäudes organisiert haben«, warf Odal ein.

»Richtig«, pflichtete Hector bei.

»Eine Menge Arbeitet wartet auf uns«, sagte Odal zu dem Außenminister. »Wir dürfen keine Sekunde vertrödeln.«

»Ja«, bekräftigte Romis.

Das Tri-Di-Bild verblaßte, und Romis starrte auf den leeren grauweißen Bildschirm an seinem Nachttisch. Er schüttelte den Kopf, als wolle er die Erinnerung an einen Traum verscheuchen.

Es kann eine Falle sein, sagte er sich. Eines von Kors hinterhältigen Manövern. Aber der Star Watchman war dort; er würde nicht für Kor arbeiten. Doch war es tatsächlich der Watchman gewesen? Oder vielleicht ein Double?

»Falle oder nicht«, sagte Romis laut, »solch eine Gelegenheit kommt nie wieder… wenn es kein Traum ist.«

Er faßte seinen Entschluß. In drei Minuten führte er drei Tri-Di-Gespräche. Die Tat war vollbracht. Er würde entweder Kerak von seinem Monster befreien oder aber einige hundert gute Männer in den Tod schicken — er selbst eingeschlossen.

Er stand auf, zog sich rasch an und bestellte ein Aero-Car. Dann zog er die Nachttischschublade auf und nahm eine kleine flache Pistole heraus.

Sein Butler erschien an der Tür. »Sir, Ihr Aero-Car ist startbereit. Benötigen Sie einen Piloten?«

»Nein«, beschied ihn Romis und schob die Waffe in den Gürtel. »Ich fahre allein. Wenn ich dich bis Mittag nicht anrufe, dann öffnest du den Tresor hinter meinem Bett, liest die Instruktionen, die du darin finden wirst, und siehst zu, daß du dich und das Personal in Sicherheit bringst. Adieu.«

Bevor der verdutzte Butler etwas erwidern konnte, war Romis schon auf dem Weg zu seinem Aero-Car.


Kanus wurde von einem verstörten Diener aus dem Schlaf gerissen.

»Was ist los?« knurrte der Führer und setzte sich in seinem immensen, kreisrunden Bett auf. Die ersten Sonnenstrahlen berührten gerade die fernen, schneebedeckten Gipfel, die man durch das Panoramafenster des riesigen Zimmers sehen konnte.

»Ein… ein Anruf vom Informationsministerium, Sir.«

»Steh nicht rum, stell das Gespräch durch!«

Der Diener drückte auf einen verschnörkelten Schalter neben der Tür. Ein Teil der Wand verwandelte sich in ein sehr grob gerastertes, flaches Bild von Kor. Er schien auf einer harten Bank in einer düsteren Zelle mit steinernen Wänden zu sitzen.

»Was ist los?« schnauzte ihn der Führer an. »Warum haben Sie mich geweckt?«

»Es ist passiert, mein Führer«, sagte Kor mit unbewegter Stimme. »Die Verräter haben losgeschlagen. Ich bin in einer meiner eigenen Zellen eingesperrt…«

» Was?« Kanus erstarrte in seinem Bett.

Kor lächelte. »Die Narren glauben den Sieg schon in der Tasche zu haben, nachdem sie mich gefangennahmen und das Informationsministerium besetzten. Sie haben jedoch ein paar Details übersehen. Zum einen trage ich meinen Taschen-Kommunikator bei mir. Ich habe alle ihre Gespräche mitgehört. Romis ist zu Ihrem Landsitz unterwegs und will Sie töten.«

»Romis! Und Sie sind eingelocht!«

Kor machte eine beruhigende Handbewegung. »Kein Grund zur Panik, mein Führer. Die Burschen exponieren sich jetzt lediglich. Wir können sie leicht zertreten.«

»Ich alarmiere die Armee!« rief Kanus.

»Es kann sein, daß Teile der Streitkräfte Ihnen den Dienst verweigern«, warnte Kor. »Aber Ihre Leibgarde müßte allein mit diesen Verrätern fertig werden. Wenn Sie eine Division abstellen könnten, um das Informationsministerium zurückzuerobern, und Ihre eigene Duellmaschine entsprechend bewachen lassen, dürfte das Schlimmste abgewendet sein. Romis begibt sich freiwillig in Ihre Hände, Sie können ihn leicht überwältigen, wenn er ankommt.«

»Meine Duellmaschine? Sie kommen durch meine Duellmaschine?«

»Nur zwei; dieser Verräter Odal und der Watchman.«

»Ich lasse sie in Stücke hacken!« tobte der Führer. »Und Romis auch!«

»Ja, natürlich. Aber es ist wichtig, das Informationsministerium zurückzuerobern und mich zu befreien. Und Sie sollten rasch gegen alle Elemente in der Armee und in der Raumflotte vorgehen, die Ihnen den Gehorsam verweigern.«

»Verräter! Überall Verräter! Ich lasse sie alle liquidieren!«

Kanus schlug auf die Kontrolltaste über seinem Bett, und der Schirm wurde dunkel. Er überschüttete den verängstigten Diener, der noch immer an der Tür stand, mit einer Flut von Befehlen. In Minutenschnelle war er angezogen und hastete den Korridor entlang, der zu seiner privaten Duellmaschine führte.

Ein Trupp Wachsoldaten erwartete ihn an der Tür zu dem großen Saal.

»Die Maschine bleibt ausgeschaltet!« befahl Kanus. »Wenn jemand in der Maschine auftaucht, nehmt ihr ihn fest und bringt ihn sofort zu mir.«

Der Truppführer salutierte.

Ein Bediensteter kam auf Kanus zu. »Außenminister Romis ist eingetroffen, Sir. Er…«

»Bring ihn in mein Büro. Auf der Stelle!«

Wutentbrannt machte er kehrt und marschierte zu seinem Arbeitszimmer. Zwei bewaffnete und helmbewehrte Posten standen an der Tür. Er stürmte an ihnen vorbei in das Zimmer. Romis war bereits dort und stand neben dem erhöhten Schreibtisch am Fenster.

»Verräter!« schrie Kanus, als er des Diplomaten ansichtig wurde. »Abtrünniger! Wache, schießt ihn nieder!«

Erschreckt griff Romis nach der Waffe in seinem Gürtel. Aber die Wachen standen bereits mit gezogenen Pistolen im Zimmer.

Romis zauderte. Dann nahmen die beiden Uniformierten die Helme ab. Zwei Blondschöpfe, zwei schmale, grinsende Gesichter kamen zum Vorschein.

»Wir sind früher als erwartet in Ihrer Duellmaschine angekommen«, sagte Odal zu Kanus. »Die Wachen an der Tür zu überwältigen und ihnen die Uniformen abzunehmen, war ein Kinderspiel.«

»Wir gingen gerade, als Ihr Trupp Wachsoldaten eintraf«, ergänzte Hector, »und kamen direkt hierher, ein paar Sekunden vor Ihnen.«

Kanus’ Knie gaben nach.

Romis atmete auf. Er ließ die Arme sinken. »Es ist aus, Kanzler. Sie sind gestürzt. Meine Leute halten das Informationsministerium besetzt; der größte Teil der Armee hat sich gegen Sie gestellt. Sie können eine Menge Blutvergießen verhindern, wenn Sie sich mir ergeben und Ihrer Leibgarde befehlen, nicht gegen die eigenen Landsleute zu kämpfen.«

Kanus versuchte zu schreien, aber kein Laut drang über seine Lippen. Wild entschlossen stürzte er an Odal und Hector vorbei zur Tür.

»Nicht schießen!« schrie Romis. »Wir brauchen ihn lebend, wenn wir einen Bürgerkrieg verhindern wollen!«


Blindlings rannte Kanus die Korridore entlang zur Duellmaschine. Ohne ein Wort zu den verdutzten Wachen, die die Maschine umringten, drückte er ein halbes Dutzend Tasten an der Kontrollkonsole und stürzte in eine Kabine. Mit fliegenden Fingern brachte er die Neurokontakte an Kopf und Schultern an. Dann holte er tief und seufzend Atem. Sein jagendes Herz schlug langsamer, regelmäßiger. Seine Lider sanken herab. Sein Körper entspannte sich.

Er saß auf einem goldenen Thron am Ende eines unglaublich langen Saals. Dicht an dicht standen Untertanen entlang den mit kostbaren Teppichen behängten Wänden, und die schönsten Frauen der Galaxie lagen ihm zu Füßen. Vor den Stufen seines Throns kniete Sir Harold Spencer, gefesselt, geblendet, seine einstmals stolze Uniform verdreckt und blutbesudelt. Nein, nicht blind. Kanus wollte ihm in die Augen sehen, wollte sich an der Angst und dem Entsetzen weiden, während er dem Star-Watch-Commander genüßlich und in allen Einzelheiten beschrieb, wie er langsam, ganz langsam sterben würde.

Und jetzt schwebte er durch den Weltraum, allein ungeschützt vor Vakuum und kosmischer Strahlung, trotzdem unantastbar und göttergleich. Sonnen zogen an ihm vorbei, während er majestätisch durch die Galaxie flog, seine Galaxie, sein persönlicher Besitz. Er sah einen Planeten unter sich. Er mißfiel ihm. Er streckte eine Hand aus. Die Städte gingen in Flammen auf. Er hörte die Schreie der Bewohner, ihre flehenden Bitten um Gnade. Lächelnd ließ er sie verbrennen.

Berge wurden bearbeitet, behauen, gemeißelt, und wurden zu Statuen von Kanus dem Sieger, Kanus dem Allmächtigen. Überall in der Galaxie knieten Menschen nieder und verehrten ihn.

Sie fürchteten ihn. Was noch mehr war, sie liebten ihn. Er war ihr Führer, und sie liebten ihn, weil er allmächtig war. Sein Wort war Gesetz, Naturgesetz. Er konnte die Schwerkraft aufheben, Sterne verfinstern, Leben spenden oder Leben nehmen.

Er stand vor den knienden Massen, lächelte einigen zu, bedachte andere, die sein Mißfallen erregten, mit einem finsteren Blick. Sie krümmten sich zusammen und welkten wie Blätter in glühender Hitze. Aber da war einer, der nicht kniete. Ein großer Mann mit silberweißer Mähne, schlank und kerzen-grade, der zielbewußt auf ihn zukam.

»Geben Sie auf«, sagte Romis ernst.

»Stirb!« schrie Kanus.

Aber Romis kam immer näher. »Ihre Leibgarde hat sich ergeben. Sie sitzen jetzt seit zwei Stunden in der Duellmaschine. Ein Großteil der Armee verweigert Ihnen die Gefolgschaft. Die Kerak-Welten erkennen Ihre Herrschaft nicht mehr an. Kor hat Selbstmord begangen. Aber an einigen Stellen wird noch bekämpft. Sie können die Kampfhandlungen beenden, wenn Sie freiwillig aufgeben.«

»Ich bin der Herr des Universums! Keiner ist mächtiger als ich!«

»Sie sind krank«, sagte Romis scharf. »Sie brauchen ärztliche Behandlung.«

»Ich bringe Sie um!«

»Sie können mich nicht umbringen. Sie sind machtlos…«

Alles begann zu verblassen, schrumpfte zusammen, verlor sich in undeutlicher Dunkelheit. Jetzt sah er nur noch ein Grau und Romis’ aristokratische Gestalt mit den strengen Zügen.

»Sie brauchen Behandlung. Wir helfen Ihnen.«

Kanus spürte Tränen aufsteigen. »Ich bin allein«, wimmerte er. »Allein… ich habe Angst…«

Auf Romis’ Gesicht lag eine Mischung aus Abscheu und Mitleid. Er streckte die Hand aus. »Kommen Sie mit. Wir helfen Ihnen.«


Professor Leoh schaute auf seinen Armbandbildschirm und stellte fest, daß es vier Minuten vor Takeoff war. Die gelbrote Sonne von Acquatainia stand fast im Zenith. Eine warme Brise wehte über den Raumhafen.

»Hoffentlich schafft er es noch vor unserem Abflug«, sagte Geri zu Hector. »Wir sind Per einiges… einiges schuldig.«

Hector nickte und bemerkte dann ein schmuckes kleines Aero-Car, das über ihnen kreiste. Es flog eine steile Kurve und landete nicht weit von der Shuttle, die vor ihnen aufragte. Aus dem Cockpit kam Per Odal geklettert.

Hector lief zu ihm. Die beiden Männer schüttelten sich lächelnd die Hände.

»Es ist mir nie aufgefallen«, sagte Leoh zu dem Mädchen, »wie ähnlich sich die beiden sehen. Sie könnten direkt Brüder sein.«

Odal trug wieder seine hellblaue Uniform; Hector hatte eine Tunika und Shorts an.

»Entschuldige meine Verspätung«, sagte Odal zu Geri. »Ich wollte dir ein Hochzeitsgeschenk mitbringen und mußte ganz Kerak danach absuchen…«

Er reichte Geri eine kleine, mit Erde gefüllte Plastikschachtel. Ein einzelner, blaßblauer Trieb hatte gekeimt.

»Es ist ein Äonenbaum«, erklärte Odal. »Sie sind jetzt sehr selten geworden. Sie brauchen hundert Jahre, bis sie ihre volle Größe erreicht haben, aber dann sind sie höher als jeder andere uns bekannte Baum.«

Lächelnd nahm Geri das Geschenk an.

»Ich wollte euch ein neues Leben geben«, fuhr Odal fort, »als Dank für das neue Leben, das ihr mir gegeben habt.«

»Wir wollten dir auch etwas schenken«, sagte Hector. »Aber durch die Hochzeit und den ganzen Trubel sind wir überhaupt nicht dazu gekommen. Wir schicken dir aber was Hübsches vom Mars.«

Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, bis der Lautsprecher Hector und Geri zur Shuttle rief.

Odal stand neben Leoh und blickte den beiden nach, wie sie Arm in Arm zum Schiff gingen. »Und Sie kehren nach Carinae zurück?« fragte er.

»Ja.« Leoh nickte. »Hector kommt in ein paar Monaten nach, er und Geri. Ein Berg von Arbeit wartet auf uns. Es ist wirklich schade, daß Sie uns nicht helfen können. Nachdem wir jetzt wissen, daß interstellare Teleportation möglich ist, müssen wir nun herausfinden, wie und warum es funktioniert. Jetzt endlich ist wirkliche Kolonisierung möglich.«

Wehmütig sah Odal Geri nach, wie sie mit dem Lift zur Luke der Fähre fuhr. »Ich halte es für besser, wenn ich nicht ständig in ihrer Nähe bin. Außerdem warten in Kerak neue Aufgaben auf mich. Romis weiht mich in die Kunst der Staatsführung ein… friedliche, verfassungstreue Staatsführung, so wie sie im Commonwealth praktiziert wird.«

»Das ist keine leichte Aufgabe«, gab Leoh zu, »wieder Ordnung in das Durcheinander zu bringen, das Kanus hinterlassen hat.«

»Es interessiert Sie sicher, daß Kanus in der Duellmaschine psychonisch behandelt wird. Ihre Erfindung wird als therapeutisches Instrument eingesetzt.«

»Habe ich gehört«, erwiderte der alte Mann. »Die Duellmaschine war nur eine Applikationsmöglichkeit meiner Erfindung. Denken Sie daran, was sie für Sie und Hector getan hat. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß zwei Menschen so dramatisch voneinander angezogen werden könnten.«

Odal lächelte. »Ich habe eine Menge gelernt während dieses kurzen Augenblicks mit Hector in der Maschine.«

»Er auch. Und doch«, in Leohs Stimme klang leises Bedauern an, »fast wünschte ich, er wäre der alte Hector geblieben. Er ist jetzt so… erwachsen. Kein flatterhafter Wirrkopf mehr. Sogar seine Pfeiferei hat er aufgegeben. In ein paar Jahren wird er ein bedeutender Mann werden. Vielleicht eines Tages sogar Star-Watch-Commander. Er hat sich völlig verändert.«

Geri und Hector winkten ihnen aus der Luke der Fähre. Die Luke glitt zu, aber irgendwie blieb Hectors Hand draußen. Ein Besatzungsmitglied mußte die Luke noch einmal öffnen und Hectors eingeklemmte Hand befreien. Er warf dem verlegenen Watchman vernichtende Blicke zu.

Leoh schüttelte sich vor Lachen. »Na, völlig scheint er sich doch nicht verändert zu haben«, sagte er, und man hörte die Erleichterung deutlich heraus.

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