Epilog


Die Kammer, in der Geist den Horthüter fand, war klein und lag fernab aller großen Verbindungsflure. Sie hatte lange nach ihm gesucht, ihr Weg hatte sie durch weite Teile der oberen Ebenen geführt. Doch entdeckt hatte sie ihn letztlich nur aufgrund eines Zufalls.

Sie hatte sich verlaufen und war dabei in einen hohen, dunklen Korridor gelangt. Zu ihrer Rechten befand sich ein Durchgang, durch den sanfter Kerzenschein fiel; das Licht flackerte verloren über den Fels der gegenüberliegenden Wand.

Einen Moment lang stockt Geists Atem. Mütterchen und Löwenzahn waren oben am Eingang, das wußte sie genau. Alberich dagegen benötigte kein künstliches Licht. Wer also trieb sich hier unten herum? Gab es immer noch Nordlinge und Zwerge im Berg, die sich in diesem abgeschiedenen Winkel versteckten?

Sie faßte all ihren Mut und schaute zaghaft um die Ecke des Durchgangs. Erleichtert atmete sie auf. Es war Alberich. Der Horthüter stand mit dem Rücken zur Tür vor einem steinernen Sarkophag, der sich in der Mitte der Kammer auf einem Podest erhob. An den Rändern hatte er mehrere Kerzen aufgestellt. Ihre Flammen zitterten, als Geist langsam in den Raum trat.

Alberich schaute nur kurz über die Schulter, wandte ich dann wieder dem Sarkophag zu. Mit beiden Händen stützte er sich auf den Stiel seiner Goldgeißel.

»Verzeih«, sagte Geist leise. Etwas in ihr sträubte sich, neben ihn zu treten, und so blieb sie einige Schritte hinter seinem Rücken stehen. »Störe ich?«

Was für eine dumme Frage, durchfuhr es sie.

Alberich sprach, ohne sie anzusehen. »Früher bin ich jeden Tag hierhergekommen. Aber in den letzten zwei Jahre sind meine Besuche selten geworden.« Er zögerte. »Sie würde es verstehen«, fuhr er dann gedankenverloren fort. »Ich weiß, daß sie es verstehen würde. Der Berg hat Vorrang vor allem anderen, das hat sie selbst immer gesagt. Sie hat ihn geliebt, den Berg, jede Felsspalte, jeden Stein, jedes noch so kleine Relief. Wenn die Nordlinge ihn in ihre Gewalt bekommen hätten... das hätte alles zerstört, für das sie so sehr gelitten hat.« Alberich wandte sich kurz zu dem Moosfräulein um. »Ich habe ihr erzählt, daß unser Sieg dein Verdienst war.«

»Aber das ist nicht wahr«, widersprach sie. »Ihr wart es, die den Minenbohrer bis zum Wasser vorgetrieben haben. Ich habe nur -«

»Unser aller Leben gerettet. Zweimal. Hättest du es nicht getan, wäre all dies jetzt in der Gewalt der Nordlinge. Erst haben sie das Land der Zwerge zerstört, dann mein Volk vernichtet, und sie hätten das gleiche mit dem Hohlen Berg getan. Dir haben wir zu verdanken, daß es nicht soweit gekommen ist.«

»Nicht mir. Dem Drachen.«

Alberich schüttelte den Kopf. »Der Drache ist tot. Der Xantener hat ihn erschlagen. Die Magie, die in ihm war, hat nie wirklich ihm gehört, sie war nicht einmal ein echter Teil von ihm. Sie wurde ihm nur für eine Weile anvertraut. Und jetzt ist sie in dir.«

Geist wußte nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Statt dessen rieb sie sich die Oberarme und sagte nach einer Weile: »Manchmal habe ich das Gefühl, daß es hier unten von Tag zu Tag kälter wird.«

»Es wird kälter.« Alberich schaute trübsinnig über die Felswände. »Der Berg liegt im Sterben.«

Geist schaute ihn verständnislos an, und so fuhr der Horthüter fort: »Ein Großteil seiner Kraft verließ ihn gemeinsam mit den Zwergen. Sie haben ihn zu dem gemacht, was er einst war, sie haben ihm Leben geschenkt. Als sie fortgingen, wurde er schwach und gebrechlich. Niemand kann etwas daran ändern. Und es wird schlimmer werden, wenn der Xantener zurückkehrt und den Hort einfordert.«

»Wir werden auch ihn besiegen«, sagte Geist, um Alberich aufzumuntern.

Der Zwerg aber lächelte verbittert. »Siegfried von Xanten hat mich im Kampf bezwungen. Er hat mir die Tarnkappe entrissen und die Fürsten des Nibelungengeschlechts erschlagen. Nun ist er der wahre Herr des Hohlen Berges, Herr über ein sterbendes Reich.« Der Kerzenschein geisterte über Alberichs faltige Züge und ließ ihn noch älter erscheinen. »Vielleicht ist es ja am besten so. Am Ende wird alles, was wir heute tun und getan haben, zwecklos sein.«

»So darfst du nicht reden«, sagte Geist, aber ihre Empörung war nur schwach angesichts seiner Traurigkeit.

Alberich schwieg sehr lange, doch dann versuchte er erneut zu lächeln. »Du hast mich gesucht. Warum?«

»Ich will das Ende der Geschichte hören. Grimmas Geschichte.«

»Hat dir mein anderes Ende nicht gefallen?«

»Es war nicht die Wahrheit, alle wissen das. Den anderen ist es egal. Aber ich möchte hören, was wirklich geschah. Erzählst du es mir?«

Alberich lehnte die Goldgeißel an die Treppe des Podests und ließ sich selbst auf einer Stufe nieder. »Wenn nicht du es verdient hättest, wer sonst?«

Wie ein Lichtflimmern durchfuhr Geist die Erinnerung an ihre erste Begegnung. Sie war Alberich und den beiden anderen auf ihrer Suche nach dem Leichnam des Drachen gefolgt, erst heimlich, dann an ihrer Seite. Sie hatten damals - und seither - vieles gemeinsam durchgemacht, vieles erlebt. Und doch war es nur selten vorgekommen, daß Geist und der Horthüter allein miteinander waren. In beiden floß das Blut magischer Vorfahren, und doch war es, als wären sie sich in den vergangenen zwei Jahren unbewußt aus dem Wege gegangen.

»Setz dich zu mir«, forderte Alberich das Moosfräulein auf.

Geist kam näher, hockte sich mit angezogenen Knien auf eine Treppenstufe. Ihr Blick huschte zu dem Sarkophag empor, der jetzt ehrfurchtgebietend über ihnen thronte. Sie wollte endlich die eine Frage stellen, die ihr schon die ganze Zeit über auf der Zunge brannte, doch Alberich schien ihre Gedanken zu lesen und legte seinen Zeigefinger an die Lippen.

Er nickte niedergeschlagen und sagte dann leise: »Es ging nie um das Gold. Immer nur um sie.«



Tage. Oder Wochen. Monde, vielleicht.

Grimma hatte aufgehört, in zeitlichen Größen zu denken. Zeit war für sie etwas ebenso Verschwommenes geworden wie das ferne Ende der Zwergenstraße, dunkel und diffus, ohne einen Licht- oder Hoffnungsschimmer.

Seit Styrmirs Tod und dem Fund der Tarnkappe lief sie stetig nach Süden. Frierend fing sie Fische, aß sie roh, und gelegentlich sprach sie mit sich selbst; vorausgesetzt, es gab etwas zu bereden, und das war selten der Fall.

Das Alleinsein, dachte sie manchmal, hat auch seine guten Seiten. Man muß niemanden in seiner Nähe ertragen. Ist ganz für sich. Ganz ungestört.

Dabei war sie nicht wirklich einsam. Sie hatte immer noch sich selbst, ihre Gedanken, die mit jedem Aufwachen wirrer wurden, ihre Stimme, die so heiser war, daß sie selbst sie kaum mehr verstehen konnte. Oftmals war gerade das die schlimmste aller Qualen, das Alleinsein mit sich selbst, dem eigenen Ich schutzlos ausgeliefert. Wenn sie diese Erkenntnis besonders heftig traf, zog sie die Tarnkappe über, blickte an sich hinab und dachte: Sieh nur, sie ist weg! Endlich bin ich ganz allein!

Ihr Leben war zu einem morschen Geflecht aus zwei grauen Fäden geworden. Der eine hieß Schlaf, der andere Laufen. Wenn sie nur lange genug einen Fuß vor den anderen setzte, lange genug sich selbst und die Kälte ertrug, dann würde sie irgendwann ankommen. Im Schutz des Hohlen Berges, bei Thorhâl. Alles würde sein wie früher. Allein dafür lohnte es sich, sich nach jedem Erwachen auf die Beine zu stemmen und weiterzuschleppen, ganz gleich, wie schwer es auch fiel. Denn schon seit einer Weile erschien ihr der Felsboden immer einladender, als wollte er sie auffordern, für immer liegenzubleiben. Manchmal gehörte viel Kraft dazu, ein so verlockendes Angebot auszuschlagen.

Irgendwann bemerkte Grimma in einiger Entfernung vor sich ein Licht. Als sie sich ihm näherte, zerfaserte die Lichtquelle, wurde zu einer Vielzahl flackernder Punkte. Darunter wogte etwas, erst ein vager Schemen, dann eine wimmelnde Masse von Körpern.

Eine Stimme rief etwas, eine Warnung, und mehrere Gestalten lösten sich aus dem lärmenden Verbund, kamen näher, tuschelten, hantierten mit ihren Waffen. Einer schließlich erkannte sie, erinnerte sich an das Gesicht unter den zottigen Haaren, an die Augen, die nur noch vage Ähnlichkeit mit denen der Grimma von einst hatten.

Eine Weile später - man hatte ihr Wasser und Nahrung gereicht, dazu Decken und frische Kleidung, und irgend jemand hatte ihr Gesicht mit einer kühlenden Salbe bestrichen - kam Thorhâl an ihr Krankenlager.

Der König vom Hohlen Berg ging vor ihr in die Hocke, hob ihr Kinn, betrachtete sorgenvoll ihre ausgezehrten Züge und erkannte den Schatten des Irrsinns, der in ihren Blicken gedieh. Sehr langsam und traurig fragte er, was geschehen sei.

Grimmas Stimme war rauh, gar nicht mehr die ihre, und jeder, der zuhörte, hatte Mühe, sie zu verstehen. Sie sprach in kurzen, abgehackten Sätzen, und sie hatte die Befürchtung, daß vieles davon keinen Sinn ergab. Die Erinnerung schmerzte, und Grimma weinte, während sie sprach. Dennoch tat es gut, sich das Grauen und die Pein von der Seele zu reden.

Schließlich wurden ihre Schilderungen flüssiger, die Silben und Worte verständlicher. Sie spürte, daß Klarheit in ihre Gedanken einkehrte, nicht durch und durch, vielleicht nicht bleibend. Doch endlich war sie weit genug bei Verstand, um sich an das zu erinnern, was Vorrang vor allem anderen hatte.

Sie mußte Thorhâl warnen.

Es war in eben jenem Augenblick, als sie auf einen Schlag begriff, daß sie sich nicht im Hohlen Berg befand. Sie war noch immer im Tunnel, und Thorhâl war bei ihr und mit ihm sein ganzes Volk. Und da wußte sie, daß sie zu spät kam. Der Auszug nach Norden hatte längst begonnen.

Wie lange die Zwerge schon unterwegs seien, fragte sie mit bebender Stimme, und der König unter dem Berg erwiderte, man befände sich gerade im Aufbruch. Dann sei wohl der Hohle Berg ganz in der Nähe, entfuhr es Grimma aufgebracht, und als Thorhâl nickte, da lachte seine Heerführerin, lachte, bis sie kaum noch Luft bekam und der König besorgt nach dem Heiler rief. Grimma aber ließ sich nicht beruhigen. Sie hatte die Heimat tatsächlich erreicht, nach allen Niederlagen der vergangenen Monde, all dem Sterben ohne Sinn, und sie kam einen einzigen Tag zu spät. Einen verfluchten Tag! Die Ironie war so köstlich wie grausam, die Folge jedoch ungleich grausamer. Denn nun, da Thorhâl einmal zum Zug ins Nordland aufgerufen hatte, konnte er seinen Befehl nicht mehr rückgängig machen, ohne vor dem ganzen Volk das Gesicht zu verlieren. Grimma kannte ihn viel zu gut, als daß sie sich der Illusion hingegeben hätte, er würde auch nur in Erwägung ziehen, sich auf derlei einzulassen.

Oh, gewiß versuchte sie, ihn umzustimmen. Sie schilderte die Öde und den klirrenden Frost des Nordlandes, die Trümmerschluchten der untergegangenen Zwergenstadt; sie warnte vor der Mordlust der Nordlinge, die die Ruinen wie ein Rudel Aasfresser beherrschten; sie bat, sie schrie und sie flehte, Thorhâl möge seinen verhängnisvollen Plan aufgeben, er möge daheim bleiben im Hohlen Berg und sich zufriedenzugeben mit dem, was das Schicksal ihnen zugestanden hatte.

Doch Thorhâl schüttelte nur betrübt den Kopf, ein geschlagener Mann, gefesselt an die Marionettenschnüre seines Volkes. Im Hinausgehen befahl er dem Heiler, alles in seinen Kräften stehende für die verwirrte Kriegerin zu tun. Dann war er fort, und Grimma sah ihn niemals wieder.

Die Bemühungen des Heilers schienen für Grimma an einer anderen vorgenommen zu werden, nicht an ihr. Sie verfolgte sie unbeteiligt, wie durch einen Schleier. Dann, als der Mann endlich fort war, zog sie die Tarnkappe über und stahl sich unsichtbar aus dem Schatten der Versorgungskarren, neben denen man ihr Lager errichtet hatte. Mühelos schlich sie an Thorhâls Wachen vorbei zur Rampe. Die steile Schräge wuchs ehrfurchtgebietend vor ihr empor. Auf Grimma wirkte sie wie der Eingang in eine andere Welt.

Die beiden Steinflügel der riesigen Falltür, hoch oben in der Tunneldecke, wurden durch ein gewaltiges Gerüst aus Holz abgestützt. Grimma erkannte Thorhâls Plan: Sobald der Zug weit genug fort war, würde er die Gerüstkonstruktion zerstören lassen. Die Flügel würden zufallen, der Hort darüber zusammenschlagen wie die Wogen eines goldenen Ozeans. Kein Eroberer würde danach noch in der Lage sein, den Hohlen Berg von unten zu betreten.

Unsichtbar erklomm Grimma die Rampe. Sie hatte Bauchschmerzen. Das starke Aufgebot an Wachtposten, die an den Rändern der Falltür postiert waren, verriet ihr, daß das Zwergenreich bereits geräumt, die Kammern und Hallen durchsucht und gesichert waren. Niemand würde zurückbleiben. Niemand außer Grimma.

Sie huschte zwischen zwei Wachen hindurch, kletterte über die Goldwälle der Nibelungenschätze und machte sich daran, die lange Treppe in der Wand der Horthalle hinaufzusteigen.

Sie hatte mehr als drei Viertel des Weges bewältigt - demnach war fast ein halber Tag vergangen -, als tief unter ihr ein scharfes Bersten ertönte, gefolgt von einem Donnern. Thorhâl ließ die Stützpfeiler fällen. Nur Augenblicke später sackte das Gerüst in sich zusammen, die mächtigen Torflügel schlossen sich mit ohrenbetäubendem Krachen. Darüber ergoß sich von allen Seiten die Goldflut des Hortes, verschüttete den geheimen Zugang zum Tunnel innerhalb weniger Atemzüge. Das Zwergenreich vom Hohlen Berg existierte nicht mehr.

Grimma erreicht die Plattform, beherrscht von einem Wirrwarr starker Empfindungen. Schmerzvolle Trauer um all jene Männer, Frauen und Kinder, die ihrem König ins sichere Verderben folgten. Trauer auch um die Freunde, die ihr Leben für ein Ziel gelassen hatten, das von Anfang an eine Illusion gewesen war.

Und sie weinte um Styrmir, der ihr mehr gegeben hatte als nur seine Liebe.

Sie zog sich die Tarnkappe vom Kopf und streichelte das überirdische Schmiedewerk des Kettengewebes, als wäre es der Haarschopf ihres toten Gefährten. Albenmagie, dachte sie verträumt.

Neues Leben, tief in mir. Ich kann es fühlen.

Sie berührte mit der Tarnkappe ihren Bauch, rieb sanft darüber hinweg. Albenmagie, durchfuhr es sie noch einmal. Vielleicht ging ja etwas davon auf die Frucht ihres Leibes über, auf Styrmirs Kind, das unter ihrem Herzen heranwuchs.

Sie wußte schon, welchen Namen sie ihm geben würde.



ENDE

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