KAPITEL 3


Grimma blickte noch einmal zurück zu dem offenen Viereck in der Höhlendecke. König Thorhâl stand am Rande der Öffnung, in einer bunten Reihe mit einer Vielzahl seiner Untertanen, und winkte ihr huldvoll zu. Nahezu das ganze Volk hatte sich am Einstieg zur alten Zwergenstraße versammelt, um den Kundschaftern die Ehre des Abschieds zukommen zu lassen.

Der Lärm der zahllosen Zurufe wurde allmählich leiser, als Grimmas Trupp sich dem Fuß der steilen Geröllrampe näherte. Fast hundert Schritte weit führte die Schräge nach unten, ehe der Boden wieder eben wurde. Grimma hatte oft Erzählungen und Legenden über die unterirdische Zwergenstraße ins Nordland gehört, doch nichts davon hatte sie auf die überwältigende Größe des uralten Höhlenweges vorbereitet.

Sie hatte einen schmalen Gang erwartet, mit niedriger Decke und kaum breit genug, um zu mehreren nebeneinander zu gehen. Statt dessen aber öffnete sich vor ihr ein gigantischer Tunnel, mindestens siebzig Schritte hoch und ebenso breit. Tausende von Zwergen waren einst über diesen Weg aus dem Nordland gen Süden gezogen, und Grimma fragte sich, wie viele Generationen von Arbeitern an diesem Tunnel zugrunde gegangen waren.

Schon vor Jahrhunderten war das Wissen um die Lage der Straße aus dem Gedächtnis der Zwerge geschwunden. Zuletzt waren selbst die Ältesten der Ansicht gewesen, sie sei längst verschüttet - falls sie überhaupt je existiert hatte. Erst das Auftauchen der Nordlinge hatte sie eines Besseren belehrt.

Jetzt, nachdem der Feind geschlagen war, betraten zum erstenmal seit undenklicher Zeit wieder Zwerge die Höhlenstraße ihrer Ahnen. Vor Staunen waren sie alle in andachtsvolles Schweigen verfallen. Die einzigen Geräusche waren das Scharren ihrer Stiefel auf dem losen Geröll und das Raunen der Menge hoch über ihnen.

Grimma führte den zwanzigköpfigen Zwergentrupp an. Neben ihr gingen Egil, Bollis und Gellir. Alle drei hatten Prellungen und kleinere Wunden vom Kampf mit den Nordlingen auf der Treppe zurückbehalten. Dennoch hätte nichts sie davon abhalten können, Grimma zu folgen. Vor allem Gellir Rotbart, der eigens für die Reise seine eiserne Augenklappe poliert hatte, brannte darauf, die alte Zwergenstraße zu erforschen. Egil und Bollis hatten sich von seiner Begeisterung anstecken lassen, und Grimma dankte den Göttern im geheimen dafür, daß sie mit solchen Freunden gesegnet war.

Die übrigen sechzehn Mitglieder der Reisegemeinschaft waren zum überwiegenden Teil Krieger, die Grimma selbst ausgewählt hatte, mutige Zwerge, die den Tod nicht fürchteten und sich im Kampf mit den Nordlingen tapfer geschlagen hatten. Dazu kamen zwei Heilkundige, ein Zeichner, der unterwegs eine Karte des Weges anfertigen sollte, die beiden besten Armbrustschützen des Reiches (für die Jagd auf Fledermäuse) und, zuletzt, Styrmir, ein junger Berater des Königs, der darauf bestanden hatte, an der Expedition teilzunehmen.

Styrmir war einer der wenigen Zwergenmänner im Berg, denen die Götter keinen Bartwuchs geschenkt hatten, und um von dieser Schmach abzulenken, hatte er sich Kinn und Wangen mit einem Muster tätowieren lassen, das aussah wie ein Gewimmel roter Ameisen. Die Ämter der königlichen Berater wurden seit jeher vom Vater an den Sohn weitergegeben, und das war einer der Gründe, weshalb Thorhâl sich mit wichtigen Fragen häufiger an Grimma und die übrigen Heerführer wandte als an die Männer, die ihm die Tradition zur Seite gestellt hatte. Auch Styrmir hatte den Posten geerbt, und Grimma hatte das ungute Gefühl, daß Thorhâl ihn nur mitgehen ließ, um sich eine Weile von seinen lästigen Einflüsterungen zu befreien. Keiner der Krieger war froh über Styrmirs Begleitung, sie alle fühlten sich beobachtet. Schon wenige Augenblicke nach dem Aufbruch hielten die Männer mehrere Schritte Abstand zu dem königlichen Berater, und Grimma erkannte an Styrmirs Gesichtsausdruck, daß er die Ablehnung der anderen spürte, wenn auch nicht verstand. Eine Art kindliche Verwunderung lag über seinen glatten, gepflegten Zügen.

Der Einstieg blieb hinter ihnen zurück. Thorhâl verteilte Wachen am Rand der Öffnung, die den Zugang zur Zwergenstraße Tag und Nacht bewachen würden. Eine zweite Invasion aus den Tiefen durfte es nicht geben, nicht, nachdem das Heer vom Hohlen Berg der Hälfte seiner Krieger beraubt worden war.

»Wir werden ein Jahr lang auf euch warten«, hatte der König Grimma in einem ihrer vielen vertraulichen Gespräche vor der Abreise erklärt. »Auch wenn ihr das Nordland nach sechs Monden noch nicht erreicht habt, kehrt um. Vor allem, wenn ihr in dieser Zeit auf keine Feinde stoßt. Der Weg sollte dann sicher sein.«

»Sicher?« wiederholte Grimma und runzelte die Stirn. »Ihr wollt mit einem ganzen Volk ausziehen, bevor Ihr überhaupt wißt, wohin Euch der Weg fuhren wird?«

»Du verstehst das nicht, Grimma«, sagte Thorhâl kopfschüttelnd. »Du bist eine Kriegerin, eine ganz hervorragende, aber du mußt dich nicht mit den Belangen Hunderter Untertanen auseinandersetzen. Seit dem Ende der Kämpfe erreichen mich Tag für Tag Bittgesuche von Männern und Frauen, die auf eigene Faust losziehen wollen. Sie alle brennen darauf, den Berg zu verlassen und ihr Glück im Norden zu versuchen. Ich kann sie vertrösten, ein paar Wochen, vielleicht einige Monde. Das Jahr, das ich dir gebe, Grimma, ist mehr, als ich in meinem Herzen gutheißen kann.«

»Ihr fürchtet einen Aufstand?« fragte Grimma verblüfft. »Nach all den Jahrhunderten, die sich die Zwerge vom Hohlen Berg den Wünschen der Nibelungenfürsten unterworfen haben, soll gerade jetzt ein Umsturz drohen?«

Thorhâl lächelte bitter. »Ach, Grimma. Ich beneide dich um deine Gutgläubigkeit. Die Zwerge haben sich nur deshalb so lange in ihr Schicksal gefügt, weil es keinen Ausweg zu geben schien. Aber jetzt ist da plötzlich diese Verheißung eines freien Lebens im Nordland. Plötzlich ist unseren Leuten klargeworden, daß es noch etwas anderes gibt als die Kavernen dieses Berges und die Arbeit am Hort. Ich weiß nicht, wie lange ich das Volk davon abhalten kann, Hals über Kopf von hier fortzulaufen.« Er sah sehr müde aus. Grimma hatte ihn nie zuvor in so düsterer Stimmung erlebt. Von seiner Begeisterung, als er den Entschluß gefaßt hatte, Grimma als Kundschafterin auszusenden, war nichts geblieben. Mit einemmal sah er sich Zwängen ausgesetzt, die er nicht vorausgeahnt hatte.

»Ein Jahr, Grimma«, setzte er entschlossen hinzu. »Ein einziger Tag länger, und ich muß den Befehl zum Aufbruch geben.«

So waren sie verblieben, gegen Thorhâls und Grimmas besseres Wissen. In spätestens zwölf Monden mußten Grimma und ihre Männer zurück sein. Der Ernst dieses Ultimatums hatte sich wie eine unaufhaltsame Sanduhr in ihrer Brust verankert, sie trug so schwer daran wie an einem zweiten Herz.

Natürlich hatten sie auch echte Sanduhren dabei, jeder der beiden Schreiber trug eine in seinem Gepäck. Da es in den Tiefen des Erdreichs nicht möglich war, den Lauf des Mondes zu bestimmen, mußte die Zeit auf andere Weise gemessen werden. Jede Uhr lief genau einen Tag und eine Nacht lang, dann mußte sie gedreht werden. Es war Aufgabe der Schreiber, darüber Buch zu führen. Nach spätestens hundertachtzig Sandläufen würde Grimma den Befehl zur Umkehr geben.

Sie hatten eine Strecke von zwanzig Speerwürfen zurückgelegt, als das magische Licht des Hohlen Berges zurückblieb und die Dunkelheit des Tunnels den Trupp wie schwarzer Nebel umschloß. Obwohl die Zwerge in der Finsternis leidlich gut sehen konnten, ordnete Grimma an, die ersten Fackeln zu entzünden, in der Hoffnung, die Helligkeit würde die gedrückte Stimmung heben. Die groben Felsvorsprünge der Tunnelwände warfen zuckende Schatten, und da die Zwerge den gleichmäßigen Schein des Hortes gewohnt waren, erschien ihnen das gelbe Licht der Flammen alsbald fremdartig, sogar beängstigend. Grimma gestand sich ihre erste Fehlentscheidung ein und ließ die Fackeln löschen.

Fortan zogen sie lichtlos dahin, eingelullt von jahrtausendealter Dunkelheit wie von einem Lied in einer alten, vergessenen Sprache.



Nach den ersten Tagen ihrer Reise bemerkte Grimma, daß sich das Verhalten der Krieger gegenüber Styrmir wandelte. Aus stillschweigender Ablehnung wurde offene Feindschaft.

Der Berater des Königs marschierte tagsüber stets einige Schritte von den anderen entfernt, und auch nachts bereitete er sein Lager abseits der übrigen. Grimma nahm an, daß einige der Männer Bemerkungen gemacht hatten, die Styrmir zu solch einer Vorsichtsmaßnahme veranlaßt hatten. Obwohl sie einen Kampf nicht zugelassen hätte, rümpfte sie insgeheim die Nase über Styrmirs Zurückhaltung. Beleidigungen oder Drohungen unter den Kriegern hätten bei jedem anderen zu wüsten Prügeleien geführt. Nicht so bei Styrmir, er war aus anderem Stein gehauen. Er zog sich zurück, sprach nie ein Wort und tat, als stünde er weit über den Rangeleien der Krieger. Grimma aber sah ihm an, wie unglücklich er in Wahrheit war, und sie war sicher, daß er seine Entscheidung, sie zu begleiten, längst bereut hatte. Nicht ohne Häme dachte sie, daß ihm das ganz recht geschah. Was hatte er sich ihnen auch derart aufdrängen müssen?

Trotzdem gefiel es ihr nicht, daß es innerhalb ihrer Gruppe Spannungen gab. Eine Weile lang schaute sie zu und tat, als berühre sie Styrmirs Schicksal nicht, doch dann geschah etwas, das ihr schlagartig klarmachte, daß es an der Zeit war, einzuschreiten.

Am Abend des neunten Tages saß sie mit Egil, Gellir und Bollis rund um die knisternden Flammen eines Lagerfeuers. Es war kühl in dem endlosen Tunnel, und obwohl sie als Zwerge an die Kälte der Bergestiefen gewöhnt waren, machte ihnen der ewige Luftzug zu schaffen, der ihnen von Norden entgegenwehte. Der Brennholzvorrat, den sie mit sich führten, war äußerst begrenzt, doch sie hatten am Nachmittag ein eisiges Gewässer durchqueren müssen, und so hatte Grimma die Order ausgegeben, vier kleine Feuer anzuzünden. Für gewöhnlich kamen sie mit einem aus, doch heute mußten sie ihre Kleider trocknen und entsprechend nah an die Flammen rücken. So saßen sie in vier Gruppen um die Feuerstellen und unterhielten sich leise.

Plötzlich wies Gellir ins Dunkel, zur Westwand der Zwergenstraße. »Seht ihn euch an!« brummte er abfällig. »Hockt da und schreibt alles auf, was wir reden.«

Grimma erkannte in der Düsternis Styrmir, der abseits der Feuer dasaß und mit einer Feder etwas in ein gebundenes Büchlein schabte.

»Verfluchter Schnüffler!« schimpfte Egil. »Er horcht, ob irgendwer ein böses Wort über den König verliert.« Er hatte laut genug gesprochen, daß auch einige der Krieger an den anderen Feuern aufhorchten.

Bollis fiel kichernd mit ein. »Am besten wäre es, wenn er in irgendeine Felsspalte fiele.«

»Ja«, pflichtete ein Zwerg am Nebenfeuer bei. »Ein. Unfall. Sehr traurig.«

Grimma traute ihren Ohren kaum. »Seid ihr des Wahnsinn?« zischte sie und sprang auf. »Unter meinem Befehl wird es nichts dergleichen geben!« Sie deutete auf den Zwerg, der zuletzt gesprochen hatte, dann auf Bollis. »Ihr beiden, steht auf!«

Die Krieger sprangen blitzschnell auf die Füße.

»Ich habe etwas verloren«, sagte Grimma schneidend. »Heute nachmittag, als wir durch dieses Wasserloch gewatet sind. Es ist ein Siegelring König Thorhâls. Ihr zwei werdet zurückgehen und ihn suchen. Wenn ihr stramm durchmarschiert, solltet ihr am Morgen wieder bei uns sein.«

Sie hatte nie einen solchen Ring besessen, und jeder ihrer Krieger wußte das. Der Zwerg vom Nebenfeuer wollte aufbegehren, doch Bollis schlug ihm hart gegen die Schulter. »Du hast gehört, was Grimma gesagt hat. Gehen wir!« Der Zwerg straffte sich einen Moment lang, dann nickte er verdattert. Wenig später waren die beiden in der Düsternis verschwunden.

Grimma drehte sich um und ging hinüber zu Styrmir. Sie spürte, wie ihr die Blicke aller anderen folgten, dann hörte sie zufrieden, daß Egil die Krieger anschnauzte, sich gefälligst nur um das zu kümmern, was sie etwas anginge.

Styrmir schaute ihr finster, aber auch voller Neugier entgegen. Spielte da ein leises Lächeln um seine Lippen? Grimma wünschte sich, ihn im Dämmerlicht besser erkennen zu können. Als sie näher kam, klappte er das Büchlein zu, verkorkte sein Tintenfaß und legte beides zusammen mit der Feder in den Rucksack.

Grimma setzte sich ohne Aufforderung zu ihm. So weit von den Feuern entfernt spürte sie die Kälte noch deutlicher, und sie fragte sich, ob ihre Strafe für Bollis und den anderen Krieger nicht zu hart gewesen war. Aber nein, sie hatte richtig gehandelt. Sie durfte nicht zulassen, daß ihre Männer auf solche Gedanken kamen, geschweige denn sie aussprachen.

»Deine Krieger haben es nicht leicht mit dir«, bemerkte Styrmir, und jetzt sah sie, daß tatsächlich ein Schmunzeln um seine Mundwinkel zuckte. Seine glatte Haut und das bartlose, tätowierte Kinn konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß er den kantigen Unterkiefer und die markanten Züge seiner Ahnen geerbt hatte.

»Die beiden hatten Strafe verdient«, sagte sie und blickte fest in seine braunen Augen. »Ich werde nicht zusehen, wie irgendein dummer Zwist diese Truppe spaltet.«

»Oh«, sagte er mit einem Lachen, das frische Milch hätte gerinnen lassen, »von spalten kann keine Rede sein. Hättest du den beiden ihren Willen gelassen, so hättest du deine Männer wohl nie in größerer Einigkeit erlebt.«

»Für die Dauer dieser Reise bist du einer meiner Männer, Styrmir.«

»Ich fürchte, die anderen sind nicht dieser Meinung.«

»Sie glauben, du belauschst sie, um sie beim König zu verleumden.«

Er hob eine Augenbraue. »So, so.«

»Ist es die Wahrheit?« fragte Grimma geradeheraus.

»Du glaubst, weil mich meine Geburt zu Thorhâls Berater gemacht hat, müßte ich ihm jedes Wort zutragen, das ich mitanhöre? Liebe Güte, ich müßte Ohren haben, so groß wie die Pechkessel oben am Portal, und eine Zunge, ausgefranst wie ein Pferdeschwanz!«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht bei euch, um Thorhâl über irgend etwas Bericht zu erstatten. Es war ganz allein mein Wunsch, mit euch zu gehen.«

»Du hast gewußt, daß du nicht willkommen bist.« Sie sah keinen Grund, ihm gegenüber unaufrichtig zu sein. »Meine Krieger mögen keine Männer, die -«

»Die keine Axt führen können.« Er lächelte. »Das wolltest du doch sagen, nicht wahr?«

»Ich wollte sagen: Männer, die besser mit der Zunge als mit der Waffe umgehen können. Aber ich schätze, das läuft auf das gleiche hinaus.«

»Um ehrlich zu sein, Grimma, es ist mir gleichgültig, was deine Männer über mich denken. Diese Reise bedeutet mir mehr als mein Leben. Falls sie mich in eine Felsspalte stoßen, gut, dann ist es eben so. Das war es mir wert.«

»Niemand wird dich in eine Felsspalte stoßen«, widersprach sie zornig. »Nicht, solange ich hier den Befehl führe.« Dann erst wurde ihr klar, was er noch gesagt hatte. »Wie meinst du das, die Reise bedeutet dir mehr -«

»Als mein Leben.« Er nickte bestätigend. »Wir Königsberater werden in unsere Stellung hineingeboren, das weißt du. Ich hatte nie die Möglichkeit, den Umgang mit Axt oder Schwert zu erlernen.« Er klang verbittert, und das verwirrte sie. »Nie habe ich die Möglichkeit gehabt, irgend etwas zu erleben, das aufregender war als die täglichen Beratungen mit Thorhâl und dem Rest seiner Höflinge.«

»Dann bist du auf ein Abenteuer aus?« fragte sie irritiert.

»Auf ein Abenteuer, auf einen Marsch bis ans Ende der Welt, von mir aus auch auf den Tod.« Er schnaubte verbittert. »Auf alles, das sich vom öden Trott in Thorhâls Fußvolk unterscheidet.«

Grimma versuchte, ihre Einschätzung Styrmirs zu überdenken, ihn ganz neu einzuschätzen, als hätte sie ihn gerade erst getroffen, doch dazu ließ er ihr keine Zeit.

»Als ich Thorhâl mein Anliegen vorbrachte, wußte ich, daß deine Männer mich vom ersten Augenblick an verabscheuen würden«, fuhr er fort. »Ich habe es in Kauf genommen. Und ich kann ihr Verhalten verstehen, Grimma. Sie täuschen sich nicht, wenn sie mich für jemanden halten, den das Leben bei Hofe verweichlicht hat. Ich bin kein Krieger und werde nie einer sein. Aber wenn wir jemals von dieser Reise zurückkehren, und wenn es uns gelingt, das zu finden, was wir suchen, dann werde ich meinen Kindern dereinst erzählen können, was ich erlebt habe. An deiner Seite, Grimma, und an der Seite dieser Männer, die mich hassen. Und ich werde einen Grund haben, stolz zu sein auf etwas, das ich getan habe. Zum ersten und vielleicht zum einzigen Mal.«

Grimmas Blick huschte zurück zu den Lagerfeuern und den Kriegern, die dort murmelnd beieinander saßen. Ihre Augen verengten sich, als sie über das nachdachte, was Styrmir gesagt hatte. Sie hatte sich nie zuvor in einem anderen so getäuscht wie in ihm. Dafür schämte sie sich, und sie besaß genug Anstand, sich das einzugestehen.

»Ich entschuldige mich bei dir, Styrmir.«

Ein jungenhaftes Grinsen flimmerte wie der Feuerschein über seine Züge. »Du hast mir das Leben gerettet. Das ist kein Grund, sich zu entschuldigen.« Feixend fügte er hinzu: »Höchstens bei deinen Männern.«

Sie atmete tief durch. »Ich werde mit ihnen reden. Sollte noch einer die Stimme gegen dich erheben, wird er es bereuen.«

»Nein!« widersprach er scharf. »Tu das nicht. Sprich nicht mit ihnen über mich. Ich wollte mir mit dem, was ich dir erzählt habe, keinen Respekt erkaufen. Sollten deine Krieger je lernen, mich zu achten, so sollen sie gute Gründe dafür haben, keine, die du ihnen vorgibst.«

Grimma verstand, was er meinte, und nickte langsam. »Wirst du mir noch eine Frage beantworten?«

»Gewiß.«

»Du hast eben etwas aufgeschrieben.«

»Das tue ich jeden Abend.«

»Die Männer glauben, du hältst fest, worüber sie reden.«

»Da haben sie nicht einmal unrecht.«

»Erklär mir das.«

Lächelnd griff er nach seinem Rucksack und zog das Büchlein hervor. Aus der Nähe erkannte Grimma, daß es in das Leder grauer Fledermausschwingen gebunden war. Ein wertvolles Stück.

Styrmir drehte den handgroßen Band zwischen den Fingern. »Wie soll ich meinen Kindern erzählen, was ich erlebt habe, wenn ich die Hälfte davon vergessen habe? Deshalb schreibe ich alles auf. Das Aussehen des Tunnels, die Hindernisse auf unserem Weg, meine Gedanken, auch einiges vom Gerede der anderen. Und irgendwann, vielleicht, eine Beschreibung des Nordlandes, wie es sich den Augen eines Zwerges darbietet, der sein Leben lang nur das Innere des Hohlen Berges gesehen hat.«

Er schlug das Buch auf den vorderen Seiten auf und reichte es Grimma. Sie warf einen neugierigen Blick darauf, doch dann gestand sie kleinlaut: »Ich kann nicht lesen, Styrmir.«

Er lachte nicht, verzog nicht einmal das Gesicht. »Wenn du willst, werde ich dir daraus vorlesen.«

Sie nickte ihm zu, dankbar, daß er nicht über ihr Unvermögen spottete, so wie sie selbst sich in den vergangenen Tagen insgeheim über seine mangelnden Kampfkünste lustig gemacht hatte. »Ein andermal will ich dir gerne zuhören. Falls dein Angebot dann noch gilt.«

»Das wird es.«

Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, dann stand sie auf und ging zurück zum Feuer. Sie bat Styrmir nicht, mit ihr zu kommen. Er hätte doch nur abgelehnt.



In der sechsten Woche ihres Marsches durch die Dunkelheit entdeckten sie etwas, das ihnen wahrscheinlich das Leben rettete.

Grimma selbst führte die Vorhut des Trupps an, und so war sie eine der ersten, die sah, wie sich etwas Großes aus dem Dämmerlicht schälte, das nicht in die eintönige Ödnis des Tunnels gehörte.

Es war ein großer Holzkarren mit gesplitterter Achse. Seine Ladefläche war leer. Der Größe nach mußten ihn die Nordlinge während ihres Weges zum Hohlen Berg zurückgelassen hatten.

Sogleich machten sich die Zwerge daran, ihn mit ihren Äxten in kleine, tragbare Stücke zu zerlegen. Vor mehr als zwei Wochen war ihnen das Brennholz ausgegangen, und während der vergangenen Tage hatten sich die Stellen im Tunnel gehäuft, an denen sie Wasserflächen durchwaten mußten. Unter ihnen war keiner, der sich dabei nicht erkältet hatte, und ihnen allen klebte die Kleidung feucht und klamm an den Körpern.

Jetzt aber, nachdem sie den Wagen bis aufs letzte Stück zerkleinert hatten, gab Grimma den Befehl, große Feuer zu schüren und Hosen und Wämser zu trocknen. Bald schon war ihnen zum erstenmal seit vielen Tagen wieder warm, und selbst Styrmir gesellte sich zu ihnen, ohne daß jemand Anstoß daran nahm.

Nach einer Weile zogen sie weiter, und da war nicht einer, der das zusätzliche Gewicht auf seinem Rücken bejammerte. Sie all dankten den Göttern für ihr Glück, das sie zu dem Karrenwrack geführt hatte, und die Laune der meisten hob sich beträchtlich. Die Zwerge faßten neuen Mut, und ihr Ziel, das Nordland, gewann für sie nach den ernüchternden letzten Tagen neue Reize. Sie erzählten einander, was sie dort als erstes tun würden - tief durchatmen, schlafen, Met trinken -, und plötzlich stimmte jemand eines der alten Lieder ihrer Vorfahren an. Es war Styrmir, und er sang hell und schön und mit ansteckender Begeisterung. Es dauerte nicht lange, da war auch der letzte in den frohen Gesang miteingefallen, und die uralten Melodien hallten herrlich von den Felswänden wider und verscheuchten die bedrohlichen Schatten des dunklen Höhlengangs. Grimma sang aus vollem Halse, und sie schob jeden Gedanken an die Gefahren von sich, die der Lärm heraufbeschwören mochte. Wenn der Gesang den angeschlagenen Mut ihrer Männer hob, war sie bereit, das Risiko dafür in Kauf zu nehmen.

Sie sangen den ganzen Tag, und einige sangen noch abends am Feuer, als der Rest von ihnen schon schlief. Styrmir hatte sich erneut zurückgezogen, beugte sich über sein Buch, und er schrieb nieder, was der Tag ihnen gebracht hatte: neue Hoffnung, Lebensmut und, für ihn selbst zum erstenmal, einen leisen Hauch von Gemeinsamkeit.


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