Und so geht es weiter mit Band 2 in der Reihe

{Die Geheimnisse des {NICHOLAS FLAMEL}

Ich sterbe.

Wie meine Frau Perenelle werde ich mit jedem Tag, der vergeht, ein Jahr älter. Keinen Monat mehr haben wir zu leben.

Aber in einem Monat kann viel geschehen.

Dee und seine dunklen Gebieter haben Perenelle gefangen genommen. Nach so langer Zeit konnten sie sich endlich den Codex verschaffen, Abrahams Buch der Magie. Aber zufrieden sein können sie nicht.

Inzwischen wissen sie, dass Sophie und Josh die in dem alten Buch erwähnten Zwillinge sind. Sie sind die Zwillinge aus Prophezeiung und Legende, umgeben mit Auren von Silber und Gold, Bruder und Schwester mit der Macht, die Welt entweder zu retten – oder sie zu vernichten. Die Kräfte des Mädchens wurden erweckt. Die des Jungen schmerzlicherweise noch nicht.

Jetzt sind wir in Paris, meiner Geburtsstadt, der Stadt, in der ich den Codex zum ersten Mal in Händen hielt und von der aus ich mich aufmachte, um ihn zu verstehen. Auf dieser Reise begegnete ich dem Älteren Geschlecht, löste das Rätsel um den Stein der Weisen und entschlüsselte schließlich das letzte Geheimnis: das der Unsterblichkeit.

Ich liebe diese Stadt. Sie birgt so viele Geheimnisse und beheimatet Erstgewesene wie Unsterbliche der menschlichen Art. Hier werde ich eine Möglichkeit finden, Joshs Kräfte zu wecken und mit Sophies Ausbildung fortzufahren.

Ich muss.

Für sie – und für die ganze Menschheit.



Aus dem Tagebuch von Nicholas Flamel, Alchemyst


Niedergeschrieben am heutigen Tag, Freitag, den 1. Juni,


in Paris, der Stadt meiner Jugend

SAMSTAG, 2. Juni

Kapitel Eins


Die Wohltätigkeitsauktion hatte erst nach Mitternacht begonnen, nachdem das Gala-Dinner beendet worden war. Inzwischen war es fast vier Uhr morgens, und erst jetzt näherte sich die Versteigerung ihrem Ende. Auf einer digitalen Anzeigetafel hinter dem berühmten Auktionator – ein Schauspieler, der viele Jahre lang James Bond verkörpert hatte – war zu lesen, dass die Gesamteinnahmen bereits über eine Million Euro betrugen.

»Stücknummer zweihundertundzehn: zwei japanische Kabuki-Masken aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert.«

Ein aufgeregtes Flüstern ging durch den voll besetzten Raum. Die Kabuki-Masken aus massivem Jadestein waren der Höhepunkt der Auktion, und man erwartete, dass sie über eine halbe Million Euro einbrachten.

Der große, schlanke Mann mit dem kurz geschnittenen schneeweißen Haar war bereit, das Doppelte zu zahlen.

Niccolò Machiavelli stand etwas abseits, die Arme leicht über der Brust gekreuzt, sichtlich bedacht darauf, dass sein schwarzer, maßgeschneiderter Seidensmoking nicht zerknautscht wurde. Er hatte steingraue Augen und sein Blick glitt abschätzend über die anderen Bieter. Im Grunde waren es nur fünf, auf die er achten musste: zwei private Sammler wie er selbst, ein unbedeutendes Mitglied des europäischen Adels, ein amerikanischer Filmschauspieler, der es in den achtziger Jahren kurzzeitig zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatte, und ein Antiquitätenhändler, der wahrscheinlich für einen Kunden mitbot. Der Rest der Gesellschaft – eine Mischung von Berühmtheiten aus Unterhaltung und Sport, ein paar vereinzelte Politiker und die üblichen Leute, die bei jeder Wohltätigkeitsveranstaltung zu finden waren – war entweder müde, oder ihr Budget war erschöpft, oder sie wollten nicht mitbieten für die geheimnisvollen Masken, die aus irgendeinem Grund irritierend wirkten.

Machiavelli sammelte seit langer Zeit Masken und diese beiden sollten seine Sammlung japanischer Theaterkostüme vervollständigen. Die beiden Masken hatten zuletzt 1898 in Wien zum Verkauf gestanden, aber damals war er von einem Prinzen aus dem Hause Romanow überboten worden. Machiavelli hatte geduldig gewartet. Er hatte gewusst, dass sie wieder auf den Markt kommen würden, sobald der Prinz und seine Nachkommen gestorben waren. Und er hatte gewusst, dass er immer noch da sein würde, um sie zu kaufen. Das war einer der vielen Vorteile, wenn man unsterblich war.

»Sollen wir mit einem Gebot von hunderttausend Euro beginnen?«

Machiavelli schaute auf, fing den Blick des Auktionators auf und nickte.

Der Auktionator nickte seinerseits. »Monsieur Machiavelli, einer der großzügigsten Sponsoren dieser Veranstaltung, bietet einhunderttausend Euro.«

Applaus brandete auf und etliche Leute drehten sich nach ihm um und hoben ihr Glas. Niccolò dankte mit einem höflichen Nicken.

»Höre ich einhundertundzehn?«, fragte der Auktionator.

Einer der privaten Sammler hob die Hand.

»Einhundertundzwanzig?« Der Auktionator blickte erneut zu Machiavelli hinüber, der sofort nickte.

Innerhalb der nächsten drei Minuten kamen die Gebote Schlag auf Schlag und trieben den Preis auf zweihundertfünfzigtausend Euro hinauf. Es waren nur noch drei ernsthafte Interessenten übrig: Machiavelli, der amerikanische Schauspieler und der Antiquitätenhändler.

Machiavellis schmale Lippen verzogen sich zu einem seltenen Lächeln. Die Masken würden ihm gehören! Das Lächeln verging ihm allerdings, als sein Handy in seiner Anzugtasche zu vibrieren begann. Einen Augenblick lang war er versucht, es zu ignorieren – schließlich hatte er seinen Mitarbeitern strikte Anweisung gegeben, ihn nur im äußersten Notfall zu stören. Dann zog er das superschlanke Nokia heraus.

Ein Schwert pulsierte sacht auf dem LCD-Display.

Machiavellis Miene versteinerte sich. Schlagartig wusste er, dass er die Kabuki-Masken auch in diesem Jahrhundert nicht würde kaufen können. Er drehte sich auf dem Absatz um, verließ den Raum und drückte das Handy ans Ohr. Er hörte noch, wie hinter ihm der Hammer des Auktionators auf das Pult krachte. »Verkauft. Für zweihundertundsechzigtausend Euro.«

»Ich bin da.« Machiavelli sprach italienisch, die Sprache seiner Kindheit.

Die Verbindung war schlecht, es knackte und knisterte, und dann kam von der anderen Seite der Welt, aus der Stadt Ojai nördlich von Los Angeles, eine Stimme mit englischem Akzent. Der Anrufer sprach ebenfalls italienisch, aber in einem Dialekt, den man in Europa seit über vierhundert Jahren nicht mehr gehört hatte. »Ich brauche deine Hilfe.«

Der Mann am anderen Ende der Leitung stellte sich nicht vor. Das war auch nicht nötig, denn Machiavelli wusste, wer es war: der unsterbliche Magier Dr. John Dee, einer der mächtigsten und gefährlichsten Männer der Welt.

Niccolò Machiavelli verließ rasch das Hotel. Auf dem großen, gepflasterten Quadrat des Place du Tertre blieb er stehen und holte tief Luft. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er vorsichtig. Er hasste Dee und wusste, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber sie dienten beide den Dunklen Wesen des Älteren Geschlechts, und das bedeutete, dass sie schon jahrhundertelang zur Zusammenarbeit gezwungen waren. Machiavelli war auch etwas eifersüchtig auf Dee, weil dieser jünger war als er – und man es ihm ansah. Machiavelli war 1463 in Florenz geboren und somit 64 Jahre älter als der Magier.

»Flamel ist wieder in Paris.«

Machiavelli straffte die Schultern. »Seit wann?«

»Gerade angekommen. Über ein Krafttor. Ich weiß nicht, wo er herauskommt. Er kommt mit Scathach.«

Machiavellis Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. Das letzte Mal, als er der Kriegerprinzessin begegnet war, hatte sie ihn durch eine Tür gestoßen. Die Tür war zu gewesen, und er hatte fast einen Monat gebraucht, bis alle Splitter aus seinem Rücken entfernt waren. Eine ganze Woche lang hatte er nicht sitzen können.

»Außerdem haben sie zwei Humani-Kinder dabei. Amerikaner«, sagte Dee. Seine Stimme kam mal laut und mal leise über die transatlantische Verbindung. »Zwillinge«, fügte er hinzu.

»Sag das noch einmal.«

»Zwillinge«, schnaubte Dee. »Mit Auren aus reinem Gold und Silber. Du weißt, was das bedeutet.«

»Ja«, murmelte Machiavelli. Es bedeutete Ärger.

»Hekate hat die Kräfte des Mädchens geweckt, bevor sie mitsamt ihrem Schattenreich unterging. Ich glaube, die Hexe von Endor hat das Mädchen in der Luftmagie unterrichtet.«

»Was soll ich tun?«, fragte Machiavelli vorsichtig, obwohl er bereits eine sehr gute Idee hatte.

»Finde sie«, schnaubte Dee. »Und nimm sie gefangen. Ich bin auf dem Weg nach Paris, aber bis ich da bin, dauert es vierzehn oder fünfzehn Stunden.«

»Was ist mit dem Krafttor?«, wollte Machiavelli wissen.

»Zerstört von der Hexe von Endor. Und mich hat sie auch beinahe umgebracht. Ich hatte Glück, dass ich mit ein paar Schnittwunden und Kratzern davonkam«, erwiderte Dee und beendete dann das Gespräch, ohne sich zu verabschieden.

Niccolò Machiavelli klappte sein Handy zu und tippte sich damit an die Unterlippe. Irgendwie bezweifelte er, dass Dee Glück gehabt hatte. Hätte die Hexe von Endor seinen Tod gewollt, wäre nicht einmal der legendäre Dr. John Dee davongekommen.

Machiavelli drehte sich um und ging über den Platz dorthin, wo sein Fahrer seit Stunden mit dem Wagen wartete. Wenn Flamel, Scathach und die amerikanischen Zwillinge über ein Krafttor nach Paris gekommen waren, gab es nur wenige Plätze in der Stadt, wo sie gelandet sein konnten. Es sollte nicht allzu schwierig sein, sie zu finden und gefangen zu nehmen.

Falls er es sofort schaffte, hatte er fünfzehn Stunden Zeit, sich mit seinen Gefangenen zu befassen, bevor Dee dazukam.

Und in dieser Zeit würden sie ihm alles sagen, was sie wussten. Ein halbes Jahrtausend auf dieser Erde hatte Niccolò Machiavelli gelehrt, außerordentlich überzeugend aufzutreten.


»Wo genau sind wir?«, wollte Josh Newman wissen. Er schaute sich um und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war. Eben noch hatte er im Laden der Hexe von Endor gestanden. Sophie hatte ihn in einen Spiegel hineingezogen, ihm war es kurz eiskalt über den Rücken gelaufen, weil er völlig desorientiert war, und er hatte die Augen zusammengekniffen. Als er sie wieder öffnete, stand er in einem kleinen Lagerraum – zumindest sah es so aus. Farbeimer, ausziehbare Leitern, Scherben von Töpferwaren und ein Bündel Kleider mit Farbspritzern standen und lagen vor einem großen, ziemlich gewöhnlich wirkenden, schmutzigen Spiegel, der an der Wand befestigt war. Eine einzelne schwache Glühbirne beleuchtete den Raum.

»Wir sind in Paris«, antwortete Nicholas Flamel gut gelaunt. »In der Stadt, in der ich geboren wurde.«

»Wie das?«, fragte Josh. Er schaute seine Zwillingsschwester an, doch die hatte das Ohr an die einzige Tür gepresst, die aus dem Raum führte, und lauschte angestrengt. Sie machte eine abwehrende Handbewegung. Josh schaute Scathach an, doch die hatte beide Hände über den Mund gelegt und schüttelte nur den Kopf. Sie sah aus, als müsse sie sich gleich übergeben. »Wie sind wir hierhergekommen?«, fragte Josh Flamel.

»Über diese Erde ziehen sich jede Menge unsichtbare Kraftlinien«, erklärte der. »Dort, wo zwei oder mehrere solcher Linien sich kreuzen, ist ein Tor. Heutzutage sind sie sehr, sehr selten, doch in vorgeschichtlicher Zeit benutzte das Ältere Geschlecht sie häufig, um innerhalb von Sekunden von einer Seite der Welt auf die andere zu gelangen – genau wie wir gerade. Die Hexe öffnete das Tor in Ojai und jetzt sind wir hier in Paris gelandet.«

»Ich hasse die Dinger«, murmelte Scatty. Selbst bei dem schwachen Licht sah man, dass sie ganz grün im Gesicht war. »Warst du jemals seekrank?«, fragte sie.

Josh schüttelte den Kopf. »Noch nie.«

Sophie richtete sich auf. »Josh wird in einem Swimmingpool schon seekrank.« Sie grinste und legte das Ohr wieder an die Tür.

»Seekrank. Genauso fühlt es sich an. Nur schlimmer.«

Sophie hob den Kopf und schaute Flamel an. »Hast du eine Ahnung, wo in Paris wir hier sind?«

»In irgendeinem alten Gemäuer«, meinte Flamel und stellte sich neben sie.

Sophie schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. »Da bin ich mir nicht so sicher.« Mit ihren neu erweckten Kräften und dem Wissen der Hexe von Endor kämpfte sie beinahe ständig mit den zahllosen Empfindungen und Eindrücken, die auf sie einströmten. Das Gebäude, in dem sie sich befanden, fühlte sich nicht alt an, doch wenn Sophie ganz genau hinhörte, konnte sie das Gemurmel zahlloser Geister unterscheiden. Sie legte die Handfläche auf die Wand, und sofort hörte sie Stimmen, die sich im Flüsterton unterhielten, sowie leise gesungene Lieder und entfernte Orgelmusik. Sie nahm die Hand weg und die Geräusche in ihrem Kopf wurden leiser.

»Es ist eine Kirche«, sagte Sophie. Dann runzelte sie die Stirn. »Sie ist neu... modern, spätes neunzehntes, frühes zwanzigstes Jahrhundert. Aber sie wurde über den Resten eines viel, viel älteren Bauwerks errichtet.«

Flamel stand an der Tür und schaute über die Schulter zurück. Seine Züge waren plötzlich kantig, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. »In Paris gibt es viele Kirchen«, sagte er, »aber wie ich meine, nur eine, auf die diese Beschreibung zutrifft.« Er griff nach der Türklinke.

»Moment mal«, mischte sich Josh rasch ein, »meinst du nicht, es könnte hier eine Alarmanlage geben?«

»Ach wo«, erwiderte Flamel leichthin, »wer würde denn eine Alarmanlage in eine Kirche einbauen?« Er öffnete die Tür.

Sofort begann eine Sirene zu heulen und rote Alarmlampen fingen an zu blinken.

»Nichts wie raus hier«, brüllte Flamel über den Lärm hinweg.

Sophie und Josh folgten ihm dicht auf den Fersen. Scatty übernahm die Nachhut; sie war im Moment nicht ganz so schnell und grummelte bei jedem Schritt vor sich hin.

Sie befanden sich in einem schmalen Korridor, an dessen Ende wieder eine Tür war. Ohne zu zögern drückte Flamel sie auf – und sofort schrillte die nächste Sirene los. Er wandte sich nach links und stand in einem riesigen Raum, in dem es nach altem Weihrauch und Wachs roch. Reihen von ewigen Lichtern warfen ein warmes Licht auf Wände und Boden und ließen zusammen mit den Alarmleuchten eine riesige Doppeltür erkennen, über der »SORTIE«, »Ausgang«, stand. Flamel lief darauf zu.

»Nicht anfassen...«, begann Josh, doch Nicholas Flamel hatte bereits nach der Klinke gegriffen und zog daran.

Ein dritter Alarm heulte los und über der Tür blinkte ein rotes Licht.

»Das verstehe ich nicht – warum ist sie nicht offen?«, rief Flamel. »Diese Kirche ist immer offen.« Er schaute sich um. »Wo sind denn die Leute alle? Wie spät ist es eigentlich?«

»Wie lange dauert es, um über ein Krafttor von einem Ort zum nächsten zu gelangen?«, fragte Sophie.

»Wenige Augenblicke.«

Sophie schaute auf ihre Uhr und rechnete kurz. »Der Zeitunterschied zwischen Paris und Ojai beträgt neun Stunden, richtig?«

Flamel nickte.

»Dann ist es hier jetzt ungefähr vier Uhr morgens. Deshalb ist die Kirche geschlossen.«

»Die Polizei ist sicher schon unterwegs«, meinte Scatty düster. Sie griff nach ihrem Nunchaku. »Ich hasse es, wenn mir schlecht ist und ich kämpfen muss.«

»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Josh wissen.

»Ich könnte versuchen, die Tür mit Luftmagie zu sprengen«, schlug Sophie vor.

»Das verbiete ich dir!«, rief Flamel. In dem pulsierenden Licht leuchtete sein Gesicht in regelmäßigen Abständen rot auf. Er drehte sich um und zeigte über etliche Bankreihen auf einen kunstvoll gestalteten Altar aus weißem Marmor. Kerzenlicht ließ ein blau-goldenes Mosaik in der Kuppel darüber erahnen. »Das ist ein nationales Baudenkmal. Ich lasse nicht zu, dass du es zerstörst.«

»Wo sind wir?«, fragten die Zwillinge wie aus einem Mund und sahen sich um. Jetzt, wo ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannten sie kleine Seitenaltäre, Statuen in Nischen und reihenweise Kerzen. Sie erkannten Säulen, die hoch aufragten in das Dunkel über ihren Köpfen. Das Gebäude war riesig.

»Das ist die Basilika Sacré-Cœur.«


Niccolò Machiavelli saß auf der Rückbank seiner Limousine, tippte Koordinaten in seinen Laptop und beobachtete, wie eine Karte von Paris mit hoher Auflösung auf dem Monitor erschien. Paris ist eine unwahrscheinlich alte Stadt. Die erste Besiedelung reicht über 2000 Jahre zurück, doch bereits davor hatten Generationen von Menschen auf der Insel in der Seine gelebt. Und wie viele der ältesten Städte der Erde war auch Paris am Schnittpunkt mehrerer Kraftlinien gegründet worden.

Machiavelli drückte auf eine Taste und ein Netz von Kraftlinien legte sich über die Stadt. Er wusste, dass er nach einer Linie suchen musste, die mit den USA verbunden war. Nachdem er sämtliche Linien, die nicht von Ost nach West verliefen, ausgeblendet hatte, blieben noch sechs Möglichkeiten übrig. Mit einem perfekt manikürten Fingernagel fuhr er zwei Linien nach, die direkt von der Westküste Amerikas nach Paris führten. Eine endete an der Kathedrale von Nôtre Dame, die andere in der etwas neueren, aber nicht weniger berühmten Basilika Sacré-Cœur auf dem Montmartre.

Welche Linie hatte Flamel wohl benutzt?

Plötzlich heulten mehrere Sirenen durch die Nacht. Machiavelli drückte den Knopf für den elektrischen Fensterheber und die getönte Scheibe senkte sich mit leisem Sirren ab. Frische Nachtluft strömte in den Wagen. In der Ferne, über den Dächern auf der anderen Seite des Place du Tertre, tauchten die Lampen um Sacré-Coeur den beeindruckenden Kuppelbau in grellweißes Licht. Rote Lampen, die Alarm anzeigten, blinkten um die Kirche herum.

Dort also.

Machiavellis Lächeln war grausam. Er öffnete ein Programm auf seinem Laptop und wartete, während die Festplatte surrte. Enter Password. Seine Finger flogen nur so über die Tastatur, als er eintippte: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. Kein Mensch würde dieses Passwort je knacken. Es war der Titel eines seiner weniger bekannten Bücher.

Ein Textdokument erschien auf dem Bildschirm. Es war in einer Kombination aus Latein, Griechisch und Italienisch geschrieben. Früher mussten die Magier ihre Zauberformeln und Beschwörungen in Büchern niederschreiben, den »Grimoires«, wie diese unentzifferbaren Zauberbücher genannt wurden. Machiavelli hatte sich immer der neuesten Technologie bedient und so hatte er seit einiger Zeit seine Formeln auf der Festplatte.

Jetzt brauchte er nur noch eine Kleinigkeit, um Flamel und seine Verbündeten auf Trab zu halten …



»Ich höre Sirenen«, sagte Josh, der das Ohr an die hölzerne Tür gelegt hatte.

»Zwölf Polizeiautos sind auf dem Weg hierher«, sagte Sophie.

Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, die Augen geschlossen und lauschte. Ihr Bruder wurde wieder an das Ausmaß der Kräfte erinnert, die bei seiner Schwester geweckt worden waren. Sämtliche Sinne waren geschärft, sie sah und hörte weit mehr als gewöhnliche Sterbliche. Gewöhnliche Sterbliche wie er.

»Wir dürfen der Polizei nicht in die Hände fallen«, sagte Flamel verzweifelt. »Wir haben keine Pässe, kein Geld und keine Erklärung für unser Hiersein. Wir müssen verschwinden!«

»Wie?«, fragten die Zwillinge gleichzeitig.

Flamel rieb sein Kinn. »Es muss noch einen anderen Eingang geben...«, begann er – und hielt abrupt inne. Seine Nasenflügel bebten.

Josh sah, dass auch Sophie und Scatty auf etwas reagierten, das er nicht riechen konnte. »Was... was gibt’s?«, fragte er. Dann plötzlich stieg ihm ein Hauch in die Nase, den er am ehesten mit Stallmist verband. Es war ein Geruch, wie man ihn im Zoo auffing.

»Ärger«, antwortete Scathach, schob das Nunchaka in den Gürtel und zog ihre Schwerter aus den Scheiden. »Ganz gewaltigen Ärger.«

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