FREITAG, 1. Juni

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

Josh stand mit seiner Schwester am Waldrand und beobachtete drei winzige geflügelte Wesen, die verdächtig nach Drachen aussahen und tanzend durch das erste Licht des Morgengrauens schwebten. Josh blickte kurz zu Sophie hinüber und schaute rasch wieder weg.

»Ich möchte nicht, dass du das tust«, sagte er.

Sophie legte ihm die Hand auf den Arm. »Warum nicht?«

Sie stellte sich vor ihn hin und zwang ihn, sie anzusehen.

Wenn sie über seine linke Schulter schaute, sah sie Flamel, Scatty und Hekate vor dem Eingang zu dem unerklärlichen Baumhaus stehen und sie beobachten. Rings herum bereiteten sich Scharen von Torc Allta, in Menschen- wie in Werebergestalt, auf den bevorstehenden Kampf vor. Die Eber trugen lederne Panzer über Rücken und Keulen und die Torc Allta in Menschengestalt waren mit Bronzespeeren und Schwertern bewaffnet. Riesige Schwärme von Federnattern flogen übers Gebüsch und im hohen Gras krochen und hüpften Tausende von undefinierbaren kleinen Geschöpfen.

Sophie schaute ihrem Bruder in die Augen und sah ihr eigenes Spiegelbild darin. Erschrocken stellte sie fest, dass zurückgehaltene Tränen in seinen Augen glänzten. Sie wollte ihn in den Arm nehmen, doch er ergriff ihre Hand und drückte sie.

»Ich will nicht, dass dir etwas passiert«, sagte er.

Sophie nickte nur, da sie nicht sicher war, ob ihre Stimme ihr gehorchen würde. Ihr ging es, was ihren Bruder betraf, doch genauso.

Drei der riesigen pterosaurierähnlichen Federnattern flogen über sie hinweg. Der Luftstrom wirbelte Staubwolken auf. Weder Sophie noch Josh schauten auf.

»Nicholas hat gesagt, es bestehe ein gewisses Risiko«, fuhr Josh fort. »Hekate dagegen sagte sogar, es sei gefährlich, wenn nicht sogar tödlich. Ich will nicht, dass du diese Erweckungszeremonie über dich ergehen lässt. Ich will nicht, dass etwas schiefgeht.«

»Wir müssen es tun. Nicholas hat gesagt -«

»Ich weiß nicht, ob man ihm hundertprozentig trauen kann«, unterbrach sie Josh. »Ich habe so ein Gefühl... als führe er selbst etwas im Schilde. Er ist einfach zu erpicht darauf, dass Hekate unsere Kräfte weckt, trotz der Gefahr.«

»Er hat gesagt, es sei unsere einzige Chance«, sagte Sophie.

»Gestern hat er noch gemeint, er müsse uns wegbringen, weil wir im Laden nicht mehr sicher seien... Und jetzt müssen wir plötzlich ausgebildet werden, damit wir uns vor Dee und diesen Dunklen schützen können. Nein, glaub mir, Nicholas Flamel spielt sein eigenes Spiel.«

Sophie schaute hinüber zu dem Alchemysten. Sie kannte ihn ja erst kurze Zeit und erinnerte sich, dass sie in ihr Internet-Tagebuch geschrieben hatte, er sei cool. Jetzt musste sie natürlich zugeben, dass sie ihn in Wirklichkeit überhaupt nicht kannte – dass sie nicht wusste, was für ein Mensch er war. Er sah sie eindringlich an, und einen Augenblick lang stellte sie sich vor, dass er wusste, worüber sie redeten.

»Wir müssen nicht beide dieses Erwecken über uns ergehen lassen«, fuhr Josh fort. »Es reicht, wenn sie es bei mir macht.«

Wieder schaute Sophie ihm in die Augen. »Und was denkst du, wie ich mir vorkomme, wenn dir etwas passiert?«

Jetzt war es Josh, der keinen Ton herausbrachte.

Sophie nahm seine Hand in ihre. »Wir haben immer alles gemeinsam gemacht«, sagte sie leise und ernst. »Und da Mom und Dad so oft weg sind, hatten wir die meiste Zeit nur uns. Du hast dich immer um mich gekümmert und ich habe immer auf dich aufgepasst. Ich lasse nicht zu, dass du diesen... Prozess allein durchlebst. Wir machen das zusammen, so wie wir immer alles zusammen gemacht haben.«

Josh schaute seine Schwester lange und eindringlich an. »Bist du dir sicher?«

»Hundertprozentig.«

Schließlich nickte Josh. Er drückte die Hand seiner Schwester, dann drehten sie sich zu Flamel, Hekate und Scatty um.

»Wir sind bereit.«



»Die Morrigan ist da«, berichtete Scatty, als die Zwillinge hinter Nicholas und Hekate durch die hohe Tür ins Herz des Baumes traten. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt schwarze Hosen, ein hochgeschlossenes schwarzes Shirt ohne Ärmel und Combat-Stiefel mit dicken Sohlen. Sie hatte sich zwei kurze Schwerter, deren Griffe ein kleines Stück weit über die Schultern hinausragten, auf den Rücken geschnallt und Augenlider und Wangen mit schwarzer Schminke bemalt, sodass ihr Gesicht einem Totenschädel erschreckend ähnlich sah. »Sie hat Bastet mitgebracht. Sie dringen bereits ins Schattenreich ein.«

»Hekate kann sie doch zurückhalten, oder?«, fragte Sophie. Sie konnte nur ahnen, welche Kräfte die Erstgewesene besaß, und die Vorstellung, dass jemand noch mächtiger sein könnte als sie, versetzte sie in Panik.

Scatty zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie sind mit ihren Armeen gekommen.«

»Armeen?«, wiederholte Josh. »Was für Armeen? Wieder diese Lehmmenschen?«

»Nein, keine Golems dieses Mal. Sie haben die Vögel aus der Luft und die erdverbundenen Katzen mitgebracht.«

Sophie lachte unsicher. »Vögel und Katzen... Was können die denn anrichten?«

Scatty schaute sie an und das Weiße in ihren Augen sah furchterregend aus inmitten all der schwarzen Kriegsbemalung. »Du hast doch gesehen, was die Vögel auf dem Weg hierher mit dem Wagen gemacht haben?«

Sophie nickte. Plötzlich war ihr speiübel. Das Bild der Krähen, die gegen die Windschutzscheibe flatterten und Löcher in die Kühlerhaube hackten, würde sie bis an ihr Lebensende verfolgen.

»Dann kannst du dir vielleicht vorstellen, was passiert, wenn Zehntausende von Vögeln sich irgendwo sammeln.«

»Zehntausende«, flüsterte Sophie.

»Wohl eher Hunderttausende«, korrigierte sich Scatty. Sie bog in einen schmalen Flur ein. »Die Federnattern-Spione schätzen sie auf ungefähr eine halbe Million.«

»Und hast du nicht auch noch was von Katzen gesagt?«, fragte Josh.

»Ja, hab ich. Das sind mehr, als wir schätzen können.«

Josh sah seine Schwester an. Er begriff erst jetzt so richtig, in welcher Gefahr sie sich befanden. Sie konnten in diesem seltsamen Schattenreich sterben und keiner würde es je erfahren. Er blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen traten. Ihre Eltern würden sich, so lange sie lebten, fragen, was mit ihnen geschehen war.

Der Korridor, den sie hinuntergingen, mündete in einen noch schmaleren Gang. Die Decke war hier so niedrig, dass die Zwillinge den Kopf einziehen mussten. Es gab keine Stufen, doch es ging in einer weiten Spirale immerzu bergab. Sie begriffen, dass sie in die Erde unter dem Baum gingen. Die Wände wurden dunkler, und ihr glattes Holz war jetzt durchsetzt von verzweigten Wurzeln, die sich ins Innere des Korridors ringelten und die Zwillinge an den Haaren zogen. Die Luft wurde feucht und es roch nach Lehm und Erde, vermodertem Laub und neuem Wachstum.

»Das Haus lebt tatsächlich«, stellte Sophie staunend fest, als sie in den nächsten gewundenen Gang traten, in dem sie ganz von den dicken, knorrigen Wurzeln des mächtigen Baumes umgeben waren. »Wir laufen darin herum, es hat Zimmer und Fenster und Teiche – und trotzdem ist es ein lebendiger Baum!« Der Gedanke faszinierte und erschreckte sie zugleich.

»Dieser Baum wuchs aus einem Samen des Yggdrasill, des Weltenbaums«, sagte Scatty leise und strich mit der Handfläche über die freiliegenden Wurzeln. Dann hob sie die Hand an die Nase und atmete tief den Duft ein. »Vor vielen tausend Jahren, als Danu Talis im Wasser versank, konnten ein paar Erstgewesene einen Teil der ursprünglichen Flora und Fauna retten und in andere Länder bringen. Aber nur zwei Erstgewesenen, Hekate und Odin, gelang es, ihre Yggdrasil-Samen zum Keimen und Wachsen zu bringen. Odin beherrschte, wie Hekate, die Magie, die dazu benötigt wurde.«

Josh runzelte die Stirn und versuchte, sich an das Wenige zu erinnern, das er über Odin wusste. War der nicht der einäugige Gott der nordischen Sagen?

Doch bevor Josh fragen konnte, verschwand Hekate in einer von verschlungenen Wurzeln eingerahmten Türöffnung. Nicholas Flamel blieb stehen und wartete auf die Zwillinge und Scatty. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine senkrechte Falte. Als er sprach, schien er jedes Wort ganz genau zu überlegen, und in seiner Nervosität kam sein französischer Akzent wieder stärker heraus.

»Ich wünschte, ihr bräuchtet das nicht zu tun«, sagte er, »aber ihr müsst mir glauben, wenn ich euch sage, dass es keine andere Möglichkeit gibt.« Er legte eine Hand auf Sophies rechte Schulter und eine auf Joshs linke. Ihre Auren leuchteten kurz auf und der Duft von Vanille und Orangen zog durch den Gang. »Falls – wenn Hekate eure magischen Kräfte geweckt hat, zeige ich euch einige Schutzzauber. Ich bringe euch auch zu anderen Zauberern, Spezialisten für die fünf Urkräfte der Magie. Sie helfen dann hoffentlich dabei, euch vollständig auszubilden.«

»Wir werden zu Zauberern ausgebildet?«, fragte Sophie.

»Zu Magiern und Zauberern und Hexenmeistern.« Flamel lächelte. Er schaute über seine Schulter und wandte sich dann wieder den Zwillingen zu. »Geht jetzt hinein und tut, was sie euch sagt. Ich weiß, dass ihr Angst habt, und ihr braucht euch deshalb nicht zu schämen, aber versucht, sie trotzdem zu unterdrücken.« Wieder lächelte er, aber nur die Mundwinkel hoben sich. Die sorgenvollen Augen erreichte sein Lächeln nicht. »Wenn ihr hier wieder herauskommt, seid ihr andere Menschen.«

»Ich will kein anderer Mensch werden«, flüsterte Sophie. Sie wollte, dass ihr Leben wieder so war wie noch vor ein paar Stunden, ganz normal und langweilig. Im Moment hätte sie alles dafür gegeben, in eine langweilige Welt zurückzukehren.

Flamel trat zur Seite und schob die Zwillinge durch die Tür. »Von dem Augenblick an, in dem ihr Dee gesehen habt, habt ihr begonnen, euch zu verändern. Und wenn Veränderung einmal eingesetzt hat, kann sie nie mehr rückgängig gemacht werden.«



Es war dunkel in der Kammer, deren Wände ganz aus knotigen, verschlungenen Wurzeln bestanden. Sophie spürte die Hand ihres Bruders in ihrer und drückte sie leicht. Er gab den Druck zurück.

Als die Zwillinge weiter in die Höhlung hineingingen, die offensichtlich größer war, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht, und der Raum nahm einen grünlichen Schimmer an. Dickes, pelziges Moos bedeckte die Wurzeln und gab ein jadegrünes Licht ab, das den Eindruck entstehen ließ, als befände man sich hier unter Wasser. Die Luft war sehr feucht und auf den Haaren und der Haut der Zwillinge sammelten sich Tropfen wie Schweißperlen. Obwohl es nicht kalt war, fröstelten beide.

»Ihr solltet euch geehrt fühlen.« Hekates Stimme kam von irgendwo direkt über ihnen. »Es ist viele Generationen her, seit ich den letzten Humani erweckt habe.«

»Wer...«, begann Josh, doch dann versagte ihm die Stimme. Er hüstelte trocken und versuchte es erneut. »Wer war der letzte Mensch, den du erweckt hast?« Er schien entschlossen, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.

»Es ist lange her – nach eurer Zeitrechnung war es das zwölfte Jahrhundert. Und es war ein Mann aus dem Land der Schotten. An seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr.«

Sowohl Josh als auch Sophie wussten instinktiv, dass Hekate log.

»Was ist mit ihm passiert?«, wollte Sophie wissen.

»Er starb.« Ein seltsam hohes Kichern ertönte. »Er wurde von einem Hagelkorn erschlagen.«

»Das muss aber ein gewaltiges Hagelkorn gewesen sein«, murmelte Josh.

»Und ob«, bestätigte die Göttin.

Und in diesem Moment wussten die Zwillinge, dass Hekate etwas mit dem Tod des geheimnisvollen Mannes zu tun gehabt hatte. Ihr Lachen wirkte wie das eines rachsüchtigen Kindes.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Josh. »Bleiben wir stehen, setzen wir uns oder legen wir uns hin?«

»Ihr macht gar nichts«, fauchte Hekate. »Und ihr solltet das, was hier geschieht, nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Tausende von Generationen habt ihr Humani euch ganz bewusst von dem, was ihr spöttisch Magie nennt, distanziert. Dabei bedeutet Magie nichts anderes, als das gesamte Spektrum der Sinne zu nutzen. Die Humani haben ihre Sinne nicht genutzt, sondern verkümmern lassen, und deshalb sehen sie nur noch einen winzigen Teilbereich der Wirklichkeit, hören nur die lautesten Geräusche, riechen und schmecken nur noch Extremes.«

Die Zwillinge merkten, dass Hekate jetzt um sie herumging. Sie sahen sie zwar nicht, konnten aber den Klang ihrer Stimme verfolgen. Als Hekate hinter ihrem Rücken sprach, zuckten sie beide zusammen.

»Früher hat die Menschheit alle ihre Sinne gebraucht, um zu überleben.« Es folgte eine lange Pause, und als Hekate sich wieder meldete, war sie so dicht neben Sophie, dass die ihren Atem im Haar spürte. »Dann veränderte sich die Welt. Danu Talis versank, das Zeitalter der Riesenechsen ging vorüber, die Eiszeit brach an und die Humani wurden... gebildet.« Aus ihrem Mund klang das Wort wie ein Fluch. »Die Humani wurden gleichgültig und arrogant. Sie glaubten, sie bräuchten ihre Sinne nicht mehr, und verloren sie zur Strafe dafür mit der Zeit.«

»Du willst damit sagen, dass wir unsere magischen Kräfte verloren haben, weil wir faul wurden?«, fragte Josh.

Sophie unterdrückte ein Stöhnen. Er konnte es einfach nicht lassen.

Doch als Hekate antwortete, war ihre Stimme überraschend leise, fast weich. »Was ihr Magie nennt, ist nichts anderes als ein Akt der Fantasie, beflügelt von den Sinnen und in eine Form gebracht von der Kraft eurer Aura. Je kraftvoller die Aura, desto mächtiger der Zauber. In euch beiden schlummert ein außergewöhnliches magisches Potenzial. Der Alchemyst hat recht: Ihr könntet die mächtigsten Zauberer werden, die die Welt je gesehen hat. Könntet, sage ich.«

Es wurde jetzt ein wenig heller in dem Raum, und sie sahen Hekates Umrisse genau in der Mitte der Höhle unter einem Geflecht aus Wurzeln, das aussah wie eine von der Decke greifende Hand. »Die Humani haben gelernt, ihre Sinneswahrnehmungen auszublenden und wie in einer Art betäubendem Nebel zu leben. Was ich tun kann, ist, eure schlummernden Kräfte zu wecken, doch die große Gefahr besteht darin, dass sie – einmal geweckt – eure Sinne überfordern.« Sie hielt inne und fragte dann: »Seid ihr bereit, das Risiko einzugehen?«

»Ich bin bereit«, antwortete Sophie rasch, bevor ihr Bruder protestieren konnte. Sie hatte Angst, dass die Göttin ihm etwas antat, falls er eine ablehnende Bemerkung machte. Etwas Hässliches und Tödliches.

Hekate wandte sich an Josh.

Der schaute seine Schwester an. Das grünliche Licht ließ sie zerbrechlich aussehen. Das Erwecken ihrer Kräfte würde gefährlich werden, vielleicht sogar mit dem Tod enden, aber er konnte nicht zulassen, dass Sophie es allein über sich ergehen ließ. »Ich bin bereit«, sagte er trotzig.

»Dann wollen wir anfangen.«

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

Dee wartete, bis die letzten Vögel und Katzen in Hekates Schattenreich verschwunden waren, bevor er den Wagen verließ und zu dem verborgenen Eingang hinüberging. Senuhet war bereits vorher ausgestiegen und seiner Gebieterin Bastet eilfertig gefolgt; Dee hatte sich bewusst zurückgehalten. Sich als Erster in den Kampf zu werfen, war nie gut. In der Regel waren es die Soldaten in den hinteren Reihen, die überlebten. Dee ging davon aus, dass Hekates Wachen direkt hinter der unsichtbaren Mauer Aufstellung genommen hatten. Da musste er ihnen ganz gewiss nicht als Erster in die Arme laufen.

Das heißt nicht, dass ich ein Feigling bin, sagte er sich, ich bin nur vorsichtig. Und durch seine Vorsicht hatte er es geschafft, viele Jahrhunderte lang am Leben zu bleiben. Doch ewig konnte er auch nicht untätig vor dem Schattenreich verharren. Seine Gebieterinnen erwarteten, dass er sich auf dem Schlachtfeld zeigte. Die Morgenluft war noch frisch und Dee zog seinen Zweitausend-Dollar-Ledermantel enger um sich. Dann schritt er durch die Öffnung und betrat …

... ein Schlachtfeld.

Unter den Gefallenen waren viele aus der Armee der Morrigan. Die Vögel der Krähengöttin hatten ihre Gestalt verändert, als sie Hekates Schattenreich betreten hatten, und waren fast menschlich geworden... wenn auch nicht ganz. Sie waren jetzt groß und schlank wie ihre Gebieterin und ihre Flügel waren gewachsen und ähnelten Fledermausflügeln. Durchsichtige Haut verband sie mit den immer noch gefiederten Körpern. Auch ihre Köpfe waren Vogelköpfe geblieben.

Zwischen den Federwesen lagen auch einige Katzen. Auch sie waren mit dem Betreten des Schattenreiches menschlicher geworden, hatten jedoch wie Bastet den Kopf einer Katze behalten. Ihre Pfoten waren ein Mittelding zwischen Menschenhand und Raubtierklaue mit gebogenen, messerscharfen Nägeln. Ihre Körper waren mit einem feinen Flaum bedeckt.

Dee sah sich um. Von Hekates Wachen schien keiner gefallen zu sein, das jagte ihm Angst ein. Von wem oder was ließ die Göttin ihr Reich bewachen? Er griff unter seinen Mantel, zog das Schwert hervor, das einmal Excalibur genannt worden war, und schritt auf den gewaltigen Baum zu, der sich aus dem Morgennebel erhob. Der Sonnenaufgang lief blutrot über die uralte schwarze Klinge in Dees Händen.


»Vogelmenschen«, murmelte Scathach und schickte einen Fluch in der keltischen Sprache hinterher, die sie in ihrer Jugend gesprochen hatte. Sie hasste Vogelmenschen. Schon allein bei dem Gedanken an diese Kreaturen überfiel sie heftiges Unwohlsein.

Scatty stand am Eingang zu Hekates Baumhaus und beobachtete die Wesen, wie sie aus dem Wald kamen. In den alten Sagen gab es viele Geschichten, in denen Menschen sich in Vögel verwandelten oder Vögel in halbmenschliche Geschöpfe. Scatty war in ihrem langen Leben einigen dieser Wesen selbst begegnet, und einmal war sie dem Tod sehr nah gekommen, als sie gegen eine Sirin gekämpft hatte, eine Eule mit dem Kopf einer wunderschönen Frau. Seit dieser Begegnung reagierte sie allergisch auf Vogelfedern. Ihre Haut begann bereits zu jucken, und sie spürte, dass sie bald niesen musste. Die Morrigan-Geschöpfe bewegten sich merkwürdig, wie vornübergebeugte Menschen, und ihre Flügel schleiften auf dem Boden. Sie waren lausige Kämpfer, gewannen aber viele Schlachten allein durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit.

Dann tauchten Bastets Katzenmenschen auf. Auch sie bewegten sich langsam, schleichend, einige auf zwei Beinen, die meisten jedoch auf allen vieren. Hier, das wusste Scatty, lag der Ursprung der berühmten Katzenlegenden Afrikas oder Indiens. Im Gegensatz zu den Vögeln waren die Katzenmenschen ausgezeichnete Kämpfer. Sie waren schnell wie der Blitz und konnten mit ihren Krallen tödliche Wunden zufügen. Scathach musste niesen – auch gegen die Katzenhaare war sie allergisch.

Die seltsame Armee kam zum Stillstand. Vielleicht waren sie vom Anblick des riesigen Baumes überwältigt oder auch einfach nur irritiert, weil lediglich eine einzelne Kriegerin sie in der offenen Tür erwartete. Sie sprangen durcheinander, doch dann stürmten sie wie auf Befehl in einem langen, ungeordneten Zug vorwärts.

Scathach drehte den Kopf nach rechts und links, ließ ihre Schultern einmal kreisen und hielt dann plötzlich zwei kurze Schwerter in den Händen. Sie hob sie hoch und kreuzte sie über dem Kopf.

Es war das Signal, auf das die Torc Allta und die Federnattern gewartet hatten. Wie aus dem Nichts ließen sich Hunderte der Furcht einflößenden Echsen vom Himmel fallen und flogen in weiten Kreisen über die anrückende Armee. Ihre gewaltigen Flügel wirbelten Unmengen von Staub auf, der die Vögel und Katzen irritierte und ihren Blick trübte. Dann waren die Torc Allta, die sich im hohen Gras und hinter den knorrigen Wurzeln des Baumes versteckt hatten, plötzlich mitten unter den Angreifern. Scatty ging rasch ins Haus. Wenn im Zoo von San Francisco Fütterungszeit war, klang es ganz ähnlich wie jetzt auf diesem Schlachtfeld, fand sie.


»Uns läuft die Zeit davon!«, brüllte Scathach, als sie in den Flur rannte.

»Wie viele?«, fragte Flamel grimmig.

»Zu viele«, erwiderte Scatty und fügte nach kurzer Pause hinzu: »Die Torc Allta und die Federnattern werden sie nicht lange aufhalten können.«

»Und die Morrigan und Bastet?«

»Habe ich nicht gesehen. Aber du kannst sicher sein, dass sie kommen, und wenn sie kommen...« Sie ließ den Satz unvollendet. Da Hekate noch mit den Zwillingen beschäftigt war, konnte nichts und niemand gegen die beiden Dunklen bestehen.

»Oh ja, sie werden kommen«, sagte Flamel.

Scatty trat näher zu ihm heran. Sie kannten sich jetzt seit mehr als dreihundert Jahren, und obwohl sie fast zwei Jahrtausende älter war als er, sah sie in ihm fast so etwas wie einen Vater. »Nimm die Zwillinge und verschwinde. Ich halte sie auf. Ich verschaffe euch so viel Zeit wie nur irgend möglich.«

Der Alchemyst legte der Kriegerprinzessin behutsam die Hand auf die Schulter. Eine winzige Menge Energie entlud sich zwischen ihnen und für einen kurzen Moment leuchteten beide auf. »Nein, so machen wir das nicht«, sagte Nicholas leise. »Wenn wir hier weggehen, gehen wir gemeinsam. Wir brauchen die Zwillinge, Scatty – nicht nur du und ich, die ganze Welt braucht sie. Ich bin überzeugt, dass nur sie sich den Dunklen entgegenstellen können. Nur sie können sie daran hindern, ihr höchstes Ziel zu erreichen und die Erde wieder in Besitz zu nehmen.«

Scatty blickte über die Schulter auf die Kammer, in der sich Josh und Sophie jetzt befanden. »Du verlangst sehr viel von ihnen. Wann willst du ihnen die volle Wahrheit sagen?«

»Wenn die Zeit...«, begann er.

Scatty unterbrach ihn. »Aber Zeit ist genau das, was du nicht hast. Der Alterungsprozess hat bereits eingesetzt. Ich sehe es in deinem Gesicht, um die Augen herum. Dein Haar wird grau.«

Flamel nickte. »Ich weiß. Der Unsterblichkeitszauber lässt nach. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass wir ihn erneuern können, lässt Perenelle und mich um ein Jahr altern. Ende des Monats werden wir sterben. Aber das spielt dann schon keine Rolle mehr, denn wenn die Dunklen Älteren siegen, gibt es die Welt der Humani bis dahin nicht mehr.«

»Sorgen wir dafür, dass das nicht geschieht.« Scatty wandte sich ab und setzte sich auf den Boden, den Rücken gerade, die Beine in der perfekten Lotus-Position gekreuzt, die Hände locker um die Griffe der Schwerter gelegt, die über ihrem Schoß lagen. Falls die Katzen oder Vögel ins Haus eindrangen und den Gang entdeckten, mussten sie, um Hekate zu erreichen, an ihr vorbeigelangen – und sie würde dafür sorgen, dass sie diesen Vorstoß teuer bezahlten.

Hekate hatte Flamel einen kurzen Stock aus dem Holz des Baumhauses gegeben. Damit stellte er sich jetzt vor die Tür der Kammer, in der die Göttin mit den Zwillingen arbeitete. Falls es einem der Eindringlinge gelingen würde, sich an Scatty vorbeizudrücken, bekam er es mit ihm zu tun. Scatty kämpfte mit ihren Schwertern, mit Händen und Füßen, doch seine Waffen waren womöglich noch vernichtender. Er hob die Hand und der schmale Flur war plötzlich vom Duft nach Minze erfüllt. Er war immer noch mächtig – auch wenn jeder Einsatz von Magie ihn schwächte und an seiner Lebenskraft zehrte. Und Scatty hatte recht: Der Alterungsprozess hatte eingesetzt. Er spürte hier ein leichtes Ziehen und dort einen Schmerz, wo früher nichts gewesen war. Auch sah er nicht mehr so gut wie noch am Tag zuvor. Falls er gezwungen sein würde, Magie einzusetzen, würde das den Verfall seiner Kräfte nur beschleunigen, doch er war entschlossen, Hekate alle Zeit zu verschaffen, die sie brauchte. Er versuchte, ins Dunkel hinter sich zu spähen – vergeblich. Was in der Kammer geschah, wussten nur die drei, die sich darin befanden.



»Wir beginnen mit dem älteren Zwilling«, sagte Hekate.

Sophie merkte, dass ihr Bruder protestieren wollte, und drückte seine Hand so fest, dass sie praktisch hören konnte, wie seine Knochen knackten. Als Antwort trat er ihr gegen den Knöchel.

»Das ist so Tradition«, fuhr die Göttin fort. »Sophie...« Sie hielt kurz inne. »Wie lautet dein Familienname und wie heißen deine Eltern?«

»Newman. Und meine Mutter heißt Sara und mein Vater Richard.« Es kam ihr merkwürdig vor, von ihren Eltern anders zu reden als von Mom und Dad.

Das grüne Licht in der Kammer wurde heller und die Zwillinge sahen Hekates Silhouette vor den leuchtenden Wänden. Ihr Gesicht lag zwar im Dunkeln, doch die Augen reflektierten das grüne Licht, als wären sie aus Glas. Sie legte die Handfläche auf Sophies Stirn. »Sophie, Tochter von Sara und Richard vom Newman-Clan, zugehörig der Rasse der Humani...«

Sie begann in Englisch, glitt dann jedoch wie von selbst in eine fremde wunderschöne, lyrische Sprache hinüber. Sophies Aura begann zu leuchten, ein silberner Nebel umhüllte ihren Körper. Ein kühler Wind strich über ihre Haut, und sie merkte plötzlich, dass sie Hekate nicht mehr hörte. Sie sah, wie sich die Lippen der Göttin bewegten, doch die Geräusche ihres eigenen Körpers waren so laut, dass sie die Worte nicht mehr verstehen konnte. Sie hörte nur noch ihren eigenen Atem, der durch ihre Nase strömte, hörte das Rauschen ihres Blutes in den Ohren, ihren gleichmäßigen Herzschlag in der Brust. Sie spürte einen Druck auf den Schläfen, als dehne sich ihr Gehirn aus, und ein Schmerz lief ihr Rückgrat entlang und verteilte sich von dort wellenförmig in sämtliche Knochen.

Dann wurde es heller in der Kammer. Hekate, die wieder älter geworden war, stand eingerahmt von sich verändernden Strömen glitzernden Lichts. Sophie war sich plötzlich bewusst, dass sie die Aura der Göttin sah. Sie beobachtete, wie die Lichtströme sich um Hekates Arm wanden und in ihre Finger flossen, und dann spürte sie einen stechenden Schmerz, als sie in ihren eigenen Kopf eindrangen. Einen Moment lang war ihr schwindelig, und sie wusste nicht mehr, wo sie war, doch dann ergaben Hekates Worte über dem Rauschen in ihren Ohren einen Sinn. »… erwecke ich diese gewaltige Kraft in dir...« Die Göttin strich mit den Händen über Sophies Gesicht. Ihre Berührung war wie Eis und Feuer zugleich. »Dies sind die Sinne, welche die Humani vernachlässigt haben«, fuhr sie fort und legte leicht die Daumen auf Sophies Augen.

»Scharfes Sehen...«

Sophies Sehvermögen schärfte sich mit einem Schlag. Die Kammer schien plötzlich taghell erleuchtet, jede Einzelheit bis ins kleinste Detail erkennbar. Sie sah jeden Faden und jeden Stich an Hekates Gewand, konnte einzelne Haare auf ihrem Kopf ausmachen und die winzigen Fältchen, die sich in ihren Augenwinkeln bildeten.

»Deutliches Hören...«

Es war, als hätte jemand Wattebäusche aus Sophies Ohren gezogen. Plötzlich hörte sie. Der Unterschied zu vorher war derselbe, wie wenn sie über Kopfhörer Musik aus ihrem iPod hörte und dann dasselbe Stück noch einmal daheim über ihre Stereoanlage. Jedes Geräusch in der Kammer wurde verstärkt: der Atem ihres Bruders, der stoßweise durch seine Nase strömte, das leise Knarren des Baumes über ihr, das Trippeln winziger Kreaturen, die zwischen den Wurzeln umherhuschten. Als sie den Kopf etwas zur Seite neigte, hörte sie in der Ferne sogar Kampfgeräusche: das Kreischen von Vögeln, das Schreien von Katzen und das Gebrüll von Ebern.

»Vielfältiges Schmecken...«

Hekate strich über Sophies Lippen und die Zunge des Mädchens begann zu kribbeln. Sophie leckte sich die Lippen und schmeckte darauf Reste der Früchte, die sie vor einiger Zeit gegessen hatte. Sie stellte sogar fest, dass die Luft einen Geschmack hatte – stark und erdig -, und konnte die Wassertröpfchen darin auf ihren Lippen spüren.

»Empfindsames Tasten...«

Sophies Haut wurde lebendig. Die weiche Baumwolle ihres T-Shirts, der steifere Stoff ihrer Jeans, das Goldkettchen mit ihrem Tierkreiszeichen, das sie um den Hals trug, die warmen Baumwollsocken – alle Materialien waren einzeln zu fühlen und hinterließen ganz und gar unterschiedliche Eindrücke.

»Intensives Riechen...«

Die Explosion der Gerüche, die plötzlich auf sie einströmten, hätte Sophie fast zu Boden geworfen. Ihre Augen tränten. Sie roch die würzigen Anderwelt-Düfte Hekates, das süßlich Erdige ihrer Umgebung, das 24-Stunden-Deo ihres Bruders (das sein in der Werbung gegebenes Versprechen offensichtlich nicht ganz erfüllte), sein angeblich nicht parfümiertes Haargel, den Minzegeruch ihrer eigenen Zahnpasta.

Sophies Aura leuchtete stärker; silberne Schwaden krochen an ihr empor wie Nebel, der von einem See aufsteigt. Sophie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Farben, Gerüche und Töne strömten auf sie ein, und sie waren heller, intensiver und lauter als alles, was sie je gesehen, gerochen oder gehört hatte. Fast schmerzte die Wirkung ihrer geschärften Sinne – nein, nicht nur fast. Sie hatte Schmerzen. Ihr Kopf tat weh, alle Knochen waren zu spüren, die Haut juckte – es war einfach alles zu viel. Sophies beugte ihren Kopf wieder nach vorn, fast ohne ihr Zutun streckte sie die Arme seitlich aus … Und dann schwebte sie zehn Zentimeter über dem Boden.



»Sophie?«, flüsterte Josh. Er konnte nicht verhindern, dass helle Angst in seiner Stimme mitschwang. »Sophie...!« Eingehüllt in einen silbrig glänzenden Nebel schwebte seine Schwester direkt vor ihm in der Luft. Das Licht, das von ihr ausging, war so stark, dass die runde Kammer in Abstufungen von Silber und Grau strahlte. Die Szene hätte aus einem Fantasyfilm stammen können, so irreal wirkte sie.

»Nicht anfassen«, befahl Hekate streng. »Ihr Körper versucht, die auf sie einströmenden Empfindungen aufzunehmen. Das ist ein sehr gefährlicher Augenblick.«

Josh bekam einen trockenen Mund. »Gefährlich... Wie gefährlich?« In seinem Kopf drehte sich alles, und er hatte das Gefühl, als würden seine schlimmsten Befürchtungen wahr.

»In den meisten Fällen kann das Gehirn eines Humani mit den neuen Sinneseindrücken nach dem Erwecken nicht umgehen.«

»In den meisten Fällen?«, flüsterte er entsetzt.

»In fast allen Fällen«, erwiderte Hekate bedauernd. »Deshalb hatte ich euch gewarnt.«

Josh stellte die Frage, auf die er eigentlich gar keine Antwort haben wollte: »Was passiert, wenn...?«

»Das Gehirn erlischt. Der Mensch fällt in ein Nichts – ein Koma, wie ihr es nennen würdet -, aus dem er nie mehr erwacht.«

»Und Flamel wusste, dass das passieren kann?« Josh spürte die Wut in einer großen Welle in sich aufsteigen. Ihm war speiübel. Der Alchemyst hatte gewusst, dass Sophie und er aller Wahrscheinlichkeit nach in ein Koma fallen würden, und hatte trotzdem gewollt, dass sie sich der Prozedur unterziehen. Die Wut, hinter der zu gleichen Teilen tiefe Angst steckte und das Gefühl, verraten worden zu sein, nahm ihm fast den Atem. Er hatte gedacht, Flamel sei ein Freund. Er hatte sich getäuscht.

»Natürlich«, erwiderte Hekate. »Er hat euch doch gesagt, dass es gefährlich werden kann, oder?«

»Aber er hat uns nicht alles gesagt«, hauchte Josh.

»Nicholas Flamel sagt nie und niemandem alles.« Eine Hälfte von Hekates Gesicht lag im Licht des silbernen Glanzes, der von Sophie ausging, die andere im Schatten. Plötzlich blähten sich Hekates Nasenflügel und ihre Augen wurden groß und rund. Sie schaute hinauf zur Wurzeldecke. »Nein«, rief sie, »nein!«

Sophie riss die Augen auf, öffnete den Mund und schrie: »Feuer!«

»Sie brennen den Weltenbaum nieder!«, schrie Hekate, das Gesicht zu einer wilden Grimasse verzogen. Sie stieß Josh zur Seite und stürmte hinaus auf den Korridor.

Josh blieb allein zurück – mit der Person, die einmal seine Zwillingsschwester gewesen war. Er starrte das Mädchen an, das da vor ihm in der Luft schwebte, und wusste nicht, was er tun sollte. Er traute sich nicht einmal, sie zu berühren. Er wusste nur eines: Zum ersten Mal in ihrem Leben waren sie getrennt. Sie waren auf eine Art und Weise verschieden, die er noch nicht einmal annähernd verstehen konnte.

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

Wir müssen gehen.« Nicholas Flamel fasste Josh an der Schulter und schüttelte ihn, damit er wieder in die Gegenwart zurückfand.

Josh schaute den Alchemysten an. Tränen liefen ihm über die Wangen, aber er merkte es nicht einmal. »Sophie...«, flüsterte er.

»... ist in Ordnung«, versicherte ihm Flamel.

Rufe erklangen draußen auf dem Korridor, man hörte Waffengeklirr, vermischt mit dem Gebrüll von Menschen und Tieren. Und über allem schwebte Scathachs gelöstes Lachen.

Flamel griff nach Sophie, die immer noch zehn Zentimeter über dem Boden schwebte. Als er ihre Hand ergriff, leuchtete seine Aura grünlich weiß. Behutsam zog er sie auf die Erde. Kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, war es, als verließen sie ihre Kräfte, und er fing sie gerade noch auf, bevor sie bewusstlos zu Boden sank.

Josh war sofort an ihrer Seite. Er schob Flamel weg und nahm seine Schwester im Arm. Knisternde Energie sprang von Sophies verblassender Aura auf Josh über, doch die winzigen Stiche waren ihm egal. Er blickte zu Flamel hoch, das Gesicht wutverzerrt. »Du hast es gewusst! Du hast gewusst, wie gefährlich das ist. Dass meine Schwester ins Koma fallen könnte.«

»Ich wusste, dass das nicht passieren würde«, erwiderte Flamel ruhig. »Ihre Aura – auch deine – sie sind zu stark. Ich wusste, dass ihr beide überleben würdet. Ich hätte keinen von euch bewusst in Lebensgefahr gebracht, das schwöre ich.« Er wollte nach Sophies Handgelenk greifen, um ihren Puls zu fühlen, doch Josh stieß seine Hand weg.

Sie zuckten zusammen, als draußen auf dem Korridor ein schmerzerfülltes Katzenkreischen ertönte, gefolgt von Scattys Stimme: »Wir sollten wirklich gehen. Und gerade jetzt wäre ein guter Moment dafür.«

Der Geruch von brennendem Holz wurde starker und graue Rauchfahnen schlängelten sich in die Kammer.

»Wir müssen weg hier. Lass uns später über alles reden«, sagte Flamel mit fester Stimme zu Josh.

»Das werden wir, verlass dich drauf«, erwiderte Josh.

»Komm, wir tragen sie zusammen«, bot Flamel an.

»Das kann ich allein.« Josh hob seine Schwester vom Boden, und seine Gesten machten klar, dass er sie niemand anderem mehr anvertrauen würde. Sophie war überraschend leicht, aber trotzdem war Josh froh, dass das monatelange Fußballtraining ihn stärker gemacht hatte, als er aussah.

Flamel nahm den kurzen Stab, den er an die Wand gelehnt hatte, und warf ihn vor sich in die Luft. Die Spitze leuchtete grün und schwache, smaragdgrüne Rauchkringel stiegen von ihr auf. »Bist du so weit?«, fragte Flamel.

Josh nickte.

»Egal, was passiert, egal, was du siehst – du bleibst nicht stehen, kehrst nicht um! So ziemlich alles, was hinter dieser Tür ist, wird versuchen, dich umzubringen.«

Josh trat hinter Flamel hinaus auf den Korridor – und blieb sofort wie festgefroren stehen. Scatty stand in der Mitte des schmalen Flurs und ließ ihre kurzen Schwerter so schnell durch die Luft wirbeln, dass sie nur noch verschwommen zu erkennen waren. Hinter ihr war der ganze Flur voller Kreaturen – so furchterregend, wie er sie nie gesehen hatte und wie er sie sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Kreaturen, die weder Tier noch Mensch waren, sondern irgendetwas dazwischen. Menschen mit Katzenköpfen fauchten Scatty an und schlugen nach ihr; Scattys Schwerter sprühten Funken, wenn die Klauen daran entlangratschten. Andere Gestalten mit menschlichem Körper und gewaltigem Rabenschädel stießen mit dem Schnabel nach ihr.

»Scatty – runter!«, brüllte Flamel.

Ohne zu warten, ob sie ihn überhaupt gehört hatte, streckte der Alchemyst den Arm mit dem kurzen Stab aus. Seine Aura flammte auf und verströmte ihren Minzeduft. Eine smaragdfarbene Kugel aus sich drehendem Licht erschien an der Stabspitze und schoss dann mit einem hörbaren Klicken heraus. Scatty konnte sich gerade noch ducken, bevor die Kugel durch die Luft zischte und an der Decke fast direkt über ihrem Kopf zerschellte. Zurück blieb ein leuchtender Fleck, von dem klebriges grünes Licht tropfte.

Der narbenübersäte Kopf einer getigerten Katze schoss direkt vor Josh hervor. Sie hatte das Maul aufgerissen und ihre Fangzähne gebleckt. Als sie Scatty sah, holte sie aus – und ein Tropfen zähflüssiges Licht spritzte auf ihren Katzenkopf. Die Wirkung war beeindruckend: Der Katzenmensch spielte sofort verrückt. Er taumelte zurück in den Flur und griff alle Verbündeten an, die ihm in den Weg kamen. Als Nächstes bekam ein Vogelmensch etliche Tropfen von dem flüssigen grünen Licht ab. In seinen schwarzen Flügeln zeigten sich plötzlich Löcher und Risse und er fiel mit einem hässlichen Krächzen nach hinten um.

Josh bemerkte kurz, dass das grüne, honigzähe Licht zwar den Tiermenschen Schaden zufügte, dem Holz aber nicht. Dann wandte er sich wieder seiner Schwester zu. Sie atmete schnell und die Augen hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich rasch hin und her.

Scatty rappelte sich auf und sprintete zu Flamel und Josh zurück. »Sehr eindrucksvoll«, murmelte sie. »Ich wusste nicht, dass du das kannst.«

Flamel ließ den Stab wirbeln. »Der bündelt meine Kräfte.«

Scatty blickte sich um. »Sieht so aus, als säßen wir in der Falle.«

»Hekate ging hier durch«, sagte Nicholas und zeigte auf eine undurchdringlich scheinende Wand aus Wurzelgeflecht. »Ich habe sie aus der Kammer laufen und direkt hier durchgehen sehen.« Er trat an die Wand und streckte den Arm aus – der bis zum Ellbogen darin verschwand.

»Ich gehe zuerst«, sagte Scatty. Josh fiel auf, dass sie, obwohl sie gegen die Übermacht aus Vögeln und Katzen gekämpft hatte, keine einzige Schramme abbekommen hatte. Sie atmete nicht einmal schwer.

Scatty sprintete los und stürzte sich, die Schwerter vor der Brust gekreuzt, ohne innezuhalten in die Wurzelwand. Flamel und Josh schauten sich kurz an – und schon tauchte Scattys Kopf wieder aus dem Wurzelgeflecht auf. »Alles klar.«

»Ich mache die Nachhut«, sagte Flamel und trat zur Seite, damit Josh mit Sophie vorgehen konnte. »Alles, was uns folgt, bekommt es mit mir zu tun.«

Josh nickte nur. Noch traute er seiner Stimme nicht. Er war immer noch wütend auf den Alchemysten, weil er das Leben seiner Schwester in Gefahr gebracht hatte, musste aber zugeben, dass Flamel sich jetzt für sie einsetzte und sich selbst in große Gefahr brachte, um sie zu beschützen. Josh packte Sophie fester, ging auf die Wand aus Wurzeln und gepresster Erde zu, schloss die Augen... und marschierte mitten hindurch.

Er spürte kurz eine feuchte Kälte, und als er die Augen wieder öffnete, sah er Scatty direkt vor sich stehen. Sie befanden sich in einer niedrigen, schmalen Kammer, deren Wände, Decke und Boden ganz aus den knorrigen Wurzeln des Baumes bestanden. Moosplatten verströmten ein schwaches grünes Licht, und Josh sah, dass Scatty am Fuß einer schmalen Treppe stand, die nach oben führte. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, doch bevor Josh fragen konnte, was sie hörte, trat Flamel durch die Wand. Er lächelte. Aus der Spitze seines Stabs trat ein grünliches Gas. »Das sollte sie eine Weile aufhalten.«

»Gehen wir«, drängte Scatty.

Die Treppe war so schmal, dass Josh mit Sophie auf den Armen mit eingezogenem Kopf seitwärts in einer Art Krebsgang gehen musste. Er drückte seine Schwester nah an sich, damit ihr Kopf und ihre Beine nicht an die rauen Wände stießen. Er tastete jede Stufe mit dem Fuß ab, bevor er darauftrat, denn schließlich wollte er nicht stürzen und seine Schwester fallen lassen. Irgendwann wurde ihm klar, dass die Treppe in den Raum zwischen der inneren und äußeren Rinde des großen Baumes geschnitten sein musste, und unwillkürlich stellte er sich vor, dass ein Baum in der Größe des Yggdrasill durchsetzt war von verborgenen Gängen und Zimmern, vergessenen Kammern und Treppen. Ob Hekate überhaupt wusste, wo sie waren? Dann begannen sich seine Gedanken zu überschlagen, und er fragte sich, wer wohl die Stufen in den lebendigen Baum geschlagen hatte. Dass es Hekate selbst gewesen war, konnte er sich nicht vorstellen.

Beim Hinaufsteigen rochen sie verbranntes Holz und hörten die Kampfgeräusche und Tierschreie immer deutlicher. Als sie sich nicht mehr unter der Erde befanden, nahmen Hitze und Rauch zu, und ein weiteres Geräusch war zu hören: ein tiefes, grollendes Stöhnen.

»Wir müssen uns beeilen.« Scattys Stimme kam aus dem Halbdunkel über ihnen. »Wir müssen uns wirklich beeilen...« Und irgendwie jagte die erzwungene Ruhe in Scattys Stimme Josh mehr Angst ein, als wenn die Kriegerprinzessin geschrien hätte. »Vorsicht! Wir sind jetzt an einem Ausgang angelangt. Wir stehen am Ende einer langen Wurzel, ungefähr dreißig Meter vom Baum entfernt. Und weit genug entfernt vom Kampfgeschehen«, fügte sie hinzu.

Josh bog um die Ecke und sah Scatty im streifigen Licht der Morgensonne, die durch ein Gewirr aus Ranken direkt über ihr schien. Sie drehte sich zu ihm um. Die Sonnenstrahlen färbten ihr rotes Haar golden und flossen fast magisch schön über die Gestalt der Kriegerin, die Klingen und Schafte ihrer kurzen Schwerter. Ringsherum hörte man Kampfgeräusche, doch lauter als alles andere war das tiefe, grollende Stöhnen, das in der Erde zu vibrieren schien.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Josh.

»Die Schreie Yggdrasills«, antwortete Scatty grimmig. »Hekates Feinde haben den Weltenbaum in Brand gesteckt.«

»Aber warum?« Josh fand die Vorstellung entsetzlich – dieser uralte Baum hatte doch niemandem etwas getan! Doch die Tat ließ ihn ahnen, welche Verachtung die Dunklen Älteren dem Leben entgegenbrachten.

»Hekates Macht ist untrennbar mit ihm verbunden. Ihre Magie hat ihn so groß werden lassen und seine Lebenskraft erhält ihre Kräfte. Sie glauben, wenn sie ihn vernichten, ist das auch das Ende der Göttin.«

Flamel kam die letzten Stufen heraufgekeucht und stellte sich neben Josh. Sein schmales Gesicht war hochrot und schweißbedeckt. »Ich werde alt«, sagte er mit einem müden Lächeln. Er schaute Scatty an. »Wie sieht dein Plan aus?«

»Einfach. Wir hauen hier ab – und das so schnell wie möglich.« Sie drehte das Schwert in ihrer linken Hand so, dass die Klinge flach auf ihrem ausgestreckten Arm lag.

Flamel und Josh stellten sich dicht neben sie und lugten durch das Rankengewirr in die mit dem Schwertgriff angezeigte Richtung. Am Rand der Wiese war Dr. John Dee erschienen; vorsichtig bewegte er sich durchs Unterholz. Das kurze Schwert mit der schwarzen Klinge, das er mit beiden Händen hielt, leuchtete in einem flackernden, eisblauen Licht.

»Dee«, sagte Flamel. »Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mich einmal freuen würde, ihn zu sehen. Das ist wirklich wunderbar.«

Sowohl Scatty als auch Josh schauten ihn überrascht an.

»Dee ist ein Mensch... Und das heißt, er kam mit einem von Menschen üblicherweise benutzten Transportmittel hierher«, erklärte Flamel.

»Mit einem Wagen, den er wahrscheinlich direkt vor dem Schattenreich geparkt hat.« Scatty nickte verstehend.

Josh wollte gerade fragen, woher sie wissen wollte, dass er ihn außerhalb geparkt hatte, als ihm die Antwort plötzlich selbst einfiel. »Weil er wusste, dass die Batterie sich entleeren würde, wenn er hier hereinfährt.«

»Seht mal«, murmelte Scatty.

Sie beobachteten, wie ein riesiger Torc Allta in Ebergestalt hinter Dee aus dem hohen Gras auftauchte. Obwohl er noch seine Tiergestalt hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine und war somit fast dreimal so groß wie der Magier.

»Er wird ihn umbringen«, murmelte Josh.

Dees Schwert flammte grellblau auf, dann ließ sich der kleine Mann nach hinten fallen, auf den Torc Allta zu. Das Schwert beschrieb dabei einen kurzen Bogen. Die plötzliche Bewegung schien die Kreatur zu irritieren, aber sie schlug die Klinge ohne Mühe beiseite – und erstarrte. Von dort aus, wo die Klinge die Pfote des Ebers berührt hatte, wuchs plötzlich eine dünne Eisschicht das Vorderbein des Tierwesens hinauf; die Eiskristalle glitzerten in der Morgensonne. Bald bedeckte das Eis die Brust des Torc Allta, dann seine kräftigen Hinterbeine und nach oben hin Schultern und Kopf. Innerhalb von Sekunden war die Kreatur in einem von blauen Adern durchzogenen Eisblock gefangen.

Dee stand vom Boden auf, bürstete seinen Mantel ab und schlug dann unvermittelt mit dem Schwertgriff auf den Eisblock ein. Der zerbarst klirrend in Millionen Splitter, die alle ein winziges Stück des Torc Allta enthielten.

»Eines der Elemente-Schwerter«, bemerkte Scatty. »Excalibur, das Eisschwert. Ich dachte, es sei schon vor Urzeiten verschwunden und in den See zurückgeworfen worden, als Artorius starb.«

»Wie es aussieht, hat Dee es gefunden«, murmelte Flamel.

Josh stellte fest, dass er kein bisschen überrascht war, dass es König Arthur tatsächlich gegeben hatte. Er fragte sich höchstens, welche anderen Sagengestalten noch real waren und gelebt hatten.

Sie beobachteten, wie Dee sich rasch wieder ins Unterholz zurückzog. Er schlug die Richtung zur gegenüberliegenden Seite des Baumhauses ein, wo das Schlachtgetümmel am lautesten war. Es roch jetzt stärker nach Rauch. Stechend wirbelte er um den Baum herum und brachte den unangenehmen Geruch alter Bauten und längst vergessener Gewürze mit sich. Holz knackte und brach, Baumsaft brach stoßweise aus der Rinde heraus, und das tiefe Dröhnen war nun so laut, dass es den ganzen Baum zum Vibrieren brachte.

»Ich mache euch den Weg frei«, sagte Scatty und stürmte durch die Ranken. Fast im selben Augenblick kamen drei Vogelmenschen flügelschlagend auf sie zu. Ihnen folgten zwei Katzenmenschen auf allen vieren.

»Wir müssen ihr helfen«, rief Josh verzweifelt, auch wenn er keine Ahnung hatte, was er tun könnte.

»Sie ist Scathach, sie braucht unsere Hilfe nicht«, erwiderte Flamel. »Sie wird sie zunächst von uns wegführen...«

Scathach lief leichtfüßig ins Unterholz, ihre schweren Stiefel machten auf dem weichen Boden kein Geräusch. Die Vögel und Katzen folgten.

»Sie wird etwas suchen, das ihr den Rücken freihält, sodass sie nur von einer Seite angreifen können. Dann sind sie dran.«

Josh beobachtete Scatty, die herumwirbelte und sich ihren Verfolgern entgegenstellte, im Rücken gedeckt von einer knorrigen Eiche. Die Katzenwesen hatten sie schnell erreicht und schlugen mit den Pfoten nach ihr, doch Scattys kurze Schwerter waren schneller. Ein Vogelwesen schwebte mit ausgestreckten Klauen und mächtigem Flügelschlag dicht über die Kriegerin hinweg. Scatty rammte das Schwert in ihrer Linken in den Boden, packte das Fußgelenk der Kreatur, riss sie zu sich herunter und warf sie mitten unter die fauchenden Katzen. Der Vogel attackierte die Katzen instinktiv und plötzlich bekämpften die Tiere sich gegenseitig. Zwei weitere Vogelmenschen landeten mit grässlichem Geschrei auf den Katzen. Scatty riss ihr Schwert aus dem Boden und gab Flamel und Josh damit ein Zeichen, zu ihr herüberzukommen.

Flamel tippte Josh auf die Schulter. »Los, geh mit Sophie zu ihr.«

»Und du?«

»Ich warte noch einen Augenblick und halte euch den Rücken frei. Dann komme ich nach.«

Josh wusste, dass er sich darauf verlassen konnte, auch wenn Flamel es gewesen war, der sie in Gefahr gebracht hatte. Er nickte, brach durch den Rankenvorhang und stürmte los, seine Schwester fest an sich gedrückt. Außerhalb des Baumes war der Schlachtenlärm unbeschreiblich laut, doch Josh konzentrierte sich ganz auf den Boden, damit er nicht über Wurzeln oder andere Unebenheiten stolperte. Sophie begann sich zu regen, ihre Augenlider flatterten. »Halt still«, sagte Josh eindringlich, auch wenn er nicht sicher war, ob sie ihn hören konnte.

Er wandte sich nach rechts, weg von den kämpfenden Kreaturen. Trotzdem fiel ihm auf, dass sie sich, wenn sie schwer verwundet waren, wieder in ihre ursprüngliche Katzen- oder Vogelgestalt zurückverwandelten. Zwei verständnislos dreinschauende Katzen und drei zerrupfte Krähen rappelten sich gerade vom Boden hoch und beobachteten, wie er vorbeirannte. Josh hörte Flamel hinter sich und roch den Minzeduft in der Luft. Seine Schwester war schwer – aber noch zehn oder fünfzehn Schritte, dann war er bei Scatty und in Sicherheit. Doch gerade als er sie erreichte, sah er, wie Scathach entsetzt die Augen aufriss. Josh schaute über die Schulter. Eine hochgewachsene Frau mit dem Kopf einer Katze und einer Robe, wie man sie nur im alten Ägypten getragen hatte, machte einen Satz von mindestens sechs Metern, landete auf Nicholas Flamels Rücken und warf den Alchemysten zu Boden. Eine sichelförmig gebogene Klaue schoss auf seinen kurzen Stab zu und teilte ihn in zwei Hälften. Dann warf die Kreatur den Kopf zurück und heulte triumphierend.

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

Vier kleine Wachleute ganz in Schwarz, die Gesichter hinter Motorradhelmen verborgen, holten Perenelle aus ihrer winzigen unterirdischen Zelle.

Sie war sich nicht hundertprozentig sicher, ob es sich um Menschen handelte – eine Aura hatten sie jedenfalls nicht. Sie konnte auch keinen Herzschlag und keine Atemzüge feststellen. Als sie Perenelle umringten, streifte sie eine schwache Ahnung von etwas Altem, Totem, und sie roch faule Eier und überreife Früchte. Vielleicht handelte es sich um Simulacra, Kunstgestalten, die in Bottichen mit einer modrig blubbernden Flüssigkeit herangezüchtet wurden. Perenelle wusste, dass Dee schon immer fasziniert war von der Vorstellung, sich seine Anhänger selbst zu erschaffen, und dass er jahrzehntelang mit Golems, Simulacra und Homunculi herumexperimentiert hatte.

Wortlos, mit ruckartigen Bewegungen führten die vier Gestalten sie aus der Zelle und einen langen, schmalen und nur schwach beleuchteten Gang hinunter. Perenelle ging bewusst langsam, damit sie Zeit hatte, Kräfte zu sammeln und die örtlichen Gegebenheiten in sich aufzunehmen. Jefferson Miller, der Geist des Wachmanns, hatte ihr gesagt, sie befände sich im Keller der Enoch Enterprises im Westen des Telegraph Hill und ganz in der Nähe des berühmten Coit Tower.

Perenelle wusste, dass sie weit unter der Erde war. An den Wänden lief das Wasser herunter, und die Luft war so kalt, dass ihr Atem in kleinen Wolken vor ihrem Gesicht stand. Jetzt wo sie nicht mehr in der mit Schutzzaubern belegten Zelle war, spürte sie, dass ihre Kräfte langsam zurückkehrten. Sie suchte verzweifelt nach einem Zauber, mit dem sie die Wachen belegen könnte, doch durch die Begegnung mit Mr Millers Geist war sie noch immer sehr geschwächt, und außerdem hatte sie pochende Kopfschmerzen, die es schier unmöglich machten, sich zu konzentrieren.

Plötzlich flackerte direkt vor ihr etwas auf. Ihr Atem, neblig weiß in der kalten Luft, hatte kurz ein Gesicht geformt.

Perenelle schaute aus den Augenwinkeln zu ihren Wachen auf beiden Seiten, doch die hatten nichts bemerkt. Sie zog die Luft tief in ihre Lungen, hielt einen Augenblick den Atem an, damit ihr Körper die Luft erwärmen konnte, und stieß sie dann langsam wieder aus. Ein Gesicht erschien im weißen Nebel: das Gesicht von Jefferson Miller.

Perenelle runzelte die Stirn. Eigentlich sollte sein Geist längst im Jenseits sein. Es sei denn... Es sei denn, er war zurückgekommen, um ihr etwas mitzuteilen.

Nicholas!

Instinktiv wusste sie, dass ihr Mann in Gefahr war. Noch einmal holte Perenelle tief Luft und hielt den Atem an. Sie konzentrierte sich ganz auf Nicholas und sah ihn mit ihrem geistigen Auge deutlich vor sich: das schmale, eher melancholische Gesicht, die hellen Augen und das kurz geschnittene Haar. Sie lächelte, weil sie an früher denken musste, als er das dichte schwarze Haar länger getragen hatte als sie. Im Nacken hatte er es immer mit einem purpurfarbenen Samtband zusammengehalten. Sie atmete aus und sofort erschien in der weißen Wolke wieder Jefferson Millers Gesicht. Perenelle schaute dem Geist in die Augen und wie in einem Spiegel sah sie in seinen Pupillen ihren Mann in den Pfoten der katzenköpfigen Göttin.

Wut und Angst überfluteten sie und plötzlich waren ihre Kopfschmerzen und ihre Erschöpfung wie weggeblasen. Ihr mit Silberfäden durchzogenes schwarzes Haar bewegte sich, als wehte ein kräftiger Wind, blaue und weiße Funken sprühten heraus, und es knisterte vor statischer Energie. Ihre schneeweiße Aura umgab sie wie eine zweite Haut.

Zu spät erkannten die Wachen, dass etwas nicht stimmte. Sie wollten sie packen, doch in dem Moment, in dem ihre Hände die leuchtenden Ränder von Perenelles Aura berührten, wurden sie zurückgestoßen, als hätten sie einen elektrischen Schlag erhalten. Einer der Wachen wollte sich auf die Gefangene werfen, doch Perenelles Aura katapultierte ihn knapp unter der Decke an die Wand, und das mit solcher Wucht, dass ihm der Motorradhelm vom Kopf flog. Er rutschte an der Wand herunter, Arme und Beine seltsam verdreht. Als Perenelle sein Gesicht sah, wusste sie, dass es sich tatsächlich um einen Simulacra handelte. Allerdings um einen unfertigen: der Kopf war eine einzige kahle und glatte Fläche, ohne Augen, Nase, Mund und Ohren.

Perenelle lief den Gang hinunter. Als sie auf dem Boden eine ölig aussehende Pfütze erblickte, blieb sie kurz stehen, kauerte sich hin, konzentrierte sich und tauchte ihren Zeigefinger und den kleinen Finger in das trübe Wasser. Ihre weiße Aura zischte und von dem Wasser stieg Rauch auf. Nachdem er sich verzogen hatte, stellte sie fest, dass sie dieselbe Szene vor sich hatte, die sie kurz in den Augen des Geistes gesehen hatte: Ihr Mann lag unter Bastets Krallen. Dahinter wehrte Scatty die angreifenden Katzen und Vögel ab, während Josh mit dem Rücken zu einem Baum stand, einen Ast wie einen Baseballschläger in der Hand hielt und unbeholfen nach allem schlug, das ihm zu nah kam. Vor ihm auf dem Boden lag Sophie und blinzelte verwirrt.

Perenelle schaute den Gang hinauf und hinunter. In der Ferne hörte sie Geräusche, Schritte auf Steinboden, und sie wusste, dass weitere Wachen im Anmarsch waren. Sie konnte entweder weiterlaufen und sich verstecken oder sich den Wachen stellen. Etwas von ihrer Kraft war zurückgekehrt. Aber das half Nicholas und den Zwillingen nicht.

Perenelle schaute noch einmal in die Pfütze. Sie sah Hekate, die dem gemeinsamen Angriff der Vögel und Katzen standhielt, und hinter ihr Dee. Das Schwert in seiner Hand glühte giftig blau. Im Hintergrund brannte der Weltenbaum. Rote und grüne Flammen loderten hoch aus ihm auf.

Eine Möglichkeit gab es noch – einen verzweifelten, gefährlichen Versuch konnte sie wagen. Falls er gelang, wäre sie anschließend völlig entkräftet und wehrlos. Dees Kreaturen bräuchten sie nur aufzuheben und wegzutragen.

Perenelle überlegte es sich nicht zweimal.

Über die ölige Pfütze gebeugt, legte sie die rechte Hand mit der Handfläche nach oben in die linke und konzentrierte sich. In ihre Aura kam Bewegung, wie Nebelschwaden strich sie an ihren Armen hinunter und sammelte sich in ihrer Hand, floss durch die eingekerbten feinen Linien in ihrer Haut und ließ einen winzigen, silbrig weißen Funken aufblitzen. Er verdichtete sich zu einer Kugel, wuchs und drehte sich, und der Aura-Nebel floss schneller die Arme herunter. Es dauerte nur wenige Herzschläge lang, dann hatte die Kugel die Größe eines Eis erreicht. Perenelle drehte die Hand und warf den Ball aus reiner Aura-Energie ins Wasser der Pfütze. Dazu sprach sie drei Worte:

»Sophie, wach auf!«

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

Sophie, wach auf!« Sophie Newman schlug die Augen auf. Und schloss sie gleich wieder. Sie presste die Hände auf die Ohren. Alles war so hell, die Farben so leuchtend, der Schlachtenlärm so laut und durchdringend.

»Sophie, wach auf!«

Der Schock, als sie die Stimme noch einmal hörte, zwang sie, die Augen erneut zu öffnen und sich umzuschauen. Sie hörte Perenelle Flamel so deutlich, als stünde sie neben ihr, aber sie war nicht da. Sophie selbst saß auf dem Boden, mit dem Rücken an die raue Rinde einer alten Eiche gelehnt. Josh stand neben ihr, einen dicken Ast in beiden Händen, und wehrte verzweifelt irgendwelche grässlichen Gestalten ab.

Langsam erhob Sophie sich, wobei sie sich am Baum abstützte. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der strenge Geruch von brennendem frischen Holz. Sie erinnerte sich noch, dass sie »Feuer!« gerufen hatte, aber der Rest waren nur noch verschwommene Bilder – ein schmaler Tunnel, Geschöpfe mit Vogel- und Katzenköpfen -, die auch Träume hätten sein können.

Als Sophies Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass es kein Traum gewesen war.

Rings herum nichts als Vogel- und Katzenmenschen. Hunderte davon. Ein paar der Katzenköpfigen versuchten, sich im hohen Gras auf dem Bauch kriechend anzuschleichen; sie fauchten und schlugen mit den Vorderpfoten in die Luft. In der Eiche über ihr saßen Vogelmenschen, die sich durchs Geäst nach unten hangelten, bis sie sich fallen lassen konnten. Andere hüpften über den Boden und hackten mit ihren gefährlich aussehenden Schnäbeln nach Josh.

Am Rand der Wiese brannte Hekates Weltenbaum. Das Holz knisterte und knackte. Doch bereits in dem Moment, in dem es verbrannte, wuchs neues Holz nach, frisch und grün. Merkwürdige Geräusche drangen an Sophies Ohr, und ihr wurde klar, dass es der Baum war, den sie hörte. Mit ihrem neu erweckten Gehör glaubte sie zwischen den gequälten Schreien des brennenden Wesens Worte und Sätze ausmachen zu können, Liedfetzen und Gedichtverse. Sie sah Hekate, die verzweifelt versuchte, das Feuer zu löschen, sich aber gleichzeitig die Morrigan, die Vögel und Katzen vom Leib halten musste. Sophie fiel auf, dass keine Federnattern mehr in der Luft waren und nur noch sehr wenige Torc Allta bereitstanden, um ihre Herrin zu beschützen.

Nicht so weit entfernt erspähte Sophie Scattys feuerrotes Haar. Auch die Kriegerprinzessin war umringt von Dutzenden von Vögeln und Katzen. Sie schien einen komplizierten Tanz aufzuführen, ihre beiden Schwerter blitzten auf und trieben die Kreaturen kreischend zurück. Scatty versuchte, sich hinüberzukämpfen zu der Stelle, wo Nicholas Flamel bäuchlings auf dem Boden lag, festgehalten von den Klauen der entsetzlichsten Kreatur, die Sophie je gesehen hatte: Bastet, die Katzengöttin. Da sie jetzt ungeheuer scharf sah, konnte Sophie jedes Detail in Bastets Katzengesicht ausmachen, jedes feine Haar ihres Fells.

Flamel sah, dass Sophie in seine Richtung schaute. Er versuchte, tief Luft zu holen, was jedoch in seiner Lage unmöglich war. »Lauf«, flüsterte er, »lauf!«

»Sophie, ich habe nur wenige Augenblicke…« Perenelles Stimme erklang in Sophies Kopf. Der Schock brachte das Mädchen vollends zu sich. »Du brauchst nur eines zu tun: Du musst mich durch dich reden lassen...«


Josh merkte, dass seine Schwester aufstand. Sie schwankte leicht, hielt sich die Ohren zu, als sei ihr alles zu laut, und kniff die Augen zusammen. Ihre Lippen bewegten sich, als führe sie Selbstgespräche. Er schlug nach zwei Vogelmenschen, die auf ihn zustürmten. Der schwere Ast traf einen davon auf den Schnabel. Benommen stolperte er rückwärts. Der andere tänzelte weiter um Josh herum. Der merkte irgendwann, dass der Vogelmann nicht ihn im Visier hatte, sondern Sophie. Er holte aus und schlug nach ihm. Im selben Moment kam eine große, schlanke Gestalt mit dem Kopf einer Tigerkatze mit weiten Sprüngen näher. Josh versuchte, den Ast zu schwingen, doch er stand auf dem falschen Fuß, und der Katzenmensch duckte sich darunter weg. Dann machte er mit aufgerissenem Maul und ausgestreckten Krallen einen Satz auf ihn zu.

Ein bitterer Geschmack schoss in Joshs Mund, und es durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass Sophie und er in akuter Lebensgefahr waren. Er musste zu seiner Schwester, musste sie beschützen... und wusste doch im selben Moment, dass er es nicht rechtzeitig schaffen würde. Er schloss die Augen, als die Kreatur sich auf ihn warf, spürte fast schon die Klauen, die sich in seine Brust bohrten, und hörte bereits das triumphierende Geschrei... Doch dann kam nur ein leises Schnurren. Josh öffnete die Augen, blinzelte und stellte fest, dass er ein flauschiges junges Kätzchen im Arm hielt.

Sophie! Er drehte sich um – und hielt ehrfürchtig inne.

Sophies Aura leuchtete wie reines Silber. An manchen Stellen war sie so dicht, dass sie das Sonnenlicht brach und wie eine mittelalterliche Rüstung zurückwarf. Silberne Funken knisterten in ihrem Haar und Aura-Silber sprühte von ihren Fingerspitzen.

»Sophie?«, flüsterte Josh überglücklich. Seiner Schwester ging es gut.

Langsam drehte Sophie den Kopf und sah ihn an und da traf es ihn wie ein Schlag: Sie erkannte ihn nicht. Ihm wurde übel.

Der Vogelmann, der Sophie im Visier gehabt hatte, machte einen Satz nach vorn und zielte mit dem Schnabel zwischen ihre Augen. Sie schnippte mit den Fingern. Winzige Silbertröpfchen lösten sich von ihren Fingerspitzen und trafen die Kreatur. Augenblicklich schrumpfte sie und wurde zu einer ganz gewöhnlichen Elster, die orientierungslos herumflatterte.

Sophie schritt an ihrem Bruder vorbei auf Bastet zu.

»Keinen Schritt weiter, meine Kleine«, warnte Bastet und hob die Krallenhand.

Sophie öffnete die Augen weit und lächelte, und Josh musste schockiert feststellen, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Angst vor seiner eigenen Schwester hatte. Das war nicht seine Sophie – dieses furchteinflößende Wesen konnte nicht seine Zwillingsschwester sein.

Als sie sprach, kamen die Worte seltsam rau aus ihrem Mund. »Du hast keine Vorstellung davon, was ich dir antun kann.«

Bastets Katzenaugen blickten überrascht. »Du kannst mir gar nichts tun, meine Kleine.«

»Ich bin nicht deine Kleine. Du magst uralt sein, aber jemandem wie mir bist du trotzdem noch nie begegnet. Ich besitze die Urgewalt, die deine Magie zunichtemachen kann. Ich kann die Vögel und Katzen in ihre natürliche Gestalt zurückverwandeln.« Sophie legte den Kopf schief. Josh kannte das. So machte sie es, wenn sie jemandem aufmerksam lauschte. Dann streckte sie die Hände nach der Erstgewesenen aus. »Was denkst du wohl, würde passieren, wenn ich dich berühre?«

Bastet zischte einen Befehl und drei riesige Katzenmenschen schossen auf Sophie zu. Die schüttelte den Arm und wie eine Peitschenschnur schlängelte sich ein langes Band silberner Energie aus ihren Fingern. Es berührte nacheinander alle drei Katzen, legte sich über Hüften und Schultern, und sie hielten sofort stolpernd inne, zuckten und wälzten sich auf dem Boden, während sie sich in ganz gewöhnliche Hauskatzen verwandelten: zwei Mischlinge und ein zerzauster Perserkater. Sie sprangen auf die Beine und schossen mit mitleiderregendem Kreischen davon.

Sophie ließ die Peitschenschnur über ihrem Kopf kreisen und flüssige Silbertröpfchen stoben in alle Richtungen. »Ich will dir einen Vorgeschmack auf das geben, was ich alles kann...« Die silberne Peitschenschur knallte, als sie näher kam.



Scatty stellte überrascht fest, dass drei ihrer Gegner sich plötzlich verwandelt hatten: einer in eine Wanderdrossel, einer in einen Buchfink und einer in eine Lerchenammer. Der exotisch aussehende Katzenmensch direkt vor ihr wand sich und wurde zu einer verwirrt herumtorkelnden Siamkatze.

Immer wieder ließ Sophie die Silberpeitsche knallen. Silbertröpfchen flogen in alle Richtungen und immer mehr Katzen- und Vogelmenschen verwandelten sich in ihre natürliche Gestalt zurück. »Lass Nicholas in Ruhe«, sagte sie, doch ihre Lippen bewegten sich nicht synchron zu ihren Worten, »oder wir werden herausfinden, welches deine wahre Gestalt ist, Bastet, die auch Mafdet ist, Sekhmet und Menhit.«

Langsam erhob Bastet sich, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und entfernte sich ein paar Schritte von Flamel. Die Augen mit den schmalen Pupillen waren weit aufgerissen. »Es ist lange her, seit mich jemand bei diesen Namen genannt hat. Wer bist du – bestimmt kein Humani-Mädchen aus der heutigen Zeit.«

Sophie bewegte die Lippen, doch es dauerte einen Moment, bevor die Worte folgten. »Nimm dich vor diesem Mädchen in Acht, Bastet. Sie ist dein Untergang.«

Bastets Fell sträubte sich und an den bloßen Armen bekam sie eine Gänsehaut. Sie ging langsam noch ein paar Schritte rückwärts, drehte sich dann jäh um und flüchtete zu dem brennenden Weltenbaum.

Nicholas rappelte sich auf und wankte auf Sophie, Josh und Scatty zu. »Perenelle?«, flüsterte er.

Sophie wandte ihm das Gesicht zu, doch ihr Blick war leer. Ihre Lippen bewegten sich und dann kamen, wie in einem schlecht synchronisierten Film, die Worte: »Ich bin in San Francisco, werde im Keller der Enoch Enterprises festgehalten. Es geht mir gut. Bring die Kinder Richtung Süden, Nicholas.« Ein langer Moment herrschte Schweigen, dann kamen die Worte schneller, als Sophie die Lippen bewegen konnte. Ihre silberne Aura wurde schwächer und die Augen fielen ihr zu. »Bring sie zu der Hexe.«

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

Dr. John Dee wurde langsam panisch. Nichts lief nach Plan, und wie es aussah, würde er auch noch aktiv in den Kampf eingreifen müssen.

Flamel, Scatty und die Zwillinge hatten sich aus Hekates Baum retten können und kämpften nun auf der anderen Seite der Wiese, gerade mal 150 Meter von ihm entfernt. Aber er konnte nicht hinübergehen; das hieße, ein Schlachtfeld zu überqueren. Die letzten Torc Allta, sowohl in Tier- als auch in Menschengestalt, kämpften ohne Pause gegen Katzen- und Vogelmenschen. Die Federnattern waren bereits geschlagen. Anfangs hatten die geflügelten Schlangen Chaos unter den Katzen und Vögeln verbreitet, doch auf dem Boden waren sie schwerfällig und unbeholfen und die meisten waren kurz nach ihrer Landung getötet worden. Die gewaltige Armee der Torc Allta war beträchtlich geschrumpft, und Dee vermutete, dass es in spätestens einer Stunde in Nordamerika keine Wereber mehr gab.

Aber so lange konnte er nicht warten. Er musste jetzt zu Flamel. Er musste die Seiten aus dem Codex zurückholen, und zwar so schnell als möglich.

Von seinem Versteck hinter einem Gebüsch beobachtete Dee die Schlacht der Älteren. Hekate stand am Eingang zu ihrem Baumhaus, umgeben von den letzten ihrer persönlichen Torc-Allta-Wachen. Während die wilden Eber die Katzen und Vögel abwehrten, hatte Hekate es allein mit der Morrigan und mit Bastet aufgenommen.

Die drei ignorierten ihre halbmenschlichen Krieger um sie herum völlig. Für den zufälligen Beobachter hätte es so ausgesehen, als schauten die drei Göttinnen sich lediglich an. Dee jedoch bemerkte die rotgrauen Wolken, die sich über ihnen zusammenballten, er sah, wie die zarten, weißgoldenen Blumen, die um den Baum herum wuchsen, welkten und starben und innerhalb von Sekunden zu einer schwarzen Paste zusammenschmolzen. Die unansehnliche Pilzpatina auf den ehemals glatt polierten Steinplatten des Weges war ihm vorher schon aufgefallen. Dee lächelte. Es konnte nicht mehr lange dauern. Allzu lang konnte Hekate den beiden anderen, Tante und Nichte, nicht standhalten.

Doch Hekate zeigte keinerlei Anzeichen von Schwäche.

Und dann schlug sie zurück.

Die Luft, schwer vom Gestank des brennenden Baumes, verharrte völlig windstill. Dennoch sah Dee, wie ein Wind, den er nicht spürte, unter den Umhang der Morrigan fuhr, sodass er ihr um die Schultern flatterte und die hochgewachsene Bastet sich dagegenstemmen musste, um nicht umgeweht zu werden. Das Muster auf Hekates metallisch schimmerndem Kleid veränderte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Farben vermischten sich und wechselten ständig.

Mit wachsender Besorgnis sah Dee einen dunklen Schatten über das welke Gras gleiten, dann beobachtete er, wie sich ein Schwarm winziger schwarzer Fliegen auf Bastets Fell niederließ und ihr in Ohren und Nase kroch. Die Katzengöttin heulte auf und stolperte rückwärts, dabei rieb sie hektisch über ihr Gesicht. Sie stürzte und wälzte sich im Gras, um die Insekten loszuwerden. Doch es kamen immer mehr, und bald waren auch Feuerameisen und Höhlenspinnen darunter, die aus dem Gras kamen und auf ihren Körper krochen. Bastet kauerte auf Händen und Knien und warf den Kopf zurück. Dann sprang sie auf und lief über die Wiese, fiel wieder hin und wälzte sich in einem flachen Teich – alles, um die Insekten loszuwerden. Sie hatte die Wiese mehr als zur Hälfte überquert, als die dicke schwarze Wolke endlich von ihr abließ. Sofort wollte Bastet umdrehen und zum Weltenbaum zurückgehen – doch in dem Moment ballte sich der Fliegenschwarm drohend vor ihr in der Luft zusammen, dichter als je zuvor.

Zum ersten Mal durchzuckte Dee der Gedanke, dass Hekate vielleicht – nur vielleicht – gewinnen könnte. Bastet und die Morrigan zu trennen, war ein cleverer Zug gewesen. Dafür zu sorgen, dass Bastet nicht mehr zurückkonnte, schlicht ein Geniestreich.

Als Bastet merkte, dass ihr der Rückweg abgeschnitten war, fauchte sie wütend. Dann drehte sie sich um und lief hinüber zu der Stelle, wo Flamel, Scatty und die Zwillinge kämpften. Dee sah, wie sie einen gewaltigen Sprung machte und den Alchemysten zu Fall brachte. Das verschaffte ihm zumindest eine gewisse Genugtuung, und er erlaubte sich ein Lächeln – das rasch wieder erlosch, als ihm bewusst wurde, dass er immer noch auf dieser Seite der Wiese festsaß. Wie sollte er an Hekate vorbeikommen?

Obwohl der Weltenbaum lichterloh brannte, Laub und schwarze Äste durch die Luft flogen und der aus abgebrochenen Zweigen austretende klebrige Baumsaft an verschiedenen Stellen in Strömen herausfloss, schienen Hekates Kräfte ungebrochen. Ernüchterung und Enttäuschung überfielen Dee. Alle seine Recherchen hatten ergeben, dass Hekate den Baum zum Leben erweckt hatte, indem sie ihm etwas von ihrer eigenen Lebenskraft gab. Dafür erneuerte er im Gegenzug ihre Kräfte, während er wuchs. Den Baum niederzubrennen, war Dees Idee gewesen. Er hatte angenommen, dass ihre Kräfte nachlassen würden, wenn ihr Baum verbrannte. Doch das Gegenteil war der Fall: Dass der Baum in Brand gesteckt worden war, hatte die Erstgewesene nur in maßlose Wut versetzt, und in ihrem Zorn hatte sie umso größere Kräfte entwickelt. Als Dee sah, wie Hekates Lippen sich zu etwas verzogen, das ein Lächeln hätte sein können, und wie die Morrigan stolperte und zurückwich, dämmerte ihm, dass die Göttin mit den drei Gesichtern in ihrem eigenen Schattenreich einfach zu mächtig für sie war.

Und in diesem Moment wusste Dee, dass er handeln musste.

Gedeckt von Bäumen und hohem Gras, umrundete er den Stamm des gewaltigen Baumes. Er musste sich niederkauern und verstecken, als ein Torc Allta in Ebergestalt direkt vor ihm durchs Unterholz brach. Ihm auf den Fersen waren mindestens ein Dutzend Katzen- und doppelt so viele Vogelmenschen.

Dee kam auf der Seite des Weltenbaums aus dem Unterholz, die der Stelle, an der Hekate und die Morrigan kämpften, genau gegenüberlag. Er sah, dass sich bei der Gruppe um Flamel rechts von ihm irgendetwas tat. Vögel und Katzen stoben in alle Richtungen davon... Und da erst fiel Dee auf, dass es gewöhnliche Vögel und normale Straßenkatzen waren, die da flohen, und keine halbmenschlichen Kreaturen. Die Verwandlungszauber von Bastet und der Morrigan verloren ihre Wirkung. War Hekate so mächtig? Er musste dem jetzt ein Ende setzen.

Dr. John Dee hob das Schwert. Schmutzig blaues Licht schlängelte sich die kurze Klinge entlang, und einen Augenblick lang summte die uralte Waffe, als ein unsichtbarer Wind über die Schneide strich. Die in den Griff eingeritzte Schlange erwachte zischend zum Leben. Dee umklammerte den Griff seines Schwerts mit beiden Händen, legte die Klingenspitze an die raue Rinde des uralten Baumes... und drückte.

Excalibur versank bis zum Heft im Holz, ohne dass Dee sich überhaupt anstrengen musste. Zunächst geschah nichts. Dann begann Yggdrasill, der Weltenbaum, zu stöhnen. Wie bei einem Tier, das verletzt wurde, begann es mit einem tiefen Grollen, das rasch in einen hohen qualvollen Ton überging. Um die Stelle, an der der Schwertgriff aus dem Baum herausragte, bildete sich ein blauer Fleck. Etwas lief wie Tinte am Baum hinunter und sickerte in den Boden, dann strömte öliges blaues Licht in die Adern und Ringe des Holzes. Yggdrasills Schreie wurden immer höher, bis sie für menschliche Ohren nicht mehr zu hören waren. Die letzten Torc Allta stürzten zu Boden, zuckend vor Schmerzen, und hielten sich die Ohren zu.

Das blaue, ölig wirkende Licht wanderte schnell um den Baum herum und bedeckte alles mit einer dünnen Schicht glitzernder Eiskristalle. Blau-schwarze und rot-grüne Regenbogen standen plötzlich in der Luft.

Die Eisschicht schoss am Stamm hinauf und an den Ästen entlang und verwandelte alles, was mit ihr in Berührung kam, in glitzernde Kristalle. Selbst das Feuer war nicht dagegen gefeit. Flammen froren ein, blieben als kunstvolle Eisskulpturen kurz in der Luft stehen, bevor sie feine Risse bekamen und zu glitzerndem Staub zerbarsten. Wenn die blaue Schicht Blätter berührte, wurden sie hart und brachen von den Ästen. Sie schwebten nicht sacht zu Boden; sie fielen und zerbrachen mit leisem Klirren, wohingegen die Äste als kompakte Eisblöcke vom Stamm gerissen wurden und auf der Erde zerschellten. Dee warf sich zur Seite, um nicht von einem meterlangen gefrorenen Zweig aufgespießt zu werden. Er packte Excaliburs Griff, zog die Klinge aus dem Stamm und lief in Deckung.

Der Weltenbaum starb. Riesige Rindenstücke brachen vom Stamm, als wäre der Baum ein zerfallender Eisberg, und krachten auf den Boden. Hekates schönes Schattenreich war in Windeseile übersät von rasiermesserscharfen Eissplittern.

Immer auf der Hut vor herunterfallenden Ästen, rannte Dee in gebotenem Abstand um den Baum herum. Er musste einfach wissen, was mit Hekate geschah.

Auch die Göttin mit den drei Gesichtern starb.

Hekate stand reglos vor ihrem zerbrechenden Baum und innerhalb weniger Herzschläge veränderte sich ihr Gesicht immer wieder von dem jungen Mädchen über die reife Frau zur todgeweihten Greisin. Das ging so schnell, dass der Rest ihres Körpers keine Zeit hatte, sich anzupassen, und die Phasen sich für den Beobachter vermischten: Da waren junge Augen in einem alten Gesicht; der Kopf eines Mädchens auf dem Körper einer Frau; der Körper einer Frau mit Kinderarmen. Hekates sich ständig veränderndes Gewand hingegen hatte alle Farbe verloren und war genauso schwarz wie ihre Haut.

Dee stellte sich schweigend neben die Morrigan. Dann kam auch noch Bastet dazu, und zusammen verfolgten sie die letzten Augenblick von Hekate und dem Weltenbaum.

Der Baum war inzwischen fast ganz von einer blauen Eisschicht überzogen. Gefrorene Wurzeln hatten den Boden aufgebrochen und die Symmetrie der Anlage zerstört. In dem gewaltigen Stamm klafften Löcher, die den Blick auf die runden Räume im Inneren freigaben: Sie alle waren im blauen Eis erstarrt und unbewohnbar geworden.

Hekates rasende Veränderung verlangsamte sich. Es dauerte länger, bis die Wechsel sich vollzogen, da auch bei ihr nun kaltes Blau von unten an ihrem Körper emporkroch, sich ausbreitete, die Haut erstarren ließ und mit Eiskristallen überzog.

Die Morrigan schaute kurz auf das Schwert in Dees Hand, wandte den Blick aber sofort wieder ab. »Selbst nach all den Jahren in unseren Diensten schaffst du es immer noch, uns zu überraschen, Dr. Dee«, bemerkte sie leise. »Ich wusste nicht, dass du das Eisschwert besitzt.«

»Ich bin froh, dass ich es mitgebracht habe«, erwiderte Dee, ohne direkt auf die angedeutete Frage einzugehen. »Hekate war wohl doch mächtiger, als wir annahmen. Wenigstens hat sich meine Vermutung – dass ihre Kraft mit der des Baumes im Zusammenhang steht – bestätigt.«

Ein einziger Eisblock war alles, was vom Weltenbaum übrig geblieben war. Auch Hekate war jetzt vollständig mit einer blauen Eisschicht überzogen, nur ihre buttergelben Augen waren noch voller Leben und glänzten. Die Spitze des Baumes begann zu schmelzen, schmutziges Wasser lief am Stamm hinunter und grub tiefe Rillen ins Eis.

»Als ich merkte, dass sie deinen Zauber außer Kraft setzen kann, wusste ich, dass ich eingreifen muss«, sagte Dee. »Ich habe gesehen, wie die Katzen und Vögel wieder ihre natürliche Gestalt annahmen.«

»Das hatte nichts mit Hekate zu tun«, rief Bastet. Sie sprach mit starkem Akzent und ihre Stimme klang wie die einer Löwin.

Die Morrigan und Dee wandten sich der Katzengöttin zu. Bastet hob eine Pfote und zeigte über die Wiese. »Das Mädchen war’s. Jemand hat durch sie gesprochen, jemand, der meine wahren Namen kennt, jemand, der die Aura des Mädchens benutzte, um reine Energie entstehen zu lassen. Das war es, was unsere Verwandlungszauber aufgehoben hat.«

Dee schaute hinüber zu der Eiche, wo zuvor Flamel, Scatty und die Zwillinge gestanden hatten. Jetzt war keine Spur mehr von ihnen zu sehen. Dee wollte gerade die letzten Katzen und Vögel auf die Suche nach ihnen schicken, als er Senuhet daherwanken sah. Der alte Mann war von oben bis unten mit Schmutz und Blut bespritzt – wobei das Blut nicht von ihm zu stammen schien -, und er hatte nur noch eines seiner gebogenen Bronzeschwerter bei sich. Die Klinge war abgebrochen.

»Flamel und die anderen sind entwischt«, keuchte er. »Ich bin ihnen bis über die Grenze des Schattenreichs gefolgt. Sie haben unseren Wagen gestohlen«, fügte er entrüstet hinzu.

Mit einem Wutschrei drehte Dee sich um und schleuderte Excalibur gegen den Weltenbaum. Die mächtige Klinge traf den Stamm, und es klang, als würde eine Glocke angeschlagen. Der hohe, klare Ton hing in der Luft – und dann begann Hekates Baum auseinanderzubrechen. Lange Risse bildeten sich im Stamm, begannen unten als schmale Rillen und liefen im Zickzack nach oben, wo sie immer breiter wurden. Innerhalb von Sekunden war der ganze Baum mit dem Zickzackmuster überzogen. Dann bebte er und brach auseinander – stürzte krachend auf die Statue aus Eis, die einmal Hekate gewesen war, und zermalmte sie.

KAPITEL DREISSIG

Josh Newman riss die Tür des schwarzen Geländewagens auf. Eine Welle der Erleichterung überflutete ihn. Der Schlüssel steckte. Josh öffnete auch die hintere Tür und hielt sie auf, bis Flamel mit Sophie auf den Armen am Auto angekommen war. Vorsichtig betteten sie sie auf den Rücksitz. Scatty brach durch die Hecke und kam mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht den Weg heruntergelaufen.

»Das«, sagte sie, als sie sich zu Sophie auf den Rücksitz warf, »war das Beste, was ich in den letzten tausend Jahren erlebt habe.«

Josh setzte sich auf den Fahrersitz, stellte ihn seiner Größe entsprechend ein und drehte dann den Schlüssel um. Der Motor des großen V6 begann zu schnurren.

Flamel ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und knallte die Tür zu. »Nichts wie weg hier!«

Josh legte den Gang ein, umklammerte das lederbezogene Lenkrad mit beiden Händen und drückte das Gaspedal voll durch. Der schwere Wagen machte einen Satz nach vorn, Erde und kleine Steine spritzten davon, dann wendete Josh und holperte den schmalen, ausgefahrenen Weg zurück. Zweige von Bäumen und Büschen schrammten an den Seiten des Autos entlang und zerkratzten den bis dahin makellosen Lack.

Obwohl die Sonne inzwischen aufgegangen war, lag der Weg vor ihnen noch immer im Schatten hoher Bäume verborgen. Doch Josh fand den Schalter fürs Licht nicht. Immer wieder schaute er in die Seitenspiegel und den Rückspiegel, weil er jeden Augenblick erwartete, die Morrigan oder Bastet aus dem Gebüsch preschen zu sehen. Erst als der Wald endete und er den schweren SUV im hellen Sonnenschein auf eine schmale und kurvenreiche, aber geteerte Straße lenkte, nahm er den Fuß vom Gas. Der Hummer wurde sofort langsamer.

»Alles klar?«, fragte Josh mit zittriger Stimme.

Er bog den Rückspiegel etwas nach unten, damit er auf die Rückbank sehen konnte. Sophie lag ausgestreckt auf dem breiten Ledersitz, den Kopf in Scattys Schoß. Scathach hatte den Saum ihres T-Shirts abgerissen und tupfte Sophie damit die Stirn ab. Die war totenbleich und zuckte ab und zu, als hätte sie einen Albtraum.

Scatty sah, dass Josh sie im Spiegel beobachtete, und lächelte ihm aufmunternd zu. »Sie ist bald wieder in Ordnung.«

»Kannst du irgendetwas machen?«, fragte Josh Flamel. Inzwischen wusste er gar nicht mehr, was er von dem Alchemysten halten sollte. Der hatte sie zwar einer schrecklichen Gefahr ausgeliefert, aber Josh hatte auch gesehen, mit welchem Einsatz er sie verteidigt hatte.

»Nein, ich kann nichts tun«, erwiderte Flamel müde. »Sie hat sich lediglich sehr verausgabt, weiter nichts.« Auch er sah vollkommen erschöpft aus. Seine Kleider waren schmutzig und vielleicht waren auch Blutflecken darauf. Auf beiden Händen hatte er Kratzspuren von Katzenkrallen. »Lass sie schlafen. Wenn sie in ein paar Stunden wieder aufwacht, geht es ihr gut. Das verspreche ich dir.«

Josh nickte. Er wollte die Unterhaltung nicht fortführen und konzentrierte sich deshalb auf die Straße. Tief im Herzen bezweifelte er, dass es seiner Schwester je wieder gut gehen würde. Er würde nie vergessen, wie sie ihn mit diesem leeren Blick angeschaut und nicht erkannt hatte. Josh hatte die Stimme gehört, die aus ihrem Mund gekommen war. Es war nicht ihre Stimme gewesen. Seine Schwester, seine Zwillingsschwester, war vollkommen verändert.

Sie kamen zu einem Straßenschild und Josh bog links nach Mill Valley ab. Ihm war es egal, wohin sie fuhren, er wollte nur weg von diesem Schattenreich. Und noch lieber wollte er nach Hause, er wollte sein altes Leben wiederhaben, wollte vergessen, dass er die Anzeige in der Unizeitung, die sein Vater mitbrachte, je gelesen hatte:

Aushilfe für Buchhandlung gesucht.


Wir wollen keine Leser, wir wollen


Arbeiter.



Josh hatte sich schriftlich beworben und war wenige Tage später zu einem Gespräch eingeladen worden. Sophie hatte an dem Tag nichts anderes vorgehabt und hatte ihn begleitet. Während sie auf ihn wartete, hatte sie im Café gegenüber eine Chai Latte getrunken. Und als Josh strahlend aus dem kleinen Buchladen gekommen war, weil er den Job bekommen hatte, hatte er erfahren, dass auch Sophie einen Sommerjob gefunden hatte: in der »Kaffeetasse«. Besser hätte es gar nicht kommen können, denn so konnten sie sich praktisch bei der Arbeit zuschauen. Und es war auch alles ganz wunderbar gewesen – bis vor einem Tag, als der ganze Wahnsinn begonnen hatte. Josh konnte kaum glauben, dass es erst einen Tag her war.

Wieder schaute er im Spiegel nach hinten zu Sophie. Sie lag jetzt ruhig da, vollkommen reglos, und er stellte erleichtert fest, dass ihre Wangen wieder etwas Farbe bekommen hatten.

Was hatte Hekate getan? Nein – was hatte Flamel getan? Es war alles seine Schuld. Die Erstgewesene hätte die Kräfte der Zwillinge von sich aus nie geweckt. Sie wusste um die damit verbundenen Gefahren. Aber Flamel hatte nicht locker gelassen und seinetwegen war Hekates paradiesisches Schattenreich jetzt zerstört worden und er kannte seine Schwester nicht mehr.

Als Josh angefangen hatte, für Flamel zu arbeiten, den er damals noch als Nick Fleming kannte, hatte er ihn für etwas sonderbar gehalten, exzentrisch, vielleicht sogar ein bisschen verrückt. Doch als er ihn näher kennenlernte, hatte er ihn ins Herz geschlossen und angefangen, ihn zu bewundern. Fleming war all das, was Joshs Vater nicht war. Er hatte Humor, interessierte sich einfach für alles, was Josh tat, hatte ein phänomenales Allgemeinwissen und nahm überhaupt Anteil an der ganzen Welt. Von seinem Vater wusste Josh, dass der nur wirklich glücklich war, wenn er vor einem Hörsaal voller Studenten stand oder bis zu den Knien im Dreck einer Ausgrabungsstätte.

Fleming war anders. Als Josh Bart Simpson zitiert hatte, konterte Fleming mit Groucho Marx. Dann ging er noch einen Schritt weiter und machte Josh mit den Filmen der Marx Brothers bekannt. Beide liebten sie Musik – auch wenn ihr Geschmack höchst unterschiedlich war. Durch Josh lernte Nick Green Day kennen, Lamb und Dido. Fleming empfahl ihm Genesis und Pink Floyd. Als Josh ihm auf seinem iPod Ambientund Trance-Musik vorspielte, lieh Fleming ihm CDs von Mike Oldfield und Brian Eno. Josh erklärte Fleming, was Blogging ist, und zeigte ihm seinen und Sophies Blog. Sie hatten sogar darüber gesprochen, den gesamten Lagerbestand der Buchhandlung online zu stellen.

Mit der Zeit hatte Josh in Fleming den älteren Bruder gesehen, den er sich immer gewünscht hatte. Und jetzt hatte dieser Mann ihn betrogen.

Flamel hatte ihn von Anfang an belogen. Nicht einmal seinen richtigen Namen hatte er ihm gesagt. In Joshs Kopf begann sich eine unangenehme Frage zu formen. Mit leiser Stimme, die Augen vor sich auf die Straße gerichtet, fragte er: »Hast du gewusst, dass das alles passieren würde?«

Flamel lehnte sich auf dem weichen Ledersitz zurück und wandte sich dann Josh zu, beide Hände am Sicherheitsgurt. »Dass was passieren würde?«, fragte er vorsichtig zurück.

»Du weißt schon. Und ich bin kein Kind mehr«, erwiderte Josh, wobei er immer lauter wurde, »also rede nicht so mit mir.« Sophie murmelte etwas im Schlaf, und Josh zwang sich, wieder leiser zu reden. »Hat dein kostbares Buch das alles vorhergesagt?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Scatty ein Stück nach vorn rutschte, um Flamels Antwort nicht zu verpassen.

Flamel nahm sich lange Zeit, bevor er antwortete. Schließlich sagte er: »Es gibt da noch einiges, was du zu Abrahams Buch der Magie wissen musst.« Als er sah, dass Josh den Mund öffnete, fuhr er rasch fort: »Nein, lass mich zu Ende reden. Ich wusste immer, dass der Codex alt ist. Aber von seinem tatsächlichen Alter hatte ich keine Ahnung. Gestern nun sagte mir Hekate, sie sei dabei gewesen, als Abraham ihn zusammengestellt hätte... was dann wohl mindestens zehntausend Jahre her wäre. Die Welt war damals grundverschieden von unserer heutigen. Man geht allgemein davon aus, dass die Menschen irgendwann in der Mitte der Steinzeit auftauchten. Die Wahrheit allerdings sieht völlig anders aus. Sie steckt in unseren Sagen und Legenden. Die Erstgewesenen regierten damals die Welt. Wenn man den Sagen glaubt, konnten sie fliegen, besaßen Schiffe, mit denen sie die Ozeane überquerten, konnten das Wetter beeinflussen und beherrschten das, was wir heute Klonen nennen, in Perfektion. In anderen Worten: Sie hatten Zugang zu so fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass wir es Zauberei nennen würden.«

Josh schüttelte den Kopf.

»Bevor du jetzt behauptest, das sei alles viel zu weit hergeholt, denk doch nur mal, wie weit die menschliche Rasse in den letzten zehn Jahren gekommen ist. Hätte zum Beispiel jemand vor zehn Jahren deinen Eltern gesagt, sie könnten ihre gesamte Musiksammlung in der Hosentasche mit sich herumtragen – hätten sie es geglaubt? Wir haben heute Telefone, in denen mehr Elektronik steckt, als verwendet wurde, um die ersten Raketen ins Weltall zu schießen. Wir haben Elektronenmikroskope, mit denen wir einzelne Atome erkennen können. Wir heilen heute routinemäßig Krankheiten, die noch vor fünfzig Jahren tödlich verliefen. Und die Neuerungen folgen immer schneller aufeinander. Wir sind heute in der Lage, Dinge zu tun, die deine Eltern früher noch für unmöglich gehalten hätten und die deinen Großeltern sicher wie Zauberei vorgekommen wären.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Josh. Er achtete jetzt sehr genau auf den Tacho. Sie konnten es sich nicht leisten, wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten zu werden.

»Was ich damit sagen wollte, ist, dass ich nicht weiß, wozu die Erstgewesenen tatsächlich in der Lage waren. Waren es Prophezeiungen, die Abrahm im Codex machte, oder schrieb er einfach nieder, was er irgendwo gesehen hatte? Machte er sich Gedanken über die Zukunft oder konnte er sie tatsächlich sehen?« Flamel drehte sich ganz auf seinem Sitz herum und fragte Scatty: »Weißt du es?«

Sie zuckte lächelnd die Schultern. »Ich stamme aus der zweiten Generation; die Welt der Erstgewesenen existierte zum Großteil schon nicht mehr, als ich geboren wurde. Und Danu Talis war längst in den Wellen versunken. Ich habe keine Ahnung, wozu sie imstande waren. Ob sie durch die Zeit schauen konnten?« Sie überlegte kurz. »Ich kannte Erstgewesene, die diese Gabe möglicherweise besaßen. Sibylle hatte sie ganz bestimmt und Themis und Melampus natürlich auch. Aber sie haben sich öfter getäuscht, als sie recht hatten. Wenn meine Reisen mich etwas gelehrt haben, dann ist es, dass wir uns unsere eigene Zukunft schaffen. Ich habe Ereignisse, die die Welt erschütterten, kommen und gehen sehen, ohne dass jemand sie vorhergesagt hätte, und ich habe Prophezeiungen gehört – gewöhnlich hatten sie mit dem Ende der Welt zu tun -, die nicht wahr geworden sind.«

Ein Wagen überholte sie auf der schmalen Landstraße, der erste, den sie an diesem Morgen sahen.

»Ich frage dich noch einmal«, begann Josh. Er hatte Mühe, seine Stimme im Zaum zu halten. »Und dieses Mal antwortest du einfach mit Ja oder Nein. War alles, was gerade passiert ist, im Codex vorhergesagt?«

»Nein«, antwortete Flamel rasch.

»Ich höre da ein Aber heraus«, bemerkte Scatty.

Flamel nickte. »Es gibt ein kleines Aber. Es steht nichts in dem Buch über Hekate und das Schattenreich, nichts über Dee oder Bastet und die Morrigan. Aber...« Er seufzte. »Es gibt diverse Vorhersagen zu Zwillingen.«

»Zwillinge«, wiederholte Josh gepresst. »Zwillinge im Allgemeinen oder haben diese Vorhersagen speziell etwas mit Sophie und mir zu tun?«

»Der Codex spricht von Silber-und-Gold-Zwillingen, ›die zwei, die eins sind, und das Eine, das alles ist‹. Es ist kein Zufall, dass eure Auren reines Gold und Silber sind. Deshalb bin ich überzeugt, dass der Codex von dir und deiner Schwester spricht.« Er sah Josh eindringlich an. »Wenn du mich jetzt fragen willst, wie lange ich das schon weiß, ist die Antwort folgende: erst seit gestern. Ich vermutete so etwas, als ihr mir im Laden zu Hilfe gekommen seid. Die Bestätigung erhielt ich dann ein paar Stunden später durch Hekate, als sie eure Aura sichtbar machte. Ich gebe dir mein Wort, dass alles, was ich getan habe, zu eurem Schutz geschehen ist.«

Josh wollte wieder den Kopf schütteln. Konnte er Flamel glauben? Er öffnete den Mund, um etwas zu fragen, doch Scatty legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter. »Ich möchte dazu nur eines sagen«, begann sie leise und ernst. »Ich kenne Nicholas Flamel seit langer Zeit. Amerika war noch kaum kolonialisiert, als wir uns kennenlernten. Er ist vieles – gefährlich und verschlagen, listig und mörderisch, ein guter Freund und ein unversöhnlicher Feind -, aber er stammt aus einer Zeit, als das Wort eines Mannes noch etwas galt. Wenn er dir sein Wort gibt, dass alles zu eurem Schutz geschah, schlage ich vor, dass du ihm glaubst.«

Josh trat auf die Bremse und fuhr langsam in eine Kurve. Dann nickte er und stieß seufzend die Luft aus. »Ich glaube dir«, sagte er laut. Doch ganz hinten in seinem Kopf hörte er immer noch Hekates bedeutungsvolle Worte: »Nicholas Flamel sagt nie und niemandem alles.« Und er hatte ganz stark den Eindruck, dass der Alchemyst auch jetzt noch nicht alles gesagt hatte, was er wusste.

Plötzlich legte Nicholas ihm die Hand auf den Arm. »Hier, halt hier an.«

»Warum? Was ist los?«, fragte Scatty und griff sofort nach ihren Schwertern.

Josh blinkte und bog auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants ein, dessen Neonreklame gerade angegangen war.

»Nichts ist los.« Flamel grinste. »Nur Zeit zum Frühstücken.«

»Gute Idee, ich bin am Verhungern«, verkündete Scatty. »Ich könnte ein ganzes Pferd essen. Wenn ich keine Vegetarierin wäre... Und wenn mir Pferdefleisch schmecken würde, versteht sich.«

Und wenn du kein Vampir wärst, fügte Josh in Gedanken hinzu. Aber nur in Gedanken.

Sophie wachte auf, während Scatty und Flamel für alle Frühstück zum Mitnehmen bestellten. Gerade hatte sie noch fest geschlafen und im nächsten Moment saß sie kerzengerade auf dem Rücksitz.

Josh zuckte zusammen und stieß unwillkürlich einen erschrockenen Schrei aus. Er fuhr herum, kniete sich auf seinen Sitz und beugte sich über die Rückenlehne. »Sophie?«, fragte er vorsichtig. Er hatte schreckliche Angst, dass ihn wieder etwas Fremdes und Uraltes durch ihre Augen ansehen würde.

»Ich hab vielleicht etwas Seltsames geträumt«, sagte sie, reckte sich und bog den Rücken durch. Ihre Halswirbel knackten, als sie mit dem Kopf rollte. »Autsch. Mir tut alles weh.«

Das hörte sich zumindest an wie seine Schwester. »Wie fühlst du dich?«

»Als sei eine Erkältung im Anmarsch.« Sie blickte sich um. »Wo sind wir? Wem gehört das Auto?«

Josh grinste. »Es gehört Dee. Wir haben es geklaut. Und wir sind auf der Straße von Mill Valley nach San Francisco, denke ich.«

»Was ist passiert... da hinten, meine ich?«

Jetzt grinste Josh wie ein Honigkuchenpferd. »Du hast uns gerettet – mit deinen neu erweckten Kräften. Du warst unglaublich. Du hattest so ein silbernes Energieding, das aussah wie eine Peitsche, und wenn du einen Katzen- oder einen Vogelmenschen damit berührt hast, haben sie sich in ihre natürliche Gestalt zurückverwandelt.« Er hielt inne, als sie den Kopf schüttelte. »Erinnerst du dich denn gar nicht daran?«

»Höchstens vage. Ich habe gehört, wie Perenelle mit mir gesprochen und mir gesagt hat, was ich tun soll. Ich habe richtig gespürt, wie ihre Aura in mich hineingeflossen ist«, erzählte sie ehrfürchtig. »Ich habe sie gehört. Ich habe sie sogar gesehen … irgendwie.« Plötzlich zog sie keuchend die Luft ein. »Dann haben sie sie geholt. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Wer sie?«

»Die Männer ohne Gesicht. Jede Menge. Ich habe gesehen, wie sie sie weggeschleift haben.«

»Was meinst du mit ›Männer ohne Gesicht‹?«

In Sophies Augen stand noch der Schock geschrieben. »Sie hatten kein Gesicht.«

»Dann trugen sie Masken?«

»Nein, Josh, sie trugen keine Masken. Ihre Gesichter waren glatt – keine Augen, keine Nase, kein Mund, nur glatte Haut.«

Das Bild, das sich in Joshs Kopf formte, war mehr als beunruhigend, und er wechselte rasch das Thema. »Fühlst du dich jetzt... irgendwie anders?« Er hatte die Worte sorgfältig gewählt.

Sophie überlegte einen Augenblick. »Anders? Wie?«

»Erinnerst du dich daran, wie es war, als Hekate deine Kräfte geweckt hat?«

»Oh ja.«

»Und was für ein Gefühl war es?«

Einen Moment lang flackerte ein kaltes, silbernes Licht in Sophies Augen. »Es war, als hätte jemand in meinem Kopf einen Schalter umgelegt, Josh. Ich hab mich mit einem Schlag wirklich lebendig gefühlt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich wirklich lebendig gefühlt.«

Ebenso plötzlich wie für ihn unerklärlich fühlte Josh eine Welle der Eifersucht in sich aufsteigen. Aus dem Augenwinkel sah er Flamel und Scatty aus dem Restaurant kommen, die Arme voller Tüten. »Und wie fühlst du dich?«

»Ich habe Hunger«, sagte Sophie. »Einen Bärenhunger.«


Sie aßen schweigend. Frühstücksburritos, Eier, Würstchen, verschiedene Brötchen und dazu Limonade. Scatty hatte sich Obst und Mineralwasser mitgebracht.

Irgendwann wischte Josh sich den Mund mit einer Serviette ab und bürstete Krümel von seiner Jeans. Das Frühstück war die erste anständige Mahlzeit seit dem Mittagessen am Vortag gewesen. »Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Mensch«, sagte er und fügte mit einem Seitenblick auf Scatty hinzu: »Nichts für ungut.«

»Schon okay. Glaub mir, ich wollte nie ein Mensch sein, auch wenn es wahrscheinlich ein paar Vorteile hätte«, erwiderte sie.

Nicholas packte die Reste des Frühstücks in eine Papiertüte. Dann beugte er sich vor und tippte auf das Display des Navigationssystems, das ins Armaturenbrett integriert war. »Weißt du, wie das hier funktioniert?«

Josh schüttelte den Kopf. »Nur theoretisch. Man gibt einen Zielpunkt ein, und das Ding sagt einem, wie man da am besten hinkommt. Aber benutzt habe ich so etwas noch nie. Mein Dad hat keines in seinem Wagen.« Richard Newman fuhr einen fünf Jahre alten Volvo-Kombi.

Flamel ließ nicht locker. »Könntest du es dazu bringen, dass es funktioniert, wenn du es dir genauer anschaust?«

»Vielleicht.«

»Natürlich kann er. Josh ist ein Genie, wenn es um Computer geht«, verkündete Sophie stolz vom Rücksitz.

»Bei dem Ding hier kann man ja wohl nicht wirklich von Computer sprechen«, murmelte Josh, aber er beugte sich vor und drückte auf den Einschaltknopf. Der rechteckige Bildschirm wurde flackernd hell, und eine sehr strenge Stimme warnte sie davor, während des Fahrens Adressen einzugeben. Dann wurde der Benutzer angewiesen, auf OK zu drücken und damit zu bestätigen, dass er die Warnung gehört und verstanden hatte. Josh tat es und sofort erschien auf dem Bildschirm die Position des Hummers auf einer namenlosen Nebenstraße. Der Mount Tamalpais stand als kleines Dreieck am oberen Rand und Pfeile zeigten nach Süden Richtung San Francisco. Der schmale Weg zu Hekates Schattenreich war nicht eingezeichnet.

»Wir müssen Richtung Süden«, sagte Flamel.

Josh drückte ein paar Knöpfe, bis er im Hauptmenü war. »Okay, jetzt brauche ich eine Adresse.«

»Nimm das Postamt an der Ecke Signal Street und Ojai Avenue in Ojai.«

Scatty protestierte vom Rücksitz aus. »Oh nein, nicht Ojai. Bitte sag, dass wir nicht nach Ojai fahren.«

Flamel drehte sich zu ihr um. »Perenelle hat gesagt, wir sollen Richtung Süden fahren.«

»L.A. liegt im Süden, Mexiko liegt im Süden und selbst Chile ist südlich von hier. Es gibt jede Menge hübscher Orte, die südlich von...«

»Perenelle hat mir gesagt, ich soll die Zwillinge zur Hexe bringen«, erklärte Flamel geduldig. »Und die Hexe wohnt in Ojai.«

Sophie und Josh warfen sich einen kurzen Blick zu, sagten aber nichts.

Scatty lehnte sich zurück und seufzte theatralisch. »Würde es etwas ändern, wenn ich dir sage, dass ich da nicht hin will?«

»Überhaupt nicht.«

Sophie rutschte ein Stück in die Mitte, damit sie den Kopf zwischen die Vordersitze stecken und auf den Bildschirm schauen konnte. »Wie weit ist es bis dahin? Wie lange brauchen wir?«

Josh beugte sich wieder über den Bildschirm. »Wir wären fast den ganzen Tag unterwegs.« Als sein Haar das seiner Schwester streifte, knisterte es, und winzige Funken sprühten. »Zuerst müssen wir auf den Highway One. Über die Richmond Bridge...«, er fuhr mit dem Finger die bunten Linien nach, »... dann auf die I-580, die irgendwann in die I-5 übergeht.« Er blinzelte überrascht. »Darauf fahren wir dann über 270 Meilen.« Er drückte wieder auf einen Knopf und Fahrzeit und Streckenlänge wurden angezeigt. »Die gesamte Strecke ist etwas über vierhundert Meilen und dauert mindestens sechseinhalb Stunden. Die weiteste Strecke, die ich bisher gefahren bin, waren ungefähr zehn Meilen.«

»Nun, dann kannst du heute wunderbar üben«, meinte Flamel lächelnd.

Sophie schaute von Flamel zu Scatty. »Wer ist diese Hexe, zu der wir fahren?«

Flamel ließ seinen Sicherheitsgurt einrasten. »Wir fahren zur Hexe von Endor.«

Josh startete den Wagen. Er schaute im Rückspiegel auf Scatty. »Ist das wieder jemand, mit dem du dich geprügelt hast?«

Scathach zog eine Grimasse. »Schlimmer. Sie ist meine Großmutter.«

KAPITEL EINUNDDREISSIG

Das Schattenreich brach zusammen. Im Westen waren die Wolken verschwunden und große Teile des Himmels waren bereits nicht mehr da. Die blinkenden Sterne und der übergroße Mond hingen noch an einem schwarzen Firmament, doch einer nach dem anderen erloschen die Sterne und der Mond wurde blasser und undeutlicher.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, bemerkte die Morrigan, als sie den Himmel betrachtete.

Dee kauerte auf dem Boden und sammelte so viele Eissplitter von Hekate auf, wie er finden konnte. Schwang da etwa Angst in der Stimme der Morrigan mit? »Wir haben Zeit«, erwiderte er gelassen.

»Wir müssen hier weg sein, wenn das Schattenreich untergeht«, fuhr sie fort, und an der Art, wie sie den Umhang aus Krähenfedern über die Schultern zog und festhielt, merkte er, dass sie tatsächlich nervös war.

»Was würde denn passieren?«, fragte er. So hatte er die Krähengöttin noch nie erlebt und er genoss ihr Unbehagen.

Die Morrigan hob den Kopf und betrachtete die sich ausbreitende Dunkelheit. In ihren schwarzen Augen spiegelten sich die winzigen Sternenpünktchen. »Wir würden ebenso verschwinden wie diese Sterne. Würden eingesaugt ins Nichts.« Sie beobachtete, wie die Berge in der Ferne zu Staub zerfielen, der in Spiralen in den schwarzen Himmel aufstieg und sich dort auflöste. »Ein echter Tod«, murmelte sie.

Dee kauerte zwischen den kläglichen Resten des Weltenbaums, während um ihn herum Hekates schöne Naturwelt zu Staub zerfiel und von unsichtbaren Winden weggeweht wurde. Die Göttin hatte ihr Schattenreich aus dem Nichts erschaffen, und ohne ihre Gegenwart, die es zusammenhielt, wurde es wieder zu nichts. Die Berge waren bereits verschwunden, weggeblasen wie Sandkörnchen, ganze Waldstücke verblassten und erloschen wie Lichter, die man ausblies. Der Mond war jetzt schon fast ganz verschwunden. Im Osten allerdings war die aufgehende Sonne noch ein goldener Lichtball und der Himmel war immer noch blau.

Die Krähengöttin wandte sich an ihre Tante. »Wie lange dauert es noch, bis alles verschwunden ist?«, fragte sie.

Bastet knurrte. »Wer weiß? Selbst ich habe noch nie den Tod eines ganzen Schattenreiches miterlebt. Minuten vielleicht...«

»Mehr brauche ich nicht.« Dee legte das Schwert Excalibur auf den Boden. Die glatt polierte Klinge war ein Spiegelbild der Schwärze, die von Westen hereinkroch. Dee suchte drei der größten Eisbrocken, die einmal Hekate gewesen waren, und legte sie auf die Klinge.

Die Morrigan und Bastet beugten sich über seine Schulter und beobachteten das Schwert, in dem auch sie sich verzerrt spiegelten. »Was ist so wichtig, dass du es hier machen musst?«, fragte Bastet.

»Das ist Hekates Reich«, erwiderte Dee, »und hier, genau hier, am Ort ihres Todes, ist die Verbindung zu ihr am stärksten.«

»Verbindung...?«, sagte Bastet, doch dann nickte sie. Sie wusste jetzt, was Dee vorhatte. Er versuchte sich in der schwärzesten und gefährlichsten aller schwarzen Künste.

»Totenbeschwörung«, flüsterte Dee. »Ich werde mit der toten Göttin reden. Sie hat so viele Jahrtausende an diesem Ort verbracht, dass er ein Teil von ihr geworden ist. Ich wette, dass ihr Bewusstsein noch aktiv und an ihr Reich gebunden ist.« Er streckte die Hand aus und berührte den Schwertgriff. Die schwarze Klinge glühte gelb, und die um den Griff eingeritzten Schlangen erwachten kurz zum Leben, zischten wütend, bevor sie wieder zu Stein wurden. Das Schmelzwasser der Eisbrocken lief über die Klinge und überzog sie mit einer dünnen, öligen Schicht. »Jetzt werden wir sehen, was wir sehen«, murmelte er.

Das Wasser auf der Klinge begann zu zischen und zu blubbern. In jeder Blase erschien ein Gesicht – Hekates Gesicht. Es durchlief flackernd ihre drei Altersstufen, nur die Augen, die Dee buttergelb und hasserfüllt anstarrten, blieben dieselben.

»Rede zu mir!«, rief Dee. »Ich befehle es dir. Warum kam Flamel hierher?«

Hekates Stimme war ein blubberndes, wässriges Schnauben: »Um dir zu entkommen.«

»Erzähle mir etwas über die Humani-Kinder.«

Die Bilder, die auf der Klinge erschienen, wiesen erstaunlich viele Einzelheiten auf. Sie zeigten aus Hekates Perspektive, wie Flamel mit den Zwillingen ankam, zeigten die beiden Jugendlichen, wie sie ängstlich und blass in dem zerbeulten Wagen saßen.

»Flamel glaubt, sie sind die legendären Zwillinge. Die Zwillinge, von denen der Codex spricht.«

Die Morrigan und Bastet beugten sich tiefer über das Schwert. Das sich rasch ausbreitende Nichts beachteten sie nicht länger. Im Westen waren keine Sterne mehr zu sehen; auch der Mond war verschwunden und mit ihm große Teile des Himmels. Nichts war mehr da außer Schwärze.

»Sind sie es?«, fragte Dee.

Das nächste Bild auf der Schwertklinge zeigte die Zwillinge mit ihren Auren aus Silber und Gold.

»Mond und Sonne«, murmelte Dee. Er wusste nicht, ob er entsetzt oder hocherfreut sein sollte. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. Vom ersten Moment an hatte er sich gefragt, ob die Jugendlichen die Zwillinge sein könnten.

»Sind es die Zwillinge, die in den Legenden vorhergesagt werden?«, fragte er erneut.

Bastets massiger Kopf war jetzt direkt neben seinem. Die dreißig Zentimeter langen Barthaare kitzelten ihn, aber er traute sich nicht, sie wegzuschieben. Dafür waren ihre Zähne zu nah an seinem Gesicht. Sie roch nach nasser Katze und Weihrauch. Dee spürte ein Kitzeln in der Nase. Gleich musste er niesen. Die Göttin wollte nach dem Schwert greifen, doch er hielt ihre Hand fest. Es war, als umfasste er eine Löwenpranke, und die eingezogenen Krallen waren seinen Fingern gefährlich nah. »Die Klinge bitte nicht berühren. Das ist ein sehr heikler Zauber. Wir haben vielleicht noch Zeit für eine oder zwei Fragen«, fügte er hinzu und nickte in Richtung Westen, wo der Horizont bereits zu zerfallen begann und wie bunter Staub davonflog.

Bastet starrte die schwarze Klinge an; die Augen mit den schmalen Pupillen leuchteten. »Meine Schwester hat – oder sollte ich besser sagen: hatte? – eine ganz spezielle Gabe. Sie konnte in anderen Kräfte wecken. Frag sie, ob sie es bei den Humani-Zwillingen getan hat.«

Plötzlich verstand Dee. Er hatte sich gefragt, warum Flamel die Zwillinge ausgerechnet hierher gebracht hatte. Jetzt erinnerte er sich: Früher glaubte man, Hekate hätte besondere Kräfte und könne die auch in anderen freisetzen. »Hast du die magischen Kräfte der Zwillinge geweckt?«, fragte er.

Eine einzelne Luftblase platzte. »Nein.«

Dee hockte sich überrascht auf die Fersen. Er hatte »Ja« als Antwort erwartet. War Flamel gescheitert?

Bastet knurrte. »Sie lügt.«

»Sie kann nicht lügen«, erwiderte Dee. »Sie muss die Fragen, die wir stellen, wahrheitsgemäß beantworten.«

»Ich habe das Mädchen mit eigenen Augen gesehen«, gab Bastet zurück. »Ich habe gesehen, wie sie eine Peitsche aus reiner Aura-Energie schwang. Seit der Zeit der Älteren habe ich keine so geballte Macht mehr gesehen.«

Dr. John Dee sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Du sagst, du hast das Mädchen gesehen... aber was war mit dem Jungen? Was tat er?«

»Auf ihn habe ich nicht geachtet.«

»Ha!«, rief Dee triumphierend. Er wandte sich wieder an das Schwert.

Der Umhang der Morrigan raschelte warnend. »Sieh zu, dass es die letzte Frage wird, Doktor.«

Alle drei schauten auf: Die Schwärze war schon fast über ihnen. In weniger als dreißig Metern über ihren Köpfen endete die Welt im Nichts.

Dee wandte sich noch einmal dem Schwert zu. »Hast du das Mädchen erweckt?«

Eine Blase platzte, und die Klinge zeigte Bilder von Sophie, wie sie sich mit silbern glänzender Aura vom Boden erhob. »Ja.«

»Und den Jungen?«

Das Schwert zeigte Josh, wie er in einer Ecke der dunklen Kammer kauerte. »Nein.«

Die Klauenhände der Morrigan packten Dee an den Schultern und zogen ihn hoch. Er bekam gerade noch sein Schwert zu fassen und schüttelte die Wassertropfen in die rasch um sich greifende Schwärze.

Das ungleiche Trio – die hochgewachsene Bastet, die schwarze Morrigan und der kleine Mensch – rannte davon, als die Welt hinter ihm im Nichts versank. Die Letzten ihrer Armee – die Vogel- und Katzenmenschen – liefen ziellos umher. Als sie ihre Anführer fliehen sahen, folgten sie ihnen. Bald rannte alles in Richtung Osten, wo noch ein Rest des Schattenreiches übrig war. Senuhet humpelte hinter Bastet her und bat sie laut, ihm zu helfen. Doch die Welt löste sich zu schnell auf. Sie schluckte Vögel und Katzen, nahm die uralten Bäume und seltenen Orchideen mit, die magischen Geschöpfe aus den Mythen. Sie verschlang auch den letzten Rest von Hekates Magie.

Dann saugte das Nichts die Sonne ein und Hekates Welt war nicht mehr.

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

Die Morrigan und Bastet brachen durch die dichte Hecke; John Dee schleiften sie zwischen sich mit. Einen Augenblick später verschwand die Blätterwand und einer der vielen gewundenen Wege zum Mount Tamalpais lag vor ihnen. Sie stolperten und Dee fiel der Länge nach in den Schmutz.

»Was jetzt?«, fragte Bastet. »Haben wir verloren? Haben sie gewonnen? Wir haben Hekate vernichtet, aber sie hat das Mädchen erweckt.«

John Dee rappelte sich auf und bürstete seinen ruinierten Mantel ab. Das Leder an den Ärmeln war voller Kratzer und Risse und im Futter war ein faustgroßes Loch. Nachdem er Excalibur sorgfältig abgewischt hatte, steckte er das Schwert in seine verborgene Scheide zurück. »Das Mädchen kann uns im Moment gleichgültig sein – auf den Jungen müssen wir uns konzentrieren. Der Junge ist der Schlüssel.«

Die Morrigan schüttelte den Kopf; Federn raschelten. »Du sprichst in Rätseln.« Sie schaute hinauf in den klaren Morgenhimmel und wie auf einen stummen Befehl hin erschien direkt über ihr ein grauer Wolkenschleier.

»Er hat gesehen, wie die gewaltigen magischen Kräfte seiner Schwester geweckt wurden. Was glaubt ihr, wie der Junge sich jetzt fühlt? Ist er verängstigt, wütend, eifersüchtig? Fühlt er sich allein gelassen?« Er schaute von der Morrigan zur Katzengöttin. »Der Junge hat mindestens genauso viele verborgene Kräfte wie das Mädchen. Gibt es noch jemanden auf diesem Kontinent, zu dem Flamel ihn bringen könnte, damit seine Kräfte geweckt werden?«

»Die Schwarze Annis lebt in den Catskill Mountains«, antwortete die Morrigan zögernd.

»Zu unberechenbar«, befand Dee. »Sie würde ihn wahrscheinlich fressen.«

»Ich habe gehört, dass Persephone in Nordkanada ist«, sagte Bastet.

Dee schüttelte den Kopf. »Die Jahre im Schattenreich der Unterwelt haben sie in den Wahnsinn getrieben. Sie ist unvorstellbar gefährlich.«

Die Morrigan zog ihren Umhang fester um die Schultern. Die Wolke über ihrem Kopf verdichtete sich und sank weiter nach unten. »Dann gibt es niemanden mehr in Nordamerika. In Österreich habe ich einmal Nocticula getroffen, und ich weiß, dass Erichtho sich immer noch in Thessalia versteckt -«

»Da irrst du dich«, unterbrach Dee sie. »Es gibt noch eine, die die Kräfte des Jungen wecken könnte.«

»Wer?«, fragte Bastet sofort.

Dr. John Dee drehte sich zur Krähengöttin um. »Du.«

Die Morrigan trat einen Schritt zurück. Ihre großen Augen blickten erstaunt und die spitzen Reißzähne waren gegen die schmalen, blaurot gefärbten Lippen gepresst. Ihr Umhang wellte sich und sämtliche Federn darauf stellten sich auf.

»Du irrst dich«, zischte Bastet. »Meine Nichte gehört der nächsten Generation an, sie verfügt nicht über die nötigen Kräfte.«

Dee wandte sich an Bastet. Falls er wusste, dass er ein gefährliches – wenn nicht sogar tödliches – Spiel spielte, ließ er es sich nicht anmerken. »Früher stimmte das vielleicht. Aber die Kräfte der Morrigan sind seither unendlich angewachsen.«

»Nichte, wovon redet er?«, wollte Bastet wissen.

»Sei vorsichtig, Humani, sehr, sehr vorsichtig«, sagte die Morrigan.

»Meine Loyalität steht außer Frage«, versicherte Dee rasch. »Ich diene dem Älteren Geschlecht seit einem halben Jahrtausend. Ich suche lediglich nach einer Möglichkeit, unser Ziel zu erreichen.« Er baute sich vor der Morrigan auf. »Früher einmal hattest du drei Gesichter, genau wie Hekate. Du warst die Morrigan, die Macha und die Badb. Doch anders als Hekate hattest du und hatten deine beiden Schwestern eigene Körper. Nur euer Bewusstsein war euch gemeinsam. Einzeln wart ihr mächtig, doch zusammen wart ihr unbesiegbar.« Er hielt kurz inne, und es sah aus, als sammle er sich. In Wirklichkeit griff er unter seinem Mantel nach seinem Schwert Excalibur. »Wann hast du dich entschlossen, deine Schwestern zu töten, Morrigan?«, fragte er dann beiläufig.

Mit einem markerschütternden Schrei stürzte sich die Morrigan auf Dee.

Und hielt mitten in der Bewegung inne.

Excaliburs schwarze Klinge berührte ihre Kehle; blaues Licht blitzte funkensprühend um die scharfe Schneide. Die Schlange am Griff erwachte zum Leben und zischte sie an.

»Bitte...« Dee lächelte eisig. »Ich habe bereits den Tod einer Älteren zu verantworten und möchte dem heute nichts mehr hinzufügen.« Während er das sagte, beobachtete er aus den Augenwinkeln Bastet, die hinter ihn trat. »Die Morrigan hat die Macht, den Jungen zu erwecken«, sagte er rasch. »Sie besitzt das Wissen und die Macht ihrer beiden Schwestern. Wenn wir den Jungen erwecken und auf unsere Seite bringen können, haben wir einen ungemein mächtigen Verbündeten. Denkt an die Prophezeiung: ›Einer, um die Welt zu retten, einer, um sie zu vernichten‹.«

»Und welcher ist der Junge?«, fragte Bastet.

»Der, zu dem wir ihn machen.« Dees Blick wanderte von der Morrigan zu Bastet und wieder zurück zur Krähengöttin.

Plötzlich war Bastet neben ihm und hatte ihm ihre gewaltige Pranke um den Hals gelegt. Sie hob den Arm etwas, sodass er gezwungen war, sich auf Zehenspitzen zu stellen und ihr in die frostigen Augen zu blicken. Einen Herzschlag lang überlegte er, ob er das Schwert gegen sie führen sollte, aber er wusste, dass die Katzengöttin schneller war, schneller, als er je sein konnte. Sie würde das Zucken seiner Schulter sehen und ihm sofort den Kopf abreißen.

Bastet schaute ihre Nichte finster an. »Stimmt es, was er sagt? Sind Macha und die Badb tot?«

»Ja.« Die Morrigan funkelte Dee an. »Aber ich habe sie nicht umgebracht. Sie starben aus freien Stücken und leben in mir weiter.« Einen Augenblick lang glühten ihre Augen gelb, dann rot, dann pechschwarz in den Farben der drei urzeitlichen Schwester-Göttinnen.

Dee war versucht zu fragen, wie sie denn in sie hineingekommen waren, aber eigentlich wollte er die Antwort gar nicht wissen.

»Könntest du den Jungen erwecken?«, fragte Bastet.

»Ja.«

»Dann tu es, Nichte«, befahl die Katzengöttin und wandte sich erneut Dee zu. Sie legte ihm den Daumen unters Kinn und drückte seinen Kopf nach hinten. »Und wenn du noch einmal eine Waffe gegen ein Wesen des Älteren Geschlechts erhebst, sorge ich dafür, dass du das nächste Jahrtausend in einem von mir persönlich geschaffenen Schattenreich verbringst. Und, glaub mir, es wird dir dort nicht gefallen.« Sie lockerte ihren Griff und versetzte ihm einen Stoß, sodass er zum zweiten Mal im Schmutz landete. Das Schwert hielt er immer noch in der Hand.

Bastet beugte sich über ihn. »Du sagst mir jetzt, wo Flamel und die Zwillinge im Moment sind«, befahl sie. »Wohin sind sie gegangen?«

Dee stand zitternd auf. Er bürstete erneut Schmutz von seinem Mantel und entdeckte einen weiteren Riss in dem weichen Leder. Nie mehr würde er einen Ledermantel kaufen. »Er wird das Mädchen ausbilden müssen. Hekate hat ihre Kräfte geweckt, hatte aber keine Zeit, ihr Schutzzauber beizubringen. Sie muss lernen, sich selbst zu schützen und ihre Kräfte unter Kontrolle zu halten, bevor die Reize, die auf ihre Sinne einströmen, sie in den Wahnsinn treiben.«

»Wohin werden sie also gehen?«, fragte Bastet. Sie schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper. Die Wolke, die die Morrigan herbeibeschworen hatte, war jetzt dick und dunkel und schwebte knapp über den Baumwipfeln. Feuchtigkeit war in der Luft und ein Hauch von unbekannten Gewürzen.

»Er wird nicht in San Francisco bleiben«, fuhr Dee fort. »Er weiß, dass wir in der Stadt und in der Umgebung zu viele Spione haben.«

Die Morrigan schloss die Augen und drehte sich langsam um, dann hob sie die Arme. »Sie sind auf dem Weg nach Süden. Ich kann die silberne Aura des Mädchens gerade noch erkennen. Sie hat eine unwahrscheinliche Kraft.«

»Welches ist die mächtigste Erstgewesene südlich von hier?«, fragte Dee rasch. »Gibt es jemanden, der die Elemente-Magie beherrscht?«

»Endor«, antwortete Bastet ohne zu zögern. »In Ojai. Die todbringende Hexe von Endor.«

»Die Herrscherin der Lüfte«, fügte die Morrigan hinzu.

Bastet beugte sich drohend zu Dee hinunter. »Du weißt, wohin du zu gehen hast. Du weißt, was du zu tun hast. Wir brauchen die Seiten des Codex.«

»Und die Zwillinge?«, fragte Dee gepresst. Er versuchte, den Atem der Göttin auszuhalten.

»Nimm sie gefangen, wenn du kannst. Wenn nicht, bring sie um, damit Flamel sich ihre Kräfte nicht zunutze machen kann.« Damit traten sie und die Morrigan in die dunkle Wolke und waren verschwunden. Die feuchte graue Masse wirbelte davon und Dr. John Dee blieb allein auf dem verlassenen Pfad zurück.

»Und wie komme ich nach Ojai?«, rief er.

Er erhielt keine Antwort.

Dee vergrub die Hände in den Taschen seines ruinierten Ledermantels und machte sich auf den Weg. Er hasste es, wenn sie so mit ihm umsprangen – wenn sie ihn wegschickten wie ein kleines Kind.

Aber das würde sich ändern.

Die Älteren sahen Dee gern als ihre Marionette, ihr Werkzeug. Er hatte miterlebt, wie Bastet Senuhet ohne mit der Wimper zu zucken im Stich gelassen hatte, nachdem er ihr mindestens ein Jahrhundert lang gedient hatte. Er wusste, dass sie es mit ihm nicht anders machen würden, wenn sich die Gelegenheit bot.

Aber Dr. John Dee hatte vor, sicherzustellen, dass sich diese Gelegenheit nie bot.

KAPITEL DREIUNDDREISSIG

Es war schon Nachmittag, als Josh den Geländewagen endlich auf die lange, kurvenreiche Straße lenkte, die in die kleine Stadt Ojai führte. Er war 400 Meilen am Stück gefahren und die Anstrengung war ihm anzusehen. Der Computer hatte zwar eine Fahrtzeit von sechseinhalb Stunden berechnet, doch tatsächlich gebraucht hatten sie fast neun Stunden. Mit dem schweren Hummer über den Highway zu fahren, war erstaunlich einfach gewesen. Er hatte den Temporegler eingeschaltet und hatte es laufen lassen. Das war zugegebenermaßen langweilig, aber den Wagen auf irgendeiner anderen Straße außer dem Highway zu fahren, war der Albtraum. Das Teil war riesig, und er hatte ständig Angst, irgendetwas zu streifen. Dazu erregte das schwarz lackierte Vehikel noch jede Menge Aufmerksamkeit. Josh hätte nie gedacht, dass er einmal über getönte Scheiben froh sein würde. Er fragte sich, was die Leute wohl denken würden, wenn sie wüssten, dass ein Fünfzehnjähriger am Steuer saß.

Die Straße machte eine Rechtskurve und dann lag die lange, gerade Hauptstraße von Ojai vor ihnen. Josh ging vom Gas, und als die Ampel an der Signal Street auf Rot schaltete, hielt er, beugte sich über das Lenkrad und schaute durch die schmutzige, insektengesprenkelte Windschutzscheibe. Sein erster Eindruck war der einer überraschend grünen Stadt. Es war Juni, und in Kalifornien bedeutete dies, dass die meisten Pflanzen braun und verwelkt waren. Doch hier wuchsen überall Bäume, deren Grün in lebhaftem Kontrast zu den weißen Häusern stand. Direkt vor ihm auf der rechten Straßenseite war die Post mit einem niedrigen, reich verzierten weißen Turm, der sich von dem blitzblauen Himmel abhob, und links eine Ladenzeile, etwas zurückgesetzt von der Straße und geschützt von weißen, gemauerten Arkaden.

Als er in den Rückspiegel schaute, sah Josh, dass Scatty ihn beobachtete. »Ich dachte, du schläfst«, sagte er leise.

Sophie, die sich nach ein paar Stunden Fahrtzeit zu ihm nach vorn gesetzt hatte, saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und schlief, und Flamel schnarchte leise neben Scatty.

»Ich brauche keinen Schlaf«, erwiderte sie.

Josh lagen wieder eine ganze Menge Fragen auf der Zunge, die er wirklich gern gestellt hätte, aber er fragte lediglich: »Weißt du, wie’s jetzt weitergeht?«

Sie beugte sich vor, stützte die Arme auf seine Rückenlehne und legte das Kinn darauf. »Geradeaus an der Post vorbei – das ist das Haus mit dem Turm -, dann biegst du nach dem Libbey Park rechts in die Fox Street ein. Dort suchst du einen Parkplatz.« Sie wies mit dem Kinn nach links auf die Läden unter den Arkaden. »Wir müssen da hin.«

»Ist dort deine Großmutter?«

»Ja«, antwortete Scatty knapp.

»Und sie ist wirklich eine Hexe?«

»Sie ist nicht nur eine Hexe. Sie ist die Mutter aller Hexen.«



»Wie geht es dir?«, fragte Sophie ihren Bruder. Sie stand auf dem Bürgersteig und reckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte den Rücken durch. In ihrem Nacken knackte es. »Das tut gut«, sagte sie und blinzelte in die Sonne, die immer noch hoch am wolkenlos blauen Himmel stand.

»Das sollte ich dich fragen«, erwiderte Josh, als er ausstieg. Auch er reckte sich, gähnte und ließ den Kopf ein paar Mal über die Brust rollen. »Ich will nie mehr Auto fahren!« Dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Ich bin froh, dass du okay bist.« Er hielt kurz inne. »Du bist doch okay, oder?«

Sophie drückte seinen Arm. »Ich denke schon«, sagte sie, lächelte aber erschöpft.

Flamel stieg aus dem Auto und warf die Tür zu. Scatty hatte sich bereits in den Schatten eines Baumes gestellt. Sie hatte eine verspiegelte Sonnenbrille aus ihrem Rucksack gekramt und sie aufgesetzt. Der Alchemyst ging zu ihr hinüber, während Josh mit einem Knopfdruck den Wagen abschloss und die Alarmanlage einschaltete. Der Wagen gab einen Piepton von sich und Blinker und Scheinwerfer gingen an und wieder aus.

»Wir müssen reden«, sagte Flamel leise, obwohl außer ihnen niemand in der Seitenstraße zu sehen war. Er fuhr sich mit den Fingern über den Kopf und einige Haare blieben hängen. Er betrachtete sie einen Moment lang und wischte die Hand dann an seiner Jeans ab. Er war wieder ein Jahr älter geworden, die Falten um die Augen und die halbmondförmigen Linien neben den Mundwinkeln hatten sich tiefer in sein Gesicht eingegraben. »Die Frau, zu der wir gleich gehen, ist manchmal...« Er zögerte kurz. »... ziemlich schwierig.«

»Wem sagst du das!«, murmelte Scatty.

»Was meinst du mit schwierig?«, fragte Josh alarmiert. Nach den Erfahrungen der letzten Stunden konnte ›schwierig‹ ziemlich viel bedeuten.

»Mürrisch, streitsüchtig, gereizt... aber so ist sie nur, wenn sie gute Laune hat«, erwiderte Scatty.

»Und wenn sie schlecht gelaunt ist?«

»Dann willst du sicherheitshalber in einer anderen Stadt sein.«

Josh wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wandte sich an Flamel. »Warum gehen wir dann zu ihr?«

»Weil Perenelle es gesagt hat«, erklärte er geduldig, »und weil sie die Herrin der Lüfte und in der Lage ist, Sophie Grundkenntnisse der ersten Elemente-Magie beizubringen. Und weil sie ihr sagen kann, wie sie sich schützen kann.«

»Wovor?«, fragte Josh erschrocken.

»Vor sich selbst«, kam die knappe Antwort. Flamel drehte sich um und ging zurück zur Hauptstraße von Ojai.

Scatty schloss sich ihm an. »Wenn ich nur Sonnencreme mitgenommen hätte. Ich bekomme leicht einen Sonnenbrand«, meckerte sie.

Josh wandte sich wieder an Sophie. Er begann zu ahnen, wie tief die Kluft war, die ihn inzwischen doch von seiner Schwester trennte. »Hast du eine Ahnung, wovon er geredet hat? Dass du dich vor dir selbst schützen musst? Was soll das heißen?«

Sophie runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich weiß es. Alles um mich herum ist so... laut, so hell, so klar, so intensiv. Es ist, als hätte jemand die Lautstärke aufgedreht. Meine Sinne sind so geschärft, du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles höre.« Sie wies auf einen verbeulten roten Toyota, der langsam die Straße hinunterfuhr. »Die Frau in dem Auto dort telefoniert mit ihrer Mutter. Sie sagt, dass sie zum Abendessen keinen Fisch möchte.« Dann zeigte sie auf einen Lieferwagen, der in einem Hof auf der anderen Straßenseite stand. »Er hat da hinten einen Aufkleber. Soll ich dir vorlesen, was draufsteht?«

Josh kniff die Augen zusammen. Er konnte nicht einmal das Nummernschild lesen.

»Das Essen heute hat so intensiv geschmeckt, dass mir fast übel geworden wäre. Ich konnte jedes einzelne Salzkörnchen auf dem Sandwich schmecken.« Sophie blieb stehen und hob ein Jakarandablatt auf. »Ich kann mit geschlossenen Augen jede Ader auf der Rückseite des Blattes fühlen. Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Die Gerüche.« Dabei schaute sie ihren Bruder vielsagend an.

»He...« Seit der Pubertät hatte er sämtliche Deos auf dem Markt ausprobiert.

»Nein, nicht nur du.« Sie grinste. »Obwohl du dir wirklich ein anderes Deo zulegen solltest und deine Socken wahrscheinlich verbrennen musst. Ich meine einfach alle Gerüche, die ganze Zeit über. Der Benzingestank in der Luft ist schrecklich, der Geruch nach Gummi auf der Straße, fettiges Essen... Selbst der Duft der Blumen ist kaum auszuhalten.« Sie blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und sah ihren Bruder an, und Tränen, die sie nicht hatte aufsteigen spüren, liefen ihr plötzlich über die Wangen. Ihr Ton war völlig verändert. »Es ist zu viel, Josh, einfach zu viel. Mir ist schlecht und mein Kopf dröhnt, die Augen tun weh und die Ohren genauso und mein Hals ist wundgescheuert.«

Josh wollte seine Schwester in den Arm nehmen, aber sie hielt ihn auf Abstand. »Bitte nicht berühren. Ich ertrage es nicht.«

Josh suchte nach Worten, doch es gab nichts, was er sagen oder tun konnte. Er fühlte sich vollkommen hilflos. Sophie war immer so stark gewesen, hatte alles im Griff gehabt. Zu ihr war er gegangen, wenn er Probleme hatte, und sie hatte immer eine Antwort gewusst.

Bis jetzt.

Flamel! Josh spürte wieder die Wut in sich aufsteigen. Das war alles Flamels Schuld. Er würde dem Alchemysten nie verzeihen, was er getan hatte. Als er aufschaute, sah er, dass Flamel und Scatty sich zu ihnen umgedreht hatten.

Scathach kam zurückgelaufen. »Wisch dir die Tränen ab«, befahl sie streng. »Wir wollen nicht, dass die Leute auf uns aufmerksam werden.«

»Wie redest du mit meiner Schwes-«, begann Josh, doch Scatty brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

»Komm, ich bringe dich in den Laden meiner Großmutter, sie wird dir helfen können. Es ist gleich auf der anderen Straßenseite.«

Sophie fuhr sich gehorsam mit dem Ärmel über die Augen und folgte dann der Kriegerprinzessin. Sie fühlte sich so hilflos. Sie weinte nur selten – selbst am Ende von Titanic hatte sie gelacht – warum also jetzt?

Zu Anfang war sie im Stillen sogar begeistert gewesen von der Vorstellung, dass ihre magischen Kräfte geweckt werden sollten. Der Gedanke, ihren Willen jederzeit in die Tat umsetzen zu können, ihre Aura-Energie in bestimmte Bahnen lenken und zaubern zu können, hatte sie fasziniert. Doch was sie jetzt erlebte, war alles andere als begeisternd. Sie fühlte sich gebeutelt und erschöpft. Sie hatte Schmerzen. Und sie hatte Angst, dass diese Schmerzen nicht mehr weggehen würden. Was würde sie dann machen – was konnte sie machen?

Sophie merkte, dass ihr Bruder sie besorgt anschaute. »Flamel hat gesagt, dass die Hexe dir helfen kann«, meinte er.

»Und was ist, wenn sie es nicht kann, Josh? Was dann?«

Darauf wusste auch er keine Antwort.



Sophie und Josh überquerten die Hauptstraße und traten unter die Arkaden, die über die gesamte Länge des Gehwegs liefen. Augenblicklich sank die Temperatur auf ein erträgliches Maß, und Sophie merkte, dass ihr T-Shirt ihr eiskalt am Rücken klebte.

Sie traten zu Nicholas Flamel, der bereits vor einem kleinen Antiquitätenladen stand – mit betroffener Miene. Der Laden war geschlossen. Wortlos tippte Flamel auf die Papieruhr, die von innen an die Tür geklebt war. Die Zeiger standen auf halb drei, und darunter klebte ein Zettel, auf den jemand »Bin zum Essen. Komme 14.30 Uhr wieder« gekritzelt hatte. Jetzt war es fast halb vier.

Flamel und Scatty traten noch dichter an die Tür und lugten hinein, während die Zwillinge durchs Fenster schauten. In dem kleinen Laden wurden offenbar nur Glaswaren verkauft: Schüsseln, Krüge, Teller, Briefbeschwerer, kleine Statuen und Spiegel. Jede Menge Spiegel, in jeder Form und Größe, von kleinen runden Spiegeln bis hin zu riesigen rechteckigen. Ein Großteil der Glaswaren sah neu aus, aber bei einigen Stücken im Schaufenster handelte es sich ganz offensichtlich um Antiquitäten.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Flamel. »Wo kann sie sein?«

»Wahrscheinlich ist sie zum Mittagessen gegangen und hat vergessen zurückzukommen«, meinte Scatty. Sie drehte sich um und schaute die Straße hinauf und hinunter. »Wenig los heute.« Obwohl Freitagnachmittag war, herrschte kaum Verkehr auf der Hauptstraße, und nicht einmal ein Dutzend Fußgänger schlenderte die überdachte Promenade entlang.

»Wir könnten in den Restaurants nachsehen«, schlug Flamel vor. »Was isst sie denn gern?«

»Frag nicht«, erwiderte Scatty rasch. »Du willst es nicht wissen.«

»Vielleicht sollten wir uns aufteilen...«, begann Nicholas.

Aus einem Impuls heraus drückte Sophie auf die Türklinke; eine Glocke schlug an und die Tür ging auf.

»Gut gemacht, Schwester.«

»Ich hab das mal in einem Film gesehen«, murmelte sie und betrat den Laden. »Hallo?«

Keine Antwort.

Das Antiquitätengeschäft war wirklich winzig, ein lang gestreckter, rechteckiger Raum, aber die vielen Spiegel, von denen einige sogar an der Decke hingen, ließen den Laden wesentlich größer erscheinen, als er tatsächlich war.

Sophie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. »Riecht ihr das?«

Josh schüttelte den Kopf. Die Spiegel machten ihn nervös. Er sah sich immer wieder neu von allen Seiten, und in jedem Spiegel erschien sein Bild anders: gedehnt, gebrochen oder verzerrt.

»Was riechst du?«, fragte Scatty.

»Es riecht nach...« Sophie überlegte. »Nach einem Lagerfeuer im Herbst.«

»Dann war sie hier.«

Sophie und Josh sahen Scatty verständnislos an.

»So riecht die Hexe von Endor. So riecht Elfenmagie.«

Flamel war unter der Tür stehen geblieben und schaute die Straße auf und ab. »Sie kann nicht weit gegangen sein, wenn sie den Laden nicht abgeschlossen hat. Ich sehe mal nach, ob ich sie finde.« Er wandte sich an Scatty. »Woran erkenne ich sie?«

Scatty zog eine Grimasse. »Glaub mir, wenn du sie siehst, weißt du, dass sie es ist.«

»Ich bin bald wieder da.«

Als Flamel auf die Straße trat, hielt ein schweres Motorrad fast direkt vor dem Laden. Der Fahrer blieb einen Moment sitzen, gab dann Gas und röhrte wieder davon. Der Lärm war unbeschreiblich. Die gesamte gläserne Ware in dem kleinen Laden vibrierte.

Sophie presste die Hände auf die Ohren. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann«, schrie sie.

Josh führte sie zu einem Stuhl, damit sie sich hinsetzen konnte. Er kauerte sich neben sie und hätte gern ihre Hand gehalten, traute sich aber nicht, sie zu berühren. Er kam sich so nutzlos vor.

Scatty kniete sich direkt vor Sophie, sodass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. »Als Hekate deine Kräfte weckte, konnte sie dir nicht mehr zeigen, wie du sie aktivieren und zurückdrängen kannst. Im Moment sind sie die ganze Zeit über hellwach, aber so wird es nicht bleiben, das verspreche ich dir. Mit ein wenig Training und ein paar einfachen Schutzzaubervarianten wirst du lernen, wie du deine Sinne beherrschen und nur für kurze Zeit aktivieren kannst.«

Josh schaute die beiden Mädchen an. Erneut fühlte er sich von seiner Schwester getrennt, wirklich und wahrhaftig abgetrennt. Er wünschte so sehr, er könnte etwas tun, um ihr zu helfen. Aber es fiel ihm nichts ein, absolut nichts.

Als hätte Scatty seine Gedanken gelesen, sagte sie plötzlich: »Es gibt da etwas, womit ich dir vielleicht helfen kann.« Die Zwillinge merkten, dass sie zögerte. »Es tut nicht weh«, fügte sie rasch hinzu.

»Noch mehr Schmerzen sind ohnehin nicht möglich«, flüsterte Sophie. »Tu es.«

»Ich brauche zuerst deine Einwilligung.«

»Soph-«, begann Josh, doch seine Schwester ignorierte ihn.

»Tu es«, wiederholte sie, »bitte.«

»Ich habe dir erzählt, dass ich das bin, was ihr Humani einen Vampir nennt...«

»Du wirst nicht von ihrem Blut trinken!«, schrie Josh entsetzt. Allein bei dem Gedanken wurde ihm schlecht.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass mein Clan kein Blut trinkt.«

»Mir ist es egal, was du sagst...«

»Josh!« Sophie war wütend, und in ihrem Zorn leuchtete ihre Aura kurz auf, sodass ein Duft nach Vanille durch den Laden zog. Ein paar gläserne Windspiele begannen in einer nicht spürbaren Brise zu klimpern. »Josh, bitte sei still.« Dann wandte sie sich wieder an Scatty. »Was soll ich tun?«

»Gib mir deine rechte Hand.«

Sofort streckte Sophie sie ihr hin und Scatty ergriff sie mit beiden Händen. Dann legte sie ihre linke Hand an Sophies rechte, Daumen an Daumen, Zeigefinger an Zeigefinger, kleiner Finger an kleinen Finger. »Blutsaugende Vampire sind die schwächsten, müsst ihr wissen, sie stehen ganz unten. Hast du dich je gefragt, warum sie Blut trinken? Eigentlich sind Vampire ja tot – ihre Herzen schlagen nicht und sie müssen nicht essen. Das Blut stellt also keine Nahrung für sie dar.«

»Bist du tot?« Sophie stellte die Frage, die auch ihrem Bruder auf der Zunge lag.

»Nein, nicht wirklich.«

Josh schaute in die Spiegel, aber er sah Scattys Spiegelbild ganz deutlich. Sie ertappte ihn dabei und lächelte. »Du musst den Unsinn von Vampiren, die kein Spiegelbild haben, nicht glauben. Natürlich haben wir eines. Wir sind schließlich nicht aus Luft.«

Josh beobachtete ganz genau, wie Scathach ihre Finger an die seiner Schwester drückte. Zunächst geschah gar nichts. Dann sah er in einem Spiegel hinter Scatty einen silbernen Schein und Sophies Hand schimmerte in einem bleichen, silbernen Licht.

»Die Familie, der ich angehöre, der Vampir-Clan«, fuhr Scatty leise fort, den Blick auf Sophies Hand gerichtet, »entstammt der nächsten Generation.«

Im Spiegel sah Josh, dass das silberne Licht um Sophies Hand sich zusammenballte.

»Wir sind keine Erstgewesenen. Wir alle, die wir nach dem Untergang von Danu Talis geboren wurden, waren ganz anders als unsere Vorfahren. Wir waren auf unbegreifliche Art einfach anders

»Du hast Danu Talis schon öfter erwähnt«, sagte Sophie schläfrig. »Was ist es, ein Ort?« Ein warmes, beruhigendes Gefühl kroch ihren Arm hinauf, nicht wie Ameisen, sondern sanft prickelnd und angenehm.

»Zur Zeit des Älteren Geschlechts war es der Mittelpunkt der Welt. Danu Talis war ein Inselkontinent und von ihm aus regierten die Erstgewesenen die Welt. Er reichte von dem, was heute die Küste Afrikas ist, bis nach Nordamerika und in den Golf von Mexiko.«

»Ich habe nie von Danu Talis gehört«, flüsterte Sophie.

»Hast du wohl«, meinte Scatty. »Die Kelten nannten den Kontinent die De-Dannan-Insel. In der modernen Welt ist er unter dem Namen Atlantis bekannt.«

Josh sah im Spiegel, dass Sophies Hand jetzt silberweiß glühte. Es sah aus, als trüge sie einen Handschuh. Winzige silbrig glitzernde Ranken legten sich wie kunstvoll gefertigte Ringe auch um Scattys Finger. Die Kriegerprinzessin zitterte leicht.

»Danu Talis wurde auseinandergerissen«, fuhr sie fort, »weil die Herrschenden Zwillinge – Sonne und Mond – auf der Spitze der Großen Pyramide gegeneinander kämpften. Die ungeheuren magischen Kräfte, die sie freisetzten, brachten das Gleichgewicht der Natur durcheinander. Man hat uns gesagt, dass dieselbe ungezügelte Magie in der Atmosphäre auch die Veränderungen in der nächsten Generation bewirkte. Einige von uns wurden als Monster geboren, andere sind irgendwo in ihrer Entwicklung stecken geblieben, einige besaßen die außergewöhnliche Fähigkeit der Transformation und konnten sich nach Belieben in Tiere verwandeln. Wieder andere – es waren die, die schließlich den Vampir-Clan bildeten – stellten fest, dass sie nicht in der Lage waren zu fühlen.«

Josh schaute Scathach aus zusammengekniffenen Augen an. »Was meinst du mit fühlen

Scathach lächelte ihn an. Ihre Zähne erschienen plötzlich sehr lang. »Wir hatten kaum oder gar keine Emotionen. Uns fehlte die Fähigkeit, Angst zu empfinden, Liebe zu erfahren, Glück und Freude zu genießen. Die besten Krieger kennen nicht nur keine Angst, sie sind auch ohne Zorn.«

Josh stand auf und ging ein paar Schritte. Er atmete tief durch. Er hatte schon Krämpfe in den Beinen und seine Zehen kribbelten. Aber er musste auch Abstand zu dem Vampir haben. Jetzt zeigten alle Spiegel im Laden und alle glatten Oberflächen aus Glas das silberne Licht, das von Sophies Hand ausging und Scattys Unterarm hinaufwanderte. Es versank in ihrer Haut, kurz bevor es den Ellbogen erreichte.

Scatty drehte sich zu Josh um, und er sah, dass das Weiße in ihren Augen sich silbrig verfärbt hatte. »Blutsaugende Vampire brauchen nicht wirklich Blut. Sie brauchen die Gefühle, die Empfindungen, die im Blut enthalten sind.«

»Du stiehlst Sophies Gefühle«, flüsterte Josh entsetzt. »Sophie, sag, dass sie aufhören...«

»Nein!«, fauchte seine Schwester. Auch das Weiße in ihren Augen war silbern geworden. »Ich spüre richtig, wie der Schmerz abfließt.«

»Deine Schwester kann ihre Empfindungen im Moment nicht aushalten. Sie tun weh und das macht ihr Angst. Ich nehme ihr nur den Schmerz und die Angst.«

»Warum sollte irgendjemand wohl freiwillig Schmerz und Angst empfinden wollen?«, fragte Josh. Die Vorstellung faszinierte ihn und stieß ihn gleichzeitig ab. Es erschien ihm irgendwie nicht richtig.

»Um sich lebendig fühlen zu können«, flüsterte Scatty.

KAPITEL VIERUNDDREISSIG

Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste Perenelle Flamel, dass man sie in ein sehr viel sichereres Gefängnis gebracht hatte. An einen Ort tief unter der Erde, der dunkel war und unheimlich. Sie spürte das uralte Böse in den Wänden, schmeckte es fast in der Luft. Sie lag reglos da und versuchte, ihre Sinne zu weiten, doch umsonst: Sie konnte ihre Magie nicht einsetzen. Sie lauschte angestrengt, und erst als sie ganz sicher war, dass niemand mit ihr im Raum war, öffnete sie die Augen.

Sie befand sich in einer Zelle.

Drei Wände waren aus Beton, die vierte aus Metallstäben. Durch die Stäbe erkannte sie eine weitere Reihe von Zellen.

Sie war in einem Gefängnisblock!

Perenelle schwang die Beine von der schmalen Pritsche und stand langsam auf. Ihr fiel auf, dass ihre Kleider leicht nach Meersalz rochen, und sie glaubte, nicht allzu weit entfernt die Geräusche des Ozeans zu hören.

Die Zelle war kahl, kaum mehr als ein leeres Rechteck, ungefähr drei Meter lang und eineinhalb Meter breit. Es stand lediglich die schmale Pritsche darin, mit einer dünnen Matratze und einem Kissen darauf. Direkt vor den Stäben lag ein Kartondeckel auf dem Boden. Darauf standen ein Plastikkrug mit Wasser, eine Plastiktasse und eine dicke Scheibe dunkles Brot auf einem Pappteller. Als sie das Brot sah, merkte sie erst, wie hungrig sie war. Dennoch ließ sie es für den Augenblick stehen, trat an die Stäbe und schaute hinaus. Auf der anderen Seite des Ganges sah sie rechts und links nichts als Zellen, alle leer.

Sie war allein in dem Block. Aber wo …

In der Ferne ertönte eine Schiffssirene, einsam und klagend. Schaudernd und instinktiv wurde Perenelle plötzlich klar, wohin Dees Leute sie gebracht hatten.: Sie befand sich auf dem »Felsen«, der Gefängnisinsel Alcatraz.

Sie schaute sich in ihrer Zelle um. Besonders hohe Aufmerksamkeit widmete sie der vergitterten Tür. Anders als in ihrem vorherigen Gefängnis konnte sie keinen Abwehr- oder Schutzzauber am Türsturz oder auf dem Boden erkennen. Perenelle konnte ein winziges Lächeln nicht unterdrücken. Was dachten Dees Leute eigentlich von ihr? Sobald sie wieder bei Kräften war, würde sie ihre Aura aufladen, die Eisenstäbe wie Knetstangen auseinanderbiegen und einfach hinausmarschieren.

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sich hinter dem Klick-Klick, das sie zunächst für tropfendes Wasser gehalten hatte, etwas verbarg, das näher kam, langsam und unbeirrt. Sie drückte sich an die Stäbe und schaute den Flur hinunter. Ein Schatten näherte sich. Ob es wieder Dees gesichtslose Simulacra waren? Die würden sie nicht lange festhalten können.

Der Schatten, riesig und unförmig, trat aus der Dunkelheit und stand schließlich vor ihrer Zelle. Plötzlich war Perenelle froh um die Gitterstäbe, die sie von dem Furcht einflößenden Etwas trennten.

Was da die ganze Breite des Flurs ausfüllte, war ein Geschöpf, wie es auf der Erde seit einem Jahrtausend vor dem Bau der ersten Pyramide am Nil nicht mehr gesehen worden war. Es war eine Sphinx, ein gewaltiger Löwe mit Adlerflügeln und dem Kopf einer wunderschönen Frau. Die Sphinx lächelte und legte den Kopf schief und eine lange, gespaltene schwarze Zunge fuhr über die Lippen. Perenelle sah, dass ihre Pupillen schmal und waagerecht waren.

Das war keines von Dees Geschöpfen. Die Sphinx war eine der Töchter der Echidna, einer der hinterhältigsten Erstgewesenen, gemieden und gefürchtet von ihrer eigenen Rasse, selbst von den Dunklen Älteren. Perenelle fragte sich, wem genau Dee diente.

Die Sphinx drückte das schöne Gesicht gegen die Stäbe. Die lange Zunge tastete sich aus ihrem Mund, schmeckte die Luft und berührte fast Perenelles Lippen. »Muss ich dich daran erinnern, Perenelle Flamel«, fragte sie in der Sprache, die vor Jahrtausenden am Nil gesprochen wurde, »dass es zu den besonderen Fähigkeiten meiner Familie zählt, Aura-Energie aufzusaugen?« Sie schlug mit den gewaltigen Flügeln, die fast den gesamten Flur ausfüllten. »In meiner Gegenwart verfügst du über keinerlei magische Kräfte.«

Perenelle lief es eiskalt über den Rücken, als sie erkannte, wie klug Dee war. Sie war eine vollkommen machtlose Gefangene auf Alcatraz, und sie wusste, dass noch niemand die Flucht von dem berüchtigten Felsen überlebt hatte.

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG

Die Türglocke bimmelte, als Nicholas Flamel die Ladentür öffnete und dann zur Seite trat, um einer älteren, ziemlich gewöhnlich aussehenden Frau in grauer Bluse und grauem Rock den Vortritt zu lassen. Sie war klein und rundlich und das dauergewellte Haar schimmerte leicht bläulich. Nur die übergroße Brille mit den dunklen Gläsern, die einen Großteil ihres Gesichts verdeckte, unterschied sie von anderen Frauen in ihrem Alter. In der rechten Hand hielt sie einen zusammengeschobenen weißen Teleskopstock, an dem Sophie und Josh sofort erkannten, dass sie blind war.

Flamel räusperte sich. »Darf ich vorstellen...« Er hielt inne und schaute die Frau an. »Entschuldigen Sie, wie darf ich Sie nennen?«

»Nenn mich Dora, wie alle anderen auch.« Sie sprach Englisch mit einem deutlichen New Yorker Akzent. »Scathach?«, fragte sie plötzlich. »Scathach!« Dann ging es weiter in einer Sprache, die hauptsächlich aus Zischlauten zu bestehen schien... und die Sophie verstand, wie sie überrascht feststellte.

»Sie will wissen, warum Scatty sie in den vergangenen dreihundertzweiundsiebzig Jahren, acht Monaten und vier Tagen nicht besucht hat«, übersetzte sie für Josh. Sie hatte nur Augen für die alte Frau und sah nicht die Angst und den Neid, die kurz in der Miene ihres Bruders aufflackerten.

Die alte Dame bewegte sich schnell und mit großer Sicherheit in dem vollgestellten Raum, drehte den Kopf von rechts nach links, ohne Scatty je direkt anzusehen. Dann redete sie, anscheinend ohne Atem zu holen, weiter.

»Sie sagt Scatty, dass sie hätte sterben können, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Oder traurig gewesen wäre. Erst im letzten Jahrhundert war sie schwer krank und keiner hat angerufen, keiner geschrieben...«

»Gran…«, begann Scatty.

»Hör mir auf mit dem Granny-Quatsch«, meinte Dora wieder auf Englisch. »Du hättest schreiben können, egal in welcher Sprache. Du hättest anrufen können...«

»Du hast doch gar kein Telefon!«

»Und was hast du gegen eine E-Mail oder ein Fax?«

»Hast du denn einen Computer oder ein Faxgerät, Gran?«

»Nein. Wozu sollte ich so etwas brauchen?« Dora machte eine schnelle Bewegung mit der Hand und der weiße Stock entfaltete sich mit einem Ruck zu seiner vollen Länge. Sie tippte auf einen einfachen, viereckigen Spiegel. »Hast du so einen?«

»Ja, Gran«, antwortete Scatty kläglich. Sie war knallrot geworden vor Verlegenheit.

»Dann hattest du also nicht einmal Zeit, in einen Spiegel zu gucken und mit mir zu reden? Hast du so viel zu tun? Ich musste von deinem Bruder hören, wie es dir geht. Und wann hast du das letzte Mal mit deiner Mutter gesprochen?«

Scathach drehte sich zu den Zwillingen um. »Das ist meine Großmutter, die legendäre Hexe von Endor. Gran, das sind Sophie und Josh. Nicholas Flamel kennst du ja bereits.«

»Ja, ein sehr netter Mensch.« Die Hexe drehte unablässig den Kopf hin und her und ihre Nasenflügel bebten. »Zwillinge«, sagte sie schließlich.

Sophie und Josh schauten sich an. Woher wusste sie das? Sie waren keine eineiigen Zwillinge… Hatte Nicholas es ihr erzählt?

Irgendetwas an der Art und Weise, wie die Frau ständig den Kopf hin- und herbewegte, weckte Joshs Neugier. Er versuchte, ihrer Blickrichtung zu folgen... Und dann merkte er, weshalb ihr Kopf ununterbrochen in Bewegung war: Sie musste sie durch die Spiegel sehen. Automatisch drückte er kurz die Hand seiner Schwester und zeigte auf den nächsten Spiegel. Sie warf einen Blick darauf, dann auf die alte Dame und wieder zurück zum Spiegel. Dann nickte sie ihrem Bruder zu. Er hatte recht.

Dora baute sich vor Scathach auf, das Gesicht einem hohen Spiegel zugewandt, der rechts von ihr stand. »Du hast abgenommen. Isst du auch ordentlich?«

»Gran, so sehe ich schon seit zweieinhalbtausend Jahren aus!«

»Willst du damit andeuten, dass ich langsam blind werde, he?«, fragte die Alte und brach dann in ein erstaunlich tiefes Lachen aus. »Komm, nimm deine alte Großmutter mal in die Arme.«

Scathach drückte sie vorsichtig und küsste sie auf die Wange. »Schön, dich wiederzusehen, Gran. Du siehst gut aus.«

»Ich sehe alt aus. Sehe ich alt aus?«

Scatty lächelte. »Keinen Tag älter als zehntausend.«

Die Hexe kniff Scatty in die Wange. »Die letzte Person, die sich über mich lustig gemacht hat, war ein Steuerinspektor. Ich habe ihn in einen Briefbeschwerer hineingezaubert. Das Ding muss hier noch irgendwo rumstehen.«

Flamel hüstelte diskret. »Madame Endor...«

»Nenn mich Dora«, schnaubte die alte Frau.

»Dora. Weißt du, was heute Morgen in Hekates Schattenreich passiert ist?« Er war der Hexe noch nie begegnet, kannte sie nur vom Hörensagen, aber er wusste, dass sie mit äußerster Vorsicht zu behandeln war. Sie war die legendäre Erstgewesene, die Danu Talis Jahrhunderte bevor die Insel im Wasser versank, verlassen hatte, um bei den Humani zu leben und sie zu unterrichten. Es hieß, dass sie im alten Sumerien das erste Humani-Alphabet erfunden hatte.

»Holt mir einen Stuhl«, sagte Dora zu niemand Bestimmtem. Sophie brachte den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, und Scatty rückte ihn ihrer Großmutter zurecht. Die alte Dame beugte sich vor, beide Hände auf den weißen Stock gestützt. »Ich weiß, was geschehen ist. Sicherlich hat jede und jeder Erstgewesene auf diesem Kontinent ihren Tod gespürt.« Sie sah in die ihr zugewandten überraschten Mienen. »Wusstet ihr das nicht?« Sie drehte den Kopf so, dass sie in einen Spiegel schauen konnte, der direkt gegenüber von Scatty hing. »Hekate ist tot und ihr Schattenreich ist untergegangen. Wie ich gehört habe, sind eine Erstgewesene, eine aus der nächsten Generation und ein unsterblicher Mensch verantwortlich für ihren Tod. Hekate muss gerächt werden. Nicht jetzt und vielleicht auch noch nicht in nächster Zukunft. Aber sie war ein Familienmitglied und ich bin es ihr schuldig. Übernimm du es.«

Scatty verbeugte sich leicht.

Die Hexe von Endor hatte das Todesurteil vollkommen ruhig ausgesprochen, und Flamel wurde sich plötzlich bewusst, dass die Frau noch gefährlicher war, als er angenommen hatte.

Dora drehte den Kopf und Flamel konnte ihr Gesicht jetzt in einem Spiegel mit einem kunstvoll verzierten Silberrahmen betrachten. Sie tippte auf das Glas. »Ich habe schon vor einem Monat gesehen, was heute Morgen geschah.«

»Und du hast Hekate nicht gewarnt?«, rief Scatty.

»Es war der Verlauf einer möglichen Zukunftsvariante. Einer von vielen. In einigen anderen tötete Hekate Bastet und den Morrigan-Auswurf Dee. In wieder einer anderen tötete Hekate dich, Mr Flamel, und wurde dafür von Scathach umgebracht. Alles mögliche Versionen der Zukunft. Heute habe ich erfahren, welche eingetreten ist.« Sie schaute sich im Raum um, wandte das Gesicht einem Spiegel zu, einer polierten Vase und dem Glas eines Bilderrahmens. »Ich weiß also, weshalb ihr hier seid, ich weiß, was ihr von mir wollt. Und ich habe mir meine Antwort lange und reiflich überlegt. Ich hatte schließlich einen Monat Zeit dazu.«

»Was ist mit uns?«, fragte Sophie dazwischen. »Sind wir auch vorgekommen in Ihren Zukunftsversionen?«

»Ja, in einigen.«

»Und was ist mit uns passiert?« Die Frage war Josh herausgerutscht, ohne dass er Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Er wollte die Antwort ganz bestimmt nicht wissen.

»In den meisten haben schon Dee und seine Golems oder die Vögel und Ratten euch umgebracht. Ein paarmal hattet ihr einen Autounfall, seid beim Erwecken eurer Kräfte gestorben oder beim Untergang des Schattenreiches.«

Josh schluckte. »Und in wie vielen Versionen haben wir überlebt?«

»Nur in einer.«

»Das klingt nicht gut, oder?«, fragte er leise.

»Nein«, erwiderte die Hexe rundheraus, »überhaupt nicht.« Es entstand eine Pause, in der Dora in die polierte Wand eines silbernen Übertopfes schaute. Unvermittelt ergriff sie wieder das Wort: »Als Allererstes solltet ihr wissen, dass ich den Jungen nicht erwecken kann. Das muss ich anderen überlassen.«

Josh schaute hoch. »Es gibt noch andere, die mich erwecken könnten?«

Die Hexe ignorierte seine Frage. »Das Mädchen hat die reinste silberne Aura, die ich in vielen Jahrhunderten gesehen habe. Man muss ihr ein paar Zauberformeln zu ihrem persönlichen Schutz beibringen, damit sie den Rest des Erweckungsprozesses überlebt. Die Tatsache, dass sie nach so vielen Stunden noch bei Verstand und gesund ist, zeugt von ihrem starken Willen.« Sie legte den Kopf in den Nacken und Sophie sah ihr Gesicht in einem an der Decke befestigten Spiegel. Es war ihr zugewandt. »Das kann ich machen.«

»Danke!«, sagte Nicholas Flamel mit einem tiefen Seufzer. »Ich weiß, wie schwer die letzten Stunden für sie waren.«

Josh merkte, dass er seine Schwester nicht anschauen konnte. Die Erweckung ihrer Kräfte war noch nicht abgeschlossen. Hieß das, dass sie noch mehr Schmerzen aushalten musste? Es brach ihm fast das Herz.

Scathach kniete sich neben den Stuhl, auf dem ihre Großmutter saß, und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Gran, Dee und seine Gebieter suchen die beiden fehlenden Seiten aus dem Codex. Ich könnte mir vorstellen, dass sie inzwischen wissen – oder es zumindest vermuten -, dass Sophie und Josh die in Abrahams Buch der Magie erwähnten Zwillinge sind.«

Dora nickte. »Dee weiß es.«

Scathach warf Flamel einen verstohlenen Blick zu. »Dann ist ihm auch klar, dass er nicht nur an die Seiten herankommen, sondern die Zwillinge entweder gefangen nehmen oder umbringen muss.«

»Es ist ihm klar«, bestätigte Dora.

»Und wenn es Dee gelingt, ist dies das Ende dieser Welt?« Scathach machte aus dem Satz eine Frage.

»Das Ende der Welt hatten wir schon öfter«, erwiderte die Hexe und lächelte. »Und ich bin sicher, dass es noch viele Male kommt, bevor die Sonne schwarz wird.«

»Du weißt, dass Dee die Dunklen Älteren zurückholen will?«

»Das weiß ich.«

»Im Codex steht, dass die Dunklen nur durch Silber und Gold aufgehalten werden können«, fuhr Scatty fort.

»Wenn mit meinem Gedächtnis noch alles stimmt, steht im Codex auch, dass Äpfel giftig sind und Frösche sich in Prinzen verwandeln können. Du darfst nicht alles glauben, was geschrieben steht«, meinte die Hexe abschätzig.

Flamel kannte die Stelle mit den Äpfeln. Er hatte vermutet, dass sie sich auf Apfelkerne bezog, die tatsächlich giftig waren – wenn man mehrere Pfund davon aß. Über die Stelle mit den Fröschen und Prinzen war er nicht gestolpert, obwohl er das Buch mehrere hundert Mal durchgelesen hatte. Er hätte der Hexe gern zahllose Fragen gestellt, aber sie waren aus einem anderen Grund hier. »Dora, wirst du Sophie die Prinzipien der Luftmagie beibringen? Sie muss wenigstens so viel lernen, dass sie sich vor einem Angriff schützen kann.«

Dora zuckte mit den Schultern und lächelte. »Habe ich denn die Wahl?«

Diese Antwort hatte Flamel nicht erwartet. »Natürlich hast du die Wahl.«

Die Hexe von Endor schüttelte den Kopf. »Dieses Mal nicht.« Sie nahm die dunkle Brille ab. Scatty rührte sich nicht und in Flamels Gesicht verriet nur ein zuckender Muskel seine Überraschung. Die Zwillinge jedoch wichen entsetzt zurück. Die Hexe von Endor hatte keine Augen.

In den Höhlen, wo Augen hätten sein sollen, saßen Ovale aus Spiegelglas. Diese Spiegel wandten sich jetzt den Zwillingen zu. »Ich habe meine Augen gegeben für das zweite Gesicht, die Fähigkeit, die Muster der Zeit zu erkennen – in Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Zukunft. Es gibt viele Muster, viele Versionen und Zukunftsmöglichkeiten, wenn auch nicht so viele, wie die Leute glauben. In den letzten Jahren hat sich alles zusammengefügt, sich immer enger verbunden. Jetzt gibt es nur noch einige wenige Zukunftsmöglichkeiten. Die meisten sind schrecklich. Und sie haben alle mit euch beiden zu tun.« Ihre Hand zeigte direkt auf Sophie und Josh. »Welche Wahl habe ich also? Das ist auch meine Welt. Ich war vor den Humani hier, ich habe ihnen das Feuer gegeben und die Sprache. Ich werde sie jetzt nicht im Stich lassen. Ich werde das Mädchen ausbilden, ihr beibringen, wie sie sich selbst schützen kann, und sie lehren, wie man die Lüfte beherrscht.«

»Danke«, sagte Sophie zögernd in die lange Stille hinein, die darauf folgte.

»Danke mir nicht. Was ich dir gebe, ist kein Geschenk. Es ist ein Fluch.«

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

Josh verließ mit hochroten Wangen den Antiquitätenladen. Die letzten Worte der Hexe klangen ihm noch in den Ohren. »Du musst gehen. Was ich lehre, ist nicht für die Ohren von Humani bestimmt.«

Josh hatte in die Runde geschaut, Flamel und Scatty und schließlich seine Zwillingsschwester angesehen und plötzlich begriffen, dass er der einzige echte Mensch im Laden war. In den Augen der Hexe von Endor war Sophie offenbar kein echter Mensch mehr.

»Kein Problem. Ich warte drü…«, hatte er begonnen. Dann war seine Stimme gekippt. Er hatte gehustet und es erneut versucht. »Ich warte im Park auf der anderen Straßenseite.« Und dann hatte er rasch den Laden verlassen. Das Klimpern der Glocke war ihm wie höhnisches Gelächter vorgekommen.

Es war sehr wohl ein Problem. Und zwar ein ganz großes. Sophie Newman sah ihrem Bruder nach, wie er den Laden verließ, und auch ohne geschärfte Sinne hätte sie gewusst, dass er aufgebracht war und wütend. Sie wollte ihn zurückrufen, ihm nachgehen, doch Scatty stand vor ihr, den Finger auf den Lippen. Ihr Blick war eine unmissverständliche Warnung, und ein winziges Kopfschütteln sagte Sophie, sie solle den Mund halten. Scatty nahm sie an der Schulter und führte sie zu der Hexe von Endor. Die alte Frau hob die Hände und fuhr mit erstaunlich weichen Fingern die Konturen von Sophies Gesicht nach. Sophies Aura zitterte und zischte bei der sanften Berührung.

»Wie alt bist du?«, fragte sie.

»Fünfzehn. Also genau fünfzehneinhalb.« Sophie wusste nicht, ob das halbe Jahr einen Unterschied machte.

»Fünfzehneinhalb«, wiederholte Dora kopfschüttelnd. »So weit kann ich mich nicht zurückerinnern.« Sie senkte den Kopf und wies dann mit dem Kinn auf Scatty. »Kannst du dich noch an die Zeit erinnern, als du fünfzehn warst?«

»Und ob!«, erwiderte Scatty grimmig. »Habe ich dich um diese Zeit herum nicht in Babylon besucht, wo du mich mit König Nebukadnezar verheiraten wolltest?«

»Da täuschst du dich bestimmt«, meinte Dora fröhlich. »Ich glaube, das war später. Und er hätte bestimmt einen ausgezeichneten Ehemann abgegeben«, fügte sie hinzu. Sie wandte sich wieder Sophie zu, und die sah sich in den Spiegeln, die in den Augenhöhlen der Hexe lagen. »Es gibt zwei Dinge, die ich dir beibringen muss: dich selbst zu schützen – das ist ein Kinderspiel – und die Magie der Lüfte zu beherrschen, was schon etwas schwieriger ist. Der letzte Humani, dem ich versucht habe, Luftmagie beizubringen, hat sechzig Jahre gebraucht, bis er die Grundlagen beherrschte, und dann ist er auf seinem ersten Flug trotzdem vom Himmel gefallen.«

»Sechzig Jahre.« Sophie schluckte. Hieß das, dass sie sich ein Leben lang mit diesem Zweig der Magie befassen musste?

»Gran, so viel Zeit haben wir nicht. Wahrscheinlich haben wir nicht einmal sechzig Minuten.«

Dora wandte das Gesicht einem Bilderrahmen zu, dessen Glas ihre verärgerte Miene widerspiegelte. »Warum machst du es dann nicht, wenn du die Fachfrau dafür bist?«

»Gran...«, seufzte Scatty.

»Nicht in diesem Ton!«, warnte Dora. »Ich mache es auf meine Art.«

»Wir haben keine Zeit, um es auf die traditionelle Art zu machen.«

»Komm du mir nicht mit Tradition. Was wisst ihr Jungen schon davon? Glaub mir, wenn ich fertig bin, weiß Sophie alles, was auch ich über Luftmagie weiß.« Sie wandte sich wieder an Sophie. »Das Wichtigste zuerst: Leben deine Eltern noch?«

»Ja.« Worauf wollte die alte Dame hinaus?

»Gut. Und du sprichst mit deiner Mutter?«

»Ja. Fast jeden Tag.«

Dora schaute Scatty von der Seite her an. »Hast du das gehört? Fast jeden Tag.« Sie nahm Sophies Hand und tätschelte sie. »Vielleicht solltest du Scathach das eine oder andere beibringen. Hast du auch eine Großmutter?«

»Meine Nana, ja, die Mutter meines Vaters. Ich rufe sie normalerweise freitags an.« Sie zuckte schuldbewusst zusammen, als ihr klar wurde, dass heute Freitag war und Nana Newman auf ihren Anruf wartete.

»Jeden Freitag«, sagte die Hexe von Endor bedeutungsvoll und blickte wieder zu Scatty hinüber. Doch die Kriegerprinzessin wandte sich demonstrativ ab und konzentrierte sich auf einen gläsernen Briefbeschwerer. Sie stellte ihn wieder hin, als sie sah, dass ein winziger Mann in einem dreiteiligen Anzug in dem Glas eingeschlossen war. Er hatte eine Aktentasche in der einen und ein Bündel Papiere in der anderen Hand und er blinzelte zornig.

»Es tut nicht weh«, sagte die Hexe.

Sophie war sicher, dass es nicht schlimmer kommen konnte als das, was sie bereits durchmachte. Sie roch verbranntes Holz und spürte eine kühle Brise über ihre Hände wehen. Sie schaute auf sich hinunter. Hauchzarte weiße Spinnfäden schlängelten sich aus den Fingerspitzen der Hexe und legten sich wie eine Mullbinde um jeden Einzelnen von Sophies Fingern, dann über die Mittelhand, über das Handgelenk, und schließlich wanderten sie ihren Arm hinauf. Da merkte sie, dass die Hexe sie mit ihren Fragen nur abgelenkt hatte.

Sophie schaute in ihre Spiegelaugen und stellte fest, dass sie ihre eigenen Fragen nicht in Worte fassen konnte. Es war, als hätte sie die Fähigkeit zu sprechen verloren. Es überraschte sie, dass sie sich nicht fürchtete, aber von dem Augenblick an, als die Hexe ihre Hände ergriffen hatte, war ein tiefes Gefühl der Ruhe und des Friedens über sie gekommen. Sie blickte zu Scatty und Flamel hinüber, die alles mit großen Augen verfolgten.

Auf Scattys Gesicht stand das blanke Entsetzen. »Gran... bist du dir ganz sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher«, fauchte die Hexe ärgerlich.

Und selbst während die Hexe von Endor mit Scatty sprach, hörte Sophie ihre Stimme in ihrem Kopf, hörte, wie sie mit ihr redete, uralte Geheimnisse flüsterte, archaische Zauberformeln murmelte und das Wissen eines langen Lebens innerhalb weniger Herzschläge und Atemzüge weitergab.

»Das ist kein Spinnennetz«, erklärte Dora einem sprachlosen Flamel, als sie merkte, wie er sich vorbeugte und fassungslos auf die Fäden starrte, die sich um Sophies Arme wanden. »Es ist konzentrierte Luft, vermischt mit meiner eigenen Aura. Mein gesamtes Wissen, meine Erfahrungen, selbst meine Intuition sind in diesem Luftnetz eingeschlossen. Sobald es Sophies Haut berührt, fängt sie an, das Wissen in sich aufzunehmen.«

Sophie atmete die nach Holz riechende Luft tief ein. Mit unglaublicher Geschwindigkeit zuckten Bilder durch ihren Kopf – Bilder von längst vergangenen Zeiten und Orten: von Zyklopen gebaute Mauern, Schiffe aus purem Gold, Dinosaurier und Drachen, eine in einen Eisberg geschnitzte Stadt, Wertiere und Monster und Gesichter... Hunderte, Tausende von Gesichtern von menschlichen und halbmenschlichen Wesen aus allen Zeiten. Sie sah alles, was die Hexe von Endor jemals gesehen hatte.

»Die Ägypter haben mich falsch verstanden«, fuhr Dora fort. Ihre Hände bewegten sich jetzt so schnell, dass Flamel die Bewegungen nicht mehr verfolgen konnte. »Sie wickelten die Toten ein. Sie erkannten nicht, dass ich die Lebenden einwickelte. Es gab eine Zeit, in der ich ein wenig von mir selbst in meine Nachfolger legte und sie in die Welt hinausschickte, um in meinem Namen zu lehren. Offenbar beobachtete jemand den Prozess und versuchte ihn nachzumachen.«

Plötzlich sah Sophie ein Dutzend junger Leute, eingewickelt wie sie, und eine jünger aussehende Dora, die in einem Gewand, wie man es vielleicht im alten Babylon getragen hatte, zwischen ihnen hin und her ging. Sophie wusste intuitiv, dass dies die Priester und Priesterinnen der Gemeinde waren, die der Hexe huldigten. Dora gab etwas von ihrem Wissen an sie weiter, damit sie hinausgehen konnten in die Welt und andere lehrten.

Das weiße, luftige Netz legte sich jetzt um Sophies Beine und band sie zusammen. Unbewusst hob sie die Arme und legte die rechte Hand auf die linke Schulter und die linke Hand auf die rechte Schulter. Die Hexe nickte anerkennend.

Sophie schloss die Augen und sah Wolken. Ohne zu wissen, woher, hatte sie ihre Namen parat: Zirrus, Zirrokumulus, Altostratus und Stratokumulus, Nimbostratus und Kumulus. Alle unterschiedlich und jeder Typus mit einzigartigen Merkmalen und Eigenschaften. Und plötzlich wusste sie, wie sie sie nutzen konnte, formen und beeinflussen und bewegen.

Bilder flackerten auf.

Standen hell leuchtend vor ihrem inneren Auge.

Sie sah eine sehr kleine Frau unter einem klaren, blauen Himmel stehen und eine Hand heben, und dann bildete sich direkt über ihr eine Wolke. Regen fiel auf ein ausgedörrtes Feld.

Das nächste Bild.

Ein großer, bärtiger Mann stand am Ufer eines Meeres und hob die Hand und ein kräftiger Wind teilte die Wogen.

Und das nächste.

Eine junge Frau stoppte mit einer einzigen Handbewegung einen tobenden Sturm, lief in eine windschiefe Hütte und holte ein Kind heraus. Einen Herzschlag später fraß der Sturm das Haus auf.

Sophie beobachtete die Szenen und lernte daraus.

Die Hexe von Endor berührte Sophies Wange. Sophie öffnete die Augen. Das Weiße darin war mit silbernen Pünktchen gesprenkelt. »Manche behaupten, dass die Magie des Feuers oder des Wassers und selbst die der Erde die stärkste von allen ist. Sie irren sich. Die Magie der Luft übertrifft sie alle. Luft kann Feuer löschen. Sie kann Wasser aufwühlen und in feine Nebel verwandeln und die Erde aufreißen. Aber die Luft kann das Feuer auch zum Leben erwecken, sie kann ein Boot über unbewegtes Wasser treiben und das Land formen. Luft kann eine Wunde säubern und sie kann einen Holzsplitter aus einer Fingerspitze ziehen. Luft kann töten.«

Das letzte Stück des weißen, luftigen Netzes legte sich über Sophies Gesicht. Sie war jetzt vollkommen eingehüllt wie eine Mumie.

»Es ist ein schreckliches Geschenk, das ich dir gemacht habe. In dir ruhen jetzt die Erfahrungen eines ganzen Lebens – eines sehr langen Lebens. Ich hoffe, dass dir in den schlimmen Tagen, die vor dir liegen, einige davon von Nutzen sind.«

Sophie stand, von oben bis unten in Mullbindenluft eingewickelt, vor der Hexe von Endor. Dies war etwas ganz anderes als das Erwecken, ein behutsamerer, schonenderer Prozess. Sophie stellte fest, das sie Dinge wusste – unglaubliche Dinge. Sie erinnerte sich an unendlich weit zurückliegende Zeiten und an die ungewöhnlichsten Orte. Doch vermischt mit diesen Erinnerungen und Empfindungen waren auch noch ihre eigenen Gedanken. Und es fiel ihr zunehmend schwerer, sie auseinanderzuhalten.

Dann begannen die Luftfäden um Sophie zu zischen.

Dora drehte sich unvermittelt um und suchte nach Scatty. »Komm und nimm mich noch einmal in die Arme, Kind. Ich werde dich nicht mehr wiedersehen.«

»Gran?«

Dora legte die Arme um Scathachs Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe diesem Mädchen eine seltene und schreckliche Kraft verliehen. Sieh zu, dass sie für etwas Gutes verwendet wird.«

Scathach nickte, obwohl sie nicht genau wusste, worauf die alte Frau hinauswollte.

»Und melde dich bei deiner Mutter. Sie macht sich Sorgen um dich.«

»Mach ich, Gran.«

Sophies Mumienkokon löste sich plötzlich in Rauch und Nebel auf und die Aura des Mädchens flammte silbern auf. Sie streckte die Arme aus und spreizte die Finger und ein leise flüsternder Wind strich durch den Laden.

»Vorsicht! Wenn etwas kaputtgeht, bezahlst du es mir«, warnte die Hexe.

Dann drehten sich Scathach, Dora und Sophie wie auf Kommando um und schauten hinaus auf die Straße. Einen Augenblick später stieg Nicholas Flamel der unverwechselbare Gestank von faulen Eiern in die Nase. »Dee!«

»Josh!« Sophie riss die Augen auf. »Josh ist draußen!«

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

Dr. John Dee erreichte Ojai endlich, als das letzte Licht in aufsehenerregenden Schattierungen von Pink und Orange über den Topa Topa Mountains verblasste. Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen, war müde und gereizt und suchte nach einer Ausrede, um jemandem wehzutun.

Hekates Schattenreich hatte das Akku seines Handys verbraucht, und es hatte über eine Stunde gedauert, bevor er ein Telefon gefunden hatte, von dem aus er sein Büro anrufen konnte. Dann war er rauchend vor Zorn gezwungen gewesen, weitere neunzig Minuten am Straßenrand zu hocken und zu warten, während eine Fahrerstaffel die Nebenstraßen von Mill Valley nach ihm absuchte. Es war fast halb zehn, bis er endlich in seinem Büro in den Enoch Enterprises im Herzen der Stadt ankam.

Dort hatte er erfahren, dass Perenelle bereits nach Alcatraz gebracht worden war. Sein Unternehmen hatte die Insel vor Kurzem vom Staat gekauft und sie während angeblicher Renovierungsarbeiten für die Öffentlichkeit gesperrt. In den Zeitungen wurde gemunkelt, dass das Gefängnis in ein Museum für Zeitgeschichte umgewandelt werden sollte. In Wirklichkeit beabsichtigte der Doktor, wieder das daraus zu machen, was es einmal gewesen war: eines der sichersten Gefängnisse der Welt. Der Doktor überlegte kurz, ob er auf die Insel hinüberfliegen und mit Perenelle reden sollte, verwarf den Gedanken dann aber wieder als Zeitverschwendung. Sein Hauptanliegen waren die fehlenden Seiten des Codex und die Zwillinge. Bastet hatte ihm zwar aufgetragen, sie zu töten, falls es ihm nicht gelingen sollte, sie gefangen zu nehmen, aber Dee hatte andere Pläne.

Dee kannte die berühmte Prophezeiung aus Abrahams Buch. Das Ältere Geschlecht hatte immer gewusst, dass Zwillinge kommen würden, »die zwei, die eins sind, und das Eine, das alles ist«. Einer, um die Welt zu retten, der andere, um sie zu vernichten. Doch er fragte sich, welches der eine und welches der andere war. Und er hätte gern gewusst, ob ihre Kräfte geformt und in bestimmte Richtungen gelenkt werden konnten, je nachdem, welche Anweisungen sie erhielten. Den Jungen zu finden, war inzwischen genauso wichtig, wie die fehlenden Seiten des Codex aufzutreiben. Er musste diese goldene Aura haben.


Dr. John Dee hatte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einmal kurz in Ojai – es hieß damals noch Nordhoff – gewohnt, als er die umliegenden Grabfelder der Chumash-Indianer wegen ihrer kostbaren Grabbeigaben geplündert hatte. Er hatte den Ort gehasst. Ojai war zu klein, zu abgeschieden und in den Sommermonaten schlicht zu heiß für ihn gewesen. Viel wohler fühlte Dee sich in den Großstädten, wo es einfacher war, unsichtbar und anonym zu bleiben.

Er war mit dem unternehmenseigenen Hubschrauber von San Francisco nach Santa Barbara geflogen und hatte dann an dem kleinen Flughafen einen unscheinbaren Ford gemietet. Damit war er nach Ojai gefahren und rechtzeitig zu dem spektakulären Sonnenuntergang angekommen, der die Stadt in lange, elegante Schatten tauchte. Ojai hatte sich in den circa hundert Jahren, in denen er nicht mehr hier gewesen war, dramatisch verändert... Aber er mochte es immer noch nicht.

Dee bog auf die Hauptstraße ein und fuhr langsamer. Flamel und die anderen waren ganz in der Nähe, das spürte er. Aber er musste jetzt vorsichtig sein. Wenn er sie spürte, konnten sie – vor allem Flamel und Scathach – auch ihn spüren. Und er wusste immer noch nicht, wozu die Hexe von Endor in der Lage war. Es machte ihm schwer zu schaffen, dass eine der mächtigsten Erstgewesenen in Kalifornien lebte und er bisher absolut nichts davon gewusst hatte. Er hatte sich eingebildet, er wüsste, wo auf der Welt sich die wichtigsten Älteren und unsterblichen Menschen aufhielten. Dee fragte sich auch, ob es etwas zu bedeuten hatte, dass er die Morrigan den ganzen Tag über noch nicht erreichen konnte. Er hatte sie in regelmäßigen Abständen auf dem Weg hierher angerufen, doch sie ging nicht an ihr Handy. Vielleicht spielte sie eines dieser nie endenden Online-Strategiespiele, nach denen sie süchtig war. Wo Bastet war, wusste er ebenfalls nicht, aber das kümmerte ihn auch nicht. Sie machte ihm Angst, und Dee neigte dazu, Leute, die ihm Angst einjagten, umzubringen.

Flamel, Scathach und die Zwillinge konnten überall in der Stadt sein. Nur wo genau?

Dee ließ ein wenig Energie in seine Aura fluten. Er blinzelte, als sich seine Augen plötzlich mit Tränen füllten, und blinzelte noch einmal, um wieder einen klaren Blick zu bekommen. Plötzlich waren die Menschen in dem Wagen neben ihm oder die Fußgänger auf dem Bürgersteig von unterschiedlich gefärbten und sich ständig verändernden Auren umgeben. Einige waren lediglich schwach getönte Rauchkringel, andere wiesen dunkle Stellen auf, Punkte und Streifen in kompakten Schlammfarben.

Am Ende entdeckte er sie per Zufall. Er fuhr die Hauptstraße hinunter und war gerade am Libbey-Park vorbeigekommen, als er den schwarzen Hummer in der Fox Street stehen sah. Er parkte direkt dahinter. Im selben Moment, als er aus dem Wagen stieg, sah er im Park beim Brunnen kurz eine reingoldene Aura aufleuchten. Dee kräuselte die Lippen zu einem kalten Lächeln.

Dieses Mal würden sie ihm nicht entkommen.



Josh Newman saß auf der niedrigen Brunneneinfassung im Libbey-Park direkt gegenüber dem Antiquitätenladen und starrte ins Wasser. Zwei Schalen in Blütenform, eine etwas größer als die andere, standen übereinander in der Mitte des runden Beckens. Aus der oberen Schale sprudelte Wasser, das über den Rand in die untere, größere Schale floss und von dort in das Becken. Über dem Plätschern des Wassers konnte man fast die Verkehrsgeräusche vergessen.

Josh fühlte sich allein und von Gott und der Welt verlassen.

Als die Hexe ihm gesagt hatte, er müsse den Laden verlassen, war er unter den Arkaden entlanggegangen und vor der Eisdiele stehen geblieben, angelockt vom Schokoladen- und Vanillearoma. Er hatte draußen gestanden und die Liste exotischer Eissorten studiert und sich gefragt, warum die Aura seiner Schwester nach Vanille roch und seine nach Orangen. Sie machte sich nichts aus Vanille-Eiscreme; er war derjenige, der verrückt danach war.

Er tippte mit dem Finger auf die Karte: Blaubeereis mit Schokoladenstückchen.

Dann fuhr er mit der Hand in die Tasche seiner Jeans... und bekam Panik, als er feststellte, dass sein Geldbeutel nicht mehr da war. Hatte er ihn im Wagen liegen lassen? Hatte er...? Er erstarrte.

Er wusste genau, wo er ihn hatte liegen lassen.

Als er seinen Geldbeutel zum letzten Mal gesehen hatte, lag er zusammen mit seinem leeren Handy, seinem iPod und dem Laptop auf dem Boden neben dem Bett in seinem Zimmer im Weltenbaum. Dass der Geldbeutel weg war, war schlimm genug, aber dass der Computer fehlte, war eine Katastrophe. Seine sämtlichen E-Mails waren darauf, seine Schularbeiten, ein halbfertiges Referat, mit dem er hätte Pluspunkte sammeln können, die Fotos der letzten drei Jahre – einschließlich des Trips nach Cancún an Weihnachten – und mindestens 60 MP3-Downloads. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er die Daten das letzte Mal herausgespeichert hatte; es musste schon länger her sein. Josh wurde schlecht und plötzlich rochen die Düfte aus der Eisdiele gar nicht mehr süß und verlockend.

Durch und durch unglücklich ging er bis zur Ecke und überquerte die Straße an der Ampel beim Postamt, wandte sich dann nach links und ging Richtung Park.

Der iPod war ein Weihnachtsgeschenk seiner Eltern gewesen. Wie sollte er ihnen erklären, dass er ihn verloren hatte?

Doch noch schlimmer als der Verlust seines iPods, des Geldbeutels und selbst seines Computers war der Verlust seines Handys. Das war der absolute Albtraum. Die Nummern sämtlicher Freunde waren dort gespeichert, und er wusste, dass er sie nirgendwo sonst aufgeschrieben hatte. Weil ihre Eltern so viel unterwegs waren, waren sie meist nur ein oder zwei Halbjahre an einer Schule gewesen. Seine Schwester und er hatten immer schnell Freundschaft geschlossen – vor allem Sophie – und hatten noch Kontakt zu Leuten, die sie vor Jahren an Schulen in ganz Amerika kennengelernt hatten. Wie sollte er sie ohne die Mailadressen und Telefonnummern je wieder erreichen können?

In einer Nische vor dem Eingang zum Park war ein Wasserspender, und Josh beugte sich hinunter, um einen Schluck zu trinken. In die Wand darüber war ein Löwenkopf aus Metall eingelassen und darunter eine kleine rechteckige Tafel mit der Aufschrift: Liebe ist das Wasser des Lebens, trinke reichlich davon.

Josh ließ das eiskalte Nass über seine Lippen laufen und richtete sich dann wieder auf, schaute hinüber zum Laden und fragte sich, was darin wohl gerade passierte. Er liebte seine Schwester immer noch, aber liebte auch sie ihn? Konnte sie ihn überhaupt noch lieben, jetzt, wo er so... gewöhnlich war?

Im Libbey-Park war es ziemlich still. Auf dem Spielplatz in der Nähe hörte Josh Kinder toben, doch ihre Stimmen waren hoch und schienen aus weiter Ferne zu kommen. Drei alte Männer, alle in kurzärmeligen Hemden, langen Shorts, weißen Socken und Sandalen saßen auf einer Bank im Schatten. Einer der Männer fütterte ein paar dicke, faule Tauben mit Brotkrumen. Josh setzte sich auf den niedrigen Rand des Brunnenbeckens und ließ die Hand ins Wasser hängen. Nach der drückenden Hitze war das herrlich kühl. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und spürte, wie ihm Wassertropfen den Nacken hinunterliefen.

Was sollte er tun?

Gab es überhaupt etwas, das er tun konnte?

In etwas mehr als 24 Stunden hatte sich sein Leben – und das seiner Schwester – vollkommen und vollkommen unbegreiflich verändert. Was er bisher lediglich für frei erfundene Geschichten gehalten hatte, hatte sich plötzlich als erzählte Wahrheiten herausgestellt. Aus Mythen waren geschichtliche Ereignisse geworden, aus Legenden Fakten. Als Scatty erwähnt hatte, dass das geheimnisvolle Danu Talis auch Atlantis genannt wurde, hätte er sie fast ausgelacht. Für ihn war die Geschichte von Atlantis immer ein Märchen gewesen. Doch wenn Scathach und Hekate, die Morrigan und Bastet echt waren, war es auch Danu Talis. Und die Erkenntnisse der Archäologie, das Lebenswerk seiner Eltern, waren plötzlich nichts mehr wert.

Tief drinnen wusste Josh, dass er auch seine Zwillingsschwester verloren hatte, die einzige Konstante in seinem Leben, die Person, auf die er immer hatte zählen können. Sie hatte sich auf eine Art und Weise verändert, die er nicht einmal ansatzweise verstehen konnte. Warum war nicht auch er erweckt worden? Er hätte darauf bestehen sollen, als Erster dranzukommen. Wie es wohl war, solche Kräfte zu besitzen?

Aus den Augenwinkeln heraus sah Josh, dass ein Mann sich ein Stück von ihm entfernt ebenfalls auf den Brunnenrand gesetzt hatte, doch er ignorierte ihn. Geistesabwesend kratzte er an einer der blauen Kacheln, mit denen das Becken ausgelegt war.

Was sollte er nur tun?

Statt einer Antwort kam immer die Gegenfrage: Was konnte er tun?

»Bist du auch ein Opfer?«

Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass ihn der Mann rechts neben ihm angesprochen hatte. Er wollte aufstehen, denn die goldene Regel im Umgang mit seltsamen Vögeln lautete: Keine Antwort geben und sich nie – aber auch gar nie – auf eine Unterhaltung einlassen.

»Wie es scheint, sind wir alle Opfer von Nicholas Flamel.«

Erschrocken schaute Josh auf – und musste feststellen, dass er Dr. John Dee vor sich hatte, den Mann, dem er nie mehr in seinem Leben begegnen wollte. Das letzte Mal hatte er ihn im Schattenreich gesehen. Da hatte er das Schwert Excalibur in der Hand gehabt. Jetzt saß er ihm gegenüber und wirkte mit seinem maßgeschneiderten grauen Anzug seltsam fehl am Platz. Rasch schaute Josh sich um. Er erwartete, Golems zu sehen oder Ratten oder sogar die Morrigan, die irgendwo im Gebüsch lauerte.

»Ich bin allein gekommen«, sagte Dee mit einem höflichen Lächeln.

Joshs Gedanken überschlugen sich. Er musste zu Flamel, musste ihn warnen, dass Dee in Ojai war. Er überlegte, was wohl passieren würde, wenn er einfach aufstand und losrannte. Würde Dee versuchen, ihn mithilfe von Magie aufzuhalten – vor all den Leuten? Josh blickte hinüber zu den drei alten Männern, und ihm dämmerte, dass sie es wahrscheinlich noch nicht einmal merken würden, wenn Dee ihn hier mitten in Ojai in einen Elefanten verwandelte.

»Weißt du, wie lange ich schon hinter Nicholas Flamel oder Nick Fleming oder wie er sich sonst noch genannt hat, her bin?«, fuhr Dee fort, leise und im Plauderton. Er lehnte sich zurück und ließ die Finger durchs Wasser gleiten. »Mindestens fünfhundert Jahre. Und immer wieder hat er mich abgehängt. Er ist raffiniert und gefährlich. Als ich ihn 1666 in London in die Enge trieb, legte er ein Feuer, das fast die ganze Stadt in Schutt und Asche legte.«

»Uns hat er gesagt, dass Sie das Große Feuer gelegt hätten«, sprudelte es aus Josh heraus.

Trotz seiner Angst war er jetzt neugierig geworden. Und plötzlich fiel ihm einer der ersten Ratschläge ein, die Flamel ihnen gegeben hatte: »Nichts ist, wie es scheint. Stellt alles infrage.« Josh fragte sich nun, ob dieser Rat auch auf den Alchemysten selbst anzuwenden war. Die Sonne war untergegangen und es war kühl geworden. Ein Schauer überlief ihn. Die drei alten Männer schlurften davon, ohne dass auch nur einer von ihnen in seine Richtung geschaut hätte. Er war jetzt zwar allein mit dem Magier, doch seltsamerweise fühlte er sich nicht bedroht.

Dees schmale Lippen deuteten ein Lächeln an. »Flamel sagt niemals und niemandem alles«, meinte er. »Wie habe ich es immer ausgedrückt? Die Hälfte von dem, was er sagt, ist gelogen, und die andere Hälfte ist auch nicht die Wahrheit.«

»Nicholas behauptet, dass Sie mit den Dunklen Älteren zusammenarbeiten und sie wieder in die Welt zurückbringen wollen, sobald Sie den vollständigen Codex haben.«

»Korrekt in allen Einzelheiten«, erwiderte Dee und überraschte Josh mit dieser Antwort. »Obwohl Nicholas die Geschichte ganz ohne Zweifel etwas verdreht hat. Ich arbeite tatsächlich mit den Älteren zusammen, und ich suche auch nach den letzten beiden Seiten von Abrahams Buch der Magie, das gemeinhin der Codex genannt wird. Aber nur, weil Flamel und seine Frau es aus der Königlichen Bibliothek im Louvre gestohlen haben.«

»Er hat es gestohlen

»Ich will dir mal ein bisschen was über Nicholas Flamel erzählen«, begann Dee geduldig. »Sicherlich hat er dir auch einiges über mich erzählt. Er war schon viel im Lauf seines Lebens: Arzt und Koch, Buchhändler, Soldat, Lehrer, Rechtsgelehrter und Dieb – und natürlich: Alchemyst. Aber er ist heute, was er immer war: ein Lügner, ein Scharlatan und ein Gauner. Er stahl das Buch aus dem Louvre, als er entdeckte, dass es nicht nur das Rezept für den Unsterblichkeitstrank enthält, sondern auch das für den Stein der Weisen. Er braut den Unsterblichkeitstrank jeden Monat, damit Perenelle und er immer genauso alt bleiben wie damals, als sie ihn zum ersten Mal getrunken haben. Mit der Formel für den Stein der Weisen verwandelt er billiges Kupfer und Blei in Gold und gewöhnliche Kohle in Diamanten. Er nutzt eine der außergewöhnlichsten Sammlungen wissenschaftlicher Erkenntnisse, die es auf der Welt gibt, ausschließlich für sich, zu seinem persönlichen Vorteil. Und das ist die Wahrheit.«

»Aber wie steht es mit Scatty und Hekate? Gehören sie zum Älteren Geschlecht?«

»Oh, absolut. Hekate war eine Erstgewesene und Scathach gehört der nächsten Generation an. Aber Hekate war eine bekannte Kriminelle. Sie war wegen ihrer Experimente mit Tieren aus Danu Talis verbannt worden. Heute würde man sie wohl eine Gentechnikerin nennen. Sie schuf zum Beispiel die Wer-Clans und brachte den Fluch der Werwölfe über die Menschheit. Ich nehme an, du hast einige ihrer Experimente gesehen – die Eber-Menschen. Scathach ist nichts weiter als ein angeheuerter Schläger, dazu verdammt, als Strafe für ihre Verbrechen für den Rest ihrer Tage im Körper eines jungen Mädchens ausharren zu müssen. Als Flamel merkte, dass ich ihm auf den Fersen war, hatte er nur die beiden, an die er sich wenden konnte.«

Josh war hoffnungslos verwirrt. Wer sagte die Wahrheit? Flamel oder Dee?

Außerdem fror er. Es war zwar noch nicht ganz dunkel, doch ein feiner Nebel hatte sich über die Stadt gelegt. Es roch nach feuchter Erde und ganz entfernt nach faulen Eiern. »Und was ist mit Ihnen? Versuchen Sie wirklich, die Älteren zurückzubringen?«

»Aber natürlich!« Dee klang überrascht. »Es ist wahrscheinlich das Einzige und Wichtigste, was ich für diese Welt tun kann.«

»Flamel sagt, dass die Älteren – die Dunklen Älteren, wie er sie nennt – die Welt vernichten würden.«

Dee zuckte mit den Schultern. »Glaub mir, er lügt. Das Ältere Geschlecht wäre in der Lage, die Welt zum Besseren zu verändern...« Dee bewegte die Finger im Wasser und die Wellen breiteten sich träge aus. Plötzlich sah Josh Bilder im Brunnen, Szenen, die Dees beruhigende Worte unterstrichen. »Vor langer, langer Zeit war die Erde ein Paradies. Es gab eine unglaublich hoch entwickelte Technologie, und dennoch war die Luft rein, das Wasser klar und die Meere waren nicht verschmutzt.«

Im Wasser erschien das sich kräuselnde Bild einer Insel unter wolkenlos blauem Himmel. Riesige Felder mit goldenem Weizen erstreckten sich von Ufer zu Ufer. Die Bäume hingen voller exotischer Früchte.

»Das Ältere Geschlecht hat die Erde nicht nur geformt, es hat sogar einen primitiven Hominiden auf den Weg in die Evolution gebracht. Doch die Erstgewesenen wurden durch den dummen Aberglauben des verrückten Abraham und die Zauberformeln aus dem Codex aus ihrem Paradies vertrieben. Aber sie starben nicht – es gehört viel dazu, einen Erstgewesenen umzubringen -, sie warteten einfach ab. Sie wussten, dass die Menschheit irgendwann wieder zu Verstand kommen und sie zurückrufen würde.«

Josh schaute wie gebannt auf das glitzernde Wasser. Vieles von dem, was Dee sagte, klang glaubhaft.

»Wenn wir sie zurückbringen können, haben die Älteren die Macht und die Fähigkeiten, die Welt zu erneuern. Sie können die Wüsten erblühen lassen...«

Im Wasser erschienen gewaltige Sanddünen, auf denen saftiges, frisches Gras wuchs.

Ein anderes Bild entstand. Josh sah die Erde aus der Luft wie bei Google Earth. Ein riesiger dunkler Wolkentrichter hatte sich über dem Golf von Mexiko gebildet und trieb Richtung Texas. »Sie können das Wetter beeinflussen«, sagte Dee, und der Tornado löste sich auf.

Dee bewegte die Finger, und das unverwechselbare Bild eines Krankenhausflurs tauchte auf, mit einer langen Reihe von Zimmern, in denen alle Betten leer waren.

»Und sie können Krankheiten heilen. Vergiss nicht, diese Geschöpfe wurden wegen ihres Wissens und ihrer Macht als Götter verehrt. Und nun versucht Flamel, uns daran zu hindern, sie auf die Erde zurückzubringen.«

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Josh die Ein-Wort-Frage herausbrachte: »Warum?«

»Weil er Älteren wie Hekate und der Hexe von Endor dient, die wollen, dass die Welt in Chaos und Anarchie versinkt. Wenn es so weit ist, können sie aus ihren Schattenreichen hervorkommen und sich zu Herrscherinnen über die Erde erklären.« Dee schüttelte traurig den Kopf. »Es schmerzt mich, dies zu sagen, aber du bist Flamel völlig gleichgültig, genauso wie deine Schwester. Er hat sie heute in schreckliche Gefahr gebracht, nur um auf die Schnelle ihre Kräfte zu wecken. Die Älteren, mit denen ich zusammenarbeite, nehmen sich drei Tage Zeit für die Erweckungszeremonie.«

»Drei Tage«, murmelte Josh. »Flamel hat gemeint, es gäbe niemanden mehr in Nordamerika, der mich erwecken könnte.« Er wollte Dee nicht glauben... und doch erschien alles, was der Mann sagte, vernünftig.

»Wieder gelogen. Meine Älteren könnten dich sehr wohl erwecken. Und sie würden es gründlich und gefahrlos tun. Schließlich ist die Sache nicht ohne.«

Dee erhob sich langsam, kam um das Becken herum und kauerte sich neben Josh, sodass er auf gleicher Augenhöhe mit ihm war. Der Nebel verdichtete sich und wälzte sich in Wirbeln und Strudeln um den Brunnen. Dees Stimme war seidenweich, ein gleichbleibend sanfter Ton, harmonisch verbunden mit dem Kräuseln des Wassers. »Wie heißt du?«

»Josh.«

»Josh, wo ist Nicholas Flamel jetzt?«

Selbst in seinem halbwachen Zustand hörte Josh in seinem Kopf eine Alarmglocke schrillen – sehr leise und sehr, sehr weit entfernt. Er konnte Dee nicht trauen. Er sollte Dee nicht trauen... Und doch klang so vieles von dem, was er sagte, glaubwürdig.

Dee ließ nicht locker. »Wo ist er, Josh?«

Josh wollte den Kopf schütteln. Auch wenn er Dee glaubte – es klang alles so logisch -, wollte er zuerst mit Sophie reden, er wollte ihre Meinung und ihren Rat einholen.

»Sag es mir.« Dee hob Joshs schlaffe Hand und hängte sie ins Wasser. Wellen breiteten sich aus und formten schließlich das Bild eines kleinen Antiquitätenladens mit Glaswaren direkt gegenüber des Libbey-Parks. Mit einem triumphierenden Lächeln sprang Dee auf und wirbelte herum. Konzentriert schaute er über die Straße, aktivierte seine Sinne.

Er hatte ihre Auren sofort gefunden.

Das Grün von Flamel, das Grau von Scathach, Endors Braun und das reine Silber des Mädchens. Er hatte sie und dieses Mal gab es keine Fehler, kein Entkommen.

»Du bleibst hier sitzen und siehst dir die hübschen Bilder an«, murmelte Dee und klopfte Josh auf die Schulter. Auf dem Wasser erschienen exotisch verschlungene Muster. Faszinierend. Hypnotisierend.

»Ich bin bald wieder da.« Dann rief er, ohne auch nur einen Muskel zu rühren, seine bereitstehende Armee herbei.

Mit einem Schlag wurde der Nebel dunkel und undurchdringlich. Es stank nach faulen Eiern und noch etwas anderem: nach Staub und trockener Erde, nach Feuchtigkeit und Schimmel.

Über Ojai brach das Grauen herein.

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG

Nicholas Flamels Hände begannen schon grün zu leuchten, als er die Ladentür öffnete und ärgerlich das Gesicht verzog, weil die Glocke fröhlich bimmelte.

Die Sonne war untergegangen, während die Hexe mit Sophie gearbeitet hatte, und ein kalter Nebel war von den umliegenden Bergen herunter ins Tal gezogen. Er wirbelte durch die Hauptstraße von Ojai, schlängelte sich durch die Bäume und überzog alles, was er berührte, mit winzigen Wassertröpfchen. Autos schlichen die Straße entlang, doch ihre Scheinwerfer schafften es kaum, die Nebelschwaden zu durchdringen. Menschen waren keine mehr unterwegs. Sie waren alle vor der Feuchtigkeit in die Häuser geflüchtet.

Scatty trat neben Flamel. Sie hatte ein kurzes Schwert in der einen Hand und ein an der Kette baumelndes Nunchaku in der anderen. »Das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.« Sie atmete tief ein. »Riechst du das?«

Flamel nickte. »Schwefel. Der Geruch von Dee.«

Scatty rasselte mit dem Nunchaku. »Langsam geht er mir wirklich auf die Nerven.«

Irgendwo in der Ferne schepperte es metallisch, als zwei Autos zusammenstießen. Die Alarmanlage eines Wagens begann zu tuten und dann hörte man einen Schrei, hoch und voller Panik, und dann noch einen und noch einen.

»Es kommt. Was immer es ist«, bemerkte Flamel grimmig.

»Ich habe keine Lust, hier hängen zu bleiben«, sagte Scatty. »Lass uns Josh finden und zum Wagen gehen.«

»Abgemacht. Wer den Rückzug antritt, lebt länger.« Flamel schaute noch einmal in den Laden. Die Hexe von Endor hielt Sophie am Arm fest und flüsterte ihr eindringlich etwas zu. Immer noch kräuselte weißer Rauch um das Mädchen herum und Fetzen von weißer Luft fielen wie Verbandsreste von ihren Fingern.

Sophie beugte sich vor und küsste die alte Frau auf die Wange, dann drehte sie sich um und lief zu Flamel und Scatty.

»Wir müssen los«, sagte sie atemlos, »wir müssen hier weg.« Sie hatte keine Ahnung, was sie auf der Straße erwartete, aber mit ihrem neuen Wissen hatte sie keine Probleme, im Nebel alle möglichen Monster zu vermuten.

»Und macht die Tür hinter euch zu!«, rief die Hexe.

Im selben Moment flackerten sämtliche Lichter auf und erloschen dann. Ojai lag im Dunkeln.

Die Glocke bimmelte noch einmal, als das Trio die Tür hinter sich zuzog und auf die menschenleere Straße trat. Der Nebel war so dicht geworden, dass die Autofahrer gezwungen waren, am Straßenrand anzuhalten. Es floss kein Verkehr mehr auf der Hauptstraße. Alles war unnatürlich still. Flamel wandte sich an Sophie. »Kannst du sagen, wo Josh ist?«

»Er wollte im Park auf uns warten.« Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, doch der Nebel war so dicht, dass selbst sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Flankiert von Flamel und Scatty trat sie vom Bürgersteig auf die Straße. »Josh? Wo bist du?« Der Nebel schluckte ihre Worte und dämpfte sie zu einem Flüstern. Sie versuchte es noch einmal: »Josh?«

Keine Antwort.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie streckte die rechte Hand mit gespreizten Fingern aus. Ein Luftstoß ging von ihrer Hand aus, doch er hatte keinerlei Auswirkung auf den Nebel, außer dass sich Strudel bildeten und um sie her tanzten. Bei Sophies zweitem Versuch fegte ein eisiger Wind über die Straße und schnitt einen sauberen Korridor in den Nebel. Er streifte auch die hintere Stoßstange eines mitten auf der Straße abgestellten Wagens und hinterließ eine Beule. »Huch«, murmelte Sophie, »ich glaube, ich muss noch ein bisschen üben.«

Eine Gestalt trat in die Lücke im Nebel, danach eine zweite und eine dritte. Und keine war lebendig.

Am nächsten bei Sophie, Flamel und Scatty stand ein vollständiges Skelett, groß und aufrecht. Die Reste eines blauen Uniformmantels der US-Kavallerieoffiziere hingen in Fetzen an ihm und in den Knochenfingern hielt es den rostigen Stumpf eines Schwerts. Als es ihnen den Kopf zuwandte, knirschten die Halswirbel.

»Totenbeschwörung«, keuchte Flamel. »Dee hat die Toten aufgeweckt.«

Eine weitere Gestalt tauchte aus dem Nebel auf: Es war die Leiche eines Mannes mit einem riesigen Hammer, wie ihn die Streckenarbeiter der Eisenbahn bei sich trugen. Dahinter kam ein weiterer Toter; das Fleisch, das noch an ihm war, glich gegerbtem Leder. Zwei lederne Pistolengürtel schlackerten um seine Hüften, und als er die Gruppe sah, griffen seine Skelettfinger automatisch nach den nicht vorhandenen Waffen.

Sophie war starr vor Schreck. Der Wind aus ihren Fingern legte sich. »Sie sind tot«, flüsterte sie. »Skelette. Mumien. Alle tot.«

»Du sagst es«, bestätigte Scatty sachlich. »Skelette und Mumien. Es hängt davon ab, in welcher Art von Boden sie beerdigt wurden. In feuchter Erde gibt’s Skelette.« Sie machte einen Schritt nach vorn, ließ das Nunchaku wirbeln und schlug einem weiteren Haudegen, der versucht hatte, ein verrostetes Gewehr an die Schulter zu heben, glatt den Kopf ab. »Trockene Erde ergibt Mumien. Aber egal ob Skelett oder Mumie, wehtun können sie dir immer noch.« Der skelettierte Kavallerieoffizier mit dem abgebrochenen Schwert holte aus und sie wehrte den Hieb mit ihrem eigenen Schwert ab. Seine rostige Klinge zerbröselte. Scatty holte ein zweites Mal aus und trennte den Kopf vom Körper, der augenblicklich in sich zusammenfiel.

Obwohl sich die schlurfenden Gesellen vollkommen lautlos bewegten, hörte man jetzt von allen Seiten Schreie. Und obwohl der Nebel sie dämpfte, waren Angst und schieres Entsetzen deutlich herauszuhören. Die Bewohner von Ojai hatten mitbekommen, dass die Toten durch ihre Straßen marschierten.

Der Nebel wimmelte nur so von den Gestalten. Sie näherten sich dem Trio von allen Seiten und kesselten sie mitten auf der Straße ein. Im Wirbel der Nebelschwaden wurden für kurze Zeit immer mehr Skelette und Mumien sichtbar: Soldaten in den zerfetzten blauen und grauen Uniformen des Bürgerkriegs; Farmer in altmodischen Arbeitshosen; Cowboys mit abgewetzten Lederstulpen über zerrissenen Jeans; Frauen in langen, weiten Röcken, die in Fetzen an ihnen hingen; Minenarbeiter in speckigem Wildleder.

»Er hat den Friedhof einer dieser alten, verlassenen Städte um Ojai geöffnet!«, rief Scatty. Sie stand mit dem Rücken zu Sophie und verteilte Hiebe in alle Richtungen. »Die Kleider hier stammen alle aus der Zeit vor 1880.« Zwei Skelett-Frauen in den Resten ihres Sonntagsstaats mit passenden Hauben kamen mit ausgestreckten Armen auf ihren Knochenfüßen über die Hauptstraße geklappert. Scattys Schwert schnitt ihnen den Weg ab, doch langsamer wurden sie deshalb nicht. Scatty steckte das Nunchaku in den Gürtel, zog das zweite Schwert, kreuzte die Waffen vor sich und schlug dann beide Köpfe gleichzeitig ab. Sie kullerten in den Nebel, während die Skelette zu Knochenhaufen zerfielen.

»Josh!«, rief Sophie noch einmal mit vor Verzweiflung ganz hoher Stimme. »Josh! Wo bist du?« Vielleicht waren die Mumien und Skelette zuerst bei ihm gewesen. Vielleicht tauchte er im nächsten Augenblick aus dem Nebel auf – mit leerem Blick und verdrehtem Kopf. Sie schüttelte sich, um die schaurigen Gedanken loszuwerden.

Flamels Hände leuchteten kalt und grün und in der feuchten Luft lag der Geruch nach Minze. Er schnippte mit den Fingern und schickte eine grünlich lodernde Flamme in die Nebelbänke. Sie glühte smaragdgrün und aquamarinblau, doch ansonsten zeigte der Zauber keinerlei Wirkung. Als Nächstes warf Flamel eine kleine grüne Lichtkugel zwei schwankenden Skeletten direkt vor die Füße. Feuer züngelte über sie weg und verbrannte die Reste ihrer Südstaaten-Uniformen. Sie kamen dennoch mit klappernden Knochen näher und hinter ihnen waren hundert weitere.

»Sophie, hol die Hexe! Wir brauchen ihre Hilfe!«

»Aber sie kann uns nicht helfen«, rief Sophie verzweifelt. »Sie hat keine Kraft mehr. Alle Kraft, die sie hatte, hat sie mir gegeben.«

»Alle?«, keuchte Flamel und duckte sich unter einer Faust weg. Er legte die Hand mitten auf den Brustkorb des toten Schlägers und gab ihm einen Schubs. Das Skelett taumelte in die Menge und zerfiel. »Okay, Sophie, dann musst du etwas tun!«

»Was denn?« Was konnte sie gegen eine Armee von Untoten ausrichten? Sie war fünfzehn Jahre alt!

»Egal! Irgendetwas!«

Ein mumifizierter Arm schoss aus dem Nebel und eine Faust traf sie an der Schulter. Es fühlte sich an wie ein Schlag mit einem nassen Handtuch.

Angst, Ekel und Wut verliehen ihr Kräfte. Sie konnte sich zwar an nichts mehr erinnern, was die Hexe ihr beigebracht hatte, doch dafür übernahm jetzt ihre Intuition – oder vielleicht instinktiv auch das von der Hexe vermittelte Wissen. Sophie ließ ihre Wut und Verzweiflung in ihre Aura einfließen. Die leuchtete in reinem Silber auf und plötzlich war die Luft erfüllt von intensivem Vanilleduft. Sophie hielt sich die zur Schale geformte rechte Hand vors Gesicht, blies hinein und schleuderte ihren Atem unter die Toten. Eine zwei Meter hohe Windhose, ein Minitornado sozusagen, wuchs aus dem Boden, saugte die am nächsten stehenden Toten ein und zerrieb ihre Knochen. Die Splitter spuckte er wieder aus. Sophie warf einen zweiten und einen dritten Luftball. Die drei Tornados wirbelten zwischen den Skeletten und Mumien umher und schlugen Schneisen der Verwüstung. Sophie fand heraus, dass sie die Tornados in eine bestimmte Richtung lenken konnte, indem sie einfach nur dorthin schaute. Schon wirbelten sie zu der angepeilten Stelle.

Plötzlich dröhnte Dees Stimme aus dem Nebel. »Gefällt dir meine Armee, Nicholas?« Der Nebel dämpfte den Klang und machte es unmöglich zu sagen, woher die Stimme kam. »Als ich das letzte Mal in Ojai war – es ist schon über hundert Jahre her -, entdeckte ich einen wunderbaren kleinen Friedhof direkt unterhalb der Three Sisters Peaks. Die Stadt, zu der er gehörte, gibt es längst nicht mehr, aber die Gräber samt Inhalt sind geblieben.«

Flamel wehrte sich verbissen gegen schlagende Fäuste, kratzende Fingernägel und tretende Füße. Es war keine echte Kraft hinter den Hieben der Skelette und den Schlägen der Mumien, aber was ihnen an Kraft fehlte, machten sie durch Masse wett. Sie waren einfach zu viele. Unter Flamels rechtem Auge bildete sich ein blauer Fleck und auf seinem Handrücken prangte ein langer Kratzer. Scatty tänzelte um Sophie herum und verteidigte sie, während sie die Tornados dirigierte.

»Ich weiß nicht, wie lange der Friedhof in Betrieb war. Ein paar hundert Jahre bestimmt. Ich habe auch keine Ahnung, wie viele Leichen dort begraben wurden. Ein paar Hundert, vielleicht auch ein paar Tausend. Und ich habe sie alle gerufen, Nicholas!«

»Wo ist er?«, fragte Flamel mit zusammengebissenen Zähnen. »Er muss in der Nähe sein – er muss sogar sehr nah sein, um diese vielen Leichen dirigieren zu können. Ich muss wissen, wo er ist, damit ich etwas gegen ihn unternehmen kann.«

Sophie spürte, wie eine Welle der Erschöpfung sie überkam, und plötzlich knickte einer ihrer Tornados ein und verschwand. Die beiden verbleibenden wankten hin und her – umso stärker, je mehr Sophies Kräfte nachließen. Die Erschöpfung war der Preis dafür, dass sie zaubern konnte, das wurde ihr jetzt klar. Aber sie musste noch eine Weile durchhalten. Sie musste ihren Bruder finden.

»Wir müssen hier weg.« Scathach fing Sophie auf und hielt sie aufrecht. Die Skelette unternahmen einen erneuten Vorstoß und Scatty schlug sie mit präzisen Schwerthieben zurück.

»Josh«, murmelte Sophie müde. »Wo ist Josh? Wir müssen ihn finden.«

Auch wenn der Nebel Dees Stimme verzerrte – die Schadenfreude darin war unüberhörbar, als er sagte: »Und soll ich dir verraten, was ich noch entdeckt habe? Die Berge hier haben im Lauf der Jahrtausende außer den Menschen auch noch andere Kreaturen angelockt. Das Land hier ist mit Knochen übersät. Hunderte von Knochen. Und denk dran, Nicholas, ich bin zuallererst und vor allem anderen ein Totenbeschwörer.«

Der Bär, der aus der grauen Nebelbank auftauchte, war mindestens zweieinhalb Meter groß. Die schneeweißen Knochen ließen die gewaltigen, degenähnlichen Krallen noch gefährlicher erscheinen.

Hinter dem Bären tauchte das Skelett eines Säbelzahntigers auf. Dann ein Puma und noch ein Bär – etwas kleiner als der erste und noch nicht ganz so lange tot.

»Ein Wort von mir hält sie auf«, rief Dee. »Ich will nur die Seiten des Codex.«

»Nein«, murmelte Flamel grimmig. »Wo ist er? Wo versteckt er sich?«

»Wo ist mein Bruder?«, fragte Sophie verzweifelt und schrie auf, als eine Knochenhand in ihr Haar fuhr. Scatty hackte sie am Gelenk ab, aber die Hand blieb im Haar hängen wie eine bizarre Spange. »Was haben Sie mit meinem Bruder gemacht?«

»Dein Bruder überdenkt gerade seine Möglichkeiten. Es gibt in diesem Kampf noch andere Parteien als die eure. Und jetzt, wo ich den Jungen habe, brauche ich nur noch die Seiten.«

»Niemals.«

Der Bär und der Tiger stürmten durch die Menge der Leichen, stießen sie beiseite und trampelten über sie hinweg, so eilig hatten sie es, zu dem Trio zu gelangen. Der Säbelzahntiger erreichte sie als Erster. Der glatte, glänzende Schädel war riesig und die beiden nach unten zeigenden Reißzähne mindestens 20 cm lang. Flamel stellte sich zwischen Sophie und das Katzenskelett.

»Gib die Seiten heraus, Nicholas, oder ich lasse die untoten Bestien auf die Stadt los.«

Nicholas durchforstete verzweifelt sein Gehirn nach einer Zauberformel, die das Tier aufhalten würde. Er bereute es jetzt bitter, dass er sich nicht eingehender mit Magie beschäftigt hatte. Er schnippte mit den Fingern und eine winzige Lichtkugel rollte dem Tiger vor die Füße.

»Ist das alles, was du zustande bringst, Nicholas? Meine Güte, du zeigst Schwächen.«

Die Kugel platzte und es gab einen grünen Fleck auf dem Boden.

»Er ist nah genug, dass er uns sehen kann«, sagte Nicholas. »Ich muss nur einen einzigen kurzen Blick auf ihn werfen können.«

Der Tiger trat mit seiner rechten Vorderpranke in den grünen Lichtfleck. Und blieb kleben. Er versuchte, den Fuß zu heben, doch zähe grüne Schleimfäden hielten ihn am Boden fest. Dann trat er mit der linken Pfote in den Lichtfleck und auch die blieb kleben.

»Doch nicht ganz so schwach, was?«, rief Flamel.

Doch der Druck der anderen Tiere auf den Tiger hielt an und schob ihn vorwärts. Plötzlich lösten sich die knochigen Pranken und die riesige Bestie flog nach vorn. Flamel konnte gerade noch die Arme hochreißen, bevor sie mit aufgerissenem Kiefer auf ihm landete.

»Mach’s gut, Nicholas Flamel«, rief Dee. »Jetzt brauche ich mir die Seiten nur noch zu greifen. Als Leiche wehrst du dich nicht mehr dagegen.«

»Nein«, flüsterte Sophie. Nein, so durfte es nicht enden. Sie war erweckt worden und die Hexe von Endor hatte all ihr Wissen auf sie übertragen. Sie musste etwas tun können. Sophie öffnete den Mund und schrie. Ihre Aura flammte silberweiß auf.

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG

Josh erwachte mit dem Schrei seiner Schwester im Ohr. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor er wusste, wo er war: Er saß auf dem Rand des Brunnenbeckens im Libbey-Park, und um ihn herum waberte dichter, stinkender Nebel, in dem er verschwommen irgendwelche Schattengestalten wahrnahm.

Sophie!

Er musste zu seiner Schwester. Rechts von ihm, mitten in dem grauschwarzen Nebel, flackerte grünes Licht. Silber blitzte auf, ließ den Nebel von innen aufleuchten und warf monsterhafte Schatten. Sophie war da, auch Flamel und Scathach, und sie kämpften gegen diese Monster. Er musste zu ihnen.

Mit zitternden Knien stand er auf und sah direkt vor sich Dr. John Dee.

Dee war von einer blassgelben Aura umgeben. Der Mann hatte ihm den Rücken zugekehrt und stützte sich mit beiden Armen auf der niedrigen Mauer neben dem Trinkwasserspender ab, aus dem Josh zuvor getrunken hatte. Dee konzentrierte sich ganz auf das Geschehen auf der Straße, das er ganz offensichtlich befehligte. Er zitterte vor Anstrengung, die scheinbar endlose Schlange der Gestalten unter Kontrolle zu halten. Skelette – es waren alles Skelette! Erst jetzt bemerkte Josh, dass sich noch andere Wesen im Nebel verbargen. Er erkannte die sterblichen Reste von Bären und Tigern, Berglöwen und Wölfen.

Josh hörte Flamel rufen und Sophie schreien, und sein erster Gedanke war, sich auf Dee zu stürzen. Aber wahrscheinlich wäre er gar nicht erst an ihn herangekommen. Was konnte er gegen diesen mächtigen Magier ausrichten? Er war nicht wie seine Zwillingsschwester. Er besaß keinerlei magische Kräfte.

Aber das hieß noch lange nicht, dass er zu nichts zu gebrauchen war.



Von Sophies Schrei ging eine Schockwelle eisiger Luft aus, die den Säbelzahntiger pulverisierte und die am nächsten stehenden Skelette zurücktrieb. Der riesige Bär sackte zu Boden und begrub ein Dutzend Skelette unter sich. Die Druckwelle hatte auch ein paar Nebelfetzen weggerissen, und erst jetzt erkannte Sophie, mit welcher enormen Macht sie es zu tun hatten. Das waren nicht Dutzende oder Hunderte, das waren Tausende Toter aus dem Westen der USA, die da die Straße heruntermarschierten. Dazwischen liefen die knöchernen Reste der Tiere, die jahrhundertelang in den umliegenden Bergen gejagt hatten. Sie wusste nicht, was sie noch tun konnte. Der Einsatz ihrer magischen Kräfte laugte sie völlig aus. Erschöpft sank sie gegen Scathach, die sie mit dem linken Arm auffing, während sie mit dem rechten das Schwert schwang.

Flamel versuchte, sich verbissen zusammenzureißen, aber auch seine Energiereserven waren erschöpft, und er war in den letzten Minuten merklich gealtert. Die Falten um seine Augen herum waren tiefer, seine Haare weniger geworden. Scathach wusste, dass er es nicht mehr lang aushalten würde.

»Gib ihm die Seiten, Nicholas«, drängte sie.

Er schüttelte störrisch den Kopf. »Nein. Das kann ich nicht. Ich habe mein ganzes Leben dem Schutz des Buches gewidmet.«

»Wer den Rückzug antritt, lebt länger«, erinnerte sie ihn.

Wieder schüttelte er den Kopf. Er stand vornübergebeugt da und atmete keuchend. Seine Haut war totenbleich, nur auf den Wangen leuchteten zwei unnatürlich rote Flecken. »Das ist die Ausnahme von der Regel, Scathach. Wenn ich ihm die Seiten gebe, ist das unser aller Untergang – Perenelle und die ganze Welt mit eingeschlossen.« Er richtete sich auf und wandte sich den Gestalten zu. »Könntest du bitte Sophie wegbringen?«

Scathach schüttelte den Kopf. »Ich kann die Bestien nicht abwehren und gleichzeitig Sophie tragen.«

»Könntest du allein entkommen?«

»Ich könnte mir den Weg freikämpfen«, erwiderte sie vorsichtig.

»Dann geh, Scatty. Flieh. Geh zu den anderen Älteren. Nimm Kontakt zu den unsterblichen Menschen auf, erzähle ihnen, was hier passiert ist, bekämpfe die Dunklen, bevor es zu spät ist.«

»Ich lasse dich und Sophie hier nicht im Stich«, sagte Scathach bestimmt. »Wir stehen das zusammen durch – bis zum Ende. Wie immer das aussehen mag.«

»Zeit zu sterben, Nicholas Flamel«, rief Dee aus dem Nebel.

»Ich werde dafür sorgen, dass Perenelle in allen Einzelheiten von diesem Augenblick erfährt.«

Ein Zittern ging durch die Menge der Menschen- und Tier-Skelette, dann preschten alle auf einmal vorwärts.



Ein Ungeheuer tauchte aus dem Nebel auf.

Riesig und schwarz, mit zwei großen weißgelben und Dutzenden von kleineren Augen, die alle funkelten und glühten, stob es mit wildem Gebrüll mitten durch den Libbey-Park-Brunnen, zermalmte ihn zu Staub, zerschmetterte die Wasserschalen und stürzte sich auf Dr. John Dee.

Der Totenbeschwörer konnte sich gerade noch zur Seite werfen, bevor der schwarze Geländewagen in die Wand donnerte und mit der Schnauze nach unten darin stecken blieb. Die Hinterräder hingen in der Luft, der Motor heulte. Die Fahrertür ging auf, Josh stieg aus und ließ sich vorsichtig auf den Boden gleiten. Er presste die Hand auf die Brust, wo der Sicherheitsgurt ihn gehalten hatte.

Die Hauptstraße von Ojai war mit den Überresten der längst Toten übersät. Ohne Dee, der sie konzentriert befehligte, waren sie zusammengefallen zu nichts weiter als einem Haufen Knochen.

Josh stolperte auf die Straße und suchte sich einen Weg zwischen Knochen und Kleiderfetzen hindurch. Unter seinen Füßen knirschte es, aber er schaute gar nicht hin.


Und plötzlich waren die Skelette verschwunden.

Sophie hatte keine Ahnung, was geschehen war. Sie hatte ein donnerndes Röhren gehört, das Kreischen und Knirschen von Metall und Stein. Und dann Stille. Und in der Stille waren die Toten umgefallen wie gemähtes Gras. Was hatte Dee noch auf Lager?

Eine Gestalt kam im wirbelnden Nebel auf sie zu.

Flamel sammelte den letzten Rest seiner Energie in einer massiven Kugel aus grünem Glas. Sophie straffte die Schultern und versuchte ebenfalls, noch etwas Energie zu aktivieren. Scathach ließ die Fingerknöchel knacken. Man hatte ihr einmal vorhergesagt, dass sie an einem exotischen Ort sterben würde. Konnte man Ojai als exotisch bezeichnen?

Die Gestalt kam näher.

Flamel hob die Hand – und Josh trat aus dem Nebel.

»Ich habe den Wagen geschrottet«, sagte er.

Sophie stieß einen Freudenschrei aus. Sie rannte auf ihren Bruder zu – und aus dem Freudenschrei wurde ein Schrei des Entsetzens. Das Bären-Skelett hatte sich wieder aufgerichtet und stand nun mit erhobenen Pranken hinter Josh.

Scathach setzte sich in Bewegung. Sie stieß Josh unsanft zur Seite, sodass er in einem Knochenberg landete, und parierte mit ihrem Schwert den Hieb der Bärentatze. Funken sprühten. Eines nach dem anderen rappelten sich die Skelette wieder auf. Zwei riesige Wölfe erhoben sich, tauchten bleich aus dem Nebel auf...

»Hierher! Los, kommt! Hierher!« Die Stimme der Hexe drang von der anderen Straßenseite zu ihnen herüber und das helle Rechteck einer offenen Tür leuchtete einladend.

Scatty stützte Flamel, und Josh musste seine Schwester halb tragen, als sie über die Straße zum Laden rannten. Die Hexe von Endor stand in der Tür, schaute mit blinden Augen in die Nacht und hielt eine altmodische Öllaterne hoch. »Ihr müsst hier weg.« Sie zog die Tür zu und legte die Riegel vor. »Das wird sie nicht lange aufhalten«, brummte sie.

»Ich dachte... ich dachte, du hättest keine Kraft mehr«, flüsterte Sophie.

»Ich habe auch keine mehr.« Ein Lächeln huschte über Doras Gesicht. »Aber der Ort hier hat noch welche.« Sie führte sie durch den Laden in ein winziges Hinterzimmer. »Wisst ihr, was Ojai zu etwas so Besonderem macht?«

Etwas krachte gegen die Tür und sämtliche Glaswaren klirrten und klimperten.

»Unter der Stadt kreuzen sich Kraftlinien.«

Josh öffnete den Mund und hatte schon das Wort »Kraftlinien« auf der Zunge, als Sophie ihm ins Ohr flüsterte: »Energielinien, die sich über den ganzen Globus ziehen.«

»Woher weißt du das?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich von der Hexe. Viele der berühmtesten Gebäude und archäologischen Fundstätten der Welt befinden sich am Schnittpunkt von Kraftlinien.«

»Genau.« Dora klang hochzufrieden. »Ich hätte es nicht besser erklären können.«

Das kleine Hinterzimmer war leer bis auf ein langes, schmales rechteckiges Etwas, das an der Wand lehnte und in vergilbte Ausgaben der Ojai Valley Times eingeschlagen war.

Draußen wurde weiter gegen das Schaufenster gehämmert und das Kratzen von Knochen auf Glas machte sie alle nervös.

Dora riss die Zeitungen ab und enthüllte einen Spiegel. Er war über zwei Meter hoch, gut einen Meter breit, staubig und fleckig, und das, was sich darin spiegelte, war leicht verzerrt und verschwommen. »Und wisst ihr, was mich überhaupt nach Ojai geführt hat?«, fragte die Hexe weiter. »Hier kreuzen sich sieben bedeutende Kraftlinien. Sie bilden ein Tor.«

»Hier?«, wisperte Flamel. Er wusste um die Kraftlinien und hatte von den Toren gehört, die die Erstgewesenen benutzten, um die Welt innerhalb von Augenblicken zu durchqueren. Dass immer noch welche existierten, hatte er nicht gedacht.

Dora tippte mit dem Fuß auf den Boden. »Genau hier. Und weißt du, wie man ein von Kraftlinien gebildetes Tor öffnet?«

Flamel schüttelte den Kopf.

Dora streckte die Hand nach Sophie aus. »Gib mir die Hand, Kind.« Sie nahm sie und legte sie auf das Glas. »Man nimmt einen Spiegel.«

Augenblicklich begann der Spiegel zu leuchten, das Glas glühte silbern und wurde dann klar. Als sie hineinschauten, sahen sie nicht mehr sich selbst, sondern einen kahlen, kellerähnlichen Raum.

»Wo?«, fragte Flamel.

»Paris.«

»Frankreich.« Er lächelte. »Daheim.«

Und ohne zu zögern trat Flamel in das Spiegelglas. Es nahm ihn auf, als wäre es aus Luft, und jetzt sahen ihn die anderen in dem Raum im Spiegel. Flamel drehte sich um und winkte sie zu sich herüber.

»Ich hasse diese Tore«, murmelte Scatty. »Mir wird immer ganz schlecht davon.«

Auch Scatty sprang durch das Glas und kam neben Flamel wieder auf die Füße. Als sie sich zu den Zwillingen umdrehte, sah sie aus, als müsse sie sich gleich übergeben.

Das Bären-Skelett trottete einfach durch die Ladentür und riss sie dabei aus den Angeln. Die Wölfe und Pumas folgten. Vasen fielen um, Spiegel gingen zu Bruch, und Glasfigürchen zersprangen, als die Bestien durch den Laden trampelten.

Ein mit Schrammen und blauen Flecken übersäter Dee kam hereingerannt und stieß die Tiere beiseite. Ein Puma schnappte nach ihm und er gab ihm eins auf die Schnauze.

»Jetzt hab ich euch!«, rief Dee triumphierend. »Ihr sitzt in der Falle und kommt nicht mehr raus!«

Doch als er ins Hinterzimmer trat, traf ihn wie ein Schlag die Gewissheit, dass seine Feinde ihm wieder einmal entwischt waren. Es dauerte nur einen Herzschlag lang, bis Dee die Lage erfasst hatte: den hohen Spiegel, die beiden Gestalten darin, die herausschauten, die alte Frau, die neben dem Mädchen stand, deren Hand wiederum aufs Glas drückte... Der Junge stand auf der anderen Seite und hielt sich am Spiegelrahmen fest. Dee wusste sofort, worum es sich handelte. »Ein Krafttor«, flüsterte er ehrfürchtig. Immer waren es Spiegel, die als Tore fungierten. Irgendwo am anderen Ende der Kraftlinie musste wieder ein Spiegel stehen.

Die alte Frau nahm das Mädchen und schob sie durchs Glas. Sophie purzelte Flamel vor die Füße und drehte sich sofort wieder um. Ihre Lippen bewegten sich, doch es war nichts zu hören. Josh.

Dee fixierte den Jungen und befahl: »Bleib, wo du bist, Josh.«

Josh wandte sich dem Spiegel zu. Das Bild darin verblasste schnell und war nur noch verschwommen zu erkennen.

»Was ich dir über Flamel gesagt habe, war die Wahrheit«, sagte Dee eindringlich. Er brauchte den Jungen nur noch eine oder zwei Minuten lang abzulenken, dann würde der Spiegel seine Kraft verlieren. »Bleib hier bei mir. Ich kann dich erwecken. Dir Macht verleihen. Du kannst mithelfen, die Welt zu verändern. Sie besser zu machen!«

»Ich weiß nicht...«

Das Angebot war verlockend. So verlockend. Aber Josh wusste, wenn er bei Dee blieb, würde er seine Schwester vollends verlieren. – Wirklich? Wenn Dee seine Kräfte ebenfalls weckte, wären sie einander wieder ebenbürtig. Vielleicht war das auch eine Möglichkeit, sich seiner Schwester wieder anzunähern...?

»Schau doch hin«, sagte Dee und zeigte auf das immer schwächer werdende Bild im Spiegel. »Sie haben dich erneut im Stich gelassen. Du bist ihnen nicht mehr wichtig.«

Im Spiegel blitzte es silbern auf – und mit einem Mal sprang Sophie wieder aus dem Glas heraus und ins Zimmer. »Josh? Beeile dich«, keuchte sie, ohne Dee anzusehen.

»Ich...«, begann er. »Du bist wegen mir zurückgekommen?«

»Natürlich bin ich wegen dir zurückgekommen. Du bist mein Bruder. Wie könnte ich dich je im Stich lassen?«

Sophie griff nach seiner Hand, zog ihn zum Spiegel und dann mit einem Ruck durch das Glas.

Dora gab dem Spiegel einen Schubs, sodass er umkippte und in tausend Stücke zerbarst. »Huch!« Sie drehte sich zu Dee um und nahm ihre dunkle Brille ab, damit er ihre Spiegelaugen sehen konnte. »Du solltest jetzt besser gehen. Du hast ziemlich genau drei Sekunden Zeit.«

Dee schaffte es nicht ganz auf die Straße, bevor der Laden explodierte.

KAPITEL VIERZIG


FILMGESELLSCHAFT SORGT FÜR CHAOS IM BESCHAULICHEN OJAI

Der jüngste der vielen Horrorfilme der Enoch-Studios sorgte gestern in der Innenstadt von Ojai für Verkehrschaos und Panik. Die Spezialeffekte waren für einige Bewohner etwas zu realistisch, und in der Rettungszentrale gingen Notrufe ein von Menschen, die behaupteten, die Toten marschierten durch ihre Straßen.

John Dee, Vorstand der Enoch Films, einer Tochtergesellschaft der Enoch Unternehmensgruppe, entschuldigte sich vielmals für die Verwirrung. Grund dafür seien ein Stromausfall und ein für die Jahreszeit ungewöhnlich dichter Nebel gewesen, der aufgetreten sei, als gerade eine Szene aus dem neuen Film gedreht werden sollte. »Das hatte zur Folge, dass die außergewöhnlichen Effekte außergewöhnlich gruselig wirkten«, erklärte sein Sprecher.

Aufgrund des allgemeinen Chaos fuhr ein betrunkener Autofahrer durch den historischen Libbey-Park-Brunnen und kam in der erst kürzlich renovierten Pergola zum Stehen. Dee versprach, Brunnen sowie Pergola baldmöglichst wieder in ihrer alten Pracht erstrahlen zu lassen.

Ojai Valley Nachrichten



EXPLOSION ZERSTÖRT ANTIQUITÄTENGESCHÄFT

Gestern zerstörte eine Gasexplosion am späten Abend das Ladengeschäft der seit Langem in Ojai ansässigen Dora Witcherly. Durch einen elektrischen Defekt entzündeten sich Lösungsmittel, mit denen die Besitzerin ihre Antiquitäten säuberte und polierte. Miss Witcherly war zum Zeitpunkt des Unglücks im Hinterzimmer des Ladens. Sie blieb unverletzt, doch die Tatsache, dass sie dem Tod nur knapp entronnen war, beeindruckte sie offenbar wenig. »Wenn Sie so lange gelebt haben wie ich, überrascht Sie nichts mehr«, meinte sie.

Miss Witcherly versprach, den Laden bald wiederzueröffnen.

Ojai Online

KAPITEL EINUNDVIERZIG

Jief in den Katakomben von Alcatraz lag Perenelle Flamel auf einer schmalen Pritsche, das Gesicht der hinteren Zellenwand zugekehrt. Draußen auf dem Flur klackten die Krallen der Sphinx auf den kalten Steinplatten auf und ab. Perenelle überlief ein Schauer. In der Zelle war es eiskalt und nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt lief grünlich gefärbtes Wasser die Zellenwand herunter.

Wo war Nicholas? Was war geschehen?

Perenelle hatte Angst, aber nicht um sich selbst. Die Tatsache, dass sie noch am Leben war, bedeutete, dass Dee sie zu irgendetwas brauchte und sie ihm früher oder später gegenüberstehen würde. Und wenn Dee eine Schwäche hatte, war es Hochmut. Er würde sie unterschätzen... Und dann würde sie zuschlagen. Es gab da eine ganz besondere Zauberformel, die sie in den Karpaten in Transsylvanien gelernt hatte und die sie sich für ihn aufsparte.

Wo war Nicholas?

Sie hatte Angst um Nicholas und die Zwillinge. Sie konnte kaum einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, doch nach den Falten auf ihren Handrücken zu urteilen, war sie um mindestens zwei Jahre gealtert, also mussten zwei Tage vergangen sein. Perenelle seufzte. Nicholas und sie hatten nur noch einen knappen Monat Zeit, bevor sie an Altersschwäche sterben würden. Und wenn niemand mehr da war, der sich ihnen in den Weg stellte, würden Dee und seine Handlanger die Welt erneut in Dunkelheit stürzen. Das wäre das Ende jeder Zivilisation.

Wo war Nicholas?

Perenelle blinzelte ein paar Tränen fort. Die Genugtuung, sie weinen zu sehen, wollte sie der Sphinx nicht gönnen. Die Wesen des Älteren Geschlechts hatten für menschliche Gefühle nur Verachtung übrig. Sie hielten sie für die größte Schwäche der Menschheit. Perenelle aber wusste, dass sie ihre größte Stärke waren.

Sie blinzelte erneut, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie sah.

Das stinkende Wasser, das an der Wand herunterlief, hatte sich verändert und bildete nun ein flaches Muster. Sie schaute genauer hin und versuchte, in dem Muster etwas zu erkennen.

Im Wasser erschien ein Gesicht. Das von Jefferson Miller, dem Geist des Wachmanns. Die Wassertropfen formten Buchstaben auf der moosbewachsenen Wand.

Flamel. Zwillinge.

Die Worte standen keinen Herzschlag lang da, bevor sie wieder zerflossen.

In Sicherheit.

Jetzt musste Perenelle heftig blinzeln, um weiter klar sehen zu können. Nicholas und die Zwillinge waren in Sicherheit!

Ojai. Krafttor. Paris.

»Danke!«, hauchte Perenelle tonlos, als Jefferson Millers Gesicht sich auflöste und die Wand hinunterfloss. Sie hatte noch so viele Fragen – doch jetzt wenigstens auch ein paar Antworten: Nicholas und die Geschwister waren in Sicherheit. Sie waren offenbar in Ojai gewesen und hatten die Hexe von Endor getroffen. Die musste das Krafttor geöffnet und sie nach Paris versetzt haben, woraus man schließen konnte, dass die Hexe ihnen auch sonst geholfen und Sophie in die Luftmagie eingewiesen hatte.

Perenelle wusste, dass es der Hexe nicht gegeben war, Joshs Kräfte zu wecken, doch in Paris und überall in Europa lebten Erstgewesene, die vielleicht helfen konnten, die Josh erwecken und die Zwillinge in der Magie der fünf Elemente ausbilden konnten.

Perenelle drehte sich auf der Pritsche um. Die Sphinx kauerte jetzt vor ihrer Zelle, den Frauenkopf vorgeneigt, die mächtigen Flügel auf dem Rücken zusammengefaltet. Sie lächelte träge.

»Es geht zu Ende, Unsterbliche«, flüsterte die Sphinx.

Perenelles Lächeln war strahlend. »Im Gegenteil. Jetzt fängt es erst richtig an.«

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