Als sie sich der Hütte auf zwanzig Schritte genähert hatten, hielt Andrej das Pferd an und hob die Hand.

»Was?«, fragte Abu Dun knapp. Seine Rechte senkte sich auf den Griff des Krummsäbels.

Andrej konzentrierte sich für einen Moment. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte er. »Da ist Blut.«

»Blut?« Abu Dun sah ihn verständnislos an. »Was meinst du damit?«

»Blut«, wiederholte Andrej, Er machte eine Kopfbewegung zur Hütte hin.

»Dort drinnen. Ich kann es riechen.«

»Riechen? Auf diese Entfernung?« Abu Duns Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was er von dieser Behauptung hielt.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, wiederholte Andrej. »Bleib zurück.«

»Dein Vertrauen ehrt mich zutiefst«, sagte Abu Dun, erntete damit aber nur einen weiteren ärgerlichen Blick Andrejs.

»Ich brauche jemanden, der mir Rückendeckung gibt«, schnappte Andrej.

»Hier stinkt es geradezu nach einer Falle!«

Der spöttische Ausdruck verschwand von Abu Duns Zügen. Stattdessen sah der Nubier plötzlich angespannt und aufs Höchste konzentriert aus. Gleichzeitig mit Andrej schwang er sich vom Pferd und zog seine Waffe. Er musste einen Schmerzensschrei unterdrücken, drehte sich aber herum, um die Wiese und den mit Felsbrocken und - trümmern durchsetzten Waldrand auf der anderen Seite im Auge zu behalten.

Andrej näherte sich der Hütte mit äußerster Vorsicht. Der Blutgeruch wurde stärker, aber aus der offen stehenden Tür drang nicht der mindeste Laut. Er ging schneller, blieb dicht vor der Tür noch einmal stehen und trat dann ein, das Schwert halb erhoben und die linke Hand abwehrend vorgestreckt.

Da die Hütte keine Fenster hatte und er direkt aus dem grellen Licht der Mittagssonne kam, benötigten selbst seine überscharfen Augen einige Sekunden, bis er sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatte, dass er wenigstens Schemen erkennen konnte.

Die Hütte war winzig, ein einziger drei mal fünf Schritte messender Raum, dessen spärliche Einrichtung vollkommen zertrümmert war.

Hier musste ein gnadenloser Kampf getobt haben.

Aber er war vermutlich nicht von langer Dauer gewesen.

Vater Ludowig lag verkrümmt in einem Winkel der Hütte. Er lebte noch, wie seine röchelnden Atemzüge bewiesen, aber schon das war ein Wunder. Selbst ein viel jüngerer und kräftigerer Mann hätte die furchtbaren Verletzungen und den schrecklichen Blutverlust kaum überleben können.

Andrej schob das Schwert in die Scheide, ging zu ihm und kniete neben dem sterbenden Pfarrer nieder. Ludowigs Augen waren geschlossen. Aus den tiefen Schnitt- und Risswunden an seinem Hals und in seinem Gesicht lief noch immer das Blut. Er würde sterben.

Andrej streckte die Hand nach dem so zerbrechlich aussehenden Hals des alten Mannes aus, um ihm eine letzte Gnade zu erweisen und sein Leiden zu beenden, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Es war nicht notwendig. Er sah, dass Ludowig nicht noch einmal erwachen würde.

Erfüllt von Trauer und Zorn richtete Andrej sich auf und suchte den Boden mit Blicken ab. Er fand die Spur fast sofort. Ein verschmierter blutiger Abdruck, der zu einem Wesen gehörte, das nicht ganz Mensch, aber auch nicht vollständig Tier war, sondern eine widernatürliche Mischung aus beidem. Sie führte vom Leichnam des Priesters fort zur Tür und brach dann ab, aber Andrej wusste, wohin sie führen würde. Dennoch ließ er sich noch einmal in die Hocke sinken und streckte die Hand aus. Die Spur war noch frisch; das Blut noch nicht eingetrocknet.

Rasch stand er auf und trat wieder aus der Hütte. Abu Dun war mittlerweile näher gekommen und führte die beiden Pferde an Zügeln hinter sich her. Er stellte keine Frage. Ein Blick in Andrejs Gesicht reichte, um zu wissen, was geschehen war. Abu Dun saß auf, als Andrej noch zehn Schritte entfernt war und zu laufen begann. Er drehte die Pferde in die Richtung, in die sie nun reiten würden, und hielt Andrej den Zügel hin. Sie sprengten los, kaum dass Andrej in den Sattel gesprungen war.

»Wie lange ist es her?«, schrie Abu Dun über das Donnern der Pferdehufe hinweg.

»Nicht lange!«, rief Andrej zurück. »Nur ein paar Minuten. Vielleicht holen wir ihn noch ein, bevor er die Schattenklamm erreicht!«

Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl, zu Abu Dun zu gehören.

Es waren nur Winzigkeiten; die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich verständigten und mit der jeder zu wissen schien, was der andere dachte und von ihm erwartete.

Für die Strecke, die Günther und ihn fast einen halben Tag gekostet hatte, brauchten sie kaum eine Stunde. Zwei- oder dreimal glaubte Andrej, eine geduckt huschende Gestalt im hohen Gras zu sehen, aber jedes Mal erwies es sich nur als Täuschung oder als Schatten, der ihnen Bewegung vorgaukelte.

Andrej ließ sein Pferd in einen raschen Trab und schließlich in Galopp fallen, nahm das Tempo aber schließlich wieder zurück, als deutlich wurde, dass Abu Dun nicht mithalten konnte, ohne sich über die Maßen zu verausgaben.

In Gedanken gemahnte er sich zur Vorsicht. Auch wenn Abu Dun sich bemühte, es sich nicht anmerken zu lassen, befand er sich in einem Zustand, in dem jeder andere Mann schon längst vor Erschöpfung zusammengebrochen wäre. Er aber war viel zu stolz, um das zuzugeben.

Andrej musste auf ihn Acht geben.

»Und jetzt?«, fragte Abu Dun, als sie endlich am Eingang der Schattenklamm angelangt waren. Vor ihnen hörte der Grasboden auf und ging in den steinigen Untergrund der Schlucht über. Andrej schwieg einen kurzen Moment, dann schwang er sich aus dem Sattel und ließ sich in die Hocke sinken.

Es war unheimlich. Der Geruch war ganz schwach; nur ein Hauch. Aber er war wahrnehmbar - als Mischung aus Fäulnis, altem Blut und Wildaroma.

»Es ist hier entlanggekommen«, sagte er. »Vor nicht allzu langer Zeit.« Er war fast sicher, dass die Fährte alt war, möglicherweise mehrere Tage. Es war der Geruch von etwas Gefährlichem und Wildem.

Abu Dun runzelte die Stirn. »An dir ist ein Bluthund verloren gegangen«, sagte er.

Andrej sah zornig zu ihm hoch. Abu Dun grinste noch einen Moment lang weiter, dann erlosch sein Grinsen und machte einem ernsten Ausdruck Platz.

»Entschuldige.«

Andrej stand auf, drehte sich herum, um wieder in den Sattel zu steigen und beließ es bei einem Kopfschütteln. Mit den Pferden würden sie noch zwanzig Schritte weit kommen.

Ohne dass es eines weiteren Wortes bedurft hätte, stieg auch Abu Dun ab und ließ sich vorsichtig zu Boden sinken. Sie nahmen ihr Gepäck, wandten sich um und drangen Seite an Seite tiefer in die Schattenklamm ein. Andrej beobachtete Abu Dun aus den Augenwinkeln. Der Nubier hielt scheinbar mühelos mit ihm Schritt, aber seine Bewegungen waren längst nicht so forsch und sicher, wie er es von früher kannte. Andrej konnte riechen, dass Abu Dun nicht gesund war.

Sie brauchten annähernd doppelt so lange, um das Ende der Klamm zu erreichen, als Andrej erwartet hatte. Abu Dun wollte sofort weitergehen, aber Andrej schüttelte den Kopf und ließ das Gepäck von der Schulter gleiten.

»Wir machen eine Pause«, sagte er. »Die Kletterei wird anstrengend genug.«

»Und du bist der Meinung, dass ich es nicht schaffe«, ergänzte Abu Dun ärgerlich.

»Ich bin nicht einmal sicher, dass ich es schaffe«, antwortete Andrej mit einer Geste auf den steil ansteigenden, mit Geröll und Felstrümmern übersäten Hang. »Wenn ich dieses Monstrum wäre, dann würde ich genau dort oben warten. Sollten wir vollkommen erschöpft dort oben ankommen, dann gäbe es keine Fluchtmöglichkeit, falls wir in einen Hinterhalt geraten.«

Abu Duns Gesichtsausdruck machte deutlich, was er von dieser Erklärung hielt. Er schwieg jedoch, ließ sich in den Schatten eines Felsens sinken und schloss die Augen. Im nächsten Augenblick war er eingeschlafen und begann lautstark zu schnarchen.

Andrej gönnte ihm zwei Stunden Ruhe, bevor er ihn wieder weckte und sie ihren Weg fortsetzten. Abu Duns Dankbarkeit drückte sich in einem Schwall bissiger Bemerkungen über die verlorene Zeit aus. Seine Bewegungen waren weder kraftvoller noch sicherer geworden. Aber wenigstens war er nicht noch schwächer geworden.

Erst am späten Nachmittag erreichten sie das obere Ende des Hanges; eine felsige Hochebene ohne Vegetation, über die der Wind pfiff und die so öde und feindlich wirkte, wie sich Andrej die Rückseite des Mondes vorstellte.

Der Weg den Hang hinauf war kaum länger als eine halbe Meile gewesen, aber viel steiler, als Andrej befürchtet hatte. Nicht nur Abu Duns, sondern auch seine eigenen Kräfte hatten mehrmals versagt, und sie hatten in immer kürzeren Abständen anhalten und sich ausruhen müssen. Jetzt blieb ihnen nur noch wenig Tageslicht, und Andrej hatte das Gefühl, dass sie weiter von ihrem Ziel entfernt waren denn je.

Abu Dun sprach aus, was Andrej nur dachte. »Wenn deine Ungeheuer wirklich hier oben sind, dann müssen sie sehr genügsam sein«, sagte er, während sein sich Blick langsam und sehr misstrauisch über die kahle Weite vor ihnen tastete. Die Hochebene war nicht endlos, aber doch groß genug, um die verschwommenen Schatten an ihrem Ende wie ein neues Gebirge aussehen zu lassen, das in einem anderen Land lag.

Als er nicht antwortete, sah Abu Dun ihn stirnrunzelnd an und fragte: »Hast du die Fährte wieder aufgenommen?«

»Ich bin kein Hund«, sagte Andrej verärgert. Er wollte noch weit mehr sagen, aber er beherrschte sich. Sie waren beide müde, erschöpft und reizbar.

Außerdem kam Abu Duns Bemerkung der Wahrheit näher, als Andrej zugeben wollte. Die unheimliche Verbesserung seiner Sinneswahrnehmungen hatte ihn bisher allenfalls verwirrt, aber mittlerweile machte sie ihm Angst.

»Das ist schade«, sagte Abu Dun nach einer Weile. »Dann werden wir sie wohl kaum finden.« Er schüttelte müde den Kopf. »Nimm es mir nicht übel, Hexenmeister - aber das war keine von deinen besseren Ideen. Lass uns zurückgehen.«

Andrej blickte zweifelnd den Hang hinab. Der Abstieg würde noch schwieriger werden, als es der Aufstieg gewesen war, und damit noch länger dauern. Er schüttelte den Kopf.

»Morgen«, sagte er, »bei Sonnenaufgang.«

»Du scheinst ganz versessen darauf zu sein, hier oben zu übernachten, wie?«

»Ich bin überhaupt nicht versessen darauf, auf halber Strecke zu übernachten«, antwortete Andrej, »oder mir zwischen den Felsen den Hals zu brechen. Und ich ...« Er brach ab.

»Und was?«, fragte Abu Dun.

Andrej schwieg. Abu Dun wollte seine Frage wiederholen, aber Andrej machte eine rasche, mahnende Geste und legte mit geschlossenen Augen den Kopf zur Seite, um zu lauschen.

Er hörte nur das Geräusch des Windes, der fast ungehindert über die Ebene strich und sich heulend an Felsen und Findlingen brach. Und trotzdem.

»Sie sind hier«, sagte er.

Abu Dun blickte ihn zweifelnd an, aber Andrej wiederholte sein Nicken und deutete in die Leere hinaus. Nichts rührte sich, und er konnte auch nichts von ihnen hören, so angestrengt er auch lauschte. Aber er konnte sie spüren. Sie waren da, und es waren mehrere Werwölfe. Zwei, vielleicht sogar drei.

»Bist du sicher?«, fragte Abu Dun, und seine Stimme klang brüchig.

»Ja«, antwortete Andrej. »Sie kommen näher.«

Mahnend hob er die Hand, damit Abu Dun zurückblieb - vielleicht zum ersten Mal, seit er Abu Dun kannte, musste er nicht fürchten, dass der Nubier ungestüm voran und vielleicht mit offenen Augen ins Verderben lief -, zog sein Schwert und machte einen vorsichtigen Schritt. Er strengte seine Augen so sehr an, dass es schmerzte, aber er sah dennoch nicht mehr als Schatten und eingebildete Bewegungen, die nur eine Ausgeburt seiner überreizten Nerven waren.

»Ich sehe nichts«, sagte Abu Dun nach einer Weile. »Bist du ganz sicher?«

»Sie können sich doch nicht unsichtbar machen, zum Teufel«, murmelte Andrej. Aber konnten sie das wirklich nicht? Er wusste so entsetzlich wenig über die Geschöpfe, mit denen sie es zu tun hatten. Nicht mehr als das, was sie von Bruder Thobias erfahren hatten.

»Da!«

Abu Duns Schrei war gellend. Die drei Schemen tauchten wie aus dem Nichts auf, struppig-geduckte Schatten mit glühenden Augen und messerscharfen gekrümmten Reißzähnen, die sich mit absoluter Lautlosigkeit bewegten und mit einer Schnelligkeit, dass Andrejs Blicke ihnen kaum folgen konnten.

»Was immer passiert, sie dürfen dich nicht verletzen!«, rief er. Dann waren die Ungeheuer näher gekommen, und ihm blieb keine Zeit für weitere Erklärungen.

Andrej empfing den ersten Werwolf mit einem wuchtigen, beidhändig geführten Schwertstreich, von dem er fürchtete, dass er ins Leere gehen würde, noch bevor er die Waffe ganz gehoben hatte. Er wusste aus leidvoller Erfahrung, wie übermenschlich schnell und stark die unheimlichen Monster waren.

Dennoch erfüllte der Schwerthieb seinen Zweck. Der Angreifer duckte sich mit geradezu spielerisch anmutender Leichtigkeit unter Andrejs Klinge weg, aber er war für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt. Mehr brauchte Andrej nicht. Er vollführte eine blitzartige halbe Drehung, riss den Fuß in die Höhe und fegte dem Ungetüm die Beine unter dem Leib weg. Gleichzeitig warf er sich zur Seite und führte das Schwert in einer komplizierten, nach oben gerichteten Drehbewegung, um den zweiten Gegner in Empfang zu nehmen.

Andrej hatte weder damit gerechnet, den ersten Werwolf mit seinem Tritt tatsächlich zu Boden zu werfen, noch damit, dass sein Schwertstreich treffen würde.

Aber er warf den Angreifer zu Boden, und seine Klinge traf und bohrte sich knirschend in Fleisch und zerbrechende Knochen. Ein markerschütterndes schrilles Heulen erklang. Blut spritzte, und die furchtbare Wucht, mit der die Klinge aufprallte und den Widerstand nicht nur traf, sondern zerschmetterte, hätte ihm die Waffe um ein Haar aus der Hand gerissen.

Andrej stolperte haltlos nach vorn und machte einen raschen Ausfallschritt, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Gleichzeitig fuhr er herum, um sich dem dritten Monster zuzuwenden.

Es war nicht mehr nötig.

Seine Abwehr hatte wenig Zeit in Anspruch genommen, doch diese kurze Spanne hatte auch Abu Dun gereicht, um mit seinem Gegner fertig zu werden. Er richtete sich gerade wieder auf. Sein Atem ging schwer, und die Klinge seines Krummsäbels schimmerte im Mondlicht schwarz vom Blut des getöteten Werwolfes. Der Ausdruck auf seinem Gesicht glich eher Verblüffung als Schrecken.

Der Werwolf, den Andrej zu Boden geschleudert hatte, kam umständlich wieder auf die Beine. Seine Bewegungen wirkten fahrig und fast kraftlos. Sie hatten nichts mehr von der schattenhaften Anmut und Schnelligkeit, die Andrej bei seiner ersten Begegnung mit einem dieser Ungeheuer so erschreckt hatten.

Der Begegnung, die ihm fast zum Verhängnis geworden wäre.

Abu Dun hob sein Schwert, aber Andrej machte eine rasche Geste, und der Nubier erstarrte mitten in der Bewegung.

»Warte«, mahnte Andrej. »Irgendetwas stimmt nicht.«

Abu Dun murrte. Aber er blieb stehen und betrachtete das struppige Geschöpf stirnrunzelnd, statt es sofort anzugreifen.

Der Werwolf hatte sich taumelnd erhoben und bleckte drohend die Zähne - nur, dass die Geste nicht wirklich drohend wirkte, sondern ...

... ängstlich.

Andrej war fassungslos. Das Geschöpf wirkte so abstoßend wie nichts anderes, das Andrej je zu Gesicht bekommen hatte - aber es hatte Angst.

Und es war krank.

Andrej konnte es riechen; einen sachten, aber wahrnehmbaren Geruch nach Krankheit und Tod, der sich unter den Raubtiergestank des Werwolfes gemischt hatte und ihn an das Fieber und die Schmerzen erinnerte, die er selbst für endlose Tage kennen gelernt hatte.

Er wiederholte seine mahnende Geste in Abu Duns Richtung, raffte all seinen Mut zusammen und trat der Bestie einen Schritt entgegen. Das Schwert hatte er gesenkt, hielt es aber immer noch zur Verteidigung bereit in der rechten Hand.

»Hör mir zu«, sagte er, langsam und fast übermäßig betont, damit die Kreatur ihn verstand. »Du kannst mich verstehen, habe ich Recht?«

Der Werwolf fauchte; ein Laut, der katzenhaft klang. Sein schreckliches Gebiss schnappte in Andrejs Richtung, aber auch diesmal wirkte die Bewegung eher Mitleid erregend. Andrej senkte das Schwert weiter.

»Wir wollen dich nicht töten«, fuhr er fort. »Es ist nicht notwendig, dass wir gegeneinander kämpfen. Hast du das verstanden?«

Das Ungeheuer starrte ihn noch einen Moment lang aus brennenden Augen an - und fuhr mit einer rasend schnellen Bewegung herum, um in der Dunkelheit zu verschwinden.

Abu Dun riss mit einem Fluch das Schwert hoch und setzte ihm nach. Er schaffte jedoch nur zwei Schritte, ehe er mit einem gemurmelten Fluch die Verfolgung abbrach und zurückkam.

»Das war wirklich klug von dir, Hexenmeister«, grollte er. »Wir hätten das Biest erwischen können!«

Andrej antwortete nicht gleich, sondern sah einen Moment konzentriert in die Richtung, in die der Werwolf verschwunden war. Er konnte den schwächer werdenden Geruch des Geschöpfes noch immer wittern. Es war ein vertrauter Geruch. Und doch: Etwas hatte sich geändert. Zu all der unstillbaren Blutgier, dem Zorn und Hass auf alles Lebendige und Atmende war etwas Neues hinzugekommen, ein Empfinden, das alles andere überlagerte und mit jedem Atemzug stärker wurde: Verzweiflung. Eine dumpfe, bohrende Verzweiflung.

Ein Gefühl jenseits aller Hoffnung und allen Selbstbetruges, das aus dem unumstößlichen Wissen um den bevorstehenden Untergang gespeist wurde.

»Sie haben Angst«, sagte er leise.

»Angst.« Abu Dun sprach das Wort auf die gleiche Art aus, auf die er vielleicht einen Schluck kostbaren Wein auf der Zunge zergehen lassen würde. Dann nickte er. »Wenn die anderen nicht besser sind als diese drei, dann haben sie allen Grund, Angst zu haben.«

Andrej warf ihm einen verärgerten Blick zu, auf den Abu Dun mit einem breiten Grinsen antwortete. Andrej schürzte wütend die Lippen und drehte sich mit einem Ruck herum.

Mit zwei schnellen Schritten war er neben dem Werwolf, den er mit dem Schwert niedergeschlagen hatte, und ließ sich neben der verwundeten Kreatur auf ein Knie hinabsinken.

Das Geschöpf hatte das Bewusstsein verloren, und Andrej musste kein zweites Mal hinsehen, um zu wissen, dass es auch nicht wieder erwachen würde. Sein Schwerthieb hatte dem Ungeheuer eine tiefe Wunde zugefügt. Sie blutete so stark, dass der sterbende Werwolf in einer Blutlache lag; warmes, pulsierendes Rot, das nach Verfall und Tod zugleich roch, abstoßend und so unglaublich verlockend, dass er all seine Willenskraft aufbieten musste, um sich nicht vorzubeugen und die Lippen in den warmen Strom zu tauchen, die Lebenskraft des Geschöpfes in sich aufzunehmen und ...

»Andrej?«

Irgendetwas war in Abu Duns Stimme, das ihn aufschrecken ließ. Andrej fuhr hoch und blinzelte verständnislos in Abu Duns Gesicht, das mit einer Mischung aus Sorge und mühsam unterdrücktem Entsetzen auf ihn hinabsah.

Er wusste nicht mehr, was er gesagt hatte, was er gedacht hatte. Was er getan hatte.

»Ist alles in Ordnung?«

Allein das Zittern in Abu Duns Stimme verriet, dass ganz und gar nichts in Ordnung war. Trotzdem nickte Andrej, stemmte sich hoch und blickte einen Herzschlag lang verständnislos seine eigenen Hände an. Sie waren schmutzig und dunkelrot und schwarz von halb eingetrocknetem Blut. Nicht von seinem Blut.

Er fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Kinn und spürte eine klebrige Wärme, die an seinen Wangen und auf seinen Lippen haftete. In seinem Mund war süßlicher Kupfergeschmack, und er fühlte sich so lebendig und stark wie seit Ewigkeiten nicht mehr, aber zugleich auch von einem Entsetzen gepackt, das nicht zu beschreiben war.

Großer Gott - hatte er das Blut... getrunken ?

Er starrte Abu Dun an, las die Antwort auf seine unausgesprochene Frage in dessen Augen und fuhr herum, um so schnell in die Dunkelheit zu stürmen, wie er nur konnte.

Selbst einem Menschen, der nicht über Andrejs besondere Fähigkeiten verfügte, wäre es vermutlich nicht besonders schwer gefallen, der Spur der Kreatur zu folgen. Die Hochebene war nicht so kahl, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Es gab dünnes Moos und niedrige, dornenbesetzte Büsche, durch die der flüchtende Werwolf rücksichtslos gebrochen war. Obwohl sich Andrej nicht erinnern konnte, auch dieses Geschöpf verwundet zu haben, gab es eine dünne, aber deutliche Blutspur.

Abu Dun hielt die ganze Zeit Abstand zu Andrej. Die wenigen Male, als sich ihre Blicke trafen, wich Abu Dun ihm aus, als hätte er Angst, dass Andrej etwas in seinen Augen lesen könnte, das er dort nicht lesen sollte.

Sie erreichten ihr Ziel schnell: eine große, unregelmäßig geformte Höhle, die im schrägen Winkel in den Berg hineingestanzt zu sein schien.

Steintrümmer und Geröll bildeten einen asymmetrisch geformten Fächer auf dem Boden direkt vor der Höhle. Ein leichter, aber sehr unangenehmer Geruch wehte ihnen entgegen und wies ihnen den Weg. Es war der Geruch von faulendem Fleisch, Blut, aber auch von etwas anderem, Schlimmeren.

Andrej blieb drei Schritte vor dem Eingang stehen und zog sein Schwert wieder aus dem Gürtel, bevor er sich zu Abu Dun umwandte. Der Nubier war vier Schritte hinter ihm stehen geblieben und musterte ihn auf eine Art, die Andrej einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Auch er hatte seine Waffe wieder gezogen, aber Andrej war plötzlich nicht mehr sicher, warum.

»Sie sind dort drin«, sagte er.

Abu Dun nickte. Er sagte nichts.

»Vielleicht wäre es besser, wenn ...« Andrej zögerte einen Moment und setzte dann mit festerer Stimme noch einmal an: »Vielleicht sollte ich besser allein gehen.«

Abu Dun grinste. »Hast du Angst, ich könnte etwas sehen, was mir schadet?«, fragte er.

»Vielleicht«, antwortete Andrej ernst.

»Nein«, erwiderte Abu Dun grimmig. »Wir gehen beide dort hinein oder keiner.« Sein Grinsen wurde breiter und erinnerte für einen winzigen Moment wieder an den alten Abu Dun, den Andrej kannte. »Glaubst du, ich habe Lust, mir die nächsten fünf Jahre die Geschichten deiner ausgedachten Heldentaten anhören zu müssen? Auch meine Geduld kennt Grenzen, Hexenmeister.«

»Wie du meinst«, antwortete Andrej, leise und sehr ernst. »Aber ich warne dich. Wenn eines dieser Ungeheuer dich verletzt, werde ich dich töten.«

»Wenn ich dadurch so werde wie du, dann würde ich nichts anderes von dir erwarten«, antwortete Abu Dun, immer noch grinsend, aber im gleichen ernsten Tonfall wie Andrej. »Und ich verspreche dir dasselbe«, fügte er leise hinzu.

Dazu ist es zu spät, mein Freund, dachte Andrej bitter. Aber vielleicht werde ich dieses Versprechen dennoch von dir einfordern.

Er sah Abu Dun noch einen Moment lang durchdringend in die Augen, dann wandte er sich um und trat gebückt durch den niedrigen Höhleneingang. Er hätte es niemals laut ausgesprochen, aber er war unendlich froh, Abu Dun bei sich zu wissen.

Andrej lauschte mit angehaltenem Atem. Da waren Geräusche, die nicht natürlichen Ursprungs waren, aber sie waren zu leise und zu weit entfernt, um sie einordnen zu können.

Er hob die Hand, damit Abu Dun zurückblieb, bis sich seine Augen an das blasse Licht in der Höhle gewöhnt hatten. Es dauerte nur wenige Momente, bis sich ihr Inneres in das gewohnte unheimliche Labyrinth aus grauen und silberfarbenen Schatten verwandelte und er wenigstens einige Schritte weit sehen konnte.

»Dort hinten.« Seine Schwertspitze deutete auf einen unregelmäßig geformten Spalt am hinteren Ende der Höhle, der tiefer in den Berg hineinführte. Er war sehr schmal. Andrej war nicht sicher, ob er sich wünschen sollte, dass Abu Dun hindurchpasste.

Er lauschte einen Moment. Die Geräusche wurden deutlicher, und er ging mit klopfendem Herzen weiter.

Er hatte Angst. Nicht Angst vor dem Tod. Oder Angst davor, angegriffen oder verletzt zu werden, sondern Angst vor dem, was er vielleicht entdecken würde, wenn er durch diesen Spalt ging.

Das Erste, was er sah, war trübrotes blasses Licht, das hinter der Biegung eines steil nach unten führenden Ganges flackerte, in den der Spalt mündete.

An manchen Stellen war er so niedrig, dass Andrej sich auf Hände und Knie niederlassen musste, um seinen Weg fortzusetzen. Mindestens einmal hörte er Abu Dun hinter sich schmerzerfüllt grunzen, als er versuchte, seine breiten Schultern mit aller Gewalt durch den schmalen Spalt zu quetschen.

Andrej spürte die Nähe des Werwolfs, lange bevor er ihn sah. Das Geschöpf lauerte hinter der Gangbiegung. Er konnte seinen Zorn spüren, seinen grenzenlosen Hass auf alles Lebendige und vor allem Schöne, der das Geschöpf zerfraß - aber vor allem spürte er seine Angst.

Es kostete Andrej nicht die geringste Mühe, dem Krallenhieb der Bestie auszuweichen, als er sich auf Händen und Knien um die Gangbiegung schob.

Blitzschnell packte er den zuschlagenden Arm der Bestie, verdrehte ihn mit einem harten Ruck und warf sich gleichzeitig zur Seite. Der Angreifer stieß ein schrilles, hündisches Heulen aus, verlor den Boden unter den Füßen und prallte mit furchtbarer Wucht gegen den Felsen. Aus dem erschrockenen Heulen wurde ein fast menschliches Kreischen, das in ein Wimmern überging.

Der Kampf wäre vorüber gewesen, noch bevor er wirklich begonnen hatte, wäre der Gang nur ein wenig höher gewesen.

Als Andrej auf die Füße sprang und sein Schwert hob, prallte sein Kopf so heftig gegen die Höhlendecke, dass ihm für einen Moment die Sinne schwanden. Er sank auf die Knie, biss die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken und kämpfte mit aller Macht darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Bittere Galle sammelte sich unter seiner Zunge. Das Schwert in seiner Hand wurde schwerer und schwerer. Er nahm nur noch Schatten und huschende Bewegungen wahr.

Als sich sein Blick klärte und der pochende Schmerz in seinem Hinterkopf nachzulassen begann, hatte sich der Werwolf wieder in eine halb hockende Stellung erhoben. Seine schrecklichen fingerlangen Reißzähne waren drohend gebleckt. Die Augen des Wesens glühten düster und unheimlich. Bruder Thobias hätte vielleicht eine natürliche Erklärung dafür gefunden, aber Andrej schien es, als blicke er direkt in die Hölle.

Die Kreatur versuchte sich aufzurichten, aber ihre Bewegungen waren fahrig und hatten keine Kraft mehr. Die furchtbaren Klauen, die Fleisch und Knochen so mühelos zerreißen konnten, kratzten hilflos über den Stein. Statt sich abzustoßen und auf seinen Gegner zu stürzen, fiel der Werwolf nach vorn. Sein missgestalteter Kiefer schlug mit solcher Wucht auf dem Stein auf, dass einer seiner Zähne abbrach und Blut aus seiner durchgebissenen Zunge über seine Lippen sprudelte. Aus dem drohenden Knurren wurde ein Mitleid erregendes Winseln.

Andrejs Gedanken klärten sich allmählich. Er hörte, wie sich Abu Dun hinter ihm durch den Felsspalt schob, und der Lärm, den er dabei verursachte, verriet ihm, dass der Nubier versuchte, sein Schwert zu heben und sich aufzurichten.

»Nicht«, sagte er hastig.

Er wusste nicht, ob Abu Dun auf seine Warnung reagierte, aber der Werwolf hob ruckartig den Kopf und starrte ihn an. Ein Ausdruck unsagbarer Qual erschien in seinen Augen, und plötzlich war alles, was Andrej empfand, ein tiefes, schmerzerfülltes Mitleid. In der Qual dieses bedauernswerten Geschöpfes erkannte er seine eigene wieder.

»Nicht«, sagte er noch einmal. Diesmal galt das Wort dem Werwolf, und in den Schmerz des Geschöpfes mischte sich eine verzweifelte Hoffnung.

Andrej senkte langsam und zitternd das Schwert. Die Spitze der hundertfach gefalteten, scharfen Waffe aus Damaszenenstahl deutete nun nicht mehr auf das Gesicht der Kreatur. Die dunkelrot glühenden Augen des Geschöpf es flackerten.

Noch immer waren sie von Misstrauen und brodelndem Hass erfüllt.

»Nicht«, sagte Andrej zum dritten Mal. »Wir müssen nicht kämpfen. Es ist nicht nötig, dass wir uns gegenseitig töten.«

Es war nicht zu erkennen, ob das Geschöpf seine Worte tatsächlich verstand, oder ob es nur auf den beruhigenden Ton oder seine Gesten reagierte. Aber als der Werwolf sich das nächste Mal in die Höhe stemmte, waren seine Bewegungen nur noch abwehrend. Seine Fänge und Krallen blitzten drohend, aber er würde nicht mehr angreifen. Andrej konnte seine Angst riechen.

»Was bedeutet das?«, fragte Abu Dun hinter ihm. Seine Stimme zitterte vor Anspannung.

»Still!«, sagte Andrej erschrocken. »Er wird uns nichts tun. Aber mach jetzt keinen Fehler, ich flehe dich an!«

Langsam senkte er weiter das Schwert. Die Spitze der Klinge berührte den Felsboden mit einem klirrenden, nachhallenden Laut, und ein Zucken durchlief den Werwolf. Der Zorn in seinen Augen war nun endgültig erloschen. Andrej sah nur noch Angst und vollkommene Hoffnungslosigkeit.

Da fasste er einen Entschluss. Sehr viel vorsichtiger als beim ersten Mal richtete er sich auf, schob das Schwert in den Gürtel und streckte dem Werwolf die nackte Hand entgegen. Abu Dun sog entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Wir sind nicht deine Feinde«, sagte Andrej, langsam, laut und übermäßig betont, damit das Geschöpf seine Absicht verstand, wenn schon nicht die Worte.

Der Werwolf winselte. In einer verkrümmten Haltung, zu der er weniger durch die niedrige Höhlendecke als vielmehr durch seinen missgestalteten Körper gezwungen wurde, stand er da.

»Bei Allah!«, keuchte Abu Dun. »Was tust du?«

»Nicht!«, sagte Andrej erschrocken. »Bitte, Abu Dun, schweig!« Ich hoffe, ich weiß, was ich tue.

Der Werwolf blickte Abu Dun und ihn abwechselnd und mit flackerndem Blick an. Seine schrecklichen Klauen öffneten und schlossen sich ununterbrochen, aber trotz der dolchlangen mörderischen Krallen hatte diese Geste nichts Bedrohliches mehr.

Andrej konnte nicht sagen, wie viel Abu Dun sah, aber was er erblickte, zog sein Herz zu einem harten Stein zusammen.

Das Geschöpf sah entsetzlich aus. Andrej fragte sich, ob es der Werwolf war, der Abu Dun und ihn attackiert hatte, aber er bezweifelte es. Das Wesen sah nicht so aus, als sei es in der Lage, sich schnell zu bewegen. Seine Beine waren ungleich lang, und das linke Knie war so unförmig angeschwollen, dass es fast unmöglich schien, dass das Wesen mehr als einen oder zwei Schritte tun konnte, ohne zu stürzen. Dasselbe galt für die Arme: Wo Ellbogen-, Schulter- und Handgelenke sein sollten, waren grässlich angeschwollene, nässende Geschwüre und verhärtete Knorpel. Der Körper des bemitleidenswerten Geschöpfes war mit zahllosen eiternden Geschwüren und Wunden übersät, und auch das Blut, das über seine Lippen quoll, schien nicht allein aus seiner zerbissenen Zunge zu stammen.

»Bei Allah«, murmelte Abu Dun. Seine Stimme bebte. »Was ... was ist das?«

Statt zu antworten, trat Andrej mit ausgestreckter Hand einen halben Schritt weiter auf die Kreatur zu. Der Werwolf schnappte nach ihm. Seine Zähne schlugen mit einem alarmierenden Laut zehn Zentimeter vor Andrejs Fingern zusammen, aber selbst diese Bewegung war lediglich ein weiterer Ausdruck seiner Furcht.

»Verstehst du mich?«, fragte Andrej. Gott im Himmel, wenn es dich gibt, dann mach, dass es mich versteht! Lass es nicht so enden!

Das Geschöpf verstand ihn.

Es konnte nicht antworten. Wenn es jemals menschliche Stimmbänder gehabt hatte, dann waren sie längst nicht mehr in der Lage, verständliche Laute oder gar Worte zu bilden. Dennoch verstand Andrej es, vielleicht, weil etwas in ihm schon zum Teil der Welt dieses entsetzlichen Geschöpfes geworden war.

»Ich gehe jetzt weiter«, sagte Andrej betont. »Ich will dir nichts tun. Und ich glaube, du willst mir auch nichts tun - habe ich Recht?«

»Du bist völlig wahnsinnig«, murmelte Abu Dun. »Es wird dich zerreißen, sobald du ihm auch nur eine Sekunde lang den Rücken zudrehst.«

Noch vor wenigen Augenblicken hätte Andrej diese Einschätzung geteilt.

Aber seit er die grenzenlose Verzweiflung in den Augen des Geschöpfes erblickt hatte, war sein Misstrauen verschwunden. Er machte erneut eine besänftigende Geste in Abu Duns Richtung, dann nahm er die Hand vom Schwertgriff und schob sich langsam, mit angehaltenem Atem und ohne die Kreatur auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen, an dem Werwolf vorbei. Der Gang war so schmal, dass sie sich fast berührten, obwohl Andrej sich mit dem Rücken an der Wand entlang schob. Er konnte den sauren Schweiß des Ungeheuers riechen, seine Krankheit, und die rasende Furcht, die in ihm wühlte.

Endlich hatte er das Ende des niedrigen Stollens erreicht. Vor ihm weitete sich der Fels zu einer gut zehn Meter hohen und mindestens fünfmal so langen steinernen Kathedrale, die von zwei fast erloschenen Feuern in düsteres, blutfarbenes Licht getaucht wurde, das so schwach war, dass selbst er Mühe hatte, mehr als Schatten zu erkennen.

Andrej richtete sich auf und trat zwei Schritte in die Höhle hinein.

Es waren fünf, und Andrej wagte nicht zu sagen, wie viele von ihnen noch am Leben waren, oder wie lange sie es noch sein würden.

Die Hölle tat sich auf. Aber vielleicht war es auch nur ein Blick in seine eigene Zukunft, den er erhaschte.

»Bei Allah!«, keuchte Abu Dun hinter ihm. »Was ... was ist das ? Ich ...« Er begann zu würgen. Offensichtlich konnte er mehr sehen, als Andrej angenommen hatte.

Langsam und mit zitternden Knien trat Andrej an die größere der beiden Feuerstellen heran. Die fünf Gestalten waren in einem unregelmäßigen Halbkreis darum verteilt. Es waren zwei ausgewachsene und drei kleinere Gestalten, aber es war Andrej unmöglich, mehr über sie zu sagen, nicht einmal ihr Geschlecht ließ sich bestimmen. Auch nicht, welcher Art sie angehörten.

Was Andrej erblickte, das war eine grässliche Mischung aus Mensch, Tier und ... noch etwas, das zu beschreiben ihm die Worte fehlten.

»Aber das ... das kann es nicht geben«, stammelte Abu Dun. »Das ... das kann nicht sein!«

Andrej wollte antworten, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er hatte gedacht, dass das Geschöpf draußen im Gang das Entsetzlichste wäre, was er je gesehen hatte. Doch diese fünf Gestalten hier waren ... bemitleidenswerte Missgeburten, die einfach nicht leben konnten.

Andrej sank erschüttert auf die Knie und streckte die Hand nach einer zarten, kindergroßen Gestalt aus, wagte es aber nicht, die Bewegung zu Ende zu führen. Seine Finger zitterten, nur Zentimeter von einem Gesicht entfernt, das einmal menschlich gewesen sein mochte.

Andrej schloss stöhnend die Augen. »Großer Gott«, flüsterte er.

»Gott?«, murmelte Abu Dun mit mühsam beherrschter, aber trotzdem hörbar zitternder Stimme. »Wenn euer Gott so etwas zulässt, Hexenmeister, dann bin ich froh, nie zu ihm gebetet zu haben.«

Andrej riss sich mühsam von dem entsetzlichen Anblick los, und es kostete ihn noch einmal unendlich viel Kraft, sich dazu zu zwingen, auch die anderen Gestalten aufmerksamer zu betrachten. Eine war offensichtlich tot, die anderen lagen im Sterben. Andrej war sicher, dass keine von ihnen die Nacht überstehen würde. Er betete, dass es so sein würde.

Schlurfende Schritte näherten sich; Schritte wie von jemandem, der nur mühsam sich zu bewegen im Stande war, und dem jede noch so kleine Regung unendliche Mühe und grenzenlose Pein bereitete.

Andrej wandte den Kopf und warf einen raschen Blick in Abu Duns aschfahles Gesicht, ehe er den Werwolf erkannte, der sich mühsam in ihre Richtung schleppte. Es war das Geschöpf aus dem Gang, aber etwas an seinem missgestalteten Gesicht kam Andrej plötzlich auf so grässliche Weise bekannt vor, dass er fast in Panik den Blick abwandte und den Gedanken tief in sich erstickte, noch bevor er wirklich Gestalt annehmen konnte.

»Andrej, was ... was bedeutet das?«, stammelte Abu Dun.

Andrej konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so erschüttert erlebt zu haben wie jetzt. Auch er hatte sich auf die Knie herabsinken lassen. Er hielt das Schwert noch immer in beiden Händen, aber er tat es auf eine Art, als wäre es keine Waffe mehr für ihn, sondern etwas, woran er sich mit verzweifelter Kraft festklammerte, um nicht endgültig den Halt zu verlieren.

»Sie sterben«, antwortete Andrej leise. Er war nicht einmal sicher, ob er die Worte wirklich aussprach oder nur dachte.

»Hel... fen.«

Andrej und Abu Dun fuhren im selben Moment wie unter einem Schlag zusammen und herum, als sie die zu einem furchtbaren Krächzen verzerrte Stimme hörten. Der Werwolf war herangekommen und dicht neben Abu Dun zu einem zitternden Bündel zusammengesunken. Sein Gesicht lag im Schatten, sodass der furchtbare Anblick Andrej erspart blieb, aber die Stimme ... Sie war kaum menschlich, ein gurgelndes Krächzen, Stimmbändern abgerungen, die nicht dazu geschaffen waren, Laute einer menschlichen Sprache hervorzubringen - aber er erkannte sie!

»Birger?«, murmelte er fassungslos. »Das kann doch nicht... nicht sein!«

Aber es war Birgers Stimme, so, wie das so schrecklich entstellte Gesicht immer noch Birgers Gesicht war. Hätte er sich nicht geweigert, es sich einzugestehen, hätte er ihn schon draußen auf der Ebene erkannt.

»Hilf ... uns«, krächzte Birger. »Du kannst ... uns ... helfen.«

Abu Duns Augen quollen vor Entsetzen fast aus den Höhlen, aber er schwieg, und auch Andrej ließ eine geraume Weile verstreichen, bevor er antwortete.

»Helfen? Aber ich wüsste nicht wie. Was ist hier geschehen?«

Das Etwas, dessen Gestalt Birger angenommen hatte, hob mühsam den Arm und streckte eine zitternde Klaue in Andrejs Richtung aus; eine Geste unendlicher Hilflosigkeit und so flehend, dass Andrej mehrmals schlucken musste, um den bitteren Kloß loszuwerden, der sich plötzlich in seiner Kehle gebildet hatte.

»Bruder«, krächzte Birger. »Du bist ... wie wir. Aber du lebst. Du kennst das Geheimnis.«

Bruder... Andrej spürte, wie ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Ich kann das nicht«, antwortete er leise. »Ich weiß nicht, was mit euch geschehen ist. Und ich weiß auch nicht, wie ich euch helfen könnte.«

»Du hasst mich«, krächzte Birger. Er sprach langsam, mühevoll, mit großen Pausen und einer Stimme, die immer schwächer wurde, weil ihm das Sprechen so große Anstrengung abverlangte. Er brauchte Minuten, um wenige Sätze hervorzubringen, aber Andrej zwang sich, ihm ruhig zuzuhören.

»Du ... hasst mich. Ich kann das ... verstehen. Ich habe versucht, dich umzubringen, und ... und deshalb kannst du mir ... nicht helfen. Ich ... ich wusste nicht, wer ... wer du bist.«

»Das hätte damit nichts zu tun«, widersprach Andrej, aber Birger schien seine Worte gar nicht gehört zu haben.

»Ich bitte ... nicht für ... mich«, fuhr er stockend fort. »Töte mich, wenn es deinen Rachedurst ... befriedigt. Töte mich oder ... oder sieh zu, wie ... wie ich sterbe. Aber rette die anderen. Rette ... rette meine Tochter.«

Andrej starrte entsetzt auf das zitternde, kaum noch lebendig zu nennende Fellbündel, vor dem er kniete. »Das ist Imret?«, keuchte er.

»Sie ... sie ist unschuldig«, fuhr Birger fort. »Ich habe den Tod ... verdient, aber sie hat... dir nichts getan. Rette sie. Sie ... sie ist von deinem Blut.«

»Was sagst du da?« murmelte Abu Dun.

»Wir alle sind von ... von deinem Blut«, stammelte Birger. »Du bist wie wir. Aber du ... du wirst leben. Du weißt, wie ... wie man den zweiten Tod ... überwindet. Rette meine Tochter, ich flehe dich an!«

Der Kloß in seinem Hals war wieder da, härter und bitterer als zuvor. Plötzlich fiel es auch' Andrej schwer, zu sprechen.

»Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Aber ich kann das nicht. Ich würde es tun, wenn ich es könnte, aber ich weiß nicht, was ich tun kann.«

Birger wimmerte. Andrej konnte sehen, wie auch noch das letzte bisschen Kraft aus seinem Körper wich und er ein zweites Mal und endgültig in sich zusammensackte.

»Dann erweise uns eine letzte Gnade und töte uns, Bruder«, krächzte er. »Lass uns ... lass uns nicht qualvoll sterben.«

Andrej schloss die Augen, nickte und legte die Hand auf den Schwertgriff, aber die Waffe schien plötzlich in ihrer ledernen Umhüllung festgewachsen zu sein. Es gelang ihm nicht, sie zu ziehen.

»Ich kann es nicht«, sagte er. »Bitte verzeih mir, Birger. Aber ich kann nicht.«

Er atmete tief und hörbar ein und aus. »Aber ich werde bei euch bleiben, bis es vorbei ist.«

Es wurde Morgen, bevor Andrej so weit war, sein Versprechen zur Gänze einzulösen. Birger war nach einer Stunde gestorben, und fast zur gleichen Zeit auch die anderen, aber der Todeskampf des bemitleidenswerten Geschöpfes, das noch vor wenigen Tagen seine zwölfjährige Tochter gewesen war, dauerte fast bis zum Sonnenaufgang. Vielleicht war es Zufall, vermutlich aber die Grausamkeit des Schicksals, das ihr nicht nur dieses unsagbare Leid angetan hatte, sondern ihr auch die Kraft und Zähigkeit der Jugend gab, mit der sie bis zum allerletzten Moment gegen das Unausweichliche kämpfte.

Die Feuer waren längst heruntergebrannt und erloschen, aber von irgendwoher kam Licht, ein flackernder grauer Schein, der alle Farben auslöschte und fast noch unheimlicher war als das rote Blutlicht der Feuer. Draußen musste bereits wieder heller Tag geworden sein, als sich Imret ein letztes Mal aufbäumte und einen gellenden Schrei ausstieß, um dann endgültig zu erschlaffen.

Andrej atmete hörbar auf, als der Kopf des Mädchens zum letzten Mal in seinen Schoß sank. Neben ihm regte sich auch Abu Dun; zum ersten Mal seit Stunden, wie es ihm vorkam.

»Es ist vorbei.«

»Allah sei Dank!«, sagte Abu Dun grimmig. »Ich wusste nicht, dass du so grausam sein kannst.«

»Grausam?«

»Ich hätte es nicht mehr lange mit angesehen«, antwortete Abu Dun. »Warum hast du den Wunsch ihres Vaters nicht erfüllt und ihre Leiden beendet?«

Andrej kannte die Antwort auf diese Frage. Tatsächlich war seine Hand im Laufe der Nacht mehr als einmal wie von einem eigenen Willen beseelt zum Gürtel gekrochen und hatte sich um den Schwertgriff gelegt, aber jedes Mal hatte er den Arm wieder zurückgezogen, ohne die Waffe zu ziehen. Das Mädchen hatte sich mit dem Tod einen unglaublichen Kampf geliefert, und jedes Mal, wenn sich ihr Körper erneut aufbäumte, jedes Mal, wenn sie dem Tod erneut getrotzt und einen weiteren qualvollen Atemzug genommen hatte, war die wahnsinnige Hoffnung in Andrej stärker geworden. Die Hoffnung, dass sie es am Ende vielleicht doch schaffen könnte, dass etwas in ihr stärker war als das grausame Schicksal, das ihr ein zweites Leben geschenkt hatte, nur um es ihr nach kurzer Zeit erneut zu nehmen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Abu Dun kopfschüttelnd. »Das können nicht die Ungeheuer sein, vor denen Vater Ludowig und die gesamte Heilige Römische Inquisition zittern, oder?«

Andrej schwieg. Abu Dun hatte nur ausgesprochen, was er die ganze Zeit über gespürt hatte, auch wenn dieser Gedanke noch nicht so klar formuliert gewesen war. Trotz der nur schwachen Beleuchtung konnte er die Höhle weit genug übersehen, um zu erkennen, dass dies nicht einmal die schrecklichen Ungeheuer waren, vor denen Trentklamm zitterte. Er sah die kümmerlichen Überreste eines halb verhungerten Kaninchens, das wahrscheinlich schon zu Lebzeiten zu schwach gewesen war, um davonzulaufen, einen ausgerissenen Strauch, an dem noch ein paar kümmerliche Beeren hingen ... Diese bemitleidenswerten Kreaturen waren kaum in der Lage gewesen, sich auf den Beinen zu halten. Sie hätten es sicherlich nicht geschafft, einer ausgewachsenen Kuh ein Bein auszureißen oder Vater Ludowig so zuzurichten, wie sie ihn gefunden hatten.

Andrej stand auf. Auch Abu Dun erhob sich und sah ihn auffordernd an, aber Andrej machte keine Anstalten, sich herumzudrehen und zum Ausgang zu gehen, sondern starrte weiter aus blicklosen Augen ins Leere.

»Wir können sie nicht begraben«, sagte Abu Dun nach einer Weile.

»Ich weiß«, antwortete Andrej. Der Gedanke, die Toten einfach hier liegen zu lassen, war ihm zuwider, aber sie hatten keine andere Wahl; sie verfügten weder über die Zeit noch über die notwendigen Werkzeuge, um die Toten zu begraben.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Abu Dun, als Andrej wieder schwieg.

»Was wir jetzt machen?« Andrej wusste genau, was Abu Dun meinte. Aber er wollte nicht sprechen. Begriff der Nubier denn nicht, dass er im Moment überhaupt nichts tun wollte?

»Wir können unserer Wege gehen«, antwortete Abu Dun. Er machte eine ausholende Handbewegung. »Unsere Aufgabe ist erfüllt. Thobias wollte, dass die Ungeheuer vernichtet werden. Sie sind vernichtet.«

»Diese bemitleidenswerten Geschöpfe sind tot«, antwortete Andrej. »Das Ungeheuer ...« Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Widerwillig drehte er sich um und sah Abu Dun an. »Ich fürchte, du irrst dich, mein Freund. Es ist noch nicht vorbei.«

Abu Dun runzelte die Stirn. »Du meinst... ?«

»Ich meine, dass hier irgendetwas nicht stimmt«, sagte Andrej lauter. »Sieh dich doch um! Du glaubst doch auch nicht, dass das hier die blutgierigen Bestien sind, die seit Wochen die Menschen in Trentklamm in Angst versetzen und das Vieh auf der Weide reißen?«

»Sie waren krank«, gab Abu Dun zu bedenken. »Das muss nicht immer so gewesen sein. Und gestern haben sie uns angegriffen.«

»Aus Verzweiflung«, antwortete Andrej heftig. »Sie hatten Angst, das ist alles. Hier stimmt etwas nicht, Abu Dun. Bruder Thobias hat sich entweder geirrt...«

»... oder er hat uns belogen«, führte Abu Dun den Satz zu Ende. Er grinste kalt.

»Obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann. Ich meine: Er ist ein Mann der Kirche. Die erwählten Verkünder des göttlichen Willens würden doch niemals absichtlich die Unwahrheit sagen, oder?«

Sein Zynismus - so vertraut er ihm auch war - brachte Andrej schier zur Raserei. Als er auch diesmal nicht antwortete, geschah es aus dem einzigen Grund, dass er Abu Dun sonst beschimpft hätte.

»Du willst also wirklich zurück nach Trentklamm?«, fragte Abu Dun kopfschüttelnd. »Warum? Rechnest du damit, dass sie uns dankbar sein werden?«

Vermutlich konnten sie froh sein, wenn man ihnen nicht auf der Stelle die Kehlen durchschnitt, dachte Andrej bitter. Laut sagte er: »Willst du die Menschen im Ort einfach ihrem Schicksal überlassen? Du weißt, was mit ihnen geschieht, wenn Vater Benedikt mit der Inquisition hier auftaucht.«

»Und?«, fragte Abu Dun hart. »Ich bin ihnen nichts schuldig.«

»Das ist deine Entscheidung«, erwiderte Andrej kühl. Er hob die Schultern.

»Draußen geht die Sonne auf. Wenn wir uns beeilen, können wir noch vor Sonnenaufgang wieder in Trentklamm sein. Du musst nicht mit kommen, wenn du nicht willst.«

»Und dich allein in dein Unglück laufen lassen?«, schnaubte Abu Dun.

»Wenn ich dich länger als eine Stunde unbeobachtet lasse, machst du doch wieder nur irgendwelchen Unsinn.«

»Versuch's nicht, mein Freund«, sagte Andrej leise.

»Was soll ich nicht versuchen?«

»Mich aufzuheitern.«

»Wer sagt, dass ich das vorhabe?«

Gegen seinen Willen musste Andrej lächeln. Er führte das Geplänkel nicht weiter fort, sondern ging an Abu Dur vorbei zum Gang, blieb aber noch einmal stehen, bevor er die Höhle verließ. Selbst seine übermenschlichscharfen Augen sahen nicht mehr als ein Durcheinander aus Schatten und Umrissen, aber mehr musste er auch nicht erkennen. Er würde den Anblick nie wieder in Leben vergessen.

»Du hast dein Versprechen nicht vergessen?«, fragte Andrej leise »Unsinn«, sagte Abu Dun. »Dir wird nichts geschehen. Du bist unsterblich, hast du das schon vergessen ?«

»Das dachten Birger und die anderen auch«, antwortete Andrej leise. »Ich will nicht enden wie sie, Abu Dun.«

»Das wirst du auch nicht«, erwiderte Abu Dun. »Du wirst nichts spüren, das verspreche ich dir.« Er gab sich einen sichtbaren Ruck. »Schon, weil ich dir gar nichts antun werde. Und jetzt komm. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Ganz wie Andrej befürchtet hatte, gestaltete sich der Rückweg deutlich schwieriger als der Aufstieg. Sie brauchten länger als bis zur Mittagsstunde, um wieder zur Schattenklamm hinabzuklettern. Unten angekommen waren beide so erschöpft, dass sie eine ganze Weile rasten mussten, ehe sie wieder genug Kraft gesammelt hatten, um ihren Weg fortzusetzen.

Am Eingang der Schattenklamm angelangt, erlebten sie eine unangenehme Überraschung: Die Pferde waren nicht mehr da.

»Genau das habe ich befürchtet«, nörgelte Abu Dun. »Und was machen wir jetzt?«

Andrej zuckte als Antwort nur mit den Schultern. Wieso war er eigentlich überrascht? Er hatte nicht ernsthaft erwarten können, dass die Pferde hier warten würden, bis sie irgendwann zurückkommen würden. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Tiere anzubinden.

Er hob noch einmal die Schultern. »Was sollen wir schon tun? Wir gehen zu Fuß.«

»Dann erreichen wir Trentklamm heute nicht mehr. Jedenfalls nicht vor Einbruch der Dunkelheit.«

»Und ganz bestimmt nicht, wenn wir hier herumstehen und reden.«

Andrej ging mit schnellen Schritten voran, noch bevor Abu Dun auch nur die Möglichkeit hatte zu antworten. Er mahnte sich selbst zur Mäßigung.

Abu Dun hatte seine Anordnungen bisher mit Gleichmut ertragen, aber auch seine Geduld musste Grenzen kennen. Er hatte nicht das Recht, den Nubier für etwas zu bestrafen, woran diesen keine Schuld traf.

Für die Strecke, die sie zu Pferde in weniger als einer Stunde zurückgelegt hatten, brauchten sie zu Fuß ein Mehrfaches dieser Zeit. Es begann zu dämmern, als sie die Alm erreichten. Selbst wenn sie stramm durchmarschierten, würden sie Trentklamm erst weit nach Mitternacht erreichen. Andrej entschied sich dafür, in der Almhütte zu übernachten.

Abu Dun schwieg zu diesem Vorhaben, aber man musste keine Gedanken lesen können, um zu erkennen, wie wenig ihm die Vorstellung behagte - so wenig, wie Andrej selbst. Aber sie waren beide erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Sie brauchten eine Rast und einen Ort, an dem sie wenigstens ein paar Stunden schlafen konnten.

Die Hütte war verlassen. Jemand hatte Ludowigs Leichnam fortgeschafft und die schlimmsten Kampfspuren beseitigt, aber Andrej kam es vor, als könne er den Gestank von Blut und Gewalt noch deutlich riechen. Seine Sinne offenbarten ihm noch mehr: Zwei, vielleicht sogar drei Männer waren hier gewesen, um Vater Ludowig zu holen. Es konnte noch nicht lange zurückliegen. Einer von ihnen hatte draußen hinter der Hütte gegen die Wand uriniert, und ein anderer hatte ganz leicht nach Weihrauch gerochen. Vielleicht war es Bruder Thobias gewesen. Es war unheimlich, aber Andrej konnte sogar sagen, wie lange sie sich in der Hütte aufgehalten hatten.

Wohlweislich erwähnte er Abu Dun gegenüber nichts davon. Stattdessen bedeutete er dem Nubier, das einzige, unbequeme Bett in der fensterlosen Hütte für sich zu nehmen und erstickte seinen Widerspruch mit der Ankündigung, dass er ohnehin noch nicht müde sei und bis Mitternacht draußen Wache halten würde. Der Nubier wusste so gut wie Andrej, dass er nichts dergleichen vor hatte, aber er beließ es bei einem Kopfschütteln und war eingeschlafen, noch bevor er sich ganz auf der Pritsche ausgestreckt hatte.

Andrej verließ die Hütte, entfernte sich ein paar Schritte und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen ins Gras sinken, um dem Sonnenuntergang zuzusehen. Im Gegensatz zu dem, was er Abu Dun gegenüber behauptet hatte, war er furchtbar müde - und zugleich von einer kribbelnden Unruhe erfüllt, die es ihm fast unmöglich machte, still zu sitzen.

Nach einer Weile legte er den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel hinauf. Die Sonne war mittlerweile vollkommen untergegangen, aber es war nicht wirklich dunkel geworden. Der Mond war am wolkenlosen Himmel zu einer nahezu perfekten Scheibe geworden; morgen Nacht würde Vollmond sein. Ob die Unruhe und die fremdartige, erschreckende Gier, die er verspürte, damit zu tun hatten?

Andrej merkte nicht, dass sich seine Lippen zu einem bitteren Lächeln verzogen. Er hatte immer geglaubt, dass es nichts gäbe, was ihn erschrecken könnte, und nichts, was er wirklich fürchtete - und nun tat er alles in seiner Macht Stehende, um die Augen vor einer Wahrheit zu verschließen, die sich so überdeutlich offenbart hatte, dass auch Abu Dun sie längst erkannt hatte. Es hatte alles mit dem Mond zu tun.

Er hob die Hand, hielt sie ins Mondlicht und betrachtete die feinen Härchen auf seinem Handrücken, die im kalten Licht der Nacht schimmerten wie Spinnweben aus Silber. War die Behaarung dichter geworden?

Nein!, entschied Andrej. Ihm wuchsen auch keine spitzen Ohren, und er musste auch nicht die Hand heben und sein Kinn betasten, um sich davon zu überzeugen, dass sich sein Gesicht noch nicht in eine spitze Wolfsgrimasse verwandelt hatte. So einfach war es nicht.

Er würde sich gewiss nicht in eine missgestaltete Wolfskreatur verwandeln, und er würde auch nicht den Mond anheulen und nachts Schafe auf den Weiden reißen. Was mit ihm geschah, war viel schrecklicher. Das Ungeheuer hatte ihn verändert, entweder als es ihn verletzt hatte, oder als er dessen Seele in sich aufgenommen und seine Lebenskraft verzehrt hatte, und diese Veränderung war noch immer nicht abgeschlossen. Andrej wusste jetzt weniger denn je, was am Ende dieser Verwandlung stehen würde, aber er hatte entsetzliche Angst davor.

Morgen, dachte er. Morgen Nacht war Vollmond. Spätestens dann würde er erfahren, was aus ihm geworden war - und wer den Kampf damals auf dem Weg zum Kloster wirklich gewonnen hatte.

Er hörte ein Geräusch und reagierte mit einer Schnelligkeit, die ihn selbst verblüffte. Blitzschnell, dennoch lautlos, sprang er auf die Füße und huschte geduckt zur Hütte zurück. Er konnte das Geräusch noch nicht zuordnen, wusste aber sofort, dass es nicht in diese Umgebung gehörte. Es bedeutete Gefahr. Mit angehaltenem Atem presste er sich in den Schatten der Almhütte und blickte aus eng zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der das verräterische Geräusch gekommen war. Es waren Hufschläge. Er hörte den Hufschlag von mindestens drei, wenn nicht vier Pferden, obwohl der jenseitige Waldrand mehr als hundert Schritte entfernt war. Metall klirrte, und er vernahm das Knarren von eingefettetem Leder. Sättel. Metallene Waffengurte und Schwertscheiden, die gegen gepanzerte Oberschenkel und die Flanken der Pferde schlugen, waren auszumachen, dazu das Brechen von Zweigen. Nur noch wenige Augenblicke und die Reiter würden die Alm erreicht haben. Aber wenn er nur ein winziges Quäntchen Glück hatte, würde die Zeit reichen.

Andrej huschte durch die Tür und setzte dazu an, Abu Duns Namen zu rufen, doch es erwies sich als nicht notwendig. Obwohl der Nubier tief geschlafen hatte, waren seine Reflexe so gut wie eh und je. Noch bevor Andrej den zweiten Schritt in die Hütte hinein getan hatte, fuhr er mit einer gleitenden Bewegung in die Höhe. Metall schimmerte in seiner Hand. Andrej hatte nicht einmal gemerkt, dass er mit dem Schwert in der Hand eingeschlafen war.

»Was?«, fragte er knapp. Seine Stimme war klar, vollkommen wach und angespannt. Sie klang nicht wie die Stimme eines Mannes, der aus tiefstem Schlaf hochgeschreckt war.

»Soldaten«, antwortete Andrej ebenso knapp. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung fuhr er wieder herum und blieb auf der Türschwelle stehen. Am Waldrand auf der anderen Seite der Alm waren zwei Pferde aufgetaucht. Die Reiter in ihren Sätteln waren ausnahmslos hoch gewachsen und dunkel gekleidet. Auf ihren Körpern brach sich schimmerndes Mondlicht. Sie tragen Rüstungen, oder zumindest Brustharnische und Helme. Noch während Andrej hinsah, gesellten sich ein weiterer und schließlich ein vierter Reiter zu den beiden ersten.

»Verdammt!«, fluchte Abu Dun hinter ihm. »Was um alles in der Welt suchen die hier?«

»Was glaubst du wohl?«, murmelte Andrej. Seine Gedanken überschlugen sich. Er zweifelte nicht daran, dass Abu Dun und er ohne größere Probleme mit diesen vier Männern fertig werden konnten, aber er wollte einen Kampf vermeiden. Sie waren nicht hier, um noch mehr Blut zu vergießen.

Die vier hatten am Waldrand Halt gemacht und machten nicht nur keine Anstalten weiterzureiten, sondern stiegen jetzt einer nach dem anderen aus dem Sattel. Sie blickten in Richtung der Hütte - Andrej konnte zwar keine Einzelheiten erkennen, wohl aber die hellen Flächen ihrer Gesichter, denen das Mondlicht auch noch den letzten Rest von Farbe genommen hatte. Sie waren nicht zufällig hier.

Aber Andrej wusste auch, dass sie von ihrer Position aus so gut wie nichts erkennen konnten; selbst er hätte die Hütte nur als schwarzen Schatten vor noch schwärzerem Hintergrund erkannt.

»Los!«, befahl er. »Und keinen Laut!«

Hintereinander huschten sie aus der Hütte. Andrej verbarg das Schwert unter seinem Mandel, damit sich kein verirrter Lichtstrahl auf dem Metall der Klinge brechen und sie verraten konnte, behielt die Waffe aber in der Hand, während sie um das kleine Gebäude eilten und Schutz in den tieferen Schatten auf seiner Rückseite suchten.

Hier konnten sie nicht bleiben. Noch bevor sich Andrej herumdrehte, spürte er, dass sich die Soldaten auf die Hütte zu in Bewegung gesetzt hatten. Sie gingen in gerader Linie, strebten dabei zugleich aber auch leicht auseinander, und hatten ihre Waffen gezogen. Andrej gab nicht den geringsten Laut von sich, runzelte aber besorgt die Stirn. Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Wer immer diese Männer waren, sie schienen ganz genau zu wissen, wo und nach wem sie zu suchen hatten. Sie verstanden ihr Handwerk. Andrej hatte eine genaue Vorstellung davon, wie es weitergehen würde: Die Männer würden sich der Hütte in einer weit auseinander gezogenen Linie nähern und das Gebäude in einer Zangenbewegung umgehen, bevor zwei oder vielleicht auch drei von ihnen die Tür einschlugen und mit gezückten Schwertern eindrangen.

»Ich nehme die beiden auf der rechten Seite, du die auf der anderen«, flüsterte Abu Dun.

Andrej hob als Antwort nur die Schultern. Auch wenn er sich widerwillig eingestand, dass Abu Dun vermutlich Recht hatte, hätte er einen Kampf dennoch lieber vermieden. Nicht nur, weil er jedem Kampf lieber aus dem Weg ging, statt ihn zu suchen. Diese Männer waren ihm vollkommen unbekannt. Er hatte keinen Grund, sie zu töten - und er hatte fast panische Angst vor dem, was vielleicht geschehen würde, wenn er das nächste Mal Blut vergießen würde. Diese mörderische Gier war noch immer in ihm, vielleicht nicht mehr ganz so wütend wie bisher, vielleicht aber auch nur schlafend. Er hatte vor nichts mehr Angst als davor, sie mit dem Geruch von Blut zu wecken.

»Machen wir es so?«, flüsterte Abu Dun, als er keine Antwort von Andrej erhielt.

Abermals hob Andrej nur die Schultern. Mit seiner Frage erinnerte Abu Dun ihn an etwas, was ihm immer schmerzhafter deutlich wurde: Er begann Fehler zu machen; schwerwiegende Fehler. Es war, als müsse er für die zunehmende Schärfe seiner Sinne mit einem Verlust seiner Denkfähigkeit bezahlen. Zwar hatte er instinktiv richtig entschieden, die Hütte zu verlassen, in der Abu Dun und er in der Falle gesessen hätten, aber Schutz in den Schatten auf ihrer Rückseite zu suchen, war ein großer Fehler gewesen. Es war dunkel, aber die Farbe der Felswand hinter ihnen war selbst in der Nacht hell genug, sodass sich ihre Gestalten deutlich davon abheben mussten.

Trotzdem kam es nicht zum Kampf. Die Soldaten hatten die Hälfte der Bergwiese überwunden, als eine fünfte Gestalt am Waldesrand auftauchte, auch sie nur ein beinahe substanzloser Schatten wie die Männer vor ihr. Dieser Reiter saß auf einem gewaltigen weißen Schlachtross. Unmittelbar vor dem dunkleren Hintergrund des Waldrandes hielt er sein Pferd einen Moment lang an, als lege er Wert darauf, gesehen zu werden. Dann ritt er los, im ersten Moment fast gemächlich, dann schneller und schließlich in rasendem Galopp. Aus dem Schatten wurde ein Umriss, der Tiefe gewann. Trotzdem blieb der Reiter ein Schemen in der Farbe der Nacht, hinter dem die Schöße eines schwarzen Kapuzenmantels herflatterten. In seiner Hand blitzte ein Schwert, als er sich dem ersten der noch immer ahnungslosen Soldaten näherte.

Abu Duns Augen wurden groß. Er sog scharf die Luft ein. »Aber das ist doch ...!« Er wollte aufspringen, aber es war viel zu spät. Die Männer waren noch mindestens dreißig oder vierzig Schritte entfernt, und der schwarz gekleidete Riese näherte sich ihnen unaufhaltsam, und mit Furcht einflößendem Tempo.

»Ja, du hast Recht, Abu Dun«, murmelte Andrej. »Das bist du.«

Erst im allerletzten Moment bemerkten die Männer die Gefahr, die sich ihnen näherte, und fuhren herum. Zu spät. Der Krummsäbel des Reiters fuhr herab und tötete den ersten Soldaten so schnell, dass er nicht einmal mehr dazu kam, einen Schrei auszustoßen. Ohne auch nur einen Deut langsamer zu werden, riss der Angreifer sein Pferd herum, sprengte auf den nächsten Soldaten zu und schlug auch ihn zu Boden. Der Mann hatte nicht die geringste Möglichkeit, sich zu wehren. Trotzdem riss er sein Schwert in die Höhe, als der Krummsäbel des Angreifers niedersauste. Aber das verlängerte sein Leben nur um den Bruchteil eines Herzschlages. Die Klinge des Soldaten zerbrach, und der Krummsäbel setzte seine tödliche Bahn fort und enthauptete den Mann.

Die beiden überlebenden Soldaten taten das einzig Mögliche und suchten ihr Heil in der Flucht. Ihre Taktik, sich der Hütte in einer weit auseinander gezogenen Linie zu nähern, um nicht in einen Hinterhalt zu laufen, wurde ihnen jetzt zum Verhängnis. Zu viert und in geschlossener Formation hätten sie sich vielleicht gegen den unheimlichen Angreifer verteidigen können, so aber hatte er leichtes Spiel mit ihnen. Nicht einmal eine Minute, nachdem der erste Krieger gefallen war, sank auch der dritte Mann unter einem furchtbaren Schwerthieb des schwarzgekleideten Reiters zu Boden. Dann riss der unheimliche Angreifer sein Pferd herum und sprengte auch hinter dem letzten überlebenden Soldaten her.

Erneut wollte Abu Dun aufspringen, und wieder legte ihm Andrej die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf.

»Warte.«

Abu Dun riss sich los. Aber er lief nur wenige Schritte weit, ehe er stehen blieb und das Schwert sinken ließ. Aus der grenzenlosen Wut, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, wurden Überraschung und Unglauben, und dann fassungsloses Staunen.

Der schwarzgekleidete Riese hatte ohne Mühe auch den letzten flüchtenden Soldaten eingeholt und schwang seinen Säbel. Aber der Hieb war schlecht gezielt.

Die Klinge streifte den Flüchtenden nur und schleuderte ihn nicht zu Boden, ließ ihn aber taumeln.

Für den Angreifer selbst war sein eigener Hieb ungleich verheerender. Von der schieren Kraft seines eigenen Schlages nach vorne gerissen, verlor er den Halt im Sattel, und wäre um ein Haar vom Pferd gestürzt. Der Krummsäbel entglitt seinen Fingern und verschwand in der Dunkelheit. Sein Pferd bäumte sich erschrocken auf und stieg wiehernd auf die Hinterläufe. Der Reiter klammerte sich mit verzweifelter Kraft an die Zügel, fügte dem Tier damit aber nur noch mehr Schmerzen zu, sodass es in Panik mit den Vorderhufen ausschlug, den Kopf zurückwarf und seinen Peiniger abschüttelte. Der Reiter sprang sofort wieder auf die Füße, machte aber nur einen einzelnen, taumelnden Schritt, ehe er benommen stehen blieb, sich vorbeugte und die Handflächen auf die Oberschenkel stützte. Er brauchte nur einen Moment, um wieder zu Kräften zu kommen.

Die wenigen Augenblicke reichten dem Soldaten jedoch, um seinen Vorsprung auszubauen. Er war verletzt und taumelte, aber die Todesangst gab ihm die Kraft, sein Tempo zu steigern. Der unheimliche Angreifer bückte sich nach seinem Schwert. Er humpelte leicht, als hätte er sich bei seinem Sturz aus dem Sattel verletzt, und er verlor weitere, kostbare Zeit damit, sein Pferd wieder einzufangen und aufzusitzen; genug Zeit für den flüchtenden Soldaten, um den Waldrand zu erreichen und auf eines der dort angebundenen Pferde zu steigen.

»Keine Sorge«, sagte Andrej, als Abu Dun eine unschlüssige Bewegung machte, aber dann wieder stehen blieb. »Er wird entkommen. Das muss er sogar.«

»Ich weiß«, murmelte Abu Dun. »Sonst könnte ja niemand davon berichten, dass hier ein großer schwarz gekleideter Mohr sein Unwesen treibt und ahnungslose Soldaten abschlachtet.« Er knirschte so laut mit den Zähnen, dass Andrej damit rechnete, Blut auf seinen Lippen zu sehen, als er sich zu ihm umwandte.

»Ich nehme meinen Vorschlag zurück.«

»Welchen?«

»Unserer Wege zu gehen«, sagte Abu Dun grimmig. »Ich möchte jetzt doch deinem Freund Thobias die eine oder andere Frage stellen.«

»Seltsam«, antwortete Andrej. »Aber ich hatte gerade dieselbe Idee.« Er machte eine Kopfbewegung zum Waldrand und die dort angebundenen Pferde.

»Wenigstens müssen wir nicht zu Fuß gehen.«

Sie hatten den Feuerschein schon von weitem gesehen, ein unheimliches rotes Lodern, als wäre der Himmel mit Blut getränkt, aber Andrej hatte sich bis zum Schluss geweigert, seine Bedeutung zu verstehen. Ein brennender Heuhaufen.

Ein Lagerfeuer, um das sich die Dorfbewohner versammelt hatten, um ein Fest zu feiern oder Gäste willkommen zu heißen. Ein Holzstapel, der Feuer gefangen hatte ... Es war erstaunlich, auf wie viele überzeugende oder auch abwegige Erklärungen sein Hirn kam, um nicht sehen zu müssen, was offensichtlich war.

Es war Trentklamm, das brannte.

Nicht nur ein Haus. Nicht nur ein Heuschober oder ein Holzstapel. Der Ort brannte von einem Ende zum anderen. Obwohl sie am Waldrand Halt gemacht hatten und auf die grausige Szene aus der gleichen Entfernung wie am Tag ihrer Ankunft hinabblickten, hatte Andrej das schreckliche Gefühl, die Hitze der brennenden Häuser auf dem Gesicht zu spüren und den Gestank von brennendem Holz und Stroh und vor allem Fleisch zu riechen. Er spürte weder die Hitze noch roch er irgendetwas anderes als die kalte klare Luft, die von den Bergen herabströmte und Rauch und Brandgeruch von ihnen forttrug.

Lange Zeit saßen sie schweigend nebeneinander in den Sätteln und sahen auf den brennenden Ort hinab. Winzig erscheinende Gestalten bewegten sich zwischen den brennenden Gebäuden.

Andrej erkannte sehr wohl, dass sie viel zu weit entfernt waren, um Einzelheiten zu sehen, aber es war wie mit dem Gestank und der Hitze: Er wusste, was dort unten geschah.

»Da scheint jemand vorschnell gewesen zu sein«, sagte Abu Dun, nach einer Weile, die vermutlich nur Augenblicke gewährt hatte, Andrej aber wie eine Ewigkeit vorkam. »Oder waren wir drei Tage länger in den Bergen, als ich dachte?«

»Auf jeden Fall zu lange«, antwortete Andrej, ohne den Blick von der brennenden Ortschaft zu nehmen.

Seine überempfindlichen Augen schmerzten und begannen allmählich zu tränen, aber er war nicht in der Lage, den Blick von der schrecklichen Szenerie abzuwenden. Er konnte nicht sagen, wie viele der winzigen, um ihr Leben rennenden Gestalten wirklich dort unten zu sehen waren, und wie viele seiner Einbildung entsprangen.

Oder gerade lange genug, wisperte eine dünne Stimme irgendwo in seinen Gedanken. Ein Schauder durchfuhr ihn. Er hatte das Gefühl, dass jetzt alles einen Sinn ergab. Alle Antworten lagen vor ihm. Aber er fand die richtigen Fragen nicht.

»Was sollen wir tun?«, fragte Abu Dun.

Andrej hob die Schultern. Er kannte auch diese Antwort.

»Wir könnten immer noch davon reiten«, schlug Abu Dun vor. Schon der Ton, in dem er diese Worte aussprach, trug die Antwort in sich. Andrej machte sich nicht einmal die Mühe, etwas zu entgegnen.

»Dort unten sind mindestens fünfzig Soldaten«, sagte Abu Dun - was nach Andrejs Einschätzung übertrieben war. Trentklamm hatte zwar an die hundert Einwohner, aber es brauchte keine fünfzig Soldaten, um ein Bauerndorf dieser Größenordnung auszulöschen. Wenn die Männer dort unten ihr Handwerk verstanden - woran Andrej keine Sekunde lang zweifelte - dann reichten fünfzehn Männer.

»Mehr nicht?«, fragte er kalt. »Wenn es so ist, dann reicht es, wenn du mir Rückendeckung gibst.«

Abu Dun seufzte. »Du meinst das ernst, wie?«, fragte er. »Du willst tatsächlich dort hinuntergehen und sie alle erschlagen?«

Andrej versuchte, mehr Einzelheiten in dem Gewirr aus loderndem roten und gelben Licht und vollkommener Dunkelheit unter ihnen zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Immerhin sah er, dass es ein Gebäude in Trentklamm zu geben schien, das die Angreifer bisher verschont hatten: die Kirche. Aber vielleicht brannte die Kirche nicht, weil sie das einzige Gebäude des ganzen Ortes war, das aus Stein gebaut war.

»Ich weiß nicht, was ich meine«, sagte er leise; mehr an sich selbst gewandt als an Abu Dun. Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung riss er sich vom Anblick des brennenden Dorfes los und sah den Nubier an. »Ich weiß nicht, was ich will. Sag du es mir.«

Das ebenholzfarbene Gesicht des nubischen Riesen blieb vollkommen ausdruckslos. »Wir haben deine Heimat verlassen, weil du des Krieges müde warst, Hexenmeister«, erinnerte er Andrej leise, fast sanft. »Bist du sicher, dass wir hierher gekommen sind, nur um gleich einen neuen anzufangen?«

»Er ist doch längst im Gange«, antwortete Andrej leise. »Ob mit oder ohne uns.«

»Ohne uns wäre mir lieber«, sagte Abu Dun. Aber er klang nicht überzeugend.

»Der Soldat wird geredet haben«, gab Andrej zu bedenken. »Wer immer in deine Verkleidung geschlüpft ist, um die drei Soldaten zu erschlagen, wollte, dass er entkommt. Du fällst auf, mein Freund. Man wird dich überall suchen.«

Abu Dun machte eine abfällige Bewegung. »Wenn ich für jede Stadt, in der ich gesucht werde ein Geldstück bekäme, wäre ich ein reicher Mann«, sagte er.

Dann schürzte er die Lippen. »Andererseits hast du Recht, Hexenmeister. Weißt du, dieser Kerl hat meinen Mantel, und den hätte ich gerne zurück.« Er hob die Schultern. »Ich hänge daran.«

Nach Andrejs Meinung war dies kaum der richtige Moment für Scherze; nicht einmal, wenn man Abu Duns Humor kannte, der mindestens so schwarz war wie sein Gesicht.

Statt zu antworten, schloss Andrej für einen langen Moment die Augen und legte den Kopf in den Nacken, bevor er die Lider wieder hob. Der Himmel war noch immer wolkenlos, und der Mond schien größer geworden zu sein.

Mitternacht war längst vorüber. Er schätzte, dass kaum mehr als drei oder vier Stunden bis Sonnenaufgang blieben. Vier Stunden, in denen Trentklamm bis auf die Grundmauern niederbrennen würde. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnten.

Aber vielleicht gab es noch ein paar Leben, die sie retten konnten.

»Du reitest zum Kloster«, sagte er. »Bruder Thobias wird bestimmt erfreut sein, dich wieder zu sehen. Aber lass ihn am Leben. Ich muss ihm ein paar sehr wichtige Fragen stellen.«

»Das werde ich nicht tun«, Abu Dun klang bestimmt.

»Thobias am Leben lassen?«

»Dich allein dort hinuntergehen lassen. Ich kenne das nun zur Genüge. Du schickst mich unter einem Vorwand fort, weil du den ganzen Spaß für dich allein haben willst. Aber diesmal falle ich nicht darauf herein.«

Andrej starrte ihn an. Abu Duns breites Grinsen hielt noch einen Moment lang an.

»Du wirst es nicht allein schaffen dort unten«, sagte er.

Andrej schwieg beharrlich weiter, und nach einem weiteren Moment begann sich Abu Duns Gesicht zu verdüstern.

Wahrscheinlich lag es nun am schwachen Licht der Nacht, aber Andrej kam es plötzlich schwärzer vor als schwarz.

»Sie werden dich töten, wenn du dort hinuntergehst«, warnte Abu Dun.

»So schnell bin ich nicht umzubringen«, antwortete Andrej.

»Ich weiß, wie zäh du bist«, erwiderte Abu Dun. »Aber du bist weder wirklich unsterblich noch unbesiegbar.« Er hob die Schultern.

»Muss ich dich daran erinnern, dass selbst ich dich schon einmal besiegt habe?«

Andrej schwieg.

»Ich verstehe«, seufzte Abu Dun. »Du willst sterben.«

»Du weißt doch, dass ich das gar nicht kann.«

»Du willst sterben, weil du Angst hast.« Abu Dun überhörte seine Antwort. »Du fühlst dich für das alles hier verantwortlich, und außerdem hast du Angst vor morgen Nacht.« Er machte eine Kopfbewegung zum Himmel. »Morgen ist Vollmond.«

»Du glaubst doch nicht etwa all diesen Unsinn, den man sich über Werwölfe erzählt?«

»So wenig, wie ich an Vampyre glaube«, sagte Abu Dun.

»Das ist...«

»... ein Unterschied?«, unterbrach ihn Abu Dun. »Ich denke nicht. Und selbst wenn - für dich ist es keiner. Du willst sterben, aber das werde ich nicht zulassen, verstehst du? Sich einfach aus dem Staub zu machen, ist feige.«

»Selbst wenn es so wäre - glaubst du, dass es mir hilft, wenn du ebenfalls umgebracht wirst?«

»Was glaubst du, wie lange ich noch lebe, ohne dich?« Abu Dun schüttelte grimmig den Kopf. »Du hattest viele Gelegenheiten, Hexenmeister. Jetzt wirst du mich nicht mehr los.«

Rasende Wut kochte in Andrej hoch. Er musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht herumzufahren und Abu Dun niederzuschlagen. Statt ihn anzuschreien, sagte er jedoch nur mit leiser, vor Anspannung zitternder Stimme: »Ich habe dich für klüger gehalten, Pirat. Willst du sterben?«

»Früher oder später tun wir das doch alle, oder? Abgesehen von dir vielleicht.«

»Wenn du jetzt mit mir kommst, wird es eher früher der Fall sein als später. Sehr viel früher.« Um seine Wut zu beherrschen, zwang er sich, Abu Dun mit einer vernünftigen Begründung zu überzeugen. Als ob Begründungen noch von Bedeutung gewesen wären! »Sollte der Soldat wieder zurückgekehrt sein, überlebst du nicht einmal die erste Minute.«

Abu Dun schwieg. Andrej konnte sehen, wie es hinter seinen dunklen Augen arbeitete, aber er schluckte jede Erwiderung hinunter, die ihm auf der Zunge lag.

Vielleicht sah er das, was Andrej gesagt hatte, tatsächlich ein; wahrscheinlicher aber war, dass er seine Wut spürte und genau wusste, dass jede denkbare Antwort zu einem Streit führen konnte.

»Es ist wichtig, Abu Dun«, fuhr Andrej fort. »Ich muss mit Thobias reden. Du kannst hinterher mit ihm machen, was du willst, aber ...«

»Worauf du dich verlassen kannst, Hexenmeister«, fiel Abu Dun ihm ins Wort, aber Andrej fuhr fort: »... aber ich muss ihn sprechen. Mein Leben könnte davon abhängen. Und das Leben anderer auch.«

»Dafür, dass du so sehr an deinem Leben hängst, gehst du ziemlich leichtfertig damit um«, grollte Abu Dun, zuckte zugleich aber mit den Schultern und machte sich daran, das Pferd auf dem schmalen Weg zu wenden. Es war nicht einfach.

Ebenso fiel es Andrej schwer, dem Tier, das sie am Waldrand gefunden hatten, seinen Willen aufzuzwingen. Die Pferde waren erstaunlich widerspenstig.

»Ich warte bis zum nächsten Sonnenaufgang auf dich«, sagte Abu Dun, »keinen Augenblick länger.«

Andrej nickte ihm nur zum Abschied zu. Er wartete, bis der Nubier verschwunden war, dann drehte auch er sein Pferd herum und ritt langsam weiter, hinunter ins Tal, dem brennenden Ort entgegen.

Die Stadt loderte nicht von einem Ende zum anderen, wie es vom Berg herab den Anschein gehabt hatte, aber die Zerstörung des Dorfes war dennoch weit fortgeschritten. Etwa ein Drittel der Gebäude stand in hellen Flammen oder war bereits niedergebrannt und zu rauchenden Ruinen geworden. Skelette aus schwarz gewordenen, mürben Balken, die noch immer mörderische Hitze und Gestank verströmten, oder auch nur mannshohe Aschehaufen, in denen es hier und da noch rot glühte, säumten seinen Weg. Trümmer lagen verstreut auf der schmalen Straße, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängelte, aber Andrej fiel auf, dass es einzig Trümmer und Überreste der brennenden Gebäude waren: verkohlte Balken, hölzerne Dachschindeln und verbranntes Stroh - keine Möbelstücke, keine Kleider, keine weggeworfenen oder verlorenen Habseligkeiten, die von dem verzweifelten Versuch der Menschen kündeten, wenigstens einen Teil ihres Besitzes aus den Flammen zu retten. Was über Trentklamm gekommen war, war kein Unglücksfall gewesen.

Den ersten Toten fand Andrej, kaum dass er die Ortsgrenze überquert hatte. Der Mann lag mit ausgestreckten Gliedern mitten auf dem Weg. Er war kein Opfer der Flammen geworden, auch wenn sein Körper schlimme Verbrennungen aufwies. Was ihn getötet hatte, war jedoch zweifelsfrei der Armbrustbolzen gewesen, der zwischen seinen Schulterblättern herausragte.

Andrej machte sich nicht die Mühe, aus dem Sattel zu steigen, um den Toten zu untersuchen. Er kannte den Mann nicht, schloss jedoch aus seiner Kleidung, dass er zu den Dorfbewohnern gehört haben musste. Er konnte nichts mehr für ihn tun. Selbst ohne seine unheimlichen Instinkte hätte er auf Anhieb gesehen, dass er tot war. Nachdem ihn der Bolzen niedergeworfen hatte, waren brennendes Holz und Stroh auf ihn hinabgeregnet und hatten seine Kleider und sein Haar in Brand gesetzt und ihm weitere Wunden zugefügt, die kein Mensch hätte überleben können. Der Ausdruck auf seinem geschwärzten Gesicht verriet, dass er schnell gestorben war, ohne lange leiden zu müssen. Andrej mutmaßte, dass dies längst nicht für alle Bewohner des Dorfes galt. Spätestens jetzt wurde ihm klar, wie schrecklich sich Bruder Thobias geirrt hatte. Vater Benedikt hatte keine zehn Tage gebraucht, um zum Landgrafen und zurück zu reiten. Er war längst wieder heimgekehrt, und er war nicht allein gekommen. Andrej konnte die Spuren der Inquisition erkennen.

Wieder begann sich dumpfer Zorn in ihm breit zu machen, aber diesmal versuchte er nicht ihn niederzukämpfen. Während er langsam weiter in den Ort hineinritt, wuchs in ihm eine kalte Entschlossenheit, Benedikt und die Männer, die mit ihm gekommen waren, zu töten. Sie hatten kein Recht, so etwas zu tun. Niemand hatte das Recht.

Plötzlich wurde ihm deutlich, was er gerade gedacht hatte, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Zorn war verständlich, aber es war noch gar nicht so lange her, da hatte ein anderes Dorf gebrannt, auf der anderen Seite der Berge und in einem anderen Land, aber aus demselben Grund. Wer war er, dass er sich anmaßte, entscheiden zu können, was richtig war und was falsch?

Vielleicht war diese Frage falsch gestellt. Vielleicht musste sie lauten: Wer war er geworden?

Er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich mit aller Macht auf die Straße, die er entlang ritt. Seine Augen tränten von dem grellen Licht und von dem beißenden Rauch, den die brennenden Häuser verströmten. Das Prasseln der Flammen war so laut, dass es jedes andere Geräusch übertönte. Das Feuer machte das Pferd so unruhig, dass Andrej immer größere Mühe hatte, das Tier unter Kontrolle zu halten. Aber Lärm, Licht und Hitze, die ihm so große Schwierigkeiten bereiteten, waren zugleich auch seine Verbündeten. Er musste sich keine Gedanken darüber machen, frühzeitig gesehen zu werden, denn das Wüten der Zerstörung gab ihm zugleich auch Deckung. Weiter zur Dorfmitte hin nahm die Anzahl der brennenden Gebäude sogar noch zu; Lärm und Licht würden dort vermutlich unerträglich sein.

Das Pferd scheute, als ein brennender Strohhalm auf seine Mähne fiel und der Schmerz tief in seinen Hals biss; diesmal so überraschend und heftig, dass Andrej es nicht sofort wieder in seine Gewalt brachte. Das Tier versuchte auszubrechen, stieg auf die Hinterläufe und schlug wild mit den Vorderhufen aus, aber Andrej zwang es mit roher Gewalt wieder in seinen Willen. Erst danach schlug er mit dem Handrücken nach dem brennenden Stroh und fegte es davon. Das Pferd nutzte die winzige Unaufmerksamkeit, um erneut auszubrechen. Diesmal versuchte es nicht, seinen unwillkommenen Reiter abzuschütteln, sondern ging einfach mit ihm durch, und dieser zweite Ausbruchsversuch war selbst für Andrej nicht aufzuhalten. Er versuchte hastig, sich an Zaumzeug und Sattel festzuklammern, aber seine Reaktion kam zu spät.

Er verlor den Halt, stürzte rücklings aus dem Sattel und landete so heftig auf dem Bauch, dass er einen Moment lang benommen war und mit geschlossenen Augen und stöhnend liegen blieb. Sein rechtes Knie fühlte sich an, als hätte jemand einen glühenden Nagel hindurchgetrieben, und er spürte, wie warmes Blut an seinem Bein hinunterlief.

Als seine Gedanken aufhörten, sich wie wild im Kreise zu drehen, hörte er ein gehässiges Lachen. Hinter ihm ertönte dumpfes Hufscharren.

»Ich sage doch immer, dass du ein miserabler Reiter bist, Hässler«, sagte eine Stimme. »Du hast dein Tier einfach nicht unter Kontrolle, und ...«

Andrej stemmte sich mühsam und mit zusammengebissenen Zähnen hoch und drehte sich in der gleichen Bewegung herum. Die Worte brachen mitten im Satz ab und gingen in einen überraschten Laut über.

Hinter ihm war ein Reiter aufgetaucht. Der Mann war ein gutes Stück größer als er und fast so breitschultrig wie Abu Dun, wirkte aber viel plumper. Sein Pferd war auf die gleiche Art gezäumt wie das, von dem Andrej gerade heruntergefallen war, und auch seine Kleidung glich der, die Andrej trug. Sie hatten beide dunkle Hosen und helle Hemden an, aber wo Andrej ein schwarzes Wams über dem Hemd trug, hatte der andere eine mit ledernen Nieten besetzte Weste. Er trug schwere Lederbänder um das Handgelenk und eine ebenfalls lederne Kappe, die mit zahlreichen Nieten verstärkt war, sodass sie ihren Träger fast so zuverlässig schützte wie ein Helm, aber nicht dessen hinderliches Gewicht besaß. Das Ganze sah aus wie eine Uniform, und in dem schlechten Licht und bei all dem Rauch war die Ähnlichkeit wohl gerade groß genug gewesen, Andrej mit einem seiner Kameraden zu verwechseln.

Und vielleicht war das auch der einzige Grund, aus dem er nicht angegriffen worden war, dachte Andrej. Er hatte sich zu sehr darauf verlassen, dass ihn seine neu erworbenen wölfischen Instinkte vor jedem Hinterhalt warnen würden. Ein Fehler, der ihm bestimmt nicht noch einmal unterlaufen würde.

Auch der andere hatte seinen Irrtum schnell erkannt. Aus der Schadenfreude, die auf seinem Gesicht gelegen hatte, war Überraschung geworden, die jäh in Misstrauen und Wut umschlug, als er in Andrejs Gesicht blickte und begriff, dass er nicht seinem Kameraden gegenüberstand. Einen Herzschlag lang saß er reglos im Sattel und starrte auf ihn hinab, und Andrej konnte in seinen Augen lesen, wie er ihn einzuschätzen versuchte.

»Wer bist du?«, fragte er. Seine rechte Hand glitt zum Griff des plumpen Schwertes, das er im Gürtel trug, und Andrej musste sich beherrschen, um nicht dasselbe zu tun. Der Mann unterschätzte ihn - was jedem passierte, der Andrej zum ersten Mal sah; er war weder besonders groß noch von außergewöhnlich kräftiger Statur. Außerdem war der Reiter Zeuge geworden, wie Andrej ungeschickt vom Pferd gestürzt war. Wenn er sein Pferd herumriss und davon sprengte, hatte Andrej keine Möglichkeit, ihn einzuholen. Er stand drei oder vier Meter entfernt, und Andrejs Knie pochte noch immer vor Schmerz. Es würde Minuten dauern, bis er wieder in der Lage war, zu laufen, oder auch nur normal zu gehen.

»Wer du bist, habe ich gefragt!« wiederholte der Soldat. Dann beging er einen Fehler, der ihn das Leben kosten sollte: Er schwang sich mit einer zornigen Bewegung aus dem Sattel, zog das Schwert halb aus dem Gürtel und ließ den Griff dann mit einem verächtlichen Laut wieder los, während er auf Andrej zutrat.

Bei einem Gegner, der sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte und kaum halb so viel wog wie er, glaubte er keine Waffe nötig zu haben.

»Hast du deine Zunge verschluckt, Bauerntölpel?«, fragte er. »Wie kommst du an Hässlers Pferd? Hast es ihm gestohlen, wie?«

»Nein, Herr«, antwortete Andrej leise. Er tat so, als ob er eingeschüchtert den Blick senken würde und machte zugleich einen humpelnden Schritt zurück - der keinen anderen Sinn hatte als den, sein Knie auf die Probe zu stellen. Es tat noch immer weh, aber er konnte sich bewegen.

»Ich habe es nicht gestohlen.«

»Wie kommst du dann an das Pferd?«, wollte der Soldat wissen. Das Misstrauen in seinem Gesicht war mittlerweile vollends erloschen und hatte einer boshaften Vorfreude Platz gemacht. »Na, spielt keine Rolle. Ich werde ihn fragen. Oder besser noch - ich hebe dich für ihn auf, damit er dich fragen kann, wenn er zurück ist. Ich fürchte nur ...«, er lachte hart, »... dass er nicht besonders guter Laune sein wird, wenn er den ganze Weg von der Alm hinab zu Fuß laufen musste.«

»Das muss er nicht«, antwortete Andrej.

Der Soldat blieb stehen. »Wie meinst du das?«

»Weil er tot ist«, sagte Andrej. »Und du es auch gleich sein wirst.«

Diese Unverschämtheit verschlug dem Soldaten die Sprache. Einen Augenblick lang starrte er Andrej mit offenem Mund an, dann verzerrte sich sein Gesicht vor Wut, und er stürzte sich mit hochgerissenen Fäusten auf seinen viel kleineren Gegner.

Andrej empfing ihn mit einem Fußtritt, der zwar eine neue Woge heißer Schmerzen durch sein Knie jagte, den Burschen aber auch stolpern und mit einem hilflosen Krächzen auf die Knie fallen ließ, wo er sich würgend krümmte.

Vermutlich wurde ihm bereits in diesem Moment klar, dass er seinen Gegner falsch eingeschätzt hatte. Andrej trat ruhig auf ihn zu, wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war und nach dem Schwert zu greifen versuchte, und entrang ihm die Waffe ohne die geringste Anstrengung. Mit der linken Hand schleuderte er das Schwert über die Schulter davon, mit der anderen schlug er dem Soldaten gleichzeitig so hart ins Gesicht, dass dieser nach hinten geworfen wurde und endgültig auf den Rücken fiel.

»Um deine Frage zu beantworten, mein Freund«, sagte er. »Mein Name ist Andrej Deläny. Ich stamme nicht aus dem Dorf. Ich bin hier nur zu Gast - genau wie du. Aber ich habe den Eindruck ...« Er sah sich um. »... dass ihr euch nicht wie Gäste benehmt. Habt ihr das Dorf angezündet?«

Der Soldat stemmte sich stöhnend auf die Ellbogen hoch. Sein Gesicht war grau vor Schmerz und blutüberströmt, und er bekam immer noch nicht richtig Luft. Aber das Flackern in dem Blick, mit dem er Andrej maß, zeugte von viel mehr Wut als Schmerz, oder gar Angst. Der Soldat hatte keineswegs aufgegeben, sondern betrachtete ihn mit neuem Respekt, während er vermutlich überlegte, auf welche Weise er ihn angreifen würde. Er beantwortete Andrejs Frage auch nicht, sondern stellte selbst eine. »Hast du Hässler getötet?«

»Nein«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Aber ich war dabei, als er starb.«

Er wich einen halben Schritt zurück, um nicht in unmittelbarer Reichweite des Soldaten zu sein, falls dieser überraschend aufspringen sollte, und zog nun sein eigenes Schwert. Die Blicke des Mannes streiften kurz die Waffe, ehe sie sich wieder auf sein Gesicht richteten. Andrej sah, wie er vorsichtig die Muskeln anspannte und versuchte, die Beine auf eine Art anzuwinkeln, die nicht sofort auffiel.

»Wer bist du?«, fragte der Soldat noch einmal. »Was willst du hier?«

Andrej seufzte. »So geht das nicht, mein Freund«, sagte er. »Du stellst mir nur Fragen. Aber du gibst keine Antworten.« Vorsichtig ließ er sich in die Hocke sinken und streckte das Schwert vor. Er hatte nicht vor, ihn zu treffen, aber der Mann prallte erschrocken zurück. »Ich schlage vor, du fängst damit an, meine Fragen zu beantworten.«

»Du bist tot, Teufel«, zischte der Soldat. Seine Stimme zitterte vor Wut, immer noch nicht vor Furcht. Er hatte keine Angst, sondern wartete nur auf eine Gelegenheit, sich zur Wehr zu setzen. Andrej konnte all dies in seinen Blicken lesen, aber viel deutlicher noch konnte er es riechen. Er musste vorsichtig sein.

Wenn er den Mann töten musste, dann schnell. Der Wolf in ihm begann immer stärker zu erwachen. Er durfte ihm kein Blut zu schmecken geben.

»Ich will dir nichts antun«, sagte er ruhig. Er zog das Schwert zurück, zögerte einen winzigen Moment und schob es dann in den Gürtel. Der Soldat hielt dies vermutlich für einen Fehler, aber für Andrej war es überlebenswichtig. Die Dunkelheit in ihm wurde machtvoller.

»Beantworte meine Fragen, und ich lasse dich am Leben.«

»Du bist von Sinnen«, antwortete der Soldat. Er lachte hässlich. »Du wirst sterben, ganz egal, mit welchem Teufel du im Bunde bist. Du bist schon tot. Wir werden dich vernichten. Dich und deine Teufelsbrut.«

»Weil ihr so viele seid?«

»Genug für dich«, entgegnete der Soldat. Jede Spur von Furcht war aus seiner Stimme gewichen, jetzt, da Andrej das Schwert eingesteckt hatte. »Wir haben dieses Teufelsnest ausgebrannt, und du wirst ebenfalls brennen.«

»Wir? Du gehörst zu den Leuten des Landgrafen?«

Der Soldat richtete sich erneut auf. Die Bewegung war langsam, aber sehr zielgerichtet. Andrej wollte nicht mit ihm kämpfen, aber er spürte, dass er es musste. Einer von ihnen würde diesen Ort nicht lebend verlassen. Langsam stand auch er auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Geh«, sagte er ruhig. »Steig auf dein Pferd und reite davon, dann bleibst du am Leben.«

Statt zu antworten, stieß der Soldat ein wütendes Knurren aus und stürzte sich auf ihn. Andrej empfing ihn auf die gleiche Art wie das erste Mal: mit einem Fußtritt in die Weichteile. Aber damit hatte der Soldat gerechnet. Mit einer blitzschnellen Bewegung fing er Andrejs Fuß ab und drehte ihn mit einem Ruck herum, der seinen Knöchel gebrochen hätte, hätte Andrej nicht genau das erwartet und sich herumgeworfen.

Er beließ es nicht bei einer halben Drehung. Für einen Sekundenbruchteil lag sein Körper nahezu waagerecht in der Luft, dann stieß er mit dem linken Bein zu und rammte dem Soldaten den Fuß mit solcher Gewalt ins Gesicht, dass sein Kiefer brach. Der Soldat kippte mit einem gurgelnden Schrei um, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu wimmern, während Andrej mit einer fast anmutig erscheinenden Rolle wieder auf die Füße kam und über ihm war, noch bevor er wirklich begriff, wie ihm geschah.

»Ich sage es noch einmal«, sagte Andrej mit leiser, mühsam beherrschter Stimme. Geh!, dachte er verzweifelt. Steig auf dein Pferd und geh! Ich will dich nicht töten. Ich darf es nicht. »Steig auf dein Pferd und verschwinde, so lange du es noch kannst!«

Der Soldat kämpfte sich taumelnd auf die Füße. Sein Gesicht war zu einer verzerrten, blutigen Fratze geworden, in seinen Augen loderte der Wahnsinn. Er hatte nicht gehört, was Andrej sagte. Blut lief in Strömen aus seinem zerschmetterten Mund, und Andrej sah, dass ihm mehrere Zähne fehlten. Er musste allein vor Schmerzen fast verrückt werden. Aber er gehörte nicht zu den Männern, die aufgaben, wenn sie begriffen, dass ein Kampf verloren war.

Dennoch versuchte es Andrej. Als der Soldat heranstürmte, steppte er zur Seite und ließ ihn über sein vorgestrecktes Bein stolpern. Während der Angreifer fiel, rammte er ihm den Ellbogen in den Nacken. Der Soldat stürzte mit weit vorgestreckten Armen zu Boden und schlitterte meterweit davon. Bleib liegen!, dachte Andrej fast verzweifelt. Bleib in Gottes Namen liegen!

Sein Gebet wurde nicht erhört. Der Soldat stemmte sich wimmernd in die Höhe, spuckte Blut und Zähne und versuchte sich zu ihm herumzudrehen.

Andrej hämmerte ihm die Faust gegen die Schläfe, war mit einem Satz hinter ihm und schlang dem Mann den Arm um den Hals, bis dieser in seinem Griff zusammensackte. Eine schnelle Drehung, ein Ruck, und es wäre vorbei gewesen. Zweifellos hatte der Mann den Tod verdient. Aber er wollte ihn nicht töten; noch immer nicht. Er durfte es nicht. Wenn er jetzt Blut vergoss, dann hatte der Wolf in ihm gewonnen.

Der Mann regte sich nur noch schwach, aber er bewegte sich, und das Schicksal war grausam genug, ihn nicht das Bewusstsein verlieren zu lassen, was ihm möglicherweise das Leben gerettet hätte. Seine Sinne klärten sich rasch. Er bäumte sich in Andrejs Griff auf und schlug ziellos nach hinten. Andrejs Fingernägel schrammten über die Wange des Soldaten und hinterließen vier brennende Spuren aus blutigem Schmerz, und etwas in Andrej ... zerbrach.

Blut. Er roch das Blut des Mannes und spürte seinen Schmerz, und der Wolf in ihm stürzte sich mit einem gierigen Heulen auf die hilflose Beute, fegte den jämmerlichen Rest von Andrejs freiem Willen davon und übernahm endgültig die Kontrolle.

Es war wie in jener Nacht vor dem Kloster, nur hundertmal schlimmer. Er wusste nicht, was er tat und wie lange es dauerte, aber die Schreie des Soldaten hallten lange, endlos lange und unmenschlich schrill über die Straße, und als es vorbei war, lebte der Mann immer noch, aber er konnte nicht mehr schreien. Alles, was er hervorbrachte, war ein gurgelndes Röcheln.

Entsetzt von seinem eigenen Tun sprang Andrej hoch und prallte zwei taumelnde Schritte zurück. Seine Hände waren voller Blut. Sein Mund war voller Blut, aber die Gier in ihm war noch immer nicht gestillt, sondern schien mit jedem Herzschlag schlimmer zu werden. Der grausige Trank hatte seinen Durst nicht gestillt, sondern ihn noch geschürt. Was hatte er getan? Gott im Himmel, was war aus ihm geworden?

»Töte ... mich«, stöhnte der Soldat. »Ich flehe dich ... an. Hab Er ... barmen! Töte ... mich.«

Andrej starrte ihn an. Der winzige, menschlich gebliebene Teil in ihm krümmte sich vor Entsetzen, als er sah, was er dem Mann angetan hatte, aber der Wolf triumphierte. Er trank den Schmerz des Mannes, labte sich an seinem Leid und seinem Sterben, und er hinderte Andrej daran, seine Fassungslosigkeit abzuschütteln und dem Sterbenden die letzte Gnade zu erweisen und ihn von seiner Pein zu erlösen.

»Töte ... mich«, gurgelte der Sterbende. »Hab ... Erbarmen.«

»Das werde ich nicht tun«, antwortete Andrej kalt. »Aber ich lasse dir deine Seele, wenn du mir sagst, wie viele ihr seid und wo ich die anderen finde.«

»Zwan ... zig«, stöhnte der Soldat. »Wir sind ... zwanzig. Dazu der ... der Inquisitor und Vater Benedikt.«

»Der Inquisitor?« Andrej trat wieder auf den Soldaten zu und streckte die Hände aus. »Wer ist er? Wo finde ich ihn? Sprich, oder ich fresse deine Seele!«

Das konnte er nicht. Andrej, der Vampyr, hätte es vielleicht gekonnt, aber das ... Ding, in das er sich verwandelt hatte, hatte keine Verwendung für eine Seele. Es wollte Blut, das war sein Lebenselixier. Der Sterbende bäumte sich auf und versuchte vor ihm davonzukriechen, aber sein zerschundener Körper hatte nicht mehr die Kraft dazu.

»In der Kirche!«, keuchte er. »Sie ... sie sind in der Kirche.«

»Und die anderen?« Andrej machte eine drohende Bewegung. »Die Leute aus dem Dorf? Wo sind sie? Habt ihr sie alle umgebracht?«

»Sie ... sie haben viele ... verbrannt«, gurgelte der Soldat. »Aber nicht alle. Noch nicht. Sie ... sie machen ihnen den Prozess. Jedem ...«

»Aber das Urteil steht schon fest, nicht wahr?« Andrej verzog die Lippen zu einem kalten Grinsen. »Alles muss eine Ordnung haben. Schließlich bekommt jeder seinen gerechten Prozess.«

»Sie ... sie sind mit dem Teufel im Bunde«, stöhnte der Mann. »Jeder weiß das. Alle hier sind ... sind Teufelsjünger.«

Andrej wollte widersprechen, aber in diesem Moment fiel sein Blick auf seine eigenen, zu Klauen gekrümmten Hände. Sie hatten sich nicht wirklich in Klauen verwandelt, wie die Gliedmaßen der bedauernswerten Kreaturen, die Abu Dun und er in der Höhle gefunden hatten, aber der Anblick war fast schlimmer. Sie waren so rot vom Blut des Soldaten, dass es aussah, als trüge er dunkelrote nasse Handschuhe, die bis an die Ellbogen hinaufreichten. Es hätte des bitteren Kupfergeschmackes auf seiner Zunge nicht mehr bedurft, um ihm zu beweisen, wer das schlimmste Ungeheuer war. Dieser Anblick war es, der ihm noch einmal die Kraft gab, der brennenden Gier zu widerstehen; vielleicht zum letzten Mal.

»Ich halte mein Wort«, sagte er, »Ich werde deine Seele nicht nehmen.«

»Töte ... mich«, flehte der Sterbende. »Hab doch ... Erbarmen.«

Das war ein Wort, das Andrej nichts mehr bedeutete. Er starrte noch einen Moment mitleidlos auf den Soldaten hinab, dann drehte er sich um und ging langsam weiter. Er musste nur wenige Schritte weit laufen, bevor das Prasseln der Flammen die Schreie des sterbenden Mannes verschlungen hatte.

Es war Andrej klar, dass er nicht auf direktem Weg zur Kirche gehen konnte.

Wenn der sterbende Soldat die Wahrheit gesagt hatte - woran er nicht zweifelte - dann hatte er es immer noch mit mindestens sechzehn Gegnern zu tun, den Inquisitor nicht mitgerechnet. Das waren selbst für einen Mann mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten eindeutig zu viele Soldaten, um ohne Strategie gegen sie zu kämpfen. Er war nahezu unsterblich, aber nahezu bedeutete nicht vollkommen. Wenn er blindlings losstürmte, dann würde er in sein Verderben laufen.

Vielleicht wäre das Beste, dachte Andrej finster. Für Abu Dun, für die Menschen hier und vor allem für ihn selbst. War das vielleicht der wirkliche Grund, aus dem er zurückgekommen war?, fragte er sich. Nicht um die Menschen hier zu retten, oder das Geheimnis seiner Herkunft zu lüften, sondern weil er den Tod suchte?

Beunruhigt schüttelte er den Gedanken ab. Er hätte zu einer Antwort kommen können, die ihm nicht gefiel.

Auf dem Weg zum Dorfplatz begegneten ihm keine weiteren Menschen mehr, weder Soldaten noch Trentklammer, und auch der Kirchplatz selbst bot einen anderen Anblick, als er erwartet hatte. Die Handvoll Häuser, die den runden Platz säumten, waren nicht niedergebrannt, zeigten aber deutliche Spuren der Gewalt, die auch hier gewütet hatte: Eine eingetretene Tür hier, ein zertrümmertes Fenster dort, ein paar geschwärzte Dachschindeln, wo die Flammen von einem der benachbarten Gebäude übergegriffen hatten und in aller Hast wieder gelöscht worden waren.

Dennoch ließ ihn der Anblick für einen Moment erstarren; vielleicht, weil er zu sehr dem jenes anderen Dorfes ähnelte, in dem sie Alessa gefunden hatten, nur dass die Vorzeichen hier genau umgekehrt waren: In jenem Dorf auf der anderen Seite der Berge waren es die Fremden gewesen, die ahnungslos in ihr Verderben gelaufen waren; hier hatten die Fremden den Tod gebracht.

Und er hatte eine blutige Spur gezogen. Andrej sah keine Toten, aber unmittelbar vor der offen stehenden Kirchentür waren zwei gewaltige Scheiterhaufen errichtet worden. Einer davon schwelte noch, der zweite brannte lichterloh - was aber gewiss nicht mehr lange so bleiben würde -, und nur einige Schritte entfernt waren vier Soldaten damit beschäftigt, einen dritten Scheiterhaufen zu errichten. Sie machten sich allerdings nicht die Mühe, Reisig oder Feuerholz herbeizuschaffen, sondern verwendeten Materialien, die sie kurzerhand aus den benachbarten Häusern geholt hatten: zerbrochene Möbel, Teile von Fensterrahmen und Bodendielen ...

Weit mehr als das Vorhandensein der Scheiterhaufen selbst machte dieses Vorgehen Andrej klar, dass die Soldaten nicht vorhatten, in diesem Ort noch irgendjemanden am Leben zu lassen. Er fragte sich, warum Vater Benedikt und der Inquisitor überhaupt über die Trentklammer zu Gericht saßen, anstatt sie gleich zusammen mit ihren Häusern zu verbrennen.

Zwei Soldaten lösten sich von ihren Kameraden und kamen auf ihn zu.

Andrej fuhr erschrocken zusammen, wich geduckt ein paar Schritte zurück und senkte die Hand auf das Schwert. Schnell musste er aber erkennen, dass sie nicht einmal in seine Nähe kommen würden, sondern unterwegs zu einem der Gebäude auf der linken Seite des Platzes waren - vermutlich, um weiteres Brennmaterial zu holen.

Das Haus stand ein wenig abseits. Sämtliche Fenster und die Tür standen offen, aber dahinter brannte kein Licht. Es war leer, und seine Bewohner vermutlich zusammen mit allen anderen in der Kirche; dem einzigen Gebäude im Dorf, das groß genug war, um so viele Gefangene aufzunehmen.

Wahrscheinlich war das auch der einzige Grund, aus dem die Ungeheuer m den schwarzen Roben es nicht ebenfalls angezündet hatten.

Andrejs Hand schloss sich fester um das Schwert, während er die beiden Soldaten beobachtete, die nebeneinander und ohne sichtbare Eile auf das Haus zu gingen. Sie unterhielten sich, aber Andrej sah nur die Gesten, mit denen sie ihre Worte begleiteten. Obwohl in seiner unmittelbaren Nähe kein Haus brannte, war das Tosen der Flammen selbst hier noch deutlich genug zu hören. Es übertönte nahezu jedes andere Geräusch. Für Andrej wäre es ein Leichtes gewesen, den beiden Männern zu folgen und sie zu töten, ohne dass ihre Kameraden es auch nur bemerkt hätten.

Seine Hand zuckte so erschrocken vom Schwertgriff weg, als hätte er glühendes Metall berührt. War das wirklich er, der diesen Gedanken gehegt hatte? Wie viel von ihm war noch er selbst?

Er schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich stattdessen auf die Kirche. Das zweigeteilte Portal stand offen, aber dahinter waren nur flackerndes Licht und unruhige Bewegung zu erkennen. Für einen kurzen Moment blitzte ein Lichtstrahl auf, als jemand - wohl ein Soldat - an der Tür vorbeiging, aber Andrej konnte keine Einzelheiten erkennen, so sehr er seine Augen auch anstrengte.

Ihm war klar, dass sich die meisten Soldaten im Inneren der Kirche aufhalten mussten. Er konnte nicht einfach zur Tür hineingehen, sondern musste einen unauffälligeren Weg wählen. Die einzige Möglichkeit bestand darin, die Kirche und damit den gesamten Platz in weitem Bogen zu umgehen und sich dem Gebäude von der Rückseite her zu nähern.

Andrej warf einen letzten, prüfenden Blick in den Himmel hinauf, bevor er losging. Bis Sonnenaufgang waren es noch gute zwei Stunden; sicherlich eineinhalb, ehe es auch nur zu dämmern begann. Dennoch war der Mond bereits untergegangen, der Himmel war leer bis auf das glitzernde Band aus Sternen; Diamantsplitter, die ein nachlässiger Gott auf seinem Weg über das Firmament verloren hatte. Konnte das der Grund sein, aus dem die grausame Gier in ihm nicht mehr ganz so quälend war wie bisher? Sein Blutdurst war noch lange nicht gestillt, aber noch vor einer halben Stunde wäre es ihm nicht möglich gewesen, die Mordlust zu zügeln, die ihn beim Anblick der beiden Soldaten überfallen hatte. Vielleicht, überlegte er, wäre es klüger, bis zum Sonnenaufgang abzuwarten. Aber wie viele Leben würden diese zwei Stunden kosten?

Er entschied sich gegen das Warten, und sei es nur, weil diese Wartezeit bewiesen hätte, dass er endgültig begonnen hatte, die Nacht zu fürchten.

Um den Dorfplatz und die Kirche in sicherem Abstand zu umgehen, legte er weitere zwei oder drei Dutzend Schritte des Weges zurück, den er gekommen war, und schlug dann einen großen Bogen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er auf die Rückseite des Gotteshauses gelangte, denn er bewegte sich sehr vorsichtig und hielt immer wieder an, um zu lauschen oder sich aufmerksam umzusehen.

Einige Male unterbrach er seinen Weg, um eines der leerstehenden Gebäude zu durchsuchen. In keinem der Häuser fand er ein lebendes Wesen, aber er konnte die Gewalt und den Tod, die hier getobt hatten, riechen.

Als er endlich die Rückseite der Kirche erreichte, musste er feststellen, dass seine Mühe vollkommen umsonst gewesen war. Das Gotteshaus war zwar erstaunlich groß für einen Ort wie Trentklamm, und so wuchtig und wehrhaft erbaut, dass es schon fast einer Festung glich, aber es besaß keinen zweiten Eingang. Die Fenster der Kirche waren schmal und zusätzlich vergittert, sodass es vollkommen unmöglich war, auf dieser Seite hineinzugelangen. Die Ähnlichkeit mit einer Festung war beabsichtigt: Wie in vielen Orten dieser Größe diente die aus massivem Stein erbaute Kirche den Dorfbewohnern nicht nur als Versammlungsort und Gebetshaus, sondern auch als Zuflucht bei einem Unwetter oder einem Angriff.

Im Augenblick hatte sie allerdings die Funktion eines Gefängnisses übernommen.

Andrej schlich geduckt an das Gebäude heran, presste sich mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem unter einem der schmalen Fenster gegen die Wand und lauschte. Die Geräusche, die durch das Fenster zu ihm drangen, ergaben in ihrer Gesamtheit ein Bild, so klar, als könnte er es sehen: Dort drin waren Menschen, viele Menschen. Niemand schien zu beten, aber er hörte ein dumpfes, an- und abschwellendes Raunen und Murmeln, dessen Tenor eher von Leid und Angst als von der geflüsterten Zwiesprache mit Gott kündete. Ein Kind weinte, und die halblaute, zitternde Stimme einer Frau versuchte es zu trösten.

Daneben vernahm er schwere Schritte, wie sie die genagelten Stiefel eines Soldaten hervorriefen. Der sterbende Soldat hatte die Wahrheit gesagt. Die Gefangenen und ihre Wächter befanden sich in der Kirche.

Andrej richtete sich vorsichtig auf, legte den Kopf in den Nacken und blickte an der rauen Wand des Kirchenschiffes empor. Die Verlockung, einen Blick durch das Fenster zu werfen, war groß, aber er widerstand ihr. Zu gefährlich war es, dass genau in diesem Moment einer der Soldaten zufällig in seine Richtung sah oder gar ans Fenster trat. Stattdessen suchte er sehr aufmerksam das gesamte Gebäude nach einer Möglichkeit ab, ungesehen hineinzugelangen. Und seine Mühe wurde belohnt.

Sämtliche Fenster auf dieser Seite waren vergittert, aber das galt nicht für den Turm. Der Einstieg lag gute acht oder neun Meter über ihm, und die Fugen im Mauerwerk des Turmes waren so schmal, dass es schon großen Geschicks und einer Menge Kraft bedurfte, um an der Wand empor zuklettern. Aber Andrej war ein geschickter Kletterer, und nun kam ihm zugute, dass er nicht bis Sonnenaufgang gewartet hatte. Bei hellem Tageslicht hätte er es nicht gewagt, an der Wand hinaufzusteigen, aber in der noch immer vorherrschenden Dunkelheit und auf der Rückseite der Kirche würde ihn niemand sehen.

Er überzeugte sich sorgsam davon, dass er nichts bei sich trug, was ihm aus den Taschen fallen oder auch nur ein verräterisches Geräusch verursachen würde, zurrte den Schwertgurt fester um die Hüfte und griff nach oben. Seine Fingerspitzen tasteten über die raue Wand und suchten nach Halt. Die Mauer war nicht so glatt, wie es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte, aber dennoch verging eine ganze Weile, bis er eine geeignete Stelle gefunden hatte und mit dem Aufstieg begann.

Er brauchte länger, um die wenigen Meter in die Höhe zu steigen, als er erwartet hatte, und oben angekommen stieß er sofort auf die nächste - und möglicherweise unüberwindliche - Schwierigkeit. Obwohl Trentklamm ein so winziger Ort war, dass man auf den meisten Karten vergebens danach gesucht hätte, wartete seine Kirche mit einem erstaunlichen Luxus auf: einer bronzenen Glocke, welche die Möglichkeit, im Turminneren hinabzuklettern, erschwerte.

Andrej fluchte in sich hinein. Die Geräusche aus dem Inneren der Kirche waren nun deutlicher wahrzunehmen. Es waren mindestens zwei Stimmen darunter, die er kannte: die von Thobias und die von Vater Benedikt. Beide schienen in einen heftigen Disput mit einer dritten Person verwickelt zu sein.

Andrej konnte jedoch nicht verstehen, worum es dabei ging.

Vorsichtig, um nicht die Glocke zu berühren und damit sein eigenes Ende einzuläuten, schlängelte sich Andrej in den Turm hinein. Seine Finger tasteten vergeblich nach einer Fuge im Stein, einer Lücke, irgendetwas, woran er sich festhalten konnte. Das Innere des Turmes war verputzt, als hätten seine Erbauer gewusst, dass jemand auf diesem Wege eindringen würde, und alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihm den Weg zu erschweren.

Andrej schlängelte sich weiter, presste sich mit dem Rücken gegen die eine und mit durchgedrückten Knien gegen die andere Wand und fand mit dieser Methode unsicheren Halt. Einen Moment lang überlegte er, genau auf diese Weise bis ganz nach unten zu steigen; eine Technik, die eine Menge Kraft beanspruchen würde, aber durchaus Erfolg versprechend schien. Dann sah er nach unten und stellte fest, dass auch das unmöglich war: Der Turm war nur hier oben so schmal. Zwei Meter unter ihm wichen die Wände jäh auseinander.

Ganz kurz erwog er die Möglichkeit, nach oben zu greifen und den Klöppel aus der Glocke zu entfernen, um einfach am Glockenseil hinunterzuklettern, aber diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Er befand sich nicht in der Lage, handwerkliche Meisterstücke zu vollbringen, und er würde dafür Werkzeug benötigen, das er nicht hatte. Ihm blieb nur noch eine Wahl: Er stürzte sieben oder acht Meter weit in die Tiefe und versuchte erst gar nicht, seinen Sturz abzufangen.

Der Aufprall war so hart, dass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor, allerdings nur für einen Augenblick. Von Schmerzen gepeinigt erwachte er.

Das Blut rauschte in seinen Ohren, und seine Fantasie quälte ihn mit tausend Schreckensbildern. Möglicherweise war er Thobias und den anderen direkt vor die Füße gefallen, und wahrscheinlich war das Erste, was er sah, wenn er die Augen aufschlug, ein halbes Dutzend Speerspitzen, die auf sein Gesicht gerichtet waren. Stöhnend wälzte er sich auf den Rücken und hob die Lider.

Er war allein. Das Ende des Glockenseiles baumelte einen halben Meter über seinem Gesicht, und der Boden, auf dem er lag, war nass und glitschig von seinem eigenen Blut. Weit entfernt und verzerrt vom dumpfen Hämmern seines eigenen Herzens, das noch immer überlaut in seinen Ohren dröhnte, konnte er die Stimmen von Thobias und den anderen hören. Niemand hatte etwas von seinem Eindringen bemerkt, so unglaublich es ihm auch selbst erschien.

Andrej blieb eine geraume Weile reglos auf dem Rücken liegen und wartete darauf, dass sich sein Körper erholte und die Verletzungen heilten, die er sich bei dem Sturz aus sieben oder acht Metern Höhe zugezogen hatte. Es dauerte wahrscheinlich nur Minuten, aber für ihn schienen Ewigkeiten zu vergehen.

Irgendwann spürte er, dass die Regeneration abgeschlossen war. Aber er war schwach, unglaublich schwach. Schon die kleinste Bewegung kostete ihn fast mehr Kraft, als er hatte.

»... flehe Euch noch einmal an, Hochwürden«, hörte er Thobias' Stimme.

Immerhin konnte er jetzt die Worte verstehen, wenn auch nicht sehr klar. »Im Namen Gottes, Ihr könnt das nicht wirklich wollen! Es sind mehr als sechzig Menschen, noch immer!«

Andrej stand auf. Er war so schwach, dass er taumelte. Um ein Haar hätte er das Glockenseil ergriffen, um sich daran festzuhalten.

»Bruder Thobias, ich kann Eure Gefühle verstehen«, antwortete eine andere, Andrej unbekannte Stimme. »Auch wenn ich sie nicht gutheißen kann, so mag doch zu Euren Gunsten sprechen, dass diese Menschen hier Eure Brüder und Schwestern sind. Ihr seid mit ihnen aufgewachsen und haltet sie für Eure Freunde, und früher einmal waren sie das sicher auch.«

Andrej wartete mit geschlossenen Augen, bis das Schwindelgefühl hinter seiner Stirn verebbte, dann blickte er sich um. Er befand sich in einer kleinen, vollkommen leeren Kammer, die nur eine einzige Tür hatte. Sie war grob aus kaum bearbeiteten Brettern zusammengenagelt, durch deren Ritzen nicht nur die Stimmen drangen, die er hörte, sondern auch flackerndes gelbes Licht.

Andrej spähte durch eine der fingerbreiten Ritzen.

»Das ist nicht der Grund, Exzellenz«, hörte er Thobias sagen. Er lief aufgeregt in dem kleinen, bescheiden eingerichteten Raum auf und ab, der auf der anderen Seite der Tür lag, und er war nicht allein. Der Mann, den er mit Exzellenz angesprochen hatte, stand aufgerichtet neben einer anderen Tür, die vermutlich ins eigentliche Kirchenschiff hineinführte, und trug ein schlichtes schwarzes Gewand. Er war allerhöchstens dreißig, schätzte Andrej, und hatte ein offenes Gesicht, aber mitleidlose harte Augen. Sein Haar war so schwarz wie sein Gewand. Ein goldenes Kruzifix hing an einer Kette um seinen Hals. Es musste der Inquisitor sein, von dem Thobias gesprochen hatte.

Sein bloßer Anblick versetzte Andrej in Zorn. Da bemerkte er eine weitere Person im Raum: Vater Benedikt. Er stand mit dem Rücken zu Andrej, aber er erkannte die gebeugte Gestalt und das schüttere graue Haar.

»Doch, Thobias, das ist der Grund«, antwortete der Inquisitor ruhig. Seine Hand tastete nach dem Kruzifix auf seiner Brust und schmiegte sich darum.

»Ich will offen sein, Bruder Thobias. Ihr habt es nur Benedikts Fürsprache zu verdanken, dass Ihr nicht ebenfalls in Ketten auf der anderen Seite der Anklagebank steht. Vielen von uns ist das, was Ihr in den letzten Jahren dort oben in Eurem Kloster getan habt, ein Dorn im Auge.«

»Und Euch ganz besonders, nicht wahr?« Thobias' Stimme zitterte vor Aufregung. Er war unruhig, aber Andrej lauschte vergebens auf einen Unterton von Angst.

Vater Benedikt fuhr erschrocken zusammen und sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Was ich denke, steht nicht zur Debatte«, antwortete der Inquisitor ungerührt.

»Was zählt ist, was ich sehe. Und ich sehe einen Ort, dessen Menschen sich offensichtlich von Gott abgewandt haben, und in dem schwarze Magie und Teufelswerk die Stelle von Gottesfurcht und Demut einnehmen.«

»Nicht alle, Exzellenz«, sagte Thobias verzweifelt. »Ihr mögt Recht haben. Es sind ... schlimme Dinge geschehen, das will ich nicht bestreiten. Aber es war nicht die Schuld der guten Leute hier. Es ging von den Fremden aus. Alles begann, nachdem dieser Andrej und der Heide, der bei ihm war, hierher gekommen sind!«

Andrej runzelte die Stirn. Er hatte keine Dankbarkeit von Thobias erwartet, aber das ... ?

»Wie bedauerlich, dass sie nicht mehr hier sind, um Stellung zu diesen Vorwürfen zu nehmen, nicht wahr?«, sagte der Inquisitor.

Thobias wollte antworten, aber Vater Benedikt kam ihm zuvor: »Verzeiht, Exzellenz«, mischte er sich ein. Seine Stimme war voller Angst, auch wenn sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Aber Bruder Thobias hat Recht. Ich selbst habe mit diesem Andrej gesprochen, und ich habe das Böse gespürt, das ihn umgibt. Dieser Mann ist der Teufel. Thobias hätte sich nicht mit ihm abgeben dürfen, das ist wahr, aber er ist jung, und sein Glaube an die Wissenschaft hat ihn blind gemacht.«

Der Inquisitor seufzte. »Ich bitte Euch, Vater Benedikt! Wofür haltet Ihr mich - für ein Ungeheuer? Ich bin nicht hergekommen, um unschuldige Menschen umzubringen, sondern um sie zu retten!« Er wandte sich an Thobias. »Ich kann und will nicht darüber urteilen, ob Euer blinder Glaube an die Wissenschaft Ketzerei ist oder nicht, Thobias. Das sollen und werden andere entscheiden. Aber wenn das, was hier geschieht, nur eine Krankheit ist, müsstet ihr die Menschen dann nicht heilen? Und sagt: Wenn ich ein übles Geschwür hätte, würdet Ihr es nicht ausbrennen, damit es nicht meinen ganzen Körper vergiftet?«

»Natürlich«, antwortete Thobias, »aber ...«

»Und würdet Ihr nicht in Kauf nehmen, auch ein wenig gesundes Fleisch mit zu verbrennen, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern?«

»Das habt Ihr doch bereits getan!«, antwortete Thobias heftig. »Birgers Familie ist ausgelöscht. Die, die nicht in die Berge geflohen sind, habt Ihr verbrannt! Wie viele wollt Ihr noch töten?«

»So viele, wie nötig sind«, antwortete der Inquisitor hart. »Glaubt nicht, dass es mir Freude bereitet. Aber wenn ich auch nur eine einzige unschuldige Seele rette, dann hat es sich gelohnt.«

»Indem Ihr hundert andere Unschuldige opfert?«

»Selbst wenn es so wäre, wäre ihnen Gottes Lohn gewiss«, wandte der Inquisitor ein. »Es geht um ihre Seelen.« Sein Lächeln wurde noch härter. »Und auch um Eure, Bruder Thobias, auch wenn Ihr das immer wieder zu vergessen scheint.«

»Warum sprecht Ihr nicht offen?«, fragte Thobias höhnisch. »Wir sind allein. Niemand hört uns zu. Niemand wird erfahren, was hier gesprochen wird. Wenn es mein Leben ist, das Ihr wollt, dann nehmt es! Stellt mich vor Gericht. Bezichtigt mich der Ketzerei. Ich werde alles zugeben. Tötet mich, wenn Ihr wollt, aber lasst die unschuldigen Menschen hier am Leben!«

Der Inquisitor musterte ihn kühl, dann schüttelte er den Kopf, seufzte hörbar und sagte: »Gebt Acht, dass ich Euch nicht beim Wort nehme, mein Freund.«

»Es ist mir gleich, was mit mir geschieht. Mein Schicksal ist doch ohnehin schon entschieden ...«, schnappte Thobias. Seine Stimme bebte vor Zorn.

Die Tür wurde aufgerissen und traf den jungen Inquisitor mit solcher Wucht im Rücken, dass er haltlos nach vorne stolperte und gestürzt wäre, hätte Thobias ihn nicht im letzten Moment aufgefangen. Ein junger Soldat stürmte herein und erstarrte vor Schreck, als er sah, was er angerichtet hatte. Er begann zu zittern und fiel mit gesenktem Haupt auf die Knie - ein Gebahren, das Andrej weit mehr über den Inquisitor verriet als alles, was er bisher gesehen und gehört hatte.

»Verzeiht, Herr«, stammelte er. »Ich wusste nicht, dass ...«

Der Inquisitor brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Verstummen.

»Schon gut«, sagte er. »Was ist los? Warum stürmst du einfach so hier herein?«

»Der Heide, Herr!«, antwortete der Soldat. Andrejs Herz machte einen schmerzhaften Sprung. »Der Mohr! Wir haben ihn gefangen!«

Nicht nur Andrej erschrak bis ins Mark. Auch Vater Benedikt fuhr sichtbar zusammen, und Bruder Thobias wurde kreidebleich und tauschte einen raschen Blick mit Benedikt, der dem Inquisitor aber offensichtlich entging.

»Ihr habt ihn gefangen?«, vergewisserte der sich ungläubig. »Wo? Wo ist er?«

»Er war auf dem Weg zum Kloster«, antwortete der Soldat. »Er hat zwei von uns erschlagen und drei weitere verletzt, bevor wir ihn überwältigen konnten. Sie bringen ihn gerade her!«

»Lebt er?«, fragte Thobias.

»Ja«, bestätigte der Soldat. »Wir haben ihn gefesselt. Die anderen bringen ihn her. Ich bin vorausgeeilt, um Euch Bescheid zu geben. Er wird in einer halben Stunde hier sein.«

»Gut«, sagte der Inquisitor. »Dann werden wir jetzt vielleicht endlich erfahren, was hier wirklich vorgeht.«

Er stürmte so schnell aus dem Raum, dass er den völlig eingeschüchterten Soldaten um ein Haar von den Knien gerissen hätte, und war verschwunden. Der Soldat rappelte sich mühsam auf und folgte ihm, und auch Vater Benedikt wollte sich ihm anschließen, aber Thobias hielt ihn mit einer Handbewegung und einem angedeuteten Kopfschütteln zurück. Er wartete einige Momente ab, dann ging er zur Tür, warf einen Blick nach draußen und schloss sie schließlich wieder.

»Das hätte nicht passieren dürfen«, zischte Vater Benedikt aufgebracht.

»Wieso lebt er noch? Du hast mir gesagt, er und dieser Andrej wären tot!«

»Ich war sicher«, sagte Thobias. Er hob die Schultern. »Anscheinend habe ich meine Brüder und Schwestern überschätzt.«

»Oder diesen Andrej unterschätzt«, fügte Vater Benedikt düster hinzu. »Was, wenn er auch noch am Leben ist? Wenn er gar zurückkommt?«

»Was sollte er schon ausrichten können?«, fragte Thobias. Er fand seine Beherrschung rasch wieder, und als er weitersprach, lächelte er sogar. »Und wer würde ihm glauben? Mach dir keine Sorgen. Morgen Nacht, wenn der Mond aufgeht, wird jeder begreifen, dass der Teufel in Trentklamm stärker ist denn je.«

Er seufzte, drehte sich halb herum und sah für einen Moment so genau in Andrejs Richtung, dass dieser davon überzeugt war, dass er seine Anwesenheit entdeckt hatte. Aber dann irrte sein Blick weiter und blieb schließlich auf Benedikts Gesicht hängen. »Bis dahin haben wir noch viel zu tun. Und nur noch sehr wenig Zeit.«

Nichts von alledem, was Andrej gehört hatte, schien irgendeinen Sinn zu ergeben. Er war noch immer bestürzt über die Erkenntnis, dass Thobias ganz offensichtlich vorhatte, Abu Dun und ihn für die unheimlichen Vorfälle der letzten Tage verantwortlich zu machen - aber er konnte ihn sogar verstehen. Abu Dun und er waren Fremde für ihn, und wenn er die Wahl hatte, sie zu opfern, um das Leben der Menschen hier zu retten, dann konnte er gar nicht anders entscheiden.

Andrej wartete, bis Thobias und Vater Benedikt den Raum verlassen hatten, dann versuchte er, die Tür zu öffnen.

Es ging nicht.

Die Tür war verschlossen. Andrej zwängte die Finger in den schmalen Spalt zwischen den Brettern und zog mit aller Kraft. Das Holz knirschte, hielt dem Druck aber Stand, und als er sich in die Hocke sinken ließ und die Tür genauer untersuchte, sah er den Schatten eines wuchtigen Riegels, der von der anderen Seite vorgelegt war. Es gab keine Hoffnung, sie gewaltsam aufzubrechen - jedenfalls nicht, ohne dass der Lärm jeden alarmiert hätte, der draußen in der Kirche war.

Andrej richtete sich auf, trat einen Schritt zurück und zwang sich, seine Möglichkeiten in aller Ruhe abzuwägen. Es waren nicht besonders viele.

Er verstand noch nicht das ganze Ausmaß dessen, was er gerade gehört hatte, doch ihm wurde klar, dass nichts so war, wie er bisher geglaubt hatte.

Thobias hatte ihn anscheinend von Anfang an belogen - aber warum?

Hätte Andrej es nicht besser gewusst, dann wäre er spätestens, nachdem er das Gespräch von Thobias und Benedikt gehört hatte, überzeugt gewesen, dass dieser alles in seiner Macht Stehende tat, damit der Inquisitor Trentklamm auslöschte.

Er verscheuchte den Gedanken. Vielleicht hatte Abu Dun von Anfang an Recht gehabt, und das alles hier ging sie nichts an. Aber dazu war es jetzt zu spät.

Es überraschte ihn nicht, dass Abu Dun erneut in Gefangenschaft geraten war. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Nubier sein Wort halten und oben am Kloster auf ihn warten würde. Vermutlich hatte er einfach abgewartet und war dann umgekehrt, um ihm zu folgen. Wenn Andrej überrascht war, dann darüber, dass die Soldaten nur zwei Männer bei dem Versuch, Abu Dun zu überwältigen, verloren hatten. Offensichtlich war der Nubier noch lange nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte.

Abu Dun würde in einer halben Stunde hier sein, und Thobias schien daran interessiert zu sein, den Inquisitor in Trentklamm ein Blutbad anrichten zu lassen. Und er war in diesem Glockenturm gefangen, so zuverlässig und sicher, wie es Abu Dun in Thobias' Kerker gewesen war. Andrej sah nach oben, musterte die glatt verputzen Wände des Glockenturmes mit wachsender Ungeduld und griff schließlich nach dem Glockenseil. Ein kurzer Zug reichte, um den Klöppel in Bewegung zu setzen.

Das Ergebnis war ein dumpfes, lang anhaltendes und überraschend lautes Dröhnen, das in dem engen gemauerten Schacht fast schmerzhafte Lautstärke erreichte. Andrej ließ das Seil los, überlegte es sich dann anders und zog noch einmal daran. Während er weiterläutete, wurden draußen aufgeregte Stimmen laut, polternde Schritte näherten sich. Andrej löste die Hand vom Seil, drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hörte Schritte von mindestens zwei, vielleicht drei Männern, dann wurde die Tür aufgestoßen, und derselbe aufgeregte Soldat stürmte herein, der gerade mit dem Inquisitor gesprochen hatte.

»Ich bitte um Verzeihung, wenn das frühe Glockengeläut stören sollte«, sagte Andrej lächelnd, »aber ich bin auf der Suche nach einem Freund. Sein Name ist Abu Dun, und er ist ziemlich groß und ziemlich schwarz. Habt ihr ihn gesehen?«

Er erwachte in vollkommener Dunkelheit. Wie immer, wenn er wirklich schwer verletzt worden war, hatte er im ersten Moment Mühe, sich zurechtzufinden. Es fühlte sich an wie das Auftauchen aus einem tiefen, klaren und unendlich kalten See, auf dessen Grund etwas Unsichtbares lauerte, das ihn wieder in die Tiefe zu ziehen versuchte - nicht mit Gewalt, sondern mit der flüsternden Stimme des Versuchers. Manchmal war es schwer, ihr zu widerstehen, und manchmal fast unmöglich. Während er allmählich dem heller werdenden Licht hoch über sich entgegenglitt, verspürte er eine Müdigkeit, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Keine körperliche Schwäche, sondern etwas, das schlimmer war; die Frage: Warum das alles. Es wäre so leicht, einfach aufzugeben und sich der Verlockung zu stellen, die am Grunde der großen Dunkelheit lauerte, die er so oft betreten, aber noch nie vollends erforscht hatte.

Der Grund, aus dem er sich auch jetzt entschloss, den ewigen Kampf wieder aufzunehmen und dem Tod erneut zu trotzen, war die Schwärze, die ihn umgab.

Sie erinnerte ihn an etwas.

Abu Dun.

Etwas war mit Abu Dun passiert. Er musste etwas für ihn tun, für ihn und die Menschen hier. Er wusste nicht mehr was oder gar warum, aber der Gedanke war stark genug, sich ihn wieder dem Licht zuwenden zu lassen und den langen, qualvollen Weg zur Oberfläche fortzusetzen.

Und da war noch etwas: Die Dunkelheit, durch die er glitt... enthielt etwas. Es war ein unheimliches Gefühl, völlig neu und erschreckend, und seine ganze Tiefe sollte ihm erst später zu Bewusstsein kommen, lange nachdem er wirklich aufgewacht war.

Er war nicht mehr allein.

Der große Abgrund enthielt plötzlich mehr als das letzte Geheimnis, das er noch lange nicht zu erkunden bereit war. Etwas war bei ihm, etwas Düsteres, Lauerndes und unglaublich Starkes. Es machte ihm Angst. Er schlug die Augen auf und sah im ersten Moment nichts. Völlige Dunkelheit umgab ihn, aber er hörte Geräusche und Stimmen, und der zweite, fast unerträglich starke Eindruck, den er hatte, war der süßliche Geruch von Blut, der aber seltsamerweise die unheimliche Gier in ihm nicht weckte. Er war nicht allein.

Dennoch war nichts Lebendiges an seiner Seite.

Andrej lauschte noch einen Moment, dann setzte er sich auf und betastete seinen Körper. Er spürte den breiten Riss in seinem Gewand und klebriges, erst halb eingetrocknetes Blut, was ihm bewies, dass er noch nicht lange hier liegen konnte - wo immer dieses hier war. Und Erleichterung; eine tiefere und weit größere Erleichterung, als er sich eingestehen wollte. Was er getan hatte, war riskant gewesen.

Die drei Soldaten hatten ihren Schrecken erstaunlich schnell überwunden, und sie hatten nicht anders reagiert, als Andrej erwartet hatte: Mit gezogenen Schwertern hatten sie sich auf ihn gestürzt. Manchmal, dachte er spöttisch, während er sich vorsichtig weiter in die Höhe stemmte, war es beinahe schwerer, einen Kampf zu verlieren, als ihn zu gewinnen. Zumindest, wenn man nicht wollte, dass der andere merkte, dass man absichtlich unterlag ...

Er war zwei- oder dreimal getroffen worden, bevor es ihm gelang, sich derart in die Klinge eines der Angreifer zu werfen, dass an der Tödlichkeit der Verletzung kein Zweifel mehr bestehen konnte. Als Andrejs Hände weitertasteten, spürte er auch an seinem Hals halb eingetrocknetes klebriges Blut. Obwohl er ganz eindeutig tödlich getroffen worden war, hatten die Soldaten es für nötig gehalten, ihm noch die Kehle durchzuschneiden - ein Umstand, der viel darüber verriet, wie sehr sie ihn fürchteten.

Andrej spürte einen eisigen Schauer, als ihm klar wurde, wie riskant sein Plan gewesen war. Sie hatten es dabei belassen, dem vermeintlich Toten die Kehle durchzuschneiden. Ebenso gut hätten sie auf den Gedanken kommen können, ihm den Kopf abzuschneiden, oder seinen Leichnam auf einen der Scheiterhaufen zu werfen, die draußen vor der Kirche aufgebaut waren.

Er stemmte sich weiter in die Höhe, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als seine tastenden Finger auf etwas Weiches stießen. Angeekelt zog er die Hand zurück, schüttelte den Kopf über seine eigene, ungewohnte Schreckhaftigkeit und tastete erneut in die Dunkelheit hinein. Seine Finger fuhren über ein kaltes, erstarrtes Gesicht, rauen Stoff und etwas, das sich wie bröseliger Stein anfühlte ... Blut, das zu Schorf eingetrocknet war. Neben ihm lag ein Toter. Er war schon geraume Zeit tot, Stunden, wenn nicht Tage.

War das der Grund, aus dem sich der Wolf in ihm nicht gemeldet hatte, dachte er schaudernd? Weil die Bestie nachfrischer Beute gierte?

Andrej schüttelte den Gedanken mühsam ab, richtete sich weiter auf und drehte sich mit weit vorgestreckten Armen einmal im Kreis, um sich zu orientieren. Er war vollkommen blind, was bedeutete, dass er entweder wirklich nichts mehr sehen konnte - eine Möglichkeit, über die er lieber nicht nachdachte - oder in einem fensterlosen Raum war. Vielleicht tief unter der Erde. Hatte man ihn in die Krypta gebracht? Das hätte die Anwesenheit des zweiten Toten erklärt.

Aber diese Kirche war nicht groß genug, um eine Krypta zu haben, überlegte Andrej. Und hätte man sich die Mühe gemacht, ihn bis zum Friedhof am anderen Ende des Tales zu schaffen, wäre er unterwegs aufgewacht. Er glaubte nicht, dass er lange bewusstlos gewesen war, trotz der Schwere seiner Verletzung, denn das Blut auf seiner Kleidung war noch nicht ganz getrocknet.

Draußen war es noch immer dunkel, und der Raum, in dem er sich befand, hatte keine Fenster, so musste es sein.

Aber wo war er?

Er hörte ein Geräusch. Ein schwerer Riegel wurde scharrend zurückgeschoben, und Andrej reagierte sofort. Blitzschnell ließ er sich zurücksinken, rollte halb auf die Seite und schloss die Augen.

Der Riegel wurde vollends zurückgeschoben. Die Tür sprang mit einem Knarren auf, und Fackellicht und das Murmeln gedämpfter Stimmen drangen zu ihm herein. Andrej blieb vollkommen reglos liegen, aber er wusste trotzdem, wer zu ihm kam: Bruder Thobias, der Inquisitor und Benedikt. Vielleicht hatte er die Schritte der Männer erkannt, aber er hatte das Gefühl, dass er sie eher witterte.

Die Schritte kamen näher, und eine brennende Fackel warf rötliches Licht und unangenehm trockene Wärme auf sein Gesicht. Andrej spürte, wie sich jemand über ihn beugte und ihn musterte, und er versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Wären der Inquisitor oder einer seiner Begleiter auf die Idee gekommen, ihn mehr als nur flüchtig zu untersuchen, so wäre seine Verstellung aufgefallen.

»Ist er das?«, fragte der Inquisitor.

»Ja.« Das war Thobias' Stimme. Sie klang ... sonderbar, fand Andrej.

Verändert. Ängstlich.

»Das also ist Andrej«, murmelte der Inquisitor. Die Fackel kam näher, und die Hitze des brennenden Holzes wurde unangenehm. Funken fielen auf Andrejs Gesicht und fraßen sich zischend in seine Haut.

»Nach allem, was Ihr mir erzählt habt, Thobias, habe ich ihn mir ... anders vorgestellt. Gefährlicher.« Die Fackel wurde zurückgezogen, und der Inquisitor fuhr nach einer Pause und mit leicht veränderter Stimme fort: »Aber der Teufel verbirgt sich oft in der Maske des Harmlosen, nicht wahr?«

»So ist es, Exzellenz«, bestätigte Thobias.

Der Inquisitor seufzte. Wärme und Licht der Fackel entfernten sich weiter von Andrejs Gesicht, und er wagte es, einen vorsichtigen Atemzug zu tun. Gebannt lauschte er weiter, während er gleichzeitig versuchte, die Geräusche zuzuordnen, die durch die offen stehende Tür hereindrangen.

»Es ist bedauerlich, dass die Soldaten ihn erschlagen haben«, sagte der Inquisitor nach einer Weile. »Ich hätte ihn gerne verhört.«

»Sie hatten vermutlich keine andere Wahl«, gab Benedikt zu bedenken. »Wie sie sagten, hat er sie angegriffen.«

»Es ist ein Wunder, dass er sie nicht alle getötet hat«, pflichtete ihm Thobias bei, »Glaubt mir, Exzellenz, ich habe diesen Mann kämpfen sehen. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, hätte er Eure Krieger überwältigt.«

»Ich auch nicht«, sagte der Inquisitor. Etwas nachdenklicher fügte er hinzu: »Ich frage mich nur, warum er zurückgekommen ist?«

»Zweifellos, um seinen Kameraden zu befreien«, erwiderte Benedikt. »Warum sonst?«

»Und zu diesem Zweck lässt er sich im Glockenturm einsperren und läutet Alarm, damit ihn die Soldaten finden und niederstrecken?« Andrej konnte das Kopfschütteln des jungen Geistlichen beinahe sehen. »Wohl kaum.«

»Vielleicht hat er sich überschätzt«, wandte Thobias ein.

»Überschätzt?«

»Die Männer, die er im Kloster getötet hat, waren, keine wirklichen Soldaten. Es waren Bauern und Tagelöhner, die der Landgraf mit Uniformen ausgestattet und zu mir geschickt hat, um mir Schutz zu geben. Keine gut ausgebildeten Krieger wie die, die in Eurer Begleitung gekommen sind, Herr. Wenn Andrej geglaubt hat, er hätte es hier mit der gleichen Art von Männern zu tun, dann hat er eine tödliche Überraschung erlebt.«

Der Inquisitor schwieg zu diesen Worten. Schließlich entfernte er sich raschelnd einige Schritte und blieb vor der Tür noch einmal stehen. Es war Andrej unheimlich, wie genau er nur anhand von Geräuschen und Gerüchen erkennen konnte, was rings um ihn herum vorging.

»Das mag so gewesen sein«, sagte der Inquisitor seufzend. »Dennoch ist es bedauerlich, dass wir nicht mit ihm sprechen konnten. Obwohl er vermutlich ohnehin nicht geantwortet hätte, wenn er wirklich der ist, für den Ihr ihn haltet, Thobias.«

Seine Kleidung raschelte erneut, als er mit den Schultern zuckte. »Wir haben noch immer den Mohren. Ich werde hinausgehen und ihn verhören - auch wenn ich nicht glaube, dass er reden wird.« Er machte einen einzelnen Schritt und blieb wieder stehen. »Begleitet Ihr mich nicht?«

»Sofort, Exzellenz«, antwortete Thobias. »Es ist nur ...«

»Ja, ich verstehe«, sagte der Inquisitor. Seine Stimme wurde leiser, und ein Unterton von Mitgefühl lag plötzlich darin, den Andrej bei diesem Mann niemals erwartet hätte. »Ihr wollt Abschied nehmen. Das gestehe ich Euch gerne zu. Aber bedenkt, es gibt noch viele Fragen, die auf eine Antwort warten.«

Er verließ den Raum. Die Tür wurde nicht hinter ihm geschlossen, und es wurde auch nicht dunkel. Als Andrej unendlich behutsam die Augen einen schmalen Spalt öffnete, sah er, dass der Inquisitor die Fackel an Benedikt weitergegeben hatte. Sowohl er als auch Thobias blickten in seine Richtung, aber nicht direkt auf ihn, sondern auf das, was neben ihm lag. Der Leichnam, den er gespürt hatte.

»Das war riskant«, sagte Benedikt nach einer Weile und erst, als er anscheinend sicher war, dass sich niemand mehr in unmittelbarer Nähe befand, der seine Worte hätte hören können.

»Was?«, fragte Thobias. Andrej hatte die Augen wieder geschlossen, aber er konnte den verächtlichen Gesichtsausdruck des jungen Geistlichen ahnen. »Ihn darum zu bitten, dass ich noch einen Moment hier verweilen darf? Ein Inquisitor würde selbst einem verurteilten Verbrecher nicht die Gnade verweigern, ihn Abschied von seinem toten Vater nehmen zu lassen.«

Diesmal konnte Andrej ein fast unmerkliches Zusammenzucken nicht mehr verhindern. Es wurde nicht so sehr von der Erkenntnis, dass der Tote neben ihm Thobias' Vater war, verursacht. Es war die vollkommene Kälte und Gefühllosigkeit in Thobias' Stimme. Gleich, ob er sich gut mit Ludowig gestanden hatte oder nicht, dieser Mann war sein Vater gewesen. Gott im Himmel, was für ein Ungeheuer war Thobias?

»Glaub mir, ich kenne Martius. Ich war es, der ihn zur Inquisition gebracht hat, vergiss das nicht. Er ist ein harter Mann, aber er verschließt sich nicht der Logik, wie viele seiner Brüder«, sagte Benedikt.

»Und?«, fragte Thobias.

»Was ist, wenn er dir am Ende glaubt und von hier fortgeht, ohne seine Arbeit zu Ende zu bringen?«, fragte Benedikt.

»Darum sorge dich nicht«, antwortete Thobias abfällig. »Dieser Narr denkt genau das, was er denken soll. Wenn die Sonne das nächste Mal aufgeht, wird hier niemand mehr am Leben sein. Martius ist zufrieden, und wir können endlich in Frieden und Sicherheit leben.«

Er kam wieder näher. Andrej konnte spüren, wie er erst seinen toten Vater, dann ihn musterte. »Ich verstehe nicht, warum er zurückgekommen ist«, sagte er. »Ich hätte ihn für klüger gehalten.« Er seufzte, bewegte sich einen Moment unruhig auf der Stelle und wandte sich dann um.

»Ich möchte, dass du bei ihm bleibst, Benedikt. Falls er aufwacht, muss jemand da sein, der es ihm erklärt.«

Benedikt sog hörbar die Luft ein. »Du glaubst... ?«

»Nein«, sagte Thobias, noch ehe sein Onkel die Frage ganz aussprechen konnte. »Aber ich will kein Risiko eingehen. Nicht jetzt, wo wir dem Ziel so nahe sind.«

»Und was soll ich ihm sagen, wenn er erwacht?«, fragte Benedikt unsicher.

»Dir wird schon etwas einfallen«, antwortete Thobias leichthin.

»Immerhin bist du sein Bruder. Ich muss jetzt gehen. Martius wird diesen Heiden verhören, und ich fürchte, dass selbst er sich den Fragen eines Inquisitors nicht lange widersetzen kann. Wir wollen doch nicht, dass am Ende noch alles herauskommt, oder?«

»Aber ...«, begann Benedikt, brach dann aber mitten im Wort ab. Thobias' Schritte entfernten sich, und nur einen Moment später fiel eine Tür zu, nicht die des Raumes, in dem sie sich befanden, sondern weiter entfernt.

Andrej wagte es, erneut die Augen zu öffnen. Er konnte Benedikt nicht genau erkennen, sondern sah nur einen Schatten. Aber früher oder später musste er seine Maskerade aufgeben. Unendlich langsam drehte er den Kopf auf der harten Unterlage, auf der er lag.

Benedikt stand unmittelbar neben ihm, hatte ihm aber den Rücken zugedreht und sich halb über die harte Pritsche gebeugt, auf der Ludowigs Leichnam aufgebahrt war. Die brennende Fackel in seiner Hand zitterte so stark, dass der gesamte Raum von unheimlich huschenden Schatten erfüllt war. Die rasselnden Atemzügen Benedikts waren deutlich zu hören.

Andrej richtete sich langsam auf. Er brauchte mehr als eine Minute für die Bewegung, und noch einmal die gleiche Zeit, um die Beine von der Liege zu schwingen und ganz aufzustehen. Benedikt regte sich nicht, sondern starrte weiter reglos und wie gebannt auf den nackten Leichnam des alten Mannes vor sich hinab. Andrej trat vollkommen lautlos einen Schritt von der Liege weg und drehte sich herum. Dann war er mit einer einzigen Bewegung bei der Tür und warf sie zu.

Benedikt fuhr herum. Seine Augen wurden groß, und ein Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit erschien in seinem Blick. Dann schlug dieses Erstaunen jäh in Schrecken um.

»Aber ...«, krächzte er. »Aber das ... wie ...?«

»Nur, damit ich das richtig verstehe, Vater«, sagte Andrej spöttisch, während er die Arme vor der Brust verschränkte und sich gegen die Tür lehnte. »Ihr seid zurückgeblieben, um die Totenwache an Ludowigs Bett zu halten, und nicht etwa an meinem? Jetzt müsste ich erzürnt sein.«

Er bezweifelte, dass Benedikt seine Worte überhaupt hörte. Die Augen des grauhaarigen Geistlichen quollen vor Entsetzen schier aus den Höhlen, und sein Gesicht hatte alle Farbe verloren und war nun tatsächlich grau. Sein Blick war der eines Mannes, der allmählich begreift, dass er dem Leibhaftigen selbst gegenübersteht.

»Nein«, stammelte er. Speichel lief aus seinem Mundwinkel und hinterließ eine glitzernde Spur auf seinem Kinn, ohne dass er es bemerkte, und in seinen Augen begann der beginnende Wahnsinn zu flackern. Andrej war alarmiert. Er hatte kein Mitleid mit diesem Ungeheuer in Menschengestalt und würde ihn töten, bevor er diesen Raum verließ - aber zuvor musste er ihm noch einige Fragen beantworten. Zumindest eine.

»Teufel!«, stammelte Benedikt. »Du ... du bist der Teufel!«

»Nicht mehr als Ihr«, antwortete Andrej. »Vermutlich noch nicht einmal annähernd so sehr wir Ihr.« Er trat einen halben Schritt auf Benedikt zu, mit dem Ergebnis, dass dieser einen spitzen, halb erstickten Schrei ausstieß und so heftig zurück und gegen die Liege mit Ludowigs Leichnam prallte, dass diese bedrohlich zu wanken begann.

»Komm mir nicht zu nahe!«, wimmerte er. »Du bist tot! Du kannst nicht mehr leben!«

»Wie Ihr seht, kann ich das sehr wohl«, antwortete Andrej ruhig. »Und ich nehme an, ich bin nicht der Einzige in diesem Raum, der dieses Kunststück beherrscht. Was meint Ihr, Vater Benedikt - wollen wir herausfinden, ob Ihr ebenso schwer umzubringen seid wie ich?«

Er war mit einem einzigen Schritt bei Benedikt, riss ihm die Fackel aus der Hand und schleuderte ihn zu Boden. Der alte Mann fiel, krümmte sich und begann zu wimmern. Auf seinem Gewand erschien ein dunkler Fleck, und Gestank erfüllte den Raum.

»Ich lasse dich am Leben, wenn du mir eine einzige Frage beantwortest«, sagte Andrej. »Warum?«

Benedikt wimmerte noch lauter, und Andrej versetzte ihm einen harten Tritt in die Seite. Ein Teil von ihm empfand nichts als eine Mischung aus grenzenloser Verachtung, aber auch Mitleid mit dieser jämmerlichen Gestalt, die sich da in ihrem eigenen Schmutz vor ihm auf dem Boden krümmte, aber ein anderer, immer stärker werdender Teil genoss den Schmerz, den er dem Mann zufügte.

»Warum?«, fragte er noch einmal. »Warum das alles, Benedikt? Nur aus Grausamkeit? Waren Abu Dun und ich nur Spielbälle für euch, so wie all die Menschen hier?«

Er kannte die Antwort auf seine Fragen längst, aber er wollte sie aus Benedikts Mund hören; vielleicht weil die Erklärung, auf die er selbst gekommen war, zu ungeheuerlich klang.

»Geh!«, wimmerte Benedikt. »Geh weg! Lass mich! Du ... du kannst nicht mehr leben! Ich habe gesehen, wie du gestorben bist! Du gehörst nicht zu uns!«

Andrej senkte die Fackel. Gierige Flammen leckten nach Benedikts Hand und fraßen sich zischend in seine Haut, und plötzlich roch es durchdringend nach verbranntem Fleisch. Der Geistliche kreischte, warf sich herum und presste die verbrannte Hand gegen die Brust. Seine Schreie waren laut genug, um auch draußen gehört zu werden, aber das war Andrej gleich. Das Mitleid, das er für einen Moment empfunden hatte, war erloschen. Er spürte den Schmerz - und viel, mehr noch die Angst - des Mannes, und er sog beides mit großen, gierigen Zügen auf wie einen kostbaren Wein. Es war nicht der Vampyr in ihm, der sich am Entsetzen des Mannes labte, sondern etwas anderes, Schlimmeres. Was hatte Thobias gesagt? Wenn der Mond das nächste Mal aufgeht... Großer Gott, in was würde er sich verwandeln, wenn es so weit war?!

»Warum?«

»Wir wollen doch nur leben!«, schluchzte Benedikt. »Ist das denn ein Verbrechen?«

»Wir? Wer ist wir? Birger und die anderen, meinst du?« Andrej stocherte mit der Fackel in Benedikts Richtung, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, achtete aber darauf, ihn nicht noch einmal zu treffen. »Sprich!«

»Thobias«, keuchte Benedikt. »Thobias und ich. Thobias war der ... der Erste, der die Verwandlung überlebt hat. Alle anderen vor ihm sind gestorben, so wie Birger und seine Familie. Sie wären ohnehin gestorben, Andrej! Sie sterben alle. Nur Thobias hat es überlebt.«

»Und du«, sagte Andrej hart.

Benedikt schüttelte den Kopf. Er richtete sich halb auf und kroch mit kleinen, zitternden Bewegungen von Andrej fort. In seinen Augen flackerte die Todesangst. »Doch nur, weil er mir geholfen hat«, stammelte er. »Er besitzt die Macht, versteh doch! Er ... er ist etwas Besonderes.«

Ja, dachte Andrej finster. Das ist er. Ganz zweifellos. Er schwieg.

»Er hat mich gerettet«, fuhr Benedikt fort. »Ich war tot. Wie alle anderen. Ich bekam das Fieber und starb daran, aber Thobias hat mich zurückgeholt. So wie er auch seinen Vater zurückholen wird.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Blick irrte unstet zwischen Andrejs Gesicht und der Fackel in seiner Hand hin und her. »Versteh doch!«, stammelte er. »Thobias ist nicht wie ... wie Birger und all die anderen. Er besitzt Macht über den Tod! Er kann ihm trotzen! Er ... er könnte auch dir zur Unsterblichkeit verhelfen. Ich bin sicher, er würde es tun! Denke darüber nach! Du könntest Unsterblichkeit erlangen, du und dein Freund! Ihr würdet...«

Andrej versetzte ihm einen Faustschlag, der ihm auf der Stelle das Bewusstsein raubte. Benedikt erschlaffte und sank reglos zurück, und Andrej richtete sich schwer atmend auf und maß ihn mit einem verächtlichen Blick.

»Danke«, murmelte er. »All das habe ich schon, weißt du? Aber nicht um den Preis, den du dafür bezahlt hast.« Der Wolf in ihm wurde stärker. Es kostete ihn all seine Kraft, sich nicht auf die reglos daliegende Gestalt des Geistlichen zu stürzen und die Zähne in seinen Hals zu schlagen, um sein warmes, süßes Blut zu trinken. Beute. Mehr war der Mann in diesem Moment nicht mehr für ihn, und vielleicht würden Menschen nie wieder irgendetwas anderes für ihn sein, wenn der Mond das nächste Mal aufgegangen war.

Er wollte den Raum verlassen, wollte weg von hier, fort aus der Nähe dieses ... Dinges, das unmenschlicher war als all die vermeintlichen Ungeheuer, die Abu Dun und er oben in der Höhle gefunden hatten, trotz seiner menschlichen Gestalt.

Stattdessen machte er einen Schritt weiter in den Raum hinein und trat an die schmale Pritsche mit Ludowigs Leichnam.

Der Anblick versetzte ihm einen tiefen Stich. Der alte Mann, seiner Kleidung beraubt, war fast zum Skelett abgemagert, und sein ausgezehrter Körper war von zahlreichen Narben übersät; Spuren überstandener Verletzungen und schlecht verheilter Geschwüre. Er hätte so oder so nicht mehr lange gelebt, begriff Andrej, auch wenn ihm der Werwolf nicht den halben Arm abgerissen hätte - ein Werwolf, der niemand anderer, als sein eigener Sohn gewesen war.

Er fragte sich, ob Ludowig gewusst hatte, wer ihn umbrachte, oder ob Thobias wenigstens das letzte bisschen Barmherzigkeit aufgebracht haben mochte, es schnell und so zu tun, dass der alte Mann nicht sehen konnte, wer ihn angriff.

Barmherzigkeit gehörte nicht zu den Tugenden des Wesens, in das sich Thobias verwandelt hatte.

Er hörte, wie Benedikt hinter ihm wieder zu Bewusstsein kam - überraschend schnell, wenn er bedachte, wie hart er zugeschlagen hatte - verzichtete aber darauf, sich umzudrehen und ihn ein zweites Mal zu schlagen. In wenigen Augenblicken würde er die Kirche verlassen haben, und dann war es vollkommen gleich, ob Benedikt ihm Verfolger hinterherhetzen konnte oder nicht. Er war mittlerweile sogar froh, den Geistlichen nicht getötet zu haben.

Andrej empfand Genugtuung darüber, ihn - und vor allem Thobias - nicht selbst zu töten, sondern ihn der Gerechtigkeit der Inquisition zu überlassen. Er war sicher, dass Martius - vielleicht zum ersten und einzigen Mal, seit es die Heilige Römische Inquisition gab - tatsächlich Gerechtigkeit walten lassen würde. Und er ...

Der Angriff kam selbst für ihn zu schnell.

Benedikt stöhnte, und zugleich erscholl ein grässlicher, reißender Laut, und Andrej spürte, wie etwas gegen ihn prallte und ihn mit grausamer Wucht von den Beinen riss. Die Fackel entglitt seinen Händen und rollte davon. Funken sprühten, und irgendetwas begann zu brennen.

Andrej stürzte über den toten Vater Ludowig, stieß ihn mitsamt der Pritsche zu Boden und ächzte vor Schmerz, als ein harter Schlag an seinem Hals explodierte und ihm den Atem nahm. Blindlings riss er die Arme in die Höhe, stieß mit der Fackel zu und wurde mit einem schmerzerfüllten Jaulen belohnt, dass nun endgültig nichts Menschliches mehr hatte. Der Schatten, der ihn angesprungen und zu Boden geschleudert hatte, verschwand für einen Moment. Nicht lange, aber gerade lange genug, um Andrej erkennen zu lassen, dass es Benedikt war.

Nur, dass Benedikt nicht mehr Benedikt war.

Er war überhaupt kein Mensch mehr.

Sein Gewand war zerrissen, und darunter war ein missgestalteter, fellbedeckter Körper zum Vorschein gekommen, verkrüppelter und erbarmungswürdiger, als es der Birgers und seiner Familienangehörigen jemals gewesen war, ein grauenerregendes ... Ding voller nässender Geschwüre und Wucherungen, das nicht so aussah, als könne es sich überhaupt bewegen - was es aber dennoch tat, und das mit entsetzlicher Geschwindigkeit. Andrej warf sich zur Seite, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass ihn ein fürchterlicher Fußtritt traf, der ihm nicht nur den Atem nahm, sondern ihm mehrere Rippen brach und ihn an den Rand der Bewusstlosigkeit schleuderte. Er krümmte sich, riss schützend die Arme über das Gesicht und versuchte auf die Beine zu kommen, aber es blieb bei dem Versuch. Unmenschlich starke Hände packten ihn, rissen ihn in die Höhe und schmetterten ihn mit so grausamer Wucht gegen die Wand, dass er haltlos daran zu Boden sank und nun tatsächlich das Bewusstsein verlor; wenn auch nur für zwei oder drei Sekunden.

Als sich die Dunkelheit wieder von seinen Sinnen hob, stand das grauenhafte Wesen, in das sich Benedikt verwandelt hatte, breitbeinig über ihm. Sein Gesicht war ein Albtraum aus Zähnen und schaumigem Geifer, und in seinen Augen loderte die gleiche, furchtbare Gier, die auch Andrej in sich spürte, aber ungezügelter, böser. Dieses Wesen hatte längst aufgehört, gegen den Wolf in sich zu kämpfen.

Andrej fragte sich, warum er noch am Leben war. Sein ganzer Körper schien ein einziger pulsierender Schmerz zu sein, und die bloße Nähe des unheimlichen Geschöpfes allein schien ihn zu lähmen.

Es war vorbei. Er hatte schon einmal am eigenen Leib gespürt, wie unvorstellbar stark diese Geschöpfe waren, viel stärker als er selbst. Die einzige andere Waffe, die ihm zur Verfügung stand - der Vampyr in ihm, der Leben nehmen konnte, ohne sein Opfer auch nur zu berühren - war in diesem Moment zu seinem größten Feind geworden. Er zweifelte nicht daran, dass er auch diesen Werwolf auf die gleiche Weise wie den ersten hätte vernichten können - aber um den Preis, selbst zu einem dieser Ungeheuer zu werden. Er hatte bereits Kämpfe gegen diese unheimlichen Wesen ausgefochten, und einen weiteren würde er ganz bestimmt nicht gewinnen.

Wieso also tötete ihn das Wesen nicht?

Dann begriff er.

Der Werwolf war nicht gekommen, um ihn zu töten.

Er war gekommen, um ihn zu einem Wesen zu machen, wie er selbst eines war.

Andrej keuchte vor Entsetzen, als sich die schreckliche, mit fingerlangen messerscharfen Klauen bewehrte Hand des Ungetüms nach seinem Gesicht ausstreckte. Verzweifelt presste er sich gegen die Wand und versuchte vor der näher kommenden Bestie zurückzuweichen, aber das Ungeheuer folgte ihm mit Leichtigkeit. Es spielte mit ihm, genoss seine Angst und wurde mit jedem Augenblick stärker, in dem es sein Entsetzen spürte. Seine mörderische Klaue strich über Andrejs Stirn und Wange, sanft, fast liebkosend, und ohne seine Haut auch nur zu ritzen.

Andrej trat nach ihm. Er traf, aber das Monstrum wankte nicht einmal, sondern stieß nur einen schrecklichen bellenden Laut aus, der wie die grässliche Verhöhnung eines menschlichen Lachens klang.

Andrej wich weiter vor ihm zurück, bis er das Ende des Raumes erreicht hatte und es nichts mehr gab, wohin er fliehen konnte. Verzweifelt unternahm er einen erneuten Verteidigungsversuch und schrie vor Entsetzen auf, als sich die mörderische Klaue zum entscheidenden Hieb hob.

Ein peitschender, heller Laut erklang; einen Sekundenbruchteil, bevor die Stirn des Werwolfs in einer sprudelnden Wolke aus Knochensplittern und Blut auseinander flog. Das Ungeheuer brach wie vom Blitz getroffen zusammen und begrub Andrej unter sich. Die Krallen der sterbenden Bestie fuhren mit einem scharrenden Geräusch über die Wand und bohrten sich unmittelbar neben seinem Gesicht in den fest gestampften Lehm des Bodens. Andrej bäumte sich auf, stieß den sterbenden Werwolf von sich und sprang auf die Füße.

Noch bevor er die Bewegung halb zu Ende gebracht hatte, erklang das peitschende Geräusch ein zweites Mal. Ein dumpfer Schlag traf seine Schulter, und der Armbrustbolzen riss ihn mitten in der Bewegung herum und nagelte ihn an die Wand. Seltsamerweise spürte Andrej in diesem Moment nicht den geringsten Schmerz, aber jegliche Kraft wich aus seinen Gliedern. Durch sein Gewicht wurde die eiserne Spitze des Geschosses knirschend aus dem Stein gelöst. Er kippte nach vorn, schlug auf das Gesicht und kämpfte zum wiederholten Male innerhalb kürzester Zeit gegen einen Sog aus wirbelnder Schwärze, der sich in seinem Inneren auftat und ihn verschlingen wollte. Plötzlich setzte der Schmerz ein. Stöhnend tastete Andrej nach seiner Schulter, schloss die Hand um den gefiederten Schaft des Geschosses und versuchte es herauszuziehen. Es gelang ihm nicht.

Schritte näherten sich, und ein harter Tritt traf seine Hand und schleuderte sie zur Seite.

»Hör auf!«

Martius hatte nicht einmal die Stimme gehoben, aber die Worte klangen so scharf, dass der Mann, der über Andrej gebeugt stand, einen halben Schritt zurückwich, statt ihn erneut zu treten. Dann fühlte sich Andrej gepackt und in die Höhe gerissen. Der Soldat warf ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihm erneut die Luft wegzubleiben drohte. Kraftlos sank er wieder in die Knie, hatte aber dieses Mal genug Kraft, um die Augen offen zu halten. Vor ihm stand ein Soldat des Inquisitors. Es war einer der drei Männer, die ihn im Glockenturm überwältigt hatten. Er wirkte ebenso fassungslos wie zuvor Benedikt.

»Geh zur Seite! Lass ihn!«

Der Soldat trat nicht zur Seite, er floh vor Andrej, und an seiner Stelle trat Martius in Andrejs Blickfeld. Sein Gesicht wirkte ungerührt, aber sein Blick flackerte. Er hatte die linke Hand so fest um das goldene Kruzifix vor seiner Brust geschlossen, dass die Knöchel wie weiße Narben durch die Haut stachen. In der anderen Hand trug er Andrejs Schwert. Hinter ihm standen weitere Soldaten.

Einer von ihnen hatte bereits einen neuen Bolzen auf seine Armbrust gelegt und trat unruhig von einem Bein auf das andere, um in eine Position zu gelangen, aus der heraus er auf Andrej anlegen konnte, ohne den Inquisitor zu gefährden.

Auch Thobias war unter den Anwesenden. In sein Gesicht stand das blanke Entsetzen geschrieben. Aufgeregte Stimmen und polternde Schritte drangen durch die Tür hinein.

Mühsam versuchte Andrej sich aufzurichten. Die Bewegung ließ einen grässlichen Schmerz in seiner Schulter explodieren. Stöhnend hob er die Hand, presst sie auf die noch immer blutende Wunde und versuchte erneut, den Pfeil herauszuziehen.

»Unglaublich«, murmelte Martius. Er sah kopfschüttelnd auf Andrej herab, und allmählich erschien ein Ausdruck von Verwirrung auf seinen Zügen. »Das ist ...«

Hinter ihm erscholl ein überraschter Schrei, als Thobias die umgestürzte Pritsche sah, auf der zuvor sein Vater gelegen hatte. Er stürzte an Martius vorbei, fiel neben dem misshandelten Körper des alten Mannes auf die Knie und streckte die Hände nach ihm aus, schien es aber doch nicht zu wagen, ihn zu berühren.

Martius sah kurz in seine Richtung, wandte sich aber sofort wieder zu Andrej um und betrachtete ihn argwöhnisch. Wortlos trat er zurück und gab dem Soldaten einen Wink. Der Mann, der gerade damit beschäftigt war, ein neues Geschoss auf die Armbrust zu legen, spannte die Waffe zu Ende und wechselte sie von der rechten in die linke Hand, bevor er Martius' Befehl nachkam und Andrej derb in die Höhe zerrte. Der stöhnte vor - diesmal vorgetäuschtem - Schmerz und presste wieder die Hand gegen die Schulter.

»Unglaublich«, murmelte Martius noch einmal. »Das ist wirklich unglaublich.«

»Ich ... ich verstehe das nicht, Herr«, stammelte der Soldat, der unmittelbar neben ihm stand. Sein Blick flackerte unstet zwischen Andrej und dem Inquisitor hin und her. Seine Hände zitterten so stark, dass er sichtbare Mühe hatte, die Waffe, die er wieder auf Andrej gerichtet hatte, zu halten.

»Ich schwöre Euch, dass wir ihn für tot gehalten haben, Herr. Wir ...«

Martius unterbrach ihn mit einer Geste, ohne den Blick von Andrejs Gesicht zu wenden. »Schon gut«, sagte er. »Du hast dir nichts vorzuwerfen. Ich weiß, dass er tot war.« Er schwieg einen Moment. Ein nachdenklicher Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit. »Ich frage mich allerdings, ob er jetzt lebt ... oder ob er überhaupt jemals gelebt hat.«

Offensichtlich erwartete er eine Antwort von Andrej. Als er keine bekam, scheuchte er den Soldaten zur Seite und trat dichter an Andrej heran. Er war entweder ein sehr mutiger Mann, dachte Andrej, oder ein sehr dummer, denn in seinen Augen war keinerlei Furcht zu erkennen. Langsam hob er die Hand, schloss die Finger um den Schaft des Armbrustbolzens, der aus Andrejs Schulter ragte, und riss ihn mit einem Ruck heraus.

Andrej brüllte vor Schmerz und fiel wieder auf die Knie. Für einen Moment trübten sich seine Sinne, und der Wolf in ihm wurde übermächtig. Wut, blanke, rote Wut verschleierte sein Denken. Er verspürte ein einziges Verlangen: sich auf Martius zu stürzen und ihm das Herz aus dem Leib zu reißen.

Stattdessen presste er die Hand auf die Schulter und schob sich schwankend an der Wand in die Höhe. Es kostete ihn unendliche Überwindung, die lodernde Gier niederzukämpfen, aber es gelang ihm. Diesmal noch.

Martius betrachtete ihn aus mitleidlosen, kalten Augen, trat einen Schritt zurück und prüfte die Spitze des Armbrustbolzens mit dem Zeigefinger. »In der Tat«, höhnte er, »ein echter Pfeil. Jetzt verratet mir doch, warum Ihr keine echte Wunde habt!«

Die letzten Worte hatte er geschrien, während er gleichzeitig die Hand ausstreckte und Andrejs ohnehin zerstörtes Gewand über der Schulter weiter aufriss. Das Fleisch darunter war voller Blut, aber die Wunde begann sich bereits zu schließen; so schnell, dass Martius es sehen musste.

»Er ist der Teufel!«, keuchte Thobias. »Tötet ihn! Ihr müsst ihn verbrennen, Martius, ich beschwöre Euch! Verbrennt ihn, ehe er uns alle ins Verderben reisst!« Er lag neben Martius auf den Knien und hatte Kopf und Oberkörper seines Vaters in seinen Schoß gebettet. »Verbrennt ihn!«

»Später«, antwortete Martius kühl, während er sich bereits wieder zu Andrej umdrehte. »Der Teufel? Wenn das stimmen sollte ... gäbe es eine größere Herausforderung für einen Mann Gottes, als mit dem alten Widersacher selbst zu sprechen? Sagt, Andrej - seid Ihr der Teufel?« Er schüttelte den Kopf, trat einen weiteren halben Schritt zurück und maß Andrej mit einem neuerlichen, langen Blick von Kopf bis Fuß. »Nein. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Ihr der Teufel seid. Aber wer seid Ihr dann, Andrej Deläny? Ein Mensch doch wohl kaum.«

Statt zu antworten, sah Andrej ihn nur an, während er zugleich versuchte, sich einen Überblick über den Raum zu verschaffen. Abgesehen von Martius und Thobias befanden sich zwei Soldaten mit ihnen hier drin, aber draußen vor der Tür liefen immer mehr Männer zusammen, die wahrscheinlich durch den Lärm und Benedikts Schreie angelockt worden waren. Er war wieder weit genug bei Kräften, um sich einen Kampf mit Martius und den beiden Männern durchaus zuzutrauen - aber mit einem Dutzend Krieger?

»Vielleicht gibt es hier tatsächlich einen Teufel«, sagte er nach einer Weile.

»Aber ich bin es nicht.«

»Wie meint Ihr das?«, fragte der Inquisitor.

»Sprecht nicht mit ihm, Martius, ich beschwöre Euch!«, keuchte Thobias. Er stand auf, wobei er den reglosen Körper seines Vaters ohne die geringste Mühe in den Armen hielt. Er brachte es sogar noch fertig, in der gleichen Bewegung die Pritsche aufzurichten, die Andrej umgeworfen hatte. Martius betrachtete sein Tun stirnrunzelnd, aber schweigend, und Thobias fuhr aufgeregt fort: »Hört ihm nicht zu! Er verwirrt Eure Sinne, ich beschwöre Euch. Er hat auch Benedikt und mich getäuscht. Er redet mit der Zunge des Teufels! Verbrennt ihn!«

»Das ist seltsam«, erwiderte Martius nachdenklich, während sein Blick unablässig von Thobias zu Andrej glitt. »Es ist noch nicht lange her, da wart Ihr der Meinung, dass das alles hier nichts mit dem Teufel zu tun hat - oder irre ich mich?«

»Ich habe mich getäuscht!«, stammelte Thobias. »Dieser Teufel hat meine Sinne verwirrt, so wie er es jetzt mit Euren versucht! Glaubt mir! Ich ... ich sehe es jetzt ganz klar. Teufelsbrut. Sie alle sind des Teufels! Dieser ganze Ort ist ein Höllenpfuhl. Ihr müsst ihn ausbrennen! Tötet sie alle, solange Ihr es noch könnt!«

Martius wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber in diesem Augenblick geschah etwas Schreckliches.

Der Leichnam des alten Mannes in Thobias Armen bewegte sich!

Martius' Augen wurden groß. Er sog scharf die Luft ein, und der Mann neben ihm hob instinktiv seine Armbrust und zielte auf Thobias. Auch der zweite Soldat fuhr herum und riss seine Waffe in die Höhe.

»Nicht!«, keuchte Thobias. »Es ist nicht so, wie Ihr glaubt! Ich kann das erklären!«

Für einen unendlich kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Angst lag wie etwas körperlich Greifbares in der Luft, und Andrej wusste, dass die Männer schießen würden. Sie hatten einen Mann gesehen, der offensichtlich von den Toten auferstanden war, und nun erwachte ein weiterer vermeintlich Toter unmittelbar vor ihren Augen; sie konnten gar nicht anders, als mit Entsetzen zu reagieren und ihre Waffen abzufeuern.

Und Andrej begriff auch, dass dies seine vielleicht einzige und allerletzte Möglichkeit war, hier herauszukommen. Aber er regte sich nicht, und auch die Männer feuerten ihre Armbrüste nicht ab. Etwas ... geschah. Die Zeit floss weiter, aber Andrej war plötzlich nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen; als wäre die Verbindung zwischen seinen Gedanken und seinem Körper auf geheimnisvolle Weise unterbrochen. Den beiden Soldaten und auch Martius erging es sichtlich nicht anders.

»Ich flehe Euch an, Exzellenz!« Thobias sah den Inquisitor beschwörend an und bettete den Körper seines Vaters zugleich behutsam auf die Pritsche. Der alte Mann stöhnte. Er begann am ganzen Leib zu zittern, und selbst die schreckliche Wunde in seiner Schulter blutete nun wieder.

»Was ... bedeutet ... das?«, stieß Martius mühsam hervor. »Das ist Zauberei!«

Seine Stimme schwankte, und sein Gesicht war weiß vor Entsetzen. Er umklammerte das Kruzifix vor seiner Brust mittlerweile so fest, dass Blut unter seinen Fingernägeln hervorquoll. Trotzdem lockerte er seinen Griff nicht, als wäre der Schmerz, den er sich selbst zufügte, das Einzige, was ihn noch davon trennte, endgültig den Verstand zu verlieren.

»Nein, das ist es nicht«, antwortete Thobias. »Ich kann es erklären, wenn Ihr mir die Gelegenheit dazu gebt, Martius ... Bitte!«

Der Inquisitor begann stärker zu zittern. Seine Hand hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Andrejs Schwert zu halten. Es polterte zu Boden. Niemand reagierte darauf.

»Was ... was geschieht hier?«, stöhnte Martius. »Sprecht!«

Thobias beugte sich über seinen Vater und legte ihm die Hand auf die Stirn.

Der alte Mann keuchte, bäumte sich wie unter Krämpfen auf und sank mit einem gurgelnden Laut wieder zurück. Die Wunde in seiner Schulter begann zu schäumen, und plötzlich roch es nach verbranntem Fleisch. Martius stöhnte erneut auf, und einer der Soldaten begann zu würgen.

»Allein ...«, stammelte Thobias. »Ich erkläre es Euch, aber allein. Nur Ihr und ich.«

»Seid Ihr von Sinnen?«, murmelte Martius. Aber seine Stimme klang falsch. Die Worte sollten Empörung zum Ausdruck bringen, aber seine Stimme klang völlig anders - als koste es ihn all seine Kraft, die Worte auch nur auszusprechen.

»Glaubt mir, Martius, was ich Euch sagen werde, ist nur für Eure Ohren bestimmt. Ihr wollt bestimmt nicht, dass jedermann es hört.«

Martius starrte Thobias an. Sekundenlang spiegelte sich der innere Kampf, den er ausfocht, deutlich auf seinem Gesicht, dann nickte er; langsam und widerwillig.

»Also gut«, presste er mühsam hervor. Ebenso mühsam drehte er sich zur Tür und hob die Hand. »Schließt die Tür. Niemand kommt herein, bevor ich ihn rufe. Ihr beide bleibt hier.«

Der letzte Satz galt den beiden Soldaten, die mit ihm hereingekommen waren.

Beide Männer waren bereits auf dem Weg zur Tür gewesen und hielten jetzt mit, leeren, schreckensbleichen Gesichtern inne.

»Ganz, wie Ihr wünscht, Herr«, sagte Thobias mit seltsamer Betonung. Er legte den Riegel vor, drehte sich ohne die mindeste Hast herum und trat auf einen der beiden Soldaten zu. Ein sonderbarer Ausdruck, fast ein Lächeln, erschien auf seinem Gesicht, als er die Hand hob und auf den zweiten Soldaten deutete.

»Töte ihn«, befahl er.

Andrej wollte sich auf ihn stürzen, aber er konnte es nicht. Er hatte die Herrschaft über seinen Körper noch immer nicht wiedererlangt.

Ebenso wenig wie der bedauernswerte Soldat. Der Mann starrte Thobias aus aufgerissenen Augen an. Er begann zu zittern. Ein gequälter Ausdruck erschien auf seinen Zügen, als er die Armbrust hob und sich halb herumdrehte.

Unendlich langsam, wie gegen einen furchtbaren, unsichtbaren Wiederstand ankämpfend, richtete er die Waffe auf seinen Kameraden.

»Nein«, wimmerte er. »Ich ... ich kann ... das ... nicht.«

»Tu es!«, sagte Thobias lächelnd.

Der Soldat wimmerte wie unter unerträglichen Schmerzen, hob die Armbrust weiter und betätigte den Abzug. Sein Kamerad wurde nach hinten geschleudert und brach lautlos zusammen, und der Soldat ließ keuchend die Waffe fallen. Er krümmte sich.

»Gut gemacht«, lobte Thobias. »Jetzt du. Dein Dolch!«

»Herr!«, stammelte der Mann. »Ich ...«

Thobias stieß einen unwilligen Laut aus, riss den Dolch aus dem Gürtel des Mannes und stieß ihm die Klinge bis ans Heft in die Brust. Er seufzte.

Lächelnd drehte er sich zu Andrej und Martius um, schüttelte bedauernd den Kopf und warf den Dolch zu Boden.

Das helle Klirren brach den Bann. Von einem Herzschlag auf den anderen reagierte Andrej. Mit einer blitzschnellen Bewegung bückte er sich nach dem Schwert, das Martius fallen gelassen hatte, riss es hoch und stürzte weiter.

»Nicht doch«, sagte Thobias.

Andrej erstarrte. Mit einem ungläubigen Keuchen taumelte er zurück, blieb stehen und blickte seine rechte Hand an, die einen eigenen Willen entwickelt zu haben schien und sich langsam senkte. Die Finger öffneten sich, und das Schwert klirrte ein zweites Mal zu Boden.

»Das ist schon besser«, lobte Thobias. »Ihr seid stark, Andrej. Erstaunlich stark. Ich muss Euch besser im Auge behalten, scheint mir. Aber Ihr werdet einen umso wertvolleren Verbündeten abgeben, wenn Euch das ein Trost ist.«

Verzweifelt stemmte sich Andrej gegen die unsichtbaren Fesseln, die seinen Willen gefangen hielten, aber es gelang ihm nicht, sie auch nur zu lockern.

Der fremde Wille, der den Befehl über seinen Körper übernommen hatte, war nicht Thobias' Wille. Es war etwas anderes, Stärkeres. Etwas, das tief in ihm geschlummert und auf seine Gelegenheit gewartet hatte. Der Wolf war endgültig erwacht.

»Kämpfe nicht dagegen an, Andrej«, sagte Thobias sanft. »Es ist sinnlos. Du gehörst schon mir. Hör auf, dich zu wehren. Du bereitest dir nur selbst Qual. Und es gibt nichts, was du fürchten müsstest, glaub mir.«

»Was ... bist ... du?«, stammelte Martius. Er umklammerte immer noch das Kruzifix. Blut lief über seinen Handrücken und zeichnete eine gezackte rote Spur bis in seinen Ärmel hinein. »Du bist der Teufel!«

»Nicht doch«, sagte Thobias kopfschüttelnd. Er warf einen raschen, prüfenden Blick auf seinen Vater - der alte Mann zitterte immer noch wie unter Krämpfen, aber die schreckliche Schulterwunde hatte sich mittlerweile fast ganz geschlossen. Darunter war etwas Dunkles zum Vorschein gekommen, das sich allmählich über seine Haut auszubreiten schien, Kein Schorf. Fell, dachte Andrej entsetzt.

Thobias ging auf Martius zu, hob den Arm und löste die Hand des Inquisitors gewaltsam von dem goldenen Kruzifix. Mit einem Ruck riss er die Kette entzwei und schleuderte das Kruzifix davon. Dann hob er Martius' Hand langsam vor sein Gesicht und betrachtete aus glitzernden Augen das Blut, das darauf schimmerte. Er schnüffelte, wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hatte - und begann langsam, das Blut von Martius' Handrücken zu lecken.

Der Inquisitor stöhnte. »Teufel!«, keuchte er. »Du ... du Teufel!«

Thobias ließ seine Hand los und trat einen Schritt zurück. Sein Lächeln erlosch. »Warum musstet Ihr hierher kommen? Was haben wir Euch getan, Euch und Eurer allwissenden Kirche, Exzellenz?« Seine Augen blitzten, und für einen Moment schien etwas Dunkles, Tierisches durch seine Züge zu schimmern. »Wir wollten nichts weiter als das, was alle wollen - in Frieden unser Leben leben. Warum konntet Ihr uns nicht einfach in Ruhe lassen?«

»Teufelsbrut!«, keuchte Martius. »Ihr werdet brennen! Ihr werdet für alle Ewigkeiten in der Hölle brennen!«

»Ja, das mag sein«, sagte Thobias. Er schüttelte den Kopf, als hätte er eingesehen, wie sinnlos es war, das Gespräch fortzuführen. Einen Moment lang musterte er Martius noch nachdenklich, dann trat er wieder an die Liege seines Vaters heran.

Ludowig hatte die Augen geöffnet. Sein Blick flackerte. Es waren die Augen eines Mannes, der die Hölle gesehen hatte, dachte Andrej schaudernd.

Mit verzweifelter Kraft bäumte er sich gegen den fremden Willen auf, der seinen Körper beherrschte, aber es war sinnlos.

»Gebt Euch keine Mühe, Andrej«, sagte Thobias, ohne ihn auch nur anzusehen. Er hob die Schultern. »Oder versucht es meinetwegen weiter. Vermutlich seid Ihr es Eurem Stolz schuldig. Es macht keinen Unterschied.«

Er beugte sich tiefer über seinen Vater und legte ihm die flache Hand auf die Stirn. Ein beruhigendes Lächeln erschien auf seinen Zügen, und als er weitersprach, war seine Stimme sanft; als rede er mit einem kranken Kind. »Es wird alles gut. Beweg dich nicht. Die Schmerzen werden gleich vergehen.«

»Was ... was hast du ... getan?«, keuchte Ludowig. Seine Stimme klang verzerrt, voller Qual, und kaum noch wie die eines Menschen.

»Es wird alles gut, Vater«, sagte Thobias. Er seufzte, richtete sich wieder auf und sah erst Andrej, dann Martius an. »Bist du zufrieden, Pfaffe?«, fragte er böse. »Freut es dich, zu sehen, was du diesem alten Mann angetan hast - einem Mann, der sein Leben in den Dienst desselben Gottes gestellt hat, in dessen Namen du seine Brüder und Schwestern umbringst?«

»Hör auf, Gott zu lästern!« schrie Martius. »Mach ein Ende, du Monstrum! Töte mich, aber ich werde am Ende doch triumphieren, denn meine Seele wird an Gottes Seite sein, während deine für alle Ewigkeiten in der Hölle brennt.«

»Töten?«, sagte Thobias stirnrunzelnd. »Nein. Hab keine Angst, Martius. Ich habe nicht vor, dich zu töten.«

»Thobias«, stöhnte Ludowig. »In Gottes Namen! Was ... was tust... du?«

Thobias wandte seine Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment wieder seinem Vater zu. Der alte Mann war mittlerweile wieder so weit zu Kräften gekommen, dass er sich aufsetzen konnte. Aber er hatte sich auch weiter verändert. Seine Schulter war unförmig angeschwollen. Schwarzes, borstiges Fell begann aus seiner Haut zu sprießen, und etwas stimmte mit seinem Gesicht nicht mehr: Es schien auf einer Seite auseinander zufließen, wie eine Maske aus weichem Wachs, die zu lange in der Sonne gelegen hatte.

»Gleich, Vater«, sagte Thobias. »Ich erkläre es dir gleich. Du wirst alles verstehen, glaub mir. Aber im Moment ist keine Zeit dafür.« Er schüttelte den Kopf und sah Andrej vorwurfsvoll an. »Irgendwann werdet Ihr begreifen, was für Schwierigkeiten Ihr mir bereitet habt, mein Freund. Alles wäre so einfach gewesen, hättet Ihr Euch nicht eingemischt.« Er seufzte erneut. »Nun zu Euch, Exzellenz. Ihr werdet hinausgehen und genau das tun, weshalb Ihr hergekommen seid. Sagt Euren Männern, dass dieser ganze Ort vom Teufel besessen ist. Ihr müsst diesen Höllenpfuhl auslöschen - das waren doch Eure eigenen Worte, oder?« Er lachte hässlich. »Wie ich die Männer einschätze, die Ihr mitgebracht habt, wird es Euch keine besondere Überredungskunst kosten. Tötet sie alle. Vernichtet Trentklamm. Niemand darf überleben.«

»Thobias!«, keuchte Ludowig. »Was ... was tust du?!«

»Was notwendig ist«, antwortete Thobias hart.

»Nein!«, rief Ludowig. »Das ... das kannst du nicht tun! Nicht alle diese Menschen! Sie ... sie sind deine Schwestern und Brüder! Du kannst nicht alle diese Menschen umbringen wollen!«

»Es muss sein«, befand Thobias. »Nur so können wir Ruhe finden, Vater.«

»Aber du ...«

»Sie werden nicht aufhören«, fuhr Thobias in verächtlichem Ton und mit einer Kopfbewegung auf den Inquisitor fort. »Glaubst du, wenn er geht, kommt an seiner Stelle nicht ein anderer? Trentklamm muss vernichtet werden. Nur wenn sie glauben, dass wir alle tot sind, werden sie uns in Frieden lassen.«

»Nein«, keuchte Ludowig. Er zitterte am ganzen Leib, aber nun nicht mehr vor Schmerz, sondern vor blankem Entsetzen über das, was er hörte. »Das kann nicht sein! Tu das nicht, Thobias, im Namen Gottes! Wir ... wir können weggehen. Wir können fliehen, irgendwohin, wo sie nicht nach uns suchen!«

»Sie würden uns überall finden«, erwiderte Thobias. »Wir hätten nirgendwo Ruhe.«

»Aber ...«

»Gebt Euch keine Mühe, Vater Ludowig«, sagte Andrej. Selbst das Reden fiel ihm schwer. Alles würde so kommen, wie Thobias es geplant hatte, und vielleicht war das sogar gut so. Andrej schauderte. Das war nicht er, der diesen Gedanken hegte. Der Wolf begann nicht nur von seinem Körper Besitz zu ergreifen, sondern schlich sich bereits in seine Gedanken ein, »Ihr werdet Euren Sohn nicht umstimmen, Vater. Er hat das von Anfang an so geplant, nicht wahr?«

Die letzte Frage war an Thobias gerichtet, der sie mit einem Nicken und einem kalten, nur angedeuteten Lächeln beantwortete. »Ihr und Euer schwarzer Freund wart ein Geschenk Gottes. Ich habe lange auf jemanden wie Euch gewartet, Andrej.«

»Jemanden, dem Ihr die Schuld an allem geben könnt«, vermutete Andrej.

»Euer Plan ist aufgegangen. Jetzt müsst Ihr nur noch abwarten, bis Martius' Männer den Rest der Stadt niedergebrannt und alle Männer, Frauen und Kinder erschlagen haben.«

Thobias lächelte, und sein Vater richtete sich weiter auf. Er hatte sich erneut verändert. Sein gesamter rechter Arm war mittlerweile von schwarzem Fell überzogen, und die Hand begann sich zur Kralle zu biegen. Sein Gesicht war zur Grimasse geworden, nur noch zur Hälfte menschlich.

»Nein«, wimmerte er. »Nein! Nein!«

Und damit warf er sich auf Thobias.

Der Angriff kam völlig überraschend. Thobias taumelte haltlos einen Schritt nach vorn und versuchte sich aus dem Griff Ludowigs zu befreien. Für einen Moment lockerte sich der Würgegriff des fremden Willens, der Andrej gefangen hielt.

Er versuchte nicht, sich nach dem Schwert zu bücken. Andrej blieb nur Zeit für eine einzige Bewegung: Er ergriff die brennende Fackel, die noch immer zwischen ihm und der Pritsche lag, und stieß sie Thobias mit aller Macht ins Gesicht.

Thobias brüllte vor Schmerz und Wut. Seine Faust schmetterte Andrej die Fackel aus der Hand, und ein zweiter, ungleich härterer Schlag mit dem Handrücken schleuderte ihn vollends zu Boden. Benommen blieb Andrej liegen und versuchte dann in die Höhe zu kommen.

Als er die Augen öffnete, bot sich ihm ein schrecklicher Anblick. Thobias rang noch immer mit seinem Vater. Er hatte sich weiter verändert. Das Ungeheuer in ihm hatte Überhand genommen - aber auch Thobias war verwandelt.

Auch er war zum Werwolf geworden, aber was Andrej erblickte, war nicht die schrecklich missgestaltete Kreatur, die er erwartet hatte, sondern ein auf eine wilde Art beinahe schönes Geschöpf; eine unglaubliche Mischung aus Mensch und Tier. An diesem Werwolf - dem ersten wirklichen Werwolf, den er sah, wie Andrej jenseits aller Zweifel begriff - war nichts Dämonisches oder Abstoßendes. Es war ein Geschöpf von so unvorstellbarer Fremdheit, dass sich etwas in Andrej bei seinem bloßen Anblick zu rühren schien.

Die Kleider des Geschöpfes brannten. Andrejs Fackel hatte sein Gesicht verfehlt, aber sie hatte den Stoff seiner schwarzen Priesterrobe in Brand gesetzt, und die Flammen breiteten sich rasend schnell aus. Der Werwolf schrie vor Schmerz und Wut, versuchte Ludowig abzuschütteln und gleichzeitig mit der anderen Hand die Flammen zu ersticken, die aus seinem Gewand schlugen, aber es gelang ihm nicht. Ludowig klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an das unheimliche Wesen, das einst sein Sohn gewesen war, und es gelang ihm, Thobias aus dem Gleichgewicht zu bringen, sodass sie aneinandergeklammert gegen die Pritsche stolperten und zu Boden fielen.

Thobias schrie lauter. Die Flammen leckten über sein Gesicht, versengten sein Fell und mussten ihm heftige Schmerzen zufügen, aber all das steigerte seine Wut noch. Messerscharfe Krallen fuhren aus seinen Fingern, schlugen auf Ludowig ein, und rissen Fleischfetzen und Blut aus seinem Rücken und der Schulter.

Auch Ludowig schrie vor Schmerz. Aber er ließ nicht von seinem Opfer ab, sondern klammerte sich mit größerer Kraft an Thobias.

Andrej ergriff sein Schwert. Blitzschnell rollte er sich herum und rammte es dem Werwolf bis ans Heft in den Rücken.

Das Ungeheuer schrie. Es war ein unmenschlich hoher, spitzer Laut voller Schmerz und noch größerer Wut. In Todesangst löste er Ludowigs Griff, fuhr herum und streckte die schrecklichen Klauen nach Andrej aus.

Plötzlich erstarrte er. Aus seinem Schrei wurde ein Krächzen, dann ein Wimmern. Er machte einen letzten, taumelnden Schritt, griff mit beiden Händen nach der Schwertklinge, die aus seiner Brust ragte und fiel auf die Knie. Sein Wimmern erstarb.

Andrej schoss in die Höhe, zog das Schwert aus dem Rücken des Werwolfes und wich hastig einen halben Schritt zurück, die Waffe mit beiden Händen zum Zuschlagen bereit erhoben. Aber er wusste, dass er sie nicht mehr nötig hatte. Der Werwolf war tot. Die Dunkelheit in ihm war im gleichen Moment erloschen, in dem das Leben Thobias verlassen hatte.

»Gott im Himmel«, murmelte Martius. »Was ...?« Er erwachte urplötzlich aus der Lähmung, in der er die ganze Zeit verharrt und dem schrecklichen Geschehen zugesehen hatte, war mit einem Satz neben Ludowig und schlug mit bloßen Händen die Flammen aus, die aus dem schwarzen Fell auf seinem Arm und seiner Schulter züngelten. »Vater Ludowig! Was ist mit Euch? Was hat Euch dieses Ungeheuer angetan?!«

Ludowig wälzte sich stöhnend auf den Rücken und schob Martius' Hände fort. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, aber Andrej ahnte, dass es nicht der körperliche Schmerz war, der ihn wimmern ließ.

»Wir müssen raus hier«, entschied Andrej. Er steckte das Schwert ein und hob den Fuß, um die Flammen auszutreten, die aus Thobias Gewand leckten. Das Feuer hatte bereits auf die Tür und den Rahmen übergegriffen, und in dem alten, trockenen Holz breiteten sich die Flammen mit unheimlicher Schnelligkeit aus.

Die Luft war schon jetzt heiß und so voller Qualm, dass man kaum noch atmen konnte.

»Martius! Ludowig! Schnell!«

Tatsächlich wollte Martius nach dem alten Mann greifen, aber Ludowig schlug seine Hand beiseite und richtete sich in eine halb sitzende Position auf.

»Geht«, flüsterte er. »Bringt Euch in Sicherheit.«

»Ihr versteht anscheinend nicht«, rief Andrej verzweifelt. »Die Kirche wird niederbrennen!«

»Laßt mich«, beharrte Ludowig. Sein Blick suchte den verkrümmt daliegenden Körper dessen, der einst sein Sohn gewesen war, und plötzlich erschien ein Ausdruck in seinen Augen, der Andrej einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Ludowig würde sie nicht begleiten, das begriff er.

»Ich bleibe hier.«

»Dann werdet Ihr sterben«, sagte Martius leise. Er bekreuzigte sich.

Ludowig sah ihn an. »Ihr wisst, dass ich bleiben muß«, sagte er. »Geht. Aber ... verschont die anderen, ich beschöre Euch.«

»Die anderen?«

»Die Menschen hier im Ort sind unschuldig«, flüsterte Ludowig. Seine Stimme wurde schwächer, und mit seinem Körper begann eine unheimliche Veränderung vonstatten zu gehen. Andrej konnte spüren, wie sich Ludowigs Seele auflöste.

Martius musste es wohl auch spüren, denn obwohl die Hitze immer größer wurde und die Flammen immer rascher um sich griffen, machte er keinen Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, sondern starrte nur aus dunklen Augen auf den sterbenden alten Mann herab.


»Ihr verlangt viel von mir, Vater Ludowig«, sagte er heiser. »Vielleicht mehr, als ich Euch versprechen kann.«

»Es ... es ist vorbei, Martius«, murmelte Ludowig. Seine Stimme wurde leiser, fast mit jedem Wort, das er sprach. »Thobias und ich waren ... die Letzten. Gefährdet nicht Euer Seelenheil, indem ihr Unschuldige tötet. Und jetzt geht. Schnell!«

Martius schien noch etwas erwidern zu wollen, aber Andrej ließ ihm keine Zeit dazu. Ludowig hatte Recht. Alles brannte lichterloh. Noch während der Inquisitor versuchte sich zu bekreuzigen, packte Andrej ihn am Arm und riss ihn mit sich.

Als sie die Tür erreichten, fing die Decke Feuer. Eingehüllt in Flammen und dicken, erstickenden Qual stolperten sie aus dem Raum und noch einige Schritte weiter, bis Martius endgültig das Gleichgewicht verlor und auf die Knie fiel. Auch seine Robe hatte Feuer gefangen. Andrej beförderte ihn mit einem Stoß endgültig zu Boden, warf sich über ihn und versuchte, die Flammen mit seinem eigenen Körper und bloßen Händen zu ersticken. Drei Soldaten eilten herbei, packten ihn und zerrten ihn mit grober Gewalt von Martius weg. Er wurde zu Boden geworfen, und eine Speerspitze richtete sich drohend auf sein Gesicht.

»Aufhören!«

Andrej atmete erleichtert auf. Als er sich hochzustemmen versuchte, stieß die Speerspitze erneut nach seinem Gesicht, schrammte über seine Wange und hinterließ einen tiefen, blutigen Kratzer darauf. Andrej hob hastig die Hand an die Wange, um die Wunde zu verbergen, ließ sich aber zugleich wieder zurücksinken, um dem übereifrigen Soldaten keinen Vorwand zu liefen, ihn endgültig niederzustechen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie zwei, drei Männer zugleich auf die Flammen in Martius' Gewand einschlugen und sie endgütig erstickten.

Mühsam, aber sehr schnell, stemmte sich der Inquisitor in die Höhe und scheuchte die Männer davon. »Verschwindet! Mir fehlt nichts! Raus hier - und bringt die Menschen in Sicherheit. Sofort!«

Nicht alle Soldaten gehorchten. Die meisten eilten hastig davon, aber zwei oder drei bleiben stehen und starrten abwechselnd Andrej und den Inquisitor an. Einer versuchte sogar, sich der Tür zu nähern und die Flammen zu ersticken, die mittlerweile auch die Außenseite des Rahmens in Brand gesetzt hatten und gierig nach den Stützbalken leckten. Nur noch wenige Minuten, dachte Andrej, und die gesamte Kirche würde in Flammen aufgehen. Keine Macht der Welt konnte das noch verhindern.

»Habt ihr mich nicht verstanden?«, schnappte Martius. »Raus hier! Draußen im Kirchenschiff sind Menschen, die eure Hilfe brauchen! Bringt sie in Sicherheit!«

Auch die letzten Soldaten suchten nun das Weite, und endlich wagte es Andrej, vorsichtig aufzustehen. Seine Finger fuhren über das Blut auf seiner Wange. Die Schnittwunde darunter war verschwunden. Auch Martius war diese weitere schnelle Heilung nicht entgangen, wie sein Blick deutlich machte. Andrej begann zu einer Erklärung anzusetzen, beließ es dann aber bei einem angedeuteten Achselzucken.

Aus der offen stehenden Tür hinter ihnen schlugen weitere Flammen, und dahinter tobte ein Sturm aus weißer und gelber Glut. Für einen entsetzlichen Moment glaubte Andrej, eine Bewegung inmitten der tobenden Höllengluten zu sehen. Aber vermutlich hatte er sich getäuscht, und es war nichts anderes als ein Trugbild, entstanden aus dem Tanz der Flammen und seiner eigenen Furcht.

»Werdet Ihr Euer Wort halten?«, fragte er leise. Er war nicht sicher, ob Martius seine Stimme überhaupt hörte, aber er bekam eine Antwort.

»Ich habe ihm mein Wort nicht gegeben, Andrej.«

Andrej fuhr herum. Seine Hand schloss sich um das Schwert. »Ihr wisst, was ich meine, Inquisitor«, sagte er wütend. »Soll dieser alte Mann wirklich umsonst gestorben sein?«

Martius starrte an ihm vorbei. Das gleißende Licht der Flammen spiegelte sich in seinen Augen, und wahrscheinlich war es nur die unerträgliche Helligkeit, die die Tränen verursacht hatte, die jetzt über seine Wangen liefen.

»Also?«, fragte Andrej, als Martius nicht antwortete. »Was werdet Ihr tun?«

Der Inquisitor schwieg noch immer. Sein Blick war starr in die Flammen gerichtet, und seine linke Hand tastete nach der Stelle auf seiner Brust, an der bisher das goldene Kruzifix gehangen hatte. Aber sie stieß ins Leere.

»Geht«, flüsterte er.

Andrej war nicht sicher, was Martius meinte.

»Geht, Andrej Deläny«, wiederholte Martius. »Euer Begleiter ist unversehrt. Nehmt ihn mit und verschwindet. Und sorgt dafür, dass sich unsere Wege nie wieder kreuzen.«

»Ihr lasst uns gehen?«, vergewisserte sich Andrej.

Martius riss seinen Blick von den Flammen los. Sein Gesicht wirkte versteinert. »Wer seid Ihr, Andrej?«, fragte er. »Was seid Ihr?«

»Wollt Ihr das wirklich wissen?«, fragte Andrej.

Martius schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich will es nicht wissen. Ich könnte Euch nicht gehen lassen, wenn ich es wüsste.«

»Aber Ihr lasst uns gehen.«

»Eine Stunde«, sagte Martius. »Ihr und dieser Mohr, Ihr habt eine Stunde Vorsprung. Nicht mehr. Das ist alles, was ich für Euch tun kann.«

Und mehr, als sie brauchten. Andrej drehte sich um, machte zwei Schritte und blieb dann noch einmal stehen. »Und die Menschen hier?«, fragte er.

»Werdet Ihr sie in Frieden lassen?«

»Wofür haltet Ihr mich, Andrej?«, fragte Martius kalt. »Für ein Ungeheuer?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Für einen Inquisitor.«

Martius schwieg. Er starrte ihn nur an, und Andrej erwiderte seinen Blick und wartete darauf, Triumph oder wenigstens Zufriedenheit zu verspüren, aber er empfand weder das eine noch das andere. Die fremde Macht in ihm war erloschen. Er war wieder er selbst. Sie lebten, und Abu Dun und er hatten eine Stunde Vorsprung, mehr als genug, um sich in Sicherheit zu bringen, selbst wenn Martius' Männer danach Jagd auf sie machen würden - was Andrej nicht einmal glaubte. Er hatte allen Grund, zufrieden zu sein, aber dieser Sieg schmeckte schal. Es war nicht die Art von Sieg, auf die er Wert legte.

Er drehte sich um und ging mit schnellen Schritten nach draußen, wo Abu Dun auf ihn wartete.


ENDE DES DRITTEN BUCHES


Die Serie wird fortgesetzt mit Teil 4,


Der Untergang

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