DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN


DER TODESSTOSS


»Sie sind dort unten, auf der anderen Seite des Hügels. Vielleicht zwanzig, möglicherweise auch mehr.«

Abu Duns Atem ging so ruhig, als wäre er gerade aus einem tiefen, erholsamen Schlaf erwacht. Dabei hatte er die gut hundert Meter den steilen, mit tückischem Geröll übersäten Hang hinab im Laufschritt zurückgelegt, und das mit einer Behändigkeit, die man einem Mann seiner Statur und Masse niemals zugetraut hätte. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er fortfuhr: »Du hattest Recht. Sie verbrennen wieder Hexen.«, Andrej sagte nichts. Was auch? Er hatte gewusst, dass er Recht hatte, schon als sie den flackernden roten Widerschein des Feuers am Nachthimmel gesehen hatten, und lange bevor Abu Dun losgelaufen war, um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, was auf der anderen Seite des Hügels geschah. Vielleicht lag es an seinen schärferen Sinnen, dass er den Gestank von brennendem Menschenfleisch lange vor dem Piraten wahrgenommen hatte. Er war dem Tod so oft begegnet, dass er seine Nähe deutlicher spürte als andere.

»Wie viele?«, fragte er nach einer Weile.

Abu Dun hob die Schultern. Mit seiner schwarzen Kleidung und dem ebenholzfarbenen Gesicht war der Nubier selbst für Andrejs scharfe Augen kaum zu erkennen. Er ahnte die Bewegung mehr, als dass er sie sah.

»Ich habe zwei Scheiterhaufen gezählt«, sagte Abu Dun. »Wie viele sie daran gebunden haben, konnte ich nicht erkennen.« Er spie aus.

»Diese Unmenschen! Sie nennen uns Barbaren, aber sie selbst tun Dinge, vor denen selbst der Teufel zurückschrecken würde.«

»Der Teufel vielleicht, aber du?«, fragte Andrej. »Ich war einmal auf einem Schiff, auf dem ich Dinge gesehen habe, die selbst den Teufel erschreckt hätten. Wie hieß doch gleich sein Kapitän?«

Abu Dun beantwortete die Anspielung auf seine Vergangenheit mit einem Grinsen, das seine Zähne in der Nacht fast unnatürlich weiß aufblitzen ließ. »Ich habe auch nie behauptet, besser zu sein als du«, sagte er.

»Das stimmt«, erwiderte Andrej. »Du bist der ehrlichste Pirat, den ich kenne.«

»Ich war Kaufmann«, verbesserte ihn Abu Dun.

»Nur, dass du lebende Waren verkauft hast, ich weiß.«

»Jedenfalls habe ich meine Waren pfleglich behandelt und sie nicht lebendig gebraten«, verteidigte sich Abu Dun. Er grinste erneut, und auch Andrej lachte leise, aber nur für einen ganz kurzen Moment. Zugleich fragte er sich, wieso sie eigentlich so ausgelassen waren, angesichts der unaussprechlichen Gräueltaten, die gerade auf der anderen Seite des Hügels stattfanden. Aber vielleicht war es der einzige Weg, um diese Geschehnisse überhaupt zu ertragen.

»Und?«, fragte Abu Dun nach einer Weile. »Was tun wir?«

»Was wir tun?«

Abu Dun machte eine Kopfbewegung in Richtung des roten Widerscheins am Himmel. »Gehen wir unserer Wege und tun so, als hätten wir nichts bemerkt?«

»Was sonst? Du hast es selbst gesagt: Es sind zwanzig, vielleicht sogar dreißig.«

»Dreißig Bauerntölpel und hysterische Weiber.« Abu Dun machte eine wegwerfende Geste. »Keine Gegner für uns. Sie werden weglaufen, wenn wir die ersten zwei oder drei erschlagen haben.«

»Ich verstehe!« Verbitterung lag in Andrejs Stimme. »Du meinst, wir erschlagen zwei oder drei Unschuldige, um zwei oder drei Unschuldige zu retten.«

»Du weißt sehr genau, dass das ein Unterschied ist, Hexenmeister«, antwortete Abu Dun immer noch grinsend, aber mit deutlich schärferer Stimme. »Du könntest dich ja auch in eine Fledermaus verwandeln und sie erschrecken.«

»Und ihnen damit einen Grund liefern, um noch mehr Scheiterhaufen aufzustellen«, sagte Andrej kopfschüttelnd. »Außerdem kann ich mich nicht in eine Fledermaus verwandeln, wie oft muss ich dir das noch erklären?«

»Hast du es denn je ernsthaft versucht?«, beharrte Abu Dun.

»Hast du je ernsthaft versucht, dich in einen vernünftigen Menschen zu verwandeln?« Andrej machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in der sie ihre Pferde zurückgelassen hatten.

»Verschwinden wir. Es gibt eine Herberge, nicht weit von hier. Vielleicht finden wir dort noch ein Quartier für die Nacht.«

Abu Dun sah ihn überrascht an. Anscheinend hatte er erwartet, dass sein Freund irgendetwas unternehmen würde. Und natürlich hatte Andrej darüber nachgedacht - aber er wusste nichts über die Menschen hier, über ihre Beweggründe und Absichten. Schließlich konnte er nicht die ganze Welt retten.

»Lass uns gehen«, sagte er noch einmal.

»Ganz wie Ihr befehlt, Sahib«, grollte Abu Dun.

Andrej verzichtete auf eine Antwort. In den gut zehn Jahren, die er den nubischen Piraten und Sklavenhändler nun kannte, waren sie von Todfeinden zuerst zu widerwilligen Verbündeten geworden und hatten später gelernt, einander so zu nehmen, wie sie waren. Mittlerweile waren sie Freunde; aber es gab Bereiche, in denen sie niemals eine Einigung erzielen würden. Andrejs scheinbare Unverwundbarkeit gehörte dazu.

Sie sprachen selten über das Leben, das der Pirat und Sklavenhändler geführt hatte, bevor das Schicksal sie zusammengebracht hatte, aber Andrej vermutete, dass Abu Dun während seiner Zeit als Seeräuber mehr Menschen getötet hatte, als so mancher Söldner, und er wich auch heute noch keinem Kampf aus. Andrej war dennoch der weit bessere Schwertkämpfer und überlegenere Taktiker. Umso weniger konnte Abu Dun verstehen, wie sehr es ihm zuwider war, die Waffe gegen einen anderen Menschen zu erheben, obwohl - aber vielleicht auch gerade weil - Andrej keinen Gegner zu fürchten brauchte. Vielleicht war er einfach zu oft gezwungen gewesen zu töten.

Sie banden die Pferde los, stiegen auf und wandten sich nach Westen, in die Richtung, in die Andrej zuvor gedeutet hatte. Als sie zehn Schritte weit gekommen waren, stieg auf der anderen Seite des Hügels ein wirbelnder Funkenschauer zum Himmel auf, und fast im gleichen Augenblick erscholl ein so gellender Schrei, dass sich etwas in Andrej zusammenzuziehen schien.

Abu Dun zischte: »Hör gut hin, Hexenmeister. Vielleicht wird dir der Klang den Geschmack des Nachtmahls versüßen, wenn du dich daran erinnerst.«

Andrej schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Abu Dun wollte ihn reizen, aber das würde er nicht zulassen. Es war Monate her, dass er das Schwert das letzte Mal gezogen hatte, und noch länger, dass das letzte Mal Blut auf der Klinge des Damaszenenschwertes gewesen war. Er war des Kämpfens müde. Das vom Krieg geschüttelte Siebenbürgen hatte er nicht verlassen, um sich in einem neuen Krieg wiederzufinden.

Nach einem Augenblick wiederholte sich der Schrei noch gellender und noch entsetzlicher, und etwas in Andrej ... reagierte darauf.

Abrupt brachte er sein Pferd zum Stehen. Das Tier schnaubte unwillig, und auch Abu Dun zog hart am Zügel. »Was?«

Andrej machte eine abwehrende Handbewegung und legte den Kopf schräg, um zu lauschen. Der Schrei wiederholte sich nicht, aber nun, da er einmal darauf aufmerksam geworden war, spürte er es immer deutlicher: Es war kein Gefühl, das er wirklich mit Worten hätte beschreiben können. Aber da war plötzlich etwas Vertrautes in ihm: unersättlicher Hunger und eine Gier, die umso schlimmer war, da sie kein bestimmtes Ziel zu haben schien.

Auf der anderen Seite des Hügels war ein Wesen wie er.

Ein anderer Unsterblicher.

Oder, wie Abu Dun es ausgedrückt hätte, ein anderer Hexenmeister.

»Was hast du?«, fragte Abu Dun noch einmal. Er klang alarmiert.

Statt zu antworten riss Andrej sein Pferd in engem Bogen herum und ritt den Hügel hinauf. Auf der anderen Seite stoben keine Funken mehr, aber der Himmel glühte jetzt in einem helleren Rot, und er hörte eine schrille Stimme, die verzweifelt um Gnade flehte.

Andrej achtete ebenso wenig darauf wie die, denen dieses verzweifelte Flehen vermutlich galt. Stattdessen lauschte er in sich hinein. Die Präsenz des anderen Vampyrs war noch immer zu spüren, aber sie hatte sich verändert.

Die unstillbare Gier, die so sehr Teil seines Wesens war, war zum allergrößten Teil Furcht und Entsetzen gewichen. Vielleicht war es auch die Stimme des anderen Vampyrs, die dort drüben diese gellenden Schreie ausstieß.

Das Pferd kam immer langsamer voran. Seine Hufe fanden auf dem lockeren Geröll, das diese Seite des Hanges bedeckte, kaum Halt, und es drohte immer öfter auszurutschen. Vor allem aber polterten die Steine, die das Tier lostrat, mit einem derartigen Getöse den Hügel hinab, dass er ernsthaft befürchtete, das Geräusch könnte auf der anderen Seite zu hören sein. Lange ehe sie auch nur die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, stieg Andrej aus dem Sattel und lief zu Fuß weiter. Abu Dun, der schon eine Weile vor ihm abgesessen war, eilte so leichtfüßig und lautlos neben ihm her, dass sich für einen Augenblick ein Gefühl von Neid in Andrej breit machte.

Oben angekommen, ließen sie sich in die Hocke sinken und legten die letzten Meter bis zur Hügelkuppe auf Händen und Knien zurück.

Andrej erschauerte, als er des Geschehens auf der anderen Seite des Hügels ansichtig wurde.

Die Ansammlung ärmlicher strohgedeckter Hütten ein Dorf zu nennen, wäre übertrieben gewesen. Es waren weniger als ein Dutzend Gebäude, und das einzige, das aus Stein erbaut zu sein schien und ein massives Dach hatte, war die Kirche im Zentrum des Halbkreises, um den sich die übrigen Hütten gruppierten.

Der Ort war fast taghell erleuchtet.

Dutzende von Fackeln, die einfach in die weiche Erde gesteckt worden waren, verbreiteten ein flackerndes rotes Licht, und genau in der Mitte des Dorfplatzes brannte ein gewaltiger Scheiterhaufen. Wie zur Verhöhnung allen christlichen Glaubens bestand sein Mittelpunkt nicht aus einem Pfahl, sondern aus einem aus oberschenkelstarken Rundhölzern zusammengerügten Kreuz, an das eine einzelne Gestalt gebunden war. Obwohl die Flammen bereits fast so hoch wie das Kirchendach loderten und Andrej die Hitze selbst hier oben noch auf dem Gesicht zu spüren glaubte, schien sich die dunkle Gestalt im Zentrum dieser Feuerhölle noch zu bewegen. Aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung, hervorgerufen durch das grelle Licht der Flammen, das ihm die Tränen in die Augen trieb - und seine eigene Angst.

Feuer.

Andrej hatte panische Angst vor Feuer, nicht nur, weil er seine fürchterliche Schärfe schon mehr als einmal am eigenen Leib gespürt hatte, sondern weil es zu den wenigen Dingen gehörte, die ihm wirklich gefährlich werden konnten.

Feuer vermochte ihn durchaus zu töten. Aber da gab es noch etwas: Seine Angst vor Feuer war in den letzten Jahren beständig gewachsen, und zwar in einem Maße, das über das mit reiner Logik Erklärbare hinausging.

Vielleicht sah er die Erklärung dafür gerade vor sich. Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Scheiterhaufen er erblickt, die gellenden Schreie wie vieler bedauernswerter Opfer er gehört hatte, die bei lebendigem Leibe verbrannt waren.

»Nun?«, flüsterte Abu Dun neben ihm. »Du hast doch nicht etwa dein Gewissen entdeckt, Hexenmeister?«

»Still!«, zischte Andrej. »Und hör endlich auf, mich so zu nennen.«

Abu Dun grinste breit, aber er hielt gehorsam den Mund, während sich Andrejs Blick weiter aufmerksam über den Dorfplatz tastete. Das Bild erfüllte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und blanker Wut.

Er hatte gewusst, was er sehen würde. Abu Dun hatte es ihm gesagt, und er hatte ein solches Szenarium schon zahllose Male erblickt. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Fassung zu bewahren. Es kostete ihn fast seine gesamte Selbstbeherrschung, nicht das Schwert zu ziehen und den Hang hinunterzustürmen, um dem grausamen Geschehen ein mindestens ebenso grausames Ende zu bereiten.

Er tat nichts dergleichen, sondern musterte die Vorgänge mit großer Aufmerksamkeit und versuchte, sich jedes Detail einzuprägen.

Abu Duns Schätzung war ziemlich präzise gewesen. Es mussten knapp dreißig Personen sein, die rings um den Scheiterhaufen herum Aufstellung genommen hatten - Männer, Frauen und Alte; selbst einige Kinder waren gekommen, um sich an dem grausigen Schauspiel zu weiden. Aber es waren nur sehr wenige Männer; eine Hand voll, denen Andrej selbst über die Entfernung hinweg ansah, dass sie in keiner guten Verfassung waren.

Diesem Dorf musste es ergangen sein wie so vielen, durch die sie in den letzten Jahren gekommen waren: Nahezu alle waffenfähigen Männer waren zum Kriegsdienst gezwungen worden, und die Zurückgebliebenen kämpften verzweifelt ums Überleben.

Im Moment zerstreuten sie sich allerdings damit, dem qualvollen Tod der vermeintlichen Hexe zuzusehen.

Andrej schloss die Augen und lauschte konzentriert in sich hinein. Die fremde Präsenz war noch immer da. Sie schien sogar zugenommen zu haben.

Vermutlich war es also nicht die Gestalt auf dem Scheiterhaufen, deren Nähe er spürte.

»Also?«, drängte Abu Dun. »Was willst du jetzt tun?«

Andrej hob die Hand, um ihn zum Verstummen zu bringen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende.

Die Kirchentür hatte sich geöffnet, und ein Mann in schwarzer Priesterrobe trat heraus. Ihm folgten zwei weitere Gestalten, die in eine merkwürdige Uniform gehüllt waren: Topfhelme, Kettenhemden und kurze Röcke aus Lederstreifen, die mit blitzenden Kupfernieten beschlagen waren. Sie trugen Breitschwerter. Ihrer Aufmachung nach zu urteilen, stammten die beiden aus einem anderen Jahrhundert. Dennoch waren sie vielleicht die Einzigen im Ort, um die er sich Gedanken machen musste, sollte es zu einem Kampf kommen. Seine Hand schloss sich um den Schwertgriff, ohne dass er sich der Bewegung auch nur bewusst gewesen wäre.

Die beiden Bewaffneten zerrten eine dritte Gestalt zwischen sich her, deren Handgelenke mit langen Seilen gefesselt waren. Sie trug ein einfaches, schmutz-starrendes Gewand, und das lange Haar hing ihr wirr in die Stirn, sodass Andrej ihr Gesicht nicht erkennen konnte.

»Was haben die vor?«, murmelte Abu Dun.

Genau das fragte sich Andrej auch. Zweifellos war die gefesselte Gestalt das nächste Opfer, das für den Scheiterhaufen vorgesehen war - aber die Hitze des brennenden Reisigstapels war so gewaltig, dass sich ihm niemand auf mehr als fünf Schritte nähern konnte, ohne sich selbst zu verbrennen. Feuer dieser Intensität pflegten sich in ihrer Wut rasch selbst zu verzehren, aber Andrej schätzte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis die Flammen weit genug heruntergebrannt waren, um sich dem Pfahl zu nähern. Sie hatten also Zeit.

Andrej beobachtete stirnrunzelnd, wie die beiden Bewaffneten langsam auf den Scheiterhaufen zugingen, wobei sie immer weiter auseinander wichen. Die Stricke in ihren Händen hielten sie dabei straff gespannt, sodass ihr unglückseliges Opfer gezwungen wurde, mit weit ausgebreiteten Armen zwischen ihnen auf den Scheiterhaufen zuzustolpern. Als es die Hitze des Feuers spürte, bäumte es sich verzweifelt auf und warf den Kopf in den Nacken, und Andrej erkannte zum einen, dass es sich um eine Frau handelte, und zum anderen - »Maria!«

Andrej riss in der gleichen Bewegung das Schwert aus der Scheide, in der er aufsprang und losstürmte. Immer wieder Marias Namen schreiend, raste er den Hang hinab, fuhr wie ein Wirbelsturm unter die völlig verblüfften Dorfbewohner und stieß zwei oder drei Männer, die sich ihm in den Weg stellen wollten, einfach zu Boden. Die anderen wichen erschrocken vor ihm zurück, und Andrej stürmte weiter auf den Scheiterhaufen zu. Er wusste nicht, ob Abu Dun ihm folgte, aber es war auch nicht von Bedeutung.

Einer der beiden Bewaffneten hatte ebenfalls von ihm Notiz genommen. Er ließ den Strick um Marias Handgelenk nicht los, und er hörte auch nicht auf, sie auf den Scheiterhaufen zuzuzerren, aber er fuhr trotzdem zu Andrej herum und riss dabei mit der linken Hand das Schwert aus dem Gürtel. Andrejs Waffe vollführte eine blitzartige, halbkreisförmige Bewegung, und das Schwert des Soldaten wirbelte davon; zusammen mit der Hand, die es hielt.

Der Mann starrte seinen eigenen Armstumpf aus hervorquellenden Augen an, dann begann er in hohen, schrillen Tönen zu kreischen und sank auf die Knie, und Andrej stürmte in unvermindertem Tempo an ihm vorbei und griff seinen Kameraden an.

Der Mann hatte das Seil losgelassen und sein eigenes Schwert gezogen, das er nun mit beiden Händen hielt, und er erwies sich als weitaus wendiger als sein Kamerad. Andrej musste dreimal zuschlagen, bis er ihn überwand. Mit dem dritten Hieb enthauptete er den Mann.

Noch bevor der plötzlich kopflose Leichnam zu Boden sank, wirbelte Andrej herum, war mit einem einzigen Satz bei dem Priester und stieß ihm das Schwert bis ans Heft in die Brust. Der Mann starb schnell, aber Andrej erkannte an dem Ausdruck in seinen Augen, dass es kein gnädiger Tod war. Er starb in der festen Überzeugung, dem Satan gegenüberzustehen, und Andrej hoffte inständig, dass er ihm nach seinem Ableben auch wirklich begegnen würde, falls es so etwas wie ein Jenseits tatsächlich gab.

Er riss das Schwert aus der Brust des Sterbenden, fuhr herum und war mit zwei gewaltigen Sätzen bei Maria, die zu Boden gesunken war und sich vor Angst und Schmerz krümmte.

Aber es war nicht Maria. Sie sah ihr nicht einmal ähnlich. Das Mädchen war allerhöchstens sechzehn und hatte strähniges rotblondes Haar, und sein Gesicht war vermutlich hübsch, wenn man sich den Schmutz, die zahlreichen blauen Flecke und Prellungen und die nässenden Brandblasen wegdachte. Ihre Augen waren riesig und fast schwarz vor Furcht, und obwohl sie Andrej direkt anblickten, war er sicher, dass sie ihn nicht sah.

Trotzdem sagte er: »Du musst keine Angst mehr haben. Du bist in Sicherheit. Niemand wird dir etwas tun.«

Er bekam keine Antwort. Der Blick des Mädchens blieb weiter auf etwas Unfassbares gerichtet, das sich in unendlicher Entfernung zu befinden schien.

Andrej richtete sich auf, drehte sich um und ergriff sein Schwert fester.

Nicht, dass es notwendig gewesen wäre. Ganz wie Abu Dun vorausgesagt hatte, waren die Dorfbewohner in heller Panik davongerannt; spätestens in dem Moment, in dem sie gesehen hatten, wie er die beiden Soldaten erschlug.

Zwei oder drei reglose Körper, deren genauen Zustand Andrej im Licht des Feuers nicht beurteilen konnte, gehörten wohl den wenigen, die entweder dumm genug oder zu langsam gewesen waren, Abu Dun aus dem Weg zu gehen, und er hörte entfernte Schreie und hastige Schritte.

Abu Dun selbst kam ohne sonderliche Eile auf ihn zu, und hätte es hinter Andrejs Stirn nicht noch immer gewütet, dann hätte er vielleicht den Anblick bemerkt, den sein Freund bot. Denn der hünenhafte Nubier schleifte eine reglose Gestalt hinter sich her, die er kurzerhand am Fußgelenk gepackt hatte.

Der Ausdruck auf Abu Duns Gesicht war fast noch schwärzer als seine Haut, und er spießte Andrej mit Blicken regelrecht auf.

»Maria, wie?«, grollte er. »Daher also dein plötzlicher Sinneswandel.«

»Ich habe gedacht...«

»Du hast gedacht«, unterbrach ihn Abu Dun wütend, »dass einer von deiner Art in Gefahr wäre, nicht wahr? Was ist jetzt mit deiner hehren Gesinnung? Wie war das doch gleich? Wir haben nicht das Recht, Unschuldige zu töten, um Unschuldige zu retten? Sind die Leute hier plötzlich weniger unschuldig, nur weil diesmal einer von deiner eigenen Art in Gefahr war?«

»Du hast Recht«, sagte Andrej leise. »Es tut mir Leid. Aber ich ... ich konnte plötzlich nicht anders. Ich dachte, es wäre Maria.«

»Deine Maria«, antwortete Abu Dun böse, »ist vermutlich seit zehn Jahren tot. Und wenn nicht, dann will sie nichts von dir wissen. Begreif das endlich!«

Andrej musste sich mit aller Macht beherrschen, um den Piraten nicht anzugreifen. Rasende Wut verschleierte seinen Blick, und das Schwert in seiner Hand schien sich fast gegen seinen Willen heben zu wollen, um nach der Kehle des Piraten zu züngeln.

Dann, so schnell, wie sein Zorn gekommen war, verschwand er auch wieder, und er fühlte sich so erbärmlich, als hätte er sein Ansinnen laut ausgesprochen.

Abu Dun schien zu ahnen, was in ihm vorging.

»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte er. »Sie sind zwar weg, aber wenn sie ihren ersten Schrecken überwunden haben, könnten sie auf den Gedanken kommen, sich zusammenzurotten und uns als neues Brennmaterial für ihren Scheiterhaufen zu benutzen.«

»Hast du etwa Angst?«, fragte Andrej spöttisch.

»Nein«, antwortete Abu Dun. »Aber ich bin nicht versessen darauf, noch ein paar Schädel einzuschlagen. Es langweilt mich. Die beiden einzigen richtigen Gegner hast du ja für dich beansprucht.«

Andrej blieb ernst. »Wer ist das?«, fragte er mit einer Geste auf den Mann, den Abu Dun am Fuß hinter sich herzerrte.

Abu Dun sah mit gespielter Überraschung auf den Bewusstlosen herab, dann runzelte er die Stirn, als müsse er angestrengt nachdenken. »Oh, das«, sagte er dann. »Das habe ich gefunden. Willst du es haben?«

»Nur, wenn es sprechen kann«, antwortete Andrej. »Lebt es noch?«

»Das werden wir gleich herausfinden«, sagte Abu Dun. Er grinste, ließ den Fuß des Bewusstlosen los und beugte sich über ihn. Andrej konnte nicht erkennen, was er tat, aber es verging nur ein kurzer Moment, bis der Mann die Augen aufschlug und prompt zu schreien begann. Abu Dun versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, und die Schreie des Mannes verstummten.

»Schlag ihn nicht tot«, mahnte Andrej absichtlich so laut, dass ihr Gefangener es hören musste. »Wenigstens noch nicht. Ich will mit ihm reden.«

Abu Dun machte ein enttäuschtes Gesicht, erhob sich aber gehorsam und wich einen Schritt zurück, und Andrej nahm seinen Platz ein. Auf dem Gesicht des Mannes machte sich vorsichtige Erleichterung breit, und er versuchte sich aufzurichten. Andrej versetzte ihm einen Fußtritt, und er sank japsend vor Schmerz wieder zurück.

»Bleib liegen«, sagte er drohend. »Du wirst mir jetzt ein paar Fragen beantworten, hast du mich verstanden? Wenn ich mit deinen Antworten zufrieden bin, dann lassen wir dich vielleicht am Leben.«

Der Mann wimmerte nur und versuchte davon zukriechen, und Andrej versetzte ihm einen weiteren Fußtritt. »Ob du mich verstanden hast?«

»Ja, Herr«, japste der Mann. »Bitte, ich ... sage Euch alles, was Ihr wissen wollt, aber bringt mich nicht um!«

»Wie ist dein Name?«, fragte Andrej. Als der Mann nicht sofort antwortete, holte er aus, als wollte er ihn noch einmal treten, und der Mann krümmte sich und hob furchtsam die Hände vor das Gesicht.

»Radic, Herr«, stammelte er. »Ich ... ich bin Radic.«

»Radic, gut. Du lebst hier?«

»Ja«, antwortete Radic hastig. Sein Blick irrte immer wieder zwischen Andrejs Gesicht und seinem Fuß hin und her. Er wimmerte. Der plötzliche Gestank bewies Andrej, dass er sich vor Angst besudelt hatte.

»Wer waren die Leute, die ihr da verbrannt habt?«, fragte Andrej. »Und warum habt ihr das getan?«

»Zigeuner, Herr«, sagte Radic hastig. »Es waren Zigeuner. Aber sie waren auch Hexen. Hexen und Teufelsanbeter. Alle.«

»Alle?«, fragte Andrej. »Wie viele waren es denn?«

»Fünf, Herr«, sagte Radic. »Fünf und das Mädchen. Fünf haben wir verbrannt, und das Mädchen wäre die Letzte gewesen. Sie war die Schlimmste von allen. Sie hat den bösen Blick, und sie muss mit dem Teufel gebuhlt haben, weil...«

Andrej versetzte ihm einen Fußtritt, diesmal so hart, dass er spüren konnte, wie mehrere Rippen brachen. Radic kreischte vor Schmerz, und Abu Dun warf Andrej einen warnenden Blick zu.

»Hör auf zu wimmern, du Memme«, sagte Andrej kalt. »Was soll das heißen, sie waren mit dem Teufel im Bunde? Wer hat euch das gesagt?«

»Vater Carol«, antwortete Radic keuchend. »Unser Pater. Der, den Ihr erschlagen habt.«

»Ich hätte gute Lust, dasselbe mit dir zu tun«, zischte Andrej. »Und mit dem Rest von ...«

»Wieso hat er gesagt, dass sie Hexen sind?«, mischte sich Abu Dun ein. Er bedachte Andrej mit einem tadelnden Blick, ehe er sich wieder an Radic wandte. »Welche Beweise hatte er dafür?«

»Jeder weiß, dass die Zigeuner schwarze Magie ausüben«, antwortete Radic.

Trotz des Zitterns in seiner Stimme klang es fast trotzig. »Seit drei Jahren werden unsere Ernten immer schlechter. Im letzten Winter mussten wir schon hungern. Und jedes Mal waren die Zigeuner vorher bei uns.«

»Oh, und du meinst nicht, dass könnte an den strengen Wintern oder den verregneten Sommern liegen?«, fragte Andrej böse. »Oder vielleicht daran, dass es kaum noch genug Männer im Dorf gibt, um die Arbeit auf den Feldern zu tun?«

Radic sah zu ihm hoch. Er verstand nicht einmal, wovon Andrej sprach.

»Und welche Beweise hatte euer Vater Carol für seine Anschuldigungen?«, fragte Abu Dun. »Ich meine, es gab doch sicherlich eine Gerichtsverhandlung?«

»Wir haben über sie Gericht gehalten«, bestätigte Radic. »Überall verbrennen sie Hexen. Die Kirche hat das Recht dazu, denn sie handelt im Namen Gottes.«

»Hoffentlich weiß euer Gott auch etwas davon«, sagte Abu Dun böse.

»Herr?«, fragte Radic verständnislos.

»Wie hast du das gemeint, sie wäre die Schlimmste von allen?«, fragte Andrej mit einer Geste auf das Mädchen.

»Sie hat sich verraten!«, antwortete Radic. »Gestern Abend, als sie ihre Kunststücke aufgeführt haben, da haben es alle gesehen! Sie war ungeschickt und hat sich mit dem Messer geschnitten. Eine wirklich schlimme Wunde. Aber heute Morgen war sie verschwunden! Das muss Teufelswerk sein!«

»Ich verstehe«, sagte Andrej finster. »Und deshalb habt ihr sie kurzerhand der Hexerei bezichtigt und auf den Scheiterhaufen geworfen. Ihr habt fünf Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt, nur weil ihr Zeuge von etwas geworden seid, das ihr nicht versteht? Ich frage mich, wer hier vom Teufel besessen ist.«

»Gib es auf«, sagte Abu Dun. »Ich glaube nicht, dass er versteht, was du meinst. Soll ich ihn töten?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Ich habe eine bessere Idee.«

Er ließ sich vor Radic in die Hocke sinken, hob das Schwert und fuhr sich mit der scharfen Klinge über den Handrücken. Radic ächzte, als er die klaffende Wunde sah, die der Stahl hinterlassen hatte. Und er ächzte noch einmal und lauter, als die Wunde schon nach einem Augenblick aufhörte zu bluten und sich wenige Sekunden später wie durch Zauberei wieder schloss.

»Wie du siehst, gibt es durchaus noch mehr Menschen mit denselben Kräften«, Andrej sah ihn scharf an. »Und ich kann dir versichern, dass das noch lange nicht alles ist.«

Radic starrte aus riesigen Augen auf Andrejs Hand. »Was ... was seid Ihr?«, stammelte er.

»Ich bin nicht mit dem Teufel im Bunde, wenn du das meinst«, antwortete Andrej. »Ich bin etwas Schlimmeres. Etwas, das du dir nicht einmal vorstellen kannst. Ich werde dich nicht töten. Noch nicht. Aber eines Tages werde ich kommen, und dann wirst du Rechenschaft über dein Leben ablegen müssen. Du bist noch jung. Du hast noch Zeit, es wieder gutzumachen. Aber denke daran, ich bin kleinlich, und ich sehe alles. Und wenn du über uns oder das, was hier geschehen ist, auch nur mit einem Menschen sprichst, dann werde ich wiederkommen und deine Seele fressen. Hast du das verstanden?«

Radic nickte, und Andrej lächelte ihm zu und versetzte ihm einen Fausthieb vor die Schläfe, der ihn augenblicklich das Bewusstsein verlieren ließ. Dann stand er auf.

»Beeindruckend.« Abu Dun klatschte spöttisch in die Hände. »Überaus beeindruckend. Aber auch ziemlich dumm. Was sollte das?«

»Mir war danach«, sagte Andrej finster. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ihm war danach gewesen, dem Kerl die Kehle aufzuschlitzen.

»Und du glaubst, du hättest ihn damit geläutert?«

»Wahrscheinlich nicht«, gestand Andrej. »Aber wenn sie das nächste Mal eine Hexe verbrennen, dann wird er nicht der Erste sein, der es gutheißt.«

»Wahrscheinlich wird er die Fackel halten«, grollte Abu Dun. Er schüttelte den Kopf. »Können wir jetzt gehen? Ich meine, bevor sie zurückkommen und uns einen Becher Wein und Kuchen zu unserem Plauderstündchen kredenzen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Mädchens.

»Deine neue Freundin können wir ja mitnehmen.«

»Gleich«, murmelte Andrej. Er drehte sich langsam im Kreis. Ohne das brennende Kreuz auf dem Platz hätte das Dorf einen fast friedlichen Anblick geboten. Ein armes, aber sauberes Dorf, voller einfacher, aber arbeitsamer und ehrlicher Menschen, die ein gottesfürchtiges Leben führten und zur Kirche gingen, und die dann und wann zur Kurzweil ein paar Menschen verbrannten ...

»Gleich«, sagte er noch einmal. »Gibst du mir eine von diesen Fackeln?«

Sie waren nach Westen geritten, hatten aber nicht an der Herberge Halt gemacht, in der Andrej eigentlich hatte übernachten wollen, sondern waren ein gutes Stück davor von der befestigten Straße abgewichen und in die dichten Wälder eingedrungen, die das Bild in diesem Teil des Landes bestimmten.

Andrej war noch niemals dort gewesen und wusste sehr wenig über diese Gegend, und so überließ er es Abu Duns Instinkt, den Weg für sie zu finden; eine Entscheidung, die sich als durchaus richtig herausstellte. Eine ganze Weile waren sie durch die nahezu vollkommene Dunkelheit der Wälder geritten, und gerade als Andrej angefangen hatte sich zu fragen, ob er Abu Dun vielleicht doch überschätzt hatte, wurde es vor ihnen hell. Licht, das sich auf still daliegendem Wasser brach, schimmerte durch die Bäume. Wenige Augenblicke später standen sie am Ufer eines ruhigen Sees, der so groß war, dass sein jenseitiges Ufer mit der Nacht verschmolz.

»Ich glaube, hier sollten wir rasten«, sagte Abu Dun.

»Eine gute Wahl«, pflichtete ihm Andrej bei. »Wir haben Glück, dass wir diesen Platz gefunden haben.«

»Das hat nichts mit Glück zu tun.« Abu Dun machte ein verächtliches Geräusch. »Ich bin Nubier, Hexenmeister. Wir können Wasser wittern.«

»Das dachte ich mir«, antwortete Andrej. »Deshalb habe ich auch darauf verzichtet, mich in eine Fledermaus zu verwandeln und davonzufliegen, um mir ein gemütliches Plätzchen zu suchen.«

Er glitt aus dem Sattel, drehte sich einmal im Kreis, um die Umgebung abzusuchen - als hätte er etwas sehen können! Der Wald war selbst für seine übermenschlich scharfen Augen undurchdringlich - und sah dann nach Osten, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Himmel war auch dort pechschwarz. Jetzt. Sie hatten den Feuerschein der brennenden Kirche noch lange gesehen, länger eigentlich, als die zunehmende Entfernung es hätte möglich machen dürfen. Andrej nahm an, dass die Flammen auf die benachbarten Gebäude übergegriffen, vielleicht sogar das ganze Dorf verschlungen hatten. Bei diesem Gedanken empfand er nicht das geringste Bedauern.

Er wandte sich wieder zu seinem Pferd um und streckte die Arme aus, um dem Mädchen beim Absteigen zu helfen. Es hatte die ganze Zeit wortlos und wie erstarrt hinter ihm gesessen, und es reagierte auch jetzt nicht. Sein Blick war noch immer in eine schreckliche Leere gerichtet, und Andrej fragte sich, ob es jemals wieder daraus zurückfinden würde.

»Warte.« Abu Dun trat mit zwei schnellen Schritten neben ihn, hob das Mädchen ohne die geringste Anstrengung vom Pferd und setzte es behutsam zu Boden.

»Kümmere dich um sie«, sagte er grob. »Ich bereite das Lager.«

Andrej nickte dankbar. Abu Dun war nicht glücklich darüber, dass sie das Mädchen mitgenommen hatten, obwohl es genau genommen sein Vorschlag gewesen war. Natürlich hätten sie das Mädchen unmöglich zurücklassen können; das wäre sein sicheres Todesurteil gewesen. Dennoch war sie schon jetzt eine Last für sie, und falls die Dörfler Hilfe holen würden und sie schnell verschwinden müssten - was wahrscheinlich war -, dann würde sie mehr als nur eine Last sein.

»Komm mit!«, sagte er. Die Zigeunerin reagierte immer noch nicht, und Andrej nahm sie bei der Hand und führte sie die wenigen Schritte zum Wasser hinunter. Sie folgte ihm willenlos. Wenigstens etwas.

Er setzte das Mädchen direkt am Wasser ab, ging zu seinem Pferd zurück und kramte ein halbwegs sauberes Tuch aus der Satteltasche. Nachdem er wieder zum See zurückgegangen war und es ins Wasser getaucht hatte, begann er vorsichtig, zuerst die Hände und dann das Gesicht der Zigeunerin vom gröbsten Schmutz zu reinigen. Darunter kam ein Mädchen zum Vorschein, das in wenigen Jahren durchaus zu einer Schönheit heranwachsen konnte.

Andrej spürte, wie sich ein schon fast vergessen geglaubtes Gefühl in ihm regte. Wie lange war es her, dass er keine Frau mehr gehabt hatte? Monate?

Zehn Jahre, dachte er bitter. Seit er Maria verloren hatte.

Natürlich hatte er seither Frauen gehabt. Dutzende, vermutlich Hunderte.

Aber das war nicht dasselbe. Andrej war ein körperlich junger Mann in den besten Jahren. Er suchte Frauen für eine Nacht oder die kurze Zeit, die sie das unstete Leben an einem Ort bleiben ließ. Es waren Frauen, die aus einer Laune heraus oder nach einem Becher Wein zuviel das Lager mit ihm teilten; oft genug auch für Geld.

Dieses Mädchen war etwas anderes. Sie war wie er. Ein Wesen von seiner Art. Das Blut, das in ihren Adern floss, war dasselbe wie seines.

Und sie war jung genug, um seine Tochter sein zu können, wenn nicht gar seine Enkelin.

Andrej verscheuchte seine Gedanken und konzentrierte sich wieder darauf, ihr Gesicht zu reinigen. Was er sah, gefiel ihm nicht. Die Prellungen und Brandblasen hatten bereits zu heilen begonnen, aber längst nicht in dem Ausmaß, in dem sie hätten heilen müssen. Außerdem fühlte er, dass sie Fieber hatte. Hohes Fieber.

Er tauchte das Tuch noch zweimal ins Wasser, bis er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen so zufrieden war, wie er es unter den gegebenen Umständen sein konnte, und warf das Stück Stoff anschließend fort. Er hatte das Gefühl, dass es besudelt war; als hafte etwas von dem, was man diesem Kind angetan hatte, nun an dem Blut und Schmutz, die das Tuch aufgenommen hatte.

Langsam hob er die Hand, zögerte noch einmal und legte sie dann auf die Stirn des Mädchens. Sie war heiß, und er konnte spüren, wie schnell ihr Puls ging.

Andrej schloss die Augen. Wenn er ihr doch nur helfen könnte! Wie viele Leben hatte er genommen, auf genau diese Art, nur durch eine Berührung mit der Hand? Warum war es so leicht, etwas zu nehmen, und so unmöglich, auf die gleiche Weise zu geben?

Nach einer Weile zog er die Hand wieder zurück und hob die Lider. Der Blick des Mädchens war noch immer leer. Es hatte mit den Lippen zu zittern begonnen, aber in seinen Augen stand weiterhin das Entsetzen.

»Glaubst du, dass sie sich jemals wieder erholt?«

Andrej schrak leicht zusammen und sah über die Schulter hoch. Er hatte nicht gehört, dass Abu Dun hinter ihn getreten war, aber das überraschte ihn nicht. Trotz seiner Größe und Massigkeit vermochte sich der ehemalige Pirat so lautlos zu bewegen wie eine Katze.

»Ich weiß es nicht«, sagte Andrej ehrlich. »Ich weiß nicht, was sie ihr angetan haben.«

»Ich dachte immer, außer einem Stich ins Herz oder Feuer kann euch nichts umbringen«, sagte Abu Dun. Er grinste, aber Andrej spürte auch, dass diese Worte bitter ernst gemeint waren.

»Das dachte ich bisher auch.« Andrej betrachtete besorgt das Gesicht der jungen Zigeunerin, und Abu Dun sagte: »Hätten ihre Wunden nicht längst heilen müssen?«

»Sie ist noch sehr jung«, antwortete Andrej ausweichend. »Vielleicht ist sie noch nicht lange ...«

»So wie du?« Abu Dun war immerhin rücksichtsvoll genug, das Wort Vampyr nicht zu benutzen. »Hast du vergessen, was Radic erzählt hat? Gestern Abend hat sie sich geschnitten, und die Wunde war am Morgen verheilt.«

»Vielleicht ist sie morgen wieder gesund«, antwortete Andrej. Allerdings fehlte seiner Stimme jegliche Überzeugungskraft.

»Ich kann kein Feuer machen«, sagte Abu Dun. »Aber wir haben noch etwas kaltes Fleisch. Bist du hungrig?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Aber vielleicht möchte sie etwas essen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Hast du Hunger?«

Wie erwartet gab es keine sichtbare Reaktion. Aber Andrej glaubte ein schwaches Flackern in ihrem Blick zu bemerken. Wie ein winziger, fast schon im Ersterben begriffener Funke in der erkaltenden Asche eines Feuers.

»Wahrscheinlich braucht sie einfach nur Ruhe«, antwortete Andrej.

»Schlaf ist manchmal die beste Medizin.«

»Wo du es sagst - ich könnte auch etwas von dieser Medizin gebrauchen«, sagte Abu Dun. »Aber vorher sollten wir uns unterhalten.«

Das hatte Andrej befürchtet. Er wollte nichts weniger, als dieses Gespräch führen, aber er kannte Abu Dun zur Genüge. Er würde ihm nicht entgehen, nur weil er das Gespräch hinauszögerte.

Indem er so tat, als müsse er sich davon überzeugen, dass mit der Zigeunerin auch wirklich alles in Ordnung war, gewann er noch einige Augenblicke. Dann stand er auf und folgte Abu Dun.

Sie entfernten sich ein paar Schritte - als ob es nötig gewesen wäre, außer Hörweite des Mädchens zu gelangen. Andrej war sehr sicher, dass sie nichts von dem sah oder hörte, was um sie herum geschah.

»Und?«, fragte er, als Abu Dun stehen blieb.

»Was - und? Diese Frage wollte ich dir gerade stellen«, sagte Abu Dun.

»Was denkst du, sollen wir jetzt tun? Dir ist klar, dass sie spätestens nach Tagesanbruch anfangen werden nach uns zu suchen, oder?«

»Hast du vergessen, wessen Idee es war, die Hexenverbrennung zu stören?«

»Ich hatte dabei nicht im Sinn, wie der Leibhaftige aufzutreten und möglichst allen zu beweisen, dass ihr Aberglaube vielleicht nicht ganz so unbegründet ist. Und ich hatte auch nicht vor, den ganzen Ort niederzubrennen. Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich etwas Zurückhaltenderes vor.«

»Ich weiß«, sagte Andrej. »Gut, du hast Recht. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe die Beherrschung verloren. Sobald ich eine passende Rute gefunden habe, werde ich mich ein bisschen kasteien.«

»Darf ich das übernehmen?«, fragte Abu Dun grinsend. Dann wurde er sofort wieder ernst. »Du hast sie nie vergessen, nicht wahr ?«

»Maria?« Andrej schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich verstehen kann«, sagte Abu Dun leise. »Ich habe niemals erfahren, was es heißt, jemanden zu lieben. Aber wenn ich mir dich ansehe, dann bin ich froh darüber.«

»Du weißt nicht, was du redest«, erwiderte Andrej.

»Ich weiß, dass du besessen bist«, sagte Abu Dun. »Wie lange ziehen wir jetzt schon durch die Welt und suchen nach ihr? Zehn Jahre? Wie oft hast du geglaubt, sie gefunden zu haben? Zehnmal? Hundertmal? Und wie oft hast du dich selbst gequält, wenn du zugeben musstest, dass sie es doch nicht war? Heute Abend hättest du uns beide fast umgebracht, nur weil du geglaubt hast, dieses Mädchen wäre Maria.«

»Niemand zwingt dich, bei mir zu bleiben«, antwortete Andrej spröde. »Du kannst gehen.«

»Wie einfach!« Abu Dun wurde böse. »Aber das wäre feige, und Abu Dun ist kein Feigling, der einen Freund im Stich lässt, wenn dieser ihn am meisten braucht.«

Andrej wollte auffahren, aber sein Zorn war nicht stark genug, weil er aus dem Verstand kam, nicht aus dem Gefühl. Statt den Piraten anzubrüllen, flüsterte er leise: »Du hast Recht, Abu Dun. Du weißt nicht, was es heißt, einen Menschen zu heben.«

Für endlose Augenblicke standen sie einfach schweigend da und starrten einander an, und schließlich drehte sich Abu Dun um und ging davon. Auch Andrej blieb nur noch einen Moment stehen, ehe er zum Waldrand zurück ging und sich gegen einen Baum lehnte. Er schloss die Augen. Für Abu Dun oder jeden anderen zufälligen Beobachter musste es so aussehen, als ob er schlafe, aber hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken immer schneller.

Abu Duns Worte hatten ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte, und seine Gedanken kehrten gegen seinen Willen zu jener schrecklichen Nacht vor zehn Jahren zurück. Er wehrte sich mit aller Macht gegen die Bilder, die in seinem Geist Gestalt annehmen wollten, aber es war ein Kampf ohne Aussicht auf Erfolg. Es hatte in den letzten zehn Jahren kaum einen Tag gegeben, an dem er sich nicht an die entsetzlichen Minuten erinnert hatte. Die Bilder hatten sich unauslöschlich und für alle Zeiten in sein Bewusstsein eingebrannt.

Sie hatten Draculs Burg verlassen und waren zum Waldrand geeilt, wo Maria auf sie warten wollte. Aber Maria war nicht da gewesen. Stundenlang war Andrej durch den Wald geirrt, hatte ihren Namen gerufen und sich an die immer verzweifelter werdende Hoffnung geklammert, dass sie vielleicht am falschen Ort gesucht hatten, dass Maria sich in der Dunkelheit vielleicht verirrt haben könnte ...

Was wirklich passiert war, hatten das erste Licht des neuen Tages und Abu Duns Talent als Fährtensucher offenbart. Sie hatten Spuren gefunden, die eine eindeutige Geschichte erzählten. Maria war am vereinbarten Treffpunkt gewesen, aber jemand war gekommen und hatte sie gewaltsam entführt.

Tagelang waren sie diesen Spuren gefolgt, bis sie sich schließlich verloren hatten.

Und das war für zehn Jahre das letzte Lebenszeichen von Maria gewesen.

Sie waren kreuz und quer durch das Land gezogen, und es war ganz genau so gewesen, wie Abu Dun gerade behauptet hatte: Er hatte ein Dutzend Mal geglaubt, sie gefunden zu haben, und die Erkenntnis, dass es nicht Maria war, war jedes Mal eine größere Enttäuschung gewesen als zuvor. Vielleicht hatte Abu Dun Recht, und sie war längst tot oder lebte jetzt in einem weit entfernten Land und hatte vergessen, dass es ihn gab, und ganz bestimmt hatte er Recht, wenn er sagte, dass er sich nur selbst quälte. Aber er konnte sie einfach nicht vergessen. Vielleicht gab es in seinem Leben nur Platz für diese eine Liebe, und möglicherweise ...

Neben ihm ertönte ein Stöhnen, gefolgt von einem halb erstickten Schluchzen. Andrej fuhr zusammen und sprang in die Höhe.

Die Zigeunerin war aus ihrer Starre erwacht. Sie war auf die Seite gesunken und hatte sich zusammengerollt wie ein schlafendes Baby, aber sie zitterte am ganzen Leib und schluchzte ununterbrochen, und als Andrej bei ihr ankam und die Hand nach ihr ausstreckte, schrie sie auf und schlug nach ihm.

Andrej fing ihren Schlag ab und hielt ihre Hand fest, aber sehr vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Sie schlug auch mit der anderen Hand nach ihm und traf ihn zweimal hart im Gesicht, bevor es ihm gelang, auch ihr zweites Handgelenk zu packen und festzuhalten. Im nächsten Moment rammte sie ihm das Knie mit solcher Wucht in den Unterleib, dass ihm die Luft wegblieb.

Andrej ächzte, drehte sich halb auf die Seite, um einem weiteren harten Tritt zu entgehen, und presste die Zigeunerin mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. Er war ungleich stärker als sie, und dennoch kostete es ihn seine ganze Kraft, sie auch nur halbwegs in Zaum zu halten.

»Hör doch auf!«, schrie er. »So beruhige dich doch! Wir wollen dir nichts tun!«

Als Antwort riss sie ihre linke Hand los und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Andrej drehte hastig den Kopf zur Seite, sodass sie ihm nur die Wange zerschrammte. Wütend packte er ihr Handgelenk und hielt es diesmal mit deutlich größerer Kraft fest. Die Zigeunerin bäumte sich so überraschend und mit solcher Kraft auf, dass er beinahe umgeworfen worden wäre. Andrej fluchte, presste ihre Hände und Schultern auf den Boden und benutzte sein Knie, um ihre strampelnden Beine zu blockieren. Sie hob den Kopf und versuchte ihn zu beißen, und Andrej drehte hastig das Gesicht weg, bevor er ein Ohr einbüßte.

Hinter ihm lachte Abu Dun leise. »Braucht Ihr Hilfe, Sahib?«, fragte er spöttisch.

Andrej schluckte einen Fluch hinunter, bugsierte sich in eine Position, in der er das zappelnde Bündel unter sich zuverlässig festhalten konnte, ohne dabei ein Auge, ein Ohr oder irgendwelche anderen Körperteile zu verletzen, und presste ihre Hände mit noch größerer Kraft gegen den Boden.

Die Zigeunerin tobte noch einige Sekunden weiter, dann erschlaffte sie plötzlich, als hätte der jähe Ausbruch von Gewalt all ihre Energie aufgezehrt.

Im ersten Moment befürchtete Andrej schon, sie könne wieder in jenen Zustand dumpfen Brütens zurückfallen, in dem sie bisher gewesen war, aber ihr Blick blieb klar. Und auch die Angst war noch immer in ihren Augen.

»Hast du dich jetzt beruhigt?«, fragte er. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind deine Freunde.«

»Du ... du tust mir weh«, antwortete das Mädchen.

»Wenn du mir versprichst, nicht wieder auf mich loszugehen, dann lasse ich dich los«, antwortete Andrej. »Einverstanden?«

Die Zigeunerin zögerte für sein Empfinden eine Winzigkeit zu lange, bevor sie endlich nickte. Dann aber tat sie es, und Andrej ließ vorsichtig ihre Hände los und stand auf. Sofort richtete sie sich in eine sitzende Position auf, sah sich hastig nach allen Seiten um und rutschte dann weit genug zurück, um sich an einen Baum lehnen zu können. Sie zog angstvoll die Knie an den Körper und schlang die Arme um den Leib. Vielleicht glaubte sie ihm ja, dachte Andrej, aber das änderte nichts daran, dass sie noch immer halb von Sinnen vor Furcht war. Erneut ergriff ihn ein kalter Zorn auf die Menschen, die ihr das angetan hatten, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie etwas verkörperte, was sie nicht verstanden.

»Wie ist dein Name, Kind?«, fragte er.

»Alessa«, antwortete die Zigeunerin.

»Alessa. Ein hübscher Name. Ich bin Andrej, und das da ist Abu Dun.« Er lächelte flüchtig, als Alessa in Abu Duns Richtung sah und bei seinem Anblick erneut zusammenzuckte. »Keine Angst. Er sieht nur bedrohlich aus. Dir wird er nichts tun. Wir sind deine Freunde.«

Alessas Blick wanderte unsicher von einem zum anderen. Sie hatte immer noch Angst. Vielleicht würde sie den Rest ihres Lebens in Angst verbringen.

Und ihr Anblick gefiel ihm auch in anderer Hinsicht nicht.

Sie sah nicht gut aus. Weit über die Spuren der Verletzungen hinaus, die man ihr zugefügt hatte, wirkte sie ... krank. Und das war eigentlich unmöglich.

Wesen wie sie wurden nicht krank. Niemals.

»Sag es ihr«, verlangte Abu Dun auf Arabisch, seiner Muttersprache, die Andrej in den letzten Jahren von ihm gelernt hatte. »Sag ihr, was passiert ist.«

»Hältst du das für klug?«, erwiderte Andrej in derselben Sprache.

»Hältst du es für klug, sie zu belügen und ihr in ein paar Tagen zu erzählen, dass ihre ganze Familie umgebracht worden ist?«, fragte Abu Dun.

»Erinnerst du dich, was passiert ist?«, fragte er, leise und wieder direkt an Alessa gewandt.

Im ersten Moment reagierte sie gar nicht, sondern starrte ihn nur aus Augen an, die noch dunkler geworden zu sein schienen. Dann nickte sie ganz sacht.

»Sie sind alle tot, nicht wahr? Sie haben sie alle umgebracht. Sag es. Du brauchst mich nicht zu schonen.«

»Du hast es doch nicht etwa mit ansehen müssen?«, fragte Andrej entsetzt.

Alessa verneinte. »Ich habe ihre Schreie gehört«, sagte sie. »Und irgendwie ... konnte ich fühlen, wie sie starben. Mich haben sie sich bis zum Schluss aufgehoben. Wenn Ihr nicht gekommen wärt, dann hätten sie mich auch getötet.« Ihre Stimme wurde bitter. »Ich weiß nicht, ob ich Euch danken soll. Vielleicht wäre ich besser tot.«

»Unsinn!«, sagte Andrej. »Du bist noch jung. Du hast dein Leben noch vor dir. Der Schmerz wird vergehen.«

Er kam näher, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen, als Alessa mit neu erwachender Furcht zu ihm hochsah. »Aber jetzt erzähl uns, was geschehen ist«, bat er.

Sie blickte stumm zu Abu Dun. Andrej konnte sie sogar verstehen. Auf jeden, der Abu Dun nicht kannte, machte der Nubier einen beeindruckenden und oft genug Furcht einflößenden Eindruck. An die zwei Meter groß, massig gebaut, mit seiner ebenholzfarbenen Haut und stets ganz in Schwarz gekleidet, kam er vielen vermutlich wie der Leibhaftige vor. Als Andrej ihn kennen gelernt hatte, da war diese Einschätzung nicht einmal vollkommen falsch gewesen. Aber das war lange her. Abu Dun war noch immer ein gefährlicher Mann - vor allem für seine Feinde - aber er hatte sich geändert: Er betrachtete nicht mehr jeden als Feind, der nicht sein Freund war.

»Warum haben sie euch das angetan?«, fragte nun auch er.

»Sie haben behauptet, wir wären Hexen«, antwortete Alessa zögernd.

»Zuerst... zuerst haben sie uns in ihrem Dorf willkommen geheißen und uns sogar gestattet, unsere Zelte am Stadtrand aufzuschlagen. Aber dann ... dann fingen sie an zu reden. Mit Fingern auf uns zu zeigen und zu tuscheln. Der Pfaffe war der Schlimmste. Du hast ihn erschlagen, nicht wahr?«

Andrej nickte. Er war überrascht, dass Alessa es überhaupt bemerkt hatte.

»Wir haben uns nichts dabei gedacht«, fuhr Alessa fort. »Die Leute sind immer so, überall wo wir hinkommen. Zuerst treiben sie Handel mit uns und lassen uns Kunststücke vorführen, dann fangen sie an zu reden, und am Ende jagen sie uns davon.« Sie lachte bitter. »Weißt du, woher das Wort kommt, mit dem sie uns bezeichnen? Zigeuner?«

Andrej schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf, und auch Abu Dun hob nur die Schultern.

»Aus dem Deutschen«, sagte Alessa. »Es kommt aus dem Deutschen, und es heißt so viel wie ziehende Gauner. Und mehr sind wir auch nicht für sie.«

Andrej sah ihr deutlich an, wie Bitterkeit und die Erinnerung an das Geschehene sie zu überwältigen drohten, und um sie abzulenken, fragte er hastig: »Kommt ihr von dort? Aus dem Deutschen?«

Alessa nickte. »Wir waren dort«, sagte sie. Sie schluckte einige Male, um die Tränen niederzukämpfen. »Den ganzen vergangenen Winter über. Auch da haben sie mit Fingern auf uns gezeigt, und uns davongejagt. Aber sie haben uns wenigstens nicht verbrannt.«

»Und warum hier?«, wollte Abu Dun wissen. »Was ist vorgefallen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Alessa. »Gestern Abend haben sie uns plötzlich gefangen genommen und uns den Prozess gemacht.«

Andrej tauschte einen fragenden Blick mit Abu Dun. Warum log sie?

»Einfach so?«, fragte er. »Ohne besonderen Grund?«

»Der Pfaffe hat einige Dorfbewohner zum Schloss geschickt, und zwei Soldaten sind zu uns gekommen«, sagte Alessa - womit sie seine Frage ganz eindeutig nicht beantwortete. »Ihr habt die beiden gesehen.«

»Zum Schloss?« Abu Dun klang alarmiert. »Wo liegt dieses Schloss?«

»Nicht weit von hier.« Alessa machte eine Geste. »Auf der anderen Seite des Sees. Wäre es hell, könnten wir es von hier aus sehen.«

»Oh«, machte Andrej.

»Sind dort noch mehr Soldaten?«, fragte Abu Dun.

»Ich weiß nicht«, antwortete Alessa. »Wir waren nicht dort. Aber ich glaube schon.«

»Weiter«, sagte Andrej rasch. »Sie haben euch also den Prozess gemacht. Unter welcher Anklage?«

Alessa schwieg. Ihr Blick verriet, wie sehr es hinter ihrer Stirn arbeitete.

»Du traust uns immer noch nicht«, stellte er fest.

»Doch! Das ist es nicht, aber ...«

»Das kann ich verstehen«, fuhr Andrej mit einem Nicken fort. »Ich an deiner Stelle würde nicht anders reagieren, glaube ich. Aber ich habe etwas, um dich zu überzeugen.«

Er zog seinen Dolch. Die Augen der Zigeunerin weiteten sich erschrocken.

Statt ihr etwas anzutun, nahm Andrej das Messer jedoch in die linke Hand und zog die Klinge mit einer kraftvollen Bewegung über seinen Unterarm. Alessa keuchte und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Dann wurden ihre Augen noch größer, als sie sah, wie sich die Wunde binnen weniger Herzschläge wieder schloss. Für einen Moment war noch eine dünne, weiße Narbe zu sehen, doch auch diese verschwand.

Andrej steckte den Dolch ein und wischte sich das Blut vom Unterarm.

»Aber ... aber das ...«, stammelte Alessa. Sie starrte ihn an, dann bekreuzigte sie sich.

»Du siehst, ich kenne dein Geheimnis«, sagte Andrej. »Ich kenne es sehr gut. Ich bin genauso wie du.«

»Dann ... dann bin ich nicht die Einzige?«, murmelte Alessa. »Es gibt noch mehr Menschen wie mich?«

»Nicht sehr viele«, antwortete Andrej. Alessas Blick irrte zu Abu Dun, und Andrej schüttelte rasch den Kopf.

»Er gehört nicht dazu. Nur ich. Ich habe einige andere getroffen, aber nur wenige.« Und die meisten hatte er getötet. »Du bist nicht allein, Alessa.«

»Soll das heißen, du bist noch nie einem anderen Vam ...«, begann Abu Dun, stockte und verbesserte sich: »... einem anderen Menschen wie dir begegnet?«

Alessa sah unsicher zu ihm hoch. Andrej war sicher, dass ihr das halbe Wort, dass Abu Dun um ein Haar ausgesprochen hätte, keineswegs fremd war.

»Ich ... ich bin noch nicht ... noch nicht lange ... so«, sagte sie stockend.

Nun war Andrej an der Reihe, überrascht zu sein. Und alarmiert. »Was soll das heißen, du bist noch nicht lange so?«

Das Mädchen hob die Schultern. Ihr Blick verharrte für einen Moment auf Andrejs nun wieder unversehrtem Unterarm, als wären die Antworten auf alle Fragen dort zu lesen.

»Erst seit dem letzten Frühjahr«, sagte sie. »Ich war krank. Viele von uns sind krank geworden. Fast die Hälfte unserer Familie hat den Winter nicht überlebt, und auch ich habe eine Woche mit schwerem Fieber gelegen. Ich wäre fast gestorben. Aber nachdem ich wieder gesund war, da ... da war ich so. Es hat mir große Angst gemacht.«

»Und die anderen aus deiner Familie?«

»Ich war die Einzige, die das Fieber überlebt hat«, antwortete Alessa.

»Niemand weiß ...« Sie brach ab, starrte einen Moment an Andrej vorbei ins Leere und verbesserte sich dann: »... wusste davon. Nur meine Mutter und Anka, die Puuri Dan unserer Sippe.«

Andrej blickte sie fragend an.

»Unsere heilige Frau. Jede Sintifamilie hat eine Puuri Dan. Die Alten bewahren das Wissen.«

Andrej musste sich beherrschen, um das Mädchen nicht mit Fragen zu überschütten. Plötzlich war er sehr aufgeregt. Wissen! Was hätte er darum gegeben, endlich zu erfahren, wer er war, was er war, und vor allem, wie er dazu geworden war. Aber er zügelte seine Neugier und sagte nur: »Rede weiter, Kind.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Alessa. »Sie waren sehr erschrocken. Anka hat mir eingeschärft, mit niemandem zu reden und mein Geheimnis für mich zu behalten, und das habe ich getan. Ich war sehr vorsichtig. Niemand hat etwas bemerkt. Aber gestern Abend ...« Sie begann zu weinen. »Es war meine Schuld. Wenn ich mich nicht mit dem Messer geschnitten hätte, dann wären die anderen jetzt noch am Leben.«

Andrej legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. Ihr Herz klopfte wie rasend, und er konnte selbst durch den Stoff ihres Kleides hindurch spüren, dass ihre Haut glühte. Ihr Fieber musste noch gestiegen sein.

»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte er. »Früher oder später musste es passieren. Es ist nicht deine Schuld.«

»Anka hat gesagt, dass ich aufpassen soll«, beharrte Alessa schluchzend.

»Sie hat mich gewarnt, was passiert, wenn andere sehen, was ich bin. Selbst in unserer Sippe wusste es niemand.«

»Und was hat sie dir sonst noch über dich erzählt?«, fragte Andrej. Er konnte Abu Duns ärgerliches Stirnrunzeln geradezu körperlich spüren, aber er beachtete es nicht. Sein Herz begann vor Aufregung heftig zu klopfen.

Alessa schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Nichts?«

»Sie sagte, sie würde es mir später erklären«, antwortete Alessa leise.

»Wenn ich etwas älter wäre und es besser verstehen könnte. Sie hat nur gesagt, ich sollte mein Geheimnis für mich behalten und mich vor Blut in Acht nehmen. Ich habe das nicht verstanden.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Andrej fragend an. »Kannst du es mir erklären?«

»Ja«, sagte Andrej. »Später. Wenn du etwas älter geworden bist.« Er wartete gerade lange genug, um die Enttäuschung in Alessas Augen erkennen zu können, ehe er grinsend hinzufügte: »Morgen.«

Alessa war nun völlig verwirrt. Andrej lächelte, zog die Hand zurück und zögerte einen kurzen Moment, ehe er sich mit untergeschlagenen Beinen vollends neben sie ins Gras sinken ließ.

»Ich weiß auch nicht sehr viel mehr als du«, begann er. »Eure Puuri Dan hätte es dir sicher erklären können, aber nun, wo sie tot ist...«

»Anka ist nicht tot«, sagte Alessa.

Andrej hob mit einem Ruck den Kopf. »Was sagst du da?«

»Jedenfalls war sie es im Frühjahr noch nicht«, antwortete Alessa. Ihre Tränen waren versiegt, und sie zog lautstark die Nase hoch. »Sie war alt, und die Reise war ihr wohl zu anstrengend. Wir wollten im Herbst wieder zu ihr zurückkehren.«

»Wohin?«, schnappte Andrej.

Alessa dachte einen Moment angestrengt nach und hob dann die Schultern.

»Ich weiß nicht mehr genau, wie der Ort hieß. Es war irgendwo im Bayerischen, vielleicht einen Tag von der Grenze entfernt. Wir wollten uns im Herbst dort wieder treffen.«

»Und du bist sicher, dass sie noch lebt?«

»Sie ist sehr alt«, antwortete Alessa zögernd und hob abermals die Schultern. »Aber eigentlich war sie gesund. Nur alt.« Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich habe Durst.«

Andrej stand auf, ging zu seinem Pferd und kam mit seiner Wasserflasche zurück. Alessas Hände zitterten, als sie nach der ledernen Flasche griffen, und sie leerte sie fast zu Gänze.

»Hast du dieses Fieber öfter?«, fragte Andrej, als er die Flasche zurücknahm.

Alessa schüttelte den Kopf. »Ich war nicht mehr krank seit dem letzten Winter.«

»Sorge dich nicht«, sagte Andrej mit einer Zuversicht, die er ganz und gar nicht empfand. Er machte sich Sorgen. Große Sorgen. Dennoch fuhr er fort: »Du wirst dich erholen. Wahrscheinlich ist morgen schon wieder alles in Ordnung. Versuch ein bisschen zu schlafen. Das wirkt manchmal Wunder.«

Alessa nickte dankbar und rollte sich gehorsam im Gras zusammen. Sie schlief sofort ein. Andrej sah lange Zeit wortlos auf sie herab, ehe er seinen Mantel von den Schultern löste und sie damit zudeckte. Dann ging er zum See, um seine Wasserflasche zu füllen.

Abu Dun folgte ihm. Als Andrej am Ufer niederkniete und die Flasche ins Wasser tauchte, fragte er: »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, ihr werdet nicht krank.«

Andrej hob die Schultern. »Nichts«, sagte er. »Vielleicht ist sie einfach noch nie zuvor so schwer verletzt worden.«

»Unsinn«, widersprach Abu Dun heftig. »Du selbst bist...«

»Auch meine Wunden heilen heute schneller als vor zehn Jahren«, unterbrach ihn Andrej. »Vielleicht werden wir immer stärker, je länger wir ...« Er zögerte. »Je länger wir sind, was wir sind.«

Irgendetwas sagte ihm, dass das nicht die Erklärung war. Es entsprach seinen Erfahrungen, aber es war nicht die Erklärung für Alessas Zustand, der ihm weit mehr Sorgen bereitete, als er Abu Dun gegenüber zugeben wollte.

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Abu Dun.

»Wir lassen sie eine Weile schlafen, dann reiten wir weiter.« Andrej verschloss die Flasche und stand auf.

»Es ist vielleicht nicht so klug, bei Tagesanbruch in Sichtweite dieses Schlosses zu sein, von dem sie gesprochen hat, o du begnadetster aller Fährtenleser.«

»Ich bin keine Eule, die in der Nacht sehen kann.« Abu Dun schürzte beleidigt die Lippen. »Das habe ich mit meiner Frage aber auch nicht gemeint.«

»Sondern?«

»Du weißt ganz genau, wovon ich rede«, antwortete Abu Dun mit einer verärgerten Kopfbewegung auf das schlafende Mädchen. »Manchmal ist es ganz leicht, deine Gedanken zu lesen. Im Moment leuchten sie dir regelrecht aus den Augen. Du würdest am liebsten jetzt gleich losreiten, um nach dieser alten Frau zu suchen, habe ich Recht?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Später ist es immer noch früh genug.«

Abu Dun seufzte. »Spiel keine Spielchen mit mir, Hexenmeister. Dazu bin ich zu müde.«

»Ein Grund mehr, ein wenig zu schlafen«, versetzte Andrej. »Sobald es hell wird, reiten wir weiter, und dann können wir immer noch entscheiden, wohin. Wer weiß, vielleicht findest du ja bei Tageslicht sogar aus diesem Wald heraus.«

Abu Dun starrte ihn feindselig an, dann drehte er sich um und ging. Schon nach wenigen Schritten war er in seiner schwarzen Kleidung mit der Nacht verschmolzen. Andrej überzeugte sich noch einmal davon, dass Alessa tief schlief, dann entfernte auch er sich ein paar Schritte und streckte sich im Gras aus. Es war kalt. Er fror, und während er einschlief, dachte er voller Bedauern an den Mantel, den er in einer plötzlichen Anwandlung von Ritterlichkeit über dem schlafenden Mädchen ausgebreitet hatte.

Aber es war eine seltsam wohltuende Art von Bedauern.

Er war nicht mehr allein.

Abu Dun weckte ihn. Noch bevor Andrej die Augen aufschlug, wusste er, dass es noch immer tiefste Nacht war, und er spürte, dass etwas nicht stimmte.

Mit einem Ruck öffnete er die Augen.

Das Gesicht des Nubiers schwebte über ihm, schwärzer als der Nachthimmel und von einem Ernst erfüllt, den Andrej schon lange nicht mehr darin erblickt hatte.

»Alessa«, sagte er.

Andrej sprang so hastig in die Höhe, dass Abu Dun zurückprallte und ungeschickt auf dem Hinterteil landete. Mit zwei gewaltigen Sätzen war Andrej bei dem Zigeunermädchen und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen.

Alessa lag auf der Seite und schien zu schlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein friedlich entspannter, fast schon glücklicher Ausdruck. Sie atmete nicht, und als Andrej die Hand ausstreckte und sie an der Schulter berührte, spürte er, wie kalt ihre Haut war.

Hinter ihm stemmte sich Abu Dun ächzend in die Höhe und kam dann zögernd näher.

»Es tut mir so Leid«, murmelte er. »Aber sie war schon lange tot, als ich aufgewacht bin. Ich glaube nicht, dass sie gelitten hat. Wahrscheinlich hat sie gar nichts gespürt.«

Andrej hörte nicht einmal hin. Seine Hand lag noch immer auf Alessas Schulter, und die Kälte ihrer Haut schien mit jedem Herzschlag, auf den er vergeblich wartete, zuzunehmen. Er fühlte sich wie gelähmt. Es war unmöglich. Sie konnte nicht tot sein! Menschen dieser Art starben nicht einfach so! Niemals! Niemals!

»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Abu Dun. Er ließ sich neben Andrej in die Hocke sinken und versuchte seine Hand von Alessas Schulter zu lösen.

Andrej stieß ihn weg. Es war unmöglich! Es konnte einfach nicht sein!

Der Nubier richtete sich wieder auf, hielt aber jetzt einen respektvollen Abstand zu ihm ein. Er sprach nicht mehr, sondern wartete geduldig, bis Andrej von sich aus das quälende Schweigen brach.

Es dauerte lange, sehr lange. Andrej konnte hinterher nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, bis er endlich aus seiner Starre erwacht war und die Hand vom Körper des toten Mädchens gelöst hatte. Als er sich aufrichtete, schmerzten seine Muskeln vor Verspannung. Abu Dun saß ein halbes Dutzend Schritte entfernt an einen Baum gelehnt und kaute auf einem Stück Fladenbrot herum, das er aus seiner Satteltasche geholt hatte. Dieser Anblick versetzte Andrej in rasende Wut. Dass Abu Dun jetzt aß, kam ihm würdelos vor.

Der Nubier schien seine Gedanken zu erraten, denn er ließ sofort das Brot sinken, schluckte den letzten Bissen hinunter und stand auf. »Wir müssen sie begraben«, sagte er.

Andrejs Zorn war schon wieder verraucht. Er sah auf das tote Mädchen hinab und nickte. Er fühlte sich leer. Das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen war, das er beim Aufwachen gehabt hatte, hatte sich bewahrheitet. Er hatte Alessas Nähe in sich gespürt, so wie er stets die Nähe eines anderen Unsterblichen gespürt hatte. Nun war dieses Gefühl fort, und in ihm herrschte eine tiefe, fast körperlich schmerzende Leere. Mit Alessa schien ein Teil von ihm gestorben zu sein.

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte er. »Warum?«

Abu Dun zuckte nur mit den Schultern. Wenn Andrej es nicht wusste, woher sollte der Nubier die Antwort kennen?

Immerhin versuchte er, eine Erklärung zu finden. »Wir wissen nicht genau, was sie ihr angetan haben«, sagte er mit leiser, mitfühlender Stimme.

»Vielleicht haben sie sie vergiftet.«

»Man kann uns nicht vergiften«, sagte Andrej.

»Immerhin kannst du dich betrinken, wie du oft genug bewiesen hast«, sagte Abu Dun trocken. »Das ist auch eine Art von Vergiftung, oder?«

»Bitte, Abu Dun«, sagte Andrej leise. »Mir ist nicht nach Scherzen.«

»Das sollte auch kein Scherz sein«, antwortete der Nubier. »Wenn es etwas gibt, das dich umbringen kann, dann interessiert es mich. Dich sollte es übrigens auch interessieren.«

Andrej fuhr mit einer zornigen Bewegung herum und funkelte ihn an. »Abu Dun!«

Abu Dun versuchte sich in ein Lächeln zu retten, das aber reichlich verunglückt ausfiel. Endlich nickte er.

»Ich begrabe sie. Und danach sollten wir von hier verschwinden. Wir sollten möglichst weit weg sein, wenn es hell wird.«

Sie beerdigten Alessa mit Andrejs Mantel in einer flachen Grube, die Abu Dun im Wald ausgehoben hatte. Der Nubier hatte gewollt, dass sie ihren Körper nur mit Steinen bedeckten, um Zeit zu gewinnen, aber Andrej hatte dieses Ansinnen empört abgelehnt. Der Gedanke, dass wilde Tiere den Körper des Mädchens finden und anfressen konnten, war ihm schlichtweg unerträglich - ganz davon abgesehen, dass die Gefahr bestand, dass der Leichnam gefunden werden und eventuelle Verfolger auf ihre Spur bringen konnte.

Dass es Verfolger geben würde, das bezweifelten weder Abu Dun noch Andrej. Ganz bestimmt waren die Dörfler in ihrer Panik zum Schloss gerannt, um Beistand gegen die Dämonen zu erflehen, die sie so feige und vollkommen grundlos angegriffen hatten, falls man im Schloss nicht ohnehin den Feuerschein gesehen und Truppen losgeschickt hatte. Andrej fürchtete sie nicht. Wenn die beiden Männer, die er im Dorf erschlagen hatte, die Schlagkraft der Truppen widerspiegelten, dann würden Abu Dun und er auch mit einem Dutzend von ihnen fertig werden. Aber sie konnten sich keinen Kampf leisten. Sie hatten Siebenbürgen verlassen, um endlich ein ruhiges Leben zu führen und vielleicht sogar Frieden zu finden, nicht, um eine Spur aus Blut hinter sich herzuziehen. Andrej hatte sich längst eingestanden, dass sein überstürzter Rettungsversuch vom vergangenen Abend ein schwerer Fehler gewesen war. Abu Dun und er waren so auffällig, dass die Kunde dessen, was sie getan hatten, ihnen zweifellos über Tage vorauseilen würde - und zweifellos würde das, was sie den unschuldigen Menschen angetan hatten, mit jedem Mal düsterer ausgeschmückt werden, wenn jemand die Geschichte weitererzählte.

Vermutlich würden sie das Land verlassen müssen, bevor sie sich wieder einigermaßen sicher unter Menschen wagen konnten.

Sie folgten dem Ufer des Sees in westlicher Richtung, bis sie auf eine Straße stießen. Andrej war dagegen, ihr zu folgen, aber diesmal war es Abu Dun, der sich durchsetzte. Es war tiefste Nacht. Nirgendwo war ein Licht oder irgendein anderes Zeichen menschlichen Lebens zu sehen, und bis die Sonne aufging, würde noch viel Zeit vergehen. Zeit, in der sie auf der gepflasterten Straße ungleich schneller vorwärts kommen würden als im Wald. Sollten sie auf eine Ortschaft stoßen, so konnten sie die Straße immer noch verlassen und sich wieder in die Wälder schlagen. Abu Duns Ausführungen waren zu zwingend, um ihnen widersprechen zu können, und so willigte Andrej schließlich ein.

Er hätte auch gar nicht die Kraft gehabt, sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Nubier einzulassen. Noch immer fühlte er sich leer und so erschöpft, als kämen sie aus einer Schlacht. Er empfand keine wirkliche Trauer über Alessas Tod - dazu hatte er sie nicht gut genug gekannt - aber er war auf eine Weise enttäuscht, die er sich vorher nicht einmal hätte vorstellen können.

Enttäuscht und beunruhigt. Auch wenn er Abu Duns Worte einfach weggewischt hatte, so enthielten sie doch ein Furcht einflößendes Maß an Wahrheit. Wenn es etwas gab, das in der Lage gewesen war, dieses Mädchen zu töten, dann sollte er dem auf den Grund gehen.

Sie ritten, bis sich das erste Grau der Dämmerung am Horizont zeigte, dann zogen sie sich wieder in die Wälder zurück. Die Sterne waren längst verblasst, als sie endlich aus den Sätteln stiegen und ihre Pferde festbanden.

»Eigentlich bin ich noch gar nicht müde«, sagte Andrej, während er seinen Sattel vom Rücken des Pferdes wuchtete und ein Gähnen unterdrückte. »Wir könnten auch weiterreiten.«

»Das ist keine gute Idee«, erwiderte Abu Dun. »Während der nächsten Tage sollten wir lieber nur nachts reiten. Wahrscheinlich ist jetzt schon das ganze Land in Aufruhr und sucht nach uns.«

»Und du meinst, das tun sie nachts nicht?«

»Ich kenne mich in der Dunkelheit aus«, erwiderte Abu Dun in einer Schärfe, die keinen Widerspruch zu dulden schien. »Außerdem wäre es unklug, blind in der Gegend herumzustolpern. Wir müssen uns orientieren und darüber nachdenken, wohin wir gehen.«

»Ich weiß, wohin ich gehe«, antwortete Andrej. Er legte seinen Sattel ins taufeuchte Gras und dachte voller Bedauern an seinen Mantel zurück, in dem sie Alessa beerdigt hatten.

Abu Dun zog die Augenbrauen zusammen. Die Art, in der Andrej das Wort ich betont hatte, war ihm nicht entgangen.

»Das habe ich befürchtet«, grollte er.

»Was?«

»Lass mich raten«, sagte Abu Dun scharf, »dein Ziel liegt im Norden und Westen. Du willst diese Zigeunerin finden.«

»Manchmal bist du mir unheimlich, Pirat«, antwortete Andrej in nicht ganz so scherzhaftem Ton, wie er eigentlich beabsichtigt hatte. »Liest du meine Gedanken?«

»Ja«, schnappte Abu Dun. »Vor allem, wenn sie so verrückt sind wie jetzt!«

Andrej streckte sich im Gras aus und versuchte, seinen Hinterkopf in eine einigermaßen bequeme Stellung auf dem Sattel zu legen. Es gelang ihm nicht.

»Ich bin nicht müde«, sagte er. »Und ich hätte eigentlich erwartet, dass du mich verstehst. Ich muss diese alte Frau finden.«

»Wozu?« Abu Dun lachte rau. »Glaubst du, du müsstest nur zu ihr gehen, und sie würde dir ...«

»... erklären, was ich bin, ja«, unterbrach ihn Andrej. »Genau das glaube ich.«

»Du bist verrückt!«

»Ich wäre verrückt, wenn ich es nicht versuchen würde!«, widersprach Andrej. Er setzte sich auf. »Seit mehr als zehn Jahren versuche ich herauszufinden, was mit mir geschehen ist, Abu Dun! Was ich bin, und warum sich das Schicksal diesen bösen Scherz mit mir erlaubt hat! Niemand weiß etwas! Die wenigen anderen Menschen, auf die ich gestoßen bin, und die so waren wie ich, sind entweder verschwunden oder haben versucht mich umzubringen! Diese alte Frau ist vielleicht die Einzige, die mir meine Fragen beantworten kann!«

»Wahrscheinlich wird sie nur irgendein abergläubisches Gewäsch von sich geben, wie alle anderen«, sagte Abu Dun.

»Alessa hätte sie die Wahrheit gesagt.«

»Alessa«, antwortete Abu Dun, »hat möglicherweise gelogen, weil sie Angst vor uns hatte. Oder sie hat im Fieber gesprochen. Oder diese alte Zigeunerin hat sie auf später vertröstet, weil sie ihre Fragen auch nicht hätte beantworten können - hast du darüber schon einmal nachgedacht?«

»Ja«, sagte Andrej, »das habe ich. Es gibt sicher noch tausend andere Gründe, nicht zu gehen. Du hast Recht, Abu Dun, tausendmal Recht. Aber ich muss es versuchen. Es ist die einzige Möglichkeit, vielleicht endlich zu verstehen, was mit mir geschieht.«

Abu Dun seufzte. »Und ich dachte, es wäre endlich vorbei«, murmelte er.

»Aber du hast nur eine Besessenheit gegen die andere getauscht, scheint mir.«

Das stimmte nicht. Jedes Wort, das Andrej gesagt hatte, entsprach der Wahrheit, aber dazu kam noch etwas, das er Abu Dun in diesem Moment unmöglich sagen konnte. Wenn er mehr über sich erfuhr, wenn er endlich begriff, was und wer er war, dann würde er vielleicht Maria wiederfinden.

»Der Weg ist sehr weit - und nicht ungefährlich.« Abu Dun gab sich immer noch nicht geschlagen. »Wir würden Wochen brauchen, wenn nicht Monate, und wir wissen nicht einmal genau, wo wir suchen sollen! Das Mädchen hat uns keine Stadt genannt. Eine alte Zigeunerin namens Anka, irgendwo im Bayerischen, eine Stunde von der Grenze entfernt! Weißt du, was für ein riesiges Gebiet das ist, du Narr? Wir können ein Jahr lang suchen, ohne sie zu finden. Falls sie überhaupt noch lebt.«

»Du musst mich nicht begleiten«, sagte Andrej ruhig. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns trennen.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ich meine es ernst, Abu Dun«, unterbrach ihn Andrej. »Meine Freundschaft bringt den Tod. Wenn du noch ein wenig leben willst, dann solltest du vielleicht nicht mit mir kommen.«

»Wenn dich schon niemand bedauert, dann wenigstens du selber, wie?«, antwortete Abu Dun finster. Er schüttelte den Kopf. »Wohin sollte ich schon gehen? Wenn ich hier bleibe, ende ich auf dem Scheiterhaufen, dafür hast du ja gesorgt. Und wenn ich zurückgehe, begegne ich früher oder später meinen Landsleuten, die dabei sind, euer verfluchtes Christenreich Stück für Stück zu erobern. Sie sind auch nicht gerade gut auf mich zu sprechen.«

»Trotzdem solltest du ...«

»Ich sollte dich begleiten!«, sagte Abu Dun entschieden. »Du überlebst doch keine zwei Tage, wenn ich nicht auf dich aufpasse. Aber ich bleibe dabei, dass es Wahnsinn ist!«

»Habe ich je das Gegenteil behauptet?«, fragte Andrej.

Abu Dun schüttelte den Kopf.

Sie brauchten nicht Monate, wie Abu Dun befürchtet hatte, aber mehr als fünf Wochen, von denen sie anfangs noch dem Lauf der Donau folgten, der sie getreulich nach Norden führte. Dann aber wichen sie vom direkten Weg ab, um einen großen Bogen um Wien zu schlagen. Die Nachrichten über das, was in Vater Carols Ort geschehen war, waren längst hinter ihnen zurückgeblieben und würden bald vergessen sein. Oder zu einer der zahllosen Schreckensgeschichten verblassen, die die Menschen sich abends am Feuer erzählten, um sich an dem wohligen Schauer zu erfreuen, der einen überkommt, wenn man vom Unglück anderer hört, während man sich selbst in Sicherheit weiß. Aber andere, kaum weniger schlechte Nachrichten, holten sie ein und warteten vielerorts bereits auf sie; Neuigkeiten vom Krieg, die Andrej mit tiefer Beunruhigung erfüllten. Der Vormarsch der Türken war ungebrochen.

Noch waren ihre Heere nicht in diesen Teil des Landes vorgedrungen, aber die Kunde von ihren angeblichen Gräueltaten eilte ihnen weit voraus, und dass Abu Dun kein Türke war und selbst vor ihnen auf der Flucht, stand ihm schließlich nicht auf die Stirn geschrieben. Menschen mit dunklen Gesichtern, die Turbane trugen, waren in Zeiten wie diesen nicht sonderlich beliebt. Andrej schlug vor, zumindest die großen Städte zu umgehen, und Abu Dun hatte nichts dagegen einzuwenden.

Sie überschritten die Grenze in der Nähe eines kleinen Ortes, der bereits den deutschen Namen Kuschenwalde trug, aber noch nicht auf deutschem Boden lag, und als sie den unauffälligen Grenzstein am Wegesrand passiert hatten, zügelte Abu Dun sein Pferd und sagte: »Irgendwo im Bayerischen. Da sind wir.«

Andrej antwortete nicht gleich, sondern erst nach einer geraumen Weile. Zu seiner großen Überraschung hatte Abu Dun während der gesamten Reise darauf verzichtet, ihn noch einmal auf die vermeintliche Sinnlosigkeit dieser Mission anzusprechen; aber natürlich hatte er gewusst, dass dieser Moment kommen würde, und versucht, sich entsprechend darauf vorzubereiten. Statt all der geschliffenen und wohlfeilen Worte jedoch, die er sich zurechtgelegt hatte, sagte er ziemlich lahm: »Das ist wohl mehr das Fränkische hier. Wir haben noch ein gutes Stück vor uns. Eine Woche, wenn nichts dazwischenkommt. Vielleicht etwas mehr.«

»Wie beruhigend«, sagte Abu Dun spöttisch. »Dann haben wir ja noch eine Woche Zeit, bevor wir anfangen, unsere Zeit zu verschwenden.«

»Ich schlage vor, wir suchen uns erst einmal eine Herberge, um eine vernünftige Mahlzeit zu bekommen«, sagte Andrej. »Und gegen eine Nacht in einem sauberen weichen Bett hätte ich auch nicht unbedingt etwas einzuwenden. Du?«

»Wenn wir es bezahlen können.«

Abu Duns Antwort erinnerte Andrej schmerzhaft daran, wie beunruhigend schnell ihre Barschaft in den letzten Wochen zusammengeschmolzen war. Sie waren - aus naheliegenden Gründen - nur selten in Gasthäusern eingekehrt und hatten nur zu oft unter freiem Himmel geschlafen und sich von dem ernährt, was ihnen die Wälder und die Natur lieferten, sodass die Reise nur wenig Geld gekostet hatte - aber sie hatte Geld gekostet, und sie war lang gewesen. So bedeutungslos dieser Umstand, nach allem, was hinter ihnen lag, auch sein mochte: Sie waren nahezu mittellos, und es wurde allmählich Zeit, dass sie sich Gedanken darüber machten, wie sie ihre zusammengeschmolzene Barschaft wieder aufbessern konnten. Abu Dun hatte auch schon einige Vorschläge gemacht, die Andrej aber allesamt abgelehnt hatte, denn es war genau die Art von Vorschlägen gewesen, wie er sie von einem ehemaligen Piraten und Sklavenhändler erwartet hatte.

»Wir könnten auf dem nächsten Jahrmarkt auftreten«, spottete nun Andrej.

»Und womit?«

»Wir könnten kämpfen«, antwortete Andrej. »Ich bin sicher, die Leute bezahlen gerne dafür, zusehen zu dürfen, wie ein Muselmane geschlachtet wird.«

Abu Dun zog eine Grimasse, war aber klug genug, auf eine Antwort zu verzichten. Andrej hingegen fragte sich, ob er möglicherweise einen gar nicht so dummen Vorschlag gemacht hatte, ohne es zu beabsichtigen. Sie waren immerhin auf der Suche nach einer Zigeunerin - und wo sollte man mit dieser Suche beginnen, wenn nicht beim fahrenden Volk?

Sie ritten weiter. Eine kalte Brise schlug ihnen ins Gesicht, als solle ihnen klargemacht werden, dass sie in diesem Land nicht willkommen waren. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und der Herbst versprach früh und kalt zu kommen.

Eine Weile folgten sie der nur teilweise gepflasterten Straße, die sich in manchmal vollkommen sinnlos scheinenden Kehren und Windungen in ein lang gestrecktes Tal schlängelte, in dem sich eine lockere Ansammlung von Häusern und vereinzelt stehenden Gehöften befand; zu weit auseinander gezogen, um eine richtige Ortschaft zu bilden, aber trotzdem mit einer Kirche in der Mitte und einem großzügig bemessenen Dorfplatz ausgestattet. Es waren hübsche, saubere Gebäude mit weiß gestrichenen Wänden und roten und schwarzen Schindeldächern. Die größtenteils schon abgeernteten Felder, die sich an die Hänge schmiegten, machten allesamt einen ordentlichen Eindruck. Dennoch erfüllte der Anblick Andrej mit Unbehagen.

Abu Dun schien es ganz ähnlich zu ergehen, denn er knurrte leise: »Das gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht«, sagte Andrej. »Aber jetzt frag mich nicht, warum.«

»Weil es eine Falle ist«, erklärte Abu Dun. »Sieh dir dieses Rattenloch an! Niemand kommt dort raus, wenn die da unten es nicht wollen.«

Zweifellos war es ursprünglich anders geplant worden, überlegte Andrej.

Man musste schon ein so geschultes Auge haben wie Abu Dun, aber einmal darauf aufmerksam geworden, war es nicht zu übersehen: Das Tal bildete eine natürliche Festung, die auch von wenigen Verteidigern lange gegen eine Übermacht gehalten werden konnte. Aber wenn die Bewohner des Dorfes dort unten jemanden in ihrem Tal festhalten wollten, dann konnten sie es tun.

Aber warum sollten sie es tun?, dachte Andrej. Die Leute dort unten kannten sie nicht, und sie hatten somit auch keinen Grund, sie zu fürchten.

Sie mussten aufhören, nur an Jagd und Flucht zu denken. Letzten Endes hatten sie Transsylvanien und Siebenbürgen verlassen, weil sie des Lebens als ständig Gejagte überdrüssig waren.

Sie näherten sich dem Dorf nur langsam, und Andrej legte auch keinen besonderen Wert darauf, sich unauffällig zu benehmen. Ganz im Gegenteil: Die Menschen dort unten sollten ruhig sehen, dass sie furchtlos kamen und sich nicht etwa anschlichen.

Seltsamerweise kam ihnen niemand entgegen, als sie das erste Haus erreichten und daran vorbeiritten. Keine neugierigen Kinder liefen ihnen entgegen oder rannten ein Stück hinter ihnen her, keine ängstlichen Frauen lugten durch Fensterläden oder durch Türritzen zu ihnen heraus, keine Männer unterbrachen ihr Tagewerk, um sie misstrauisch zu beäugen. Zumindest der kleine Teil des Ortes, den sie von hier aus überblicken konnten, schien wie ausgestorben zu sein. Aber von der Höhe des Berghanges aus hatte Andrej Bewegungen wahrgenommen, und aus einigen Kaminen kräuselte sich Rauch.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Abu Dun zum wiederholten Male. »Wo sind die Leute?«

»Vielleicht ist ihnen bei deinem Anblick so sehr der Schrecken in die Knochen gefahren, dass sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen haben«, erwiderte Andrej spöttisch.

Abu Dun lachte nicht. Sein Blick tastete sich ebenso misstrauisch wie aufmerksam nach rechts und links, und seine Hand legte sich auf den Griff des Krummsäbels, den er anders als sonst an der rechten Seite trug, obwohl er kein Linkshänder war.

»Das gefällt mir nicht«, sagte er noch einmal.

Die unheimliche Stille, die sie umgab, änderte sich nicht, bis sie den gepflasterten Platz in der Mitte des Dorfes erreichten. Hier standen die Häuser ein wenig dichter. Sie bildeten einen fast geschlossenen Dreiviertel-Kreis, in dessen Mitte sich eine weiß getünchte Kirche mit einem schlanken Glockenturm erhob. Das zweiflügelige Tor stand weit offen, sodass Andrej erkennen konnte, dass der Raum dahinter ebenfalls leer war. Aber nun wusste Andrej, dass sie nicht mehr allein waren. Abu Dun sah oder hörte mit Sicherheit nichts von der Falle, in die sie sehenden Auges hineingeritten waren, aber Andrejs übermenschlich scharfen Sinnen entgingen die winzigen verräterischen Zeichen menschlichen Lebens keineswegs. Ein leises, aber hörbares Atmen da, das Rascheln von Stoff dort, ein Schleifen von Metall oder das Knarren einer Bodendiele ...

»Sie sind da«, sagte er leise und ohne sich zu Abu Dun herumzudrehen.

»Ich weiß«, antwortete der Nubier ebenso leise und nahezu ohne die Lippen zu bewegen.

»Woher?«

»Wenn sie nicht hier sind, dann sind sie nirgendwo«, antwortete Abu Dun. »Ich würde mich genau hier verstecken, wenn ich einem Dummkopf auflauern wollte, der direkt in eine Falle läuft, obwohl ihn sein Freund davor gewarnt hat.«

Andrej warf ihm einen schrägen Blick zu, lenkte sein Pferd bis in die Mitte des Dorfplatzes und hielt an. Nachdem auch Abu Dun neben ihm zum Stehen gekommen war, richtete er sich im Sattel auf, sah sich nach allen Seiten um und rief dann mit hoch erhobener, klarer Stimme: »Ihr könnt ruhig herauskommen! Wir wissen, dass ihr hier seid! Wir wollen euch nichts zu Leide tun!«

»Aber sie vielleicht uns«, murmelte Abu Dun. Sein Blick tastete sich weiter misstrauisch und unstet über die Häuser, die den Dorfplatz säumten. Er nahm zwar die Hand vom Schwert, wirkte aber noch immer angespannt und aufs Höchste konzentriert.

Es verging noch eine geraume Weile, in der rein gar nichts geschah, und Andrej fing gerade an, sich Sorgen zu machen, aber dann wurde eine Tür geöffnet, und ein Mann mittleren Alters und ein halbwüchsiger Knabe traten heraus. Beide wirkten angespannt, und sie sahen ihn und insbesondere Abu Dun mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an, die für Andrejs Empfinden weit über die normale Vorsicht hinausging, die man Fremden gegenüber walten ließ. Andererseits wusste er wenig über dieses Land und noch weniger über seine Bewohner.

Er wollte sein Pferd herumdrehen, um sich den beiden zu nähern, aber Abu Dun schüttelte den Kopf und deutete dann in die entgegengesetzte Richtung, zur Kirche hin. Als Andrej sich im Sattel herumdrehte, erkannte er eine schmalschultrige Gestalt, die eine zerschlissene Mönchskutte trug und unter dem Kirchenportal aufgetaucht war. Der Geistliche war ihm ein gutes Stück näher als die beiden anderen, sodass er sein Gesicht deutlicher erkennen konnte. Er war uralt und hatte dünnes, schmutziggraues Haar. Um den Hals trug er ein hölzernes Kreuz, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war eindeutig als Feindseligkeit zu erkennen.

Trotzdem stieg Andrej vom Pferd, warf Abu Dun einen mahnenden Blick zu, sich nicht von der Stelle zu rühren, und näherte sich mit langsamen Schritten der Kirche. Die Blicke des greisen Mönches ließen ihn keinen Augenblick los. Gleichzeitig hörte er Geräusche hinter sich. Ohne sich herumdrehen zu müssen, wusste er, dass weitere Dorfbewohner aus ihren Häusern getreten waren.

Andrej blieb stehen, als er den Fuß der aus drei Stufen bestehenden Treppe erreicht hatte.

»Wer seid Ihr?«, fragte der Alte, ohne sich mit einer Begrüßung oder irgendeiner Höflichkeitsfloskel aufzuhalten.

»Mein Name ist Andrej«, antwortete der Angesprochene. Er konnte die Feindseligkeit des Mönches fast körperlich spüren. Möglicherweise hatte Abu Dun Recht gehabt. Sie hätten nicht herkommen sollen. Trotzdem fuhr er mit einem Lächeln und einer Geste auf den Nubier fort: »Das ist Abu Dun. Wir ...«

»Und was seid Ihr?«, fiel ihm der Alte ins Wort. Andrej konnte hören, wie noch mehr Menschen ihre Häuser verließen und ins Freie traten. Abu Duns Pferd begann unruhig mit den Hufen zu scharren.

»Wir sind nur Reisende«, sagte er. »Wir führen nichts Böses im Schilde.«

Die Augen des Alten wurden schmal, und Andrej hatte das sichere Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.

»Wie kommt Ihr darauf, dass ich das annehme?«, fragte er.

Da der Geistliche offenbar nicht viel von überflüssigen Worten hielt, beschloss Andrej, auch direkter zu werden. »Ihr seid nicht besonders erfreut von unserer Anwesenheit, scheint mir. Dabei habe ich gehört, dass Gastfreundschaft zu einer der vornehmsten Tugenden Eures Landes gehört.«

Der letzte Satz war eine glatte Lüge. Er hatte das Gegenteil gehört, und die letzten Wochen hatten dies auch bewiesen. Je weiter sie nach Norden gekommen waren, desto stärker hatte die Gastfreundschaft der Menschen ab- und ihr Misstrauen Fremden gegenüber zugenommen. Andrej war verwundert darüber. Immerhin kamen sie aus einem Land, in dem seit zehn Jahren Krieg herrschte, in eines, in dem die Menschen wenigstens einigermaßen in Frieden leben konnten.

»Es wird sich zeigen, wie sehr wir von Eurem Besuch erfreut sind«, antwortete der Mönch. »Ihr seid Reisende, sagt Ihr? Woher kommt Ihr? Wohin seid Ihr unterwegs, und warum?«

Andrej fand nicht, dass das den Alten irgendetwas anging. Die Menschen hier hatten möglicherweise Schlimmes mit Fremden erlebt. Vielleicht waren sie auch nur in einem ungünstigen Moment gekommen. Er setzte dazu an, seinem Gegenüber eine höfliche, aber entschiedene Antwort zukommen zu lassen, als er Schritte hinter sich hörte, und eine tiefe Stimme sagte: »Lass es gut sein, Vater Ludowig. Ich glaube, sie sind harmlos.«

Andrej drehte sich um und musste überrascht den Kopf in den Nacken legen, um in das Gesicht des Mannes blicken zu können, der hinter ihm aufgetaucht war. Er war fast so groß wie Abu Dun, allerdings viel schlanker, und er hatte ein breitflächiges Gesicht mit buschigen Brauen, dem aber trotzdem etwas sehr Offenes anhaftete. Der Blick, mit dem er Andrej maß, war aufmerksam und ein wenig abschätzend, aber ohne Misstrauen und frei von der Feindseligkeit, die er in Ludowigs Augen gesehen hatte.

»Ich bin Birger«, fuhr er fort, nachdem er es zugelassen hatte, dass Andrej ihn eine Weile musterte. Er streckte die Hand aus, und Andrej griff danach und drückte sie kurz. »Ihr müsst Vater Ludowigs Unhöflichkeit entschuldigen, Andrej. Er hat nichts Gutes mit Fremden erlebt.«

»Wir haben nichts Gutes mit Fremden erlebt«, sagte Vater Ludowig. »Und vielleicht wird sich das heute wiederholen.«

Birger schien von dieser Bemerkung keine Notiz zu nehmen, aber er warf Andrej einen Blick zu, der klarmachen sollte, dass er es vorzog, das Gespräch nicht fortzuführen. »Ihr und Euer Freund seid uns herzlich willkommen, Andrej«, fuhr er fort. »Wenn Ihr ein Lager für die Nacht sucht...«

»Frisches Wasser für die Pferde und ein paar Auskünfte werden wohl ausreichen«, mischte sich Abu Dun ein. Er war nicht abgesessen. Andrej sah aus den Augenwinkeln, dass sich der Platz mittlerweile mit Menschen gefüllt hatte. Es mussten weit mehr als fünfzig sein, die einen sich allmählich enger zusammenziehenden Kreis rings um sie herum bildeten.

»Ihr wollt heute noch weiterreiten?«, fragte Birger.

»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, antwortete Andrej.

»Und nur noch wenige Stunden Tageslicht«, fügte Birger hinzu. »Ihr werdet die nächste Stadt nicht vor Mitternacht erreichen. Es bleibt natürlich Euch überlassen, aber ich würde das Risiko nicht eingehen, in den Wäldern zu übernachten. Es ist nicht ungefährlich, vor allem für Fremde.«

»Wieso?«, fragte Abu Dun.

Birger warf einen raschen Blick auf den schwarz gekleideten Riesen. »Die Wälder sind sehr dicht und unwegsam«, antwortete er. »Außerdem gibt es wilde Tiere und Ungeheuer darin. So mancher, der hineingegangen ist, ist nicht wieder herausgekommen.«

Andrej versuchte vergeblich, einen Unterton von Spott oder gar einer Drohung in seiner Stimme auszumachen. Aber Birger schien durchaus ernst zu meinen, was er sagte.

Andrej sah zu Abu Dun hoch und las die Antwort auf seine unausgesprochene Frage überdeutlich in dessen Augen. Wenn es nach dem Nubier gegangen wäre, dann hätte auch Andrej längst wieder im Sattel sitzen müssen.

»Außerdem kommen nur selten Fremde nach Trentklamm«, fuhr Birger fort.

»Wir würden uns freuen, wenn Ihr eine Nacht bleiben würdet. Wir haben kein Gasthaus, aber in meinem bescheidenen Haus ist Platz genug, und etwas zu essen werden wir auch finden.« Er grinste und hatte plötzlich etwas von einem zu groß geratenen Jungen an sich. »Ihr könnt Euch ja erkenntlich zeigen, indem Ihr uns ein paar Geschichten von Eurer Reise erzählt. Wir erfahren nicht viel von dem, was in der Welt vor sich geht.«

Andrej überlegte einen Moment. Abu Dun wollte weiterreiten, und auch er selbst glaubte eine ganz leise, mahnende Stimme tief in seinem Inneren zu vernehmen, die ihm zuflüsterte, dass er auf Abu Dun hören und so schnell von hier verschwinden sollte, wie es nur ging. Aber dann brachte er diese Stimme mit einer bewussten Anstrengung zum Verstummen und nickte.

»Warum nicht? Wir haben so lange auf dem nackten Boden geschlafen, dass ich fast alles darum geben würde, mich wieder einmal in einem richtigen Bett auszustrecken. Und gegen eine warme Mahlzeit hätte ich auch nichts einzuwenden.«

»Gut«, sagte Birger. »Dann kommt mit mir. Mein Haus liegt ganz am anderen Ende des Dorfes, aber Ihr könnt gerne reiten und dort auf mich warten. Und ihr anderen«, fügte er mit erhobener, deutlich schärferer Stimme hinzu, »hört auf, unsere Gäste anzustarren, als wären sie zweiköpfige Kälber. Das ist unhöflich.«

Andrej wusste nicht, wer Birger war und welche Stellung er hier im Ort innehatte, aber die anderen hörten tatsächlich auf ihn. Die Menge begann sich rasch zu verteilen. Innerhalb kürzester Zeit war der Dorfplatz beinahe wieder menschenleer. Nur zwei oder drei Kinder blieben zurück, die die beiden Fremden - vor allem natürlich den schwarz gekleideten Mohren - mit unverblümter Neugier anstarrten. Und natürlich Vater Ludowig. Er schien noch immer von tiefem Misstrauen erfüllt zu sein.

Andrej griff nach den Zügeln, saß aber nicht auf, sondern ging neben Birger her, als dieser sich auf den Weg machte.

»Ihr müsst Vater Ludowigs Benehmen wirklich entschuldigen«, sagte Birger, nachdem sie einige Schritte gegangen waren. »Er ist ein alter Mann, der allmählich wunderlich zu werden beginnt.«

»Was hat er damit gemeint, dass ihr nichts Gutes mit Fremden erlebt habt?«, fragte Andrej.

Birgers Gesicht verdüsterte sich. »Das ist eine schlimme Geschichte«, antwortete er. »Wir sind überfallen worden, von Männern, die genau wie Ihr herkamen und vorgaben, nur ein Quartier für die Nacht und eine warme Mahlzeit zu suchen. Sie haben beides bekommen, und sie haben es uns gedankt, indem sie uns ausgeraubt und etliche von uns erschlagen haben.«

»Eine Räuberbande?«, fragte Abu Dun.

»Es ist lange her«, sagte Birger, ohne seine Frage direkt zu beantworten.

»Aber seither traut Vater Ludowig keinem Fremden mehr, der zu uns kommt. Und schon gar keinem, der eine Waffe trägt.«

»Und ... Ihr?«, fragte Andrej.

»Welchen Sinn hätte das Leben, wenn man niemandem mehr trauen würde?«, erwiderte Birger mit einem Schulterzucken. »Ich glaube, dass Gott die meisten Menschen gut erschaffen hat.« Er deutete auf Andrejs Schwert und fragte: »Seid Ihr Krieger?«

»Manchmal.« Andrej lächelte. »Wenn es sein muss.«

»Wenn es sein muss?«

»Wir haben einen weiten Weg hinter uns, und einen vielleicht noch weiteren vor uns«, antwortete Andrej. »Ihr habt es selbst gesagt: Die meisten Menschen sind gut. Aber leider nicht alle.«

Birger sah ihn stirnrunzelnd an, und Andrej versuchte sich vergebens darüber klar zu werden, ob der Grund für dieses Stirnrunzeln der war, dass er über das Gesagte nachdachte, oder ob Birger der Umstand aufgefallen war, dass Andrej seine Worte nicht genau wiedergegeben hatte.

»Man muss sich verteidigen«, sagte Birger schließlich. »Ihr kommt aus dem Osten, nicht wahr? Dort wüten noch immer die Türken. Ist es wahr, dass sie auch hierher kommen werden?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej ausweichend. »Aber selbst wenn, dann wird es noch sehr lange dauern. Sie sind weit weg. Sorgt Euch nicht.«

»Ich sorge mich nicht«, erwiderte Birger. »Ich bin nur neugierig.« Er sah zu Abu Dun hoch. »Seid Ihr ein Türke?«

Abu Dun starrte ihn nur finster an, aber Andrej war nicht ganz sicher, wem der Ärger in seinem Blick eigentlich galt - Birger oder ihm.

»Nein«, sagte er rasch. »Abu Dun hat mit den Türken so wenig zu schaffen wie ich. Und er mag sie wohl noch weniger als ich. Er ist Nubier.«

»Nubier?«

»Ein Land in Afrika«, erklärte Abu Dun. »Es ist sehr weit weg.«

»Und wie ist es dort?«

»Warm«, grollte Abu Dun.

Birger blinzelte, sah den ehemaligen Piraten noch einen Herzschlag lang verwirrt an, und zuckte dann mit den Schultern.

»Da sind wir«, sagte er. Er deutete auf das letzte Haus am Ortsrand, das, an dem sie vorhin schon einmal vorbeigekommen waren, und beschleunigte seine Schritte. »Ihr könnt Eure Pferde dort im Schuppen unterbringen«, sagte er.

»Ich hatte früher selbst ein Pferd, das immer darin stand. Es ist kein Heu mehr da, aber ich werde gleich welches holen.«

»Macht Euch keine Umstände.« Andrej führte sein Tier in den kleinen Holzverschlag - er war so niedrig, dass zwar das Pferd, aber er nicht mehr aufrecht darin stehen konnte -, band den Zügel an einen Pfosten und trat wieder ins Freie. Abu Dun schwang sich ächzend aus dem Sattel und trat weit nach vorne gebeugt an ihm vorbei, und Andrej ließ seinen Blick durch die Gegend schweifen, während er darauf wartete, dass der Nubier zurückkam. Einige Kinder waren ihnen gefolgt und standen tuschelnd auf der anderen Straßenseite, aber ansonsten wirkte der Ort noch immer wie ausgestorben. Seltsam.

Sie betraten das Haus, dessen Inneres einen weitaus geräumigeren Eindruck machte, als sein Äußeres vermuten ließ. Die Decke war ein gutes Stück höher, als allgemein üblich; Andrej vermutete, dass Birger das Haus selbst gebaut hatte, und dabei seinen überdurchschnittlichen Körpermaßen angepasst hatte. Auch das Mobiliar war robust und eine Spur größer als gewöhnlich, ansonsten von ziemlich einfacher Machart.

Ihr Gastgeber eilte voraus und machte sich hastig an irgendetwas zu schaffen, das auf dem Tisch lag. Andrej hörte ein Klimpern, während Birger sich herumdrehte und mit einem kleinen Lederbeutel zu einer Truhe eilte, in die er ihn scheinbar achtlos hineinwarf. Dann drehte er sich heftig gestikulierend zu ihnen herum.

»Ihr werdet müde von der Reise sein«, sagte er. »Es gibt ein zweites Zimmer, das ohnehin leer steht. Warum ruht Ihr Euch nicht ein wenig aus? Ich muss noch gewisse Vorbereitungen treffen.«

»Vorbereitungen?«, fragte Abu Dun.

»Ich habe selten Gäste«, antwortete Birger verlegen.

»Macht Euch unseretwegen keine Umstände, Birger«, sagte Andrej, aber Birger winkte ab und ließ ihn gar nicht weiter zu Wort kommen.

»Es sind keine Umstände, im Gegenteil. Ich habe so selten Gäste, dass ich froh bin, dass Ihr da seid. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich noch einmal mit Vater Ludowig rede. Und mit einigen anderen.«

»Anderen?«, hakte Abu Dun nach.

»Macht Euch keine unnötigen Gedanken«, sagte Birger und begann wieder mit den Händen in der Luft herumzufuchteln. »Ich bin bald zurück. Ruht Euch aus oder seht in der Speisekammer nach, ob Ihr etwas findet, was Eurem Geschmack entspricht. Ich bin bald zurück.«

Bevor Andrej oder Abu Dun auch noch eine weitere Frage stellen konnten, lief er an ihnen vorbei und zur Tür hinaus. Andrej blickte ihm kopfschüttelnd nach, während sich Abu Duns misstrauisches Stirnrunzeln noch vertiefte.

»Wie hat er das gemeint, wir sollen uns keine unnötigen Gedanken machen?«, murmelte er. »Vielleicht reicht es ja, wenn wir uns die Gedanken machen, die nötig sind.«

Andrej seufzte, aber Abu Dun schien Gefallen an dem Wortspiel gefunden zu haben. »Weißt du, wie du es am schnellsten schaffst, jemanden zu beunruhigen?«, fragte er, nur um seine eigene Frage gleich selbst zu beantworten: »Indem du ihm versichert, dass es keinen Grund gibt, beunruhigt zu sein.«

Wieder seufzte Andrej. »Abu Dun, dein gesundes Misstrauen in Ehren, aber man kann es damit auch übertreiben.«

»Genau wie mit der Vertrauensseligkeit«, murrte Abu Dun. Er wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort, dann hob er die Schultern und ging mit langsamen Schritten zu der Truhe, an der sich Birger zu schaffen gemacht hatte. Er klappte den Deckel auf, griff hinein und nahm den Beutel heraus, den Birger zuvor dort hineingeworfen hatte. Andrej zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, als Abu Dun ihn öffnete und eine Anzahl Silber- und Kupfermünzen auf seine Handfläche schüttete.

»Lass das!«, wies er Abu Dun zurecht. »Das gehört uns nicht.«

»Du vergisst, mit wem du redest«, sagte Abu Dun.

»Keineswegs«, antwortete Andrej.

Abu Dun machte ein beleidigtes Gesicht, legte den Beutel jedoch nicht zurück, sondern schüttete sich auch noch den restlichen Inhalt auf die Handfläche und zählte den Betrag, ehe er ihn - mit deutlichem Bedauern - in den Beutel zurückgleiten ließ und diesen wieder in der Kiste verstaute.

»Das ist eine höllische Menge Geld«, sagte er. »Genug für unsere Reise.«

»Zu schade, dass du mir dein Wort gegeben hast, nicht mehr zu stehlen«, erinnerte Andrej ihn.

»Hehe!«, widersprach Abu Dun. »Wann soll das gewesen sein?«

»Jetzt gerade«, antwortete Andrej. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Vergiss es gleich wieder. Ich möchte keine Schwierigkeiten. Die Leute hier haben uns freundlich aufgenommen.«

»Freundlich?« Abu Dun riss die Augen auf. »Dann möchte ich die Menschen in diesem Land nicht erleben, wenn sie unfreundlich sind.«

»Hör jetzt auf, wenn du keinen Wert darauf legst, unfreundlich zu erleben«, riet ihm Andrej.

Abu Dun ließ sein prachtvolles Gebiss zu einem breiten Grinsen aufblitzen, aber er hatte auch begriffen, dass Andrejs Worte nicht ganz so scherzhaft gemeint gewesen waren, wie sie vielleicht geklungen hatten. Also ging er nicht weiter auf die vermeintliche Unfreundlichkeit der Dorfbewohner ein, sondern blickte kopfschüttelnd zu der Tür, hinter der Birger verschwunden war.

»Dieser Birger ist ein seltsamer Mann«, murmelte er.

»Wieso?«

Der Nubier hob die Schultern. »Er ist entweder der größte Dummkopf, dem ich je begegnet bin, oder der raffinierteste Lügner, den ich jemals gesehen habe.«

Eine ganze Weile später kehrte Birger in Begleitung einiger anderer Dorfbewohner zurück, und nachdem beide Seiten ihr noch immer vorhandenes Misstrauen allmählich überwanden, kamen sie mehr und mehr miteinander ins Gespräch. Weitere Männer und Frauen und auch etliche Kinder erschienen, sodass Birgers an sich geräumiges Haus schon bald zu klein wurde und sie den lauen Abend nutzten und sich draußen um ein Feuer setzten, das umso höher loderte, je größer der Kreis wurde, der sich darum bildete. Es war kein wirkliches Fest, aber die Stimmung war entspannt und nahezu fröhlich, und nach und nach gesellte sich fast das gesamte Dorf zu ihnen - abgesehen von Vater Ludowig, der den gesamten Abend in seiner Kirche verbrachte und Gott um Beistand gegen die fremden Teufel anflehte, wie das hell erleuchtete Gotteshaus vermuten ließ.

Bis lange nach Mitternacht saßen sie zusammen, und die Dörfler lauschten den Erzählungen von fremden Ländern und abenteuerlichen Reisen, die Andrej und später auch Abu Dun zum Besten gaben. Die meisten dieser Geschichten hatten sie sich gerade in dem Moment ausgedacht, in dem sie sie erzählten. Andrej vermutete, dass zumindest Birger dies ahnte, denn manchmal glomm ein sonderbares Lächeln in seinen Augen auf, aber welchen Unterschied machte das schon? Sie hatten versprochen, sich für die Gastfreundschaft dieser Menschen erkenntlich zu zeigen, indem sie von dem erzählten, was draußen in der Welt vor sich ging. Die meisten der Dorfbewohner würden Zeit ihres Lebens ohnehin nicht aus ihrem Dorf herauskommen.

Spät zogen sie sich in die Kammer zurück, die Birger ihnen zugewiesen hatte. Andrejs Kopf war schwer von dem süßen Wein, dem er in größerem Maße zugesprochen hatte, als gut war, und auch Abu Dun kämpfte mit den Folgen des Gelages. Andrej schlief ein, kaum dass er sich auf dem einfachen, aber sauberen Lager ausgestreckt hatte.

Und erwachte von dem intensiven Gefühl, nicht mehr allem zu sein.

Er blieb mit geschlossenen Augen liegen und konzentrierte sich ganz auf die Eindrücke, die ihm seine Sinne lieferten. Selbst wenn er nicht über die übermenschlich scharfen Sinne eines Unsterblichen verfügt hätte, wäre ihm nicht verborgen geblieben, dass sich jemand bei ihnen im Zimmer aufhielt. Der Eindringling gab sich zwar alle Mühe, leise zu sein, aber er stellte sich nicht sonderlich geschickt an.

Stoff raschelte, Andrej hörte scharfe, nur unzureichend unterdrückte Atemzüge, die die Furcht des Eindringlings verrieten, und er glaubte sogar seinen rasenden Herzschlag zu vernehmen. Er roch den kalten, leicht säuerlichen Schweiß eines alten Menschen, und als er die Augen öffnete, nahm er einen verschwommenen Umriss im Halbdunkel des Zimmers wahr.

Metall blitzte unmittelbar über seinem Gesicht auf.

Andrej reagierte so schnell, dass der andere vermutlich nicht einmal begriff, wie ihm geschah, ehe er auch schon hilflos in seinem Griff zappelte und vergebens nach Luft rang. Die Waffe polterte mit einem Geräusch zu Boden, das seltsam falsch klang, und obwohl Andrej noch immer kaum mehr als einen Schatten sah, hatte er doch sofort das Gefühl, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte.

Auch Abu Dun sprang auf die Füße. Er hatte am vergangenen Abend sehr viel mehr getrunken als Andrej und hätte demzufolge schlafen müssen wie ein Stein, reagierte aber mit der gewohnten Schnelligkeit: Mit einem einzigen Satz war er aus dem Bett und stieß die Fäden auf, die Birger vorgelegt hatte.

Silbernes Mondlicht strömte ins Zimmer, und für einen unendlich kurzen Moment glaubte Andrej einen Schatten davonhuschen zu sehen, etwas Großes, Dunkles, mit Flügeln, die auf falsche Weise schlugen. Aber er war nicht sicher, und in der nächsten Sekunde, als er das zappelnde Bündel in seinen Händen betrachtete, war er auch viel zu verblüfft, um einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.

»Vater Ludowig?«, murmelte er überrascht.

Der greise Mönch strampelte vergebens mit den Füßen, die sich eine gute Handbreit über dem Boden befanden, und schlug schwächlich mit beiden Fäusten auf Andrejs Hände ein. Sein Gesicht begann sich allmählich blau zu färben.

»Was tut Ihr hier?«, wollte Andrej wissen.

Vater Ludowig ächzte, und Abu Dun, der am Fenster stand und sich den Brummschädel rieb, murmelte: »Höchstwahrscheinlich fällt ihm das Antworten leichter, wenn du die Hände von seinem Hals nimmst.«

Andrej ließ den Mönch so hastig los, dass Vater Ludowig die Balance verlor und gestürzt wäre, hätte Abu Dun nicht rasch zugegriffen und ihn aufgefangen. Obwohl er heftig japsend nach Luft rang und zweifellos starke Schmerzen hatte, riss Ludowig sich hastig los, wich bis in die entfernteste Ecke des Zimmers zurück und schlug das Kreuzzeichen vor Brust und Gesicht. In seinen weit aufgerissenen Augen stand die nackte Angst, während er abwechselnd Andrej und den Nubier anstarrte.

»Vater Ludowig«, versuchte es Andrej noch einmal, nun in verändertem Ton.

»Wir haben Euch gestern Abend vermisst. Schön, dass Ihr doch noch gekommen seid.«

Er bedauerte die Worte augenblicklich. Vater Ludowig war nicht in der Verfassung, den Spott darin zu verstehen. Vermutlich würde er alles, was Andrej in diesem Moment tat oder sagte, als Drohung empfinden. Statt auf ihn zuzutreten und seine Furcht damit noch zu nähren, richtete Andrej seinen Blick nach unten und hielt nach dem Gegenstand Ausschau, den Vater Ludowig fallen gelassen hatte. Die vermeintliche Waffe entpuppte sich als kupferner Becher, der in einer bereits eingetrockneten Pfütze auf dem Boden lag.

Andrej ging in die Knie, hob ihn auf und roch daran. Dann tauchte er den Zeigefinger in den winzigen verbliebenen Rest von Flüssigkeit, der sich noch in darin befand, und kostete.

»Weihwasser?«, murmelte er überrascht.

Abu Dun blinzelte, während sich auf Ludowigs Gesicht eine Mischung aus Unglauben und nur ganz allmählich aufkommender Erleichterung breit zu machen begann.

»Habt Ihr Eure Meinung geändert?«, fragte Andrej. »Ihr seid tatsächlich gekommen, um uns zu segnen? Das ist überaus großzügig von Euch.«

Abu Dun warf ihm einen mahnenden Blick zu, und auch Andrej selbst rief sich in Gedanken zur Mäßigung. Ludowig erbleichte schon wieder. Andrej war klar, dass er dem alten Mann wahrscheinlich Unrecht tat, aber nach allem, was er mit Männern der Kirche erlebt - und durch sie erlitten - hatte, war es ihm einfach nicht mehr möglich, wohlwollend mit ihnen umzugehen.

Er wollte es auch nicht.

»Was sucht Ihr hier?«, fragte er geradeheraus.

Vater Ludowig starrte ihn nur stumm und aus immer noch weit aufgerissenen Augen an.

»Erklärt Euch! Wieso kommt Ihr mitten in der Nacht hierher?«

Ludowigs Blick saugte sich schier an dem Becher in Andrejs Hand fest. Er sprach noch immer nicht. Andrej wusste selbst nicht warum, aber aus einem plötzlichen Gefühl heraus, setzte er den Becher an und trank die wenigen Tropfen aus, die sich noch auf seinem Boden befanden.

»Ihr seht, Heiliger Mann, wir sind nicht mit dem Teufel im Bunde und auch nicht von ihm besessen«, sagte Abu Dun lachend. »Was also wollt Ihr von uns ?«

»Ihr müsst gehen«, krächzte Vater Ludowig. Er hatte Mühe, zu sprechen und massierte mit der linken Hand seinen schmerzenden Kehlkopf. Andrej hatte nicht mit aller, aber doch mit großer Kraft zugedrückt. Ludowig konnte von Glück sagen, dass er ihm nicht sein vom Alter schon mürbe gewordenes Genick gebrochen hatte. »Das hier ist kein Platz für Fremde. Wenn Ihr wisst, was gut für Euch ist, dann steigt auf Eure Pferde und reitet davon.«

»Das hatten wir ohnehin vor«, antwortete Andrej kühl. »Aber nun, wo Ihr uns so nett darum bittet, bleiben wir vielleicht noch ein paar Tage.«

»Ihr wisst nicht, was ...«, setzte Vater Ludowig an, aber er wurde unterbrochen. Draußen polterten Schritte, dann wurde die Tür aufgerissen, und Birger stürmte herein, nackt bis auf einen schmuddeligen Lendenschurz.

In der rechten Hand hielt er einen Knüppel, und auf seinem Gesicht lag ein wütend-entschlossener Ausdruck, der aber in Überraschung und dann Betroffenheit umschlug, als er Vater Ludowigs und danach des Messbechers in Andrejs Hand ansichtig wurde.

»Oh«, sagte er.

»Was wollt Ihr mit dem Prügel? Uns wach klopfen?«, maulte Abu Dun. »Das ist nicht nötig. Mein Schädel dröhnt schon genug von Eurem süßen Wein.«

Birger starrte den Knüppel in seiner Hand einen Moment lang verwirrt an, als könne er sich tatsächlich nicht erinnern, wie er überhaupt dorthin kam, und flüchtete sich schließlich in ein Lächeln.

»Ich war ... verzeiht«, stammelte er, räusperte sich und setzte neu an. »Ich habe Lärm gehört und wollte nachsehen.« Er ließ den Knüppel sinken und wandte sich stirnrunzelnd an Vater Ludowig. »Was geht hier vor?«

Vater Ludowig starrte ihn verstockt an. Er schwieg. Birger setzte dazu an, seine Frage in schärferem Ton zu wiederholen, aber Andrej kam ihm zuvor.

»Ich glaube, der gute Vater Ludowig ist nur gekommen, um sich bei uns zu entschuldigen.«

Birgers Stirnrunzeln vertiefte sich, während er von einem zum anderen blickte. Schließlich hob er die Schultern und wandte sich direkt an Eudowig.

»Wird es nicht Zeit, die Morgenandacht vorzubereiten, Vater?«

Ludowig nickte hastig, nahm den Messbecher an sich, den Andrej ihm hinhielt, und floh aus dem Zimmer. Er schloss die Tür nicht hinter sich, und es blieb eine ungute, schwer mit Worten zu beschreibende Stimmung zurück.

Andrej war aber nicht sicher, ob sie nun von Vater Ludowig oder von Birger ausgegangen war.

»Ich muss mich in Vater Ludowigs Namen für die Störung Eures Schlafes entschuldigen«, sagte Birger. »Er ist ein alter Mann, aber das rechtfertigt nicht sein Handeln. Ich werde mit ihm sprechen.«

»Das ist nicht nötig«, wiegelte Abu Dun ab. Er sah aus dem Fenster. »In Kürze wird es ohnehin hell. Wir können ebenso gut jetzt aufbrechen.«

»Ganz, wie Ihr wünscht.« Birger wirkte enttäuscht. »Ich hoffe nur, es hat nichts mit diesem dummen Zwischenfall zu tun.«

»Bestimmt nicht«, versicherte ihm Andrej. »Abu Dun hat Recht, wisst Ihr? Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Aber Ihr bleibt, bis es hell ist?« Birgers Vorschlag klang eindeutig wie ein Befehl. »Es ist viel zu gefährlich, nachts durch die Wälder zu reiten. Ihr könnt Euch draußen am Brunnen waschen, wenn Ihr wollt. Das Wasser ist kalt, aber sauber. Ich werde die Zeit nutzen, um ein Mahl vorzubereiten. Ihr könnt es auf dem Weg brauchen, glaubt mir.«

Andrej tauschte einen raschen - und, wie er hoffte, von Birger nicht bemerkten - Blick mit Abu Dun, aber der Nubier zuckte nur mit den Schultern.

Wie Birger vorausgesagt hatte, war das Wasser des gemauerten Brunnens hinter seinem Haus sauber und klar, aber auch eiskalt. Es kostete Andrej Überwindung, sich damit zu waschen, und auch Abu Dun schnaubte und prustete, dass man es im ganzen Tal hätte hören müssen. Rasch trockneten sie sich ab, hüllten sich wieder in ihre Kleider, und als sie ins Haus zurückkamen, erlebten sie eine Überraschung: Birger hatte nicht nur überall Kerzen angezündet, was dem großen, nur spärlich möblierten Raum etwas sonderbar Sakrales zu verleihen schien, er hatte auch bereits den Tisch gedeckt und Speisen aufgetragen, die das Mahl eher zu einem Festmahl geraten ließen. Und er war nicht mehr allein. Andrej hatte nicht bemerkt, dass noch jemand das Haus betreten hatte, doch neben Birger saß jetzt eine dunkelhaarige junge Frau, die sehr zierlich war. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Haut war mit einem kränklichen grauen Schimmer überzogen.

»Da seid Ihr ja schon«, begrüßte Birger seine Gäste. Er klang jetzt wieder so fröhlich wie am vergangenen Abend. Von dem Groll, der ihn in Ludowigs Gegenwart überkommen hatte, war nichts mehr geblieben. Eifrig deutete er auf den Tisch und fuhr mit einer Kopfbewegung in Richtung der jungen Frau fort: »Helga kennt Ihr ja bereits. Nehmt Platz. Die Suppe ist gleich fertig.«

Andrej nickte wortlos in Helgas Richtung, doch obwohl sie ihn ansah, reagierte sie nicht einmal mit einem Wimpernzucken darauf. Er erinnerte sich jetzt, sie schon am vergangenen Abend am Feuer gesehen zu haben.

Während Andrej Birgers Einladung Folge leistete und sich setzte, sagte dieser: »Helga ist meine Schwester. Alles, was von meiner Familie geblieben ist.«

Das dunkelhaarige Mädchen ging an Andrej vorüber, und er registrierte einen schwachen, aber unangenehmen Geruch, den er nur dank seiner überscharfen Vampyrsinne wahrnahm. Es war der gleiche Geruch, den auch Birger verströmte. Jedem anderen Menschen wäre er verborgen geblieben, aber Andrej wusste nun, dass die beiden das Lager miteinander geteilt hatten.

Schwester?

Nun, was ging es ihn an.

Auf Abu Duns Gesicht erschien ein kurzes, aber anzügliches Grinsen, als er sich auf der anderen Seite des reich gedeckten Tisches niederließ, und Andrej warf ihm einen warnenden Blick zu. Anscheinend bedurfte es nicht zwingend des wölfischen Geruchssinns und der Eulenaugen eines Unsterblichen, um gewisse Dinge erkennen zu können. Aber sie hatten nicht das Recht, über diese Leute zu urteilen.

Dennoch: Andrej musste Abu Dun im Stillen Recht geben. Zwar hatte es gut getan, wieder einmal unter Menschen zu sein und in einem richtigen Bett zu schlafen, aber sie hätten nicht herkommen sollen.

Irgendetwas war mit diesem Dorf und seinen Menschen nicht in Ordnung.

Birger trug eine heiße Gemüsebrühe auf, der sie ebenso ausgiebig zusprachen wie dem frisch gebackenen Brot und dem Salzfleisch, das Helga kredenzte. Es begann zu dämmern, als sie mit dem Mahl fertig waren. Birger redete die ganze Zeit belangloses Zeug, während Helga kein Wort sprach. Nur dann und wann warf sie Andrej verstohlene Blicke zu, unter denen er sich immer unwohler zu fühlen begann. In ihren Augen, die scheinbar vollkommen ausdruckslos waren, schien etwas wie eine Aufforderung zu liegen, beinahe schon etwas Gieriges.

Unsinn! dachte er. Der Einzige, der hier Gier verspürte, war er. Er hatte keine Frau mehr gehabt, seit sie Transsylvanien endgültig den Rücken gekehrt hatten, was mittlerweile mehr als drei Monate zurücklag. Aber daran würde sich vorerst nichts ändern.

Ihr graues Gesicht zeugte nicht nur von Müdigkeit. Er konnte riechen, dass irgendetwas in ihrem Körper wühlte, tief innen und ihr selbst noch nicht bekannt, das sie am Schluss zerstören musste. Schuldbewusst senkte er den Blick in seine fast geleerte Suppenschale.

Birger deutete ihn offenbar falsch. »Noch einen Nachschlag?«

»Nein«, antwortete Andrej rasch. Er sah zum Fenster, hinter dem der Himmel mittlerweile hellgrau geworden war. »Es ist wirklich an der Zeit.«

»Auf ein Wort noch«, wandte Birger ein, als Andrej aufstehen wollte.

»Bitte.«

Andrej ließ sich wieder zurücksinken. Er war plötzlich angespannt. Birger hielt ihn nicht nur unter allen möglichen Vorwänden hier fest, weil er ihre Gesellschaft genoss, das spürte er plötzlich. »Ja?«

»Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll ...«, sagte Birger, und Abu Dun unterbrach ihn: »Nur immer geradeheraus. Du hast unsere Sachen durchwühlt, nicht wahr?«

Andrej sah ihn fragend an, und Abu Dun nickte finster. »Als du dich vorhin gewaschen hast, war ich bei den Pferden. Jemand hat sich an unserem Gepäck zu schaffen gemacht. Er war sehr vorsichtig, aber ich habe es gemerkt.«

»Ich wollte mir nur darüber klar werden, wer Ihr seid«, sagte Birger. »Ich habe nichts gestohlen.«

»Ich weiß«, sagte Abu Dun. »Wäre es anders, dann wärst du jetzt schon tot.«

»Warum?«, fragte Andrej. »Haben wir Euch irgendeinen Grund gegeben, uns zu misstrauen?«

»Im Gegenteil«, antwortete Birger. Er lächelte verlegen. »Immerhin habt Ihr mein Gold nicht angerührt.«

»Gold?«

»In der Truhe, in die ich das Geldsäckchen gelegt habe«, antwortete Birger mit einer Kopfbewegung. »Darunter liegt ein ganzer Beutel voller Gold. Fünfzig Golddukaten, um genau zu sein.«

»Fünfzig!« Abu Dun riss die Augen auf. Das war ein regelrechter Schatz, den man bei einem einfachen Bauern wie Birger ganz gewiss nicht erwartet hätte.

»Sie sind falsch«, sagte Birger leichthin. »Aber es sind gute Fälschungen. Kaum jemand hat bisher den Unterschied bemerkt.«

»Ihr wolltet, dass wir Euch dabei beobachten, wie Ihr Euer Geld in die Truhe legt«, vermutete Andrej. »Warum?«

»Ich bin nicht so über die Maßen misstrauisch wie Vater Ludowig und einige andere hier«, antwortete Birger, »aber ich bin auch nicht dumm. Zu viel Vertrauensseligkeit ist ebenso schädlich wie zu großes Misstrauen.«

»Du wolltest uns auf die Probe stellen«, stellte Abu Dun fest. Er zog eine Grimasse. »Was hättest du gemacht, wenn wir dein Geld und dein falsches Gold einfach genommen hätten und davon geritten wären?«

»Ihr hättet Trentklamm nicht lebend verlassen«, antwortete Birger. Es hörte sich nicht wie eine Drohung an, sondern eher wie etwas, woran es für Birger nicht den geringsten Zweifel gab.

Abu Dun wollte auffahren, aber Andrej brachte ihn mit einer hastigen Geste zum Schweigen. »Und nun, wo wir Eure Probe bestanden haben?«, wollte er wissen.

Birger sah kurz zu Helga hin, ehe er antwortete. »Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen«, sagte er.

»Wir sind an keinerlei Vorschlägen interes ...«, begann Abu Dun, wurde aber erneut von Andrej unterbrochen.

»Welchen?«

»Ihr seid ... Söldner, nicht wahr?«, fragte Birger.

»Und?«, fragte Abu Dun. »Wenn es so wäre?«

»Und Ihr seid nicht besonders wohlhabend«, fuhr Birger fort, noch immer direkt an Andrej gewandt. »Die Reise hat Eure Geldmittel aufgezehrt, habe ich Recht?«

»Selbst wenn, glaube ich kaum, dass du dir unsere Dienste leisten könntest«, sagte Abu Dun unfreundlich. »Wir kämpfen nicht für falsches Gold.«

»Ich habe Geld«, widersprach Birger. »Keine fünfzig Goldstücke, aber genug für eine so leichte Aufgabe wie die, für die ich Euch brauche.«

»Wenn sie so leicht ist, warum erledigt Ihr sie dann nicht selbst?«, fragte Andrej.

»Leicht für Männer wie Euch«, antwortete Birger. »Unmöglich für mich.«

Abu Dun wollte schon wieder auffahren, aber Andrej kam ihm erneut zuvor. »Wir kämpfen nicht für Geld, Birger«, sagte er. »Jedenfalls nicht mehr. Es gab eine Zeit, da haben wir es getan, aber die ist vorbei. Es bringt nichts Gutes ein, Menschen für Geld zu töten.«

Abu Dun schien Mühe zu haben, ihn nicht ungläubig anzustarren. Sie hatten sich in den zurückliegenden zehn Jahren so oft und in so vielen Kriegen als Söldner verdungen, dass sie längst aufgehört hatten, sie zu zählen.

»Ich habe Euch gestern nicht die ganze Wahrheit erzählt«, fuhr Birger vollkommen unbeeindruckt fort.

»Stell dir vor, das ist uns aufgefallen«, giftete Abu Dun.

Birger missachtete den Einwand. »Es ist wahr, dass wir einst überfallen wurden«, fuhr er fort. »Aber es waren keine Räuber.«

»Sondern?«, fragte Andrej.

Birger antwortete nicht gleich. Er sah Andrej an, aber während er sprach, begann sich ein sonderbarer Ausdruck in seinem Blick auszubreiten; eine Furcht, als sähe er gar nicht mehr sein Gegenüber, sondern etwas anderes, Schreckliches, das weit zurück lag. »Wir leben seit einer Generation im Streit mit den Bewohnern eines anderen Dorfes, einen halben Tagesmarsch von hier«, sagte er. »Es liegt hoch in den Bergen, an einem fast unzugänglichen Pass. Seine Bewohner sind Heiden, die den Satan anbeten und einem uralten Teufelskult huldigen.«

Andrej musste sich beherrschen, um Birger nicht schon jetzt zu unterbrechen. Wie oft hatte er solche Geschichten schon gehört? Es war immer dasselbe. Und es würde immer dasselbe bleiben, solange es Menschen gab.

»Vor zwei Jahren haben sie uns überfallen«, fuhr Birger fort. »Wir hatten immer schon Streit mit ihnen, und manchmal kam es auch zu Tätlichkeiten. Aber in dieser Nacht sind sie gekommen und haben uns im Schlaf überrascht. Sie haben fast die Hälfte von uns erschlagen und etliche unserer jungen Frauen und Knaben mitgenommen. Das halbe Dorf haben sie niedergebrannt.«

»Und nun wollt Ihr, dass wir die Hälfte ihres Dorfes niederbrennen?«, fragte Andrej leise. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Euch verstehen, Birger, aber diese Art von Söldnern waren wir nie. Euer Streit geht uns nichts an.«

»Sie haben meine Frau und meine Tochter mitgenommen«, fuhr Birger fort.

Andrej sah überrascht zu Helga hin. Sie hielt seinem Blick ruhig und sehr ernst stand.

»Meine Frau ist tot«, fuhr Birger fort. »Ich bin ihnen gefolgt, nachdem meine schlimmsten Wunden verheilt waren. Ich fand ihre Leiche auf halbem Weg in den Bergen. Sie haben sie ...« Seine Stimme versagte, und seine Hände begannen für einen Moment so heftig zu zittern, dass er sie zu Fäusten ballen musste. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Ich will keine Rache, Andrej. Einst wollte ich sie. Hätte ich es damals gekonnt, dann hätte ich ihr Dorf bis auf die Grundmauern niedergebrannt und jede lebende Seele ausgelöscht. O ja, ich wollte Rache! Ich hätte mein Leben geopfert, um mich zu rächen! Ich habe Gott verflucht und meine Seele dem Teufel angeboten, wenn er mir dafür geholfen hätte, mich an dem feigen Mörderpack zu rächen, doch er hat nicht geantwortet.« Er stöhnte auf.

»Aber das ist vorbei. Rache nutzt niemandem. Es macht die Toten nicht wieder lebendig, wenn man noch mehr Menschen erschlägt. Man kann nicht ein Unrecht durch ein anderes aufwiegen.«

»Amen«, sagte Abu Dun spöttisch.

Andrej schenkte ihm einen verärgerten Blick. »Und was wollt Ihr dann?«, fragte er an Birger gewandt.

»Meine Tochter«, antwortete Birger. »Sie ist jetzt zwölf Jahre alt. Ich möchte, dass Ihr sie befreit.«

»Eure Tochter.« Andrej nickte nachdenklich und sah wieder - diesmal für länger - zu Helga hin, aber sie erwiderte seinen Blick so ruhig und ausdruckslos wie zuvor. »Wieso glaubt Ihr, dass sie noch lebt?«

»Ich weiß es«, antwortete Birger, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich spüre, dass sie noch am Leben ist, genauso, wie ich gespürt habe, dass meine Frau tot war. Und dass sie schrecklich leidet! Sie ist jetzt genau in dem Alter, in dem sie den teuflischen Gelüsten dieser Bestien am besten dienen kann.« Ein gequälter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, und für einen Moment schimmerten seine Augen feucht. »Soll ich Euch sagen, was sie meiner Frau angetan haben?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Ich kann es mir vorstellen.« Er versuchte, einen verständnisvollen Ton in seine Stimme zu legen. »Ich kann nachempfinden, was Ihr jetzt fühlt, Birger. Aber es ist lange her. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, eine sehr lange Zeit. Selbst wenn Eure Tochter noch am Leben wäre, so könnte es sein, dass ...« Er zögerte unmerklich, »dass sie vielleicht nicht mehr die ist, als die Ihr sie gekannt habt«, schloss er.

»Ich weiß, was Ihr meint, Andrej«, antwortete Birger. Er hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. Seine Stimme klang fest. »Aber ich spüre, dass sie noch lebt, und ich spüre, wie sehr sie leidet. Ich höre ihre Seele in jeder Nacht um Hilfe flehen. Ich hätte sie längst befreit, aber diese Teufel sind auf der Hut, und ihr Dorf ist eine fast uneinnehmbare Festung.«

»Und wir sind nur zu zweit«, sagte Abu Dun.

»Ihr seid Krieger«, beharrte Birger. »Wir sind das nicht, und sie sind es auch nicht.«

»Immerhin haben sie die Hälfte von euch erschlagen.«

Birger machte eine abfällige Geste. »Sie haben uns überrascht. Wir wussten nicht, dass sie kommen. Alle haben tief geschlafen. Für Männer wie Euch wird es sicher nicht schwer sein, in ihr verfluchtes Kloster vorzudringen und meine Tochter zu befreien.« Er wandte sich nun direkt an Abu Dun. »Solltet Ihr herausfinden, dass meine Tochter tot ist, so bezahle ich Euch trotzdem. Macht Euch darum keine Sorgen.«

»Das ist es nicht«, sagte Andrej rasch. »Wir führen solche Aufträge für gewöhnlich nicht aus, das ist alles. Es muss doch hier eine Obrigkeit geben,«

»Den Landgrafen, ja«, grollte Birger. Allein der Ton, der sich dabei in seine Stimme schlich, machte Andrejs nächste Frage überflüssig. Trotzdem stellte er sie.

»Und warum bittet Ihr nicht den Landgrafen um Hilfe?«

»Er ist weit weg«, sagte Birger. »Die hohen Herren in ihren Schlössern interessieren sich doch nicht für das Schicksal solch einfacher Leute. Sie schicken einmal im Jahr ihre Steuereintreiber, sonst kümmert sie nichts.«

So sehr, dachte Andrej, schien sich dieses Land gar nicht von dem zu unterscheiden, aus dem sie geflohen waren. Er schüttelte den Kopf.

»Es tut mir Leid, Birger, aber ...«

»Habt Ihr jemals geliebt, Andrej?«, unterbrach ihn Birger. »Habt Ihr jemals einen Menschen geliebt wie nichts anderes auf der Welt und ihn dann verloren?«

Andrej schwieg. Er dachte an Maria. Auch an Alessa, aber vor allem an Maria. Er wusste, dass er diesen Gedanken nicht zulassen sollte, aber es war zu spät. Birgers Worte brannten wie Säure in seinem Inneren, und Birger schien sein Schweigen auch richtig zu deuten.

»Habt Ihr das je, Andrej ?«

»Selbst wenn wir es täten«, antwortete Andrej ausweichend. »Was, wenn Ihr Euch irrt, und Eure Tochter ist doch tot?«

»Dann wüsste ich, dass ihre Seele endlich Frieden gefunden hat«, antwortete Birger. »Ich wäre zufrieden damit, es zu wissen. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie womöglich Tag für Tag von diesen Bestien gequält wird - so lange, bis sie anfängt, mich zu verfluchen, weil ich sie gezeugt habe.«

»Wir haben keine Zeit«, sagte Abu Dun. »Der Weg, der noch vor uns liegt, ist weit, und ...«

»So weit, dass zwei oder drei Tage wohl kaum ins Gewicht fallen«, fiel ihm Birger ins Wort. Er schüttelte heftig den Kopf. »Ihr wollt nach Nürnberg?«

»Das stimmt«, sagte Andrej.

»Aber Ihr seid fremd in diesem Land. Wenn Ihr den Straßen folgt, verliert Ihr eine Woche, wenn nicht mehr. Ich kenne eine Abkürzung durch die Wälder. Die zeige ich Euch.«

»Nachdem wir zurück sind«, vermutete Andrej.

»Nachdem wir zurück sind«, bestätigte Birger.

»Ihr müsstet uns begleiten«, sagte Andrej. Abu Duns bohrende Blicke beachtete er nicht. Er wusste, dass der Nubier es nicht guthieß, dem Drängen Birgers nachzugeben, und er hatte Recht damit, tausendmal Recht. Aber Andrej konnte auch Birgers Frage nicht vergessen. Ob er wüsste, was es hieß, einen geliebten Menschen zu verlieren? Es verging seit zehn Jahren kein Tag, an dem ihn dieses Gefühl nicht quälte. »Wir kennen den Weg zu diesem Dorf nicht, und wir wissen auch nicht, wie Eure Tochter aussieht.«

»Andrej!«, sagte Abu Dun nachdrücklich.

»Ich werde Euch begleiten«, sagte Birger. »Und ein paar von den anderen auch. Wir haben gestern Nacht darüber gesprochen ...« Er hob die Schultern.

»Ich will ehrlich sein. Nicht alle sind mit meinem Plan einverstanden. Sie haben Angst, die alte Fehde damit neu zu beleben.«

»Nicht ganz zu Unrecht«, gab Andrej zu bedenken.

»Sie war niemals zu Ende«, antwortete Birger heftig. »Glaubt Ihr, sie lassen uns jetzt in Ruhe? Bestimmt nicht. Sie werden wiederkommen, vielleicht in diesem Jahr, vielleicht im nächsten, aber sie werden kommen.«

»Und dir deine Tochter vielleicht wieder wegnehmen«, schloss Abu Dun.

»Euer Streit geht uns nichts an. Andrej!«

»Abu Dun hat Recht, wisst Ihr?« Andrejs Stimme wurde sanft. »Wir würden alles nur noch schlimmer machen.«

»Das soll nicht Eure Sorge sein!« Birger blieb hartnäckig. »Ich flehe Euch an, Andrej, helft mir. Nennt mir Euren Preis, und ich werde ihn bezahlen. Ich bin kein armer Mann.«

»Was mich zu der Frage bringt, woher dein Reichtum eigentlich stammt«, hakte Abu Dun nach. »Wie kommt ein einfacher Bauer wie du an einen Beutel mit fünfzig Goldstücken - selbst wenn sie falsch sind?«

»Sie gehörten den Letzten, die der Verlockung meines Geldbeutels nicht widerstehen konnten«, antwortete Birger. »Außerdem war dies einmal eine wohlhabende Gemeinde. Bevor sie uns überfallen und die meisten von uns erschlagen und unser Vieh gestohlen haben.«

»Ihr seid ein Mann, der anscheinend das offene Wort liebt.«

»Das bin ich«, antwortete Birger. »Nun? Wie entscheidet Ihr Euch?«

Andrej konnte Abu Duns flehende Blicke spüren. Und er hatte das Gefühl, einen schrecklichen Fehler zu begehen.

Trotzdem.

»Zwei oder drei Tage habt Ihr gesagt? Nicht mehr?«

»Und danach bringe ich Euch auf dem kürzesten Weg hier heraus«, bestätigte Birger. Abu Dun seufzte vernehmlich auf.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung erreichten sie die Schneegrenze. Sie hatten eine Weile damit zugebracht, sich zu streiten, denn schließlich war es Abu Dun gewesen, der immer öfter auf ihre bedrohliche finanzielle Lage hingewiesen und mehr als einmal darauf gedrängt hatte, etwas zu unternehmen, das ihnen die notwendigen Geldmittel für den Rest der Reise einbringen würde. Infolge ihres Streites hatten sie den ganzen Tag über kaum noch ein Wort miteinander gewechselt.

Sie waren zu fünft: Andrej, Abu Dun, Birger und zwei schweigsame junge Burschen aus dem Dorf, die keinen besonders aufgeweckten Eindruck machten, dafür aber kräftig wirkten. Andrej hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich ihre Namen zu merken. Wäre es nach Birger gegangen, dann hätte sich ihnen noch ein Dutzend weiterer Männer angeschlossen, aber sowohl Andrej als auch Abu Dun waren dagegen gewesen. Sie beide hatten nicht vergessen, was Birger selbst über sich und die anderen gesagt hatte: Sie waren keine Krieger, sondern einfache Bauern und Kuhhirten. Ihre Anwesenheit war keine Hilfe, sondern stellte allenfalls eine Belastung, vielleicht sogar eine Gefahr dar.

Andrej war schon nicht erfreut über die Begleitung dieser beiden, hatte es aber bei einem erfolglosen Einspruchsversuch belassen. Mittlerweile war auch das fast bedeutungslos geworden. Er fror erbärmlich. Sie waren den ganzen Tag über immer tiefer in die Berge hinein- und zugleich immer höher geritten. Dort war die Luft so kalt, dass das Atmen fast schmerzte. Nicht weit vor ihnen schimmerte es weiß zwischen den spärlicher werdenden Bäumen.

»Wohin führt Ihr uns eigentlich?«, fragte Andrej. Er ritt unmittelbar neben Birger. Abu Dun hatte es vorgezogen, weiterhin kein Wort zu sprechen und ein gutes Stück hinter ihnen zu bleiben.

Andrejs Atem dampfte in der Kälte. Noch bevor Birger antwortete, drehte er sich halb im Sattel herum und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Er war erstaunt festzustellen, welche große Entfernung sie an nur einem Tag zurückgelegt hatten. Dennoch konnten sie Trentklamm noch tief unter sich im Tal liegen sehen. Der Ort lag in hellem Sonnenschein da und bot, angesichts der prickelnden Kälte, die Andrej auf der Haut fühlte, einen geradezu unglaublichen Anblick.

»Es ist jetzt nicht mehr allzu weit«, antwortete Birger. »Vielleicht sollten wir hier rasten und warten, bis es dunkel wird.«

»Ich hoffe, es dauert nicht mehr so lange, wie wir brauchten, um hier heraufzukommen«, mischte sich Abu Dun ein, der mittlerweile zu ihnen aufgeschlossen hatte.

»Wir konnten nicht auf dem direkten Weg reiten«, antwortete Birger. »Sie sind misstrauisch und hätten uns gesehen.« Er machte eine Kopfbewegung nach vorne, zu den scheinbar noch immer unendlich weit entfernten Berggipfeln, die in ewigem Weiß vor ihnen schimmerten. »Wir brauchen nicht mehr lange, um den Berg zu umgehen und uns dem Dorf von der anderen Seite zu nähern. Über den Pass kämen wir niemals ungesehen hinweg.«

Andrej tauschte einen raschen Blick mit Abu Dun. Für jemanden, der immer wieder betonte, dass er kein Krieger war, dachte Birger ziemlich strategisch.

»Ich hätte nichts gegen eine Rast einzuwenden«, sagte Abu Dun. »Es ist widerlich kalt.«

Er schüttelte sich. Andrej nahm an, dass er weit mehr unter der Kälte litt als die anderen, stammte er doch aus einem Land, in dem es nicht einmal ein Wort für Schnee gab.

»Wir können kein Feuer machen«, gab Birger bedauernd zu bedenken.

»Es wäre in der Nacht deutlich zu sehen.« Er wandte sich mit einer auffordernden Geste an seine beiden Begleiter. Sie sagten nichts, setzten sich aber gehorsam in Bewegung und ritten voraus, und Birger fuhr mit einem neuerlichen Wedeln der Hand fort: »Rasten wir gleich hier. Stefan und sein Bruder geben darauf Acht, dass sich niemand heimlich anschleicht.«

»Seid ihr eigentlich alle miteinander verwandt?«, u Dun.

Birger schwang sich aus dem Sattel des grobschlächtigen Ackergaules, den er ritt, und ließ die Zügel los. Das Pferd entfernte sich ein paar Schritte und begann dann an den Grashalmen zu zupfen, die spärlich auf dem steinigen Boden wuchsen. Andrej hatte am Erfolg ihrer Reise zu zweifeln begonnen, als er die Tiere der drei Dörfler gesehen hatte. Aber die Pferde hatten ihn ebenso überrascht wie ihre Reiter. Sie hatten sich nicht besonders schnell, aber so beharrlich wie Ochsen und geschickt wie Bergziegen bewegt.

Abu Dun und er saßen ebenfalls ab, banden ihre Pferde aber an die Äste eines nahe gelegenen Baumes. Abu Dun sah sich missmutig nach einem Platz um, an dem er halbwegs weich sitzen konnte, und steuerte schließlich das einzige Mooskissen weit und breit an. Andrej setzte sich auf einen Stein und sah wortlos zu, wie Birger seine Packtaschen leerte und Brot, kaltes Fleisch und ziegenlederne Schläuche mit Wein vor ihnen ausbreitete.

»Schon wieder ein Festmahl?«, fragte Abu Dun. »Ich bin eigentlich nicht hungrig.«

»Ihr solltet etwas essen«, erwiderte Birger. »Wir werden hier rasten, und danach haben wir noch einen Fußmarsch vor uns. Wollt Ihr auch noch hungern, wenn Ihr schon friert?«

Abu Dun bedachte ihn mit einem verdrossenen Blick, griff aber dann doch zu, und auch Andrej nahm sich ein Stück Fleisch und eine Scheibe helles Brot und begann zu essen. Birger hatte Recht. Sie hatten noch eine lange Nacht vor sich und würden jedes bisschen Kraft bitter nötig brauchen.

»Erzählt uns von diesen angeblichen Teufelsanbetern«, bat Andrej. »Wer sind sie? Was tun sie genau, und welchem Kult hängen sie an?«

»Das weiß niemand.« Birger kniete sich so zwischen sie, dass er Andrej und Abu Dun zusammen im Auge behalten konnte. »Sie tarnen sich mit den Zeichen des Christentums. Das Dorf ist kein richtiges Dorf, sondern ein altes Kloster mit einer Handvoll Häusern an der Westseite. Angeblich sind es fromme Männer, aber nachts feiern sie schwarze Messen, und die Figur an dem umgedrehten Kruzifix, vor dem sie beten, ist nicht unser Herr Jesus Christus.« Er legte den Kopf schräg und sah Abu Dun an. »Aber damit habt Ihr ohnehin nicht viel im Sinn, nehme ich an?«

»Ist das für dich von Bedeutung?«, fragte Abu Dun.

»Nein«, antwortete Birger. Es klang ehrlich. »Und Ihr, Andrej?«

»Warum fragt Ihr das?«

Birger wackelte mit dem Kopf. »Gestern Abend, als Ihr Vater Ludowig gegenüberstandet - ich hatte den Eindruck, dass Eure Vorsicht mehr seinem Gewand galt als seinen Worten.«

»Ihr seid ein guter Beobachter«, entgegnete Andrej. »Ich hatte in der Vergangenheit einige Begegnungen mit Männern der Kirche.«

»Weiter«, sagte Abu Dun. »Sie leben also in einem angeblichen Kloster. Was genau tun sie dort? Wieso unternimmt niemand etwas gegen sie, wenn sie doch den Teufel anbeten?«

»Sie sind sehr vorsichtig«, antwortete Birger. »Für die meisten sind sie einfach nur Bergbauern und Schäfer, die das Kloster versorgen. Aber wir kennen ihr Geheimnis. Deshalb hassen sie uns auch so. Sicher hätten sie unser ganzes Dorf ausgelöscht, hätten sie nicht Angst gehabt, damit zu viel Aufsehen zu erregen.«

Nachdenklich kaute Andrej auf dem Stück gesalzenen Fleisches, das Birger ihm gegeben hatte. Die Antworten Birgers klangen glaubhaft und überzeugend. Wieder hatte er das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. So wie am Abend zuvor, als sie ins Dorf hineingeritten waren und er gespürt hatte, dass sie in eine Falle tappten.

»Vielleicht sollten wir uns wirklich ausruhen«, schlug Abu Dun vor. »Es wird eine lange Nacht.«

Birger stand auf. »Ich sehe nach Stefan und seinem Bruder.«

Sie warteten, bis es dunkel wurde. Der Himmel hatte sich fast lückenlos mit Wolken zugezogen, sodass es sehr dunkel war, und die Kälte wurde grausam.

Andrej zitterte am ganzen Leib. Er war nicht mehr sicher, ob es wirklich gut gewesen war, so lange zu rasten. Inzwischen war er steif gesessen, und sein Rücken schmerzte.

Abu Dun drehte sich in Richtung der Pferde, aber Birger schüttelte den Kopf. »Von hier aus gehen wir besser zu Fuß«, sagte er. »Mit den Pferden kommen wir nicht mehr sehr weit. Das Gelände wird bald unwegsam.«

Sie marschierten los; Birger an der Spitze, Andrej und Abu Dun dicht hinter ihm. Die Kälte schien schlagartig zuzunehmen, als sie die unsichtbare Grenze überschritten und unter ihren Stiefeln nun endgültig verharschter Schnee knirschte. Das Gelände war so unübersichtlich, dass sie mit den Pferden keine hundert Schritte weit gekommen wären, und ohne Birgers Führung hätten sie sich schon nach fünfzig Schritten hoffnungslos verirrt.

Der Boden schimmerte in einem unheimlichen Knochenweiß, und die Bäume verkrochen sich in den Schatten. Selbst Andrej mit seinen überscharfen Sinnen war beinahe orientierungslos. Abu Dun musste es vollkommen sein. Andrej nahm an, dass Birger sich hier gut genug auskannte, um sich auch mit verbundenen Augen zurechtzufinden.

Die unheimliche Nacht trübte auch Andrejs Zeitgefühl. Er hätte nicht sagen können, wie lange sie schon unterwegs waren. In der Wolkendecke über ihnen erschienen einige Lücken, und bald sahen sie sogar eine bleiche Mondsichel.

Plötzlich hörte Andrej ein Geräusch. Es war unendlich leise, gerade an der Wahrnehmungsgrenze selbst seiner unvorstellbar scharfen Sinne. Aber etwas daran war so unheimlich, dass er mitten in der Bewegung innehielt und sich halb in die Richtung drehte, aus der das Geräusch gekommen war.

»Was habt Ihr?«, fragte Birger.

Abu Dun sagte nichts, aber seine Hand senkte sich auf das Schwert.

»Da ist etwas«, murmelte Andrej. »Ich habe etwas gehört.«

Birger lauschte angespannt, und genau im gleichen Moment, in dem er den Kopf schüttelte und sagte: »Ich höre nichts«, erklang das Geräusch wieder: Etwas wie ein klagendes Seufzen, unendlich weit entfernt und voller abgrundtiefen Schmerzes und noch tieferer Furcht. Er deutete nach rechts in die Dunkelheit hinein.

»Dort.«

»Aber da ist nichts!«, befand Birger. Er hatte nichts gehört, und wie auch?

Selbst Andrej hatte Mühe, die genaue Richtung zu orten, aus der das Stöhnen kam. Er beachtete Birgers Einwand nicht und ging los. Abu Dun zog das Schwert und folgte ihm, und nach kurzem Zögern schloss sich ihnen auch Birger an.

»Andrej, was tut Ihr?«, japste er. »Wir haben nicht viel Zeit! Ich versichere Euch, da ist nichts!«

Andrej missachtete ihn weiterhin, aber Abu Dun sagte: »Wenn Andrej sagt, dass dort etwas ist, dann ist dort etwas.«

»Verschwendete Zeit!« Birger wurde zornig. »Zeit, die wir nicht haben! Glaubt mir, wenn da vorne etwas wäre, dann hätten uns Stefan und Johann längst gewarnt.«

»Ein guter Einwand«, knurrte Abu Dun. »Wo sind sie überhaupt?«

»Sie sind vorausgeeilt, um den Weg zu sichern«, antwortete Birger. »Sie hätten uns gewarnt, wenn sie etwas bemerkt hätten.«

»Falls sie nicht gerade irgendwo dort vorne im Schnee liegen und verbluten«, fügte Abu Dun hinzu. Er fuchtelte mit dem Krummsäbel, und blitzende Lichtreflexe sprangen aus der Klinge und schienen ihnen ein Stück vorauszueilen.

Birger gab auf, und Andrej beschleunigte seine Schritte noch ein wenig.

Das Geräusch wiederholte sich nicht, aber nun nahm er einen ganz sachten, aber nur zu vertrauten Geruch wahr. Blut. Frisches, warmes Blut. Er ging schneller, geleitet von dem Blutgeruch, und so rasch, dass Birger und Abu Dun Mühe hatten, ihn nicht zu verlieren.

Er entdeckte den Toten, als er eine flache Hügelkuppe hinter sich gebracht hatte. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten im Schnee, und es hätte der Unmengen von Blut, das im Mondlicht eher schwarz als rot aussah, gar nicht bedurft, um auf den ersten Blick zu erkennen, dass er tot war. Seine Glieder waren auf schreckliche Weise verdreht und verrenkt, und eine seiner Hände war abgerissen und lag ein Stück entfernt im Schnee.

Hinter ihm sog Birger hörbar die Luft ein, und Abu Dun stieß einen halblauten Fluch aus und beschleunigte seine Schritte, sodass er gleichzeitig mit Andrej neben dem Toten anlangte.

Während Andrej neben dem Mann im Schnee niederkniete, nahm er mit leicht gespreizten Beinen und erhobenem Schwert neben ihm Aufstellung und drehte sich langsam um seine eigene Achse, um Andrej gegen einen eventuellen Angreifer zu schützen, der sich in der Dunkelheit verborgen halten mochte.

Andrej drehte den Toten behutsam auf den Rücken und hatte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken. Er war auf genügend Schlachtfeldern gewesen, um zu glauben, dass ihn nichts mehr erschrecken konnte.

Er irrte.

»Großer Gott!«, keuchte Birger hinter ihm. »Wer tut so etwas?«

Andrej schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich sein rebellierender Magen immerhin weit genug erholt, damit er den Leichnam einer zweiten und etwas eingehenderen Musterung unterziehen konnte. Sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen, ebenso wenig sein Alter oder seine Herkunft, aber man konnte zumindest sehen, dass er wohl eine Art Soldat oder Krieger gewesen war. Im Schnee neben ihm lag ein zerbrochenes Schwert.

»Habt Ihr diesen Mann schon einmal gesehen?«, fragte er.

»Seid Ihr sicher, dass es ein Mann war?«, gab Birger mit belegter Stimme zurück.

Andrej sah zornig zu ihm hoch, und Birger schüttelte hastig den Kopf.

»Er könnte zum Kloster gehören«, sagte er. »Sie tragen diese Art von Schwertern.«

»Sagtest du nicht, sie wären keine Krieger?«, fragte Abu Dun misstrauisch.

»Sie haben ein paar Wachen«, antwortete Birger. »Männer des Landgrafen.«

»Ein paar Wachen, so«, grollte Abu Dun. Seine Stimme bebte vor Zorn, aber er hörte nicht auf, sich langsam im Kreis zu drehen und die Dunkelheit ringsum mit Blicken abzusuchen. »Wie viele sind ein paar?«

»Nicht viele«, antwortete Birger stockend. »Vielleicht ein halbes Dutzend. Bestimmt nicht mehr.«

»Und wann wolltest du uns das sagen?«, fragte Andrej ruhig.

Birgers Blick tastete mit wachsender Unruhe den grässlich verstümmelten Leichnam ab. »Wir wären ihnen vielleicht nicht einmal begegnet«, verteidigte er sich. »Ich hatte nicht vor, das ganze Kloster zu überfallen.«

»Das hatten wir auch nicht«, sagte Abu Dun. »Was hat den Mann umgebracht, Andrej ?«

»Auf jeden Fall kein Mensch«, Andrej wandte sich um. »Gibt es Raubtiere hier in den Bergen, Birger?«

»Wölfe«, antwortete Birger, aber Andrej schüttelte sofort den Kopf.

»Kein Wolf könnte so etwas tun. Seht Ihr seinen Kopf ? Der Schädelknochen eines Menschen ist härter als Eisen.«

»Vielleicht ... vielleicht ein Bär«, überlegte Birger. »Es ist lange her, dass Bären hier gesehen wurden, aber es könnte sein.«

»Was immer es war, es war ziemlich groß«, stellte Abu Dun fest. »Und du hast Recht, Andrej - es war kein Mensch.«

Andrej blickte in die Richtung, in die Abu Dun mit dem ausgestreckten Säbel wies, und stand auf. In dem blutigen Schnee war ein einzelner Fußabdruck zu erkennen. Es war nicht der Fußabdruck eines Menschen, aber auch nicht der eines Wolfes oder Bären oder irgendeines anderen Tieres, das Andrej jemals gesehen hatte. Er war nicht einmal besonders groß, aber auf unheimliche Weise verzerrt und missgestaltet. Tiefe Eindrücke im Schnee zeugten von schrecklichen Krallen.

»Allah!«, entfuhr es Abu Dun. »Welche Kreatur hinterlässt solche Spuren?« Er keuchte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Aber was immer es ist, es ist verletzt.« Er deutete auf die frischen Blutspuren neben dem Fußabdruck. »Und es ist noch nicht sehr weit weg.«

Birger japste, als Andrej aufstand und ebenfalls seine Waffe zog. »Was habt Ihr vor? Ihr ... Ihr wollt dem Ungeheuer doch nicht etwa folgen?«

»Ich werde gewiss nicht weitergehen, wenn ich etwas hinter mir weiß, das zu so etwas fähig ist«, sagte Andrej entschlossen.

»Aber ...«

»Du kannst ruhig hier bleiben und auf uns warten«, sagte Abu Dun grinsend.

»Wir sind bestimmt bald zurück. Und wenn nicht wir, dann etwas anderes.«

Birger wurde noch bleicher, aber er verschwendete keinen weiteren Atem auf den Versuch, sie von ihrem Entschluss abzubringen, sondern hatte es im Gegenteil plötzlich sehr eilig, zu ihnen aufzuschließen.

Nach einer Weile fanden sie einen weiteren Fußabdruck, dann noch einen, bevor die Spur abbrach, weil der Boden felsiger und die Schneedecke darauf dünner wurde. Dennoch fiel es Andrej nicht schwer, der Spur weiter zu folgen.

Der Blutgeruch wies ihm den Weg.

Sie bewegten sich sehr vorsichtig. Alle ihre Sinne waren bis zum Zerreißen angespannt, und Andrej lauschte mit seinen schärferen Vampyr-Sinnen in die Nacht hinein.

Dennoch sah er das Ungeheuer beinahe zu spät.

Es erschien plötzlich von einem Moment auf den anderen aus dem Nichts, als hätte sich die Dunkelheit vor ihnen zusammengeballt, um schreckliche Gestalt anzunehmen. Andrej fand gerade noch Zeit, einen warnenden Schrei auszustoßen, aber Abu Dun fand nicht mehr genügend Zeit, um darauf zu reagieren. Das ... Ding hieb mit einer schrecklichen, Krallen bewehrten Hand nach ihm. Abu Dun duckte sich und rettete sich damit das Leben, denn der Hieb streifte ihn nur, statt ihm den Kopf von den Schultern zu trennen, aber die Wucht des Schlages reichte immer noch aus, den Nubier von den Füßen zu reißen und hilflos davon rollen zu lassen.

Andrej erstarrte vor Entsetzen. Niemals zuvor hatte er etwas Schrecklicheres gesehen.

Das Geschöpf war weder ein Mensch noch ein Tier, sondern eine abscheuliche Mischung aus beidem. Es war nicht einmal besonders groß, und es wirkte eher schmächtig, aber ganz und gar nicht zerbrechlich, sondern auf jene Abscheu erregende Weise dünn, wie sie besonders abstoßenden Insekten zu Eigen ist. Seine Haut glänzte nass wie rohes Fleisch, und auf dem entsetzlich missgestalteten Schädel wuchsen drahtige, dünne Haarbüschel.

Sein Gesicht war der schiere Albtraum.

Es hatte eine flache, fliehende Stirn, boshafte Augen, die tief unter dreieckigen Knochenwülsten lagen, und eine stumpfe Wolfsschnauze voller schiefer, spitzer Zähne.

Das Schlimmste aber war, dass die gesamte Gestalt völlig unproportioniert zu sein schien. Ihre Glieder waren unterschiedlich lang, und die Pfote, mit der sie nach Abu Dun geschlagen hatte, hatte mehr und längere Finger als die andere.

Das linke Bein, von dem der unheimliche Abdruck stammte, schien gleich zwei Kniegelenke zu haben, während das andere kürzer war und in einem gespaltenen Huf endete. Es war eine dämonische Missgeburt, eine Kreatur, die es nicht geben durfte.

»Scheijtan!«, keuchte Abu Dun. Das Wort ließ nicht nur den Dämon herumfahren, sondern riss auch Andrej aus seiner Erstarrung. Als der Unhold sich umdrehte, um sich auf sein gestürztes Opfer zu werfen, riss er das Schwert in die Höhe und stürmte los.

Abu Dun riss entsetzt die Arme vor das Gesicht und trat nach dem dämonischen Geschöpf. Andrej wusste aus eigener leidvoller Erfahrung, wie unglaublich stark der Nubier war, aber das heranstürmende Ungeheuer vermochte er nicht aufzuhalten.

Immerhin verfehlte sein Krallenhieb Abu Duns Gesicht und wühlte nur den Schnee neben seinem Kopf auf. Bevor die Bestie zu einem zweiten Schlag ausholen konnte, war Andrej zur Stelle und schlug mit dem Schwert zu. Seine Klinge biss tief in das gottlose Fleisch des Dämons. Der Damaszenenstahl vermochte mühelos Eisen zu zerschneiden, aber mit der so verwundbar aussehenden Haut des Dämons hatte er alle Mühe. Blut spritzte, und die Bestie stieß ein hohes, schrilles Schmerzgeheul aus, doch sie stolperte nur einen Schritt zurück und wandte sich geifernd zu Andrej um, statt zu Tode getroffen zu Boden zu stürzen. Das Ungeheuer blutete aus einer tiefen Wunde im Oberarm, doch es hätte tot sein müssen.

Andrej setzte ihm entschlossen nach. Sein Schwert stieß nach der Brust des Dämonenwesens, zerriss sein Fleisch und glitt von den eisenharten Rippen darunter ab und die Bestie sprang mit einem triumphierenden Geheul auf ihn zu und schlug ihm das Schwert aus der Hand. Andrej versuchte zurückzuweichen, aber es war zu spät. Die schrecklichen, asymmetrischen Arme der Bestie schlossen sich zu einer tödlichen Umklammerung. Er spürte, wie die Krallen des Unholds seinen Rücken aufrissen, dann wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst, und mehrere seiner Rippen brachen.

Er begriff zu spät, dass er einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Das Ungeheuer war deutlich kleiner als er, und es wirkte trotz seiner abstoßenden Hässlichkeit fast komisch. Aber es war ungeheuer stark, und es schien nur aus Wildheit und reiner Mordlust zu bestehen. Andrej stemmte sich mit verzweifelter Kraft gegen seine Umklammerung, aber seine Kraft reichte nicht aus. Noch mehr Rippen brachen, aber er hatte keine Luft mehr, um zu schreien. Wogen aus rotem Schmerz drohten sein Bewusstsein auszulöschen. Wie durch einen wabernden roten Nebel hindurch sah er, wie das grässliche Maul des Ungeheuers aufklappte und sich seine Zähne näherten, um ihm die Kehle aufzureißen.

Er hatte nur noch eine Wahl.

Andrej schloss die Augen, entspannte sich, so gut es die furchtbaren Schmerzen in seinem Rücken und seiner Brust zuließen - und griff nach dem Geist der Bestie.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Nur sehr wenige Male in seinem Leben hatte er die Katharsis vollzogen, und diese wenigen Male hatte er sie an Menschen vollzogen, nicht an Dämonen.

Es war, als hätte er die Hölle selbst berührt. Hass, brodelnder roter Hass, der keinen Grund brauchte und kein Ziel kannte, schlug ihm entgegen. Der absolute Wille zu töten, zu vernichten. Da war kein Ziel. Keine wirkliche Absicht.

Schwarze Energie floss in seinen Geist, ein brüllender Strom von solcher Macht, dass er Andrejs Geist für einen schrecklichen Moment einfach mit sich zu reißen drohte. Es war die große Gefahr beim Wechsel, dass der Nehmende zum Opfer wurde, und niemals war er diesem Schicksal näher gewesen als jetzt. Nicht lange, vielleicht für die Dauer eines Herzschlages, war der Kampf unentschieden; eine Winzigkeit nur, und Andrej wäre unterlegen und sein Geist in dem schwarzen Strudel untergegangen und aufgelöst worden.

Er gewann diesen Kampf, aber nur mit äußerster Mühe, und er erlangte keine Kraft aus der gestohlenen Lebensenergie, sondern spürte eine so gewaltige Erschöpfung und Müdigkeit, dass er zurücksank und nicht einmal mehr wahrnahm, wie ihn das zusammenbrechende Ungeheuer unter sich begrub.

Als er erwachte, konnte kaum mehr als eine kurze Zeitspanne vergangen sein, denn das Ungeheuer lag noch immer über ihm, und Abu Dun war gerade dabei, den leblosen Körper von ihm herunterzuzerren. Andrej spürte, wie die messerscharfen Klauen des Dämons seinen Rücken erneut aufrissen, und biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken.

Für einen Moment drohten ihm schon wieder die Sinne zu schwinden. Er schloss die Augen und konzentrierte sich mit verzweifelter Kraft darauf, wach zu bleiben. Tief am Grunde seiner Seele brodelte noch immer die Schwärze, die die Lebenskraft des Dämons in ihn hineingespült hatte. Er fürchtete, sie könne sich seiner bemächtigen, wenn er das Bewusstsein verlor.

Endlich löste sich das Gewicht des Dämons ganz von seiner Brust, und anstelle der schrecklichen Fratze des Mensch-Tier-Wesens erschien Abu Duns besorgtes Antlitz über ihm.

»Andrej! Bist du ...?«

»Es ist alles in Ordnung«, wisperte Andrej, hastig und leise, damit Birger die Worte nicht hören konnte. »Und ich bin auch noch ich.«

Abu Dun atmete auf. »Kannst du aufstehen?«

Andrej deutete ein Kopfschütteln an. »Ich blute«, flüsterte er. »Du musst Birger ablenken.«

Der Nubier verstand. Rasch richtete er sich auf, drehte sich halb herum und versetzte dem dahingerafften Ungeheuer einen Fußtritt. »Gottlose Bestie!«, grollte er. »Was ist das für ein Ding? Sehen alle Raubtiere in eurem Land so aus?«

»Ich habe Euch gesagt, dass es Ungeheuer in den Wäldern gibt«, antwortete Birger. Seine Stimme klang eher verstockt als erschrocken.

Andrej lauschte in sich hinein. Er spürte, dass sich die Wunden in seinem Rücken schon wieder zu schließen begannen; allerdings nicht so schnell, wie sie es hätten tun sollten. Nicht annähernd so schnell. Er war so oft verwundet worden, dass er fast auf den Augenblick genau vorhersagen konnte, wie lange welche Art von Verletzung brauchte, um zu heilen. Die lächerlichen Schnitte hätten längst spurlos verschwunden sein müssen. Seine Verschmelzung mit dem Ungeheuer hatte ihn nicht nur Kraft gekostet, es war, als hätte sie ihn vergiftet.

War das möglich? Noch vor kurzem hätte er diese Frage mit einem überzeugten Nein beantwortet, aber nun musste er an Alessa denken, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken.

»Was ist mit Andrej?«, erkundigte sich Birger. »Lebt er noch?«

»Sorgt Euch nicht um mich«, sagte Andrej. Behutsam richtete er sich auf, wobei er darauf achtete, Birger nicht den Rücken zuzukehren. »Ich bin nicht verletzt.«

Birger riss ungläubig die Augen auf, und Andrej hoffte, dass er nur gesehen hatte, wie das sterbende Ungeheuer ihn unter sich begrub, nicht, was ihm seine Klauen angetan hatten.

»Unverletzt?«, fragte Birger ungläubig. »Ihr seid unverletzt?«

Andrej stand unsicher auf. Sein Taumeln war nicht gespielt. Er war so schwach, dass er um ein Haar wieder gestürzt wäre, als er sich nach seinem Schwert bückte.

»Aber das ist doch ... unmöglich!« Birger sog scharf die Luft ein. »Großer Gott! Euer Rücken!«

Andrej musste sich beherrschen, um nicht laut zu fluchen.

Selbstverständlich hatte Birger seinen Rücken gesehen, als er sich nach dem Schwert bückte.

»Was ist damit?«, fragte er.

»Euer Gewand hängt in Fetzen«, antwortete Birger. »Aber Ihr habt nicht einen Kratzer. Und all das Blut.«

»Das ist nicht meines«, antwortete Andrej. Er rammte das Schwert in die verzierte Scheide. »Ich hatte Glück, Birger, wäre es Euch lieber, es wäre nicht so?«

»Natürlich nicht«, antwortete Birger hastig. »Es ist nur ...«

»Warum erzählst du uns nicht lieber, was das für ein Ungeheuer ist«, fiel ihm Abu Dun ins Wort. »So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.«

»Das hat niemand zuvor gesehen.« Birgers Blick flackerte, während er abwechselnd das erschlagene Untier und Andrej anstarrte, aber es war unmöglich zu sagen, vor wem er mehr Furcht empfand.

»Das ist eine sehr kärgliche Antwort, meinst du nicht auch?«, fragte Abu Dun.

»Ich weiß es nicht!«, behauptete Birger. »Vielleicht kommt es vom Kloster. Sie beten dort den Teufel an, das habe ich Euch doch gesagt! Vielleicht ist das einer seiner Dämonen, den sie heraufbeschworen haben, um sie zu beschützen!«

»Zuerst Soldaten und jetzt auch noch Dämonen«, sagte Abu Dun finster.

»Gibt es da vielleicht noch etwas, was du uns sagen solltest, Birger? Noch etwas, was uns dort erwartet?«

Birger schwieg verstockt, und nach einer Weile drehte sich Andrej in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Das werden wir schon sehen, Abu Dun«, sagte er. »Das werden wir schon sehen.«

Gegen das graue Zwielicht des Nachthimmels betrachtet, wirkte das Kloster wie das Schloss eines finsteren Magiers, das aus Schwärze und der Materie der Hölle erschaffen worden war, nicht aus Mörtel und Stein.

Seine Umrisse waren nicht genau zu erkennen, als wäre es von einer düsteren Macht umhüllt, die mit aller Kraft versuchte, es ihren Blicken zu entziehen.

Andrej blinzelte, und aus dem Geisterschloss wurde wieder das, was es war: ein dunkel daliegendes, nicht einmal besonders großes Bergkloster, das von einem einzelnen Turm überragt wurde.

»Ist alles in Ordnung?«

Es verging ein Moment, bis Andrej begriff, dass es Abu Duns Stimme war, die er hörte, und ein weiterer, bis ihm klar wurde, dass die Frage ihm galt. Mühsam wandte er den Kopf und sah dem Nubier ins Gesicht. Sein Rücken brannte. Er fror.

»Warum fragst du?«

»Weil du zitterst«, antwortete Abu Dun.

»Das ist nur die Kälte.«, sagte Andrej. Er wandte seinen Blick wieder dem Kloster auf der anderen Seite des steinigen Kammes zu. Auch wenn er nicht in Abu Duns Richtung blickte, spürte er doch ganz deutlich dass der Freund ihn musterte.

»Birger müsste längst zurück sein«, sagte Abu Dun; Sein Ton machte klar, dass er lieber über etwas anderes gesprochen hätte. Er wartete Vergebens auf eine Antwort. Birger wollte voraus gehen, um nach den beiden anderen Männern zu suchen. Zumindest hatte er das gesagt.

»Traust du ihm?«, fragte er Andrej schließlich.

»Birger?«

»Wem sonst? Natürlich Birger.«

Andrej deutete ein Schulterzucken an. »Für diese Frage ist es zu spät, meinst du nicht?«

»Es ist niemals zu Spät, um Vernunft anzunehmen« sagte Abu Dun tadelnd. »Niemand hindert uns daran aufzustehen und unseres Weges zu gehen.«

»Wir haben eine Abmachung«, erinnerte Andrej ihn.

Abu Dun schnaubte abfällig. »Es war nie die Rede von einem halben Dutzend Soldaten«, stieß er hervor. »Und schon gar nicht von dieser Ausgeburt der Hölle. Ist dir klar, dass diese Kreatur uns fast getötet hätte?«

»Mehr, als du vielleicht ahnst, mein Freund«, antwortetet Andrej, was Abu Dun zu einem besorgtem Stirnrunzeln veranlasste.

»Jetzt, wo wir allein sind«, Abu Dun senkte die Stimme, »kannst du mir sagen, was für ein Ungetüm das war? tatsächlich ein Dämon?«

Andrej zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht an Dämonen«, sagte er. »Außer an solche in Menschengestalt.«

»Dann habe ich mir das wahrscheinlich alles nur eingebildet«, sagte Abu Dun spöttisch. »Genauso wie ich mir einbilde, dass deine Hände zittern.«

»Das kommt daher, dass ich sie kaum noch daran hindern kann, sich um deinen Hals zu legen«, antwortete Andrej ruppig. »Halt endlich den Mund.«

»Wir Ihr befehlt, Sahib«, kam die spöttische Antwort.

Andrej schluckte im letzten Moment die scharfe Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Jetzt war wirklich nicht der Moment, um einen Streit anzuzetteln. Andrej hatte sich stets geweigert, an die Existenz von Dämonen zu glauben. Aber er hatte sich auch stets geweigert, an die Existenz von Ungeheuern zu glauben - und er hatte gerade mit Mühe und Not die Begegnung mit einem jener Ungeheuer überlebt, deren Existenz er bezweifelte.

»Da kommt jemand«, zischte Abu Dun. Und fügte hinzu: »Birger. Er ist allem. Nein, doch nicht.« Er stemmte sich ein Stück in die Höhe und winkte Birger und seinem Begleiter zu. Andrej sah den beiden schemenhaften Gestalten erstaunt entgegen - wieso hatte Abu Dun sie eigentlich vor ihm entdeckt? -, ehe er sich wieder auf die dunkleren Umrisse dahinter konzentrierte.

Viel gab es indes nicht zu sehen. Das Kloster hob sich kaum gegen die Dunkelheit ab, und von dem Dorf, von dem Birger gesprochen hatte, war überhaupt nichts zu erkennen. Die Finsternis dort drüben schien allumfassend, als sauge etwas das ohnehin spärliche Licht auf.

Andrej fuhr sich mit der Hand über die Augen. Abu Dun hatte Recht. Er war es, mit dem etwas nicht stimmte.

»Wenn wir wieder einmal unterschiedlicher Meinung über eine Abmachung sind, Pirat«, sagte er, »dann schlag mich einfach nieder und binde mich auf mein Pferd.«

»Mein Wort darauf, Hexenmeister«, knurrte Abu Dun.

Birger und sein Begleiter näherten sich ihrem Aufenthaltsort, und als sie ihn erreicht hatten, ließen sie sich lautlos neben ihnen nieder. Noch bevor Birger etwas sagen konnte, fragte Abu Dun misstrauisch: »Wo ist der Dritte von euch?«

»Stefan hält auf der anderen Seite des Passes Wache«, antwortete Birger so rasch, als hätte er diese Frage erwartet. »Damit wir keine unliebsamen Überraschungen erleben.«

»Wie umsichtig«, spottete Abu Dun. »Ich beginne mich zu fragen, wozu du uns überhaupt brauchst.«

Birger runzelte verärgert die Stirn, zwang sich aber dann zu einem verkniffenen Lächeln. »Im Dorf ist alles ruhig. Alle schlafen. Dasselbe gilt für das Kloster. Es gibt eine Wache am Tor, aber es dürfte Euch nicht schwer fallen, sie auszuschalten.«

»Uns?«, wiederholte Abu Dun fragend. Er machte eine Geste, die ihn selbst, Andrej und auch Birger einschloss. »Du meinst sicher uns alle?«

»Weiter als bis hier gehe ich nicht«, entgegnete Birger.

»Das war nicht vereinbart!«

»Ich wäre nur eine Last für Euch« Birger blieb beharrlich. »Der Weg in den Kerker ist nicht zu verfehlen. Gleich hinter dem Tor steht ein kleines Gebäude ohne Fenster. Darin befindet sich die Treppe nach unten. Es ist sicher verschlossen, aber die Wache am Tor hat einen Schlüssel.«

»Du kennst dich ziemlich gut aus«, stellte Abu Dun misstrauisch fest.

»Ich habe einen der Kerle gefangen, die bei dem Überfall dabei waren«, antwortete Birger ungerührt. »Im vergangenen Frühjahr, als ich noch auf Vergeltung aus war. Er war sehr redselig, aber es hat ihm nichts genützt. Die Treppe führt direkt ins Verlies hinunter. Wahrscheinlich gibt es dort unten eine weitere Wache, vielleicht auch mehr. Ihr müsst vorsichtig sein.«

Abu Dun wollte auffahren, aber Andrej legte ihm rasch und beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. »Lass gut sein, Abu Dun. Es stimmt. Er wäre nur eine Last für uns, vor allem, wenn wir schnell fliehen müssen. Wie erkennen wir deine Tochter?«

»Ihr Name ist Imret«, antwortete Birger. »Sie ist zwölf Jahre alt und hat blondes Haar, fein wie Seide und lang bis auf den Rücken.«

»Du meinst, das hatte sie, als du sie das letzte Mal gesehen hast«, sagte Abu Dun.

Das Gesicht des Dörflers verfinsterte sich. Andrej wünschte sich, Abu Dun hätte sich etwas vorsichtiger ausgedrückt.

»Sie hat ein kleines Muttermal auf der linken Wange«, ergänzte Birger. »Ihr werdet sie erkennen. Sie ist das schönste Mädchen, das Ihr je gesehen habt.«

»Gut«, sagte Andrej, bevor Abu Dun Gelegenheit fand, Birger noch weiter zu quälen. »Das wird wohl reichen. Ihr wartet hier. Wenn irgendetwas geschieht, was Euch nicht geheuer vorkommt, dann bringt Euch in Sicherheit. Wir finden Euch schon.«

Er stand auf und huschte geduckt dem Schatten des Klosters entgegen. Abu Dun folgte ihm in geringem Abstand, aber schon bald liefen sie nebeneinander her, und als sie sich dem Eingang des Klosters näherten, übernahm der Nubier die Führung, bis er plötzlich stehen blieb, sich auf ein Knie herabsinken ließ und warnend die linke Hand hob. Die andere hatte er auf den Schwertgriff gelegt, die Waffe aber noch nicht gezogen; wohl damit sich kein verirrter Lichtstrahl auf dem Metall des Krummsäbels brach und sie verriet.

»Dort vorne!«, zischte er.

Andrej starrte aufmerksam in die Richtung, in die Abu Dun wies. Erst nach einem Moment sah er den gedrungenen Schatten, der lässig an der Wand neben dem Tor lehnte. Abu Dun hatte den Mann vor ihm entdeckt.

Andrej ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei, duckte sich noch tiefer und zog sein Schwert, als er noch zwei Schritte von dem Wächter entfernt war. Der Mann schrak aus seinem Halbschlaf auf, aber es war zu spät.

Andrej schlug ihm den Schwertknauf unter das Kinn, und der Schädel des Mannes prallte mit einem knirschenden Laut gegen die Wand. Reglos sank er daran zu Boden, und Andrej winkte Abu Dun heran, ehe er neben dem Posten niederkniete und nach seinem Puls fühlte. Er lebte noch. Gut.

»Andrej! Pass auf!«

Abu Dun hatte seine Warnung laut gerufen. Andrej schrak zusammen und fuhr herum, und aus der Wand über ihm sprühten Funken, als eine Schwertklinge dagegen schlug. Andrej reagierte instinktiv und endlich wieder so schnell, wie er es gewohnt war: Er ließ sich zurückfallen und stieß zugleich das Schwert schräg nach oben. Noch während er mit einer fließenden Bewegung wieder auf die Füße kam, brach der Mann gurgelnd zusammen. Er starb, noch bevor sein Körper den Boden berührte.

»Alles in Ordnung?« Abu Dun kam schwer atmend neben ihm an. »Bist du verletzt?«

Andrej schüttelte benommen den Kopf. »Zwei«, murmelte er. »Es waren zwei Wächter.«

»Birger wird uns eine Menge erklären müssen«, grollte Abu Dun.

»Hoffentlich stimmt der Rest seiner Beschreibungen. Aber ich glaube, niemand hat etwas gehört. Wir haben Glück gehabt.«

Zuviel dachte Andrej. Ein eisiger Schauer lief auf dünnen Spinnenbeinen sein Rückgrat hinab. Es waren zwei Wächter gewesen! Aber wieso hatte er den zweiten Mann nicht bemerkt? Er hätte ihn riechen müssen, lange bevor er aufgetaucht war!

Großer Gott, er hätte seinen Herzschlag hören müssen, so nahe, wie er ihm gekommen war!

»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, fragte Abu Dun nun leise, aber sehr besorgt.

»Verdammt noch mal, ja!«, schnappte Andrej. »Ich warte nur darauf, dass sämtliche Klosterbewohner angestürmt kommen. Laut genug geschrien hast du ja.«

»Du machst Fehler«, sagte Abu Dun. »Aber das passiert dir sonst nie. Nicht solche Fehler.«

»Ich bin unruhig«, antwortete Andrej fahrig. »Lass uns weitergehen. Wir haben nicht sehr viel Zeit.«

»Aber diesmal gehe ich voraus«, antwortete Abu Dun.

Er ging los, ohne Andrejs Antwort abzuwarten, und trat geduckt durch die offen stehende Pforte, die in einen der großen Torflügel eingelassen war.

Andrej folgte ihm. Der kurze Torgang war vollkommen dunkel, und auch der dahinter liegende Hof lag völlig unbeleuchtet da. In dem wuchtigen Geviert, das den Hof einrahmte, brannte nicht ein einziges Licht, und es war vollkommen still.

Andrej spürte etwas. Etwas Altes und Wohlvertrautes, vor dem er trotzdem zurückschrak wie eine Hand vor glühendem Eisen. Etwas regte sich in ihm.

Zuallererst glaubte er, es wäre noch immer die Schwärze, die nach dem Wechsel am Grunde seiner Seele zurückgeblieben war, aber das stimmte nicht. Es war nichts Fremdes, sondern etwas, das immer Teil seiner selbst gewesen war, auch wenn er es bisher mühsam unterdrückt hatte.

Gier.

Er spürte eine noch sachte, aber rasch stärker werdende Gier, ziellosen Hunger, der sich langsam in ihm auszubreiten begann, bald aber schon zu einem unerträglichen Brennen und Wühlen ansteigen würde.

»Dort vorne. Das muss der Eingang sein. Wenigstens was das betrifft, scheint Birger die Wahrheit gesagt zu haben.«

Andrej hatte Mühe, Abu Duns Worten zu folgen. Er zitterte am ganzen Leib.

Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, und es fiel ihm zunehmend schwer, auch nur das Schwert festzuhalten. Von der Klinge tropfte noch das Blut des Posten, den er erschlagen hatte, und sein Geruch schien immer intensiver zu werden.

Ohne eine Antwort abzuwarten schlich Abu Dun weiter und verschmolz nach wenigen Schritten mit dem Schatten des Treppenhauses. Andrej folgte ihm erst, als er das Geräusch der Tür hörte und ein roter Schimmer auf den Hof fiel.

Hinter der Tür, die so niedrig war, dass nicht nur Abu Dun, sondern auch er selbst sich bücken musste, um die Schwelle zu passieren, führte eine schmale, sehr steile Treppe in die Tiefe. An ihrem unteren Ende flackerte rotes Licht.

Brandgeruch schlug ihnen entgegen, vermischt mit den unverwechselbaren Ausdünstungen eines Kerkers: Blut und eingetrocknete Exkremente, saurer Angstschweiß und der Odem unendlichen Leides, von dem dieser Ort so viel aufgesogen zu haben schien, dass es zu einem festen Bestandteil seiner Wände geworden war. Etwas in Andrej schrak vor diesem Geruch zurück, aber etwas anderes, Schreckliches schien zu jubilieren und dieses teuflische Gemisch einzuatmen und sich daran zu laben wie an einem Becher uraltem köstlichem Wein. Es kostete ihn fühlbare Anstrengung, dem Nubier in die Tiefe zu folgen.

Die Treppe endete in einem winzigen halbrunden Raum, von dem zwei Gittertüren abzweigten, die in finstere Gänge mit niedrigen gewölbten Decken führten. Am Ende des einen flackerte das rote Licht, dessen Schimmer sie schon gesehen hatten, am Ende des anderen herrschte vollkommene Dunkelheit.

»Von zwei Gängen hat er nichts gesagt«, flüsterte Abu Dun. Er sah Andrej fragend an, aber der konnte nur mit einem Schulterzucken antworten. Noch am Morgen hätte er Abu Dun sagen können, wie viele Männer sich am Ende des jeweiligen Ganges befanden, womit sie beschäftigt waren und wie viele Gefangene es in den Zellen hier unten gab.

Jetzt sah und hörte er nicht mehr als der Nubier, vielleicht sogar weniger.

»Wir können immer noch umkehren«, sagte Abu Dun.

»Wir können auch hier stehen bleiben und zaudern, bis jemand kommt und uns einen Stuhl und einen Becher Wein bringt.« Andrejs Stimme klang zornig. Auch das war ... nicht in Ordnung. Abu Dun und er stritten oft, aber meistens waren es nur halb scherzhafte Auseinandersetzungen. Er war selten wirklich ungeduldig. Etwas geschah mit ihm. Er wusste noch immer nicht genau was, aber es machte ihm Angst.

Große Angst.

Abu Dun legte die Hand auf das in den dunklen Gang führende Gitter.

Es schwang mit einem leisen Quietschen der eisernen Angeln auf, die lange Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Sofort zog Abu Dun die Hand zurück und versuchte sein Glück bei der anderen Tür. Auch sie ließ sich öffnen, aber deutlich leiser als die andere. Abu Dun schob sie gerade weit genug auf, um seine breiten Schultern hindurchzwängen zu können, steckte das Schwert ein und huschte lautlos den Gang hinab.

Andrej folgte ihm, allerdings langsamer und somit in allmählich größer werdendem Abstand. Anders als Abu Dun hatte er das Schwert nicht eingesteckt. Der Blutgeruch, den die Klinge verströmte, schien immer stärker zu werden, und im gleichen Maße nahm der Hunger zu, der in seinen Eingeweiden wühlte.

Nachdem er die halbe Wegstrecke bis zum Ende des Ganges zurückgelegt hatte, blieb Abu Dun stehen und sah durch die vergitterte Sichtluke einer der zahlreichen Türen, die sich in der rechten Tunnelwand befanden. Lange stand er reglos da. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. An seiner verkrampften Haltung erkannte Andrej, dass irgendetwas in der Zelle seinen Blick bannte. Als er neben ihm angelangt war, ging er weiter und gab den Platz für Andrej frei.

Die Zelle, in die er blickte, war fensterlos, aber so klein, dass selbst das wenige Licht, das durch die vergitterte Luke fiel, ausreichte, um sie zu erhellen. An der Wand, auf die Andrej blickte, lehnte ein schon halb mumifizierter Leichnam; der angekettete Körper eines nackten Mannes, der zweifellos schon zu Lebzeiten in diese qualvolle Haltung gezwungen worden war. Der Mann war offenbar verhungert.

Schaudernd wandte sich Andrej ab. Abu Dun war am sichtbaren Ende des Ganges stehen geblieben und lugte vorsichtig um die Biegung. Die rechte Hand hatte er wieder auf das Schwert gelegt, die andere hatte er zu einer mahnenden Geste in Andrejs Richtung erhoben. Es gab nun keinen Zweifel mehr daran, wer die Führung übernommen hatte. Abu Dun wirkte auf Andrej wie ein Riese, ein schwarzer Gigant, den nichts in Gefahr bringen oder erschüttern konnte - aber zugleich auch verwundbar, so zerbrechlich und voller verlockendem Leben, warm und pulsierend, und ...

Andrej blieb stehen und presste die Lider so fest aufeinander, dass bunte Lichtblitze vor seinen Augen tanzten.

Seine Hand, die das Schwert hielt, zitterte. Nur mit äußerster Mühe gelang es ihm, die mörderische Gier niederzuringen und das Schwert wieder in die Scheide zu schieben. Der Blutgeruch nahm nicht ab. Er schien ganz im Gegenteil noch stärker zu werden, so, als könne er nun nicht mehr nur das Blut auf der Klinge, sondern auch das in Abu Duns Adern riechen.

»Zwei«, flüsterte Abu Dun. »Es sind zwei.« Er deutete auf die beiden Männer, die nur wenige Schritte hinter der Gangbiegung standen und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. »Bleib zurück. Ich erledige das.«

Er zog das Schwert und huschte los, in einer schnellen, fließenden Bewegung. Trotz seiner Größe bewegte er sich fast vollkommen lautlos.

Die beiden Wachposten konnten nicht den geringsten Widerstand leisten. Abu Dun kam über sie wie der Zorn Gottes.

Noch bevor einer von ihnen auch nur einen Warnschrei ausstoßen konnte, packte Abu Dun den ersten, wirbelte ihn herum und stieß ihn in Andrejs Richtung. Den anderen ergriff er und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass der Mann augenblicklich das Bewusstsein verlor.

Andrej fing den anderen Soldaten auf, schlug ihm hart mit dem Handrücken gegen den Kehlkopf, um seinen Schrei zu unterdrücken, und warf ihn dann ebenfalls gegen die Wand; ein hundertfach geübtes Vorgehen, das sie in ihrer gemeinsamen Zeit als Söldner unzählige Male mit Erfolg durchexerziert hatten. Der Mann, unfähig zu schreien, prallte mit dem Kopf gegen die Wand, verdrehte die Augen und begann zusammenzubrechen. Andrej fing ihn auf, um ihn zu Boden sinken zu lassen; nicht nur aus Barmherzigkeit, sondern auch, damit er kein unnötiges Geräusch verursachte.

Der Mann lebte und war vermutlich nicht einmal schwer verletzt, aber er hatte sich eine Platzwunde an der Schläfe zugezogen. Blut lief über sein Gesicht, und dieser Anblick veränderte alles.

Andrej ließ den Mann nicht los. Einen Moment lang erstarrte er, dann gruben sich seine Hände tiefer in den Hals des Bewusstlosen. Statt ihn zu Boden zu schleudern, riss er ihn wieder in die Höhe und rammte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass sein Hinterkopf noch einmal und mit deutlich mehr Gewalt gegen den rauen Stein stieß. Obgleich er ohnmächtig war, stöhnte er halb laut, und die Platzwunde an seiner Schläfe begann stärker zu bluten.

Süßes, warmes Blut lief über sein Gesicht, lebendig und voller pulsierender Energie.

Andrejs Gier wurde übermächtig: ein Hunger, der zu schierer Qual explodierte, und den er stillen musste, jetzt.

Wimmernd vor Begierde drückte er den Kopf des wehrlosen Mannes nach hinten, hob die andere Hand und krümmte die Finger zu einer tödlichen Klaue, um ihm die Kehle auf zureißen.

Eine riesige Pranke schloss sich um sein Handgelenk und riss ihn mit solcher Gewalt zurück, dass er glaubte, das Gelenk würde aus der Schulter gezerrt. Andrej schrie vor Schmerz auf, riss sich los und fuhr mit kampfbereit erhobenen Händen herum.

Abu Dun schlug ihm die Faust unter das Kinn, und seine Knie wurden weich und gaben unter dem Gewicht seines Körpers nach. Sein Mund füllte sich mit Blut - seinem eigenen - und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Dann fegte lodernde rote Wut Schmerz und Schwäche davon, und er sprang mit einem Knurren auf die Füße.

Abu Dun versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die bunte Sterne vor seinen Augen explodieren ließ. Andrej taumelte, und Abu Dun versetzte ihm eine zweite, noch heftigere Maulschelle, die ihn endgültig in die Knie zwang.

Seine Glieder begannen haltlos zu zittern, und mit einem Male fühlte er sich nur noch schwach. Er sank nach vorne, versuchte vergebens, den Sturz abzufangen, und schlug schwer mit dem Gesicht auf den rauen Boden auf.

Auch jetzt verlor er nicht das Bewusstsein, aber es verging lange Zeit, bis er die Gewalt über seinen Körper zurückerlangt hatte. Mühsam stemmte er sich in die Höhe, öffnete die Augen und sah direkt in Abu Duns finsteres Gesicht.

»Hast du dich wieder in der Gewalt?«, fragte der Nubier.

Andrej nickte. Bevor er antwortete, tastete er mit spitzen Fingern seinen Unterkiefer ab, wie um sich davon zu überzeugen, dass er noch an Ort und Stelle war.

»Was war los?«, fragte Abu Dun.

»Ich ...« Andrej blickte schaudernd zu dem reglosen Körper auf der anderen Seite des Ganges hinüber. »Ich weiß es nicht.«

»Aber jetzt ist es vorbei?«

Andrej lauschte einen Moment in sich hinein. Da war noch immer etwas Fremdes und Furchteinflößendes in ihm, aber die grauenhafte Gier war erloschen. Er nickte. »Ja. Ich weiß nicht, was ...«

»Das ist jetzt unwichtig.« Abu Dun streckte die Hand aus, um ihm auf die Füße zu helfen. »Du wirst es mir später erklären. Jetzt müssen wir weiter. Ich habe das Mädchen gefunden.«

»Bist du sicher, dass es das richtige ist?«, fragte Andrej. Er stand unsicher auf seinen Füßen. Abu Dun ließ seine Hand los, und im ersten Moment wurde ihm schwindelig, als hätte der Nubier damit auch zugleich eine unsichtbare Verbindung gelöst, über die er ihm Kraft gespendet hatte.

»Die Auswahl ist nicht besonders groß«, sagte Abu Dun. »Bist du sicher, dass du sie mitnehmen willst?«

»Wieso?«

Statt zu antworten, drehte Abu Dun sich herum und steuerte eine der niedrigen Türen an, die auch diesen Gang säumten. Andrej folgte ihm mit schleppenden Schritten. Er hatte das Gefühl, Fieber zu bekommen. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen. Als er neben Abu Dun ankam, hatte er fast vergessen, was der Nubier zu ihm gesagt hatte.

Dabei wusste er längst, was mit ihm geschah, aber er weigerte sich, es hinzunehmen. Nicht nur, weil er Angst davor hatte, sondern weil es allem widersprach, woran er je geglaubt hatte.

Abu Dun hatte bisher an der kleinen Sichtluke gestanden, die es auch in dieser Tür gab. Jetzt trat er zur Seite, um den Platz für Andrej freizugeben.

Auch diese Zelle war winzig; kaum größer als ein Alkoven. Das Mädchen stand nackt, und auf die gleiche qualvolle Weise aufrecht an die Wand gekettet wie der Tote, den sie vorhin gefunden hatten, der Tür gegenüber und schien zu schlafen. Als Andrej es sah, fuhr er zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

Das Mädchen bot einen Grauen erregenden Anblick. Birger hatte gesagt, dass seine Tochter zwölf Jahre alt wäre, doch Andrej konnte erkennen, dass sie körperlich bereits zu einer Frau herangewachsen war. Ihr Körper war mit unzähligen Striemen, Narben und erst halb verschorften Wunden übersät; Spuren von Peitschenhieben und anderen bestialischen Dingen, die man ihr angetan hatte. Ihre Handgelenke waren unförmig angeschwollen und zu dick vereiterten Wunden geworden, weil sie seit Tagen und Wochen (Wochen? dachte Andrej schaudernd. Großer Gott - möglicherweise seit zwei Jahren) mit hoch über den Kopf erhobenen Armen an die Wand gekettet waren.

Sie stand fast knöcheltief in ihrem eigenen Schmutz. Selbst hier draußen war der Gestank, der Andrej entgegenschlug, fast unerträglich.

»Diese Teufel!«, grollte Abu Dun. »Sie nennen sich Christen? Bei Allah, für mich sind sie nicht einmal Menschen! Tritt zurück!«

Andrej gehorchte. Abu Dun machte sich nicht die Mühe, einen der bewusstlosen Wächter nach dem Schlüssel zu durchsuchen. Er trat mit solcher Wucht gegen den Riegel, dass dieser zerbarst. Wütend zerrte er die Tür auf, trat in die Zelle und schwang seinen Säbel. Er musste zwei-, dreimal zuschlagen, bevor es ihm gelang, eines der Kettenglieder zu zersprengen, die von Imrets Handgelenken zu einem eisernen Ring hoch oben in der Wand hinaufführten.

Dann aber sackte das Mädchen so plötzlich in sich zusammen, dass Abu Dun sie nur mit Mühe und Not auffangen konnte. Sein Schwert klirrte zu Boden.

Andrej wartete, bis er die Zelle mit dem Mädchen auf dem Arm verlassen hatte, dann bückte er sich und hob die Klinge auf.

Abu Dun schüttelte den Kopf, als Andrej das Schwert in seinen Gürtel schob und ihm das bewusstlose Mädchen abnehmen wollte.

»Geh voraus«, sagte er knapp.

Andrej drehte sich gehorsam um und eilte voraus, aber erst, nachdem er Imret noch einen Herzschlag lang betrachtet hatte. Der Anblick erfüllte ihn mit einer rasenden Wut. Das Mädchen war abgemagert bis auf die Knochen, war fast so groß wie er, und es gab kaum eine Stelle an seinem Körper, die nicht von Narben oder frischen Wunden bedeckt war. Er wünschte sich nichts mehr, als Vergeltung für das, was diesem unschuldigen Kind angetan worden war.

Sein Wunsch sollte sich rasch erfüllen.

Sie hatten den Gang hinter sich gelassen, und Andrej näherte sich der Treppe, als oben auf dem Hof ein gellender Schrei ertönte. Der Laut drang nur gedämpft zu ihnen vor, aber Andrej hatte derartige Schreie zu oft gehört, um nicht sofort zu wissen, dass die beiden Wachen gefunden worden waren.

»Verdammt!«, fluchte Abu Dun. »Das hätte nicht passieren dürfen! Lauf!«

Andrej stürmte gehorsam los, aber er war nicht schnell genug. Jede Stufe kostete ihn Anstrengung, es war, als müsse er seinen Körper zu jeder noch so winzigen Bewegung mühsam zwingen. Was immer das Ungeheuer ihm angetan hatte, es wirkte schnell.

Sie stürmten auf den Hof hinaus, der nicht mehr dunkel und still war. Hinter mehreren Fenstern flackerte rotes Licht, und Andrej hörte mindestens ein Dutzend Stimmen, die aufgeregt durcheinander riefen. Das Torgewölbe war von Fackellicht erfüllt, und auch aus der entgegengesetzten Richtung näherten sich ihnen rennende Gestalten, die heftig zuckende Fackeln schwenkten.

Metall blitzte. Jemand schrie das Wort Alarm!

Andrej schluckte, wirbelte herum und lief mit Riesenschritten auf den Ausgang zu, doch noch bevor er das gemauerte Gewölbe erreicht hatte, traten ihm gleich vier Männer entgegen. Drei von ihnen trugen die gleichen Uniformen wie die Männer, denen sie bereits begegnet waren, der vierte ein einfaches Priestergewand.

Andrej riss seine Klinge in die Höhe und empfing den ersten mit einem Schwerthieb, der ihn hätte enthaupten müssen. Aber der Hieb war zu langsam, schlecht gezielt und mit viel zu wenig Kraft geführt. Es gelang dem Mann, sein eigenes Schwert hochzureißen und Andrejs Hieb den größten Teil seiner Wucht zu nehmen. Zwar reichte die Kraft immer noch, ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen und ihn rücklings gegen die Wand zu schmettern, aber er war nicht einmal verletzt.

Und seine beiden Begleiter bewiesen, dass sie keine verkleideten Bauern waren, die mit Mühe und Not wussten, an welchem Ende sie ein Schwert anfassen mussten, sondern gut ausgebildete Soldaten, die ihr Handwerk verstanden. Während der Mann im Priestergewand hastig ein paar Schritte zurückwich, um sich in Sicherheit zu bringen, zogen sie ihre Waffen und bewegten sich auseinander, wohl um Andrej von zwei Seiten zugleich attackieren zu können, und auch ihr Kamerad schüttelte benommen den Kopf und sah sich bereits wieder nach dem Schwert um, das er fallen gelassen hatte.

Andrej hätte nur einen Augenblick brauchen dürfen, um mit den drei Männern fertig zu werden. Aber er war krank. Die Welt verschwamm immer wieder vor seinen Augen, und das Schwert in seiner rechten Hand schien einen Zentner zu wiegen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass weitere Männer heranstürmten.

Nur mit Mühe gelang es ihm, den Schwerthieb eines der Männer abzuwehren; dem des anderen entging er um Haaresbreite. Und hätte Abu Dun ihm nicht beigestanden, dann wäre es bereits im nächsten Augenblick um ihn geschehen gewesen.

Der Nubier stürmte heran wie der Leibhaftige, ein schwarzer Riese, der wie ein Wirbelwind zwischen die Männer fuhr. Den Soldaten, den Andrej entwaffnet hatte, rannte er kurzerhand über den Haufen, gerade als sich dieser nach seinem Schwert bücken wollte, einen zweiten fegte er mit einem fürchterlichen Fußtritt von den Beinen. Der dritte zögerte einen winzigen Moment, welchem der beiden Gegner er sich zuwenden sollte, und seine Unentschlossenheit kostete ihn das Leben. Andrej rammte ihm das Schwert in den Leib und stolperte weiter und auf den Priester zu, noch während der Soldat sterbend zusammenbrach.

Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke, und trotz seiner Schwäche und des Fiebers, das immer heißer und qualvoller in ihm brannte, registrierte er, wie erstaunlich jung der Priester noch war, und wie vollkommen anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Nicht der grausame Folterknecht, den er erwartet hatte, sondern ein offenes Gesicht mit klaren blauen Augen, in denen maßlose Verwirrung und allmählich aufkeimender Schrecken zu lesen waren, blickte ihn an.

Andrej verscheuchte den Gedanken und stach mit dem Schwert nach ihm.

Der Geistliche machte einen hastigen Schritt zur Seite, und die Klinge verfehlte ihn und scharrte Funken sprühend über die Wand.

Bevor Andrej zu einem weiteren Hieb ausholen konnte, versetzte Abu Dun ihm an seiner statt einen Stoß, der seinen Gegner haltlos in das Torgewölbe und auf der anderen Seite wieder herausstolpern ließ. Er fiel auf die Knie, rappelte sich mühsam wieder hoch und wollte sich herumdrehen.

Hinter ihnen polterten die Schritte der Verfolger über den gepflasterten Innenhof der Klosterfestung. Schreie gellten, und flackerndes rotes Licht fiel durch das offen stehende Tor.

»Nimm sie!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte ihm Abu Dun das bewusstlose Mädchen in die Arme und wirbelte herum. »Ich halte sie auf! Renn!«

Andrej taumelte blind los. Er wusste nicht mehr, was er tat oder warum er es tat. Er führte einfach Abu Duns Befehl aus. Aber er war nicht einmal sicher, ob seine Kraft dafür reichen würden. Das reglose Mädchen wog Tonnen. Sein Gewicht drohte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und zu Boden zu ziehen. Er brauchte all seine Kraft, um auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen und in die Richtung zu taumeln, in der er Birger vermutete.

Hinter sich hörte er Schreie und das vertraute Klirren von Metall. Als er den Kopf drehte, bot sich ihm ein fast unheimlicher Anblick: Abu Dun stand vor dem weit geöffneten Tor und kämpfte mit zwei Schwertern gleichzeitig.

Mindestens ein halbes Dutzend Krieger bedrängte ihn, beschienen vom flackernden roten Licht der Fackeln, das durch das Tor herausfiel. Er sah aus wie ein Dämon, der das Tor zur Hölle bewachte.

Abu Dun war ein Furcht einflößender Gegner, aber diese Übermacht war zu gewaltig, selbst für ihn. Er würde unterliegen.

Andrej verbrauchte seine letzten Kräfte, um weiterzustolpern. Die wenigen ärmlichen Hütten, die sich im Schutze der Klosterfestung aneinander drängten wie eine Horde verängstigter Tiere, die den Wolf gewittert hatten, blieben hinter ihm zurück, und er wankte den Hügel hinauf.

Als er ihn überschritten hatte, tauchten wie aus dem Nichts zwei schattenhafte Gestalten vor ihm auf: Birger und einer der beiden Brüder; von dem anderen war noch immer nichts zu sehen.

»Imret!« Birger war mit einem Satz bei ihm und nahm ihm das bewusstlose Mädchen aus den Armen. Er sog entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein, als er sah, in welchem Zustand sie war.

»Sie lebt«, sagte Andrej schwach. Obwohl er vom Gewicht des Mädchens befreit war, taumelte er und wäre fast gestürzt. Er spürte, wie Stefan hinter ihn trat, vielleicht um ihn aufzufangen, sollte er tatsächlich fallen.

»Diese Teufel!«, keuchte Birger. »Was haben sie ihr angetan?!«

»Sie lebt«, murmelte Andrej schwach. »Sie ist ein starkes Kind. Sie wird durchkommen, ich bin sicher. Aber ich muss zurück. Abu Dun. Er hat ... die Wachen aufgehalten. Ich muss ... zu ihm.«

»Aber Euer heidnischer Freund ist doch längst tot«, sagte Birger. Etwas an diesen Worten war ... seltsam. Andrej sah auf. Birger starrte ihn aus brennenden Augen an. Er grinste, aber es war kein menschliches Grinsen.

»Ihr werdet ihn trotzdem wieder sehen, keine Sorge«, fuhr Birger fort.

»Schon bald.«

Andrej bemerkte eine Bewegung hinter sich, und er wusste, was sie zu bedeuten hatte, aber er war nicht mehr in der Lage, sie abzuwehren. Er spürte noch den grausamen Schmerz, als Stefan ihm den Dolch in den Rücken stieß.

Dann nichts mehr.

Es folgte eine Zeit der Qual, doch obwohl sie aus nichts anderem bestand als aus einem schieren Überlebenskampf, gepaart mit wüsten Fieberträumen, begriff er doch zweierlei: Er lebte noch, und er würde auch weiter am Leben bleiben, und er hatte anscheinend seine Unsterblichkeit verloren oder zumindest einen großen Teil davon eingebüßt. Was er nun erlebte - und vor allem erlitt - war ihm nicht fremd. Er war unzählige Male verletzt worden, nur dass nun Tage, wenn nicht Wochen vergingen, während seine unglaubliche Wandlungsfähigkeit die Verletzungen sonst binnen weniger Augenblicke heilte.

Irgendwann erwachte er, fiebernd und in Schweiß gebadet, und so schwach wie nie zuvor. Geräusche waren ringsum ihn herum, Schritte und Stimmen und Gesichter, die sich über ihn beugten, Hände, die größtenteils unangenehme Dinge mit seinem Körper taten.

Er schlief wieder ein, erwachte wieder, schlief wieder ein und erwachte wieder, und irgendwann erwachte er endgültig.

Es war dunkel. Er lag auf dem Rücken auf einem harten Bett, und es war sehr kalt. Er wollte etwas sagen, aber sein Kehlkopf war wie ausgedörrt und fühlte sich an wie heißer Wüstensand. Irgendwo neben ihm brannte eine Kerze, aber ihr Licht reichte nicht wirklich aus, um Einzelheiten zu erkennen, sondern verwandelte die Schwärze nur in ein mattes Glühen aus Gelb und verschiedenen Brauntönen.

Er versuchte sich zu bewegen. Es gelang ihm nicht, aber der Versuch erzeugte eine andere Bewegung links neben ihm, in der Richtung, in der sich die Kerze befand. Etwas raschelte, dann nahm er einen noch dunkleren Schatten in der Dämmerung wahr. Ein Gesicht - es kam ihm seltsam vertraut vor, aber er wusste nicht wieso - beugte sich über ihn, helle und sehr klare Augen blickten mit eindeutiger Sorge auf ihn herab.

»Versucht nicht, Euch zu bewegen«, sagte der Fremde. »Ich bringe Euch Wasser.« Er löste sich in der falschen Dämmerung auf, ohne sich wirklich zu bewegen, und schien im gleichen Moment schon wieder zu erscheinen, einen aus Holz geschnitzten Becher in der einen und ein sauberes Tuch in der anderen Hand. Andrej hätte sein Leben für einen einzigen Schluck aus diesem Becher gegeben, auch wenn ihm erst bei seinem Anblick überhaupt klar wurde, wie durstig er war, aber der junge Mann tauchte nur einen Zipfel des Tuches hinein, beugte sich vor und betupfte seine Lippen. Sie waren so trocken, dass die Nässe im ersten Moment schmerzte, aber zugleich tat sie auch unglaublich gut.

Sein Wohltäter - er trug ein schlichtes dunkles Gewand, fast wie eine Mönchskutte - wartete, bis die wenigen Tropfen auf seinen Lippen versickert waren, dann wiederholte er die Prozedur noch einige Male, bis er endlich den Becher ansetzte und Andrej gestattete, einige wenige Schlucke zu trinken.

»Das genügt«, sagte er, während er den Becher absetzte. »Ich weiß, diese wenigen Schlucke reichen nicht, um Euren Durst zu löschen, aber mehr wäre nicht gut. Ihr würdet Euch wahrscheinlich erbrechen.«

Andrej wusste, dass er Recht hatte, aber das machte die Qual nicht geringer.

Er versuchte zu sprechen, doch es gelang ihm erst, nachdem er zum dritten oder vierten Mal dazu angesetzt hatte.

»Abu ... Dun«, krächzte er. Die beiden Worte brannten wie Feuer in seiner Kehle.

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