»Versucht nicht zu reden«, sagte der Fremde. »Wenn Ihr Euren dunkelhäutigen Freund meint, er ist am Leben. Macht Euch keine Sorgen. Jetzt schlaft. Ihr habt das Schlimmste überstanden, aber Ihr habt viel Blut verloren und solltet mit Euren Kräften haushalten, wenn Ihr keinen Rückfall riskieren wollt. Also schlaft.«

Andrej gehorchte. Als er wieder erwachte, war die Kerze heruntergebrannt, aber es war trotzdem heller geworden. Graues Zwielicht erfüllte das Zimmer, und es war noch immer bitter kalt.

Er drehte mühsam den Kopf und erkannte eine schlanke Gestalt, die nach vorne gesunken auf einem Stuhl neben seinem Bett saß und schlief. Der junge Prediger, der ihm Wasser gegeben hatte. Es war derselbe Mann, den er nachts im Torgang beinahe erschlagen hätte.

Der Folterknecht.

Es fiel Andrej schwer, in diesem jungen Geistlichen mit den wachen Augen und der freundlichen Stimme eines der Monster zu sehen, die dem unschuldigen Kind all diese Gräueltaten angetan haben sollten. Immerhin schien er die ganze Nacht an seinem Krankenlager gewacht zu haben - wie seine Anwesenheit bewies.

Aber er hätte auch nicht vermutet, dass Birger ihm seine Hilfe dankte, indem er ihm ein Messer in den Rücken stoßen ließ.

Die Erinnerung ließ einen Schatten über sein Gesicht huschen. Birger ...

Wie hatte er sich nur so in diesem Mann täuschen können?

Vielleicht war die Frage auch falsch gestellt. Er hatte sich nicht wirklich in ihm getäuscht. Er hatte zumindest geahnt, dass mit Birger etwas nicht stimmte, und er hatte ganz tief in sich gespürt, dass er gefährlich war. Warum hatte er nicht auf seine innere Stimme gehört? Und wenn schon nicht auf sie, dann zumindest auf Abu Dun?

Mit dem Gedanken an den Nubier schlief er ein, und als er erwachte, hatte sich das Licht abermals verändert: Heller, sehr klarer Sonnenschein erfüllte das Zimmer. Es roch nach Schnee. Sein Wohltäter stand mit dem Rücken zu ihm vor einer Truhe an der gegenüberliegenden Wand und hantierte an etwas herum, das Andrej nicht erkennen konnte. Gedämpftes Glockengeläut drang durch das offen stehende Fenster herein, und irgendwo weit entfernt wieherte ein Pferd.

Andrej lauschte in sich hinein. Er fühlte sich noch immer sehr schwach, aber er hatte keine Schmerzen, und auch das Fieber war fort. Behutsam richtete er sich auf, schlug die dünne Decke zur Seite und stellte fest, dass er nicht ganz so nackt war, wie er sich unter der rauen Rosshaardecke gefühlt hatte: Ein enger Ring aus Metall schmiegte sich um sein rechtes Fußgelenk, an dem eine massiv wirkende Kette befestigt war. Als er daran zog, stellte er fest, dass ihm die Kette gerade genug Bewegungsfreiheit ließ, um aus dem Bett aufzustehen und zwei oder vielleicht auch drei Schritte zu tun.

»Versucht lieber nicht aufzustehen«, sagte der junge Priester. »Ihr mögt Euch vielleicht wieder kräftig fühlen, aber glaubt mir, Ihr seid es nicht.« Er drehte sich herum, lehnte sich gegen die Truhe und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Habt Ihr jetzt ausgeschlafen, Andrej?«

Andrej stemmte sich auf die Ellbogen hoch und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er versuchte nicht zu antworten, denn seine Kehle war so trocken, dass sie wehtat, aber der junge Priester verstand wohl auch so. Er füllte Wasser aus einem Krug in den geschnitzten Becher, den Andrej schon kannte, und reichte ihn ihm. Allerdings trat er nicht nahe genug an das Bett heran, um Andrej eine Möglichkeit zu geben, ihn überraschend zu packen.

Andrej nahm den Becher, trank einen gierigen Schluck und hustete qualvoll. Nachdem sich sein Atem einigermaßen beruhigt hatte, leerte er den Becher mit sehr viel vorsichtigeren kleinen Schlucken und leckte auch den letzten Tropfen mit der Zungenspitze von den Lippen. Sein Durst war keineswegs gestillt, aber seine Kehle brannte wenigstens nicht mehr wie Feuer.

»Danke«, sagte er, während er den Becher zurückgab. Er wäre fast vor dem Klang seiner eigenen Stimme erschrocken. »Woher kennt Ihr meinen Namen?«

»Von meinem Vater«, antwortete der Priester. »Ich bin Bruder Thobias. Wie fühlt Ihr Euch?«

»Besser«, antwortete Andrej - was zwar der Wahrheit entsprach, im Grunde aber so gut wie nichts besagte.

»Das freut mich«, antwortete Thobias. Es klang ehrlich. »Eine Weile sah es gar nicht gut um Euch aus. Der Mann hat Euer Herz nur knapp verfehlt. Ihr seid ein zäher Bursche.«

»Aber Ihr habt mich anscheinend auch gut gepflegt«, erwiderte Andrej mit einer Geste auf den straff angelegten weißen Verband um seine Brust. »Ich nehme an, ich soll in möglichst guter Verfassung sein, wenn Ihr mich auf die Folterbank spannt.«

Thobias Miene verfinsterte sich. »Ihr wart unten im Verlies«, sagte er. »Sagt, habt Ihr eine Folterbank gesehen, oder irgendwelche anderen Marterwerkzeuge?«

»Ich habe die Zellen gesehen«, antwortete Andrej. »Und das Mädchen.«

»Ich weiß, was Ihr gesehen habt«, erwiderte Thobias ruhig. »Aber ich glaube, Ihr wisst nicht, was Ihr gesehen habt.« Er machte eine Geste, mit der er das Gespräch beendete. »Wir werden später noch Gelegenheit haben, darüber zu reden. Vielleicht. Jetzt solltet Ihr erst wieder zu Kräften kommen. Ich werde Euch eine kräftige Mahlzeit bringen. Ich nehme an, dass Ihr hungrig seid.«

»Eigentlich nicht«, antwortete Andrej. »Jedenfalls nicht sehr.«

»Das wundert mich«, sagte Thobias. »Immerhin habt Ihr zehn Tage lang nichts gegessen.«

»Zehn Tage?«, entfuhr es Andrej.

»Elf, den heutigen mitgerechnet«, entgegnete Thobias. »Ich sagte Euch doch, Eure Lage war sehr ernst. Einige Tage war ich nicht sicher, dass Ihr es schafft. Ich habe für Euch gebetet, und wie es aussieht, hat Gott meine Gebete erhört.« Er gab sich einen Ruck. »Aber nun hole ich Euch erst einmal etwas zu essen, und danach sollten wir Euch waschen und einigermaßen ansehnlich anziehen. Ihr müsst noch heute mit Vater Benedikt sprechen.«

Er sah Vater Benedikt an diesem Tag nicht mehr. Als Thobias nach wenigen Minuten mit der versprochenen Suppe zurückkam, fand er Andrej in tiefem, traumlosem Schlaf vor, aus dem er erst am nächsten Morgen wieder erwachte, halbwegs erfrischt, aber mit knurrendem Magen und so ausgehungert, dass er nicht nur die kalte Suppe vom vergangenen Abend herunterschlang, sondern anschließend noch fast eigenen ganzen Laib Brot und ein gutes Stück einer Speckseite, und dazu einen ganzen Krug des kalten, klaren Quellwassers trank. Vermutlich hätte er auch dann noch nicht aufgehört, hätte Thobias nicht lächelnd, aber unerbittlich den Kopf geschüttelt, als er ihn um mehr bat.

Stattdessen kam er mit Wasser, einem gewaltigen Stück Kernseife und frischen Tüchern, sodass Andrej sich reinigen konnte, was dringend notwendig war. Zehn Tage, in denen er fiebernd dagelegen hatte, forderten ihren Preis. Er stank kaum weniger schlimm als das Mädchen, das sie aus dem Kerker befreit hatten. Thobias trug nicht nur die schmutzigen Verbände, sondern auch seine Kleider und selbst das Bettzeug nach draußen, um es zu verbrennen. Bevor er ihm half, frische Kleider anzuziehen, bat er ihn, sich auf den Bauch zu legen, damit er sich die Wunde in seinem Rücken noch einmal ansehen konnte. Andrej gehorchte. Thobias betastete die Stichwunde zwischen seinen Schulterblättern mit kundigen Fingern und trug anschließend eine angenehm kühle, nach Kräutern riechende Salbe auf.

»Erstaunlich«, sagte er, während er einen frischen Verband anlegte. »Ich habe schon eine Menge schlimmer Verletzungen gesehen, aber selten einen Mann, der sich so schnell erholt. Die Wunde sieht aus, als wäre sie zwei Monate alt, nicht zwei Wochen. Gehen Eure Krankheiten ebenso schnell vorbei?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Ich war noch nie krank.«

»Niemals?«, fragte Thobias zweifelnd.

»Niemals.« Andrej griff nach dem Hemd, das Thobias ihm reichte, und schlüpfte hinein. Der Stoff war so grob, dass er auf der Haut scheuerte.

»Gott muss Euch wirklich lieben, mein Freund«, sagte Thobias kopfschüttelnd.

Gott hat damit wenig zu tun, dachte Andrej. Ganz im Gegenteil. Wenn es ihn wirklich gibt, dann muss er mich ganz außergewöhnlich hassen. Und ich weiß nicht einmal, warum.

Er sprach nichts von alledem aus, aber Thobias musste seine wahren Gefühle wohl gespürt haben. Er sagte nichts, aber sein Lächeln erlosch.

»Vater Benedikt wird gleich hier sein«, sagte er. »Es wäre klug, wenn Ihr nicht darüber reden würdet.«

»Worüber?«

»Dass Ihr nie krank werdet«, antwortete Thobias. »Oder wie schnell Eure Wunden heilen. Vater Benedikt ist ein sehr strenggläubiger Katholik, der das falsch deuten könnte.«

Andrej war plötzlich auf der Hut. Thobias' Worte mochten Zufall sein, ebenso gut aber auch eine geschickte Falle, die er ihm stellte. Aber als er in seine Augen blickte, sah er keinerlei Hinterlist oder Tücke darin.

»Und Ihr?«, fragte er.

»Auch ich bin ein strenggläubiger Katholik, wenn ihr das meint«, antwortete Thobias. »Aber ich bin nicht wie viele hier. Ich glaube nicht, dass Satan es uns so leicht macht. Doch wie gesagt: Ihr solltet Vater Benedikt gegenüber vorsichtig mit dem sein, was Ihr redet. Und noch etwas.«

»Ja?«, fragte Andrej, als Thobias nicht sofort antwortete.

Thobias sah ihm in die Augen, aber sein Blick war nicht mehr so fest wie bisher. Andrej hatte das sichere Gefühl, dass ihm das, was er zu sagen hatte, nicht sehr angenehm war. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Ich will ganz offen zu Euch sein, Andrej. Ich bin der Meinung, dass Ihr mir etwas schuldig seid.«

»Zum Beispiel?«, fragte Andrej.

»Zum Beispiel Euer Leben«, antwortete Thobias. »Die Wachen wollten Euch töten. Immerhin habt Ihr und Euer Kamerad fünf von ihnen erschlagen und f ast alle anderen übel zugerichtet. Es hat mich meine ganze Überredungskunst gekostet, dass sie Euch nicht getötet oder einfach liegen gelassen haben - was auf das Gleiche hinausgelaufen wäre.«

»Und was erwartet Ihr nun von mir?«, wollte Andrej wissen.

Thobias räusperte sich, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Vater Benedikt ist unser Abt«, sagte er, »aber er ist nur selten hier. In seiner Abwesenheit leite ich das Kloster, aber das ändert nichts daran, dass er das Sagen hat. Und er ist ein sehr harter Mann. Bedenkt man, womit wir es zu tun haben, so muss er das wohl sein.«

»Aha«, sagte Andrej. Er verstand immer weniger. »Und was wollt Ihr jetzt von mir? Nur zu: Ich weiß, dass ich nur noch lebe, weil Ihr es so wollt.«

»Bitte sagt ihm nicht, wer Euch geschickt hat, und woher Ihr kommt«, sagte Thobias. »Niemand hier weiß, dass Birger Euer Auftraggeber ist und Ihr und Euer Freund aus Trentklamm gekommen seid.«

»Warum?«, fragte Andrej misstrauisch.

Thobias wich seinem Blick aus. Er wurde zunehmend unruhiger. »Die Menschen in Trentklamm sind aufrechte und gottesfürchtige Leute. Urteilt nicht über alle, nur weil einige von ihnen schlecht sind. Ich weiß, dass Ihr Birger hassen müsst, aber lasst nicht die Unschuldigen für ihn bezahlen.«

»Und?«, fragte Andrej.

»Vater Benedikt würde Trentklamm niederbrennen und jede lebende Seele dort auslöschen lassen, wüsste er, wer hinter dem Überfall steckt«, antwortete Thobias. »Ich habe bereits mit Eurem Freund gesprochen. Er ist einverstanden zu sagen, dass ihr von einem Fremden in einem Gasthaus einen halben Tagesritt westlich von hier angesprochen worden seid, das Mädchen für Geld zu befreien.«

»Abu Dun hat Euch das zugesagt?«, fragte Andrej zweifelnd.

»Zugesagt vielleicht nicht direkt«, gestand Thobias. »Aber ich habe mit ihm gesprochen, und er hat meinen Vorschlag zumindest nicht abgelehnt. Genau genommen hat er eigentlich gar nichts gesagt.«

»Ja, das klingt nach Abu Dun«, sagte Andrej. »Kann ich ihn sehen?«

»Vielleicht später«, antwortete Thobias. »Sobald Ihr mit Vater Benedikt gesprochen habt. Seid Ihr bereit dazu?«

»Warum nicht?«, fragte Andrej.

Thobias nickte knapp und ging. Ziemlich schnell. Beinahe ein wenig zu schnell, für Andrejs Empfinden.

Der greise Abt entsprach Andrejs Vorstellungen von einem alt gewordenen, verbitterten Kirchenoberen. Er ähnelte Vater Ludowig, musste aber einige Jahre jünger sein und war besser genährt und auch deutlich gesünder, aber der Ausdruck von niemals versiegendem Misstrauen und einem tief eingebrannten Groll gegen die ganze Welt in seinen Augen war derselbe wie der in denen Ludowigs.

Er kam nicht allein, sondern in Begleitung zweier Soldaten, die rechts und links von ihm Aufstellung nahmen und die ganze Zeit über die Hände griffbereit auf den Waffen ruhen ließen; und das, obwohl Benedikt streng darauf achtete, nicht in Reichweite der Kette zu gelangen, mit der Andrej gefesselt war. Die Männer wussten anscheinend, wie gefährlich er war.

Andrej meinte einen von ihnen wieder zu erkennen, war aber nicht sicher.

Seiner Erinnerung nach hätte der Kampf auf dem Hof auch zehn Jahre her sein können.

Vater Benedikt sah ihn lange und durchdringend an, ohne ein Wort zu sprechen. Sein Gesicht war wie Stein; eine zerfurchte Landschaft aus verästelten Runzeln und Falten, die so tief eingeschnitten waren wie Messernarben. Andrej versuchte in seinen Augen zu lesen, aber es gelang ihm nicht.

»Ihr seid also dieser Söldner«, sagte Vater Benedikt schließlich. Allein die Art, in der er das Wort Söldner aussprach, beantwortete eine Menge der Fragen, die sich Andrej noch gar nicht gestellt hatte.

»Ich bin kein Söldner, Benedikt«, antwortete Andrej.

»Wir ziehen die Anrede Durchlaucht vor, Andrej«, sagte Vater Benedikt. »Oder auch Vater«

»Durchlaucht?« Andrej hob die Schultern. »Ganz, wie Ihr wünscht. Aber wir sind keine Söldner. Nicht in dem Sinne, in dem Ihr das Wort benutzt.«

In Vater Benedikts Augen blitzte es auf. Andrej wusste, dass er ein gefährliches Spiel spielte. Er durfte nicht den Fehler begehen, sich von Benedikts scheinbarer Würde und Gebrechlichkeit täuschen zu lassen. Vater Benedikt war wie Vater Ludowig - allerdings ein Vater Ludowig mit Macht und ziemlich wenig Skrupeln, diese Macht zu nutzen. Oder zu missbrauchen.

»Wie benutze ich es denn?«, fragte Vater Benedikt.

»Wir töten nicht für Geld«, antwortete Andrej.

»Dann nehme ich an, Ihr und Euer Muselmanenfreund habt die fünf tapferen Kameraden dieser Männer hier ...«, er deutete auf die beiden Soldaten, »... nur aus reiner Freude am Töten erschlagen?«

Die Tür ging auf, und Thobias kam herein, was Andrej Bedenkzeit verschaffte, um über die Antwort auf die Frage nachzudenken. Er hatte den Eindruck, dass eine Menge davon abhing. Vielleicht sein Leben. Schließlich zog er es vor, gar nichts zu sagen.

»Ihr schweigt«, stellte Vater Benedikt fest. »Nun, das wird Euch nichts nützen, Andrej. Was sollte mich daran hindern, Euch auf der Stelle hinrichten zu lassen? Ich hätte das Recht dazu.«

Thobias hatte neben Benedikt Aufstellung genommen. Er schwieg, und er verzog auch keinel Mine.

»Ihr seid ein Mann der Kirche«, antwortete Andrej. »Heißt es in Eurer Bibel nicht, du sollst nicht töten?«

»In unserer Bibel?« Vater Benedikt dachte einen Moment über diese Formulierung nach, und Andrej rief sich in Gedanken abermals zur Ordnung.

Er durfte diesen alten Mann nicht unterschätzen. Und er sollte ihn erst recht nicht reizen.

»Wir wurden getäuscht, Durchlaucht«, sagte er. »Abu Dun und ich wussten nicht, dass dies hier ein Kloster ist.«

»Wofür habt Ihr es denn gehalten?«, erkundigte sich Vater Benedikt.

»Wir trafen einen Mann, einen Tagesritt westlich von hier«, begann Andrej. »Er erzählte uns, dass er und seine Familie von Räubern überfallen worden seien, die seine Tochter entführt hätten. Er hat uns um Hilfe gebeten.«

»Und selbstlos wie Ihr seid, habt Ihr dieser Bitte natürlich sofort entsprochen?«, meinte Vater Benedikt spöttisch.

»Nicht sofort«, antwortete Andrej. »Aber er war sehr überzeugend. Und er hat uns Geld geboten, wenn wir seine Tochter zurückbringen.«

In Thobias' Augen erschien ein Ausdruck vorsichtiger Erleichterung.

Offensichtlich war seine Geschichte dieselbe, die auch er dem greisen Abt erzählt hatte.

Vater Benedikt wäre ein Narr gewesen, hätte er sich mit einer so simplen Erklärung zufrieden gegeben. Er stellte Fragen, hakte nach, versuchte Andrej durch geschickte Formulierungen zu verwirren und verlegte sich mehr als einmal auch auf ganz unverhohlene Drohungen, aber Andrej blieb bei seiner Geschichte.

Trotz der aufgesetzten Ruhe des greisen Abtes war ihm klar, dass er um sein Leben redete, und um das Abu Duns ebenfalls.

Schließlich schüttelte Vater Benedikt den Kopf und seufzte tief. »Ich weiß nicht, ob Ihr die Wahrheit sagt, Andrej«, murmelte er. »Und es spielt im Grunde auch keine Rolle. Nicht für das, was Euch erwartet.«

»Wir haben nichts Unrechtes getan«, beteuerte Andrej.

»Ihr und Euer Freund seid hier eingedrungen und habt mehrere unserer Wachen erschlagen, und Ihr habt eine Gefangene der Heiligen Römischen Inquisition entführt«, antwortete Vater Benedikt hart. »Dafür werdet Ihr Euch verantworten müssen, und ich fürchte, das Urteil wird so oder so der Tod sein.«

Inquisition? Andrej musste sich beherrschen, um nicht vor Schreck zusammenzufahren.

»Falls Ihr die Wahrheit sagt, Andrej«, fuhr Vater Benedikt fort, »wird dies vielleicht nicht Euer Leben retten, doch möglicherweise etwas ungleich Wertvolleres, nämlich Euer Seelenheil. Für den Heiden, der in Eurer Begleitung war, kann ich nicht sprechen. Sein Schicksal liegt ganz allein in Gottes Hand.«

Thobias räusperte sich. »Verzeiht, Ehrwürdiger Vater«, begann er.

Benedikt warf ihm einen unverhohlen ärgerlichen Blick zu, nickte dann aber.

»Andrej und sein Freund«, fuhr Thobias fort, »könnten sich als äußerst wertvoll für uns erweisen.«

Vater Benedikt zog die Augenbrauen zusammen. Er sagte nichts, aber er schwieg auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die Thobias' Unruhe noch weiter schürte.

»Immerhin sind sie die Einzigen, die den Mann gesehen haben, der sie hergeschickt hat«, fuhr Thobias fort. »Sie könnten uns helfen, ihn zu finden. Ihr wisst, wie wichtig das für uns wäre.«

Vater Benedikt nickte langsam. »Und du traust diesem Mann, Thobias?«, fragte er. »Einem Söldner? Einem Mann, der für Geld tötet?«

»Nicht weiter als Ihr, Vater«, antwortete Thobias. Wenn er log, dann äußerst überzeugend. »Aber welchen Grund hätte er, jetzt noch zu lügen? Und er ist seinem Auftraggeber nicht verpflichtet. Immerhin hat er ihm seine Hilfe gedankt, indem er ihm einen Dolch in den Rücken gestoßen hat.«

»Das kommt dabei heraus, wenn man sich mit dem Teufel einlässt«, sagte Vater Benedikt. Dennoch schien er einen Moment angestrengt über Thobias' Worte nachzudenken, kam aber offensichtlich zu keinem endgültigen Schluss.

»Ich kann das nicht entscheiden«, sagte er schließlich. »Du magst Recht haben, Thobias, aber es bleibt der Umstand, dass diese beiden mit Waffengewalt hier eingedrungen sind und mehrere Männer erschlagen haben. Getäuscht oder nicht, sie müssen sich für dieses Verbrechen verantworten.«

»Aber ...«

»Aber«, fuhr Benedikt betont und eine Spur lauter fort, »seine Worte entbehren nicht einer gewissen Logik. Ich werde von hier aus weiterreisen und den Fall dem Landgrafen vortragen, denn er betrifft zweifelsfrei auch die weltliche Gerechtigkeit.« Sein Blick richtete sich auf Andrej und wurde bohrend. »Wir mögen hier keine Fremden, die in unser Land kommen und unsere Gesetze brechen.«

»Aber es geht auch um ihr Seelenheil«, sagte Thobias. »Ihr habt es selbst gesagt, Vater.«

»Ich weiß, was ich gesagt habe, Thobias«, wies Benedikt ihn scharf in seine Schranken. Er dachte erneut nach. »Ich werde zum Landgrafen reiten und den Fall dort vortragen. Bis ich zurück bin, überlasse ich die beiden Fremden deiner Obhut, Thobias. Aber auch deiner Verantwortung. Sollten sie fliehen oder gar weiteres Unheil anrichten, wirst du dafür gerade stehen müssen. Willst du das?«

»Ja«, antwortete Thobias rasch.

»Ich meine das so, wie ich es sage«, beharrte Vater Benedikt. Er klang sehr ernst. »Rechne nicht mit meiner Großmut oder dem Schutz der Kirche, sollte etwas passieren. Ich weiß ohnehin nicht, wie lange ich dir diesen Schutz noch gewähren kann. Es gibt Stimmen, die meinen, dass das, was du hier tust, an Ketzerei grenzt. Noch kann ich sie zum Schweigen bringen, aber nun, wo das Teufelskind wieder frei ist und offensichtlich wurde, dass es noch mehr von seiner Art gibt, ...« Er zuckte mit den Schultern und ließ den Satz unbeendet, was ihn mehr als alles andere zu einer Drohung machte, von der sich Thobias jedoch nicht beeindrucken ließ.

»Umso wichtiger sind Andrej und sein Freund für uns«, antwortete Thobias.

»Sie sind die Einzigen, die diese anderen kennen. Sie könnten uns helfen, sie zu finden.«

»Du hast gehört, was ich dazu zu sagen habe«, sagte Vater Benedikt, bevor er sich mit einer schwerfälligen Bewegung zur Tür herumdrehte. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum, und nach kurzem Zögern - und nachdem er einen fast flehenden Blick in Andrejs Richtung geworfen hatte - folgte ihm Thobias.

Es wurde Abend, bis er Thobias wieder sah, und er machte ein sehr ernstes und besorgtes Gesicht, als er mit dem letzten Licht des verblassenden Tages hereinkam. Kurz zuvor hatte Andrej Hufschlagen und das Geräusch des schweren Tores gehört, das für die Nacht geschlossen wurde. Er nahm an, dass Vater Benedikt und seine Begleitung das Kloster verlassen hatten, was entweder von außergewöhnlichem Mut, oder von außergewöhnlicher Dummheit zeugte. Nach dem, was Andrej in diesen Bergen erlebt und mit eigenen Augen gesehen hatte, hätte er es sich gut überlegt, die schützenden Mauern nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen.

Er sprach Thobias sofort darauf an, aber der junge Geistliche schüttelte nur besorgt den Kopf. »Vater Benedikt nimmt die Angelegenheit sehr ernst. Er wird nicht mehr als zehn Tage brauchen, um zurück zu sein. Und ich fürchte, er wird nicht allein kommen.«


»Der Landgraf ?«

»Die Inquisition«, antwortete Thobias. »Ich habe Euer Erschrecken vorhin bemerkt, als dieses Wort das erste Mal fiel, Andrej. Ihr fürchtet die Heilige Römische Inquisition?«

»Die Inquisition«, wiederholte Andrej, als ob er damit die Frage beantworten wollte.

Thobias sah ihn aufmerksam an und nickte schließlich. Er fragte nicht, was geschehen war.

»Warum tut Ihr das, Thobias?«, fragte Andrej plötzlich. »Ihr wisst, dass ich nicht tatenlos hier sitzen und auf meinen Henker warten werde. Warum also geht Ihr dieses Risiko ein? Immerhin habe ich versucht, Euch umzubringen. Ihr seid mir also nichts schuldig.«

»Ich halte Euch für einen aufrechten Mann, Andrej«, antwortete Thobias.

»Das beweist allein der Umstand, dass Ihr diese Frage stellt. Ihr wusstet nicht, was Ihr tut.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Andrej. »Wenn Abu Dun und ich fliehen, sind Eure Tage in diesem Kloster gezählt.«

»Wenn Gott kein Wunder geschehen lässt, ist mein Leben verwirkt«, antwortete Thobias. »So oder so. Und nicht nur meines.« Er seufzte tief, schüttelte ein paar Mal den Kopf und kam näher. Mit einer Bewegung, die so mühevoll und schwerfällig war wie die eines um fünfzig Jahre älteren Mannes, ließ er sich auf die Bettkante sinken und faltete die Hände im Schoß. Seine Schultern sanken nach vorne.

»Ihr könnt das nicht wissen, aber Benedikts Worte waren eine Warnung, die ich bitter ernst nehme, Andrej. Die Inquisition ist stark in diesem Land, und ihr Arm reicht weit. Es gibt viele, die insgeheim der Meinung sind, dass unser Tun hier nicht weniger als Hexerei ist, und dass ich eigentlich auf den Scheiterhaufen gehöre. Verbrennen sie dort, wo Ihr her kommt, auch Menschen, weil sie sie für Hexen halten?«

Andrej schwieg, aber das war Thobias anscheinend Antwort genug, denn er fuhr fort: »Hier tun sie es. Manchmal reicht es schon, den Neid eines Nachbarn zu erregen. Der Vorwurf allein ist oft genug das sichere Todesurteil. Die Menschen sind so dumm! Sie deuten auf ihren Nachbarn und schreien Hexe!, weil sie sein Land oder sein Geld haben wollen, und sie klatschen vor Begeisterung in die Hände, wenn das Feuer lodert. Sie begreifen nicht, dass sie vielleicht die Nächsten sind, die brennen.« Seine Stimme wurde leiser. »Vielleicht bin ich der Nächste, der brennt.«

»Wieso?«, fragte Andrej.

Thobias drehte müde den Kopf und sah ihn an. Andrej konnte erkennen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, aber er konnte ebenso deutlich erkennen, dass er in die Augen eines Mannes blickte, der zutiefst verzweifelt war.

»Weil ich helfen wollte«, sagte Thobias schließlich. »Ich wollte den Menschen helfen, ihre Dummheit zu überwinden. Ihnen zeigen, was hinter ihrem Aberglauben steckt, und ...« Er brach ab.

»Indem Ihr Kinder foltert?«

Aus der Verzweiflung in Thobias' Augen wurde Bitterkeit, und Andrej begriff, dass er ihn verletzt hatte. Das war nicht seine Absicht gewesen. Es tat ihm Leid.

Bruder Thobias stand auf, ließ sich vor Andrej auf die Knie sinken und zog einen Schlüssel aus der Tasche seines Gewandes, mit dem er den eisernen Ring um sein Fußgelenk öffnete.

»Habe ich Euer Wort?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Andrej. »Auch wenn diese Frage spät kommt.«

Thobias blickte den Schlüssel in seiner rechten und den geöffneten Eisenring in seiner linken Hand einen Moment lang an, dann zuckte er mit den Achseln und rettete sich in ein Lächeln.

»Kommt mit«, sagte er.

Als sie das Zimmer verlassen hatten, schlossen sich ihnen zwei Wachen an, die auf dem Gang gewartet hatten. So vertrauensselig, wie Thobias sich gab, war er offensichtlich doch nicht. Seltsamerweise fühlte sich Andrej durch diese Erkenntnis eher beruhigt.


Er sah sich sehr aufmerksam um, während sie den langen, fensterlosen Gang und anschließend eine steinerne Treppe hinunterstiegen, bevor sie das Gebäude verließen und auf den Hof hinaustraten. Es war sehr still, und niemand begegnete ihnen. Andrej sah sich um. Der erste Eindruck, den er von der Klosterfestung gehabt hatte, bestätigte sich: Er wäre nicht sonderlich überrascht gewesen zu erfahren, dass Thobias der einzige Geistliche hier war.

Sie überquerten den Hof und gingen die Treppe zum Kerker hinab. Die Gittertüren standen nun beide offen, und die Fackeln waren erloschen; offensichtlich war Birgers Tochter die einzige Gefangene hier unten gewesen.

Sie betraten den Gang, den er und Abu Dun gemieden hatten. Thobias entzündete eine Fackel, steuerte mit raschen Schritten eine Tür am anderen Ende des Ganges an und öffnete sie mit Hilfe eines zweiten, sehr kompliziert aussehenden Schlüssels, den er aus den Tiefen seines Gewandes zu Tage förderte. Nachdem er geduckt durch die niedrige Tür getreten war, steckte er die Fackel in einen schmiedeeisernen Halter an der Wand und entzündete anschließend eine stattliche Anzahl an Kerzen. Dann winkte er Andrej zu sich herein und schloss die Tür, bevor die Wachen ihnen folgen konnten.

»Ich habe Euer Wort«, erinnerte er Andrej.

Andrej antwortete mit einem abwesenden Nicken. Er blickte um sich. Der Raum war weder eine Kerkerzelle noch eine Folterkammer; nichts von dem, was er hier unten erwartet hätte. Vielmehr entpuppte er sich als kleines, hoffnungslos überfülltes Studierzimmer, das mit Büchern, Pergamenten und Folianten vollgestopft war. Auf einem grob gezimmerten Regal neben der Tür reihten sich Töpfe, Tiegel, Gläser und Beutel unbekannten Inhalts aneinander.

»Ihr seid ein weit gereister Mann, Andrej«, begann Thobias, nachdem er hinter dem schweren Schreibtisch Platz genommen hatte, der nahezu die Hälfte des vorhandenen Raumes einnahm. Andrej blieb stehen; schon weil es gar keinen zweiten Stuhl gab. »Ich vermute, dass Ihr auf Euren Reisen eine Menge Dinge gesehen habt. Dinge, die Euch wie Zauberei vorgekommen sein müssen. Oder wie Hexenwerk?«

»Worauf wollt Ihr hinaus, Thobias?«, fragte Andrej.

Thobias schwieg einen Moment. Es war ihm anzusehen, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Wir haben vorhin über Hexerei gesprochen, Andrej, und Aberglauben und darüber, wie leichtgläubig die Menschen doch sind. Sagt, Andrej - glaubt Ihr an Vampyre?«

Andrej erstarrte. »Wie?«, murmelte er. Eine eisige Hand schien nach seinem Herzen zu greifen.

»Oder an Werwölfe?«, fuhr Thobias fort. »An Wiedergänger, Untote und Wechselbälger?«

»Ich ... ich verstehe nicht ...«, murmelte Andrej, aber Thobias hörte gar nicht zu. Vielleicht hatte er sich die Worte mühsam zurechtgelegt und konnte nicht anders, als seinen Text aufzusagen.

»Ich habe früher nicht daran geglaubt«, fuhr er fort, »und ich glaube auch jetzt noch nicht daran - zumindest nicht in dem Sinne, in dem die meisten daran glauben. Obwohl ich das hier mit eigenen Augen gesehen habe.«

Er griff in eine Schublade seines Schreibtisches und zog ein Pergament heraus, das er über den Tisch in Andrejs Richtung schob.

Diesmal gelang es Andrej nicht mehr, sein Erschrecken zu unterdrücken.

Auf dem Pergament war eine mit wenig Kunstfertigkeit, dafür aber mit umso größerer Akribie angefertigte Tuschezeichnung zu sehen, die eine Kreatur aus Mensch und Bestie darstellte. Sie sah aus wie ein Wolf, aber zweibeinig und aufrecht gehend, mit einem schrecklichen, schiefen Gebiss und furchtbaren Klauenhänden.

»Ich bin kein großer Künstler«, sagte Thobias, als müsse er sich für die mangelnde Qualität seiner Zeichnung entschuldigen. »Aber genau das ist es, was ich in jener Nacht vor drei Jahren gesehen habe.«

Andrej legte das Pergament zurück. Sein Herz klopfte.

»Ich war damals noch ein junger Novize«, fuhr Thobias fort. »Ich dachte, ich wüsste alles und hätte die Antwort auf alle Fragen. Und natürlich wusste ich, dass es so etwas wie Ungeheuer und Hexen nicht gibt. Dann traf ich diese ... diese Kreatur. Sie tötete drei meiner Begleiter und verletzte meinen Vater und mich schwer. Aber wir überlebten, und seither versuche ich, das Geheimnis dieser ... Geschöpfe zu ergründen.«

»Und was hat das Mädchen damit zu tun?«

»Imret? Birgers Tochter?«

Andrej war überrascht. »Ihr kennt seinen Namen?«

»Wir sind zusammen aufgewachsen«, antwortete Thobias.

»Birger und Ihr?« Andrej war nicht sicher, ob er Thobias richtig verstand.

»Birger«, bestätigte Thobias. »Er ist mein Pate - habe ich das nicht erwähnt?«

Andrej starrte den jungen Geistlichen vollkommen verständnislos an.

Thobias fuhr jedoch ohne Pause fort: »Bis vor fünf Jahren war Trentklamm ein kleiner Ort mit gottesfürchtigen Menschen, die ihre Arbeit taten, in die Kirche gingen und sich um ihre Lieben kümmerten. Und eigentlich ist das auch jetzt noch so.«

Hätte Thobias nicht diesen sonderbaren Blick gehabt und mit einer Stimme gesprochen, als rede er mehr mit sich selbst, dann hätte Andrej ihn an dieser Stelle unterbrochen, denn der Eindruck, den Abu Dun und er von diesem Ort und seinen gottesfürchtigen Menschen gewonnen hatten, war ein völlig anderer. Aber er war beinahe sicher, dass Thobias ihm gar nicht zugehört hätte. Man konnte dem jungen Priester ansehen, wie ihm die Erinnerung zu schaffen machte, die er mit seinen eigenen Worten heraufbeschwor, und so fasste er sich in Geduld und hörte weiter zu.

»Irgendwann begann es«, berichtete Thobias. »Seltsame Geräusche, die die Menschen nachts aus dem Schlaf rissen. Unheimliche Spuren im Schnee, und ... Dinge, die den Mond anheulten. Dann wurden die ersten Tiere gerissen.«

»Und schließlich Menschen«, vermutete Andrej.

Zu seiner Überraschung schüttelte Thobias den Kopf. »Es wurde ein Toter gefunden«, sagte er. »Ein schrecklich verstümmelter Mensch, so schlimm, dass alle dachten, der Teufel selbst sei aus der Hölle emporgestiegen, um den Menschen zu zeigen, was sie im Jenseits erwartete. Auch ich dachte das damals, aber heute glaube ich, dass es eine dieser Kreaturen war. Niemand konnte sich vorstellen, dass es Gottes Wille sei, so etwas zu erschaffen.«

»Wenn es Euren allmächtigen Gott wirklich gibt, dann habt Ihr aber ein seltsames Bild von ihm«, sagte Andrej. Er bedauerte die Worte schon, bevor er sie ausgesprochen hatte, aber es war zu spät. Thobias sah auf und funkelte ihn an. Der erwartete Zornesausbruch blieb jedoch aus. Stattdessen erlosch die Wut und machte einer Mischung aus Trauer und Bitterkeit Platz.

»So viele sind gestorben«, murmelte er. »So viele unschuldige Menschen, deren Leben ausgelöscht wurde.«

»Ja, ihr sagtet, diese ...« Andrej deutete auf Thobias' krakelige Tuschezeichnung. Seltsamerweise hatte er Schwierigkeiten, das nächste Wort auszusprechen. »...diese Monster hätten Menschen getötet.«

»Nicht nur sie«, antwortete Thobias. »Das waren auch wir. Ich, Andrej. Nicht mit meinen eigenen Händen, aber mit dem, was ich getan habe. Was ich gesagt habe. Wisst Ihr, was für eine gefürchtete Waffe das Wort ist, Andrej? Schlimmer als jedes Schwert, und heißer als jedes Feuer.«

Ob er das wusste? Andrej hätte beinahe laut aufgelacht.

»Nach jener schrecklichen Nacht, in der wir auf das Ungeheuer trafen«, fuhr Thobias fort, »hatte ich nichts Besseres zu tun, als zu Vater Benedikt zu gehen und ihm zu berichten, was uns widerfahren war. Ich habe es in bester Absicht getan, Andrej, das müsst Ihr mir glauben. Ich dachte, ich wäre es den braven Menschen von Trentklamm schuldig, ihre Seelen vor dem Satan zu retten.«

Sein Blick und seine Stimme wurden hart. »Keine drei Wochen später erschien die Inquisition in Trentklamm, zusammen mit einer Abteilung Soldaten des Landgrafen. O ja, sie haben den Menschen dort geholfen. Mit Feuer und Schwert haben sie den Teufel aus der Stadt getrieben.«

Seine Stimme brach. Er konnte nicht weitersprechen, und seine Hände schlossen sich mit solcher Kraft um die Tischplatte, dass seine Knöchel knackten.

»Und was hat das alles mit dem Mädchen zu tun?«, fragte Andrej, um Thobias aus der Hölle seiner Erinnerungen zurück in die Wirklichkeit zu holen.

»Imret?« Thobias schluckte. »Sie und Wenzel waren die Einzigen, die das Strafgericht der Inquisition überlebten. Vater Benedikt und ich haben sie hierher gebracht.«

»Um sie zu foltern«, murmelte Andrej.

»Das haben wir nicht getan!«, behauptete Thobias. »Ich weiß, was Ihr gesehen habt, Andrej, aber glaubt mir, es ist nicht das, wonach es aussieht. Wir haben diesen armen Menschen Schreckliches angetan. Ich habe ihnen Schreckliches angetan, mit meinen eigenen Händen, und wenn ich eines Tages vor Gottes Strafgericht stehe, dann werde ich ohne Zweifel dafür büßen müssen. Aber es geschah nicht aus Grausamkeit, sondern um ihnen zu helfen.«

»Das sind genau die Worte, die ich einst aus dem Mund eines Inquisitors gehört habe«, zischte Andrej. »Ich glaube, er sprach sie in dem Augenblick, als er die Zangen ins Feuer legte.«

Er fragte sich, warum er das sagte. Erstens entsprach es nicht der Wahrheit, und zweitens war er auf dem besten Wege, sich um Kopf und Kragen zu reden. Trotz Thobias' unerklärlicher Offenheit lag sein Leben in den Händen des jungen Geistlichen. Er wusste noch immer nicht, was er von seinem Gegenüber zu halten hatte.

Vielleicht war Thobias wirklich das, was er zu sein vorgab, aber möglicherweise war er auch einfach nur verrückt und gefährlicher als Vater Benedikt.

Er wurde auch jetzt nicht zornig, sondern lächelte nur matt, als hätte er genau diese Antwort Andrejs erwartet.

»Ihr habt völlig Recht, Andrej«, sagte er. »Es hieße, Gott zu erniedrigen, wollte man behaupten, dass er es zuließe, dass Satans Kreaturen frei auf der Erde wandeln.« Er machte wieder eine Kopfbewegung in Richtung der Zeichnung. »Ich habe diese Kreatur gesehen. Ich habe mit ihr gekämpft, Andrej, und sie hätte mich fast umgebracht. Aber ich glaube nicht, dass es ein Dämon war.«

Das glaubte Andrej ebenso wenig. Trotzdem fragte er: »Was sonst?«

»Das versuche ich seit zwei Jahren herauszufinden«, antwortete Thobias. Er schüttelte den Kopf. »Mein Vater und ich haben damals auf Vater Benedikt eingeredet, und am Ende gelang es uns, ihn zu überzeugen. Wäre es nach der Inquisition gegangen, hätten sie Trentklamm bis auf die letzte Seele ausgelöscht und das Dorf am Ende niedergebrannt. Aber es gelang uns, Vater Benedikt auf unsere Seite zu ziehen. Lasst Euch nicht von seinem weißen Haar und seiner Art zu sprechen täuschen, Andrej. Er ist ein sehr weltoffener Mann, der weiß, dass es töricht wäre, alles, was wir nicht verstehen, sofort dem Satan zuzuschreiben. Er gab uns dieses leer stehende Kloster und Zeit, um das Geheimnis der Ungeheuer zu ergründen.«

»Ist es Euch gelungen?«, fragte Andrej. Er kannte die Antwort.

»Ich habe einiges herausgefunden«, sagte Thobias traurig. »Doch ich bin auf mehr neue Fragen als Antworten gestoßen. Und nun läuft unsere Frist ab. Ihr habt Vater Benedikt gehört. Es geht nicht nur um Euch und Euren Freund, Andrej. Oder um mich. Wenn Vater Benedikt zurückkommt, dann wird er nicht allein sein. Sie werden nachholen, was sie vor zwei Jahren versäumt haben, und Trentklamm auslöschen - und diesen Ort hier gleich dazu.« Er schwieg einen Moment, während er Andrej durchdringend und auffordernd zugleich ansah. »Es sei denn, wir finden den Beweis, dass die Menschen hier nicht vom Teufel besessen sind.«

Einen Beweis, der vor der Inquisition Geltung finden würde? Andrej wusste, dass dies nahezu unmöglich werden würde. Selbst wenn sie einen unumstößlichen Beweis für die Behauptung hätten, dass der Teufel nicht Einzug in Trentklamm gehalten hatte, wäre das für die Inquisition nur ein weiteres Indiz für die Heimtücke Satans gewesen.

»Und diesen Beweis soll ich bringen?«, vermutete er. Als Thobias nicht antwortete, fügte er kopfschüttelnd hinzu: »Wie stellt Ihr Euch das vor?«

»Wir müssen sie finden«, sagte Thobias. »Birger und die anderen. Wir müssen sie dingfest machen, bevor Vater Benedikt zurückkehrt, oder ganz Trentklamm wird brennen.«

Das war keine Antwort auf seine Frage, aber die hatte Andrej auch nicht erwartet.

»Wieso vertraut Ihr mir?«, wollte er wissen. »Ihr kennt mich nicht. Ihr wisst nichts über mich, außer dass ich hier eingedrungen bin und ein paar Eurer Leute erschlagen habe. Also was sollte mich daran hindern, auf mein Pferd zu steigen und meiner Wege zu ziehen?«

Thobias überraschte ihn ein weiteres Mal, indem er nicht darauf verwies, dass er schließlich Abu Dun als Faustpfand hätte. Stattdessen sah er ihn nur erneut auf diese sonderbar durchdringende Weise an und sagte: »Nennt es Verzweiflung, wenn Ihr so wollt, Andrej. Ich habe keine Wahl, als Euch zu vertrauen. Und ich spüre, dass ich es kann. Ihr habt Recht: Ich weiß nicht, was oder wer Ihr seid, aber ich glaube, Ihr seid ein aufrechter Mann.« Ein dünnes Lächeln stahl sich für einen Augenblick in den Ausdruck von Trauer. »Und außerdem habt Ihr noch eine Rechnung mit Birger offen. Also ... kann ich auf Euch zählen?«

Das war verrückt, dachte Andrej. Aber zumindest in einem Punkt erging es ihm nicht anders als Thobias: Er hatte keine Wahl.

Das Dorf hatte sich verändert. Als er Trentklamm das erste Mal gesehen hatte, da war ihm der Ort wie ein verschlafenes kleines Bergdorf vorgekommen, außergewöhnlich durch diese besondere Lage zwischen den Hängen, die ihn fast zu einer natürlichen Festung machte. Jetzt wirkten die kleinen Häuser nur noch abweisend und feindselig, jedes einzelne eine kleine Festung, die sich wie ein sprungbereit zusammengekauertes Raubtier in die Bergflanken krallte. Etwas Feindseliges, Böses schien über dem Ort zu liegen.


Andrej verscheuchte den Gedanken und fuhr sich müde mit dem Handrücken über das Gesicht. Trentklamm hatte sich nicht im Geringsten verändert. Es war sein Blick, der sich verändert hatte.

Er spürte irgendwo eine leichte Bewegung und wich rasch in den Schutz des Waldes zurück, obwohl es wahrscheinlich gar nicht notwendig war. In den dunkelbraunen und schwarzen Kleidern, die Thobias ihm gegeben hatte, musste er vor dem Hintergrund der Bäume nahezu unsichtbar sein. Außerdem war die Sonne gerade erst aufgegangen und stand als grellweiß lodernde Scheibe genau über den Berggipfeln in seinem Rücken. Wer immer zufällig in seine Richtung blickte, würde nichts anderes sehen als weißes Licht, das grell genug war, um ihm die Tränen in die Augen zu treiben. Auch wenn er Trentklamm Unrecht tat und sich der Ort nicht verändert hatte ... etwas stimmte nicht mit ihm, mit seinen Menschen. Andrej hatte das unheimliche Geschöpf nicht vergessen, dem er beinahe zum Opfer gefallen wäre.

Etwas von der bemitleidenswerten Kreatur war noch immer in ihm, tief am Grunde seiner Seele, fast vergessen, wie ein schlechter Nachgeschmack, den ein an sich gutes Essen hinterlassen hatte. Indem er die Lebenskraft der Kreatur aufgenommen und zu seiner eigenen gemacht hatte, war er auch ein winziges Stück selbst zu dem Wesen geworden.

Manchmal fragte er sich, wie viel von ihm selbst eigentlich noch in ihm war.

Wie alle seiner Art kannte er die Gefahr, die der Wechsel mit sich brachte. Der Angreifer war naturgemäß im Vorteil, wenn sein Opfer geschwächt und verletzt war, und mit jedem Leben, das ein Vampyr nahm, wuchs seine eigene Kraft, was zwangsläufig dazu führte, dass er stärker wurde, je länger er lebte, und unbezwingbarer, je mehr Leben er nahm. Und doch ... manchmal glaubte er die stummen Schreie all derer in sich zu hören, deren Leben er geraubt hatte, das verzweifelte Flehen der verlorenen Seelen, die Opfer der Bestie geworden waren, die irgendwo tief in ihm schlummerte, und der er seine Unsterblichkeit und seine Kraft verdankte, die er aber zugleich fürchtete wie nichts anderes auf der Welt. Vielleicht war er schon längst nicht mehr er selbst, sondern sah nur noch aus wie der Mann, der vor zehn Jahren sein Heimatdorf verlassen hatte.

Das Geräusch von Schritten drang in seine trübsinnigen Gedanken, ein trockener Ast zerbrach unter einem Fuß, und plötzlich stand Bruder Thobias wie aus dem Boden gewachsen vor ihm. Andrej erschrak, weil der junge Priester so plötzlich vor ihm erschienen war. Seine Sinne hätten ihn warnen müssen. Es war unmöglich, sich an ihn anzuschleichen!

Sein Erschrecken war offensichtlich auch Thobias nicht verborgen geblieben, denn der Geistliche legte den Kopf schräg und sah ihn stirnrunzelnd an. »Was habt Ihr, Andrej?«, fragte er. »Ihr seid leichenblass.« Er versuchte zu lachen. Es misslang. »Ihr seht aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen.«

Vielleicht habe ich das auch, dachte Andrej. Laut sagte er: »Nichts. Ich war ... in Gedanken, das ist alles. Was habt Ihr herausgefunden?«

Andrej rief sich zur Ordnung. Es gab eine ganz natürliche Erklärung. Er war noch nie im Leben so schwer verwundet worden wie jetzt. Genau genommen wusste er nichts darüber, wie es war, verletzt zu werden und sich nur allmählich wieder zu erholen. Er nahm an, dass nicht nur sein Körper Zeit brauchte, um seine gewohnte Leistungsfähigkeit zurückzuerlangen.

»Birger und seine Schwester sind verschwunden«, sagte Thobias. »Dazu weitere Männer aus dem Dorf. Niemand hat sie gesehen, seit jener Nacht, in der Ihr ...« Er zögerte unmerklich. »In der das Kloster überfallen wurde.«

»Was habt Ihr erwartet?«, fragte Andrej. »Dass er zurückkommt oder darauf wartet, dass wir ihn holen?« Er drehte sich halb herum und warf einen langen, nachdenklichen Blick ins Tal hinab. Trentklamm schien immer noch zu schlafen, obwohl es auch dort unten bereits hell zu werden begann. Andrej trat an Thobias vorbei einen halben Schritt aus dem Wald heraus, wobei er gegen das unangenehme Gefühl ankämpfen musste, schutzlos zu sein und vom Dorf aus gesehen werden zu können. Auch das hatte sich verändert: Er begann, ängstlich zu werden.

»Wo sind sie alle?«, fragte er. »Die Leute müssten doch längst auf den Beinen sein.«

»In der Kirche«, antwortete Thobias. »Ich sagte Euch doch, die Leute hier sind sehr gottesfürchtig.«

»Alle?«, fragte Andrej zweifelnd. »Oder ist heute Sonntag?«

»Ja«, antwortete Thobias - was wohl die Antwort auf beide Fragen darstellen sollte. Kurz darauf jedoch schüttelte er den Kopf und fuhr fort: »Aber das ist nicht der hauptsächliche Grund. Es steht eine Beerdigung an.«

»Wer ist gestorben?«, fragte Andrej.

»Jemand, den Ihr nicht kennt«, antwortete Thobias ausweichend. »Es spielt auch keine Rolle. Wichtiger ist, was ich darüber hinaus in Erfahrung gebracht habe.« Er sah Andrej herausfordernd an. Dann fuhr er fort: »Es sind wieder Tiere gerissen worden.«

Nun wurde Andrej hellhörig. Er sagte nichts, aber das Interesse in seinem Blick schien Thobias zufrieden zu stellen. »Wie vor zwei Jahren«, fuhr er in deutlich verändertem Tonfall fort. »Zwei Kühe von der östlichen Weide. Und einem anderen Bauern sind drei Schafe gerissen worden. Außerdem hat der Fuchs gleich einen ganzen Hühnerstall verwüstet.«

»Nur, dass es in dieser Gegend gar keine Füchse gibt«, vermutete Andrej.

»Zumindest ist es etliche Jahre her, dass ein Fuchs gesehen worden ist«, bestätigte Thobias. »Das alles gefällt mir nicht. Es wird Benedikt und den Inquisitor in ihrer Meinung bestärken, dass der Teufel hier sein Unwesen treibt. Das macht es nicht gerade leichter für uns. Die Leute sind misstrauisch und trauen jetzt erst recht keinem Fremden mehr.«

Andrej dachte eine Weile angestrengt nach. Thobias hatte Recht, und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun sollte.

»Bringt mich zu dieser Weide«, sagte er schließlich.

»Welcher Weide?« Thobias blinzelte.

»Der, auf der die Kühe gerissen wurden«, antwortete Andrej. »Vielleicht finden wir irgendwelche Spuren, die uns weiterhelfen.«

»Haltet Ihr das für eine gute Idee?«, fragte Thobias. »Die Leute sind ängstlich geworden. Sie werden die Herde bewachen.«

»Wir können auch hier stehen bleiben und darauf warten, dass sich die Ungeheuer freiwillig zeigen«, versetzte Andrej. »Wer weiß - vielleicht geben sie ja auf und kommen mit erhobenen Armen aus dem Wald, um sich uns auszuliefern.«

Thobias funkelte ihn an, aber dann drehte er sich einfach um und ging davon.

Andrej blickte ihm stirnrunzelnd nach. Seine bissige Antwort tat ihm schon wieder Leid, aber er wurde einfach nicht schlau aus dem jungen Geistlichen.

Thobias schien vertrauenswürdig. Aber eine leise, bohrende Stimme in ihm warnte ihn beharrlich, nicht zu vertrauensselig zu sein. Thobias hatte ihm zum Beispiel trotz seiner massiven Forderung bisher nicht erlaubt, mit Abu Dun zu sprechen oder ihn auch nur zu sehen. Und wenn er es recht bedachte, dann hatte er ihm auch von den Ergebnissen seiner Forschungen so gut wie nichts mitgeteilt - obwohl er sie doch angeblich seit zwei Jahren betrieb.

Andrej riss sich aus seinen Gedanken und drehte sich ebenfalls um, um Thobias nachzueilen, der schon auf dem Weg zur anderen Seite des schmalen bewaldeten Streifens war, wo sie ihre Pferde angebunden hatten.

Auf halbem Weg dorthin musste er einem dornigen Gebüsch ausweichen.

Er tat es, schon um sich nicht die neuen Kleider zu zerreißen, die Thobias ihm gegeben hatte, aber er streckte wie zufällig die Hand aus und streifte einen der Äste. Die fast fingernagellangen, messerscharfen Dornen ritzten seine Haut tief genug, dass einige Blutstropfen über seinen Handrücken liefen.

Andrej wischte sie weg und betrachtete nachdenklich die vier tiefen Kratzer. Sie hörten auf zu bluten und begannen zu heilen, aber viel langsamer, als sie es hätten tun sollen. Die Wunde schmerzte auch viel mehr, als sie sollte. Sie heilte - aber er verlangsamte seine Schritte, um nicht zu früh bei Thobias anzukommen und ihn etwas sehen zu lassen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Er musste sehr langsam gehen.

Die Weide - auf dem Weg dorthin hatte er von Thobias gelernt, dass man sie in diesem Teil des Landes Alm nannte - die Alm also lag östlich des Dorfes und so weit oben in den Bergen, dass Andrej sich vergeblich fragte, wie die Trentklammer ihre Kühe eigentlich hier herauf bekamen. Der Pfad, den sie ritten, schien allenfalls für Bergziegen bequem zu sein; selbst sein Pferd kam ein paar Mal ins Stolpern, und auf dem letzten Stück saßen sie ab und gingen zu Fuß. Am Zügel führten sie die Tiere hinter sich her.

Die Bergwiese schmiegte sich an den letzten sanften Ausläufer des Hanges, hinter dem das Bergmassiv jäh und fast senkrecht in die Höhe zu steigen begann. Es war eine zyklopische Wand, die geradewegs bis in den Himmel zu reichen schien. Hier oben war es noch warm, doch es gab bereits keine Bäume mehr, sodass sie die Pferde im Schutz der letzten Felsen zurückgelassen hatten. Sie näherten sich der kleinen Herde mit äußerster Vorsicht, wobei sie jede noch so kärgliche Deckung ausnutzten.

Andrej fand ihr Gebaren merkwürdig. Schließlich pirschten sie sich nicht an eine feindliche Festung voller falkenäugiger Scharfschützen an, sondern an zwei Dutzend magerer Kühe, die wahrscheinlich nicht einmal dann von ihnen Notiz genommen hätten, wenn sie mit mehreren Fahnen und gellendem Kriegsgeschrei aus dem Wald gestürmt wären. Aber Thobias hatte darauf bestanden. Es gab eine kleine, roh aus Baumstämmen gezimmerte und fensterlose Hütte am anderen Ende der Alm, in der sich durchaus ein Wächter aufhalten könnte.

Andrej hoffte inständig, dass dem nicht so war. Nicht nur, weil er befürchtete entdeckt zu werden, sondern vor allem, weil die Gefahr bestand, dass der Mann dem Raubtier begegnete, das die Kühe gerissen hatte. Bei der bloßen Erinnerung an das unheimliche Geschöpf lief ihm noch ein eisiger Schauer über den Rücken. Er selbst, der - unter gewöhnlichen Umständen - viel stärker als ein kräftiger Mann war, hatte es mit Mühe und Not besiegt und diesen Sieg um ein Haar mit dem Leben bezahlt. Ein ahnungsloser Bauer, der auf einen Wolf oder allenfalls einen Bären vorbereitet war, hätte keine Möglichkeit gehabt, sich zu verteidigen.

Sie bewegten sich auf die Felswand zu und näherten sich der kleinen Herde, die träge im Sonnenlicht stand und an dem saftigen Gras zupfte. Allerdings schlugen sie einen Zickzackkurs ein, auf dem sie gut die fünffache Entfernung zurücklegten. Thobias sah immer wieder zur Hütte hin, und so unsinnig Andrej seine Vorsicht auch fand, so schien sie doch anzustecken.

Auch Andrej verspürte eine immer stärker werdende Unruhe, der er sich nur mit Mühe erwehren konnte.

»Hier irgendwo muss es gewesen sein.« Thobias machte eine Kopfbewegung in Richtung der Felswand. »Ich selber habe die Kadaver nicht gesehen, aber mein Vater hat mir die Stelle beschrieben. Dort drüben, bei der Felsspalte.«

Andrej blickte konzentriert in die angegebene Richtung. Er sah den Spalt auf Anhieb. Es war ein dreieckiger Einschnitt in der Felswand, der möglicherweise tiefer in eine Höhle hineinführte, vielleicht aber auch nur ein Schatten war.

Andrej verspürte ein eisiges Frösteln, als sie in den Schatten des Bergmassives traten, und diese Kälte wurde nicht nur vom fehlenden Sonnenlicht hervorgerufen. Irgendetwas Unheimliches ging von dieser Felswand aus. Etwas war hier.

Er blieb stehen und sog prüfend die Luft ein. Da war ein ganz leiser, aber unverkennbarer Geruch, eine Mischung aus Blut- und Verwesungsgestank, gerade noch an der Grenze des überhaupt Wahrnehmbaren.

»Was habt Ihr?« Thobias sah ihn fragend an. Offensichtlich hatte er nichts bemerkt, was Andrej mit einem leisen Gefühl der Erleichterung erfüllte.

Anscheinend erholten sich auch seine Sinne allmählich wieder.

»Nichts«, antwortete er, ohne den Blick von der schmalen Felsspalte zu nehmen. Es war nicht nur ein Schatten. Dahinter musste eine Höhle liegen.

Der Verwesungsgeruch kam eindeutig von dort. »Seid vorsichtig. Bleibt hinter mir.«

Andrej zog das Schwert aus dem Gürtel und legte die letzten zwanzig Schritte zwar geduckt, aber in gerade Linie zurück, ohne auf irgendeine Deckung zu achten. Dicht vor dem Höhleneingang blieb er stehen, um mit geschlossenen Augen zu lauschen.

Plötzlich stürzten die Sinneseindrücke wie eine Flut auf ihn ein. Jetzt, wo er einmal begriffen hatte, dass seine Vampyrsinne zurückgekehrt waren, schienen sie mit jedem Herzschlag schärfer zu werden. Er konnte Thobias Atemzüge hinter sich hören, das leise Knacken des Felsens, der sich vor ihnen auftürmte und sich auf seine unendlich langsame Weise ebenso bewegte wie ein lebendes Wesen, selbst das rülpsende Wiederkäuen der Kühe dreißig Schritte entfernt und das Geräusch des Windes, der sich hoch über ihnen an Felsvorsprüngen und Graten brach. Der Verwesungsgestank schien übermächtig zu werden. Aber es war nur der Geruch des Todes, der aus der Höhle drang. Dort war nichts Lebendes. Nichts, vor dem er Angst haben musste.

Er behielt das Schwert dennoch in der Hand, als er gebückt und schräg gehend durch den schmalen Spalt im Fels trat. Dahinter war es sehr dunkel.

Thobias hätte vermutlich gar nichts erkennen können. Andrejs nun wieder geschärftem Blick offenbarten sich Felsformationen in den unterschiedlichsten Grau-, Schwarz- und Silberschattierungen. Er entdeckte harte, ungewöhnlich scharfe Konturen. Das war eigenartig; eine selbst für ihn vollkommen neue Art des Sehens.

Dennoch war es sein Geruchssinn, der ihn zum Ziel führte, nicht seine Augen. Er konnte erkennen, dass die Höhle nicht besonders groß war. Hinter dem Eingang erweiterte sie sich zwar, verengte sich nach kaum zehn Schritten aber bereits wieder zu einem Spalt, der kaum breit genug war, um eine Hand hindurchzuschieben. Der Boden war mit Felstrümmern und Schutt übersät, und von der Decke hingen scharfkantige Zacken, unter denen er sich vorsichtig hindurchbücken musste; steinerne Zähne, die nur darauf warteten, nach ihm zu schnappen, »Bleibt draußen!«, rief er Thobias zu. »Hier drin ist es gefährlich.«

Thobias folgte ihm dennoch. Andrej schwieg dazu. Sollte sich dieser leichtsinnige Narr doch ruhig den Schädel einrennen, wenn ihm danach war.

Offenbar gehörte Thobias zu denjenigen, die am besten aus schmerzhafter Erfahrung lernten.

Andrej folgte dem süßlichen Verwesungsgeruch, der mit jedem Moment stärker zu werden schien. Mittlerweile war er tatsächlich intensiv genug, um eine leise Übelkeit in ihm auszulösen. Aber zugleich empfand er ihn auch als fast angenehm ...

Er schüttelte den Gedanken ab und stieg vorsichtig über einen metergroßen Felsbrocken hinweg. Hinter ihm knallte es dumpf, und Thobias stieß schmerzerfüllt die Luft aus. Andrej grinste in sich hinein.

Im nächsten Augenblick erlosch sein Grinsen und machte einem angeekelten Verziehen der Lippen Platz, als er sah, was hinter dem Felsbrocken auf dem Boden lag.

Es war ein Stück Fleisch, groß genug, um der Kadaver eines sehr großen Hundes sein zu können, aber schon so sehr in Verwesung übergegangen, dass seine ursprüngliche Form kaum noch zu erkennen war. Andrej ließ sich in respektvollem Abstand in die Hocke sinken und stocherte mit der Schwertspitze nach dem Fleischstück. Ein Schwarm Fliegen stob hoch, summte einen Moment ärgerlich um ihn herum und ließ sich dann wieder auf sein Festmahl niedersinken.

»Großer Gott!«, würgte Thobias neben ihm. »Was ist denn das?«

Andrej stocherte noch zweimal mit der Schwertspitze nach seinem grausigen Fund, ehe er antwortete: »Wenn mich nicht alles täuscht, der Hinterlauf eines Kalbes.«

»Eher einer ausgewachsenen Kuh«, sagte Thobias angeekelt. Er bekreuzigte sich. »Grundgütiger Jesus, seht Euch das an! Es sieht aus, als wäre er einfach herausgerissen worden! Welche Kreatur ist im Stande, so etwas zu tun?«

»Vielleicht ein Bär«, antwortete Andrej, zögernd und ohne rechte Überzeugung. »Ein sehr großer Bär.«

Thobias sah zuerst ihn zweifelnd an, dann drehte er den Kopf und blickte zum Eingang zurück. »Der Spalt ist viel zu schmal für einen Bären. Selbst für einen kleinen.«

»Und Wölfe schleppen ihre Beute nicht in Höhlen«, fügte Andrej hinzu.

Thobias nickte. Er sah erschrocken aus. »Was also war es dann?«

Vermutlich die gleiche Kreatur, der er in jener Nacht gegenübergestanden hatte, dachte Andrej. Wieder rannte eine Armee winziger eisiger Spinnenbeine seinen Rücken hinab. Er hatte mehr als Glück gehabt, diese Begegnung überlebt zu haben.

»Da sind Spuren«, sagte Thobias plötzlich. Andrej sah in die Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies, und tatsächlich entdeckte er Spuren: Eine Anzahl verwischter Abdrücke, die weder von einem menschlichen Fuß noch von der Pfote irgendeines Tieres herrühren konnten. Es sah aus, als wäre jemand in Blut getreten und dann in Richtung des Ausganges davongegangen. Andrej war sehr überrascht, dass Thobias diese Spur überhaupt gesehen hatte. Das Licht in der Höhle schien doch besser zu sein, als er angenommen hatte.

»Mindestens eine Woche alt«, sagte er. »Sie werden uns nichts mehr nutzen.«

»Aber die Kreatur war hier«, erwiderte Thobias. »Und sie wird wiederkommen - sobald sie hungrig ist. Wenn wir uns hier auf die Lauer legen ...«

»Dann brauchen wir nur zu warten, bis sie die Hühner und sämtliche Schafe aus Trentklamm aufgefressen hat, und schon wird sie wieder hier erscheinen«, führte Andrej den Satz zu Ende. Er stand auf. »So viel Zeit haben wir nicht, Thobias. Lasst uns hinausgehen. Ich bekomme keine Luft mehr.«

Auch Thobias erhob sich und zog den Kopf ein, um sich nicht zu stoßen, während sie nebeneinander zum Ausgang gingen.

Andrej verließ die Höhle als Erster. Er blinzelte, da er im ersten Moment fast blind in der ungewohnten Helligkeit war. Nach dem Verwesungsgestank in der Höhle erschien ihm die saubere Luft hier draußen so süß und wohltuend, dass er für eine Weile nichts anderes tat als dazustehen und tief ein- und auszuatmen. Dennoch registrierte er, dass sie nicht mehr allein waren. Während sie sich in der Höhle aufgehalten hatten, war ein Teil der Herde herangekommen. Als Andrej die Augen öffnete, blickte er direkt in das gutmütige Gesicht einer braunweiß gefleckten Kuh, die gemächlich wiederkäute und ihn anglotzte.

Hinter ihm polterte Thobias aus der Höhle, und die Kuh stieß ein erschrockenes Muhen aus und rannte davon. Thobias blickte ihr kopfschüttelnd nach und grinste plötzlich: »Vielleicht muss ich meine Einstellung übernatürlichen Dingen gegenüber noch einmal überdenken«, sagte er.

»Wieso?«

»Diese Kuh konnte anscheinend meine Gedanken lesen«, sagte Thobias.

Sein Grinsen wurde breiter. »Als ich sie gesehen habe, musste ich an ein Stück saftigen Braten denken.«

Andrej lachte, aber es klang ein wenig schal. Ihm war nicht ganz klar, wie Thobias jetzt an Essen denken konnte; nicht nach dem, was sie gerade in der Höhle gefunden hatten. Andrejs Magen rebellierte immer noch.

»Sie muss irgendwo hier sein«, fuhr Thobias nachdenklich fort. »Ich kann sie spüren, Andrej. Fühlt Ihr es nicht auch?«

Statt direkt zu antworten, sah Andrej sich um. Zur Rechten setzte sich die Felswand fort, bis sie im Dunst der Entfernung verschwamm. Aber zur anderen Seite hin wurde der Berg karstiger. Die senkrecht emporstrebende Mauer verwandelte sich nach und nach in ein Gewirr von Felssplittern und Schluchten, in dem sich eine ganze Armee verstecken konnte. Oder auch zwei.

»Nein«, antwortete er mit einiger Verspätung auf Thobias' Frage. »Aber ich an seiner Stelle würde mich genau hier verstecken. Hundert Männer können ein Jahr nach ihm suchen, ohne ihn zu finden.« Er seufzte. »Wir brauchen Abu Dun.«

»Nein«, sagte Thobias.

»Ich meine es ernst, Thobias«, beharrte Andrej. Natürlich wusste er längst, wie die Antwort lauten musste, aber er versuchte es dennoch weiter. »Ihr überschätzt mich, Thobias. Ich bin nur ein Söldner, der gelernt hat, mit dem Schwert umzugehen. Abu Dun ist der beste Fährtenleser, dem ich jemals begegnet bin. Ich brauche ihn.«

»Kommt nicht in Frage«, beharrte Thobias, ruhig, aber auch sehr entschlossen. Er konnte nicht anders entscheiden, das war Andrej klar. Auch wenn er sich aus purer Verzweiflung entschlossen hatte, Andrej zu vertrauen, so war er doch nicht dumm. Abu Dun war sein einziges Pfand.

»Dann brauchen wir Hunde«, sagte er nachgebend. »Gibt es Suchhunde bei Euch?«

»Im Kloster?« Thobias schüttelte den Kopf. »Wir hatten zwei Hunde. Aber als Imret und ihr Onkel ins Kloster kamen, mussten wir sie abschaffen. Sie haben sich wie wild gebärdet und waren nicht mehr zu bändigen.«

»Und was ist mit Trentklamm?«, fragte Andrej.

»Dort gibt es Hunde«, räumte Thobias ein. »Aber ich weiß nicht, welchem Zweibeiner ich dort trauen kann.«

»Wie wäre es mit Eurem Vater?«, schlug Andrej vor.

Thobias sah wenig begeistert aus, aber nach einer Weile rang er sich trotzdem zu einem Nicken durch. »Ich werde ihn fragen«, sagte er. »Die Beerdigung müsste ohnehin vorbei sein, und so lange es hell ist, werden wir hier nichts finden. Also reiten wir zurück.«

Der Friedhof der kleinen Ortschaft befand sich außerhalb des Tales. Er lag am Ende einer schmalen, tief eingeschnittenen Schlucht, die nur von einer Seite aus zugänglich war, und wurde zusätzlich von einer gut mannshohen Mauer eingefasst, in der sich nur eine schmale, massiv vergitterte Tür befand. Er erinnerte eher an eine Festung als an einen Gottesacker. Oder an ein Gefängnis.

Thobias hatte Andrej angewiesen, in der kleinen Kapelle zu warten, während er nach Trentklamm zurückkehrte, um mit seinem Vater zu sprechen. Andrej hatte sich eine gute Weile in der winzigen, vollkommen leeren Kapelle aufgehalten, ehe er wieder hinausging und ziellos über den Friedhof schlenderte. Thobias hatte ihm zwar eingeschärft, die Kapelle nicht zu verlassen, aber er glaubte nicht, dass jemand zufällig hier vorbeikommen würde, und darüber hinaus schützte ihn auch die hohe Mauer vor neugierigen Blicken.

Diese Mauer erwies sich bei näherem Hinsehen als mehr als sonderbar.

Sie war fast zwei Meter hoch und aus massiven Felsbrocken erbaut, die kaum behauen, aber äußerst kunstvoll miteinander vermauert waren. Auf ihrer Oberkante befanden sich spitze eiserne Dornen, die nach innen geneigt waren, und auch der Riegel an der schweren Gittertür war außen angebracht.

Es gab eine Unzahl von Kreuzen. Nun war ein Friedhof naturgemäß ein Ort, an dem es Kreuze in Massen gab, aber hier standen sie nicht nur auf den Gräbern. Auch die Innenseite der Friedhofsmauer war mit Kreuzen übersät, die aus Holz oder Metall gefertigt waren, manche aber auch gemalt oder grob in den Stein geritzt; zum Teil mit großer Kunstfertigkeit, zum Teil in aller Hast. Das Gitter, das den Eingang verschloss, bestand bei genauerem Hinsehen aus einer Unzahl geschmiedeter Kruzifixe.

Es war ein durch und durch unheimlicher Ort. Und was für seine Begrenzungsmauer galt, das traf auf die Gräber in beinahe noch stärkerem Maße zu. Die meisten waren vollkommen schlicht, aber es gab auch etliche, die mit Kreuzen und anderen christlichen (und auch einigen ganz und gar nicht christlichen) Symbolen nur so gespickt waren. Auf einigen lagen tonnenschwere Steinplatten, als hätten die Menschen Angst, dass das, was sich darin befand, wieder aus seinem Grab herauskommen könnte.

Andrej fand ohne große Mühe das Grab, das an diesem Morgen frisch ausgehoben worden war; auch wenn es sich von jedem frischen Grab unterschied, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Statt eines flachen, mit frischen Blumen oder Grün bedeckten Hügels bestand es aus einer zwei mal einen Meter messenden massiven Granitplatte, in die weder ein Name noch ein Geburts- oder Sterbedatum eingraviert war, dafür aber ein Kruzifix mit gespaltenen Enden und ein lateinischer Bibelspruch. Nicht nur, dass ein solches Grab für die einfachen Menschen aus Trentklamm unglaublich aufwändig war, war es auch vollkommen unsinnig. Spätestens wenn sich das Grab zu senken begann, musste die Grabplatte zerbrechen, ganz egal, wie massiv sie auch war.

Es gab noch mehr Besonderheiten. Die vier Eckpunkte des Grabes wurden von vier gürtelhohen Kreuzen gebildet, und ungefähr dort, wo sich das Herz des Beerdigten befinden musste, stand eine mit Wasser gefüllte Schale, auf deren Boden etwas Silbernes schimmerte. Andrej tauchte zögernd die Finger hinein und roch an der Flüssigkeit. Wasser. Aber kein gewöhnliches Wasser, sondern Weihwasser.

Er beugte sich weiter vor und zog fragend die Augenbrauen zusammen, als er erkannte, worum es sich bei dem schimmernden Gegenstand handelte. Es war ein silbernes Medaillon in Form eines Drudenfußes.

Andrej streckte zögernd zum zweiten Mal die Hand aus, und eine Stimme hinter ihm sagte: »Das würde ich nicht tun, an Eurer Stelle.«

Erschrocken fuhr er hoch. Seine rechte Hand senkte sich auf den Schwertgriff, aber er zog die Waffe nicht, als er die Gestalt erkannte, die in Thobias' Begleitung den Friedhof betreten hatte.

»Vater Ludowig?«, murmelte er. Verwirrt blickte er von Thobias zu Vater Ludowig und wieder zurück. Ludowig funkelte ihn voller kaum unterdrücktem Zorn an, während Thobias sichtliche Mühe hatte, sein Grinsen nicht allzu deutlich werden zu lassen.

»Aber Ihr sagtet doch, Ihr kämt...«

»Mit meinem Vater, ganz recht«, feixte Thobias.

Andrej blickte abermals von einem zum anderen, und plötzlich fragte er sich, warum er nicht schon längst von selbst darauf gekommen war. Ludowigs Gesicht war schmal und eingefallen und von Falten bedeckt, und wo in Thobias' Augen ein niemals ganz erlöschendes Lächeln zu sein schien, waren Ludowigs Augen von einem unauslöschlich eingebrannten Misstrauen erfüllt - aber die Ähnlichkeit war unverkennbar.

»Vater Ludowig«, murmelte Andrej. »Nun ja.«

»Strengt Eure Fantasie nicht unnötig an, Heide«, ermahnte Ludowig ihn scharf. »Thobias kam zur Welt, lange bevor ich Gottes Ruf empfing und in den Orden eintrat.«

»Nichts anderes habe ich angenommen, Vater«, erwiderte Andrej. Ludowigs Augen begannen Feuer zu sprühen, und Thobias bedeutete ihm mit Blicken, den Bogen nicht zu überspannen. Als er sprach, wandte er sich direkt an Ludowig.

»Du hast es selbst gesehen, Vater. Er hat die Hand in Weihwasser getaucht, und dies hier ist heiliger Boden. Du selbst hast das Grab noch heute Morgen gesegnet - und wie ich annehme, auch die eine oder andere Hostie vergraben. Wie viele waren es? Ein Dutzend?«

»Was soll das für ein Beweis sein?«, fragte Vater Ludowig mürrisch.

»Nun, er könnte kaum all diese Dinge tun, wenn er vom Teufel besessen wäre, nicht wahr?«, erläuterte Thobias. In seiner Stimme war noch immer ein sanfter Spott wahrzunehmen, aber Andrej fühlte auch seine Anspannung.

»Der Teufel ist mächtig«, sagte Vater Ludowig. Er klang eher störrisch als überzeugt.

»Nicht einmal er selbst könnte diesen Ort betreten«, seufzte Thobias. »Du wolltest einen Beweis, dass wir ihm vertrauen können. Du hast einen Beweis. Seine Seele ist rein.«

»Er ist ein Heide«, beharrte Vater Ludowig. »Möglicherweise hat er gar keine Seele, die der Teufel ihm rauben kann.« Er klang jetzt einfach nur noch stur. Andrej wäre nicht überrascht gewesen, wenn er mit dem Fuß aufgestampft hätte. Ludowig wollte sich nicht überzeugen lassen.

»Was soll das?«, fragte Andrej an Thobias gewandt.

»Mein Vater ist der einzige Mensch in Trentklamm, dem ich wirklich vertraue«, antwortete Thobias, aber Andrej schüttelte sofort und übertrieben heftig den Kopf.

»Davon rede ich nicht«, sagte er. »Ich meine das hier. Dieses Grab. Dieser ganze Friedhof ... wenn man ihn so nennen will.«

»Sprecht nicht so respektlos von Gottes Haus!«, mahnte Vater Ludowig.

»Gottes Haus?« Andrej lächelte wieder, und seine Stimme war voller Spott. Er bückte sich, griff in die Schale und nahm den silbernen Drudenfuß heraus.

»Das hier sieht mir nicht nach einem wirklichen Symbol Gottes aus, Vater Ludowig.«

Ludowigs Augen wurden schmal. »Was ist das?«, keuchte er. »Woher kommt das? Habt Ihr es hierher gebracht, Heide?«

Er wollte nach dem Medaillon greifen, aber sein Sohn kam ihm zuvor und nahm Andrej den Drudenfuß aus der Hand. Rasch schloss er die Faust darum und schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich kaum, Vater«, sagte er. »Ich fürchte, es war eines deiner Schäfchen, das der Meinung war, man könne des Guten niemals zu viel tun. Und es schadet ja auch nicht, oder?«

»Ketzerei«, grollte Vater Ludowig. »Ich werde keine Ketzerei in meiner Gemeinde dulden! Ich kann mir schon denken, wer dafür verantwortlich ist!«

»Mit Verlaub, Vater Ludowig«, sagte Andrej. »Aber wenn wir nicht aufhören, unsere Zeit zu verschwenden, dann werdet Ihr in neun Tagen keine Gemeinde mehr haben. Hat Euch Euer Sohn nicht gesagt, warum wir hier sind?«

Vater Ludowig funkelte ihn nur an, aber Thobias nickte. »Ich fürchte, er hat Recht, Vater. Wir müssen jemandem vertrauen.«

»Ausgerechnet ihm? Einem Fremden, der noch dazu in Begleitung eines Muselmanen hier erschienen ist? Einem Mann, der dich um ein Haar getötet hätte? Alles hat erst wieder begonnen, nachdem sie gekommen sind.«

Thobias war klug genug, diesen Einwand nicht aufzugreifen. Er warf Andrej einen weiteren, beinahe flehenden Blick zu, es ihm gleichzutun, dann wandte er sich ganz zu Andrej um und sagte: »Hier hat damals alles angefangen.«

Es dauerte eine Weile, bis Andrej begriff, dass diese Worte die Antwort auf seine Frage darstellten.

»Hier?«

»Es ist ein verfluchter Ort«, sagte Vater Ludowig. »Ihr müsst Euch nur umsehen, Söldner! Spürt Ihr nicht den Atem des Teufels?«

»Vater!«, rief Thobias. Er wandte sich wieder an Andrej. »Dies war schon eine Begräbnisstätte, als dieses Land noch von barbarischen Völkern besiedelt war, die heidnischen Riten nachhingen und die Naturgeister anbeteten.« Er wies auf die Kapelle. »Diese Kapelle wurde auf den Grundmauern eines viel älteren Gebäudes errichtet.«

»Eines heidnischen Tempels«, giftete Vater Ludowig. »Es ist ein Schlag in Gottes Gesicht, sein Haus auf den Grundmauern eines heidnischen Tempels zu errichten! Das ist gotteslästerlich!«

»Was hat hier begonnen?«, beharrte Andrej. Wie Thobias war mittlerweile auch er zu dem Schluss gekommen, dass es das Vernünftigste war, Ludowigs Worte einfach zu überhören. Er fragte sich, warum Thobias ihn überhaupt mitgebracht hatte.

»Es war vor drei Jahren«, antwortete Thobias. Er deutete ein Schulterzucken an. »Ungefähr. Ich selbst war nicht hier, und die Leute sprechen nicht gerne darüber.« Er sah seinen Vater auffordernd an, aber Ludowig verstummte nun gänzlich. Nach einem Augenblick zuckte Thobias mit den Schultern und fuhr fort: »Es war im Frühjahr. Fremde kamen ins Dorf. Gaukler, soweit ich gehört habe.«

»Gaukler?« Andrej wurde hellhörig.

Abermals hob Thobias die Schultern. »Fahrendes Volk. Spielleute, Zigeuner. Ich weiß es nicht genau.«

»Zigeuner!« Vater Ludowig spie das Wort regelrecht aus. »Gottloses Volk, das nachts nackt um das Feuer tanzt und ohne Scham vor den Augen aller herumhurt!«

»Nun ja, vielleicht nicht ganz nackt«, sagte Thobias besänftigend. »Ich habe nichts gegen das fahrende Volk, Andrej. Im Gegenteil. Die Menschen hier sind arm. Ihr Leben besteht zum größten Teil aus Arbeit und Mühsal, und nur zu oft aus Not. Sie heißen jede Abwechslung willkommen, und was ist schon dabei? Ich glaube nicht, dass Gott etwas gegen ein wenig Freude im Leben hat - sonst hätte er uns kaum die Fähigkeit zu lachen gegeben, oder?«

Die letzte Frage war an Ludowig gerichtet, was Thobias einen vernichtenden Blick seines Vaters einbrachte.

»In diesem Jahr aber«, fuhr Thobias fort, »brachten sie den Tod. Einer von ihnen war krank, vielleicht auch mehrere, und etliche Dorfbewohner haben sich wohl bei ihnen angesteckt.«

»Angesteckt?« Vater Ludowig zog eine Grimasse. »So kann man es auch nennen. Es war die gerechte Strafe für ihr Tun! Sie haben Ehebruch begangen. Herumgehurt haben sie! Was danach geschah, war ...«

»... keine große Tragödie«, fiel ihm Thobias ins Wort. »Nachdem die Zigeuner fortgezogen waren, kam das Fieber. Viele wurden krank, und an die zwanzig starben.« Er seufzte. »Das allein wäre schrecklich genug gewesen, doch nachdem die Toten begraben und die Kranken wieder genesen waren, begann das, was auch jetzt wieder geschieht. Tiere wurden gerissen, Menschen verschwanden ...« Er hob die Schultern, starrte einen Moment wortlos zu Boden und begann schließlich mit kleinen Schritten vor Andrej auf und ab zu gehen.

»Zwei der Gräber waren aufgebrochen, und die Leichen verschwunden«, fuhr er nach einer langen Pause fort. »Von innen aufgebrochen, Andrej. So, als wären die Toten wieder aufgewacht und hätten sich aus ihren Gräbern befreit.« Er blieb stehen, sah Andrej aus weit geöffneten Augen an und flüsterte: »Ich habe es gesehen, Andrej. Mit meinen eigenen Augen.«

»Ihr wollt mir erzählen, dass die Toten aufgewacht sind und sich aus ihren Särgen befreit haben?«, murmelte Andrej. Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn - aber der Grund seines Schreckens war ein gänzlich anderer, als Thobias annehmen musste: Thobias' Geschichte ähnelte zu sehr der, die ihm Alessa erzählt hatte.

»Ich weiß, wie sich das in Euren Ohren anhören muss, Andrej«, sagte Thobias. »Aber ich schwöre bei meiner unsterblichen Seele, dass es genau so war. Ich habe es selbst gesehen.«

»Hexerei«, murmelte Vater Ludowig. »Das ist das Werk des Teufels! Was muss noch passieren, bis du das begreifst? Habe ich dich so schlecht gelehrt, das Offensichtliche zu sehen?«

»Du hast mich zu gut gelehrt, das Offensichtliche sehen«, antwortete Thobias in einem Ton, der Andrej klarmachte, wie oft die beiden ungleichen Männer dieses Gespräch schon geführt haben mussten. »ist zu leicht, alles auf den Teufel zu schieben, Vater. Ich glaube, dass es eine Krankheit ist.«

»Eine Krankheit?«, fragte Andrej.

Vater Ludowig lachte böse.

»Eine grausame und fürchterliche Krankheit, ja, aber doch nicht mehr als das!«, antwortete Thobias überzeugt. »Niemand käme auf die Idee, den Teufel für die Pest verantwortlich zu machen, oder für die Blattern.«

»Aber eine Krankheit, die die Menschen von den Toten wiederauferstehen lässt?«, fragte Andrej zweifelnd.

Thobias lachte bitter auf. »Ich könnte Euch eine Menge Erklärungen dafür nennen, Andrej«, sagte er. »Ich habe in Nürnberg Anatomie studiert, bevor ich erfuhr, was hier geschieht und zurückkam. Ihr wäret erstaunt, wie viele vermeintlich Tote in ihren Särgen aufwachen und qualvoll ersticken - wenn sie Glück haben. Die weniger Glücklichen leben noch Tage. Sie reißen sich die Augen aus, zerfetzen sich selbst die Gesichter oder beißen sich in ihrer Verzweiflung selbst die Adern durch, um endlich sterben zu können.«

»Davon habe ich gehört«, antwortete Andrej. »Aber noch nie, dass sie sich selbst aus ihren Gräbern befreien und danach als Ungeheuer umherlaufen.«

Thobias lächelte flüchtig. »Ich höre mich selbst reden, damals, vor drei Jahren«, fuhr er fort. »Ich sagte doch, ich habe Anatomie studiert. Glaubt Ihr nicht, ich hätte nicht mindestens ein Dutzend überzeugender Erklärungen gefunden?«

»Und wieso glaubt Ihr dann nicht selbst an sie?«, wollte Andrej wissen.

»Ich habe Euch von dem Ungeheuer erzählt, das mich beinahe getötet hat«, antwortete Thobias. Andrej nickte. »Eine Sache habe ich Euch bisher allerdings verschwiegen, Andrej. Aus gutem Grund. So grässlich entstellt das Ungeheuer auch war, habe ich es trotzdem erkannt. Es war ein Mann hier aus dem Dorf. Ein junger Mann, gerade so alt wie ich. Als Kinder haben wir zusammen gespielt.« Er deutete auf die Gräber ringsum. »Und vor drei Jahren hat mein Vater ihn auf diesem Friedhof beerdigt, nachdem er in seinen Armen gestorben war.«

Ein Zehntel der Frist, die den Menschen in Trentklamm noch zu leben blieb, war verstrichen, als sie ins Kloster zurückkehrten. Die Sonne sank bereits, aber noch herrschte ein helles Zwielicht, und Andrejs immer schärfer werdende Sinne ermöglichten es ihm, sich das Kloster und den kleinen Ort zum ersten Mal wirklich anzusehen.

Nicht, dass es der Mühe wert gewesen wäre. Der Ort bestand aus weniger als einem halben Dutzend wuchtiger Gebäude, die klein, aber allesamt aus Stein gebaut und mit Schiefer gedeckt waren. Materialien, die die Menschen vermutlich in unmittelbarer Nähe gefunden hatten. Holz als Baumaterial, so nahm er an, war hier oben viel zu schwer zu beschaffen und daher weit kostbarer als Stein. Nirgendwo war ein Zeichen von Leben zu erkennen.

Obwohl auf den Felsen ringsum ebenso wie auf vielen Dächern Schnee lag, stieg aus keinem einzigen Kamin Rauch auf. Er musste nicht fragen, um zu erkennen, dass das Dorf verlassen war.

Was für die Häuser galt, traf auf die Klosterfestung in noch viel stärkerem Maße zu: Es war ein wuchtiger, aus grobem Stein errichteter Bau ohne überflüssigen Zierrat, der einzig nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit errichtet worden war. Er bestand nur aus einem Turm mit einer acht Meter hohen Umfriedungsmauer. Der Krieger in Andrej erkannte sofort die Schwachpunkte dieser uralten Festungsanlage. Dennoch war sie allein durch ihre Lage fast unangreifbar, hoch oben über dem Pass und mit der unübersteigbaren Felswand im Rücken.

»Vor langer Zeit war das eine Raubritterburg.« Thobias hatte Andrejs forschende Blicke bemerkt und beantwortete seine unausgesprochene Frage, wobei sich kleine Dampfwölkchen vor seinem Gesicht bildeten. »Aber das ist sehr lange her. Heutzutage leben wir in zivilisierteren Zeiten. Es gibt schon lange keine Raubritter mehr.«

»Vielleicht, weil es auch nichts mehr gibt, was sich zu rauben lohnt«, murmelte Andrej. Die Kälte, die sich wie ein dünner eisiger Film auf sein Gesicht gelegt hatte und seine Züge lähmte, ließ sein Lächeln verunglücken.

»Da habt Ihr wohl Recht«, sagte Thobias. Er maß Andrej mit einem sonderbaren Blick, schwieg aber, bis sie das Tor erreicht hatten und aus den Sätteln stiegen. Zwei Wächter kamen ihnen entgegen und nahmen ihnen die Tiere ab, und obwohl sie sich im Hintergrund hielten, bemerkte Andrej sehr wohl die beiden anderen Soldaten, die im Schatten standen und jede seiner Bewegungen misstrauisch beobachteten.

»Ich möchte mit Abu Dun reden«, verlangte er, während sie durch das Torgewölbe gingen. Thobias wollte sofort widersprechen, aber Andrej kam ihm zuvor und sprach mit deutlich schärferer Stimme weiter: »Und jetzt sagt nicht wieder: Kommt nicht in Frage oder sonst etwas. Ich will nur mit ihm reden, das ist alles. Ich muss mit ihm reden. Wenn Ihr meine Hilfe braucht, dann gestattet Ihr es mir lieber.«

Thobias zog eine Grimasse. »Ihr versteht es, Euer Anliegen zu vertreten, Andrej.«

»Ich ziehe seit Jahren mit einem arabischen Piraten und Händler umher«, grinste Andrej. »Das schult.«

»Und wenn ich dennoch nein sage?«

»Dann sterben wir in zehn Tagen gemeinsam.« Andrejs Grinsen stand auf seinem Gesicht, als wäre es eingemeißelt. »Vielleicht sterbe ich auch zehn Tage vor Euch ... Das macht keinen so großen Unterschied.«

»Also gut«, murmelte Thobias nach kurzem Überlegen. »Aber nur kurz. Und ich werde dabei sein.«

Andrej war überrascht, wie schnell Thobias seiner Forderung plötzlich nachgab.

Sie begaben sich unmittelbar ins Kellerverlies hinab, nahmen aber diesmal den rechten Gang. Eine Fackel brannte und verbreitete rotes Flackerlicht und beißenden Gestank. Die beiden Soldaten begleiteten sie, ohne dass Thobias sie eigens dazu auffordern musste. Andrej konnte die Unruhe der Männer spüren, und er roch tatsächlich ihre Furcht. Eine Furcht, unter der sich noch etwas anderes verbarg. Wut. Hass. Andrej gemahnte sich zur Vorsicht. Diese Männer hatten Angst vor ihm, aber sie hatten auch nicht vergessen, was er ihren Kameraden angetan hatte, und würden sich bei der ersten Gelegenheit dafür rächen.

Vor der Zelle, in der das Mädchen untergebracht gewesen war, blieben sie stehen. Das Sichtfenster in der massiven Eichentür war mit schmutzigen Lappen verstopft, sodass Andrej nicht in die dahinter liegende Zelle blicken konnte. Aber schon während Thobias einem der Soldaten einen Wink gab und dieser den schweren Riegel zurückschob, spürte er den erbärmlichen Gestank, der aus dem winzigen Raum drang. Es stank nicht nur nach menschlichen Exkrementen, nach Blut und Schweiß, sondern vor allem nach Leid. Eine Woge kalter Wut stieg in Andrej hoch; ein Gefühl, das in blanken Hass umschlug, als die Tür weiter aufschwang und er Abu Dun sah.

Der Nubier stand aufrecht an der Wand. Seine Hände waren auf die gleiche Weise an einen eisernen Ring über seinem Kopf gefesselt wie die Imrets zuvor, nur dass Abu Dun um ein gutes Stück größer war als sie, was ihn zu einer gebeugten Haltung zwang, die schon nach kurzer Zeit unerträglich geworden sein musste. Er war nackt, aber vielleicht zum ersten Mal, seit Andrej den Nubier kannte, beschlich ihn nicht ein sachtes Neidgefühl, als er den Körper des riesigen Piraten ansah. Abu Dun war immer noch ein Riese, der Andrej und Thobias selbst in der gebeugten Haltung noch überragte, in der er dastand, aber er war stark abgemagert, so als hätte er nichts zu essen bekommen, seit er in diese Zelle gebracht worden war. Seine Haut starrte vor Schmutz, und seine Augen waren trüb und schienen Andrej im ersten Moment gar nicht zu erkennen. Dann verzog ein Lächeln seine ausgetrockneten, rissigen Lippen.

»Hexenmeister«, murmelte er. Seine Stimme war ein schreckliches Krächzen, als wäre auch seine Kehle ausgedörrt und rissig.

Andrej musste sich zwingen, Abu Duns Lächeln zu erwidern, und er spürte selbst, wie kläglich der Versuch scheiterte.

»Pirat«, antwortete er.

Abu Duns Grinsen wurde noch breiter. Seine geschundene Unterlippe platzte auf, und ein einzelner Blutstropfen lief über das Kinn des Nubiers.

»Nenn mich nicht so.«

»Wenn du aufhörst, mich Hexenmeister zu nennen«, antwortete Andrej.

Die Worte klangen schal. Das zehn Jahre alte Ritual, mit dem sie sich begrüßten, kam ihm mit einem Mal wie grausamer Spott vor.

Mit einem Ruck drehte er sich zu Thobias um. Er zitterte am ganzen Leib.

»Warum?«

Thobias hielt seinem Blick ruhig stand. Bevor er antwortete, wandte er sich mit einer Geste an die beiden Soldaten, um sie fortzuschicken. Sie gehorchten, aber sie zogen sich nur ein paar Schritte weit zurück. Ihre Hände lagen auf den Schwertern.

»Es war der einzige Weg, ihn am Leben zu lassen«, antwortete Thobias, nachdem die Männer außer Hörweit waren, mit gesenkter Stimme. »Die Männer wollten ihn töten. Er hat ihre Kameraden erschlagen.«

»Macht ihn los!«, verlangte Andrej. »Auf der Stelle!«

»Das kann ich nicht«, antwortete Thobias. »Seht das doch ein, Andrej! Ich bin nicht der Befehlshaber dieser Männer! Sie unterstehen dem Landgrafen, und damit Vater Benedikt! Es hat mich all meine Überredungskunst gekostet, Eurem Freund auch nur das Leben zu retten! Sie würden ihn nicht losmachen, auch wenn ich es ihnen befehle.«

»Er stirbt, wenn er noch länger in diesem Kerker bleibt«, antwortete Andrej.

Er musste sich mit aller Gewalt beherrschen, um Thobias nicht zu packen und wie einen tollwütigen Hund zu schütteln und gegen die Wand zu werfen.

»Lass ... gut sein, Hexenmeister«, krächzte Abu Dun. »So schnell... sterbe ich nicht.«

Andrej überhörte seine Worte.

»Ihr werdet seine Fesseln lösen«, beharrte er. »Gestattet ihm, sich zu setzen und sich zu waschen! Das ist menschenunwürdig.«

»Ich kann das nicht«, sagte Thobias leise. »Ihr könnt mit ihm reden, und das ist schon mehr, als ich Euch gestatten dürfte. Ginge es nach den Männern hier, dann stünde er schon auf dem Scheiterhaufen und würde brennen. Und nun beeilt Euch. Eure Zeit ist fast um.«

Andrej schluckte die wütende Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag.

Sich mühsam beherrschend, drehte er sich zu Abu Dun um. Erst jetzt bemerkte er die schwärenden Wunden und Kratzer, die Abu Duns Körper bedeckten. Sie hatten ihn nicht nur hungern lassen und in dieser qualvollen Haltung hier angekettet, sondern auch geschlagen.

»Wie fühlst du dich?«

Abu Dun stieß einen sonderbaren Laut aus. »Das ist die mit Abstand dümmste Frage, die ich je gehört habe«, antwortete er. »Was glaubst du? Ich fühle mich so, wie ich aussehe.«

»So schlimm?« Trotz allem atmete Andrej auf. Abu Dun hatte mit schleppender Stimme und stockend geantwortet, aber die Wahl seiner Worte machte Andrej deutlich, dass er noch immer bei Sinnen war.

»Du kommst bald hier raus«, sagte er. Im gleichen, bewusst aufmunternden wie beiläufigen Ton fügte er hinzu: »Sobald ich dieses Ungeheuer unschädlich gemacht habe.«

Abu Dun musterte erst ihn, dann Thobias aus trüben Augen und wechselte ins Arabische: »Von welchem Ungeheuer sprichst du?«

»Redet in einer Sprache, die ich verstehe!«, verlangte Thobias scharf.

»Heute Nacht«, sagte Andrej, ebenfalls auf Arabisch. »Ich hole dich raus.«

»Ich sagte, Ihr sollt so reden, dass ich Euch verstehe«, stieß Thobias wütend hervor.

»Verzeiht, aber ich habe ihm nur wiederholt, was Ihr gesagt habt«, antwortete Andrej. »Ich spreche auch nur wenige Brocken seiner Sprache und verstehe ihn sowieso nicht.«

Er las in Thobias' Augen, dass er ihm kein Wort glaubte. »Das reicht«, sagte er zornig. »Ihr habt Euren Freund gesehen und Euch davon überzeugt, dass er noch am Leben ist. Der Besuch ist beendet!«

Andrej wollte sein Wort halten und Abu Dun im Laufe der vor ihnen liegenden Nacht befreien. Er befürchtete, dass der Pirat den nächsten Morgen nicht mehr erleben könnte. Dass Abu Dun noch in der Lage gewesen war, sich klar und in zusammenhängenden Sätzen auszudrücken, täuschte ihn nicht über den bedrohlichen Zustand hinweg, in dem er sich befand. Abu Duns Stärke, die ihnen schon so oft das Leben gerettet hatte, konnte ihm in dieser Situation durchaus zum Verhängnis werden, denn wie viele wirklich starke Männer neigte er dazu, seine Grenzen zu missachten. Wenn der Zusammenbruch kam, dann kam er mit aller Gewalt.

Es sollte jedoch anders kommen. Ob Thobias nun seine Absicht erraten oder tatsächlich verstanden hatte, was er zu Abu Dun gesagt hatte - nachdem Andrej in sein Zimmer zurückgebracht worden war, schloss ein grimmig dreinblickender Wächter den eisernen Ring wieder um sein Fußgelenk.

Kaum hatte Thobias ihn allein gelassen, überprüfte er sorgsam den Ring und die Kette. Beide waren äußerst massiv. Er würde sich nicht selbst befreien können und hätte damit auch keine Möglichkeit, sein Versprechen Abu Dun gegenüber einzulösen.

Weder bekam er Thobias an diesem Abend ein weiteres Mal zu Gesicht noch wurde ihm Essen gebracht. Als Andrej am nächsten Morgen mit knurrendem Magen erwachte, sah er sich einem ebenso schweigsamen wie ungewohnt übellaunigen Bruder Thobias gegenüber, der ihm eine Schale Suppe sowie ein Stück hartes Brot gebracht hatte. Andrej verschlang beides mit Heißhunger, aber er war keineswegs satt. Thobias missachtete seine fordernden Blicke jedoch und wies ihn nur mit knappen Worten an, sich anzukleiden und ihm zu folgen. Erst nachdem sie die Klosterfestung verlassen und sich schon ein gehöriges Stück entfernt hatten, besserte sich Thobias' Stimmung ein wenig.

»Ich habe mit meinem Vater ausgemacht, dass wir uns bei Sonnenaufgang auf der Alm treffen«, sagte er. »Bei der Höhle, in der wir den Kadaver gefunden haben. Er bringt zwei Hunde mit. Die Spur ist zwar schon älter, aber mit etwas Glück finden sie die Fährte trotzdem noch.« Er sah Andrej fragend an. Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Ich werde Euch nicht begleiten können. Es wäre nicht gut, wenn man uns zusammen sieht.«

»Ich verstehe«, antwortete Andrej spöttisch. »Ihr sorgt Euch um Euren guten Ruf.«

Thobias' Gesicht verdüsterte sich, aber er verzichtete auf eine Antwort und konzentrierte sich für eine ganze Weile darauf, sein Pferd behutsam über den abschüssigen und mit Geröll bedeckten Pfad zu leiten. Während Andrej ihm dabei zusah, fiel ihm auf, wie unruhig das Tier war. Sein Schweif peitschte, und seine Ohren bewegten sich unentwegt hin und her. Thobias musste immer wieder an den Zügeln ziehen, um es unter Kontrolle zu halten, und er ging dabei grob genug zu Werke, um dem Tier Schmerzen zuzufügen. Er war kein besonders geschickter Reiter.

»Ihr lasst mich tatsächlich allein in die Berge gehen? Habt Ihr denn keine Sorge, ich könnte nicht zurückkommen?«, wollte Andrej wissen.

»Habt Ihr bisher den Eindruck gewonnen, ich wäre in der Lage, Euch zu irgendetwas zu zwingen, was Ihr nicht freiwillig tätet?«, gab Thobias zurück.

Er verzog die Lippen und hob die Schultern. »Außerdem habe ich Befehl gegeben, Euren schwarzen Freund bei lebendigem Leib zu verbrennen, sollte ich nicht zurückkommen.«

»Mir ist dennoch nicht wohl dabei«, sagte Andrej. »Ich bin fremd hier. Ich könnte mich verirren.«

»Das glaube ich kaum«, antwortete Thobias. »Darüber hinaus ist mein Vater viel zu alt, um Euch in die Berge zu folgen. Und ich wüsste sonst niemanden aus Trentklamm, dem wir vertrauen könnten.«

»Das Medaillon«, sagte Andrej nach kurzem Überlegen. »Der Drudenfuß, den jemand in das Weihwasser gelegt hat. Euer Vater schien zu wissen, wer es war. Ihm können wir sicher vertrauen.«

»Nein«, rief Thobias entschieden. Nach einem kurzen Moment hob er die Schultern und fuhr einschränkend fort: »Ich werde darüber nachdenken.«

Wieder machte er eine längere Pause, dann ergänzte er: »Aber es wäre gefährlich.«

»Das ist unser ganzes Unternehmen, oder?«

Thobias zog die Brauen zusammen und schwieg.

Kurz nach Sonnenaufgang trafen sie Vater Ludowig bei der Höhle. Er war nicht allein gekommen, sondern in Begleitung eines dunkelhaarigen, kräftigen Burschen, den Andrej in Trentklamm gesehen hatte, und zweier struppiger Hunde, bei deren Anblick Andrej erstaunt die Lippen verzog. Der eine war ein ausgemergelter Schäferhund, dessen linkes Ohr abgerissen und dessen Nase von Narben zerfurcht war, der andere von vollkommen undefinierbarer Rasse und Farbe und klapperdürr. Andrej machte eine abfällige Bemerkung, aber Thobias schüttelte heftig den Kopf.

»Lasst Euch nicht vom ersten Eindruck täuschen, Andrej. Die beiden sind ausgezeichnete Spürhunde.« Thobias deutete auf den Dunkelhaarigen, der Andrej mit einer Mischung aus Furcht und Misstrauen - aber auch mit unverhohlener Neugier - musterte. »Günther hat sie eigenhändig abgerichtet. Er ist ein sehr guter Spurenleser.«

»Ist er ...?«, begann Andrej, aber Thobias ließ ihn nicht zu Ende sprechen, sondern unterbrach ihn kopfschüttelnd.

»Nein. Aber er wird tun, was wir von ihm erwarten. Das ist doch so, Günther, nicht wahr?«

Der Angesprochene nickte; widerwillig, wie Andrej schien, und ohne den Blick auch nur für einen Herzschlag von seinem Gesicht zu wenden.

Mittlerweile überwog allerdings die Neugier in seinen Augen.

»Weiß er...?«

»Er weiß, was er wissen muss.« Diesmal war es Ludowig, der Andrej ins Wort fiel. »Vor allem über Euch.«

Andrej war klug genug, nicht darauf einzugehen. Stattdessen wandte er sich mit ernstem Gesicht an Günther, hielt seinem Blick eine kleine Weile stand und drehte sich, nach einem begrüßenden Nicken, direkt zu den Hunden um.

Langsam ließ er sich in die Hocke sinken und streckte die rechte Hand aus. Der Schäferhund heulte schrill auf und rannte ein paar Schritte davon, während der Mischung die Zähne bleckte und ein tiefes, drohendes Knurren hören ließ. Andrej zog die Hand nicht zurück, hütete sich aber, den Arm noch weiter auszustrecken. Er spürte die Mischung aus Angst und Angriffslust, die die Tiere verströmten, und war zu gleichen Teilen erstaunt wie überrascht. Gewöhnlich schloss er sehr schnell Freundschaft mit Tieren, gerade mit Hunden. Im gleichen Maße, in dem er sich von den Menschen abgewandt hatte, hatte er gelernt, die Sprache der Tiere zu verstehen.

»Macht Euch nichts daraus, Andrej«, sagte Thobias hinter ihm. »Die Hunde sind nicht an Fremde gewöhnt. Günther wird sie führen.«

Andrej sah über die Schulter zu Thobias zurück. Der junge Geistliche war in einiger Entfernung stehen geblieben. Er lächelte, aber seine Haltung drückte Anspannung und Furcht aus. Kühe und Pferde waren ganz offensichtlich nicht die einzigen Tiere, mit denen er nicht besonders gut auskam. Andrej zuckte mit den Schultern, stand auf und begegnete Günthers Blick, als er sich herumdrehte. Der Blick drückte Verwirrung aus.

»Es wird Zeit«, sagte Thobias nun. »Ich muss gehen. Günther wird Euch heute Abend bis zum Pass zurückbringen. Ich will, dass Ihr bis Sonnenuntergang zurück im Kloster seid.«

Er sparte es sich hinzuzufügen: Oder Euer Freund wird dafür büßen, aber es war auch nicht nötig, das zu sagen.

Andrej war verwirrt. Bisher hatte der Geistliche alles in seiner Macht Stehende getan, um Andrejs Vertrauen, wenn nicht gar seine Freundschaft zu erringen, und plötzlich benahm er sich wie sein Feind. Warum?

»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren«, sagte er kühl. »Günther, in der Höhle sind Fußspuren. Sie sind mehrere Tage alt. Glaubt Ihr, dass Eure Hunde die Fährte dennoch aufnehmen können?«

Ohne seine Frage zu beantworten, drehte sich der Hundeführer herum und verschwand zusammen mit seinen beiden Tieren in der Dunkelheit jenseits des Spaltes. Andrej wollte ihm noch eine Warnung vor den Felszacken zurufen, die von der Decke hingen, aber in diesem Moment hörte er bereits einen dumpfen Knall, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.

Thobias entfernte sich ohne ein weiteres Wort des Abschieds und ohne einen besorgten Blick zur Almhütte zu werfen. Auch Ludowig beließ es bei einem abschließenden Blick voller Groll, bevor er seinem Sohn folgte.

Andrej schüttelte den Kopf, aber er machte sich nicht die Mühe, sich weitere Gedanken über das sonderbare Verhalten der beiden zu machen. Ein junger Gelehrter und ein verbitterter alter Landpfarrer ... er konnte kaum von ihnen verlangen, dass sie angesichts des drohenden Unterganges so ruhig blieben wie er.

Günther kam zurück, begleitet von seinen beiden Hunden, die schwanzwedelnd um seine Beine strichen. Auf seiner Stirn prangte ein roter Fleck, der binnen kürzester Zeit zu einer prachtvollen Beule anschwellen würde.

»Was ich Euch noch sagen wollte«, grinste Andrej, »seid vorsichtig in der Höhle. Die Decke ist sehr niedrig.«

Günther warf ihm einen zornigen Blick zu, aber als er das Glitzern in Andrejs Augen bemerkte, konnte auch er ein Grinsen nicht mehr ganz unterdrücken. Er schwieg.

»Haben die Hunde die Fährte aufgenommen?«, fragte Andrej.

»Ich hoffe es«, antwortete Günther. »Sie ist ziemlich alt. Aber wenn es noch eine Spur zu verfolgen gibt, dann werden sie sie finden.«

Andrej war nicht sicher, ob es das war, was sie sich wünschen sollten. So dunkel, wie es hinter dem Felsspalt war, hatte Günther vermutlich nicht gesehen, welch grausiges Geheimnis der Berg barg. Andrej fragte sich, was sie tun sollten, wenn sie die Kreatur wirklich finden würden. Oder gar mehrere seiner Art. Zwar hatte Thobias ihm sein Schwert zurückgegeben, aber er wusste nicht, ob diese Waffe ausreichen würde, um sich gegen ein Geschöpf zu verteidigen, das stark genug war, einer ausgewachsenen Kuh ein Bein auszureißen.

Als hätten sie die Worte ihres Herrn gehört, senkten die beiden Hunde die Köpfe und begannen schnüffelnd in größer werdenden Kreisen und Linien zu laufen, ein nur scheinbar willkürlicher Kurs, der sie nach und nach immer deutlicher in östliche Richtung führte. In die Richtung, in der die Felswand allmählich in ein Gewirr von Schluchten und bizarren Spalten überging.

»Sie haben die Spur«, rief Günther. »Folgt mir.«

Geführt von den beiden Hunden bewegten sie sich nach Osten. Sie kamen nicht besonders schnell vorwärts. Die Hunde hielten immer wieder an und liefen witternd im Kreis, bis sie die verloren gegangene Fährte wiedergefunden hatten. Weiterhin achtete Andrej darauf, einen ausreichenden Abstand zu den Tieren zu bewahren - und damit auch zu ihrem Herrn. Andrej bedauerte diesen Umstand. Er hätte gern die Gelegenheit genutzt, mit Günther ins Gespräch zu kommen, um etwas mehr über Trentklamm und die Menschen dort zu erfahren. Aber er spürte, dass es besser war, wenn Günther auf ihn zukommen würde.

Nach und nach wurden die Hunde sicherer. Sie verloren jetzt nur noch selten die Spur, und bald eilten sie so schnell und zielstrebig voraus, dass Günther sie ein paar Mal zurückpfeifen musste, weil Andrej und er sonst nicht hätten Schritt halten können. Der Kurs, den sie einschlugen, wurde immer geradliniger. Als Andrej ihn in Gedanken verlängerte, führte er zu einer besonders steilwandigen, tief eingeschnittenen Schlucht, die nur wenige Schritte breit war, aber so monströs, als hätte jemand den gesamten Berg in zwei Teile gebrochen und nicht ganz sauber wieder zusammengesetzt.

Sie hatten sich dieser Schlucht auf zwei- oder dreihundert Schritte genähert, als Günther zum ersten Mal stehen blieb und das drückende Schweigen brach.

»Dort vorne ist ein Bach«, sagte er, ohne Andrej dabei anzublicken. »Falls Ihr durstig seid, dann solltet Ihr besser hier noch einmal trinken. Weiter oben gibt es kein Wasser mehr.«

Andrej nickte dankbar. Er hatte das frische Wasser längst gerochen.

Dennoch bat er: »Zeigt es mir.«

Günther führte ihn zu einem schmalen, aber sehr schnell fließenden Bach, dessen Wasser so kalt war, dass Andrej aufkeuchte, als er sich zwei Hände voll davon ins Gesicht spritzte. Er stillte seinen Durst und trank auch danach noch weiter. Sie waren möglicherweise noch lange unterwegs, ohne eine weitere Quelle zu finden. Anschließend ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen ins Gras sinken und genoss das Gefühl, das die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht hinterließen, während sie es trockneten. Auch Günther und die Tiere tranken.

Andrej beobachtete die Hunde aufmerksam, aber auch die Tiere behielten ihn ständig im Auge.

»Das sind wirklich ausgezeichnete Fährtensucher«, lobte er sie. »Die meisten Hunde hätten die Spur längst verloren.«

Seine Taktik, Günthers Schweigsamkeit zu überwinden, indem er ihn auf etwas ansprach, was ihm wirklich am Herzen lag, schien aufzugehen. »Es sind die besten«, bestätigte Günther. Dabei gelang es ihm nicht völlig, einen Unterton von Stolz aus seiner Stimme zu verbannen. »Ich weiß, dass sie nicht viel hermachen, aber sie finden jede Spur.« Er blickte zu der finsteren Schlucht hinüber, und ein Schatten legte sich auf sein Gesicht.

»Was ist dort hinten?«, fragte Andrej.

»Die Schattenklamm.« Günther hob die Schultern. »Sie führt ins Nichts.«

»Ins Nichts?«

»Höher hinauf in die Berge«, antwortete Günther widerwillig. »Dort gibt es nichts außer Steinen und Geröll. Wenn sich das Raubtier wirklich dort oben verkrochen hat, wird es schwer für uns werden, es zu finden.«

»Trotz der Hunde?«

»Der Weg wird zu schwierig«, antwortete Günther. »Ich bin nie tief hineingegangen, aber ich habe gehört, dass er vor einer Felswand endet.« Er hob abermals die Schultern. »Ich frage mich, welches Raubtier sich dort verstecken würde.«

»Vielleicht eines, das darauf hofft, dass wir uns genau diese Frage stellen und erst gar nicht nachsehen«, sagte Andrej. Er betrachtete Günther aufmerksam, während er dies sagte, aber auf dem Gesicht des Hundeführers zeigte sich keine Reaktion. Er erwiderte Andrejs Blick ruhig, dann stand er auf und stieß einen kurzen, so schrillen Pfiff aus, dass er in Andrejs Ohren schmerzte. Die beiden Hunde hörten auf, ausgelassen herumzutollen und nahmen die Fährte wieder auf.

Sie setzten ihren Weg fort, und die Hunde führten sie tatsächlich in direkter Linie zur Schattenklamm. Andrej verspürte bereits ein eisiges Frösteln, lange bevor sie den steil eingeschnittenen Spalt im Fels erreichten. Der Name »Schattenklamm« klang nach düsteren Mächten und uralten Flüchen. Doch je näher sie ihr kamen, desto klarer wurde ihm, dass die wirkliche Erklärung eine viel einfachere war: Die Schlucht war so schmal, dass sie mit Mühe und Not nebeneinander hineingehen konnten, und ihre Wände wichen nach oben nicht nennenswert auseinander. Vermutlich gab es am Grunde dieser Schlucht nur wenig Sonnenlicht. Im Augenblick ihres Eintretens war sie von dem erfüllt, was ihr ihren Namen gegeben hatte: Schatten.

Die Hunde liefen voraus, aber sie waren nicht mehr so ausgelassen wie bisher. Sie erfüllten ihre Aufgabe zuverlässig, aber nicht mit Begeisterung.

Andrejs Blick tastete misstrauisch über die Felswände und den schmalen, mit Geröll und Schutt übersäten Weg vor ihnen, und seine Hand lag griffbereit auf dem Schwert, ohne dass er selbst es auch nur wahrnahm. Vor ihnen rührte sich nichts, nur die Hunde und vielleicht ein paar Insekten, die sie aufgescheucht hatten. Vollkommen kahl lagen die Felsen vor ihnen. Die Herrschaft der Schatten war hier so vollkommen und das Sonnenlicht so spärlich, dass nicht einmal Flechten und Moose auf dem harten Stein Fuß gefasst hatten.

Dennoch war die Klamm nicht völlig ohne Leben. Etwas war hier. Andrej hätte die Hunde nicht gebraucht, um zu wissen, dass sie noch immer auf der richtigen Spur waren. Das Raubtier, das die Kuh gerissen hatte, war hier entlanggelaufen. Er konnte seine Nähe beinahe körperlich spüren.

Und nicht nur ihm schien es so zu ergehen. Auch Günther wurde zusehends unruhiger, obgleich er sich alle Mühe gab, sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen.

Sie hatten die Hälfte der Klamm durchmessen, und ihr jenseitiges Ende kam bereits in Sicht. Die Schlucht weitete sich dort auf ein Mehrfaches ihrer anfänglichen Breite, und die Wände rechts und links waren nicht mehr so hoch wie am Eingang der Schlucht. Dafür stieg der Boden in einem steiler werdenden Winkel an und war mit Trümmern und Felsbrocken übersät. Aber es gab wieder Licht und damit Vegetation. Moos, Flechten und üppig wucherndes Gebüsch hangelten sich an den Felswänden entlang.

Günther blieb stehen. »Dort vorne kommen wir nicht weiter«, sagte er.

»Nicht einmal eine Bergziege käme den Hang hinauf.«

»Etwas ist dort hinaufgekommen«, antwortete Andrej.

»Wenn es dort oben ist, kann es uns nichts tun«, beharrte Günther. Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen nur am Eingang der Klamm eine Wache aufstellen, dann erwischen wir es, sobald es sich zeigt.«

Andrej antwortete nicht gleich, sondern maß den Hundeführer mit einem langen, aufmerksamen Blick. Günther wirkte nicht nur ängstlich, sondern auch erschöpft, stärker, als er es nach dem Weg hätte sein dürfen, der hinter ihnen lag. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, und seine Hände zitterten. Vielleicht rührte der Name der Klamm doch nicht nur daher, dass es hier so wenig Sonnenlicht gab.

»Wir gehen noch bis zum Ende der Klamm. Wenn die Hunde der Spur bis dahin folgen, sehen wir weiter«, entschied Andrej.

Günther hatte nicht den Mut zu widersprechen. Mit einem müden Achselzucken wandte er sich um und setzte seinen Weg fort.

Der Weg wurde zunehmend schwieriger, sodass sie noch langsamer vorankamen, und auch Andrej fühlte sich müde und erschöpft, als das Ende der Klamm endlich vor ihnen lag.

Zwei Schritte, bevor sich die Wände vor ihnen weiteten und sie wieder ins Sonnenlicht hätten hinaustreten können, blieben die Hunde stehen. Ihre Ohren stellten sich auf. Der Schäferhund erstarrte, während der andere die Lefzen zurückzog und ein drohendes Knurren hören ließ.

»Sie haben die Spur verloren«, behauptete Günther.

Andrej sah ihn fassungslos an. »Das sieht mir aber ganz anders aus«, sagte er. Sein Blick tastete aufmerksam in die Richtung, in die auch die beiden Hunde sahen. Das Gewirr aus Felsen und wucherndem dornigen Grün war vollkommen undurchdringlich, selbst für seine scharfen Augen. Aber er spürte, dass dort vorne etwas war. Etwas starrte sie an. Belauerte sie.

»Ihr könnt hier bleiben, wenn Ihr wollt«, sagte er. »Ich nehme die Hunde und gehe noch ein Stück weiter. Wartet hier auf mich.«

Abermals hob Günther nur die Schultern und stieß ein halblautes Schnalzen aus, auf das hin die beiden Hunde - widerwillig, aber gehorsam - weitergingen. Nach einem Augenblick waren sie zwischen Felsbrocken und Gestrüpp verschwunden. Andrej wartete noch ein wenig, dann nahm er die Hand vom Schwert und trat entschlossen in den hellen Sonnenschein hinaus.

Die Hunde begannen zu kläffen.

Etwas bewegte sich. Blätter raschelten, plötzlich kollerten Sterne, und ein Ast zerbrach mit einem trockenen Knacken. Aus dem Gefühl des Belauert werdens wurde für den Bruchteil eines Atemzuges Furcht - aus der rasender Zorn erwuchs. Andrej wusste bereits, was geschehen würde, noch bevor aus dem wütenden Gekläff der Hunde ein schrilles Heulen und Winseln wurde. Seine Hand zuckte zum Schwert und riss die Klinge aus der Scheide.

Ein dumpfer Schlag war zu hören. Andrej vernahm das grässliche Geräusch brechender Knochen und roch heißes, spritzendes Blut. Kurz darauf flog etwas in hohem Bogen aus dem Gebüsch und landete mit einem klatschenden Geräusch unmittelbar vor seinen Füßen. Es war nicht zu erkennen, welcher der beiden Hunde dieses blutige, zerfetzte Bündel einst gewesen war.

Andrej prallte mit einem entsetzten Laut zurück. Ein zweiter, noch dumpferer Schlag erscholl, und auch das Winseln des anderen Hundes erstarb.

Andrej konnte spüren, wie etwas Großes, unvorstellbar Wildes und vor allem Wütendes auf ihn zukam. Etwas, das viel stärker war als er. Gegen das er jeden Kampf verlieren würde. Und das wild entschlossen war, ihn zu vernichten.

Dennoch blieb er für die Dauer eines einzelnen, dumpfen Herzschlages wie erstarrt stehen. Er war unfähig, sich zu rühren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, woran er denken konnte, war das zerfetzte blutige Bündel Fleisch, das vor ihm lag. Er wollte das Schwert wegstoßen, die Zähne in das warme Fleisch graben und das süße, nach Leben schmeckende Blut trinken ...

Hinter ihm stieß Günther einen gellenden Schrei aus, und dieser Laut brach den Bann. Andrej fuhr herum, und da sah er es aus den Augenwinkeln: ein verzerrtes, grässliches Ding, halb Mensch, halb verkrüppeltes Tier, zu stark und zu tödlich, um sich ihm zu stellen. Andrej führte seine begonnene Drehung zu Ende und war mit einem Satz neben Günther und an ihm vorbeigelaufen. Der Hundeführer schrie irgendetwas, aber Andrej verstand die Worte nicht und hörte nur den Klang seiner Stimme: schrill, panisch, von einem Entsetzen erfüllt, das kein Mensch je erleben sollte. Hinter ihm raste das Ungeheuer heran, die gleiche, die Natur spottende Bestie, die er in jener Nacht getötet hatte, aber sie war wieder da, mörderischer und wilder denn je, und diesmal würde sie zu Ende bringen, was sie damals begonnen hatte.

Andrej war blind vor Angst. Hinter sich hörte er Günther noch immer schreien, aber er hörte auch die stampfenden Schritte des Ungeheuers, das Poltern von Steinen, und dann wieder einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem fürchterlichen Gurgeln und einem schweren Aufprall.

Andrej raste weiter. Er stolperte, fiel, rappelte sich hoch und fiel wieder. Das Schwert entglitt seinen Fingern und fiel scheppernd zu Boden, und als er hochspringen wollte, beendete ein stechender Schmerz in seinem rechten Knie die Bewegung. Er stöhnte auf, biss die Zähne zusammen und quälte sich halbwegs hoch. Dann drehte er sich um, fest davon überzeugt, seinen dämonischen Verfolger heranrasen zu sehen.

Das Ungeheuer verfolgte ihn nicht. Es hatte gute acht oder zehn Schritte hinter ihm angehalten und stand über etwas gebeugt, das Andrej nicht erkennen konnte. Ein schreckliches Reißen und Mahlen ertönte, dann richtete sich das entstellte Geschöpf auf und wandte ganz langsam den Kopf in seine Richtung. Seine missgebildete Hundeschnauze war rot von frischem Blut, und seine Augen schienen wie unter einem unheimlichen inneren Feuer zu glühen. Andrej hatte nie zuvor einen Ausdruck so vollkommener Mordlust in den Augen eines lebenden Wesens gesehen.

Und das war noch nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war: Es waren nicht die Augen eines Tieres. Was Andrej anstarrte, das war kein stumpfsinniges Ungeheuer. In diesen schrecklichen Augen, tief verborgen unter grenzenlosem Hass auf alles Lebendige, lauerte eine messerscharfe Intelligenz und ein beunruhigend großes, düsteres Wissen.

Taumelnd stemmte Andrej sich hoch. Das Ungeheuer folgte jeder seiner Bewegungen aus funkelnden Augen, aber es machte keine Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, sondern senkte nach einem Moment wieder den Schädel, um sein schreckliches Mahl fortzusetzen.

Während das Reißen und Schlürfen anhielt, bückte sich Andrej nach seinem Schwert, hob es auf und humpelte davon.

»Nein, ich weiß nicht, warum es mich nicht getötet hat.« Andrej schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf. »Es wäre dazu in der Lage gewesen. Es hätte mich ebenso einholen und töten können wie Günther. Aber es stand einfach nur da und hat mich angestarrt.«


»Vielleicht hatte es Angst vor Eurem Schwert«, sagte Thobias nachdenklich.

»Ihr sagt, es hätte nicht ausgesehen wie ein Tier?« Er sah Andrej nicht an, während er sprach, sondern spielte gedankenversunken mit dem Becher, in den er sich einen kräftigen Schluck Wein eingeschenkt hatte. Im Gegensatz zu Andrej hatte er bisher aber noch nicht einmal daran genippt.

»Angst?« Andrej schüttelte heftig den Kopf, setzte seinen eigenen Becher an und leerte ihn in einem einzigen Zug. Thobias runzelte die Stirn, schenkte ihm nach und betrachtete Andrej nachdenklich, als der auch diesen Becher hinunterstürzte. Thobias streckte die Hand nach dem Krug aus und schob ihn so weit von sich fort, wie er konnte.

»Ich glaube nicht, dass dieses ... dieses Ding überhaupt weiß, was das Wort Angst bedeutet«, meinte Andrej mit einiger Verspätung. Er warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Weinkruges, den Thobias aber nicht beachtete.

Andrej war erst vor kurzer Zeit ins Kloster zurückgekehrt, und er hatte in dieser Zeit gute fünf oder sechs Becher von dem schweren, süßen Messwein getrunken, ohne dass der Alkohol auch nur eine Spur seiner beruhigenden Wirkung entfaltet hätte.

»Aber Ihr habt es gesehen«, sagte Thobias nach einer Weile. »Immerhin.«

»Ihr klingt, als wärt Ihr froh darüber.«

Thobias hob die Schultern. »In gewisser Weise ... Es tut mir Leid um den armen Günther, aber ich bin dennoch froh, dass ich nicht der Einzige bin, der das Geschöpf mit eigenen Augen gesehen hat.«

»Darauf hätte ich gern verzichtet«, antwortete Andrej. »Aber wir wissen jetzt, dass es noch lebt, und wir wissen auch wo.«

Thobias hörte auf, mit dem Becher herumzuspielen und sah ihn nachdenklich an. »Dass es noch lebt?«

»Wie?«, fragte Andrej. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.

»Ihr sagtet: Dass es noch lebt«, wiederholte Thobias.

Andrej hob die Schultern. »Welche Rolle spielt das schon? Es existiert, und wir müssen es vernichten.« Er atmete hörbar ein. »Was uns wieder zu einem Punkt zurückbringt, über den wir sprechen müssen: Abu Dun. Ich brauche ihn. In Freiheit, und gesund und stark.«

»Nein«, sagte Thobias ruhig.

»Ich fürchte, Ihr versteht mich nicht«, sagte Andrej. »Ich allein werde mit diesem Ungeheuer nicht fertig.«

»Ihr?« Thobias verzog spöttisch die Lippen, aber Andrej blieb ruhig.

»Noch heute Morgen hätte ich gedacht, dass es nichts auf der Welt gäbe, was mir Angst machen könnte«, sagte er. »Aber das stimmt nicht. Dieses Geschöpf macht mir Angst, was immer es auch ist. Ich allein bin nicht in der Lage, es für Euch zu töten.«

»Ich gebe Euch Männer mit«, sagte Thobias nach kurzem Überlegen. »Ihr könnt vier meiner Soldaten haben. Sie sind gut. Nicht so gut wie Ihr, aber sie verstehen ihr Handwerk, und sie werden Euch gehorchen, wenn ich es ihnen befehle.«

»Aber Abu Dun ...«

»... braucht Tage, um sich zu erholen«, fiel ihm Thobias ins Wort. Er stand auf und schüttelte den Kopf. »Nein. Selbst wenn ich Euch trauen würde, wir haben nicht die Zeit, um darauf zu warten, dass Euer Freund wieder zu Kräften kommt. In einigen Tagen ist Vater Benedikt mit den Vollstreckern der Inquisition hier. Wir können ihnen den Kadaver des Ungeheuers präsentieren, oder unsere Kadaver werden kurz darauf in der Sonne faulen.«

Er sah Andrej einen Moment lang abschätzend an, dann streckte er den Arm aus und schob ihm den Weinkrug hin.

»Hier. Betrinkt Euch meinetwegen, wenn es Euch hilft. Ich wollte, diese kleine Flucht wäre mir gestattet, aber Gottes Gebote sind in dieser Hinsicht eindeutig. Morgen bei Sonnenaufgang stehen die Soldaten zu Eurer Verfügung.«

Er machte eine Kopfbewegung auf den eisernen Ring im Fußboden. »Ist das noch notwendig?«

Andrej war im ersten Moment so überrascht, dass er gar nicht antwortete.

»Habe ich Euer Wort?«, fragte Thobias.

Andrej nickte. »Solange Ihr Abu Dun am Leben lasst.«

»Dann sind wir uns einig.« Thobias wandte sich zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, bevor er den Raum verließ.

»Ich muss noch einmal fort und mit meinem Vater sprechen«, sagte er. »Ich werde Euch etwas zu essen bringen lassen. Ich selbst werde wohl kaum vor Mitternacht zurück sein.«

»Ihr geht noch einmal nach Trentklamm?«, vermutete Andrej.

»Jemand muss den Menschen dort erklären, was mit Günther geschehen ist«, antwortete Thobias betrübt. »Er war ein tapferer Mann, und im Dorf sehr beliebt.«

Und ich habe ihn im Stich gelassen, dachte Andrej. Thobias sprach die Worte zwar nicht aus, aber das war auch nicht nötig. Sie wussten beide, dass es so gewesen war. Andrej versuchte sich einzureden, dass er den Hundeführer nicht hätte retten können. Das Ungeheuer hätte ihn ebenfalls getötet, ebenso schnell und mühelos wie es Günther erschlagen hatte. Aber dieses Wissen nutzte ihm nichts. Er fühlte sich trotzdem schuldig. Günther war tot, weil er darauf bestanden hatte, tiefer in die Schlucht vorzudringen.


»Hatte er Kinder?«

»Günther?« Thobias nickte. »Drei. Und eine Frau, die das vierte erwartet. Ich werde für sie beten.« Damit ging er.

Andrej sah die geschlossene Tür hinter ihm einen Moment lang an und wartete auf den Laut, den der Riegel machte, wenn er vorgelegt wurde. Er ertönte nicht. Nachdem Thobias ihm vor wenigen Augenblicken gesagt hatte, dass er ihm nicht traute, erbrachte er ihm jetzt den zweiten Vertrauensbeweis. Keine Kette, kein Riegel vor der Tür. Andrej konnte sich nur wundern.

Immerhin hatte er den Wein dagelassen.

Andrej schenkte sich einen weiteren Becher ein, stürzte ihn diesmal aber nicht in einem Zug hinunter, sondern nippte nur vorsichtig daran und trat dann ans Fenster.

Die Dämmerung war noch entfernt, aber es kam ihm so vor, als wären die Schatten bereits länger geworden. Über den Bergen im Westen schien etwas wie eine unsichtbare Düsternis zu liegen; das Versprechen auf kommendes Unheil, dem etwas Endgültiges anhaftete. Was immer geschehen würde, würde geschehen, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Andrej trank einen Schluck Wein, aber er schmeckte plötzlich nicht mehr.

Seine Hand zitterte, als er den Becher auf dem Fenstersims abstellte.

Was war mit ihm geschehen?

Er kannte die Antwort.

Es war das Ungeheuer.

Der Werwolf.

Es spielte keine Rolle, ob und aus welchem Grunde sich Bruder Thobias weigerte, diesen Ausdruck zu verwenden, und welche natürliche Erklärung für das Vorhandensein dieses Wesens er sich zurechtgelegt hatte. Andrej hatte es gesehen. Er hatte ihm Auge in Auge gegenübergestanden. Dem Werwolf. Dem mythischen Fabelwesen aus tausend düsteren Geschichten, das schreckliche Gestalt angenommen hatte. Er hatte es gesehen, und er war niemals zuvor einem lebenden Wesen begegnet, das ihm solche Angst eingejagt hatte.

Es war ebenso einfach wie erschreckend: Er spürte, dass dieses Geschöpf ihn vernichten konnte. Es war stärker als er, bösartiger und rücksichtsloser. Andrej hatte eine dieser Kreaturen getötet, aber er hätte um ein Haar mit dem Leben dafür bezahlt, und er wusste, dass dieser Sieg nicht seiner Stärke geschuldet war. Er hatte den Werwolf überrascht, indem er ihn auf eine Art angegriffen hatte, die diesem Wesen fremd war. Ein zweites Mal würde ihm der Sieg nicht gelingen. Das Geschöpf, dem er in den Bergen begegnet war, wusste um seine besonderen Fähigkeiten.

Schon die Seele des ersten Werwolfes, die er in sich aufgenommen hatte, hatte etwas in ihm bewirkt, über dessen ganzes Ausmaß er sich noch immer nicht im Klaren war. Aber es hatte ihn geschwächt statt ihm Kraft zu geben.

Sollte er den Vampyr in sich ein zweites Mal entfesseln, um sich dem Kampf mit einem weiteren Werwolf zu stellen, würde er nicht mehr als er selbst aufwachen.

Wie um alles in der Welt sollte er das Ungeheuer besiegen?

Während Andrej weiter nach Westen blickte, hatte er das unheimliche Gefühl, die Nähe des Werwolfes noch immer zu spüren. Er war dort hinten, unerreichbar und sicher hinter der Schattenklamm und dem unpassierbaren Gelände, zu dem sie führte, und dennoch beschlich ihn das Gefühl, dass es zugleich hier war, in seiner unmittelbaren Nähe. In diesem Gebäude. Vielleicht sogar in diesem Raum.

Vielleicht sogar in ihm selbst.

Er schlief erst lange nach Einbruch der Dunkelheit ein, träumte schlecht und erwachte kurz nach Mitternacht von dem Eindruck einer schrecklichen Gefahr, die sich über ihm zusammenballte.

Andrej setzte sich mit einem Ruck auf. Seine Hand schloss sich um das Schwert, das griffbereit neben seinem Bett an der Wand lehnte, und der Blick seiner weit geöffneten Augen tastete unstet durch das Zimmer, das sich ihm in denselben unheimlichen Grau und Silberschattierungen darbot wie die Höhle, in der sie den Kadaver gefunden hatten.

Er war allein. Selbst ohne sein auf so unheimliche Weise verstärktes Augenlicht hätte er gewusst, wenn irgendjemand im Zimmer gewesen wäre, denn auch alle seine anderen Sinne arbeiteten plötzlich mit nie gekannter Schärfe. Er konnte den Wein in dem Krug riechen, die Reste des längst kalt gewordenen Bratens, den ihm ein schweigsamer Soldat am Abend gebracht hatte, und er hörte ein ganz leises Tapsen, das er voller Erstaunen als das Huschen einer Maus identifizierte, die durch die Dunkelheit lief. Ein kleiner Appetithappen, aber nicht der Mühe wert, aufzustehen und danach zu jagen.

Andrej verscheuchte diesen erschreckenden Gedanken, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Angestrengt versuchte er sich darauf zu besinnen, weshalb er aufgewacht war.

Er war nicht mehr allein. Das Ungeheuer war hier. Nicht bei ihm im Zimmer, aber in der Burg.

Rasch bückte sich Andrej nach seinen Kleidern, schlüpfte hinein und trat dann ans Fenster. Der Innenhof der Klosterfestung lag dunkel und unbeleuchtet unter ihm. Trotz der Finsternis war sein Sehvermögen nicht eingeschränkter als bei Tage. Er erkannte, dass die Mauer ohne Wache war, und er konnte sogar die Stimmen der beiden Soldaten hören, die unten im Torgewölbe Wache hielten. Auch das Gefühl der Bedrohung kam von dort.

Andrej lauschte in sich hinein. Es war kein Gefühl. Er konnte den Werwolf wittern.

Wie am Tag zuvor wusste er, was geschehen würde, und genau wie am Tag zuvor war es zu spät, um es zu verhindern oder auch nur einen warnenden Schrei auszustoßen. Die Unterhaltung der beiden Männer brach plötzlich ab.

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, dann hörte Andrej einen überraschten Ausruf und ein Schwert, das aus der Scheide gerissen wurde.

Er wartete nicht darauf, was weiter geschehen würde, sondern rannte los.

Mit zwei gewaltigen Sätzen durchquerte er den Raum, riss die Tür auf und stürmte den unbeleuchteten Gang hinunter, bis er die Treppe erreichte.

Es war ein verzweifeltes Wettrennen gegen die Zeit, und er wusste von Anfang an, dass er es verlieren würde. Immer zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend, hetzte er die Treppe hinunter, durch die schmucklose Eingangshalle und hinaus auf den Hof.

Eine Übelkeit erregende Woge aus Blut- und Fäkaliengestank schlug ihm entgegen, als er das Torgewölbe erreichte. Andrej blieb entsetzt stehen.

Die beiden Soldaten waren tot, und obgleich sie einen entsetzlichen Anblick boten, begriff er doch, dass sie eines schnellen Todes gestorben waren. Der Werwolf hatte sich nicht lange mit ihnen aufgehalten, sondern sie blitzartig überwältigt und seinen Weg fortgesetzt. Aber wohin?

Andrej blickte mit wachsender Verzweiflung um sich. Er fand einen einzelnen blutigen Fußabdruck. Wie sich zeigte, war es jedoch nicht nötig, der Fährte des Ungeheuers zu folgen. Ein Schrei ertönte, gedämpft und sonderbar flach, als käme er aus dem Inneren der Erde, dann folgte ein Splittern wie von Holz oder Metall, das zerrissen wurde. Das Verlies!

Mit einem Schrei fuhr Andrej herum und raste auf das Treppenhaus zu. Der Schrei wiederholte sich, während er die ausgetretenen Steinstufen hinunterstürmte. Er fand den ersten Toten, noch bevor er den winzigen Vorraum erreichte. Der Mann lag verkrümmt auf den Steinstufen. Offenbar war er nicht einmal dazu gekommen, seine Waffe zu ziehen.

Andrej überwand das letzte halbe Dutzend Stufen mit einem einzigen Satz. Die nach rechts führende Gittertür war aus den Angeln gerissen. Er stürmte hindurch. Flackerndes rotes Licht hüllte ihn ein wie der Schein der Hölle selbst, und er roch Blut und Tod. Die Schreie waren verstummt. Andrej lief weiter und stürmte um die Gangbiegung.

Unmittelbar vor ihm lag ein zweiter Toter, und ein dritter Mann - noch am Leben, aber so schwer verletzt, dass er binnen kurzer Zeit sterben würde - hockte vor der Wand und starrte aus weit aufgerissenen Augen in seine Richtung, ohne ihn wirklich zu sehen. Das Ungeheuer stand geduckt am Ende des Ganges und zerfetzte mit gewaltigen Prankenhieben die Tür zu einer der winzigen Kerkerzellen. Hinter dem auseinander splitternden Holz kam eine schwarzhäutige Gestalt zum Vorschein, die aufrecht an die Wand gekettet war. Lärm und Schreie hatten Abu Dun aus seiner Lethargie gerissen. Er sah dem Monstrum aus blutunterlaufenen Augen entgegen, aber Andrej bezweifelte, dass er wirklich begriff, was er sah.

Ein letzter, fürchterlicher Prankenhieb schlug die Tür vollends aus dem Rahmen, und die Bestie warf ihren missgestalteten Schädel in den Nacken und stieß ein schauriges Geheul aus.

»Nein!«, schrie Andrej. »Nein! Lass ihn in Ruhe, du Ungeheuer!«

Die Kreatur fuhr herum und bleckte wütend die Zähne. Seine schrecklichen, ungleichen Klauen öffneten sich, mörderische Krallen reckten sich in Andrejs Richtung, und in den glühenden Dämonenaugen loderte ein wilder Triumph auf.

Andrej hatte Angst. Nackte Panik wischte jeden Ansatz vernünftigen Denkens beiseite. Er wusste, dass ihn ein Schicksal tausendfach schlimmer als der Tod erwartete, wenn er in den Griff dieser mörderischen Klauen geriet.

Und dennoch rannte er weiter. Etwas war stärker als seine Angst. Vielleicht war es der Anblick Abu Duns, der ihn weitertrieb. Andrej überwand die wenigen Schritte Entfernung schreiend vor Angst und Zorn und schwang die Damaszenerklinge mit beiden Armen. Aus dem lodernden Triumph in den Augen des Werwolfs wurde ungläubige Überraschung, dann Schrecken.

Keine dieser Empfindungen hinderten ihn jedoch daran, mit unvorstellbarer Schnelligkeit zu reagieren. Andrejs Hieb hätte ausgereicht, ihn auf der Stelle zu enthaupten. Aber der Werwolf schien sich plötzlich in einen Schatten zu verwandeln, der nicht mehr Substanz als flüchtiger Nebel hatte und dann einfach verschwand.

Der Hieb ging ins Leere. Die Schwertklinge bohrte sich knirschend zwei Finger tief in das steinharte Holz des Türrahmens und blieb stecken, und Andrej wurde vom Schwung seiner eigenen Bewegung nach vorne gerissen und prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihm schwarz vor Augen wurde.

Stöhnend ließ er das Schwert los, drehte sich herum und kämpfte mit aller Macht dagegen an, in die Knie zu sinken. Wirbelnde schwarze und rote Schatten tanzten vor seinen Augen. Einer dieser Schatten hatte Klauen und Zähne und lodernde Dämonenaugen.

Andrejs Sinne klärten sich rasch, aber nicht rasch genug. Der Schemen gerann vor seinen Augen zu einer verkrüppelten Gestalt, und Andrej hob schützend die Arme, um das Ungeheuer abzuwehren.

Als gäbe es seine Abwehr gar nicht, fegte der Werwolf seine Arme beiseite, und eine unvorstellbar starke Pranke schloss sich um Andrejs Hals, schnürte ihm die Luft ab und riss ihn gleichzeitig in die Höhe. Andrej bäumte sich auf, als er den Boden unter den Füßen verlor, und hämmerte verzweifelt mit den Fäusten auf den Arm der Bestie ein. Zugleich trat er nach ihr. Er traf, aber seine Hiebe und Tritte zeigten nicht die geringste Wirkung. Der Werwolf drückte ihn langsam weiter an der Wand nach oben, und Andrejs Bewegungen wurden bereits schwächer. Wieder begannen rote Blitze vor seinen Augen zu tanzen, aber diesmal war es die Atemnot, die seine Sinne verwirrte.

Irgendetwas in seinem Hals war zerbrochen, zerquetscht unter dem mörderischen Griff des Ungeheuers. Er würde sterben, aber er würde nicht ersticken, das begriff er mit entsetzlicher Klarheit. Das Ungeheuer hielt ihn mühelos mit nur einer Hand, die andere hatte es erhoben und zu einer tödlichen Kralle geformt, vier verkrüppelte Dolche, die sich in seine Augen und seinen Schädel bohren würden, um das Leben aus ihm herauszureißen. Er hatte keine Wahl. Andrej sammelte sein letztes bisschen Willenskraft, um den Vampyr in sich zu entfesseln und die Bestie auf einer anderen Ebene zu einem Kampf herauszufordern, den er ebenso wenig gewinnen konnte wie diesen ...

... und das Ungeheuer erstarrte.

Der tödliche Schlag erfolgte nicht. In den mörderischen Triumph, der noch immer in den Augen des Werwolfes lag, mischte sich etwas anderes.

Verwirrung, aber auch Neugier und Staunen. Drei Herzschläge lang starrte er Andrej mit schräg gehaltenem Kopf an - dann ließ die fürchterliche Pranke seine Kehle los.

Andrej stürzte zu Boden und schlug mit dem Gesicht auf den harten Stein.

Er war aus dem Griff der tödlichen Kralle befreit, aber noch immer konnte er nicht atmen. Sein Adamsapfel war zerquetscht. Nach Kupfer schmeckendes Blut rann seine Kehle hinab. Endlich umfing ihn gnädige Dunkelheit.

Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, bis die Verletzung geheilt war und das Leben wieder in seinen Körper zurückkehrte. Das Blut auf seinem Gesicht war noch nicht eingetrocknet, und sein Hals schmerzte so sehr, dass der erste Laut, der über seine geschwollenen Lippen kam, ein gequältes Stöhnen war.

Wieso lebte er noch?

Andrej blieb mit geschlossenen Augen liegen, dann hob er die Lider und stemmte sich gleichzeitig an der Wand in eine sitzende Position hoch.

Noch bevor er den Kopf hob und sich umsah, wusste er, dass das Ungeheuer fort war.

Andrej verharrte noch eine Weile, in der er voller Ungeduld darauf wartete, dass die Schmerzen verebbten und neue Kraft aus jenem unerschöpflichen geheimen Speicher in seinen Körper floss, über dessen genauen Ursprung er sich immer noch im Unklaren war.

Er wandte sich der Zelle Abu Duns zu.

Abu Dun stand noch immer in der gleichen qualvollen Haltung da wie vor zwei Tagen, und auch seine Wunden waren nicht behandelt worden. Es sah aus, als seien noch einige frische Prellungen und Schrammen hinzugekommen. Seine Augen waren trüb vom Fieber. Andrej las einen Ausdruck unerträglicher Pein darin, aber auch eine tiefe Erleichterung.

»Worauf wartest du, Hexenmeister?«, krächzte Abu Dun. »Hättest du vielleicht die Güte, mich loszumachen?«

»Nur die Ruhe, Pirat«, antwortete Andrej. »Vielleicht gefällst du mir ja ganz gut da, wo du bist.«

»Nenn mich nicht so«, antwortete Abu Dun, und Andrej erwiderte: »Wenn du aufhörst, mich Hexenmeister zu nennen.«

Er zog mit einiger Mühe das Schwert aus dem Türrahmen, steckte es ein und unterzog dann Abu Duns Fessel einer flüchtigen Musterung. Die Handschellen, die seine Arme über den Kopf zwangen, waren mit einem einfachen Keil gesichert, den er ohne Mühe herausziehen konnte. Abu Dun stieß ein unendlich erleichtertes Seufzen aus und sackte zusammen.

»Ich glaube, ich spare mir die Frage, ob du gehen kannst«, sagte Andrej besorgt.

»Warte einen Augenblick«, stöhnte Abu Dun.

Andrej verzichtete auf eine Entgegnung. Sie wussten beide, dass es wahrscheinlich Tage dauern würde, bis der nubische Riese wieder aus eigener Kraft laufen konnte.

»Wo bist du so lange gewesen?«, murmelte Abu Dun. Er versuchte sich hochzustemmen - und sank mit einem wimmernden Laut zurück.

»Ich habe Wölfe gejagt«, antwortete Andrej. Seine Gedanken überschlugen sich. Dass er Thobias sein Wort gegeben hatte, war im gleichen Moment hinfällig geworden, in dem das Ungeheuer hier aufgetaucht war. Sie mussten von hier verschwinden, bevor Thobias zurückkehrte.

»Warte hier auf mich«, sagte er. »Ich gehe nach oben und sehe nach, ob noch jemand lebt. Und ich besorge uns Pferde.«

Es lebte niemand mehr. Als Andrej kurze Zeit später zurückkehrte, hatte er vier weitere Tote gefunden. Thobias war nicht unter ihnen.

Oben im Hof warteten zwei hastig gesattelte Pferde auf sie. Andrej brauchte seine gesamte Kraft, um Abu Dun die Treppe hinaufzutragen und auf eines der Pferde zu heben. Dem Nubier widerstrebte diese unwürdige Behandlung.

Aber das änderte nichts daran, dass er so schwach war, dass er sich im Sattel festbinden ließ, bevor sie die Klosterfestung verließen.

»Das ist die verwegenste Idee, die du jemals gehabt hast, Hexenmeister - und ich habe aus deinem Mund schon eine Menge haarsträubenden Unsinn gehört!«

Wenn man seine Verfassung betrachtete, dachte Andrej, dann entwickelte Abu Duns Stimme eine gerade zu unglaubliche Lautstärke. Er saß an einen Baum gelehnt da und sah nicht nur aus, als könne er sich gerade noch mit letzter Kraft aufrecht halten - aber das hinderte ihn nicht, so laut loszubrüllen, dass man ihn noch unten in Trentklamm hätte hören müssen.

Andrej lächelte, aber sein Blick blieb ernst und voller tief empfundener Sorge, während er das zitternde Häufchen Elend betrachtete, das von dem nubischen Riesen übrig geblieben war. Sie waren so lange nach Westen geritten, bis sie einen schmalen, aber schnell fließenden Bach erreicht hatten, dem sie tiefer in den Wald hinein folgten, bis Andrej sicher war, einen möglichen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Nicht, dass er ernsthaft damit rechnete, verfolgt zu werden - zumindest nicht sofort. Selbst wenn Bruder Thobias noch am Leben und mittlerweile zurückgekehrt war, hatte er gar keine Möglichkeit, ihn jagen zu lassen. In der Klosterfestung war nichts Lebendiges mehr gewesen, als sie sie verlassen hatten.

Obwohl das Wasser eiskalt war, hatte Abu Dun darauf bestanden, sich ausgiebig zu reinigen. Jetzt saß er zusammengekauert und in zwei Satteldecken gehüllt und dennoch zitternd vor Kälte da, und Andrej hätte keinen Heller darauf verwettet, dass er sich jemals wieder aus dieser Stellung erheben würde.

»Du musst vollkommen übergeschnappt sein«, fuhr Abu Dun fort, als er keine Antwort bekam. »Was ist passiert? Haben sie dich gefoltert und dir das letzte bisschen Verstand auch noch aus dem Schädel geprügelt?«

»Im Gegenteil«, antwortete Andrej ruhig. Er empfand Schuld, dass sie Abu Dun gefoltert hatten und nicht ihn. »Ich gehe zurück nach Trentklamm, sobald wir einen Platz gefunden haben, an dem du in Sicherheit bist und dich erholen kannst.«

»Ich brauche keine Erholung«, behauptete Abu Dun. »Ein paar Stunden Schlaf und eine kräftige Mahlzeit, und ich bin wieder der Alte.«

Andrej fragte sich, ob Abu Dun diesen Unsinn wirklich glaubte. Es grenzte an ein Wunder, dass der Pirat überhaupt noch lebte. Er würde Zeit brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen.

»Ich muss es tun«, beharrte er. »Ich war der Lösung noch nie so nahe wie jetzt, Abu Dun. Ich spüre es.«

»Du warst dem Tod noch nie so nahe wie jetzt, du Narr«, murrte Abu Dun.

Er schüttelte den Kopf, stemmte die Hände gegen den Boden und versuchte sich zu erheben, sank aber sofort mit einem grunzenden Schmerzlaut wieder zurück. »Meine Beine«, keuchte er. »Sie fühlen sich an, als wäre jeder Knochen ein Dutzend Mal gebrochen.«

»Es wird dauern, bis du dich wieder bewegen kannst, ohne vor Schmerzen zu wimmern.« Andrej sah ihn an. »Wie fühlt es sich an, Ketten zu tragen?«

»Du wirst gleich wissen, wie es sich anfühlt, wenn man die Zähne ausgeschlagen bekommt!«, grollte Abu Dun.

Andrej grinste. Er trat zwei Schritte zurück und bot Abu Dun das erhobene Kinn dar. »Nur zu. Ich verspreche dir, nicht wegzulaufen. Und ich werde mich auch nicht wehren.«

»Du bist besessen, Hexenmeister, weißt du das?« Abu Dun wurde wieder ernst. »Du bist besessen von dem Gedanken, etwas herausfinden zu wollen, was du vielleicht nicht herausfinden solltest. Warum nimmst du nicht einfach hin, was du bist?«

»Weil ich es nicht kann«, antwortete Andrej. Er kam wieder näher, zögerte kurz und ließ sich unmittelbar neben dem Nubier mit untergeschlagenen Beinen nieder.

»Deine Neugier wird noch einmal dein Verderben sein«, sagte Abu Dun.

»Ich fürchte eher, dass Unwissenheit mein Verderben ist«, antwortete Andrej. »Erinnerst du dich an Alessa?«

»Thobias' Männer haben meine Beine verletzt, nicht meinen Schädel.«

»Dann erinnerst du dich auch daran, was sie erzählt hat«, fuhr Andrej fort.

»Über die Krankheit. Das Fieber, an dem viele gestorben sind. Sie hat als Einzige überlebt, und danach war sie so wie ich. Hier ist das Gleiche passiert, Abu Dun. Es kann kein Zufall sein.«

Er erzählte Abu Dun, was er von Thobias erfahren und vor allem mit eigenen Augen gesehen hatte. Abu Dun hörte zu, schweigend, aber mit größer werdendem Zweifel. Als Andrej zu Ende berichtet hatte, schüttelte er den Kopf und stieß hörbar die Luft zwischen den Zähnen aus.

»Das klingt nicht nach dem Gleichen«, sagte er vorsichtig. »Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass du jemals nachts zum Wolf geworden wärst und den Mond angeheult hättest.«

»Aber es hat etwas damit zu tun«, beharrte Andrej. »Ich kann es nicht genau erklären, Abu Dun. Aber es kann kein Zufall sein. Das sagt mir mein Verstand - und ich spüre es. Und da ...«

Er brach ab. Abu Dun sah ihn erwartungsvoll an, aber Andrej machte keine Anstalten, weiterzusprechen, sondern starrte an ihm vorbei ins Leere.

»Und da?«, fragte Abu Dun schließlich.

»Nichts.«

»Du wolltest sagen: Und da ist noch mehr«, beharrte der Nubier.

Andrej seufzte. Natürlich hatte Abu Dun Recht, und es tat ihm schon Leid, dass ihm die Worte überhaupt herausgerutscht waren. Andererseits ...

»Du hast Recht«, sagte er, noch immer ohne Abu Dun anzusehen. Er vermied es auch weiterhin, während er sprach. »Vorhin, als ... das Ungeheuer mich gepackt hatte ... Es hätte mich töten können, weißt du? Es hatte mich in seiner Gewalt. Es hätte mich ohne Zweifel töten können.«

»Aber das hat es nicht getan.«

»Nein«, antwortete Andrej. »Das hat es nicht. Und ich frage mich, warum.«

»Nein«, sagte Abu Dun. »Das tust du nicht. Du weißt es.«

Andrej sah den Nubier nun doch an. »Manchmal bist du mir unheimlich, Pirat«, sagte er. »Liest du meine Gedanken?«

»Nur, wenn sie so deutlich auf deinem Gesicht geschrieben stehen wie jetzt, Hexenmeister.«

»Vielleicht hat es mich nicht getötet, weil es mich erkannt hat«, murmelte Andrej. »Vielleicht tötet es keinen seiner Art.«

»Seiner Art? Du meinst, du wirst eines Tages so wie es? Wie dieses Ungeheuer, das wir in jener Nacht getötet haben?«

»Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es wirklich getötet habe«, antwortete Andrej. Er lachte bitter auf. »Vielleicht hat es in Wirklichkeit mich getötet, und ich habe es nur noch nicht bemerkt.«

Abu Dun sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte er.

»Schön«, erwiderte Andrej. »Ich verstehe es jedenfalls nicht. Nicht genau. Und aus diesem Grund muss ich hier bleiben und versuchen, das Rätsel zu lösen.« Er stand auf, straffte sich und sprach mit veränderter Stimme weiter. »Außerdem geht es um die Menschen in Trentklamm. Dieser wahnsinnige Benedikt wird den ganzen Ort auslöschen, wenn Thobias ihn nicht überzeugt. Ich kann das nicht zulassen.«

»Weil die guten Leute dort sich uns gegenüber so gastfreundlich gezeigt haben«, sagte Abu Dun spöttisch. »Was hast du mit ihnen zu schaffen?«

»Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie hundert unschuldige Menschen umgebracht werden«, beharrte Andrej. »Genauso wenig wie du. Jedenfalls würdest du das nicht tun, wenn du in besserer Verfassung wärst.«

»Ich bin in guter Verfassung«, behauptete Abu Dun. »Etwas zu essen könnte ich gebrauchen. Ein Wildschwein, oder eine halbe Kuh.«

»Wildschwein? Ich dachte, der Prophet verbietet euch den Genuss von Schweinefleisch.«

»Wer sagt, dass ich es genießen würde?«, versetzte Abu Dun und tat gleichzeitig so, als liefe ihm das Wasser im Munde zusammen.

Andrej stand auf. »Wenn ich dich eine Weile allein lassen kann, versuche ich ein Stück Wild zu jagen«, sagte er. »Lauf nicht weg.«

Es dauerte nicht lange, aber die Beute, mit der Andrej schließlich zurückkam, war mager: ein halb verhungertes Kaninchen, das zu schwach gewesen war, um davonzulaufen, und ein Eichhörnchen, das seine Neugier mit dem Leben bezahlt hatte.

Da sie es nicht wagen konnten, ein Feuer zu machen, verzehrten sie das Fleisch roh. Abu Dun schlang den größten Teil des Eichhörnchens gierig hinunter, ohne sich um Andrejs Warnung zu kümmern, und musste sich prompt übergeben. Als Andrej ihm einige Blätter brachte, um sich den Mund abzuwischen, riss er sie ihm wütend aus der Hand.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie Leid es mir tut, dass das Ungeheuer Thobias' Männer getötet hat«, sagte er.

Abu Dun fuhr sich mit den zusammengeknüllten Blättern über die Lippen und schleuderte sie angeekelt davon. »Ja. Ich hätte sie zu gerne selbst umgebracht.« Er warf einen gierigen Blick auf das Kaninchen, das Andrej mittlerweile ebenfalls abgezogen hatte, und griff schließlich danach. Diesmal aß er sehr viel vorsichtiger.

Auch Andrej war hungrig, aber er würde warten, bis Abu Dun fertig gegessen hatte, und sich mit dem Rest zufrieden geben. Der Nubier benötigte die Nahrung dringender als er. Etwas in ihm schrie beim Anblick des blutigen rohen Fleisches vor Gier. Am liebsten hätte er es Abu Dun aus den Händen gerissen, um es selbst zu verschlingen. Was hatte Abu Dun gesagt?

... dass du so wirst wie es?

Nein, er hatte keine Angst davor, dass er so werden könnte. Er spürte, dass etwas in ihm bereits zu dem Ungeheuer wurde. Und es wurde stärker, jeden Tag vielleicht nur ein winziges bisschen, aber es wurde stärker.

Unaufhaltsam.

»Ich habe nachgedacht«, begann er, während der Nubier weiter von dem Kaninchenfleisch aß. »Wir können nicht hier bleiben. Wir brauchen ein Versteck. Einen Platz, an dem wir sicher sind, bis du wieder in der Lage bist, dich allein zu bewegen.«

»Birgers Haus steht im Moment leer«, sagte Abu Dun spöttisch. »Ich glaube nicht, dass es gebraucht wird oder jemand freiwillig dorthin kommt.«

»Das ist nicht ganz das Richtige«, stellte Andrej fest.

Abu Dun hörte auf zu kauen und sah ihn misstrauisch an.

»Der Friedhof«, ergänzte Andrej.

»Wieso habe ich gewusst, dass du das sagen würdest?«, fragte Abu Dun unglücklich.

»Thobias und vor allem Vater Ludowig waren sehr deutlich«, sagte Andrej.

»Die Leute fürchten diesen Ort. Es ist kein Friedhof, an den sie kommen würden, um ihre Verstorbenen zu besuchen. In der Kapelle sind wir sicher. Wenigstens für ein paar Tage.«

Abu Dun verzog das Gesicht, ersparte sich aber jede Antwort und kaute stattdessen weiter. Andrej konnte ihm ansehen, dass er immer wieder gegen Übelkeit und Brechreiz ankämpfte. Es gelang ihm jedoch, die Nahrung im Magen zu behalten.

Sie blieben noch eine Weile sitzen, dann half Andrej dem Nubier dabei, wieder in den Sattel zu steigen, was er zwar nur mühsam, aber aus eigener Kraft schaffte. Andrej musste ihn auch nicht mehr festbinden, bevor sie losritten.

Sie kamen nur langsam vorwärts. Der Wald war sehr dicht, und weder Andrej noch Abu Dun kannten sich hier aus. Erst kurz vor Anbruch der Dämmerung erreichten sie das schmale Seitental, an dessen Ende der ummauerte Friedhof lag.

Obwohl er wusste, wie schwer Abu Dun das Laufen fallen würde, bestand Andrej darauf, abzusteigen und die Pferde davonzujagen, um keine verräterischen Spuren zu hinterlassen.

Es fiel Abu Dun allerdings nicht schwer zu gehen.

Es war ganz und gar unmöglich.

Er machte einen einzelnen tastenden Schritt und brach mit einem Schmerzensschrei zusammen.

Andrej musste ihn tragen. Zwei- oder dreihundert Schritte, von denen jeder einzelne schwerer wog als der zuvor. Andrej setzte ein Dutzend Mal ab, und er war bald froh um jedes Pfund, das Abu Dun im Laufe der beiden letzten Wochen verloren hatte. Dennoch schien der Nubier mit jedem Schritt schwerer zu werden. Als Andrej sich durch das geschmiedete Tor quälte, hatte er das Gefühl, eine Tonne auf den Schultern zu tragen. Dem Zusammenbruch nahe, erreichte er die Kapelle und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Tür nicht verschlossen sein würde.

Sie war nicht verschlossen, aber die Angeln waren so alt und verrostet, dass sie sich schwer öffnen ließ. Nachdem Andrej Abu Dun behutsam auf dem Boden abgelegt und kurz Atem geschöpft hatte, kostete es ihn alle Kraft, die er noch aufbringen konnte, die Tür zu öffnen und in die Kapelle zu stolpern.

In ihrem Inneren war es so dunkel, dass er trotz seiner verstärkten Sehkraft nur vage Umrisse erkannte. Auf den Fenstern lag eine fingerdicke Schmutzschicht, und bei jedem Schritt, den er machte, wirbelten Staubflocken auf, die zum Husten reizten. Diesen Raum hatte seit Jahren niemand mehr betreten.

Andrej untersuchte ihn trotzdem, kurz aber sehr gewissenhaft, dann ging er zurück und holte Abu Dun. Nachdem er ihn in eine einigermaßen bequeme Lage gebettet hatte, kehrte er zurück zum Anfang des Tales, um die Satteldecken und ihr übriges Gepäck zu holen, dass sie dort zurückgelassen hatten. Als er zum zweiten Mal in die Kapelle trat, war er so erschöpft, dass er gerade noch die Tür hinter sich schließen konnte, ehe er sich auf dem nackten Boden ausstreckte und auf der Stelle einschlief.

Er erwachte von lautstarkem Stöhnen und dem sauren Geruch nach kaltem Schweiß. Abu Dun.

Andrej fuhr mit einem Ruck hoch und registrierte beiläufig, dass es ein wenig heller geworden war. Graugefärbtes Sonnenlicht sickerte durch Löcher und Ritzen in der verkrusteten Staubschicht auf den Fenstern wie durch einen halb vermoderten Bretterzaun; draußen herrschte heller Tag.

Das Stöhnen wurde lauter. Abu Dun lag auf dem Rücken und fantasierte lautstark in seiner Muttersprache. Sein Gesicht glänzte von kaltem, ungesundem Schweiß, und er lag nicht still, sondern warf sich gequält im Schlaf hin und her.

Andrej ließ sich neben ihm auf die Knie sinken, zögerte noch einen Moment und rüttelte dann an seiner Schulter. Abu Dun brauchte Schlaf, aber dies war kein erholsamer Schlaf, sondern ein Fieber, das seinen Körper weiter auszehren würde.

Drei- oder viermal musste Andrej an Abu Duns Schulter rütteln, bevor der Nubier endlich die Augen aufschlug. Andrej war dennoch nicht sicher, dass er wirklich wach war. Abu Duns Augen blickten trüb, und für einen Moment glaubte er tatsächlich, die verzehrende Flamme des Fiebers zu erkennen, das dahinter loderte und ihn langsam von innen heraus auffraß.

»Durst«, krächzte Abu Dun. »Ich ... ich habe Durst.«

»Wir haben kein Wasser«, sagte Andrej bedauernd. Er verfluchte sich, und das nicht zum ersten Mal. Sie hatten nicht nur kein Wasser, sie hatten nichts. Ihre Flucht aus der Klosterfestung war mehr als überhastet gewesen - dabei hätte es nur eines kurzen Aufschubs bedurft, um Vorräte und Wasser zu suchen. Dieser Fehler hätte ihm nicht unterlaufen dürfen. Früher wäre ihm dieser Fehler nicht unterlaufen.

»Ich gehe und suche Wasser«, sagte er. »Ich bin sicher, dass ich welches finde, keine Sorge.«

Er wollte aufstehen, aber Abu Dun griff nach seinem Arm und hielt ihn mit solcher Kraft fest, dass es wehtat.

»Nein!«, keuchte er. »Lass mich nicht ... nicht allein.«

Andrej versuchte sich loszumachen, aber Abu Dun hielt ihn mit so verzweifelter Kraft fest, dass er ihm die Finger hätte brechen müssen. »Du brauchst Wasser«, sagte er. »Du hast hohes Fieber.«

»Hilf mir«, murmelte Abu Dun. »Ich ... ich brauche kein Wasser. Du kannst mir helfen.«

»Aber dazu muss ich ...«

»Du kannst mir helfen«, unterbrach ihn Abu Dun. »Du weißt es. Mach ... mach mich so wie ... wie du.«

»Du weißt, dass ich das nicht kann«, sagte Andrej leise.

»Du kannst es«, beharrte der Nubier. Er stöhnte. Sein Körper zuckte unkontrolliert in Fieberkrämpfen. »Ich sterbe, Hexenmeister. Ich will, dass du ... dass du mich verwandelst. Mach mich zu einem wie dich. Mach mich zum Vampyr.«

»Du weißt nicht, was du da redest«, sagte Andrej, aber Abu Dun unterbrach ihn erneut, indem er ihn mit schriller Stimme anschrie: »Du bist es mir schuldig! Sie haben mir das alles nur deinetwegen angetan!«

»Das weiß ich«, meinte Andrej sanft. »Und es tut mir unendlich Leid. Aber ich kann nicht tun, was du von mir verlangst.«

»Du schuldest es mir«, beharrte Abu Dun. »Ich bin seit zehn Jahren bei dir. Ich habe dir hundertmal den Hals gerettet, und jetzt lässt du mich sterben. Ich verlange es. Hörst du, Hexenmeister? Ich verlange es!«

Andrej befreite sich nun doch mit sanfter Gewalt aus Abu Duns Griff. Er verzichtete auf eine Antwort. Sie wäre ohnehin sinnlos gewesen. Im gleichen Moment, in dem er seine Hand abgestreift hatte, war der Nubier wieder zurückgesunken und hatte zu stöhnen begonnen. Seine Augen waren noch immer weit geöffnet. Andrej bezweifelte, dass er ihn noch gehört hätte.

Er fantasierte und hatte hohes Fieber. Seine Stirn schien zu glühen, als Andrej vorsichtig die Hand darauf legte. Er brauchte dringend Wasser. Andrej stand auf und verließ mit sehr schnellen Schritten die Kapelle.

Auf diese Weise vergingen die nächsten drei Tage. Andrej hatte sowohl Wasser gefunden als auch genügend Wild erlegt, und er hatte in den Jahren, die sie auf der Flucht vor dem Krieg und den heranrückenden Türken in den Wäldern gelebt hatten, gelernt, rauchloses Feuer zu machen, sodass sie nicht mehr gezwungen waren, das Fleisch roh zu verzehren. Als der ärgste Dreck aus der Kapelle geschafft war, hatte Andrej es nach langem Zögern und mit einem schlechten Gefühl am Ende doch gewagt, nach Trentklamm zu gehen und Kleider für Abu Dun zu stehlen.

Abgesehen davon hatte er fast die gesamte Zeit an Abu Duns Lager verbracht. Der Nubier hatte beinahe ununterbrochen geschlafen. Sein Fieber war nur langsam gesunken, aber es hatte schließlich nachgelassen, und schon am zweiten Tag hatte er aufgehört zu fantasieren und im Schlaf um sich zu schlagen.

Kurz vor Sonnenaufgang des vierten Tages - noch drei Tage, bis Vater Benedikt und die Inquisition hier sein würden - erwachte Abu Dun zum ersten Mal klar und ohne Fieber und verlangte mit schwacher, aber sehr klarer Stimme nach Wasser und etwas zu essen. Andrej stand sofort auf und brachte ihm beides.

Sie hatten genügend Wasser, und vom Vortag war noch die Hälfte eines Hasen übrig, den Andrej mit bloßen Händen erlegt und an einem Stock über dem Feuer gebraten hatte, das in einem vor direkter Sicht geschützten Loch hinter der Kapelle angelegt war.

Er sah mit großem Vergnügen zu, wie Abu Dun den gesamten Braten verzehrte und anschließend einen gierigen Blick auf den Haufen abgenagter Knochen warf, schüttelte aber bedauernd den Kopf.

»Es ist nichts mehr da«, sagte er. »Und du solltest auch nicht zu viel essen, sonst wird dir am Ende wieder übel.«

»Du bist wie eine Mutter zu mir«, sagte Abu Dun, während er den letzten Bissen mit einem gewaltigen Schluck Wasser hinunterspülte und anschließend so kräftig rülpste, dass man es noch auf der anderen Seite der Berge hören musste.

Andrej verzog das Gesicht. »Du bist wieder ganz der Alte«, sagte er.

»Zweifellos.«

Abu Dun zog eine Grimasse, antwortete aber nicht, sondern warf einen neugierigen Blick auf den Stapel unordentlich gefalteter Kleider, der neben Andrejs linkem Knie lag. »Du hast Kleidung besorgt?«

Andrej schob ihm die Kleider zu. »Es beleidigt mein Schönheitsempfinden, andauernd deinen nackten schwarzen Hintern ansehen zu müssen. Die Sachen dürften dir passen. Sie stammen aus Birgers Truhe.«

»Birger?«

Andrej schlug bedeutungsvoll mit der flachen Hand auf einen Beutel unter seinem Hemd. Ein leises Klirren war zu hören. »Ich habe auch den Rest aus der Truhe mitgebracht. Man kann nie wissen, wofür man es braucht.«

»Du warst in Trentklamm?«, fragte Abu Dun nach.

»Sei unbesorgt«, beruhigte ihn Andrej. »Niemand hat mich bemerkt. Und niemand wird merken, dass ich da war. Es war deine eigene Idee, hast du das schon vergessen? Birgers Haus ist verlassen. Selbst wenn jemand merkt, dass die Truhe leer ist, werden sie glauben, dass Birger die Sachen geholt hat.«

»Birger.« Abu Dun hielt das zerschlissene, aber blütenweiß gewaschene Hemd in die Höhe, das Andrej ihm gebracht hatte, und betrachtete es missmutig. Es war lang genug, um ihm zu passen, aber er würde alle Mühe haben, seine breiten Schultern hineinzuquetschen; selbst jetzt, wo er so abgemagert war.

»Es war dein Vorschlag«, erinnerte Andrej ihn erneut.

»Ich erinnere mich, was ich gesagt habe«, antwortete Abu Dun. Er ließ das Hemd sinken. »Ich erinnere mich auch an einige andere Dinge, die ich gesagt habe.«

»Du hattest hohes Fieber«, sagte Andrej. »Die meiste Zeit hast du nur wüst vor dich hin gesprochen. Obwohl ich nicht sagen könnte, dass es ein großer Unterschied zu dem war, was du sonst redest.«

Der Nubier blieb ernst. »Du weißt, was ich meine«, sagte er. »Ich ... Ich wollte nicht...«

Andrej unterbrach ihn mit einer erschrockenen Geste. Er hatte etwas gehört; ein Geräusch, das so leise war, dass es Abu Dun mit Sicherheit entgangen war, das aber eindeutig nicht hierher gehörte und das näher kam.

»Was?«, fragte Abu Dun.

Andrej wiederholte seine mahnende Geste und stand mit einer fließenden Bewegung auf. »Nichts«, flüsterte er. »Zieh die Sachen an. Ich sehe nach.«

Abu Dun wollte widersprechen, aber Andrej beachtete ihn gar nicht, sondern drehte sich rasch herum und ging zur Tür. Alles war ruhig, als er die Kapelle verließ. Über dem Friedhof lag noch immer das silbergraue Licht der Nacht, an das Andrej sich trotz allem noch nicht wirklich gewöhnt hatte, das ihm aber mit jedem Tag auf sonderbare Weise vertrauter wurde. Es war beinahe so, als verwandele er sich allmählich in ein Geschöpf der Dämmerung, das mehr in der Dunkelheit als im hellen Licht des Tages zu Hause war. Ohne auch nur einen Blick in den Himmel hinaufwerfen zu müssen, wusste er, dass die Morgendämmerung noch gute zwei Stunden entfernt war.

Dennoch war der Himmel im Osten nicht vollkommen schwarz. Das düsterrote flackernde Licht von Fackeln war über der Mauerkrone zu sehen, und er hörte die Geräusche nun deutlicher, die ihn alarmiert hatten. Schritte.

Stimmen. Das Rascheln von Stoff und das Knistern brennender Fackeln.

Menschen kamen. Viele Menschen.

Andrej huschte durch das geschmiedete Tor und wandte sich dem Eingang des Tales zu, aber er legte nicht einmal die Hälfte der Distanz zurück, ehe er wieder anhielt und sich in den Schatten eines Felsens kauerte.

Es war eine ganze Prozession, die sich dem Friedhof näherte; zwanzig, vielleicht dreißig oder mehr Gestalten, die Fackeln trugen und in drei Reihen marschierten. Andrej hörte Stimmen, aber er konnte die Worte nicht verstehen, nur eine Art eintönigen Singsang, der klang wie ein Gebet.

Er hatte genug gesehen. Lautlos von Schatten zu Schatten huschend kehrte er zur Kapelle zurück und schloss die Tür hinter sich.

»Was ist los?« Abu Dun hatte sich mittlerweile angezogen und stand unsicher auf den Beinen. Er schwankte nicht, aber seine verkrampfte Haltung machte Andrej klar, welche Mühe ihm diese einfache Handlung abverlangte. Es sah nicht so aus, als würde er ein nennenswertes Stück gehen oder gar laufen können.

»Eine Beerdigung«, antwortete Andrej.

»Eine Beerdigung? Jetzt?«

Andrej hob die Schultern. »Die Leute hier haben eben andere Bräuche als bei uns.«

»Eine Beerdigung, Stunden vor Sonnenaufgang?« Abu Dun runzelte die Stirn. »Das sind wahrlich sonderbare Bräuche. Wir müssen von hier verschwinden.«

»Dazu ist es zu spät«, antwortete Andrej kopfschüttelnd. »Das Tal hat nur einen Ausgang. Wir würden ihnen direkt in die Arme laufen.« Er zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, spürte aber selbst, wie kläglich es misslang. »Aber mach dir keine Sorgen - niemand wird hier hereinkommen. In diesem Raum ist seit mindestens zehn Jahren niemand mehr gewesen, bevor wir kamen. Wenn wir kein verräterisches Geräusch machen, passiert uns nichts.«

»Und wenn sie doch hereinkommen?«

»Dann lasse ich mir Flügel wachsen und fliege davon«, sagte Andrej.

»Und du bist in Schwierigkeiten.«

»Sehr komisch«, murrte Abu Dun. Er machte einen vorsichtigen Schritt, blieb stehen und lauschte einen Moment in sich hinein, bevor er einen weiteren Schritt tat.

Andrej war mittlerweile zum Fenster gegangen. Er befeuchtete seinen Daumen mit der Zunge und rieb ein winziges Guckloch in den Schmutz auf der Scheibe, gerade groß genug, um hindurchsehen zu können, aber um auf gar keinen Fall von außen bemerkt zu werden.


Seine Mühe wurde belohnt. Von seinem Standpunkt aus konnte er sowohl das Tor als auch einen guten Teil des Friedhofgeländes überblicken. Es verging nicht mehr viel Zeit, bis der rote Feuerschein heller wurde und schließlich die ersten Mitglieder der Prozession durch das schmiedeeiserne Tor schritten.

Andrej war nicht sehr überrascht, Vater Ludowig an der Spitze der Prozession zu erblicken. Er trug keine Fackel, hatte aber beide Hände um ein hölzernes Kruzifix geschlossen, und seine Lippen bewegten sich unentwegt im Gebet.

Hinter ihm traten vier Männer durch das Tor, die einen schlichten, aus frisch gehobelten Brettern gezimmerten Sarg zwischen sich trugen. Er war vollkommen schmucklos und offensichtlich in großer Hast gebaut, aber Andrej fiel selbst über die große Entfernung auf, wie massiv die Bretter waren, aus denen er bestand; und wie viele Nägel man benutzt hatte, um den Deckel zu befestigen. Es war wie bei dem Grab, das sie vor ein paar Tagen besichtigt hatten: Jemand schien wirklich großen Wert darauf zu legen, dass der, der in diesem Sarg lag, auch darin liegen blieb.

Den Sargträgern folgten fünf oder sechs Männer in einfachen Kleidern.

Hinter ihnen gingen vier weitere Männer, die einen zweiten Sarg zwischen sich trugen.

»Zwei!«, flüsterte Abu Dun überrascht. Er stand neben Andrej und hatte sich ein eigenes Guckloch gemacht. »Und sieh nur, am Ende der Reihe. Das sind zwei weitere, nicht sehr alte Gräber ... nein, drei. Und ich dachte, das Leben in den Bergen wäre so wohltuend.«

Andrej brachte Abu Dun mit einer ärgerlichen Geste zum Verstummen.

Der Nubier hatte Recht: Die Grabreihe war deutlich länger geworden, seit er zusammen mit Thobias und Vater Ludowig hier gewesen war. Wieso war ihm das nicht aufgefallen? Er hatte die Kapelle im Laufe der zurückliegenden drei Tage häufig verlassen und wieder betreten.

Die Prozession näherte sich dem Ende der Grabreihe. Andrej gab den Versuch auf, die Männer zu zählen oder ihre Gesichter erkennen zu wollen, aber ihm fiel auf, dass es sich ausnahmslos um Männer handelte. Keine Frauen, keine Kinder. Die beiden Verstorbenen schienen keine besonders großen Familien gehabt zu haben.

Die Särge wurden abgesetzt. Die Männer mit ihren Fackeln bildeten einen dichten Halbkreis, in dessen Zentrum einige Dörfler begannen, mit mitgebrachten Spitzhacken und Schaufeln eine Grube auszuheben. Mit vereinten Kräften ging die Arbeit schnell von der Hand. Trotzdem dauerte die gesamte Zeremonie eine gute Stunde. Andrej war fremd in diesem Land und kannte weder seine Menschen noch deren Sitten und Gebräuche. Dennoch hatte er den Eindruck, keinem christlichen Begräbnis zuzusehen - obwohl viele Kreuze zu sehen waren und Vater Ludowig nahezu ununterbrochen betete.

Endlich wandten sich die Trauergäste - falls es überhaupt solche waren - einer nach dem anderen um und gingen; nicht mehr in einer geschlossenen Prozession, sondern in einzelnen kleinen Gruppen. Schließlich blieb nur noch Ludowig zurück. Bei ihm waren zwei Männer, die Fackeln trugen und es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht hatten, auf ihren Priester Acht zu geben.

»Allah sei Dank«, murmelte Abu Dun, als endlich auch Ludowig und seine beiden Begleiter den Friedhof verlassen hatten. »Ich dachte schon, er wollte gleich hier bleiben.«

»Wieso?«

»Er ist ziemlich alt«, sagte Abu Dun mit todernstem Gesicht. »Möglicherweise lohnt sich der weite Rückweg gar nicht mehr.«

»Du bist wieder ganz der Alte«, erwiderte Andrej.

»Zumindest deine Späße sind so schlecht wie eh und je.«

»Wieso Späße?« Abu Dun sah ihn einen Moment lang so überzeugend ernst an, dass Andrej tatsächlich Zweifel kamen, dann grinste er plötzlich breit und wollte sich zur Tür wenden, aber Andrej schüttelte den Kopf.

»Noch nicht. Ich möchte sichergehen, dass niemand zurückkommt.«

Seine Vorsicht war völlig überflüssig. Niemand kam zurück, um noch einmal am Grab seines Bruders oder Vaters zu weinen, und es erschien auch niemand, um einen Drudenfuß abzulegen oder das Grab auf andere Weise magisch zu versiegeln. Nach einer Weile verließen sie die Kapelle und näherten sich vorsichtig den beiden frisch ausgehobenen Gräbern. Andrej lauschte mit all seinen übermenschlich scharfen Sinnen in die Nacht hinein, aber da war kein Geräusch mehr, das nicht hierher gehörte. Sie waren allein.

Dennoch erlebten sie eine Überraschung. Es gab nicht zwei Gräber, sondern nur ein einzelnes, breit genug, um zwei Särge nebeneinander aufzunehmen. Auf diesem Grab lag kein Stein, und es gab nur ein einfaches Holzkreuz ohne Beschriftung.

»Was suchen wir hier?«, fragte Abu Dun, nachdem sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander dagestanden und den flachen Hügel aus frischer Erde angestarrt hatten. Das Grab roch gut; nicht so, wie ein Grab riechen sollte, sondern nach Leben. Sonderbar.

»Ich weiß es nicht«, gestand Andrej. »Aber irgendetwas ist hier nicht so, wie es sein sollte. Oder wie man uns Glauben machen will, dass es ist.«

»Du bist auch ganz der Alte geblieben«, sagte Abu Dun spöttisch.

»Du liebst es noch immer, in Rätseln zu sprechen.«

Andrej machte eine unwillige Geste zu den frischen Gräber ringsum.

»Fünf Tote in weniger als zwei Wochen, das nenne ich auf jeden Fall nicht üblich«, sagte er.

»Vielleicht ist eine Krankheit ausgebrochen«, sagte Abu Dun achselzuckend. Nach einem kurzen Augenblick fügte er hinzu: »Oder es sind die Soldaten aus dem Kloster.«

»Die man extra den langen Weg hierher geschafft hat, um sie auf diesem Friedhof beizusetzen?« Andrej schüttelte wenig überzeugt den Kopf.

»Dann doch eine Krankheit«, beharrte Abu Dun. »Wer weiß, vielleicht sogar die Pest. Wir sollten machen, dass wir von hier verschwinden, bevor wir uns am Ende noch anstecken.«

»Unsinn!« Andrej sah sich suchend um, und er entdeckte fast sofort, wonach er Ausschau gehalten hatte: Die Dörfler hatten Spitzhacken und Schaufeln nicht wieder mitgenommen, sondern in ein paar Schritten Entfernung liegen gelassen. Vielleicht hatte Abu Dun Recht, und es standen tatsächlich noch mehr Beerdigungen an, sodass es die Mühe nicht lohnte, das Werkzeug ständig hin- und herzuschleppen.

Er holte zwei Schaufeln und reichte eine davon Abu Dun. Der Nubier starrte sie an, als handele es sich um ein besonders ekliges Getier, das noch mit den Giftzähnen klapperte.

»Was soll ich damit?«

»Mir beim Graben helfen«, antwortete Andrej. »Ich will wissen, woran diese Leute gestorben sind.«

»Bist du verrückt?« Abu Dun verschränkte die Arme vor der Brust.

»Außerdem bin ich krank und darf mich nicht so anstrengen, das hast du selbst gesagt.«

Ohne ein weiteres Wort zu erwidern, begann Andrej zu graben. Der lockere Boden machte es leicht, rasch vorwärts zu kommen. Abu Dun sah ihm eine Weile mit finsterer Mine zu, zog sich aber bald ein Stück zurück; auch, weil die eine oder andere Schaufel Erdreich ganz zufällig in seine Richtung flog.

Zu Andrejs Erleichterung - aber ebenso großen Überraschung - war das Grab nicht besonders tief. Er hatte kaum einen halben Meter gegraben, als die hölzerne Schaufel auf Widerstand stieß. Er schaufelte schneller, legte nach einem Augenblick den ersten und wenige Augenblicke später den zweiten Sarg frei.

»Mach nicht so viel Lärm«, sagte Abu Dun grinsend. »Du weckst ja die Toten auf.«

Andrej warf die Schaufel nach ihm, ging in die Hocke und begutachtete die Särge aufmerksam. Seine erste Einschätzung war richtig gewesen. Die Särge waren roh, und mit offensichtlich sehr viel mehr Hast als Sorgfalt zusammengezimmert, aber äußerst stabil. Ohne Werkzeug hatte er keine Möglichkeit sie zu öffnen.

Andrej zog sein Schwert, schob die Klinge mit einiger Mühe in den schmalen Spalt zwischen Deckel und Sarg und benutzte die Waffe als Hebel.

Im ersten Moment geschah nichts. Andrej verstärkte seine Anstrengungen und fürchtete schon, seine Schwertspitze könnte abbrechen. Dann aber gab der Sargdeckel nach. Die Nägel glitten mit einem sonderbar weichen, fast seufzenden Laut aus dem Holz.

Im nächsten Augenblick folgte der Deckel, der zur Seite kippte und zerbrach.

Andrej wusste nicht, was er erwartet hatte - aber darunter lag nichts anderes als das, was man in einem Grab gewöhnlich fand: ein Toter. Der Mann konnte nicht viel älter gewesen sein als Thobias. Seinen eingefallenen Wangen und dem gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu schließen, war er keines sehr leichten Todes gestorben.

»Und?« Abu Dun kam näher, blieb aber in größerem Abstand stehen, als notwendig gewesen wäre, und beugte sich neugierig vor.

Andrej fegte die Reste des zerbrochenen Sargdeckels mit einer Handbewegung zur Seite und betrachtete den Toten genauer. Der Mann war vor nicht sehr langer Zeit gestorben; Andrej nahm sogar an, erst im Laufe der zurückliegenden Nacht.

»Ich weiß nicht«, sagte er unentschlossen. »Die Pest war es jedenfalls nicht.«

Er überlegte noch einen Moment, dann wandte er sich dem anderen Sarg zu und öffnete ihn auf die gleiche Weise wie den ersten, nur mit etwas weniger Mühe.

Auch in ihm lag der Leichnam eines Mannes, der allerdings deutlich älter gewesen war als der erste.

»Wenn Ihr damit fertig seid, die Totenruhe zu stören, dann sollten wir uns unterhalten, Andrej.«

Obwohl Andrej die Stimme sofort erkannt hatte, vergingen noch einige Augenblicke, bevor er sich langsam herumdrehte.

Thobias war lautlos aus dem Schatten herausgetreten. Er trug eine gespannte Armbrust in der rechten und einen beidseitig geschliffenen Dolch in der linken Hand. Anscheinend war er allein gekommen, aber er schien keine Furcht zu empfinden. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit.

»Eine beeindruckende Vorstellung«, spottete Abu Dun. »Es ist bisher nur wenigen Männern gelungen, sich an mich anzuschleichen.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Armbrust in Thobias' Hand. »Kannst du damit umgehen, Mönchlein?«

»Auf diese Entfernung?« Thobias hob die Schultern. Er stand keine fünf Meter von Abu Dun entfernt. »Wollt Ihr mich prüfen, Heide?«

»Aber du kannst uns nicht beide töten«, sagte Abu Dun. »Mich vielleicht, oder Andrej - aber einer bliebe übrig und würde dich töten.«

»Was macht das für einen Unterschied?«, fragte Thobias bitter. »In drei Tagen lebt in diesem Tal ohnehin niemand mehr.«

»Niemand muss sterben, Thobias«, sagte Andrej rasch. Er warf Abu Dun einen mahnenden Blick zu, aber er sah, wie sich der Nubier insgeheim zum Sprung spannte. Unter anderen Umständen hätte er Abu Dun durchaus zugetraut, mit Thobias fertig zu werden, trotz dessen Waffen, aber nicht in dieser Situation.

Sehr vorsichtig, um Thobias nicht zu einer Unbesonnenheit zu treiben, richtete er sich auf und schob das Schwert in den Gürtel zurück.

»Hört mir zu, Thobias«, sagte er. »Ich weiß, was Ihr denken müsst, aber es ist nicht so, wie es den Anschein hat.«

»So?«, fragte Thobias bitter. »Wie ist es dann? Welche Geschichte wollt Ihr mir erzählen, Andrej? Noch mehr Lügen?«

»Ich habe Eure Männer nicht getötet, Thobias«, sagte Andrej in beschwörendem Tonfall. »Es war das Ungeheuer. Dasselbe Geschöpf, das Günther getötet hat. Abu Dun und ich konnten ihm mit Mühe und Not entkommen.«

»Lügen«, sagte Thobias. Seine Stimme zitterte.

»Nichts als neue Lügen.«

»Ihr wisst, dass es nicht so ist«, sagte Andrej ernst.

»Wenn ihr mir nicht glauben würdet, hättet Ihr mich längst getötet. Ihr hättet aus dem Schatten heraus auf Abu Dun geschossen und ihn vermutlich auch getroffen, und Ihr hättet wahrscheinlich sogar noch die Zeit gefunden, auch noch einen zweiten Pfeil aufzulegen und mich zu töten. Aber Ihr habt es nicht getan. Warum?«

In Thobias' Gesicht zuckte es. Die Armbrust in seiner Hand schwenkte ganz langsam herum und richtete sich nun auf Andrej. »Sagt Ihr es mir!«, verlangte er.

»Weil Ihr wisst, dass ich die Männer nicht getötet habe«, antwortete Andrej.

»Wäre ich es gewesen, dann wäre ich nicht geflohen, sondern hätte auf Euch gewartet, um Euch auch noch umzubringen. Es war das Ungeheuer. Der Werwolf.«

Thobias fuhr unmerklich zusammen. Die Armbrust in seiner rechten und der Dolch in seiner linken Hand zitterten.

»Ich ... ich glaube Euch nicht...«, stammelte er.

»Und warum sind wir dann noch hier?« Andrej machte eine wedelnde Handbewegung zu den beiden aufgebrochenen Särgen. »Warum tun wir das hier? Wir wären längst hundert Meilen weit weg, wenn Ihr Recht hättet.«

Thobias schwieg. Auf sein Gesicht hatte sich ein Ausdruck purer Qual gelegt, und dann ...

... öffnete der jüngere der beiden Toten die Augen und stieß ein leises Winseln aus!

Andrej sprang mit einem entsetzten Keuchen zur Seite, aber seine Bewegung kam zu spät. Der vermeintliche Tote richtete sich auf, mit einer sonderbar steifen, nicht wirklich lebendig wirkenden Bewegung. Seine Hand zuckte vor und umklammerte Andrejs Fußgelenk mit solcher Kraft, dass er das Gleichgewicht verlor und fiel, und noch während er stürzte, sah er, wie Thobias die Armbrust herumschwenkte und abdrückte. Die Sehne entspannte sich mit einem peitschenden Knall, und der gut handlange Bolzen traf den lebenden Toten präzise zwischen die Augen, durchbohrte seinen Schädel und trat am Hinterkopf wieder aus. Der Mann sank lautlos zurück in den Sarg, und der schreckliche Griff der Totenhand löste sich von Andrejs Knöchel.

Noch bevor sich Andrej wieder in die Höhe gestemmt hatte, war Abu Dun über Thobias. Mit einer einzigen Bewegung entrang er ihm den Dolch und schlug ihm zugleich die Armbrust aus der Hand.

Blitzschnell wirbelte er ihn herum, schlang den Arm von hinten um Thobias' Hals und riss ihn von den Füßen. Thobias bäumte sich auf, begann verzweifelt mit den Beinen zu strampeln und versuchte hinter sich zu greifen, um Abu Dun die Augen auszukratzen. Der Nubier lachte nur. Abu Dun mochte in einem bemitleidenswerten Zustand sein, aber er war immer noch stark genug, um Thobias mit einer beiläufigen Bewegung das Genick zu brechen.

»Abu Dun!«, rief Andrej. »Lass ihn los!«

Abu Dun drehte sich nur lachend zu ihm herum, wobei er Thobias wie eine gewichtslose Stoffpuppe herumschleuderte. Der Prediger hatte aufgehört mit den Beinen zu strampeln, und aus seinen Schreien war ein halb ersticktes Keuchen geworden.

»Lass ihn los, Abu Dun!«, ermahnte Andrej ihn scharf. »Du bringst ihn ja um!«

»Genau das habe ich vor«, antwortete Abu Dun. »Allerdings nicht so schnell. So leicht werde ich es deinem Freund nicht machen.«

Er ließ Thobias fallen. Der junge Priester brach zusammen, schlug beide Hände gegen den Hals und rang würgend und hustend nach Luft. Abu Dun starrte ohne die geringste Spur von Mitleid auf ihn hinab, dann schob er den Dolch in den Hosenbund, bückte sich nach Thobias' Armbrust und brach sie ohne besondere Anstrengung in Stücke.

Mit schnellen Schritten war Andrej bei Thobias und kniete neben ihm nieder. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Thobias wollte antworten, brachte im ersten Moment aber nichts als ein weiteres qualvolles Husten heraus. Aber er nickte.

»Schon ... schon gut«, keuchte er. »Gebt mir ... nur einen Augenblick.«

Andrej sah wütend zu Abu Dun hoch. »Du hättest ihn beinah getötet!«

»Gut«, sagte Abu Dun. »Schade, dass es nur beinahe war.«

»Lasst ihn«, sagte Thobias. »Es geht schon wieder. Ich kann Euren Freund verstehen. Ich an seiner Stelle hätte wahrscheinlich auch nichts anderes getan.«

Er stand auf. Sein Atem ging noch immer schnell, aber er erholte sich rasch. Er schien viel zäher zu sein, als Andrej angenommen hatte. Nachdem er einen letzten ängstlichen Blick auf Abu Duns Gesicht geworfen hatte, setzte er sich in Bewegung und ging an Andrej vorbei auf das geöffnete Grab zu. Abu Dun und Andrej folgten ihm.

Der Mann im Sarg war nun endgültig tot. Der Ausdruck von Qual war von seinem Gesicht verschwunden und hatte einem Ausdruck fassungslosen Staunens Platz gemacht. Er würde sicher kein zweites Mal von den Toten auferstehen. Der Armbrustbolzen hatte seinen Schädel fast zur Gänze durchschlagen; nur das dreifach gefiederte Ende ragte noch wie ein barbarischer Kopfschmuck aus dem Schädelknochen über der Nase.

»Ein wahrer Meisterschuss«, lobte Abu Dun.

»Früher konnte ich sehr gut mit der Armbrust umgehen«, antwortete Thobias mit belegter Stimme. »Aber ich dachte, ich hätte es verlernt. Ich hatte nur Glück.«

»Wie mir scheint, hatten wir das alle«, sagte Abu Dun. »Aber wie kann das sein? Der Mann war doch tot. Das ... das ist Zauberei!«

Er verstellte sich außerordentlich gut, fand Andrej. Das Zittern in seiner Stimme hätte sogar ihn überzeugt.

»So etwas wie Zauberei gibt es nicht«, antwortete Thobias. Auch seine Stimme klang erschüttert. Er starrte den zum zweiten Mal Gestorbenen aus schreckgeweiteten Augen an, dann beugte er sich über das andere offene Grab. Sorgsam tastete er nach dem Puls des Toten, hob seine Augenlider und tat noch einige andere Dinge, die Andrej nicht genau begriff. Schließlich richtete er sich auf und sah zuerst Abu Dun und dann Andrej an.

»Es beginnt wieder«, murmelte er.

»Was beginnt wieder?«, fragte Abu Dun.

Statt zu antworten, bückte sich Thobias nach der Schaufel, die Andrej fallen gelassen hatte, und ging zu dem benachbarten frischen Grab.

»Helft mir!«

Andrej und Abu Dun tauschten einen verwunderten Blick, während Thobias bereits wie von Sinnen zu graben begann.

Auch zu dritt benötigten sie über eine Stunde, um die Gräber zu öffnen und die darin befindlichen Särge ans Tageslicht zu bringen. Die Sonne ging auf, lange bevor sie mit ihrer Arbeit fertig waren.

Die beiden ersten Särge enthielten die Leichen eines Mannes und einer Frau, die zweifellos tot waren und es auch bleiben würden.

Der Mann, der in dem letzten Sarg lag, den Andrej und Thobias aufbrachen, bot einen anderen Anblick. Einen schlimmeren Anblick.

Auch er war tot. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Und er war offenbar keines friedlichen Todes gestorben. Sein Körper lag in einer derart verkrümmten Haltung im Sarg, als wäre in allen seinen Gliedmaßen mindestens ein Knochen gebrochen. Seine Haut hing in Fetzen. Er hatte sich selbst das Gesicht zerfleischt, und alle seine Fingernägel waren zersplittert.

»Großer Gott!«, flüsterte Thobias. Er bekreuzigte sich, und auch Andrej spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. Selbst Abu Dun sog beim Anblick des Leichnams entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein.

Es musste ein entsetzlicher Todeskampf gewesen sein, dachte Andrej, der Stunden, wenn nicht Tage gedauert hatte. Der Mann musste am Schluss mit solcher Verzweiflung um sich geschlagen haben, dass es ihm tatsächlich gelungen war, eines der massiven Bretter zu zertrümmern, aus denen der Sarg bestand. Erdreich war eingedrungen und hatte seine Panik vermutlich noch gesteigert.

»Ein Toter, der im Grab wieder erwacht«, murmelte Abu Dun.

»Er war niemals tot«, antwortete Thobias. Langsam setzte er sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über das schweißnasse Gesicht. Er hinterließ eine schmierige breite Schmutzspur, ohne es überhaupt zu bemerken.

»Niemals tot?«, fragte Abu Dun. »Warum haben sie ihn dann begraben?«

»Weil sie geglaubt haben, dass er tot ist«, antwortete Thobias. »Ich habe von solchen Fällen gehört, während meines Anatomiestudiums - aber ich habe es noch nie mit eigenen Augen gesehen.« Er erschauderte sichtbar. »Mein Gott. Ich hätte nicht gedacht, dass es so grässlich ist!«

»Was soll das heißen - sie haben geglaubt, dass er tot ist?«, fragte Abu Dun.

»Ein Mensch lebt, oder er ist tot. Sein Herz schlägt, oder es schlägt nicht, so einfach ist das.«

»So einfach ist es leider nicht«, antwortete Thobias. Er sah wieder in den geöffneten Sarg hinab. Sein Gesicht war grau vor Entsetzen. Doch so sehr ihn der Anblick auch erschreckte, schien es ihm gleichzeitig kaum möglich zu sein, den Blick davon abzuwenden.

»Es kommt vor«, fuhr er fort. »Sogar öfter, als man glauben mag. Die Kranken hören scheinbar auf zu atmen. Die Körpertemperatur fällt, und das Herz schlägt nur noch unregelmäßig. Manchmal bluten sie nicht einmal mehr, wenn man in ihre Haut schneidet.«

»Das hast du dir ausgedacht«, behauptete Abu Dun. Seine Stimme zitterte leise.

»Selbst ein erfahrener Arzt hätte große Mühe festzustellen, dass diese Menschen noch leben.«, fuhr Thobias fort, ohne Abu Duns Einwurf auch nur zu beachten. Vermutlich hatte er seine Worte gar nicht gehört. Er starrte den Toten noch immer an. »Sie werden für tot befunden und beigesetzt.«

»Und wachen irgendwann wieder auf«, vermutete Andrej. »Nach Stunden, oder vielleicht auch Tagen.« Ihn schauderte. »In einem Sarg. Tief unter der Erde. Lebendig begraben. Das ist ... eine entsetzliche Vorstellung.«

Thobias nickte. »Manche haben vielleicht Glück und ersticken im Schlaf. Aber die meisten ...« Er brach ab und starrte wieder in den Sarg.

»Unvorstellbar.«

»Und danach werden sie zu lebenden Toten?«, fragte Andrej. »Von einer solchen Krankheit habe ich noch nie gehört.«

»Das hat niemand«, antwortete Thobias. »Wir wissen so wenig über den menschlichen Körper und seine Geheimnisse. Niemand weiß etwas. Auch ich nicht, Andrej. Vielleicht ist es eine Krankheit. Vielleicht auch etwas anderes. Großer Gott, vielleicht habe ich mich die ganze Zeit über geirrt, und es ist doch das Werk des Teufels.«

Andrej tauschte einen verstohlenen Blick mit Abu Dun, auf den der Nubier mit einem ebenso verstohlenen Nicken antwortete. Die Geschichte, die Thobias gerade erzählt hatte, ähnelte auf beunruhigende Weise dem, was sie von dem Zigeunermädchen gehört hatten.


»Gesetzt den Fall, es ist eine Art... Krankheit«, begann Andrej vorsichtig, »und nicht das Werk des Teufels - wieso ist die Welt dann noch nicht von Werwölfen und Vampyren bevölkert?«

Er behielt Thobias scharf im Auge, als er das Wort Vampyr aussprach, aber der Priester zeigte keine Reaktion. Er hob nur die Schultern und starrte weiter in den geöffneten Sarg hinab. »Das weiß ich nicht«, antwortete er mit leiser, beinahe tonloser Stimme. »Vielleicht ist es nur das Endstadium einer Krankheit, Andrej. Vielleicht sterben neun von zehn, vielleicht alle von tausend, bis auf einen.« Er hob in einer Geste völliger Hilflosigkeit die Hände. »Ich weiß es einfach nicht, Andrej.«

Das glaubte Andrej, aber er war dennoch erstaunt über das Ausmaß des Schreckens, der sich auf Thobias' Gesicht abzeichnete.

»Aber ist es nicht genau das, was Ihr die ganze Zeit über vermutet habt?«, fragte er.

Endlich riss Thobias den Blick vom Gesicht des Toten los und sah Andrej direkt an. »Vermutet ... ja. Vielleicht. Aber es ist ein Unterschied, etwas zu vermuten, und so etwas zu sehen.«

»Und das sagt ein Mann der Wissenschaft?«, wunderte sich Andrej.

»Wissenschaft?« Thobias lachte bitter. »Wir sind keine Männer der Wissenschaft, Andrej. Wir stümpern herum, das ist alles. Wir wissen nichts.« Er blickte wieder in den Sarg hinab. »Und vielleicht sollten wir auch manches nicht wissen.«

Der Unterton in Thobias' Stimme entging Andrej keineswegs. Der junge Prediger war nahe daran, endgültig die Kontrolle zu verlieren. Er musste irgendetwas tun, um Thobias wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen.

Jetzt.

»Wir müssen die Gräber wieder schließen«, sagte er. »Wenn Vater Benedikt und die Inquisition kommen und das hier sehen, wird es schwierig sein, ihre Fragen zu beantworten.«

»Es ist noch viel schlimmer«, sagte Thobias.

»Was soll das heißen?«

Thobias antwortete nicht sofort. »Es hat einen weiteren Toten im Dorf gegeben«, sagte er schließlich. »Gestern. Ein Bauer, der nicht von der Arbeit auf seinem Feld zurückkam. Sie haben ihn gefunden. Etwas hat ihn regelrecht in Stücke gerissen.«

Andrej sah zu den geöffneten Gräbern hin, aber Thobias schüttelte den Kopf. »Er wurde verbrannt.«

»War das Eure Idee?«

»Die meines Vaters.«

»Dann habt Ihr einen sehr klugen Vater«, sagte Andrej.

»Das habe ich«, sagte Thobias. »Aber es wird die Menschen in Trentklamm auch nicht retten. So wenig wie meinen Vater oder mich selbst.«

Sein Blick flackerte noch immer, aber er fand langsam zu seiner gewohnten Fassung zurück. »Wir könnten versuchen, Birger und seine Brut zu finden und zu töten. Vielleicht verschont Benedikt die Menschen in Trentklamm aber auch, wenn wir ihm etwas anderes geben, das er verbrennen kann. Ihr wisst, wo es sich verbirgt, Andrej.«

»In den Bergen«, sagte Andrej. »Jenseits der Schattenklamm.«

»Halt!«, mischte sich Abu Dun ein. Auf seinem Gesicht begann sich eine Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn breit zu machen, während er abwechselnd Andrej und Thobias musterte. »Nur damit ich das richtig verstehe. Ihr erwartet, dass ich dort hinaufgehe und mich diesem ... diesem Ding entgegenstelle, das ein Dutzend Soldaten getötet hat?«

»Sag mir nicht, du hättest Angst«, sagte Andrej.

»Sag du mir einen einzigen Grund, aus dem ich das tun sollte«, erwiderte Abu Dun. Er verzog die Lippen und wandte sich mit einem höhnischen Blick an Thobias. »O ja, jetzt erinnere ich mich. Immerhin habe ich lange genug Eure Gastfreundschaft genossen. Wie konnte ich das vergessen?«

»Es war nicht seine Schuld«, sagte Andrej.

Abu Dun hörte ihm gar nicht zu, und auch Thobias starrte eine geraume Weile aus blicklosen Augen an ihm vorbei ins Leere. Schließlich wandte er sich mit leiser, beinahe flehender Stimme direkt an den Nubier.

»Ich weiß, wie sehr Ihr mich hassen müsst, Abu Dun«, begann er. »Ich verlange nicht, dass Ihr mir verzeiht oder auch nur versteht, warum ich Euch das angetan habe.«

»Wie großzügig«, höhnte Abu Dun.

»Ich bitte nicht für mich«, fuhr Thobias fort. »Ich bin bereit, für das zu bezahlen, was Euch angetan wurde, Abu Dun.«

»Seid Ihr sicher?«, fragte Abu Dun. Seine Augen wurden schmal. »Die Rechnung könnte höher ausfallen, als Ihr ahnt.«

»Macht mit mir, was Ihr wollt«, sagte Thobias leise. »Ihr könnt mich töten, wenn es das ist, was Euren Rachdurst stillt. Es ist mir gleich. Ich bitte für die Menschen unten im Dorf. Wenn ich mit meinem Leben für die von hundert Unschuldigen bezahlen kann, dann soll es mir recht sein.«

»Niemand will Euren Tod«, sagte Andrej.

»Vielleicht nicht Euren Tod, Mönchlein, aber vielleicht einen Arm, oder ein Bein. Oder beides«, grollte Abu Dun.

»Abu Dun!«, rief Andrej scharf.

»Ich bitte Euch, sucht dieses Ungeheuer«, flehte Thobias. »Vernichtet es! Es ist der einzige Weg, die Menschen in Trentklamm zu retten. Und noch viele andere mehr.«

Andrej schwieg. Er sah Thobias an, dann länger und schweigend Abu Dun.

Der Nubier hielt seinem Blick lange Stand, aber schließlich schüttelte er den Kopf.

»Ich wusste ja schon immer, dass du verrückt bist, Hexenmeister.«

»Und?«, fragte Andrej. »Was meinst du damit?«

Abu Dun seufzte tief. »Ich gebe es ungern zu«, sagte er, »aber ich muss wohl ebenfalls verrückt geworden sein.«

Die Schnelligkeit, mit der sich Abu Dun erholte, war geradezu unheimlich. Sie hatten die Gräber wieder geschlossen, so weit es ihnen möglich gewesen war, Anschließend war Thobias verschwunden, um mit zwei gesattelten Pferden zurückzukommen. Zusätzlich hatte er saubere Kleider, Lebensmittel für mehrere Tage und zwei warme Kapuzenmäntel aus grober brauner Wolle mitgebracht.

»Die werdet Ihr brauchen«, erklärte er, als Abu Dun die Stirn runzelte.

»Oben in den Bergen ist es kalt. Der Schnee schmilzt dort nie.«

»Woher habt Ihr diese Kleider?«, fragte Andrej misstrauisch. Die Zeit, die Thobias fort gewesen war, hätte vielleicht ausgereicht, nach Trentklamm und zurück zu gehen und die Pferde zu holen, aber kaum, um all diese umfangreichen Vorbereitungen zu treffen.

Statt zu antworten, holte Thobias ein in Lumpen eingeschlagenes Bündel aus dem Gepäck hervor, das er Abu Dun reichte. Als der Nubier es auswickelte, kam sein eigener Krummsäbel zum Vorschein.

»Was hattet Ihr eigentlich vor?«, fragte Andrej. Er schwankte zwischen Überraschung und Wut. »Uns umzubringen, oder Euch wieder unserer Dienste zu versichern?«

Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war eine Antwort, aber er bekam sie.

Thobias zuckte mit den Achseln und wich seinem Blick aus. »Ich weiß es selbst nicht genau. Ich war ... ich weiß nicht, was ich wollte.«

»Woher wusstet Ihr überhaupt, dass wir hier sind?«, fragte Abu Dun.

»So groß ist die Auswahl an Verstecken nicht«, antwortete Thobias. »Seid froh, dass ich gekommen bin und nicht die Soldaten des Landgrafen.« Er machte eine Kopfbewegung zu den Pferden.

Andrej war nicht ganz sicher, aber er glaubte eines davon wieder zu erkennen. Wenn es nicht der Rappe war, mit dem er vor vier Tagen aus der Klosterfestung geflohen war, dann dessen Zwillingsbruder. »Ihr solltet aufbrechen. Mein Vater erwartet euch in der Almhütte. Ihr findet den Weg?«

Andrej tauschte einen überraschten Blick mit Abu Dun, nickte dann aber.

»Wozu?«

»Wir warten auf Nachricht von Vater Benedikt«, antwortete Thobias.

»Euch bleibt nur sehr wenig Zeit, um das Ungeheuer zu stellen. Vielleicht zwei Tage.«

»Wer sagt Euch, dass wir nicht einfach auf die Pferde steigen und unserer Wege gehen?«, fragte Abu Dun.

»Niemand«, antwortete Thobias. »Tut, was immer Ihr mit Eurem Gewissen vereinbaren könnt.«

»Ich bin Heide, Mönchlein«, sagte Abu Dun, während er den Mantel zurückschlug und den Krummsäbel umband. »Und ein Mohr dazu. Ich habe kein Gewissen.«

»Wir haben vor allem keine Zeit für diesen Unsinn.« Andrej drehte sich um und ging zu seinem Pferd. Er war jetzt sicher, dass es der Rappe war. Ohne ein weiteres Wort stieg er in den Sattel und wartete voller Ungeduld darauf, dass Abu Dun es ihm gleichtat. Auch der Nubier saß auf, allerdings mit bedächtiger Langsamkeit. Er warf Thobias einen herausfordernden Blick zu.

Sie ritten los. Andrej war davon ausgegangen, dass sie wegen Abu Duns Verletzungen nicht besonders schnell vorwärts kommen würden, aber das Gegenteil war der Fall. Vielleicht um seinem Ärger Ausdruck zu verleihen, legte Abu Dun ein Tempo vor, bei dem sich Andrej sputen musste, um überhaupt mithalten zu können. Erst als sie das Seitental verlassen hatten, an dessen Ende der Friedhof lag, hielt er an.

»Was sollte das?«, fragte Andrej, während er an ihm vorbeiritt und die nach rechts führende Gabelung des Weges nahm. Seine Versicherung Thobias gegenüber, den Weg zur Bergweide hinauf zu finden, war etwas zu vorschnell gewesen. Er kannte die Richtung, aber er war dennoch fremd hier, und letztendlich sah ein Baum aus wie der andere.

»Was?«, fragte Abu Dun arglos.

»Du weißt genau, was ich meine«, erwiderte Andrej. »Ich erwarte nicht, dass du Thobias in dein großes schwarzes Herz schließt...«

»Das ist gut«, sagte Abu Dun. »Ich hätte auch viel mehr Lust, ihn in meine große schwarze Faust zu schließen.«

»... aber er hat Recht, weißt du?«, fuhr Andrej fort. »Wir müssen Birger stellen. Und alle, die bei ihm sind. Und vorher müssen wir das Ungeheuer finden.«

»Du meinst, du musst ihn stellen und du musst das Ungeheuer finden«, fasste Abu Dun Andrejs Äußerung genauer zusammen.

Andrej riss mit einem so heftigen Ruck am Zügel, dass das Pferd unwillig schnaubte und den Kopf zurückwarf. »Du musst nicht mitkommen«, sagte er scharf. »Es ist ganz allein meine Sache. Ich habe kein Recht, dich in Gefahr zu bringen. Geh deiner Wege. Oder warte hier auf mich. Vielleicht komme ich ja zurück.«

Auch Abu Dun zügelte sein Pferd. Sein Gesicht verfinsterte sich - aber nur für einen Moment. Dann konnte Andrej sehen, wie sein Zorn verrauchte und etwas ... anderem Platz machte.

»Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte nicht...« Er überlegte kurz und setzte dann neu an: »Vermutlich hast du Recht. Aber ich kann diesem Mönchlein einfach nicht vertrauen. Könntest du es an meiner Stelle?«

»Wahrscheinlich nicht«, gestand Andrej. Er ritt weiter, und er konnte fast körperlich spüren, wie sich die Spannung zwischen ihnen auflöste wie die letzten Wolken eines Hochsommergewitters.

Es war nicht das erste Mal, dass sie nahezu grundlos in Streit zu geraten drohten.

Bisher hatte Andrej angenommen, dass es an Abu Duns Zustand lag. Ein Mann, der dem Tod so knapp entkommen war, war nicht sehr duldsam.

Aber das war nur ein Teil der Wahrheit. Der andere - unangenehmere - war, dass auch er ungerechter geworden war. Er veränderte sich weiter.

Nachdem sie eine geraume Weile schweigend nebeneinander hergeritten waren, ergriff Abu Dun erneut das Wort. »Was ich vor ein paar Tagen gesagt habe, Andrej ... dass ... dass du mir etwas schuldig bist...«

»Ich sagte dir doch bereits, das ist vergessen«, unterbrach ihn Andrej. »Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast im Fieber geredet. Da reden die Leute oft wirres Zeug.«

»Aber es war die Wahrheit«, sagte Abu Dun leise.

Andrej wandte den Kopf und sah ihn an. Abu Dun wirkte nicht niedergeschlagen oder verlegen, und auch sein Tonfall war nicht der einer Rechtfertigung. Er wirkte sehr ernst.

»Was soll das heißen?«

»Jedenfalls war das am Anfang so«, sagte Abu Dun. »Das ist die Wahrheit, Hexenmeister. Ich bin damals bei dir geblieben, weil ich insgeheim die Hoffnung hatte, eines Tages so zu werden wie du.«

»Einsam?«, fragte Andrej. »Immer gehetzt? Ohne einen Ort, an den ich gehöre, oder einen Menschen, den ich lieben kann?«

»He!«, wandte Abu Dun ein. »Du hast doch mich. Ich sollte dir böse sein.«

»Zwecklos«, antwortete Andrej. »Stell dir nur vor, wie unsere Kinder aussehen würden.«

Abu Dun blieb ernst. »Wie alt bist du, Hexenmeister? Sechzig? Siebzig?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Ungefähr.«

»Und du siehst aus wie dreißig.«, sagte Abu Dun. »Eines Tages wirst du sechs- oder siebenhundert Jahre alt sein, und du wirst immer noch aussehen wie fünfunddreißig. Du wirst nie krank. Deine Wunden heilen wie durch Zauberei, und du bist so stark wie zehn Männer. Kannst du es einem Mann verdenken, dass er auch so werden will?«

Vermutlich hätte Andrej an Abu Duns Stelle nicht anders gedacht.

Niemand, der ein solches Leben nicht selbst gelebt hatte, konnte ermessen, welchen Preis er dafür zahlte.

»Und jetzt?«, fragte er. »Jetzt willst du nicht mehr so werden wie ich?«

»Natürlich will ich das«, antwortete Abu Dun. »Und eines Tages werde ich dich dazu bringen, es zu tun, Hexenmeister. Aber nicht jetzt.«

»Dann ist es ja gut«, sagte Andrej abweisend. Er mochte diese Gespräche nicht, und Abu Dun wusste das. Eines Tages würde Abu Dun in seinen Armen sterben, hoffentlich erst in vielen Jahren, grau geworden und friedlich.

Und auch er selbst würde nicht sechs- oder siebenhundert Jahre alt werden.

Er würde auf dem Scheiterhaufen enden, wenn er nicht Glück hatte und zuvor einem Schwert begegnete, das besser geführt wurde als das seine. Die Welt war nun einmal so. Er war anders, und die Menschen und das Schicksal billigten auf Dauer nichts, was sie nicht verstehen konnten und was ihnen Angst machte.

Er verscheuchte den Gedanken. Im Moment gab es anderes zu tun. Vielleicht sollten sie versuchen, die nächsten drei Tage zu überleben, und sich danach Gedanken um die nächsten drei Jahrhunderte machen.

Allmählich ritten sie höher in die Berge hinauf. Es wurde kälter, obwohl die Sonne ihr Licht mit geradezu verschwenderischer Freigebigkeit über den Himmel verteilte. Andrej war schon bald froh, dass Thobias ihnen die warmen Mäntel gegeben hatte. Dabei war das Land rings um sie herum noch grün. Der Winter kam früher in diesem Teil der Welt, als er es gewohnt war.

»Was ist mit Ludowig?«, fragte Abu Dun. »Traust du ihm?«

»Thobias' Vater?« Andrej dachte über diese Frage nach, ohne zu einer wirklichen Antwort zu gelangen. Er hob die Schultern. »Ich denke schon.«

»Einem Pfaffen?« Abu Dun schüttelte ungläubig den Kopf. »Ausgerechnet du traust einem Kuttenträger? Wie kommt das?«

Sie hatten die Bergwiese erreicht. Statt einer Antwort machte Andrej eine Kopfbewegung zu der kleinen Hütte an ihrem jenseitigen Rand hin. »Er wartet dort drüben auf uns.«

Abu Dun sah ihn mit wachsender Verwunderung an, aber er beließ es bei einem Achselzucken. Sein Blick verharrte noch einen Moment auf Andrejs Gesicht und begann dann misstrauisch das weite Grün der Alm abzutasten.

Sie ritten weiter. Nichts schien sich geändert zu haben, seit Andrej das letzte Mal hier gewesen war; selbst die Kühe waren noch da. Neben der Hütte war jedoch jetzt ein Maulesel angebunden, auf dessen Rücken eine zerschlissene Decke lag. Vermutlich das Tier, mit dem Vater Ludowig gekommen war, obgleich die Vorstellung Ludowigs auf dem Rücken eines störrischen Maulesels Andrej ein Lächeln abrang.

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