2. Jill wird eine Aufgabe erteilt

Ohne einen Blick auf Jill erhob sich der Löwe und blies ein letztes Mal. Dann, als wäre er mit seiner Arbeit zufrieden, drehte er sich um und tapste langsam zurück in den Wald.

Es muss ein Traum sein, ganz bestimmt, sagte sich Jill. Ich werde jeden Moment aufwachen. Aber es war kein Traum und sie wachte auch nicht auf.

Ich wollte, wir wären nie an diesen schrecklichen Ort gekommen, dachte sie. Ich glaube, Eustachius wusste auch nicht mehr darüber als ich. Und wenn er das tat, dann hätte er mich nie hier herbringen dürfen ohne mich zu warnen. Es war nicht meine Schuld, dass er von dem Felsen gestürzt ist. Hätte er mich in Ruhe gelassen, wäre keinem von uns etwas passiert. Dann fiel ihr wieder der Schrei ein, den Eustachius ausgestoßen hatte, als er abgestürzt war, und sie brach in Tränen aus.

Weinen ist auf seine Art ganz gut, solange es anhält. Aber früher oder später muss man aufhören und dann muss man sich doch entschließen etwas anderes zu tun. Als Jill aufhörte, merkte sie, dass sie schrecklich durstig war. Sie hatte mit dem Gesicht nach unten gelegen und jetzt stand sie auf. Die Vögel hatten aufgehört zu singen und es herrschte vollkommene Stille, abgesehen von einem leisen, beharrlichen Geräusch, das von weit her zu kommen schien. Sie lauschte aufmerksam und war fast sicher, dass es das Geräusch von fließendem Wasser war.

Jill stand auf und sah sich aufmerksam um. Von dem Löwen fehlte jede Spur; aber es gab so viele Bäume und es war durchaus möglich, dass er sich ganz in der Nähe befand und sie ihn nur nicht sah. Vielleicht gab es sogar mehrere Löwen. Aber ihr Durst war inzwischen so schlimm, dass sie ihren ganzen Mut zusammennahm und sich aufmachte das Wasser zu finden. Sie ging auf Zehenspitzen, schlich vorsichtig von Baum zu Baum und blieb nach jedem Schritt stehen um sich umzusehen.

Im Wald war es so still, dass es nicht schwierig war, dem Geräusch nachzugehen. Es wurde immer lauter und früher als erwartet kam sie zu einer Lichtung und sah den Bach, der funkelnd wie Glas kaum einen Steinwurf entfernt die Grasfläche durchschnitt. Aber obwohl sie jetzt, wo sie das Wasser sah, noch zehnmal durstiger war als zuvor, rannte sie nicht darauf zu um zu trinken. Sie stand mit weit geöffnetem Mund so regungslos da, als hätte man sie in Stein verwandelt. Und dafür hatte sie auch guten Grund, denn genau vor ihr am Bach lag der Löwe.

Er hatte den Kopf erhoben und seine beiden Vorderpfoten vor sich gelegt, genau wie die Löwen auf dem Trafalgar Square. Jill wusste, dass er sie gesehen hatte, denn seine Augen schauten einen Augenblick lang geradewegs in die ihren und wandten sich dann ab – so als würde er sie recht gut kennen und nicht sehr viel von ihr halten.

Wenn ich wegrenne, ist er im nächsten Moment hinter mir her, dachte Jill. Und wenn ich weitergehe, renne ich ihm geradewegs in den Rachen. Sowieso hätte sie sich nicht rühren können, selbst wenn sie es versucht hätte. Sie schaffte es auch nicht, die Augen von ihm zu wenden. Sie wusste nicht sicher, wie lange das andauerte, aber es erschien ihr wie Stunden. Und ihr Durst wurde so schlimm, dass es ihr fast schon egal war, ob der Löwe sie fraß, wenn sie nur einen Schluck Wasser bekam.

»Wenn du durstig bist, darfst du trinken.«

Das waren die ersten Worte, die sie hörte, seit Eustachius abgestürzt war. Eine Sekunde lang starrte sie hierhin und dorthin und fragte sich, wer da wohl gesprochen haben mochte. Dann sagte die Stimme noch einmal: »Wenn du durstig bist, komm her und trink«, und jetzt erinnerte sie sich, dass Eustachius ihr gesagt hatte, in dieser anderen Welt könnten die Tiere sprechen. Und da wurde ihr klar, dass es der Löwe sein musste, der da sprach. Außerdem hatte sie diesmal gesehen, dass sich seine Lippen bewegt hatten. Auch war die Stimme nicht wie die eines Menschen. Sie war tiefer, wilder und kraftvoller; es war so etwas wie eine schwere, goldene Stimme. Zwar nahm sie ihr nicht die Angst, aber die Angst veränderte sich.

»Bist du nicht durstig?«, fragte der Löwe.

»Ich sterbe vor Durst«, antwortete Jill.

»Dann trink«, sagte der Löwe.

»Darf ich – kann ich – würde es dir etwas ausmachen, so lange wegzugehen?«, fragte Jill.

Der Löwe beantwortete dies lediglich mit einem Blick und einem sehr tiefen Brummen. Und als Jill seinen regungslosen Körper anschaute, wurde ihr klar, dass sie genauso gut den ganzen Berg hätte bitten können zu ihrer Bequemlichkeit beiseite zu rücken.

Das köstliche Plätschern des Baches trieb sie fast zum Wahnsinn.

»Versprichst du, mir nichts zu tun?«, fragte Jill.

»Ich verspreche nichts«, entgegnete der Löwe.

Jill war inzwischen so durstig, dass sie einen Schritt näher gekommen war ohne es zu merken.

»Frisst du Mädchen?«, fragte sie.

»Ich habe Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, Könige und Kaiser, Städte und Länder verschlungen«, sagte der Löwe. Er sagte das nicht so, als wollte er damit angeben, und auch nicht so, als täte es ihm Leid oder als sei er ärgerlich. Er sagte es nur einfach so.

»Ich traue mich nicht«, sagte Jill.

»Dann wirst du verdursten«, entgegnete der Löwe.

»Oje!« Jill kam noch einen Schritt näher. »Dann muss ich mich wohl auf den Weg machen und einen anderen Bach suchen.«

»Es gibt keinen anderen Bach«, sagte der Löwe.

Jill kam nicht auf den Gedanken, die Worte des Löwen anzuzweifeln – niemand, der sein ernstes Gesicht gesehen hatte, tat das –, und so fasste sie plötzlich einen Entschluss. Es war das Schlimmste, was sie jemals hatte tun müssen, aber sie trat vor zum Bach, kniete sich nieder und begann mit der Hand Wasser zu schöpfen. Es war das kälteste und erfrischendste Wasser, das sie je gekostet hatte. Man brauchte nicht viel davon zu trinken, denn es löschte sofort, den Durst. Vor dem Trinken hatte sie vorgehabt sofort wegzurennen, sobald sie getrunken hatte. Jetzt wurde ihr klar, dass dies sicher das Gefährlichste war, was sie tun konnte. Sie stand auf und blieb stehen. Ihre Lippen waren noch feucht vom Wasser.

»Komm her«, befahl der Löwe. Und sie musste ihm gehorchen. Sie stand jetzt fast zwischen seinen Vorderpfoten und schaute ihm geradewegs ins Gesicht. Doch lange hielt sie das nicht aus. Sie senkte die Augen.

»Menschenkind«, sagte der Löwe, »wo ist der Junge?«

»Er stürzte vom Felsen«, antwortete Jill und fügte hinzu: »Herr.« Sie wusste nicht, wie sie ihn sonst hätte anreden sollen, und es klang unhöflich, gar keine Anrede zu benutzen.

»Wie ist das passiert, Menschenkind?«

»Er hat versucht mich vor dem Hinunterstürzen zu bewahren, Herr.«

»Warum standest du so nah am Rand, Menschenkind?«

»Ich wollte angeben, Herr.«

»Das ist eine sehr gute Antwort, Menschenkind. Tu es nicht wieder. Und nun« – und jetzt wurde das Gesicht des Löwen zum ersten Mal ein wenig weicher – »der Junge ist in Sicherheit. Ich habe ihn nach Narnia geblasen. Aber durch das, was du getan hast, wird deine Aufgabe schwerer werden.«

»Welche Aufgabe bitte, Herr?«, fragte Jill.

»Die Aufgabe, um derentwillen ich dich und ihn aus eurer Welt gerufen habe.«

Das verwirrte Jill sehr. Er muss mich mit jemandem verwechseln, dachte sie. Sie wagte nicht dies dem Löwen zu sagen, obwohl sie das Gefühl hatte, es müsse ein schreckliches Durcheinander geben, falls sie es ihm nicht sagte.

»Sprich aus, was du denkst, Menschenkind«, sagte der Löwe.

»Ich habe überlegt ... ich meine ... liegt da vielleicht ein Irrtum vor? Weißt du, uns hat nämlich keiner gerufen. Wir haben darum gebeten, hierher kommen zu dürfen. Eustachius sagte, wir müssten ... einen Namen rufen – jemand, den ich nicht kannte – und dieser Jemand würde uns vielleicht hierher kommen lassen. Und das taten wir und dann fanden wir die Tür offen.«

»Ihr hättet mich nicht gerufen, wenn ich euch nicht gerufen hätte«, erklärte der Löwe.

»Dann bist du also dieser Jemand, Herr?«, fragte Jill.

»Das bin ich. Und dies ist deine Aufgabe. Weit von hier im Lande Narnia lebt ein betagter König. Er ist traurig, weil es keinen Prinzen seines Blutes gibt, der nach ihm König werden könnte. Er hat keinen Erben, weil ihm sein einziger Sohn vor vielen Jahren geraubt wurde und keiner in Narnia weiß, wo sich dieser Prinz aufhält und ob er noch am Leben ist. Doch das ist er. Ich gebe dir den Auftrag, nach dem verlorenen Prinzen zu suchen, bis du ihn gefunden und zum Haus seines Vaters gebracht hast; oder bis du bei diesem Versuch dein Leben lassen musstest oder in deine eigene Welt zurückgekehrt bist.«

»Wie soll ich vorgehen, bitte?«, fragte Jill.

»Ich werde es dir sagen, Kind«, begann der Löwe. »Dies sind die Zeichen, durch die ich dich bei deiner Suche leiten werde. Erstens: Sobald der Junge namens Eustachius seinen Fuß auf Narnia setzt, wird er einen lieben alten Freund treffen. Diesen Freund muss er sogleich begrüßen; wenn er dies tut, wird euch wertvolle Hilfe zuteil werden. Zweitens: Ihr müsst aus Narnia hinaus nach Norden gehen, bis ihr zur Ruinenstadt der alten Riesen kommt. Drittens: Ihr werdet auf einem Stein der Ruinenstadt Worte geschrieben finden und ihr müsst befolgen, was euch diese Worte auftragen. Viertens: Ihr werdet den verschollenen Prinzen – sofern ihr ihn findet – daran erkennen, dass er die erste Person auf eurer Reise sein wird, die euch bittet, in meinem Namen – im Namen Aslans – etwas Bestimmtes zu tun.«

Da der Löwe geendet zu haben schien, hatte Jill das Gefühl, sie müsse etwas sagen. So sagte sie: »Vielen herzlichen Dank. Ich verstehe.«

»Kind«, erwiderte Aslan mit sanfterer Stimme als bisher, »vielleicht verstehst du nicht so gut, wie du meinst. Aber der erste Schritt ist, dir alles gut zu merken. Wiederhole die vier Zeichen in der richtigen Reihenfolge.«

Jill versuchte es, aber es gelang ihr nicht so recht. Der Löwe korrigierte sie und ließ Jill die Zeichen wieder und wieder aufsagen, bis Jill sie fehlerfrei wiederholen konnte. Er war sehr geduldig und so fasste Jill anschließend den Mut, ihn zu fragen:

»Bitte, wie komme ich nach Narnia?«

»Auf meinem Atem«, sagte der Löwe. »Ich werde dich in den Westen der Welt blasen, so wie ich Eustachius in den Westen geblasen habe.«

»Werde ich ihn rechtzeitig einholen um ihm das erste Zeichen zu nennen? Aber ich nehme an, dass dies nicht so wichtig ist. Wenn er einen alten Freund trifft, wird er doch sicher hingehen und ihn begrüßen, oder nicht?«

»Du hast keine Zeit zu verlieren«, sagte der Löwe. »Deshalb muss ich dich sofort losschicken. Komm. Geh vor mir her zum Rand des Felsens.«

Jill wusste sehr wohl, dass es ihre eigene Schuld war, dass die Zeit drängte. Wenn ich mich nicht so dumm angestellt hätte, würden Eustachius und ich jetzt zusammen gehen. Und er hätte genau wie ich die Anweisungen erhalten, dachte sie. Deshalb tat sie, was man ihr befohlen hatte. Es war sehr beängstigend, zum Felsrand zurückzugehen, vor allem weil der Löwe nicht neben ihr, sondern hinter ihr ging – völlig geräuschlos auf seinen samtenen Pfoten.

Aber lange bevor sie den Rand erreicht hatte, sagte die Stimme hinter ihr: »Steh still. Gleich werde ich blasen. Aber zuerst: Vergiss die Zeichen nicht, vergiss die Zeichen nicht. Sag sie vor dich hin, wenn du am Morgen aufstehst, wenn du dich am Abend niederlegst und wenn du mitten in der Nacht erwachst. Und welch seltsame Dinge dir auch zustoßen mögen – lass dich nicht davon abbringen, den Zeichen zu folgen. Und zweitens will ich dich warnen. Hier auf dem Berg habe ich klar zu dir gesprochen: Das werde ich unten in Narnia nicht oft tun. Hier auf dem Berg ist die Luft klar und klar ist auch dein Geist; weiter unten wird die Luft dicker. Hüte dich davor, dass sie deinen Geist verwirrt. Und die Zeichen, die du hier gelernt hast, werden dort, wenn du ihnen begegnest, ganz und gar nicht so aussehen, wie du erwartet hast. Deshalb ist es so wichtig, sie auswendig zu wissen und auf den äußeren Anschein nicht zu achten. Merke dir die Zeichen und glaube an sie. Alles andere ist unwichtig. Und nun, Tochter Evas, leb wohl ...«

Die Stimme war am Ende immer leiser geworden und jetzt verstummte sie ganz. Jill sah sich um. Zu ihrem Erstaunen lag die Felsspitze schon mehr als hundert Meter hinter ihr und der Löwe war nur noch ein leuchtend goldener Fleck am Felsenrand. Sie hatte in Erwartung eines schrecklichen Atemstoßes des Löwen die Zähne zusammengebissen und die Fäuste geballt; aber in Wirklichkeit war der Atem so sanft gewesen, dass sie nicht einmal gemerkt hatte, wie sie vom Boden abgehoben war. Und jetzt lag unter ihr Tausende und Abertausende Meter weit nichts als Luft.

Sie hatte nur einen Augenblick lang Angst. Zum einen lag die Welt unter ihr so weit weg, dass sie nichts mit ihr zu tun zu haben schien. Und zum anderen war es unbeschreiblich schön, auf dem Atem des Löwen zu schweben. Sie merkte, dass sie auf dem Rücken und auf dem Bauch liegen und sich nach allen Richtungen bewegen konnte, genau wie im Wasser (wenn man gelernt hat, sich auf dem Wasser mühelos treiben zu lassen). Und weil sie sich mit der Geschwindigkeit des Atems bewegte, spürte sie keinen Wind und die Luft war herrlich warm. Es war ganz und gar nicht so wie in einem Flugzeug, denn es gab keinen Lärm und keine Vibrationen. Wenn Jill jemals mit einem Ballon geflogen wäre, so hätte sie es eher damit verglichen; nur war das hier viel schöner.

Als sie jetzt zurückblickte, sah sie zum ersten Mal, wie groß der Berg war, den sie gerade hinter sich ließ. Sie fragte sich, warum so ein riesiger Berg nicht mit Schnee und Eis bedeckt war ... Aber ich nehme an, dass in dieser Welt viele Dinge anders sind, dachte Jill. Dann blickte sie unter sich; aber sie war so hoch oben, dass sie nicht erkennen konnte, ob unter ihr Land oder Wasser lag und mit welcher Geschwindigkeit sie dahinflog.

»Meine Güte! Die Zeichen!«, rief Jill plötzlich. »Ich muss sie wiederholen.« Eine Sekunde lang oder zwei ergriff sie Panik, aber dann stellte sie fest, dass sie die Zeichen noch immer richtig aufsagen konnte. Also brauche ich mir darüber keine Sorgen zu machen, dachte sie und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer in die Luft zurück, als wäre sie ein Sofa.

Also mir scheint, sagte sich Jill ein paar Stunden später, ich habe geschlafen. So was – auf Luft zu schlafen. Ob das wohl vor mir schon einmal jemand getan hat? Ich glaube nicht. Verflixt – Eustachius vermutlich! Auf der gleichen Strecke, nur einige Zeit vor mir. Mal sehen, wie es unter mir aussieht.

Was sie sah, war eine riesige, ganz dunkelblaue Ebene. Keine Berge waren zu sehen, aber große weiße Dinger schwebten darüber hinweg. Das müssen Wolken sein, dachte sie. Aber sie sind viel größer als die, welche wir vom Felsen oben gesehen haben. Ich nehme an, sie sind deshalb größer, weil sie näher sind. Ich muss an Höhe verlieren. Diese verdammte Sonne!

Die Sonne, die zu Anfang ihrer Reise hoch über ihr gestanden hatte, schien ihr jetzt in die Augen. Das bedeutete, dass die Sonne vor ihr nach unten wanderte. Eustachius hatte Recht, wenn er sagte, Jill hätte nicht viel Ahnung von den Himmelsrichtungen (ob das allerdings ganz allgemein auf Mädchen zutrifft, weiß ich nicht). Andernfalls wäre ihr klar geworden, dass sie fast kerzengerade nach Westen schwebte, als ihr die Sonne in die Augen schien.

Während sie auf die blaue Ebene unter sich starrte, bemerkte sie, dass da und dort kleine Flecken in einer strahlenderen, helleren Farbe zu sehen waren. Es ist das Meer!, dachte Jill. Ich glaube, das sind Inseln. Und so war es auch. Jill wäre vielleicht neidisch geworden, hätte sie gewusst, dass Eustachius einige dieser Inseln schon einmal vom Deck eines Schiffes aus gesehen und manche sogar betreten hatte; doch sie wusste es nicht. Dann, etwas später, sah sie, dass sich die blaue Ebene kräuselte und Fältchen warf. Wenn man sich da unten befand, waren diese Fältchen sicher große Wellen. Und nun tauchte am Horizont ein breites, dunkles Band auf, das so rasch breiter und dunkler wurde, dass man es richtiggehend wachsen sah. Das war das erste Zeichen, an dem Jill ablesen konnte, wie rasch sie dahinflog. Sie wusste, dass das breiter werdende Band Land sein musste.

Plötzlich kam von links (denn der Wind wehte vom Süden her) eine große weiße Wolke auf Jill zugejagt, diesmal auf gleicher Höhe wie sie selbst. Und bevor sie wusste, wie ihr geschah, befand sie sich inmitten des kalten, nassen Nebels. Er nahm ihr den Atem, doch schon einen Augenblick später schwebte sie wieder blinzelnd hinaus ins Sonnenlicht. Ihre Kleider waren ganz feucht. (Sie hatte einen Blazer an, einen Pullover, Hosen, Strümpfe und feste Schuhe – in England war es nass und schlammig gewesen an diesem Tag.) Sie hatte an Höhe verloren, als sie wieder aus der Wolke hinauskam. Gleich darauf bemerkte sie etwas, worauf sie, wie ich meine, eigentlich hätte gefasst sein müssen, doch es kam so überraschend, dass sie erschrak. Und zwar waren es Geräusche. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie in vollkommener Stille dahingeschwebt. Jetzt hörte sie zum ersten Mal das Brausen der Wellen und das Geschrei von Seemöwen. Und dann roch sie auch das Meer. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr an der Geschwindigkeit, mit der sie dahinflog. Sie sah, wie zwei Wellen klatschend und schäumend aufeinander trafen, aber kaum hatte sie das gesehen, lag die Stelle auch schon hundert Meter hinter ihr.

Das Land kam rasch näher. Weit im Inland sah sie Berge, andere Berge lagen etwas näher zu ihrer Linken. Sie erkannte Buchten und Landzungen, Wälder und Felder und Streifen sandiger Küste. Das Tosen der Wellen, die sich am Ufer brachen, wurde immer lauter und übertönte die anderen Geräusche des Meeres.

Plötzlich öffnete sich genau vor ihr das Land. Jill näherte sich einer Flussmündung. Sie flog jetzt sehr niedrig, nur noch ein paar Meter über dem Wasser. Der Kamm einer Welle traf sie am Zeh, riesige Schaummassen spritzten hoch und durchnässten sie fast bis zur Hüfte. Jetzt verlor sie an Geschwindigkeit. Statt den Fluss hinaufgetragen zu werden, glitt sie an das Flußufer zu ihrer Linken. Es gab so viel zu sehen, dass sie kaum in der Lage war, alles aufzunehmen: Da war ein weicher grüner Rasen, ein Schiff in solch leuchtenden Farben, dass es aussah wie ein riesiges Schmuckstück, Türme und Zinnen, flatternde Fahnen, eine Menschenmenge, bunte Kleider, Rüstungen, Gold, Schwerter. Musik erklang. Alles war sehr verwirrend. Das Erste, was sie klar zur Kenntnis nahm, war, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte und sich unter dichten Bäumen nahe am Flussufer befand. Und da, einen Meter von ihr entfernt, stand Eustachius.

Als Erstes kam ihr der Gedanke, wie schmutzig, wie unordentlich und unbedeutend er doch alles in allem aussah. Und als Zweites dachte sie: Wie nass ich bin!

Загрузка...