C. S. Lewis Der silberne Sessel

1. Hinter der Turnhalle

Es war ein trüber Herbsttag und Jill weinte hinter der Turnhalle.

Sie weinte, weil man sie tyrannisiert hatte. Dies soll keine Schulgeschichte werden und deshalb will ich über Jills Schule – die kein sehr schönes Thema abgibt – nicht viel sagen. Es war ein gemischtes Internat, das also sowohl Jungen als auch Mädchen beherbergte, und manche sagten, es sei längst nicht so »gemischt« wie die Köpfe der Leute, die es leiteten. Diese Leute meinten nämlich, man müsse die Jungen und Mädchen alles tun lassen, was ihnen Spaß machte. Und zehn oder fünfzehn der älteren Jungen und Mädchen machte es leider am meisten Spaß, die anderen zu tyrannisieren. So spielten sich dort schreckliche Sachen ab, die man an jeder normalen Schule schon bald entdeckt und verboten hätte. Doch hier geschah das nicht. Und selbst wenn etwas herauskam, warf man die Beteiligten nicht etwa hinaus oder bestrafte sie. Die Schulleiterin sagte dann nur, es wären psychologisch interessante Fälle. Sie ließ die Missetäter holen und unterhielt sich stundenlang mit ihnen. Und wenn man wusste, wie man mit ihr reden musste, war man hinterher sogar noch beliebter bei ihr als zuvor.

Und deshalb stand Jill an diesem trüben Herbsttag auf dem feuchten kleinen Pfad, der zwischen der Rückseite der Turnhalle und dem angrenzenden Gebüsch verlief, und weinte. Sie hatte sich noch nicht ausgeweint, als ein Junge pfeifend und mit den Händen in den Hosentaschen um die Ecke der Turnhalle kam und um ein Haar mit ihr zusammenprallte.

»Kannst du nicht aufpassen?«, fragte Jill.

»Schon gut«, meinte der Junge. »Du brauchst dich nicht ...« Dann sah er ihr Gesicht. »Oje, Jill«, sagte er. »Was ist denn los?« Jill verzog das Gesicht, als wollte sie gleich wieder anfangen zu weinen.

»Es waren vermutlich wieder die – wie immer«, bemerkte der Junge grimmig und versenkte die Hände noch tiefer in den Taschen.

Jill nickte. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Sie wussten beide Bescheid.

»Hör mal«, sagte der Junge. »Es hat keinen Zweck, wenn wir.«

Er meinte es gut, aber es sah ganz danach aus, als wollte er ihr eine Predigt halten. Jill wurde plötzlich wütend (was ganz verständlich ist, wenn man mitten im Weinen unterbrochen wird).

»Ach, lass mich in Ruhe und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!«, sagte sie. »Keiner hat dich hergebeten, oder? Es ist wirklich ganz reizend von dir, mir zu erklären, was wir tun sollen! Vermutlich meinst du, wir sollten denen in den Hintern kriechen, ihnen Gefallen tun und um sie herumschwänzeln, so wie du das machst!«

»Ach Gott!«, seufzte der Junge, setzte sich auf die grasbewachsene Böschung vor das Gebüsch und stand rasch wieder auf, weil der Boden klitschnass war. Er hatte das Pech, Eustachius Knilch zu heißen, aber ansonsten war er ganz nett.

»Jill!«, sagte er. »Das ist nicht fair! Habe ich in diesem Quartal irgendetwas Derartiges getan? Habe ich mich nicht wegen des Kaninchens gegen Carter gestellt? Und habe ich nicht in der Sache mit Spivvins dichtgehalten – sogar als man mich gefoltert hat? Und habe ich nicht.«

»Ich w-weiß nicht und es ist mir auch egal«, schluchzte Jill.

Eustachius sah, dass sie noch völlig außer sich war, und so bot er ihr vernünftigerweise ein Pfefferminzbonbon an. Er nahm auch eines. Kurz darauf sah Jill schon um einiges klarer.

»Tut mir Leid, Eustachius«, sagte sie. »Das war nicht fair. Du hast ja wirklich all diese Dinge getan – in diesem Schulquartal.«

»Dann vergiss die Zeit davor«, bat Eustachius. »Damals war ich noch ganz anders. Ich war – puh! Was war ich doch für ein Scheusal!«

»Ehrlich, das warst du«, bestätigte Jill.

»Du glaubst also, dass ich mich geändert habe?«, fragte Eustachius.

»Nicht nur ich«, antwortete Jill. »Das sagen alle. Selbst sie haben es gemerkt. Eleanor hat gestern in unserem Umkleidesaal gehört, wie Adela darüber sprach. Sie sagte: irgendjemand hat diesen Knilch beeinflusst. Mit ihm ist in diesem Schulquartal nichts anzufangen. Wir müssen uns demnächst um ihn kümmern.««

Eustachius schüttelte sich. Alle in der Experimentalschule wussten, was es bedeutete, wenn die sich »um jemand kümmerten«.

Beide Kinder schwiegen ein Weilchen. Von den Blättern des Lorbeerbusches fielen die Tropfen.

»Warum warst du im letzten Schulquartal so anders?«, fragte Jill dann.

»In den Ferien sind mir eine Menge komische Sachen passiert«, sagte Eustachius geheimnisvoll.

»Was für Sachen?«, wollte Jill wissen.

Eustachius antwortete lange nicht. Dann sagte er: »Schau mal, Jill, du und ich, wir verabscheuen doch diese Schule hier aus tiefstem Herzen, oder?«

»Ich ganz bestimmt«, erklärte Jill.

»Ich glaube, dann kann ich dir vertrauen.«

»Verdammt nett von dir«, meinte Jill.

»Ja, aber es ist wirklich ein ganz ungeheures Geheimnis. Jill, kannst du Dinge glauben, über die jeder andere lachen würde?«

»Ich hatte bisher noch nie Gelegenheit dazu«, sagte Jill. »Aber ich meine schon.«

»Könntest du mir glauben, wenn ich dir sagte, ich sei in den letzten Ferien in einer anderen Welt gewesen?«

»Ich weiß nicht, was du damit meinst.«

»Na ja, vergessen wir das mit der Welt. Nimm mal an, ich würde dir erzählen, ich sei an einem Ort gewesen, wo die Tiere sprechen können und wo es – hm – Zauberwesen und Drachen und – nun, all die Dinge gibt, von denen man im Märchen liest.« Eustachius war schrecklich verlegen, als er dies sagte, und wurde rot.

»Wie bist du dort hingekommen?«, fragte Jill. Auch sie war ganz verlegen.

»Auf dem einzig möglichen Weg – durch Zauberei«, antwortete Eustachius fast flüsternd. »Ich war mit meiner Kusine und meinem Vetter zusammen und wir wurden einfach weggezaubert. Sie waren schon vorher dort gewesen.«

Jetzt, wo sie sich flüsternd unterhielten, war es für Jill irgendwie leichter, ihm zu glauben. Dann kam ihr plötzlich ein schrecklicher Verdacht und sie sagte so wild, dass sie einen Augenblick lang wie eine Tigerin aussah:

»Wenn du dich über mich lustig machst, dann rede ich nie mehr mit dir – nie mehr, nie mehr, nie mehr!«

»Das tu ich nicht«, erklärte Eustachius. »Ich schwöre es dir. Ich schwöre es bei – bei allem.«

»Gut«, sagte Jill. »Ich glaube dir.«

»Und du erzählst es keinem weiter?«

»Wofür hältst du mich?«

Während dieser Unterhaltung hatten sie beide vor Aufregung rote Ohren bekommen. Aber als sich Jill dann umschaute und den trüben Herbsthimmel sah und das Tropfen der Blätter hörte und an die schreckliche Schule dachte (das Schulquartal hatte dreizehn Wochen und elf lagen noch vor ihr), seufzte sie:

»Aber was nutzt es denn schon? Wir sind nicht dort: Wir sind hier. Und wir können auch nicht hin. Oder doch?«

»Darüber habe ich gerade nachgedacht«, antwortete Eustachius. »Als wir von dort zurückkamen, da sagte ein gewisser Jemand, Lucy und Edmund – das sind meine Kusine und mein Vetter – könnten nie mehr hin. Sie waren nämlich schon dreimal dort und mehr stand ihnen vermutlich nicht zu. Aber dieser Jemand sagte nicht, ich dürfe auch nicht mehr hin. Und so muss ich immer daran denken, können wir – könnten wir ...?«

»Meinst du, wir sollten etwas Bestimmtes tun, damit es geschieht?« Eustachius nickte.

»Meinst du, wir sollten einen Kreis auf die Erde malen – und mit komischen Buchstaben etwas hineinschreiben – und uns in den Kreis stellen – und Zauberformeln aufsagen?«

»Nun«, sagte Eustachius, nachdem er ein Weilchen angestrengt nachgedacht hatte. »Ich glaube, so etwas Ähnliches habe ich mir vorgestellt. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir, dass dieser ganze Hokuspokus Mist ist. Ich glaube nicht, dass ihm so etwas gefällt. Eigentlich können wir ihn nur persönlich darum bitten.«

»Wer ist diese Person, von der du dauernd redest?«

»Dort wird er Aslan genannt«, antwortete Eustachius.

»Was für ein eigenartiger Name!«

»Der Name ist längst nicht so eigenartig wie Aslan selbst«, erklärte Eustachius feierlich. »Aber komm! Es kann nicht schaden, ihn zu fragen. Wir stellen uns Seite an Seite auf. Und dann strecken wir die Arme nach vorne, mit den Handflächen nach unten: So, wie sie es auf der Insel Ramandus getan haben

»Wessen Insel?«

»Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Und vermutlich sollten wir uns nach Osten wenden. Warte mal, wo ist Osten?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jill.

»Es ist komisch, dass die Mädchen nie die Himmelsrichtungen kennen«, stellte Eustachius fest.

»Du kennst sie ja auch nicht«, erwiderte Jill empört.

»Doch, das tue ich – wenn du nur aufhören würdest mich dauernd zu unterbrechen. Jetzt hab ich's. Dort ist Osten, da wo die Lorbeerbüsche stehen. Also, sprichst du mir die Worte nach?«

»Welche Worte?«, fragte Jill.

»Die Worte, die ich dir vorsage, natürlich«, antwortete Eustachius. »Also ...«

Und er begann: »Aslan, Aslan, Aslan!«

»Aslan, Aslan, Aslan«, wiederholte Jill.

»Bitte lass uns beide nach.«

In diesem Augenblick ertönte eine Stimme von der anderen Seite der Turnhalle her. »Jill Pole? Ja. Ich weiß, wo die ist. Sie flennt hinter der Turnhalle. Soll ich sie holen?«

Jill und Eustachius warfen sich einen Blick zu, tauchten unter die Lorbeerbüsche und krochen mit beachtlicher Geschwindigkeit die steile Böschung ins Gebüsch hinauf. (Aufgrund der eigenartigen Lehrmethoden an der Experimentalschule lernte man zwar nicht viel Französisch, Mathematik, Latein und ähnliche Sachen, aber man lernte eine Menge darüber, wie man sich schnell und leise verdrücken konnte, wenn die nach einem suchten.)

Nachdem sie eine Minute lang vorwärts gekrochen waren, hielten sie an und lauschten. An den Geräuschen in ihrem Rücken hörten sie, dass sie verfolgt wurden.

»Wenn nur die Tür offen wäre!«, keuchte Eustachius beim Weiterkriechen und Jill nickte. Denn hinter dem Gebüsch war eine hohe Steinmauer und in dieser Mauer war eine Tür, die auf das offene Moor hinausführte. Diese Tür war fast immer abgeschlossen. Aber einige Male war sie nicht abgeschlossen gewesen – oder vielleicht auch nur ein einziges Mal. Aber ihr könnt euch sicher vorstellen, dass die Erinnerung an dieses eine Mal in den Schülern Hoffnungen erweckte, und sie versuchten die Tür immer wieder. Denn wenn diese Tür offen sein sollte, so war das eine fantastische Möglichkeit, das Schulgelände unbemerkt zu verlassen.

Jill und Eustachius, die von der Herumkriecherei unter dem Lorbeergebüsch inzwischen sehr verschwitzt und schmutzig waren, rannten keuchend zur Mauer. Und da war die Tür und wie immer war sie zu.

»Wir haben bestimmt kein Glück«, sagte Eustachius, die Hand auf der Klinke. Und dann rief er: »Oh! Meine Güte!« Denn die Klinke gab nach und die Tür öffnete sich.

Noch einen Augenblick zuvor hatten beide vorgehabt, wie der Blitz durch die Tür zu verschwinden, falls sie zufällig offen sein sollte. Aber als sie dann tatsächlich aufging, blieben sie beide stocksteif stehen. Denn was sie da sahen, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatten.

Sie hatten damit gerechnet, vor sich das graue, mit Heidekraut bewachsene Moor zu sehen, das sich bis zum Horizont erstreckte, wo es schließlich mit dem trüben Herbsthimmel verschmolz. Stattdessen herrschte dort draußen strahlender Sonnenschein. Er strömte durch die Tür herein, so wie an einem Junitag das Licht in eine Garage fällt, wenn man das Tor öffnet. Die Tropfen auf dem Gras funkelten plötzlich wie Perlen und man konnte den Schmutz auf Jills verweintem Gesicht sehen. Und das, was die beiden Kinder vor sich erblickten, sah tatsächlich aus wie eine andere Welt. Da gab es weichen Rasen, weicher und leuchtender als alles, was Jill jemals gesehen hatte, und blauen Himmel und in der Luft flatterte es und funkelte, dass man nicht wusste, ob es Juwelen oder riesige Schmetterlinge waren.

Obwohl Jill sich nach so etwas Ähnlichem gesehnt hatte, bekam sie jetzt Angst. Sie warf einen Blick auf das Gesicht von Eustachius und sah, dass es ihm genauso ging.

»Komm, Jill«, sagte er mit atemloser Stimme.

»Können wir auch wieder zurück?«, fragte Jill.

In diesem Moment erklang von hinten eine böse, gehässige Stimme. »Jill Pole! Wir wissen, dass du da oben bist. Komm herunter!« Es war die Stimme von Edith Jackle. Sie gehörte zwar nicht zu denen, aber sie trieb sich mit ihnen herum und trug ihnen alle Neuigkeiten zu.

»Rasch!«, drängte Eustachius. »Hier. Halte meine Hand. Wir dürfen nicht getrennt werden.« Und bevor sie sich richtig darüber im Klaren war, was da passierte, hatte er ihre Hand gepackt und sie durch die Tür gezogen – hinaus aus dem Schulgelände, hinaus aus England, hinaus aus unserer Welt und hinein in diese andere Welt.

Die Stimme von Edith Jackle brach genauso abrupt ab wie eine Stimme im Radio, wenn man es abschaltet. Und im gleichen Augenblick waren sie von einem ganz anderen Geräusch umgeben. Es kam von den funkelnden Geschöpfen über ihnen, die sich jetzt als Vögel entpuppten. Sie machten furchtbar viel Lärm, aber es hörte sich eher an wie Musik – wie ziemlich moderne Musik, die man nicht gleich beim ersten Mal so ganz begreift – und nicht wie Vögelstimmen aus unserer Welt. Und trotz des Gesangs herrschte im Hintergrund eine gewaltige Stille. Diese Stille, in Verbindung mit der Frische der Luft, brachte Jill auf den Gedanken, sie müssten sich auf der Spitze eines sehr hohen Berges befinden.

Eustachius hielt immer noch ihre Hand und so gingen sie weiter, während sie sich nach allen Seiten umschauten. Jill sah, dass überall riesige Bäume wuchsen. Sie sahen aus wie Zedern, waren aber größer. Doch da sie weit voneinander standen und zwischen ihnen kein Unterholz wuchs, konnte man nach links und nach rechts dennoch tief in den Wald hineinsehen. So weit Jills Auge reichte, setzte sich das Bild unverändert fort — ebene Grasflächen, hin und her fliegende Vögel mit gelbem, libellenblauem oder regenbogenfarbenem Gefieder, blaue Schatten und Leere. Kein Windhauch war in dieser kühlen, strahlenden Luft zu spüren. Es war ein sehr einsamer Wald.

Genau vor ihnen war kein Wald: nur blauer Himmel. Sie gingen schweigend geradeaus weiter, bis Eustachius plötzlich »Pass auf!« rief und Jill zurückzog. Sie standen am äußersten Rand eines Felsens.

Jill gehörte zu den Glücklichen, denen auch in großer Höhe nicht schwindlig wird. So machte es ihr überhaupt nichts aus, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Sie ärgerte sich ein wenig, weil Eustachius sie zurückzog – »Geradeso, als wäre ich ein kleines Kind!« –, und riss sich los. Als sie sah, wie schrecklich blass er geworden war, sagte sie voller Verachtung: »Was ist denn los?« Und um ihm zu zeigen, dass sie keine Angst hatte, stellte sie sich ganz nah an den Abgrund – einen Schritt näher, als es ihr eigentlich gefiel. Dann schaute sie hinunter.

Jetzt sah sie, dass Eustachius nicht ohne Grund so blass geworden war, denn auf der ganzen Welt gab es keinen Felsen, den man mit dem hier hätte vergleichen können. Stell dir vor, du stündest auf der Spitze des allerhöchsten Felsens, den du kennst. Und stell dir vor, dass du bis zur tiefsten Stelle hinunterschaust. Und dann stell dir vor, der Abgrund wäre noch einmal so tief, zehnmal so tief, zwanzigmal so tief. Und stell dir weiter vor, du würdest ganz da unten weiße Fleckchen sehen, die du auf den ersten Blick vielleicht für Schafe hieltest, bis du dann plötzlich merkst, dass es Wolken sind – keine weißen Nebelfetzen, nein, riesige weiße, bauschige Wolken, so groß wie Berge. Und schließlich würdest du zwischen diesen Wölken den ersten Blick auf den Erdboden erhaschen und der wäre so weit weg, dass man nicht sehen könnte, ob dort Felder oder Wälder, Land oder Wasser ist. Und die Entfernung von den Wolken zum Boden wäre noch größer als zwischen dir und den Wölken.

Jill starrte hinunter. Und dann wäre sie eigentlich gern ein paar Schritte zurückgetreten; aber sie hatte Bedenken, was Eustachius wohl von ihr denken mochte. Dann fasste sie plötzlich den Entschluss, dass es ihr egal war, was er von ihr dachte, dass sie jetzt einfach von diesem schrecklichen Abgrund wegmusste und dass sie nie mehr irgendjemand auslachen würde, der Angst vor großen Höhen hatte. Aber sie stellte plötzlich fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Knie waren ganz weich geworden und alles verschwamm vor ihren Augen.

»Was machst du denn, Jill? Komm zurück – du blöde Kuh!«, rief Eustachius. Aber seine Stimme schien von weit her zu kommen. Jill spürte, wie er nach ihr griff. Aber sie hatte die Herrschaft über ihre Arme und Beine verloren. Einen Augenblick lang rangen sie am Rand des Felsens miteinander. Jill hatte so schreckliche Angst und ihr war so schwindlig, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat. Aber an zwei Dinge erinnerte sie sich für den Rest ihres Lebens (und oft kehrten sie in ihren Träumen zurück). Das eine war, dass sie sich aus Eustachius' Griff losriss, das zweite, dass Eustachius im gleichen Augenblick das Gleichgewicht verlor und mit einem Schrei in die Tiefe stürzte.

Glücklicherweise hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken, was sie getan hatte. Ein riesiges Tier in einer leuchtenden Farbe kam zum Rand des Felsens gerannt. Es legte sich nieder, lehnte sich hinaus und (das war das Komische) – blies. Es brüllte nicht, es schnaubte nicht, nein – mit weit geöffnetem Maul blies es so gleichmäßig, wie ein Staubsauger saugt. Jill lag so nah bei dem Geschöpf, dass sie spürte, wie der Atem gleichmäßig den Körper des Tieres durchströmte und ihn zum Erbeben brachte. Sie lag regungslos da, weil sie nicht aufstehen konnte. Sie war fast ohnmächtig: Tatsächlich wäre sie nur allzu gerne richtig ohnmächtig geworden, doch leider wird man nicht einfach auf Wunsch ohnmächtig. Schließlich sah sie, wie tief unter ihr ein winziger schwarzer Fleck von der Felswand weg und leicht nach oben schwebte. Beim Höhersteigen entfernte er sich. Als er sich fast auf gleicher Höhe mit der Felsenspitze befand, war er schon so weit, dass sie ihn aus den Augen verlor. Offensichtlich bewegte er sich mit großer Geschwindigkeit. Jill wurde den Gedanken nicht los, dass ihn das Geschöpf an ihrer Seite fortblies.

Sie drehte sich um und schaute das Tier an. Es war ein Löwe.

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