Ich bin der Überzeugung, dass es — ebenso wie mathematische Grundregeln — universelle, vom Menschen unabhängige Rechte und Werte gibt, allen voran das Recht auf Leben. Das Dilemma ist, wo stehen sie geschrieben? Und wer anders könnte sie verleihen als der Mensch? Wir mögen akzeptieren, dass außerhalb unserer Wahrnehmung Rechte und Werte existieren, aber wir können uns nicht außerhalb unserer Wahrnehmung stellen. Es ist, als solle die Katze darüber befinden, ob Mäuse gefressen werden dürfen oder nicht.
Samantha Crowe legte ihre Notizen aus der Hand und schaute hinaus.
Der CH-53 Super Stallion ging schnell tiefer. Eine steife Brise rüttelte den 30 Meter langen Transporthubschrauber durch. Er schien auf die helle Plattform im Meer zuzufallen, und Crowe fragte sich, wie ein derart riesiges Ding überhaupt die Meere befahren konnte — und zugleich: Wie kann man auf etwas so Kleinem landen?
950 Kilometer nordöstlich von Island lag die USS Independence LHD-8 über dem Grönländischen Tiefseebecken, eine schwimmende Stadt, fremd und schroff, mit der Ausstrahlung eines Raumgleiters aus Alien. Zwei Hektar Freiheit und 97000 Tonnen Diplomatie, wie es die Navy ausdrückte. Der größte taktische Helikopterträger der Welt würde für die nächsten Wochen ihr Zuhause sein, ihre neue Adresse würde lauten: USS Independence LHD8, 75° nördlicher Breite, 3500 Meter über dem Meeresboden.
Ihr Auftrag: ein Gespräch zu führen. Die Maschine kurvte. Mit Schwung drehte der Super Stallion auf den Landepunkt ein und setzte federnd auf. Durchs Seitenfenster sah sie einen Mann in gelber Arbeitsjacke, der den Helikopter in seine Parkposition winkte. Jemand von der Crew half ihr, die Gurte zu lösen und ihre Ausrüstung abzulegen, den Helm mit Kopfhörern, Rettungsweste, Schutzbrille. Der Flug war rau gewesen, und Crowe fühlte sich wackelig auf den Beinen. Mit unsicheren Schritten verließ sie die Maschine über die Rampe im Heck, trat unter dem Schwanz des Super Stallion hervor und schaute sich um.
Nur wenige Maschinen waren auf dem Flugdeck zu sehen. Die Leere steigerte den surrealen Eindruck. Sie erblickte eine schier endlose asphaltierte Fläche, gesprenkelt mit Befestigungspunkten, 257,25 Meter lang und 32,6 Meter breit. Crowe wusste das sehr genau. Sie war Mathematikerin mit einem Faible für exakte Zahlen, also hatte sie im Vorfeld versucht, so viel wie möglich über die USS Independence herauszubekommen, aber soeben kapitulierte die Theorie vor der Wirklichkeit. Die echte Independence hatte nichts mit Schemazeichnungen und technischen Daten zu tun. Ein schwerer Geruch von Öl und Kerosin lag in der Luft, heißes Gummi und Salz mischten sich hinein, und alles wurde von einem scharfen Wind übers Deck gefegt, der an ihrem Overall zerrte.
Kein Ort, an den man gerne reiste.
Männer in farbigen Jacken und Ohrenschützern liefen umher. Einer kam auf sie zu, während Soldaten ihr Gepäck ins Freie schleppten. Er trug eine weiße Jacke. Crowe versuchte sich zu erinnern. Weiß, das waren die Sicherheitsverantwortlichen. Die Gelben dirigierten die Hubschrauber an Deck, rot Gekleidete sorgten für Treibstoff und Gefechtsmaterial. Gab es nicht auch Braune? Und welche in Lila? Wofür waren die Braunen noch gleich zuständig?
Die Kälte fuhr ihr unter die Haut.
»Folgen Sie mir«, schrie der Mann gegen den Lärm der langsamer werdenden Rotorflügel an. Er zeigte hinüber zu dem einzigen Aufbau des Trägers. Wie ein mehrstöckiger, von überdimensionalen Antennen und Sensoren gekrönter Häuserblock entwuchs er der Steuerbordseite. Crowes Rechte tastete mechanisch zur Hüfte, während sie hinter ihm her ging. Dann fiel ihr ein, dass sie durch den Overall nicht an ihre Zigaretten kam. Auch im Hubschrauber hatte sie nicht rauchen dürfen. Es machte ihr nichts aus, bei windigem Wetter in die Arktis zu fliegen, aber der stundenlange Verzicht auf Nikotin war ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack.
Ihr Begleiter öffnete ein Luk. Crowe betrat die Insel, wie der Aufbau im Navy-Jargon hieß. Nachdem sie eine Doppelschleuse passiert hatte, schlug ihr frische, saubere Luft entgegen. Wie eine Höhle wirkte die Insel auf Crowe, erstaunlich eng. Der Deckverantwortliche übergab sie einem hoch gewachsenen Schwarzen in Uniform, der sich als Major Salomon Peak vorstellte. Sie schüttelten einander die Hände. Peak wirkte steif, als sei er den Umgang mit Zivilisten nicht gewohnt. Crowe hatte während der letzten Wochen mehrfach mit ihm konferiert, allerdings nur telefonisch. Sie durchschritten einen winkligen Flur und kletterten über steile, leiterartige Niedergänge tiefer ins Innere des Schiffs, gefolgt von den Soldaten mit dem Gepäck. An einer Wand prangte in großen Lettern LEVEL 02.
»Sie werden sich frisch machen wollen«, sagte Peak und öffnete eine von vielen identisch aussehenden Türen zu beiden Seiten. Dahinter lag ein überraschend geräumiges, ansprechend eingerichtetes Zimmer, mehr eine kleine Suite. Crowe hatte gelesen, dass privater Raum an Bord eines Hubschrauberträgers auf das erträgliche Minimum reduziert war und die Soldaten in Schlafsälen nächtigten. Peak hob die Brauen, als sie eine entsprechende Bemerkung machte.
»Wir würden Sie wohl kaum zu den Marines stecken«, sagte er. Dann umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel.
»Auch die Navy weiß, was sie ihren Gästen schuldig ist. Das hier ist Flaggland.«
»Flaggland?«
»Unser Excelsior. Quartiere für Admiräle und ihre Stäbe, wenn welche an Bord kommen. Augenblicklich laufen wir nicht unter voller Besatzung, wir haben also allen Platz der Welt. Die weiblichen Teilnehmer der Expedition sind in Flaggland untergebracht, die männlichen im Offiziersland. Darf ich?« Er ging an ihr vorbei und stieß eine weitere Tür auf. »Eigenes Bad und WC.«
»Ich bin beeindruckt.«
Die Soldaten trugen ihr Gepäck herein.
»Es gibt eine kleine Bar unter dem Fernseher«, sagte Peak. »Nichtalkoholisch. Reicht Ihnen eine halbe Stunde, bis ich Sie zu einem Rundgang abhole?«
»Vollauf.«
Crowe wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Hastig ging sie auf die Suche nach einem Aschenbecher. Sie fand ihn in einem Sideboard, wurstelte sich aus dem Overall und kramte nach den Zigaretten in ihrer Sportjacke. Erst als sie dem zerdrückten Päckchen eine entnommen, sie angezündet und den ersten Zug inhaliert hatte, fühlte sie sich wieder wie ein vollständiger Mensch.
Paffend saß sie auf der Bettkante.
Eigentlich war es traurig. Zwei Päckchen am Tag waren verflucht traurig, und auch, dass sie nicht aufhören konnte.
Zweimal hatte sie es versucht. Zweimal nicht geschafft.
Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht schaffen.
Nach der zweiten Zigarette ging sie unter die Dusche. Anschließend schlüpfte sie in Jeans, Turnschuhe und Sweatshirt, rauchte noch eine und schaute in sämtliche Schubladen und Schränke. Als es klopfte, hatte sie das Innenleben ihrer Kabine so gründlich studiert, dass sie eine vollständige Inventarliste hätte anfertigen können. Sie wusste eben einfach gern Bescheid.
Vor der Tür stand nicht Peak. Es war Leon Anawak.
»Ich sagte doch, wir sehen uns wieder«, grinste er.
Crowe lachte.
»Und ich sagte, Sie finden Ihre Wale wieder. Schön, Sie zu sehen, Leon. Der Mann, dem ich mein Hiersein verdanke, richtig?«
»Wer sagt das?«
»Li.«
»Ich glaube, Sie wären auch ohne mich hier. Aber ich hab ein bisschen nachgeholfen. Sie müssen wissen, ich habe von Ihnen geträumt.«
»Meine Güte!«
»Keine Bange, Sie erschienen mir als guter Geist. Wie war der Flug?«
»Rumpelig. Ich bin die Letzte, was?«
»Wir anderen sind schon in Norfolk an Bord gegangen.«
»Ja, ich weiß. Aber ich kam einfach nicht weg aus Arecibo. Man soll’s nicht glauben, aber es kann auch Arbeit machen, ein Projekt nicht zu betreiben. SETI ist erst mal eingemottet. Im Moment hat keiner Geld, um den Weltraum nach grünen Männchen abzusuchen.«
»Wir werden vielleicht mehr grüne Männchen finden, als uns lieb ist«, sagte Anawak. »Kommen Sie. Peak wird in einer Minute hier sein. Wir zeigen Ihnen, was die Independence alles drauf hat. Danach sind Sie dran. Alle sind sehr gespannt. Ihren Spitznamen haben Sie übrigens schon weg.«
»Meinen Spitznamen? Wie heiße ich denn?«
»Miss Alien.«
»Du lieber Himmel. Eine Zeit lang nannten mich alle Miss Foster, nachdem Jodie mich in diesem Film gespielt hat.« Crowe schüttelte den Kopf. »Na ja, warum nicht? Hab ich meine Autogrammkarten eingesteckt? Gehen wir, Leon.«
Peak führte sie durch die Welt von LEVEL 02. Sie hatten ihre Wanderung im Vorschiff begonnen und bewegten sich nun wieder in Richtung Mitte. Crowe hatte den riesigen Fitness-Raum im Bug bewundert, vollgestellt mit Laufbändern und Kraftmaschinen und so gut wie leer.
»Normalerweise herrscht hier enormes Gedränge«, sagte Peak. »Die Independence bietet Quartier für dreitausend Mann. Jetzt sind wir nicht mal 200 Leute an Bord.«
Sie spazierten durch den Wohntrakt der jüngeren Offiziere, Abteilungen für je vier bis sechs Mann, mit bequemen Kojen, reichlich Stauraum, Klapptischen und Stühlen.
»Gemütlich«, sagte Crowe.
Peak zuckte die Achseln.
»Ansichtssache. Wenn auf dem Dach richtig Betrieb ist, bekommen Sie so schnell kein Auge zu. Wenige Meter über Ihnen starten und landen Helikopter und Jets. Die größten Probleme haben wir natürlich mit den Neulingen. Zu Anfang sind alle vollkommen übermüdet.«
»Und wann gewöhnt man sich an den Krach?« »Nie. Aber man gewöhnt sich daran, nicht mehr durchzuschlafen. Ich war mehrere Male auf einem Träger, jedes Mal monatelang. Nach einer Weile ist es ganz normal, in einer Art ständiger Bereitschaft dazuliegen. Dafür verlernen Sie, in Ruhe zu schlafen. Die erste Nacht zu Hause ist die Hölle. Sie warten auf das Brüllen von Turbinen, das Aufknallen von Fahrwerk und Befestigungshaken, das Rumrennen in den Gängen, die ständigen Durchsagen, aber stattdessen tickt nur irgendwo ein Wecker.«
Vorbei an der riesigen Messe gelangten sie mittschiffs an ein Schott mit Zahlenschloss. Dahinter lag ein großer, abgedunkelter Raum. Es war der erste Bereich, den Crowe bevölkert sah. Vor Konsolen mit blinkenden Lämpchen saßen Männer und Frauen und starrten auf Großbildschirme, die sich entlang der Wände aneinander reihten.
»Auf LEVEL 02 finden sich die meisten Befehls— und Führungsräume«, erklärte Peak. »Früher war alles im Inselaufbau untergebracht, aber so was birgt Risiken. Die Sucher feindlicher Raketensysteme schalten sich meist auf die heißesten und größten Strukturen eines Schiffes. Dazu gehört natürlich auch die Insel. Ein paar Treffer, und es ist, als ob Ihnen einer den Kopf von den Schultern schießt, also haben wir einen Großteil der Kommandoräume unters Dach verlegt.«
»Dach?«
»Navy-Sprache. Das Flugdeck.«
»Und was genau tun Sie hier?«
»Nun, dieser Raum ist das CIC …«
»Ach ja. Das Combat Information Center.«
Die Augen in dem schmalen Ebenholzgesicht blitzten kurz auf. Crowe lächelte und nahm sich vor, fortan den Mund zu halten.
»Das CIC ist das Nervenzentrum unserer Sensorik«, sagte Peak. »Sämtliche Daten laufen in diesem Raum zusammen, schiffseigene Systeme, Satelliten, alles in Echtzeit, versteht sich. Luft— und Schiffsabwehr, Schadenbehebung, Kommunikation … im Gefechtsfall ist hier der Teufel los. Die leeren Plätze dort drüben, ich schätze, da werden Sie viel Zeit verbringen, Dr. Crowe.«
»Samantha. Oder einfach Sam.«
»Von dort schauen und horchen wir unter Wasser«, fuhr Peak fort, ohne auf ihr Angebot einzugehen. »U-Boot-Überwachung, SOSUS Sonarnetz, Surtass LFA und Verschiedenes mehr. Was immer sich der Independence nähert, wir bekommen es mit.« Peak zeigte auf einen riesigen Monitor unter der Decke. Ein Patchwork von Diagrammen und Karten war darauf zu sehen. »Das Big Picture. Es fasst alle Daten zusammen, die im Schiff auflaufen, und erstellt ein Panorama. Das Gleiche sieht der Skipper auf den Monitoren der Brücke in verkleinerter Form.«
Peak führte sie weiter durch die angrenzenden Räume. Fast alle lagen im Dämmerlicht, nur erleuchtet durch Großschirmanzeigen, Monitore und Displays. An das CIC schloss sich das LFOC an, das Landing Force Operations Center. »Es fungiert als Einsatzzentrale für Landungstruppen. Jede Gefechtseinheit verfügt über ihre eigene Konsole. Satellitenaufnahmen und Aufklärungsflieger zeigen im Ernstfall die Position feindlicher Brigaden an.« Unüberhörbar schwang Stolz in Peaks Stimme mit. »Im LFOC lassen sich blitzschnell Truppen verschieben und Strategien entwickeln. Der Zentralcomputer verbindet den Kommandeur zu jeder Zeit mit seinen Einheiten vor Ort.«
Auf einigen Bildschirmen erkannte Crowe das Flugdeck. Eine Frage drängte sich auf, die Peak vielleicht sauer aufstoßen würde, aber sie stellte sie trotzdem: »Was nützt uns das alles, Major? Unser Feind sitzt in der Tiefsee.«
»Richtig.« Peak sah sie irritiert an. »Dann werden wir von hier aus eben Tiefseeoperationen leiten. Wo ist das Problem?«
»Ich bitte um Verzeihung. Ich war wohl zu lange im Weltraum.«
Anawak grinste. Er hatte sich bisher jeden Kommentars enthalten und trottete einfach mit. Crowe empfand es als wohltuend, ihn dabeizuhaben. Peak zeigte ihnen weitere Kontrollräume. Dem CIC benachbart lag das JIC, das Joint Intelligence Center.
»Die Daten sämtlicher nachrichtendienstlicher Systeme werden hier entschlüsselt und interpretiert«, sagte Peak. »Nichts nähert sich der Independence, was nicht genauestens in Augenschein genommen wurde, und wenn es den Jungs nicht gefällt, wird es abgeschossen.«
»Hohe Verantwortung«, murmelte Crowe.
»Einiges interpretiert der Computer vor. Aber Sie haben natürlich Recht.« Peak machte eine umfassende Handbewegung. »CIC und JIC sind wissenschaftlicher Arbeitsbereich, außerdem laufen pausenlos Nachrichten aus aller Welt ein, flimmern uns CNN und NBC über die Bildschirme und ein Dutzend weiterer relevanter Fernsehsender. Sie werden Zugriff auf jede erdenkliche Information uns sämtliche Datenbanken der Defense Mapping Agency haben. Das heißt, Sie kommen in den Genuss, mit den Tiefseekarten der Navy zu arbeiten — bei weitem genauer als alles, was der freien Forschung zur Verfügung steht.«
Weiter ging es abwärts. Nacheinander besichtigten sie das bordeigene Einkaufszentrum, leere Schlafsäle und Aufenthaltsräume und den riesigen Sanitätsbereich auf LEVEL 03, ein antiseptisches, verlassenes Areal mit 600 Betten, sechs OPs und einer überdimensionierten Intensivstation. Crowe stellte sich vor, was hier in Kriegszeiten los sein musste. Blutende, schreiende Menschen, dahinhastende Ärzte und Schwestern. Zunehmend kam ihr die Independence wie ein Geisterschiff vor — nein, eher eine Geisterstadt. Sie stiegen zurück auf LEVEL 02 und gingen weiter nach achtern, bis sie zu einer Rampe gelangten, breit genug, dass Autos darauf fahren konnten.
»Der Tunnel führt vom Bauch des Schiffes im Zickzack in die Insel«, sagte Peak. »Die Independence ist so konstruiert, dass man sich mit einem Jeep über die strategisch wichtigen Ebenen bewegen kann. Auch die Marines marschieren durch den Tunnel aufs Deck. Wir gehen abwärts.«
Ihre Schritte hallten von den Stahlwänden wider. Crowe fühlte sich an ein Parkhaus erinnert, dann öffnete sich der Rampentunnel zu einem riesigen Hangar. Crowe wusste, dass er mindestens ein Drittel der gesamten Schiffslänge und die Höhe zweier Decks einnahm. Es war zugig hier. Zu beiden Seiten öffneten sich gewaltige Hangartore und führten auf außen liegende Plattformen. Fahlgelbe Beleuchtung mischte sich mit dem eindringenden Tageslicht zu einer diffusen Stimmung. Zwischen den Seitenspanten lagen kleine, verglaste Büros und Kontrollpunkte. Ein schienenartiges Beförderungssystem mit Haken zog sich die Decke entlang. Crowe sah große Gabelstapler und zwei Hummer-Geländefahrzeuge im Hintergrund.
»Im Allgemeinen steht das Hangardeck voller Fluggerät«, meinte Peak. »Aber auf dieser Mission kommen wir mit den sechs Super-Stallion -Helikoptern aus, die auf dem Dach geparkt sind. Jeder evakuiert im Notfall fünfzig Personen. Außerdem haben wir zwei Super-Cobra- Kampfhubschrauber für schnelle Einsätze an Bord.« Er zeigte auf die torartigen Durchlässe zu beiden Seiten. »Die Außenplattformen sind Lifts, mit denen wir gewöhnlich Fluggerät von hier aufs Dach fahren. Jeder trägt über 30 Tonnen.«
Crowe trat zum Hangartor auf der Steuerbordseite und sah hinaus aufs Meer. Grau und eisig erstreckte es sich bis zu einem leeren Horizont. Eisberge verirrten sich selten in diese Gegend. Der Ostgrönlandstrom trieb sie die Küste entlang, mehr als 300 Kilometer entfernt. Hier zogen nur gelegentlich Felder matschigen Treibeises durch.
Anawak gesellte sich neben sie.
»Eine von vielen möglichen Welten, stimmt’s?«
Crowe nickte stumm.
»Gibt es unter Ihren Szenarien für außerirdische Zivilisationen auch eine Unterwasservariante?«
»Wir haben alles im Repertoire, Leon. Sie werden lachen, aber wenn ich über außerirdische Lebensformen nachdenke, schaue ich zuallererst auf unseren Planeten. Ich schaue in die Tiefsee und ins Erdinnere, zu den Polen, in die Luft. Solange Sie Ihre eigene Welt nicht kennen, können Sie sich von anderen keine Vorstellung machen.«
Anawak nickte. »Ich denke, das ist unser größtes Problem.«
Sie folgten Peak die Rampe abwärts. Sie verband die Ebenen wie ein riesiges Treppenhaus. Der Tunnel mündete in einen ebenerdigen Flur, der ins Heck führte. Sie waren nun tief im Herzen der Independence. Seitlich stand ein Schott offen, aus dem kaltes Kunstlicht drang. Beim Eintreten erkannte Crowe die Biologin, mit der sie im Verlauf der letzten Wochen über Videotelefon gesprochen hatte. Sue Oliviera stand an einem von mehreren Labortischen im Gespräch mit zwei Männern, die sich als Sigur Johanson und Mick Rubin vorstellten.
Das komplette Deck schien zu einem Labor umfunktioniert worden zu sein. Tische und Gerätschaften waren inselartig gruppiert. Crowe sah Wasserbecken und Kühltruhen. Zwei große, miteinander verbundene Container waren mit Biohazard-Warnschildern gekennzeichnet, offenbar ein Hochsicherheitstrakt. Dazwischen erhob sich etwas von den Ausmaßen eines kleinen Hauses, umspannt von einem Rundlauf. Stählerne Steigleitern führten hinauf. Dicke Rohre und Kabelstränge verbanden die Wände des Kastens mit schrankartigen Apparaturen. Ein großes, ovales Fenster bot Einblick ins diffus beleuchtete Innere, das mit Wasser gefüllt zu sein schien.
»Sie haben ein Aquarium an Bord?«, fragte Crowe. »Wie hübsch.«
»Ein Tiefseesimulator«, erklärte Oliviera. »Das Original steht in Kiel. Um einiges größer. Dafür hat dieser hier ein Panoramafenster aus Panzerglas. Der Druck im Innern würde Sie umbringen, andere hält er am Leben. Augenblicklich bevölkern ein paar Hundert weiße Krabben den Tank, die vor Washington gefangen und sofort in Hochdruckbehälter verfrachtet wurden. Es ist das erste Mal, dass es uns gelungen ist, die Gallerte am Leben zu halten. Zumindest glauben wir das. Sie hat sich bislang nicht blicken lassen, aber wir sind sicher, dass sie in diesen Krabben steckt und sie steuert.«
»Faszinierend«, sagte Crowe. »Aber der Simulator ist nicht nur wegen der Krabben an Bord, oder?«
Johanson lächelte geheimnisvoll. »Man weiß nie, was einem ins Netz geht.«
»Also ein Kriegsgefangenenlager.«
»Kriegsgefangenenlager!« Rubin lachte. »Gute Idee.«
Crowe sah sich um. Die Halle war nach allen Seiten hermetisch abgeschlossen.
»Ist das hier nicht üblicherweise ein Fahrzeugdeck?«, fragte sie.
Peak hob die Brauen. »Ja. Wenn wir dieses Schott durchqueren, gelangen wir in die hintere Hälfte der Independence und haben den Flugzeughangar über uns. Sie haben viel gelesen, kann das sein?«
»Ich bin neugierig«, sagte Crowe bescheiden.
»Bleibt zu hoffen, dass Sie Ihre Neugier in Erkenntnisse umsetzen.«
»Was für ein Muffel«, flüsterte Crowe Anawak zu, während sie das Labor verließen und dem ebenerdigen Tunnel ins Heck folgten.
»Nicht wirklich.« Anawak schüttelte den Kopf. »Der gute Sal ist eigentlich ganz in Ordnung. Lediglich ein bisschen unvertraut mit besserwisserischen Zivilisten.«
Der Tunnel mündete in eine Halle, noch höher und länger als das Hangardeck. Sie betraten ein künstliches Gestade, das zu einem tiefer gelegenen, holzgeplankten Becken abfiel. Wie ein riesiger, ausgelaufener Swimmingpool lag es vor ihnen. Eine rechteckige, gläserne Kuppel war in der Mitte eingelassen, bestehend aus zwei aneinander grenzenden Schotts. Seitlich davon erhob sich ein raumgreifendes Bassin, dessen kräuselige Wellen die Hallenbeleuchtung spiegelten. Crowe sah schlanke, torpedoförmige Körper unter der Oberfläche dahinziehen.
»Delphine«, rief sie überrascht.
»Ja.« Peak nickte. »Unsere Spezialstaffel.«
Ihr Blick wanderte nach oben. Auch hier lief ein verzweigtes Schienensystem über die Decke. Futuristisch aussehende Gebilde hingen darin, als hätte jemand überdimensionierte Sportwagen mit Tauchbooten und Flugzeugen gekreuzt. Beiderseits des Beckens setzte sich das Gestade in Form von pierartigen Laufgängen fort.
Boxen für Ausrüstung und Material stapelten sich entlang der Wände. Dazwischen sah Crowe Sonden, Messgeräte und Tauchanzüge in offenen Spinden. In regelmäßigen Abständen führten Steigleitern zum Hallenboden.
Vier Zodiacs lagen im vorderen Beckenbereich auf dem Trockenen.
»Da hat jemand den Stöpsel gezogen, was?«
»Ja, gestern Abend. Der Stöpsel ist übrigens dort.« Peak deutete auf die Kuppel. Crowe schätzte sie auf mindestens acht mal zehn Meter. »Die Schleuse, unser Tor ins Meer. Sie ist doppelt gesichert, im Hallenboden mit Glasschotts, in der Außenhülle mit massiven Stahlschotts. Dazwischen erstreckt sich ein Schacht von drei Meter Höhe. Das System ist narrensicher, es funktioniert wechselseitig. Sobald ein Boot im Schacht ist, schließen wir die Glasabdeckung und öffnen die Stahlschotts. Will es zurück ins Schiffsinnere, verfahren wir genauso. Das Boot steigt in die Schleuse, die Stahlschotts fahren zu, und wir können durch die Glasabdeckung sehen, ob irgendwas mit hineingelangt ist, das uns nicht gefällt. Gleichzeitig wird das Wasser einer chemischen Analyse unterzogen. Das Schleuseninnere ist bestückt mit Sensoren, die es auf Verunreinigungen und Toxide untersuchen. Die Ergebnisse werden auf zwei Displays übertragen, eines am Schleusenrand und eines am Kontrollpult. Etwa eine Minute lang ist das Boot im Schacht gefangen. Erst wenn alles im grünen Bereich liegt, öffnet sich das Glasdach und entlässt es zurück ins Deck. Auf gleiche Weise lassen wir die Delphine raus und rein. Kommen Sie.«
Sie schritten den Steuerbordpier entlang. Auf halber Länge ragte eine Konsole aus dem Boden, dicht an die Kante gesetzt und bestückt mit Monitoren und diversen Bedienfunktionen. Ein knochiger Mann mit stechenden Augen und ausladendem Schnauzbart kam ihnen aus einer Gruppe Uniformierter entgegen.
»Colonel Luther Roscovitz«, stellte Peak ihn vor. »Leiter der Tauchstation.«
»Sie sind Miss Alien, stimmt’s?« Roscovitz entblößte lange, gelbliche Zähne. »Willkommen auf der Kreuzfahrt. Wo haben Sie so lange gesteckt?«
»Mein Raumschiff hatte Verspätung.« Crowe sah sich um. »Schickes Pult.«
»Es erfüllt seinen Zweck. Wir nutzen es zur Bedienung der Schleuse und zum Hoch— und Runterfahren der Tauchboote. Außerdem werden die Pumpen von hier gesteuert, um das Deck unter Wasser zu setzen.«
Crowe rief sich in Erinnerung, was sie über die Independence wusste. Sie machte eine Kopfbewegung zur heckwärtigen Stahlwand, die das Deck abschloss. »Das ist ein Schott, nicht wahr?«
»Genau«, schmunzelte Roscovitz. »Wir können die Heckklappe der Independence absenken und das Schiff tiefer legen, indem wir die achterlichen Ballasttanks fluten. Meerwasser dringt ein, und schon haben wir einen hübschen Hafen, komplett mit Einfahrt.«
»Netter Arbeitsplatz. Gefällt mir.«
»Täuschen Sie sich nicht. Normalerweise drängen sich hier Landungsboote aneinander, Schwerlastschlepper und Hoovercrafts. Aus einer großen Halle wird im Nu ein enger Affenstall. Aber für diese Mission mussten wir ohnehin alles umkrempeln. Sie erfordert keine Landungsboote. Wir brauchten ein Schiff, das schwer genug ist, um nicht durch irgendwelches Viehzeug versenkt zu werden, Riesenwellen verkraften kann, über das komplette Angebot moderner Kommunikationstechnologie verfügt und Platz bietet für Fluggerät und eine Tauchbasis. Es war schieres Glück, dass die LHD-8 gerade im Bau war. Das größte und mächtigste amphibische Schiff aller Zeiten, so gut wie fertig gestellt, plus die Möglichkeit, ein paar Veränderungen vorzunehmen, besser hätte es nicht kommen können. Die Werft in Mississippi ist enorm fortschrittlich. Sie konzipierten das Welldeck in kürzester Zeit um, bauten Schleusen ein und veränderten das Pumpsystem. Jetzt können wir das Becken fluten, ohne die Klappe zu öffnen. Wir brauchen sie ohnehin nur für den Fall, dass wir mit den Zodiacs raus wollen.«
Crowe sah ins Becken hinab. Zwei Leute in Neoprenanzügen standen am Rand des Bassins, eine zierliche, rothaarige Frau und ein athletisch gebauter Riese mit langer, schwarzer Mähne. Sie beobachtete, wie eines der Tiere zum Rand geschwommen kam und den Kopf aus dem Wasser steckte. Es gab keckernde Geräusche von sich. Der Riese strich ihm mit der Hand über die glatte Stirn. Einige Sekunden ließ sich der Delphin die Liebkosung gefallen, dann tauchte er wieder ab.
»Und wer ist das?«, wollte Crowe wissen.
»Sie kümmern sich um die Delphinstaffel«, sagte Anawak. »Alicia Delaware und …«Er zögerte. »Und Greywolf.«
»Greywolf?«
»Ja. Oder auch Jack.« Anawak zuckte die Achseln.
»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Er hört auf beides.«
»Wozu ist die Staffel gut?«
»Lebende Kameras. Sie bannen Film auf Magnetband, wenn sie draußen unterwegs sind. Der Hauptgrund ist allerdings, dass Delphine weit ausgeprägtere Sinne besitzen als wir. Ihr Sonar erfasst andere Lebewesen, lange bevor unsere Systeme sie sehen. Mit einigen der Tiere hat Jack schon während seiner aktiven Zeit gearbeitet. Sie beherrschen ein ausgeprägtes Vokabular.
Verschiedene Pfiffe. Einen für Orca, einen für Grauwal, einen anderen für Buckelwal, und so weiter und so fort. Sie können nahezu jedes größere Lebewesen, das ihnen bekannt ist, identifizieren, außerdem Schwärme klassifizieren, und was sie nicht kennen, melden sie als unbekannte Lebensform.«
»Beachtlich.« Crowe lächelte. »Und der schöne Mann da unten mit den langen Haaren versteht tatsächlich die Sprache der Delphine?«
Anawak nickte. »Besser als unsere. Manchmal.«
Das Treffen fand im Flagg-Besprechungs-und Lageraum gegenüber dem LFOC statt. Die meisten Anwesenden kannte Crowe inzwischen persönlich oder von den Videokonferenzen. Nun lernte sie noch Murray Shankar kennen, den Chefakustiker von SOSUS, Karen Weaver und Mick Rubin, außerdem den Skipper der Independence, einen drahtigen, weißhaarigen Mann namens Craig C. Buchanan, der aussah, als habe er das Militär erfunden, sowie Floyd Anderson, den Ersten Offizier. Sie schüttelte eifrig Hände und stellte fest, dass sie Anderson mit seinem Bullennacken und den schwarzen Knopfaugen nicht mochte. Als Letzter begrüßte sie ein fettleibiger Mann, der einige Minuten zu spät kam und sehr stark schwitzte. Er trug eine Baseballkappe und Turnschuhe. Über seinen Bauch spannte sich ein knallgelbes T-Shirt mit der Aufschrift: KÜSS mich, ich bin ein Prinz.
»Jack Vanderbilt«, stellte er sich vor. »Ehrlich gesagt, die Mutter von E. T. hab ich mir anders vorgestellt.«
»Tochter wäre charmanter gewesen«, erwiderte Crowe trocken.
»Erwarten Sie keine Komplimente von einem, der aussieht wie ich.« Vanderbilt gluckste. »Ist das nicht wunderbar, Dr. Crowe? Sie haben endlich Gelegenheit, Ihr ganzes nutzlos in den Weltraum abgestrahltes Hoffen und Bangen in freudige Erwartung umzusetzen.«
Alle suchten ihre Plätze auf. Li hielt eine kleine Ansprache, in der sie zusammenfasste, was ohnehin jeder wusste. Dass die Vereinigten Staaten einen Antrag in die UNO eingebracht und im Verlauf einer geheimen Sitzung einstimmig das Mandat erhalten hatten, die logistische und technologische Führungsrolle im Kampf gegen die unbekannte Macht zu übernehmen. Japan und einige Länder Europas waren inzwischen zu ähnlichen Schlüssen gelangt wie das Chateau-Team: Nicht Menschen bedrohten die Menschheit, sondern eine fremde Lebensform. So oder so schien jeder erleichtert, dass man die Vereinigten Staaten nicht lange hatte bitten müssen.
»Einiges spricht dafür, dass wir unmittelbar vor der Entdeckung eines Mittels stehen, das die Menschheit gegen die Toxide der Killeralgen immunisiert, allerdings bekommen wir die Nebenwirkungen nicht unter Kontrolle, und anderswo tauchen Krabben mit mutierten Erregern auf. In den meisten der stark betroffenen Länder ist die Infrastruktur zusammengebrochen. Amerika hat die Verantwortung gerne übernommen, aber unglücklicherweise müssen wir erkennen, dass wir kaum in der Lage sind, unsere eigenen Küsten zu schützen. Währenddessen sammeln sich Würmer an den Kontinentalhängen und — viel schlimmer — im Umfeld vulkanischer Inseln wie La Palma, wo Dr. Frost und Dr. Bohrmann gerade versuchen, die befallenen Hänge mit einer Art Tiefseestaubsauger zu säubern. Was die Wale angeht: Sonarattacken richten nichts aus bei Tieren, deren Natur von einem Fremdorganismus vergewaltigt wird. Aber selbst wenn, würden wir damit weder den Methan-GAU verhindern noch den Golfstrom wieder in Schwung bringen. Die Bekämpfung von Symptomen löst keine Probleme, und zur Ursache konnten wir bislang nicht vorstoßen, nachdem Unterwasseroperationen systematisch sabotiert werden. Wir erlangen keine Erkenntnisse mehr über das, was unten geschieht. Unterdessen geht ein Tiefseekabel nach dem anderen verloren. Die niederschmetternde Bilanz in diesem Krieg ist, dass wir blind und taub geworden sind. Sagen wir ruhig, wir haben ihn verloren.« Li machte eine Pause. »Wen sollen wir angreifen? Was nützt jeder Kampf, wenn La Palma abrutscht und Wasserberge die Küsten Amerikas, Afrikas und Europas überrollen? — Kurz, wir kommen keinen Schritt weiter, solange wir unseren Gegner nicht besser kennen, und wir kennen ihn überhaupt nicht. Der Sinn unserer Mission ist darum nicht der Kampf, sondern die Verhandlung. Wir wollen Kontakt aufnehmen zu der fremden Lebensform und sie dazu bringen, den Terror gegen die menschliche Rasse zu stoppen. Meiner Erfahrung nach lässt sich mit jedem Gegner verhandeln, und vieles deutet darauf hin, dass er sich genau hier aufhält — in der Grönländischen See.« Sie lächelte. »Unsere Hoffnung ruht auf einer friedlichen Lösung. Ich freue mich jedenfalls, als letztes Mitglied unserer Expedition Dr. Samantha Crowe willkommen zu heißen.«
Crowe stützte die Ellbogen auf den Konferenztisch.
»Danke für die nette Begrüßung.« Sie warf Vanderbilt einen kurzen Blick zu. »Wie Sie vielleicht wissen, war SETI bis heute nicht sonderlich erfolgreich. Angesichts einer räumlichen Ausdehnung von über zehn Milliarden Lichtjahren, die wir für das beobachtbare Universum annehmen, ist alles denkbarer, als zufällig in die richtige Richtung zu senden und jemanden zu erreichen, der gerade zuhört. Insofern sind wir diesmal besser dran. Erstens spricht einiges dafür, dass es die anderen gibt. Zweitens haben wir eine ungefähre Vorstellung davon, wo sie leben, nämlich irgendwo in den Ozeanen und wahrscheinlich direkt unter uns. Aber selbst wenn sie am Südpol hausen würden, hätten wir sie eingegrenzt. Die Meere können sie nicht verlassen, und ein starker Schallimpuls aus der Arktis wird noch jenseits von Afrika gehört werden. Das alles ist ermutigend. — Der wichtigste Punkt scheint mir jedoch, dass wir bereits Kontakt haben. Seit Jahrzehnten schicken wir Botschaften in ihren Lebensraum. Unglücklicherweise haben sie dessen Zerstörung zum Inhalt, also antworten sie nicht mit Gesandten, sondern überziehen uns kommentarlos mit Terror. Das ist in höchstem Maße lästig. Machen wir uns trotzdem vorübergehend frei von negativen Gefühlen und sehen wir in dem Terror eine Chance.«
»Eine Chance?«, echote Peak.
»Ja. Wir müssen ihn als das nehmen, was er ist — als Botschaft einer fremden Lebensform, aus der wir auf ihr Denken schließen können.«
Sie legte die Hand auf einen Stapel Kladden.
»Ich habe unsere Vorgehensweise für Sie zusammengefasst. Zugleich muss ich Ihre Hoffnungen auf einen schnellen Erfolg dämpfen. Jeder von Ihnen wird sich in den letzten Wochen über der Frage gegruselt haben, wer eigentlich da unten sitzt und uns die sieben Plagen schickt. Sie kennen die einschlägigen Filme: Unheimliche Begegnung der Dritten Art, E. T. Alien, Independence Day, The Abyss, Contact, und so weiter. Entweder haben wir es darin mit Monstern zu tun oder mit Heiligen. Denken Sie alleine an die Schlusssequenz von Unheimliche Begegnung: Viele Menschen finden Trost in der Vorstellung, dass überlegene Himmelswesen zu ihnen herabsteigen, um sie einer besseren, lichten Zukunft entgegenzuführen. Sollte das irgendjemandem bekannt vorkommen … Ja, die Sache hat unter der Oberfläche eine religiöse Dimension. Auch SETI hat diese Dimension. Und sie macht uns blind für die schlichte Andersartigkeit fremder Intelligenzen.«
Crowe ließ die Worte einen Moment wirken. Sie hatte lange überlegt, wie sie das Projekt anpacken sollte. Schließlich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass es von vorneherein scheitern würde, wenn es ihr nicht gelang, den Teilnehmern der Expedition die Flausen zu nehmen.
»Was ich meine, ist, dass eine seriöse Beschäftigung mit der Andersartigkeit fremder Kulturen in der Science-Fiction so gut wie nicht stattfindet. Tatsächlich tauchen Außerirdische fast immer als ins Groteske übersteigerter Ausdruck menschlicher Hoffnungen und Ängste auf. Die Aliens in Unheimliche Begegnung symbolisieren unsere Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Paradies. Im Grunde sind sie Engel, und so verhalten sie sich auch. Einige Auserwählte werden zum Licht geführt. Eine etwaige Kultur dieser Außerirdischen interessiert dabei niemanden. Sie bedienen simpelste religiöse Vorstellungen. Alles an ihnen ist zutiefst menschlich, weil menschgewollt, bis hin zur Dramaturgie ihres Auftretens — weißes, gleißendes Licht, ätherische Erscheinungen, ganz so, wie wir’s gerne hätten. — Ebenso wenig sind die Außerirdischen in Independence Day wirklich außerirdisch. Sie sind böse, indem sie unsere Vorstellungen von Bösartigkeit erfüllen. Auch ihnen wird keine wirkliche Andersartigkeit zugestanden. Gut und böse sind von Menschen postulierte Werte. Kaum eine Fiktion findet Interesse, die sich darüber hinwegsetzt. Wir tun uns nun mal schwer mit der Vorstellung, dass unsere Werte nicht auch die Werte anderer sein sollen und dass deren Vorstellungen von Gut und Böse vielleicht nicht den unseren entsprechen könnten. Dafür müssen Sie nicht mal in den Weltraum horchen. Jede Nation, jede menschliche Kultur hat ihre eigenen Aliens vor der Haustür, nämlich immer die jenseits der Grenze. — Bevor wir das nicht verinnerlicht haben, werden wir kaum eine Kommunikation mit einer fremden Intelligenz zuwege bringen. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird es keine gemeinsame Wertebasis geben, kein universelles Gut und Böse, möglicherweise nicht einmal kompatible Sinnesapparate, über die man sich austauschen könnte.«
Crowe gab den Stapel Kladden an Johanson weiter, der neben ihr saß, und bat darum, die Exemplare zu verteilen.
»Wenn wir beginnen wollen, über wirkliche Kontakte mit Außerirdischen nachzudenken, sollten wir uns vielleicht einen Ameisenstaat vorstellen. Vorweg, Ameisen sind hoch organisiert, nicht wirklich intelligent. Aber unterstellen wir, sie wären es. Dann stünden wir vor der Aufgabe, uns mit einer Kollektivintelligenz auszutauschen, die kranke und verletzte Artgenossen verspeist, ohne es moralisch anfechtbar zu finden, die Kriege führt, ohne unsere Idee von Frieden zu verstehen, für die individuelle Fortpflanzung etwas vollkommen Unerhörtes darstellt und die den Austausch und Verzehr von Exkrementen wie ein Sakrament behandelt — kurz, die in jeder Hinsicht vollkommen anders funktioniert, die aber funktioniert! Und nun gehen Sie noch einen Schritt weiter: Stellen Sie sich vor, dass wir eine fremde Intelligenz vielleicht nicht einmal als solche erkennen! Leon hier zum Beispiel würde gerne wissen, ob Delphine intelligent sind, also führt er aufwändige Tests durch, aber gibt ihm das Gewissheit? Und umgekehrt, wie sehen uns die anderen? Die Yrr bekämpfen uns, aber halten sie uns für intelligent?
— Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Was immer wir hier tun: Eine Annäherung an die Yrr wird uns nicht gelingen, solange wir unser Werteverständnis als Nabel der Welt und des Universums betrachten. Wir müssen uns auf das reduzieren, was wir de facto sind — eine von unzähligen möglichen Lebensformen ohne besondere Ansprüche an das große Ganze.«
Crowe bemerkte, dass Lis Blick abschätzend auf Johanson ruhte. Es kam ihr vor, als versuche sie, in seinen Kopf zu kriechen. Interessante Konstellationen an Bord, dachte sie. Sie fing einen Blickkontakt zwischen Jack O’Bannon und Alicia Delaware auf und wusste im selben Augenblick, dass die beiden etwas miteinander hatten.
»Dr. Crowe«, sagte Vanderbilt, während er sein Exemplar der Ausführungen durchblätterte. »Was ist denn Ihrer Meinung nach überhaupt Intelligenz?«
Er stellte die Frage wie eine Falle.
»Ein Glücksfall«, sagte Crowe.
»Ein Glücksfall? Finden Sie?«
»Das Resultat vieler fein aufeinander abgestimmter Bedingungen. Wie viele Definitionen wollen Sie hören? Einige meinen, Intelligenz sei das, was in einer Kultur als wesentlich eingeschätzt wird. Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Es gibt mindestens so viele Definitionen wie Kulturen und Mentalitäten. Die einen erforschen die grundlegenden Prozesse geistiger Leistung, andere versuchen Intelligenz statistisch zu messen. Dann die Frage, ist sie angeboren oder erworben? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertrat man die Ansicht, Intelligenz spiegele sich in der Art und Weise, wie eine spezifische Situation bewältigt wird. Einige greifen das heute wieder auf und definieren Intelligenz als Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse einer sich wandelnden Umgebung. Demnach wäre sie nicht angeboren, sondern erlernt. Viele halten dagegen, Intelligenz sei im menschlichen Konzept verankert und eine angeborene Fähigkeit, die uns hilft, unser Denken auf immer neue Situationen einzustellen. Ihrer Meinung nach ist Intelligenz die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen und sich den Erfordernissen der Umgebung anzupassen. Und dann gibt es noch die schöne Definition, Intelligenz sei die Fähigkeit zu hinterfragen, was Intelligenz sei.«
Vanderbilt nickte langsam. »Verstehe. Das heißt, Sie wissen es nicht.«
Crowe grinste. »Nun, gestatten Sie mir eine Bemerkung im Hinblick auf Ihr T-Shirt, Mr. Vanderbilt. — Nur an der äußeren Erscheinung wird man ein intelligentes Wesen wahrscheinlich nicht als solches erkennen.«
Gelächter brandete rings um den Tisch auf und ebbte schnell wieder ab. Vanderbilt starrte sie an.
Dann grinste auch er. »Wo Sie Recht haben, sollen Sie Recht behalten«, sagte er.
Nachdem das Eis gebrochen war, kamen sie schnell voran. Crowe skizzierte die nächsten Schritte. Sie hatte das Konzept in den vergangenen Wochen zusammen mit Murray Shankar, Judith Li, Leon Anawak und einigen NASA-Leuten aus dem Boden gestampft. Es basierte auf den wenigen Versuchen zur Kontaktaufnahme mit außerirdischen Lebensformen, die es bislang gegeben hatte.
»Der Weltraum macht es uns leicht«, erklärte Crowe. »Man kann im Mikrowellenbereich ungeheure Datenmengen gezielt verschicken. Licht ist gut sichtbar und reist mit 300000 Sekundenkilometern. Sie brauchen keine Drähte und Kabel. Unter Wasser ist alles anders, weil die Energie kurzwelliger Signale von den Molekülen absorbiert wird und langwellige Signale riesige Antennen erfordern würden. Kommunikation via Licht funktioniert zwar, aber nicht auf größere Distanzen. Bleibt die Akustik. Aber auch die birgt ein Problem, das wir Nachhall-Effekt nennen — akustische Signale werden an allen möglichen Stellen reflektiert, was Interferenzen zur Folge hat. Die Botschaft wird von sich selber überlagert und unverständlich. Um das zu vermeiden, bedienen wir uns eines speziellen Modems.«
»Das Prinzip haben wir den Meeressäugern abgeguckt«, sagte Anawak. »Delphine nutzen es, indem sie Nachhall und Interferenzen gewissermaßen austricksen: Sie singen.«
»Ich dachte, das tun nur Wale«, sagte Peak.
»Dass Wale singen, ist eine menschliche Interpretation«, erwiderte Anawak. »Sie haben möglicherweise nicht mal eine Vorstellung von Musik. Aber Sam meint etwas anderes. Singen heißt in diesem Fall, dass die Tiere unablässig ihre Frequenz und ihr Obertonspektrum modulieren. Damit schließen sie nicht nur Interferenzen aus, sie erweitern auch erheblich das Potenzial zur Übermittlung digitalisierter Information unter Wasser. Wir benutzen also ein Modem, das ebenfalls singt. Im Augenblick schaffen wir 30 KB bei einer Reichweite von drei Kilometern, das entspricht der halben Leistung einer ISDN-Leitung. Es reicht, um sogar Bilder in hoher Qualität zu übertragen.«
»Und was erzählen wir denen?«, fragte Peak.
»Die Gesetze der Physik, der kosmische Code, liegen in Form von Mathematik vor«, sagte Crowe. »Kosmische Ordnung hat die Evolution von Bewusstsein ermöglicht und es in die Lage versetzt, seinerseits die Mathematik neu zu erschaffen, um auf kompakte und kreative Weise den eigenen Ursprung erklären zu können. Mathematik ist die einzige universelle Sprache, die jedes intelligente Wesen versteht, das innerhalb der gültigen physikalischen Rahmenbedingungen existiert, und die werden wir benutzen.«
»Was wollen Sie tun? Mathematikaufgaben stellen?«
»Nein, Gedanken in Mathematik verpacken. 1974 haben wir ein hoch energiereiches irdisches Radiosignal gebündelt und in einen Kugelsternhaufen im Sternbild Herkules geschickt. Wir mussten einen Weg finden, die Botschaft so zu verschlüsseln, dass sie auf einem fremden Planeten verstanden wird, und vielleicht waren wir ein bisschen übereifrig — man muss schon sehr weit entwickelt sein, um den Code zu knacken. Aber mit mathematischen Methoden funktioniert es. Insgesamt verschickten wir 1679 Zeichen im Binärsystem, also Punkt und Strich wie beim Morsen. Jetzt wird’s vertrackt. Ein Mathematiker weiß die Zahl 1679 zu interpretieren, weil sie nur aus dem Produkt von 23 und 73 gebildet werden kann, beides Primzahlen, die nur durch l oder sich selbst geteilt werden können. Damit versteht der Empfänger schon mal die Basis menschlicher Zahlensysteme. Die Anordnung der 1679 Zeichen erfolgte in 73 Spalten zu je 23 Zeichen, und so weiter. Sie sehen, man kann viel unterbringen in ein bisschen Mathematik, und wenn Sie nun Punkt und Strich in Schwarz und Weiß umwandeln — oh Wunder! —, erhalten Sie ein Muster.«
Sie hielt ein Blatt mit einer Grafik hoch. Der Eindruck war der eines grob gepixelten Computerausdrucks. Manches wirkte abstrakt, anderes ließ deutliche Formen erkennen.
»Die obersten Zeilen geben Auskunft über die Zahlen l bis 10 und damit über unser Rechensystem. Darunter kommen die Ordnungszahlen chemischer Elemente: Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Phosphor. Sie sind von wesentlicher Bedeutung für unseren Planeten und das irdische Leben. Danach geht’s weiter mit einer umfangreichen Aufschlüsselung irdischer Biochemie, Formeln von Zuckern und Basen, Struktur der Doppelhelix, und so weiter. Der Umriss im unteren Drittel zeigt einen Menschen, direkt verbunden mit der DNA-Struktur, was Auskünfte über die hiesige Evolution erteilt. Ein außerirdischer Empfänger wird sich kaum mit irdischen Maßeinheiten auskennen, also haben wir die durchschnittliche Körpergröße eines Menschen über die Wellenlänge der übertragenen Radiosignale ausgedrückt.
Dann folgt noch eine Darstellung unseres Sonnensystems, und zum guten Schluss skizzierten wir Aussehen, Arbeitsweise und Größe des Arecibo-Teleskops, von dem das alles abgeschickt wurde.«
»Hübsche Einladung, eben mal herzufliegen und uns aufzufressen«, bemerkte Vanderbilt.
»Ja, damit hat uns Ihre Behörde schon immer in den Ohren gelegen. Und jedes Mal haben wir geantwortet, dass es dieser Einladung nicht bedarf. Seit Jahrzehnten werden Radiowellen in den Weltraum abgestrahlt. Unser gesamter Funkverkehr, auch der geheimdienstliche. Man muss diese Wellen nicht entziffern, um zu begreifen, dass sie nur von einer technischen Zivilisation stammen können.« Crowe legte das Diagramm aus der Hand. »Die Arecibo-Botschaft wird 26000 Jahre unterwegs sein, also erhalten wir die Antwort frühestens in 52000 Jahren. Ich kann Sie beruhigen, diesmal geht’s schneller. Wir werden mehrstufig vorgehen. Unsere erste Botschaft wird einfach sein, tatsächlich nur zwei Mathematikaufgaben. Wenn die da unten Sportsgeist haben, antworten sie. Dieser erste Austausch hat die Funktion, die Existenz der Yrr nachzuweisen und festzustellen, ob ein Dialog überhaupt zustande kommen kann.«
»Warum sollten sie antworten?«, fragte Greywolf. »Sie wissen doch schon alles über uns.«
»Sie wissen vielleicht einiges, aber nicht unbedingt das Wichtigste, nämlich dass wir intelligent sind.«
»Wie bitte?« Vanderbilt schüttelte den Kopf. »Die zerstören unsere Schiffe! Also wissen sie, dass wir so was bauen können. Wie sollten sie an unserer Intelligenz zweifeln?«
»Dass wir technische Konstruktionen herstellen, ist kein Beweis für Intelligenz. Werfen Sie einen Blick auf einen Termitenhügel — eine architektonische Glanzleistung.«
»Das ist was anderes.«
»Kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross. Sollte es zutreffen, dass die Kultur der Yrr, wie Dr. Johanson sagt, einzig auf Biologie fußt, müssen wir bezweifeln, dass sie uns gezielten und strukturierten Denkens überhaupt für fähig halten.«
»Sie meinen, die halten uns für …« Vanderbilt verzog angewidert die Lippen. »Tiere?«
»Für Schädlinge vielleicht.«
»Pilzbefall«, grinste Delaware. »Vielleicht haben wir es ja mit Kammerjägern zu tun.«
»Sehen Sie, ich habe mich der Mühe unterzogen, deren Denkstruktur zu ergründen und daraus auf ihre Lebensweise zu schließen«, sagte Crowe. »Ich weiß, das ist alles furchtbar spekulativ, aber irgendwie müssen wir unsere Versuche der Kontaktaufnahme ja eingrenzen. Ich habe also darüber nachgedacht, warum den vielen kriegerischen Kontakten ihrerseits kein einziger diplomatischer vorausging. Es kann heißen, dass sie keinen Wert auf Diplomatie legen. Es kann aber auch bedeuten, dass ihnen gar nicht erst der Gedanke gekommen ist. Gut, auch ein Heer roter Wanderameisen würde mit einem Tier, über das sie herfallen, keine diplomatischen Höflichkeiten austauschen. Allerdings folgen Ameisen ausgeklügelten Instinkten. Die Yrr hingegen weisen sich durch planerisches Vorgehen aus, das von Erkenntnisfähigkeit geprägt ist. Sie entwickeln kreative Strategien. Wenn sie also intelligent und sich ihrer Intelligenz bewusst sind, scheint das keineswegs einherzugehen mit gängigen Vorstellungen von Moral und Ethik, Gut und Böse. In ihrer Logik ist es vielleicht nur konsequent, unsere Spezies mit aller Härte zu bekämpfen. Und solange wir ihnen keinen Grund geben, diese Konsequenz zu überdenken, werden sie es auch nicht tun.«
»Wozu überhaupt eine Nachricht, wenn sie ohnehin schon unsere Tiefseekabel anfressen?«, fragte Rubin. »Daraus müssten die Biester doch alle Informationen saugen können.«
»Da bringen Sie was durcheinander«, lächelte Shankar. »Sam’s Arecibo-Botschaft ist für Außerirdische nur darum verständlich, weil sie so aufgebaut wurde, dass ein fremder Geist sie dechiffrieren kann. Die Mühe machen wir uns bei unserem täglichen Datenaustausch nicht. Für eine fremde Intelligenz kommt da nicht mehr raus als ein Heidendurcheinander.«
»Stimmt«, sagte Johanson. »Aber schauen wir mal weiter. Ich hatte diese Idee mit der Biotechnologie, und Sam greift sie auf. Warum? Weil sie offensichtlich ist. Keine Maschinen, keine Technik. Stattdessen pure Genetik, Organismen als Waffen, gezielte Mutationen. Die Yrr müssen der Natur in ganz anderer Weise verhaftet sein als wir. Ich könnte mir vorstellen, dass sie ihrer natürlichen Umwelt bei weitem nicht so entfremdet sind wie wir.«
»Also edle Wilde?«, fragte Peak.
»Edel würde ich nicht sagen. Ich meine, es ist verwerflich, die Luft mit Maschinenabgasen zu verpesten. Es kann ebenso verwerflich sein, Tiere zu züchten und genetisch zu verändern, wie es einem gerade in den Kram passt. Ich treffe nur Aussagen darüber, wie sie die Bedrohung ihres Lebensraums durch uns empfinden. Wir machen uns Gedanken über die Abholzung des Regenwaldes. Die einen sind dagegen, die anderen tun es trotzdem. Sie sind vielleicht der Regenwald, im übertragenen Sinne. Dafür spricht, wie sie mit Biologie umgehen — und an diesem Punkt kommt etwas hinzu, das mir auffällig erscheint.
Sieht man von den Walen ab, bedienen sie sich in fast allen Fällen massenhaft auftretender Lebensformen. Würmer, Medusen, Großquallen, Muscheln, Krabben — alles Schwarmwesen. Sie opfern Millionen davon zur Erreichung ihrer Ziele. Der Einzelne gilt ihnen nichts. Würden Menschen so denken? Wir züchten Viren und Bakterienkulturen, aber vornehmlich setzen wir auf künstliche Waffen in überschaubarer Stückzahl. Biologische Massenvernichtungsmittel sind nicht wirklich unser Ding. Die Yrr hingegen scheinen sehr damit vertraut zu sein. Warum? Weil sie vielleicht selber Schwarmwesen sind?«
»Sie glauben …«
»Ich denke, dass wir es mit einer Kollektivintelligenz zu tun haben.«
»Und wie fühlt eine Kollektivintelligenz?«, fragte Peak.
»Wie fühlt ein Fischer, würde sich ein Fisch im Netz fragen, wenn er zu solcher Reflektion befähigt wäre«, sagte Anawak. »Warum müssen er und Millionen andere ersticken? Ist das nicht Massenmord?«
»Nein«, sagte Vanderbilt. »Das sind Fischstäbchen.«
Crowe hob die Hände.
»Ich stimme Dr. Johanson zu«, sagte sie. »Und die Schlussfolgerung ist, dass die Yrr einen Kollektivbeschluss gefasst haben, in dem die Frage nach moralischer Verantwortung und Mitgefühl nicht aufkommt. Wir können ihnen nicht mit unschuldigen Kulleraugen kommen, was im Film noch bei dem widerlichsten kosmischen Schleimbeutel klappt. Wir können nur eines versuchen: Ihr Interesse dafür zu wecken, lieber mit uns zu kommunizieren als uns umzubringen. Ohne physikalische und mathematische Kenntnisse hätten die Yrr nicht vollbringen können, was sie bislang vollbracht haben, also fordern wir sie zu einem mathematischen Duell heraus — bis zu dem Punkt, da ihnen ihre Logik oder meinethalben ihre unbegreifliche Moral gebieten wird, ihr Handeln zu überdenken.«
»Dass wir intelligent sind, muss ihnen klar sein«, beharrte Rubin. »Wenn sich jemand durch die Beherrschung von Physik und Mathematik auszeichnet, dann ja wohl wir.«
»Ja, aber sind wir eine bewusste Intelligenz?«
Rubin blinzelte verwirrt. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, sind wir uns unserer Intelligenz bewusst?«
»Na sicher!«
»Oder sind wir ein lernfähiger Computer? Wir kennen die Antwort, aber kennen die anderen sie auch? Theoretisch können Sie ein komplettes Hirn durch elektronische Pendants ersetzen, dann erhalten Sie künstliche Intelligenz. Die kann alles, was sie auch können. Sie konstruiert Ihnen ein Raumschiff und trickst die Lichtgeschwindigkeit aus. Aber ist dieses Computerhirn sich seiner Leistungen bewusst? 1997 hat Deep Blue, ein IBM-Computer, den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow im Schach geschlagen. Verfügt Deep Blue deswegen über Bewusstsein? Hat der Computer gesiegt, ohne zu wissen, warum? Muss man zwangsläufig annehmen, wir seien Lebewesen von bewusster Intelligenz, nur weil wir Städte bauen und Tiefseekabel verlegen? Bei SETI haben wir jedenfalls nie ausgeschlossen, auf eine Maschinenzivilisation zu stoßen, die ihre Konstrukteure überdauert und sich seit Jahrmillionen selbstständig weiterentwickelt hat.«
»Und die da unten? Ich meine, wenn es stimmt, was Sie sagen — vielleicht sind die Yrr ja auch nur Ameisen mit Flossen. Ohne Werte, ohne … ohne …«
»Richtig. Das ist der Grund, warum wir mehrstufig vorgehen«, sagte Crowe lächelnd. »Erst mal will ich wissen, ob da jemand ist. Zweitens, ob man in einen Dialog mit ihm treten kann. Drittens, ob sich die Yrr des Dialogs und ihrer selbst überhaupt bewusst sind. Erst dann, wenn ich zu dem Schluss gelange, dass sie neben all ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten auch noch Vorstellungsvermögen und Verständnis mitbringen, bin ich bereit, sie als intelligente Wesen zu betrachten. Erst dann hat es Sinn, über Werte nachzudenken, und seihst dann sollte keiner hier im Raum erwarten, dass sie deckungsgleich mit unseren sind.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ich will mich nicht in wissenschaftliche Diskussionen einmischen«, sagte Li schließlich. »Pure Intelligenz ist kalt. Intelligenz gekoppelt mit Bewusstsein ist etwas anderes. Meines Erachtens müssen daraus Werte entstehen. Wenn die Yrr eine bewusste Intelligenz darstellen, müssen sie zumindest einen Wert anerkennen, nämlich den des Lebens. Und das tun sie, denn sie versuchen, sich zu schützen. Also haben sie Werte. Die Frage ist also, ob es irgendwo vielleicht doch eine Schnittmenge mit menschlichen Werten gibt, und sei sie noch so klein.«
Crowe nickte.
»Ja«, sagte sie. »Und sei sie noch so klein.«
Am späten Nachmittag schickten sie den ersten, gebündelten Schallimpuls in die Tiefe. Sie wählten einen Frequenzbereich, den Shankar festgelegt hatte und der im Spektrum des unidentifizierten Geräuschs lag, das die SOSUS-Leute Scratch getauft hatten.
Das Modem modulierte die Frequenz. Das Signal wurde hier und da zurückgeworfen, es kam zu Interferenzen. Crowe und Shankar saßen im CIC und modulierten wiederum die Modulationen, bis sie zufrieden waren. Nach einer Stunde war Crowe sicher, dass die Botschaft für jemanden, der Schallwellen verarbeiten konnte, eindeutig zu verstehen war. Ob die Yrr einen Sinn darin entdecken würden, stand auf einem anderen Blatt.
Und ob sie es für notwendig erachten würden, darauf zu antworten.
Crowe saß im dämmrigen CIC auf der Kante ihres Sessels und empfand ein seltsames Hochgefühl bei dem Gedanken, wie nah sie plötzlich dem Kontakt war, den sie jahrzehntelang herbeigesehnt hatte. Zugleich empfand sie Furcht. Sie spürte eine erdrückende Verantwortung auf sich und den Mitgliedern der Expedition lasten. Das hier war kein Abenteuer wie Arecibo und SETI. Es war der Versuch, eine Katastrophe zu stoppen und die Menschheit zu retten.
Der akademische Traum war zum Alptraum geworden.
Anawak kletterte aus dem Schiffsinnern hoch in die Insel, durchquerte die schmalen Gänge und betrat das Flugdeck.
Das Dach hatte sich im Verlauf der Reise zu einer Art Promenade entwickelt. Wer immer Zeit fand, sich die Beine zu vertreten, schlenderte dort herum, hing seinen Gedanken nach oder besprach sich mit anderen. So paradox es scheinen mochte, hatte sich ausgerechnet die Start— und Landefläche des größten Helikopterträgers der Welt zu einem Ort der Ruhe und des Ideenaustauschs entwickelt. Die sechs Super-Stallions und zwei Super-Cobra -Kampfhubschrauber standen verloren in der asphaltierten Weite.
Greywolf pflegte sein Exotendasein auch an Bord der Independence, wenngleich Delaware eine zunehmende Rolle darin spielte. Eher unspektakulär wuchsen die beiden zusammen. Delaware ließ ihm klugerweise seine Ruhe, was dazu führte, dass er es war, der ihre Gesellschaft suchte. Nach außen hin gaben sie sich als Freunde. Aber Anawak entging nicht, wie das Vertrauen auf beiden Seiten wuchs. Die Signale waren unverkennbar. Immer seltener assistierte Delaware nun ihm, sondern kümmerte sich zusammen mit Greywolf um die Pflege der Delphine.
Anawak fand Greywolf an der Bugkante, wo er im Schneidersitz hockte, den Blick seewärts gewandt. Er setzte sich neben ihn und sah, dass Greywolf an etwas schnitzte.
»Was ist das?«, fragte er.
Greywolf reichte es ihm. Es war ziemlich groß und fast vollendet, ein kunstvoll gearbeitetes Stück Zedernholz. Eine Seite mündete in einem Griff. Der weit größere Teil zeigte ineinander verschlungene Figuren. Anawak erkannte zwei Tiere mit mächtigen Gebissen, einen Vogel und einen Menschen, der offenbar zum Spielball der Kreaturen wurde. Er strich mit den Fingern über das Material.
»Schön«, sagte er.
»Es ist eine Replik.« Greywolf grinste. »Ich mache nur Repliken. Für Originale fehlt mir das Blut.« »Das reine Blut der Indianer.« Anawak lächelte.
»Verstehe schon.«
»Du verstehst wie immer nicht.«
»Schon gut. Was zeigt es?«
»Das, was du siehst.«
»Sei nicht so verdammt überheblich. Erklär’s mir einfach oder lass es bleiben.«
»Es ist eine Zeremonienkeule. Tla-o-qui-aht. Das Original ist aus Walknochen gemacht. Entstammt einer privaten Sammlung aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Was du siehst, ist eine Geschichte aus der Zeit der Vorfahren. Ein Mann stieß eines Tages auf einen geheimnisvollen Käfig mit allen möglichen Kreaturen und nahm ihn mit in sein Dorf. Kurz darauf wurde er krank. Ein starkes Fieber packte ihn, gegen das niemand etwas tun konnte. Keiner wusste, was dazu geführt hatte, dass der Mann so krank war, aber dann träumte er selber den Grund. Er sah, dass die Kreaturen im Käfig schuld waren. In seinen Träumen griffen sie ihn an, weil sie nämlich nicht einfach Tiere waren, sondern Transformer, Gestaltwandler.« Greywolf zeigte auf ein gedrungenes Wesen, das zur Hälfte Säugetier und zur Hälfte Wal war. »Hier siehst du einen Wolf-Killerwal. Im Traum fiel er über den Mann her und packte ihn beim Kopf. Dann kam ein Donnervogel und versuchte den Mann zu retten. Du kannst sehen, wie er die Krallen in die Seiten des Wolf-Killerwals schlägt, aber während sie kämpften, erschien ein Bär-Killerwal, dem es gelang, die Füße des Kranken zu packen. Der Mann erwachte und erzählte seinem Sohn, was er geträumt hatte. Kurz darauf starb er. Der Sohn schnitzte diese Keule und erschlug damit 6000 Gestaltwandler, um den Tod seines Vaters zu rächen.«
»Und was ist der tiefere Sinn?«
»Muss alles einen tieferen Sinn haben?«
»In diesem Fall wird es einen haben. Es ist der ewige Kampf, nicht wahr? Zwischen den Kräften des Guten und des Bösen.«
»Nein.« Greywolf strich sich das Haar aus der Stirn. »Die Geschichte erzählt vom Leben und vom Sterben. Das ist alles. Am Ende stirbst du, so viel steht fest, und bis dahin ist es ein einziges Auf und Ab. Du selber bist machtlos. Du kannst dein Leben gut oder schlecht leben, aber was mit dir geschieht, bestimmen höhere Kräfte. Wenn du im Einklang mit der Natur lebst, wird sie dich heilen, stellst du dich gegen sie, wird sie dich vernichten, aber die wichtigste Erkenntnis ist, dass nicht du die Natur beherrschst, sondern sie dich.«
»Der Sohn des Mannes scheint diese Erkenntnis nicht geteilt zu haben«, sagte Anawak. »Warum sonst hat er sich für den Tod seines Vaters rächen wollen?«
»Die Geschichte sagt nicht, dass er richtig gehandelt hat.«
Anawak gab Greywolf die Zeremonienkeule zurück, griff in seinen Anorak und förderte die Skulptur des Vogelgeists zutage.
»Kannst du mir auch dazu was erzählen?«
Greywolf betrachtete das Stück. Er nahm es in die Hände und drehte es. »Das stammt nicht von der Westküste«, sagte er.
»Nein.«
»Marmor. Es kommt ganz woanders her. Aus deiner Heimat?«
»Cape Dorset.« Anawak zögerte. »Ich habe es von einem Schamanen bekommen.«
»Du lässt dir was von einem Schamanen schenken?«
»Er ist mein Onkel.«
»Und was hat er dir dazu erzählt?«
»Wenig. Er meinte, der Vogelgeist würde meine Gedanken in die richtige Richtung tragen, wenn es so weit wäre. Und er sagte, dass ich dafür möglicherweise einen Mittler brauche.«
Greywolf schwieg eine Weile.
»Es gibt Vogelgeister in allen Kulturen«, sagte er. »Der Donnervogel ist ein alter indianischer Mythos, er repräsentiert viele Facetten. Er ist Teil der Schöpfung, ein Naturgeist, ein höheres Wesen, aber er steht auch für die Identität eines Clans. Ich kenne eine Familie, die ihren Namen auf einen Donnervogel zurückführt, den ihre Vorfahren einst auf dem Gipfel eines Berges in der Nähe von Ucluelet gesehen haben. Aber es gibt noch andere Bedeutungen für Vogelgeister.«
»Sie tauchen immer in Verbindung mit Köpfen auf, nicht?«
»Ja. Erstaunlich, was? Auf alten ägyptischen Darstellungen findest du oft das Bild eines vogelähnlichen Kopfschmucks. Dort hat der Vogelgeist die Bedeutung von Bewusstsein. Es ist im Schädelraum gefangen wie in einem Käfig. Sobald der Schädel geöffnet wird — im übertragenen Sinne —, kann es entkommen, aber du kannst es auch wieder zurück in den Schädel locken. Dann bist du wieder bei Bewusstsein oder wach.«
»Das heißt, im Schlaf geht mein Bewusstsein auf Reisen.«
»Du träumst, aber deine Träume sind keine Phantasien. Sie zeigen dir, was das Bewusstsein in den höheren Welten sieht, die dir normalerweise verborgen bleiben. Hast du mal die Federkrone eines Cherokee-Häuptlings gesehen?«
»In Wildwestfilmen, um ehrlich zu sein.«
»Macht nichts. Mit der Federkrone bringt er zum Ausdruck, dass sein unsichtbarer Geist in seinem Kopf Feder um Feder Gestalten schreibt. Einfacher gesagt, der Kopf hatte eine Reihe guter Einfälle, und darum ist er Häuptling.«
»Die beflügelten Gedanken.«
»Durch Federn, ja. Bei anderen Stämmen reicht oft eine einzige Feder, sie hat dieselbe Bedeutung. Der Vogelgeist repräsentiert das Bewusstsein. Darum durften Indianer auf keinen Fall ihren Skalp oder ihre Skalpfeder verlieren, weil sie zugleich ihr Bewusstsein verloren, schlimmstenfalls für immer.« Greywolf runzelte die Brauen. »Wenn ein Schamane dir diese Skulptur gegeben hat, dann hat er dich auf dein Bewusstsein hingewiesen, auf die Kraft deiner Ideen. Du sollst sie nutzen, aber dafür musst du deinen Geist öffnen. Er muss auf Wanderschaft gehen, und das heißt, er muss sich mit dem Unbewussten zusammenschließen.«
»Warum hast du eigentlich keine Feder im Haar?«
Greywolf verzog die Mundwinkel. »Weil ich, wie du so treffend bemerkt hast, kein richtiger Indianer bin.«
Anawak schwieg. »Ich hatte einen Traum in Nunavut«, sagte er nach einer Weile.
Greywolf erwiderte nichts.
»Sagen wir, mein Geist ging auf Reisen. Ich sank durch das Meereis in die schwarze See. Dann verwandelte sich die See in einen Himmel, und ich stieg einen Eisberg hinauf, bis ich sehen konnte, dass er im blauen Meer trieb. Nach allen Seiten war nichts als Wasser. Wir reisten zusammen über dieses Meer, und ich dachte, der Eisberg wird schmelzen. Komisch, ich empfand keine Angst, nur Neugierde. Ich wusste, dass ich versinken würde, wenn es so weit war, aber ich fürchtete nicht zu ertrinken. Es kam mir eher so vor, als ob ich eintauchen würde in etwas Neues, Unbekanntes.«
»Was hast du erwartet, dort unten vorzufinden?«
Anawak dachte nach. »Leben«, sagte er.
»Was für Leben?«
»Ich weiß nicht. Einfach nur Leben.«
Greywolf blickte auf die kleine, grüne Marmorskulptur des Vogelgeists in seiner riesigen Hand.
»Mal ehrlich, warum sind wir eigentlich an Bord, Licia und ich?«, fragte er unvermittelt.
Anawak schaute aufs Meer hinaus.
»Weil man euch braucht.«
»Nicht wirklich, Leon. Mich vielleicht, weil ich mit Delphinen zurechtkomme, aber ebenso gut hättet ihr jeden anderen Trainer der Navy nehmen können. Und Licia hat überhaupt keine Funktion.«
»Sie ist eine hervorragende Assistentin.«
»Setzt du sie ein? Brauchst du sie?«
»Nein.« Anawak seufzte. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Wenn man nur lange genug hineinsah und sich vorstellte, dass es genau umgekehrt sei — dass man selber in Wirklichkeit oben war und die Wolken eine tief unten liegende Landschaft bildeten, und dass man nicht auf Dunstberge, sondern auf Hügel, Täler, Flüsse und Seen schaute —, dann glaubte man es irgendwann. Man glaubte es so sehr, dass man sich festhalten musste, um nicht in die Tiefe zu stürzen, die über einem hing. »Nein, ihr seid an Bord, weil ich es mir gewünscht habe.«
»Du hast es dir gewünscht. Warum?«
»Weil ihr meine Freunde seid.«
Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Anawak erkannte immer mehr Details in den Wolken. Details einer Welt, die viele Kilometer entfernt lag. Unendlich viel weiter als die Welt der Yrr.
»Ich schätze, das sind wir«, nickte Greywolf.
Anawak lächelte. »Weißt du, ich bin eigentlich mit allen Menschen gut ausgekommen, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals Freunde gehabt zu haben. Richtige Freunde. Schon gar nicht hätte ich gedacht, dass ich eine anstrengende kleine Doktorandin als Freundin bezeichnen würde, die alles besser weiß. Oder einen baumlangen Spinner, mit dem ich mich fast geprügelt hätte.«
»Die kleine Doktorandin hat getan, was Freunde auszeichnet.«
»Und das wäre?«
»Sie hat sich für dein dämliches Leben interessiert.«
»Ja. Das hat sie allerdings.«
»Und wir beide sind immer Freunde gewesen. Wahrscheinlich waren nur …« Greywolf zögerte, dann hielt er die Skulptur hoch und grinste. »… nur unsere Köpfe eine Weile verschlossen.«
»Was meinst du, warum träumt man so was?«
»Dein Eisberg-Traum?«
»Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, und du weißt, ich bin alles, nur kein Esoteriker. Ich hasse diesen Scheiß. Aber irgendetwas war da in Nunavut, das ich nicht erklären kann. Etwas ist mit mir passiert. Spätestens draußen auf dem Eis, als ich diesen Traum hatte.«
»Was glaubst du denn selber?«
»Diese unbekannte Macht, diese Bedrohung, sie lebt unter Wasser. In der Tiefsee. Vielleicht werde ich sie dort treffen. Vielleicht ist es meine Aufgabe, runterzugehen und …«
»Die Welt zu retten?«
»Ach, vergiss es.«
»Willst du wissen, was ich glaube, Leon?«
Anawak nickte.
»Ich denke, du liegst völlig daneben. Jahrelang hast du dich verbuddelt und dein blödes Eskimo-Trauma mit dir rumgeschleppt. Du bist dir und allen auf den Sack gegangen. Vom Leben hast du gar nichts verstanden. Dein Eisberg, auf dem du einsam dahingetrieben bist, das warst du selber. Ein eisiger, unnahbarer Klotz. Aber du hast Recht, irgendwas ist dort mit dir passiert, und der Klotz hat angefangen zu schmelzen. Dieser Ozean, in den du sinken wirst, ist nicht das Meer, in dem die Yrr wohnen. Es ist das Leben der Menschen. Da gehörst du hin. Das ist das Abenteuer, das auf dich wartet. Freundschaften, Liebe, all das. Und auch Feinde, Hass und Wut. — Deine Rolle ist nicht, den Helden zu spielen. Du musst niemandem beweisen, dass du Mut hast. Die Heldenrollen in dieser Geschichte sind bereits verteilt, und es sind Rollen für Tote. — Du gehörst in die Welt der Lebenden.«
Jeder von ihnen ruhte anders.
Crowe, klein und zierlich, hatte sich fest in ihr Bettzeug gerollt. Ihr eisgrauer Schopf schaute zur Hälfte heraus. Sie verschwand fast in den Laken, während Weaver auf dem Bauch schlief, nackt und ohne Decke, den Kopf seitwärts gedreht, den Unterarm als Kissen benutzend. Die kastanienfarbenen Locken ringelten sich üppig nach allen Seiten, sodass nur der halb geöffnete Mund zu sehen war. Shankar gehörte augenscheinlich zu den Leuten, deren Betten am nächsten Morgen jedes Mal so aussahen, als hätten sich die Alpträume vieler Nächte darin abgesetzt. Er war ein Wühler, der im Schlaf das halbe Bettzeug umsortierte und dabei sporadisches, ersticktes Schnarchen und Gemurmel von sich gab.
Rubin war die meiste Zeit wach.
Auch Greywolf und Delaware schliefen wenig, weil sie beständig Sex hatten, vornehmlich auf dem Kabinenboden. Meist lag Greywolf auf dem Rücken, kupferbraun und mächtig wie ein mythisches Tier, und trug Delawares milchweißen Körper. Zwei Kabinen weiter ruhte Anawak auf der Seite, bekleidet mit einem T-Shirt. Auch Oliviera ließ konventionelles Schlafgebaren erkennen. Beide atmeten ruhig, drehten sich im Verlauf der Nacht ein— bis zweimal um, und das war’s.
Johanson lag auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt, Handflächen nach außen. Nur die Betten in Flaggland und Offiziersland ließen derart raumgreifende Gewohnheiten zu. Die Pose war dem Norweger so sehr zu Eigen, dass ihn eine Verehrerin vor Jahren mitten in der Nacht geweckt hatte, nur um ihm zu sagen, er schlafe wie ein Großgrundbesitzer. Er hatte die Geschichte an einem Abend im Chateau zum Besten gegeben, und tatsächlich schlief er jede Nacht so — ein Mann, der noch mit geschlossenen Augen wirkte, als wolle er das Leben umarmen.
Sie alle schliefen oder wachten auf einer Reihe glimmender Bildschirme. Jeder der Monitore überblickte eine komplette Kabine. Zwei Männer in Uniform saßen im Halbdunkel davor und beobachteten die Wissenschaftler. Hinter ihnen standen Li und der Stellvertretende CIA-Direktor.
»Die reinsten Engelchen«, sagte Vanderbilt.
Li sah mit unbewegter Miene zu, wie Delaware zum Höhepunkt kam. Der Ton war leise gestellt, trotzdem drang einiges von der Konzertierung des Liebesakts in die kühle Atmosphäre des Kontrollzentrums.
»Freut mich, dass es Ihnen gefällt, Jack.«
»Der kleine Muskelprotz da wäre mehr nach meinem Geschmack«, sagte Vanderbilt und zeigte auf Weaver. »Bemerkenswerter Arsch, finden Sie nicht?«
»Verliebt?«
Vanderbilt grinste. »Ich muss doch sehr bitten.«
»Setzen Sie Ihren Charme ein«, sagte Li. »Immerhin haben Sie gut zwei Zentner davon.«
Der CIA-Direktor tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Sie sahen noch eine Weile zu. Wenn Vanderbilt Gefallen an dem Geschehen fand, sollte er sich ruhig amüsieren. Li war es gleichgültig, ob die Leute auf den Monitoren schnarchten, miteinander schliefen oder das Rad schlugen. Ihretwegen hätten sie sich mit den Füßen an die Decke hängen oder geifernd übereinander herfallen können.
Hauptsache, man wusste, wo sie waren, was sie taten und was sie miteinander sprachen.
»Weitermachen«, sagte sie und wandte sich ab. Im Hinausgehen fügte sie hinzu: »Und in alle Kabinen schauen.«
Die Antwort blieb aus.
Unablässig war die Nachricht ins Meer abgestrahlt worden, bislang ohne Ergebnis. Um 07.00 Uhr hatte sie der Weckruf aus den Kojen geworfen. Die meisten waren unausgeschlafen. Normalerweise lullten einen die Bewegungen des Riesenschiffes ein, und da keine Flugeinsätze stattfanden, drang vom Dach kein Lärm nach unten. Das CPS sorgte mit leichtem Brummen für angenehm gleich bleibende Temperaturen, und die Betten waren wirklich bequem. Hin und wieder ließen sich auf den Gängen Schritte vernehmen, wenn jemand von der Besatzung unterwegs war. Im Bauch des Schiffes hummelten leise die Generatoren. Man hätte wunderbar schlummern können, wäre da nicht diese Erwartungshaltung gewesen. So fanden die meisten nur zu halb wachen Grübeleien wie Johanson, der sich vorzustellen versuchte, was die Botschaft in den Tiefen der Grönländischen See auslösen mochte, bis ihn die wildesten Phantasien heimsuchten.
Dass sie überhaupt vor Grönland lagen und nicht weiter südlich, verdankte sich seinem Plädoyer und der Unterstützung durch Weaver und Bohrmann. Anawak, Rubin und einige andere hatten vorgeschlagen, den Kontakt unmittelbar über den Vulkanketten des Mittelatlantischen Rückens zu suchen. Rubins entscheidendes Argument war die Ähnlichkeit der dort ansässigen Schlotkrabben mit den Krabben gewesen, die New York und Washington überfallen hatten. Zudem gab es sonst kaum Plätze in der Tiefsee, die Voraussetzungen für höher entwickeltes Leben boten. An den Vulkangräben hingegen waren sie ideal. Heißes Wasser trat aus meterhohen Felskaminen und förderte alle möglichen Mineralien und lebenswichtigen Stoffe zutage. Würmer, Muscheln, Fische und Krabben lebten dort unter Bedingungen, die sich durchaus mit denen auf einem fremden Planeten vergleichen ließen — warum also nicht auch die Yrr?
Johanson hatte Rubin in den meisten Punkten Recht gegeben. Aber zwei Gründe sprachen gegen Rubins Vorschlag. Einer war, dass die Vulkanketten zwar den lebensfreundlichsten Bereich der Tiefsee darstellten, zugleich aber auch den lebensfeindlichsten — in kurzen Abständen brach sich flüssiges Gestein dort Bahn, wenn die ozeanischen Platten auseinander strebten. Es kam zu Eruptionen, in deren Verlauf die Biotope vollständig vernichtet wurden. Wenig später fasste neues Leben dort Fuß. Eine komplexe, intelligente Zivilisation, schlussfolgerte Johanson, würde sich dennoch kaum in einer derartigen Zone ansiedeln.
Der zweite Grund war, dass die Chance der Kontaktaufnahme wuchs, je näher man den Yrr kam. Wo genau sie zu finden waren, darüber gingen die Meinungen auseinander. Jeder hatte wahrscheinlich auf seine Weise Recht. Einiges sprach dafür, dass sie im Benthos lebten, in den tiefsten Meeresregionen. Viele Phänomene der jüngeren Zeit waren in unmittelbarer Nähe solcher Tiefseegräben aufgetreten. Ebenso viel sprach für die Abyssale, die gewaltigen Tiefseebecken, und natürlich waren Rubins Hinweise auf die Leben spendende Umgebung der mittelozeanischen Oasen nicht von der Hand zu weisen. Am Ende hatte Johanson darum vorgeschlagen, das Augenmerk nicht auf den natürlichen Lebensraum der Yrr zu lenken, sondern eine Stelle auszuwählen, an der sie definitiv sein mussten.
In der Grönländischen See war der Absturz der kalten Wassermassen gestoppt worden. Als Folge erlahmte der Golfstrom. Nur zwei Ursachen konnten dieses Phänomen erklären: eine unmittelbare Erwärmung des Meeres oder ein Überangebot an Süßwasser, das von der Arktis südwärts floss und das salzige Nordatlantikwasser verdünnte, sodass es zu leicht wurde um abzustürzen. Beides deutete auf eine rege und umfangreiche Manipulation der Verhältnisse vor Ort hin. Irgendwo in der Arktis waren die Yrr damit beschäftigt, diese ungeheuren Umwälzungen voranzutreiben.
Irgendwo ganz in der Nähe.
Blieb der Sicherheitsaspekt. Selbst Bohrmann, der sich angewöhnt hatte, das Schlimmste zu befürchten, räumte ein, dass die Gefahr durch einen Methan-Blowout im grönländischen Tiefseebecken eher gering war. Bauers Schiff hatte es in Landnähe vor Svalbard erwischt, wo massenhaft Hydrat im Kontinentalhang lagerte. Unter dem Kiel der Independence erstreckten sich jedoch dreieinhalbtausend Meter Wassertiefe. So weit unten lagerte vergleichsweise wenig Methan, jedenfalls kaum genug, um ein Schiff von der Größe der Independence zu versenken. Dennoch, für alle Fälle, hatte die Independence im Verlauf ihrer Fahrt regelmäßige seismische Messungen durchgeführt, um Methanvorkommen im Meeresboden nachzuweisen, und auf diese Weise einen Standort gefunden, der weitgehend frei davon schien. Selbst ein Tsunami, wie hoch er an Land auch werden mochte, würde sich hier draußen kaum bemerkbar machen — sofern nicht La Palma abrutschte.
Aber dann war ohnehin alles zu spät.
Aus diesen Gründen waren sie nun hier, im ewigen Eis.
Sie saßen in der riesigen, gähnend leeren Offiziersmesse bei Rühreiern und Speck. Anawak und Greywolf fehlten. Johanson hatte nach dem Weckruf einige Minuten mit Bohrmann telefoniert, der in La Palma eingetroffen war und den Einsatz des Saugrüssels vorbereitete. Die Kanaren lagen eine Zeitzone zurück, aber Bohrmann war schon mehrere Stunden auf den Beinen gewesen.
»Ein 500 Meter langer Staubsauger macht nun mal Arbeit«, hatte er lachend gesagt.
»Saugen Sie auch in den Ecken«, empfahl Johanson.
Er vermisste den Deutschen. Bohrmann war ein feiner Kerl. Andererseits mangelte es an Bord der Independence nicht an bemerkenswerten Persönlichkeiten. Gerade unterhielt er sich mit Crowe, als Floyd Anderson hereinkam, der Erste Offizier. Er trug einen topfgroßen Thermosbecher mit der Aufschrift USS Wasp LHD-8 vor sich her, ging hinüber zur Getränkebar und füllte ihn randvoll mit Kaffee.
»Wir haben Besuch«, bellte er in die Runde.
Alle schauten ihn an.
»Kontakt?«, fragte Oliviera.
»Das wüsste ich.« Crowe schob gelassen eine Riesenportion Speck in den Mund. Im Aschenbecher qualmte ihre dritte oder vierte Zigarette. »Shankar sitzt im CIC. Er hätte uns informiert.«
»Was dann? Ist jemand gelandet?«
»Kommen Sie raus aufs Dach«, sagte Anderson geheimnisvoll. »Dann sehen Sie’s.«
Draußen legte sich eine Maske aus Kälte über Johansons Gesicht. Der Himmel war von diffusem Weiß. Graue Wellen schoben sich zu gischtigen Kämmen auf. Der Wind hatte über Nacht zugelegt und blies stecknadeldünne Eiskristalle über die asphaltierte Fläche des Decks. Johanson sah eine Gruppe dick vermummter Personen an der Steuerbordseite stehen. Im Näherkommen erkannte er Li, Anawak und Greywolf. Gleich darauf wurde ihm klar, was ihre Aufmerksamkeit fesselte.
In einigem Abstand zur Independence schoben sich die Silhouetten spitz zulaufender Schwerter durch die See. »Orcas«, sagte Anawak, als Johanson neben ihn trat. »Was tun sie?«
Anawak kniff die Augen gegen den Eispartikelregen zusammen. »Seit etwa drei Stunden umkreisen sie das Schiff. Die Delphine haben sie gemeldet. Ich würde sagen, dass sie uns beobachten.«
Shankar kam aus der Insel gelaufen und gesellte sich an ihre Seite. »Was ist los?« »Jemand ist auf uns aufmerksam geworden«, sagte Crowe. »Vielleicht eine Antwort.« »Auf unsere Botschaft?« »Worauf denn sonst?«
»Komische Antwort auf eine Mathematikaufgabe«, meinte der Inder. »Ich würde ein paar handfeste Gleichungen bevorzugen.«
Die Orcas hielten respektvollen Abstand zum Schiff. Es waren viele. Hunderte, schätzte Johanson. Sie schwammen in gleichmäßigem Tempo und hoben von Zeit zu Zeit ihre schwarz glänzenden Rücken aus den Wellen. Das Ganze machte tatsächlich den Eindruck einer Patrouille. »Könnten sie befallen sein?«, fragte er. Anawak wischte sich Wasser aus den Augen. »Möglich.« »Sagt mal …« Greywolf rieb sich das Kinn. »Wenn dieses Zeug ihre Hirne kontrolliert … Habt ihr mal darüber nachgedacht, dass es uns dann auch sehen kann? Und hören?«
»Du hast Recht«, sagte Anawak. »Es nutzt ihre Sinnesorgane.« »Eben. Auf diese Weise verschafft sich der Glibber Augen und Ohren.« Sie starrten weiter hinaus.
»Wie auch immer.« Crowe zog an ihrer Zigarette und blies Rauch in die eisige Luft. Er trieb in Fetzen davon. »Sieht jedenfalls ganz so aus, als hätte es begonnen.«
»Was?«, fragte Li.
»Das Kräftemessen.«
»Auch gut.« Ein dünnes Lächeln umspielte Lis Lippen.
»Wir sind für alles gerüstet.« »Für alles, was wir kennen«, fügte Crowe hinzu.
Auf dem Weg nach unten — Rubin und Oliviera im Schlepptau — fragte sich Johanson, wann eine Psychose wohl begann, ihre eigene Wirklichkeit zu erzeugen.
Er hatte den Stein ins Rollen gebracht. Gut — wäre er nicht gewesen, hätte jemand anderer die Theorie aufgestellt. Jedenfalls schufen sie Fakten auf der Basis einer Hypothese. Ein Rudel Orcas umrundete die Independence, und sie sahen die Augen und Ohren von Aliens darin. Überall sahen sie Aliens. Als Folge wurden Botschaften ins Meer geschickt und Erwartungen an einen Kontakt geknüpft, der vielleicht nie zustande kommen würde, weil sie auf einen marinen Schimmelpilz hereingefallen waren.
Der fünfte Tag. Nur eine Phantasie, die sich selbständig gemacht hatte? Benahmen sie sich wie die Idioten?
Wir kommen nicht richtig weiter, dachte er frustriert. Irgendetwas muss geschehen. Etwas, das uns Gewissheit gibt, damit wir nicht von Theorien verblendet in die völlig falsche Richtung laufen.
Mit hallenden Schritten gingen sie die Rampe hinunter, passierten das Hangardeck und stiegen weiter hinab. Die Stahltür zum Laborraum war verschlossen. Johanson gab einen Zahlencode ein, und sie glitt mit leisem Zischen auf. Nacheinander schaltete er die Decken— und Standbeleuchtung ein. Kaltes weißes Licht überflutete die Arbeitsinseln. Vom Simulator drang das Summen der elektrischen Systeme herüber.
Sie erstiegen den Rundgang des Hochdrucktanks und traten vor das große, ovale Fenster. Von hier überblickte man den gesamten Beckenraum. Über den künstlichen Meeresboden verteilten sich im Licht der Innenscheinwerfer kleine weiße Körper mit Spinnenbeinen. Einige bewegten sich zögerlich und offenbar ohne Orientierung. Sie liefen im Kreis oder blieben nach wenigen Schritten wieder stehen, als sei ihnen nicht ganz klar, wohin sie eigentlich wollten. Je tiefer man in den Tank hineinsah, desto mehr trübte das Wasser den Blick auf Details. Nahaufnahmen lieferten Kameras im Innern und übertrugen sie auf die Monitore eines vorgelagerten Kontrollpults.
Ratlos betrachteten sie die Krabben.
»Viel hat sich nicht getan seit gestern«, bemerkte Oliviera.
»Nein, sie hocken da und geben uns Rätsel auf.« Johanson rieb sich den Bart. »Wir sollten ein paar öffnen und sehen, was passiert.«
»Krabben knacken?«
»Warum nicht? Dass sie unter hohem Druck weiterleben, wissen wir. Die Erkenntnis wird mit keinem Tag spannender.«
»Weitervegetieren«, korrigierte ihn Oliviera. »Wir haben nicht mal hinreichend geklärt, ob man das Leben nennen kann.«
»Das Zeug in ihrem Innern lebt«, sagte Rubin nachdenklich. »Der Rest ist nicht lebendiger als ein Auto.«
»Einverstanden«, sagte Oliviera. »Aber was ist mit diesem Innenleben? Warum unternimmt es nichts?«
»Was sollte es denn unternehmen, Ihrer Meinung nach?«
»Rumlaufen.« Oliviera zuckte die Achseln. »Mit den Scheren wackeln. Was weiß ich. Die Panzer verlassen. Sehen Sie sich die Biester an. Ich meine, wenn sie darauf programmiert sind, sich an Land zu begeben, um dort Schaden anzurichten und anschließend zu krepieren, stellt sie diese Situation vor echte Schwierigkeiten. Keiner kommt, um ihnen neue Order zu erteilen. Sie sind quasi im Leerlauf.«
»Eben«, sagte Johanson ungeduldig. »Sie sind lethargisch und langweilig, und sie verhalten sich wie batteriegetriebenes Spielzeug. Ich bin Micks Ansicht. Diese Krabbenkörper sind schon tot gezüchtet worden, da ist lediglich ein bisschen Nervenmasse drin, ein Armaturenbrett für die Insassen. Und die will ich jetzt endlich aus der Reserve locken, versteht ihr? Ich will wissen, wie sie sich unter Tiefseebedingungen verhält, wenn man sie zwingt, die Panzer zu verlassen.«
»Gut«, nickte Oliviera. »Schreiten wir zum Gemetzel.«
Sie verließen den Rundlauf, kletterten hinab und traten zur Steuerkonsole. Der Computer bot ihnen die Kontrolle über mehrere Arbeitsroboter im Innern des Tanks an. Johanson wählte eine kleine, zweikomponentige ROV-Einheit namens Spherobot. Über einem Bedienpult mit zwei Joysticks flammten mehrere hoch auflösende Monitore auf. Einer zeigte das Innere des Simulators. Lang und diffus lag es vor ihnen. Das Weitwinkelobjektiv des Spherobot vermochte den kompletten Tank zu überblicken, übertrug das Bild als Folge jedoch in Fischaugenverzerrung.
»Wie viele öffnen wir?«, wollte Oliviera wissen.
Johansons Hände glitten über die Tastatur des Bedienmanuals, und der Blickwinkel der Kamera verschob sich leicht nach oben.
»Wie bei einem guten Scampi-Essen«, sagte er. »Mindestens ein Dutzend.«
Eine der Schmalseiten im Innern des Tanks glich einer zweistöckigen, offenen Garage, in der alles mögliche Tiefsee-Equipment untergebracht war. Mehrere Unterwasser-Roboter unterschiedlicher Größe und Funktion waren darin geparkt, die sich von außen steuern ließen. Anders konnte man in der künstlichen Welt nicht operieren, und ganz nebenbei bot die Garage den Erbauern von AUVs und ROVs die Möglichkeit, ihre Konstruktionen unter den Extrembedingungen der Tiefsee zu testen.
Im Moment, da Johanson die Steuerung aktivierte, flammten an der Unterseite eines Roboters starke Lichter auf, und zwei Propeller begannen sich zu drehen. Ein kastenförmiger Schlitten von der Größe eines Einkaufswagens schwebte langsam aus der Garage hinaus. Sein oberer Bereich war abgedeckt, voll gepackt mit Technik, der untere bestand aus einem leeren Korb mit feinmaschigen Gitterwänden. Er glitt über den künstlichen Meeresboden auf die Krabben zu und stoppte kurz vor einer kleinen Gruppe reglos dahockender Tiere. Klar und deutlich waren die augenlosen, gebogenen Schalen mit den kräftigen Scheren zu sehen.
»Ich schalte um auf die Sphäre«, sagte Johanson.
Das verzerrte Bild wich einer klaren und gestochen scharfen Detailaufnahme.
Aus dem Schlitten, der bewegungslos über den Krebsen hing, schob sich eine rot lackierte Kugel, nicht größer als ein Fußball. Sie war der eigentliche Namensgeber des Gefährts. Wie sie nach draußen schwebte, nur über Kabel mit dem größeren Gerät verbunden, das glänzende Auge des Kameraobjektivs starr geradeaus gerichtet, erinnerte sie an den fliegenden Kampfroboter aus Krieg der Sterne, mit dem Luke Skywalker den Lichtschwertkampf hatte trainieren müssen. Tatsächlich war der Spherobot mit seinen sechs kleinen Steuerdüsen dem cineastischen Vorbild bis ins Detail nachempfunden. Nach kurzer Fahrt sank er langsam tiefer, bis er dicht über den Krabben verharrte. Keines der Tiere ließ sich von dem merkwürdigen roten Ball aus der Ruhe bringen, auch nicht, als Teile seiner Unterseite auseinander glitten und sich aus dem Innern zwei schlanke, mehrgelenkige Arme entfalteten.
Am Ende der Arme begannen Arsenale mit Instrumenten zu rotieren. Dann schob sich links eine Zange hervor und rechts eine kleine Säge. Johansons Hände umspannten die beiden Joysticks und bewegten sie vorsichtig nach vorne, und die Arme des Roboters im Tank folgten seinen Bewegungen.
»Hasta la vista, baby«, sagte Oliviera mit Schwarzenegger-Akzent.
Die Zange fuhr nach unten, packte eine der Krabben um Bauch und Rücken und hob sie vor die Linse der Kamera. Auf dem Monitor hatte das Tier die Größe eines Monsters. Seine Mundwerkzeuge bewegten sich, die Beine strampelten, aber die Scheren hingen schlaff herab. Johanson ließ die Zange um 360° rotieren und beobachtete aufmerksam das Verhalten des sich drehenden Tiers.
»Motorik einwandfrei«, sagte er. »Laufapparat funktioniert.«
»Dafür keine arttypischen Reaktionen«, bemerkte Rubin.
»Nein. Kein Spreizen der Scheren, keine Drohgebärden. Das ist einfach nur ein Automat, eine Laufmaschine.« Er bewegte den zweiten Joystick und drückte einen Knopf an der Oberseite. Die Kreissäge begann sich zu drehen und fuhr seitlich in den Panzer. Kurz zuckten die Beine der Krabbe wie wild.
Der Panzer brach auf.
Etwas Milchiges flutschte nach draußen und hing einen Moment lang zitternd über dem zerstörten Tier.
»Mein Gott«, entfuhr es Oliviera.
Das Ding hatte mit nichts Ähnlichkeit, weder mit einer Qualle noch mit einem Tintenfisch. Es war ganz und gar formlos. Wellen durchliefen seine Ränder, der Körper blähte und verflachte sich. Johanson kam es vor, als zucke ein Blitz durch sein Inneres, aber im grellen Schein der Tankbeleuchtung konnte das auch eine Sinnestäuschung gewesen sein. Während er noch darüber nachdachte, verformte sich das Wesen plötzlich zu etwas Langem, Schlangenartigem und schoss davon.
Er fluchte, hob die nächste Krabbe hoch und schnitt sie auf. Diesmal ging alles noch viel schneller, und der gallertige Insasse machte sich davon, bevor sie ihn richtig anschauen konnten.
»Oh, Mann!« Rubin war offensichtlich begeistert. »Absolut irre! Was ist das bloß für ein Zeug?«
»Etwas, das uns durch die Lappen geht«, knurrte Johanson. »Zu blöde. Wie kriegen wir diese Schleimbeutel bloß eingefangen?«
»Wieso? Wir haben sie doch eingefangen.«
»Ja, zwei tennisballgroße Platschen ohne Form und Farbe in einem Schwimmbad. Viel Spaß beim Suchen.«
»Ich würde den nächsten direkt im Korb des Trägerroboters öffnen«, schlug Oliviera vor.
»Der ist nach vorne offen. Es wird abhauen.«
»Nein, wird es nicht. Der Korb lässt sich schließen. Sie müssen nur schnell genug sein.«
»Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege.«
»Probieren Sie’s einfach.«
Oliviera hatte Recht. Vorne am Käfig des Trägerroboters war eine vergitterte Klappe. Johanson packte ein weiteres Tier, drehte den Spherobot um 180° und ließ ihn auf den Trägerroboter zufahren, bis er seine elektronischen Arme ins Innere des Käfigs strecken konnte. Dort stieß er die Kreissäge in die Seite der Krabbe.
Der Panzer zerbarst.
Nichts geschah.
»Leer?«, wunderte sich Rubin.
Sie warteten einige Sekunden, dann fuhr Johanson den kugelförmigen Roboter langsam wieder zurück.
»Scheiße!«
Das Gallertwesen schnellte aus dem Krabbenkörper hervor, aber es hatte die falsche Richtung gewählt. Heftig prallte es gegen die Käfigrückwand, zog sich zu einem zitternden Ball zusammen und taumelte vor dem Gitter auf und ab. Seine Verwirrung, falls es so etwas wie Verwirrung kannte, währte nur einen Augenblick. Es streckte sich.
»Es will abhauen!« Johanson ließ den Spherobot zurückfahren. Er schlug gegen die Seitenwand des Käfigs, dann war er draußen. Einer der Arme bekam die Drahtklappe zu fassen und warf sie hoch. Das Ding verflachte sich vollends und kam herangeschossen. Wenige Zentimeter vor der Klappe prallte es zurück, wobei es erneut die Form veränderte. Seine Ränder breiteten sich nach allen Seiten aus, bis es wie eine transparente Glocke im Wasser hing und fast den halben Käfig einnahm. Der Körper bog sich. Für Sekunden sah es aus wie eine Qualle, dann rollte es sich zusammen. Im nächsten Moment schwebte wieder eine Kugel im Käfig. »Absolut irre«, flüsterte Rubin. »Seht euch das mal an«, rief Oliviera. »Es schrumpft.« Tatsächlich zog sich die Kugel zusammen und verlor dabei zunehmend an Transparenz. Sie wurde milchiger. »Das Gewebe kontraktiert«, sagte Rubin. »Das Ding kann seine molekulare Dichte ändern.« »Erinnert euch das an irgendwas?« »Frühe Formen von sehr einfachen Polypen.« Rubin überlegte. »Kambrium. Es gibt immer noch Organismen, die so was können. Die meisten Tintenfische lassen ihr Gewebe kontraktieren, aber sie verändern nicht die Form.
— Wir müssen noch welche einfangen. Wir müssen sehen, wie sie reagieren.«
Johanson lehnte sich zurück.
»Nochmal gelingt mir das nicht«, sagte er. »Beim zweiten Versuch wird das hier entwischen. Sie sind zu schnell.«
»Auch gut. Eines reicht ja vorläufig zur Beobachtung.«
»Ich weiß nicht.« Oliviera schüttelte den Kopf. »Beobachten ist schön und gut, aber ich will das Zeug untersuchen, nicht immer nur in Auflösung befindliche Reste. Vielleicht sollten wir das Ding einfrieren und in Scheiben schneiden.«
»Sicher.« Rubin starrte fasziniert auf den Monitor. »Aber nicht sofort. Erst beobachten wir es eine Weile.«
»Wir haben immer noch die beiden anderen. Sieht jemand zufällig eines?«
Johanson schaltete nacheinander sämtliche Monitore ein. Das Innere des Tanks erschien aus verschiedenen Blickwinkeln.
»Verschwindibus.«
»Quatsch. Sie müssen irgendwo sein.«
»Na schön, knacken wir noch ein paar«, sagte Johanson. »Wollten wir ohnehin. Je mehr von dem Glibber im Tank unterwegs ist, desto größer ist die Chance, dass wir was davon zu Gesicht bekommen. Unseren Kriegsgefangenen hier lassen wir zur Sicherheit erst mal im Käfig. Später sehen wir weiter.« Er grinste und legte die Finger um die Joysticks. »Knick knack. Macht ja auch irgendwie Spaß, oder?«
Sie öffneten noch ein Dutzend Krabben, ohne den Versuch zu unternehmen, die entschlüpfenden Substanzen einzufangen. Die Gallertwesen flitzten davon, kaum dass die Panzer aufbrachen, und verloren sich irgendwo in den Weiten des Tanks.
»Auf jeden Fall machen ihnen die Pfiesterien nichts aus«, stellte Oliviera fest.
»Natürlich nicht«, sagte Johanson. »Die Yrr werden dafür gesorgt haben, dass sich das eine mit dem anderen verträgt. Die Gallerte steuert die Krabben, die Pfiesterien sind die Fracht. Logisch, dass sie kein Taxi losschicken, in dem der Gast den Fahrer tötet.«
»Glauben Sie, diese Gallerte ist auch eine Züchtung?«
»Keine Ahnung. Möglicherweise war sie schon vorher da. Möglicherweise wurde sie gezüchtet.«
»Und wenn es … die Yrr sind?«
Johanson schwenkte den Spherobot, sodass die Kamera den Käfig erfasste. Er starrte auf das gefangene Exemplar. Es hatte seine Kugelgestalt beibehalten und lag wie ein glasig weißer Tennisball auf dem Boden des Käfigs.
»Diese Dinger?«, fragte Rubin ungläubig. »Warum nicht?«, rief Oliviera. »Wir haben welche in den Köpfen der Wale gefunden, sie saßen im Bewuchs der Barrier Queen, im Innern der Blauen Wolke, sie sind überall.« »Ja, eben, die Blaue Wolke. Was ist damit?« »Sie hat irgendeine Funktion. Die Dinger verstecken sich darin.« »Mir scheint eher, die Gallerte ist genauso wie die Würmer und die anderen Mutationen eine biologische Waffe.« Rubin zeigte auf den reglosen Ball im Käfig. »Glaubt ihr, es ist tot? Es rührt sich nicht mehr. Vielleicht zieht es sein Gewebe zur Kugel zusammen, wenn es stirbt.« Im selben Moment ertönte ein pfeifendes Signal aus den Deckenlautsprechern, und sie hörten Peaks Stimme über das bordeigene Durchsagesystem:
»Guten Morgen. Da wir mit dem Eintreffen von Dr. Crowe nun vollzählig sind, haben wir für 10.30 Uhr ein Treffen im Welldeck anberaumt. Wir wollen Sie mit den Tauchbooten und der Ausrüstung vertraut machen, es wäre also nett, wenn Sie erscheinen. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass wir um 10.00 Uhr unsere routinemäßige Zusammenkunft im Flagg-Besprechungsraum abhalten. Danke.«
»Gut, dass er uns dran erinnert«, sagte Rubin eilig. »Ich hätt’s glatt vergessen. Ich vergesse Zeit und Raum, wenn ich forsche. Mein Gott, entweder ist man Forscher oder keiner! Oder?«
»Richtig«, sagte Oliviera gelangweilt. »Bin gespannt, ob es was Neues aus Nanaimo gibt.«
»Warum rufen Sie Roche nicht an«, schlug Rubin vor. »Erzählen Sie ihm von unseren Erfolgen. Vielleicht hat er ja auch was vorzuweisen.« Er grinste und stupste Johanson vertraulich an. »Vielleicht erfahren wir es noch vor Li und können im Meeting damit glänzen.«
Johanson lächelte zurück. Er mochte Rubin nicht sonderlich. Der Mann war gut in seinem Job, aber ein Schleimer. Johanson schätzte, dass er seine Großmutter verkauft hätte, wenn es seiner Karriere dienlich gewesen wäre. Oliviera trat zur Sprechfunkeinheit gleich neben dem Steuerpult und ließ die Automatik wählen. Die Satellitenschüssel hoch oben auf der Insel ermöglichte jede Art der elektronischen Datenkommunikation. Überall auf dem Schiff konnte man eine Vielzahl von Fernsehsendern empfangen, Handfernseher oder Radiogeräte einstöpseln und Laptops anschließen, und natürlich telefonierte man auf abhörsicheren Kanälen in alle Welt. Auch Nanaimo im fernen Kanada war mühelos zu erreichen.
Oliviera sprach eine Weile mit Fenwick und dann mit Roche, die wiederum mit einer Vielzahl von Wissenschaftlern rund um den Globus in Verbindung standen. Wie es aussah, hatten sie das Mutations-Spektrum der Pfiesterien eingegrenzt, aber ein Durchbruch war nicht in Sicht. Stattdessen waren Heerscharen von Krabben über Boston hergefallen. Oliviera gab ihre eigenen Erkenntnisse weiter und legte auf.
»Schöner Mist«, fluchte Rubin.
»Vielleicht helfen uns ja unsere Freunde im Tank«, sagte Johanson. »Irgendwas schützt sie schließlich vor den Algen. Legen wir eine Runde Sicherheitslabor ein. Sobald wir wissen, was unser Gefangener …«
Er starrte auf den Videoschirm.
Das Wesen im Käfig war verschwunden.
Oliviera und Rubin folgten seinem Blick und rissen die Augen auf.
»Das gibt’s doch nicht!«
»Wie ist der denn rausgekommen?«
Auf den Bildschirmen war nichts zu sehen außer Krebsen und Wasser.
»Die Dinger sind weg.«
»Quatsch. Wo sollen sie denn hin sein?«
»Moment mal! Wir haben inzwischen über ein Dutzend von denen da rumsausen. So unsichtbar können die sich gar nicht machen.«
»Sie werden schon da sein. Aber wo ist das aus dem Käfig?«
»Hat sich dünnegemacht.«
Johanson betrachtete den Schirm, und seine Miene hellte sich auf.
»Dünne? Gar kein schlechter Hinweis«, sagte er langsam. »Natürlich. Es kann seine Form verändern. Die Maschen sind dicht, aber für etwas sehr Langes und Dünnes wahrscheinlich nicht dicht genug.«
»Was für ein unglaubliches Zeug«, flüsterte Rubin.
Sie begannen, den Tank abzusuchen. Sie teilten sich auf, übernahmen jeder einen Monitor, um das komplette Becken simultan unter Kontrolle zu bringen, ließen die Kameras zoomen, aber nirgendwo war etwas von den Gallertklumpen zu sehen. Schließlich ließ Johanson nacheinander die Tauchroboter aufsteigen und aus der Garage fahren, aber auch dort hatte sich nichts versteckt.
Die Wesen waren verschwunden.
»Haben wir vielleicht ein Problem mit dem Leitungssystem«, fragte Oliviera. »Stecken sie in einem der Wasserrohre?«
Rubin schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein.«
»Wie auch immer«, knurrte Johanson, »wir müssen hoch zur Besprechung. Vielleicht fällt uns ja oben ein, wo sie sein könnten.«
Verwirrt und frustriert schalteten sie die Lichter im Simulator aus und gingen nach draußen. Rubin löschte die Laborbeleuchtung und machte Anstalten, ihnen zu folgen.
Aber er kam nicht.
Johanson sah ihn in der offenen Schleuse stehen und in das dunkle Labor starren. Er konnte erkennen, dass Rubins Mund weit offen stand. Langsam ging er zurück, gefolgt von Oliviera, und sah, was Rubin sah.
Hinter dem ovalen Fenster des Tiefseesimulators leuchtete etwas. Ein schwaches, diffuses Leuchten.
Blau.
»Die Blaue Wolke«, flüsterte Rubin.
Zugleich rannten sie durch die Dunkelheit zum Simulator, ohne auf Hindernisse zu achten, hasteten die Stiege hinauf und drängten sich vor die Panzerglasscheibe.
Das blaue Leuchten hing im Nichts. Eine kosmische Wolke in der Lichtlosigkeit der Weltraums, nur dass der Weltraum ein Tank und gefüllt mit Wasser war. Ihre Ausdehnung umfasste einige Quadratmeter. Sie pulsierte. Die Ränder waberten.
Johanson kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Was war jenseits der Ränder los? Ihm schien, als entstünden dort winzige Lichtpunkte, die ins Innere der Wolke strömten, immer schneller. Wie Materiepartikel im Gravitationsfeld eines Schwarzen Lochs.
Das Blau wurde intensiver.
Dann kollabierte es.
Einem rückwärts verlaufenden Urknall gleich stürzte die Wolke in sich zusammen. Alles strebte auf das Innere zu, das heller und dichter wurde. Lichtblitze zuckten darin auf, bildeten komplizierte Muster. In rasender Geschwindigkeit wurde die Wolke in ihr eigenes Zentrum gesaugt, in einen turbulenten Wirbel, und dann …
»Ich glaub’s nicht«, sagte Oliviera.
Vor ihren Augen hing ein kugelförmiges Ding von der Größe eines Fußballs. Ein blau leuchtendes Etwas aus kompakter Materie. Pulsierende Gallerte.
Sie hatten die Wesen wieder gefunden.
Die Wesen waren eins geworden.
»Einzeller!«, rief Johanson. »Es sind Einzeller.«
Er war ungeheuer aufgeregt. Die Gruppe starrte ihn schweigend an. Rubin rutschte auf seinem Stuhl herum und nickte heftig, während Johanson auf und ab ging. Er hätte nie im Leben auf seinem Hintern sitzen können in dieser Situation.
»Wir haben die ganze Zeit geglaubt, die Gallerte und die Wolke seien zwei verschiedene Dinge, aber sie sind ein und dasselbe. Das Zeug ist ein Verbund aus Einzellern. Die Gallerte kann nicht nur nach Belieben ihre Form ändern, sie löst sich vollständig auf und schließt sich ebenso rasch wieder zusammen.«
»Diese Wesen lösen sich auf?«, echote Vanderbilt.
»Nein, nein! Nicht die Wesen, ich meine, die Einzeller sind die Wesen, und sie verschmelzen miteinander. Wir haben Krabben aufgeschnitten und einige dieser Gallertklumpen zum Vorschein gebracht, die alle in irgendeinen Winkel des Simulators entwischten. Einen hatten wir festgesetzt. Dann waren plötzlich alle verschwunden, restlos. Nichts war mehr übrig — Herrgott, ich Idiot, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! —, weil man Einzeller natürlich nicht in einem Käfig halten kann, und um sie mit bloßem Auge wahrzunehmen, sind die meisten zu klein. Und weil der Simulator von innen beleuchtet war, konnten wir keine Biolumineszenz wahrnehmen, nichts. Das gleiche Problem hatten wir vor Norwegen, wo uns dieses Riesending vor die Kamera geriet. Damals haben wir nur die helle Oberfläche gesehen, angestrahlt von den Scheinwerfern des Victor, aber in Wirklichkeit leuchtete es. Es leuchtete, es war ein riesiger Zusammenschluss aus biolumineszierenden Mikroorganismen. Das, was jetzt da unten im Tank schwimmt, ist die Summe der Substanzen, die wir aus den Krabben geholt haben, es kommt genau hin.«
»Das erklärt einiges«, sagte Anawak. »Das formlose Wesen am Rumpf der Barrier Queen, die blaue Wolke vor Vancouver Island …«
»Die Aufnahmen des URA, genau! Ein großer Teil der Zellen schwebte frei im Wasser, aber im Zentrum hatten sie sich verfestigt. Die Masse bildete Tentakel. Sie injizierte sich selber in die Köpfe der Wale.«
»Augenblick.« Li hob die Hand. »Da war sie doch schon drin.«
»Dann …« Johanson überlegte. »Nun, irgendeine Verbindung fand statt. Jedenfalls schätze ich, dass sie auf diese Weise hineingelangt ist. Vielleicht wurden wir Zeuge eines Austauschs. Alte Gallerte raus, neue rein. Oder es fand so etwas wie eine Kontrolle statt. Vielleicht gab das Zeug in den Köpfen etwas an die Gesamtmasse weiter.«
»Informationen«, sagte Greywolf.
»Ja«, rief Johanson. »Ja!«
Delaware zog die Nase kraus. »Das heißt, sie nehmen jede beliebige Größe an? So viel, wie gerade erforderlich ist?«
»Jede Größe und jede Form«, nickte Oliviera. »Um einen Krebs zu steuern, reicht eine Hand voll. Das Ding vor Vancouver Island, um das sich die Wale versammelten, hatte die Größe eines Hauses, und …«
»Das ist das Entscheidende an unserer Entdeckung«, fuhr ihr Rubin dazwischen. Er sprang auf. »Die Gallerte ist ein Rohmaterial, um definierte Aufgaben zu bewältigen.«
Oliviera wirkte verärgert.
»Ich habe mir die Aufnahmen vom norwegischen Kontinentalhang sehr genau angesehen«, sagte Rubin atemlos. »Ich glaube, ich weiß, was da passiert ist! Wenn dieses Zeug nicht den letzten Anstoß für das Abrutschen der Hänge gegeben hat, will ich nicht geboren sein. Wir stehen kurz davor, die ganze Wahrheit zu begreifen!«
»Sie haben eine Masse gefunden, die einen Haufen Drecksarbeit erledigt«, sagte Peak unbeeindruckt. »Schön.
— Und wo sind die Yrr?« »Die Yrr sind …« Rubin stockte. Plötzlich war seine Selbstsicherheit verflogen. Sein Blick wanderte unsicher zu Johanson und Oliviera. »Nun ja …«
»Glauben Sie, das sind die Yrr?«, fragte Crowe.
Johanson schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
Crowe spitzte die Lippen und zog an ihrer Zigarette. »Wir haben noch keine Antwort erhalten. Wer könnte uns antworten? Ein intelligentes Wesen oder ein Verbund aus intelligenten Wesen? Was meinen Sie, Sigur, benehmen sich die Dinger im Tank intelligent?«
»Sie wissen selber, dass die Frage müßig ist«, erwiderte Johanson.
»Ich wollte es von Ihnen hören«, lächelte Crowe.
»Wie sollen wir das erkennen? Wie sollte eine außerirdische Intelligenz eine Hand voll menschlicher Kriegsgefangener in einem Lager beurteilen, die nichts von Mathematik verstehen, Angst haben, frieren, jammern oder apathisch in der Ecke sitzen?«
»Du lieber Himmel«, stöhnte Vanderbilt leise. »Jetzt haut er uns die Genfer Konvention um die Ohren.« »Gilt die auch für Außerirdische?«, grinste Peak.
Oliviera bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick.
»Wir werden die Masse im Tank weiteren Tests unterziehen«, sagte sie. »Nebenbei gesagt verstehe ich nicht, dass wir so lange gebraucht haben, um die Sache zu kapieren. Leon, was ist dir aufgefallen, als du im Trockendock der Barrier Queen rumspioniert hast?«
Anawak sah sie an.
»Kurz bevor sie mich rausfischten? Ein blaues Leuchten.«
»Das meine ich«, sagte Oliviera zu Li gewandt. »Sie wollten ja unbedingt Ihren Alleingang, General, dort im Dock, als Sie wochenlang im Rumpf der Barrier Queen herumgestochert haben, ohne etwas zu erreichen. Nun, halb daneben ist auch vorbei. Ihre Leute müssen etwas Entscheidendes übersehen haben, als sie die Wasserproben aus dem Trockendock untersuchten. Ist keinem dieses Leuchten aufgefallen? Oder ein Haufen Einzeller in den Wasserproben?«
»Doch«, sagte Li. »Natürlich haben wir Wasser zur Untersuchung entnommen.«
»Und?«
»Nichts. Normales Wasser.«
»Na schön«, seufzte Oliviera. »Können Sie mir den Bericht noch einmal zukommen lassen? Inklusive aller Laborergebnisse.«
»Natürlich.«
»Dr. Johanson.« Shankar hob die Hand. »Was schätzen Sie, wie diese Verschmelzung zustande kommt? Ich meine, was löst sie aus?«
»Und noch dazu gleichzeitig«, wunderte sich Roscovitz. Es war das erste Mal, dass er das Wort ergriff. »Wie soll das gehen? Zu welchem Zweck? Irgendeine von diesen Zellen muss doch sagen, hey, Leute, kommt mal alle her, wir feiern ‘ne Party.«
»Nicht unbedingt«, sagte Vanderbilt schlau. »Den höchsten Grad der Zusammenarbeit findet man bei menschlichen Körperzellen, richtig? Und da sagt auch keine, wo’s langgeht.«
»Reden Sie von der Organisationsstruktur der CIA?«, lächelte Li.
»Vorsicht, Suzie Wong.«
»Hey!« Roscovitz hob die Hände. »Leute, ich bin nur U-Boot-Fahrer. Ich will das hier kapieren. Beim Menschen, da pappen die Zellen doch wohl immer hübsch zusammen, das ist was anderes. Wir lösen uns nicht von Zeit zu Zeit in Wohlgefallen auf, und außerdem gibt es ein zentrales Nervensystem, das Boss ist bei der ganzen Sache.«
»Bei Körperzellen läuft die Kommunikation über chemische Botenstoffe«, sagte Delaware.
»Und was heißt das? Müssen wir uns diese Zellen wie einen Fischschwarm vorstellen, wo alle gleichzeitig in dieselbe Richtung schwimmen?«
»Fischschwärme verhalten sich nur scheinbar simultan«, erklärte Rubin. »Das Verhalten von Schwärmen hat was mit Druck zu tun.«
»Das weiß ich, Mann, ich wollte nur …«
»An der Seite der Fischkörper sitzen Lateralorgane«, belehrte ihn Rubin unbeirrt weiter. »Verändert ein Körper seine Position, gibt er eine Druckwelle an seinen Nachbarn weiter, der dreht sich automatisch in die gleiche Richtung, und so fort, bis der ganze Schwarm die Drehung mitvollzieht.«
»Ich sagte doch, das weiß ich!«
»Aber natürlich!« Delawares Miene erhellte sich. »Das ist es!«
»Was?«
»Druckwellen. Damit könnte eine größere Masse dieser Gallerte ganze Schwärme einfach umleiten. Ich meine, wir haben uns gefragt, welche Zauberei vonnöten ist, dass Fischschwärme nicht mehr in Netze schwimmen, aber das wäre eine Erklärung.«
»Einen ganzen Schwarm umleiten?«, sagte Shankar zweifelnd.
»Doch, sie hat Recht«, rief Greywolf. »Sie hat verdammt Recht damit! Wenn die Yrr Millionen Krebse steuern und Abermillionen Würmer an Hänge transportieren können, lenken sie auch Schwärme um. Mit einer Druckwelle kann man so was machen. Druckempfindlichkeit ist praktisch der einzige Schutz, über den ein Schwarm verfügt.«
»Du meinst, diese Einzeller unten im Tank reagieren auf Druck?«
»Nein.« Anawak schüttelte den Kopf. »Das wäre zu einfach. Fische mögen Druck erzeugen, aber Einzeller?«
»Aber irgendwie muss die Verschmelzung ausgelöst werden.«
»Wartet mal«, sagte Oliviera. »Es gibt ähnliche Formen der Kommunikation bei Bakterien. Myxococcus xanthus zum Beispiel. Eine bodenlebende Art. Sie setzt sich aus kleinen, lockeren Verbänden zusammen. Wenn einzelne Zellen nicht genug zu fressen finden, geben sie eine Art Hungersignal ab. Anfangs reagiert die Kolonie kaum darauf, aber je mehr Zellen hungern, desto intensiver wird das Signal, bis es eine gewisse Schwelle überschreitet. Die Mitglieder der Kolonie beginnen sich zusammenzuscharen. Nach und nach formt sich ein komplexes vielzelliges Gebilde, ein Fruchtkörper, den man mit bloßem Auge sehen kann.«
»Worin besteht dieses Signal?«, fragte Anawak.
»Es ist ein Stoff, den sie abgeben.«
»Also ein Duft?«
»Ja. Gewissermaßen.«
Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Jeder legte die Stirn in Falten, setzte die Fingerspitzen aufeinander, schürzte die Lippen.
»Gut«, sagte Li. »Ich bin beeindruckt. Das ist ein großer Erfolg. Wir sollten unsere Zeit jetzt nicht damit vertun, Laienwissen auszutauschen. Was sind die nächsten Schritte?«
»Ich hätte einen Vorschlag«, sagte Weaver.
»Bitte.«
»Leon hatte im Chateau eine Idee, erinnert ihr euch? Es ging um die Navy-Versuche mit Delphingehirnen. Um Implantate, die nicht aus simplen Mikrochips bestehen, sondern aus dicht gepackten, künstlichen Nervenzellen, die Teile des Hirns bis ins Detail nachbilden und durch elektrische Impulse miteinander kommunizieren. Ich dachte gerade, wenn die Gallerte wirklich ein Verbund aus Einzellern ist und diese Einzeller die Funktion der Hirnzellen gewissermaßen übernehmen, beziehungsweise ersetzen — dann können sie untereinander kommunizieren. Sie müssen es sogar. Andernfalls wären sie nicht in der Lage, zu verschmelzen und die Form zu ändern. Vielleicht erschaffen sie tatsächlich ein künstliches Gehirn einschließlich chemischer Botenstoffe. Vielleicht …« Sie zögerte. »… übernehmen sie ja sogar Emotionen, Eigenschaften und Wissen ihres Wirts und lernen auf diese Weise, ihn zu beherrschen.«
»Dafür müssten sie lernfähig sein«, sagte Oliviera. »Aber wie sollen Einzeller lernen?«
»Leon und ich könnten versuchen, einen Schwarm solcher Einzeller im Computer künstlich zu erschaffen und mit Eigenschaften zu versehen. So lange, bis er beginnt, sich wie ein Gehirn zu verhalten.«
»Eine künstliche Intelligenz?«
»Unter biologischen Vorzeichen.«
»Das klingt brauchbar«, beschied Li. »Machen Sie das.
Weitere Vorschläge?« »Ich versuche mal, in der Prähistorie nach einer verwandten Lebensform zu kramen«, sagte Rubin. Li nickte. »Bei Ihnen was Neues, Sam?« »Nicht wirklich«, erklang Crowes Stimme aus einer Rauchwolke. »Wir arbeiten an der Entschlüsselung alter Scratch -Signale, solange wir keine Antwort erhalten.« »Vielleicht sollten Sie Ihren Yrr was Anspruchsvolleres schicken als Rechenaufgaben«, meinte Peak.
Crowe sah ihn an. Der Rauch verzog sich, und ihr schönes, altes Gesicht mit den tausend kleinen Fältchen war zu einem Lächeln verzogen.
»Nur die Ruhe, Sal.«
»Sie sind verdammt optimistisch, was?«, sagte Peak.
»Ich habe Geduld.«
Roscovitz gehörte zu den Leuten, die ihr Leben bei der US Navy verbrachten und keine Pläne hatten, das zu ändern. Er war der Meinung, jeder solle tun, was er am besten könne, und weil es ihm unter Wasser gefiel, hatte er eine Laufbahn als U-Boot-Fahrer eingeschlagen und es bis zum Commander gebracht.
Aber Roscovitz war auch der Meinung, dass unter allen Eigenschaften, die einen Menschen auszeichneten, Neugier zu den hervorstechendsten gehörte. Er hatte viel übrig für Treue, Pflichterfüllung und Vaterland, aber nichts für dumpfes Kommissgehabe. Eines Tages war ihm klar geworden, dass die meisten U-Boot-Fahrer eine Welt durchkreuzten, über die sie nichts wussten, also hatte er begonnen, sich darüber schlau zu machen. Deswegen war er zwar kein Biologe geworden. Aber sein Interesse an den Dingen machte die Runde bis in die wissenschaftlichen Stellen der Navy, wo man Leute suchte, die Soldat genug waren, um sich wie einer zu verhalten, und flexibel genug im Denken, um eine Exekutivfunktion in der Forschung übernehmen zu können.
Nachdem entschieden war, die Independence für die Grönlandmission umzurüsten, hatte man ihn beauftragt, dem Schiff das Nonplusultra einer Tauchbasis zu verschaffen. Für nichts war Geld übrig, nirgendwo auf der Welt — bis auf die Forschung. Vielen galt die Independence als letzte Hoffnung der Menschheit, also wurde an nichts gespart. Roscovitz bekam kein Budget, sondern einen Freibrief. Er sollte einkaufen, was er fand und was ihm geeignet erschien, und wenn es einigermaßen schnell ging, sollte er konstruieren lassen, was es noch nicht gab und wonach ihm der Sinn stand.
Niemand hatte erwartet, dass der Mann ernsthaft über bemannte Tauchboote nachdenken würde. Das Hauptaugenmerk lag auf ROVs, den verkabelten, fernsteuerbaren Unterwasserrobotern wie dem Victor, der die Würmer vor Norwegen aufgespürt hatte. Es gab zudem eine Reihe von Fortschritten in der Konstruktion von AUVs zu verzeichnen, Robotern, die nicht einmal mehr eine Kabelverbindung zum Schiff benötigten. Die meisten dieser Automaten verfügten über hoch auflösende Kameras und irgendeine Form von Greifarm bis hin zu sensiblen künstlichen Gliedmaßen. Niemand wollte Menschenleben gefährden, nachdem Taucher angegriffen und getötet worden waren und sich keiner mehr in Wasser traute, das höher ging als bis zu den Knöcheln.
Roscovitz hatte zugehört und gesagt, dass sie es unter diesen Umständen vergessen könnten.
Er sagte: »Haben wir je einen Krieg gewonnen ausschließlich mit Maschinen? Wir können intelligente Bomben abfeuern und unbemannte Drohnen über feindliches Gebiet fliegen lassen, aber die Entscheidungen, die ein Pilot in einem Kampfjet trifft, kann ihm keine Maschine abnehmen. Es wird irgendwann im Verlauf dieser Mission eine Situation geben, in der wir selber nach dem Rechten schauen müssen.«
Sie fragten ihn, was er wolle. Er sagte, natürlich ROVs und AUVS, aber auch bemannte, bewaffnete Boote. Er bat außerdem um eine Delphinstaffel und erfuhr zu seiner Befriedigung, dass die Aufnahme von MK-6 und MK-7 bereits angeordnet war, nachdem ein Mitglied des Wissenschaftlichen Stabs den Vorschlag unterbreitet hatte. Als er hörte, wer die Betreuung der Staffeln übernehmen sollte, war seine Freude noch größer geworden.
Jack O’Bannon.
Roscovitz kannte O’Bannon nicht persönlich. Aber der Ex-Soldat war in gewissen Kreisen ein Begriff. Manche meinten, er sei der beste Trainer, den die Staffeln je gehabt hatten. Später hatte er der Navy abgeschworen wie dem Teufel. Roscovitz wusste sehr gut, was es mit O’Bannons angeblicher Herzschwäche auf sich hatte. Umso mehr erstaunte es ihn zu hören, dass der Mann wieder an Bord war.
Seine Vorgesetzten versuchten, ihm die bemannten Boote auszureden. Er blieb hartnäckig. Sie argumentierten mit den nicht abzuschätzenden Risiken, er wiederholte ein ums andere Mal denselben Satz: »Wir werden sie brauchen.« Bis sie ihm schließlich grünes Licht erteilten.
Dann überraschte er sie ein weiteres Mal.
Wahrscheinlich war das Marineministerium davon ausgegangen, er würde das Heck des riesigen Helikopterträgers voll stopfen mit Tauchbooten, die eine Menge Eindruck machten wie die russischen MIR-Boote, die japanische Shinkai und die französische Nautile. Weltweit gab es nur ein halbes Dutzend Boote, die tiefer kamen als 3000 Meter, und diese gehörten dazu, ebenso wie die gute alte Alvin. Aber Roscovitz setzte auf Neuerung. Er wusste, dass ihm derartige Boote nicht viel nützen würden. Mit der Shinkai gelangte man zwar auf 6500 Meter Tiefe, aber sie konnte ihre Vertikalbewegungen nur durch Fluten und Leerpumpen von Ballasttanks steuern, ebenso wie die MIR-Boote und Nautile. Roscovitz dachte nicht über eine klassische Tiefsee-Exploration nach, er dachte an Krieg und einen unsichtbaren Feind, und er stellte sich vor, wie es wäre, eine Luftschlacht mit Heißluftballons zu führen. Die meisten Tiefseetauchboote waren einfach zu schwerfällig. Was er brauchte, waren Tiefsee-Jets.
Kampfjets.
Nach einer Weile stieß er auf ein Unternehmen, dessen Produkte seinen Vorstellungen entgegenkamen. Hawkes Ocean Technologies im kalifornischen Point Richmond genoss nicht nur einen tadellosen Ruf in der Branche, sondern wurde auch regelmäßig zu Hollywood-Produktionen herangezogen, um den Spekulationen einen soliden Unterbau zu verschaffen. Graham Hawkes, ein namhafter Ingenieur und Erfinder, hatte die Firma Mitte der neunziger Jahre gegründet, um sich den Traum vom Fliegen zu ermöglichen — unter Wasser.
Roscovitz legte einen Wunschzettel und eine größere Menge Geld auf den Tisch und machte zur Bedingung, dass die Konstrukteure jeden noch so eng gefassten Zeitrahmen unterboten.
Das Geld tat das Seine.
Als die Wissenschaftler um 10.30 Uhr den Pier des Welldecks betraten, jeder in einen Wärme speichernden Neoprenanzug gehüllt, der nur das Gesicht frei ließ, freute sich Roscovitz, zur Abwechslung diesen klugen Leuten was erzählen zu können. Die Soldaten und die Besatzung hatten ihre Einweisung schon in Norfolk erhalten. Die meisten von ihnen waren Navy-SEALS mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen. Aber Roscovitz war fest entschlossen, auch die Wissenschaftler fahr— und gefechtstauglich zu machen. Er wusste, dass im Verlauf solcher Expeditionen Dinge geschehen konnten, an deren Ende vielleicht ein Zivilist die entscheidende Rolle spielte.
Er gab Browning Anweisung, eines der vier Tauchboote von der Decke zu lasse und sah zu, wie Deepflight 1 langsam herabsank. Von unten glich das Boot einem überdimensionalen Ferrari ohne Räder, bestückt mit vier langen, schlanken Röhren. Er wartete, bis es auf Augenhöhe hing, vier Meter über dem geplankten Boden des Decks und genau über der Bassin-Abdeckung. Auch aus dieser Perspektive hatte es wenig Ähnlichkeit mit einem klassischen Tauchfahrzeug. Flach und breit, von annähernder Rechteckform, mit vier Antriebs-und Steuerdüsen an der Rückseite und zwei teilverglasten Körperröhren, die schräg aus der Oberfläche wuchsen, erinnerte das Deepflight eher an ein kleines Raumschiff. Unterhalb der transparenten Kuppeln entsprangen mehrgelenkige Greifarme.
Das Auffälligste waren die Stummelflügel zu beiden Seiten.
»Sie finden, es sieht aus wie ein Flugzeug«, sagte Roscovitz. »Und da haben Sie Recht. Es ist ein Flugzeug und ebenso wendig. Die Tragflächen erfüllen dieselbe Funktion, mit dem kleinen Unterschied, dass ihre Profile in die entgegengesetzte Richtung wirken. Beim Flugzeug sorgen sie für Auftrieb. Die Flügel eines Deepflight hingegen erzeugen einen Sog nach unten und wirken dem Auftrieb entgegen. Auch der Steuermechanismus ist der Luftfahrt abgeguckt. Man sinkt nicht wie ein Stein, sondern bewegt sich in einem Neigungswinkel bis 60 Grad, fliegt elegante Kurven, gelangt blitzschnell runter oder rauf, wusch, wusch!« Er machte es mit der flachen Hand vor und deutete auf die Körperhüllen. »Der Hauptunterschied zum Flugzeug ist, dass man nicht sitzt, sondern liegt. So bleiben wir bei drei mal sechs Metern Kantenlänge unter einer Höhe von einem Meter vierzig.«
»Wie tief taucht dieses Flugzeug?«, fragte Weaver.
»So tief Sie wollen. Sie könnten geradewegs zum Grund des Marianengrabens fliegen und würden keine anderthalb Stunden dafür brauchen. Das Baby legt zwölf Knoten vor. Es hat eine Hülle aus Keramik, die Sichtkuppeln bestehen aus Acryl, eingefasst von Titaniumhüllen, absolut tiefentauglich. Man genießt einen sensationellen Rundumblick, was in unserem Fall heißt, rechtzeitig verschwinden oder feuern zu können, je nachdem.« Er zeigte zur Unterseite. »Wir haben unsere Deepflights mit vier Torpedos ausgestattet. Zwei von den Dingern haben eine begrenzte Sprengkraft. Sie können einem Wal böse Wunden beibringen und ihn möglicherweise töten. Die anderen zwei reißen größere Löcher. Sie sprengen Stahl und Gestein und können einem ganzen Rudel zusetzen. Das Feuern überlassen Sie bitte dem Piloten, es sei denn, er ist tot oder bewusstlos und lässt Ihnen keine andere Wahl.«
Roscovitz klatschte in die Hände.
»Okay. Sie können sich nun darum balgen, wer als Erster einsteigt und Probe fährt. — Ach ja, was Sie noch interessieren dürfte: Der Sprit reicht für acht Stunden Flugzeit. Sollten Sie irgendwo hängen bleiben, versorgen Sie die lebenserhaltenden Systeme 96 Stunden lang mit Sauerstoff. Aber keine Angst: Bis dahin hat die Navy, Gottes eigene Armee, Sie längst gerettet. — Wer will?«
»Ohne Wasser?«, fragte Shankar und sah skeptisch nach unten.
Roscovitz grinste. »Wären Ihnen 15000 Tonnen genug?«
»Ich, äh … denke schon.«
»Gut. Fluten wir das Deck.«
Zwei Funker hatten die Plätze von Crowe und Shankar eingenommen, solange die Wissenschaftler in Roscovitz’ Reich weilten. Sie schlugen die Zeit tot. Streng genommen hätten sie den Mund halten und die Ohren aufsperren müssen, aber sie hatten ja ihren Computer, und sie hatten Shankars SOSUS-Crew auf dem Festland. Was immer aus den Tiefen des Meeres drang, wurde dort von diversen elektronischen Systemen und menschlichen Sinnesorganen erfasst, vorselektiert, ausgewertet und kommentiert per Satellit zur Independence geschickt. Obschon Crowes Botschaft vom Schiff aus gesendet worden war und die Independence mitlauschte, war sie nur einer von vielen Horchposten. Eine mögliche Antwort der Yrr würde sämtliche atlantischen Hydrophone erreichen. Aus der räumlichen Verteilung und der Verschiebung von Zeitintervallen beim Eintreffen würde der Computer den Punkt errechnen, von dem das Signal ausging, es ins CIC schicken und dabei unmissverständlich auf sich aufmerksam machen.
Im festen Vertrauen auf die Technik hatten die Männer begonnen, über Musik zu diskutieren. Bald bekam die Auseinandersetzung etwas Hitziges. Nachdem sich die Temperamente an der Glaubwürdigkeit weißer Hip-Hop-Künstler entzündeten, warf keiner überhaupt noch einen Blick auf die Monitore, bis einer der beiden nach seinem Kaffee griff und dabei zufällig den Kopf wandte. Sein Blick blieb hängen.
»Hey. Was ist das denn?«
Über zwei Monitore zuckten farbige Frequenzlinien.
Der andere riss die Augen auf. »Wie lange sind die schon da?«
»Weiß nicht.« Der Funker starrte auf die Linien. »Wir hätten was reinbekommen müssen vom Festland. Warum melden die sich nicht? Sie müssen das doch auch empfangen haben.«
»Ist das die Frequenz, auf der Crowe gesendet hat?«
»Keine Ahnung, was die gesendet hat. Man hört nichts.
Muss irgendwas im Ultra— oder Infraschallbereich sein.«
Der andere überlegte.
»Okay. Das nächste Hydrophon sitzt vor Neufundland. Schall braucht seine Zeit. Die anderen haben es noch nicht empfangen, also sind wir die Ersten, bei denen es einläuft. Das kann nur heißen …«
Sein Partner sah ihn an.
»Es kommt von hier.«
Lautstark arbeitete die Hydraulik, als die achterlichen Ballasttanks geflutet wurden. Das Heck der Independence sank langsam tiefer, während Meerwasser ins Innere strömte.
»Wir könnten das Wasser durch die Schleuse einlassen«, erklärte Roscovitz mit gehobener Stimme, um den Lärm zu übertönen. »Aber dafür müssten wir sämtliche Schotts gleichzeitig öffnen, was wir aus Sicherheitsgründen vermeiden. Stattdessen bedienen wir uns eines speziellen Pumpsystems. Ein separater Rohrkreislauf leitet Wasser ins Innere des Decks. Es wird mehrfach gefiltert. Ebenso wie die Schleuse ist das Becken mit hoch empfindlichen Sensoren bestückt, die uns sagen, ob wir in der großen Badewanne bedenkenlos plantschen dürfen.«
»Testen wir die Boote im Deck?«, rief Johanson.
»Nein. Wir gehen raus.«
Nachdem die Delphine den Rückzug der Orcas gemeldet hatten, war Roscovitz zu der Überzeugung gelangt, dass man ein paar echte Tauchgänge riskieren könnte.
»Du lieber Himmel.« Rubin starrte wie paralysiert ins Becken, das sich schäumend füllte. »Das ist ja, als ob wir sinken.«
Roscovitz grinste ihn an.
»Sie machen sich falsche Vorstellungen. Ich bin schon mal mit einem Kriegsschiff gesunken. Glauben Sie mir, es ist anders!«
»Und wie?«
Roscovitz lachte. »Das wollen Sie nicht wissen. Nicht wirklich.«
Meter um Meter sackte das Heck des riesigen Schiffes ab. Die Independence war zu groß, als dass man wirklich etwas von der Schräglage gespürt hätte. Aufs Ganze gesehen war sie minimal, ein Fall für die Wasserwaage, der Effekt jedoch umso verblüffender. Immer höher stieg die Flut, bis sie an die Ränder der Piers schwappte. Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Deck in einen Pool mit vier Metern Bodentiefe verwandelt. Auch das Delphinarium lag unter Wasser, womit den Tieren nunmehr das komplette Becken zur Verfügung stand. Über dem künstlichen Gestade trieben gut vertäut die Zodiacs. Deepflight 1 schaukelte sanft auf den Wellen.
Browning ließ ein weiteres Tauchboot von der Decke. Sie stand an der Konsole und bewegte einen Joystick. Nacheinander manövrierte sie die Boote über das Schienensystem bis zur Pierkante und öffnete die Abdeckungen der Körperröhren. Wie Düsenjetkuppeln klappten sie nach oben.
»Jede Röhre lässt sich separat öffnen und schließen«, erklärte sie. »Einsteigen ist simpel. Trotzdem, wer’s nicht gewohnt ist, holt sich schon mal nasse Füße. Das Wasser im Becken ist während des Pumpvorgangs aufgeheizt worden und hat jetzt verträgliche 15 Grad Celsius, was Sie nicht auf die Idee bringen sollte, auf Ihre Schutzanzüge zu verzichten. Falls es Sie aus irgendeinem Grund in die offene See verschlägt und Sie haben kein Neopren und kein Tauchboot um sich herum, werden Sie ziemlich schnell tot sein. Das Wasser vor Grönland hat maximal zwei Grad.«
»Noch Fragen?« Roscovitz teilte die Gruppen ein, je ein Pilot und ein Wissenschaftler. »Dann los. Wir bleiben nah am Schiff. Unsere feuchtfröhlichen Freunde von der Delphinstaffel meinen zwar, wir sollten uns keine Sorgen machen, aber das kann sich ändern. Leon, zu mir. Wir nehmen Deepflight I.«
Er sprang auf das Boot. Es schaukelte heftig. Anawak tat es ihm nach, verlor das Gleichgewicht und landete kopfüber im Wasser. Eiseskälte schlug ihm ins Gesicht und raubte ihm den Atem. Prustend kam er an die Oberfläche und erntete kollektives Gelächter.
»Genau das meinte ich«, sagte Browning trocken.
Anawak zog sich auf den Rumpf und schlüpfte bäuchlings ins Innere der Röhre. Zu seiner Überraschung erwies sie sich als bequem und geräumig. Man lag nicht ganz in der Horizontalen, sondern leicht ansteigend, sodass die Körperhaltung eher der eines Skispringers im Anflug glich. Vor ihm lag ein übersichtliches Instrumentenpult. Roscovitz’ startete die Systeme, und die Abdeckungen schlossen sich lautlos.
»Es ist nicht gerade ‘ne Suite im Ritz, Leon.«
Die Stimme des Colonels drang aus Lautsprechern an Anawaks Ohr. Er drehte den Kopf. Einen Meter neben ihm schaute Roscovitz aus seiner Acrylglaskuppel herüber und grinste. »Sehen Sie den Joystick vor Ihnen? Ich sagte ja, es ist ein Flugzeug, und so verhält es sich auch. Sie müssen lernen, wie mit einem Flugzeug auf— und abzusteigen und Kurven zu fliegen, also Rollbewegungen in alle vier Richtungen zu vollziehen. Außerdem gibt es vier Strahler an der Unterseite, die genügend Rückstoß erzeugen, um das Deepflight eine Weile in der Schwebe zu halten. Die erste Runde fliege ich, dann übernehmen Sie, und ich werde Ihnen sagen, was Sie alles verkehrt gemacht haben.«
Plötzlich kippten sie nach vorn weg. Wasser schwappte über die Acrylkuppel, und sie fuhren in sanftem Winkel abwärts. Am Bug und an den Tragflächen flammten Scheinwerfer auf. Anawak sah den Plankenboden des Decks unter sich hinwegziehen, dann waren sie über der Schleuse. Die Glasschotts fuhren auseinander. Er blickte in einen mehrere Meter tiefen, erleuchteten Schacht, an dessen Grund sich dunkler Stahlboden erstreckte.
Gemächlich sank das Deepflight in die Schleuse, und die Glasschotts schlossen sich über ihnen.
Ein mulmiges Gefühl überkam ihn.
»Keine Bange«, sagte Roscovitz. »Raus geht’s schneller als rein.«
Rumpelnd setzten sich die Stahlschotts in Bewegung. Die gewaltigen Platten fuhren auseinander und gaben den Blick in die dunkle, konturlose See frei. Das Deepflight fiel aus dem Rumpf der Independence ins Unbekannte.
Roscovitz beschleunigte und flog eine Kurve. Das Boot legte sich auf die Seite. Anawak war fasziniert. Er hatte schon kleinere Tauchboote konventioneller Bauart gesteuert, die alle für den Einsatz in den oberen Wasserschichten konzipiert waren. Das hier war etwas völlig anderes. Das Deepflight verhielt sich tatsächlich wie ein Sportflugzeug. Und es war schnell! In einem Auto mochten zwanzig Stundenkilometer, die Entsprechung von zwölf Knoten, langsam erscheinen, aber für ein Unterwasserfahrzeug legte das Deepflight eine geradezu spektakuläre Geschwindigkeit vor. Fasziniert beobachtete er, wie sie unter dem Rumpf der Independence hervorkamen und die bewegte Wasseroberfläche in Sicht geriet. Roscovitz senkte die Nase des Tauchboots in steilerem Winkel. Er flog eine weitere Kurve, hielt auf das Heck des Helikopterträgers zu und tauchte darunter ab. Über ihren Köpfen zog das gewaltige Ruderblatt hinweg.
»Beeindruckt?«, fragte Roscovitz.
»Schon«, sagte Anawak mit unsicherer Stimme.
»Ich weiß, was Sie denken. Sie haben Angst. Haben wir alle. Aber im Welldeck ist es zu eng zum Üben. Zu wenig Tiefe. Wir wollen die Babys ja nicht gleich schrottreif fahren.«
Die nächste Kurve nahm Roscovitz enger. Anawak erwartete jeden Moment, das runde, schwarzweiße Gesicht eines Orca vor sich auftauchen zu sehen, aber stattdessen kamen zwei Delphine herangeschwommen und lugten in die Kuppeln. Sie trugen Kameras auf den Köpfen und kapriolten übermütig um das Tauchboot.
»Lächeln, Leon!«, lachte Roscovitz. »Wir werden gefilmt.«
Ein Licht blinkte auf und bedeutete Anawak, dass er jetzt die Kontrolle über das Deepflight hatte.
»Sie übernehmen«, sagte Roscovitz. »Wenn was kommt und uns fressen will, servieren wir ihm Torpedos zum Frühstück. Das mache dann aber ich, verstanden? Sie steuern.«
Anawak war einen Moment ratlos. Unwillkürlich packte er den Joystick fester. Roscovitz hatte ihm nicht gesagt, was er tun sollte, also fuhr er fürs Erste weiter geradeaus.
»Hey, Leon! Nicht einschlafen. Busfahren ist aufregender.«
»Was soll ich tun?«
»Egal. Machen Sie irgendwas. Fliegen Sie uns zum Mond!«
Und der Mond ist in diesem Fall unten, dachte Anawak. Na schön.
Er schob den Joystick nach vorne.
Ruckartig kippte die Schnauze des Deepflight weg, und sie strebten der Tiefe zu. Anawak starrte in die Dunkelheit. Er zog den Stick zurück, diesmal vorsichtiger. Das Boot richtete sich auf. Er probierte eine Kurve, nahm sie zu eng, flog eine weitere. Er wusste, dass er viel zu ruckelig steuerte, aber im Grunde war es tatsächlich einfach. Reine Übungssache.
Ein Stück weiter sah er das zweite Deepflight. Plötzlich fand er Geschmack an der Sache. Er hätte stundenlang weiterfliegen können.
»Ganz manierlich, Leon. Auf die Dauer kann einem zwar schlecht werden bei Ihrem Fahrstil, aber das lernen Sie noch. Jetzt gehen Sie in die Waagerechte. Gut so. Langsam treiben lassen. Ich zeige Ihnen, wie man die Greifarme bedient. Das ist noch einfacher.«
Nach fünf Minuten übernahm Roscovitz wieder und steuerte das Boot langsam zurück in die Schleuse. Die Minute zwischen den geschlossenen Schotts verging quälend langsam, dann waren sie frei und tauchten auf. Anawak fühlte sich irgendwie erleichtert. Ungeachtet seiner Begeisterung bereitete ihm der Gedanke an die Orcas, die das Schiff am Morgen umkreist hatten, Unbehagen — ganz zu schweigen von den Überraschungen, die das Meer für unvorsichtige Tauchbootfahrer noch bereithalten mochte.
Roscovitz öffnete die Kuppeln. Sie stemmten sich aus ihren Röhren und sprangen auf den Pier.
Floyd Anderson stand vor ihm.
»Na, wie war’s?«, fragte er ohne sonderliches Interesse.
»Es macht Spaß.«
»Leider muss ich den Spaß unterbrechen.« Der Erste Offizier sah zu, wie das zweite Boot auftauchte. »Kaum stecken Sie den Kopf unter Wasser, passiert was. Wir haben ein Signal empfangen.«
»Was?« Crowe trat hinzu. »Ein Signal? Welcher Art?«
»Schätze, das müssen Sie uns sagen.« Anderson sah gleichgültig an ihr vorbei. »Aber es ist sehr laut. Und ziemlich nahe.«
»Es ist ein Signal im niederfrequenten Bereich«, sagte Shankar. »Ein Scratch -Muster.«
Er und Crowe waren sofort ins CIC geeilt. Inzwischen hatten sie die Bestätigung der Bodenstation erhalten. Den Berechnungen zufolge lag die Quelle tatsächlich im näheren Umfeld der Independence.
Li kam herein.
»Können Sie was damit anfangen?«
»Vorerst nicht.« Crowe schüttelte den Kopf. »Wir müssen den Computer fragen. Er wird es zerpflücken und auf Muster untersuchen.«
»Dann also bis nächstes Jahr.«
»Höre ich da Kritik?«, knurrte Shankar verärgert.
»Nein, aber ich frage mich gerade, wie Sie innerhalb weniger Tage ein Signal entschlüsseln wollen, an dem sich Ihre Leute seit Anfang der Neunziger die Zähne ausbeißen.«
»Das fragen Sie sich jetzt? «
»Kein Streit, Kinder.« Crowe fingerte ihre Zigaretten zutage und zündete sich in aller Ruhe eine an. »Ich sagte doch, es ist was anderes, wenn jemand versucht, sich Außerirdischen verständlich zu machen. Wahrscheinlich haben wir den Yrr gestern die erste Botschaft geschickt, die sie entschlüsseln konnten. Sie werden in gleicher Manier antworten.«
»Sie glauben tatsächlich, die antworten in gleicher Codierung?«
»Wenn es die Yrr sind, wenn es eine Antwort ist, wenn sie den Code verstanden haben, wenn sie Interesse an einem Dialog haben — ja.«
»Warum antworten sie mit Infraschall und nicht gleich in unserer Frequenz?«
»Warum sollten sie?«, fragte Crowe überrascht.
»Diplomatie.«
»Warum antworten Sie einem Russen, der Sie in leidlichem Englisch anspricht, nicht auf Russisch?«
Li zuckte die Achseln. »Gut. Und weiter?«
»Wir werden unsere Botschaft vorerst aussetzen, um ihnen zu signalisieren, dass wir ihre Antwort erhalten haben. Sollten sie unseren Code benutzen, dürften wir das ziemlich schnell wissen. Sie werden bemüht sein, uns die Entschlüsselung so einfach wie möglich zu machen. — Ob unser Intellekt ausreicht, die Antwort zu verstehen, ist eine andere Frage.«
Weaver hatte sich das Unmögliche vorgenommen. Sie versuchte die Erkenntnisse über die Entstehung intelligenten Lebens zu ignorieren und gleichzeitig zu bestätigen.
Crowe hatte ihr auseinander gesetzt, dass alle Hypothesen über außerirdische Zivilisationen in den immer gleichen Fragen gipfelten. Eine davon lautete: Wie groß oder klein kann ein intelligentes Wesen überhaupt werden? In SETI-Kreisen, wo man auf die Möglichkeiten interstellarer Kommunikation setzte, wurde vorwiegend über Wesen philosophiert, die ihren Blick himmelwärts richteten, sich der Existenz anderer Welten bewusst wurden und irgendwann beschlossen, Kontakt aufzunehmen. Solche Wesen lebten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf festem Boden, was ihrem Größenwachstum klare Grenzen setzte.
Aktuell gelangten Astronomen und Exobiologen zu dem Schluss, dass ein Planet nicht weniger als 85 Prozent und nicht mehr als 133 Prozent der Erdmasse besitzen durfte, um Oberflächentemperaturen zu entwickeln, innerhalb derer sich im Verlauf von ein bis zwei Milliarden Jahren intelligentes Leben überhaupt entwickeln konnte. Aus den Größen dieser fiktiven Planeten resultierten verschiedene Szenarien für die Schwerkraft, die wiederum Rückschlüsse auf den Körperbau dort lebender Spezies zuließen. Theoretisch konnte ein Lebewesen auf einem erdähnlichen Planeten ins Uferlose wachsen. Praktisch endete sein Wachstum dort, wo es zu schwer wurde, um sein eigenes Gewicht zu tragen. Natürlich hatten Dinosaurier überproportional große Knochen besessen, aber irgendwie war dabei das Gehirn zu kurz gekommen — der ganze Organismus schien einzig darauf ausgerichtet, sich durch die Gegend zu schleppen und zu fressen. Für bewegliche, intelligente Wesen galt darum die Faustregel, dass sie vermutlich nicht größer als zehn Meter wurden.
Spannender gestaltete sich die Frage nach der Untergrenze des Wachstums. Konnten Ameisen Intelligenz entwickeln? Bakterien? Viren?
SETI-Leute und Exobiologen hatten eine ganze Reihe von Gründen, sich damit auseinander zu setzen. Es war so gut wie sicher, dass im heimischen galaktischen Sektor keine menschenähnlichen Zivilisationen vorkamen, zumindest nicht im eigenen Sonnensystem. Umso mehr hoffte man, auf dem Mars oder auf einem der Jupitermonde wenigstens ein paar Sporen und vielleicht sogar Einzeller zu entdecken. Also suchte man nach der kleinsten funktionstüchtigen Einheit, die sich als Leben bezeichnen ließ, womit man zwangsläufig bei einem komplexen organischen Molekül landete, der winzigsten vorstellbaren Informations— und Speichereinheit mit eigener Infrastruktur — und bei der Frage, ob ein Molekül Intelligenz entwickeln konnte.
Eindeutig konnte ein Molekül so etwas nicht.
Aber intelligent war auch nicht die einzelne Nervenzelle in einem menschlichen Gehirn. Um einen Menschen im Verhältnis zu seiner Körpergröße intelligent zu machen, musste es sich aus etwa 100 Milliarden Zellen aufbauen. Ein kleineres intelligentes Wesen als der Mensch würde vielleicht weniger Zellen brauchen, aber die Größe der Moleküle, aus denen die Zellen aufgebaut waren, blieb gleich, und unterhalb einer gewissen Anzahl Zellen reichte es nicht mehr zum intelligenten Funken. Das war das Problem mit Ameisen, denen man zwar eine unbewusste Intelligenz bescheinigte, deren Hirne aber einfach über eine zu geringe Anzahl von Zellen verfügten, um höhere Intelligenz hervorzubringen. Weil Ameisen zudem nicht durch Lungen atmeten, sondern den Sauerstoff direkt über ihre Köperfläche in die Zellen leiteten, konnten sie nicht wachsen — ab einer gewissen Größe funktionierte die Körperatmung nicht mehr — und keine größeren Hirne entwickeln. So landeten sie samt allen übrigen Insekten in einer Sackgasse der Evolution. Die Wissenschaft schlussfolgerte, dass die körperliche Untergrenze für ein intelligentes Wesen bei zehn Zentimetern liege, womit die Chance, einem krabbelnden Aristoteles zu begegnen, gegen null ging, von einem einzelligen ganz zu schweigen.
All das war Weaver bewusst, als sie den Computer darauf programmierte, Einzeller und Intelligenz sinnvoll zusammenzureimen.
Wenige Stunden nach der Entdeckung im Labor herrschte auf der Independence Skepsis vor, ob die Gallerte wirklich intelligent war. Einzeller waren nicht kreativ und entwickelten kein Ich-Bewusstsein. Eine größere Masse aus Einzellern entsprach zwar theoretisch einem Gehirn oder Körper mit Körperzellen. Das Ding vor Vancouver Island, zu dem die Wale geschwommen waren, hatte unzweifelhaft aus Milliarden von Zellen bestanden. Aber konnte es deswegen denken? Und selbst wenn! — Wie lernte es? Wie tauschten sich die Zellen aus? Was führte dazu, dass aus einem Konglomerat von Zellen ein höheres Ganzes entstand?
Was hatte beim Menschen dazu geführt?
Entweder war diese Gallerte tatsächlich nur eine dumpfe Masse — oder sie verfügte über einen Trick.
Sie hatte es fertig gebracht, Wale und Krebse zu steuern.
Es musste einen Trick geben!
Kurzweil Technologies hatte Computerprogramme zum Aufbau künstlicher Intelligenz aus Milliarden elektronischer Speichereinheiten entwickelt, die Neuronen und damit ein Gehirn simulierten. Mit künstlicher Intelligenz wurde rund um den Globus bereits in unterschiedlichen Stadien gearbeitet. Sie war lernfähig und in gewisser Weise zu eigener, kreativer Weiterentwicklung fähig. Bis heute nahm keiner der Forscher für sich in Anspruch, so etwas wie Bewusstsein erschaffen zu haben, aber die Frage stand im Raum, ab wann eine Zusammenballung kleinster identischer Einheiten zu Leben wurde. Und ob es überhaupt möglich war, Leben auf diese Weise zu erschaffen.
Weaver hatte mit Ray Kurzweil Kontakt aufgenommen, sodass sie nun über ein künstliches Hirn der letzten Generation verfügte. Sie legte eine Sicherheitskopie an, zerpflückte das Original in seine einzelnen elektronischen Komponenten, kappte die Informationsbrücken und verwandelte es in einen unstrukturierten Schwarm kleinster Einheiten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn man ein menschliches Gehirn ebenfalls auf diese Weise zerlegen würde und was geschehen musste, damit sich die Zellen wieder zu einem denkenden Ganzen fänden. Nach einer Weile bevölkerten Milliarden elektronischer Neuronen ihren Computer, winzige Speicherplätze ohne Anbindung aneinander.
Dann stellte sie sich vor, es wären keine Speicherplätze, sondern Einzeller.
Milliarden von Einzellern.
Sie durchdachte die nächsten Schritte. Je näher sie an der Realität blieb, desto besser. Nach einigem Überlegen programmierte sie einen dreidimensionalen Raum und versah ihn mit den physikalischen Eigenschaften von Wasser. Wie sahen Einzeller aus? Sie hatten alle möglichen Formen, stäbchenartig, dreieckig, sternförmig gezackt, mit und ohne Geißeln, aber am besten war wohl, sich vorerst für das Einfachste zu entscheiden. Rund war gut. Also rund. Jetzt hatten sie eine Form. Solange die im Labor zu keinen anderen Erkenntnissen gelangten, blieben sie erst mal rund.
Nach und nach verwandelte sich der Computer in einen Ozean. Weavers virtuelle Einzeller bewohnten eine Welt, durch die sie trudeln konnten. Vielleicht sollte sie darangehen, Strömungen einzuprogrammieren, bis der virtuelle Raum in allen Einzelheiten der Tiefsee entsprach. Aber das hatte Zeit. Vorrangig musste sie die Kernfragen beantworten.
Weaver starrte auf den Bildschirm.
So viele Einheiten. Wie konnte daraus ein denkendes Wesen entstehen? Die Größe spielte keine Rolle. Für wasserlebende Wesen galt die Faustregel von der maximalen Körpergröße nicht, weil dort andere Gewichtsverhältnisse herrschten. Ein intelligentes Wasserwesen konnte ungleich größer werden als jeder landlebende Organismus. In den SETI-Szenarien kamen Wasserzivilisationen kaum vor, weil sie mit Radiowellen nicht zu erreichen waren und wahrscheinlich kein Interesse am Weltraum und anderen Planeten entwickeln würden — oder sollten sie den Weltraum in fliegenden Aquarien durchqueren? Doch jetzt war es genau das Szenario, das sie brauchten.
Als Anawak eine halbe Stunde später das JIC betrat, fand er sie immer noch starrend, die Stirn voller Falten. Sie freute sich, ihn zu sehen. Nach seiner Rückkehr aus Nunavut hatten sie viel miteinander gesprochen, über seine und ihre Vergangenheit. Anawak wirkte selbstbewusst und voller Zuversicht. Der traurige Indianer von der Hotelbar des Chateaus war irgendwo in der Arktis verloren gegangen.
»Wie weit bist du?«, fragte er.
»Knoten im Hirn.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wo liegt das Problem?«
Sie erzählte ihm, was sie getan hatte. Anawak hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Dann sagte er: »Klar, dass du nicht weiterkommst. Du bist hervorragend in Computersimulationen, aber dir fehlen ein paar Grundkenntnisse über Biologie. Was ein Hirn zur denkenden Einheit macht, ist sein Aufbau. Die Neuronen unseres Gehirns sind weitgehend gleichartig, es ist die Art und Weise der Verknüpfung, die sie zum Denken bringt. Es ist wie … Hm. — Pass auf! Stell dir einen Stadtplan vor.«
»Okay. London.«
»Und nun, dass alle Häuser und Straßen plötzlich den Zusammenhalt verlieren und wild durcheinander trudeln. Ein Tohuwabohu. Jetzt setzt du sie wieder zusammen. Dafür gibt es unendlich viele Varianten, aber nur aus einer wird London.«
»Schön. Woher weiß aber jedes Haus, wo es hingehört?« Weaver seufzte. »Nein, lass uns anders anfangen. Ganz gleich, wie die Zellen im Hirn miteinander verknüpft sind — warum ergeben sie zusammengenommen etwas, das mehr kann als die Summe seiner Teile?« Anawak rieb sich das Kinn.
»Wie soll ich dir das erklären? Okay, geh zurück in unsere angenommene Stadt. Da wird ein Hochhaus gebaut von … sagen wir mal, tausend Arbeitern. Sie sind alle gleich, meinetwegen geklont.«
»Oh Gott. Das ist nicht London.«
»Jeder von denen hat eine spezielle Aufgabe, bestimmte Handgriffe, die er verrichten muss. Aber keiner kennt den ganzen Plan. Trotzdem bauen sie zusammen das Haus. Wenn du welche austauschen würdest, gäbe es Pannen. Zehn Arbeiter, die eine Kette bilden, um einander Steine zuzuwerfen, kommen durcheinander, wenn einer von ihnen plötzlich durch jemanden ersetzt wird, der Schrauben anziehen soll.«
»Verstehe. Solange jeder an seinem Platz ist, klappt die Sache.«
»Sie wirken zusammen.«
»Und trotzdem gehen sie abends nach Hause.«
»Trudeln auseinander. Jeder in seine Richtung. Am nächsten Morgen erscheinen sie alle wieder auf der Baustelle, und es geht weiter. Du kannst sagen, das funktioniert, weil jemand die Arbeiter einteilt, aber ohne Arbeiter könnte er das Haus nicht bauen. Eines bedingt das andere. Aus dem Plan entsteht das Zusammenwirken, und daraus wiederum entsteht der Plan.«
»Also gibt es einen Planer.«
»Oder die Arbeiter sind der Plan.«
»Dann müsste jeder Arbeiter ein bisschen anders codiert sein als sein Kollege. Was er ja auch ist.«
»Richtig. Die Arbeiter sind also nur scheinbar gleich. Also fang noch weiter vorne an. Okay, es gibt einen Plan. Okay, sie sind codiert. Aber was brauchst du, damit daraus ein Netzwerk wird?«
Weaver überlegte. »Den Willen mitzumachen?«
»Einfacher.«
»Hm.« Plötzlich begriff sie, was Anawak meinte.
»Kommunikation. In einer Sprache, die alle verstehen. Eine Botschaft.«
»Und wie heißt die, wenn morgens alle aus den Betten kriechen?«
»Ich geh zum Bau, arbeiten.«
»Und?«
»Ich weiß, wo ich hingehöre.«
»Richtig. Gut, es sind Arbeiter, wenig geeignet für komplexe Konversation. Hart arbeitende Burschen. Sie schwitzen ständig, selbst nachts im Bett schwitzen sie und morgens, wenn sie aufstehen, den ganzen Tag lang. Woran erkennen sie einander?«
Weaver sah ihn an und verzog das Gesicht.
»Am Schweißgeruch.«
»Bingo!«
»Du hast vielleicht Phantasien.«
Anawak lachte. »Das ist Olivieras Schuld. Sie hat vorhin von diesem Bakterium erzählt, das Kolonien bildet … Myxococcus xanthus. Weißt du noch, es sondert einen Duftstoff ab, und alle rücken zusammen.«
Weaver nickte. Das machte Sinn. Duft war eine Möglichkeit. »Das durchdenke ich im Schwimmbad«, sagte sie.
»Kommst du mit?«
»Schwimmen? Jetzt?«
»Schwimmen? Jetzt?«, äffte sie ihn nach. »Hör zu, ich bin normalerweise nicht in einen Raum eingeschlossen und sitze starr auf der Stelle.«
»Ich dachte, das wäre normal bei Computerfreaks.«
»Sehe ich aus wie ein Computerfreak? Blass und wabbelig?«
»Oh, du bist mit Sicherheit die blasseste und wabbeligste Erscheinung, die mir jemals untergekommen ist«, grinste Anawak.
Sie bemerkte das Funkeln in seinen Augen. Der Mann war klein und kompakt, weiß Gott nicht George Clooney, aber auf Weaver wirkte er in diesem Moment groß, selbstbewusst und gut aussehend.
»Idiot«, sagte sie lächelnd.
»Danke.«
»Bloß weil du dein halbes Leben im Wasser verbringst, glaubst du, Computerleute sind an ihren Stühlen festgewachsen. Das meiste mache ich in freier Natur. Mit meinem Kopf, Leon! Laptop ins Gepäck, Abmarsch. Schreiben kannst du auch in einer Felswand. So was hier verspannt mich, ich bekomme davon Schultern wie Stahlträger.«
Anawak stand auf und trat hinter sie. Einen Moment lang glaubte Weaver, er wolle gehen. Dann spürte sie plötzlich seine Hände auf ihren Schultern. Seine Finger strichen über die Stränge der Nackenmuskulatur, die Daumen kneteten den Bereich um die Schulterblätter.
Er massierte sie.
Weaver fühlte, wie sie sich verkrampfte. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel.
Doch, es gefiel ihr. Sie wusste nur nicht recht, ob sie es wollte.
»Du bist nicht verspannt«, sagte Anawak.
Er hatte Recht. Warum hatte sie es dann gesagt?
Im Moment, da sie sich etwas zu ruckartig aus ihrem Sessel erhob und seine Hände von ihr abglitten, wusste sie, dass sie einen Fehler machte. Dass es ihr besser gefallen hätte, sitzen zu bleiben und ihn weitermachen zu lassen. Aber dafür hatte sie das Ganze wohl zu rüde beendet.
»Ich geh dann mal«, sagte sie verlegen. »Schwimmen.«
Unsicher fragte er sich, was schief gelaufen war. Er wäre gern mitgegangen ins Schwimmbad, aber die Stimmung war plötzlich umgekippt. Vielleicht hätte er fragen sollen, bevor er anfing, ihre Schultern zu massieren. Vielleicht hatte er die ganze Sache auch nur von Grund auf falsch eingeschätzt.
Du bist eben ungeschickt in so was, dachte er. Bleib bei deinen Walen. Blöder Eskimo.
Er ließ sie ziehen und überlegte, Johanson aufzusuchen und mit ihm die Erörterung der Einzeller-Intelligenz fortzusetzen. Aber irgendwie war ihm plötzlich die Lust daran vergangen. Also beschloss er, nebenan im CIC vorbeizuschauen. Greywolf und Delaware verbrachten dort große Teile ihrer Zeit mit der Beobachtung und Lautauswertung der Delphinstaffeln. Aber im CIC gab es nichts zu sehen als die Übertragungen der Rumpfkameras.
Die Monitore zeigten dunkles Wasser. Wenig hatte sich getan, seit die Orcas am Morgen das Schiff umrundet hatten, und die Orcas waren fort, wie es schien. Shankar saß einsam mit einem Paar überdimensionaler Kopfhörer vor dem Monitor, über dessen Oberfläche Zahlenreihen huschten, und lauschte in die Tiefe. Einer der Männer an den Bildschirmen erklärte ihm, Greywolf und Delaware seien im Welldeck, um MK-6 gegen MK-7 auszutauschen.
Also marschierte er den Rampentunnel hinunter und gelangte auf das leere Hangardeck. Es war kalt und zugig dort. Er wollte weitergehen, aber etwas hielt ihn zurück. Obwohl Tageslicht durch die torgroßen Öffnungen der Außenfahrstühle hereindrang, dominierte das fahle, gelbliche Zwielicht der Natriumdampfbeleuchtung die Atmosphäre. Er versuchte sich vorzustellen, wie die riesige Halle gedrängt voll stand mit Hubschraubern und Harrier-Jets, Fahrzeugen, Fracht und Ausrüstung, zentimeternah aneinander geparkt, sodass eben genug Platz blieb, um durch eine Tür, ein Fenster oder eine Klappe hineinzuschlüpfen. Wie Jeeps und Gabelstapler laut und ratternd die Rampen hoch— und runterfuhren. Wie Hunderte emsiger Marines, sobald sich das Fluggerät auf dem Dach befand, hier Waffen und Ausrüstung überprüften, schnell und konzentriert, wie die ganze, gewaltige Maschinerie der Independence ineinander griff.
Absurd, dieser Riesenraum in seiner Leere. Nutzlos. Die Büros zwischen den Spanten unbesetzt. Die gelben Lampen im Stahlträgermuster der hohen, düsteren Decke beleuchteten vornehmlich sich selber. Rohrleitungen entlang der Wände führten ins Nichts. Und überall Warnschilder — für wen?
»Manchmal, wenn es im Fitnessraum eng wird, stellen wir hier noch ein paar Laufbänder mit rein«, hatte Peak gesagt, als sie in Norfolk zusammen durch das Schiff gewandert waren. »Dann wird es erst richtig gemütlich.« Er hatte stirnrunzelnd dagestanden, als suche er nach etwas. Und dann hatte er hinzugefügt: »Ich hasse es, wenn der Hangar so leer ist. Ich hasse diese Verlassenheit von Räumen, die nicht leer sein dürften. Irgendwie hasse ich diese ganze Mission.«
Es war das einzige Mal, dass er Peak so erlebt hatte.
Der leerste Raum, dachte Anawak, ist immer in einem selber.
Ohne Eile ging er quer durch die Halle und trat hinaus auf die Plattform des Backbordaufzugs. Der Lift ragte über die Wellen wie eine großzügig bemessene Sonnenterrasse. Beiderseitig der Toröffnung ruhte er in senkrechten Laufschienen. Zwei große Hubschrauber mit zusammengelegten Rotorblättern fanden auf der über 140 Quadratmeter großen Fläche Platz, um vom Hangardeck hinauf aufs Dach gestemmt zu werden. Anawak kniff die Augen zusammen. Der Wind blies ihn ordentlich durch. Eine starke Bö konnte einen unvermittelt von den Füßen hebeln und über die Kante wehen, und nirgendwo gab es ein Gitter. Stattdessen zogen sich Auffangnetze um den Lift. Ein ganzer Ring solcher Netze umgab das Schiff, damit einen der Sturm oder der Ausstoß von Flugzeugabgasen nicht in die See warf.
Riskant war es trotzdem.
Zehn Meter unter ihm wogte die See.
Immer noch herrschten diffuse Sichtverhältnisse, aber der Eispartikelregen hatte aufgehört. So weit das Auge reichte, war das Wasser marmoriert von streifiger Gischt. Schieferfarbenes, weiß geädertes Meer in stetigem Auf und Ab. Eine Wüste.
Wie seltsam. Mehr als die Hälfte seines Lebens war er im gemäßigten Klima der kanadischen Westküste untergekrochen. Jetzt hatte ihn das Schicksal gleich zweimal hintereinander ins Eis verschlagen.
Der Wind zerrte an seinen Haaren. Allmählich fühlte er seine Haut taub werden von der Kälte. Er hielt die Hände wie eine Muschel vor seinen Mund und blies seinen warmen Atem hinein.
Dann ging er zurück ins Innere.
Johanson hatte Oliviera versprochen, sie zu einem richtigen Hummeressen einzuladen, wenn alles überstanden sei. Dann fischte er mit Hilfe des Spherobot eine Krabbe aus dem Simulator. Der kugelförmige Roboter schwebte, das fast bewegungslose Tier in seiner Greifzange haltend, zurück in die Garage, wo hermetisch verschließbare Boxen mit PVC-Lackierung bereitstanden. Es sah merkwürdig aus, wie der Automat die Krabbe mit augenscheinlichem Ekel von sich weg hielt, ins Innere einer der Boxen fallen ließ und sie verschloss.
Ein kleiner Roboter, von den Umständen angewidert.
Die Box wurde durch eine Schleuse in einen Trockenraum gefahren und mit Peressigsäure besprüht, mit Wasser abgewaschen, einem Schwall Natronlauge ausgesetzt und über eine weitere Schleuse aus dem Simulator hinausbefördert. Wie tödlich das Wasser im Tank auch vergiftet sein mochte, die Box war jetzt sauber.
»Sind Sie sicher, dass Sie alleine klarkommen?«, fragte Johanson. Er hatte sich zur Telefonkonferenz mit Bohrmann verabredet, der auf La Palma den Einsatz des Saugrüssels vorbereitete.
»Kein Problem.« Oliviera nahm den Behälter mit der Krabbe an sich. »Falls doch, werde ich schreien. In der Hoffnung, dass Sie mir helfen kommen und nicht dieser Affenarsch von Rubin.«
Johanson schmunzelte. »Sollten wir da eine Abneigung teilen?«
»Ich hab nicht wirklich was gegen Mick«, sagte Oliviera. »Er ist nur so gottverdammt bemüht, den Nobelpreis zu kriegen.«
»Scheint mir auch so. Und Sie?«
»Was soll mit mir sein?«
»Keine Lust auf Lorbeeren? Ein bisschen berühmt werden wir wohl alle, wenn wir das hier überleben.«
»Gegen ein paar Groupies hätte ich nichts einzuwenden. Die Wissenschaft ist trocken genug.« Oliviera hielt inne.
»Bei der Gelegenheit, wo ist er eigentlich?«
»Wer? Rubin?«
»Ja. Er wollte hier sein, wenn ich die DNA-Analyse im Hochsicherheitslabor durchführe.«
»Seien Sie doch froh.«
»Ich bin froh. Ich frage mich trotzdem, wo er sich rumtreibt.«
»Irgendwas Sinnvolles wird er schon tun«, sagte Johanson versöhnlich. »Ich meine, er ist ja kein schlechter Kerl. Er riecht nicht, hat niemanden umgebracht und eine Menge Auszeichnungen im Regal stehen. Wir müssen den Typ nicht mögen, solange er uns weiterbringt.«
»Tut er das? Finden Sie, er hat bis jetzt irgendwas Sinnvolles geleistet?«
»Aber gnädige Frau.« Johanson breitete die Hände aus. »Ist es einer guten Idee nicht scheißegal, wer sie hat?«
Oliviera grinste.
»Die Lebenslüge der zweiten Garnitur.« Sie zuckte die Achseln. »Na ja. Soll er machen, was er will. Wer weiß, wofür es gut ist.«
Anawak trat an den Beckenrand.
Das Deck war immer noch geflutet. Er sah Delaware und Greywolf mit Neoprenanzügen bekleidet im Wasser paddeln und den Delphinen das Geschirr abnehmen. Lärm erfüllte die Halle. Weiter heckwärts wurde eines der Deepflight- Tauchboote von der Decke gelassen. Roscovitz und Browning überwachten den Vorgang vom Kontrollpult aus. Langsam sank der flache, raumschiffartige Rumpf abwärts, bis er die Oberfläche berührte und sanft schaukelnd auflag. Im kräuseligen Wasser leuchtete die Schleuse am Grund.
Roscovitz schaute zu ihm herüber.
»Fahren Sie raus?«, rief Anawak.
»Nein.« Der Leiter der Tauchstation zeigte auf das Boot.
»Dieses Baby hat ‘ne Macke. Irgendwas mit der Vertikalsteuerung.«
»Schlimm?«
»Keine große Sache, aber nachschauen ist besser.«
»Mit dem waren wir doch draußen, oder?«
»Keine Angst, Sie haben nichts kaputtgemacht.« Roscovitz lachte. »Möglicherweise ein Defekt in der Software. In wenigen Stunden ist alles wieder heile.«
Ein Schwall Wasser traf Anawaks Beine.
»He, Leon!« Delaware grinste ihn aus dem Becken an. »Was stehst du da rum? Komm rein.«
»Gute Idee«, meinte Greywolf. »Du könntest was Sinnvolles tun.«
»Wir tun eine Menge Sinnvolles da oben«, erwiderte Anawak.
»Zweifellos.« Greywolf streichelte einen der Delphine, der sich an ihn schmiegte und leise schnatternde Laute von sich gab. »Schnapp dir einen der Anzüge.«
»Ich wollte nur kurz nach euch sehen.«
»Nett von dir.« Greywolf versetzte dem Delphin einen Klaps und sah zu, wie er davonschnellte. »Nun hast du uns gesehen.«
»Gibt’s irgendwas Neues?«
»Wir machen die zweite Staffel fertig«, sagte Delaware. »MK-6 hat nichts Außergewöhnliches registriert, abgesehen von heute Morgen, als sie die Anwesenheit der Orcas meldeten.«
»Und zwar, bevor die Elektronik sie gesehen hat«, bemerkte Greywolf nicht ohne Stolz. »Ja, ihr Sonar ist …«
Anawak bekam einen weiteren Schwall ab, als diesmal eines der Tiere wie ein Torpedo aus dem Wasser stieg und ihn nass spritzte. Offenbar fand der Delphin großes Vergnügen daran. Er quiekte und schnatterte und reckte die Schnauze.
»Gib dir keine Mühe«, sagte Delaware zu dem Tier, als könne es sie verstehen. »Leon kommt nicht rein. Er würde sich den Arsch abfrieren, weil er nämlich gar kein richtiger Inuk ist, sondern ein Angeber. Er kann überhaupt kein Inuk sein. Sonst wäre er längst …«
»Okay, okay!« Anawak hob die Hände. »Wo ist der verdammte Anzug?«
Fünf Minuten später half er Delaware und Greywolf, den Tieren der zweiten Staffel die Kameras und Sender anzulegen. Plötzlich fiel ihm ein, wie Delaware ihn gefragt hatte, ob er ein Makah sei.
»Wie bist du damals eigentlich darauf gekommen?«, wollte er wissen.
Sie zuckte die Achseln. »Du hast dich ausgeschwiegen. Irgendwas Indianisches musstest du sein. Wie ein Friese hast du jedenfalls nicht ausgesehen. Jetzt, wo ich’s besser weiß …« Sie strahlte ihn an. »… hab ich auch was für dich!«
»Du hast was für mich?«
Sie zurrte einen Riemen um die Brust eines Delphins.
»Ich bin im Internet darauf gestoßen. Dachte, ich mache dir eine Freude. Hab’s auswendig gelernt, willst du wissen, was es ist?«
»Raus damit!«
»Die Geschichte deiner Welt!« Es klang wie von Fanfarenstößen begleitet.
»Du lieber Himmel.«
»Kein Interesse?«
»Doch«, sagte Greywolf. »Leon interessiert sich brennend für seine geliebte Heimat, er würde es nur ums Verrecken nicht zugeben.« Er kam herbeigeschwommen, flankiert von zwei Delphinen. In seinem gepolsterten Anzug sah er aus wie ein mittelgroßes Seeungeheuer. »Lieber lässt er sich für einen Makah halten.«
»Du hast’s gerade nötig«, bemerkte Anawak.
»Kein Streit, Kinder!« Delaware legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. »Ich meine, wusstet ihr, wo all die Wale und Delphine und die Robben herkommen? Wollt ihr die wahre Erklärung hören?«
»Spann uns nicht auf die Folter.«
»Also, es beginnt in frühester Zeit, als Menschen und Tiere noch eins waren. Da lebte in der Nähe von Arviat ein Mädchen.«
Anawak horchte auf. Das also hatte sie gefunden! Als Heranwachsender hatte er die Geschichte in allen möglichen Varianten gehört, aber dann war sie ihm zusammen mit seiner Kindheit verloren gegangen.
»Wo ist Arviat?«, wollte Greywolf wissen.
»Arviat ist die südlichste Siedlung von Nunavut«, erwiderte Anawak. »War der Name des Mädchens Talilayuk?«
»Oh ja, sie hieß Talilayuk, so hieß sie«, fuhr Delaware mit einigem Pathos fort. »Sie hatte schönes Haar, und viele Männer zeigten großes Interesse an Talilayuk, aber erst ein Hundemann konnte ihr Herz gewinnen. Talilayuk wurde schwanger und gebar Inuit und Nicht-Inuit, alles durcheinander. Bis eines Tages, als der Hundemann gerade Fleisch holen war, ein unglaublich gut aussehender Sturmvogelmann in einem Kajak vor Talilayuks Camp erschien. Er lud sie ein, zu ihm ins Boot zu steigen, und wie das so geht — sie brannten miteinander durch.«
»Das Übliche.« Greywolf inspizierte das Objektiv einer Kamera. »Und wann kommen die Wale ins Spiel?«
»Langsam. — Irgendwann erscheint Talilayuks Vater auf Besuch, aber seine Tochter ist verschwunden, und der Hundemann heult rum. Der Alte rudert auf dem Meer umher, bis er zum Camp des Sturmvogelmannes kommt. Da sieht er sie schon von weitem vor dem Zelt sitzen und macht ein Riesentheater, sie solle sich auf der Stelle nach Hause scheren. Talilayuk steigt folgsam zu Papa ins Boot, und sie paddeln heimwärts. Nach einiger Zeit bemerken sie plötzlich, wie das Meer zu wogen beginnt. Die Wellen werden immer höher, und plötzlich bricht ein gewaltiger Sturm los! Weit und breit kein Land in Sicht. Brecher schlagen ins Boot, und der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, sie könnten sinken. Es ist die Rache des Sturmvogels, die über sie gekommen ist, und Papa denkt, deswegen will ich nicht ersaufen. Und weil er ohnehin einen Rochus hat auf seine Tochter, die an dem ganzen Schlamassel schuld ist, packt er Talilayuk und stürzt sie über Bord. Das Mädchen klammert sich verzweifelt an den Bootsrand. Der Alte schreit, lass los, aber Talilayuk klammert sich nur noch fester an die Reling. Da packt ihn der Wahnsinn, er greift zum Beil, holt aus und schlägt ihr die vorderen Fingerglieder ab! Aber kaum berühren die das Wasser, was glaubst du? Sie verwandeln sich in Narwale und die Fingernägel in Narwalstoßzähne. Talilayuk will nicht loslassen, also haut der Alte ihr auch noch die mittleren Fingerglieder ab, und sie werden zu Weißwalen, zu Belugas. Immer noch hängt das Mädchen an der Reling. Die letzten Fingerglieder müssen dran glauben, und es entstehen lauter Robben daraus. Talilayuk gibt nicht auf. Selbst mit ihren Handstümpfen bringt sie es irgendwie noch fertig, sich ans Boot zu klammern, und es beginnt voll zu laufen. Da packt den Alten das Grauen! Er stößt ihr das Paddel mitten ins Gesicht, haut ihr das linke Auge raus, und endlich lässt sie los und versinkt in den Wellen.«
»Rüde Sitten.«
»Aber Talilayuk stirbt nicht, jedenfalls nicht richtig. Sie verwandelt sich in die Meeresgöttin Sedna und herrscht seitdem über die Tiere des Meeres. Einäugig gleitet sie durchs Wasser, die Armstümpfe von sich gestreckt, und sie hat immer noch sehr schönes Haar, das sie ohne Hände leider nicht kämmen kann. Darum ist es oft durcheinander, woran man sieht, dass sie zürnt. — Doch wer es schafft, ihr Haar zu kämmen und zu einem Zopf zu flechten, der kann Sedna besänftigen, und dem gibt sie ihre Meerestiere zur Jagd frei.«
»Als ich klein war, in den langen Winternächten, ist diese Geschichte oft erzählt worden, immer ein bisschen anders«, sagte Anawak leise.
»Hat sie dir gefallen?«
»Es hat mir gefallen, dass du sie erzählt hast.«
Sie lächelte zufrieden. Anawak fragte sich, was sie auf die Idee gebracht hatte, die alte Legende von Sedna für ihn auszugraben. Ihm schien mehr dahinter zu stecken als ein zufälliger Fund im Internet. Sie hatte nach so etwas gesucht. Es war tatsächlich ein Geschenk an ihn. Ein Beweis ihrer Freundschaft.
Irgendwie war er gerührt.
»Blödsinn.« Greywolf pfiff den letzten Delphin heran, der noch nicht mit Kamera und Hydrophonen ausgestattet war. »Leon ist ein Mann der Wissenschaft. Dem kannst du mit Meeresgöttinnen nicht kommen.«
»Euer dämlicher Kleinkrieg«, sagte Delaware kopfschüttelnd.
»Außerdem stimmt die Geschichte nicht. Wollt ihr wissen, wie wirklich alles entstanden ist? Es gab kein Land. Es gab nur einen Häuptling, der unter Wasser eine Hütte bewohnte. Er war ein fauler Sack, weil er niemals aufstand, sondern immer nur mit dem Rücken zum Feuer lag, in dem irgendwelche Kristalle verbrannten. Er lebte ganz alleine da unten, und sein Name war ›Der Wunderbare Macher‹. Eines Tages kam sein Gehilfe hereingeplatzt und meinte, die Geister und übernatürlichen Wesen fänden kein Land, um sich darauf niederzulassen, und er solle seinem Namen gerecht werden und was dagegen machen. Als Antwort hob der Häuptling zwei Steine vom Boden und gab seinem Gehilfen beide mit der Anweisung, er solle sie ins Wasser werfen. Der tat, wie ihm geheißen, und die Steine wuchsen und formten die Queen Charlotte Islands und das ganze Festland.«
»Danke«, grinste Anawak. »Endlich mal eine streng wissenschaftliche Erklärung.«
»Die Erzählung stammt aus einem alten Haida-Zyklus: Hoyá Káganas, die Reisen des Raben«, sagte Greywolf. »Bei den Nootka gibt es ähnliche Geschichten. Viele drehen sich um das Meer. Entweder du entstammst ihm, oder es vernichtet dich.«
»Vielleicht sollten wir besser hinhören«, meinte Delaware. »Falls wir mit der Wissenschaft nicht weiterkommen.«
»Seit wann interessierst du dich für Mythen?«, wunderte sich Anawak.
»Es macht Spaß.«
»Du bist doch noch empirischer als ich.«
»Na und? Jedenfalls sagen die Mythen ziemlich klar, wie man friedlich mit der Natur zusammenlebt. Wen interessiert’s, ob ein Wort davon wahr ist? Du nimmst was und gibst was zurück. Das ist die ganze Wahrheit.«
Greywolf grinste und tätschelte den Delphin. »Dann hätten wir die Probleme ja im Griff, was, Licia? Du musst einfach ein bisschen mehr Körpereinsatz zeigen.«
»Wieso denn das?«
»Ich kenne zufällig ein paar alte Bräuche aus der Beringsee. Die haben es wie folgt gemacht: Bevor die Jäger in See stachen, musste der Harpunenwerfer mit der Tochter des Kapitäns schlafen, um ihren Vaginalgeruch anzunehmen. Nur der zog den Wal in die Nähe des Boots und besänftigte ihn, sodass er sich töten ließ.«
»Auf so was können wirklich nur Männer kommen«, sagte Delaware.
»Männer, Frauen, Wale …«, lachte Greywolf. »Hishuk ish ts’awalk — Alles ist eins.«
»Okay«, rief Delaware. »Tauchen wir zum Meeresgrund, suchen Sedna und kämmen ihre Haare.« Alles ist eins, echote es in Anawaks Kopf. Akesuk hatte gesagt: Dieses Problem könnt ihr nicht mit Wissenschaft lösen. Ein Schamane würde dir sagen, dass ihr es mit Geistern zu tun bekommen habt, den Geistern der belebten Welt, die in den Wesen wandern. Die Quallunaat haben begonnen, das Leben zu vernichten. Sie haben die Geister gegen sich aufgebracht, die Meeresgöttin Sedna. Wer immer deine Wesen im Meer sind, ihr werdet nichts erreichen, wenn ihr versucht, gegen sie vorzugehen. Vernichtet sie, und ihr vernichtet euch selber. Begreift sie als Teil von euch, und ihr teilt dieselbe Welt. Der Kampf um die Herrschaft lässt sich nicht gewinnen.
Hier schwammen sie mit Delphinen, während Roscovitz und Browning ein Stück weiter das Deepflight reparierten, und erzählten einander alte Legenden von Geistern und Meeresgöttinnen. Lachend paddelten sie umher, und ganz allmählich, unmerklich, verloren ihre Körper die Wärme an das Meerwasser, trotz Temperierung und schützender Anzüge.
Wie sollten sie das Haar der Meeresgöttin kämmen? Bis heute hatten die Menschen nur Toxide und Atommüll nach Sedna geworfen. Eine Ölpest nach der anderen verklebte ihr Haar. Ohne zu fragen, hatten sie ihre Tiere gejagt und viele davon ausgerottet. Anawak spürte sein Herz klopfen im eisigen Wasser. Ihn fröstelte. Etwas sagte ihm, dass dieser Moment des Glücks von kurzer Dauer sein würde. Er hatte seinen Frieden mit so vielem gemacht, hatte Freunde gewonnen, fühlte sich befreit vom Ballast falsch verstandenen Daseins.
Dumpf überkam ihn die Ahnung, dass soeben etwas zu Ende ging. Nie wieder würden sie so zusammenkommen.
Greywolf überprüfte den Sitz des Geschirrs am sechsten und letzten Tier der Staffel und nickte befriedigt.
»In Ordnung«, sagte er. »Lassen wir sie raus.«
»Ich blöde Kuh. Ich muss blind gewesen sein!«
Oliviera starrte den Bildschirm an, auf dessen Oberfläche das Fluoreszenzmikroskop die Vergrößerung der Probe übertrug. In Nanaimo hatte sie die Gallerte mehrfach untersucht, beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war, nachdem sie das Zeug aus den Hirnen der Wale gepult hatten. Auch den Fetzen, der nach dem Tauchgang unter der Barrier Queen an Anawaks Messer hängen geblieben war, hatte sie unter die Lupe genommen. Aber nie wäre sie auf die Idee gekommen, von einer zerfallenden Substanz auf einen Zusammenschluss aus Einzellern zu folgern.
Es war geradezu peinlich!
Dabei hätte sie es längst schon wissen können. Aber in der Pfiesteria -Hysterie hatten alle nur noch Killeralgen vor Augen gehabt. Selbst Roche war entgangen, dass die zerflossene gallertige Substanz gar nicht verschwunden, sondern auf dem Objektträger seines Mikroskops zu sehen gewesen war, die ganze Zeit über, in Gestalt einzelliger, toter oder sterbender Organismen. Im Innern der Hummer und Krabben war bereits alles vertreten gewesen, und alles hatte sich miteinander gemischt, Killeralgen, Gallerte — und Meerwasser.
Meerwasser!
Vielleicht wäre Roche der fremdartigen Substanz auf die Schliche gekommen, hätte nicht ein einziger Tropfen davon Universen an Lebensformen beherbergt. Jahrhundertelang hatte man vor lauter Fischen, Säugern und Crustaceen 99 Prozent des marinen Lebens schlicht übersehen. In Wahrheit beherrschten nicht Haie, Wale und Riesenkraken die Ozeane, sondern Heerscharen mikroskopischer Winzlinge. In einem einzigen Liter Oberflächenwasser wuselten Dutzende Milliarden Viren, eine Milliarde Bakterien, fünf Millionen tierische Einzeller und eine Million Algen bunt durcheinander. Selbst Wasserproben aus der lichtlosen und lebensfeindlichen Tiefe jenseits 6000 Meter förderten noch Millionen Viren und Bakterien zutage. In dem Getümmel die Übersicht zu behalten, war so gut wie aussichtslos. Je tiefer die Forschung vordrang in den Kosmos des Allerkleinsten, desto unüberschaubarer bot er sich dar. Meerwasser? Was sollte das sein? Ein genauer Blick durch ein modernes Fluoreszenzmikroskop legte den Schluss nahe, es eher mit einer Art dünnem Gel zu tun zu haben. Wie Hängebrücken durchzog ein Flechtwerk untereinander verknüpfter Makromoleküle jeden Tropfen. Zwischen Bündeln transparenter Fäden, Häutchen und Filme fanden unzählige Bakterien ihre ökologische Nische. Um zwei Kilometer ausgespannter DNS-Moleküle, 310 Kilometer Proteine und 5600 Kilometer Polysaccharide zu messen, brauchte man eben mal einen Milliliter. Und irgendwo dazwischen verbargen sich die Mitglieder einer möglicherweise intelligenten Lebensform. Sie verbargen sich, indem sie sich offen präsentierten als Allerweltsmikroben. So bizarr sich die Gallerte ausnahm, bestand sie keineswegs aus exotischen Lebewesen, sondern aus hundsordinären Tiefseeamöben.
Oliviera stöhnte auf.
Es lag offen zutage, warum Roche nichts begriffen hatte, sie selber nicht, keiner der Leute, die das Wasser aus dem Trockendock analysiert hatten. Niemand war auf die Idee gekommen, Tiefseeamöben könnten zu Kollektiven verschmelzen, die Krabben und Wale steuerten.
»Es kann nicht sein«, beschied Oliviera.
Ihre Worte klangen seltsam kraftlos. Ohne Nachhall blieben sie unter der Haube ihres Schutzanzugs stecken. Erneut verglich sie die taxonomischen Resultate miteinander, aber es änderte nichts an dem, was sie schon wusste. Augenscheinlich setzte sich die Gallerte aus Vertretern einer Amöbenart zusammen. Wissenschaftlich beschrieben. Eine Spezies, die größtenteils unterhalb von 3000 Metern vorkam und bisweilen höher, und das in unvorstellbaren Massen.
»Blödsinn«, zischte Oliviera. »Du verarschst mich doch, Kleines. Hast dich verkleidet. Siehst aus wie eine Amöbe. Ich glaub dir nichts, ich glaub dir gar nichts! Was zum Teufel bist du wirklich?«
Nach Johansons Rückkehr machten sie sich gemeinsam daran, einzelne Zellen der Gallerte zu isolieren. Ohne Unterlass vereisten und erhitzten sie die Amöben, bis die Zellwände platzten. Nach Zugabe von Proteinase zerbrachen die Eiweißmoleküle in Ketten von Aminosäuren. Sie mischten Phenol bei und zentrifugierten die Proben, ein aufwändiges und langwieriges Procedere, befreiten die Lösung von Eiweißtrümmern und Zellwandbestandteilen, nahmen die Fällung vor und erhielten endlich eine wenig klare, wässrige Flüssigkeit, den Schlüssel zum Verständnis des fremden Organismus.
Reine DNA-Lösung.
Der zweite Schritt forderte ihre Geduld noch mehr. Um die DNA zu entschlüsseln, mussten sie Teile davon isolieren und vervielfältigen. Als Ganzes war das Genom nicht lesbar, weil zu komplex, also stürzten sie sich in Sequenzanalysen bestimmter Teilabschnitte.
Es war eine Heidenarbeit, und von Rubin hieß es, er sei krank.
»Dieses Arschloch«, schimpfte Oliviera. »Jetzt hätte er wirklich helfen können. Was fehlt ihm überhaupt?«
»Migräne«, sagte Johanson.
»Der Gedanke hat allerdings was Tröstliches. Migräne tut weh.«
Oliviera pipettierte die Proben in die Sequenziermaschine. Es würde einige Stunden dauern, sie durchzurechnen. Einstweilen konnten sie nichts tun, also ließen sie den obligatorischen Säureregen über sich ergehen und traten aufatmend ins Freie. Oliviera schlug eine Zigarettenpause auf dem Hangardeck vor, solange die Maschine rechnete, aber Johanson hatte eine bessere Idee. Er verschwand in seiner Kabine und kehrte fünf Minuten später mit zwei Gläsern und einer Flasche Bordeaux zurück.
»Gehen wir«, sagte er.
»Wo haben Sie die denn aufgetrieben?«, staunte Oliviera, während sie die Rampe emporschritten.
»So was treibt man nicht auf«, schmunzelte Johanson. »So was bringt man mit. Ich bin ein Meister im Mitführen verbotener Dinge.«
Sie beäugte neugierig die Flasche.
»Ist der gut? Ich verstehe nicht so furchtbar viel davon.«
»Ein 90er Chateau Clinet. Pomerol. Lockert den Geldbeutel und die Gesinnung.« Johanson erspähte eine metallene Kiste neben einem der Spantenbüros und hielt darauf zu. Sie setzten sich. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Ihnen gegenüber klaffte das Tor zur Steuerbordplattform und gab den Blick frei aufs Meer. Ruhig und glatt erstreckte es sich im Dämmer der polaren Nacht, überzogen von Schleiern aus Dunst und Frost, eisfrei. Es war kalt im Hangar, aber nach den vielen Stunden im Hochsicherheitslabor brauchten sie dringend frische Luft. Johanson entkorkte die Flasche, goss ein und stieß sein Glas leicht gegen ihres. Ein helles Ping verlor sich in der düsteren Weite.
»Schmeckt!«, beschied Oliviera.
Johanson schmatzte mit den Lippen.
»Ich habe ein paar Flaschen für besondere Anlässe mitgenommen«, sagte er. »Und das ist ein besonderer Anlass.«
»Sie glauben, wir kommen diesen Dingern auf die Spur?«
»Vielleicht sind wir es ja schon.«
»Den Yrr?«
»Tja, das ist die Frage. Was haben wir da im Tank? Kann man sich eine Intelligenz vorstellen, die aus Einzellern besteht? Aus Amöben?«
»Wenn ich mir die Menschheit so anschaue, frage ich mich bisweilen, was uns sonderlich von Amöben unterscheidet.«
»Komplexität.«
»Ist das von Vorteil?«
»Was glauben Sie?«
Oliviera zuckte die Achseln. »Was soll schon einer glauben, der sich seit Jahren mit nichts anderem als Mikrobiologie beschäftigt. Ich habe keinen Lehrstuhl wie Sie. Ich tausche mich nicht mit zornigen jungen Studenten aus, teile mich keiner breiten Öffentlichkeit mit, leide unter mangelnder Distanz zu mir selber. Eine Laborratte in Menschengestalt. Wahrscheinlich trage ich Scheuklappen, aber ich sehe überall nur Mikroorganismen. Wir leben im Zeitalter der Bakterien. Seit über drei Milliarden Jahren behalten sie ihre Form unverändert bei. Menschen sind eine Modeerscheinung, aber wenn die Sonne explodiert, wird es immer noch irgendwo ein paar Mikroben geben. Sie sind das wahre Erfolgsmodell des Planeten, nicht wir. Ich weiß nicht, ob Menschen Vorteile gegenüber Bakterien haben, aber wenn wir jetzt noch den Beweis erbringen, dass Mikroben Intelligenz besitzen, stecken wir meines Erachtens ganz tief in der Scheiße.«
Johanson nippte an seinem Glas.
»Ja, es wäre fatal. Alleine, was die christlichen Kirchen ihren Gläubigen zu erklären hätten. Dass Gottes Schöpfung ihren Höhepunkt am fünften Tag hatte und nicht am siebten.«
»Darf ich Sie was Persönliches fragen?«
»Sicher.«
»Wie kommen Sie eigentlich mit alldem hier klar?«
»Solange es ein paar seltene Bordeaux gibt, sehe ich keine nennenswerten Schwierigkeiten.«
»Empfinden Sie keine Wut?«
»Auf wen?«
»Auf die da unten.«
»Sollten wir dieses Problem mit Wut lösen?«
»Keineswegs, o Sokrates!« Oliviera grinste schief. »Es interessiert mich wirklich. Ich meine, die haben Ihnen Ihr Zuhause genommen.«
»Ja. Einen Teil davon.«
»Vermissen Sie es nicht schrecklich? Ihr Haus in Trondheim.«
Johanson schwenkte den Inhalt seines Glases.
»Weniger, als ich dachte«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Sicher, es war ein wunderschönes Haus, voller wunderbarer Sachen — aber es enthielt nicht mein Leben. Man ist verblüfft, wie leicht man sich von so einem Weinkeller lösen kann und von einer gut sortierten Bibliothek. Außerdem, so merkwürdig es klingt, ich hatte beizeiten losgelassen. Am Tag, als ich auf die Shetlands flog, muss ich mich wohl von meinem Haus verabschiedet haben, irgendwie, ohne es zu merken. Ich hab die Türe geschlossen und bin weggefahren, und in meinem Kopf war ebenfalls etwas abgeschlossen. Ich dachte, wenn du jetzt sterben müsstest, was würdest du am meisten vermissen? — Und es war nicht das Haus. Nicht dieses.«
»Gibt es noch eines?«
»Ja.« Johanson trank. »An einem See im Hinterland. Wenn man dort auf der Veranda sitzt und aufs Wasser schaut, Sibelius oder Brahms im Ohr, ein Schluck von diesem Zeug hier … das ist ganz was anderes. Diesen Platz vermisse ich wirklich.«
»Klingt schön.«
»Wissen Sie, warum ich das alles hier heil überstehen möchte? Um dorthin zurückzukehren.« Johanson griff nach der Flasche und füllte ihre Gläser auf. »Sie müssen dort gewesen sein und den Abendstern gesehen haben, wie er sich im Wasser spiegelt. Das vergessen Sie nicht. Ihre ganze Existenz bündelt sich in diesem einsamen Funkeln. Das Universum wird nach beiden Seiten durchlässig. — Eine außerordentliche Erfahrung, aber man kann sie nur alleine machen.«
»Sind Sie nochmal dort gewesen nach der Welle?«
»Nur in der Erinnerung.«
Oliviera trank.
»Ich hatte Glück bis jetzt«, sagte sie. »Keine Verluste zu beklagen. Freunde und Familie wohlauf, alles steht noch.« Sie hielt inne und lächelte. »Dafür hab ich kein Haus am See.«
»Jeder hat ein Haus am See.«
Es schien ihr, als wolle Johanson noch etwas hinzufügen. Stattdessen ließ er einfach nur den Wein in seinem Glas kreisen. So saßen sie da, tranken Bordeaux und sahen zu, wie der Dunst übers Meer zog.
»Ich habe eine Freundin verloren«, sagte Johanson schließlich.
Oliviera schwieg.
»Sie war ein bisschen kompliziert. Hat alles im Laufschritt gemacht.« Er lächelte. »Komisch, eigentlich haben wir uns erst so richtig gefunden, nachdem wir einander aufgegeben hatten. Na ja. Lauf der Dinge.«
»Das tut mir Leid«, sagte Oliviera leise.
Johanson nickte. Er sah sie an und dann an ihr vorbei. Sein Blick bekam etwas Starres. Oliviera runzelte die Stirn und wandte den Kopf.
»Ist irgendwas?«
»Ich hab Rubin da gesehen.«
»Wo?«
»Da drüben.« Johanson zeigte zur mittschiffs gelegenen Wand des Hangars. »Er ist da reingegangen.«
»Reingegangen? Da ist nichts, wo man reingehen könnte.«
Das Ende der Halle lag in düsterem Zwielicht. Eine mehrere Meter hohe Wand schottete den Hangar zu den dahinter liegenden Decks ab. Oliviera hatte Recht. Nirgendwo dort gab es eine Tür.
»Ist vielleicht was in dem Wein?«, frotzelte sie.
Johanson schüttelte den Kopf. »Ich könnte schwören, dass es Rubin war. Er tauchte kurz auf und war verschwunden.«
»Da sind Sie ganz sicher?«
»Ziemlich sicher.«
»Hat er uns gesehen?«
»Kaum. Wir sitzen hier im schattigen Eckchen. Er hätte schon sehr genau hinschauen müssen.«
»Fragen wir ihn doch einfach, wenn er wieder auf dem Damm ist.«
Johanson sah weiterhin zur Wand. Dann zuckte er die Achseln.
»Ja. Fragen wir ihn.«
Als sie zurück ins Labor gingen, hatten sie die Flasche Bordeaux zur Hälfte geleert, aber Oliviera fühlte sich nicht im Mindesten betrunken. Irgendwie wirkte das Zeug nicht in der kalten Luft. Sie war nur wunderbar beschwingt und von dem Gedanken beseelt, phantastische Entdeckungen zu machen.
Und die machte sie auch.
Im Hochsicherheitslabor hatte die Maschine ihre Arbeit beendet. Sie ließen sich das Ergebnis auf die Computerkonsole außerhalb des Labors legen. Der Bildschirm zeigte eine Reihe von Basensequenzen. Olivieras Pupillen bewegten sich im Zickzack hin und her, während sie die Zeilen von oben nach unten durchging, und mit jeder Zeile sackte ihr Unterkiefer ein weiteres Stück nach unten.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte sie leise.
»Was gibt’s nicht?« Johanson beugte sich über ihre Schulter. Er las es. Zwischen seinen Brauen bildeten sich zwei steile Falten. »Sie sind alle unterschiedlich!«
»Ja.«
»Unmöglich! Identische Wesen haben identische DNA.«
»Wesen einer Spezies — ja.«
»Aber das sind Wesen einer Spezies.«
»Die natürliche Mutationsrate …«
»Vergessen Sie’s!« Johanson wirkte fassungslos. »Die ist weit überschritten. Das da sind unterschiedliche Wesen, allesamt! Keine DNA ist exakt wie die andere.«
»Auf jeden Fall sind es keine normalen Amöben.«
»Nein. An denen ist überhaupt nichts normal.«
»Was dann?«
Er starrte auf die Ergebnisse.
»Ich weiß es nicht.«
»Ich auch nicht.« Oliviera rieb sich die Augen. »Ich weiß nur eines. Dass in der Flasche noch was drin ist. Und dass ich es jetzt brauchen könnte.«
Eine Weile surfte sie durch die Datenbanken, um die Sequenzanalyse der Gallert-DNA mit anderswo beschriebenen Analysen zu vergleichen. Direkt zu Anfang stieß Oliviera auf ihren eigenen Befund vom Tag, als sie das Zeug in den Walköpfen untersucht hatte. Damals hatte sie keine Unterschiede in der Abfolge der Basenpaare feststellen können.
»Ich hätte mehr von diesen Zellen untersuchen müssen«, fluchte sie.
Johanson schüttelte den Kopf.
»Vielleicht wären Sie auch dann nicht drauf gestoßen.«
»Dennoch!«
»Wie hätten Sie ahnen sollen, dass wir es mit Verschmelzungen von Einzellern zu tun haben. Kommen Sie, Sue, das ist müßig. Denken Sie vorwärts.«
Oliviera seufzte. »Ja, Sie haben Recht.«
Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Okay, Sigur. Gehen Sie schlafen. Es reicht, wenn sich einer die Nacht um die Ohren schlägt.«
»Und Sie?«
»Ich mache weiter. Ich will wissen, ob dieses DNA-Chaos schon anderswo beschrieben wurde.«
»Wir können uns die Arbeit teilen.«
»Auf keinen Fall.«
»Es macht mir nichts aus.«
»Wirklich, Sigur! Hauen Sie sich aufs Ohr. Sie brauchen Ihren Schönheitsschlaf, ich nicht. Als ich vierzig wurde, hat mir die Natur Falten und Tränensäcke verpasst. Bei mir macht’s keinen Unterschied, ob ich wach oder müde aus der Wäsche gucke. Gehen Sie, und nehmen Sie den Rest Ihres köstlichen Rotweins mit, bevor ich meine wissenschaftliche Objektivität damit vertrinke.«
Johanson hatte den Eindruck, als wolle sie die Sache lieber allein durchfechten. Sie war unzufrieden mit sich selber. Natürlich hatte sie nicht die geringste Veranlassung, sich etwas vorzuwerfen, aber vermutlich tat er besser daran, sie in Ruhe zu lassen.
Er nahm die Flasche und verließ das Labor.
Draußen stellte er fest, dass er kein bisschen müde war. Jenseits des Polarkreises ging die Zeit verloren. Die vorherrschende Helligkeit dehnte den Tag zur Endlosschleife, unterbrochen von wenigen Stunden Dämmerlicht. Soeben kroch die Sonne, den Blicken entzogen, dicht unter dem Horizont dahin. Mit etwas gutem Willen ließ sich das als Nacht bezeichnen. Psychologisch die beste Gelegenheit, schlafen zu gehen.
Aber Johanson hatte keine Lust.
Stattdessen stapfte er die Rampe hinauf.
Die Ausmaße des riesigen Hangardecks verloren sich in kubistischen Schatten. Immer noch war niemand zu sehen. Er warf einen Blick auf die Stelle, wo sie die Flasche geöffnet hatten, und fand die Kiste in der Dunkelheit verborgen.
Rubin konnte sie nicht gesehen haben.
Aber er hatte Rubin gesehen!
Wozu schlafen? Er sollte sich diese Wand noch einmal ansehen.
Zu seiner Enttäuschung und Verwunderung blieb die Inspektion ergebnislos. Mehrfach schritt er sie ab, fuhr mit den Fingern über die vernieteten Stahlplatten, über Rohre und Kästen, aber Oliviera schien Recht zu behalten. Er musste einer Täuschung zum Opfer gefallen sein. Da war nichts, weder eine Tür noch irgendeine Form von Durchgang.
»Ich täusche mich aber nicht«, sagte er leise zu sich selber.
Sollte er doch schlafen gehen? Aber dann würde ihm die Sache im Kopf umherwandern. Vielleicht empfahl es sich, jemanden zu fragen. Li zum Beispiel oder Peak, Buchanan oder Anderson. Aber was, wenn er sich tatsächlich getäuscht hatte?
Irgendwie peinlich.
Du bist Forscher, dachte er trotzig. Dann forsche.
Ohne Eile zog er sich in den heckwärtigen Teil des Hangars zurück, setzte sich auf die Kiste, die Oliviera und ihm als provisorische Kneipe gedient hatte, und wartete. Der Platz war nicht schlecht. Selbst wenn man am Ende zu der Einsicht gelangte, dass migränegeplagte Kollegen nicht durch Wände gingen, ließ es sich hier eine Weile aushalten mit Blick auf die See.
Er trank einen Schluck aus der Flasche.
Der Bordeaux erwärmte ihn. Seine Augenlider begannen schwerer zu werden. Mit jeder Minute legten sie einige Gramm zu, bis er sie kaum noch offen halten konnte. Tatsächlich war er doch müde, nur dass Johanson zu den Menschen zählte, die sich weigerten, der Natur Verfügungsgewalt über ihren Körper zu geben. Irgendwann, als nichts mehr in der Flasche war, dämmerte er schließlich weg, und sein Geist trieb hinaus auf die dunstbedeckte grönländische See.
Ein leises, metallisches Geräusch schreckte ihn auf.
Zuerst wusste er nicht, wo er war. Dann spürte er die Stahlwand des Hangars schmerzhaft im Kreuz. Über dem Meer hatte sich der Himmel aufgehellt. Er rappelte sich hoch und sah zur Wand hinüber.
Ein Teil davon stand offen.
Benommen rutschte Johanson von seiner Kiste. Da hatte sich ein Tor aufgetan, vielleicht drei Meter im Quadrat.
Leuchtend hob es sich gegen den dunklen Stahl ab.
Sein Blick wanderte zu der leeren Flasche auf der Kiste.
Träumte er?
Langsam begann er, auf das helle Quadrat zuzugehen.
Im Näherkommen erkannte er, dass dort ein Gang mit nackten Wänden mündete. Neonröhren verstrahlten kaltes Licht. Nach wenigen Metern stieß der Gang gegen eine Wand und knickte seitlich ab.
Johanson spähte ins Innere und lauschte.
Von jenseits erklangen Stimmen und Geräusche. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Er überlegte, ob es nicht besser wäre, schnellstmöglich von hier zu verschwinden. Immerhin befand er sich auf einem Kriegsschiff. Irgendeine Funktion würde der Bereich schon haben. Etwas, das man Zivilisten nicht unbedingt auf die Nase band.
Dann dachte er an Rubin.
Nein! Wenn er jetzt das Weite suchte, würde ihm nur pausenloses Grübeln bevorstehen.
Rubin war hier gewesen!
Johanson ging hinein.
Bohrmann versuchte, das schöne Wetter zu genießen, aber es gab nichts zu genießen. Nicht mit Millionen Würmern vierhundert Meter unter sich und Abermilliarden Bakterien, die sich in beängstigend kurzer Zeit ihren Weg durch die feinen Hydratverästelungen im Vulkankegel La Palmas bahnten.
Er ging über die Plattform zum Haupthaus. Die Heerema war ein Halbtaucher, eine schwimmende Plattform von mehrfacher Fußballfeldgröße. Das rechteckige Deck ruhte auf sechs quer verstrebten Säulen, die massigen Pontons entwuchsen. Auf dem Trockenen glich die Insel einem überdimensionierten, plumpen Katamaran. Jetzt waren die Pontons teilgeflutet und nicht zu sehen unter der Wasseroberfläche. Nur ein Teil der sechs Säulen ragte aus den Wellen. Mit 21 Meter Tiefgang und einer Verdrängung von über 100000 Tonnen befand sich die schwimmende Insel in einer äußerst stabilen Position. Halbtaucher steckten selbst in schweren Stürmen die leidigen Tauch— und Stampfbewegungen weg. Vor allem waren sie wendig und vergleichsweise schnell. Zwei Düsenpropeller befähigten die Heerema zu einer Transitgeschwindigkeit von immerhin sieben Knoten, mit denen sie sich in den vergangenen Wochen von Namibia nach La Palma hochgearbeitet hatte. Im Heck lag ein zweistöckiges Gebäude, das Mannschaftsquartiere, Messe und Küche, Brücke und Kontrollraum in sich vereinte. Frontseitig ragten zwei gewaltige Kräne in die Höhe. Jeder davon hob 3000 Tonnen. Über den rechten Kran wurde der Saugrüssel in die Tiefe gelassen, der andere senkte das dazugehörige Beleuchtungssystem ab, eine separate Einheit mit integrierten Kameras. Vier Leute in den hoch gelegenen Führerhäusern waren ausschließlich damit befasst, Rüssel und Lichtinsel zu koordinieren und zu steuern.
»Gärraad!«
Frost kam von einem der Kräne zu ihm herübergelaufen. Bohrmann hatte ihm angeboten, ihn der Einfachheit halber Gerd zu nennen, aber Frost bestand in breitestem Texanisch auf der korrekten Form. Gemeinsam betraten sie das Heckgebäude und den abgedunkelten Kontrollraum. Einige Leute aus Frosts Team und Techniker von De Beers waren anwesend, auch Jan van Maarten. Der Technische Leiter hatte innerhalb kürzester Zeit das versprochene Wunder vollbracht. Der erste Tiefseewurmstaubsauger der Menschheitsgeschichte war einsatzbereit.
»Gut, Leute«, trompetete Frost, während sie hinter den Technikern Aufstellung nahmen. »Der Herr sei mit uns. Wenn das hier klappt, nehmen wir uns Hawaii vor. Gestern war ein Roboter unten und entdeckte an der Südostflanke Gewürm in rauen Mengen. Danach brach die Verbindung ab. Auch andere Vulkaninseln werden gezielt attackiert, ganz wie ich’s mir dachte. Aber dem Bösen keine Chance! Wir putzen sie weg mit unserem Rüssel. Wir säubern die ganze Welt von dem Geschmeiß!«
»Schöne Idee«, sagte Bohrmann leise. »Wir haben hier ein überschaubares Gebiet. Willst du mit dieser einen Konstruktion den kompletten amerikanischen Kontinentalhang säubern?«
»Quatsch!« Frost sah ihn erstaunt an. »Hab ich doch nur wegen der Motivation gesagt.«
Bohrmann hob die Brauen und richtete seine Blicke wieder auf die Monitore. Er hoffte, dass die ganze Sache überhaupt funktionierte. Selbst wenn sie die Würmer da unten wegbekamen, stand immer noch die Frage im Raum, wie viele der Bakterienkonsortien schon ins Eis gelangt waren. Insgeheim quälte ihn die Sorge, dass es längst zu spät war, den Absturz des Cumbre Vieja zu verhindern. Nachts träumte er von einem gigantischen Wasserdom, der sich bis in die Wolken hob und über den Ozean auf ihn zu raste, und er wachte jedes Mal schweißgebadet auf. Dennoch übte sich Bohrmann in Optimismus. Es würde schon klappen. Und vielleicht schafften sie es ja an Bord der Independence, die unbekannte Macht zum Einlenken zu bewegen. Wenn die Yrr zur Zerstörung eines ganzen Abhangs fähig waren, konnten sie ihn wohl auch wieder reparieren.
Frost hielt eine weitere flammende Ansprache gegen alle Feinde der Menschheit und lobte das De-Beers-Team über den grünen Klee. Dann gab er das Zeichen, den Rüssel und die Lichtinsel runterzulassen.
Die Lichtinsel war ein mehrfach gefalteter, gigantischer Flutlichtstrahler. Im Augenblick, da sie am Kranausleger über den Wellen hing, bildete sie ein kompaktes Bündel aus Stangen und Streben, zehn Meter lang und angefüllt mit Leuchten und Kameraobjektiven. Nun wurde sie abgesenkt und verschwand im Meer, über Glasfaser mit der Heerema verbunden. Nach zehn Minuten blickte Frost auf die Anzeige des Tiefenmessers und sagte: »Stopp.« Van Maarten gab den Befehl an den Piloten weiter. »Aufklappen«, fügte er hinzu. »Erst mal halbe Fläche.
Wenn wir nirgendwo anecken, komplett.« In vierhundert Metern Tiefe vollzog sich eine elegante Metamorphose. Das Bündel entfaltete sich zu einer filigranen Konstruktion. Als die Gestänge keinen Widerstand fanden, klappte die Insel weiter auseinander, bis ein gitterartiges Element von den Ausmaßen eines halben Fußballfeldes in der Tiefe hing.
»Einsatzbereit«, meldete der Pilot.
Frost warf einen Blick auf die Instrumente. »Wir müssten dicht vor einer Wand sein.«
»Beleuchtung und Kameras«, befahl van Maarten.
An der Konstruktion flammten Reihen um Reihen starker Halogenlampen auf. Zugleich nahmen die acht Kameras ihre Arbeit auf und übertrugen ein trübes Panorama auf den Monitor. Plankton trieb durchs Bild.
»Näher ran«, sagte van Maarten.
Das Flutlichtelement rückte, von kleinen, schwenkbaren Propellern angetrieben, langsam vor. Nach wenigen Minuten schälte sich eine schartige Struktur aus der Dunkelheit. Im Näherkommen wurde sie zu einer schwarzen, bizarr geformten Lavawand.
»Runter.«
Die Insel sank weiter. Der Pilot navigierte mit äußerster Vorsicht, bis das Sonar einen terrassenförmigen Vorsprung anzeigte. Übergangslos tauchte zum Greifen nah ein breiter Grat auf. Die Oberfläche war übersät mit zuckenden Leibern. Bohrmann starrte auf die acht Monitore und fühlte Mutlosigkeit in sich aufsteigen. Hier begegnete er dem Alptraum wieder, der ihn seit dem Kollaps des norwegischen Kontinentalhangs begleitete. Wenn es überall so aussah wie auf diesen 40 Metern, die das Lichtelement der Dunkelheit abtrotzte, konnten sie ebenso gut wieder fahren.
»Miese kleine Dreckswürmer«, knurrte Frost.
Wir sind zu spät gekommen, dachte Bohrmann.
Dann schämte er sich seiner Angst. Es war nicht gesagt, dass die Würmer ihre Bakterienfracht schon vollständig entladen hatten und ob es überhaupt genug waren. Außerdem gab es da noch diesen rätselhaften Faktor, der die Rutschung letztendlich ausgelöst hatte. Es war nicht zu spät. Sie würden sich nur fürchterlich beeilen müssen.
»Na schön«, sagte Frost. »Kippen wir die Insel um 45 Grad und heben sie ein Stück an, um bessere Draufsicht zu erhalten. Und dann runter mit dem Rüssel. Ich hoffe, das Ding hat ordentlich Appetit.«
»Es hat einen Mordshunger«, sagte van Maarten.
Voll ausgefahren, reichte der Saugrüssel einen halben Kilometer in die Tiefe, ein segmentiertes, kautschukisoliertes Ungetüm von drei Metern Durchmesser, das in einem schlundartigen Maul endete. Rings um das Maul waren Scheinwerfer, zwei Kameras und mehrere schwenkbare Propeller angebracht. Per Fernsteuerung konnte das Ende des Rüssels hoch und runter, vorwärts, rückwärts und seitwärts navigiert werden. Im Pilotenstand liefen die Kamerabilder von Lichtinsel und Rüssel zusammen und boten einen großzügigen Blick auf Panorama und Details. Ungeachtet der guten Sicht erforderte die Arbeit mit den Joysticks Fingerspitzengefühl und einen Copiloten, der aufpasste, dass der Steuermann nichts übersah.
Eine ganze Weile fiel der Rüssel durch undurchdringliches Dunkel. Die Scheinwerfer blieben ausgeschaltet. Dann kam das Flutlichtelement in Sicht. Erst nur ein Schimmer im Schwarz der tiefen See, erglühte es immer stärker, nahm seine rechteckige Form an und arbeitete schließlich die Hangterrasse heraus. Es war so groß, dass Bohrmann sich an eine Raumstation erinnert fühlte. Weiter sank der Schlauch und näherte sich dem Gewimmel der Würmer, bis sie geschlossen die Monitore überzogen. Jeder der borstigen Körper war deutlich und in allen Einzelheiten zu erkennen. Huschend, sich windend, mit ausgestülpten, hakenbewehrten Kiefern.
Im Kontrollraum herrschte atemlose Stille.
»Phantastisch«, flüsterte van Maarten.
»Die Putzfrau wird sich doch wohl nicht vom Hausstaub faszinieren lassen.« Frost schüttelte grimmig den Kopf. »Werfen Sie endlich Ihren Staubsauger an, und putzen Sie die Meute weg.«
Der Saugrüssel war genauer gesagt eine Saugpumpe, die Unterdruck erzeugte und dadurch alles, was ihr vor den Schlund geriet, in sich hineinschlang. Als sie zu arbeiten begann, passierte jedoch erst mal gar nichts. Offenbar brauchte die Pumpe eine Weile, um in Fahrt zu kommen. Zumindest hoffte Bohrmann, dass es so war. Weiterhin gingen die Würmer ihrer zerstörerischen Tätigkeit nach, ohne dass etwas geschah. Im Kontrollraum breitete sich langsam aber sicher Enttäuschung aus. Obwohl niemand etwas sagte, war sie mit Händen greifbar. Bohrmann sah unverwandt auf die beiden Monitore der Rüsselkameras und fühlte die Hoffnungslosigkeit zurückkehren.
Woran lag es? War die Konstruktion zu lang? Die Pumpe zu schwach?
Während er noch darüber nachgrübelte, vollzog sich auf den Monitoren eine Veränderung. Etwas schien an den Tieren zu zerren. Ihre Hinterteile hoben sich, ragten senkrecht empor, zitterten …
Plötzlich rasten sie auf die Kameras zu und daran vorbei.
»Es klappt!« Bohrmann reckte die Fäuste. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schrie er. Am liebsten wäre er quer durch den Raum getanzt und hätte ein Rad geschlagen.
»Halleluja!« Frost nickte heftig. »Das ist ein wunderbares Spielzeug! Oh Herr, lass uns die Welt vom Bösen reinigen! Scheiße aber auch!« Er riss seine Baseballkappe vom Kopf, fuhr sich durch die Locken und setzte sie wieder auf. »Damit machen wir sie fertig!«
Mehr Würmer folgten. Sie wurden derart schnell und zu so vielen in den Schlauch gesaugt, dass auf den Bildschirmen bald nur noch verwaschenes Flackern zu sehen war. Auch die Kameras der Lichtinsel zeigten deutlich, was sich am unteren Ende des Saugrüssels abspielte. Sediment wurde mit angesaugt und wirbelte hoch.
»Weiter nach links«, sagte Bohrmann. »Oder nach rechts. Egal, einfach weitermachen.«
»Wir gehen zu einer langsamen Zickzackbewegung über«, schlug van Maarten vor. »Von einem Ende der erleuchteten Zone bis zum anderen. Sobald wir den sichtbaren Bereich leer geräumt haben, fahren wir mit Insel und Rüssel weiter und nehmen uns die nächsten 40 Meter vor.«
»Sehr gut! Tun Sie das.«
Der Sauger begab sich auf Wanderschaft, während er unablässig Wurmkörper in sein Inneres riss. Wo er gewütet hatte, war das Wasser so trübe, dass man den Untergrund nicht erkennen konnte.
»Erfolge werden wir erst sehen, wenn sich die Brühe geklärt hat«, meinte van Maarten. Er wirkte ungeheuer erleichtert. Mit einem tiefen Seufzer wich die Anspannung von Wochen, und er lehnte sich beinahe gelassen zurück.
»Aber ich schätze, wir werden alle außerordentlich zufrieden sein.«
Donnnggg!
Trondheims Glocken an einem Sonntagvormittag. Der Kirchturm in der Kirkegata. Sonnenbeschienen reckt er sich gen Himmel, kleiner selbstbewusster Turm, wirft seinen Schatten auf das ockerfarbene Giebeldachhäuschen mit der weiß gestrichenen Vortreppe, beansprucht Gehör.
Dingdong, heile Welt. Aufstehen.
Kissen über den Kopf. Wer lässt sich von einer Kirche vorschreiben, wann er aufzustehen hat. Er doch nicht. Verdammte Kirche! Gestern zu viel getrunken mit Kollegen und Studenten? Kann ja nur so sein.
Donnnggg!
»Es ist acht Uhr.«
Das Durchsagesystem.
Es gab keine zeitentrückte Kirkegata mehr, keine selbstbewusste kleine Kirche, kein ockerfarbenes Haus. In seinem Schädel hämmerten nicht Trondheims Glocken, sondern unseliger Kopfschmerz.
Was war los?
Johanson schlug die Augen auf und fand sich in zerwühlten Laken auf einem fremden Bett liegen. Weitere Betten standen drum herum, alle leer. Der Raum war groß, mit Apparaturen voll gestopft, fensterlos, und wirkte antiseptisch. Ein Krankenzimmer.
Was um Himmels willen tat er in einem Krankenzimmer?
Sein Kopf kam hoch und fiel zurück aufs Kissen. Die Augen schlossen sich von selber wieder. Alles war besser als das Dröhnen in seinem Schädel. Und schlecht war ihm auch.
»Es ist neun Uhr.«
Johanson setzte sich auf.
Er war nach wie vor in dem Zimmer. Inzwischen ging es ihm bedeutend besser. Die Übelkeit war verschwunden, der schraubstockartige Schmerz einem dumpfen, aber erträglichen Druck gewichen.
Nur wie er hierher gekommen war, wusste er immer noch nicht.
Er sah an sich hinunter. Hemd, Hose, Socken, alles von letzter Nacht. Seine Daunenjacke und sein Pullover lagen auf dem Bett nebenan, davor standen die Schuhe, akkurat nebeneinander platziert.
Er schwang die Beine über die Bettkante.
Sofort ging eine Tür auf, und Sid Angeli kam herein, der Leiter der medizinischen Versorgung. Angeli war ein kleiner Italiener mit Haarkranz und scharfen Mundwinkelfalten, der den ödesten Job auf dem Schiff hatte, weil niemand krank wurde. Das schien sich seit kurzem geändert zu haben. »Wie geht es Ihnen?« Angeli legte den Kopf schief. »Alles in Ordnung?«
»Weiß nicht.« Johanson griff in seinen Nacken und zuckte heftig zusammen.
»Das wird noch eine Weile wehtun«, sagte Angeli. »Machen Sie sich nichts draus. Hätte schlimmer kommen können.«
»Was ist denn überhaupt passiert?«
»Haben Sie keine Erinnerung?«
Johanson dachte nach, aber Nachdenken brachte nur den Schmerz zurück. »Ich glaube, ich könnte zwei Aspirin vertragen«, stöhnte er.
»Sie wissen nicht, was vorgefallen ist?«
»Keine Ahnung.«
Angeli kam näher und schaute ihm prüfend ins Gesicht. »Tja. Sie wurden auf dem Hangardeck gefunden heute Nacht. Müssen ausgerutscht sein. Ein Segen, dass hier alles videoüberwacht wird, sonst lägen Sie immer noch da. Sind wahrscheinlich mit Genick und Hinterkopf auf eine Bodenverstrebung geknallt.«
»Hangardeck?«
»Ja. Wissen Sie nicht mehr?«
Natürlich, er war auf dem Hangardeck gewesen. Mit Oliviera. Und danach ein weiteres Mal, allein. Er konnte sich erinnern, dass er dorthin zurückgekehrt war, aber nicht mehr, warum. Und schon gar nicht, was dann passiert war.
»Hätte ein böses Ende nehmen können«, sagte Angeli. »Sie … ähm … haben da nicht zufällig was getrunken?«
»Getrunken?«
»Wegen der leeren Flasche. Da lag eine leere Flasche rum. Miss Oliviera meinte, Sie hätten dort gemeinsam was getrunken.« Angeli spreizte die Finger. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Dottore, das ist überhaupt nicht schlimm. Aber Flugzeugträger sind gefährliche Orte. Nass und dunkel. Man kann stürzen oder ins Meer fallen. Besser, nicht allein aufs Deck zu gehen, vor allem nicht, wenn man … äh …«
»Wenn man was getrunken hat«, ergänzte Johanson. Er stellte sich auf die Füße. Schwindel durchraste seinen Kopf. Angeli eilte hinzu und nahm seinen Ellbogen. »Danke, es geht.« Johanson schüttelte ihn ab. »Wo bin ich hier überhaupt?«
»Auf der Krankenstation. Kommen Sie zurecht?«
»Wenn Sie mir die Aspirin geben würden …«
Angeli ging zu einem weiß lackierten Schubladenschrank und entnahm ihm ein Päckchen Schmerztabletten. »Hier. Ist nur eine dicke Beule. Wird Ihnen bald besser gehen.«
»Okay. Danke.«
»Fühlen Sie sich wirklich gut?«
»Ja.«
»Und Sie erinnern sich an nichts?«
»Nein, zum Teufel.«
»Va bene.« Angeli lächelte breit. »Beginnen Sie den Tag langsam, Dottore. Und wenn irgendetwas ist, scheuen Sie sich nicht, sofort herzukommen.«
»Hypervariable Bereiche? Ich verstehe kein Wort.«
Vanderbilt versuchte mitzukommen. Oliviera merkte, dass sie Gefahr lief, ihre Zuhörerschaft zu überfordern. Peak schaute irritiert drein. Li ließ sich nichts anmerken, aber es stand zu befürchten, dass der Vortrag ihr Wissen über Genetik arg strapazierte.
Johanson saß zwischen ihnen wie ein Gespenst. Er war verspätet erschienen, ebenso wie Rubin, der verlegen murmelnd Platz genommen und sich für seinen Ausfall entschuldigt hatte. Im Gegensatz zu Rubin sah Johanson wirklich schlecht aus. Sein Blick flackerte. Er schaute um sich, als müsse er sich alle paar Minuten versichern, dass die Personen ringsum echt waren und keine Einbildung. Oliviera nahm sich vor, nach dem Meeting mit ihm zu sprechen.
»Ich will es am Beispiel einer normalen menschlichen Zelle deutlich machen«, sagte sie. »Sie ist im Grunde nichts weiter als ein Sack voller Informationen mit einer Membran drum herum. Der Kern enthält die Chromosomen, die Gesamtheit aller Gene. Sie bilden zusammen das Genom oder die DNA, diese spiralige Doppelhelix, Sie wissen schon. Salopp ausgedrückt, unseren Bauplan. Je höher ein Organismus entwickelt ist, desto differenzierter fällt dieser Bauplan aus. Anhand einer DNA-Analyse können Sie einen Mörder überführen oder verwandtschaftliche Verhältnisse klären, aber im Großen und Ganzen ist der Plan bei allen Menschen gleich: Füße, Beine, Torso, Arme, Hände, und so weiter. Das heißt, die Analyse einer individuellen DNA sagt uns zweierlei — im Allgemeinen: Dies ist ein Mensch. Im Besonderen, um welche Person es sich handelt.«
Sie sah Interesse und Verständnis in den Gesichtern der anderen. Offenbar war es eine gute Idee gewesen, mit einem Grundkurs in Genetik zu beginnen.
»Natürlich sind zwei Menschen individuell unterschiedlicher als zwei Einzeller desselben Stammes. Meine DNA weist statistisch rund eine Million kleiner Unterschiede zu jeder anderen Person im Raum auf. Alle 1200 Basenpaare differieren menschliche Wesen voneinander. Wiederum, wenn Sie die Zellen von ein und derselben Person untersuchen, werden Sie auch dort minimale Unterschiede feststellen, biochemische Abweichungen in der DNA, entstanden durch Mutation. Entsprechend unterschiedlich können die Ergebnisse ausfallen, wenn Sie etwa eine Zelle von meiner linken Hand und eine von meiner Leber analysieren. Dennoch sagt jede davon eindeutig: Es handelt sich um Sue Oliviera.« Sie machte eine Pause. »Bei Einzellern stellen sich solche Fragen weniger. Es gibt nur eine einzige Zelle. Sie bildet das gesamte Wesen. Es gibt also auch nur ein Genom, und weil sich Einzeller durch Teilung vermehren statt durch Paarung, findet auch keine Chromosomenvermischung von Mama und Papa statt, sondern das Wesen dupliziert sich mitsamt seiner genetischen Information, und das war’s.«
»Das heißt, auf Einzeller bezogen — sobald man eine DNA kennt, kennt man alle«, sagte Peak mit Worten, die auf einem Hochseil zu balancieren schienen.
»Ja.« Oliviera schenkte ihm ein Lächeln. »Das wäre nur natürlich. Eine Population von Einzellern wird sich durch weitgehend identische Genome ausweisen. Die geringe Mutationsrate außer Acht gelassen, ist die DNA in jedem Individuum gleich.«
Sie sah, wie Rubin unruhig auf seinem Stuhl hin— und herzurutschen begann und seinen Mund auf-und zuklappte. Normalerweise hätte er spätestens an dieser Stelle versucht, den Vortrag an sich zu reißen. Wie dumm, dachte Oliviera befriedigt, dass du mit Migräne im Bett gelegen hast. Zur Abwechslung weißt du mal nicht, was wir wissen. Du musst die Schnauze halten und zuhören.
»Aber genau hier beginnt unser Problem«, fuhr sie fort. »Die Zellen der Gallerte wirken auf den ersten Blick identisch. Es sind Amöben, wie man sie in der Tiefsee findet. Nicht mal sonderlich exotisch. Um ihre ganze DNA zu beschreiben, müssten wir diverse Computer zwei Jahre lang rechnen lassen, also beschränken wir uns auf Stichproben. Wir isolieren kleine Abschnitte der DNA und erhalten Teile des genetisehen Codes, technisch ausgedrückt sogenannte Amplicons. Jedes Amplicon zeigt uns eine Reihe von Basenpaaren, genetisches Vokabular. Analysieren wir Amplicons aus dem jeweils gleichen Abschnitt der DNA unterschiedlicher Individuen und vergleichen sie miteinander, erhalten wir interessante Informationen. Die Amplicons mehrerer Einzeller derselben Population etwa sollten folgendes Bild ergeben.«
Sie hielt einen Ausdruck hoch, den sie für das Meeting vergrößert hatte.
Al: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA
A2: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA
A3: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA
A4: AATGCCAATTCCATAGGATTAAATCGA
»Sie sehen, die analysierten Sequenzen sind auf ganzer Strecke identisch. Vier identische Einzeller.« Sie legte das Blatt zur Seite und zeigte ein zweites. »Stattdessen haben wir das hier erhalten.«
A1: AATGCCA CGATGCTACCTG AAATCGA
A2: AATGCCA ATTCCATAGGATT AAATCGA
A3: AATGCCA GGAAATTACCCG AAATCGA
A4: AATGCCA TTTGGAACAAAT AAATCGA
»Das sind die Basenabfolgen der Amplicons von vier Exemplaren unserer Gallertspezies. Die DNA ist identisch — bis auf kleine, hypervariable Bereiche, in denen es drunter und drüber geht. Keinerlei Gemeinsamkeiten. Wir haben Dutzende der Zellen untersucht. Manche differieren innerhalb der hypervariablen Zonen nur leicht, andere sind völlig unterschiedlich. Durch natürliche Mutation ist so was nicht mehr zu erklären. Anders gesagt: Das kann kein Zufall sein.«
»Vielleicht sind es doch unterschiedliche Arten«, sagte Anawak.
»Nein. Es ist definitiv dieselbe Spezies. Und definitiv ist jedem Lebewesen zu Eigen, dass seine genetische Codierung zu Lebzeiten nicht verändert werden kann. Der Bauplan kommt immer als Erstes. Erst danach wird gebaut, und was fertig gebaut ist, kann nur diesem Plan entsprechen und keinem anderen.«
Lange Zeit sagte niemand etwas.
»Wenn diese Zellen trotzdem unterschiedlich sind«, sagte Anawak, »müssen sie also einen Weg gefunden haben, ihre DNA zu verändern, nachdem sie sich geteilt haben.«
»Aber zu welchem Zweck?«, fragte Delaware.
»Menschen«, sagte Vanderbilt.
»Menschen?«
»Sind denn hier alle blind? Die Natur macht so was nicht, sagt Dr. Oliviera, die es wissen muss, und von Dr. Johanson höre ich auch keinen Einspruch. Also wer hat Grips genug, sich so was auszudenken, he? Das Zeug ist eine Biowaffe. Nur Menschen bringen so was fertig.«
»Einspruch«, sagte Johanson. Er fuhr sich durchs Haar. »Es ergibt keinen Sinn, Jack. Der Vorteil von Biowaffen ist, dass man nur ein Basisrezept braucht. Der Rest ist Reproduktion …«
»Es kann durchaus von Vorteil sein, wenn Viren Mutationen durchlaufen, oder nicht? Das AIDS-Virus mutiert am laufenden Band. Jedes Mal, wenn man glaubt, ihm auf die Schliche gekommen zu sein, hat es sich schon wieder verändert.«
»Das ist was anderes. Wir haben hier einen Superorganismus, keine virologische Infektion. Es muss einen anderen Grund haben, warum sie unterschiedlich sind. Irgendetwas geschieht mit ihrer DNA nach der Teilung. Sie werden anders codiert, unterschiedlich. Wen interessiert, wer dafür verantwortlich ist? Wir müssen rausfinden, welchen Sinn es hat.«
»Es hat den Sinn, uns alle zu töten!«, sagte Vanderbilt gereizt. »Dieses Zeug ist dazu da, die freie Welt zu vernichten.«
»Schön«, knurrte Johanson. »Dann erschießen Sie es doch. Sollen wir nachsehen, ob es muslime Zellen sind? Vielleicht ist Ihre DNA islamisch fundamentalistisch. Würde die Sache legitimieren.«
Vanderbilt starrte ihn an. »Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?«
»Auf der des Verstehens.«
»Verstehen Sie auch, warum Sie gestern Nacht auf den Kopf gefallen sind?« Vanderbilt grinste süffisant. »Nach dem Genuss einer Flasche Bordeaux, wohlgemerkt. Wie geht es Ihnen, Doktor? Kopfschmerzen? Warum halten Sie nicht eine Weile Ihren Mund?«
»Damit Sie nicht zu oft Gelegenheit haben, Ihren zu öffnen.«
Vanderbilt atmete schwer. Er schwitzte. Li bedachte ihn mit einem spöttischen Blick aus den Augenwinkeln und beugte sich vor.
»Sie sagen, es handelt sich um unterschiedliche Codierungen, richtig?«
»Richtig«, nickte Oliviera.
»Ich bin keine Wissenschaftlerin. Aber wäre es nicht denkbar, dass die Codierung den gleichen Zweck erfüllt wie Codes bei Menschen? Codes im Kriegsfall zum Beispiel.«
»Ja«, nickte Oliviera. »Das wäre denkbar.«
»Codes, um einander zu erkennen.«
Weaver kritzelte etwas auf ein Blatt und schob es Anawak hin. Er las es, nickte kurz und legte es wieder beiseite.
»Zu welchem Zweck sollten sie einander erkennen?«, fragte Rubin. »Und warum auf derart komplizierte Weise?«
»Ich denke, das liegt auf der Hand«, sagte Crowe.
Einen Moment lang war nur das Knistern des Zellophans zu hören, das sie von ihrer Zigarettenpackung zog.
»Und was glauben Sie?«, fragte Li.
»Ich glaube, es dient der Kommunikation«, sagte Crowe.
»Diese Zellen kommunizieren untereinander. Es ist eine Form der Unterhaltung.«
»Sie meinen, dieses Zeug …« Greywolf starrte sie an.
Crowe hielt die Flamme ihres Feuerzeugs an die Zigarette, paffte und blies den Rauch aus.
»Es tauscht sich aus. Ja.«
»Was war denn los letzte Nacht?«, fragte Oliviera, als sie zum Labor hinuntergingen.
Johanson zuckte die Achseln. »Ich habe nicht die blasseste Ahnung.«
»Und wie geht es Ihnen jetzt?«
»Seltsam. Die Kopfschmerzen lassen nach, aber in meiner Erinnerung klafft eine Lücke von der Größe des Hangardecks.«
»So ein dämlicher Zufall, was?« Rubin drehte sich im Gehen um und bleckte die Zähne. »Da bekommen wir beide Kopfschmerzen. Alle beide! Gott, ich war so platt, dass ich mich nicht mal mehr abmelden konnte. Muss mich wirklich entschuldigen, aber wenn man einmal daliegt … Bäng! Koma!«
Oliviera betrachtete Rubin mit undefinierbarer Miene. »Migräne?«
»Ja. Schrecklich! Kommt und geht. Es passiert nicht oft, aber wenn, ist alles zu spät. Da hilft nur, Zäpfchen rein und Licht aus.«
»Durchgeschlafen bis heute Morgen?«
»Klar.« Rubin sah schuldbewusst drein. »Tut mir Leid. Aber man verliert jede Kontrolle, im Ernst. Sonst hätte ich mich doch mal blicken lassen.«
»Haben Sie das nicht?«
Es klang komisch, wie sie die Frage stellte. Rubin lächelte irritiert.
»Nein.«
»Bestimmt nicht?«
»Das sollte ich eigentlich wissen.«
In Johansons Kopf machte etwas Klick. Wie ein kaputter Diaprojektor. Der Schlitten versuchte ein Bild zu greifen und rutschte ab.
Wozu stellte Oliviera diese Fragen?
Sie machten vor der Labortür Halt, und Rubin gab den Zahlencode ein. Die Tür schwang auf. Während er ins Innere ging und das Licht anmachte, sagte Oliviera leise zu Johanson: »He, was ist los? Sie waren der festen Überzeugung, ihn gestern Nacht gesehen zu haben.«
Johanson starrte sie an. »Ich war was?«
»Als wir weintrinkenderweise auf der Kiste saßen und darauf warteten, dass die Sequenzmaschine ihren Job macht«, flüsterte Oliviera. »Sie sagten, Sie hätten ihn gesehen.«
Klick. Der Schlitten versuchte das Dia zu greifen. Klick.
Sein Kopf war wie mit Watte angefüllt. Sie hatten Wein getrunken, daran erinnerte er sich. Und sich unterhalten. Und dann hatte er … was gesehen?
Klick.
Oliviera hob eine Braue.
»Menschenskind«, sagte sie im Hineingehen. »Sie hat’s ja vielleicht erwischt.«
Sie saßen im JIC vor Weavers Computer.
»Pass auf«, erklärte sie. »Die Sache mit der Codierung, das gibt uns einen völlig neuen Anhaltspunkt.«
Anawak nickte. »Die Zellen sind nicht alle gleich. Sie sind nicht wie Neuronen.«
»Und es ist nicht alleine die Art und Weise, wie sie verknüpft sind. Wenn ihre DNA codierte Sequenzen aufweist, könnte es sein, dass eben darin der Schlüssel zur Verschmelzung liegt.«
»Nein. Die Verschmelzung muss durch etwas anderes ausgelöst werden. Etwas mit Fernwirkung.«
»Gestern waren wir bei Duft angelangt.«
»Okay«, sagte Anawak. »Probier das. Programmier sie so, dass sie einen Duftstoff erzeugen, der ›Verschmelzen‹ signalisiert.«
Weaver dachte nach. Sie rief über das Bordtelefon im Labor an. »Sigur? Hi! Wir sitzen an der Simulation. Habt ihr inzwischen eine Idee, wie diese Zellen miteinander verschmelzen?« Sie hörte eine Weile zu. »Genau. — Wir probieren das durch. — In Ordnung. Sag mir Bescheid.«
»Was meint er?«, wollte Anawak wissen.
»Sie versuchen einen Phasentest. Sie wollen die Gallerte dazu bringen, sich aufzulösen und wieder zu verschmelzen.«
»Sie glauben also auch, dass die Zellen einen Duft ausstoßen?«
»Ja.« Weaver runzelte die Stirn. »Das Problem ist, welche Zelle fängt damit an? Und warum? Wenn eine Kettenreaktion erfolgt, muss jemand der Urheber sein.«
»Ein genetisches Programm.« Anawak nickte. »Nur bestimmte Zellen können die Verschmelzung in die Wege leiten.«
»Ein Teil des Hirns, der mehr als andere Teile kann …«, sinnierte Weaver. »Bestechend. Trotzdem, irgendwie reicht’s noch nicht.«
»Warte mal! Möglicherweise sind wir immer noch auf der falschen Fährte. Ich meine, wir gehen ständig davon aus, dass diese Zellen zusammen ein großes Hirn bilden.«
»Ich bin überzeugt davon, dass sie es tun.«
»Ich auch. Mir kam nur gerade der Gedanke, dass …«
»Was?«
Anawak dachte fieberhaft nach.
»Findest du es nicht auch komisch, dass sie sich voneinander unterscheiden? Mir fällt nur ein Grund für so eine Art der Codierung ein. Jemand programmiert ihre DNA, damit sie spezifische Aufgaben übernehmen können. Aber wenn das stimmt — dann wäre jede dieser Zellen ein kleines Hirn für sich.« Er überlegte weiter. Das wäre phantastisch! Und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie das gehen sollte. »Es würde bedeuten, die DNA jeder Zelle ist das Hirn.«
»Eine DNA, die denken kann?«
»Irgendwie ja.«
»Dann müsste sie auch lernen können.« Sie sah ihn an, ihr Gesicht ein einziger Zweifel. »Ich bin ja bereit, einiges zu glauben, aber das?« Sie hatte Recht, Es war abwegig. Die Konsequenz wäre eine völlig neuartige Biochemie. Etwas, das es nicht gab. Aber wenn es nun doch funktionieren würde … »Nochmal, wodurch lernt ein Neuronencomputer?«, fragte er.
»Durch immer komplexeres, gleichzeitiges Rechnen. Mit der Erfahrung wächst die Zahl der Handlungsalternativen.«
»Und wie behält er all das?«
»Er speichert es.«
»Dafür muss jede Einheit Speicherplatz zur Verfügung haben. In der Vernetzung der Speicherplätze entsteht dann künstliches Denken.« »Worauf willst du hinaus?« Anawak erklärte es ihr. Sie hörte zu, schüttelte hin und wieder den Kopf und ließ es sich ein zweites Mal erklären. »Du schreibst die Biologie um, soweit ich das beurteilen kann.« »Tu ich. Kannst du trotzdem etwas programmieren, das auf ähnliche Weise funktionieren würde?« »Oh Gott.« »Im Kleinen vielleicht.«
»Im Kleinen ist immer noch groß genug. Mensch, Leon! Was für eine abgedrehte Theorie. Aber okay. — Okay! Ich mach’s.«
Sie reckte die braun gebrannten Arme. Goldfarbene Härchen flimmerten auf ihren Unterarmen. Unter dem Stoff des T-Shirts spannte sich die Muskulatur. Anawak dachte, wie sehr ihm dieses breitschultrige, kompakte Mädchen gefiel.
Im selben Moment sah sie ihn an.
»Das kostet dich aber was«, sagte sie drohend.
»Spuck’s aus.«
»Schultern und Rücken. Entspannungsmassage.« Sie grinste. »Und zwar avanti. Während ich programmiere.«
Anawak war beeindruckt. Ganz schamlos von sich selber. Ob seine Theorie nun einen Sinn ergab oder nicht — es hatte sich auf jeden Fall gelohnt, sie auszusprechen.
Zum Mittagessen gingen sie gemeinsam hoch in die Offiziersmesse. Johansons Zustand hatte sich augenscheinlich gebessert, und außerdem verstand er sich blendend mit Oliviera.
Beide schienen nicht sonderlich traurig zu sein, als Rubin ihnen erklärte, nach dem Migräneanfall keinen Hunger zu verspüren.
»Ich werde auf dem Dach spazieren gehen«, sagte er und versuchte, einigermaßen Mitleid erweckend dreinzuschauen.
»Passen Sie auf sich auf«, grinste Johanson. »Man kommt hier schnell ins Stolpern.«
»Keine Bange«, lachte Rubin. Dabei dachte er: Wenn du wüsstest, wie sehr ich die ganze Zeit aufpasse, würde dir die Kinnlade bis ins Welldeck knallen. »Ich werde mich von der Kante fern halten.«
»Wir brauchen Sie noch, Mick.«
»Na ja«, hörte er Oliviera leise sagen, während sie mit Johanson weiterging.
Naja?
Rubin ballte die Fäuste. Sollten sie sich ruhig alle miteinander das Maul zerreißen. Am Ende würde er bekommen, was ihm zustand. Das Verdienst, die Menschheit gerettet zu haben, würde seinem Konto gutgeschrieben werden. Er hatte lange genug darauf gewartet, aus dem Schatten der CIA hervortreten zu dürfen. Wenn sie die Sache erst mal hinter sich gebracht hatten, gab es keinen Grund mehr, seine Leistungen der Welt vorzuenthalten. Jegliche Geheimhaltung würde sich erübrigen. Er würde nach Herzenslust publizieren können, getragen von der Anerkennung aller.
Seine Laune besserte sich, während er die Rampe hochschritt. Auf LEVEL 03 nahm er eine Abzweigung und gelangte vor eine schmale, verschlossene Tür. Er gab einen Zahlencode ein. Die Tür schwang auf, und Rubin betrat einen dahinter liegenden Gang. Er ging bis ans Ende, wo er auf eine weitere verschlossene Türe stieß. Als er diesmal den Code eintippte, blinkte auf der Konsole ein grünes Lämpchen auf. Darüber war ein Objektiv hinter einer Glasscheibe eingelassen. Rubin trat bis dicht davor und schaute mit dem rechten Auge in die Linse, die seine Netzhaut scannte und ein Okay in das System leitete.
Mit erfolgter Autorisierung öffnete sich auch diese Tür für ihn. Er blickte in einen großen, dämmrigen Raum voller Computer und Monitore, der große Ähnlichkeit mit dem CIC aufwies. Uniformierte und Zivilisten saßen an den Steuerpulten. Beständiges Summen brachte die Luft zum Schwingen. An einem großen, von innen erleuchteten Kartentisch standen Li, Vanderbilt und Peak zusammen.
Peak schaute auf. »Kommen Sie rein«, sagte er.
Rubin trat näher. Plötzlich fühlte er seine Selbstsicherheit wanken. Seit der Nacht hatten sie nur miteinander telefoniert und knappe Informationen ausgetauscht. Der Tonfall war sachlich gewesen. Jetzt war er ins Frostige umgeschlagen.
Rubin entschloss sich für die Flucht nach vorne. »Wir kommen gut weiter«, sagte er. »Wir sind immer einen Schritt voraus und …«
»Setzen Sie sich«, sagte Vanderbilt. Er wies mit knapper Geste auf einen Stuhl an der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Rubin gehorchte. Die drei blieben stehen, sodass er sich in einer Rolle wiederfand, die ihm nicht behagte. Er fühlte sich wie bei einem Tribunal.
»Das mit letzter Nacht war natürlich dumm«, fügte er hinzu.
»Dumm?« Vanderbilt stützte sich mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Sie blöder Idiot. Unter anderen Umständen würde ich Sie über die Planke schicken.« »Augenblick mal, ich …« »Warum mussten Sie ihn niederschlagen!« »Was hätte ich denn machen sollen?« »Besser aufpassen. Sie Flasche! Ihn gar nicht erst reinlassen.« »Das ist ja wohl nicht mein Fehler«, fuhr Rubin auf. »Es sind Ihre Leute, die zuschauen, wer sich im Schlaf am Hintern kratzt!« »Warum haben Sie das verdammte Schott geöffnet?«
»Weil … nun ja, ich dachte, wir brauchen vielleicht … es gab da eine Überlegung hinsichtlich …«
»Was?«
»Passen Sie mal auf, Rubin«, sagte Peak. »Das Schott zum Hangardeck hat nur eine einzige Funktion, und das wissen Sie sehr genau. Sperriges Material rein— und rausfahren.« Seine Augen blitzten auf. »Also was hatten Sie letzte Nacht so Wichtiges vor, dass Sie unbedingt das Schott öffnen mussten?«
Rubin biss sich auf die Lippen.
»Sie waren schlicht zu faul, den Weg durchs Schiffsinnere zu nehmen, das ist der Punkt.«
»Wie können Sie so etwas sagen?«
»Weil es stimmt.« Li kam um den Tisch herum und setzte sich rittlings vor Rubin auf die Kante. Sie sah ihn nachsichtig, fast freundlich an. »Sie sagten zu den anderen, Sie gingen Luft schnappen.«
Rubin sackte in seinem Stuhl zusammen. Natürlich hatte er das gesagt. Und natürlich hatten die Überwachungssysteme es aufgezeichnet.
»Und später sind Sie wieder Luft schnappen gegangen.«
»Es sah nicht so aus, als sei jemand an Deck«, verteidigte er sich. »Und Ihre Leute haben nichts Gegenteiliges gemeldet.«
»Wie auch, Mick? Die Überwachung hat nichts gemeldet, weil sie keine Anfrage erhalten hat. Sie sind aber verpflichtet, sich jedes Öffnen des Schotts genehmigen zu lassen. Das ist zweimal hintereinander nicht geschehen.
Die konnten Ihnen keine Meldung geben.«
»Tut mir Leid«, murmelte Rubin.
»Ich will der Fairness halber zugeben, dass hier oben auch nicht alles nach Plan gelaufen ist. Johansons zweiter Spaziergang auf dem Hangardeck wurde verpennt. Weiterhin haben wir bei der Vorbereitung der Mission den Fehler begangen, kein lückenloses Abhörsystem zu installieren. — Wir wissen zum Beispiel nicht, was Oliviera und Johanson besprochen haben, als sie auf dem Hangardeck ihre kleine Party feierten, und leider können wir auch nicht die Unterhaltungen auf der Rampe und auf dem Dach abhören. — Aber das alles ändert nichts daran, dass Sie sich wie der dümmste Trottel verhalten haben.«
»Ich verspreche, es kommt nicht mehr …«
»Sie sind ein Sicherheitsrisiko, Mick. Ein hirnloses Arschloch. Und wenn ich auch mit Jack nicht immer einer Meinung bin, werde ich ihm dabei helfen, Sie über die Planke zu jagen, wenn so etwas noch ein einziges Mal vorkommt. Ich werde höchstpersönlich ein paar Haie zu diesem Zweck anlocken und mit Freuden zusehen, wie sie Ihnen das Herz herausreißen. Haben Sie das verstanden? Ich werde Sie töten.«
Immer noch blickten die wasserblauen Augen in Lis Gesicht freundlich, aber Rubin ahnte, dass sie keinen Moment zögern würde, ihre Drohung wahr zu machen.
Er hatte Angst vor dieser Frau.
»Ich sehe, Sie haben es kapiert.« Li schlug ihm auf die Schulter und ging wieder zu den anderen. »Gut, Schadensbegrenzung. Wirkt die Droge?«
»Wir haben Johanson zehn Milliliter gespritzt«, sagte Peak. »Mehr hätte ihn aus der Bahn geworfen, und das können wir uns derzeit nicht erlauben. Das Zeug wirkt wie ein Radiergummi im Hirn, aber es gibt uns keine Garantie, dass er sich nicht doch erinnert.«
»Wie groß ist das Risiko?«
»Schwer zu sagen. Ein Wort, eine Farbe, ein Geruch — wenn das Hirn einen Anknüpfpunkt findet, ist es zur vollständigen Rekonstruktion fähig.«
»Das Risiko ist sogar ziemlich groß«, knurrte Vanderbilt. »Wir haben bis heute keine Droge gefunden, die Erinnerungen in allen Fällen unterdrückt. Wir wissen zu wenig über die Funktionsweise des Hirns.«
»Also müssen wir ihn beobachten«, sagte Li. »Was meinen Sie, Mick? Wie lange, schätzen Sie, werden wir noch auf Johanson angewiesen sein?«
»Oh, wir liegen weit vorne«, sagte Rubin eifrig. Hier konnte er Boden wieder gutmachen. »Weaver und Anawak hatten die Idee einer pheromonischen Verschmelzung. Auch Oliviera und Johanson sind auf die Möglichkeit eines Dufts gestoßen. Wir werden heute Nachmittag Phasentests durchführen, um den Beweis dafür zu erbringen. Wenn es zutrifft, dass die Verschmelzung über einen Duft erfolgt, haben wir einen Ansatzpunkt, der uns schnell ans Ziel unserer Wünsche bringen dürfte.«
»Falls. Wenn. Dürfte. Könnte.« Vanderbilt schnaubte. »Bis wann haben Sie das verdammte Mittel?«
»Das hier ist Forschungsarbeit, Jack«, sagte Rubin. »Damals hat auch keiner bei Alexander Fleming auf dem Schoß gesessen und gefragt, wie lange er noch braucht, um das Penicillin zu entdecken.«
Vanderbilt wollte etwas erwidern, als eine Frau von ihrer Konsole aufstand und zu ihnen herüberkam.
»Im CIC haben sie das Signal entschlüsselt«, sagte sie.
»Scratch?«
»Sieht so aus. Crowe sagte zu Shankar, sie hätten es entschlüsselt.«
Li schaute zu der Konsole hinüber, an der die Gespräche und Bilder aus dem CIC eintrafen. Man sah Shankar, Crowe und Anawak aus der Perspektive der Deckenkamera im Gespräch. Soeben kam Weaver hinzu.
»Dann werden wir ja gleich Nachricht erhalten«, sagte sie. »Alsdann. Geben wir uns angemessen überrascht, meine Herren.«
Alles drängte sich um Crowe und Shankar, um die Antwort zu sehen. Nicht mehr in Form eines Spektrogramms, sondern als optische Umsetzung des Signals, das sie am Vortag empfangen hatten.
»Ist es eine Antwort?«, fragte Li.
»Gute Frage«, sagte Crowe.
»Was ist Scratch überhaupt?«, wollte Greywolf wissen, der sich, Delaware im Schlepp, ebenfalls eingefunden hatte. »Eine Sprache?«
»Scratch vielleicht ja, aber sicher nicht die Art und Weise, wie es in diesem Fall codiert wurde«, erklärte Shankar. »Es ist genauso wie mit der Arecibo-Botschaft. Kein Mensch auf der Erde unterhält sich im binären Code. Im Grunde haben nicht wir eine Nachricht ins All geschickt, sondern unsere Computer haben es getan.«
»Was wir herausfinden konnten«, sagte Crowe, »ist die Struktur von Scratch. Warum es sich anhört, als wenn man eine Nadel über eine Schallplatte zieht. Es ist ein Stakkato im niederfrequenten Bereich, geeignet, einen ganzen Ozean zu durchqueren. Niederfrequente Wellen legen die größten Entfernungen zurück. Ein enorm schnelles Stakkato zudem. Das Problem mit Infraschall ist, dass wir Geräusche unterhalb 100 Hertz auf ein Vielfaches beschleunigen müssen, um sie hörbar zu machen, womit wir das Stakkato noch mehr beschleunigen würden. Der Schlüssel zum Verständnis liegt aber in der Verlangsamung.«
»Wir mussten es zerdehnen«, sagte Shankar, »um Einzelheiten unterscheiden zu können. Also haben wir es extrem verlangsamt, bis aus dem Kratzgeräusch eine Abfolge unterschiedlich langer und intensiver Einzelimpulse wurde.«
»Klingt nach Morsealphabet«, sagte Weaver.
»So ähnlich scheint es auch zu funktionieren.«
»Und wie stellen Sie das dar?«, fragte Li. »Über Spektrogramme?«
»Einerseits. Aber das reicht nicht. Wenn es ums Hören geht, sind wir immer noch am besten, wenn wir wirklich etwas hören. Dafür greifen wir zu einem Trick, ähnlich wie in der Darstellung von Satellitenbildern, wo man Radarerfassungen über Falschfarben sichtbar macht. In diesem Fall ersetzen wir jedes Signal unter Beibehaltung seiner Länge und Intensität durch eine Frequenz, die wir hören können. Wenn das Original unterschiedliche Frequenzhöhen aufweist, rechnen wir auch das entsprechend um. Auf diese Weise sind wir mit Scratch verfahren.« Crowe gab einen Befehl in die Tastatur. »Was wir empfangen haben, klingt jetzt so.«
Die Laute wummerten wie eine unter Wasser geschlagene Trommel. Schnell aufeinander folgend, fast zu schnell, um sie auseinander halten zu können, aber eindeutig eine differenzierte Abfolge unterschiedlich lauter und langer Impulse.
»Klingt tatsächlich wie ein Code«, sagte Anawak. »Was bedeutet es?«
»Wir wissen es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«, fragte Vanderbilt. »Ich dachte, Sie hätten es entschlüsselt?«
»Wir wissen nicht, was das für eine Sprache ist«, sagte Crowe geduldig, »wenn sie unter normalen Umständen gesprochen wird. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was die bisher aufgezeichneten Scratch- Signale aus den letzten Jahren zu bedeuten haben. Aber das ist nicht wichtig.« Sie blies Rauch durch ihre Nasenlöcher. »Wir haben was viel Besseres, nämlich Kontakt. Murray, zeig ihnen den ersten Teil.«
Shankar klickte ein Computerbild an. Es überzog den Bildschirm mit endlosen Reihen von Zahlen. Ganze Kolonnen davon waren gleich.
»Wir hatten, wie Sie sich erinnern, ein paar Hausaufgaben nach unten geschickt«, sagte Shankar. »Mathearbeit. Wie beim Intelligenztest. Es ging darum, Dezimalreihen fortzusetzen, Logarithmen zu entschlüsseln, fehlende Elemente zu ersetzen. Im besten Fall, haben wir uns ausgemalt, werden die da unten Spaß an der Sache finden und uns die Antworten schicken, womit sie signalisieren: Wir haben euch gehört — Wir sind da — Wir verstehen Mathematik und sind in der Lage, damit umzugehen.« Er zeigte auf die Zahlenreihen. »Das sind die Ergebnisse. Note eins mit Auszeichnung. Sie haben jede Aufgabe richtig gelöst.«
»Oh Mann«, flüsterte Weaver.
»Das zeigt uns zweierlei«, sagte Crowe. »Zum einen, Scratch ist tatsächlich eine Art Sprache. Mit hoher Wahrscheinlichkeit enthalten Scratch -Signale komplexe Informationen. Zum anderen — und das ist entscheidend! — beweist es, dass sie in der Lage sind, Scratch so umzubauen, dass es für uns einen Sinn ergibt. Das ist eine Leistung erster Güte. Es zeigt, dass sie uns in nichts nachstehen. Sie können nicht nur decodieren, sondern auch codieren.«
Eine Weile starrten alle nur auf die Zahlenkolonnen. Es herrschte Schweigen, angesiedelt zwischen Ergriffenheit und Beklommenheit.
»Aber was genau beweist es?«, sagte Johanson in die Stille hinein.
»Ist doch klar«, antwortete Delaware. »Dass da jemand denkt und antwortet.«
»Ja, aber könnte ein Computer nicht dieselben Antworten geben?«
»Du meinst, wir unterhalten uns mit einem Computer?«
»Er hat Recht«, sagte Anawak. »Es zeigt uns, dass jemand brav seine Rechenaufgaben gemacht hat. Das ist in höchstem Maße beeindruckend, aber nicht unbedingt ein Beweis für selbstbewusstes, intelligentes Leben.«
»Wer soll denn sonst derartige Antworten ablassen?«, fragte Greywolf entgeistert. »Makrelen?«
»Quatsch, nein. Aber denk doch mal nach. Was wir hier erleben, ist der gekonnte Umgang mit Symbolen. Höhere Intelligenz lässt sich darüber nicht nachweisen. Ein Chamäleon vollzieht, salopp gesagt, eine hochkomplexe rechnerische Leistung, wenn es sich seiner Umgebung anpasst. De facto merkt es nicht mal was davon. Jemand, der nicht weiß, wie intelligent ein Chamäleon ist, könnte zu dem Schluss gelangen, dass es verdammt intelligent sein muss, um ein Programm zu beherrschen, das sein Äußeres heute einem Blätterwald und morgen einer Felswand angleicht. Man würde ihm ein hohes Maß an Erkenntnisfähigkeit unterstellen, weil es sozusagen den Code seiner Umgebung entschlüsselt, und kreatives Vorgehen, weil es seinen eigenen Code darauf abstimmen kann.«
»Also was haben wir dann hier?«, fragte Delaware ratlos. Sie wirkte enttäuscht.
Crowe schmunzelte.
»Leon hat Recht«, sagte sie. »Das Manipulieren von Symbolen bietet keinerlei Gewähr, dass die Symbole auch verstanden werden. Echter Geist und Kreativität weisen sich durch Vorstellungskraft und Wissen über die Zusammenhänge in der wirklichen Welt aus. Durch tieferes Verständnis. Eine Rechenmaschine, und sei sie noch so leistungsfähig, kennt nicht den Umgang mit der Faustregel, nicht das Handeln wider die Logik, sie setzt sich nicht mit der Umwelt auseinander und macht keine Erfahrungen. — Ich schätze, das haben sich die Yrr auch gesagt, als sie ihre Antwort formulierten. Sie haben nach etwas gesucht, um uns zu zeigen, dass sie zu höherem Verständnis fähig sind.« Crowe zeigte auf das Computerbild. »Das sind die Ergebnisse der beiden Rechenaufgaben. Wenn Sie genau hinsehen, stellen Sie fest, dass Ergebnis eins elfmal hintereinander erscheint, dann dreimal Ergebnis zwei, einmal Ergebnis eins, wiederum neunmal Ergebnis zwei, und so weiter. An einer Stelle wiederholt sich Ergebnis zwei fast dreißigtausend Mal. Aber warum? Es macht Sinn, uns jedes Resultat mehr als einmal zu schicken, einfach schon, damit die Nachricht lang genug ist, um registriert zu werden. Aber wozu diese scheinbar chaotische Abfolge?«
»Hier kam Miss Alien ins Spiel«, sagte Shankar und grinste geheimnisvoll in die Runde.
»Mein Alter Ego Jodie Foster«, nickte Crowe. »Ich muss gestehen, dass mir die Antwort einfiel, als ich an den Film dachte. Die Abfolge ist ebenfalls ein Code. Wenn man sie richtig zu lesen weiß, erhält man ein Bild aus schwarzen und weißen Pixeln — also nichts anderes als das, was wir bei SETI auch machen.«
»Hoffentlich nicht Adolf Hitler«, sagte Rubin.
Diesmal hatte er einen Lacher. Mittlerweile hatten alle den Film Contact mit Jodie Foster gesehen. Darin schickten die Aliens ein Bild zur Erde, dessen Pixel Teile einer Bauanleitung enthielten. Sie hatten einfach irgendein Bild aus dem Fundus dessen genommen, was die Menschheit im Verlauf ihrer technischen Evolution in den Weltraum abgestrahlt hatte, und sich ausgerechnet für ein Foto von Hitler entschieden.
»Nein«, sagte Crowe. »Es ist nicht Hitler.«
Shankar gab dem Computer einen Befehl ein. Die Zahlenkolonnen verschwanden und wichen einer Grafik.
»Was ist das denn?« Vanderbilt beugte sich vor.
»Sie erkennen es nicht?« Crowe lächelte in die Runde. »Hat sonst irgendjemand eine Idee?«
»Sieht aus wie ein Wolkenkratzer«, sagte Anawak.
»Das Empire State Building«, schlug Rubin vor.
»Blödsinn«, sagte Greywolf. »Woher sollen sie das Empire State Building kennen? Es sieht aus wie eine Rakete.«
»Und woher kennen sie Raketen?«, sagte Delaware.
»Weil jede Menge davon im Meer rumliegen. Versehen mit nuklearen Sprengköpfen, chemischen Kampfstoffen …«
»Was ist dieses Drumherum da?«, fragte Oliviera. »Wolken?«
»Vielleicht Wasser«, meinte Weaver. »Vielleicht ist es was aus der Tiefsee. Eine Formation.«
»Wasser ist schon mal gut«, sagte Crowe.
Johanson rieb seinen Bart. »Es macht eher den Eindruck eines Monuments. Möglicherweise ist es ein Symbol. Etwas … Religiöses.«
»Menschlich, allzu menschlich.« Crowe schien das Ganze diebische Freude zu bereiten. »Warum fragen Sie sich nicht einfach, ob man das Bild auch anders betrachten kann.«
Sie starrten weiter darauf. Plötzlich zuckte Li zusammen.
»Können Sie es um 90 Grad kippen?«
Shankars Finger glitten über die Tastatur, und das Gebilde erschien in Seitenlage.
»Ich sehe immer noch nicht, was das sein soll«, sagte Vanderbilt. »Ein Fisch? Ein großes Tier?«
Li schüttelte den Kopf. Sie stieß ein leises Lachen aus.
»Nein, Jack. Die Muster drum herum sind Wellen. Meereswellen. Eine Momentaufnahme, von unten gesehen. Aus der Tiefe gegen die Wasseroberfläche.«
»Was? Und das schwarze Ding?«
»Ganz einfach. Das sind wir. Es ist unser Schiff.«
Vielleicht hätten sie nicht ganz so euphorisch sein sollen.
Während der letzten sechzehn Stunden hatte der Sauger ununterbrochen gearbeitet und Tonnen rosaweißer Leiber ans Tageslicht befördert, denen der rapide Ortswechsel augenscheinlich schlecht bekam. Die meisten trafen aufgeplatzt ein, der Rest wand sich in Krämpfen und verendete mit ausgestülptem Rüssel und zuckenden Kiefern.
Gleich zu Anfang war Frost nach draußen gelaufen, wo die Polychäten zusammen mit dem hoch gepumpten Meerwasser in einer gewaltigen Fontäne aus dem Schlauch spritzten und in weit gespannte Netze plumpsten, während das Wasser nach unten ablief. Über Rutschen fanden sie in den Bauch eines Frachters, der neben der Heerema lag und sich stetig füllte. Frost hatte begeistert in die Masse gegriffen und war schleimverschmiert mit einem Dutzend Kadaver zurückgekehrt, die er triumphierend in die Höhe hielt.
»Nur ein toter Wurm ist ein guter Wurm«, donnerte er. »Höret meine Worte! Yeah!«
Alle hatten applaudiert, auch Bohrmann.
Nach einer Weile hatte sich der aufgewirbelte Schlamm gelegt, und sie blickten auf marmoriertes Lavagestein. Vereinzelt stiegen dünne Blasenschnüre daraus hervor. Die Kameras der Lichtinsel zoomten, sodass Bohrmann ziemlich genau erkannte, was es mit der Marmorierung auf sich hatte.
»Bakterienmatten«, sagte er.
Frost sah ihn an. »Und was heißt das?«
»Schwer zu sagen.« Bohrmann rieb seine Fingerknöchel an seinem Kinn. »Solange sie die Oberfläche besiedeln, droht keine Gefahr. Ich weiß nicht, wie viel von dem Zeug bereits ins Innere des Sediments vorgedrungen ist. Die schmutzig grauen Linien dazwischen, das ist übrigens Hydrat.«
»Es existiert also noch.«
»Was wir sehen, existiert. Aber wir wissen nicht, wie viel vorher da war und wie viel zersetzt wurde. Der Blasenaustritt hält sich im tolerierbaren Bereich. Ich würde mit einiger Vorsicht sagen, dass wir zumindest nicht unerfolgreich waren.«
»Doppelte Verneinung ist auch ein Ja«, nickte Frost befriedigt und stand auf. »Ich hole uns einen Kaffee.«
Anschließend hatten sie stundenlang weiter zugesehen, wie der Sauger das Plateau abgraste, bis ihnen die Augen brannten. Schließlich scheuchte van Maarten Frost ins Bett, damit er sich ausruhte. Frost und Bohrmann hatten drei Nächte lang kaum geschlafen. Während Frost noch protestierte, fielen ihm die Augen zu, und er wankte mit letzter Kraft in seine Kammer.
Bohrmann blieb mit van Maarten zurück. Es war 23.00 Uhr.
»Sie sind der Nächste, der schlafen geht«, bemerkte der Holländer.
»Ich kann nicht schlafen gehen.« Bohrmann fuhr sich über die Augen. »Außer mir kennt sich niemand hinreichend mit Hydraten aus.«
»Doch, wir kennen uns aus.«
»Es dauert ja nicht mehr lange«, sagte Bohrmann.
Er war wirklich am Ende. Die Pilotenteams waren schon dreimal ausgetauscht worden. Aber in wenigen Stunden würde Erwin Suess mit dem Helikopter aus Kiel eintreffen, und so lange musste er eben noch durchhalten.
Er gähnte. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Leises Summen erfüllte den Raum. Die Lichtinsel und der Sauger waren im Verlauf der letzten Stunden langsam, aber stetig nach Norden vorgerückt. Wenn die Daten der Polarstern -Expedition zutrafen, tummelten sich die Würmer nur auf dieser Terrasse. Er schätzte, dass es noch einige Tage dauern würde, um sie gänzlich abzusaugen, aber inzwischen regte sich wieder Hoffnung in ihm. Der Blasenaustritt lag über dem zu erwartenden Wert, gab jedoch nicht wirklich Anlass zur Besorgnis. Wenn die Würmer und die Bakterienhorden verschwanden, würden sich angefressene Hydrate vielleicht wieder stabilisieren.
Mit gesenkten Lidern beobachtete er die Monitore.
Seine Müdigkeit war schuld, dass die Veränderungen erst in sein Bewusstsein drangen, nachdem er schon eine Weile darauf gestarrt hatte. Er beugte sich vor.
»Da glitzert was«, sagte er. »Nehmen Sie den Sauger weg.«
Van Maarten kniff die Augen zusammen. »Wo?«
»Schauen Sie auf die Monitore. In dem Gewühl blitzte eben was auf. — Da, schon wieder!«
Auf einmal war er hellwach. Jetzt zeigten auch die Kameras der Lichtinsel, dass etwas nicht stimmte. Die obligatorische Sedimentwolke um den Schlund des Saugers hatte sich aufgebläht. Dunkle Brocken und Blasen wirbelten darin herum und trieben nach oben.
Die Saugerbildschirme wurden schwarz. Der Schlund des Rüssels schlug zur Seite aus.
»Verdammt, was passiert da?«
Aus dem Lautsprecher drang die Stimme des Piloten:
»Wir ziehen größere Sachen in uns rein. Der Sauger wird instabil. Ich weiß nicht, ob …«
»Weg damit!«, rief Bohrmann. »Weg vom Hang!«
Schon wieder, dachte er verzweifelt. Wie damals auf der Sonne. Ein Blowout. Sie hatten zu lange auf dieselbe Stelle gehalten, und hier war das Plateau instabil geworden. Der Unterdruck riss das Sediment auseinander.
Nein, kein Blowout. Schlimmer noch.
Der Saugrüssel versuchte sich aus der Sedimentwolke zurückzuziehen. Sie blähte sich weiter auf, und plötzlich schien sie regelrecht zu explodieren. Eine Druckwelle erschütterte die Lichtinsel. Das Bild schwankte auf und nieder.
»Wir haben eine Rutschung«, schrie der Pilot.
»Schalten Sie den Sauger ab.« Bohrmann sprang auf. »Zurückfahren.«
Jetzt erkannte er, wie von oben größere Felsbrocken herabfielen. Lavagestein stürzte auf die Terrasse. Irgendwo in der Schlamm— und Trümmerwolke wand sich kaum noch sichtbar der Schlauch des Saugrüssels.
»Sauger ist ausgeschaltet«, bestätigte van Maarten.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten sie den Verlauf der Rutschung. Mehr und mehr Gestein prasselte herab. Wenn sich der Effekt in der fast senkrechten Wand des Vulkankegels fortsetzte, würden sich immer größere Brocken lösen. Vulkangestein war porös. Aus einer kleinen Rutschung würde in Minutenschnelle eine große werden, und am Ende würde genau das eintreffen, was sie zu verhindern gesucht hatten.
Wir sollten uns in Gelassenheit fügen, dachte Bohrmann. Um zu fliehen, ist es ohnehin zu spät.
Ein sechshundert Meter hoher Wasserberg …
Das Geprassel hörte auf.
Lange Zeit sagte niemand etwas. Sie hielten ihre Blicke nur stumm auf die Monitore geheftet. Über der Terrasse stand eine diffuse Wolke, die das Licht der Halogenlampen streute und zurückwarf.
»Es hat aufgehört«, sagte van Maarten mit unmerklich zitternder Stimme.
»Ja.« Bohrmann nickte. »Sieht so aus.«
Van Maarten rief die Piloten.
»Die Lichtinsel hat ordentlich gewackelt«, meldete das Beleuchterteam. »Ein Spot ist ausgefallen. Macht sich allerdings nicht bemerkbar, wenn man’s nicht weiß.«
»Und der Rüssel?«
»Scheint festzuhängen«, war der Bescheid aus dem anderen Kran. »Die Systeme erhalten nach wie vor ihre Befehle, aber sie sind offenbar nicht in der Lage, sie auszuführen.«
»Schätze, der Schlund ist unter Trümmern verschüttet«, mutmaßte der andere Pilot.
»Wie viel kann da draufgefallen sein?«, fragte van Maarten leise.
»Erst muss sich die Wolke setzen«, erwiderte Bohrmann. »Sieht so aus, als seien wir mit einem blauen Auge davongekommen.«
»Gut. Dann müssen wir warten.« Van Maarten sprach ins Mikrophon. »Keine weiteren Versuche, den Rüssel frei zu bekommen. Kaffeepause. Ich will da unten keine unnötigen Erschütterungen. Wir warten eine Weile und sehen dann weiter.«
Drei Stunden später sahen sie weiter. Stellenweise zwar nur wenige Meter, denn das Sediment hatte sich immer noch nicht vollständig abgesetzt, aber die Mündung des Rüssels war einigermaßen gut zu erkennen. Inzwischen hatte sich auch Frost wieder eingefunden. Sein Haar stand in Korkenzieherlocken nach allen Himmelsrichtungen ab.
»Hat sich böse verkeilt«, konstatierte van Maarten.
»Ja.« Frost kratzte sich den Schädel. »Aber kaputt sieht er nicht aus.«
»Die Motoren sind blockiert.«
»Und wie kriegen wir ihn wieder frei?«
»Wir können einen Roboter runterschicken, der das Zeug beiseite räumt«, schlug Bohrmann vor.
»Heiliger Zorn Gottes und aller Engel!«, zeterte Frost. »Das kostet uns elend viel Zeit. Wo’s gerade so gut lief.«
»Wir müssen uns halt beeilen.« Bohrmann wandte den Kopf zu van Maarten. »Wie schnell können wir Rambo klarmachen?«
»Sofort.«
»Dann los. Versuchen wir’s.«
Rambo verdankte seinen Namen ganz unwissenschaftlich den Filmen mit Sylvester Stallone. Das ROV sah aus wie eine kleinere Version des Victor 6000, verfügte über vier Kameras, diverse Heck-und Seitenstrahler zur Stabilisierung und zwei überaus kräftige, gelenkige Greifarme. Das Gerät taugte nur für Tiefen bis 800 Meter, war jedoch in der Offshore-Szene sehr beliebt. Innerhalb einer Viertelstunde war Rambo einsatzbereit. Kurze Zeit später schwebte er am Vulkankegel entlang nach unten auf die Terrasse zu, über ein elektrooptisches Kabel mit dem Pilotenstand auf der Heerema verbunden. Die Lichtinsel kam in Sicht. Der Roboter sank weiter, nahm Fahrt auf und manövrierte zu dem eingeklemmten Saugschlund. Aus der Nähe war deutlich zu erkennen, dass die Motoren und Videosysteme des Rüssels intakt waren, allerdings hatten sich einige Brocken des Vulkangesteins so unglücklich verkeilt, dass er hoffnungslos feststeckte.
Rambos Greifarme begannen, die Brocken abzuräumen. Zu Anfang sah es so aus, als könne der Roboter den Rüssel freibekommen. Er trug die Trümmer nacheinander ab, bis er an einen schräg stehenden Zacken geriet, der sich ins Terrassensediment gebohrt hatte und den Rüssel gegen einen Felsvorsprung drückte. Die Arme fuhren aus und ein, drehten sich, versuchten den Zacken zu lösen. Es war illusorisch.
»Das schafft kein Automat«, beschied Bohrmann. »Er kann keinen Impuls entwickeln.«
»Na wunderbar«, zischte Frost.
»Und wenn die Piloten den Rüssel einfach einholen?«, schlug Bohrmann vor. »Unter der Spannung muss er sich ja irgendwann lösen.«
Van Maarten schüttelte den Kopf.
»Zu riskant. Der Schlauch könnte reißen.«
Sie versuchten ihr Glück, indem sie den Roboter aus verschiedenen Winkeln mit dem Brocken kollidieren ließen. Um Mitternacht war klar, dass die Maschine es nicht schaffen würde. Unterdessen bedeckte sich die gesäuberte Fläche wieder mit Würmern, die von allen Seiten aus der Finsternis heranwimmelten.
»Das gefällt mir überhaupt nicht«, knurrte Bohrmann. »Gerade hier, wo es instabil ist. Wir müssen zusehen, dass wir den Rüssel freibekommen, sonst sehe ich schwarz.«
Frost legte die Stirn in Falten. Nach einer Weile sagte er: »Gut. Dann sehen wir eben schwarz. Und zwar höchstpersönlich.«
Bohrmann sah ihn fragend an.
»Na ja.« Frost hob die Schultern. »Tief unten im Meer ist es schwarz, oder? Will sagen, wenn es Rambo nicht kann, bleibt nur einer, um runterzugehen. Die verrutschte Krone der Schöpfung. Das sind vierhundert Meter. Dafür haben wir Spezialanzüge an Bord.«
»Du willst selber da runter?«, fragte Bohrmann entgeistert.
»Natürlich.« Frost reckte die Arme, dass es knackte. »Wo ist das Problem?«
Crowe hatte die Antwort der Yrr zum Anlass genommen, eine zweite, weit komplexere Nachricht in die Tiefe zu entsenden. Sie enthielt Informationen über die menschliche Rasse, über deren Evolution und Kultur. Vanderbilt war nicht besonders glücklich damit, aber Crowe brachte ihn schließlich zu der Einsicht, dass sie ohnehin nichts mehr verkehrt machen konnten. Die Yrr standen kurz davor, den Kampf zu gewinnen.
»Wir haben nach wie vor nur eine Chance«, sagte sie. »Wir müssen ihnen klar machen, dass wir es wert sind, weiter zu existieren. Das geht nur, indem wir ihnen möglichst viel von uns erzählen. Vielleicht ist ja was dabei, das sie bis jetzt nicht in Erwägung gezogen haben. Das sie zum Nachdenken bringt.«
»Eine Schnittmenge der Werte«, sagte Li.
»Und sei sie noch so klein.«
Oliviera, Johanson und Rubin hatten sich im Labor vergraben. Sie wollten das Gallertwesen im Tank dazu bringen, sich zu teilen oder vollständig zu diffundieren. Unablässig konferierten sie mit Weaver und Anawak. Weaver hatte ihre virtuellen Yrr mit einer künstlichen DNA versehen und einen pheromonischen Botenstoff eingebaut. Es funktionierte. Theoretisch hatten sie damit bewiesen, dass die Einzeller zur Verschmelzung einen Duft benutzten, aber die Gallerte zeigte sich jeglicher Kooperation abgeneigt, was die praktische Beweisführung anbetraf. Das Wesen — genauer gesagt, die Summe der Wesen — hatte sich in einen breiten Fladen verwandelt und war auf den Boden des Tanks gesunken.
Delaware und Greywolf werteten unterdessen die Filmaufnahmen der Delphinstaffeln aus, ohne etwas anderes zu erblicken als den Rumpf der Independence, vereinzelte Fische und weitere Delphine, die sich gegenseitig filmten. Sie verbrachten ihre Zeit abwechselnd vor den Monitoren des CIC oder im Welldeck, wo Roscovitz und Browning immer noch mit der Reparatur des Deepflight beschäftigt waren.
Li wusste, dass selbst die besten Leute irgendwann Gefahr liefen, sich festzufressen oder zu verzetteln, wenn man sie nicht von Zeit zu Zeit aus ihrer Arbeit riss und auf andere Gedanken brachte. Sie ließ sich die Wetterdaten übermitteln und holte Prognosen über deren Zuverlässigkeit ein. Alles sah danach aus, dass es bis zum folgenden Morgen ruhig und windstill sein würde. Jetzt schon waren die Wellenberge im Vergleich zum Tagesbeginn abgeschwollen.
Also hatte sie Anawak um einige Minuten seiner Zeit gebeten und festgestellt, dass er überraschend wenig über die Küche des hohen Nordens wusste. Sie delegierte die Verantwortung an Peak weiter, der sich nun erstmals in seiner militärischen Laufbahn ums Essen zu kümmern hatte.
Im Folgenden führte Peak eine Reihe von Telefonaten. Zwei Hubschrauber starteten zur grönländischen Küste. Am späten Nachmittag gab Li bekannt, dass der Küchenchef um 21.00 Uhr zu einer Party lud. Die Hubschrauber kehrten zurück und brachten alles Mögliche mit, um ein grönländisches Diner auf die Beine zu stellen. Auf dem Flugdeck vor der Insel wurden Tische, Stühle und ein Büffet platziert, man schleppte eine Musikanlage nach draußen und ordnete rings um den Platz Heizstrahler an, um die Kälte fern zu halten.
In der Küche begann ein Riesenwirbel. Li war dafür bekannt, absonderliche Ideen aus dem Hut zu zaubern und darauf zu beharren, dass sie innerhalb kürzester Zeit umgesetzt wurden. Karibufleisch wanderte in Töpfe und Pfannen. Maktaaq, knusprige Narwalhaut, wurde aufgeschnitten, aus Robbenstew eine Suppe zubereitet und Eiderenteneier wurden gekocht. Der Bäcker der Independence versuchte sich an Bannock, einem ungesäuerten, flachen und recht schmackhaften Fladenbrot, dessen fachgerechte Zubereitung die Inuit zu jährlichen Backwettbewerben trieb. Lachs und Wandersaibling wurden filettiert und zusammen mit Kräutern gebraten, gefrorenes Walrossfleisch in eine Art Carpaccio verwandelt, Berge von Reis gegart. Peak, in kulinarischen Dingen restlos überfordert, hatte einfach alles kommen lassen, was nicht schon vorrätig war, und sich dabei blind auf die grönländischen Berater verlassen. Nur eine Spezialität war ihm suspekt erschienen: Roher Walrossdarm, wenngleich heiß angepriesen, gehörte nun wirklich zu den Dingen, auf die man seiner Ansicht nach verzichten konnte.
Für Brücke und Maschinenraum hatte er eine Notbesetzung eingeteilt, ebenso für das CIC. Ansonsten erschien pünktlich um 21.00 Uhr die vollzählige Bewohnerschaft der Independence an Deck: Crew, Wissenschaftler und Soldaten. So leer sich die Räume des Riesenschiffs tagsüber ausnahmen, so voll wurde es nun auf dem Dach. Rund 160 Menschen nahmen ihren alkoholfreien Begrüßungscocktail in Empfang und verteilten sich an Steh— und Sitztischen, bis das Büffet eröffnet wurde, und irgendwann begann jeder mit jedem zu reden.
Es war eine seltsame Party, die Li da ins Leben gerufen hatte — das stählerne Hochhaus der Insel im Rücken und ringsum der Blick auf die einsame Weite des Meeres. Der Dunst war zurückgewichen und hatte am Horizont surreale Wolkenberge geformt, zwischen denen sich immer wieder der tief stehende Sonnenball hervorschob. Die Luft prickelte kalt und klar, und über allem wölbte sich ein tiefblauer Himmel.
Eine Weile schien jeder bemüht, die Themen auszuklammern, derentwegen sie hier waren. Es tat gut, sich über andere Dinge zu unterhalten. Zugleich hatte es etwas Verkrampftes, beinahe Verzweifeltes, wie alle versuchten, die Konversation an der Oberfläche zu halten, als seien sie per Zufall auf einer Vernissage zusammengetroffen. Kurz vor Mitternacht, im beginnenden Dämmerlicht, brach dann der spröde Schutz, der sie vom Zweck ihres Hierseins abschirmte. Inzwischen duzten sich die meisten. Die Windlichter auf den Tischen entfalteten ihre gravitative Kraft. Man scharte sich zu Grüppchen, versammelte sich um die Schamanen der Aufklärung, um sich Trost zu holen, den diese nicht bieten konnten.
»Jetzt mal im Ernst«, sagte Buchanan kurz nach 1.00 Uhr zu Crowe. »Sie glauben doch nicht wirklich an intelligente Einzeller?«
»Und warum nicht?«, fragte Crowe.
»Na ja, ich bitte Sie. Wir reden von intelligentem Leben, richtig?«
»Sieht so aus.«
»Also …« Buchanan rang nach Worten. »Ich erwarte ja nicht, dass die uns ähnlich sehen, aber schon was Komplexeres als Einzeller. Man sagt, Schimpansen seien intelligent, Wale und Delphine, und sie haben alle einen komplexen Körperbau und ein großes Gehirn. Ameisen, haben wir gelernt, sind zu klein, um echte Intelligenz hervorzubringen. Wie soll das bei Einzellern funktionieren?«
»Werfen Sie da nicht einiges durcheinander, Käpt’n?«
»Was?«
»Das, was funktionieren würde, und das, was Ihnen behagen würde.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Sie meint«, sagte Peak, »wenn wir uns schon mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass der Mensch die Vorherrschaft abgibt, dann wenigstens an einen starken und gewaltigen Gegner. Groß und gut aussehend und mit Muskeln.«
Buchanan schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Ich glaube es einfach nicht. Ich glaube nicht daran, dass primitive Organismen diesen Planeten beherrschen sollten und dass sie es an Intelligenz mit Menschen aufnehmen. Das funktioniert nicht! Menschen sind fortschrittliche Wesen …«
»Fortschritt? Komplexität?« Crowe schüttelte den Kopf.
»Was meinen Sie? Ist Evolution Fortschritt?«
Buchanan sah gequält drein.
»Gut, schauen wir mal«, sagte Crowe. »Evolution, das ist der Kampf ums Dasein, das Überleben des Stärksten, um bei Darwin zu bleiben. Beides resultiert aus Widrigkeiten, entweder aus dem Kampf gegen andere Lebewesen oder gegen Naturkatastrophen. Es gibt also eine Weiterentwicklung durch Auslese. Aber führt das automatisch zu höherer Komplexität? Und ist höhere Komplexität ein Fortschritt?«
»Ich bin nicht sehr bewandert in Evolution«, sagte Peak. »Mir stellt es sich so dar, dass die meisten Lebewesen im Verlauf der Naturgeschichte immer größer und komplexer geworden sind. Auf jeden Fall die menschliche Rasse. Aus meiner Sicht ganz klar das Resultat eines Trends.«
»Ein Trend? Falsch. Wir sehen nur einen kleinen historischen Ausschnitt, innerhalb dessen gerade mit Komplexität experimentiert wird, aber wer sagt uns, dass wir nicht als Sackgasse der Evolution enden? Es ist unsere Selbstüberschätzung, mit der wir uns als vorläufigen Höhepunkt eines natürlichen Trends betrachten. Sie alle wissen, wie ein Evolutionsstammbaum aussieht, dieses verzweigte Gebilde mit Haupt— und Nebenästen. Also, Sal, wenn Sie sich so einen Baum vorstellen, wo würden Sie die Menschheit sehen? In einem Haupt— oder Nebenast?«
»Zweifellos als Hauptast.«
»Das hatte ich erwartet. Es entspricht der menschlichen Sichtweise. Wenn viele Arme einer Tierfamilie auseinander streben und eine überlebt, während alle anderen aussterben, neigen wir dazu, den Überlebenden zum Hauptarm zu erklären. Warum? Nur weil er — noch — überlebt? Vielleicht sehen wir aber nur eine unbedeutende Nebenlinie, die es ein bisschen länger schafft als die anderen. Wir Menschen sind die einzige verbliebene Art eines einst üppigen Evolutionsbusches. Der Rest einer Entwicklung, deren übrige Zweige verdorrt sind, der letzte Überlebende eines Experiments mit Namen Homo. Homo Australopithecus: ausgestorben. Homo habilis: ausgestorben. Homo sapiens neanderthalensis: ausgestorben. Homo sapiens sapiens: noch da. Vorübergehend haben wir die Vorherrschaft über den Planeten errungen, aber Vorsicht!
— Parvenüs der Evolution sollten Vorherrschaft nicht mit innerer Überlegenheit und längerfristigem Überleben verwechseln. Wir könnten schneller wieder verschwunden sein, als uns lieb ist.«
»Möglicherweise haben Sie Recht«, sagte Peak. »Aber Sie lassen etwas Entscheidendes außer Acht. Diese einzige überlebende Art besitzt auch als einzige Spezies ein hoch entwickeltes Bewusstsein.«
»Einverstanden. Aber betrachten Sie diese Entwicklung bitte vor dem Gesamtpanorama der Natur. Erkennen Sie da wirklich einen Fortschritt oder einen herausragenden Trend? 80 Prozent aller Vielzeller erfreuen sich eines weit größeren Evolutionserfolgs als der Mensch, ohne dass sie diesen angeblichen Trend zu höherer Nervenkomplexität ausgebildet hätten. Unsere Ausstattung mit Geist und Bewusstsein ist ein Fortschritt einzig aus unserer subjektiven Weltsicht. Dem Ökosystem Erde hat diese bizarre, unwahrscheinliche Randerscheinung Mensch bisher nur eines eingebracht: einen Haufen Ärger.«
»Ich bin nach wie vor überzeugt, dass Menschen hinter allem stecken«, sagte Vanderbilt am Nebentisch. »Aber gut, ich lasse mich belehren. Wenn es doch keine sind, werden wir eben Yrr-Aufklärungsarbeit betreiben. Wir werden das widerliche Geschleime so lange unter CIA-Beobachtung stellen, bis wir wissen, wie es denkt und was es plant.«
Er stand mit Delaware und Anawak zusammen, umringt von Soldaten und Mannschaftsmitgliedern.
»Vergiss es«, sagte Delaware. »Das schafft nicht mal deine CIA.«
»Pah, Mädchen!«, lachte Vanderbilt. »Du schlüpfst in jeden Schädel, wenn du geduldig bist. Selbst wenn er einem verdammten Einzeller gehört. Alles eine Frage der Zeit.«
»Nein, eine Frage der Objektivität«, sagte Anawak. »Was voraussetzt, dass du in der Lage bist, die Rolle eines objektiven Beobachters einzunehmen.«
»Können wir. Darum sind wir ja intelligent und zivilisiert.«
»Du magst intelligent sein, Jack. Aber du bist nicht in der Lage, die Natur objektiv wahrzunehmen.«
»Genau genommen bist du ebenso subjektiv und unfrei wie ein Tier«, ergänzte Delaware.
»An was für eines hattet ihr denn gedacht?«, kicherte Vanderbilt. »Ein Walross?«
Anawak lachte leise. »Ich meine es ernst, Jack. Wir sind der Natur immer noch näher, als wir glauben.«
»Ich nicht. Ich bin in der Großstadt aufgewachsen. War nie auf dem Land. Mein Vater auch nicht.«
»Spielt keine Rolle«, sagte Delaware. »Ich geh dir ein Beispiel: Schlangen. Sie werden einerseits gefürchtet und zugleich verehrt. Oder Haie, es gibt eine Unzahl von Haigottheiten. Diese emotionale Bindung des Menschen an andere Lebensformen ist angeboren, vielleicht sogar genetisch festgelegt.«
»Ihr redet von Naturvölkern. Ich rede von Stadtmenschen.«
»Okay.« Anawak überlegte einen Moment. »Hast du eine Phobie? Irgendwas, das sich als Phobie bezeichnen ließe?«
»Na ja, nicht unbedingt eine Phobie …«, begann Vanderbilt.
»Einen Abscheu?«
»Ja.«
»Wovor?«
»Gott, es ist nicht sonderlich originell. Hat wahrscheinlich jeder. Vor Spinnen. Ich hasse die Biester.«
»Warum?«
»Weil …« Vanderbilt zuckte die Achseln. »Sie sind halt ekelhaft. Findest du nicht, dass sie ekelhaft sind?«
»Nein, aber darum geht’s nicht. Der Punkt ist, dass die Hauptursachen für Phobien in unserer zivilisierten Welt fast immer Gefahren sind, die uns drohten, bevor wir in Städten lebten. Wir entwickeln Phobien gegen lastende Felswände, Gewitter, reißende Gewässer, undurchdringliche Wasseroberflächen, gegen Schlangen, Hunde und Spinnen. Warum nicht gegen Stromkabel, Revolver, Schnappmesser, Autos, Sprengstoff und Steckdosen, die allesamt viel gefährlicher sind? Weil unserem Hirn eine Regel eingeprägt ist: Vor schlangenförmigen Objekten und Wesen mit vielen Beinen musst du auf der Hut sein.«
»Das menschliche Hirn hat sich in einer natürlichen Umgebung entwickelt, nicht in einer maschinellen«, sagte Delaware. »Unsere geistige Evolution vollzog sich über zwei Millionen Jahre in denkbar engstem Kontakt zur Natur. Vielleicht haben sich die Überlebensregeln dieser Zeit sogar genetisch eingeprägt, jedenfalls spielte sich lediglich ein winziger Bruchteil unserer Evolutionsgeschichte in der so genannten Zivilisation ab. Glaubst du wirklich, bloß weil dein Vater und dein Großvater ausschließlich in Städten gelebt haben, seien damit all die archaischen Informationen in deinem Hirn ausgelöscht? Warum fürchten wir uns vor kleinen, im Gras kriechenden Tieren, warum ekelst du dich vor Spinnen? Weil wir dieser Furcht im Verlauf der Menschheitsentwicklung das Leben verdanken. Weil Menschen, die furchtsamer sind als andere, seltener in Gefahr geraten und mehr Nachkommen zeugen können. Das ist es. Habe ich Recht, Jack?«
Vanderbilt sah von Delaware zu Anawak.
»Und was hat das mit den Yrr zu tun?«, fragte er.
»Es hat was damit zu tun, dass sie vielleicht aussehen wie Spinnen«, erwiderte Anawak. »Huh! Also erzähl uns nichts von Objektivität. Solange wir uns vor den Yrr ekeln, wie immer sie aussehen mögen, vor einer Gallerte, vor Einzellern und giftigen Krebsen, werden wir nichts über ihr Denken erfahren, weil wir es gar nicht können. Wir werden nur daran interessiert sein, das Andersartige zu vernichten, damit es nachts nicht in unsere Höhle kriechen und unsere Kinder rauben kann.«
Ein Stück abseits stand Johanson in der Dunkelheit und versuchte, sich an die Einzelheiten der letzten Nacht zu erinnern, als Li zu ihm trat. Sie reichte ihm ein Glas. Es war Rotwein darin.
»Ich dachte, wir bleiben alkoholfrei«, wunderte sich Johanson.
»Bleiben wir auch.« Sie stieß mit ihm an. »Aber nicht dogmatisch. Außerdem nehme ich Rücksicht auf die Vorlieben meiner Gäste.«
Johanson kostete. Der Wein war gut. Er war sogar erlesen. »Was sind Sie eigentlich für ein Mensch, General?«, fragte er.
»Nennen Sie mich Jude. Jeder tut das, der nicht vor mir strammstehen muss.«
»Ich werde nicht schlau aus Ihnen, Jude.«
»Wo liegt das Problem?«
»Ich traue Ihnen nicht.«
Li lächelte amüsiert und trank.
»Das beruht auf Gegenseitigkeit, Sigur. Was war los mit Ihnen gestern Nacht? Sie wollen mir weismachen, dass Sie sich an nichts erinnern?«
»Ich erinnere mich an gar nichts.«
»Was wollten Sie so spät auf dem Hangardeck?«
»Ausspannen.«
»Mit Oliviera waren Sie auch ausspannen.«
»Ja, das muss hin und wieder sein, wenn man viel arbeitet.« »Mhm.« Li blickte an ihm vorbei aufs Meer. »Wissen Sie noch, worüber Sie gesprochen haben?« »Über unsere Arbeit.« »Sonst nichts?« Johanson sah sie an. »Was wollen Sie eigentlich, Jude?« »Diese Krise meistern. Und Sie?« »Ich weiß nicht, ob ich es auf dieselbe Art und Weise will wie Sie«, sagte Johanson nach einigem Zögern. »Was soll übrig bleiben, wenn die Krise gemeistert ist?« »Unsere Werte. Die Werte unserer Gesellschaft.« »Meinen Sie die menschliche Gesellschaft? Oder die amerikanische?« Sie wandte ihm den Kopf zu. Die blauen Augen in ihrem schönen asiatischen Gesicht schienen zu leuchten. »Ist das ein Unterschied?«
Crowe hatte sich in Rage geredet, unterstützt von Oliviera. Im Augenblick versammelten beide das größte Publikum um sich. Peak und Buchanan waren eindeutig in die Defensive geraten, aber während Peak immer nachdenklicher wurde, kochte Buchanan vor Zorn.
»Wir sind nicht das zwingende Resultat irgendeiner Höherentwicklung der Natur«, sagte Crowe gerade. »Der Mensch ist ein Zufallsprodukt. Wir sind das Ergebnis eines kosmischen Glücksfalls, als ein Riesenmeteorit die Erde traf und die Saurier aussterben ließ. Ohne dieses Ereignis würde die Welt heute vielleicht von intelligenten Sauroiden bewohnt werden oder einfach nur von irgendwelchen Tieren. Natürliche Begünstigungen haben uns entstehen lassen, keine Folgerichtigkeit. Unter Millionen denkbarer Entwicklungen, seit die kambrische Evolution die ersten Vielzeller hervorbrachte, gibt es vielleicht nur eine, in der Menschen vorkommen.«
»Aber Menschen beherrschen den Planeten«, beharrte Buchanan. »Ob Sie es wollen oder nicht.«
»Sicher? Im Augenblick beherrschen ihn die Yrr. Kommen Sie endlich in der Wirklichkeit an, wir sind nur eine kleine Gruppe aus der Spezies der Säugetiere, die von der Evolution längst noch nicht als Erfolg verbucht wurde. Die erfolgreichsten Säuger sind Fledermäuse, Ratten und Antilopen. Wir repräsentieren nicht das letzte, krönende Stück Erdgeschichte, sondern nur irgendeines. Es existiert kein Trend zu krönenden Epochen in der Natur, nur Auslese. Die Zeit mag eine vorübergehende Zunahme körperlicher und geistiger Komplexität bei einer Spezies dieses Planeten verzeichnen, aber das ist aufs Gesamte betrachtet kein Trend und schon gar kein Fortschritt. Allgemein zeigt das Leben keinen Impuls in Richtung Fortschritt. Es fügt dem ökologischen Raum ein komplexes Element hinzu, während es zugleich die simple Form der Bakterien seit drei Milliarden Jahren bewahrt. Das Leben hat keinen Grund, etwas verbessern zu wollen.«
»Wie vereinbaren Sie das, was Sie da sagen, mit Gottes Plan?«, fragte Buchanan beinahe drohend.
»Wenn es einen Gott gibt und er ein intelligenter Gott ist, hat er es so eingerichtet, wie ich es schildere. Dann sind wir nicht sein Meisterstück, sondern eine Variante, die nur überleben wird, wenn sie sich ihrer Rolle als Variante bewusst wird.«
»Und dass er den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat? Wollen Sie das auch in Abrede stellen?«
»Sind Sie so verhaftet in Ihrer Borniertheit, dass Sie nicht einmal in Erwägung ziehen, er könnte die Yrr nach seinem Bild erschaffen haben?« Buchanans Augen blitzten auf. Crowe ließ ihm keine Gelegenheit, zu Wort zu kommen, sondern blies ihm einen Schwall Zigarettenrauch entgegen. »Aber die ganze Diskussion ist obsolet, lieber Freund. Nach welchem Plan sollte Gott denn seine bevorzugte Rasse schaffen, wenn nicht nach dem bestmöglichen? Nun, Menschen sind verhältnismäßig groß. Ist ein größerer Körper ein besserer Körper? Einige Arten scheinen tatsächlich im Zuge der Auslese immer größer zu werden, aber die meisten kommen klein ganz prächtig klar. In Zeiten des Massenaussterbens jedenfalls überleben kleinere Arten besser, also verschwinden die großen alle zig Millionen Jahre, die Evolution setzt wieder an der Größenuntergrenze ein, das Wachstum beginnt erneut, bis der nächste Meteorit heransaust. Patsch! Das ist Gottes Plan!«
»Das ist Fatalismus.«
»Nein, Realismus«, sagte Oliviera. »Es sind die hoch spezialisierten Typen wie der Mensch, die unter extremen Veränderungen aussterben, weil sie nicht zur Anpassung fähig sind. Ein Koalabär ist komplex und kann nur Eukalyptusblätter fressen. Was tut er, wenn der Eukalyptus ausstirbt? Er gibt ebenfalls den Löffel ab. Die meisten Einzeller hingegen vertragen Eiszeiten und Vulkanausbrüche, Überschüsse an Sauerstoff oder Methan, sie können Jahrtausende in einen Beinahetod übergehen und wieder zum Leben erwachen. Bakterien existieren kilometertief im Gestein, an kochend heißen Quellen, in Gletschern. Ohne sie könnten wir nicht überdauern, aber sie sehr gut ohne uns. Selbst heute ist der Sauerstoff in der Luft ein Produkt der Bakterien. Alle Elemente, die unser Leben bestimmen, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Kohlenstoff, werden uns erst durch die Aktivität von Mikroorganismen wieder zunutze gemacht. Bakterien, Pilze, Einzeller, kleine Aasfresser, Insekten und Würmer verarbeiten abgestorbene Pflanzen und Tiere und überführen ihre chemischen Bestandteile wieder in das Gesamtsystem des Lebens. Im Ozean ist das nicht anders als an Land. Mikroorganismen sind die beherrschende Lebensform der Meere. Diese Gallerte in unserem Tank ist mit Sicherheit älter und vielleicht auch klüger als wir, ob Ihnen das nun passt oder nicht.«
»Sie können ein menschliches Wesen nicht mit einer Mikrobe vergleichen«, knurrte Buchanan. »Ein Mensch hat eine andere Bedeutung. Wenn Sie das nicht begreifen, wofür stehen Sie dann eigentlich ein in diesem Team?«
»Dafür, das Richtige zu tun!«
»Sie verraten die Sache der Menschheit doch schon mit Worten.«
»Nein, der Mensch verrät die Sache der Welt, indem er ein Missverhältnis schafft zwischen den Lebensformen und ihrer Bedeutung. Er ist die einzige Spezies, die das tut. Wir werten. Es gibt böse Tiere, wichtige Tiere, nützliche Tiere. Wir beurteilen die Natur nach dem, was wir sehen, aber wir sehen nur einen winzigen Ausschnitt, dem wir übersteigerte Bedeutung beimessen. Unsere Wahrnehmung ist auf große Tiere und auf Wirbeltiere ausgerichtet, und hauptsächlich auf uns selber. Also sehen wir überall Wirbeltiere. Tatsächlich liegt die Gesamtzahl der wissenschaftlich beschriebenen Wirbeltierarten bei knapp 43000, darunter mehr als 6000 Reptilienarten, zirka 10000 Vogelarten und rund 4000 Säugetierarten. Demgegenüber sind bis heute fast eine Million Wirbellose beschrieben worden, darunter alleine 290000 Käferarten, die damit schon mal alle Wirbeltierarten um das Siebenfache übertreffen.«
Peak sah Buchanan an. »Sie hat Recht, Craig«, sagte er. »Nimm es zur Kenntnis. Sie haben beide Recht.«
»Wir sind nicht erfolgreich«, sagte Crowe. »Wenn Sie Erfolge sehen wollen, betrachten Sie die Haie. Sie existieren in unveränderter Form seit dem Devon, seit 400 Millionen Jahren. Sie sind hundertmal älter als jeder Urahne des Menschen, und es gibt 350 Arten. Aber möglicherweise sind die Yrr noch älter. Wenn es Einzeller sind, und wenn sie einen Trick gefunden haben, im Kollektiv zu denken, sind sie uns eine Ewigkeit voraus. Diesen Vorsprung können wir nie einholen. Allenfalls können wir sie töten. — Aber wollen Sie das riskieren? Wissen wir, welche Bedeutung sie für unsere Existenz haben? — Vielleicht können wir ja mit diesem Feind ebenso wenig leben wie ohne ihn.«
»Sie wollen amerikanische Werte verteidigen, Jude?« Johanson schüttelte den Kopf. »Dann werden wir scheitern.«
»Was haben Sie gegen amerikanische Werte?«
»Nichts. Aber Sie haben doch gehört, was Crowe sagt: Intelligente Lebensformen auf anderen Planeten sind vielleicht weder menschenähnlich noch säugetierähnlich, vielleicht basieren sie nicht mal auf der DNA, also wird ihr Wertesystem ein völlig anderes sein als unseres. Was glauben Sie, welchem moralischen und sozialen Modell Sie da unten begegnen werden, in der Tiefsee? Bei einer Rasse, deren Kultur möglicherweise auf Zellteilung und kollektiver Aufopferung besteht. Wie wollen Sie zu einer Verständigung gelangen, wenn Sie einzig die Wahrung von Werten im Auge haben, auf die sich nicht mal die Menschen verständigen können?«
»Sie schätzen mich falsch ein«, sagte Li. »Mir ist schon klar, dass wir die Moral nicht gepachtet haben. Die Frage ist: Müssen wir um jeden Preis verstehen, wie die anderen denken? Oder ist es nicht besser, einfach alle Kraft in den Versuch einer Koexistenz zu investieren?«
»Innerhalb derer jeder den anderen in Frieden lässt?«
»Ja.«
»Späte Einsicht, Jude«, sagte Johanson. »Ich denke, die Ureinwohner Amerikas, Australiens, Afrikas und der Arktis hätten Ihren Standpunkt begrüßt. Diverse Tierarten, die wir ausgerottet haben, ebenfalls. Fest steht, dass die Situation viel komplizierter ist. Wir werden kaum verstehen können, wie die anderen denken. Trotzdem müssen wir den Versuch wagen, weil wir einander schon zu sehr in die Quere gekommen sind. Unser gemeinsamer Lebensraum ist zu eng geworden für ein Leben nebeneinander, es bleibt uns nur ein Miteinander. Das funktioniert einzig und alleine, wenn wir unsere vermeintlich gottgegebenen Ansprüche weit zurückschrauben.«
»Und wie soll das Ihrer Meinung nach aussehen? Indem wir uns die Lebensgewohnheiten von Einzellern zu Eigen machen?«
»Natürlich nicht. Es wäre uns genetisch gar nicht möglich. Selbst was wir als Kultur bezeichnen, ist unseren Genen eingegeben. Die kulturelle Evolution beginnt in prähistorischen Zeiten, da wurden in unseren Köpfen die Weichen gestellt. Kultur ist biologisch, oder wollen wir annehmen, es seien neue Gene hinzugekommen, um Kriegsschiffe zu konstruieren? Wir bauen Flugzeuge, Helikopterträger und Opernhäuser, aber wir tun es, um auf sogenanntem zivilisierten Niveau unseren uralten Aktivitäten nachzugehen, seit die erste Steinaxt gegen ein Stück Fleisch getauscht wurde: Krieg, Stammestreffen, Handel. Kultur ist Teil unserer Evolution. Sie dient dazu, uns in einem stabilen Zustand zu halten …«
»… bis ein stabilerer Zustand sich als überlegen erweist. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Sigur. In prähistorischen Zeiten hat das Erbgut die Kultur geprägt und uns entsprechend genetisch verändert. Also steuern die Gene unser Verhalten. Sie schaffen uns beiden die Grundlage für diese Unterhaltung, sosehr wir den Gedanken auch hassen mögen. Unser ganzer intellektueller Fundus, auf den wir so stolz sind, ist das Resultat genetischer Steuerung, und Kultur nichts weiter als soziales Verhaltensrepertoire, gekoppelt an den Kampf ums Überleben.«
Johanson schwieg.
»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Li.
»Nein. Ich lausche ergriffen und betört. Sie haben vollkommen Recht. Die menschliche Evolution ist ein Wechselspiel aus genetischer Veränderung und kulturellem Wandel. Es waren genetische Veränderungen, die zum Wachstum unseres Gehirns geführt haben. Es war pure Biologie, die uns das Sprechen ermöglicht hat, als die Natur unseren Kehlkopf vor 500000 Jahren umstrukturierte und die Sprachzentren in der Großhirnrinde ausbildete. Aber dieser genetische Wandel führte zum kulturellen Aufbau. Sprache formulierte Erkennen, Vergangenheit, Zukunft und Vorstellungsvermögen. Kultur ist das Resultat biologischer Prozesse, und biologischer Wandel erfolgt als Reaktion auf kulturelle Weiterentwicklung. Sehr verzögert zwar, aber genau so ist es.«
Li lächelte.
»Wie schön, dass ich vor Ihnen bestehen konnte.«
»Ich hatte nichts anderes erwartet«, sagte Johanson charmant. »Aber Sie haben es selber eingeräumt, Jude: Unsere viel gepriesene kulturelle Vielfalt stößt an genetische Grenzen. Und die werden dort gezogen, wo die Kultur intelligenter Nichtmenschen ihren Anfang nimmt. Wir haben eine Vielzahl von Kulturen ausgebildet, aber sie alle basieren auf der Notwendigkeit, unsere Art in Sicherheit zu bringen. Wir werden nicht die Werte einer Spezies übernehmen können, deren Biologie der unseren entgegensteht und die natürlicherweise unser Feind sein muss im Kampf um Lebensräume und Ressourcen.«
»Sie glauben nicht an die Galaktische Föderation, in der sich wandelnde Bienenstöcke mit unsereinem an die Theke stellen?«
»Krieg der Sterne?«
»Ja.«
»Ein wunderbarer Film. Nein. Ich glaube, das würde erst funktionieren nach einer sehr, sehr langen Zeit der Überwindung. Wenn unserem genetischen Programm der kulturelle Austausch mit dem Andersartigen eingebrannt ist.«
»Also habe ich Recht! Wir sollten nicht den Versuch unternehmen, die Yrr zu verstehen. Wir sollten einen Weg finden, einander in Ruhe zu lassen.«
»Sie haben Unrecht. Denn sie lassen uns nicht in Ruhe.«
»Dann haben wir verloren.«
»Warum?«
»Waren wir uns nicht darüber einig, dass Menschen und Nichtmenschen keinen Konsens erreichen können?«
»Man war sich auch darüber einig, dass Christen und Muslime keinen Konsens erreichen können. Hören Sie zu, Jude: Wir können und müssen die Yrr nicht verstehen.
Aber wir müssen dem, was wir nicht verstehen, Platz einräumen. Das ist etwas anderes, als den Werten der einen wie der anderen Seite uneingeschränkt das Wort zu reden. Die Lösung liegt im Zurückweichen, und augenblicklich ist unser Zurückweichen gefragt. Dieser Weg kann funktionieren. Er führt nicht über emotionales Verständnis — das gibt es nicht. Aber dafür über eine veränderte Sichtweise. Über ein Weltverständnis, das umfassender wird, je weiter wir uns von der eigenen Art entfernen, Schritt für Schritt, und Distanz zu uns selber suchen. Ohne diese Distanz werden wir nicht in der Lage sein, den Yrr einen anderen Blick auf uns zu verschaffen, als sie bereits haben.«
»Versuchen wir nicht gerade zurückzuweichen? Alleine, indem wir den Kontakt zu ihnen suchen.«
»Und was soll dabei herauskommen, soweit es Sie betrifft?«
Li schwieg.
»Jude, verraten Sie mir ein Geheimnis. Wie kommt es, dass ich Sie so sehr schätze und Ihnen so wenig vertraue?«
Sie sahen einander an.
Von den Stehtischen drang der Lärm der Unterhaltung herüber. Er schwoll an wie eine Woge, die das Deck überspülte und mit Macht über sie hereinbrach. Aus den Unterhaltungsfetzen wurden Rufe, dann Schreie. Im selben Moment hallte eine Stimme aus dem Durchsagesystem übers Deck:
»Delphinwarnung! — Achtung! — Delphinwarnung!«
Li löste sich als Erste aus dem Duell der Blicke. Sie wandte den Kopf und sah auf das dämmrige Meer hinaus.
»Mein Gott«, flüsterte sie.
Das Meer war nicht mehr dämmrig.
Es hatte zu leuchten begonnen.
Nach allen Seiten fluoreszierten die Wellen. Dunkelblaue Inseln stiegen aus der Tiefe zur Wasseroberfläche, breiteten sich aus und flossen ineinander, dass es aussah, als ergieße sich der Himmel ins Meer.
Die Independence schwebte in Licht. »Wenn das die Antwort auf deine letzte Botschaft ist«, sagte Greywolf zu Crowe, ohne den Blick von dem Schauspiel lösen zu können, »musst du da unten jemanden schwer beeindruckt haben.« »Es ist wunderschön«, flüsterte Delaware. »Sehen Sie!«, rief Rubin. In die leuchtende Fläche kam Bewegung. Das Licht begann zu pulsieren. Riesige Wirbel entstanden darin, drehten sich erst langsam, dann immer schneller, bis sie wie Spiralgalaxien rotierten und Ströme von Blau in sich hineinsaugten. Die Zentren verdichteten sich. Tausende funkelnder Sterne schienen darin aufzuglühen und wieder zu vergehen …
Plötzlich ein Blitz.
Ein Aufschrei vom Flugdeck.
Schlagartig veränderte sich das Bild. Grelle Entladungen durchzuckten das Wasser und verästelten sich zwischen den dahinrasenden Wirbeln. Ein lautloses Gewitter tobte unter der Wasseroberfläche. Im nächsten Moment begannen sich die Wirbel vom Rumpf der Independence zurückzuziehen. Die blaue Wolke strebte dem Horizont zu, mit atemberaubender Geschwindigkeit, und entzog sich den Blicken.
Greywolf löste sich als Erster aus seiner Erstarrung.
Er rannte auf die Insel zu.
»Jack!« Delaware lief ihm hinterher. Die anderen folgten. Greywolf hangelte sich die Niedergänge hinunter, durchmaß mit langen Schritten den Flur des Sicherheitstrakts und stürmte ins CIC, Peak und Li auf den Fersen. Die Monitore der Rumpfkameras zeigten nichts als dunkelgrünes Wasser, dann kamen zwei Delphine ins Bild.
»Was ist los?«, rief Peak. »Was sagt das Sonar?«
Einer der Männer drehte sich um.
»Da draußen ist was Großes, Sir. Irgendwas, ich weiß nicht … schwer zu sagen … Irgendwie …«
»Irgendwas, irgendwie?« Li packte den Mann an der Schulter. »Machen Sie Meldung, Sie Vollidiot! Präzise! Was passiert da?«
Der Mann erbleichte. »Es ist … es sind … wir hatten nichts auf dem Schirm, und dann entstanden Flächen. Sie kamen aus dem Nichts, ich schwör’s, das Wasser hat sich plötzlich in Materie verwandelt. Sie haben sich zu einer Wand verbunden, zu einer … es ist überall …«
»Die Cobras sollen aufsteigen. Sofort. Weiträumiger Erkundungsflug.«
»Was bekommt ihr von den Delphinen rein?«, fragte Greywolf.
»Unbekannte Lebensform«, meldete eine Soldatin. »Sie haben es zuerst erfasst.«
»Lokalisierung?«
»Überall zugleich. Entfernt sich. Jetzt einen Kilometer weit draußen, zieht sich weiter zurück. Das Sonar zeigt in allen Richtungen massive Präsenz an.«
»Wo sind die Delphine jetzt?«
»Unter der Independence, Sir. Sie drängen sich vor den Schleusen. Ich glaube, sie haben Angst! Sie wollen rein.«
Immer mehr Menschen kamen ins CIC.
»Legen Sie das Satellitenbild auf den Großmonitor«, befahl Peak.
Das Big Picture zeigte die Independence aus der Perspektive des KH-12. Sie lag über dunklem Wasser. Von blauem Licht und Blitzen keine Spur.
»Eben noch war dort unten alles hell«, sagte der Mann, der für die Satellitenauswertung zuständig war. »Können wir Bilder von anderen Satelliten bekommen?« »Im Augenblick nicht, Sir.« »Okay. KH-12 soll aufzoomen.«
Der Mann gab den Befehl an die Kontrollstation weiter. Wenige Sekunden darauf schrumpfte die Independence auf dem Monitor. Der Satellit hatte den Ausschnitt vergrößert. Nach allen Seiten erstreckte sich bleiern die Grönländische See. Aus den Lautsprechern drang das Pfeifen und Klicken der Delphine. Immer noch meldeten sie die Präsenz einer unbekannten Lebensform.
»Das reicht noch nicht.« Der KH-12 zoomte weiter auf. Das Objektiv erfasste nun einen Ausschnitt von einhundert Quadratkilometern. Die Independence mit ihren gut 250 Metern Länge nahm sich darin aus wie ein Stück Treibholz. Mit angehaltenem Atem starrten sie auf den Monitor. Jetzt sahen sie es. In weitem Umkreis hatte sich ein dünner, blau leuchtender Ring gebildet. Entladungen blitzten darin auf. »Wie groß ist das Ding?«, flüsterte Peak. »Vier Kilometer im Durchmesser«, sagte die Frau am Monitor. »Etwas mehr sogar. Scheint eine Art Schlauch zu sein. Was wir auf dem Satellitenbild sehen, ist die Öffnung, aber es zieht sich bis hinab in die Tiefsee. Wir sitzen sozusagen im … Schlund.«
»Und was ist es?«
Johanson war neben ihm aufgetaucht. »Gallerte, würde ich sagen.«
»Na bravo«, keuchte Vanderbilt. »Was, verdammt nochmal, haben Sie denen da unten geschickt?«, fuhr er Crowe an.
»Wir haben sie aufgefordert, sich zu zeigen«, sagte Crowe.
»War das eine gute Idee?«
Shankar wandte sich ärgerlich zu ihm um.
»Wir wollten doch Kontakt aufnehmen, oder? Was beschweren Sie sich? Haben Sie gedacht, die schicken reitende Boten?«
»Wir bekommen ein Signal rein!«
Alle fuhren zu dem Sprecher herum. Es war der Mann, der die akustischen Anzeigen überwachte. Shankar eilte zu ihm und beugte sich über die Monitore.
»Was ist es?«, rief Crowe ihm zu.
»Dem spektrographischen Muster nach ein Scratch-Signal.«
»Eine Antwort?«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Der Ring. Er zieht sich zusammen!«
Alle Köpfe ruckten hoch zum Big Picture. Der leuchtende Ring hatte begonnen, sich langsam wieder auf das Schiff zuzubewegen. Zugleich strebten zwei winzige Punkte von der Independence fort. Die beiden Kampfhubschrauber hatten ihren Erkundungsflug aufgenommen. Das Pfeifen und Quieken in den Lautsprechern verstärkte sich.
Plötzlich begannen alle durcheinander zu reden.
»Maul halten«, schnauzte Li. Sie lauschte mit gefurchter Stirn den Stimmen der Delphine. »Da ist noch ein anderes Signal.«
»Ja.« Delaware horchte mit gesenkten Lidern. »Unbekannte Lebensform, und außerdem …«
»Orcas!«, rief Greywolf.
»Mehrere große Körper nähern sich von unten«, bestätigte die Frau am Sonar. »Kommen aus dem Innern der Röhre.«
Greywolf sah Li an. »Das schmeckt mir nicht. Wir sollten die Delphine ins Schiff holen.«
»Warum gerade jetzt?«
»Ich will das Leben der Tiere nicht riskieren. Außerdem brauchen wir die Kamerabilder.«
Li zögerte einen Moment.
»In Ordnung. Holen Sie sie rein. Ich gebe Roscovitz Bescheid. Peak, nehmen Sie vier Mann und begleiten Sie O’Bannon ins Welldeck.«
»Leon«, sagte Greywolf. »Licia.«
Sie eilten hinaus. Rubin sah ihnen nach. Er beugte sich zu Li hinüber und sagte etwas in gedämpftem Ton. Sie hörte zu, nickte und wandte sich wieder den Monitoren zu.
»Wartet auf mich!«, rief Rubin der Gruppe nach. »Ich komme mit.«
Roscovitz traf noch vor den Wissenschaftlern im Welldeck ein, begleitet von Browning und einem weiteren Techniker. Er fluchte lautstark, als er das defekte Deepflight sah. Sie hatten es immer noch nicht repariert. Mit offenen Einstiegshauben trieb es auf der Wasseroberfläche, nur durch eine Kette gesichert, die sich zur Decke spannte.
»Konnte das nicht längst schon fertig sein?«, fuhr er Browning an.
»Die Sache ist komplizierter, als wir dachten«, verteidigte sich die Cheftechnikerin, während sie den Pier entlang liefen. »Die Steuerautomatik hat …«
»Ach, Scheiße.« Roscovitz musterte das Boot. Es lag halb über der Schleuse, die sich in vier Metern Tiefe abzeichnete. »Allmählich beginnt es mich zu stören. Jedes Mal, wenn wir die Viecher rein— oder rauslassen, stört es mich mehr.«
»Bei allem Respekt, Sir, es stört nicht, und wenn wir es fertig repariert haben, wird es wieder zur Decke gezogen.«
Roscovitz knurrte etwas Unverständliches und stellte sich hinter das Bedienpult. Direkt vor seiner Nase lag das Boot. Aus dieser Perspektive versperrte es ihm den Blick auf die Bodenschleuse. Er war auf die Pultmonitore angewiesen. Erneut fluchte er und benutzte ein paar kraftvollere Ausdrücke. In der Eile, mit der die Independence umgerüstet worden war, hatten sie geschludert! Warum, zum Teufel, musste alles, was nicht funktionierte, immer erst in der Praxis Probleme machen? Wozu testeten sie jeden Mist im virtuellen Raum, wenn hinterher ein schwimmendes Tauchboot den Blick auf die Schleuse versperrte?
Schritte hallten im Hangardeck wider. Greywolf, Delaware, Anawak und Rubin kamen die Rampe herunter, gefolgt von Peak und seinen Männern. Die Soldaten verteilten sich beiderseits der Kais. Rubin und Peak gingen zu Roscovitz, während Greywolf und die anderen in ihre Neoprenanzüge schlüpften und die Sichtbrillen aufsetzten.
»Fertig«, sagte Greywolf. Er schloss Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis, dem Taucherzeichen für Okay. »Holen wir sie rein.«
Roscovitz nickte und schaltete die Lockrufautomatik ein. Er sah die Wissenschaftler ins Becken springen, die Körper angeleuchtet von den Unterwasserscheinwerfern. Sie schwammen näher heran. Auf Höhe der Schleuse tauchten sie nacheinander ab.
Er öffnete die unteren Schotts.
Delaware sank kopfüber auf die Instrumentenanzeige am Schleusenrand zu. Noch während sie abtauchte, setzten sich die mächtigen Stahlplatten drei Meter unter der gläsernen Abdeckung in Bewegung. Sie sah zu, wie die Schotts auseinander fuhren und den Blick in die Meerestiefe freigaben. Sofort huschten zwei Delphine ins Innere. Sie wirkten nervös und stießen mit den Schnauzen gegen das Glas. Greywolf machte das Zeichen, noch zu warten. Ein weiterer Delphin schwamm in die Schleuse.
Mittlerweile hatten sich die Stahlschotts vollständig geöffnet. Unter der Glaskuppel gähnte der Abgrund. Delaware spähte angestrengt in die Dunkelheit. Noch war nichts Außergewöhnliches zu sehen, kein Leuchten, keine Blitze, keine Orcas und keiner der übrigen drei Delphine. Sie ließ sich tiefer sinken, bis ihre Hände die Glasfläche berührten, und suchte die Tiefe nach den anderen ab. Plötzlich schoss ein viertes Tier heran, drehte sich um seine Achse und schwamm ins Schleusenbecken. Greywolf nickte, und Delaware gab das Signal an Roscovitz. Langsam rückten die Stahlplatten wieder aufeinander zu und schlossen sich mit dumpfem Dröhnen. Im Innern der Schleuse nahmen die Messfühler ihre Arbeit auf und untersuchten das Wasser auf Verunreinigungen und Kontaminate. Nach wenigen Sekunden gab die Sensorik grünes Licht und leitete die Freigabe an Roscovitz’ Konsole weiter. Lautlos glitten die beiden Glasschotts auseinander.
Kaum war der Spalt breit genug, drängten sich die Tiere hindurch und wurden von Greywolf und Anawak in Empfang genommen.
Peak sah zu, wie Roscovitz das gläserne Dach wieder schloss. Sein Blick ruhte auf den Monitoren. Rubin war an den Rand des Beckens getreten und starrte hinab auf die Schleuse.
»Da waren’s nur noch zwei«, summte Roscovitz.
Aus den Lautsprechern drangen Pfiffe und Klicklaute der Delphine, die noch draußen waren. Sie wurden zusehends nervöser. Greywolfs Kopf erschien an der Wasseroberfläche, dann tauchten Anawak und Delaware auf.
»Was sagen die Tiere?«, wollte Peak wissen.
»Immer noch dasselbe«, erwiderte Greywolf.
»Unbekannte Lebensform und Orcas. Irgendwas Neues auf den Monitoren?«
»Nein.«
»Das muss nichts heißen. Holen wir die letzten beiden rein.«
Peak stutzte. Die Bildschirme hatten an den Rändern tiefblau zu leuchten begonnen.
»Ich glaube, Sie sollten sich beeilen«, sagte er. »Es kommt näher.« Die Wissenschaftler tauchten erneut zur Schleuse. Peak rief das CIC.
»Was seht ihr da oben?«
»Der Ring zieht sich weiter zusammen«, schnarrte Lis Stimme aus den Boxen der Konsole. »Die Piloten sagen, das Gebilde taucht ab, aber auf dem Satellitenbild ist es noch deutlich zu erkennen. Scheint, als wolle es unter das Schiff. Es müsste bald heller werden bei euch da unten.«
»Es wird hell. Womit haben wir es zu tun? Mit der Wolke?«
»Sal?« Das war Johanson. »Nein, ich glaube nicht, dass es noch Wolkenform hat. Die Zellen sind verschmolzen. Das ist ein kompakter Schlauch aus Gallerte, und er kontraktiert. Ich weiß nicht, was da passiert, aber ihr solltet wirklich zusehen, dass ihr fertig werdet.«
»Wir haben’s gleich. Rosco?«
»Schon passiert«, sagte Roscovitz. »Ich öffne das Schott.«
Anawak hing wie gebannt über dem Glasdach. Diesmal war es anders, als die Stahlplatten auseinander wichen. Beim ersten Mal hatten sie in dunkelgrüne Düsternis gestarrt. Jetzt war die Tiefe von einem schwachblauen Leuchten erfüllt, das langsam an Intensität zunahm.
Das hier sieht anders aus als die Wolke, dachte er. Eher wie Lichtschein, der ringsum abgestrahlt wird. Er dachte an die Satellitenaufnahme, die sie im CIC gesehen hatten. An den Schlund der gewaltigen Röhre, in deren Zentrum die Independence lag.
Plötzlich wurde ihm klar, dass er ins Innere dieser Röhre sah. Der Gedanke an die Ausmaße des Schlauchs ließ seinen Magen rotieren. Überfallartig überkam ihn Angst. Als wie aus dem Nichts der Körper des fünften Delphins ins Becken schnellte, fuhr er zurück, kaum fähig, seinen Fluchttrieb zu unterdrücken. Der Delphin drängte sich unter die Glasabdeckung. Anawak zwang sich zur Ruhe. Im nächsten Moment war das sechste Tier in der Schleuse. Die Stahlplatten glitten zusammen. Die Sensoren prüften die Wasserqualität, schickten ihr Okay an Roscovitz, und die Glashälften öffneten sich.
Browning sprang mit einem Riesensatz auf das Deepflight.
»Was soll das?«, wollte Roscovitz wissen.
»Die Tiere sind drin. Ich mache meine Arbeit, das soll es.«
»Hey, so war das doch eben nicht gemeint.«
»Doch, so war es gemeint.« Browning ging in die Hocke und öffnete eine Klappe im Heck. »Ich repariere das verdammte Ding jetzt fertig.«
»Es gibt Wichtigeres, Browning«, sagte Peak ungehalten. »Lassen Sie das Rumgezicke.« Er konnte seinen Blick nicht von den Monitoren lösen. Es wurde immer heller darauf.
»Sal, seid ihr fertig da unten?«, erklang Johansons Stimme.
»Ja. Was ist oben los?«
»Der Rand der Röhre schiebt sich unter das Schiff.«
»Kann uns das Zeug was anhaben?«
»Kaum. Ich kann mir keinen Organismus vorstellen, der die Independence auch nur zum Erzittern bringen könnte. Nicht mal dieses Ding. Es ist Gallerte. Wie muskulöses Gummi.«
»Und es ist unter uns«, sagte Rubin vom Rand des Beckens her. Er drehte sich um. Seine Augen leuchteten. »Öffnen Sie nochmal die Schleuse, Luther. Schnell.«
»Was?« Roscovitz riss die Augen auf. »Sind Sie wahnsinnig?«
Rubin war mit wenigen Schritten neben ihm.
»General?«, rief er ins Mikrophon der Konsole.
Es knackte in der Leitung. »Was gibt’s, Mick?«
»Hier tut sich gerade eine traumhafte Chance auf, in den Besitz größerer Mengen dieser Gallerte zu kommen. Ich habe angeregt, die Schleuse ein weiteres Mal zu öffnen, aber Peak und Roscovitz …«
»Jude, das Risiko können wir nicht eingehen«, sagte Peak. »Wir können das nicht kontrollieren.«
»Wir öffnen nur das Stahlschott und warten eine Weile«, sagte Rubin. »Vielleicht ist der Organismus neugierig. Wir fangen ein paar Brocken davon ein und schließen das Schott wieder. Eine hübsche Portionsmenge Forschungsmaterial, was halten Sie davon?«
»Und wenn es verseucht ist?«, sagte Roscovitz.
»Herrgott, überall Bedenkenträger! Das finden wir doch raus. Wir lassen die Glasabdeckung natürlich geschlossen, bis wir es wissen!«
Peak schüttelte den Kopf. »Ich halte das für keine gute Idee.«
Rubin verdrehte die Augen.
»General, das ist eine einmalige Gelegenheit!.«
»Okay«, sagte Li. »Aber seid vorsichtig.«
Peak sah unglücklich drein. Rubin lachte auf, trat an den Beckenrand und wedelte mit den Armen.
»He, werdet fertig«, rief er Greywolf, Anawak und Delaware zu, die den Tieren unter Wasser die Geschirre abnahmen. »Macht, dass ihr …« Sie konnten ihn nicht hören. »Ach, egal. Kommen Sie, Luther, öffnen Sie das verdammte Schott. Es kann ja nichts passieren, solange die Abdeckung geschlossen bleibt.«
»Sollten wir nicht warten, bis …«
»Wir können nicht warten«, fuhr ihn Rubin an. »Sie haben gehört, was Li gesagt hat. Wenn wir warten, ist es verschwunden. Lassen Sie einfach ein bisschen von der Gallerte in die Schleuse und machen Sie wieder zu. Mir reicht ein Kubikmeter oder so.«
Impertinentes Arschloch, dachte Roscovitz. Am liebsten hätte er Rubin ins Wasser geworfen, aber der Mistkerl hatte die Autorisierung von Li.
Sie hatte es angeordnet.
Er drückte auf die Bedienung für das Schott.
Delaware hatte es mit einem besonders aufgeregten Exemplar zu tun. Zappelig und ungeduldig. Beim Versuch, ihm die Kamera abzunehmen, war der Delphin ausgebüxt und zur Schleuse abgetaucht, wobei er das halbe Geschirr hinter sich herschleppte. Sie sah ihn über der Glasabdeckung kreisen und folgte ihm mit kräftigen Schwimmstößen nach unten.
Von dem, was oben besprochen wurde, bekam sie nichts mit.
Was hast du denn?, dachte sie. Komm her. Du musst doch keine Angst haben.
Dann sah sie, was los war.
Das Stahlschott öffnete sich wieder.
Einen Moment lang war sie so verblüfft, dass sie zu schwimmen vergaß und tiefer sank, bis ihre Zehenspitzen das Glas berührten. Unter ihr glitt das Schott weiter auf.
Die See leuchtete in kräftigem Blau. Blitzartige Entladungen zuckten in der Tiefe.
Was zum Teufel machte Roscovitz denn da? Warum öffnete er das Schott?
Der Delphin kreiste wie wild über der Schleuse. Er kam zu ihr herübergeschwommen und stupste sie an. Offenbar versuchte er sie von dem Schott wegzudrängen. Als Delaware nicht sofort reagierte, pirouettierte er und schoss davon.
Sie starrte in den leuchtenden Abgrund.
Was war da unten? Schemenhaft erkannte sie huschende Schatten, dann einen Fleck, der sich näherte und größer wurde.
Sehr schnell näherte.
Der Fleck bekam eine Form, nahm Gestalt an.
Plötzlich begriff sie, was da auf sie zukam. Sie erkannte den riesigen Kopf mit der schwarzen Stirn und der weißen Unterseite, die gleichmäßig gereihten Zähne zwischen den halb geöffneten Lippen. Es war das größte Exemplar, das sie je gesehen hatte. Senkrecht raste es aus der Tiefe heran und schien dabei immer schneller zu werden, offenbar ohne die geringste Absicht auszuweichen. Ihre Gedanken jagten einander. Innerhalb von Sekundenbruchteilen fügte sich zusammen, was sie wusste. Dass die Glasschotts dick und robust waren, aber nicht stark genug, um einer lebenden Bombe standzuhalten. Dass dieses Tier über zwölf Meter lang sein musste. Dass es sich mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 56 Stundenkilometern in die Höhe katapultieren konnte.
Dass es viel zu schnell war.
Sie unternahm einen verzweifelten Versuch, von der Schleuse wegzukommen.
Wie ein Torpedo krachte der Orca durch die gläserne Abdeckung. Die Druckwelle warf Delaware um ihre eigene Achse. Undeutlich sah sie Trümmer des Stahlrahmens und Scherben heranwirbeln und den weißen Bauch des Wals, der sich aus der zerstörten Glaskuppel erhob, kaum gebremst durch den Aufprall. Etwas traf sie schmerzhaft zwischen den Schulterblättern. Sie schrie auf und bekam Wasser in die Lungen, schlug um sich und verlor jedes Gefühl für oben und unten.
Panik erfasste sie.
Rosovitz fand kaum Zeit, die Situation zu begreifen. Der Pier dröhnte und erzitterte unter seinen Füßen, als der Orca das Schott durchbrach. Ein gewaltiger Wasserberg hob das Deepflight in die Höhe. Er sah Browning taumeln und mit den Armen rudern, während der Orca kurz absackte und aus dem Stand erneut beschleunigte.
»Das Schott!«, schrie Rubin. »Schließ das Schott!«
Der Kopf des Orca rammte gegen das Tauchboot und warf es hoch. Mit einem hellen Knall zersprang die Halterung der Kette. Brownings Körper wurde durch die Luft geschleudert und krachte gegen das Bedienpult. Einer ihrer Stiefel traf Roscovitz gegen die Brust und warf ihn nach hinten. Er prallte gegen die Hangarwand, Peak mit sich reißend.
»Das Boot!«, schrie Rubin. »Das Boot!«
Browning kippte mit blutender Stirn zurück ins Wasser. Über ihr stellte sich das Heck des Deepflight senkrecht, als das Tauchboot in Sekundenschnelle voll lief und sank. Roscovitz rappelte sich hoch und versuchte, das Pult zu erreichen. Etwas zischte ihm entgegen. Er schaute auf und sah die losgerissene Kette wie eine Peitsche heranschwingen. Hastig versuchte er auszuweichen, fühlte, wie das Ende an seiner Schläfe vorbeischrammte und sich um seinen Hals wickelte. Die Luft blieb ihm weg. Er wurde nach vorne gezogen und rutschte über die Kante.
Greywolf war zu weit entfernt, um zu erkennen, was die Katastrophe ausgelöst hatte, und weil er im Wasser trieb, bekam er von der Erschütterung nichts mit. Er sah, wie das Tauchboot aus seiner Halterung gerissen wurde und was mit Browning und Roscovitz passierte. Rubin stand schreiend und gestikulierend neben dem Steuerpult. Irgendwo hinter ihm erschien Peaks Kopf. Die Soldaten hatten ihre Waffen hochgenommen und rannten auf die Unglücksstelle zu.
Hastig suchte sein Blick die Oberfläche nach Delaware ab. Anawak war direkt neben ihm, aber Delaware konnte er nirgendwo finden.
»Licia?«
Keine Antwort.
»Licia!«
Eisige Furcht stach in sein Herz. Mit einem gewaltigen Schwung tauchte er hinab und schnellte auf die Schleuse zu.
Delaware schwamm in die falsche Richtung. Ihr Rücken schmerzte höllisch, und sie fürchtete zu ersticken. Plötzlich fand sie sich direkt über der Schleuse wieder. Die beiden Hälften der Glasabdeckung waren herausgerissen, die Stahlschotts begannen sich eben zu schließen. Das Meer darunter war ein einziges Leuchten.
Sie drehte sich auf den Rücken.
Oh nein!
Das Deepflight fiel mit offen stehenden Luken auf sie zu, Bug voran. Es sank wie ein Stein. Aus Leibeskräften begann sie mit den Füßen zu schlagen. Es würde auf sie stürzen. Sie sah die zusammengelegten Greifarme näher kommen, streckte sich wie ein Otter, aber es reichte nicht. Schmerzhaft rammte das Boot ihre Körpermitte. Sie spürte, wie ihre Rippen brachen, öffnete den Mund, schrie und schluckte noch mehr Wasser. Unbarmherzig drückte das Boot sie nach unten, durch die Schleuse hindurch und hinaus ins offene Meer. Die Kälte drang schockartig in ihre Knochen. Halb besinnungslos sah sie die Stahlschotts mit hohlem Klonk gegen das Tauchboot prallen, und das Deepflight hörte auf zu sinken. Es steckte fest, aber Delaware sank weiter. Sie streckte die Arme aus, versuchte sich an dem entschwindenden Boot festzuhalten, aber ihre Finger glitten ab. Sie hatte keine Kraft mehr, und ihre Lungen waren wie Brei. In ihrer Bauchhöhle schien alles zerquetscht zu sein.
Bitte, dachte sie, ich will zurück. Zurück ins Schiff. Ich will nicht sterben.
Irgendwo zwischen den blockierten Schotts und dem eingeklemmten Boot sah sie verschwommen Greywolfs Gesicht, aber ebenso gut mochte es ein Wunschbild sein, ein schöner Traum, gerettet zu werden.
Etwas Dunkles, Großes kam von der Seite. Klaffende Kiefer, Reihen kegelförmiger Zähne.
Der Biss des Orcas zerbrach ihr den Brustkorb.
Sie sah nicht mehr die leuchtende Masse an sich vorbeischießen. Als der Organismus durch die Schleuse drang, war Delaware schon tot.
Peak schlug vor Wut mit der Faust auf das Kontrollpult. Sein Versuch, das Schott zu schließen, war fehlgeschlagen. Das Deepflight blockierte die beiden Stahlplatten.
Entweder ließ er sie wieder auseinander fahren und opferte das Boot, oder er riskierte, dass Gott weiß was ins Innere gelangte.
Von Browning war nichts zu sehen. Roscovitz hing zuckend an der Kette, mit den Beinen im Wasser, die Hände um den Hals geklammert.
Wo war der verdammte Orca?
»Sal«, heulte Rubin.
Das Wasser brodelte und schäumte. Die Soldaten hasteten durcheinander, ohne Plan. Greywolf war untergetaucht. Von Anawak keine Spur. Und Delaware? Was war mit Delaware?
Jemand stieß ihn in die Seite.
»Sal, verdammt nochmal!« Rubin drängte ihn von der Konsole weg. Seine Hände flatterten über die Tastatur, drückten auf Knöpfe. »Warum schließen Sie nicht endlich die verdammte Schleuse?«
»Sie blödes Arschloch«, schrie Peak. Er holte aus und rammte Rubin die Faust mitten ins Gesicht. Der Biologe wankte und kippte ins Wasser. Es spritzte auf, und inmitten der Gischt sah Peak die schwertartige Rückenfinne des Wals emporsteigen und auf sich zukommen.
Prustend tauchte Rubins Kopf aus den Fluten.
Auch er sah die Finne. Er begann zu schreien.
Peak drückte auf den Knopf, um die Stahlschotts zu öffnen und das Deepflight in die Tiefe zu entlassen.
Eine Kontrolllampe hätte aufleuchten müssen.
Nichts geschah.
Greywolf glaubte, den Verstand zu verlieren.
Unter der Independence zog ein Rudel Orcas hindurch. Eines der Tiere hatte nach Delaware geschnappt und ihren Körper außer Sichtweite gezerrt. Ohne nachzudenken schwamm er auf die Lücke zwischen den verkeilten Schotts zu und sah etwas aus der Tiefe heranrasen. Vor seinen Augen erstrahlten Blitze und funkenartige Entladungen, dann wurde er wie von einer riesigen Faust getroffen und nach hinten geschleudert. Das Unterste kehrte sich zuoberst. Links von ihm tauchte kurz Anawak auf, verschwand wieder. Dort ein paar strampelnde Beine im Wasser. Ein Körper, der auf ihn zustürzte. Ein weißer Bauch — der Orca, der ins Schiff gelangt war, über ihn hinwegziehend. Dann wieder die Schleuse mit dem eingeklemmten Tauchboot …
Und das Ding, das zwischen den auseinander klaffenden Schotts ins Innere drang.
Es sah aus wie der Fangarm eines überdimensionalen Polypen. Nur dass kein Polyp über solche Arme verfügte. Kein Polyp war groß genug für einen Arm von drei Metern Durchmesser. Eine formlose Masse strömte ins Welldeck, rasend schnell, immer mehr davon. Ein gallertiger Muskel, der sich, kaum dass er die Schleuse passiert hatte, zu dünneren Strängen verzweigte, über deren glatte Oberfläche lumineszierende Muster flackerten.
Rubin schwamm um sein Leben.
Die Finne folgte ihm. Hustend und spuckend erreichte er den Pier und versuchte sich in wilder Panik hochzuziehen. Seine Ellbogen knickten ein. Er hörte Schüsse, geriet wieder unter Wasser und sah sich einem unglaublichen Schauspiel gegenüber. Schlagartig wurde ihm klar, dass sein Wunsch soeben in Erfüllung ging. Der fremde Organismus war eingedrungen, nur unter völlig anderen Umständen, als er erwartet hatte.
Leuchtende Tentakel überall. Dick wie Bäume.
Dazwischen der geöffnete Rachen des Orca.
Rubin kam hoch. Unmittelbar vor ihm peitschte ein Paar Beine das Wasser. Roscovitz starrte mit hervorquellenden Augen auf ihn herab. Es sah aus, als hinge er an einem Galgen. Seine Hände versuchten, die Kette um seinen Hals zu lösen.
Ein schreckliches Gurgeln kam über seine Lippen.
Oh mein Gott, dachte Rubin. Barmherziger Gott! Da war die Finne, fast schon bei ihm, drehte ab …
In einem Berg aus Gischt stieg der Orca empor, das Maul weit geöffnet. Roscovitz’ Beine verschwanden darin. Die Kiefer klappten zusammen. Einen Moment lang hing das Tier reglos in der Luft, sackte wieder nach unten …
Roscovitz’ bluttriefender Torso baumelte über der Wasseroberfläche, und Rubin konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Er hörte ein lang anhaltendes Schreien und begriff, dass er selber es war, der schrie.
Er schrie und schrie.
Und da war wieder die Finne.
Li glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Innerhalb weniger Sekunden war im Welldeck das Chaos ausgebrochen. Entgeistert sah sie Peak den Pier entlang laufen, die Soldaten blind ins Wasser feuern, Roscovitz’ zerfetzten Körper.
»Funkverbindung herstellen«, befahl sie.
Plötzlich hallte die Kommandozentrale von Schüssen und Schreien wider. Auf den Gesichtern ringsum spiegelte sich Entsetzen. Alle begannen durcheinander zu reden, dem Chaos im Welldeck folgte seine Entsprechung im CIC. Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. Verstärkung schicken, natürlich. Mit Explosivgeschossen diesmal. Was ballerten die da unten auch mit konventioneller Munition herum?
Sie mussten die Kontrolle zurückgewinnen.
Sie würde selber runtergehen.
Wortlos lief sie nach nebenan ins LFOC. Im Kriegsfall diente es als Befehlszentrale für die amphibischen Operationen. Man konnte von hier aus die Ballasttanks fluten oder leer pumpen und die Heckklappe öffnen, wenn im Welldeck die Kontrollen versagten. Einzig die Bodenschleusen ließen sich vom LFOC aus nicht kontrollieren, ein weiterer dummer Fehler beim überhasteten Umbau der Independence.
»Okay«, erklärte sie dem entsetzten Personal an den Konsolen. »Achterliche Ballasttanks leer pumpen. Heck trockenlegen.« Sie dachte nach. War die Schleuse im Boden des Welldecks verschlossen oder offen? Konnte das Wasser ablaufen? Das Inferno auf den Monitoren ließ keine Aussagen darüber zu. Im Allgemeinen reichte es, das Heck des Schiffes einfach anzuheben, und das Wasser des künstlichen Hafens floss durch die offene Schleuse oder durch die heruntergelassene Heckklappe nach draußen. Für den Fall, dass beides blockiert war, gab es das Notpumpsystem. Es brauchte ein bisschen länger, erfüllte aber denselben Zweck.
Li gab Order, die Pumpen anzuwerfen, und rannte zurück ins CIC.
Die Schotts reagierten nicht. Warum, darüber konnte er sich vorerst keine Gedanken machen. Atemlos rannte Peak zu einem der Waffenschränke und riss eine Harpune mit Sprengkapsel heraus. Die Soldaten feuerten wild ins Wasser. Etwas Gewaltiges, Krakenartiges kam durch die offene Schleuse ins Schiff und schlängelte sich dicht unter der Oberfläche dahin, und der Orca hatte Roscovitz die Beine abgebissen.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Rubin aus dem Wasser zog. Peak war erleichtert und angewidert zugleich. Er hasste den Biologen, aber er hätte sich nicht dazu hinreißen lassen dürfen, ihn ins Wasser zu stoßen. Rubins Leben musste unter allen Umständen geschützt werden. Er musste seine Aufgabe zu Ende bringen.
Die Finne bewegte sich vom Pier weg. Weiter hinten schwammen Anawak und Greywolf. Sie strebten der gegenüberliegenden Seite zu. Leuchtende Tentakel folgten ihnen, aber eigentlich waren die Dinger überall und zuckten in sämtliche Richtungen, während es der Orca eindeutig auf die Fliehenden abgesehen hatte.
Er musste das Vieh erledigen, bevor es noch jemanden tötete.
Plötzlich fühlte sich Peak im Innersten ruhig werden. Alles andere konnte warten. Das Wichtigste war jetzt, diese Masse Fleisch mit Zähnen zu erledigen.
Er hob die Harpune und peilte.
Anawak sah den Orca näher kommen. Das Wasser in dem künstlichen Hafenbecken schäumte und spritzte, schien selber lebendig geworden zu sein. Eine wogende, blau schimmernde Masse, durch die sich der Orca zielstrebig auf ihn und Greywolf zubewegte.
Der schwarze Schädel kam zum Vorschein, als das Tier stoßartig seinen Atem ausblies. Es war wenige Meter entfernt. Sie würden es nicht bis zum Pier schaffen, so viel stand fest. Irgendetwas mussten sie tun. Beim Angriff der Orcas im Clayoquot Sound war zur rechten Zeit Greywolf mit dem Boot da gewesen, aber Greywolf ging es gerade nicht viel besser als Anawak. Sie mussten den Orca austricksen.
Der Wal tauchte ab.
»Wir lassen ihn durch!«, schrie er Greywolf zu.
Nicht sehr präzise, dachte er. Keine Ahnung, ob Jack was damit anfangen kann. Aber für Erklärungen war es ohnehin zu spät.
Anawak holte Atem und ließ sich unter Wasser sinken.
Peak fluchte.
Das Biest war verschwunden, von Greywolf und Anawak nichts mehr zu sehen. Er rannte weiter den Pier entlang und suchte den massigen Körper, aber das Becken hatte sich in ein surrealistisch bewegtes Inferno verwandelt, in dem Licht, undefinierbare Formen und spritzende Gischt keinen klaren Blick mehr zuließen. Vor ihm feuerte einer der Soldaten auf die schlangenartigen Dinger im Wasser, offenbar ohne Wirkung.
»Lassen Sie den Quatsch!« Peak stieß den Mann in Richtung Kontrollpult. »Geben Sie Alarm. Versuchen Sie, das Schott zu öffnen und das Tauchboot loszuwerden.« Sein Blick suchte die Wasseroberfläche ab. »Und dann machen Sie die verdammte Schleuse zu.«
Der Soldat hörte auf zu schießen und lief los.
Peak trat an den Rand des Piers und kniff die Augen zusammen. Die Harpune lag schwer in seiner Hand.
Wo war der Orca?
Er war nicht mehr zu sehen.
Dafür zuckende, sich windende Masse, blaues und weißes Licht. Im Moment, da Anawak sich unter die Oberfläche hatte sinken lassen, war der grelle Lärm dumpfem Rauschen und Poltern gewichen. Greywolf hing rudernd neben ihm. Luftblasen entwichen seinem Mund. Immer noch hielt Anawak den Arm des Halbindianers gepackt, nachdem er ihn mit herabgezogen hatte. Er wusste nicht, ob seine Idee funktionieren würde, aber an der Oberfläche waren sie auf jeden Fall verloren.
Etwas wogte ihm entgegen, das einer riesigen, kopflosen Schlange glich. Über das halb transparente, blau schimmernde Gewebe pulsten Streifige Lichter. Hunderte dünner, peitschenartiger Ausleger wuchsen daraus hervor und strichen über den Boden des Decks, und plötzlich wurde Anawak klar, was das Ding tat. Es scannte seine Umgebung. Die Peitschen erfassten jeden Punkt des Beckens. Während er noch zusah, entsetzt und fasziniert zugleich, entsprossen dem Schlangenkörper weitere Ausleger und wimmelten in seine Richtung.
Zwischen ihnen klaffte das offene Maul des Orcas.
In Anawak ging eine Veränderung vor. Ein Teil von ihm kapselte sich ab und stellte in aller Ruhe Fragen. Wie viel von dem Angreifer war noch Wal, wie viel Gallerte? Was hatten sie von einem Lebewesen zu erwarten, das nicht mehr seiner Natur gemäß handelte, sondern in einem fremden Bewusstsein aufgegangen war? Er musste den Orca als Teil der leuchtenden Masse sehen, nicht mehr als Wal mit natürlichen Reflexen. Aber vielleicht war genau das von Vorteil. Vielleicht gelang es ihnen, das Tier zu verwirren.
Pfeilschnell war der Orca heran.
Anawak wich aus, gab Greywolf einen Stoß und sah ihn in entgegengesetzter Richtung davonschnellen. Er hatte den Zuruf verstanden! Der Wal schoss zwischen ihnen hindurch, nachdem sich seine Beute überraschend geteilt hatte.
Ein paar Sekunden gewonnen.
Ohne dem Orca einen weiteren Blick zu widmen, schwamm Anawak mitten in das Tentakelgewirr hinein.
Rubin kroch nach Luft schnappend und auf allen vieren über den Pier. Der Soldat sprang über ihn hinweg und hastete zum Kontrollpult. Er warf einen Blick auf die Anzeigen, orientierte sich und drückte auf den Knopf, um die Stahlschotts zu öffnen.
Das System blockierte.
Wie jeder in seiner Truppe war der Soldat in allen technischen Systemen des Schiffs geschult worden und kannte deren Funktionsweise. Das Bild von Browning hatte sich ihm eingebrannt, wie ihr Körper gegen das Pult geschleudert worden war. Er bückte sich und nahm den Knopf genauer in Augenschein.
Verklemmt. Seitlich verzogen.
Vielleicht durch einen Stiefeltritt Brownings. Viel war es nicht, was er zu korrigieren hatte. Er packte sein Gewehr und schlug mit dem Kolben dagegen.
Der Knopf rastete ein.
Anawak schwebte in einer fremden Welt.
Um ihn herum wanden sich Vorhänge dünner Tentakel. Er war keineswegs sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, in das Gewimmel hineinzuschwimmen, aber die Frage hatte sich erübrigt. Vielleicht würde die Gallerte aggressiv reagieren, vielleicht gar nicht. Möglicherweise war das Zeug auch kontaminiert. Dann waren sie sowieso alle tot.
Auf jeden Fall hatte es der Orca hier vorübergehend schwerer, ihn zu finden.
Die lumineszierenden Ausleger bogen sich in seine Richtung. Alles geriet in Bewegung. Anawak wurde hin und her geschleudert. Das Tentakelgeflecht verdichtete sich, und plötzlich spürte er eines der Peitschendinger über sein Gesicht streichen.
Er wischte es beiseite.
Weitere schlängelten sich heran, tasteten über seinen Kopf und seinen Körper. In seinem Schädel pochte und dröhnte es. Allmählich begannen seine Lungen zu schmerzen. Wenn er nicht bald Gelegenheit fand aufzutauchen, konnte er sich gleich dem Zeug überlassen.
Mit beiden Händen griff er in die Masse und riss sie auseinander. Es war, als kämpfe er gegen ein Bündel Nattern. Der Organismus war wie ein fester, hochflexibler Muskel und zudem in ständiger Metamorphose begriffen. Tentakel, die sich eben noch um ihn gewunden hatten, deformierten sich, zogen sich zurück und gingen in der großen Masse auf, die im selben Moment andere Extremitäten gebar. Das Zeug war völlig unberechenbar, und offenbar entwickelte es gerade ein verstärktes Faible für Leon Anawak.
Er musste hier wieder raus.
Neben ihn huschte ein schlanker, eleganter Körper.
Ein lächelndes Gesicht. Einer der Delphine. Anawak griff instinktiv nach der Rückenflosse. Ohne innezuhalten schoss der Delphin aus der Tentakelmasse heraus und riss ihn mit sich. Plötzlich hatte er wieder freie Sicht. Er klammerte sich fest und sah den Orca von der Seite heranrasen. Der Delphin schnellte nach oben. Hinter ihnen schnappten die riesigen Kiefer zu, verfehlten sie knapp, dann durchbrachen sie die Wasseroberfläche und hielten auf das künstliche Gestade zu.
Der Soldat drückte den Knopf.
Es war nur eine Reparatur mit einem Gewehrkolben gewesen, aber von Erfolg beschieden. Langsam setzten sich die stählernen Schotts in Bewegung und gaben das Tauchboot frei. Es begann wieder zu sinken, vorbei an dem Organismus, der sich durch die Schleuse schob. Lautlos fiel das Deepflight aus dem Schiff hinaus und verschwand in der Tiefe des Meeres.
Für den Bruchteil einer Sekunde kamen dem Soldaten Zweifel, ob es nicht besser wäre, die Schleuse geöffnet zu lassen, aber sein Befehl lautete anders. Er sollte sie schließen, also gehorchte er. Diesmal blockierte kein Tauchboot die Schotts. Die Platten, angetrieben von den starken Motoren der Schleuse, schoben sich in den baumdicken Organismus und quetschten ihn zusammen.
Peak riss die Harpune hoch.
Eben hatte er Anawak gesehen. Der Orca schien ihn erwischt zu haben, aber dann war der Mann wieder zum Vorschein gekommen, während sich das Vieh zur gegenüberliegenden Seite bewegte. Die Soldaten beschossen den schwarzen Rücken, und der Orca sank unter die Wasseroberfläche.
Hatten sie ihn erledigt?
»Schott schließt sich«, rief der Soldat vom Kontrollpult herüber.
Peak hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und schritt langsam den Pier entlang. Sein Blick suchte die gegenüberliegende Seite ab. Gegen das Krakending halfen keine Gewehrkugeln, und Sprengkörper in die Gallerte zu schießen, traute er sich nicht. Immer noch waren Menschen in dem Becken.
Er trat an die Kante.
Greywolf war Anawaks Beispiel gefolgt und zwischen die Tentakel geschwommen. Aus Leibeskräften kraulte er zur anderen Seite des Beckens. Nach einigen Metern versperrte ihm die Körpermasse des Organismus den Weg, und er musste die Richtung wechseln.
Er hatte jede Orientierung verloren.
Tentakel ringelten sich auf ihn zu und wanden sich um seine Schulter. Greywolf fühlte Ekel in sich hochsteigen. Er war völlig verstört. Auf seiner Netzhaut hatte sich die Sequenz von Delawares Tod verewigt, wie ein Film lief sie immer wieder darauf ab. Er riss die Auswüchse der Gallerte von sich herunter, wirbelte herum und versuchte wegzukommen.
Plötzlich schwebte er über der Schleuse. Das Tauchboot war verschwunden. Er sah, wie sich die Schotts schlossen, in das Gallertgewebe fuhren und den meterdicken Strang glatt durchtrennten.
Die Reaktion des Wesens war unmissverständlich.
Es gefiel ihm nicht.
Ein Wasserschwall schlug Peak entgegen. Unmittelbar vor ihm stieg der Orca empor. Zu überrascht, um Angst zu empfinden, blickte Peak in den rosa Rachen. Er prallte zurück, während im selben Moment das komplette Deck auseinander zu fliegen schien. Der Organismus tobte. Wild gewordene Riesenschlangen wirbelten bis zur Decke, klatschten gegen die Wände und fegten die Piers entlang. Peak hörte die Soldaten schreien und schießen, sah Körper durch die Luft wirbeln und im Becken verschwinden, dann schlug ihm etwas die Beine weg, und er prallte auf den Rücken. Schmerzhaft entwich alle Luft aus seinen Lungen. Der Körper des Orcas kippte auf ihn zu. Peak stöhnte, packte unwillkürlich die Harpune fester und wurde mit einem Ruck ins Becken gezogen.
In einem Strudel aus Luftblasen sank er nach unten. Seine Beine steckten in einer blau schimmernden Masse. Er stieß mit der Harpune dagegen, und der Klammergriff löste sich. Über ihm klatschte der Orca zurück ins Wasser. Eine gewaltige Druckwelle erfasste Peak und wirbelte ihn mehrfach um seine Achse. Er sah die Zahnreihen des Wals auseinander klappen, keinen Meter entfernt, stieß ihm die Harpune ins Maul und drückte ab.
Einen Moment schien alles stillzustehen.
Aus dem Kopf des Orcas drang eine dumpfe Detonation. Sie war nicht besonders laut, aber die Welt färbte sich rot. Peak wurde in einer Masse aus Blut und Fleischfetzen nach hinten geschleudert. Er schlug einen Salto, prallte gegen die Seitenwand und zog sich mit einer einzigen schwungvollen Bewegung wieder auf den Pier. Keuchend robbte er von der Kante weg. Überall war Blut. Rote Schmiere mischte sich mit Fettgewebe und Knochensplittern. Er versuchte, hochzukommen, rutschte aus und fiel wieder auf den Hintern. Schmerz durchzuckte ihn.
Sein linker Fuß stand in einem Winkel ab, der nichts Gutes verhieß, aber im Augenblick interessierte ihn nicht mal das.
Ungläubig starrte er auf die Szenerie, die sich ihm bot.
Der Organismus schien in Raserei verfallen zu sein. Die Tentakel peitschten wild durcheinander. Regale stürzten um, Ausrüstung flog durch die Luft. Von den Soldaten war nur einer auszumachen, der feuernd den Pier entlanglief, bis ihn einer der Arme ins Wasser beförderte. Peak duckte sich, als ein halb transparentes Gebilde dicht über ihn hinwegfegte, das keine Schlange und kein Fangarm war, nichts, das er schon mal gesehen hatte. Mit aufgerissenen Augen gewahrte er, wie sich die Spitze des Gebildes im Flug veränderte und für eine Sekunde das Aussehen eines Fischkörpers annahm, bevor sie sich in züngelnde Fäden verästelte. Große Tiere schienen im Becken unterwegs zu sein, Rückenflossen wuchsen heraus und verschwanden wieder, deformierte Köpfe reckten ihre Schnauzen in die Höhe, seltsam glibberig und unfertig, verformten sich und klatschten als konturlose Klumpen zurück ins Wasser.
Peak rieb sich die Augen. Täuschte er sich, oder war der Wasserspiegel gesunken? Das Dröhnen von Maschinen mischte sich in den allgemeinen Lärm, und er begriff: Sie pumpten das Deck leer! Das Wasser wurde aus den Ballasttanks gepresst. Unmerklich hob sich das Heck der Independence, während der Inhalt des künstlichen Hafenbeckens zurück ins Meer floss. Die umherpeitschenden Auswüchse zogen sich zurück. Plötzlich war das Wesen wieder zur Gänze untergetaucht. Peak schob sich die Wand hoch, belastete seinen linken Fuß und knickte ein. Bevor er stürzen konnte, packten ihn zwei Hände.
»Festhalten«, sagte Greywolf.
Peak klammerte sich an die Schulter des Hünen und versuchte mitzuhumpeln. Selber nicht eben klein, kam er sich neben Greywolf schmächtig und kraftlos vor. Er stöhnte auf. Greywolf hob ihn kurz entschlossen in die Höhe und lief mit ihm den Pier entlang zum künstlichen Gestade.
»Stopp«, keuchte Peak. »Das reicht. Runterlassen.«
Greywolf ließ ihn sanft zu Boden sinken. Sie waren unmittelbar vor dem Tunnel, der zum Laboratorium führte. Von hier aus konnte man das gesamte Becken überblicken. Peak erkannte, dass die Seitenwände des Delphinariums wieder sichtbar wurden. Unverändert dröhnten die Pumpen. Er dachte an die Menschen in dem Becken, die wahrscheinlich alle tot waren, an die Soldaten, an Delaware und Browning …
An Anawak!
Sein Blick suchte das Wasser ab. Wo war Anawak?
Prustend tauchte er auf, unmittelbar vor dem Gestade. Greywolf sprang hinzu und half ihm aufs Trockene. Sie sahen zu, wie das Wasser weiter absank. Nun konnten sie ein großes Wesen erkennen, das mattblaues Licht abstrahlte und das Becken durchstreifte, als suche es einen Weg nach draußen. Seine Form erinnerte an einen schlanken Wal oder eine gedrungene Seeschlange. Keine Lichtblitze zuckten mehr über seinen Körper, keine Tentakel entwuchsen der Masse. Es schwamm in jede Ecke, schlängelte sich an den Wänden entlang, suchte schnell und systematisch nach dem Ausweg, den es nicht gab.
»Verdammtes Scheißvieh!«, keuchte Peak. »Jetzt wird es trockengelegt.«
»Nein. Wir müssen es retten.«
Das war Rubins Stimme. Peak wandte den Kopf und sah den Biologen im Tunnel auftauchen. Er zitterte und hielt die Arme um seinen Körper geschlungen, aber in seinen Augen flackerte wieder das Leuchten, als er darauf bestanden hatte, die Gallerte ins Schiff zu lassen.
»Retten?«, echote Anawak.
Rubin kam in zögerlichen Schritten näher. Er schaute wachsam auf das Becken, in dem die Kreatur immer schneller ihre Runden drehte. Der Wasserspiegel betrug noch maximal zwei Meter. Das Wesen verbreiterte seine Körperfläche, wohl um seinen Tiefgang zu verringern.
»Das ist eine einmalige Chance«, sagte er. »Versteht ihr denn nicht? Wir müssen sofort den Hochdrucksimulator dekontaminieren. Die Krebse raus, frisches Wasser rein und möglichst viel von diesem Ding. Das ist viel besser als die Krebse. Damit können wir …«
Mit einem Sprung war Greywolf bei ihm, legte beide Hände um Rubins Hals und drückte zu. Der Biologe riss Mund und Augen auf. Seine Zunge kam zum Vorschein.
»Jack!« Anawak versuchte, Greywolfs Arme nach hinten zu ziehen. »Hör auf damit!«
Peak stemmte sich hoch. Sein linker Fuß hielt der Belastung stand. Offenbar war er nicht gebrochen, aber er schmerzte höllisch, sodass er kaum einen Schritt gehen konnte. Dennoch. Er musste etwas für das Arschloch tun, ob er wollte oder nicht.
»Jack, das bringt nichts«, rief er. »Lassen Sie den Mann los.«
Greywolf reagierte nicht. Er hob Rubin hoch. Dessen Gesicht begann sich ins Bläuliche zu verfärben.
»Das reicht, O’Bannon!«
Li kam aus dem Tunnel, in Begleitung einiger Soldaten.
»Ich bringe ihn um«, sagte Greywolf ruhig.
Die Kommandantin trat einen Schritt näher und umfasste Greywolfs rechtes Handgelenk. »Nein, O’Bannon, das werden Sie nicht tun. Mir ist egal, welche Rechnung Sie mit Rubin offen haben, aber seine Arbeit ist wichtig.«
»Jetzt nicht mehr.«
»O’Bannon! Bringen Sie mich nicht in die missliche Lage, Ihnen wehtun zu müssen.«
Greywolfs Blick flackerte. Seine Augen hefteten sich auf Li. Offenbar kam er zu der Einsicht, dass sie es ernst meinte, denn er ließ Rubin langsam wieder herunter und löste die Hände von seinem Hals. Der Biologe fiel röchelnd auf die Knie. Er würgte und spuckte.
»Seinetwegen ist Licia gestorben«, sagte Greywolf tonlos.
Li nickte. Plötzlich veränderten sich ihre Gesichtszüge. »Jack«, sagte sie beinahe sanft. »Es tut mir Leid. Ich verspreche Ihnen, sie wird nicht umsonst gestorben sein.«
»Sterben ist immer umsonst«, erwiderte Greywolf tonlos. Er wandte sich ab. »Wo sind meine Delphine?«
Li marschierte mit ihren Männern hinaus auf den Pier. Peak war ein solcher Idiot. Warum hatte er seine Leute nicht von vorneherein mit Explosivgeschossen bewaffnet? Weil man so was nicht hätte voraussehen können? Blödsinn! Es war genau das, was sie vorausgesehen hatte. Einen Haufen Probleme. Sie hatte nicht gewusst, auf welche Weise sie auftreten würden, aber dass sie auftreten würden, war ihr klar gewesen. Sie hatte es gewusst, bevor die ersten Wissenschaftler im Chateau eingetroffen waren, und entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Im Becken schwappten nur noch ein paar Pfützen. Der Anblick war verheerend. Direkt zu ihren Füßen, vier Meter tiefer, lag der Kadaver des Orcas. Wo der Kopf mit dem zähnestarrenden Maul gewesen war, breitete sich rötlicher Matsch aus. Ein Stück weiter sah sie die reglosen Körper einiger Soldaten. Von den Delphinen war bis auf drei nicht das Geringste zu entdecken. Wahrscheinlich hatten die anderen es in ihrer Panik vorgezogen, das Schiff zu verlassen, solange die Schleuse noch offen gestanden hatte.
»Das ist ja eine gewaltige Sauerei«, sagte sie.
Das gestaltlose Ding in der Mitte des Beckens rührte sich kaum noch. Es hatte einen fahlweißen Ton angenommen. An den Rändern, wo der letzte Rest Wasser die Masse umspülte, bildeten sich kurze Tentakel, die wie Nattern über den Boden krochen. Das Wesen starb. So unheimlich seine Fähigkeit war, die Form zu ändern und Fangarme über Wasser auszuwerfen, so aussichtslos schien seine Lage jetzt. Die Oberseite des Gallertbergs zeigte erste Auflösungserscheinungen. Wachsklare Flüssigkeit tropfte daran herab.
Li rief sich in Erinnerung, dass der gestrandete Koloss kein Einzelwesen war, sondern ein Konglomerat aus Abermilliarden Einzellern, die soeben ihren Zusammenhalt verloren. Rubin hatte Recht. Sie mussten so viel wie möglich davon in Sicherheit bringen. Je schneller sie handelten, desto größere Mengen des Kollektivs würden überleben.
Anawak gesellte sich wortlos an ihre Seite. Li suchte weiter das Becken ab. Roscovitz’ baumelnden Körper, genauer gesagt das, was davon übrig war, beachtete sie nicht. Aus den Augenwinkeln gewahrte sie eine Bewegung am Grund des Beckens, ging bis zum Ende des Piers und kletterte eine Stiege hinunter. Anawak folgte ihr. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, das sich nun ihren Blicken entzog. Sie schritt in respektvollem Abstand an dem Torso entlang, dem ein unangenehmer Geruch zu entströmen begann, als sie Anawak von der anderen Seite rufen hörte. Eilig lief sie um den Berg herum und stolperte fast über Browning.
Die Technikerin lag mit aufgerissenen Augen halb unter dem schmelzenden Wesen.
»Helfen Sie mir«, sagte Anawak.
Gemeinsam zogen sie die Frau unter der Masse hervor. Das Zeug löste sich nur zäh und widerwillig von ihren Beinen. Die Tote erschien Li ungewöhnlich schwer. Ihr Gesicht glänzte wie lackiert, und Li beugte sich darüber, um die Sache genauer in Augenschein zu nehmen.
Brownings Oberkörper richtete sich auf.
»Scheiße!«
Li sprang zurück und sah, wie Brownings Gesicht epileptisch zu zucken begann und Grimassen produzierte. Die Technikerin warf die Arme hoch, öffnete den Mund und kippte wieder zurück. Ihre Finger formten sich zu Krallen. Sie schlug mit den Beinen aus, bog den Rücken durch und schüttelte mehrmals hintereinander heftig den Kopf.
Unmöglich! Vollkommen unmöglich!
Li war hartgesotten, aber jetzt packte sie nacktes Entsetzen. Sie starrte auf den lebenden Leichnam, während Anawak mit sichtlichem Widerwillen neben Browning in die Hocke ging.
»Jude«, sagte er leise. »Das sollten Sie sich ansehen.«
Li überwand ihren Ekel und trat näher heran.
»Hier«, sagte Anawak.
Sie sah genauer hin. Der glänzende Überzug auf Brownings Gesicht begann abzutropfen, und plötzlich erkannte sie, was es war. Klumpige, schmelzende Stränge zogen sich über Schultern und Hals der Technikerin und verschwanden in ihren Ohren …
»Es ist eingedrungen«, flüsterte sie.
»Das Zeug versucht, sie zu übernehmen.« Anawak nickte. Er war grauweiß im Gesicht, für einen Inuk ein bemerkenswerter Farbwechsel. »Wahrscheinlich kriecht es überall rein und macht sich mit den Gegebenheiten vertraut. Aber Browning ist nun mal kein Wal. Ich schätze, ein bisschen Restelektrizität in ihrem Hirn reagiert auf den Übernahme-Versuch.« Er machte eine Pause. »Es wird jeden Moment vorbei sein.«
Li schwieg.
»Es steuert alle möglichen Hirnfunktionen an«, sagte Anawak. »Aber es begreift keinen Menschen.« Er richtete sich auf. »Browning ist tot, General. Was wir sehen, ist ein zu Ende gehendes Experiment.«
Skeptisch musterte Bohrmann die Anzüge in der kleinen Tauchstation. Silbrig glänzende Körperhüllen mit verglasten Helmen, Segmentgelenken und Greifzangen. Wie leblose Puppen hingen sie in einem großen, offenen Stahlcontainer und starrten ins Nichts.
»Ich dachte eigentlich nicht, dass wir zum Mond fliegen«, sagte er.
»Gäärraaad!« Frost lachte. »In vierhundert Metern Tiefe ist es ähnlich wie auf dem Mond. Du wolltest unbedingt mit, also beschwer dich nicht.«
Eigentlich hatte Frost van Maarten mit auf den Tauchgang nehmen wollen, aber Bohrmann hatte zu bedenken gegeben, dass der Holländer sich am besten mit den Systemen der Heerema auskannte und oben gebraucht wurde. Unausgesprochen gab er damit der Möglichkeit Ausdruck, dass es unten zu Schwierigkeiten kommen könnte.
»Außerdem«, hatte er angemerkt, »ist es mir nicht recht, euch da rumfuhrwerken zu sehen. Ihr mögt exzellente Taucher sein, aber den Blick für Hydrate habe immer noch ich.«
»Darum sollst du ja hier bleiben«, konterte Frost. »Du bist unser Hydratexperte. Wenn dir was passiert, haben wir keinen mehr.«
»Doch. Wir haben Erwin. Er kennt sich ebenso gut aus wie ich. Besser sogar.«
Inzwischen war Suess aus Kiel eingetroffen.
»Ein Tauchgang ist aber kein Spaziergang«, sagte van Maarten. »Haben Sie schon getaucht?«
»Diverse Male.«
»Ich meine, waren Sie richtig tief unten?«
Bohrmann zögerte. »Ich war auf 50 Meter. Konventionelles Flaschentauchen. Aber ich bin in ausgezeichneter Verfassung. — Und blöde bin ich auch nicht«, fügte er trotzig hinzu.
Frost dachte nach.
»Zwei kräftige Männer werden reichen«, sagte er. »Wir nehmen kleine Sprengladungen und …«
»Da geht’s schon los«, rief Bohrmann entsetzt. »Sprengladungen.«
»Okay, okay!« Frost hob die Hände. »Ich sehe, das wird nichts ohne dich. Du kommst mit. Aber wehe, du heulst mir die Ohren voll, wenn’s ungemütlich wird.«
Jetzt standen sie im Innern des backbordigen Pontons, 18 Meter unter der Wasseroberfläche. Die Pontons waren geflutet, aber van Maarten hatte einen kleinen Bereich ausgespart, der über Steigleitern mit der Plattform verbunden war. Von hier war auch der Roboter heruntergelassen worden. Weil van Maarten wusste, dass auch bemannte Tauchgänge nicht auszuschließen waren und sie in einigen Hundert Metern Tiefe stattfinden würden, hatte er sich mit konventionellem Tauchgerät gar nicht erst abgegeben und Anzüge bei Nuytco Research in Vancouver geordert, einem Unternehmen, das für bahnbrechende Innovationen bekannt war.
»Sehen schwer aus«, sagte Bohrmann.
»90 Kilogramm, vorwiegend Titanium.« Frost tätschelte einem der Helme beinahe liebevoll die verglaste Front. »Ein Exosuit ist ein schwerer Brocken, aber unter Wasser merkst du nichts davon. Du kannst nach Belieben rauf und runter. Der Anzug wird mit Sauerstoff gespeist und umhüllt dich komplett, es gibt also kein Ausperlen von Stickstoff im Blut. Damit sparst du dir die dämlichen Dekompressionspausen.«
»Er hat Flossen.«
»Genial, was? Statt zu sinken wie ein Stein, schwimmst du wie ein Froschmann.« Frost deutete auf die zahlreichen Gelenkringe. »Die Konstruktion ermöglicht dir noch in vierhundert Metern Tiefe volle Bewegungsfreiheit. Die Hände sind in Halbkugeln geschützt. Handschuhe waren nicht drin, zu empfindlich, aber beide Arme enden in einem computergesteuerten Greifsystem. Die Sensoren vermitteln eine Art künstlichen Tastsinn ins Innere. Du kannst dein Testament damit unterschreiben, so empfindlich reagieren sie.«
»Wie lange können wir unten bleiben?«
»48 Stunden«, sagte van Maarten. Als er Bohrmanns erschrockenen Gesichtsausdruck sah, grinste er. »Keine Angst, so lange werden Sie nicht brauchen.« Er deutete auf zwei torpedoförmige Roboter, jeder knapp einen Meter fünfzig Meter lang, mit Propeller und verglaster Spitze. Eine mehrere Meter lange Leine entsprang der Oberseite, die in einer Konsole mit Griff, Display und Tasten endete. »Das sind eure Trackhounds. Suchhunde, AUVs. Sie sind auf die Lichtinsel programmiert. Die Zielgenauigkeit beträgt wenige Zentimeter, also versucht nicht, euch zurechtzufinden, sondern lasst euch einfach ziehen. Die Dinger legen vier Knoten vor, ihr seid in drei Minuten unten.«
»Wie sicher ist die Programmierung?«, fragte Bohrmann skeptisch.
»Sehr sicher. Trackhounds haben diverse Sensoren zur Erfassung von Tauchtiefe und Eigenposition. Verfahren könnt ihr euch jedenfalls nicht, und wenn euch was in die Quere kommen sollte, weicht der Trackhound aus. Über die Bedienkonsole am Ende der Leine aktiviert ihr die Programmierung. Hinweg, Rückweg, ganz einfach. Die Taste mit der 0 startet den Propeller, ohne dass eine Programmierung wirksam wird. In diesem Fall könnt ihr den Trackhound mit dem Joystick darunter steuern, und das Hündchen läuft, wohin ihr wollt. — Noch Fragen?«
Bohrmann schüttelte den Kopf.
»Dann los.«
Van Maarten half ihnen in die Anzüge. Man stieg in den Exosuit durch eine Klappe im Rücken, auf der die beiden Sauerstofftanks montiert waren. Bohrmann kam sich vor wie ein Ritter in vollem Ornat, der auf dem Mond spazieren gehen will. Als sich der Anzug schloss, war er kurz von allen Geräuschen abgeschlossen, dann hörte er wieder etwas. Durch die große, gebogene Sichtfläche sah er Frost in seinem Anzug sprechen und vernahm dessen dröhnende Stimme im Helm. Auch die Außengeräusche drangen wieder an sein Ohr.
»Sprechfunk«, erklärte Frost, »ist besser als Rumwedeln mit den Händen. Kommst du mit den Greifern zurecht?«
Bohrmann bewegte die Finger in der Kugel. Die künstliche Zangenhand machte jede Bewegung mit.
»Ich denke schon.«
»Versuch die Konsole zu greifen, die van Maarten dir anreicht.«
Es klappte beim ersten Versuch. Bohrmann atmete auf. Wenn alles so einfach war wie die Bedienung dieser Greifzangen, konnten sie drei Kreuze machen.
»Noch was. In Taillenhöhe siehst du ein rechteckiges Feld, einen flachen Schalter. Es ist ein POD.«
»Ein was?«
»Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen oder dich beunruhigen müsstest. Eine Sicherheitsmaßnahme. Wir werden kaum in die Situation kommen, aber falls doch, sage ich dir, wofür es gut ist. Um es einzuschalten, musst du einfach kräftig dagegenschlagen. Okay?«
»Was ist ein POD?«
»Eine Erleichterung beim Tauchen. Ich erklär’s dir irgendwann.«
»Ich wüsste wirklich gerne …«
»Später. Bist du bereit?«
»Bereit.«
Van Maarten öffnete den Schleusentunnel. Hellblaues, beleuchtetes Wasser schwappte zu ihren Füßen.
»Einfach reinfallen lassen«, sagte er. »Ich werfe den Trackhound hinterher. Wartet, bis ihr aus der Schleuse raus seid, dann schaltet eure Trackhounds ein.
Nacheinander, Frost zuerst.«
Bohrmann schob die Flossen über die Kante. Jede kleinste Bewegung in dem Anzug kam einem Kraftakt gleich. Er holte tief Luft und ließ sich nach vorn kippen. Wasser schlug ihm entgegen. Er vollführte einen Purzelbaum, sah die Lichter der Schleuse über sich hinweghuschen und gelangte wieder in aufrechte Position. Langsam sank er nach unten und aus dem Schleusentunnel hinaus ins Meer, wo er mitten in einem Fischschwarm landete. Glitzernde Leiber stoben zu Tausenden nach allen Seiten weg, fanden sich zu einer lebenden Spirale und ballten sich zusammen. Mehrmals hintereinander veränderte der Schwarm seine Form, streckte sich und floh. Bohrmann sah den Trackhound neben sich und sank tiefer. Über ihm leuchtete die Schleuse im dunklen Rumpf des Pontons. Er schlug mit den Flossen und stellte fest, dass er seine Position stabilisierte. Vom Gewicht des Anzugs war nichts mehr zu spüren. Eigentlich fühlte er sich ausgesprochen wohl. Ein tragbares Unterseeboot.
Frost folgte in einem Kokon aus Luftblasen. Er sank auf Bohrmanns Höhe hinab und sah ihn durch die Glasscheibe des Helms an. Erst jetzt registrierte Bohrmann, dass der Amerikaner auch im Exosuit seine Baseballkappe aufbehalten hatte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Frost.
»Wie R2-D2’s größerer Bruder.«
Frost lachte. Der Propeller seines Trackhounds begann sich zu drehen. Unvermittelt senkte der Roboter die Nase ab und zog den Vulkanologen in die Tiefe. Bohrmann betätigte die Programmierung. Es gab einen Ruck, und er kippte kopfüber. Schlagartig wurde es dunkler. Van Maarten hatte Recht. Es ging tatsächlich schnell. Schon nach kurzer Zeit herrschte schwärzeste Finsternis. Nichts war zu sehen außer dem diffusen Lichtschein, den die Hunde verstrahlten.
Zu seiner Überraschung bereitete ihm die Dunkelheit Unbehagen. Hunderte von Malen hatte er vor Bildschirmen gesessen und die Tauchgänge von Robotern überwacht, die in die Tiefen der Abyssale vorgestoßen waren oder noch weiter ins Benthos. Er war mit der Alvin, dem legendären Tauchboot, auf 4000 Meter gewesen. Dennoch war es etwas gänzlich anderes, in diesem Anzug zu stecken und von einem elektronischen Hund ins Ungewisse gezogen zu werden.
Hoffentlich war das Ding in seiner Hand richtig programmiert, sonst landete er Gott weiß wo.
Der Scheinwerfer beleuchtete Planktonregen. Steil ging es weiter abwärts. In Bohrmanns Helm erklang das elektronische Summen des Trackhounds. Weiter vorn bemerkte er ein filigranes Wesen, das mit trägen, pulsierenden Bewegungen durch die Nacht trieb. Es war von unglaublicher Schönheit, eine Tiefseemeduse, die einem Raumschiff gleich ringförmige Lichtsignale aussandte. Bohrmann hoffte, dass es keine Angstsignale vor irgendeinem größeren Ungetüm waren, das ihr folgte. Dann war die Qualle seinen Blicken entschwunden. Weitere Quallen in größerer Entfernung leuchteten auf, und plötzlich breitete sich direkt vor ihm eine weiße, blitzende Wolke aus. Er schrak zusammen. Aber die Wolke war weiß und nicht blau, und der Urheber biolumineszierte schwach, bevor er darin verschwand. Bohrmann wurde klar, was er da vor sich hatte. Es war ein Mastigotheutis, ein Tintenfisch, der für gewöhnlich erst in etwa 1000 Meter Tiefe vorkam. Dass er weiße Tinte gegen Eindringlinge verströmte, ergab Sinn — schwarze Tinte in schwärzester Dunkelheit war keine Hilfe.
Der Hund zog und zog.
Bohrmann suchte die Tiefe vor sich nach dem Schein der Lichtinsel ab, aber da war nichts als Schwärze, abgesehen von dem hellen Punkt, der Frost vorauseilte. Sofern er überhaupt eilte. Er hätte ebenso gut stillstehen können. Zwei stillstehende Lichter, seines und Frosts, in einem sternenlosen Weltraum.
»Stanley?«
»Was gibt’s?«
Die prompte Antwort beruhigte ihn.
»Wir müssten bald mal was sehen, oder?«
»Du bist ungeduldig, mein Freund. Schau auf dein Display. Das waren erst zweihundert Meter.«
»Oh. Klar, natürlich.«
Bohrmann traute sich nicht zu fragen, ob Frost der Programmierung des Trackhounds vertraute, also schwieg er und versuchte, seine aufkommende Nervosität zu unterdrücken. Er begann sich ein paar Medusen herbeizuwünschen, aber nichts ließ sich blicken. Der Roboter summte fleißig, und plötzlich änderte er spürbar die Richtung.
Da war etwas. Bohrmann sah genauer hin. In der Ferne dämmerte ein Lichtschein. Erst nur ahnbar, dann von diffus rechteckiger Form.
Tiefe Erleichterung durchströmte ihn. Brav, hätte er am liebsten gesagt. Braver Hund. Guter Hund.
Wie klein die Lichtinsel wirkte.
Während er noch darüber nachdachte, rückte sie näher, wurde heller und ließ Details erkennen, einzelne Spots, aufgereiht entlang des Gestänges. Sie trieben weiter darauf zu, und plötzlich hing die Insel riesig und strahlend über ihnen. Natürlich schwebten in Wirklichkeit sie über der Insel, aber der Flug kopfüber vertauschte Oben und Unten, sodass nun auch die Terrasse über ihren Köpfen hängend sichtbar wurde. Kurz war Frosts Gestalt auszumachen, ein Schatten, gezogen von einem Torpedo an der Leine, der dem lichtdurchströmten Fußballfeld entgegenstürzte. Alles lag deutlich vor ihnen. Die Hangterrasse, der Saugrüssel, dessen schwarzer Schlangenköper aus der Dunkelheit ragte, die Brocken, die seine Öffnung blockierten …
Das Gewimmel der Würmer.
»Schalt deinen Hund aus, bevor du in die Lichtorgel rasselst«, sagte Frost. »Die letzten paar Meter schwimmen wir.«
Bohrmann bewegte die Finger der freien Hand und versuchte, mit dem Greifer das Tastenfeld zu bedienen. Diesmal war er weniger geschickt. Er schaffte es nicht auf Anhieb und flog an Frost vorbei, der langsamer geworden war.
»He, Gärraad! Wo willst du hin, zum Teufel?«
Er probierte es erneut. Der Greifer rutschte ab, dann endlich gelang es ihm, den Hund zu stoppen. Bohrmann schlug mit den Flossen und brachte sich in waagerechte Position. Er war der Lichtinsel tatsächlich ziemlich nahe gekommen. Endlos erstreckte sie sich nach allen Seiten. Nach einigen Sekunden kehrte sein Sinn für Oben und Unten zurück, und Insel und Hang lagen unter ihm.
Mit gleichmäßigen Bewegungen schwamm er zu dem eingekeilten Schlauch und ließ sich daneben niedersinken. Die Lichtinsel schwebte jetzt etwa fünfzehn Meter über ihm. Sofort begannen die Würmer, über seine Flossen zu kriechen. Er musste sich zwingen, sie zu ignorieren. Sie konnten dem Material des Anzugs nicht das Geringste anhaben, und im Übrigen waren sie einfach nur ekelhaft. Keinem Lebewesen seiner Größe würde so ein Wurm je gefährlich werden.
Andererseits, was wusste man schon von Würmern, die es gar nicht hätte geben dürfen?
Der Trackhound war neben ihm zu Boden gesunken. Bohrmann parkte ihn auf einem Felsvorsprung und sah am Schlauch empor. Mannshohe Brocken aus schwarzem Lavagestein blockierten die Propeller der Motoren. Damit ließ sich fertig werden. Sorgen bereitete ihm der größere Keil, der den Rüssel gegen die Felswand drückte. Er mochte etwa vier Meter hoch sein. Bohrmann bezweifelte, ob sie ihn zu zweit bewegen konnten, auch wenn unter Wasser alles weniger wog und Lavagestein porös und leicht war.
Frost gesellte sich an seine Seite.
»Widerlich«, sagte er. »Überall die Söhne Luzifers.«
»Wer, bitte?«
»Gewürm! Gekreuch! Die biblischen Plagen. Na ja, Schwamm drüber. Ich schlage vor, wir nehmen uns die kleineren Brocken vor und schauen, wie weit wir kommen. — Van Maarten?«, rief er.
»Hier«, erklang blechern van Maartens Stimme. Bohrmann hatte völlig vergessen, dass sie auch mit der Heerema verbunden waren.
»Wir werden jetzt ein bisschen aufräumen. Als Erstes legen wir die Motoren frei. Vielleicht reicht das ja, und der Schlauch kann sich aus eigenem Antrieb befreien.«
»In Ordnung. — Geht’s Ihnen gut, Dr. Bohrmann?«
»Alles bestens.«
»Passt auf euch auf.«
Frost deutete auf ein annähernd rundes Stück Stein, welches das Drehgelenk eines der Propeller blockierte. »Damit fangen wir an.«
Sie machten sich daran, den Stein beiseite zu wälzen. Nachdem sie eine Weile daran gezerrt und gezogen hatten, rutschte er weg, gab das Motorengelenk frei und zerquetschte bei der Gelegenheit ein paar hundert Würmer unter sich.
»Yeah«, sagte Frost befriedigt.
Zwei weitere Brocken ließen sich auf die gleiche Weise verrücken. Der nächste Stein war größer, aber nach einiger Mühe kippte auch er schließlich zur Seite.
»Wie stark man doch unter Wasser ist«, freute sich Frost. »Jan, wir haben die Motoren bis auf einen frei. Sie sehen nicht beschädigt aus. Kannst du sie mal in den Gelenken drehen? Nicht einschalten, nur drehen!«
Es vergingen einige Sekunden, dann erklang ein schnurrendes Geräusch. Eine der Turbinen drehte sich in ihrem Gelenk hin und her. Gleich darauf bewegten sich auch die anderen.
»Sehr gut«, rief Frost. »Jetzt versucht’s mal. Werft die Dinger an.«
Sie brachten einige Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und den Schlauch und sahen zu, wie die Propeller starteten.
Der Schlauch ruckelte. Mehr geschah nicht.
»Fehlanzeige«, sagte van Maarten.
»Ja, das sehe ich selber.« Frost schaute missmutig drein. »Versucht es weiter. Dreht die Dinger in eine andere Richtung.«
Auch das funktionierte nicht, aber dafür begannen die Propeller Schlamm aufzuwirbeln. Vor ihren Augen wurde es trübe.
»Stopp!« Bohrmann wedelte mit seinen segmentierten Armen. »Aufhören da oben! Das hat keinen Zweck, ihr versaut uns nur die Sicht.«
Die Propeller kamen zur Ruhe. Die Schlammwolke verteilte sich und zog helle Schlieren. Vom unteren Schlauchende war kaum noch etwas zu erkennen.
»Na schön.« Frost öffnete eine flache Box seitlich des Exosuits und entnahm ihr zwei bleistiftgroße Gebilde. »Unser Problem ist der Riesenklotz da. Ich weiß, es wird dir nicht gefallen, Gärraad, aber wir müssen das Mistding wegsprengen.«
Bohrmanns Blick wanderte zu den Würmern, die den frei gesaugten Grund zunehmend wieder in Besitz nahmen.
»Das ist riskant«, sagte er.
»Wir nehmen eine kleine Sprengladung. Ich schlage vor, wir platzieren sie an der Basis, da, wo sich der Keil in den Grund gebohrt hat. Wir reißen ihm sozusagen die Beine weg.«
Bohrmann stieß sich ab, schwebte einen Meter in die Höhe und auf den Keil zu. Um ihn herum wurde es schlammig und trübe. Er schaltete die Helmbeleuchtung ein und ließ sich in die Sedimentwolke sinken. Vorsichtig ging er in die Knie und brachte seinen Helm so dicht wie möglich an die Stelle, wo der Brocken im Untergrund steckte. Mit den Greifern fegte er die Würmer beiseite. Einige stülpten blitzartig ihren Hakenschlund aus und versuchten, sich in den künstlichen Gliedmaßen zu verbeißen. Bohrmann schüttelte sie ab und untersuchte die Sedimentstruktur. Er sah feine, schmutzig weiße Adern. Als er mit dem Greifer hineinstieß, zersplitterte das umliegende Gestein, und feine Blasen trudelten ihm entgegen.
»Nein«, sagte er. »Das ist keine gute Idee.«
»Hast du eine bessere?«
»Ja. Wir nehmen eine größere Ladung, suchen im unteren Drittel des Brockens nach Einkerbungen und Spalten und sprengen ihn dort auseinander. Mit etwas Glück kippt der obere Teil ab, und wir ziehen den Untergrund nicht in Mitleidenschaft.«
»In Ordnung.«
Frost kam zu ihm in die Wolke. Sie stiegen ein Stück auf. Die Sicht wurde besser. Systematisch begannen sie den Keil auf geeignete Stellen zu untersuchen. Schließlich fand Frost eine tiefe Kerbe und drückte etwas hinein, das wie festes, graues Knetgummi aussah. Dann steckte er ein bleistiftdünnes Stäbchen in die Masse.
»Das müsste reichen«, sagte er befriedigt. »Wird ordentlich prasseln. Wir sollten weit genug weg sein.«
Sie schalteten die Trackhounds ein und ließen sich von ihnen bis zum Rand der beleuchteten Zone ziehen, wo sich der Hang nach wenigen Metern in völliger Schwärze verlor. Der Partikelflug hielt sich in Grenzen, sodass die Lichtwellen kaum von Algen und anderen Schwebstoffen reflektiert wurden, dennoch geschah der Übergang abrupt. Licht verschwand unter Wasser in der Reihenfolge seiner Wellenlängen — zuerst Rot nach zwei bis drei Metern, dann Orange, schließlich Gelb. Jenseits von zehn Metern behaupteten sich nur noch Grün und Blau, bis Absorption und Streuung auch diesen Restbetrag geschluckt hatten. Ab da hörte die Welt auf zu existieren.
Bohrmann widerstrebte es, sich aus der relativen Sicherheit des beleuchteten Abschnitts ins absolute Nichtvorhandensein zu wagen. Erleichtert registrierte er, dass Frost keinen größeren Sicherheitsabstand für nötig hielt. Wo sich das Blau im tintigen Schwarz verlor, entdeckte er schemenhaft einen Spalt in der Wand. Vielleicht lag eine Höhle dahinter. Er stellte sich vor, wie dieses Gestein damals rot glühend herabgeflossen war, ein zäher Brei, der langsam erkaltete und zu bizarren Formen erstarrte. Unwillkürlich wurde ihm kalt in seiner Rüstung. Kalt von der Vorstellung, hier unten ein Leben verbringen zu müssen.
Er sah hinauf zur Lichtinsel. Um die weißen Scheinwerfer im Gestänge erstrahlte nichts als eine blaue Aura.
»Gut«, sagte Frost. »Bringen wir’s hinter uns.«
Er betätigte den Zünder.
Aus der Mitte des Keils platzte ein großer Schwall Luftblasen, vermischt mit Splittern und Staub. Es wummerte in Bohrmanns Helm. Ein dunkler Ring breitete sich aus, weitere Luftblasen folgten und trugen die Trümmerstücke nach allen Seiten davon.
Er hielt den Atem an.
Langsam, ganz langsam begann sich die obere Hälfte des Keils zu neigen.
»Yeah!«, schrie Frost. »Der Herr ist mein Zeuge!«
Immer schneller kippte der Keil, gezogen von seinem eigenen Gewicht. Er brach in der Mitte über die noch stehende Hälfte hinweg, schlug neben der Röhre auf und erzeugte eine neue, noch gewaltigere Sedimentwolke. Frost schaffte es, in seiner schweren Montur Sprünge zu vollführen und mit den Armen zu wedeln. Er sah aus wie Armstrong, der für Amerika über den Mond hüpfte.
»Halleluja! He, van Maarten! Mijnheer! Wir haben das Scheißding kleingekriegt. Los, versuchen Sie Ihr Glück.«
Bohrmann hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Erschütterung keine weiteren Abbruche nach sich ziehen würde. Im aufgewirbelten Schlamm hörte er die Motoren starten, und plötzlich bewegte sich der Schlauch. Er krümmte sich, dann hob sich der Schlund wie der Kopf eines gigantischen Wurms aus der Wolke und stieg langsam nach oben. Die Öffnung wandte sich in seine, dann in die entgegengesetzte Richtung, als erkunde das Ding sein Umfeld. Hätte Bohrmann nicht gewusst, was er da vor sich hatte, er wäre sich vorgekommen wie halb verspeist.
»Es klappt!«, schrie Frost.
»Ihr seid die Größten«, bemerkte van Maarten trocken.
»Das ist nichts Neues«, versicherte ihm Frost. »Schalten Sie ihn wieder ab, bevor er Gärraad und mich frisst. Wir sehen uns nochmal die Stelle an, wo er gelegen hat. Dann kommen wir hoch.«
Der Schlauch stieg ein weiteres Stück, ließ sein rundes Maul sinken und baumelte leblos im Licht. Frost schwamm los. Bohrmann folgte ihm. Sein Blick wanderte zur Insel und wieder zurück. Etwas irritierte ihn, ohne dass er zu sagen vermochte, was es war.
»Trübe Angelegenheit«, meinte Frost angesichts der Wolke. »Sieh mal nach dem Rechten, Gärraad. Du erkennst in der Brühe mehr als ich.«
Bohrmann schaltete den Scheinwerfer seines Trackhounds ein. Dann überlegte er es sich und schaltete ihn wieder aus.
Was war da? Spielten ihm seine Sinne einen Streich?
Sein Blick wanderte erneut zur Lichtinsel. Diesmal sah er länger hinauf. Es kam ihm vor, als verströmten die Strahler ein stärkeres Licht als zuvor, aber das war unmöglich. Sie hatten die ganze Zeit über ihre volle Leuchtkraft entfaltet.
Es waren nicht die Strahler. Es war die blaue Aura. Sie hatte sich vergrößert.
»Siehst du das?«, Bohrmann deutete mit dem Arm zur Insel. Frost folgte der Bewegung mit Blicken.
»Ich kann nichts …« Er stockte. »Na so was.«
»Das Licht«, sagte Bohrmann. »Das blaue Leuchten.«
»Ariel und Uriel«, flüsterte Frost. »Du hast Recht. Es breitet sich aus.«
Um die Insel hatte sich ein großer, dunkelblauer Hof gebildet. Entfernungen waren unter Wasser schwer einzuschätzen, zumal der Lichtbrechungsindex alles ein Viertel näher und ein Drittel größer erscheinen ließ, aber eindeutig lag die Quelle des blauen Leuchtens ein ganzes Stück hinter der Insel. Die Halogenlampen im Gestänge blendeten ihn. Dennoch war es Bohrmann, als sehe er Blitze zucken. Dann verlor das Blau plötzlich an Intensität, wurde schwächer und erlosch.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Bohrmann. »Ich denke, wir sollten aufsteigen.«
Frost antwortete nicht. Er starrte weiter auf die Insel.
»Stan? Hörst du? Wir sollten …«
»Nicht so hastig«, sagte Frost langsam. »Wir bekommen nämlich gerade Besuch.«
Er zeigte zum oberen Rand der Insel. Zwei längliche Schatten flitzten dort entlang. Blau beschienene Bäuche.
Im nächsten Moment waren sie verschwunden.
»Was war das?«
»Ganz ruhig, Junge. Schalt dein POD ein.«
Bohrmann drückte gegen den Sensor am Bauch des Exosuits.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, sagte Frost. »Ich dachte, wenn ich dir erzähle, wozu es gut ist, wirst du vielleicht nervös und hältst ständig nur Ausschau nach …«
Weiter kam er nicht. Mitten aus dem Gestänge schossen zwei torpedoförmige Leiber hervor. Bohrmann sah bizarr geformte Köpfe. Die Tiere kamen geradewegs auf sie zu, mit unglaublicher Geschwindigkeit, die Kiefer vorgestülpt, die Mäuler weit offen. Wie eine Faust aus Eis schloss sich die Angst um sein Herz. Er stieß sich ab, trudelte nach hinten und hob schützend die Arme vor den Helm. Keine dieser Reaktionen ergab wirklich Sinn, aber soeben triumphierten die Instinkte der Frühzeit über seinen zivilisierten, hoch technisierten Geist. Sie befahlen ihm aufzuschreien, und Bohrmann gehorchte.
»Sie können dir nichts tun«, sagte Frost mit Nachdruck.
Dicht vor ihm drehten die Angreifer ab. Bohrmann schnappte nach Luft und kämpfte die Panik herunter. Frost schwamm mit schnellen Flossenschlägen an seine Seite.
»Wir haben das POD bereits getestet«, sagte er. »Es funktioniert.«
»Was zum Teufel ist denn ein POD?«
»Ein Protective Ocean Device. Der beste Schutz gegen Haie. Das POD baut ein elektrisches Feld auf, das dich wie ein Schutzwall umgibt. Sie kommen nicht näher als fünf Meter an dich heran.«
Bohrmann keuchte und versuchte, den Schock zu verwinden. Die Tiere waren in weitem Bogen hinter der Lichtinsel verschwunden.
»Die waren näher als fünf Meter«, sagte er.
»Nur beim ersten Mal. Jetzt haben sie ihre Lektion gelernt. Beruhige dich. Haie verfügen über hoch empfindliche elektrosensorische Organe. Das Feld überflutet sie mit Reizen und stört ihr Nervensystem. Es verursacht ihnen schmerzhafte Muskelkrämpfe. Wir haben Weißhaie und Tigerhaie mit Ködern angelockt und dann das POD aktiviert, und sie konnten das Feld nicht durchdringen.«
»Dr. Bohrmann? Stanley?« Van Maartens Stimme.
»Seid ihr okay?«
»Alles in Ordnung«, sagte Frost.
»POD hin, POD her, ihr solltet hoch kommen.«
Bohrmanns Augen suchten nervös die Lichtinsel ab. Was Frost ihm da erzählte, wusste er zum größten Teil. Haie besaßen im vorderen Bereich ihres Kopfes kleine Gruben, so genannte Lorenzinische Ampullen. Selbst schwächste elektrische Impulse nahmen sie damit wahr, wie sie durch Muskelbewegungen anderer Tiere erzeugt wurden. Er hatte nur nicht gewusst, dass es ein POD gab, mit dem man den elektrischen Sinn stören konnte.
»Das waren Hammerhaie«, sagte er.
»Große Hammerhaie, ja. Jeder um die vier Meter, schätze ich.«
»Scheiße.«
»Bei Hammerhaien funktioniert es besonders gut.« Frost kicherte. »Guck dir ihren Quadratschädel an. Sie haben mehr Lorenzinische Ampullen als jeder andere Hai.«
»Und jetzt?«
Er sah eine Bewegung. Aus dem Dunkel hinter der Insel kamen die beiden Haie erneut zum Vorschein. Bohrmann rührte sich nicht. Er beobachtete, wie die Tiere zum Angriff übergingen. Zielstrebig, ohne die typischen pendelnden Kopfbewegungen, mit denen Haie Duftspuren im Wasser folgten, stießen sie herab, um plötzlich abzustoppen, als seien sie gegen eine Mauer geschwommen. Ihre Mäuler verzerrten sich. Verwirrt schwammen sie ein Stück in die entgegengesetzte Richtung, dann kehrten sie zurück und begannen die Taucher nervös, aber in respektvollem Abstand zu umkreisen.
Es funktionierte tatsächlich.
Frost durfte mit seiner Einschätzung richtig liegen. Jedes der Exemplare maß gut und gern vier Meter. Der Körper war haitypisch. Hingegen wies ihr Kopf eine höchst eigentümliche Form auf, die den Tieren ihren Namen eingetragen hatte. Die Seiten waren zu abgeflachten Flügeln verlängert, an deren äußeren Enden sich Augen und Nasenöffnungen befanden. Die Vorderkante des Hammers war glatt und gerade wie ein Beil.
Langsam begann er sich besser zu fühlen. Wahrscheinlich hatte er sich wie ein Idiot verhalten. Er schätzte, dass die Tiere nicht mal in der Lage waren, dem Exosuit etwas anzuhaben.
Dennoch wollte er weg.
»Wie lange brauchen wir nach oben?«, fragte er.
»Wenige Minuten mit dem Trackhound. Nicht länger als runter. Wir schwimmen über die Lichtinsel. Dort schalten wir die Programmierung ein und lassen uns hoch ziehen.«
»In Ordnung.«
»Nicht vorher einschalten, hörst du? Sonst rasselst du mir noch in die Beleuchtung!«
»Okay.«
»Geht’s dir gut?«
»Ja, verdammt! Alles bestens. Wie lange hält der Schutz?«
»Das POD holt locker vier Stunden aus dem Akku.« Frost stieg mit gleichmäßigen Flossenschlägen nach oben, die Konsole des Trackhounds im Greifer des rechten Arms. Bohrmann folgte ihm.
»Tja, ihr Lieben«, sagte Frost. »Wir müssen euch leider verlassen.«
Die Haie nahmen die Verfolgung auf. Sie versuchten, näher heranzukommen. Ihre Körper zuckten, die Mäuler verzerrten sich. Frost lachte und paddelte weiter auf die Lichtinsel zu. Seine Silhouette hing klein und bläulich vor der riesigen, leuchtenden Fläche, die Konturen überstrahlt. Weiß und Blau, die Farben der Tiefe.
Bohrmann dachte an die blaue Wolke, die sie in der Ferne gesehen hatten.
Natürlich!
Plötzlich fiel sie ihm wieder ein. Vor lauter Schreck hatte er völlig vergessen, dass sie sich unmittelbar vor dem Erscheinen der Haie gebildet hatte. Dasselbe Phänomen war für die Veränderung der Wale verantwortlich gewesen und wahrscheinlich für eine ganze Reihe weiterer Anomalien und Katastrophen. Wenn das stimmte, hatten sie es nicht mit gewöhnlichen Haien zu tun.
Warum waren die Tiere überhaupt hier? Haie hörten ausgezeichnet. Vielleicht hatte sie der Krach angelockt. Aber warum griffen sie an? Weder er noch Frost sonderten irgendwelche Düfte ab. Sie passten nicht ins Beuteschema. Überhaupt waren Haiattacken auf Menschen im tiefen Wasser äußerst selten.
Sie näherten sich dem oberen Rand der Insel.
»Stan? Mit den beiden ist irgendwas nicht in Ordnung.«
»Sie können dir nichts tun.«
»Trotzdem.«
Einer der Haie drehte seinen flachen, breiten Kopf und schwamm ein Stück abseits.
»Obwohl, ganz Unrecht hast du nicht«, sinnierte Frost. »Was mich stutzig macht, ist die Tiefe. Große Hammerhaie sind nie tiefer als 80 Meter beobachtet worden. Ich frage mich, was sie hier …«
Der Hai drehte um. Einen Moment stand er still, den Kopf leicht angehoben, den Rücken nach oben gewölbt, die klassische Drohstellung. Dann schlug er mehrmals heftig mit dem Schwanz und raste pfeilgerade auf Frost zu. Der Vulkanologe war so überrascht, dass er nicht einmal den Versuch einer Abwehr unternahm. Das Tier bäumte sich kurz und heftig auf, dann schwamm es in das Feld und rammte Frost mit der Breitseite seines Körpers.
Frost drehte sich wie ein Kreisel um seine Achse, Arme und Beine gespreizt.
»He!« Die Konsole entfiel seinem Greifer. »Was zum Donnerwetter …«
Über dem Gestänge tauchte wie aus dem Nichts ein dritter Körper auf. Er schnellte über die obere Reihe der Scheinwerfer mit unheimlicher Eleganz. Dunkel, hohe Rückenflosse, hammerförmiger Kopf.
»Stan!«, schrie Bohrmann.
Der Neuankömmling war riesig, weit größer als die beiden anderen Haie. Sein Hammer klappte nach oben, als er die Zahnreihen vorstülpte und den Rachen weit aufriss. Er packte Frosts rechten Oberarm und begann daran zu rütteln.
»Scheiße«, zeterte Frost. »Was ist das denn für ein Vieh? Ausgeburt der Hölle! Lässt du mich wohl los, du …«
Der Hammerhai schüttelte wild seinen großen, eckigen Kopf, wobei er mit der Schwanzflosse gegensteuerte. Er musste zwischen sechs und sieben Meter messen. Frost wurde hin-und hergewirbelt wie ein Blatt. Sein gepanzerter Arm war bis zur Schulter im Maul des Hais verschwunden.
»Hau ab!«, schrie er.
»Um Gottes willen, Stan«, rief van Maarten. »Schlag ihm auf die Kiemen. Versuch, seine Augen zu erreichen.«
Natürlich, dachte Bohrmann. Oben sehen sie zu. Sie sehen alles!
Er hatte sich mitunter gefragt, wie es wäre, einem solchen Riesen zu begegnen, von ihm angegriffen zu werden oder mitzuerleben, wie jemand anderer angegriffen wurde. Die Vorstellung versagte an der Wirklichkeit. Weder war Bohrmann ausgesprochen mutig noch besonders ängstlich. Manche fanden, er sei ein Abenteurer. Sich selber hätte er als couragiert beschrieben, als jemanden, der Risiken nicht scheute, aber auch nicht herausforderte. Aber wie immer die Charakterisierung in der Vergangenheit ausgefallen war, nichts davon galt mehr in diesem Moment, angesichts des kolossalen Angreifers.
Bohrmann floh nicht, er schwamm darauf zu.
Einer der kleineren Haie näherte sich ihm von der Seite. Seine Augen zuckten, die Kiefer blähten sich krampfartig. Offenbar kostete es ihn große Überwindung, in das elektrische Feld zu schwimmen. Dennoch beschleunigte er und rempelte Bohrmann an.
Es war, als kollidiere man mit einem heranrasenden Auto.
Bohrmann wurde auf die Seite geschleudert. Er trieb auf die Lichtinsel zu. Sein einziger Gedanke war, dass er die Konsole nicht loslassen durfte, ganz gleich, was passierte. Der Trackhound war seine Rückfahrkarte. Ohne die Kursprogrammierung würde er in der Dunkelheit umherirren, bis seine Sauerstof fres erven verbraucht waren. Sofern er lange genug lebte.
Plötzlicher Wasserdruck erfasste ihn und drückte ihn in die Tiefe. Der Schwanz des großen Hais peitschte über ihn hinweg. Bohrmann versuchte, die Kontrolle über seine Bewegungen zurückzuerlangen, und sah die beiden kleineren Haie gemeinsam herankommen. Ihre Kiefer schnappten auf und zu. Sie waren der Lichtinsel nun so nahe, dass im ozeanischen Blau ihre natürliche Färbung zu sehen war. Über dem weißlichen Bauch spannte sich ein bronzefarbener Rücken. Zahnfleisch und Racheninneres leuchteten rosaorange wie frisch aufgeschnittenes Lachsfleisch, bestückt mit den charakteristischen dreieckigen Dolchen im Oberkiefer und spitzeren Fangzähnen unten. Fünf hintereinander liegende, stahlharte Reihen, bereit, alles zu zerkleinern, was zwischen sie geriet.
»Gäärrraaad!«, schrie Frost.
Bohrmann sah gegen das Licht der Halogenleuchten, wie Frost mit dem freien Greifer auf den Kopf des großen Hammerhais einschlug. Dann plötzlich riss der Hai mit einer einzigen Kopfbewegung den gepanzerten Arm des Exosuit aus der Schulterhalterung und schleuderte ihn von sich. Sauerstoff wirbelte in dicken Blasen aus der Öffnung hervor. Die Kiefer klappten auseinander, schlossen sich um Frosts ungeschützten Arm und bissen ihn unterhalb des Schultergelenks ab.
Eine Wolke von Blut breitete sich dunkel aus, vermischt mit Blasen. Unglaublich viel Blut, das von den peitschenden Bewegungen des Hais sofort verteilt wurde. Frost schrie keine Worte mehr, nur noch unartikuliert und schrill, dann wurde ein Gurgeln daraus, als das Meerwasser in seinen Anzug schoss und ihn ausfüllte. Das Schreien verstummte. Die kleineren Haie verloren augenblicklich das Interesse an Bohrmann. Was immer sie steuerte, kurzzeitig übernahm der natürliche Fressrausch das Kommando über ihr Verhalten. Sie stürzten sich in den schäumenden Wirbel, verbissen sich im leblosen Körper des Vulkanologen, wirbelten ihn herum und versuchten, die Panzerung zu durchbeißen.
Auch van Maartens schrie, überlagert von Störgeräuschen.
Bohrmanns Gedanken überschlugen sich. Er fühlte den lähmenden Schock. Zugleich arbeitete ein Teil seines Verstandes glasklar und sagte ihm, dass er nicht auf die Instinkte der Tiere vertrauen durfte. Ihre Kraft und Fresslust wurden manipuliert. Es ging nicht ums Fressen. Der Instinkt brach sich Bahn, aber dem Zeug, das in ihren Köpfen sitzen musste, war einzig daran gelegen, die Menschen hier unten zu töten.
Er musste zurück zur Felswand.
Sein linker Greifer schlug gegen das Tastenfeld der Konsole. Wenn er jetzt den falschen Schalter erwischte, würde er die Programmierung aktivieren, die ihn rauf zur Heerema brachte. Dann wäre er verloren, nachdem das POD-Feld die Haie nicht mehr abhielt. Aber er drückte die richtige Taste. Der Propeller schnurrte los. Hastig bewegte er den Joystick so, dass ihn der Hund von der Lichtinsel weg— und auf die Felswand zuzog. Er spürte die Beschleunigung, doch im Gegensatz zum Abstieg, als ihm der kleine Roboter wendig und schnell vorgekommen war, schien er nun unerträglich langsam dahinzudümpeln.
Bohrmann schlug mit den Flossen und glitt ins Blaue, der Terrasse entgegen. Es gab nicht viel, was man in einer solchen Situation tun konnte, aber eine der Regeln für Taucher besagte, dass Felsen Rückendeckung gaben. Bohrmann trieb auf die schwarze Lavawand zu. Unmittelbar davor drehte er bei und starrte hoch zur Lichtinsel. Die Blutwolke hatte sich ausgebreitet, zuckende Schwänze und Flossen darin, schäumende Wirbel. Teile von Frosts Anzug sanken herab. Der Anblick war grauenhaft, aber was ihn wirklich entsetzte, war nicht das Gemetzel selber. Es war die Tatsache, dass nur noch zwei Haie daran beteiligt waren.
Der große fehlte.
Lähmende Furcht überkam Bohrmann. Er schaltete den Propeller aus und schaute sich um.
Der große Hammerhai stieß aus der Sedimentwolke hervor, das Maul weit gedehnt. Mit atemberaubender Geschwindigkeit glitt er heran. Diesmal setzte Bohrmanns Verstand aus. Er verfing sich in der Frage, ob er den Trackhound wieder einschalten sollte oder nicht, da prallte der keilförmige Kopf auch schon mit Gewalt gegen ihn. Der Aufprall schleuderte Bohrmann gegen die Felswand. Mit hohlem Krachen landete er auf dem Gestein. Der Hai schwamm weiter, beschrieb einen engen Bogen und kehrte im Tempo eines Rennwagens zurück. Bohrmann schrie auf. Die Welt verwandelte sich in einen Abgrund aus Rachen und Zähnen, dann verschwand seine komplette linke Seite in dem klaffenden Maul, von der Schulter bis zur Hüfte.
Das war’s, dachte er.
Ohne innezuhalten, glitt der Hai über den Hang und schob ihn durchs Wasser. Es rauschte und dröhnte in seinen Kopfhörern. Auf der Titaniumhülle des Exosuits knirschten vernehmlich die Zähne. Der Kopf des Hais pendelte hin und her, sodass der Helm mehrfach gegen den Felsen schlug und daran entlangschrammte. Alles drehte sich. Die Titaniumlegierung war robust genug, solche Schläge eine Zeit lang wegzustecken, aber dafür knallte Bohrmanns Kopf im Innern gegen die Innenseiten, dass ihm Hören und Sehen verging. Er war absolut hilflos, sein Schicksal besiegelt. Er würde zersäbelt und zerlegt werden. Sein Leben war keinen Atemzug mehr wert.
Und genau diese Hilflosigkeit entfachte seine Wut.
Noch atmete er.
Noch konnte er sich wehren!
Über ihm erstreckte sich die gerade Kontur der Hammers. Die Kopfbreite des Hais bemaß sich auf über ein Viertel seiner Körperlänge, sodass die seitlichen Auswölbungen weit auseinander standen. Bohrmann sah nur die Kante, kein Auge und kein Nasenloch. Er begann, mit der Konsole darauf einzuprügeln. Damit schien er keinen großen Eindruck auf das Tier zu machen. Der Hai stieß ihn weiter voran, der Lichtgrenze zu, dort, wo sie die Explosion abgewartet hatten. Wenn sie einmal im schwarzen Wasser waren, würde er das Tier nicht einmal mehr sehen können.
Sie durften das Licht nicht verlassen.
Bohrmanns Wut wuchs ins Maßlose. Sein linker Arm, der im Rachen steckte, fuhr hoch und schlug gegen die Gaumenplatte. Eigentlich konnte er von Glück sagen, dass der Hai gleich seine ganze Seite verschluckt hatte. Hätte er nur einen Arm oder ein Bein gepackt, wäre es ihm längst ergangen wie Frost, aber der Panzer um die Körpermitte wies keinerlei Schwachstellen wie Gelenkringe auf. Er war zu groß und zu massiv, um ihn einfach durchzubeißen, selbst für diesen Koloss. Auch der Hai schien das begriffen zu haben. Er schüttelte seinen Kopf noch stärker. Bohrmann war kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Wahrscheinlich hatte er schon mehrere Rippenbrüche zu beklagen, aber je wilder ihn das Tier herumwirbelte, desto wütender wurde er. Er bog den rechten Arm nach hinten, wo der Hammerkopf endete, holte aus und ließ die Konsole mehrfach darauf niederkrachen …
Plötzlich war er frei.
Der Hai hatte ihn ausgespuckt. Offenbar hatte er eine empfindliche Stelle getroffen, ein Auge oder ein Nasenloch. Der riesige Körper schnellte aufwärts an ihm vorbei und schleuderte ihn gegen den Felsen. Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als ergreife der Hai die Flucht. Bohrmann überlegte fieberhaft, wie er die Situation nutzen konnte. Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, was den Aufstieg zur Heerema betraf. Vorübergehend hatte er das Tier von sich abgebracht, aber ihm blieben allenfalls ein paar Sekunden. Hastig zog er den Trackhound zu sich heran und umklammerte die schlanke Röhre mit beiden Armen.
Um keinen Preis durfte er ihn verlieren.
Der Hai verschwand in der Dunkelheit und kam ein Stück weiter entfernt wieder daraus hervor, ein blauer Schemen.
Bohrmann sah gehetzt zu Wand.
Da war der Höhlenspalt!
In einiger Entfernung glitt der gewaltige Leib des Hammerhais tiefer in die offene See. Bohrmann schob sich entlang der Wand auf den Spalt zu. Unterhalb der Lichtinsel sah er die beiden anderen Haie immer noch um Frosts Überreste kämpfen. Die Gruppe sank abwärts, aus der beleuchteten Zone hinaus. Er fragte sich, wann sie von dem zerfetzten Körper ablassen und herüberschwimmen würden, und dann fragte er sich gar nichts mehr. Im Zwielicht vollzog der große Hai eine unglaublich schnelle Kehrtwendung und kam zurück.
Bohrmann schob sich in den Spalt.
Es war eng darin. Der Anzug mit den im Rückenteil verankerten Flaschen behinderte ihn, sodass er kaum hineinkam. Schraubstockartig wurden seine Arme an die Seiten gedrückt. Er versuchte, sich tiefer in die Höhle zu quetschen, und da war der Hai auch schon heran.
Die Knochenplatte des Hammers krachte gegen die Felsränder. Das Tier prallte zurück. Sein Kopf war zu breit, um hineinzugelangen. Es schwamm einen Kreis, der so eng war, dass es aussah, als verfolge es seinen eigenen Schwanz, und stieß ein weiteres Mal vor.
Lavabröckchen lösten sich in Wolken vom Höhleneingang und trübten die Sicht. Bohrmann presste die Arme noch dichter an den Körper. Er hatte keine Ahnung, wie weit der Spalt ins Gestein reichte. Der Hai wütete draußen am Felsen und wirbelte Sediment und Splitter auf. Die Wolke umhüllte Bohrmann in seiner Höhle. Das blaue, hereinscheinende Licht der Insel verschwand fast völlig.
»Dr. Bohrmann?«
Van Maarten. Sehr schwach.
»Bohrmann, um Himmels willen, antworten Sie!«
»Ich bin hier.«
Van Maarten stieß ein Geräusch aus, vielleicht einen Seufzer der Erleichterung. Er war kaum zu verstehen im Getöse, das der Hai veranstaltete. Lärm unter Wasser war etwas völlig anderes als an der Luft, ein dumpfes, hohl polterndes Gebräu aus allen möglichen, einander überlagernden Schwingungen. Bohrmann begann zu zittern, und plötzlich hörte der Ansturm auf. Er klemmte in seiner Spalte, blind im schwarzen Partikelnebel. Das Licht der Insel war nur zu ahnen.
»Ich stecke in einer Felsritze«, sagte er.
»Wir schicken die Roboter nach unten«, sagte van Maarten. »Und zwei Männer. Wir haben noch zwei Anzüge.«
»Vergessen Sie’s. Das POD funktioniert nicht.«
»Ich weiß. Wir haben gesehen, was mit Frost …« Van Maartens Stimme versagte. »Die Männer kommen trotzdem, sie haben Harpunen mit Explosivgeschossen dabei und …«
»Explosivgeschosse? Was für eine glänzende Idee!«, sagte Bohrmann mit ätzender Stimme.
»Frost war überzeugt, dass ihr so was nicht braucht.«
»Nein. Schon klar.«
»Das POD hat immer einwandfrei …«
Etwas rammte Bohrmann frontal und stieß ihn mit Wucht tiefer ins Innere des Spalts. Er war dermaßen überrascht, dass er zu schreien vergaß. Im trüben Restlicht sah er den Hammer. Er war senkrecht gegen ihn geprallt. Der Hai versuchte, auf der Seite liegend in die Höhle zu schwimmen.
Cleveres Kerlchen, dachte er grimmig. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Aber das wird dir schlecht bekommen.
Er drosch auf den Hammer ein, bemüht, den Hund nicht loszulassen. Undeutlich sah er die Kiefer darunter auf— und zuklappen. Haie konnten nicht rückwärts schwimmen. Der eckige Kopf schlug auf und nieder, aber die Kiefer erreichten ihn nicht. Das Auge im oberen Ende rollte wild hin und her. Bohrmann hob den Greifer mit der Konsole und ließ sie darauf niedersausen.
Der Hammer zuckte zurück.
Allein wird er hier nicht rauskommen, dachte Bohrmann. Er begann, den Trackhound mit aller Kraft gegen den Schädel zu drücken. So tief konnte der Hai noch nicht eingedrungen sein. Wie weit ging die Kontrolle der Gallerte? Sie steuerte das Verhalten der Tiere, aber konnte sie einen Hai auch dazu bringen, rückwärts zu schwimmen?
Offenbar ja, denn der Hammer verschwand aus der Höhle.
Es war das große Tier gewesen.
Bohrmann wartete.
Wieder stieß etwas aus der Wolke. Dieser Hammer kam waagerecht herangesaust. Eines der kleineren Tiere. Sein Kopf donnerte gegen das gewölbte Sichtfenster des Helms. Die Kiefer klappten auseinander, Zahnreihen schrammten über das Plexiglas. Der Hai verdunkelte die Öffnung des Spalts so sehr, dass Bohrmann jetzt so gut wie gar nichts mehr sah, aber das bisschen reichte ihm. Er versuchte, sich noch weiter ins Innere des Spalts zu drücken, und plötzlich schienen die Wände nachzugeben. Er stürzte rückwärts ins Nichts.
Pechschwarze Finsternis.
Fahrig bewegte er den linken Greifer über die Konsole. Der Schalter für die Lampe des Trackhounds lag oberhalb der Programmiertasten. Eben hatte er doch noch …
Wo war die verdammte Taste?
Da!
Der Scheinwerfer flammte auf. Im wandernden Licht erkannte er, dass sich der Spalt zu einer geräumigen Höhle geöffnet hatte. Er richtete den Lichtkegel auf die Öffnung und sah den Kopf des Hais darin auftauchen. Der Hammer schwenkte hin und her, aber das Tier kam nicht weiter ins Innere.
Was ist los?, dachte Bohrmann.
Dann begriff er.
Der Hai steckte fest.
Er holte aus und schlug wie wahnsinnig auf den kastenförmigen Schädel ein. Wahrscheinlich hing das Tier schon zur Hälfte im Spalt. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es keine gute Idee war, den Hai so sehr zu verletzen, dass er blutete, und er drückte mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Unter Wasser war es damit nicht weit her, also stieß er sich ab und ließ sich gegen den schnappenden Kopf fallen, mit Brustkorb, Schultern und Armen, immer wieder, bis der Hai langsam zurückwich. Der Lichtkegel des Trackhounds zuckte hin und her, erhellte den rosa Schlund mit den pulsierenden Kiemenöffnungen.
Dein verdammtes Problem, wie du hier rauskommst, dachte Bohrmann. Aber ich will, dass du hier rauskommst! Das ist meine Höhle, also verpiss dich!
»Verpiss dich!«
»Dr. Bohrmann?«
Der Hai wich weiter zurück. Dann war er verschwunden.
Bohrmann ließ sich zurückfallen. Seine Arme zuckten. Er stand dermaßen unter Spannung, dass er einen Moment nicht wusste, wie er es schaffen sollte stillzuhalten. Plötzlich fühlte er namenlose Erschöpfung über sich kommen und sank in die Knie.
»Dr. Bohrmann?«
»Gehen Sie mir nicht auf den Sack, van Maarten.« Er hustete. »Tun Sie irgendwas, um mich hier rauszuholen.«
»Wir werden die Roboter und die Männer unverzüglich losschicken.«
»Wozu der Roboter?«
»Wir bringen alles nach unten, was die Tiere ängstigen und ablenken könnte.«
»Das sind keine Tiere. Das sind die Hüllen von Tieren. Sie wissen, was ein Roboter ist. Sie wissen ganz genau, was wir hier tun.«
»Haie?«
Frost hatte van Maarten offenbar nicht alles erzählt.
»Ja, Haie. Es sind ebenso wenig Haie, wie die Wale noch Wale sind. Etwas steuert sie. Die Männer sollen sich vorsehen.« Er musste erneut husten, diesmal heftiger. »Ich sehe nichts in der blöden Höhle. Was passiert da draußen?«
Van Maarten schwieg einen Moment.
»Mein Gott«, sagte er.
»He! Reden Sie mit mir.«
»Es sind weitere Tiere aufgetaucht. Dutzende. Hunderte! Sie zertrümmern die Scheinwerfer der Lichtinsel. Sie schlagen alles kurz und klein.«
Natürlich tun sie das, dachte Bohrmann. Darum geht es ja. Uns davon abzubringen, die Würmer wegzusaugen. Nur darum geht es.
»Dann vergessen Sie’s.«
»Wie bitte?«
»Vergessen Sie Ihre Rettungsaktion, van Maarten.«
Es rauschte so sehr im Helm, dass van Maarten seine Antwort wiederholen musste.
»Aber die Männer sind bereit.«
»Sagen Sie denen, da unten erwarten sie intelligente Lebewesen. Diese Haie sind intelligent. Das Zeug in ihren Köpfen ist intelligent. Es wird nicht funktionieren mit zwei Tauchern und einem Blechkameraden. Denken Sie sich was anderes aus. Ich hab ja noch für knapp zwei Tage Sauerstoff.«
Van Maarten zögerte.
»In Ordnung. Wir beobachten die Sache. Vielleicht ziehen sich die Tiere in den nächsten Stunden zurück. Glauben Sie, dass Sie in Ihrer Höhle fürs Erste sicher sind?«
»Was weiß denn ich? Vor gewöhnlichen Haien bin ich sicher, aber der Einfallsreichtum unserer Freunde kennt keine Grenzen.«
»Wir holen Sie da raus, Gerhard! Bevor Ihnen die Luft ausgeht.«
»Ich bitte sehr darum.«
Allmählich fiel wieder etwas Licht in den Spalt. Die Strömung am Vulkansockel trug die Sedimentpartikel mit sich fort. Wenn es stimmte, was van Maarten sagte, würde das Licht bald erlöschen.
Dann wäre er allein in der finsteren See. Bis irgendwann jemand kam, um es mit ein paar Hundert Hammerhaien aufzunehmen.
Mit der fremden Intelligenz.
Kein Hai, der seine naturgegebenen Sinne beisammen hätte, wäre je in das elektrische Feld geschwommen. Kein Hammerhai hätte zwei Taucher in Exosuits angegriffen, und falls doch, hätte er schnell wieder von ihnen abgelassen. Hammerhaie galten als potenziell gefährlich und mitunter enervierend neugierig, meist aber machten sie einen Bogen um alles, was ihnen suspekt erschien.
Normalerweise schwammen sie auch nicht in Felsspalten.
Bohrmann kauerte in seiner Höhle, versehen mit Sauerstoff für weitere 20 Stunden und einem nicht funktionierenden Haiabwehrsystem. Er hoffte, es würde kein weiteres Gemetzel geben, wenn van Maartens Leute herunterkamen. Wann immer sie kamen.
Ein Gemetzel in lichtloser Finsternis.
Er schaltete den Scheinwerfer seines Trackhounds aus, um die Batterien zu schonen. Sofort umgab ihn tintige Schwärze. Nur sehr schwach drang Licht durch den Spalt. Es wurde zusehends schwächer.
Johanson fand keine Ruhe.
Er war im Welldeck gewesen, wo Lis Männer unter der Aufsicht Rubins soeben die Überführung der Gallertmasse in den Simulator vorbereiteten. Der Tank wurde komplett geleert und dekontaminiert. Die Pfisteria -verseuchten Krabben wanderten in flüssigen Stickstoff. Alles geschah unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Johanson und Oliviera waren übereingekommen, mit den Phasentests zu beginnen, sobald sich die Masse im Tank befand. Während Crowe und Shankar über der Entschlüsselung des zweiten Scratch-Signals zusammensaßen, besprachen sie sich und legten die Testfolge fest.
»Der Schrecken sitzt tief«, hatte Li in einer kurzen, improvisierten Ansprache gesagt. »Wir alle sind zutiefst betroffen. Man hat versucht, uns zu demoralisieren, zu vernichten. Aber davon dürfen wir uns nicht lähmen lassen. Sie werden sich fragen, ob dieses Schiff noch sicher ist, und ich kann Ihnen antworten: Ja, es ist sicher! Solange wir dem Gegner keine Gelegenheit mehr geben einzudringen, haben wir an Bord der Independence nichts zu befürchten. — Aber dennoch ist Eile geboten. Wir dürfen nicht nachlassen in unseren Bemühungen, Kontakt herzustellen. Jetzt erst recht. Wir müssen die anderen davon überzeugen, den Terror gegen die menschliche Rasse zu stoppen!«
Johanson ging hinauf aufs Flugdeck, wo der Bordservice damit befasst war, die Überreste der abgebrochenen Party beiseite zu schaffen. Die Sonne stand wieder am Himmel, das Meer sah aus wie gewohnt. Kein blaues Leuchten, keine Blitze. Kein Traum aus Licht, der sich zum Alptraum wandelte.
Er kehrte zurück zum Ausgangspunkt seiner Gedanken, bevor Li ihm den Rotwein gebracht und versucht hatte, ihn über sein nächtliches Abenteuer auszuquetschen. Zweierlei hatte er sehr schnell begriffen. Erstens, Li wusste, was wirklich geschehen war. Zweitens, sie war nicht sicher, woran er sich erinnerte und ob er die Wahrheit sagte, und das bereitete ihr Sorgen.
Sie hatten ihn belogen. Er war nicht gestürzt.
Dabei hatte er kurz davor gestanden, es zu akzeptieren. Hätte Oliviera nicht auf der Rampe zu ihm gesagt, er habe in der vorangegangenen Nacht Rubin zu sehen geglaubt, wie er durch eine geheime Tür im Hangardeck ging, hätte er sich auch daran nicht mehr erinnert und sich folgsam mit der Erklärung zufrieden gegeben, die Angeli und die anderen ihm verordnet hatten. Aber Olivieras Bemerkung hatte etwas in Gang gesetzt. Sein Gehirn begann sich zu reprogrammieren. Rätselhafte Bilder entstanden und vergingen. Während er die gleichförmig bewegte See anstarrte, richtete er seinen Blick nach innen. Plötzlich saß er wieder mit Oliviera auf der Kiste, sie tranken Wein, und er sah Rubin durch die Tür in der Hangarwand treten. Sie war ein Stück weit weg gewesen, diese Tür, aber ein anderes Bild suggerierte ihm, dicht davor zu stehen — für Johanson Beweis genug, dass es diesen rätselhaften Durchgang gab.
Aber was war danach geschehen?
Sie waren runter ins Labor gegangen. Dann war er zurückgekehrt ins Hangardeck. Wozu? Hatte es etwas mit dieser Tür zu tun gehabt?
Oder bildete er sich alles nur ein?
Du könntest alt und wunderlich geworden sein, ohne es zu merken, dachte er. Das wäre natürlich peinlich. Zu Li zu gehen und sie zur Rede zu stellen, um einsehen zu müssen, dass man sie nicht alle beieinander hatte. Keine erhebende Vorstellung.
Während er noch darüber nachgrübelte, hatte das Schicksal ein Einsehen. Es schickte ihm Weaver. Johanson freute sich, als er ihre kleine, kompakte Silhouette über das Deck zu sich herüberkommen sah. Sie hatten in letzter Zeit wenig Kontakt gehabt. War sie ihm zu Anfang als Verschworene erschienen, hatte er schnell einsehen müssen, dass sie keinen Ersatz für Lund darstellte. Sie verstanden sich gut, aber eine tiefere Bindung war nicht aufgekommen, weder im Chateau noch auf der Independence. Vielleicht hatte er gehofft, etwas von dem an ihr gutmachen zu können, was Lund zugestoßen war. Inzwischen lagen die Dinge anders. Johanson war bei weitem nicht mehr sicher, ob er wirklich eine Schuld abzutragen hatte, und auch nicht, ob zwischen ihm und Weaver je etwas von der Vertrautheit herrschen würde, die er mit Lund geteilt hatte. Derzeit kam es ihm eher so vor, als bahne sich etwas zwischen ihr und Anawak an, und eigentlich passten die beiden auch viel besser zusammen.
Vertrautheit würde es also nicht geben.
Aber Vertrauen. Etwas ganz anderes. Weaver Vertrauen zu schenken, konnte nur belohnt werden. Sie war viel zu nüchtern, um romantische Erfüllung in geheimnisvollen Begebenheiten zu finden. Sie würde ihn anhören und ihm klar zu verstehen geben, ob sie ihm glaubte oder ihn für verrückt hielt.
Er schilderte ihr in knappen Sätzen, woran er sich erinnern konnte, was ihn verwirrte, in welchen Punkten er sich selber misstraute und was er bei Lis Versuch, ihn auszuquetschen, empfunden hatte.
Nach einer Weile des Nachdenkens fragte Weaver: »Warst du schon mal nachsehen?«
Johanson schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch keine Gelegenheit.«
»Du hättest reichlich Gelegenheit gehabt. Du hast Angst nachzusehen, weil du fürchtest, nichts zu finden.«
»Wahrscheinlich hast du Recht.«
Sie nickte. »Gut. Dann gehen wir jetzt zusammen runter.«
Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Tatsächlich empfand Johanson Angst und Unsicherheit mit jedem Schritt, den sie zum Hangardeck hinabstiegen. Was, wenn sie nun wirklich nichts entdeckten? Beinahe war er jetzt sicher, dass sie dort unten keine Tür finden würden, und dann müsste er sich mit dem Gedanken anfreunden, an Schizophrenie zu leiden. Er war 56 Jahre alt. Er war ein gut aussehender Mann, dem man Intelligenz, erotische Ausstrahlung und Charme attestierte, mit einer hohen Trefferquote bei Frauen.
Offenbar war er auch ein seniler Tattergreis.
Es kam, wie er es befürchtet hatte. Mehrfach schritten sie die Wand ab, aber er fand nichts, was auf einen Durchlass hindeutete.
Weaver sah ihn an.
»Schon gut«, murmelte er.
»Kein Problem«, erwiderte sie. Und dann fügte sie zu seiner großen Überraschung hinzu: »Die Wand ist genietet, überall laufen Rohre entlang und Schweißnähte, es gibt tausend Möglichkeiten, hier eine Tür einzubauen, die man nicht sieht. Versuch dich zu erinnern, wo genau du diese Tür gesehen hast!«
»Du glaubst mir?«
»Ich kenne dich ganz gut, Sigur. Du bist kein Spinner.
Du säufst nicht wie ein Loch und nimmst keine Drogen. Du bist ein Genießer, und Genießer haben einen Blick für Details, die anderen verborgen bleiben. Ich bin mehr der Typ für Fish ‘n’ Chips. Wahrscheinlich würde ich diese Tür nicht sehen, wenn sie vor meiner Nase geöffnet würde, weil ich gar nicht auf die Idee käme, dass es so was Abgedrehtes gibt. Ich weiß ja nicht, was du gesehen hast, aber … ja, ich glaube dir.«
Johanson lächelte. Impulsiv gab er Weaver einen Kuss auf die Wange und ging einigermaßen beschwingt die Rampe hinunter zum Labor.
Rubin war immer noch sehr blass, und wenn er redete, klang es wie das Krächzen eines Papageis. Tatsächlich hatte nicht viel gefehlt zu seinem Ableben. Greywolf war kurz davor gewesen, ihn ins Jenseits zu befördern. Der Biologe gab sich verständnisvoll. Er lächelte steif und kam Johanson vor wie Schwester Ratched in Einer flog über das Kuckucksnest, nachdem Jack Nicholson seine Hände um ihren Hals gelegt hatte. Wenn er nach rechts oder links schaute, drehte er seinen Oberkörper mit, ließ alle an seiner erbarmungswürdigen körperlichen Verfassung teilhaben und verkündete, Greywolf nicht böse zu sein.
»Die waren zusammen, stimmt’s?«, röchelte er. »Das muss schrecklich für ihn sein. Und ich war es, der die Schleuse nochmal öffnen wollte. Ich meine, er hätte mich nicht angreifen dürfen, aber ich kann ihn so gut verstehen.«
Oliviera wechselte den einen oder anderen Blick mit Johanson und hielt ansonsten ihren Mund.
Im Tank trieben große Brocken der Masse. Sie hatten wieder zu leuchten begonnen. Was die drei Biologen im Augenblick mehr interessierte, war jedoch nicht die Gallerte selber, sondern die Wolke. Während Lis Leute zweieinhalb Tonnen von dem Zeug in den Simulator geschaufelt hatten, waren auch große Mengen zerschmolzener Substanz mit hineingewandert. Inmitten frei schwimmender Mikroorganismen und Materieklumpen war ein Roboter unterwegs, voll gestopft mit hoch empfindlichen Sensoren, die unablässig die chemische Zusammensetzung des Wassers maßen und die Daten auf die Monitore der Konsole weiterleiteten. Der Außenrand des Roboters war bestückt mit Röhren, die sich auf Knopfdruck ausfahren, öffnen, schließen und wieder einfahren ließen. Das ganze Ding war nicht viel größer als der Spherobot und extrem robust und wendig.
Johanson saß in der Pose eines Raumschiffkapitäns an der Konsole und wartete, die Hände um beide Joysticks gelegt. Sie hatten das Licht im Tank und im Labor auf das notwendige Minimum herabgedimmt, um die Vorgänge besser beobachten zu können. So wurden sie Zeuge, wie sich die Masse allmählich erholte. Die Gallertbrocken leuchteten intensiver, Ströme blauen Lichts pulsierten durch ihr Inneres.
»Ich glaube, es geht los«, flüsterte Oliviera. »Es reformiert sich.«
Johanson lenkte den Roboter unter einen der Brocken, öffnete ein Probenröhrchen und ließ es in die Masse hineinfahren. Der Rand des Röhrchens war messerscharf geschliffen. Es trennte etwas von der Gallerte ab, verschloss sich von selbst wieder und fuhr zurück in den Kranz. Der Brocken reagierte nicht auf die Punktierung. Er verformte sich leicht, eingehüllt in blaue Wolkenschwaden. Johanson wartete einige Sekunden und wiederholte die Prozedur an anderer Stelle.
Winzige Lichter blitzten in dem Gallertklumpen auf. Er hatte die Größe eines ausgewachsenen Tümmlers oder Delphins. Je länger Johanson hinsah, während er seine Probenröhrchen füllte, desto sicherer war er, dass diese Einschätzung exakt zutraf. Die Größe eines Delphins. Nein, mehr noch. Die Form eines Delphins.
Im gleichen Augenblick sagte Oliviera:
»Nicht zu glauben. Es sieht aus wie ein Delphin.«
Johanson vergaß beinahe, den Roboter zu lenken. Er beobachtete fasziniert, wie auch andere Brocken ihre Form veränderten. Einige erinnerten an Haie, andere schienen Kalmare nachzuahmen.
»Wie ist das möglich?«, röchelte Rubin.
»Programmierung«, sagte Johanson. »Es kann nur so sein.«
»Woher wissen die, wie das geht?«
»Sie wissen es einfach. Sie haben es gelernt.«
»Wie?«
»Wenn sie in der Lage sind, Formen und Bewegungsabläufe nachzuahmen«, sagte Oliviera, »müssen sie Meister der Tarnung sein. Was meint ihr?«
»Ich weiß nicht.« Johanson war skeptisch. »Ich bin nicht sicher, ob das, was wir da sehen, den Zweck von Mimikri hat. Es kommt mir eher so vor, als ob sie sich an etwas … erinnern.«
»Erinnern?«
»Du weißt, was passiert, wenn wir denken. Bestimmte Neuronen leuchten auf, Gruppen und Verknüpfungen. Es entsteht ein Muster. Unser Hirn kann seine Gestalt nicht ändern, aber die neuronalen Muster ergeben schon irgendwie eine Form. Wenn man verstünde, sie zu lesen, könnte man ziemlich konkret sagen, woran der Betreffende gerade denkt.«
»Du meinst, sie denken an einen Delphin?«
»Das sieht nicht aus wie ein Delphin«, meinte Rubin.
»Doch, es ist …« Johanson stutzte. Rubin hatte Recht. Die Form war eine andere geworden. Jetzt glich sie eher einer Art Rochen, der mit langsam schlagenden Flügeln im Tank aufwärts stieg. Aus den Flügelspitzen wuchsen dünne, tastende Fäden.
»Seht euch das an!«
Die Rochenform verging in etwas Schlangenartigem. Die Masse stob auseinander. Plötzlich schienen Tausende winziger Fische mit synchronen Bewegungen dahinzuflitzen, wuchsen wieder zusammen, das Gebilde veränderte in immer schnellerem Wechsel sein Aussehen, als laufe ein Programm ab. In Sekundenbruchteilen wechselten vertraute mit fremdartigen Formen. Sämtliche Gallertbrocken waren von dem Phänomen befallen. Gleichzeitig trieben sie aufeinander zu. Die schon vertrauten Blitze zuckten auf, und einen schrecklichen, unheimlichen Moment lang glaubte Johanson in dem rasend schnellen Gestaltwechsel einen menschlichen Umriss wahrzunehmen.
Alles strömte ineinander, Materie und Wolkenfetzen.
»Es verschmilzt!«, ächzte Rubin. Er schaute mit glänzenden Augen auf die Sichtfelder des Monitors vor ihm. Daten liefen darüber hinweg. »Das Wasser ist gesättigt mit einem neuen Stoff, einer chemischen Verbindung!«
Johanson kurvte mit dem Roboter durch das kollabierende Universum und entnahm in stetiger Folge Proben. Es war wie bei einer Rallye. Wie viel würde er zusammenbekommen? Wann empfahl es sich, den Rückzug anzutreten? Die Masse schien sich vollständig erholt zu haben. Ein Zentrum bildete sich. Alles stürzte in sich zusammen. Was sie im Kleinen schon einmal erlebt hatten, vollzog sich jetzt im Großen. Die Erschaffung eines Wesens aus einzelnen Zellen. Ein Organismus ohne sichtbare Augen, Ohren und sonstige Sinnesorgane, ohne Herz, Hirn und Innereien, ein homogener Klumpen, der dennoch zu komplexen Prozessen in der Lage war.
Etwas Riesiges entstand. Gut die Hälfte dessen, was ins Welldeck eingedrungen war, hatten die Pumpen zurück ins Meer befördert. Doch immer noch besaß der verbliebene Rest die Ausmaße eines Kleintransporters. Durch das ovale Fenster des Tanks sahen sie, wie die Gallerte sich zusammenballte und verfestigte. Johanson zog den Roboter in den Randbereich der Verschmelzung, wo unablässig blaue Schwaden dem Zentrum zustrebten. Drei der Röhrchen waren noch unbeprobt. Er ließ sie aus dem Kranz fahren und wagte einen erneuten Vorstoß in die Masse.
Blitzschnell zog sich das Wesen zurück und produzierte Dutzende von Tentakeln, die den Roboter packten. Johanson verlor die Herrschaft über die Maschine. Unbeweglich hing sie im Klammergriff des Wesens, das dem Boden des Tanks entgegensank und dabei eine Art klumpigen Fuß produzierte. Plötzlich erinnerte es an einen gewaltigen Pilz mit einem Kranz biegsamer Arme.
»Scheiße«, fluchte Oliviera. »Du warst zu langsam.«
Rubins Finger glitten über die Tastatur seines Rechners.
»Ich habe hier jede Menge Daten«, sagte er. »Ein molekularer Vollrausch. Das Zeug benutzt ein Pheromon! Ich lag also richtig.«
»Anawak lag richtig«, berichtigte ihn Oliviera. »Und Weaver.«
»Natürlich, ich wollte sagen …«
»Wir lagen alle richtig.«
»Das wollte ich sagen.«
»Etwas, das wir kennen, Mick?«, fragte Johanson, ohne den Blick von den Monitoren zu lassen.
Rubin schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Die Zutaten sind bekannt. Über das Rezept kann ich nichts sagen. Wir brauchen die Proben.«
Johanson sah zu, wie sich aus der Oberseite des Wesens ein dicker Strang wand, dessen Spitze sich zu einem Busch feiner Fühler verzweigte. Der Strang bog sich zu dem Roboter hinab. Die Fühler betasteten die Maschine und die Probenbehälter.
Alles sah nach einer strukturierten, bedächtigen Untersuchung aus.
»Sehe ich das richtig?« Oliviera beugte sich vor. »Will es die Röhrchen öffnen?«
»Die sind so leicht nicht aufzukriegen.« Johanson versuchte die Kontrolle über den Roboter zurückzuerlangen. Die Fangarme, die ihn umklammert hielten, reagierten, indem sie sich noch fester um die Maschine schmiegten.
»Hat sich offenbar verliebt«, seufzte er. »Na schön.
Warten wir’s ab.«
Die Fühler setzten ihre Untersuchung fort.
»Kann es den Roboter eigentlich sehen?«, fragte Rubin.
»Womit?« Oliviera schüttelte den Kopf. »Es kann die Form wechseln, aber wohl kaum Augen ausbilden.«
»Vielleicht braucht es das ja gar nicht«, sagte Johanson. »Es begreift seine Welt.«
»Das tun Kinder auch.« Rubin sah ihn zweifelnd an. »Aber sie haben ein Gehirn, um das Begriffene abzuspeichern. Wie versteht dieses Zeug, was es begreift?«
Plötzlich gab die Masse den Roboter frei. Sämtliche Fühler und Fangarme bildeten sich zurück und verschwanden in der großen Struktur. Der Organismus verflachte sich, bis er den Boden des Tanks in einer dünnen Schicht vollständig bedeckte.
»Schwimmender Estrich«, spottete Oliviera. »Das kann es also auch.«
»Arrivederci«, sagte Johanson und fuhr den Roboter zurück in die Garage.
»Was wollt ihr uns eigentlich sagen?«
Crowe stützte das Kinn in die Hände. Zwischen Zeigefinger und Mittelfinger ihrer Rechten qualmte die obligatorische Zigarette vor sich hin, aber diesmal verbrannte sie fast ungeraucht. Crowe fand keine Zeit, daran zu ziehen. Sie versuchte, zusammen mit Shankar hinter die Botschaft zu kommen, die ihnen die Yrr geschickt hatten.
Eine Botschaft, die begleitet gewesen war von einem Angriff.
Nachdem der Computer die erste Nachricht decodiert hatte, war er mit der zweiten relativ schnell zurechtgekommen. Die Yrr hatten wie beim ersten Mal im binären Code geantwortet. Noch war unklar, ob die Daten wieder ein Bild ergaben. Bislang schien nur eine einzige Abfolge Sinn zu machen, eine Information, die sich vor dem Hintergrund des zu erwartenden fremdartigen Denkens geradezu lächerlich einfach ausnahm.
Es war die Darstellung eines Moleküls, eine chemische Formel.
H2O.
»Sehr originell«, meinte Shankar säuerlich. »Dass sie im Wasser leben, wissen wir schon länger.«
Allerdings hatten die Yrr weitere Daten an die Wasserformel gekoppelt. Der Computer rechnete wie wild, und ganz allmählich ging Crowe ein Licht auf, was damit gemeint sein konnte.
»Vielleicht ist es eine Landkarte«, sagte sie.
»Was meinst du damit? Eine Karte des Meeresbodens?«
»Nein. Das würde bedeuten, dass sie auf dem Meeresboden leben. Wenn unser gewalttätiger Besucher im Simulator Teil der fremden Intelligenz ist, dürfte ihr Lebensraum eher freies Wasser sein. Die Tiefsee ist ein Universum, durch das man schwebt. Homogen und nach allen Seiten gleich.«
Shankar überlegte. »Es sei denn«, sagte er, »man nimmt es unter die Lupe und untersucht seine spezifische Zusammensetzung. Mineralstoffe, Säuren, Basen, und so weiter.«
»Die nicht überall gleich sind«, nickte Crowe. »Beim ersten Mal haben sie uns ein Bild aus zwei mathematischen Ergebnissen geschickt. Das hier liest sich ungleich komplizierter. Aber wenn wir richtig liegen, wird auch dieser Variantenreichtum begrenzt sein. Ich kann’s nicht beschwören, aber ich denke, sie haben uns wieder ein Bild geschickt.«
Weaver fand Anawak am Computer sitzend. Virtuelle Einzeller trudelten über den Bildschirm, aber ihr schien, als schaue er nicht richtig hin.
»Tut mir Leid, was mit deiner Freundin passiert ist«, sagte sie leise.
Anawak sah zur Decke. »Weißt du, was komisch ist?« Seine Stimme klang belegt. »Dass mir ihr Tod so nahe geht. Sterben hat mich nie sonderlich beeindruckt. Als meine Mutter starb, habe ich das letzte Mal geweint. Mein Vater ist gestorben, und mir wurde schlecht vor Entsetzen, dass ich seinen Tod nicht bedauern konnte. Du kennst die Geschichte. — Aber Licia? Mein Gott. Ich hatte nicht mal irgendwelche Ambitionen. Eine Studentin, die mir auf die Nerven gegangen ist, bevor ich mich daran gewöhnte, sie zu mögen.«
Weaver zögerte. Zaghaft berührte sie seine Schulter. Anawaks Finger strichen über ihre Hand.
»Deine Programmierung funktioniert übrigens«, sagte er.
»Das heißt, im Labor müssen sie jetzt nur noch die Biologie entsprechend umkrempeln.«
»Ja. Darin liegt das Problem. Es bleibt eine Hypothese.«
Sie hatten die virtuellen Einzeller mit einer lernfähigen DNA versehen, die in der Lage war, ständig zu mutieren. Im Grunde war jede einzelne Zelle nach diesem Modell ein autarker kleiner Computer, der sein Programm ständig umschrieb. Jede neue Information veränderte die Struktur des Genoms. Machte eine bestimmte Menge der Zellen eine Erfahrung, veränderte diese Erfahrung ihre genetische Struktur. Verschmolzen die veränderten Zellen mit anderen Zellen, gaben sie die neuen Informationen weiter, und die DNA der anderen glich sich entsprechend an. Auf diese Weile lernte das Kollektiv nicht nur ständig dazu, die Verschmelzung sorgte überdies für einen ständigen Informationsgleichstand. Jedes neue Wissen Einzelner bereicherte die Gesamterfahrung des Kollektivs.
Der Gedanke kam einer Revolution gleich. Er hätte bedeutet, dass Wissen vererbbar war. Nachdem sie die Sache mit Johanson, Oliviera und Rubin besprochen hatten, herrschte größere Ratlosigkeit denn je, weil die Idee einerseits begeistert aufgenommen wurde.
Andererseits hatte sie einen gewaltigen Haken.
»Wenn eine DNA mutiert, führt das zu einer Veränderung der genetischen Information«, erklärte Rubin. »Und das ist bei allen Lebewesen problematisch.«
Mitten in der Auswertung der Tests hatte er sich aus dem Labor gestohlen, angeblich, weil ihn wieder die Migräne überkam. Stattdessen saß er im geheimen Kontrollraum zusammen mit Li, Peak und Vanderbilt. Sie gingen die Abhörprotokolle durch. Natürlich wusste jeder im Raum von dem Programm, das Weaver und Anawak erstellt hatten, und auch von ihrer Theorie. Aber bis auf Rubin konnte keiner etwas damit anfangen.
»Ein Organismus ist darauf angewiesen, dass seine DNA intakt bleibt«, sagte Rubin. »Andernfalls erkrankt er, oder seine Nachkommen werden krank. Radioaktive Strahlung zum Beispiel ruft in der DNA irreparable Schäden hervor, mit dem Ergebnis, dass Mutanten geboren werden oder die Leute Krebs bekommen.«
»Aber was ist mit evolutiver Weiterentwicklung?«, fragte Vanderbilt. »Wenn wir uns vom Affen zum Menschen entwickelt haben, kann die DNA nicht immer gleich geblieben sein.«
»Richtig, aber die Evolution vollzieht sich über einen ziemlich langen Zeitraum. Und sie wählt immer diejenigen aus, bei denen die natürliche Mutationsrate zu einer optimalen Anpassung an die jeweils herrschenden Zustände führt. Von den Misserfolgen der Evolution ist kaum je die Rede, dennoch sondert die Natur eine Menge aus. Aber zwischen grundlegender genetischer Veränderung und Aussonderung liegt die Reparatur. Denken Sie an Sonnenbräune. Sonnenlicht verändert die Zellen der obersten Hautschichten, das führt zu Mutationen in der DNA. Wir werden braun, und wenn wir nicht aufpassen, werden wir rot und verbrennen. In diesem Fall stößt der Körper die zerstörten Zellen ab. Im anderen Fall repariert er sie. Gäbe es diese Reparaturen nicht, wären wir nicht lebensfähig. All die kleinen Mutationen würden sich aufschaukeln, keine Wunde würde verheilen, keine Krankheit ließe sich überstehen.«
»Verstanden«, sagte Li. »Aber wie sieht das bei Einzellern aus?«
»Genauso«, sagte Rubin. »Wenn ihre DNA mutiert, muss sie repariert werden. Schauen Sie, solche Zellen vermehren sich durch Teilung. Wenn die DNA nicht repariert würde, bliebe keine Spezies stabil. Egal, welche Zelle Sie nehmen, die Natur hat ein Interesse daran, die Mutationsrate auf einem erträglichen Niveau zu halten. — Nur, jetzt kommt der Haken in Anawaks Theorie. Ein Genom wird immer global repariert, auf ganzer Länge. Sie müssen sich vorstellen, dass Reparaturenzyme wie Polizeistreifen die gesamte DNA entlang patrouillieren und nach Fehlern Ausschau halten. Sobald sie eine schadhafte Stelle entdecken, starten sie die Reparatur. Damit die Information, welches der ursprüngliche, richtige Zustand ist, erhalten bleibt, sind die Reparaturenzyme sozusagen die Hüter des genomischen Wissens. Sie erkennen auf ihren Kontrollgängen sofort, hier ist das ursprüngliche und dort das fehlerhafte Gen. — Als ob Sie einem Kind vergeblich das Sprechen beibringen wollten.
Kaum lernt es ein Wort, kommen die Reparaturenzyme und programmieren das Hirn zurück auf den Originalzustand, also auf Unwissenheit. Ein Wissensaufbau ist nicht möglich.«
»Dann ist Anawaks Theorie Blödsinn«, konstatierte Li. »Sie würde nur funktionieren, wenn die Veränderungen in der Einzeller-DNA erhalten blieben.«
»Einerseits richtig. Jede neue Information würde von den Reparaturenzymen als Schaden angesehen, und ruckzuck würde das Genom repariert. Zurück auf null, sozusagen.«
»Ich vermute«, grinste Vanderbilt, »jetzt kommt das Andererseits.«
Rubin nickte zögernd.
»Es gibt ein Andererseits«, sagte er.
»Und das wäre?«
»Keine Ahnung.«
»Augenblick mal«, sagte Peak. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und zuckte zusammen. Sein Fuß war bandagiert. Er sah überhaupt ziemlich mitgenommen aus. »Haben Sie nicht gerade …«
»Ich weiß! Aber die Theorie ist einfach wunderbar«, rief Rubin. Seine Stimme wurde immer quäkiger. Jedes Mal, wenn er längere Zeit am Stück redete, holten ihn die Folgen von Greywolfs Würgeattacke ein. »Sie würde alles erklären. Dann hätten wir Gewissheit, dass das Ding im Tank tatsächlich unser Feind ist. Wir hätten die Yrr vor Augen. Die Wesen, denen wir die ganze Scheiße verdanken! — Und ich bin sicher, sie sind es! Heute früh wurden wir Zeuge einzigartiger Vorgänge. Das Ding untersuchte einen Tauchroboter, und so, wie es geschah, hatte es nichts, aber auch gar nichts mit Instinktverhalten oder tierischer Neugierde zu tun. Das war pure, kognitive Intelligenz! Anawaks Erklärung muss zutreffen. Weavers Computermodell funktioniert.«
»Wer soll da noch mitkommen?«, seufzte Vanderbilt und tupfte sich die Stirn trocken.
»Na ja.« Rubin breitete die Hände aus. »Die Möglichkeit liegt in der Anomalie. Auch Reparaturenzyme machen Fehler. Selten zwar, aber pro 10000 Reparaturen vermasseln sie eine. Ein Basenpaar, das nicht in den Originalzustand zurückgeführt wird. Das ist wenig, aber es reicht, dass jemand als Bluter auf die Welt kommt oder mit Krebs oder offenem Rachen. Wir sehen darin Defekte, aber es beweist, dass das Reparaturprinzip nicht uneingeschränkt Gültigkeit hat.«
Li stand auf und durchmaß mit langsamen Schritten den Raum.
»Sie sind also der Überzeugung, dass die Einzeller und die Yrr identisch sind? Wir haben unseren Gegner gefunden?«
»Zwei Einschränkungen«, sagte Rubin schnell. »Erstens, wir müssen das DNA-Problem lösen. Zweitens, es muss so etwas wie eine Königin geben. Das Kollektiv kann so intelligent sein, wie es will — was wir da unten vor uns haben, ist meines Erachtens nur ein ausführender Teil des Ganzen.«
»Eine Königin? Wie muss man sich die vorstellen?«
»Gleichartig und doch anders. Nehmen Sie Ameisen. Auch die Königin ist eine Ameise, aber eine besondere. Von ihr geht alles aus. Die Yrr sind Schwarmwesen, Kollektive aus Mikroorganismen. Wenn Anawak Recht hat, verkörpern sie einen zweiten Weg der Evolution zu intelligentem Leben — aber irgendetwas muss sie steuern.«
»Wenn wir also diese Königin finden …«, begann Peak.
»Nein.« Rubin schüttelte den Kopf. »Machen wir uns nichts vor. Es kann mehr als eine sein. Es können Millionen sein. Und wenn sie schlau sind, lassen sie sich in unserer Nähe nicht blicken.« Er machte eine Pause. »Aber um als Königinnen fungieren zu können, müssen sie mit den übrigen Yrr dieselben Prinzipien teilen. Die Verschmelzung und das genetische Gedächtnis. — Nun, wir sind dabei, einen Duftstoff zu extrahieren, den die Zellen absondern als Zeichen, dass sie verschmelzen wollen. Ein Pheromon, dessen Rezeptur Oliviera und Johanson dicht auf der Spur sind. Über dieses Pheromon, diesen Duft werden die Zellen unter Garantie auch mit der Königin verschmelzen. Der Duft ist der Schlüssel zur Kommunikation unter den Yrr.« Rubin lächelte selbstzufrieden. »Und er könnte der Schlüssel zur Lösung all unserer Probleme sein.«
»Gut, Mick.« Vanderbilt nickte ihm huldvoll zu. »Wir haben Sie wieder lieb. Einstweilen, auch wenn Sie im Welldeck einen fetten Bock geschossen haben.«
»Dafür konnte ich nichts«, sagte Rubin beleidigt. »Sie sind bei der CIA, Mick. In meinem Verein. Dafür kann ich nichts gibt’s da nicht. Haben wir das bei Ihrer Einstellung zu erwähnen vergessen?« »Nein.« Vanderbilt stopfte unbeholfen sein Taschentuch in die Hose. »Das freut mich zu hören. Jude wird gleich mit dem Präsidenten sprechen. Sie kann ihm sagen, was Sie für ein braver Junge sind. Danke für Ihren Besuch. Zurück in die Salzminen, Kerl!«
Crowe und Shankar wirkten weit weniger selbstsicher als bei der Entschlüsselung des ersten Signals. Eine gedrückte und gereizte Stimmung lastete auf der Truppe, die nicht allein von den schrecklichen Vorgängen im Welldeck herrührte. Es wurde immer offenkundiger, dass niemand das Vorgehen der Yrr verstand.
»Warum schicken sie Botschaften und greifen uns gleichzeitig an?«, fragte Peak. »Kein Mensch würde so etwas tun.«
»Hören Sie endlich auf, in diesen Kategorien zu denken«, sagte Shankar. »Es sind keine Menschen.«
»Ich will es ja nur kapieren.«
»Sie werden gar nichts kapieren, wenn Sie menschliche Logik zugrunde legen«, sagte Crowe. »Vielleicht ist die erste Botschaft eine Warnung gewesen. Wir wissen, wo ihr seid. Das jedenfalls haben sie uns geantwortet.«
»Kann es ein Täuschungsmanöver gewesen sein?«, schlug Oliviera vor.
»Worin sollte die Täuschung denn deiner Meinung nach bestanden haben?«, fragte Anawak.
»Uns abzulenken.«
»Von was? Davon, dass sie sich kurze Zeit später wie ein Weihnachtsbaum inszenieren?«
»Gar nicht so abwegig«, sagte Johanson. »Eines ist ihnen immerhin gelungen. Wir haben geglaubt, dass sie an einem Austausch interessiert sind. Sal hat Recht, kein Mensch würde so etwas tun. Vielleicht wissen sie das. Sie haben uns eingelullt, sich in aller Pracht gezeigt, wir erwarten freudig die kosmische Offenbarung und kriegen stattdessen was auf die Schnauze.«
»Vielleicht hätten Sie was anderes in die Tiefe schicken sollen als Ihre dämlichen Mathematikaufgaben«, sagte Vanderbilt zu Crowe.
Zum ersten Mal, seit Anawak sie kannte, schien Crowe ihre Ruhe zu verlieren. Sie funkelte den CIA-Direktor zornig an. »Wissen Sie was Besseres, Jack?«
»Es ist nicht meine Aufgabe an Bord, was Besseres zu wissen, sondern Ihre«, sagte Vanderbilt angriffslustig. »In Ihrer Verantwortung liegt die Kommunikation mit denen.«
»Mit wem? Sie glauben doch immer noch, dass irgendwelche Mullahs dahinter stecken.«
»Wenn Sie Botschaften abschicken, die nichts anderes bewirken, als denen unsere Position zu verraten, ist das verdammt nochmal ein Problem, das Sie zu lösen haben. Sie haben detaillierte Informationen über die Menschheit in ihren blöden Schallimpuls gepackt. Sie haben denen eine Einladung geschickt, uns anzugreifen!«
»Sie müssen erst mal jemanden kennen lernen, um mit ihm zu reden!«, giftete Crowe zurück. »Begreifen Sie das eigentlich nicht, Sie Esel? Ich will wissen, wer die sind, also erzähle ich ihnen was über uns.«
»Ihre Botschaften sind eine Sackgasse …«
»Mein Gott, wir haben gerade erst angefangen!«
»… so wie Ihr ganzes aufgeblasenes SETI eine Sackgasse ist. Gerade erst angefangen? Glückwunsch. Wie viele Leute werden denn sterben, wenn Sie erst mal richtig loslegen!«
»Jack«, sagte Li. Es klang wie ›Sitz‹ oder ›Platz‹.
»Dieses bescheuerte Kontaktprogramm …«
»Jack, halten Sie die Klappe! Ich will keinen Streit, sondern Ergebnisse. Also wer in diesem Raum hat ein Ergebnis?«
»Wir«, sagte Crowe mürrisch. »Der Kern der zweiten Botschaft ist eine Formel: Wasser. H2O. Was der Rest zu bedeuten hat, finden wir auch noch raus — solange uns keiner hetzt!«
»Wir sind auch ein Stück weitergekommen«, begann Weaver.
»Und wir!«, sagte Rubin schnell. »Wir sind einen großen Schritt weiter, dank … äh … der tatkräftigen Mithilfe von Sigur und Sue.« Er musste husten. Seine Stimme war immer noch nicht in Ordnung. »Vielleicht möchtest du es vortragen, Sue?«
»Brich dir bloß keinen ab«, zischte Oliviera ihm zu. Laut sagte sie: »Wir haben den Duftstoff extrahiert, über den die Zellen ihren Zusammenschluss herbeiführen. Es ist ein Pheromon, und wir wissen auch, wie es funktioniert. Das verdanken wir Sigur, der im todesmutigen Kampf mit dem Ungeheuer Gewebe— und Phasenproben ergattern konnte.«
Sie stellte ein durchsichtiges, verschlossenes Gefäß auf den Tisch. Es war zur Hälfte gefüllt mit einer wasserklaren Flüssigkeit.
»Der Duftstoff ist da drin. Wir haben ihn entschlüsselt und können ihn herstellen. Die Rezeptur ist überraschend einfach. Wie genau die Wesen darüber in Kontakt treten, lässt sich noch nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, auch nicht, wer oder was die Verschmelzung initiiert. Aber vorausgesetzt, etwas gibt den Anstoß — nennen wir es der Einfachheit halber die Königin —, bleibt die Aufgabe zu lösen, wie man Abermilliarden frei schwebender Einzeller, die keine Augen und keine Ohren haben, zusammenruft. Dazu dient das Pheromon. An sich ist Duft unter Wasser nicht geeignet zur Kommunikation, die Moleküle diffundieren zu schnell, aber auf kurze Distanzen funktioniert ein pheromonischer Ruf ganz prima. Und wie es aussieht, beschränkt sich die pheromonische Kommunikation der Zellen auf diesen einen Duftstoff. Es gibt kein Vokabular, sondern nur ein einziges Wort: Verschmelzen! Uns ist noch nicht klar, wie einmal verschmolzene Zellen untereinander kommunizieren. Fest steht, dass sie irgendeine Form des Austauschs benutzen. Das ist in einem Neuronencomputer oder einem menschlichen Gehirn nicht anders. Immer brauchen die Einheiten eine Art Boten. In der Biologie heißen solche Botenstoffe Liganden. Wenn eine Zelle einer anderen etwas mitteilen will, kann sie sie schlecht besuchen kommen, also schickt sie ihr eine Nachricht, und diese Nachricht wird von den Liganden zu der anderen Zelle transportiert. Die wiederum braucht wie jedes anständige Haus eine Tür mit Klingel, wissenschaftlich gesprochen, einen Rezeptor. Der Ligand klingelt, die Klingelbotschaft pflanzt sich über Signalkaskaden ins Innere der Zelle fort und bereichert das Genom um eine neue Information.«
Sie machte eine Pause.
»Wie es aussieht, kommunizieren die Mikroorganismen im Tank über Liganden und Rezeptoren. Natürlich ist das Bild von den Zellen, die wie Häuser eine Tür haben und einen freundlich lächelnden Boten losschicken, der klingelt, ein bisschen schief. Jede Zelle gibt eine ganze Wolke von Duftmolekülen ab, und sie hat nicht nur einen Rezeptor, sondern etwa 200000 Rezeptoren. Damit nimmt sie die Pheromone auf und dockt am Kollektiv an. — 200000 Klingeln, um mit den Nachbarzellen Informationen auszutauschen, das ist schon was. Der Prozess der Verschmelzung vollzieht sich nach Art des Staffellaufs: Eine Zelle empfängt Pheromone aus dem Kollektiv und koppelt an die Nachbarzellen an. Im Moment des Ankoppelns produziert sie selber Pheromone, um die nächstschwimmenden Zellen zu erreichen, und so weiter, und so fort. Der Prozess erfolgt von innen nach außen. Um das alles besser zu verstehen, greifen wir der finalen Beweisführung vor und nehmen an, dass es sich bei den Zellen, die wir untersucht haben, tatsächlich um unsere geschätzten Feinde handelt. Wir nennen sie darum in vorauseilender Gewissheit die Yrr.«
Sie legte die Fingerspitzen aufeinander.
»Was uns sofort auffiel, war, dass die Zellen nicht einfach über Rezeptoren verfügen, sondern über Rezeptorenpaare. Wir haben uns den Kopf darüber zerbrochen, warum das so ist, aber dann kamen wir drauf. Es hat etwas mit der Gesunderhaltung des Kollektivs zu tun. Wir haben den Rezeptoren darum Funktionsbezeichnungen gegeben. Der Universalrezeptor erkennt: Ich bin Yrr. Der Spezialrezeptor sagt: Ich bin ein funktionsfähiges, gesundes Yrr mit intakter DNA und geeignet für das Kollektiv, fürs große Pow Wow.«
»Ginge so was nicht auch über einen einzigen Rezeptor?«, fragte Shankar stirnrunzelnd.
»Nein. Wahrscheinlich nicht.« Oliviera überlegte. »Es ist ein sehr ausgeklügeltes System. Nach unserem Modell muss man sich eine Yrr-Zelle vorstellen wie ein Soldatencamp mit einem Schutzwall drum herum. Nähert sich ein Soldat von außen, weist er sich durch eine Universalkennung aus: die Uniform. Die sagt dem Soldaten im Camp: Ich bin einer von euch. Aber wir haben alle genügend Kriegsfilme mit Michael Caine gesehen, um zu wissen, dass in der Uniform ein Verräter stecken kann, und wenn der einmal reingekommen ist, schießt er alle über den Haufen. Darum musste sich Michael Caine zusätzlich durch eine Spezialkennung ausweisen. Er musste die Parole kennen. Habe ich das militärisch einigermaßen korrekt beschrieben, Sal?«
Peak nickte. »Einwandfrei.«
»Dann bin ich beruhigt. Also, wenn sich zwei Yrr zusammenschließen, geschieht Folgendes: Das bereits mit dem Kollektiv verschmolzene Yrr produziert ein Duftmolekül, ein Pheromon. Über dieses Pheromon koppeln die Zellen an ihren Universalrezeptoren an und initiieren die primäre Bindung. Der Erkennungsschritt ›Ich bin Yrr‹ hat stattgefunden. Im zweiten Schritt muss über die Kopplung der Spezialrezeptoren nun die Aussage erfolgen ›Ich bin ein gesundes Yrr‹. — So weit, so gut. Allerdings gibt es Yrr, die nicht funktionsfähig und gesund sind, anders gesagt, deren DNA Defekte aufweist. Unser Feind ist ein massenhaft auftretender Organismus, der sich offenbar ständig höher entwickelt und darum gezwungen ist, Zellen, die nicht zur Höherentwicklung befähigt sind, auszusondern. Der Trick scheint zu sein, dass zwar alle Zellen einen Universalrezeptor besitzen, aber nur gesunde, zur Höherentwicklung fähige Zellen den Spezialrezeptor ausbilden können. Kranke Yrr haben ihn einfach nicht. Und jetzt geschieht das eigentliche Wunder, das uns Angst machen muss. Das defekte Yrr verfügt nicht über die Parole. Es wird nicht zur Verschmelzung zugelassen, sondern abgestoßen. Das alleine reicht aber noch nicht — Yrr sind Einzeller, und wie alle Einzeller vermehren sie sich durch Teilung. Natürlich kann eine Spezies, die sich konstant höher entwickelt, nicht zulassen, dass eine defekte, zweite Population entsteht, also muss sie verhindern, dass die defekte Zelle Zeit findet, sich zu vermehren. An dieser Stelle übernimmt das Pheromon eine Doppelfunktion. Bei der Abstoßung bleibt es am Universalrezeptor des defekten Yrr hängen und wandelt sich zu einem schnell wirkenden Gift. Es leitet den so genannten Programmierten Zelltod ein, ein Phänomen, das bei Einzellern normalerweise unbekannt ist. Die defekte Zelle stirbt augenblicklich ab.«
»Wie wollen Sie erkennen, dass ein Einzeller tot ist?«, fragte Peak.
»Das ist einfach. Sein Stoffwechsel endet. Außerdem erkennt man ein abgestorbenes Yrr daran, dass es nicht mehr leuchtet. Leuchten ist für die Yrr eine biochemische Notwendigkeit. Ein bekanntes Beispiel dafür liefert Aequoria, eine Südseequalle. Um zu leuchten, produziert sie ein Pheromon. Hier ist es ähnlich: Wir haben die Abgabe eines Duftstoffes und dadurch bedingt ein Aufleuchten, und die starken Lichtentladungen, die Blitze, kennzeichnen besonders heftige biochemische Reaktionen in den Zellverbänden. Wenn Yrr leuchten, kommunizieren und denken sie. Wenn sie sterben, hört das Leuchten auf.«
Oliviera sah in die Runde.
»Ich will Ihnen sagen, was uns daran Angst machen sollte. Die Yrr haben mit wenigen Mitteln ein komplexes Ausleseverfahren ermöglicht. Ist ein Yrr gesund und verfügt über ein intaktes Rezeptorenpaar, leitet das Pheromon die Verschmelzung ein. Besitzt es keinen Spezialrezeptor, entfaltet das Pheromon seine tödliche Wirkung. — Eine Spezies, die so funktioniert, sieht den Tod mit anderen ›Augen‹ als der Mensch. Der Tod ist in der Yrr-Gesellschaft eine zwingend erforderliche Angelegenheit. Niemals würden die Yrr auf die Idee kommen, defekte Yrr zu schonen. Es wäre aus ihrer Sicht unverständlich, geradezu idiotisch. Man muss töten, was die eigene Weiterentwicklung bedroht. Es ist nur logisch. Auf die Bedrohung des Kollektivs reagieren die Yrr mit der Logik des Todes. Es gibt kein um Gnade Bitten, kein Mitleid, keine Ausnahme, ebenso wenig wie die Logik des Tötens etwas mit Grausamkeit zu tun hat. Solche Überlegungen sind den Yrr völlig fremd. Sie werden ergo nicht begreifen, warum sie uns schonen sollen, da wir doch eine konkrete Bedrohung für sie darstellen.«
»Weil ihre Biochemie keine dahingehende Ethik zulässt«, schlussfolgerte Li. »So intelligent sie auch sein mögen.«
»Also schön«, bemerkte Vanderbilt. »Was haben wir konkret davon, dass wir jetzt ihr kleines Chanel-No.-5-Geheimnis kennen? Wir können mit ihnen verschmelzen, wenn ich das richtig sehe. Toll. Ich könnte mit ihnen verschmelzen!«
Crowe musterte ihn mit einem langen Blick. »Glauben Sie, die wollen das?«
»Sie können mich mal.«
»Es wäre nett, wenn ihr euch später prügelt«, sagte Anawak. »Karen und ich hatten nämlich eine Idee, wie man die Einzeller zum Denken bringen kann. Sigur, Mick und Sue raufen sich gerade die Haare darüber. Biologisch ist es ein Unding, aber es würde eine Menge Fragen beantworten.«
»Wir haben unsere virtuellen Zellen mit einer künstlichen DNA programmiert und es so eingerichtet, dass sie ständig mutiert«, griff Weaver den Faden auf. »Was nichts anderes heißt als Lernen. Plötzlich waren wir wieder dort angelangt, wo wir begonnen hatten, nämlich bei einem Neuronencomputer. Ihr erinnert euch, wir hatten ein solches Elektronengehirn in seine kleinsten programmierfähigen Speicherplätze zerlegt und uns gefragt, wie sie wieder zu einem denkenden Ganzen werden könnten. Es funktionierte so lange nicht, wie die einzelnen Zellen nicht selbständig lernen konnten. Aber der einzige Weg für eine biologische Zelle, zu Lebzeiten zu lernen, besteht nun mal in der Mutation der DNA, was eigentlich nicht sein kann. Dennoch haben wir die virtuellen Zellen mit der Möglichkeit versehen. Und mit einem Duft, wie Sue ihn gerade beschrieben hat.«
»Wir erhielten nicht nur unseren vollwertigen, funktionsfähigen Neuronencomputer zurück«, fuhr Anawak fort. »Wir hatten plötzlich auch echte, lebende Yrr unter natürlichen Bedingungen vor uns. Unsere kleine Schöpfung verfügt nämlich über ein paar Extras — die Zellen trudeln im dreidimensionalen Raum. Wir haben diesen Raum mit Eigenschaften versehen, wie man sie in der Tiefsee antrifft, also Druck, Strömung, Reibung, und so weiter. — Zuerst mussten wir allerdings eine Antwort auf die Frage finden, wie die Mitglieder eines Kollektivs einander erkennen. Der Duft ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht darin, die Größe eines Kollektivs zu begrenzen. Hier kommt ins Spiel, was Sue und Sigur herausgefunden haben — dass nämlich die Yrr-Amplicons in kleinen, hypervariablen Bereichen differierten. Ihr erinnert euch an die Konsequenz aus dieser Erkenntnis: Die Zellen müssen ihre DNA nach ihrer Geburt verändert haben. Wir glauben, genau das geschieht, und dass die hypervariablen Bereiche als Codierung dienen, um einander zu erkennen und zum Beispiel das Kollektiv zu begrenzen.«
»Yrr mit gleicher Codierung erkennen einander, und kleinere Kollektive wiederum können zu größeren verschmelzen«, schlussfolgerte Li.
»Genau«, sagte Weaver. »Wir haben also Zellen codiert. Jede Zelle verfügte zu diesem Zeitpunkt schon über eine Art Grundwissen, was ihren Lebensraum betraf. Jetzt erhielt sie zusätzliche Informationen, die nicht alle Zellen besaßen. Wie zu erwarten, verschmolzen als Erstes sämtliche Zellen gleicher Codierung zu Kollektiven. Dann probierten wir etwas Neues und versuchten, zwei Kollektive unterschiedlicher Codierung zusammenzukoppeln. Es klappte, und dann passierte das Unglaubliche: Die Verschmelzung gelang nicht nur, die Zellen der beiden Kollektive tauschten außerdem ihre individuellen Codierungen aus und brachten einander auf den gleichen Stand. Sie programmierten sich auf einen neuen, einheitlichen Code, einen nächsthöheren Stand des Wissens, den alle teilten. Am Ende waren die beiden Kollektive in einem aufgegangen. Dieses eine koppelten wir mit einem dritten Kollektiv, und wieder entstand etwas Neues, zuvor nicht da Gewesenes.«
»Im nächsten Schritt haben wir versucht, das Lernverhalten der Yrr zu beobachten«, sagte Anawak. »Wir formten zwei Kollektive unterschiedlicher Codierung. Eines versahen wir mit einer spezifischen Erfahrung. Wir simulierten den Angriff eines Feindes. Es ist nicht sonderlich originell, aber wir entschieden uns für einen Hai, der einen ordentlichen Haps aus dem Kollektiv herausbeißt, und brachten ihm dann bei, beim nächsten Mal auszuweichen. Wenn der Hai kommt, befahlen wir dem Kollektiv, gibst du deine kugelförmige Gestalt auf und machst dich flach wie eine Flunder. Dem anderen Kollektiv brachten wir den Trick nicht bei, und es wurde gebissen. Dann ließen wir beide Kollektive zu einem verschmelzen und schickten ihm den Hai auf den Hals — und es wich aus. Die gesamte Masse hatte dazugelernt. Anschließend teilten wir das Kollektiv in mehrere kleine Mengen auf, und alle wussten plötzlich, wie man einem Hai aus dem Weg zu gehen hat.«
»Also lernen sie über die hypervariablen Bereiche?«, sagte Crowe.
»Ja und nein«, sagte Weaver mit einem Blick auf ihre Notizen. »Es ist möglich, dass sie das tun, aber im Rechner dauert das alles zu lange. Die Masse, die im Welldeck angegriffen hat, ist jedenfalls sehr schnell in ihren Reaktionen, und wahrscheinlich denkt sie ebenso schnell. Ein supraleitendes Gebilde, ein riesiges, variables Gehirn. Nein, wir konnten uns nicht nur auf die kleinen Bereiche beschränken. Wir haben die vollständige DNA lernfähig programmiert und ihre Denkgeschwindigkeit damit enorm heraufgesetzt.«
»Und das Resultat?«, fragte Li.
»Stützt sich auf einige wenige Versuche, die wir kurz vor diesem Treffen durchgeführt haben. Aber es reicht für folgende Aussagen: Ein Yrr-Kollektiv, egal wie groß es ist, denkt in der Geschwindigkeit eines Simultanrechners der neuen Generation. Individuelles Wissen wird vereinheitlicht, Unbekanntes untersucht. Anfangs sind einige Kollektive neuen Herausforderungen nicht gewachsen, aber im Austausch lernen sie dazu. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt verläuft die Lernentwicklung linear, darüber hinaus ist das Verhalten der Kollektive nicht mehr vorhersagbar …«
»Moment mal«, unterbrach sie Shankar. »Sie wollen sagen, das Programm beginnt, ein Eigenleben zu führen?«
»Wir haben völlig unbekannte Situationen für die Yrr herbeigeführt. Je komplexer das Problem, desto häufiger schlossen sie sich zusammen. Nach kurzer Zeit begannen sie, Strategien zu entwickeln, deren Grundlagen wir ihnen nicht einprogrammiert hatten. Sie wurden kreativ. Sie wurden neugierig. Und sie lernten exponentiell. Wir haben nur wenige Versuche durchführen können, und es ist immer noch nur ein Computerprogramm — aber unsere künstlichen Yrr haben gelernt, jede gewünschte Form anzunehmen, Formen anderer Lebewesen zu imitieren und zu variieren, Extremitäten auszubilden, gegen deren Sensitivität unsere zehn Finger Knüppel sind, Objekte auf Nanoebene zu untersuchen, jede dieser Erfahrungen mit jeder anderen Zelle auszutauschen und Probleme zu lösen, an denen Menschen scheitern würden.«
Einen Moment herrschte betroffenes Schweigen. Den meisten war anzusehen, dass sie sich die Vorgänge im Welldeck vor Augen riefen. Schließlich sagte Li: »Geben Sie uns ein Beispiel für eine solche Problemlösung.«
Anawak nickte.
»Also, ich bin ein Yrr-Kollektiv, klar? Und ein kompletter Kontinentalhang ist von Würmern befallen, die ich gezüchtet, mit Bakterien voll gestopft und dorthin gebracht habe, damit sie das dortige Methanhydrat auf ganzer Linie destabilisieren. Mein Problem besteht darin, dass die Würmer und die Bakterien zwar eine Menge anrichten, ich für die große Rutschung aber einen letzten Kick brauche.«
»Stimmt«, sagte Johanson. »Die Nuss haben wir nie geknackt. Würmer und Bakterien leisten Vorarbeit, aber eine Kleinigkeit fehlt, um daraus eine Katastrophe zu machen.«
»Nämlich entweder eine leichte Absenkung des Meeresspiegels, was den erforderlichen Druck auf die Hydrate herabsetzen würde, oder eine Erwärmung des Wassers am Hang. Richtig?«
»Genau.«
»Um ein Grad?«
»Dürfte reichen. Aber sagen wir zwei.«
»Gut. Wir haben uns schlau gemacht. Vor dem norwegischen Kontinentalhang liegt in 1250 Metern Tiefe der Hakon-Mosby-Schlammvulkan. Schlammvulkane spucken keine Lava, sondern befördern Gas, Wasser und Sedimente aus dem warmen Erdinnern an die Oberfläche des Meeresbodens. Das Wasser über einem Schlammvulkan ist nicht heiß, aber wärmer als anderswo. Ich schließe mich also zu einem großen Kollektiv zusammen. Zu einem sehr großen Kollektiv. Ich forme mich zu einem Schlauch mit zwei offenen Enden, und weil ich ein sehr großer Schlauch werden will, beschränke ich die Stärke meiner Außenwand auf wenige Zelllagen. Ich brauche dafür immer noch enorm viel meiner selbst, viele Milliarden Zellen, aber dünnwandig, wie ich bin, gelingt es mir, mich auf die Länge vieler Kilometer zu dehnen. Mein Umfang entspricht dem des Zenralkraters — rund 500 Meter. Ich nehme das warme Wasser des Schlammvulkans in mein Inneres auf und leite es wie eine kolossale Wasserleitung dorthin, wo Würmer und Bakterien zerstörerische Vorarbeit geleistet haben. Schon habe ich meine Rutschung. — Und es wäre durchaus möglich, dass ich auf diese Weise auch das Wasser vor Grönland erwärme oder an den Polkappen heize, was zum Abschmelzen der Gletscher und damit zum Erliegen des Golfstroms führt.«
»Wenn das die Yrr in Ihrem Computer können«, sagte Peak mit ungläubigem Gesicht, »was können dann die wirklichen Yrr?«
Weaver schürzte die Lippen und sah ihn an.
»Ich schätze, noch einiges mehr.«
Weaver fühlte sich innerlich und äußerlich verspannt. Als sie den Besprechungsraum verließen, fragte sie Anawak, ob er Lust auf eine Runde im Pool habe. Ihre Schultern waren ein einziger Schmerz. Und das, wo sie so ziemlich jede Sportart trieb, die man einem menschlichen Körper zumuten konnte.
Vielleicht ist das dein Problem, dachte sie. Vielleicht solltest du mal eine Sportart treiben, die keine Zumutung darstellt.
Anawak begleitete sie. Sie versorgten sich mit Badesachen, jeder in seiner Kabine, und trafen in Bademäntel gehüllt wieder zusammen. Weaver hätte gerne seine Hand genommen auf dem Weg zum Pool — überhaupt hätte sie gerne etwas anderes mit ihm getan in diesem Moment —, aber sie wusste nicht, wie man von so was anfing, ohne wie ein Idiot dazustehen. Früher, vor der Radikalkur ihres Lebens, hatte sie wahllos genommen, was kam, aber das hatte nie mit Liebe zu tun gehabt. Jetzt fühlte sie sich schüchtern und blockiert. Wie flirtete man? Wie ging man miteinander ins Bett, wenn in der Nacht zuvor Menschen gestorben waren und die ganze Welt in einen Abgrund stürzte?
Wie dämlich konnte man überhaupt sein?
Die Schwimmhalle der Independence war riesig und erstaunlich komfortabel für ein Kriegsschiff, und der Pool hatte die Ausmaße eines kleinen Sees. Als sie den Bademantel fallen ließ, spürte sie Anawaks Blicke in ihrem Rücken. Unvermittelt wurde ihr klar, dass er sie das erste Mal so sah. Der Badeanzug war knapp geschnitten und im Rücken tief dekolletiert, und natürlich sah er das Tattoo.
Verlegen trat sie an den Beckenrand, federte ab und tauchte mit einem eleganten Sprung ein. Die Arme von sich gestreckt, trieb sie dicht unter der Wasseroberfläche dahin und hörte, wie Anawak ihr nachkam. Vielleicht wird es hier passieren, dachte sie. Ein Fahrstuhl raste durch ihre Bauchhöhle. Zwischen Hoffen und Bangen, er könne sie einholen, begann sie, mit den Füßen zu schlagen und schneller zu schwimmen.
Angsthase! Warum denn nicht?
Einfach abtauchen und Liebe machen. Unter Wasser.
Verschmelzen …
Plötzlich kam ihr eine Idee.
Sie war geradezu lächerlich simpel und leider auch ziemlich pietätlos. Aber wenn sie funktionierte, war sie brillant. Dann konnte es gelingen, die Yrr auf friedliche Weise zum Rückzug zu bewegen. Oder wenigstens dazu, ihr Vorgehen zu überdenken.
War die Idee wirklich brillant?
Ihre Fingerspitzen berührten die Kachelwand des Pools. Sie tauchte auf und rieb das Wasser aus ihren Augen. Im nächsten Moment erschien ihr der Gedanke einfach nur vulgär. Dann wieder entfaltete er seinen verstörenden Reiz. Meter um Meter, den Anawak herankraulte, wurde sie unschlüssiger, was sie davon zu halten hatte, und als er fast heran war, kam ihr die Idee geradezu abscheulich vor.
Sie musste darüber schlafen.
Plötzlich war er ihr sehr nahe.
Sie drückte sich gegen den Beckenrand. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Wie damals schlug ihr Herz, als sie im eisigen Kanalwasser gehangen hatte — dieses Fahrstuhlgefühl und das Hämmern ihres Herzens, das zu sagen schien: Jetzt … Jetzt … Jetzt …
Sie spürte eine Berührung an ihrer Taille und öffnete die Lippen.
Angst!
Sag was, dachte sie. Irgendwas muss es geben. Irgendein Thema, über das man reden kann.
»Sigur scheint’s wieder besser zu gehen.«
Die Worte kamen herausgesprungen wie Kröten. In Anawaks Augen trat ein Anflug von Enttäuschung. Er trieb ein Stück von ihr weg, strich das nasse Haar zurück und lächelte.
»Ja, sein komischer Unfall.«
Du voll verblödete, verdammte Idiotin!
»Aber er hat ein Problem.« Sie legte die Ellbogen auf den Beckenrand und zog sich hoch. »Behalt’s für dich. Er sollte nicht unbedingt wissen, dass ich damit hausieren gehe. Ich will nur deine Meinung hören.«
Sigur hat ein Problem? Du hast ein Problem! Idiotin! Idiotin!!!
»Was für ein Problem?«, fragte Anawak.
»Er hat was gesehen. Besser gesagt, er meint, es gesehen zu haben. So, wie er die Sache schildert, glaube ich ihm, aber dann wäre die Frage, was es zu bedeuten hat und … pass auf, ich erzähl’s dir.«
Li hörte zu, wie Weaver Anawak über Johansons Zweifel ins Bild setzte. Reglos saß sie vor den Monitoren und lauschte dem Gespräch, das beide miteinander führten.
Was für ein schönes Paar, dachte sie amüsiert.
Der Inhalt des Gesprächs amüsierte sie weniger. Dieser dämliche Hund von Rubin hatte die ganze Mission gefährdet. Sie konnten nur hoffen, dass Johanson nicht noch mehr von dem einfiel, was die Droge aus seinen Hirnwindungen hätte tilgen sollen. Jetzt beschäftigte das Thema schon Weaver und Anawak!
Warum gebt ihr euch bloß mit solchen Geschichten ab, Kinderchen, dachte sie. Böse Ammenmärchen von Onkel Johanson! Warum geht ihr nicht endlich miteinander ins Bett? Jeder Blinde sieht, dass ihr es wollt, nur ihr selber kriegt nichts auf die Reihe. Li seufzte. Wie oft war sie schon diesen unbeholfenen Annäherungen begegnet, seit Frauen und Männer zusammen in der Navy dienten. Es war jedes Mal so offensichtlich! Öde und profan. Alle wollten irgendwann miteinander ins Bett. Fiel den beiden da im Pool nichts Besseres ein, als sich Johansons Kopf zu zerbrechen?
»Wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass Rubin auffliegt«, sagte sie zu Vanderbilt.
Der CIA-Mann stand, einen Becher Kaffee in der Hand, schräg hinter ihr. Sie waren die Einzigen im Raum. Peak war im Welldeck, um die Aufräumungsarbeiten voranzutreiben und den Zustand des Tauchequipments zu überprüfen.
»Und was dann?«
»Für den Fall gib es klare Optionen.«
»So weit sind wir aber noch nicht, Judybaby, dass wir die wahrnehmen könnten. Rubin ist noch nicht so weit. Außerdem wäre es natürlich schöner, wenn wir es gar nicht müssten.«
»Was ist los, Jack? Skrupel?«
»Nur die Ruhe. Es mag Ihr verdammter Plan sein, aber mir obliegt die Garantie seines Gelingens. Sie können einen drauf lassen, dass sich meine Skrupel im kompatiblen Bereich bewegen.« Er kicherte. »Man hat schließlich einen Ruf zu verlieren.«
Li wandte sich zu ihm um. »Haben Sie denn einen?«
Vanderbilt schlürfte vernehmlich an seinem Becher. »Wissen Sie, was ich so sehr an Ihnen schätze, Jude? Ihre Ekelhaftigkeit. Sie geben mir das Gefühl, ein netter Kerl zu sein. Und das will was heißen!«
Crowe und Shankar zerbrachen sich die Köpfe.
Der Rechner zeigte verschlungene Bilder. Parallele Linien, die plötzlich auseinander strebten, sich zu Kurven bogen, eins wurden. Dazwischen gähnten größere, unregelmäßig geformte Leerräume. Scratch bestand aus einer ganzen Serie solcher Graphiken, die aussahen, als ergäben sie zusammengelegt ein einziges Bild, nur dass es nicht hinkam.
Sie passten nicht aneinander. Außerdem hatte Crowe immer noch nicht die leiseste Ahnung, was die Linien zu bedeuten hatten.
»Wasser ist die Basis«, grübelte Shankar. »An jedes Wassermolekül ist eine Zusatzinformation gekoppelt. Wofür steht sie? Für eine Eigenschaft des Wassers?«
»Möglich. Welche Eigenschaften könnten gemeint sein?«
»Temperatur.«
»Ja, zum Beispiel. Oder Salzgehalt.«
»Vielleicht geht es aber nicht um physikalische oder chemische Eigenschaften, sondern um die Yrr selber. Die Linien könnten ihre Populationsdichte darstellen.«
»Nach dem Motto, hier wohnen wir? So was?«
Shankar rieb sich das Kinn. »Irgendwie nicht, oder?«
»Ich weiß nicht, Murray. Würden wir denen denn mitteilen, wo unsere Städte sind?«
»Nein. Aber sie denken nicht wie wir.«
»Danke, dass du mich dran erinnerst.« Crowe produzierte einen Rauchring. »Gut, nochmal. H2O. Wasser. Dieser Teil der Botschaft ist nicht schwer zu begreifen.
Wasser ist unsere Welt.«
»Was eins zu eins die Antwort auf unsere Botschaft ist.«
»Stimmt. Wir haben ihnen verraten, dass wir an der frischen Luft leben. Dann haben wir unsere DNA beschrieben und unsere Form.«
»Nehmen wir an, sie beantworten unsere Botschaft wirklich eins zu eins«, sagte Shankar. »Könnten die Linien eine Darstellung ihrer Form sein?«
Crowe schürzte die Lippen. »Sie haben keine. Ich meine, Einzeller haben natürlich eine Form, aber sie werden sich kaum darüber definieren. Als Form empfinden sie sich wohl eher im Kollektiv, und darüber können sie sich erst recht nicht definieren. Die Gallerte hat tausend Formen und keine.«
»Gut. Form fällt flach. Welche Information könnte sonst von Interesse sein? Anzahl der Individuen?«
»Murray! Das ist irgendeine Zahl mit so vielen Nullen hinten dran, dass wir den Rumpf der Independence damit voll schreiben könnten. Außerdem teilen sie sich am laufenden Band, sie sterben am laufenden Band … Wahrscheinlich dürften sie selber nicht in der Lage sein, uns ihre genaue Zahl mitzuteilen.« Crowe ließ die Zigarette zwischen ihren Zähnen wippen. »Nicht das Einzelwesen zählt. Es ist komplett unwichtig. Die Gesamtheit zählt. Die Yrr-Idee, wenn du so willst, das idealisierte Yrr. Das Yrr-Genom.«
Shankar sah sie über die Ränder seiner Brille an.
»Vergiss nicht, wir haben ihnen lediglich die Information geliefert, dass unsere Biochemie auf DNA basiert. Insofern müsste die Antwort lauten: unsere auch. Glaubst du im Ernst, sie sind darangegangen, ihr Genom für uns aufzuschlüsseln?«
»Könnte doch sein.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Weil es genau genommen die einzige Aussage ist, die sie über sich treffen können. Genom und Verschmelzung sind die zentralen Punkte ihrer ganzen Existenz, alles lässt sich darauf zurückführen.«
»Ja, aber wie willst du eine DNA beschreiben, die fortwährend mutiert?«
Crowe blickte ratlos auf die Linienmuster.
»Vielleicht sind’s doch Landkarten?«
»Landkarten wovon?«
»Na schön.« Sie seufzte. »Fangen wir nochmal an. — H2O ist die Basis. Wir leben im Wasser …«
Li hatte ihr Laufband auf höchste Geschwindigkeit gestellt. Unter anderen Umständen wäre sie im Fitnessraum gelaufen, des Zusammenhalts der Truppe wegen. Aber diesmal wollte sie ungestört sein. Sie führte ihr tägliches Gespräch mit der Offut Air Force Base.
»Wie ist die Moral, Jude?«
»Ausgezeichnet, Sir. Der Angriff hat uns schwer mitgenommen, aber wir haben alles im Griff.«
»Sind die Leute motiviert?«
»Motivierter denn je.«
»Ich mache mir Sorgen.« Der Präsident wirkte müde. Er saß mutterseelenallein im War Room des Stützpunkts. »Boston ist vollständig evakuiert. New York und Washington haben wir abgeschrieben. Und wir bekommen neue Horrormeldungen aus Philadelphia und Norfolk.«
»Ich weiß.«
»Das Land geht vor die Hunde, während alle Welt nur noch von einer nichtmenschlichen Intelligenz im Meer redet. Mich würde wirklich interessieren, wer da sein loses Maul nicht halten konnte.«
»Was spielt das für eine Rolle, Sir?«
»Was das für eine Rolle spielt?« Der Präsident schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wenn Amerika die Führung übernimmt, akzeptiere ich keine Alleingänge von irgendeinem Arschloch bei der UNO! Bloß weil da jeder meint, sein beschissenes kleines Land ins Spiel bringen zu müssen. Wissen Sie, was da draußen los ist, was das für eine Eigendynamik bekommt?«
»Ich weiß genau, was los ist.«
»Oder hat jemand aus Ihrem inneren Kreis gequatscht?«
»Bei allem Respekt, Sir, die Yrr-Hypothese ist nichts, worauf andere nicht auch kommen konnten. So viel ich höre, dreht sich der Großteil aller Vermutungen weltweit immer noch um natürliche Phänomene und internationalen Terrorismus. Heute Morgen hat irgendein Wissenschaftler aus Pjöngjang …«
»Er hat gesagt, wir wären die Schurken.« Der Präsident winkte ab. »Weiß ich alles. Wir würden mit ultraleisen U-Booten herumfahren und unsere eigenen Städte angreifen, um es unschuldigen Kommunisten in die Schuhe zu schieben. Was für ein Schwachsinn.« Er beugte sich vor. »Das ist mir im Grunde aber auch egal. Ich pfeife auf Beliebtheit. Ich will das Problem gelöst sehen, ich will neue Optionen auf den Tisch! Jude, verdammt nochmal, kein Land ist noch in der Lage, einem anderen zu helfen! Die Vereinigten Staaten von Amerika müssen selber um Hilfe bitten! Wir werden überrannt, vergiftet, unsere Bürger fliehen ins Landesinnere. Ich muss mich in einen Sicherheitstrakt zurückziehen wie ein Maulwurf. In den Städten herrschen Plünderung und Anarchie. Militär und Ordnungskräfte sind hoffnungslos überlastet. Die Menschen können wählen zwischen kontaminierten Lebensmitteln und wirkungslosen Medikamenten.«
»Sir …«
»Noch hält Gott seine schützende Hand über den Westen, sieht man davon ab, dass Ihnen garantiert irgendwas die Zehen abbeißen wird, sobald Sie Ihren Fuß ins Wasser halten. Die Wurmpopulationen vor Amerika und Asien werden dichter, und in La Palma stehen sie vor dem Aus. Ich bin nicht unglücklich darüber, dass verschiedene Regierungen hier und da wackeln, aber in wessen Hände dann die dortigen Waffensysteme fallen, dieser Frage können wir uns im Moment keinesfalls widmen.«
»Ihre letzte Ansprache …«
»Hören Sie bloß auf. Ich ergehe mich von morgens bis abends in leidenschaftlich bewegten Äußerungen. Keiner dieser Redenschreiber nimmt sie auf. Keiner von denen begreift, was ich diesem Land und der Welt vor Gott sagen will. Ich sage, verbreitet Zuversicht. Das amerikanische Volk soll die Entschlossenheit eines Oberbefehlshabers sehen, der alles tun wird, was nötig ist, um diese Schlacht zu gewinnen, und mag der Feind auch tausendmal sein Gesicht verdecken. Die Welt soll Kraft schöpfen. Nein, wir wollen niemanden einlullen, wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten, aber wir werden da durchfinden! Das sage ich ihnen, aber wenn sie Zuversicht verbreiten, werden sie unglaubwürdig und pathetisch, und dazwischen mischt sich ihre eigene klamme Angst. Ich frage mich, ob mir von denen überhaupt einer zuhört!«
»Aber die Menschen hören Ihnen zu«, versicherte Li. »Sie sind im Augenblick einer der wenigen, auf den überhaupt jemand hört. Auf Sie und auf die Deutschen.«
»Ja, die Deutschen.« Die Augen des Präsidenten verengten sich. »Stimmt das übrigens? Die Deutschen planen eine eigene Mission?«
Li fiel fast vom Lauf band. Was war das wieder für ein Quatsch? »Nein, das tun sie nicht. Wir führen die Welt an. Wir sind legitimiert von den Vereinten Nationen. Deutschland koordiniert Europa, aber sie arbeiten eng mit uns zusammen. Schauen Sie nach La Palma.«
»Warum erzählt mir dann die CIA, es sei so?«
»Weil Jack Vanderbilt so was kolportiert.«
»Ach, Jude.«
»Doch, er ist und bleibt ein Intrigant.«
»Kind, wenn Sie so weit sind, Ihren wohl verdienten Platz einzunehmen, wird Vanderbilt nicht mal in der Nähe sein.«
Li ließ langsam ihren Atem entweichen. Sie war emotional geworden. Sie hatte sich aus der Deckung begeben und in diesem Moment vielleicht zu viel von sich preisgegeben. Das war nicht gut. Sie musste sich zur Souveränität mahnen.
»Natürlich«, sagte sie lächelnd, »sehe ich in Jack kein Problem, sondern einen Partner.« Der Präsident nickte.
»Die Russen haben uns ein Team geschickt, das die CIA umfassend über die Verhältnisse an der Schwarzmeerküste informiert hat. Mit China stehen wir in engem Austausch. Das mit den Deutschen ist wahrscheinlich Quatsch. Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass sie auf eigene Rechnung spielen, aber Sie wissen ja, was in solchen Zeiten an Gerüchten durch die Medien geistert. Nein, wir können zufrieden sein. Es ist schon großartig, wie viele Menschen unterschiedlicher Nationen sich in Gott finden, wenn der Teufel aus dem Meer steigt.« Er fuhr sich über die Augen. »Also wie weit sind wir? Ich wollte Sie das nicht vor den anderen fragen, Jude, ich will Sie nicht in die peinliche Situation bringen, etwas beschönigen zu müssen, aber seien Sie jetzt offen. — Wie — weit — sind — wir?«
»Wir stehen kurz vor dem Durchbruch.«
»Wie kurz ist kurz?«
»Rubin meint, wenn alles gut geht, kann er in ein bis zwei Tagen liefern. Wir hatten im Laboratorium einen Treffer. Es gibt einen Duftstoff, über den die Yrr kommunizieren. Sie haben das Zeug künstlich hergestellt und …«
»Ersparen Sie mir die Einzelheiten. Rubin sagt, er kriegt das hin?«
»Er ist ganz sicher, Sir«, sagte Li. »Und ich bin es auch.«
Der Präsident schürzte die Lippen. »Ich verlasse mich auf Sie, Jude. Gibt es sonst irgendwelche Komplikationen mit Ihren Wissenschaftlern?«
»Nein«, log sie. »Alles läuft bestens.«
Wieso stellte er diese Frage? Hatte Vanderbilt …
Ruhig, Jude. Eine zufällige Formulierung. Das war nicht in Vanderbilts Interesse. Der Fettsack hatte zwar ein Schandmaul, aber Vanderbilt schoss sich nicht selber ins Knie.
»Sir«, sagte sie. »Wir liegen weit vorne. Ich habe Ihnen versprochen, die Sache in unser aller Sinne zu Ende zu bringen, und das werde ich auch. Wir werden die Welt retten. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden sie retten. Sie werden die Welt retten.«
»So wie im Kino, was?«
»Besser.«
Der Präsident nickte düster. Dann lächelte er unvermittelt. Es war nicht ganz das strahlende Lächeln wie sonst. Aber etwas von dem unabdingbaren Siegeswillen lag darin, um dessentwillen sie ihn bewunderte und verehrte.
»Gott mit Ihnen, Jude«, sagte er.
Er schaltete ab. Li blieb auf ihrem Laufband zurück, und plötzlich fragte sie sich, ob sie es tatsächlich schaffen würden.
Was immer die Botschaft über den Feind im Meer verriet — von den Sachzwängen menschlicher Biochemie kündete Shankars knurrender Magen so beredt, dass Crowe es irgendwann nicht mehr mit anhören konnte und ihn zum Essen schickte.
»Ich muss nichts essen«, beharrte Shankar.
»Tu mir den Gefallen«, sagte Crowe.
»Wir haben keine Zeit, essen zu gehen.«
»Das weiß ich selber. Wir haben aber auch nichts davon, wenn man irgendwann unsere gebleichten Knochen findet. Ich ernähre mich wenigstens von Lucky Strike. Geh schon, Murray. Iss was, komm gestärkt zurück und lös unsere Probleme mit einem konstruktiven Aufstoßen.«
Shankar ging, und sie war allein. Ein bisschen Alleinsein hatte sie gebraucht. Es ging nicht gegen Shankar. Er war brillant und eine große Hilfe.
Aber Shankar wurzelte im Akustischen. Mit außermenschlichen Denkweisen tat er sich schwer, und Crowe war immer dann auf die besten Ideen gekommen, wenn sie nichts und niemanden um sich hatte außer Qualm.
Sie rauchte eine Zigarette und rollte die Sache neu auf.
H2O. Wir leben im Wasser.
Die Botschaft nahm sich aus wie ein Tapetenmuster. Ein Rapport aus H2O. Immer gleich, aber jedes H2O gekoppelt mit irgendwelchen Zusatzdaten. Millionen solcher Datenpaare aneinander gereiht. In der graphischen Übersetzung wurden Bilder daraus, die Linien zeigten. Der Gedanke lag natürlich nahe, dass die Zusatzdaten Eigenschaften des Wassers beschrieben oder etwas, das darin lebte.
Vielleicht aber war dieser Gedanke falsch.
Was hatten die Yrr zu erzählen?
Wasser. Was noch?
Crowe überlegte. Plötzlich kam ihr ein Beispiel in den Sinn. Zwei Aussagen. Erstens, dies ist ein Eimer. Zweitens, dies ist Wasser. Zusammengenommen ein Eimer Wasser. Die Wassermoleküle waren alle gleich, die Daten, die den Eimer beschrieben, keineswegs. Sie differierten, was die Form des Eimers anging, seine Oberflächenstruktur, eventuelle Muster. Ein Datensatz, der einen Eimer beschrieb, in tausend unterschiedliche Einzelaussagen aufgeschlüsselt, war also eine differenzierte Angelegenheit. Nun die Aussage, dass der Eimer randvoll mit Wasser sei. Ganz einfach zu treffen, indem man jeder der Eimer-Aussagen die Zusatzaussage ›Wasser‹ anhängte.
Andersrum: H2O wurde gekoppelt mit Daten, die etwas beschrieben, das mit Wasser nicht das Geringste zu tun hatte. Nämlich einen Eimer.
Wir leben im Wasser.
Und wo ist dieses Wasser? Wie kann man Aussagen über den Ort von etwas treffen, das selber keine Gestalt hat?
Indem man beschreibt, was es begrenzt.
Küsten und Meeresboden.
Die freien Flächen waren Festland, ihre Ränder Küsten.
Crowe ließ beinahe ihre Zigarette fallen. Sie begann dem Computer Befehle einzugeben. Mit einem Mal wusste sie, warum die Flächen zusammen kein Bild ergaben. Weil sie keinen zweidimensionalen Raum beschrieben, sondern einen dreidimensionalen. Man musste sie biegen, damit sie zusammenpassten. So lange biegen, bis sie etwas Dreidimensionales ergaben.
Eine Kugel.
Die Erde.
Zur gleichen Zeit saß Johanson über den Proben, die er dem Yrr-Gewebe entnommen hatte. Oliviera war nach zwölf Stunden hoch konzentrierter Laborarbeit nicht mehr in der Lage gewesen, offenen Auges durch ein Mikroskop zu blicken. Sie hatte wenig geschlafen in den Nächten zuvor. Allmählich begann die Expedition, ihren Tribut zu fordern. Obwohl sie in Riesenschritten vorankamen, saß allen die Verunsicherung tief in den Knochen. Jeder reagierte auf seine Weise. Greywolf hatte sich ins Welldeck zurückgezogen. Er pflegte die verbliebenen drei Delphine, wertete ihre Daten aus und ging Kontakten aus dem Weg. Andere legten eine spürbare Gereiztheit an den Tag. Manche blieben stoisch, und Rubin kompensierte den Schrecken mit Migräne — neben Olivieras wohl verdientem Schönheitsschlaf der zweite Grund, warum Johanson allein in dem großen, dämmrigen Labor saß.
Er hatte die Hauptbeleuchtung ausgeschaltet. Tischleuchten und Computerbildschirme bildeten die einzigen Lichtquellen. Aus dem stetig vor sich hin summenden Simulator drang ein kaum wahrnehmbarer blauer Schein. Die Masse bedeckte unverändert den Boden. Man hätte sie für tot halten können, aber inzwischen wusste er es besser.
Solange sie leuchtete, war sie äußerst lebendig!
Auf der Rampe erklangen Schritte. Anawak steckte den Kopf herein.
»Leon.« Johanson sah von seinen Unterlagen auf. »Wie nett.«
Anawak lächelte. Er kam herein, zog einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf, die Arme über die Lehne verschränkt. »Es ist drei Uhr morgens«, sagte er. »Was zum Teufel tust du hier?«
»Arbeiten. Was tust du hier?«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Vielleicht sollten wir uns einen Schluck Bordeaux genehmigen. Was meinst du?«
»Oh, das …« Anawak sah plötzlich verlegen aus. »Wirklich sehr freundlich von dir, aber ich trinke keinen Alkohol.«
»Nie?«
»Nie.«
»Komisch.« Johanson runzelte die Stirn. »Normalerweise fällt mir so was auf. Wir laufen alle ein bisschen neben der Spur, was?«
»Ja, kann man sagen.« Anawak machte eine Pause. Er schien über irgendetwas reden zu wollen, aber dann fragte er: »Und wie kommst du voran?« »Gut«, erwiderte Johanson und fügte wie beiläufig hinzu: »Ich habe euer Problem gelöst.«
»Unser Problem?«
»Deines und Karens. Das Problem mit dem DNA-Gedächtnis. Ihr hattet Recht. Es funktioniert, und ich weiß auch, wie.«
Anawak machte große Augen. »Das sagst du so nebenbei?«
»Du musst entschuldigen. Ich bin zu müde für den erforderlichen Flicflac. Aber du hast natürlich Recht, man müsste es begießen.«
»Wie bist du dahinter gekommen?«
»Diese rätselhaften hypervariablen Bereiche, du erinnerst dich — es sind Cluster. Überall auf dem Genom finden sich solche Cluster, die bestimmte Proteinfamilien codieren. — Äh … weißt du überhaupt, wovon ich rede?«
»Hilf mir auf die Sprünge.«
»Cluster sind Subklassen von Genen. Gene, die für irgendwas zuständig sind, zum Beispiel für die Ausbildung von Rezeptoren oder die Produktion irgendwelcher Stoffe. Wenn sich eine Zusammenballung dieser Gene auf einem Streckenabschnitt der DNA findet, nennt man das Cluster. Und davon hat das Yrr-Genom jede Menge. Der Witz an der Sache ist, dass die Yrr-Zellen durchaus repariert werden. Aber bei den Yrr startet die Reparatur nicht global für das ganze Genom, und die Enzyme suchen auch nicht die komplette DNA nach Fehlern ab, sondern reagieren nur auf spezifische Signale. Wie auf einer Eisenbahnstrecke. Erkennen sie ein Startsignal, beginnen sie zu reparieren, gelangen sie an ein Stoppsignal, hören sie auf. Denn dort beginnt …«
»Das Cluster.«
»Genau. Und die Cluster sind geschützt.«
»Sie können Teile ihres Genoms vor der Reparatur schützen?«
»Durch Reparatur-Repressoren. Biologische Türsteher, wenn du so willst. Sie schirmen die Cluster gegen Reparatur-Enzyme ab. Darum sind diese Bereiche frei, ohne Unterlass zu mutieren, während der Rest der DNA brav repariert wird, um die Kerninformationen der Rasse zu erhalten. Schlau, was? Auf diese Weise wird jedes Yrr zu einem unbegrenzt entwicklungsfähigen Gehirn.«
»Und wie tauschen sie sich aus?«
»Wie Sue schon sagte, von Zelle zu Zelle. Durch Liganden und Rezeptoren. Die Rezeptoren empfangen die Liganden, die Sendeimpulse, von anderen Zellen und setzen eine Signalkaskade in Richtung Zellkern in Bewegung. Das Genom mutiert und gibt die Impulse an die nächstliegenden Zellen weiter. Alles geht blitzschnell. Der Haufen Gallerte da im Tank denkt in der Geschwindigkeit von Supraleitern.«
»Tatsächlich eine ganz neue Biochemie«, flüsterte Anawak.
»Oder eine ganz alte. Neu ist sie nur für uns. In Wirklichkeit existiert sie wahrscheinlich schon seit Jahrmillionen. Vielleicht seit Anbeginn des Lebens. Eine parallele Spielart der Evolution.« Johanson stieß ein kleines Lachen aus. »Eine sehr erfolgreiche Spielart.«
Anawak stützte das Kinn in die Hände. »Aber was fangen wir jetzt damit an?«
»Gute Frage. Ich hatte selten so ein vermurkstes Gefühl wie heute. Dass mich so viel Wissen so wenig weiterbringt. Es bestätigt nur, was wir ohnehin befürchtet hatten.
Dass sie in jeder Hinsicht anders sind als wir.« Er reckte die Arme und gähnte ausgiebig. »Ich weiß nur nicht, ob Crowes Kontaktversuche uns weiterbringen. Im Augenblick kommt’s mir eher so vor, als ob die sich prächtig mit uns unterhalten, während sie uns zugleich den Garaus machen. Vielleicht stellt das in ihren Augen keinen Widerspruch dar. Meine Art von Konversation ist das jedenfalls nicht.«
»Uns bleibt keine Wahl. Wir müssen einen Weg der Verständigung finden.« Anawak saugte an seiner Backe. »Bei der Gelegenheit — glaubst du eigentlich, dass alle auf dem Schiff am selben Strang ziehen?«
Johanson horchte auf. »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Weil …« Anawak verzog das Gesicht. »Okay, sei ihr nicht böse, aber Karen hat mir erzählt, was du in der Nacht vor deinem komischen Unfall gesehen hast. Oder meinst gesehen zu haben.«
Johanson maß ihn mit kritischen Blicken. »Und wie denkt sie darüber?«
»Sie glaubt dir.«
»Den Eindruck hatte ich auch. Was ist mit dir?«
»Schwer zu sagen.« Anawak zuckte die Achseln. »Du bist Norweger. Ihr behauptet auch steif und fest, es gäbe Trolle.«
Johanson seufzte.
»Das Ganze wäre mir überhaupt nicht mehr eingefallen ohne Sue«, sagte er. »Sie hat mich drauf gebracht. In der Nacht, als wir zusammen auf der Kiste im Hangardeck saßen: Ich hätte Rubin gesehen, obwohl der angeblich mit Migräne im Bett lag. So, wie er jetzt auch wieder Migräne hat. Angeblich! — Seitdem kommen Bruchstücke zurück. Ich erinnere mich an Dinge, die ich unmöglich geträumt haben kann. Manchmal bin ich kurz davor, alles zu sehen, aber dann … ich stehe vor einer offenen Tür, schaue in weißes Licht — ich gehe hinein, und die Erinnerung reißt ab.«
»Was macht dich so sicher, es nicht geträumt zu haben?«
»Sue.«
»Die hat aber selber nichts gesehen.«
»Und Li.«
»Wieso gerade Li?«
»Weil sie sich auf der Party ein bisschen zu auffällig für mein Erinnerungsvermögen interessiert hat. Ich glaube, sie wollte mir auf den Zahn fühlen.« Johanson sah ihn an. »Du hast gefragt, ob alle hier am selben Strang ziehen. Ich glaube nicht. Ich hab’s schon im Chateau nicht geglaubt. Ich habe Li von Anfang an misstraut. Mittlerweile glaube ich ebenso wenig, dass Rubin unter Migräne leidet. Ich weiß nicht, was ich glauben soll — aber ich habe das sichere Gefühl, dass was im Gange ist!«
»Männliche Intuition«, grinste Anawak unsicher. »Was sollte Li denn deiner Ansicht nach vorhaben?«
Johanson sah zur Decke. »Das weiß sie besser als ich.«
Zufälligerweise schaute Johanson in diesem Moment direkt in eine der versteckten Kameras. Ohne es zu wissen, sah er Vanderbilt an, der Lis Platz eingenommen hatte, und sagte: »Das weiß sie besser als ich.«
»Du bist ja so ein schlaues Kerlchen«, summte Vanderbilt. Dann rief er Li über die abhörsichere Leitung in ihrem Quartier an. Er wusste nicht, ob sie schlief, aber es war ihm egal.
Li erschien auf dem Monitor.
»Ich sagte ja, es gibt keine Garantie, Jude«, bemerkte Vanderbilt. »Johanson steht kurz davor, sein Gedächtnis wiederzuerlangen.«
»So? Und wenn schon.«
»Sind Sie gar nicht nervös?«
Li lächelte dünn. »Rubin hat hart gearbeitet. Er war eben hier.«
»Und?«
»Es ist brillant, Jack!« Ihre Augen leuchteten. »Ich weiß, wir mögen den kleinen Scheißer nicht sonderlich, aber ich muss sagen, diesmal hat er sich selber übertroffen.«
»Schon praktisch getestet?«
»Im kleinen Maßstab. Aber der kleine ist wie der große. Es funktioniert. In wenigen Stunden werde ich den Präsidenten verständigen. Danach gehen Rubin und ich runter.«
»Sie wollen das selber machen?«, rief Vanderbilt.
»Was denn sonst? Sie passen ja in so ein Boot nicht rein«, sagte Li und schaltete ab.
Geisterhaft summten die elektrischen Systeme in den leeren Hangars und Decks der Independence. Sie versetzten die Schotts in kaum merkliche Schwingungen. In dem riesigen, leeren Hospital waren sie zu hören, in der verlassenen Offiziersmesse, und wer in den Mannschaftskojen seine Fingerspitzen gegen eines der Spinde legte, konnte die leichten Vibrationen spüren, die sie erzeugten.
Bis tief hinunter in den Bauch des Schiffes drangen sie, wo Greywolf mit offenen Augen am Rand des Gestades lag und an die Stahlträgerdecke starrte.
Warum bloß ging immer alles verloren?
Er fühlte sich überwältigt von Traurigkeit und dem Gefühl, alles verkehrt gemacht zu haben. Allein schon, auf die Welt gekommen zu sein, war ein Fehler gewesen. Alles war schief gelaufen. Und jetzt hatte er nicht mal Licia retten können.
Nichts hast du geschützt, dachte er. Gar nichts. Du hast immer nur eine große Fresse gehabt und dahinter eine noch größere Angst. Ein kleiner, heulender Junge in einem Riesenkörper, der sich und anderen so gerne was bedeuten würde.
Einmal, im Krankenhaus, zusammen mit dem Kind, das er von der Lady Wexham gerettet hatte, da war er wirklich stolz gewesen. Auf der Lady Wexham hatte er einen guten Job gemacht. Er hatte vielen Menschen geholfen, und plötzlich war auch Leon wieder sein Freund geworden. Ein Fotograf hatte ein Bild geschossen und die Zeitung tags darauf den Segen der Verbindlichkeit erteilt.
Doch jetzt drehten die Wale weiter durch, die Delphine litten, die ganze Natur litt vor sich hin, und Licia war tot.
Greywolf fühlte sich leer und wertlos. Er empfand Abscheu vor sich selbst. Mit niemandem würde er darüber reden, so viel stand fest, nur seine Aufgabe erledigen, bis der ganze Alptraum überstanden war.
Und dann …
Tränen liefen aus seinen Augen. Sein Gesicht war unbewegt. Er starrte weiter an die Decke, aber dort waren nur Stahlträger. Keine Antworten.
»Diese Kugel«, sagte Crowe, »ist der Planet Erde.«
Sie hatte mehrere Vergrößerungen von Ausdrucken an die Wand gehängt und ging langsam von einer zur anderen.
»Über die Natur der Linien haben wir uns lange den Kopf zerbrochen, aber wir glauben, sie geben das Erdmagnetfeld wieder. Die Aussparungen jedenfalls sind Kontinente. Im Wesentlichen haben wir die Botschaft damit entschlüsselt.«
Li kniff die Augen zusammen. »Sind Sie sicher? Diese angeblichen Kontinente da gleichen in nichts den Kontinenten, die ich kenne.«
Crowe lächelte. »Das können sie auch nicht, Jude. Es sind die Kontinente, wie sie vor 180 Millionen Jahren aussahen, zu einem vereint. Pangäa. Der Urkontinent. Wahrscheinlich entstammt auch die Anordnung der Magnetfeldlinien dieser Zeit.«
»Haben Sie das überprüft?«
»Die Anordnung des Magnetfelds lässt sich schwer rekonstruieren. Die damalige Konstellation der Landmassen hingegen ist bekannt. Wir brauchten eine Weile, um dahinter zu kommen, dass sie uns ein Modell der Erde geschickt hatten, aber dann passte alles hübsch zusammen. Im Grunde ganz einfach. Als Kerninformation wählten sie Wasser und koppelten es mit geographischen Daten.«
»Wie können die wissen, wie die Erde vor 180 Millionen Jahren ausgesehen hat?«, wunderte sich Vanderbilt.
»Indem sie sich daran erinnern«, sagte Johanson.
»Erinnern? An den Urozean? Aber das war eine Zeit, in der nur Einzeller …« Vanderbilt stockte.
»Richtig«, sagte Johanson. »Nur Einzeller. Und ein paar mehrzellige Experimente im Frühstadium. Gestern Nacht haben wir den letzten Stein im Puzzle gefunden. Die Yrr verfügen über eine hypermutierende DNA. Nehmen wir an, zu Beginn des Jura, vor gut 200 Millionen Jahren, hat ihre Bewusstwerdung eingesetzt. Seitdem lernen sie ständig dazu. — Wissen Sie, in der Science-Fiction gibt es einige Sätze, beliebte Klassiker wie Ich weiß nicht, was es ist, aber es kommt auf uns zu! oder Geben Sie mir den Präsidenten. Ein weiterer dieser obligatorischen Sätze lautet: Sie sind uns überlegen, und fast immer bleibt der Film oder das Buch die Erklärung schuldig. In diesem Fall können wir sie nachliefern. Die Yrr sind uns überlegen.«
»Weil sich ihr Wissen in der DNA ablagert?«, fragte Li.
»Ja. Das ist der wesentliche Unterschied zum Menschen. Wir haben kein Rassengedächtnis. Unsere Kultur beruht auf mündlicher und schriftlicher Überlieferung oder auf Bildern. Aber unmittelbar Erlebtes können wir nicht weitergeben. Mit unserem Körper stirbt unser Geist. Wenn wir sagen, dass die Fehler der Vergangenheit nie in Vergessenheit geraten dürfen, sprechen wir einen unerfüllbaren Wunsch aus. Man kann nur vergessen, woran man sich erinnert. Aber kein Mensch kann sich an etwas erinnern, das ein Mensch vor ihm erlebt hat. Wir können Erinnerungen aufzeichnen und abrufen, aber wir waren nicht dabei. Jedes Menschenkind muss das ewig Gleiche immer neu erlernen, es muss die Hand auf die heiße Herdplatte legen, um zu begreifen, dass sie heiß ist. Bei den Yrr ist das anders. Eine Zelle lernt und teilt sich. Sie verdoppelt ihr Genom mitsamt aller Informationen, etwa so, als würden wir unser Hirn mitsamt aller Erinnerungen duplizieren. Neue Zellen erben kein abstraktes Wissen, sondern die unmittelbare Erfahrung, als seien sie selber dabei gewesen. Seit Anbeginn ihrer Existenz sind die Yrr befähigt zu kollektiver Erinnerung.« Johanson sah Li an. »Ist Ihnen eigentlich klar, wer da gegen uns steht?«
Li nickte langsam.
»Man könnte die Yrr nur dann ihres Wissens berauben, wenn man es schaffte, ganze Kollektive zu vernichten.«
»Ich fürchte, dazu müssten wir alle vernichten«, sagte Johanson. »und das ist aus verschiedenen Gründen unmöglich. Wir wissen nicht, wie dicht ihr Netz ist. Möglicherweise bilden sie zellulare Ketten über Hunderte von Kilometern. Sie sind in der Überzahl. Anders als wir leben sie nicht nur in der Gegenwart. Sie brauchen keine Statistik, keine Mittelwerte, keine krückenhaften Sinnbilder. In hinreichend großen Verbänden sind sie selber die Statistik, die Summe aller Werte, ihre eigene Chronik. Sie erkennen Entwicklungen, die sich über Jahrtausende vollziehen, während wir nicht mal in der Lage sind, im Interesse unserer Kinder und Enkel zu handeln. Wir sind die Verdränger. Die Yrr vergleichen, analysieren, erkennen, prognostizieren und handeln aufgrund einer ständig präsenten Erinnerung. Keine kreative Leistung geht verloren, alles fließt ein in die Entwicklung neuer Strategien und Konzepte! Ein niemals endendes Ausleseverfahren hin zur besseren Lösung. Zurückgreifen, modifizieren, verfeinern, aus Fehlschlägen lernen, mit Neuem abgleichen, hochrechnen — handeln.«
»Was für eine kalte, ekelhafte Angelegenheit«, sagte Vanderbilt.
»Finden Sie?« Li schüttelte den Kopf. »Ich bewundere diese Wesen. Sie erarbeiten Strategien, die uns jahrelang beschäftigen würden, in Minuten. Schon alleine zu wissen, was alles nicht geht! Einfach, weil man sich daran erinnert, weil man selber es war, der den Fehler gemacht hat, auch wenn man physisch noch gar nicht existierte.«
»Darum kommen die Yrr in ihrem Lebensraum wahrscheinlich besser zurecht als wir in unserem«, sagte Johanson. »Bei ihnen ist jede geistige Leistung kollektiv und in den Genen verankert. Sie leben in allen Zeiten zugleich. Menschen hingegen verkennen das Vergangene und ignorieren das Kommende. Unsere gesamte Existenz ist fixiert auf den Einzelnen und dessen Hier und Jetzt. Höhere Einsicht opfern wir persönlichen Zielen. Wir können uns nicht über den Tod hinaus erhalten, also verewigen wir uns in Manifesten, Büchern und Opern. Wir versuchen, uns der Geschichte einzuschreiben, hinterlassen Aufzeichnungen, werden weitererzählt, missverstanden, verfälscht, treten ideologische Lawinen los, lange nachdem wir tot sind. Wir sind derart versessen darauf, uns selber zu überdauern, dass unsere geistigen Ziele selten mit dem übereinstimmen, was der Menschheit als Ziel dienlich wäre. Unser Geist forciert das Ästhetische, Individuelle, Intellektuelle, Theoretische. Wir wollen kein Tier sein. Einerseits ist der Körper unser Tempel, andererseits schätzen wir ihn als bloße Funktionseinheit gering. Also haben wir uns angewöhnt, den Geist über den Körper zu stellen, und die Sachzwänge unseres Überlebens betrachten wir mit Abscheu und Selbstverachtung.«
»Und bei den Yrr existiert diese Trennung nicht«, sinnierte Li. Sie wirkte aus unerfindlichen Gründen äußerst zufrieden. »Der Körper ist der Geist, der Geist ist der Körper. Kein einzelnes Yrr wird je etwas tun, das den Interessen der Allgemeinheit zuwiderläuft. Überleben ist ein Interesse der Spezies, nicht des Individuums, und Handeln immer der Beschluss aller. Grandios! Kein Yrr wird je einen Orden für eine gute Idee bekommen. Die Mitwirkung am Resultat dient der Befriedigung. Mehr Anspruch auf Ruhm hat kein Yrr. Ich frage mich, ob die einzelnen Zellen überhaupt so etwas wie ein Individualbewusstsein haben?«
»Anders, als wir es kennen«, sagte Anawak. »Ich weiß nicht, ob man von einem Ich-Bewusstsein einer einzelnen Zelle sprechen kann. Aber jede Zelle ist individuell kreativ. Sie ist ein Messfühler, der Erfahrung in Kreativität umsetzt und diese ins Kollektiv einbringt. Wahrscheinlich wird ein Gedanke erst berücksichtigt, wenn sein Impuls stark genug ist, also wenn ihn genügend Yrr zur gleichen Zeit einbringen. Er wird gegen andere Ideen gerechnet, und die stärkere Idee überlebt.«
»Pure Evolution«, nickte Weaver. »Evolutives Denken.«
»Was für ein Gegner!« Li schien voller Bewunderung. »Keine Eitelkeiten, kein Informationsverlust. Wir Menschen sehen immer nur einen Teil des Ganzen, sie überblicken Zeit und Raum.«
»Darum zerstören wir unseren Planeten«, sagte Crowe. »Weil wir nicht erkennen, was wir zerstören. Das muss denen da unten klar geworden sein, und auch, dass wir kein Rassengedächtnis haben.«
»Ja, es ergibt alles einen Sinn. Warum sollten sie mit uns verhandeln? Mit Ihnen oder mit mir? Morgen können wir tot sein. Mit wem reden sie dann? Hätten wir ein Rassengedächtnis, würde es uns vor unseren eigenen Dummheiten schützen, aber so sind wir nicht. Mit Menschen klarkommen zu wollen ist illusorisch. Das haben sie gelernt. Das ist Teil ihres Wissens und Grundlage des Beschlusses, gegen uns vorzugehen.«
»Und kein Feind wird in der Lage sein, dieses Wissen zu eliminieren«, sagte Oliviera. »In einem Yrr-Kollektiv weiß jeder alles. Es gibt keine klugen Köpfe, keine Wissenschaftler, Generäle und Führer, die man aus dem Weg räumen könnte, um den anderen die Informationsgrundlage zu entziehen. Man kann so viele Yrr töten, wie man will — solange einige überleben, überlebt das Wissen aller.«
»Augenblick.« Li wandte ihr den Kopf zu. »Sagten Sie nicht, es müsse Königinnen geben?«
»Ja. So was in der Art. Mag sein, dass kollektives Wissen allen Yrr zu Eigen ist, aber kollektives Handeln könnte zentral initiiert sein. Ich schätze, dass es diese Königinnen gibt.«
»Ebenfalls Einzeller?«
»Sie müssen dieselbe Biochemie teilen wie die Gallerte, die wir kennen. Es ist anzunehmen, dass es Einzeller sind. Ein hoch organisierter Verbund, an den wir nur rankommen, indem wir mit ihm kommunizieren.«
»Um rätselhafte Botschaften zu erhalten«, sagte Vanderbilt. »Sie haben uns also ein Bild der prähistorischen Erde geschickt. Wozu? Was wollen sie uns damit erzählen?«
»Alles«, sagte Crowe.
»Geht’s ein bisschen präziser?«
»Sie erzählen uns, dass dies ihr Planet ist. Dass sie ihn seit mindestens 180 Millionen Jahren beherrschen, womöglich länger. Dass sie über ein Rassengedächtnis verfügen, sich am Magnetfeld orientieren und überall vertreten sind, wo Wasser ist. Sie sagen, ihr seid hier und jetzt. Wir sind immer und überall. Das sind die Fakten. Das sagt uns die Botschaft, und ich finde, sie sagt verdammt viel.«
Vanderbilt kratzte seinen Bauch. »Und was antworten wir ihnen? Dass sie sich ihre Vorherrschaft in den Arsch schieben sollen?«
»Sie haben keinen, Jack.«
»Also was?«
»Nun, ich denke, ihrer Logik, uns vernichten zu wollen, können wir nicht mit unserer Logik begegnen, überleben zu wollen. Unsere einzige Chance liegt darin, ihnen zu signalisieren, dass wir ihre Vorherrschaft anerkennen …«
»Die Vorherrschaft von Einzellern?«
»Und sie davon zu überzeugen, dass wir nicht mehr gefährlich für sie sind.«
»Aber das sind wir«, sagte Weaver.
»Stimmt«, sagte Johanson. »Gerede nützt nichts. Wir müssen ihnen ein Zeichen geben, dass wir uns aus ihrer Welt zurückziehen. Wir müssen aufhören, das Meer mit Gift und Lärm zu verschmutzen, und zwar schnell. So schnell, dass sie vielleicht auf den Gedanken kommen, auch mit uns leben zu können.«
»Das müssen Sie entscheiden, Jude«, sagte Crowe. »Wir können es nur empfehlen. Sie müssen es weiterempfehlen. Oder anordnen.«
Plötzlich sahen alle auf Li.
Li nickte.
»Ich bin sehr dafür, diesen Weg zu gehen«, sagte sie. »Aber wir dürfen nichts überstürzen. Wenn wir uns aus den Meeren zurückziehen, müssen wir ihnen eine Botschaft schicken, die das sehr genau und überzeugend formuliert.« Sie sah in die Runde. »Ich will, dass alle daran mitarbeiten. Und zwar, ohne in Hast und Panik zu verfallen. Wir dürfen nichts überstürzen. Auf ein paar Tage kommt es jetzt nicht an, sondern darauf, dass der Wortlaut stimmt. Diese Rasse ist uns in allem so fremd, wie ich es niemals vermutet hätte. Aber wenn es nur die geringste Chance gibt, mit ihr zu einer friedlichen Einigung zu gelangen, sollten wir sie nutzen. — Also geben Sie Ihr Bestes.«
»Jude«, lächelte Crowe. »Sie sehen mich entzückt vom amerikanischen Militär.«
Als Li mit Peak und Vanderbilt den Raum verließ, sagte sie leise: »Hat Rubin genug von dem Zeug herstellen können?«
»Hat er«, sagte Vanderbilt.
»Gut. Ich will, dass er das Deepflight betankt. Welches, ist mir egal. In zwei bis drei Stunden sollten wir darangehen, die Sache hinter uns zu bringen.«
»Warum plötzlich so schnell?«, fragte Peak.
»Johanson. Er hat so einen Ausdruck in den Augen, als ob er kurz vor einer Eingebung steht. Ich habe keine Lust auf Diskussionen, das ist alles. Morgen kann er meinetwegen so viel Krach schlagen, wie er will.«
»Sind wir wirklich schon so weit?«
Li sah ihn an.
»Ich habe dem Präsidenten der Vereinigten Staaten versprochen, dass wir so weit sind, Sal. Und dann sind wir es auch.«
»Hey.«
Anawak trat zum Delphinarium. Greywolf sah kurz auf und widmete sich wieder der kleinen Videokamera, die er auseinander geschraubt hatte. Als Anawak näher kam, steckten zwei der Tiere ihre Köpfe aus dem Wasser und begrüßten ihn mit Schnattern und Pfeifen. Sie kamen herangeschwommen, um sich Streicheleinheiten abzuholen.
»Stör ich dich?«, fragte Anawak, während er über die Umrandung langte und die Tiere tätschelte.
»Nein. Du störst nicht.«
Anawak lehnte sich neben ihn. Es war nicht das erste Mal, dass er hierher kam seit dem Angriff. Jedes Mal hatte er versucht, Greywolf in ein Gespräch zu verwickeln, und jedes Mal vergeblich. Der Halbindianer schien völlig in sich gekehrt. Er nahm nicht mehr an den Sitzungen teil, sondern versah die Videos der Delphine mit kurzen, schriftlichen Kommentaren. Viel ließ sich darauf ohnehin nicht erkennen. Die Aufnahmen der näher rückenden Gallerte enttäuschten. Blaues Licht, das sich in der Tiefe verlor. Schemenhaft einige Orcas. Danach hatten es die Delphine mit der Angst bekommen und sich unter den Rumpf des Schiffes gedrängt, und man sah nur noch Stahlplatten. Greywolf hatte dafür plädiert, die verbliebenen Tiere weiterhin als biologisches Frühwarnsystem patrouillieren zu lassen. Anawak zweifelte zunehmend am Nutzen der Staffeln, aber er sagte nichts dergleichen. Insgeheim hegte er den Verdacht, dass Greywolf einfach nur weitermachen wollte wie bisher, um nicht ins Loch der Untätigkeit zu fallen.
Sie standen eine Weile schweigend beisammen. Weiter hinten stieg eine Gruppe Soldaten und Techniker aus dem Bauch des Welldecks nach oben. Sie hatten das zerstörte Glasschott abgebaut. Einer der Techniker trat zur Steuerkonsole auf dem Kai. Die Pumpen begannen zu arbeiten.
»Machen wir, dass wir wegkommen«, sagte Greywolf.
Sie gingen das Gestade hinauf. Anawak sah zu, wie sich das Deck langsam mit Wasser füllte.
»Die fluten wieder«, stellte er fest.
»Ja. Es ist nun mal einfacher, die Delphine rauszulassen, wenn das Deck geflutet ist.«
»Du willst sie rausschicken?«
Greywolf nickte.
»Ich helfe dir«, schlug Anawak vor. »Wenn du Lust hast.« »Gute Idee.« Greywolf öffnete die Kamera und fuhr mit einem winzigen Schraubenzieher ins Innere.
»Jetzt sofort?«
»Nein, ich muss erst das Ding hier reparieren.«
»Willst du nicht mal Pause machen? Wir könnten was trinken gehen. Wir brauchen alle ein bisschen Ruhe zwischendurch.«
»So viel hab ich nicht zu tun, Leon. Ich wühle im Equipment rum und sorge dafür, dass es den Tieren gut geht. Ich mache die ganze Zeit über Pause.«
»Dann komm mit zu den Besprechungen.«
Greywolf warf ihm einen kurzen Blick zu und arbeitete schweigend weiter. Die Unterhaltung versiegte.
»Jack«, sagte Anawak. »Du kannst dich doch nicht permanent verkriechen.«
»Wer redet denn von permanent?«
»Na ja, was soll das sonst sein?«
»Ich mache meinen Job.« Greywolf zuckte die Achseln.
»Ich passe auf, was die Delphine melden, werte die Videos aus, und wenn mich einer braucht, bin ich da.«
»Du bist nicht da. Du weißt noch nicht mal, was wir in den letzten 24 Stunden alles raus gefunden haben.«
»Doch. Weiß ich.«
»So?«, staunte Anawak. »Von wem denn?«
»Sue war zwischendurch hier. Selbst Peak kam mal nachsehen, ob alles okay ist. Jeder erzählt mir was, ich muss überhaupt nicht fragen.«
Anawak starrte vor sich hin. Plötzlich regte sich Zorn in ihm. »Na, dann brauchst du mich ja nicht«, sagte er trotzig.
Greywolf gab keine Antwort.
»Also willst du hier versauern?«
»Du weißt, dass ich die Gesellschaft von Tieren vorziehe.« Auch wenn eines davon Licia getötet hat, wollte Anawak fragen, aber er schluckte es im letzten Moment herunter. Was sollte er bloß tun? »Ich habe Licia genauso verloren wie du«, sagte er schließlich. Greywolf hielt kurz inne. Dann fummelte er wieder mit dem Schraubenzieher in der Kamera herum. »Darum geht’s nicht.« »Worum geht’s dann?« »Was willst du hier, Leon?« »Was ich will?« Anawak überlegte. Sein Zorn wuchs.
Das war nicht fair. Bei allem, was Greywolf durchlitt, war es einfach nicht fair. »Ich weiß nicht, Jack. Offen gestanden frage ich mich das auch.«
Er wandte sich ab, um zu gehen. Als er schon fast wieder im Tunnel war, hörte er Greywolf leise sagen: »Warte, Leon.«
Johanson dämmerte weg. Er war todmüde. Die letzte Nacht steckte ihm in den Knochen. Er saß vor der Konsole mit den Bildschirmen, während Oliviera im Sterillabor weitere Mengen konzentrierten Yrr-Pheromons herstellte. Sie hatten beschlossen, einiges davon in den Simulator zu geben. Von der Masse war wenig zu sehen, nur dass die Vielzahl der Einzeller das Wasser trübte. Offenbar hatte sie sich vorübergehend aufgelöst und das Leuchten eingestellt. Wenn sie Pheromonextrakt hinzufügten, konnten sie womöglich eine Verschmelzung herbeiführen und das Gebilde weiteren Tests unterziehen.
Vielleicht, dachte Johanson, sollten sie Crowes Nachrichten in den Tank schicken, um zu sehen, ob das Kollektiv antwortete.
Er hatte leichtes Kopfweh und wusste auch den Grund dafür. Weder rührte es von Überarbeitung noch von zu wenig Schlaf. Es waren verklemmte Gedanken, die schmerzten.
Festsitzende Erinnerungen.
Seit der letzten großen Besprechung wurde es stetig schlimmer. Eine Äußerung Lis hatte seinen inneren Diaschlitten wieder in Gang gesetzt. Wenige Worte nur, aber sie füllten sein ganzes Denken aus und hinderten ihn, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Überaus anstrengend war dieses Nachdenken, und schließlich kippte Johansons Kopf langsam nach hinten. Er fiel in einen leichten Schlaf. An der Oberfläche des Bewusstseins trieb er dahin, gefangen in der Endlosschleife, zu der sich Lis Worte verbanden.
Nichts überstürzen. Nichts überstürzen. Nichts …
Von irgendwoher drangen Geräusche an sein Ohr. War Oliviera schon fertig mit der Synthetisierung des Pheromons? Kurz tauchte er auf aus seinem nervösen Schlummer, blinzelte in die Laborbeleuchtung und schloss wieder die Augen.
Nichts überstürzen.
Dämmrig.
Das Hangardeck.
Ein metallisches Geräusch, schleifend, leise. Johanson schreckt auf. Zuerst weiß er nicht, wo er ist. Dann spürt er die Stahlwand im Kreuz. Über dem Meer hat sich der Himmel aufgehellt. Er rappelt sich hoch und sieht zu der Wand hinüber.
Ein Teil davon steht offen.
Ein Tor hat sich aufgetan, leuchtend hell. Weißes Licht dringt aus dem Innern. Johanson rutscht von der Kiste. Stunden muss er darauf verbracht haben, so sehr schmerzen seine Knochen. Alter Mann. Er geht langsam auf das helle Quadrat zu. Dort mündet ein Gang, das erkennt er jetzt, mit nackten Wänden. Neonröhren ziehen sich die Decken entlang. Nach wenigen Metern eine Wand, seitlich abknickend.
Johanson späht ins Innere und lauscht.
Stimmen und Geräusche. Er tritt einen Schritt zurück.
Was ist hinter dem Knick? Soll er hineingehen? Johanson zögert.
Nichts überstürzen. Nichts überstürzen.
Zögert.
Plötzlich bricht eine Barriere.
Er geht hinein. Zu beiden Seiten nichts als nackte Wände, dort die Biegung. Er geht nach rechts. Noch eine Biegung, diesmal zur anderen Seite. Breit ist dieser Gang, man könnte mit einem Auto entlangfahren. Wieder Geräusche, Stimmen, näher diesmal. Die Quelle muss gleich hinter dem zweiten Knick sein. Seine Schritte führen ihn langsam auf die Biegung zu, nach links, und da ist …
Das Labor.
Nein, nicht das Labor. Ein Labor. Kleiner, mit niedrigeren Decken. Aber es muss direkt über dem umgebauten Fahrzeugdeck liegen, wo sie den Simulator aufgestellt haben. Und auch dieses Labor hat einen Simulator, ein viel kleineres Gerät, nicht größer als eine Kiste, und im Innern schwebt etwas Leuchtendes, Blaues mit ausgestreckten Tentakeln …
Ungläubig starrt er auf die Szenerie.
Der ganze Raum ist eine kleine, aber perfekte Kopie des darunter liegenden Bereichs. Mehrere Labortische reihen sich aneinander. Gerätschaften. Behälter mit flüssigem Stickstoff. Eine Konsole mit Bildschirmen. Ein Elektronenmikroskop. Im Hintergrund an einer panzerverglasten Tür das Biohazard-Symbol. Noch weiter hinten führt eine offene Tür in einen schmaleren Gang.
Und da sind Menschen.
Drei Personen stehen vor dem kleinen Simulator. Sie unterhalten sich, ohne den Eindringling zu bemerken. Zwei Männer drehen ihm den Rücken zu, eine Frau steht halb seitlich und notiert etwas auf einem Block. Ihr Blick wandert zwischen den Männern und dem Simulator hin und her, fällt in den Raum, fällt auf Johanson …
Ihr Mund öffnet sich, und die Männer drehen sich abrupt zu ihm herum. Einen davon kennt er. Gehört zu Vanderbilts Stab, keiner weiß genau, was er macht, aber was machen CIA-Agenten schon?
Den zweiten Mann kennt er erst recht!
Es ist Rubin.
Johanson ist zu perplex, um etwas anderes zu tun als dazustehen und zu schauen. Er sieht den Schrecken in Rubins Augen, die Frage, wie diese Situation zu retten sei. Eigentlich ist es erst dieser Blick, der Johansons Erstarrung löst, weil ihm plötzlich klar wird, dass hier irgendein merkwürdiges Spiel gespielt wird, in dem man ihn benutzt, ihn und die anderen, Oliviera, Anawak, Weaver, Crowe …
Oder wer von ihnen spielt in diesem Spiel sonst noch eine Rolle?
Und zu welchem Zweck?
Rubin kommt langsam auf ihn zu. Ein verkrampftes Lächeln hat sich auf seine Züge gelegt.
»Sigur, mein Gott! Auch schlaflos unterwegs?«
Johansons Blicke wandern im Raum umher, streifen die anderen. Er muss ihnen nur eine Sekunde in die Augen sehen, um zu wissen, dass er keinesfalls hier sein sollte.
»Was tut ihr da, Mick?«
»Oh, nichts, das ist nur …«
»Was soll das? Was passiert hier?«
Rubin baut sich vor ihm auf. »Ich kann Ihnen das erklären, Sigur. Wissen Sie, wir hatten eigentlich nicht vor, dieses zweite Labor zu benutzen, es ist nur für den Notfall angelegt worden, wenn das große aus irgendeinem Grund ausfällt. Wir inspizieren lediglich die Systeme, damit es einsatzbereit ist für den Fall, dass …«
Johanson zeigt auf das Wesen im Simulator.
»Ihr habt eines von den … von den Dingern da im Tank!«
»Ach, das?« Rubins Kopf dreht sich nach hinten, wieder zurück. »Das … äh … nun ja, wir müssen es eben ausprobieren, sicherstellen. Wir haben Ihnen nichts davon gesagt, es bestand ja keine Notwendigkeit, weil …«
Jedes Wort ist gelogen.
Natürlich ist Johanson nicht ganz nüchtern, aber dass Rubin sich gerade um Kopf und Kragen redet, kriegt er mit.
Er dreht sich um und stapft den Gang zurück nach draußen.
»Sigur! Dr. Johanson!«
Schritte hinter ihm. Rubin an seiner Seite. Finger zerren nervös an seinem Ärmel.
»Warten Sie doch.«
»Was — macht — ihr — da?«
»Es ist nicht so, wie Sie denken, ich …«
»Woher wollen Sie denn wissen, was ich denke, Mick?«
»Es ist eine Sicherheitsmaßnahme.«
»Was?«
»Eine Sicherheitsmaßnahme! Das Labor ist eine Sicherheitsmaßnahme!«
Johanson reißt sich los.
»Ich glaube, ich sollte mal mit Li darüber reden.«
»Nein, das …«
»Oder besser mit Oliviera. Quatsch, vielleicht sollte ich einfach mit allen darüber reden, was meinen Sie, Mick? Verarscht ihr uns hier?«
»Bestimmt nicht.«
»Dann erklären Sie mir endlich, was das soll.«
In Rubins Augen tritt nackte Panik. »Sigur, das wäre keine sehr gute Idee. Sie dürfen jetzt nichts überstürzen. Hören Sie? Nichts überstürzen!«
Johanson sieht ihn an. Er stößt ein unwilliges Schnauben aus und lässt Rubin stehen. Hört, wie ihm der andere nachkommt, spürt Rubins Angst in seinem Nacken.
Nichts überstürzen.
Weißes Licht.
Es explodiert vor seinen Augen, und ein dumpfer Schmerz breitet sich in seinem Schädel aus. Die Wände, der Gang, alles verschwimmt. Der Fußboden kommt ihm entgegen …
Johanson starrte an die Decke des Laboratoriums.
Alles war wieder präsent.
Er sprang auf. Oliviera arbeitete noch immer im Sterillabor. Schwer atmend blickte er auf den Simulator, das Kontrollpult, die Arbeitstische.
Sah wieder zur Decke.
Da oben existierte ein zweites Labor. Direkt über ihnen. Und keiner durfte es wissen. Rubin musste ihn niedergeschlagen haben, und dann hatten sie ihm irgendwas verabreicht, um seine Erinnerung zu tilgen.
Wozu?
Was um alles in der Welt wurde hier gespielt?
Johanson ballte die Fäuste. Ohnmächtige Wut kochte in ihm hoch. Mit wenigen Schritten war er draußen und rannte die Rampe hinauf.
»Was soll ich oben bei euch?«, sagte Greywolf. »Ich kann euch nicht helfen.«
Anawaks Zorn verflog. Er drehte sich um und kam langsam wieder zurück, während sich das Becken mit Wasser füllte.
»Das stimmt nicht, Jack.«
»Doch, tut es.« Es klang nüchtern, beinahe unbeteiligt, wie er es sagte. »Bei der Navy haben sie Delphine gequält, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe mich für Wale stark gemacht, aber die Wale sind Opfer einer anderen Macht geworden. Irgendwann habe ich beschlossen, in Tieren die besseren Menschen zu sehen, was dumm ist, aber immerhin ein Weg, sich zu arrangieren, und jetzt habe ich Licia an ein Tier verloren. Ich helfe niemandem.«
»Hör auf, dir Leid zu tun, verdammt.«
»Das sind Fakten!«
Anawak setzte sich wieder neben ihn.
»Dass du die Navy verlassen hast, war richtig und konsequent«, sagte er. »Du warst der beste Ausbilder, den sie im Delphinprogramm jemals hatten, und es war deine Entscheidung, die Zusammenarbeit zu beenden, nicht ihre. Du hattest die Fäden in der Hand.«
»Ja, aber hat sich was geändert, nachdem ich gegangen bin?«
»Für dich hat sich was geändert. Du hast Rückgrat bewiesen.«
»Und was habe ich damit erreicht?«
Anawak schwieg.
»Weißt du«, sagte Greywolf. »Das Schlimmste ist dieses Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Du liebst einen Menschen, und du verlierst ihn. Du liebst Tiere, und sie sind es, die ihn töten. Ganz allmählich beginne ich diese Orcas zu hassen. Ist dir klar, was ich sage? Ich fange an, Wale zu hassen!«
»Wir haben alle dieses Problem, und wir …«
»Nein! Ich habe gesehen, wie Licia im Maul eines Orcas gestorben ist, und ich konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Das ist mein Problem! Wenn ich hier und jetzt tot umfalle, ist das für den Fortbestand oder Untergang der Welt ohne jede Bedeutung. Wen interessiert’s? Ich habe nichts erreicht, weswegen man sagen wird, dass meine Anwesenheit auf diesem Planeten eine gute Idee war.«
»Mich interessiert es«, sagte Anawak.
Greywolf sah ihn an. Anawak erwartete einen zynischen Kommentar, aber nichts folgte außer einem leisen Geräusch, einem Glucksen in Greywolfs Kehle wie von einem stecken gebliebenen Seufzer.
»Und bevor du es vergisst«, sagte Anawak, »Licia hat es auch interessiert.«
Seine Wut reichte aus, Rubin zu packen, aufs Flugdeck zu schleppen und über Bord zu werfen. Vielleicht hätte er sich dazu hinreißen lassen, wäre ihm der Biologe über den Weg gelaufen. Aber Rubin war nirgendwo zu sehen. Stattdessen traf er Weaver, die auf dem Weg nach unten war.
Vorübergehend wusste er nicht, was er tun sollte. Dann rief er sich zur Ordnung.
»Karen!« Er lächelte. »Willst du uns besuchen?«
»Um ehrlich zu sein, ich wollte ins Welldeck. Zu Leon und Jack.«
»Oh ja, Jack.« Johanson zwang sich zur Ruhe. »Es geht ihm nicht gut, was?«
»Nein. Ich glaube, da war mehr zwischen ihm und Licia, als er selber gedacht hat. Es ist schwer, an ihn ranzukommen.«
»Leon ist sein Freund. Der schafft das schon.«
Weaver nickte und sah ihn fragend an. Sie hatte schnell begriffen, dass diese Unterhaltung keine war.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie.
»Blendend.« Johanson umfasste ihren Arm. »Ich hatte gerade eine ziemlich sensationelle Idee, wie wir den Kontakt mit den Yrr forcieren könnten. Kommst du mit aufs Dach?«
»Ich wollte eigentlich …«
»Zehn Minuten. Ich will deine Meinung dazu hören. Mir geht dieses ständige Rumhängen in geschlossenen Räumen auf die Nerven.«
»Du bist dünn angezogen für einen Besuch auf dem Dach.«
Johanson sah an sich hinunter. Er trug nur Pullover und Jeans. Seine dicke Daunenjacke hing im Labor.
»Abhärtung«, sagte er.
»Gegen was?«
»Gegen Grippe. Gegen’s Älterwerden. Gegen dumme Fragen! Was weiß denn ich?« Er merkte, dass er laut geworden war. Contenance, dachte er. »Hör zu, ich muss diese Idee wirklich loswerden, und sie hat eine Menge mit euren Simulationen zu tun. Ich habe keine Lust, das auf der Rampe zu tun. Kommst du jetzt?«
»Ja, natürlich.«
Sie stiegen zusammen die Rampe hoch und gelangten ins Innere der Insel. Johanson zwang sich, nicht ständig zur Decke zu sehen und nach versteckten Kameras und Mikrophonen zu suchen. Er hätte sie ohnehin nicht gesehen. Stattdessen sagte er in leichtem Tonfall: »Jude hat natürlich Recht, man darf jetzt nichts überstürzen. Ich schätze, wir werden ein paar Tage brauchen, bis die Idee spruchreif ist, denn sie basiert auf …«
Und so weiter, und so fort. Er produzierte gelehrt klingenden Schwachsinn, bugsierte Weaver aus der Insel an die frische Luft und ging ihr gestikulierend voran, bis sie einen der Hubschrauberlandepunkte auf der Backbordseite erreicht hatten. Es war kühler und windiger geworden. Dunstschwaden hatten sich über die See gelegt, die Wellen an Höhe zugenommen. Wie urzeitliche Tiere wälzten sie sich tief unter ihnen dahin, grau und träge, und schickten den Geruch kalten Salzwassers nach oben. Johanson fror erbärmlich, aber seine Wut hielt ihn innerlich warm. Schließlich waren sie weit genug von der Insel entfernt.
»Offen gestanden«, sagte Weaver, »ich verstehe kein Wort.«
Johanson hielt das Gesicht in den Wind.
»Brauchst du auch nicht. Ich schätze, hier draußen können sie uns nicht hören. Sie müssten schon verdammt viel Aufwand betrieben haben, um eine Unterhaltung auf dem Flugdeck zu belauschen.«
Weaver kniff die Augen zusammen.
»Wovon redest du eigentlich?«
»Ich habe mich erinnert, Karen. Ich weiß wieder, was vorgestern Nacht geschehen ist.«
»Hast du deine Tür gefunden?«
»Nein. Aber ich weiß, dass sie da ist.«
Er erzählte ihr in knappen Worten die ganze Geschichte.
Weaver hörte mit unbewegtem Gesicht zu.
»Du meinst, es gibt so etwas wie eine Fünfte Kolonne an Bord?«
»Ja.«
»Aber wozu?«
»Du hast gehört, was Jude gesagt hat. Nichts überstürzen. Ich meine, wir alle, du und Leon, Sue und ich, auch Mick natürlich, Sam und Murray, wir haben denen einen kompletten Steckbrief der Yrr geliefert. Möglicherweise machen wir uns was vor, vielleicht liegen wir fulminant daneben, aber vieles spricht für das Gegenteil: dass wir zumindest theoretisch wissen, mit welcher Art Intelligenz wir es zu tun haben und wie sie funktioniert. Wir haben auf Hochtouren daran gearbeitet, um es rauszufinden. Und plötzlich sollen wir uns Zeit lassen?«
»Weil man uns nicht mehr braucht«, sagte sie tonlos. »Weil Mick in einem anderen Labor mit anderen Leuten daran weiterarbeitet.«
»Wir sind Zulieferer«, nickte Johanson. »Wir haben unsere Schuldigkeit getan.«
»Aber warum?« Weaver schüttelte ungläubig den Kopf. »Welche Ziele könnte Mick verfolgen, die nicht mit unseren übereinstimmen? Welche Alternativen gibt es denn? Wir müssen mit den Yrr zu einer Übereinkunft gelangen! Was kann er anderes wollen?«
»Irgendeine Konkurrenzgeschichte ist da im Gange. Mick spielt ein doppeltes Spiel, aber das alles ist nicht seine Idee.«
»Wessen dann?«
»Jude steckt dahinter.«
»Du hattest sie von Anfang an auf dem Kieker, was?«
»Sie mich auch. Ich glaube, jeder von uns hat ziemlich schnell kapiert, dass er den anderen nicht für dumm verkaufen kann. Ich hatte immer schon dieses Gefühl in ihrer Gegenwart, nur dass ich mir lächerlich dabei vorkam.
Mir fiel kein triftiger Grund ein, ihr zu misstrauen.«
Sie standen eine Weile schweigend beisammen.
»Und jetzt?«, fragte Weaver.
»Jetzt hatte ich Zeit, mir einen kühlen Kopf zu verschaffen«, sagte Johanson und schlang die Arme um seinen Körper. »Jude wird uns hier stehen sehen. Ich schätze, mich hat sie ganz besonders im Visier. Sie kann nicht sicher sein, was wir bereden, aber natürlich geht sie davon aus, dass ich früher oder später meine Erinnerung zurückgewinne. Sie steht unter Zeitdruck. Heute Morgen hat sie uns alle erst mal zurückgepfiffen. Wenn sie eigene Pläne verfolgt, muss sie jetzt handeln.«
»Das heißt, wir müssen ziemlich schnell dahinter kommen, was die vorhaben.« Weaver überlegte. »Warum trommeln wir nicht die anderen zusammen.«
»Zu riskant. Das würde sofort auffallen. Ich bin sicher, alle Räume des Schiffes werden abgehört. Nachher machen sie die Tür zu und schmeißen den Schlüssel weg.
— Ich will Jude in die Enge treiben, wenn es irgendwie geht. Ich will wissen, was hier läuft, und dafür brauche ich dich.«
Weaver nickte. »Okay. Was soll ich tun?«
»Rubin finden und ihn ausquetschen, während ich mir Jude vorknöpfe.«
»Hast du eine Ahnung, wo ich ihn finde?«
»Vielleicht in diesem ominösen Labor. Ich weiß jetzt, wo es ist, aber ich habe absolut keine Ahnung, wie man da reinkommt. Vielleicht treibt er sich aber auch irgendwo im Schiff herum.« Johanson seufzte. »Mir ist schon klar, das klingt alles wie aus einem schlechten Film. Vielleicht bin ich es, der spinnt. Vielleicht leide ich unter Paranoia, aber dann kann ich immer noch zu Kreuze kriechen. Jetzt will ich wissen, was hier los ist!«
»Du leidest nicht unter Paranoia.«
Johanson sah sie an und lächelte dankbar.
»Gehen wir zurück.«
Auf dem Weg zur Insel und im Innern fachsimpelten sie wieder über verschlüsselte Botschaften und friedliche Kontaktaufnahme.
»Ich gehe dann mal runter zu Leon«, sagte Weaver. »Mal sehen, was er von deinem Vorschlag hält. Vielleicht können wir das heute Nachmittag gemeinsam einprogrammieren und durchspielen.«
»Gute Idee«, sagte Johanson. »Bis später.«
Er sah zu, wie Weaver die Rampe hinunterging. Dann stieg er über einen der Niedergänge hinunter auf LEVEL 02 und warf einen Blick ins CIC, wo Crowe und Shankar vor ihren Computern hockten.
»Und was macht ihr so?«, fragte er im Plauderton.
»Nachdenken«, erwiderte Crowe aus ihrer obligatorischen Rauchwolke heraus. »Kommt ihr mit dem Pheromon voran?«
»Sue ist gerade dabei, eine weitere Ladung zu synthetisieren. Zwei Dutzend Ampullen dürften es mittlerweile sein.«
»Da seid ihr weiter als wir. Uns kommen allmählich Zweifel, ob Mathematik der einzig selig machende Weg ist«, sagte Shankar. Sein dunkles Gesicht verzog sich zu einem säuerlichen Grinsen. »Ich glaube, die können ohnehin besser rechnen als wir.«
»Was wäre die Alternative?«
»Emotion.« Crowe blies Rauch aus ihren Nüstern. »Witzig, was? Gerade den Yrr mit Gefühlen kommen zu wollen. Aber wenn ihre Gefühle biochemischer Natur sind …«
»So wie unsere«, bemerkte Shankar.
»… könnte uns der Duft vielleicht weiterhelfen. Ja, danke, Murray. Ich weiß, auch Liebe ist Chemie.«
»Hast du eigentlich jemanden, dem du chemisch zugetan bist, Sigur?«, witzelte Shankar.
»Nein, im Augenblick wechselwirke ich mit mir selber.« Er sah sich um. »Sag mal, habt ihr Jude irgendwo gesehen?«
»Sie war vorhin im LFOC«, sagte Crowe.
»Danke.«
»Ach ja, und Mick wollte zu dir.«
»Mick?«
»Sie haben zusammen dagesessen und gequatscht. Mick wollte ins Labor, vor wenigen Minuten.«
Das war gut. Dann würde Weaver ihn aufstöbern.
»Prima«, sagte er. »Mick kann uns bei der Synthetisierung helfen. Sofern ihn nicht wieder die Migräne packt. Armer Kerl.«
»Er sollte sich das Rauchen angewöhnen«, meinte Crowe. »Rauchen ist gut gegen Kopfschmerzen.«
Johanson grinste und ging ins LFOC. Ein Großteil der elektronischen Datenerfassung war auf die dortigen Systeme umgelegt worden damit Crowe und Shankar im CIC ungestört arbeiten konnten. Aus den Lautsprechern drang schwaches Rauschen und gelegentliches Pfeifen und Klicken. Der Schatten eines Delphins zog über einen der Bildschirme. Offenbar hatte Greywolf die Tiere wieder rausgelassen.
Weder Li, noch Peak, noch Vanderbilt waren zu sehen. Johanson ging weiter ins JIC. Es stand leer, ebenso wie die übrigen Befehls— und Führungsräumlichkeiten. Er erwog, in der Offiziersmesse nachzusehen, aber dort würde er möglicherweise nur Vanderbilts Leute oder ein paar Soldaten antreffen. Li konnte ebenso gut im Trainingsraum sein oder in ihrem Quartier. Es blieb keine Zeit, das ganze Schiff abzusuchen.
Wenn Rubin auf dem Weg ins Labor war, würde ihn Weaver bald aufspüren. Er musste vorher mit Li sprechen!
Na schön, dachte er. Wenn ich dich nicht finde, findest du eben mich. Ohne Eile ging er zu seiner Kabine, trat ein und stellte sich mitten in den Raum.
»Hallo, Jude«, sagte er.
Wo mochten die Kameras, wo die Mikrophone sein? Zwecklos, danach zu suchen, aber sie waren da.
»Stellen Sie sich vor, was vorhin passiert ist. Mir ist eingefallen, dass es über dem Großlabor noch ein zweites Labor gibt, in dem Mick gerne mal verschwindet, wenn ihn seine Migräne überkommt. Ich würde gerne wissen, was er da tut, abgesehen davon, dass er Kollegen niederschlägt.«
Seine Blicke wanderten über Möbel, Lampen, über den Fernseher.
»Ich schätze, das werden Sie mir freiwillig nicht erzählen, was, Jude? Ich habe also ein paar Vorkehrungen getroffen. Sehen Sie, binnen kurzem könnte jeder aus dem Team meine Erinnerungen teilen, ohne dass Sie eine Möglichkeit haben, es zu verhindern.« Das war verdammt dick aufgetragen, aber er hoffte, dass Li es schluckte. »Wäre das in Ihrem Interesse? Oder in Ihrem, Sal? — Ach, Jack, Sie hätte ich beinahe vergessen. Wie denken Sie darüber?«
Er ging langsam im Raum auf und ab. »Ich habe Zeit. Sie auch? Bestimmt nicht.« Er breitete die Hände aus und lächelte. »Wir können das Ganze aber auch vertraulich behandeln. Vielleicht stecken ja ehrenhafte Absichten dahinter, wenn Ihre Leute hier eine Schattenwelt errichten. Vielleicht ist ja alles im Sinne der internationalen Sicherheit. — Ich mag es nur nicht so gerne, niedergeschlagen zu werden, Jude. Das verstehen Sie doch, oder? Ich würde gerne mit Ihnen reden, aber wie es aussieht, erfasst Rubins Migräne bisweilen ganze Volksgruppen. Liegen Sie alle mit Kopfschmerzen im Bett?«
Er machte eine Pause. Und wenn es Li nun gleichgültig war? Wenn sie ihn gar nicht hörte? Dann lief er hier wie ein Idiot durch seine Kammer.
»Jude?«
Er sah sich um. Doch, sie hörten ihn. Ganz sicher hörten sie ihn.
»Jude, mir ist aufgefallen, dass Sie Mick auch so einen Tiefseesimulator spendiert haben. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass er bedeutend kleiner ist als unserer, aber was untersucht er darin, was er nicht auch in unserem untersuchen könnte? Sie werden sich doch wohl nicht hinter unserem Rücken mit den Yrr verbündet haben? Helfen Sie mir auf die Sprünge, Jude, ich habe absolut keine Ahnung, was …«
»Dr. Johanson.«
Er fuhr herum. In der offenen Tür stand Peaks schwarze, hoch gewachsene Gestalt. »Nein, was für eine Überraschung«, sagte Johanson leise. »Der gute, alte Sal! Soll ich Tee für uns machen?«
»Jude würde Sie gerne sprechen.«
»Ah, Jude.« Johanson verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln. »Was will sie denn von mir?« »Kommen Sie einfach mit.«
»Nun — ich denke, das lässt sich einrichten.«
Im Labor kam Oliviera gerade mit einem tragbaren Metallgehäuse aus dem Hochsicherheitslabor, als Weaver eintrat.
»Hast du Mick gesehen?«
»Nein, ich sehe nur noch Pheromone.« Oliviera hielt das Gehäuse hoch. Es war zu beiden Seiten offen. Ein Probenkoffer mit Gestellen für Phiolen. Dutzende mit klarer Flüssigkeit gefüllte Röhrchen reihten sich im Innern aneinander. »Aber er hat vorhin durchgerufen und sein Erscheinen angedroht. Müsste jeden Moment aufkreuzen.«
»Yrr-Duft?«, fragte Weaver mit Blick auf die Phiolen.
»Ja. Heute Nachmittag geben wir was davon in den Tank. Mal sehen, ob wir die Zellen überreden können, zu verschmelzen. Es wäre sozusagen die Heiligsprechung unserer Theorie.« Oliviera sah sich um. »Gegenfrage: Hast du Sigur gesehen?«
»Eben auf dem Flugdeck. Er hat ein paar interessante Ideen entwickelt, wie wir Sam unter die Arme greifen könnten. — Ich schau gleich nochmal vorbei.«
»Tu das.«
Weaver überlegte. Sie konnte sich das Hangardeck ansehen. Aber wenn Johanson Recht behielt, würde das sofort auffallen. Außerdem war kaum damit zu rechnen, dass sich die verbotene Tür ein weiteres Mal öffnete, solange sie dort herumschlich.
Sie folgte dem Tunnel zum Welldeck.
Das Becken war beinahe zur Gänze wieder geflutet. Auf den Piers überwachten die verbliebenen Techniker aus Roscovitz’ Team den Vorgang. Sie sah Greywolf und Anawak im Wasser.
»Habt ihr die Delphine rausgelassen?«, rief sie.
Anawak zog sich aufs Trockene.
»Ja.« Er kam zu ihr herüber. »Was hast du gemacht in der Zwischenzeit?«
»Nicht viel, um ehrlich zu sein. Ich glaube, wir müssen alle unsere Gedanken ordnen.«
»Wir können sie ja zusammen ordnen«, sagte Anawak leise.
Sie begegnete seinem Blick und dachte, wie gerne sie ihn jetzt sofort in die Arme nehmen würde. Diese ganze schreckliche Geschichte hier vergessen und einfach tun, was fällig war.
Aber die Geschichte lastete auf allem. Und da war Greywolf, der Licia verloren hatte.
Sie lächelte flüchtig.
Peak humpelte voraus. Johanson folgte ihm wortlos. Sie stiegen hinab, durchquerten einen Teil des Hospitals und schritten einen Gang entlang. Nach einer Abzweigung standen sie vor einer verschlossenen Tür.
»Was ist das für ein Bereich?«, fragte Johanson, während Peaks Finger über ein Tastenfeld glitten. Elektronisches Piepen drang an sein Ohr. Die Tür schwang auf. Auf der anderen Seite setzte sich der Gang fort.
»Über uns liegt das CIC«, sagte Peak.
Johanson versuchte sich zu orientieren. Die Dimensionen des Schiffs waren schwer abzuschätzen. Wenn das CIC über ihnen lag, befand sich das geheime Labor wahrscheinlich direkt unter ihren Füßen.
Sie erreichten eine zweite Tür. Diesmal musste sich Peak einem Netzhaut-Scan unterziehen, bevor sie eintreten konnten. Johanson erblickte einen Raum, der aussah wie das CIC, eingebettet in elektronisches Summen. Gedämpft erklangen Geräusche und Stimmen. Mindestens ein Dutzend Leute arbeitete hier. Auf einer Vielzahl von Monitoren sah er Aufnahmen von Satelliten und Unterwasserkameras, einzelne Abschnitte der Rampe, das Innere der Brücke mit Buchanan und Anderson darin, das Flugdeck und das Hangardeck. Er sah Crowe und Shankar im CIC sitzen, Weaver mit Anawak und Greywolf im Welldeck und Oliviera im Labor. Weitere Bildschirme zeigten das Innere der Kabinen. Auch seine. Dem Winkel nach zu schließen, befand sich die Kamera direkt über der Tür. Er musste ein gutes Bild abgegeben haben, wie er da monologisierend mitten im Raum gestanden hatte.
An einem großen, beleuchteten Tisch saßen Li und Vanderbilt. Die Kommandantin erhob sich.
»Hallo, Jude«, sagte Johanson freundlich. »Nett haben Sie’s hier.«
»Sigur.« Sie lächelte zurück. »Ich glaube, wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen.«
»Kaum der Rede wert.« Johanson schaute sich staunend um. »Ich bin ziemlich beeindruckt. Alles von Wichtigkeit scheint es in doppelter Ausfertigung zu geben.«
»Ich kann Ihnen die Pläne zeigen, wenn es Sie interessiert.«
»Eine Erklärung würde mir vollauf reichen.«
»Die sollen Sie haben.« Li setzte eine betretene Miene auf. »Vorher möchte ich Ihnen sagen, wie Leid es mir tut, dass Sie auf diese Weise davon erfahren mussten. Rubin hätte niemals so weit gehen dürfen.«
»Vergessen wir, was er getan hat. Was tut er jetzt? Was macht er in diesem Labor?«
»Er sucht nach einem Giftstoff«, sagte Vanderbilt.
»Nach einem …« Johanson schluckte. »Einem Gift?«
»Mein Gott, Sigur.« Li rang die Hände. »Wir können uns nicht darauf verlassen, mit den Yrr zu einer friedlichen Lösung zu gelangen. Ich weiß, das muss alles schrecklich für Sie klingen, nach Vertrauensmissbrauch und falschem Spiel, aber … Sehen Sie, wir wollten Sie und die anderen nicht in die falsche Richtung schicken. Um etwas über die Yrr zu erfahren, war es unabdingbar notwendig, Sie an einer friedlichen Lösung arbeiten zu lassen. Sie alle haben Großartiges geleistet. Aber Sie wären niemals so weit gekommen, wenn die Aufgabe darin bestanden hätte, eine Waffe zu entwickeln.«
»Was zum Teufel reden Sie da? Was denn für eine Waffe?«
»Krieg und Frieden sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Wer am Frieden arbeitet, darf nicht an Krieg denken. Mick erforscht die Alternative. Auf der Grundlage Ihrer Erkenntnisse.«
»An einem Gift, um die Yrr zu vernichten?«
»Hätten wir Sie damit betrauen sollen?«, sagte Vanderbilt. »Was wäre dann passiert?«
»Moment mal!« Johanson hob die Hände. »Unser Auftrag ist, einen Kontakt herzustellen. Denen da unten klar zu machen, dass sie aufhören sollen. Nicht, sie zu vernichten.«
»Sie Träumer«, sagte Vanderbilt verächtlich.
»Aber das ist zu schaffen, Jack! Verdammt, wir …«
Johanson schüttelte entgeistert den Kopf. Er konnte es einfach nicht fassen.
»Wie wollen Sie es schaffen?«
»Wir haben innerhalb weniger Tage unglaublich viel gelernt. Es wird einen Weg geben.«
»Und wenn nicht?«
»Warum haben Sie uns nicht darüber informiert? Warum haben wir nicht einfach offen darüber gesprochen? Wir ziehen doch an einem Strang!«
»Sigur.« Li sah ihn ernst an. »Was wir hier tun, ist nicht ganz deckungsgleich mit dem Auftrag der Vereinten Nationen. Ich weiß, dass wir Kontakt aufnehmen sollen, und genau das versuchen wir ja auch. Andererseits wird niemand traurig darüber sein, wenn wir diesen Feind ganz einfach eliminieren. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass man beide Wege in Betracht ziehen sollte?«
Johanson starrte sie an.
»Doch, das bin ich. Aber warum dieser ganze Zirkus?«
»Weil das Oberkommando Ihnen misstraut«, sagte Li. »Weil man befürchtet, dass Sie und die anderen sich quer stellen, wenn Sie erfahren, dass Ihre Bemühungen um einen friedlichen Kontakt den Boden für eine militärische Offensive bereiten. Man glaubt eben, dass sich Wissenschaftler so verhalten wie in den einschlägigen Filmen — sie wollen das Fremdartige schützen und studieren, anstatt es zu vernichten, auch wenn es bösartig und gefährlich ist …«
»Filme? Meinen Sie die Filme, in denen das Militär immer gleich auf alles ballern will, was es nicht versteht?«
»Eben diese Äußerung zeigt, wie Recht wir hatten«, sagte Vanderbilt und strich sich über den Bauch.
»Verstehen Sie doch, Sigur …«
»Sie haben diesen Hokuspokus inszeniert, weil Sie dachten, wir verhalten uns wie Leute aus einem Hollywood-Film?«
»Nein.« Li schüttelte heftig den Kopf. »Natürlich nicht. Es ging darum, Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf das Thema Kontakt und Erforschung zu lenken.«
Johanson umfasste mit weit ausholender Geste die Monitore im Raum.
»Und darum schnüffeln Sie uns hinterher?«
»Was Rubin getan hat, war ein Fehler«, wiederholte Li eindringlich. »Er hatte nicht das Recht dazu. Diese Überwachung dient einzig Ihrer Sicherheit. Wir haben die Arbeit an einer militärischen Lösung im Geheimen betrieben, um Sie und die anderen nicht zu verunsichern und von Ihrer eigentlichen Aufgabe abzubringen.«
»Und worin besteht diese … Aufgabe?« Johanson trat bis dicht an Li heran und sah ihr in die Augen. »Frieden zu schaffen oder euch wie die Trottel mit dem nötigen Wissen für eine längst beschlossene Offensive zu versorgen?«
»Wir müssen über beides nachdenken.«
»Wie weit ist Mick mit seiner militärischen Variante?«
»Er hat ein paar Ideen, die funktionieren könnten, aber noch nichts Konkretes.« Sie holte tief Luft und blickte ihm entschlossen ins Gesicht. »Ich bitte Sie im Interesse der Sicherheit darum, den anderen vorerst nichts davon zu erzählen. Geben Sie uns Zeit, es selber zu tun, damit die Arbeit nicht ins Stocken gerät, auf die Milliarden Menschen ihre Hoffnungen gründen. Sehr bald schon werden wir gemeinsam an allen Varianten arbeiten. Jetzt, wo Sie die unglaubliche Leistung vollbracht haben, dem Feind ein Gesicht zu geben, haben wir keinen Grund mehr, etwas geheim zu halten. — Und wenn wir gemeinsam an einer Waffe arbeiten, dann in der Hoffnung, dass wir nie gezwungen sein werden …«
»Soll ich Ihnen mal was sagen, Jude?«, zischte Johanson. Er kam ihr so nahe, dass keine Hand mehr zwischen ihre Gesichter passte. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Sobald Sie Ihre verdammte Waffe haben, werden Sie sie einsetzen. Was Sie dann zu verantworten haben, können Sie sich gar nicht vorstellen. Das sind Einzeller, Jude! Milliarden über Milliarden Einzeller! Sie existieren seit Anbeginn der Welt. Wir haben nicht die geringste Ahnung, welche Rolle sie für unser Ökosystem spielen. Wir wissen nicht, was mit den Ozeanen passieren wird, wenn wir sie vergiften. Wir wissen nicht, was mit uns passieren wird. Aber vor allen Dingen werden wir nicht in der Lage sein, zu stoppen, was sie angefangen haben!
Geht das in Ihren Kopf? Wie wollen Sie den Golf-Strom wieder in Gang setzen ohne die Yrr? Was wollen Sie gegen die Würmer tun ohne die Yrr?«
»Wenn wir die Yrr klein kriegen«, sagte Li, »nehmen wir es auch mit Würmern und Bakterien auf.«
»Wie bitte? Mit Bakterien wollen Sie es aufnehmen? Dieser ganze Planet besteht aus Bakterien! Wollen Sie die Mikroorganismen ausrotten? Wie größenwahnsinnig sind Sie eigentlich? Wenn Ihnen das gelänge, würden Sie das Leben auf der Erde zum Tode verurteilen. Sie wären es, die den Planeten vernichtet, nicht die Yrr. Sämtliche Tierarten in den Meeren würden sterben, und danach …«
»Dann sterben sie eben«, schrie Vanderbilt. »Sie blöder Ignorant, Sie eierköpfiges Wissenschaftsarschloch! Wenn ein paar Fische sterben und wir dafür überleben …«
»Wir werden nicht überleben!«, schrie Johanson zurück. »Begreifen Sie das nicht? Alles ist miteinander verflochten. Wir können die Yrr nicht bekämpfen. Sie sind uns überlegen. Wir können nichts tun gegen Mikroorganismen, wir können ja nicht mal was gegen eine normale Virusinfektion tun, aber darum geht es auch nicht. Der Mensch lebt einzig, weil die Erde von Mikroben beherrscht wird.«
»Sigur …«, sagte Li beschwörend.
Johanson drehte sich um. »Machen Sie die Tür auf«, sagte er. »Ich habe keine Lust, dieses Gespräch länger fortzusetzen.«
»Na schön.« Li nickte mit zusammengekniffenen Lippen. »Dann gefallen Sie sich weiter in Ihrer Selbstgerechtigkeit. Sal, öffnen Sie Dr. Johanson die Tür.«
Peak zögerte.
»Sal, haben Sie nicht gehört? Dr. Johanson wünscht zu gehen.«
»Können wir Sie nicht überzeugen?«, fragte Peak. Es klang hilflos und gequält. »Davon, dass wir das Richtige tun?«
»Türe öffnen, Sal«, sagte Johanson.
Widerwillig setzte sich Peak in Bewegung und drückte auf einen Schalter in der Wand. Die Tür glitt auf.
»Die weiter hinten auch, wenn ich bitten darf.«
»Selbstverständlich.«
Johanson ging nach draußen.
»Sigur!«
Er blieb stehen. »Was wollen Sie, Jude?«
»Sie haben mir vorgeworfen, dass ich meine Verantwortung nicht einzuschätzen weiß. Vielleicht haben Sie Recht. Schätzen Sie Ihre ein. Wenn Sie jetzt zu den anderen gehen und sie aufklären, werfen Sie die Arbeit auf diesem Schiff dramatisch zurück. Das wissen Sie. Wir hatten vielleicht nicht das Recht, Sie zu belügen, aber denken Sie sehr genau darüber nach, ob Sie das Recht haben, uns bloßzustellen.«
Johanson drehte sich langsam um. Li stand im Türrahmen des Kontrollraums.
»Ich werde sehr genau darüber nachdenken«, sagte er.
»Dann lassen Sie uns einen Kompromiss finden. Geben Sie mir Zeit, einen Weg zu finden, und lassen Sie bis dahin alles sacken. Heute Abend reden wir miteinander. Bis dahin unternimmt keiner von uns etwas, das den anderen in Verlegenheit bringen könnte. — Sehen Sie sich in der Lage, diesem Vorschlag zuzustimmen?«
Johansons Kiefer mahlten.
Was würde passieren, wenn er die Bombe platzen ließ? Was würde mit ihm passieren, wenn er jetzt und hier ablehnte?
»In Ordnung«, sagte er.
Li lächelte. »Danke, Sigur.«
Am liebsten wäre sie im Welldeck geblieben. Anawak tat sein Bestes, um Greywolf aufzuheitern. Sie wollte bei dem einen bleiben, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte, und den anderen nicht im Stich lassen, dessen Traurigkeit mit Händen greifbar war. Sie fand es schrecklich, diesen riesigen, kraftstrotzenden Mann derart traurig zu sehen. Aber noch schrecklicher fand sie, was Johanson ihr erzählt hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto ungeheuerlicher erschien ihr, was an Bord der Independence vorging. Etwas sagte ihr unmissverständlich, dass sie alle in großer Gefahr schwebten.
Vielleicht war Rubin inzwischen eingetroffen.
»Bis später«, sagte sie. »Bin was erledigen.«
Im selben Moment merkte sie, dass es gekünstelt klang, übertrieben gelassen. Anawak runzelte die Stirn.
»Was ist los?«, fragte er.
»Nichts Besonderes.«
Sie war einfach nicht gut in so was! Schnell ging sie die Rampe hoch und den dahinter liegenden Flur entlang. Die Tür zum Labor stand offen. Als sie eintrat, sah sie Oliviera mit Rubin im Gespräch. Sie standen an einem der Labortische. Rubin drehte sich zu ihr um.
»Hi. Du wolltest mich was fragen?«
Weaver drückte den Schalter am Innenrahmen, sodass sich das Schott hinter ihr schloss.
»Ja. Du könntest mir was erklären.«
»Im Erklären bin ich ganz groß«, grinste Rubin.
»Tatsächlich?«
Sie gesellte sich zu den beiden. Ihr Blick suchte den Labortisch ab. Alles Mögliche lag dort herum. In einer Halterung steckten Seziermesser verschiedener Größen. Sie sagte: »Du könntest mir erklären, wozu das Labor über uns dient, was du dort treibst und warum du Sigur vorletzte Nacht niedergeschlagen hast, nachdem er dir auf die Schliche gekommen war.«
Johanson kochte vor Wut. Vor lauter Zorn wusste er nicht, wohin er gehen sollte, also rannte er schließlich aufs Hangardeck und suchte die Wand ab. Seine Erinnerung sagte ihm sehr genau, wo die Tür sein musste, aber immer noch deutete nichts auf einen getarnten Durchlass hin. Im Grunde war es überflüssig, dass er danach suchte. Li hatte zugegeben, dass dieses Labor existierte, aber damit wollte er sich nicht zufrieden geben.
Plötzlich bemerkte er ausgedehnte Roststellen im grauen Lack der Wand. Eigentlich waren sie ihm schon die ganze Zeit über aufgefallen. Er hatte ihnen keine Bedeutung beigemessen, weil Rost und abblätternde Farbe auf Schiffen nichts Besonderes darstellten. Aber jetzt wurde ihm mit einem Mal klar, was damit nicht stimmte.
Es gab keinen Rost auf einem neuen Schiff. Und die Independence war ein funkelnagelneues Schiff.
Er trat einige Schritte zurück. Wenn man die Rohre zur Linken nach oben verfolgte, stießen sie an einen lang gedehnten Roststreifen. Ein Stück weiter hing ein Sicherungskasten. Auch darunter blätterte die Farbe ab.
Da war die Tür.
Sie war unglaublich gut getarnt. Hätte er nicht so verbissen danach gesucht, wäre sie ihm niemals aufgefallen. Selbst als er zusammen mit Weaver die Wand abgesucht hatte, waren sie der raffinierten Camouflage aufgesessen. Sogar jetzt erkannte er nicht wirklich die Konturen, sondern nur eine scheinbar zufällige Anordnung von Details, die insgesamt geeignet waren, eine Tür zu verbergen.
Hier war er hineingegangen.
Weaver!
Hatte sie Rubin gefunden? Was sollte er tun? Sie zurückpfeifen, getreu der Vereinbarung, die er mit Li getroffen hatte? Was war diese Vereinbarung wert? Hätte er sich überhaupt auf einen Handel mit der Kommandantin einlassen dürfen?
Schwer atmend und unschlüssig lief er auf dem großen leeren Deck hin und her. Plötzlich kam ihm das ganze Schiff wie ein Gefängnis vor. Selbst der düstere, gelb erleuchtete Hangar bekam etwas Erdrückendes.
Er musste nachdenken.
Er brauchte frische Luft.
Mit großen Schritten marschierte er Richtung Steuerbord und trat aus dem Durchlass hinaus auf die Plattform des Außenlifts. Heftiger Wind zerrte an seiner Kleidung und an seinen Haaren. Das Meer war noch unruhiger geworden. Ein Film versprühter Gischt bedeckte innerhalb von Sekunden sein Gesicht. Er ging bis an den Rand der Plattform und sah hinunter auf die zerklüftete, bewegte Mondlandschaft der Grönländischen See.
Was sollte er tun?
Li stand vor den Monitoren. Sie sah zu, wie Johanson die Wand absuchte und schließlich frustriert den Hangar durchquerte.
»Was sollte diese läppische Vereinbarung?«, knurrte Vanderbilt. »Glauben Sie wirklich, der hält bis heute Abend seine Schnauze?«
»Das traue ich ihm zu«, sagte Li.
»Und wenn nicht?«
Johanson verschwand im Durchlass des Außenlifts. Li wandte sich zu Vanderbilt um. »Überflüssige Frage, Jack. Das Problem werden Sie selbstverständlich lösen. Und zwar jetzt.«
»Moment.« Peak hob die Hand. »So war das nicht vorgesehen.«
»Was heißt lösen?«, fragte Vanderbilt lauernd.
»Lösen heißt lösen«, sagte Li. »Es kommt Sturm auf. Man sollte bei Sturm nicht draußen sein. Ein Windstoß …«
»Nein.« Peak schüttelte den Kopf. »So war das nicht vereinbart.«
»Sal, halten Sie den Mund.«
»Verdammt nochmal, Jude! Wir können ihn ein paar Stunden festsetzen, das reicht doch wohl!«
»Jack«, sagte Li zu Vanderbilt, ohne Peak eines Blickes zu würdigen. »Tun Sie Ihre Arbeit. Und machen Sie’s bitte persönlich.«
Vanderbilt grinste. »Mit Vergnügen, Schätzchen. Mit dem größten Vergnügen.«
Olivieras ohnehin schon langes Gesicht wurde noch länger. Sie starrte zuerst Weaver an und dann Rubin.
»Na?«, sagte Weaver.
Rubin erbleichte. »Ich habe absolut keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Mick, hör mal.« Sie stellte sich zwischen ihn und den Tisch und legte Rubin fast freundschaftlich den Arm um die Schultern. »Ich bin keine großartige Rednerin. In Smalltalk war ich immer ganz mies. Leute wie mich lädt man zu keiner Cocktailparty ein und stellt sie nicht aufs Podium. Ich bevorzuge schnelle, knappe Gespräche. Also nochmal, und geh mir nicht mit Ausflüchten auf den Sack. Da oben gibt es ein Labor. Direkt über uns. Es führt hinaus aufs Hangardeck, gut getarnt, aber Sigur hat dich nun mal gesehen, wie du rein— und rausgegangen bist.
Dafür hast du ihm eins über den Schädel gezogen. Stimmt’s?«
»Also doch.« Oliviera warf Rubin einen angewiderten Blick zu. Der Biologe schüttelte den Kopf und versuchte, sich aus Weavers Klammergriff zu lösen, aber es gelang ihm nicht.
»Das ist der größte Unsinn, den ich je … Nein!«
Ihre freie Hand hatte eines der Seziermesser aus der Halterung gezogen. Sie hielt die Spitze gegen seine Halsschlagader. Rubin zuckte zurück. Weaver drückte ihm die Spitze der Klinge ein bisschen tiefer ins Fleisch und spannte die Muskeln. Der Biologe steckte in ihrer Umarmung wie in einem Schraubstock.
»Bist du verrückt geworden?«, ächzte er. »Was soll denn das?«
»Mick, ich bin nicht zimperlich. Ich habe sehr viel Kraft. Als ich klein war, habe ich mal ein Kätzchen gestreichelt und aus Versehen totgedrückt. Schrecklich, was? Ich wollt’s nur streicheln, und knick knack … Überleg dir also gut, was du sagst. Dich will ich nämlich nicht streicheln.«
Jack Vanderbilt war weder scharf darauf, Johanson umzubringen, noch sonderlich daran interessiert, ihn am Leben zu lassen. Irgendwie mochte er den Mann sogar. Zugleich war es ihm egal. Es ging um den Auftrag, und der Auftrag war definiert. Sofern Johanson ein Sicherheitsrisiko darstellte, würde das nicht mehr lange der Fall sein.
Floyd Anderson folgte ihm. Der Erste Offizier hatte wie die meisten an Bord eine Doppelfunktion. Tatsächlich war er ausgebildeter Seemann, aber hauptsächlich arbeitete er für die CIA. Fast jeder an Bord, abgesehen von Buchanan und einigen Mitgliedern der Mannschaft, arbeitete auf irgendeine Weise für die CIA. Anderson hatte an geheimen Operationen in Pakistan und am Golf teilgenommen. Er war ein guter Mann.
Und ein Killer.
Vanderbilt dachte daran, wie sich die Dinge gedreht hatten. Bis zuletzt hatte er sich an die Vorstellung geklammert, gegen Terroristen zu kämpfen, doch nun musste er sich eingestehen, dass Johanson von Anfang an Recht gehabt hatte. An sich eine Schande, ihn zu töten, zumal in Lis Auftrag. Vanderbilt verabscheute die blauäugige Hexe. Li war paranoid und intrigant, ein krankes Hirn. Er hasste sie und konnte sich doch der perfiden Logik nicht entziehen, mit der sie über Leichen ging. Am Grunde ihres Wahnsinns hatte sie Recht. Auch diesmal.
Plötzlich fiel ihm ein, wie er Johanson vor ihr gewarnt hatte, damals in Nanaimo.
Sie ist verrückt, capisce?
Johanson hatte eindeutig nicht verstanden.
Wie auch? Niemand begriff zu Anfang, was mit Li nicht in Ordnung war. Dass sie, getrieben von Verschwörungstheorien und zwanghaftem Ehrgeiz, grundsätzlich überreagierte. Dass sie log und betrog und alles und jeden ihren Zielen opferte. Judith Li, das Hätschelkind des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Nicht mal der merkte was. Der mächtigste Mann der Welt hatte nicht den leisesten Schimmer, wen er da hochpäppelte.
Wir werden alle aufpassen müssen, dachte Vanderbilt. Es sei denn, jemand nimmt eine Waffe in die Hand und löst das Problem.
Irgendwann.
Zügig durchquerten sie die Flure. Johanson hätte ihnen keinen größeren Gefallen tun können, als die Plattform des Außenlifts aufzusuchen. Wie hatte die Verrückte so schön gesagt? Ein Windstoß …
Vanderbilt hatte kaum den Raum verlassen, als einer der Männer an den Konsolen Li herbeirief. Er zeigte auf einen der Bildschirme.
»Irgendwas ist im Labor im Gange«, sagte er.
Li sah zu, was sich auf dem Monitor abspielte. Weaver, Oliviera und Rubin standen zusammen. Sehr dicht zusammen. Weaver hatte Rubin den Arm um die Schultern gelegt und drückte sich an ihn.
Seit wann verstanden sich die beiden so gut?
»Ton lauter«, sagte Li.
Weavers Stimme war zu hören. Leise zwar, aber deutlich genug. Sie fragte Rubin nach dem geheimen Labor aus. Bei näherem Hinsehen sah man die Angst in Rubins Augen und etwas in Weavers Hand, das blitzte und seinem Hals allzu nahe war.
Li hatte genug gesehen und gehört. »Sal! Sie und drei Leute. Gewehre mit Explosivgeschossen. Rasch. Wir gehen runter.«
»Was haben Sie vor?«, fragte Peak.
»Für Ordnung sorgen.« Sie wandte sich vom Bildschirm ab und ging zur Tür. »Ihre Frage hat uns zwei Sekunden gekostet, Sal. Vergeuden Sie nicht unsere Zeit, sonst schieße ich Sie über den Haufen. Die Männer her. In einer Minute will ich Weaver die Flausen austreiben. Die Schonzeit für Wissenschaftler ist abgelaufen.«
»Du mieses Schwein«, sagte Oliviera. »Du hast Sigur niedergeschlagen? Was soll das alles?«
In Rubins Augen trat nackte Angst. Sein Blick suchte die Decke ab. »Das stimmt nicht, ich …«
»Schau nicht nach Kameras, Mick«, sagte Weaver leise. »Ehe dir jemand helfen kann, bist du tot.«
Rubin begann zu zittern.
»Nochmal, Mick — was tut ihr da?«
»Wir haben ein Gift entwickelt«, sagte er stockend.
»Ein Gift?«, echote Oliviera.
»Wir haben deine Arbeit dafür benutzt, Sue. Deine und Sigurs. Nachdem ihr die Formel für das Pheromon gefunden hattet, war es einfach, selber welches in ausreichender Menge herzustellen und … Wir haben es mit einem radioaktiven Isotop gekoppelt.«
»Ihr habt was?«
»Das Pheromon ist radioaktiv verseucht, aber die Zellen erkennen es nicht. Wir haben’s ausprobiert …«
»Wie bitte? Ihr habt einen Hochdrucktank?«
»Nur ein kleines Modell … Karen, bitte, nimm das Messer weg, du hast doch keine Chance! Sie hören und sehen, was hier los ist …«
»Quatsch nicht«, sagte Weaver. »Weiter, was habt ihr dann getan?«
»Wir hatten beobachtet, wie das Pheromon defekte Yrr tötet, die keinen Spezialrezeptor haben. Genau, wie Sue es erklärt hat. Nachdem klar war, dass zur Biochemie der Yrr der Programmierte Zelltod gehört, mussten wir einen Weg finden, den Zelltod auch bei gesunden Yrr einzuleiten.«
»Über das Pheromon?«
»Es ist der einzige Weg. Ins Genom können wir nicht eingreifen, solange wir es nicht vollständig entschlüsselt haben, und das würde Jahre dauern. Wir haben den Duftstoff also auf eine Weise mit dem radioaktiven Isotop gekoppelt, dass die Yrr es nicht erkennen.«
»Und was macht dieses Isotop?«
»Es setzt die schützende Wirkung des Spezialrezeptors außer Kraft. Das Pheromon wird damit für alle Yrr zur Todesfalle. Es tötet auch die gesunden Zellen.«
»Warum habt ihr uns denn nichts davon gesagt?« Oliviera schüttelte fassungslos den Kopf. »Keiner von uns liebt diese Biester. Wir hätten gemeinsam eine Lösung finden können.«
»Li hat eigene Pläne«, presste Rubin hervor.
»Aber so funktioniert das nicht!«
»Es hat funktioniert. Wir haben es getestet.«
»Es ist Wahnsinn, Mick! Ihr wisst nicht, was ihr da in Gang setzt. Was geschieht, wenn diese Spezies stirbt? Die Yrr beherrschen 70 Prozent unseres Planeten, sie verfügen über eine uralte, hoch entwickelte Biotechnologie. Sie stecken in anderen Organismen, möglicherweise im gesamten marinen Leben, bauen Substanzen ab, vielleicht Methan oder Kohlendioxid — wir haben keine Vorstellung davon, was mit diesem Planeten geschieht, wenn wir sie vernichten.«
»Wieso alle?«, fragte Weaver. »Vernichtet das Gift nicht nur einige Zellen? Oder ein Kollektiv?«
»Nein, es setzt eine Kettenreaktion in Gang«, keuchte Rubin. »Der Programmierte Zelltod. Sobald sie verschmelzen, vernichten sie sich selber. Wenn das Pheromon ankoppelt, ist es schon zu spät. Einmal in Gang gesetzt, ist der Prozess nicht mehr aufzuhalten. Wir codieren die Yrr um, es ist wie ein tödliches Virus, das sie aneinander weitergeben.«
Oliviera packte Rubin am Kragen.
»Ihr müsst diese Experimente stoppen«, sagte sie eindringlich. »Diesen Weg dürft ihr auf keinen Fall gehen. Verdammt nochmal, kapierst du nicht, dass diese Wesen die wahren Herrscher der Erde sind? Sie sind die Erde! Ein Superorganismus. Intelligente Ozeane. Ihr habt keine Ahnung, in was ihr da eingreift.«
»Und wenn wir’s nicht tun?« Rubin stieß ein krächzendes Lachen aus. »Komm mir nicht mit diesem selbstgefälligen Ethos. Wir werden alle sterben. Wollt ihr auf die nächsten Tsunamis warten? Auf den Methan-GAU? Auf die Eiszeit?«
»Wir sind nicht mal eine Woche hier und haben schon einen Kontakt aufgebaut«, sagte Weaver. »Warum versuchen wir es nicht weiter mit Verständigung?«
»Zu spät«, stöhnte Rubin.
Ihre Blicke wanderten über Wände und Decken. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb, bevor Li oder Peak aufkreuzten. Vielleicht kam auch Vanderbilt. Lange konnte es nicht mehr dauern.
»Was heißt das, zu spät?«
»Es ist zu spät, du blöde Kuh!«, schrie Rubin. »In weniger als zwei Stunden bringen wir das Gift zum Einsatz.«
»Ihr müsst wahnsinnig sein«, flüsterte Oliviera.
»Mick«, sagte Weaver. »Ich will jetzt genau wissen, wie ihr es macht. Ansonsten rutscht mir die Hand aus.«
»Ich bin nicht autorisiert, dir das …«
»Ich meine es ernst.«
Rubin zitterte noch stärker. »Im Deepflight 3 sind zwei Torpedorohre für das Gift vorgesehen. Wir haben es in Projektile gefüllt …«
»Sind sie schon an Bord?«
»Nein, ich sollte das Boot gleich damit ausrüsten, um …«
»Wer geht runter?«
»Li und ich.«
»Li geht selber da runter?«
»Es war ihre Idee. Sie überlässt nichts dem Zufall.« Rubin zwang sich ein Grinsen ab. »Ihr kommt nicht gegen sie an, Karen. Ihr könnt es nicht verhindern. Wir werden die Welt retten. Es werden unsere Namen sein, an die man sich erinnern wird …«
»Halt die Schnauze, Mick.« Weaver begann ihn Richtung Tür zu schieben. »Wir gehen jetzt in dieses Labor. Das Boot wird nicht betankt. Gerade hat sich das Drehbuch geändert.«
»Läuft da eigentlich was zwischen dir und Karen?«, fragte Greywolf, während er Ausrüstungsteile in Containern verstaute.
Anawak stutzte. »Nein. Eigentlich nicht.«
»Eigentlich?«
»Wir verstehen uns gut. Ich denke, das ist alles.«
Greywolf sah ihn an. »Vielleicht solltest wenigstens du anfangen, ein paar Dinge richtig zu machen«, sagte er.
»Ich weiß nicht mal, ob sie interessiert ist.« Plötzlich wurde Anawak bewusst, dass er es soeben vor sich und Greywolf eingestanden hatte. »Ich weiß es wirklich nicht, Jack. Ich bin in solchen Dingen leider ein ziemlicher Trottel.«
»Ist mir klar«, sagte Greywolf höhnisch. »Dein Vater musste erst sterben, damit du überhaupt in der Welt der Lebenden ankommst.«
»Hey …«
»Reg dich ab. Du weißt, dass ich Recht habe. Warum gehst du ihr nicht hinterher? Sie wartet doch drauf.« »Ich bin deinetwegen hergekommen, nicht wegen Karen.«
»Ich weiß es zu schätzen. Jetzt geh endlich.«
»Verdammt, Jack.« Anawak schüttelte den Kopf. »Hör auf, dich hier einzugraben. Komm mit nach oben, bevor dir Flossen wachsen.«
»Flossen würde ich im Augenblick bevorzugen.«
Anawak sah unschlüssig zum Tunnel. Natürlich wäre er Weaver gerne hinterhergegangen, aber es gab noch einen anderen Grund als seine frisch eingestandenen Gefühle. Irgendetwas hatte sie beunruhigt. Sie war seltsam gewesen, verkrampft und aufgekratzt. Er musste an das denken, was sie ihm von Johanson erzählt hatte.
»Gut, versaure hier«, sagte er zu Greywolf. »Falls du’s dir anders überlegst, ich bin oben.«
Er verließ das Welldeck und passierte das Labor. Es war verschlossen. Kurz überlegte er, hineinzuschauen. Vielleicht traf er Johanson an. Es reizte ihn, mehr über die Sache zu erfahren. Dann entschied er sich anders und lief weiter die Rampe hoch zum Hangardeck, um einen Blick auf die ominöse Wand zu werfen.
Aber das tat er nicht.
Als Anawak den Hangar betrat, sah er Vanderbilt und Anderson, die gerade den Durchgang zur Außenplattform passierten.
Plötzlich hatte er ein mulmiges Gefühl.
Was machten die hier?
Und wohin war Weaver eigentlich verschwunden?
Heulender Westwind war aufgekommen. Er blies vom Eiskap her, trieb schäumende Brecher am Rumpf der Independence entlang und saugte den letzten Rest Wärme aus dem Meer.
Unter der heftig bewegten Oberfläche bildeten sich Strudel und Turbulenzen, doch mit zunehmender Tiefe wurde es ruhig. Vor wenigen Monaten war hier eiskaltes Wasser, schwer von Salz, in Kaskaden hinabgestürzt. Immer noch herrschte grimmige Kälte, aber nun vermischte sich die See mit dem Süßwasser rapide abschmelzender Polareismassen, denen seit geraumer Zeit Wärme zugeführt wurde. Die große, nordatlantische Pumpe, auch Lunge der Weltmeere genannt, weil mit dem erkalteten Wasser ungeheure Mengen Sauerstoff in die Tiefe gelangten, kam langsam, aber sicher zum Erliegen. Das Förderband der Meeresströmungen stand still, der Wärme spendende Strom aus den Tropen versiegte.
Noch allerdings hatte die Pumpe ihre Arbeit nicht vollständig eingestellt. Auch wenn die Kaskaden nicht mehr messbar waren, wanderten nach wie vor geringe Mengen Kaltwasser hinab. Durch lichtlose Stille fielen sie dem Abgrund des Grönländischen Beckens entgegen, Meter um Meter, Hunderte von Metern, Tausende.
In dreieinhalb Kilometer Tiefe, unmittelbar über dem schlammigen Grund, wich die Finsternis einem dunkelblauen Leuchten.
Es erstreckte sich über eine riesige Fläche: keine Wolke, sondern ein dünnwandiges, röhrenartiges Gebilde, mit unzähligen gallertigen Füßchen am Boden verhaftet. Im Innern der Röhre wogten Millionen fühlerartiger Auswüchse in regelmäßigen Wellen, eine Wiese aus synchron bewegten Gallertfäden. Große Brocken einer weißlichen Substanz wanderten darauf in Richtung eines großen Gegenstandes. Das blaue Leuchten reichte kaum aus, um seine Form erkennen zu lassen, erhellte nur schwach zwei geöffnete Kuppeln. Mehr war von dem gesunkenen Deepflight, das schräg im Schlick der Tiefsee lag, nicht zu sehen.
Seit geraumer Weile füllte der Organismus das Tauchboot mit den weißen, gefrorenen Brocken. Inzwischen passte nicht mehr viel hinein, und der Nachschub versiegte. Ein Teil der Röhre schnürte sich ab, sank auf das Boot herab und begann es zu umhüllen. Die transparente Substanz zog sich um den Rumpf zusammen, verdichtete sich und drückte die Kuppeln herunter. Blau schimmernde Flächen breiteten sich aus und flossen ineinander, bis das komplette Boot in einer geschlossenen Umhüllung steckte, zu der sich ein langer, dünner Schlauch wand.
Der Schlauch begann zu pulsieren. Wasser wurde durch sein Inneres gepumpt. Wasser von weit her. Die hauchdünne Gallerte saugte es aus einem gewaltigen organischen Ballon, der ein Stück über dem Tauchboot hing, angefüllt mit wärmerem Wasser, das die Gallerte dem Schlammvulkan vor Norwegens Küste entnommen hatte. Bedingt durch das warme und damit leichtere Wasser in seinem Innern hätte der Ballon zur Oberfläche emporsteigen müssen, aber sein Körpergewicht hielt ihn in perfekter Schwebe.
Wärme strömte in den Gallertsack, der das Tauchboot umhüllte.
Die weißen Brocken reagierten augenblicklich. Binnen Sekunden schmolzen die Kristallkäfige des Hydrats dahin. Explosionsartig blähte sich das komprimierte Methan zum Einhundertvierundsechzigfachen seines Volumens auf, füllte das Deepflight mit Gas und blies die gallertene Hülle auf, bis sie sich blähte und spannte. Der Gallertkokon trennte die Verbindung zum Schlauch und schloss sich. Kein Gas konnte mehr entweichen. Mit aller Kraft strebte es nach oben, langsam erst, dann, mit abnehmendem Druck ringsum, immer schneller, den Kokon und das darin eingeschlossene Tauchboot mit sich reißend.
Weaver, Rubin im Klammergriff und die Klinge an seinem Hals, kam nicht mal bis nach draußen. Die Labortür glitt auf. Drei Soldaten mit schwerer Bewaffnung stürmten ins Innere und legten auf sie an. Sie hörte Oliviera einen Entsetzensschrei ausstoßen und blieb stehen, ohne Rubin loszulassen.
Li betrat das Labor, gefolgt von Peak.
»Sie werden nirgendwo hingehen, Karen.«
»Jude«, ächzte Rubin. »Das wurde verdammt nochmal Zeit! Halten Sie mir diese Verrückte vom Leib.«
»Sie sind ganz still«, herrschte ihn Peak an. »Ohne Sie hätten wir diese Probleme nicht.«
Li lächelte. »Mal ehrlich, Karen«, sagte sie in liebenswürdigem Tonfall. »Meinen Sie nicht, dass Sie ein bisschen überreagieren?«
»Angesichts dessen, was Mick so erzählt?« Weaver schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube kaum.«
»Was erzählt er denn so?«
»Oh, Mick war sehr gesprächig. Nicht wahr, Mick? Hast uns alles schön verraten.«
»Sie lügt«, krächzte Rubin.
»Er hat über Kettenreaktionen gesprochen, über Gift in Torpedohülsen und über Deepflight 3. Übrigens hat er auch erwähnt, dass Sie beide einen Ausflug machen wollen. In etwa ein bis zwei Stunden.«
»Tz, tz«, machte Li. Sie trat einen Schritt vor. Weaver packte Rubin und zerrte ihn zurück an Olivieras Seite. Die Biologin stand wie erstarrt neben dem Labortisch. Sie hielt immer noch den Phiolenkoffer mit dem Pheromonextrakt in ihren Händen.
»Wissen Sie, Mick Rubin ist vielleicht einer der besten Biologen der Welt, aber er leidet unter Minderwertigkeitsgefühlen«, sagte Li. »Er wäre so gerne berühmt. Die Vorstellung, dass sein Name nicht der Nachwelt überliefert werden könnte, macht ihn wahnsinnig. Das erklärt sein übertriebenes Mitteilungsbedürfnis, aber sehen Sie’s ihm nach. Rubin würde seine Mutter verschachern für ein bisschen Ruhm.« Sie blieb stehen. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Da Sie wissen, was wir vorhaben, werden Sie auch die Notwendigkeit dahinter erkennen. Ich habe mein Möglichstes getan, die Sache nicht eskalieren zu lassen, aber da neuerdings alle Bescheid zu wissen scheinen, bleibt mir ja wohl keine Wahl.«
»Nehmen Sie Vernunft an, Karen«, sagte Peak beschwörend. »Lassen Sie ihn frei.«
»Das werde ich nicht tun«, antwortete Weaver.
»Er wird gebraucht. Hinterher können wir über alles reden.«
»Nein, wir reden überhaupt nicht mehr.« Li zog ihre Waffe und richtete sie auf Weaver. »Freilassen, Karen. Auf der Stelle, oder ich knalle Sie ab. Das ist mein letztes Wort.«
Weaver blickte in die kleine, schwarze Öffnung der Pistole.
»So weit gehen Sie nicht«, sagte sie.
»Ach nein?«
»Es gibt keinen Grund, so etwas zu tun.«
»Sie machen einen Fehler, Jude«, sagte Oliviera heiser. »Sie dürfen dieses Gift nicht einsetzen. Ich habe Mick bereits erklärt, dass …«
Li schwenkte die Waffe, richtete sie auf Oliviera und drückte ab. Die Biologin wurde gegen den Labortisch geschleudert und rutschte daran hinunter. Der Phiolenkoffer entglitt ihren Händen. Eine Sekunde lang starrte sie mit fragendem Blick auf das faustgroße Loch in ihrer Brust, dann wurden ihre Augen glasig.
»Nein!«, schrie Peak. »Um Gottes willen, was tun Sie denn da?«
Die Waffe ruhte wieder auf Weaver.
»Freilassen«, sagte Li.
»Dr. Johanson!«
Johanson drehte sich um. Er sah Vanderbilt und Anderson über die Plattform näher kommen. Anderson wirkte stoisch und unbeteiligt, die schwarzen Knopfaugen auf irgendeinen Punkt geheftet, während Vanderbilt breit grinste.
»Sie müssen wütend auf uns sein«, sagte er.
Die Art, wie er sich näherte und grinste, hatte etwas behäbig Kumpelhaftes. Johanson sah den beiden stirnrunzelnd entgegen. Er stand am Ende der Plattform, wenige Meter von der Kante entfernt. Heftige Böen klatschten ihm ins Gesicht. Unter ihm hoben sich die Wellen. Eben hatte er wieder ins Innere gehen wollen.
»Was führt Sie her, Jack?«
»Nichts Bestimmtes.« Vanderbilt hob die Hände in einer Geste der Entschuldigung. »Wissen Sie, ich wollte Ihnen einfach nur sagen, dass es uns Leid tut. Es ist alles so unnötig. Dass wir uns streiten. Diese ganze dumme Geschichte, finden Sie nicht auch?«
Johanson schwieg. Vanderbilt und Anderson kamen immer näher. Er trat einen Schritt zur Seite, und die Ankömmlinge blieben stehen.
»Haben wir was zu bereden?«, fragte Johanson.
»Ich habe Sie vorhin beleidigt«, sagte Vanderbilt. »Ich wollte mich entschuldigen.«
Johanson hob die Brauen.
»Sehr nobel von Ihnen, Jack. Ich akzeptiere. Sonst noch was?«
Vanderbilt hielt das Gesicht in den Wind. Sein schütteres, blassblondes Haar flatterte wie Dünengras.
»Ist verflucht kalt hier draußen«, sagte er, während er sich langsam wieder in Bewegung setzte. Anderson folgte seinem Beispiel. Beide hatten einen gewissen Abstand zwischen sich gelegt. Es sah ganz so aus, als versuchten sie, Johanson einzukreisen. Er würde es weder zwischen ihnen hindurch noch nach rechts oder links schaffen.
Was sie vorhatten, war so offensichtlich, dass er kaum Überraschung verspürte. Nur schreckliche Angst, gegen die er nichts machen konnte. Angst, gemischt mit verzweifeltem Zorn. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück und erkannte im selben Moment, dass es ein Fehler gewesen war. Er war der Kante jetzt sehr nahe. Viel brauchten sie nicht mehr zu tun. Ein kräftiger Stoß würde ihn in eines der umlaufenden Netze befördern oder darüber hinweg.
»Jack«, sagte er langsam. »Sie wollen mich doch nicht etwa umbringen?«
»Mein Gott, wie kommen Sie denn darauf?« Vanderbilt riss in gespieltem Erstaunen die Augen auf. »Ich will mit Ihnen reden.«
»Was tut Anderson dabei?«
»Oh, er war gerade in der Nähe. Reiner Zufall. Wir dachten …«
Johanson stürmte auf Vanderbilt zu, duckte sich und schlug einen Haken nach rechts. Er war weg von der Kante. Anderson sprang hinzu. Einen Moment lang schien es, als hätte das improvisierte Täuschungsmanöver Erfolg gehabt, dann fühlte Johanson sich gepackt und zurückgerissen. Andersons Faust flog heran und landete in seinem Gesicht.
Er stürzte und schlitterte über die Plattform.
Der Erste Offizier kam ihm ohne besondere Eile hinterher. Seine Pranken verschwanden unter Johansons Achselhöhlen und zogen ihn hoch. Johanson versuchte, seine Finger unter Andersons Handflächen zu verkeilen und den Griff zu lösen, aber es war, als packe er in Beton. Seine Füße verloren den Bodenkontakt. Er strampelte wie wild mit den Beinen, während ihn Anderson auf die Kante zutrug, wo Vanderbilt stand und einen kritischen Blick nach unten warf.
»Ein Scheißseegang heute«, sagte der CIA-Direktor. »Ich hoffe, es macht Ihnen keine Umstände, wenn wir Sie da runterwerfen, Dr. Johanson. Sie werden ein bisschen schwimmen müssen.« Er drehte ihm den Kopf zu und fletschte die Zähne. »Aber keine Angst, nicht lange. Das Wasser hat allenfalls zwei Grad. Sie werden es sogar angenehm finden. Wie alles zur Ruhe kommt, alles gefühllos wird, wie sich der Herzschlag verlangsamt …«
Johanson begann zu schreien.
»Hilfe!«, schrie er aus Leibeskräften. »Hilfe!«
Seine Füße baumelten über dem Rand. Da war das Netz unter ihm. Knapp zwei Meter reichte es hinaus. Nicht weit genug. Anderson würde ihn mühelos darüber hinwegwerfen.
»H-i-1-f-e!«
Zu seiner Überraschung kam Hilfe.
Er hörte Anderson ächzen. Plötzlich hatte er wieder die Plattform unter sich. Der Himmel kippte in sein Blickfeld, als Anderson auf den Rücken fiel und ihn mit sich riss. Immer noch umklammerten ihn die Hände des Ersten Offiziers, dann lösten sie sich. Johanson rollte sich zur Seite, robbte von Anderson weg und sprang auf.
»Leon!«, stieß er hervor.
Seinen Augen bot sich ein groteskes Bild. Anderson versuchte fuchtelnd, auf die Beine zu kommen. Anawak hatte sich von hinten in seine Jacke verkrallt. Sie waren allesamt zu Boden gegangen. Eben versuchte Anawak, unter dem gestürzten Mann hervorzukriechen, ohne ihn loszulassen, eine schiere Unmöglichkeit.
Johanson wollte hinzuspringen.
»Stopp!«
Vanderbilt vertrat ihm den Weg. Er hielt eine Pistole in der Hand. Langsam umrundete er die Liegenden, bis er mit dem Rücken zum Durchgang stand.
»Schöner Versuch«, sagte er. »Aber jetzt reicht’s. Dr. Anawak, haben Sie bitte die Freundlichkeit, unseren Mr. Anderson hier aufstehen zu lassen. Er tut nur seine Pflicht.«
Widerstrebend löste Anawak seine Finger aus Andersons Kapuzenkragen. Der Erste Offizier schnellte hoch. Er wartete nicht, bis sein Gegner von selber auf die Beine kam, sondern hievte ihn hoch wie einen Sack. Im nächsten Moment flog Anawaks Körper auf die Kante zu.
»Nein!«, schrie Johanson.
Anawak versuchte sich festzukrallen. Er schlug auf, schlitterte weiter und rutschte bis hart an den Rand der Plattform.
Andersons Kopf ruckte zu Johanson, die ausdruckslosen Augen starrten ihn an. Er streckte einen Arm aus, riss ihn zu sich heran und rammte ihm die Faust in den Magen. Johanson japste nach Luft. Wellen von Schmerz breiteten sich in seinen Eingeweiden aus. Wie ein Taschenmesser klappte er zusammen und fiel auf die Knie.
Der Schmerz war kaum zu ertragen. Er kam nicht mehr hoch.
Würgend hockte er da, während ihm der Wind das Haar um die Ohren peitschte, und wartete darauf, dass Anderson erneut zuschlug.