ZWEITER TEIL CHATEAU DISASTER

Aus den Jahresberichten der Umweltschutzorganisationen:

Trotz des Verbots von 1994 gelangt nach wie vor Atommüll in die Meere. Greenpeace-Taucher wiesen am Abflussrohr der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague eine 17 Millionen Mal höhere Radioaktivität nach als in unbelasteten Gewässern. Vor Norwegen sind Tang und Krabben mit dem radioaktiven Stoff Technetium verseucht. Als Quelle identifizierten norwegische Strahlenschützer die veraltete britische Wiederaufbereitungsanlage Sellafield. Indes wollen amerikanische Geologen hoch radioaktiven Müll im Meeresboden versenken, indem sie die strahlenden Behälter durch ein kilometertiefes Rohr in Löcher rutschen lassen und mit Sedimenten bedecken.

Seit 1959 haben die Sowjets gewaltige Mengen Atommüll inklusive abgewrackter Reaktoren im arktischen Meer deponiert. Über eine Million Tonnen chemischer Waffen rotten auf den Meeresböden vor sich hin, in Tiefen zwischen 500 und 4500 Metern. Als besonders gefährlich gelten langsam durchrostende Giftgasbehälter, die Moskau 1947 versenken ließ. Hunderttausend Fässer schwach radioaktiver Abfälle aus Medizin, Forschung und Industrie lagern vor Spanien.

Plutonium aus den Atombombentests in der Südsee wiesen Meeresforscher im mittleren Atlantik in mehr als 4000 Metern Tiefe nach.

Der britische hydrographische Dienst listet 57435 Wracks in den Tiefen der Ozeane auf, darunter auch die Trümmer mehrerer amerikanischer und russischer Atom-U-Boote.

Das Umweltgift DDT gefährdet Meeresorganismen stärker als andere Lebewesen. Durch die Strömungen breitet es sich global aus und reichert sich in marinen Nahrungsketten an. Im Speck von Pottwalen sind Polybromverbindungen nachgewiesen worden, die als Brandhemmer in Computern und Fernsehverkleidungen verarbeitet werden. 90 Prozent aller gefangenen Schwertfische sind mit Quecksilber vergiftet, 25 Prozent zudem mit PCB. In der Nordsee wachsen weiblichen Wellhornschnecken Penisse. Auslöser dürfte die in Schiffsanstrichen enthaltene Substanz Tributylzinn sein.

Jede Ölbohrung verseucht den Meeresboden auf einer Fläche von 20 Quadratkilometern. Ein Drittel davon ist nahezu ohne jedes Leben.

Elektrische Felder von Tiefseekabeln stören die Orientierung von Lachsen und Aalen. Zudem beeinträchtigt der Elektrosmog das Larvenwachstum.

Algenblüten und Fischsterben nehmen weltweit dramatisch zu. Nachdem Israel das Verbotsabkommen zur Verklappung von Industriemüll auf See nicht unterzeichnete, entließ allein die Firma Haifa Chemicals bis 1999 jährlich 60000 Tonnen Giftabfälle ins Meer: Blei, Quecksilber, Cadmium, Arsen und Chrom gelangen mit der Strömung bis Syrien und Zypern. Täglich pumpen Fabriken am Tunesischen Golf 12800 Tonnen Phosphatgips aus der Dünger-Herstellung ins Meer.

70 der 200 wichtigsten Meeresfischarten beziffert die Welternährungsorganisation FAO als gefährdet. Zugleich nimmt die Zahl der Fischer weiter zu. 1970 waren es 13 Millionen, 1997 schon 30 Millionen Fänger. Verheerend wirken sich Grundschleppnetze aus, die zum Fang von Kabeljau, Sandaal und Alaska-Seelachs eingesetzt werden. Ganze Ökosysteme werden buchstäblich hinweggefegt. Meeressäuger, Raubfische und Seevögel finden keine Beute mehr.

Bunker C, der meistgenutzte Schiffstreibstoff, wird vor der Verfeuerung von Aschen, Schwermetallen und Sedimenten gereinigt. Ein zäher Müll entsteht, den viele Kapitäne nicht ordnungsgemäß entsorgen, sondern stillschweigend auf See verklappen.

In 4000 Metern Tiefe vor Peru haben Hamburger Forscher die geplante großkommerzielle Ernte von Manganknollen simuliert. Kreuz und quer schleppte ihr Schiff eine Pflugegge über ein 11 Quadratkilometer großes Stück Meeresboden. Zahlreiche Lebewesen starben. Noch Jahre später hatte sich die Region nicht erholt.

Durch Bauvorhaben in den Florida Keys wurde Erdreich ins Meer gespült, das sich wie Flugsand auf die Korallenbänke legte. Ein Großteil des dortigen Lebens ist erstickt.

Meeresforscher fanden heraus, dass steigende Kohlendioxid-Konzentrationen in der Atmosphäre, verursacht durch die zunehmende Verbrennung fossiler Rohstoffe, die Fähigkeit zur Riffbildung behindern. Wenn sich das CO2 löst, macht es das Wasser saurer. Ungeachtet dessen wollen die großen Energiekonzerne demnächst gewaltige Mengen CO2 direkt in die Tiefsee pumpen, um die Atmosphäre zu entlasten.

10. Mai

Chateau Whistler, Kanada

Die Nachricht verließ Kiel mit 300000 Kilometern in der Sekunde.

Der Wortlaut, eingegeben von Erwin Suess in dessen Laptop am Geomar-Forschungszentrum, wanderte als digitale Datenmenge ins Netz und wurde von einer Laserdiode in Lichtpulse umgewandelt. Von nun an schoss sie mit einer Wellenlänge von 1,5 Tausendstelmillimeter infrarot durch ein hochtransparentes Glasfaserkabel, zusammen mit Millionen weiterer Telefongespräche und Informationspakete. Die Faser bündelte das Licht auf einem Durchmesser von doppelter Haaresstärke und reflektierte es von den Außenrändern ins Innere, um es nicht entweichen zu lassen. Rasend schnell pflanzten sich die Wellen über Land fort bis zur Küste, jagten alle 50 Kilometer durch einen optischen Verstärker, bis die Faser im Meer verschwand, umhüllt von einem Kupfermantel und verpackt in mehrere Lagen kräftiger Drähte und weicher Isolierschichten.

Unter Wasser hatte der Strang die Dicke eines kräftigen Männerunterarmes. Er zog sich über den Grund des Schelfs, eingegraben in den Boden, um ihn vor Ankern und Fischernetzen zu schützen. TAT 14, so die offizielle Bezeichnung, war eines der Transatlantikkabel, die Europa mit dem amerikanischen Kontinent verbanden. Es gehörte zu den leistungsfähigsten Kabeln der Welt. Allein im Nordatlantik lagen Dutzende solcher Kabel.

Hunderttausende Kilometer Glasfaser bildeten weltweit das Rückgrat des Informationszeitalters. Drei Viertel ihrer Kapazitäten dienten dem World Wide Web. Das Projekt Oxygen verband 175 Länder in einer Art Superinternet. Ein anderes System bündelte acht Glasfasern zu einer Übertragungsleistung von 3,2 Terabits, was 48 Millionen gleichzeitig geführter Telefonate entsprach. Längst hatten die filigranen Fasern in den Tiefen der Meere jeder Satellitentechnik den Rang abgelaufen. Der Erdball war umschlungen von einem Geflecht Licht leitender Drähte, in denen die Bits und Bytes der Kommunikationsgesellschaft in Echtzeit kursierten, Telefonate, Videos, Musik, E-Mails. Nicht die Satelliten, die Kabel schufen das globale Dorf.

Die Nachricht von Erwin Suess schoss zwischen Skandinavien und Großbritannien nordwärts. Oberhalb Schottlands wandte sich TAT 14 nach links. Jenseits des Hebridenschelfs hätte es sich nun über den tiefer gelegenen Meeresboden schlängeln müssen, nicht länger eingegraben, sondern offen daliegend.

Aber es gab keinen Schelfrand mehr und auch keinen Meeresboden.

Unter Gigatonnen von Schlamm und Geröll passierte die Nachricht aus Kiel knapp eine hundertzwanzigstel Sekunde, nachdem sie abgeschickt worden war, das Gebiet unterhalb der Färöer-Inseln und endete in einem zerfetzten Strang. Die robuste Umhüllung mit ihren verstärkenden Drähten und flexiblen Kunststoffschichten war glatt durchtrennt, die zersplitterten Fasern leiteten die Botschaft aus Licht ins Sediment. Mit solcher Wucht hatte die Lawine das Kabel getroffen, dass die zerrissenen Enden hunderte von Kilometern auseinander lagen. Erst im isländischen Becken fand sich TAT 14 wieder, ein nutzloses Stück Hightech, das südlich von Neufundland wieder auf den Schelf gelangte, an dessen Rand es bis nach Boston verlief. Dort mündete es in die Landverbindung. Über die Rocky Mountains gelangte die Datenautobahn schließlich in die westkanadischen Küstengebirge oberhalb Vancouvers, direkt in die Schaltstationen des berühmten Luxushotels Chateau Whistler am Fuße von Blackcomb Mountain, wo die Glasfaser in ein konventionelles Kupferkabel überging. Eine Photodiode kehrte den Prozess um und wandelte die Lichtimpulse zurück in digitale Impulse.

Unter anderen Umständen wäre auch die Kieler Nachricht auf diese Weise digitalisiert worden, um auf Gerhard Bohrmanns Laptop als E-Mail zu erscheinen. Aber die herrschenden Umstände hatten Bohrmanns Verbindung ebenso abreißen lassen wie die Millionen weiterer Menschen. Eine Woche nach der Katastrophe in Nordeuropa lagen die transatlantischen Internet— und E-Mail-Verbindungen fast vollständig lahm, und telefonische Kontakte kamen — wenn überhaupt — nur via Satellit zustande.

Bohrmann saß in der großen Halle des Hotels und starrte auf den Bildschirm. Er wusste, dass Suess ihm ein Dokument hatte schicken wollen. Es enthielt Wachstumskurven von Wurmpopulationen und Hochrechnungen, was bei vergleichbarem Befall in anderen Regionen der Welt geschehen konnte. Seit der erste Schock überwunden war, arbeiteten sie in Kiel wie die Besessenen daran.

Er fluchte. Die angeblich so kleine Welt war wieder groß geworden, voller unüberbrückbarer Räume. Am Morgen hatte es geheißen, E-Mails könnten im Verlauf des Tages über Satellit empfangen werden, aber noch ließ nichts darauf schließen. Wie es aussah, waren sie immer noch an das zerstörte Kabel gefesselt. Bohrmann wusste, dass die Krisenstäbe in fieberhafter Eile mit dem Aufbau autarker Netze befasst waren, aber das Internet brach trotzdem immer wieder zusammen. Er vermutete, dass es weniger an technischen Mängeln als an den Kapazitäten lag. Die militärischen Satelliten arbeiteten zwar einwandfrei, aber nicht einmal die amerikanische Armee war jemals davon ausgegangen, die komplette transatlantische Glasfaserbrücke durch Satelliten kompensieren zu müssen.

Er griff nach dem mobilen Telefon, das ihm der Stab zur Verfügung gestellt hatte, wählte sich über Satellit nach Kiel ein und wartete. Nach mehreren Anläufen hatte er endlich das Institut in der Leitung und ließ sich mit Suess verbinden. »Nichts ist angekommen«, sagte er.

»Einen Versuch war’s wert.« Suess’ Stimme drang klar an sein Ohr, dennoch irritierte Bohrmann die Verzögerung, mit der er antwortete. An Satellitentelefonate konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Das Signal musste vom Sender rund 36000 Kilometer auf— und die gleiche Strecke zum Empfänger absteigen. Man telefonierte mit Pausen und Überlappungen. »Bei uns geht auch nichts mehr. Es wird stündlich schlimmer. Nach Norwegen kommst du nicht mehr durch, Schottland ist mucksmäuschenstill, Dänemark existiert nur noch auf der Landkarte. Und glaub nicht, dass irgendwelche Notfallpläne greifen.«

»Wir telefonieren doch auch«, sagte Bohrmann.

»Wir telefonieren, weil die Amerikaner es so eingerichtet haben. Du nutzt die militärischen Vorzüge einer Großmacht. In Europa — vergiss es! Alle wollen telefonieren, alle haben Angst, weil sie nicht wissen, was mit ihren Angehörigen und Freunden ist. Wir haben einen Datenstau. Die paar freien Netze sind belegt von Krisenstäben und Regierungsstellen.«

»Also, was machen wir?«, sagte Bohrmann nach einer Pause der Ratlosigkeit.

»Weiß nicht. Vielleicht fährt die Queen Elizabeth noch. Reichen dir die Unterlagen in sechs Wochen, wenn du einen berittenen Boten zur Küste schickst, um sie abzuholen?« Bohrmann lächelte gequält. »Im Ernst«, sagte er. »Im Ernst musst du dir was zu schreiben besorgen. Ich kann’s nicht ändern.« »Ich habe was zu schreiben«, seufzte Bohrmann. Während er notierte, was Suess durchgab, durchquerte hinter ihm eine Gruppe Uniformierter die Hotelhalle und ging zu den Aufzügen. Ihr Anführer war ein hoch gewachsener Schwarzer mit äthiopischem Gesichtsschnitt. Er trug die Rangabzeichen eines Majors der USamerikanischen Streitkräfte und ein Namensschild mit der Aufschrift PEAK.

Die Gruppe betrat einen der Aufzüge. Auf dem zweiten und dritten Stock stiegen die meisten aus. Die restlichen verließen den Fahrstuhl ein Stockwerk darüber.

Zurück blieb Major Salomon Peak. Er fuhr weiter in den neunten Stock. Hier lagen die Gold Executive Suiten, das Nobelste, was das 550 Zimmer starke Chateau zu bieten hatte. Peak selber bewohnte eine Junior Suite im darunter liegenden Stockwerk. Ein stinknormales Einzelzimmer hätte ihm vollauf gereicht. Er legte keinen Wert auf Luxus, aber die Hotelleitung hatte darauf bestanden, den Stab in ihren besten Räumen unterzubringen. Während er den Flur entlangschritt, das Geräusch der Schritte gedämpft durch dicken Teppichboden, ging er im Kopf noch einmal den geplanten Ablauf der Nachmittagsveranstaltung durch. Männer und Frauen in Zivil und Uniform kamen ihm entgegen. Türen standen offen und gaben Einblick in Suiten, die zu Büros umfunktioniert worden waren. Nach einigen Sekunden erreichte Peak eine breite Tür. Zwei Soldaten salutierten. Peak winkte ab. Einer der beiden klopfte und wartete auf Antwort von drinnen, dann öffnete er zackig die Tür und ließ den Major eintreten.

»Wie geht’s?«, sagte Judith Li.

Sie hatte sich ein Laufband aus dem Health Center nach oben bringen lassen. Peak wusste, dass Li mehr Zeit auf dem Band verbrachte als im Bett. Sie sah von dort aus fern, erledigte ihre Post, diktierte Memoranden, Berichte und Reden in das Spracherkennungssystem ihres Laptops, führte Ferngespräche, ließ sich über alles Mögliche informieren oder dachte einfach nur nach. Auch jetzt lief sie. Die schwarzen Haare lagen glatt und glänzend an, gehalten von einem Stirnband. Sie trug eine leichte Trainings Jacke und eng anliegende kurze Hosen. Ihr Atem ging gleichmäßig, trotz des hohen Tempos, das sie vorlegte. Peak musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass die Frau dort auf dem Laufband 48 Jahre alt war. General Commander Judith Li sah aus wie eine gut trainierte Enddreißigerin.

»Danke«, sagte Peak. »Es geht.«

Er sah sich um. Die Suite hatte die Größe einer Luxuswohnung und war entsprechend eingerichtet. Klassische kanadische Elemente — viel Holz und rustikale Behaglichkeit, offener Kamin — mischten sich mit französischer Eleganz. Am Fenster stand ein Flügel. Auch er gehörte eigentlich woandershin, nämlich in die große Halle. Li hatte ihn ebenso wie das Laufband in ihre Räumlichkeiten schaffen lassen. Zur Linken führte ein geschwungener Durchgang in ein riesiges Schlafzimmer. Peak hatte das Badezimmer nicht gesehen, aber gehört, dass es über Whirlpool und Sauna verfügte.

Aus Peaks Sicht war der einzig sinnvolle Gegenstand das klotzige, schwarze Laufband, auch wenn es deplatziert in dem liebevoll gestalteten Wohnraum wirkte. Er fand, dass sich Luxus und Design mit militärischen Dingen nicht vereinbaren ließen. Peak stammte aus einfachen Verhältnissen. Er war nicht zur Armee gegangen, weil er einen Sinn für Schöngeistiges besaß, sondern um von der Straße wegzukommen, die allzu oft in den Knast führte. Beharrlichkeit und bedingungsloser Fleiß hatten ihm schließlich einen College-Abschluss eingebracht und ihm eine Karriere als Offizier eröffnet. Seine Laufbahn diente vielen als Vorbild, aber sie änderte nichts an den Verhältnissen seiner Herkunft. In einem Zelt oder billigen Motel fühlte er sich nach wie vor am wohlsten.

»Wir haben die letzten Auswertungen der NOAA-Satelliten bekommen«, sagte er, während er an Li vorbei aus dem großen Panoramafenster aufs Tal blickte. Die Sonne lag auf den Zedern und Tannenwäldern. Es war schön hier oben, aber Peak sah über die Schönheit hinweg. Ihn interessierten vornehmlich die nächsten Stunden.

»Und?«

»Wir hatten Recht.«

»Es gibt eine Ähnlichkeit?«

»Ja, zwischen den Geräuschen, die der URA aufgenommen hat, und den nicht identifizierten Spektrogrammen von 1997.«

»Gut«, sagte Li mit befriedigter Miene. »Das ist sehr gut.«

»Ich weiß nicht, ob es gut ist. Es ist eine Spur, aber es erklärt nichts.«

»Was erwarten Sie? Dass der Ozean uns irgendwas erklärt?« Li drückte die Stopptaste des Laufbands und sprang herunter. »Dafür veranstalten wir ja den ganzen Zirkus, um es rauszufinden. Ist die Runde mittlerweile vollständig?«

»Wir sind komplett. Eben kam der Letzte.«

»Wer?«

»Dieser Biologe aus Norwegen, der die Würmer entdeckt hat. Ich müsste nachsehen, er heißt …«

»Sigur Johanson.« Li ging ins Bad und kam mit einem Handtuch um die Schultern wieder zurück. »Merken Sie sich endlich die Namen, Sal. Wir sind 300 Leute im Hotel, 75 davon Wissenschaftler, das muss doch verdammt nochmal runterzubeten sein.«

»Wollen Sie mir erzählen, Sie hätten 300 Namen im Kopf?«

»Ich habe 3000 im Kopf, wenn es sein muss. Also strengen Sie sich an.«

»Sie bluffen«, sagte Peak.

»Wollen Sie’s drauf ankommen lassen?«

»Warum nicht? In Johansons Begleitung befindet sich eine britische Journalistin, von der wir uns Aufschluss über die Vorgänge am Polarkreis erhoffen. Kennen Sie auch ihren Namen?«

»Karen Weaver«, sagte Li und frottierte sich die Haare. »Lebt in London. Journalistin, Schwerpunkt Meereskunde. Computerfreak. Sie war auf einem Schiff in der Grönländischen See, das später mit Mann und Maus unterging.« Sie grinste Peak mit ihren schneeweißen Zähnen an. »Wenn wir von allem nur so schöne Bilder hätten wie von diesem Untergang, nicht wahr?«

»Allerdings.« Peak gestattete sich ein Lächeln.

»Vanderbilt ist jedes Mal wie paralysiert, wenn man drauf zu sprechen kommt.«

»Verständlich. Die CIA hasst es, Informationen nicht einordnen zu können. Ist er eigentlich schon aufgetaucht?«

»Er ist avisiert.«

»Avisiert? Was heißt das?«

»Er sitzt im Helikopter.«

»Die Tragfähigkeit unseres Luftgeräts verblüfft mich jedes Mal aufs Neue, Sal. Ich würde schwitzende Hände bekommen, wenn ich das fette Schwein fliegen müsste. Aber egal. Lassen Sie mich wissen, falls noch irgendwelche bahnbrechenden Erkenntnisse ihren Weg ins Chateau Whistler finden, bevor wir die Hosen runterlassen.«

Peak zögerte. »Wie wollen wir die alle darauf einschwören, den Mund zu halten?«

»Das ist tausendmal besprochen.«

»Ich weiß, dass es tausendmal besprochen wurde. Tausendmal zu wenig. Da unten sitzen jede Menge Leute, die mit Geheimhaltung nicht vertraut sind. Die haben Familie und Freunde. Scharen von Journalisten werden einfallen und Fragen stellen.«

»Nicht unser Problem.«

»Es könnte unseres werden.«

»Lassen wir sie doch in die Armee eintreten.« Li breitete die Hände aus. »Dann unterliegen sie dem Kriegsrecht. Wer das Maul aufmacht, wird erschossen.«

Peak erstarrte.

»Das war ein Witz, Sal.« Li winkte ihm zu. »Hallo! Ein Witzchen.«

»Ich bin nicht in der Stimmung für Witze«, erwiderte Peak. »Ich weiß sehr wohl, dass Vanderbilt den ganzen Haufen am liebsten unter Militärrecht stellen möchte, aber das ist illusorisch. Mindestens die Hälfte sind Ausländer, die meisten Europäer. Wir können denen nicht am Zeug flicken, wenn sie die Vereinbarungen brechen.«

»Wir tun eben so, als könnten wir’s.«

»Sie wollen Druck machen? Das funktioniert nicht. Unter Druck hat noch keiner kooperiert.«

»Wer redet denn von Druck? Mein Gott, Sal, wo Sie bloß immer die Probleme herholen. Die wollen helfen. Und sie werden schweigen. Falls sie außerdem glauben, dass sie eingebuchtet werden, wenn sie die Vertraulichkeitserklärung unterlaufen, umso besser. Glaube macht stark.«

Peak sah skeptisch drein.

»Noch was?«

»Nein. Ich denke, wir können loslegen.«

»Gut. Wir sehen uns später.«

Peak ging.

Li sah ihm nach und dachte amüsiert, wie wenig der Mann über Menschen wusste. Er war ein ausgezeichneter Soldat und hervorragender Stratege, aber Menschen von Maschinen zu unterscheiden, fiel ihm schwer. Peak schien zu glauben, es müsse irgendwo am menschlichen Körper ein Programmierfeld geben, um ganz sicherzugehen, dass Anweisungen auch ausgeführt wurden. In gewisser Weise unterlagen fast alle West-Point-Absolventen diesem Irrglauben. Amerikas elitärste Militärakademie war für ihren gnadenlosen Drill bekannt, an dessen Ende nichts als Gehorsam stand, bedingungsloser, auf Knopfdruck erfolgender Gehorsam. Peak hatte nicht ganz Unrecht mit seinen Bedenken, aber was Gruppenpsychologie anging, lag er daneben.

Li dachte an Jack Vanderbilt. Er war hauptverantwortlich auf Seiten der CIA. Li mochte ihn nicht, er stank und schwitzte und hatte einen miserablen Atem, aber er leistete gute Arbeit. Während der letzten Wochen und ganz besonders nach dem verheerenden Tsunami, der Nordeuropa überflutet hatte, war Vanderbilts Abteilung zur Höchstform aufgelaufen. Seine Leute hatten erstaunlich viel Übersicht in die Dinge gebracht. Im Klartext hieß das, es mangelte zwar an Antworten, aber der Katalog der Fragen präsentierte sich lückenlos.

Sie überlegte, ob sie dem Weißen Haus eine Zwischenmeldung geben sollte. Im Grunde gab es wenig Neues zu berichten, nur dass der Präsident gern mit Li schwatzte, weil er sie für ihre Klugheit bewunderte. Sie wusste, dass es sich so verhielt, wenngleich sie öffentlich nie ein Wort darüber verlor. Es hätte nur geschadet. Unter Amerikas Generälen war Li eine der wenigen Frauen, und zudem senkte sie den Altersschnitt in der Kommandostruktur dramatisch. Vielen hochrangigen Militärs und Politikern war sie schon darum suspekt. Ihr vertraulicher Kontakt zum mächtigsten Mann der Welt trug nicht eben dazu bei, das Bild aufzuhellen, also verfolgte Li ihr Ziel mit aller Vorsicht. Nie spielte sie sich in den Vordergrund. Nie ließ sie Andeutungen darüber laut werden, wie das Verhältnis zwischen ihr und dem Präsidenten tatsächlich beschaffen war — dass er es nicht mochte, wenn man ein Problem als komplex bezeichnete, weil Komplexität seinem Denken fern lag. Dass meist sie es war, die ihm die komplizierte Welt in einfachen Worten erklärte. Dass er, wenn ihm die Ansichten des Verteidigungsministers oder seiner Sicherheitsberater undurchsichtig erschienen, Li fragte, die ihm gleich auch die Position des Außenministeriums erläuterte.

Unter keinen Umständen hätte Li es sich gestattet, die Ideen des Präsidenten öffentlich auf ihre eigentliche Urheberschaft zurückzuführen. Wurde sie gefragt, sagte sie: »Der Präsident glaubt, dass …« oder »Die Ansicht des Präsidenten hierzu ist …«. Wie sie dem Herrn des Weißen Hauses Kultur und Bildung vermittelte, seine intellektuellen Grenzen erweiterte und ihn überhaupt erst mit Ansichten und Meinungen versah, hatte niemanden zu interessieren.

Die Mitglieder des innersten Kreises wussten ohnehin Bescheid. Zur rechten Zeit erkannt zu werden, darauf kam es an, so wie General Norman Schwarzkopf sie 1991 im Golfkrieg erkannt hatte als hochintelligente Strategin mit politisch-taktischer Begabung, die sich durch nichts und niemanden einschüchtern ließ. Zu diesem Zeitpunkt hatte Li schon einen erstaunlichen Werdegang hinter sich: erste weibliche West-Point-Absolventin mit Studium der Naturwissenschaften, Lehrprogramm für Offiziere zur See, Besuch der Generalstabsakademie des Heeres und der Kriegsakademie, Promotion in Politik und Geschichte an der Dukes University. Schwarzkopf nahm Li unter seine Fittiche und sorgte dafür, dass sie zu Seminaren und Konferenzen eingeladen wurde und die richtigen Leute traf. Selber uninteressiert an Politik, ebnete ihr Stormin’ Norman so den Weg in die Zwischenwelt, wo die Grenze zwischen Militär und Politik verfloss und die Karten neu gemischt wurden.

Fürs Erste brachte ihr die mächtige Gönnerschaft die Rolle der Stellvertretenden Befehlshaberin der Alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa ein. Binnen kurzem erfreute sich Li in europäischen Diplomatenkreisen großer Beliebtheit. Erziehung, Ausbildung und natürliche Begabung kamen ihr endlich in vollem Umfang zugute.

Lis amerikanischer Vater entstammte einer angesehenen Generalsfamilie und hatte im Sicherheitsstab des Weißen Hauses eine maßgebliche Rolle gespielt, bevor er sich aus gesundheitlichen Gründen hatte zurückziehen müssen. Ihre chinesische Mutter brillierte als Cellistin an der New Yorker Oper und auf unzähligen Einspielungen. An ihre einzige Tochter hatten beide fast noch höhere Ansprüche gestellt als an sich selbst. Judith bekam Stunden in Ballett und Eiskunstlauf, lernte Klavier und Cello. Sie begleitete ihren Vater auf seinen Reisen nach Europa und Asien und gewann früh ein Bild von der Unterschiedlichkeit der Kulturen. Ethnische Besonderheiten und historische Hintergründe übten einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus, also fragte sie den Leuten Löcher in den Bauch, vornehmlich in deren Landessprache. Mit zwölf hatte sie Mandarin, die Sprache ihrer Mutter, perfektioniert, mit 15 sprach sie fließend Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch, mit 18 verständigte sie sich leidlich auf Japanisch und Koreanisch. Ihre Eltern achteten mit unnachgiebiger Strenge auf Manieren, Kleidung und die Einhaltung gesellschaftlicher Regeln, während sie in anderen Dingen eine fast verblüffende Toleranz an den Tag legten. Die presbyterianischen Grundsätze des Vaters und die buddhistisch geprägte Lebensphilosophie der Mutter führten eine ebenso harmonische Ehe wie die beiden selber.

Das Erstaunlichste aber war, dass der Vater sich bei der Heirat entschlossen hatte, den Namen seiner Frau anzunehmen, was einen langwierigen Kampf gegen die Behörden in Gang setzte. Diese Geste gegenüber der Frau, die er liebte und die ihr Land aus Liebe verlassen hatte, ließ Judith Li in glühender Bewunderung für ihn entflammen. Er war ein Mann der Gegensätze, mit teils liberalen, teils erzkonservativ republikanischen Ansichten, die jede für sich als unumstößlich galten. Jemand mit geringerer Charakterstärke wäre vielleicht am Bestreben dieser Familie, in allen Disziplinen perfekt zu sein, zugrunde gegangen. Doch das Mädchen wuchs daran, übersprang zwei Schulklassen, legte einen glänzenden High-School-Abschluss hin und kultivierte ihre Überzeugung, alles werden zu können, wonach ihr der Sinn stand, und sei es Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika.

Mitte der Neunziger hatte man ihr die Position des Stellvertretenden Stabschefs für Operationen und Einsatzplanungen im US-Heeresministerium und zugleich eine Dozentur für Geschichte in West Point offeriert. Im Verteidigungsministerium wurde sie jetzt hoch gehandelt. Zudem registrierten gewisse Kreise ihr verstärktes Interesse an Politik. Einzig fehlte ihr noch der maßgebliche militärische Erfolg. Das Pentagon legte Wert auf Kampferfahrung, bevor es den Weg zu höheren administrativen Weihen freigab, und Li sehnte sich von Herzen nach einer schönen globalen Krise. Lange musste sie nicht warten. 1999 wurde sie Deputy Commander im Kosovo-Konflikt und schrieb sich endgültig ein ins Buch der Helden.

Der abermaligen Heimkehr folgte die Position des Kommandierenden Generals in Fort Lewis und die Berufung in den Sicherheitsstab des Präsidenten, nachdem sie diesem mit einer von ihr verfassten Denkschrift zum Thema Nationale Sicherheit bis ins Mark imponiert hatte. Li vertrat darin eine harte Gangart. Tatsächlich dachte sie in vielem noch um einiges kompromissloser als die republikanische Administration, vor allem aber dachte sie patriotisch. Bei aller Weitläufigkeit war sie tatsächlich der Meinung, dass es kein besseres und gerechteres Land auf der Welt gab als die Vereinigten Staaten von Amerika, und sie hatte eine Reihe akuter Fragen in eben diesem Sinne beantwortet.

Plötzlich war sie im Zentrum der Macht.

Li, die kaltblütige Perfektionistin, kannte das Tier, das in ihr lauerte, nur zu gut, die heiße, unbändige Emotionalität, die ihr an diesem Punkt ebenso nützen wie gefährlich werden konnte, je nachdem, was sie als Nächstes tat. Jeden Anflug von Eitelkeit und übertriebener Zurschaustellung ihres Könnens musste sie sich unter diesen Umständen versagen. Es reichte, dass sie an manchen Abenden im Weißen Haus die Uniform mit dem trägerlosen Abendkleid vertauschte und den hingerissenen Zuhörern Chopin, Brahms und Schubert vorspielte, dass sie den Präsidenten beim Tanz auf dem Festparkett zu führen wusste, bis er zu schweben glaubte wie Fred Astaire, dass sie für seine Familie und alte republikanische Freunde Lieder aus der Zeit der Gründerväter sang. Dieser Teil der Inszenierung gehörte ihr allein. Geschickt knüpfte sie enge persönliche Beziehungen, teilte die Begeisterung des Verteidigungsministers für Baseball und die der Außenministerin für europäische Geschichte, ließ sich mit zunehmender Häufigkeit ins Private einladen und verbrachte ganze Wochenenden auf der präsidentialen Ranch.

Nach außen blieb sie bescheiden. Ihre Privatansicht in politischen Dingen behielt sie für sich. Sie spielte den Ball zwischen Militär und Politik, trat kultiviert, charmant und selbstsicher auf, stets korrekt gekleidet, aber niemals steif oder gar aufgeblasen. Man dichtete ihr eine Reihe von Verhältnissen mit einflussreichen Männern an, die sie sämtlich nicht hatte. Li ignorierte es mit gewohnter Souveränität. Keine Frage vermochte sie aus der Ruhe zu bringen. Sie fütterte Journalisten, Abgeordnete und Untergebene mit gut verdaulichen Happen aus Gewissheit und Überzeugung, war immer bestens organisiert und vorbereitet, hatte Unmengen von Details gespeichert und rief sie auf wie Dateien, reduziert auf griffige, klare Formeln.

Obwohl sie nicht im Mindesten wusste, was in den Ozeanen vor sich ging, schaffte sie es auch diesmal, ihrem Präsidenten ein genaues Bild der Lage zu vermitteln. Das umfangreiche Dossier der CIA brach sie auf wenige, entscheidende Punkte herunter. Als Folge saß Li nun im Chateau Whistler, und sie wusste sehr genau, was das bedeutete.

Es war der letzte, große Schritt, den sie zu gehen hatte.

Vielleicht sollte sie doch den Präsidenten anrufen. Einfach so. Er mochte es. Sie konnte ihm erzählen, dass die Wissenschaftler und Experten vollständig versammelt waren, was hieß, dass sie der informellen Einladung der Vereinigten Staaten gefolgt waren, obwohl sie zu Hause weiß Gott genug zu tun hatten. Oder dass die NOAA Ähnlichkeiten zwischen unidentifizierbaren Geräuschen festgestellt hatte. So etwas gefiel ihm, es klang nach »Sir, wir sind ein Stück weitergekommen«. Natürlich konnte sie nicht erwarten, dass er wusste, was unter Bloop und Upsweep zu verstehen war, und warum die NOAA glaubte, den Ursprung von Slowdown enträtselt zu haben. Das alles ging zu sehr ins Detail, aber es war auch nicht nötig. Ein paar Worte der Zuversicht über die abhörsichere Satellitenverbindung, der Präsident wäre glücklich, und glücklich war er nützlich.

Sie entschied sich dafür.

Neun Stockwerke unter ihr bemerkte Leon Anawak einen gut aussehenden Mann mit grau meliertem Haar und Vollbart. Er ging über den Vorplatz zum Hotel. Eine Frau begleitete ihn, klein, breitschultrig und braun gebrannt, Jeans und Lederjacke. Anawak schätzte sie auf Ende zwanzig. Kastanienfarbene Locken ringelten sich über Schulter und Rücken. Beide Ankömmlinge trugen Gepäck, das ihnen soeben von Bediensteten des Hotels abgenommen wurde. Die Frau sprach kurz mit dem Bärtigen, sah sich um und heftete ihren Blick für eine Sekunde auf Anawak. Sie strich sich die Locken aus der Stirn und verschwand in der Lobby.

Gedankenverloren starrte Anawak auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Dann legte er den Kopf in den Nacken, schirmte die Augen mit der Hand gegen das schräg einfallende Sonnenlicht ab und ließ seinen Blick die neoklassizistische Fassade des Chateaus erwandern.

Das Luxushotel lag inmitten des Traums, den jeder irgendwann von Kanada träumte. Nahm man den Highway 99 entlang der Horseshoe Bay, gelangte man von Vancouver in die Berge und fand das riesige Hotel eingebettet in sanft ansteigende Wälder und gekrönt von mächtigen Bergen, deren Gipfel auch in den Sommermonaten weiß schimmerten. Das Blackcomb— und Whistler-Massiv galt als eines der schönsten Skigebiete der Welt. Jetzt im Mai kamen die Gäste vorwiegend, um Golf zu spielen oder zu wandern. Ringsum lagen verschwiegene Seen. Man konnte die Gegend mit dem Mountainbike erkunden oder sich mit dem Helikopter in den ewigen Schnee fliegen lassen. Das Chateau selber verfügte über einige hervorragende Restaurants und bot jede nur erdenkliche Annehmlichkeit.

Alles hätte man an diesem Platz fernab der Welt erwartet. Nur nicht ein Dutzend Militärhubschrauber.

Anawak war schon vor zwei Tagen eingetroffen. Er hatte bei den Vorbereitungen für Lis Präsentation geholfen, zusammen mit Ford, der seit achtundvierzig Stunden zwischen dem Vancouver Aquarium, Nanaimo und dem Chateau hin— und herflog, um Material zu sichten, Daten auszuwerten und letzte Erkenntnisse zusammenzutragen. Sein Knie schmerzte immer noch, aber er humpelte nicht mehr. Die klare Bergluft hatte auch sein Denken irgendwie geklärt, und die Mutlosigkeit nach dem Flugzeugabsturz war nervösem Tatendrang gewichen.

Mittlerweile war so viel passiert, dass seine Festnahme durch die Militärpatrouille in unendlich weiter Ferne zu liegen schien. Dabei war er Li vor nicht einmal zwei Wochen erstmals begegnet — unter peinlichen Umständen, wie er sich eingestehen musste. Sie war amüsiert gewesen über den Dilettantismus, mit dem er seine nächtliche Aktion ausgeführt hatte, denn natürlich hatte man ihn bereits registriert, als er noch im Auto gesessen und die Docks entlanggefahren war. Sie hatten ihn einfach eine Weile beobachtet, um herauszufinden, was er eigentlich wollte. Dann hatten sie zugegriffen, und Anawak war sich vorgekommen wie der sprichwörtliche Mann, der nie wieder auftaucht.

Aber er war wieder aufgetaucht. Nicht länger warf er seine Erkenntnisse ins Schwarze Loch, sondern saß nun selber in dessen Zentrum, ebenso wie Ford und seit neuestem Oliviera. Auch mit Roberts von Inglewood durfte er wieder konferieren, der als Erstes sein Bedauern über die höheren Orts verordnete Funkstille zum Ausdruck gebracht hatte. Von Li mit einem Maulkorb belegt, war er notgedrungen nicht erreichbar gewesen — und hatte dabei einige Male direkt neben dem Telefon gestanden, während seine Sekretärin Anawak in die Wüste schickte.

Die Präsentation stand. Vorerst konnte Anawak nichts tun als warten. Also war er Tennis spielen gegangen, während die Welt ins Chaos stürzte und Europa unter Wasserbergen versank, um zu sehen, wie das Laufen seinem Knie bekäme. Sein Partner war ein kleiner Franzose mit buschigen Brauen und gewaltiger Nase. Er hieß Bernard Roche, ein Bakteriologe, der am Vorabend aus Lyon eingetroffen war. Während sich Amerika mit den größten Tieren des Planeten rumschlug, kämpfte Roche einen aussichtslos erscheinenden Kampf gegen die kleinsten.

Anawak sah auf die Uhr. In einer halben Stunde würden sie zusammentreffen. Das Hotel war für den Touristenverkehr gesperrt worden und fest in Regierungshand, allerdings wirkte es bevölkert wie zur Hochsaison. Einige hundert Leute mussten inzwischen hier sein. Weit über die Hälfte davon gehörte auf die eine oder andere Weise der United States Intelligence Community an. Die meisten waren Mitarbeiter der CIA, die das Chateau kurzerhand in eine Kommandozentrale umgewandelt hatten. Eine ganze Abteilung hatte die NSA entsandt, Amerikas größter Geheimdienst, der für alle Arten der elektronischen Aufklärung, für Datensicherheit und Kryptographie zuständig war. Die NSA bewohnte das vierte Stockwerk. Der fünfte Stock war von Mitarbeitern des US-Verteidigungsministeriums und der kanadischen Nachrichtendienste in Beschlag genommen worden. Darüber logierten Vertreter des britischen SIS und des Security Service, außerdem Delegationen des Zentrums für Nachrichtenwesen der Bundeswehr und des Bundesnachrichtendienstes aus Deutschland. Die Franzosen hatten eine Abordnung der Direction de la Surveillance du Territoire geschickt, Schwedens militärischer Nachrichtendienst war ebenso zugegen wie Finnlands Pääesikunnan tiedusteluosasto. Es war ein beispielloses Zusammentreffen von Geheimdiensten, eine Menschen-und Materialschlacht ohnegleichen mit dem Ziel, die Welt wieder zu verstehen.

Anawak massierte sein Bein.

Plötzlich verspürte er wieder schmerzhafte Stiche. Er hätte nicht gleich Tennis spielen sollen. Ein Schatten zog über ihn hinweg, als ein weiterer Militärhubschrauber mit gesenkter Nase zur Landung ansetzte. Anawak sah zu, wie die gewaltige Maschine herabsank, straffte sich und ging ins Innere.

Überall waren Menschen unterwegs. Alles geschah im Stechschritt, zügig und dennoch ohne Hast, ein Ballett der Geschäftigkeit unter dem kirchenartigen Giebeldach der Halle. Die Hälfte der Leute schien beständig zu telefonieren. Die anderen hatten die gemütlichen Sitzecken unter den Natursteinpfeilern, die das Mittelschiff der Halle von den Seitenschiffen trennten, mit ihren Laptops belegt, schrieben oder starrten konzentriert auf ihre Bildschirme. Anawak versuchte, mit niemandem zusammenzustoßen, und ging nach nebenan in die Bar, wo Ford mit Oliviera stand. Sie waren in Begleitung eines hoch gewachsenen Mannes, der einen Schnurrbart trug und unglücklich dreinblickte.

»Leon Anawak, Gerhard Bohrmann«, übernahm Ford die Vorstellung. »Schüttel Gerhard nicht zu heftig die Hand, sonst fällt sie ab.«

»Tennisarm?«, fragte Anawak.

»Kugelschreiber.« Bohrmann grinste säuerlich. »Eine geschlagene Stunde lang habe ich mitgeschrieben, was man vor zwei Wochen noch per Mausklick abrufen konnte. Man fühlt sich wie im Mittelalter.«

»Ich dachte, das läuft jetzt alles über Satellit.«

»Die Satelliten sind überlastet«, konstatierte Ford.

»Ab morgen ist alles wieder heile.« Oliviera nippte an einer Tasse Tee. »Ich hörte eben, sie haben ein Netz für das Hotel freigeschaltet.«

»Wir sind in Kiel nur unzureichend auf Satelliten eingestellt«, sagte Bohrmann düster.

»Niemand ist auf all das eingestellt.« Anawak bestellte ein Wasser. »Seit wann sind Sie hier?«

»Seit vorgestern. Ich habe an der Präsentation mitgearbeitet.«

»Ich auch. Komisch. Wir hätten uns über den Weg laufen müssen.«

»Kaum.« Bohrmann schüttelte den Kopf. »Das Hotel ist wie ein Schweizer Käse, voller Gänge. Was ist Ihr Fachgebiet?«

»Meeressäuger. Intelligenzforschung.«

»Leon hat ein paar unangenehme Begegnungen mit Buckelwalen hinter sich«, bemerkte Oliviera. »Sie haben es ihm offenbar krumm genommen, dass er ständig in ihren Kopf gucken will … Oh, seht mal da. Was macht der denn hier?«

Sie wandten die Köpfe. Von der Bar konnte man in die Halle sehen. Ein Mann ging dort zu den Aufzügen. Anawak erkannte ihn. Er war vor wenigen Minuten mit der kastanienbraun gelockten Frau eingetroffen.

»Wer soll das sein?«, fragte Ford stirnrunzelnd.

»Geht ihr nie ins Kino?« Oliviera schüttelte den Kopf. »Das ist dieser deutsche Schauspieler. Wie heißt er gleich? Scholl … nein, Schell. Das ist Maximilian Schell! Er sieht super aus, findet ihr nicht? In natura noch besser als auf der Leinwand.«

»Zügel dich«, sagte Ford. »Was soll ein Schauspieler hier?«

»Sue könnte Recht haben«, sagte Anawak. »Hat der nicht in diesem Katastrophenstreifen mitgespielt? Deep Impact! Die Erde wird von einem Meteoriten getroffen und …«

»Wir spielen alle in einem Katastrophenstreifen mit«, unterbrach ihn Ford. »Sag bloß, das ist dir noch nicht aufgefallen.«

»Soll heißen, als Nächstes haben wir Bruce Willis zu erwarten?«

Oliviera verdrehte die Augen.

»Ist er’s nun oder nicht?«

»Sparen Sie sich die Mühe, um ein Autogramm zu bitten.« Bohrmann lächelte. »Es ist nicht Maximilian Schell.«

»Nicht?« Oliviera wirkte enttäuscht.

»Nein. Er heißt Sigur Johanson. Ein Norweger. Er könnte Ihnen etwas darüber erzählen, was in der Nordsee passiert ist. Er, ich und ein paar Leute in Kiel, ein paar weitere von Statoil …« Bohrmann sah dem Mann nach, und seine Miene verdüsterte sich wieder. »Aber am besten fragen Sie ihn nicht danach, bevor er nicht selber davon anfängt. Er lebte in Trondheim, und von Trondheim ist nicht mehr allzu viel übrig. Er hat sein Zuhause verloren.«

Da war er, der reale Schrecken. Der Beweis, dass die Fernsehbilder echt waren. Schweigend trank Anawak sein Wasser.

»Okay.« Ford sah auf die Uhr. »Genug rumgehangen. Gehen wir rüber und hören, was sie zu erzählen haben.«

Das Chateau verfügte über mehrere Konferenzräume. Li hatte einen Raum mittlerer Größe ausgewählt, beinahe zu knapp bemessen für die Gruppe der Geheimdienstler, Staatsvertreter und Wissenschaftler, die der Präsentation beiwohnen würden. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Leute, die dicht aufeinander saßen, sich entweder in die Haare bekamen oder ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelten. Auf keinen Fall erhielten sie Gelegenheit, Distanz zu schaffen, weder zueinander noch zum Thema.

Entsprechend war die Sitzordnung angelegt. Die Anwesenden mischten sich bunt, unabhängig von Nationalität oder Spezialgebiet. Jeder der Plätze verfügte über einen eigenen kleinen Tisch mit Schreibblock und Laptop. Der visuelle Teil der Präsentation entstand auf einem drei mal fünf Meter messenden Bildschirm samt Boxen, der über Powerpoint angesteuert wurde. Inmitten der bieder verkuschelten Gemütlichkeit des Mobiliars nahm sich die geballte Hightech fremdartig und ernüchternd aus.

Peak erschien und setzte sich auf einen der Stühle, die für die Vortragenden reserviert waren. Ihm folgte ein Mann in einem zerknautschten Anzug und von kugelrunder Statur. Sein Jackett wies unter den Achseln dunkle Flecken auf. Schütteres, weißblondes Haar zog sich in Strähnen über den breiten Schädel. Er keuchte vernehmlich, während er Li die Rechte entgegenstreckte. Fünf Finger standen ab wie kleine, prall gefüllte Luftballons.

»Hallo, Suzie Wong«, sagte er.

Li gab Vanderbilt die Hand und widerstand dem Impuls, sie gleich wieder an der Hose abzuwischen.

»Jack. Nett, Sie zu sehen.«

»Aber immer.« Vanderbilt grinste. »Liefern Sie denen eine schöne Show, Baby. Wenn keiner klatscht, strippen Sie. Mein Beifall ist Ihnen sicher.«

Er fuhr sich über die schweißnasse Stirn, reckte augenzwinkernd einen Daumen und ließ sich neben Peak niedersinken. Li betrachtete ihn mit eingefrorenem Lächeln. Vanderbilt war Stellvertretender Direktor der CIA. Ein guter Mann, sehr gut sogar. Er würde der Behörde fehlen. Sie nahm sich vor, ihn hübsch langsam zu vernichten, wenn es so weit war. Noch hatte sie ein Stück Weg vor sich. Danach würde das fette Schwein quiekend auf der Straße liegen, wie brillant Jack Vanderbilt auch immer sein mochte.

Der Raum füllte sich.

Viele der Anwesenden kannten einander nicht, und die Einnahme der Plätze erfolgte schweigend. Li wartete geduldig, bis das Rascheln und Stühlerücken verklungen war. Sie spürte die allgemeine Anspannung. Die Stimmungslage eines jeden Einzelnen hätte sie beschreiben können, der Reihe nach, wie sie da saßen, nur durch einen kurzen Blick in die Augen. Li konnte in Seelen schauen, das hatte sie gelernt.

Sie trat vor das Pult, lächelte und sagte: »Entspannen Sie sich.«

Leises Murmeln durchlief die Reihen. Der eine oder andere schlug die Beine übereinander und lehnte sich steif zurück. Lediglich der gut aussehende norwegische Professor mit dem nachlässig drapierten Schal um den Hals hing beinahe gelangweilt in seinem Sitz. Hinter seiner Stirn schien ein anderer Film abzulaufen als in den Köpfen der Umsitzenden. Seine dunklen Augen ruhten auf Li. Sie versuchte, ihn einzuschätzen, aber Johanson blieb ihr verschlossen. Sie fragte sich, woran es lag. Der Mann hatte sein Haus verloren, er war mehr von der Katastrophe betroffen als irgendjemand sonst in diesem Raum. Er hätte deprimiert sein müssen, aber offenkundig war er es nicht. Es konnte nur einen Grund dafür geben. Johanson ging nicht davon aus, dass er heute etwas Neues erfahren würde. Er hatte seine eigene Theorie, und sie überwog Kummer und Verzweiflung. Entweder wusste er mehr als sie alle, oder er glaubte es zumindest.

Sie würde den Norweger im Auge behalten.

»Ich weiß, dass Sie unter enormem Druck stehen«, fuhr sie fort. »Und ich möchte Ihnen aufrichtig danken, dass Sie dieses Treffen möglich gemacht haben. Insbesondere den hier versammelten Wissenschaftlern möchte ich danken. Angesichts Ihrer Mitarbeit bin ich im Innersten sicher, dass wir die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nun auch im Licht der Hoffnung betrachten dürfen. Sie geben uns Mut.«

Li sprach die Worte ohne Pathos, freundlich und ruhig, und sah dabei jeden direkt an. Sie erfreute sich ungeteilter Aufmerksamkeit. Nur Vanderbilt entblößte seine Zähne und stocherte darin herum.

»Viele von Ihnen werden sich fragen, warum wir dieses Treffen nicht im Pentagon abhalten, im Weißen Haus oder im kanadischen Regierungssitz. Nun, einerseits wollten wir Ihnen einen möglichst angenehmen Rahmen bieten. Die Vorzüge des Chateau Whistler sind legendär. Aber sein Hauptvorzug ist die Lage. Die Berge sind sicher. Die Küsten sind es nicht. Keine der küstennahen Städte Kanadas oder Amerikas, in denen man solche Treffen abhalten könnte, ist derzeit noch sicher.«

Sie ließ ihren Blick über die Gesichter wandern.

»Das ist der eine Grund. Der andere ist die Nähe zur Küste British Columbias. Wir haben es mit Verhaltensanomalien und Mutationen zu tun, es gibt einen Kontinentalhang mit Methanvorkommen … kurz, alles, was uns derzeit beschäftigt, kommt dort zusammen. Vom Chateau aus gelangen wir mit dem Helikopter in kürzester Zeit ans Meer und können eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen anfliegen, insbesondere das Nanaimo Institute. Schon vor Wochen haben wir im Chateau einen Stützpunkt eingerichtet, um das Verhalten der Meeressäuger zu beobachten. Angesichts der Entwicklungen in Europa haben wir uns entschlossen, den Stützpunkt zum Krisenzentrum für die ganze Welt auszubauen. Und das bestmögliche Krisenmanagement, ladies and gentlemen, sind Sie.«

Sie ließ die Worte eine Weile wirken. Sie wollte, dass die Leute im Raum sich ihrer Bedeutung bewusst wurden. Es war gut, wenn sie ungeachtet der tragischen Begleitumstände einen gewissen Stolz entwickelten, einen Sinn fürs Elitäre. So widersinnig es klang — es half ihnen, nach draußen den Mund zu halten.

»Der dritte Grund ist, dass wir hier ungestört sind. Das Chateau ist von den Medien vollkommen abgeschottet. Natürlich bleibt es nicht unbemerkt, wenn ein Hotel in exponierter Lage plötzlich dichtmacht und überall Militärhubschrauber kreisen. Aber es hat nie eine offizielle Verlautbarung gegeben, was wir hier oben eigentlich tun. Wenn man uns fragt, sprechen wir von einer Übung. Darüber kann man zwar eine Menge schreiben, aber nichts Konkretes, also schreibt man besser gar nichts.« Li machte eine Pause. »Man kann, man darf der Öffentlichkeit nicht alles offen legen. Panik wäre der Anfang vom Ende. Ruhe bewahren heißt, handlungsfähig zu bleiben. — Lassen Sie es mich ganz offen sagen: Das erste Opfer im Krieg ist immer die Wahrheit. Und wir sind im Krieg. In einem Krieg, den wir erst verstehen müssen, um ihn zu gewinnen. Dafür ist es erforderlich, eine Verpflichtung vor uns selber und der ganzen Menschheit einzugehen, was konkret heißt, dass Sie von nun an mit niemandem, nicht einmal mit Ihren engsten Familienangehörigen und Freunden, über Ihre Arbeit in diesem Stab sprechen dürfen. Jeder von Ihnen wird im Anschluss eine entsprechende Erklärung unterschreiben, deren Einhaltung wir überaus ernst nehmen. — Ich würde es begrüßen, wenn Sie etwaige Bedenken vor der Präsentation äußern. Denn natürlich ist jedem freigestellt, die Unterzeichnung einer solchen Erklärung abzulehnen. Niemandem erwächst daraus ein Nachteil. Aber dann sollte er jetzt den Raum verlassen und sich unverzüglich nach Hause fliegen lassen.«

Innerlich schloss sie eine Wette mit sich ab. Niemand würde aufstehen und gehen. Aber eine Frage würde gestellt werden.

Sie wartete.

Jemand hob die Hand.

Der Mann hieß Mick Rubin. Er stammte aus Manchester und war Biologe, ein Spezialist für Weichtiere.

»Heißt das, wir können das Chateau nicht verlassen?«

»Das Chateau ist kein Gefängnis«, sagte Li. »Sie können jederzeit gehen, wohin Sie wollen. Nur über Ihre Arbeit dürfen Sie nicht reden.«

»Und wenn …« Rubin druckste herum.

»Wenn Sie es doch tun?« Li setzte eine besorgte Miene auf. »Ich verstehe, dass Sie die Frage stellen müssen. Nun, wir würden jede Ihrer Äußerungen dementieren und sicherstellen, dass Sie die Erklärung kein weiteres Mal verletzen können.«

»Und das … ähm … liegt in Ihrer Macht? Ich meine, Sie sind …«

»Befugt? Den meisten von Ihnen dürfte bekannt sein, dass Deutschland vor drei Tagen eine Initiative ins Leben gerufen hat, um die aktuellen Vorfälle im Rahmen der Europäischen Union gemeinschaftlich zu untersuchen. Man hat sich darauf geeinigt, dem deutschen Innenminister den Vorsitz zu übertragen. Zugleich hat die NATO vorsorglich den Bündnisfall proklamiert. In Norwegen, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Dänemark und auf den Färöern herrscht der Ausnahmezustand, teils national, teils in einzelnen Regionen. Auch Kanada und die USA kooperieren unter der Federführung der Vereinigten Staaten. Andere Länder würden sich gerne einbringen. Je nach Entwicklung der Weltlage ist nicht auszuschließen, dass die Vereinten Nationen demnächst eine Art Gesamtverantwortung übernehmen. Überall werden bestehende Regeln außer Kraft gesetzt und Kompetenzen neu verteilt. Angesichts der besonderen Situation — ja, wir sind befugt.«

Rubin zupfte an seiner Unterlippe und nickte. Es kamen keine weiteren Fragen mehr.

»Gut«, sagte Li. »Dann wollen wir beginnen. Major Peak, bitte.«

Peak trat vor die Gruppe. Das Licht der Deckenbeleuchtung schimmerte auf seiner ebenholzfarbenen, wie poliert wirkenden Haut. Er drückte kurz den Sensor der Fernbedienung, und eine Satellitenaufnahme erschien auf dem Großbildschirm. Sie zeigte eine von Ortschaften gesäumte Küste aus beträchtlicher Höhe.

»Vielleicht hat es woanders angefangen«, sagte er, »vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt. Aber wir sagen heute, es hat hier begonnen, in Peru. Der etwas größere Ort in der Mitte heißt Huanchaco.« Er leuchtete mit einem Laserpointer auf verschiedene Stellen im Meer. »Der Ort hat im Verlauf weniger Tage 22 Fischer verloren, und zwar bei ausnehmend schönem Wetter. Einige der Boote fand man später auf dem Meer treibend. Kurze Zeit später verschwanden auch Sportboote, Motoryachten und kleine Segelschiffe. Man stieß auf ein paar Trümmer. Wenn überhaupt.«

Peak rief ein neues Bild auf.

»Die Meere unterliegen ständiger Beobachtung«, fuhr er fort, »sie stecken voller Treibsonden und Roboter, die endlose Datenmengen funken über Strömungseigenschaften, Salzgehalt, Temperatur, Kohlendioxidgehalt und alles Mögliche sonst. Messstationen am Meeresgrund registrieren Wasser— und Stoffaustausch mit dem Sediment. Eine Flotte von Forschungsschiffen ist weltweit unterwegs, und wir haben Hunderte militärischer und ziviler Satelliten im All. Man sollte meinen, die Aufklärung von Schiffsverlusten stelle kein Problem dar, aber ganz so einfach ist es nicht. Unsere Weltraumspäher leiden nämlich wie alles, was Augen hat, unter dem berühmten blinden Fleck.«

Die grafische Darstellung zeigte einen Teil der Erdoberfläche. Darüber hingen wie überdimensionale Insekten Satelliten unterschiedlicher Größe und Flughöhe.

»Versuchen Sie gar nicht erst, im Gewirr der künstlichen Himmelskörper den Überblick zu behalten«, sagte Peak. »Es sind dreieinhalbtausend exorbitale Raumsonden wie Magellan oder Hubble nicht mit eingerechnet. Das meiste von dem, was da oben kreist, ist Schrott. Funktionstüchtig sind etwa 600 Objekte, auf die Sie teilweise Zugriff erhalten werden. Übrigens auch auf militärische Satelliten.«

Den letzten Satz hörte sich Peak höchst ungern sagen. Er ließ den Laserpointer auf ein tonnenförmiges Objekt mit Sonnensegeln wandern.

»Ein amerikanischer KH-12-Keyhole-Satellit, optische Bauweise. Liefert Ihnen bei Tag eine Auflösung von unter fünf Zentimetern. Kurz vor der individuellen Gesichtserkennung. Für Nachtaufnahmen zusätzlich mit Infrarot— und Multispektralsystemen ausgestattet, und leider völlig nutzlos bei Bewölkung.«

Peak wies auf einen anderen Satelliten.

»Viele Aufklärungssatelliten arbeiten darum mit Radar, beziehungsweise Mikrowellen. Für Radar sind Wolken kein Hindernis. Diese Satelliten fotografieren nicht, sondern modellieren die Welt zentimetergenau, indem sie deren Oberfläche abtasten und ein dreidimensionales Modell erstellen. — Aber auch hier gibt es wieder eine Achillesferse. Radarbilder bedürfen der Interpretation. Radar kennt keine Farben, blickt nicht durch Glas, seine Welt ist einzig die Form.«

»Warum legt man die Technologien nicht zusammen?«, fragte Bohrmann.

»Das geschieht, aber es ist aufwändig und selten. Im Grunde führt es uns zum Hauptproblem der ganzen Satellitenüberwachung. Um wenigstens einen Tag lang ein gesamtes Land abzudecken oder einen bestimmten Meeressektor, braucht man schon mehrere kooperierende Systeme, die in der Lage sind, große Flächen zu scannen. Sobald Sie auf detailscharfe Bilder einer eng gesteckten Region aus sind, müssen Sie Momentaufnahmen in Kauf nehmen. Satelliten befinden sich in Umlaufbahnen. Die meisten brauchen rund 90 Minuten, bis sie wieder über derselben Stelle stehen.«

»Es gibt doch eine ganze Reihe von Satelliten, die immer über derselben Stelle stehen«, meldete sich ein finnischer Diplomat. »Könnten wir nicht welche davon über den kritischen Gebieten postieren?«

»Zu hoch. Geostationäre Satelliten sind nur stabil in einer Höhe von exakt 35888 Kilometer. Das kleinste Detail, das Sie von dort erkennen, misst acht Kilometer. Sie würden nicht mal sehen, wenn Helgoland im Meer versinkt.« Peak machte eine Pause und fuhr fort: »Aber nachdem wir ahnten, wonach wir Ausschau halten müssen, begannen wir unsere Systeme entsprechend auszurichten.«

Sie sahen eine Wasseroberfläche aus geringer Höhe. Sonnenlicht fiel schräg auf die Wellen und verlieh dem Meer die Oberflächenstruktur geriffelten Glases, mit kleinen Schiffen und winzigen, länglichen Gebilden darauf. Bei näherem Hinsehen erwiesen sie sich als bastfarbene Boote, auf denen jeweils eine Person hockte.

»Ein Zoom von KH-12«, sagte Peak. »Das Schelfgebiet vor Huanchaco. An diesem Tag verschwanden mehrere Fischer. Die Reflektionen halten sich wegen der frühen Tageszeit in Grenzen, und das ist gut so, denn auf diese Weise konnten wir das hier abbilden.«

Das nächste Bild zeigte auf weiter Fläche eine silbrige Aufhellung. Darüber hingen verloren zwei der bastfarbenen Boote.

»Fische. Ein riesiger Schwarm. Sie schwimmen etwa drei Meter unter der Wasseroberfläche, also können wir sie sehen. Das Problem mit Meerwasser ist, dass es elektromagnetische Wellen kaum oder gar nicht leitet, aber unsere optischen Systeme schauen wenigstens ein Stück hinein, wenn das Wasser klar ist. Das Wärmebild eines Wals erfassen wir mit Infrarot noch bis in 30 Meter Tiefe. Darum hat das Militär den Infrarotbereich so lieb, weil er getauchte U-Boote sichtbar macht.«

»Was sind das für Fische?«, rief eine junge schwarzhaarige Frau. Ihr Namensschild wies sie als Ökologin des Ministeriums für Umweltschutz aus Reykjavik aus. »Goldmakrelen?«

»Vielleicht. Möglicherweise auch südamerikanische Sardinen.«

»Es müssen Millionen sein. Erstaunlich. Meines Wissens ist vor Südamerika alles hoffnungslos überfischt.«

»Sie haben Recht«, sagte Peak. »Auch dass wir diese Schwärme vielfach dort vorfinden, wo Schwimmer, Taucher oder kleine Fischerboote verschwinden, bereitet uns Kopfzerbrechen. Augenblicklich sprechen wir von Schwarmanomalien. Vor drei Monaten beispielsweise hat ein Heringsschwarm vor Norwegen einen 19 Meter langen Trawler versenkt.«

»Davon habe ich gehört«, sagte die Ökologin. »Das Schiff hieß Steinholm, richtig?«

Peak nickte. »Die Tiere gerieten ins Netz und schwammen unter dem Trawler hindurch, als die Besatzung ihren Fang gerade an Bord holen wollte. Das Schiff legte sich quer. Die Mannschaft versuchte die Leinen zu kappen, aber es half nichts. Sie mussten die Steinholm verlassen. Innerhalb von zehn Minuten war sie gesunken.«

»Wir hatten wenig später einen ähnlichen Fall vor Island«, sagte die Ökologin nachdenklich. »Zwei Seeleute ertranken.«

»Ich weiß. Alles kuriose Einzelfälle, sollte man meinen. Aber wenn wir die Einzelfälle weltweit zusammenrechnen, haben Fischschwärme in den letzten Wochen mehr Boote versenkt als je zuvor. Die einen sagen, Zufall. Die Schwärme kämpfen um ihr Überleben. Andere schauen auf den immer gleichen Ablauf und erkennen eine Art Strategie. Wir schließen nicht aus, dass sich die Tiere fangen lassen, weil sie die Schiffe zum Kentern bringen wollen.«

»Das ist doch Blödsinn!«, rief ein Vertreter Russlands ungläubig. »Seit wann haben Fische einen Willen?«

»Seit sie Trawler versenken«, erwiderte Peak knapp. »Im Atlantik tun sie das. Im Pazifik scheinen sie hingegen gelernt zu haben, die Netze zu umschwimmen. Wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, wie sie das machen. Es legt den Schluss nahe, dass der Schwarm einen kognitiven Prozess durchläuft und plötzlich weiß, was ein Treibnetz oder ein Ringwadennetz ist und was es mit ihm tut. Aber selbst wenn etwas seine Lernfähigkeit derart heraufgesetzt hätte, mussten die Tiere außerdem einen Blick für die Abmessungen bekommen haben.«

»Kein Fisch, kein Schwarm sieht ein Netz mit einer Öffnung von 110 Metern Höhe und 140 Metern Breite.«

»Dennoch scheinen sie die Netze zu erkennen. Die Fischereiflotten jedenfalls beklagen gewaltige Einbußen. Die ganze Nahrungsmittelindustrie ist betroffen.« Peak räusperte sich. »Der zweite Grund für das Verschwinden von Schiffen und Menschen ist hinreichend bekannt. Aber es dauerte eine Weile, bis KH-12 einen solchen Vorgang dokumentieren konnte.«

Anawak starrte auf den Bildschirm. Er wusste, was kam. Er hatte die Bilder schon gesehen und selber Material beigesteuert, aber sie schnürten ihm jedes Mal aufs Neue die Kehle zu.

Er dachte an Susan Stringer.

Die Aufnahmen waren so dicht aufeinander geschossen worden, dass sie fast wie eine Filmsequenz abliefen. Auf dem offenen Meer trieb eine Segelyacht von schätzungsweise zwölf Metern Länge. Es war windstill, die See spiegelglatt, das Segel eingeholt. Im Heck saßen zwei Männer, auf dem Vorderdeck lagen Frauen in der Sonne.

Etwas Großes, Massiges schwamm dicht neben dem Boot vorbei, jede Einzelheit des riesigen Körpers war deutlich zu erkennen. Es war ein ausgewachsener Buckelwal. Zwei weitere folgten. Ihre Rücken durchbrachen die Wasseroberfläche, und einer der Männer stand auf und zeigte hinaus. Vorn hoben die Frauen die Köpfe.

»Jetzt«, sagte Peak.

Die Wale passierten das Boot. Backbord erschien etwas im tiefen Blau und gelangte näher an die Oberfläche. Es war ein weiterer Wal, der senkrecht nach oben schoss. Er stieg aus dem Wasser, die Flipper weit abgespreizt. Die Leute auf dem Boot wandten die Köpfe, verharrten gebannt.

Der Körper kippte.

Er schlug quer über das Segelboot und zerschmetterte es in zwei Teile. Trümmer wirbelten umher. Wie Puppen flogen die Menschen durch die Luft. Anawak sah den Mast brechen, dann sprang ein zweiter Wal auf das Wrack. Im Nu hatte sich die Idylle in ein aufgewühltes Inferno verwandelt. Das Boot sank. Bruchstücke trieben verloren in einem sich ausbreitenden Ring aus marmorierter Gischt. Von den Menschen war nichts mehr zu sehen.

»Die wenigsten hier haben solche Attacken unmittelbar erlebt«, sagte Peak. »Darum die Demonstration. Mittlerweile beschränken sich die Angriffe nicht länger auf Kanada und die Vereinigten Staaten, sondern haben weltweit einen erheblichen Teil der Kleinschifffahrt lahm gelegt.«

Anawak schloss die Augen.

Wie musste es von oben ausgesehen haben, als die DHC-2 mit dem Buckelwal kollidiert war? Gab es auch darüber eine geisterhafte Chronik? Er hatte nicht den Mut aufgebracht, danach zu fragen. Die Vorstellung, dass ein teilnahmsloses, gläsernes Auge alles mit angesehen hatte, erschien ihm unerträglich.

Wie als Antwort auf seine Gedanken sagte Peak:

»Diese Art der Dokumentation mag Ihnen zynisch erscheinen, ladies and gentlemen. Aber wir sind keine Voyeure. Wo es uns möglich war, haben wir uns um sofortige Hilfe bemüht.« Er hob den Blick vom Bildschirm seines Laptops. Seine Augen waren ausdruckslos. »Leider kommt man in solchen Fällen grundsätzlich zu spät.«

Peak war klar, dass er sich soeben auf dünnes Eis begab. Er deutete an, dass man nach Unglücksfällen Ausschau gehalten hatte, was die Frage aufwarf, warum man nicht bemüht gewesen war, sie zu verhindern.

»Stellen wir uns die Ausbreitung der Attacken nach Art einer Epidemie vor«, sagte er, »dann hat diese Epidemie vor Vancouver Island begonnen. Die ersten nachgewiesenen Fälle ereigneten sich vor Tofino. Vielfach — so unwahrscheinlich es klingt — sind strategische Allianzen zu beobachten. Grauwale, Buckelwale, auch Finnwale, Pottwale und andere Großwale, greifen die Boote an. Die kleineren, schnelleren Orcas erledigen dann die im Wasser treibenden Menschen.«

Der norwegische Professor hob die Hand.

»Was bringt Sie zu der Annahme, es handele sich um eine Epidemie?«

»Wir sagen nicht, dass es eine Epidemie ist, Dr. Johanson«, erwiderte Peak. »Sondern dass die Art der Ausbreitung epidemieartig zu verlaufen scheint. Von Tofino binnen weniger Stunden bis hinunter zur Baja California und hoch nach Alaska.«

»Ich bin nicht sicher, dass sich da etwas ausbreitete.«

»Augenscheinlich doch.«

Johanson schüttelte den Kopf. »Worauf ich hinaus will, ist, dass uns diese Augenscheinlichkeit zu falschen Schlüssen verleiten könnte.«

»Dr. Johanson«, sagte Peak geduldig, »wenn Sie dem Verlauf meiner Ausführungen mehr Zeit einräumen würden …«

»Wäre es nicht möglich«, fuhr Johanson unbeirrt fort, »dass wir es mit einem zeitgleichen Vorgehen zu tun haben, das lediglich ein bisschen unsauber koordiniert war?«

Peak sah ihn an.

»Ja«, sagte er widerwillig. »Das wäre möglich.«

Sie hatte es gewusst. Johanson bewegte seine eigene Theorie. Und Peak, der es nicht mochte, wenn Offiziere von Zivilisten unterbrochen wurden, hatte sich ärgern müssen.

Li war amüsiert.

Sie schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück und empfing einen fragenden Blick von Vanderbilt. Der CIA-Mann schien anzunehmen, sie habe Johanson im Vorfeld einiges erzählt. Sie sah zurück, schüttelte den Kopf und lauschte weiterhin Peaks Ausführungen.

»Wir wissen«, sagte Peak gerade, »dass es sich bei den aggressiven Walen ausschließlich um Non-Residents handelt. Residents gehören sozusagen zum festen Repertoire einer Lokalität. Transients hingegen wandern über große Strecken, so wie Grauwale und Buckelwale, oder sie treiben sich auf hoher See herum wie Offshore-Orcas. Wir haben daraus — mit einiger Vorsicht — eine Theorie entwickelt: dass die Ursache für die Verhaltensänderung der Tiere weiter draußen zu finden ist, im offenen Meer.«

Eine Weltkarte erschien. Sie zeigte, wo Angriffe durch Wale bekundet waren. Eine rote Schraffierung zog sich von Alaska bis Kap Horn. Weitere Gebiete erstreckten sich beiderseits des afrikanischen Kontinents und entlang Australiens. Dann verschwand die Karte und machte einer anderen Platz. Auch hier waren Küstenbereiche farbig unterlegt.

»Insgesamt nimmt die Zahl meeresbewohnender Arten, deren Verhalten sich gezielt gegen den Menschen richtet, dramatisch zu. Vor Australien kumulieren Angriffe durch Haie, ebenso vor Südafrika. Niemand geht noch schwimmen oder fischen. Hainetze, die für gewöhnlich ausreichen, um die Tiere fern zu halten, hängen in Fetzen, ohne dass jemand verlässlich sagen könnte, was sie zerstört. Unsere optischen Systeme tragen wenig zur Aufklärung bei, und was Tauchroboter angeht, sind die Länder der Dritten Welt technisch unterrepräsentiert.«

»An eine Häufung von Zufällen glauben Sie nicht?«, fragte ein deutscher Diplomat.

Peak schüttelte den Kopf.

»Das Erste, was Sie in der Navy lernen, Sir, ist, die Gefahr durch Haie richtig einzuschätzen. Die Tiere sind gefährlich, aber nicht grundsätzlich aggressiv. Wir schmecken ihnen nicht mal sonderlich. Die meisten Haie spucken einen Arm oder ein Bein sofort wieder aus.«

»Wie tröstlich«, murmelte Johanson.

»Aber diverse Arten scheinen ihre Meinung über den Wohlgeschmack von Menschenfleisch geändert zu haben. Innerhalb weniger Wochen hat sich die Zahl der Haiattacken verzehnfacht. Tausende von Blauhaien, eigentlich Hochseebewohner, dringen in Schelfregionen vor. Mako-, Weiß— und Hammerhaie treten rudelartig auf wie Wölfe, fallen über ein Küstengebiet her und richten innerhalb kürzester Zeit gewaltigen Schaden an.«

»Schaden?«, fragte ein französischer Abgeordneter mit starkem Akzent. »Was heißt das? Todesfälle?«

Was sonst, du Idiot, schien Peak zu denken.

»Ja, Todesfälle«, sagte er. »Sie greifen auch Boote an.«

»Mon Dieu! Was kann ein Hai gegen ein Boot ausrichten?«

»Täuschen Sie sich nicht!« Peak lächelte dünn. »Ein ausgewachsener Weißhai ist durchaus in der Lage, ein kleines Boot durch Rammen oder Bisse zu versenken. Haiangriffe auf Flöße mit Schiffbrüchigen sind belegt. Wenn mehrere Tiere zugleich beteiligt sind, besteht kaum Hoffnung, den Angriff zu überleben.«

Er zeigte das Bild eines hübsch aussehenden kleinen Kraken, dessen Oberfläche mit leuchtend blauen Ringen überzogen war.

»Des Weiteren: Hapalochlaene Maculosa. Der Blaugefleckte Oktopus, 20 Zentimeter lang. Australien, Neuguinea, Salomonen. Eines der giftigsten Tiere der Welt. Injiziert beim Biss toxische Enzyme in die Wunde. Man merkt kaum etwas davon, aber nach zwei Stunden ist man mausetot.« Die Fotoserie setzte sich mit teils bizarr anmutenden Lebewesen fort. »Steinfische, Petermännchen, Drachenköpfe, Feuerwürmer, Kegelschnecken — es gibt jede Menge giftiger Tiere in den Meeren. In den meisten Fällen dienen die Toxide der Verteidigung. Über die Unfallhäufigkeit liegen mehr oder weniger aussagekräftige Erhebungen vor. Bei vielen der Tiere ist die Statistik allerdings nach oben geschnellt, und es gibt dafür einen simplen Grund: Arten, die sich vorher tarnten und versteckten, haben begonnen, uns anzugreifen.«

Roche beugte sich zu Johanson hinüber. »Ob etwas, das einen Hai verändert, auch einen Krebs verändern kann?«, hörte Li ihn flüstern. »Was meinen Sie?« Johanson wandte ihm den Kopf zu. »Darauf können Sie Gift nehmen.«

Peak berichtete von den unermesslich großen Quallenschwärmen, die sich zu einer wahren Invasion ausgewachsen hatten und Südamerika, Australien und Indonesien bedrohten. Johanson lauschte mit halb geschlossenen Augen. Die Portugiesische Galeere löste neuerdings einen toxischen Schock aus, der binnen Sekunden tötete.

»Der Einfachheit halber unterteilen wir die Vorgänge in drei Kategorien«, sagte Peak. »Verhaltensänderungen, Mutationen, Umweltkatastrophen. Sie bedingen einander. Bis jetzt haben wir über anormales Verhalten gesprochen. Bei den Quallen scheinen vorwiegend Mutationen aufzutreten. Seewespen konnten immer schon navigieren, aber neuerdings sind sie zu wahren Meistern avanciert. Man gewinnt den Eindruck von Patrouillen. Es scheint, als wollten sie ganze Gebiete von jeder menschlichen Anwesenheit säubern, ohne dass man viel gegen sie ausrichten könnte. Der Tauchtourismus ist praktisch zum Erliegen gekommen, aber am schlimmsten leiden die Fischer.«

Ein Fabrikschiff erschien von der Sorte, die den Fang gleich an Bord zu Konserven verarbeitete.

»Das ist die Anthanea. Vor vierzehn Tagen zog die Mannschaft eine Riesenladung chironex flecken an Bord — Seewespen. Besser gesagt etwas, wovon wir glauben, dass es chironex ist oder gewesen sein könnte. Es war ein Fehler, den Fang nicht augenblicklich wieder ins Meer zu entlassen. Stattdessen öffneten sie die Netze, was zur Folge hatte, dass sich mehrere Tonnen pures Gift auf Deck entluden. Einige Arbeiter starben sofort, andere später, als sich die meterlangen, haardünnen Tentakel über das Schiff verteilten. An dem Tag hat es geregnet. Das Wasser trug die Bestandteile der Quallen überallhin. Keiner kann sagen, wie das Gift schließlich ins Trinkwasser gelangte, jedenfalls wurde die Anthanea praktisch entvölkert. Seitdem ist man vorsichtiger und hält spezielle Schutzkleidung bereit, aber es ändert nichts am grundsätzlichen Übel. In weiten Teilen der Welt fangen die Flotten jetzt keinen Fisch mehr, sondern Gift.«

Sie fangen keinen Fisch mehr, weil keiner mehr da ist, dachte Johanson. Das hättest du der Ordnung halber erwähnen sollen, Peak. Auch wenn es nicht der eigentliche Grund für das ist, was geschieht.

Oder vielleicht doch?

Natürlich war es der Grund. Einer von zahllosen.

Er dachte an die Würmer.

Mutierte Organismen, die plötzlich zu wissen schienen, was sie taten. Sah niemand, was vor sich ging? Sie erlebten die Symptome einer Krankheit, deren Erreger in allem steckte und in nichts offenkundig wurde, eine meisterliche Camouflage. Der Mensch hatte das Meer bis auf ein paar kümmerliche Reste leer gefischt, und jetzt hatten die verbliebenen Schwärme gelernt, den Todesfallen aus dem Weg zu gehen, während an ihrer statt Armeen giftbewehrter Soldaten dem maroden Fischereigewerbe den Rest gaben.

Das Meer tötete den Menschen.

Und du hast Tina Lund getötet, dachte Johanson nüchtern. Du hast sie darin bestärkt, Kare Sverdrup nicht aufzugeben. Auf dich hat sie gehört, sonst wäre sie nicht nach Sveggesundet gefahren.

War er schuld?

Wie hätte er wissen sollen, was geschehen würde? In Stavanger wäre Lund vermutlich auch gestorben. Was, wenn er ihr geraten hätte, die nächste Maschine nach Hawaii zu nehmen oder nach Florenz? Würde er dann jetzt hier sitzen und sich etwas darauf einbilden, Tina Lund gerettet zu haben?

Jeder von ihnen kämpfte gegen seinen persönlichen Dämon. Bohrmann quälte sich mit der Vorstellung, er hätte die Welt früher warnen sollen. Sicher hätte er das. Aber vor was? Vor einer Vermutung? Vor einem ominösen Zeitpunkt? Sie hatten auf Hochtouren daran gearbeitet, Gewissheit zu erlangen. Am Ende waren sie nicht schnell genug gewesen, aber sie hatten es immerhin versucht. Traf Bohrmann eine Schuld?

Und Statoil? Finn Skaugen war tot. Er hatte sich am Hafen Stavangers aufgehalten, als die Welle kam. Mittlerweile sah Johanson den Ölmanager in einem anderen Licht. Skaugen war ein Manipulator gewesen. Er hatte sich darin gefallen, das gute Gewissen einer bösen Branche zu verkörpern, aber hatte er die richtigen Schritte unternommen? Auch Clifford Stone war der Katastrophe zum Opfer gefallen, aber war er wirklich das berechnende Monster gewesen, als das Skaugen ihn gebrandmarkt hatte?

Würmer, Quallen, Wale, Haie.

Intelligente Fische. Allianzen. Strategien.

Johanson dachte an sein zerstörtes Haus in Trondheim. Seltsamerweise bedrückte ihn der Umstand, es verloren zu haben, wenig. Sein wahres Zuhause lag woanders, am Rand des Spiegels, der bei klarer Nacht das Universum in sich trug. Dort hatte er sich selbst erblickt und sich ein Refugium des Schönen und Wahrhaftigen geschaffen. Die Hütte war seine ureigene Schöpfung, die Verkörperung seiner selbst. Sie barg, was in einem Mietshaus niemals hätte heimisch werden können. Er war nicht mehr dort gewesen seit dem Wochenende mit Tina.

Hatte sich auch dort etwas verändert?

Der See war ein friedliches Gewässer. Dennoch machte ihm der Gedanke zu schaffen. Er würde hinfahren und nachsehen müssen, sobald es ging. Ganz gleich, wie viel Arbeit auf ihn zukam.

Peak rief ein neues Bild auf.

Ein Hummer. Nein, Reste eines Hummers. Das Tier sah aus, als sei es explodiert.

»Hollywood würde es den Boten des Grauens nennen«, sagte Peak mit schiefem Grinsen. »In diesem Fall trifft die Bezeichnung den Nagel auf den Kopf. In Mitteleuropa breitet sich eine Epidemie aus, deren Ursache in Tieren wie diesem steckt. Wir verdanken es Dr. Roche, dass der blinde Passagier weitgehend identifiziert ist. Der Gattung nach handelt es sich um eine einzellige Alge namens Pfiesteria piscicida. Eine von rund 60 bekannten Dinoflagellaten-Spezies, die als toxisch gelten. Pfiesteria ist unter den Killeralgen die schlimmste. Wir haben an der Ostküste der Vereinigten Staaten, insbesondere in den Küstengewässern North Carolinas, schon vor Jahren verheerende Erfahrungen damit gemacht, als Pfiesteria Milliarden Fische tötete. Ihre Kadaver trieben zu Schwärmen an der Wasseroberfläche, mit offenen, angefressenen Wunden. Für die Fischer ein wirtschaftliches Desaster, aber auch ein gesundheitliches. Viele klagten über Bewusstseinsstörungen, bekamen blutige Geschwüre an Armen und Beinen und mussten ihren Job aufgeben. Wissenschaftler, die Pfiesteria untersuchten, erlitten nachhaltige Gesundheitsschäden.«

Er ließ eine kurze Pause verstreichen. »1990 reinigte ein Erforscher der Alge, Howard Glasgow, in einem speziell dafür eingerichteten Labor der Universität von North Carolina Aquarien, als plötzlich etwas höchst Absonderliches mit ihm geschah. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, aber sein Körper bewegte sich wie in Zeitlupe. Die Glieder versagten den Dienst. Seine Erkrankung war das erste Indiz dafür, dass Pfiesteria-Toxine auch in die Luft gelangen können, also verfrachtete Glasgow die Organismen in ein gesichertes Labor. Dummerweise hatten Bauarbeiter dort einen Lüftungsschacht verkehrt eingebaut und direkt mit Glasgows Büro verbunden. Er atmete die giftige Luft sechs Monate lang ein, ohne es zu wissen. Seine Kopfschmerzen wurden so stark, dass er kaum in der Lage war zu arbeiten. Sein Gleichgewichtssinn setzte aus. Leber und Nieren begannen sich zu zersetzen. Wenn er mit jemandem telefonierte, wusste er fünf Minuten später nichts mehr davon. Er irrte in der Stadt herum und fand nicht mehr nach Hause, vergaß seine Telefonnummer und seinen Namen. Für die meisten stand fest, dass er entweder an einem Hirntumor litt oder an Alzheimer, aber Glasgow wollte nichts davon hören. Schließlich ließ er sich an der Duke University verschiedenen Tests unterziehen, die in der Tat etwas völlig anderes ergaben — sein Nervensystem war über Monate hinweg einem chemischen Angriff ausgesetzt gewesen. Andere Forscher, die mit Pfiesteria in Kontakt gerieten, erkrankten später an Lungenentzündung und chronischer Bronchitis. Und alle verloren langsam, aber sicher ihr Gedächtnis. Sie verloren es an einen Organismus, der nicht zu begreifen ist.«

Peak präsentierte eine Reihe elektronenmikroskopischer Aufnahmen. Sie zeigten unterschiedliche Lebensformen. Manche sahen aus wie Amöben mit sternförmigen Auswüchsen, andere glichen schuppigen oder haarigen Kugeln, wieder andere Hamburgern, zwischen deren Hälften sich spiralige Tentakel wanden.

»Das alles ist Pfiesteria«, sagte Peak. »Die Alge verändert innerhalb von Minuten ihr Aussehen, sie kann auf das Zehnfache anwachsen, sich in Zysten verpuppen, daraus hervorbrechen und von einem harmlosen Einzeller zu einer hochtoxischen Zoospore mutieren. Bis zu vierundzwanzig verschiedene Formen nimmt Pfiesteria an, und jedes Mal verändert sie dabei ihre Eigenschaften. Mittlerweile ist es gelungen, die Toxide zu isolieren. Dr. Roche und sein Team arbeiten auf Hochtouren an der Entschlüsselung, allerdings haben sie es schwerer als die Forscher hierzulande. Das Wesen, das in die Kanalisation gelangte, scheint nämlich gar nicht Pfiesteria piscicida zu sein, sondern eine ungleich gefährlichere Abart. Pfiesteria piscicida heißt in wörtlicher Übersetzung Fisch fressende Pfiesterie. Dr. Roche hat das von ihm entdeckte Exemplar Pfiesteria homicida getauft — Menschen fressende Pfiesterie.«

Peak erläuterte die Schwierigkeiten, der Alge Herr zu werden. Der neue Organismus schien es darauf anzulegen, sich in Zyklen explosionsartig zu vermehren. Einmal in den Wasserkreislauf geraten, wurde man ihn nicht wieder los. Er sickerte ins Erdreich und sonderte sein Gift ab, das kaum herauszufiltern war. Genau hier lag das Problem. Viele der Opfer wurden von Pfiesteria regelrecht angefressen. Sie bekamen schwärende Wunden am ganzen Körper, die nicht verheilten, sondern sich entzündeten und vereiterten. Aber schlimmer war das Gift. So verzweifelt die Behörden bemüht waren, Kanäle und Wasserleitungen zu reinigen, konnten sie doch nicht verhindern, dass sich der Organismus woanders wieder ausbreitete. Man versuchte ihm mit Hitze und Säuren beizukommen, mit chemischen Keulen, aber natürlich konnte der Sinn solcher Aktionen nicht darin bestehen, ein Übel durch das andere zu ersetzen.

Von alldem zeigte sich Pfiesteria homicida weitestgehend unbeeindruckt.

Pfiesteria piscicida hatte das Nervensystem geschädigt. Die neue Art attackierte es mit einer Aggressivität, dass man binnen Stunden gelähmt war, ins Koma fiel und starb. Nur wenige Menschen schienen resistent zu sein. Nachdem Roche den toxischen Code bislang nicht hatte entschlüsseln können, hoffte man auf die Dekodierung dieser Resistenz, doch dem Team lief die Zeit davon. Die Übertragung der Krankheit schien sich jeder Eindämmung entzogen zu haben.

»Die Alge ist in einem Trojanischen Pferd gekommen«, sagte Peak. »Im Innern von Schalentieren. In Trojanischen Hummern, wenn Sie so wollen, oder besser gesagt in etwas, das nach Hummer aussah. Ganz offenbar lebten die Tiere, als sie gefangen wurden, nur dass ihr Fleisch einer gallertigen Substanz gewichen war. Eingekapselt darin lagerten Kolonien von Pfiesteria. Die Europäische Union hat den Fang und die Ausfuhr von Schalentieren mittlerweile verboten. Im Augenblick beschränken sich Erkrankungen und Todesfälle auf Frankreich, Spanien, Belgien, Holland und Deutschland. Die letzte mir vorliegende Zahl spricht von 14000 Toten. Auf dem amerikanischen Kontinent scheinen Hummer noch Hummer zu sein, aber auch wir erwägen, den Verkauf von Schalentieren zu untersagen.«

»Schrecklich«, flüsterte Rubin. »Woher kommen diese Algen?«

Roche drehte sich zu ihm um.

»Menschen haben sie gemacht«, sagte er. »Die amerikanische Schweinemast an der Ostküste spült Unmengen von Gülle direkt in die Gewässer, und Pfiesterien gedeihen prächtig in überdüngtem Wasser. Sie nähren sich von Phosphaten und Nitraten, die mit Tierfäkalien auf Feldern ausgebracht werden und in die Flüsse gelangen. Oder von Industrieabwässern. Was wundern wir uns, dass sich die Biester in der Kanalisation von Großstädten wohl fühlen, wo alles gesättigt ist mit organischen Stoffen? Wir erschaffen die Pfiesterien dieser Welt. Wir erfinden sie nicht, aber wir gestatten ihnen, sich in Monster zu verwandeln.« Roche machte eine Pause und sah wieder Peak an. »Wenn die Ostsee umkippt und alle Fische darin sterben, wie es in den letzten Jahren der Fall war, hat das seinen Grund in der dänischen Schweinemast. Die Gülle bringt Algen dazu, sich explosionsartig zu vermehren. Die Algen binden den Sauerstoff, und die Fische sterben. Toxische Algen tun noch einiges mehr, und keine Gegend scheint vor ihnen sicher. Jetzt haben wir die schlimmste von allen mitten unter uns.«

»Aber warum hat man nicht schon früher etwas dagegen unternommen?«, fragte Rubin.

»Früher?« Roche lachte. »Man hat früher etwas dagegen unternommen, mein Freund. Man hat es versucht. Wo leben Sie? Statt ernsthafte Studien zu treiben, wurden die Forscher ausgelacht und erhielten Morddrohungen. Erst vor wenigen Jahren ist aufgeflogen, dass die Umweltbehörde von North Carolina die Vorfälle um Pfiesteria bewusst vertuscht hatte, mit Rücksicht auf einflussreiche politische Repräsentanten, die zufälligerweise selber Schweinezüchter sind. Natürlich sollten wir uns fragen, welcher Irre uns mit Pfiesterien verseuchte Hummer schickt. — Aber es ändert nichts daran, dass wir die Geburtshelfer der Katastrophe sind. Auf irgendeine Weise sind wir das immer.«

»Diese Muscheln besitzen alle Eigenschaften typischer Zebramuscheln. Aber sie können etwas, das gewöhnliche Zebramuscheln nicht können. Nämlich navigieren.«

Peak war bei Schiffsunglücken angelangt. Nachdem sich die Konferenz durch Pfiesteria- Bilanzen gequält hatte, präsentierte er nun Statistiken, die nicht weniger niederschmetternd waren. Über eine Weltkarte zog sich ein Geflecht farbiger Linien.

»Die Hauptverkehrswege der Handelsschifffahrt«, erläuterte Peak die Grafik. »Ausschlaggebend für den Verlauf ist die Verteilung transportierter Güter. In der Regel werden Rohstoffe immer in den Norden verschifft. Australien exportiert Bauxit, Kuwait Öl und Südamerika Eisenerz. Alles wandert über Entfernungen von bis zu 11000 Seemeilen nach Europa und Japan, damit in Stuttgart, Detroit, Paris und Tokio Autos, Elektrogeräte und Maschinen entstehen. Und die wandern in Containerfrachtern wieder zurück nach Australien, Kuwait oder Südamerika. Fast ein Viertel des gesamten Welthandels wird im pazifisch-asiatischen Raum abgewickelt, das entspricht einem Warenwert von 500 Milliarden US-Dollar. Unwesentlich weniger ist es im Atlantik. — Die Hauptballungszentren des Seeverkehrs sehen Sie dunkel markiert. Die amerikanische Ostküste mit Schwerpunkt New York, der europäische Norden mit Ärmelkanal, Nordsee und Ostsee bis hinauf zu den baltischen Republiken, das gesamte Mittelmeer, insbesondere die Riviera. Den europäischen Meeren kommt eine zentrale Bedeutung für den Welthandel zu, das Mittelmeer dient außerdem als Seeweg von der nordamerikanischen Ostküste durch den Suezkanal nach Südostasien. Nicht zu vergessen die japanischen Inseln und der Persische Golf! Im Kommen ist das Chinesische Meer, es zählt neben der Nordsee zu den dichtbefahrensten Gewässern der Erde. Um die Abläufe des Welthandels auf den Meeren zu verstehen, muss man dieses Netzwerk verstanden haben. Man muss wissen, was es für die eine Seite des Globus bedeutet, wenn auf der anderen ein Containerfrachter sinkt, welche Produktionswege unterbrochen werden, wie viele Arbeitsplätze gefährdet sind, wen es die Existenz oder das Leben kostet und wer vom Unglück profitieren könnte. Der Flugverkehr hat die Passagierschifffahrt abgelöst, aber der Welthandel hängt am Meer. Nichts kann den Wasserweg ersetzen.«

Peak machte eine Pause.

»Vor diesem Hintergrund ein paar Zahlen. 2000 Schiffe täglich drängen sich durch die Malakkastraße und ihre angrenzenden Meerengen, fast 20000 Schiffe aller Größen durchqueren im Jahr den Suezkanal. Das ergibt jeweils 15 Prozent des Welthandels. 300 Schiffe kreuzen am Tag im englischen Kanal, um ins meistbefahrene Meer der Welt zu gelangen, in die Nordsee. Rund 44000 Schiffe pro Jahr verbinden Hongkong mit der Welt. Zigtausend Frachter, Tanker und Fähren bewegen sich jährlich über den Globus, von Fischereiflotten, Kuttern, Segelyachten und Sportbooten ganz zu schweigen. Millionen Schiffsbewegungen verzeichnen die Ozeane, Randmeere, Kanäle und Meerengen. Angesichts dessen mag es übertrieben erscheinen, vom gelegentlichen Untergang eines Supertankers oder Containerfrachters auf eine ernsthafte Krise der Seeschifffahrt zu schließen. So leicht lässt sich niemand davon abschrecken, noch den letzten Rosthaufen mit Öl zu füllen und auf Fahrt zu schicken. — Nebenbei, die meisten der rund 7000 Öltanker weltweit befinden sich in einem miserablen Zustand. Über die Hälfte davon tut seit mehr als 20 Jahren Dienst, viele der Supertanker kann man getrost als schrottreif bezeichnen. Da wird einiges in Kauf genommen. Die Katastrophe ist potenziell, aber geläufig. Man beginnt zu rechnen: Könnte es gut gehen? Man kennt die Faktoren, das Ganze wird zum Glücksspiel. Wenn ein 300 Meter langer Tanker in ein Wellental gerät, wird er in der Mitte um bis zu einem Meter durchgebogen, das zermürbt jede Konstruktion. Der Tanker fährt trotzdem, weil man sich den Ausgang der Fahrt schönrechnet.« Peak lächelte dünn. »Wenn aber völlig unerklärliche Phänomene zu Unglücksfällen führen, ist die Rechnerei dahin. Das Risiko wird unkalkulierbar. Eine ganz eigenartige Psychologie kommt ins Spiel. Wir nennen sie die Hai-Psychose. Nie weiß man, wo der Hai gerade ist, wen er als Nächstes fressen könnte, also reicht ein Exemplar, um tausende Urlauber daran zu hindern, ins Wasser zu gehen. Statistisch wäre es dem einen Menschenfresser unmöglich, dem Tourismus erkennbaren Schaden zuzufügen. Praktisch bringt er ihn zum Erliegen.

— Jetzt stellen Sie sich eine Handelsschifffahrt vor, die innerhalb weniger Wochen viermal so viele Havarien zu beklagen hat wie je zuvor, ohne dass es als Folge bekannter Ursachen geschieht. Beängstigende Phänomene, für die es keine Erklärung gibt, reißen selbst Schiffe in den Abgrund, die sich nachweislich in ausgezeichnetem Zustand befanden. Nie weiß man, wen es treffen wird und wo, und was man im Vorfeld tun kann, um sich zu schützen. Man spricht nicht mehr von Durchrostung, Sturmschäden oder Navigationsfehlern — man spricht davon, gar nicht erst hinauszufahren.«

Auf diesem Weg war Peak zu den Muscheln gelangt. Sie prangten übergroß auf dem Bildschirm. Peak deutete auf einen faserigen Auswuchs, der zwischen den gestreiften Schalen herausragte.

»Mit diesem Fuß, dem Byssus, setzt sich die Zebramuschel gewöhnlich fest, je nachdem, wohin die Strömung sie trägt. Genauer gesagt besteht der Byssus aus einem Bündel klebriger Proteinfäden. Die neuen Muscheln haben diese Fäden zu einer Art Propeller weiterentwickelt. Das Prinzip erinnert flüchtig an die Fortbewegungsweise von Pfiesteria piscicida. Konvergenzen sind aus der Natur bekannt, aber sie vollziehen sich über Jahrtausende und Jahrmillionen. Diese Muscheln sind entweder bislang nicht in Erscheinung getreten, oder sie haben sich die neuen Fähigkeiten über Nacht zugelegt. Das spräche für eine rapide Mutation, denn in vielerlei Hinsicht sind es immer noch Zebramuscheln, nur dass sie sehr genau zu wissen scheinen, wo sie hinwollen. Beispielsweise blieben die Seekästen der Barrier Queen frei, aber das Ruder war gleichmäßig bedeckt.«

Peak berichtete von den Umständen der Havarie und vom Angriff der Wale auf die Schlepper. Auch wenn die Barrier Queen davongekommen war, hatte sich gezeigt, wie effektiv die Strategie des Zusammenwirkens zwischen Muscheln und Walen funktionierte — ebenso wie die zwischen Grauwalen, Buckelwalen und Orcas.

»Das ist doch Wahnsinn«, sagte ein Oberst der Bundeswehr aus dem Hintergrund.

»Keineswegs.« Anawak drehte sich zu ihm um. »Es hat Methode.«

»Völliger Blödsinn! Wollen Sie behaupten, Muscheln hätten sich mit Walen abgesprochen?«

»Nein. Aber es ist dennoch eine Zusammenarbeit. Wenn Sie solche Attacken erlebt hätten, würden Sie anders darüber denken. Unserer Meinung nach hatte der Angriff auf die Barrier Queen lediglich die Funktion eines Tests.«

Peak drückte die Fernbedienung, und das Bild eines auf der Seite liegenden Riesenschiffs erschien. Sturm trieb haushohe Wellen über den Rumpf. Peitschender Regen verschleierte die Sicht.

»Die Sansuo, einer der größten japanischen Autotransporter«, sagte Peak. »Die letzte Fracht waren Schwerlaster. Das Schiff geriet vor Los Angeles in einen Muschelschwarm. Ebenso wie auf der Barrier Queen fraß sich das Ruder fest, aber diesmal herrschte hohe See. Die Sansuo wurde backbord von einer riesigen Welle erwischt und begann voll zu laufen. Was dann geschah, können wir nur vermuten. Unter der Wucht der Brecher müssen sich einige Trucks im Innern losgerissen haben. Sie krachten in die Ballastwassertanks, einer durchschlug die Bordwand. Als diese Aufnahme gemacht wurde, waren seit dem missglückten Rudermanöver nicht mal 15 Minuten vergangen. Eine weitere Viertelstunde später brach die Sansuo auseinander und sank.« Er machte eine Pause. »Wir haben inzwischen eine ganze Liste solcher Fälle, die täglich länger wird. Schlepper werden attackiert, in den meisten Fällen muss die Bergung abgebrochen werden. Die Zahl der Totalverluste zeigt einen dramatischen Trend nach oben. Dr. Anawak hat Recht, wenn er dem Wahnsinn Methode bescheinigt, denn mittlerweile wissen wir von mindestens einer weiteren Variante des Wahnsinns.«

Peak präsentierte die Satellitenaufnahme einer kilometerlangen schwarzen Wolke. Sie trieb aufs Land zu. Ihr Ursprung lag ein erhebliches Stück vor der Küste, wo sie sich zu einem schmutzig roten Zentrum verdichtete. Es sah aus, als sei mitten im Meer ein Vulkan ausgebrochen.

»Unter der Wolke verbergen sich die Reste der Phoebos Apollon, eines LNG-Gastankers. Post-Panamax-Klasse, das Größte, was es gibt. Am 11. April brach fünfzig Seemeilen vor Tokio plötzlich ein Feuer im Maschinenraum aus, das auf die vier Kugeltanks übergriff und eine Reihe gewaltiger Explosionen auslöste. Die Phoebos Apollon galt in jeder Beziehung als vorbildlich, sie war in ausgezeichnetem Zustand und wurde regelmäßig gewartet. Die griechische Reederei wollte es genau wissen und schickte einen Roboter nach unten.«

Blitze zuckten über den Bildschirm. Ein Zahlencode lief an, dann trieb plötzlich Schneegestöber vor einem trüben Hintergrund.

»Von einem explodierten Gastanker ist im Allgemeinen nicht viel übrig. Das Schiff war unter Wasser in vier Teile zerbrochen. Vor Honshu geht es 9000 Meter runter, und die Trümmer verteilen sich auf einer Strecke von mehreren Quadratkilometern. Schließlich stieß der Roboter auf den hinteren Teil.«

Im Schneegestöber erschien undeutlich eine Struktur. Ein Ruderblatt, die gebogene Form des Hecks, Teile von Aufbauten. Der Roboter schwebte darüber hinweg und sank entlang der stählernen Hülle abwärts. Ein einzelner Fisch zog durchs Bild.

»Die Grundströmung transportiert jede Menge organisches Material, Plankton, Detritus, alles Mögliche«, erläuterte Peak die Aufnahmen. »Nicht einfach, da zu manövrieren. Ich erspare Ihnen den ganzen Film, aber das hier dürfte Sie interessieren.«

Plötzlich war die Kamera sehr viel näher am Rumpf. Etwas überlagerte die Schiffshülle in dicken Klumpen. Im Licht der Scheinwerfer schimmerte und glänzte es wie zerschmolzenes Wachs.

Rubin beugte sich mit erregtem Gesichtsausdruck vor.

»Wie kommt denn dieses Zeug dahin?«, rief er.

»Was glauben Sie, was es ist?«, fragte Peak.

»Medusen.« Rubin kniff die Augen zusammen. »Kleine Quallen. Es müssen Tonnen sein. Aber wieso haften sie an der Hülle?«

»Warum können Zebramuscheln plötzlich navigieren?«, gab Peak zurück. »Irgendwo unter dem Schleim liegen die Seekästen. Sie müssen hoffnungslos verstopft sein.«

Ein Diplomat hob zaghaft die Hand.

»Was genau, äh … sind eigentlich …?«

»Seekästen?« Alles musste man erklären. »Kantige Einbuchtungen, in welche die Hauptrohrleitungen für die Wasserversorgung münden, versehen mit Lochblechen, damit keine Eisbrocken und Pflanzen mit hineingelangen. Im Schiffsinnern verzweigen sich die Rohre und transportieren das angesaugte Seewasser überall hin, wo es gebraucht wird, zur Umwandlung in Süßwasser, in Löschtanks, vor allem aber in den Kühlwasserkreislauf der Maschine. Es ist schwer zu sagen, wann sich die Tiere an den Rumpf geheftet haben. Vielleicht erst, nachdem das Schiff gesunken war. Andererseits … stellen wir uns folgendes Szenario vor: Der Medusenschwarm treibt dem Tanker entgegen, so dicht gedrängt, dass er wie eine geschlossene Masse wirkt. Nach wenigen Sekunden haben die Tiere die Kästen dicht gemacht. Kein Wasser dringt mehr ein, dafür quillt der organische Brei durch die Löcher der Abdeckplatten ins Innere. Immer mehr Tiere kommen nach. Das restliche Wasser aus den Rohren wird in die Maschine gesaugt, dann liegen alle Trakte auf dem Trockenen, und die Kühlwasserversorgung der Phoebos Apollon reißt von einem Moment zum anderen ab. Die Hauptmaschine läuft heiß, Schmieröl wird glühend, die Temperatur in den Zylinderköpfen steigt, eines der Auslassventile fliegt auseinander. Brennender Kraftstoff schießt heraus und setzt eine Kettenreaktion in Gang, und die Feuerlöschsysteme versagen, weil sie ebenfalls kein Wasser mehr ansaugen können.«

»Ein hochmoderner Tanker explodiert, weil Medusen die Seekästen verstopfen?«, fragte Roche.

Peak dachte, wie komisch diese Frage im Grunde war. Da saßen hochkarätige Wissenschaftler beisammen und schauten drein wie enttäuschte Kinder angesichts nicht funktionierender Technik.

»Tanker und Frachter sind Gebilde, die zur Hälfte aus Hightech bestehen. Die andere Hälfte ist archaisch. Schiffsdiesel und Rudermaschinen mögen komplizierte, hoch entwickelte Konstrukte sein, aber unterm Strich dienen sie dazu, eine Schraube im Kreis zu drehen und ein Stück Stahl hin— und herzubewegen. Man navigiert mit GPS, aber Kühlwasser wird durch ein Loch ins Innere gepumpt. Warum auch anders? Man schwimmt ja darin. So einfach ist das. Hin und wieder setzt sich einer der Kästen zu, wenn zufällig Seegras hineingerät oder sonst was, aber dann wird er gereinigt. Ist einer verstopft, benutzt man den anderen. Nie hat die Natur offensiv Angriffe auf Seekästen gestartet, wozu also hätte man das System verbessern sollen?« Er ließ einige Sekunden verstreichen. »Dr. Roche, wenn winzige Insekten morgen beschließen sollten, gezielt Ihre Nasenlöcher zuzusetzen, besteht für Ihren wunderbaren, hochkomplexen Körper die Gefahr des Ablebens. Haben Sie je darüber nachgedacht, dass es geschehen könnte? Genau hier liegt das Problem in allem, was uns heimsucht. — Haben wir je darüber nachgedacht, dass es geschehen könnte?«

Johanson hörte nicht mehr richtig hin. Das nächste Kapitel kannte er in allen Einzelheiten. Er und Bohrmann hatten es für Peaks Vortrag strukturiert. Es handelte von Würmern und Methanhydraten. Während Peak sprach, vertraute er seinem Laptop in loser Folge Gedankengänge an:

Die Beeinflussung der neuronalen Systeme durch die …

Durch die was?

Er musste einen Begriff dafür finden. Es war lästig, ständig drum herum zu formulieren. Gedankenverloren starrte er den Bildschirm an. Hatte der Stab Zugriff auf die Programme? Der Gedanke, Li und ihre Leute könnten seine Gedanken ausspionieren, drängte sich auf und missfiel ihm. Er hatte seine Theorie, und er wollte den Stab zu einem Zeitpunkt damit konfrontieren, den er bestimmte.

Der reine Zufall wollte es, dass Ringfinger und Mittelfinger seiner linken Hand plötzlich ein Wort produzierten. Eigentlich war es noch weniger als ein Wort. Drei Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm des Laptops.

Yrr Johanson war versucht, sie wieder zu löschen. Dann hielt er inne. Warum eigentlich nicht?

Ein Wort war so gut wie jedes andere. Dieses war sogar noch besser als ein richtiges Wort, weil es sich jedem Versuch einer Interpretation entzog. Im Grunde wusste er ja nicht, worüber er schrieb. Es gab keinerlei Begriff dafür, also empfahl sich der Weg in die Abstraktion.

Yrr

Yrr klang gut. Er würde vorerst dabei bleiben.

Weaver zerkaute ihren dritten Bleistift, während sie zuhörte.

»Vielleicht war die Sintflut ähnlich verheerend«, schloss Peak seinen minutiösen Exkurs. »Flutschilderungen sind Teil etlicher Mythen und religiöser Überlieferungen. Die vielleicht früheste Beschreibung eines Tsunami, der wir glauben können, erzählt von einer Naturkatastrophe in der Ägäis 479 vor Christus. Nachgewiesen sind die 60000 Toten, die 1755 in Lissabon starben, als Portugal von zehn Meter hohen Wellen getroffen wurde. Definitiv wissen wir auch von der Explosion des Krakatau 1883. Der größte Teil des Gipfels wurde abgesprengt, die unterseeische Caldera stürzte in die Magmakammer. Zwei Stunden später trafen 40 Meter hohe Wellen die Küstenregionen um Sumatra und Java, über 300 Orte wurden verwüstet, fast 36000 Menschen starben. 1933 suchte ein weit kleinerer Tsunami die japanische Stadt Sanriku heim und überrollte den Nordosten von Honshu. Bilanz: 3000 Tote, 9000 Gebäude zerstört, 8000 Schiffe gesunken. Keines dieser Ereignisse kommt auch nur annähernd dem nordeuropäischen Tsunami gleich. Die Anrainerstaaten dort sind ausnahmslos hoch entwickelte Industrienationen. Insgesamt 240 Millionen Menschen leben dort, die meisten an der Küste.«

Er sah in die Runde. Es war totenstill im Raum.

»Geologisch hat sich die gesamte Region schlagartig verändert. Für die Menschheit als Ganzes sind die Folgen noch nicht abzusehen, für die Wirtschaft sind sie vernichtend! Einige der bedeutendsten Hafenstädte der Welt wurden teilweise oder vollständig zerstört. Rotterdam war bis vor wenigen Tagen der größte maritime Handelsplatz aller Zeiten, die Nordsee eine der wichtigsten Lagerstätten für fossile Energien. Rund 450000 Barrel Öl wurden hier täglich hoch gepumpt. Die Hälfte der europäischen Ölressourcen lagert vor der norwegischen Küste, ein weiterer Teil vor England, außerdem ein erheblicher Teil der globalen Gasvorräte. Diese gewaltige Industrie wurde innerhalb weniger Stunden vernichtet. Die Zahl der Todesopfer liegt vorsichtig geschätzt bei zwei bis drei Millionen, die der Verletzten und obdachlos Gewordenen weit darüber.«

Peak verlas die Zahlen wie einen Wetterbericht, sachlich und scheinbar ohne Emotion.

»Unklar ist, was die Rutschung auslöste. Die Würmer gehören zweifellos zu den bemerkenswertesten Mutationen, mit denen wir es im Augenblick zu tun bekommen. Kein natürlicher Vorgang erklärt das milliardenfache Auftreten dieser Wurm-Bakterien-Kohorten. Dennoch vertreten unsere Freunde aus Kiel und Dr. Johanson die Auffassung, dass in dem Puzzle noch ein Steinchen fehlt. So instabil die Hydratfelder durch den Befall wurden, war mit einer solchen Katastrophe einfach nicht zu rechnen. Ein zusätzlicher Faktor muss ins Spiel gekommen sein, der mit der Welle nur den vordergründigen Teil des Problems schuf.«

Weaver richtete sich auf. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Auch wenn das Satellitenbild, das in dieser Sekunde auf dem Schirm erschien, aus großer Höhe geschossen worden war, unscharf und künstlich aufgehellt, erkannte sie das Schiff sofort.

»Diese Aufnahmen demonstrieren, was ich meine«, sagte Peak. »Wir haben das Schiff per Satellit überwacht …« Wie bitte? Weaver glaubte, sich verhört zu haben. Sie hatten Bauer überwacht? »Ein Forschungsschiff namens Juno«, fuhr Peak fort.

»Die Bilder sind nachts geschossen worden, von einem militärischen Aufklärungssatelliten namens EORSAT. Glücklicherweise hatten wir einwandfreie Sicht und sehr ruhige See, was ungewöhnlich ist für die Gegend. Die Juno lag zu diesem Zeitpunkt vor Spitzbergen.«

Verwaschen hoben sich die Schiffslichter von der schwarzen Oberfläche ab. Plötzlich sprenkelte sich das Meer mit hellen Flecken, die sich ausbreiteten, bis die See zu kochen schien.

Die Juno kippte von rechts nach links, drehte sich.

Dann sank sie wie ein Stein.

Weaver erstarrte. Niemand hatte sie darauf vorbereitet. Endlich wusste sie, wo Bauer abgeblieben war. Die Juno lag am Grund der Grönländischen See. Sie dachte an seine verstörenden Aufzeichnungen, seine Befürchtungen und Ängste. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie nun mehr darüber wusste als jeder andere. Bauer hatte ihr sein geistiges Eigentum vermacht.

»Es war das erste Mal seit Beginn der Anomalien«, sagte Peak, »dass wir diesen Effekt beobachten konnten. Bekannt waren uns Methan-Blowouts in dieser Gegend schon des Längeren, allerdings …«

Weaver hob die Hand.

»Haben Sie vermutet, dass so etwas geschehen würde?«

Peak sah sie aus seinen weißen Augen an. Sein Gesicht wirkte wie geschnitzt, vollkommen reglos.

»Nein.«

»Und was haben Sie unternommen, als die Juno sank?«

»Nichts.«

»Sie konnten nichts tun, obwohl Sie die Gegend und das Schiff von einem Satelliten überwachen ließen?«

Peak schüttelte langsam den Kopf. »Wir haben eine ganze Reihe von Schiffen beobachtet, um Erfahrungen zu sammeln. Man kann nicht überall zugleich sein. Niemand konnte davon ausgehen, dass ausgerechnet dieses Schiff …«

»Täusche ich mich«, unterbrach ihn Weaver heftig, »oder sind Auswirkungen solcher Blowouts hinlänglich bekannt? Zum Beispiel aus dem angeblich so mysteriösen Bermuda-Dreieck?«

»Miss Weaver, wir …«

»Anders gefragt, wenn Sie wussten, dass in der Vergangenheit Schiffe auf diese Weise verschwunden sind, und wenn Sie ferner wussten, dass die Freisetzung von Methan im Nordmeer zunimmt — ahnten Sie dann nicht auch, was dem norwegischen Kontinentalhang blühen würde?«

Peak starrte sie an.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will wissen, ob Sie etwas hätten tun können!«

Peaks Ausdruck blieb ohne Regung. Er heftete seinen Blick unverwandt auf Weaver. Es war unangenehm still geworden.

»Wir haben es falsch eingeschätzt«, sagte er schließlich.

Li kannte solche Situationen zur Genüge. Peak würde keine andere Wahl bleiben, als das Versagen der Luftaufklärung teilweise einzugestehen. Tatsächlich hatten sie eine Zunahme von Blowouts vor Norwegen registriert, aber eben auch alles Mögliche andere. Von Würmern hatten sie nichts gewusst.

Sie erhob sich. Es wurde Zeit, Peak Beistand zu leisten.

»Wir hätten überhaupt nichts tun können«, sagte sie ruhig. »Ich möchte Sie im Übrigen bitten, den Ausführungen des Majors zuzuhören, anstatt Urteile zu fällen. Vielleicht darf ich Sie daran erinnern, dass die wissenschaftlichen Berater hier im Raum unter zwei Gesichtspunkten ausgesucht wurden: Fachkompetenz und Erfahrung. Einige von Ihnen waren in die Geschehnisse unmittelbar verwickelt. Was hätte Dr. Bohrmann verhindern können? Dr. Johanson? Statoil? Was hätten Sie verhindern können, Miss Weaver? Glauben Sie wirklich, der Blick aus dem Orbit gehe einher mit einer omnipräsenten Task Force, die sofort zur Stelle ist und die Betroffenen raushaut, egal was passiert? Sollen wir lieber wegsehen?«

Die Journalistin runzelte die Stirn.

»Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig Vorwürfe zu machen«, sagte Li mit Nachdruck, bevor Weaver etwas erwidern konnte. »Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. So habe ich es gelernt. So steht es in der Bibel, und die Bibel hat in vielen Dingen Recht. Wir sind hier, um zu verhindern, dass noch mehr passiert. Sind wir uns einig?«

»Halleluja«, murmelte Weaver.

Li ließ ein kurzes Schweigen verstreichen.

Dann lächelte sie unvermittelt. Zeit für Zuckerbrot.

»Wir sind alle sehr aufgewühlt«, sagte sie. »Ich habe jedes Verständnis für Sie, Miss Weaver. Major Peak, bitte fahren Sie fort.«

Peak war vorübergehend mulmig geworden. Soldaten äußerten Kritik oder Bedenken nicht auf diese Weise. Er hatte nichts gegen Bedenken und Kritik, aber er hasste es, vorgeführt zu werden, ohne mit einem knappen Befehl die Verhältnisse wieder herstellen zu können. Plötzlich verspürte er dumpfen Hass auf die Journalistin. Er fragte sich, wie er mit diesem Haufen Wissenschaftler je zurechtkommen sollte.

»Was Sie eben gesehen haben«, sagte er, »war die Freisetzung einer größeren Menge Methan. So sehr ich den Tod der Seeleute bedaure, stellt uns das freigesetzte Gas vor weit größere Probleme. Infolge der Rutschung ist ein Millionenfaches dessen, was zum Untergang der Juno geführt hat, in die Atmosphäre gelangt. Es gibt Szenarien für den Fall, dass alles Methan weltweit auf gleiche Art entweicht. Das Resultat kommt einem Todesurteil gleich. Die Atmosphäre würde kippen.«

Er schwieg einen Moment. Peak war hartgesotten, aber was er nun zu verkünden hatte, bereitete auch ihm eine Höllenangst.

»Ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen«, sagte er bedächtig, »dass die Würmer sowohl im Atlantik als auch im Pazifischen Ozean aufgetaucht sind. Explizit hat man die Spezies an den Kontinentalabhängen vor Nord— und Südamerika, vor der kanadischen Westküste und vor Japan entdeckt.«

Atemlose Stille.

»Das war die schlechte Nachricht.«

Jemand hüstelte. Es klang wie eine kleine Explosion.

»Die gute ist, dass der Befall bei weitem nicht die Ausmaße erreicht wie vor Norwegen. Die Organismen besiedeln nur vereinzelte Flächen. Definitiv sind sie nicht in der Lage, in diesen Konzentrationen ernsthaften Schaden anzurichten. Aber wir müssen davon ausgehen, dass sie sich verstärken werden, auf welche Weise auch immer. Offenbar sind vor Norwegen schon im letzten Jahr kleinere Populationen verzeichnet worden, in einem Gebiet, das Statoil zur Erprobung neuartiger Fabriken ausgesucht hatte.«

»Unsere Regierung kann das nicht bestätigen«, sagte ein norwegischer Diplomat in der letzten Reihe.

»Das ist mir klar«, sagte Peak spöttisch. »Praktischerweise scheint so gut wie jeder, der mit dem Projekt befasst war, tot zu sein. Unsere Quellen beschränken sich also auf Dr. Johanson und die Forschungsgruppe aus Kiel. Nun, wir haben Aufschub erhalten. Wir sollten ihn nutzen, um möglichst rasch etwas gegen die Scheißviecher zu unternehmen.«

Er stockte. Scheißviecher. Zu emotional. Das war nicht gut. Er hatte sich sozusagen auf den letzten Metern hinreißen lassen.

»Scheißviecher sind es, bei Gott, dem Allmächtigen!«, dröhnte eine Stimme.

Ein Mann von bemerkenswertem Äußeren hatte sich erhoben. Wie ein Fels ragte er in die Höhe, groß und massig, mit einem orangefarbenen Overall angetan. Unter einer Baseballkappe ringelten sich drahtige, schwarze Locken nach allen Seiten. Eine getönte, überdimensionale Brille hielt sich mühsam auf der viel zu kleinen Nase, die sich trotzig gegen den froschartig breiten Mund behauptete, indem sie spitz hervorstach. Wann immer sich dieser Mund öffnete und das kolossale Kinn nach unten drückte, fühlte man sich auf fatale Weise an die Muppet Show erinnert.

Dr. Stanley Frost stand auf dem Namensschild des Riesen, Vulkanologe.

»Ich habe mir die Unterlagen im Vorfeld angesehen«, sagte Frost. Es klang, als predige er das Evangelium. »Und sie treffen keineswegs meinen Geschmack. Wir konzentrieren uns da auf Kontinentalabhänge im Umfeld dicht besiedelter Zonen.«

»Ja, weil es dem norwegischen Muster entspricht. Zuerst wenige Tiere, dann über Nacht ganze Horden.«

»Wir sollten uns nicht allein darauf konzentrieren.«

»Wollen Sie ein zweites Nordeuropa?«

»Major Peak! Sagte ich, wir sollten die Hänge außer Acht lassen? Das habe ich nicht gesagt! Ich sprach von der alleinigen Konzentration darauf, was — der Herr sei mein Zeuge — von gewaltiger Dummheit kündet. Mir ist das zu augenfällig. Der Teufel plant auf anderen Wegen.«

Peak kratzte sich den Schädel.

»Könnten Sie Ihre Ausführungen präzisieren, Dr. Frost?«

Der Vulkanologe holte tief Luft. Sein Brustkorb spannte sich. »Nein«, sagte er.

»Habe ich Sie richtig verstanden?«

»Das will ich doch hoffen. Sollen wir Pferde scheu machen? Ich muss erst Klarheit haben. Denken Sie an meine Worte.«

Er sah entschlossen in die Runde, das riesige Kinn vorgereckt, und setzte sich wieder.

Na wunderbar, dachte Peak. Erst dieser Idiot, und jetzt der nächste.

Vanderbilt wälzte seine Massen zum Pult. Li verfolgte ihn mit zusammengekniffenen Lidern. Sie sah zu, wie der Stellvertretende Direktor der CIA eine lächerlich kleine Brille auf seine Nase nestelte, was sie mit einer Mischung aus Belustigung und Widerwillen erfüllte.

»Scheißviecher ist durchaus der richtige Begriff, Sal«, sagte Vanderbilt gut gelaunt. Er strahlte in die Runde, als habe er die Frohe Botschaft zu verkünden. »Aber wir werden den kleinen Scheißern Feuer machen, dass ihnen der Arsch glüht. Ich versprech’s euch. — Gut, kommen wir zu dem, was wir vermuten. Viel ist es nicht. Das liebe Öl, von dem wir alle so abhängig sind, dass wir’s am liebsten saufen würden, kaputschnik! In Wirtschaftsparametern ausgedrückt heißt das, wir können einen erheblichen Teil der weltweiten Produktion abschreiben. Für die Kameltreiber von der OPEC eine feine Sache. Die internationale Schifffahrt schlägt sich mit immer neuen Tricks der Natur herum, sie lahm zu legen, wie Peak wortreich demonstrieren konnte. Und der Terror zeigt Wirkung! Ich meine, unter uns — Wal— und Haiattacken, mal ehrlich, so was ist im Grunde Kinderkacke, höherer Blödsinn. Ich meine, es ist ärgerlich, wenn eine anständige amerikanische Familie nicht mehr raus zum Angeln kann, der Menschheit im Ganzen geht es am Arsch vorbei. Auch dass der kleine Fischer in Entwicklungshausen, von dessen täglicher Sardelle siebzehn Kinder und sechs Frauen leben müssen, mit hohlem Blick am Strand sitzt, weil er auf See befürchten muss, gefressen zu werden, ist unschön, sehr beschissen. Geschüttelt von aufrichtigem Bedauern können wir rein gar nichts tun. Die Menschheit hat andere Sorgen. Reiche Länder sind betroffen. Die bösen Fische lassen sich überhaupt nicht mehr fangen und schicken stattdessen mutierte Giftschleudern in die Netze, oder sie bringen Trawler zum Kentern. Auch wenn es Einzelfälle sind, es sind leider verdammt viele Einzelfälle. Und das ist blöde für Entwicklungshausen, weil sie nun gar nichts mehr von uns abbekommen.«

Vanderbilt sah mit schlauem Blick über die Ränder seiner Brille.

»Wissen Sie, Herrschaften, wenn einer die Welt vernichten wollte, könnte er zwei Drittel einfach schon dadurch kaputtkriegen, dass er die Großen und Reichen auf Trab hält. Er muss ihnen dermaßen zusetzen, dass sie kaum imstande sind, ihre eigenen Probleme zu lösen. Die Dritte Welt ist aber darauf angewiesen, dass ihr die Großen unter die Arme greifen. Sie lebt davon, hin und wieder den gerechten Zorn Amerikas zu spüren, einen kleinen Wechsel im Regime, dass wir uns mit ihren Drogenbossen einigen und Forderungen an Wirtschaftshilfe koppeln. Das alles fällt flach. Wir mögen es belächeln, wenn Wale auf Boote springen, weil das Wohl und Wehe unserer Wirtschaft nicht von Barken und Binsenbündeln abhängt, aber der westliche Lebensstandard ist nicht gerade repräsentativ. Denken Sie dran, wenn Sie heute Abend im kalten Büffet rummatschen. Für die Dritte Welt sind Anomalien das Aus! El Niño ist das Aus. El Niña ist das Aus. Wenn wir Bilanz ziehen, was uns die Natur in den letzten Monaten an Extravaganzen geboten hat, erscheinen einem solche Phänomene wie nette alte Freunde. Man würde sich nachgerade wünschen, sie kämen mal wieder auf ein Bier vorbei, aber am Arsch geleckt, Herrschaften! Wir haben jetzt andere Gäste. In Teilen Europas herrscht der Ausnahmezustand. Und was heißt das? Dass keiner mehr nach Dunkelheit auf die Straße gehen darf, weil er sonst Gefahr läuft, nasse Füße zu bekommen? — Ich will Ihnen sagen, was es heißt. Es heißt, dass Europa die humanitäre Katastrophe nicht in den Griff bekommen wird. Dass die Hilfswerke, Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk, UNESCO, Malteser, nicht mehr nachkommen mit Zelten und Lebensmitteln. Dass im goldenen Europa Menschen an Hunger sterben und andere an Infektionen. Dass Seuchen ausgebrochen sind. — Seuchen in Europa! Als wär’s nicht genug mit Pfiesteria und Konsorten. In Norwegen wütet die Cholera! Es heißt, dass die medizinische Versorgung für die Verwundeten nicht mehr gewährleistet werden kann und die Wunden aufrechter europäischer Samstagabendquiz-Konsumenten von kleinen weißen Würmern wimmeln und mit Fliegen übersät sind, die ihrerseits Krankheitskeime verbreiten, wo immer sie sich niederlassen. — Wird’s einem schlecht? Das war noch gar nichts. Ein Tsunami ist eine nasse Angelegenheit, aber wenn er geht, fliegt alles Mögliche in die Luft. Keiner kommt noch mit der Feuerbekämpfung nach. Die Küstenstriche sind erst überspült und anschließend verbrannt worden. Ach ja, und noch was ist passiert, als der Sog der zurückweichenden Wassermassen die Kühlwasserzufuhr einiger bescheuerterweise in Küstennähe erbauter Atomkraftwerke unterbrochen hat.

Wir haben einen GAU in Norwegen, einen in England. Sind Sie bedient? Ich hätte noch den vollständigen Zusammenbruch der Stromversorgung zu bieten. Ladies and gentlemen, so Leid es mir tut, aber rechnen Sie vorerst bitte nicht mit Europa. Schon gar nicht in der Dritten Welt. Europa sendet das Testbild. Europa ist im Arsch!«

Vanderbilt förderte ein weißes Taschentuch zutage und tupfte sich die Stirn ab. Peak war kurz davor, sich zu übergeben. Er hasste diesen Mann. Er hasste es, dass Vanderbilt niemandes Freund war, wahrscheinlich nicht mal sein eigener. Ein Defätist, ein Zyniker, eine Dreckschleuder. Am meisten hasste Peak, dass Vanderbilt in fast allem, was er sagte, Recht behielt. In seinem Hass auf Vanderbilt war er sich sogar mit Judith Li einig.

Abgesehen davon hasste er auch Li.

Manchmal hatte er sich bei der Vorstellung ertappt, wie er Li die Kleider vom Leib riss und ihr auf dem verdammten Laufband die Süffisanz austrieb, dieses arrogante Gehabe einer Tochter aus gutem Hause, der man den Fremdsprachenunterricht und die Diplome nur so reingeblasen hatte. In solchen Momenten kam der Jonathan Peak in ihm zum Vorschein, der unter anderen Umständen wahrscheinlich Anführer einer Gang, Dieb, Vergewaltiger und Mörder geworden wäre.

Dieser andere Peak ängstigte ihn. Der andere Peak glaubte nicht an die Ideale von West Point, an Ehre, Ruhm und Vaterland. Er war wie Vanderbilt, der alles in den Dreck zog und durchblicken ließ, der Dreck sei die Realität. Der andere Peak war im Dreck groß geworden. Ein schwarzer Mann, geboren im Dreck der Bronx.

»Weiter im Text«, sagte Vanderbilt vergnügt. »Europa erfreut sich lustiger kleiner Algen im Trinkwasser. Was tun? Chemische Keule? Natürlich kann man Wasser kochen oder in Chemikalien ertränken. Dabei gehen die kleinen Scheißer vielleicht drauf, aber wir folgen ihnen nach. Schon wird das Wasser knapp. In Europa hat bislang jeder Idiot drei Stunden lang unter der Dusche gestanden und Seemannslieder gesungen, das ist passée. Ich weiß nicht, wann bei uns die ersten Hummer explodieren werden, Herrschaften, aber Gottes eigenes Land sollte sich darauf einstellen, dass es passieren wird. Gott hat die Geduld verloren.« Vanderbilt kicherte. »Oder sollten wir besser sagen, Allah? The shape of things to come, Herrschaften! Freuen Sie sich auf sensationelle Enthüllungen. Gleich nach der Werbung!«

Was redet der da, dachte Peak. War Vanderbilt verrückt geworden? Es konnte nicht anders sein. Nur ein Verrückter benahm sich so.

Der CIA-Direktor projizierte eine Weltkarte, auf der Länder und Kontinente durch farbige Linien miteinander verbunden waren. Ein dichtes Bündel erstreckte sich von England und Frankreich quer über den Atlantik bis in die Gegend von Boston, Long Island, New York, Manasquan und Tuckerton. Ein anderes Netz, weiter auseinander gezogen, durchlief den Pazifik und verband den Westen der Vereinigten Staaten von Amerika mit Asien. Dichte Stränge zogen sich entlang der karibischen Inseln und Kolumbiens, durch das Mittelmeer und den Suezkanal und über die ostasiatische Küste bis nach Tokio.

»Tiefseekabel«, erklärte Vanderbilt. »Datenautobahnen, über die wir telefonieren und chatten. Kein Internet ohne Glasfaser. Die Rutschung vor Norwegen hat einen Teil der Glasfaserverbindungen zwischen Europa und Amerika zerstört, wie es aussieht. Mindestens fünf der wichtigsten Transatlantikkabel transportieren keine Daten mehr. Allerdings ist vorgestern auch ein Kabel mit der schönen Bezeichnung FLAG Atlantic-1 ausgefallen. Es verbindet New York mit St. Brieuc in der Bretagne und ist immerhin gut für den Transport von 1,28 Terabits in der Sekunde. Pardon, war! FLAG Atlantic-1 hat die Papiere eingereicht, und das liegt eindeutig nicht an den Folgen der Rutschung. Ebenso wenig wie der Ausfall von TPC-5 zwischen San Luis Obispo und Hawaii. Merken Sie was? Jemand frühstückt Tiefseekabel. Unsere Brücken brechen. Strom kommt aus der Steckdose? Von wegen. Die Welt ist klein? Von wegen! Wir rufen Tante Polly in Kalkutta an und gratulieren zum Geburtstag? Vergiss es! Fakt ist, dass die weltweite Kommunikation zum Erliegen kommt, und wir wissen nicht, warum. Aber eines scheidet aus.« Vanderbilt fletschte die Zähne und beugte sich so weit über das Pult, wie es seine Leibesfülle zuließ. »Zufall, Herrschaften. Hier ist jemand am Werk. Und er koppelt uns gerade vom Tropf der Zivilisation ab. — Aber genug von dem, was wir alles nicht mehr haben und dabei sind zu verlieren.«

Er nickte den Anwesenden jovial zu, wobei sich sein Doppelkinn mehrfach faltete.

»Reden wir von dem, was wir haben.«

Anawak fand einen gewissen Trost in Vanderbilts Worten. Nachdem er vorübergehend den Glauben an die Welt verloren hatte, schien sie ihm jetzt mit einem Schild voranzumarschieren, auf das in großen, unübersehbaren Lettern gemalt war: LEON, WIR GLAUBEN DIR.

»Dr. Anawak beschreibt einen leuchtenden Organismus«, sagte Vanderbilt. »Flach und formlos. Wir konnten keinen weiteren Organismus dieser Art im Bewuchs der Barrier Queen finden, aber unser Held war tapfer und hat Beute gemacht. Ein Fetzen konnte untersucht werden. Die Substanz ist identisch mit einer amorphen Gallerte, die Dr. Fenwick und Dr. Oliviera in den Köpfen Krawall suchender Wale nachgewiesen haben. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang der Sauerei in den verseuchten Schalentieren. Pfiesterien wurden darin transportiert wie in einem Taxi, aber der Taxifahrer ist nicht Gevatter Hummer, sondern etwas, das ihn ersetzt hat. Die Schalen waren zum Bersten gefüllt mit Zeugs, das sich an frischer Luft in Wohlgefallen auflöst. Dr. Roche gelang es trotzdem, Spuren davon zu analysieren. Es ist unser alter Bekannte — die Gallerte!«

Ford und Oliviera steckten die Köpfe zusammen. Dann sagte Oliviera mit ihrer tiefen Stimme: »Die Substanzen aus den Walgehirnen und vom Schiff sind identisch, so weit richtig. Aber das Zeug aus den Hirnen ist deutlich leichter. Die Zellen scheinen weniger dicht gepackt.«

»Ich hörte schon, dass die Ansichten über die Gallerte auseinander gehen«, sagte Vanderbilt. »Nun, Herrschaften, das ist Ihr Problem. Meinerseits kann ich sagen, dass wir die Barrier Queen in einem Dock isoliert haben, um etwaige blinde Passagiere nicht ausbüxen zu lassen. Seitdem konnten wir im Wasser des Docks mehrfach ein blaues Leuchten beobachten. Es ist nie besonders lange präsent. Auch Dr. Anawak hat es gesehen, als er seinen diesjährigen Tauchurlaub in unserer Sperrzone nahm. Wasserproben zeigen das übliche Gewimmel von Mikroorganismen, wie man sie in jedem Tropfen Meerwasser vorfindet. Also woher kommt das Leuchten? Wir nennen es die Blaue Wolke, in Ermangelung wissenschaftlicher Weisheit. Den Begriff verdanken wir Dr. John Ford, nachdem er eine Aufnahme betrachtete, die ein Gerät namens URA gemacht hat.«

Vanderbilt zeigte den Film von Lucys Rudel.

»Diese Blitze scheinen die Wale weder zu verletzen noch zu erschrecken. Offenbar nimmt die Wolke Einfluss auf ihr Verhalten. Etwas könnte sich in ihrem Zentrum verbergen, das die Substanz in den Köpfen der Tiere stimuliert. Vielleicht injiziert es sie auch. Ein Ding mit aufblitzenden, peitschenartigen Tentakeln. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter und nehmen an, dass diese Tentakel die Gallerte nicht nur injizieren, sondern dass sie selber die Gallerte sind! Sollte das stimmen, dann sähen wir hier in großem Maßstab, was Dr. Anawak am Rumpf der Barrier Queen in Klein begegnete. Wir hätten einen unbekannten Organismus aufgespürt, der Schalentiere steuert, Wale in den Wahnsinn und sein Unwesen zwischen Schiffe versenkenden Muscheln treibt. Sehen Sie, Herrschaften, wir sind schon ganz weit! Jetzt müssen Sie nur noch rausfinden, was es ist, warum es da ist, in welcher Beziehung die Gallerte zur Wolke steht — ach ja, und welcher Schweinehund den ganzen Mist in irgendeinem Laboratorium zusammengepanscht hat. Vielleicht hilft Ihnen das dabei.«

Vanderbilt zeigte den Film ein weiteres Mal. Diesmal erschien am unteren Bildrand ein Spektrogramm. Starke Frequenzausschläge waren zu erkennen.

»Der URA ist ein talentiertes Kerlchen. Kurz bevor sich die Wolke manifestierte, zeichneten seine Hydrophone etwas auf. Zu hören ist nichts, weil wir eben keine Wale, sondern armselige Menschlein mit zugekleisterten Ohren sind. Ultra— und Infraschall kann man allerdings hörbar machen, wenn man die entsprechenden Tricks auf Lager hat. So wie unsere Spanner-Kollegen von SOSUS.«

Anawak horchte auf. Er kannte SOSUS. Mehrfach hatte er damit gearbeitet. Die NOAA, die National Oceanic and Atmospheric Administration, betrieb eine Reihe von Projekten, die sich mit der Erfassung und Auswertung akustischer Phänomene unter Wasser beschäftigten. Zusammengefasst liefen sie unter dem Oberbegriff Acoustic Monitoring Project. Das Werkzeug, das die NOAA für den unterseeischen Lauschangriff benutzte, war ein Relikt des Kalten Krieges. SOSUS stand abgekürzt für Sound Surveillance System, ein Netz empfindlicher Hydrophone, das die US Navy während der Sechziger in den Weltmeeren installiert hatte, um den Missionen sowjetischer Unterseeboote folgen zu können. Seit 1991, nachdem der Kalte Krieg mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geendet hatte, durften auch die zivilen NOAA-Forscher Daten des Systems auswerten.

Auf diese Weise war der Wissenschaft offenbar geworden, dass in den Weiten der Ozeane alles andere als Stille herrschte. Vor allem im Frequenzbereich unterhalb von 16 Hertz spielte sich geradezu infernalischer Lärm ab. Um die Geräusche für menschliche Ohren hörbar zu machen, mussten sie mit 16facher Geschwindigkeit abgespielt werden. Plötzlich klang ein Unterwasserbeben wie Donnergrollen, der Gesang von Buckelwalen erinnerte an Vogelgezwitscher, während Blauwale ihren Artgenossen in dröhnendem Stakkato Botschaften über Hunderte von Kilometern schickten. Drei Viertel der Aufnahmen wurden dominiert von einem rhythmischen, extrem lauten Wummern — Luftkanonen, die Ölgesellschaften zur Erkundung der Tiefseegeologie einsetzten.

Mittlerweile hatte die NOAA SOSUS durch eigene Systeme ergänzt. Mit jedem Jahr baute die Organisation das Netz der Hydrophone weiter aus. Und jedes Mal hörten die Forscher ein bisschen mehr.

»Einzig anhand des Geräuschs können wir heute sagen, worum es sich handelt«, erklärte Vanderbilt. »Ist es ein kleines Schiff? Fährt es schnell? Welche Art Antrieb benutzt es? Wo kommt es her, wie weit ist es entfernt? Die Hydrophone verraten uns alles. Ihnen dürfte bekannt sein, wie gut Wasser den Schall leitet und wie schnell er sich unter Wasser fortpflanzt, nämlich mit Geschwindigkeiten zwischen fünf— und fünfeinhalbtausend Stundenkilometern. Wenn ein Blauwal vor Hawaii einen fahren lässt, rumpelt es knapp eine Stunde später in einem kalifornischen Kopfhörer. SOSUS kann aber noch mehr als den Impuls registrieren, es sagt uns auch, wo er herkommt. Kurz, das Sound-Archiv der NOAA umfasst Abertausende von Geräuschen: Klicken, Grummeln, Rauschen, Blubbern, Quietschen und Raunen, bioakustische und seismische Laute, Umweltlärm, und alles können wir zuordnen — bis auf wenige Ausnahmen. Dr. Murray Shankar von der NOAA weilt unter uns, welch vorausschauender Schachzug. Er wird freudig darangehen, das Folgende zu kommentieren.«

Aus der ersten Reihe erhob sich ein untersetzter, schüchtern wirkender Mann mit indischem Gesichtsschnitt und Goldrandbrille. Vanderbilt rief ein weiteres Spektrogramm auf und spielte den künstlich beschleunigten Sound ab. Ein dumpfes, von ansteigenden Tonfolgen bestimmtes Brummen erfüllte den Raum.

Shankar hüstelte. »Dieses Geräusch nennen wir Upsweep«, sagte er mit sanfter Stimme. »Es wurde 1991 aufgenommen und scheint seinen Ursprung irgendwo bei 54° S, 140° W zu haben. Upsweep war eines der ersten nichtidentifizierbaren Geräusche, die SOSUS erfasst hat, und derart laut, dass es im gesamten Pazifik empfangen wurde. Bis heute wissen wir nicht, was es ist. Einer Theorie nach könnte es durch Resonanzen zwischen Wasser und flüssiger Lava entstanden sein, irgendwo in einer Kette unterseeischer Berge zwischen Neuseeland und Chile. — Jack, bitte die nächsten Beispiele.«

Vanderbilt spielte zwei weitere Spektrogramme ab.

»Julia, aufgenommen 1999, und Scratch, zwei Jahre zuvor von einer Reihe autonomer Hydrophone im äquatorialen Pazifik. Die Amplitude war in einem Umkreis von fünf Kilometern mühelos zu hören. Julia erinnert an Tierrufe, finden Sie nicht? Die Frequenz der Laute ändert sich sehr schnell. Sie sind in einzelne Töne aufgelöst, wie Walgesänge. Aber es sind keine Wale. Kein Wal produziert solche Lautstärken. Scratch hingegen klingt, als rutsche eine Plattennadel quer zur Rille, nur dass der dazugehörige Plattenspieler die Ausmaße einer Großstadt haben dürfte.«

Das nächste Geräusch klang wie ein lang gezogenes, stetig abfallendes Quietschen.

»Aufgenommen 1997«, sagte Shankar. »Slowdown. Wir schätzen, der Ursprung liegt irgendwo im untersten Süden. Schiffe und U-Boote scheiden aus. Möglicherweise entsteht Slowdown, wenn gewaltige Eisplatten über den Fels der Antarktis schrammen, aber es könnte ebenso gut etwas ganz anderes sein. Die NOAA schließt auch bioakustische Ursachen mit ein, also Tiere. Einige sähen es gerne, wenn sie anhand der Geräusche endlich die Existenz von Riesenkraken nachweisen könnten, aber meines Wissens sind diese Tiere zur Lauterzeugung kaum fähig. Also Fehlanzeige. Keiner weiß, was es ist, aber …«, er lächelte scheu, »dafür können wir ein anderes Kaninchen aus dem Hut zaubern.«

Vanderbilt spielte noch einmal das Spektrogramm des URA -Videos ab. Diesmal ließ er es hörbar erklingen.

»Haben Sie es wieder erkannt? Es ist Scratch. Und wissen Sie, was URA sagt? Der Ursprung lag inmitten der blauen Wolke! Daraus können wir …«

»Danke, Murray, Sie waren oscarreif.« Vanderbilt keuchte und tupfte sich die Stirn mit seinem Taschentuch. »Der Rest ist Spekulation. Gut, geben wir dem Tag einen würdigen Abschluss, ladies and gentlemen, um Ihren Denkapparat richtig auf Touren zu bringen.«

Die nachfolgende Filmsequenz zeigte eine Aufnahme aus lichtloser Tiefe. Partikel blitzten im Scheinwerferlicht auf. Dann wölbte sich etwas Flächiges in die Kamera und zog sich augenblicklich wieder zurück.

»Wenn man den Film in der bearbeiteten Fassung studiert, die Marintek freundlicherweise angelegt hat, bevor das Institut von den Klippen gespült wurde, gelangt man zu zwei Schlüssen. Erstens: Das Ding ist von gewaltiger Größe. Zweitens: Es leuchtet, oder besser gesagt, es leuchtet kurz auf und erlischt, sobald es ins Objektiv der Kamera gerät. Fest steht, es tummelte sich in rund 700 Metern Tiefe am norwegischen Kontinentalhang.

— Studieren Sie es, Herrschaften. Ist es unser gallertiger Freund? Gelangen Sie zu Schlüssen. Wir erwarten nichts weniger von Ihnen als die Rettung unserer gottgleichen Rasse.« Vanderbilt grinste sie der Reihe nach an. »Ich will nicht verhehlen, dass wir vor dem Armageddon stehen. Darum schlage ich Arbeitsteilung vor. Sie finden heraus, wie man das mutierte Viehzeug stoppen kann. Vielleicht fallen Ihnen hübsche Dressurprogramme ein oder was, woran es sich den Magen verdirbt. Wir versuchen, den Riesenarsch zu finden, der uns die Suppe eingebrockt hat. Und was immer Sie tun, treten Sie es nicht breit. Erliegen Sie nicht der Verlockung von Titelseiten. Europa und Amerika betreiben in Absprache miteinander eine Politik gezielter Desinformation. Panik wäre wie Salzsäure auf Hundescheiße, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir können nichts weniger gebrauchen als soziale, politische, religiöse oder sonst welche Eskalationen.

Also denken Sie daran, was Sie Tante Li versprochen haben, wenn Sie draußen spielen gehen.« Johanson räusperte sich.

»Ich möchte Ihnen im Namen aller für den äußerst unterhaltsamen Vortrag danken«, sagte er liebenswürdig. »Wir sollen also rausfinden, was da draußen ist.«

»Exakt, Doktor!«

»Was glauben Sie denn, was da ist?«

Vanderbilt lächelte. »Gallerte. Und blaue Wolken.«

»Verstehe.« Johanson lächelte zurück. »Sie möchten, dass wir das Türchen am Adventskalender selber aufmachen. Hören Sie, Vanderbilt, Sie haben eine Theorie. Wenn Sie wollen, dass wir hier mitspielen, sollten Sie uns vielleicht daran teilhaben lassen. Was meinen Sie?«

Vanderbilt rieb seinen Nasenrücken. Er wechselte einen Blick mit Li.

»Nun ja«, sagte er gedehnt. »Was wäre Weihnachten ohne die Bescherung. Sei’s drum. Wir haben uns also gefragt: Wo geht’s zur Sache, wo weniger und wo gar nicht? Und da sieht man, nicht betroffen sind der Nahe Osten, das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, Indien, Pakistan und Thailand. Nicht betroffen sind China und Korea. Die Arktis und die Antarktis auch nicht, aber die Kühlschränke lassen wir mal außen vor. Unterm Strich zeigt sich, dass der Hauptleidtragende der Westen ist. Alleine die Vernichtung der norwegischen Offshore-Industrie schädigt den Westen auf nachhaltige Weise, was uns in gewisse unliebsame Abhängigkeiten bringt.«

»Wenn ich Sie recht verstehe«, sagte Johanson langsam, »sprechen Sie von Terrorismus.«

»Schön, dass Sie’s erwähnen! Es gibt zwei Arten von Terrorismus, die beide auf Massenvernichtung setzen. Variante eins will den politischen und gesellschaftlichen Umsturz um jeden Preis, auch wenn Tausende dabei den Löffel abgeben. Islamische Extremisten finden zum Beispiel, dass die Ungläubigen nur Platz wegnehmen.

Variante zwei ist völlig aufs Jenseits eingeschworen und propagiert, die sündhafte Menschheit hätte sich schon viel zu lange auf Gottes schönem Planeten rumgetrieben und dass es Zeit wird, sie vom Angesicht der Erde zu tilgen. Je mehr Geld und Know-how solchen Leuten zur Verfügung steht, desto gefährlicher wird das Ganze. — Killeralgen, nun, so was kann man vielleicht züchten. Man kann schließlich auch Hunde darauf trainieren, andere zu beißen. Die Gentechnologie hat Eingriffe ins Erbgut ermöglicht. Warum sollte es nicht gelingen, auf diesem Weg die Kontrolle über das Verhalten zu erlangen? Ich meine, so viele Mutationen in so kurzer Zeit, wie sieht das für Sie aus? Für mich riecht es nach Labor. Ein formloser Fremdorganismus, tja, warum hat er denn keine Form? Alles hat doch eine! Vielleicht, weil sein Zweck keine erfordert? Stellen wir uns eine Art Protoplasma vor, eine organische Verbindung, einen zähen Brei, der in moleküldünnen Strängen Tierschädel oder Hummer okkupiert. — Ich sage Ihnen, Herrschaften, irgendwo sitzt hinter allem ein planender Geist. Geben Sie der Vorstellung Raum, was der Zusammenbruch der nordeuropäischen Ölindustrie für die Energiepolitik des Nahen Ostens bedeuten würde, und Sie haben ein Motiv.«

Johanson starrte ihn an. »Sie sind verrückt, Vanderbilt.«

»Meinen Sie? In der Straße von Hormuz gab es bislang keine Kollisionen oder Havarien. Im Suezkanal auch nicht.«

»Angenommen, das stimmt, warum sollte es Sinn machen, potenzielle Abnehmer für arabisches Öl mit Flutwellen und Seuchen zu dezimieren?«

»Das alles ist verrückt«, erwiderte Vanderbilt. »Ich sage ja auch nur, dass es einen Sinn ergibt. Nicht, dass es sinnvoll ist. Aber beachten Sie, das Mittelmeer wurde bislang verschont und damit die Route vom Persischen Golf bis Gibraltar. Wurmpopulationen finden wir hingegen überall dort, wo der Westen und Südamerika ans Öl wollen.«

»Die Populationen sind auch vor der amerikanischen Nordostküste aufgetaucht«, sagte Johanson. »Ein Tsunami europäischen Ausmaßes würde die Kundschaft ihrer Business-Terroristen aus dem Markt schwemmen.«

»Dr. Johanson.« Vanderbilt lächelte. »Sie sind Wissenschaftler. In der Wissenschaft sucht man ständig nach Logik. Danach fragt die CIA schon längst nicht mehr. Naturgesetze mögen logisch sein. Menschen sind es nicht. Seit Jahrzehnten hängt das Damoklesschwert eines Atomkriegs über uns, und jeder weiß, dass unsere geliebte Menschheit darüber hingehen könnte. Die Welterpresser und Wahnsinnigen aus den James-Bond-Filmen, Dr. Johanson, es gibt sie, nur dass die Realität keinen James Bond vorsieht. Als Saddam Hussein 1991 Kuwaits Ölquellen anzündete, sagten sogar seine eigenen Leute voraus, dass er damit unter Umständen einen Jahre und Jahrzehnte andauernden nuklearen Winter auslösen könne. Sie behielten nicht Recht. Aber hat es ihn abgehalten? Und noch eines: Fragen Sie Ihre Kollegen aus Kiel. Was wirklich geschieht, wenn alles marine Methan in die Atmosphäre entweicht, darüber kann man nur spekulieren. Ein Anstieg des Meeresspiegels steht auf alle Fälle zu befürchten, Europa ist hinüber, weil sich Belgien, die Niederlande und Norddeutschland zu ausgedehnten Wassersportgebieten entwickeln, aber in den wasserarmen Wüsten des Nahen und Mittleren Ostens könnte es plötzlich blühen und gedeihen. Sie werden die Menschen mit ein paar Tsunamis nicht ausrotten, es bleiben immer noch genügend übrig, um arabisches Öl zu kaufen. Und vielleicht führt der ganze Terror ja gar nicht zum Ende der Menschheit, sondern nur zu einer Schwächung des Westens und Fernasiens und damit zu einer Umverteilung der globalen Machtverhältnisse, ohne dass jemand Krieg führen müsste. Irgendwann kriegt sich der Planet wieder ein, wollen wir drauf wetten? — Ich sage Ihnen, der Terror kommt aus dem Meer, aber die Ursache findet sich auf dem Land.«

Li schaltete den Beamer aus.

»Ich möchte den diplomatischen Vertretern und den Gesandten der Geheimdienste aller Länder danken, diesen Gipfel ermöglicht zu haben«, sagte sie. »Einige werden noch heute wieder abreisen, aber die meisten bleiben für die Dauer der nächsten Wochen unsere Gäste. Dass Sie im Zuge der Zusammenarbeit ebensolches Stillschweigen über den Fortgang unserer Arbeit und sämtliche damit verbundenen Erkenntnisse wahren wie der wissenschaftliche Stab, brauche ich nicht extra zu betonen. Es liegt im Interesse Ihrer Regierungen.«

Sie machte eine Pause.

»Was die Mitarbeiter der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe betrifft, so sind wir bemüht, Sie in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen. Ab sofort benutzen Sie bitte ausschließlich die Laptops vor sich. Überall im Hotel sind Anschlüsse gelegt worden, in der Bar, auf Ihren Zimmern, im Health Center. Sie können sich einloggen, wo immer Sie gerade sind. Inzwischen steht die transatlantische Verbindung wieder. Das Hoteldach ist bestückt mit Satellitenschüsseln, alles funktioniert. Telefon, Telefax, E-Mail und Internet laufen von nun an über die NATO-III-Satelliten — sie dienen üblicherweise dazu, Verbindungen zwischen den Regierungen der NATO-Partner herzustellen. Jetzt dienen sie Ihnen. Dafür haben wir einen geschlossenen Circuit eingerichtet, ein secretas in secretum, auf den ausschließlich Mitglieder der Arbeitsgruppe Zugriff haben. Über dieses Netz können Sie untereinander kommunizieren und streng geheime Informationen abrufen. Um hineinzugelangen, benötigen Sie ein persönliches Passwort, das Sie nach Unterzeichnung der Geheimhaltungserklärung erhalten.«

Sie sah streng in die Runde.

»Ich brauche nicht zu betonen, dass dieses Passwort unter keinen Umständen an Unbefugte weitergegeben werden darf. Einmal eingeloggt, haben Sie Zugriff auf zivile und militärische Satelliten, auf die Dateien der NOAA und SOSUS, auf sämtliche laufenden und archivierten Telemetrieprojekte, auf Datenbänke der CIA und NSA hinsichtlich weltweiter terroristischer Aktivitäten, Biowaffenentwicklungen und gentechnologischer Projekte, und so weiter und so fort. Wir haben den aktuellen Stand der Tiefseetechnik und ihrer Möglichkeiten für Sie zusammengefasst, ebenso geologisches und geochemisches Grundlagenwissen. Es gibt Verzeichnisse sämtlicher bekannter Organismen, Sie können Tiefseekarten aus den Beständen der Navy einsehen, und natürlich haben wir die heutige Präsentation anhänglich aller Zahlen und Statistiken beigefügt. Jede aktuelle Meldung, jede neue Entwicklung wird Ihnen automatisch und ohne Verzug zugeleitet. Wir halten Sie auf dem Laufenden, und selbstverständlich erwarten wir, dass Sie es umgekehrt ebenso halten.«

Li verharrte einen Moment und schickte ein aufmunterndes Lächeln in die Runde.

»Ich wünsche Ihnen Glück. Übermorgen um diese Zeit treffen wir uns wieder. Wer zwischendurch das Bedürfnis hat, sich auszutauschen, findet bei Major Peak oder mir jederzeit Gehör.«

Vanderbilt sah sie an und zog eine Braue hoch.

»Sie werden Onkel Jack doch hoffentlich immer schön Bericht erstatten«, sagte er so leise, dass nur Li es hören konnte.

»Vergessen Sie nicht, Jack«, erwiderte Li, während sie ihre Unterlagen zusammenpackte, »dass Sie mir unterstellt sind.«

»Das haben Sie missverstanden, Kleine. Wir arbeiten auf Augenhöhe. Keiner von uns ist dem anderen unterstellt.«

»Doch, mein Freund. Intellektuell.«

Grußlos verließ sie den Raum.


Johanson

Die meisten bewegten sich Richtung Bar, aber Johanson verspürte wenig Lust, sich ihnen anzuschließen. Vielleicht hätte er die Gelegenheit nutzen sollen, die Truppe näher kennen zu lernen, aber ihm gingen andere Dinge im Kopf herum.

Er war kaum auf seiner Suite angelangt, als es klopfte. Weaver kam ins Zimmer, ohne ein ›Herein‹ abzuwarten.

»Man muss älteren Männern Zeit geben, das Korsett anzulegen, bevor man reinplatzt«, sagte Johanson. »Am Ende bist du enttäuscht.«

Er lief mit seinem Laptop durch den großen, komfortabel eingerichteten Wohnraum und suchte nach dem Modemanschluss. Weaver öffnete unbeeindruckt die Minibar und entnahm ihr eine Cola.

»Überm Schreibtisch«, sagte sie.

»Oh. Tatsächlich.«

Johanson schloss den Laptop an und startete das Programm. Sie blickte ihm über die Schulter.

»Was hältst du davon, dass es Terroristen sind?«, fragte sie.

»Nichts.«

»Ganz deiner Meinung!«

»Aber ich verstehe den Zustand der Schizophrenie, unter dem die CIA leidet.« Johanson klickte nacheinander einige Dateien an. »Sie lernen es da nicht anders. Außerdem hat Vanderbilt Recht, wenn er sagt, dass Wissenschaftler dazu neigen, menschliches mit natürlichem Verhalten gleichzusetzen.«

Weaver beugte sich zu ihm herab. Ein Schwall Locken fiel ihr ins Gesicht. Sie strich sie zurück.

»Du musst sie darüber in Kenntnis setzen, Sigur.«

»Was meinst du?«

»Deine Theorie.«

Johanson zögerte. Er kniff die Augen zusammen, öffnete per Doppelklick ein Feld und gab sein Passwort ein:

Chateau Disaster 000550899-XK/O

»Tiraliralu«, summte er leise. »Willkommen im Wunderland.«

Wie sinnig, dachte er. Ein Schloss voller Wissenschaftler, Geheimdienstler und Soldaten mit der Aufgabe, die Welt vor Ungeheuern, Flutwellen und Klimakatastrophen zu retten. Chateau Disaster. Treffender hätte man es kaum ausdrücken können.

Der Bildschirm füllte sich mit Symbolen. Johanson studierte die Namen der Dateien und stieß einen leisen Pfiff aus. »Donnerwetter. Sie geben uns tatsächlich Zugriff auf die Satelliten.«

»Sag bloß! Können wir sie auch steuern?«

»Quatsch. Aber wir können ihre Daten abrufen. Schau dir das an. GOES-W und GOES-E, das ganze NOAA-Geschwader steht uns zur Verfügung. Hier, QuikSCAT, das ist auch nicht übel. Und da sind tatsächlich die Lacrosse-Satelliten. Damit sind sie über ihren Schatten gesprungen. Und hier, SAR-Lupe. Das ist …«

»Schon gut, komm runter von deinem Trip. Glaubst du im Ernst, wir haben unbegrenzten Zugriff auf geheimdienstliche Informationen und Regierungsprogramme?«

»Natürlich nicht. Wir haben Zugriff auf das, was sie uns sehen lassen wollen.«

»Warum hast du Vanderbilt nicht gesagt, was du denkst?«

»Weil es zu früh ist.«

»Wir haben aber keine Zeit mehr, Sigur.«

Johanson schüttelte den Kopf. »Karen, du musst Leute wie Li und Vanderbilt überzeugen. Sie wollen Resultate, keine Vermutungen.«

»Wir haben Resultate!«

»Aber der Zeitpunkt wäre denkbar ungünstig gewesen. Heute hatten die ihre große Stunde. Sie haben alles Mögliche zusammengetragen und zur Katastrophen-Gala aufgemotzt. Vanderbilt zog ein fettes arabisches Kaninchen aus dem Hut, und, verdammt, er war stolz drauf! Es hätte einfach nur wie Widerspruch geklungen. Ich will, dass ihnen selber Zweifel kommen an ihrer kleinen Verschwörungstheorie, und das wird schneller der Fall sein, als du glaubst.«

»Okay.« Weaver nickte. »Und wie überzeugt bist du selber?«

»Von meiner Theorie?«

»Bist du’s nicht mehr?«

»Doch. Aber nach dem heutigen Tag müssen wir außerdem die Ansichten der Amerikaner entkräften.« Johanson schaute sinnend auf den Bildschirm. »Im Übrigen habe ich so ein Gefühl, dass Vanderbilt nicht wirklich wichtig ist in dem Spiel. Wir müssen Li überzeugen, Karen. So wie ich sie einschätze, macht Li am Ende ohnehin, was sie will.«


Li

Als Erstes ging sie auf ihr Laufband. Sie programmierte den Computer auf neun Stundenkilometer, was einen gemütlichen Trab ergab. Dann ließ sie eine Verbindung zum Weißen Haus herstellen. Nach zwei Minuten vernahm sie die Stimme des Präsidenten im Kopfhörer.

»Jude! Schön, von Ihnen zu hören. Was machen Sie gerade?«

»Ich laufe.«

»Sie laufen. Bei Gott, Sie sind die Beste, Mädchen. Jeder sollte sich ein Beispiel an Ihnen nehmen. Nur ich nicht.« Der Präsident lachte laut und kumpelig. »Sie sind mir entschieden zu sportlich. — Verlief die Präsentation zu Ihrer Zufriedenheit?«

»Vollkommen.«

»Und haben Sie denen erzählt, was wir vermuten?«

»Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie erfuhren, was Vanderbilt vermutet.« Der Präsident lachte immer noch. »Hören Sie doch endlich auf mit Ihrem Kleinkrieg gegen Vanderbilt«, sagte er.

»Er ist ein Arschloch.«

»Aber er macht seine Arbeit. Sie müssen ihn ja nicht heiraten.«

»Wenn es der nationalen Sicherheit dient, werde ich ihn heiraten«, entgegnete Li gereizt. »Aber ich werde darum nicht seiner Meinung sein.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Hätten Sie sich zu diesem Zeitpunkt mit einer völlig unausgegorenen Terrorismus-Hypothese wichtig getan? Jetzt sind die Wissenschaftler vorbelastet. Sie laufen einer Theorie hinterher, anstatt selber eine zu entwickeln.«

Der Präsident schwieg. Li konnte ihn förmlich darüber nachdenken hören. Er mochte Alleingänge nicht, und Vanderbilt hatte sich des Alleingangs schuldig gemacht.

»Sie haben Recht, Jude. Es wäre wohl besser gewesen, damit noch hinterm Berg zu halten.«

»Ganz Ihrer Ansicht, Sir.«

»Gut. Reden Sie mit Vanderbilt.«

»Reden Sie mit ihm. Auf mich hört er nicht. Ich kann ihn nicht daran hindern vorzupreschen, auch wenn es dumm und unüberlegt ist.« »In Ordnung. Ich werde mit ihm reden.«

Li grinste in sich hinein. »Ich will Jack natürlich keine Schwierigkeiten machen …«, fügte sie pflichtschuldigst hinzu.

»Das ist schon in Ordnung. Genug von Vanderbilt. Was glauben Sie? Kriegt Ihr akademisches Panoptikum die Sache in den Griff? Welchen Eindruck haben Sie von den Typen?«

»Alle hoch qualifiziert.« »Jemand, der Ihre besondere Aufmerksamkeit verdient?« »Ein Norweger. Sigur Johanson, Molekularbiologe. Ich weiß noch nicht, was an dem Besonderes ist, aber er hat seinen eigenen Blick auf die Dinge.« Der Präsident rief etwas nach hinten. Li steigerte die Geschwindigkeit des Bandes.

»Ich habe übrigens vorhin mit dem norwegischen Innenminister telefoniert«, sagte er. »Sie wissen nicht mehr ein noch aus. Natürlich begrüßen sie die Initiative der Europäischen Union, aber sie sähen es, glaube ich, lieber, wenn die Vereinigten Staaten mit im Boot wären. Die Deutschen sind übrigens derselben Meinung, von wegen Know-how-Transfer und so. Sie votieren für eine globale Kommission mit weit reichenden Befugnissen, die alle Kräfte bündelt.«

»Und wer soll die Federführung haben?«

»Der deutsche Kanzler schlägt vor, die Vereinten Nationen zu ermächtigen.«

»Wirklich? Hm.«

»Ich halte das für keinen schlechten Vorschlag.«

»Nein, es ist sogar ein ausgesprochen guter Vorschlag.« Sie machte eine Pause. »Ich erinnere mich nur, dass Sie kürzlich feststellten, die UN hätte in ihrer ganzen Geschichte noch keinen derart schwachen Generalsekretär durchgefüttert wie gerade. Das war auf dem Botschafterempfang vor drei Wochen, erinnern Sie sich? Ich stieß ins selbe Horn, und wir bekamen die üblichen Prügel aus den üblichen Lagern.«

»Ja, ich weiß. Gott, waren die aufgeblasen! Er ist aber nun mal ein Schlappschwanz. Die Wahrheit muss man äußern können, verdammt nochmal! — Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

»Ich sag’s nur.«

»Sie sagen’s nur. Kommen Sie schon. Was wäre die Alternative?«

»Sie meinen die Alternative zu einem Gremium, in dem dutzendweise Vertreter des Nahen Ostens sitzen?«

Der Präsident schwieg.

»Die Vereinigten Staaten«, sagte er schließlich.

Li tat, als müsse sie sich den Gedanken durch den Kopf gehen lassen.

»Ich glaube, das ist eine gute Idee, Sir«, sagte sie.

»Aber dann haben wir schon wieder die Probleme der ganzen Welt an der Backe. Eigentlich zum Kotzen, finden Sie nicht, Jude?«

»Wir haben sie doch sowieso an der Backe. Wir sind die einzige Supermacht. Wenn wir es bleiben wollen, müssen wir weiterhin Verantwortung übernehmen. Außerdem — schlechte Zeiten sind gute Zeiten für die Starken.«

»Sie und Ihre chinesischen Sprichwörter«, sagte der Präsident. »Wir bekommen den Job ohnehin nicht auf dem Silbertablett. Dazu ist es zu früh. Noch müssten wir unter Mühen glaubhaft machen, warum ausgerechnet wir uns an die Spitze einer Weltuntersuchungskommission setzen wollen. Was glauben Sie, wie so was in der arabischen Welt ankommt! Oder in China und Korea. Apropos Asien, ich habe das Dossier durchgeblättert über Ihre Wissenschaftler. Da ist einer, der asiatisch aussieht. Hatten wir nicht gesagt, Asiaten und Araber außen vor?«

»Ein Asiate? Wie heißt er?«

»Komischer Name. — Wakawaka oder so ähnlich.«

»Oh, Leon Anawak. Haben Sie seinen Lebenslauf gelesen?«

»Nein, ich hab’s nur überflogen.«

»Er ist kein Asiate.« Li steigerte das Tempo auf zwölf Stundenkilometer. »Ich bin das mit Abstand Asiatischste im Umkreis des kompletten Whistlers.«

Der Präsident lachte.

»Ach Jude. Sie könnten vom Mars stammen, und ich würde Ihnen jede Vollmacht erteilen. Wirklich schade, dass Sie nicht zum Baseballgucken rüberkommen können. Wir treffen uns auf der Ranch, wenn nichts dazwischenkommt. Meine Frau mariniert Rippchen.«

»Nächstes Mal, Sir«, sagte Li herzlich.

Sie fachsimpelten noch eine Weile über Baseball. Li insistierte nicht weiter auf der Idee, die Vereinigten Staaten an die Spitze der Weltgemeinschaft zu setzen. Spätestens in zwei Tagen würde er glauben, es sei seine gewesen. Es reichte, ihm die Injektion verpasst zu haben.

Nach dem Gespräch lief sie noch einige Minuten. Dann setzte sie sich schweißnass, wie sie war, an den Flügel und legte die Finger auf die Tasten. Sie konzentrierte sich.

Sekunden später perlte Mozarts Klaviersonate in G durch die Suite.


KH-12

Lis Klavierspiel verlor sich wie ein nach allen Seiten schwächer werdender Duft in den Fluren des neunten Stockwerks und trieb aus dem halb geöffneten Fenster der Suite nach draußen. Einhundert Meter über dem Erdboden breiteten sich die Schallwellen ringförmig nach allen Seiten aus. Am höchsten Punkt des Chateaus, das wie ein Märchenschloss über einen spitzgiebeligen Wohnturm verfügte, hätte ein geübtes Ohr sie zwar leise, aber noch deutlich wahrgenommen. Oberhalb des Giebels begannen sie sich zu zerstreuen. Nach einhundert Metern hatten sie sich mit einer Vielzahl anderer Wellen vermischt, und je höher es hinaufging, desto leiser wurden auch diese Geräusche. Ein Kilometer über dem Erdboden waren immer noch startende Automotoren zu hören, der mäkelige Lärm kleiner Propellerflugzeuge und die Glocke der presbyterianischen Kirche im üblicherweise geschäftigen Whistler Village, das nunmehr Teil der Sperrzone geworden war. Das Geknatter der Militärhubschrauber, die als wichtigste Verbindung zur Außenwelt dienten, wurde erst ab zweitausend Meter schwächer.

Aus dieser Höhe genoss man einen atemberaubenden Blick auf das Hotel. Wie ein prophetischer Traum Ludwig des Zweiten lag es inmitten ausgedehnter, nach Westen sanft ansteigender Wälder, eben noch mit bloßem Auge zu erkennen. Auf den angrenzenden Bergrücken schimmerten zerfurchte Schneeflächen.

Dann erstarben auch die letzten Geräusche vom Erdboden.

Vornehmlich machten sich nun Düsenflugzeuge in der Start— und Landephase bemerkbar. In zehn Kilometern Höhe war das Chateau mit der Umgebung verschmolzen. Linienmaschinen zogen ihre Bahn. Der Horizont begann sich merklich zu krümmen. Tief liegende Wolkenfelder unter strahlend blauem Himmel gaukelten Schneefelder und Berge von Packeis vor, ein trügerischer Boden aus Wasserdampf. Weitere fünf bis zehn Kilometer höher durchschnitt der Lärm von Überschallflugzeugen die immer dünner werdende Atmosphäre. Die Troposphäre hatte den Launen des Wetters gehört, die Stratosphäre gehörte dem Ozon, das einen Großteil der ultravioletten Strahlung filterte. Es wurde wieder wärmer. In dieser Höhe waren Wolken wenig mehr als ätherische Formationen, deren Schillern an Perlmutt erinnerte. Silbrige Wetterballons reflektierten das Sonnenlicht und sorgten für Ufosichtungen. Durch die perfekte Stille 20 Kilometer über dem Erdboden hatte 1962 die legendäre U2 ihren verstohlenen Kurs Richtung Kuba angetreten, um die Stationierung sowjetischer Atomraketen nachzuweisen. Der Pilot des Aufklärungsflugzeugs hatte wegen der extremen Höhe Astronautenkleidung tragen müssen.

Es war einer der kühnsten Flüge aller Zeiten gewesen unter einem Himmel, dessen Tiefblau den Weltraum schon erahnen ließ.

In 80 Kilometern Höhe leuchteten noch vereinzelt gitterförmige Nachtwolken. Die Temperatur betrug -113 Grad Celsius. Nichts hier oben ließ auf menschliche Anwesenheit schließen, sah man von der gelegentlichen Präsenz startender und landender Raumfahrzeuge ab. Das Tiefblau wechselte über in Schwarzblau. Hier begann das Reich all jener heidnischen Götter, die von der modernen Wissenschaft als Polarlichter und verglühende Meteoriten entlarvt worden waren. Nirgendwo hatten die physikalischen Besonderheiten derart zur Bildung von Mythen und Legenden beigetragen wie in der Hunderte von Kilometern durchmessenden Thermosphäre. Tatsächlich eignete sie sich als Wohnort weder für Gottheiten noch sonstige Lebensformen. Nichts und niemand konnte hier überdauern. Gamma und Röntgenstrahlen fielen ungehindert ein. Kaum noch Gasmoleküle waren anzutreffen.

Dafür aber etwas anderes.

Mit 28000 Stundenkilometern zogen in 150 Kilometern Höhe die ersten Satelliten dahin. Ihrer Natur nach waren es vornehmlich Spionagesatelliten, die sich so nah wie irgend möglich über dem Erdboden hielten. 80 Kilometer über ihnen erstellte die Sonde der Space Radar Topography Mission Höhenprofile der Erdoberfläche und arbeitete an der Weltkarte des 21. Jahrhunderts. In solch geringer Höhe bremste das immer noch verhältnismäßig dichte atmosphärische Gemisch die Geschwindigkeit der Satelliten stetig ab, sodass sie auf gelegentliche Treibstoffschübe angewiesen waren, um nicht abzustürzen. Oberhalb 300 Kilometer brauchten sie keinen Treibstoff mehr. Hier glichen sich Zentrifugalkraft und Erdanziehung aus, sorgten für stabile Umlaufbahnen, und der Himmel füllte sich.

Es ging zu wie auf einem Netz übereinander geschichteter Highways. Je höher, desto reger. Zwei kleine, elegante Flugkörper mit Namen Champ und Grace observierten das Gravitations— und Magnetfeld der Erde. 600 Kilometer über den Polen empfing ICESat Reflexionen der Erdoberfläche und gab Aufschluss über Veränderungen der Eiskappen. 70 Kilometer darüber kreisten drei hoch entwickelte Lacrosse-Beobachtungssatelliten des amerikanischen Militärs und tasteten den Boden mit hoch auflösendem Radar ab. Aus 700 Kilometern Höhe beobachteten die LANDSAT-Sonden der NASA Länder und Küsten, vermaßen die Zu— und Abnahme von Gletschern, kartierten die Ausdehnung von Wäldern und Packeis und lieferten detailgetreue Darstellungen der globalen Temperaturverteilung. SeaWiFS war mit optischer und infraroter Bilderfassung den Algenkonzentrationen in den Ozeanen auf der Spur. Die NOAA-Satelliten hatten sich auf einer sonnensynchronen Umlaufbahn in 850 Kilometern Höhe häuslich eingerichtet, und alle möglichen Wettersatelliten bewegten sich von Pol zu Pol. Bis weit in die Magnetosphäre herrschte das Gedränge, die jenseits der 900-Kilometer-Grenze kosmische Teilchen und Sonnenemissionen zu zwei Strahlungsgürteln bündelte, dem sogenannten Van-Allen-Gürtel, der sich zu einem kuriosen Medienphänomen entwickelt hatte. Einem Großteil der amerikanischen Bevölkerung diente er als schlagender Beweis dafür, dass die Amerikaner nicht auf dem Mond gewesen waren — selbst angesehene Wissenschaftler bezweifelten, dass überhaupt ein Mensch in einem Raumschiff hinreichend geschützt war, um diese Zone tödlicher Strahlung zu durchqueren. In der SatellitenTerminologie firmierte die Region hingegen schlicht als LEO, Low Earth Orbit, gefolgt vom dicht besiedelten Feld der Middle Low Orbits mit den gut 20000 Kilometer hoch fliegenden GPS-Satelliten, bis schließlich in 35888 Kilometern die geostationären Satelliten wie fixiert dahingen, Hüter fester Plätze, allen voran die Intelsats für die weltweite Kommunikation.

Von alldem war Mozart unvorstellbar weit entfernt. Doch während sich die Klavierklänge in der Frühlingsluft verloren hatten, war Lis Gespräch mit dem Präsidenten die lange Strecke hinauf ins All und wieder zurückgereist. Auf dem Scheitelpunkt ihres Telefonats hatten sich die beiden im äußeren Weltraum unterhalten und Informationen ausgetauscht, die ebenfalls dem Weltraum entstammten. Ohne das Heer der Satelliten hätte Amerika die Golfkriege nicht führen können, nicht den Krieg im Kosovo und nicht den in Afghanistan. Der Luftwaffe wären keine Präzisionstreffer gelungen ohne die Unterstützung aus dem All, und das Oberkommando wäre blind gewesen für Feindbewegungen in unzugänglichen Bergregionen ohne das hoch auflösende Auge von Crystal, auch KH-12 genannt. KH stand für Keyhole. Amerikas detailgenaueste Spionagesatelliten bildeten das optische Pendant zum Radar des Lacrosse-Systems. Sie erkannten Gegenstände von vier bis fünf Zentimetern Kantenlänge und fotografierten auch im infrarotnahen Bereich, was ihre Aktionszeit auf die Nacht ausdehnte. Im Gegensatz zu außeratmosphärischen Satelliten waren sie mit einem Raketenantrieb ausgestattet, der ihnen den Aufenthalt in sehr niedrigen Umlaufbahnen gestattete. Üblicherweise umkreisten sie den Planeten in 340 Kilometern Höhe zwischen Nord— und Südpol, was sie in die Lage versetzte, innerhalb von 24 Stunden die gesamte Erde zu fotografieren. Mit Einsetzen der Angriffe vor Vancouver Island waren einige von ihnen auf 200 Kilometer abgesenkt worden. Keyhole, Lacrosse und 24 neue optische Hochpräzisionssatelliten in extrem erdnahen Umlaufbahnen, von Amerika als Antwort auf die Anschläge des 11. September in den Orbit geschossen, bildeten nun eine Konstellation, deren Leistungsfähigkeit sogar dem viel gerühmten deutschen SAR-Lupe-System den Rang ablief.

Um 20.00 Uhr Ortszeit erhielten zwei Männer in einem unterirdischen Raum bei Buckley Field in der Nähe von Denver einen Anruf. Die Buckley Field Station gehörte zu mehreren geheimen Bodenstationen der amerikanischen Bildaufklärungsbehörde NRO, die mit der Planung der Satellitenspionage für die amerikanische Luftwaffe beauftragt war. Sie arbeitete eng zusammen mit der nationalen Sicherheits— und Dechiffrierbehörde NSA. Deren Auftrag bestand im Wesentlichen darin, zu lauschen und abzuhören. Den amerikanischen Behörden gestattete die Allianz der beiden Geheimdienste Überwachungsmöglichkeiten ohne Beispiel. Mittlerweile überzog ein größtenteils automatisiertes Netzwerk den Planeten, Echelon genannt, dessen verschiedenste technischen Systeme die internationale Kommunikation überwachten, von Satelliten über Mikrowellenradio bis hin zur Glasfaser.

Die beiden Männer saßen unterhalb einer riesigen Satellitenschüssel. Umgeben von Monitoren empfingen sie Daten von Keyhole, Lacrosse und anderen Sonden in Echtzeit, interpretierten und verarbeiteten sie und leiteten sie an zuständige Stellen weiter. Beide waren ihrer Funktion nach Geheimagenten, wenngleich sie in nichts dem Bild entsprachen, das man sich gemeinhin von Agenten machte. Sie trugen Jeans und Turnschuhe und sahen eher aus wie Mitglieder einer Grunge-Band.

Der Anrufer informierte die Männer über den Notruf eines Fischkutters vor der Nordostspitze von Long Island. In Höhe von Montauk war es offenbar zu einer Kollision gekommen, die auf den Angriff eines Pottwals schließen ließ — falls die Meldung stimmte. Die allgemeine Hysterie gipfelte in einer Flut falscher Alarme. Angeblich war ein größeres Schiff zur Unglücksstelle unterwegs, aber auch diese Meldung ließ sich nicht verifizieren. Der Kontakt zur Mannschaft war Sekunden nach dem Notruf abgerissen.

KH-12-4, einer der Crystal-Keyhole-Satelliten, näherte sich südöstlich von Long Island. Er befand sich in günstiger Position. Die Direktive des Anrufers an die Bodenmannschaft lautete, das Teleskop unverzüglich auf die mögliche Unglücksstelle auszurichten.

Einer der Männer gab eine Reihe von Befehlen ein.

195 Kilometer über der Atlantikküste raste KH-12-4 dahin, eine teleskopbestückte Röhre von 15 Metern Länge und viereinhalb Metern Durchmesser, die inklusive Treibstoff beinahe 20 Tonnen wog. Zu beiden Seiten entfalteten sich große Sonnensegel. Der Befehl aus Buckley Field setzte einen schwenkbaren Spiegel vor dem Objektiv in Bewegung. Damit konnte der Satellit nach allen Seiten einen Bereich von bis zu 1000 Kilometern scannen. In diesem Fall reichte eine winzige Korrektur. Da es früher Abend war, schalteten sich die Restlichtverstärker ein und erhellten das Bild wie zur Mittagszeit. Alle fünf Sekunden schoss KH-12-4 ein Foto und funkte die Daten an einen Relaissatelliten, der sie ins Datenzentrum von Buckley Field schickte.

Die Männer starrten auf den Monitor.

Sie sahen Montauk dort unten liegen, den malerischen alten Ort mit seinem berühmten Leuchtturm. Aus 195 Kilometern Höhe wirkte Montauk allerdings nicht malerischer als ein Fleck auf einer Straßenkarte. Strichdünne Straßen durchzogen eine hell gesprenkelte Landschaft. Die Sprenkel waren Gebäude. Der Leuchtturm selber erschien als kaum wahrnehmbarer weißer Punkt am Ende einer Landzunge.

Drum herum erstreckte sich der Atlantik.

Der Mann, der den Satelliten steuerte, definierte den Bereich, in dem das Schiff angeblich angegriffen worden war, gab die Koordinaten ein und zoomte in die nächste Vergrößerungsstufe. Die Küste verschwand aus dem Blickfeld. Nur noch Wasser war zu sehen. Kein Schiff.

Der andere Mann sah zu und aß frittierten Fisch aus einer Papiertüte.

»Mach hin«, sagte er.

»Nur die Ruhe.«

»Nix mit Ruhe. Sie wollen die Auskunft sofort.«

»Scheiß drauf, was sie wollen.« Der Steuermann schwenkte den Spiegel vor dem Teleskop um eine weitere Winzigkeit. »Das kann endlos dauern, Mike. Das ist Scheiße. Immer muss alles schnell gehen! Wie soll das funktionieren? Wir müssen das ganze verdammte Scheißmeer absuchen nach einem winzigen Scheißkutter.«

»Müssen wir nicht. War ein Satellitennotruf über NOAA. Es kann nur hier sein. Wenn nicht, ist der Kahn versoffen.«

»Noch größere Scheiße.«

»Ja.« Der andere leckte seine Finger ab. »Arme Schweine.«

»Scheiß auf die armen Schweine. Die armen Schweine sind wir, Wenn der Kahn abgesoffen ist, geht die Scheißsuche nach den Trümmern los.«

»Cody, du bist wirklich eine faule Sau.«

»Wohl wahr.«

»Nimm ‘n Stück Fisch. — Hey, was ist das?« Mike zeigte mit einem fettigen Finger auf den Monitor. Im Wasser war undeutlich etwas Dunkles, Längliches zu erkennen.

»Schauen wir doch mal.«

Das Teleskop zoomte, bis sie zwischen den Wellen die lang gestreckte Silhouette eines Wals erkennen konnten. Ein Schiff war nach wie vor nicht auszumachen. Weitere Wale kamen ins Bild. Über ihren Köpfen breiteten sich verwaschene helle Flecken aus. Die Wale bliesen.

Dann tauchten sie ab.

»Das war’s«, sagte Mike Cody vergrößerte den Bildausschnitt erneut. Jetzt waren sie in der höchsten Auflösungsstufe angelangt. Sie sahen einen Seevogel auf den Wellen reiten. Genau genommen war es eine Ansammlung von knapp zwei Dutzend quadratischen Pixeln, aber im Ganzen ergaben sie unverkennbar einen Vogel.

Sie suchten die Umgebung ab, konnten aber weder ein Schiff noch Trümmer entdecken.

»Vielleicht abgetrieben«, mutmaßte Cody.

»Kaum. Wenn die Meldung stimmt, müssten wir hier irgendwas sehen. Vielleicht sind sie weitergefahren.« Mike gähnte, knüllte die Tüte zusammen und zielte damit auf einen Papierkorb. Er verfehlte ihn um ein gutes Stück. »Wahrscheinlich doch falscher Alarm. Jedenfalls wär ich jetzt gerne da unten.«

»Wo?«

»In Montauk. Ist’n schöner Platz. Ich war letztes Jahr mit den Jungs da, kurz nachdem Sandy Schluss gemacht hatte. Wir waren ständig nur besoffen oder bekifft, aber es war klasse, auf den Klippen zu liegen, wenn die Sonne unterging. Am dritten Tag hab ich die Bedienung aus der Hafenkneipe klargemacht. War ‘ne echt geile Zeit.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl.«

»Was meinst du?«

Cody grinste ihn an. »Willst du in dein Scheißmontauk? Ich meine, wir herrschen über die himmlischen Heerscharen, Mann. Und wo wir gerade schon mal da sind …«

Ein Leuchten ging über Mikes Gesichtszüge.

»Zum Leuchtturm«, sagte er. »Ich zeig dir, wo ich sie gefickt habe.«

»Aye, aye.«

»Nein, warte mal. Vielleicht doch besser nicht. — Wir könnten einen Haufen Ärger kriegen, wenn …«

»Wieso, Mann? Mach dir nicht ins Hemd. Es liegt in unserer Scheißverantwortung, wo wir nach Trümmern suchen.«

Seine Finger flitzten über die Tastatur. Das Teleskop zoomte auf. Die Landzunge erschien. Cody suchte den weißen Punkt des Turms und holte ihn heran, bis er deutlich sichtbar unter ihnen aufragte. Er warf einen extrem langen Schatten. Die Klippen waren in rötliches Licht getaucht. In Montauk versank gerade die Sonne. Ein Pärchen ging eng umschlungen vor dem Leuchtturm spazieren.

»Das ist die beste Zeit jetzt«, sagte Mike begeistert. »Voll romantisch.«

»Du hast sie direkt vor dem Turm gevögelt?«

»Quatsch, nein! Weiter unten. Da, wo die beiden hingehen. Der Platz ist bekannt dafür. Jeden Abend ist Flachlegen angesagt.«

»Vielleicht bekommen wir ja was zu sehen.«

Cody schwenkte das Teleskop, sodass es dem Pärchen vorauseilte. Auf den schwarzen Klippen war sonst niemand auszumachen. Nur Seevögel kreisten darüber hinweg oder pickten zwischen Felsritzen nach etwas, das man fressen konnte.

Dann kam etwas anderes ins Bild. Etwas Flächiges. Cody runzelte die Stirn. Mike rückte näher. Sie warteten die nächste Aufnahme ab.

Das Bild hatte sich verändert.

»Was ist das denn?«

»Keine Ahnung! Kannst du näher ran?«

»Nein.«

Wieder schickte der KH-12-4 Bilddaten. Wieder hatte sich die Landschaft verändert.

»Du heilige Scheiße«, flüsterte Cody.

»Was zum Teufel ist das?« Mike kniff die Augen zusammen. »Es breitet sich aus. Es kriecht die verdammten Klippen hoch.«

»Scheiße«, wiederholte Cody. Er sagte eigentlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit Scheiße, auch wenn ihm etwas gefiel. Mike registrierte es schon gar nicht mehr, wenn Cody Scheiße sagte. Aber diesmal war es nicht zu überhören.

Diesmal klang es wirklich bestürzt.


Montauk, USA

Linda und Darryl Hooper waren seit drei Wochen verheiratet, und sie verbrachten ihre Flitterwochen auf Long Island. Seit der Zeit, als noch mehr Fischer auf der Insel gelebt hatten als Filmstars, war Long Island teuer geworden. Hunderte exquisiter Fischrestaurants blickten auf kilometerlange Sandstrände. Die New Yorker Prominenz gab sich hier genauso mondän, wie man es von ihr erwartete. Sie teilte sich mit Amerikas schwerreichen Industriellen das Villenviertel von East Hampton, einem blank geputzten Postkartendorf, in dem sich als Durchschnittsverdiener kaum leben ließ. Auch Southampton weiter südwestlich war nicht gerade billig. Aber Darryl Hooper hatte sich als aufstrebender junger Anwalt einen Namen gemacht. In der großen Kanzlei im Herzen von Manhattan galt er als Ziehsohn der Seniorpartner. Noch verdiente er vergleichsweise wenig, aber Hooper wusste, dass er kurz davor stand, richtig viel Geld zu machen. Und er hatte dieses wirklich süße Mädchen geheiratet. Linda war der Schwarm aller Jurastudenten gewesen, aber sie hatte sich für ihn entschieden, obwohl ihm trotz seiner frühen Jugend die Haare ausfielen und er eine dickglasige Brille tragen musste, weil er Kontaktlinsen nicht vertrug.

Hooper war glücklich. Im Bewusstsein kommender Segnungen hatte er beschlossen, sich und Linda einen kleinen Vorschuss zu gönnen. Das Hotel in Southampton war zu teuer. Sie bezahlten jeden Abend fast einhundert Dollar in einem der Gourmetrestaurants ringsum. Trotzdem war es in Ordnung so. Sie arbeiteten beide wie die Pferde, und sie hatten es sich einfach verdient. Nicht mehr lange, und die neu gegründete Familie Hooper würde sich die exklusiven Plätze leisten können, wann immer sie wollte.

Er legte den Arm enger um seine Frau und sah hinaus auf den Atlantik. Eben verschwand die Sonne im Meer. Der Himmel ging ins Violette. Hoch gelegene Dunstfelder leuchteten rosafarben am Horizont. Das Meer schickte flache Wellen gegen den Strand, die mit Rücksicht auf ruhebedürftige Großstädter dezent plätscherten, anstatt sich lautstark zu brechen. Hooper überlegte, ob sie nicht eine Weile hier bleiben und später nach Southampton zurückkehren sollten. Im Moment war die Hauptstraße noch stark befahren, aber in einer Stunde würden sie gut durchkommen. Keine zwanzig Minuten würden sie für die fünfzig Kilometer brauchen, wenn er die Harley ordentlich aufdrehte. Jetzt aufzubrechen war einfach zu schade.

Außerdem gehörte dieser Platz, wie allgemein erzählt wurde, nach Sonnenuntergang der Liebe.

Langsam schlenderten sie über die flachen Klippen. Nach wenigen Schritten tat sich vor ihnen eine große, flache Mulde auf. Ein idealer, verschwiegener Flecken. Hooper war sehr verliebt, und er genoss es, dass sie hier völlig unbeobachtet waren. Von jenseits der Klippen hörte er das Meer. Sie waren weit und breit die Einzigen, wie es schien. Der Strand lag praktisch um die Ecke. Die meisten der romantisch Verliebten waren wohl dort unterwegs, aber das hier war ihre Welt.

Nie im Leben wäre Hooper auf die Idee gekommen, dass zwei Beobachter in einem unterirdischen Raum in Buckley Field aus 195 Kilometer Höhe zusahen, wie er seine Frau küsste, mit den Händen unter ihr T-Shirt fuhr und es ihr abstreifte, wie sie seinen Gürtel öffnete, wie sie einander auszogen und auf dem Kleiderbündel ineinander verschlungen zu liegen kamen. Er küsste und streichelte Lindas Körper. Sie drehte sich auf den Rücken, und seine Lippen wanderten von ihren Brüsten zu ihrem Bauch, während er versuchte, mit seinen Händen möglichst überall gleichzeitig zu sein.

Sie kicherte. »Nicht. Das kitzelt.«

Er nahm die Rechte von der Innenseite ihres Oberschenkels und küsste sie ungestüm weiter.

»Hey. Was machst du denn da?«

Hooper sah auf. Was machte er? Eigentlich tat er nichts anderes als das, was er immer tat, und wovon er wusste, dass es ihr gefiel.

Er küsste sie auf den Mund und fing ihren verwirrten Blick auf. Sie schaute an ihm vorbei. Hooper drehte den Kopf.

Ein Krebs saß auf Lindas Schienbein.

Sie stieß einen kleinen Schrei aus und schüttelte ihn ab.

Der Krebs fiel auf den Rücken, spreizte die Scheren und kam wieder auf die Beine.

»Mein Gott. Hab ich mich erschrocken.«

»Schätze, er will mitmachen«, grinste Hooper. »Pech gehabt, Junge. Such dir dein eigenes Weibchen.«

Linda lachte und stützte sich auf den Ellbogen.

»Komischer kleiner Kerl«, sagte sie. »So einen hab ich noch nie gesehen.«

»Was ist so komisch daran?«

»Findest du nicht, dass er komisch aussieht?«

Hooper sah genauer hin. Der Krebs verharrte regungslos auf dem gerölligen Untergrund. Er war nicht besonders groß, schätzungsweise zehn Zentimeter lang und völlig weiß. Sein Panzer leuchtete auf dem dunklen Boden. Die Färbung war sicher ungewöhnlich, aber noch etwas anderes irritierte Hooper. Linda hatte Recht. Er sah komisch aus.

Dann erkannte er, was es war.

»Er hat keine Augen«, sagte er.

»Stimmt.« Sie rollte herum und kroch auf Knien und Händen zu dem Tier, das weiter einfach nur dasaß. »So was! Ob er krank ist?«

»Sieht eher aus, als hätte er nie welche besessen.« Hooper ließ seine Fingerspitzen ihre Wirbelsäule heruntergleiten. »Ist doch egal. Lass ihn, er tut uns ja nichts.«

Linda betrachtete den Krebs. Dann nahm sie ein Steinchen auf und warf es nach ihm. Das Tier wich weder zurück, noch ließ es sonst eine Reaktion erkennen. Sie tippte gegen die Scheren und zog die Finger schnell wieder weg, aber nichts geschah.

»Der ist ja vielleicht stoisch.«

»Komm, lass den blöden Krebs.«

»Er wehrt sich gar nicht.«

Hooper seufzte. Er hockte sich neben sie, tat ihr den Gefallen und stupste den Krebs an. »Tatsächlich«, stellte er fest. »Hat die Ruhe weg.« Sie lächelte, drehte ihm den Kopf zu und küsste ihn.

Hooper spürte ihre Zungenspitze gegen seine stoßen und sie umspielen. Er schloss die Augen und gab sich dem Genuss hin …

Linda zuckte zurück.

»Darryl.«

Er sah, dass der Krebs plötzlich auf ihrer Hand saß, mit der sie sich immer noch abstützte. Dahinter saß ein weiterer. Und daneben noch einer. Sein Blick wanderte den Fels hoch, der die Mulde vom Strand trennte, und er glaubte sich in einem Alptraum.

Das dunkle Gestein war unter Myriaden gepanzerter Leiber verschwunden. Weiße Leiber mit Scheren und ohne Augen, die sich aneinander drängten, so weit man blicken konnte.

Es mussten Millionen sein.

Linda starrte auf die reglosen Tiere. »Oh Gott«, flüsterte sie.

Im selben Moment setzte sich die Flut in Bewegung. Hooper hatte schon kleine Krabben über den Strand flitzen sehen, sonst aber immer gedacht, dass Krebse langsam und behäbig dahinstaksten. Doch diese hier waren schnell. Sie waren schrecklich in ihrer Schnelligkeit, wie eine Welle, die auf sie zufloss. Ihre harten Beine verursachten ein leises Prasseln auf dem felsigen Untergrund.

Linda sprang auf, nackt wie sie war, und wich zurück. Hooper versuchte, ihre Kleidung zusammenzuraffen. Er taumelte. Die Hälfte fiel ihm wieder aus den Händen. Das rasende Heer der Krebse machte sich darüber her, und Hooper tat einen Satz nach hinten.

Die Tiere folgten ihm.

»Die tun nichts«, rief er gegen seine Überzeugung, aber Linda hatte sich schon umgedreht und rannte die Klippen rauf.

»Linda!«

Sie stolperte und schlug der Länge nach hin. Hooper lief zu ihr. Im nächsten Augenblick waren die Krebse überall, krabbelten über sie hinweg und an ihnen hoch. Linda begann zu schreien, schrill und panisch. Hooper schlug die Tiere mit der flachen Hand von ihrem Rücken und von seinen Unterarmen. Sie sprang mit verzerrtem Gesicht auf die Füße, immer noch schreiend, und fuhr mit den Händen zu ihren Haaren. Krabben liefen über ihren Kopf. Hooper packte sie und stieß sie vorwärts. Er wollte ihr nicht wehtun, er wollte nur, dass sie aus der nicht enden wollenden Lawine herausfänden, die sich über die Klippen ergoss, aber Linda stolperte erneut und riss ihn mit sich. Hooper verlor den Halt. Er schlug auf und spürte die kleinen, harten Körper unter seinem Gewicht zerbrechen. Splitter drangen schmerzhaft in sein Fleisch. Er schlug um sich, spürte, wie hunderte spitzer Füße über ihn hinweghuschten, sah Blut an seinen Fingern und schaffte es endlich, hochzukommen und Linda mit sich zu ziehen.

Irgendwie gelangten sie nach oben. Chitin knackste unter ihren Füßen, als sie nackt zu der Harley rannten. Hooper wandte im Laufen den Kopf und stöhnte auf. Von der erhöhten Warte des Leuchtturms konnte er sehen, dass der komplette Strand von Krebsen nur so brodelte. Sie kamen aus dem Meer, unzählige von ihnen und immer neue. Die ersten hatten den Parkplatz erreicht und schienen auf dem glatten Untergrund noch schneller zu werden. Hooper rannte aus Leibeskräften, Linda mit sich zerrend. Seine Fußsohlen steckten voller Splitter. Widerwärtiger Schleim klebte an seinen Füßen. Er musste Acht geben, nicht auszurutschen. Endlich erreichten sie das Motorrad, sprangen auf den Sattel, und Hooper betätigte den Anlasser.

Sie rasten los, aus der Umfriedung des Parkplatzes auf die Straße, die nach Southampton führte. Das Motorrad schlingerte wild im Matsch überfahrener Krebse, dann waren sie aus dem Gewimmel raus und schossen den Asphalt entlang. Linda krallte sich an ihm fest. Ein Lieferwagen kam ihnen entgegen, hinter dem Steuer ein alter Mann, der ihnen ungläubig entgegenstarrte. Hooper dachte kurz, dass man solche Szenen sonst nur in Filmen sah — zwei Leute splitternackt auf einem Motorrad. Wäre alles nicht so schrecklich gewesen, hätte er sich totgelacht über die Situation.

In Sichtweite tauchten die ersten Häuser von Montauk auf. Der östliche Zipfel von Long Island war wenig mehr als ein schmaler Streifen, und die Straße verlief parallel zur Küste. Noch während Hooper auf Montauk zuhielt, sah er, dass sich von links die weiße Flut der Krebse näherte. Wie es aussah, kamen sie auch an anderer Stelle aus dem Meer. Sie ergossen sich über die Klippen und hielten auf die Straße zu.

Er beschleunigte die Harley.

Die weiße Flut war schneller.

Wenige Meter vor dem Ortseingangsschild erreichte sie die Fahrbahn und verwandelte den Asphalt in ein Meer aus Leibern. Zugleich setzte ein Pickup rückwärts aus einer Toreinfahrt. Hooper merkte, wie die Harley ins Schleudern geriet, und versuchte, den Pickup zu umfahren, aber das Motorrad gehorchte ihm nicht mehr.

Nein, dachte er. Oh mein Gott, bitte nicht.

Der Pickup rollte quer über die Straße und weiter nach hinten, während die Harley darauf zurutschte. Hooper hörte Linda schreien und riss den Lenker herum. Um Haaresbreite schlitterten sie an der chromverzierten Kühlerhaube vorbei. Die Harley drehte sich. Nach wenigen Sekunden gelang es Hooper, das Motorrad zu stabilisieren. Menschen sprangen aus dem Weg. Er beachtete sie nicht. Die Straße vor ihnen war frei.

Mit Höchstgeschwindigkeit flohen sie weiter nach Southampton.


Buckley Field, USA

»Was um alles in der Welt ist das bloß?«

Codys Finger rasten über die Tastatur. Er legte nacheinander verschiedene Filter über die Bilder, aber es war und blieb eine helle Masse, die mit großer Geschwindigkeit vom Meer landeinwärts strebte.

»Sieht aus wie Brandung«, sagte er. »Wie eine Riesenscheißwelle.«

»Wir haben keine Welle gesehen«, sagte Mike. »Da war keine Welle. Es müssen Tiere sein.«

»Was denn für Scheißtiere, Mann?«

»Es sind …« Mike starrte auf die Bilder. Er zeigte auf eine Stelle. »Da. Das da. Hol mir das näher ran. Mach mir einen Ausschnitt von einem Quadratmeter.«

Cody schnitt die Stelle aus und vergrößerte sie. Das Resultat war eine Fläche heller und dunkler Quadrate. Mike kniff die Augen zusammen.

»Noch näher.«

Die Pixelquadrate wurden größer. Einige waren weiß, andere in Grautönen abgestuft.

»Erklär mich für verrückt«, sagte Mike langsam. »Aber es könnten …« War das möglich? Aber was sonst sollte es sein? Was sonst kam aus dem Meer und bewegte sich so schnell? »Scheren«, sagte er. »Es könnten Panzer mit Scheren sein.«

Cody starrte ihn an. »Scheren?«

»Krebse.«

Cody öffnete den Mund. Dann befahl er dem Satelliten, den weiteren Küstenverlauf abzusuchen.

Der KH-12-4 arbeitete sich von Montauk nach East Hampton hoch, dann weiter nach Southampton bis Mastic Beach und Patchogue. Mit jedem neuen Bild, das die Sonde schoss, wurde Mike unheimlicher.

»Das ist ja wohl nicht wahr«, sagte er.

»Nicht wahr?« Cody sah ihn an. »Es ist scheißwahr! Irgendwas kommt da unten aus dem Meer. Auf der gesamten Küstenlänge von Long Island kommt irgendetwas aus dem Scheißmeer. Willst du jetzt immer noch gerne in Montauk sein?«

Mike fuhr sich über die Augen.

Er griff nach dem Telefonhörer, um die Zentrale anzurufen.


Greater New York, USA

Kurz hinter Montauk ging die Landstraße 27 in den Long Island Expressway 495 über. Er führte auf direktem Wege nach Queens. Von Montauk bis New York waren es rund zweihundert Kilometer, und je näher man der Metropole kam, desto belebter wurde es. Auf halber Strecke hinter Patchogue nahm der Verkehr stark zu.

Bo Henson fuhr für seinen eigenen privaten Kurierdienst. Er legte die Long-Island-Strecke zweimal am Tag zurück. In Patchogue hatte er einige Pakete vom dortigen Flughafen abgeholt und im Umkreis abgeliefert. Jetzt war er auf dem Weg zurück in die Stadt. Es war spät geworden, aber um Unternehmen wie FedEx Konkurrenz zu machen, durfte man nicht zimperlich sein, was Arbeitszeiten anging. Für heute sah Henson dem Ende entgegen. Alles war erledigt, sogar früher als gedacht. Er war müde und freute sich auf ein Bier.

In der Höhe von Amityville, rund 40 Kilometer vor Queens, geriet vor ihm ein Wagen ins Schleudern.

Henson bremste scharf ab. Der Wagen fing sich wieder, fuhr langsamer und schaltete die Warnblinkanlage ein. Etwas bedeckte die Straße auf großer Fläche. Im ersten Moment konnte Henson im Dämmerlicht nicht erkennen, was es war, nur dass es sich bewegte und von links aus den Büschen kam. Dann sah er, dass der Highway von Krebsen überrannt wurde. Von kleinen, schneeweißen Krebsen. Dicht an dicht versuchten sie, die Straße zu überqueren, aber es war ein aussichtsloses Unterfangen. Matschige Spuren und zersplitterte Panzer zeigten an, wie viele von ihnen den Versuch bereits mit ihrem Leben bezahlt hatten.

Der Verkehr schlich dahin. Das Zeug war wie Seife. Henson fluchte. Er fragte sich, wo die Viecher plötzlich herkamen. In einer Zeitschrift hatte er gelesen, dass die Landkrebse auf Christmas Island einmal im Jahr zur Fortpflanzung aus den Bergen zum Meer marschierten. An die 100 Millionen Krabben waren dann unterwegs. Aber Christmas Island lag im Indischen Ozean, und auf den Bildern waren große, knallrote Tiere abgebildet gewesen, nicht so ein weißes Gewimmel wie hier.

Etwas Derartiges hatte Henson noch nie gesehen.

Immer noch fluchend schaltete er das Radio ein. Nach einigem Suchen fand er einen Countrysender, lehnte sich zurück und ergab sich in sein Schicksal. Dolly Parton tat ihr Bestes, um ihn mit der Situation zu versöhnen, aber Hensons Laune war ruiniert. Es dauerte zehn Minuten, dann kamen Nachrichten, doch die Krabbeninvasion wurde mit keinem Wort erwähnt. Dafür bahnte sich plötzlich ein Schneepflug seinen Weg zwischen den dahinzuckelnden Autos und versuchte, das krabbelnde Zeug von der Straße zu entfernen. Der Effekt war eine völlige Blockade. Eine Zeit lang bewegte sich überhaupt nichts mehr. Henson schaltete zwischen allen möglichen lokalen Sendern hin und her, ohne dass jemand eine entsprechende Meldung brachte, und das machte ihn fuchsteufelswild, weil er sich in seiner Misere auch noch ignoriert fühlte. Die Klimaanlage blies einen ungesunden Geruch ins Innere, sodass er sie schließlich ausschaltete.

Hinter der Kreuzung, die links nach Hempstead und rechts nach Long Beach führte, ging es dann endlich wieder zügiger voran. Offenbar waren die Tiere bis hierher nicht gekommen. Henson trat aufs Gas und erreichte Queens über eine Stunde später, als er gehofft hatte. Er war stocksauer. Kurz vor dem East River bog er links ab und überquerte den Newton Creek, um zu seiner Stammkneipe in Brooklyn-Greenpoint zu fahren. Er stellte den Transporter ab, stieg aus und bekam fast einen Schlag, als er den Zustand seines Fahrzeugs sah. Reifen, Radkästen und die Seiten bis hinauf zu den Fenstern waren mit Krabbenmatsch verschmiert. Ein schrecklicher Anblick, und er musste am kommenden Morgen früh wieder auf der Straße sein. So konnte er unmöglich ausliefern.

Spät war es ohnehin. Henson zuckte die Achseln. Jetzt konnte das Bier auch noch so lange warten, bis er den Transporter im nahe gelegenen 24-Hours-Carwash abgegeben hatte. Er stieg wieder ein, fuhr drei Straßen weiter zur Waschanlage und schärfte dem Personal ein, die Felgen gesondert abzuspritzen, um auch ja den letzten Rest der Schweinerei zu entfernen. Dann sagte er ihnen, wo sie ihn finden könnten, und ging zu Fuß in seine Kneipe, um endlich sein Bier zu trinken.

Der 24-Stunden-Service war dafür bekannt, seine Arbeit gewissenhaft und gründlich zu verrichten. Der schmierige Belag auf Hensons Transporter erwies sich als hartnäckig, aber nachdem er längere Zeit dem heißen Hochdruckdampfstrahl ausgesetzt war, floss er schließlich ab. Der Junge, der den Dampfstrahler hielt, hatte den Eindruck, dass die Brocken regelrecht dahinschmolzen. Wie Götterspeise in der Sonne, dachte er.

Alles strebte den Abflüssen zu.

New York verfügte über ein einzigartiges Kanalisationssystem. Während Straßen— und Zugtunnel den East River in rund 30 Metern Tiefe unterquerten, reichten die Rohrsysteme für Abwasser und Trinkwasser bis in Tiefen von 240 Metern. Immer neue Kanäle trieben die Tunnelbauer mit Hilfe gewaltiger Bohrköpfe durch den Untergrund, damit die Wasserver— und -entsorgung der Riesenstadt nicht ins Stocken geriet. Neben den intakten Rohrleitungssystemen gab es zudem eine Reihe alter Tunnel, die nicht mehr in Betrieb waren. Experten behaupteten, dass mittlerweile niemand mehr zu sagen vermochte, wo im New Yorker Untergrund überall Kanäle verlegt waren. Es gab keine Karte, die das gesamte Netz abbildete. Manche der Tunnel waren nur bestimmten Gruppen von Obdachlosen bekannt, die ihr Geheimnis für sich behielten. Andere hatten Filmemacher zu Monster Movies inspiriert, in denen sie als Brutstätte allerlei monströser Kreaturen dienten. Fest stand, dass in der New Yorker Kanalisation alles, was hineingeleitet wurde, in gewisser Weise verloren ging.

An diesem Abend und in den darauf folgenden Tagen wurden in Brooklyn und Queens, auf Staten Island und in Manhattan eine Menge Autos gewaschen, die von Long Island hergekommen waren. Viel Abwasser floss in die Eingeweide der Metropole, verteilte sich dann, vereinte sich mit anderen Abwässern, wurde in Wiederaufbereitungsanlagen gepumpt und zurück in die Wasserverteiler geleitet. Schon wenige Stunden, nachdem der 24-Stunden-Service Hensons Transporter blitzblank abgeliefert hatte, war alles untrennbar miteinander vermischt.

Keine sechs Stunden später rasten die ersten Notarztwagen durch die Straßen.


11. Mai

Chateau Whistler, Kanada

Mit Veränderungen konnte man sich arrangieren.


Er zumindest konnte es. Sosehr es ihn schmerzte, sein Haus verloren zu haben, konnte er damit leben. Das Ende seiner Ehe war ein Anfang gewesen. Der Umzug nach Trondheim, die immer neuen Beziehungen, die unterm Strich eine Beziehungslosigkeit ergaben, kaum etwas davon war ihm je wirklich nahe gegangen. Was nicht Johansons Verständnis von Sinnlichkeit, Wohlklang und Geschmack entsprochen hatte, war dem Kehrichthaufen der Geschichte überantwortet worden. Man teilte die Oberfläche mit anderen und hatte die Tiefe für sich. So ließ es sich leben.

Jetzt, in den frühen Morgenstunden, holte ihn der weniger wohlklingende Teil seiner Vergangenheit ein. Nachdem er das linke Auge mehr aus Zufall geöffnet hatte, lag er eine Weile da, betrachtete die Welt aus seiner zyklopischen Perspektive und dachte an die Menschen in seinem Leben, die an Veränderungen gescheitert waren.

Seine Frau.

Man lernte, dass einem das eigene Leben selbst gehörte, dass man Einfluss darauf hatte. Aber als er gegangen war, hatte sie erkennen müssen, dass ihr nichts gehörte und dass Selbstbestimmung pure Illusion war. Sie hatte argumentiert, gefleht, geschrien, Verständnis gezeigt, geduldig zugehört und Rücksicht erbeten, alle Register gezogen, um am Ende doch zurückzubleiben, machtlos, entmachtet, rausgeworfen aus dem gemeinsamen Leben wie aus einem fahrenden Zug. Aller Kraft beraubt hatte sie aufgehört zu glauben, dass Anstrengung etwas bewirkt. Sie hatte verloren. Das Leben war ein Glücksspiel.

Wenn du mich nicht mehr liebst, hatte sie gesagt, warum kannst du dann nicht wenigstens so tun?

Würde es dir dann besser gehen?, hatte er gefragt.

Nein, war ihre Antwort gewesen. Es wäre mir besser gegangen, wenn du gar nicht erst damit angefangen hättest, mich zu lieben.

Machte man sich schuldig, wenn man plötzlich anders fühlte? Gefühle lagen jenseits von Schuld oder Unschuld, sie waren Ausdruck biochemischer Prozesse als Folge erlittener Umstände, so unromantisch das auch klingen mochte, aber die Endorphine hatten noch über jede Romantik triumphiert. Also worin lag die Schuld? Falsche Versprechungen gemacht zu haben?

Johanson öffnete das andere Auge.

Für ihn war Veränderung immer Lebenselixier gewesen. Für sie Lebensentzug. Nach Jahren — er lebte mittlerweile in Trondheim — erzählte man ihm, es sei ihr endlich gelungen, die Ohnmacht abzuschütteln. Sie habe wieder begonnen, Einfluss auf sich zu nehmen. Schließlich hörte er, es gäbe einen neuen Mann in ihrem Leben. Danach hatten sie einige Male telefoniert, ohne Groll auf— oder Verlangen nacheinander. Die Bitterkeit war an sich selber zugrunde gegangen, der Druck von ihm genommen.

Doch er war zurückgekehrt.

Jetzt hieß er Tina Lund, und sie verfolgte ihn mit ihrem schönen, blassen Gesicht. Seitdem spielte er alle Varianten durch, immer wieder aufs Neue. Dazu gehörte, dass sie am See doch miteinander geschlafen hätten. Alles wäre anders gekommen. Sie hätten mehr Zeit miteinander verbracht.

Vielleicht, dass sie mit ihm auf die Shetlands geflogen wäre. Ebenso gut hätte es alles zerstören können, und er wäre der Letzte gewesen, von dem sie Ratschläge angenommen hätte. Den Ratschlag zum Beispiel, nach Sveggesundet zu fahren. So oder so würde sie noch leben.

Immer wieder sagte er sich, dass es Irrsinn war, so zu denken. Immer wieder dachte er so.

Frühes Sonnenlicht fiel ins Zimmer. Er hatte die Vorhänge offen gelassen, wie er es immer tat. Verhängte Schlafzimmer waren wie Gruften. Er überlegte, ob er aufstehen und frühstücken sollte, aber eigentlich hatte er keine Lust, sich überhaupt zu bewegen. Lunds Tod erfüllte ihn mit Traurigkeit. Er war nicht verliebt gewesen, aber auf unbestimmte Weise hatte er sie doch geliebt, ihre ruhelose Art, ihren Drang nach Freiheit. Darin hatten sie sich gefunden. Und verloren, weil es widersinnig war, Freiheit und Freiheit aneinander zu ketten. Vielleicht waren sie auch beide nur zu feige gewesen.

Was nützte das jetzt?

Auch ich werde irgendwann tot sein, dachte er. Seit Lund in der Welle umgekommen war, dachte er oft an den Tod. Nie hatte er sich alt gefühlt. Jetzt war es mitunter, als habe ihm die Vorsehung einen Prägestempel aufgedrückt, ein Mindesthaltbarkeitsdatum wie einem Becher Joghurt, und jemand schien ihn zu betrachten und zurück ins Regal zu stellen, weil er kurz davor stand abzulaufen. Er war 56 Jahre alt, in bemerkenswert guter Verfassung, der Statistik unfall— und krankheitsbedingter Todesfälle bislang von der Schippe gesprungen. Sogar einen heranrasenden Tsunami hatte er überlebt. Dennoch konnte kein Zweifel daran bestehen, dass seine Zeit ablief. Der größte Teil des Lebens lag unwiederbringlich hinter ihm. Und er fragte sich plötzlich, ob er es richtig gelebt hatte.

Zwei Frauen in diesem Leben hatten ihm vertraut, und beide hatte er nicht schützen können. Die eine war vorübergehend gestorben, die andere für immer.

Karen Weaver lebte.

Sie erinnerte ihn an Lund. Weniger hektisch, verschlossen, von schwererem Gemüt. Dafür ebenso stark, zäh und ungeduldig. Nachdem sie der Riesenwelle entkommen waren, hatte er ihr seine Theorie unterbreitet und sie ihn im Gegenzug mit der Arbeit von Lukas Bauer vertraut gemacht. Schließlich war er zurück nach Norwegen geflogen, um sich auf der Obdachlosenliste wieder zu finden, aber die Gebäude der NTNU standen noch. Man überhäufte ihn mit Arbeit, bis ihn der Ruf aus Kanada ereilte, und er schaffte es nicht mehr hinaus zum See. Er schlug vor, Weaver mit ins Team zu nehmen, weil sie mehr als jeder andere über Bauers Arbeit wusste und in der Lage war, sie weiterzuentwickeln, aber insgeheim hatte er andere Gründe. Ohne den Helikopter hätte sie die Welle kaum überlebt. Insofern hatte er sie gerettet. Weaver erteilte ihm Absolution für sein Versagen bei Lund, und er war entschlossen, sich dessen würdig zu erweisen. Künftig würde er auf sie Acht geben, und dafür war es gut, sie in der Nähe zu wissen.

Die Vergangenheit verblasste im Sonnenlicht. Er stand auf, ging duschen und erschien um 6.30 Uhr am Büffet, um festzustellen, dass er nicht der einzige Frühaufsteher war. In dem geräumigen Saal tranken Soldaten und Geheimdienstler Kaffee, aßen Obst und Müsli und führten gedämpfte Unterhaltungen. Johanson häufte sich einen Teller voll Rührei mit Speck und suchte nach einem Gesicht, das er kannte. Er hätte gerne mit Bohrmann gefrühstückt, aber der war nirgendwo zu finden. Stattdessen sah er General Commander Judith Li allein an einem Zweiertisch sitzen. Sie blätterte in einem Schnellhefter und pickte von Zeit zu Zeit ein Stück Obst aus einer Schale, das sie in den Mund schob, ohne es anzusehen.

Johanson betrachtete sie. Li faszinierte ihn auf unbestimmte Weise. Er schätzte, dass sie jünger aussah, als sie war. Mit etwas Make-up und entsprechend gekleidet hätte sie den Mittelpunkt jeder Party abgegeben. Er fragte sich, was man unternehmen musste, um mit ihr ins Bett zu gehen, aber wahrscheinlich unternahm man besser gar nichts. Li sah nicht aus wie jemand, der anderen die Initiative überließ. Außerdem, eine Affäre mit einem General Commander der US-Streitkräfte, das ging nun wirklich zu weit.

Li hob den Kopf.

»Guten Morgen, Dr. Johanson«, rief sie. »Gut geschlafen?«

»Wie ein Baby.« Er trat an ihren Tisch. »Was ist los, warum frühstücken Sie alleine? Die Einsamkeit des Vorgesetzten?«

»Nein, ich wälze Probleme.« Sie lächelte und sah ihn aus ihren wasserblauen Augen an. »Leisten Sie mir Gesellschaft, Doktor. Ich hab gerne Leute um mich, die sich ihre eigenen Gedanken machen.«

Johanson setzte sich. »Wie kommen Sie darauf, dass ich das tue?«

»Es ist offensichtlich.« Li legte die Unterlagen aus der Hand. »Kaffee?«

»Gerne.«

»Sie haben sich gestern auf der Veranstaltung geoutet. Keiner der anwesenden Wissenschaftler hat bislang mehr gesehen als seinen ureigenen Bereich. Shankar brütet über Tiefseegeräuschen, die er nicht einordnen kann, Anawak fragt sich, was mit seinen Walen los ist, wenngleich ich ihm zugute halten muss, dass er noch am ehesten über den Tellerrand hinausdenkt. Bohrmann sieht die Gefahren eines Methan-GAUs und versucht, mit Bekannten und Unbekannten zu jonglieren, um eine zweite Rutschung zu verhindern. Und so weiter und so fort.«

»Das ist doch eine ganze Menge.«

»Aber keiner von denen hat eine Theorie entwickelt, wie alles miteinander in Zusammenhang steht.«

»Das wissen wir ja nun«, sagte Johanson gleichmütig.

»Es sind arabische Terroristen.«

»Und glauben Sie das auch?«

»Nein.«

»Was also glauben Sie?«

»Ich glaube, dass ich noch ein bis zwei Tage brauche, bevor ich es Ihnen sagen werde.«

»Sie sind sich nicht sicher?«

»Fast.« Johanson nippte an seinem Kaffee. »Aber das ist ein heikles Thema. Ihr Mr. Vanderbilt hat sich auf Terrorismus eingeschossen. Ich will Rückendeckung, bevor ich meine Vermutungen äußere.«

»Und wer soll Ihnen die geben?«, fragte Li.

Johanson stellte die Kaffeetasse ab.

»Sie, General.«

Li wirkte nicht sonderlich überrascht. Sie schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: »Wenn Sie mich von irgendetwas überzeugen wollen, sollte ich vielleicht wissen, was es ist.«

»Ja.« Johanson lächelte. »Beizeiten.«

Li schob ihm den Schnellhefter hinüber. Johanson sah, dass er mehrere Faxausdrucke enthielt. »Vielleicht beschleunigt das Ihre Entscheidung, Doktor. Das kam heute früh um fünf. Wir haben noch keinen Überblick, und niemand kann verlässlich sagen, was da eigentlich geschieht, aber ich habe beschlossen, dass wir im Verlauf der nächsten Stunden den Ausnahmezustand über New York und die angrenzenden Gebiete verhängen werden. Peak ist bereits dort, um alles in die Wege zu leiten.«

Johanson starrte auf den Schnellhefter. Das Bild einer weiteren Flutwelle suchte ihn heim.

»Warum?«

»Was würden Sie sagen, wenn entlang der Küste von Long Island Milliarden weißer Krebse dem Meer entstiegen?«

»Ich würde sagen, sie machen einen Betriebsausflug.«

»Schöne Idee. Für welchen Betrieb?«

»Was ist mit diesen Krebsen?«, fragte Johanson, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Was tun sie?«

»Wir sind uns nicht sicher. Aber ich schätze, sie tun etwas Ähnliches wie die bretonischen Hummer in Europa. Sie schleppen eine Seuche ein. Wie passt das in Ihre Theorie, Doktor?«

Johanson überlegte. Dann sagte er: »Gibt es irgendwo hier oder im Umkreis ein hermetisch abgeschlossenes Labor, in dem man die Tiere untersuchen kann?«

»Wir haben so was eingerichtet. In Nanaimo. Exemplare der Krebse sind auf dem Weg hierher.«

»Lebende Exemplare?«

»Ich weiß nicht, ob sie noch leben. Mein letzter Wissensstand ist, dass sie lebendig waren, als sie eingefangen wurden. Dafür sind mehrere Leute tot. Toxischer Schock. Dieses Gift scheint schneller zu wirken als das der Algen in Europa.«

Johanson schwieg einen Moment. »Ich fliege hin«, sagte er. »Nach Nanaimo?« Li nickte befriedigt. »Gute Idee. Und wann werden Sie mir sagen, was Sie denken?«

»Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden.«

Li schürzte die Lippen und dachte einen Moment nach. »Vierundzwanzig Stunden«, sagte sie. »Keine Minute länger.«


Nanaimo, Vancouver Island

Anawak saß mit Fenwick, Ford und Oliviera im großen Vorführraum des Instituts. Der Beamer projizierte dreidimensionale Modelle von Walgehirnen. Oliviera hatte sie im Computer angelegt und die Stellen markiert, an denen sie auf Gallerte gestoßen waren. Man konnte um die Hirne herumfahren und sie mit einer virtuellen Klinge der Länge nach in Scheiben schneiden. Drei Simulationen hatten sie bereits durchgespielt. Die vierte zeigte, wie sich die Substanz zwischen den Hirnwindungen in feinste Ausläufer verzweigte, die stellenweise ins Innere eindrangen.

»Die Theorie ist folgende«, sagte Anawak mit Blick auf Oliviera. »Nimm an, du bist eine Küchenschabe …«

»Danke, Leon.« Oliviera hob die Brauen, was ihr Pferdegesicht noch länger erscheinen ließ. »Du verstehst es wahrhaftig, einer Frau zu schmeicheln.«

»Eine Küchenschabe ohne Intelligenz und Kreativität.«

»Mach ruhig weiter so.«

Fenwick lachte und rieb sich den Nasenrücken.

»Du bist ausschließlich von Reflexen gesteuert«, fuhr Anawak ungerührt fort. »Für einen Neurophysiologen ein Kinderspiel, dich zu steuern. Er muss nichts anderes tun, als deine Reflexe zu kontrollieren und sie auf Wunsch auszulösen. Wie bei einer Prothese. Hauptsache, er weiß, wo bei dir die Knöpfe sitzen.«

»Haben sie nicht irgendwann mal eine Schabe geköpft und ihr den Kopf einer anderen aufgepflanzt«, fragte Ford, »und das Vieh ist gelaufen?«

»So ungefähr. Sie haben die eine Kakerlake geköpft und die andere ihrer Beine beraubt. Dann haben sie die zentralen Nervensysteme der Körper miteinander verbunden. Die Kakerlake mit Kopf übernahm die Steuerung des Laufapparats, als hätte sie nie einen anderen besessen. Genau das ist es, was ich meine. Simple Geschöpfe, simple Vorgänge. In einem anderen Experiment hat man etwas Ähnliches mit Mäusen versucht. Man transplantierte einer Maus einen zweiten Kopf. Sie lebte erstaunlich lange, ein paar Stunden oder Tage, glaube ich, und beide Köpfe schienen normal zu funktionieren, aber in der Steuerung wurde es natürlich kompliziert. Die Maus lief, aber sie lief offenbar nicht immer dorthin, wo sie hatte hinlaufen wollen, und meistens fiel sie nach ein paar Schritten um.«

»Widerlich«, murmelte Oliviera.

»Das heißt, steuern lässt sich im Grunde jedes Lebewesen. Nur, je komplexer es ist, desto größer werden die Schwierigkeiten. Wenn du jetzt den Aspekt der bewussten Wahrnehmung hinzunimmst, Intelligenz und kreatives, ichbezogenes Denken, wird es schon verdammt schwer, jemandem deinen Willen aufzuzwingen. Also was machst du?«

»Ich versuche, seinen Willen zu brechen und ihn wieder auf eine Küchenschabe zu reduzieren. Bei Männern funktioniert das, indem man sich ohne Höschen vor ihnen bückt.« »Richtig.« Anawak grinste. »Weil nämlich Menschen und Küchenschaben gar nicht so weit auseinander liegen.«

»Einige Menschen«, bemerkte Oliviera.

»Alle Menschen. Wir sind zwar stolz auf unseren freien Geist, aber der ist nur so lange frei, bis du auf bestimmte Knöpfe drückst. Zum Beispiel aufs Schmerzzentrum.«

»Was bedeutet, dass derjenige, der die Gallerte entwickelt hat, sehr genau wissen muss, wie das Hirn eines Wals aufgebaut ist«, sagte Fenwick. »Ich meine, davon gehen Sie doch aus, oder? Das Zeug stimuliert Zentren im Gehirn.«

»Ja.«

»Aber dazu muss es wissen, welche.«

»So was lässt sich rausfinden«, sagte Oliviera zu Fenwick. »Denk an die Arbeit von John Lilly.«

»Sehr gut, Sue!« Anawak nickte. »Lilly war der Erste, der Elektroden in Tiergehirne implantierte, um Schmerz— und Lustzonen zu reizen. Er hat bewiesen, dass man Tieren durch gezielte Manipulation der Hirnbereiche Freude und Wohlbefinden oder Schmerz, Wut und Angst suggerieren kann. Bei Affen, wohlgemerkt. Affen kommen Walen und Delphinen am nächsten, was Komplexität und Intelligenz betrifft, aber es funktionierte. Er konnte die Tiere mit Hilfe von Elektroden vollkommen kontrollieren, indem er gezielt Reize für Bestrafung und Belohnung auslöste. — Und er war schon in den Sechzigern so weit!«

»Trotzdem, Fenwick hat Recht«, sagte Ford. »Alles gut und richtig, wenn du deinen Affen auf den OP-Tisch legen und an ihm rumfuhrwerken kannst. Aber die Gallerte muss durchs Ohr oder durch den Kiefer eingedrungen sein. Sie hat dabei auf alle Fälle ihre Form verändern müssen. Selbst wenn du so ein Zeug in einen Walschädel bekommst — wie stellst du sicher, dass es sich dort in gewünschter Weise verteilt und auf die … na ja, die richtigen Knöpfe drückt?«

Anawak zuckte die Schultern. Er war fest davon überzeugt, dass die Substanz in den Köpfen der Wale genau das tat, aber natürlich hatte er nicht die geringste Ahnung, wie sie es tat.

»Vielleicht musst du ja gar nicht so viele Knöpfe drücken«, erwiderte er nach einer Weile. »Vielleicht reicht es, wenn …«

Die Tür öffnete sich.

»Dr. Oliviera?« Einer der Laborassistenten steckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie die Störung, aber Sie werden im Hochsicherheitstrakt verlangt. Umgehend.«

Oliviera sah sie der Reihe nach an.

»So was hatten wir bis vor wenigen Wochen noch gar nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Man konnte gepflegt beieinander sitzen und sich ungestört über allen möglichen Blödsinn austauschen. Jetzt kommt man sich vor wie in einem James-Bond-Film. Alarm, Alarm! Dr. Oliviera bitte in den Hochsicherheitstrakt! Puh!«

Sie erhob sich und klatschte in die Hände.

»Na dann — vamos, muchachos. Will mich einer begleiten? Ohne mich kommt ihr ja ohnehin keinen Schritt weiter.«


Hochsicherheitslabor

Johansons Helikopter landete neben dem Institut, kurz nachdem die Krebse dort eingetroffen waren. Ein Assistent brachte ihn zu den Fahrstühlen. Zwei Stockwerke tiefer stiegen sie aus und folgten einem kahlen, neonbeleuchteten Gang. Der Assistent öffnete eine schwere Tür, und sie betraten einen mit Monitoren bestückten Raum. Einzig ein Biohazard-Warnschild über einer Stahltür wies darauf hin, dass dahinter der Tod lauerte. Johanson sah Wissenschaftler und Sicherheitspersonal. Er erkannte Roche, Anawak und Ford, die sich leise miteinander unterhielten. Oliviera und Fenwick waren im Gespräch mit Rubin und Vanderbilt. Als Rubin Johanson erblickte, kam er herüber und schüttelte ihm die Hand.

»Man kommt nicht zur Ruhe, was?« Er lachte gehetzt.

»Nein.« Johanson sah sich um.

»Wir hatten bis jetzt wenig Gelegenheit, uns auszutauschen«, sagte Rubin. »Sie müssen mir unbedingt alles über diese Würmer erzählen. Ich meine, es ist schrecklich, dass man sich unter derartigen Umständen kennen lernen muss, aber irgendwie ist das alles ja auch verdammt spannend … Haben Sie die aktuellen Meldungen gehört?«

»Ich schätze, darum bin ich hier.«

Rubin deutete auf die Stahltür. »Kaum zu glauben, was? Bis vor kurzem waren hier Lagerräume, aber die Armee hat in kürzester Zeit ein hermetisch abgeriegeltes Labor eingerichtet. Klingt provisorisch, aber sie müssen nichts befürchten. Der Sicherheitsstandard entspricht in allem L4. Wir können die Tiere gefahrlos untersuchen.«

L4 war die höchste Sicherheitsstufe für Laboratorien.

»Sie gehen mit rein?«, fragte Johanson.

»Ich und Dr. Oliviera.«

»Ich dachte, Roche ist der Experte für Schalentiere.«

»Hier ist jeder Experte für alles.« Vanderbilt und Oliviera waren hinzugetreten. Der CIA-Mann roch leicht nach Schweiß. Er schlug Johanson leutselig auf die Schulter. »Unser Haufen neunmalkluger Eierköpfe wurde so ausgewählt, dass sich Spezialistenwissen aller Coleur zu einer Art Pizza zusammenfindet. Außerdem hat Li irgendeinen Narren an Ihnen gefressen. Ich wette, sie würde am liebsten Tag und Nacht mit Ihnen verbringen, um rauszukriegen, was Sie denken.« Er lachte breit. »Oder will Sie was anderes? Weiß man’s?«

Johanson lächelte kühl zurück. »Warum fragen Sie sie nicht?«

»Das habe ich schon«, sagte Vanderbilt gleichmütig. »Ich fürchte, mein Freund, Sie müssen sich mit dem Gedanken arrangieren, dass sie tatsächlich nur an Ihrem Kopf interessiert ist. Ich kenne Li. Sie ist der Meinung, dass Sie irgendetwas wissen.«

»So? Was denn?«

»Verraten Sie’s mir.«

»Ich weiß gar nichts.«

Vanderbilt betrachtete ihn abschätzend. »Keine flotte Theorie?«

»Ich fand Ihre Theorie eigentlich flott genug.«

»Ist sie auch, solange keine bessere auftaucht. Wenn Sie gleich da reingehen, Doktor, denken Sie an etwas, das wir in Amerika Golfkriegssyndrom nennen. 1991 in Kuwait hat die amerikanische Armee ihre Verluste sehr gering gehalten, aber später erkrankte rund ein Viertel aller Soldaten, die dort im Einsatz waren, an rätselhaften Beschwerden. Im Nachhinein erscheinen sie wie eine sehr stark abgemilderte Form dessen, was Pfiesteria und Konsorten auslösen. Gedächtnisschwund, Konzentrationsprobleme, Schädigungen innerer Organe. Wir vermuten, dass die Leute mit was Chemischem Kontakt hatten — sie waren in der Nähe, als irakische Waffendepots gesprengt wurden. Damals tippten wir auf Sarin, aber vielleicht hatten die Iraker auch einen biologischen Erreger in Arbeit. Über Pathogene verfügt die halbe islamische Welt. Es ist kein Problem, harmlose Bakterien oder Viren durch genetische Manipulation in kleine Killer zu verwandeln.«

»Und Sie meinen, damit haben wir es hier zu tun?«

»Ich meine, Sie wären gut beraten, Tante Li ins Boot zu holen.« Vanderbilt zwinkerte ihm zu. »Unter uns, sie ist ein bisschen verrückt. Capisce? Verrückten sollte man ihren Willen lassen.«

»Ich kann nichts Verrücktes an ihr finden.«

»Ihr Problem. Ich habe Sie gewarnt.«

»Mein Problem ist, dass wir immer noch zu wenig wissen«, sagte Oliviera und zeigte zur Tür. »Gehen wir rein und machen unsere Arbeit. Roche ist selbstverständlich mit dabei.«

»Und ich? Brauchen Sie keinen Leibwächter?«, grinste Vanderbilt. »Ich würde mich anbieten.«

»Sehr freundlich, Jack.« Sie musterte ihn. »Leider sind die Anzüge in Ihrer Größe gerade alle ausgegangen.«

Sie traten zu viert durch die Stahltür in den ersten von drei Schleusenräumen. Das System war so konzipiert, dass sich die Schleusen wechselseitig verriegelten. Eine Kamera lugte aus der Decke. An einem Bord hingen vier knallgelbe Schutzanzüge mit transparenten Kapuzen, Handschuhen und schwarzen Stiefeln.

»Sind Sie alle mit der Arbeit in einem Hochsicherheitslabor vertraut?«, fragte Oliviera.

Roche und Rubin nickten.

»Theoretisch«, gab Johanson zu.

»Kein Problem. Normalerweise müssten wir Sie schulen, aber dafür reicht die Zeit nicht aus. Der Anzug ist ein Drittel Ihrer Lebensversicherung. Um den müssen Sie sich keine Sorgen machen. Er besteht aus verschweißtem PVC. Die anderen beiden Drittel sind Vorsicht und Konzentration. Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Anlegen.«

Das Ding war sperrig. Johanson schlüpfte in eine Art Weste, deren Zweck darin bestand, die zugeführte Luft gleichmäßig im Anzug zu verteilen. Er quälte sich in den gelben Überzug und lauschte dabei ergeben Olivieras Erklärungen:

»Sobald Sie drinstecken, schließen wir Sie an ein Schlauchsystem an und blasen Ihren Anzug mit Atemluft auf. Die Luft wird entfeuchtet, temperiert und über Kohlefilter so hineingeleitet, dass im Innern Überdruck entsteht. Das ist wichtig, damit sie von Ihnen wegströmen kann. Überschüsse gelangen durch ein Ventil nach draußen. Wenn Sie wollen, können Sie die Zufuhr selber regulieren, aber das wird nicht nötig sein. — Alles klar? Wie fühlen Sie sich?«

Johanson sah an sich hinunter.

»Wie ein Marshmallowmann.«

Oliviera lachte. Sie betraten die erste Schleuse. Johanson hörte Oliviera gedämpft weitersprechen und registrierte, dass sie jetzt über Funk miteinander verbunden waren: »Im Labor herrscht ein Unterdruck von -50 Pascal. Keine Spore kommt da raus. Bei Stromausfall haben wir immer noch das Notstromaggregat, es ist also kaum anzunehmen, dass es Probleme gibt. Der Fußboden besteht aus versiegeltem Beton, die Fenster sind aus Panzerglas. Alle Luft im Innern des Labors wird durch Hochleistungsfilter steril gehalten. Es gibt keine Abflüsse hier, Abwässer sterilisieren wir gleich im Gebäude. Mit der Außenwelt kommunizieren wir entweder über Funk oder per Fax und PC. Alle Kühltruhen, Zu— und Abluftmechanismen sind über Alarm gesichert, der gleichzeitig im Kontrollraum, in der Virologie und beim Pförtner aufläuft. Jeder Winkel wird videoüberwacht.«

»So ist es«, erklang Vanderbilts Stimme im Lautsprecher. »Wenn also einer von Ihnen umfällt und stirbt, gibt’s ein schönes Erinnerungsvideo für die Enkel.«

Johanson sah, wie Oliviera die Augen verdrehte. Sie passierten nacheinander die drei Schleusen und betraten das Labor. In ihren Anzügen, angeschlossen an die Schläuche, sahen sie aus, als wollten sie den Mars betreten. Der Raum war schätzungsweise 30 Quadratmeter groß und mutete an wie eine Restaurantküche mit Tiefkühlschränken, Kühltruhen und weißen Hängeschränken. An einer Wand standen ölfassgroße Stahlbehälter mit stickstoffgekühlten Virenkulturen und anderen Organismen. Mehrere Arbeitstische boten reichlich Platz. Die gesamte Inneneinrichtung hatte abgerundete Kanten, damit man sich nicht aus Versehen den Anzug aufriss. Oliviera zeigte ihnen die drei großen roten Knöpfe im Raum, mit denen sich Alarm auslösen ließ, führte sie zu einem der Tische und öffnete einen wannenförmigen Behälter.

Er war gefüllt mit kleinen, weißen Krabben. Sie schwammen in zwei Handbreit Wasser und sahen ziemlich leblos aus.

»Mist!«, entfuhr es Rubin.

Oliviera nahm einen metallenen Spatel zur Hand und berührte die Tiere der Reihe nach, aber keines regte sich.

»Tot, würde ich sagen.«

»Das ist unglücklich.« Rubin schüttelte den Kopf. »Sehr unglücklich. Hat es nicht geheißen, wir bekommen lebende?«

»Li zufolge lebten sie, als sie auf Reisen gingen«, sagte Johanson. Er beugte sich vor und betrachtete die Krabben ausgiebig und der Reihe nach. Dann tippte er Oliviera auf den Unterarm. »Dort oben. Der zweite von links. Hat gerade mit den Beinen gezuckt.«

Oliviera beförderte die Krabbe auf die Arbeitsplatte. Sie saß einige Sekunden still, dann begann sie plötzlich in großer Eile zur Kante zu laufen. Oliviera holte sie zurück. Die Krabbe ließ sich widerstandslos über den Tisch schieben und versuchte erneut zu fliehen. Sie wiederholten die Prozedur einige Male, dann legten sie das Tier zurück in die Wanne.

»Irgendwelche spontanen Meinungen?«, wollte Oliviera wissen.

»Ich müsste mir das Innere ansehen«, sagte Roche.

Rubin zuckte die Schultern. »Scheint sich normal zu verhalten, aber die Art habe ich noch nie gesehen. Sie vielleicht, Dr. Johanson?«

»Nein.« Johanson dachte einen Moment nach. »Sie verhält sich nicht normal. Natürlicherweise würde sie den Spatel als Gegner sehen. Sie würde die Scheren spreizen und Drohgebärden vollführen. Meines Erachtens ist die Motorik in Ordnung, aber der Sinnesapparat nicht. Sie kommt mir vor, als ob …«

»Als hätte sie jemand aufgezogen«, sagte Oliviera. »Wie ein Spielzeug.«

»Ja. Wie ein Mechanismus. Sie läuft wie eine Krabbe, aber sie verhält sich nicht wie eine Krabbe.«

»Können Sie die Art bestimmen?«

»Ich bin kein Taxonom. Ich kann Ihnen sagen, woran sie mich erinnert, aber Sie müssen das mit Vorsicht verbuchen.«

»Nur zu.«

»Es gibt zwei signifikante Merkmale.« Johanson nahm den Spatel und berührte nacheinander einige der leblosen Körper. »Zum einen, die Tiere sind weiß, also farblos. Farben dienen nie dem Schmuck, sie haben immer eine Funktion. Die meisten farblosen Lebewesen, die wir kennen, brauchen nur darum keine Farbe, weil niemand sie sehen kann. Die zweite Besonderheit ist das völlige Fehlen von Augen.«

»Das heißt, sie stammen entweder aus Höhlen oder aus lichtlosen Tiefen«, sagte Roche.

»Ja. Bei manchen Tieren, die ohne Sonnenlicht leben, sind die Augen stark verkümmert, aber rudimentär vorhanden. Man erkennt noch, wo sie früher saßen. Diese Krabben hingegen … nun, ich will nicht vorschnell urteilen, aber sie machen mir den Eindruck, als hätten sie niemals Augen besessen. Wenn das stimmt, würden sie nicht nur aus einer Welt völliger Schwärze stammen, sie wären auch dort entstanden. Ich kenne nur eine Krabbenart, für die das zutrifft und die so aussieht wie diese hier.«

»Schlotkrabben«, nickte Rubin.

»Und woher stammen die?«, fragte Roche.

»Von hydrothermalen Schloten in der Tiefsee«, sagte Rubin. »Vulkanische Oasen. Sie sehen genauso aus wie Schlotkrabben.«

Roche runzelte die Stirn.

»Dann dürften sie an Land eigentlich keine Sekunde überleben.«

»Die Frage ist, was da überlebt hat«, sagte Johanson.

Oliviera fischte einen der leblosen Körper aus der Wanne, drehte ihn auf den Rücken und legte ihn auf die Arbeitsplatte. Nacheinander entnahm sie einer Schale eine Reihe von Werkzeugen, die an Hummerbesteck erinnerten. Sie fuhr mit einer winzigen, batteriebetriebenen Kreissäge seitlich des Panzers entlang, und sofort spritzte unter Hochdruck etwas Transparentes aus dem Innern. Oliviera fuhr ungerührt fort, den Panzer aufzuschneiden, hob die Unterseite mit den Beinen ab und legte sie beiseite.

Sie starrten in das aufgeschnittene Tier.

»Das ist keine Krabbe«, sagte Johanson.

»Nein«, sagte Roche. Er deutete auf die halb flüssige, klumpige Gallertmasse, die den größten Teil des Panzers ausfüllte. »Es ist die gleiche Sauerei, die wir in den Hummern gefunden haben.«

Oliviera begann, die Gallerte mit einem Löffel in ein Gefäß umzufüllen.

»Schauen Sie mal da«, sagte sie. »Gleich hinter dem Kopf sieht es nach original Krabbe aus. Und sehen Sie die faserige Verzweigung entlang des Rückens? Das ist das Nervensystem. Das Tier hat seine Sinne noch beisammen, nur nichts drum herum, um sie zu nutzen.«

»Doch«, sagte Rubin. »Die Gallerte.«

»Also, es ist jedenfalls keine Krabbe im vollständigen Sinne.« Roche beugte sich über die Schale mit dem farblosen Glibber. »Eher ein Krabbenapparat. Funktions-, aber nicht lebensfähig.«

»Was erklären würde, warum sie sich nicht wie Krabben verhalten. Es sei denn, wir identifizieren das Zeug im Innern als neue Art von Krabbenfleisch.«

»Nie im Leben«, sagte Roche. »Es ist ein Fremdorganismus.«

»Dann hat dieser Fremdorganismus dafür gesorgt, dass die Tiere an Land kamen«, bemerkte Johanson. »Und wir können uns überlegen, ob er in Tiere geschlüpft ist, die gestorben waren, um sie quasi wiederzubeleben …«

»Oder ob die Krabben so gezüchtet wurden«, ergänzte Oliviera.

Eine Zeit lang herrschte unbehagliches Schweigen. Schließlich sagte Roche in die Stille hinein:

»Was immer der Grund für ihr Hiersein ist, eines steht fest. Würden wir jetzt die Anzüge ausziehen, wären wir alle binnen kurzem tot. Ich schätze, wir werden die Viecher randvoll mit Pfiesteria-Kulturen finden. Oder was noch Schlimmerem. Die Luft in diesem Labor ist jedenfalls verseucht.«

Johanson dachte an etwas, was Vanderbilt gesagt hatte.

Biologische Kampfstoffe.

Natürlich hatte Vanderbilt Recht. Vollkommen Recht.

Nur völlig anders, als er dachte.


Weaver

Weaver war euphorisiert.

Sie brauchte nur ein Passwort einzugeben, schon hatte sie Zugriff auf jede nur erdenkliche Information. Was ihr hier geboten wurde, hätte unter anderen Umständen monatelange Recherche erforderlich gemacht — ohne die Zugriffsmöglichkeit auf militärische Satelliten. Aber das hier war phantastisch! Sie saß auf dem Balkon ihrer Suite, vernetzt mit der Datenbank der NASA, und vertiefte sich in amerikanische Radarkartographie.

In den achtziger Jahren hatte die amerikanische Marine mit der Untersuchung eines erstaunlichen Phänomens begonnen. Geosat, ein Radarsatellit, war in eine polnahe Umlaufbahn geschossen worden. Den Meeresboden sollte und konnte er nicht kartieren. Radar durchdrang kein Wasser. Die Aufgabe von Geosat bestand vielmehr darin, die Meeresoberfläche als Ganzes zu vermessen, und zwar auf wenige Zentimeter genau. Eine Abtastung großer Flächen, so hoffte man, würde aufzeigen, ob der Meeresspiegel — abgesehen von Ebbe— und Flutschwankungen — überall gleich hoch lag oder nicht.

Was Geosat enthüllte, übertraf alle Erwartungen.

Man hatte geahnt, dass die Ozeane selbst im Zustand absoluter Ruhe nicht völlig glatt seien. Jetzt aber offenbarten sie eine Struktur, die der Erde das Aussehen einer riesigen, knolligen Kartoffel verlieh. Sie waren voller Dellen und Buckel, Aufragungen und Einmuldungen. Hatte man lange Zeit angenommen, dass die Wassermassen der Weltmeere gleichmäßig über den Erdball verteilt seien, vermittelte die Kartierung ein ganz anderes Bild. Südlich von Indien etwa lag der Meeresspiegel rund 170 Meter tiefer als vor Island. Nördlich von Australien wölbte sich das Meer zu einem Berg, der 85 Meter über dem Durchschnitt lag. Die Meere waren regelrechte Gebirgslandschaften, deren Topographie den Ausprägungen der Unterwasserlandschaft zu folgen schien. Große unterseeische Gebirgszüge und Tiefseegräben pausten sich mit einigen Metern Höhenunterschied auf der Wasseroberfläche durch.

Der Rückschluss war bestechend. Wer die Wasseroberfläche kannte, wusste im Groben, wie es darunter aussah.

Schuld waren Unregelmäßigkeiten in der Gravitation. Ein unterseeischer Berg fügte dem Meeresboden Masse hinzu, also wirkte die Schwerkraft dort höher als in einem Tiefseegraben. Sie zog das umliegende Wasser seitlich zu dem Tiefseeberg hin und schichtete einen Buckel auf.

Über Gebirgen wölbte sich die Meeresoberfläche, über Gräben fiel sie ab. Eine Weile sorgten Ausnahmen für Verwirrung, etwa wenn sich Wasser über einer Tiefseeebene hochwölbte, bis man dahinter kam, dass manche der dortigen Bodengesteine von extremer Dichte und Schwere waren, und somit stimmte die Gravitationstopographie wieder.

Die Neigungen all dieser Dellen und Buckel waren so flach, dass man sie an Bord eines Schiffes nicht registrierte. Tatsächlich wäre man dem Phänomen ohne die Satellitenkartierung nie auf die Spur gekommen. Jetzt aber hatte man einen neuen Weg gefunden, nicht nur die Topographie der Meeresböden abzubilden, sondern die Gesamtdynamik der Ozeane zu verstehen, indem man aus dem Geschehen an der Oberfläche auf Vorgänge in der Tiefe schloss. Geosat enthüllte außerdem, dass in den Ozeanen gewaltige Strömungswirbel mit mehreren hundert Kilometern Durchmesser entstanden. Wie Kaffee, der in einem Becher umgerührt wurde, bildeten die rotierenden Massen im Zentrum eine Delle, während sie sich zum Rand hin hochwölbten. Es erwies sich, dass — außer den Schwerkraftschwankungen — auch derartige Wirbel, sogenannte Eddies, die Meeresoberfläche ausbeulten, und wiederum waren die Eddies Bestandteile weit größerer Wirbel. Aus dem erweiterten Blickwinkel der Satellitenkartographie wurde deutlich, dass die kompletten Ozeane in Rotation gerieten. Gigantische Ringsysteme kreisten oberhalb des Äquators im Uhrzeigersinn und südlich davon entgegengesetzt, und sie kreisten umso schneller, je näher sie den Polen kamen.

Damit hatte man ein weiteres Prinzip der Meeresdynamik verstanden: Die Erddrehung selber beeinflusste den Grad der Rotation.

Der Golfstrom war demnach gar kein richtiger Strom, sondern der westliche Rand einer riesigen, sich langsam drehenden Wasserlinse, eines aus unzähligen kleineren Wirbeln bestehenden Riesenwirbels, der im Uhrzeigersinn gegen Nordamerika drückte. Weil das Zentrum des Riesenwirbels nicht mitten im Atlantik lag, sondern nach Westen versetzt, wurde der Golfstrom gegen die amerikanische Küste gequetscht, dort aufgestaut und hochgewölbt. Starke Winde und seine Fließrichtung zum Pol beschleunigten ihn, während ihn die enorme Reibung der Küste zugleich wieder verlangsamte. So hatte sich der nordatlantische Wirbel in eine stabile Drehung gefunden, getreu dem Satz von der Erhaltung des Drehimpulses, der besagt, dass eine Kreisbewegung so lange konstant bleibt, bis sie durch äußere Einflüsse gestört wird.

Es waren diese äußeren Einflüsse, die Bauer erkannt zu haben glaubte, aber er konnte nicht sicher sein. Das Verschwinden der Schlote, durch die das Wasser vor Grönland kaskadenartig in die Tiefe stürzte, bot Grund zur Beunruhigung, aber es bewies nichts. Beweisen ließen sich globale Veränderungen nur durch globale Darstellungen.

1995, nach dem Ende des Kalten Krieges, hatte die amerikanische Armee nach und nach die Geosat-Kartierungen freigegeben. Das Geosat-System war abgelöst worden durch eine Reihe modernerer Satelliten. Von allen lagen Karen Weaver Daten vor, lückenlose Dokumentationen seit Mitte der Neunziger. Sie verbrachte Stunden damit, die Messungen in Beziehung zueinander zu setzen. Die Daten differierten in Details — es konnte geschehen, dass der Radar des einen Satelliten einen besonders dichten Sprühnebel irrtümlich für die Oberfläche einer Welle gehalten hatte, was der andere natürlich nicht bestätigte —, aber unterm Strich kam überall dasselbe heraus.

Je tiefer sie Einblick nahm, desto mehr wich ihre anfängliche Begeisterung tiefer Beunruhigung.

Schließlich wusste sie, dass Bauer Recht gehabt hatte.

Seine Drifter hatten eine kurze Weile gesendet, ohne erkennen zu lassen, dass sie einer definierten Strömung folgten. Dann waren sie einer nach dem anderen ausgefallen. Von der Bauer-Expedition lagen damit so gut wie keine Daten vor. Sie fragte sich, ob dem unglücklichen Professor klar gewesen war, in welchem Ausmaß er Recht behalten sollte. Weaver spürte sein Vermächtnis auf ihr lasten. Er hatte ihr sein gesamtes Wissen anvertraut, sodass sie nun zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, was für andere keinen Sinn ergab. Es reichte, um die Katastrophe heraufdämmern zu sehen.

Noch einmal rechnete sie alles durch. Sie stellte sicher, dass ihr kein Fehler unterlaufen war, wiederholte die Prozedur ein weiteres Mal und dann ein drittes Mal.

Es war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte.


Online

Johanson, Oliviera, Rubin und Roche duschten in ihren PVC-Anzügen minutenlang unter l,5%iger Peressigsäure, deren Dämpfe jeden möglichen Erreger rückstandslos zersetzten, bevor die ätzende Flüssigkeit mit Wasser abgewaschen und mit Natronlauge neutralisiert wurde und sie das Schleusensystem endlich verlassen konnten.

Shankar und sein Team arbeiteten unter Hochdruck an der Entschlüsselung nicht identifizierbarer Geräusche. Sie hatten Ford hinzugezogen und spielten Scratch und andere Spektrogramme rauf und runter.

Anawak und Fenwick gingen spazieren und diskutierten die Möglichkeiten der Fremdbeeinflussung neuronaler Systeme.

Frost war in Bohrmanns Suite aufgetaucht, massig und raumfüllend, die Baseballkappe über den Brillenrand gezogen, und hatte dröhnend verkündet:

»Doc, wir müssen reden!«

Danach hatte er Bohrmann erzählt, wie er über die Würmer dachte. Es war bemerkenswert. Die beiden verstanden sich auf Anhieb dermaßen gut, dass sie in Windeseile mehrere Humpen Bier leerten und den Fundus des Potenziellen mit ebenso beunruhigenden wie sinnfälligen Szenarien füllten. Soeben konferierten sie über Satellit mit Kiel. Nachdem die Internetverbindung wieder funktionierte, lieferte Kiel eine Simulation nach der anderen. Suess hatte versucht, die Vorgänge am norwegischen Kontinentalhang so detailliert wie möglich zu rekonstruieren, mit dem Resultat, dass es kaum zu einer derartigen Katastrophe hätte kommen können. Die Würmer und Bakterien hatten gewiss eine fatale Wirkung entfaltet, aber etwas im Puzzle fehlte, ein winziges Steinchen, ein zusätzlicher Auslöser.

»Und solange wir den nicht kennen«, stellte Frost fest, »wird es uns die Ärsche wegschwemmen, Gott ist mein Zeuge! Und es wird nicht geschehen, weil vor Amerika oder Japan der Hang abrutscht.«

Li saß vor ihrem Laptop. Sie war allein in ihrer riesigen Suite und doch überall mit dabei. Eine Weile hatte sie der Arbeit im Hochsicherheitslabor zugesehen und gehört, was dort gesprochen wurde. Sämtliche Räumlichkeiten des Chateaus wurden abgehört und videoüberwacht. Gleiches galt für Nanaimo, die Universität Vancouver und das Aquarium. Einige der nahe gelegenen Privatwohnungen waren verwanzt worden, die von Ford, Oliviera und Fenwick, und außerdem das Schiff, auf dem Anawak wohnte, sowie sein kleines Appartement in Vancouver. In allem hatten sie Augen und Ohren, nur was an der frischen Luft gesprochen wurde, in Kneipen und Restaurants, hatte keine Chance, aufgefangen zu werden. Das ärgerte Li, aber dafür hätten sie den Wissenschaftlern schon Sender implantieren müssen.

Umso besser funktionierte die Überwachung des stabsinternen Datennetzes. Bohrmann und Frost waren online, ebenso Karen Weaver, die Journalistin, die in diesen Minuten Satellitendaten der Golfstromregion miteinander verglich. Das war hochinteressant, ebenso wie die Simulationen aus Kiel. Das Netz war überhaupt eine gute Idee gewesen. Natürlich konnte Li nicht lesen oder hören, was seine Benutzer dachten. Aber woran sie arbeiteten und welche Dateien sie aufriefen, wurde gespeichert und ließ sich jederzeit mitverfolgen. Falls Vanderbilt mit seiner Terroristenhypothese Recht behielt, was Li bezweifelte, war es sogar legitim, jeden Einzelnen der Truppe abzuhören. Augenscheinlich waren alle sauber. Niemand unterhielt Kontakte zu extremistischen Vereinigungen oder Ländern der arabischen Welt, aber ein Restrisiko blieb immer. Doch selbst wenn die Vermutungen des CIA-Direktors nicht zutrafen, war es hilfreich, den Wissenschaftlern über die Schulter zu sehen, ohne dass diese es merkten. Es war immer gut, frühzeitig in den Besitz von Wissen zu gelangen.

Sie schaltete zurück nach Nanaimo und lauschte Johanson und Oliviera, die eben zu den Aufzügen gingen. Beide unterhielten sich über die Arbeitsbedingungen im Hochsicherheitstrakt. Oliviera bemerkte, dass man die Säuredusche ohne den schützenden Anzug als sauber gebleichtes Skelett verlassen würde, und Johanson machte einen Witz darüber. Sie lachten und fuhren nach oben.

Warum sprach Johanson nicht mit irgendjemandem über seine Theorie? Fast hätte er es getan. Auf seinem Zimmer im Gespräch mit Weaver, gleich nach dem großen Meeting. Aber dann hatte er sich doch wieder nur in Andeutungen ergangen.

Li führte eine Reihe von Telefonaten, sprach kurz mit Peak in New York und sah auf die Uhr. Zeit für Vanderbilts Report. Sie verließ ihre Suite und ging den Flur entlang zu einem gesicherten Raum am Südende des Chateaus. Er bildete ein Pendant des War Room im Weißen Haus und war ebenso wie der Konferenzraum vollkommen abhörsicher. Drinnen erwarteten sie Vanderbilt und zwei seiner Leute. Der CIA-Direktor war eben mit dem Helikopter aus Nanaimo zurückgekehrt und sah noch derangierter aus als sonst.

»Können wir Washington zuschalten?«, schlug sie vor, ohne zu grüßen.

»Könnten wir«, sagte Vanderbilt. »Aber es würde nichts bringen …«

»Machen Sie es nicht so spannend, Jack.«

»… sofern Sie beabsichtigen, den Präsidenten auf Leitung zu legen. Der Präsident ist nicht mehr in Washington.«


Nanaimo, Vancouver Island

Oliviera lief Fenwick und Anawak in der Vorhalle über den Weg, als sie mit Johanson den Fahrstuhl verließ.

»Wo kommt ihr denn her?«, fragte sie erstaunt.

»Wir waren spazieren.« Anawak zwinkerte ihr zu. »Hattet ihr noch Spaß im Labor?«

»Idiot.« Oliviera verzog das Gesicht. »Sieht so aus, als wären die Probleme Europas zu uns rübergeschwappt. Die Gallerte in den Krabben ist tatsächlich unser alter Bekannter. Außerdem hat Roche einen Erreger isoliert, den die Krabben in sich trugen.«

»Pfiesteria?« fragte Anawak.

»So ähnlich«, sagte Johanson. »Sozusagen die Mutation der Mutation. Die neue Art ist unendlich viel toxischer als die europäische.«

»Wir mussten ein paar Mäuse opfern«, sagte Oliviera. »Wir haben sie zusammen mit einer toten Krabbe eingesperrt, und alle waren binnen weniger Minuten tot.«

Fenwick trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Ist dieses Gift eigentlich ansteckend?«

»Nein, du darfst mich knutschen. Es wird nicht von Mensch zu Mensch übertragen. Wir haben es nicht mit Viren zu tun, sondern mit einer bakteriologischen Invasion. Aber es gelangt außer Kontrolle, sobald die Pfiesterien ins Wasser gelangen, und sie vermehren sich exponentiell, wenn die Krabben schon lange hinüber sind. Bis auf eine waren alle krepiert, und die ist inzwischen auch von uns gegangen.«

»Kamikaze-Krabben«, sinnierte Anawak.

»Ihre Aufgabe ist es, Bakterien an Land zu bringen, so wie es die Aufgabe der Würmer ist, Bakterien ins Eis zu tragen«, sagte Johanson. »Danach verrecken sie. Quallen, Muscheln, selbst diese Gallerte, nichts davon überdauert sonderlich lange, aber alles erfüllt seinen Zweck.«

»Der da wäre, uns zu schädigen.«

»Richtig. Auch die Wale haben eher was von Selbstmordattentätern«, sagte Fenwick. »Angriffe sind gewöhnlich Teil einer Überlebensstrategie, ebenso wie Flucht. Aber nirgendwo wird eine solche Strategie ersichtlich.«

Johanson lächelte. Seine schwarzen Augen blitzten.

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Einer verfolgt hier ganz klar eine Überlebensstrategie.«

Fenwick musterte ihn. »Sie klingen fast schon wie Vanderbilt.«

»Nein. Das scheint nur so. In einigem hat Vanderbilt Recht, ansonsten bin ich ganz anderer Meinung.« Johanson machte eine Pause. »Aber ich gehe jede Wette ein, Vanderbilt wird schon bald genauso klingen wie ich.«


Li

»Was soll das heißen?«, wollte Li wissen, während sie sich setzte. »Wo ist der Präsident, wenn nicht in Washington?«

»Er ist auf dem Weg zur Offutt Air Force Base in Nebraska«, sagte Vanderbilt. »Es sind Krabbenschwärme in der Chesapeake Bay und im Potomac aufgetaucht. Offenbar treiben sie den Meerarm hoch. Bei Alexandria und unterhalb von Arlington sollen welche an Land gelangt sein, aber wir haben noch keine Bestätigung erhalten.«

»Und wer hat Offutt angeordnet?«

Vanderbilt zuckte die Achseln. »Der Stabschef im Weißen Haus hegt Befürchtungen, die Hauptstadt könne das gleiche Schicksal wie New York erleiden«, sagte er. »Sie kennen ja den Präsidenten. Er hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Am liebsten würde er losziehen und den hässlichen Biestern persönlich den Krieg erklären, aber am Ende hat er eingewilligt ins gesunde Landleben.«

Li überlegte. Offutt war der Sitz des Strategie Command, das über die Atomwaffen der Vereinigten Staaten gebot. Der Stützpunkt war ideal, um den Präsidenten zu schützen. Er lag mitten im Landesinnern, weit weg von allen Gefährdungen, die aus dem Meer kamen. Von dort konnte der Präsident über eine abhörsichere Videoverbindung mit seinem Nationalen Sicherheitsrat telefonieren und seine volle Regierungsgewalt ausüben.

»Das ist schlampig gelaufen«, sagte sie mit Nachdruck. »So was will ich demnächst sofort erfahren, Jack. Wenn irgendwo irgendwas seinen Kopf aus dem Meer steckt, will ich es wissen. Nein, ich will es wissen, bevor es seinen Kopf aus dem Meer steckt.«

»Wir können das hinkriegen«, sagte Vanderbilt. »Wir könnten diplomatische Beziehungen zu den ortsansässigen Delphinen aufnehmen und …«

»Außerdem will ich in Kenntnis gesetzt werden, wenn jemand auf die Idee kommt, den Präsidenten nach Offutt zu schicken.«

Vanderbilt lächelte jovial. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf …«

»Und ich will Klarheit darüber, was in Washington passiert«, fiel ihm Li ins Wort. »Und zwar innerhalb der nächsten zwei Stunden. Falls sich die Meldung bestätigt, evakuieren wir die befallenen Gebiete und verwandeln Washington in eine Sperrzone wie New York.«

»Das wäre mein Vorschlag gewesen«, sagte Vanderbilt milde.

»Dann sind wir uns einig. Was haben Sie sonst für mich?«

»Einen Haufen Scheiße.«

»Das bin ich gewöhnt.«

»Eben. Ich wollte Sie nicht entwöhnen, also habe ich mich bemüht, möglichst viele schlechte Nachrichten zusammenzutragen. Beginnen wir damit, dass die NOAA am Kontinentalhang vor der Georges Bank versucht hat, zwei Roboter hinunterzulassen, um Würmer zu weiteren Forschungszwecken heraufzuholen. Das … ähm … ist gelungen.«

Li hob die Brauen und lehnte sich abwartend zurück.

»Also, es ist gelungen, die Tiere einzusammeln«, sagte Vanderbilt, indem er jedes Wort genüsslich dehnte. »Aber nicht, sie an Bord zu bringen. Kaum waren sie im Körbchen, kam etwas und kappte die Verbindung. Wir haben beide Roboter verloren. Ähnliche Nachrichten erreichen uns aus Japan. Dort ist ein bemanntes Tauchboot verloren gegangen, irgendwo im Gebiet vor Honshu und Hokkaido. Auch sie sollten Würmer mitbringen. Die Japaner sagen, es sind mehr geworden. Insgesamt hat die Sache eine neue Qualität gewonnen. Bis jetzt sind nur Taucher angegriffen worden, aber noch keine Unterseeboote, Sonden oder Roboter.«

»Konnten wir irgendwas Verdächtiges erfassen?«

»Nicht direkt. Feindliche Sonden oder Tauchboote waren nicht aufzuspüren, aber das NOAA-Schiff hat in siebenhundert Metern Tiefe eine sich bewegende Fläche von mehreren Kilometern Ausdehnung erfasst. Der Forschungsleiter meint, zu neunzig Prozent habe es sich um einen Planktonschwarm gehandelt, aber er würde es nicht beschwören.«

Li nickte. Sie dachte an Johanson. Fast bedauerte sie, dass er nicht hier war, um Vanderbilts Ausführungen zuzuhören.

»Zweiter Punkt, Tiefseekabel. Weitere Verbindungen sind abgerissen, CANTAT-3 und einige TAT-Kabel. Alles wichtige Verbindungen über den Atlantik. Im Pazifik haben wir offenbar PACRIM WEST verloren, eine unserer Hauptverbindungen nach Australien. — Es gab außerdem in den letzten beiden Tagen mehr Schiffsunglücke denn je, und alle in dicht befahrenen Gebieten. Von den rund 200 maritimen Nadelöhren, die wir kennen, sind rund die Hälfte betroffen, insbesondere die Straße von Gibraltar, die Malakkastraße und der englische Kanal, aber auch der Panama-Kanal hat was abgekriegt und … nun ja, es ist geschehen, aber wir sollten das vielleicht nicht überbewerten: Es gab eine Karambolage in der Straße von Hormuz und eine weitere bei Khalij as-Suways, das ist … ähm …«

Li beobachtete Vanderbilt. Er wirkte weniger zynisch und überheblich als sonst, und soeben wurde ihr bewusst, warum.

»Ich weiß, wo das ist«, sagte sie. »Khalij as-Suways ist der Ausläufer des Roten Meers, der in den Suezkanal mündet. Das heißt, die arabische Welt ist an zwei wichtigen Verkehrsknotenpunkten getroffen worden.«

»Bingo, Baby. Es gab Probleme mit der Navigation. Was Neues übrigens. Die Rekonstruktion ist schwierig, aber in der Straße von Hormuz sieht es so aus, als seien sieben Schiffe ineinander gerasselt, weil mindestens zwei von ihnen nicht mehr wussten, wo sie hinfahren. Logge und Echolot lieferten keine Daten mehr.«

An Bord eines jeden Schiffes gab es vier lebenswichtige Systeme: Echolot, Logge, Radar und Windmesser. Während Radar und Windmesser oberhalb der Wasserlinie arbeiteten, saß das Austrittsfenster des Echolots am Kiel, ebenso wie die Logge, ein Staurohr mit integriertem Fühler, der das hereinströmende Fahrtwasser maß. Die Logge war so etwas wie das Tachometer eines Schiffs. Sie informierte die Radarsysteme an Bord über Kurs und Geschwindigkeit des Schiffes, und der Radar errechnete auf dieser Basis die Kollisionsgefahr mit Schiffen in der Nähe und bot Ausweichkurse an. Im Allgemeinen folgte man blind den Instrumenten. Blind, weil sich 70 Prozent der Seefahrt bei Nacht, Nebel oder hoher See abspielten, wo ein Blick aus dem Fenster nichts brachte.

»In einem der Fälle haben offenbar marine Organismen die Logge verstopft«, sagte Vanderbilt. »Sie zeigte keine Fahrt mehr an, was den Radar veranlasste, keine Kollisionsgefahr zu melden, obwohl drum herum alles dicht befahren war. Im anderen Fall spielte das Echolot verrückt und meldete abnehmende Wassertiefe. Sie mussten davon ausgehen aufzulaufen, obwohl sie tatsächlich in tiefem Gewässer fuhren, und vollführten eine vollkommen idiotische Kurskorrektur. Beide knallten in andere Schiffe, und weil es so schön dunkel war, fuhren gleich noch ein paar weitere rein ins Vergnügen. Anderswo auf der Welt kommt es zu ähnlichen Scherzen. Jemand will beobachtet haben, dass Wale dicht unter den Schiffen geschwommen sind, über einen langen Zeitraum.«

»Natürlich«, sinnierte Li. »Wenn über längere Zeit etwas Großes dicht unter dem Echolot-Austritt bleibt, könnte man es leicht mit festem Untergrund verwechseln.«

»Außerdem häufen sich Fälle von Verkrustungen im Ruder und in Seitenstrahlern. Seekästen werden verstopft, immer gezielter. Vor Indien ist aktuell ein Erzfrachter abgesoffen, nachdem wochenlanger Bewuchs offenbar zu außergewöhnlich rascher Korrosion geführt hat. Bei ruhiger See kollabierte der vordere Laderaum. Sank innerhalb von Minuten. Und so weiter und so fort. Es reißt nicht ab. Alles wird ständig schlimmer, und die Seuche kommt obendrauf.«

Li legte die Fingerspitzen aufeinander und brütete vor sich hin.

Einfach lächerlich. Aber bei genauem Hinsehen waren Schiffe nun mal lächerlich. Peak hatte es auf den Punkt gebracht. Archaische Kästen, die mit Hightech navigierten und Kühlwasser durch ein Loch anschlürften. Anderswo drangen Krabben in hochmoderne Großstädte ein, ließen sich zu Matsch fahren und verteilten Tonnen hochgiftiger Algen in der Kanalisation. Als Folge mussten sie die Stadt sperren und jetzt wahrscheinlich eine weitere, und der Präsident der Vereinigten Staaten floh ins Landesinnere.

»Wir brauchen diese verdammten Würmer«, sagte Li. »Und wir müssen was gegen diese Algen unternehmen.«

»Wie Recht Sie haben«, erwiderte Vanderbilt beflissen.

Seine Männer saßen mit reglosen Gesichtern zu seinen Seiten und starrten Li an. Eigentlich wäre es an Vanderbilt gewesen, ihr Vorschläge zu unterbreiten, aber Vanderbilt mochte Li ebenso wenig wie sie ihn.

Er würde sie ins Messer laufen lassen. Aber sie brauchte Vanderbilt nicht, um Entscheidungen zu treffen.

»Erstens«, sagte sie. »Wir evakuieren Washington, sollte sich die Meldung bestätigen. Zweitens will ich, dass in den betroffenen Gebieten Trinkwasser in Tankwagen herbeigeschafft und streng rationiert wird. Wir legen die Kanalisationen trocken und ätzen die Biester mit Chemikalien raus.«

Vanderbilt lachte laut auf. Seine Männer grinsten.

»New York trockenlegen? Die Kanalisation?«

Sie sah ihn an.

»Ja.«

»Gute Idee. Die Chemikalien töten dann auch gleich alle New Yorker, und wir können die Stadt vermieten. Vielleicht an die Chinesen? Ich habe gehört, es gibt unheimlich viele Chinesen.«

»Wie das zu machen ist, werden Sie rausfinden, Jack! Ich werde den Präsidenten um eine Plenarsitzung des Sicherheitsrats ersuchen und die Verhängung des Ausnahmezustands anordnen.«

»Ah! Verstehe.«

»Sämtliche Küsten werden gesperrt. Aufklärungsdrohnen fliegen Patrouille. Wir entsenden Truppen in Schutzanzügen mit Flammenwerfern. Was immer ab jetzt versucht, an Land zu krabbeln, wird zu Barbecue verarbeitet.« Sie stand auf. »Und wenn wir ohnehin schon Ärger mit Walen haben, sollten wir aufhören, wie verschreckte Kinder zu reagieren. Ich will, dass wir die volle Beweglichkeit unserer Schiffe zurückerlangen. Aller Schiffe. Wollen doch mal sehen, was ein bisschen psychologische Kriegsführung ausrichtet.«

»Was haben Sie vor, Jude? Wollen Sie den Tieren gut zureden?«

»Nein.« Li lächelte dünn. »Ich will sie jagen, Jack. Ihnen eine Lektion erteilen oder demjenigen, der für ihr Verhalten verantwortlich ist. Schluss mit Naturschutz. Ab jetzt werden sie abgeschossen.«

»Sie wollen sich mit der IWC anlegen?«

»Nein. Wir beschießen sie mit Sonar. So lange, bis sie aufhören, uns anzugreifen.«


New York, USA

Direkt vor ihm brach ein Mann zusammen und starb.

Peak schwitzte unter seinem schweren Schutzanzug. Jeder Teil seines Körpers war damit bedeckt. Er atmete durch eine Sauerstoffmaske und sah durch Panzerglasaugen auf eine Stadt, die sich über Nacht in eine Hölle verwandelt hatte.

Langsam steuerte der Sergeant neben ihm den Jeep über die First Avenue. East Village wirkte streckenweise wie ausgestorben. Dann wieder begegneten sie Gruppen von Menschen, die vom Militär zusammengetrieben wurden. Das Hauptproblem war, dass sie niemanden rauslassen konnten, solange sie nicht definitiv wussten, ob die Seuche ansteckend war. Im Augenblick sah es nicht so aus. Eher bot sich das Bild eines groß angelegten Giftgasangriffs. Aber Peak war skeptisch. Ihm fiel auf, dass viele der Opfer münzgroße Fleischwunden aufwiesen. Wenn es Killeralgen waren, die New York heimsuchten, sonderten sie nicht nur Giftwolken ab, sondern hefteten sich zudem an die Körper der Betroffenen. Theoretisch waren sie damit in allen Körperflüssigkeiten anzutreffen. Peak war kein Biologe, aber er fragte sich, was passierte, wenn ein Erkrankter einen Gesunden küsste und seinen Speichel weitergab. Die Algen konnten in Wasser überleben, tolerierten ein breites Temperaturspektrum und vermehrten sich, nach allem, was er wusste, mit rasender Geschwindigkeit.

Fieberhaft arbeiteten sie daran, für die Stadt und Long Island Quarantänebedingungen zu schaffen, die Kranken wie Gesunden gleichermaßen gerecht wurden. Anfangs waren sie optimistisch gewesen. New York schien vorbereitet. Nach dem ersten Anschlag auf das World Trade Center 1993 hatte der damalige Bürgermeister eine Sonderbehörde für alle Arten von Notfällen ins Leben gerufen, das Office of Emergency Management, kurz OEM. Ende der Neunziger hatte es die größte Katastrophenübung in der Geschichte der Stadt abgehalten und einen imaginären Angriff mit chemischen Waffen simuliert, in dessen Folge über 600 Polizisten, Feuerwehrleute und FBI-Agenten in Schutzanzügen die New Yorker »gerettet« hatten. Die Übung war reibungslos verlaufen, und der Senat hatte großzügig neue Mittel bewilligt. Plötzlich sah sich das OEM in der Lage, 15 Millionen für ein kugel— und bombensicheres Bunkerbüro mit eigenem Luftzirkulationssystem ausgeben zu können, in dem über vierzig hoch qualifizierte Mitarbeiter auf den echten Doomsday warteten — und sie bauten es im 23. Stockwerk des World Trade Center, nicht lange vor dem 11. September 2001. Danach hatte die OEM vollkommen neu strukturiert werden müssen. Immer noch befand sie sich im Aufbau, kaum fähig, der Probleme Herr zu werden. Die Menschen erkrankten und starben schneller, als überhaupt jemand helfen konnte.

Der Jeep kurvte um den Toten herum und näherte sich der Kreuzung 14. Straße. Mehrere Autos rasten wild hupend darüber hinweg. Die Leute versuchten, aus der Stadt zu gelangen. Weit würden sie nicht kommen. Alles war abgesperrt. Bis jetzt hatte die Armee nur Brooklyn und wenige Viertel Manhattans halbwegs unter Kontrolle gebracht, aber wenigstens verließ niemand mehr den Großraum New York ohne besondere Genehmigung.

Weiter fuhren sie entlang militärischer Absperrungen. Hunderte Soldaten bewegten sich wie außerirdische Invasoren durch die Stadt, gesichtslos hinter ihren Atemmasken, tapsig und unförmig in ihren knallgelben ABC-Anzügen. Leute der Sonderbehörde waren zu sehen. Überall wurden Körper auf Bahren und in Militärfahrzeuge und Krankenwagen verladen. Andere lagen einfach auf den Straßen herum. In der Innenstadt war größtenteils kein Durchkommen mehr, weil ineinander gefahrene und verlassene Autos die Fahrbahnen blockierten. Das beständige Dröhnen der Helikopter hallte in den Straßenschluchten wider.

Peaks Fahrer rumpelte ein Stück über den Bürgersteig und hielt nach wenigen hundert Metern vor dem Bellevue Hospital Center am Ufer des East River, wo eine der provisorischen Einsatzzentralen untergebracht war. Peak eilte ins Innere. Das Foyer war voller Menschen. Er fing angstvolle Blicke auf und ging schneller. Manche der Leute hielten ihm Fotos ihrer Angehörigen entgegen. Rufe drangen auf ihn ein. Er passierte, flankiert von zwei Soldaten, die innere Sperre und marschierte weiter zum Rechenzentrum des Hospitals. Dort stellte man ihm eine abhörsichere Satellitenverbindung zum Chateau Whistler her. Nach einigen Minuten des Wartens hatte er Li in der Leitung. Er ließ sie nicht lange zu Wort kommen.

»Wir brauchen ein Gegengift. Und zwar schleunigst.«

»Nanaimo arbeitet auf Hochtouren«, erwiderte Li.

»Das ist noch zu langsam. Wir können New York nicht halten. Ich habe mir die Pläne der Kanalisation angesehen. Vergessen Sie den Gedanken, das hier leer zu pumpen. Eher legen Sie den Potomac trocken.«

»Kommen Sie mit der medizinischen Versorgung nach?«

»Wie denn? Wir können niemanden medizinisch versorgen, wir wissen ja gar nicht, was helfen könnte. Man kann den Leuten allenfalls Mittel zur Stärkung des Immunsystems verabreichen und hoffen, dass der Erreger abstirbt.«

»Hören Sie, Sal«, sagte Li. »Das bekommen wir in den Griff. Wir können mit beinahe hundertprozentiger Gewissheit sagen, dass die Toxide nicht übertragen werden. Ansteckungsgefahr geht so gut wie gar nicht von den Betroffenen aus. Wir müssen diese Viecher aus der Kanalisation ätzen, brennen, herausbeten, was auch immer.«

»Dann fangen Sie mal an«, sagte Peak. »Es wird nichts nützen. Die Giftwolke über der Stadt ist das geringste Problem. Im Freien verteilt der Wind die Toxide und dünnt sie aus. Aber inzwischen ist in jeder Wohnung Wasser geflossen, es wurde geduscht, abgewaschen, getrunken, der Goldfisch versorgt, was weiß ich. Autos wurden gewaschen, die Feuerwehr ist zum Löschen rausgefahren. Diese Algen haben sich in der ganzen Stadt verteilt, sie verpesten die Luft in den Häusern und verteilen sich über die Klimaanlagen und Entlüftungsschächte. Selbst wenn nie wieder ein Krebs an Land geht, weiß ich nicht, wie wir die Vermehrung der Algen stoppen sollen.« Er rang nach Luft. »Mein Gott, Jude, es gibt 6000 Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten, und weniger als ein Viertel davon ist auf einen solchen Ernstfall vorbereitet! Kaum eine Klinik sieht sich in der Lage, dermaßen viele Patienten zu isolieren und schnell genug von geeigneten Ärzten behandeln zu lassen. Das Bellevue ist hoffnungslos überlastet, und es ist ein verdammt großes Krankenhaus.«

Li schwieg eine Sekunde.

»Gut. Sie wissen, was zu tun ist. Verwandeln Sie Greater New York in einen Superknast. Nichts und niemand kommt raus.«

»Hier können wir aber nichts für die Leute tun. Sie werden alle sterben.«

»Ja, das ist schrecklich. Tun Sie was für die Leute anderswo und sorgen Sie dafür, dass New York zu einer Insel wird.«

»Was soll ich denn machen?«, rief Peak verzweifelt. »Der East River fließt landeinwärts.«

»Für den East River lassen wir uns was einfallen. Einstweilen …«

Etwas passierte.

Peak spürte die Explosion mehr, als dass er sie hörte. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Ein dumpfes Grollen breitete sich aus. Es war, als durchliefen die Schallwellen ganz Manhattan wie ein Erdbeben.

»Irgendwas ist explodiert«, sagte Peak.

»Schauen Sie, was es ist. In zehn Minuten habe ich Ihren Bericht.«

Peak fluchte und lief zum Fenster, aber es war nichts zu sehen. Er gab seinen Männern ein Zeichen und rannte aus dem Rechenzentrum zurück in den Gang und zur hinteren Seite des Hospitals. Von hier blickte man über den Franklin Drive auf den East River, auf Brooklyn und Queens.

Er schaute nach links den Fluss hinauf.

Menschen liefen auf das Hospital zu. In etwa einem Kilometer Entfernung sah er einen riesigen Rauchpilz in den Himmel steigen. Ungefähr dort lag das Hauptquartier der Vereinten Nationen. Im ersten Moment fürchtete Peak, es sei in die Luft geflogen. Dann wurde ihm bewusst, dass die Wolke weiter stadteinwärts entsprang.

Sie erhob sich aus der Zufahrt zum Queens Midtown Tunnel, der den East River unterquerte und Manhattan mit der anderen Seite verband.

Der Tunnel brannte!

Peak dachte an die demolierten Autos, die überall herumstanden, ineinander verkeilt, in Schaufenster gerast oder vor Laternen gesetzt. Autos, in denen infizierte Menschen das Bewusstsein verloren hatten. Er ahnte, was in dem Tunnel geschehen war. Es war das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnten.

Sie rannten zurück ins Gebäude, durch das Foyer und zu ihrem Jeep auf der First Avenue. Es war mühsam, in der Schutzkleidung zu laufen, weil man ständig aufpassen musste, nirgendwo hängen zu bleiben und sich nichts aufzureißen. Peak schaffte es trotzdem, sich in den offenen Jeep zu schwingen, und sie rasten los.

Drei Stockwerke über ihm starb im selben Moment Bo Henson, der Fahrer des Kurierdienstes, der sich angeschickt hatte, FedEx Konkurrenz zu machen.

Das Ehepaar Hooper war zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Stunden tot.


Vancouver Island, Kanada

»Was zum Teufel tut ihr da oben auf dem Whistler?«

Es sollte ein Ausflug in die Normalität werden, aber natürlich wurde es alles andere. Nach Tagen der Abwesenheit saß Anawak in Davies Whaling Station und sah zu, wie Shoemaker und Delaware aus Anlass seines Besuchs zwei Dosen Heineken leerten. Davie hatte die Station vorübergehend geschlossen. Seine Landexpeditionen waren nicht gefragt. Kaum jemand verspürte noch Lust, überhaupt Tiere zu beobachten. Wenn schon die Wale durchdrehten, was mochte dann den Schwarzbären einfallen? Wenn Europa von Tsunamis überrollt wurde, was drohte der Pazifikküste? Die meisten Touristen hatten Vancouver Island verlassen. Shoemaker verrichtete einsam seinen Dienst als Geschäftsführer und trieb Außenstände ein, um die Station über Wasser zu halten, solange es irgendwie ging.

»Ich wüsste wirklich gerne, was ihr da macht«, bohrte er nach.

Anawak schüttelte den Kopf. »Hör auf zu fragen, Tom. Ich hab versprochen, den Mund zu halten, also reden wir bitte von was anderem.«

»Wozu das Theater? Warum kannst du nicht sagen, woran ihr arbeitet?«

»Tom …«

»Ich wüsste nämlich gerne, wann ich meinen Arsch von hier entfernen soll«, fuhr Shoemaker fort. »Von wegen Tsunami und so.«

»Kein Mensch redet von Tsunamis.«

»Nicht? Bullshit! Es hat sich auch ohne euch herumgesprochen, dass da Zusammenhänge bestehen. Die Leute sind ja nicht bescheuert, Leon. Aus New York hört man dubiose Horrorgeschichten von Massenerkrankungen, in Europa sterben die Leute, und Schiffe gehen reihenweise hops, das bleibt doch alles nicht verborgen.« Er beugte sich vor und zwinkerte Anawak zu. »Ich meine, wir haben zusammen die Leute von der Lady Wexham geholt, Baby. Ich bin doch mit im Boot. Eingeweiht, verstehst du? Innerer Kreis.«

Delaware nahm einen kräftigen Schluck aus der Dose und wischte sich den Mund. »Geh Leon nicht auf die Nerven. Wenn sie ihn vergattert haben, haben sie ihn vergattert.«

Sie trug eine neue Brille mit runden, orangefarbenen Gläsern. Irgendetwas, stellte Anawak fest, hatte sie mit ihren Haaren gemacht. Sie waren weniger kraus und fielen ihr stattdessen in seidigen Wellen über die Schultern. Eigentlich, selbst mit den übergroßen Zähnen, sah sie hübsch aus. Ziemlich hübsch sogar.

Shoemaker hob die Hände und ließ sie in einer hilflosen Geste in den Schoß sinken. »Ihr solltet mich mitnehmen. Wirklich, Leon. Ich könnte hilfreich sein. Hier sitze ich bloß rum und blase den Staub von den Reiseführern.«

Anawak nickte. Er fühlte sich unwohl, weil er den Geheimniskrämer abgeben musste. Die Rolle lag ihm nicht. Er hatte sie jahrelang in eigener Sache gespielt, und allmählich begann ihm jede Form von Geheimnistuerei auf die Nerven zu gehen. Einen Moment lang fragte er sich, ob er nicht einfach von der Arbeit im Chateau berichten sollte. Aber er hatte Lis Blick nicht vergessen. Sie gab sich verständnisvoll und freundlich, doch er war sicher, dass es einen Höllenärger geben würde, falls die Sache rauskam.

Wahrscheinlich hatte sie sogar Recht.

Er ließ den Blick durch den Verkaufsraum wandern. Plötzlich spürte er, wie fremd ihm die Station binnen weniger Tage geworden war. Das hier war nicht sein Leben. Vieles hatte sich verändert seit seiner Aussöhnung mit Greywolf. Anawak ahnte, dass etwas Einschneidendes bevorstand, etwas, das sein Leben komplett umkrempeln würde. Er fühlte sich dabei wie ein Kind in einer Achterbahn, nachdem es festgestellt hat, dass die Waggons fahren und es nicht mehr aussteigen kann. Furcht, bisweilen Entsetzen, mischte sich mit einem kaum zu beschreibenden Hochgefühl und neugieriger Erwartung. Früher hatte die Station einen Wall um ihn geschlossen. Jetzt war ihm, als säße er im Freien, nackt und ungeschützt. Ein Raum schien zu fehlen in seinem Leben, eine Tür, durch die man in ein angrenzendes Zimmer gehen konnte, um sich von der Welt auszusperren. Alles drang mit ungewohnter Intensität auf ihn ein, erschien eine Spur zu laut und zu grell.

»Du wirst weiterhin den Staub von deinen Führern blasen müssen«, sagte er. »Du weißt genau, dass dein Platz hier ist und nicht in einem Expertenrat, wo man dich platt redet, wenn du was sagen willst. Ohne dich ist Davie aufgeschmissen.«

Shoemaker sah ihn an.

»Kleine Motivationsveranstaltung?«, fragte er.

»Nein. Wozu? Warum sollte ich dich motivieren? Ich bin derjenige, der die Schnauze halten muss und seinen Freunden nichts erzählen darf. Warum versuchst du nicht, mich zu motivieren?«

Shoemaker drehte die Bierdose in seiner Hand. Dann grinste er. »Wie lange bleibst du?«

»Kann ich mir aussuchen«, sagte Anawak. »Sie behandeln uns wie die Könige, wir haben rund um die Uhr Zugriff auf den Helikoptershuttle. Ich muss nur anrufen.«

»Sie tragen dir wirklich den Arsch hinterher, was?«

»Ja, tun sie. Dafür erwarten sie, dass ich es wert bin. Wahrscheinlich sollte ich in Nanaimo sein oder im Aquarium oder sonst wo und arbeiten, aber ich wollte euch sehen.«

»Arbeiten kannst du auch hier. Okay, ich motiviere dich. Komm heute Abend zum Essen. Du bekommst ein Riesensteak. Ich werde es selber für dich wenden, bis es aussieht und schmeckt wie die Sünde selber.«

»Klingt gut«, sagte Delaware. »Um wie viel Uhr?«

Shoemaker warf ihr einen undefinierbaren Blick zu.

»Du kannst auch gerne kommen«, sagte er.

Delaware kniff die Augen zusammen und erwiderte nichts. Anawak fragte sich, was da los war, aber er hielt sich fürs Erste raus und versprach Shoemaker, um sieben da zu sein. Wenig später lösten sie die Runde auf. Shoemaker machte sich auf den Weg nach Ucluelet, um Davie zu treffen. Anawak ging die Hauptstraße entlang zu seinem Boot und freute sich über Delawares Begleitung.

Irgendwie hatte er die Nervensäge tatsächlich vermisst.

»Was hat Tom eigentlich vorhin gemeint«, fragte er.

Sie stellte sich ahnungslos. »Wovon redest du?«

»Die Einladung zum Steak. So wie er es sagte, klang es, als ob er dich nicht gerne in Begleitung sieht.«

Delaware wirkte verlegen. Sie nestelte an einer Strähne ihres Haars und krauste die Nase.

»Na ja. Es ist was passiert in den Tagen, in denen du weg warst. Ich meine, das Leben steckt voller Überraschungen, nicht wahr? Manchmal ist man selber total platt.«

Anawak blieb stehen und sah sie an. »Ja, und?«

»Also, der Tag, an dem du rüber bist nach Vancouver und erst mal nicht mehr auftauchtest — ich meine, du warst über Nacht verschwunden! Keiner wusste was über deinen Verbleib, und ein paar Leute haben sich Sorgen gemacht. Unter anderem auch, ähm … Jack. Also, Jack rief mich an, will sagen, er wollte eigentlich dich anrufen, aber du warst nicht da, und …«

»Jack?«, fragte Anawak.

»Ja.«

»Greywolf? Jack O’Bannon?«

»Er sagte, ihr hättet euch unterhalten«, fuhr Delaware hastig fort, bevor er weitersprechen konnte. »Und es muss wohl ein ziemlich gutes Gespräch gewesen sein. Jedenfalls, er freute sich und wollte, glaube ich, einfach mit dir quatschen, und …« Sie sah Anawak in die Augen. »Es war doch ein gutes Gespräch, oder?«

»Und was, wenn nicht?«

»Das wäre ziemlich blöde, weil …«

»Schon okay. Es war ein gutes Gespräch. Könntest du jetzt bitte aufhören, tausend Pirouetten zu drehen, und zur Sache kommen?« »Wir sind zusammen«, platzte sie heraus. Anawak öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

»Ich sagte ja, manchmal ist man vollkommen platt! Er kam rüber nach Tofino — ich hatte ihm nämlich meine Nummer gegeben, du weißt ja, dass ich ihn irgendwie Masse … also, dass ich ein gewisses Verständnis für seinen Standpunkt aufbrachte, und …«

Anawak spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. Er versuchte ernst zu bleiben. »Ein gewisses Verständnis. Natürlich.«

»Er kam also. Wir tranken was bei Schooners, und hinterher gingen wir runter an den Steg. Er hat mir alles Mögliche von sich erzählt, und ich hab ihm was von mir erzählt, wie das eben so geht, du quatschst und quatschst, und plötzlich … rumms … Du weißt schon.«

Anawak begann zu grinsen.

»Und Shoemaker passt das gar nicht.«

»Er hasst Jack!«

»Ich weiß. Das kannst du ihm nicht verdenken. Nur weil wir Greywolf plötzlich alle wieder lieb haben — du insbesondere —, ändert das nichts daran, dass er sich wie ein Arschloch aufgeführt hat. Jahrelang, wenn du’s genau wissen willst. Er ist ein Arschloch.«

»Nicht mehr als du auch«, entfuhr es ihr.

Anawak nickte.

Dann lachte er. Bei allem Elend, das über die Welt gekommen war, lachte er über Delawares verzwickte Geschichte, er lachte über sich selbst und seinen Groll auf Greywolf, der eigentlich nur aus Wut über eine verlorene Freundschaft bestanden hatte, er lachte über sein Leben in den letzten Jahren, über sein dumpfes, brütendes Dasein, er lachte sich selber aus, dass es fast schmerzte, und genoss es.

Er lachte immer lauter.

Delaware legte den Kopf schief und sah ihn verständnislos an.

»Was gibt’s denn da so blöde zu gackern?«

»Du hast Recht«, kicherte Anawak.

»Was heißt, du hast Recht? Bist du übergeschnappt?«

Er spürte, dass sein Heiterkeitsausbruch drohte, ins Hysterische abzugleiten, aber er konnte nichts dagegen tun. Es schüttelte ihn vor Gelächter. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gelacht hatte. Ob er überhaupt je so gelacht hatte.

»Licia, du bist unbezahlbar«, japste er. »Du hast so verdammt Recht. Arschlöcher. Genau! Wir alle. Und du bist mit Greywolf zusammen. Ich pack’s nicht. Oh Mann!«

Ihre Augen verengten sich. »Du machst dich über mich lustig.«

»Nein, überhaupt nicht«, keuchte er.

»Doch.«

»Ich schwör’s dir, es ist nur …« Plötzlich fiel ihm etwas ein. Etwas, von dem er sich fragte, warum er nicht schon viel früher darauf gekommen war. Sein Gelächter erstarb. »Wo ist Jack eigentlich gerade?«

»Ich weiß nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht zu Hause?«

»Jack ist nie zu Hause. Ich denke, ihr seid zusammen?«

»Mein Gott, Leon! Wir haben nicht geheiratet, wenn du das meinst. Wir haben Spaß und sind verknallt, aber ich überwache doch nicht jeden seiner Schritte.«

»Nein«, murmelte Anawak. »Das wäre auch nichts für ihn.«

»Wieso fragst du? Willst du ihn sprechen?«

»Ja.« Er fasste sie bei den Schultern. »Licia, pass auf. Ich muss ein bisschen privaten Kram erledigen. Versuch ihn aufzustöbern. Vor heute Abend, wenn’s geht, damit wir Shoemaker nicht das Essen verderben. Sag ihm, ich … ich würde mich freuen, ihn zu sehen. Ja, ganz ehrlich! Ich würde mich freuen. Ich hätte regelrecht Sehnsucht nach ihm.«

Delaware lächelte unsicher.

»Gut. Ich werd’s ihm sagen.«

»Fein.«

»Ihr Männer seid komisch. Echt. Du meine Güte. Ihr seid wirklich ein paar komische Affen.«

Anawak ging aufs Schiff, sah die Post durch und schaute auf einen Sprung bei Schooners vorbei, wo er einen Kaffee trank und mit Fischern plauderte. Während seiner Abwesenheit waren zwei Männer in einem Kanu verunglückt und gestorben. Sie hatten sich trotz des strikten Verbots hinausgewagt. Keine zehn Minuten hatte es gedauert, bis sie von Orcas gerammt worden waren. Die Überreste des einen Mannes waren später angespült worden, von dem anderen fehlte jede Spur. Niemand verspürte Lust, ihn zu suchen.

»Ist ja nicht deren Problem«, sagte einer der Fischer, womit er die Betreiber der großen Fähren, Frachter und Fabriktrawler und die Kriegsmarine meinte. Er trank sein Bier mit der Verbissenheit desjenigen, der den Schuldigen ausgemacht zu haben glaubt und sich durch nichts und niemanden davon abbringen lässt, ihm die Verantwortung für seine Misere anzulasten. Dann sah er Anawak an, als erwarte er von ihm eine Bestätigung.

Es ist sehr wohl deren Problem, war Anawak versucht zu sagen, ihren Schiffen geht es keinen Deut besser. Er schwieg. Was sollte er antworten? Er durfte über die großen Zusammenhänge nicht sprechen, und die Leute in Tofino sahen nur ihren Ausschnitt der Welt. Sie kannten die Statistik über die Zunahme schwerer Unglücke nicht, mit denen Peak den Stab konfrontiert hatte.

»Nee, Junge, denen kommt das doch gelegen!«, knurrte der Mann. »Die großen Fangflotten dehnen ihr Monopol immer weiter aus, und jetzt so was. Sie haben uns die Bestände weggefischt, und jetzt räumen sie den Rest auch noch ab, nachdem wir Kleinen nicht mal mehr rausfahren können.« Und dann, nach einem weiteren Zug aus seinem Glas, sagte er: »Wir sollten diese verdammten Wale abschießen. Wir sollten ihnen zeigen, wo der Hammer hängt.«

Es war überall dasselbe. Wo immer Anawak hinhörte in den Stunden, seit er in Tofino war, klang die gleiche Forderung durch.

Töten wir die Wale.

War alles umsonst gewesen? Die Jahre der Mühsal, um ein paar lumpige, löchrige Schutzverordnungen zu erzwingen? Auf seine Weise hatte der frustrierte Fischer am Tresen von Schooners den Nagel auf den Kopf getroffen. Aus Sicht der kleinen Fischer brachte die Situation den Großen nur Vorteile ein, weil große Fabrikschiffe die Fanggründe als Einzige noch befahren konnten und jene, denen die Erlasse der Internationalen Walfangkommission, eingeschränkte Fangquoten und Jagdverbote immer schon ein Dorn im Auge gewesen waren, endlich eine Legitimation vorweisen konnten, wieder Wale zu jagen.

Anawak bezahlte seinen Kaffee und ging zurück zur Station. Der Verkaufsraum war leer. Er machte es sich hinter der Theke bequem, schaltete den Computer ein und begann, das World Wide Web zu durchforsten auf der Suche nach militärischen Dressurprogrammen. Es war mühsam. Diverse Seiten ließen sich nicht aufrufen. Während sie im Chateau Zugriff auf jede gewünschte Information hatten, krankte das öffentliche Netz zunehmend unter dem Ausfall der Tiefseekabel.

Anawak ließ sich nicht entmutigen. Die offizielle Homepage des US Navy’s Marine Mammal Program zur militärischen Arbeit mit Meeressäugern fand er schnell. Was dort zu lesen war, kannte er bereits aus dem Whistler Circuit. Jeder bessere investigative Journalist hatte dutzendfach darüber berichtet. Er schloss die Seite und suchte weiter. Nach kurzer Zeit stieß er auf Meldungen über ein militärisches Programm in der ehemaligen Sowjetunion, die viel versprechend klangen. Eine größere Anzahl Delphine, Seelöwen und Belugas waren demnach während des Kalten Krieges mit dem Auffinden von Minen und verloren gegangenen Torpedos betraut und zum Schutz der Schwarzmeerflotte eingesetzt worden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die Tiere in ein Ozeanarium in Sevastopol auf der Krimhalbinsel überführt worden und hatten dort Zirkuskunststücke vorgeführt, bis den Betreibern das Geld für Lebensmittel und Medikamente ausgegangen war und sie vor der Alternative standen, ihre Schützlinge entweder zu töten oder zu verkaufen. Einige Tiere gelangten auf diese Weise in ein Therapieprogramm für autistische Kinder. Die anderen wurden in den Iran verkauft. Dort verlor sich ihre Spur, was vermuten ließ, dass sie Gegenstand neuerlicher militärischer Experimente geworden waren.

Offenbar erlebten Meeressäuger eine Renaissance in der strategischen Kriegsführung. Während des Kalten Krieges hatte ein regelrechtes Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion stattgefunden, wer die effizienteste Meeressäugerstaffel aufbaute. Mit dem Ende der Blockstaaten schien sich Delphinspionage erledigt zu haben, doch dem Gerangel der Supermächte war keine bessere Weltordnung gefolgt. Der israelisch-palästinensische Konflikt geriet aus dem Ruder und begann die Region zu destabilisieren. Im Verborgenen wuchs eine neue, megapotente Generation von Terroristen heran, die in der Lage waren, amerikanische Kriegsschiffe zu sabotieren. Zahllose internationale Konflikte gipfelten in verminten Gewässern, verloren gegangenen Projektilen und wertvoller Ausrüstung, die auf den Meeresgrund sank und wieder hochgeholt werden musste. Es zeigte sich, dass Delphine, Seelöwen und Belugas jedem Taucher oder Roboter darin weit überlegen waren. Beim Aufspüren von Minen arbeiteten Delphine nachweislich 12-mal effizienter als Menschen. Die US-Seelöwen in den Militärbasen von Charleston und San Diego verbuchten im Aufspüren von Torpedos eine Erfolgsquote von 95 Prozent. Während Menschen unter Wasser nur eingeschränkt arbeiten konnten, unter schlechter Orientierung litten und Stunden in Dekompressionskammern verbringen mussten, operierten die Säuger in ihrem natürlichen Lebensraum. Seelöwen sahen noch bei extrem schlechten Lichtverhältnissen. Delphine orientierten sich selbst in lichtloser Schwärze, indem sie Sonar einsetzten, ein Trommelfeuer von Klicklauten, aus deren Echos sie mit unglaublicher Präzision auf Standort und Form von Gegenständen schließen konnten. Meeressäuger tauchten mühelos Dutzende von Malen am Tag in Tiefen von mehreren hundert Metern. Ein kleines Team von Delphinen ersetzte Millionen teure Schiffe, Taucher, Besatzungen und Equipment. Und immer, fast immer, kamen die Tiere zurück. In 30 Jahren hatte die US-Navy gerade mal sieben Delphine verloren.

Also wurden die amerikanischen Dressurprogramme mit neuen Mitteln fortgesetzt. Aus Russland hörte man von ersten Anstrengungen, die Arbeit mit den Säugern wieder aufzunehmen. Auch die indische Armee begann mit eigenen Zucht— und Dressurprogrammen. Aktuell war selbst der Nahe Osten in die Forschung eingestiegen.

Hatte Vanderbilt am Ende Recht?

Anawak war überzeugt, dass in den Tiefen des Web Informationen zu finden waren, die man auf der Homepage der US-Navy vergebens suchte. Er hörte nicht zum ersten Mal von Militärversuchen, um Wale und Delphine vollständiger Kontrolle zu unterwerfen. Dabei ging es weniger um klassische Dressur als um neuronale Forschung, wie sie John Lilly einst begonnen hatte. Weltweit hegte das Militär ein ausgeprägtes Interesse am Sonar der Delphine, das jedem menschlichen System überlegen war und dessen Funktionsweise man immer noch nicht verstand. Vieles deutete darauf hin, dass in jüngster Vergangenheit Experimente stattgefunden hatten, die weit über alles hinausgingen, was man offiziell bereit war einzugestehen.

Dort würden die Antworten zu finden sein auf die Frage, was mit den Walen geschehen war.

Aber das World Wide Web schwieg sich aus.

Es schwieg beharrlich, durchbrochen von Abstürzen und Zugriffsfehlern. Es schwieg drei Stunden lang, bis Anawak schließlich kurz davor stand aufzugeben. Seine Augen brannten. Er hatte keine Lust und keine Konzentration mehr, und so entging ihm beinahe die kurze Meldung des Earth Island Journal, die über den Bildschirm flackerte.

US-Navy verantwortlich für tote Delphine?

Das Journal wurde herausgegeben vom Earth Island Institute, einer Umweltschutzgruppe, die sich um neuartige Methoden zum Erhalt der Natur bemühte und diverse Projekte betrieb. Die Earth-Island- Leute waren in der Klimadiskussion vertreten und enthüllten Umweltskandale. Ein großer Teil ihrer Arbeit galt dem Leben in den Ozeanen und speziell dem Schutz der Wale.

Der kurze Artikel ging zurück auf ein Ereignis zu Beginn der neunziger Jahre, als an der französischen Mittelmeerküste 16 tote Delphine angeschwemmt worden waren. Alle Kadaver wiesen rätselhafte, identische Wunden auf. Ein sauber ausgestanztes, faustgroßes Loch an der hinteren Nackenseite, unter dem der nackte Schädelknochen zu sehen war. Niemand hatte sich damals erklären können, was es mit den mysteriösen Verletzungen auf sich hatte, aber ohne Zweifel waren sie verantwortlich für den Tod der Tiere. Der Vorfall hatte sich während der ersten Golfkrise ereignet, als große Flottenverbände der Amerikaner das Mittelmeer durchkreuzt hatten, und Earth Island stellte einen Zusammenhang mit Geheimexperimenten der US-Navy her, von denen man annahm, dass sie zu dieser Zeit stattgefunden haben mussten.

Offenbar hatten sie nicht den gewünschten Erfolg gehabt, sodass man sich schließlich gezwungen sah, sie zu vertuschen.

Irgendetwas muss damals fürchterlich schief gelaufen sein, schrieb das Journal.

Anawak druckte den Text aus und versuchte, im Archiv weitere Artikel zu finden, die den Vorfall aufgriffen. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er kaum hörte, wie die Tür der Station geöffnet wurde. Erst als sich sein Blickfeld verdunkelte, schaute er auf und sah einen muskulösen Bauch und eine nackte, behaarte Brust, die sich unter einer offen stehenden Lederjacke hervorwölbte.

Er legte den Kopf in den Nacken. Bei der Größe seines Gegenübers war das unvermeidbar.

»Du wolltest mich sprechen«, sagte Greywolf.

Das Lederzeug an seinem gewaltigen Körper war speckig und abgetragen wie immer. Die langen Haare hatte er zu einem schimmernden Zopf gebunden. Augen und Zähne blitzten. Anawak hatte den Halbindianer einige Tage nicht gesehen, und wie alles um sich herum nahm er auch ihn plötzlich mit anderen Augen wahr. Er spürte die Kraft des Hünen, seine Ausstrahlung, seinen natürlichen Charme. Es war kein Wunder, dass Delaware so viel geballter Männlichkeit verfallen war. Wahrscheinlich hatte es Greywolf nicht mal darauf angelegt.

»Ich dachte, du bist irgendwo in Ucluelet«, sagte er.

»War ich auch.« Greywolf zog einen Stuhl heran und setzte sich, dass es knarrte. »Licia meinte, du brauchst mich.«

»Brauchen?« Anawak lächelte. »Ich hatte ihr gesagt, dass ich mich freuen würde, dich zu sehen.«

»Was im Klartext heißt, du brauchst mich. Also bin ich hier.«

»Und wie geht’s dir?«

»Es ginge mir besser, wenn du was zu trinken hättest.«

Anawak ging zum Kühlschrank, förderte Bier und Cola zutage und stellte beides auf die Theke. Greywolf trank eine halbe Dose Heineken in einem Zug und wischte sich den Mund.

»Hab ich dich bei irgendwas gestört?«, fragte Anawak.

»Zerbrich dir nicht den Kopf. Ich war fischen mit ein paar reichen Säcken aus Beverly Hills. Was euch Whale Watcher betrifft, so schwappt euer idiotisches Geschäft gerade zu mir rüber. Keiner geht davon aus, dass sein Boot von einer Forelle attackiert wird, also bin ich umgestiegen und biete Angeltouren auf den Seen und Flüssen unserer geliebten Insel an.«

»Ich sehe, deine Einstellung zum Whale Watching hat sich nicht sonderlich geändert.«

»Nein, warum sollte sie? Aber ich lasse euch in Ruhe.«

»Oh, danke«, sagte Anawak sarkastisch. »Aber es trifft sich gut. Ich meine, dass du immer noch auf deinem Rachefeldzug für die gepeinigte Natur bist. Erzähl mir nochmal in kurzen Zügen, was du bei der Navy gemacht hast.«

Greywolf starrte ihn verblüfft an. »Das weißt du doch.«

»Erzähl’s mir nochmal.«

»Ich war Trainer. Wir haben Delphine für taktische Einsätze trainiert.«

»Wo? In San Diego?«

»Ja, auch da.«

»Und du bist wegen Herzmuskelschwäche oder so was Ähnlichem entlassen worden. In allen Ehren.«

»Genau«, sagte Greywolf zwischen zwei Schlucken.

»Das stimmt nicht, Jack. Du bist nicht entlassen worden. Du bist von selber gegangen.«

Greywolf nahm die Dose vom Mund und setzte sie beinahe vorsichtig auf dem Tresen ab.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Weil es in den Akten des Space and Naval Warfare System Center San Diego so vermerkt ist«, sagte Anawak. Er begann, langsam im Raum auf und ab zu gehen. »Nur damit du siehst, dass ich im Bilde bin: Das SSC San Diego ist die Nachfolgeorganisation einer Behörde, die sich Navy Command, Control and Ocean Systems Center nannte, ebenfalls beheimatet in San Diego, Point Loma. Die Finanzierung erfolgte durch eine Organisation, aus der das US Navy’s Marine Mammal System von heute hervorgegangen ist. Jede dieser Institutionen taucht in irgendeiner Weise auf, wenn man die Geschichte der Meeressäugerprogramme nachliest, und jede wird unter der Hand in Verbindung gebracht mit einer Reihe dubioser Experimente, die angeblich niemals stattgefunden haben.« Anawak hielt einen Moment inne. Dann entschloss er sich zu einem Bluff. »Experimente, die durchgeführt wurden in Point Loma, wo du stationiert warst.«

Greywolf verfolgte Anawaks Wanderung durch den Verkaufsraum mit lauernden Blicken. »Wozu erzählst du mir den ganzen Quatsch?«

»Aktuell werden in San Diego Ernährungsgewohnheiten erforscht, Jagd— und Kommunikationsverhalten, Dressurfähigkeit, Möglichkeiten der Auswilderung und so weiter. Was das Militär allerdings noch mehr interessiert, ist das Gehirn der Säuger. Dieses Interesse geht zurück auf die Sechziger. Zur Zeit des ersten Golfkriegs scheint es neu aufgeflammt zu sein. Du warst damals schon einige Jahre dabei. Als du die Navy verlassen hast, bist du im Rang eines Lieutenant ausgeschieden, zuletzt verantwortlich für die beiden Delphinstaffeln MK6 und MK7, zwei von insgesamt vier.«

Greywolfs Brauen zogen sich zusammen.

»Na und? Habt ihr keine anderen Sorgen in eurem Ausschuss? Die Situation in Europa beispielsweise?«

»Der nächste Schritt in deiner Karriere hätte dir die Gesamtverantwortung über das komplette Programm eingetragen«, fuhr Anawak fort. »Stattdessen hast du alles hingeschmissen.«

»Ich habe überhaupt nichts hingeschmissen. Sie haben mich ausgemustert.«

Anawak schüttelte den Kopf. »Jack, ich genieße ein paar bemerkenswerte Privilegien. Ich verdanke ihnen Zugriff auf eine Reihe von Daten, an deren Verlässlichkeit es nichts zu rütteln gibt. Du bist freiwillig gegangen, und ich würde gerne wissen, warum.«

Er nahm den Ausdruck des Earth-Island- Artikels vom Tresen und reichte ihn Greywolf, der einen kurzen Blick darauf warf und das Blatt weglegte.

Eine ganze Weile war es still.

»Jack«, sagte Anawak leise. »Du hattest Recht. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen, aber ich brauche deine Hilfe.«

Greywolf sah zu Boden und schwieg.

»Was hast du damals erlebt? Warum bist du gegangen?«

Der Halbindianer brütete weiter vor sich hin. Dann straffte er sich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Warum willst du das wissen?«

»Weil es uns helfen könnte zu verstehen, was mit unseren Walen geschehen ist.«

»Es sind nicht eure Wale. Es sind nicht eure Delphine. Nichts ist euer. Du willst wissen, was los ist? Sie schlagen zurück, Leon. Wir kriegen die längst fällige Quittung. Sie spielen nicht mehr mit. Wir haben sie als Eigentum betrachtet, ihnen Leid zugefügt, sie missbraucht, sie begafft. Sie haben einfach die Schnauze voll von uns.«

»Du glaubst tatsächlich, sie tun das alles aus freiem Willen?«

Greywolf setzte zum Sprechen an, dann schüttelte er den Kopf.

»Mich interessiert nicht mehr, warum sie irgendetwas tun. Wir haben uns schon viel zu sehr für sie interessiert. Ich will es nicht wissen, Leon, ich will einfach nur, dass man sie in Frieden lässt.«

»Jack«, sagte Anawak langsam. »Sie werden gezwungen.«

»Quatsch. Wer sollte …«

»Sie werden gezwungen! Wir haben den Beweis. Ich dürfte dir das gar nicht erzählen, aber ich brauche Informationen. Du willst ihnen Leid ersparen, dann tu es auch. Im Moment widerfährt ihnen größeres Leid, als du dir vorstellen kannst …«

»Als ich mir vorstellen kann?« Greywolf sprang auf. »Was weißt du denn? Du weißt gar nichts!«

»Dann klär mich auf.«

»Ich habe …« Der Riese schien mit sich zu ringen. Seine Kiefer mahlten. Er ballte die Fäuste. Dann ging eine Veränderung mit ihm vor. Sein Körper entspannte sich, erschlaffte geradezu.

»Komm mit«, sagte er. »Wir gehen spazieren.«

Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. Am Ortsrand wählte Greywolf einen Pfad, der unter Bäumen hindurch zum Wasser führte. Nach wenigen Schritten erreichten sie die Böschung. Ein kleiner, wackliger Steg führte hinaus und bot Ausblick auf die herbe Schönheit der Bucht. Greywolf schlenderte die windschiefen Planken entlang und ließ sich am Stegende nieder. Anawak folgte ihm. Von Tofino lugten hinter der Landzunge zur Rechten nur Davies Pier und einige Stelzenhäuser hervor. Sie saßen eine Weile dort und sahen auf die Berge, deren Farben im späten Nachmittagslicht kraftvoll leuchteten.

»Deine Daten sind nicht ganz vollständig«, sagte Greywolf schließlich. »Offiziell gibt es vier Gruppen, MK4 bis 7, aber es existiert eine fünfte Gruppe, Deckname MKO. Die Navy bevorzugt übrigens den Begriff System statt Gruppe. Jedem System fallen bestimmte Aufgaben zu. Es stimmt, San Diego hat die Leitung inne, aber die meiste Zeit verbrachte ich in Coronado, Kalifornien, wo viele der Tiere trainiert werden. Die Armee hält sie in ihrem natürlichen Lebensraum, in Buchten und Hafenanlagen. Es geht ihnen dort gut! Sie werden regelmäßig gefüttert und genießen ausgezeichnete medizinische Versorgung, das ist mehr, als die meisten Menschen für sich verbuchen können.«

»Und du warst für diese fünfte Gruppe … das fünfte System verantwortlich?«

»Du machst dir falsche Vorstellungen. MKO ist anders. Im Allgemeinen umfasst ein System vier bis acht Tiere mit fest definierten Aufträgen. MK4 hat zum Beispiel die Aufgabe, am Ozeanboden verankerte Minen aufzuspüren und zu markieren. Alles Delphine. Sie werden außerdem darauf trainiert, Sabotageversuche an Schiffen zu melden. MK5 ist eine Seelöwenstaffel, MK6 und MK7 suchen ebenfalls nach Minen, werden aber bevorzugt in der Abwehr feindlicher Taucher eingesetzt.«

»Sie greifen Taucher an?«

»Nein. Sie geben dem Eindringling einen Stups mit der Nase und befestigen dabei eine zusammengewickelte Schnur an seinem Anzug, deren Ende mit einem Schwimmer versehen ist. Der Schwimmer ist mit einem Stroboskoplicht gekoppelt, das uns die Position des Tauchers verrät. Alles andere erledigen dann wir. Ähnlich läuft das mit den Minen. Die Tiere melden den Fund. In manchen Fällen tauchen sie mit einem Magneten nach unten, platzieren ihn an der Mine, am Magnet hängt ein Seil, und das bringen sie zurück. Wenn die Mine nicht gerade fest verankert ist, müssen wir nur noch an der Strippe ziehen. Fertig. Schwertwale und Belugas holen dir Torpedos aus bis zu einem Kilometer Tiefe, es ist beeindruckend. — Du musst dir vorstellen, dass Minensuchen für Menschen ein tödliches Geschäft ist. Nicht mal so sehr, weil dir das Ding um die Ohren fliegen könnte, sondern weil du fast immer in Ufernähe danach suchen musst und hauptsächlich dort, wo es gerade kracht.

Du wirst vom Land her beschossen.«

»Und die Minen töten die Tiere nicht?«

»Offiziell ist kein einziges Tier auf diese Weise gestorben. Tatsächlich gibt es Ausnahmen, aber sie liegen im tolerierbaren Bereich. Jedenfalls, von MKO hatte ich anfangs nur gehört und es für ein Ammenmärchen gehalten. Es ist kein richtiges System, sondern der Deckname für eine ganze Reihe von Programmen und Experimenten, die an unterschiedlichen Orten und mit immer neuen Tieren durchgeführt werden. MKO-Tiere kommen auch nicht mit anderen Tieren in Kontakt, aber manchmal werden Tiere aus regulären Systemen für MKO rekrutiert und verschwinden dann für alle Zeiten.« Greywolf machte eine Pause. »Ich war ein guter Trainer. MK6 war mein erstes System. Wir nahmen an jedem größeren Manöver teil. 1990 übernahm ich MK7, und alle schlugen mir auf die Schulter. Sie lobten meine Arbeit über den grünen Klee, und schließlich kam einer auf den Gedanken, dass ich vielleicht ein bisschen mehr erfahren sollte.«

»Über MKO.«

»Ich wusste natürlich, dass Tümmler der Navy ihren ersten großen Erfolg Anfang der Siebziger in Vietnam verbucht hatten, wo sie Häfen in der Cam-Ranh-Bucht schützten und die Unterwassersabotage der Vietkong stoppten. — Das erzählen sie dir immer als Erstes beim MMS, und sie sind mächtig stolz darauf. Was sie dir nicht erzählen, sind die Umstände, unter denen das geschah. Sie verlieren auch kein Wort über das Swimmer Nullification Program. Das funktioniert nämlich ein bisschen anders. Die Tiere werden darauf dressiert, feindlichen Froschmännern Maske und Flossen herunterzureißen und die Luftschläuche rauszuziehen. Brutal genug, aber in Vietnam trugen sie an Schnauze und Flossen außerdem lange, stilettartige Messer, und einige führten auf dem Rücken Harpunen mit sich. Was dich da unter Wasser angriff, war kein Delphin oder Tümmler mehr, sondern eine Tötungsmaschine. — Und selbst das ist harmlos gegen den Trick, auf den die Navy dann verfiel, als sie den Tieren subkutane Spritzen auf die Schnauzen setzten, mit denen sie die Taucher rammen sollten, was sie auch fleißig taten. Das Problem für den betroffenen Taucher lag jedes Mal darin, dass die Spritze eine Ladung von 3000 psi Karbondioxid in seinen Körper jagte, also komprimierte Kohlensäure. Das Gas breitet sich binnen weniger Sekunden aus. Das Opfer explodiert. Es wird in Fetzen gerissen. — Über 40 Vietkong sind auf diese Weise von unseren Tieren getötet worden und aus Versehen auch zwei Amerikaner, aber ein bisschen Schwund ist überall.«

Anawak spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.

»Ähnliches geschah Ende der Achtziger in Bahrain«, fuhr Greywolf fort. »Da war ich erstmalig an der Front. Mein System verrichtete brav seine Arbeit, ich hatte keine Ahnung von MKO. Auch nicht, dass sie die Tiere über unzugänglichen Gebieten mit Fallschirmen abwarfen, zum Teil aus drei Kilometern Höhe, was nicht jedes überlebte. Andere warfen sie ohne Fallschirm aus Helikoptern, immer noch zwanzig Meter über dem Meer. Wieder andere schickten sie mit Minen los, um sie an Schiffsrümpfe und gegnerische U-Boote zu heften. Manchmal warteten sie, bis die Tiere nah genug dran waren, und zündeten die Minen per Fernsteuerung. Kamikaze-Unternehmen. Kurze Zeit später wusste ich darüber Bescheid.« Greywolf schwieg eine Weile. »Ich hätte damals schon aufhören sollen, Leon, aber die Navy war mein Zuhause. Ich war da glücklich. Kein Ahnung, ob du das verstehen kannst, aber so war es nun mal.«

Anawak schwieg. Er verstand es nur zu gut.

»Also tröstete ich mich damit, zu den good guys zu gehören. Aber das Oberkommando gelangte zu der Ansicht, es sei gut, mich künftig ins MKO-Programm einzubinden. Die bad guys fanden, ich sei so ungemein talentiert im Umgang mit den Tieren.« Greywolf spuckte aus. »Und da hatten sie Recht, die Hurensöhne, und ich war ein Idiot, weil ich Ja sagte, anstatt ihnen was auf die Fresse zu geben. Ich hab mir eingeredet, dass Krieg nun mal so ist. Menschen fallen im Gefecht, sie treten auf Minen oder werden erschossen oder verbrannt, also was soll das Lamento wegen einiger Delphine? So kam ich nach San Diego, wo sie gerade daran arbeiteten, Schwertwale mit nuklearen Sprengköpfen auszurüsten …«

»Wie bitte?«

Greywolf sah ihn an. »Du wunderst dich? Ich habe längst aufgehört, mich über irgendwas zu wundern. Es gibt Projekte, Orcas mit so was loszuschicken. So ein Sprengkopf wiegt sieben Tonnen, den schleppt dir ein ausgewachsener Orca meilenweit bis in einen feindlichen Hafen. Einen nuklearen Killerwal zu stoppen ist fast unmöglich. Ich weiß nicht, wie weit sie inzwischen sind, aber ich schätze, das stellt heute kein Problem mehr dar. Damals steckten sie mittendrin in den Versuchen. In diesem Zusammenhang wurde ich Zeuge eines anderen Experiments. — Die Navy zeigt Journalisten gerne Videos von Delphinen, die mit einer scharfen Mine im Maul losschwimmen und sie fröhlich zurückbringen, statt dem russischen U-Boot-Kapitän, für den sie bestimmt war, den Arsch damit wegzublasen. Darauf gründet die Navy ihre Behauptung, solche Killerkommandos gäbe es nicht. Tatsächlich kommt so was vor, aber äußerst selten. Schlimmstenfalls fliegt ein Boot mit drei Mann in die Luft. Damit kann die Navy leben. Es hat sie nicht davon abgehalten, solche Versuche voranzutreiben.« Greywolf machte eine Pause. »Was anderes ist es, wenn du einen nuklearen Wal nicht sauber auf Kurs halten kannst. Wenn der zurückkommt, und das Ding ist scharf, hast du ein Problem. Die Navy kann so viele Orcas losschicken, wie sie will, aber sie muss sichergehen, dass die Wale nicht auf dumme Gedanken kommen. Und der beste Weg, dumme Gedanken zu vermeiden, ist, sie gar nicht erst zuzulassen.«

»John Lilly«, murmelte Anawak.

»Was?«

»Ein Forscher. Er hat in den Sechzigern Hirnversuche mit Delphinen durchgeführt.«

»Ich erinnere mich, dass der Name irgendwann fiel«, sagte Greywolf nachdenklich. »In San Diego jedenfalls wurde ich Zeuge, wie sie Delphinen den Kopf aufmeißelten. Das war 1989. Sie schlugen mit Hammer und Meißel kleine Löcher in die Schädeldecke. Die Tiere waren bei vollem Bewusstsein und mussten von mehreren starken Männern festgehalten werden, weil sie ständig versuchten, vom Tisch zu springen. Man erklärte mir, das sei nicht wegen der Schmerzen, sondern weil den Tieren das Gehämmere auf die Nerven ging. Tatsächlich sehe die Prozedur weit schmerzhafter aus, als es tatsächlich der Fall sei. Durch die Löcher führten sie dann Elektroden ein, um über elektrische Reize das Gehirn zu stimulieren.«

»Ja, das ist John Lilly!«, rief Anawak erregt. »Er hat versucht, eine Art Landkarte des Gehirns herzustellen.«

»Glaub mir, die Navy hat ihre Landkarten erstellt«, sagte Greywolf bitter. »Mir wurde schlecht, aber ich hielt meinen Mund. Sie zeigten mir einen Delphin, der in einem Becken schwamm und eine zaumzeugartige Vorrichtung im Nacken trug. Die Vorrichtung trieb Elektroden durch die Schädeldecke. Sie hatten es geschafft, das Tier durch elektrische Signale zu steuern. Es war erstaunlich, das muss man ihnen lassen. Sie konnten den Delphin dazu bringen, nach rechts oder nach links zu schwimmen, Sprünge zu vollführen, Aggressionen aufzubauen und Attrappen von Tauchern anzugreifen, sie konnten seinen Fluchtmechanismus auslösen und eine Art Ruhezustand herbeiführen. Ob das Tier je aus freiem Willen mitgemacht hätte oder nicht, spielte keine Rolle. Dieser Delphin besaß keinen freien Willen mehr. Er funktionierte wie ein ferngesteuertes Auto, wie ein Kinderspielzeug. — Nun, sie waren begeistert. Es sah alles danach aus, als ob die Sache ein großer Erfolg würde. 1991 waren wir zum Golf unterwegs, und wir nahmen rund zwei Dutzend solcher ferngesteuerter Delphine mit, während sie in San Diego parallel an nuklearen Walen arbeiteten. Ich war immer noch dabei, ich hielt immer noch meine sonst so große Klappe und machte mir weis, dass das nicht mein Projekt sei. Meine Delphine suchten Minen, wurden gut gefüttert und gestreichelt. Man drängte mich, aktiv ins MKO einzusteigen, und ich schaffte es irgendwie, mir Bedenkzeit auszubitten — Bedenkzeit ist in der Armee nicht sonderlich beliebt, in dem Wort steckt Denken! —, aber gut, sie gingen darauf ein. Wir passierten die Straße von Gibraltar und führten Testreihen auf hoher See durch. Anfangs lief alles glatt. Dann begannen die ersten Probleme. In den Labors und Aquarien von San Diego hatte die Fernsteuerung reibungslos funktioniert, aber im offenen Meer waren die Tiere anderen Reizen ausgesetzt. Die Ausfälle häuften sich. Es klappte einfach nicht in freier Natur, jedenfalls nicht so, wie sich die Projektleitung die Sache vorgestellt hatte, und die Tiere entwickelten sich zum Sicherheitsrisiko. Zurück nach Amerika konnten wir sie nicht bringen, mitnehmen zum Golf wollte sie keiner. — Wir ankerten vor Frankreich. Es gibt dort ein Partnerinstitut, in dem französische Experten am MKO-Programm mitarbeiten. Die Franzosen sind nicht gerade unsere besten Freunde, aber sie haben eine Menge Ahnung von Meeresforschung, also hatte man Allianzen geknüpft. Hier erhofften wir uns ein paar Antworten. Ein Mann namens René Guy Busnel empfing uns und wurde mir vorgestellt als Leiter des verdienstvollen Laboratoire d’Acoustique Animale. Er versprach, sich unserer Probleme anzunehmen, und lud uns zu einer Führung ein. Gleich im ersten dieser verdienstvollen Labors präsentierte er uns einen Delphin, der in eine Vorrichtung aus Schraubstöcken eingespannt und völlig verstümmelt war. Aus seinem Rücken ragte ein armlanges Messer. Ich habe nie gefragt, wozu sie das getan haben, aber ich war dabei, wie die Laborassistenten uns eine Grußkarte des Instituts überreichten, die sie mit dem Blut des Delphins unterschrieben hatten, und alle lachten.«

Greywolf hielt inne. Aus der Tiefe seines gewaltigen Brustkastens drang ein undefinierbarer Laut, etwas wie ein resigniertes Seufzen.

»Busnel fachsimpelte über Hirnexperimente und gelangte zu dem Schluss, dass es so nicht ginge. Die Leiter des Projekts hatten offenbar das eine oder andere übersehen oder falsch eingeschätzt, was weiß ich. Zurück an Bord wurde Kriegsrat gehalten und beschlossen, die Delphine loszuwerden. Wir ließen sie einfach ins Meer hinausschwimmen, und nachdem sie einige hundert Meter weit vom Schiff waren, drückte jemand auf ein Knöpfchen an einem Gerät. — Sie hatten Zündkapseln in das Elektrodengeschirr eingebaut, um zu verhindern, dass die Technik in feindliche Hände fallen konnte. Nicht viel, nur eben genug, um das Geschirr und die Elektroden abzusprengen. Die Tiere wurden dabei getötet. Danach fuhren wir weiter.«

Greywolf nagte an seiner Unterlippe. Dann sah er Anawak an. »Das sind die Delphine, die an der französischen Küste angeschwemmt wurden. Deine Meldung von Island Earth. Jetzt weißt du’s.«

»Und du hast …«

»Ich sagte ihnen, dass es reicht. Sie versuchten, mich umzustimmen. Zwecklos. Natürlich gefiel es ihnen nicht, in ihren Akten vermerkt zu sehen, dass einer ihrer besten Delphintrainer aus ungenannten Gründen den Abschied einreicht. Auf so was stürzen sich immer gleich Hundertschaften von Schreiberlingen, das Fernsehen ruft an, du weißt schon. Es ging hin und her. Schließlich einigten wir uns darauf, dass sie mir einen Haufen Geld geben und ich mich dafür aus gesundheitlichen Gründen ausmustern lasse. Ich bin eigentlich Kampftaucher. Mit Herzmuskelschwäche kannst du das vergessen. Kein Mensch stellt blöde Fragen, wenn du wegen Herzschwäche ausgemustert wirst. Und ich war draußen.«

Anawak sah hinaus auf die Bucht.

»Ich bin kein Wissenschaftler wie du«, sagte Greywolf leise. »Ich verstehe was von Delphinen und wie man mit ihnen umgeht, aber nichts von Neurologie und diesem ganzen Mist. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand ein allzu offensichtliches Interesse an einem Wal oder einem Delphin entwickelt, das ist alles, und wenn er nur ein Foto machen will. Ich kann es nicht ertragen, und ich kann’s nicht ändern.«

»Shoemaker glaubt heute noch, du willst uns eins auswischen.«

Greywolf schüttelte den Kopf. »Ich war eine Weile der Meinung, Whale Watching wäre in Ordnung, aber du siehst ja, es hat nicht funktioniert. Ich habe mich selber rausgeworfen. Ich habe einfach nur dafür gesorgt, dass ihr es tut.«

Anawak stützte das Kinn in die Hände.

Es war so schön hier. So unglaublich schön war diese Bucht mit den Bergen, war diese ganze Insel, dass es beinahe schmerzte.

»Jack«, sagte er nach einer Weile. »Du wirst umdenken müssen. Es passiert schon wieder. Deine Wale nehmen keine Rache. Sie geben uns nicht die Quittung. Sie werden gesteuert. Irgendjemand fährt sein eigenes MKO-Programm mit ihnen. Es ist noch viel schlimmer als alles, was die Navy mit ihnen gemacht hat.«

Greywolf erwiderte nichts. Schließlich verließen sie den Steg und gingen schweigend den Waldweg zurück nach Tofino. Vor Davies Whaling Station blieb Greywolf stehen.

»Kurz vor meinem Ausstieg hörte ich, dass die Experimente mit den nuklearen Walen einen entscheidenden Sprung nach vorne getan hätten. In dem Zusammenhang fiel ein Name. Es ging um Neurologie und irgendetwas, das sie Neuronencomputer nannten. Sie sagten, um die Tiere vollständig zu beherrschen, müsse man den Gedanken eines gewissen Kurzweil folgen. Professor Dr. Kurzweil. Ich dachte, ich sag’s dir einfach. Keine Ahnung, ob du damit was anfangen kannst.«

Anawak überlegte. »Doch«, sagte er. »Ich glaube schon.«


Chateau Whistler, Kanada

Am frühen Abend klopfte Weaver an Johansons Zimmertüre. Wie es ihre Art war, drückte sie die Klinke hinunter, um einzutreten, aber die Tür war verschlossen.

Sie hatte ihn aus Nanaimo zurückkommen sehen. Johanson hatte sich mit Bohrmann treffen wollen. Weaver fuhr mit dem Fahrstuhl in die Lobby und fand ihn in der Bar, wo er mit dem Deutschen und Stanley Frost zusammensaß. Sie waren über Diagramme gebeugt und in heftige Diskussionen verstrickt.

»Hi.« Weaver trat hinzu. »Kommt ihr weiter?«

»Wir stecken fest«, sagte Bohrmann. »Wir haben immer noch ein paar Unbekannte in der Gleichung.«

»Bah, denen kommen wir auch noch auf die Spur«, knurrte Frost. »Gott würfelt nicht.«

»Das hat Einstein gesagt«, bemerkte Johanson. »Und er hatte Unrecht.«

»Gott würfelt nicht!«

Sie wartete eine Weile. Dann tippte sie Johanson an. »Könnte ich dich — entschuldige die Störung, aber kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?«

Johanson zögerte. »Jetzt sofort? Wir gehen gerade Stans Szenario durch. Treibt einem den Angstschweiß auf die Stirn.«

»Tut mir Leid.«

»Warum leistest du uns nicht Gesellschaft?«

»Kannst du dich nicht wenigstens ein paar Minuten ausklinken? Wir brauchen nicht lange.« Sie lächelte in die Runde. »Danach komme ich hinzu, lasse sämtliche Simulationen über mich ergehen und nerve euch mit neunmalklugen Kommentaren.«

»Mächtig nette Vorstellung«, grinste Frost.

»Und wohin?«, fragte Johanson, als sie den Tisch verließen.

»Egal. In die Halle.«

»Ist es irgendwas von Bedeutung?«

»Bedeutung ist gar kein Ausdruck!«

»Gut.«

Sie gingen nach draußen. Die Sonne stand tief. Im Untergehen überzog sie das Chateau und die verschneiten Gipfel der Rockys mit rötlichem Licht. Die Helikopter vor dem Hotel sahen aus wie Rieseninsekten in Ruhestellung. Sie spazierten ein Stück in Richtung Whistler Village. Plötzlich war Weaver die ganze Sache peinlich. Die anderen mussten glauben, sie und Johanson hätten Geheimnisse miteinander, aber tatsächlich wollte sie einfach nur seine Meinung hören. Sie wollte ihm die Entscheidung überlassen, wann er mit seiner Theorie vor den Stab trat, und dazu gehörte auch, ihn vorab zu informieren.

»Wie war es in Nanaimo?«, fragte sie.

»Zum Gruseln.«

»Es heißt, Long Island sei von Killerkrabben überrannt worden.« »Krabben mit Killeralgen«, sagte Johanson. »Ähnlich wie in Europa, nur viel giftiger.«

»Klingt nach einer neuen Angriffswelle.«

»Ja. Oliviera, Fenwick und Rubin haben sich an die Analysen begeben.« Er räusperte sich. »Dein Interesse in allen Ehren, aber eigentlich wolltest du mir was erzählen.«

»Ich habe den ganzen Tag mit Satellitendaten verbracht. Dann habe ich die Radarauswertungen mit Multispektralaufnahmen verglichen. Ich hätte gerne auch die Daten von Bauers autarken Driftern abgefragt, aber sie liefern keine Daten mehr. Es hat auch so gereicht. Du weißt, dass sich der Meeresspiegel in den Randbereichen großer ozeanischer Wirbel hochwölbt?«

»Hab davon gehört.«

»Ein solcher Bereich ist der Golfstrom. Bauer hat vermutet, dass etwas in dieser Region geschieht. Er fand die nordatlantischen Schlote nicht mehr, in denen das Wasser absinkt, und schloss daraus, dass etwas das Verhalten der großen Strömungen stört, aber er war sich nicht ganz sicher.«

»Und?«

Sie blieb stehen und sah ihn an. »Ich habe es durchgerechnet, verglichen, betrachtet, durchgerechnet, verglichen, angezweifelt, betrachtet, durchgerechnet. Die Golfstromwölbung ist verschwunden.«

Johanson runzelte die Stirn. »Du meinst …«

»Der Wirbel dreht sich nicht mehr wie früher, und wenn du die Spektralaufnahmen daneben betrachtest, stellst du fest, dass im gleichen Maße die Wärme zurückgegangen ist. Es gibt keinen Zweifel, Sigur. Wir sehen einer neuen Eiszeit entgegen. Der Golfstrom hat aufgehört zu fließen. Etwas hat ihn gestoppt.«


Sicherheitsrat

»Das ist eine verdammte Schweinerei! Und irgendjemand wird dafür bezahlen.«

Der Präsident wollte Blut sehen.

Er war in der Offutt Air Force Base eingetroffen und hatte als Erstes eine abhörsichere Videokonferenz mit dem Nationalen Sicherheitsrat einberufen. Washington, Offutt und das Chateau waren zusammengeschaltet. Im Lageraum des Weißen Hauses saßen der Vizepräsident, der Verteidigungsminister und sein Stellvertreter, die Außenministerin, der Sicherheitsberater des Präsidenten, der Direktor des FBI und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs beisammen. Aus der Zentrale für Terrorismusbekämpfung tief im fensterlosen Inneren des CIA-Hauptquartiers am Potomac waren der Direktor der Behörde, der Deputy Director for Operations und der Direktor des Counterterrorism Center und Leiter der Sondereinsätze zugeschaltet. Die Oberbefehlshabende des Central Command, General Judith Li, und der Stellvertretende CIA-Director Jack Vanderbilt komplettierten den Kreis. Sie saßen im provisorischen War Room des Chateaus vor einer Reihe von Bildschirmen, auf denen die übrigen Teilnehmer der Sitzung zu sehen waren. Die meisten trugen einen Ausdruck wilder Entschlossenheit zur Schau, einige wirkten eher ratlos.

Der Präsident gab sich keine Mühe, seine Wut zu verbergen. Am Nachmittag hatte ihm sein Vize den Vorschlag unterbreitet, die Stabschefs mit der Leitung eines Krisenkabinetts zu betrauen, aber er bestand darauf, die Plenarsitzungen des Nationalen Sicherheitsrats selber zu leiten. Auf keinen Fall wollte er sich die Entscheidungsgewalt aus der Hand nehmen lassen.

Damit handelte er ganz im Sinne Lis. In der Hierarchie der Berater war Li nicht die wichtigste Stimme. Den höchsten militärischen Rang bekleidete der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. Er war militärischer Hauptberater des Präsidenten, und auch er hatte einen Stellvertreter. Jeder Idiot hatte einen Stellvertreter. Li wusste allerdings, dass der Präsident gern auf sie hörte, und es erfüllte sie mit glühendem Stolz. In jeder Sekunde war die Vision ihrer künftigen Laufbahn präsent, selbst jetzt, da sie hochkonzentriert dem Verlauf der Sitzung folgte. Vom General Commander würde sie es zur Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs bringen. Der jetzige Vorsitzende stand kurz davor, aus dem Amt zu scheiden, und sein Stellvertreter war erwiesenermaßen eine Flasche. Danach konnte sie eine politische Runde als Außenministerin oder im Verteidigungsministerium drehen und sich anschließend für die Präsidentschaftswahl aufstellen lassen. Wenn sie ihren Job jetzt gut machte — und das hieß, uneingeschränkt im Interesse der Vereinigten Staaten —, war ihr die Wahl so gut wie sicher. Die Welt stand am Abgrund, Li vor dem Aufstieg. »Wir stehen gegen einen gesichtslosen Feind«, sagte der Präsident. »Einige hier sind der Meinung, wir müssten uns dem Teil der Menschheit zuwenden, von dem die Bedrohung auszugehen scheint. Andere bezweifeln, dass mehr dahinter steckt als eine tragische Häufung natürlicher Prozesse. Was mich betrifft, ich will keine langen Vorträge, sondern einen Konsens, damit wir handlungsfähig werden. Ich will Pläne sehen, will wissen, was es kostet und wie lange es dauert.« Er kniff die Augen zusammen. Den Grad seiner Wut und seiner Entschlossenheit konnte man immer daran ablesen, wie sehr er die Augen zusammenkniff. »Ich persönlich glaube nicht an das Märchen von der ausgeflippten Natur. Wir sind im Krieg. Das ist meine Meinung. Amerika ist im Krieg, also was machen wir?«

Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs sagte, man müsse aus der Defensive treten und zum Angriff übergehen. Es klang sehr entschlossen. Der Verteidigungsminister sah ihn stirnrunzelnd an.

»Wen wollen Sie angreifen?«

»Da ist jemand, den wir angreifen werden«, sagte der Vorsitzende entschieden. »Darauf kommt’s erst mal an.«

Der Vizepräsident gab zu verstehen, dass er einzelne Gruppierungen derzeit kaum für fähig halte, terroristische Offensiven dieses Kalibers durchzuziehen.

»Wenn, dann steckt ein Land dahinter«, sagte er. »Oder eine politische Region. Vielleicht mehrere Staaten, wer weiß. Jack Vanderbilt hat den Gedanken als Erster formuliert, und ich halte so was durchaus für möglich. Ich meine, wir sollten unser Augenmerk darauf lenken, wer zu solchen Dingen fähig ist.«

»Fähig wären einige«, sagte der Direktor der CIA.

Der Präsident nickte. Seit ihm der Direktor unmittelbar vor seinem Amtsantritt einen langen Vortrag über the good, the bad and the ugly der CIA gehalten hatte, sah er die Welt bevölkert von gottlosen Verbrechern, die den Untergang der Vereinigten Staaten von Amerika planten. Ganz Unrecht hatte er mit dieser Einschätzung nicht.

»Es fragt sich, ob wir in den Reihen unserer klassischen Feinde suchen müssen«, bemerkte er trotzdem.

»Angegriffen wird die freie Welt, nicht nur Amerika.«

»Die freie Welt?« Der Verteidigungsminister schnaubte. »Mann, das sind wir! Europa ist Teil des freien Amerika. Japans Freiheit ist Amerikas Freiheit. Kanada, Australien … Wenn Amerika nicht frei ist, sind die es auch nicht.« Er hatte ein Blatt vor sich liegen und schlug mit der flachen Hand darauf. Es vereinte seine Notizen vom Tage. Er war der Meinung, dass kein Sachverhalt so kompliziert war, dass man ihn nicht auf ein einzelnes Blatt Papier herunterbrechen konnte. »Nur zur Erinnerung«, sagte er. »Über biologische Waffen verfügen Israel und wir, das sind die Guten. Dann Südafrika, China, Russland, Indien, die sind hässlich. Außerdem Nordkorea, der Iran, der Irak, Syrien, Libyen, Ägypten, Pakistan, Kasachstan und der Sudan. Die Bösen. Und das hier ist eine biologische Attacke. Das ist böse.«

»Es könnten auch chemische Komponenten eine Rolle spielen«, sagte der Stellvertretende Verteidigungsminister. »Oder?«

»Langsam.« Der CIA-Direktor hob die Hand. »Gehen wir mal davon aus, dass derartige Aktionen, wie wir sie erleben, mit einer Menge Geld verbunden sind und einem Heidenaufwand. Chemische Waffen sind einfach und billig herzustellen, aber der Biokram bündelt enorme Ressourcen. Und wir sind ja nicht blind. Pakistan und Indien arbeiten mit uns zusammen. Wir haben über hundert pakistanische Geheimdienstler für verdeckte Operationen ausgebildet. In Afghanistan und Indien arbeiten einige Dutzend Agenten für die CIA mit zum Teil exzellenten Kontakten. Den ganzen Raum da unten können Sie vergessen. Wir haben paramilitärische Trupps im Sudan, die mit dortigen Oppositionellen zusammenarbeiten, und in Südafrika sitzen Leute von uns mit in der Regierung. Nirgendwo dort ist offenkundig geworden, dass was Größeres im Gange ist. Wir müssen also zusehen, wo in letzter Zeit Summen geflossen sind und Aktivitäten zu beobachten waren. Unsere Aufgabe ist, das Feld einzugrenzen, nicht alle Schurken dieser Welt aufzuzählen.«

»Ich kann dazu anmerken«, sagte der Direktor des FBI, »dass kein Geld fließt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wissen, dass uns die Durchführungsverordnungen für die Überwachung terroristischer Finanzquellen weit reichende Einblicke ermöglichen. Das Finanzministerium ist ziemlich genau im Bilde, wo größere Summen transferiert wurden. Wir sollten was mitbekommen haben.«

»Und?«, fragte Vanderbilt.

»Keine Hinweise. Weder in Afrika, Fernasien oder im Nahen Osten. Nichts deutet darauf hin, dass überhaupt ein Land involviert ist.«

Vanderbilt räusperte sich. »Das binden die uns doch nicht auf die Nase«, sagte er. »Es steht auch nicht in der Washington Post.«

»Nochmals, wir haben keine …«

»Tut mir Leid, wenn ich jemanden desillusionieren muss«, fuhr ihm Vanderbilt dazwischen. »Aber glaubt einer im Ernst, wer fähig ist, die Nordsee zu zerdeppern und New York zu vergiften, präsentiert unseren Leuten sein Geldköfferchen?«

Die Augen des Präsidenten verengten sich zu Schlitzen.

»Die Welt verändert sich«, sagte er. »In so einer Welt erwarte ich, dass wir in jedes Köfferchen gucken können. Wir können uns aussuchen, ob die Schweinehunde so schlau oder wir so blöde sind. Ich weiß, dass einige von ihnen verdammt schlau sind, aber unser Job ist es dann eben, schlauer zu sein. Und zwar ab heute.« Er sah den Direktor der Terrorismusbekämpfung an. »Also, wie schlau sind wir?«

Der Direktor zuckte die Achseln. »Das Letzte, was wir reinbekommen haben, ist eine Warnung der Inder vor pakistanischen Dschihadisten, die das Weiße Haus in die Luft sprengen wollen. Wir kennen die Leute bereits. Es besteht keine Gefahr. Wir wussten es übrigens vorher, und wir hatten verschiedene finanzielle Transaktionen verfolgt. Das Global Response Center trägt jeden Tag bergeweise Informationen zusammen über den internationalen Terrorismus. Es stimmt, Mister President. Da passiert nichts, was wir nicht mitkriegen.«

»Und im Moment ist Ruhe?« »Ruhe ist nie. Aber das, was geschieht, wurde offenkundig nicht vorbereitet oder finanziert. — Was nichts heißen muss, zugegeben.« Der Blick des Präsidenten ruhte einige Sekunden auf dem Sprecher und wanderte weiter zum Direktor für verdeckte Operationen. »Ich erwarte verdoppelte Anstrengungen Ihrer Leute«, sagte er scharf. »Egal, auf welchen Außenposten und Stützpunkten sie sich rumtreiben. Amerikanische Bürger werden nicht zu Schaden kommen, weil jemand hier seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.« »Natürlich, Sir.« »Ich darf nochmals daran erinnern, dass wir angegriffen werden. Wir sind im Krieg! Ich will wissen, mit wem.« »Schauen Sie in den Nahen Osten«, rief Vanderbilt ungeduldig. »Das tun wir«, sagte Li neben ihm. Der dicke Mann seufzte, ohne sie anzusehen. Er wusste, dass Li anderer Meinung war.

»Man kann sich natürlich selber ins Gesicht schlagen, um den Eindruck zu erwecken, verprügelt worden zu sein«, sagte Li. »Aber ist das glaubhaft? Wenn wir irgendwelche vitalen Interessen von Ländern zugrunde legen, die uns nicht wohl gesinnt sind, wäre es idiotisch anzunehmen, sie würden sich selber schaden. Wenn sie es auf uns abgesehen haben, macht ein bisschen Terror anderswo in der Welt sicherlich Sinn, um davon abzulenken, dass es gegen die Vereinigten Staaten geht.

Aber doch nicht so.«

»Da sind wir anderer Meinung«, sagte der CIA-Direktor.

»Ich weiß. Diese ist meine: Wir sind nicht das Hauptziel. Zu viel ist passiert, zu ominös ist, was abläuft. Was soll das für ein Irrsinnsaufwand sein, Tausende von Tieren unter Kontrolle zu bringen und Millionen neuer Organismen zu züchten, einen Tsunami in der Nordsee auszulösen, den Fischfang zu sabotieren, Australien und Südamerika mit Quallen zu verseuchen, Schiffe zu zerstören? Niemand würde einen ökonomischen oder politischen Nutzen daraus ziehen. Aber es geschieht, und ob es Jack passt oder nicht, es geschieht auch im Nahen Osten. Damit müssen wir leben, aber ich weigere mich, es den Arabern in die Schuhe zu schieben.«

»Ein paar Frachter sind versenkt worden«, knurrte Vanderbilt. »Im Nahen Osten.«

»Mehr als ein paar.«

»Vielleicht haben wir es mit einem Größenwahnsinnigen zu tun?«, schlug die Außenministerin vor. »Einem Verbrecher.«

»Schon eher«, sagte Li. »So jemand könnte unter dem Deckmantel der Wohlanständigkeit unbemerkt gewaltige Summen bewegen und sämtliche technologischen Mittel nutzen. Ich schätze, wir müssen mehr in dieser Kategorie denken. Jemand erfindet was. Also erfinden wir was dagegen. Jemand schickt uns Würmer auf den Hals. Wir erfinden was gegen diese Würmer. Jemand züchtet Killerkrabben, giftige Algen und Substanzen. Wir ergreifen Gegenmaßnahmen.«

»Was für Gegenmaßnahmen haben Sie ergriffen?«, fragte die Außenministerin.

»Wir haben …«, begann der Verteidigungsminister.

»Wir haben den Großraum New York gesperrt«, fuhr ihm Li dazwischen, die es nicht mochte, wenn jemand ihre Hausaufgaben hoch hielt. »Und eben hörte ich, dass die Krabbenwarnungen vor Washington ernst zu nehmen sind. Das verdanken wir der Drohnenaufklärung. Wir werden auch Washington unter Quarantäne stellen. Die Belegschaft des Weißen Hauses sollte also dem Beispiel ihres Präsidenten folgen und einen anderen Ort aufsuchen für die Dauer der Krise. Ich habe im Umkreis sämtlicher Küstenstädte Einheiten mit Flammenwerfern postieren lassen. Wir denken außerdem über chemische Gegenmittel nach.«

»Was ist mit Tauchbooten, Tauchrobotern, und so weiter?«, wollte der CIA-Direktor wissen.

»Gar nichts. Seit kurzem verschwindet alles, was wir ins Meer entlassen, spurlos. Wir haben da unten keine Möglichkeit der Kontrolle. ROVs sind nur per Kabel mit der Außenwelt verbunden, und die ziehen wir regelmäßig zerfetzt aus dem Wasser, nachdem die Kameras zuvor ein blaues Leuchten erfasst haben. Über den Verbleib von AUVs lassen sich gar keine Aussagen treffen. Vier couragierte russische Wissenschaftler sind vergangene Woche mit den MIR-Tauchbooten runtergegangen, in eintausend Metern Tiefe von etwas gerammt worden und gesunken.«

»Das heißt, wir überlassen denen das Feld.«

»Im Augenblick versuchen wir, die wurmbefallenen Gebiete mit Schleppnetzen abzugrasen. Netze werden außerdem vor Küsten gespannt, eine zusätzliche Maßnahme, um Landinvasionen wie die auf Long Island abzuwehren.«

»Scheint mir ziemlich archaisch.«

»Wir werden auf archaische Weise angegriffen. Wir haben außerdem begonnen, die Wale vor Vancouver Island mit Sonar in die Zange zu nehmen. Wir beschallen sie mit Surtass LFA. Etwas steuert die Tiere, also steuern wir gegen, bis ihnen vor lauter Krach der Schädel platzt.

Mal sehen, wer die Oberhand gewinnt.«

»Das klingt beschissen, Li.«

»Wenn Sie eine bessere Idee haben, ist sie willkommen.«

Einen Moment lang sagte niemand etwas.

»Hilft uns die Satellitenüberwachung?«, fragte der Präsident.

»Bedingt.« Der Deputy Director for Operations schüttelte den Kopf. »Die Army ist darauf vorbereitet, abgestellte Panzer unter einer Tarnung aus Zweigen ausfindig zu machen, aber es gibt nur wenige Systeme, die etwas von der Größe eines Krebses erfassen können. Gut, wir haben KH-12 und die neue Generation der Keyhole-Satelliten. Außerdem Lacrosse, und die Europäer lassen uns bei Topex/Poseidon und SAR-Lupe mitspielen, aber die arbeiten mit Radar. Das Problem ist überhaupt, dass wir solche Kleinigkeiten nur erkennen, wenn wir ranzoomen. Das heißt, wir konzentrieren uns auf einen kleinen Ausschnitt. Solange wir nicht wissen, was wo aus dem Meer steigt, gucken wir im Zweifel in die verkehrte Richtung. Li hatte den Vorschlag gemacht, Drohnen einzusetzen, die über den Küsten patrouillieren. Ich halte das für einen guten Vorschlag, aber auch Drohnen sehen nicht alles. NRO und NSA tun ihr Bestes. Möglicherweise kommen wir weiter bei der Auswertung abgefangener Nachrichten. Wir ziehen alle Register von SIGINT.«

»Vielleicht ist das unser Problem«, sagte der Präsident gedehnt. »Vielleicht sollten wir es ein bisschen mehr mit HUMINT versuchen.«

Li verkniff sich ein Grinsen. HUMINT gehörte zu den Lieblingsbegriffen des Präsidenten. Im Sicherheitsjargon der USA stand SIGINT für Signals Intelligence, was die Gesamtheit der fernmeldetechnischen Nachrichtenbeschaffung umfasste. HUMINT bezeichnete die Nachrichtenbeschaffung im Spionagegewerbe — Human Intelligence. Der Präsident, selber hemdsärmelig und technisch eher unbedarft, war vom Pioniergeist der Gründerväter durchdrungen. Er liebte es, jemandem in die Augen schauen zu können. Obwohl er die technisch hochgerüstetste Armee der Welt befehligte, konnte er mit dem Bild des Spähers, der sich im Unterholz anschleicht, mehr anfangen als mit Satelliten.

»Setzen Sie die Köpfe ein«, sagte er. »Einige verstecken sich allzu gerne hinter Schaltpulten und Computerprogrammen. Ich will, dass weniger programmiert und mehr gedacht wird.«

Der CIA-Direktor legte die Fingerspitzen aufeinander.

»Nun«, sagte er. »Vielleicht sollten wir der Nahost-Hypothese doch nicht so viel Bedeutung beimessen.«

Li sah Vanderbilt an. Der Stellvertretende CIA-Direktor blickte starr geradeaus.

»Bisschen zu weit vorgeprescht, Jack?«, sagte sie so leise, dass es niemand außer Vanderbilt hören konnte.

»Ach, halten Sie doch den Mund.«

Sie beugte sich vor. »Wollen wir mal über etwas Positives sprechen?«

Der Präsident lächelte.

»Alles, was positiv ist, kann uns nur recht sein, Jude.«

»Nun, es gibt immer eine Zeit danach. Am Ende kommt es darauf an, wer gewonnen hat. Auf jeden Fall wird die Welt anders aussehen, wenn das hier vorüber ist. Bis dahin werden viele Länder destabilisiert sein, auch solche, deren Destabilisierung in unserem Interesse liegt. Dieser Effekt ließe sich nutzen. Ich meine, die Welt ist in einer schrecklichen Lage, aber Krise ist ein anderes Wort für Chance. Wenn die aktuelle Entwicklung den Zusammenbruch eines Regimes fördert, das uns nicht genehm ist, wäre das nicht unsere Schuld, aber wir könnten hier und da nachhelfen und später die richtigen Leute einsetzen.«

»Hm«, machte der Präsident.

Die Außenministerin überlegte einen Moment und sagte: »Die Frage ist demzufolge weniger, wer diesen Krieg führt, sondern wer ihn gewinnt.«

»Ich meine, die zivilisierte Welt muss Schulter an Schulter gegen den unsichtbaren Feind kämpfen«, bekräftigte Li. »Gemeinsam. Wenn es so weitergeht, werden die Bündnisse ohnehin verstärkt auf die UNO schauen. Das ist vorerst in Ordnung so, alles andere wäre das falsche Signal. Wir sollten uns nicht aufdrängen, aber bereithalten. Zusammenarbeit anbieten. — Aber gewinnen sollten am Ende wir. Und verlieren sollten alle, die uns in der Vergangenheit bedroht haben und gegen uns waren. Je maßgeblicher wir den Ausgang der aktuellen Situation beeinflussen, desto klarer werden später die Rollen verteilt sein.«

»Klarer Standpunkt, Jude«, sagte der Präsident.

Am Tisch war beifälliges Nicken zu sehen, vermischt mit leichter Verärgerung. Li lehnte sich zurück. Sie hatte genug gesagt. Mehr, als ihre Position zuließ, aber es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Ein paar Leute, deren eigentliche Aufgabe es gewesen wäre, diese Dinge zu sagen, hatte sie vor den Kopf gestoßen. Unwichtig. In Offutt war es angekommen.

»Gut«, sagte der Präsident. »Ich denke, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen solchen Vorschlag in die Schublade packen können, aber die Schublade sollte ein Stück offen stehen. Auf keinen Fall sollten wir in der Weltöffentlichkeit den Eindruck erwecken, man sei hier an einer Übernahme der Führung interessiert. — Wie kommen Ihre Wissenschaftler voran, Jude?«

»Ich denke, sie sind unser größtes Kapital.«

»Wann sehen wir Ergebnisse?«

»Morgen kommen alle wieder zusammen. Ich habe Major Peak angewiesen zurückzukehren, damit er dabei sein kann. Er wird die Krisenlage in New York und Washington von hier aus steuern.«

»Du solltest eine Rede an die Nation halten«, sagte der Vizepräsident zum Präsidenten. »Es wird Zeit, dass du dich äußerst.«

»Ja, das ist wahr.« Der Präsident schlug auf den Tisch. »Das Kommunikationsteam soll die Schreiberlinge daransetzen. Ich will etwas Ehrliches. Kein Beschwichtigungsblabla, aber etwas, das Hoffnung macht.«

»Gehen wir auf etwaige Feinde ein?«

»Nein, das wird als Naturkatastrophe gehandelt. Wir sind noch nicht so weit, die Leute sind beunruhigt genug. Wir müssen ihnen versichern, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, um sie zu schützen. — Und dass wir es auch können. Dass wir die Mittel und Möglichkeiten haben. — Dass wir auf alles vorbereitet sind. Amerika ist nicht nur das freieste Land der Welt, sondern auch das sicherste, egal was aus dem Meer steigt, das sollen sie wissen. Egal, was passiert. — Und ich empfehle Ihnen allen noch etwas. Beten Sie. Beten Sie zu Gott. Dies ist sein Land, und er wird uns beistehen. Er wird uns die Kraft geben, das alles in unserem Sinne zu regeln.«


New York, USA

Wir schaffen es nicht.

Salomon Peak hatte nur noch diesen einen Gedanken, als er in den Helikopter stieg. Wir sind nicht vorbereitet. Wir haben nichts, was wir diesem Grauen entgegensetzen können.

Wir schaffen es nicht.

Der Helikopter stieg vom nächtlichen Wall Street Heliport auf und zog quer über Soho, Greenwich Village und Chelsea nordwärts. Die Stadt war hell erleuchtet, aber man sah, dass etwas nicht stimmte. Viele Straßen waren in Flutlicht getaucht, und es herrschte kein fließender Verkehr mehr. Von hier oben offenbarte sich das ganze Ausmaß des Chaos. New York wurde beherrscht von den Sicherheitskräften des OEM und der Armee. Ständig landeten und starteten Hubschrauber. Auch der Hafen war gesperrt worden. Nur Militärschiffe kreuzten noch auf dem East River.

Und immer mehr Menschen starben.

Sie waren machtlos. Sie konnten nichts dagegen tun. Das OEM hatte Vorschriften und Ratschläge zuhauf veröffentlicht, wie sich die Bevölkerung im Falle einer Katastrophe schützen konnte, aber die beständigen Warnungen und öffentlichen Übungen schienen nichts bewirkt zu haben. Die Kanister mit Trinkwasser, die in jedem Haushalt für Notfälle bereitzustehen hatten, standen nicht bereit. Wo es doch der Fall war, erkrankten die Leute an Toxiden, die als Gase aus der Kanalisation aufstiegen oder aus Waschbecken, Toiletten und Geschirrspülern waberten. Alles, was Peak hatte tun können, war, offensichtlich gesunde Menschen aus der Gefahrenzone in riesige Quarantänelager zu bringen und dort festzusetzen. New York hatte sich in eine Todeszone verwandelt. Schulen, Kirchen und öffentliche Gebäude waren in Krankenhäuser umfunktioniert worden, der Ring um die Stadt glich einem gigantischen Gefängnis.

Er schaute nach rechts.

Immer noch brannte es in dem Tunnel. Der Fahrer eines Militärtankwagens hatte seine Atemmaske nicht ordnungsgemäß aufgesetzt und bei voller Fahrt das Bewusstsein verloren. Er war in einem Konvoi unterwegs gewesen. Der Unfall hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, in deren Verlauf Dutzende von Fahrzeugen in die Luft geflogen waren. Derzeit herrschten im Tunnel Temperaturen wie im Innern eines Vulkans.

Peak machte sich Vorwürfe, dass er den Unfall nicht hatte verhindern können. Natürlich war die Verseuchungsgefahr in einem Tunnel weit höher als in den Straßen der Stadt, wo die Toxide abziehen konnten. Aber wie hätte er überall zugleich sein können? Was konnte er überhaupt verhindern?

Wenn es irgendetwas gab, dass Peak aus tiefster Seele hasste, war es das Gefühl der Machtlosigkeit.

Und jetzt ging es auch in Washington los.

»Wir schaffen es nicht«, hatte er Li am Telefon gesagt.

»Wir müssen«, war die einzige Antwort gewesen.

Sie überflogen den Hudson River und hielten auf Hackensack Airport zu, wo eine Militärmaschine auf Peak wartete, um ihn nach Vancouver zu bringen. Die Lichter Manhattans fielen zurück. Peak fragte sich, was die Versammlung am folgenden Tag wohl ergeben würde. Er hoffte, dass wenigstens ein Medikament dabei heraussprang, um dem Horror von New York ein Ende zu setzen, aber etwas warnte ihn, sich Hoffnungen zu machen. Es war seine innere Stimme, und sie behielt im Allgemeinen Recht.

Sein Schädel wummerte im Takt des Rotorenlärms.

Peak lehnte sich zurück und schloss die Augen.


Chateau Whistler, Kanada

Li war hochzufrieden.

Natürlich hätte ihr angesichts des heraufdämmernden Armageddon Erschütterung weit eher angestanden. Aber der Tag war einfach zu gut verlaufen. Vanderbilt ging in die Defensive, und der Präsident hörte ihr zu. Nach endlosen Telefonaten hatte sie sich einen Status quo des Weltuntergangs verschafft und wartete voller Ungeduld darauf, mit dem Verteidigungsminister verbunden zu werden. Sie wollte den Einsatz der Schiffe besprechen, die am folgenden Tag zur ersten Sonarattacke auslaufen sollten. Der Verteidigungsminister hing in einer Besprechung fest. Einige Minuten blieben ihr noch, also spielte sie Schumann vor der Kulisse eines exorbitanten Sternenhimmels.

Es war kurz vor 2.00 Uhr. Das Telefon schellte. Li sprang auf und stellte die Verbindung her. Sie hatte das Pentagon erwartet und war einen Moment lang verblüfft, wessen Stimme sie stattdessen hörte.

»Dr. Johanson! Was kann ich für Sie tun?«

»Haben Sie Zeit?«

»Wann? Jetzt?«

»Ich würde Sie gerne unter vier Augen sprechen, General.« »Ungünstig im Moment. Ich muss ein paar Telefonate führen. Sagen wir, in einer Stunde?«

»Sind Sie nicht neugierig?«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge.«

»Sie waren der Meinung, ich hätte eine Theorie.«

»Oh, richtig!« Sie überlegte eine Sekunde. »Gut.

Kommen Sie.«

Mit einem Lächeln legte sie auf. Genau so hatte sie es erwartet. Johanson war nicht der Typ, der Fristen bis zur letzten Sekunde ausreizte, und zu höflich, sie verstreichen zu lassen. Er wollte den Zeitpunkt bestimmen, und sei es mitten in der Nacht.

Sie rief die Telefonzentrale an. »Verschieben Sie mein Telefonat mit dem Pentagon um eine halbe Stunde.« Sie überlegte kurz, dann korrigierte sie sich: »Nein, um eine Stunde.«

Johanson würde einiges zu erzählen haben.


Vancouver Island

Nach Greywolfs Schilderung war Anawak der Appetit fürs Erste vergangen. Doch Shoemaker übertraf sich selbst. Er hatte preisverdächtige Steaks gebraten und einen bemerkenswerten Salat mit Croutons und Nüssen kreiert. Sie aßen zu dritt auf seiner Veranda. Delaware vermied es, das Thema auf ihre neue Beziehung zu bringen, und erwies sich als überaus unterhaltsam. Sie kannte eine Menge Witze und war sich nicht zu schade, noch die blödesten so zu erzählen, dass man sie auf eine Bühne hätte stellen sollen. Sie war wirklich komisch.

Wie eine Insel lag der Abend in einem Meer von Elend.

Im mittelalterlichen Europa hatten sie getanzt und ein Fest gefeiert, wenn der Schwarze Tod umherging. Ganz so weit waren sie hier nicht, aber immerhin schafften sie es, mehrere Stunden lang über alles Mögliche zu reden, nur nicht über Tsunamis, Wale und Killeralgen. Anawak war dankbar für die Abwechslung. Shoemaker erzählte Geschichten aus den Anfangstagen von Davies. Sie lachten und schwatzten und genossen den milden Abend, streckten die Beine aus und sahen hinaus aufs schwarze Wasser der Bucht.

Etwa um zwei hatte sich Anawak verabschiedet. Delaware war geblieben. Sie und Shoemaker hatten sich an alten Kinofilmen festgebissen und eine weitere Flasche Wein aufgemacht. Allmählich begaben sie sich auf eine alkoholisierte Daseinsebene, also trank er ein letztes Wasser, bedankte sich und ging die nächtliche Hauptstraße entlang zur Station. Dort schaltete er den Computer ein und loggte sich ins Internet.

Nach wenigen Minuten hatte er Professor Dr. Kurzweil gefunden.

Im Morgengrauen begann sich ein Bild abzuzeichnen.


12. Mai

Chateau Whistler, Kanada

Möglicherweise, dachte Johanson, ist das der Wendepunkt. Oder ich bin ein alter Spinner.

Er stand auf dem kleinen Podium links von der Projektionsfläche. Der Beamer war ausgeschaltet. Sie hatten einige Minuten auf Anawak warten müssen, der in Tofino übernachtet hatte, aber jetzt waren sie vollzählig. In der vordersten Reihe saßen Peak, Vanderbilt und Li. Peak wirkte erschöpft. Er war in der Nacht aus New York zurückgekehrt und sah aus, als habe er dort den größten Teil seiner Kraft gelassen.

Johanson, der sein halbes Leben in Hörsälen verbracht hatte, war es gewohnt, zu anderen Menschen zu sprechen. Hin und wieder hatte er dem Schulwissen eigene Erkenntnisse und Hypothesen hinzugefügt und in Kauf genommen, sich mit echten und selbst ernannten Fachleuten darüber zu streiten. Ansonsten waren Hörsäle sicheres Terrain. Man gab weiter, was andere herausgefunden hatten, und fragte es ab.

An diesem Morgen machte er die unerwartete Erfahrung des Selbstzweifels. Wie sollte er seine Theorie erzählen, ohne dass gleich alle vor Lachen von den Stühlen fielen? Li hatte eingeräumt, er könne Recht haben. Das war schon eine ganze Menge. Mit etwas vorsichtigem Optimismus ließ sich sogar sagen, dass sie seinen Gedankengängen zu folgen bereit war. Aber Reste von Unsicherheit, ob er es richtig machen oder verpatzen würde, gärten in ihm und führten dazu, dass er den größten Teil der Nacht damit verbracht hatte, seinen Vortrag wieder und wieder umzuschreiben. Johanson gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte nur diesen einen Schuss. Entweder nahm er die anderen in einem Überraschungsangriff für sich ein, oder sie erklärten ihn für durchgeknallt.

Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Es herrschte Totenstille.

Er warf einen Blick auf das oberste Blatt seines Manuskripts. Die Hinleitung war ausführlich. Jetzt, nach drei Stunden Schlaf, erschien sie ihm plötzlich unverständlich und kompliziert. Sollte er das wirklich so vortragen? In der Nacht war er zufrieden damit gewesen, als ihm die Augen brannten und er vor lauter Müdigkeit kaum noch klar denken konnte. Aber genau so las es sich jetzt. Durch tausend Untiefen quälte sich die Argumentation. Ein rhetorischer Schlingerkurs.

Johanson zögerte.

Dann legte er das Manuskript beiseite.

Augenblicklich fühlte er eine ungeheure Erleichterung, als habe der dünne Stapel Papier Tonnen gewogen. Seine Selbstsicherheit kehrte zurück wie eine kampfbereite Kavallerie, mit wehender Fahne und Fanfarenstößen. Er trat einen Schritt vor, sah in die Runde, versicherte sich der Aufmerksamkeit eines jeden Einzelnen und sagte:

»Es ist ganz einfach. Die Konsequenzen werden uns schreckliches Kopfzerbrechen bereiten, aber im Grundsatz ist es wirklich simpel und nahe liegend. Wir erleben keine Naturkatastrophe. Ebenso wenig haben wir es mit terroristischen Vereinigungen oder Schurkenstaaten zu tun. Auch die Evolution spielt nicht verrückt. Nichts von alledem trifft zu.« Er machte eine Pause. »Etwas völlig anderes geschieht. Wir werden in diesen Tagen Zeuge des viel beschriebenen Krieges zwischen den Planeten. Zwei Planeten, die wir nur als solche nicht erkennen, weil sie zu einem verschmolzen sind. Während wir nach oben geschaut haben in Erwartung fremder Intelligenzen aus dem All, zeigen sie sich nun als Teil unserer Welt, den wir uns nie wirklich zu verstehen bemüht haben. Zwei grundverschiedene Systeme intelligenten Lebens koexisitieren auf diesem Planeten, die einander bis heute in Ruhe gelassen haben. Aber während das eine System um die Entwicklung des anderen wusste, hat das andere bis heute keinerlei Vorstellung von der Komplexität der Welt unter Wasser, oder — wenn Sie so wollen — von dem fremden Universum, mit dem wir diesen Globus teilen. Der Weltraum liegt in den Ozeanen. Die Außerirdischen kommen nicht aus weit entfernten Galaxien, sondern haben sich am Grund der Tiefsee entwickelt. Das Leben im Wasser ist weit älter als das zu Lande, und ich schätze, diese Wesen werden weit älter sein als wir. Ich habe keine Vorstellung davon, wie sie aussehen oder wie sie leben, wie sie denken und kommunizieren. Aber wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass es eine zweite göttliche Rasse gibt, deren Lebensbereich wir seit Jahrzehnten systematisch zerstören. — Und, ladies and gentlemen, die da unten scheinen mit einiger Berechtigung stinksauer auf uns zu sein.«

Niemand sagte etwas.

Vanderbilt starrte ihn an. Seine Hängebacken zitterten. Sein ganzer gewaltiger Körper begann zu beben, als schaukele sich darin ein Lachen auf, das über Johanson hereinbrechen würde wie die Salve eines Exekutionskommandos. Die fleischigen Lippen zuckten. Vanderbilt öffnete den Mund.

»Ihr Gedanke leuchtet mir ein«, sagte Li.

Es war, als habe man dem Stellvertretenden Direktor der CIA ein Messer zwischen die Rippen gestoßen. Sein Mund klappte wieder zu. Er zuckte heftig zusammen und schaute Li entgeistert an.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, keuchte er.

»Doch«, erwiderte Li ruhig. »Ich habe nicht gesagt, dass Dr. Johanson Recht hat, aber es erscheint mir sinnvoll, ihm zuzuhören. Ich denke, er wird seine Annahme begründen können.«

»Danke, General«, sagte Johanson mit einer leichten Verbeugung. »Das kann ich tatsächlich.«

»Dann schlage ich vor, dass Sie fortfahren. Versuchen Sie Ihre Ausführungen knapp zu halten, damit wir baldmöglichst in die Diskussion einsteigen können.«

Vanderbilt schien unter Schock zu stehen. Johanson ließ seinen Blick die Reihen entlang wandern. Er versuchte es beiläufig geschehen zu lassen, um nicht den Eindruck zu erwecken, er sei auf Reaktionen aus. Kaum jemand trug offene Ablehnung zur Schau. Die meisten Gesichter waren in Verwunderung erstarrt, manche fasziniert, andere ungläubig, einige ausdruckslos. Jetzt musste er den zweiten Schritt tun. Er musste sie dazu bringen, seine Idee aufzugreifen und selbständig weiterzuentwickeln.

»Unser Hauptproblem in den vergangenen Tagen und Wochen«, sagte er, »hat darin bestanden, die unterschiedlichen Vorfälle in Bezug zueinander zu setzen. Es schien keine Verbindung zu geben, bis wir auf eine gallertartige Substanz stießen, die in unterschiedlichen Quantitäten auftritt und an der frischen Luft rasch zerfällt. Leider hat diese Entdeckung unsere Verwirrung nur gesteigert, weil wir das Zeug in Krebsen und Muscheln ebenso fanden wie in den Köpfen von Walen, also in Lebewesen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Als mögliche Erklärung bot sich eine Art Seuche an. Ein Schimmelpilz, eine Substanz gewordene Tollwut, irgendeine Art von Befall wie BSE oder Schweinepest. Aber das erklärt wiederum nicht die Schiffsuntergänge oder warum die Krebse Killeralgen in sich tragen. Und die Würmer an den Kontinentalhängen weisen nichts Gallertiges auf. Dafür transportieren sie Methan reduzierende Bakterien und sind verantwortlich für die Freisetzung von Treibhausgas in großen Mengen, was letztlich zur Abrutschung des Schelfrandes und zum Tsunami führte. In weiten Teilen der Welt treten unterdessen Organismen auf, die offenbar mutiert sind, und Fischschwärme verhalten sich wider ihre Natur. — Das alles ergibt kein Bild. Jack Vanderbilt hat darum absolut Recht, wenn er einen planenden Geist heraufbeschwört, der für all das verantwortlich ist. Aber er verkennt, dass kein Wissenschaftler annähernd genug über marine Ökosysteme weiß, um sie derart manipulieren zu können. Es wird gerne behauptet, wir wüssten über den Weltraum mehr als über die Tiefsee. Das stimmt. Man sollte ergänzend sagen, warum das so ist: weil wir uns im Weltraum besser bewegen und besser sehen können als in den Meeren. Das Hubble-Teleskop schaut mühelos in fremde Galaxien. Hingegen lassen uns selbst stärkste Scheinwerfer die Welt unter Wasser nur im Umkreis weniger Dutzend Meter erkennen. Ein Mensch in einem Raumanzug kann sich im Weltraum nahezu überall frei bewegen, aber ein Taucher wird ab einer gewissen Tiefe zerquetscht, selbst in einem Hightech-Anzug. Unterseeboote, AUVs und ROVs, sie alle funktionieren nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Definitiv besitzen wir weder die technische Ausstattung noch die Physis, um Milliarden Würmer auf Hydraten abzusetzen, und schon gar nicht verfügen wir über das erforderliche Wissen, um sie für eine Welt zu züchten, die wir kaum kennen. — Tiefseekabel sind zerstört worden, und nicht nur durch die Rutschung. Aus den Abyssalen steigen Schwärme von Muscheln, Medusen und Quallen empor. — Ja, es ist richtig, wir erleichtern uns die Erklärung dieser Phänomene, indem wir einen planenden Geist voraussetzen, aber dann müssen wir den Gedanken konsequent zu Ende denken: dass nämlich alles, was geschieht, nur geschehen kann, weil jemand sich da unten ebenso gut auskennt, wie wir uns an der Oberfläche auskennen. Also jemand, der dort lebt und in seinem Universum die herrschende Rolle einnimmt.«

»Habe ich Sie richtig verstanden?«, rief Rubin aufgeregt. »Sie wollen sagen, wir teilen uns diesen Planeten mit einer zweiten intelligenten Rasse?«

»Ja. Das glaube ich.«

»Wenn das so ist«, fragte Peak, »warum haben wir bis heute nie etwas von dieser Rasse gehört oder gesehen?« »Weil es sie nicht gibt«, sagte Vanderbilt mürrisch. »Falsch.« Johanson schüttelte energisch den Kopf. »Es gibt mindestens drei Gründe. Erstens, das Gesetz vom unsichtbaren Fisch.« »Das was?«

»Die meisten Lebewesen der Tiefsee sehen im herkömmlichen Sinne nicht mehr als wir, aber sie haben andere Sinnesorgane ausgebildet, die das Sehen ersetzen. Sie reagieren auf leichteste Druckveränderungen. Schallwellen erreichen sie über Hunderte und Tausende von Kilometern. Jedes Unterwasserfahrzeug wird wahrgenommen, lange bevor seine Insassen selber etwas sehen. In einer Region können theoretisch Millionen Fische einer bestimmten Art leben, aber wenn sie sich in der Dunkelheit halten, bekommen wir sie nicht zu Gesicht.

Und hier haben wir es mit intelligenten Wesen zu tun! Wir werden sie nie beobachten können, solange sie es nicht wollen. — Der zweite Grund ist, dass wir keine Vorstellung davon haben, wie diese Wesen aussehen. Wir haben einige rätselhafte Phänomene auf Video gebannt, die blaue Wolke, die blitzartigen Entladungen, das Ding am norwegischen Kontinentalhang. Sind sie Ausdruck einer fremden Intelligenz? Was ist diese Gallerte? Was sind das für Geräusche, die Murray Shankar nicht zuordnen kann?

— Und es gibt einen dritten Grund. Früher dachte man, nur die obere, sonnendurchflutete Schicht der Meere sei bewohnbar. Inzwischen wissen wir, dass es in allen Schichten von Leben wimmelt. Noch in elftausend Metern Tiefe herrscht Leben. Für viele Organismen gibt es nicht den geringsten Grund, sich weiter oben anzusiedeln. Die meisten könnten es gar nicht, weil ihnen das Wasser zu warm wäre, der Druck zu gering, weil ihnen nicht die Nahrung zur Verfügung stünde, die sie benötigen. Wir wiederum haben die oberen Wasserschichten erkundet, aber tief unten waren eben mal ein paar Menschen in gepanzerten Tauchbooten und einige Roboter. Wenn wir diese gelegentlichen Ausflüge mit den berühmten Stecknadeln vergleichen, müssen wir uns einen Heuhaufen von der Größe unseres Planeten vorstellen. — Es ist, als würden Außerirdische in einem Raumschiff Kameras zur Erde hinunterlassen, deren Objektive nur abbilden können, was im Umkreis weniger Meter zu sehen ist. Eine dieser Kameras filmt ein Stückchen mongolische Steppe. Eine andere macht Momentaufnahmen aus der Kalahari, und eine dritte wird über der Antarktis heruntergelassen. Eine weitere schafft es tatsächlich in eine Großstadt, sagen wir in den New Yorker Central Park, wo sie ein paar Quadratmeter Grünzeug aufnimmt und einen Hund, der einen Baum anpinkelt. Zu welchem Schluss würden die Außerirdischen gelangen? — Ein unbesiedelter Planet, auf dem sporadisch primitive Lebensformen anzutreffen sind.«

»Was ist mit ihrer Technologie«, fragte Oliviera. »Sie müssen über eine Technologie verfügen, um das alles zu bewerkstelligen.«

»Auch darüber habe ich mir Gedanken gemacht«, erwiderte Johanson. »Ich glaube, dass es eine Alternative zu einer Technologie wie der unseren gibt. Wir verarbeiten tote Materie zu technischen Gerätschaften, zu Häusern, Fortbewegungsmitteln, Radio, Kleidung und so weiter. Aber Meerwasser ist ungleich aggressiver als Luft. Da unten zählt nur eines: die optimale Anpassung. Und optimal angepasst sind in der Regel Lebensformen, also könnten wir uns eine reine Biotechnologie vorstellen. Wenn wir von einer hohen Intelligenz ausgehen, werden wir auch ein hohes Maß an Kreativität voraussetzen können und eine genaue Kenntnis der Biologie mariner Organismen. — Ich meine, was tun denn wir? Menschen machen sich seit Jahrtausenden andere Lebewesen zunutze. Pferde sind lebende Motorräder. Hannibal zog mit biologischen Schwerlastern über die Alpen. Immer schon wurden Tiere abgerichtet. Heute werden sie genetisch verändert. Wir klonen Schafe und bauen genveränderten Mais an. Was, wenn wir diesen Gedanken weiterentwickeln? Hin zu einer Rasse, die ihre Kultur und Technologie ausschließlich auf biologischer Basis errichtet hat! Sie züchten einfach, was sie brauchen. Für das tägliche Leben, zur Fortbewegung, zur Kriegsführung.«

»Du lieber Himmel«, stöhnte Vanderbilt.

»Wir züchten Ebola— und Pesterreger und experimentieren mit Pocken herum«, fuhr Johanson fort, ohne den CIA-Mann zu beachten. »Also mit Lebewesen. Noch packen wir sie in Sprengköpfe, aber das ist umständlich, und eine Rakete, selbst wenn sie satellitengesteuert ist, kommt nicht unbedingt ins Ziel. Würden wir Hunde abrichten, die solche Erreger in sich tragen, wäre das vielleicht der effizientere Weg, Schaden anzurichten. Oder Vögel. Insekten meinetwegen! Was wollen Sie gegen einen virenverseuchten Mückenschwarm oder kontaminierte Ameisen ausrichten? Oder gegen Millionen Krabben, die Killeralgen transportieren?« Er machte eine Pause. »Diese Würmer am Kontinentalhang wurden gezüchtet. Kein Wunder, dass wir sie nie zuvor gesehen haben. Es hat sie nicht gegeben. Ihr Zweck besteht darin, Bakterien ins Eis zu transportieren, also haben wir es gewissermaßen mit Cruise Missiles aus der Familie der Polychäten zu tun. Mit Biowaffen, die von jemandem entwickelt wurden, dessen gesamte Kultur auf der Manipulation organischen Lebens beruht. — Und schon erhalten wir auf einen Schlag die Erklärung für sämtliche Mutationen! Einige Tiere wurden nur geringfügig verändert, andere stellen etwas völlig Neues dar. Diese Gallerte beispielsweise: Sie ist ein biologisches, höchst wandelbares Produkt, aber ganz bestimmt kein Ergebnis natürlicher Auslese. Auch sie erfüllt einen Zweck. Sie steuert andere Lebewesen, indem sie ihre neuronalen Netze befällt. Irgendwie verändert sie das Verhalten der Wale. — Die Krabben und Hummer hingegen wurden von Anfang an auf ihre bloßen mechanischen Funktionen reduziert. Leere Hüllen mit Resten von Nervenmasse. Die Gallerte steuert sie, und als Fracht sind Killeralgen mit an Bord. Wahrscheinlich haben diese Krabben nie wirklich gelebt. Sie wurden als organische Raumanzüge gezüchtet, um in den Outer Space vorstoßen zu können, in unsere Welt.«

»Dieses Zeug, diese Gallerte«, sagte Rubin, »könnte die nicht ebenso gut ein Mensch gezüchtet haben?«

»Kaum.« Anawak mischte sich ein. »Was Dr. Johanson sagt, ergibt für mich mehr Sinn. Wenn ein Mensch dahinter steckt, warum wählt er dann den Umweg durch die Tiefsee, um Städte zu verseuchen?«

»Weil Killeralgen im Meer vorkommen.«

»Warum probiert er’s nicht mit was anderem? Wer Killeralgen züchten kann, die giftiger als Pfiesteria sind, wird doch irgendeinen Erreger finden, der nicht erst durchs Wasser muss. Wozu züchtet er Krabben, wenn er es mit Ameisen oder Vögeln oder meinethalben Ratten schaffen könnte?«

»Mit Ratten erzeugt er keine Tsunamis.«

»Das Zeug kommt aus einem menschlichen Labor«, beharrte Vanderbilt. »Es ist eine synthetische Substanz …«

»Das glaube ich nicht«, rief Anawak. »Nicht mal der Navy traue ich so was zu, und die ist weiß Gott fit darin, Meeressäuger zu verbiegen.«

Vanderbilt schüttelte den Kopf, als sei er von der Parkinson’schen Krankheit befallen.

»Was reden Sie da?«

»Ich rede von Experimenten, die unter dem Begriff MKO durchgeführt wurden.«

»Nie gehört.«

»Wollen Sie abstreiten, dass die Navy seit Jahren versucht, die Gehirnströme von Delphinen und anderen Meeressäugern zu manipulieren, indem man Elektroden in die Schädeldecke einführt und …«

»So ein Quatsch!«

»Was aber bislang nicht klappte. Jedenfalls nicht wie gewünscht, also studiert man die Arbeit von Ray Kurzweil …«

»Kurzweil?«

»Eine der Koryphäen auf dem Gebiet der Neuroinformatik«, warf Fenwick ein, und plötzlich erhellten sich seine Züge. »Und Kurzweil hat eine Vision entwickelt, die über den heutigen Stand der Hirnforschung weit hinausgeht. Wenn man wissen will, wozu Menschen diesbezüglich in der Lage sind … nein, mehr noch, seine Arbeit könnte Aufschluss darüber geben, wie eine fremde Intelligenz vorgehen würde!« Fenwick geriet sichtlich in Wallung. »Kurzweils Neuronencomputer! Das ist in der Tat eine Möglichkeit.«

»Entschuldigung«, sagte Vanderbilt. »Ich habe keine Ahnung, wovon hier die Rede ist.«

»Nicht?«, schmunzelte Li. »Ich dachte immer, die CIA hätte ein vitales Interesse an Gehirnwäsche.«

Vanderbilt schnaubte und sah sich nach allen Seiten um. »Wovon redet der? Ich weiß es nicht. Kann mir verdammt nochmal einer sagen, wovon er redet?«

»Der Neuronencomputer ist ein Modell zur kompletten Rekonstruktion eines Hirns«, sagte Oliviera. »Sehen Sie, unser Gehirn setzt sich aus Milliarden von Nervenzellen zusammen. Jede Zelle ist mit unzähligen anderen verbunden. Sie kommunizieren untereinander durch elektrische Impulse. Auf diese Weise werden Wissen, Erfahrung und Emotion ständig aktualisiert, neu geordnet oder archiviert. In jeder Sekunde unseres Lebens, auch wenn wir schlafen, ist unser Gehirn einer fortgesetzten Neustrukturierung unterworfen. Mit heutiger Technik lassen sich aktive Hirnareale bis auf einen Millimeter genau darstellen. Wie eine Landkarte. Wir können zusehen, wie gedacht und gefühlt wird, welche Nervenzellen zeitgleich aktiviert werden, etwa im Moment eines Kusses oder eines erlittenen Schmerzes oder einer Erinnerung.«

»Man kennt die Stellen, und die Navy weiß, wo man elektrisch pulsen muss, um eine gewünschte Reaktion hervorzurufen«, nahm Anawak den Faden auf. »Aber das ist immer noch sehr grob. Wie eine Landkarte, deren Detailschärfe bei 50 Quadratkilometern endet. Kurzweil hingegen glaubt, dass wir schon bald über die Möglichkeit verfügen werden, ein komplettes Hirn zu scannen, und zwar einschließlich jeder einzelnen Nervenverbindung, jeder Synapse und der genauen Konzentration aller chemischen Botenstoffe — bis ins letzte Detail einer jeden Zelle!«

»Uff«, sagte Vanderbilt.

»Wenn man erst mal die komplette Information hat«, fuhr Oliviera fort, »ließe sich ein Gehirn samt aller Funktionen in einen Neuronencomputer übertragen. Der Computer würde eine perfekte Kopie des Denkens der Person herstellen, deren Hirn gescannt wurde, mitsamt ihrer Erinnerungen und Fähigkeiten. Ein zweites Ich.«

Li hob die Hand. »Ich kann Ihnen versichern, dass MKO noch nicht so weit ist«, sagte sie. »Kurzweils Neuronencomputer bleibt vorerst eine Vision.«

»Jude«, flüsterte Vanderbilt entsetzt. »Wozu erzählen Sie das hier? Das geht keinen was an, das unterliegt strengster Geheimhaltung.«

»MKO gründet auf militärischen Notwendigkeiten«, sagte Li ruhig. »Die Alternative wäre, Menschen zu opfern. Wir können uns unsere Kriege nicht immer aussuchen, wie Sie unzweifelhaft festgestellt haben. Tatsächlich befindet sich das Projekt in einer Sackgasse, aber das wird ein vorübergehender Stillstand sein. Der Weg zur künstlichen Intelligenz ist beschritten. Die Medizin ist nicht weit davon entfernt, menschliche Organe durch Mikrochips zu ersetzen. Blinde können mit Hilfe solcher Implantate bereits Konturen erkennen. Es werden völlig neue Formen von Intelligenz entstehen.« Sie machte eine Pause und heftete ihren Blick auf Anawak. »Das ist es doch, was Sie meinen, nicht wahr? Alles spräche für die Nahost-Hypothese, um bei dem leidigen Wort zu bleiben, wenn die Menschheit so weit wäre, wie Kurzweil gedacht hat. Aber wir sind es nicht. Amerika ist es nicht und niemand sonst. Kein Mensch kann diese Gallerte gezüchtet haben, die offenbar wie ein Neuronencomputer funktioniert.«

»Der Neuronencomputer bedeutet in der Praxis die vollkommene Kontrolle über jedes Denken«, sagte Anawak. »Wenn die Gallerte etwas in dieser Art darstellt, dann steuert sie das Tier nicht einfach, sie wird zu diesem Tier. Sie wird Teil seines Hirns. Zellen der Substanz übernehmen die Funktion von Hirnzellen. Entweder sie erweitern das Gehirn eines Lebewesens …«

»Oder sie ersetzen es«, schloss Oliviera. »Leon hat Recht. Ein solcher Organismus entspringt keinem menschlichen Labor.«

Johanson hörte mit klopfendem Herzen zu. Sie griffen seine Theorie auf. Sie arbeiteten damit und fügten ihr neue Aspekte hinzu, und mit jedem Wort, das gesprochen wurde, verfestigte sie sich. Er begann sich diesen biologischen Computer vorzustellen, der Hirnzellen kopieren konnte, während um ihn herum die Diskussion wogte, bis Roche aufsprang und das Wort ergriff.

»Eines verstehe ich noch nicht, Dr. Johanson. Wie erklären Sie sich, dass die da unten so viel über uns wissen? Ich meine, Ihre Theorie in allen Ehren, aber wie kann ein Bewohner der Tiefsee derart viel über uns herausfinden?«

Johanson sah Vanderbilt und Rubin beifällig nicken.

»Das ist nicht schwer«, sagte er. »Wenn wir einen Fisch sezieren, geschieht das in unserer Welt, nicht in seiner. Warum sollten diese Wesen ihr Wissen nicht in ihrer Welt erlangen? Jedes Jahr ertrinken eine Menge Menschen, und falls man weitere Exemplare braucht, holt man sich eben welche. — Andererseits haben Sie Recht: Wie viel wissen die wirklich über uns? Kurz vor dem Abrutschen des Schelfs war ich erstmalig so weit, an einen organisierten Angriff zu glauben. Seltsamerweise habe ich nie in Erwägung gezogen, dass Menschen dahinter stecken könnten. Zu fremdartig erschien mir die ganze Strategie. Wie auf einen Schlag große Teile der nordeuropäischen Infrastruktur vernichtet wurden, war brillant geplant und mit weit reichenden Folgen für uns verbunden. Kleine Boote durch Wale versenken zu lassen erscheint dagegen naiv. Die Überfischung der Meere stoppt man nicht mit hochgiftigen Quallenschwärmen. Schiffskatastrophen treffen uns hart, aber ob diese mutierten Schwärme die weltweite Schifffahrt wirklich lahm legen können, wage ich zu bezweifeln. Allerdings fällt auf, dass sie sehr genau über Schiffe Bescheid wissen. Alles, was unmittelbar ihren Lebensraum berührt, kennen sie gut. Die Welt darüber ist ihnen weniger vertraut. Killeralgen in Krabben über Land zu schicken, zeugt von exzellenter militärischer Planung, aber der Anfang mit den bretonischen Hummern war eher misslungen. Offenbar hatten sie das Problem des Unterdrucks nicht bedacht. Als die Gallerte da unten in die Hummerkörper schlüpfte, war sie durch den Tiefendruck komprimiert. Zur Oberfläche hin dehnte sie sich natürlich aus, und einige der Hummer platzten.«

»Bei den Krabben scheint man dazugelernt zu haben«, meinte Oliviera. »Sie bleiben stabil.«

»Na ja.« Rubin schürzte die Lippen. »Sie krepieren, kaum dass sie an Land sind.«

»Warum auch nicht?«, erwiderte Johanson. »Ihre Aufgabe ist erfüllt. Alle diese Züchtungen sind zum schnellen Sterben verurteilt. Sie sollen unsere Welt bekämpfen, nicht besiedeln. — Wohin Sie auch schauen in diesem Krieg, Menschen würden so nicht vorgehen! Warum der Umweg übers Meer? Warum sollte sich ein Mensch in derartige Experimente versteigen? Welchen vernünftigen Grund hätte er, ausgerechnet die Gene von Lebewesen zu verändern, die viele Kilometer unter Wasser leben wie beispielsweise Schlotkrabben? Hier sind keine Menschen am Werk. Hier wird experimentiert, um herauszufinden, wo unsere Schwachstellen sind. Und vor allem wird abgelenkt.«

»Abgelenkt?«, echote Peak.

»Ja. Der Feind macht viele Fronten gleichzeitig auf. Einige bescheren uns Alpträume, andere sind eher lästig, aber sie halten uns auf Trab. Die meisten der verabreichten Nadelstiche schmerzen gewaltig. Das eigentlich Perfide daran ist, dass sie verschleiern, was wirklich geschieht. Dass wir vor lauter Schadensbegrenzung blind für die wirklichen Gefahren werden. Wir finden uns in der Rolle des Zirkusjongleurs, der Teller auf Stöcke stellt und sie in Drehung versetzt, damit sie nicht herunterfallen können. Er muss ständig zwischen den Stöcken hin— und herlaufen. Hat er den letzten Teller stabilisiert, wackelt der erste. Je mehr Teller es werden, desto schneller muss er laufen. In unserem Fall hat die Anzahl der Teller die Fähigkeiten des Jongleurs weit überschritten. Wir werden dieser Vielzahl von Attacken nicht gewachsen sein. Für sich betrachtet mögen Walangriffe und ausbleibende Fischschwärme kein unlösbares Problem darstellen. In der Summe erfüllen sie ihren Zweck, nämlich uns zu lähmen und zu überfordern. Wenn sich die Phänomene weiter ausbreiten, werden ganze Staaten die Kontrolle verlieren, andere Staaten werden das ausnutzen, es wird zu regionalen und größeren Konflikten kommen, die aus dem Ruder laufen und für niemanden zu gewinnen sind. Wir werden uns selber schwächen. Die Strukturen der internationalen Hilfsorganisationen werden in sich zusammenbrechen, die medizinischen Versorgungsnetze zum Erliegen kommen. Wir werden nicht genügend Mittel, Kraft, Know-how und schließlich nicht genügend Zeit haben, um zu verhindern, was sich abseits der offenen Kampfhandlungen im Stillen vollzieht.«

»Und was soll das sein?«, fragte Vanderbilt gelangweilt.

»Die Vernichtung der Menschheit.«

»Wie bitte?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Die haben beschlossen, mit uns in gleicher Weise zu verfahren, wie der Mensch mit Schädlingen verfährt. Sie wollen uns ausrotten …«

»Jetzt reicht’s aber!«

»… bevor wir das Leben in den Meeren ausrotten.«

Der CIA-Mann wuchtete sich hoch und richtete einen zitternden Zeigefinger auf Johanson. »Das ist der größte Schwachsinn, der mir jemals untergekommen ist! Was glauben Sie eigentlich, wozu Sie hier sind? Waren Sie zu oft im Kino? Wollen Sie uns weismachen, da sitzen diese … diese besseren ETs aus Abyss unten im Meer und drohen uns mit dem Finger, weil wir unartig waren?«

»Abyss?« Johanson überlegte. »Ach richtig. Nein, solche Wesen meine ich nicht. Das waren Außerirdische.«

»Das war genauso ein Blödsinn.«

»Nein. In Abyss lassen sich Wesen aus dem All in unseren Meeren nieder. Der Film verkauft sie als bessere Menschen. Sie haben eine moralische Botschaft. Vor allen Dingen verbannen sie uns nicht vom Gipfel der irdischen Evolution, wie es eine intelligente Rasse tun würde, die sich hier auf diesem Planeten entwickelt hat, parallel zu uns.«

»Doktor!« Vanderbilt zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von Stirn und Oberlippe. »Sie sind kein berufsmäßiger Geheimniskrämer wie wir. Sie haben nicht unsere Erfahrung. Es ehrt Sie, uns ein Viertelstündchen prima unterhalten zu haben, aber wenn Sie Lumpereien aufdecken wollen, müssen Sie als Erstes erkennen, welchem Zweck sie dienen. Wer hat Vorteile davon! Das bringt Sie auf die richtige Spur! Nicht dieses Herumstochern in …«

»Niemand hat Vorteile davon«, sagte jemand.

Vanderbilt drehte sich schwerfällig um.

»Sie irren, Vanderbilt.« Bohrmann hatte sich erhoben. »Bis gestern Nacht hat Kiel Szenarien entwickelt, was geschehen wird, wenn weitere Kontinentalabhänge kollabieren.«

»Ich weiß«, sagte Vanderbilt unwirsch. »Tsunamis und Methan. Wir bekommen ein Klimaproblemchen …«

»Nein.« Bohrmann schüttelte den Kopf. »Kein Problemchen. Wir bekommen unser Todesurteil. Es ist allgemein bekannt, was vor 55 Millionen Jahren auf der Erde passierte, als schon einmal alles Methan in die Atmosphäre entwich und …«

»Woher zum Teufel wollen Sie wissen, was vor 55 Millionen Jahren geschah?«

»Wir haben es ausgerechnet. Und jetzt haben wir es wieder ausgerechnet. Über die Küsten werden Tsunamis hereinbrechen und die Küstenpopulationen vernichten. Dann wird es langsam heiß auf der Erdoberfläche, unerträglich heiß, und wir werden alle sterben. Auch der Nahe Osten, Mr. Vanderbilt. Auch Ihre Terroristen. Alleine die Freisetzung des Methans vor Ostamerika und im Westpazifik dürfte ausreichen, unser aller Schicksal zu besiegeln.«

Plötzlich herrschte Totenstille.

»Und dagegen«, sagte Johanson leise, während er Vanderbilt ansah, »können Sie gar nichts machen, Jack. Denn Sie wissen nicht, wie. Und Sie haben keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, weil Sie mit Walen, Haien, Muscheln, Quallen, Krabben, Killeralgen und unsichtbaren Kabelfressern schon überfordert sind, die unsere Taucher und Tauchroboter und alles, womit wir einen Blick unter Wasser werfen könnten, eliminieren.«

»Wie lange kann es dauern, bis sich die Atmosphäre so weit aufgeheizt hat, dass die Menschheit ernsthaft bedroht ist?«, fragte Li.

Bohrmann runzelte die Stirn. »Ich schätze, einige hundert Jahre.«

»Wie beruhigend«, knurrte Vanderbilt.

»Nein, keineswegs«, sagte Johanson. »Wenn diese Wesen ihren Feldzug darauf gründen, dass wir ihren Lebensraum gefährden, müssen sie uns schnell loswerden. Erdhistorisch betrachtet sind ein paar hundert Jahre gar nichts. Aber der Mensch hat schon in kürzerer Zeit das Schlimmste angerichtet. Also sind sie in aller Ruhe noch einen Schritt weitergegangen. — Sie haben es geschafft, den Golfstrom zu stoppen.«

Bohrmann starrte ihn an.

»Sie haben was?«

»Er ist bereits gestoppt«, ließ sich Weaver vernehmen. »Vielleicht fließt er noch ein bisschen, aber er liegt in den letzten Zügen. Wenige Jahre, und die Welt kann sich bereitmachen für eine neue Eiszeit. In weniger als hundert Jahren wird es verflucht eisig auf der Erde werden.

Vielleicht schon in fünfzig oder vierzig Jahren. Vielleicht noch früher.«

»Augenblick mal«, rief Peak. »Das Methan würde die Erde aufheizen, so viel wissen wir auch. Die Atmosphäre könnte kippen. Aber wie passt das mit einer neuen Eiszeit zusammen, wenn der Golfstrom stoppt? Was soll denn dabei rauskommen, um Himmels willen? Ein Ausgleich des Schreckens?«

Weaver sah ihn an.

»Ich würde eher sagen, eine Potenzierung.«

Hatte es zu Beginn den Anschein gehabt, als stehe Vanderbilt allein da mit seiner rigorosen Ablehnung, wandelte sich das Bild in der darauf folgenden Stunde. Das Gremium spaltete sich in zwei Lager, die erbittert aufeinander losgingen. Alles wurde wieder aufgerollt. Die ersten Anomalien. Die Anfänge der Walattacken. Die Umstände, unter denen die Würmer entdeckt worden waren. Es ging zu wie auf dem Rugbyfeld. Rhetorische Ellbogen kamen zum Einsatz, Argumente wurden einander zugespielt, abwechselnd preschten die Fraktionen vor, umflankten den Gegner mit immer neuen Aspekten und versuchten, ihn auszutricksen. Ein Unterton mischte sich hinein, der Anawak bekannt vorkam. Er warf die Frage auf, ob es sein dürfe, dass eine parallele Intelligenz dem Menschen seine Vorherrschaft streitig macht! Niemand sprach es offen aus. Aber Anawak, geschult im Disput über tierische Intelligenz, erspürte den tieferen Gehalt in jedem Wort. Aggression schwang mit. Johansons Theorie spaltete nicht die Wissenschaft, sondern das Selbstverständnis einer Gruppe von Experten, die zuallererst Menschen waren. Vanderbilt scharte Rubin, Frost, Roche, Shankar und den zunächst zögerlichen Peak um sich. Johanson erhielt Verstärkung von Li, Oliviera, Fenwick, Ford, Bohrmann und Anawak. Die Geheimdienstler und Diplomaten saßen eine Weile dabei, als vollziehe sich vor ihren Augen ein absurdes Theaterstück. Dann mischten sie sich nach und nach ein.

Es war verblüffend.

Ausgerechnet diese Leute, berufsmäßige Spione, erzkonservative Sicherheitsberater und Terrorismusexperten, schlugen sich fast sämtlich auf Johansons Seite. Einer von ihnen sagte: »Ich bin ein nüchtern denkender Mensch. Wenn ich etwas höre, das mir einleuchtet, glaube ich es erst mal. Wenn etwas dagegensteht, das mit Winkelzügen erzwungen werden muss, nur damit es ins Raster unserer Erfahrungen passt, glaube ich es nicht.«

Als Erster desertierte Peak aus Vanderbilts kleiner Truppe. Dann folgten Frost, Shankar und Roche.

Schließlich schlug Vanderbilt erschöpft eine Pause vor.

Sie gingen nach draußen, wo ein Büffet mit Säften, Kaffee und Kuchen aufgebaut war. Weaver gesellte sich an Anawaks Seite.

»Sie hatten die wenigsten Probleme mit Johansons Theorie«, stellte sie fest. »Wie kommt’s?«

Anawak sah sie an und lächelte. »Kaffee?«

»Gerne. Mit Milch.«

Er goss zwei Tassen voll und reichte ihr die eine. Weaver war nur unwesentlich kleiner als er. Plötzlich fiel ihm auf, dass er sie mochte, obwohl sie bisher kaum miteinander gesprochen hatten. Er hatte sie vom ersten Moment an gemocht, als ihre Blicke sich vor dem Chateau getroffen hatten.

»Ja«, sagte er. »Die Theorie ist durchdacht.«

»Nur darum? Oder weil Sie sowieso an tierische Intelligenz glauben?« »Das tue ich nicht. Ich glaube an Intelligenz im Allgemeinen, aber auch, dass Tiere Tiere und Menschen Menschen sind. Wenn wir nachweisen könnten, dass Delphine ebenso intelligent sind wie wir, mit allen Konsequenzen, wären sie keine Tiere mehr.« »Und glauben Sie, dass es so ist?« Anawak schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass wir es nicht herausfinden werden, solange wir von der menschlichen Warte aus urteilen. — Halten Sie Menschen für intelligent, Miss Weaver?« Weaver lachte. »Ein Mensch ist intelligent. Viele Menschen sind eine dumpfe Horde.« Das gefiel ihm. »Sehen Sie?«, sagte er. »Genau das könnte man auch von …«

»Dr. Anawak?« Ein Mann kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. Er gehörte zum Sicherheitspersonal. »Sie sind doch Dr. Anawak?«

»Ja.«

»Sie werden am Telefon verlangt.«

Anawak runzelte die Brauen. Im Chateau war keiner von ihnen direkt erreichbar. Aber es gab eine Nummer, unter der Angehörige Nachrichten hinterlassen oder in dringenden Fällen anrufen konnten. Li hatte die Mitglieder des Stabs gebeten, sie sparsam zu verteilen.

Shoemaker hatte die Nummer. Wer noch?

»In der Halle«, sagte der Mann. »Oder möchten Sie das Gespräch auf Ihr Zimmer gestellt haben?« »Nein, ist schon okay. Ich komme mit.« »Bis gleich«, rief ihm Weaver nach.

Er folgte dem Sicherheitsbeamten durch die Halle. In einem der Seitenschiffe war eine Reihe provisorischer Telefonkabinen errichtet worden.

»Gleich die erste«, sagte der Mann. »Ich lasse den Anruf durchstellen. Es wird klingeln. Heben Sie einfach ab, dann sind Sie mit Tofino verbunden.«

Tofino? Also Shoemaker.

Anawak wartete. Es klingelte. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Ah, Leon«, erklang Shoemakers Stimme. »Tut mir wirklich Leid. Ich weiß, ich störe dich bei was Wichtigem, aber …«

»Macht nichts, Tom. War ein schöner Abend gestern.«

»Oh ja. Und … das hier ist auch wichtig. Es ist … ähm …« Shoemaker schien nach Worten zu ringen. Dann seufzte er leise. »Leon, ich muss dir was Trauriges sagen. Wir haben einen Anruf aus Cape Dorset erhalten.«

Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war es Anawak, als ziehe ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Er wusste, was ihn erwartete. Er wusste es, bevor Shoemaker die Worte sagte:

»Leon, dein Vater ist gestorben.«

Er stand wie gelähmt in der Zelle.

»Leon?«

»Alles okay, ich …«

Alles okay. Wie immer. Alles okay. Alles okay.

Was sollte er tun?

Nichts war okay!


Li

»Außerirdische?«

Der Präsident war merkwürdig gefasst.

»Nein«, sagte Li zum wiederholten Male. »Keine Außerirdischen. Bewohner dieses Planeten. Konkurrenz, wenn Sie so wollen.«

Die Offutt Airforce Base und das Chateau waren zusammengeschaltet. Außer dem Präsidenten nahmen in Offutt der Verteidigungsminister, der erste Sicherheitsberater, der Minister für Heimatschutz und die Außenministerin teil sowie der Direktor der CIA. Inzwischen bestand kein Zweifel mehr daran, dass Washington das Schicksal New Yorks teilen würde. Die Stadt wurde evakuiert. Das Kabinett war größtenteils nach Nebraska umgezogen. Erste Todesfälle unterstrichen die Dramatik der Situation, aber der Rückzug ins Landesinnere erfolgte geschlossen und weitgehend nach Plan. Diesmal war man besser vorbereitet.

Im Chateau hatten sich Li, Vanderbilt und Peak versammelt. Li wusste, dass die in Offutt es hassten, dort herumsitzen zu müssen. Der CIA-Direktor vermisste sein Amtszimmer im sechsten Stock der Zentrale am Potomac. Insgeheim beneidete er seinen Direktor für Terrorismusbekämpfung, der sich schlicht geweigert hatte, seine Mitarbeiter zu evakuieren.

»Bringen Sie Ihre Leute in Sicherheit«, hatte er dem Mann befohlen.

»Das ist eine Krise, die von jemandem gesteuert wird«, war die Antwort gewesen. »Eine terroristische Krise. Die Leute im Global Response Center müssen an ihren Computern sitzen bleiben und arbeiten. Sie haben eine entscheidende Aufgabe zu erfüllen. Sie sind die Augen, mit denen wir den internationalen Terrorismus beobachten. Die können wir nicht evakuieren.«

»Es sind biologische Killer, die New York angreifen«, hatte der CIA-Direktor erwidert. »Schauen Sie, was dort los ist. In Washington wird es nicht anders sein.«

»Das Global Response Center wurde nicht ins Leben gerufen, um in einer solchen Situation das Weite zu suchen.«

»Gut, aber Ihre Leute könnten sterben.«

»Dann sterben sie eben.«

Auch der Verteidigungsminister hätte die Lage lieber vom Schreibtisch seines wuchtigen Arbeitszimmers aus dirigiert, und der Präsident war ohnehin jemand, den man festbinden musste, damit er nicht den nächsten Jet kaperte und zurück zum Weißen Haus flog. Man konnte ihm vieles nachsagen, aber nicht, dass er feige war. Genau genommen war er so mutig, dass manche seiner Gegner den Verdacht hegten, er sei einfach zu ignorant, um Angst zu empfinden.

Dabei war die Offutt Airforce Base wie ein zweiter Regierungssitz ausgestattet. Aber sie hatten dorthin fliehen müssen. Darin lag das Problem. Und darum, schätzte Li, nahmen sie die Hypothese von der intelligenten Macht im Meer spontan positiv auf. Vor menschlichen Gegnern zurückweichen zu müssen, denen man nichts entgegenzusetzen hatte als Ratlosigkeit, hätte eine unerträgliche Schmach für die Administration bedeutet. Johansons Theorie warf ein völlig neues Licht auf die Angelegenheit. Sie nahm rückwirkend den Druck von den Sicherheitsberatern, vom Verteidigungsministerium, vom Präsidenten.

»Was halten Sie davon?«, fragte der Präsident in die Runde. »Ist so etwas möglich?«

»Was ich persönlich für möglich halte und was nicht, spielt keine Rolle«, sagte der Verteidigungsminister barsch. »Die Experten sitzen im Chateau. Wenn sie zu einer solchen Schlussfolgerung gelangen, müssen wir sie ernst nehmen und fragen, was als Nächstes zu tun ist.«

»Sie wollen das ernst nehmen?«, fragte Vanderbilt entgeistert. »Aliens? Grüne Männchen?«

»Keine Außerirdischen«, wiederholte Li geduldig.

»Wir werden ein ganz anderes Problem bekommen«, bemerkte die Außenministerin. »Nehmen wir an, die Theorie stimmt. Wie viel davon können wir der Öffentlichkeit zumuten?«

»Was? Nichts!« Der CIA-Direktor schüttelte energisch den Kopf. »Wir hätten sofort ein weltweites Chaos.«

»Das haben wir ohnehin.«

»Trotzdem. Die Medien würden uns schlachten. Sie würden uns für verrückt erklären. Erstens werden sie uns nicht glauben, zweitens werden sie uns nicht glauben wollen. Die Existenz einer solchen Rasse würde die Bedeutung der Menschheit in Frage stellen.«

»Das ist ein vorwiegend religiöses Problem«, winkte der Verteidigungsminister ab. »Politisch nicht relevant.«

»Es gibt keine Politik mehr«, sagte Peak. »Nichts, was man losgelöst betrachten kann von Angst und Elend. Fahren Sie mal nach Manhattan. Machen Sie sich ein Bild. Was meinen Sie, was da gebetet wird von Leuten, die in ihrem Leben nie in einer Kirche gewesen sind.«

Der Präsident richtete einen nachdenklichen Blick zur Decke. »Wir müssen uns fragen«, sagte er, »was Gottes Pläne in der Sache sind.«

»Gott sitzt nicht in Ihrem Kabinett, Sir, wenn ich das anmerken darf«, sagte Vanderbilt. »Er ist auch nicht auf unserer Seite.«

»Das ist kein guter Standpunkt, Jack«, sagte der Präsident mit zusammengezogenen Brauen.

»Ich habe aufgehört, Standpunkte nach gut oder schlecht zu unterteilen, solange sie sinnvoll sind. Jeder hier ist offenbar der Meinung, an dieser Theorie sei was dran. Ich frage mich also, wer von uns bescheuert ist …«

»Jack«, sagte der CIA-Direktor warnend.

»… aber ich bin bereit einzugestehen, dass ich es bin. Trotzdem werde ich erst einlenken, wenn ich Beweise sehe. Wenn ich mit diesen Knilchen gesprochen habe, diesem Gezücht im Wasser. Bis dahin warne ich eindringlich davor, die Möglichkeit eines groß angelegten terroristischen Anschlags auszuschließen und unsere Wachsamkeit zu vernachlässigen.«

Li legte ihm die Hand auf den Unterarm.

»Jack, warum sollten Menschen einen solchen Weg wählen?«

»Um Leute wie Sie glauben zu machen, E. T. hätte es auf uns abgesehen. Und es funktioniert. Zum Teufel, es funktioniert!«

»Niemand hier ist naiv«, sagte der Sicherheitsberater ärgerlich. »Wir werden in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen, aber mal ehrlich, mit Ihrer Terrorismuspsychose kommen wir doch keinen Zoll weiter. Wir können ohne Ende nach durchgeknallten Mullahs oder schwerreichen Superverbrechern Ausschau halten, und derweil rutschen noch ein paar Hänge ab, und unsere Städte werden überspült, unschuldige Amerikaner sterben, also was ist eigentlich Ihr Vorschlag, Jack?«

Vanderbilt verschränkte zornig die Arme über seinem Bauch. Er sah aus wie ein schmollender Buddha.

»Ich habe da einen Vorschlag herausgehört«, sagte Li langsam.

»Nämlich?«

»Mit den Knilchen zu reden. Kontakt aufzunehmen.«

Der Präsident legte die Fingerspitzen aufeinander. Dann sagte er bedächtig: »Dies ist eine Prüfung. Eine Prüfung für die menschliche Rasse. Vielleicht hat Gott diesen Planeten für zwei Rassen bestimmt. Vielleicht hat aber die Bibel Recht, wenn sie vom Tier spricht, das aus dem Meer steigt. Gott sagt, macht euch die Erde untenan, und er hat es nicht zu irgendwelchen Wesen im Meer gesagt.«

»Nein, absolut nicht«, murmelte Vanderbilt. »Er hat es zu den Amerikanern gesagt.«

»Vielleicht ist dies der Kampf gegen das Böse, die oft vorausgesagte große Schlacht.« Der Präsident richtete sich ein Stück auf. »Und wir sind auserkoren, sie zu schlagen und zu gewinnen.«

»Vielleicht«, griff Li den Gedanken auf, »wird, wer diese Schlacht gewinnt, die Welt gewinnen.«

Peak sah sie von der Seite her an und schwieg.

»Wir sollten Johansons Theorie offen mit den Regierungen der NATO-Staaten und der EU erörtern«, schlug die Außenministerin vor. »Dann sollten wir die Vereinten Nationen einbeziehen.«

»Und ihnen zugleich klar machen, dass sie kaum in der Lage sein werden, eine solche Operation durchzuführen«, sagte Li schnell. »Ich meine, nutzen wir ruhig das Knowhow und die Kreativität ihrer besten Köpfe. Ich schlage vor, auch befreundete arabische und asiatische Staaten einzubinden. Das macht auf alle Fälle einen guten Eindruck. Aber zugleich wird es Zeit, dass wir die Gelegenheit wahrnehmen, uns an die Spitze der Weltengemeinschaft zu stellen. — Dies ist kein Meteoriteneinschlag, der uns alle vorn Angesicht der Erde fegen wird. Es ist eine schreckliche Bedrohung, derer wir Herr werden können, wenn wir jetzt keinen Fehler machen.«

»Greifen Ihre Gegenmaßnahmen?«, fragte der Sicherheitsberater.

»Überall auf der Welt laufen die Forschungen nach einem Immunstoff auf Hochtouren. Wir versuchen, etwas gegen das Eindringen der Krabben und gegen die Angriffe durch Wale zu unternehmen und diese Würmer einzufangen, was sich schwierig gestaltet. Wir tun eine ganze Menge, um die Risiken einzudämmen, aber es wird nicht reichen, wenn wir weiter konventionell verfahren. Der Stopp des Golfstroms verdammt uns zur Hilflosigkeit. Der Methan-GAU ist nicht aufzuhalten. Selbst wenn es uns gelingt, Millionen dieser Würmer aus dem Meer zu fischen, können wir nicht sehen, wo sie sich angesiedelt haben, und es werden neue kommen. Nachdem es unmöglich geworden ist, Roboter, Sonden und Tauchboote nach unten zu schicken, sind wir blind geworden. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was da unten vorgeht. Heute Nachmittag hörte ich, dass wir vor der Georges Bank zwei riesige Schleppnetze verloren haben. Zu drei Trawlern, die in Höhe des Laurentiusgrabens unterwegs waren, um den Grund abzuweiden, haben wir jeden Kontakt verloren. Suchflugzeuge sind unterwegs, aber das ist schwieriges Terrain. Östlich davon liegen die Bänke von Neufundland. Eine Zone permanenten Nebels, und seit zwei Tagen tobt dort ein ziemlicher Sturm.« Sie machte eine Pause. »Das sind zwei Beispiele von tausenden. Fast alle Meldungen spiegeln unser Versagen wider. Die Drohnenaufklärung arbeitet gut, mehrfach konnten wir Krabbenheere mit Flammenwerfern eindämmen, aber dafür kommen sie dann anderswo rausgekrochen. Wir müssen einsehen, dass wir auf dem Meer wenig zu melden haben. Es war schon wenig genug, als von dort noch keine Gefahr ausging, aber jetzt …«

»Und die Sonarattacken?«

»Wir setzen sie fort, aber sie versprechen keinen wirklichen Erfolg. Es funktioniert nur, wenn wir die Tiere töten. Die Wale fliehen nicht vor dem Lärm, wie es jedes Tier tun würde, das seine Instinkte beisammen hat. Ich schätze, dass sie fürchterlich leiden, aber sie sind fremdgesteuert. Der Terror geht weiter.«

»Da Sie von Planung sprechen, Jude«, sagte der Verteidigungsminister. »Erkennen Sie eine Strategie hinter alldem?«

»Ich denke schon. Fünfstufig und verzahnt. Schritt eins ist die Vertreibung des Menschen von der Meeresoberfläche und aus den Meerestiefen. — Schritt zwei gipfelt in der Vernichtung und Vertreibung der Küstenpopulationen. Siehe Nordeuropa. — Schritt drei umfasst die Vernichtung unserer Infrastruktur. Ebenfalls Nordeuropa, wo die Offshore-Industrie empfindlich getroffen wurde. Das Lahmlegen des Fischfangs wird uns zudem ein gewaltiges Ernährungsproblem bescheren, speziell der Dritten Welt. — Schritt vier, Vernichtung der Stützpfeiler unserer Zivilisation, der Großstädte, durch Tsunamis, bakteriologische Vergiftung, Zurückdrängen der Bevölkerung ins Landesinnere. — Und schließlich der fünfte und letzte Schritt: Das Klima kippt, die Erde wird für Menschen unbewohnbar. Sie vereist oder ertrinkt, wird aufgeheizt oder abgekühlt oder beides — das wissen wir noch nicht im Einzelnen.«

Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen.

»Aber wird die Erde dann nicht auch unbewohnbar für die gesamte Tierwelt?«, fragte der Sicherheitsberater.

»An der Oberfläche — ja. Oder sagen wir, ein großer Teil der Tierwelt dürfte dabei hopsgehen. Aber ich habe mir sagen lassen, so was sei vor 55 Millionen Jahren schon mal passiert, und im Endeffekt hat es nur dazu geführt, dass eine Menge Tiere und Pflanzen ausstarben und Platz für neue Arten machten. Ich denke, diese Wesen werden sich sehr genau überlegt haben, wie sie selber eine solche Katastrophe unbeschadet überstehen.«

»Eine derartige Vernichtungsschlacht, das ist …« Der Minister für Heimatschutz rang nach Worten. »Das ist unverhältnismäßig, unmenschlich …«

»Es sind keine Menschen«, sagte Li geduldig.

»Aber wie können wir sie dann stoppen?«

»Indem wir herausfinden, wer sie sind«, sagte Vanderbilt.

Li wandte ihm den Kopf zu. »Höre ich da späte Einsicht?«

»Mein Standpunkt bleibt derselbe«, sagte Vanderbilt gleichmütig. »Erkenne den Zweck einer Handlung, und du weißt, wer sie vollbringt. In diesem Fall gestehe ich zu, dass Ihre Fünf-Stufen-Strategie augenblicklich die einleuchtendste ist. Also müssen wir den nächsten Schritt gehen. Wer sind sie, wo sind sie, wie denken sie?«

»Was kann man gegen sie tun«, fügte der Verteidigungsminister hinzu.

»Das Böse«, sagte der Präsident mit stark zusammen gekniffenen Lidern. »Wie kann man das Böse besiegen?«

»Reden wir mit ihnen«, sagte Li.

»Kontaktaufnahme?«

»Man kann auch mit dem Teufel verhandeln. Ich sehe augenblicklich keinen anderen Weg. Johanson vertritt die These, dass sie uns auf Trab halten, um uns daran zu hindern, Lösungen zu finden. So viel Zeit dürfen wir ihnen nicht geben. Noch sind wir handlungsfähig, also sollten wir sie suchen und Kontakt aufnehmen. — Dann schlagen wir zu.«

»Gegen Tiefseewesen?« Der Minister für Heimatschutz schüttelte den Kopf. »Du lieber Himmel.«

»Sind wir eigentlich alle der Ansicht, dass an der Theorie was dran ist?«, fragte der CIA-Direktor in die Runde. »Ich meine, wir reden darüber, als seien sämtliche Zweifel ausgeräumt. Wollen wir uns ernsthaft auf den Gedanken einlassen, dass wir die Erde mit einer zweiten intelligenten Rasse teilen?«

»Es gibt nur eine göttliche Rasse«, betonte der Präsident entschieden. »Und das ist die Menschheit. Wie intelligent diese Lebensform im Meer ist, steht auf einem anderen Blatt. Ob sie das Recht hat, diesen Planeten ebenso zu beanspruchen wie wir, darf zutiefst bezweifelt werden. Die Schöpfungsgeschichte sieht solche Wesen nicht vor. Die Erde ist die Welt der Menschen, sie wurde für die Menschen geschaffen, und Gottes Plan ist unser Plan. — Aber dass eine fremdartige Lebensform für all dies verantwortlich ist, scheint mir akzeptabel.«

»Nochmal«, wollte die Außenministerin wissen. »Was sagen wir der Welt?« »Es ist zu früh, der Welt etwas zu sagen.« »Sie wird Fragen haben.«

»Erfinden Sie Antworten. Dafür sind Sie Diplomatin. Wenn wir der Welt damit kommen, im Meer wohne eine zweite Menschheit, wird sie schon am Schock eingehen.«

»Übrigens«, sagte der CIA-Direktor an Li gewandt. »Wie sollen wir diese kranken Hirne im Ozean überhaupt nennen?«

Li lächelte. »Johanson hatte einen Vorschlag: Yrr.«

»Yrr?«

»Y und zwei r. Es ist ein zufälliger Name. Das Resultat unbewusster Fingerarbeit auf dem Laptop.«

»Albern.«

»Er meint, der Name sei so gut wie jeder andere, und da gebe ich ihm Recht. Ich finde, wir sollten sie Yrr nennen.«

»Gut, Li.« Der Präsident nickte. »Wir werden sehen, was an dieser Theorie dran ist. Wir müssen alle Optionen in Erwägung ziehen, alle Möglichkeiten. Aber wenn wir am Ende wirklich feststellen, dass wir eine Schlacht gegen Wesen zu schlagen haben, die wir meinethalben Yrr nennen wollen, werden wir eben die Yrr besiegen. Dann gibt es Krieg gegen die Yrr.« Er sah in die Runde. »Dies ist eine Chance. Eine sehr große Chance. Ich will, dass sie genutzt wird.«

»Mit Gottes Hilfe«, sagte Li.

»Amen«, nuschelte Vanderbilt.


Weaver

Zu den Vorzügen des Chateaus in Zeiten der Belagerung gehörte, dass alles durchgehend geöffnet hatte. Niemand hier ging den Gewohnheiten der üblichen Gästeschaft nach. Li hatte geltend gemacht, dass insbesondere die Wissenschaftler Tag und Nacht würden arbeiten müssen und möglicherweise morgens um vier Lust auf T-Bone-Steak bekämen. Als Folge gab es rund um die Uhr warme Mahlzeiten, Restaurants, Bar und Aufenthaltsräume waren besetzt, und sämtliche Sportanlagen inklusive Sauna und Schwimmbad hatten vierundzwanzig Stunden geöffnet.

Weaver hatte eine halbe Stunde lang im Pool ihre Bahnen gezogen. Mittlerweile war es nach eins. Barfuß und mit nassen Haaren, in einen weichen Bademantel gehüllt, durchquerte sie die Lobby zu den Aufzügen, als sie aus dem Augenwinkel Leon Anawak bemerkte. Er saß am Tresen der Hotelbar, ein Platz, wo er ihrer Meinung nach am allerwenigsten hinpasste. Verloren hockte er vor einer unangetasteten Cola und einer Schale Erdnüsse, pickte alle paar Sekunden eine heraus, sah sie an und ließ sie zurückfallen.

Sie zögerte.

Seit der abgebrochenen Unterhaltung vom Vormittag hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht wollte er ungestört sein. Immer noch herrschte Geschäftigkeit in der Halle und den angrenzenden Räumen, nur die Bar war nahezu leer. In einer Ecke saßen zwei Männer in dunklen Anzügen, in gedämpfte Unterhaltung vertieft. Ein Stück weiter starrte eine Frau im Drillich konzentriert in ihren Laptop. Leise Westcoastmusik wob die Szene in Belanglosigkeit.

Anawak sah nicht eben glücklich aus.

Während sie noch überlegte, ihre Suite aufzusuchen, betrat sie schon die Bar. Ihre Füße patschten leicht auf dem Parkett. Sie ging ans Ende des Tresens, wo er saß, und sagte:

»Hi.«

Anawak drehte den Kopf. Sein Blick war vollkommen leer.

Unwillkürlich blieb sie stehen. Man konnte die Intimsphäre eines Menschen schneller verletzen, als es einem auffiel, und dann hatte man für alle Zeiten den Ruf weg, aufdringlich zu sein. Sie lehnte sich gegen den Tresen und zog den Bademantel enger um die Schultern. Zwei Barhocker standen zwischen ihnen.

»Hi«, sagte Anawak. Sein Blick flackerte. Erst jetzt schien er sie richtig wahrzunehmen.

Sie lächelte.

»Was … ähm, machen Sie?« Blöde Frage. Was machte er? Er saß an einer Theke und spielte mit Erdnüssen rum. »Sie waren plötzlich verschwunden heute Morgen.«

»Ja. Tut mir Leid.«

»Nein, muss es nicht«, sagte sie eilig. »Ich meine, ich wollte nicht stören, es ist nur, dass ich Sie hier sitzen sah und dachte …«

Irgendetwas stimmte nicht. Am besten, sie machte sich schleunigst wieder davon.

Anawak schien vollständig aus seiner Starre zu erwachen. Er griff nach seinem Glas, hob es hoch und stellte es wieder ab. Sein Blick fiel auf den Barhocker neben ihm.

»Lust, was zu trinken?«, fragte er.

»Störe ich Sie wirklich nicht?«

»Nein, überhaupt nicht.« Er zögerte. »Ich heiße übrigens Leon. Wir sollten uns duzen, oder?«

»Gut, dann … Ich heiße Karen, und … Baileys auf Eis, bitte.«

Anawak winkte den Barmann heran und gab die Bestellung auf. Sie trat näher, ohne sich zu setzen. Tropfen kalten Wassers liefen aus ihren Haaren den Hals hinunter und sammelten sich zwischen ihren Brüsten.

Im Allgemeinen hatte sie keine Probleme damit, halb nackt herumzulaufen, aber plötzlich fühlte sie sich unbehaglich.

Sie sollte austrinken und schnell wieder verschwinden.

»Und wie geht’s dir?«, fragte sie, während sie an der cremigen Flüssigkeit nippte.

Anawak legte die Stirn in Falten. »Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Nein.« Er griff nach einer Erdnuss, legte sie vor sich hin und schnippte sie weg. »Mein Vater ist gestorben.«

Ach du Scheiße.

Sie hatte es gewusst. Sie hätte nicht hineingehen sollen. Jetzt stand sie hier und trank Baileys mit jemandem, der sich dermaßen ostentativ ans hintere Ende der Bar verzogen hatte, dass er ebenso gut ein Schild hätte aufstellen können mit dem Hinweis, sich fern zu halten.

»Woran?«, fragte sie vorsichtig.

»Keine Ahnung.«

»Die Ärzte wissen es noch nicht?«

»Ich weiß es noch nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es wissen will.«

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich bin heute Nachmittag durch die Wälder gelaufen. Stundenlang. Manchmal geschlichen, dann wieder gerannt wie ein Wahnsinniger. Auf der Suche nach einer … Empfindung. Ich dachte, es muss doch irgendeinen Gefühlszustand geben, der zur Situation passt, aber ich habe mir die ganze Zeit über nur selber Leid getan.« Er sah sie an. »Kennst du das? Wo immer du gerade bist, willst du sofort wieder weg. Alles scheint dich zu bedrängen, und plötzlich merkst du, dass es gar nicht an dir selber liegt. Du bist es nicht, der weg will. Es sind die Orte, die dich loswerden wollen. Sie scheinen dich abzustoßen, dir zu sagen, dass du da nicht hingehörst. Aber keiner erklärt dir, wo du hingehörst, und du rennst und rennst …«

»Klingt komisch.« Sie dachte darüber nach. »Ich kenne so was Ähnliches vom Betrunkensein. Wenn du dermaßen voll bist, dass dir in jeder Lage kotzübel wird, egal wie du dich drehst und legst und wendest.« Sie stockte. »Entschuldige. Dumme Antwort.«

»Nein, gar nicht! Du hast Recht. Dir geht’s erst besser, wenn du gekotzt hast. Genau so fühle ich mich. Ich müsste wahrscheinlich kotzen, aber ich weiß nicht, wie.«

Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. Die Musik dudelte unablässig vor sich hin. »Hattest du kein gutes Verhältnis zu deinem Vater?« »Ich hatte gar kein Verhältnis zu ihm.«

»Tatsächlich?« Weaver runzelte die Stirn. »Gibt es das? Kann man gar kein Verhältnis zu jemandem haben, den man kennt?«

Anawak zuckte die Achseln.

»Und du?«, fragte er. »Was machen deine Eltern?«

»Sie sind tot.«

»Das … oh. Das tut mir Leid.«

»Schon in Ordnung. Ist ja nichts dabei. Ich meine, Menschen sterben, auch Eltern. Meine sind gestorben, als ich zehn war. Tauchunfall vor Australien. Ich war im Hotel, als es passierte. Starke Bodenströmung. Eine Weile ist alles ruhig, und plötzlich wirst du fortgerissen und ins offene Meer gezogen. An sich waren sie vorsichtig und erfahren, aber … na ja.« Sie zuckte die Achseln. »Das Meer ist immer anders.«

»Hat man sie gefunden?«, fragte Anawak leise.

»Nein.«

»Und du? Wie bist du damit zurechtgekommen?«

»Eine Zeit lang war es ziemlich hart. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, weißt du. Wir sind ständig nur gereist. Sie waren beide Lehrer und fasziniert vom Wasser. Alles haben wir gemacht, Segeln auf den Malediven, Tauchen im Roten Meer, Höhlentauchen in Yucatan. Sogar vor Schottland und Island sind wir runter. Natürlich blieben sie näher an der Oberfläche, wenn ich dabei war, aber ich hab trotzdem alles gesehen. Nur auf die gefährlichen Tauchgänge haben sie mich nicht mitgenommen. — Und den einen haben sie dann auch nicht überlebt.« Sie lächelte. »Aber du siehst ja, es ist noch was aus mir geworden.«

»Ja.« Er lächelte zurück. »Nicht zu übersehen.«

Es war ein trauriges, hilfloses Lächeln. Eine Weile sah er sie einfach nur an. Dann rutschte er von seinem Hocker. »Ich glaube, ich sollte es mal mit Schlafen versuchen. Morgen fliege ich zur Beerdigung.« Er zögerte. »Also, gute Nacht und … danke.«

»Wofür?«

Danach saß sie vor ihrem halb ausgetrunkenen Baileys und dachte an ihre Eltern und an den Tag, als die Leute von der Hotelleitung gekommen waren und die Managerin ihr gesagt hatte, sie müsse jetzt ganz tapfer sein. Tapferes, kleines Mädchen. Starke, kleine Karen.

Sie ließ den Likör im Glas hm— und herschwappen. Wie hart es gewesen war, hatte sie Anawak nicht erzählt. Nichts davon, wie ihre Großmutter sie zu sich genommen hatte, ein verstörtes, verängstigtes Kind, das seine Trauer in Wut umsetzte, sodass die alte Frau nicht mit ihr fertig wurde. Wie sich ihre Leistungen in der Schule rapide verschlechterten, zeitgleich mit ihrem Umgang. Nichts vom ständigen Ausreißen und Herumziehen, von den ersten Joints und den härteren Sachen, von der Zeit als Punk auf der Straße und wie es war, ständig betrunken oder bekifft zu sein und mit jedem zu schlafen, der nicht Nein sagte. Und Nein gesagt hatte eigentlich keiner. Dann kleinere Diebstähle, Schulverweis, eine schlampig durchgeführte Abtreibung, härtere Drogen, Autoknacken, Jugendamt. Ein halbes Jahr im Heim für schwer Erziehbare. Den Körper voller Piercings. Glatze und Narben. Seelisch und körperlich ein Schlachtfeld.

Tatsächlich hatte der Unfall ihrer Liebe zum Meer keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Mehr denn je übte es eine dunkle Faszination auf sie aus, schien sie zu rufen, hinab zum Grund, wo ihre Eltern warteten. So heftig lockte die See, dass sie eines Nachts per Anhalter nach Brighton gefahren und weit hinausgeschwommen war, und als das ölig schwarze, mondbeschienene Wasser die Lichter des Badeorts beinahe verschluckte, hatte sie sich langsam unter die Oberfläche sinken lassen und versucht zu ertrinken.

Aber man ertrank nicht so einfach.

Sie hatte in der Lichtlosigkeit des Kanals gehangen, mit angehaltenem Atem, und ihre Herzschläge gezählt, bis sie in den Ohren dröhnten. Anstatt ihre Lebenskraft in sich aufzunehmen, hatte das Meer sie ihr gezeigt: so stark, dieses Herz! So trotzig dagegen anschlagend, dass sie sich der kalten Umarmung ergeben wollte, und plötzlich hatte der Atemreflex eingesetzt und sie gezwungen, Wasser in ihre Lungen aufzunehmen. Was nun geschah, davon hatte sie ihren Vater oft genug reden hören. Schaum würde sich in der Lunge bilden, das filigrane Netzwerk aus Bläschen in sich zusammenfallen, akuter Sauerstoffmangel zum Tod führen. Zwei Minuten bis zum Krampfstadium des Zwerchfells, keine Atmung mehr möglich. Fünf Minuten bis zum Herztod.

Sie war nach oben geschossen und aufgetaucht aus dem Alptraum, der mit ihrem zehnten Lebensjahr begonnen hatte und mit ihrem sechzehnten endete, unmittelbar neben einem Kutter. Man brachte sie mit einer schweren Unterkühlung ins Krankenhaus, wo sie genügend Zeit fand, Mut und Entschlossenheit in einen Plan zu binden. Nach ihrer Entlassung betrachtete sie ihren Körper eine Stunde lang im Spiegel und beschloss, ihn nie wieder so sehen zu wollen. Sie entfernte die Piercings, hörte auf, ihren Schädel zu rasieren, versuchte zehn Liegestütze und brach zusammen.

Nach einer Woche gelangen ihr zwanzig. Mit aller Macht versuchte sie zurückzuerlangen, was ihr verlorengegangen war. Die Schule nahm sie wieder auf unter der Bedingung, dass sie sich einer Therapie unterzog, und sie willigte ein. Zeigte sich lernwillig und diszipliniert. War zuvorkommend und freundlich zu jedermann. Las, was immer sie in die Finger bekommen konnte, vorzugsweise über das Ökosystem Erde und die Ozeane. Kein Tag verging, an dem sie nicht trainierte. Seit der Kanal sie freigegeben hatte, lief, schwamm, boxte und kletterte sie, um die letzten Spuren der verlorenen Zeit zu tilgen, bis nichts mehr an das dünne, hohläugige Mädchen erinnerte, das sie gewesen war. Als sie mit neunzehn und einjähriger Verspätung einen glänzenden Collegeabschluss hinlegte und sich an der Universität für Biologie und Sport einschrieb, glich ihr Körper den Darstellungen hellenischer Wettkämpfer. Karen Weaver war ein neuer Mensch geworden. Mit einer alten Sehnsucht. Um die Welt zu verstehen, wie sie funktionierte, belegte sie außerdem Informatik. Die Darstellung komplexer Zusammenhänge durch Computer begeisterte sie, und sie ruhte nicht eher, bis sie selber in der Lage war, Abläufe in Ozean und Atmosphäre virtuell darzustellen. Ihre erste Arbeit gab ein umfassendes Bild der Meeresströmungen wieder, das dem allgemeinen Wissen zwar nichts Neues hinzufügte, nur dass es von großer Brillanz und Stimmigkeit war: eine Hommage an zwei Menschen, die sie geliebt und zu früh verloren hatte. Indem sie den Kopf unter Wasser steckte und forschte, gab sie etwas zurück von dem, was sie im Überfluss erhalten hatte: Liebe und Wissen. Sie gründete ihr PR-Büro Deepbluesea, schrieb für Science und National Geographie, erhielt Kolumnen in populärwissenschaftlichen Titeln und zog das Interesse der Institute auf sich, die sie zu Expeditionen einluden, weil sie eine Stimme brauchten, um ihren Ideen Gestalt zu geben. Mit der MIR reiste sie zur Titanic, die Alvin brachte sie zu den hydrothermalen Schloten des Atlantischen Tiefseerückens, die Polarstern zum Überwintern in die Antarktis. Überall war sie mit dabei, und aus allem machte sie das Beste, weil sie seit der Nacht im Kanal keine Furcht mehr kannte. Nichts und niemand machte ihr mehr Angst.

Bis auf das Alleinsein. Gelegentlich.

Sie sah sich im Spiegel der Bar stehen, nass, in Frottee gehüllt, einigermaßen ratlos.

Schnell stürzte sie den Baileys hinunter und ging zu Bett.


14. Mai

Anawak

Das Motorengeräusch begann ihn langsam, aber sicher einzuschläfern.

Nachdem er sich endlich zu der Reise durchgerungen hatte, war Anawak von Schwierigkeiten ausgegangen. Er hatte gedacht, Li würde ihn vielleicht nicht gehen lassen, aber sie hatte ihn regelrecht gedrängt, das nächste Flugzeug zu nehmen.

»Wenn ein Elternteil stirbt oder ein Kind, muss man zu seiner Familie. Sie würden es sich nie verzeihen, wenn Sie hier blieben. Die Familie ist das Wichtigste im Leben. Nur in der Familie herrscht Verlass. Seien Sie erreichbar. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«

Jetzt, als Anawak im Flugzeug saß, fragte er sich, ob Li überhaupt Familie besaß.

Und er? Besaß er Familie?

Absurd. Jemand, der möglicherweise keine Beziehung zu seiner Familie hatte, sang jemandem, der ebenso wenig eine hatte, das Hohelied der engeren Verwandtschaft.

Sein Sitznachbar, ein Klimaforscher aus Massachusetts, begann leise zu schnarchen. Anawak stellte die Lehne seines Sitzes ein Stück nach hinten und sah aus dem Fenster. Er war seit Stunden mit sich und seinen Gedanken allein, und noch war er nicht sicher, ob es ihm gut tat. Eine Boeing der Canadian Airlines International hatte ihn von Vancouver zuerst zum Toronto Pearsons Airport geflogen, wo gelandete Maschinen in langen Reihen auf ihre Abfertigung warteten. Über Toronto war ein ungewöhnlich heftiges Gewitter niedergegangen und hatte den Flugbetrieb vorübergehend lahm gelegt. Anawak war es vorgekommen wie ein böses Omen. Voller Unruhe saß er in der Abfertigungshalle des Toronto Airport, während draußen eine Maschine nach der anderen an den ziehharmonikaförmigen Fingern festmachte, bis es mit zweistündiger Verspätung endlich weiterging nach Montreal.

Von da an war alles glatt verlaufen. Er hatte in der Nähe des Dorval Airport ein Zimmer in einem Holiday Inn gebucht und früh wieder im Warteraum gesessen. Erste Anzeichen deuteten darauf hin, dass er in eine andere Welt übertrat. Eine Gruppe von Männern stand mit dampfenden Kaffeebechern am großen Panoramafenster. Sie trugen die Embleme von Ölfirmen auf ihren Overalls und schienen nur etwas Handgepäck mit sich zu führen. Zwei von ihnen hatten Gesichter wie Anawak. Breitflächig und dunkel, mit mongolisch geschnittenen Augen. Draußen verschwanden riesige, voll gepackte Paletten, festgezurrt mit Packnetzen, im Bauch der Canadian North Airlines Boeing 737, eine nach der anderen. Noch während sie von den Hebebühnen geschoben wurden, erging der Aufruf an die Passagiere. Sie überquerten das Flugfeld zu Fuß und betraten die Maschine über die Leiter unter dem Heck. Die Sitzreihen waren auf das vordere Drittel beschränkt, alles andere hatte dem Stauraum weichen müssen.

Seit über zwei Stunden war Anawak nun wieder unterwegs. Von Zeit zu Zeit ruckelte es leicht. Den größten Teil der Strecke waren sie über dichte Wolkenfelder geflogen. Jetzt, kurz vor der Hudson Strait, schoben sich die aufgetürmten Massen auseinander und legten die schwarzbraune Tundralandschaft unter ihnen frei, bergig und zerklüftet, gefleckt von Schneefeldern und immer wieder durchbrochen von Seen, auf denen große Eisschollen trieben. Dann kam die Küste in Sicht. Die Hudson Strait schob sich unter sie, und Anawak spürte, wie er die letzte Grenze überschritt. Ein wildes Durcheinander von Gefühlen brach über ihn herein und riss ihn aus seiner Dösigkeit. In jedem Vorhaben gab es einen point of no return. Streng genommen war Montreal dieser Punkt gewesen, aber symbolisch war es die Hudson Strait. Jenseits der Wasserstraße begann die Welt, in die er nie wieder hatte zurückkehren wollen.

Anawak war unterwegs in das Land seiner Geburt, in seine Heimat am Saum des Polarkreises, nach Nunavut.

Er sah weiter hinaus und versuchte, jedes Denken auszuschalten. Nach einer weiteren halben Stunde überflogen sie wieder Land, dann eine gleißende, eisüberzogene Fläche, die Frobisher Bay im Südosten von Baffin Island. Die Maschine legte sich in eine Rechtskurve und ging schnell tiefer. Ein knallgelbes Gebäude mit einem gedrungenen Lotsenturm kam ins Bild. In die hügelige, dunkle Landschaft gekauert, wirkte es wie der menschliche Außenposten auf einem fremden Planeten, aber es war nur der Flughafen von Iqaluit, der »Schule der Fische«, Nunavuts Hauptstadt.

Die Boeing setzte auf und rollte langsam aus.

Anawak musste nicht lange auf die Gepäckausgabe warten. Er nahm seinen hoch gepackten Rucksack in Empfang und schlenderte durch die Abfertigungshalle. Eine Ausstellung warb für Inuit-Kunst mit Wandbehängen und Specksteinskulpturen. In der Mitte der Halle gewahrte er eine überlebensgroße Figur, kompakt, mit Stiefeln und traditioneller Kleidung angetan, eine flache Trommel mit der Rechten hoch über den Kopf erhoben, in der anderen Hand den Klöppel. Der steinerne Trommler hatte den Mund im Gesang weit geöffnet. Er strahlte Spannkraft und Selbstvertrauen aus. Anawak blieb einen Moment davor stehen und las die Inschrift unter der Skulptur: Wo immer Menschen aus der Arktis am besonderem Anlass zusammenkommen, finden Trommeltanz und Throat Singing statt. Dann trat er zum Abfertigungsschalter der First Air und gab seinen Rucksack nach Cape Dorset auf. Die Frau, die das Gepäck in Empfang nahm, erklärte ihm, die Maschine werde mit einstündiger Verspätung abfliegen.

»Vielleicht haben Sie ja noch was in der Stadt zu erledigen«, sagte sie freundlich.

Anawak zögerte. »Eigentlich nicht. Ich kenne die Stadt kaum.«

Sie sah ihn einigermaßen erstaunt an. Offenbar wunderte es sie, dass jemand, der dem Äußeren nach ein Inuk war, die Hauptstadt nicht kannte. Dann lächelte sie wieder.

»Iqaluit hat einiges zu bieten. Sie sollten sich die Zeit nehmen. Gehen Sie ins Nunatta-Sunaqutangit-Museum, das schaffen Sie locker. Es gibt dort eine schöne Ausstellung über traditionelle und zeitgenössische Kunst.«

»Oh ja … natürlich.«

»Oder ins Unikkaarvik-Besucherzentrum. Und machen Sie einen Abstecher zur anglikanischen Kirche. Sie sieht aus wie ein Iglu, die einzige Kirche der Welt, die aussieht wie ein Iglu!«

Anawak betrachtete die Frau. Sie war eine Einheimische, klein, mit schwarzem Pony und Pferdeschwanz. Ihre Augen blitzten, als sich ihr Lächeln verbreiterte.

»Ich hätte schwören können, Sie sind aus Iqaluit«, sagte sie.

»Nein.« Einen Moment lang fühlte er sich versucht zu sagen, er stamme aus Cape Dorset, dann sagte er: »Vancouver. Ich komme aus Vancouver.«

»Oh, ich liebe Vancouver!«, rief sie.

Anawak sah sich um. Er fürchtete, den Verkehr aufzuhalten, aber offenbar war er der Einzige, der an diesem Tag weiterflog.

»Sie waren schon mal dort?«

»Nein, ich war noch nie so weit. Aber im Internet gibt es Bilder und jede Menge Informationen. Eine schöne Stadt.« Sie lachte. »Ein bisschen größer als Iqaluit, nicht wahr?«

Er lächelte zurück. »Ja, ich denke schon.«

»Oh, so klein sind wir allerdings auch nicht mehr. Iqaluit hat immerhin schon 6000 Einwohner. Und wir arbeiten dran. In wenigen Jahren werden wir so groß sein wie Vancouver. Haha! Na ja, fast so groß. Entschuldigen Sie.«

Ein Ehepaar war hinter ihm aufgetaucht. Er war doch nicht allein auf seinem Weiterflug. Rasch verabschiedete er sich und ging nach draußen, bevor die Frau auf die Idee kam, ihm die Stadt zu zeigen.

Iqaluit.

Seine letzte Erinnerung lag so lange zurück. Einiges schien ihm vertraut, aber das meiste erkannte er nicht wieder. Die Wolken waren in Quebec geblieben, hier stand die Sonne an einem stahlblauen Himmel und sorgte für angenehme Temperaturen. Anawak schätzte, dass es nicht kälter als plus 10° Celsius war. Seine Daunenjacke über dem dicken Pullover war eindeutig zu warm. Er zog sie aus, band sie um die Hüften und stapfte die staubige Straße zum Ortszentrum entlang. Es herrschte erstaunlich viel Verkehr. Er konnte sich nicht erinnern, dass früher auch nur annähernd so viele Geländewagen und ATVs, kleine, mehrachsige Gefährte mit Motorradsitzen, unterwegs gewesen waren. Zu beiden Seiten der Straße lagen die typischen Holzhäuser der Arktis, wegen des Permafrostbodens auf niedrigen Pfählen gebaut. Alle Gebäude der Arktis wurden auf solchen Pfählen errichtet. Hätte man sie direkt auf den Untergrund gesetzt, wäre er durch die abgestrahlte Hitze aufgetaut und abgesackt.

Je weiter Anawak voranschritt, desto stärker drängte sich ihm das Bild der Hand Gottes auf, wie sie eines Tages einen Haufen Bauwerke durcheinander geschüttelt und planlos verstreut hatte. Grellweiße, kubistisch anmutende Baukolosse ohne Fenster erhoben sich zwischen traditionellen, olivgrün oder rostrot gestrichenen Baracken. Die Schule sah aus wie ein gelandetes Ufo. Manche der Wohnhäuser leuchteten in kräftigem Petrol und Aquamarin. Ein Stück weiter stieß er auf das Commissioner’s House, eine Kreuzung aus gemütlicher Gartenvilla und Wohnkuppel für Astronauten. Ganz in der Nähe erhob sich ein elegantes, dreistöckiges Gebäude mit großen Fenstern und einem imposanten Eingang, das in jede Weltstadt gepasst hätte, sah man von den typischen Stelzen und den hoch führenden Treppen ab. Anawak versuchte, die Eindrücke nicht zu sehr an sich heranzulassen, aber seit es ihn halb tot aus einem versinkenden Flugzeug geschwemmt hatte, war ihm die Fähigkeit abhanden gekommen, sich mit Gleichgültigkeit zu betäuben. Die wilde architektonische Mischung vermittelte einen unbekümmerten, beinahe fröhlichen Eindruck, gegen den er tief sitzendes Misstrauen empfand, aber sie ließ ihn nicht unberührt.

Er fragte sich, was hier geschehen war. Das war nicht das depressive Iqaluit aus den Siebzigern. Menschen grüßten ihn auffallend freundlich auf Inuktitut. Er grüßte zurück, knapp und verschlossen. Ohne stehen zu bleiben, lief er eine Stunde durch die Stadt und ging nur einmal ins Besucherzentrum Unikkaarvik, wo er eine noch gewaltigere Kopie des Trommeltänzers vorfand.

Der Trommeltänzer. Als er klein gewesen war, hatte es oft Trommeltanz gegeben. Vor langer Zeit, als die Dinge noch in Ordnung waren.

Unsinn! Wann wäre hier jemals etwas in Ordnung gewesen!

Er ging zurück auf die Straße und lief weiter, während ihm heiß wurde im kristallenen Sonnenlicht. Die anglikanische Kirche sah tatsächlich aus wie ein Iglu, mit hochgezogener Spitze. Er ließ sie links liegen. Nach einer guten Stunde war er wieder in der Abfertigungshalle des Flughafens und verzog sich mit einer Zeitung auf eine Bank. Außer ihm wartete nur das Ehepaar auf den Weiterflug. Er klappte die Zeitung so auf, dass sie ihn von allen äußeren Einflüssen abschirmte, las die Artikel, ohne ihre Inhalte aufzunehmen, und warf sie schließlich weg.

Die junge Frau vom Schalter bat sie, ihr zu folgen. Sie traten durch einen Nebenausgang des Flughafens aufs Rollfeld, wo eine kleine zweimotorige Propellermaschine vom Typ Piper wartete. Anawak stieg zusammen mit dem Ehepaar über zwei Stufen ins enge Kabineninnere. Die Maschine hatte nur sechs Plätze. Im hinteren Teil war hinter Netzen das Gepäck verstaut. Eine Abtrennung der Kanzel zum Passagierraum gab es nicht. Sie rollten zur Startbahn und mussten einen Moment warten, bis eine andere Maschine gleicher Bauart gelandet war, dann nahmen sie einen kurzen, schnellen Anlauf und hoben etwas wackelig ab. Der Flughafen wurde kleiner und verschwand. Unter ihnen glitzerte die Frobisher Bay. Über teils noch schnee— und eisbedeckte, von Gletschern geschliffene Berge flogen sie nach Westen. Zur Linken gleißte das Sonnenlicht auf der Hudson Strait, rechts funkelte es auf der Oberfläche eines Sees, dessen Name Anawak spontan wieder einfiel: Amadjuak Lake.

Dort waren sie manchmal gewesen.

So vieles kam zurück, in rasender Geschwindigkeit. Erinnerungen manifestierten sich wie Schemen in einem Schneesturm und zogen ihn in die Vergangenheit.

Er wollte nicht dorthin zurück.

Das Land wurde flacher, endete. Zwanzig Minuten lang führte sie ihre Route übers Meer, dann war durch die Cockpitfenster wieder gebirgiges Land zu erkennen. Die Bucht von Tellik Inlet mit ihren sieben Inseln schob sich ins Blickfeld. Über eine davon zog sich die dünne Linie der Landebahn von Cape Dorset.

Sie setzten auf.

Anawak fühlte sein Herz nach draußen drängen. Er war zu Hause. Er war dort, wohin er niemals hatte zurückkommen wollen. Widerwille und Neugier mischten sich mit Angst, während die Piper dem Empfangsgebäude entgegenrollte.

Cape Dorset: das New York des Nordens, wie es mit seinen knapp 1200 Einwohnern halb bewundernd, halb scherzhaft genannt wurde, eines der ausgewiesenen Zentren für Inuit-Kunst.

Jetzt war es so.

Damals war alles anders gewesen.

Cape Dorset: Kinngait in der Sprache der Inuit, Hohe Berge, gelegen in der weiteren Umgebung von Sikusülaq, wo kein Eis auf dem Meer entsteht, weil selbst in den strengsten Wintern milde Strömungen verhinderten, dass die Meeresoberfläche rund um die Foxe Peninsula, Baffin Islands südwestlichen Ausleger, gänzlich zufror. Namen fluteten Anawaks Hirn. Da war diese winzige Insel nahe Cape Dorset, Mallikjuaq, ein Naturschutzgebiet voller kleiner Wunder, mit Fuchsfallen aus dem 19. Jahrhundert, Resten der uralten Thule-Kultur, legendenumwobenen Gräbern und einem romantischen See, an dem sie oft gecampt hatten. Anawak erinnerte sich an den kleinen Kajakstand. Dort war er gerne gewesen, auf Mallikjuaq. Dann sah er in seiner Erinnerung seinen Vater und seine Mutter, und er wusste wieder, was ihn fortgetrieben hatte aus dem Land, das damals noch nicht Nunavut geheißen hatte, sondern Northwest Territories.

Er nahm seinen Rucksack in Empfang und kletterte aus der Piper.

Sofort stürmte ein Mann auf das Ehepaar zu. Offenbar kannte man sich. Die Begrüßung war überschwänglich, aber das war sie bei den Inuit fast immer. Man kannte jede Menge Wörter zu Begrüßung und kein einziges für good bye. Auch zu Anawak hatte niemand ein Wort des Abschieds gesagt vor 19 Jahren, nicht einmal der Mann, der plötzlich klein und verwittert auf dem Rollfeld stand, als das Ehepaar und ihr einheimischer Freund schwatzend abzogen. Einen Moment lang hatte Anawak Mühe, ihn wieder zu erkennen — Ijitsiaq Akesuk war sichtlich gealtert, und er trug einen dünnen grauen Schnurrbart, den er früher nicht gehabt hatte. Aber er war es. Das zerknautschte Gesicht verbreitete sich zu einem Lächeln. Er eilte Anawak entgegen und umarmte ihn mitsamt seinem Rucksack. Dabei entsprudelte seinen Lippen ein Wortschwall auf Inuktitut. Dann besann er sich und sagte auf Englisch: »Leon. Mein Junge. Was für ein gut aussehender junger Doktor.«

Anawak ließ die Umarmung geschehen und klopfte Akesuk halbherzig auf den Rücken. »Onkel Iji. Wie geht’s dir?«

»Wie soll es gehen bei allem, was passiert? Hattest du einen angenehmen Flug? Du musst ja eine Ewigkeit unterwegs gewesen sein, ich weiß gar nicht, wo du überall hinfliegen musstest, um herzukommen …«

»Ich musste ein paar Mal umsteigen.«

»Toronto? Montreal?« Akesuk ließ ihn los und strahlte ihn an. Anawak sah die für Inuit typische Zahnlücke in seinem Oberkiefer. »Natürlich Montreal. Du kommst viel herum, nicht wahr? Ich freue mich. Du musst mir vieles erzählen. Natürlich wohnst du bei mir, Junge, es ist alles hergerichtet. Hast du noch weiteres Gepäck?«

»Nein. Ahm, Onkel Iji …«

»Iji, nur Iji, lass den blöden Onkel. Du bist zu alt, um Onkel zu sagen.«

»Ich habe mich im Hotel eingebucht.«

Akesuk wich ein Stück zurück. »Wo denn?«

»In der Polar Lodge.«

Der alte Mann wirkte eine Sekunde lang enttäuscht. Dann strahlte er wieder. »Das bestellen wir ab. Ich kenne den Manager. Du weißt doch, hier kennt jeder jeden. Kein Problem.«

»Ich will dir keine Umstände machen«, sagte Leon. Ich bin hier, um meinen Vater unters Eis zu bringen, dachte er. Und um dann schleunigst wieder zu verschwinden.

»Du machst keine Umstände«, sagte Akesuk. »Du bist mein Neffe. Wie lange hast du dich eingebucht?«

»Zwei Nächte. Ich denke, das reicht, oder?«

Akesuk legte die Stirn in Falten und musterte ihn von oben bis unten. Dann nahm er Anawak beim Arm und zog ihn in die Halle.

»Da reden wir nochmal drüber. Hast du keinen Hunger?«

»Doch.«

»Wunderbar. Mary-Ann hat ein Karibu-Stew gemacht, und es gibt Robbensuppe mit Reis. Ganz was Feines. Wann hast du so was das letzte Mal gegessen, Robbensuppe, hm?«

Anawak ließ sich mitschleppen. Vor dem Flughafengebäude parkten mehrere Fahrzeuge. Akesuk steuerte zielstrebig auf einen Pick-up zu.

»Leg deinen Rucksack hinten drauf. Kennst du Mary-Ann? Natürlich nicht. Du warst schon weg, als sie von Salluit rüberzog und wir geheiratet haben. Es war ja nicht zum Aushalten mit dem Alleinsein. Sie ist jünger als ich. Das finde ich ganz in Ordnung, muss ich dir sagen. Hast du eine Frau? Du lieber Himmel, was werden wir uns alles zu erzählen haben nach der Ewigkeit, die du nicht mehr hier warst.«

Anawak rutschte auf den Beifahrersitz und schwieg. Akesuk schien beschlossen zu haben, ihn in Grund und Boden zu reden. Er versuchte sich zu erinnern, ob der Alte früher auch so gesprächig gewesen war.

Dann kam ihm der Gedanke, dass sein Onkel möglicherweise ebenso nervös war wie er.

Der eine schwieg. Der andere redete. Jeder hatte seinen Weg.

Sie rumpelten die Hauptstraße entlang. Cape Dorset war durch diverse Höhenzüge in Ortschaften gegliedert. Dem eigentlichen Kinngait schlossen sich Itjurittuq im Nordosten, Kuugalaaq im Westen und Muliujaq im Süden an. Gewohnt hatten sie damals in Kuugalaaq. Seine, Anawaks Familie, hatte dort gelebt. Akesuk, der Bruder seiner Mutter, war in Kinngait zu Hause gewesen.

Anawak fragte ihn nicht, ob er immer noch dort wohnte. Er würde es ohnehin herausfinden.

Sie kurvten durch den ganzen Ort. Sein Onkel erläuterte nahezu jedes Gebäude, an dem sie vorbeifuhren, bis Anawak schlagartig klar wurde, dass Akesuk eine Ortsbesichtigung mit ihm vornahm.

»Onkel Iji, ich kenne das alles«, sagte er.

»Nichts kennst du. Du warst 19 Jahre nicht mehr hier. Alles Mögliche ist neu. Da drüben, erinnerst du dich an den Supermarkt?«

»Nein.«

»Siehst du. Wie auch? Alles neu! Und wir haben noch einen größeren dazubekommen. Früher sind wir immer zum Polar Supply Store gegangen, das hast du doch nicht vergessen, oder? — Da hinten ist unser neues Schulgebäude, na, so neu ist es auch wieder nicht, aber für dich ja schon. — Guck mal rechts! Das kannst du gar nicht kennen, die Tiktaliktaq-Festhalle. Weißt du, wer da schon alles zum Throat Singing war und zum Trommeltanz? Bill Clinton und Jaques Chirac und Helmut Kohl, das war übrigens ein Riese, dieser Kohl, wir sahen daneben aus wie Zwerge, wann war der noch hier, warte mal …?«

Und so weiter und so fort. Sie besichtigten die anglikanische Kirche mit dem Friedhof, auf dem sein Vater beerdigt werden sollte. Anawak sah eine Inuit-Frau vor ihrem Haus an einer Skulptur arbeiten, die einen riesigen Vogel zeigte. Das Wesen erinnerte ihn an die Kunst der Nootka. Ein zweistöckiges, blaugraues Gebäude mit futuristischem Eingangsbereich erwies sich als Regierungssitz. Die dezentralisierte Verwaltung Nunavuts führte dazu, dass in jeder größeren Gemeinde ein solches Gebäude zu stehen hatte. Anawak ergab sich in sein Schicksal, zumal er feststellte, dass das Cape Dorset seiner Kindheit tatsächlich ein anderes gewesen war als dieses.

Und plötzlich hörte er sich sagen: »Fahr zum Hafen, Iji.«

Akesuk riss das Steuer herum. Sie bretterten über eine abschüssige Straße in Richtung Wasser. Holzhäuser aller Größen und Farben verteilten sich scheinbar ungeordnet über die schwarzbraune Landschaft. Vereinzelt waren ein paar Flecken robusten Tundragrases zu sehen, hier und da eine Schneefläche. Cape Dorsets Hafen war wenig mehr als ein Pier mit Verladekränen, wo ein— bis zweimal im Jahr das Versorgungsschiff mit überlebenswichtigen Gütern vor Anker ging. Unweit davon konnte man bei Ebbe das Tellik Inlet durchqueren, um auf die Nachbarinsel zu gelangen — nach Mallikjuaq, zu jenem kleinen Nationalpark mit seinen Gräbern und dem Kajakstand und dem See, an dem sie so oft ihr Camp aufgeschlagen hatten.

Sie hielten an. Anawak stieg aus, ging den Pier entlang und schaute hinaus auf das polarblaue Wasser. Akesuk folgte ihm ein Stück, ohne zu ihm aufzuschließen.

Der Pier war das Letzte, was Anawak gesehen hatte, als er Cape Dorset verlassen hatte. Nicht per Flugzeug, sondern mit dem Versorgungsschiff. Zwölf Jahre war er alt gewesen. Das Schiff hatte ihn und seine neue Familie mitgenommen, die voller Hoffnung und Vorfreude auf die neue Welt das Land verließ, und zugleich voller Heimweh nach dem Paradies im Eis, das schon so lange verloren war.

Nach fünf Minuten ging er mit langsamen Schritten zurück zum Pick-up und stieg wortlos ein.

»Ja, unser alter Hafen«, sagte Akesuk leise. »Der alte Hafen. Werd ich nie vergessen. Du bist damals auf und davon, Leon. Es hat allen das Herz gebrochen …«

Anawak sah ihn scharf an. »Wem hat es das Herz gebrochen?«, fragte er.

»Nun ja, deinem …«

»Meinem Vater? Euch? Irgendwelchen Nachbarn?«

Akesuk startete den Wagen.

»Komm«, sagte er. »Wir fahren nach Hause.«

Akesuk wohnte immer noch in dem kleinen Siedlungshaus. Es sah hübsch aus und gepflegt, hellblau mit dunkelblauem Dach. Dahinter stiegen die Hügel sanft an und gipfelten in einigen Kilometern Entfernung im Kinngait, dem hohen Berg, dessen Oberfläche von Schneeadern durchzogen war. Wie ein Gebirge aus Marmor lag er da, mehr ein gedrungener Höhenzug als ein hoher Berg. In Anawaks Erinnerung reichte der Kinngait in den Himmel. Dieser Gebirgskamm lud ein, ihn zu Fuß zu erkunden, versehen mit einer guten Ausrüstung.

Akesuk schaffte es, vor Anawak an der Ladefläche zu sein und den Rucksack herunterzuwuchten. So klein und schmächtig er war, schien es ihm nicht das Geringste auszumachen. Er hielt den Sack mit einer Hand und öffnete mit der anderen die Tür zu seinem Haus, ohne anzuklopfen.

»Mary-Ann«, rief er ins Innere. »Er ist da! Der Junge ist da!«

Ein Hundebaby kam nach draußen getapst. Akesuk stieg darüber hinweg, verschwand im Haus und kehrte Sekunden später in Begleitung einer fülligen Frau zurück, deren freundliches Gesicht sich auf ein imposantes Doppelkinn stützte. Sie umarmte Anawak und begrüßte ihn auf Inuktitut.

»Mary-Ann spricht kein Englisch«, sagte Akesuk entschuldigend. »Ich hoffe, du verstehst noch ein bisschen von deiner Sprache.«

»Meine Sprache ist Englisch«, sagte Anawak.

»Ja, natürlich … mittlerweile.«

»Aber ich verstehe noch eine ganze Menge. Ich verstehe, was sie sagt.«

Mary-Ann fragte ihn, ob er hungrig sei.

Anawak bejahte auf Inuktitut. Sie entblößte ein lückenhaftes Gebiss, nahm den Hund, der an Anawaks Stiefeln schnupperte, und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Im Vorraum standen mehrere Paar Schuhe. Anawak streifte mechanisch seine Trekkingstiefel ab und stellte sie dazu.

»Deine gute Erziehung hast du jedenfalls nicht verlernt«, lachte sein Onkel. »Ein Quallunaaq bist du nicht geworden.«

Quallunaaq, Mehrzahl Quallunaat, war die Sammelbezeichnung für alle Nicht-Inuit. Anawak schaute an sich herab, zuckte die Achseln und folgte Mary-Ann in die Küche. Er sah einen modernen Elektroherd, elektrische Geräte, die es in jeder ordentlichen Küche in Vancouver auch gab, nichts, was ihn an den desolaten Zustand seines damaligen Zuhauses erinnert hätte. Unter dem Fenster stand ein runder Esstisch, daneben führte eine Tür auf den Balkon. Akesuk wechselte ein paar Worte mit seiner Frau und schob Anawak aus der Küche in einen behaglich eingerichteten Wohnraum. Schwere Polstermöbel gruppierten sich um einen Turm mit Fernseher, Videorecorder, Radio— und CB-Funkgerät. Eine offene Durchreiche wies zur Küche. Akesuk zeigte ihm das Badezimmer mit der Toilette, den angrenzenden Waschmaschinenraum, den dahinter liegenden Vorratsraum, das Schlafzimmer und ein kleines Zimmer mit einem einzelnen Bett. Auf dem Nachttisch standen frische Blumen, Arktischer Mohn, Purpursteinbrech und Glockenheide.

»Mary-Ann hat sie gepflückt«, sagte Akesuk. Es klang wie eine Einladung, es sich bequem zu machen.

»Danke, ich …« Anawak schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist besser, wenn ich im Hotel übernachte.«

Er hatte erwartet, dass sein Onkel verletzt reagieren würde, aber Akesuk sah ihn nur einige Sekunden sinnierend an.

»Ein Drink?«, fragte er.

»Ich trinke nicht.«

»Ich auch nicht. Wir trinken Fruchtsaft zum Essen.

Willst du?«

»Ja. Gerne.«

Akesuk mischte in zwei Gläsern Saftkonzentrat mit Wasser, und sie gingen mit ihren Drinks auf den Balkon, wo sich der Onkel eine Zigarette ansteckte. Mary-Ann war noch nicht restlos zufrieden mit dem Zustand ihres Stews und hatte angekündigt, vor Ablauf einer Viertelstunde gäbe es nichts zu essen.

»Ich soll im Haus nicht rauchen«, sagte Akesuk. »Dafür heiratet man nun. Ein Leben lang habe ich im Haus geraucht. — Aber es ist besser so. Gesund ist es ja nicht. Wenn man nur davon lassen könnte.« Er lachte und sog mit sichtlicher Befriedigung den Rauch in seine Lungen. »Lass mich raten, mein Junge — du rauchst nicht.«

»Nein.«

»Und du trinkst nicht. Gut, gut.«

Sie blickten eine Weile schweigend auf das Panorama der Bergrücken mit ihren Schneeadern. Hoch am Himmel schimmerten streifige Wolken. Strahlend weiße Elfenbeinmöwen segelten darunter hinweg und stießen von Zeit zu Zeit steil nach unten.

»Wie ist er gestorben?«, fragte Anawak.

»Er ist einfach umgefallen«, sagte Akesuk. »Wir waren auf dem Land. Er sah einen Hasen, wollte ihm hinterher und fiel um.«

»Du hast ihn zurückgebracht?«

»Seinen Körper, ja.«

»Hat er sich totgesoffen?«

Die Bitterkeit, mit der er die Frage stellte, jagte Anawak einen Schrecken vor sich selbst ein. Akesuk sah an ihm vorbei auf die Berge und hüllte sich in Rauch.

»Er hatte einen Herzinfarkt, sagt der Arzt aus Iqaluit. Er hat sich zu wenig bewegt und zu viel geraucht. — Getrunken hat er seit zehn Jahren keinen einzigen Schluck mehr.«

Der Karibu-Eintopf war köstlich. Er schmeckte nach Kindheit. Robbensuppe war hingegen nie nach Anawaks Geschmack gewesen, aber er langte kräftig zu. Mary-Ann saß mit zufriedenem Gesicht dabei. Anawak versuchte, sein Inuktitut wiederzubeleben, aber das Resultat war eher jämmerlich. Er verstand fast alles, dafür haperte es mit dem Sprechen. Also unterhielten sie sich vorwiegend auf Englisch über die Geschehnisse der letzten Wochen, über Walangriffe und die Katastrophe in Europa und was sonst noch bis nach Nunavut drang. Akesuk übersetzte. Mehrfach hatte er das Gespräch auf den toten Vater bringen wollen, aber Anawak ging nicht darauf ein. Die Beisetzung sollte am späten Nachmittag auf dem kleinen Friedhof der anglikanischen Kirche erfolgen. Um diese Jahreszeit brachte man seine Toten schnell unter die Erde, während sie im Winter oft in einer Hütte nahe der Begräbnisstätte verwahrt wurden, wenn der Boden zu hart war, um ein Grab zu schaufeln. In der natürlichen Kälte der Arktis hielten sich die Toten erstaunlich lange, aber die Lagerschuppen mussten mit der Waffe in der Hand bewacht werden. Nunavut war wild. Wölfe und Polarbären, zumal von Hunger getrieben, machten vor den Lebenden ebenso wenig Halt wie vor den Toten.

Nach dem Essen zog Anawak rüber in die Polar Lodge. Akesuk bestand nicht länger darauf, dass er unter ihrem Dach campierte. Er holte die Blumen aus dem kleinen Zimmer nach vorn und stellte sie auf den Esstisch.

»Du kannst es dir ja noch überlegen«, sagte er nur.

Anawak blieben zwei Stunden Zeit bis zur Bestattung, in denen er das Hotelzimmer nicht verließ, sondern auf dem Bett lag und versuchte, etwas Schlaf zu finden. Er wusste nicht, was er tun sollte. Genau genommen hätte er es schon gewusst. Er hätte nach Mallikjuaq fahren können, vielleicht sogar hinüberlaufen — das Tellik Inlet war noch vereist und würde ihn tragen. Oder Akesuk fragen. Der wäre sicherlich mit Begeisterung darangegangen, ihn durch halb Cape Dorset zu schleifen und jedem einzeln vorzustellen. In einer Inuit-Siedlung waren alle irgendwie untereinander versippt und verschwägert. Speziell in Cape Dorset, der Welthauptstadt der Inuit-Kunst, wäre ein solcher Rundgang einer einzigen Vernissage gleichgekommen. Jeder zweite Einwohner der Siedlung galt als Künstler, viele stellten ihre Arbeiten in Galerien rund um den Globus aus. Aber Anawak wusste, dass es etwas vom verlorenen Sohn gehabt hätte, dieses Herumzeigen seiner Person, und niemand hier sollte glauben, er kehre heim. Er war entschlossen, die schützende Distanz zu wahren. Etwas von dieser Welt an sich herankommen zu lassen, hätte nur Wunden aufgerissen, also lag er reglos auf dem Bett und starrte Löcher in die Decke, bis er schließlich wegdämmerte.

Sein Reisewecker riss ihn aus dem Schlaf.

Als er vor die Polar Lodge trat, stand die Sonne deutlich tiefer, aber sie schien immer noch hell und freundlich. Über die Eisflächen des Inlet sah er Mallikjuaq zum Greifen nahe. Die Lodge lag im äußersten Nordosten von Cape Dorset, der Friedhof auf der entgegengesetzten Seite des Orts. Anawak sah auf die Uhr. Reichlich Zeit. Er hatte mit Akesuk vereinbart, dass ihn der Onkel in seinem Pickup mitnahm. Gleich neben der Lodge an der Straße, die zum Strand führte, lag der Polar Supply Store. Bei näherem Hinsehen fiel Anawak auf, dass der Laden zugleich örtliche Paketauslieferung, Fahrzeugverleih und Autoreparaturwerkstatt war. Das Gebäude war ihm von früher in Erinnerung, aber das Schild war neu, und als Anawak eintrat, kamen ihm die zwei Männer hinter der Theke fremd vor. Sie waren beide keine Inuit. Er stöberte ein bisschen herum. Es war gemütlich und ramschig im Innern, und es gab fast alles, von getrockneten Karibu-Würsten bis zu warmen Stiefeln. Im hinteren Teil stapelten sich Lithographien und Skulpturen.

Nicht seine Welt.

Er ging und schlenderte die Straße entlang in Richtung Zentrum. Vor einem Haus saß ein alter Mann an einem fußhohen Lattengestell und bearbeitete die Statuette eines Seetauchers, ein Stück weiter war eine Frau damit befasst, einen Falken aus weißem Marmor zu schleifen. Beide grüßten ihn, und Anawak grüßte im Weitergehen zurück. Er spürte, wie ihre Blicke ihm folgten. Seine Ankunft musste wie ein Lauffeuer durch den Ort gegangen sein. Ihn vorzustellen wäre gar nicht nötig gewesen. Jeder wusste, dass der Sohn des verstorbenen Manumee Anawak in Cape Dorset eingetroffen war, und vermutlich zerfetzten sie sich bereits die Mäuler darüber, warum er im Hotel wohnte und nicht unter dem Dach seines Onkels.

Akesuk wartete vor dem Haus auf ihn. Sie fuhren die paar hundert Meter zur anglikanischen Kirche, vor der sich bereits eine ziemliche Menschenmenge versammelt hatte.

Anawak fragte, ob sie alle seines Vaters wegen da wären.

Akesuk sah ihn verwundert an. »Natürlich. Was dachtest du denn?«

»Ich wusste nicht, dass er so viele … Freunde hat.«

»Es sind die Menschen, mit denen er lebte. Ob Freunde oder nicht, was spielt das für eine Rolle? Wenn jemand stirbt, geht er von allen, und alle gehen das letzte Stück mit ihm.«

Die Beisetzung war kurz und unsentimental. Anawak hatte im Vorfeld viele Hände zu schütteln. Leute, die er nie zuvor gesehen hatte, kamen auf ihn zu und umarmten ihn. Ein Reverend las aus der Bibel und sprach ein Gebet, dann wurde der Sarg in eine flache Grube gelassen, eben tief genug, um ihn aufzunehmen, und mit blauer Kunststofffolie abgedeckt. Männer begannen Steine darauf zu schichten. Das Kreuz am Ende der Grube saß windschief im harten Boden wie alle Kreuze auf dem Friedhof. Akesuk drückte Anawak eine kleine Holzkiste mit verglastem Deckel in die Hand, in der ein paar verschossene Kunstblumen nebst einem Päckchen Zigaretten und dem in Metall gefassten Zahn eines Bären lagen. Er stupste ihn an, und gehorsam trottete Anawak zum Grab und legte die Kiste unter das Kreuz.

Akesuk hatte wissen wollen, ob er seinen Vater noch einmal zu sehen wünsche, aber Anawak hatte abgelehnt. Während der Reverend sprach, versuchte er sich vorzustellen, wer der Mann war, der in dem Sarg lag, und dass überhaupt jemand darin lag. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Tote keinen weiteren Fehler mehr begehen konnte. Sein Vater hatte sich endgültig in die Nichtexistenz verabschiedet und damit in ein Stadium jenseits aller Schuld und Unschuld. Was immer er zu Lebzeiten getan oder versäumt hatte, verlor jede Bedeutung angesichts des schmucklosen Sarges in der kalten Erde. Schon zuvor hatte es keine Rolle mehr gespielt. Für Anawak war der alte Mann vor so vielen Jahren gestorben, dass ihm die Beisetzung lediglich als überfälliges Zeremoniell erschien.

Er gab sich keine Mühe, etwas zu empfinden. Er wünschte nur, so schnell wie möglich von hier fortzukommen.

Zurück nach Hause.

Wo war das?

Mit einem Mal, während die Gemeinde um ihn herum ein Lied anstimmte, beschlich ihn ein eisiges Gefühl von Verlassenheit und Panik. Es lag nicht an der arktischen Kälte, dass es ihn zu schütteln begann. Er hatte an Vancouver und Tofino gedacht, aber da war kein Zuhause.

Anawak blickte in ein schwarzes Loch.

Sein Gesichtsfeld begann sich einzuengen, Spiralen drehten sich vor seinen Augen. Die Schwärze kam über ihn wie eine Woge, gewaltig und unabwendbar. Wie ein Tier saß er in der Falle, ohne Ausweg, und musste mit ansehen, wie sie sich auf ihn herabsenkte.

»Leon.«

Rasende Angst durchfuhr ihn.

»Leon!«

Akesuk hatte ihn am Arm gepackt. Anawak sah verwirrt in das faltige Gesicht mit dem silberfarbenen Schnurrbart.

»Ist alles in Ordnung, Junge?«

»Ja, sicher«, murmelte er.

»Guter Gott! Kannst dich ja kaum auf den Beinen halten«, sagte Akesuk mitleidig. Viele der Trauergäste schauten herüber.

»Es geht schon. Danke, Iji. Es geht.«

Er sah den Leuten an, was sie dachten, und sie lagen meilenweit daneben. Aus ihren Blicken sprach Trauerroutine. An Gräbern geliebter Menschen bricht man eben zusammen. Auch wenn man ein Inuk ist und stolz darauf, vor nichts und niemandem zu kapitulieren.

Außer vielleicht vor Alkohol und Drogen.

Anawak fühlte, wie ihm übel wurde.

Er wandte sich ab und verließ den Friedhof mit schnellen Schritten. Sein Onkel hielt ihn nicht zurück. Vor der Kirche, als er das fest gestampfte Erdreich der Straße unter seinen Füßen spürte, überkam ihn der Drang wegzulaufen, aber er lief nicht. Er ging ein paar Schritte hierhin, dorthin, mit wild schlagendem Herzen. Er wusste nicht, wohin er hätte laufen sollen. Keine Richtung war für ihn bestimmt.

Er nahm ein frühes Abendessen in der Polar Lodge ein. Mary-Ann hatte etwas vorbereitet, aber Anawak erklärte seinem Onkel, er wolle allein sein. Der Alte nickte nur knapp und fuhr ihn zum Hotel. Er sah traurig aus und nicht so, als kaufe er Anawak den Wunsch nach stiller Einkehr mit sich und seinem Vater ab.

Stundenlang lag Anawak auf einem der beiden Einzelbetten in seinem Zimmer und starrte in den laufenden Fernseher. Er fragte sich, wie er einen weiteren Tag in Cape Dorset überstehen und sich zugleich die Erinnerungen vom Leib halten sollte. Er hatte sich für zwei Nächte eingebucht, weil damit zu rechnen war, dass es einen Nachlass und irgendwelche Formalitäten zu regeln gab, aber Akesuk hatte sich bereits um alles gekümmert. Im Grunde war er nutzlos. Ebenso gut konnte er sofort wieder abreisen.

Er beschloss, die zweite Nacht zu canceln. Ein Rückflug nach Iqaluit würde sich kurzfristig einrichten lassen. Mit etwas Glück ergatterte er einen Platz in der Boeing, die ihn zurück nach Montreal flog. Einmal dort, war es ihm egal, wie lange er auf den Anschlussflug zu warten hatte. Montreal war sehenswert und vor allen Dingen weit weg von diesem schrecklichen Ende der Welt namens Cape Dorset.

Schließlich überkam ihn der Schlaf.

Anawak schlief, aber sein Geist versuchte weiterhin, Nunavut zu entrinnen. Er sah sich im Flugzeug sitzen und über Vancouver kreisen. Unablässig kreisten und kreisten sie und warteten auf die Erlaubnis, tiefer gehen zu dürfen, aber der Tower verweigerte die Landung. Der Pilot drehte sich zu Anawak um und sagte: »Wir dürfen hier nicht landen. Sie können nicht nach Vancouver, und nach Tofino können Sie auch nicht.«

»Warum?«, rief Anawak. »Warum können wir nicht landen?«

»Die Bodenkontrolle meint, es sei Ihretwegen. Die sagen, Sie sind hier nicht zu Hause.«

»Aber ich lebe in Vancouver. Ich wohne in Tofino auf einem Schiff.«

»Wir haben nachgefragt. Sie wohnen nirgendwo dort. Kein Leon Anawak ist da unten bekannt. Die Bodenkontrolle sagt, ich soll Sie nach Hause bringen, also wohin soll ich fliegen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie müssen doch wissen, wo Sie zu Hause sind.«

»Da unten ist mein Zuhause.«

»Gut.«

Die Maschine sackte ab und setzte zur Landung an. Sie drehten mehrere Kurven. Die Lichter der Stadt kamen näher, aber es waren zu wenige für Vancouver, viel zu wenige. Das war nicht Vancouver. Überall lag Schnee, Eisschollen trieben auf einer schwarzen See, im Hintergrund erhob sich ein marmoriertes Gebirge.

Sie landeten in Cape Dorset.

Plötzlich war er wieder zu Hause bei seinen Eltern, die beide noch lebten und ein Fest mit ihm feierten. Es war sein Geburtstag. Viele Kinder aus der Nachbarschaft waren gekommen, alle tanzten ausgelassen um ihn herum, und sein Vater schlug vor, einen Wettlauf durch den Schnee zu machen. Er überreichte Anawak ein riesiges, grob verschnürtes Paket und erklärte ihm, dies sei sein einziges Geschenk und sehr kostbar.

»Darin findest du alles, was du für dein späteres Leben brauchst«, sagte er. »Aber du musst es mitnehmen, wenn wir draußen laufen.«

Anawak versuchte, das Riesenpaket mit beiden Armen über seinem Kopf zu balancieren. Sie gingen nach draußen, wo der Schnee in der Dunkelheit leuchtete, und eine Stimme flüsterte ihm zu, dass ihm keine Wahl bliebe, als das Rennen zu gewinnen, weil die anderen beschlossen hätten, ihn sonst zu töten. Niemand habe sich getraut, es ihm zu verraten, aber unzweifelhaft hätten sie es vor. Bei Nacht würden sie sich allesamt in Wölfe verwandeln und ihn in Stücke reißen, wenn er nicht rasch genug unten am Wasser wäre, also sollte er besser die Beine in die Hand nehmen.

Anawak begann zu weinen. Er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand ihm so etwas antun sollte. Er verwünschte seinen Geburtstag, weil er wusste, dass er bald erwachsen sein würde, und er wollte nicht erwachsen sein und zerrissen werden. Seine Finger in das Paket gekrallt, begann er zu laufen. Der Schnee war hoch, er versank mit beiden Beinen darin, bis zur Hüfte reichte er, sodass Anawak kaum vorankam. Er sah sich nach allen Seiten um, aber niemand lief mit ihm. Er war allein. Nur das Haus seiner Eltern lag ein Stück hinter ihm, mit verschlossener Tür, verdunkelt. Ein kalter Mond stand darüber, und mit einem Mal herrschte Totenstille.

Anawak blieb stehen.

Er überlegte, ob er zurück ins Haus gehen sollte, aber da war offenbar niemand mehr. Unheimlich und abstoßend erschien es ihm, ein Ort der Ungewissheit. Keine Menschenseele war zu sehen in der eisigen, mondbeschienenen Nacht, kein Laut erklang. Die Verheißung von den hungrigen Wölfen kam ihm in den Sinn, die darauf warteten, ihn bei lebendigem Leib zu fressen. Waren sie in dem Haus? Hatten sie schon ein Gemetzel angerichtet unter den Gästen? Aber nichts ließ darauf schließen. Cape Dorset und das Haus schienen auf geheimnisvolle Weise jenseits aller Naturgesetze zu liegen. Es war derselbe Platz, an dem eben noch seine Geburtstagsfeier stattgefunden hatte, aber zu einer anderen Zeit, in ferner Zukunft oder noch fernerer Vergangenheit. — Oder vielleicht stand die Zeit auch still, und er blickte auf ein gefrorenes Universum, in dem kein Leben möglich war.

Seine Angst gewann die Oberhand. Er drehte sich um und begann hinunter zum Wasser zu stapfen. Kein Pier wartete dort wie im echten Cape Dorset, sondern nur eine Eiskante. Das Paket war geschrumpft, er konnte es mühelos mit einer Hand greifen, und jetzt kam er auch viel besser voran, sodass er nach wenigen Schritten die Kante erreicht hatte.

Er sah hinaus.

Mondlicht schimmerte auf schwarzen kräuseligen Wellen und treibenden Eisplatten. Der Himmel war voller Sterne. Jemand rief seinen Namen. Die Stimme drang schwach aus einer Schneewehe herüber, und Anawak, hin-und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, näherte sich mit zögernden Schritten, bis er sehen konnte, dass es gar keine Wehe war, sondern zwei eng beieinander liegende Körper, von Schnee überpudert. Es waren seine Eltern. Sie starrten mit leerem Blick zum Himmel und waren entweder tot oder außerstande, mit ihm zu sprechen oder ihn wahrzunehmen.

Ich bin erwachsen, dachte er. Ich muss dieses Paket auspacken.

Er betrachtete es in seiner Handfläche.

Winzig war es geworden. Er begann es auszuwickeln, aber im Innern war nur noch mehr Papier. Nichts kam zum Vorschein. Er rupfte das knitterige Zeug auseinander, zerknüllte Schicht um Schicht, warf es weg, bis es kein Päckchen mehr gab und keine reglos hingestreckten Eltern, sondern nur noch die Eiskante und das schwarze Wasser.

Ein gewaltiger Buckel teilte die Wellen und verschwand wieder.

Anawak wandte langsam den Kopf. Er erblickte ein kleines, schäbiges Haus, mehr eine Wellblechbaracke. Die Tür stand offen.

Sein Zuhause.

Nein, dachte er. Nein! Er begann zu weinen. Irgendetwas war schief gelaufen. Das war unmöglich sein Leben. Nicht sein Platz! So war das alles nicht geplant gewesen!

Er hockte im Schnee und starrte auf die Hütte. Er konnte nicht aufhören zu weinen. Namenloses Elend erfasste ihn. Sein Schluchzen zerriss ihm fast die Brust, hallte vom Himmel wider, erfüllte die ganze Welt mit seiner Klage, eine Welt, in der niemand außer ihm existierte.

Nein. Nein!

Licht.

Sein Zimmer in der Polar Lodge.

Aufrecht saß Anawak im Bett. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Wecker zeigte 2.30 Uhr. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er aufstehen und den kleinen Kühlschrank öffnen konnte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er sah Wasser, Cola und Bier, griff nach einer Cola, öffnete sie und trank mit langen durstigen Schlucken. Die Dose in der Rechten trat er zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus.

Das Hotel lag auf einer Anhöhe, sodass er den Ortsteil Kinngait und Teile der angrenzenden Viertel überblicken konnte. Es war klar und wolkenlos wie in seinem Traum, aber statt des unermesslichen Sternenhimmels lag nächtliches Zwielicht auf Cape Dorset und tauchte Häuser, Tundra, Schneeflächen und Meer in unwirkliches Rosagold. Es wurde nicht dunkel um diese Zeit, nur die Konturen erschienen weicher und die Farben sanfter.

Mit einem Mal wurde Anawak klar, wie schön es hier war. Er schaute verzaubert auf diesen unglaublichen Himmel, ließ seinen Blick über die Berge schweifen und über die Bucht. Das Eis der Tellik Bay schimmerte wie ausgegossenes Silber. Schwarz und bucklig lag Mallikjuaq vor der Küste wie ein schlafender Wal.

Er sah weiter hinaus und trank von Zeit zu Zeit einen Schluck aus seiner Dose.

Was sollte er tun?

Er erinnerte sich seiner Gefühle vor wenigen Tagen, als er mit Shoemaker und Delaware zusammengesessen hatte. Wie fremd ihm plötzlich die Station geworden war, Tofino, alles. Wie überall ein Zimmer zu fehlen schien, um sich vor der Welt zurückzuziehen. Etwas Bedeutungsvolles hatte sich angekündigt, davon war er überzeugt gewesen. Voller Hochgefühl und Furcht hatte er darauf gewartet, als solle die Verheißung über ihn kommen.

Stattdessen war sein Vater gestorben.

War es das? Dieses Ereignis von Bedeutung? Dass er in die Arktis hatte zurückkehren müssen, um seinen Vater zu beerdigen?

Sicher, er stand vor größeren Herausforderungen. Vor einer der größten, denen sich die Menschheit je ausgesetzt gesehen hatte. Er und einige wenige. Das war an Bedeutsamkeit kaum noch zu überbieten. Aber es hatte nichts mit seinem Leben zu tun. Sein Leben vollzog sich in einem anderen Gefüge. Tsunamis, Methankatastrophen und Seuchen spielten darin keine Rolle. Sein Leben hatte sich mit einer Todesbotschaft in den Vordergrund gedrängt. Und erstmals, seit sie ihn erreicht hatte, begann Anawak zu ahnen, dass sich ihm hier in Nunavut die Chance bot, Tod in neues Leben umzuwandeln. Er selber war tot gewesen. Er musste neu geboren werden.

Nach einer Weile zog er sich an, streifte seine gefütterte Mütze über beide Ohren und ging hinaus in die erleuchtete Nacht. Niemand außer ihm war unterwegs. Eine gute Stunde lief er durch den Ort, bis er neue Müdigkeit kommen fühlte, weit schwerer und freundlicher als die Betäubung durch den laufenden Fernseher. Er kehrte zurück in die warme Lodge, warf seine Kleidung achtlos auf den Boden, rollte sich im Bett zusammen und war eingeschlafen, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte.

Am folgenden Morgen rief er Akesuk an.

»Hast du Lust, mit mir zu frühstücken?«, fragte er.

Sein Onkel schien überrascht.

»Mary-Ann und ich sitzen selber gerade beim Frühstück. Ich hatte nicht mit dir gerechnet.«

»Okay. Kein Problem.«

»Nein, warte mal … Wir haben eben erst angefangen. Warum kommst du nicht vorbei und lässt dir eine ordentliche Portion Rührei mit Schinken schmecken?«

»Gut. Bis gleich.«

Die Portion, die Mary-Ann für ihn auftischte, war wirklich ordentlich zu nennen. Sie war so ordentlich, dass Anawak vom Hinschauen satt wurde, aber er langte tapfer zu. Mary-Ann strahlte übers ganze Gesicht. Er fragte sich, was Akesuk ihr erzählt hatte. Irgendeinen triftigen Grund musste er wohl erfunden haben, warum Anawak ihr Abendessen ausgeschlagen hatte. Verstimmt schien sie nicht zu sein.

Es war seltsam, diese Hand zu ergreifen, die Akesuk und seine Frau ihm reichten. Sie zog ihn zurück in die Familie. Anawak wusste noch nicht, ob ihm das gefiel. Der Zauber der Mondnacht war verflogen, und seinen inneren Frieden hatte er bei weitem nicht mit Nunavut gemacht. Er beschloss, sich vorsichtig auf alles Weitere einzulassen.

Nach dem Frühstück räumte Mary-Ann das Geschirr ab und empfahl sich zu Einkäufen in den Ort. Akesuk drehte an den Knöpfen eines Transistorradios, lauschte eine Minute und sagte: »Das ist gut.«

»Was ist gut?«, fragte Anawak.

»IBC meldet gutes Wetter für die nächsten Tage. Man darf sie nicht zu sehr beim Wort nehmen, aber wenn nur die Hälfte davon stimmt, können wir aufs Land fahren.«

»Ihr wollt aufs Land?«

»Ja, für eine Weile. Morgen. Wenn dir danach ist, können wir heute was zusammen unternehmen. — Bei der Gelegenheit, was sind überhaupt deine Pläne? Oder willst du vorzeitig zurück nach Kanada?«

Der alte Fuchs hatte es geahnt.

Anawak verrührte umständlich Milch in seinem Kaffee.

»Ehrlich gesagt, gestern Abend stand ich kurz davor.«

»Das ist keine Überraschung«, konstatierte Akesuk trocken. »Und jetzt?«

Anawak zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht so recht. Ich dachte, vielleicht besuche ich Mallikjuaq oder fahre raus zum Inuksuk Point. — Ich fühle mich in Cape Dorset einfach nicht wohl, Iji. Nimm’s mir nicht krumm. Es ist nun mal kein Ort, an den man sich gerne erinnert mit einem … so einem …«

»Mit einem Vater wie deinem«, ergänzte sein Onkel. Er strich sich über den Schnurrbart und nickte. »Was mich wundert, ist, dass du überhaupt gekommen bist. Du hast 19 Jahre lang keinen Kontakt gehabt, zu niemandem von uns. Und jetzt bin ich der Letzte aus deiner Sippe. Ich habe angerufen, weil ich es für richtig hielt, dich zu informieren, aber ich hatte mich insgeheim damit abgefunden, dass wir dich hier nicht zu Gesicht bekommen werden. Warum also bist du hier?«

»Keine Ahnung, Iji. Nichts hat mich hergezogen. Eher glaube ich, dass Vancouver mich für eine Weile loswerden wollte.«

»Dummes Zeug.«

»An meinem Vater hat es jedenfalls nicht gelegen! Du weißt verdammt genau, dass ich ihm keine Träne nachweine.« Es klang unnötig schroff, aber er konnte es nicht ändern. »Und es wird auch nicht passieren.«

»Du bist zu hart.«

»Er hat falsch gelebt, Iji!«

Akesuk sah ihn lange an.

»Ja, dein Vater hat falsch gelebt, Leon. Aber ein richtiges Leben war damals nicht im Angebot. Das hast du vergessen zu erwähnen.«

Anawak schwieg.

Sein Onkel schlürfte geräuschvoll den letzten Rest aus seiner Kaffeetasse. Dann lächelte er unvermittelt. »Weißt du was? Ich mache dir einen Vorschlag. Mary-Ann und ich werden schon heute abreisen. Wir wollen diesmal ganz woandershin, in den Nordwesten nach Pond Inlet. — Und du kommst mit uns.«

Anawak starrte ihn an.

»Das geht nicht«, sagte er. »Ihr werdet wochenlang unterwegs sein. Ich kann unmöglich so lange fortbleiben.

— Abgesehen davon, dass ich es auch nicht will.« »Du verstehst mich falsch. Du kommst mit, und nach ein paar Tagen fliegst du alleine wieder zurück. Ich muss dir ja nicht überall die Hand halten, du bist erwachsen. In ein Flugzeug wirst du hoffentlich von alleine finden.«

»Viel zu viele Umstände, Iji, ich …«

»Du bereitest mir erhebliche Langeweile mit deinen Umständen. Was soll umständlich daran sein, dich mit ins Eis zu nehmen? Wir schließen uns da oben einer Gruppe an. Alles ist vorbereitet, und für deinen zivilisierten Hintern finden wir schon noch ein Plätzchen.« Er zwinkerte ihm zu. »Aber bilde dir bloß nicht ein, es wäre eine reine Vergnügungsfahrt. Du wirst ebenso zur Bärenwache eingeteilt wie alle anderen.«

Anawak lehnte sich zurück und grübelte darüber nach. Die Einladung erwischte ihn unvorbereitet. Auf diesen weiteren Tag hatte er sich eingestellt. Auf diesen einen. Nicht auf drei oder vier.

Wie sollte er das Li klar machen?

Andererseits hatte Li ihm zu verstehen gegeben, dass er so lange fortbleiben könne, wie er wolle.

Pond Inlet. Drei Tage.

So viel war das eigentlich nicht. Der Flug von Cape Dorset würde maximal zwei Stunden in Anspruch nehmen. Drei Tage auf dem Land, zwei Stunden zurück, direkt nach Iqaluit.

»Und was versprichst du dir davon?«, fragte er.

Akesuk lachte.

»Na, was schon? Dich heimzubringen, Junge.«

Auf dem Land.

In diesen drei Worten drückte sich die ganze Lebensphilosophie der Inuit aus. Auf dem Land zu sein bedeutete, der Siedlung zu entfliehen und die Sommertage in Zeltcamps zu verbringen, an Stranden oder nahe der Meereiskante, um Narwale zu erlegen, Robben und Walrosse zu jagen und um zu fischen. Der Walfang für den Eigenbedarf war den Inuit gestattet. Man nahm mit, was man für ein Überleben jenseits der Zivilisation brauchte, lud Kleidung, Ausrüstung und Jagdutensilien auf ATVs, Schlitten oder Boote. Wild war das Land, auf das man sich begab, ein riesiges Areal, das Menschen seit Jahrtausenden durchstreift hatten, bevor eine unerwünschte Entwicklung sie zwang, sesshaft zu werden.

Auf dem Land gab es keine Zeit, und die fest gefügte Weltordnung der Städte und Siedlungen hörte auf zu existieren. Entfernungen wurden nicht in Kilometern oder Meilen ausgedrückt, sondern in Zeiteinheiten. Zwei Tage war es bis hierhin, ein halber Tag bis dorthin, vielleicht auch einer. Welchen Sinn hatte es, von fünfzig Kilometern zu sprechen, wenn es mittendrin unvorhergesehene Barrieren zu überwinden gab, Packeis und Gräben? Die Natur unterwarf sich keiner Planung. Auf dem Land lebte man ausschließlich in der Gegenwart, weil schon der nächste Moment voller Unwägbarkeiten steckte. Das Land folgte seinem eigenen Rhythmus, dem man sich willig unterwarf. In Jahrtausenden des Nomadentums hatten die Inuit gelernt, dass in dieser Unterwerfung die Beherrschung lag. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sie ungebunden das Land durchstreift, und immer noch entsprach dieses Leben weit mehr ihrer Natur als ein Dasein in festen Häusern und an festen Plätzen.

Mittlerweile, das wurde Anawak mit jeder Minute klarer, hatte sich einiges geändert. Dass die Welt auch von den Inuit erwartete, geregelten Tätigkeiten nachzugehen, um ihren Platz in einer industrialisierten Gesellschaft zu behaupten, schien Akzeptanz gefunden zu haben. Aber im Gegensatz zu damals, als Anawak ein Kind gewesen war, hatte die Welt begonnen, die Inuit zu akzeptieren. Sie gab ihnen etwas von dem zurück, was sie ihnen genommen hatte, und vor allem gab sie ihnen eine Perspektive. Westliche Standards fanden darin ebenso ihren Platz wie uralte Traditionen.

Anawak hatte sein Land verlassen, als es kein Land mehr war, sondern eine Region ohne Wertgefühl und eigene Identität. Er war geflohen mit dem Bild eines zutiefst deprimierten, aller Kraft beraubten Volkes, dem so lange der Respekt verweigert worden war, bis es selber keinen mehr vor sich hatte. Wenn damals überhaupt jemand dieses Bild hätte korrigieren können, dann sein Vater. Aber ausgerechnet der war maßgeblich dafür verantwortlich. Der Mann, der nun auf dem kleinen Friedhof von Cape Dorset lag, war zum Symbol der Resignation geworden — ein zerstörter, ständig alkoholisierter, greinender Choleriker, dem alles misslungen war, zuletzt sogar, seine Familie zu schützen. Anawak hatte an Bord des Schiffes gestanden, das ihn fortbrachte, und als Cape Dorset entrückte, hatte er diesen einen Satz in den Nebel hinausgeschrien, den niemand außer ihm hören konnte und der ihm jetzt noch in den Ohren dröhnte, gedacht für seinen Vater, bezogen auf sein ganzes Volk:

»Warum bringt ihr euch nicht alle um, damit sich niemand mehr für euch schämen muss?«

Eine Sekunde lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, seiner Empfehlung als Erster zu folgen und über Bord zu springen.

Stattdessen war er Westkanadier geworden. Seine Pflegefamilie hatte sich in Vancouver niedergelassen, freundliche Leute, die seine Ausbildung nach Kräften unterstützten, ohne dass man sich je wirklich aneinander gewöhnte. Es blieb eine Zweckgemeinschaft. Als Leon 24 wurde, siedelten sie um nach Anchorage, Alaska. Einmal im Jahr schrieben sie eine Karte, die er mit wenigen, unverbindlichen Zeilen beantwortete. Besucht hatte er sie nie, und sie schienen es auch nicht zu erwarten. Wahrscheinlich, wäre er nach Anchorage gefahren, hätten sie sich eher gewundert. Man konnte nicht sagen, dass sie sich fremd geworden waren — sie waren sich einfach nie nahe gewesen.

Sie waren nicht seine Familie.

Akesuks Vorschlag, gemeinsam aufs Land zu fahren, hatte neue Erinnerungen in Anawak wachgerufen. Die langen Abende am Feuer, wenn jemand eine Geschichte erzählte und die ganze Welt belebt schien. Als er klein gewesen war, hatte es wie selbstverständlich die Schneekönigin gegeben und den Bärengott. Er hatte den Männern und Frauen gelauscht, die noch in Iglus zur Welt gekommen waren, und sich vorgestellt, wie er als erwachsener Mann über das Eis ziehen würde, jagend und im Einklang mit sich und dem Mythos Arktis. Schlafen, wenn man müde wird. Arbeiten und jagen, wenn es die Witterung gestattet oder schlicht, wenn einem danach ist. Essen, wenn der Magen es verlangt und nicht irgendwelche Mittagspausen. Manchmal dauerte die Jagd einen Tag und eine Nacht, wenn man eigentlich nur kurz aus dem Zelt hatte gehen wollen. Manchmal rüstete man sich, und die Jagd fand nicht statt. Den Quallunaat war diese augenscheinliche Unorganisiertheit der Inuit immer suspekt gewesen. Quallunaat verstanden einfach nicht, wie man außerhalb geregelter Zeitpläne und Leistungsschemata existieren konnte und überhaupt durfte. Quallunaat bauten sich Welten außerhalb der Welt. Sie schlossen die natürlichen Abläufe zugunsten künstlicher aus, und alles, was nicht in ihr Konzept passte, wurde ignoriert oder ausgemerzt.

Anawak dachte an das Chateau und an die Aufgaben, die sie dort zu lösen versuchten. Er dachte an Jack Vanderbilt. Wie zwanghaft der Stellvertretende CIA-Direktor an der Vorstellung festhielt, die Geschehnisse der letzten Monate ließen sich auf menschliches Planen und Handeln zurückführen. Wer die Inuit verstehen wollte, musste lernen, sich von der Kontrollpsychose zu lösen, die den zivilisierten Gesellschaften eigen war.

Aber wenigstens hatte man es noch mit Menschen zu tun. Die unbekannte Macht hingegen hatte nichts Menschliches. Mittlerweile war Anawak der festen Überzeugung, dass Johanson Recht hatte. Dieser Krieg drohte an menschliche Ordnungs— und Wertvorstellungen verloren zu gehen. Leute wie Vanderbilt würden ihn schon darum verlieren, weil sie außerstande waren, Mentalitäten zu begreifen. Möglicherweise war dem CIA-Mann dieses Manko sogar bewusst, aber er würde nicht über den Schatten springen können, den ein aufrechter amerikanischer Bürger warf, geschweige denn den Weg der Verständigung mit einer nichtmenschlichen Spezies beschreiten.

Ein Delphin war schon nicht zu begreifen. Wie dann eine Rasse, die Johanson in dadaistischer Einsicht die Yrr genannt hatte?

Plötzlich wurde Anawak bewusst, dass sie die Aufgabe nicht würden lösen können, solange sie nicht das richtige Team beisammen hatten.

Jemand fehlte. Und er wusste auch, wer.

Während Akesuk Vorbereitungen für den Aufbruch traf, bemühte sich Anawak in der Polar Lodge um eine Verbindung ins Chateau. Nach einigen Minuten schaltete man ihn auf einen abhörsicheren Kanal und leitete ihn mehrfach um. Li war nicht im Hotel, sondern befand sich an Bord eines Navy-Kreuzers vor Seattle. Er musste geschlagene fünfzehn Minuten warten, bis er sie endlich in der Leitung hatte.

Er fragte, ob sie weitere drei bis vier Tage auf ihn verzichten könne. Sie räumte ihm die Frist ein, nachdem er vorgeschoben hatte, sich um seine Angehörigen kümmern zu müssen. Dabei nagte das schlechte Gewissen an ihm, aber er sagte sich, dass die Rettung der Welt unmöglich davon abhängen konnte, ob er die nächsten drei Tage zur Verfügung stand oder nicht. Im Übrigen stand er ja zur Verfügung. Sein Kopf arbeitete auch im hohen Norden.

Li erklärte ihm, sie gingen mit Sonarattacken gegen die Wale vor. »Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören«, sagte sie.

»Und, funktioniert es?«, fragte er.

»Wir stehen kurz vor der Einstellung der Experimente. Sie zeigen nicht die gewünschte Wirkung. Aber wir müssen alles versuchen. Solange wir uns die Tiere vom Leibe halten, haben wir bessere Chancen, Taucher und Equipment nach unten zu schicken.«

»Sie wollen die Chancen vergrößern? Dann erweitern Sie das Team.«

»Um wen?«

»Um drei Leute.« Er machte eine Pause, dann entschloss er sich, offensiv zu werden. »Ich will, dass sie rekrutiert werden. Wir brauchen mehr Mitarbeiter, die sich mit Verhaltensforschung und Intelligenz beschäftigen. Und ich brauche jemanden, der mir assistiert und dem ich vertrauen kann. Ich will, dass Alicia Delaware mit ins Boot geholt wird. Sie wohnt den Sommer über in Tofino. Eine Studentin, die sich mit Intelligenzforschung beschäftigt.«

»In Ordnung«, sagte Li überraschend schnell. »Zweitens?«

»Ein Mann aus Ucluelet. Wenn Sie Einsicht in die Akten der MK-Programme nehmen, werden Sie ihn unter Jack O’Bannon finden. Er kann mit Meeressäugern umgehen. Und er weiß einiges, was uns von Nutzen sein könnte.«

»Ist er Akademiker?«

»Nein. Ex-Ausbilder der US-Army. Marine Mammal System.«

»Verstehe«, sagte Li. »Das werden wir besprechen müssen. Wir haben selber eine Reihe Experten auf diesem Gebiet. Warum wollen Sie ausgerechnet ihn?«

»Ich will ihn einfach.«

»Und die dritte Person?«

»Sie ist die wichtigste von allen. Wir haben es hier gewissermaßen mit Aliens zu tun. Sie werden jemanden brauchen, der sich ausschließlich Gedanken darüber macht, wie man mit Wesen kommunizieren kann, die keine Menschen sind. Nehmen Sie Kontakt zu Dr. Samantha Crowe auf. Sie leitet das SETI-Projekt in Arecibo.«

Li lachte leise.

»Sie sind ein kluger Bursche, Leon. Wir hatten ohnehin vor, jemanden von SETI mit hinzuzuziehen. Kennen Sie Dr. Crowe?«

»Ja. Sie ist in Ordnung.«

»Gut.«

»Werden Sie meine Wünsche berücksichtigen?«

»Ich sehe, was sich tun lässt.« Jemand rief im Hintergrund Lis Namen. »Machen Sie’s gut, Leon. Kommen Sie heil zu uns zurück. Ich muss wieder an die Front.«

Die Turbo-Prop Hawker Siddeley flog nicht auf direktem Wege in den Norden, sondern erst ein Stück ostwärts. Akesuk hatte den Piloten zu dem kleinen Umweg überredet, damit Anawak die Great Plain of Koukdjuak bewundern konnte, ein Wildschutzgebiet voller kreisrunder Wassertümpel, in dem die größte Gänsekolonie der Welt zu Hause war. Weitere Passagiere aus Cape Dorset und Iqaluit saßen in der Maschine, die alle nach Pond Inlet aufs Land wollten. Die meisten kannten die Aussicht und dösten vor sich hin.

Anawak hingegen konnte sich nicht satt sehen.

Ihm war, als erwache er aus einem jahrelangen Schlaf.

Sie flogen ein Stück die Küste entlang und kreuzten den nördlichen Polarkreis. Geographisch begann hier die Arktis. Unter ihnen lag die eisige Mondlandschaft des Foxe-Beckens mit ihren großen und kleinen Eisaufbrüchen, unterbrochen von Flächen freien Wassers. Nach kurzer Strecke hatten sie wieder Land unter sich, zerklüftet und mit schroffen Berghängen und senkrechten Steinpalisaden. Schnee glitzerte am Grund tiefer, schattiger Schluchten. In gefrorene Seen ergossen sich Rinnsale von Schmelzwasser. Die Landschaft im Licht der tiefer sinkenden Sonne gewann zunehmend an Großartigkeit. Schartige, braune Berge wechselten mit verschneiten Tälern, Gebirgszüge reckten sich ihnen entgegen, fast zur Gänze bedeckt mit Schneeverwehungen. Plötzlich, beinahe übergangslos, zog der Flieger über eine bläulich weiß abgesetzte Uferlinie hinweg, und sie blickten auf eine geschlossene Decke aus Meereis, den Eclipse Sound.

Anawak vergaß alles um sich herum.

Er schaute die bizarre Schönheit der hohen Arktis. Riesige, schneeweiße Kristallgebilde ragten aus der weißen Ebene des Sound hervor. Eisberge, die festgefroren waren. Unter ihnen liefen winzig zwei Polarbären dahin, wie gejagt vom Schatten der Turbo-Prop auf der Eisoberfläche. Schimmernde Punkte stoben auf, Möwen. Ein ganzes Stück weiter erhoben sich die gewaltigen Steilhänge und Gletscher der Insel Bylot. Dann hielten sie tiefer gehend auf ein neues Ufer zu, braun marmorierte Landschaft kam näher, Häuser einer Siedlung, eine Landepiste — Pond Inlet, Mittimatalik in der Sprache der Inuit, Wo Mittimata sich befindet.

Grell stand die Sonne über dem nordwestlichen Horizont. Sie würde nicht untergehen um diese Jahreszeit, nur gegen zwei Uhr morgens für wenige Minuten den Horizont berühren. Es war neun Uhr abends, als sie ihr Ziel erreichten, aber Anawak hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er sah auf die Plätze seiner Kindheit, und etwas Schweres schien von seiner Brust genommen.

Akesuk hatte Recht gehabt. Sein Onkel hatte geschafft, was Anawak noch vor vierundzwanzig Stunden für unmöglich gehalten hätte.

Er hatte ihn heimgebracht.

Pond Inlet war von ähnlicher Größe und Einwohnerzahl wie Cape Dorset und dennoch ganz anders als der Süden. Seit über 4000 Jahren war die Region ununterbrochen besiedelt gewesen. Niemand hier hatte sich zu architektonischen Wagnissen verstiegen wie in Iqaluit. Akesuk erklärte, dass die Inuit in diesem Teil Nunavuts wesentlich mehr Wert auf Traditionen legten als irgendwo sonst. Vorsichtig fügte er hinzu, dass hier oben auch der Schamanismus noch eine gewisse Rolle spiele, obwohl natürlich alle gläubige Christen seien! Als Anawak nicht darauf einging, ließ er das Thema fallen und begann, eine Reihe von Dingen aufzuzählen, die sie tags drauf in den Supermärkten des Ortes zu erstehen hätten.

Sie blieben die Nacht über im Hotel. Früh morgens weckte ihn Akesuk, und sie gingen zum Ufer hinunter. Der Onkel sah witternd hinaus und meinte, sie würden das gute Wetter behalten und einer ordentlichen Jagd entgegensehen.

»Der Frühling hat nicht lange auf sich warten lassen«, stellte er befriedigt fest. »Im Hotel sagen sie, bis zur Packeisgrenze ist es ein halber Tag— Vielleicht einer, je nachdem.«

»Je nach was?«

Akesuk zuckte die Achseln.

»Alles Mögliche kann passieren. Je nachdem halt. Du wirst eine Menge Tiere zu sehen bekommen, Wale, Robben, Polarbären. Der Eisaufbruch ist in diesem Jahr früher gekommen als sonst.«

Das wundert mich nicht, dachte Anawak, bei dem, was augenblicklich geschieht.

Die Gruppe umfasste zwölf Leute. Einige kannte Anawak aus dem Flugzeug, andere lernte er in Pond Inlet kennen. Akesuk besprach sich mit den beiden Führern. Sie stellten das Gepäck für die Tour zusammen und deponierten im Lagerraum des Hotels, was sie nicht unmittelbar brauchten. Inzwischen standen vier Qamutiks bereit, die für die Reise vorbereitet worden waren. In Anawaks Erinnerung waren die traditionellen Schlitten von Hunden gezogen worden, jetzt hatte man Schneemobile, Skidoos, mit Doppelseilen vorgespannt. Die Qamutiks selber sahen aus wie früher: Vier Meter lang, mit zwei hölzernen, hoch gebogenen Kufen und einer Vielzahl stramm verknüpfter Querlatten, wiesen sie nirgendwo eine einzige Schraube oder einen Nagel auf. Der komplette Schlitten wurde von Seilen und Riemen zusammengehalten, was Reparaturen erheblich vereinfachte. Auf drei Qamutiks waren hölzerne, nach oben offene Kabinen als Wetterschutz montiert, der Vierte diente als Packschlitten.

»Du bist nicht warm genug angezogen«, gab Akesuk mit Blick auf Anawaks Anorak zu verstehen.

»Wieso? Ich hab aufs Thermometer gesehen. Es sind sechs Grad über null.«

»Du vergisst den Fahrtwind. Hast du zwei Paar Socken in deinen Stiefeln? Wir sind hier nicht in Vancouver.«

Er hatte tatsächlich so vieles vergessen. Das Gefühl dafür, wie es war, in die Kälte hinauszufahren, stellte sich erst allmählich wieder ein. Es war beinahe beschämend. Natürlich waren kalte Füße das Hauptproblem, sie waren es immer gewesen. Er streifte ein zweites Paar Socken über und einen weiteren Pullover, bis er sich vorkam wie eine wandelnde Tonne. Alle Teilnehmer der Reise hatten etwas von Astronauten mit ihrer Schutzkleidung und den Schneebrillen.

Akesuk ging mit den Führern ein letztes Mal die Ausrüstung durch.

»Schlafsäcke, Karibufelle …«

Seine Augen glänzten. Der dünne, graue Schnurrbart schien sich zu sträuben vor Vergnügen. Anawak sah ihm zu, wie er geschäftig von Schlitten zu Schlitten lief. Ijitsiaq Akesuk war ganz anders als sein Vater. In seiner Gesellschaft kam den Inuit und ihrer Lebensweise plötzlich wieder Bedeutung zu.

Seine Gedanken wanderten zu der Macht tief unten im Meer.

Mit dem Beginn ihrer Reise übers Eis würden sie einzig den Regeln der Natur folgen. Um hier draußen zu bestehen, brauchte man eine gewisse pantheistische Grundhaltung. Man durfte sich nicht wichtig nehmen. Man war nicht wichtig, sondern Bestandteil der beseelten Welt, die sich in Tieren, Pflanzen und im Eis manifestierte und gelegentlich auch in Menschen.

Und in den Yrr, dachte er. Wer immer sie sind, wie immer sie aussehen, wie und wo immer sie leben.

Es gab einen leichten Ruck, als das Schneemobil anfuhr, in dessen Schlitten Anawak, Akesuk und seine Frau Platz gefunden hatten, und sie glitten über das vereiste und verschneite Meer. Vereinzelt waren breite Wasserlachen zu sehen. Der Schmelzprozess hatte schon hier und da eingesetzt, aber er beschränkte sich auf die oberen Schichten. Sie umrundeten den Uferhügel von Pond Inlet und hielten weiter auf Nordosten zu, bis sie einige Kilometer Abstand zwischen sich und die Küste Baffin Islands gebracht hatten, die südlich aus der Eisfläche wuchs. Auf der gegenüberliegenden Seite reckten sich die Felsen von Bylot Island in den Himmel, umgeben von Eisbergen. Eine gewaltige Gletscherzunge erstreckte sich aus den Gipfeln hinunter zum Ufer. Anawak machte sich klar, dass sie nicht Land, sondern die gefrorene Kruste des Meeres überquerten. Unter ihnen schwammen Fische. Hin und wieder hoben die Kufen des Qamutik ab, wenn sie über Unebenheiten rumpelten und knallten hart wieder auf, aber der Schlitten federte den Aufprall ab.

Nach einer Weile änderten die beiden Inuit in dem zuvorderst fahrenden Qamutik die Fahrtrichtung, und der Tross folgte. Einen Moment war Anawak verwirrt, dann sah er, dass sie eine klaffende Eisspalte umfuhren, die zu groß war, als dass man sie mit den Schlitten hätte überqueren können. Jenseits der bläulichen Kante war schwarzes, unergründliches Meerwasser zu erkennen.

»Das kann ein bisschen dauern«, meinte Akesuk.

»Ja, es kostet Zeit«, nickte Anawak, der sich erinnerte, wie oft sie an solchen Spalten entlanggefahren waren.

Akesuk krauste die Nase.

»Nein. Warum sollte es welche kosten? Wir opfern keine Zeit. Wir behalten sie, ob wir nun direkt nach Osten fahren oder erst ein Stück weiter nördlich. Hast du alles vergessen? Hier oben ist nicht wichtig, wie schnell du ankommst. Wenn du einen Umweg fährst, findet dein Leben trotzdem statt. Keine Zeit ist verloren.«

Anawak schwieg.

»Vielleicht«, fügte sein Onkel lächelnd hinzu, »war das unser größtes Problem im vergangenen Jahrhundert, dass uns die Quallunaaq die Zeit gebracht haben. Wir mussten lernen, dass es auch vergeudete Zeit gibt. Die Quallunaaq denken, Warten sei verlorene Zeit und damit verlorene Lebenszeit. Ich schätze, als du klein warst, haben wir das alle geglaubt. Auch dein Vater hat es geglaubt, und weil er keine Möglichkeit sah, etwas Sinnvolles und Wertvolles zu tun, kam er zu der Überzeugung, sein Leben sei wertlos, weil es aus ungenutzter, vergeudeter Zeit bestand. Wertlose Lebenszeit. Ein wertloses Leben.«

Anawak sah ihn an. »Du solltest nicht ihn bedauern, sondern meine Mutter«, sagte er.

»Sie hat ihn auch bedauert«, gab Akesuk zurück und begann eine Unterhaltung mit Mary-Ann.

Tatsächlich mussten sie mehrere Kilometer fahren, bis sich die Spalte so weit verengte, dass sie auf die andere Seite wechseln konnten. Einer der Inuit-Führer koppelte sein Schneemobil ab und jagte es mit hoher Geschwindigkeit hinüber. Von dort warf er den Qamutiks nacheinander Seile zu, zog sie über die Spalte, und es ging weiter. Anawaks Onkel schob gleichmütig einen dünnen, speckigen Streifen in den Mund und hielt Anawak die Dose mit den übrigen Streifen hin.

Zögernd griff Anawak zu. Es war Narwalhaut. Wenn sie früher auf dem Eis unterwegs gewesen waren, hatten sie immer Vorräte an Narwalhaut mitgenommen. Er wusste, dass sie große Mengen Vitamin C enthielt, mehr als jede Zitrone oder Orange. Er kaute darauf herum und schmeckte das Aroma frischer Nüsse.

Der Geschmack löste eine Kettenreaktion von Bildern und Empfindungen aus. Er hörte Stimmen, aber es waren nicht die Stimmen der Expeditionsteilnehmer, sondern die anderer Menschen, mit denen er vor über zwanzig Jahren unterwegs gewesen war. Er spürte die Hand seiner Mutter, die ihm übers Haar strich.

»Meereisspalten, Presseisbarrieren …« Der Onkel lachte. »Das ist kein Highway hier, Junge. Mal ehrlich, hast du nichts von alledem jemals vermisst?«

Falls Akesuk die sentimentale Stimmung bemerkt hatte, in die er unvermittelt geraten war, und versuchte, sie mit seiner Frage zu verstärken, bewirkte er das Gegenteil. Anawak schüttelte den Kopf. Vielleicht war es bloßer Trotz, aber er sagte nur knapp: »Nein.«

Im selben Moment schämte er sich seiner Antwort.

Akesuk zuckte die Achseln.

Wer den größten Teil seines Lebens auf Vancouver Island verbracht hatte, noch dazu als Erforscher marinen Lebens, stand der Natur näher als jeder menschlichen Errungenschaft. Dennoch war es etwas anderes, im Clayoquot Sound Wale zu beobachten, als über die konturlose Weiße dieses Meerarms dahinzugleiten, immer weiter hinaus, braune Tundra zur Rechten und die gletscherbedeckten Gipfel von Bylot Island zur Linken. Während das Klima im Westen Kanadas für Menschen wie geschaffen schien, präsentierte sich die Arktis als spektakuläre Hölle. Wunderschön zwar, aber sich selber genug und tödlich für jeden, der sich der Illusion menschlicher Vorherrschaft ergab. Die Siedlungen wirkten wie trotzige Versuche, etwas in Besitz zu nehmen, was sich nicht besitzen ließ. Die Reise auf den Qamutiks zur Meereiskante geriet zum Trip ins Unbewusste. Anawaks letzter Rest Zeitgefühl hatte sich nach einer weiteren sonnenbeschienenen Nacht davongemacht. Sie reisten zum Urgrund der Welt. Selbst einem Rationalisten, der keinen Gott anbetete und jeder wissenschaftlichen Erklärung den Vorzug gab, kam es plötzlich einleuchtend vor, warum der Polarbär, wie die Inuit einander an langen Abenden erzählten, so melancholisch dahertrottete. Weil er in Liebe zu einer verheirateten Menschenfrau blind geworden war für die Realität. Die Frau hatte ihrem Mann, der wochenlang glücklos auf der Jagd gewesen war, aus Mitleid das Versteck ihres Liebhabers verraten, obgleich der Bär sie eindringlich gewarnt hatte, ihm von ihren geheimen Zusammenkünften zu erzählen. Doch der Bär hörte mit, während sie ihn verriet, und als der Jäger nach ihm Ausschau hielt, schlich er sich zum Iglu seiner Geliebten, um sie zu töten. Er hob die Pranke, doch dann überkam ihn Trauer. Welchen Sinn sollte es haben, ihr Leben zu zerstören? Der Verrat war begangen. Er wanderte einsam und mit schweren Schritten davon.

Die Luft prickelte kalt auf Anawaks Haut.

Wo die Natur sich dem Menschen genähert hatte, war sie verraten worden. Seither, sagten die Legenden, fielen Bären Menschen an. Hier draußen war ihr Reich. Sie waren die Stärkeren. Dennoch hatte der Mensch sie besiegt und sich selber gleich mit. Auch wenn Anawak seiner Heimat zwei Jahrzehnte lang den Rücken gekehrt hatte, wusste er sehr genau, dass Industriechemikalien wie DDT oder hochgiftiges PCB aus Asien, Nordamerika und Europa mit Winden und Meeresströmungen bis ins Nordpolarmeer gelangten. Die toxische Fracht reicherte sich im Gewebe von Walen, Robben und Walrosse an, von denen sich Eisbären und Menschen ernährten, und alle wurden krank. In der Muttermilch von Inuitfrauen waren PCB-Werte gemessen worden, die bis um das 20fache über dem lagen, was die Weltgesundheitsorganisation als Grenzwert angab. Kinder litten unter neurologischen Störungen und schnitten bei Intelligenztests immer schlechter ab. Die Wildnis wurde vergiftet, weil die Quallunaat das Prinzip nicht verstanden oder verstehen wollten, nach dem der Planet Erde funktionierte — eine gewaltige Umwälzpumpe aus Luft-und Meeresströmungen, in der früher oder später alles überallhin verteilt wurde.

War es ein Wunder, dass jemand da unten beschlossen hatte, alldem ein Ende zu setzen?

Nach zwei Stunden Fahrt steuerten sie erneut die Küste von Baffin Island an. Verspannt vom langen Sitzen und Abfedern der Kufenstöße, stapften sie über das flache Presseis an Land und die schneefreie Tundra hinauf, vorbei an flechtenbewachsenen Felsbrocken. Zwischen moosigen und wasserdurchzogenen Morastflächen leuchteten vereinzelt Blüten auf, purpurroter Steinbrech und Fingerkraut. Sie hatten Glück mit der Jahreszeit. Später im Sommer würden hier Milliarden Mücken unterwegs sein.

Das Gelände stieg sanft an. Einer der Skidoo-Fahrer führte sie auf ein Plateau mit Blick auf das Meer und die weißen Berge, zeigte ihnen die Relikte alter Behausungen aus der Thule-Zeit und zwei schlichte Kreuze. Deutsche Walfänger lagen hier begraben. Mehrere Siksiks, arktische Erdhörnchen, jagten einander über die Hochebene und verschwanden in Erdlöchern. Mary-Ann fand ein paar Steine und begann damit auf geschickte Weise zu jonglieren. Anawak sah ihr zu, und plötzlich erinnerte er sich auch daran. Eine Inuit-Sportart, so alt wie die Welt. Er versuchte es ihr nachzutun, das Ergebnis war jämmerlich und rief kollektives Gelächter hervor. So waren die Inuit. Ein albernes Volk, das sich ausschüttete vor Lachen, bloß wenn jemand ausrutschte.

Nach einem kurzen Lunch mit Sandwiches und Kaffee fuhren sie weiter, bezwangen eine noch größere Wasserspalte und hielten auf Bylot Island zu. Unter den Antriebsraupen der Skidoos spritzte Schmelzwasser nach allen Seiten. Packeis türmte sich zu bizarren Barrieren und zwang sie zu neuerlichen Umwegen. Nach kurzer Fahrt glitten sie unterhalb der Klippen von Bylot Island dahin. Die Luft war erfüllt vom Kreischen der Vögel. Dreizehenmöwen nisteten zu tausenden in den Felsspalten, ganze Schwärme flogen an und ab. Schließlich wurde der Konvoi langsamer und hielt erneut.

»Machen wir einen Spaziergang«, sagte Akesuk.

»Wir haben doch gerade einen gemacht«, wunderte sich Anawak.

»Der ist drei Stunden her, Junge.«

Drei Stunden? Du lieber Himmel.

Im Gegensatz zur sanft ansteigenden Tundra von Baffin Island erwies sich Bylot Island schon in der Uferregion als ziemlich steil. Der Spaziergang geriet mehr zu einer Kletterpartie. Akesuk zeigte ihm eine weiße Spur aus Vogelexkrementen in einer Gesteinsspalte hoch über ihren Köpfen.

»Gerfalken«, sagte er. »Schöne Tiere.«

Er begann eine Reihe sonderbarer Lockpfiffe auszustoßen, aber die Falken ließen sich nicht blicken.

»Weiter innen hätten wir gute Chancen, sie zu sehen. Und auf Füchse, Schneegänse, Eulen, Falken und Bussarde zu stoßen.« Akesuk grinste spöttisch. »Oder auch nicht. So ist die Arktis. Man kann einfach keine Verabredungen treffen. Unzuverlässiges Pack, Tiere wie Inuit. Nicht wahr, Junge?«

»Ich bin kein Quallunaaq, wenn du das meinst«, konterte Anawak.

»Oh.« Sein Onkel sah witternd in die Luft. »Nun gut. Ich denke, wir sparen uns einen weiteren Aufstieg. Wir holen es nach. Du wirst irgendwann wiederkommen, nun, da du kein Quallunaaq mehr bist. Fahren wir zur Eiskante, das müssten wir schaffen bei dem schönen Wetter.«

Von nun an hörte die Zeit endgültig auf zu existieren. Während sie nach Osten vorstießen und Bylot Island hinter sich ließen, wurde das Eis rauer, und die Stöße der Kufen nahmen an Wucht zu. Hier hatten kalte Winde dafür gesorgt, dass die Schmelzwasserpfützen wieder leicht überfroren waren. Es klirrte, als führen sie durch Glas. Anawak richtete sich auf und entdeckte eine kleine Wasserspalte. Er machte den Fahrer des Qamutik darauf aufmerksam, aber der Mann hatte die Spalte schon gesehen. Er drehte sich zu Anawak um, während er mit unverminderter Geschwindigkeit weiter über das Eis drosch, und grinste anerkennend.

»Du hast ja doch nicht alles verlernt«, lachte Akesuk.

Anawak sah ihn einen Moment lang unentschlossen an. Dann lachte er mit. Er war stolz. Nicht zu fassen. Er war stolz darauf, diese dämliche Spalte gesehen zu haben.

Der Nachmittag zauberte Sonnenhunde an den Himmel. So nannten die Inuit die seltsamen Erscheinungen beiderseits der Sonne, große strahlende Ringe, wenn sich das Licht an winzigen Eiskristallen brach. In der Ferne stapelte sich Packeis zu riesigen, stark zerklüfteten Barrieren. Dann plötzlich lag glattes, offenes Wasser zu ihrer Rechten. Eine Robbe tauchte auf, schaute kurz herüber, verschwand. Ein Stück weiter erschien ihr Kopf erneut, neugierig starrend. Sie ließen das Wasserloch hinter sich und hielten auf ein weiteres zu, riesig in seinen Ausmaßen, bis Anawak erkannte, dass es gar kein Wasserloch war, sondern die Eiskante. Dahinter begann das offene Meer.

Nach einer Weile stießen sie auf ein Zeltlager. Der Tross hielt an. Herzliche Begrüßung. Einige kannten sich, die anderen wurden ausführlich vorgestellt. Die Camper stammten aus Pond Inlet und Igloolik. Sie hatten einen Narwal erlegt, ihn zerteilt und die Kadaverreste weiter östlich nahe der Eiskante gelassen, ungefähr dort, wohin Anawaks Gruppe unterwegs war. Stücke der Haut wurden herumgereicht, man fachsimpelte über die Jagd. Zwei Jäger stießen hinzu, die mit ihren Skidoos von der Eiskante kamen und nach Hause wollten. Sie hatten Jagdkanus auf ihren Qamutiks festgezurrt und zwei am Vortag geschossene Robben. Einer der beiden meinte, die Tiere würden dem zurückweichenden Eis früher zu ihren Nahrungsgründen und Brutstätten folgen als sonst um diese Zeit. Dabei schwenkte er eine Winchester 5.6 und empfahl ihnen, Vorsicht walten zu lassen. Auf seiner Mütze stand: Arbeit ist nur was für Menschen, die nichts vom Jagen verstehen. Anawak fragte ihn, ob ihm am Verhalten der Wale etwas aufgefallen sei, ob sie besonders aggressiv reagierten oder gar angriffen, was die Jäger verneinten. Plötzlich scharte sich das ganze Camp um sie. Alle kannten die Berichte, jeder wusste bis ins Kleinste, was die Welt in Atem hielt, aber es schien, als sei die Arktis bislang von jeglicher Anomalie verschont geblieben.

Gegen Abend verließen sie das Camp.

Die beiden Jäger fuhren zurück nach Pond Inlet, Anawaks Tross bewegte sich weiter auf die Kante zu. Nach einer Weile passierten sie die Überreste des erlegten Narwals. Scharen von Vögeln balgten sich lautstark um die Fleischfetzen. Sie fuhren weiter, um möglichst viel Abstand zwischen sich und den Kadaver zu legen, hielten schließlich aber doch in Sichtweite. Etwa 30 Meter von der Eiskante schlugen die Führer das Lager auf. Boxen wurden von den Schlitten gelöst, der Funkmast aufgestellt, um den Kontakt zur Außenwelt nicht zu verlieren. Binnen kurzem hatten die Führer fünf Zelte errichtet, vier für die Reisenden und ein Küchenzelt, mit Bodenbrettern und Isoliermatten ausgelegt. Drei weiß gestrichene Sperrholzplatten ergaben ein provisorisches Toilettenhäuschen, im Innern ein Eimer, ausgehängt mit einem blauen Plastiksack und versehen mit einer zerkratzten Emaillebrille.

»Wurde auch Zeit«, strahlte Akesuk.

Er verschwand als Erster auf dem Honigtopf, wie die Inuit ihre Wanderklos nannten, während das Camp weiter aufgebaut wurde. Die Inuit-Führer schlugen vor, mit den abgekoppelten Skidoos ein Rennen zu veranstalten. Anawak ließ sich die nötigen Handgriffe zeigen, aber Skidoo-Fahren erwies sich als einfach. Nach kurzer Zeit rasten sie in wilden Kurven über das glitzernde Eis, und er fühlte sein Herz leichter werden.

Er liebte es, hier zu sein.

Sie fuhren mehrere Rennen, bis ein Mann aus Igloolik als Sieger aus dem Turnier hervorging. Hunger meldete sich. Mary-Ann scheuchte sie aus dem Küchenzelt, also rotteten sie sich draußen zusammen, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die Schlitten gelehnt, und eine junge Frau begann eine Inuit-Geschichte zu erzählen von der Sorte, die immer wieder und wieder ein bisschen anders erzählt werden. Anawak erinnerte sich, wie sich solche Geschichten mitunter über Tage hingezogen hatten. Die Inuit waren nicht der Meinung, dass man alles in einem Schwung zu Ende erzählen müsse. Die Tage auf dem Eis waren lang. Geschichten waren lang. Warum sie nicht verteilen?

Es ging auf Mitternacht, als Mary-Ann das Dinner auftischte. Sie hatte sich selber übertroffen. Es duftete verführerisch nach gegrilltem Wandersaibling, Karibu-Chops mit Reis und gebratenen Eskimo-Potatoes, einer lokalen Wurzelart. Dazu gab es literweise heißen schwarzen Tee. Das Küchenzelt war darauf angelegt, allen Teilnehmern Platz zu bieten, aber es hielt sein Versprechen nicht und erwies sich als zu klein. Akesuk wurde ärgerlich und schimpfte auf den Mann, der ihnen das Zelt vermietet hatte. Davon wurde es nicht größer, also stellten sie ihre Essteller auf Schlittenrahmen und Vorratskisten und aßen, bis sie beinahe platzten.

Gegen halb zwei, als einer nach dem anderen müde wurde, förderte Akesuk eine Flasche Champagner aus den Tiefen seines Gepäcks. Er zwinkerte Anawak listig zu. Mary-Ann krauste die Nase und ging schlafen. Schließlich waren nur noch Anawak und sein Onkel wach und der Mann, der Gewehr bei Fuß auf einer hochgedrückten Packeisscholle stand und für die Bärenwache eingeteilt war.

»Dann trinken wir sie eben«, sagte Akesuk.

Anawak schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht.«

»Ach richtig!« Akesuk warf einen Blick des Bedauerns auf die Flasche. »Bist du sicher? Ich hatte sie extra eingesteckt, um sie bei einer besonderen Gelegenheit zu öffnen. Die besondere Gelegenheit … na ja, du bist heimgekommen, und ich dachte …«

»Ich will die Kontrolle nicht verlieren, Iji.«

»Über was? Über dein Leben oder diesen Augenblick?« Er zuckte die Achseln und steckte die Flasche wieder weg. »Na schön. Es gibt andere besondere Gelegenheiten. Vielleicht machen wir reiche Ernte. Möglich, dass wir einen Weißwal erlegen oder ein dickes, saftiges Walross. Was ist, laufen wir noch ein Stück, bevor wir uns aufs Ohr hauen?«

»Gerne, Iji.«

Sie schlenderten bis zur Meereiskante. Anawak ließ seinem Onkel den Vortritt. Der alte Mann wusste besser, wo das Eis stabil war und wo man Gefahr lief einzubrechen. Die Inuit kannten hunderte von Wörtern für jede Art von Eis und Schnee, nur keines, das einfach Schnee oder Eis bedeutete. Derzeit bewegten sie sich auf elastischem Eis. Während Eisberge aus Süßwasser bestanden, weil das Salz komplett ausfror, fanden sich in Treibeis und Meereis Reste davon. Je schneller das Eis fror, desto höher war sein Salzgehalt. Das Eis wurde dadurch elastischer, was im Winter von Vorteil war, da es weniger schnell brach, und im beginnenden Frühling nachteilhaft, weil die Abbruchgefahr nun immer größer wurde. Ein Sturz ins kalte Wasser konnte einen Menschen töten, aber noch gefährlicher war es, wenn einen die Strömung unter die Eisdecke trieb.

Sie fanden einen Platz nahe der Kante und lehnten sich gegen einen Packeisblock. Vor ihnen erstreckte sich die silbrige See. Dicht unter Wasser sah Anawak Äschen mit stahlblauen Rücken dahinflitzen. Eine Weile schaute er einfach nur hinaus. Auch Akesuk hüllte sich in Schweigen. Sie ließen Zeit verstreichen, und plötzlich — als habe die Natur beschlossen, sie für ihr Ausharren zu belohnen — ragten zwei schraubig gedrehte Einhörner aus dem Wasser wie gekreuzte Degen. Zwei Narwalmännchen zeigten sich wenige Meter von der Kante entfernt. Runde, dunkelgrau gefleckte Köpfe kamen zum Vorschein, dann tauchten die Tiere langsam wieder ab. In spätestens einer Viertelstunde würden sie hier wieder auftauchen. Das war ihr Rhythmus.

Anawak war fasziniert. Narwale bekam man vor Vancouver Island so gut wie gar nicht zu Gesicht. Lange Zeit hatten sie kurz vor der Ausrottung gestanden. Ihre Hörner, eigentlich verlängerte Stoßzähne, bestanden aus purem Elfenbein, dessentwegen sie jahrhundertelang abgeschlachtet worden waren. Immer noch standen sie auf der Liste der gefährdeten Arten, aber mittlerweile hatte sich ihr Bestand zwischen Nunavut und Grönland wieder auf 10000 erhöht.

Das Eis knarrte und ächzte leise, wenn es vom Wasser bewegt wurde. Ein Stück entfernt kreischten Vögel über den Kadaverresten des erlegten Wals. Mildes Licht lag auf den Felsen und Gletschern von Bylot Island und zeichnete Schatten über das gefrorene Meer. Dicht über dem Horizont hing eine blasse, eisige Sonne.

»Du hast mich gefragt, ob ich das alles vermisst habe«, sagte Anawak.

Akesuk schwieg.

»Ich habe es gehasst, Iji. Ich habe es gehasst und verachtet. Du wolltest eine Antwort. Da hast du sie.«

Sein Onkel seufzte.

»Du hast deinen Vater verachtet«, sagte er.

»Mag sein. Aber erklär einem zwölfjährigen Jungen den Unterschied zwischen seinem Vater und seinem Volk, wenn beide sich in ihrem Elend überbieten. Mein Vater war kraftlos und ständig betrunken. Er hat gejammert und rumgeheult und meine Mutter so tief zu sich heruntergezogen, bis sie keinen Ausweg mehr sah, als sich umzubringen. Nenn mir eine Familie, die damals keinen Selbstmord zu beklagen hatte. Alle waren so. Es ist schön und gut, wenn sie dir ständig irgendwelche Geschichten erzählen über das stolze, unabhängige Volk der Inuit, aber ich habe davon nicht viel mitbekommen.« Er sah Akesuk an. »Wenn Vater und Mutter innerhalb weniger Jahre zu Wracks werden, drogensüchtig, ohne Lebensmut, wie sollst du das ertragen? Wenn deine Mutter sich erhängt, weil sie sich selber nicht ertragen kann. Und dein Vater hat nichts anderes zu tun, als zu wimmern und sich zu besaufen. Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt, dass er damit aufhören soll. Dass meine Kraft für zwei reicht. Ich habe ihn angeschrien, dass ich arbeiten werde, irgendetwas tun werde, ich wollte ihm helfen, Hauptsache, er legt die Flasche aus der Hand und bekommt wieder ein paar klare Gedanken zusammen wie früher, aber er hat mich nur angeglotzt und weitergewimmert!«

»Ich weiß.« Akesuk schüttelte den Kopf. »Er war nicht mehr Herr seiner selbst.«

»Er hat mich zur Adoption freigegeben«, sagte Anawak. Die Bitterkeit von Jahren lag ihm auf der Zunge. »Ich wollte bei ihm bleiben, und dieser Jammerlappen gibt mich frei.«

»Er ist nicht mit dir fertig geworden. Er wollte dich schützen.«

»Na und? Hat er sich darum gekümmert, wie ich damit fertig werde? Einen Scheiß hat er! Meine Mutter ist an ihren Depressionen zugrunde gegangen, mein Vater hat sich mit Alkohol abgeschossen, sie haben mich beide aus ihrem Leben geworfen. Hat mir einer geholfen? — Nein! Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, Löcher in den Schnee zu starren und die Not der Inuit zu beklagen. — Auch du, ich erinnere mich genau. Du warst der lustige Onkel Iji, du warst immer für irgendwelche Geschichten gut, aber auf die Reihe bekommen hast du auch nichts. Immer nur Legenden heraufbeschwören, das ist alles, was dir eingefallen ist. Märchenstunde vom freien Volk der Inuit. Ein edles Volk! Ein stolzes Volk! Blabla!«

»Das war es«, nickte Akesuk. »Ein stolzes Volk.«

»Wann?«

Er wartete darauf, dass Akesuk wütend werden würde, aber sein Onkel fuhr sich nur ein paar Mal über den Schnurrbart.

»Vor deiner Geburt«, sagte er. »Die Menschen meiner Generation sind noch in Iglus geboren worden, und es war selbstverständlich, dass jeder eines bauen konnte. Wenn wir Feuer gemacht haben, benutzten wir Flintsteine statt Streichhölzer. Ein Karibu wurde nicht geschossen, sondern mit Pfeil und Bogen erlegt. Vor einen Qamutik spannte man kein Skidoo, sondern Hunde. Klingt das nicht alles sehr romantisch? Nach längst vergangenen Zeiten?« Akesuk schüttelte den Kopf. »Dabei ist es gerade mal ein halbes Jahrhundert her. — Schau dich um, Junge. Wie leben wir heute? Ich meine, es hat auch sein Gutes, kaum ein Volk weiß so viel über die Welt wie wir. In jedem zweiten Haus findest du einen Computer mit Internetanschluss, auch in meinem. Wir haben einen eigenen Staat bekommen.« Er kicherte. »Neulich gab es ein Rätsel zu knacken auf nuna.vut.com, ganz amüsant auf den ersten Blick. Kennst du noch die alten kanadischen Zwei-Dollar-Noten? Vorne siehst du Königin Elisabeth II. abgebildet, hinten drauf eine Gruppe Inuit. Einer der Männer steht vor dem Kajak, mit der Harpune in der Hand. Sehr idyllisch. Die Frage war: Was zeigt diese Szene wirklich? — Weißt du es?«

»Ich fürchte, nein.«

»Aber ich. Sie zeigt das Bild einer Vertreibung, Junge. Die Regierung von Ottawa hatte ein feineres Wort dafür, sie nannte es Umsiedlung. Ein Motiv des Kalten Krieges. Ottawa hatte Angst, die USA oder die Sowjetunion könnten auf die Idee kommen, die unbewohnte kanadische Arktis zu beanspruchen, also siedelten sie die nomadisierenden Inuit von ihren Stammplätzen in der südlichen Polarzone um nach Resolute und Grise Fiord nahe dem Nordpol. Man hat ihnen vorgelogen, dort seien die Jagdgründe besser, aber das Gegenteil war der Fall. Die Inuit mussten in Blech gestanzte Registriernummern tragen, wie Hundemarken. Wusstest du das?«

»Ich erinnere mich nicht mehr.«

»Viele deiner Generation, viele der Kinder heute haben keine Ahnung von ihren Eltern und deren Lebensumständen. Und dass es eigentlich noch früher begonnen hat, Mitte der zwanziger Jahre, als die weißen Trapper kamen und das Gewehr mitbrachten. Karibus und Robben wurden dramatisch dezimiert. Von beiden übrigens, Quallunaat und Inuit. Gewehrkugeln statt Pfeil und Bogen, du verstehst. — Die Armut kam über die Inuit. Sie hatten nie sonderlich viel mit Krankheiten zu tun gehabt, aber jetzt traten Polio, Tuberkulose, Masern und Diphtherie auf, also verließen sie ihre Camps und zogen in Siedlungen. Ende der fünfziger Jahre starben unsere Leute reihenweise an Hunger und Infektionskrankheiten, ohne dass die offiziellen Regierungsstellen das zur Kenntnis nahmen. Das Militär begann, Interesse an den nordwestlichen Territorien zu zeigen, und errichtete geheime Nachrichtenstationen in den traditionellen Jagdgründen. Die Inuit, die dort noch siedelten, standen natürlich im Weg. Sie wurden auf Veranlassung der kanadischen Behörden in Flugzeuge gepackt und Hunderte Kilometer weiter nördlich deportiert, unter Zurücklassung ihrer Zelte, Kajaks, Kanus und Schlitten. Auch ich wurde umgesiedelt als junger Mann, und ebenso deine Eltern. Man hat diese Maßnahme damit begründet, hoch im Norden seien die Überlebensmöglichkeiten für die hungernden Inuit besser als in der Nähe der Militärstationen. In Wirklichkeit lagen die neuen Gebiete weit abseits aller Karibu-Wanderrouten und der Plätze, wo die Tiere im Sommer zu kalben pflegten.«

Akesuk machte eine Pause. Er schwieg lange. Zwischendurch tauchten wieder Narwale auf. Anawak sah ihnen bei ihren Degenfechtereien zu, bis sein Onkel wieder das Wort ergriff:

»Nachdem wir umgesiedelt worden waren, hat man die Bulldozer in die alten Jagdgründe geschickt. Alles, was an unser Leben hier erinnerte, wurde dem Erdboden gleichgemacht, um uns jeden Gedanken an Rückkehr auszutreiben. Und natürlich blieben die Karibus aus im hohen Norden. Kein Essen, keine Kleidung. Was nützt dir der allergrößte Mut, wenn du nur ein paar Siksiks, Hasen und Fische erbeuten kannst? Wenn du dein Volk sterben siehst und nichts dagegen tun kannst mit all deiner Kraft und Entschlossenheit? — Ich will dir die Einzelheiten ersparen. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden wir ein Fall für die Sozialhilfe. Unser Leben konnten wir nicht wieder aufnehmen, und anders zu leben hatten wir nie gelernt. — Etwa um die Zeit, als du geboren wurdest, fühlte sich die Regierung wieder für uns verantwortlich, also baute sie Kästen für uns, Häuser. Für die Quallunaat eine natürliche Sache. Sie leben in Kästen. Wenn sie sich bewegen, setzen sie sich in einen Kasten, für den sie ebenfalls einen Kasten haben, um ihn darin abzustellen. Sie essen in öffentlichen Kästen, ihre Hunde leben in Kästen, und die Kästen, in denen sie selber leben, sind von weiteren Kästen umgeben, von Mauern und Zäunen. Das war ihr Leben, nicht unseres, aber nun lebten auch wir in Kästen. — Und wozu führt verlorenes Selbstbewusstsein? Zu Alkohol, Drogen und Selbstmord.«

»Hat mein Vater damals für die Rechte der Inuit gekämpft?«, fragte Anawak leise.

»Das haben wir alle. Ich war ein junger Mann, als wir vertrieben wurden. Ich habe mitgestritten um Wiedergutmachung. 30 Jahre lang haben wir prozessiert und gerungen. Auch dein Vater. Aber er ist am Ende daran zerbrochen. Nun haben wir seit 1999 unseren Staat, Nunavut, unser Land. Niemand redet uns mehr rein, niemand siedelt uns um. Aber unser Leben, das einzige Leben, das je für uns gemacht war, ist unwiederbringlich verloren.«

»Also müsst ihr euch ein neues suchen.«

»Du hast sicher Recht. Was hilft alles Jammern? Wir waren immer Nomaden und ungebunden, aber wir haben uns mit der Vorstellung eines begrenzten Territoriums arrangiert. Bis vor wenigen Jahrzehnten kannten wir keine Organisationsform außer losen Familienverbänden, wir duldeten weder Häuptlinge noch Führer, und jetzt herrschen Inuit über Inuit, wie es sich für einen modernen Verwaltungsstaat gehört. Wir kannten keinen Besitz, jetzt gehen wir den Weg einer modernen Industrienation. Wir beleben die Traditionen wieder, manche schaffen sich Schlittenhunde an, das Iglubauen wird wieder gelehrt und das Feuermachen mit Flintsteinen. Es ist schön, dass diese Werte erneuert werden, aber damit halten wir die Zeit nicht auf. — Und ich will dir sagen, Junge, dass ich gar nicht unzufrieden bin. Die Welt bewegt sich. Heute leben wir als Nomaden im Internet, durchstreifen das Netz der Datenhighways, jagen und sammeln Informationen. Wir nomadisieren durch die ganze Welt. Die jungen Leute chatten mit Menschen aus allen Erdteilen und erzählen ihnen von Nunavut. Immer noch bringen sich viele Menschen in diesem Land um, zu viele. Nun, wir haben ein Trauma zu verarbeiten. Man sollte uns Zeit geben und die Hoffnung der Lebenden nicht den Toten opfern, was meinst du?«

Anawak sah zu, wie die Sonne sacht den Horizont berührte. »Du hast Recht«, sagte er.

Und dann, einem Impuls folgend, erzählte er Akesuk alles, was sie im Chateau herausgefunden hatten, woran der Stab arbeitete und welche Vermutung sie hegten über die fremde Intelligenz im Meer. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Er wusste, dass er damit gegen Lis ehernes Gebot verstieß, aber es war ihm gleich. Er hatte ein Leben lang geschwiegen. Akesuk war der letzte Rest Familie, den er noch besaß.

Sein Onkel lauschte.

»Möchtest du den Rat eines Schamanen?«, fragte er schließlich.

»Nein. Ich glaube nicht an Schamanen.«

»Ja, wer tut das noch? Aber dieses Problem könnt ihr nicht mit Wissenschaft lösen, Junge. Ein Schamane würde dir sagen, dass ihr es mit Geistern zu tun bekommen habt, den Geistern der belebten Welt, die in den Wesen wandern. Die Quallunaat haben begonnen, das Leben zu vernichten. Sie haben die Geister gegen sich aufgebracht, die Meeresgöttin Sedna. Wer immer deine Wesen im Meer sind, ihr werdet nichts erreichen, wenn ihr versucht, gegen sie vorzugehen.«

»Sondern?«

»Begreift sie als Teil von euch. Jeder ist des anderen Außerirdischer auf diesem angeblich so vernetzten Planeten. Nehmt Kontakt auf. So wie du Kontakt aufgenommen hast zum fremden Volk der Inuit. Wäre es nicht gut, wenn alles wieder zusammenwüchse?«

»Es sind keine Menschen, Iji.«

»Darum geht es nicht. Sie sind Teil derselben Welt, wie deine Hände und Füße Teile desselben Körpers sind. Der Kampf um Herrschaft lässt sich nicht gewinnen. Schlachten kennen nur Opfer. Wen interessiert es denn, wie viele Rassen sich die Erde teilen und wie intelligent sie sind? Lernt, sie zu verstehen, anstatt sie zu bekämpfen.«

»Klingt nach christlicher Doktrin. Linke Wange, rechte Wange.«

»Nein«, kicherte Akesuk. »Es ist der Rat eines Schamanen. So was haben wir hier nämlich noch, aber wir machen kein Aufhebens drum.«

»Welcher Schamane sollte mir …« Anawak hob die Brauen. »Doch nicht etwa du?«

Akesuk zuckte die Achseln und grinste. »Einer muss sich ja um geistlichen Beistand kümmern«, sagte er. »Schau mal!«

In einiger Entfernung hatte sich ein riesiger Polarbär über die letzten Reste des Narwals hergemacht und die Vögel aufgescheucht. Sie stoben um ihn herum oder trippelten in respektvoller Entfernung übers Eis. Ein Sturmvogel stieß immer wieder auf den Eindringling herab. Der Bär zeigte sich unbeeindruckt. Er war weit genug vom Camp entfernt, dass der Wachposten keinen Warnruf auszustoßen brauchte, aber der Mann hatte das Gewehr hochgenommen und sah aufmerksam zu der Stelle hinüber.

»Nanuq«, sagte Akesuk. »Er riecht alles. Auch uns.«

Anawak beobachtete den Bären beim Fressen. Er empfand keine Angst. Nach einer Weile verlor der Koloss das Interesse und machte sich behäbig davon. Einmal drehte er sich um, äugte neugierig zum Camp herüber und verschwand schließlich hinter einer Barriere aus Packeis.

»Wie gemütlich er sich gibt«, flüsterte der Onkel. »Aber er kann laufen, Junge! Er kann laufen!« Akesuk kicherte, griff in seinen Anorak und brachte eine kleine Skulptur zum Vorschein, die er Anawak in den Schoß legte. »Darauf habe ich gewartet. Weißt du, jedes Geschenk braucht seine Zeit. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, dir das zu geben.«

Anawak nahm die Plastik und betrachtete sie. Ein menschliches Gesicht mit Federhaaren, dessen Hinterkopf in einen Vogelkörper auslief.

»Ein Vogelgeist?«

»Ja.« Akesuk nickte. »Toonoo Sharky hat ihn gemacht, ein Nachbar von mir. Ganz angesehener Künstler mittlerweile, hat es bis ins Museum of Modern Arts geschafft. Nimm ihn. Dir steht vieles bevor. Du wirst ihn brauchen, Junge. Er wird deine Gedanken in die richtige Richtung lenken, wenn es so weit ist.«

»Wenn was so weit ist?«

»Dein Bewusstsein wird fliegen.« Akesuk formte die Hände zu Schwingen, ließ sie flattern und grinste. »Aber du bist lange fort gewesen von hier. Ein bisschen aus der Übung. Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrät, was der Vogelgeist sieht.«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Das ist das Privileg der Schamanen.«

Ein Vogel strich über sie hinweg.

»Eine Rosenmöwe«, lachte Akesuk. »Na, du hast wirklich Glück, Leon, wirklich Glück! Wusstest du, dass jedes Jahr Tausende Vogelliebhaber aus aller Welt anreisen, nur um diese Möwe zu sehen? So selten ist sie. — Nein, du solltest dich nicht sorgen, wirklich nicht. Die Geister haben dir ein Zeichen gesandt.«

Später, als sie endlich in ihre Schlafsäcke gefunden hatten, lag Anawak noch eine Weile wach. Die nächtliche Sonne erhellte die Zeltwand. Einmal hörte er den Ruf der Bärenwache: »Nanuq, Nanuq!« Er dachte an das tiefe, schwarze Nordpolarmeer unter sich, und seine Gedanken, körperlos, schienen durch die Eisdecke hinabzusinken in die unbekannte Welt. Ruhig atmend trieb er auf einer See aus Schlaf dahin und schließlich auf dem Plateau eines gewaltigen Eisbergs, geboren im grönländischen Gletscher, herübergetrieben an die Ostküste von Bylot Island, festgehalten von der zufrierenden See und endlich dem aufbrechenden Eis wieder entrissen von Wind und Wellen und nach Süden getrieben. In seinem Traum stieg Anawak über einen schmalen, verschneiten Pfad bis zum Gipfel des Berges und sah, dass sich dort ein smaragdgrüner Binnensee aus Schmelzwasser gebildet hatte. So weit das Auge reichte, erstreckte sich spiegelglattes, blaues Meer. Der Eisberg würde zerfließen, und er würde hinabsinken in diese stille See zum Urgrund allen Lebens, wo ein Rätsel darauf wartete, gelöst zu werden.

Und vielleicht ein Schamane, ihm dabei zu helfen.


24. Mai

Frost

Frost war wie üblich anderer Meinung.


Die Hauptmethanvorkommen lagerten nach Einschätzung der rohstofffördernden Industrie im Pazifik entlang der Westküste Nordamerikas und vor Japan, außerdem im Ochotskischen Meer sowie im Beringmeer und weiter nördlich in der Beaufortsee. Im Atlantik hatten die USA das meiste davon vor der Haustür. Es gab größere Vorkommen in der Karibik und vor Venezuela und starke Konzentrationen im Gebiet der Drake-Straße zwischen Südamerika und der Antarktis. Auch von den norwegischen Hydraten hatte man gewusst, und ebenso bekannt war die Existenz von Lagerstätten im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer.

Nur vor der Nordwestküste Afrikas waren sie offenbar dünn gesät. Ganz besonders im Umfeld der Kanarischen Inseln.

Und das wollte Frost nicht einleuchten.

Denn dort stieg kaltes Wasser aus der Tiefe hoch, beladen mit Nährstoffen für Planktonalgen, die ihrerseits wiederum die Grundlagen für die exzellenten kanarischen Fischgründe schufen. Daran gemessen hätten im Gebiet der Kanaren sogar sehr große Hydratmengen lagern müssen — überall, wo organisches Leben in großer Vielfalt vorkam, bildete sich früher oder später Methan in der Tiefsee.

Das Problem mit den Kanaren war, dass sich die verwesenden Reste der Lebewesen nirgendwo absetzen konnten. Nachdem die Inseln Jahrmillionen zuvor aus Vulkanen entstanden waren, ragten sie steil wie Türme vom Meeresboden in die Höhe: Teneriffa, Gran Canaria, La Palma, Gomera und Ferro. Sie alle wuchsen aus Tiefen zwischen drei und dreieinhalb Kilometern zur Oberfläche, vulkanische Felsnadeln, an denen Sedimente und organische Rückstände einfach vorbeitrudelten, anstatt sich festzusetzen. Die gängigen Karten verzeichneten darum im Gebiet der Kanaren gar keine Methanvorkommen. Was nach Ansicht von Stanley Frost die erste Fehlannahme war.

Zweitens ahnte er, dass die Vulkankegel, als deren Spitzen die Inseln aus der See ragten, längst nicht so steil waren, wie es allgemein hieß. Natürlich waren sie steil, aber nicht glatt und senkrecht wie Häuserwände. Frost hatte sich hinreichend mit der Entstehung und dem Wachstum von Vulkanen beschäftigt, um zu wissen, dass selbst der steilste Kegel Grate und Terrassen aufwies. Er war der festen Überzeugung, dass rund um die Inseln eine ganze Menge Methan lagerte und dass bis jetzt lediglich keiner so genau nachgesehen hatte. Dieses Hydrat würde nicht in großen Brocken vorkommen, aber das Gestein als Netz feiner Äderchen durchziehen. Auf den sedimentbedeckten Graten hatte es sich auf alle Fälle angelagert.

Da er zwar Vulkanologe, aber kein Experte für Hydrate war, hatte er im Chateau Gerhard Bohrmann zu Rate gezogen. Sie waren übereingekommen, der Sache auf den Grund zu gehen. Frost hatte daraufhin eine Liste von Inseln erstellt, die ihm gefährdet erschienen. Dazu gehörten außer La Palma auch Hawaii, die Kapverden, Tristan de Cunha weiter südlich und Réunion im Indischen Ozean. Jede davon war eine potenzielle Zeitbombe, aber La Palma war und blieb ohne Beispiel. Wenn zutraf, was Frost befürchtete, und diese Wesen in der Tiefsee tatsächlich so schlau waren, wie der norwegische Professor meinte, hing die Cumbre-Vieja-Vulkankette auf La Palma über Millionen Menschen wie ein zweitausend Meter hohes Damoklesschwert.

Dank Bohrmanns Bemühungen erhielten Frost und sein Team die berühmte Polarstern für ihre Expedition. Das deutsche Forschungsschiff hatte ebenso wie die Sonne einen Victor 6000 an Bord. Die Polarstern war groß genug, dass ihr Wale nicht gefährlich werden konnten, und außerdem mit Unterwasserkameras nachgerüstet worden, um Angriffe durch Muschelschwärme, Medusen oder andere Organismen rechtzeitig erkennen zu können. Frost hatte keine Vorstellung davon, ob er den Victor je wieder sehen würde, wenn er ihn einmal hinuntergelassen hatte, nachdem dort unten alles Mögliche verschwand. Es war ein Versuch auf gut Glück, aber niemand sperrte sich dagegen.

Der Victor tauchte an der Westseite von La Palma. Die Polarstern lag in Sichtweite vom Festland, als er runterging. Der Roboter suchte die steile Flanke des Vulkankegels systematisch ab, bis er in knapp 400 Metern Tiefe auf eine Anordnung überkragender Terrassen stieß, die wie Balkone aus der Wand standen und weitflächige Sedimentbedeckungen aufwiesen.

Dort fand er die Hydratvorkommen, die Frost vorausgesagt hatte. Sie verschwanden unter wimmelnden, rosaweißen Leibern mit Zangenkiefern.


8. Juni

La Palma, Kanaren, vor Westafrika

»Warum arbeiten diese Würmer so eifrig am Fundament einer Ferieninsel, wo sie doch vor Japan oder vor unserer Haustür viel mehr anrichten könnten?«, sagte Frost. »Ich meine, die Ostsee war ein Ballungsraum. Die amerikanische Ostküste und Honshu sind es auch, aber da reichen die Wurmpopulationen bei weitem noch nicht aus, um es richtig rappeln zu lassen. Und jetzt entdecken wir sie hier. Vor einer Urlaubsinsel im afrikanischen Westen. Also was soll das alles? Machen die Viecher Urlaub?«

Er stand, wie gewohnt mit Baseballkappe und Ölarbeiteroverall angetan, hoch oben an der Westseite des Zentralgebirges, das sich über die gesamte Insel zog. Während die Felsen im Norden den berühmten Erosionskrater Caldera de Taburiente umschlossen, setzte sich der Gebirgskamm mit unzähligen Vulkanen bis zur Südspitze fort.

Frost war in Begleitung von Bohrmann und zwei Repräsentanten der De-Beers-Unternehmensgruppe, einer Geschäftsführerin und einem Technischen Leiter mit Namen Jan van Maarten. Der Hubschrauber parkte ein Stück abseits der Sandpiste, auf der sie standen. Sie überblickten eine begrünte Kraterlandschaft von beeindruckender Schönheit. Ein Kegel reihte sich an den nächsten. Schwarze Lavafelder wälzten sich hinab zur Küste, gesprenkelt mit erstem zarten Grün. Die Vulkane La Palmas spuckten nicht regelmäßig Lava, allerdings konnte der nächste Ausbruch jederzeit bevorstehen. Erdgeschichtlich waren die Inseln junges Land. Erst 1971 war im äußersten Süden ein neuer Vulkan entstanden, der Teneguia, der die Insel um einige Hektar vergrößert hatte. Genau genommen bildete der komplette Kamm einen einzigen großen Vulkan mit vielen Auslässen, weshalb man bei Ausbrüchen meist einfach nur vom Cumbre Vieja sprach.

»Die Frage ist«, sagte Bohrmann, »wo man ansetzen muss, um den meisten Schaden anzurichten.«

»Sie glauben tatsächlich, da hat sich jemand solche Gedanken gemacht?« Die Geschäftsführerin runzelte die Stirn.

»Es ist alles hypothetisch«, sagte Frost. »Aber wenn wir voraussetzen, dass ein intelligenter Geist dahinter steckt, geht er strategisch sehr geschickt vor. Nach dem Desaster in der Nordsee hat natürlich jeder angenommen, das nächste Unheil drohe in unmittelbarer Nähe dicht besiedelter Küsten und Industrielandschaften. Und tatsächlich haben wir Würmer dort gefunden, aber in eher kleiner Anzahl. Daraus könnte man schließen, dass die Truppenstärke des Feindes, um es mal so zu nennen, nachgelassen hat. Oder dass er Zeit braucht, um mehr von diesen Würmern zu produzieren. Man lenkt unsere Aufmerksamkeit ständig auf die falschen Punkte. Gerhard und ich sind mittlerweile der Überzeugung, dass diese halbherzigen Invasionen vor Nordamerika und Japan Ablenkungsmanöver sind.«

»Aber was bringt es, die Hydrate vor La Palma zu zerstören?«, fragte die Frau. »Hier ist ja nun tatsächlich nicht viel los.«

Die De-Beers-Leute waren ins Spiel gekommen, als Frost und Bohrmann auf die Suche nach einem schon existierenden System gegangen waren, mit dem man die Eis fressenden Würmer absaugen konnte. Vor Namibia und Südafrika wurde der Meeresboden seit Jahrzehnten nach Diamanten abgesucht. Mehrere Gesellschaften waren daran beteiligt, allen voran der internationale Diamantenriese De Beers, der von Schiffen und seegestützten Plattformen aus bis in Tiefen von 180 Metern baggerte. Vor einigen Jahren hatte De Beers begonnen, neue Konzepte zu entwickeln, die tiefer kamen, ferngesteuerte Unterwasser-Bulldozer mit Saugrüsseln, die Sand und Gestein durch Rohrleitungen in Begleitschiffe pumpten. Eine der jüngsten Entwicklungen sah ein flexibles System vor, das völlig ohne Grundgefährt auskam — ein ferngesteuerter Saugrüssel, der auch an Steilhängen operieren konnte. Theoretisch war das System in der Lage, bis in Tiefen von mehreren tausend Metern vorzustoßen, aber dafür musste man den Rüssel überhaupt erst mal in einer solchen Länge bauen.

Der Stab hatte beschlossen, die mit dem Projekt befasste Gruppe auf Seiten des Diamantenkonzerns einzuweihen. Die beiden De-Beers-Vertreter wussten zu diesem Zeitpunkt nur, dass ihr System vor dem Hintergrund der weltweiten Naturkatastrophen eine wichtige Rolle spielen könnte und dass man sehr schnell einen Saugrüssel von mehreren Hundert Meter Länge benötigen würde. Frost hatte vorgeschlagen, auf den Cumbre zu fliegen, weil er den Leuten ein möglichst klares Bild dessen vermitteln wollte, was auf die Menschheit zukommen würde, wenn die Mission scheiterte.

»Täuschen Sie sich nicht«, sagte er. »Hier ist jede Menge los.«

Sein Haar, das unordentlich unter der Kappe hervorkringelte, zitterte im kühlen Passatwind. Der Himmel spiegelte sich in seiner getönten Brille. Er glich wie üblich einer Mischung aus Fred Feuerstein und Terminator, wie er da stand, und seine Stimme donnerte mitten hinein in die Stille des Hangs mit seinen friedlichen Kiefernhainen, als wolle er die nächsten zehn Gebote verteilen.

»Wir stehen hier, weil der Vulkanismus die Kanaren vor zwei Millionen Jahren ins Meer gespien hat. Alles hier macht einen sehr idyllischen Eindruck, aber das täuscht. Unten in Tijarafe — hübsches kleines Nest übrigens, köstliche quesos de almendras! — feiern sie am 8. September das Teufelsfest, und der Teufel rennt krachend und Feuer spuckend über den Dorfplatz. Warum tut er das? Weil die Inselbewohner ihren Cumbre kennen. Weil Krachen und Feuerspucken zum Alltag gehören. Die Intelligenz, der wir das Gewürm verdanken, weiß es ebenfalls. Sie weiß, wie die Insel entstanden ist. — Und wer solche Dinge weiß, kennt im Allgemeinen auch die Schwachstellen.«

Frost ging ein paar Schritte zur Kante des Hangs. Das bröckelige Lavagestein knirschte unter seinen Doc-Martens-Stiefeln. Tief unter ihnen brachen sich glitzernd die Atlantikwellen.

»1949 ist der Cumbre Vieja nochmal so richtig schön zum Leben erwacht, der alte, schlafende Hund, genauer gesagt einer seiner Krater, der Vulkan von San Juan. Mit bloßem Auge ist es kaum auszumachen, aber seitdem durchzieht ein mehrere Kilometer langer Riss den Westhang zu unseren Füßen. Möglicherweise reicht er bis in die untere Struktur La Palmas. Teile des Cumbre Vieja sind damals etwa vier Meter in Richtung Meer abgesackt. Ich habe das Gebiet in den letzten Jahren oft vermessen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Westflanke mit der nächsten Eruption vollends wegbricht, weil einige Gesteinsschichten enorm viel Wasser enthalten. Sobald neue, heiße Magma im Vulkanschlot hochsteigt, wird sich dieses Wasser stoßartig ausdehnen und verdampfen. Der entstehende Druck könnte die instabile Seite mühelos absprengen, außerdem drücken die Ost— und die Südflanke dagegen. Als Folge würden rund 500 Kubikkilometer Gestein abrutschen und ins Meer stürzen.«

»Davon habe ich gelesen«, sagte van Maarten. »Offizielle Vertreter der Kanaren halten die Theorie für fragwürdig.«

»Fragwürdig«, donnerte Frost wie die Posaunen von Jericho, »ist höchstens, dass sie sich in allen offiziellen Verlautbarungen um eine klare Stellungnahme drücken, um keine Touristen zu verschrecken. Der Menschheit wird dieses Kapitel nicht erspart bleiben. Ein paar kleinere Beispiele hat es schon gegeben. 1741 explodierte in Japan der Oshima-Oshima und erzeugte 30 Meter hohe Wellen. Ähnlich hoch waren sie, als 1888 auf Neu Guinea Ritter Island kollabierte, und der damals abgestürzte Fels betrug gerade mal ein Prozent dessen, was wir hier zu erwarten hätten! Der Kilauea auf Hawaii wird schon seit Jahren durch ein Netz von GPS-Stationen überwacht, die jede kleinste Bewegung registrieren, und er bewegt sich! Die Südostflanke rutscht zehn Zentimeter pro Jahr zu Tal, und wehe, wenn sie Fahrt aufnimmt. Das mag sich keiner von uns vorstellen. Nahezu jeder Inselvulkan neigt dazu, mit zunehmendem Alter immer steiler zu werden. Wenn er zu steil wird, bricht ein Teil von ihm ab. Die Regierung von La Palma stellt sich blind und taub. Die Frage ist nicht, dass es passiert, sondern wann es passiert. In hundert Jahren? In tausend? Einzig das wissen wir nicht. Die hiesigen Vulkanausbrüche pflegen sich nicht anzukündigen.«

»Was geschieht, wenn der halbe Berg ins Meer stürzt?«, fragte die Repräsentantin.

»Die Gesteinsmasse wird Unmengen von Wasser verdrängen«, sagte Bohrmann, »die sich immer höher auftürmen. Der Aufprall erfolgt mit schätzungsweise 350 Stundenkilometern. Das Geröll würde 60 Kilometer weit ins offene Meer hineinreichen, wodurch das Wasser nicht einfach über das Gestein zurückfluten kann. Es kommt zur Bildung einer riesigen Luftblase, die noch weit mehr Wasser verdrängt als der abstürzende Fels. Was nun geschieht, darüber gehen die Meinungen tatsächlich ein bisschen auseinander, allerdings gibt keine der Varianten Anlass zu guter Laune. In unmittelbarer Nähe von La Palma wird der Abbruch eine Riesenwelle erzeugen, deren Höhe zwischen 600 und 900 Metern liegen dürfte. Sie rast mit etwa 1000 Stundenkilometern los. Im Gegensatz zu Erdbeben sind Bergstürze und Erdrutsche Punktereignisse. Die Wellen werden sich radial über den Atlantik ausbreiten und ihre Energie verteilen. Je weiter sie sich vom Ausgangspunkt entfernen, desto flacher werden sie.«

»Klingt tröstlich«, murmelte der Technische Leiter.

»Nur bedingt. Die Kanarischen Inseln werden im selben Augenblick ausgelöscht. Eine Stunde nach dem Abbruch trifft ein 100 Meter hoher Tsunami auf die afrikanische West-Sahara-Küste. Zum Vergleich: Der in Nordeuropa hat in den Fjorden 40 Meter erreicht, und das Ergebnis ist bekannt. Sechs bis acht Stunden später überrollt eine 50 Meter hohe Welle die Karibik, verwüstet die Antillen und überschwemmt die Ostküste der USA zwischen New York und Miami. Unmittelbar darauf prallt sie mit gleicher Wucht gegen Brasilien. Kleinere Wellen erreichen Spanien, Portugal und die Britischen Inseln. Die Auswirkungen wären verheerend, auch für Zentraleuropa, wo die komplette Ökonomie zusammenbrechen würde.«

Die De-Beers-Leute wurden blass. Frost grinste in die Runde. »Hat zufällig jemand Deep Impact gesehen?«

»Den Film? Diese Welle war aber doch viel höher«, sagte die Repräsentantin. »Mehrere hundert Meter.«

»Um New York auszulöschen, reichen 50 Meter. Beim Aufprall wird so viel Energie freigesetzt, wie die gesamten Vereinigten Staaten in einem Jahr verbrauchen. Die Höhe der Häuser müssen Sie in Ihrer Betrachtung vernachlässigen, ein Tsunami ist ein Problem für die Fundamente. Der Rest stürzt einfach ein, wie hoch er auch gebaut sein mag. Und keiner von uns ist Bruce Willis, wenn ich das hinzufügen darf.« Er machte eine Pause und zeigte den Hang hinab. »Um die hiesige Westflanke zu destabilisieren, brauchen Sie entweder einen Ausbruch des Cumbre Vieja oder eine unterseeische Rutschung. Daran arbeiten die Würmer. Sozusagen an einer Miniausgabe dessen, was sie in Nordeuropa angerichtet haben, aber es dürfte reichen, um einen Teil der untermeerischen Vulkansäule abrutschen und in die Tiefe stürzen zu lassen. Die Folge wäre ein kleines Erdbeben, genug, um die Statik des Cumbre durcheinander zu bringen. Möglicherweise führt dieses Erdbeben sogar zu einer Eruption, auf alle Fälle wird der Westhang seinen Halt verlieren. So oder so, es wird rappeln. Die Katastrophe wird eintreten. Vor Norwegen haben die Würmer ein paar Wochen gebraucht, hier könnte es schneller gehen.«

»Wie viel Zeit bleibt uns?«

»So gut wie keine. Die raffinierten kleinen Biester haben sich Stellen im Ozean gesucht, auf die man nicht gleich kommt. Sie nutzen die Fortpflanzungsfähigkeit von Impulswellen im offenen Meer. Die Nordsee war ein Treffer, aber so richtig dreckig geht’s der menschlichen Zivilisation erst, wenn am anderen Ende der Welt ein harmlos aussehendes kleines Inselchen kollabiert.«

Van Maarten rieb sich das Kinn.

»Wir haben einen Prototyp des Rüssels gebaut, der auf 300 Meter runtergehen kann. Er funktioniert. Mit größeren Tiefen haben wir bis jetzt keine Erfahrungen gemacht, aber …«

»Wir könnten den Rüssel verlängern«, schlug die Repräsentantin vor.

»Das müssten wir praktisch aus dem Hut zaubern. Aber gut, wenn wir alles andere stoppen … Was mir eher Sorgen bereitet, ist das dazugehörige Schiff.«

»Ich glaube kaum, dass Sie mit einem Schiff auskommen werden«, sagte Bohrmann. »Ein paar Milliarden Würmer ergeben eine gewaltige Biomasse. Die müssen Sie irgendwohin pumpen.«

»Das ist nicht unser Problem. Wir können einen Pendelverkehr einrichten. Ich meine das Schiff, von dem aus wir den Rüssel steuern. Wenn wir ihn auf 400 oder 500 Meter verlängern, müssen wir ihn irgendwo lagern. Das ist ein halber Kilometer Schlauch! Bleischwer und um einiges dicker als ein Tiefseekabel, das Sie einfach in einem Schiffsbauch zusammenrollen können. Außerdem, wenn der Rüssel bewegt wird, muss das Schiff stabil genug sein, um diese Bewegungen auszugleichen. Angriffe sollten uns nicht weiter ängstigen, aber die Hydrostatik birgt ihre Tücken. Sie können den Schlauch nicht einfach backbord oder steuerbord raushängen lassen, ohne die Schwimmstabilität zu gefährden.«

»Also ein Baggerschiff?«

»Nicht in der Größe.« Der Mann überlegte. »Vielleicht ein Bohrschiff? Nein, zu schwerfällig. Besser eine schwimmende Plattform. Wir arbeiten ja schon mit so was. Ein Pontonsystem, am besten eine klassische Halbtaucher-Konstruktion wie in der Offshoretechnik, nur dass wir sie nicht mit Trossen verankern werden, sondern wie ein richtiges Schiff über die See bewegen. Das Ding muss manövrierfähig sein.« Er ging ein Stück abseits und begann etwas von Resonanzfrequenzen und Seegangserregung vor sich hin zu murmeln. Dann kam er zurück. »Ein Halbtaucher ist gut. Höchste Seegangsstabilität, flexibel, der ideale Träger für einen Kranausleger, der ordentlich was stemmen muss. Vor Namibia liegt so ein Ding, das wir schnell umbauen könnten. Es verfügt über 6000-V-Düsenpropeller, und ein paar Seitenstrahler bekommen wir notfalls auch noch angeschraubt.«

»Die Heerema?«, fragte die Geschäftsführerin.

»Richtig.«

»Wollten wir die nicht ausmustern?«

»Schrottreif ist sie nicht. Die Heerema verfügt über zwei Hauptverdrängungskörper, das Deck ruht auf sechs Säulen, also alles, wie es sein muss. Gut, sie stammt von 1978, aber für diesen Zweck dürfte es reichen. Es wäre der schnellste Weg. Wir haben keinen Bohrturm, sondern zwei Kranausleger. Über einen davon werden wir den Schlauch runterlassen. Das Hochpumpen ist ebenfalls kein Problem. Und wir können Schiffe anlanden, um die Würmer fortzuschaffen.«

»Klingt nett«, sagte Frost. »Wann können wir damit rechnen?« »Unter normalen Umständen in einem halben Jahr.« »Und unter diesen?«

»Ich kann nichts versprechen. Sechs bis acht Wochen, wenn wir sofort loslegen.« Der Techniker sah ihn an. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Wir sind gut in so was. Trotzdem, falls wir es in der Zeit schaffen, betrachten Sie es bitte als ein Wunder.«

Frost nickte. Er sah hinaus auf den Atlantik. Blau und schön lag er vor ihm. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Wasser plötzlich sechshundert Meter in die Höhe wuchs.

»Das ist gut«, sagte er. »Wunder sind im Augenblick sehr gefragt.«


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