ERSTER TEIL ANOMALIEN

Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im Meer starben. Der dritte goss seine Schale über die Flüsse und Quellen. Da wurde alles zu Blut. Und ich hörte den Engel, der die Macht über das Wasser hat, sagen: Gerecht bist du …

Offenbarung des Johannes, Kapitel 16


An der chilenischen Küste wurde vergangene Woche ein riesiger, unidentifizierter Kadaver angeschwemmt, der sich an der Luft rasch zersetzte. Nach Angaben der chilenischen Küstenwache handelt es sich bei der formlosen Masse nur um einen kleinen Teil einer größeren Masse, die zuvor im Wasser treibend beobachtet wurde. Die chilenischen Experten fanden keinerlei Knochen? die ein Wirbeltier selbst in einem derartigen Zustand noch hätte. Die Masse sei zu groß für Walhaut und würde auch nicht danach riechen. Die bisherigen Erkenntnisse weisen erstaunliche Parallelen zu den sogenannten Clobsters auf. Diese gallertartigen Massen werden immer wieder an Küstenabschnitten angeschwemmt. Von welcher Art Tier sie stammen, kann allenfalls vermutet werden.

CNN, 17. April 2003


4. März

Trondheim, norwegische Küste

Im Grunde war die Stadt viel zu gemütlich für Hochschulen und Forschungszentren. Besonders in Bakklandet oder auf dem Mollenberg wollte sich das Bild einer Technologiemetropole partout nicht einstellen. Inmitten der bunten Idylle aus modernisierten Holzhäusern, Parks und dörflich anmutenden Kirchen, Stelzenbauten am Fluss und pittoresken Hinterhöfen kam jedes Gefühl für Fortschritt abhanden, obschon die NTNU, Norwegens große technische Universität, gleich um die Ecke lag.

Kaum eine Stadt wob Vergangenes und Kommendes so kongenial ineinander wie Trondheim. Und eben darum schätzte sich Sigur Johanson glücklich, in Mollenbergs zeitentrückter Kirkegata zu wohnen, im Erdgeschoss eines ockerfarbenen Giebeldachhäuschens mit weiß gestrichener Vortreppe und Türsturz, dass es jedem Hollywood-Regisseur die Tränen in die Augen getrieben hätte. Wenngleich er dem Schicksal dafür dankte, ihn der Meeresbiologie verpflichtet zu haben und damit einem der gegenwärtigsten Forschungszweige überhaupt, interessierte ihn das Hier und Jetzt nur sehr bedingt. Johanson war Visionär und wie alle Visionäre dem völlig Neuartigen ebenso zugetan wie vergangenen Idealen. Sein Leben war getragen vom Geiste Jules Vernes. Niemand hatte den heißen Atem des Maschinenzeitalters, erzkonservative Ritterlichkeit und die Lust am Unmöglichen so treffend zu vereinen gewusst wie der große Franzose. Einzig die Gegenwart war eine Schnecke, die auf ihrem Buckel Sachzwänge und Profanitäten mit sich schleppte. Sie fand keinen rechten Platz im Kosmos Sigur Johansons. Er diente ihr, erkannte, was sie von ihm verlangte, bereicherte ihren Fundus und verachtete sie für das, was sie daraus machte.

Als er den Jeep an diesem Spätvormittag über die winterliche Ovre Bakklandet zum Forschungsgelände der NTNU steuerte, den glitzernden Lauf der Nidelva zur Rechten, hatte die Vergangenheit ein ausgedehntes Wochenende lang ihr Recht beansprucht. Er war in den Wäldern gewesen und hatte weit abgelegene Dörfer besucht, an denen die Zeit vorübergegangen war. Im Sommer hätte er dafür den Jaguar genommen, im Kofferraum einen Picknickkorb mit frisch gebackenem Brot, stanniolverpackter Gänseleberpastete vom Feinkosthändler und einer kleinen Flasche Gewürztraminer, bevorzugter Jahrgang 1985. Seit Johanson von Oslo hergezogen war, hatte er sich eine ganze Reihe Plätze zu Eigen gemacht, die nicht von erholungsbedürftigen Trondheimern und Touristen überlaufen wurden. Vor zwei Jahren war er durch Zufall ans Ufer eines versteckten Sees gelangt und dort zu seinem Entzücken auf ein kleines, arg renovierungsbedürftiges Landhaus gestoßen. Den Besitzer ausfindig zu machen, hatte Zeit gekostet — er arbeitete in leitender Position für Norwegens staatliche Erdölförderungsgesellschaft Statoil und lebte mittlerweile in Stavanger —, dafür vollzog sich der Erwerb des Hauses umso schneller. Der Mann war froh, jemanden gefunden zu haben, der es übernahm, und verkaufte es für einen Spottpreis. In den Wochen darauf ließ Johanson die marode Hütte von ein paar illegal eingereisten Russen günstig instand setzen, bis sie seiner Vorstellung jener Refugien entsprach, die Bonvivants des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Land— und Lustsitz gedient haben mochten.

Dort, mit Blick auf den See, saß er an langen Sommerabenden auf der Veranda, las die Visionäre unter den Klassikern von Thomas More bis Jonathan Swift und H. G. Wells, hörte Mahler und Sibelius, lauschte dem Klavierspiel Glenn Goulds und Celibidaces Einspielungen der Sinfonien von Ravel. Er hatte sich eine umfangreiche Bibliothek zugelegt. Ebenso wie seine CDs besaß Johanson auch seine Lieblingsbücher fast sämtlich doppelt. Weder auf das eine noch das andere gedachte er zu verzichten, egal, wo er sich gerade aufhielt.

Johanson steuerte den Wagen das sanft ansteigende Gelände hoch. Vor ihm lag das Hauptgebäude der NTNU, ein gewaltiger, schlossähnlicher Bau aus dem beginnenden 20. Jahrhundert, überzuckert von Schnee. Dahinter erstreckte sich das eigentliche Universitätsgelände mit seinen Unterrichtsgebäuden und Laboratorien. 10000 Studenten bevölkerten ein Areal, das eine kleine Stadt für sich war. Überall wogte lärmende Geschäftigkeit. Johanson gestattete sich einen Seufzer des Wohlbehagens. Es war wunderbar gewesen am See, einsam und außerordentlich inspirierend. Im vergangenen Sommer hatte er einige Male die Assistentin des Departmentleiters für Kardiologie mitgenommen, eine Bekanntschaft aus gemeinsamen Vortragsreisen. Sie waren ziemlich schnell zur Sache gekommen, aber am Ende des Sommers hatte Johanson die Liaison für beendet erklärt. Er wollte sich nicht binden, zumal er die Realität durchaus einzuschätzen wusste. Er war 56 Jahre alt, sie 30 Jahre jünger. Schön für ein paar Wochen. Indiskutabel für ein Leben, über dessen Schwelle Johanson ohnehin nur wenige ließ und je gelassen hatte.

Er parkte auf dem für ihn reservierten Platz und ging hinüber zum Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät. Auf dem Weg zum Büro umrundete er in Gedanken ein letztes Mal den See und übersah beinahe Tina Lund, die am Fenster stand und sich bei seinem Eintreten umdrehte.

»Du bist ein bisschen spät«, frotzelte sie. »War’s der Rotwein, oder wollte dich irgendwer nicht gehen lassen?«

Johanson grinste. Lund arbeitete für Statoil und trieb sich derzeit vorzugsweise in den Forschungsstätten von Sintef herum. Die Stiftung gehörte zu den größten unabhängigen Forschungseinrichtungen Europas. Speziell die norwegische Offshore-Industrie verdankte ihr einige bahnbrechende Entwicklungen. Es war nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit zwischen Sintef und der NTNU, die Trondheims Ruf als Zentrum der Technologieforschung mitbegründet hatte. Sintef-Einrichtungen verteilten sich über die ganze Umgebung. Lund, die es im Verlauf einer kurzen und steilen Karriere zur stellvertretenden Projektleiterin für die Erschließung neuer Erdölvorkommen gebracht hatte, hatte erst vor wenigen Wochen ihr Lager im mannetechnischen Institut Marintek aufgeschlagen, ebenfalls ein Sintef-Ableger.

Johanson betrachtete ihre hoch gewachsene, schlanke Gestalt, während er sich aus seinem Mantel schälte. Er mochte Tina Lund. Um ein Haar hätten sie was miteinander angefangen vor einigen Jahren, aber irgendwie waren sie dann auf halber Strecke übereingekommen, es besser bei einer guten Freundschaft zu belassen. Seitdem tauschten sie sich über ihre Arbeit aus und gingen manchmal zusammen essen.

»Alte Männer müssen ausschlafen«, erwiderte Johanson. »Willst du einen Kaffee?«

»Wenn einer da ist.«

Er schaute ins Sekretariat und fand eine volle Kanne vor. Seine Sekretärin war nirgendwo zu sehen.

»Nur Milch«, rief Lund.

»Ich weiß.« Johanson verteilte den Kaffee auf zwei große Becher, gab Milch in ihren und ging zurück in sein Büro. »Ich weiß alles über dich. Schon vergessen?«

»So weit bist du nie gekommen.«

»Nein, dem Himmel sei Dank. Setz dich. Was führt dich her?«

Lund nahm ihren Kaffee, nippte daran, machte jedoch keine Anstalten, Platz zu nehmen.

»Ich schätze, ein Wurm.«

Johanson hob die Brauen und musterte sie. Lund erwiderte seinen Blick, als erwarte sie eine Stellungnahme, bevor sie die Frage dazu gestellt hatte. Das war typisch. Sie war von ungeduldigem Temperament.

Er trank einen Schluck.

»Du schätzt?«

Statt einer Antwort nahm sie einen Behälter aus mattem Stahl von der Fensterbank und stellte ihn vor Johanson auf den Schreibtisch. Er war verschlossen. »Schau mal da rein.«

Johanson entriegelte den Deckel und klappte ihn auf. Der Behälter war bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Etwas Haariges, Langes wand sich darin. Johanson betrachtete es aufmerksam.

»Hast du eine Ahnung, was es ist?«, fragte Lund.

Er zuckte die Achseln.

»Würmer. Zwei Stück. Recht stattliche Exemplare.«

»Der Ansicht sind wir auch. Nur die Art macht uns Kopfzerbrechen.«

»Ihr seid eben keine Biologen. Es sind Polychäten. Borstenwürmer, wenn dir das was sagt.«

»Ich weiß, was Polychäten sind.« Sie zögerte. »Kannst du sie untersuchen und klassifizieren? Wir brauchen das Gutachten allerdings ziemlich schnell.«

»Na ja.« Johanson beugte sich tiefer über den kleinen Tank. »Wie ich schon sagte, es sind definitiv Borstenwürmer. Sehr hübsch übrigens. Schön bunt. Der Meeresboden ist bevölkert von den Viechern, keine Ahnung, welche Art es ist. Worüber macht ihr euch Gedanken?«

»Wenn wir das wüssten.«

»Nicht mal das wisst ihr?«

»Sie stammen vom Kontinentalrand. Aus 700 Metern Tiefe.«

Johanson kratzte sich das Kinn. Die Tiere im Behälter zuckten und wanden sich. Sie wollen fressen, dachte er, nur dass nichts da ist, was sie fressen könnten. Er fand es bemerkenswert, dass sie überhaupt lebten. Den meisten Organismen bekam es nicht sonderlich gut, wenn man sie aus so großer Tiefe nach oben brachte.

Er blickte auf.

»Ich kann sie mir ja mal ansehen. Morgen vielleicht?«

»Das wäre gut.« Sie machte eine Pause. »Dir ist was daran aufgefallen, stimmt’s? Es war in deinen Augen zu sehen.«

»Möglicherweise.«

»Was ist es?«

»Kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich bin kein Artenkundler, kein Taxonom. Es gibt Borstenwürmer in allen möglichen Farben und Formen. Nicht mal ich kenne das komplette Angebot, und ich weiß schon eine ganze Menge. Die hier scheinen mir … na ja, ich weiß es eben noch nicht.«

»Schade.« Lunds Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Dann lächelte sie unvermittelt. »Warum begibst du dich nicht sofort an die Untersuchungen und teilst mir deine Einsichten bei einem Mittagessen mit?«

»So schnell? Was glaubst du eigentlich, was ich hier mache?«

»Wenn ich bedenke, um welche Uhrzeit du aufgekreuzt bist, kannst du jedenfalls nicht in Arbeit ersaufen.«

Dummerweise hatte sie Recht.

»Na gut«, seufzte Johanson. »Treffen wir uns meinethalben um eins in der Cafeteria. Darf ich kleine Stückchen aus ihnen rausschneiden, oder hattest du vor, dich näher mit ihnen zu befreunden?«

»Mach, was du für richtig hältst. Bis später, Sigur.«

Sie eilte hinaus. Johanson sah ihr nach und fragte sich, ob es nicht doch ganz lustig hätte werden können mit ihr. Aber Tina Lund verbrachte ihr Leben im Laufschritt. Zu hektisch für jemanden wie ihn, der es beschaulich liebte und anderen ungern hinterherlief.

Er sah die Post durch, führte eine Reihe überfälliger Telefonate und verfrachtete den Behälter mit den Würmern schließlich ins Laboratorium. Es gab keinen Zweifel daran, dass es sich um Polychäten handelte. Sie zählten ebenso wie Egel zum Stamm der Anneliden, der Ringelwürmer, und stellten im Grunde keine wirklich komplizierte Lebensform dar. Dass sie die Zoologen dennoch faszinierten, hatte andere Gründe. Polychäten gehörten zu den ältesten bekannten Lebewesen überhaupt. Fossile Funde belegten, dass sie seit dem Mittleren Kambrium in nahezu unveränderter Form existierten, und das lag immerhin rund 500 Millionen Jahre zurück. Während man sie in Süßwasser oder feuchten Böden selten antraf, bewohnten sie sämtliche Meere und Tiefen in großer Zahl. Sie lockerten das Sediment auf und dienten Fischen und Krebsen als Nahrung. Die meisten Menschen ekelten sich vor ihnen, schon weil die Exponate durch die Konservierung in Alkohol ihre prächtigen Farben verloren. Johanson hingegen erblickte die Überlebenden einer versunkenen Welt, und was er sah, erschien ihm von ausnehmender Schönheit.

Einige Minuten betrachtete er die rosa Körper mit den tentakelartigen Auswüchsen und weißen Borstenbüscheln in dem Behälter. Dann beträufelte er die Würmer nacheinander mit Magnesiumchlorid-Lösung, um sie zu relaxieren. Es gab verschiedene Möglichkeiten, einen Wurm zu töten. Die gängige war, ihn in Alkohol zu legen, in Wodka oder klaren Aquavit. Aus menschlicher Sicht versprach das einen Tod im Vollrausch, also nicht die schlechteste Art des Ablebens. Die Würmer sahen das anders und zogen sich im Todeskampf zu einem harten Klumpen zusammen, wenn man sie nicht vorher entspannte. Dazu diente das Magnesiumchlorid. Die Muskeln der Tiere erschlafften, und im Folgenden konnte man mit ihnen anstellen, was man wollte.

Vorsichtshalber fror er einen der beiden Würmer ein. Es war immer gut, ein Exemplar in Reserve zu haben, wenn man zu einem späteren Zeitpunkt genetische Analysen durchführen oder stabile Isotope untersuchen wollte. Den zweiten Wurm fixierte er in Alkohol, betrachtete ihn wieder eine Weile, legte ihn auf eine der Arbeitsflächen und vermaß ihn. Er notierte knapp siebzehn Zentimeter. Dann schnitt er ihn der Länge nach auf und stieß einen leisen Pfiff aus.

»Junge, Junge«, sagte er. »Du hast aber schöne Beißerchen.«

Auch innerlich wiesen die charakteristischen Baupläne das Wesen eindeutig als Ringelwurm aus. Der Rüssel, den der Polychät beim Beutefang blitzschnell ausfahren konnte, lag eingestülpt in der Körperhülle. Er war bestückt mit Chitinkiefern und mehreren Reihen winziger Zähne. Johanson hatte schon eine ganze Reihe dieser Kreaturen von innen und außen gesehen, aber die Größe dieser Kiefer übertraf alles, was er kannte. Je länger er den Wurm betrachtete, desto mehr beschlich ihn der Verdacht, dass diese Art noch nicht erfasst war.

Wie praktisch, dachte er. Ruhm und Ehre! Wann entdeckt man schon mal eine neue Art?

Noch war er sich nicht sicher, also zog er das Intranet zu Rate und stöberte eine Weile im Dateiendschungel herum. Es war in der Tat verblüffend. Es gab diesen Wurm, und es gab ihn wiederum nicht. Allmählich wurde Johanson wirklich neugierig. So fasziniert war er von seiner Arbeit, dass er beinahe vergaß, weswegen er das Tier überhaupt untersuchte. Als er schließlich unter den Glasdächern der Universitätsstraßen zur Cafeteria hastete, war er bereits eine Viertelstunde zu spät dran. Er stürmte ins Innere, erspähte Lund an einem Ecktisch und ging zu ihr hinüber. Sie saß im Schatten einer Palme und winkte ihm zu.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Hast du lange gewartet?«

»Stunden. Ich sterbe vor Hunger.«

»Wir können das Putengeschnetzelte nehmen«, schlug Johanson vor. »Es war letzte Woche ausgezeichnet.«

Lund nickte. Wer Johanson kannte, wusste, dass man sich in geschmacklichen Dingen auf ihn verlassen konnte. Sie bestellte Cola zum Essen. Er genehmigte sich ein Glas Chardonnay. Während er die Nase ins Glas hielt, um etwaige Spuren von Kork zu erschnüffeln, rutschte Lund unruhig auf ihrem Sitz hin und her.

»Und?«

Johanson trank einen kleinen Schluck und schmatzte mit den Lippen.

»Anständig. Frisch und ausdrucksstark.«

Lund sah ihn verständnislos an. Dann verdrehte sie die Augen.

»Schon gut.« Er stellte das Glas zurück und schlug die Beine übereinander. Irgendwie fand er Spaß daran, ihre Geduld zu strapazieren. Zumal, wenn sie an einem Montagmorgen mit Arbeit aufwartete, verdiente sie es, auf die Folter gespannt zu werden. »Anneliden, Klasse der Polychäten, so weit waren wir ja schon. Du erwartest hoffentlich keinen umfassenden Bericht, das wird Wochen und Monate dauern. Vorläufig würde ich deine beiden Exemplare entweder als Mutation einstufen oder als neue Art. Oder auch beides, um genau zu sein.«

»Du bist alles andere als genau.«

»Verzeihung. Wo exakt habt ihr die Dinger raufgeholt?«

Lund beschrieb ihm die Stelle. Sie lag ein erhebliches Stück vor dem Festland, dort, wo der Norwegische Schelf in die Tiefsee abfiel. Johanson hörte nachdenklich zu.

»Darf man fragen, was ihr da treibt?«

»Wir untersuchen Kabeljau.«

»Oh. Es gibt noch welchen? Wie erfreulich.«

»Lass die Witze. Du kennst doch die Probleme, wenn man ans Öl will. Wir wollen uns hinterher nicht vorwerfen lassen, irgendetwas außer Acht gelassen zu haben.«

»Ihr baut eine Plattform? Ich denke, die Förderung geht zurück.«

»Das ist im Augenblick nicht mein Problem«, sagte Lund leicht gereizt. »Mein Problem ist, ob da überhaupt gebaut werden kann. So weit draußen haben wir noch nie gebohrt. Wir müssen die technischen Voraussetzungen prüfen. Wir müssen unter Beweis stellen, dass wir umweltverträglich arbeiten. Also gehen wir nachschauen, was da alles rumschwimmt und wie die Umwelt beschaffen ist, damit wir ihr nicht auf die Füße treten.«

Johanson nickte. Lund schlug sich mit den Ergebnissen der Nordseekonferenz herum, nachdem das norwegische Fischereiministerium bemäkelt hatte, täglich würden Millionen Tonnen verseuchten Produktionswassers ins Meer gepumpt. Produktionswasser wurde von den unzähligen Offshore-Anlagen in der Nordsee und vor Norwegens Küste zusammen mit Öl aus dem Meeresboden gefördert, dem es Millionen Jahre lang beigemischt gewesen war, gesättigt mit Chemikalien. Gemeinhin wurde es bei der Förderung nur mechanisch von Ölklumpen getrennt und direkt ins Meer geleitet. Jahrzehntelang hatte niemand diese Praxis infrage gestellt. Bis die Regierung beim norwegischen Institut für Meereswissenschaften eine Studie in Auftrag gegeben hatte, deren Quintessenz Umweltschützer wie Ölkonzerne gleichermaßen aufschreckte. Gewisse Substanzen im Produktionswasser beeinträchtigten die Fortpflanzungszyklen des Kabeljaus. Sie wirkten wie weibliche Hormone. Männliche Fische wurden unfruchtbar oder wechselten das Geschlecht. Inzwischen schienen auch andere Arten bedroht. Die Forderung nach einem sofortigen Einleitungsstopp kam auf, was die Ölproduzenten zwang, nach Alternativen zu forschen.

»Es ist ganz richtig, dass sie euch auf die Finger gucken«, sagte Johanson. »Je genauer, desto besser.«

»Du hilfst mir wirklich weiter.« Lund seufzte. »Jedenfalls, beim Rumstochern am Hang sind wir ziemlich tief runtergegangen. Wir haben seismische Messungen durchgeführt und den Roboter auf 700 Meter geschickt, um Bilder zu machen.«

»Von Würmern.«

»Wir waren völlig überrascht. Wir hätten nicht erwartet, sie da unten vorzufinden.«

»Unsinn. Würmer kommen überall vor. Und oberhalb 700 Meter? Habt ihr sie da auch gefunden?«

»Nein.« Sie rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. »Was ist jetzt mit den verdammten Biestern? Ich würde die Sache gerne zu den Akten legen, wir haben noch einen Riesenhaufen Arbeit vor uns.«

Johanson stützte das Kinn in die Hände.

»Das Problem mit deinem Wurm ist«, sagte er, »dass es eigentlich zwei Würmer sind.«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Natürlich. Es sind zwei Würmer.«

»Das meine ich nicht. Ich meine die Gattung. Wenn ich mich nicht irre, gehört er zu einer kürzlich entdeckten Art, von der man bis dato gar nichts wusste. Man hat sie im Golf von Mexiko entdeckt, wo sie sich auf dem Meeresboden rumtreibt und offenbar von Bakterien profitiert, die wiederum Methan als Energie-und Wachstumsquelle nutzen.«

»Methan, sagst du?«

»Ja. Und da beginnt es spannend zu werden. Deine Würmer sind zu groß für ihre Spezies. Ich meine, es gibt Borstenwürmer, die werden zwei Meter lang und mehr. Übrigens auch ziemlich alt. Aber das sind andere Kaliber, und sie kommen ganz woanders vor. Wenn deine identisch sind mit denen aus dem Mexikanischen Golf, müssen sie seit ihrer Entdeckung ordentlich gewachsen sein. Die vom Golf messen maximal fünf Zentimeter, deine sind dreimal so lang. Außerdem wurden sie am Norwegischen Kontinentalhang bislang nicht beschrieben.«

»Interessant. Wie erklärst du dir das?«

»Du machst mir Spaß! Ich kann es nicht erklären. Die einzige Antwort, die ich im Moment parat habe, ist, dass ihr auf eine neue Art gestoßen seid. Herzlichen Glückwunsch. Sie ähnelt äußerlich dem mexikanischen Eiswurm, in der Größe und bestimmten Merkmalen jedoch einem ganz anderen Wurm. Besser gesagt einem Wurmahnen, von dem wir glaubten, dass er längst ausgestorben sei. Einem kleinen kambrischen Ungeheuer. Es wundert mich nur …«

Er zögerte. Die Region war von den Ölgesellschaften derart unter die Lupe genommen worden, dass ein Wurm dieser Größe längst hätte auffallen müssen.

»Nur?«, drängte Lund.

»Na ja, entweder sind wir alle blind gewesen, oder es hat deine neuen Freunde dort vorher nicht gegeben. Vielleicht stammen sie aus noch größerer Tiefe.«

»Was uns zu den Frage bringt, wie sie so hoch nach oben gelangen konnten.« Lund schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Wann kannst du den Bericht fertig haben?«

»Ich sehe schon, du machst mal wieder Stress.«

»Ich kann jedenfalls keinen Monat darauf warten!«

»Ist ja gut«, Johanson hob beschwichtigend die Hände. »Ich werde deine Würmer in der Welt herumschicken müssen, aber wozu hat man seine Leute. Gib mir zwei Wochen. Und versuch nicht, mich noch weiter runterzuhandeln. Schneller geht’s beim besten Willen nicht.«

Lund erwiderte nichts. Während sie vor sich hinstarrte, kam das Essen, aber sie rührte es nicht an.

»Und sie ernähren sich von Methan?«

»Von Methan fressenden Bakterien«, korrigierte sie Johanson. »Ein ziemlich verzwicktes symbiotisches System, über das schlauere Leute mehr erzählen können. Aber das gilt für den Wurm, von dem ich glaube, dass er mit deinem verwandt ist. Noch ist nichts bewiesen.«

»Wenn er größer ist als der vom Mexikanischen Golf, hat er auch mehr Appetit«, sinnierte Lund.

»Mehr jedenfalls als du«, sagte Johanson mit Blick auf ihren unangetasteten Teller. »Übrigens wäre es hilfreich, wenn du weitere Exemplare deiner Monsterspezies auftreiben könntest.«

»Daran soll’s nicht mangeln.«

»Ihr habt noch welche?«

Lund nickte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. Dann begann sie zu essen. »Ein rundes Dutzend«, sagte sie. »Aber unten sind noch mehr.« »Viele?« »Ich müsste schätzen.« Sie machte eine Pause. »Aber ich würde sagen, ein paar Millionen.«


12. März

Vancouver Island, Kanada

Die Tage kamen und gingen, aber der Regen blieb.

Leon Anawak konnte sich nicht erinnern, wann es in den letzten Jahren so lange am Stück geregnet hatte. Er schaute hinaus auf den einförmig glatten Ozean. Der Horizont erschien als quecksilbrige Linie zwischen der Wasseroberfläche und den tief hängenden Wolkenmassen. Dort hinten begann sich eine Pause abzuzeichnen vom tagelangen Geprassel. Genau ließ sich das nicht sagen. Ebenso gut konnte Nebel heranziehen. Der Pazifische Ozean schickte, was er wollte, im Allgemeinen ohne Vorankündigung.

Ohne die Linie aus den Augen zu lassen, beschleunigte Anawak die Blue Shark und fuhr ein Stück weiter hinaus. Das Zodiac, wie die stark motorisierten, großen Schlauchboote genannt wurden, war voll besetzt. Zwölf Menschen in regenfesten Overalls, bewaffnet mit Feldstechern und Kameras, verloren gerade die Lust an der Sache. Weit über anderthalb Stunden hatten sie ausgeharrt in Erwartung von Grau— und Buckelwalen, die im Februar die warmen Buchten von Baja California und die Gewässer um Hawaii verlassen hatten, um ihren Treck in die sommerlichen Futtergründe der Arktis anzutreten. Sechzehntausend Kilometer legten sie jedes Mal zurück. Ihre Reise führte sie vom Pazifik durch das Beringmeer in die Tschuktschensee bis an die Packeisgrenze und mitten hinein ins Schlaraffenland, wo sie sich die Bäuche voll schlugen mit Flohkrebsen und Garnelen. Wenn die Tage wieder kürzer wurden, traten sie erneut den langen Weg an, zurück nach Mexiko. Dort, geschützt vor ihren schlimmsten Feinden, den Orcas, brachten sie ihre Jungen zur Welt. Zweimal im Jahr passierten die Herden der riesigen Meeressäuger British Columbia und die Gewässer vor Vancouver Island — Monate, in denen Orte wie Tofino, Ucluelet und Victoria mit ihren Whale-Watching-Stationen ausgebucht waren.

Nicht so in diesem Jahr.

Längst hätten Vertreter der einen oder anderen Spezies Kopf oder Fluke für das obligatorische Foto herhalten müssen. Die Wahrscheinlichkeit, den Säugern zu begegnen, war um diese Zeit so hoch, dass Davies Whaling Station Walsichtungen garantierte und für den gegenteiligen Fall kostenlose Wiederholungsfahrten anbot. Ein paar Stunden ohne Sichtungen mochten vorkommen, ein Tag galt schon als ausgesprochenes Pech. Eine ganz Woche bot Anlass, sich Sorgen zu machen, aber eigentlich kam es nicht vor.

Doch diesmal schienen die Tiere irgendwo zwischen Kalifornien und Kanada verloren gegangen zu sein. Auch heute fand das Abenteuer nicht statt. Kameras wurden weggepackt. Zu Hause würde es nichts zu erzählen geben, außer dass man an einer möglicherweise reizvollen Felsenküste vorbeigefahren war, die sich den Blicken hinter Vorhängen aus Regen entzog.

Anawak, gewohnt, zu allen Sichtungen Erklärungen und Kommentare abzugeben, spürte seine Zunge am Gaumen kleben. Im Verlauf der letzten anderthalb Stunden hatte er die Geschichte der Region heruntergebetet und Anekdoten zum Besten gegeben, um die Stimmung nicht gänzlich absaufen zu lassen. Inzwischen schien ihm, dass niemand mehr etwas über Wale und Schwarzbären hören wollte.

Sein Vorrat an Ablenkungsmanövern war erschöpft. In seinem Schädel zirkulierte die Frage nach dem Verbleib der Wale. Wahrscheinlich hätte er sich eher um den Verbleib der zahlenden Touristen sorgen sollen, aber er konnte nicht aus seiner Haut.

»Wir fahren zurück«, beschied er.

Enttäuschtes Schweigen. Für die Rückfahrt durch den Clayoquot Sound würden sie eine gute Dreiviertelstunde brauchen. Er beschloss, den Nachmittag wenigstens rasant zu beenden. Ohnehin waren sie alle nass bis auf die Knochen. Das Zodiac verfügte über zwei PS-starke Motoren, die eine adrenalinfördernde Fahrt garantierten, wenn man sie voll aufdrehte. Alles, was er den Leuten jetzt noch bieten konnte, war Geschwindigkeit.


Als die Stelzenhäuser von Tofino mit dem Pier der Station in Sicht kamen, hörte es unvermittelt auf zu regnen. Die Hügel und Bergrücken erschienen wie aus grauem Karton geschnitten, die Gipfel in Dunst und Wolken gehüllt. Anawak half den Passagieren heraus, bevor er das Zodiac festmachte. Die Stiege zum Pier war glitschig. Auf der Terrasse des Stationsgebäudes versammelten sich bereits die nächsten Abenteurer, die das Abenteuer vergeblich suchen würden. Anawak verschwendete keinen Gedanken an sie. Er war es leid, sich die Sorgen anderer zu machen.

»Wenn das so weitergeht, müssen wir umsatteln«, sagte Susan Stringer, als er den Verkaufs— und Ticketraum betrat. Sie stand hinter der Theke und schichtete Prospekte in dafür vorgesehene Ständer. »Wir könnten Waldeichhörnchen beobachten, was meinst du?«

Die Whaling Station war ein gemütlicher Bazar, voll gepackt mit Kunsthandwerk, Andenkenkitsch, Kleidung und Büchern. Susan Stringer arbeitete als Office Manager bei Davies. Wie einst Anawak, nutzte auch sie den Job, um ihr Studium zu finanzieren. Anawak, seit vier Jahren promoviert, war Davies als Skipper treu geblieben. Er hatte die Sommermonate der vergangenen Jahre genutzt, um ein viel beachtetes Buch über Intelligenz und Sozialstruktur von Meeressäugern zu veröffentlichen und sich mit spektakulären Experimenten die Hochachtung der Fachwelt zu erwerben. Mittlerweile, da er als aufsteigender Stern gehandelt wurde, trudelten wohlklingende Angebote ein, verlockend dotierte Posten, neben denen das Bild vom anspruchslosen Leben inmitten der Natur Vancouver Islands zunehmend an Schärfe verlor. Anawak wusste, dass er früher oder später nachgeben und in eine dieser Städte umsiedeln würde, aus denen die Offerten kamen. Die Entwicklung schien vorgezeichnet. Er war 31 Jahre alt. Bald würde er eine Dozentur übernehmen oder einen Forschungsposten in einem der großen Institute, er würde Artikel in Fachzeitschriften veröffentlichen und zu Kongressen reisen und das kostspielige Obergeschoss eines Hauses bewohnen, gegen dessen Fundamente die Wogen des Berufsverkehrs brandeten.

Er begann, seine Regenmontur aufzuknöpfen.

»Wenn man wenigstens was tun könnte«, sagte er düster.

»Was denn tun?«

»Suchen.«

»Wolltest du nicht mit Rod Palm über die Auswertungen der telemetrischen Untersuchungen sprechen?«

»Hab ich gemacht.«

»Und?«

»Da ist nicht viel passiert, wie es aussieht. Sie haben ein paar Tümmler und Seelöwen im Januar mit Fahrtenschreibern ausgerüstet, und das war’s. Die Daten liegen vor, aber sämtliche Aufzeichnungen enden kurz nach Migrationsbeginn. Danach: Funkstille.«

Stringer zuckte die Achseln. »Mach dir keine Gedanken. Sie werden schon kommen. Ein paar Tausend Wale gehen nicht so mir nichts dir nichts verloren.«

»Offenbar doch.«

Sie grinste. »Vielleicht stehen sie bei Seattle im Stau.

Bei Seattle ist immer Stau.«

»Sehr komisch.«

»Komm, mach dich locker! In früheren Jahren haben sie sich auch schon mal verspätet. Was meinst du, sehen wir uns heute Abend bei Schooners?«

»Ich … nein. Ich muss das Experiment mit dem Beluga vorbereiten.«

Sie musterte ihn streng. »Wenn du mich fragst, übertreibst du es ein bisschen mit der Arbeit.«

Anawak schüttelte den Kopf.

»Ich muss das machen, Susan. Es ist mir wichtig, und außerdem versteh ich nichts von Börsenkursen.«

Der Seitenhieb galt Roddy Walker, Stringers Freund. Er war Broker in Vancouver und verbrachte ein paar Tage in Tofino. Seine Vorstellung von Urlaub schien im Wesentlichen darin zu bestehen, jedermann abwechselnd mit seinem Handy und irgendwelchen Finanztipps auf die Nerven zu gehen, beides in gehobener Lautstärke. Stringer hatte längst begriffen, dass da keine Freundschaft heranwuchs, insbesondere seitdem Walker Anawak einen quälenden Abend lang mit Fragen nach seiner Herkunft gelöchert hatte.

»Du wirst es vielleicht nicht glauben«, sagte sie, »aber Roddy kann auch über was ganz anderes sprechen.«

»Tatsächlich?«

»Wenn man ihn nett bittet.«

Es klang ein bisschen spitz.

»Schon gut«, sagte Anawak. »Ich komme später nach.«

»Quatsch. Du kommst ohnehin nicht nach.«

Anawak grinste.

»Wenn du mich nett bittest.«

Natürlich würde er nicht kommen. Er wusste es, und Stringer wusste es auch. Dennoch sagte sie: »Wir treffen uns gegen acht, falls du’s dir überlegst. Vielleicht solltest du deinen muschelbewachsenen Arsch ja doch noch rüberwuchten. Toms Schwester ist da, und sie steht auf dich.«

Toms Schwester war nicht das schlechteste Argument. Aber Tom Shoemaker war kaufmännischer Geschäftsführer von Davies, und Anawak missfiel der Gedanke, sich allzu eng an einen Ort zu binden, den er sich gerade auszureden versuchte.

»Ich werd’s mir überlegen.«

Stringer lachte, schüttelte den Kopf und ging hinaus.

Anawak bediente eine Weile hereinkommende Kunden, bis Tom erschien und ihn für den Rest des Tages ablöste. Er trat hinaus auf Tofinos Hauptstraße. Dames Whaling Station lag gleich am Ortseingang. Das Gebäude war hübsch, ein typisches Holzhaus mit rotem Giebel, überdachter Terrasse und einer vorgelagerten Rasenfläche, aus der als Wahrzeichen eine sieben Meter hohe Walfluke aus Zedernholz wuchs. In unmittelbarer Nachbarschaft begann dichter Tannenwald. Es sah hier exakt so aus, wie sich Europäer Kanada gemeinhin vorstellten. Die Einheimischen trugen das ihre dazu bei, indem sie abends im Schein der Windlichter ausführlich von Begegnungen mit Bären im eigenen Vorgarten oder Ausritten auf Walbuckeln erzählten. Nicht alles davon stimmte, aber doch das meiste. Vancouver Island pflegte seinen Mythos als Kanada-Konzentrat mit großem Eifer. Der westliche Küstenstreifen zwischen Tofino und Port Renfrew mit seinen sanft abfallenden Stranden, den einsamen, von jahrhundertealten Tannen und Zedern umstandenen Buchten, Sümpfen, Flüssen und zerklüfteten Landschaften lockte jedes Jahr Scharen von Besuchern an. Vom Ufer aus waren mit etwas Glück Grauwale zu beobachten, Otter und Seelöwen, die sich in Küstennähe sonnten. Auch wenn das Meer Regen im Überschwang schickte, kam die Insel dem Paradies nach Meinung vieler hier am nächsten.

Anawak hatte keinen Blick dafür.

Er ging ein Stück in den Ort hinein und bog zu einem Pier ab. Ein zwölf Meter langes Segelschiff lag dort vor Anker, alt und baufällig. Es gehörte Davie. Der Stationschef scheute die Kosten, um es wieder seetüchtig zu machen. Stattdessen hatte er es für einen lächerlichen Betrag an Anawak vermietet, der nun dort lebte und sein eigentliches Zuhause, ein winziges Appartement in Vancouver City, kaum noch aufsuchte. Nur wenn er längere Zeit in der Stadt zu tun hatte, kam es zu vorübergehenden Ehren.

Er ging unter Deck, nahm einen Packen Unterlagen an sich und lief zurück zur Station. In Vancouver besaß er ein Auto, einen rostigen Ford. Für die Insel reichte es, sich hin und wieder Shoemakers alten Land Cruiser auszuleihen. Er stieg ein, startete den Motor und fuhr zum Wickaninnish Inn, einem Hotel der Spitzenkategorie, das wenige Kilometer entfernt auf einem Felsvorsprung lag und einen phantastischen Blick auf den Ozean bot. Inzwischen war der Himmel weiter aufgerissen und ließ blaue Stellen sehen. Die gut ausgebaute Straße führte durch dichten Wald. Nach zehn Minuten stellte er den Wagen auf einem kleinen Parkplatz ab und ging zu Fuß weiter, vorbei an umgestürzten, langsam verrottenden Riesenbäumen. Der ansteigende Pfad wand sich durch grünes Dämmerlicht. Es roch nach feuchter Erde.

Wasser tropfte. Von den Ästen der Tannen wucherten Farne und Moose herab. Alles schien belebt.

Als das Wickaninnish Inn vor ihm auftauchte, hatte die kurze Pause abseits menschlicher Gesellschaft ihre Wirkung getan. Jetzt, wo es einigermaßen aufgeklart hatte, konnte er sich mit seinen Unterlagen in aller Ruhe an den Strand setzen. Eine Weile würde das Licht noch reichen. Vielleicht, dachte er, während er die hölzernen Treppen hinabstieg, die vom Hotel in steilem Zickzack zum Meer hinunterführten, würde er sich anschließend ein Abendessen im Wickaninnish gönnen. Die Küche war ausgezeichnet, und die Vorstellung, unerreichbar für Walker und sein dämliches Getue hier zu sitzen und den Sonnenuntergang zu sehen, besserte seine Laune um ein Weiteres.

Etwa zehn Minuten nachdem er mitsamt Kladde und Laptop einen umgestürzten Baum in Beschlag genommen hatte, sah er eine Gestalt über die Treppen herunterkommen und den Strand entlangschlendern. Sie hielt sich nah am silberblauen Wasser. Es war Ebbe, der Sand im späten Sonnenlicht gesprenkelt von Treibholz. Die Person legte keine besondere Eile an den Tag, aber es war offensichtlich, dass sie in weitem Bogen Anawaks Baum ansteuerte. Er runzelte die Stirn und versuchte, so beschäftigt wie möglich auszusehen. Nach einer Weile hörte er das weiche, knirschende Geräusch näher kommender Schritte. Angestrengt starrte er auf seine Unterlagen, aber mit der Konzentration war es vorbei.

»Hallo«, sagte eine dunkle Stimme.

Anawak schaute auf.

Vor ihm stand eine zierliche, attraktive Frau mit einer Zigarette und lächelte ihn freundlich an. Sie mochte Ende fünfzig sein. Das kurz geschnittene Haar war eisgrau, das Gesicht gebräunt und von unzähligen Falten und Fältchen durchzogen. Sie ging barfuß, trug Jeans und eine dunkle Windjacke.

»Hallo.« Es klang weniger schroff, als er beabsichtigt hatte. Im Moment, da er den Blick zu ihr hob, empfand er ihre Anwesenheit plötzlich nicht mehr als störend. Ihre Augen, von tiefem Blau, funkelten vor Neugierde. In ihrer Jugend musste sie sehr begehrt gewesen sein. Immer noch strahlte sie etwas unbestimmt Erotisches aus.

»Was tun Sie hier?«, fragte sie.

Unter anderen Umständen hätte er es bei einer nichts sagenden Antwort belassen und wäre einfach weitergezogen. Es gab viele Wege, Menschen klarzumachen, dass sie sich zum Teufel scheren sollten.

Stattdessen hörte er sich folgsam antworten: »Ich arbeite an einem Bericht über Belugawale. Und Sie?«

Die Frau zog an ihrer Zigarette. Dann setzte sie sich neben ihn auf den Baumstamm, als habe er sie dazu eingeladen. Er musterte ihr Profil die schmale Nase und die hohen Wangenknochen, und plötzlich dachte er, dass sie gar keine Fremde war. Er hatte sie schon irgendwo gesehen.

»Ich arbeite auch an einem Bericht«, sagte sie. »Aber ich fürchte, keiner wird ihn lesen wollen, wenn es so weit ist, ihn zu veröffentlichen.« Sie machte eine Pause und sah ihn an. »Ich war heute auf Ihrem Boot.«

Daher kannte er sie also. Eine kleine Frau mit Sonnenbrille und über den Kopf gezogener Kapuze.

»Was ist los mit den Walen?«, fragte sie. »Wir haben keinen einzigen zu Gesicht bekommen.«

»Es sind keine da.«

»Warum nicht?«

»Darüber mache ich mir pausenlos Gedanken.«

»Sie wissen es nicht?«

»Nein.«

Die Frau nickte, als sei ihr das Phänomen bekannt.

»Ich kann nachempfinden, was Ihnen durch den Kopf geht. Meine kommen auch nicht, aber im Gegensatz zu Ihnen kenne ich den Grund.«

»Ihre was kommen nicht?«

»Vielleicht sollten Sie nicht länger warten, sondern suchen«, schlug sie vor, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Wir suchen ja.« Er legte die Kladde beiseite und wunderte sich über seine Offenheit. Es war, als spräche er mit einer alten Bekannten. »Wir suchen auf jede erdenkliche Weise.«

»Und wie machen Sie das?«

»Über Satellit. Fernbeobachtung. Wir sind außerdem in der Lage, die Bewegungen der Gruppen via Echoortung zu lokalisieren. Es gibt jede Menge Möglichkeiten.«

»Und trotzdem gehen die Ihnen so einfach durch die Lappen?«

»Niemand hat damit gerechnet, dass sie ausbleiben. Anfang März gab es noch Sichtungen in der Höhe von Los Angeles, und das war’s.«

»Vielleicht hätten Sie besser hingucken sollen.«

»Ja, vielleicht.«

»Und alle sind verschwunden?«

»Nein, nicht alle.« Anawak seufzte. »Das ist ein bisschen komplizierter. Wollen Sie’s hören?« »Sonst hätte ich nicht gefragt.«

»Es sind Wale hier. Residents.«

»Residents?«

»Vor Vancouver Island beobachten wir dreiundzwanzig verschiedene Arten von Walen. Manche ziehen periodisch durch, Grauwale, Buckelwale, Minkwale, andere leben in der Region. Wir haben alleine drei Arten von Schwertwalen.«

»Schwertwale?«

»Orcas.«

»Ah! Killerwale.«

»Die Bezeichnung ist blanker Unsinn«, sagte Anawak ärgerlich. »Orcas sind freundlich, es gibt keine verbrieften Angriffe auf Menschen in freier Natur. Killerwal, Mörderwal, diesen Quatsch haben Hysteriker wie Cousteau in die Welt gesetzt, der sich nicht entblödete, Orcas als Volksfeind Nummer eins zu bezeichnen. Oder Plinius in seiner Geschichte der Natur! Wissen Sie, was der schreibt? Eine ungeheure Masse Fleisch, bewaffnet mit barbarischen Zähnen. So ein Schwachsinn! Können Zähne barbarisch sein?«

»Zahnärzte können barbarisch sein.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Okay, begriffen. Was heißt eigentlich Orca?«

Anawak war überrascht. Diese Frage hatte ihm noch keiner gestellt. »Es ist die wissenschaftliche Bezeichnung.« »Und was bedeutet sie?«

»Orcinus Orca. Der dem Totenreich angehört. Fragen Sie mich jetzt um Himmels willen nicht, wer auf so was gekommen ist.«

Sie schmunzelte in sich hinein.

»Sie sagten, es gäbe drei Arten von Orcas.«

Anawak zeigte hinaus auf den Ozean. »Offshore Orcas, über die wissen wir sehr wenig. Sie kommen und gehen, meist in großen Verbänden. Im Allgemeinen leben sie weit draußen. Transient Orcas wiederum leben nomadisch und in kleinen Gruppen. Vielleicht entsprechen sie am ehesten Ihrem Bild des Killers. Sie fressen alles Mögliche, Seehunde, Seelöwen, Delphine, auch Vögel, sie greifen selbst Blauwale an. Hier, wo die Küste felsig ist, bleiben sie ausschließlich im Wasser, aber in Südamerika finden Sie Transients, die am Strand jagen. Sie kommen aufs Trockene und greifen sich Robben und anderes Getier. Faszinierend!«

Er hielt inne in Erwartung einer neuen Frage, aber die Frau schwieg und blies nur etwas Rauch in die Abendluft.

»Die dritte Art lebt in unmittelbarer Umgebung der Insel«, fuhr Anawak fort. »Residents. Großfamilien. Kennen Sie die Insel?«

»Einigermaßen.«

»Im Osten, zum Festland hin, gibt es eine Meerenge, die Johnstone Strait. Die Residents sind dort das ganze Jahr über. Sie fressen ausschließlich Lachs. Seit Anfang der siebziger Jahre erforschen wir ihre Sozialstruktur.« Er machte eine Pause und sah sie verwirrt an. »Wie kommen wir jetzt darauf? Was wollte ich überhaupt erzählen?«

Sie lachte. »Tut mir Leid. Meine Schuld. Ich habe Sie aus dem Konzept gebracht, aber ich muss immerzu alles ganz genau wissen. Wahrscheinlich gehe ich Ihnen furchtbar auf die Nerven mit meiner Fragerei.«

»Berufsbedingt?«

»Angeboren. Sie wollten mir übrigens erklären, welche Wale verschwunden sind und welche nicht.« »Ja, das wollte ich tun, aber …«

»Sie haben keine Zeit.«

Anawak zögerte. Er warf einen Blick auf die Kladde und den Laptop. Im Verlauf des Abends würde er den Bericht fertig stellen müssen. Aber der Abend war lang.

Außerdem verspürte er Hunger.

»Wohnen Sie im Wickaninnish Inn?«, fragte er.

»Ja.«

»Was machen Sie heute Abend?«

»Oh!« Sie hob die Augenbrauen und grinste ihn an. »Das hat mich zuletzt vor zehn Jahren einer gefragt. Wie aufregend.«

Er grinste zurück. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mich treibt der Hunger. Ich dachte, wir setzen unser Gespräch beim Essen fort.«

»Gute Idee.« Sie ließ sich vom Baumstamm rutschen, drückte die Zigarette aus und verstaute die Kippe in ihrer Windjacke. »Aber ich warne Sie. Ich spreche mit vollem Mund. Ich rede und frage eigentlich fortgesetzt, wenn man mich nicht auf eine Weise unterhält, dass es mir die Sprache verschlägt. Also geben Sie Ihr Bestes. Übrigens«, sie streckte ihm die Rechte hin, »Samantha Crowe. Sagen Sie Sam, das tut jeder.«

Sie ergatterten einen Fensterplatz im rundum verglasten Restaurant. Es war dem Hotel vorgelagert und thronte auf seinem Felsen, als wolle es in See stechen. Von der erhöhten Warte bot sich ein phantastischer Panoramablick auf den Clayoquot Sound mit seinen Inseln, auf die Bucht und die dahinter liegenden Wälder. Der Platz eignete sich in idealer Weise, um Wale zu beobachten. Dieses Jahr allerdings musste man sich selbst an so exponierter Stelle mit den Meeresbewohnern zufrieden geben, die aus der Küche kamen.

»Das Problem ist, dass die Transients und die Offshore Orcas fortgeblieben sind«, erläuterte Anawak. »Darum sehen wir an der Westküste momentan so gut wie keine Orcas. Die Residents sind so zahlreich wie immer vertreten, aber sie kommen nicht gern auf diese Seite, auch wenn die Johnstone Strait allmählich ungemütlich für sie wird.«

»Warum das?«

»Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie Ihr Zuhause immer mehr mit Fähren, Frachtern, Luxuslinern und Sportfischern teilen müssten? Unzählige Motorboote knattern da rum. Außerdem lebt die Region von der Holzindustrie. Die Cargoliner fahren ganze Wälder rüber nach Asien. Wenn die Bäume verschwinden, versanden die Flüsse, und die Lachse verlieren ihre Laichplätze. Und Residents fressen nun mal nichts anderes als Lachs.«

»Verstehe. Aber Sie sorgen sich nicht einzig um die Orcas, richtig?«

»Grau— und Buckelwale bereiten uns das meiste Kopfzerbrechen. Vielleicht haben sie einen Umweg gemacht oder sind es leid, von Booten aus angestarrt zu werden.« Er schüttelte den Kopf. »Aber so einfach ist das eben nicht. Wenn die großen Herden Anfang März vor Vancouver Island eintreffen, haben sie seit Monaten nichts im Magen. Während des Winters in Baja California leben sie vom angefressenen Speck. Nur, der ist irgendwann aufgezehrt. Hier nehmen sie erstmals wieder Nahrung auf.«

»Vielleicht sind sie weiter draußen vorbeigezogen.«

»Da gibt es nicht genug zu fressen. Den Grauwalen zum Beispiel liefert die Wickaninnish Bay einen Hauptbestandteil ihrer Nahrung, der im offenen Ozean gar nicht zu finden ist, Onuphis elegans.«

»Elegans? Klingt schick.«

Anawak lächelte.

»Es ist ein Wurm. Lang und dünn. Die Bay ist sandig, er kommt in ungeheuren Massen vor, und die Grauwale fressen ihn mit Vorliebe. Ohne die Zwischenmahlzeit würden sie es kaum bis in die Arktis schaffen.« Er nippte an seinem Wasser. »Mitte der Achtziger war es schon mal so weit, dass keine mehr kamen. Aber man kannte den Grund. Grauwale waren damals so gut wie ausgerottet. Zu Tode gejagt. Seitdem haben wir sie wieder einigermaßen hochgepäppelt. Ich schätze, an die zwanzigtausend Exemplare weltweit dürften Sie mittlerweile finden, die meisten in hiesigen Gewässern.«

»Und die sind alle nicht gekommen?«

»Es gibt auch unter den Grauwalen ein paar Residents.

Die sind hier. Aber das sind nur wenige.«

»Und die Buckelwale?«

»Dieselbe Geschichte. Verschwunden.«

»Sagten Sie nicht, Sie schreiben an einem Bericht über Belugawale?«

Anawak musterte sie.

»Wie wäre es, wenn Sie mal was von sich erzählen?«, sagte er. »Andere Leute sind nämlich auch neugierig.«

Crowe warf ihm einen amüsierten Blick zu.

»Tatsächlich? Sie wissen doch schon das Wichtigste. Ich bin eine alte Nervensäge und stelle Fragen.«

Ein Kellner erschien und servierte gegrillte Riesengarnelen auf Safranrisotto. Eigentlich, dachte Anawak, wolltest du heute Abend alleine hier sitzen. Ohne dass dich jemand voll quasselt. Aber Crowe gefiel ihm.

»Was fragen Sie? Wen und warum?«

Crowe schälte eine knoblauchduftende Garnele aus ihrem Panzer.

»Ganz einfach. Ich frage: Ist da jemand?«

»Ist da jemand?«

»Korrekt.«

»Und wie lautet die Antwort?«

Das Garnelenfleisch verschwand zwischen zwei Reihen ebenmäßiger weißer Zähne.

»Ich habe noch keine bekommen.«

»Vielleicht sollten Sie lauter fragen«, sagte Anawak in Anspielung auf ihren Kommentar am Strand.

»Das würde ich gerne«, sagte Crowe kauend. »Aber die Mittel und Möglichkeiten beschränken mich im Augenblick auf einen Umkreis von rund zweihundert Lichtjahren. Immerhin hatten wir Mitte der Neunziger sechzig Billionen Messungen ausgewertet, und bei siebenunddreißig sind wir uns bis heute nicht schlüssig, ob sie natürlichen Ursprungs sind oder ob jemand tatsächlich Hallo gesagt hat.«

Anawak starrte sie an.

»SETI?«, fragte er. »Sie sind bei SETI?«

»Ganz recht. Search for Extra Terrestrial Intelligence.

Suchprojekt PHOENIX, um genau zu sein.« »Sie horchen den Weltraum ab?« »Etwa eintausend sonnenähnliche Sterne, die älter sind als drei Milliarden Jahre. Ja. Es ist nur ein Projekt von mehreren, aber vielleicht das wichtigste, wenn Sie mir die Eitelkeit gestatten.«

»Donnerwetter!« »Kriegen Sie den Mund wieder zu, Leon, so was Besonderes ist das auch wieder nicht. Sie analysieren Walgesänge und versuchen rauszufinden, ob die da unten was zu erzählen haben. Wir lauschen in den Weltraum, weil wir überzeugt sind, dass es dort von intelligenten Zivilisationen nur so wimmelt. Wahrscheinlich sind Sie mit Ihren Walen sehr viel weiter als wir.«

»Ich habe nur ein paar Ozeane, Sie das komplette Universum.«

»Zugegeben, wir stochern in anderen Maßstäben rum. Dafür höre ich ständig, dass man über die Tiefsee noch weniger weiß als über den Weltraum.«

Anawak war fasziniert.

»Und Sie haben tatsächlich Signale empfangen, die auf intelligentes Leben schließen lassen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Wir haben Signale empfangen, die wir nicht einordnen können. Die Chance, einen Kontakt herzustellen, ist überaus gering. Vielleicht sogar außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit. Genau genommen müsste ich mich von der nächsten Brücke stürzen vor lauter Frust, aber ich esse zu gerne diese Dinger hier, und außerdem bin ich nun mal besessen von der Sache. Etwa so wie Sie von Ihren Walen.«

»Von denen ich wenigstens weiß, dass es sie gibt.«

»Derzeit wohl eher nicht«, lächelte Crowe.

Anawak fühlte, wie sich tausend Fragen bereitmachten, gestellt zu werden. SETI hatte ihn seit jeher interessiert. Das Projekt zur Suche nach außerirdischen Intelligenzen war Anfang der Neunziger von der NASA gestartet worden, sinnigerweise am Jahrestag der Ankunft Kolumbus’. Im puertoricanischen Arecibo hatte man das größte Radioteleskop der Erde auf ein völlig neuartiges Programm eingestellt. Inzwischen hatte SETI dank großzügiger Sponsoren weitere Projekte geboren, die sich rund um den Globus der Suche nach außerirdischem Leben widmeten. PHOENIX gehörte zu den bekanntesten.

»Sind Sie die Frau, die Jodie Foster in Contact dargestellt hat?«

»Ich bin die Frau, die gerne in dieses Gefährt steigen würde, das Jodie Foster im Film zu den Außerirdischen bringt. Wissen Sie, ich mache eine Ausnahme für Sie, Leon. Normalerweise bekomme ich Schreikrämpfe, wenn mich die Leute nach meiner Arbeit fragen. Ich muss jedes Mal stundenlang erklären, was ich tue.« »Ich auch.« »Eben. Sie haben mir was erzählt, also bin ich Ihnen was schuldig. Was wollen Sie noch wissen?« Anawak brauchte nicht lange zu überlegen. »Warum hatten Sie bis jetzt keinen Erfolg?« Crowe wirkte belustigt. Sie schaufelte Riesengarnelen auf ihren Teller und ließ ihn eine Weile auf die Antwort warten. »Wer sagt denn, dass wir keinen hatten? Außerdem, unsere Milchstraße enthält etwa einhundert Milliarden Sterne. Erdähnliche Planeten nachzuweisen stellt uns vor gewisse Schwierigkeiten, weil ihr Licht zu schwach ist. Wir können sie nur über wissenschaftliche Tricks erfassen, aber theoretisch wimmelt es von ihnen. Bloß, hören Sie mal hundert Milliarden Sterne ab!« »Stimmt«, grinste Anawak. »Mit zwanzigtausend Buckelwalen tut man sich vergleichsweise leichter.« »Sie sehen ja, man wird alt und grau über der Aufgabe. Es ist, als ob Sie die Existenz eines winzigen Fisches nachweisen sollen und dafür nacheinander jeden Liter Wasser, der in den Ozeanen fließt, einer genauen Betrachtung unterziehen. Aber der Fisch ist beweglich. Sie können die Prozedur bis zum Jüngsten Tag wiederholen und vielleicht zu der Ansicht gelangen, dass es besagten Fisch gar nicht gibt. Stattdessen kommt er in rauen Mengen vor, nur dass er immer gerade in einem anderen Liter schwimmt, als Sie vor sich haben. PHOENIX nun nimmt mehrere Liter gleichzeitig unter die Lupe, dafür aber beschränken wir uns — sagen wir mal — auf die Strait of Georgia. Verstehen Sie? Es gibt da draußen Zivilisationen. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Anzahl unendlich groß ist. Dummerweise ist das Universum noch unendlich viel größer. Es verdünnt unsere Chancen schlimmer als der Kaffeeautomat in Arecibo den Espresso.«

Anawak überlegte. »Hat die NASA nicht irgendwann mal eine Botschaft ins All gefunkt?«

»Ach so.« Ihre Augen blitzten. »Sie meinen, wir sollten nicht faul rumsitzen und horchen, sondern selber Laut geben. Ja, hat sie. 1974 haben wir eine Botschaft von Arecibo nach M 13 geballert, das ist ein Kugelsternhaufen um die Ecke. Aber das löst nicht wirklich unser Problem. Jede Nachricht irrt verloren durch den interstellaren Raum, ob sie nun von uns kommt oder von anderen. Es wäre ein unglaublicher Zufall, wenn jemand sie empfangen würde. Außerdem ist Horchen preiswerter als Senden.«

»Trotzdem. Es würde die Chancen erhöhen.«

»Vielleicht wollen wir das ja gar nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Anawak verblüfft. »Ich denke…«

»Wir wollen es schon. Aber eine Menge Leute sähe so was mit Skepsis. Man ist vielerorts der Meinung, es wäre besser, andere gar nicht erst auf sich aufmerksam zu machen. Sie könnten kommen und uns die schone Erde wegnehmen. Huh! Sie könnten uns verspeisen.«

»Das ist doch Blödsinn.«

»Ich weiß nicht, ob es Blödsinn ist. Ich persönlich glaube ja auch, dass eine Intelligenz, die es zu interstellarer Raumfahrt gebracht hat, über das Krawallstadium hinweg sein müsste. Andererseits — ich denke, ganz lässt sich das Argument nicht vom Tisch wischen. Menschen sollten besser darüber nachdenken, wie sie sich bemerkbar machen. Ansonsten bestünde die Gefahr, missverstanden zu werden.«

Anawak schwieg. Plötzlich hatten ihn die Wale wieder.

»Sind Sie nicht manchmal entmutigt?«, fragte er.

»Wer ist das nicht. Aber dafür gibt’s Zigaretten und Videofilme.«

»Und wenn Sie Ihr Ziel erreichen?«

»Gute Frage, Leon.« Crowe machte eine Pause und strich mit den Fingern gedankenverloren über die Tischdecke. »Im Grunde frage ich mich seit Jahren, was eigentlich unser wirkliches Ziel ist. Ich glaube, wenn ich die Antwort wüsste, würde ich aufhören zu forschen. Eine Antwort ist immer das Ende der Suche. Vielleicht quält uns die Einsamkeit unserer Existenz. Die Vorstellung, ein Zufall zu sein, der sich nirgendwo wiederholt hat. Vielleicht wollen wir aber auch den Gegenbeweis erbringen, dass es niemanden außer uns gibt und wir den besonderen Platz in der Schöpfung einnehmen, der uns angeblich gebührt. Ich weiß es nicht. Warum erforschen Sie Wale und Delphine?«

»Ich bin … neugierig.«

Nein, das stimmt nicht ganz, dachte er im selben Moment. Es ist mehr als bloße Neugierde. Also, wonach suche ich?

Crowe hatte Recht. Im Grunde taten sie das Gleiche. Jeder horchte in seinen Kosmos und hoffte, Antworten zu erlangen. Jeder trug eine tiefe Sehnsucht nach Gesellschaft in sich, nach der Gesellschaft intelligenter Wesen, die keine Menschen waren.

Verrückt, das Ganze.

Crowe schien seine Gedanken zu erraten.

»Am Ende steht nicht die andere Intelligenz«, sagte sie. »Machen wir uns nichts vor. Am Ende steht die Frage, was die andere Intelligenz von uns übrig lässt. Wer wir dann sind. Und was wir nicht mehr sind.« Sie lehnte sich zurück und lächelte ihr freundliches, attraktives Lächeln. »Wissen Sie, Leon, ich glaube, am Ende steht ganz einfach die Frage nach dem Sinn.«

Im Folgenden redeten sie über alles Mögliche, aber nicht mehr von Walen oder fremden Zivilisationen. Gegen halb elf, nachdem sie vor dem Kamin im Salon noch einen Drink genommen hatten — Crowe Bourbon, Anawak wie üblich Wasser —, verabschiedeten sie sich. Crowie hatte ihm erzählt, dass sie am übernächsten Morgen abreisen werde. Sie begleitete ihn nach draußen. Die Wolken hatten sich endgültig verzogen. Über ihnen spannte sich ein Sternenhimmel, der sie in sich hineinzusaugen schien. Eine Weile sahen sie einfach nur hinauf.

»Bekommen Sie nicht manchmal genug von Ihren Sternen?«, fragte Anawak.

»Bekommen Sie genug von Ihren Walen?«

Er lachte. »Nein. Bestimmt nicht.«

»Ich hoffe sehr, Sie finden die Tiere wieder.«

»Ich werd’s Ihnen erzählen, Sam.«

»Ich werde es auch so erfahren. Bekanntschaften sind flüchtig. Es war ein schöner Abend, Leon. Wenn wir uns mal wieder über den Weg laufen, sollte es mich freuen, aber Sie wissen ja, wie das geht. Achten Sie auf Ihre Schützlinge. Ich glaube, die Tiere haben in Ihnen einen guten Freund. Sie sind ein guter Mensch.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»In meiner Lage liegen Glauben und Wissen zwangsläufig auf einer Wellenlänge. Passen Sie auf sich auf.«

Sie schüttelten einander die Hände.

»Vielleicht sehen wir uns ja als Orcas wieder«, scherzte Anawak.

»Wieso gerade als Orcas?«

»Die Kwakiutl-Indianer glauben, dass jeder, der im Leben ein guter Mensch war, als Orca wiedergeboren wird.«

»So? Das gefällt mir!« Crowe grinste übers ganze Gesicht. Die meisten ihrer vielen Falten, stellte Anawak fest, kamen offenbar vom Lachen.

»Und glauben Sie es auch?«

»Natürlich nicht.«

»Warum nicht? Sind Sie nicht selber einer?«

»Ein was?«, fragte er, obwohl ihm klar war, was sie meinte.

»Ein Indianer.«

Anawak spürte, wie er sich innerlich versteifte. Er sah sich durch ihre Augen. Einen mittelgroßen Mann von gedrungener Statur, mit breiten Wangenknochen und kupferfarbener Haut, die Augen leicht geschlitzt, das dichte, in die Stirn fallende Haar tiefschwarz und glatt.

»So etwas in der Art«, sagte er nach einer zu langen Pause.

Samantha Crowe musterte ihn. Dann brachte sie das Päckchen mit den Zigaretten aus ihrer Windjacke zum Vorschein, zündete sich eine an und nahm einen tiefen Zug.

»Tja. Davon bin ich leider auch besessen. Alles Gute, Leon.«

»Alles Gute, Sam.«


13. März

Norwegische Küste und See

Sigur Johanson sah und hörte eine Woche nichts von Tina Lund. In der Zwischenzeit sprang er für einen erkrankten Professor ein und hielt ein paar Vorlesungen mehr als geplant. Er war zudem beschäftigt mit der Abfassung eines Artikels für National Geographie und der Aufstockung seines Weinkellers, weshalb er die eingeschlafene Korrespondenz mit einem Bekannten im elsässischen Riquewihr wieder aufnahm, der als Repräsentant der renommierten Kelterei Hügel amp; Fils im Besitz gewisser Raritäten war. Einige davon beabsichtigte sich Johanson zum Geburtstag zu schenken. Nebenher hatte er eine 1959er Vinyl-Einspielung des Nibelungenrings von Sir Georg Solti aufgetrieben und begonnen, sich damit die Abende zu verkürzen. Lunds Würmer verkrochen sich unter der vereinten Übermacht von Hügel und Solti in die zweite Reihe, zumal bislang keine weiteren Ergebnisse über sie vorlagen.

Am neunten Tag nach ihrem Zusammentreffen rief Lund ihn schließlich an, offenbar bester Laune.

»Du klingst so verdammt ausgelassen«, konstatierte Johanson. »Muss ich mir Sorgen um deine wissenschaftliche Objektivität machen?«

»Vielleicht«, orakelte sie fröhlich.

»Erklär dich.«

»Später. Hör zu, die Thorvaldson wird morgen am Kontinentalrand sein und einen Roboter runterlassen. Hast du Lust dabei zu sein?«

Johanson überschlug im Geist seine Termine. »Ich bin vormittags beschäftigt«, sagte er. »Muss Studenten mit dem Sexappeal von Schwefelbakterien vertraut machen.«

»Das ist blöde. Das Schiff legt in aller Herrgottsfrühe ab.«

»Wo?«

»In Kristiansund.«

Kristiansund lag eine gute Autostunde südwestlich von Trondheim an einer von Wind und Wellen umtosten Felsenküste. Vom nahe gelegenen Flughafen gingen Helikopterflüge hinaus zu den Bohrinseln, die sich auf dem Nordseeschelf und entlang der norwegischen Rinne aneinander reihten. Rund siebenhundert Plattformen zur Förderung von Öl und Gas lagen allein vor Norwegen.

»Kann ich nicht nachkommen?«, schlug Johanson vor.

»Ja, vielleicht«, sagte Lund nach kurzem Schweigen. »Gar keine schlechte Idee. Wenn ich so darüber nachdenke, könnten wir eigentlich beide nachkommen.

Was machst du übermorgen?«

»Nichts, was sich nicht verschieben ließe.«

»Dann ist alles geritzt. Wir kommen beide nach, bleiben über Nacht auf der Thorvaldson und haben jede Menge Zeit für Beobachtungen und Auswertungen.«

»Habe ich das richtig verstanden? Du willst auch nachkommen?«

»Na ja. Ich habe … also, mir kam gerade die Idee, dass ich den halben Tag an der Küste verbringen könnte, und du stößt am frühen Nachmittag dazu. Wir fliegen dann zusammen nach Gullfaks und nehmen von dort den Transfer auf die Thorvaldson.«

»Ich liebe es, dich improvisieren zu hören. Darf ich auch erfahren, warum du es so kompliziert machst?«

»Wieso? Ich mache es dir einfach.«

»Ja, mir. Aber du könntest morgen früh an Bord gehen.«

»Ich leiste dir eben gern Gesellschaft.«

»Charmant gelogen«, sagte Johanson. »Sei’s drum. Du bist also an der Küste. Wo genau soll ich dich aufgabeln?«

»Fahr nach Sveggesundet.«

»Oh Gott! Das Kaff? Warum denn gerade Sveggesundet?«

»Es ist ein sehr hübsches Kaff«, sagte Lund mit Nachdruck. »Wir treffen uns im Fiskehuset. Weißt du, wo das ist?«

»Ich habe die zivilisatorischen Errungenschaften von Sveggesundet hinreichend erkundet. Ist es das Restaurant an der Küste neben der alten Holzkirche?«

»Genau das.«

»Um drei?«

»Drei ist prima. Ich sorge für den Helikopter. Er wird uns dort abholen.« Sie machte eine Pause. »Hast du schon irgendwelche Ergebnisse bekommen?«

»Leider nein. Aber möglicherweise morgen.«

»Das wäre gut.«

»Wird schon. Mach dir keine Sorgen.«

Sie beendeten das Gespräch. Johanson runzelte die Stirn. Da war er wieder, der Wurm. Er drängelte sich zurück an die vorderste Front und beanspruchte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Es war in der Tat verblüffend, wenn eine neue Spezies wie aus dem Nichts in einem weitgehend bekannten Ökosystem auftauchte. An sich hatten Würmer nichts Beunruhigendes an sich. Sie mochten nicht jedermanns Sache sein, und grundsätzlich missfiel Menschen die Vorstellung von organischen Kollektiven, was vornehmlich psychologische Gründe hatte. Ansonsten waren Würmer eher nützlich.

Es macht sogar Sinn, dass sie da sind, dachte Johanson. Wenn sie wirklich Verwandte des Eiswurms sind, leben sie indirekt von Methan. Und Methanvorkommen fanden sich an allen Kontinentalabhängen, auch vor Norwegen.

Kurios war es dennoch.

Die Ergebnisse der Taxonomen und Biochemiker würden alle Fragen beantworten. Solange sie nicht vorlagen, konnte er sich ebenso gut wieder den Gewürztraminern von Hügel widmen. Im Gegensatz zu Würmern kamen letztere nämlich recht selten vor. Zumindest bestimmte Jahrgänge.


Als er tags darauf sein Büro betrat, fand Johanson zwei persönlich an ihn adressierte Briefe vor. Sie enthielten die taxonomischen Gutachten. Hochbefriedigt überflog er die Resultate und wollte sie schon aus der Hand legen. Dann las er sie nochmal genauer.

Merkwürdige Tiere. In der Tat.

Er stopfte alles zusammen in seine Aktentasche und ging zu seiner Vorlesung. Zwei Stunden später saß er im Jeep und fuhr über die hügelige Fjordlandschaft Richtung Kristiansund. Es hatte getaut. Große Teile des Schnees waren verschwunden und hatten schwarzbraune Landschaft freigelegt. Das Wetter machte es einem in diesen Tagen schwer, sich richtig anzuziehen. An der Uni war die Hälfte der Belegschaft erkältet. Johanson hatte entsprechend vorgesorgt und einen Koffer gepackt, dessen Gewicht eben noch für den Helikopterflug durchging. Weder verspürte er Lust, sich auf der Thorvaldson einen Schnupfen zu holen, noch seine Kleidung an Sachzwängen auszurichten. Lund würde sich wie üblich darüber lustig machen, wenn er dermaßen bepackt erschien, aber es war ihm gleich. Wäre es nach Johanson gegangen, hätte er auch noch eine transportable Sauna eingepackt. Außerdem enthielt sein Gepäck ein paar Dinge, die man gut zu zweit genießen konnte, wenn man gemeinsam eine Nacht auf einem Schiff verbrachte. Sie waren zwar Freunde, aber man musste ja deswegen nicht gleich auf Distanz gehen.

Johanson fuhr langsam. Er hätte Kristiansund binnen einer Stunde erreichen können, aber Hast war nicht seine Sache. Auf halber Strecke führte die Straße am Wasser entlang und über eine Reihe von Brücken.

Er genoss den Ausblick auf das wilde Panorama. Bei Halsa nahm er die Autofähre über den Fjord und fuhr weiter nach Kristiansund. Wieder führten Brücken über schiefergraues Meer. Kristiansund selber war über mehrere kleine Inseln verteilt. Er durchquerte die Stadt und setzte auf die geschichtsträchtige Insel Averoy über, einen der ersten Orte, die unmittelbar nach der letzten Eiszeit besiedelt worden waren. Sveggesundet lag am äußersten Zipfel der Insel, ein hübsches Fischerdorf. Während der Hochsaison fielen hier Heerscharen von Touristen ein. Unablässig fuhren Boote zu den umliegenden Inseln hinaus. Jetzt war der Ort weniger stark frequentiert und dämmerte in Erwartung eines lukrativen Sommers vor sich hin.

Kaum jemand war zu sehen, als Johanson den Jeep nach fast zwei Stunden Fahrt auf den Schotterparkplatz des Fiskehuset lenkte, eines Restaurants mit Terrasse und Blick aufs Meer. Es hatte geschlossen. Lund saß ungeachtet der Kälte an einem der Holztische im Freien. Sie war in Begleitung eines jungen Mannes, den Johanson nicht kannte. Etwas an der Art, wie sie da nebeneinander auf der hölzernen Bank hockten, ließ einen gewissen Verdacht in ihm keimen. Er trat näher heran und räusperte sich.

»Bin ich zu früh?«

Sie schaute auf. In ihren Augen stand ein merkwürdiger Glanz. Sein Blick wanderte zu dem Mann neben ihr, einem athletisch gebauten Endzwanziger mit dunkelblonden Haaren und einem gut geschnittenen Gesicht, und der Verdacht wurde zur Gewissheit.

»Ich könnte nochmal wiederkommen«, sagte er gedehnt.

»Kare Sverdrup«, stellte sie vor. »Sigur Johanson.«

Der Blonde grinste Johanson an und streckte die Rechte aus. »Tina hat mir eine Menge von Ihnen erzählt.«

»Ich hoffe, nichts, was Sie beunruhigen müsste.«

Sverdrup lachte.

»Doch, eigentlich schon. Sie wären ein äußerst attraktiver Vertreter der vorlesenden Zunft.«

»Ein äußerst attraktiver alter Sack«, verbesserte ihn Lund.

»Geiler alter Sack«, ergänzte Johanson. Er setzte sich auf die gegenüberliegende Bank, zog den Kragen seines Anoraks hoch und legte die Aktenmappe mit den Gutachten neben sich. »Der taxonomische Teil. Sehr ausführlich. Ich kann dir eine Zusammenfassung geben.« Er sah Sverdrup an. »Wir möchten Sie ungerne langweilen, Kare. Hat Tina Ihnen erzählt, worum es geht, oder hat sie nur verliebt geseufzt?«

Lund warf ihm einen bösen Blick zu.

»Verstehe.« Er öffnete die Mappe und zog den Umschlag mit den Gutachten hervor. »Also, ich habe einen deiner Würmer ans Frankfurter Senckenberg-Museum geschickt und einen weiteren ans Smithsonian Institute. Da wie dort sitzen die besten Taxonomen, die ich kenne. Beide sind Spezialisten für jegliches Gewürm. Ein weiterer Wurm ist nach Kiel gegangen zur Rasterelektronenmikroskopie, der Bericht steht noch aus, ebenso der aus der Massenspektrometeranalyse. Vorab kann ich dir sagen, worin sich die Experten einig sind.«

»Nämlich?«

Johanson lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Darin, dass sie sich nicht einig sind.«

»Wie aufschlussreich.«

»Im Wesentlichen haben sie meinen ersten Eindruck bestätigt. Es handelt sich mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Art Hesiocaeca methanicola, auch bekannt als Eiswurm.«

»Der Methanfresser?«

»Unkorrekt ausgedrückt, mein Schatz, aber egal. So weit Teil eins. Teil zwei ist, dass ihnen die enorm ausgeprägten Kiefer und Zahnreihen zu denken geben. Solche Merkmale deuten auf ein räuberisches Tier hin oder auf ein bohrendes oder mahlendes. Und das ist seltsam.«

»Warum?«

»Weil Eiswürmer solche Riesenapparate eigentlich nicht brauchen. Sie haben zwar Kiefer, aber erheblich kleinere.«

Sverdrup lächelte verlegen.

»Entschuldigen Sie, Dr. Johanson, ich verstehe nicht viel von diesen Tieren, aber es interessiert mich. Warum brauchen sie keine Kiefer?«

»Weil sie symbiotisch leben«, erklärte Johanson. »Sie nehmen Bakterien in sich auf, die wiederum im Methanhydrat leben …«

»Hydrat?«

Johanson warf Lund einen kurzen Blick zu.

Sie zuckte die Achseln. »Erklär’s ihm.«

»Es ist ganz einfach«, sagte Johanson. »Sie haben vielleicht gehört, dass die Ozeane voller Methan sind.«

»Ja. Man liest es im Augenblick ständig.«

»Methan ist ein Gas. Es lagert in großen Vorkommen im Meeresboden und in den Kontinentalabhängen. Einiges davon gefriert an der Bodenoberfläche. Wasser und Methan verbinden sich zu einer Art Eis, das nur unter hohem Druck und niedrigen Temperaturen bestehen kann. Darum findet man es erst ab einer gewissen Tiefe. Dieses Eis nennt man Methanhydrat. Alles klar bis hierher?«

Sverdrup nickte.

»Gut. Nun gibt es überall im Ozean Bakterien. Einige davon verwerten Methan. Sie fressen es und scheiden Schwefelwasserstoff aus. Bakterien sind zwar mikroskopisch klein, treten aber in solch gewaltigen Mengen auf, dass sie den Meeresboden wie Matten überziehen. Wir sprechen vom Bakterienrasen. Solche Rasen finden Sie bevorzugt dort, wo Methanhydrate lagern. Fragen?«

»Noch nicht«, sagte Sverdrup. »Ich vermute, jetzt kommen Ihre Würmer ins Spiel.«

»Ganz richtig. Es gibt Würmer, die leben von den Ausscheidungen der Bakterien. Sie gehen eine symbiotische Beziehung mit ihnen ein. In manchen Fällen frisst der Wurm die Bakterien und trägt sie im Innern, in anderen Fällen leben sie auf seiner Außenhaut. So oder so versorgen sie ihn mit Nahrung. Den Wurm zieht es darum auf die Hydrate. Er macht es sich darauf gemütlich, genehmigt sich einen ordentlichen Haps Bakterien und tut ansonsten nicht sehr viel. Er muss sich zum Beispiel nirgendwo eingraben, denn er frisst ja nicht das Eis, sondern die Bakterien darauf. Alles, was geschieht, ist, dass er durch sein Strudeln eine flache Mulde ins Eis schmilzt, wo er zufrieden verbleibt.«

»Ich verstehe«, sagte Sverdrup langsam. »Tiefer vorzudringen, dazu hat der Wurm keine Veranlassung. Aber andere Würmer tun das?«

»Es gibt die unterschiedlichsten Arten. Manche fressen Sediment oder Stoffe, die im Sediment vorhanden sind, oder sie verarbeiten Detritus.«

»Detritus?«

»Alles, was von der Meeresoberfläche in die Tiefsee sinkt. Kadaver, Partikel, Reste aller Art. Eine ganze Reihe von Würmern, die nicht in Symbiosen mit Bakterien leben, verfügen über kräftige Kiefer, um Beute zu packen oder um sich irgendwo einzugraben.«

»Jedenfalls braucht der Eiswurm keine Kiefer.«

»Vielleicht doch, um winzige Mengen Hydrat zu zermahlen und Bakterien herauszufiltern. Ich sagte ja, er hat welche. Aber keine Hauer wie Tinas Exemplare.«

Sverdrup schien zunehmend Spaß an der Sache zu finden. »Wenn die Würmer, die Tina entdeckt hat, also mit Methan fressenden Bakterien in Symbiose leben …«

»Müssen wir uns fragen, wozu dieses Waffenarsenal aus Kiefern und Zähnen dient.« Johanson nickte. »Jetzt wird’s nochmal spannend. Die Taxonomen haben nämlich einen zweiten Wurm gefunden, auf den die Struktur des Kieferapparats zu passen scheint. Er heißt Nereis, ein Räuber, der in allen möglichen Tiefen vorkommt. Tinas kleiner Liebling hat also Kiefer und Zähne von Nereis, allerdings in einer Ausprägung, dass man eher an einen prähistorischen Vorfahren von Nereis denken möchte.

Sozusagen an Tyrannereis rex.«

»Klingt unheimlich.«

»Es klingt nach Bastard. Wir müssen die Mikroskopie und die genetische Analyse abwarten.«

»Am Kontinentalhang gibt es Methanhydrate ohne Ende«, sagte Lund. Sie zupfte nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Es würde also passen.«

»Warten wir’s ab.« Johanson räusperte sich und musterte Sverdrup. »Und was treiben Sie so, Kare? Auch im Ölgeschäft?«

Sverdrup schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er fröhlich. »Mich interessiert einfach nur alles, was man essen kann. Ich bin Koch.« »Überaus angenehm! Sie ahnen nicht, wie ermüdend es ist, sich tagein, tagaus mit Akademikern abzugeben.«

»Er kocht phantastisch!«, sagte Lund.

Wahrscheinlich nicht nur das, dachte Johanson. Ein Jammer. Er würde die mitgebrachten Leckereien trotzdem mit Lund teilen. Im Grunde war er erleichtert. Tina Lund verlockte ihn ein ums andere Mal, aber kaum war sie aus dem Zimmer, dankte er dem Schicksal jedes Mal aufs Neue. Sie war ihm einfach zu anstrengend.

»Und wie habt ihr euch kennen gelernt?«, fragte er, ohne dass es ihn sonderlich interessierte.

»Ich habe das Fiskehuset letztes Jahr übernommen«, sagte Sverdrup. »Tina war einige Male hier, aber wir haben uns eigentlich immer nur gegrüßt.« Er legte den Arm um ihre Schulter, und sie rückte näher zu ihm heran. »Bis letzte Woche.«

»Es war ungefähr so, als ob der Blitz einschlägt«, sagte Lund. »Ja«, meinte Johanson, während er zum Himmel sah. Aus der Ferne näherte sich ein Knattern. »Das sieht man.«

Eine halbe Stunde später saßen sie im Helikopter, zusammen mit einem Dutzend Ölarbeitern. Johanson sah schweigend hinaus. Unter ihnen zog die eintönig graue, zerklüftete Oberfläche der See dahin. Immer wieder überflogen sie Gas— und Öltanker, Frachter und Fähren. Dann gerieten die Plattformen in Sicht. Seit eine amerikanische Ölgesellschaft in einer stürmischen Winternacht des Jahres 1969 Öl in der Nordsee entdeckt hatte, hatte sich das Nordmeer zu einer bizarr anmutenden Industrielandschaft gewandelt, die auf Pfählen ruhte und sich von Holland bis zur Haltenbank vor Trondheim erstreckte. An klaren Tagen sah man von einem Boot aus Dutzende der gigantischen Plattformen auf einen Blick. Aus der Perspektive des Helikopters wirkten sie wie Spielzeug für Riesen.

Böen schüttelten die Maschine kräftig durch. Es ging auf und ab. Johanson rückte seinen Kopfhörer zurecht. Sie alle trugen Ohrenschützer und dicke Schutzanzüge. Es herrschte eine solche Enge, dass ihre Knie einander berührten und jede Bewegung koordiniert werden musste. Unterhaltungen fanden bei dem Lärm nicht statt. Lund hatte die Augen geschlossen. Sie flog zu oft hinaus, als dass ihr das Gerümpel etwas ausgemacht hätte.

Der Hubschrauber legte sich in die Kurve und drosch weiter nach Südwesten. Ihr Ziel, Gullfaks, war eine Ansammlung von Plattformen im Besitz der staatlichen Ölgesellschaft Statoil. Die Förderanlage Gullfaks C gehörte zu den größten Plattformen am oberen Nordseerand. Mit 280 Menschen bildete sie fast eine kleine Gemeinde. Genau genommen hätte Johanson dort nicht einmal aussteigen dürfen. Vor Jahren hatte er den vorgeschriebenen Kurs absolviert, den man nachweisen musste, um Zugang zu einer Plattform zu erhalten. Inzwischen hatten sich die Sicherheitsbestimmungen verschärft, aber Lund hatte ihre Kontakte spielen lassen.

Ohnehin würden sie nur zwischenlanden, um gleich darauf an Bord der Thorvaldson zu gehen, die seit einer guten Stunde vor Gullfaks lag.

Eine heftige Turbulenz ließ den Helikopter plötzlich absacken. Johanson umklammerte die Sessellehnen. Niemand sonst reagierte. Die Passagiere, vorwiegend Männer, waren Stürme anderen Kalibers gewohnt. Lund drehte den Kopf, öffnete kurz die Augen und zwinkerte ihm zu.

Kare Sverdrup war schon irgendwie ein Glückspilz.

Ob der Glückspilz mit Lunds Lebenstempo Schritt halten konnte, würde sich erweisen.

Nach einer Weile ging der Helikopter runter und flog eine neuerliche Kurve. Das Meer kippte Johanson entgegen. Ein weißes Hochhaus kam in Sicht, das über dem Wasser zu schweben schien. Sie begannen mit dem Landeanflug. Einen Moment lang war Gullfaks C vollständig im Seitenfenster zu sehen. Ein Koloss auf vier Stahlbetonsäulen, eineinhalb Millionen Tonnen schwer, mit einer Gesamthöhe von fast vierhundert Metern. Über die Hälfte davon lag unter Wasser, wo die Säulen einem Wald von Tanks entwuchsen. Das weiße Hochhaus, der Wohntrakt, machte nur einen kleinen Bereich des Giganten aus. Der Hauptteil präsentierte sich dem Laien als Gewirr übereinander geschichteter Decks, voll gestopft mit Technik und rätselhaften Maschinen, verbunden durch Bündel meterdicker Rohrleitungen, flankiert von Versorgungskränen und gekrönt von der Kathedrale der Ölarbeiter, dem Förderturm. Aus der Spitze eines riesigen stählernen Auslegers, weit draußen über dem Meer, schoss eine nie erlöschende Flamme — Gas, das vom Öl getrennt und abgefackelt wurde.

Der Helikopter sank der Landeplattform über dem Wohntrakt entgegen. Überraschend sanft setzte der Pilot auf. Lund gähnte, streckte die Glieder, soweit es die Enge zuließ, und wartete, bis die Rotoren zum Stillstand gekommen waren.

»Das war doch ganz angenehm«, sagte sie.

Jemand lachte. Die Ausstiegsluke wurde geöffnet, und sie kletterten ins Freie. Johanson trat an den Rand der Landefläche und sah hinunter. Knapp hundertfünfzig Meter unter ihm schäumten die Wellen. Ein schneidender Wind blähte seinen Overall.

»Gibt es eigentlich irgendwas, das so ein Ding umwerfen kann?«

»Es gibt nichts, was man nicht umwerfen kann. Komm. Schlag keine Wurzeln.« Lund packte ihn am Arm und zog ihn den anderen Passagieren des Helikopters hinterher, die jenseits der Landefläche verschwanden. Ein kleiner, stämmiger Mann mit gewaltigem weißem Schnurrbart stand am Absatz der Stahltreppe und winkte ihnen zu.

»Tina«, rief er. »Sehnsucht nach Öl?«

»Das ist Lars Jörensen«, sagte Lund. »Er hat die Verantwortung für die Überwachung des Hubschrauber-und Schiffverkehrs auf Gullfaks C. Du wirst ihn mögen, er ist ein ausgezeichneter Schachspieler.«

Jörensen kam ihnen entgegen. Er trug ein Statoil-T-Shirt und wirkte auf Johanson eher wie ein Tankwart.

»Ich hatte Sehnsucht nach dir«, lachte Lund.

Jörensen grinste. Er drückte sie an seine Brust, was dazu führte, dass sein weißer Haarschopf unter ihrem Kinn verschwand. Dann schüttelte er Johanson die Hand.

»Ihr habt euch einen ungemütlichen Tag ausgesucht«, sagte er. »Bei schönem Wetter sieht man den ganzen Stolz der norwegischen Ölindustrie. Insel an Insel.«

»Ist viel los im Moment?«, fragte Johanson, während sie die gewundene Treppe nach unten stiegen.

Jörensen schüttelte den Kopf.

»Nicht mehr als sonst. Warst du schon mal auf einer Plattform?« Wie die meisten Skandinavier ging auch Jörensen schnell zum Du über.

»Ist was her. Wie viel holt ihr raus?«

»Immer weniger, fürchte ich. Auf Gullfaks ist die Menge seit geraumer Zeit stabil, rund 200000 Barrels aus einundzwanzig Bohrlöchern. Eigentlich könnten wir zufrieden sein. Sind’s aber nicht. Das Ende ist absehbar.« Er zeigte hinaus aufs Meer. In einigen hundert Metern Entfernung sah Johanson einen Tanker angedockt an einer Boje liegen. »Wir machen ihn gerade voll. Einer kommt noch, das war’s für heute. Irgendwann werden es immer weniger sein. Das Zeug geht langsam aus, da macht keiner was dran.«

Die Förderstellen lagen nicht direkt unter der Plattform, sondern in weitem Umkreis drum herum. Wenn das Öl hochkam, wurde es von Salz und Wasser gereinigt, vom Gas getrennt und in die Tanks rund um die Beine der Plattform gelagert. Von dort pumpte man es durch Pipelines in die Bojen. Rund um die Plattform herrschte eine Sicherheitszone von 500 Metern, die kein Fahrzeug passieren durfte, ausgenommen plattformeigene Reparaturschiffe.

Johanson spähte über das eiserne Geländer. »Sollte hier nicht irgendwo die Thorvaldson liegen?«, fragte er. »Andere Boje. Ihr könnt sie von hier nicht sehen.« »Nicht mal Forschungsschiffe dürfen näher ran?« »Nein, sie gehört nicht zu Gullfaks und ist zu groß für unseren Geschmack. Basta! Es reicht, den Fischern ständig erklären zu müssen, dass sie ihren verdammten Arsch woanders hinpacken sollen.«

»Habt ihr viel Ärger mit den Fischern?«

»Geht so. Letzte Woche haben wir ein paar hopsgenommen, die einem Schwarm bis unter die Plattform gefolgt waren. Kommt immer mal wieder vor. Auf Gullfaks A war’s neulich kritischer. Kleiner Tanker mit Maschinenschaden. Trieb drauf zu. Wir haben ein paar von unseren Leuten rübergeschickt, um ihn wegzudrängen, aber dann haben sie das Ding von selber wieder unter Kontrolle gebracht.«

Was Jörensen da so gleichmütig erzählte, beschrieb in Wirklichkeit die potenzielle Katastrophe, vor der jeder Angst hatte. Dass sich ein randvoller Tanker losriss und auf die Plattform zutrieb. Eine Kollision konnte kleinere Inseln ins Wanken bringen, viel größer aber war die Explosionsgefahr. Auch wenn die gesamte Plattform mit einem Sprinklersystem ausgestattet war, das beim kleinsten Anzeichen eines Feuers Tonnen von Wasser freisetzte, bedeutete eine Tankerexplosion das Ende. Allerdings geschahen solche Unglücke selten und eher vor Südamerika, wo die Sicherheitsbestimmungen laxer gehandhabt wurden. Im Nordmeer hielt man die Vorschriften ein. Wenn der Wind zu sehr blies, wurden Tanker gar nicht erst beladen.

»Schlank bist du geworden«, meinte Lund, während ihr Jörensen eine Tür aufhielt. Sie traten ins Innere der Wohneinheit und durchschritten einen Gang, von dessen Seiten identisch aussehende Türen in die Quartiere führten. »Bekochen sie euch nicht gut?«

»Zu gut«, kicherte Jörensen. »Der Koch ist wirklich toll. Du solltest unseren Speisesaal sehen«, fuhr er zu Johanson gewandt fort. »Das Ritz ist ‘ne Strandbude dagegen. Nein, unser Plattformchef hat was gegen Nordseebäuche, er hat Order gegeben, alle überflüssigen Kilos runterzutrainieren, ansonsten gibt’s Sperre.«

»Im Ernst?«

»Direktive von Statoil. Weiß nicht, ob die wirklich so weit gehen würden. Aber die Drohung wirkt. Keiner hier will den Job verlieren.«

Sie erreichten ein enges Treppenhaus und stiegen nach unten. Ölarbeiter kamen ihnen entgegen. Jörensen grüßte sie, während sie dem Boden der Plattform zustrebten. Ihre Schritte hallten in dem stählernen Schacht wider.

»So, Endstation. Ihr habt die Wahl. Nach links heißt, noch ein halbes Stündchen quatschen und zusammen einen Kaffee trinken. Nach rechts geht’s zum Boot.«

»Ich würde gerne einen Kaffee …«, begann Johanson.

»Danke«, fuhr ihm Lund dazwischen. »Das wird zu knapp.«

»Die Thorvaldson legt schon nicht ohne euch ab«, maulte Jörensen. »Du könntest ruhig …«

»Ich will nicht auf den letzten Drücker an Bord. Nächstes Mal nehme ich mir Zeit, versprochen. Und ich bringe Sigur wieder mit. Es wird Zeit, dass dich mal einer an die Wand spielt.«

Jörensen lachte und trat achselzuckend nach draußen. Lund und Johanson folgten ihm. Der Wind fegte ihnen ins Gesicht. Sie befanden sich am unteren seitlichen Rand des Wohnblocks. Der Boden des Laufgangs, über den sie weitergingen, war aus dicken Stahlgittern geschweißt. Durch die Maschen sah man auf die wogende See. Hier war es um einiges lauter als auf der Landefläche des Helikopters. Beständiges Zischen und Dröhnen erfüllte die Luft. Jörensen brachte sie zu einer kurzen Gangway. Ein orangefarbenes, geschlossenes Kunststoffboot hing dort an einem Kran.

»Was macht ihr denn auf der Thorvaldson?«, fragte er beiläufig. »Hab gehört, Statoil will weiter draußen bauen.«

»Möglich«, erwiderte Lund.

»Eine Plattform?«

»Ist nicht gesagt. Vielleicht auch ein SWOP.«

SWOP war die Abkürzung für Single Well Offshore Production System. Ab einer Bohrtiefe von 350 Metern wurden solche SWOPs eingesetzt, riesigen Öltankern ähnliche Schiffe mit eigenem Fördersystem. Sie waren über einen flexiblen Bohrstrang mit dem Bohrlochkopf verbunden. Damit pumpten sie das Rohöl aus dem Meeresboden und dienten zugleich als Zwischenlager.

Jörensen tätschelte Lund die Wange.

»Dann werd mir mal nicht seekrank, Kleines.«

Sie bestiegen das Boot. Es war groß und geräumig, mit Hartschalenwänden und Reihen von Sitzbänken. Außer ihnen war nur der Steuermann an Bord. Ein leichtes Ruckeln ging durch den Rumpf, als sich die Kranwinde in Bewegung setzte und das Boot absenkte. In den Seitenfenstern zog die rissig graue Fläche von Beton vorbei. Dann schaukelten sie plötzlich auf den Wellen. Die Haken der Winde entkoppelten sich, und sie fuhren unter der Plattform hervor.

Johanson trat hinter den Steuermann. Er hatte einige Mühe, auf den Füßen zu bleiben. Jetzt konnte er die Thorvaldson sehen. Das Heck des Forschungsschiffs war durch den charakteristischen Ausleger gekennzeichnet, mit dem Tauchboote und Forschungsgerät ins Meer abgelassen wurden. Der Steuermann drehte bei. Sie legten an und erstiegen eine stählerne, rundum gesicherte Sprossenleiter. Kurz, während er sich mit seinem Gepäck abquälte, dachte Johanson, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, den halben Kleiderschrank einzupacken.

Lund, die vor ihm kletterte, drehte sich zu ihm um. »Dein Koffer kommt mir vor, als wolltest du hier Ferien machen«, sagte sie mit ausdrucksloser Miene.

Johanson seufzte ergeben. »Ich dachte schon, es fällt dir überhaupt nicht mehr auf.«

Jede größere Küste auf der Welt umgab eine Zone relativ flachen Wassers, die Schelfregion, maximal bis zu zweihundert Meter tief. Im Grunde war der Schelf nichts anderes als die unterseeische Fortsetzung der Kontinentalplatte. In manchen Teilen der Welt reichte er lediglich ein kurzes Stück hinaus, in anderen erstreckten sich Schelfmeere über Hunderte von Kilometern, bis der Boden in die Tiefsee abfiel, vielerorts plötzlich und steil, anderswo in Terrassen und eher sanft. Jenseits der Schelfmeere begann das unbekannte Universum, über das die Wissenschaft tatsächlich weniger wusste als über den Weltraum.

Anders als die Tiefsee hatten die Menschen den Schelf nahezu vollständig unter ihre Kontrolle gebracht. Obwohl die Flachmeere nur etwa acht Prozent der globalen Meeresoberfläche ausmachten, stammte fast der gesamte Weltfischertrag von dort. Das Landtier Mensch lebte vom Wasser, weshalb zwei Drittel seiner Vertreter auf einem sechzig Kilometer schmalen Küstenstreifen siedelten.

Vor Portugal und im Norden Spaniens erschien die Schelfregion auf ozeanographischen Karten als schmaler Streifen. Die Britischen Inseln und Skandinavien hingegen umgab er so großräumig, dass beide Regionen ineinander übergingen und die Nordsee bildeten, durchschnittlich zwanzig bis einhundertfünfzig Meter tief und damit ziemlich flach. Auf den ersten Blick war nichts Besonderes an dem kleinen Meer im europäischen Norden mit seinen komplizierten Strömungs— und Temperaturverhältnissen, das in seiner gegenwärtigen Form eben mal zehntausend Jahre existierte. Dennoch nahm es für die Weltwirtschaft eine zentrale Bedeutung ein. Es gehörte zu den verkehrsreichsten Zonen der Erde, mit hoch entwickelten Industrienationen als Anrainerstaaten und dem größten Hafen aller Zeiten, Rotterdam. Die dreißig Kilometer breite Meerenge des Ärmelkanals hatte sich zu einer der meistbefahrenen Straßen der Welt entwickelt. Frachter, Tanker und Fähren manövrierten hier auf engstem Raum.

Dreihundert Millionen Jahre war es her, dass mächtige Sümpfe den Kontinent mit England verbunden hatten. Abwechselnd war der Ozean vorgedrungen und wieder zurückgewichen. Gewaltige Flüsse hatten Schlamm, Pflanzen und Reste von Tieren in das nördliche Becken geschwemmt, die sich mit der Zeit zu einer kilometerdicken Sedimentdecke aufschichteten. Kohleflöze entstanden, während sich das Gelände weiter absenkte. Immer neue Lagen schoben sich übereinander und pressten die zuunterst liegenden Sedimente zu Sand— und Kalkstein. Gleichzeitig wurde es in den Tiefen wärmer. Die organischen Reste im Gestein durchliefen komplexe chemische Prozesse und verwandelten sich unter Einwirkung von Druck und Hitze in Öl und Gas. Einiges davon sickerte durch poröses Gestein zum Meeresboden hoch und ging im Wasser verloren. Das meiste verblieb in unterirdischen Lagerstätten.

Jahrmillionen hatte der Schelf geruht.

Das Öl brachte den Wandel. Norwegen, als Fischereination im Niedergang begriffen, stürzte sich ebenso auf die neu entdeckten Bodenschätze wie England, Holland und Dänemark und entwickelte sich innerhalb von dreißig Jahren zum zweitgrößten Erdölexporteur der Welt. Das Gros der Vorkommen und damit rund die Hälfte aller europäischen Ressourcen lagerte unter dem norwegischen Schelf. Als ebenso gewaltig erwiesen sich die norwegischen Gasvorräte. Man reihte Plattform an Plattform. Technische Probleme wurden ohne Rücksicht auf Kosten der Umwelt gelöst. Auf diese Weise bohrte man immer tiefer wichen die simplen Gerüstkonstruktionen der ersten Tage Bohrtürmen von der Höhe des Empire State Building. Pläne für unterseeische und komplett ferngesteuerte Plattformen schickten sich an, Wirklichkeit zu werden. Im Grunde hätte der Jubel kein Ende finden dürfen.

Aber er endete schneller als erwartet. Die Fischereierträge gingen zurück wie überall auf der Welt, und ebenso die Erdölförderung. Was in Jahrmillionen entstanden war, würde in weniger als vierzig Jahren versiegt sein. Viele Vorkommen der Schelfmeere waren so gut wie erschöpft. Das Gespenst eines riesigen Schrottplatzes dämmerte herauf, stillgelegte Plattformen, die man schlicht und einfach nicht entsorgen konnte, weil keine Kraft der Welt ausreichte, sie je wieder von der Stelle zu bewegen. Nur ein Weg versprach aus der Misere zu führen, in die sich die Ölnationen hineinmanövriert hatten. Jenseits des Schelfs, an Kontinentalabhängen und in ausgedehnten Tiefseebecken, lagerten unangetastete Vorkommen. Herkömmliche Plattformen schieden hier aus. Was Lunds Gruppe plante, um solche Vorkommen nutzbar zu machen, war darum eine Anlage anderer Art. Der Hang war nicht überall abschüssig. Er staffelte sich in Terrassen und bot ideales Terrain für unterseeische Fabriken. Angesichts der Risiken, die mit einem Projekt so weit jenseits des Schelfrandes einhergingen, waren menschliche Arbeitskräfte auf ein Minimum reduziert worden. Mit den sinkenden Fördermengen sank auch der Stern der Ölarbeiter, die in den Siebzigern und Achtzigern begehrt und hoch bezahlt gewesen waren. Für Gullfaks C lagen Pläne vor, das Personal bis auf zwei Dutzend Leute abzubauen. Plattformen wie der »Mann im Mond«, ein Jahrhundertprojekt über dem Troll-Gasfeld in der norwegischen Rinne, arbeiteten fast vollautomatisch.

Im Grunde war das Nordsee-Ölgeschäft defizitär geworden. Allein, es einzustellen hätte noch größere Probleme mit sich gebracht.

Als Johanson aus seiner Kabine trat, herrschte an Bord der Thorvaldson ruhige Routinestimmung. Das Schiff war nicht besonders groß. Auf einem Forschungsgiganten wie der Bremerhavener Polarstern hätten sie mit dem Helikopter landen können, aber die Thorvaldson brauchte den Platz für Gerätschaften. Johanson schlenderte zur Reling und sah hinaus. In den vergangenen zwei Stunden hatten sie ganze Plattform-Siedlungen hinter sich gelassen, deren Inseln durch luftige Übergänge miteinander verbunden waren. Nun lagen sie oberhalb der Shetland-Inseln, jenseits der Schelfkante. So weit draußen endete jede Bebauung. In der Ferne waren vereinzelt die Silhouetten von Bohrtürmen zu erkennen, aber insgesamt sah es hier wieder nach Meer aus und weniger nach überflutetem Industriegebiet. Annähernd 700 Meter Wassertiefe erstreckten sich unter dem Kiel. Der Kontinentalhang war vermessen und kartiert, aber Eindrücke aus der Zone ewiger Finsternis gab es kaum. Im Licht starker Scheinwerfer hatte man den Blick auf die eine oder andere Stelle werfen können, was in etwa so viel Aufschluss über das Ganze gab wie eine einzelne Straßenlaterne über Norwegen bei Nacht. Johanson dachte an seinen Bordeaux und die kleine Sammlung französischer und italienischer Käse in seinem Koffer. Er ging auf die Suche nach Lund und fand sie beim Check des Roboters. Der Automat hing in den Halterungen des Auslegers, ein rechteckiger Kasten aus Rohrgestänge von gut drei Metern Höhe, voll gestopft mit Technik. Auf der geschlossenen Oberseite stand der Name Victor. Im vorderen Bereich erkannte Johanson Kameras und einen zusammengeklappten Greifarm.

Lund strahlte ihn an. »Beeindruckt?«

Johanson ging einmal pflichtschuldigst um den Victor herum. »Ein großer gelber Staubsauger«, sagte er.

»Defätist.«

»Schon gut. Tatsächlich bin ich fasziniert davon. Was wiegt das Ding?«

»Vier Tonnen. He, Jean!«

Ein magerer Mann mit roten Haaren schaute hinter einer Kabeltrommel hervor. Lund winkte ihn heran.

»Jean-Jacques Alban ist Erster Offizier auf diesem schwimmenden Schrotthaufen«, stellte Lund den Rothaarigen vor. »Hör zu, Jean, ich muss noch einiges regeln. Sigur hier ist furchtbar neugierig, er will alles über den Victor wissen. Sei so gut und kümmere dich um ihn.«

Sie entschwand im Laufschritt. Alban sah ihr mit einem Ausdruck amüsierter Hilflosigkeit hinterher.

»Ich schätze, Sie haben Besseres zu tun, als mir den Victor zu erklären«, mutmaßte Johanson.

»Kein Problem.« Alban grinste. »Tina wird sich eines Tages nochmal selber überholen. Sie sind der Mann von der NTNU, richtig? Sie haben die Würmer untersucht.«

»Ich habe meine Meinung dazu abgegeben. Warum bereiten Ihnen die Tiere so viel Kopfzerbrechen?«

Alban winkte ab.

»Wir machen uns eher Sorgen um die Beschaffenheit des Bodens hier am Hang. Die Würmer haben wir zufällig entdeckt, sie beschäftigen vornehmlich Tinas Phantasie.«

»Ich dachte, Sie lassen den Roboter wegen der Würmer runter«, wunderte sich Johanson.

»Hat Tina Ihnen das erzählt?« Alban sah zu dem Automaten rüber und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nur ein Teil der Mission. Natürlich nehmen wir hier nichts auf die leichte Schulter, aber hauptsächlich bereiten wir den Einsatz einer Langzeitmessstation vor. Wir platzieren sie direkt über dem delektierten Ölvorkommen. Wenn wir zu dem Schluss gelangen, dass der Platz sicher ist, kommt eine unterseeische Förderstation dahin.«

»Tina sagte etwas von einem SWOP.«

Alban warf ihm einen Blick zu, als sei er nicht sicher, wie er darauf antworten solle.

»Eigentlich nicht. Die Unterwasserfabrik ist so gut wie unter Dach und Fach. Sollte sich was geändert haben, ist es mir entgangen.«

Aha. Es würde keine schwimmende Plattform geben.

Vielleicht war es besser, das Thema nicht zu vertiefen. Johanson fragte Alban weiter über den Tauchroboter aus.

»Es ist ein Victor 6000, ein Remotely Operated Vehicle, kurz ROV«, erklärte Alban. »Er kann bis in Tiefen von 6000 Metern vorstoßen und dort einige Tage arbeiten. Wir steuern ihn von hier oben und empfangen sämtliche Daten in Echtzeit, alles über Kabel. Diesmal bleibt er 48 Stunden unten. Nebenbei soll er natürlich auch einen Arm voll Würmer einsacken. Statoil will sich nicht vorwerfen lassen, die Biodiversität zu gefährden.« Er machte eine Pause. »Was ist denn Ihre Meinung zu den Viechern?«

»Keine«, sagte Johanson ausweichend. »Vorläufig.« Maschinenlärm klang auf. Johanson sah, wie sich der Ausleger in Bewegung setzte und den Victor in die Höhe hievte.

»Kommen Sie«, sagte Alban. Weiter mittschiffs waren fünf mannshohe Container installiert, zu denen sie hinübergingen. »Die meisten Schiffe sind gar nicht für den Einsatz des Victor eingerichtet. Wir haben ihn von der Polarstern ausgeliehen, weil er bei uns gerade noch draufpasst.«

»Was ist in den Containern?«

»Die Hydraulikeinheit für die Winde, Aggregate, aller mögliche Krempel. Im vorderen befindet sich der ROV-Kontrollraum. Stoßen Sie sich nicht den Kopf.«

Sie traten durch eine niedrige Tür. Es war eng in dem Container. Johanson sah sich um. Über die Hälfte des Raumes nahm das Steuerpult mit den beiden Bildschirmreihen ein. Einige der Monitore waren ausgeschaltet, andere stellten die Betriebsdaten des ROVs und Navigationsinformationen dar. Vor den Bildschirmen saßen mehrere Männer. Auch Lund war anwesend.

»Der da in der Mitte im Fahrstand, das ist der Pilot«, erklärte Alban leise. »Rechts daneben der Copilot, der auch den Greifarm bedient. Victor arbeitet sensibel und präzise, aber entsprechend geschickt muss man sein, um mit ihm klarzukommen. Der nächste Sitz gehört dem Koordinator. Er unterhält den Kontakt zum Wachoffizier auf der Brücke, damit das Schiff und der Roboter optimal zusammenwirken. Zur anderen Seite hin sitzen die Wissenschaftler. Das da ist Tinas Platz. Sie wird die Kameras bedienen und die Bilder speichern. — Sind wir so weit?«

»Ihr könnt ihn runterlassen«, sagte Lund.

Nacheinander sprangen die restlichen Monitore an. Johanson erkannte Teile des Hecks und des Auslegers, Himmel und Meer. »Sie sehen jetzt, was Victor sieht«, erläuterte Alban. »Er verfügt über acht Kameras. Eine Hauptkamera mit Zoom, zwei Pilotobjektive zur Navigation und fünf Zusatzkameras. Die Bildqualität ist außerordentlich gut, selbst in mehreren tausend Metern Tiefe bekommen wir filmreife Szenen zu sehen, gestochen scharf und in brillanten Farben.«

Die Kameraperspektiven veränderten sich. Der Roboter wurde abgesenkt. Das Meer kam näher, dann schwappte Wasser über die Objektive. Victor sank weiter. Die Monitore zeigten eine blaugrüne Welt, die langsam trüber wurde.

Der Container füllte sich. Männer und Frauen, die zuvor am Ausleger gearbeitet hatten. Es wurde noch enger.

»Scheinwerfer an«, sagte der Koordinator.

Mit einem Mal erhellte sich der Raum um Victor. Es blieb diffus. Das Blaugrün verblasste und wich erleuchtetem Schwarz. Einige kleine Fische gerieten ins Bild, dann schien alles erfüllt von winzigen Luftblasen. Johanson wusste, dass es sich in Wirklichkeit um Plankton handelte, Milliarden von Kleinstlebewesen. Rote Medusen und transparente Rippenquallen zogen vorbei.

Nach einer Weile wurde der Partikelschwarm dünner. Die Tiefenanzeige wies fünfhundert Meter aus. »Was genau macht Victor, wenn er unten angekommen ist?«, fragte Johanson.

»Er entnimmt Wasser— und Sedimentproben, außerdem sammelt er Lebewesen ein«, antwortete Lund, ohne sich umzudrehen. »Vor allem liefert er Videomaterial.«

Etwas Zerklüftetes schob sich ins Bild. Victor sank entlang einer Steilwand abwärts. Rote und orangefarbene Langusten winkten ihnen mit langen Fühlern zu. Hier unten war es bereits stockdunkel, aber die Scheinwerfer und Kameras brachten die natürlichen Farben der Lebewesen verblüffend intensiv zur Geltung. Victor zog weiter an Schwämmen und Seegurken vorbei, dann wurde das Terrain allmählich flacher.

»Wir sind so weit«, sagte Lund. »680 Meter.«

»Okay.« Der Pilot beugte sich nach vorne. »Fliegen wir eine Kurve.«

Der Hang verschwand von den Bildschirmen. Eine Zeit lang sahen sie wieder freies Wasser, dann zeichnete sich in der blauschwarzen Tiefe plötzlich Meeresboden ab.

»Victor kann millimetergenau navigieren«, sagte Alban sichtlich stolz zu Johanson. »Sie könnten ihn Garn einfädeln lassen, wenn Sie wollten.«

»Danke, das besorgt mein Schneider. Wo genau ist er jetzt?«

»Direkt über einem Plateau. Im Untergrund lagert eine gewaltige Menge Öl.«

»Auch Methanhydrat?«

Alban sah ihn nachdenklich an. »Ja, sicher. Warum fragen Sie?«

»Nur so. Und hier will Statoil die Fabrik installieren?«

»Es ist unsere Wunschposition. Sofern nichts dagegen spricht.«

»Zum Beispiel Würmer.«

Alban zuckte die Achseln. Johanson merkte, dass der Franzose das Thema nicht mochte. Sie sahen zu, wie der Roboter die fremde Welt überflog, dahinstaksende Meerspinnen überholte und Fische, die im Sediment wühlten. Die Kameras erfassten Ansiedlungen von Schwämmen, Leuchtquallen und kleine Tintenfische. Besonders reich besiedelt war das Meer hier nicht, aber es gab eine Vielfalt unterschiedlichster Bodenbewohner. Nach einer Weile wurde die Landschaft pockennarbig und rau. Streifige Strukturen zogen sich über den Grund dahin.

»Übersedimentierte Rutschungen«, sagte Lund. »Am norwegischen Hang ist schon einiges ins Rutschen gekommen.«

»Was ist mit diesen riffeligen Strukturen?«, fragte Johanson. Der Boden hatte sich wieder verändert.

»So was bringen die Strömungen mit sich. Wir steuern auf den Rand des Plateaus zu.« Sie machte eine Pause. »Nicht weit von hier haben wir die Würmer gefunden.«

Sie starrten auf die Bildschirme. Etwas anderes war im Licht der Scheinwerfer aufgetaucht. Helle, großflächige Verfärbungen.

»Bakterienmatten«, bemerkte Johanson.

»Ja. Anzeichen von Methanhydrat.«

»Da«, sagte der Pilot.

Rissige, weiße Flächen kamen ins Bild. Hier lagerte gefrorenes Methan direkt am Boden. Plötzlich erkannte Johanson noch etwas. Auch die anderen sahen es. Mit einem Mal wurde es totenstill im Kontrollraum.

Teile des Hydrats waren unter rosafarbenem Gewimmel verschwunden. Zuerst waren noch einzelne Leiber auszumachen. Dann wurde die Menge der sich windenden Körper unüberschaubar. Rosa Röhren mit weißen Büscheln krochen über— und untereinander her.

Einer der Männer am Pult stieß einen Laut des Widerwillens aus. Menschen sind so konditioniert, dachte Johanson. Wir gruseln uns vor allem, was kriecht, krabbelt und wimmelt, dabei ist es normal. Wir würden uns am meisten vor uns selber gruseln, wenn wir sehen könnten, wie sich Horden von Milben in unseren Poren bewegen und vom Talg ernähren, wie sich Millionen winziger Spinnentiere in unseren Matratzen breit machen und Milliarden Bakterien in unseren Gedärmen.

Trotzdem gefiel ihm nicht, was er sah. Die Bilder aus dem Mexikanischen Golf hatten ähnlich große Populationen gezeigt, aber die Tiere waren kleiner gewesen und hatten untätig in ihren Kuhlen gelebt. Diese hier wanden und schlängelten sich über das Eis, eine gewaltige zuckende Masse, die den Boden vollständig bedeckte.

»Zickzackkurs«, sagte Lund. Das ROV begann, in einer Art ausladendem Slalom zu schwimmen. Das Bild veränderte sich nicht. Würmer, wohin man sah. Plötzlich senkte sich der Boden ab. Der Pilot steuerte den Roboter weiter auf die Plateaukante zu. Selbst die acht starken Flutlichtspots erlaubten hier nur eine Sicht von wenigen Metern. Dennoch hatte es den Anschein, als bedeckten die Kreaturen den ganzen Hang. Johanson kam es vor, als seien sie noch größer als die Exemplare, die Lund ihm zur Untersuchung überlassen hatte. Im nächsten Moment wurde alles schwarz. Victor war über die Kante gestoßen. Hier ging es rund einhundert Meter senkrecht in die Tiefe. Der Roboter fuhr mit voller Geschwindigkeit weiter. »Drehen«, sagte Lund. »Wir schauen uns die Hangwand an.« Der Pilot manövrierte den Victor in eine Kurve. Im Scheinwerferlicht wirbelten Partikel. Etwas Großes, Helles wölbte sich vor die Kameraobjektive, füllte sie eine Sekunde lang aus und zog sich blitzschnell zurück.

»Was war das?«, rief Lund.

»Position zurück.«

Das ROV flog eine Gegenkurve.

»Es ist weg.«

»Kreisbewegung!«

Victor stoppte und begann, sich um seine eigene Achse zu drehen. Nichts war zu sehen außer undurchdringlicher Finsternis und dem beleuchteten Plankton im Lichtkegel. »Da war irgendwas«, bestätigte der Koordinator. »Vielleicht ein Fisch.« »Muss ein verdammt großer Fisch gewesen sein«, knurrte der Pilot. »Er hat das Bild komplett ausgefüllt.« Lund wandte den Kopf und sah Johanson an. Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was es war.« »Okay. Schauen wir uns weiter unten um.«

Das ROV hielt auf den Abhang zu. Nach wenigen Sekunden kam abschüssiges Gelände in Sicht. Einige Sedimentbrocken ragten daraus hervor, der Rest war bedeckt von rosa Leibern.

»Sie sind überall«, sagte Lund.

Johanson trat neben sie.

»Habt ihr eine Übersicht über die hiesigen Hydratvorkommen?« »Hier ist alles voller Methan. Hydrate, Gasblasen im Erdinnern, Gas, das austritt …« »Ich meine speziell das Eis an der Oberfläche.« Lund tippte etwas in die Tastatur ihres Terminals. Eine Karte des Meeresbodens erschien auf einem der Monitore. »Da, die hellen Flecken. Diese Vorkommen haben wir kartiert.«

»Kannst du mir Victors augenblickliche Position zeigen?«

»Etwa hier.« Sie zeigte auf einen Bereich, der großflächige Verfärbungen aufwies.

»Gut. Steuert mal dorthin, schräg rüber.«

Lund gab dem Piloten Anweisungen. Die Scheinwerfer erfassten wieder Meeresboden, der frei von Würmern war. Nach einer Weile stieg das Gelände an, dann tauchte unmittelbar die Steilwand aus dem Dunkel auf.

»Höher«, sagte Lund. »Hübsch langsam.«

Schon nach wenigen Metern bot sich ihnen das gleiche Bild wie zuvor. Schlauchförmige rosa Körper mit weißen Borsten.

»Klassisch«, sagte Johanson.

»Was meinst du?«

»Wenn eure Karte stimmt, sind genau hier große Hydratausdehnungen. Sprich, Bakterien lagern auf dem Eis und setzen das Methan um, und die Würmer fressen die Bakterien.«

»Ist es auch klassisch, dass sie gleich zu Millionen anrücken?«

Er schüttelte den Kopf. Lund lehnte sich zurück.

»Na schön«, sagte sie zu dem Mann, der den Greifarm unter Kontrolle hatte. »Setzen wir Victor ab. Er soll einen Schwung von den Viechern einsacken und sich weiter die Gegend angucken — falls bei dem Gedränge von Gegend noch die Rede sein kann.«

Es war zehn Uhr durch, als es an Johansons Kammer klopfte. Er öffnete. Lund kam herein und ließ sich in den kleinen Sessel fallen, der zusammen mit einem winzigen Tisch den besonderen Kabinenluxus darstellte.

»Meine Augen brennen«, sagte sie. »Alban hat für eine Weile übernommen.«

Ihr Blick fiel auf die Käseplatte und die geöffnete Flasche Bordeaux.

»Das hätte ich mir ja denken können.« Sie lachte. »Darum bist du eben abgehauen.«

Johanson hatte den Monitorraum vor einer halben Stunde verlassen, um alles vorzubereiten.

»Brie des Meaux, Taleggio, Munster, ein alter Ziegenkäse und etwas Fontina aus den piemontesischen Bergen«, stellte er die Käse der Reihe nach vor. »Baguette und Butter.«

»Du Wahnsinniger.«

»Willst du ein Glas?«

»Natürlich will ich ein Glas. Was ist es denn?«

»Ein Pauillac. Du musst mir nachsehen, dass ich ihn nicht dekantieren konnte, die Thorvaldson weist Mängel an gesellschaftsfähigem Kristall auf. Habt ihr noch was Interessantes gesehen?«

Lund nahm das Glas entgegen und trank es zur Hälfte leer. »Die Scheißviecher lagern auf den Hydraten. Überall.«

Johanson ließ sich ihr gegenüber auf der Bettkante nieder und strich nachdenklich Butter auf ein Stück Baguette. »Wirklich bemerkenswert.«

Lund bediente sich am Käse. »Die anderen sind jetzt auch der Meinung, dass wir uns Gedanken machen sollten. Allen voran Alban.«

»Bei eurem ersten Besuch habt ihr nicht so viele gesehen?«

»Nein. Ich meine, mehr als genug für meinen Geschmack, nur stand ich mit meinem Geschmack bis eben noch alleine.«

Johanson lächelte sie an.

»Du weißt doch. Wer Geschmack hat, befindet sich immer in der Minderheit.«

»Na, jedenfalls, morgen früh kommt Victor hoch und bringt weitere Würmer mit. Dann kannst du mit ihnen spielen, falls du Lust hast.« Kauend stand sie auf und schaute aus dem Kabinenfenster. Inzwischen hatte es aufgeklart. Ein Streifen Mondlicht ergoss sich über die Wellen, die ihn funkelnd verteilten. »Wohl hundertmal habe ich mir die verdammte Videosequenz angesehen. Dieses helle Ding. Alban meint auch, es sei ein Fisch gewesen, aber wenn das stimmt, dann hatte er die Ausmaße eines Mantas oder von noch was Größerem.

Außerdem war keinerlei Körperform erkennbar.« »Vielleicht ein Lichtreflex«, schlug Johanson vor. Sie drehte sich zu ihm um. »Nein. Es war einige Meter entfernt, genau an der Lichtgrenze. Es war riesig und flächig, und es hat sich blitzschnell zurückgezogen, als könne es das Licht nicht vertragen oder habe Angst, entdeckt zu werden.«

»Das kann alles Mögliche gewesen sein.«

»Nein, nicht alles Mögliche.«

»Ein Fischschwarm kann auch zurückzucken. Wenn sie dicht genug schwimmen, entsteht der Eindruck eines …« »Das war kein Fischschwarm, Sigur! Es war flächig. Eine durchgehende Fläche, irgendwie … glasig. Wie eine große Qualle.« »Eine große Qualle. Da hast du’s.« »Nein. Nein!« Sie machte eine Pause und setzte sich wieder. »Schau es dir selber an. Es war keine Qualle.« Sie aßen eine Weile schweigend weiter.

»Du hast Jörensen belogen«, sagte Johanson unvermittelt. »Es wird kein SWOP geben. Jedenfalls nichts, worauf man Ölarbeiter beschäftigen könnte.«

Lund schaute auf. Sie führte ihr Glas zu den Lippen, trank und stellte es bedächtig zurück. »Stimmt.«

»Warum? Hast du befürchtet, es könnte ihm das Herz brechen?«

»Vielleicht.«

Johanson schüttelte den Kopf.

»Ihr werdet ihm ohnehin das Herz brechen. Es gibt keine Jobs mehr für die Ölarbeiter, richtig?«

»Hör zu, Sigur, ich wollte ihn nicht belügen, aber … ach verdammt, diese ganze Industrie macht gerade eine Veränderung durch, und menschliche Arbeitskräfte werden dabei auf der Strecke bleiben. Was soll ich denn machen? Jörensen weiß, dass es so ist. Er weiß auch, dass die Mannschaft der Gullfaks C auf ein Zehntel reduziert wird. Es kostet weniger, die ganze Plattform umzurüsten, als weiterhin zweihundertsiebzig Leute zu beschäftigen. Statoil trägt sich mit dem Gedanken, die Mannschaft auf Gullfaks B ganz aufzulösen. Wir können sie von einer anderen Plattform aus steuern, und selbst das rechnet sich nur mit gutem Willen.«

»Du willst mir weismachen, dass sich euer Business nicht mehr lohnt?«

»Das Offshore-Geschäft hat sich erst gelohnt, als die OPEC den Preis in die Höhe trieb, Anfang der Siebziger. Aber seit Mitte der Achtziger fällt er wieder. Und entsprechend tief wird Nordeuropa fallen, wenn die Quellen versiegen, also müssen wir weiter draußen bohren, wo es tief ist, unter Zuhilfenahme von ROVs und AUVs.«

AUV war eine weitere Abkürzung aus dem Vokabular der Tiefseeexploration und derzeit in aller Munde. Die Autonomous Underwater Vehicles funktionierten im Wesentlichen wie der Victor, waren jedoch nicht mehr auf die künstliche Nabelschnur zum Mutterschiff angewiesen. Die Offshore-Industrie sah mit großem Interesse auf die Entwicklung dieser neuartigen Tauchroboter, die wie planetare Späher in die unwirtlichsten Regionen vorstießen, äußerst flexibel und beweglich waren und innerhalb eines gewissen Rahmens sogar eigene Entscheidungen treffen konnten. Mit Hilfe von AUVs rückte die Möglichkeit in greifbare Nähe, Ölförderungsstationen selbst in fünf— oder sechstausend Metern Tiefe zu installieren und zu überwachen.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Johanson, während er Wein nachgoss. »Du kannst nicht wirklich was dafür.«

»Ich entschuldige mich nicht«, entgegnete Lund mürrisch. »Außerdem können wir alle was dafür. Würde die Menschheit nicht so rumaasen mit dem Brennstoff, hätten wir die Probleme nicht.«

»Doch. Wir hätten sie nur später. Aber dein Umweltbewusstsein ehrt dich.«

»Na und?«, versetzte sie giftig. Der spöttische Unterton in seiner Stimme war ihr nicht entgangen. »Ölfirmen lernen auch dazu, du wirst es kaum für möglich halten.«

»Ja, aber was?«

»Wir dürfen uns in den nächsten Jahrzehnten mit der Entsorgung von über sechshundert Plattformen rumschlagen, weil sie unwirtschaftlich sind und die Technik nichts mehr taugt! Weißt du, was das kostet? Milliarden! Bis dahin ist der Schelf leer gepumpt! Also tu nicht so als wären wir irgendwelches Lumpenpack.«

»Schon gut.«

»Natürlich stürzt sich jetzt alles auf unbemannte Unterwasserfabriken. Wenn wir es nicht tun, hängt Europa morgen komplett an den Pipelines des Nahen Ostens und Südamerikas, und uns bleibt ein Friedhof im Meer.«

»Dagegen sage ich ja gar nichts. Ich frage mich nur, ob ihr immer so genau wisst, was ihr da tut.«

»Was meinst du damit?«

»Ihr müsst massive technische Probleme lösen, um autonome Fabriken zu betreiben.«

»Ja. Sicher.«

»Ihr plant den Durchsatz gewaltiger Mengen unter extremen Druckverhältnissen und mit hochkorrosiven Beimischungen, und dann noch möglichst wartungsfrei.« Johanson zögerte. »Aber ihr wisst nicht wirklich, wie es da unten aussieht.«

»Wir finden es eben heraus.«

»So wie heute? Das bezweifle ich. Mir kommt es vor, als ob Oma im Urlaub Schnappschüsse macht und hinterher denkt, sie wüsste etwas über das Land, in dem sie war. Ihr neigt dazu, euch eine Stelle zu suchen, euch einen Claim abzustecken und ihn so weit in Augenschein zu nehmen, dass er euch Erfolg versprechend erscheint. Deswegen werdet ihr noch lange nicht verstehen, in welches System ihr eingreift.«

»Jetzt kommt das schon wieder«, stöhnte Lund.

»Habe ich etwa Unrecht?«

»Ich kann das Wort Ökosystem singen und rückwärts herbeten. Ich kann’s im Schlaf. Bist du jetzt neuerdings gegen die Ölförderung?«

»Nein. Ich bin nur dafür, sich mit der Welt vertraut zu machen, die man betritt.«

»Was denkst du, was wir hier tun?«

»Ich bin sicher, ihr wiederholt eure Fehler. Ende der Sechziger hattet ihr euren Goldrausch, und ihr habt die Nordsee zugebaut. Jetzt steht euch das Zeug im Weg herum. Ihr solltet ähnliche Hastigkeiten in der Tiefsee vermeiden.«

»Wenn wir so hastig sind, warum habe ich dir dann die verdammten Würmer geschickt?«

»Du hast ja Recht. Ego te absolvo.«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Johanson beschloss, das Thema zu wechseln: »Kare Sverdrup ist übrigens ein netter Kerl. — Um auch mal was Positives zu sagen an diesem Abend.«

Lund warf die Stirn in Falten. Dann entspannte sie sich und lachte. »Findest du?«

»Absolut.« Er breitete die Hände aus. »Ich meine, es ist alles andere als nett, dass er mich vorher nicht gefragt hat, aber ich kann ihn gut verstehen.«

Lund ließ den Wein in ihrem Glas kreisen.

»Das ist alles noch so frisch«, sagte sie leise.

Sie schwiegen eine Weile.

»Sehr verliebt?«, fragte Johanson in die Stille hinein.

»Wer? Er oder ich?«

»Du.«

»Hm.« Sie lächelte. »Ich glaube schon.«

»Du glaubst?«

»Ich bin Forscherin. Ich muss es eben erst erforschen.«

Es war Mitternacht, als sie schließlich ging. An der Tür warf sie einen Blick zurück auf die leeren Gläser und die Käserinden.

»Vor wenigen Wochen hättest du mich damit gekriegt«, sagte sie. Es klang beinahe bedauernd.

Johanson schob sie sanft hinaus auf den Flur.

»In meinem Alter kommt man auch darüber weg«, sagte er. »Los jetzt! Geh forschen.«

Sie trat nach draußen. Dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Danke für den Wein.«

Das Leben besteht aus Kompromissen zwischen verpassten Gelegenheiten, dachte Johanson, als er die Türe schloss. Dann grinste er und schickte den Gedanken in die Verbannung. Er hatte schon zu viele Gelegenheiten genutzt, um sich beklagen zu können.


18. März

Vancouver und Vancouver Island, Kanada

Leon Anawak hielt den Atem an.

Komm schon, dachte er. Mach uns die Freude.

Es war das sechste Mal, dass der Beluga auf den Spiegel zuschwamm. Die kleine Gruppe Journalisten und Studenten, die sich im unterirdischen Beobachtungsraum des Vancouver Aquariums zusammengefunden hatte, verharrte in andächtiger Stille. Durch die riesige Scheibe konnten sie das Innere des Pools in seiner Gesamtheit überblicken. Schräg einfallende Sonnenstrahlen tanzten über Wände und Boden. Der Beobachtungsraum selber lag im Dunkeln, sodass die Wasseroberfläche Licht und Schatten in unstetem Spiel auf die Gesichter der Umstehenden zauberte.

Anawak hatte den Beluga mit ungiftiger Tinte markiert. Ein farbiger Kreis zierte jetzt seinen Unterkiefer. Die Stelle war so gewählt, dass der Wal sie nur sehen konnte, wenn er sein Spiegelbild betrachtete. Zwei Spiegel waren in die reflektierenden Glaswände des Pools eingelassen, und zu einem davon schwamm der Beluga jetzt in mäßigem Tempo. Er tat es mit einer Zielstrebigkeit, dass Anawak keinen Zweifel am Ausgang des Experiments hegte. Der weiße Körper drehte sich im Vorüberschwimmen leicht, als wolle der Wal den Betrachtern seine markierte Kinnlade präsentieren. Dann stoppte er vor der Glaswand und ließ sich ein Stück nach unten sinken, bis er auf gleicher Höhe mit dem Spiegel war. Er verharrte, stellte sich auf, bewegte den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung. Offenbar versuchte er herauszufinden, aus welchem Blickwinkel er den Kreis am besten sehen konnte. Eine ganze Weile schwebte er auf diese Weise vor dem Spiegel, bewegte die Flossen und drehte den kleinen Kopf mit der charakteristischen Stirnwölbung hin und her.

So wenig menschenähnlich der Beluga war, erinnerte er in diesen Sekunden auf geradezu unheimliche Weise an einen Menschen. Im Gegensatz zu Delphinen waren Belugas verschiedener Gesichtsausdrücke fähig. Augenblicklich schien der Wal sich zuzulächeln. Vieles von dem, was Menschen gerne in Delphine und Belugas hineininterpretierten, resultierte aus diesem vermeintlichen Lächeln. Tatsächlich entsprangen die hoch gezogenen Mundwinkel einer Reihe physiognomischer Eigentümlichkeiten, die der Kommunikation dienten. Belugas konnten die Mundwinkel ebenso herabziehen, ohne Missmut auszudrücken. Sie konnten sogar die Lippen spitzen und aussehen, als ob sie gut gelaunt vor sich hinpfiffen.

Im nächsten Moment verlor der Beluga das Interesse. Vielleicht war er zu dem Schluss gelangt, sein Spiegelbild hinreichend erforscht zu haben, jedenfalls stieg er in einer eleganten Kurve auf und entfernte sich von der Glasscheibe.

»Das war’s«, sagte Anawak leise.

»Und was heißt das jetzt?«, fragte eine Journalistin enttäuscht, nachdem der Wal nicht wiederkam.

»Er weiß, wer er ist. Gehen wir nach oben.«

Sie stiegen aus dem Untergrund zurück ins Sonnenlicht. Zu ihrer Linken lag der Pool, auf dessen Oberfläche sie nun blickten. Dicht unter den kräuseligen Wellen sahen sie die Körper der beiden Belugas dahingleiten. Anawak hatte bewusst darauf verzichtet, die Beobachter im Vorhinein über den exakten Ablauf des Experiments aufzuklären. Er ließ sich die Eindrücke der Teilnehmer schildern, um sicherzugehen, dass er nichts in das Verhalten des Wals hineininterpretierte, was ihn sein Wunschdenken hatte sehen lassen.

Seine Beobachtungen wurden ausnahmslos bestätigt.

»Gratuliere«, sagte er schließlich. »Sie haben soeben einem Experiment beigewohnt, das als Spiegel-Selbsterkennung in die Geschichte der Verhaltensforschung eingegangen ist. Ist jeder von Ihnen hinreichend damit vertraut?«

Die Studenten waren es, die Journalisten weniger.

»Macht nichts«, sagte Anawak. »Ich gebe Ihnen einen kurzen Abriss. Die Spiegel-Selbsterkennung datiert aus den Siebzigern. Jahrzehntelang beschränkten sich die Tests vornehmlich auf Primaten. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name Gordon Gallup etwas sagt …« Etwa die Hälfte der Umstehenden nickte, die anderen schüttelten den Kopf. »Nun, Gallup ist Psychologe an der State University von New York. Eines Tages kam er auf eine ziemlich verrückte Idee: Er konfrontierte verschiedene Affenarten mit ihrem Spiegelbild. Die meisten ignorierten es, andere versuchten es anzugreifen, weil sie dachten, es handle sich um einen fremden Eindringling. Einige Schimpansen erkannten sich schließlich im Spiegel und benutzten ihn, um sich selber zu erforschen. Das war bemerkenswert, denn die überwiegende Mehrheit im Tierreich ist nicht in der Lage, sich selber im Spiegel zu erkennen. Tiere existieren. Sie fühlen, agieren und reagieren. Aber sie sind sich ihrer selbst nicht bewusst. Sie können sich nicht als eigenständige Individuen wahrnehmen, die sich von ihren Artgenossen unterscheiden.«

Anawak erklärte weiter, wie Gallup die Stirn der Affen mit Farbe markiert und die Tiere dann vor den Spiegel gesetzt hatte. Die Schimpansen begriffen schnell, wen sie da im Spiegel sahen. Sie inspizierten die Markierung, betasteten die Stelle mit den Fingern und rochen daran. Gallup führte die Tests mit anderen Affen, Papageien und Elefanten durch. Doch die einzigen Tiere, die den Spiegeltest durchweg bestanden, waren Schimpansen und Orang-Utans, was Gallup zu der Schlussfolgerung brachte, dass sie über Selbstwahrnehmung und damit über ein gewisses Selbstbewusstsein verfügten.

»Gallup ging aber noch weiter«, erklärte Anawak. »Er hatte lange Zeit die Auffassung vertreten, Tiere könnten die Psyche anderer Spezies nicht nachempfinden. Aber die Spiegeltests änderten seine Meinung. Er glaubt heute nicht nur, dass sich bestimmte Tiere ihrer selbst bewusst sind, sondern auch, dass sie dieser Umstand in die Lage versetzt, sich in andere hineinzudenken. Schimpansen und Orang-Utans messen anderen Individuen Absichten bei und entwickeln Mitgefühl. Sie können von ihrem eigenen psychischen Befinden auf das anderer schließen. Das ist Gallups These, die mittlerweile eine große Anhängerschaft gefunden hat.«

Er machte eine Pause. Ihm war klar, dass er die Journalisten später würde einbremsen müssen. Er wollte nicht in wenigen Tagen lesen, Belugas seien bessere Psychiater, Tümmler hätten einen Club zur Rettung Schiffbrüchiger und Schimpansen einen Schachverein gegründet.

»Jedenfalls«, fuhr er fort, »ist es bezeichnend, dass bis in die Neunziger fast ausschließlich Landtiere für Spiegeltests herangezogen wurden. Dabei war über die Intelligenz von Walen und Delphinen zwar schon spekuliert worden, aber der Nachweis fand nicht unbedingt das Interesse der Nahrungsmittelindustrie. Affenfleisch und Affenfell sind nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung von Interesse. Die Jagd auf Wale und Delphine vereinbart sich hingegen schlecht mit Intelligenz und Selbstbewusstsein der Gejagten. Eine ganze Reihe von Leuten war nicht sonderlich begeistert, als wir vor wenigen Jahren begannen, Spiegeltests mit Tümmlern durchzuführen. Wir kleideten den Pool teils mit reflektierenden Glasscheiben aus, teils mit richtigen Spiegeln. Dann markierten wir die Tümmler mit einem schwarzen Stift. Es war erstaunlich genug, dass unsere Probanden so lange die Wände absuchten, bis sie die Spiegel gefunden hatten. Offenbar war ihnen klar, dass sie die Markierung umso deutlicher sehen konnten, je besser die Fläche ihr Spiegelbild reflektierte. Aber wir gingen noch weiter, indem wir die Tiere abwechselnd mit einem echten Farbstift kennzeichneten und mit einem, der nur Wasser enthielt. Es hätte ja sein können, dass die Tümmler einzig auf den taktilen Reiz des Stifts reagierten, aber tatsächlich verharrten sie länger und prüfender vor den Spiegeln, wenn die Markierung sichtbar war.«

»Erhielten die Tümmler Belohnungen?«, fragte einer der Studenten.

»Nein, und wir haben sie auch nicht für den Test trainiert. Wir haben während der Experimente sogar unterschiedliche Körperpartien markiert, um Lern— oder Gewöhnungseffekte auszuschließen. Seit wenigen Wochen führen wir nun den gleichen Testaufbau mit Belugas durch. Sechsmal haben wir den Wal markiert, zweimal mit dem Placebo-Stift. Sie haben gesehen, was geschah. Jedes Mal schwamm er zu dem Spiegel und suchte nach dem Symbol. Zweimal fand er keines vor und brach die Überprüfung vorzeitig ab. Meines Erachtens haben wir den Beweis erbracht, dass Belugas über den gleichen Grad der Selbsterkenntnis verfügen wie Schimpansen. Wale und Menschen könnten einander in einigen Punkten ähnlicher sein, als wir bisher dachten.«

Eine Studentin hob die Hand. »Sie wollen sagen …« Sie zögerte. »Die Ergebnisse wollen sagen, dass Delphine und Belugas über Geist und Bewusstsein verfügen, richtig?«

»So ist es.«

»Worin soll das begründet liegen?«

Anawak war verblüfft. »Haben Sie gerade nicht zugehört? Waren Sie vorhin nicht unten?«

»Doch, schon. Ich habe gesehen, dass ein Tier sein Spiegelbild registriert hat. Es weiß also, das bin ich. Schließen Sie daraus zwangsläufig auf Selbstbewusstsein?«

»Sie haben die Frage soeben selber beantwortet. Es weiß, das bin ich. Es hat ein Ich-Bewusstsein.«

»Das meine ich nicht.« Sie trat einen Schritt nach vorne. Anawak betrachtete sie unter gerunzelten Brauen. Sie hatte rotes Haar, eine kleine spitze Nase und leicht überdimensionierte Schneidezähne. »Ihr Versuch unterstellt Aufmerksamkeitsbewusstsein und Körperidentität. Wie es aussieht, mit Erfolg. Das muss noch lange nicht heißen, dass diese Tiere ein Bewusstsein permanenter Identität aufweisen und daraus irgendwelche Konsequenzen im Umgang mit anderen Lebewesen ableiten.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

»Doch. Sie haben Gallups These vertreten, dass bestimmte Tiere von sich selbst auf andere schließen können.«

»Affen.«

»Was nebenbei gesagt umstritten ist. Jedenfalls haben Sie keinerlei Einschränkungen gemacht, als Sie später über Tümmler und Belugas sprachen. Oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?«

»Man muss in diesem Fall nichts einschränken«, erwiderte Anawak verdrossen. »Dass die Tiere sich erkennen, ist bewiesen.«

»Einige Versuche lassen das vermuten, ja.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

Sie hob die Schultern und sah ihn aus runden Augen an.

»Na, ist das nicht offensichtlich? Sie können sehen, wie sich ein Beluga benimmt. Aber woher wollen Sie wissen, was er denkt? Ich kenne die Arbeit von Gallup. Er meint, bewiesen zu haben, dass sich ein Tier in ein anderes hineinversetzen kann. Das setzt voraus, dass Tiere ähnlich denken und empfinden wie wir. Was Sie uns heute gezeigt haben, ist der Versuch einer Vermenschlichung.«

Anawak war sprachlos. Ausgerechnet damit wollte sie ihm kommen. Mit seinem eigenen Argument.

»Hatten Sie wirklich diesen Eindruck?«

»Sie haben gesagt, Wale könnten uns möglicherweise ähnlicher sein, als wir bisher dachten.«

»Warum hören Sie nicht besser hin, Miss …«

»Delaware. Alicia Delaware.«

»Miss Delaware.« Anawak sammelte sich. »Ich sagte, Wale und Menschen könnten einander ähnlicher sein, als wir dachten.«

»Wo ist der Unterschied?«

»Im Standpunkt. Wir wollen nicht beweisen, dass Wale den Menschen umso ähnlicher werden, je mehr Parallelen wir herausarbeiten. Es geht nicht darum, den Menschen als Idealbild hinzustellen, sondern grundsätzliche Verwandtschaften …«

»Ich glaube aber nicht, dass das Selbstbewusstsein eines Tiers mit dem des Menschen vergleichbar ist. Die Grundvoraussetzungen liegen einfach zu weit auseinander. Es fängt damit an, dass Menschen ein permanentes Ich-Bewusstsein haben, durch das sie …«

»Falsch«, unterbrach sie Anawak. »Auch Menschen entwickeln ein ständiges Bewusstsein von sich selber nur unter bestimmten Bedingungen. Das ist nachgewiesen. Im Alter von 18 bis 24 Monaten beginnen Kleinkinder, ihr Abbild im Spiegel zu erkennen. Bis dahin sind sie außerstande, über ihr Ich-Sein zu reflektieren. Sie sind sich ihres eigenen Geisteszustands nicht bewusst, weniger als dieser Wal, den wir eben gesehen haben. Und hören Sie auf, sich ständig nur auf Gallup zu beziehen. Wir bemühen uns hier, die Tiere zu verstehen. Worum bemühen Sie sich eigentlich?«

»Ich wollte doch nur …«

»Sie wollten? Wissen Sie, wie es auf einen Beluga wirken würde, wenn Sie sich im Spiegel betrachten? Sie bemalen sich das Gesicht, was soll er davon halten? Er wird schlussfolgern, dass Sie die Person im Spiegel identifizieren können. Alles andere wird ihm idiotisch vorkommen. Je nachdem, wie Ihr Geschmack in Sachen Kleidung und Make-up beschaffen ist, wird er sogar bezweifeln, dass Sie Ihr Spiegelbild erkennen können. Er wird Ihren Geisteszustand in Frage stellen.«

Alicia Delaware errötete. Sie setzte zu einer Antwort an, aber Anawak ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Natürlich sind diese Tests nur ein Anfang«, sagte er. »Niemand, der Wale und Delphine ernsthaft erforscht, will den Mythos vom feuchtfröhlichen Menschenfreund wiederbeleben. Wahrscheinlich haben Wale und Delphine an Menschen nicht mal ein sonderliches Interesse, eben weil sie in einem anderen Lebensraum existieren, andere Bedürfnisse haben und aus einer anderen Evolution hervorgegangen sind als wir. Aber wenn unsere Arbeit dazu beiträgt, ihnen mehr Respekt einzuhandeln und sie auf diese Weise besser schützen zu können, ist sie jede Anstrengung wert.«

Er beantwortete noch einige Fragen und tat es so knapp wie möglich. Alicia Delaware hielt sich mit betretener Miene im Hintergrund. Schließlich verabschiedete sich Anawak von der Gruppe und wartete, bis alle außer Sichtweite waren. Danach besprach er sich mit seinem wissenschaftlichen Team, legte die nächsten Termine fest und die weitere Vorgehensweise. Endlich allein, trat er an den Rand des Bassins, atmete tief durch und entspannte sich.

Öffentlichkeitsarbeit lag ihm nicht besonders. Aber er würde in Zukunft nicht drum herumkommen. Seine Karriere verlief allzu planmäßig. Sein Ruf als Erneuerer der Intelligenzforschung eilte ihm voraus. Also würde er sich weiterhin mit den Alicia Delawares dieser Welt herumstreiten müssen, die frisch von der Uni kamen und vor lauter Büchern keinen Liter Meerwasser von innen gesehen hatten.

Er ging in die Hocke und strich mit den Fingern durch das kühle Wasser des Beluga-Beckens. Es war früh am Morgen. Sie führten die Tests und wissenschaftlichen Führungen vorzugsweise durch, bevor das Aquarium öffnete oder nachdem es schloss. Nach den wochenlangen Regenfällen prunkte der März mit einer Reihe ausnehmend schöner Tage, und die frühe Sonne legte sich angenehm warm auf Anawaks Haut.

Was hatte diese Studentin gesagt? Er versuche, die Tiere zu vermenschlichen?

Der Vorwurf nagte an ihm. Anawak hielt sich zugute, Wissenschaft nüchtern zu betreiben. Sein ganzes Leben betrachtete er mit größtmöglicher Nüchternheit. Er trank nicht, ging nicht auf Partys und drängte sich nicht in den Vordergrund, um mit spekulativen Thesen um sich zu werfen. Weder glaubte er an Gott noch akzeptierte er irgendeine Form religiös geprägten Verhaltens. Jede Art von Esoterik war ihm zuwider. Er vermied es, menschliche Wertvorstellungen auf Tiere zu projizieren, wo er nur konnte. Insbesondere Delphine wurden zunehmend Opfer einer romantischen Vorstellung, die nicht minder gefährlich war als Hass und Arroganz: dass sie sich als die besseren Menschen erweisen und die Menschen sich bessern könnten, indem sie versuchten, Walen und Delphinen nachzueifern. Derselbe Chauvinismus, der sich in beispielloser Brutalität ausdrückte, brachte die rückhaltlose Vergötterung hervor, der sich Delphine ausgesetzt sahen. Sie wurden entweder zu Tode gequält oder zu Tode geliebt.

Ausgerechnet seinen eigenen Standpunkt hatte ihm diese hasenzähnige Miss Delaware beibiegen wollen.

Anawak plätscherte weiterhin mit der Hand im Wasser. Nach einer Weile kam der markierte Beluga zu ihm geschwommen. Das Tier war ein vier Meter langes Weibchen. Es streckte den Kopf heraus und ließ sich tätscheln. Dabei stieß es leise Pfeiflaute aus. Anawak fragte sich, ob der Beluga irgendeine menschliche Empfindung teilte und nachvollziehen konnte. Tatsächlich gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Insofern hatte Alicia Delaware erst einmal Recht.

Aber ebenso wenig existierte ein Beweis dafür, dass er es nicht konnte.

Der Beluga stieß ein Zwitschern aus und zog sich unter die Wasseroberfläche zurück. Ein Schatten war auf Anawak gefallen. Er wandte den Kopf und sah ein paar bestickte Cowboystiefel neben sich.

Oh nein, dachte er. Nicht auch das noch!

»Na, Leon«, sagte der Mann, der zu ihm an den Beckenrand getreten war. »Wen malträtieren wir denn heute?«

Anawak richtete sich auf und musterte den Neuankömmling. Jack Greywolf sah aus, als sei er einem Neowestern entsprungen. Seine hünenhafte, muskelbepackte Gestalt steckte in einem speckigen Lederanzug. Indianerschmuck baumelte über der schrankbreiten Brust. Unter dem federgeschmückten Hut fiel schwarzes, seidig schimmerndes Haar über Schultern und Rücken. Es war das Einzige, was an Jack Greywolf gepflegt wirkte, der ansonsten wie üblich den Anschein erweckte, als habe er sich wochenlang ohne Wasser und Seife durch die Prärie geschlagen. Anawak sah in das braun gebrannte Gesicht mit dem spöttischen Grinsen und lächelte dünn zurück.

»Wer hat dich denn reingelassen, Jack? Der große Manitou?«

Greywolf grinste noch breiter.

»Sondergenehmigung«, sagte er.

»Ach ja? Seit wann?«

»Seit wir die päpstliche Erlaubnis haben, euch auf die Finger zu hauen. Quatsch, Leon, ich bin vorne reingegangen wie alle anderen auch. Sie haben vor fünf Minuten aufgemacht.«

Anawak sah verwirrt auf die Uhr. Greywolf hatte Recht. Er hatte am Belugabecken die Zeit vergessen.

»Ich hoffe, es ist ein zufälliges Zusammentreffen«, sagte er.

Greywolf spitzte die Lippen. »Nicht ganz.«

»Also wolltest du zu mir?« Anawak setzte sich langsam in Bewegung und zwang Greywolf, ihm zu folgen. Die ersten Besucher schlenderten durch die Anlage. »Was kann ich für dich tun?«

»Du weißt genau, was du für mich tun kannst.«

»Dieselbe alte Leier?«

»Schließ dich uns an.«

»Vergiss es.«

»Komm schon, Leon, du bist doch einer von uns. Du kannst kein Interesse daran haben, dass ein Haufen reicher Arschlöcher Wale zu Tode fotografiert.«

»Habe ich auch nicht.«

»Die Leute hören auf dich. Wenn du dich offiziell gegen das Whale Watching aussprichst, wird die Diskussion ein anderes Gewicht erhalten. Jemand wie du könnte uns sehr nützen.«

Anawak blieb stehen und sah Greywolf herausfordernd in die Augen.

»Ganz recht. Euch könnte ich nützen. Ich will aber niemandem nützen außer denen, die es nötig haben.«

»Da!« Greywolf zeigte mit ausgestrecktem Arm zum Belugabecken. »Die haben es nötig! Ich könnte kotzen, wenn ich dich hier sehe. In trauter Eintracht mit Gefangenen! Ihr sperrt sie ein oder hetzt sie, das ist Mord auf Raten. Jedes Mal, wenn ihr rausfahrt mit euren Booten, tötet ihr die Tiere ein bisschen mehr.« »Bist du eigentlich Vegetarier?« »Was?« Greywolf blinzelte verwirrt. »Ich frage mich außerdem gerade, wem sie für deine Jacke die Haut abgezogen haben.« Er ging weiter. Greywolf blieb einen Moment verblüfft stehen, dann kam er Anawak mit großen Schritten hinterher.

»Das ist etwas anderes. Die Indianer haben immer in Einklang mit der Natur gelebt. Sie haben aus den Häuten der Tiere …«

»Erspar’s mir.«

»Es ist aber so.«

»Soll ich dir sagen, was dein Problem ist, Jack? Genau genommen hast du zwei. Erstens, du hängst dir das Mäntelchen des Umweltschutzes um, aber stattdessen führst du einen Stellvertreterkrieg für Indianer, die ihre Angelegenheiten längst schon anders geregelt haben. Dein zweites Problem ist, dass du gar kein richtiger Indianer bist.«

Greywolf erbleichte. Anawak wusste, dass sein Gegenüber schon verschiedene Male wegen Körperverletzung vor Gericht gestanden hatte. Er fragte sich, wie weit er den Riesen würde reizen können. Ein Schlag von Greywolf mit der flachen Hand war geeignet, jede Auseinandersetzung nachhaltig zu beenden.

»Warum erzählst du eine solche Scheiße, Leon?«

»Du bist Halbindianer«, sagte Anawak. Er blieb vor dem Becken der Seeotter stehen und sah zu, wie die dunklen Körper torpedogleich durchs Wasser flitzten. Ihr Fell glänzte im frühen Sonnenlicht. »Nein, nicht mal das. Du bist in etwa so indianisch wie ein sibirischer Eisbär. Das ist dein Problem, weil du nicht weißt, wo du hingehörst, weil du nichts auf die Reihe kriegst, weil du glaubst, mit deinem Umweltgetue ein paar Leuten ans Bein pissen zu können, die du dafür verantwortlich machst. Lass mich da raus.«

Greywolf blinzelte in die Sonne.

»Ich kann dich nicht hören, Leon«, sagte er. »Warum höre ich keine Worte? Ich höre immer nur Mist. Geräusche. Geprassel, als wenn einer eine Schubkarre voller Kieselsteine auf ein Wellblechdach entleert.«

»Hugh!«

»Zum Teufel, wir sollten uns nicht streiten. Was will ich denn von dir? Nur ein bisschen Unterstützung!«

»Ich kann dich nicht unterstützen.«

»Schau, ich bin sogar so freundlich und komme, um unsere nächste Aktion anzukündigen. Ich müsste das nicht tun.«

Anawak horchte auf. »Was habt ihr denn vor?«

»Tourist Watching.« Greywolf lachte schallend. Seine weißen Zähne blitzten wie Elfenbein.

»Und was soll das sein?«

»Na ja, wir kommen raus und fotografieren deine Touristen. Wir bestaunen sie. Wir fahren ganz dicht ran und versuchen sie anzupacken. Sie sollen sich eine Vorstellung davon machen, wie es ist, begafft und betatscht zu werden.«

»Das kann ich verbieten lassen.«

»Das kannst du nämlich nicht, weil dies ein freies Land ist. Wir lassen uns von niemandem vorschreiben, wann und wohin wir mit unseren Booten fahren. Verstehst du? Die Aktion ist vorbereitet und beschlossen, aber wenn du uns ein bisschen entgegenkommst, könnte ich darüber nachdenken, sie abzublasen.«

Anawak starrte ihn an. Dann wandte er sich ab und ging weiter. »Es kommen ohnehin keine Wale«, sagte er.

»Weil ihr sie vertrieben habt.«

»Nichts haben wir.«

»Ach richtig, der Mensch ist niemals schuld. Es liegt an den blöden Tieren. Ständig schwimmen sie in herumfliegende Harpunen oder stellen sich in Positur, weil sie Fotos fürs Familienalbum wollen. Aber ich hörte, sie kommen wieder. Sind nicht in den letzten Tagen ein paar Buckelwale aufgekreuzt?«

»Ein paar.«

»Euer Geschäft dürfte bald auf der Nase liegen. Willst du riskieren, dass wir die Umsatzkurve noch weiter runterfahren?«

»Leck mich, Jack.«

»He, das ist mein letztes Angebot.«

»Wie beruhigend.«

»Verdammt nochmal! Leon! Dann leg wenigstens irgendwo ein gutes Wort für uns ein! Wir brauchen Geld. Wir finanzieren uns aus Spenden. — Leon! Bleib doch mal stehen. Es geht um eine gute Sache, willst du das denn nicht begreifen? Wir wollen doch beide dasselbe.«

»Wir wollen nicht dasselbe. Guten Tag, Jack.«

Anawak beschleunigte seinen Schritt. Am liebsten wäre er gerannt, aber er wollte Greywolf nicht das Gefühl geben, als laufe er vor ihm davon. Der Umweltschützer blieb stehen.

»Du stures Aas!«, rief er ihm hinterher.

Anawak gab keine Antwort. Zielstrebig passierte er das Delphinarium und hielt auf den Ausgang zu. »Leon, weißt du, was dein Problem ist? Ich bin vielleicht kein richtiger Indianer, aber deines ist, dass du einer bist!«

»Ich bin kein Indianer«, murmelte Anawak.

»Ach, Verzeihung!«, schrie Greywolf, als hätte er ihn gehört. »Du bist ja was ganz Besonderes. Warum bist du dann nicht da, wo du herkommst und wo man dich braucht?«

»Arschloch«, zischte Anawak. Er kochte vor Wut. Erst diese renitente Ziege und dann Jack Greywolf. Es hätte ein schöner Tag werden können, begonnen mit einem erfolgreich durchgeführten Test. Stattdessen fühlte er sich ausgehöhlt und unglücklich.

Wo du herkommst …

Was maßte sich der hirnlose Muskelberg an? Woher nahm er die Frechheit, ihm seine Herkunft vorzuhalten?

Wo man dich braucht!

»Ich bin da, wo man mich braucht«, schnaubte Anawak.

Eine Frau ging an ihm vorbei und starrte ihn irritiert an. Anawak sah sich um. Er stand draußen auf der Straße. Immer noch zitternd vor Wut ging er zu seinem Wagen, fuhr zur Anlegestelle nach Tsawwassen und nahm die Fähre zurück nach Vancouver Island.

Tags darauf war er früh auf den Beinen. Um sechs hatte er nicht mehr schlafen können, einige Minuten gegen die niedrige Decke der Koje gestarrt und beschlossen, zur Station zu gehen.

Rosa Wolken waren über den Horizont gesponnen. Der Himmel begann sich langsam aufzuhellen. Im spiegelglatten Wasser zeichneten sich die umliegenden Berge, Stelzenhäuser und Boote dunkel ab. In wenigen Stunden würden sich die ersten Touristen einfinden. Anawak ging ans Ende des Stegs zu den Zodiacs, stützte sich auf das hölzerne Geländer und sah eine Weile hinaus. Er liebte die friedliche Stimmung, wenn die Natur vor den Menschen erwachte. Niemand ging einem auf die Nerven. Leute wie Stringers unerträglicher Freund lagen im Bett und hielten die Klappe. Wahrscheinlich schlief auch Alicia Delaware den Schlaf der Ignoranz.

Und Jack Greywolf.

Dessen Worte allerdings hallten in Anawak nach. Greywolf mochte ein ausgemachter Idiot sein, aber leider hatte er es wieder mal geschafft, den Finger in die Wunde zu legen.

Zwei kleine Kutter zogen vorbei. Anawak überlegte, ob er Stringer anrufen und überreden sollte, mit ihm rauszufahren. Es waren tatsächlich die ersten Buckelwale gesichtet worden. Offenbar trudelten sie mit enormer Verspätung ein, was einerseits erfreulich war, andererseits nicht erklärte, wo sie die ganze Zeit über gesteckt hatten. Vielleicht gelang es, ein paar zu identifizieren. Stringer hatte ein gutes Auge, und außerdem mochte er ihre Gesellschaft. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die Anawak nicht in den Ohren lagen mit seiner Herkunft: ob er Indianer sei. Oder doch eher Asiate. Oder sonst was.

Samantha Crowe hatte ihn danach gefragt. Seltsam, ihr hätte er möglicherweise mehr von sich erzählt. Aber die SETI-Forscherin trat wohl in diesen Stunden den Rückweg nach Hause an.

Du denkst zu viel nach, Leon.

Anawak beschloss, Stringer schlafen zu lassen und auf eigene Faust loszufahren. Er ging in die Station und verstaute einen akkubetriebenen Laptop zusammen mit Kamera und Feldstecher, Rekorder, Hydrophon und Kopfhörern sowie eine Stoppuhr in einer wasserfesten Tasche. Dann packte er einen Müsliriegel und zwei Dosen Eistee mit hinein und brachte alles hinaus zur Blue Shark. Gemächlich ließ er das Boot durch die Lagune tuckern und beschleunigte erst, als die Häuser des Orts zurückblieben. Der Bug des Zodiacs stellte sich hoch. Wind schlug ihm ins Gesicht und fegte die trüben Gedanken aus seinem Kopf.

Ohne Passagiere und Zwischenstopps ging alles schneller. Nach knapp zwanzig Minuten steuerte er zwischen einer Gruppe winziger Inselchen hinaus aufs anthrazitsilbrige Meer. Weit auseinander gezogene Wogen rollten träge herein. Er drosselte den Motor und fuhr mit verminderter Geschwindigkeit weiter. Während sich das Zodiac im heraufdämmernden Morgen von der Küste entfernte, hielt er Ausschau und versuchte, der zur Gewohnheit gewordenen Mutlosigkeit keinen Raum zu geben. Definitiv waren Wale gesichtet worden. Keine Residents. Migranten aus Kalifornien und Hawaii.

Weiter draußen stellte er den Motor ab. Sofort umfing ihn perfekte Stille. Er öffnete eine Dose Eistee, trank sie aus und setzte sich mit dem Feldstecher in den Bug.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er etwas zu sehen glaubte, aber die dunkle Wölbung war sofort wieder verschwunden.

»Zeig dich«, flüsterte er. »Ich weiß, dass du da bist.«

Angestrengt suchte er den Ozean ab. Minutenlang tat sich nichts. Dann hoben sich in einiger Entfernung nacheinander zwei flache Silhouetten aus dem Wasser. Geräusche wie von Flintenschüssen hallten herüber. Über den Buckeln stiegen weiße Dampfwolken auf wie Mündungsqualm. Anawak starrte mit runden Augen hinaus.

Buckelwale.

Er begann zu lachen. Er lachte vor Glück. Wie alle erfahrenen Cetologen konnte er die Art eines Wals an seinem Blas erkennen. Bei Großwalen umfasste der Gaswechsel jedes Mal einige Kubikmeter. Die alte Lungenfüllung wurde komprimiert und aus den engen Blaslöchern regelrecht herausgeschossen. Im Freien dehnte sie sich aus, kühlte zugleich ab und kondensierte zu einem sprayartigen Tröpfchennebel. Form und Höhe des Blas konnten innerhalb einer Art differieren, je nach Tauchzeit und Größe des Tiers, und auch der Wind spielte eine Rolle. — Aber das hier waren eindeutig die charakteristischen buschigen Kondenswolken von Buckelwalen.

Anawak klappte den Laptop auf und startete das Programm. Er hatte die Steckbriefe hunderter Wale gespeichert, die regelmäßig hier vorbeizogen. Das wenige, was sie an der Oberfläche zeigten, lieferte dem ungeübten Auge kaum Hinweise auf die Art, geschweige denn auf einzelne Individuen. Hinzu kam, dass die Sicht oft durch raue See, Dunst, Regen oder gleißendes Sonnenlicht erschwert wurde. Dennoch besaß jedes Tier seine Kennung. Der einfachste Weg, es zu identifizieren, war die Fluke. Beim Abtauchen reckte es sie oft weit aus dem Wasser. Keine Unterseite glich der anderen. Jede war mit einem charakteristischen Muster versehen und wich in Form und Struktur der Kante leicht bis deutlich ab. Viele der Fluken hatte Anawak im Kopf gespeichert, aber der Laptop mit seinem Fotoarchiv machte die Arbeit natürlich leichter.

Er war beinahe sicher, in den beiden Walen dort draußen alte Bekannte gefunden zu haben.

Nach einer Weile tauchten die schwarzen Rücken wieder auf. Zuerst, kaum sichtbar, erschienen die kleinen Erhebungen mit den Blaslöchern. Wieder das knallende Zischen, fast synchron hervorschießende Atemwolken. Diesmal ließen sich die Tiere nicht gleich wieder unter Wasser sinken, sondern hoben ihre Buckel weit hinaus. Flache, abgestumpfte Rückenfinnen wurden sichtbar, neigten sich träge nach vorn und schnitten wieder ins Wasser. Deutlich erkannte Anawak den vom Rückgrat gezackten Hinterleib. Die Wale begannen abzutauchen, und jetzt endlich hoben sie gemächlich ihre Fluken aus dem Wasser.

Rasch setzte er den Feldstecher an die Augen und versuchte, einen Blick auf die Unterseiten zu erhaschen, aber es gelang ihm nicht. Egal. Sie waren dort. Die erste Tugend eines Walbeobachters hieß Geduld, und bis zum Eintreffen der Touristen blieb noch reichlich Zeit. Er öffnete die zweite Dose Eistee und biss in seinen Riegel.

Schon nach kurzer Zeit wurde seine Geduld belohnt, als nicht weit vom Boot plötzlich fünf Buckel durchs Wasser pflügten. Anawak fühlte sein Herz schneller schlagen. Die Tiere waren nun sehr nahe. Voller Spannung wartete er auf die Fluken. So sehr nahm ihn das Schauspiel gelangen, dass er die monumentale Silhouette neben dem Boot zuerst nicht wahrnahm. Aber die Silhouette wuchs über ihn hinaus, bis er schließlich den Kopf wandte — und zusammenzuckte.

Er vergaß die fünf Buckel und sperrte den Mund auf.

Der Schädel des Wals hatte sich nahezu lautlos aus den Fluten gehoben. Er war so nahe, dass er den Gummiwulst des Bootes fast berührte. Mehr als dreieinhalb Meter ragte er in die Höhe, das geschlossene, furchige Maul bewachsen mit Seepocken und knotigen Verdickungen. Über dem herabgezogenen Mundwinkel starrte ein faustgroßes Auge den Insassen des Zodiacs an, beinahe auf Gesichtshöhe. Die Ansätze der mächtigen Brustflossen waren über den Wellen zu sehen.

Reglos wie ein Felsen stach der Kopf heraus.

Es war das beeindruckendste Willkommen, das Anawak je widerfahren war. Mehr als einmal hatte er die Tiere aus unmittelbarer Nähe gesehen. Er hatte sich ihnen auf Tauchgängen genähert, sie berührt und sich an ihnen festgehalten. Er war auf ihnen geritten. Oft genug steckten Grauwale, Buckelwale oder Orcas den Kopf in unmittelbarer Nähe eines Bootes aus dem Wasser, um nach Landmarken Ausschau zu halten und Zodiacs zu begutachten.

Aber das hier war anders.

Fast kam es Anawak so vor, als beobachte nicht er den Wal, sondern der Wal ihn. Das Boot schien den Riesen nicht zu interessieren. Sein Auge, eingebettet in runzlige Lider wie das eines Elefanten, musterte ausschließlich die Person im Innern. So scharf der Wal unter Wasser sah, verdammte ihn die starke Wölbung seiner Linse zur Kurzsichtigkeit, sobald er sein angestammtes Element verließ. Auf diese nahe Distanz jedoch musste er Anawak ebenso klar wahrnehmen wie dieser ihn.

Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, streckte er die Hand aus und strich über die glatte, feuchte Haut. Der Wal machte keine Anstalten, wieder abzutauchen. Sein Auge rollte leicht hin und her und heftete sich dann wieder auf Anawak. Es war eine Szene von beinahe grotesker Intimität. So glücklich ihn der Augenblick machte, fragte sich Anawak, was das Tier mit einer derart langen Observierung bezweckte. Im Allgemeinen dauerten die Rundumblicke der Säuger nur wenige Sekunden. Es kostete sie Kraft, so lange senkrecht zu verharren.

»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte er leise.

Ein kaum hörbares Plätschern erklang von der anderen Seite des Zodiacs. Anawak drehte sich um, gerade rechtzeitig, um einen weiteren Kopf in die Höhe wachsen zu sehen. Der zweite Wal war etwas kleiner, aber ebenso nahe. Auch er nahm Anawak mit seinem dunklen Auge ins Visier.

Er vergaß, das andere Tier zu streicheln.

Was wollten sie?

Allmählich begann er sich unwohl zu fühlen. Diese starre Inaugenscheinnahme war ganz und gar ungewöhnlich, um nicht zu sagen bizarr. Nie zuvor hatte Anawak etwas Gleichartiges erlebt. Dennoch bückte er sich zu seiner Tasche, zog schnell die kleine Digitalkamera hervor, hielt sie hoch und sagte: »Schön so bleiben.«

Vielleicht hatte er einen Fehler begangen. Wenn ja, war es das erste Mal in der Geschichte des Whale Watching, dass Buckelwale eine offensichtliche Aversion gegen Kameras an den Tag legten. Wie auf Kommando tauchten die beiden riesigen Köpfe ab. Zwei Inseln gleich versanken sie im Meer. Ein leises Gurgeln und Schmatzen, ein paar Blasen, und Anawak war wieder allein auf der schimmernden Weite.

Er sah sich um.

Über der nahen Küste ging die Sonne auf. Dunst hing zwischen den Bergen. Die flache Dünung des Meeres tönte sich blau.

Keine Wale.

Stoßartig ließ Anawak den Atem entweichen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sein Herz wie wild pochte. Er legte die Kamera zurück in die geöffnete Tasche, nahm erneut den Feldstecher zur Hand und überlegte es sich anders. Seine beiden neuen Freunde konnten nicht weit sein. Er holte den Rekorder hervor, setzte die Kopfhörer auf und ließ das Hydrophon langsam ins Wasser gleiten. Unterwassermikrophone waren so empfindlich, dass sie noch die Geräusche aufsteigender Luftblasen erfassten. Im Kopfhörer rauschte, pluckerte und dröhnte es, aber nichts ließ auf Wale schließen. Anawak verharrte in Erwartung ihrer charakteristischen Laute, doch alles blieb ruhig.

Schließlich zog er das Hydrophon wieder an Bord.

Nach einer Weile sah er weit draußen einige Atemwolken. Dabei blieb es. Ob es ihm passte oder nicht, es wurde Zeit, umzukehren.

Auf halbem Wege nach Tofino stellte er sich vor, wie wohl Touristen auf das Schauspiel reagiert hätten. Wie sie reagieren würden, wenn es sich wiederholte. Es würde sich herumsprechen. Davies und seine dressierten Wale.

Sie würden sich vor Anfragen kaum retten können.

Phantastisch!

Während das Zodiac eine Schneise ins glatte Wasser der Bucht riss, durchwanderte sein Blick die umliegenden Wälder.

Irgendwie ein bisschen zu phantastisch.


23. März

Trondheim, Norwegen

Sigur Johanson wurde aus dem Schlaf gerissen. Es schellte. Er tastete irrtümlich nach dem Wecker, bis ihm klar wurde, dass es das Telefon war. Fluchend und augenreibend richtete er sich auf. Sein Orientierungssinn wollte sich nicht recht einstellen, und er kippte wieder nach hinten. In seinem Schädel drehte sich alles.

Was war los gewesen gestern Abend? Sie waren versackt, er und ein paar Kollegen. Studenten waren auch dabei gewesen. Dabei hatten sie nur zu Abend essen wollen im Havfruen, einem umgebauten Speicher nahe der Garnie Bybru, der alten Stadtbrücke. Im Havfruen gab es köstliche Fischgerichte und einige gute Weine. Einige sehr gute Weine, wie er sich plötzlich erinnerte. Sie hatten am Fenster gesessen und auf den Fluss hinausgesehen mit seinen stromaufwärts gelegenen Piers und kleinen Privatbooten, hatten den Lauf der Nidelva verfolgt, wie sie gemächlich in den nahen Trondheimfjord floss, und auch in ihre Kehlen war einiges geflossen. Jemand hatte angefangen, Witze zu erzählen. Danach war Johanson mit dem Patron in einen feuchten Keller hinabgestiegen und hatte sich gut gelagerte Schätze zeigen lassen, die der Chef gemeinhin nicht rausrückte.

Das Problem dieses frühen Morgens schien unter anderem darin zu bestehen, dass er sie am Ende doch rausgerückt hatte.

Johanson seufzte.

Ich bin sechsundfünfzig, dachte er, während er sich hochstemmte und diesmal aufrecht sitzen blieb. Ich sollte so was nicht mehr tun. Nein, falsch, ich sollte es tun, aber niemand sollte mich so früh anrufen, nachdem ich es getan habe.

Es schellte weiter. Hartnäckig. Unter übertriebenem Ächzen, wie er zugeben musste — zumal niemand anwesend war, es zu hören —, stellte er sich auf die Beine und gelangte taumelig ins Wohnzimmer. Hatte er heute Vorlesung? Der Gedanke traf ihn wie eine Faust. Schrecklich! Grauenhafte Vorstellung, da vorne zu stehen und exakt so alt auszusehen, wie er war, kaum fähig, das Kinn von der Brust zu heben. Er würde sich mit seinem Hemdkragen und seiner Krawatte unterhalten, sofern seine Zunge es überhaupt gestattete. Augenblicklich lag sie pelzig in seinem Mund und schien allem abgeneigt, was mit Bewegung und Artikulation einherging.

Als er endlich den Hörer abnahm, fiel ihm plötzlich ein, dass Samstag war. Seine Laune besserte sich schlagartig.

»Johanson«, meldete er sich überraschend klar.

»Mein Gott, brauchst du lange«, sagte Tina Lund.

Johanson verdrehte die Augen und sank in den Fernsehsessel. »Wie viel Uhr ist es?«

»Halb sieben. Warum?«

»Es ist Samstag.«

»Ich weiß, dass Samstag ist. Hast du irgendwas? Du klingst nicht besonders gut.«

»Ich bin auch nicht besonders gut drauf. Was willst du um diese nebenbei gesagt völlig indiskutable Uhrzeit?«

Lund kicherte.

»Ich wollte dich überreden, raus nach Tyholt zu kommen.«

»Ins Institut? Wozu, um alles in der Welt?«

»Ich dachte, es wäre nett, zusammen frühstücken zu gehen. Kare ist für ein paar Tage in Trondheim, er würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.« Sie machte eine kleine Pause. »Außerdem wollte ich dich was fragen.«

»War mir schon klar. Es sieht dir nicht ähnlich, einfach mit mir frühstücken zu gehen.«

»Nein, du verstehst mich falsch. Ich wollte deine Meinung zu etwas hören.«

»Zu was?«

»Nicht am Telefon. Kommst du?«

»Gib mir eine Stunde«, sagte Johanson und gähnte, bis er fürchtete, seine Kiefer überdehnt zu haben. »Nein, gib mir zwei. Ich will nochmal zur Uni. Möglicherweise sind weitere Befunde über deine Würmer eingetroffen.«

»Das wäre gut. Ist das nicht irre? Erst war ich es, die alle verrückt gemacht hat, jetzt ist es umgekehrt. Okay, lass dir Zeit, aber mach schnell.«

»Zu Befehl«, murmelte Johanson.

Er schlich, immer noch von Schwindelanfällen gepackt, unter die Dusche. Nach einer halben Stunde ausgiebigen Plantschens und Prustens fühlte er sich allmählich frischer. Einen wirklichen Kater hatten die Weine nicht hinterlassen. Es war mehr, als hätten sie seiner Sensorik zugesetzt. Vor dem Spiegel schien er sich kurzfristig zu verdoppeln. Es war fraglich, ob er in diesem Zustand Auto fahren konnte.

Er würde es eben ausprobieren.

Draußen war es sonnig und warm. Die Kirkegata präsentierte sich nahezu menschenleer. Im frühen Licht erstrahlten die Farben der Häuser und das erste Grün der Bäume ungewöhnlich intensiv. Trondheim schien sich einer Generalprobe für den Frühling zu unterziehen. Im ungewöhnlich schönen Wetter war der restliche Schnee geschmolzen. Johanson stellte fest, dass ihm dieser Tag ausnehmend gut gefiel. Plötzlich gefiel ihm sogar der Umstand, dass Lund ihn geweckt hatte. Er begann Vivaldi zu pfeifen, weil das die unvermittelt hereingebrochene gute Laune noch verbesserte und keine großen Ansprüche an Geist und Physis stellte, während er den Jeep den Gloshaugen hinaufsteuerte. An Wochenenden war die NTNU offiziell geschlossen, aber daran hielt sich so gut wie niemand. Genau genommen war es die beste Zeit, seine Post und E-Mails zu sichten und ungestört zu arbeiten.

Johanson betrat die Poststelle, durchstöberte sein Fach und zog ein dickes Kuvert hervor. Der Brief kam vom Frankfurter Senckenberg-Museum. Mit einiger Sicherheit enthielt er den labortechnischen Befund, auf den Lund so sehnsüchtig wartete. Er steckte ihn ein, ohne ihn zu öffnen, verließ die Uni wieder und fuhr nach Tyholt.

Marintek, das Marinetechnische Institut, war eng verwoben mit der NTNU, Sintef und dem Statoil-Forschungszentrum. Neben diversen Simulationstanks und Wellentunneln lag hier das größte zu Forschungszwecken genutzte Meerwasserbecken der Welt. Wind und Wellen wurden in Modellskalen simuliert. So ziemlich jede größere schwimmende Produktionseinrichtung auf dem norwegischen Sockel war in dem achtzig Meter langen und zehn Meter tiefen Becken erprobt worden. Zwei Wellenerzeugungssysteme schufen Strömungen und Stürme im Miniaturformat mit bis zu ein Meter hohen Wogen, die aus dem Sichtwinkel einer Modellplattform verheerende Ausmaße annahmen. Johanson schätzte, dass Lund hier auch die Unterwasserfabrik testete, die am Kontinentalhang entstehen sollte.

Tatsächlich fand er sie in der Bassinhalle, wo sie mit einer Gruppe Wissenschaftler zusammenstand und debattierte. Die Szenerie mutete skurril an. Im grünen Wasser schwammen Taucher zwischen Bohrplattformen im Spielzeugformat hindurch. Minitanker kreuzten zwischen Fachpersonal in Ruderbooten. Das Ganze war augenscheinlich eine Mischung aus Labor, Spielzeuggeschäft und sommerlicher Kahnpartie, aber der Eindruck täuschte. Ohne den Segen Marinteks fand im Offshore-Bereich so gut wie gar nichts statt.

Lund sah ihn und brach ihre Unterhaltung ab. Sie kam zu ihm herüber, wobei sie das Becken umrunden musste. Wie üblich erledigte sie den Gang im Laufschritt.

»Warum hast du nicht einen der Kähne genommen?«, fragte Johanson.

»Wir sind hier nicht auf dem Weiher«, erwiderte sie. »Das muss alles koordiniert sein. Wenn ich da durchrausche, verlieren hunderte Ölarbeiter ihr Leben durch Flutwellen, und ich bin schuld.«

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du kratzt.«

»Alle Männer, die Bärte haben, kratzen«, sagte Johanson. »Sei froh, dass Kare sich rasiert, sonst hättest du keinen Grund, ihn mir vorzuziehen. Woran arbeitet ihr? An eurer Unterwasserlösung?«

»So gut es eben geht. Eintausend Meter Meerestiefe können wir im Bassin realistisch darstellen, danach wird’s ungenau.«

»Das reicht doch für euer Projekt.«

»Trotzdem lassen wir den Rechner unabhängige Szenarien erstellen. Manchmal weichen sie von den Bassinergebnissen ab, dann verändern wir die Parameter so lange, bis wir eine zufrieden stellende Angleichung erhalten.«

»Shell peilt eine Fabrik in zweitausend Metern Tiefe an.

Stand gestern in der Zeitung. Ihr bekommt Konkurrenz.«

»Ich weiß. Shell hat Marintek beauftragt. Die Nuss ist noch schwerer zu knacken. Komm mit, wir gehen frühstücken.«

Draußen im Gang sagte Johanson: »Ich verstehe immer noch nicht, warum ihr keine SWOPs einsetzen wollt. Ist es nicht leichter, von einer schwimmenden Konstruktion aus zu arbeiten, solange ihr flexible Leitungen nach unten legt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Schwimmende Konstruktionen musst du verankern …«

»Das weiß ich alles …«

»… und sie können sich losreißen.«

»Aber jede Menge Stationen sind auf dem Schelf verankert!«

»Ja, bei geringer Wassertiefe. Weiter unten herrschen ganz andere Wellen— und Strömungszustände. Übrigens ist es nicht nur wegen der Verankerung. Je höher du eine Steigleitung legst, desto instabiler wird sie, und wir wollen ja kein ökologisches Desaster. Außerdem kann kein Mensch ein Interesse daran haben, so weit draußen auf einem schwimmenden Deck zu arbeiten. Selbst die Hartgesottensten würden sich die Seele aus dem Leib kotzen. Hier rauf.«

Sie erstiegen eine Treppe.

»Ich dachte, wir gehen frühstücken«, sagte Johanson verwundert.

»Tun wir auch, aber vorher wollte ich dir etwas zeigen.«

Lund stieß eine Tür auf. Sie befanden sich in einem Büro oberhalb der Bassinhalle. Die breite Fensterfront bot Ausblick auf Reihen sonnenbeschienener Giebelhäuschen und Grünanlagen, die sich zum Fjord hm erstreckten.

»Was für ein gesegneter Morgen«, summte Johanson.

Lund trat zu einem Arbeitstisch. Sie zog zwei Resopalstühle heran und öffnete einen Laptop mit großem Bildschirm. Ihre Finger trommelten auf die Tischplatte, während der Computer das Programm hochlud. Eine Seite mit Fotos erschien, die Johanson irgendwie bekannt vorkamen. Sie zeigten eine helle, milchige Fläche, die sich an den Rändern in Schwärze verlor. Plötzlich erkannte er die Szene.

»Die Aufnahmen, die Victor gemacht hat«, sagte er. »Das Ding am Hang.«

»Das Ding, das mir keine Ruhe gelassen hat«, nickte Lund. »Wisst ihr inzwischen, was es ist?« »Nein. Dafür wissen wir, was es nicht ist. Keine Qualle, kein Fischschwarm. Wir haben die Sequenz durch tausend Filter gejagt. Das ist das Beste, was wir rausholen konnten.« Sie vergrößerte das erste Foto. »Als wir das Wesen vor die Linse bekamen, war es starker Scheinwerferbestrahlung ausgesetzt. Wir sahen einen Teil von ihm, aber natürlich völlig anders, als wir es ohne Kunstlicht wahrgenommen hätten.«

»Ohne Licht hättet ihr in dieser Tiefe überhaupt nichts wahrgenommen.« »Ach was!« »Es sei denn, wir hätten hier einen Fall von Biolumineszenz und …«

Er stockte. Lund wirkte hochbefriedigt. Ihre Finger tanzten über die Tastatur, und das Bild veränderte sich erneut. Diesmal sah man einen Ausschnitt vom rechten oberen Rand. Wo die beleuchtete Fläche ins Dunkle überging, zeichnete sich schwach etwas ab. Ein Leuchten anderer Art, von tiefem Blau und durchzogen von helleren Linien.

»Wenn du ein lumineszierendes Objekt bestrahlst, siehst du von seinem Eigenleuchten nichts mehr. Und die Scheinwerfer des Victor überstrahlen alles. Bis auf den Randbereich, wo sie an Kraft verlieren. Da ist was zu erkennen. Meines Erachtens der Beweis, dass wir es mit einem Leuchtwesen zu tun haben. Und zwar mit einem ziemlich großen.«

Die Fähigkeit zu leuchten war einer ganzen Reihe von Tiefseebewohnern zu Eigen. Sie benutzten dafür Bakterien, mit denen sie in Symbiose lebten. Es gab auch Organismen an der Meeresoberfläche, die leuchteten, etwa Algen oder kleine Tintenfische. Aber das eigentliche Lichtermeer begann dort, wo das Sonnenlicht verschwand. In der stockfinsteren Tiefsee.

Johanson starrte auf den Bildschirm. Das Blau war mehr zu ahnen als zu sehen. Dem ungeübten Auge entging es. Aber die Kamera des Roboters lieferte bekanntlich Bilder von extrem hoher Auflösung. Möglicherweise hatte Lund Recht.

Er rieb sich den Bart. »Was schätzt du, wie groß das Ding ist?«

»Schwer zu sagen. So schnell, wie es verschwunden ist, wird es wohl am Rande des Lichthorizonts geschwommen sein. Einige Meter entfernt. Trotzdem nimmt seine Oberfläche beinahe das ganze Bild ein. Was folgt daraus?«

»Der Teil, den wir sehen, wird um die zehn bis zwölf Quadratmeter groß sein.«

»Den wir sehen!« Sie machte eine Pause. »Das Licht in den Randbereichen deutet darauf hin, dass wir das meiste wahrscheinlich nicht gesehen haben.«

Johanson kam eine Idee. »Es könnte planktonischer Natur sein«, sagte er. »Mikroorganismen. Da gibt es einiges, was leuchtet.«

»Und wie erklärst du dir das Muster?«

»Die hellen Linien? Zufall. Wir glauben, dass es ein Muster ist. Wir haben auch gedacht, die Marskanäle bilden ein Muster.«

»Ich glaube nicht, dass es Plankton ist.«

»So genau kann man das nicht sehen.«

»Doch, kann man. Schau dir das mal an.«

Lund rief die folgenden Bilder auf. Das Objekt zog sich darauf mehr und mehr ins Dunkle zurück. Tatsächlich war es weniger als eine Sekunde lang zu sehen gewesen. Die zweite und dritte Vergrößerung zeigten immer noch die schwach lumineszierende Fläche mit den Linien, die ihre Position im Verlauf der Sequenz zu verändern schienen. Auf der vierten war alles verschwunden.

»Es hat das Licht ausgemacht«, sagte Johanson verblüfft.

Er überlegte. Bestimmte Krakenarten kommunizierten über den Weg der Biolumineszenz. Es war gar nicht so ungewöhnlich, wenn ein Tier angesichts einer plötzlichen Bedrohung sozusagen den Schalter umlegte und sich in die Finsternis verabschiedete. Aber dieses Tier war überaus groß. Größer als jede bekannte Krakenart.

Eine Schlussfolgerung drängte sich auf, die ihm nicht gefiel. Sie gehörte nicht an den norwegischen Kontinentalrand.

»Architheutis«, sagte er.

»Riesenkalmare.« Lund nickte. »Der Gedanke kommt einem zwangsläufig. Aber es wäre das erste Mal, dass so was in diesen Gewässern auftaucht.«

»Es wäre das erste Mal, dass so was überhaupt lebend auftaucht.«

Aber das stimmte nicht ganz. Lange Zeit waren Geschichten um Architheutis als Seemannsgarn verschrien gewesen. Dann hatten angespülte Kadaver den Beweis für seine Existenz erbracht — beinahe erbracht, weil Kalmarfleisch wie Gummi war. Je mehr man daran zog, desto länger wurde es, zumal im Zustand der Zersetzung. Vor wenigen Jahren endlich waren Forschern östlich von Neuseeland winzige Jungtiere ins Netz gegangen, deren genetisches Profil keinen Zweifel daran ließ, dass sie sich binnen achtzehn Monaten in bis zu zwanzig Meter lange, zwanzig Zentner schwere Riesenkalmare verwandeln würden. Der einzige Schönheitsfehler blieb, dass nie ein Mensch ein solches Tier lebend gesehen hatte. Architheutis hauste in der Tiefsee, und ob er leuchtete, war mehr als fraglich.

Johanson furchte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein.«

»Was nein?«

»Es spricht zu vieles dagegen. Das ist einfach nicht die Gegend für Riesenkalmare.«

»Schon, aber …« Lunds Hände zerteilten die Luft. »Wir wissen nicht wirklich, wo sie sich rumtreiben. Wir wissen nichts.«

»Sie gehören hier nicht hin.«

»Diese Würmer gehören hier auch nicht hin.«

Schweigen breitete sich aus.

»Und wenn schon«, sagte Johanson schließlich. »Architheuten sind scheu. Was kümmert es euch? Bis heute ist kein Mensch je von einem Riesenkraken angegriffen worden.«

»Augenzeugen sagen was anderes.«

»Mein Gott, Tina! Sie mögen ein bisschen an dem einen oder anderen Boot gezogen haben. Aber wir unterhalten uns doch hier nicht ernsthaft über die Bedrohung der Erdölförderung durch Riesenkraken. Du musst zugeben, das ist lächerlich.«

Lund betrachtete skeptisch die Vergrößerungen der Bilder. Dann schloss sie die Datei.

»Okay. Hast du was für mich? Irgendwelche Resultate?«

Johanson zog den Umschlag hervor und öffnete ihn. Ein dicker Packen eng bedruckten Papiers steckte darin.

»Du lieber Himmel!«, entfuhr es Lund.

»Warte. Es muss eine Zusammenfassung geben. — Ah, hier!«

»Lass sehen.«

»Gleich.« Er überflog den Kurzbericht. Lund stand auf und ging zum Fenster. Dann begann sie im Raum herumzuwandern.

»Sag schon.«

Johanson zog die Brauen zusammen und blätterte in dem Packen. »Hm. Interessant.«

»Spuck’s aus.«

»Sie bestätigen, dass es sich um Polychäten handelt. Sie schreiben außerdem, sie seien zwar keine Taxonomen, gelangen aber zu dem Resultat, dass der Wurm verblüffende Ähnlichkeit mit Hesiocaeca methanicola aufweist. In diesem Zusammenhang wundern sie sich über die extrem ausgeprägten Kiefer und schreiben weiter … das ist jetzt Detailkram … ah, hier steht’s. Sie haben die Kiefer untersucht. Sehr kräftig und eindeutig zum Bohren und Graben gedacht.«

»So weit waren wir doch schon«, rief Lund ungeduldig.

»Warte. Sie haben noch mehr mit ihm angestellt.

Untersuchung der stabilen Isotopenzusammensetzung, und da ist auch die Analyse aus dem Massenspektrometer. — Oha! Unser Wurm ist minus 90 Promille leicht.«

»Kannst du dich verständlich ausdrücken?«

»Er ist tatsächlich methanotroph. Er lebt in Symbiose mit Bakterien, die Methan abbauen. Augenblick, wie soll ich’s dir erklären? Also, Isotope … du weißt, was Isotope sind?«

»Atome eines chemischen Elements mit gleicher Kernladung, aber unterschiedlichem Gewicht.«

»Sehr gut, setzen. Kohlenstoff zum Beispiel gibt es in unterschiedlicher Schwere. Es gibt Kohlenstoff 12 und Kohlenstoff 13. Wenn du was frisst, worin vorwiegend leichter Kohlenstoff ist, also ein leichteres Isotop, wirst du auch leichter. Klar?«

»Wenn ich was fresse. Ja. Logisch.«

»Und in Methan ist sehr leichter Kohlenstoff. Wenn der Wurm in Symbiose mit Bakterien lebt, die dieses Methan fressen, dann werden dadurch erst mal die Bakterien leicht, und wenn der Wurm dann die Bakterien frisst, wird er auch leicht. Und unserer ist sehr leicht.«

»Ihr Biologen seid komische Leute. Wie kriegt ihr so was raus?«

»Wir tun schreckliche Dinge. Wir trocknen den Wurm und zermahlen ihn zu Wurmpulver, und das kommt dann in die Messmaschine. So, schauen wir weiter. Rasterelektronenmikroskopie … sie haben die DNA angefärbt … sehr gründliche Vorgehensweise …«

»Reiß dich los!« Lund kam zu ihm herüber und zupfte an dem Papier. »Ich will keine akademische Abhandlung, ich will begreifen, ob wir da unten bohren können.«

»Ihr könnt …« Johanson zog das Blatt aus ihren Fingern und las die letzten Zeilen. »Na, wunderbar!«

»Was?«

Er hob den Kopf. »Die Biester stecken randvoll mit Bakterien. Innen und außen. Endosymbionten und Exosymbionten. Deine Würmer scheinen die reinsten Omnibusse für Bakterien zu sein.«

Lund sah unsicher zurück. »Und was heißt das?«

»Es ist widersinnig. Dein Wurm lebt ganz eindeutig im Methanhydrat. Er platzt fast vor Bakterien. Er geht nicht auf Beute und bohrt keine Löcher. Stattdessen liegt er faul und fett im Eis. Trotzdem hat er Riesenkiefer zum Bohren, und die Horden am Hang kamen mir alles andere als fett und faul vor. Ich fand sie ausgesprochen agil.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Schließlich sagte Lund: »Was tun sie da unten, Sigur? Was sind das für Tiere?«

Johanson zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht sind sie tatsächlich geradewegs aus dem Kambrium zu uns heraufgekrochen. Keine Ahnung, was sie da machen.« Er zögerte. »Ich habe ebenso wenig eine Ahnung, ob es eine Rolle spielt. Was sollen sie schon groß tun? Sie wälzen sich durch die Gegend, aber sie werden kaum Pipelines anknabbern.«

»Was knabbern sie dann an?«

Johanson starrte auf die Zusammenfassung des Berichts.

»Es gibt noch eine Adresse, die uns darüber Auskunft geben könnte«, sagte er. »Wenn die es nicht rausfinden, werden wir wohl warten müssen, bis wir von selber drauf kommen.«

»Darauf würde ich ungerne warten.«

»Gut. Ich schicke ein paar Exemplare hin.« Johanson reckte die Glieder und gähnte. »Vielleicht haben wir ja Glück, und sie kommen mit dem Forschungsschiff, um selber einen Blick darauf zu werfen. So oder so wirst du dich gedulden müssen. Einstweilen können wir nichts tun. Darum, wenn du gestattest, würde ich jetzt gerne frühstücken und Kare Sverdrup gute Ratschläge zuteil werden lassen.«

Lund lächelte. Besonders zufrieden sah sie nicht aus.


5. April

Vancouver Island und Vancouver, Kanada

Das Geschäft kam wieder in Schwung.

Unter anderen Umständen hätte Anawak Shoemakers Freude vorbehaltlos geteilt. Die Wale kehrten zurück. Der Geschäftsführer sprach von nichts anderem mehr. Und tatsächlich fanden sie sich der Reihe nach wieder ein, Grauwale und Buckelwale, Orcas und sogar einige Minkwale. Natürlich war auch Anawak glücklich über den Umstand ihrer Wiederkehr. Nichts hatte er mehr herbeigesehnt. Nur hätte er es vorgezogen, ihre Rückkehr mit ein paar Antworten verbunden zu wissen, etwa auf die Frage, wo sie sich die ganze Zeit über rumgetrieben hatten, dass kein Satellit und keine Messsonde sie hatten aufspüren können. Zudem ging ihm seine denkwürdige Begegnung nicht mehr aus dem Kopf. Er war sich vorgekommen wie eine Laborratte. Die beiden Wale hatten ihn mit einer Ruhe und Gründlichkeit unter die Lupe genommen, als liege er auf dem Seziertisch.

Waren es Kundschafter?

Um was auszukundschaften?

Abwegig!

Er schloss die Kasse und trat nach draußen. Die Touristen hatten sich am Ende des Piers versammelt. Sie sahen aus wie ein Spezialkommando in ihren orangefarbenen Ganzkörperanzügen. Anawak sog die frische Morgenluft in sich hinein und folgte ihnen.

Hinter sich hörte er jemanden im Laufschritt näher kommen.

»Dr. Anawak!«

Er blieb stehen und wandte den Kopf. Alicia Delaware tauchte neben ihm auf. Sie hatte die roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine modische blaue Sonnenbrille.

»Nehmen Sie mich mit?«

Anawak betrachtete sie. Dann sah er hinüber zum blauen Rumpf der Blue Shark. »Wir sind voll besetzt.«

»Ich bin den ganzen Weg gerannt.«

»Tut mir Leid. In einer halben Stunde fährt die Lady Wexham. Die ist viel komfortabler. Groß, beheizte Innenkabinen, Snackbar …«

»Will ich nicht. Sie haben doch sicher noch irgendwo einen Platz. Hinten vielleicht!«

»Wir sind schon zu zweit in der Kabine, Susan und ich.«

»Ich brauche keinen Sitzplatz.« Sie lächelte. Mit ihren großen Zähnen sah sie aus wie ein sommersprossiges Kaninchen. »Bitte! Sie haben doch keinen Grund, sauer zu sein, oder? Ich möchte wirklich gerne mit Ihnen rausfahren. — Eigentlich nur mit Ihnen, um ehrlich zu sein.«

Anawak runzelte die Stirn.

»Gucken Sie nicht so!« Delaware verdrehte die Augen. »Ich habe Ihre Bücher gelesen und bewundere Ihre Arbeit, das ist alles.«

»Den Eindruck hatte ich nicht.«

»Kürzlich im Aquarium?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schwamm drüber. Bitte, Dr. Anawak, ich bin nur noch einen Tag hier. Sie würden mir eine Riesenfreude machen.«

»Wir haben unsere Bestimmungen.« Es klang lahm und kleinkariert.

»Hören Sie mal, Sie sturer Hund«, sagte sie. »Ich bin nah am Wasser gebaut. Ich warne Sie. Wenn Sie mich nicht mitnehmen, werde ich den ganzen Flug zurück nach Chicago in Tränen aufgelöst sein. Wollen Sie das verantworten?«

Sie strahlte ihn an. Anawak konnte nicht anders. Er musste lachen.

»Schon gut. Kommen Sie meinethalben mit.«

»Wirklich?«

»Ja. Aber gehen Sie mir nicht auf die Nerven. Behalten Sie vor allem Ihre abstrusen Theorien für sich.«

»Es war nicht meine Theorie. Es war die Theorie von…«

»Am besten halten Sie einfach möglichst lange den Mund.«

Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich anders und nickte.

»Warten Sie hier«, sagte Anawak. »Ich hole Ihnen einen Overall.«

Alicia Delaware hielt ihr Versprechen ganze zehn Minuten. Die Häuser von Tofino waren kaum hinter dem ersten bewaldeten Berghang verschwunden, als sie neben Leon trat und ihm die Hand hinhielt.

»Nennen Sie mich Licia«, sagte sie.

»Licia?«

»Von Alicia, aber Alicia ist ein dämlicher Name. Finde ich. Meine Eltern fanden das natürlich nicht, aber man wird ja nicht gefragt, wenn sie einem Namen geben, es ist immer so peinlich hinterher, zum Kotzen. Sie heißen Leon, stimmt’s?«

Er ergriff die ausgestreckte Rechte. »Freut mich, Licia.« »Gut. Und jetzt sollten wir kurz noch was klären.« Anawak blickte Hilfe suchend zu Stringer, die das Zodiac steuerte. Sie sah zurück, zuckte die Achseln und widmete sich wieder dem Kurs.

»Was denn?«, fragte er vorsichtig.

»Wegen neulich. Ich war doof und besserwisserisch am Aquarium. Es tut mir Leid.«

»Schon vergessen.«

»Aber du musst dich auch entschuldigen.«

»Was? Wieso denn ich?«

Sie senkte den Blick. »Es war okay, mir vor anderen Leuten die Meinung zu geigen, aber nicht, etwas über mein Aussehen zu sagen.«

»Ich habe nicht …« Zum Teufel.

»Du hast gesagt, ein Beluga, der mir beim Schminken zusieht, müsse an meinem Verstand zweifeln.«

»Das war nicht meine Absicht. Es war ein abstrakter Vergleich.«

»Es war ein blöder Vergleich.«

Anawak kratzte seinen schwarzen Schopf. Er hatte sich über Delaware geärgert, weil sie seiner Meinung nach mit vorgefassten Argumenten ins Aquarium gekommen und sich durch Ignoranz ausgewiesen hatte. Aber vermutlich war er nicht weniger ignorant gewesen. Und ganz sicher hatte er sie in seiner Wut beleidigt.

»Gut. Ich entschuldige mich.«

»Angenommen.«

»Du berufst dich auf Povinelli«, stellte er fest.

Sie lächelte. Mit diesen Worten hatte er ihr signalisiert, dass er sie ernst nahm. Daniel Povinelli war Gordon Gallups prominentester Widersacher in der Frage, wie intelligent und selbstbewusst Primaten und andere Tiere tatsächlich waren. Er pflichtete Gallup bei, dass Schimpansen, die sich im Spiegel erkannten, eine Vorstellung ihrer selbst hatten. Umso entschiedener leugnete er, dieser Umstand befähige sie, ihre eigenen mentalen Zustände zu begreifen und damit die anderer Lebewesen. Für Povinelli war längst noch nicht erwiesen, dass überhaupt irgendein Tier das psychologische Verständnis aufbrachte, wie es Menschen eigentümlich war.

»Povinelli geht einen mutigen Weg«, sagte Delaware. »Seine Ansichten erscheinen ewig gestrig, aber das nimmt er in Kauf. Gallup hat es viel leichter, weil es schick ist, Schimpansen und Delphine und wer weiß wen als gleichberechtigte Partner des Menschen hinzustellen.«

»Sie sind gleichberechtigte Partner«, sagte Anawak.

»Im ethischen Sinne.«

»Unabhängig davon. Ethik ist eine Erfindung der Menschen.«

»Das bezweifelt niemand. Auch nicht Povinelli.«

Anawak ließ den Blick über die Bucht wandern.

Kleinere Inseln kamen ins Blickfeld.

»Ich weiß, worauf du hinauswillst«, sagte er nach kurzer Pause. »Du findest, es kann nicht der Weg sein, möglichst viel Menschliches in Tieren nachzuweisen, um sie menschlicher zu behandeln.«

»Es ist arrogant«, rief Delaware heftig.

»Ich gebe dir Recht. Es löst kein einziges Problem. Aber die meisten Menschen brauchen die Vorstellung, dass Leben umso schützenswerter ist, je mehr es nach dem Menschen schlägt. Es ist und bleibt leichter, ein Tier zu töten als einen Menschen. Es wird erst dann schwieriger, wenn wir das Tier als nahen Verwandten betrachten. Die meisten Menschen sind mittlerweile dazu bereit, aber die wenigsten wollen sich mit dem Gedanken anfreunden, dass wir vielleicht nicht die Krone der Schöpfung sind und dass wir auf der Werteskala des Lebens nicht vor allen anderen, sondern neben ihnen stehen. Das führt zu einem Dilemma: Wie soll ich einem Tier oder einer Pflanze die gleiche Achtung entgegenbringen wie einem Menschen, wenn ich zugleich den Wert menschlichen Lebens höher einschätze als den Lebenswert einer Ameise oder eines Affen oder Delphins?«

»He!« Sie klatschte in die Hände. »Wir sind ja doch einer Meinung.«

»Fast. Ich glaube, du bist ein wenig … messianisch in deiner Auffassung. Ich persönlich vertrete die Meinung, dass die Psyche eines Schimpansen oder Belugas gewisse Schnittmengen mit der menschlichen aufweist.« Delaware setzte zu einer Antwort an. Anawak hob die Hand. »Gut, formulieren wir es andersrum: Auf der Werteskala eines Belugas — falls sich Wale je solche Gedanken machen — rücken wir vielleicht umso höher, je mehr Vertrautes er in uns entdeckt.« Er grinste. »Vielleicht halten uns einige Belugas sogar für intelligent. Gefällt es dir so rum besser?«

Delaware krauste die Nase. »Ich weiß nicht, Leon. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du mich in die Falle lockst?«

»Seelöwen«, rief Stringer. »Da vorne.«

Anawak legte die Hand über die Augen. Sie näherten sich einer Insel mit spärlichem Baumbewuchs. Auf den Klippen döste eine Gruppe Stellar-Seelöwen in der Sonne. Einige reckten träge die Köpfe und sahen zu dem Boot herüber.

»Es geht nicht um Gallup oder Povinelli, habe ich Recht?« Er hob die Kamera ans Auge, zoomte und schoss Fotos von den Tieren. »Ich schlage dir also eine andere Diskussion vor. Wir einigen uns darauf, dass es keine Werteskala gibt, sondern nur eine menschliche Vorstellung davon, und die haken wir hiermit ab. Jeder von uns beiden ist leidenschaftlich dagegen, Tiere zu vermenschlichen. Ich bin der Überzeugung, dass es innerhalb gewisser Grenzen dennoch möglich sein wird, die Innenwelt von Tieren zu begreifen. Sagen wir, intellektuell zu erfassen. Ich glaube außerdem, dass wir mit manchen Tieren mehr gemeinsam haben als mit anderen und dass wir einen Weg finden werden, mit einigen von ihnen zu kommunizieren. — Du hingegen glaubst, alles Nichtmenschliche wird uns auf ewig fremd bleiben. Wir haben keinen Zugang zum Kopf eines Tieres. Es wird ergo keine Kommunikation geben, sondern immer nur das Trennende, und wir sollen uns gefälligst damit zufrieden geben, sie in Ruhe zu lassen.«

Delaware schwieg eine Weile. Das Zodiac passierte mit verringerter Geschwindigkeit die Insel mit den Seelöwen. Stringer erzählte Wissenswertes über die Tiere, und die Insassen taten es Anawak gleich und schossen Fotos.

»Ich muss darüber nachdenken«, sagte Delaware schließlich.

Und das tat sie wirklich. Zumindest sagte sie im Verlauf der weiteren Fahrt kaum noch etwas, bis das Zodiac die offene See erreicht hatte. Anawak war zufrieden. Es war gut, dass die Tour mit den Seelöwen begonnen hatte. Immer noch hatten die Populationen der Wale nicht ihre gewohnten Bestände erreicht. Ein Felsen voller Seelöwen stimmte die Expedition positiv ein und half vielleicht darüber hinweg, wenn hinterher nicht mehr so viel passierte.

Aber seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos.

Gleich vor der Küste trafen sie auf eine Herde Grauwale. Sie waren etwas kleiner als Buckelwale, aber immer noch von imposanter Größe. Einige kamen ziemlich nah heran und lugten für kurze Zeit aus dem Wasser, zum absoluten Entzücken der Passagiere. Sie sahen aus wie lebendig gewordene Steine, schieferfarben, fleckig gesprenkelt, die mächtigen Kiefer überwuchert von Seepocken und Ruderfußkrebsen, festgewachsenen Parasiten. Die meisten Passagiere filmten und fotografierten wie besessen. Andere sahen einfach nur ergriffen zu. Anawak hatte erwachsene Männer erlebt, denen beim Anblick eines auftauchenden Wals die Tränen gekommen waren.

In einiger Entfernung trieben drei weitere Zodiacs und ein größeres Schiff mit festem Rumpf. Alle hatten die Motoren abgestellt. Stringer gab über Funk die Sichtungen durch. Es war Whale Watching der vertraglichen Art, das sie hier betrieben, aber ein Jack Greywolf würde auch dagegen zu Felde ziehen.

Jack Greywolf war ein Idiot.

Ein gefährlicher Idiot obendrein. Anawak missfiel, was er plante. Tourist Watching. Lächerlich! Aber wenn es hart auf hart kam, hätte Greywolf die Medien fürs Erste auf seiner Seite. Es würde Davies in Misskredit bringen, egal, wie gewissenhaft und verantwortungsbewusst sie dort vorgingen. Störmanöver von Tierschützern, auch wenn sie ein dubioser Haufen waren wie Greywolfs Seaguards, würden Vorurteile bestätigen. Kaum jemand machte sich wirklich die Mühe, zwischen den Anliegen seriöser Organisationen und Fanatikern vom Schlage eines Jack Greywolf zu unterscheiden. Das kam erst später, wenn die Presse die Fakten aufarbeitete und der Schaden angerichtet war.

Und Greywolf war weiß Gott nicht Anawaks einzige Sorge.

Aufmerksam beobachtete er den Ozean, die Kamera einsatzbereit. Er fragte sich, ob er neuerdings unter Paranoia litt, ausgelöst durch seine Begegnung mit den beiden Buckelwalen. Sah er Gespenster, oder zeichnete sich im Verhalten der Tiere tatsächlich eine Veränderung ab?

»Rechts!«, rief Stringer.

Die Köpfe der Menschen im Zodiac folgten ihrer ausgestreckten Hand. Mehrere Grauwale hatten sich dem Boot genähert und vollführten anschauliche Tauchmanöver. Ihre Fluken schienen den Insassen zuzuwinken. Anawak schoss Fotos fürs Archiv. Shoemaker hätte vor Freude in die Hände geklatscht bei dem Anblick. Es war ein Bilderbuchtrip, als seien die Tiere übereingekommen, die Whale Watchers für die lange Zeit des Wartens mit einer großzügigen Revue zu entschädigen. Weiter draußen steckten drei große Graue die Köpfe aus dem Wasser.

»Das sind keine Grauwale, oder?«, fragte Delaware. Sie sah Anawak Kaugummi kauend an, als erwarte sie eine Belohnung.

»Nein. Es sind Buckelwale.«

»Sag’ ich doch. Woher kommt bloß diese dämliche Bezeichnung? Ich sehe keinen Buckel.«

»Sie haben auch keinen. Aber sie machen einen beim Abtauchen. Schätze, es ist diese charakteristische Körperkrümmung, die ihnen den Namen eingetragen hat.«

Delaware hob die Brauen. »Ich dachte eigentlich, der Name bezieht sich auf die kleinen Buckel am Maul. Auf diese Wucherungen.«

Anawak seufzte.

»Mal wieder in der Opposition, Licia?«

»‘tschuldigung.« Sie ruderte aufgeregt mit den Armen. »He, was machen die denn da? Was tun die?«

Die Köpfe der drei Buckelwale hatten zeitgleich die Wasseroberfläche durchstoßen. Sie hatten die riesigen Mäuler weit geöffnet, sodass man den rosafarbenen Gaumenstrang in der Mitte des schmalen Oberkiefers sehen konnte. Deutlich waren die herabhängenden Barten zu erkennen. Die gewaltigen Kehlsäcke schienen wie aufgebläht. Gischt wirbelte zwischen den Walen hoch — und noch etwas, glitzernd wie Flitter. Winzige, wild zappelnde Fische. Wie aus dem Nichts hatten sich Scharen von Möwen und Seetauchern eingefunden, die über dem Schauspiel kreisten und herabstießen, um an dem Gelage teilzuhaben.

»Sie fressen«, sagte Anawak, während er fotografierte.

»Irre! Sie sehen aus, als wollten sie uns fressen.«

»Licia! Mach dich nicht dümmer, als du bist.«

Delaware verschob den Kaugummi von einer Backe in die andere. »Du verstehst keinen Spaß«, sagte sie gelangweilt. »Ich weiß natürlich, dass sie sich von Krill ernähren und von all dem kleinen Viehzeug. Ich habe nur noch nie gesehen, wie sie es machen. Ich dachte immer, sie gleiten einfach mit offenem Maul dahin.«

»Glattwale tun das«, sagte Stringer über die Schulter. »Buckelwale haben ihre eigene Methode. Sie schwimmen unter einen Schwarm kleiner Fische oder Ruderfußkrebse und kreisen ihn mit einem Ring aus Luftblasen ein. Kleintiere meiden turbulentes Wasser, sie versuchen sich von dem Blasenvorhang fern zu halten und bleiben dicht beieinander. Die Wale tauchen auf, entfalten ihre Kehlfurchen und machen Gulp.«

»Erklär ihr nichts«, sagte Anawak. »Sie weiß ohnehin alles besser.«

»Gulp?«, echote Delaware.

»So nennt man es bei Furchenwalen. Das Gulp-Verfahren. Sie können ihren Kehlsack spreizen, darum sehen sie aus wie aufgepumpt. Durch dieses plötzliche Auseinanderfalten verwandeln sie ihre Kehle in ein riesiges Reservoir zur Nahrungsaufnahme. Krill und Fische werden mit einem Riesenschluck eingesaugt und bleiben in den Barten hängen, wenn die Wale das Wasser wieder rauspressen.«

Anawak gesellte sich an Stringers Seite. Delaware schien zu verstehen, dass er allein mit ihr sprechen wollte. Sie balancierte am Steuerhaus vorbei nach vorn zu den Passagieren und begann, ihnen das Gulp-Verfahren zu erklären.

Nach einer Weile sagte Anawak leise: »Wie kommen sie dir vor?«

Stringer wandte den Kopf.

»Die Wale?«

»Ja.«

»Komische Frage.« Sie überlegte einen Moment. »Wie immer, glaube ich. Wie kommen sie dir denn vor?«

»Du findest sie normal?«

»Klar. Sie sind regelrecht im Showfieber, wenn du das meinst. Ja, doch, sie sind verdammt gut drauf.«

»Nicht irgendwie … verändert?«

Sie kniff die Augen zusammen. Die Sonne lag gleißend auf dem Wasser. Nah am Boot tauchte ein grauscheckiger Rücken auf und verschwand. Die Buckelwale hatten sich wieder unter die Wasseroberfläche zurückgezogen.

»Verändert?«, sagte sie gedehnt. »Was meinst du damit?«

»Ich habe dir doch von den beiden Megapterae erzählt, die plötzlich neben dem Boot auftauchten.« Spontan benutzte er den wissenschaftlichen Namen für Buckelwale. Es war verrückt genug, was ihm im Kopf umherging. So klang es wenigstens halbwegs seriös.

»Ja. Und?«

»Na ja. Es war komisch.«

»Hast du schon erzählt. Einer auf jeder Seite. Du bist zu beneiden. Total abgefahren, und ich war mal wieder nicht dabei.«

»Ich weiß nicht, ob es abgefahren war. Es kam mir eher vor, als versuchten sie, die Lage abzuschätzen … als führten sie irgendwas im Schilde …«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Es war nicht sehr angenehm.«

»Nicht sehr angenehm?« Stringer schüttelte entgeistert den Kopf. »Bist du bei Trost? Das ist genau die Sorte Begegnung, von der ich träume. Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle gewesen.«

»Nein, das tust du nicht. Du hättest keinen Spaß daran gehabt. Ich frage mich die ganze Zeit, wer da wen beobachtet hat, und zu welchem Zweck …«

»Leon. Es waren Wale. Keine Geheimagenten.«

Er fuhr sich über die Augen und zuckte die Achseln. »Okay, vergiss es. Wahrscheinlich Unsinn. Ich muss mich geirrt haben.«

Stringers Walkie-Talkie knackte. Quäkig meldete sich Tom Shoemakers Stimme.

»Susan? Geh mal auf 99.«

Sämtliche Whaling Stations sendeten und empfingen auf Frequenz 98. Es war praktisch, weil so alle über die Sichtungen im Bilde waren. Auch die Küstenwache und Tofino Air benutzten die 98er Frequenz, und leider verschiedene Sportfischer, deren Vorstellung von Whale Watching wesentlich rüder war. Für private Gespräche hatte jede Station ihren eigenen Kanal. Stringer schaltete um.

»Ist Leon in der Nähe?«, fragte Shoemaker.

»Ja, er ist hier.«

Sie reichte Anawak das Funkgerät. Er nahm es und sprach eine Weile mit Shoemaker. Dann sagte er: »Gut, ich komme hin. — Ja, das geht auch kurzfristig. — Sag ihnen, ich fliege los, sobald wir zurück sind. — Bis gleich.«

»Um was ging’s denn?«, wollte Stringer wissen, als er ihr das Funkgerät zurückgab.

»Um eine Anfrage. Von Inglewood.«

»Inglewood? Die Reederei?«

»Ja. Der Anruf kam aus dem Direktorium. Sie haben Tom nicht gerade mit Details überschüttet. Nur, dass sie meinen Rat brauchen. Und dass es ein bisschen eilt. — Merkwürdig. Tom hatte den Eindruck, dass sie mich am liebsten rüberbeamen würden.«

Inglewood hatte einen Helikopter geschickt. Keine zwei Stunden nach seinem Funkgespräch mit Shoemaker sah Anawak die spektakuläre Landschaft Vancouver Islands unter sich hinwegziehen. Tannenbestandene Hügel wechselten mit schroffen Gebirgskuppen, dazwischen glitzerten Flüsse und lockten blaugrüne Seen. Die Schönheit der Insel konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Holzwirtschaft den Wäldern arg zugesetzt hatte. Während der vergangenen hundert Jahre hatte sie sich zum bedeutendsten Industriezweig der Region entwickelt. Über weite Flächen war der Kahlschlag nicht zu übersehen.

Sie ließen Vancouver Island hinter sich und überflogen die viel befahrene Strait of Georgia, Luxusliner, Fähren, Frachter und Privatyachten. In weiter Ferne erstreckten sich die imposanten Gebirgsketten der Rocky Mountains mit ihren schneegefleckten Gipfeln. Türme aus blauem und rosafarbenem Glas säumten eine weitläufige Bucht, in der Wasserflugzeuge aufstiegen und landeten wie Vögel, ebenso bunt und zahlreich.

Der Pilot sprach mit der Bodenstation. Der Helikopter ging tiefer, drehte eine Kurve und hielt auf die Dockanlagen zu. Kurz darauf landeten sie auf einer freien Fläche von den Ausmaßen eines riesigen Parkplatzes. Zu beiden Seiten türmten sich Stapel geschichteten Zedernholzes, das auf seinen Abtransport wartete. Etwas weiter lagerten Schwefel und Kohle in kubistischen Haufen. Ein gewaltiger Cargoliner ankerte am Pier. Anawak sah eine Gruppe von Menschen, aus der sich ein Mann löste und zu ihnen herüberkam. Sein Haar flatterte im Wirbelwind der Motoren. Er trug einen Mantel und hatte die Schultern hochgezogen gegen die kühle Witterung. Anawak löste den Sicherheitsgurt und machte sich bereit zum Ausstieg.

Der Mann zog die Tür auf. Er war groß und stattlich, Anfang sechzig, mit einem runden, freundlichen Gesicht und wachen Augen. Er lächelte, als er Anawak die Hand reichte.

»Clive Roberts«, sagte er. »Managing Director.«

Sie schüttelten einander die Hände. Anawak folgte Roberts zu der. Gruppe, die augenscheinlich mit der Inspektion des Frachters befasst war. Er sah Seeleute und Personen in Zivilkleidung. Immer wieder schauten sie an der Steuerbordseite des Schiffs empor, schritten daran entlang, blieben stehen und gestikulierten.

»Sehr freundlich, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte Roberts. »Sie müssen entschuldigen. Normalerweise fallen wir nicht derart mit der Tür ins Haus, aber die Sache brennt uns unter den Nägeln.«

»Keine Ursache«, erwiderte Anawak. »Worum geht’s?«

»Um einen Unfall. Möglicherweise.«

»Das Schiff dort?«

»Ja, die Barrier Queen. Genauer gesagt hatten wir ein Problem mit den Schleppern, die sie nach Hause bringen sollten.«

»Sie wissen, dass ich Experte für Cetacaen bin? Verhaltensforscher. Wale und Delphine.«

»Genau darum geht es. Um Verhaltensforschung.«

Roberts stellte ihm die Personen vor. Drei gehörten zum Management der Reederei, die anderen vertraten den Technischen Vertragspartner. Ein Stück weiter luden zwei Männer Tauchequipment aus einem Transporter. Anawak sah in besorgte Gesichter, dann nahm ihn Roberts beiseite.

»Augenblicklich können wir leider nicht mit der Besatzung sprechen«, sagte er. »Aber ich lasse Ihnen eine vertrauliche Kopie des Berichts zukommen, sobald er vorliegt. Wir möchten die Sache nicht unnötig breittreten. Kann ich mich auf Sie verlassen?«

»Natürlich.«

»Gut. Ich gebe Ihnen eine Zusammenfassung der Ereignisse. Danach entscheiden Sie, ob Sie bleiben oder wieder abfliegen wollen. So oder so kommen wir für sämtliche Ausfälle und Unannehmlichkeiten auf, die wir Ihnen verursacht haben.«

»Sie verursachen keine Umstände.«

Roberts sah ihn dankbar an. »Sie müssen wissen, die Barrier Queen ist ein ziemlich neues Schiff. Erst kürzlich auf Herz und Nieren geprüft, vorbildlich in allen Disziplinen, ordnungsgemäß zertifiziert. Ein 60000Tonnen-Frachter, mit dem wir bislang ohne Probleme Schwerlaster verschifft haben, vorwiegend nach Japan und zurück. Wir stecken eine Menge Geld in die Sicherheit, mehr, als wir müssten. Jedenfalls die Barrier Queen war auf dem Rückweg, voll beladen.«

Anawak nickte wortlos.

»Vor sechs Tagen erreichte sie die 200-Seemeilen-Zone vor Vancouver Gegen drei Uhr morgens. Der Steuermann legte 5° Ruder, eine Routinekorrektur. Er hielt es nicht für nötig, einen Blick auf die Anzeige zu werfen. Weit vorne waren die Lichter eines anderen Schiffs zu sehen, an denen man sich mit bloßem Auge orientieren konnte, und eigentlich hätten sich diese Lichter nun nach rechts verschieben müssen. Aber sie blieben, wo sie waren. Die Barrier Queen fuhr immer noch geradeaus. Der Steuermann gab Ruder zu, ohne dass eine sichtbare Kursänderung erfolgte, also ging er bis zum Anschlag, und plötzlich klappte es. — Leider klappte es etwas zu gut.«

»Er fuhr jemandem rein?«

»Nein. Das andere Schiff war zu weit weg. Aber anscheinend hatte das Ruder geklemmt. Jetzt lag es am Anschlag und klemmte wieder. Es ließ sich nicht mehr zurückbewegen. Ein Ruder am Anschlag bei 20 Knoten Fahrt … ich meine, ein Schiff dieser Größe stoppen Sie nicht eben mal so ab! Die Barrier Queen geriet bei hoher Geschwindigkeit in einen extrem engen Drehkreis. Sie legte sich auf die Seite, samt Ladung. 10° Krängung, haben Sie eine Vorstellung, was das heißt?«

»Ich kann’s mir denken.«

»Knapp über dem Wasserspiegel befinden sich die Öffnungen für die Fahrzeugdeckentwässerung. Bei hoher See werden sie unablässig geflutet, und ebenso schnell läuft das Wasser jedes Mal wieder ab. Bei einer derartigen Schieflage kann es aber passieren, dass sie permanent unter Wasser geraten. Dann läuft Ihnen das Schiff im Handumdrehen voll. Gott sei Dank hatten wir ruhige See, aber kritisch war es dennoch. Das Ruder ließ sich nicht zurücklegen.«

»Und was war der Grund?«

Roberts schwieg einen Moment.

»Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass der Schlamassel jetzt erst richtig losging. Die Barrier Queen stoppte die Maschinen, funkte ›Mayday‹ und wartete. Sie war eindeutig manövrierunfähig. Verschiedene Schiffe im Umkreis änderten vorsorglich ihren Kurs und hielten auf die Stelle zu, und in Vancouver setzten sich zwei Bergungsschlepper in Bewegung. Sie trafen zweieinhalb Tage später ein, am frühen Nachmittag. Ein 60-Meter-Hochseeschlepper und ein 25-Meter-Boot. Das Schwierigste ist immer, die Leine vom Schlepper so auszuwerfen, dass sie an Bord aufgefangen wird. Bei Sturm kann das Stunden dauern, ein endloses Procederé, erst die dünne Leine, dann die nächstdickere, dann die schwere Trosse. Aber in diesem Fall … Es hätte kein Problem darstellen sollen, das Wetter war unverändert gut und die See ruhig. Aber die Schlepper wurden gehindert.«

»Gehindert? Von wem?«

»Na ja …« Roberts verzog das Gesicht, als sei es ihm peinlich weiterzusprechen. »Es sieht ganz so aus, als hätten … Mein Gott! Haben Sie je von Angriffen durch Wale gehört?«

Anawak stutzte.

»Auf Schiffe?«

»Ja. — Auf große Schiffe.«

»Das ist äußerst selten.«

»Selten?« Roberts horchte auf. »Aber es hat so was gegeben.«

»Es gibt einen verbrieften Fall. Er stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Melville hat ihn zu einem Roman verarbeitet.«

»Sie meinen Moby Dick? Ich dachte, das sei nur ein Buch.«

Anawak schüttelte den Kopf.

»Moby Dick ist die Geschichte des Walfängers Essex. Er wurde tatsächlich von einem Pottwal versenkt. Ein 42-Meter-Schiff, aber aus Holz und wahrscheinlich schon ein bisschen morsch. Aber immerhin. Der Wal rammte das Schiff, und es lief innerhalb weniger Minuten voll. Die Mannschaft soll anschließend Wochen auf See getrieben sein in ihren Rettungsbooten … Ach ja, und es gibt zwei Fälle, die sich vergangenes Jahr vor der australischen Küste ereignet haben! In beiden Fällen wurden Fischerboote zum Kentern gebracht.«

»Wie geschah das?«

»Mit der Fluke zerschmettert. Die meiste Kraft steckt im Schwanz.« Anawak überlegte. »Ein Mann kam dabei ums Leben. Aber er starb an Herzschwäche, glaube ich. Als er ins Wasser stürzte.«

»Was waren das für Wale?«

»Keiner weiß es. Die Tiere waren zu schnell verschwunden. Außerdem, wenn so was passiert, beobachtet jeder etwas anderes.« Anawak sah hinüber zu der mächtigen Barrier Queen. Sie lag scheinbar unversehrt da. »Ich kann mir jedenfalls keinen Walangriff auf dieses Schiff vorstellen.«

Roberts folgte seinem Blick.

»Die Schlepper wurden angegriffen«, sagte er. »Nicht die Barrier Queen. Sie wurden seitlich gerammt. Offenbar geschah es, um die Schiffe umzuwerfen, aber das hat nicht hingehauen. Dann, um sie davon abzuhalten, die Leine zu werfen, und dann …«

»Angegriffen?«

»Ja.«

»Vergessen Sie’s.« Anawak winkte ab. »Ein Wal kann etwas umwerfen das kleiner oder genauso groß ist wie er selber. Nichts Größeres. Und er wird nichts Größeres angreifen, wenn er nicht dazu gezwungen ist.«

»Die Mannschaft schwört Stein und Bein, dass es so gewesen ist. Die Wale haben …«

»Was für Wale?«

»Gott, was für Wale? Wie sagten Sie eben noch auf dieselbe Frage? Jeder sieht was anderes.«

Anawak furchte die Stirn. »Gut, spielen wir’s durch. Unterstellen wir das Maximum. Dass die Schlepper von Blauwalen attackiert wurden. Balaenoptera musculus wird bis zu 33 Meter lang und 120 Tonnen schwer. Immerhin das größte Tier, das je auf Erden gelebt hat. Nehmen wir an, ein Blauwal versucht, ein Boot zu versenken, das genauso lang ist wie er selber. Er muss mindestens ebenso schnell sein, besser noch schneller. Aber gut, 50 bis 60 Stundenkilometer schafft er auf kurzen Strecken spielend. Er ist stromlinienförmig gebaut und muss kaum Reibungswiderstände überwinden. Aber welchen Impuls kann er entwickeln? Und wie viel Gegenimpuls entwickelt das Boot? Einfach gesagt, wer drängt wen ab, wenn die Leute an Bord gegensteuern?«

»120 Tonnen sind eine Menge Gewicht.«

Anawak wies mit einer Kopfbewegung auf den Lieferwagen. »Können Sie den hochheben?«

»Was? Den Wagen? Natürlich nicht.«

»Und das, obwohl Sie sich dabei abstützen könnten. Ein schwimmender Körper kann das nicht. Sie heben nun mal nichts, was schwerer ist als Sie selber, ganz gleich, ob Sie ein Wal sind oder ein Mensch. An den Massegleichungen kommen Sie nicht vorbei. Aber vor allem müssen Sie das Gewicht des Wals gegen das des verdrängten Wassers aufrechnen. Da bleibt nicht viel. Nur Vortriebskraft aus der Fluke. Möglich, dass er das Schiff damit in eine neue Bahn lenkt. Vielleicht gleitet er aber im Stoßwinkel sofort wieder ab. Es ist ein bisschen wie beim Billard, verstehen Sie?«

Roberts rieb sich das Kinn. »Einige meinen, es seien Buckelwale gewesen. Andere sprachen von Finnwalen, und die an Bord der Barrier Queen glauben Pottwale gesehen zu haben …« »Drei Spezies, die unterschiedlicher nicht sein könnten.« Roberts zögerte. »Mister Anawak, ich bin ein nüchtern denkender Mann. Mir drängt sich die Idee auf, dass die Schlepper einfach in eine Herde gerieten. Vielleicht haben nicht die Wale die Schiffe gerammt, sondern umgekehrt. Vielleicht hat sich die Besatzung dumm angestellt. Aber fest steht, dass die Tiere den kleinen Schlepper versenkt haben.«

Anawak starrte Roberts fassungslos an. »Als die Trosse gespannt war«, fuhr Roberts fort, »zwischen dem Bug der Barrier Queen und dem Heck des Schleppers. Eine straff gespannte Eisenkette. Mehrere Tiere kamen aus dem Wasser gesprungen und warfen sich darauf. In diesem Fall gab es kein verdrängtes Volumen abzuziehen, und die Seeleute sagen, es hätte sich um recht große Exemplare gehandelt.« Er machte eine Pause. »Der Schlepper wurde herumgerissen und kenterte. Er hat sich überschlagen.«

»Um Himmels willen. Und die Besatzung?«

»Zwei Vermisste. Die anderen konnten gerettet werden.

— Können Sie sich vorstellen, warum die Tiere so etwas getan haben?«

Gute Frage, dachte Anawak. Tümmler und Belugas erkennen sich im Spiegel. Denken sie? Planen sie? Auf eine Weise, die wir auch nur ansatzweise nachvollziehen können? Was bewegt sie? Kennen Wale ein Gestern oder Morgen? Welches Interesse sollten sie haben, einen Bergungsschlepper abzudrängen oder zu versenken?

Es sei denn, die Schlepper hätten sie bedroht. Oder ihre Jungen.

Aber wie und womit?

»Das alles passt nicht zu Walen«, sagte er.

Roberts wirkte hilflos. »Das sehe ich auch so. Die Besatzungen sehen es anders. Nun, der große Schlepper wurde auf ähnliche Weise attackiert. Schließlich gelang es, die Trosse zu befestigen. Diesmal erfolgte kein weiterer Angriff.«

Anawak starrte grübelnd auf seine Füße.

»Ein Zufall«, sagte er. »Ein schrecklicher Zufall.«

»Meinen Sie?«

»Wir wären vermutlich schlauer, wenn wir wüssten, was mit dem Ruder geschehen ist.« »Dazu haben wir die Taucher angefordert«, antwortete Roberts. »Sie werden in wenigen Minuten so weit sein.« »Haben die noch eine Reserveausrüstung im Wagen?« »Ich denke schon.« Anawak nickte. »Gut. Ich gehe mit runter.«

Hafenwasser war ein Alptraum. Überall auf der Welt. Eine schmuddelige Brühe, in der mindestens so viele Schwebstoffe wie Wassermoleküle unterwegs zu sein schienen. Der Boden war zumeist bedeckt mit einer meterdicken Schlammschicht, aus der beständig Partikel und organisches Material hochgewirbelt wurden. Als die See über Anawak zusammenschlug, fragte er sich einen Moment, wie sie hier überhaupt irgendetwas finden sollten. Er hatte das Gefühl, in braunem Nebel zu versinken. Trübe gewahrte er die Umrisse der beiden Taucher vor sich, dahinter eine diffuse, dunkle Fläche, das Heck der Barrier Queen.

Die Taucher sahen zu ihm herüber und bogen Zeigefinger und Daumen zum O. K.-Zeichen. Anawak antwortete in gleicher Weise. Er ließ Luft aus seiner Weste entweichen und schwebte entlang des Hecks nach unten. Nach wenigen Metern schalteten sie die Helmlampen ein. Das Licht streute stark. Es beleuchtete vornehmlich herumtreibendes Zeug. Ausgestoßene Luft blubberte und polterte in Anawaks Ohren, während sie tiefer gingen. Aus dem Halbdunkel schälte sich das Ruder heraus, schartig und gefleckt. Es stand schräg. Anawak tastete nach der Konsole mit dem Tiefenmesser. Acht Meter. Vor ihm verschwanden die beiden Taucher seitlich des Ruderblattes. Nur die Lichtkegel ihrer Lampen irrlichterten dahinter weiter.

Anawak näherte sich von der anderen Seite.

Zuerst sah er nur kantige Ränder und Schalen, die sich zu bizarren Skulpturen übereinander stapelten. Dann wurde ihm klar, dass das Ruder von Unmengen gestreifter Muscheln bewachsen war. Er schwamm näher heran. In den Ritzen und Spalten, dort wo das Blatt gegen den Schacht drehte, waren die Organismen zu einem kompakten, splitterigen Brei zermahlen worden. Kein Wunder, dass sich das Ruder nicht mehr hatte zurückbewegen lassen. Es war festgefressen.

Er ließ sich tiefer sinken. Auch hier war alles voller Muscheln. Vorsichtig griff er in die Masse hinein. Die kleinen, höchstens drei Zentimeter langen Tiere saßen fest aufeinander. Mit äußerster Vorsicht, um sich an den scharfen Schalen nicht zu schneiden, zog er daran, bis sich einige von ihnen widerstrebend lösten. Sie waren halb geöffnet. Aus dem Innern rankten sich zusammengeknäuelte Fäden, mit denen sie Halt gesucht hatten. Anawak verstaute sie in den Sammelbehältern an seinem Gürtel und überlegte.

Er verstand nicht sonderlich viel von Schalentieren. Es gab einige Muschelarten, die einen solchen Byssus besaßen, einen fransigen, klebrigen Fuß. Die bekannteste und berüchtigtste unter ihnen war die Zebramuschel, eingeschleppt aus dem Mittleren Osten. Sie hatte sich während der vergangenen Jahre in amerikanischen und europäischen Ökosystemen breit gemacht und begonnen, die einheimische Fauna zu vernichten. Wenn es Zebramuscheln waren, die das Ruder der Barrier Queen überwucherten, verwunderte es kaum, sie in solch dicken Schichten vorzufinden. Wo immer sie auftraten, breiteten sie sich gleich in unvorstellbaren Massen aus.

Anawak drehte die abgerissenen Muscheln in der Handfläche.

Das Ruder war von Zebramuscheln befallen. Alles sah ganz danach aus. Aber konnte das sein? Zebramuscheln zerstörten vornehmlich Süßwassersysteme. Zwar überlebten und gediehen sie auch in Salzwasser, aber das erklärte nicht, wie sie auf offener See, wo nichts als kilometertiefes Wasser war, ein fahrendes Schiff hätten entern können. Oder hatten sie schon im Hafen angedockt?

Das Schiff war aus Japan gekommen. Hatte Japan Probleme mit Zebramuscheln?

Seitlich unter ihm, zwischen Ruder und Heck, ragten zwei geschwungene Flügel aus dem trüben Nichts, geisterhaft, unwirklich in ihren Ausmaßen. Anawak ließ sich weiter sinken und schlug mit den Flossen, bis er die Ränder eines der Flügel umfassen konnte. Ein Gefühl des Unbehagens überkam ihn. Der gesamte Propeller maß viereinhalb Meter im Durchmesser. Ein Gebilde aus gegossenem Stahl, das über acht Tonnen wog. Kurz stellte er sich vor, wie es sein musste, wenn sich die Schraube auf Hochtouren drehte. Es schien kaum vorstellbar, dass irgendetwas dieses Riesending auch nur ankratzen konnte. Was ihm zu nahe kam, musste unweigerlich zerschreddert werden.

Doch die Muscheln saßen auch am Propeller.

Eine Schlussfolgerung drängte sich Anawak auf, die ihm nicht gefiel. Langsam hangelte er sich an den Rändern zur Mitte des Propellers hin. Seine Finger berührten etwas Glitschiges. Brocken einer hellen Substanz lösten sich und trudelten ihm entgegen. Er griff danach, bekam einen zu fassen und hielt ihn dicht vor seine Maske.

Gallertig. Gummiartig.

Das Zeug sah aus wie Gewebe.

Anawak drehte das zerfaserte Ding hin und her. Er ließ es in der Sammelbox verschwinden und tastete sich weiter vor. Einer der Taucher näherte sich ihm von der gegenüberliegenden Seite. Mit der Lampe über seiner Maske wirkte er wie ein Alien. Er machte das Zeichen für Herkommen. Anawak stieß sich ab und schwamm zwischen Ruderschacht und Schraube zu ihm hinüber. Langsam ließ er sich tiefer sinken, bis seine Flossen gegen die Kurbelwelle stießen, an deren Ende der Propeller saß.

Hier war mehr von dem schleimigen Zeug. Es hatte sich wie ein Überzug um die Welle gewickelt. Die Taucher versuchten, die Fetzen davon herunterzuziehen. Anawak half ihnen. Sie mühten sich vergebens. Das meiste war so eng mit der Schraube verbunden, dass es sich mit bloßen Händen nicht ablösen ließ.

Roberts’ Worte gingen ihm durch den Kopf. Die Wale hatten versucht, die Schlepper abzudrängen. Absurd.

Was wollte ein Wal, der das Andockmanöver eines Schleppers sabotierte? Dass die Barrier Queen sank? Bei stärkerem Seegang hätte die Gefahr bestanden, manövrierunfähig, wie der Frachter war. Irgendwann wären die Wellen wieder höher geworden. Wollten die Tiere verhindern, dass die Barrier Queen bis dahin sichere Gewässer aufsuchen konnte?

Er warf einen Blick aufs Finimeter.

Noch reichlich Sauerstoff. Mit ausgestrecktem Daumen zeigte er den beiden Tauchern an, dass er den Rumpf inspizieren wolle. Sie gaben das O. K.-Zeichen. Gemeinsam ließen sie die Schraube hinter sich und schwammen die Bordwand entlang, Anawak zuunterst, dort, wo sich der Rumpf zum Kiel hin bog. Das Licht seines Helmstrahlers wanderte über die stählerne Außenhaut. Der Anstrich sah ziemlich neu aus, nur an wenigen Stellen waren Kratzer oder Verfärbungen zu erkennen. Er sank weiter dem Grund entgegen, und es wurde noch dämmriger.

Unwillkürlich sah Anawak nach oben. Zwei diffuse Lichtflecken zeigten ihm an, wo die Taucher die Seitenwand absuchten.

Was sollte passieren? Er wusste schließlich, wo er war. Dennoch hatte sich ein quälender Druck auf seine Brust gelegt. Er paddelte mit den Füßen und schwebte entlang des Rumpfs. Nichts war zu sehen, was auf eine Beschädigung hindeutete.

Im nächsten Moment wurde der Schein seiner Helmlampe schwächer. Anawaks Rechte fuhr hoch. Dann erkannte er, dass es nicht an der Lampe lag, sondern an dem, was sie beleuchtete. Der Schiffsanstrich hatte das Licht gleichmäßig zurückgeworfen. Nun wurde es plötzlich verschluckt von der dunklen, schartigen Masse der Muscheln, unter der die Hülle der Barrier Queen teilweise verschwunden war.

Wo kamen diese Unmengen von Muscheln her?

Anawak überlegte, zu den Tauchern aufzuschließen. Dann entschied er sich anders und ließ sich noch tiefer unter den Rumpf sinken. Zum Kiel hin nahm der Muschelbewuchs zu. Falls die Unterseite der Barrier Queen überall in gleicher Weise bewachsen war, musste hier ein erhebliches Gewicht zusammengekommen sein. Unmöglich, dass niemand den Zustand des Schiffes bemerkt haben sollte. Solche Massen reichten aus, um einen Frachter auf hoher See erheblich zu verlangsamen.

Er war jetzt weit genug unter dem Kiel, dass er sich auf den Rücken legen musste. Wenige Meter unter ihm begann die Schlammwüste des Hafenbeckens. Das Wasser war hier so trübe, dass er kaum noch etwas sah, nur die wuchernden Muschelberge direkt über sich. Mit schnellen Flossenschlägen schwamm er weiter Richtung Vorschiff, als der Bewuchs ebenso plötzlich endete, wie er begonnen hatte. Erst jetzt erkannte Anawak, wie massiv die Wucherungen wirklich waren. Beinahe zwei Meter dick hingen sie unter der Barrier Queen.

Was war das?

Am Rand der Wucherungen klaffte ein Spalt.

Anawak hing unentschlossen davor. Dann griff er zum Schienbein, wo in einer Halterung ein Messer steckte, zog es hervor und stach in den Muschelberg hinein.

Die Kruste platzte auf.

Etwas schoss zuckend heran, klatschte gegen sein Gesicht und riss ihm beinahe den Lungenautomaten aus dem Mund. Anawak prallte zurück. Sein Kopf knallte gegen den Schiffsrumpf. Grelles Licht explodierte vor seinen Augen. Er wollte aufsteigen, aber über ihm war immer noch der Kiel. Mit hektischen Flossenschlägen versuchte er wegzukommen von den Muscheln. Er drehte sich um und sah sich einem weiteren Berg aus harten kleinen Schalen gegenüber. Seine Ränder schienen mit etwas Gallertigem an den Rumpf geklebt. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte, in den umherschwirrenden Partikeln etwas von dem Ding zu erkennen, das ihn attackiert hatte.

Es war verschwunden. Nichts war mehr zu sehen außer den bizarr verklumpten Muschelkrusten.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Rechte etwas umklammert hielt. Das Messer. Er hatte es nicht losgelassen. Etwas baumelte von der Klinge, ein Fetzen milchig transparenter Masse. Anawak packte sie zu den Gewebebrocken im Sammelbehälter. Dann sah er zu, dass er wegkam. Sein Bedarf an Abenteuern war fürs Erste gedeckt. Mit kontrollierten Bewegungen, darauf bedacht, seinen pochenden Herzschlag zu verlangsamen, stieg er auf, bis er seitlich der Schiffswand trieb und in der Ferne schwach den Lichtschein der beiden Taucher sah. Er hielt darauf zu. Auch sie waren auf Wucherungen gestoßen. Einer von ihnen löste mit seinem Messer einzelne Tiere aus dem Bewuchs. Anawak schaute gespannt zu. Jeden Augenblick erwartete er, etwas daraus hervorschnellen zu sehen, aber nichts geschah.

Der zweite Taucher reckte den Daumen hoch, und sie stiegen langsam zur Oberfläche. Es wurde heller. Selbst auf dem letzten Meter war das Wasser noch trübe, dann plötzlich hatte alles wieder Farbe und Kontur. Anawak blinzelte ins Sonnenlicht. Er zog die Maske vom Gesicht und atmete dankbar die frische Luft ein.

Am Pier standen Roberts und die anderen.

»Was ist los da unten?« Der Manager beugte sich vor.

»Was gefunden?«

Anawak hustete und spuckte Hafenwasser aus.

»Das kann man wohl sagen!«

Sie standen um das Heck des Lieferwagens versammelt. Anawak war mit den Tauchern übereingekommen, die Rolle des Berichterstatters zu übernehmen.

»Muscheln, die ein Ruder blockieren?«, fragte Roberts ungläubig.

»Ja. Zebramuscheln.«

»Wie passiert denn so was, um Himmels willen?«

»Gute Frage.« Anawak öffnete den Probenbehälter an seinem Gürtel und ließ den Gallertfetzen vorsichtig in einen größeren Behälter mit Seewasser gleiten. Der Zustand des Gewebes bereitete ihm Sorgen. Es sah aus, als habe der Zerfall bereits eingesetzt. »Ich kann nur mutmaßen, aber für mich hat es sich so zugetragen: Der Steuermann legt 5° Ruder. Aber das Ruder bewegt sich nicht. Es ist blockiert von den Muscheln, die sich überall festgesetzt haben. Grundsätzlich ist es nicht sonderlich schwer, eine Rudermaschine lahm zu legen, das wissen Sie besser als ich. Nur dass der Fall so gut wie niemals eintritt. Das weiß auch der Steuermann, weshalb er gar nicht auf die Idee kommt, etwas könne das Ruder blockieren. Er denkt, er habe zu wenig Ruder gegeben, also legt er nach, aber immer noch bewegt sich das Ruder nicht. Tatsächlich arbeitet die Rudermaschine auf Hochtouren. Sie versucht, dem Befehl Folge zu leisten. Schließlich geht der Mann am Steuer aufs Ganze, und endlich löst sich das Blatt. Während es sich dreht, werden die Muscheln in den Zwischenräumen zermahlen, aber sie lösen sich nicht. Der Muschelbrei blockiert das Ruder weiter wie Sand im Getriebe. Es frisst sich fest und kann nicht mehr zurück.« Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und sah Roberts an. »Aber das ist nicht das eigentlich Beunruhigende.«

»Sondern?«

»Die Seekästen sind frei, aber der Propeller ist ebenfalls bewachsen, ist voller Muscheln. Ich weiß nicht, wie dieses Zeug überhaupt ans Schiff gelangen konnte, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: An einem rotierenden Propeller hätte sich noch die hartnäckigste Muschel die Schalen ausgebissen. Also entweder sind die Tiere bereits in Japan zugestiegen — was mich wundern würde, denn bis zweihundert Seemeilen vor Kanada hat das Ruder ja reibungslos funktioniert —, oder sie kamen unmittelbar, bevor die Maschinen stoppten.«

»Sie meinen, die haben das Schiff auf hoher See befallen?«

»Geentert wäre treffender. Ich versuche mir vorzustellen, was passiert ist. Ein gigantischer Schwarm Muscheln setzt sich am Ruder fest. Als das Blatt blockiert, gerät das Schiff in Schräglage. Wenige Minuten später stoppt die Maschine. Der Propeller steht. Immer noch kommen Muscheln nach, setzen sich weiterhin ans Ruder, um die Blockade sozusagen zu zementieren, gelangen dabei an die Schraube und den übrigen Rumpf.«

»Wo kommen denn Tonnen ausgewachsener Muscheln her?«, sagte Roberts und sah sich hilflos um. »Mitten auf dem Ozean!«

»Warum drängen Wale Schlepper ab und springen auf Trossen? Sie haben mit den komischen Geschichten angefangen, nicht ich.«

»Ja, schon, aber …« Roberts nagte an seiner Unterlippe. »All das geschah gleichzeitig. Ich weiß auch nicht, es klingt fast, als wäre da ein Zusammenhang. Aber das ergibt doch keinen Sinn. Muscheln und Wale.«

Anawak zögerte.

»Wann wurde die Unterseite der Barrier Queen zuletzt kontrolliert?«

»Es gibt ständig Kontrollen. Und die Barrier Queen hat einen Spezialanstrich. Keine Angst, er ist umweltfreundlich! Aber viel kann sich eigentlich nicht darauf absetzen. Vielleicht ein paar Seepocken.«

»Das sind jedenfalls mehr als ein paar Seepocken.« Anawak hielt inne und starrte ins Leere. »Aber Sie haben Recht! Das Zeug dürfte gar nicht dort sein. Man könnte den Eindruck gewinnen, als sei die Barrier Queen wochenlang einer Invasion von Muschellarven ausgesetzt gewesen, und außerdem … da war dieses Ding in den Muscheln …« »Welches Ding?« Anawak berichtete von dem Wesen, das aus dem Muschelberg hervorgebrochen war. Während er davon sprach, erlebte er die Szene wieder. Den Schock und wie er mit dem Kopf gegen den Kiel geschlagen war. Sein Schädel dröhnte jetzt noch davon. Er hatte Sterne gesehen … Nein, Lichtblitze.

Einen Lichtblitz, um genau zu sein.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es gar nicht in seinem Kopf geblitzt hatte, sondern vor ihm im Wasser.

Dieses Ding hatte geblitzt.

Vorübergehend war er im tatsächlichen Sinne sprachlos. Er vergaß, einen Bericht fortzusetzen, weil ihm dämmerte, dass dieses Wesen luminesziert hatte. Wenn das zutraf, entstammte es möglicherweise den tieferen Schichten. Aber dann konnte es sich kaum in einem Hafen an den Rumpf der Barrier Queen geheftet haben. Es musste zusammen mit den Muscheln an die Hülle gelangt sein, auf offener See. Vielleicht hatten die Muscheln das Wesen angelockt, weil sie ihm als Nahrung dienten. Oder als Schutz. Und wenn es ein Krake war …

»Dr. Anawak?«

Er fokussierte seinen Blick wieder auf Roberts.

Ja, ein Krake, dachte er. Das könnte es am ehesten gewesen sein. Für eine Qualle war es zu schnell. Und zu stark. Es hat die Muscheln regelrecht auseinander gesprengt — so als sei es ein einziger elastischer Muskel. Dann fiel ihm ein, dass dieses Ding exakt in dem Augenblick hervorgeplatzt war, als er in den Spalt geschnitten hatte. Er musste es mit dem Messer verletzt haben. Hatte er ihm Schmerzen zugefügt? Zumindest hatte der Messerstich einen Reflex freigesetzt …

Übertreib’s mal nicht, dachte er. Was hast du schon groß gesehen in der Brühe da unten? Hauptsächlich hast du dich erschrocken.

»Sie sollten das Hafenbecken absuchen lassen«, sagte er zu Roberts. »Aber vorher schicken Sie diese Proben« — er deutete auf die verschlossenen Gefäße — »schnellstmöglich ins Forschungsinstitut nach Nanaimo zur Untersuchung. Packen Sie sie in den Helikopter. Ich fliege mit, ich weiß, wem wir sie dort in die Hand drücken.«

Roberts nickte. Dann zog er Anawak ein Stück beiseite. »Verdammt, Leon! Was halten Sie denn nun wirklich von alldem?«, flüsterte er. »Es ist unmöglich, dass sich meterdicker Bewuchs innerhalb von so kurzer Zeit festsetzt. Das Schiff hat schließlich nicht wochenlang vor sich hingegammelt.«

»Diese Muscheln sind eine Pest, Mr. Roberts …«

»Clive.«

»Clive, die Biester treten nicht allmählich auf, sondern immer gleich als Überfallkommando. So viel weiß man.«

»Aber doch nicht so schnell.«

»Jede dieser verdammten Muscheln kann pro Jahr bis zu tausend Nachkommen in die Welt setzen. Die Larven treiben mit der Strömung oder als blinde Passagiere zwischen den Schuppen von Fischen und im Gefieder von Wasservögeln. In amerikanischen Seen hat man Stellen gefunden, wo 900000 von ihnen einen einzigen Quadratmeter besiedeln, und sie sind tatsächlich beinahe über Nacht da hingekommen. Sie besetzen Trinkwasseranlagen, Kühlkreisläufe flussnaher Industriegebiete, Bewässerungssysteme, verstopfen und zerstören Rohrleitungen, und sie fühlen sich in Salzwasser offenbar ebenso wohl wie in Seen und Flüssen.«

»Na schön, aber Sie reden von Larven.«

»Millionen Larven.«

»Meinetwegen Milliarden, und meinetwegen im Hafen von Osaka oder auf hoher See. Was spielt das für eine Rolle? Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, die wären im Verlauf der letzten paar Tage alle erwachsen geworden, komplett mit Schale? — Ich meine, sind Sie denn überhaupt sicher, dass wir es wirklich mit Zebramuscheln zu tun haben?«

Anawak sah über die Schulter zu dem Lieferwagen der Taucher. Sie räumten die Ausrüstung ins Innere. Die Probenbehälter, notdürftig versiegelt, standen in einer Plastikkiste davor. »Wir haben hier eine Gleichung mit mehreren Unbekannten«, sagte er. »Wenn Wale tatsächlich versucht haben, die Schlepper abzudrängen, müssen wir fragen, warum. Weil an dem Schiff etwas vorgeht, das zu Ende gebracht werden soll? Weil es sinken soll, nachdem es von den Muscheln lahm gelegt wurde? Dann dieser unbekannte Organismus, der die Flucht ergreift, als ich seinem Versteck zu Leibe rücke. — Wie klingt das für Sie?«

»Wie die Fortsetzung von Independence Day mit anderen Mitteln. Meinen Sie wirklich …«

»Warten Sie. Nehmen wir dieselbe Gleichung. Eine etwas nervöse Herde Grau— oder Buckelwale fühlt sich durch die Barrier Queen belästigt. Da kommen zu allem Überfluss zwei Schlepper und rempeln sie an. Sie rempeln zurück. Aus purem Zufall ist das Schiff zudem von einer biologischen Plage befallen, die es sich im Ausland geholt hat wie ein Tourist die Pocken, und auf hoher See hat sich ein Kalmar in die Muschelberge verirrt.«

Roberts starrte ihn an. »Wissen Sie, ich glaube nicht an Science-Fiction«, fuhr Anawak fort. »Alles ist eine Frage der Interpretation. Schicken Sie ein paar Leute da runter. Sie sollen den Bewuchs abkratzen, aufpassen, ob noch weitere Überraschungsgäste darin sitzen, und sie einfangen.« »Was glauben Sie, wann wir mit den Ergebnissen aus Nanaimo rechnen können?« »In wenigen Tagen, schätze ich. — Es wäre übrigens hilfreich, wenn ich ein Exemplar des Berichts bekäme.« »Vertraulich«, betonte Roberts.

»Selbstverständlich. Ebenso vertraulich würde ich mich gerne mit der Mannschaft unterhalten.«

Roberts nickte. »Ich habe nicht das letzte Wort in der Sache. Aber ich sehe, was sich machen lässt.«

Sie gingen zurück zum Lieferwagen, und Anawak schlüpfte in seine Jacke.

»Ist es eigentlich üblich, in solchen Fällen Wissenschaftler hinzuzuziehen?«, fragte er.

»Solche Fälle sind überhaupt nicht üblich.« Roberts schüttelte den Kopf. »Es war meine Idee, ich hatte Ihr Buch gelesen und wusste, dass Sie auf Vancouver Island zu finden sind. Die Untersuchungskommission ist davon nicht rückhaltlos begeistert. — Aber ich denke, es war richtig. Wir verstehen nun mal nicht so viel von Walen.«

»Ich tue mein Bestes. Laden wir die Proben in den Helikopter. Je schneller wir sie nach Nanaimo schaffen, umso besser. Wir geben sie direkt in die Hände von Sue Oliviera. Sie ist Laborleiterin. Molekularbiologin, extrem fähig.«

Anawaks Mobiltelefon klingelte. Es war Stringer.

»Du solltest herkommen, sobald du kannst«, sagte sie.

»Was ist los?«

»Wir haben einen Funkspruch von der Blue Shark erhalten. Sie sind draußen auf See und haben Ärger.« Anawak ahnte Böses. »Mit Walen?« »Quatsch, nein.« Stringer sagte es, als sei er nicht recht bei Trost. »Was sollen wir für einen Ärger mit Walen haben? Dieses blöde Arschloch macht wieder Stress, dieser gottverdammte Mistkerl.«

»Welches Arschloch?«

»Na, wer schon! Jack Greywolf.«


6. April

Kiel, Deutschland

Zwei Wochen, nachdem er Tina Lund die Abschlussberichte der Wurmanalysen übergeben hatte, saß Sigur Johanson in einem Taxi, das ihn zu Europas renommiertester Adresse für marine Geowissenschaften fuhr, zum Forschungszentrum Geomar.

Wann immer es um Aufbau, Entstehung und Geschichte des Meeresbodens ging, wurden die Wissenschaftler aus Kiel konsultiert. Kein Geringerer als James Cameron ging bei den Kielern ein und aus, um sich den letzten Segen für Projekte wie Titanic und The Abyss zu holen. Der Öffentlichkeit war die Arbeit der Geomar-Forscher eher schwer zu erklären. Das Herumstochern in Sedimenten und das Messen von Salzgehalten schien auf den ersten Blick wenig zur Beantwortung drängender Menschheitsfragen beizusteuern. Ohnehin konnte sich kaum jemand vorstellen, was noch Anfang der Neunziger nicht mal die Mehrzahl der Wissenschaftler hatte glauben wollen: Am Boden der Meere, fernab von Sonnenlicht und Wärme, erstreckte sich keine leere, felsige Wüste. Es wimmelte dort von Leben. Zwar wusste man schon länger von exotischen Artengemeinschaften entlang vulkanischer Tiefseeschlote. Als jedoch 1989 der Geochemiker Erwin Suess von der Oregon State University zum Geomar-Forschungszentrum berufen wurde, erzählte er von noch bizarreren Dingen, von Oasen des Lebens an kalten Tiefseequellen, von geheimnisvollen chemischen Energien, die aus dem Erdinnern aufstiegen — und vom massenhaften Vorkommen einer Substanz, die bis dahin als vermeintlich exotisches Zufallsprodukt kaum Beachtung gefunden hatte: Methanhydrat.

Spätestens jetzt traten die Geowissenschaften aus dem Schatten heraus, den sie — wie die meisten Wissenschaften — selber zu lange geworfen hatten. Sie versuchten sich mitzuteilen. Sie nährten die Hoffnung, Naturkatastrophen, Klima— und Umweltentwicklungen zukünftig berechnen und beeinflussen zu können. Methan schien zudem die Antwort auf die Energieprobleme von morgen zu geben. Der Berichterstattungshunger der Presse war geweckt, und die Forscher lernten — anfangs zögerlich, dann zunehmend in der Manier von Popstars —, sich das neu erwachte Interesse zunutze zu machen.

Der Mann, der Johansons Taxi zur Kieler Förde steuerte, schien von alldem nicht viel mitbekommen zu haben. Seit zwanzig Minuten gab er seinem Unverständnis darüber Ausdruck, wie man ein Millionen teures Forschungszentrum in die Hände von Verrückten hatte geben können, die von dort alle paar Monate zu kostspieligen Kreuzfahrten aufbrachen, während seinesgleichen kaum über die Runden kam. Johanson, der ausgezeichnet Deutsch sprach, verspürte wenig Lust, die Dinge gerade zu rücken, aber der Mann redete ununterbrochen auf ihn ein. Dabei fuchtelte er dermaßen mit den Händen, dass der Wagen immer wieder gefährlich abdriftete.

»Kein Mensch weiß, was die da überhaupt tun«, schimpfte der Fahrer. »Sind Sie von der Zeitung?«, fragte er schließlich, als Johanson keine Antwort gab. »Nein. Ich bin Biologe.« Der Fahrer wechselte augenblicklich das Thema und erging sich über die nicht abreißende Folge von Nahrungsmittelskandalen. Offenbar sah er in Johanson einen der Verantwortlichen, jedenfalls schimpfte er nun auf genmanipuliertes Gemüse und überteuerte Bioprodukte und funkelte seinen Fahrgast herausfordernd an.

»Sie sind also Biologe. Wissen Sie, was man noch essen kann? Ich meine, bedenkenlos! Ich weiß es jedenfalls nicht. Nichts kann man mehr essen. Man sollte überhaupt nichts mehr essen, was sie einem verkaufen. Man sollte ihnen keinen Cent dafür geben.«

Der Wagen geriet auf die Gegenfahrbahn.

»Wenn Sie nichts essen, werden Sie verhungern«, sagte Johanson.

»Na und? Ist doch egal, woran man stirbt, oder? Wenn man nichts isst, stirbt man, isst man was, stirbt man am Essen.«

»Sie haben ganz sicher Recht. Ich persönlich würde es übrigens vorziehen, an einem gedopten Filetsteak zu sterben, als am Kühler dieses Tanklastwagens da.«

Der Fahrer griff unbeeindruckt ins Lenkrad und zog den Wagen in rasantem Tempo quer über drei Spuren in eine Ausfahrt. Der Tankwagen donnerte an ihnen vorbei. Zur Rechten sah Johanson Wasser. Sie fuhren entlang des Ostufers der Kieler Förde. Gewaltige Krananlagen reckten sich auf der gegenüberliegenden Seite zum Himmel.

Offenbar hatte der Taxifahrer Johansons letzte Bemerkung krumm genommen, denn fortan würdigte er ihn keines Wortes mehr. Sie durchquerten vorstädtische Straßen mit spitzgiebeligen Häusern, bis unvermittelt der lang gestreckte Gebäudekomplex aus Ziegeln, Glas und Stahl daraus auftauchte, seltsam unpassend inmitten der kleinbürgerlichen Beschaulichkeit. Der Fahrer bog scharf auf das Institutsgelände ab und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Röchelnd erstarb der Motor. Johanson atmete tief durch, bezahlte und stieg aus in der Gewissheit, während der letzten fünfzehn Minuten weit Schlimmeres durchgestanden zu haben als an Bord des Statoil-Helikopters.

»Ich würde wirklich gerne wissen, was die da drinnen treiben«, sagte der Fahrer ein letztes Mal. Er sagte es mehr zu seinem Lenkrad.

Johanson bückte sich und sah ihn durch die Beifahrertür an. »Wollen Sie’s wirklich wissen?«

»Ja.«

»Sie versuchen, das Gewerbe der Taxifahrer zu retten.«

Der Fahrer blinzelte ihn verständnislos an. »So oft bringen wir nun auch keinen hierher«, sagte er unsicher.

»Nein. Aber um es zu tun, müsst ihr Auto fahren. Wenn kein Benzin mehr da ist, könnt ihr eure Kisten entweder verschrotten oder auf was anderes umsteigen, und das liegt unten im Meer. Methan. Brennstoff. Sie versuchen, ihn nutzbar zu machen.«

Der Fahrer runzelte die Stirn. Dann sagte er: »Wissen Sie, was das Problem ist? Keiner erklärt einem so was.«

»Es steht in allen Zeitungen.«

»Es steht in Zeitungen, die Sie lesen, mein Herr. Keiner bemüht sich, es mir zu erklären.«

Johanson setzte zu einer Antwort an. Dann nickte er nur und schlug die Tür zu. Das Taxi wendete und schoss davon.

»Dr. Johanson.«

Aus einem verglasten Rundbau trat ein braun gebrannter junger Mann und kam zu ihm herüber. Johanson schüttelte die ausgestreckte Hand.

»Gerhard Bohrmann?«

»Nein. Heiko Sahling. Biologe. Dr. Bohrmann wird sich eine Viertelstunde verspäten, er hält einen Vortrag. Ich kann Sie hinbringen, oder wir schauen, ob wir in der Kantine einen Kaffee kriegen.«

»Was wäre Ihnen lieber?«

»Was Ihnen lieber ist. Übrigens sehr interessant, Ihre Würmer.«

»Sie haben sich damit beschäftigt?«

»Wir alle haben uns damit beschäftigt. Kommen Sie, wir heben uns den Kaffee für später auf. Gerhard wird gleich fertig sein, wir spielen so lange Zaungast.«

Sie betraten ein großes, geschmackvoll gestaltetes Foyer. Sahling führte ihn eine Treppe hinauf und über eine frei schwebende Stahlbrücke. Für ein wissenschaftliches Institut, fand Johanson, bewegte sich Geomar verdächtig nahe am Designerpreis.

»Im Allgemeinen werden Vorlesungen im Hörsaal abgehalten«, erklärte Sahling. »Aber wir haben eine Schulklasse zu Besuch.«

»Sehr löblich.«

Sahling grinste. »Für Fünfzehnjährige ist ein Hörsaal von einem Klassenzimmer nicht zu unterscheiden. Also sind wir mit denen durch das Institut gestreift, und sie durften überall reinschauen und fast alles anpacken. Die Lithothek haben wir bis zuletzt aufgespart. Gerhard erzählt ihnen dort die Gutenachtgeschichte.«

»Worüber?«

»Methanhydrate.«

Sahling öffnete eine Schiebetür. Auf der anderen Seite setzte sich die Brücke fort. Sie traten hinaus. Die Lithothek besaß die Größe eines mittleren Flugzeughangars. Zum Quai hin war das Gebäude offen, und Johanson erhaschte einen Blick auf ein ziemlich großes Schiff. Kisten und Gerätschaften stapelten sich entlang der Wände.

»Hier werden Proben zwischengelagert«, erklärte Sahling. »Vornehmlich Sedimentkerne und Seewasserproben. Archivierte Erdgeschichte. Wir sind angemessen stolz drauf.«

Er hob kurz die Hand. Unten grüßte ein hoch gewachsener Mann zurück und widmete sich wieder einer Gruppe Halbwüchsiger, die sich neugierig um ihn scharte. Johanson lehnte sich ans Brückengeländer und lauschte der Stimme, die zu ihnen heraufdrang.

»… einer der aufregendsten Momente, die wir je erlebt haben«, sagte Dr. Gerhard Bohrmann gerade. »Der Greifer hatte in beinahe achthundert Metern Tiefe einige Zentner Sediment herausgebrochen, durchsetzt mit einer weißen Substanz, und schüttete die Brocken aufs Arbeitsdeck. Beziehungsweise das, was oben noch ankam.«

»Das war im Pazifik«, erläuterte Sahling leise. »1996 auf der Sonne, etwa hundert Kilometer vor Oregon.«

»Wir mussten schnell sein. Methanhydrat ist nämlich ein ziemlich instabiles und unzuverlässiges Zeug«, fuhr Bohrmann fort. »Ich schätze, ihr wisst nicht sonderlich viel darüber, also werde ich versuchen, es so zu erklären, dass keiner vor Langeweile einschläft. — Was geschieht tief unten im Meer? Unter anderem entsteht Gas. Biogenes Methan zum Beispiel bildet sich seit Jahrmillionen beim Abbau von Tier— und Pflanzenresten, wenn Algen, Plankton und Fische verwesen und jede Menge organischer Kohlenstoff freigesetzt wird. Den Abbau besorgen vorzugsweise Bakterien. Nun ist es so, dass in der Tiefsee niedrige Temperaturen und ein außerordentlicher Druck herrschen. Alle zehn Meter nimmt der Wasserdruck um ein Bar zu. Flaschentaucher kommen 50 Meter tief, maximal 70, aber das war’s dann auch. Angeblich liegt der Tieftauchrekord mit Pressluft bei 140 Metern, was ich niemandem empfehlen würde. Solche Versuche enden meist tödlich. Und wir reden hier von Tiefen ab fünfhundert Metern! Da geht die Physik ganz eigene Wege. Wenn zum Beispiel Methan in großen Konzentrationen aus dem Erdinnern zum Meeresboden aufsteigt, geschieht dort unten etwas Außergewöhnliches. Das Gas verbindet sich mit dem kalten Tiefenwasser zu Eis. Ihr werdet in Zeitungen hin und wieder den Begriff Methaneis lesen. Das ist nicht ganz korrekt. Es ist nicht das Methan, das gefriert, sondern das umgebende Wasser. Die Wassermoleküle kristallisieren zu winzigen, käfigartigen Strukturen, in deren Innern sich jeweils ein Methanmolekül befindet. Sie komprimieren das Gas und drücken es auf kleinstem Raum zusammen.«

Einer der Schüler hob zögerlich die Hand.

»Du hast eine Frage?«

Der Junge druckste herum.

»Fünfhundert Meter sind nicht gerade tief, oder?«, sagte er schließlich.

Bohrmann betrachtete ihn einige Sekunden schweigend.

»Du bist nicht sonderlich beeindruckt, was?«

»Doch, schon. Ich dachte nur … na ja, Jacques Picard war mit einem Tauchboot im Marianengraben, und das war elftausend Meter tief. Ich meine, das ist wirklich tief! Warum kommt dieses Eis da unten nicht vor?«

»Hut ab, du hast die Geschichte der bemannten Tauchfahrt studiert. Was glaubst du denn persönlich?«

Der Junge überlegte. Er zog die Schultern hoch.

»Ist doch klar«, antwortete ein Mädchen an seiner statt.

»Da unten ist zu wenig Leben. Ab tausend Meter Wassertiefe wird zu wenig organische Materie zersetzt, also entsteht zu wenig Methan.«

»Ich wusste es«, murmelte Johanson oben auf der Brücke. »Frauen sind einfach intelligenter.«

Bohrmann lächelte das Mädchen freundlich an. »Stimmt. Es gibt natürlich immer Ausnahmen. Und tatsächlich findet man auch in tieferen Bereichen Methanhydrat, selbst noch in drei Kilometern Tiefe, wenn Sedimente mit sehr hohem Gehalt an organischem Material dort eingespült werden. Das ist in manchen Randmeeren der Fall. Übrigens kartieren wir Hydratkonzentrationen auch in sehr flachem Wasser, wo der Druck eigentlich nicht ausreicht. Aber solange die Temperatur niedrig genug ist, kommt es trotzdem zur Hydratbildung, zum Beispiel am Polarschelf.« Er wandte sich wieder an alle. »Dennoch — die Hauptvorkommen lagern in den Kontinentalabhängen zwischen 500 und 1000 Metern. Komprimiertes Methan. Vor der nordamerikanischen Küste haben wir kürzlich ein unterseeisches Gebirge untersucht, einen halben Kilometer hoch und fünfundzwanzig Kilometer lang, und es besteht zum überwiegenden Teil aus Methanhydrat. Manches davon sitzt tief im Gestein, anderes liegt offen am Meeresboden. Inzwischen wissen wir dass die Ozeane voll davon sind, aber wir wissen noch mehr: Die unterseeischen Kontinentalabhänge werden von Methanhydrat überhaupt erst zusammengehalten! Das Zeug ist wie Mörtel. Würde man sich das ganze Hydrat auf einen Schlag wegdenken, dann wären die Kontinentalabhänge löchrig wie Schweizer Käse. Mit dem Unterschied, dass Schweizer Käse auch mit Löchern seine Form behält. Die Abhänge hingegen würden in sich zusammenstürzen!« Bohrmann ließ die Worte einige Sekunden wirken. »Das ist aber noch nicht alles. Methanhydrate sind, wie gesagt, nur stabil unter sehr hohem Druck in Verbindung mit besonders niedrigen Temperaturen. Das heißt, nicht alles Methangas gefriert, sondern nur die oberen Schichten. Denn zum Erdinnern hin nehmen die Temperaturen ja wieder zu, und tief im Sediment sitzen große Methanblasen, die nicht gefrieren. Sie bleiben gasförmig. Aber weil die gefrorene Schicht wie ein Deckel obendrauf liegt, können sie nicht entweichen.«

»Ich habe etwas darüber gelesen«, sagte das Mädchen. »Die Japaner versuchen es abzubauen, richtig?«

Johanson war belustigt. Er fühlte sich an seine Schulzeit erinnert. In jeder Klasse gab es einen, der exzeptionell gut vorbereitet war und immer schon die Hälfte von dem wusste, was er eigentlich lernen sollte. Er schätzte, dass dieses Mädchen nicht sonderlich beliebt war.

»Nicht nur die Japaner«, erwiderte Bohrmann. »Alle Welt würde es am liebsten abbauen. Aber das gestaltet sich schwierig. Als wir die Hydratbrocken aus knapp achthundert Metern nach oben holten, lösten sich auf halber Höhe Gasblasen aus den Brocken. Was wir schließlich an Deck brachten, war immer noch viel, aber nur noch ein Teil dessen, was wir unten rausgebrochen hatten. Ich sagte ja, Methanhydrat wird schnell instabil. Würde man die Wassertemperatur in fünfhundert Meter Tiefe nur um ein Grad erhöhen, könnte es geschehen, dass alles dortige Hydrat auf einen Schlag instabil würde. Also haben wir schnell zugegriffen und die Brocken in Tanks mit flüssigem Stickstoff gepackt, wo sie stabil bleiben. Kommt mal ein Stück hier rüber.«

»Er macht das gut«, bemerkte Johanson, während Bohrmann mit der Schülergruppe zu einem Regal aus grob geschweißten Stahlrahmen ging. Behältnisse unterschiedlicher Größe stapelten sich darin. Zuunterst standen vier silberfarbene, tankartige Gebilde. Bohrmann wuchtete eines davon hervor, streifte Handschuhe über und öffnete den Deckel. Es zischte. Weißer Dampf trat aus dem Innern. Einige der Schüler traten unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Das ist nur der Stickstoff.« Bohrmann griff in den Behälter und förderte ein faustgroßes Stück zutage, das aussah wie ein verschmutzter Eisklumpen. Nach wenigen Sekunden begann der Klumpen leise zu zischen und zu knacken. Er winkte das Mädchen zu sich heran, brach ein Stück von dem Klumpen ab und reichte es ihr.

»Nicht erschrecken«, sagte er. »Es ist kalt, aber du kannst es unbesorgt in die Hand nehmen.«

»Es stinkt«, sagte das Mädchen laut.

Einige der Schüler lachten.

»Richtig. Es stinkt nach faulen Eiern. Das ist das Gas. Es entweicht.« Er zerbrach den Brocken in weitere Stücke und verteilte sie. »Ihr seht, was passiert. Die Schmutzstreifen im Eis sind Sedimentpartikel. In wenigen Sekunden wird nichts mehr übrig sein als diese paar Krümel und eine Wasserpfütze. Das Eis schmilzt, und die Methanmoleküle brechen aus ihren Käfigen hervor und verflüchtigen sich. Man kann es auch so beschreiben: Was eben noch ein stabiles Stück Meeresboden war, verwandelt sich binnen kürzester Zeit in nichts. Das ist es, was ich euch zeigen wollte.«

Er machte eine Pause. Die Schüler hatten ihre ganze Konzentration auf die zischenden, kleiner werdenden Brocken gelenkt. Anzügliche Kommentare über den Gestank gingen hin und her. Bohrmann wartete, bis sich die Brocken aufgelöst hatten, dann fuhr er fort:

»Soeben ist aber noch etwas passiert, das ihr nicht sehen konntet. Und es ist entscheidend für den berechtigten Respekt, den wir vor Hydraten haben. Ich sagte vorhin, dass die Eiskäfige in der Lage sind, Methan zu komprimieren. Aus jedem Kubikzentimeter Hydrat, den ihr in Händen hattet, sind soeben 165 Kubikzentimeter Methan freigesetzt worden. Wenn das Hydrat schmilzt, verhundertfünfundsechzigfacht sich also das Volumen. Und zwar schlagartig. Was bleibt, ist die Pfütze in eurer Hand. Du kannst die Zungenspitze hineinhalten«, sagte Bohrmann zu dem Mädchen. »Sag uns, wie es schmeckt.«

Die Schülerin sah ihn skeptisch an.

»In das stinkende Zeug?«

»Es stinkt nicht mehr. Das Gas hat sich verflüchtigt.

Aber wenn du dich nicht traust, werde ich es eben tun.« Gekicher. Das Mädchen senkte langsam den Kopf und leckte an der Wasserlache.

»Süßwasser«, rief sie überrascht.

»Richtig. Wenn Wasser gefriert, wird das Salz sozusagen ausgesondert. Darum ist die komplette Antarktis das größte Süßwasserreservoir der Welt. Eisberge bestehen aus Süßwasser.« Bohrmann verschloss den Druckbehälter mit dem flüssigen Stickstoff und schob ihn wieder zurück ins Regal. »Was ihr gerade erlebt habt, ist der Grund, warum die Förderung von Methanhydrat sehr zwiespältig gesehen wird. Wenn unser Eingreifen dazu führt, dass die Hydrate instabil werden, sind vielleicht Kettenreaktionen die Folge. Was würde geschehen, wenn der Mörtel verpufft, der die Kontinentalabhänge zusammenhält? Welche Auswirkungen hätte es auf das Weltklima, wenn das Tiefseemethan in die Atmosphäre entweicht? Methan ist ein Treibhausgas, es könnte die Atmosphäre weiter aufheizen, dann werden wiederum die Meere wärmer und so weiter, und so fort. Über alle diese Fragen machen wir uns hier Gedanken.«

»Warum versucht man es denn überhaupt zu fördern?«, fragte ein anderer Schüler. »Warum lässt man es nicht einfach unten?«

»Weil es die Energieprobleme lösen könnte«, rief das Mädchen und schob sich ein weiteres Stück nach vorn. »Das haben sie über die Japaner geschrieben. Die Japaner haben keine eigenen Rohstoffe, sie müssen alles importieren. Methan würde ihre Probleme lösen.«

»Das ist Blödsinn«, erwiderte der Junge. »Wenn es mehr Probleme macht, als welche aus der Welt zu schaffen, löst es gar nichts.«

Johanson begann zu grinsen.

»Ihr habt beide Recht.« Bohrmann hob die Hände. »Es könnte die Energieprobleme lösen. Das Ganze ist darum auch kein rein wissenschaftliches Thema mehr. Die Energiekonzerne haben die Forschung mit in die Hand genommen. Wir schätzen, dass in marinen Gashydraten doppelt so viel Methan-Kohlenstoff gebunden ist wie in allen bekannten Erdgas-, Erdöl— und Kohlevorkommen der Erde zusammen. Alleine auf dem Hydratrücken vor Amerika, einem Areal von immerhin 26000 Quadratkilometern, lagern 35 Gigatonnen davon. Das ist das Hundertfache dessen, was die kompletten Vereinigten Staaten im Jahr an Erdgas verbrauchen!«

»Klingt eindrucksvoll«, sagte Johanson leise zu Sahling. »Ich wusste gar nicht, dass es so viel ist.«

»Es ist noch viel mehr«, antwortete der Biologe. »Ich kann mir die Zahlen nie merken, aber er kennt sie genau.«

Als hätte Bohrmann zugehört, sagte er: »Möglicherweise — wir können nur schätzen — lagern über zehntausend Gigatonnen eingefrorenes Methan im Meer. Hinzu kommen Reservoirs an Land, tief in den Permafrostböden Alaskas und Sibiriens. Nur um euch ein Gefühl für Mengen zu geben: Sämtliche heute verfügbaren Lagerstätten von Kohle, Erdöl und Erdgas machen zusammen gerade mal fünftausend Gigatonnen aus, rund die Hälfte. Kein Wunder, dass sich die Energiewirtschaft den Kopf darüber zerbricht, wie sie das Hydrat abbauen kann. Ein einziges Prozent davon würde auf einen Schlag die Brennstoffreserven der USA verdoppeln, und die verbrauchen weltweit mit Abstand das meiste. Aber es ist wie immer und überall: Die Industrie sieht eine riesige Energiereserve, die Wissenschaft eine Zeitbombe, also versuchen wir uns partnerschaftlich zu einigen, natürlich immer im Interesse der Menschheit. — Tja. Damit sind wir am Ende unserer Expedition angelangt. Danke, dass ihr da wart.« Er schmunzelte. »Will sagen, dass ihr zugehört habt.«

»Und dass ihr was begriffen habt«, murmelte Johanson.

»Hoffentlich«, ergänzte Sahling.

»Ich hatte Sie anders in Erinnerung«, sagte Johanson wenige Minuten später, als er Bohrmann die Hand schüttelte. »Im Internet trugen Sie einen Schnurrbart.«

»Abrasiert.« Bohrmann fasste an seine Oberlippe. »Im Grunde ist es sogar Ihre Schuld.«

»Wie das?«

»Ich habe über Ihre Würmer nachgedacht. Heute morgen noch. Ich stand vor dem Spiegel, und der Wurm kroch vor meinem geistigen Auge dahin und vollzog in der Körpermitte eine Drehung, der meine Hand mit dem Rasierer aus unerfindlichen Gründen folgte. Eine Ecke war ab, da habe ich auch den Rest der Wissenschaft geopfert.«

»Ich habe also Ihren Schnurrbart auf dem Gewissen.« Johanson hob die Brauen. »Mal ganz was Neues.«

»Kein Problem. Er wächst nach, sobald wir wieder auf Expedition gehen. Auf See wachsen alle mehr oder weniger zu. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht brauchen wir die Vorstellung, wie Abenteurer auszusehen, um nicht seekrank zu werden. Kommen Sie, wir gehen ins Labor. Möchten Sie vorher eine Tasse Kaffee? Wir könnten einen Abstecher in die Kantine machen.«

»Nein, ich bin neugierig. Kaffee kann warten. Sie gehen wieder auf Expedition?«

»Im Herbst«, nickte Bohrmann, während sie gläserne Übergänge und Flure durchquerten. »Wir wollen zu den Subduktionszonen der Aleuten und kalte Quellen untersuchen. Sie haben Glück, mich in Kiel zu erwischen. Ich bin vor vierzehn Tagen aus der Antarktis zurückgekehrt, nach fast acht Monaten auf See. Einen Tag später kam Ihr Anruf.«

»Was haben Sie acht Monate in der Antarktis getrieben, wenn ich fragen darf?«

»Üwis ins Eis gebracht.«

»Üwis?«

Bohrmann lachte.

»Überwinterer. Wissenschaftler und Techniker. Sie haben im Dezember ihre Arbeit in den Stationen aufgenommen. Die Truppe, die augenblicklich unten ist, holt Eisbohrkerne aus vierhundertfünfzig Metern Tiefe. Ist das nicht unglaublich? Dieses alte Eis enthält die Klimageschichte der letzten siebentausend Jahre!«

Johanson dachte an den Taxifahrer.

»Die meisten Menschen werden davon nicht sonderlich beeindruckt sein«, sagte er. »Sie werden nicht begreifen, wie die Klimageschichte helfen soll, Hungersnöte zu überwinden oder die nächste Fußballweltmeisterschaft zu gewinnen.«

»Daran sind wir nicht ganz unschuldig. Die Wissenschaft hat sich die meiste Zeit in ihrem Universum eingekapselt.«

»Finden Sie? Ihr kleiner Vortrag eben war alles andere als eingekapselt.«

»Ich weiß aber nicht, ob das ganze Öffentlichkeitstheater viel nützt«, sagte Bohrmann, während sie eine Treppe hinunterschritten. »Am allgemeinen Desinteresse ändern auch Tage der offenen Tür nicht viel. Kürzlich hatten wir einen. Es war rappelvoll, aber wenn Sie anschließend jemanden gefragt hätten, ob man uns weitere zehn Millionen bewilligen sollte …«

Johanson schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich glaube, das Problem sind eher die Universen, die uns Wissenschaftler voneinander trennen. Was meinen Sie?«

»Weil wir zu wenig miteinander reden?«

»Ja. Oder meinethalben Wissenschaft und Industrie, oder Wissenschaft und Militär. Alle reden zu wenig miteinander.«

»Oder Wissenschaft und Ölkonzerne?« Bohrmann musterte ihn mit einem langen Blick.

Johanson lächelte. »Ich bin hier, weil jemand eine Antwort braucht«, sagte er. »Nicht, um eine zu erzwingen.«

»Industrie und Militär sind auf die Wissenschaftler angewiesen, ob es ihnen passt oder nicht«, meinte Sahling. »Wir reden durchaus miteinander. Das Problem scheint mir eher zu sein, dass wir einander unsere Sichtweisen nicht vermitteln können.«

»Und es im Übrigen nicht wollen!«

»Richtig. Was die Leute im Eis tun, kann helfen, eine Hungersnot zu verhindern. Ebenso gut kann es zum Bau einer neuen Waffe führen. Wir schauen auf das Gleiche, aber jeder sieht etwas anderes.«

»Und übersieht alles Übrige.«

Bohrmann nickte. »Diese Tiere, die Sie uns geschickt haben, Dr. Johanson, sind ein gutes Beispiel. Ich weiß nicht, ob man ihretwegen das Vorhaben am Kontinentalhang in Frage stellen sollte. Aber ich bin in dubio geneigt, es anzunehmen und vorsorglich abzuraten. Vielleicht ist das der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft und Industrie. Wir sagen: Solange nicht hinreichend bewiesen ist, welche Rolle dieser Wurm spielt, können wir eine Bohrung nicht empfehlen. Die Industrie geht von derselben Prämisse aus, gelangt aber zu einem anderen Resultat.«

»Solange nicht bewiesen ist, welche Rolle der Wurm spielt, spielt er keine.« Johanson sah ihn an. »Und was glauben Sie? Spielt er eine Rolle?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Was Sie uns da geschickt haben, ist … na ja, gelinde gesagt, es ist recht ungewöhnlich. Ich möchte Sie nicht enttäuschen, was wir bis jetzt herausgefunden haben, hätte ich Ihnen ebenso gut am Telefon erzählen können, aber … nun ja, ich dachte, Sie würden gerne mehr darüber erfahren. Und wir können Ihnen hier Verschiedenes zeigen.«

Sie erreichten eine schwere Stahltür. Bohrmann betätigte einen Wandschalter, und sie glitt geräuschlos auf. Im Zentrum der dahinter liegenden Halle ruhte ein gewaltiger Kasten, hoch wie ein zweistöckiges Haus. In regelmäßigen Abständen waren Bullaugen eingelassen. Stählerne Steigleitern führten zu Rundläufen und vorbei an Apparaturen, die über Rohrleitungen mit dem Kasten verbunden waren.

Johanson trat näher heran.

Er hatte Bilder von dem Ding im Internet gesehen, aber auf die Ausmaße war er nicht vorbereitet gewesen. Ein eigentümliches Gefühl beschlich ihn beim Gedanken, welch ungeheurer Druck im Innern des wassergefüllten Tanks herrschte. Kein Mensch würde auch nur eine Minute darin überleben. Dieser Kasten war der eigentliche Grund, warum Johanson ein Dutzend Würmer an das Kieler Institut geschickt hatte. Es war ein Tiefseesimulator. Er barg eine künstlich geschaffene Welt mitsamt Meeresboden, Kontinentalhang und Schelf.

Bohrmann ließ die Stahltür hinter ihnen zugleiten.

»Es gibt Leute, die den Sinn und Zweck der Anlage bezweifeln«, sagte er. »Auch der Simulator kann nur ein ungefähres Bild der tatsächlichen Gegebenheiten vermitteln, aber es ist besser, als jedes Mal hinauszufahren. Das Problem meeresgeologischer Forschung ist nach wie vor, dass wir nur winzige Ausschnitte der Wirklichkeit zu sehen bekommen. Zumindest ansatzweise sind wir hier in der Lage, allgemein gültige Thesen aufzustellen. Wir können zum Beispiel die Dynamik von Methanhydraten unter wechselnden Bedingungen besser erforschen.«

»Sie haben Methanhydrate da drin?«

»Etwa fünf Zentner. Neuerdings ist es uns gelungen, welches herzustellen, aber wir reden nicht so gern darüber. Die Industrie hätte gerne, dass wir den Simulator vollständig in ihren Dienst stellen. Und wir hätten zugegebenermaßen gerne das Geld von der Industrie. Aber nicht, um uns die freie Forschung damit abkaufen zu lassen.«

Johanson legte den Kopf in den Nacken und sah an dem Kasten empor. Hoch über ihm hatte sich eine Gruppe Wissenschaftler auf dem obersten Rundlauf versammelt. Die Szenerie mutete seltsam unwirklich an, wie aus einem James-Bond-Film der Achtziger.

»Druck und Temperatur im Tank sind stufenlos regelbar«, fuhr Bohrmann fort. »Augenblicklich entsprechen sie einer Meerestiefe von rund achthundert Metern. Im Boden selber lagert eine Schicht stabiler Hydrate, zwei Meter dick, was dem Zwanzig— bis Dreißigfachen in freier Natur entspricht. Unterhalb der Schicht simulieren wir Wärme aus dem Erdinnern und haben es mit freiem Gas zu tun. Also ein kompletter Meeresboden im Modellformat.«

»Faszinierend«, sagte Johanson. »Aber was genau tun Sie hier? Ich meine, Sie können die Entwicklung Ihrer Hydrate fortgesetzt beobachten, aber …«Er rang nach Worten.

Sahling kam ihm zur Hilfe. »Was genau wir hier tun außer zuschauen?«

»Ja.«

»Aktuell versuchen wir, eine erdgeschichtliche Periode nachzustellen, die 55 Millionen Jahre zurückliegt. Irgendwann an der Grenze von Paläozän zu Eozän scheint es auf der Erde eine Klimakatastrophe größeren Ausmaßes gegeben zu haben. Der Ozean kippte regelrecht um. Siebzig Prozent aller Lebewesen am Meeresboden starben, vornehmlich Einzeller. Ganze Bereiche der Tiefsee verwandelten sich vorübergehend in lebensfeindliche Zonen. Auf den Kontinenten kam es umgekehrt zu einer biologischen Revolution. In der Arktis tauchten Krokodile auf, und aus subtropischen Breiten wanderten Primaten und moderne Säugetiere nach Nordamerika ein. Ein phänomenales Durcheinander.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Bohrkerne. Das ganze Wissen um die Klimakatastrophe verdanken wir einem Bohrkern aus zwei Kilometer Meerestiefe.«

»Verrät der Kern auch etwas über die Ursachen?«

»Methan«, sagte Bohrmann. »Das Meer muss sich zu dieser Zeit erwärmt haben, sodass größere Mengen Methanhydrat instabil wurden. Als Folge rutschten die Kontinentalhänge ab und legten weitere Methanvorkommen frei. Innerhalb weniger Jahrtausende, vielleicht Jahrhunderte entwichen Milliarden Tonnen Gas in Ozean und Atmosphäre. Ein Teufelskreis. Methan fördert den Treibhauseffekt dreißig Mal stärker als CO2. Es heizte die Atmosphäre auf, dadurch erhitzten sich wiederum die Ozeane, noch mehr Hydrate zerfielen, das Ganze setzte sich endlos fort. Die Erde verwandelte sich in einen Backofen.« Bohrmann sah ihn an. »Fünfzehn Grad warmes Tiefenwasser anstelle unserer heutigen zwei bis vier Grad, das ist schon was.«

»Für die einen desaströs, für die anderen … na ja, ein Warmstart gewissermaßen. Verstehe. Im nächsten Kapitel unserer gepflegten kleinen Unterhaltung werden wir dann wohl den Untergang der Menschheit verinhaltlichen, richtig?«

Sahling lächelte. »So schnell steht der nicht bevor. Aber es gibt tatsächlich Anzeichen, dass wir uns in einer Phase empfindlicher Gleichgewichtsschwankungen befinden. Die Hydratreserven in den Ozeanen sind äußerst labil. Das ist der Grund, warum wir Ihrem Wurm so viel Beachtung schenken.« »Was kann ein Wurm an den Stabilitätsverhältnissen von Methanhydraten ändern?« »Eigentlich nichts. Der Eiswurm bevölkert die Oberfläche mehrere hundert Meter dicker Eisschichten. Er schmilzt ein paar Zentimeter ein und begnügt sich mit Bakterien.«

»Aber dieser Wurm hat Kiefer.«

»Dieser Wurm ist ein Geschöpf, das keinen Sinn ergibt. Am besten, Sie schauen es sich an.«

Sie traten zu einem halbrunden Steuerpult am Ende der Halle. Es erinnerte Johanson an die Kommandozentrale des Victor, nur um einiges größer. Die meisten der rund zwei Dutzend Monitore waren eingeschaltet und zeigten Aufnahmen aus dem Innern des Tanks. Ein diensthabender Techniker grüßte sie.

»Wir beobachten das Geschehen simultan mit zweiundzwanzig Kameras, außerdem wird jeder Kubikzentimeter pausenlosen Messungen unterworfen«, erklärte Bohrmann. »Die weißen Flächen auf den Monitoren der oberen Reihe sind Hydrate. Sehen Sie? Hier links ist das Feld, auf dem wir zwei der Polychäten abgesetzt haben. Das war gestern Vormittag.«

Johanson kniff die Augen zusammen.

»Ich sehe nur das Eis«, sagte er.

»Schauen Sie genauer hin.«

Johanson studierte jede Einzelheit des Bildes. Plötzlich fielen ihm zwei dunkle Flecken auf. Er zeigte darauf. »Was ist das? Vertiefungen?«

Sahling wechselte ein paar Worte mit dem Techniker. Das Bild veränderte sich. Plötzlich waren die beiden Würmer zu sehen.

»Die Flecken sind Löcher«, sagte Sahling. »Wir spielen den Film im Zeitraffer ab.«

Johanson sah zu, wie sich die Würmer zuckend über das Eis wanden. Eine Weile krochen sie hin und her, als versuchten sie, die Quelle eines Dufts zu erwittern. In der beschleunigten Darstellung wirkten ihre Bewegungen fremdartig und bizarr. Die borstigen Büschel beiderseits der rosa Körper zitterten wie elektrisiert.

»Jetzt passen Sie auf!«

Einer der Würmer war zum Stillstand gekommen.

Pulsierende Wellen durchliefen seinen Körper.

Dann verschwand er im Eis.

Johanson pfiff leise durch die Zähne.»Alle Wetter. Er bohrt sich hinein.«

Das zweite Tier lag immer noch ein Stück entfernt. Der Kopf bewegte sich wie im Takt zu einer unhörbaren Musik. Plötzlich schoss der Rüssel mit den Chitinkiefern hervor.

»Sie fressen sich ins Eis«, rief Johanson.

Er starrte wie paralysiert auf das Videobild. Was wunderst du dich, dachte er im selben Moment. Sie leben in Symbiose mit Bakterien, die Methanhydrat abbauen, und dennoch haben sie Kiefer zum Bohren.

Das Ganze ließ nur einen Schluss zu. Die Würmer wollten an Bakterien, die tiefer im Eis saßen. Gespannt sah er zu, wie sich die borstigen Körper ins Hydrat wühlten. Im Zeitraffer zitterten ihre Hinterleiber.

Plötzlich waren sie verschwunden. Nur die Löcher blieben als dunkle Flecken im Eis.

Kein Grund zur Beunruhigung, dachte er. Auch andere Würmer bohren. Sie bohren gerne. Manche bohren Schiffe in Grund und Boden.

Aber warum bohren sie Hydrate an?

»Wo sind die Tiere jetzt?«, fragte er.

Sahling sah auf den Monitor.

»Sie sind tot.«

»Tot?«

»Verreckt. Sie sind erstickt. Würmer brauchen Sauerstoff.«

»Ich weiß. Es ist der Sinn der ganzen Symbiose. Die Bakterien ernähren den Wurm, und der Wurm versorgt sie durch sein Strudeln mit Sauerstoff. Aber was ist hier geschehen?«

»Hier ist geschehen, dass die Würmer sich in ihren eigenen Tod gebohrt haben. Sie haben Löcher ins Eis gefressen, als sei es der süße Brei, bis sie in der Gasblase landeten, wo sie erstickten.«

»Kamikaze«, murmelte Johanson.

»Es kommt einem in der Tat wie Selbstmord vor.«

Johanson überlegte. »Oder aber sie werden von irgendetwas fehlgeleitet.« »Möglich. Aber von was? Im Innern der Hydrate ist nichts, was ein solches Verhalten auslösen könnte.«

»Vielleicht das freie Gas darunter?«

Bohrmann rieb sich das Kinn.

»Daran dachten wir auch schon. Aber das erklärt immer noch nicht, warum sie Selbstmord begehen.«

Johanson sah vor seinem geistigen Auge das Gewimmel auf dem Meeresgrund. Sein Unbehagen wuchs. Wenn sich Millionen Würmer ins Eis bohrten, was wären die Folgen?

Bohrmann schien seine Gedanken zu erraten.

»Die Tiere können das Eis nicht destabilisieren«, sagte er. »Im Meer sind die Hydratfelder ungleich dicker als hier. Diese verrückten Viecher kratzen allenfalls die Oberfläche an, maximal ein Zehntel der Eisschicht. Dann gehen sie unweigerlich ein.«

»Was nun? Werden Sie weitere Würmer testen?«

»Ja. Wir haben noch ein paar. Vielleicht nutzen wir auch die Gelegenheit, uns vor Ort umzusehen. Ich denke, Statoil wird das begrüßen. Die Sonne soll in den nächsten Wochen hoch nach Grönland fahren. Wir könnten den Start der Expedition vorziehen und der Stelle einen Besuch abstatten, wo Sie die Polychäten gefunden haben.« Bohrmann hob die Hände. »Aber diese Entscheidung treffe nicht ich. Das müssen andere bestimmen. Heiko und ich hatten einfach spontan die Idee.«

Johanson sah über die Schulter zu dem riesigen Tank. Er dachte an die toten Würmer im Innern.

»Die Idee ist gut«, sagte er.

Später fuhr Johanson in sein Hotel, um sich umzuziehen. Er versuchte Lund zu erreichen, aber sie ging nicht ran. Vor seinem geistigen Auge sah er sie in Kare Sverdrups Armen liegen, zuckte die Achseln und legte auf.

Bohrmann hatte ihn zum Abendessen in ein Bistro eingeladen, das zu den angesagten Adressen Kiels gehörte. Johanson ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er fand, sein Bart müsse gestutzt werden. Mindestens zwei Millimeter zu lang. Alles andere stimmte. Das immer noch volle Haar, ehemals dunkel und nun zunehmend durchsetzt von grauen Strähnen, fiel üppig nach hinten. Unter den breiten, schwarzen Brauen funkelte der Blick wie eh und je. Mitunter gab es Situationen, da verliebte er sich in sein eigenes Charisma. Dann wieder erkannte er den Charismatiker nicht wieder, besonders in den frühen Morgenstunden. Bis jetzt hatten ein paar Tassen Tee und ein bisschen kosmetische Pflege immer noch ausgereicht, das schnell wieder in Ordnung zu bringen. Eine Studentin hatte ihn unlängst mit dem deutschen Schauspieler Maximilian Schell verglichen, und Johanson hatte sich geschmeichelt gefühlt, bis ihm bewusst wurde, dass Schell über siebzig war. Danach war er auf eine andere Hautcreme umgestiegen.

Er durchstöberte seinen Koffer, wählte einen Pulli mit Reißverschluss, zwängte das Jackett seines Anzugs darüber und wickelte einen Schal um seinen Hals. Gut angezogen war er so nicht, und genau so liebte er es: nicht gut angezogen zu sein. Zu keiner Zeit passte wirklich zusammen, was er trug. Er kultivierte seine Schlampigkeit und genoss es, sich nicht mit Mode abplagen zu müssen. Nur in Momenten großer Einsicht war er bereit zuzugeben, dass sein angegammeltes Outfit eine Mode für sich darstellte, der er ebenso anhing wie andere Menschen dem Diktat der Haute Couture, und dass er mehr Zeit auf den Zustand des Ungekämmtseins verwendete als das Gros der Menschheit auf eine geordnete Frisur.

Er bleckte sein Spiegelbild an, verließ das Hotel und ließ sich mit dem Taxi zu seiner Verabredung fahren.

Bohrmann erwartete ihn. Eine Zeit lang plauderten sie über alles Mögliche, tranken Wein und aßen Seezunge, die hervorragend war. Nach einer Weile driftete die Unterhaltung wieder in Richtung Tiefsee.

Beim Dessert fragte Bohrmann wie beiläufig: »Sind Sie eigentlich mit den Plänen von Statoil näher vertraut?«

»Nur im Groben«, erwiderte Johanson. »Ich verstehe nicht übermäßig viel vom Ölgeschäft.«

»Was planen die? Eine Plattform werden sie ja kaum bauen so weit draußen.«

»Nein. Keine Plattform.«

Bohrmann nippte an seinem Espresso.

»Entschuldigen Sie, ich will nicht in Sie dringen. Ich weiß nicht, wie vertraulich diese Dinge sind, aber …«

»Das geht schon in Ordnung. Ich bin als Plaudertasche bekannt. Wenn mir einer was anvertraut, kann es gar nicht geheim sein.«

Bohrmann lachte. »Also, was glauben Sie, bauen die da draußen?«

»Sie machen sich Gedanken über eine Unterwasserlösung. Eine vollautomatische Fabrik.«

»So was wie Subsis?«

»Was ist Subsis?«

»Subsea Separation and Injection System. Eine Unterwasserfabrik. Sie arbeitet seit wenigen Jahren auf dem Trollfeld in der norwegischen Rinne.« »Nie davon gehört.«

»Fragen Sie Ihre Auftraggeber. Subsis ist eine Förderstation. Sie steht in 350 Meter Tiefe auf dem Meeresboden und trennt dort Öl und Gas vom Wasser. Augenblicklich findet dieser Prozess noch auf den Plattformen statt, und das Produktionswasser wird ins Meer geleitet.«

»Ach stimmt!« Lund hatte darauf angespielt. »Produktionswasser. Es gibt dieses Problem, dass die Fische unfruchtbar werden.«

»Eben dieses Problem könnte Subsis lösen. Das schmutzige Wasser wird sofort wieder ins Bohrloch gepresst, drückt weiteres Öl nach oben, wird wieder davon getrennt, wieder nach unten gepresst et cetera. Öl und Gas gelangen durch Pipelines direkt zur Küste — an sich eine feine Sache.«

»Aber?« »Ich weiß nicht, ob’s ein Aber gibt. Angeblich arbeitet Subsis problemlos in fünfzehnhundert Meter Tiefe. Der Hersteller meint, zweitausend wären auch kein Problem, und die Ölkonzerne wünschen sich fünftausend.« »Ist das realistisch?« »Mittelfristig schon. Ich glaube, alles, was im kleinen Maßstab funktioniert, klappt auch im großen, und die Vorteile liegen auf der Hand. Sehr bald schon werden die automatischen Fabriken die Plattformen abgelöst haben.«

»Sie scheinen die allgemeine Euphorie nicht recht zu teilen«, bemerkte Johanson.

Eine Pause entstand. Bohrmann kratzte sich am Hinterkopf. Er sah aus, als wisse er nicht recht, wie er darauf antworten solle.

»Was mir Sorgen macht, ist weniger die Fabrik. Es ist die Naivität der ganzen Herangehensweise.«

»Die Station ist ferngesteuert?«

»Komplett. Vom Land aus.«

»Das heißt, etwaige Reparaturen und Wartungsarbeiten übernehmen Roboter.«

Bohrmann nickte.

»Verstehe«, sagte Johanson nach einer Weile.

»Die Sache hat ein Für und Wider«, sagte Bohrmann. »Wenn Sie in unbekanntes Gebiet vordringen, ist das immer riskant. Und die Tiefsee ist unbekanntes Gebiet, machen wir uns nichts vor. Insofern ist es richtig, dass wir versuchen, unsere Einsatzmittel zu automatisieren, anstatt Menschenleben zu gefährden. Es ist in Ordnung, wenn wir einen Tauchroboter runterschicken, um Vorgänge zu beobachten oder ein paar Proben zu entnehmen. Aber das hier ist etwas anderes. Wie wollen Sie einen Unfall, bei dem Öl unter Hochdruck aus dem Bohrloch schießt, in fünftausend Meter Tiefe wieder unter Kontrolle bringen? Sie kennen ja nicht mal wirklich das Terrain. Alles, was Sie kennen, sind Messungen. In der Tiefsee sind wir blind. Wir können mit Hilfe von Satelliten, mit Fächersonar oder seismischen Wellen eine Karte der Meeresbodenmorphologie anlegen, die bis auf den halben Meter genau ist. Wir delektieren Gas-und Ölvorkommen mit bodensimulierenden Reflektoren, sodass die Karte hinterher sagt, hier kannst du bohren, hier ist Öl, da sind Hydrate, und da drüben musst du aufpassen … Aber was da unten ist — wirklich ist! —, wissen wir trotzdem nicht.«

»Meine Rede«, murmelte Johanson.

»Wir sehen die Auswirkungen unseres Tuns nicht. Wir können nicht einfach mal runterflitzen, wenn die Fabrik Mist baut. Missverstehen Sie mich nicht, ich bin keineswegs gegen die Rohstoffförderung. Aber ich bin dagegen, Fehler zu wiederholen. Als der Ölboom losging, hat man sich keine Gedanken darüber gemacht, wie man den ganzen Schrott wieder entsorgt bekommt, den man da so lustig ins Meer gestellt hatte, Man hat Abwässer und Chemikalien in die See und in die Flüsse geleitet nach dem Motto, sie werden’s schon schlucken, radioaktives Zeug im Ozean versenkt, Ressourcen und Lebensformen ausgebeutet und vernichtet, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie komplex die Zusammenhänge sind.«

»Aber die automatischen Fabriken werden kommen?«

»Zweifellos. Sie sind wirtschaftlich, sie erschließen Vorkommen, an die menschliche Arbeitskräfte nie rankämen. Und als Nächstes stürzt sich dann alles aufs Methan. Weil es sauberer verbrennt als alle anderen fossilen Brennstoffe.

— Stimmt! — Weil ein Wechsel von Öl und Kohle zu Methan den Treibhauseffekt verlangsamen wird. — Auch richtig. — Es ist alles richtig, solange es sich unter Idealbedingungen abspielt. Aber die Industrie verwechselt den Idealfall gerne mit der Wirklichkeit. Sie will ihn damit verwechseln. Sie wird sich von allen Prognosen immer die sonnigste heraussuchen, damit es schneller losgehen kann, auch wenn man nichts weiß über den Kosmos, in den man da eingreift.«

»Aber wie soll das überhaupt gehen?«, fragte Johanson. »Wie will man Hydrat fördern, wenn es sich auf dem Weg zur Oberfläche zersetzt?«

»Auch da kommen wieder automatische Fabriken ins Spiel. Man schmilzt das Hydrat in großer Tiefe, indem man es zum Beispiel erwärmt, fängt das frei werdende Gas in Trichtern auf und leitet es nach oben. Es klingt prima, aber wer garantiert, dass solche Schmelzaktionen nicht eine Kettenreaktion auslösen und sich die Katastrophe aus dem Paläozän wiederholt?«

»Glauben Sie wirklich, das sei möglich?«

Bohrmann breitete die Hände aus.

»Jeder unüberlegte Eingriff ist ein Selbstmordkommando. Aber es geht schon los. Indien, Japan und China sind sehr rege.« Er lächelte freudlos. »Und die wissen auch nicht, was da unten ist. Sie wissen gar nichts.«

»Würmer«, murmelte Johanson. Er dachte an die Videoaufnahme, die der Victor von dem Gewimmel am Meeresgrund gemacht hatte. Und von dem ominösen Geschöpf, das so schnell im Dunkeln verschwunden war.

Würmer. Monster. Methan. Klimakatastrophe.

Man sollte schnell noch etwas trinken.


11. April

Vancouver Island und Clayoquot Sound, Kanada

Der Anblick versetzte Anawak in Wut.

Über zehn Meter maß das Tier vom Kopf bis zur Fluke. Es war einer der größten Transient Orcas, die er je gesehen hatte, ein gewaltiges Männchen. In dem halb geöffneten Rachen schimmerten die typischen dicht gepackten Reihen kleiner kegelförmiger Zähne. Wahrscheinlich war das Tier schon ziemlich alt, dennoch schien es vor Kraft zu strotzen. Nur wenn man genauer hinsah, bemerkte man die Stellen, an denen die schwarzweiße Haut nicht mehr glänzte, sondern stumpf und schorfig wirkte. Das eine Auge war geschlossen, das andere verdeckt.

So riesig der Orca war, konnte er keinem Lachs mehr gefährlich werden. Er lag auf der Seite im feuchten Sand, und er war tot.

Anawak hatte das Tier sofort erkannt. In den Registern wurde es unter der Bezeichnung J-19 geführt, aber seine säbelartig gebogene Rückenfinne hatte ihm den Spitznamen Dschinghis eingetragen. Er ging um den Orca herum und fand ein Stück abseits John Ford, den Direktor des Forschungsprogramms für Meeressäuger im Vancouver Aquarium, im Gespräch mit Sue Oliviera, der Laborleiterin in Nanaimo, und einem dritten Mann. Sie standen unter den strandnahen Bäumen. Ford winkte Anawak heran.

»Dr. Ray Fenwick vom Kanadischen Institut für Ozeanische Wissenschaften und Fischerei«, stellte er den Unbekannten vor.

Fenwick war angereist, um die Autopsie vorzunehmen. Nachdem Dschinghis’ Tod bekannt geworden war, hatte Ford vorgeschlagen, die Vivisektion zur Abwechslung nicht hinter verschlossenen Türen, sondern direkt am Strand stattfinden zu lassen. Er wollte einer möglichst großen Gruppe von Presseleuten und Studenten Einblick in die Anatomie eines Orcas gewähren.

»Außerdem wirkt es anders am Strand«, hatte er gesagt. »Nicht so antiseptisch und distanziert. Wir haben einen toten Orca und das Meer direkt vor der Nase. Es ist sein Lebensraum, nicht unserer. Er liegt quasi vor seiner Haustür. Wenn wir die Autopsie hier durchführen, erwecken wir mehr Verständnis, mehr Mitleid, mehr Betroffenheit. Es ist ein Trick, aber er funktioniert.«

Sie hatten die Angelegenheit zu viert besprochen, Ford, Fenwick, Anawak und Rod Palm von der marinen Forschungsstation auf Strawberry Isle, einer winzigen Insel in der Bucht von Tofino. Die Strawberry -Leute erforschten von dort aus die Ökosysteme des Clayoquot Sound. Palm selber hatte sich in der Populationskunde von Orcas einen Namen gemacht. Sie waren schnell übereingekommen, die Obduktion öffentlich durchzuführen, weil es für Aufmerksamkeit sorgen würde. Und Aufmerksamkeit hatten die Orcas weiß Gott nötig.

»Dem äußeren Anschein nach ist er an einer bakteriologischen Infektion gestorben«, sagte Fenwick auf Anawaks Fragen. »Aber ich will mich nicht zu vorwitzigen Prognosen versteigen.«

»Sie versteigen sich nicht«, sagte Anawak düster. »Erinnert ihr euch, 1999? Sieben tote Orcas, und alle infiziert.«

»The torture never stops«, summte Oliviera die Textzeile eines alten Frank-Zappa-Songs. Sie sah ihn an und machte eine konspirative Kopfbewegung. »Komm mal mit.«

Anawak folgte ihr zu dem Kadaver. Zwei große metallene Koffer und ein Container standen bereit, voller Werkzeug für die Autopsie. Einen Orca zu zerlegen war etwas anderes, als einen Menschen aufzuschneiden. Es bedeutete Schwerstarbeit, Unmengen von Blut und gewaltigen Gestank.

»Die Presse wird gleich hier sein mit einem Haufen Doktoranden und Studenten im Schlepptau«, sagte Oliviera mit einem Blick auf die Uhr. »Da es uns schon mal zusammen an diesen traurigen Ort verschlagen hat, sollten wir schnell über die Auswertung deiner Proben sprechen.«

»Seid ihr weitergekommen?«

»Hier und da.«

»Und Ihr habt Inglewood ins Bild gesetzt.«

»Nein. Ich dachte, das besprechen wir erst mal unter uns.«

»Klingt, als hättet ihr nichts Rechtes in der Hand.«

»Sagen wir mal so — zum einen sind wir verwundert und zum anderen ratlos«, erwiderte Oliviera. »Was die Muscheln angeht, existiert jedenfalls keinerlei Literatur, die sie beschreibt.«

»Ich hätte schwören können, dass es Zebramuscheln sind.«

»Einerseits ja. Und auch wieder nicht.«

»Klär mich auf.«

»Es gibt zwei Betrachtungsweisen. Entweder haben wir es mit einem Verwandten der Zebramuschel zu tun oder mit einer Mutation. Die Dinger sehen aus wie Zebramuscheln, sie bilden die gleichen Schichtungen, aber etwas an ihrem Byssus ist komisch. Die Fäden, die den Fuß bilden, sind ziemlich dick und lang. — Wir haben uns spaßeshalber angewöhnt, sie Düsenmuscheln zu nennen.«

»Düsenmuscheln?«

Oliviera verzog das Gesicht. »Uns fiel nichts Besseres ein. Wir konnten eine Menge von ihnen lebend beobachten, und sie verfügen … nun ja sie lassen sich nicht einfach treiben wie gewöhnliche Zebramuscheln, sondern sind bis zu einem gewissen Grad navigationsfähig. Sie saugen Wasser an und stoßen es aus. Der Rückstoß treibt sie voran. Zugleich benutzen sie die Fäden, um die Richtung zu bestimmen. Wie kleine, drehbare Propeller. Erinnert dich das an irgendwas?«

Anawak überlegte.

»Tintenfische schwimmen mit Raketenantrieb.«

»Einige. Es gibt aber noch eine Parallele. Man kommt nur drauf, wenn man ein echter Eierkopf ist, aber davon haben wir ja genug im Labor. Ich rede von Dinoflagellaten. Manche dieser Einzeller besitzen zwei Geißeln am Körperende. Mit der einen bestimmen sie die Richtung, die andere dreht sich und treibt sie an.«

»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«

»Sagen wir, es ist Konvergenz in großzügiger Auslegung. Man klammert sich an alles. Ich kenne jedenfalls keine Muschel, die sich auf ähnliche Weise fortbewegt. Diese hier sind mobil wie ein Schwarm Fische, und irgendwie erhalten sie trotz der Schalen sogar Auftrieb.«

»Es würde jedenfalls erklären, wie sie auf hoher See an den Rumpf der Barrier Queen gelangen konnten«, sinnierte Anawak. »Und darüber seid ihr verwundert?«

»Ja.«

»Worüber seid ihr denn ratlos?«

Oliviera trat zur Flanke des toten Wals und strich mit der Hand über die schwarze Haut.

»Über diese Gewebefetzen, die du von unten mitgebracht hast. Wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen, und offen gesagt konnten wir auch nicht mehr viel damit anfangen. Die Substanz war weitgehend zerfallen. Das bisschen, was wir analysiert haben, lässt zumindest den Schluss zu, dass es sich bei dem Zeug an der Schiffsschraube und dem, was an deiner Messerspitze hängen geblieben ist, um ein und dasselbe handelt.

Darüber hinaus erinnert es an nichts, was wir kennen.«

»Du meinst, ich habe E.T. vom Rumpf gesäbelt?«

»Die Kontraktionsfähigkeit des Gewebes erscheint über proportional ausgebildet. Von hoher Festigkeit und zugleich enorm flexibel. Wir wissen nicht, was es ist.«

Anawak runzelte die Stirn, »Anzeichen von Biolumineszenz?«

»Möglich. Wieso?«

»Weil ich den Eindruck hatte, dass dieses Ding kurz aufblitzte.«

»Das, was dich über den Haufen geschwommen hat?«

»Es schoss heraus, als ich im Belag rumstocherte.«

»Möglicherweise hast du ein Stück davon abgeschnitten, und das fand es nicht witzig. Obwohl ich bezweifle, dass dieses Gewebe überhaupt so etwas wie Nervenbahnen aufweist. Ich meine, um Schmerz zu empfinden. Eigentlich ist es nur … Zellmasse.«

Stimmen näherten sich. Über den Strand kam eine Gruppe Menschen auf sie zu. Einige trugen Kameras, andere Schreibunterlagen.

»Es geht los«, sagte Anawak.

»Ja.« Oliviera sah ratlos drein. »Was sollen wir jetzt machen? Soll ich die Daten an Inglewood schicken? Ich fürchte nur, sie werden nichts damit anfangen können. Offen gestanden wäre es mir lieber, wenn ich noch weitere Proben bekäme. Vor allem von dieser Substanz.«

»Ich setze mich mit Roberts in Verbindung.«

»Gut. Stürzen wir uns ins Gemetzel.«

Anawak betrachtete den reglosen Orcas und empfand Wut und Hilflosigkeit. Es war deprimierend. Erst waren die Tiere wochenlang ausgeblieben, und jetzt lag wieder eines tot am Strand.

»So ein verdammter Mist!«

Oliviera zuckte die Achseln. Mittlerweile hatten sich auch Fenwick und Ford in Bewegung gesetzt.

»Spar dir deinen Blues für die Presse«, sagte sie.

Die Autopsie dauerte über eine Stunde, während derer Fenwick, assistiert von Ford, den Orca aufschnitt, seine Eingeweide, das Herz, die Leber und die Lungen zutage förderte und den anatomischen Aufbau erläuterte. Der Mageninhalt wurde ausgebreitet und enthielt eine halb verdaute Robbe. Im Gegensatz zu Residents fraßen Transients und Offshore Orcas Seelöwen, Tümmler und Delphine und rückten im Rudel auch schon mal einem großen Bartenwal zu Leibe.

Unter den Zuschauern waren die Wissenschaftsjournalisten in der Minderheit. Dafür hatten sich Vertreter von Tageszeitungen, Magazinen und Fernsehsendern eingefunden. Im Wesentlichen die Truppe, auf die sie spekuliert hatten, allerdings konnten sie kaum Fachwissen voraussetzen. Fenwick erklärte darum als Erstes die spezifischen Merkmale des Körperbaus.

»Die Form ist die eines Fisches, aber nur, weil die Natur diesen Bauplan für ein Wesen übernommen hat, das vom Land ins Wasser übersiedelte. So etwas geschieht oft. Wir nennen das Konvergenz. Völlig unterschiedliche Spezies bilden konvergente, also in der Wirkung gleichartige Strukturen aus, um bestimmten Umgebungsansprüchen zu begegnen.«

Er entfernte Teile der dicken Außenhaut und legte den darunter liegenden Speck frei.

»Noch ein Unterschied: Fische, Amphibien und Reptilien sind Wechselwarme, also Kaltblüter, was bedeutet, dass ihre Körpertemperatur der jeweiligen Umgebungstemperatur entspricht. Makrelen gibt es zum Beispiel am Nordkap ebenso wie im Mittelmeer, aber am Nordkap würden wir eine Körpertemperatur von 4° Celsius messen, bei einer Mittelmeermakrele hingegen 24° Celsius. Für Wale trifft das nicht zu. Sie sind Warmblüter — Warmblüter wie wir.« Anawak beobachtete die Umstehenden. Soeben hatte Fenwick eine Kleinigkeit gesagt, die immer wieder funktionierte: »… wie wir« ließ die Leute aufhorchen. Wale sind wie wir. Da war sie wieder, die eng gezogene Grenze, innerhalb derer Menschen begannen, Leben mit Wert zu versehen. Fenwick fuhr fort: »Ob sie nun gerade in der Arktis weilen oder in der Bucht von Kalifornien, Wale halten immer eine konstante Körpertemperatur von 37° Celsius. Dafür fressen sie sich eine Fettschicht an, die wir Blubber nennen. Sehen Sie diese fette, weiße Masse? Wasser wirkt Wärme entziehend, aber diese Schicht verhindert, dass die Körperwärme verloren geht.« Er sah in die Runde. Seine behandschuhten Hände waren rot und schleimig vom Blut und Fett des Orca.

»Zugleich kann der Blubber das Todesurteil für einen Wal bedeuten. Das Problem aller strandenden Wale ist ihr Körpergewicht und eben diese an sich wunderbare Speckschicht. Ein 33 Meter langer und 130 Tonnen schwerer Blauwal wiegt das Vierfache des größten Sauriers, der je gelebt hat, aber auch ein Orca bringt es auf neun Tonnen. Nur im Wasser sind solche Wesen möglich, getreu dem Lehrsatz des Archimedes, dass jeder in eine Flüssigkeit getauchte Körper so viel von seinem Gewicht verliert, wie die von ihm verdrängte Flüssigkeitsmenge wiegt. An Land werden Wale darum von ihrem eigenen Gewicht erdrückt, und die isolierende Wirkung der Speckschicht gibt ihnen den Rest, weil die aufgenommene Umgebungswärme nicht wieder abgegeben wird. Viele Wale, die stranden, krepieren an einem Überhitzungs schock.«

»Dieser auch?«, fragte eine Journalistin.

»Nein. In den letzten Jahren hatten wir hier zunehmend Tiere, deren Immunsystem zusammengebrochen war. Sie starben an Infektionen. J-19 ist 22 Jahre alt geworden. Kein junges Tier mehr, aber im Durchschnitt bringen es gesunde Orcas auf 30 Jahre. Also ein Tod vor der Zeit, und nirgendwo sind Verletzungen eines Kampfes zu sehen. Ich tippe auf eine bakteriologische Infektion.«

Anawak trat einen Schritt vor.

»Wenn Sie wissen wollen, woher so was kommt, können wir Ihnen auch das erklären«, sagte er, bemüht um einen sachlichen Tonfall. »Es gibt eine ganze Reihe toxikologischer Untersuchungen, und sie zeigen, dass die Orcas vor British Columbia durchweg verseucht sind mit PCB und anderen Umweltgiften. Dieses Jahr haben wir in Orca-Fettgewebe über 150 Milligramm PCB nachgewiesen. Kein menschliches Immunsystem hätte dagegen den Hauch einer Chance.«

Die Gesichter der Leute wandten sich ihm zu. Er sah die Mischung aus Betroffenheit und Erregtheit in ihren Augen. Soeben hatte er ihnen eine Story geliefert. Er wusste, dass sie die Truppe jetzt im Griff hatten.

»Das Schlimme an diesen Giften ist, dass sie fettlöslich sind«, sagte er. »Das heißt, sie werden mit der Muttermilch an die Kälber weitergegeben. Menschliche Babys kommen auf die Welt und haben AIDS, und wir berichten darüber und sind entsetzt. Weiten Sie Ihr Entsetzen bitte aus und berichten Sie auch über das, was Sie hier vorgefunden haben. Kaum eine Spezies auf der Welt ist so vergiftet wie die Orcas.«

»Dr. Anawak.« Ein Journalist räusperte sich. »Was geschieht, wenn Menschen das Fleisch dieser Wale essen?«

»Sie nehmen einen Teil der Giftstoffe in sich auf.«

»Mit tödlichen Folgen?«

»Auf lange Sicht — möglicherweise.«

»Ist es dann nicht so, dass Unternehmen, die hier bedenkenlos Giftstoffe ins Meer leiten, etwa die Holzindustrie, indirekt auch dafür verantwortlich sind, wenn Menschen erkranken und sterben?«

Ford warf ihm einen schnellen Blick zu. Anawak zögerte. Das war ein heikler Punkt. Natürlich hatte der Mann Recht, aber das Vancouver Aquarium versuchte, jede direkte Konfrontation mit der ansässigen Industrie zu vermeiden und stattdessen den Weg der Diplomatie zu gehen. Die wirtschaftliche und politische Elite von British Columbia als potenzielle Mörderbande hinzustellen würde die Fronten verhärten, und er wollte Ford nicht in die Parade fahren.

»Auf jeden Fall belastet es die menschliche Gesundheit, kontaminiertes Fleisch zu essen«, antwortete er ausweichend.

»Das bewusst kontaminiert wurde von der Industrie.«

»Wir suchen diesbezüglich nach Lösungen. Gemeinsam mit den Verantwortlichen.«

»Verstehe.« Der Journalist notierte etwas. »Ich denke speziell an die Menschen in Ihrer Heimat, Dr ….«

»Meine Heimat ist hier«, sagte Anawak schroff.

Der Journalist sah ihn verständnislos an. Wie hätte er auch verstehen sollen? Er hatte wahrscheinlich einfach nur gut recherchiert.

»Das meine ich nicht«, sagte er. »Da, wo Sie herkommen …«

»In British Columbia wird nicht mehr sonderlich viel Walfleisch oder Robbenfleisch gegessen«, fiel ihm Anawak ins Wort. »Hingegen gibt es starke Vergiftungserscheinungen bei den Bewohnern am Polarkreis. In Grönland und Island, in Alaska und weiter im Norden, in Nunavut, aber natürlich auch in Sibirien, Kamchatka und auf den Aleuten, überall dort also, wo Meeressäuger zur täglichen Nahrung beitragen. Das Problem ist weniger, wo die Tiere vergiftet werden. Das Problem ist, dass sie wandern.«

»Glauben Sie, die Wale sind sich der Vergiftungen bewusst?«, fragte ein Student.

»Nein.«

»Aber Sie sprechen in Ihren Publikationen von einer gewissen Intelligenz. Wenn die Tiere begreifen würden, dass mit ihrer Nahrung etwas nicht stimmt …«

»Menschen rauchen, bis man ihnen die Beine amputiert oder sie an Lungenkrebs sterben. Sie sind sich der Vergiftung durchaus bewusst und tun es trotzdem, und Menschen sind eindeutig intelligenter als Wale.«

»Wie können Sie da so sicher sein? Vielleicht ist es genau umgekehrt.«

Anawak seufzte. So freundlich wie möglich sagte er: »Wir müssen Wale als Wale sehen. Sie sind hoch spezialisiert, aber es ist genau diese Spezialisierung, die sie auch einengt. Ein Orca ist ein lebender Torpedo mit idealer Stromlinienform, aber dafür fehlen ihm Beine, Greifhände, er verfügt über keine Mimik und nicht über bipolares Sehen. Das Gleiche gilt für Delphine, Tümmler, für jede Art von Zahnwal oder Bartenwal. Es sind keine Beinahe-Menschen. Orcas sind vielleicht klüger als Hunde, Belugas so intelligent, dass sie sich ihrer Individualität bewusst sind, und Delphine besitzen ohne Zweifel ein einzigartiges Gehirn. Aber fragen Sie sich bitte, was die Tiere letzten Endes damit vollbringen. Fische bewohnen den gleichen Lebensraum wie Wale und Delphine, ihre Lebensweise ist vielfach ähnlich, und dennoch kommen sie mit einem viertel Fingerhut Neuronen aus.«

Beinahe war Anawak froh, als er den leisen Summton seines Handys hörte. Er gab Fenwick ein Zeichen, mit der Autopsie fortzufahren, ging ein Stück abseits und meldete sich.

»Ah, Leon«, sagte Shoemaker. »Kannst du dich loseisen da, wo du gerade bist?«

»Vielleicht. Was gibt’s denn?«

»Er ist wieder da.«

Anawaks Wut stieg ins Maßlose. Als er wenige Tage zuvor überstürzt nach Vancouver Island zurückgekehrt war, hatten sich Jack Greywolf und seine Seaguards schon wieder verzogen und zwei Bootsladungen verärgerter Touristen hinterlassen, die sich lautstark darüber beschwerten, wie Vieh fotografiert und angestarrt worden zu sein. Es war Shoemaker mit Ach und Krach gelungen, die Leute zu beruhigen. Einige hatte er zu einer kostenlosen zweiten Fahrt einladen müssen. Danach schienen die Wogen geglättet. Dennoch hatte Greywolf fürs Erste erreicht, was er wollte. Er hatte für Unruhe gesorgt.

Bei Davies waren sie die Möglichkeiten durchgegangen. Sollten sie gegen die Umweltschützer vorgehen oder sie ignorieren? Offizielle Wege zu beschreiten hätte geheißen, ihnen ein Forum zu bereiten. Seriösen Organisationen waren Leute wie Greywolf ebenso ein Dorn im Auge wie den Whale Watchers, aber am Ende stand immer ein Prozess, der einer ohnehin uninformierten Öffentlichkeit verzerrte Bilder liefern würde. Im Zweifel waren viele geneigt, mit Greywolfs Parolen zu sympathisieren.

Inoffiziell hätten sie sich auf eine handfeste Auseinandersetzung einlassen können. Wohin Auseinandersetzungen mit Greywolf führten, zeigten seine diversen Vorstrafen, aber es lag an ihnen, sich davon einschüchtern zu lassen oder nicht. Es war nur wenig hilfreich. Sie hatten genug anderes zu tun, und vielleicht beließ es Greywolf ja bei dem einen Zwischenfall.

Also hatten sie beschlossen, ihn zu ignorieren.

Vielleicht, dachte Anawak, während er das kleine Motorboot entlang der Küste über den Clayoquot Sound steuerte, war das der Fehler gewesen. Möglicherweise hätte es Greywolfs Geltungssucht Genüge getan, wenn sie ihm wenigstens einen Brief geschrieben hätten, um ihr Missfallen auszudrücken. Etwas, das ihm signalisierte, dass man ihn zur Kenntnis genommen hatte.

Sein Blick suchte die Meeresoberfläche ab. Das Boot raste dahin, und er wollte nicht riskieren, Wale zu erschrecken oder gar zu verletzen Mehrmals sah er in der Ferne gewaltige Fluken, und einmal schnitten nicht weit von ihm schwarz glänzende Schwerter durch die Wellen. Während der Fahrt sprach er über Funk mit Susan Stringer auf der Blue Shark.

»Was machen die Typen?«, fragte er. »Werden sie handgreiflich?«

Es knackte im Funkgerät.

»Nein«, sagte Stringers Stimme. »Sie machen Fotos, so wie letztes Mal, und sie beschimpfen uns.«

»Wie viele sind es?«

»Zwei Boote. Greywolf und noch jemand in dem einen, drei weitere im anderen. — Himmel! Jetzt fangen sie auch noch an zu singen.«

Ein rhythmisches Geräusch drang schwach durch das Rauschen des Funkgeräts.

»Sie trommeln«, rief Stringer. »Greywolf haut auf die Pauke, und die anderen singen. Indianergesänge! Nicht zu fassen.«

»Verhaltet euch ruhig, hörst du? Lasst euch nicht provozieren. Ich bin in wenigen Minuten bei euch.«

Weit vor ihm tauchten die hellen Flecken der Boote auf.

»Leon? Was ist dieser Arsch eigentlich für ein Indianer? Ich weiß ja nicht, was er da macht, aber wenn er die Geister seiner Ahnen herbeiruft, will ich wenigstens wissen, wer gleich erscheint.«

»Jack ist ein Hochstapler«, sagte Anawak. »Er ist überhaupt kein Indianer.«

»Nicht? Ich dachte …«

»Seine Mutter ist Halbindianerin. Das war’s. Willst du wissen, wie er wirklich heißt? O’Bannon. Jack O’Bannon. Von wegen Greywolf.«

Eine Pause entstand, während Anawak sich den Booten mit hoher Geschwindigkeit näherte. Mittlerweile drang der Lärm der Trommel auch übers Wasser zu ihm herüber.

»Jack O’Bannon«, sagte Stringer gedehnt. »Das ist ja geil. Ich glaube, das werd ich ihm gleich mal …«

»Du wirst gar nichts. Siehst du mich kommen?«

»Ja.«

»Tu gar nichts. Warte einfach.«

Anawak legte das Funkgerät weg und fuhr in einer weiten Kurve vom Ufer weg hinaus aufs Meer. Er konnte die Szenerie jetzt deutlich überblicken. Die Blue Shark und die Lady Wexham lagen inmitten einer weit auseinander gezogenen Gruppe von Buckelwalen. Hier und da waren abtauchende Fluken zu sehen und Wolken von Blas. Der weiße Rumpf der 22 Meter langen Lady Wexham schimmerte im Sonnenlicht. Zwei kleine, heruntergekommen aussehende Sportfischerboote, beide knallrot gestrichen, umkreisten die Blue Shark so dicht, dass es aussah, als wollten sie das Zodiac entern. Der Trommelschlag wurde lauter, monotoner Gesang mischte sich hinein.

Wenn Greywolf Anawaks Herannahen bemerkte, ließ er es nicht erkennen. Er stand aufrecht in seinem Boot, schlug auf eine Indianertrommel ein und sang. Seine Leute auf der anderen Seite, zwei Männer und eine Frau, sangen mit und stießen zwischendurch Verwünschungen und Flüche aus. Dabei fotografierten sie die Insassen der Blue Shark und bewarfen sie mit etwas Glitzerndem. Anawak kniff die Augen zusammen. Es waren Fische. Nein, Fischabfall. Die Leute duckten sich, einige warfen das Zeug zurück. Anawak verspürte große Lust, Greywolfs Boot zu rammen und zuzusehen, wie der Hüne über Bord ging, aber er beherrschte sich. Es war keine gute Idee, den Touristen einen Schaukampf zu liefern.

Er fuhr bis dicht heran und schrie: »Hör auf damit, Jack! Lass uns reden.«

Greywolf trommelte unermüdlich weiter. Er drehte sich nicht einmal um. Anawak sah in die nervösen und gestressten Gesichter der Touristen. Im Funkgerät erklang die Stimme eines Mannes:

»Hallo, Leon. Nett, dich zu sehen.«

Es war der Skipper der Lady Wexham, die in etwa hundert Metern Entfernung dalag. Die Menschen auf dem Oberdeck lehnten am Geländer und sahen zu den belagerten Zodiacs herüber. Einige von ihnen schossen Fotos.

»Alles klar bei euch?«, erkundigte sich Anawak.

»Alles bestens. Was machen wir mit den Scheißkerlen?«

»Weiß noch nicht«, antwortete Anawak. »Ich versuch’s mal mit friedlichen Mitteln.« »Sag mir Bescheid, wenn ich sie über den Haufen fahren soll.«

»Ich komme drauf zurück.«

Die roten Motorboote der Seaguards hatten begonnen, die Blue Shark anzurempeln. Greywolf schwankte, als sein Boot gegen den Gummirumpf stieß, und schlug weiter auf seine Trommel ein. Die Federn an seinem Hut zitterten im Wind. Hinter den Booten stieg eine Fluke auf und wieder eine, aber augenblicklich hatte niemand einen Blick für die Wale. Stringer starrte feindselig zu Greywolf hinüber.

»He, Leon. Leon!« Anawak sah jemanden zwischen den Passagieren der Blue Shark winken und erkannte, dass es Alicia Delaware war. Sie trug ihre blaue Brille und hüpfte auf und nieder. »Was sind das für Typen? Warum sind sie hier?«

Er stutzte. Hatte sie ihm nicht vor wenigen Tagen damit in den Ohren gelegen, es sei ihr letzter Tag auf der Insel?

Unwichtig für den Augenblick.

Er lenkte sein Boot um das von Greywolf, stellte es quer und klatschte in die Hände. »Okay, Jack. Danke. Ihr habt schön Musik gemacht. Sag jetzt endlich, was du willst.«

Greywolf sang noch lauter. Ein monotones An— und Abschwellen, archaisch klingende Silben, jammervoll und zugleich aggressiv.

»Jack, verdammt nochmal!«

Plötzlich herrschte Stille. Der Hüne ließ die Trommel sinken und wandte Anawak den Kopf zu.

»Ja, bitte?«

»Sag deinen Leuten, sie sollen damit aufhören. Dann können wir reden. Wir reden über alles, aber sag ihnen, sie sollen sich zurückziehen.«

Greywolfs Züge verzerrten sich. »Niemand wird sich zurückziehen«, schrie er.

»Was soll das Theater? Was bezweckst du?«

»Ich wollte es dir neulich im Aquarium erklären, aber du warst dir ja zu fein, um zuzuhören.«

»Ich hatte keine Zeit.«

»Und jetzt hab ich keine.«

Greywolfs Leute lachten und johlten. Anawak versuchte seine Wut im Zaum zu halten.

»Ich mache dir einen Vorschlag, Jack«, sagte er mühsam beherrscht. »Du bläst das hier ab, wir treffen uns heute Abend bei Davies, und du erzählst uns allen, was wir deiner Ansicht nach tun sollen.«

»Ihr sollt verschwinden. Das sollt ihr tun.«

»Wozu? Was machen wir denn?«

In unmittelbarer Nähe des Bootes erhoben sich zwei dunkle Inseln, furchig und gesprenkelt wie verwittertes Gestein. Grauwale. Ziemlich nahe. Sie hätten phantastische Fotos abgegeben, aber Greywolf ruinierte den ganzen Trip.

»Zieht euch zurück«, rief Greywolf. Er sah direkt zu den Insassen der Blue Shark hinüber und hob beschwörend die Arme. »Zieht euch zurück und stört nicht länger die Natur. Lebt in Einklang mit ihr, anstatt sie zu begaffen. Eure Schiffsmotoren verpesten die Luft und das Wasser. Ihr verletzt die Tiere mit euren Schiffsschrauben. Ihr hetzt sie für ein Foto. Ihr tötet sie mit Lärm. Dies ist die Welt der Wale. Zieht euch zurück. Menschen haben hier keinen Platz.«

Was für eine Sülze, dachte Anawak. Er fragte sich, ob Greywolf selber glaubte, was er da von sich gab, aber seine Leute klatschten begeistert Beifall.

»Jack! Darf ich dich daran erinnern, dass wir das alles zum Schutz der Wale unternehmen? Wir betreiben Forschung! Whale Watching hat den Menschen einen neuen Blickwinkel eröffnet. Wenn du unsere Arbeit störst, sabotierst du die Interessen der Tiere.«

»Du willst uns erzählen, welche Interessen ein Wal hat?«, höhnte Greywolf. »Kannst du denn in Köpfe gucken, Forscher?«

»Jack, lass diesen Indianermist. Was — willst — du?«

Greywolf schwieg eine Weile. Seine Leute hatten aufgehört, die Insassen der Blue Shark zu fotografieren und zu bewerfen. Alle sahen zu ihm herüber.

»Wir wollen an die Öffentlichkeit«, sagte er.

»Wo, um Himmels willen, hast du hier Öffentlichkeit?« Anawak machte eine weit ausholende Handbewegung. »Ein paar Leute in Booten. Bitte, Jack, wir können ja gerne diskutieren, aber dann lass uns wirklich die Öffentlichkeit suchen. Lass uns Argumente austauschen, und wer den Kürzeren zieht, gibt sich geschlagen.«

»Lächerlich«, sagte Greywolf. »So spricht der Weiße Mann.«

»Ach, Scheiße!« Anawak riss die Geduld. »Ich bin weniger ein Weißer als du, O’Bannon, komm endlich auf den Teppich.«

Greywolf starrte ihn an, als habe ihn der Schlag getroffen. Dann spaltete ein breites Grinsen sein Gesicht. Er wies auf die Lady Wexham.

»Was glaubst du wohl, warum die Leute drüben auf eurem Schiff so fleißig filmen und fotografieren?«

»Sie filmen dich und deinen albernen Hokuspokus.«

»Gut«, lachte Greywolf. »Sehr gut.«

Mit einem Mal dämmerte es Anawak. Unter den Beobachtern auf der Lady Wexham waren Presseleute. Greywolf hatte sie eingeladen, dem Spektakel beizuwohnen.

Dieses verdammte Schwein!

Er legte sich eine treffende Bemerkung zurecht, als ihm auffiel, dass Greywolf immer noch mit ausgestreckter Hand zur Lady Wexham hinüberstarrte. Anawak folgte seinem Blick und hielt den Atem an.

Direkt vor dem Schiff hatte sich ein Buckelwal aus dem Wasser katapultiert. Ein ungeheurer Schub war notwendig für das Emporwuchten des massigen Körpers. Einen Moment lang sah es aus, als stütze sich das Tier einzig auf seine Schwanzflosse. Nur die Flukenzipfel lagen noch unter Wasser, der übrige Körper stand steil in der Luft und überragte die Brücke der Lady Wexham. Deutlich waren die Längsfurchen an Kiefer und Bauchunterseite zu sehen. Die überproportional langen Seitenflipper standen ab wie Flügel, leuchtend weiß mit schwarzen Maserungen und knotigen Kanten. Es schien, als wolle sich der Wal zur Gänze aus dem Wasser erheben, und ein vielstimmiges Ooh erscholl von der Lady Wexham. Dann kippte der gewaltige Körper langsam zur Seite und traf in einer Explosion von Gischt die Wasseroberfläche.

Die Leute auf dem Oberdeck wichen zurück. Ein Teil der Lady Wexham verschwand hinter einer Wand aus Schaum. Darin erschien etwas Dunkles, Massiges. Ein zweiter Wal kam aus der Tiefe geschossen. Viel näher am Schiff schnellte er empor, umgeben von glitzerndem Sprühnebel, und Anawak wusste, noch bevor der Entsetzensschrei von den Booten aufbrandete, dass dieser Sprung danebengehen würde.

Mit solcher Wucht krachte der Wal gegen die Lady Wexham, dass der Dampfer heftig ins Schwanken geriet. Es krachte und splitterte. Das Tier tauchte ab. Auf dem Oberdeck gingen Menschen zu Boden. Rings um das Schiff schäumte und wirbelte es, dann näherten sich mehrere Buckel von der Seite, und erneut schossen zwei dunkle Körper in die Luft und warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Rumpf.

»Das ist die Rache«, schrie Greywolf mit überschnappender Stimme. »Die Rache der Natur!«

Die Lady Wexham maß 22 Meter und war damit länger als jeder Buckelwal. Sie war vom Transportministerium zugelassen und entsprach den Sicherheitsvorschriften der kanadischen Küstenwache für Passagierboote, was stürmische See, meterhohe Brecher und auch den zufälligen Zusammenstoß mit einem träge dahindümpelnden Wal einschloss. Selbst dafür war die Lady Wexham sicherheitshalber konzipiert worden.

Nicht aber für einen Angriff.

Anawak hörte, wie sie drüben die Maschine starteten. Unter der Wucht der aufprallenden Körper hatte sich das Schiff bedrohlich zur Seite geneigt. Unbeschreibliche Panik herrschte auf den beiden Beobachtungsdecks. Deutlich war zu sehen, dass im Unterdeck sämtliche Fenster zu Bruch gegangen waren. Geschrei drang herüber, Menschen stolperten kopflos durcheinander. Die Lady Wexham nahm Fahrt auf, aber sie kam nicht weit. Wieder katapultierte sich ein Tier aus der See und krachte gegen die Seitenwand mit der Brücke. Auch diese Attacke reichte nicht aus, das Schiff umzuwerfen, aber es schwankte nun weit heftiger, und Trümmerteile regneten von oben herab.

Anawaks Gedanken rasten. Wahrscheinlich war der Rumpf bereits an einigen Stellen gerissen. Er musste etwas tun. Vielleicht konnte er die Tiere irgendwie ablenken.

Seine Hand fuhr zum Gashebel.

Im selben Moment zerriss ein vielstimmiger Schrei die Luft. Aber er kam nicht von dem weißen Dampfer, sondern erscholl gleich hinter ihm, und Anawak wirbelte herum.

Der Anblick hatte etwas Surreales. Direkt über dem Boot der Tierschützer stand senkrecht der Körper eines riesigen Buckelwals. Beinahe schwerelos wirkte er, ein Wesen von monumentaler Schönheit, das krustige Maul den Wolken zugereckt, und immer noch stieg er weiter empor, zehn, zwölf Meter über ihre Köpfe hinweg. Den Herzschlag einer Ewigkeit lang hing er einfach nur so am Himmel, sich langsam drehend, und die meterlangen Flipper schienen ihnen zuzuwinken.

Anawaks Blick wanderte an dem springenden Koloss entlang. Nie hatte er etwas zugleich so Schreckliches und Großartiges gesehen, nie aus solcher Nähe. Alle, Jack Greywolf, die Menschen in den Zodiacs, er selber, legten den Kopf in den Nacken und starrten auf das, was nun auf sie zukommen würde.

»Oh mein Gott«, flüsterte er.

Wie in Zeitlupe neigte sich der Leib des Wals. Sein Schatten legte sich auf das rote Fischerboot der Umweltschützer, wuchs über den Bug der Blue Shark hinaus, wurde länger, als der Körper des Riesen kippte, schneller und immer schneller …

Anawak drückte das Gas durch. Das Zodiac schoss mit einem Ruck davon. Auch Greywolfs Fahrer hatte einen Blitzstart zuwege gebracht, aber seine Richtung stimmte nicht. Das klapprige Sportboot schlingerte auf Anawak zu. Sie prallten zusammen. Anawak wurde nach hinten gerissen, sah den Fahrer über Bord und Greywolf zu Boden gehen, dann raste das Boot in entgegengesetzter Richtung davon, während seines mit voller Fahrt wieder auf die Blue Shark zuhielt. Vor seinen Augen begruben die neun Tonnen Körpermasse des Buckelwals das Fischerboot unter sich, drückten es mitsamt seiner Besatzung unter Wasser und schlugen auf den Bug der Blue Shark. Gischt spritzte in gewaltigen Fontänen hoch. Das Heck des Zodiacs schoss steil nach oben, Menschen in roten Overalls wirbelten durch die Luft. Kurz balancierte die Blue Shark auf ihrer Spitze, pirouettierte um die eigene Achse und kippte seitwärts. Anawak duckte sich. Sein Boot schnellte unter dem umstürzenden Zodiac hindurch, schlug gegen etwas Massives unterhalb der Wasseroberfläche und sprang darüber hinweg. Vorübergehend verlor er den Boden unter den Füßen, dann endlich hielt er das Steuer wieder in Händen, riss es herum und bremste ab.

Ein unbeschreibliches Bild bot sich ihm. Vom Boot der Umweltschützer waren nur noch Trümmer zu sehen. Die Blue Shark trieb kieloben in den Wellen. Menschen hingen im Wasser, wild paddelnd und schreiend, andere reglos. Ihre Anzüge hatten sich selbständig aufgepumpt, sodass sie nicht versinken konnten, aber Anawak ahnte, dass einige von ihnen tot sein mussten, erschlagen vom Gewicht des Wals. Ein Stück weiter sah er die Lady Wexham mit deutlicher Schlagseite Fahrt aufnehmen, umkreist von Rücken und Fluken. Ein plötzlicher Stoß erschütterte das Schiff, und es legte sich noch mehr auf die Seite.

Vorsichtig, um niemanden zu verletzen, steuerte Anawak das Zodiac zwischen die treibenden Körper, während er einen kurzen Funkspruch auf Frequenz 98 losschickte und seine Position durchgab.

»Probleme«, sagte er atemlos. »Wahrscheinlich Tote.«

Alle Boote im Umkreis würden den Notruf hören. Mehr Zeit blieb ihm nicht. Keine Zeit zu erklären, was geschehen war. Ein Dutzend Passagiere waren an Bord der Blue Shark gewesen, außerdem Stringer und ihr Assistent. Hinzu kamen die drei Umweltschützer. Siebzehn Menschen insgesamt, aber im Wasser zählte er deutlich weniger.

»Leon!«

Das war Stringer! Sie schwamm auf ihn zu. Anawak ergriff ihre Hände und zog sie an Bord. Hustend und keuchend fiel sie ins Innere. In einiger Entfernung sah er die Rückenschwerter mehrerer Orcas. Die schwarzen Köpfe und Rücken hoben sich heraus, während sie mit hoher Geschwindigkeit auf den Unglücksort zuhielten.

Sie legten eine Zielstrebigkeit an den Tag, die Anawak nicht gefiel.

Dort trieb Alicia Delaware. Sie hielt den Kopf eines jungen Mannes über Wasser, dessen Anzug nicht wie die anderen von Pressluft gebläht war. Anawak lenkte das Boot näher an die Studentin heran. Neben ihm stemmte sich Stringer hoch. Vereint hievten sie zuerst den bewusstlosen Jungen und dann das Mädchen an Bord. Delaware schüttelte Anawaks Hände ab, hängte sich sofort wieder über den Bootsrand und half Stringer, weitere Menschen ins Innere zu ziehen. Andere näherten sich aus eigener Kraft, reckten die Arme, und sie halfen ihnen hinein. Das Boot füllte sich schnell. Es war viel kleiner als die Blue Shark und eigentlich schon zu voll. Hastig griffen sie zu, während Anawak weiter die Wasseroberfläche absuchte.

»Da schwimmt noch einer!«, rief Stringer. Ein menschlicher Körper hing reglos im Wasser, das Gesicht nach unten, der Statur nach männlich, mit breiten Schultern und Rücken. Kein Overall. Einer der Umweltschützer. »Schnell!« Anawak beugte sich über die Reling. Stringer war neben ihm. Sie packten den Mann bei den Oberarmen und zogen ihn hoch. Es ging einfach. Zu einfach.

Der Kopf des Mannes fiel nach hinten, und sie sahen in blicklose Augen. Noch während Anawak den Toten anstarrte, wurde ihm bewusst, warum der Körper so leicht war. Er endete dort, wo die Taille gewesen war. Beine und Becken fehlten. Aus dem Torso baumelten tropfend Fleischfetzen, Arterien und Gedärme.

Stringer keuchte und ließ los. Der Tote kippte weg, entglitt Anawaks Fingern und klatschte zurück ins Wasser.

Rechts und links von ihnen durchschnitten die Schwerter der Orcas das Wasser. Es waren mindestens zehn, vielleicht mehr. Ein Schlag erschütterte das Zodiac. Anawak sprang zum Steuer, gab Gas und fuhr los. Vor ihnen wölbten sich drei mächtige Rücken aus den Wellen, und er ging in eine halsbrecherische Kurve. Die Tiere tauchten ab. Zwei weitere kamen von der anderen Seite und hielten auf das Boot zu. Wieder fuhr Anawak eine Kurve. Er hörte Schreie und Weinen. Auch er selber hatte schreckliche Angst. Sie durchfloss ihn wie elektrischer Strom, verursachte ihm Übelkeit, doch ein anderer Teil von ihm steuerte das Zodiac unbeirrt in einem aberwitzigen Slalom zwischen den schwarzweißen Körpern hindurch, die immer aufs Neue versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden.

Ein Krachen ertönte von rechts. Anawak wandte reflexartig den Kopf und sah die Lady Wexham in einer Wolke aus Gischt erbeben und kippen.

Später erinnerte er sich, dass es dieser Blick war, dieser eine Moment der Unaufmerksamkeit, der ihr Schicksal besiegelte. Er wusste, dass er nicht zu dem großen Schiff hätte hinüberschauen dürfen. Möglicherweise wären sie entkommen. Bestimmt hätte er den grau gesprenkelten Rücken gesehen und wie der Wal abtauchte, wie sich seine Fluke aus dem Wasser hob, direkt in Fahrtrichtung.

So sah er den herabsausenden Schwanz erst, als es zu spät war.

Die Fluke verpasste ihnen einen Schlag gegen die Seite. Im Allgemeinen reichte ein solcher Schlag nicht aus, um ein Schlauchboot aus der Bahn zu werfen, aber sie waren zu schnell, sie lagen zu schräg in der Kurve, und sie sprangen über die Wellen dahin. Der Schlag erwischte das Boot im dem Moment, da es in einen Zustand fataler Instabilität geriet Es wurde hoch gerissen, schwebte einen Moment im Nichts, prallte seitlich auf und überschlug sich.

Anawak wurde hinausgeschleudert.

Er flog. Er wirbelte durch die Luft. Dann durch Gischt und grünes Wasser. Im nächsten Moment war er untergetaucht und sank in die Schwärze, ohne Orientierung, ohne Gefühl für Oben und Unten. Stechende Kälte drang in ihn ein. Mit aller Kraft trat er um sich, kämpfte sich zurück zur Oberfläche, rang keuchend nach Luft und geriet wieder mit dem Kopf unter Wasser. Diesmal strömte es eisig in seine Lungen. Panik erfasste ihn, er strampelte noch mehr mit den Beinen, ruderte wie von Sinnen mit den Armen und durchbrach erneut die Wasserfläche, hustend und spuckend. Weder sein Boot noch einer der Insassen waren irgendwo zu sehen. Die Küste geriet in sein Blickfeld. Tanzte auf und nieder. Er drehte sich um, wurde von einer Welle hochgehoben und sah endlich die Köpfe der anderen. Es waren längst nicht alle, vielleicht ein halbes Dutzend. Da war Delaware, dort Stringer. Dazwischen die schwarzen Schwerter der Orcas. Sie pflügten durch die Gruppe der Schwimmenden, tauchten ab, und plötzlich verschwand einer der Köpfe unter Wasser und kam nicht wieder hoch.

Eine ältere Frau sah den Mann untergehen und begann zu schreien. Ihre Arme schlugen wie wild aufs Wasser, in ihren Augen stand das nackte Entsetzen.

»Wo ist das Boot?«, schrie sie.

Wo war das Boot? Schwimmend würden sie es niemals bis ans Ufer schaffen. Wenn sie das Boot erreichten, konnten sie vielleicht Schutz darauf finden. Selbst wenn es gekentert war. Sie konnten hinaufkriechen und hoffen, dort nicht weiter attackiert zu werden. Aber das Boot war nirgendwo zu sehen, und die Frau schrie immer lauter und verzweifelter um Hilfe.

Anawak schwamm auf sie zu. Sie sah ihn herannahen und streckte die Arme nach ihm aus.

»Bitte«, weinte sie. »Helfen Sie mir.«

»Ich helfe Ihnen«, rief Anawak. »Bleiben Sie ruhig.«

»Ich gehe unter. Ich ertrinke!«

»Sie ertrinken nicht.« Er hielt in langen Zügen auf sie zu. »Es kann nichts passieren. Der Overall trägt sie.«

Die Frau schien ihn nicht zu hören.

»So helfen Sie mir doch! Bitte, oh mein Gott, lass mich nicht sterben! Ich will nicht sterben!«

»Haben Sie keine Angst, ich …«

Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Ihr Schreien endete in einem Gurgeln, als sie unter Wasser gezogen wurde.

Etwas streifte Anawaks Beine.

Namenlose Angst erfasste ihn. Er stemmte sich aus dem Wasser, warf einen Blick über die Wellen, und da war das Zodiac. Es trieb kieloben. Nur wenige Schwimmstöße lagen zwischen der kleinen Gruppe Schiffbrüchiger und der rettenden Insel. Nur wenige Meter — und drei schwarze, lebende Torpedos, die von dort auf sie zukamen.

Wie paralysiert starrte er auf die heranstürmenden Orcas. Etwas in ihm protestierte: Nie zuvor hatte ein Orca einen Menschen in freier Wildbahn angegriffen. Orcas verhielten sich Menschen gegenüber neugierig, freundlich oder gleichgültig. Wale griffen keine Schiffe an. Sie taten es einfach nicht. Nichts von dem, was hier geschah, hatte Anspruch auf Gültigkeit. So fassungslos war Anawak, dass er das Geräusch zwar hörte, aber nicht sofort begriff: ein Dröhnen und Röhren, das näher kam, lauter wurde, sehr laut. Dann traf ihn ein Wasserschwall, und etwas Rotes schob sich zwischen ihn und die Wale. Er wurde gepackt und über die Reling gezogen.

Greywolf beachtete ihn nicht weiter. Er steuerte das Sportboot näher an den verbliebenen Rest der Schwimmer, beugte sich erneut vor und ergriff die ausgestreckten Hände Alicia Delawares. Mühelos zog er sie aus dem Wasser und beförderte sie auf eine der Sitzbänke. Anawak lehnte sich hinaus, bekam einen keuchenden Mann zu fassen, wuchtete ihn ins Innere. Er suchte die Wasseroberfläche nach den anderen ab. Wo war Stringer?

»Da!«

Sie tauchte zwischen zwei Wellenkämmen auf, zusammen mit einer Frau, die halb bewusstlos im Wasser trieb. Die Orcas hatten das gekenterte Zodiac umrundet und näherten sich von beiden Seiten. Ihre schwarz glänzenden Köpfe zerteilten das Wasser. Hinter den spaltbreit geöffneten Lippen schimmerten elfenbeinfarbene Zahnreihen. Sekunden noch, und sie würden Stringer und die Frau erreicht haben. Aber Greywolf war schon wieder am Steuer und manövrierte das Boot zielsicher heran.

Anawak versuchte Stringer zu erreichen.

»Die Frau zuerst«, rief sie.

Greywolf kam ihm zur Hilfe. Sie brachten die Frau in Sicherheit. Stringer versuchte sich währenddessen aus eigener Kraft hineinzuziehen, aber sie schaffte es nicht. Hinter ihr tauchten die Wale ab.

Plötzlich schien sie allein. Das Meer leer und verödet. Niemand außer ihr.

»Leon?«

Sie streckte die Hände aus, Furcht im Blick. Anawak langte hinaus und bekam ihren rechten Arm zu fassen.

Im blaugrünen Wasser kam etwas Großes mit unglaublicher Geschwindigkeit nach oben geschossen. Kiefer öffneten sich, helle Zahnreihen vor einem rosafarbenen Gaumen, und schlossen sich knapp unterhalb der Oberfläche. Stringer schrie auf. Sie begann mit der Faust auf das Maul, das sie umklammert hielt, einzuschlagen.

»Hau ab«, schrie sie. »Weg. Du Mistvieh!«

Anawak krallte die Hände in ihre Jacke. Stringer sah zu ihm hoch. Ihr Blick spiegelte Todesangst.

»Susan! Gib mir die andere Hand.«

Er hielt sie fest, entschlossen, nicht nachzugeben. Der Orca hatte Stringer um die Mitte gepackt. Er zerrte mit unglaublicher Kraft an ihr. Ein Heulen kam aus Stringers Kehle, erst dumpf und schmerzvoll, dann überschlagend, schrill. Sie hörte auf, das Maul des Orcas mit Schlägen zu bearbeiten, und schrie nur noch. Dann wurde sie Anawak mit einem fürchterlichen Ruck entrissen. Er sah ihren Kopf unter Wasser verschwinden, ihre Arme, die zuckenden Finger. Der Orca zog sie unerbittlich hinab. Eine Sekunde lang leuchtete noch ihr Overall auf, ein versprengtes Kaleidoskop aus Farbe, das verblasste, sich auflöste, verschwand.

Anawak starrte fassungslos ins Wasser. Aus der Tiefe stieg etwas Glitzerndes nach oben. Ein Schwall Luftblasen. Sie zerplatzten schäumend an der Wasseroberfläche.

Drum herum färbte sich das Wasser rot.

»Nein«, flüsterte er.

Greywolf packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück.

»Es ist niemand mehr da«, sagte er. »Wir hauen ab.« Anawak war wie betäubt. Das Sportboot nahm röhrend Fahrt auf. Er taumelte und fing sich. Die Frau, die Stringer gerettet hatte, lag auf einer der seitlichen Sitzbänke und wimmerte. Delaware redete mit zitternder Stimme auf sie ein. Der Mann, den sie aus dem Wasser gezogen hatte, stierte vor sich hin. In einiger Entfernung hörte er tumultartigen Lärm, wandte den Kopf und sah das weiße Schiff umkreist von Schwertern und Buckeln. Wie es aussah, machte die Lady Wexham kaum noch Fahrt, während sie immer dramatischer in Schieflage geriet.

»Wir müssen zurück«, rief er. »Sie schaffen es nicht.« Greywolf jagte das Boot mit Höchstgeschwindigkeit auf die Küste zu. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Vergiss es.« Anawak trat neben ihn, riss das Walkie-Talkie aus der Halterung und rief die Lady Wexham. Es rauschte und knisterte. Der Skipper der Lady meldete sich nicht. »Wir müssen denen helfen. Jack! Verdammt, dreh um…« »Ich sagte, vergiss es! Mit meinem Boot haben wir nicht die geringste Chance. Wir können von Glück sagen, wenn wir das hier überleben.« Das Schreckliche war, dass er Recht hatte.

»Victoria?«, schrie Shoemaker ins Telefon. »Was zum Teufel tun die alle in Victoria? — Wieso angefordert? — Die haben ihre eigene Küstenwache in Victoria. Im Clayoquot Sound treiben Passagiere, da sinkt vielleicht gerade ein Schiff, eine Skipperin ist tot, und wir sollen uns gedulden?«

Er hörte zu, während er mit langen Schritten den Verkaufsraum durchmaß. Abrupt blieb er stehen. »Was heißt das, sobald sie können? — Das ist mir scheißegal! Dann sollen sie jemand anderen schicken. — Was? — Hören Sie mal, Sie …«

Die Stimme im Hörer schrie so laut zurück, dass es bis zu Anawak drang, obwohl Shoemaker in einigen Metern Entfernung stand. In der Station herrschte Aufruhr. Davie war persönlich anwesend. Er und Shoemaker sprachen pausenlos in irgendwelche Hörer und Geräte, gaben Instruktionen durch oder hörten fassungslos zu. Bei Shoemaker gewann die Fassungslosigkeit gerade Überhand. Er ließ den Hörer sinken und schüttelte den Kopf.

»Was ist los?«, wollte Anawak wissen. Er machte Shoemaker das Zeichen, leiser zur reden, und ging zu ihm hinüber. Während der letzten Viertelstunde, seit Greywolf sein altersschwaches Boot zurück nach Tofino geprügelt hatte, füllte sich der Verkaufsraum stetig mit Menschen. Die Nachricht von den Angriffen war wie ein Lauffeuer durch den kleinen Ort gegangen. Auch die anderen Skipper, die für Davies arbeiteten, trafen der Reihe nach ein. Mittlerweile waren die Frequenzen hoffnungslos überlastet. Die Prahlereien von Sportfischern, die in der Nähe waren und Kurs auf die Unglücksstelle nahmen — »Ha, junge Leute, zu blöde, einem Wal auszuweichen!« —, verstummten allmählich. Wer helfen wollte, wurde augenblicklich selber Zielscheibe von Attacken. Die Welle der Angriffe schien sich entlang der kompletten Küstenlinie fortzusetzen. Überall war die Hölle losgebrochen, ohne dass jemand wirklich zu sagen vermochte, was überhaupt geschah.

»Die Küstenwache hat niemanden, den sie uns schicken kann«, zischte Shoemaker. »Sie sind alle vor Victoria und Ucluelet unterwegs. Sie sagen, es seien mehrere Boote in Seenot geraten.«

»Was? Dort auch?«

»Scheint, als hätte es jede Menge Tote gegeben.«

»Ich bekomme gerade was aus Ucluelet rein«, rief Davie zu ihnen herüber. Er lehnte hinter der Theke und drehte an den Knöpfen seines Kurzwellenempfängers. »Ein Trawler. Sie haben den Notruf eines Zodiacs aufgefangen und wollten zur Hilfe kommen. Jetzt werden sie selber angegriffen. — Sie hauen ab.«

»Wovon werden sie angegriffen?«

»Kein Empfang mehr. Sie sind weg.«

»Und die Lady Wexham?«

»Nichts. Tofino Air ist mit zwei Maschinen hochgegangen. Eben hatte ich kurz Verbindung.«

»Und?«, rief Shoemaker atemlos. »Sehen sie die Lady?«

»Sie sind gerade erst gestartet, Tom.«

»Und warum sind wir nicht mit an Bord?«

»Blöde Frage, weil …«

»Verdammt, das sind unsere Boote! Warum sind wir nicht in diesen beschissenen Flugzeugen?« Shoemaker rannte wie von Sinnen hin und her. »Was ist mit der Lady Wexham?«

»Wir müssen eben warten.«

»Warten? Wir können nicht warten! Ich fahre hin.«

»Was soll das heißen, du fährst hin?«

»Na, draußen liegt doch noch ein Zodiac, oder? Wir können die Devilfish nehmen und nachsehen.«

»Bist du wahnsinnig?«, rief einer der Skipper. »Hast du nicht gehört, was Leon erzählt? Das ist Sache der Küstenwache.«

»Es ist aber keine beschissene Küstenwache da!«, schrie Shoemaker.

»Vielleicht kann sich die Lady Wexham ja aus eigener Kraft retten. Leon hat gesagt …«

»Vielleicht, vielleicht! Ich fahre!«

»Schluss!« Davie hob die Hände. Er warf Shoemaker einen warnenden Blick zu. »Tom, ich will keine weiteren Menschenleben in Gefahr bringen, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

»Du willst dein Boot nicht in Gefahr bringen«, bellte Shoemaker angriffslustig. »Wir werden abwarten, was die Piloten zu sagen haben. Danach entscheiden wir, was zu tun ist.« »Alleine schon diese Entscheidung ist falsch!«

Davie antwortete nicht. Er drehte an den Knöpfen seines Empfängers und versuchte, in Kontakt mit den Piloten der Wasserflugzeuge zu kommen, während Anawak bemüht war, die Leute wieder aus dem Verkaufsraum nach draußen zu komplimentieren. Hin und wieder verspürte er ein Zittern in seinen Knien und einen leichten Schwindel. Wahrscheinlich stand er unter Schock. Er hätte alles darum gegeben, sich einen Moment hinlegen und die Augen schließen zu dürfen, aber dann würde er wahrscheinlich wieder Susan Stringer sehen, wie sie von dem Orca in die Tiefe gerissen wurde.

Die Frau, die Stringer ihr Leben verdankte, lag wie ohnmächtig auf einer Bank neben dem Eingang. Anawak konnte nicht anders, er betrachtete sie voller Hass. Ohne sie hätte Stringer es geschafft. Der gerettete Mann saß daneben und weinte leise. Wie es aussah, hatte er seine Tochter verloren, die mit auf der Blue Shark gewesen war. Alicia Delaware kümmerte sich um ihn. Selbst nur knapp dem Tod entronnen, wirkte sie erstaunlich gefasst. Angeblich war ein Hubschrauber unterwegs, um die Geretteten ins nächste Hospital zu bringen, aber derzeit ließ sich mit nichts und niemandem wirklich rechnen.

»He, Leon!«, sagte Shoemaker. »Kommst du mit? Du weißt am besten, worauf wir zu achten haben.«

»Tom, du fährst nicht«, sagte Davie scharf.

»Kein Einziger von euch Idioten sollte jemals wieder da rausfahren«, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen. »Ich fahre.«

Anawak drehte sich um. Greywolf hatte die Station betreten. Er schob sich durch die wartenden Menschen und strich sich das lange Haar aus der Stirn. Nachdem er Anawak und die anderen abgeliefert hatte, war er in seinem Boot geblieben, um es auf Schäden zu untersuchen. Schlagartig wurde es ruhiger im Verkaufsraum. Alle starrten den langmähnigen Riesen in der Lederkleidung an.

»Wovon redest du?«, fragte Anawak. »Wohin fährst du?«

»Raus zu eurem Schiff. Eure Leute holen. Ich habe keine Angst vor Walen. Sie tun mir nichts.«

Anawak schüttelte ärgerlich den Kopf. »Edel von dir, Jack, wirklich. Aber vielleicht solltest du dich ab jetzt raushalten.«

»Leon, kleiner Mann.« Greywolf fletschte die Zähne. »Wenn ich mich rausgehalten hätte, wärst du jetzt tot. Vergiss das nicht. Ihr seid es, die sich besser rausgehalten hätten. Von Anfang an.«

»Aus was?«, zischte Shoemaker.

Greywolf sah den Geschäftsführer unter gesenkten Lidern an. »Aus der Natur, Shoemaker. Ihr seid doch schuld an dem ganzen Desaster. Ihr mit euren Booten und euren verfluchten Kameras. Ihr seid schuld am Tod meiner und eurer Leute und derjenigen, denen ihr das Geld aus der Tasche gezogen habt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas passierte.«

»Du blödes Arschloch!«, schrie Shoemaker.

Delaware blickte von dem schluchzenden Mann auf und erhob sich.

»Er ist kein blödes Arschloch«, sagte sie sehr bestimmt. »Er hat uns gerettet. Und er hat Recht. Ohne ihn wären wir jetzt tot.«

Shoemaker sah aus, als wolle er Greywolf an die Kehle springen. Anawak wusste sehr genau, dass sie dem Riesen zu Dank verpflichtet waren, er selber allen voran, aber Greywolf hatte sie in der Vergangenheit schon zu oft geärgert. Also sagte er nichts. Einige Sekunden herrschte unbehagliches Schweigen. Schließlich drehte sich der Geschäftsführer auf dem Absatz um und stakste hinüber zu Davie.

»Jack«, sagte Anawak leise. »Wenn du jetzt rausfährst, wird dich jemand aus dem Wasser fischen müssen. Dein Boot hat allenfalls Museumswert. Nochmal schaffst du das nicht.«

»Du willst die Leute da draußen sterben lassen?«

»Ich will niemanden sterben lassen. — Nicht einmal dich.«

»Oh, du machst dir Sorgen um meine Wenigkeit. Ich könnte kotzen vor Rührung. Aber ich dachte auch gar nicht an mein Boot. Es hat tatsächlich einiges abbekommen. Ich nehme eures.«

»Die Devilfish?«

»Ja.«

Anawak verdrehte die Augen. »Ich kann unser Boot nicht einfach so weggeben. Am allerwenigsten an dich.«

»Dann kommst du eben mit.«

»Jack, ich …«

»Shoemaker, die kleine Ratte, kann übrigens auch mitkommen. Vielleicht brauchen wir einen Köder, nachdem die Orcas nun endlich angefangen haben, ihre wahren Feinde zu verspeisen.«

»Du hast sie wirklich nicht alle, Jack.«

Greywolf beugte sich zu ihm herab.

»He, Leon!«, zischte er. »Da draußen sind auch meine Leute gestorben. Glaubst du, das ist mir gleich?«

»Du hättest sie ja nicht mitzubringen brauchen.«

»Es macht kaum Sinn, jetzt darüber zu diskutieren, oder? Jetzt geht es um eure Leute. Ich müsste da nicht raus, Leon. Du solltest mir vielleicht ein bisschen mehr Dankbarkeit zollen.«

Anawak stieß einen Fluch aus. Er warf einen Blick in die Runde. Shoemaker telefonierte. Davie sprach in sein Walkie-Talkie. Die anwesenden Skipper und der Office Manager bemühten sich mehr schlecht als recht, die Leute zum Gehen zu überreden, die noch den Verkaufsraum bevölkerten.

Davie sah auf und winkte Anawak heran. »Was hältst du von Toms Vorschlag?«, fragte er leise. »Können wir da wirklich helfen, oder wäre es Selbstmord?« Anawak nagte an seiner Unterlippe. »Was sagen die Piloten?« »Die Lady ist gekentert. Sie liegt auf der Seite und läuft voll.« »Mein Gott.« »Angeblich kann die Küstenwache von Victoria jetzt doch einen großen Helikopter schicken. Zur Bergung. Aber ich bezweifle, dass sie schnell genug hier sein werden. Sie haben alle Hände voll zu tun, und ständig geschieht irgendwas Neues.«

Anawak überlegte. Der Gedanke, zurückzukehren in die Hölle, der sie gerade erst entronnen waren, jagte ihm Angst ein. Aber er würde sich zeitlebens Vorwürfe machen, nicht alles zur Rettung der Menschen an Bord der Lady Wexham unternommen zu haben.

»Greywolf will mit«, sagte er leise.

»Jack und Tom in einem Boot? Ach du lieber Himmel! Ich dachte, wir wollten Probleme lösen, statt welche zu schaffen.«

»Greywolf könnte welche lösen. Was in seinem Kopf vorgeht, steht auf einem anderen Blatt, aber wir können ihn brauchen. Er ist stark und unerschrocken.«

Davie nickte düster. »Halt die beiden auseinander, hörst du?« »Klar.« »Und wenn ihr seht, dass es zwecklos ist, kommt ihr zurück. Ich will nicht, dass irgendjemand hier den Helden spielt.« »Gut.« Anawak ging zu Shoemaker, wartete, bis er sein Gespräch beendet hatte, und teilte ihm Davies Entschluss mit. »Wir nehmen diesen Freizeitindianer mit?«, sagte Shoemaker entrüstet. »Bist du wahnsinnig?« »Ich glaube, es ist eher so, dass er uns mitnimmt.« »In unserem Boot!«

»Du und Davie, ihr seid die Bosse. Aber ich weiß, was uns erwartet. Ich kann besser einschätzen, was auf uns zukommt. Und ich weiß, dass wir heilfroh sein werden, Greywolf dabeizuhaben.«

Die Devilfish war von gleicher Größe und Motorleistung wie die Blue Shark, also schnell und wendig. Anawak hoffte, dass sie die Wale damit austricksen konnten. Immer noch hatten die Meeressäuger das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Niemand konnte sagen, wann und wo sie zum Vorschein kamen.

Während das Zodiac über die Lagune brauste, kreisten Anawaks Gedanken um die Frage nach dem Warum. Er hatte immer geglaubt, viel über die Tiere zu wissen. Nun war er völlig ratlos und außerstande, eine halbwegs vernünftige Erklärung zu finden. Einzig die Parallele zu den Vorgängen um die Barrier Queen war nicht zu übersehen. Auch dort hatten Wale offenbar gezielt versucht, Schiffe zum Kentern zu bringen. Sie müssen mit etwas infiziert sein, dachte er. Eine Art Tollwut. Es kann nur so sein, dass etwas sie krank macht.

Aber gleich eine artenübergreifende Tollwut? Buckelwale und Orcas — auch Grauwale hatten sich an den Rammstößen beteiligt, wie er sich zu erinnern glaubte. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass kein Buckelwal sein Zodiac umgeworfen hatte, sondern ein Grauwal.

Waren die Tiere vor lauter Chemie verrückt geworden? Hatten die hohen PCB-Konzentrationen im Meerwasser und die vergiftete Nahrung ihre Instinkte durcheinander gebracht? Aber die Orcas vergifteten sich an verseuchten Lachsen und anderen Lebewesen, die Toxide in sich trugen. Grau— und Buckelwale hingegen waren Planktonfresser. Ihr Metabolismus funktionierte anders als der von Fleischfressern.

Tollwut war keine Erklärung.

Er betrachtete die glitzernde Wasseroberfläche. Wie oft war er hier entlanggefahren in Vorfreude auf die Begegnung mit den riesigen Meeressäugern. Zu jeder Zeit war er sich der potenziellen Gefahren bewusst gewesen, ohne jemals Angst verspürt zu haben. Draußen auf See konnte unvermittelt Nebel aufziehen. Der Wind konnte sich drehen und tückische Wellen heranjagen, die einen gegen die Klippen warfen — 1998 waren im Clayoquot Sound auf diese Weise ein Skipper und ein Tourist ums Leben gekommen. Und natürlich blieben die Wale bei all ihrer Freundlichkeit unberechenbare Wesen von gewaltiger Kraft und Größe. Jeder erfahrene Whale Watcher wusste, auf welche Urgewalt er sich einließ.

Aber es war unsinnig, sich vor der Natur zu ängstigen.

Ein Mensch musste befürchten, in seinem Haus von anderen Menschen überfallen oder auf der Straße von einem Auto überfahren zu werden, und es gab so gut wie keine Chance, dem zu entgehen. Einem aggressiven Wal konnte man hingegen sehr wohl entgehen, indem man einfach nicht in seinen Lebensraum eindrang. Tat man es trotzdem, akzeptierte man Gefahr als etwas zutiefst Natürliches und Authentisches. Stürme, haushohe Wellen und wilde Tiere verloren ihren Schrecken, sobald man freiwillig ihr Umfeld suchte. Die Angst wich dem Respekt, und Anawak hatte zu allen Zeiten größtmöglichen Respekt gehabt.

Jetzt erstmals packte ihn Angst hinauszufahren.

Wasserflugzeuge zogen über die dahinrasende Devilfish hinweg. Anawak stand mit Shoemaker im Steuerhaus. Der Geschäftsführer hatte es sich nicht nehmen lassen, das Boot selber zu steuern, trotz Greywolfs wiederholter Beteuerungen, er könne das besser. Jetzt hockte Greywolf im Bug und spähte übers Wasser nach verdächtigen Zeichen. Zu ihrer Linken schoben sich die bewaldeten Ausläufer kleinerer Inseln heran. Einige Seelöwen lagen träge auf den Steinen, als könne nichts ihren Seelenfrieden erschüttern. Das Zodiac dröhnte mit unverminderter Geschwindigkeit an ihnen vorbei, Felsen und Bäume blieben zurück, dann lag wieder offene See vor ihnen. Endlos, eintönig, vertraut und fremd zugleich.

Jenseits der geschützten Lagune schlugen die Wellen höher. Das Zodiac setzte knallend auf. Während der letzten halben Stunde war die See rauer geworden. Am Horizont ballten sich Wolken zusammen. Es sah nicht eben nach Sturm aus, aber das Wetter verschlechterte sich rapide, wie es für diese Gegend typisch war. Wahrscheinlich zog eine Regenfront heran. Anawaks Blick suchte die Lady Wexham. Im ersten Augenblick fürchtete er, sie sei gesunken. Dafür sah er in einiger Entfernung eines der Kreuzfahrtschiffe liegen, die zu dieser Zeit hinauf nach Alaska fuhren und dabei den kanadischen Westen passierten.

»Was machen die denn hier?«, rief Shoemaker.

»Wahrscheinlich haben sie die Hilferufe gehört.« Anawak legte den Feldstecher an die Augen. »MS Arktik. Aus Seattle. Kenne ich. Sie sind in den letzten Jahren mehrfach hier durchgekommen.«

»Leon. Da!«

Klein und schief, kaum auszumachen hinter den auf— und abschwellenden Wellenkämmen, ragten plötzlich die Aufbauten der Lady Wexham empor. Der größte Teil des Schiffs lag unter Wasser. Vorn auf der Brücke und der Aussichtsplattform im Heck drängten sich die Menschen. Aufsprühende Gischt vernebelte die Sicht. Mehrere Orcas umschwammen das Wrack. Es sah aus, als warteten sie auf den Untergang der Lady Wexham, um sich dann über die Passagiere herzumachen.

»Du lieber Himmel«, stöhnte Shoemaker entsetzt. »Ich kann’s nicht glauben.«

Greywolf drehte sich zu ihnen um und machte Zeichen, langsamer zu fahren. Shoemaker drosselte die Geschwindigkeit. Ein grau gefurchter Buckel hob sich unmittelbar vor ihnen aus dem Wasser, zwei weitere folgten. Die Wale blieben einige Sekunden an der Oberfläche, stießen einen buschigen, V-förmigen Blas aus und tauchten ab, ohne ihre Fluken gezeigt zu haben.

Anawak ahnte, dass sie sich unter Wasser näherten. Er konnte den drohenden Angriff regelrecht wittern.

»Und los!«, schrie Greywolf.

Shoemaker gab Vollgas. Die Devilfish stellte sich steil auf und raste davon. Hinter ihnen schossen massig und dunkel die Wale empor und stürzten zurück, ohne Schaden anzurichten. Mit Höchstgeschwindigkeit hielt das Zodiac auf die sinkende Lady Wexham zu. Jetzt konnten sie auf Deck und Brücke einzelne Personen erkennen, die ihnen zuwinkten. Rufe waren zu hören. Anawak sah mit Erleichterung, dass auch der Skipper unter den Überlebenden war. Die schwarzen Schwerter lösten sich aus ihrer Umlaufbahn und tauchten ab.

»Die werden wir gleich am Hals haben«, sagte Anawak.

»Orcas?« Shoemaker sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Erstmals schien er zu begreifen, was hier draußen wirklich stattfand. »Was wollen die denn machen? Das Zodiac umwerfen?«

»Könnten sie locker, aber das Zerdeppern besorgen die Großen. Die Tiere scheinen so etwas wie eine Arbeitsteilung entwickelt zu haben. Die Grauen und die Buckelwale versenken die Boote, und die Orcas erledigen die Insassen.«

Shoemaker wurde weiß im Gesicht und starrte ihn an.

Greywolf zeigte zu dem Kreuzfahrtschiff hinüber. »Wir erhalten Verstärkung«, rief er.

Tatsächlich lösten sich zwei kleine Motorboote von der MS Arktik und kamen langsam näher.

»Sag ihnen, sie sollen Gas geben oder sich verpissen, Leon«, rief Greywolf. »Bei der Geschwindigkeit sind sie leichte Beute.«

Anawak nahm das Funkgerät zur Hand: »MS Arktik. Hier Devilfish. Sie müssen sich darauf einrichten, angegriffen zu werden.«

Einige Sekunden blieb alles still. Die Devilfish hatte die Lady Wexham beinahe erreicht. Ihr Rumpf schlug auf die Wellenkämme.

»Hier MS Arktik. Was kann passieren, Devilfish?«

»Achten Sie auf springende Wale. Die Tiere werden versuchen, Ihre Boote zu versenken.« »Wale? Wovon reden Sie?« »Das Beste wäre, Sie kehren um.« »Wir haben einen Notruf empfangen, dass ein Schiff gekentert ist.« Anawak schwankte, als das Zodiac hart auf einen Wellenkamm knallte. Er fing sich und schrie ins Funkgerät: »Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Sie müssen vor allen Dingen schneller fahren.« »He, wollen Sie uns verarschen? Wir fahren jetzt zu dem sinkenden Schiff. Ende.« Im Bug begann Greywolf zu gestikulieren. »Sie sollen endlich abhauen!«, schrie er. Die Orcas hatten ihren Kurs geändert. Sie hielten nicht länger auf die Devilfish zu, sondern schwammen weiter hinaus aufs offene Meer und geradewegs auf die MS Arktik zu.

»So eine Scheiße«, fluchte Anawak. Unmittelbar vor den herannahenden Booten schoss ein Buckelwal empor, umgeben von einer Korona aus funkelndem Wasser. Er stand einen Augenblick reglos in der Luft und kippte zur Seite weg. Anawak sog scharf die Luft ein. Durch die herabfallende Gischt sah er die beiden Boote unversehrt näher kommen.

»MS Arktik! Ziehen Sie Ihre Leute zurück. Sofort! Wir regeln das hier.«

Shoemaker drosselte die Maschine. Die Devilfish trieb nun unmittelbar vor der schräg aufragenden Brücke der Lady Wexham. Etwa ein Dutzend durchnässter Männer und Frauen drängte sich darauf zusammen. Jeder hielt sich irgendwo fest, verzweifelt bemüht, nicht abzurutschen. Die Wogen zerplatzten schäumend an der Brücke. Eine weitere kleine Gruppe hatte sich auf der Aussichtsplattform im Heck in Sicherheit gebracht. Wie Affen hingen sie in den Sprossen der Reling, durchgeschüttelt von den Wellen.

Tuckernd trieb die Devilfish zwischen Brücke und Plattform. Unter dem Zodiac schimmerte grünweiß das mittlere Aussichtsdeck im Wasser. Shoemaker steuerte näher zur Brücke, bis der Gummiwulst dagegen stieß. Eine mächtige Welle erfasste das Boot und drückte es hoch. Wie in einem Fahrstuhl fuhren sie am Brückenaufbau empor. Für einen Moment konnte Anawak die ausgestreckten Hände der Leute beinahe berühren. Er sah in verängstigte Gesichter, Entsetzen gemischt mit Hoffnung, dann sackte die Devilfish wieder ab. Ein Aufschrei der Enttäuschung folgte ihr.

»Das wird schwierig«, stieß Shoemaker zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Anawak schaute sich nervös um. Die Wale hatten offenbar das Interesse an der Lady Wexham verloren. Sie sammelten sich weiter draußen vor den Booten der MS Arktik, die unentschlossene Ausweichmanöver fuhren.

Sie mussten sich beeilen. Ewig konnten sie nicht darauf hoffen, dass die Tiere fernblieben, und derweil sank die Lady Wexham immer schneller. Greywolf duckte sich. Eine grüne, zerklüftete Woge erfasste die Devilfish und trug sie wieder in die Höhe. Anawak sah die abblätternde Farbe des Brückenturms an sich vorbeiziehen. Greywolf sprang aus dem Boot und klammerte sich mit einer Hand an eine Steigleiter. Das Wasser überspülte ihn bis zur Brust, dann rollte die Welle durch, und er hing in der Luft, eine lebende Verbindung zwischen den Menschen über ihm und dem Zodiac. Er streckte die freie Hand nach oben.

»Auf meine Schultern«, schrie er. »Einer nach dem anderen. An mir festhalten, warten, bis das Boot hochkommt, springen!«

Die Menschen zögerten. Greywolf wiederholte seine Anweisungen. Schließlich ergriff eine Frau seinen Arm und ließ sich mit unsicheren Bewegungen abwärts gleiten. Im nächsten Moment hing sie huckepack an dem Hünen und krallte sich an seinen Schultern fest. Das Zodiac schoss hoch. Anawak bekam die Frau zu fassen und zog sie ins Innere.

»Der Nächste!«

Endlich kam Schwung in die Rettungsaktion. Einer nach dem anderen hangelte sich über Greywolfs breiten Rücken an Bord der Devilfish. Anawak fragte sich, wie lange der Halbindianer noch die Kraft aufbringen würde, sich an der Leiter festzuhalten. Er trug sein eigenes Gewicht und das der Passagiere, hing nur an einer Hand und geriet ständig halb unter Wasser, das an ihm zog und zerrte, wenn das Meer wegsackte. Die Brücke ächzte und quietschte gotterbärmlich. Hohles Stöhnen drang aus ihrem Innern, als sich das Material verformte. Knallend zersprangen eiserne Nähte. Nur noch der Skipper war auf der Brücke, als plötzlich ein hässliches Kreischen ertönte. Die Brücke erhielt einen Schlag. Greywolfs Oberkörper schlug hart gegen die Wand. Der Skipper verlor den Halt und sauste an Greywolf vorbei. Auf der anderen Seite des Wracks erhob sich der Kopf eines Grauwals aus den Fluten. Greywolf ließ die Sprossen der Steigleiter los und sprang hinterher. Unweit von ihm tauchte der Skipper prustend auf und gelangte mit wenigen kraftvollen Schwimmstößen zum Zodiac. Hände streckten sich ihm entgegen und hievten ihn ins Innere. Auch Greywolf langte nach der Bordwand, verfehlte sie und wurde von einer Woge davongetragen.

Wenige Meter hinter ihm schob sich ein hochgebogenes Schwert aus dem Wasser.

»Jack!« Anawak quetschte sich an den Menschen vorbei und lief ins Heck. Sein Blick suchte die Wellen ab. Greywolfs Kopf erschien in den Fluten. Er spuckte Wasser, tauchte ab und schnellte dicht unter der Oberfläche auf die Devilfish zu. Das Schwert des Orca schwenkte augenblicklich auf ihn ein und folgte ihm. Greywolfs muskelbepackte Arme reckten sich empor und schlugen gegen den Gummirumpf. Der Orca hob seinen runden, glänzenden Schädel aus dem Wasser. Er holte auf. Anawak packte zu, andere halfen. Mit vereinten Kräften wuchteten sie den Zweimetermann ins Boot. Das Schwert beschrieb einen Halbkreis und bewegte sich in entgegengesetzte Richtung davon. Greywolf fluchte lang anhaltend, schüttelte die helfenden Hände ab und klatschte sich das lange Haar aus dem Gesicht.

Warum hat ihn der Orca nicht angegriffen?, dachte Anawak.

Ich habe keine Angst vor Walen. Sie tun mir nichts.

Sollte an dem Blödsinn was dran sein?

Dann wurde ihm klar, dass der Orca gar nicht in der Lage gewesen war anzugreifen. Das überflutete Mitteldeck unter dem Zodiac hatte ihm nicht genug Wassertiefe gelassen. In unmittelbarer Nähe der Devilfish war man vor Schwertwalen geschützt, solange sie es nicht wie ihre südamerikanischen Verwandten hielten und die Jagd in flachem Wasser oder auf dem Trockenen fortsetzten.

Bis zum Untergang der Lady Wexham blieb eine Gnadenfrist, die sie unter allen Umständen nutzen mussten.

Ein kollektiver Aufschrei erklang. Ein Riesenexemplar von Grauwal war auf eines der herannahenden Boote der MS Arktik gekracht. Trümmer wirbelten umher. Das andere Boot ließ den Motor aufheulen, fuhr eine Kurve und ergriff die Flucht. Anawak starrte auf die Stelle, wo der Wal das Boot in die Tiefe gerissen hatte. Entsetzt registrierte er mehrere graue Buckel, die sich von der Unglücksstelle auf die Devilfish zubewegten. Jetzt sind wir wieder dran, dachte er. Shoemaker wirkte wie paralysiert. Seine Augen drohten aus ihren Höhlen zu treten. »Tom!«, schrie Anawak. »Wir müssen die Leute im Heck runterholen.« »Shoemaker!« Greywolf fletschte die Zähne. »Was ist? Geht dir der Arsch auf Grundeis?« Zitternd griff der Geschäftsführer ins Lenkrad und steuerte die Devilfish an die Aussichtsplattform heran. Eine Woge hob das Zodiac an, riss es zurück und schleuderte es unvermittelt auf die Plattform zu. Der Bug der Devilfish stieß hart gegen die Reling, in deren Streben sich die Schiffbrüchigen klammerten. Aus der Tiefe erklang das Jammern überstrapazierten Materials. Anawak sah vor seinem geistigen Auge, wie die Bordwand weiter aufriss und die Aufbauten auseinander brachen Shoemaker keuchte. Es gelang ihm nicht, die Devilfish so unter die Reling zu bugsieren, dass die Leute an Bord springen konnten.

Die grauen Buckel wogten der Lady Wexham entgegen, geradewegs auf Kollisionskurs. Erneut ging ein fürchterlicher Schlag durch das Wrack. Eine Frau wurde von der Reling geschleudert und landete aufschreiend im Wasser.

»Shoemaker, du verdammter Schwachkopf!«, schrie Greywolf.

Mehrere Insassen sprangen hinzu und zerrten die strampelnde Frau ins Innere. Anawak fragte sich, wie lange der zertrümmerte Ausflugsdampfer dieser neuen Angriffswelle standhalten konnte. Die Lady Wexham sank nun deutlich schneller.

Wir schaffen es nicht, dachte er verzweifelt.

Im selben Moment geschah etwas Merkwürdiges.

Zu beiden Seiten des Schiffs hoben sich zwei mächtige Rücken aus den Wellen. Einen davon erkannte Anawak sofort. Eine Reihe weißlich verwachsener, kreuzförmiger Narben verlief über der Wirbelsäule. Sie hatten das Tier, das sich die Verletzungen in frühester Jugend geholt haben musste, Scarback genannt. Scarback war ein sehr alter Grauwal, der das Durchschnittsalter seiner Spezies längst überschritten hatte. Der Rücken des anderen Wals wies keine signifikanten Merkmale auf. Beide Tiere lagen ruhig im Wasser und ließen sich mit den Wellen hochtragen und niedersinken. Knallend entlud sich der Blas zuerst des einen, dann des anderen Wals. Feinste Sprühwolken wehten herüber.

Seltsam war weniger das Erscheinen der beiden Grauen als vielmehr die Reaktion der anderen Wale. Sie tauchten unvermittelt ab. Als ihre Buckel wieder zum Vorschein kamen, hatten sie sich ein gutes Stück entfernt. Dafür umrundeten wieder Orcas das Schiff, aber auch sie hielten vorsichtigen Abstand.

Irgendetwas sagte Anawak, dass sie von den Neuankömmlingen nichts zu befürchten hatten. Im Gegenteil. Die beiden hatten die Angreifer fürs Erste verjagt. Wie lange der Frieden halten würde, war ungewiss, aber die unerwartete Wendung hatte ihnen eine Atempause eingetragen. Auch Shoemaker war seiner Panik Herr geworden. Diesmal steuerte er das Zodiac zielsicher unter die Reling. Anawak sah eine gewaltige Woge heranrollen und machte sich bereit. Wenn sie es jetzt nicht schafften, hatten sie verloren.

Das Zodiac schoss empor.

»Springt!«, rief er. »Jetzt!«

Die Woge lief unter der Devilfish durch. Sie sackte weg. Einige der Leute sprangen dem Zodiac hinterher. Sie stürzten übereinander, Schmerzensschreie erschollen. Wer im Wasser landete, fand mit Hilfe der Insassen schnell ins Boot, bis alle eingesammelt waren.

Jetzt nichts wie weg.

Nein, nicht alle waren gesprungen. Auf der Reling hockte die einsame Gestalt eines Jungen. Er weinte, die Hände ins Geländer gekrallt.

»Spring!«, rief Anawak. Er breitete die Arme aus. »Hab keine Angst.«

Greywolf trat neben ihn. »Mit der nächsten Welle hole ich ihn.«

Anawak sah über die Schulter. Ein mächtiger Wasserberg rollte heran. »Ich glaube«, sagte er, »darauf musst du nicht lange warten.«

Aus der Tiefe dröhnten wieder die Laute der Zerstörung. Die beiden Wale sanken langsam zurück unter die Oberfläche. Immer schneller lief das Schiff jetzt voll. Das Wasser gurgelte und schäumte, dann verschwand die Brücke plötzlich in einem Strudel, und das Heck stellte sich hoch. Bug voran begann die Lady Wexham zu sinken.

»Näher ran!«, schrie Greywolf.

Irgendwie schaffte es Shoemaker, der Anweisung Folge zu leisten. Der Bug der Devilfish schrammte gegen das abtauchende Deck, an dessen Ende sich der Junge klammerte. Er weinte laut. Greywolf hastete, rempelnd und Knüffe verteilend, ins Heck. Im selben Moment hob die Woge das Zodiac empor. Vorhänge aus Schaum bauschten sich über der Reling. Greywolf lehnte sich hinaus und bekam den Jungen zu packen. Die Devilfish schwankte, er verlor das Gleichgewicht und kippte zwischen die Sitzreihen, aber den Jungen hatte er nicht losgelassen. Wie Baumstämme ragten seine Arme in die Höhe. Die prankenartigen Hände waren um die Taille des Jungen geschlossen.

Anawak sah atemlos hinaus.

Wirbel kreisten über der Stelle, wo das Kind noch vor Sekunden in der Reling gehangen hatte. Er sah die Lady Wexham in der Tiefe verschwinden, dann stürzte das Zodiac ins nachfolgende Wellental, und es durchfuhr seinen Magen, als säße er in einer Achterbahn.

Shoemaker gab Vollgas. Es waren lange, gleichmäßige Wogen, die vom Pazifik hereinrollten. Sie konnten der Devilfish, wenngleich das Zodiac hoffnungslos überfüllt war, nicht gefährlich werden, sofern der Skipper jetzt keinen Fehler machte. Aber Shoemaker schien sich seiner besten Tage entsonnen zu haben. Die Panik war aus seinen Augen gewichen Sie schossen einen Wellenkamm hoch und darüber hinaus, fielen und nahmen Kurs auf die Küste.

Anawak sah zurück zur MS Arktik. Das zweite Boot war verschwunden. Zwischen den Wellen sah er eine Fluke abtauchen. Es kam ihm vor, als ob sie zum Abschied höhnisch winkte. Die Fluke eines Buckelwals. Nie wieder würde er das Abtauchen einer Walfluke sehen können, ohne das Schlimmste zu denken.

Im Funkgerät war der Teufel los.

Wenige Minuten später hatten sie den Inselstreifen passiert, der das offene Meer von der Lagune trennte.

Einzig der Umstand, dass ihm nicht auch noch die Devilfish verloren gegangen war, vermochte Davie in diesen Minuten aufzuheitern, nachdem das Zodiac überfüllt wie ein Flüchtlingsschiff am Pier festgemacht hatte. Sie lasen die Namen der Vermissten vor. Einige Leute brachen zusammen. Dann leerte sich Davies Whaling Station ebenso schnell, wie sie sich gefüllt hatte. So ziemlich jeder litt an Unterkühlung, also ließen sich die meisten von Freunden und Angehörigen zur nahe gelegenen Ambulanz bringen. Andere hatten sich ernsthafte Verletzungen zugezogen, aber wann ein Helikopter für den Transport ins Krankenhaus nach Victoria bereitstehen würde, war nicht abzusehen. Unverändert beherrschten Schreckensmeldungen den Funkverkehr.

Davie hatte sich unangenehme Fragen gefallen lassen müssen, Beschuldigungen, Verdächtigungen und schlicht das Androhen von Prügeln, sollten die gebuchten Passagiere nicht unversehrt zurückkehren. Zwischendurch war Roddy Walker, Stringers Freund, aufgetaucht und hatte herumgeschrien, sie würden von seinen Anwälten hören. Niemanden schien sonderlich zu interessieren, wer die Schuld an den Vorgängen trug. Erstaunlicherweise wurde die einfachste Erklärung von kaum jemandem akzeptiert: dass die Wale unmotiviert angegriffen hatten. Wale taten so etwas nicht. Wale waren friedlich. Wale waren die besseren Menschen. Gesunde Halbbildung brach sich Bahn und brachte die Touristen in Tofino gegen die Whale Watcher auf, als hätten sie die Passagiere der Blue Shark und der Lady Wexham eigenhändig abgemurkst: Idioten, die unnötige Risiken eingegangen und mit altersschwachen Schiffen hinausgefahren waren. Tatsächlich hatte die Lady Wexham eine ganze Reihe von Jahren auf dem Buckel gehabt, was ihrer Seetauglichkeit posthum nicht im Mindesten Abbruch tat. Aber davon wollte augenblicklich niemand etwas hören.

Wenigstens hatte man die Besatzung und den größten Teil der Passagiere heimgebracht. Viele Menschen hatte sich spontan bei Shoemaker und Anawak bedankt, aber als eigentlicher Held wurde Greywolf gefeiert. Er war überall gleichzeitig, redete, hörte zu, organisierte und bot an, mit in die Ambulanz zu fahren. Er gerierte sich als Gutmensch, dass Anawak vom Hinsehen schlecht wurde: eine zu zwei Meter Körpergröße mutierte Mutter Teresa.

Anawak fluchte. Er musste sich um andere Dinge kümmern und spürte, wie ihm die Situation entglitt.

Natürlich hatte Greywolf sein Leben riskiert. Natürlich hätten sie ihm danken müssen. Auf Knien sogar. Aber Anawak verspürte nicht die mindeste Lust dazu. Dieser plötzliche Ausbruch von Altruismus war ihm zutiefst suspekt. Greywolfs Einsatz für die Menschen auf der Lady Wexham, dessen war Anawak sich sicher, entsprang in weit geringerem Maße menschenfreundlichen Anwandlungen, als es den Anschein hatte. Im Grunde war der Tag für ihn höchst positiv verlaufen. Ihm glaubte und vertraute man. Ihm, der vorausgesagt hatte, es werde ein böses Ende nehmen mit dem Waltourismus, nur dass keiner hören wollte, und jetzt das! Hatte er nicht pausenlos gewarnt? Wie viele Zeugen würden sich bereitwillig einfinden, um Greywolfs luzide Voraussicht zu bestätigen?

Eine bessere Bühne konnte er sich gar nicht wünschen.

Anawak spürte seine Wut ins Unermessliche wachsen. Übellaunig ging er in den leeren Verkaufsraum. Sie mussten den Grund für das Verhalten der Tiere herausfinden! Seine Gedanken wanderten zur Barrier Queen. Roberts hatte ihm den Bericht schicken wollen. Den brauchte er nun dringender denn je. Er trat ans Telefon, wählte die Auskunft und ließ sich mit der Reederei verbinden.

Roberts’ Sekretärin meldete sich. Ihr Chef sei im Meeting und dürfe nicht gestört werden. Anawak erwähnte seine Rolle bei der Inspektion der Barrier Queen und ließ eine gewisse Dringlichkeit erkennen. Die Frau bestand darauf, Roberts’ Sitzung sei dringender. Ja, vom Desaster der vergangenen Stunden habe sie gehört. Es sei schrecklich. Mitfühlend erkundigte sie sich nach Anawaks Wohlergehen, gab sich mütterlich besorgt und rückte Roberts dennoch nicht raus. Ob sie ihm etwas ausrichten könne?

Anawak zögerte. Roberts hatte ihm den Bericht unter vier Augen versprochen, und er wollte den Manager nicht in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht war es besser, die Absprache vor der Frau unerwähnt zu lassen. Dann fiel ihm etwas ein.

»Es geht um die Muscheln, die am Bug der Barrier Queen festgewachsen waren«, sagte er. »Muscheln und möglicherweise andere organische Substanzen und Lebensformen. Wir hatten einiges davon ins Institut nach Nanaimo geschickt. Sie benötigen dort Nachschub.«

»Nachschub?«

»Weiteres Probenmaterial. Ich vermute, die Barrier Queen ist mittlerweile von hinten bis vorne untersucht worden.« »Ja, sicher«, sagte sie mit einem merkwürdigen Unterton. »Wo ist das Schiff jetzt?«

»Im Dock.« Sie ließ eine kurze Pause verstreichen. »Ich werde Mr. Roberts ausrichten, dass es dringend ist. Wohin sollen wir die Proben schicken?«

»Ans Institut. Zu Händen von Dr. Sue Oliviera. Danke. Sie sind sehr freundlich.« »Mr. Roberts meldet sich, sobald er kann.« Die Leitung war tot. Ganz eindeutig hatte sie ihn abgewimmelt. Was hatte das schon wieder zu bedeuten?

Plötzlich zitterten seine Knie. Die Anspannung der vergangenen Stunden machte deprimierter Erschöpfung Platz. Er lehnte sich gegen die Theke und schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er Alicia Delaware vor sich stehen.

»Was machst du denn hier?«, fragte er unfreundlich. Sie zuckte die Achseln. »Mir geht’s gut. Ich muss mich nicht behandeln lassen.« »Doch. Das musst du. Du bist ins Wasser gefallen, und das Wasser hier ist verdammt kalt. Geh in die Ambulanz, bevor sie uns auch noch deine erkältete Blase in die Schuhe schieben.« »He!« Sie funkelte ihn zornig an. »Ich habe dir nichts getan, klar?« Anawak stieß sich von der Theke ab. Er wandte ihr den Rücken zu und trat an das rückwärtige Fenster. Draußen am Kai lag die Devilfish, als sei nichts gewesen. Es hatte zu nieseln begonnen.

»Was sollte eigentlich dieser Blödsinn von deinem angeblich letzten Tag auf Vancouver Island?«, fragte er. »Ich hätte dich gar nicht mitnehmen dürfen. Ich hab’s getan, weil du mir die Ohren voll geheult hast.«

»Ich …« Sie stockte. »Na ja, ich wollte halt unbedingt mit. Sauer deswegen?« Anawak dreht sich um. »Ich hasse es, angelogen zu werden.« »Tut mir Leid.«

»Nein, tut es nicht. Aber egal. Warum verschwindest du nicht und lässt uns unsere Arbeit machen?« Er kräuselte die Oberlippe. »Geh mit Greywolf. Er nimmt euch alle schön ans Händchen.«

»Mein Gott, Leon!« Sie kam näher, und er wich zurück. »Ich wollte nun mal unbedingt mit dir rausfahren. Tut mir Leid, dass ich dich angelogen habe. Okay, ich bin noch ein paar Wochen hier, und ich komme auch nicht aus Chicago, sondern studiere Biologie an der University of British Columbia. Was soll’s? Ich dachte, du findest die Flunkerei am Ende lustig …«

»Lustig?«, schrie Anawak. »Hast du sie nicht alle? Was ist lustig daran, verarscht zu werden?«

Er spürte, wie ihm die Nerven durchgingen, aber er konnte nichts dagegen machen, dass er sie anschrie, obwohl sie Recht hatte. Sie hatte ihm nichts getan. Nicht das Geringste.

Delaware zuckte zurück. »Leon …« »Licia, warum lässt du mich nicht einfach in Frieden? Hau ab.«

Er wartete darauf, dass sie ging, aber sie tat es nicht. Sie stand weiter vor ihm. Anawak fühlte sich wie benommen. Alles kreiste vor seinen Augen. Einen Moment lang fürchtete er, seine Beine könnten nachgeben, dann sah er plötzlich wieder klar und erkannte, dass Delaware ihm etwas hinhielt.

»Was ist das?«, brummte er.

»Eine Videokamera.«

»Das sehe ich.«

»Nimm sie.«

Er streckte die Hand aus, ergriff die Kamera und betrachtete sie. Eine ziemlich teure Sony Handycam in wasserfester Umschalung. Touristen, aber auch Wissenschaftler benutzten solche Verschalungen, wenn das Risiko bestand, dass die Kamera nass wurde.

»Na und?«

Delaware breitete die Hände aus. »Ich dachte, ihr wollt rausfinden, warum das alles passiert.« »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« »Hör endlich auf, deinen Ärger an mir auszulassen!«, fuhr sie ihn an. »Ich wäre da draußen fast gestorben, und das ist eben mal ein paar Stunden her. Ich könnte heulend in deiner Scheißambulanz sitzen, stattdessen versuche ich zu helfen. Wollt ihr’s nun wissen oder nicht?«

Anawak holte tief Luft.

»Okay.«

»Hast du gesehen, welche Tiere die Lady Wexham angegriffen haben?« »Ja. Grau— und Buckel …« »Nein.« Delaware schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Nicht welche Spezies. Welche Individuen! Hast du sie identifizieren können?«

»Es ging alles zu schnell.«

Sie lächelte. Es war kein fröhliches Lächeln, aber immerhin ein Lächeln »Die Frau, die wir aus dem Wasser gezogen haben, war mit mir auf der Blue Shark. Steht unter Schock. Komplett weggetreten. Trotzdem, wenn ich was will, lasse ich nicht locker …«

»Allerdings.«

»und ich sah diese Kamera um ihren Hals hängen. Sie war gut befestigt, deshalb ist sie im Wasser nicht verloren gegangen. Jedenfalls, als ihr rausgefahren seid, konnte ich mich kurz mit ihr unterhalten. Sie hat die ganze Zeit über gefilmt! Auch noch, als Greywolf anrückte. Irgendwie war sie schwer von ihm beeindruckt, also hat sie weitergefilmt, ihn natürlich.« Sie machte eine Pause. »Wenn ich mich recht erinnere, lag die Lady Wexham aus unserer Sicht hinter Greywolf.«

Anawak nickte. Plötzlich wurde ihm klar, worauf Delaware hinauswollte.

»Sie hat den Angriff gefilmt«, sagte er.

»Sie hat vor allem die Wale gefilmt, die das Schiff angegriffen haben. Ich weiß ja nicht, wie gut du im Identifizieren von Walen bist — aber du lebst hier und kennst die Tiere. Und ein Video ist geduldig.«

»Du hast vorsorglich vergessen zu fragen, ob du die Kamera behalten darfst?«, vermutete Anawak. Sie hob das Kinn und sah ihn herausfordernd an. »Na und?« Er drehte die Kamera in den Händen. »Gut. Ich schau’s mir an.« »Wir schauen es uns an«, sagte Delaware. »Ich will in der ganzen Geschichte mit dabei sein. Und frag mich um Himmels willen nicht, warum. Es steht mir schlicht und einfach zu, okay?«

Anawak starrte sie an.

»Außerdem«, fügte sie hinzu, »bist du ab jetzt nett zu mir.«

Langsam ließ er den Atem entweichen und betrachtete mit geschürzten Lippen die Kamera. Er musste zugeben, dass Delawares Idee bislang das Beste war, das sie hatten.

»Ich bemühe mich«, murmelte er.


12. April

Trondheim, Norwegen

Die Einladung erreichte Johanson, als er Vorbereitungen traf, hinaus zum See zu fahren.

Nach seiner Rückkehr aus Kiel hatte er Tina Lund von dem Experiment im Tiefsee-Simulator erzählt. Es war ein kurzes Gespräch gewesen. Lund steckte bis über beide Ohren in diversen Projekten und verbrachte die verbleibende Zeit mit Kare Sverdrup. Johanson war es so vorgekommen, als sei sie nicht richtig bei der Sache. Etwas schien sie zu beschäftigen, das nicht mit ihrer Arbeit zu tun hatte, aber er gab sich taktvoll und vermied es, sie danach zu fragen.

Einige Tage später rief Bohrmann an, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Sie hatten in Kiel weiter mit den Würmern experimentiert. Johanson, der bereits gepackt hatte und eben im Begriff stand, das Haus zu verlassen, beschloss, seine Abreise um die Dauer eines weiteren Telefonats zu verschieben und Lund über die Neuigkeiten ins Bild zu setzen, aber sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Diesmal wirkte sie aufgeräumter.

»Kannst du nicht bald mal zu uns rauskommen?«, schlug sie vor.

»Wohin? Ins Institut?«

»Nein, ins Statoil-Forschungszentrum. Wir haben die Projektleitung zu Besuch. Aus Stavanger.«

»Was soll ich dabei? Denen die Gruselgeschichten erzählen?«

»Das hab ich selber schon getan. Jetzt sind sie scharf auf Einzelheiten. Ich habe vorgeschlagen, dass du sie ihnen lieferst.«

»Warum ausgerechnet ich?«

»Warum denn nicht?«

»Ihr habt doch Gutachten vorliegen«, sagte Johanson.

»Stapelweise. Ich kann auch nur das weitergeben, was andere herausfinden.«

»Du kannst mehr«, sagte Lund. »Du kannst … deinen Gefühlen Ausdruck verleihen.«

Johanson war einen Augenblick sprachlos.

»Sie wissen, dass du kein Experte für Ölbohrungen bist und ebenso wenig ein wirklicher Spezialist für Würmer oder so was«, fuhr sie hastig fort. »Aber du genießt einen ausgezeichneten Ruf an der NTNU, du bist neutral und nicht vorbelastet wie wir. Wir urteilen nun mal aus anderen Blickwinkeln.«

»Ihr urteilt aus dem Blickwinkel der Machbarkeit.«

»Nicht nur! Schau mal, es ist so, dass bei Statoil ein Haufen Leute zusammensitzt, von denen jeder etwas ganz Bestimmtes am besten kann, und …«

»Fachidioten eben.«

»Überhaupt nicht!« Sie klang verärgert. »Mit Fachidioten ist dieses Geschäft nicht zu machen. Hier steckt nur jeder zu tief drin. Wir hängen alle mit dem Kopf unter Wasser, mein Gott, wie soll ich es ausdrücken … Wir brauchen eben mehr Meinungen von außen.«

»Ich verstehe nicht viel von eurem Geschäft.«

»Natürlich zwingt dich keiner.« Lund klang allmählich gereizt. »Du kannst es auch bleiben lassen.«

Johanson verdrehte die Augen. »Schon gut. Ich habe nicht vor, dich hängen zu lassen. Es gibt tatsächlich ein paar Neuigkeiten aus Kiel und …«

»Kann ich das als Ja verbuchen?«

»Ja. In Herrgotts Namen. Wann findet dieses Treffen statt?«

»Es gibt mehrere Treffen in nächster Zeit. Eigentlich hängen wir ständig zusammen.«

»Na schön. Es ist Freitag. Übers Wochenende bin ich weg, und Montag könnte ich …«

»Das ist …« Sie stockte. »Das wäre eigentlich …«

»Ja?«, sagte Johanson gedehnt, von bösen Vorahnungen geplagt.

Sie ließ einige Sekunden verstreichen.

»Was hast du überhaupt vor am Wochenende?«, fragte sie im Plauderton. »Willst du zum See?«

»Klug erkannt. Willst du mit?«

Sie lachte. »Warum nicht?«

»Hoho! Und was sagt Kare dazu?«

»Mir doch egal. Was soll er dazu sagen?« Sie schwieg eine Sekunde. »Ach verdammt!«

»Wärest du doch nur in allem so gut wie in deinem Job«, sagte Johanson so leise, dass er nicht sicher war, ob sie es verstanden hatte.

»Sigur, bitte! Kannst du deinen Ausflug nicht verschieben? Wir treffen uns in zwei Stunden, und ich dachte … es ist ja nicht weit von hier, und es dauert auch nicht lange. Du bist im Nu wieder draußen. Du kannst heute Abend noch losfahren.«

»Ich …«

»Wir müssen einfach weiterkommen in der Sache. Wir haben einen Zeitplan, und du weißt, was das alles kostet, und jetzt gibt es schon die ersten Verzögerungen, bloß weil …«

»Ich mach’s ja!«

»Du bist ein Schatz.«

»Soll ich dich abholen?«

»Nein, ich werde dort sein.«

»Oh, ich freue mich. Danke! Das ist wirklich lieb von dir.« Sie legte auf. Johanson betrachtete wehmütig seinen gepackten Koffer.

Als er den großen Konferenzraum des Statoil-Forschungszentrums betrat, war die angespannte Stimmung mit Händen zu greifen. Lund saß in Begleitung dreier Männer an einem schwarz polierten Tisch von ausladenden Dimensionen. Späte Nachmittagssonne fiel herein und verlieh dem in Glas, Stahl und dunklen Tönen gehaltenen Interieur etwas Wärme. Die Wände waren mit hochkopierten Diagrammen und technischen Zeichnungen regelrecht tapeziert.

»Hier ist er«, sagte die Dame vom Empfang und lieferte Johanson ab, als sei er ein Weihnachtspaket. Einer der Männer stand auf und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Er hatte kurz geschnittenes, schwarzes Haar und trug eine modische Brille.

»Thor Hvistendahl, Stellvertretender Direktor des Statoil-Forschungszentrums«, stellte er sich vor. »Entschuldigen Sie, dass wir so kurzfristig Ihre Zeit beanspruchen, aber Frau Lund versicherte uns, Sie hätten nichts Besseres vor.«

Johanson widmete Lund einen unmissverständlichen Blick und schüttelte die dargebotene Rechte.

»Ich hatte in der Tat nichts vor«, sagte er.

Lund grinste in sich hinein. Sie stellte ihm die Männer nacheinander vor. Wie Johanson es erwartet hatte, war einer davon aus der Statoil-Zentrale in Stavanger angereist, ein vierschrötiger Bursche mit roten Haaren und hellen, freundlichen Augen. Er fungierte als Repräsentant des Management Boards und gehörte dem Exekutiv komitee an.

»Finn Skaugen«, dröhnte er beim Händedruck.

Der dritte Mann, ein ernst dreinblickender Glatzkopf mit scharfen Falten um die Mundwinkel, der als Einziger eine Krawatte trug, erwies sich als Lunds direkter Vorgesetzter. Er hieß Clifford Stone, stammte aus Schottland und war Projektleiter des neuen Explorationsvorhabens. Stone nickte Johanson kühl zu. Er schien nicht besonders erbaut zu sein von der Anwesenheit des Biologen, aber ebenso gut mochte die personifizierte Sorge Teil seiner naturgewollten Physiognomie sein. Nichts ließ vermuten, dass er jemals lächelte.

Johanson ließ einige Artigkeiten hören, lehnte einen Kaffee ab und setzte sich. Hvistendahl zog einen Packen Papier zu sich heran.

»Kommen wir gleich zur Sache. Die Situation ist Ihnen bekannt. Wir wissen nicht recht einzuschätzen, ob wir gerade im Schlamassel stecken oder überreagieren. Sie kennen vielleicht einige der Bestimmungen, mit denen sich die Ölförderung herumzuschlagen hat?«

»Nordseekonferenz«, sagte Johanson aufs Geratewohl.

Hvistendahl nickte.

»Unter anderem. Wir sind einer ganzen Reihe von Einschränkungen unterworfen, Umweltgesetzgebung, technisch Machbares, aber natürlich gibt es auch eine öffentliche Meinung zu nicht reglementierten Punkten.

Kurz gesagt nehmen wir Rücksicht auf alles und jeden. Greenpeace und diverse Organisationen sitzen uns im Nacken wie die Zecken, und das ist in Ordnung so. Wir kennen die Risiken einer Bohrung, wir wissen in etwa, was uns erwartet, wenn wir eine Förderung in Betracht ziehen, und wir kalkulieren ein entsprechendes Timing.«

»Soll heißen, wir kommen selber ganz gut zurecht«, sagte Stone.

»Im Allgemeinen«, ergänzte Hvistendahl. »Nun ja, nicht jedes Unterfangen gelangt zur Durchführung, und das hat dann Gründe, die Sie überall nachschlagen können. Die Sedimentbeschaffenheit ist instabil, wir laufen Gefahr, eine Gasblase anzubohren, bestimmte Konstruktionen eignen sich nicht hinsichtlich Wassertiefe und Strömungsverhalten, all das. Grundsätzlich wissen wir aber recht schnell, was geht und was nicht. Tina testet die Anlagen bei Marintek, wir entnehmen die üblichen Proben, schauen uns da unten um, es gibt eine Expertise, und dann wird gebaut.«

Johanson lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Aber diesmal ist der Wurm drin«, sagte er.

Hvistendahl lächelte etwas verkrampft. »Sozusagen.«

»Falls die Viecher irgendeine Rolle spielen«, sagte Stone. »Meines Erachtens spielen sie keine.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil Würmer nichts Neues sind. Man findet sie überall.«

»Nicht solche.«

»Wieso? Weil sie Hydrate anknabbern?« Er funkelte Johanson angriffslustig an. »Ja, aber Ihre Freunde aus Kiel sagen, da wäre nichts, weswegen wir uns Sorgen machen müssten. Richtig?«

»Das haben sie so nicht gesagt. Sie sagten …«

»Dass die Würmer das Eis nicht destabilisieren können.«

»Sie fressen es an.«

»Aber sie können es nicht destabilisieren!«

Skaugen räusperte sich. Es klang wie eine Eruption.

»Ich denke, wir haben Dr. Johanson zu uns gebeten, weil wir seine Einschätzung hören wollen«, sagte er mit einem Seitenblick auf Stone. »Und nicht, um ihm mitzuteilen, was wir denken.«

Stone kaute auf seiner Unterlippe und starrte die Tischplatte an.

»Wenn ich Sigur richtig verstehe, liegen inzwischen weitere Ergebnisse vor«, sagte Lund und lächelte aufmunternd in die Runde.

Johanson nickte. »Ich kann einen kurzen Abriss geben.«

»Scheißviecher«, brummte Stone.

»Möglicherweise. Geomar hat weitere sechs davon aufs Eis gesetzt, und alle haben sich kopfüber hineingebohrt. Zwei andere Exemplare wurden auf eine Sedimentschicht gesetzt, die kein Hydrat enthielt, und sie taten gar nichts. Sie fraßen nichts, und sie bohrten nicht. Weitere zwei setzte man auf Sediment, das zwar kein Hydrat enthielt, aber über einer Gasblase lag. Sie bohrten nicht, verhielten sich jedoch deutlich unruhiger.«

»Was ist mit denen, die sich ins Eis gefressen haben?«

»Sie sind tot.«

»Und wie tief kamen sie?«

»Bis auf einen haben sich alle zur Gasblase durchgeschlagen.« Johanson sah Stone an, der ihn unter zusammengezogenen Brauen musterte. »Aber das lässt nur bedingt Rückschlüsse auf ihr Verhalten in freier Natur zu.

Am Kontinentalhang sind die Hydratschichten über den Gasblasen dutzende bis hunderte von Metern dick. Die Schichten im Simulator messen eben mal zwei Meter. Bohrmann schätzt, dass keiner der Würmer tiefer als drei bis vier Meter kommen würde, aber das ist unter den gegebenen Umständen kaum zu verifizieren.«

»Warum sterben die Würmer eigentlich?«, fragte Hvistendahl.

»Sie brauchen Sauerstoff, und der wird in dem engen Loch knapp.«

»Aber andere Würmer bohren sich doch auch in Böden«, warf Skaugen ein. Dann fügte er mit einem Grinsen hinzu: »Sie sehen, wir haben uns ein bisschen schlau gemacht, um nicht wie vollkommene Idioten vor Ihnen zu sitzen.«

Johanson grinste zurück. Skaugen war nach seinem Geschmack. »Solche Tiere wühlen sich ins Sediment«, sagte er. »Und Sediment ist locker. Darin ist reichlich Sauerstoff vorhanden, und außerdem gräbt kaum ein Tier so tief. Methanhydrat dagegen ist, als ob Sie in Beton vorstoßen. Irgendwann werden Sie ersticken.«

»Verstehe. Sind Ihnen sonst Tiere bekannt, die sich so verhalten?«

»Selbstmordkandidaten?«

»Ist es denn Selbstmord?«

Johanson zuckte die Achseln. »Selbstmord setzt eine Absicht voraus. Würmer tragen sich nicht mit Absichten. Sie sind auf ihr Verhalten konditioniert.«

»Gibt es überhaupt Tiere, die Suizid begehen?«

»Klar gibt es Tiere, die so was tun«, sagte Stone. »Die verdammten Lemminge stürzen sich ins Meer.«

»Tun sie nicht«, sagte Lund.

»Natürlich tun sie das!«

Lund legte ihm die Hand auf den Unterarm.

»Du vergleichst Äpfel mit Birnen, Clifford. Man hat längere Zeit angenommen, Lemminge begingen kollektiven Suizid, weil es schick klang. Dann hat man sich die Sache nochmal näher angesehen und festgestellt, dass sie einfach bescheuert sind.«

»Bescheuert?« Stone sah Johanson an. »Dr. Johanson, halten Sie es für eine gängige wissenschaftliche Erklärung, ein Tier als bescheuert zu bezeichnen?«

»Sie sind bescheuert«, fuhr Lund ungerührt fort. »Wie auch Menschen bescheuert sind, wenn sie im Pulk auftreten. Die vorderen Lemminge sehen durchaus, dass da eine Klippe ist, aber von hinten wird gedrängelt wie bei einem Popkonzert. Sie schubsen einander so lange ins Meer, bis der Zug zur Ruhe gekommen ist.«

Hvistendahl sagte: »Es gibt schon Tiere, die sich opfern. Altruismus ist das wohl.«

»Ja, aber Altruismus ergibt immer einen Sinn«, erwiderte Johanson. »Bienen nehmen in Kauf, nach dem Stich zu sterben, weil der Stich dem Schutz des Volkes dient, beziehungsweise der Königin.«

»Es lässt sich also keine irgend geartete Absicht im Verhalten der Würmer erkennen?«

»Nein.«

»Biologieunterricht«, seufzte Stone. »Du lieber Himmel! Ihr versucht aus diesen Würmern irgendwelche Monster zu machen, derentwegen man keine Fabrik auf den Meeresboden stellen kann. Das ist albern!«

»Noch was«, sagte Johanson, ohne den Projektleiter zu beachten. »Geomar würde im Explorationsgebiet gern eigene Forschungen zu dem Thema betreiben. Natürlich im Schulterschluss mit Statoil.«

»Interessant.« Skaugen beugte sich vor. »Wollen sie jemanden schicken?«

»Ein Forschungsschiff. Die Sonne.«

»Das ist nobel von ihnen, aber sie können ihre Forschungen von der Thorvaldson aus betreiben.«

»Sie planen ohnehin eine Expedition. Außerdem ist die Sonne der Thorvaldson technisch voraus. Es geht ihnen hauptsächlich darum, einige Messergebnisse aus dem Tiefseesimulator zu überprüfen.«

»Was für Messungen?«

»Erhöhte Methankonzentrationen. Die Würmer haben durch ihre Bohrungen Gas freigesetzt, das ins Wasser gelangt ist. Außerdem möchten sie ein paar Zentner Hydrat ausbaggern. Samt Würmern. Sie wollen sich alles im größeren Maßstab ansehen.«

Skaugen nickte und verschränkte die Finger.

»Wir haben bis jetzt nur über Würmer gesprochen«, sagte er. »Haben Sie diese ominöse Videoaufnahme gesehen?«

»Das Ding im Meer?«

Skaugen lächelte dünn. »Das Ding? Klingt mir offen gestanden zu sehr nach Horrorstreifen. Was halten Sie davon?«

»Ich weiß nicht, ob die Würmer und dieses … Wesen in Zusammenhang gebracht werden sollten.«

»Und was denken Sie, was es ist?«

»Keine Ahnung.«

»Sie sind Biologe. Gibt es nicht irgendeine Antwort, die sich aufdrängt?«

»Biolumineszenz. Tinas Nachbearbeitung des Materials lässt darauf schließen. Jedes größere bekannte Lebewesen fällt damit aus. Per se jedes Säugetier.«

»Frau Lund erwähnte die Möglichkeit, wir hätten es mit einem Tiefseekalmar zu tun.«

»Ja, das haben wir diskutiert«, sagte Johanson. »Aber es ist unwahrscheinlich. Körperfläche und Struktur lassen keinen derartigen Schluss zu. Außerdem vermuten wir die Architheuten in ganz anderen Regionen.«

»Also was ist es dann?«

»Ich weiß es nicht.«

Schweigen breitete sich aus. Stone spielte nervös mit einem Kugelschreiber.

»Darf ich fragen«, nahm Johanson die Unterhaltung in bedächtigem Tonfall wieder auf, »welche Art von Fabrik Sie eigentlich planen?«

Skaugen warf Lund einen Blick zu. Sie zuckte die Achseln.

»Ich habe Sigur erzählt, dass wir eine Unterwasseranlage ins Auge fassen. Und dass wir noch nicht definitiv wissen, ob es wirklich eine werden wird.«

»Kennen Sie sich mit so was aus?«, fragte Skaugen an Johanson gewandt.

»Ich kenne Subsis«, sagte Johanson. »Seit neuestem.«

Hvistendahl hob die Brauen.

»Das ist ja schon mal eine ganze Menge. Sie entwickeln sich zum Fachmann, Dr. Johanson. Wenn Sie noch zwei-, dreimal mit uns zusammensitzen …«

»Subsis ist eine Vorstufe«, blaffte Stone. »Wir sind viel weiter als Subsis. Wir kommen tiefer, und die Sicherheitssysteme sind über jeden Zweifel erhaben.«

»Das neue System stammt von FMC Kongsberg, das ist ein technischer Entwickler für Tiefseelösungen«, erläuterte Skaugen. »Es ist eine Weiterentwicklung von Subsis. Dass wir so etwas installieren wollen, ist eigentlich keine Frage. Unschlüssig sind wir, ob die Pipelines zu einer der bestehenden Plattformen oder direkt an Land führen werden. Immerhin hätten wir enorme Entfernungen und Höhenunterschiede zu überwinden.«

»Gibt es nicht auch eine dritte Möglichkeit?«, fragte Johanson. »Direkt über der Fabrik schwimmt ein Produktionsschiff?«

»Ja, aber so oder so ruht die Förderstation auf dem Grund«, sagte Hvistendahl.

»Wie gesagt, wir wissen die Risiken einzuschätzen«, fuhr Skaugen fort, »solange es definierte Risiken sind. Mit den Würmern kommen Faktoren ins Spiel, die wir nicht kennen und nicht erklären können. Es mag, wie Clifford meint, übertrieben sein, wenn wir unseren Zeitplan aufs Spiel setzen, bloß weil wir eine neue Spezies nicht einordnen können oder irgendwas Unbekanntes durchs Bild schwimmt. Aber solange es keine Gewissheit gibt, müssen wir alles daransetzen, welche zu erlangen. — Sie sollen uns diese Entscheidung nicht abnehmen, Dr. Johanson, dennoch: Was würden Sie an unserer Stelle tun?«

Johanson fühlte sich unbehaglich. Stone starrte ihn mit unverhohlener Feindseligkeit an. Hvistendahl und Skaugen wirkten interessiert, und Lunds Gesichtsausdruck war bar jeder Regung.

Wir hätten uns vorher abstimmen sollen, dachte er.

Aber Lund hatte nicht auf eine Abstimmung gedrängt. Vielleicht war es ihr lieber so. Vielleicht wollte sie, dass er dem Projekt fürs Erste den Riegel vorschob.

Oder auch nicht.

Johanson legte die Hände vor sich auf den Tisch. »Ich würde die Station grundsätzlich bauen«, sagte er.

Skaugen und Lund starrten ihn verblüfft an. Hvistendahl runzelte die Stirn, während sich Stone mit triumphierendem Gesichtsausdruck zurücklehnte.

Johanson ließ einen Moment verstreichen, dann fügte er hinzu: »Ich würde sie bauen, aber erst, nachdem Geomar weitere Untersuchungen durchgeführt und grünes Licht gegeben hat. Über die Kreatur auf dem Video werden wir kaum Aufschluss erlangen. Nessie lässt grüßen. Ich bin auch nicht sicher, ob sie uns beschäftigen sollte. Entscheidend ist, welche Auswirkungen das massenhafte Auftreten einer unbekannten, Hydrat fressenden Spezies auf die Stabilität der Kontinentalhänge und etwaige Bohrungen hat. Solange das nicht geklärt ist, empfehle ich, das Projekt auf Eis zu legen.«

Stone kniff die Lippen zusammen. Lund lächelte. Skaugen wechselte einen Blick mit Hvistendahl. Dann sah er Johanson in die Augen und nickte.

»Ich danke Ihnen, Dr. Johanson. Danke für Ihre Zeit.«

Später, als er den Koffer im Geländewagen verstaut hatte und einen letzten Rundgang durchs Haus machte, schellte es an seiner Tür.

Er öffnete. Draußen stand Lund. Es hatte zu regnen begonnen, und die Haare klebten ihr am Kopf.

»Das war gut«, sagte sie.

»War es das?« Johanson trat zur Seite, um sie ins Innere zu lassen. Sie kam herein, strich sich die nassen Strähnen aus der Stirn und nickte.

»Skaugen hatte seine Entscheidung im Grunde schon gefällt. Er wollte deinen Segen.«

»Wer bin ich, die Projekte Statoils abzusegnen?«

»Ich sagte schon, du genießt einen ausgezeichneten Ruf. Aber Skaugen geht es um mehr. Er wird sich verantworten müssen, und jeder, der für Statoil arbeitet oder sonst wie mit dem Konzern verknüpft ist, muss als parteiisch gelten. Er wollte jemanden, der keine Karten in der Sache hat, und du bist nun mal Herr über jegliches Gewürm und denkbar uninteressiert am Bau irgendwelcher Fabriken.«

»Skaugen hat also das Projekt auf Eis gelegt?«

»Bis zur Klärung der Situation durch Geomar.«

»Donnerwetter!«

»Er mag dich übrigens.«

»Ich ihn auch.«

»Ja. Statoil kann sich glücklich schätzen, Leute wie ihn in der zu Spitze haben.« Sie stand in seiner Diele und ließ die Arme hängen. Für jemanden, der normalerweise ständig in Bewegung und voller Zielstrebigkeit war, wirkte sie seltsam unentschlossen. Ihre Augen suchten den Raum ab. »Wo ist eigentlich dein Gepäck?«

»Wieso?«

»Wolltest du nicht zum See?«

»Das Gepäck ist im Wagen. Du hattest Glück, ich stand im Begriff, das Haus zu verlassen.« Er musterte sie. »Kann ich noch was für dich tun, bevor ich mich der Einsamkeit ergebe? Und ich werde fahren! Keine weiteren Aufschübe.«

»Ich wollte dich nicht aufhalten. Ich wollte dir erzählen, was Skaugen entschieden hat, und …«

»Das ist nett von dir.«

»Und dich fragen, ob dein Angebot noch gilt.«

»Welches?«, fragte er, obschon ihm klar war, was sie meinte.

»Du hast vorgeschlagen, dass ich mitfahre.«

Johanson lehnte sich gegen die Wand neben der Garderobe. Plötzlich sah er einen gewaltigen Berg Probleme auf sich zukommen.

»Ich habe auch gefragt, was Kare dazu sagt.«

Sie schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich muss niemanden um Erlaubnis fragen, wenn du das meinst.«

»Nein, das meine ich nicht. Ich möchte nur nicht zu Missverständnissen beitragen.«

»Du trägst zu gar nichts bei«, sagte sie trotzig. »Wenn ich mit zum See will, ist das einzig meine Entscheidung.«

»Du weichst mir aus.«

Wasser tropfte aus ihren Haaren und lief ihr übers Gesicht. »Warum hast du es dann überhaupt vorgeschlagen?«, fragte sie.

Ja, warum, dachte Johanson.

Weil ich es gerne hätte. Nur möglichst so, dass es nichts kaputtmacht. Er fühlte sich Kare Sverdrup gegenüber nicht im Mindesten verpflichtet. Aber Lunds plötzliche Bereitschaft, mit ihm zum See zu fahren, irritierte ihn. Vor Wochen noch hätte er sich keine Gedanken darüber gemacht. Sporadische Unternehmungen, Verabredungen zum Essen, all das war Teil ihres selbstironisch inszenierten Dauerflirts, ohne dass jemals etwas folgte. Das hier gehörte nicht zum Flirt.

Mit einem Mal wusste er, was ihn störte. Im selben Moment wurde ihm auch klar, was Lund in den letzten Tagen so sehr beschäftigt haben musste.

»Wenn ihr beide Ärger habt«, sagte er, »lass mich aus dem Spiel. Einverstanden? Du kannst mitkommen, aber ich bin nicht da, um Kare unter Druck zu setzen.«

»Du interpretierst ein bisschen viel rein in die Sache.« Lund zuckte die Achseln. »Also gut. Vielleicht hast du Recht. Lassen wir’s.«

»Ja.«

»Besser so. Ich muss einfach ein bisschen nachdenken.«

»Mach das.«

Sie standen weiterhin unentschlossen in der Diele herum.

»Also dann«, sagte Johanson. Er beugte sich vor, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schob sie sanft nach draußen auf die Straße. Dann schloss er die Haustüre hinter ihnen ab. Allmählich wurde es dämmrig. Es nieselte beständig. Er würde den größten Teil der Strecke im Dunkeln zurücklegen, aber es war ihm beinahe recht so. Er würde Sibelius’ Finlandia-Symphonie hören. Sibelius und die Dunkelheit. Das war gut.

»Montag bist du wieder da?«, fragte Lund, während sie mit ihm zum Wagen ging.

»Ich schätze, schon Sonntag Nachmittag.«

»Wir können ja telefonieren.«

»Sicher. Was hast du so vor?«

Sie zuckte die Achseln. »Arbeit hätte ich genug.«

Er verkniff sich eine weitere Frage nach Kare Sverdrup.

Im selben Moment sagte Lund: »Kare ist übers Wochenende verreist. Zu seinen Eltern.«

Johanson öffnete die Fahrertür und verharrte. »Du musst ja nicht immer nur arbeiten«, sagte er.

Sie lächelte. »Nein. Natürlich nicht.«

»Außerdem … könntest du gar nicht mitfahren. Du hast nichts dabei für ein Wochenende am See.«

»Was braucht man denn?«

»Gutes Schuhwerk vor allen Dingen. Und was Warmes zum Anziehen.«

Lund sah an sich herunter. Sie trug Schnürstiefel mit dicken Sohlen. »Was braucht man noch?«, fragte sie. »Na ja. Wie gesagt, einen Pullover …« Johanson fuhr sich über den Bart »Einiges habe ich auch im Haus.«

»Mhm. Weil man ja nie weiß.«

»Richtig. Man weiß ja nie.«

Er sah sie an. Dann musste er lachen.

»Okay, Frau Kompliziert. Letzte Mitfahrgelegenheit.«

»Ich und kompliziert?« Lund riss die Beifahrertür auf und grinste. »Das werden wir auf der Fahrt ausdiskutieren.«

Als sie den unbefestigten Weg zur Hütte erreichten, war es bereits dunkel, und der Jeep rumpelte unter den Scherenschnitten der Bäume hindurch zum Ufer. Vor ihnen lag der See wie ein zweiter, in Wälder gebetteter Himmel. Die Oberfläche war voller Sterne, wo die Wolken sich auseinander geschoben hatten, während es unten in Trondheim wahrscheinlich immer noch regnete.

Johanson brachte den Koffer ins Haus und trat neben Lund auf die Veranda. Die Bohlen knarrten leise. Jedes Mal aufs Neue fühlte er sich ergriffen von der Stille, die umso offenbarer wurde, weil sie voller Geräusche war: Rascheln, Zirpen und leises Knacken, der ferne Schrei eines Vogels, Bewegungen im Unterholz, Undeutbares. Eine kurze Verandatreppe führte auf eine Wiese, die zum Wasser hin sanft abfiel. Von dort erstreckte sich ein windschiefer Landungssteg. Das Boot am Ende, mit dem er manchmal zum Angeln hinausfuhr, lag reglos da.

Lund sah hinaus. »Und das hast du alles für dich alleine?«, fragte sie.

»Meistens.«

Sie schwieg eine Weile. »Du musst ziemlich gut mit dir selber klarkommen, schätze ich.«

Johanson lachte leise. »Wieso glaubst du das?«

»Wenn du hier niemanden findest außer dich selber … ich meine, deine Gesellschaft muss dir angenehm sein.«

»Oh ja. Ich kann hier draußen mit mir umspringen, wie ich will. Mich mögen, mich verabscheuen …«

Sie wandte ihm den Kopf zu.

»So was kommt vor? Dass du dich verabscheust?«

»Selten. Und wenn, verabscheue ich mich dafür. Komm rein. Ich mache uns einen Risotto.«

Sie gingen hinein.

Johanson schnitt Zwiebeln in der kleinen Küche, dünstete sie in Olivenöl an und gab Riso di Carnaroli dazu, den venezianischen Risottoreis. Er wendete die Reiskörner mit einem Holzlöffel, bis sie sämtlich von Öl überzogen waren, goss kochenden Geflügelfond an und rührte weiter, damit die Masse nicht anbrannte. Zwischendurch schnitt er Steinpilze in Streifen, erhitzte sie in Butter und ließ sie auf kleiner Flamme brutzeln.

Lund sah fasziniert zu. Johanson wusste, dass sie nicht kochen konnte. Sie brachte die Geduld nicht auf. Er entkorkte eine Flasche Rotwein, dekantierte ihn und füllte zwei Gläser. Das übliche Procedere. Es funktionierte immer. Es wurde gegessen, getrunken, geredet, zusammengerückt. Es folgte, was eben folgte, wenn ein alternder Bohémien und eine junge Frau an einen einsamen, romantischen Ort fuhren.

Verdammte Automatismen!

Warum zum Teufel hatte sie mitkommen wollen?

Er hätte einiges darum gegeben, den Dingen an diesem Abend einfach ihren Lauf zu lassen. Lund saß am Küchenblock, trug einen seiner Pullover und wirkte so entspannt wie seit langem nicht mehr. Ihre Gesichtszüge hatten etwas ungewohnt Weiches angenommen. Johanson war irritiert. Er hatte sich oft einzureden versucht, dass sie eigentlich nicht sein Typ war, zu hektisch, zu nordisch mit ihren glatten, weißblonden Haaren und Augenbrauen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass nichts von alledem zutraf.

Du hättest ein schönes, ruhiges Wochenende verbringen können, dachte er. Aber du wolltest es ja unbedingt kompliziert haben, Idiot.

Sie aßen in der Küche. Lund wurde mit jedem Glas ausgelassener. Sie alberten herum und öffneten eine weitere Flasche.

Um Mitternacht sagte Johanson: »Es ist nicht wirklich kalt draußen. Lust auf eine Bootstour?«

Sie stützte das Kinn in die Hände und grinste ihn an. »Mit Schwimmen?«

»Würde ich an deiner Stelle bleiben lassen. Vielleicht in ein bis zwei Monaten. Dann ist es hier wärmer. Nein, wir fahren in die Mitte des Sees, nehmen die Flasche mit und …«

Er machte eine Pause.

»Und?«

»Gucken uns die Sterne an.«

Ihre Blicke blieben aneinander hängen. Jeder auf seiner Seite des Küchenblocks, die Arme aufgestützt, sahen sie einander an, und Johanson fühlte, wie sein innerer Widerstand zusammenbrach. Er hörte sich Dinge sagen, die er nicht hatte sagen wollen, sah sich sämtliche Register ziehen und die notwendigen Hebel und Schalter betätigen, um die Maschinerie in Gang zu setzen. Er weckte Erwartungen, bestärkte sich und Lund darin, zu tun, weswegen man nun mal gemeinsam an einen verlassenen See fuhr, wünschte sie zurück nach Trondheim und zugleich in seine Arme, rückte ihr näher, bis er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte, verfluchte den Lauf des Geschicks und konnte es zugleich kaum erwarten.

»Gut. Dann mal los.«

Draußen war es windstill. Sie liefen den Steg entlang und sprangen ins Boot, Es geriet ins Schaukeln, und Johanson ergriff ihren Arm. Er hätte laut auflachen können! Wie im Film, schoss es ihm durch den Kopf. Wie in einem gottverdammten Kitschfilm mit Meg Ryan. Beim Stolpern kommt man sich näher. Du liebe Güte.

Es war ein kleines Holzboot, das ihm der ehemalige Besitzer des Hauses mitverkauft hatte. Der Bug war überplankt, um Stauraum zu schaffen. Lund setzte sich im Schneidersitz darauf, während Johanson den Außenborder startete. Das Motorengeräusch störte den Frieden keineswegs. Es fügte sich harmonisch ein in die wundersam belebte Nacht der Wälder, ein Tuckern und tiefes Brummen wie von einer überdimensionalen Hummel.

Während der kurzen Fahrt fiel kein Wort. Schließlich drosselte Johanson den Motor und stellte ihn aus. Sie trieben ein gutes Stück vom Haus entfernt. Er hatte die Verandabeleuchtung angelassen, und sie spiegelte sich im ufernahen Wasser als kräuseliger Streifen. Hier und da erklang leises Plätschern, wenn ein Fisch an die Oberfläche schoss, um nach Insekten zu schnappen. Johanson balancierte zu Lund hinüber, in der Rechten die halb volle Flasche. Das Boot schaukelte sacht.

»Wenn du dich auf den Rücken legst«, sagte er, »gehört das Universum dir. Mit allem, was drin ist. Versuch’s.«

Sie sah ihn an. Im Dunkeln leuchteten ihre Augen. »Hast du schon mal Sternschnuppen hier gesehen?«

»Ja. Mehrfach.«

»Und? Hast du dir was gewünscht?«

»Dafür mangelt es mir an romantischer Substanz.« Er ließ sich neben ihr auf den Planken nieder. »Ich habe es einfach genossen.«

Lund kicherte. »Du glaubst an gar nichts, was?«

»Und du?«

»Ich bin die Letzte, die an so was glaubt.«

»Ich weiß. Dir macht man keine Freude mit Blumen oder Sternschnuppen. Kare wird seine liebe Not haben. Das Romantischste, was man dir schenken kann, ist wahrscheinlich eine Stabilitätsanalyse für meerestechnische Konstruktionen.«

Lund sah ihn weiter an. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und ließ sich langsam nach hinten sinken. Ihr Pullover rutschte hoch und gab ihren Bauchnabel frei. »Glaubst du das wirklich?«

Johanson stützte sich auf den Ellenbogen und betrachtete sie. »Nein. Nicht wirklich.«

»Du glaubst, ich bin unromantisch.«

»Ich glaube, du hast dir noch keine Gedanken darüber gemacht, wie Romantik funktioniert.«

Wieder hefteten sich ihre Blicke aneinander.

Lange.

Zu lange.

Er fand seine Finger in ihrem Haar wieder, fuhr langsam durch die Strähnen. Sie sah zu ihm hoch.

»Vielleicht zeigst du es mir«, flüsterte sie.

Johanson beugte sich hinab, bis zwischen ihren Lippen nur noch eine dünne Schicht erhitzter Luft vibrierte. Sie schlang einen Arm um seinen Nacken. Ihre Augen waren geschlossen.

Küssen. Jetzt.

Tausend Geräusche und Gedanken flatterten durch Johansons Hirn, verdichteten sich zu einem Wirbel und zerrten an seiner Konzentration. Immer noch verharrten sie beide in angespannter Stellung, als müsse erst jemand ein Zeichen geben, ein Signal, eine Genehmigung, hier bitte, in doppelter Ausfertigung, eine für Sie, eine für Sie. Sie dürfen die Braut jetzt küssen, Sie dürfen jetzt leidenschaftlich werden, wirklich leidenschaftlich. Das sah schon nicht schlecht aus, aber jetzt glauben Sie bitte dran!

Seien Sie leidenschaftlich, Mann!

Was ist los?, dachte Johanson. Was stimmt hier nicht?

Er spürte Lunds Körperwärme, nahm ihren Duft in sich auf, und es war ein köstlicher, wunderbarer, einladender Duft.

Aber es war, als sei er im falschen Haus. Nicht an ihn erging diese Einladung.

»Es funktioniert nicht«, sagte Lund im selben Moment.

Einen Atemzug lang, auf der Kippe zwischen Kapitulation und trotzigem Beharren, fühlte sich Johanson, als sei er in eiskaltes Wasser gefallen. Dann verging der kurze Schmerz. Etwas erlosch. Der Rest von Glut verflüchtigte sich in der klaren Luft über dem See und machte ungeheurer Erleichterung Platz.

»Du hast Recht«, sagte er.

Sie lösten sich voneinander, langsam, widerstrebend, als hätten ihre Körper noch nicht begriffen, was die Köpfe längst ausgehandelt hatten. Johanson sah die Frage in ihren Augen, die sie wahrscheinlich auch in seinen las: Wie viel haben wir vermasselt? Kaputtgemacht? Für immer versaut?

»Alles okay?«, fragte er.

Lund antwortete nicht. Er setzte sich vor sie hin, mit dem Rücken zur Bootswand. Dann fiel ihm auf, dass er die Flasche noch umklammert hielt, und er reichte sie ihr.

»Offenbar«, sagte er, »ist unsere Freundschaft zu stark für die Liebe.«

Er wusste, dass es platt und pathetisch klang, aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Sie begann zu kichern, nervös zuerst, dann offensichtlich erleichtert. Griff nach der Flasche, nahm einen langen Schluck und lachte laut auf. Fuhr sich durchs Gesicht, als wollte sie dieses laute, unpassende Lachen wegwischen, aber es drang weiterhin dumpf zwischen ihren Fingern hindurch, und Johanson lachte schließlich mit.

»Puh«, machte sie.

Dann schwiegen sie eine ganze Weile.

»Bist du sauer?«, fragte sie schließlich leise.

»Nein. Du?«

»Ich … nein, ich bin nicht sauer. Überhaupt nicht. Es ist nur …« Sie stockte. »Es ist alles so wirr. Auf der Thorvaldson, weißt du, der Abend in deiner Kabine. Eine Minute länger, und … ich meine, es hätte passieren können, aber heute …«

Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und trank.

»Nein«, sagte er. »Seien wir ehrlich, es wäre ebenso ausgegangen. Ganz genauso wie gerade.«

»Woran liegt’s?«

»Du liebst ihn.«

Lund schlang die Arme um ihre Knie. »Kare?«

»Wen sonst?«

Sie starrte vor sich hin, eine ganze Zeit lang, und Johanson formte die Lippen wieder um den Flaschenhals, weil es nicht seine Aufgabe war, Tina Lund ihre Gefühle zu erklären.

»Ich dachte, ich kann dem entkommen, Sigur.«

Pause. Wenn sie eine Antwort erwartet, dachte er, wird sie lange warten müssen. Sie wird es von selber kapieren müssen.

»Wir waren immer mal wieder so weit, du und ich«, sagte sie nach einer Weile. »Keiner von uns wollte sich binden, eigentlich ideale Voraussetzungen. — Aber wir haben die Option nie eingelöst. — Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, es muss jetzt unbedingt sein, ich … ich war nie in dich verliebt. Ich wollte nie verliebt sein. Aber die Vorstellung, dass es irgendwann passiert, hatte ihren Reiz. Jeder lebt weiter sein Leben, keine Verpflichtung, keine Bindung. Ich war sogar überzeugt, dass es bald passieren würde, ich fand, dass es fällig war! — Und plötzlich kommt Kare daher, und ich denke: Mein Gott, das ist verbindlich! Alles oder nichts. Liebe ist verbindlich, und das hier ist …«

»Das ist Liebe.«

»Ich dachte eher, es ist was anderes. Wie Grippe. Ich konnte mich nicht mehr vernünftig auf meinen Job konzentrieren, ich war in Gedanken ständig woanders, ich hatte einfach das Gefühl, mir wird der Boden unter den Füßen weggezogen, und das passt nicht in mein Leben, das bin nicht ich.«

»Und da hast du gedacht, bevor du die Kontrolle verlierst, löst du endlich die Option ein.«

»Du bist ja doch sauer!«

»Ich bin nicht sauer. Ich verstehe dich. Ich war auch nie in dich verliebt.« Er überlegte. »Begehrt habe ich dich. Übrigens erst richtig, seit du mit Kare zusammen bist. Aber ich bin ein alter Jäger, ich glaube, es war einfach ärgerlich, dass mir da einer die Beute streitig machte, es hat mich gefuchst und in meiner Eitelkeit gekränkt …« Er lachte leise. »Kennst du diesen wunderbaren Film mit Cher und Nicolas Cage? Mondsüchtig. Jemand fragt, warum wollen Männer mit Frauen schlafen? Und die Antwort ist: Weil sie Angst vor dem Tod haben. Mhm. Wie komme ich jetzt darauf?«

»Weil alles mit Angst zu tun hat. Angst vor dem Alleinsein, Angst davor, nicht gefragt zu sein — aber schlimmer ist die Angst, wählen zu können und dich falsch zu entscheiden. So, dass du aus der Nummer nicht mehr rauskommst. Du und ich, wir würden nie etwas anderes als ein Verhältnis haben, und mit Kare … mit Kare könnte ich nie etwas anderes haben als eine Beziehung. Es brauchte nicht viel, dass mir das klar wurde. Du willst jemanden, den du eigentlich gar nicht kennst, du willst ihn um jeden Preis. Du bekommst ihn aber nur, wenn du sein Leben mitkaufst. Und plötzlich wirst du misstrauisch.«

»Es könnte sich als Fehler herausstellen.«

Sie nickte.

»Warst du eigentlich je mit einem zusammen?«, fragte er. »So richtig, meine ich.«

»Einmal«, erwiderte sie. »Ist schon was her.«

»Dein Erster?«

»Mhm.«

»Was ist passiert?«

»Es ist unoriginell, was passierte. Wirklich. Ich würde gerne mit was Wuchtigem aufwarten, aber Tatsache ist, dass er irgendwann Schluss machte und ich das heulende Elend bekam.«

»Und danach?«

Sie stützte das Kinn auf. Wie sie dort im Mondlicht saß, eine kleine, steile Falte zwischen den Brauen, sah sie wunderbar aus. Dennoch empfand Johanson nicht die Spur des Bedauerns. Weder, dass sie es versucht hatten, noch, wie es ausgegangen war.

»Danach war ich jedes Mal diejenige, die es beendet hat.«

»Racheengel.«

»Quatsch. Nein, manchmal gingen mir die Kerle einfach auf die Nerven. Zu langsam, zu lieb, zu begriffsstutzig. Manchmal bin ich auch einfach weggelaufen, um mich in Sicherheit zu bringen, bevor … Du weißt ja, ich bin schnell.«

»Lass uns kein schönes Haus bauen, denn es könnte ein Sturm kommen und es zerstören.«

Lund verzog die Mundwinkel. »Ist mir zu elegisch.«

»Mag sein. Aber es passt.«

»Ja, passen tut’s schon.« Sie runzelte die Stirn. »Es gibt auch noch die andere Möglichkeit. Du baust das Haus, und bevor es jemand zerstören kann, zerstörst du es selber.«

»Kare, das Haus.«

»Ja. Kare, das Haus.«

Irgendwo begann eine Grille zu zirpen. Ein ganzes Stück entfernt antwortete eine zweite.

»Beinahe wäre es dir gelungen«, sagte Johanson. »Wenn wir heute miteinander geschlafen hätten, hättest du Grund genug gehabt, Kare den Laufpass zu geben.«

Sie erwiderte nichts.

»Glaubst du, du hättest dich selber dermaßen übertölpeln können?«

»Ich hätte mir halt gesagt, dass es weit mehr meinem Lebensstil entspricht, mit dir ein Verhältnis zu haben, als eine Beziehung einzugehen, die mich auf Dauer lahm legt.

Mit dir ins Bett zu gehen hätte das irgendwie … bestätigt.«

»Du hättest dir die Bestätigung sozusagen ervögelt.«

»Nein.« Sie funkelte ihn zornig an. »Ich war scharf auf dich, ob du’s glaubst oder nicht.«

»Schon gut.«

»Du bist kein Fluchthelfer, wenn du das meinst. Ich habe dich nicht einfach so …«

»Schon gut, schon gut!« Johanson hob die Hände. »Du bist eben verliebt.«

»Ja«, sagte sie mürrisch.

»Nicht so widerwillig. Sag’s nochmal.«

»Ja. Jaha!«

»Schon besser.« Er grinste. »Und jetzt, wo wir dich von innen nach außen gekrempelt und gesehen haben, was du für ein Angsthase bist, sollten wir vielleicht den Rest der Flasche auf Kare leeren.«

Sie grinste schiefmäulig zurück. »Ich weiß es nicht.«

»Du bist dir immer noch nicht sicher?«

»Mal mehr, mal weniger. Ich bin … durcheinander.«

Johanson ließ die Flasche abwechselnd von einer Hand in die andere wandern. Dann sagte er:

»Ich habe auch mal ein Haus niedergerissen, Tina. Ist Jahre her. Die Bewohner waren noch drin. Sie haben einigen Schaden genommen, aber später sind sie drüber weggekommen. — Einer von beiden jedenfalls. Ich weiß bis heute nicht, ob es richtig war.«

»Wer war der andere Bewohner?«, fragte Lund.

»Meine Frau.«

Sie zog die Brauen hoch. »Du warst verheiratet?«

»Ja.«

»Davon hast du nie was erzählt.«

»Ich habe manches nicht erzählt. Ich finde es ganz erquicklich, Dinge nicht zu erzählen.«

»Was ist passiert?«

»Was halt passiert.« Er zuckte die Achseln. »Du lässt dich wieder scheiden.«

»Warum?«

»Das ist es ja. Es gab keinen besonderen Grund. Keine bühnenreifen Dramen, keine fliegenden Teller. Nur das Gefühl, es könnte zu eng werden. Und in Wahrheit die Angst, es könnte … mich abhängig machen. Ich sah eine Familie auf mich zukommen, Kinder und einen sabbernden Köter im Vorgarten, ich sah mich Verantwortung übernehmen, und die Kinder und der Hund und die Verantwortung machten die Liebe Stück für Stück zunichte … Ich hielt es damals für sehr vernünftig, mich zu trennen.«

»Und heute?«

»Heute denke ich manchmal, dass es der vielleicht einzige Fehler war, den ich in meinem Leben gemacht habe.« Er sah versonnen aufs Wasser hinaus. Dann straffte er sich und hob die Flasche. »In diesem Sinne: Cheerio!

Was immer du tun willst, tu es.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte sie.

»Lass dich nicht von der Angst einholen. Du hast Recht, du bist schnell. Sei schneller als die Angst.« Er sah sie an. »Ich war es damals nicht Alles, was du ohne Angst entscheidest, entscheidest du richtig.«

Lund lächelte. Dann beugte sie sich vor und griff nach der Flasche.

Erstaunlicherweise, wie Johanson fand, blieben sie dann doch das ganze Wochenende zusammen am See. In der Nacht ihrer verpatzten Romanze hatte er vermutet, sie werde tags drauf zurück nach Trondheim fahren wollen, aber so war es nicht. Etwas hatte sich geklärt. Dem ewigen Flirt war die Grundlage entzogen. Sie unternahmen Spaziergänge, schwatzten und lachten, verbannten die Welt samt allen Universitäten, Bohrinseln und Würmern aus ihren Köpfen, und Johanson kochte die besten Spaghetti Bolognese seines Lebens.

Es war eines der schönsten Wochenenden am See, an die er sich erinnern konnte.

Am Sonntagabend fuhren sie zurück. Johanson setzte Lund vor ihrer Haustür ab. Sie gaben sich einen Kuss im Schutz der Stadt, flüchtig und freundschaftlich. Für die Dauer einiger Herzschläge, als Johanson wenig später sein Haus in der Kirkegata betrat, empfand er zum ersten Mal seit Jahren wieder den Unterschied zwischen allein und einsam. Er ließ das Gefühl in der Diele zurück. Bis dorthin durften Selbstzweifel und Schwermut mitkommen. Keinen Schritt weiter.

Er brachte den Koffer ins Schlafzimmer. Auch hier stand ein Fernseher, ebenso wie im Wohnraum. Johanson schaltete ihn ein und zappte so lange durch alle Kanäle, bis er die Aufzeichnung eines Konzerts aus der Royal Albert Hall erwischte. Kiri Te Kanawa sang Arien aus La Traviata. Johanson begann auszupacken, summte leise mit und machte sich unentschlossene Gedanken über die Natur seines obligatorischen Gutenachtdrinks.

Nach einer Weile erklang keine Musik mehr.

Über einigen Schwierigkeiten beim Falten eines Hemdes registrierte er nicht gleich, dass das Konzert zu Ende gegangen war. Er kämpfte mit einem widerspenstigen Ärmel, während im Hintergrund Nachrichten liefen.

»… aus Chile bekannt geworden. Ob das Verschwinden der norwegischen Familie in Zusammenhang mit ähnlichen Vorfällen steht, die sich offenbar zur gleichen Zeit an den Küsten Perus und Argentiniens ereignet haben, wurde nicht bestätigt. Auch dort waren in den vergangenen Wochen mehrfach Fischerboote verschwunden oder später treibend gesichtet worden. Von den Besatzungen fehlt bis zur Stunde jede Spur. Die fünfköpfige Familie war bei ruhiger See und schönem Wetter an Bord eines Fischtrawlers zum Hochseeangeln hinausgefahren.«

Ärmel rechts falten, nach innen klappen. Was war das da gerade gewesen im Fernsehen?

»Costa Rica verzeichnet derweil eine Qualleninvasion ungewohnten Ausmaßes. Tausende sogenannter Staatsquallen der Gattung Portugiesische Galeere sind unter anderem dicht in Küstennähe aufgetaucht. Wie verlautet, kamen inzwischen vierzehn Menschen durch Begegnungen mit den hochgiftigen Tieren ums Leben, zahlreiche wurden verletzt, darunter auch zwei Engländer und ein Deutscher. Eine nicht bekannte Anzahl von Personen wird noch vermisst. Das costaricanische Fremdenverkehrsamt kündigte Krisensitzungen an, wies jedoch Meldungen, wonach die Strände für Touristen geschlossen werden sollen, zurück. Im Augenblick bestehe keine unmittelbare Gefahr für den Badebetrieb.«

Johanson stand reglos da, den Ärmel in der Hand.

»Diese Arschlöcher«, murmelte er. »Vierzehn Tote. Sie hätten längst alles abriegeln müssen.«

»Auch vor der australischen Küste haben Schwärme von Quallen für Beunruhigung gesorgt. Insbesondere soll es sich dabei um Seewespen handeln, die ebenfalls als hochgiftig gelten. Die örtlichen Behörden warnen eindringlich davor, schwimmen zu gehen. In den letzten einhundert Jahren starben in Australien siebzig Menschen an den Folgen von Seewespengift, das sind mehr Tote als durch Haiattacken. — Schwere Unglücksfälle auf See mit Todesfolge sind unterdessen aus Westkanada bekannt geworden. Die genaue Ursache für den Untergang mehrerer Touristenschiffe ist bislang nicht bekannt. Möglicherweise fuhren die Schiffe aufgrund eines Navigationsversagens ineinander.«

Johanson drehte sich um. Die Nachrichtensprecherin legte soeben ein Blatt aus der Hand und sah mit leerem Lächeln auf.

»Und jetzt weitere Nachrichten vom Tage in unserem Überblick.«

Portugiesische Galeeren, dachte Johanson.

Er erinnerte sich an eine Frau auf Bali, die keuchend im Sand gelegen hatte, von Krämpfen geschüttelt. Er selber war mit dem Ding nicht in Berührung gekommen. Auch die Frau hatte die Galeere nicht berührt. Sie hatte beim Strandspaziergang etwas aus dem seichten Uferwasser gefischt mit einem Stock. Etwas, das ihr seltsam und von eigentümlicher Schönheit erschienen war, ein ätherisches, dahintreibendes Segel. Weil sie vorsichtig war, hatte sie darauf geachtet, Abstand zu wahren. Einige Male hatte sie es hin— und hergewendet, bis es mit Sand paniert seine Attraktivität und seinen Reiz verloren hatte, und dann war ihr dieser dumme Fehler unterlaufen …

Portugiesische Galeeren gehörten zu den Staatsquallen, einer Spezies die der Wissenschaft immer noch Rätsel aufgab. Genau genommen war die Galeere nicht einmal eine klassische Qualle, sondern eine schwimmende Kolonie aus einer Vielzahl winziger Einzeltiere, Hunderte und Tausende Polypen mit unterschiedlichsten Aufgaben.

Ihr blau oder purpurn schillerndes Gallertsegel, das gasgefüllt aus dem Wasser ragte, ermöglichte es der Kolonie, wie eine Yacht vor dem Wind zu segeln. Was unterhalb des Segels lag, sah man nicht.

Aber man spürte es, sobald man hineingeriet.

Denn Galeeren zogen einen Vorhang aus Tentakeln hinter sich her, die bis zu fünfzig Meter lang wurden, bestückt mit hunderttausenden winziger, fühlerbesetzter Nesselzellen. Aufbau und Funktion dieser Zellen stellten eine Meisterleistung der Evolution dar, ein hocheffizientes Waffenarsenal. Jede Zelle barg in ihrem Innern eine Kapsel mit einem zusammengerollten Schlauch, der in einer harpunengleichen Spitze mündete, nach innen gestülpt wie der Finger eines Handschuhs. Die leichteste Berührung setzte einen Vorgang von atemberaubender Präzision in Gang. Im Moment, da der Fühler den Kontakt registrierte, entrollte sich der Schlauch und schoss mit einem Druck von siebzig platzenden Autoreifen hervor. Tausende der widerhakenbesetzten Harpunen durchschlugen die Körperwand des Opfers wie subkutane Spritzen und injizierten ein Gemisch aus verschiedenen Eiweißen und Proteinen, das gleichzeitig Blutkörperchen und Nervenzellen angriff. Die Folge war eine sofortige Kontraktion der Muskulatur. Schmerzen wie von glühendem Metall, das sich ins Fleisch bohrte, Schockzustand, Atemstillstand, dann Herzversagen. Sofern man das Glück hatte, sich in Ufernähe zu befinden und sofort geborgen zu werden, überlebte man den Kontakt. Taucher und Schwimmer, die weiter draußen ins Gewirr der treibenden Tentakel gerieten, hatten kaum eine Chance.

Der Frau auf Bali war nichts weiter geschehen, als dass ihr Zeh den Stock berührt hatte, an dem etwas von dem Nesselgift haftete. Selbst diese geringe Menge hatte ausgereicht, um sie die Begegnung nie wieder vergessen zu lassen. Dennoch war die Portugiesische Galeere harmlos, verglichen mit der Würfelqualle Chironex fleckeri, der australischen Seewespe.

Die Natur hatte sich in der Evolutionsgeschichte zu beeindruckenden Leistungen der Giftmischerei aufgeschwungen. Im Falle der Seewespe hatte sie ihr Meisterstück abgeliefert. Das Gift eines einzigen Tiers reichte aus, um zweihundertfünfzig Menschen zu töten. Der hochwirksame Nervenblocker rief augenblickliche Bewusstlosigkeit hervor. Die meisten Opfer starben gleichzeitig durch Herzversagen und Ertrinken, innerhalb von Minuten und oft nur Sekunden.

All das schoss Johanson durch den Kopf, als er den Fernseher anstarrte.

Da verkaufte jemand die Leute für dumm. Vierzehn Todesopfer zuzüglich Verletzte in wenigen Wochen, hatte es das je vor einer Küste gegeben? Durch eine einzige Quallenart? Und was hatte diese andere Geschichte zu bedeuten, das Verschwinden von Schiffen?

Portugiesische Galeeren vor Südamerika. Seewespen vor Australien. Borstenwurminvasionen vor Norwegen.

Das muss nichts heißen, dachte er. Quallen traten häufig in Schwärmen auf, überall auf der Welt. Kein Hochsommer ohne Quallenplage. Würmer waren etwas völlig anderes.

Er verräumte die letzten Kleidungsstücke, schaltete den Fernseher aus und ging ins Wohnzimmer, um eine CD einzulegen oder zu lesen.

Aber Johanson legte keine CD ein, und er griff auch nach keinem Buch. Vielmehr ging er eine Weile hin und her, trat ans Fenster und sah hinaus auf die von Laternen erleuchtete Straße.

Es war so friedlich gewesen am See.

Es war friedlich in der Kirkegata.

Wenn es zu friedlich wurde, war im Allgemeinen irgendetwas nicht in Ordnung.

Blödsinn, dachte Johanson. Was hat die Kirkegata mit alldem zu tun?

Er schüttete sich einen Grappa ein, nippte daran und versuchte, an etwas anderes zu denken als an die Nachrichtensendung.

Jemand fiel ihm ein, den man anrufen könnte.

Knut Olsen. Er arbeitete wie Johanson als Biologe an der NTNU. Johanson erinnerte sich, dass er eine Menge von Quallen, Korallen und Seeanemonen verstand. Außerdem konnte er Olsen fragen, was es mit den verschwundenen Booten auf sich hatte.

Olsen meldete sich nach dem dritten Schellen.

»Hast du schon geschlafen?«, fragte Johanson.

»Die Kinder haben mich wach gehalten«, sagte Olsen. »Marie hatte Geburtstag, sie ist fünf geworden. Wie war’s am See?«

Olsen war ein stets gut gelaunter Familienmensch, der ein bürgerlich dermaßen korrektes Leben führte, dass es Johanson grauste. Sie unternahmen privat nie etwas zusammen, sah man von Mittagspausen ab. Aber Olsen war ein guter Kerl und hatte Humor. Er musste Humor haben. Anders konnte es Johansons Ansicht nach kaum zu ertragen in mit fünf Kindern und Dutzenden omnipräsenter Verwandter.

»Du solltest endlich mal mitkommen«, schlug er vor. Es war eine Floskel. Ebenso gut hätte er sagen können, du solltest endlich mal deinen Wagen in die Luft sprengen oder zwei deiner Kinder verkaufen.

»Klar«, sagte Olsen. »Irgendwann gerne.«

»Hast du die Nachrichten gesehen?«

Eine kurze Pause entstand.

»Du meinst wegen der Quallen?«

»Bingo! Ich dachte mir, dass es dich beschäftigt. Was ist da los?«

»Was soll los sein? Invasionen kommen immer vor. Frösche, Heuschrecken, Quallen …«

»Ich meine speziell Portugiesische Galeeren und Seewespen.«

»Das ist ungewöhnlich.«

»Bist du sicher?«

»Es ist ungewöhnlich, dass es die beiden gefährlichsten Quallenarten der Welt betrifft. Und das, was sie in den Nachrichten erzählen, klingt einfach sonderbar.«

»Siebzig Tote in einhundert Jahren«, warf Johanson ein.

»Blödsinn.« Olsen schnaubte geringschätzig.

»Weniger?«

»Mehr! Viel mehr, an die neunzig, wenn du den Golf von Bengalen und die Philippinen hinzurechnest, und von der Dunkelziffer wollen wir gar nicht erst reden. Natürlich hat Australien seit ewigen Zeiten Probleme mit dem Schleimzeug, gerade mit Seewespen. Sie laichen nördlich von Rockhampton in Flussmündungen. Fast alle Unfälle passieren im seichten Wasser. Innerhalb von drei Minuten bist du tot.«

»Stimmt die Jahreszeit?«

»Für Australien, ja. Oktober bis Mai. In Europa gehen einem die Biester immer dann auf den Sack, wenn es so heiß wird, dass du am Strand verreckst. Wir waren im vergangenen Jahr auf Menorca, und die Kinder kriegten sich kaum ein, weil tonnenweise Velella rumlag …«

»Was lag rum?«

»Velella velella. Segelquallen. Ganz hübsch, wenn sie nicht gerade in der Sonne vor sich hinstinken. Violette kleine Dinger. Der ganze Strand war lila, die haben sie mit Schaufeln und Harken in hunderte von Säcken gepackt, du machst dir keine Vorstellung, und im Meer schwammen ständig neue. Du weißt, ich bin ein Quallenfan, aber selbst mir war’s irgendwann zu viel. Ich hatte von morgens bis abends das Geplärre in den Ohren. Jedenfalls, in Europa haben wir die Quallenplage im August oder September, aber down under ist es natürlich umgekehrt. Was da vor Australien passiert, ist schon seltsam.«

»Was genau ist seltsam?«

»Seewespen kommen in Strandnähe vor, da, wo es flach ist. Weit draußen vor der Küste findest du sie kaum. Schon gar nicht an den vorgelagerten Inseln des Great Barrier Reef. Ich hörte aber, da sind sie auch. Bei Velella ist es genau andersrum. Sie gehören normalerweise auf hohe See. Wir wissen bis heute nicht, was sie alle paar Jahrzehnte an die Strände treibt, wir wissen ohnehin wenig über Quallen.«

»Werden die Strände nicht durch Netze geschützt?«

Olsen lachte laut auf. »Ja, darauf bilden sie sich mächtig was ein, aber es bringt nichts. Die Quallen bleiben in den Netzen hängen, aber die Tentakel lösen sich ab und treiben durch die Maschen. Dann siehst du sie überhaupt nicht mehr.« Er machte eine Pause. »Warum bist du eigentlich so scharf darauf, das alles zu erfahren? Du weißt doch selber schon eine Menge.«

»Ja, aber du weißt mehr darüber. Mich interessiert, ob wir es tatsächlich mit Anomalien zu tun haben.«

»Darauf kannst du wetten«, knurrte Olsen. »Schau mal, das Auftreten von Quallen ist immer an hohe Wassertemperaturen und die Entwicklung des Planktons gebunden. Du weißt ja, wenn es hübsch warm wird, gedeiht Plankton umso besser, und Quallen fressen Plankton, also da hast du dein Einmaleins. Darum treten die Viecher im Spätsommer scharenweise auf und verschwinden ein paar Wochen später wieder. Das ist der Lauf der Dinge. — Warte mal eben.«

Im Hintergrund war lautes Gebrüll zu hören. Johanson fragte sich, wann Olsens Kinder ins Bett gingen und ob sie es überhaupt jemals taten. Wann immer er in der Vergangenheit mit Olsen telefoniert hatte, war es dort hoch hergegangen.

Olsen rief etwas von Streit beilegen und vertragen. Es wurde kurzzeitig noch lauter, dann war er wieder am Telefon.

»Entschuldige. Geschenke. Sie streiten sich drum. Also, wenn du meine Meinung hören willst, entstehen solche Quallenplagen durch die Überdüngung der Meere. Wir sind schuld. Die Überdüngung fördert das Planktonwachstum, und so weiter, und so fort. Wenn dann die Winde westlich oder nordwestlich stehen, haben wir sie hier oben vor der Haustür.«

»Ja, aber das sind die normalen Invasionen. Wir reden hier von …«

»Warte. Du wolltest wissen, ob wir es mit einer Anomalie zu tun haben. Die Antwort lautet: ja! Und zwar mit einer, die wir wahrscheinlich nicht als solche erkennen. Hast du Pflanzen zu Hause?«

»Was? Äh, ja.«

»Eine Yuccapalme?«

»Ja. Zwei.«

»Anomalien. Verstehst du? Die Yuccapalme wurde eingeschleppt, und rate mal, von wem.«

Johanson verdrehte die Augen.

»Du fängst jetzt hoffentlich nicht an, von einer Yuccapalmeninvasion zu sprechen. Meine Palmen verhalten sich gemeinhin friedlich.«

»Das meine ich nicht. Ich meine, wir sind einfach nicht mehr in der Lage zu beurteilen, was natürlich ist und was nicht. 2000 war ich im Golf von Mexiko zu Untersuchungen über Quallenplagen. Riesige Schwärme von dem Gewabbel bedrohten die lokalen Fischbestände. Sie waren in die Laichgründe von Louisiana, Mississippi und Alabama eingefallen und fraßen die Eier und Larven der Fische, und das Plankton fraßen sie ihnen sowieso weg. Den meisten Schaden hat eine Spezies angerichtet, die da überhaupt nichts zu suchen hat: eine australische Qualle aus dem Pazifik. Eingeschleppt.«

»Invasionsbiologie.«

»Genau. Sie zerstörten die Nahrungskette und beeinträchtigten den Fischfang. Eine Katastrophe. Ein paar Jahre zuvor drohte im Schwarzen Meer ein ökologisches Desaster, weil während der Achtziger irgendein Handelsschiff in seinem Ballastwasser Lappenrippenquallen eingeschleppt hatte. Auch die gehörten da nicht hin, und das Schwarze Meer war ziemlich konsterniert und wenig später im Arsch. Von jetzt auf gleich tummelten sich da über achttausend Quallen pro Quadratmeter, weißt du, was das heißt?«

Olsen redete sich in Rage.

»So, und jetzt die Sache mit den Portugiesischen Galeeren. Sie sind vor Argentinien aufgekreuzt, das ist nicht ihr Gebiet. Mittelamerika ja, auch Peru, vielleicht noch Chile, aber weiter unten? Vierzehn Tote auf einen Schlag! Das klingt nach Attacke. Als seien die Leute überrascht worden. Dann Seewespen. So weit draußen vor der Küste, was tun die da? Als hätte sie jemand da hingezaubert.«

»Was mich stutzig macht«, sagte Johanson, »ist, dass es sich ausgerechnet um die zwei gefährlichsten Arten handelt.«

»Ganz recht«, sagte Olsen gedehnt. »Aber jetzt warte mal, wir sind nicht in Amerika, bastel dir keine Verschwörungstheorie zusammen. Es gibt noch eine weitere Erklärung für die Zunahme der Plagen. Einige meinen, El Niño sei schuld, andere sagen, die Erwärmung des Erdklimas. In Malibu haben sie Quallenplagen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, vor Tel Aviv sind Riesenapparate aufgetaucht. Erderwärmung, Einschleppung, alles macht Sinn.«

Johanson hörte kaum noch zu. Olsen hatte etwas gesagt, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.

Als hätte sie jemand dort hingezaubert.

Und die Würmer?

Als hätte sie jemand dort hingezaubert.

»… kommen zur Paarung in seichte Gewässer«, sagte Olsen gerade. »Und noch was: Wenn die von ungewöhnlich hohen Aufkommen sprechen, meinen sie nicht Tausende, dann reden sie von Abermillionen. Und sie haben gar nichts unter Kontrolle. Da sind nicht vierzehn Menschen gestorben, sondern weit mehr, das garantiere ich dir.«

»Mhm.«

»Hörst du mir überhaupt noch zu?«

»Natürlich. Weit mehr. Ich glaube, jetzt versteigst du dich in Verschwörungstheorien.« Olson lachte. »Quatsch. Aber es sind Anomalien, ja.

Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein eines zyklisch auftretenden Phänomens, aber ich halte es für etwas anderes.«

»Das sagt dir dein Bauch?«

»Mein Bauch sagt, ich hätte heute Abend Rinderroulade gegessen. Er ist zu nichts anderem mehr in der Lage. Nein, das sagt mein Kopf.«

»Gut. Danke. Ich wollte nur deine Meinung hören.«

Er überlegte. Sollte er Olsen von den Würmern erzählen? Aber das ging ihn nichts an. Wahrscheinlich war Statoil nicht sonderlich erpicht darauf, das Thema zu diesem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit wiederzufinden, und Olsen redete ein bisschen viel.

»Sehen wir uns morgen zum Mittagessen?«, fragte Olsen.

»Ja. Gerne.«

»Ich werde mal schauen, ob ich noch mehr über die Sache rauskriegen kann. Man hat so seine Quellen über Quallen.« Er lachte laut, entzückt von seinem eigenen Kalauer.

»Gut«, sagte Johanson. »Bis morgen.«

Er legte auf. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er Olsen auch nach den verschwundenen Schiffen hatte fragen wollen. Aber er mochte kein weiteres Mal anrufen. Morgen würde er genug erfahren.

Er fragte sich, ob ihn die Quallenplagen ebenso elektrisiert hätten ohne das Wissen um diese Würmer.

Nein. Wahrscheinlich nicht. Es waren nicht die Quallen. Es waren die Zusammenhänge. Falls es welche gab.

Am nächsten Morgen schaute Olsen in seinem Büro vorbei, kaum dass Johanson eingetroffen war. Auf der Fahrt zur NTNU hatte er Nachrichten gehört und nicht mehr erfahren, als er schon wusste: In verschiedenen Teilen der Welt wurden Menschen und Boote vermisst. Spekulationen gab es zur Genüge, eine echte Erklärung lieferte niemand.

Johansons erste Vorlesung war um zehn. Reichlich Zeit, neu hereingekommene E-Mails abzufragen und die Post zu sichten. Draußen goss es in Strömen. Der Himmel überzog Trondheim mit bleiernem Grau. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein und verzog sich mit einem Becher Kaffee hinter seinen Schreibtisch, um in Ruhe wach zu werden, als Olsen den Kopf zur Tür reinsteckte.

»Irre, was?«, sagte er. »Es reißt nicht ab.«

»Was reißt nicht ab?«

»Na, eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Hörst du denn überhaupt keine Nachrichten?«

Johanson musste sich kurz sammeln. »Du meinst die verschwundenen Boote? Deswegen wollte ich dich ohnehin fragen. Ich hab’s nur gestern vor lauter Quallen vergessen.«

Olsen schüttelte den Kopf und kam ganz herein. »Ich gehe recht in der Annahme, dass du mir einen Kaffee anbieten willst«, sagte er, während er sich interessiert umsah. Zu Olsens gleichermaßen nützlichen wie anstrengenden Eigenschaften gehörte seine Neugier.

»Nebenan«, sagte Johanson.

Olsen lehnte sich durch die offene Verbindungstür ins Nebenbüro und orderte lautstark einen Kaffee. Dann setzte er sich und ließ weiterhin seine Blicke schweifen. Die Sekretärin kam herein, stellte knallend einen Becher auf den Schreibtisch und bedachte Olsen mit einem vernichtenden Blick, bevor sie wieder nach nebenan ging.

»Was hat sie denn?«, wunderte sich Olsen.

»Ich hole mir den Kaffee immer selber«, sagte Johanson. »Die Kanne steht gleich nebenan, Milch, Zucker, Tassen.«

»Empfindlich, die Dame, was? Tut mir Leid. Ich bringe ihr kommende Woche selbst gebackene Kekse mit. Meine Frau backt tolle Kekse.« Olsen schlürfte vernehmlich. »Du hast tatsächlich keine Nachrichten gehört, was?«

»Doch, im Auto auf der Hinfahrt.«

»Vor zehn Minuten kam eine Sondermeldung auf CNN. Du weißt ja, ich hab den kleinen Fernseher im Büro, er läuft den ganzen Tag.« Olsen beugte sich vor. Das Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich in seiner beginnenden Glatze. »Vor Japan ist ein Gastanker in die Luft geflogen und gesunken. Zur gleichen Zeit sind in der Malakkastraße zwei Containerschiffe und eine Fregatte kollidiert. Eines der Containerschiffe sinkt, das andere ist manövrierunfähig, und auf der Fregatte brennt es. Eine Militärfregatte. Es hat eine Explosion gegeben.«

»Meine Güte.«

»Und das am frühen Morgen, was?«

Johanson wärmte die Hände an seinem Becher.

»Was die Malakkastraße angeht, wundert mich nichts«, sagte er. »Erstaunlich, dass da nicht noch mehr passiert.«

»Ja, aber es ist doch ein irrer Zufall, oder?«

Drei Meerengen konkurrierten um den Titel der meistbefahrenen Wasserstraße der Welt, der Ärmelkanal, die Straße von Gibraltar und die Malakkastraße, die Teil des Seewegs von Europa nach Südostasien und Japan war. Das Problem der Welthandelsschifffahrt bestand unter anderem in der Bedeutung solcher Meerengen. Allein in der Malakkastraße verkehrten an einem einzigen Tag rund 600 große Tanker und Frachtschiffe. An manchen Tagen konnte es geschehen, dass bis zu 2000 Schiffe das Gewässer zwischen Malaysia und Sumatra passierten, das zwar 400 Kilometer lang, an seiner schmälsten Stelle aber nur siebenundzwanzig Kilometer breit war. Indien und Malaysia insistierten darauf, die Tankerkapitäne sollten auf die weiter südlich gelegene Straße von Lombok ausweichen, stießen indes auf taube Ohren. Der Umweg verringerte den Profit. So blieb es dabei, dass sich rund fünfzehn Prozent des gesamten Welthandels durch die Malakkastraße und die benachbarten Meerengen drängte.

»Weiß man denn, was da passiert ist?«

»Nein. Kam ja erst vor wenigen Minuten.«

»Schrecklich.« Johanson trank einen Schluck. »Was ist das überhaupt für eine Geschichte mit den verschwundenen Booten?«

»Was? Das weißt du auch nicht?«

»Ich würde sonst kaum fragen«, sagte Johanson etwas gereizt.

Olsen beugte sich vor und senkte die Stimme.

»Offenbar verschwinden seit längerem Schwimmer und kleine Fischerboote vor Südamerika. Pazifikseite. Es ist kaum darüber berichtet worden, jedenfalls nicht in Europa. Angefangen hat das Ganze wohl in Peru. Erst verschwand ein Fischer, und sie fanden das Boot Tage später. Es trieb auf hoher See, ein Binsenboot, nichts Großes. Sie dachten, er sei vielleicht von einer Welle ins Meer gespült worden, aber seit Wochen ist das Wetter in der Region ganz manierlich. Danach passierten solche Dinge am laufenden Band. Schließlich verschwand ein kleiner Trawler.«

»Warum hat man nichts davon gehört, um Himmels willen?«

Olsen breitete die Hände aus. »Weil man so was da nicht gerne an die große Glocke hängt. Der Tourismus ist zu wichtig. Außerdem findet es weit weg in Gegenden statt, wo viele braune Menschen mit schwarzen Haaren leben, die für uns alle gleich aussehen.«

»Über die Quallen haben sie auch berichtet. Das ist auch weit weg.«

»Ich bitte dich! Das ist ja wohl ein Unterschied. Da sind aufrechte amerikanische Touristen gestorben und ein Deutscher und was weiß ich. Jetzt ist vor Chile eine norwegische Familie verschwunden. Sie sind mit einem Fischerboot rausgeschippert unter Leitung des ortsansässigen Veranstalters. Hochseeangeln. Zack, weg! Norweger, Herrgott, wertvolle blonde Menschen, darüber muss man doch berichten.«

»Schon gut, ich hab’s kapiert.« Johanson lehnte sich zurück. »Und es sind keine Funksprüche durchgegeben worden?«

»Nein, Sherlock Holmes. Einige Male SOS. Das war’s. Bei den meisten der verschwundenen Boote erschöpfte sich die bordeigene Hightech im Außenborder.«

»Kein Sturm?«

»Herrgott, nein! Nichts, was Boote kentern lässt.«

»Und was passiert da vor Westkanada?«

»Diese Schiffe, die angeblich kollidiert sind? Keine Ahnung. Irgendwer meinte, sie seien mit einem übellaunigen Wal zusammengerasselt. Was weiß ich? Die Welt ist mysteriös und grausam, und du bist auch ein bisschen rätselhaft mit deinen Fragen. Gib mir noch einen Kaffee … nein, warte, ich hole mir selber einen.«

Olsen setzte sich in Johansons Büro fest wie Hausschwamm. Als er endlich genug Kaffee getrunken hatte und ging, sah Johanson auf die Uhr. Bis zur Vorlesung blieben ihm noch wenige Minuten.

Er rief Lund an.

»Skaugen hat Kontakt zu anderen Explorationsgesellschaften aufgenommen«, sagte sie. »Weltweit. Er will wissen, ob sie mit ähnlichen Phänomenen konfrontiert werden.«

»Mit Würmern?«

»Genau. Er vermutet übrigens, dass die Asiaten mindestens so viel über die Viecher wissen wie wir.«

»Wieso das?«

»Erinnere dich deiner Worte. Asien versucht sich im Abbau von Methanhydraten. Hat dir das nicht dein Mann in Kiel erzählt? Skaugen hat diesen Firmen auf den Zahn gefühlt.«

An sich keine schlechte Idee, dachte Johanson. Skaugen hatte eins und eins zusammengezählt. Wenn die Polychäten tatsächlich so wild auf Hydrat waren, mussten sie vor allem dort aufgefallen sein, wo der Mensch seinerseits wild auf Methan war. Andererseits …

»Die Asiaten werden es Skaugen kaum auf die Nase binden«, sagte er. »Sie werden es ebenso halten wie er.«

Lund schwieg einen Moment. »Du meinst, Skaugen würde es denen auch nicht sagen?«

»Vielleicht nicht in der Tragweite. Und nicht im Augenblick.«

»Was wäre die Alternative?«

»Na ja.« Johanson suchte nach den geeigneten Worten. »Ich will euch nichts unterstellen, aber nehmen wir mal an, jemand kommt auf die Idee, den Bau einer Unterwasserfabrik zu forcieren, obwohl da irgendwelches unbekanntes Zeugs rumkrabbelt.«

»Tun wir nicht.«

»Nur angenommen.«

»Du hast doch gehört, Skaugen ist deinem Rat gefolgt.«

»Das ehrt ihn. Aber hier geht es um Geld, oder? Man könnte sich auf den Standpunkt stellen und sagen: Würmer? Wissen wir nichts von. Haben wir nie gesehen.«

»Und trotzdem bauen?«

»Es muss ja nichts passieren. Und wenn doch — ich meine, man kann jemanden für technische Mängel haftbar machen, aber doch nicht für Methan fressendes Viehzeug. Wer will hinterher nachweisen, dass man im Vorfeld je auf Würmer gestoßen ist?«

»Statoil würde so was nicht vertuschen.«

»Lassen wir euch mal beiseite. Für die Japaner beispielsweise wäre ein funktionierender Methanexport einem Ölboom gleichzusetzen. Mehr als das! Sie würden unermesslich reich werden. Glaubst du, die Asiaten spielen in der Sache mit offenen Karten?«

Lund zögerte. »Nein.«

»Und ihr?«

»Das hilft uns jetzt nicht weiter. Wir müssen es von denen erfahren, bevor sie es von uns erfahren. Wir brauchen unabhängige Beobachter. Leute, die man nicht mit Statoil in Verbindung bringt. Zum Beispiel …« Sie schien zu überlegen. Dann sagte sie: »Könntest du dich nicht ein bisschen umhören?«

»Was, ich? Bei Ölgesellschaften?«

»Nein, bei Instituten, Universitäten, bei Leuten wie bei deinen Kielern. Wird nicht weltweit in Sachen Methanhydrate geforscht?«

»Schon, aber …«

»Und bei Biologen. Meeresbiologen! Hobbytauchern! Weißt du was?«, rief sie begeistert. »Vielleicht übernimmst du einfach diesen ganzen Part. Vielleicht richten wir ein Ressort für dich ein. Ja, das ist gut, ich rufe Skaugen an und bitte ihn um ein Budget! Wir könnten …«

»He. Mal langsam.«

»Es würde sicher gut bezahlt, abgesehen davon, dass du damit nicht viel Arbeit hättest.«

»So was bedeutet eine Scheißarbeit. Ihr könnt das genauso gut machen.«

»Es wäre besser, wenn du es übernimmst. Du bist neutral.«

»Ach, Tina.«

»In der Zeit, die wir hier diskutieren, hättest du schon dreimal mit dem Smithsonian Institute telefonieren können. Bitte, Sigur, es wäre einfach … Versteh doch, wenn wir da als Konzern mit vitalen Interessen auftreten, hängen uns gleich tausend Umweltschutzorganisationen im Nacken. Die warten doch nur drauf.«

»Aha! Ihr habt nämlich wohl ein Interesse daran, es untern Teppich zu kehren.«

»Du bist ein blöder Arsch.«

»Mitunter.«

Lund seufzte. »Was sollen wir denn deiner Ansicht nach tun? Meinst du, alle Welt würde uns nicht sofort das Schlimmste unterstellen? Ich schwöre dir, Statoil wird nichts unternehmen, bevor wir nicht Klarheit über die Rolle dieser Würmer haben. Aber wenn wir offiziell an zu viele Türen klopfen, macht das die Runde. Dann geraten wir dermaßen in den Fokus, dass wir keinen Finger mehr rühren können.«

Johanson rieb sich die Augen. Dann sah er auf die Uhr.

Zehn durch. Seine Vorlesung.

»Tina, ich muss Schluss machen. Ich rufe dich später an.«

»Kann ich Skaugen sagen, du machst mit?«

»Nein.«

Schweigen.

»Okay«, sagte sie schließlich mit kleiner Stimme.

Es klang, als werde sie zur Schlachtbank geführt.

Johanson atmete tief durch. »Darf ich’s mir wenigstens durch den Kopf gehen lassen?«

»Ja. Natürlich. Du bist ein Schatz.«

»Ich weiß. Genau das ist mein Problem. Ich rufe dich an.«

Er packte seine Unterlagen zusammen und hastete zum Hörsaal.


Roanne, Frankreich

Zur gleichen Zeit, als Johanson in Trondheim seine Vorlesung begann, begutachtete Jean Jérôme rund zweitausend Kilometer weiter mit kritischem Blick zwölf bretonische Hummer.

Jérôme schaute grundsätzlich kritisch. Die permanente Skepsis war er der Adresse schuldig, für die er arbeitete. Das Troisgros erfreute sich als einziges Restaurant Frankreichs seit über 30 Jahren in ungebrochener Folge dreier Michelin-Sterne, und Jérôme wollte nicht in die Geschichte eingehen als derjenige, der daran etwas änderte. Sein Verantwortungsbereich umfasste alles, was aus dem Meer kam. Er war sozusagen der Herr der Fische und seit dem frühen Morgen auf den Beinen.

Der Tag des Zwischenhändlers, über den Jérôme die Ware bezog, hatte noch weit früher begonnen als seiner, nämlich um 3.00 Uhr in Rungis, einem bis vor wenigen Jahren unbedeutenden Vorort 14 Kilometer außerhalb von Paris, der über Nacht zum Mekka der gehobenen Küche avanciert war. Auf einem Gebiet von vier Quadratkilometern, bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, versorgte Rungis nun diese und andere Großstädte, Händler, Köche und alle, die wahnsinnig genug waren, ihr Leben in einer Küche zu verbringen, mit Nahrung. In Rungis war das ganze Land vertreten. Milch, Sahne, Butter und Käse aus der Normandie, exquisites bretonisches Gemüse, aromatische Früchte aus dem Süden. Austernlieferanten von der Belon, aus Marennes und vom Bassin d’Arcachon und Thunfisch-Fischer von St-Jean-de-Luz waren mit ihrer Fracht in rasender Fahrt über die Autobahn hergedonnert. Thermoswagen mit Schalen— und Krustentieren bahnten sich ihren Weg zwischen Kleinlastern und Privatfahrzeugen. Nirgendwo in Frankreich gelangte man früher an die Köstlichkeiten als hier.

Qualität war allerdings ein endlicher Faktor. Hummer kamen selbstverständlich aus der Bretagne, aber auch darunter gab es wiederum attraktive und wenig verlockende Exemplare. Kurz, es hatte einiges zu geschehen und zu stimmen, um beispielsweise Jean Jérôme in Roanne zufrieden zu stellen.

Er nahm die Hummer der Reihe nach auf und drehte sie, um sie von allen Seiten zu betrachten. Je sechs Tiere teilten sich eine große Styroporkiste ausgekleidet mit einer Art Farn. Sie regten sich kaum, aber natürlich lebten sie, wie es sich gehörte. Ihre Scheren waren zusammengebunden.

»Gut«, sagte Jérôme.

Es war das höchste Lob, das er zu vergeben hatte.

Tatsächlich gefielen ihm die Hummer sogar ausnehmend gut. Sie waren eher klein, aber schwer für ihre Größe, mit glänzend dunkelblauem Panzer.

Bis auf die letzten beiden.

»Zu leicht«, sagte er.

Der Fischhändler runzelte die Stirn, nahm einen der Hummer, die Jeromes Beifall gefunden hatten, und einen der Beanstandeten und wog sie in beiden Händen gegeneinander ab.

»Sie haben Recht, Monsieur«, sagte er bestürzt. »Ich muss mich entschuldigen.« Er stand da wie eine Justitia des Fischmarkts, die Unterarme abgewinkelt, die Hände ausgestreckt. »Aber viel ist es nicht. Eine Kleinigkeit, nicht wahr?«

»Nein, viel ist es nicht«, sagte Jérôme. »Für eine Fischpinte. Aber wir sind keine Fischpinte.«

»Es tut mir Leid. Ich kann zurückfahren und …«

»Machen Sie sich keine Mühe. Dann müssen wir eben erspüren, welcher der Gäste einen kleineren Magen hat.«

Der Händler entschuldigte sich erneut. Er entschuldigte sich im Hinausgehen, und wahrscheinlich entschuldigte er sich noch auf der Rückfahrt bei sich selber, während Jérôme schon wieder in der prachtvollen Küche des Troigros stand und sich mit den Anforderungen der Abendkarte auseinander setzte. Die Hummer hatte er vorübergehend in einer Wanne mit frischem Wasser zwischengelagert, wo sie apathisch verharrten.

Eine Stunde verging, dann beschloss Jérôme, die Tiere anzublanchieren. Er hatte einen großen Kessel Wasser aufsetzen lassen. Es empfahl sich, lebende Hummer schnell zu verarbeiten. Die Tiere neigten dazu, sich in Gefangenschaft selber innerlich aufzuzehren.

Anblanchieren hieß, sie nicht gar zu kochen, sondern nur in siedendem Wasser zu töten. Später, unmittelbar vor dem Servieren, wurden sie dann fertig gegart. Jérôme wartete, bis das Wasser kochte, entnahm die Hummer der Wanne und ließ sie schnell kopfüber hineingleiten. Mit vernehmlichem Quietschen entwich Luft aus den Hohlräumen der Panzerungen. Einen nach dem anderen beförderte er auf diese Weise in den Kessel und sofort wieder heraus. Der neunte, der zehnte Hummer gab sein Leben auf. Jeromes Hand bekam den elften zu fassen — ach, richtig, der war ja leichter! — und entließ ihn ins kochende Wasser. Zehn Sekunden würden reichen. Ohne richtig hinzuschauen hebelte er das Tier mit seiner großen Schaumkelle wieder nach draußen …

Ein unterdrückter Fluch entfuhr ihm.

Was um alles in der Welt war mit dem Tier geschehen? Der Panzer war regelrecht auseinander gerissen, eine der Scheren abgesprengt. Nicht zu fassen. Jérôme schnaubte vor Wut. Er legte den Hummer, genauer gesagt dessen derangierte Reste, vor sich auf die Arbeitsplatte und drehte ihn auf den Rücken. Auch die Unterseite war demoliert, und im Innern, wo sich kräftiges Fleisch hätte verbergen müssen, zeigte sich nur ein schmieriger, weißlicher Belag. Fassungslos sah er in den Kessel. Im blubbernden Wasser trieben Stücke und Fäden von etwas, das nicht mal mit viel Phantasie als Hummerfleisch durchging.

Nun gut. Sie würden nur zehn der Tiere wirklich brauchen. Jérôme kaufte nie zu knapp ein, er war dafür bekannt, die Waage zu halten. Man musste sehr genau wissen, welche Mengen tatsächlich benötigt wurden, sowohl im Interesse der Wirtschaftlichkeit als auch im Hinblick auf Sicherheitsreserven, und soeben ging das Konzept mal wieder auf.

Ärgerlich war die Sache dennoch.

Er fragte sich, ob das Tier krank gewesen war. Sein Blick fiel auf die Wanne. Ein Hummer war noch übrig. Der Zweite von den beiden, mit denen er unzufrieden war. Egal. Ab mit ihm in den Topf.

Ach nein, darin schwamm ja das weiße Zeug.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Das kranke Tier war zu leicht gewesen. Der noch lebende Hummer war ebenfalls zu leicht. Hatte es damit etwas zu tun? Vielleicht, dass die Tiere begonnen hatten, sich selber aufzuzehren, oder dass ein Virus oder Parasit sie innerlich auflöste. Jérôme zögerte. Dann nahm er den zwölften Hummer aus der Wanne und legte ihn vor sich auf die Arbeitsplatte, um ihn zu betrachten.

Die langen, rückwärts gerichteten Antennen zuckten. Schwach bewegten sich die zusammengebundenen Scheren. Sobald sie ihrem natürlichen Lebensraum entrissen wurden, neigten Hummer zu großer Trägheit. Jérôme stupste das Tier leicht an und beugte sich tiefer darüber. Es bewegte die Beine, als wolle es davonkriechen, verharrte aber auf der Platte. Wo der segmentierte Schwanz in den Rückenpanzer überging, quoll etwas Transparentes hervor.

Was war das schon wieder?

Jérôme ging in die Hocke. Er war nun ganz dicht an dem Tier, auf Augenhöhe sozusagen.

Der Hummer richtete leicht den Oberkörper auf. Eine Sekunde schien er Jérôme aus seinen schwarzen Augen anzusehen. Dann platzte er.

Der Auszubildende, den Jérôme mit dem Schuppen von Fischen beauftragt hatte, war nur drei Meter entfernt, allerdings verstellte ihm ein schmales, deckenhohes Regal mit Arbeitsutensilien und Gewürzen die Sicht auf den Herd. Darum hörte er zuerst Jeromes markerschütternden Schrei. Zu Tode erschrocken ließ er sein Messer fallen. Er sah Jérôme vom Herd wegtaumeln, die Hände vors Gesicht gepresst, und sprang hinzu. Gemeinsam polterten sie gegen die dahinter liegende Arbeitsfläche. Töpfe schepperten, etwas fiel zu Boden und zerbrach geräuschvoll.

»Was ist passiert?«, schrie der Lehrling voller Panik. »Was ist geschehen?«

Andere Köche kamen hinzu. Die Küche war in bestem Sinne eine Fabrik, in der jeder seine Aufgabe hatte. Einer war nur für Wild zuständig, ein weiterer für Saucen, ein dritter für Farcen, wieder einer für Salate und ein anderer für die Pâtisserie, und so fort. Im Nu herrschte rund um den Herd das größte Durcheinander, bis Jérôme die Hände herunternahm und zitternd auf die Arbeitsplatte neben dem Herd zeigte. Aus seinen Haaren tropfte klumpiges, durchsichtiges Zeug. Es hing brockenweise in seinem Gesicht und rann schmelzend in seinen Kragen.

»Er … er ist explodiert«, keuchte Jérôme.

Der Lehrling trat näher an die Platte und starrte angewidert auf den zerborstenen Hummer. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges gesehen. Intakt waren einzig die Beine. Die Scheren lagen auf dem Fußboden, der Schwanz sah aus, als sei er mit Hochdruck abgesprengt worden, und der Rückenpanzer klaffte in scharfkantigen Stücken auseinander.

»Was haben Sie denn mit dem gemacht?«, flüsterte er.

»Gemacht? Gemacht?«, schrie Jérôme, die Hände mit gespreizten Fingern erhoben, das Gesicht eine Fratze des Ekels. »Ich habe überhaupt nichts gemacht! Er ist geplatzt, das ist er. Geplatzt!«

Sie brachten ihm Tücher, um sich zu reinigen, während der Lehrling mit spitzen Fingern das Zeug berührte, das überall verteilt war. Was er anfasste, war von enorm zäher, gummiartiger Konsistenz, aber es löste sich schnell auf und floss über die Arbeitsplatte davon. Einem Impuls folgend nahm er ein fest verschraubbares Glas von einem Bord und schaufelte mit einem Esslöffel Brocken der Gallerte hinein, strich noch etwas Flüssigkeit zusammen und ließ sie dazutropfen. Dann verschloss er das Glas, so fest es ging.

Jérôme zu beruhigen war gar nicht so einfach. Jemand brachte ihm schließlich ein Glas Champagner, und erst danach kriegte sich der Meister halbwegs wieder ein.

»Räumt das da weg«, befahl er mit erstickter Stimme. »Räumt um Gottes willen diese Sauerei weg. Ich gehe mich waschen.«

Und er ging. Die Küchenhilfen machten sich unverzüglich daran, Jeromes Arbeitsplatz wiederherzustellen, sie putzten den Herd und alles drum herum, entsorgten die Überreste, reinigten den Kessel, und natürlich kippten sie auch das Wasser in den Ausguss, in dem das Dutzend Hummer die Stunde vor seinem Ableben verbracht hatte. Es trat den Weg jeglichen Wassers in den Untergrund an, gluckerte in die Kanalisation und mischte sich dort mit allem, was eine Stadt abfließen lässt, um es in recycelter Form wieder in sich aufzunehmen.

Das Glas mit der Gallerte nahm der Lehrling an sich. Er wusste noch nicht, was genau er damit anfangen sollte, also fragte er Jérôme, als dieser mit gewaschenen Haaren und sauberer Kluft wieder in der Küche auftauchte.

»Es war vielleicht gut, dass du was von dem Zeug aufbewahrt hast«, sagte Jérôme düster. »Der Himmel weiß, was das ist.«

»Wollen Sie es sehen?«

»Bewahre, nein! Aber man sollte es untersuchen lassen. Wir schicken es irgendwohin, wo man so was macht. Aber bitte unter Auslassung der Begleitumstände, hörst du? Das alles ist nie geschehen. So etwas geschieht nicht im Troisgros.«

Die Geschichte verließ tatsächlich nicht die Küche des Restaurants. Und das war gut so, denn es hätte ein falsches Licht auf das Troisgros geworfen. Auch wenn man hier nicht die geringste Schuld an dem Vorfall trug, hätte manch einer genüsslich kolportiert, dass im Troisgros die Hummer in die Luft flogen und mit ominösem Gelee um sich spritzten. Nichts war schlimmer für den Ruf eines Spitzenrestaurants als Zweifel an der Hygiene.

Der Lehrling beobachtete das Zeug im Glas sehr genau. Nachdem es sich ebenfalls aufzulösen begann, ließ er etwas Wasser hineinlaufen, weil er dachte, es könne nicht schaden. Die Substanz erinnerte ihn — falls überhaupt an irgendetwas — an Quallen, und die überdauerten ja nur im Wasser, weil sie selber aus nichts anderem bestanden. Offenbar war es eine gute Idee. Die Brocken blieben fürs Erste stabil. Das Troisgros führte einige höchst diskrete Telefonate, an deren Ende man das Glas zur Universität ins nahe gelegene Lyon schickte, um den Inhalt untersuchen zu lassen.

Dort landete es auf dem Schreibtisch von Professor Bernard Roche in der Molekularbiologie. Inzwischen war der Zersetzungsprozess der Gallerte trotz Wasserzusatz weiter fortgeschritten, und kaum noch feste Substanz trieb in dem Glas. Das bisschen, was übrig war, unterzog Roche augenblicklich verschiedenen Tests, jedoch zerflossen die allerletzten Klümpchen, bevor er sie eingehender untersuchen konnte. Roche gelang es lediglich, einige molekulare Verbindungen nachzuweisen, die ihn verblüfften und irritierten. Unter anderem stieß er auf ein hochwirksames Neurotoxin, von dem er allerdings nicht wusste, ob es der Gallerte entstammte oder dem Wasser in dem Glas.

Dieses Wasser, so viel stand fest, war gesättigt mit organischer Materie und diversen Stoffen. Weil er vorläufig nicht die Zeit hatte, es zu untersuchen, beschloss Roche, den verbliebenen Inhalt des Glases zu konservieren und in den nächsten Tagen einer eingehenderen Analyse zu unterziehen, und das Wasser wanderte in den Kühlschrank.

Am selben Abend wurde Jérôme krank. Es begann damit, dass er leichte Übelkeit verspürte. Das Restaurant war voll besetzt. Er achtete nicht weiter darauf und folgte der Choreographie der Küche wie gewohnt. Die zehn nicht geplatzten Hummer waren von einwandfreier Qualität, und kein weiterer wurde benötigt. Trotz des unerfreulichen Vorfalls vom Vormittag lief alles wie am Schnürchen, eben wie man es vom Troisgros gewohnt war.

Gegen zehn nahm Jeromes Übelkeit zu, und außerdem stellte sich leichter Kopfschmerz ein. Kurz darauf bemerkte er an sich Konzentrationsschwächen. Er vergaß, ein Gericht fertig zu stellen und einige Anweisungen zu geben, und der elegante, perfekte Ablauf geriet unmerklich ins Stocken.

Jean Jérôme war Profi genug, um augenblicklich die Reißleine zu ziehen. Er fühlte sich nun wirklich elend, also legte er die Verantwortung für alles Weitere in die Hände seiner Stellvertreterin, einer aufstrebenden, hoch talentierten Köchin, die ihre Lehrjahre in Paris beim ehrwürdigen Ducasse verbracht hatte, ließ sie wissen, dass er einen kleinen Spaziergang im Restaurantgarten machen wolle, und ging hinaus. Der Garten war direkt der Küche angeschlossen. Er war von ausnehmender Schönheit. Bei mildem Wetter wurden die Gäste dort willkommen geheißen, nahmen ihren Aperitif und die ersten Hors d’œuvres ein, um dann mitten durch die Küche ins Restaurant geführt zu werden, nicht ohne interessante Einblicke zu erhalten und hin und wieder eine kleine Demonstration. Jetzt lag der Garten verlassen da, dezent illuminiert.

Jérôme ging einige Minuten auf und ab. Von hier konnte er durch die breite Glasfront das rege Treiben in der Küche weiterverfolgen, aber er merkte, dass es ihm schwer fiel, seinen Blick länger als einige Sekunden zu fokussieren. Er atmete schwer und spürte einen lastenden Druck auf der Brust, trotz der frischen Luft. Seine Beine kamen ihm vor wie aus Gummi. Sicherheitshalber ließ er sich an einem der Holztische nieder und dachte über das Geschehnis vom Vormittag nach. Er hatte das Innenleben des Hummers in den Haaren und im Gesicht gehabt. Ganz sicher hatte er irgendetwas eingeatmet, wahrscheinlich war Flüssigkeit in seinen Mund gelaufen, oder er hatte irgendetwas mit der Zunge aufgenommen, als er sich die Lippen leckte.

Ob es nun der Gedanke an das zerplatzte Tier war oder einfach die Folge seiner plötzlichen Erkrankung, jedenfalls erbrach sich Jérôme mit plötzlicher Heftigkeit in die Zierpflanzen. Noch während er da hing, würgend und keuchend, dachte er, dass es jetzt wohl draußen war, das Zeug. Gut so. Er würde einen Schluck Wasser trinken, und dann würde es ihm bestimmt sehr schnell besser gehen.

Er stemmte sich hoch. Alles um ihn herum drehte sich. Sein Kopf fühlte sich glühend heiß an, sein Blickfeld verengte sich, und er schaute in eine Spirale. Du musst aufstehen, dachte er. Aufstehen und in der Küche nach dem Rechten sehen. Nichts darf schief gehen. Nicht im Troisgros.

Mühsam kam er auf die Beine und schlurfte davon, aber er ging in die verkehrte Richtung. Nach zwei Schritten wusste er nicht mehr, dass er in die Küche hatte gehen wollen. Er wusste eigentlich überhaupt nichts mehr, und er sah auch nichts mehr.

Unter den Bäumen, die den Garten umstanden, brach er zusammen.


18. April

Vancouver Island, Kanada

Es nahm kein Ende.


Anawak fühlte seine Augen kleiner und kleiner werden. Er spürte, wie sie sich röteten, wie die Lider aufquollen und sich drum herum Fältchen bildeten, für die er zu jung war. Kurz davor, mit dem Kinn auf die Tischplatte zu knallen, starrte er weiter auf den Bildschirm. Seit der Wahnsinn über die Westküste gekommen war, hatte er kaum etwas anderes getan, als Bildschirme anzustarren, ohne bislang mehr als einen Bruchteil des Materials gesichtet zu haben — Aufzeichnungen, deren Existenz sich einer der bahnbrechendsten Erfindungen in der Verhaltensforschung verdankte:

Der Tiertelemetrie.

Ende der siebziger Jahre hatten Forscher eine Methode entwickelt, Tiere auf völlig neuartige Weise zu beobachten. Bis dahin waren nur sehr ungenaue Aussagen über Verbreitungsgebiet und Wanderungsverhalten der Arten möglich gewesen. Wie ein Tier lebte, wie es jagte und sich paarte, welche individuellen Ansprüche und Bedürfnisse es hatte, blieb der Spekulation überlassen. Natürlich unterlagen Tausende von Tieren ständiger Beobachtung. Aber fast immer fand sie unter Bedingungen statt, die keine wirklichen Rückschlüsse auf ihr natürliches Verhalten ermöglichten. Ein Tier in Gefangenschaft tat nun mal nicht, was es in freier Wildbahn tat, ebenso wenig wie ein Häftling in einer Zelle repräsentative Daten über sein Leben als freier Mensch geliefert hätte.

Selbst dort, wo man Tieren in ihrem angestammten Lebensraum begegnete, blieben die Erkenntnisse unzureichend. Entweder suchten sie augenblicklich das Weite oder kamen gar nicht erst zum Vorschein. Tatsächlich wurde so ziemlich jeder Forscher länger vom Objekt seiner Neugier in Augenschein genommen, als er selber es beobachtete. Andere Spezies, die weniger scheu waren — wie etwa Schimpansen oder Delphine —, richteten ihr Verhalten auf den Beobachter aus, reagierten aggressiv oder neugierig, wurden mitunter kokett und setzten sich in Pose, kurz, sie taten alles, um jeder objektiven Erkenntnis entgegenzuwirken. Hatten sie genug, verschwanden sie im Dickicht, erhoben sich in die Lüfte oder tauchten unter die Wasseroberfläche, wo sie sich endlich so verhielten, wie es ihrer Natur entsprach — nur dass man ihnen dorthin nicht folgen konnte.

Doch genau diesen Traum hatten die Biologen seit Darwin geträumt: Wie überlebte man als Robbe oder Fisch in den dunklen und kalten Gewässern der Antarktis? Wie erhielt man Einblick in ein Biotop, das von einer geschlossenen Eisdecke überzogen war? Wie sah man die Welt während des Flugs über das Mittelmeer nach Afrika, wenn man nicht in einem Flugzeug saß, sondern auf dem Rücken einer Wildgans? Was widerfuhr einer einzelnen Biene innerhalb von vierundzwanzig Stunden? Wie erhielt man Daten über die Frequenz von Flügelschlägen, über Herzrhythmus, Blutdruck, Fressverhalten, tauchphysiologische Leistungen, Sauerstoffspeicherung und die Folgen anthropogener Einflüsse auf Meeressäuger wie Schiffslärm oder Unterwasserdetonationen?

Wie folgte man Tieren dorthin, wohin kein Mensch folgen konnte?

Die Antwort fand sich in einer Technologie, mit deren Hilfe Spediteure die Position ihrer Schwerlaster bestimmen konnten, ohne ihr Büro zu verlassen, und die Autofahrern half, eine Straße in einer völlig fremden Stadt zu finden. Jeder moderne Mensch war mit dieser Technologie vertraut, ohne zu ahnen, dass sie zugleich die Zoologie revolutionierte.

Telemetrie.

Schon Ende der Fünfziger hatten amerikanische Wissenschaftler Konzepte entwickelt, um Tiere mit Sonden auszurüsten. Die US Navy begann wenig später mit dressierten Delphinen zu arbeiten, allerdings scheiterten die ersten dieser Programme an der Größe der Sender. Sie waren einfach zu schwer. Was nützte ein Fahrtenschreiber auf dem Rücken eines Delphins, der Aufschluss über dessen natürliches Verhalten liefern sollte, wenn er eben dieses Verhalten beeinflusste? Man drehte sich eine Weile im Kreis, bis die Mikroelektronik den Umschwung brachte. Plötzlich lieferten schokoriegelgroße Fahrtenschreiber und ultraleichte Kameras alle gewünschten Daten direkt aus freier Wildbahn — unbemerkt von ihren Trägern, die mit knapp 15 Gramm Hightech durch Regenwälder spazierten oder unter den Eisschollen des McMurdo Sounds hindurchtauchten. Endlich gaben Grizzlybären, Wildhunde, Füchse und Karibus Aufschluss über ihre Lebensweise, über Paarung, Jagdverhalten und Wanderrouten. Man flog mit Seeadlern und Albatrossen, Schwänen, Gänsen und Kranichen um die halbe Welt. Am vorläufigen Ende der Entwicklung wurden Insekten mit Minisendern ausgerüstet, die gerade mal ein tausendstel Gramm wogen, ihre Betriebsenergie aus Radarwellen bezogen und die Strahlen in doppelter Frequenz zurückwarfen, sodass die Daten noch in über 700 Metern Entfernung klar zu empfangen waren.

Den Großteil der Messungen bewältigte die satellitengestützte Telemetrie Das System war ebenso einfach wie genial. Die Signale des Tiersenders wurden in den Orbit entsandt und dort von ARGOS, einem Satellitensystem der französischen Raumfahrtorganisation CNES, aufgenommen. Sie fanden ihren Weg zurück zur Betreiberzentrale in Toulouse und zu einer Bodenstation in Fairbanks, USA, von wo sie innerhalb von 90 Minuten an eine Reihe weltweit angeschlossener Institute weitergeleitet wurden — fast so gut wie Echtzeitübertragung.

Die Erforschung von Walen, Robben, Pinguinen und Meeresschildkröten entwickelte sich schnell zu einem eigenen Bereich der Telemetrie. Sie gewährte Einblick in den faszinierendsten, weil unerforschtesten Lebensraum der Erde. Ultraleichte Fahrtenschreiber speicherten Daten aus beträchtlicher Tiefe, registrierten Temperatur, Tauchtiefe und -dauer, Standort, Schwimmrichtung und Geschwindigkeit. Dummerweise durchdrangen ihre Signale kein Wasser, was die ARGOS-Satelliten gegenüber der Tiefsee zur Blindheit verdammte. Buckelwale etwa, die einen Großteil ihres Lebens vor der Küste Kaliforniens verbrachten, hielten sich höchstens eine Stunde pro Tag an der Wasseroberfläche auf. Während Ornithologen ziehende Störche zugleich beobachten und Daten empfangen konnten, waren die Meeresforscher wie abgeschnitten, sobald die Wale abtauchten. Um sie wirklich zu erforschen, hätte man ihnen mit laufender Kamera zum Grund des Pazifik folgen müssen, aber das schaffte kein Taucher, und U-Boote waren zu langsam und zu unbeweglich.

Wissenschaftler der University of California in Santa Cruz fanden schließlich die Lösung in Form wenige Gramm schwerer, druckfester Unterwasserkameras. Sie befestigten die Geräte nacheinander an einem Blauwal, einem See-Elefanten, einigen Weddellrobben und schließlich auch an einem Delphin. Innerhalb kürzester Zeit wurden erstaunliche Phänomene offenbar. Wenige Wochen reichten, um das Wissen über Meeressäuger enorm zu erweitern. Alles wäre wunderbar gewesen, hätte man Wale und Delphine so einfach besonden können wie andere Tiere, doch eben dies gestaltete sich schwierig bis unmöglich. Darum lagen längst nicht so viele Aufzeichnungen über den Lebensraum der Wale vor, wie Anawak sich in diesen Stunden gewünscht hätte, und andererseits mehr als genug. Da niemand zu sagen wusste, wonach man Ausschau halten musste, war jede Aufzeichnung wichtig — und damit Tausende Stunden Bild— und Tonmaterial, Messungen, Analysen und Statistiken.

Projekt Sisyphos, wie John Ford es nannte.

Wenigstens über Mangel an Zeit konnte sich Anawak nicht beklagen. Davies Whaling Station war rehabilitiert — und geschlossen. Nur noch sehr große Schiffe befuhren das Küstengebiet des kanadischen und nordamerikanischen Westens. Das Desaster vor Vancouver Island hatte sich beinahe zeitgleich von San Francisco bis hinauf nach Alaska abgespielt. Im Verlauf der ersten Angriffswelle waren über hundert kleinere Schiffe und Boote entweder gesunken oder schwer beschädigt worden. Am Wochenende schließlich sank die Zahl der Angriffe, weil sich nun überhaupt niemand mehr hinauswagte, sofern er nicht wenigstens den Kiel einer großen Fähre oder eines Frachters unter sich wusste. Immer noch jagten widersprüchliche Meldungen einander. Auch über die Zahl der Todesopfer gab es kaum verlässliche Angaben. Verschiedene Kommissionen und Krisenstäbe unter nationalem Management hatten ihre Arbeit aufgenommen, was eine geradezu invasive Präsenz von Fluggerät zur Folge hatte — allenthalben knatterten Helikopter die Küste entlang, aus denen Soldaten, zusammengepfercht mit Wissenschaftlern und Politikern, aufs Meer starrten und sich an Ratlosigkeit gegenseitig überboten.

Der Natur solcher Stäbe folgend hatten die Dezernatsleiter des Regierungsteams begonnen, externe Spezialisten hinzuzuziehen. Das Vancouver Aquarium mit Ford an der Spitze wurde als wissenschaftliches Lagezentrum rekrutiert, in dem sämtliche relevanten Daten zusammenliefen. Angeschlossen waren nahezu jedes Institut und jede Forschungseinrichtung, die sich mit marinem Leben befasste. Für Ford eine erdrückende Bürde. Er nahm eine Arbeit auf, von der er nicht wusste, worin sie eigentlich bestand. Vom Jahrhundertbeben bis zur nuklearen Terrorattacke existierten Schubladen voller Szenarien, aber nicht hierfür. Ford zögerte nicht lange und schlug seinerseits Anawak als Berater vor, der von allen Wissenschaftlern Nordamerikas und Kanadas vermutlich mehr als jeder andere wusste, was einem Wal im Kopf herumging. Denn nur dort konnte die Antwort liegen: Wenn Wale über Intelligenz verfügten — hatten sie dann noch alle Tassen im Schrank? Und wenn nicht, was war mit ihnen passiert?

Aber auch Anawak, in den man so große Hoffnungen setzte, wusste die Antwort nicht. Er hatte sämtliches verfügbare telemetrische Material angefordert, das seit Jahresbeginn vor der Pazifikküste gesammelt worden war. Seit vierundzwanzig Stunden werteten er und Alicia Delaware nun Videosequenzen aus, unterstützt von Mitarbeitern des Aquariums. Sie studierten Positionsdaten, lauschten von Hydrophonen aufgenommenen Geräuschen, ohne zu brauchbaren Resultaten zu gelangen. Kaum einer der Wale hatte telemetrisches Gerät getragen, als sie ihre Wanderungen von Hawaii und Baja California hinauf zur Arktis begonnen hatten, bis auf zwei Buckelwale, deren Fahrtenschreiber kurz nach Verlassen der Baja abgefallen waren. Tatsächlich entstammte die einzige Erkenntnis nach wie vor dem Video, das die Frau an Bord der Blue Shark gemacht hatte. Sie hatten es mehrfach in Davies Whaling Station studiert, zusammen mit anderen Skippern, die geübt in der Identifizierung von Walfluken waren. Nach diversen Durchläufen und Bildvergrößerungen hatten sie schließlich zwei Buckelwale, einen Grauwal und einige Orcas wieder erkannt.

Delaware hatte Recht gehabt. Das Video war eine Spur.

Anawaks Wut auf die Studentin war ziemlich rasch verflogen. Sie mochte eine vorlaute Klappe haben und schneller reden, als sie dachte, aber hinter der forschen Art erkannte er einen hochintelligenten, analytischen Verstand. Außerdem hatte sie Zeit. Ihre Eltern lebten in den British Properties, Vancouvers elitärem Wohnviertel für die Reichen. Sie boten Alicia ein Leben im Überfluss, ohne sich je blicken zu lassen. Anawak schätzte, dass sie den eklatanten Mangel an Interesse und gemeinsam verbrachter Zeit mit Geld ausglichen, was ihre Tochter nicht sonderlich zu bekümmern schien — versetzte es sie doch in die Lage, einen Haufen davon auszugeben und ansonsten eigene Wege zu gehen. Im Grunde hätte es besser nicht kommen können. Delaware sah die unverhoffte Zusammenarbeit als Chance, ihr Biologiestudium mit Praxis zu unterfüttern, und Anawak brauchte eine Assistentin, nachdem Susan Stringer tot war.

Stringer …

Jedes Mal, wenn er an die Skipperin dachte, überkamen ihn Scham und Schuldgefühle, weil er sie nicht hatte retten können. Regelmäßig sagte er sich, dass nichts und niemand auf der Welt Stringer hätte retten können, nachdem der Orca sie gepackt hatte. Ebenso regelmäßig stellten sich nagende Zweifel ein. Was wusste er, der Elaborate und Traktate über das Selbstbewusstsein von Tümmlern veröffentlicht hatte, denn wirklich über die Gedankengänge eines Wals? Wie überzeugte man einen Orca, von seinem Opfer abzulassen? Welchen Argumenten war ein intelligenter Verstand zugänglich, der anders funktionierte als der menschliche?

Hätte es doch einen Weg gegeben?

Dann wieder sagte er sich, dass Orcas Tiere waren. Hochintelligent zwar, aber Tiere. Und Beute war Beute.

Andererseits gehörten Menschen eindeutig nicht ins Beuteschema von Schwertwalen. Hatten die Orcas die im Wasser treibenden Passagiere also überhaupt gefressen?

Oder einfach nur getötet?

Ermordet.

Konnte man einen Orca des Mordes bezichtigen?

Anawak seufzte. Er drehte sich im Kreis. Seine Augen brannten mit jeder Minute schlimmer. Lustlos griff er nach einer weiteren CD mit digitalen Bilddaten, drehte sie unentschlossen hin und her und legte sie wieder weg. Seine Konzentration war am Ende. Den ganzen Tag hatte er im Aquarium verbracht. Ständig hatte er sich mit irgendjemandem besprochen oder in der Gegend herumtelefoniert, ohne dass sich Fortschritte einstellen wollten. Er fühlte sich ausgelaugt und leer. Müde schaltete er den Bildschirm aus und sah auf die Uhr. Sieben durch. Er stand auf und ging John Ford suchen. Der Direktor war in einer Besprechung, also schaute er bei Delaware vorbei. Sie saß in einem umfunktionierten Besprechungsraum über Fernschreiberdaten.

»Lust auf ein saftiges Pottwalsteak?«, fragte er säuerlich.

Sie schaute auf und zwinkerte. Die blaue Brille hatte sie mit Kontaktlinsen vertauscht, die ebenfalls verdächtig blau wirkten. Wenn man versuchte, die Hasenzähne zu ignorieren, sah sie richtig gut aus.

»Klar. Wohin?«

»Es gibt einen ganz manierlichen Imbiss um die Ecke.«

»Quatsch, Imbiss!«, rief sie vergnügt. »Ich lad dich ein.«

»Das ist nicht nötig.«

»Ins Cardero’s.«

»Ach du meine Güte.«

»Es ist gut

»Ich weiß, dass es gut ist. Aber erstens musst du mich nicht einladen, und zweitens finde ich Cardero’s … na ja, wie soll ich sagen …«

»Ich find’s klasse!«

Cardero’s Restaurant und Bar lagen inmitten des Yachthafens Coal Harbour, groß und luftig, mit hohen Decken und Fenstern. Ein ziemlich angesagter Ort. Man genoss einen herrlichen Blick auf die Umgebung und bekam ordentliche West-Coast-Küche vorgesetzt. In der angrenzenden Bar flossen reichlich Drinks, die von jungen Menschen in gut sitzender Garderobe hinuntergespült wurden. Anawak wusste, dass er mit seinen ausgefransten Jeans und dem verschossenen Pullover denkbar unpassend gekleidet war, und außerdem fühlte er sich in angesagten Lokalen unbehaglich und fehl am Platze. Delaware hingegen war für Cardero’s, wie er zugeben musste, nachgerade prädestiniert.

Also Cardero’s.

Sie fuhren in seinem alten Ford zum Hafen und hatten Glück. Cardero’s machte im Allgemeinen eine frühzeitige Reservierung erforderlich, aber in einer Ecke war ein Tisch ungebucht geblieben, etwas abseits und damit nach Anawaks Geschmack. Sie nahmen die Spezialität des Hauses, auf Zedernholz gegrillten Lachs mit Soja, braunem Zucker und Limonen.

»Okay«, sagte Anawak, nachdem die Bedienung gegangen war. »Was haben wir?«

»Nichts außer Hunger, soweit es mich betrifft.« Delaware zuckte die Achseln. »Ich bin kein bisschen schlauer als zuvor.«

Anawak massierte sein Kinn. »Vielleicht hab ich ja was herausgefunden. Das Video dieser Frau hat mich darauf gebracht.«

»Mein Video.«

»Schon klar«, sagte er spöttisch. »Wir verdanken dir alles.«

»Ihr verdankt mir zumindest eine Idee. Was hast du denn herausgefunden?«

»Es hängt mit den identifizierten Walen zusammen. Mir ist aufgefallen, dass ausschließlich Transient Orcas an den Attacken beteiligt waren. Kein einziger Resident.«

»Hm.« Sie krauste die Nase. »Stimmt. Von den Residents hat man eigentlich überhaupt nichts Schlechtes gehört.«

»Eben. In der Johnstone Strait gab es keine Angriffe.

Und da waren Kajaks unterwegs.«

»Also geht die Gefahr von wandernden Tieren aus.«

»Transients und möglicherweise Offshore Orcas. Die identifizierten Buckelwale und der Grauwal sind ebenfalls Wanderer. Alle drei haben den Winter in der Baja California verbracht, das ist sogar dokumentiert. Wir haben die Bilder ihrer Fluken nach Seattle ins Meeresbiologische Institut gemailt. Sie bestätigen, dass die Tiere mehrfach in den letzten Jahren dort gesichtet wurden.«

Delaware sah ihn irritiert an.

»Dass Grau— und Buckelwale wandern, ist aber doch nichts Neues.«

»Nicht alle.«

»Oh. Ich dachte …«

»An dem Tag, als wir nochmal rausfuhren, Shoemaker, Greywolf und ich, ist was Komisches passiert. Ich hatte es fast schon wieder vergessen. Wir mussten die Leute von der Lady Wexham runterkriegen. Das Schiff sank, und außerdem wurden wir von einer Gruppe Grauwale angegriffen. Ich bin sicher, dass wir definitiv keine Chance mehr hatten, selber mit heiler Haut davonzukommen, geschweige denn jemanden zu retten. — Aber dann tauchten plötzlich zwei Grauwale neben uns auf, die uns nichts taten. Sie lagen einfach nur eine Weile im Wasser, und die anderen zogen sich zurück.«

»Und das waren Residents?«

»Etwa ein Dutzend Grauwale sind immer vor der Westküste, das ganze Jahr hindurch. Sie sind zu alt, um noch die strapaziösen Wanderungen anzutreten. Wenn die Herden aus dem Süden eintreffen, werden die Alten wieder aufgenommen, mit Begrüßungsritual und allem Drum und Dran. Einen dieser Residents habe ich erkannt, und er hegte eindeutig keine feindlichen Absichten gegen uns. Im Gegenteil. Ich glaube, wir verdanken den beiden unser Leben.«

»Ich bin sprachlos! Die haben euch beschützt!«

»Tz, tz, Licia.« Anawak hob die Brauen. »So viel Vermenschlichung aus deinem Munde?«

»Seit drei Tagen glaube ich fast alles.«

»Beschützt erscheint mir zu dick aufgetragen. Aber ich denke, sie haben die anderen fern gehalten. Sie mochten die Angreifer nicht. Man könnte mit einiger Vorsicht schlussfolgern, dass nur wandernde Tiere betroffen sind. Residents — gleich welcher Art — verhalten sich friedlich. Sie scheinen zu erkennen, dass die anderen nicht mehr ganz richtig im Kopf sind.«

Delaware kratzte mit grüblerischem Gesichtsausdruck ihre Nase. »Würde passen. Ich meine, eine große Anzahl von Tieren verschwindet auf dem Weg von Kalifornien hierher. Auf offener See. Die aggressiven Orcas leben ebenfalls im offenen Pazifik.«

»Eben. Was immer sie verändert hat, wird genau dort zu finden sein. Im tiefen blauen Meer. Weit draußen.«

»Aber was?«

»Das finden wir schon raus«, sagte John Ford. Er war unvermittelt neben ihnen aufgetaucht, zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Und zwar, bevor mich diese Regierungstypen mit ihren ständigen Anrufen in den Wahnsinn treiben.«

»Mir ist noch was eingefallen«, sagte Delaware beim Nachtisch. »Die Orcas mögen ja ihren Spaß an der Sache haben, aber die Großwale ganz sicher nicht.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Anawak.

»Na ja«, sagte sie mit Backen voller Mousse au Chocolat. »Stell dir vor, du rennst ständig irgendwo gegen, um es umzuwerfen. Oder lässt dich auf was drauffallen, was Ecken und Kanten hat. Wie groß ist die Gefahr, dass du dich selber verletzt?«

»Sie hat Recht«, sagte Ford. »Die Tiere könnten sich verletzt haben. Und kein Tier verletzt sich selber, wenn es nicht der Arterhaltung oder dem Schutz des Nachwuchses dient.« Er nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. »Sollen wir mal ein bisschen rumspinnen?

Was wäre denn, wenn die ganze Aktion ein Protest ist?«

»Wogegen?«

»Walfang.«

»Walproteste gegen Walfang?«, rief Delaware ungläubig.

»Früher sind Walfänger hin und wieder angegriffen worden«, sagte Ford. »Speziell, wenn sie auf die Kälber aus waren.«

Anawak schüttelte den Kopf. »Das glaubst du selber nicht.«

»War ‘n Versuch.«

»Kein guter. Bis heute ist nicht erwiesen, ob Wale überhaupt begreifen, was Walfang ist.«

»Du meinst, sie erkennen nicht, dass sie gejagt werden?«, fragte Delaware. »Das ist dummes Zeug.«

Anawak verdrehte die Augen.

»Sie erkennen nicht unbedingt eine Systematik darin. Grindwale stranden immer wieder in denselben Buchten. Auf den Färöern treiben Fischer ganze Herden von ihnen zusammen und hauen wahllos mit Eisenstangen auf sie ein. Regelrechte Massaker. Oder schau nach Japan, nach Futo, wo sie Tümmler und Schweinswale abschlachten. Die Tiere wissen seit Generationen, was sie erwartet. Warum kommen die trotzdem immer wieder zurück?«

»Das ist sicher kein Zeichen sonderlicher Intelligenz«, sagte Ford. »Andererseits werden jährlich wider besseres Wissen Treibgase versprüht und Regenwälder abgeholzt. Ebenso wenig ein Zeichen besonderer Intelligenz, findet ihr nicht auch?«

Delaware runzelte die Stirn und kratzte den Rest Mousse au Chocolat aus ihrem Teller.

»Stimmt schon«, sagte Anawak nach einer Weile.

»Was?«

»Licias Hinweis, dass sich die Tiere verletzt haben könnten, als sie auf die Boote sprangen oder dagegen. — Ich meine, wenn du plötzlich auf die Idee kommst, Leute abzuknallen, was tust du? Du setzt dich irgendwo hübsch hin, wo du einen guten Überblick hast, legst an und feuerst. Aber du wirst aufpassen, dass du dir nicht selber dabei in den Fuß ballerst.«

»Es sei denn, du bist beeinflusst.«

»Hypnotisiert.«

»Oder krank. Verwirrt. Sag ich doch. Sie sind verwirrt.«

»Vielleicht Gehirnwäsche?«

»Nun hört mal auf zu spinnen.«

Eine Weile sagte niemand etwas. Jeder am Tisch hing seinen Gedanken nach, während der Lärmpegel im Cardero’s anstieg. Gesprächsfetzen von Nebentischen drangen herüber. Die Geschehnisse beherrschten die Presse und das öffentliche Leben. Jemand stellte lautstark einen Zusammenhang her zwischen den Vorfällen entlang der Küste und Havarien in asiatischen Gewässern. Vor Japan und in der Malakkastraße war es in rascher Folge zu einigen der schwersten Schiffskatastrophen der letzten Jahrzehnte gekommen. Man fachsimpelte und tauschte Theorien aus, ohne dass es den Anschein hatte, als ließen sich die Gäste von alldem sonderlich den Appetit verderben.

»Und wenn es doch an den Giften liegt?«, meinte Anawak schließlich. »PCB, der ganze Mist. Wenn irgendwas die Tiere rasend macht?«

»Allenfalls rasend vor Wut«, frotzelte Ford. »Ich sage ja, sie protestieren. Weil die Isländer Fangquoten beantragen, die Japaner ihnen zu Leibe rücken, die Norweger sich einen Scheiß um die IWC kümmern. — Weil selbst die Makah sie wieder jagen wollen. Hey! Das ist es!« Er grinste. »Vermutlich haben sie’s in der Zeitung gelesen.«

»Für den Leiter des Wissenschaftlichen Beirats bist du irgendwie nicht richtig bei der Sache«, meinte Anawak.

»Ganz abgesehen von deinem Ruf als seriöser Wissenschaftler.«

»Makah?«, echote Delaware.

»Ein Stamm der Nuu-Chah-Nulth«, sagte Ford.

»Indianer im Westen Vancouver Islands. Sie versuchen seit Jahren schon juristisch durchzusetzen, dass sie den Walfang wieder aufnehmen dürfen.«

»Was? Wo leben die? Sind die wahnsinnig?«

»Der Herr erhalte dir deine zivilisierte Empörung, aber die Makah haben das letzte Mal 1928 Wale gejagt«, gähnte Anawak. Er konnte seine Augen kaum noch offen halten. »Sie waren es nicht, die Grauwale, Blauwale, Buckelwale und so weiter an den Rand des Aussterbens gebracht haben. Den Makah geht es um die Tradition und die Erhaltung ihrer Kultur. Sie argumentieren damit, dass kaum noch ein Makah den traditionellen Walfang beherrscht.«

»Na und? Wer essen will, soll in den Supermarkt gehen.«

»Bring Leons edle Fürsprache nicht durcheinander«, sagte Ford und schüttete sich Wein nach.

Delaware starrte Anawak an. Etwas in ihren Augen veränderte sich.

Bitte nicht, dachte er.

Dass er wie ein Indianer aussah, war offenkundig, aber nun begann sie die falschen Schlüsse zu ziehen. Er konnte die Frage förmlich heranrauschen hören. Er würde sich erklären müssen. Nichts hasste er mehr als den Gedanken daran. Er hasste ihn und wünschte, Ford hätte niemals von den Makah angefangen.

Schnell wechselte er einen Blick mit dem Direktor.

Ford verstand.

»Reden wir ein andermal darüber«, schlug er vor. Und bevor Delaware etwas erwidern konnte, sagte er: »Die Vergiftungstheorie sollten wir mit Oliviera, Fenwick oder Rod Palm besprechen, aber offen gesagt, ich glaube nicht dran. Die Belastung entsteht durch auslaufendes Öl und die Verklappung von Chlorkohlenwasserstoffen. Du weißt ebenso gut wie ich, wozu das führt. Schwächung des Immunsystems, Infektionen, vorzeitiger Tod. Nicht zum Wahnsinn.«

»Hat nicht irgendein Wissenschaftler ausgerechnet, dass die Orcas vor der Westküste in 30 Jahren ausgestorben sein werden?«, brachte sich Delaware wieder ins Gespräch.

Anawak nickte düster.

»In 30 bis 120 Jahren. Wenn es so weitergeht. Übrigens nicht allein wegen der Vergiftungen. Die Orcas verlieren ihre Nahrungsquelle, den Lachs. Wenn sie nicht am Gift zugrunde gehen, wandern sie aus. Sie müssen ihre Nahrung in Gebieten suchen, die sie nicht kennen, verfangen sich in Fischereigeschirr … Es kommt alles zusammen.«

»Vergiss die Vergiftungstheorie«, meinte Ford. »Wenn es nur die Orcas wären, könnten wir darüber reden. Aber Orcas und Buckelwale in strategischer Eintracht … Ich weiß nicht, Leon.«

Anawak dachte nach.

»Ihr kennt meine Einstellung«, sagte er leise. »Ich bin weit davon entfernt, Tieren Absichten zu unterstellen oder ihre Intelligenz zu überschätzen, aber … habt ihr nicht auch mitunter das Gefühl, dass sie uns loswerden wollen?«

Sie sahen ihn an. Er hatte erwartet, auf heftige Widerrede zu stoßen. Stattdessen nickte Delaware.

»Ja. Bis auf die Residents.«

»Bis auf die Residents. Weil sie nicht dort gewesen sind, wo die anderen waren. Wo etwas mit den anderen passiert ist. Die Wale, die den Schlepper versenkt haben … Ich sag’s euch! Die Antwort liegt draußen.«

»Mein Gott, Leon.« Ford lehnte sich zurück und ließ einen großzügigen Schluck Wein die Kehle heruntergurgeln. »In welchem Film sind wir denn jetzt gelandet? Gehet hin und bekämpfet die Menschheit?«

Anawak schwieg.

Auf Dauer brachte sie das Video der Frau nicht weiter.

Als er spätabends im Bett seines kleinen Apartments in Vancouver lag, ohne Schlaf zu finden, reifte in Anawak der Gedanke, einen der veränderten Wale selber zu präparieren. Was immer die Tiere übernommen hatte, es beherrschte sie nach wie vor. Mit Kamera und Sender versehen, würde eines davon vielleicht die dringend erforderlichen Antworten liefern.

Die Frage war, wie sie etwas an einem wild gewordenen Buckelwal befestigen sollten, wenn schon die friedlichen kaum stillhielten?

Und dann dieses Problem mit der Haut …

Einen Seehund zu bestücken war etwas völlig anderes, als einen Wal mit einem Sender zu versehen. Seehunde und Robben ließen sich problemlos auf ihren Ruheplätzen fangen. Der biologisch abbaubare Kleber, mit dem die Sender befestigt wurden, haftete im Fell, trocknete schnell und löste sich irgendwann durch einen integrierten Auslösemechanismus. Spätestens beim alljährlichen Fellwechsel verschwanden auch die Klebstoffreste.

Aber Wale und Delphine hatten kein Fell. Es gab kaum etwas Glatteres als die Haut von Orcas und Delphinen, die sich anfühlte wie ein frisch gepelltes Ei und mit einem dünnen Gel überzogen war, um Strömungswiderstände auszuschließen und Bakterien fern zu halten. Ständig wurde die oberste Hautschicht ersetzt. Enzyme lösten sie, sodass sie bei Sprüngen in großen, dünnen Fetzen abfiel — mitsamt allen unerwünschten Bewohnern und Sendern. Und die Haut von Grau— und Buckelwalen bot kaum besseren Halt.

Anawak stand auf, ohne Licht zu machen, und trat zum Fenster. Das Apartment lag in einem der älteren Hochhäuser mit Blick auf Granville Island, und er konnte auf die glitzernde, nächtliche Stadt blicken. Nacheinander ging er die Möglichkeiten durch. Natürlich gab es Tricks. Amerikanische Wissenschaftler griffen zu einer Methode, bei der Sender und Messgeräte mit Saugnäpfen befestigt wurden. Unter Zuhilfenahme langer Stangen setzten sie die Sonde vom Boot auf nahe schwimmende oder in der Bugwelle reitende Tiere. Das ging oft genug daneben. Immerhin ein Weg. Allerdings widerstanden auch die Saugnapf-Sender dem Strömungsdruck nur wenige Stunden. Andere klemmten die Geräte an die Rückenflosse. Hier wie da stellte sich die Frage, wie man in diesen Tagen überhaupt mit einem Boot an einen Wal gelangen sollte, ohne sofort versenkt zu werden.

Man konnte die Tiere betäuben …

Alles viel zu kompliziert. Außerdem würden Fahrtenschreiber nicht reichen. Sie brauchten Kameras. Satellitentelemetrie und Videobilder.

Plötzlich kam ihm eine Idee.

Es gab eine Methode.

Sie erforderte einen guten Schützen. Wale gaben großflächige Ziele ab Dennoch empfahl sich jemand, der wirklich schießen konnte.

Mit einem Mal war Anawak wie im Fieber. Er hastete zum Schreibtisch, loggte sich ins Internet ein und rief nacheinander verschiedene Adressen auf. Ihm war eine weitere Möglichkeit eingefallen, von der er gelesen hatte. Eine Weile kramte er in einer Schublade mit Zetteln, bis er die Internet-Adresse des Underwater Robotics amp; Application Laboratory Teams in Tokio gefunden hatte.

Nach kurzer Zeit wusste er, wie es funktionieren konnte. Sie mussten die beiden Wege koppeln. Der Krisenstab würde einen Haufen Geld in die Hand nehmen müssen, aber augenblicklich schien man davor nicht zurück zuschrecken, solange es der Klärung der Probleme diente. In seinem Schädel kreiste es. Gegen Morgen fand er endlich Schlaf. Sein letzter Gedanke galt der Barrier Queen und Roberts. Auch so eine Sache. Der Manager hatte ihn nicht zurückgerufen, trotz mehrfachen Nachfragens. Er hoffte, dass Inglewood wenigstens die Proben nach Nanaimo geschickt hatte.

Und was war überhaupt mit dem Bericht?

Er würde sich nicht damit zufrieden geben, ständig abgewimmelt zu werden. Was wollte er morgen alles tun? Ich werde wohl nochmal aufstehen und mir Notizen machen, dachte er. Dass ich als Erstes … In derselben Sekunde schlief er ein, zu Tode erschöpft.


20. April

Lyon, Frankreich

Bernard Roche machte sich Vorwürfe, weil er sich mit der Untersuchung der Wasserproben zu viel Zeit gelassen hatte, aber er konnte es nicht ändern. Wie hatte er ahnen sollen, dass ein Hummer in der Lage war, einen Menschen zu töten? Oder möglicherweise mehrere?

Jean Jérôme, der Fischkoch des Troisgros in Roanne, war nicht mehr aus dem Koma erwacht, 24 Stunden, nachdem ihm ein verseuchter bretonischer Hummer um die Ohren geflogen war. Was genau seinen Tod herbeigeführt hatte, ließ sich immer noch nicht sagen. Fest stand, dass sein Immunsystem versagt hatte, offenbar als direkte Folge eines schweren toxischen Schocks. Ebenso wenig ließ sich beweisen, dass der Hummer daran schuld war, beziehungsweise das Zeug in seinem Innern, aber es sah ganz danach aus. Auch andere Mitglieder des Küchenpersonals waren erkrankt, am schwersten der Lehrling, der die merkwürdige Substanz berührt und konserviert hatte. Sie alle litten an Schwindelgefühl, Übelkeit und Kopfweh und klagten über Probleme mit der Konzentration. Das alleine wäre schlimm genug gewesen, zumal für das Troisgros, dessen Betrieb mittlerweile in einige Bedrängnis geriet. Was Roche jedoch viel mehr beunruhigte, war die Vielzahl ähnlicher Beschwerden, mit denen Leute aus Roanne ihren Arzt aufsuchten, seit Jérôme gestorben war. Ihre Symptome waren weniger stark ausgeprägt. Dennoch befürchtete Roche das Schlimmste, nachdem er herausgefunden hatte, was mit dem Wasser geschehen war, in dem Jérôme die Hummer zwischengelagert hatte.

Die Presse hielt den Vorfall klein, schon aus Rücksicht auf das Restaurant, aber natürlich wurde darüber berichtet, und auch von anderswoher drangen Gerüchte an Roches Ohr. Offenbar war das Troisgros bei weitem nicht allein betroffen. In Paris waren gleich mehrere Menschen gestorben, durch den Genuss verdorbenen Hummerfleischs, wie es hieß, aber Roche ahnte, dass dies nicht ganz den Tatsachen entsprach. Meldungen erreichten ihn aus Le Havre, Cherbourg, Caen, Rennes und Brest. Mittlerweile hatte er einen Assistenten darauf abgestellt, den Dingen hinterherzuforschen. Ein Bild begann sich abzuzeichnen, in dem bretonische Hummer eine unrühmliche Rolle spielten, sodass Roche schließlich alles andere beiseite schob und sich nur noch der Analyse der Wasserprobe widmete.

Wieder stieß er auf ungewöhnliche Verbindungen, die ihm Rätsel aufgaben. Es war dringend erforderlich, an weitere Proben zu gelangen, und er ließ Kontakte herstellen in die betroffenen Städte. Unglücklicherweise war bis dahin niemand auf die Idee gekommen, etwas von dem Zeug aufzubewahren. Es war auch nirgendwo ein Hummer explodiert wie in Roanne, allerdings war die Rede von ungenießbaren Tieren, deren Fleisch man weggeworfen habe, und anderen, die schon vor dem Kochen keinen guten Eindruck gemacht hätten, weil etwas aus ihnen hervorgequollen sei. Roche wünschte sich, jemand anderer wäre so klug gewesen wie der Lehrling, aber Fischer, Großmarkthändler und Küchenpersonal waren nun mal keine Laborarbeiter. So war er fürs Erste auf Spekulationen angewiesen. Ihm schien, dass im Körper des Hummers nicht nur ein Organismus, sondern gleich zwei gelauert haben mussten. Zum einen die Gallerte. Sie hatte sich zersetzt und war offenbar vollständig verschwunden.

Der andere Organismus hingegen lebte, trat in großer Dichte auf und kam Roche auf unheilvolle Weise bekannt vor.

Er starrte durch das Mikroskop.

Tausende transparente Kugeln wirbelten wie Tennisbälle kreuz und quer durcheinander. Falls seine Vermutung zutraf, befand sich in ihrem Innern ein zusammengerollter Pedunculus, eine Art Rüssel.

Hatten diese Lebewesen Jean Jérôme getötet?

Roche griff nach einer sterilisierten Glasnadel und stach sich rasch in die Daumenspitze. Ein kleiner Tropfen Blut trat aus. Vorsichtig injizierte er es in die Probe auf dem Objektträger und sah wieder durch die Linsen des Mikroskops. Bei 700-facher Vergrößerung wirkten Roches Blutkörperchen wie rubinrote Blütenblätter. Sie taumelten im Wasser, jedes angefüllt mit Hämoglobin. Sofort wurden die transparenten Kugeln aktiv. Sie stülpten ihre Rüssel aus und fielen blitzartig über die menschlichen Zellen her. Die Pedunkel stachen wie Kanülen hinein. Langsam färbten sich die unheimlichen Mikroben rötlich, während sie die Blutkörperchen aussaugten. Immer mehr von ihnen stürzten sich auf Roches Blut. War ein Blutkörperchen leer gesaugt, wechselten sie zum nächsten. Dabei schwollen sie an, exakt so, wie Roche es befürchtet hatte. Jedes der Wesen würde bis zu zehn Blutkörperchen in sich aufnehmen. In spätestens einer Dreiviertelstunde würden sie ihr Werk vollendet haben. Er sah weiterhin fasziniert zu und stellte fest, dass es sogar noch schneller ging, viel schneller, als er gedacht hatte.

Nach fünfzehn Minuten hatte der Spuk ein Ende.

Roche saß starr vor seinem Mikroskop. Dann notierte er: Vermutlich Pfiesteria piscicida.

Das ›vermutlich‹ stand für letzte Reste von Zweifel, obschon Roche sicher war, soeben den Erreger klassifiziert zu haben, der für die Krankheits— und Todesfälle verantwortlich war. Was ihn störte, war der Eindruck, es mit einer Monsterausgabe von Pfiesteria piscicida zu tun zu haben. Das barg den Superlativ im Superlativ, weil Pfiesteria vielen an sich schon als Monster galt. Ein Monster von eben mal einem hundertstel Millimeter Durchmesser. Eines der kleinsten Raubtiere der Welt. Und zugleich eines der gefährlichsten.

Pfiesteria piscicida war ein Vampir.

Er hatte viel darüber gelesen. Die erste Begegnung der Wissenschaft mit Pfiesteria lag gar nicht so lange zurück. Es hatte in den Achtzigern begonnen, mit dem Tod von 50 Laborfischen an der North Carolina State University. An der Qualität des Wasser, in dem sie geschwommen waren, gab es augenscheinlich nichts zu beanstanden, sah man von Wolken winziger Einzeller ab, die sich im Aquarium tummelten. Man wechselte das Wasser und setzte neue Fische aus. Sie überlebten keinen Tag. Irgendetwas mordete sie mit großer Effizienz dahin. Es tötete Goldfische, Streifenbarsche, afrikanische Tilapias, oft binnen Stunden, manchmal in Minuten. Jedes Mal beobachteten die Wissenschaftler, wie sich die Opfer in Zuckungen wanden, bevor sie qualvoll krepierten. Jedes Mal tauchten aus dem Nichts die rätselhaften Mikroben auf, und ebenso schnell verschwanden sie wieder.

Allmählich wurde das Bild klarer. Eine Botanikerin erkannte den unheimlichen Organismus als Geißeltierchen einer bislang unbekannten Spezies. Ein Dinoflagellat, eine Alge. Davon gab es viele. Die meisten waren harmlos, aber einige hatten sich schon lange als regelrechte Giftschleudern geoutet. Sie verseuchten ganze Muschelfarmen. Andere Dinoflagellaten lösten die weit gefährlicheren ›Roten Tiden‹ aus, die das Meer blutrot oder braun färbten. Auch von ihnen wusste man, dass sie Schalentiere befielen. Dennoch nahmen sich solche Vertreter harmlos aus gegen den neu entdeckten Organismus.

Denn Pfiesteria piscicida unterschied sich von ihren Artgenossen. Sie griff aktiv an. In gewisser Weise erinnerte sie an Zecken. Nicht der Form halber, sondern weil sie sich durch ebensolche Geduld auswies. Scheinbar leblos lauerte sie auf dem Grund von Gewässern. Jeden einzelnen Organismus umgab eine Kapsel, eine Art Zyste, die ihn schützte. Auf diese Weise konnte Pfiesteria jahrelang ohne Nahrung ausharren. Bis ein Schwarm Fische vorbeizog, deren Ausscheidungen zu Boden sanken und den Appetit des scheintoten Einzellers weckten.

Was nun geschah, ließ sich nur als Blitzangriff beschreiben. Zu Milliarden lösten sich die Algen aus ihren Zysten und stiegen empor. Die beiden Geißeln am Körperende dienten dabei als Antriebssystem. Die eine rotierte wie ein Propeller, die andere steuerte den Organismus in die gewünschte Richtung. Heftete sich Pfiesteria an den Körper eines Fisches, setzte sie ein Gift frei, das die Nerven lähmte und zugleich münzgroße Löcher in die Haut fraß. Dann schob sie ihren Saugrüssel in die Wunden und nahm die Körpersäfte der sterbenden Beute in sich auf. War sie gesättigt, ließ sie von ihrem Opfer ab und verzog sich wieder auf den Grund, um sich erneut einzukapseln.

An sich galten toxische Algen als normales Phänomen. Etwa so wie Pilze im Wald. Man wusste seit langem um die Giftstoffe mancher Algen, genau genommen seit biblischen Zeiten. Im Zweiten Buch Mose wurde ein Phänomen beschrieben, das mit verblüffender Genauigkeit auf eine ›Rote Tide‹ zu passen schien: Und alles Wasser wurde in Blut verwandelt. Die Fische starben, und der Strom stank, sodass die Ägypter das Wasser aus dem Nil nicht trinken konnten. Es war also nichts Besonderes, wenn Einzeller Fische mordeten. Nur wie und mit welcher Brutalität es geschah, war neu. Es schien, als habe eine Krankheit von den Gewässern der Welt Besitz ergriffen, deren spektakulärstes Symptom vorerst den Namen Pfiesteria piscicida trug. Giftattacken auf Meerestiere, neuartige Korallenkrankheiten, infizierte Seegraswiesen, all das spiegelte den Zustand wider, in den die Weltmeere insgesamt geraten waren — geschwächt durch Ströme von Schadstoffen, Überfischung, die rücksichtslose Erschließung der Küsten und die Folgen der globalen Klimaerwärmung. Man stritt, ob Invasionen von Killeralgen etwas Neues oder periodisch Auftretendes waren — fest stand, dass sie den Globus auf nie dagewesene Art vereinnahmten und dass sich die Natur als ausgesprochen kreativ erwies, was das Hervorbringen neuer Spezies anging. Während die Europäer noch frohlockten, in ihren Breiten trete Pfiesteria nicht auf, starben vor Norwegen tausende von Fischen, und die norwegischen Lachszüchter gerieten an den Rand des Ruins. Diesmal hieß der Mörder Chrysochromulina polylepis, eine Art eifriger kleiner Bruder von Pfiesteria, und niemand wagte vorherzusagen, womit man es noch zu tun bekommen würde.

Nun hatte Pfiesteria piscicida also bretonische Hummer befallen.

Aber war es wirklich Pfiesteria piscicida?

Zweifel nagten an Roche. Das Verhalten der Einzeller sprach dafür, wenngleich sie ihm weit aggressiver erschienen als in bisherigen Dokumentationen beschrieben. Vor allem aber fragte er sich, wie der Hummer überhaupt so lange hatte überleben können. Stammten die Algen aus seinem Innern? Zusammen mit der Substanz? Die gallertige Masse, die an der Luft zerfiel, schien jedenfalls etwas völlig anderes zu sein als diese Algen, etwas definitiv Unbekanntes. Entstammte überhaupt beides dem Innern des Hummers? Aber was war dann mit dem Hummerfleisch geschehen?

War das überhaupt ein Hummer gewesen?

Roche verfiel in tiefe Ratlosigkeit. Nur eines wusste er mit absoluter Sicherheit. Was immer es gewesen war — Teile davon befanden sich jetzt im Trinkwasser von Roanne.


22. April

Norwegische See, Kontinentalrand

Auf See enthielt die Welt nichts als Wasser und einen mehr oder weniger klar abgegrenzten Himmel. Es gab keine Bezugspunkte, sodass einen die Unendlichkeit an schönen Tagen förmlich in den Weltraum zu saugen schien, während man bei Regen mitunter nicht wusste, ob man sich noch an der Wasseroberfläche oder schon halb darunter befand. Selbst hartgesottene Seeleute empfanden eintönig niederfallenden Regen als deprimierend. Der Horizont verwischte, das Schwarz der Wellen verlief im Grau konturloser Wolkenmassen und hinterließ die bedrückende Vorstellung eines Universums ohne Licht, Gestalt und Hoffnung.

Die Nordsee und das norwegische Meer boten dem Auge immerhin auf weiter Strecke Anhaltspunkte in Gestalt von Bohrtürmen. Draußen am Kontinentalhang, über dem das Forschungsschiff Sonne nun seit zwei Tagen kreuzte, waren die meisten Plattformen allerdings zu weit entfernt, um mit bloßem Auge wahrgenommen zu werden. Selbst die wenigen Türme in Sichtweite verschwanden heute im feinen Sprühregen. Alles war pitschnass. Klamme Kälte zog unter die wasserdichten Jacken und Overalls der Wissenschaftler und des Schiffspersonals. Anständiger, ehrlicher Regen aus dicken, klatschenden Tropfen wäre allen lieber gewesen als die nieselige Brühe. Nicht nur aus den Himmeln schien das Wasser zu kommen, sondern zugleich aus der See nach oben zu steigen. Es war einer der schäbigsten Tage, an die Johanson sich erinnern konnte. Er zog die Kapuze über die Stirn und ging ins Heck, wo das technische Personal mit dem Einholen der Multisonde befasst war. Auf halbem Weg gesellte sich Bohrmann an seine Seite.

»Träumen Sie nicht allmählich von Würmern?«, fragte Johanson.

»Es geht noch«, erwiderte der Geologe. »Und Sie?«

»Ich flüchte mich in die Vorstellung, in einem Film mitzuspielen.«

»Gute Idee. Welcher Regisseur?«

»Wie wär’s mit Hitchcock?«

»Die Vögel in der Version für Tiefseegeologen?« Bohrmann grinste säuerlich. »Schöne Vorstellung — ah, es ist so weit!«

Er ließ Johanson stehen und ging rasch weiter ins Heck. Am Kran hängend tauchte ein großes, kreisrundes Gestänge auf, dessen obere Hälfte mit Kunststoffröhren bestückt war. Sie enthielten Wasserproben aus verschiedenen Meerestiefen. Johanson sah eine Weile zu, wie die Multisonde eingeholt und der Probensatz entnommen wurde, dann betraten Stone, Hvistendahl und Lund das Deck. Stone eilte auf ihn zu.

»Was sagt Bohrmann?«, fragte er.

»Houston, wir haben ein Problem.« Johanson zuckte die Achseln. »Viel sagt er nicht.«

Stone nickte. Seine Aggressivität hatte tiefer Niedergeschlagenheit Platz gemacht. Im Verlauf der Messungen war die Sonne dem südwestlichen Verlauf des Kontinentalhangs bis oberhalb Schottlands gefolgt, während der Videoschlitten Bilder aus der Tiefe sandte. Der Schlitten, ein klobiges Gestell, das aussah wie ein Stahlregal voll unordentlich hineingestopfter Apparaturen, verfügte über diverse Messinstrumente, starke Scheinwerfer und ein elektronisches Auge, das den Meeresboden filmte und die Eindrücke per Lichtwellenkabel ins Monitorlabor schickte, während er hinter dem Schiff hergezogen wurde.

An Bord der Thorvaldson lieferte der modernere Victor das Bildmaterial. Das norwegische Forschungsschiff folgte dem Hangverlauf in nordöstliche Richtung und analysierte das Wasser der norwegischen See bis hinauf nach Tromsø. Beide Schiffe hatten ihre Fahrt vom Standort der geplanten Fabrik aus begonnen. Mittlerweile hielten sie wieder aufeinander zu. Mit ihrem Rendezvous in zwei Tagen würden sie zu dem den kompletten Hang des norwegischen Sockels und der Nordsee neu vermessen haben. Bohrmann und Skaugen hatten vorgeschlagen, die Region so anzugehen, als habe man es mit unerforschtem Gebiet zu tun, und das war es seit kurzem auch. Nichts erschien mehr in vertrautem Licht, seit Bohrmann die ersten Messwerte präsentiert hatte.

Das war am Vortag gewesen, am frühen Morgen, noch ehe die ersten Bilder vom Videoschlitten auf dem Monitor erschienen waren. Sie hatten in der feuchtkalten Dämmerung die Multisonde hinuntergelassen, und Johanson hatte versucht, das Fahrstuhlgefühl zu ignorieren, wenn die Sonne in den Wogen plötzlich wegsackte. Die ersten Wasserproben waren umgehend ins Seismiklabor gewandert und dort analysiert worden. Wenig später hatte Bohrmann das Team in den Konferenzraum aufs Hauptdeck gebeten, wo sie sich um den polierten Holztisch scharten, nun nicht mehr augenreibend und gähnend, sondern stumm vor Neugierde, Becher mit Kaffee umklammernd, dessen Wärme sich langsam in den Fingern auszubreiten begann.

Bohrmann hatte geduldig gewartet, bis alle versammelt waren. Seine Augen waren auf ein Blatt Papier gerichtet.

»Ich kann mit einem ersten Resultat aufwarten«, sagte er. »Es ist nicht repräsentativ, nur eine Momentaufnahme.« Er schaute auf. Sein Blick blieb eine Sekunde an Johanson hängen und wanderte weiter zu Hvistendahl. »Ist jeder mit dem Begriff Methanfahne vertraut?«

Ein junger Mann aus Hvistendahls Stab schüttelte unsicher den Kopf.

»Methanfahnen entstehen, wenn Gas aus dem Meeresboden austritt« erläuterte Bohrmann. »Es vermischt sich mit Wasser, treibt in der Strömung und steigt auf. Im Allgemeinen messen wir solche Fahnen dort, wo eine Erdplatte sich unter die andere schiebt, sodass der Druck das Sediment zusammenquetscht und aufwirft. Als Folge quellen dort Fluide und Gase hervor. Ein weitgehend bekanntes Phänomen.« Er räusperte sich. »Aber sehen Sie, im Unterschied zum Pazifik gibt es solche Bereiche hohen Drucks nicht im Atlantik, also auch nicht vor Norwegen. Die Kontinentalränder sind weitgehend passiv. Dennoch haben wir heute Morgen in diesem Gebiet eine hoch konzentrierte Methanfahne gemessen. In früheren Messungen taucht sie nicht auf.«

»Wie hoch ist die Konzentration jetzt?«, fragte Stone.

»Bedenklich. Wir haben ähnliche Werte vor Oregon gemessen. In einem Gebiet mit äußerst starken Verwerfungen.«

»Schön.« Stone versuchte, die Falten auf seiner Stirn zu glätten. »Meines Wissens tritt vor Norwegen permanent Methan aus. Wir kennen das von früheren Projekten. Es ist bekannt, dass der Meeresboden immer irgendwo Gase durchlässt, und es ist jedes Mal erklärbar, also wozu machen wir die Pferde scheu?«

»Ihre Darstellung trifft nicht ganz den Kern der Sache.«

»Hören Sie«, seufzte Stone. »Alles, was mich interessiert, ist, ob Ihre Messungen wirklich Anlass zur Besorgnis geben. Bislang kann ich das nicht erkennen. Wir verschwenden unsere Zeit.«

Bohrmann lächelte verbindlich. »Dr. Stone, in diesem Gebiet, insbesondere nördlich von hier, sind ganze Stockwerke des Kontinentalhangs mit Methanhydraten regelrecht zementiert. Jede dieser Hydratschichten ist sechzig bis einhundert Meter dick, das sind gewaltige Deckel aus Eis. Aber wir wissen auch, dass diese Schichten stellenweise von senkrechten Zonen durchbrochen werden. Dort tritt seit Jahren Gas aus, das unseren Stabilitätsberechnungen zufolge eigentlich nicht austreten dürfte. Legt man Druck und Temperatur zugrunde, müsste es am Boden gefrieren, aber das tut es nicht. Da haben Sie Ihre Gasaustritte. Es lässt sich mit ihnen leben, man kann sogar entscheiden, sie zu ignorieren. Aber wir sollten uns nicht in Sicherheit wiegen, bloß weil wir ein paar Diagramme und Kurven entwickelt haben. Ich sage noch einmal, die Konzentration freien Methans in der Wassersäule ist unverhältnismäßig hoch.«

»Sind es denn wirklich Gasaustritte?«, fragte Lund. »Ich meine, steigt Methan aus dem Erdinnern nach oben, oder stammt das Gas vielleicht von …«

»Schmelzenden Hydraten?« Bohrmann zögerte. »Das ist die entscheidende Frage. Wenn sich Hydrat zu zersetzen beginnt, müsste sich an den lokalen Parametern etwas geändert haben.«

»Und Sie glauben, das ist hier der Fall?«, fragte Lund.

»Es gibt eigentlich nur zwei Parameter. Druck und Temperatur. Wir haben aber weder eine Erwärmung des Wassers gemessen, noch ist der Meeresspiegel gesunken.«

»Das sage ich doch«, rief Stone. »Wir suchen Antworten auf Fragen, die kein Mensch gestellt hat. Ich meine, wir haben eine Probenentnahme.« Er sah sich nach Zustimmung heischend um. »Eine einzige verdammte Probe!«

Bohrmann nickte. »Sie haben vollkommen Recht, Dr. Stone. Alles ist spekulativ. Aber um die Wahrheit herauszufinden, sind wir hier.«

»Stone geht mir auf die Nerven«, hatte Johanson zu Lund gesagt, als sie kurz darauf in die Messe gegangen waren. »Was hat er eigentlich? Er scheint diese Tests regelrecht verhindern zu wollen? Dabei leitet er das Projekt.«

»Wir können ihn ja über Bord werfen.«

»Es reicht schon, was wir sonst ins Meer kippen.«

Sie holten sich frischen Kaffee und verzogen sich damit auf Deck. »Und was hältst du von diesem Resultat?«, fragte Lund zwischen zwei Schlucken.

»Es ist kein Resultat. Es ist ein Zwischenwert.«

»Na schön. Was hältst du von dem Zwischenwert?«

»Ich weiß es nicht.«

»Komm schon.«

»Bohrmann ist der Experte.«

»Glaubst du wirklich, es hat was mit diesen Würmern zu tun?«

Johanson dachte an sein zurückliegendes Gespräch mit Olsen.

»Ich glaube erst mal gar nichts«, sagte er vorsichtig. »Es wäre absolut verfrüht, etwas zu glauben.« Er blies in seinen Kaffee und legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen spannte sich ein trüber Himmel. »Ich weiß nur eines: dass ich jetzt lieber zu Hause säße als auf diesem Schiff.«

Das war am Vortag gewesen.

Während die letzten Wasserproben analysiert wurden, verzog sich Johanson in den Funkraum hinter der Brücke. Über Satellit konnte er vom Schiff aus mit aller Welt Kontakt aufnehmen. In den vergangenen Tagen hatte er begonnen, eine Datenbank aufzubauen, E-Mails an Institute und Wissenschaftler zu verschicken und das Ganze als persönliches Interesse zu tarnen. Die ersten Antworten fielen enttäuschend aus. Niemand hatte den neuen Wurm beobachtet. Vor wenigen Stunden hatte er außerdem Kontakt zu Expeditionen aufgenommen, die gerade auf See waren. Er zog einen Stuhl heran, platzierte den Laptop zwischen den Funkgeräten und öffnete den E-Mail-Speicher. Auch diesmal war die Ausbeute mager. Die einzig interessante Nachricht stammte von Olsen, der ihm mitteilte, dass die Qualleninvasionen vor Südamerika und Australien offenbar außer Kontrolle geraten waren.

Weiß nicht, ob ihr da draußen Nachrichten hört, schrieb Olsen. Aber gestern Nacht brachten sie einen Sonderbericht. Die Quallen ziehen in riesigen Schwärmen die Küsten entlang. Es sieht so aus, sagt der Nachrichtenonkel, als steuerten sie gezielt von Menschen besiedelte Gegenden an. Natürlich völliger Blödsinn. Ach ja, und es hat wieder gekracht. Zwei Containerfrachter vor Japan. Außerdem verschwinden weiterhin Boote, aber diesmal wurden Notrufe aufgezeichnet. Die komischen Geschichten ans British Columbia geistern nach wie vor durch die Presse, ohne dass man was Konkretes erfährt. Würde man glauben, was da kolportiert wird, jagen in Kanada die Wale zur Abwechslung Menschen. Aber gottlob muss man ja nicht alles glauben. So weit das kleine Gute-Laune-Programm aus Trondheim. Ersauf mir nicht.

»Danke«, knurrte Johanson übellaunig.

Sie hörten tatsächlich zu selten Nachrichten. Forschungsschiffe waren wie Löcher in Zeit und Raum. Offiziell hörte man keine Nachrichten, weil man zu viel zu tun hatte. Tatsächlich wollte man einfach in Ruhe gelassen werden von Städten, Politikern und Kriegen, sobald die wellen unter den Kiel schlugen. Bis man nach ein bis zwei Monaten auf See plötzlich zu verblassen schien und einen die Sehnsucht nach der eigenen Bedeutung überkam, nach dem festen Platz im Gefüge, das dem Menschen eben nur die Zivilisation liefern kann, nach Hierarchien, Hightech, Kinos und McDonald’s und nach einem Boden, der nicht ständig auf und nieder schwankte.

Johanson stellte fest, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er, was sie nun seit zwei Tagen pausenlos auf den Monitoren sahen.

Würmer.

Mittlerweile hatten sie Gewissheit: Der Kontinentalhang wimmelte von ihnen. Die Flächen und Adern aus gefrorenem Methan waren verschwunden unter Millionen zuckender rosa Leiber, die versuchten, sich ins Eis zu bohren, eine einzige, wahnsinnig gewordene Masse. Das war kein lokales Phänomen mehr. Sie wurden Zeuge einer flächendeckenden Invasion, und sie vollzog sich entlang der gesamten norwegischen Küste.

Als hätte sie jemand da hingezaubert …

Irgendjemand musste auf ähnliche Phänomene gestoßen sein.

Warum wurde er das Gefühl nicht los, dass es zwischen den Würmern und den Quallen einen Zusammenhang gab? Und andererseits, welche halbwegs ernsthafte Erklärung sollte dafür herhalten?

Es war Blödsinn!

Blödsinn, ja.

Aber dem Blödsinn haftet der Charakter von etwas Beginnendem an, dachte er plötzlich. Etwas, auf das wir bis jetzt nur einen kurzen, flüchtigen Blick erhascht haben.

Das hier war erst der Anfang.

Noch größerer Blödsinn, schalt er sich.

Er loggte sich ein bei CNN, um Olsens Meldungen zu überprüfen, als Lund hereinkam und einen Becher schwarzen Tee vor ihn hinstellte. Johanson sah zu ihr auf. Sie grinste verschwörerisch. Seit dem Ausflug zum See hatte sich ihrem Verhältnis eine konspirative Note hinzugesellt, ein kumpeliges Dichthalten.

Der Duft frisch gebrühten Earl Greys breitete sich aus.

»So was haben wir an Bord?«, fragte Johanson verwundert.

»So was haben wir nicht an Bord«, erwiderte sie. »So was bringt man mit, wenn man weiß, dass jemand drauf steht.«

Johanson hob die Brauen. »Wie fürsorglich. Welchen Gefallen willst du diesmal rausschinden?«

»Wie wär’s mit danke?«

»Danke.«

Sie warf einen Blick auf den Laptop. »Kommst du voran?«

»Fehlanzeige. Was macht die Analyse der letzten Wasserprobe?«

»Keine Ahnung. Ich war mit wichtigeren Dingen beschäftigt.«

»Oh. Was gibt es Wichtigeres?«

»Hvistendahls Assistent das Händchen zu halten.«

»Wieso denn das?«

»Er fütterte die Fische.« Sie zuckte die Achseln.

»Frischfleisch halt.«

Johanson musste grinsen. Lund befleißigte sich eines Vokabulars, das eigentlich den Seeleuten vorbehalten war. Auf Forschungsschiffen stießen zwei Welten aufeinander, Crew und Wissenschaftler. Mit den besten Absichten strichen sie umeinander, versuchten sich auf Ausdrucksweise, Lebensart und Macken des jeweils anderen einzustellen, beschnupperten sich eine Weile und fanden irgendwann in vertrauliche Gewässer. Bis dahin herrschte respektvolle Distanz, die man mit Witzeleien kompensierte. Frischfleisch war die Bezeichnung der Matrosen für Neulinge an Bord, denen das seemännische Leben ebenso wenig vertraut war wie das Verhalten ihres Magens nach Verlassen festen Untergrundes.

»Du hast das erste Mal auch gekotzt«, bemerkte Johanson.

»Du nicht?«

»Nein.«

»Pah.«

»Wirklich nicht!« Johanson hob die Hand zum Schwur.

»Du kannst es nachprüfen. Ich bin seefest.«

»Okay, du bist seefest.« Lund kramte einen Zettel hervor und legte ihn vor Johanson auf den Tisch. Eine Internetadresse war darauf gekritzelt. »Dann kannst du dich ja umgehend ins grönländische Meer begeben. Ein Bekannter von Bohrmann ist dort unterwegs. Er heißt Bauer.«

»Lukas Bauer?«

»Du kennst ihn?«

Johanson nickte langsam. »Ich erinnere mich an einen Kongress vor einigen Jahren in Oslo. Er hielt einen Vortrag. Ich glaube, er beschäftigt sich mit Meeresströmungen.«

»Er ist Konstrukteur. Er baut alles Mögliche, Tiefseeequipment, Hochdrucktanks — Bohrmann sagte, er hätte den Tiefseesimulator miterfunden.«

»Und Bauer liegt vor Grönland?« »Schon seit Wochen«, sagte Lund. »Du hast übrigens Recht, was seine Arbeit mit Meeresströmungen angeht. Er führt Messungen durch. Ein weiterer Kandidat auf deiner Suche nach dem Wurm.« Johanson nahm den Zettel. Von dieser Expedition hatte er tatsächlich noch nichts gehört. Lagerten vor Grönland nicht auch Methanvorkommen? »Und wie kommt Skaugen weiter?«, fragte er. »Mühsam.« Lund schüttelte den Kopf. »Er kann nicht so offensiv vorgehen, wie er möchte. — Sie haben ihm einen Maulkorb verpasst, wenn du weißt, was ich meine.« »Wer? Seine Vorgesetzten?« »Statoil ist staatlich. Muss ich deutlicher werden?« »Also wird er nichts in Erfahrung bringen«, konstatierte Johanson.

Lund seufzte. »Die anderen sind ja nicht blöde. Sie merken, wenn jemand Informationen abpumpen will, ohne ihnen welche zu geben, und sie haben ihren eigenen Schweigekodex.«

»Ich hab’s dir prophezeit.«

»Ja, du warst mal wieder ganz besonders schlau.«

Von draußen erklangen Schritte. Einer von Hvistendahls Leuten steckte den Kopf zur Tür herein. »Konferenzraum«, sagte er. »Wann?« »Sofort. Wir haben die Auswertungen.« Johanson und Lund wechselten einen Blick. In ihren Augen stand die bange Erwartung dessen, was sie im Grunde schon wussten. Johanson klappte den Laptop zu, und sie folgten dem Mann runter aufs Hauptdeck. Draußen an den Scheiben lief der Regen entlang.

Bohrmann stützte sich mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Bis jetzt haben wir entlang des gesamten Kontinentalrandes dieselbe Situation vorgefunden«, sagte er. »Das Meer ist gesättigt mit Methan. Unsere Ergebnisse und die der Thorvaldson stimmen weitgehend überein, Schwankungen hier und da, unterm Strich das gleiche Bild.« Er machte eine Pause. »Ich will nicht drum herum reden. Etwas beginnt die Hydrate auf weiter Strecke zu destabilisieren.«

Niemand rührte sich, niemand sagte etwas. Sie starrten ihn einfach an und warteten. Dann begannen die Statoil-Leute durcheinander zu reden. »Was heißt das?« »Methanhydrat löst sich auf? Sie haben gesagt, die Würmer können das Eis nicht destabilisieren!« »Haben Sie eine Erwärmung gemessen? Ohne Erwärmung …« »Welche Konsequenzen …?«

»Bitte!« Bohrmann hob die Hand. »Es ist so. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass diese Würmer keinen ernsthaften Schaden anrichten können. Andererseits müssen wir festhalten, dass die Zersetzungen erst mit ihrem Auftreten begonnen haben.«

»Sehr aufschlussreich«, murmelte Stone. »Wie lange schreitet der Prozess schon fort?«, fragte Lund.

»Wir haben uns die Ergebnisse der Thorvaldson- Exkursionen vor einigen Wochen angesehen«, erwiderte Bohrmann. Er bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall. »Als Sie erstmals auf den Wurm stießen. Da waren die Messungen noch normal. Es ist also erst danach zu einem Anstieg gekommen.«

»Was denn nun?«, fragte Stone. »Wird es da unten wärmer oder nicht?«

»Nein.« Bohrmann schüttelte den Kopf. »Das Stabilitätsfenster hat sich nicht verändert. Wenn Methan austritt, kann es nur auf Prozesse tief im Sediment zurückzuführen sein. Auf alle Fälle tiefer, als diese Würmer bohren können.«

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Wir haben nachgewiesen …« Bohrmann hielt inne. »Mit Dr. Johansons Hilfe haben wir nachgewiesen, dass die Tiere ohne Sauerstoff eingehen. Sie kommen nur wenige Meter tief.«

»Sie haben Ergebnisse aus einem Tank«, sagte Stone geringschätzig. Er schien Bohrmann zu seinem neuen Lieblingsfeind erkoren zu haben.

»Wenn nicht das Wasser wärmer wird, dann vielleicht der Meeresboden?«, schlug Johanson vor.

»Vulkanismus?«

»Es ist nur eine Idee.«

»Eine plausible Idee. Aber nicht in dieser Gegend.«

»Kann das, was diese Würmer fressen, überhaupt ins Wasser gelangen?«

»Nicht in solchen Mengen. Sie müssten dazu freies Gas erreicht haben oder in der Lage sein, vorhandenes Hydrat zu schmelzen.«

»Sie können aber doch kein freies Gas erreichen«, insistierte Stone störrisch.

»Nein, ich sagte ja …«

»Ich weiß, was Sie sagten. Ich will Ihnen verraten, wie ich es sehe. Der Wurm hat eine Körperwärme. Jedes Lebewesen gibt Wärme ab. Damit schmilzt er die oberste Schicht, nur ein paar Zentimeter, aber die reichen …«

»Die Körperwärme eines Tiefseebewohners ist gleich seiner Umgebungswärme«, sagte Bohrmann kühl.

»Trotzdem, wenn …«

»Clifford.« Hvistendahl legte dem Projektleiter die Hand auf den Unterarm. Es wirkte freundschaftlich, aber Johanson spürte, dass Stone soeben eine deutliche Warnung erhielt. »Warum warten wir nicht einfach die weiteren Untersuchungen ab?«

»Ach, Scheiße.«

»Das bringt nichts, Cliff. Hör auf, Theorien zu bauen.«

Stone sah zu Boden. Wieder herrschte Schweigen.

»Und was wären die Folgen, wenn die Methanaustritte nicht aufhören?«, fragte Lund.

»Da gibt es mehrere Szenarien«, sagte Bohrmann. »Die Wissenschaft beschreibt Phänomene, in deren Verlauf ganze Hydratfelder einfach verschwinden. Sie lösen sich auf, binnen eines Jahres. Es kann sein, dass genau dies hier geschieht, und möglicherweise setzen die Würmer diesen Prozess in Gang. In diesem Fall wird vor Norwegen in den nächsten Monaten ziemlich viel Methan in die Atmosphäre gelangen.«

»Ein Methanschock wie vor 55 Millionen Jahren?«

»Nein, dafür ist es immer noch zu wenig. Noch einmal, ich will nicht spekulieren. Aber ich kann mir andererseits nicht vorstellen, dass sich der Prozess endlos fortsetzt ohne Druckabnahme oder Temperaturanstieg, und weder das eine noch das andere verzeichnen wir. In den nächsten Stunden schicken wir den Videogreifer nach unten. Vielleicht sind wir danach klüger. Ich danke Ihnen.«

Damit verließ er den Konferenzraum.

Johanson schickte eine E-Mail an Lukas Bauer auf seinem Schiff. Allmählich kam er sich vor wie ein biologischer Ermittler: Haben Sie diesen Wurm gesehen? Können Sie ihn beschreiben? Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn wir ihn mit fünf anderen Würmern zu einer Gegenüberstellung laden? Hat dieser Wurm der alten Frau die Handtasche entrissen? Sachdienliche Hinweise nimmt die nächste Forschungsstelle entgegen.

Nach einigem Zögern schrieb er ein paar verbindliche Worte zu dem damaligen Treffen in Oslo und erkundigte sich, ob Bauer vor Grönland in letzter Zeit außergewöhnlich hohe Methankonzentrationen gemessen habe. Bislang hatte er diesen Punkt in seinen Anfragen ausgespart.

Als er wenig später an Deck ging, sah er den Videoschlitten an der Kranwinde baumeln, begutachtet von Bohrmanns Geologenteam. Sie holten ihn ein. Ein Stück weiter hockten einige Matrosen auf der großen Handfegerkiste vor der Deckswerkstatt und unterhielten sich. Die Kiste hatte sich im Laufe der Jahre den Rang eines Refugiums erworben, angesiedelt zwischen Ausguck und Wohnzimmer. Ein verschlissenes Stofftuch war darüber gebreitet. Manche nannten sie schlicht die Couch. Von hier aus ließ sich herrlich witzeln über die Doktoren und Diplomanden mit ihren tapernden Bewegungen, die den Platz der Spötter vorsorglich mieden. Aber heute wurde nicht gewitzelt. Die angespannte Stimmung hatte sich auch auf die Mannschaft übertragen.

Die meisten wussten durchaus, was die Wissenschaftler da taten. Am Kontinentalhang stimmte Verschiedenes nicht, und jeder machte sich Gedanken.

Alles musste jetzt sehr schnell gehen. Bohrmann ließ das Schiff extrem langsam fahren, um eine Stelle zu beproben, die ihm nach Auswertung der Videobilder und Messdaten des Fächerecholots geeignet erschien. Direkt unter der Sonne befand sich ein ausgedehntes Hydratfeld Beproben hieß in diesem Fall, ein Ungetüm hinabzulassen, das dem Jura der Meeresforschung zu entstammen schien. Der Videogreifer ein tonnenschweres stählernes Maul, repräsentierte nicht unbedingt den letzten Stand der Technik. Es war die rabiateste, aber auch zuverlässigste Art, dem Meeresboden ein Stück seiner Geschichte zu entreißen, und das im wörtlichen Sinne. Der Greifer bohrte sich in den Untergrund, drang tief ein, biss eine klaffende Wunde und riss zentnerweise Schlamm, Eis, Fauna und Gestein heraus, um alles in die Welt der Menschen zu hieven. Einige der Matrosen nannten ihn treffenderweise den T-Rex. Wenn man ihn sah, wie er mit aufgerissenen Kiefern am Heckgalgen hing, bereit, sich ins Meer zu stürzen, drängte sich der Vergleich tatsächlich auf. Ein Ungeheuer im Dienste der Wissenschaft.

Wie alle Ungeheuer jedoch war der Videogreifer zwar mit erstaunlichen Fähigkeiten ausgestattet, zugleich aber plump und dumm. Im Innern waren eine Kamera und starke Scheinwerfer angebracht. Man konnte sehen, was der Greifer sah, und ihn im richtigen Moment von der Kette lassen. Das war erstaunlich. Dumm war die Unfähigkeit des T-Rex, sich anzuschleichen. So vorsichtig man ihn auch absetzte — und dieser Vorsicht waren Grenzen gesetzt, weil es einer gewissen Wucht bedurfte, um ihn ins Sediment eindringen zu lassen! —, man vertrieb die meisten Bodenbewohner schon allein durch die Bugwelle, die das gigantische Maul vor sich herschob.

Sobald es herabfuhr auf Fische, Würmer, Krebse und alles, was schneller Bewegungen fähig war, registrierten die empfindlichen Sinne der Tiere die herannahende Gefahr, lange bevor der Greifer aufschlug. Selbst ausgeklügeltere Systeme kündigten sich auf diese Weise an. Ein amerikanischer Tiefseeforscher hatte es schließlich frustriert und gallig auf den Punkt gebracht:

»Es gibt jede Menge Leben da unten. Unser Problem ist, dass es jedes Mal zur Seite geht, wenn wir kommen.«

Jetzt wurde der Greifer vom Heckgalgen abgelassen. Johanson wischte sich den Regen aus den Augen und ging ins Monitorlabor. Der Matrose am Windenfahrstand bediente den Joystick, mit dem der Greifer abgesenkt und angehoben wurde. In den letzten Stunden hatte er bereits den Videoschlitten gesteuert, aber er wirkte konzentriert und aufgeräumt. Das musste er auch sein. Stundenlang das blasstrübe Bild des Meeresbodens zu betrachten, konnte hypnotisierende Wirkung haben. Ein unachtsamer Moment, und Geräte im Kostenrahmen von Ferraris blieben für alle Zeiten unten.

Drinnen herrschte Dämmerlicht. Die Gesichter der Umstehenden und Sitzenden leuchteten fahl im Licht der Bildschirme. Die Welt entrückte vollends. Es gab nur noch den Meeresboden, dessen Oberfläche die Wissenschaftler studierten wie eine chiffrierte Landschaft, in der jede Einzelheit Aussagen über alles traf, multicodierte Botschaften, Gottes verschlungene Sprache.

Draußen am Heckgalgen rauschte der Greifer abwärts.

Das Wasser schien aus den Monitoren spritzen zu wollen, dann sank das stählerne Maul durch Planktonregen. Es wurde blaugrün, grau, schwarz. Helle Punkte schossen seitlich weg wie Kometen, winzige Krabben, Krill, Undefinierbares. Die Reise des Greifers mutete an wie der Vorspann zu alten Star-Trek -Folgen, nur fehlte die Musik. Im Labor herrschte Totenstille. Der Tiefenmesser lief rasend schnell durch. Dann plötzlich kam Meeresboden ins Bild, der ebenso gut Mondoberfläche hätte sein können, und die Winde stoppte.

»Minus 714«, sagte der Matrose am Joystick. Bohrmann beugte sich vor: »Noch nicht.« Muscheln zogen durchs Bild, wie sie mit Vorliebe auf Gashydraten siedelten. Die meisten von ihnen waren unter sich aufbäumenden, zuckenden rosa Leibern verschwunden. Johanson beschlich der Gedanke, dass die Würmer nicht nur ins Eis vordrangen, sondern auch die Muscheln in ihren Schalen fraßen. Er sah deutlich, wie die zangenbewehrten Rüssel hervorschossen, Stücke aus dem Muschelfleisch rissen und ins Innere der schlauchförmigen Körper beförderten. Vom weißen Methaneis war nichts auszumachen unter der kriechenden Belagerung, aber jeder im Raum wusste, dass es dort war, direkt unter ihnen. Überall stiegen Blasen auf und schwemmten kleine schimmernde Brocken nach oben, Hydratsplitter. »Jetzt«, sagte Bohrmann. Der Boden raste auf die Kamera zu. Kurz schien es, als bäumten sich die Würmer auf, um den Greifer in Empfang zu nehmen. Dann wurde alles schwarz. Das stählerne Maul presste sich ins Methan und schloss sich langsam.

»Was zum Teufel …?«, zischte der Matrose.

Über die Kontrollanzeige der Winde liefen Zahlen.

Blieben stehen, liefen weiter. »Der Greifer sackt weg. Er bricht durch.« Hvistendahl drängte sich nach vorn. »Was passiert denn da?« »Das gibt’s doch nicht. Da unten ist überhaupt kein Widerstand mehr.«

»Hoch damit«, schrie Bohrmann. »Schnell.«

Der Matrose zog den Joystick zu sich heran. Die Anzeige stoppte, dann lief sie rückwärts. Der Greifer fuhr hoch, das Maul geschlossen. Die Außenkameras zeigten ein riesiges Loch, das plötzlich entstanden war Dicke, tanzende Blasen stiegen daraus empor. Dann wölbte sich eine gewaltige Menge Gas hinterher. Es schoss auf den Greifer zu, hüllte ihn ein, und plötzlich verschwand alles in einem kochenden Wirbel.


Grönländische See

Einige hundert Kilometer nördlich vom Standort der Sonne hatte Karen Weaver eben aufgehört zu zählen.

50 Runden um das Schiff. Jetzt lief sie einfach weiter, deckauf, deckab, darauf bedacht, den wissenschaftlichen Betrieb nicht zu stören. Ausnahmsweise passte es ihr gut, dass Lukas Bauer keine Zeit für sie hatte. Sie brauchte Bewegung. Am liebsten hätte sie Eisberge bestiegen oder sonst was unternommen, um ihren Überschuss an Adrenalin abzubauen. Viel konnte man an Bord eines Forschungsschiffs nicht tun. Im Kraftraum war sie gewesen und hatte sich an den drei läppischen Maschinen zu Tode gelangweilt, also lief sie. Deckauf, deckab. Vorbei an Bauers Assistenten, die den fünften Drifter vorbereiteten, vorbei an den Matrosen, die ihrer Arbeit nachgingen oder zusammenstanden und ihr hinterhersahen, wahrscheinlich mit anzüglichen Kommentaren auf den Lippen.

Vor ihrem halb geöffneten Mund bildeten sich in regelmäßiger Folge weiße Wolken.

Deckauf, deckab.

Sie musste an ihrer Ausdauer arbeiten. Ausdauer war ihr schwacher Punkt. Dafür war sie ungemein kräftig. Nackt sah Karen Weaver aus wie eine Bronzeskulptur, mit schimmernder Haut, unter der sich beeindruckende Muskelstränge entlangzogen. Zwischen ihren Schulterblättern breitete ein kunstvoll tätowierter Falke seine Schwingen aus, eine bizarre Kreatur mit aufgerissenem Schnabel und vorgestreckten Klauen. Zugleich hatte Karen Weaver nichts gemein mit der Grobschlächtigkeit von Bodybuilderinnen. Im Grunde wäre ihr Körper wie geschaffen gewesen für eine Modelkarriere, nur dass sie zu klein war und ihre Schultern zu breit. Ein kleiner, gut gebauter Panzer, süchtig nach Adrenalin und bevorzugt am Rande irgendeines Abgrunds anzutreffen In diesem Fall erstreckte sich der Abgrund dreieinhalb Kilometer tief. Die Juno kreuzte über dem Grönländischen Abyssal, einer Tiefseeebene unterhalb der Framstraße, aus der kaltes arktisches Wasser nach Süden strömte. Am Zirkelpunkt zwischen Island, Grönland, Nordnorwegen und Svalbard lag eine der beiden Lungen der Weltmeere. Was hier geschah, interessierte Lukas Bauer. Und es interessierte auch Karen Weaver, beziehungsweise ihre Leser.

Bauer winkte sie heran.

Vollkommen kahl, mit kolossalen Brillengläsern und weißem Spitzbart, kam er dem Prototyp des vergeistigten Professors näher als jeder Wissenschaftler, den Weaver je kennen gelernt hatte. Er war sechzig und hatte einen runden Rücken, aber in dem mageren, gebeugten Körper steckte eine unbändige Energie. Weaver bewunderte Menschen wie Lukas Bauer. Sie bewunderte das Übermenschliche an ihnen, die Kraft des Willens.

»Kommen Sie her, Karen!«, rief Bauer mit heller Stimme. »Ist das nicht unglaublich? In dieser Gegend stürzen rund 17 Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde nach unten. 17 Millionen!« Er strahlte sie an. »Das ist 20-mal mehr, als sämtliche Flüsse der Erde führen.«

»Doktor.« Weaver legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Das haben Sie mir schon dreimal erzählt.«

Bauer blinzelte. »So? Was Sie nicht sagen.«

»Dafür haben Sie versäumt, mir zu erklären, wie Ihr Drifter funktioniert. Wenn ich Pressearbeit für Sie machen soll, müssen Sie sich ein bisschen mehr mit mir beschäftigen.«

»Na ja, der Drifter, der autarke Drifter … ich dachte, das sei klar, oder nicht? Deswegen sind Sie ja hier.«

»Ich bin hier, um Computersimulationen von Strömungswegen zu erstellen, damit die Leute sehen können, wohin Ihre Drifter unterwegs sind. Schon vergessen?«

»Ach so, Sie können ja auch gar nicht, Sie haben ja kein … Nun, ich bin leider ein bisschen knapp in der Zeit. Ich muss noch so vieles erledigen. Warum sehen Sie nicht einfach zu und …«

»Doktor! Nicht schon wieder. Sie wollten mir was über die Funktionsweise erzählen.«

»Ja, sicher. In meinen Publikationen …«

»Ich habe Ihre Publikationen gelesen, Doktor, und etwa die Hälfte begriffen. Und ich bin wissenschaftlich vorgebildet. Populärwissenschaftliche Artikel müssen unterhalten, sie müssen in einer Sprache verfasst sein, die jeder kapiert.«

Bauer sah sie gekränkt an. »Ich finde meine Abhandlungen durchweg verständlich.«

»Ja Sie. Und zwei Dutzend Kollegen weltweit.«

»Ach was. Wenn man den Text aufmerksam studiert «

»Nein, Doktor. Erklären Sie’s mir.«

Bauer runzelte die Stirn, dann lächelte er nachsichtig. »Keiner meiner Studenten dürfte sich das trauen. Mich so oft zu unterbrechen. Nur ich selber darf mich unterbrechen.« Er zuckte die mageren Schultern. »Aber was soll ich machen? Ich kann Ihnen nun mal nichts abschlagen. Nein, das kann ich nicht. Ich hab Sie gern, Karen. Sie sind eine … also, eine … Sie erinnern mich an … na, egal. Schauen wir uns den Drifter an.«

»Und danach reden wir über die bisherigen Ergebnisse Ihrer Arbeit. Ich bekomme Anfragen.«

»So? Von wem denn?«

»Von Zeitschriften, Fernsehmagazinen und Instituten.«

»Interessant.«

»Nein, nur logisch. Die Konsequenz meiner Arbeit. Manchmal frage ich mich, ob Sie überhaupt verstehen, was Pressearbeit eigentlich ist.«

Bauer grinste verschmitzt. »Erklären Sie’s mir.«

»Gerne, wenn auch zum zehnten Mal. Aber erst erzählen Sie mir was.«

»Nein, das ist schlecht«, rief Bauer aufgeregt. »Wir müssen die Drifter zu Wasser lassen, und gleich danach muss ich dringend …«

»Danach müssen Sie tun, was Sie mir versprochen haben«, ermahnte ihn Weaver.

»Aber, Kind, ich bekomme ebenfalls Anfragen. Ich korrespondiere mit Wissenschaftlern in aller Welt! Sie glauben ja gar nicht, was die von mir wollen. Vorhin erhielt ich eine E-Mail, da fragt mich jemand nach einem Wurm. Ein Wurm, stellen Sie sich das mal vor! Und ob wir erhöhte Methankonzentrationen gemessen haben.

Natürlich haben wir das, aber wie kann er das wissen? Da muss ich doch …«

»Das kann ich alles übernehmen. Machen Sie mich zur Komplizin.«

»Sobald ich …«

»Falls Sie mich wirklich gern haben.«

Bauer machte runde Augen. »Ach so! Verstehe.« Er begann zu kichern. Die runden Schultern schüttelten sich vor unterdrücktem Lachen. »Sehen Sie, darum habe ich nie geheiratet, man wird ständig nur erpresst. Gut, ich gelobe Besserung. Jetzt kommen Sie, kommen Sie.«

Weaver folgte ihm. Der Drifter hing am Ausleger über der grauen Wasseroberfläche. Er war mehrere Meter lang und steckte in einem Stützgestell. Über die Hälfte der Konstruktion nahm eine schlanke schimmernde Röhre ein. Den oberen Teil bildeten zwei kugelförmige Glasbehälter.

Bauer rieb sich die Hände. Der Daunen-Anorak war ihm eindeutig zu groß. Er sah darin aus wie ein sonderbarer arktischer Vogel.

»Also, dieses Ding geben wir in die Strömung«, sagte er. »Es wird mittreiben, sozusagen als virtuelle Wasserpartikel. Erst mal steil nach unten, hier nämlich stürzt das Wasser, wie ich vorhin sagte … also, man sieht natürlich keinen Prozess des Sturzes, verstehen Sie, aber es stürzt … nun, wie soll ich das erklären?«

»Möglichst ohne Fremdwörter.«

»Gut, gut. Passen Sie auf! Im Grunde ist es ganz einfach. Man muss wissen, dass Wasser nicht immer gleich schwer ist. Das leichteste Wasser ist süß und warm. Salziges Wasser ist schwerer als süßes Wasser, je salziger, je schwerer. Salz hat schließlich ein Gewicht, nicht wahr? Kaltes Wasser ist wiederum schwerer als warmes Wasser, es hat eine höhere Dichte, also wird Wasser umso schwerer, je mehr es abkühlt.«

»Und kaltes, salziges Wasser ist das schwerste Wasser überhaupt«, ergänzte Weaver.

»Richtig, sehr richtig!«, freute sich Bauer. »Darum gibt es nicht einfach nur Meeresströmungen, sondern sie wälzen sich durch verschiedene Etagen. Warme Strömungen an der Oberfläche, die kältesten am Boden, und dazwischen haben wir die Tiefenströmungen. Nun ist es so, dass eine warme Strömung an der Oberfläche über tausende von Kilometern reisen kann, bis sie in kalte Gebiete vordringt, wo das Wasser dann natürlich abkühlt, nicht wahr? Und wenn das Wasser kälter wird …«

»Wird es schwerer.«

»Bravo, jawohl. Es wird schwerer und sinkt nach unten. Aus dem Oberflächenstrom wird ein Tiefenstrom oder gar ein Bodenstrom, und das Wasser fließt zurück. Umgekehrt funktioniert das genauso. Von unten nach oben, von kalt nach warm. Auf diese Weise sind alle großen Meeresströmungen auf der Welt ständig in Bewegung. Alle sind miteinander verbunden, es findet ein ständiger Austausch statt.«

Der Drifter wurde zur Meeresoberfläche hinuntergelassen. Bauer hastete zur Reling und beugte sich weit darüber. Dann drehte er sich um und winkte Weaver ungeduldig herbei. »Na, kommen Sie. Kommen sie schon. Hier sehen Sie es besser.« Sie trat neben ihn. Bauer sah mit leuchtenden Augen hinaus.

»Ich träume davon, dass solche Drifter in allen Strömungen mittreiben«, sagte er. »Das wäre wirklich phantastisch. Wir würden unglaublich viel erfahren.«

»Wofür sind die beiden Glaskugeln?«

»Wie? Was? Ach so. Auftriebskörper. Damit der Drifter in der Wassersäule schweben kann. Am Fuß hat er Gewichte, aber das Herzstück ist die Stange dazwischen. Darin sitzt alles. Steuerelektronik, Microcontroller, Energieversorgung. Aber auch ein Hydrokompensator. Ist das nicht phantastisch? Ein Hydrokompensator!«

»Es wäre noch phantastischer, wenn Sie mir erzählen, was das ist.«

»Oh, äh … natürlich.« Bauer zupfte an seinem Spitzbart. »Tja, wir haben überlegt, wie wir den Drifter … — Also, es ist ja so: Flüssigkeiten sind so gut wie inkompressibel, man kann sie nicht zusammenstauchen. Wasser bildet eine Ausnahme. Viel ist auch da nicht drin, aber ein bisschen können Sie es durchaus, ähm … quetschen. Und das tun wir. Wir komprimieren es in der Stange, sodass immer die gleiche Wassermenge darin ist, aber mal schwereres und mal leichteres Wasser. Damit verändert der Drifter bei gleichem Volumen sein Gewicht.«

»Genial.«

»In der Tat! Wir können ihn so programmieren, dass er das ganz von alleine macht: Kompression, Dekompression, Kompression, Dekompression, sinken, steigen, sinken, völlig ohne unser Zutun … hübsch, nicht?«

Weaver nickte. Sie sah zu, wie das lange Gebilde in die grauen Wellen tauchte.

»Der Drifter kann auf diese Weise Monate und Jahre autark im Meer treiben und akustische Signale abgeben. So können wir ihn orten und Geschwindigkeit und Verlauf von Strömungen rekonstruieren. — Ah, er taucht ab. Weg ist er.«

Der Drifter war im Meer verschwunden. Bauer nickte befriedigt.

»Und wohin treibt er nun?«, fragte Weaver.

»Das ist die spannende Frage.«

Weaver sah ihn einfach an. Bauers Blick flackerte, dann ließ er ein Seufzen der Resignation hören.

»Ich weiß, Sie wollen über meine Arbeit reden.«

»Und zwar jetzt.«

»Sie sind ein Quälgeist. Meine Güte, sind Sie hartnäckig. Also gut, gehen wir ins Labor. Aber ich muss Sie warnen. Die Ergebnisse meiner Arbeit sind beunruhigend, gelinde ausgedrückt ….«

»Die Welt liebt es, sich beunruhigen zu lassen. Haben Sie nicht gehört? Quallenseuchen, Anomalien, Menschen gehen verloren, eine Schiffskatastrophe jagt die nächste. Sie wären in bester Gesellschaft.«

»So?« Bauer schüttelte den Kopf. »Sie haben wahrscheinlich Recht. Ich werde nie genau verstehen, was Pressearbeit ist. Ich bin nur ein einfacher Professor. Es ist mir einfach zu hoch.«


Norwegische See, Kontinentalrand

»Scheiße«, stöhnte Stone. »Das ist ein Blowout!«

Im Kontrollraum der Sonne starrten alle fasziniert auf den Monitor. Die Hölle schien tief unten ausgebrochen zu sein.

Bohrmann sagte ins Mikrophon: »Wir müssen hier weg. Kommando an Brücke. Volle Fahrt.«

Lund drehte sich um und rannte aus dem Raum. Johanson zögerte, dann lief er ihr hinterher. Andere folgten. Hektik brach aus. Plötzlich schien jeder an Bord auf den Beinen zu sein. Er schlitterte auf das Arbeitsdeck, wo Matrosen und Techniker unter Lunds Kommando Kühltanks heranwuchteten. Das Windenkabel über dem Galgen erzitterte, als die Sonne plötzlich Fahrt aufnahm.

Lund sah ihn und kam zu ihm gelaufen.

»Was war das?«, rief Johanson.

»Wir sind auf eine Blase gestoßen. Komm!«

Sie zog ihn zur Reling. Hvistendahl, Stone und Bohrmann gesellten sich zu ihnen. Zwei der Statoil-Techniker waren an den abschüssigen Rand des Hecks getreten, direkt unter den Galgen, und sahen neugierig hinaus. Bohrmann warf einen Blick auf das straff gespannte Kabel.

»Was macht der denn da?«, zischte er. »Warum stoppt der Idiot die Winde nicht?«

Er ließ die Reling los und lief zurück ins Innere.

Im selben Moment begann das Meer wild zu schäumen. Große weiße Brocken brachen durch die Wasseroberfläche. Die Sonne fuhr jetzt mit voller Geschwindigkeit. Klirrend spannte sich die Zugleine des Greifers. Jemand lief über das Deck auf den Galgen zu und fuchtelte mit den Armen.

»Weg da«, schrie er die Statoil-Leute unter dem Galgen an. »Haut ab!«

Johanson erkannte ihn. Es war der Schäferhund, wie ihn die Crew nannte, der Erste Offizier. Hvistendahl drehte sich um. Auch er machte den Männern Zeichen. Dann geschah alles gleichzeitig. Mit einem Mal waren sie inmitten eines brausenden und zischenden Geysirs. Johanson sah die Umrisse des Greifers dicht unter der Wasseroberfläche auftauchen. Unerträglicher Schwefelgestank breitete sich aus. Das Heck der Sonne sackte abwärts, dann schoss das stählerne Maul schräg aus dem brodelnden Inferno heraus und bewegte sich wie eine überdimensionale Schaukel auf die Bordwand zu. Der hintere der beiden Statoil-Leute sah den Greifer kommen und warf sich zu Boden. Der andere riss entsetzt die Augen auf, machte einen unentschlossenen Schritt zurück — und taumelte. Mit einem Satz war der Schäferhund heran und versuchte ihn zu Boden zu ziehen, aber er war nicht schnell genug. Das tonnenschwere Maul krachte gegen den Mann und schleuderte ihn in hohem Bogen durch die Luft. Er flog mehrere Meter weit, schlitterte über die Planken und blieb auf dem Rücken liegen.

»Oh nein«, keuchte Lund. »Verdammter Mist!«

Sie und Johanson liefen gleichzeitig zu dem reglosen Körper. Der Erste Offizier und Mitglieder der Crew waren neben dem Mann auf die Knie gegangen. Der Schäferhund blickte kurz auf.

»Keiner fasst ihn an.«

»Ich will …«, begann Lund.

»Arzt holen, los.«

Lund kaute unruhig an ihren Nägeln. Johanson wusste, wie sehr sie es hasste, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Sie trat zu dem schlammtriefenden Greifer, der langsam auspendelte.

»Öffnen!«, rief sie. »Alles, was noch übrig ist, in die Tanks.«

Johanson sah aufs Wasser. Immer noch stiegen brodelnd und stinkend Blasen aus dem Meer. Allmählich wurden es weniger. Die Sonne gewann rasch Abstand. Die letzten Brocken des hochgeschwemmten Methaneises trieben auf den Wellen und zerfielen.

Quietschend öffnete der Greifer sein Maul und entließ zentnerweise Eis und Schlamm. Bohrmanns Laborleute und die Matrosen hasteten umher und versuchten, so viel Hydrat wie möglich im flüssigen Stickstoff zu versenken. Es dampfte und zischte. Johanson kam sich schrecklich nutzlos vor. Er drehte sich weg, ging hinüber zu Bohrmann und half ihm, die Brocken einzusammeln. Das Deck war übersät mit kleinen, borstigen Körpern. Einige zuckten und wanden sich und stülpten ihre Rüssel mit den Kiefern hervor. Die meisten schienen den raschen Aufstieg nicht überlebt zu haben. Der plötzliche Wechsel von Temperatur und Umgebungsdruck hatte sie getötet.

Johanson hob einen der Brocken auf und betrachtete ihn genauer. Das Eis war von Kanälen durchzogen. Leblose Würmer hingen darin. Er wendete den Brocken hin und her, bis ihn das Knistern und Knacken der zerfallenden Masse daran erinnerte, sie schnellstmöglich unter Verschluss zu bringen. Andere Brocken waren noch stärker durchlöchert, doch richtig begonnen hatte die Zersetzung offenbar erst unterhalb der Wurmkanäle. Kraterartige Zerstörungen klafften im Eis, teilweise bedeckt von schleimigen Fäden.

Was war damit geschehen?

Johanson vergaß die Kühlbehälter. Er zerrieb den Schleim zwischen den Fingern. Das Zeug sah aus wie Reste von Bakterienkolonien. Man fand Bakterienmatten auf der Oberfläche von Hydraten, aber was taten sie so tief im Innern der Eisklumpen?

Sekunden später hatte sich der Brocken zersetzt. Er sah sich um. Das Heck war zu einer schlammigen Pfütze geworden. Der Mann, den der Greifer erwischt hatte, war verschwunden. Auch Lund, Hvistendahl und Stone hatten das Deck verlassen. Johanson sah Bohrmann ein Stück weiter an der Reling lehnen und ging zu ihm hinüber.

»Was ist da eben passiert?«

Bohrmann fuhr sich über die Augen. »Wir hatten einen Blowout. Das ist passiert. Der Greifer ist über zwanzig Meter tief eingebrochen. Von unten kam freies Gas hoch. Haben Sie die riesige Blase auf dem Schirm gesehen?«

»Ja. Wie dick ist das Eis an dieser Stelle?«

»War, muss man wohl sagen. Siebzig bis achtzig Meter.

Mindestens.«

»Dann muss da unten alles in Trümmern liegen.«

»Offensichtlich. Wir sollten schleunigst herausfinden, ob das ein Einzelfall war.«

»Sie wollen weitere Proben entnehmen?«

»Natürlich«, knurrte Bohrmann. »Der Unglücksfall vorhin hätte nicht passieren dürfen. Der Mann an der Winde hat den Greifer weiterhin eingeholt, bei voller Fahrt. Er hätte die Winde stoppen müssen.« Er sah Johanson an. »Ist Ihnen was aufgefallen, als das Gas hochkam?«

»Ich hatte den Eindruck, dass wir wegsackten.«

»Schien mir auch so. Das Gas hat die Oberflächen spannung des Wassers herabgesetzt.«

»Sie meinen, wir hätten sinken können?«

»Schwer zu sagen. Schon mal was vom Hexenloch gehört?«

»Vor zehn Jahren fuhr mal einer hinaus und kehrte nicht zurück. Das letzte was man über Funk von ihm hörte, war, dass er sich einen Kaffee kochen wollte. Kürzlich hat ein Forschungsschiff das Wrack gefunden. 50 Seemeilen vor der Küste in einer ungewöhnlich tiefen Senke im Nordseeboden. Die Seeleute nennen die Gegend Hexenloch. Das Wrack weist keinerlei Schäden auf, und es liegt aufrecht auf dem Grund. Als sei es wie ein Stein gesunken — wie etwas, das nicht schwimmen kann.«

»Klingt nach Bermuda-Dreieck.«

»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Genau das ist die Hypothese. Die einzige, die einer näheren Prüfung standhält. Zwischen den Bermudas, Florida und Puerto Rico gibt es immer wieder heftige Blowouts. Wenn das Gas in die Atmosphäre aufsteigt, kann es sogar Flugzeugturbinen entzünden. Ein Methanblowout, um ein Vielfaches größer, als wir ihn eben hatten, und das Wasser wird so dünn, dass Sie einfach wegsacken.« Bohrmann deutete auf die Kühlbehälter. »Wir schicken das Zeug schnellstmöglich nach Kiel. Wir werden es analysieren, und danach werden wir definitiv wissen, was da unten los ist. Und wir werden es herausfinden, das verspreche ich Ihnen. Wir haben einen Mann verloren wegen dieser ganzen Scheiße.«

»Ist er …?« Johanson sah zu den Aufbauten des Hauptdecks hinüber.

»Er war sofort tot.«

Johanson schwieg.

»Wir werden die nächsten Proben mit dem Autoklav entnehmen, statt den Greifer einzusetzen. Das ist in jedem Fall sicherer. Wir müssen Klarheit erlangen. Ich habe keine Lust mitanzusehen, wie hier bedenkenlos Fabriken auf Grund gesetzt werden.« Bohrmann schnaubte und stieß sich von der Reling ab. »Aber das sind wir ja schon gewohnt, nicht wahr? Wir versuchen, die Welt zu erklären, und keiner hört richtig zu. Was passiert denn? Die Konzerne sind die neuen Auftraggeber der Forschung. Wir beide schippern hier herum, weil Statoil einen Wurm gefunden hat. Toll. Die Industrie bezahlt die Forscher, nachdem der Staat es nicht mehr kann. Von Grundlagenforschung keine Spur. Dieser Wurm wird nicht als Forschungsobjekt gesehen, sondern als Problem, das es aus der Welt zu schaffen gilt. Angewandte Forschung ist gefragt, und bitte schön so, dass man hinterher einen Freibrief in der Tasche hat. Aber vielleicht ist der Wurm ja gar nicht das Problem. Denkt ein Mensch darüber nach? Vielleicht ist es etwas völlig anderes, und indem wir das Problem beseitigen, schaffen wir ein viel größeres. — wissen Sie was? Manchmal könnte ich kotzen.«

Wenige Seemeilen nordöstlich holten sie schließlich ein Dutzend Bohrkerne aus dem Sediment, ohne dass es zu weiteren Zwischenfällen kam. Der Autoklav, eine fünf Meter lange Röhre mit Isoliermantel und Gestänge drum herum, zog den Kern wie eine Spritze aus dem Meeresboden. Noch unten wurde die Röhre durch Ventile hermetisch verschlossen. Im Innern befand sich damit ein kleines, ausgestanztes Universum: Sediment, Eis und Schlamm samt intakter Oberfläche, Meerwasser und siedelnden Lebewesen, die sich weiterhin wohl fühlten, weil die Röhre Temperatur und Druck aufrechterhielt. Bohrmann ließ die verschlossenen Röhren im Kühlraum des Schiffes aufrecht lagern, um das sorgfältig konservierte Innenleben nicht durcheinander zu bringen. An Bord konnten die Kerne nicht untersucht werden. Erst im Tiefseesimulator herrschten die richtigen Bedingungen. Bis dahin mussten sie sich damit zufrieden geben, Wasserproben zu analysieren und Monitore anzustarren.

Ungeachtet der Dramatik bekam selbst das ewig gleiche Bild der wurmübersäten Hydrate etwas Ermüdendes. Niemand verspürte Lust auf Konversation. Im blassen Licht der Bildschirme schienen sie selber zu verblassen, Bohrmanns Team, die Ölleute, die Matrosen. Der tote Statoil-Mann leistete den Bohrkernen im Kühlraum Gesellschaft. Das Rendezvous mit der Thorvaldson über dem Standort der geplanten Tiefseefabrik war abgesagt worden, um möglichst schnell Kristiansund zu erreichen, wo sie die Leiche übergeben und die Proben zum nahe gelegenen Flughafen verfrachten wollten. Johanson hockte im Funkraum oder in seiner Kammer und wertete die Rückmeldungen seiner Anfragen aus. Der Wurm war nirgendwo beschrieben, niemand hatte ihn gesehen. Einige der Schreiber gaben ihrer Meinung Ausdruck, es handle sich um den mexikanischen Eiswurm, womit sie dem Erkenntnisstand nichts Wesentliches hinzufügten.

Drei Seemeilen vor Kristiansund erhielt Johanson eine Antwort von Lukas Bauer. Die erste positive Rückmeldung, sofern man den Inhalt als positiv bezeichnen konnte.

Er las den Text und saugte an seiner Unterlippe.

Die Kontaktaufnahme zu den Energiekonzernen oblag Skaugen. Von Johanson erwartete man, Institute und Wissenschaftler zu befragen, die in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit Ölexplorationen standen. Aber Bohrmann hatte nach dem Unfall mit dem Greifer etwas gesagt, das die Sache in ein anderes Licht rückte.

Die Industrie bezahlt die Forscher, nachdem der Staat es nicht mehr kann.

Welche Institute konnten überhaupt noch frei forschen?

Wenn es zutraf, dass die Forschung zunehmend an den Tropf der Wirtschaft geriet, arbeiteten fast alle Institute in irgendeiner Weise den Konzernen zu. Sie finanzierten sich aus nichtöffentlichen Mitteln. Sie hatten gar keine andere Wahl, wenn sie nicht riskieren wollten, ihre Arbeit einstellen zu müssen. Selbst Geomar in Kiel sah einem finanziellen Engagement der Deutschen Ruhrgas entgegen, die am Institut eine Stiftungsprofessur für Gashydrate plante. So verführerisch es klang, mit Konzerngeldern forschen zu können, stand am Ende doch das Interesse der Sponsoren, Ergebnisse in buchbare Posten umzuwandeln.

Johanson las noch einmal Bauers Antwort.

Er war die Sache falsch angegangen. Anstatt in alle Welt hinauszurufen hätte er von vorneherein versteckte Verbindungen zwischen Forschung und Industrie unter die Lupe nehmen müssen. Während sich Skaugen dem Thema über die Konzernetagen näherte, konnte er versuchen, kooperierende Wissenschaftler auszufragen. Irgendeiner würde früher oder später den Mund aufmachen.

Das Problem war, derartigen Verbindungen auf die Spur zu kommen.

Nein, kein Problem. Fleißarbeit.

Er stand auf und verließ den Funkraum, um Lund zu suchen.


24. April

Vancouver Island und Clayoquot Sound, Kanada

Ballen, Ferse.

Anawak wippte ungeduldig auf den Füßen hin und her. Stellte sich auf die Zehen und ließ sich wieder zurückfallen. Abwechselnd. Unablässig. Ballen, Ferse. Ballen, Ferse. Es war früher Morgen. Der Himmel erstrahlte in stechendem Azur, ein Tag wie aus dem Reiseprospekt.

Er war nervös.

Ballen, Ferse. Ballen, Ferse.

Am Ende des hölzernen Piers wartete ein Wasserflugzeug. Sein weißer Rumpf spiegelte sich im Tiefblau der Lagune, gebrochen vom Kräuseln der Wellen. Die Maschine war eine jener legendären Beaver DHC-2, die das kanadische Unternehmen De Havilland erstmals vor über 50 Jahren gebaut hatte und die immer noch im Einsatz waren, weil danach nichts Besseres mehr auf den Markt gekommen war. Bis zu den Polen hatte es die Beaver geschafft. Sie war anspruchslos, robust und sicher.

Genau richtig für das, was Anawak vorhatte.

Er sah hinüber zum rotweiß gestrichenen Abfertigungsgebäude. Tofino Airport, nur wenige Autominuten vom Ort entfernt, hatte mit klassischen Flughäfen wenig gemein. Eher fühlte man sich an eine Fallensteller— oder Fischer-Siedlung erinnert. Ein paar niedrige Holzhäuser, malerisch an einer weitläufigen Bucht gelegen, gesäumt von baumbestandenen Hügeln, hinter denen sich die Berge emporreckten. Anawaks Blick suchte die Zufahrt ab, die von der Hauptstraße unter den Riesenbäumen zur Lagune führte. Die anderen mussten jeden Augenblick eintreffen. Er runzelte die Stirn, während er der Stimme lauschte, die aus seinem Mobiltelefon drang.

»Aber das ist zwei Wochen her«, erwiderte er. »In der ganzen Zeit war Mr. Roberts kein einziges Mal für mich zu sprechen, obwohl er ausdrücklich Wert darauf legte, dass ich ihn auf dem Laufenden halte.«

Die Sekretärin gab zu bedenken, Roberts sei nun mal ein viel beschäftigter Mann.

»Das bin ich auch«, bellte Anawak. Er hörte auf zu wippen und bemühte sich, freundlicher zu klingen. »Hören Sie, wir haben hier inzwischen Zustände, für die der Begriff Eskalation geschmeichelt ist. Es gibt klare Zusammenhänge zwischen unseren Problemen und denen von Inglewood. Auch Mr. Roberts wird das so sehen.«

Eine kurze Pause entstand. »Welche Parallelen sollten das sein?«

»Wale. Das ist doch offenkundig.«

»Die Barrier Queen hatte einen Schaden am Ruderblatt.«

»Ja sicher. Aber die Schlepper sind angegriffen worden.«

»Ein Schlepper ist gesunken, das ist richtig«, sagte die Frau in höflich desinteressiertem Tonfall. »Von Walen ist mir nichts bekannt, aber ich werde Mr. Roberts gerne ausrichten, dass Sie angerufen haben.«

»Sagen Sie ihm, es sei in seinem eigenen Interesse.«

»Er wird sich innerhalb der nächsten Wochen melden.«

Anawak stockte. »Wochen?«

»Mr. Roberts ist verreist.«

Was ist da bloß los, dachte Anawak. Mühsam beherrscht sagte er: »Ihr Boss hat außerdem versprochen, weitere Proben vom Bewuchs der Barrier Queen ins Institut nach Nanaimo zu schicken. Sagen Sie jetzt bitte nicht, auch davon wäre Ihnen nichts bekannt. Ich war selber unten und hab das Zeug vom Rumpf gepflückt. Es sind Muscheln und möglicherweise noch etwas anderes.«

»Mr. Roberts hätte mich darüber informiert, wenn …«

»Die Leute in Nanaimo brauchen diese Proben!«

»Er wird sich nach seiner Rückkehr darum kümmern.«

»Das ist zu spät! Hören Sie? — Ach, egal. Ich rufe wieder an.« Verärgert steckte er das Telefon weg. Über die Zufahrt kam Shoemakers Land Cruiser herangerumpelt. Kies knirschte unter den Reifen, als der Geländewagen auf den kleinen Parkplatz vor dem Abfertigungsgebäude einbog. Anawak ging ihnen entgegen.

»Ihr seid nicht gerade ein Muster an Pünktlichkeit«, rief er übellaunig.

»Mann, Leon! Zehn Minuten.« Shoemaker kam ihm entgegen, Delaware im Schlepptau und einen jungen, bulligen Schwarzen mit Sonnenbrille und rasiertem Schädel. »Sei nicht so verdammt kleinkariert. Wir mussten auf Danny warten.«

Anawak schüttelte dem Bulligen die Hand. Der Mann grinste freundlich. Er war Armbrustschütze in der Kanadischen Armee und offiziell zu Anawaks Verfügung abkommandiert worden. Seine Waffe, eine mit Hightech voll gestopfte Hochpräzisionsarmbrust, hatte er mitgebracht.

»Sie ham ‘ne schöne Insel hier«, sagte Danny gedehnt. Ein Kaugummi wanderte bei jedem seiner Worte im Mund herum und ließ die Worte klingen, als müssten sie sich ihren Weg durch Sumpfgebiet bahnen. »Was soll ich ‘n eigentlich machen?«

»Hat man Ihnen nichts gesagt?«, wunderte sich Anawak.

»Doch, schon. Ich soll mit ‘ner Armbrust auf’n Wal schießen. Hab mich nur gewundert. Dachte, so was wär verboten.«

»Ist es auch. Kommen Sie, ich erklär’s Ihnen im Flieger.«

»Warte mal.« Shoemaker hielt ihm eine aufgeschlagene Zeitung hin. »Schon gelesen?«

Anawak überflog die Schlagzeile.

»Der Held von Tofino ?«, sagte er ungläubig.

»Greywolf verkauft sich gut, was? Das Arschloch macht einen auf bescheiden in dem Interview, aber lies mal, was er weiter unten sagt. Du kriegst das Kotzen.«

»… habe nur meine Pflicht als kanadischer Bürger getan«, murmelte Anawak. »Natürlich waren wir in Todesgefahr, aber ich wollte wenigstens ein bisschen von dem wieder gutmachen, was mit verantwortungslosem Whale Watching angerichtet wurde. Unsere Gruppe hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die Tiere einem gefährlichen Stress ausgesetzt werden, dessen Auswirkungen unmöglich abzuschätzen sind. — Spinnt der denn komplett?«

»Lies weiter.«

»Davies Whaling Station ist sicher nicht der Vorwurf zu machen, dass sie sich falsch verhalten hätten. Aber sie haben sich eben auch nicht richtig verhalten. Profitabler Waltourismus unter dem Deckmäntelchen des Umweltschutzes ist nicht weniger schlimm als die Verlogenheit der Japaner, deren Flotten in arktischen Gewässern bedrohten Walarten nachstellen. Auch hier wird offiziell von wissenschaftlichen Zwecken gesprochen, obwohl 2002 über 400 Tonnen Walfleisch als Delikatesse in Großhandelsmärkten landeten, die nach genetischer Untersuchung eindeutig den so genannten wissenschaftlichen Forschungsobjekten zugeordnet werden konnten.«

Anawak ließ die Zeitung sinken. »Dieser Drecksack.«

»Stimmt es denn nicht, was er sagt?«, wollte Delaware wissen. »Soweit ich weiß, verscheißern die Japaner uns tatsächlich mit diesem angeblichen Forschungsprogramm.«

»Natürlich stimmt es«, schnaubte Anawak. »Das ist ja das Perfide. Greywolf bringt uns damit in Zusammenhang.«

»Ich weiß beim besten Willen nicht, was er damit erreichen will«, sagte Shoemaker kopfschüttelnd.

»Was schon? Sich wichtig machen.«

»Na ja, er …« Delawares Hände vollführten eine sachte Bewegung. »Ein Held ist er schon irgendwie.«

Es klang, als kämen die Worte auf Zehenspitzen daher. Anawak funkelte sie an. »Ach ja?«

»Doch, schon. Er hat Menschenleben gerettet. Ich find es ja auch nicht fair, dass er jetzt über euch herfällt, aber zumindest war er mutig und …«

»Greywolf ist nicht mutig«, knurrte Shoemaker. »Alles, was diese Ratte unternimmt, geschieht aus Berechnung. Aber diesmal hat er sich geschnitten. Er wird Ärger mit den Makah bekommen. Sie werden nicht gerade amüsiert sein, dass ihr selbst ernannter Blutsbruder so vehement gegen den Walfang zu Felde zieht. Stimmt’s, Leon?«

Anawak schwieg.

Danny bewegte seinen Kaugummi von rechts nach links.

»Wann geht’s ‘n los?«, fragte er.

Im selben Moment rief der Pilot ihnen aus der offenen Tür des Flugzeugs etwas zu. Anawak wandte den Kopf und sah den Mann winken. Er wusste, was das bedeutete. Ford hatte sich gemeldet. Es war so weit. Ohne auf Shoemakers letzte Äußerung einzugehen, schlug er dem Geschäftsführer auf die Schulter. »Wenn du zurück in die Station fährst, könntest du mir einen Gefallen tun?«

»Klar.« Shoemaker zuckte die Achseln. »Wir haben ja dank gewisser Umstände alle Zeit der Welt.«

»Kannst du rauskriegen, ob in den letzten Wochen was über die Havarie der Barrier Queen in den Zeitungen stand? Oder im Internet? Und ob was im Fernsehen kam?«

»Ja, natürlich. Warum denn?«

»Nur so.«

»Nur so gibt’s nicht.«

»Weil ich glaube, dass nichts berichtet wurde.«

»Hm.«

»Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. Du?«

Shoemaker legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in die Sonne. »Nein. Nur irgendwelches diffuses Zeug über Schiffskatastrophen in Asien. Muss aber nichts heißen. Ich hab aufgehört zu lesen, seitdem uns hier alles um die Ohren fliegt. — Aber du hast Recht. Wenn ich so drüber nachdenke, wird überhaupt wenig berichtet über den ganzen Schlamassel.«

Anawak starrte düster zu dem Flugzeug hinüber.

»Ja«, sagte er. »Gehen wir.«

Als die Maschine abhob, sagte Anawak zu Danny: »Sie schießen eine Sonde in den Blubber des Wals. Blubber ist der wissenschaftliche Begriff für die Speckschicht. Schmerzunempfindlich. Wir hatten jahrelang das Problem, Sender über längere Zeit auf Walhaut zu befestigen. Vor kurzem kam ein Biologe aus Kiel auf die Idee, eine Armbrust mit speziellen Pfeilen auszurüsten, an deren Schaft ein Sender und ein Messgerät befestigt sind. Die Spitze bohrt sich in den Speck, und der Wal trägt die Geräte ein paar Wochen spazieren, ohne es zu merken.«

Danny sah ihn an. »‘n Biologe aus Kiel? Sehr schön.«

»Sie glauben, es funktioniert nicht?«

»Doch. Ich frag mich nur, ob sich jemand bei dem Wal versichert hat, dass es wirklich nicht wehtut. Das ist ‘n verdammter Präzisionsjob. Woher wollen Sie wissen, ob die Spitze nicht doch tiefer eindringt als bis in den Speck?«

»Schweinehälften«, sagte Anawak.

»Schweinehälften?«

»Sie haben die Waffe an Schweinehälften getestet. So lange, bis sie genau wussten, wie tief die Spitze eindringt. Alles eine Frage der Berechnung.«

»Sieh mal an«, sagte Danny und hob die Brauen über den Rand seiner Sonnenbrille. »Biologen.«

»Und was passiert, wenn man damit auf einen Menschen feuert?«, fragte Delaware vom Rücksitz. »Dringt die Spitze dann auch nur ein Stück ein?«

Anawak drehte sich zu ihr um. »Ja. Ein Stück zu viel. Sie tötet ihn.«

Die DHC-2 flog eine Kurve. Unter ihnen funkelte die Lagune.

»Wir hatten am Ende verschiedene Optionen«, sagte Anawak. »Bei allen stand im Vordergrund, dass wir die Wale eine Zeit lang am Stück beobachten können. Die Armbrustbesondung erwies sich als sicherste Methode. Der Fahrtenschreiber speichert Herzfrequenz, Körper— und Umgebungstemperatur, Tiefe, Schwimmgeschwindigkeit und einiges mehr. Schwieriger ist es, Wale mit Kameras auszurüsten.«

»Warum können wir mit der Armbrust nich’ auch Kameras verschießen?«, fragte Danny. »Wär doch einfach.«

»Weil Sie nie wissen, wie die Kamera auftrifft. Außerdem würde ich die Wale gerne sehen. Ich möchte sie beobachten, und das geht nur, wenn die Kamera ein Stück weit weg ist statt auf ihnen drauf.«

»Darum setzen wir jetzt den URA ein«, erklärte Delaware. »Das ist ein neuartiger Roboter aus Japan.« Anawak verzog amüsiert die Lippen. Delaware klang, als habe sie das Gerät höchstpersönlich erfunden. Danny sah sich um. »Ich seh keinen Roboter.« »Er ist auch nicht hier.«

Das Flugzeug hatte offenes Meer erreicht und zog dicht über die Dünung hinweg. Normalerweise waren immer kleine Dampfer, Zodiacs oder Kajaks vor Vancouver Island unterwegs gewesen, aber selbst der Mutigste wagte sich nicht mehr nach draußen. Nur noch große Frachter und Fähren, denen die Wale nichts anhaben konnten, zogen weit draußen vorbei. So lag die Wasseroberfläche verödet da bis auf ein einziges bulliges Schiff. Es sah aus, als könne nichts und niemand es versenken, geschweige denn in anderweitige Schwierigkeiten bringen. Das Flugzeug entfernte sich vom Uferfelsen und hielt darauf zu.

»Der URA ist auf der Whistler. Dem Schlepper dort«, sagte Anawak. »Wenn es so weit ist, dass wir unseren Wal gefunden haben, kommt seine große Stunde.«

John Ford stand im Heck der Whistler und schirmte die Augen mit der Hand gegen das harte Sonnenlicht ab. Er sah die DHC-2 schnell näher kommen. Sekunden später zog das Flugzeug dicht über den Schlepper hinweg und flog eine großräumige Kurve.

Er hielt das Funkgerät an den Mund und rief Anawak auf der abhörsicheren Frequenz. Eine ganze Reihe von Frequenzen war für militärische und wissenschaftliche Zwecke gesperrt worden.

»Leon? Alles klar?«

»Ich höre dich, John. Wo hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Nordwestlich. Keine zweihundert Meter von uns. Vor etwa fünf Minuten hatten wir eine Reihe von Sichtungen, aber sie halten sich fern. Es müssen acht bis zehn Tiere sein. Zwei haben wir eindeutig identifiziert. Einer war am Angriff auf die Lady Wexham beteiligt, der andere hat letzte Woche einen Fischtrawler vor Ucluelet versenkt.«

»Sie haben nicht versucht, euch anzugreifen?«

»Nein. Wir sind ihnen offenbar zu groß.«

»Und untereinander? Wie verhalten sie sich untereinander?«

»Friedlich.«

»Gut. Wahrscheinlich alle von derselben Bande, aber wir sollten uns auf die Identifizierten konzentrieren.«

Ford schaute der DHC-2 hinterher, wie sie kleiner wurde, sich langsam schräg legte und in großem Bogen zurückkam. Sein Blick wanderte zur Brücke der Whistler. Das Schiff war ein Hochsee-Bergungsschlepper aus Vancouver und im Besitz eines privaten Unternehmens, über 63 Meter lang und fast 15 Meter breit. Mit einem Pfahlzug von 160 Tonnen gehörte die Whistler zu den stärksten Schleppern der Welt. Eindeutig zu groß und schwer, als dass ein Wal ihr hätte gefährlich werden können. Ford schätzte, dass nicht einmal der Sprung eines Buckelwals geradewegs ins Heck mehr bewirken würde als heftiges Schaukeln.

Dennoch fühlte er sich unwohl. Hatten die Wale anfangs alles angegriffen, was schwamm, so schienen sie mittlerweile sehr genau einschätzen zu können, wo sie Schaden anrichten konnten und wo nicht. Bis jetzt waren neben den omnipräsenten Orcas, Grau— und Buckelwalen auch Finnwale und Pottwale auf Schiffe losgegangen. Alle diese Tiere hatten offenbar fleißig dazugelernt. Den Schlepper würden sie nicht attackieren, so viel stand fest. Und genau das war es, was Ford am meisten beunruhigte. Eine Art Tollwut wäre nicht mit dieser wachsenden Fähigkeit zur Differenzierung einhergegangen. Er ahnte die Intelligenz hinter dem Handeln der Säuger, und er fragte sich, wie sie auf den Roboter reagieren würden.

Ford funkte die Brücke an. »Es geht los«, sagte er.

Über ihm kreiste die DHC-2.

Nach der Identifizierung diverser Angreifer anhand von Videos und Bildern hatten sie begonnen, aktiv nach den Tieren Ausschau zu halten. Seit drei Tagen fuhr der Schlepper die Route vor Vancouver Island ab. Am heutigen Morgen waren sie endlich fündig geworden. In einem Rudel Grauwale erkannten sie zwei Flukenmuster wieder, die sie auf Fotos und Videos von angreifenden Tieren gesehen hatten.

Ford fragte sich, ob sie überhaupt eine Chance bekämen, die Wahrheit rechtzeitig aufzudecken. Mit Schaudern dachte er an die lauter werdenden Stimmen aus den Fischereiverbänden und Reedereien, denen der sanfte Kurs des wissenschaftlichen Beirats nicht weit genug ging. Sie forderten den Einsatz militärischer Gewalt — ein paar tote Wale, und der Rest der Viecher würde schon einsehen, dass es keine gute Idee war, Menschen anzugreifen. Das Ansinnen war ebenso naiv wie gefährlich, weil es auf fruchtbaren Boden fiel. Tatsächlich verspielten die Meeressäuger augenblicklich auf inflationäre Weise den Kredit, um den Tierschützer und Ethiker so lange gerungen hatten. Noch trat der Krisenstab den Forderungen mit dem Argument entgegen, dass Gewalt nichts bewirke, solange man nicht die Ursache für die Verhaltensänderung der Tiere kenne. Allenfalls ließen sich Symptome bekämpfen. Ford wusste nicht, wie die Regierung in letzter Konsequenz entscheiden würde, aber dass Fischer und illegale Walfänger kurz davor standen, auf eigene Faust loszuziehen, zeichnete sich ab. Die allgemeine Ratlosigkeit angesichts der Frage, wie man vorgehen solle, wurde nur noch übertroffen von der Uneinigkeit der streitenden Parteien. Ein idealer Nährboden für Alleingänge.

Krieg auf dem Meer.

Ford betrachtete den Roboter im Heck.

Er war gespannt darauf, was der URA leisten würde, den sie so schnell und unbürokratisch aus Japan erhalten hatten. Seine Entwicklung lag nur wenige Jahre zurück. Die Japaner beharrten darauf, das Gerät diene der Forschung und nicht der Jagd. Westliche Umweltschützer vernahmen die Aussage mit Skepsis. Das drei Meter lange zylindrische Gebilde, dicht bestückt mit Messinstrumenten und hoch sensiblen Kameras, galt ihnen als Höllenmaschine, um ganze Walschulen aufzuspüren im Hinblick auf ein mögliches Ende des internationalen Walfangmoratoriums von 1986. Nachdem der URA vor den japanischen Kerama-Inseln erfolgreich Buckelwale geortet hatte und ihnen über einen längeren Zeitraum gefolgt war, hatte der Roboter auch auf dem Internationalen Meeres-säuger-Symposium in Vancouver Anklang gefunden. Doch das Misstrauen blieb. Es war kein Geheimnis, dass sich Japan systematisch die Unterstützung armer Länder erkaufte mit dem Ziel, das Moratorium aufheben zu lassen. Die japanische Regierung rechtfertigte den konspirativen Kuhhandel als ›Diplomatie‹ — dieselben Regierungsleute, die maßgeblich die Universität von Tokio subventionierten, zu der auch Lira’s Underwater Robotics amp; Application Laboratory Team gehörte, die den Roboter entwickelt hatten.

»Vielleicht tust du ja heute was Sinnvolles«, sagte Ford leise zu dem URA. »Rette deinen Ruf.«

Das Gerät funkelte in der Sonne. Ford trat an die Reling und spähte hinaus. Aus der Luft waren die Wale besser zu sehen, vom Schiff aus besser zu identifizieren. Nach einer Weile tauchten nacheinander einige Grauwale auf und pflügten durch die Wellen.

Die Stimme des Beobachtungspostens von der Brücke erklang im Funkgerät.

»Rechts hinter uns. Lucy.«

Ford wirbelte herum, hob den Feldstecher und sah gerade noch eine schartige, steingraue Fluke abtauchen.

Lucy!

Einer der Wale hieß so. Ein kapitaler Grauwal von 14 Metern Länge. Lucy hatte sich gegen die Lady Wexham geworfen. Vielleicht war es sogar Lucy gewesen, die den dünnwandigen Rumpf aufgerissen hatte, sodass Wasser eingedrungen und das Schiff voll gelaufen war.

»Bestätigt«, sagte Ford. »Leon?«

Über die isolierte Frequenz waren alle miteinander verbunden. Die Insassen der DHC-2 hörten, was an Bord der Whistler gesprochen wurde.

»Bestätigt«, sagte Anawak im Funkgerät.

Ford blinzelte in die Sonne und sah das Flugzeug tiefer gehen, wo die Fluken verschwunden waren.

»Na dann«, sagte er mehr zu sich selbst. »Waidmannsheil.«

Aus einhundert Metern Höhe wirkte selbst der wuchtige Schlepper wie ein liebevoll gebasteltes Modell. Dafür erschienen die Meeressäuger umso größer. Anawak sah mehrere Grauwale dicht unter der Wasseroberfläche dahinziehen, ruhig und gemächlich. Gebrochenes Sonnenlicht tanzte auf den kolossalen Körpern. Jedes der Tiere war vollständig zu sehen. Obwohl nur knapp ein Viertel so lang wie die Whistler, nahmen sie sich geradezu absurd gewaltig aus.

»Weiter runter«, sagte er.

Die DHC-2 ging tiefer. Sie zogen über das Rudel hinweg und näherten sich der Position, an der Lucy abgetaucht war. Anawak hoffte, dass der Wal nicht auf Fresstour gegangen war. In dem Fall würden sie lange warten müssen. Aber möglicherweise war es hier nicht seicht genug. Ebenso wie Buckelwale ernährten sich auch Grauwale auf ganz eigene Weise. Sie tauchten auf Grund und weideten die Sedimente ab, indem sie sich seitwärts drehten und bodenbewohnende Organismen in sich hineinsaugten, Kleinkrebse, Zooplankton und ihre Leibspeise, Fadenwürmer. Gewaltige Furchen solcher Fressorgien überzogen die Böden vor Vancouver Island, aber dafür verirrten sich die grauen Riesen selten in tiefere Gewässer.

»Gleich wird’s ein bisschen zugig«, sagte der Pilot. »Danny?«

Der Schütze grinste einmal in die Runde. Dann öffnete er die Seitentür und klappte sie zurück. Ein Schwall kalter Luft drang herein und wirbelte die Haare der Insassen durcheinander. Von einem Moment zum anderen wurde es brüllend laut im Innenraum. Delaware langte hinter sich und reichte Danny die Armbrust.

»Sie werden nicht viel Zeit haben«, sagte Anawak. Er musste laut sprechen, um gegen das Knattern des Windes und den Motorenlärm anzukommen. »Wenn Lucy auftaucht, bleiben ihnen nur wenige Sekunden, um die Sonde zu platzieren.«

»Wohl eher euer Problem als meines«, erwiderte Danny. Er schob sich, die Armbrust in der Rechten, aus dem Sitz, bis er halb im Gestänge unter dem Flügel saß. »Bringt mich einfach schön nah ran.«

Delaware schüttelte mit runden Augen den Kopf. »Ich kann nicht hinsehen.«

»Was?«, fragte Anawak.

»Das geht doch nicht. Ich seh ihn schon im Wasser liegen.«

»Keine Bange«, lachte der Pilot. »Die Jungs können noch ganz andere Sachen.«

Das Flugzeug schoss dicht über den Wellen dahin, jetzt knapp auf Augenhöhe mit der Brücke der Whistler. Sie überflogen die Stelle, an der Lucy abgetaucht war. Nichts war zu sehen.

»Kreisen«, rief Anawak dem Pilot zu. »Sehr eng. Lucy wird ziemlich genau dort wieder auftauchen, wo sie verschwunden ist.«

Die DHC-2 legte sich abrupt in die Kurve. Plötzlich schien das Meer auf sie zuzukippen. Danny hing wie ein Affe in den Stangen, eine Hand am Türrahmen, in der anderen die gespannte Armbrust. Unter ihnen zeichnete sich die Silhouette eines auftauchenden Wales ab. Dann durchbrach ein grauer, glänzender Buckel die Wasseroberfläche.

»Juchhu!«, brüllte Danny.

»Leon!« Das war Ford über Funk. »Das ist der Falsche.

Lucy schwimmt uns steuerbord voraus.«

»Verdammt!«, fluchte Anawak.

Er hatte sich verschätzt. Lucy war offenbar fest entschlossen, sich nicht an die Regel zu halten.

»Danny! Nicht.«

Das Flugzeug hörte auf zu kreisen und sank noch tiefer. Die Wellen jagten unter ihnen dahin. Sie näherten sich dem Heck des Schleppers. Einen Moment lang sah es aus, als flögen sie geradewegs in die aufragenden Bauten der Whistler hinein, dann korrigierte der Pilot den Kurs, und sie zogen dicht an dem klobigen Schiff vorbei. Ein Stück voraus tauchte Lucy erneut ab und ließ die Schwanzflosse sehen. Auch Anawak erkannte das Tier jetzt an den charakteristischen Kerben in der Fluke.

»Drosseln«, sagte er.

Der Pilot verringerte die Geschwindigkeit, aber natürlich waren sie immer noch zu schnell. Wir hätten einen Helikopter nehmen sollen, dachte Anawak. Jetzt würden sie übers Ziel hinausschießen und wieder wenden müssen, in der Hoffnung, dass der Wal sich ihren Blicken nicht entzogen hatte.

Aber Lucy war nicht in der Tiefe verschwunden. Ihr gewaltiger Körper glänzte im Sonnenlicht.

»Überholen, wenden, runter!«

Der Pilot nickte. »Und bitte nicht kotzen«, fügte er hinzu.

Er kippte das Flugzeug so plötzlich ab, dass es schien, als habe er es auf die Flügelspitze gestellt. Durch die offene Tür funkelte eine senkrechte Wand aus Wasser, beängstigend nah. Delaware schrie auf, während Danny mit seiner Armbrust vor Vergnügen johlte.

Jede Achterbahn stank dagegen ab.

Anawak erlebte den Moment wie in Zeitlupe. Nie hätte er für möglich gehalten, dass man ein Flugzeug praktisch wie einen Zirkel drehen konnte, wenn man sich die Flügelspitze als Nadel vorstellte. Die Maschine beschrieb einen perfekten Halbkreis und kippte ebenso unvermittelt zurück in die Waagerechte.

Mit dröhnendem Propeller hielt sie auf den Wal und die herannahende Whistler zu.

Ford beobachtete mit angehaltenem Atem, wie das Flugzeug nach dem haarsträubenden Wendemanöver zurückkam. Die Kufen berührten fast das Wasser. Schwach erinnerte er sich, dass Tofino Air auch einen ehemaligen Flieger der Canadian Air Force beschäftigte. Nun wusste er jedenfalls, welcher es war.

Der zylindrische Leib des URA hing jenseits der Reling am Heckkran des Schleppers. Sie waren bereit, das Gerät auszuklinken, sobald der Schütze den Sender platziert hatte. Deutlich war der graue Rücken des Wals zu erkennen. Er war nicht abgetaucht. Wal und Flugzeug bewegten sich rasch aufeinander zu. Ford sah Danny unter dem Flügel hocken und hoffte inständig, dass er die Sache mit einem Schuss erledigte.

Lucys Buckel schob sich durch die Wellen. Danny nahm die Armbrust hoch, ein Auge zusammen

gekniffen, die Hand am kalten Metall. Langsam krümmte sich sein Finger.

Mit voller Konzentration und unbewegter Miene drückte Danny den Abzug durch. Nur er hörte wohl in diesem Moment das leise Zischen, als der präparierte Pfeil dicht an seinem Ohr die Waffe mit über 250 Stundenkilometern verließ. Sekundenbruchteile später bohrten sich metallene Widerhaken in den Speck des Wals und drangen tief ein, ohne dass Lucy etwas davon mitbekam. Das Tier rundete seinen Rücken. Es tauchte. Der Sender stand in schrägem Winkel ab.

»Wir haben ihn!«, schrie Anawak ins Funkgerät.

Ford gab das Zeichen.

Der Kran entließ den Roboter aus seiner Verankerung. Er klatschte auf und versank in den Wellen.

Die Berührung mit dem Wasser löste augenblicklich einen Impuls aus, der die elektrischen Motoren aktivierte. Während das Gerät tiefer ging, bewegte es sich zugleich in Richtung des abgetauchten Wals. Sekunden nach der Wasserung war von dem URA nichts mehr zu sehen.

Ford ballte triumphierend die Fäuste. »Ja!«

Die DHC-2 knatterte an der Whistler vorbei. In den Flügelstreben reckte Danny aufheulend die Armbrust.

»Wir haben’s geschafft!«

»Klasse!«

»Ein Schuss und … Mann, hast du gesehen?

Unglaublich!«

»Wow!«

Im Flugzeug redeten alle wild durcheinander. Danny wandte ihnen den Kopf zu und grinste. Er begann sich wieder ins Innere zu ziehen. Anawak streckte die Hände aus, um ihm zu helfen, als er vor sich etwas aus dem Wasser wachsen sah.

Entsetzt verharrte er.

Ein Grauwal wuchtete sich empor, ein Tier im Sprung.

Rasend schnell kam der massige Leib näher.

Mitten in ihrer Flugbahn.

»Hochziehen!«, schrie Anawak.

Die Motoren heulten schmerzvoll auf. Danny kippte zurück, als das Flugzeug steil nach oben schoss. Kurz erhaschte Anawak einen Blick auf einen riesigen, narbigen Kopf, auf ein Auge, auf geschlossene Kiefer. Dann erhielt die Maschine einen fürchterlichen Schlag. Wo der rechte Flügel und Danny gewesen waren, bogen sich die Reste des Gestänges. Anawak versuchte irgendwo Halt zu finden, aber alles drehte sich, Delaware schrie, der Pilot schrie, er selber schrie, das Meer kam auf sie zu.

Etwas schlug ihm ins Gesicht. Eisig.

Dröhnen in seinen Ohren. Hohles Kreischen von brechendem Stahl.

Gischt.

Dunkles Grün.

Nichts mehr.

50 Meter tiefer stabilisierte der Bordcomputer den zylindrischen Leib des URA. Der Roboter tarierte sich aus und folgte dem Wal, der ihm am nächsten war. In einiger Entfernung, nur schattenhaft erkennbar im Zwielicht, waren weitere Tiere zu sehen. Das elektronische Auge des URA registrierte all dies, ohne dass der Computer den optischen Eindrücken fürs Erste Bedeutung beimaß.

Andere Funktionen traten in Kraft.

Trotz hervorragender optischer Sensorik lag die wahre Stärke des URA in der akustischen Erfassung. Hier hatte sein Schöpfer wahres Genie offenbart. Die akustischen Systeme ermöglichten es dem Roboter, den Meeressäugern über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Stunden zu folgen, ohne sie zu verlieren, wohin sie sich auch wendeten.

Er folgte ihren Gesängen.

Die vier Hydrophone des URA, hochsensible Unterwassermikrofone, erfassten in diesen Augenblicken nicht nur jeden Laut, den die Tiere von sich gaben, sondern auch deren Quellkoordinaten. Sie waren rund um den Leib des Roboters angeordnet. Als einer der Wale einen hohen, feinen Ton ausstieß, empfingen sie das Geräusch nacheinander statt gleichzeitig. Kein menschliches Ohr hätte die winzigen Zeitverzögerungen und damit verbundenen Abschwächungen registrieren können, nur ein Computer war dazu in der Lage. So traf der Schall als Erstes und am lautesten auf das Hydrophon, das der Quelle am nächsten lag, und dann der Reihe nach auf die drei anderen.

Als Folge erstellte der Computer einen virtuellen Raum und wies den Urhebern der Laute Koordinaten darin zu. Nacheinander füllte sich der Raum mit Positionsanzeigen von Walen, die sich in der Weise zueinander verschoben, wie auch die Tiere ihren Standort veränderten. Das Rudel wurde im Innern des Computers sozusagen nachgebaut.

Auch Lucy gab eine Reihe von Tönen von sich, als sie in der Tiefe verschwand. Im Rechner waren umfangreiche Datenmengen gespeichert, spezifische Laute von Walen und bestimmten Fischen bis hm zu den Stimmen einzelner Tiere. Der URA durchforstete seinen elektronischen Katalog, aber Lucy als Individuum tauchte dort nicht auf. Automatisch legte er eine Datei für die Laute der Koordinatengruppe an, die Lucy entsprach, verglich sie mit weiteren Koordinatengruppen, klassifizierte alle Tiere vor ihm als Grauwale und beschleunigte auf zwei Knoten, um ihnen ein Stück näher zu kommen.

Ebenso gründlich, wie er die Wale akustisch geortet und angepeilt hatte, ging der Roboter nun zur optischen Erfassung über. In seinen Datenbanken waren Flukenmuster und -silhouetten gespeichert, außerdem Finnen, Flipper und signifikante Körperstellen einzelner Individuen. Diesmal war der Maschine mehr Glück beschieden. Das elektronische Auge scannte die auf und ab schlagenden Fluken der Wale vor ihm und identifizierte schnell einen davon als Lucy. Kurz zuvor hatte man ihm sämtliche Daten der Wale, die an den Angriffen beteiligt gewesen waren, einprogrammiert, und darum wusste der Roboter nun, welchem Tier seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu gelten hatte.

Der URA korrigierte seinen Kurs um wenige Grade.

Walgesänge erlaubten Stimmkontakte über Distanzen von mehr als einhundert Seemeilen. Die Schallwellen bewegten sich im Wasser fünfmal schneller fort als in der Luft. Lucy mochte schwimmen, wie schnell und wohin sie wollte.

Er würde sie nicht mehr verlieren.


26. April

Kiel, Deutschland

Die eiserne Tür glitt zur Seite. Bohrmanns Blick erwanderte die gigantische Konstruktion des Simulators.

Der Tiefseesimulator schien die Natur auf ein menschenverträgliches Maß heruntergestutzt zu haben, ohne sie gleich ins Exil der bloßen Theorie zu schicken. Wenngleich im kleinen Maßstab, war das Meer beherrschbar geworden. Sie hatten sich eine Welt aus zweiter Hand geschaffen, eine jener idealisierten Kopien, wie sie den Menschen zunehmend vertrauter wurden als die Wirklichkeit: Wer wollte noch etwas über das wahre Leben im Mittelalter wissen, wenn Hollywood es auf seine Weise zeigte? Wen interessierte, wie ein Fisch starb, wie er blutete, aufgeschnitten und seine Eingeweide entnommen wurden, solange man auf Eis liegende Stücke kaufen konnte? Amerikanische Kinder malten Hühner mit sechs Beinen, weil Hühnerschenkel im Sechserpack angeboten wurden. Man trank Milch aus einem Pappkarton und ekelte sich vor dem Inhalt eines Euters. Das Weltempfinden verkrüppelte, und damit einher ging Arroganz. Bohrmann war begeistert von dem Simulator und seinen Möglichkeiten. Zugleich führte ihm der Tank vor Augen, wie blind Forschung zu werden drohte, wenn sie das Objekt ihrer Untersuchung nachbildete, anstatt es zu betrachten. Immer weniger ging es darum, den Planeten zu verstehen, als ihn sich zurechtzubiegen. Im bunten Disneyland der Missverständnisse erhielt menschliches Eingreifen neue, schreckliche Rechtfertigung. Jedes Mal, wenn er die Halle betrat, schoss Bohrmann derselbe Gedanke durch den Kopf: Nie werden wir in der Lage sein, Gewissheit über das Machbare zu erlangen, sondern immer nur über das, wovon wir besser die Finger lassen. Und davon wollen wir dann nichts hören. Zwei Tage nach dem Unfall auf der Sonne befand er sich wieder in Kiel. Die Bohrkerne und Kühlbehälter waren mit separater Eilfracht in die Obhut von Erwin Suess gelangt, der sich mit einem Team von Geochemikern und Biologen unverzüglich darangemacht hatte, die Ausbeute der Expedition zu untersuchen. Als Bohrmann im Institut eingetroffen war, hatten die Analysen schon begonnen. Seit vierundzwanzig Stunden versuchten sie unermüdlich, den Ursachen der Zersetzung auf die Spur zu kommen. Wie es aussah, waren sie fündig geworden. Der Simulator mochte die Wirklichkeit idealisieren, aber in diesem Fall hatte er vielleicht die Wahrheit über die Würmer ans Licht gebracht. Suess wartete am Monitorpult auf ihn. Er war in Begleitung Heiko Sahlings und Yvonne Mirbachs, einer Molekularbiologin, die auf Tiefseebakterien spezialisiert war.

»Wir haben eine Computersimulation angelegt«, sagte Suess. »Weniger für uns, sondern damit es jeder begreift.« »Es ist also nicht mehr alleine das Problem von Statoil«, sagte Bohrmann. »Nein.« Suess bewegte den Cursor auf dem Monitor und klickte ein Symbol an. Eine grafische Darstellung erschien. Sie zeigte einen Querschnitt durch einen einhundert Meter dicken Hydratdeckel und eine darunter liegende Gasblase. Sahling deutete auf eine dünne, dunkle Schicht an der Oberfläche.

»Das sind die Würmer«, sagte er.

»Gehen wir mal in die Vergrößerung«, sagte Suess.

Ein Ausschnitt der Eisoberfläche erschien. Die Würmer waren nun einzeln zu erkennen. Suess zoomte weiter auf, bis ein einzelnes Exemplar den Bildschirm fast ausfüllte. Es war grob stilisiert, einzelne Körperpartien grell eingefärbt.

»Das Rote sind Schwefelbakterien«, erläuterte Yvonne Mirbach. »Das Blaue Archäen.«

»Endo— und Ektosymbionten«, murmelte Bohrmann. »Der Wurm steckt voller Bakterien, und sie siedeln auf ihm.«

»Genau. Es sind Konsortien. Bakterien mehrerer Arten, die zusammenarbeiten.«

»Das war den Leuten, die Johanson hinzugezogen hatten, übrigens auch schon klar geworden«, fügte Suess hinzu. »Sie haben zentimeterdicke Gutachten über die symbiotische Lebensweise des Wurms verfasst. Aber sie haben nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Keiner hat sich die Frage gestellt, was diese Konsortien eigentlich tun. — Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, dass die Würmer das Eis destabilisieren, obwohl uns klar war, dass sie es gar nicht können. Aber es sind nicht die Würmer.«

»Die Würmer sind nur Transporter«, sagte Bohrmann.

»So ist es.« Suess klickte ein Symbol an. »Hier hast du die Antwort auf euren Blowout.«

Der stilisierte Wurm begann sich zu bewegen. Die Darstellung war sehr grob angelegt worden in der Kürze der Zeit. Es war eher eine Abfolge von Einzelbildern als ein Trickfilm. Die zangenartigen Kiefer klappten aus, und der Wurm begann sich ins Eis zu bohren.

»Jetzt pass auf.«

Bohrmann starrte auf die Bilder. Suess hatte die Darstellung wieder aufgezoomt. Mehrere Tiere waren zu sehen, die ihre Körper ins Hydrat trieben. Dann plötzlich …

»Mein Gott!«, sagte Bohrmann.

Es herrschte atemlose Stille.

»Wenn das überall am Kontinentalhang so läuft …«, begann Sahling.

»Tut es«, sagte Bohrmann tonlos. »Wahrscheinlich sogar zeitgleich. Mist, wir hätten schon an Bord der Sonne darauf kommen können. Die Hydratbrocken waren von Bakterien regelrecht verschleimt.«

Er hatte ungefähr erwartet, was er nun sah. Er hatte es befürchtet und zugleich gehofft, er möge sich irren. Aber die Wirklichkeit war noch viel schlimmer — wenn es die Wirklichkeit war.

»Was hier im Einzelnen geschieht, ist eigentlich bekannt«, sagte Suess. »Jedes der Phänomene ist für sich betrachtet nichts Neues. Das Neue entsteht im Zusammenwirken. Sobald man alle Komponenten in Beziehung zueinander setzt, wird die Zersetzung der Hydrate offenkundig.« Er gähnte. Es wirkte seltsam unpassend angesichts der schrecklichen Bilder, aber keiner von ihnen hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden ein Auge zugetan. »Mir ist nur keine Erklärung dafür eingefallen, warum die Würmer überhaupt da sind.«

»Mir auch nicht«, sagte Bohrmann. »Und ich denke schon länger darüber nach als du.«

»Und wen informieren wir jetzt?«, fragte Sahling.

»Hm.« Suess legte den Finger an die Oberlippe. »Wie war das noch? Die Angelegenheit ist vertraulich, richtig?

Wir müssten also erst mal Johanson ins Bild setzen.« »Warum nicht gleich Statoil?«, schlug Sahling vor. »Nein.« Bohrmann schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall.« »Du glaubst, die kehren es unter den Tisch?« »Johanson ist die bessere Option. Wie ich ihn einschätze, ist er neutraler als die Schweiz. Wir sollten ihm die Entscheidung überlassen, wann …«

»Es bleibt keine Zeit, jemandem was zu überlassen«, unterbrach ihn Sahling. »Wenn die Simulation auch nur annähernd wiedergibt, was am Hang passiert, müssten wir streng genommen die norwegische Regierung verständigen.«

»Dann gleich auch sämtliche Nordseestaaten!«

»Gute Idee. Nimm Island dazu.«

»Augenblick mal!« Suess hob die Hände. »Wir führen hier doch keinen Kreuzzug.« »Darum geht’s nicht.« »Darum geht es wohl. Noch ist es nur eine Simulation.« »Schon, aber …« »Nein, er hat Recht«, unterbrach ihn Bohrmann. »Wir können nicht die Pferde scheu machen, einfach damit es jeder weiß. Wir wissen es ja selber nicht genau. Ich meine, wir wissen, wie es sich abspielt, aber die Resultate sind Hochrechnungen. Augenblicklich können wir lediglich sagen, dass große Mengen Methan in die Atmosphäre gelangen werden.«

»Träumst du?«, rief Sahling. »Wir wissen verdammt genau, was passieren wird.« Bohrmann betastete unwillkürlich die Stelle, an der sein Schnurrbart nachwuchs. »Na gut. Wir können es veröffentlichen. Es reicht für ein Dutzend Titelseiten. Aber was wären die Folgen?«

»Was sind die Folgen«, sinnierte Suess, »wenn in der Zeitung steht, dass die Erde von einem Meteoriten getroffen wird?«

»Hältst du den Vergleich für treffend?«

»Irgendwie schon.«

»Ich bin der Meinung, wir sollten das nicht alleine entscheiden«, sagte Mirbach. »Gehen wir schrittweise vor. Zuallererst reden wir mit Johanson. Er ist schließlich der Kontaktmann. Außerdem, wenn wir es aus rein wissenschaftlicher Warte betrachten, gebührt ihm die Ehre.«

»Welche Ehre?«

»Er hat die Würmer entdeckt.«

»Nein, Statoil hat sie entdeckt. Aber meinetwegen. Johanson die Ehre. Und dann?«

»Holen wir die Regierungen ins Boot.« »Und veröffentlichen die Sache?« »Warum denn nicht? Alles wird veröffentlicht. Wir wissen von koreanischen und iranischen Nuklearprogrammen und dass irgendwelche Idioten Milzbranderreger freisetzen. Wir wissen alles über BSE, über die Schweinepest und über genmanipuliertes Gemüse. In Frankreich erkranken und sterben die Leute gerade zu Dutzenden und Hunderten an irgendwelchen Bakterien aus verseuchten Schalentieren. Herrgott, die rennen ja nicht gleich in die Berge, um sich zu verstecken.«

»Nein«, sagte Bohrmann. »Natürlich nicht. Aber wenn wir öffentlich über einen Storegga-Effekt nachdenken …« »Dafür sind die Daten zu oberflächlich«, sagte Suess. »Die Simulation zeigt, wie schnell die Zersetzung voranschreitet. Damit zeigt sie auch alles Weitere.«

»Aber sie sagt nicht definitiv, was dann passiert.«

Bohrmann setzte zu einer Antwort an, aber Suess hatte Recht. Sie konnten sich denken, was passierte, aber sie konnten es nicht beweisen. Wenn sie jetzt damit rauskamen, ohne dass ihre Theorie hieb— und stichfest war, würde die Öl-Lobby alles runterreden. Ihre Argumentation würde zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Es war zu früh.

»Also gut«, sagte er. »Wie lange brauchen wir, um ein verbindliches Ergebnis vorzulegen?«

Suess runzelte die Stirn. »Eine weitere Woche, denke ich.«

»Das ist verdammt lang«, sagte Sahling.

»Na, hör mal!« Mirbach schüttelte entgeistert den Kopf. »Das ist verdammt schnell. Wenn du heute ein taxonomisches Urteil über einen neuen Wurm einholen willst, kannst du dich auf monatelanges Däumchendrehen einrichten, und wir …«

»Das ist in der gegebenen Situation verdammt lang.«

»Trotzdem«, beschied Suess. »Falscher Alarm bringt nichts. Wir machen weiter.«

Bohrmann nickte. Er konnte den Blick nicht vom Monitor lösen. Die Simulation war zu Ende. Dennoch ging sie weiter. Sie setzte sich fort vor seinem geistigen Auge, und was er sah, ließ ihn schaudern.


29. April

Trondheim, Norwegen

Sigur Johanson betrat Olsens Büro. Er machte die Türe hinter sich zu und setzte sich dem Biologen gegenüber. »Hast du Zeit?«

Olsen grinste. »Ich habe mich für dich krumm gelegt«, sagte er.

»Was hast du rausgefunden?«

Olsen senkte verschwörerisch die Stimme. »Womit sollen wir anfangen? Monstergeschichten? Naturkatastrophen?«

Er machte es spannend. Auch gut.

»Womit willst du denn anfangen?«

»Na ja.« Olsen blinzelte ihn listig an. »Wie wäre es, wenn zur Abwechslung du mal anfängst? Warum sagst du mir nicht, wozu ich tagelang den Watson für dich spiele — Holmes!«

Johanson fragte sich erneut, wie viel er Olsen erzählen konnte. Ihm war klar, dass sein Gegenüber vor Neugierde platzte. Ihm selber wäre es nicht anders gegangen. Aber dann würde es binnen weniger Stunden die komplette NTNU wissen.

Plötzlich kam ihm eine Idee. Sie klang abwegig genug, um glaubhaft zu sein. Olsen würde ihn für bescheuert halten, aber damit ließ sich leben. Er senkte die Stimme ebenfalls und sagte: »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, als Erster mit einer Theorie rauszukommen.«

»Nämlich.«

»Alles ist gesteuert.«

»Was?«

»Ich meine, diese Anomalien. Die Quallen. Das Verschwinden der Boote. Die Todes— und Vermisstenfälle. Mir kam einfach die Idee, dass es zwischen alldem einen höheren Zusammenhang gibt.«

Olsen sah ihn verständnislos an. »Nennen wir es eine höhere Planung.« Johanson lehnte sich zurück, um zu sehen, wie Olsen den Brocken schluckte. »Und was willst du damit erreichen? Bist du auf den Nobelpreis aus oder auf einen Platz in der Geschlossenen?« »Weder noch.« Olsen starrte ihn weiter an. »Du verarschst mich.« »Nein.« »Doch. Du redest von … was weiß ich? Vom Teufel?

Finsteren Mächten? Grünen Männchen? Akte X?« »Es ist nur ein Gedanke. Ich meine, es muss einen Zusammenhang geben, oder? Alle möglichen Phänomene ergeben sich zur gleichen Zeit, hältst du das für einen Zufall?« »Ich weiß nicht.« »Siehst du. Du weißt es eben nicht. Ich auch nicht.« »Welche Art Zusammenhang stellst du dir denn vor?« Johansons Hände zerteilten sachte die Luft. »Das kommt nun wieder darauf an, was du zu bieten hast.« »Ach so.« Olsen verzog die Mundwinkel. »Schön hingedrechselt. Du bist doch kein Idiot, Sigur. Da ist doch noch mehr.«

»Erzähl mir was, dann sehen wir weiter.«

Olsen zuckte die Achseln, öffnete eine Schublade und zog einen Packen Papier hervor. »Die Internet-Ausbeute«, sagte er. »Wenn ich nicht so ein gottverdammter Pragmatiker wäre, könnte ich glatt auf die Idee kommen, den Quatsch zu glauben, den du da verzapfst.«

»Also, was gibt’s?«

»Alle Strände Mittel— und Südamerikas sind inzwischen gesperrt. Die Menschen gehen nicht mehr ins Wasser, und die Quallen verstopfen den Fischern die Netze. Costa Rica, Chile und Peru sprechen von einem apokalyptischen Gequabbel. Nach der Portugiesischen Galeere ist eine weitere Art aufgekreuzt, sehr klein, mit extrem langen und giftigen Tentakeln. Anfangs hielt man sie für Seewespen, aber es sieht eher nach ganz was anderem aus. Eine neue Art vielleicht.«

Schon wieder eine neue Art, dachte Johanson. Nie gesehene Würmer, nie gesehene Quallen …

»Und die Seewespen vor Australien?«

»Das gleiche Theater.« Olsen wühlte in seinem Papier

stapel. »Werden immer mehr. Katastrophe für die Fischer, und der Tourismus liegt sowieso auf der Schnauze.«

»Was ist mit den Fischen in der Gegend? Gehen ihnen die Quallen nicht zu Leibe?«

»Verschwindibus.«

»Wie bitte?«

»Es sind keine mehr da. Vor den betroffenen Küsten sind die großen Schwärme einfach verschwunden. Die Mannschaften von Trawlern behaupten, sie hätten ihre angestammten Gebiete verlassen und seien aufs offene Meer hinausgeschwommen.«

»Aber da finden sie keine Nahrung.«

»Vielleicht gehen sie auf Diät. Was weiß denn ich?«

»Und niemand hat eine Erklärung?«

»Überall sind Krisenstäbe eingerichtet worden«, sagte Olsen. »Aber du erfährst nichts. Ich hab’s versucht.«

»Soll heißen, es ist alles noch viel schlimmer.«

»Vielleicht.« Olsen zog ein Blatt aus dem Stapel. »Wenn du dir diese Liste ansiehst, findest du fett aufgemachte Pressemeldungen, die wenig später einfach nicht mehr thematisiert werden. Quallen vor der westafrikanischen Küste. Möglicherweise auch vor Japan, ganz sicher auf den Philippinen. Verdacht auf Todesfälle, dann Dementi, dann Schweigen im Walde. Aber pass auf. Jetzt wird’s erst richtig spannend. Es gibt da eine Alge, sie geistert schon seit einigen Jahren durch die Medien. Eine Killeralge, Pfiesteria piscicida. Kaum einzudämmen, wenn du sie am Hals hast. Macht Menschen und Tiere krank. Bis heute wütete sie vorzugsweise jenseits des Atlantiks, aber neuerdings scheint Frankreich betroffen. Und zwar nicht zu knapp.«

»Tote?«

»Durchaus. Die Franzosen sprudeln nicht gerade über, was Stellungnahmen angeht, aber offenbar ist die Alge mit Hummern ins Land gelangt. Da steht alles drin, ich hab’s dir rausgesucht.«

Er schob Johanson einen Teil des Packens hinüber.

»Dann das Verschwinden von Booten. Inzwischen gibt es eine Reihe aufgezeichneter Notrufe, aber die meisten ergeben keinen Sinn. Sie brechen zu früh ab. Was immer passiert ist, muss sehr schnell gegangen sein.« Olsen wedelte mit einem weiteren Blatt. »Aber wer wäre ich, wenn ich nicht mehr wüsste als der Rest der Menschheit?

Drei dieser Notrufe gelangten ins Netz.«

»Und?«

»Irgendwas hat die Boote angegriffen.«

»Angegriffen?«

»In der Tat.« Olsen rieb sich die Nase. »Wasser auf die Mühle deiner Verschwörungstheorie. Das Meer erhebt sich gegen den Menschen, wie unanständig von dem lausigen Gewässer. Wo wir doch bloß ein bisschen Müll versenken und die Fische und die Wale ausrotten. Ach, apropos Wale — das Letzte, was ich hörte, war, dass sie im Ostpazifik massiv auf Schiffe losgehen. Angeblich traut sich niemand mehr raus.«

»Weiß man …«

»Frag nicht so blöde. Nein, man weiß nicht. Man weiß gar nichts. Gott, war ich fleißig! Ebenfalls kein Aufschluss über die Ursache der Kollisionen und Tankerkatastrophen. Totale Nachrichtensperre. Deine Theorie hat insofern was für sich, als fast jedes Mal offen über die Dinge berichtet wird, und mittendrin breitet jemand den Mantel des Schweigens darüber. Vielleicht doch Akte X?« Olsen runzelte die Stirn. »Jedenfalls zu viele Quallen, zu viele Fische, alles tritt irgendwie überdimensioniert auf.«

»Und niemand hat eine Idee, woher es kommt?«

»Niemand versteigt sich offiziell zu der Annahme, es könne miteinander in Zusammenhang stehen, so wie du. Am Ende werden die Krisenstäbe El Niño verantwortlich machen oder die Erderwärmung, und die Invasionsbiologie bekommt Aufwind, und sie veröffentlichen spekulative Artikel.«

»Die üblichen Verdächtigen.«

»Ja, aber es ergibt alles keinen Sinn. Quallen, Algen und ähnliches Viehzeug sind schon vor Jahren im Ballastwasser von Schiffen um die Welt gereist. Wir kennen die Phänomene.«

»Schon klar«, sagte Johanson. »Siehst du, darauf will ich hinaus. Wenn irgendwo Horden von Seewespen einfallen, ist das eine Sache. Wenn rund um den Globus die unwahrscheinlichsten Dinge gleichzeitig passieren, ist das ganz was anderes.«

Olsen legte die Fingerspitzen aufeinander und sah nachdenklich drein. »Also, wenn du unbedingt Zusammenhänge herstellen willst, würde ich nicht von biologischen Invasionen sprechen. Sondern eher von Verhaltensanomalien. Das sind Angriffsmuster. Und zwar solche, wie man sie bislang nicht kannte.«

»Sonst hast du nichts rausgefunden über irgendwelche neuen Spezies?«

»Du lieber Gott. Reicht das nicht?«

»Ich frage ja nur.«

»Was schwebt dir denn vor?«, fragte Olsen gedehnt.

Wenn ich jetzt nach Würmern frage, dachte Johanson, weiß er Bescheid. Er weiß zwar nicht, was er mit der Information anfangen soll, aber ihm wird augenblicklich klar sein, dass irgendwo auf der Welt Wurminvasionen stattfinden.

»Nichts Konkretes«, sagte er.

Olsen sah ihn scheel an. Dann reichte er ihm den restlichen Packen Papier hinüber. »Erzählst du mir bei Gelegenheit, was du mir ganz offensichtlich nicht erzählen willst?«

Johanson nahm die Ausdrucke und erhob sich. »Wir trinken einen drauf.«

»Klar doch. Wenn ich mal Zeit habe. Du weißt, mit der Familie …«

»Danke, Knut.«

Olsen zuckte die Achseln. »Keine Ursache.«

Johanson trat hinaus auf den Flur. Aus einem Hörsaal strömten Studenten an ihm vorbei, einige lachend und schwatzend, andere mit angestrengten Gesichtern.

Er blieb stehen und sah ihnen nach.

Plötzlich kam ihm die Idee, alles sei gesteuert, gar nicht mehr so abwegig vor.


Vor Svalbard, Spitsbergen, Grönländische See

Auf dem Wasser lag das Mondlicht.

Es war ein Anblick, der die Mannschaft an Deck trieb, so atemberaubend schön präsentierte sich das Eismeer in dieser Nacht. Selten sah man es so, aber Lukas Bauer bekam nichts davon mit. Er saß in seiner Kammer über seinen Unterlagen und kam sich vor wie jemand, der die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen sucht, nur dass der Heuhaufen die Größe zweier Meere besaß.

Karen Weaver hatte ihre Sache gut gemacht und ihn wirklich entlastet, aber vor zwei Tagen war sie im spitsbergischen Longyearby von Bord gegangen, um dort Recherchen anzustellen. Sie führte ein unruhiges Leben, wie Bauer fand, obschon sein eigenes nicht eben ruhiger verlief. Als Wissenschaftsjournalistin hatte sie sich vor allem auf marine Themen verlegt. Bauer vermutete, dass Weavers Berufswahl einzig dem Umstand zu verdanken war, dass sie auf diese Weise kostenlos in die unwirtlichsten Regionen der Welt reisen konnte. Sie liebte das Extreme. Darin unterschied sie sich von ihm, der das Extreme von Herzen verabscheute, jedoch von solchem Forscherdrang besessen war, dass ihm Erkenntnis über Bequemlichkeit ging. Viele Forscher waren so. Missverstanden als Abenteurer, nahmen sie das Abenteuer in Kauf, um in den Besitz von Wissen zu gelangen.

Bauer vermisste einen bequemen Sessel, Bäume und Vögel und ein frisch gezapftes deutsches Bier. Vor allem aber vermisste er Weavers Gesellschaft. Er hatte das störrische Mädchen ins Herz geschlossen, und außerdem begann er, den Sinn und Zweck von Pressearbeit zu begreifen — dass man sich, wenn man eine breite Öffentlichkeit für die eigene Tätigkeit interessieren wollte, auf ein vielleicht nicht hoch präzises, dafür jedoch verständliches Vokabular verlegen musste. Weaver hatte ihm klargemacht, dass viele Menschen seine Arbeit schon darum nicht verstehen würden, weil sie gar nicht wussten, wie und wo der Golfstrom entsprang, um den sich alles drehte, was er in diesen Tagen unternahm. Er hatte das nicht glauben können. Er hatte auch nicht glauben können, dass keiner wusste, was ein Autarker Drifter war, bis Weaver ihn davon überzeugte, dass es kaum jemand wissen konnte, weil Drifter viel zu neu und zu speziell waren. Das hatte er schließlich akzeptiert. Aber der Golfstrom! Was lernten die Kinder bloß in der Schule?

Doch Weaver hatte Recht. Schließlich wollte er die Öffentlichkeit gewinnen, um sie teilhaben zu lassen an seiner Sorge, und um den Verantwortlichen Druck zu machen.

Und Bauer sorgte sich sehr.

Seine Sorge entsprang im Golf von Mexiko. Dorthin strömte entlang der südamerikanischen Küste und vom Süden Afrikas her warmes Oberflächenwasser. In der Karibik wurde es aufgeheizt und floss weiter nach Norden. Einladend warmes Wasser, zwar ziemlich salzig, aber weil es so warm war, blieb es an der Oberfläche.

Dieses Wasser bildete Europas Fernheizung, den Golfstrom. Bis Neufundland wälzte er sich und transportierte dabei eine Milliarde Megawatt Wärme, was der thermischen Leistung von 250000 Kernkraftwerken entsprach, wo ihm der kalte Labradorstrom in die Seite fiel und ihn auflöste. Dabei wurden sogenannte Eddies abgeschnürt, kreisende, warme Wassermassen, die weiter nach Norden trieben, nun Nordatlantische Drift genannt. Westwinde sorgten dafür, dass reichlich Wasser verdunstete, was Europa ergiebige Regenfälle bescherte und zugleich den Salzgehalt in die Höhe trieb. Die Drift zog weiter die norwegische Küste hoch, firmierte dort als Norwegenstrom und brachte immer noch genug Wärme in den äußersten Nordatlantik, dass Schiffe selbst im Winter Südwestspitsbergen anlaufen konnten. Erst zwischen Grönland und Nordnorwegen endete der Wärmezufluss. Hier stieß der Norwegenstrom alias Nordatlantische Drift alias Golfstrom auf eiskaltes Arktiswasser, das ihn, unterstützt von kalten Winden, rapide abkühlte. Das ohnehin sehr salzige, nun auch sehr kalte Wasser wurde schwer und sackte ab. So schwer wurde es, dass seine Massen steil in die Tiefe stürzten. Das geschah nicht auf ganzer Front, sondern in Kanälen, sogenannten Schloten, die je nach Wellengang ihre Position wechselten und darum nicht auf Anhieb zu finden waren. Sinkschlote hatten einen Durchmesser zwischen 20 und 50 Metern. Etwa zehn von ihnen kamen auf einen Quadratkilometer, aber wo genau sie lagen, hing von der Tagesform des Meeres und der Winde ab. Entscheidend war der ungeheure Sog, den die absinkenden Wassermassen erzeugten. Hierin lag das ganze Geheimnis des Golfstroms und seiner Ausläufer. Er floss nicht wirklich nach Norden, sondern wurde dorthin gezogen, angesaugt von der gewaltigen Pumpe unterhalb der Arktis. In 2000 bis 3000 Metern Tiefe trat das eisige Wasser dann seinen Rückweg an, eine Reise, die es einmal um den Erdball führte.

Bauer hatte eine Reihe von Driftern ausgesetzt in der Hoffnung, dass sie dem Verlauf der Schlote folgen würden. Aber inzwischen drohte ihn der Mut zu verlassen, überhaupt auf Schlote zu stoßen. Überall hätten sie sein müssen. Stattdessen schien die große Pumpe ihren Betrieb eingestellt oder in unbekannte Regionen verlegt zu haben.

Bauer war hier, weil er um diese Probleme wusste und um ihre Auswirkungen. Er hatte nicht erwartet, alles in bester Ordnung vorzufinden. Aber gar nichts vorzufinden hatte er noch viel weniger erwartet.

Und es bereitete ihm wirklich sehr, sehr große Sorgen.

Er hatte Weaver seine Sorgen mitgeteilt, bevor sie von Bord gegangen war. Seither mailte er ihr folgsam in regelmäßigen Abständen Statusberichte und ließ sie an seinen geheimsten Befürchtungen teilhaben. Schon vor Tagen hatte sein Team festgestellt, dass die Gaskonzentrationen im Nordmeer sprunghaft angestiegen waren, und er brütete über der Frage, ob es womöglich einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der Sinkschlote gab.

Jetzt, allein in seiner Kammer, war er dessen fast sicher.

Er arbeitete ohne Pause, während die Polarnacht hart gesottene Seeleute dazu brachte, einfach an der Reling zu lehnen und hinauszusehen. Mit rundem Rücken saß er über Stapeln von Berechnungen, Ausdrucken mit Diagrammen und Karten. Zwischendurch schickte er eine E-Mail an Karen Weaver, einfach um Hallo zu sagen und sie mit seinen letzten Erkenntnissen vertraut zu machen.

So versunken war er in seine Arbeit, dass er es eine ganze Weile schaffte, das Zittern zu ignorieren — so lange, bis der Becher Tee auf seinem Schreibtisch zur Kante gewandert war und sich im Kippen auf seine Hose ergoss.

»Teufel auch!«, zeterte er. Der Tee lief heiß in seinen Schritt und an den Schenkeln herab. Er schob den Stuhl zurück und stand auf, um das Malheur näher in Augenschein zu nehmen.

Dann verharrte er, die Hände um die Stuhllehnen gekrallt, und horchte hinaus.

Täuschte er sich?

Nein, er hörte Schreie. Schwere Stiefel rannten über das Deck. Irgendetwas ging da draußen vor sich. Das Zittern wurde heftiger. Das Schiff verfiel in Vibrationen, und plötzlich hebelte ihn etwas aus dem Gleichgewicht. Ächzend stolperte er gegen seinen Schreibtisch. Im nächsten Moment sackte der Boden unter ihm weg, als ob das komplette Schiff in ein Loch fiele. Bauer wurde rücklings zu Boden geschleudert. Angst nahm Besitz von ihm, tiefe, schreckliche Angst. Er rappelte sich auf und taumelte aus seiner Kammer hinaus auf den Gang. Lautere Schreie drangen an sein Ohr. Die Maschine wurde angeworfen. Jemand brüllte etwas auf Isländisch, das Bauer nicht verstand, weil er nur Englisch sprach, aber er hörte das Entsetzen in der Stimme, und noch größeres Entsetzen in der Stimme, die antwortete.

Ein Seebeben?

Hastig lief er den Gang entlang und die Treppe hinauf zum Deck. Das Schiff schwankte wie wild hin und her. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Als er nach draußen wankte, schlug ihm ein entsetzlicher Gestank entgegen, und mit einem Mal wusste Lukas Bauer, was los war.

Er schaffte es zur Reling und sah hinaus. Ringsum brodelte weiß die See. Als säßen sie in einem Kochtopf.

Das waren keine Wellen. Kein Sturm. Es waren Blasen. Riesige, aufsteigende Blasen.

Wieder sackte der Schiffsboden weg. Bauer fiel nach vorn und schlug mit dem Gesicht hart auf die Planken. In seinem Kopf explodierte der Schmerz. Als er wieder aufsah, war seine Brille zu Bruch gegangen. Ohne Brille war er so gut wie blind, aber er sah auch so, dass die See über dem Schiff zusammenschlug.

Oh Gott!, dachte er. Oh Gott, hilf uns.


30. April

Vancouver Island, Kanada

Die Nacht erstrahlte in düsterem Grün.


Weder war es kalt noch warm, vielmehr herrschte eine Art wohliger Temperaturlosigkeit. Das Atmen schien zu den Akten verfehlter Entwicklungen gelegt und durch eine übergreifende Funktion ersetzt worden zu sein, die es gestattete, sich frei in den Elementen zu bewegen. Nachdem Anawak nun schon eine ganze Weile durch das tiefdunkelgrüne Universum gefallen war, befiel ihn eine regelrechte Euphorie, und er reckte die Arme wie ein Ikarus, der sich den Abgrund zum Himmel erkoren hat, berauschte sich am Gefühl der Schwerelosigkeit und sank tiefer und tiefer. Am Grund schimmerte ihm etwas entgegen, eine weite, eisige Landschaft, und der dunkle, grüne Ozean verwandelte sich in einen nächtlichen Himmel.

Er stand am Rande eines Eisfeldes und blickte hinaus auf schwarzes, still daliegendes Wasser, über sich eine Fülle von Sternen.

Frieden erfasste ihn.

Wie wunderbar war es, einfach hier zu stehen. Der Eisrand würde sich vom Festland ablösen und als Scholle durch die nördlichen Meere treiben, immer höher hinauf, mit ihm als Passagier, dorthin, wo keine erdrückende Fragenlast mehr auf ihn wartete, sondern ein Zuhause. Sein Zuhause. Er würde zu Hause sein. Sehnsucht legte sich auf Anawaks Brust und trieb ihm Tränen in die Augen, funkelnde, grelle Tränen, die ihn blendeten, sodass er versuchte, sie abzuschütteln — und tatsächlich spritzten sie in die schwarze See und begannen sie zu erleuchten. Etwas stieg aus der Tiefe zu ihm empor. Das Wasser formte sich zu einer Gestalt, die in einiger Entfernung auf ihn zu warten schien, dort, wo er nicht hingehen konnte. Starr und kristallen stand sie da, das Licht der Sterne gefangen in ihrer Oberfläche.

Ich hab sie gefunden, sagte die Gestalt.

Sie hatte kein Gesicht und keinen Mund, doch ihre Stimme kam Anawak bekannt vor. Er trat näher heran, aber da war der Eisrand, und im schwarzen Wasser schwamm etwas Großes, Furcht Einflößendes.

Du hast was gefunden?, fragte er.

Seine eigene Stimme versetzte ihm einen Schrecken. Die Worte kamen zäh über seine Lippen. Sie quälten sich hervor wie grobschlächtige Tiere. Im Gegensatz zu dem, was die Gestalt gesagt oder vielleicht nur gedacht hatte, verwundeten sie die perfekte Stille über der Landschaft aus Eis, und plötzlich griff schneidende Kälte nach Anawak. Sein Blick suchte das Ding im Wasser, aber es war verschwunden.

Na, was schon, sagte jemand neben ihm.

Er wandte den Kopf und erblickte die zierliche Gestalt Samantha Crowes, der SETI-Forscherin.

Du bist ziemlich ungeübt im Reden, sagte sie. Alles andere kannst du besser. Offen gestanden, es klingt schrecklich!

Tut mir Leid, stammelte Anawak.

So? Na ja. Vielleicht solltest du anfangen zu üben. Ich habe meine Außerirdischen gefunden. Weißt du noch? Wir haben endlich Kontakt aufnehmen können. Ist das nicht großartig?

Anawak erzitterte. Er fand es keineswegs großartig, vielmehr verspürte er klamme Angst vor Crowes Außerirdischen, ohne zu wissen, warum.

Und … wer sind sie? Was sind sie?

Die SETI-Forscherin deutete hinaus auf das schwarze Wasser jenseits des Eisrandes.

Sie sind dort draußen, sagte sie. Ich denke, sie würden sich freuen, dich kennen zu lernen, sie lieben es nämlich, Kontakt aufzunehmen, aber dafür müsstest du dich zu ihnen hinbemühen.

Ich kann nicht, sagte Anawak.

Du kannst nicht? Crowe schüttelte verständnislos den Kopf. Warum kannst du nicht?

Anawak starrte auf die dunklen, gewaltigen Rücken, die das Wasser durchpflügten. Es waren Dutzende, Hunderte. Ihm war klar, dass sie nur seinetwegen dort waren, und er wusste plötzlich, dass sie sich von seiner Angst nährten.

Sie fraßen Angst.

Ich … kann einfach nicht.

Du musst doch nur losgehen, Feigling!, spottete Crowe. Das ist doch nun wirklich das Einfachste von der Welt, Du hast es viel einfacher als wir, wir mussten den ganzen verdammten Weltraum abhorchen.

Anawak zitterte noch stärker. Er trat bis dicht an den Rand und schaute hinaus. Am Horizont, wo die schwarze See den sternübersäten Himmel in sich aufnahm, erstrahlte ein fernes Leuchten.

Geh einfach, sagte Crowe.

Ich bin geflogen, dachte Anawak. Durch einen dunkelgrünen Ozean, der voller Leben war, und ich hatte nicht die geringste Angst. Was soll passieren? Das Wasser wird wie fester Boden sein, ich werde in dieses Licht gelangen, getragen von meinem Willen. Sam hat Recht. Es ist ganz einfach. Es gibt nichts, wovor man sich fürchten müsste.

Vor seinen Augen tauchte eines der Riesentiere ab, und eine kolossale, zweizipfelige Fluke reckte sich den Sternen entgegen.

Nichts, wovor ich mich fürchten müsste.

Aber er hatte zu lange gezögert, und der Anblick der Fluke hatte ihn verunsichert. Weder trug ihn sein Wille noch die Macht des Traumes, Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Als er endlich einen Schritt nach vorn machte, versank er augenblicklich in der Eiseskälte der See. Sie schlug über seinem Kopf zusammen, und alles war nur noch schwarz. Er wollte schreien und schluckte Wasser. Es drang schmerzhaft in seine Lungen. Unerbittlich zog es ihn nach unten, wie sehr er auch um sich schlug. Sein Herz pochte wie wild, in seinen Schläfen pochte es, ein Dröhnen wie von Hammerschlägen …

Anawak fuhr hoch und knallte mit dem Kopf gegen die Bohlen. »Verdammt«, stöhnte er.

Wieder das Pochen. Keine Spur von Dröhnen. Eher ein gemäßigtes Pochen, Fingerknöchel auf Holz. Er rollte sich auf die Seite und sah Alicia Delaware, die leicht gebückt in seine Koje spähte.

»‘tschuldige«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass du gleich hochgehst wie eine Rakete.«

Anawak starrte sie an. Delaware?

Ach ja. Langsam setzte sich die Erinnerung daran zusammen, wo er war. Er hielt sich den Schädel, gab ein gepeinigtes Grunzen von sich und ließ sich zurückfallen.

»Wie viel Uhr ist es?«

»Halb zehn.«

»Mist.«

»Du siehst furchtbar aus. Hast du schlecht geträumt?«

»Irgendeinen Käse.«

»Ich kann Kaffee machen.«

»Kaffee? Ja, gute Idee.« Seine Finger betasteten die Stelle, an der er sich den Schädel gerammt hatte, und zuckten zurück. Das würde eine ansehnliche Beule geben. »Wo ist der blöde Wecker? Ich weiß genau, dass ich ihn gestellt habe. Auf sieben.«

»Du hast ihn überhört. Kein Wunder, nach allem, was passiert ist.« Delaware ging hinüber zu der kleinen Küchenzeile und sah sich prüfend um. »Wo ist …«

»Hängeschrank, linke Seite. Kaffee, Filter, Milch und Zucker.«

»Hast du Hunger? Ich kann prima Frühstück …«

»Nein.«

Sie zuckte die Achseln und füllte Wasser in die Kanne der Kaffeemaschine. Anawak sah ihr einige Sekunden zu, dann stemmte er sich aus der Koje.

»Dreh dich um. Ich muss mir was anziehen.«

»Mach nicht so ein Theater. Ich guck dir schon nichts weg.«

Er verzog das Gesicht, während er Ausschau nach seinen Jeans hielt. Sie lagen zusammengeknüllt auf der Sitzbank, die sich um den Kajüttisch bog. Das Anziehen erwies sich als schwierig. Ihm war schwindelig, und sein verletztes Bein schmerzte, als er versuchte, es anzuwinkeln.

»Hat John angerufen?«, fragte er.

»Ja. Vorhin.«

»So eine Scheiße.«

»Was?«

»Jeder Tattergreis kommt schneller in die Hose. — Zum Teufel, warum habe ich den Wecker überhört? Ich wollte unbedingt …«

»Weißt du was? Du bist bescheuert, Leon. Echt bescheuert! Vor zwei Tagen hast du einen Flugzeugabsturz überlebt. Du hast ein dickes Knie, und bei mir ist das Gehirn ein bisschen verrutscht, na und? Wir hatten irrsinniges Glück. Wir könnten tot sein wie Danny und der Pilot, stattdessen leben wir. Und du maulst rum wegen deinem beschissenen Wecker und weil du gerade mal nicht das Rad schlagen kannst. — Fertig?«

Anawak ließ sich auf die Sitzbank sinken. »Ist ja gut. Was sagt John?«

»Er hat alle Daten beisammen. Und er hat sich das Video angesehen.«

»Na toll. Und?«

»Nichts und. Du sollst dir deine eigene Meinung bilden.«

»Das ist alles?«

Delaware füllte den Filter mit Kaffeepulver, setzte ihn auf die Kanne und stellte die Maschine an. Nach wenigen Sekunden erfüllte leises Schmatzen und Röcheln den Raum.

»Ich habe ihm gesagt, dass du noch schläfst«, sagte sie. »Er meinte, ich soll dich nicht wecken.«

»Warum denn das?«

»Er sagt, du musst gesund werden. Womit er Recht hat.«

»Ich bin gesund«, erwiderte Anawak trotzig.

Tatsächlich war er sich dessen nicht wirklich sicher. Als die DHC-2 mit dem springenden Grauwal kollidiert war, hatte es der Maschine die rechte Tragfläche abgerissen. Danny, der Armbrustschütze, war vermutlich auf der Stelle tot gewesen — die Whistler hatte seine Leiche nicht gefunden, aber es konnte keinen Zweifel daran geben. Er war nicht rechtzeitig ins Innere gelangt, mit der Folge, dass die Seitentür des Flugzeugs beim Absturz offen gestanden hatte. Nur diesem Umstand verdankte es sich, dass Anawak überhaupt noch lebte. Beim Aufprall war er hinausgeschleudert worden. Danach konnte er sich an nichts mehr erinnern, auch nicht, was die üble Zerrung in seinem Knie verursacht hatte. Erst an Bord der Whistler war er wieder zu sich gekommen, ins Bewusstsein gerufen durch den pochenden Schmerz.

Als Nächstes hatte er Delaware dort liegen sehen, und der Schmerz verlor jegliche Bedeutung. Sie sah aus wie tot. Bevor sein Entsetzen überhand nahm, hatte man ihn aufgeklärt, dass sie nicht tot sei, sondern noch größeres Glück gehabt habe als er. Der Körper des Piloten hatte sie abgefedert. Halb ohnmächtig war es ihr gelungen, sich aus dem sinkenden Wrack zu befreien. Innerhalb einer Minute war die kleine Maschine voll gelaufen. Die Besatzung der Whistler hatte Anawak und Delaware aus dem Wasser fischen können, aber der unglückliche Pilot war mit seiner DHC-2 in der Tiefe verschwunden.

Bei aller Tragik ließ sich die Aktion dennoch als Erfolg verbuchen. Danny hatte den Sender platziert. Der URA war den Walen gefolgt und hatte 24 Stunden Film auf Magnetband bannen können, ohne dass die Tiere den Roboter angegriffen hatten. Anawak wusste, dass die Aufzeichnungen in den frühen Morgenstunden an John Ford geschickt worden waren, und er hatte sich fest vorgenommen, dann im Aquarium zu sein. Außerdem hatte das Centre National d’Etudes Spatiales die bislang eingetroffenen telemetrischen Daten des Fahrtenschreibers freigegeben, den Lucy auf dem Rücken trug. Ohne den Absturz hätten sie allen Grund gehabt, sich auf die Schulter zu klopfen.

Stattdessen wurde alles nur schrecklicher. Immer mehr Menschen starben. Er selber war zweimal knapp dem Tod entgangen. Vielleicht, weil seine Wut auf Greywolf jedes andere Empfinden ausbrannte, hatte er Stringers Tod erstaunlich schnell verkraftet. Jetzt, zwei Tage nach dem Absturz, fühlte er sich elend. Wie befallen von einer Krankheit, die nach Jahren der Unterdrückung ihr Recht beanspruchte, auszubrechen. Sie ging einher mit Unsicherheit, Selbstzweifel und einem beunruhigenden Mangel an Kraft. Möglicherweise hielt ihn nach wie vor der Schock gefangen, aber eigentlich glaubte Anawak nicht recht daran. Da war noch etwas anderes. Ein Schwindel, der ihn von Zeit zu Zeit überkam, seit er aus dem Flugzeugwrack geschleudert worden war, Schmerzen in der Brust und Anflüge von Panik.

Nein, er war nicht wirklich gesund, und die Zerrung in seinem Knie war nicht das eigentliche Problem.

Anawak fühlte sich im Innersten versehrt.

Den Tag zuvor hatte er weitgehend verschlafen. Davie, Shoemaker und die Skipper waren ihn besuchen gekommen. Ford hatte mehrfach angerufen und sich nach ihm erkundigt. Ansonsten zeigte sich niemand sonderlich um ihn besorgt. Während Alicia Delaware von ihren Eltern und einem Haufen Bekannter gedrängt wurde, Vancouver Island zu verlassen — unvermittelt tauchte sogar ein fester Freund auf und machte eine zweijährige Beziehung geltend —, erschöpfte sich die Anteilnahme an Anawaks Schicksal auf den Kollegenkreis.

Er war krank und wusste, dass kein Arzt ihm würde helfen können.

Delaware stellte einen Becher frisch gebrühten Kaffee vor ihn hin und musterte ihn durch ihre blauen Brillengläser. Anawak schlürfte, verbrannte sich die Zunge und verlangte nach dem Funktelefon. »Kann ich dich mal was Persönliches fragen, Leon?«, sagte sie.

Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Später.«

»Wann ist später?«

Anawak zuckte die Achseln und wählte Fords Nummer.

»Wir sind noch nicht durch mit den Sichtungen«, sagte der Direktor. »Lass dir Zeit und ruh dich aus.«

»Du hast Licia gesagt, ich soll mir selber eine Meinung bilden.«

»Ja, nachdem wir alles gesichtet haben. Das meiste ist langweilig. Bevor du extra herkommst deswegen, schauen wir lieber noch den Rest durch. Vielleicht kannst du dir den Weg dann sparen.«

»Na schön. Wann seid ihr fertig?«

»Keine Ahnung. Wir sitzen zu viert an den Bändern. Gib uns zwei Stunden. Nein, drei. Am besten, ich lasse dich am frühen Nachmittag rüberfliegen. Schick, was? Das ist wiederum der Vorteil von Krisenstäben. Man hat immer einen Hubschrauber parat.« Ford lachte. »Nicht, dass wir uns noch dran gewöhnen.« Er machte eine Pause. »Dafür hab ich was anderes für dich. Das heißt, mir fehlt im Augenblick die Zeit, es zu erzählen, aber besser wäre ohnehin, wenn du Rod Palm dazu anrufst.«

»Palm? Wozu?«

»Er hat vor einer Stunde mit Nanaimo und dem Institut für Ozeanische Wissenschaften konferiert. Du kannst auch mit Sue Oliviera sprechen, aber ich dachte, Palm sitzt direkt vor deiner Haustür.«

»Verdammt, John! Warum ruft mich keiner an, wenn es was zu erzählen gibt?«

»Ich wollte warten, bis du ausgeschlafen hast.«

Anawak beendete mürrisch das Gespräch und rief Palm an. Der Leiter der Forschungsstation auf Strawberry Isle war sofort am Telefon.

»Ah!«, rief er. »Ford hat mit dir gesprochen.«

»Ja. Hat er. Angeblich seid ihr auf irgendwas Weltbewegendes gestoßen. Warum hast du mich nicht angerufen?« »Jeder weiß, dass du deine Ruhe brauchst.« »Ach, Quatsch.« »Doch, doch. Ich wollte warten, bis du ausgeschlafen hast.« »Das höre ich jetzt innerhalb einer Minute zum zweiten Mal. Nein, zum dritten Mal, wenn man Licias permanente Sorge dazunimmt. Es geht mir gut, verdammt nochmal.« »Warum kommst du nicht auf einen Sprung rüber?«, schlug Palm vor. »Mit dem Boot?« »Die paar hundert Meter, ich bitte dich. In der Bucht ist außerdem noch nichts passiert.« »Gut, ich kann in zehn Minuten drüben sein.« »Prima. Bis gleich.« Delaware sah ihn über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg an und runzelte die Brauen. »Was Neues?« »Alle Welt behandelt mich wie einen Pflegefall«, schimpfte Anawak. »Das meine ich nicht.« Er stand auf, zog die Schublade unter seiner Koje auf und kramte nach einem frischen Hemd. »Sie haben offenbar irgendwas entdeckt in Nanaimo«, brummte er. »Und was?«, wollte Delaware wissen. »Weiß ich nicht.«

»Ah ja.«

»Ich fahre rüber zu Rod Palm.« Er zögerte, dann sagte er: »Kannst ja mitkommen, wenn du Lust und Zeit hast.

Okay?«

»Du willst mich dabeihaben? Welche Ehre.«

»Sei nicht blöde.«

»Bin ich nicht.« Sie krauste die Nase. Die Kanten ihrer Schneidezähne ruhten auf der Unterlippe. Wieder dachte Anawak, dass man dringend etwas an diesen Zähnen machen müsste. Ständig fühlte er sich versucht, nach Mohrrüben Ausschau zu halten. »Du hast eine Scheißlaune seit zwei Tagen, dass man kaum ein manierliches Gespräch mit dir führen kann.«

»Hättest du auch, wenn du …« Er brach ab.

Delaware sah ihn an. »Ich habe mit im Flugzeug gesessen«, sagte sie ruhig. »Tut mir Leid.« »Ich bin vor Angst fast gestorben. Jeder andere wäre sofort heim zu Mama gefahren. Aber du hast deine Assistentin verloren, also fahre ich nicht zu Mama, sondern bleibe an deiner Seite, du dämlicher Muffel. Was wolltest du mir gerade erzählen?«

Anawak betastete erneut die Beule auf seinem Schädel. Sie schmerzte und wurde dicker. Auch sein Knie schmerzte. »Nichts. Hast du dich abgeregt?«

Sie hob die Brauen. »Ich rege mich gar nicht erst auf.«

»Gut. Dann komm.«

»Ich würde dich trotzdem gerne was Persönliches fragen.« »Nein.«

Mit der Devilfish zu der kleinen Insel hinauszufahren, hatte etwas Unwirkliches. Fast, als hätte es die Angriffe der letzten Wochen nicht gegeben. Strawberry Island war wenig mehr als ein Hügel mit Tannenbewuchs, den man in fünf Minuten zu Fuß umrunden konnte. Heute lag das Wasser spiegelglatt da. Kein Wind blies. Eine fiebrige Sonne verstrahlte weißes Licht. Jeden Augenblick erwartete Anawak eine Fluke oder einen schwarzen Rücken mit hoher Finne auftauchen zu sehen, aber seit dem Beginn der Attacken hatten sich nur zweimal Orcas vor Tofino blicken lassen. Es waren Residents gewesen, die keinerlei Anzeichen von Aggressivität an den Tag legten. Offenbar bewahrheitete sich Anawaks Theorie, wonach nur wandernde Wale von der merkwürdigen Verhaltensänderung betroffen waren.

Fragte sich, wie lange noch.

Das Zodiac legte am Landungspier der Insel an. Palms Station lag direkt gegenüber. Sie war in einem alten, gestrandeten Segelschiff untergebracht, der ersten British Columbia Ferry, die sich jetzt malerisch am Ufer breit machte, gestützt auf abgestorbene Bäume und umgeben von Treibholz und verrosteten Ankern. Sie diente Palm als Büro und Zuhause, das er zusammen mit zwei Kindern bewohnte.

Anawak mühte sich verbissen, nicht zu humpeln. Delaware schwieg. Offenbar war sie sauer auf ihn.

Wenig später saßen sie zu dritt auf dem Vorschiff um einen kleinen, geflochtenen Tisch aus Birkenrinde. Delaware nuckelte an einer Cola. Sie sahen hinüber auf die Stelzenhäuser des Orts. Obwohl Strawberry Island nur wenige hundert Meter von Tofino entfernt lag, war es hier viel stiller. Kaum drangen Geräusche herüber. Dafür bekam man alles Mögliche zu hören, was die Natur an Lauten hervorbrachte.

»Was macht dein Knie?«, fragte Palm mitfühlend. Er war ein zuvorkommender Mann mit flockigem weißem Bart und Stirnglatze, der mit einer Pfeife im Mund auf die Welt gekommen zu sein schien.

»Reden wir nicht davon.« Anawak reckte die Arme und versuchte das Wummern in seinem Schädel zu ignorieren. »Sag mir lieber, was ihr rausgefunden habt.«

»Leon hat’s nicht gerne, wenn man sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt«, bemerkte Delaware spitz.

Anawak knurrte etwas Unverständliches. Sie hatte natürlich Recht. Seine Laune fiel wie ein Barometer bei Sturm.

Palm räusperte sich. »Ich habe mich längere Zeit mit Ray Fenwick und Sue Oliviera unterhalten«, sagte er. »Seit der öffentlichen Obduktion von J-19 stehen wir in regem Kontakt. Aber nicht nur deswegen. Am Tag eurer Bruchlandung ist wieder ein Wal angeschwemmt worden. Ein Grauwal, den ich nicht kannte. Er ist nirgendwo verzeichnet. Fenwick hatte keine Zeit herzukommen, also habe ich das Tier selber mit einigen Leuten auseinander gesäbelt, um Nanaimo die üblichen Proben für die Analyse zu schicken. Eine Scheißarbeit, sage ich dir. Irgendwann stand ich aufrecht im Brustkorb, nachdem wir das Herz freigelegt hatten, und rutschte darin aus. Blut und Schleim liefen mir in die Stiefel, es tropfte von oben, wir haben ausgesehen wie Zombies bei der Mahlzeit. So viel zur romantischen Seite des Unterfangens. Natürlich haben wir auch Teile des Hirns entnommen.«

Die Vorstellung, dass wieder ein Wal verendet war, erfüllte Anawak mit bohrender Trauer. Er schaffte es einfach nicht, die Tiere für ihre Taten zu hassen. Für ihn blieben sie, was sie immer gewesen waren — wunderbare Geschöpfe, die es zu verteidigen und zu schützen galt.

»Woran ist er gestorben?«, fragte er.

Palm breitete die Hände aus. »Ich würde sagen, an einer Infektion. Dasselbe hat Fenwick auch bei Dschinghis diagnostiziert. Das Komische ist nur, dass wir etwas bei den Tieren gefunden haben, das da unter keinen Umständen hingehört.« Er zeigte auf seine Schläfe und ließ seinen Zeigefinger kreisen. »Fenwick hat eine Art Gerinnsel im Hirn entdeckt. Am Hirnstamm, um genau zu sein. Mit Ausläufern, die sich zwischen Hirnmasse und Schädeldecke verteilen.«

Anawak horchte auf. »Blutgerinnsel? Bei beiden Tieren?«

»Blut nicht, obwohl wir das anfangs dachten. Fenwick und Oliviera finden nämlich Geschmack an der Theorie, wonach Lärm für die Anomalien verantwortlich ist. Sie wollten nicht darüber reden, solange keine weiteren Indizien vorliegen, aber Fenwick hatte sich zeitweise regelrecht festgebissen an den Folgen dieser Sonarversuche …«

»Surtass LFA?«

»Genau.«

»Vergiss es. Im Leben nicht.«

»Darf man erfahren, wovon ihr redet?«, hakte sich Delaware ein.

»Die amerikanische Regierung hat der Navy vor ein paar Jahren eine Extrawurst gebraten«, erklärte Palm. »Sie hat ihr die Genehmigung für den Einsatz eines Niederfrequenz-Sonars zur Ortung von U-Booten erteilt. Es heißt Surtass LFA und wird fleißig erprobt.«

»Wirklich?«, entsetzte sich Delaware. »Ich denke, die Navy ist an das Abkommen zum Schutz der Meeressäuger gebunden.«

»Alle möglichen Leute sind an alle möglichen Abkommen gebunden«, sagte Anawak mit dünnem Lächeln.

»Und es gibt alle möglichen Hintertüren. Die Vereinigten Staaten können der Versuchung offenbar nicht widerstehen, 80 Prozent der Weltmeere zu überwachen, und das ist mit Surtass LFA halt möglich. Also hat der amerikanische Präsident die Navy flugs von jeglichen Abkommen entbunden, weil das neue System schon 300 Millionen Dollar gekostet hat und die Verantwortlichen schwören, damit keinem Wal was zuleide zu tun.«

»Aber Sonar ist schädlich für Wale. Das weiß jeder Idiot.«

»Es ist leider nicht hinreichend bewiesen«, sagte Palm. »Die Vergangenheit zeigt, dass Wale und Delphine äußerst sensibel auf Sonar reagieren, aber welchen Einfluss das auf Beutejagd, Fortpflanzung und Wanderungen hat, lässt sich nicht eindeutig sagen.«

»Lächerlich«, schnaubte Anawak. »Ab 180 Dezibel reißen bei einem Wal die Trommelfelle. Jeder einzelne Unterwasserlautsprecher des neuen Systems verursacht aber einen Lärm von 215 Dezibel. Die Gesamtsignalstärke liegt sogar noch höher.«

Delaware sah von einem zum anderen. »Und … was passiert mit den Tieren?«

»Das ist es eben, weshalb Fenwick und Oliviera auf die Lärmtheorie kamen«, sagte Palm. »Schon vor Jahren haben Sonarversuche der Navy Delphine und Wale in verschiedenen Teilen der Welt stranden lassen. Mehrere Wale starben. Alle wiesen starke Blutungen im Gehirn und an den Knöchelchen im Innenohr auf — Verletzungen, wie sie typisch sind für den Einfluss starken Lärms. Umweltschützer konnten jedes Mal nachweisen, dass im unmittelbaren Bereich der Todesfälle NATO-Übungen stattgefunden hatten, aber leg dich mal mit der Navy an!«

»Die bestreiten es?«

»Die Navy hat jahrelang jeden Zusammenhang bestritten. Inzwischen musste sie einräumen, zumindest in einigen Fällen die Verantwortung zu tragen. Der Punkt ist, dass wir immer noch zu wenig wissen. Wir kennen nur die Schädigungen bei toten Walen, und jeder entwickelt seine Theorie. Fenwick glaubt beispielsweise, unterseeischer Lärm könne auch zu kollektivem Wahnsinn führen.«

»Unsinn«, knurrte Anawak. »Lärm raubt den Tieren die Orientierung. Sie greifen keine Schiffe an, sondern stranden.«

»Ich finde Fenwicks Theorie erwägenswert«, sagte Delaware.

»Ach ja?«

»Warum denn nicht? Die Tiere drehen durch. Erst einige, dann nach Art einer Massenpsychose immer mehr.«

»Licia, red keinen Mist! Wir wissen von Schnabelwalen, die vor den Kanaren strandeten, nachdem die NATO dort ihr Pow Wow durchführte. Kaum ein Tier reagiert auf Lärm so empfindlich wie ein Schnabelwal. Klar sind sie durchgedreht. Vor lauter Panik wussten sie sich nicht anders zu helfen, als ihr angestammtes Element zu verlassen, und schon lagen sie am Strand. Wale fliehen vor Lärm.«

»Oder greifen den Urheber an«, hielt ihm Delaware trotzig entgegen.

»Welchen Urheber? Schlauchboote mit Außenbordern? Wo bitte schön sind die denn laut?«

»Dann hat’s eben anderen Lärm gegeben. Unterwassersprengungen.«

»Nicht hier.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben.«

»Hauptsache, du hast Recht.«

»Das sagst gerade du!«

»Außerdem hat es Strandungen schon vor Jahrhunderten gegeben. Auch vor British Columbia. Es gibt alte Überlieferungen, die …«

»Weiß ich. Jeder weiß das.«

»Und? Hatten die Indianer auch Sonar?«

»Was um alles in der Welt hat das mit unserem Thema zu tun?«

»Eine Menge. Walstrandungen lassen sich unreflektiert vor den ideologischen Karren spannen und …«

»Ich bin also unreflektiert?«

Delaware blitzte ihn zornig an. »Alles, was ich sagen will, ist, dass Massenstrandungen nicht notwendigerweise etwas mit künstlich erzeugtem Lärm zu tun haben müssen. Umgekehrt kann Lärm vielleicht auch zu etwas anderem führen als zu Strandungen.«

»He!« Palm hob die Hände. »Ihr streitet euch umsonst. Fenwick findet seine Lärmtheorie mittlerweile selber etwas löchrig. Okay, er hängt am kollektiven Wahnsinn, aber … hört ihr mir überhaupt zu?«

Sie sahen ihn an.

»Also«, fuhr Palm fort, nachdem er sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit versichert hatte. »Fenwick und Oliviera fanden diese Gerinnsel und schlossen auf eine Deformation durch äußere Einwirkungen. Oberflächlich sahen sie aus wie Blutungen, also hielten sie sie auch dafür. Dann isolierten sie das Zeug und unterzogen es dem üblichen Procedere, wobei sie feststellten, dass die Substanz nur vom Blut der Wale durchtränkt war. Das Zeug selber ist eine farblose Masse, die sich an der Luft rasch zersetzt. Der Großteil war nicht mehr zu gebrauchen.« Palm beugte sich vor. »Aber einiges konnten sie doch untersuchen. Die Resultate decken sich mit den Ergebnissen einer Probenuntersuchung, die wenige Wochen zurückliegt. Sie hatten die Substanz aus den Köpfen der Wale schon einmal gesehen. In Nanaimo.«

Anawak schwieg eine Sekunde.

»Und was ist es?«, fragte er heiser.

»Dasselbe, was du zwischen den Muscheln am Rumpf der Barrier Queen gefunden hast.«

»Das Zeug aus den Walgehirnen und vom Schiffsrumpf …«

»Ist identisch. Die gleiche Substanz. Organische Materie.«

»Ein Fremdorganismus«, murmelte Anawak.

»Irgendetwas Fremdes. Ja.«

Anawak fühlte sich ausgelaugt, obwohl er nur wenige Stunden auf den Beinen war. Er fuhr mit Delaware zurück nach Tofino. Das Knie behinderte ihn, als sie die Holzstiege vom Anlegeplatz zum Pier emporstiegen. Es behinderte sein Handeln und sein Denken. Er fühlte sich hilflos, deprimiert und allem Unangenehmen ausgeliefert.

Mit zusammengebissenen Kiefern humpelte er in den verlassenen Verkaufsraum von Davies Whaling Station, holte eine Flasche Orangensaft aus dem Eisschrank und ließ sich in den Sessel hinter der Theke fallen. In seinem Kopf jagten einander die Gedanken mit derselben Sinnlosigkeit, mit der Hunde versuchen, ihre Schwänze zu fangen.

Delaware kam ihm nach. Sie sah sich unschlüssig um.

»Nimm dir was.« Anawak wies auf den Eisschrank.

»Irgendwas.«

»Der Wal, der das Flugzeug zum Absturz gebracht hat …«, begann sie.

Anawak öffnete die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. »Entschuldige. Ich hab dir nichts angeboten. Wie gesagt, bedien dich.«

»Er hat sich verletzt, Leon. Vielleicht ist er gestorben.«

Er dachte darüber nach.

»Ja«, sagte er. »Wahrscheinlich.«

Delaware trat zu einem Regal, auf dem in Plastik gegossene Modelle von Walen angeboten wurden. Es gab sie in allen Größen. Von daumenlang bis zur Länge eines Unterarms. Mehrere Buckelwale stützten sich einträchtig auf ihre Flipper. Sie nahm einen davon hoch und drehte ihn in den Fingern hin und her. Anawak sah ihr lauernd dabei zu.

»Sie tun das nicht freiwillig«, sagte sie.

Er rieb sich das Kinn. Dann beugte er sich vor und schaltete den kleinen tragbaren Fernseher neben dem Funkgerät ein. Vielleicht würde sie ja von selber gehen, ohne dass er sie darum bitten musste. Er hatte nichts gegen ihre Gesellschaft. Im Grunde schämte er sich für seine üble Laune und dafür, dass er grob und abweisend zu ihr war, aber sein Bedürfnis, allein zu sein, wuchs mit jeder Minute.

Delaware stellte den Plastikwal behutsam wieder ins Regal. »Darf ich dich was Persönliches fragen?«

Schon wieder! Anawak setzte zu einer schroffen Antwort an. Dann zuckte er die Achseln. »Meinetwegen.«

»Bist du ein Makah?«

Vor Überraschung wäre ihm beinahe die Flasche aus der Hand gerutscht. Das also hatte sie ihn fragen wollen. Sie wollte wissen, warum er wie ein Indianer aussah. »Wie kommst du denn gerade darauf?«, stieß er hervor. »Du hast etwas gesagt, kurz bevor das Flugzeug startete.

Etwas zu Shoemaker. Dass Greywolf es sich mit den Makah verderben würde, weil er so vehement gegen den Walfang wettert. Die Makah sind Indianer, richtig?«

»Ja.«

»Deine Leute?«

»Die Makah? Nein. Ich bin kein Makah.«

»Bist du …«

»Hör zu, Licia, sei mir nicht böse, aber ich bin einfach nicht in der Stimmung für Familiengeschichten.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Okay.« »Ich ruf dich an, wenn Ford sich meldet.« Er grinste schief. »Oder du rufst mich an. Vielleicht meldet er sich ja wieder mal bei dir, um mich nicht zu wecken.«

Delaware schüttelte ihren roten Schopf und ging langsam zur Tür. Dort blieb sie stehen. »Nur eines noch«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Bedank dich endlich bei Greywolf dafür, dass er dir das Leben gerettet hat. Ich war jedenfalls dort.«

»Du warst …«, fuhr er auf. »Ja, natürlich. Du kannst ihn für alles andere verabscheuen, aber so viel Dank hat er verdient. Ohne ihn wärst du tot.« Damit ging sie. Anawak starrte ihr nach. Er knallte die Flasche auf den Tisch und atmete einmal tief durch. Bedanken. Bei Greywolf.

Er saß noch immer dort, als er beim Zappen auf eine der vielen Sondersendungen stieß, die in diesen Tagen zur Situation vor British Columbia gebracht wurden. Ähnliche Sendungen empfing man aus den USA. Auch dort hatten Angriffe den regionalen Schiffsverkehr weitestgehend lahm gelegt. Im Fernsehstudio wurde eine Frau in Navy-Uniform interviewt. Ihre kurz geschnittenen schwarzen Haare hatte sie glatt zurückgekämmt. Das Gesicht war von strenger Schönheit, asiatisch geschnitten. Vielleicht eine Chinesin. Nein, eher Halbchinesin. Eine entscheidende Kleinigkeit passte nicht zum Rest. Es waren die Augen. Sie waren von einem hellen, völlig unasiatischen Wasserblau.

Ein Balken wurde am unteren Bildrand eingeblendet:

General Commander Judith Li, US Navy

»Müssen wir die Gewässer vor British Columbia denn jetzt abschreiben?«, fragte der Moderator gerade. »Sozusagen zurückgeben an die Natur?«

»Ich glaube nicht, dass wir der Natur etwas zurückzugeben haben«, erwiderte Judith Li. »Wir leben im Einklang mit der Natur, auch wenn es da noch einiges zu verbessern gibt.«

»Augenblicklich lässt sich wohl kaum von Einklang sprechen.«

»Nun, wir stehen mit den angesehensten Wissenschaftlern und Forschungsinstituten diesseits und jenseits der Grenze in engem Kontakt. Es ist Besorgnis erregend, wenn Tiere kollektive Verhaltensänderungen an den Tag legen, aber es wäre ebenso verkehrt, die Situation zu dramatisieren und in Panik zu verfallen.«

»Sie glauben nicht an ein Massenphänomen?«

»Darüber zu spekulieren, welcher Art ein Phänomen ist, setzt voraus, es überhaupt mit einem Phänomen zu tun zu haben. Augenblicklich würde ich von einer Kumulation ähnlicher Ereignisse sprechen …«

»Die in der Öffentlichkeit so gut wie nicht stattfinden«, fuhr ihr der Moderator dazwischen. »Warum eigentlich nicht?«

»Aber sie finden doch statt.« Li lächelte. »In diesem Augenblick.«

»Was uns ebenso freut wie überrascht. Die Informationspolitik sowohl Ihres wie auch unseres Landes war in den letzten Tagen mehr als dürftig. Es ist kaum möglich, die Meinung von Fachleuten einzuholen, weil Ihre Dienststellen jeden Kontakt abblocken.«

»Doch«, knurrte Anawak. »Greywolf hat seinen Sabber abgesondert. Nicht zugehört?«

Aber hatte jemand Ford um ein Interview gebeten? Oder Ray Fenwick? Rod Palm gehörte zu den führenden Orca-Forschern, aber war er in den letzten Wochen je von einer Zeitung oder einem Fernsehsender angesprochen worden? Ihn selber, Leon Anawak, hatte Scientific American erst kürzlich in einem Artikel über Intelligenzforschung bei Meeressäugern gewürdigt, aber niemand war erschienen, um ihm ein Mikrophon unter die Nase zu halten.

Erst jetzt fiel ihm die Absurdität des Ganzen auf. Unter anderen Umständen — Terroranschläge, Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen — wurde jeder Experte oder wer sich dafür hielt innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden vor die Kameras gezerrt.

Sie hingegen arbeiteten im Stillen.

Dann musste er sich eingestehen, dass auch Greywolf seit seinem letzten Zeitungsinterview nicht mehr öffentlich stattfand. In den Tagen zuvor hatte der radikale Umweltschützer kaum eine Chance ungenutzt verstreichen lassen, sich in Pose zu setzen, aber plötzlich war der Held von Tofino kein Thema mehr.

»Das sehen Sie ein bisschen einseitig«, sagte Li ruhig. »Die Situation ist sicher ungewöhnlich. Es gibt so gut wie keine vergleichbaren Fälle. Natürlich achten wir darauf, dass nicht jeder sogenannte Experte voreilige Schlüsse äußert, alleine schon, weil wir mit den Dementis nicht nachkommen würden. Abgesehen davon sehe ich derzeit keine Bedrohung, der sich nicht entgegenwirken ließe.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben alles im Griff?«

»Wir arbeiten dran.«

»Einige meinen, Sie versagen.«

»Ich weiß nicht, was die Leute von uns erwarten. Der Staat wird kaum mit Kriegsschiffen und Black Hawks gegen Wale zu Felde ziehen.«

»Wir hören täglich von neuen Opfern. Die kanadische Regierung jedenfalls hat sich bislang darauf beschränkt, die Gewässer vor British Columbia zur Krisenregion zu erklären …«

»Für Kleinschiffe. Der normale Fracht-und Fährenverkehr ist nicht betroffen.«

»Hat es in jüngster Vergangenheit nicht wiederholt Meldungen über das Verschwinden von Schiffen gegeben?«

»Noch einmal: Das waren Fischerboote, kleine Motorschiffe«, erklärte Li im Tonfall unendlicher Geduld. »Es kommt immer wieder zum Verlust von Schiffen. Wir gehen diesen Berichten nach. Selbstverständlich wird mit allem Aufwand nach Überlebenden gesucht. Ich möchte dennoch davor warnen, jeden ungeklärten Vorfall auf hoher See sofort mit Tierattacken in Verbindung zu setzen.«

Der Moderator rückte seine Brille zurecht. »Helfen Sie mir, sollte ich mich irren — aber gab es da nicht auch die Havarie eines Großfrachters der Inglewood -Reederei in Vancouver, in deren Verlauf ein Hochseeschlepper sank?«

Li legte die Fingerspitzen aufeinander. »Sie meinen die Barrier Queen

Der Moderator warf einen Blick auf die Notizen in seiner Rechten. »Korrekt. Es ist so gut wie nichts darüber bekannt geworden.«

»Natürlich nicht«, entfuhr es Anawak.

Er hatte es gewusst. Er hatte nur vergessen, in den letzten beiden Tagen mit Shoemaker darüber zu sprechen.

»Die Barrier Queen«, sagte Li, »hatte einen Schaden am Ruderblatt. Ein Schlepper sank durch ein falsch durchgeführtes Ankopplungsmanöver.« »Nicht als Folge eines Angriffs? Meine Notizen …« »Ihre Notizen sind falsch.« Anawak erstarrte. Was zum Teufel redete diese Frau da? »Nun, General, können Sie uns wenigstens etwas über den Absturz eines Wasserflugzeugs der Tofino Air vor zwei Tagen sagen?« »Ein Flugzeug ist abgestürzt, ja.« »Es ist angeblich mit einem Wal kollidiert.«

»Wir untersuchen auch diesen Vorfall. Verzeihen Sie, wenn ich nicht zu jedem Ereignis Stellung beziehen kann, aber meine Arbeit ist eher übergeordneter Natur …«

»Natürlich.« Der Moderator nickte. »Also reden wir über Ihre Position. Was umfasst Ihre Arbeit? Wie muss man sich das vorstellen? Augenblicklich können Sie ja offenbar nur reagieren.«

Ein Anflug von Belustigung zuckte über Lis Gesichtszüge. »Es liegt nicht in der Natur von Krisenstäben, ausschließlich zu reagieren, wenn ich das sagen darf. Wir nehmen Krisenlagen auf, führen und wickeln sie ab. Das beinhaltet Früherkennung, vollständige und klare Darstellung, Prävention, Evakuierung, all das. — Aber wie ich schon sagte, haben wir es hier mit etwas Neuem zu tun. Vorsorge und Früherkennung waren sicher nicht in dem Maße möglich wie in vertrauteren Szenarien. Alles andere haben wir im Griff. Kein Schiff fährt noch hinaus aufs Meer, dem die Tiere gefährlich werden könnten. Wichtige Transporte gefährdeter Schiffe haben wir auf den küstennahen Flugverkehr umgelegt. Größere Schiffe erhalten militärisches Geleit, wir betreiben eine lückenlose Luftüberwachung und haben umfangreiche Mittel bewilligt zur wissenschaftlichen Erforschung.«

»Sie haben militärische Gewalt ausgeschlossen …«

»Nicht ausgeschlossen. Relativiert.«

»Umweltschützer meinen, die Verhaltensänderungen seien auf zivilisatorische Einflüsse zurückzuführen. Lärm, Gifte, Seeverkehr …«

»Wir sind auf dem besten Wege, es herauszufinden.«

»Und wie weit sind Sie?«

»Ich wiederhole: Wir werden uns nicht in Spekulationen ergehen, solange keine konkreten Resultate vorliegen, und wir werden auch niemandem gestatten, es zu tun. Ebenso wenig werden wir aufgebrachten Fischern, der Industrie, Reedereien, Whale-Watching-Firmen oder Anhängern des Walfangs erlauben, die Situation eigenmächtig in die Hand zu nehmen und möglicherweise eskalieren zu lassen. Wenn Tiere angreifen, sind sie entweder in die Enge getrieben oder krank. In beiden Fällen ist es unsinnig, Gewalt gegen sie anzuwenden. Wir müssen zu den Ursachen vorstoßen, dann werden die Symptome verschwinden. Und so lange werden wir halt das Wasser meiden.«

»Danke, General.«

Der Moderator wandte sein Gesicht in die Kamera.

»Das war General Commander Judith Li von der US Navy, die seit wenigen Tagen als Militärische Leiterin der Vereinigten Krisenstäbe und Untersuchungskommissionen von Kanada und den USA amtiert. Und jetzt weitere Nachrichten vom Tage.«

Anawak stellte den Fernseher leiser und rief John Ford an. »Wer zum Teufel ist diese Judith Li?«, fragte er.

»Oh, ich habe sie noch nicht persönlich kennen gelernt«, erwiderte Ford. »Sie fliegt ständig durch die Gegend.«

»Ich wusste nichts davon, dass Kanada und die USA ihre Krisenstäbe zusammengelegt haben.«

»Du musst ja auch nicht alles wissen. Du bist Biologe.«

»Hat dich jemals einer zu den Walattacken interviewt?«

»Es gab Anfragen, die im Sande verliefen. Dich wollten sie mehrfach im Fernsehen haben.«

»Ach nein! Und warum hat mich niemand …«

»Leon.« Ford klang noch müder als am Vormittag. »Was soll ich sagen? Li hat alles abgeblockt. Vielleicht ist das gut so. Sobald du einen staatlichen oder militärischen Stab unterstützt, wird von dir erwartet, das Maul zu halten. Alles, was du tust, unterliegt der Geheimhaltung.«

»Und warum können wir beide uns dann ungehindert austauschen?«

»Weil wir im selben Boot sitzen.«

»Aber diese Generalin erzählt Mist! Das von der Barrier Queen zum Beispiel …«

»Leon.« Ford gähnte. »Warst du dabei, als es passierte?«

»Fang jetzt nicht so an.«

»Tue ich gar nicht. Ich zweifle ebenso wenig wie du daran, dass es sich exakt so zugetragen hat, wie dein Mr. Roberts von Inglewood sagt. Trotzdem, überleg mal: eine Invasion von Muscheln. Komische Tierchen, wissenschaftlich nicht beschrieben. Ominöser Glibber. Ein Wal springt auf eine Trosse. Das alles zusammen ergibt deinen Barrier-Queen -Vorfall — ach ja, nicht zu vergessen, dass dir im Dock irgendwas ins Gesicht geflatscht und abgehauen ist und Fenwick und Oliviera Glibberzeug in Walgehirnen vorfinden. Willst du das so in aller Öffentlichkeit breittreten?«

Anawak schwieg.

»Warum ist Inglewood nicht für mich erreichbar?«, fragte er schließlich. »Keine Ahnung.« »Irgendwas musst du doch wissen. Du bist Wissenschaftlicher Leiter des Kanadischen Stabs.«

»Klar! Und darum legen sie mir stapelweise Dossiers auf den Tisch. Mann, Leon, ich weiß es nicht! Sie halten uns kurz.«

»Inglewood und der Krisenstab sitzen auch in einem Boot.«

»Prima. Wir können stundenlang darüber diskutieren, aber ich würde gerne fertig werden mit den verdammten Videos, und es wird länger dauern, als ich dachte. Einer unserer Leute hat sich eben mit der Scheißerei ins Bett gelegt. Herzlichen Glückwunsch. Vor heute Nacht können wir uns gar nichts ansehen.«

»Mist«, fluchte Anawak.

»Pass auf, ich ruf dich an, okay? Oder Licia, falls du ein Nickerchen …«

»Ich bin erreichbar.«

»Sie macht sich übrigens gut, findest du nicht?«

Natürlich machte sie sich gut. Sie war so engagiert, wie man es sich überhaupt nur wünschen konnte.

»Ja«, brummte Anawak. »Nicht übel. Kann ich irgendwas tun?«

»Nachdenken. Vielleicht machst du einen Spaziergang oder fährst ein paar Nootka-Häuptlinge besuchen.« Ford lachte meckernd. »Die Indianer wissen bestimmt was. Wär doch toll, wenn sie dir plötzlich erzählen, das alles sei vor tausend Jahren schon mal passiert.«

Witzbold, dachte Anawak.

Er beendete das Gespräch und starrte in den laufenden Fernseher.

Nach einigen Minuten begann er im Raum auf und ab zu laufen. Sein Knie pochte, aber er lief weiter, als wolle er sich dafür bestrafen, nicht voll einsatzfähig zu sein.

Wenn es so weiterging, würde er in Paranoia verfallen. Jetzt schon beschlich ihn der Verdacht, dass ihn jeder zu umgehen versuchte. Niemand rief ihn an und erzählte ihm etwas, sofern er nicht danach fragte. Sie behandelten ihn wie einen Pflegefall. Dabei konnte er nur nicht richtig laufen. Gut, es war ein bisschen viel gewesen in letzter Zeit. Erst aus einem Boot geschleudert zu werden und ein paar Tage später aus einem abstürzenden Flugzeug, okay, okay …

Das alles war es nicht.

Er blieb vor den Plastikwalen stehen.

Niemand versuchte ihn irgendwo herauszuhalten. Kein Mensch behandelte ihn wie einen Kranken. Ford konnte ihm nichts zeigen, solange er nicht das komplette Material gesichtet hatte, und er wollte Anawak nicht damit belasten, ins Aquarium zu kommen und ihm dabei zu helfen. Delaware tat alles, um ihn zu unterstützen. Sie waren rücksichtsvoll, nicht mehr und nicht weniger. Er selber war es, der sich als Versehrten betrachtete und sich nicht leiden konnte.

Was sollte er tun?

Wenn du dich im Kreis drehst, dachte er, was machst du dann am besten? Durchbrich den Kreis. Tu etwas, das dich wieder auf geraden Kurs bringt. Etwas, bei dem du nicht die anderen forderst, sondern dich selber. Tu etwas Ungewöhnliches.

Was konnte er Außergewöhnliches tun?

Wie hatte Ford gesagt? Er solle ein paar Nootka-Häuptlinge interviewen.

Die Indianer wissen bestimmt was.

Wussten sie wirklich etwas? Die Indianer Kanadas hatten über Generationen ihr Wissen aneinander weitergegeben, bis der Indian Act 1885 die Kette der mündlichen Weitergabe durchbrach. Man begann, ihnen ihre Identität abzukaufen, indem man sie dazu brachte, ihre Heimat zu verlassen und ihre Kinder auf die Residential School zu schicken, um sie — wie es hieß — in die Gemeinschaft der Weißen zu integrieren. Der Indian Act war eine Schlange gewesen, doppelzüngig: Integration in etwas Fremdes, eine großzügig ausgestreckte Hand, obwohl man doch integriert war, nämlich in die eigene Gemeinschaft, aber die war der Schlange unlieb gewesen. Immer noch wirkte der Alptraum des Indian Act nach. Seit einigen Jahrzehnten hatten die Indianer zunehmend wieder die Kontrolle über ihr Leben ergriffen. Viele knüpften das Band der Überlieferungen dort an, wo es fast 100 Jahre zuvor zerschnitten worden war, während sich die kanadische Regierung um Wiedergutmachung bemühte, aber von einer Wiederherstellung ihrer Kultur konnte keine Rede sein. Immer weniger Indianer kannten die alten Überlieferungen.

Wen konnte er fragen?

Die Alten.

Anawak humpelte auf die Veranda und sah die Hauptstraße entlang.

Er pflegte so gut wie keinerlei Kontakt zu den Nootka, den Nuuchah-nulth, wie sie sich selber nannten: Die entlang der Berge leben. Neben den Tsimshian, Gitskan, Skeena, Haida, Kwagiulth und Coast Salish waren die Nootka einer der Hauptclans, welche die Westküste British Columbias bewohnten. Die unterschiedlichen Clans, Stämme und Sprachfamilien ins richtige Verhältnis zu setzen war einem Laien so gut wie unmöglich. Schon hier scheiterten die meisten am Einstieg in die sogenannte indianische Kultur, womit sie ins Reich der regionalen Dialekte und Lebensweisen noch gar nicht vorgestoßen waren, die von Bucht zu Bucht differierten.

Man konnte Fords Hinweis nur als Scherz auffassen. Eine nette Idee für einen Spielfilm, in dem geheimnisvolle Überlieferungen zur Lösung des Rätsels führten. Das Problem war, dass es die Indianer nicht gab. Um etwas über den Pazifik vor Vancouver Island zu erfahren, machte es grundsätzlich Sinn, sich an die Nootka zu halten, die Indianer des Inselwestens. Vielleicht wurde man fündig. Vielleicht verstrickte man sich aber auch in den Mythen der diversen Stämme, aus denen sich die Nootka zusammensetzten. Jeder dieser Stämme besiedelte sein eigenes Territorium. Dass die Traditionen der Nootka eng mit der Landschaft Vancouver Islands verbunden waren und die Mythologie tief in der Natur wurzelte, war der Hut, unter den sich alles bringen ließ. Ab da wurde es vertrackt. Grundsätzlich erzählte man sich bei den Nootka Schöpfungsgeschichten, in denen die Figur des Transformers, des Gestaltwandlers, die Hauptrolle spielte. Speziell im Stamm der Dididath kam Wölfen eine große Bedeutung zu, aber es gab natürlich auch Geschichten über Orcas. Wer allerdings im Bemühen, etwas über Orcas zu erfahren, die Wolfsgeschichten außer Acht ließ, beging schon den ersten großen Fehler, weil im Transformer-Zyklus Menschen und Tiere geistig miteinander verbunden waren. Als Folge verfügten nicht nur alle Kreaturen über die Möglichkeit der Transformation in andere Wesen, manche waren zu allem Überfluss auch noch mit einer Doppelnatur ausgestattet: Ging ein Wolf ins Wasser, verwandelte er sich natürlich in einen Killerwal, kam ein Killerwal an Land, wurde er zum Wolf. Orcas und Wölfe waren ein und dieselbe Wesenheit, und Geschichten über Orcas zu erzählen, ohne dabei an Wölfe zu denken, war in den Augen eines Nootka völliger Blödsinn.

Weil die Nootka aus alter Tradition Walfänger waren, hatten sie unzählige Geschichten über Wale in petto. Aber noch lange nicht jeder Stamm erzählte die gleichen Geschichten, und die gleichen wurden etwas anders erzählt, je nachdem, wohin man kam. Zu den Nootka gehörten im Übrigen auch die Makah — oder auch nicht, wie einige meinten, zumindest sprachen beide Wakashan — , die neben den Eskimos als einziger Stamm Nordamerikas ein vertragliches Recht auf Walfang hatten und derzeit für Diskussionsstoff sorgten, weil sie nach fast einem Jahrhundert Fangabstinenz wieder davon Gebrauch machen wollten. Die Makah lebten nicht auf Vancouver Island, sondern auf dem gegenüberliegenden nordwestlichen Zipfel des Staates Washington. In ihren Mythen gab es diverse Geschichten über Wale, die sich auch bei den Nootka auf der Insel fanden. Was hingegen die Beweggründe eines Wals anging, sein Denken und Fühlen, seine Absichten, hatte jeder seine eigene Betrachtungsweise. Wie auch anders bei einem Wesen, das man nicht einfach als Wal kannte, sondern als iihtuup, als ›Großes Mysterium‹.

Tu etwas Außergewöhnliches.

Nun, außergewöhnlich war es allemal, die Indianer zu Rate zu ziehen. Ob es außergewöhnlich viel brachte, würde sich zeigen.

Anawak grinste säuerlich. Ausgerechnet er.

Für jemanden, der seit zwei Jahrzehnten in der Gegend von Vancouver lebte, wusste er wenig über die hiesigen Indianer, weil er im Grunde nichts wissen wollte. Nur hin und wieder überkam ihn eine unbestimmte Sehnsucht nach ihrer Welt. Das Gefühl war ihm jedes Mal peinlich, sodass er es niederkämpfte, bevor es an Größe gewinnen konnte. Unterm Strich war er, den Delaware für einen Makah hielt, denkbar ungeeignet, sich in einheimische Mythen zu versenken.

Und Greywolf war es noch viel weniger.

Greywolf ist jämmerlich, dachte er voller Erbitterung. Kein Indianer läuft heute noch mit einem läppischen Wildwest-Nachnamen herum. Die Chiefs der Stämme hießen Norman George oder Walter Michael oder George Frank. Keiner nannte sich John Two Feathers oder Lawrence Swimming Whale. Nur ein hirnloser Angeber wie Jack O’Bannon leistete sich diese Kinderbuchromantik. Ausgerechnet Jack, der das Wort Indianer auf der Stirn stehen hatte, war zu blöde, wenigstens wie ein richtiger Indianer zu heißen.

Greywolf war ein Ignorant!

Und er selber?

Wir schenken uns nichts, dachte er verdrossen. Der eine sieht aus wie ein Indianer und weist alles Indianische von sich. Der andere ist keiner und versucht mit aller Gewalt, einer zu sein. Wir sind beide Ignoranten.

Jeder eine lächerliche Figur. Zwei Versehrte.

Dieses verdammte Knie! Es machte ihn nachdenklich. Er wollte nicht nachdenken! Er brauchte keine Alicia Delaware, die ihn mit altkluger Studentenmiene den Weg zurückstieß, den er gekommen war.

Wen konnte er fragen?

George Frank!

Das war einer der Chiefs, die er kannte. Man war ja nicht aus der Welt. Weder Weiße noch Indianer pflegten außerhalb der offiziellen Zusammenkünfte im Job und bei einem gelegentlichen Bier ausgiebigen Kontakt, aber man hatte auch nichts gegeneinander. Es herrschte Koexistenz, Zwei Welten, die einander in Frieden ließen. Dennoch entstanden hin und wieder Freundschaften. George Frank war weniger als ein Freund, aber immerhin eine Bekanntschaft: ein netter Kerl und außerdem taayii hawil der Tla-o-qui-aht, eines Nootka-Stammes auf dem Gebiet um Wickaninnish. Ein hawil war ein Chief, ein Häuptling, der taayii hawil sogar noch etwas mehr, der oberste Chief sozusagen. Mit den taayii hawiih war es ein bisschen wie mit dem englischen Königshaus. Ihr Rang war durch die Erbfolge festgelegt. Im Alltag wurden die meisten Stämme mittlerweile von gewählten Chiefs regiert, aber die Erbhäuptlinge erfreuten sich dennoch höchster Achtung.

Anawak überlegte. Im Norden der Insel nannten sie die obersten Chiefs taayii hawiih, im Süden taayii chaachaabat. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Wahrscheinlich war George Frank eher taayii chaachaabat, aber wer zum Teufel sollte sich das merken?

Besser, indianische Ausdrücke zu meiden.

Er könnte George Frank besuchen. Es war nicht weit. Frank wohnte unweit des Wickaninnish Inn. Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke.

Anstatt auf Fords Anruf zu warten, konnte er den Kreis durchbrechen und sehen, wohin es ihn führte. Er blätterte im Telefonbuch nach Franks Nummer und rief ihn an.

Der taayii hawiih war zu Hause. Er schlug vor, gemeinsam am Fluss spazieren zu gehen.

»Du bist also gekommen, um etwas über die Wale zu erfahren«, sagte Frank, als sie eine halbe Stunde später unter dicht belaubten Riesenbäumen hindurchgingen.

Anawak nickte. Er hatte Frank erklärt, warum er hier war. Der Chief rieb sich das Kinn. Er war ein kleiner Mann mit knittrigem Gesicht und freundlichen dunklen Augen. Sein Haar war ebenso schwarz wie das von Anawak. Unter seiner Windjacke trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift Salmon Corning Home.

»Du erwartest jetzt hoffentlich keine Indianerweisheiten von mir?«

»Nein.« Anawak war froh über diese Antwort. »John Ford hatte die Idee.«

»Welcher?« Frank lächelte. »Der Regisseur oder der Direktor des Vancouver Aquarium?«

»Der Regisseur ist, glaube ich, tot. Wir versuchend halt an allen Fronten. Und sei es nur, dass es in irgendeiner eurer Geschichten etwas gibt, das auf ähnliche Vorfälle hindeutet.«

Frank wies auf den Fluss, an dessen Ufer sie entlangwanderten. Das Wasser bahnte sich gurgelnd seinen Weg. Es trieb Geäst und Blätter mit sich. Der Fluss entsprang in den rauen Hochgebirgslandschaften und war teilweise versandet.

»Da hast du deine Antwort«, sagte er.

»Im Fluss?«

Frank grinste. »Hisbuk ish ts’awalk.«

»Okay. Also doch Indianerweisheiten.«

»Nur eine. Ich dachte, du kennst sie.«

»Ich kann eure Sprache nicht. Hier und da mal ein paar Brocken aufgeschnappt. Das war’s.«

Frank musterte ihn einige Sekunden.

»Na ja, es ist der Kerngedanke fast aller indianischen Kulturen. Die Nootka reklamieren ihn für sich, aber ich schätze, anderswo sagen die Menschen dasselbe in anderen Worten: Alles ist eins. Was mit dem Fluss passiert, passiert mit den Menschen, den Tieren, dem Meer. Was einem geschieht, geschieht allen.«

»Stimmt. Andere nennen es Ökologie.«

Frank bückte sich und zog einen losen Ast ans Ufer, der sich im Wurzelgestrüpp entlang des Flusses verfangen hatte.

»Was soll ich dir erzählen, Leon? Wir wissen nichts, was du nicht auch weißt. Ich kann gerne für dich die Ohren spitzen. Ich rufe ein paar Leute an. Es gibt viele Lieder und Legenden. Aber ich kenne keines, das euch weiterhelfen würde. Ich meine, in allen unseren Überlieferungen wirst du exakt das finden, wonach du suchst, und genau da liegt das Problem.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Na ja, wir sehen Tiere etwas anders. Die Nootka haben nie einfach das Leben eines Wals genommen. Der Wal hat sein Leben geschenkt, das ist ein bewusster Akt, verstehst du? Im Glauben der Nootka ist sich die ganze Natur ihrer selbst bewusst, ein großes, miteinander verflochtenes Bewusstsein.« Er ging einen morastigen Pfad entlang. Anawak folgte ihm. Der Wald öffnete sich zu einer großen, kahl geschlagenen Fläche. »Schau dir das an, eine Schande. Der Wald ist abgeholzt, Regen, Sonne und Wind erodieren den Boden, und die Flüsse verkommen zu Kloaken. Sieh es dir an, wenn du wissen willst, was die Wale umtreibt. Hishuk ish ts’awalk.«

»Mhm. Habe ich dir eigentlich je erzählt, worin meine Arbeit besteht?«

»Du suchst nach Bewusstsein, glaube ich.«

»Nach Selbstbewusstsein.«

»Ja, ich erinnere mich. Du hast es erzählt im Verlauf eines schönen Abends. Letztes Jahr war das. Ich habe Bier getrunken und du Wasser. Du trinkst immer Wasser, stimmt’s?«

»Ich mag keinen Alkohol.«

»Nie welchen getrunken?«

»So gut wie nie.«

Frank blieb stehen. »Tja, der Alkohol. Du bist ein guter Indianer, Leon. Trinkst Wasser und kommst zu mir, weil du denkst, wir sind im Besitz geheimen Wissens.« Er seufzte. »Wann werden Leute endlich aufhören, einander als Klischees zu behandeln. Die Indianer hatten ein Alkoholproblem und manche haben es immer noch, aber es gibt auch welche, die einfach hin und wieder gerne mal was trinken. Wenn heute ein Weißer einen Indianer bei einem Bier sieht, sagt er sofort, wie tragisch, schrecklich, wir haben die Leute an die Flasche gebracht. Entweder sind wir die armen Verführten oder die Hüter höherer Weisheiten. — Was bist du eigentlich, Leon? Christ?«

Anawak war nicht sonderlich überrascht. Die wenigen Male, die er mit George Frank zusammengewesen war, waren immer ähnlich verlaufen. Der taayii hawil führte Unterhaltungen scheinbar ziellos, er sprang wie ein Eichhörnchen von einem Thema zum nächsten.

»Ich bin in keiner Kirche«, sagte Anawak.

»Weißt du was? Ich habe mich mal mit der Bibel beschäftigt. Voll höherer Weisheit. Fragst du einen Christen, warum es im Wald brennt, wird er dir antworten, Gott manifestiere sich in den Flammen. Er wird auf die alten Überlieferungen verweisen, und da findest du dann tatsächlich einen brennenden Dornbusch. Was meinst du, würde ein Christ auf diese Weise einen Waldbrand erklären?«

»Natürlich nicht.«

»Trotzdem wird ihm die Geschichte vom brennenden Dornbusch viel bedeuten, wenn er ein gläubiger Christ ist. Auch die Indianer glauben an ihre Überlieferungen, aber sie wissen sehr genau, welche Schnittmenge diese Geschichten mit der Wirklichkeit aufweisen. Es geht nicht darum, ob etwas so oder so ist, sondern um die Idee davon, wie es ist. In unseren Legenden wirst du alles und gar nichts finden, nichts davon wirst du wörtlich nehmen können, aber alles macht Sinn.«

»Weiß ich, George. Ich habe einfach nur das Gefühl, wir kommen nicht voran. Wir zermartern uns den Kopf darüber, was die Tiere wild gemacht hat.«

»Und du glaubst, ihr seid mit eurer Wissenschaft am Ende?«

»Irgendwie ja.«

Frank schüttelte den Kopf. »Das seid ihr nicht. Die Wissenschaft ist eine großartige Sache. Die Menschen vermögen unglaublich viel damit. Das Problem ist die Sichtweise. Worauf schaust du, wenn du dein Wissen anwendest? Du schaust auf den Wal, der sich verändert hat. Du erkennst ihn nicht wieder, deinen Freund. Warum? Er ist zum Feind geworden. Was hat ihn dazu bewogen? Hast du ihm etwas angetan? Oder seiner Welt? Aber in welcher Welt lebt ein Wal? Du suchst nach Schaden, der ihm unmittelbar zugefügt wurde, und du findest eine Menge. Da gibt es das sinnlose Abschlachten, die Gewässer werden vergiftet, der Waltourismus gerät aus den Fugen, wir zerstören die Nahrungsgrundlage der Tiere und verschmutzen ihre Welt mit Lärm. Wir nehmen ihnen die Stätten, wo sie ihre Jungen aufziehen — soll nicht in der Baja California eine Salzgewinnungsanlage entstehen?«

Anawak nickte düster. 1993 hatte die UNESCO die Lagune San Ignacio in der Baja California zum Weltnaturerbe erklärt. Sie war die letzte ursprüngliche und unberührte Geburtslagune der Pazifischen Grauwale und beherbergte zudem eine Vielzahl weiterer vom Aussterben bedrohter Pflanzen— und Tierarten. Ungeachtet dessen baute der Mitsubishi-Konzern dort nun eine Salzgewinnungsanlage, die künftig pro Sekunde über 20000 Liter Salzwasser aus der Lagune pumpen und damit 116 Quadratmeilen Verdunstungspools an Land fluten würde. Das Wasser floss als Abwasser zurück. Kein Mensch wusste, welche Auswirkungen das auf die Wale haben würde. Unzählige Forscher, Aktivisten und ein Konsortium von Nobelpreisträgern protestierten gegen die Anlage, die ein tragischer Präzedenzfall zu werden drohte.

»Siehst du«, fuhr Frank fort, »das ist die Welt der Wale, wie du sie kennst. Sie leben darin, aber ist diese Welt nicht ungleich mehr als eine Kette von Bedingungen, unter denen sich Wale wohl oder unwohl fühlen? Vielleicht sind gar nicht die Wale das Problem, Leon. Vielleicht sind sie nur der Teil des Problems, den wir sehen.«


Aquarium, Vancouver

Während Anawak den Worten des taayii hawil lauschte, sah John Ford doppelt.

Er hatte zwei Monitore gleichzeitig zu kontrollieren, und das nun schon seit Stunden. Der eine zeigte die Magnetbandaufnahmen der Kamera, mit denen der LIRA Lucy und die anderen Grauwale gefilmt hatte, der andere einen virtuellen Raum, ein Koordinatengefüge aus Linien, in dem ein Dutzend grüner Lichter hingen wie hineingeworfen. Sie wiesen das Rudel aus und veränderten stetig ihre Position. Ziemlich schnell nach seiner Wasserung hatte der Roboter einen Abgleich von Lucys Flukenmuster mit ihren spezifischen Lauten hergestellt, sodass er das Tier alleine dadurch lokalisieren und seine Position bestimmen konnte, die nun als Punkt im Koordinatenraum erschien. Auf diese Weise hatte er Lucy selbst in tiefer Finsternis nicht verlieren können.

Über den zweiten Monitor liefen die Daten der Sonde, die immer noch im Walspeck steckte: Herzfrequenzen, Tauchtiefen, Positionsdaten, Temperaturerfassung, Druck— und Lichtmessung. Sonde und URA zusammen lieferten ein recht komplettes Bild dessen, was Lucy im Verlauf von 24 Stunden widerfahren war. 24 Stunden im Dasein eines verrückt gewordenen Wals.

Das Beobachtungslabor bot vier Leuten Platz zur Datenauswertung. Ford und zwei Helfer saßen im Dämmerlicht, die Gesichter beschienen von den Monitoren. Der vierte Platz war leer. Ein harmloser Magen— und Darmvirus hatte das Team reduziert und ihnen eine Nachtschicht eingebrockt.

Ford langte neben sich, ohne den Blick von den Monitoren zu nehmen, griff in eine Pappschachtel und schob eine Hand voll kalt gewordener Pommes frites in seinen Mund.

Einen verrückten Eindruck machte Lucy eigentlich nicht.

In den vergangenen Stunden hatte sie vorwiegend das getan, was die Weidetiere der Ozeane nun mal taten. Sie hatte gefressen, in Gesellschaft eines halben Dutzends erwachsener Artgenossen und zweier heranwachsender Kälber. Jedes Mal war dabei eine Menge Schlamm aufgewirbelt worden, wenn Lucy zwischen Vorhängen aus Seetang auf Grund ging und den weichsandigen Schlick durchpflügte, um Würmer und Flohkrebse herauszufiltern. Sie hatte sich auf die Seite gedreht und mit ihrem schmalen, bogenförmigen Kopf regelrechte Ackerfurchen in den Boden gegraben. Anfangs hatte er fasziniert vor den Bildschirmen gesessen, obwohl es bei weitem nicht die ersten Aufnahmen waren, die er von fressenden Grauwalen sah. Dennoch lieferte der URA Bilder einer ganz neuen Qualität, weil er den Walen folgte, als sei er Teil des Rudels. Vieles war deutlich zu erkennen. Einem Pottwal in die Fressgründe zu folgen hätte geheißen, sich in die finsterste Tiefsee zu begeben. Aber Grauwale liebten es flach. So erblickte Ford nun seit Stunden ein ständiges Wechselspiel zwischen Helligkeit und Halbdämmer. Einige Minuten dümpelte Lucy an der Oberfläche, presste Schlamm durch ihre Barten, sog die Lungen voller Luft, stieß sie aus und sank auf Grund. Dabei kam sie dem Ufer so nahe, dass ein Großteil der Aufnahmen in nicht mal 30 Metern Tiefe zustande gekommen war.

Ford sah zu, wie die schartigen, marmorierten Körper durchs Sediment robbten, wie sich das Wasser trübte. Der Roboter hatte keinerlei Mühe, den Tieren zu folgen, weil sie eigentlich nirgendwohin schwammen. Sie änderten immer wieder die Richtung, ein paar Meter hierhin, eine kurze Strecke dorthin, aufwärts, abwärts, fressen, aufwärts, abwärts. Ford pflegte zu sagen, Vancouver Island sei die Autobahnraststätte der Wale, an der sie faul rumhingen, und eigentlich traf es das ganz gut.

Aufwärts, abwärts, fressen.

Irgendwann wurde es langweilig.

Einmal tauchten in der Ferne die schwarzweißen Silhouetten einiger Orcas auf, aber sie waren schnell wieder verschwunden. Im Allgemeinen verliefen solche Begegnungen friedlich, obwohl Orcas zu den wenigen ernst zu nehmenden Feinden der Großwale gehörten. Nicht mal vor Blauwalen machten sie Halt. Wenn sie angriffen, dann zu mehreren und immer mit äußerster Brutalität. Sie fraßen Zunge und Lippen der Opfer und ließen sterbende, verstümmelte Kolosse zurück, die langsam dem Meeresboden entgegensanken.

Fressen, tauchen, aufsteigen.

Irgendwann schlief Lucy. Zumindest glaubte Ford, dass sie schlief. Gemeinsam mit seinen beiden Assistenten beobachtete er, wie es dunkler wurde, weil der Abend hereinbrach. Ein Schatten blieb, kaum auszumachen gegen den Hintergrund. Lucys Körper, der aufrecht im Wasser hing, langsam nach unten sank und ebenso langsam wieder stieg. Es gab eine ganze Reihe von Meeressäugern, die auf diese Weise ruhten. Alle paar Minuten kamen sie im Halbschlaf an die Oberfläche, atmeten, sanken wieder hinab und schliefen. Bemerkenswerterweise schliefen die Tiere nie länger als fünf bis sechs Minuten, schafften es jedoch, die kurzen Phasen zu einem erholsamen Schlaf aufzusummieren.

Schließlich wurde es schwarz auf den Monitoren. Nur noch der Koordinatenraum zeigte die Verteilung des Rudels an.

Nacht.

Nichts zu sehen und trotzdem hinschauen zu müssen, war besonders öde. Hin und wieder blitzte etwas auf, eine Qualle oder ein Tintenfisch. Ansonsten herrschte biblische Finsternis, während weiterhin Daten über den zweiten Monitor tickerten, Angaben über Lucys Metabolismus und die physikalische Umgebung. Die grünen Punkte bewegten sich träge im virtuellen Raum. Es war keineswegs so, dass alle Tiere des Rudels über Nacht schliefen. Wale ruhten zu unterschiedlichsten Zeiten. Der Datenmonitor wies Höhen— und Tiefenschwankungen auf, die zeigten, dass Lucy und die anderen auch jetzt ihr Tauch— und Fressverhalten einhielten. Je nach Tiefe schwankte die Temperatur um ein halbes Grad. Mehr tat sich nicht. Stetig schlug das Herz des Grauwals, mal langsamer, mal etwas schneller. Die Hydrophone des URA erfassten alle möglichen Unterwassergeräusche, Rauschen und Blubbern, Orcarufe und Buckelwalgesänge, Röhren und Knurren, das ferne Wummern eines Schiffspropellers. Nichts, was man nicht kannte.

So saß Ford vor seinem schwarzen Monitor und gähnte, bis seine Kiefer knackten.

Er klaubte die letzten Pommes frites zusammen.

Seine gekrümmten, fettigen Finger verharrten. Dann ließ er die Fritten wieder los und kniff die Augen zusammen.

Auf dem Datenschirm tat sich etwas.

Während der ganzen Zeit hatte die Sonde Tiefen zwischen 0 und 30 Metern angezeigt. Jetzt wies sie 40, plötzlich 50 Meter aus. Lucy veränderte ihren Standort. Sie schwamm aufs offene Meer hinaus und ging dabei tiefer. Die anderen Wale folgten ihr zügig. Kein Herumhängen mehr. Das war Migrationsgeschwindigkeit!

Wo willst du denn so schnell hin, dachte Ford.

Lucys Herzschlag verlangsamte sich. Sie tauchte, und zwar rapide. Zu diesem Zeitpunkt enthielten ihre Lungen wohl nur noch zehn Prozent ihres Sauerstoffvorrats, vielleicht sogar weniger. Der Rest war in Blut und Muskeln gespeichert. Eine perfekte Vorratshaltung für große Tiefen.

Lucy unterschritt 100 Meter. Nicht lebenswichtige Körperbereiche hatte der Wal jetzt vom Kreislauf abgekoppelt. Blutdrucküberschüsse wurden in einem Netz fein verknäulter, äußerst dehnbarer Adern verstaut, Muskel-und Stoffwechselvorgänge ohne Sauerstoffverbrauch abgewickelt. Das Zusammenwirken einer Reihe erstaunlicher Prozesse hatte im Verlauf von Jahrmillionen dafür gesorgt, dass die ehemaligen Landbewohner problemlos über hunderte und tausende Meter zwischen Oberfläche und Tiefe pendeln konnten, während die meisten Fische schon bei 100 Metern Schichtendifferenz in Lebensgefahr gerieten. Lucy sank weiter, 150 Meter, 200 Meter, und entfernte sich dabei konstant vom Festland. »Bill? Jackie?«, sagte Ford über die Schulter zu den beiden Assistenten, ohne sich umzudrehen. »Kommt mal rüber und seht euch das an.« Die Assistenten versammelten sich um die beiden Monitore. »Sie geht runter.« »Ja, ziemlich schnell. Schon drei Kilometer vom Festland entfernt. Das ganze Rudel schwimmt ins offene Meer hinaus.« »Vielleicht wandern sie einfach weiter.« »Aber warum so tief?«

»Weil nachts das Plankton absinkt, war’s nicht so? Und der Krill. Die ganzen Leckereien verziehen sich nach unten.«

»Nein.« Ford schüttelte den Kopf. »Das macht für andere Wale Sinn, aber nicht für Bodenfresser. Sie haben keinen Grund …«

»Seht euch das an! 300 Meter.«

Ford lehnte sich zurück. Grauwale waren nicht besonders schnell. Durchaus fähig zu einem kurzen Spurt, ansonsten mit zehn Stundenkilometern im oberen Bereich. Solange es keinen Grund zur Flucht gab oder sie auf Wanderschaft gingen, dümpelten sie träge dahin.

Was trieb die Tiere an?

Er war nun sicher, anomales Verhalten zu beobachten. Grauwale lebten fast ausschließlich von Bodentieren. Wenn sie wanderten, waren sie nie weiter als zwei Kilometer von der Küste entfernt, meist weit näher dran. Ford wusste nicht, wie ihnen eine Tauchtiefe von 300 Metern bekommen würde. Wahrscheinlich gut. Es war nur einfach ungewöhnlich, dass sich die Grauen tiefer als 120 Meter wagten.

Sie starrten auf die Bildschirme.

Plötzlich erstrahlte etwas am unteren Rand des virtuellen Gitterwerks. Ein grüner Blitz, der kurz aufflammte und wieder erlosch.

Ein Spektrogramm! Die optische Darstellung von Schallwellen.

Dann noch einmal.

»Was ist das?«

»Geräusche! Ein ziemlich starkes Signal.«

Ford hielt die Aufzeichnung an und ließ das Programm zurückfahren. Sie betrachteten die Sequenz ein zweites Mal.

»Es ist sogar ein enorm starkes Signal«, sagte er. »Wie von einer Sprengung.«

»Es gibt hier keine Sprengungen, und außerdem würden wir eine Sprengung hören. Das hier ist Infraschall.«

»Weiß ich auch. Ich sagte ja nur, wie von einer …«

»Da! Da ist es wieder!«

Die grünen Punkte im Koordinatenraum waren zum Stillstand gekommen. Der starke Ausschlag wiederholte sich ein drittes Mal, dann war er verschwunden. »Sie haben gestoppt.« »Wie tief sind sie?« »360 Meter.« »Unglaublich. Was machen die bloß da unten?«

Fords Blick wanderte hinüber zum linken Monitor mit der Videoaufzeichnung des URA. Zu dem schwarzen Monitor. Sein Mund öffnete sich und wollte sich nicht mehr schließen.

»Seht euch das mal an«, flüsterte er.

Der Monitor war nicht mehr schwarz.


Vancouver Island

Anawak empfand Franks Gesellschaft als höchst entspannend.

Sie schlenderten den Strand zum Wickaninnish Inn entlang. Eine Weile hatten sie über das Umweltprojekt gesprochen, in dem Frank sich engagierte. Eigentlich war der taayii hawil Inhaber eines Restaurants, hineingeboren in eine Familie von Fischern. Aber die Tla-o-quiaht hatten eine Initiative ins Leben gerufen, um die Folgen des Kahlschlags zu mildern. Salmon Coming Home stand für den Versuch, das komplexe Ökosystem des Clayoquot Sound wieder auf seine Ursprünge zurückzuführen. Die Holzindustrie hatte große Teile davon vernichtet. Niemand unter den Tla-o-qui-aht gab sich der Illusion hin, den verschwundenen Regenwald zurückbringen zu können, aber es gab genug anderes zu tun. Dem Kahlschlag war es zuzuschreiben, dass Waldboden nun in der Sonne verdorrte und durch starke Regenfälle abgetragen wurde. Er wurde in Flüsse und Seen gespült, die er zusammen mit Steinen und Resten gefällter Riesenbäume verstopfte, sodass die Lachse keinen Platz mehr zum Laichen fanden und allmählich verschwanden, was wiederum anderen Tieren die Nahrungsgrundlage entzog. Im Restaurationscamp von Salmon Coming Home wurden darum Freiwillige ausgebildet, um Flüsse zu säubern und stillgelegte Straßen und Wege zu durchbrechen, die ihren Lauf blockierten. Entlang der Wasserläufe errichtete man Schutzwälle aus organischem Abfall und bepflanzte sie mit schnell wachsenden Erlen. Langsam brachten die Aktivisten so etwas von dem zurück, was einmal das Gleichgewicht zwischen Wald, Tier und Mensch ausgemacht hatte, mit unermüdlicher Tatkraft und ohne Hoffnung auf einen schnellen Erfolg.

»Du weißt, dass euch eine Menge Leute anfeinden, weil ihr wieder Wale jagen wollt«, sagte Anawak nach einer Weile.

»Und du?«, sagte Frank. »Was hältst du davon?«

»Es ist nicht sehr weise.«

Frank nickte versonnen. »Da hast du vielleicht Recht. Die Wale sind geschützt, warum sollte man sie jagen. Es gibt auch unter uns viele, die gegen eine Wiederaufnahme des Walfangs sind. Wer weiß schon noch, wie man einen Wal fängt. Wer geht noch hin und unterwirft sich dem?uusimch, der spirituellen Vorbereitung? Andererseits haben wir seit beinahe hundert Jahren keinen Wal mehr gefangen, und wenn wir heute davon reden, sprechen wir von fünf oder sechs Tieren. Das ist eine unbedeutende Quote. Wir sind wenige. Unsere Vorfahren haben von den Walen gelebt. Die Walfänger unterzogen sich monate— und jahrelangen Ritualen. Sie haben ihren Geist gereinigt, bevor sie auf Walfang gingen, um würdig zu sein für das Geschenk des Lebens, das der Wal ihnen machte. Sie haben auch nicht den erstbesten Wal harpuniert, sondern den, der für sie und für den sie bestimmt waren vermittels einer geheimnisvollen Kraft, einer Vision, in der Wal und Fänger einander erkannten. Verstehst du? Es ist diese Spiritualität, die wir erhalten wollen.«

»Andererseits bringt ein Wal einen Haufen Geld«, sagte Anawak. »Der Fischerei-Manager der Makah hat den Wert eines Grauwals mit einer halben Million US-Dollar veranschlagt. Er hat unverblümt darauf hingewiesen, dass Fleisch und Öl in Übersee hoch geschätzt würden, und damit hat er natürlich Asien gemeint. Im selben Atemzug betont er die wirtschaftlichen Probleme der Makah und die hohe Arbeitslosigkeit. Das ist nicht sehr geschickt. Plump sogar. Von Spiritualität keine Spur.«

»Auch richtig, Leon. Sieh es, wie du willst, ob die Makah nun aus ehrlicher Liebe zur Tradition oder aus Geldgier wieder jagen wollen — fest steht, dass sie ein verbrieftes Recht nicht wahrnahmen und in dieser Zeit die Weißen die Bestände ausrotteten. Auch nicht gerade aus spirituellen Gründen, oder? Die Weißen waren es, die damit angefangen haben, Leben als Ware zu betrachten. So haben wir nie gedacht. Und jetzt, nachdem sich alle bedient haben, wagt es einer von uns, über Geld zu sprechen, und man fällt über uns her, als würde das Überleben der Natur einzig von uns abhängen. Fällt dir nichts auf? Immer leben die Naturvölker wohl dosiert von etwas, das die Weißen dann verschwenden. Haben sie es verschwendet, reiben sie sich die Augen und wollen es plötzlich schützen. Also schützen sie es vor denen, vor denen es nie geschützt werden musste, und spielen sich auf. Nationen wie Japan und Norwegen sind schuld, wenn weiterhin Wale ausgerottet werden, aber sie dürfen ungehindert hinausfahren und ihre Harpunen verschießen. Wir trugen nie Schuld an der Ausrottung einer Art, aber bestraft werden nun wir. So ist es immer. So ist es auf der ganzen Welt.«

Anawak schwieg.

»Wir sind ein ratloses Volk«, sagte Frank. »Vieles hat sich verbessert. Und doch denke ich oft, dass wir in einem Konflikt gefangen sind, den wir kaum alleine werden meistern können. Hatte ich dir erzählt, dass ich nach jedem Fischzug, nach jedem Geschäft, das ich erfolgreich abschließe, nach jedem Fest eine Kleinigkeit abzweige und dem Raben gebe, weil der Rabe immer hungrig ist?«

»Nein. Das hattest du nicht.«

»Wusstest du es?«

»Nein.«

»Der Rabe ist nicht mal die Hauptfigur der Mythen unserer Insel, da musst du höher hinauf zu den Haida und Tlingit. Bei uns findest du eher die Geschichten von Kánekelak, dem Transformer. Aber auch der Rabe ist uns lieb. Die Tlingit sagen, er spricht für die Armen, so wie es Jesus Christus tat. Also zweige ich ein Stückchen Fleisch oder Fisch ab für den nimmersatten Raben, der einst ein Sohn der Tiermenschen war und von seinem Vater Ashamed in die Rabenhaut gesteckt und Wigyét genannt wurde. Wigyét wurde in die Welt geschickt, nachdem er sein Dorf arm gefressen hatte. Er bekam einen Stein mit auf den Weg, damit er einen Platz habe, um sich auszuruhen, und aus dem Stein wurde das Land, auf dem wir leben. Er stahl durch einen Trick das Sonnenlicht und brachte es auf die Erde. Ich gebe dem Raben, was des Raben ist. Andererseits weiß ich, dass Raben das Resultat eines evolutionsgeschichtlichen Prozesses sind, an dessen Beginn Proteine, Aminosäuren und einzellige Organismen standen. Ich liebe unsere Schöpfungsmythen, aber ich sehe auch fern und lese und weiß, was ein Urknall ist. — Und auch die Christen wissen das und erzählen dennoch in ihren Kirchen von den sieben Tagen der Schöpfung und von den zehn Geboten. Aber sie konnten sich den Luxus eines langsamen Umdenkens leisten und über Jahrhunderte einen Weg finden, Mythologie und moderne Wissenschaft harmonisch zu vereinen. Uns hingegen hat man dies innerhalb kürzester Zeit zugemutet. Wir sind in eine Welt geworfen worden, die nicht unsere war und niemals werden konnte. Nun kehren wir zurück in unsere Welt und stellen fest, dass sie uns fremd geworden ist. Das ist der Fluch der Entwurzelung, Leon. Du bist am Ende nirgendwo mehr heimisch, nicht in der Fremde und nicht in der Heimat. Die Indianer sind entwurzelt worden. Die Weißen tun mittlerweile ihr Bestes, alles wieder gutzumachen, aber wie sollen sie uns helfen, da sie sich selber entwurzelt haben? Sie zerstören die Welt, die sie hervorgebracht hat. Auch sie haben ihre Heimat verspielt. Auf die eine oder andere Weise haben wir das alle.«

Frank sah Anawak lange an. Dann grinste er wieder sein knitteriges Grinsen. »War das nicht ein schöner, pathetischer Indianervortrag, mein Freund? Komm, lass uns was trinken gehen. Ach, zu dumm — du trinkst ja nicht.«


1. Mai

Trondheim, Norwegen

Eigentlich hatten sie sich in der Cafeteria treffen wollen, bevor sie gemeinsam hochgingen zum großen Palaver, aber Lund erschien nicht. Johanson trank einen Kaffee und sah den Zeigern der Uhr hinter der Theke zu, wie sie über das Zifferblatt krochen. Mit ihnen krochen die Würmer, ebenso stoisch und unbeirrbar, ohne innezuhalten. Mit jeder Sekunde bohrten sie sich tiefer ins Eis, jetzt in diesem Moment, ohne dass es eine Möglichkeit gab, sie aufzuhalten.

Johanson fröstelte.

Die Zeit verstreicht nicht, sie läuft ab, flüsterte eine Stimme in ihm.

Der Beginn von etwas.

Ein Plan. Alles ist gesteuert …

Abwegiger Gedanke. Wessen Plan? Was planten Heuschrecken, wenn sie die Ernte eines Sommers wegfraßen? Nichts. Sie kamen, und sie hatten Hunger. Was planten Würmer, was planten Algen oder Quallen?

Was plante Statoil?

Skaugen war aus Stavanger hergeflogen. Er wollte einen detaillierten Bericht. Wie es aussah, war er ein Stück weitergekommen und drängte nun darauf, die Resultate zu vergleichen. Es war Lunds Idee gewesen, Johanson vorher unter vier Augen zu sprechen, um eine gemeinsame Position zu vertreten, aber nun trank er seinen Kaffee allein.

Wahrscheinlich war sie aufgehalten worden. Vielleicht von Kare, dachte er. Sie hatten auf dem Schiff und danach nicht mehr über ihr Privatleben gesprochen, und Johanson hatte es vermieden, sie danach zu fragen. Er hasste Aufdringlichkeit und Indiskretion, und augenblicklich schien sie alle Zeit für sich selbst zu brauchen.

Sein Handy schellte. Es war Lund.

»Wo zum Teufel bist du?«, rief Johanson. »Ich musste deinen Kaffee mittrinken.«

»Tut mir Leid.«

»So viel Kaffee bekommt mir nicht. Im Ernst, was ist los?«

»Ich bin schon oben im Konferenzraum. Ich hatte die ganze Zeit vor, dich anzurufen, aber wir waren außerordentlich beschäftigt.«

Ihre Stimme klang seltsam.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Johanson.

»Klar. Magst du hochkommen? Du kennst ja mittlerweile den Weg.«

»Ich bin gleich da.«

Lund war also schon im Haus. Dann hatten sie wohl etwas besprochen, was nicht für Johansons Ohren bestimmt war.

Wenn schon. Es war ihr verdammtes Bohrprojekt.

Als er den Konferenzraum betrat, standen Lund, Skaugen und Stone vor einer großen Karte, die das Areal der geplanten Bohrung zeigte. Der Projektleiter redete unterdrückt auf Lund ein. Sie wirkte genervt. Auch Skaugen machte kein glückliches Gesicht. Er wandte den Kopf, als Johanson hereinkam, und ließ ein halbherziges Lächeln um seine Mundwinkel spielen. Hvistendahl stand im Hintergrund und telefonierte.

»Bin ich zu früh?«, fragte Johanson vorsichtig.

»Nein, es ist gut, dass Sie kommen.« Skaugen wies auf den schwarz polierten Tisch. »Setzen wir uns.«

Lund hob den Blick. Erst jetzt schien sie Johanson zu bemerken. Sie ließ Stone mitten im Wort stehen, kam zu ihm herüber und küsste ihn auf die Wange.

»Skaugen will Stone abservieren«, flüsterte sie. »Du musst uns dabei helfen, hörst du?«

Johanson ließ sich nichts anmerken. Sie wollte, dass er Stimmung machte. War sie verrückt geworden, ihn in diese Situation zu bringen?

Sie nahmen Platz. Hvistendahl klappte sein Handy zu. Am liebsten wäre Johanson gleich wieder gegangen, um sie mit ihren Problemen allein zu lassen. Unterkühlt sagte er: »Nun, vorweg, ich habe gezielter recherchiert als ursprünglich besprochen. Soll heißen, ich habe speziell Forscher und Institute ausgesucht, die ihrerseits Aufträge von Energieunternehmen erhalten oder von diesen konsultiert werden.«

»War das klug?«, fragte Hvistendahl erschrocken. »Ich dachte, wir wollten möglichst unauffällig in den … ähm, Wald hineinhorchen.«

»Der Wald war zu groß. Ich musste ihn eingrenzen.«

»Sie haben hoffentlich niemandem gesagt, dass wir …«

»Keine Bange. Ich habe einfach nur nachgefragt. Ein neugieriger Biologe der NTNU.«

Skaugen schürzte die Lippen. »Ich schätze, Sie wurden mit Informationen nicht gerade überschüttet.«

»Wie man’s nimmt.« Johanson deutete auf die Kladde mit den Ausdrucken. »Zwischen den Zeilen schon. Wissenschaftler sind schlechte Lügner, sie hassen es, Politik zu machen. Was ich hier habe, ist ein Dossier der Zwischentöne. Hier und da kann man den Maulkorb förmlich sehen. Jedenfalls bin ich der unabdingbaren Überzeugung, dass unser Wurm schon anderswo aufgefallen ist.«

»Sie sind überzeugt?«, fragte Stone. »Aber Sie wissen es nicht.«

»Bislang hat es niemand direkt zugegeben. Aber ein paar Leute wurden plötzlich sehr neugierig.« Johanson sah Stone direkt an. »Ausnahmslos Forscher, deren Institute eng mit der Rohstoffindustrie zusammenarbeiten. Einer davon befasst sich sogar explizit mit dem Abbau von Methan.«

»Wer?«, fragte Skaugen scharf.

»Jemand in Tokio. Ein gewisser Ryo Matsumoto. Sein Institut, genauer gesagt. Mit ihm selber habe ich nicht gesprochen.«

»Matsumoto? Wer soll das sein?«, fragte Hvistendahl.

»Nippons führender Hydratforscher«, erwiderte Skaugen. »Er hat schon vor Jahren in den kanadischen Permafrostböden Probebohrungen durchgeführt, um ans Methan zu kommen.«

»Als ich seinen Leuten die Daten über den Wurm schickte, wurden sie ungemein hektisch«, führte Johanson weiter aus. »Sie stellten Gegenfragen. Sie wollten wissen, ob der Wurm in der Lage sei, Hydrat zu destabilisieren. Und ob er in größerer Anzahl aufgetreten ist.«

»Das muss nicht zwangsläufig heißen, dass Matsumoto über den Wurm Bescheid weiß«, sagte Stone.

»Doch. Weil er für die JNOC arbeitet«, knurrte Skaugen.

»Die Japan National Oil Corporation? Die sind in Sachen Methan unterwegs?«

»Und wie. Matsumoto hat 2000 angefangen, im Nankai-Trog verschiedene Fördertechniken zu erproben. Über die Testergebnisse wurde Stillschweigen bewahrt, aber seitdem lässt er gerne verlauten, schon in wenigen Jahren mit dem kommerziellen Abbau beginnen zu wollen. Er singt das Hohelied des Methanzeitalters wie kein Zweiter.«

»Na schön«, sagte Stone. »Aber er hat nicht bestätigt, den Wurm gefunden zu haben.«

Johanson schüttelte den Kopf. »Stellen Sie sich unser Detektivspielchen doch mal umgekehrt vor. Wir würden gefragt. Namentlich ich als Repräsentant der sogenannten unabhängigen Forschung. Der Betreffende, ebenfalls ein freier Forscher und zugleich Berater der JNOC, schiebt wissenschaftliche Neugierde vor, irgendwas. Ich werd’s ihm natürlich nicht auf die Nase binden, dass wir über die Viecher Bescheid wissen. Aber ich bin aufgeschreckt. Ich will wissen, was er herausgefunden hat. Also werde ich ihn ausquetschen, so wie Matsumotos Leute mich gelöchert haben, und dabei mache ich einen Fehler. Ich stelle allzu konkrete Fragen. Zu gezielt. Wenn mein Gesprächspartner nicht blöde ist, wird er schnell dahinter kommen, dass er bei mir ins Schwarze getroffen hat.«

»Wenn das stimmt«, sagte Lund, »haben wir das gleiche Problem vor Japan.«

»Das sind keine Beweise«, beharrte Stone. »Sie haben keinen einzigen Beweis, Dr. Johanson, dass außer uns noch jemand auf den Wurm gestoßen ist.« Er beugte sich vor. Die Ränder seiner Brille blitzten auf. »Mit dieser Art Information kann niemand etwas anfangen. Nein, Dr. Johanson! Die Wahrheit ist, dass kein Mensch das Auftreten des Wurms voraussehen konnte, weil er eben nirgendwo sonst aufgetreten ist. Wer sagt Ihnen, dass Matsumoto nicht einfach interessiert ist?«

»Mein Bauch«, erwiderte Johanson ungerührt.

»Ihr … Bauch?«

»Er sagt mir auch, dass da noch mehr ist. Auch die Südamerikaner haben den Wurm gefunden.«

»Ach ja?«

»Ja.«

»Also die haben Ihnen auch merkwürdige Fragen gestellt?«

»Genau.«

»Sie enttäuschen mich, Dr. Johanson.« Stone verzog spöttisch die Mundwinkel. »Ich dachte, Sie seien Wissenschaftler. Seit wann geben Sie sich mit Ihrem Bauch zufrieden?«

»Cliff«, sagte Lund, ohne Stone anzusehen. »Du hältst am besten einfach mal die Schnauze.«

Stone riss die Augen auf und schaute Lund empört an.

»Ich bin dein Boss«, bellte er. »Wenn hier einer die Schnauze hält …«

»Schluss!« Skaugen hob die Hände. »Ich will kein Wort mehr hören.«

Johanson musterte Lund, die ihre Wut nur mühsam unterdrückte. Er fragte sich, was Stone ihr getan hatte. Seine notorische Missgestimmtheit konnte nicht der einzige Grund für ihren Ärger sein.

»Wie auch immer, ich denke, Japan und Südamerika halten Informationen zurück«, sagte er. »Ebenso wie wir. Nun ist es erheblich einfacher, verlässliche Daten über Meerwasseranalysen zu bekommen als über Tiefseewürmer. Allerorten wird aus irgendwelchen Gründen Wasser analysiert. Zu diesem Thema konnte ich also weitere Quellen anzapfen. Und die haben’s bestätigt.«

»Was?«

»Ungewöhnlich hohe Methankonzentrationen in der Wassersäule. Es würde passen.« Johanson zögerte. »Was die Japaner betrifft — entschuldigen Sie die häufigen Zuwortmeldungen meines Bauches, Dr. Stone —, hatte ich übrigens noch so ein Gefühl. Mir schien, als wollten mich Matsumotos Leute die Wahrheit wissen lassen. Sie haben sich zur Zurückhaltung verpflichtet. Aber wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Kein freier Forscher, kein Institut, käme auf die Idee, mit Informationen zu taktieren, die für viele Menschen überlebenswichtig sein könnten. Es gibt keinen vertretbaren Grund, so etwas zurückzuhalten.

Dazu kommt es nur, wenn …«

Er breitete die Hände aus und ließ den Satz unvollendet.

Skaugen sah ihn unter zusammengezogenen Brauen an.

»Wenn wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen«, ergänzte er. »Das wollten Sie doch sagen.«

»Ja. Das wollte ich sagen.«

»Gibt es noch etwas, das Sie Ihrem Bericht hinzufügen möchten?«

Johanson nickte und zog einen Ausdruck aus seiner Kladde. »Ungewöhnlich hohe Methanaustritte verzeichnen wir offenbar nur in drei Regionen der Welt. In Norwegen, Japan und im lateinamerikanischen Osten. Dann gibt es aber auch noch Lukas Bauer.«

»Bauer? Wer ist das?«, fragte Skaugen.

»Er untersucht Meeresströmungen vor Grönland. Er lässt Drifter mit der Strömung treiben und zeichnet die Daten auf. Ich habe ihm eine Nachricht auf sein Schiff geschickt. Das hat er geantwortet.« Johanson las vor: »Lieber Kollege, Ihr Wurm ist mir unbekannt. Aber tatsächlich messen wir vor Grönland exzeptionelle Methanausstöße an unterschiedlichen Stellen. Hohe Konzentrationen gelangen ins Meer. Möglicherweise besteht ein Zusammenwirken mit Diskontinuitäten, die wir hier beobachten. Böse Sache, sollten wir Recht behalten. Sehen Sie mir die mangelnde Detaillierung nach, ich bin außerordentlich beschäftigt. Anbei eine Datei mit einem ausführlichen Bericht von Karen Weaver. Sie ist Journalistin und geht mir hier zur Hand und auf die Nerven. Tüchtiges Mädchen. Bei Rückfragen hilft sie Ihnen gerne weiter. Nehmen Sie Kontakt auf über kweaver@deepbluesea.com.«

»Was für Diskontinuitäten meint er denn?«, fragte Lund.

»Keine Ahnung. Ich hatte seinerzeit in Oslo den Eindruck, dass Bauer etwas zerstreut ist. Liebenswürdig, aber die Hochpotenz unseres Berufsstandes. Die versprochene Datei hat er folgerichtig vergessen hinzuzufügen. Ich habe zurückgemailt, bis jetzt aber noch keine Antwort erhalten.«

»Wir sollten vielleicht herausfinden, woran Bauer arbeitet«, sagte Lund. »Bohrmann müsste das wissen, oder?«

»Ich schätze, die Journalistin weiß es«, sagte Johanson.

»Karen …?«

»Karen Weaver. Der Name kam mir bekannt vor, aus gutem Grund. Ich hatte schon einiges von ihr gelesen. Interessante Vita, Studium der Informatik, Biologie und Sport. Ihr Schwerpunkt sind marine Themen, ihr Interesse gilt den großen Zusammenhängen. Vermessung der Meere, Plattentektonik, Klimawandel … zuletzt hat sie über Meeresströmungen geschrieben. — Was Bohrmann betrifft, den rufe ich sowieso an, wenn er sich bis Ende der Woche nicht gemeldet hat.«

»Und wohin führt uns das alles?«, fragte Hvistendahl in die Runde.

Skaugens blaue Augen hefteten sich auf Johanson. »Sie haben ja gehört, was Dr. Johanson gesagt hat. Die Industrie macht sich der Lumperei schuldig, weil sie Informationen für sich behält, die über Wohl und Wehe der Menschheit entscheiden könnten. Dem ist diskussionslos beizupflichten. Gestern Nachmittag hatte ich also ein maßgebliches Gespräch mit unserer obersten Heeresleitung, in dessen Verlauf ich eine klare Empfehlung aussprach. Statoil hat sofort im Anschluss daran die norwegische Regierung informiert.«

Stones Kopf ruckte hoch. »Was? Worüber denn, wir haben doch noch gar kein definitives Ergebnis vorliegen und kein …«

»Über die Würmer, Clifford. Über die Zersetzung der Methanvorkommen. Über die Gefahr eines Methan-GAUs. Über die Möglichkeit einer unterseeischen Rutschung. Stell dir vor, sogar die Begegnung des Tauchroboters mit nichtidentifizierbaren Lebewesen wurde einer Erwähnung für wert befunden. Für meinen Geschmack sind das Ergebnisse genug.« Skaugen blickte finster in die Runde. »Es wird Dr. Johanson freuen zu hören, dass sein Bauch ein sicherer Indikator für die Wirklichkeit ist. Heute Morgen hatte ich das Vergnügen, eine Stunde mit dem Technischen Vorstand der JNOC zu telefonieren. Natürlich ist die JNOC über jeden Zweifel erhaben. Nehmen wir darum nur mal hypothetisch an, Japan sei dermaßen wild auf eine Vormachtstellung in der Methanförderung, dass sie alles daransetzen, es als Erste zu schaffen. Geben wir zweitens der weltfremden Vorstellung Raum, sie würden dafür gewisse Risiken in Kauf nehmen und fachlicherseits geäußerte Bedenken unter den Tisch kehren.« Skaugens Blick wanderte zu Stone. »Attestieren wir zudem den unwahrscheinlichen und geradezu absurden Fall, dass es tatsächlich Menschen gibt, die aus purem Ehrgeiz Gutachten verschweigen und Warnungen ignorieren. Träfe all das zu, wie schrecklich! Dann müssten wir der JNOC unterstellen, in skandalöser Weise Stillschweigen über einen Wurm gewahrt zu haben, der ihren Traum von der Methannation Nummer eins über Nacht platzen lassen könnte. Dann hätten sie wochenlang geschwiegen.«

Niemand sagte etwas. Skaugen bleckte die Zähne. »Aber wir wollen nicht so streng sein. Wie hätte es schließlich ausgesehen, wenn Neil Armstrong in der Kapsel geblieben wäre bloß wegen eines blöden Wurms? Und wie gesagt, das sind ohnehin nur Unterstellungen. So hat mir die JNOC glaubhaft versichert, dass man in der Tat ähnliche Tiere aus der japanischen See gezogen habe, aber entdeckt hat man sie sage und schreibe erst vor drei Tagen. Ist das nicht allerhand?«

»So eine Scheiße«, sagte Hvistendahl leise.

»Und was gedenkt die JNOC zu unternehmen?«, fragte Lund.

»Oh, ich schätze, sie werden ihre Regierung informieren. Sie sind ja staatlich, genau wie wir. Nachdem sie jetzt wissen, was wir alles wissen, können sie es sich kaum leisten, damit hinterm Berg zu halten. Was — pardon! — natürlich niemand will, weder hier noch da. Und ich bin sicher, würde man heute die Südamerikaner auf das nämliche Thema ansprechen, könnte es glatt geschehen, dass denen morgen auch so ein Wurm ins Netz geht. Was werden die staunen! Sie werden sofort anrufen Und es uns mitteilen. — Und damit niemand auf die Idee kommt, ich würde hier nur die anderen anpinkeln: Wir sind nicht besser.«

»Na ja«, sagte Hvistendahl.

»Anderer Meinung?«

»Wie kritisch die Situation ist, wissen wir erst seit kurzem.« Hvistendahl wirkte verärgert. »Außerdem habe ich selber empfohlen, die Regierung zu verständigen.«

»Dir mache ich auch gar keinen Vorwurf«, sagte Skaugen gedehnt.

Johanson begann sich zu fühlen wie in einem Schauspiel. Skaugen inszenierte Stones Hinrichtung, so viel hatte er verstanden. Auf Lunds Gesicht breitete sich grimmige Zufriedenheit aus.

Aber war es nicht Stone gewesen, der den Wurm gefunden hatte?

»Clifford«, sagte Lund in die plötzlich entstandene Stille hinein. »Wann genau ist dir der Wurm das erste Mal begegnet?«

Stones Gesichtsfarbe wurde eine Spur fahler. »Das weißt du doch«, sagte er. »Du warst dabei.«

»Und vorher nie?«

Stone sah sie an. »Vorher?«

»Vorher. Im letzten Jahr. Als du in Eigenregie den Kongsberg-Prototyp auf Grund gesetzt hast. In eintausend Metern Tiefe.«

»Was soll das?«, zischte Stone. Er sah zu Skaugen hinüber. »Das war kein Alleingang. Ich hatte Rückendeckung. He, Finn, verdammt nochmal, was soll mir hier eigentlich unterstellt werden?«

»Sicher hattest du Rückendeckung«, sagte Skaugen. »Du hast vorgeschlagen, eine neuartige Unterwasserfabrik zu testen, die für eine maximale Tiefe von tausend Metern konzipiert war.«

»Genau.«

»Theoretisch konzipiert war.«

»Natürlich theoretisch. Bis zum ersten Versuch ist immer alles theoretisch. Ihr habt aber praktisch grünes Licht gegeben.« Stone sah Hvistendahl an. »Du auch, Thor. Ihr habt das Ding im Becken getestet und euer Okay gegeben.«

»Das stimmt«, sagte Hvistendahl. »Das haben wir.«

»Na also.«

»Wir hatten dich beauftragt«, fuhr Skaugen fort, »das Gebiet zu untersuchen und eine Expertise zu erstellen, ob es wirklich ratsam sei, eine nicht hinreichend erprobte Anlage …«

»Das ist eine Schweinerei!«, fuhr Stone auf. »Ihr habt die Anlage genehmigt.«

»… testweise in Betrieb zu nehmen. Ja, das Risiko haben wir verantwortet. Unter der Voraussetzung, dass alle Gutachten eindeutig dafür sprechen.«

Stone sprang auf. »Das haben sie ja auch«, schrie er, zitternd vor Erregung.

»Setz dich wieder hin«, sagte Skaugen kühl. »Es wird dich interessieren zu hören, dass gestern Abend jeder Kontakt zum Kongsberg-Prototyp abgerissen ist.«

»Das …« Stone erstarrte. »Ich bin nicht direkt mit der Überwachung vertraut. Ich habe die Fabrik nicht konstruiert, nur vorangetrieben. Was wirfst du mir eigentlich vor? Dass ich es noch nicht weiß?«

»Nein. Aber wir haben unter dem Druck der Ereignisse auch die damalige Installation des Kongsberg-Prototyps genauestens rekonstruiert. Und dabei stießen wir auf zwei Gutachten, die du seinerzeit … tja, wie soll ich sagen? Vergessen hast?«

Stones Finger krallten sich um die Tischplatte. Einen Moment lang glaubte Johanson tatsächlich, den Mann stürzen zu sehen. Stone wankte. Dann fing er sich, setzte eine ausdruckslose Miene auf und ließ sich langsam zurück auf den Stuhl sinken.

»Davon weiß ich nichts.«

»Eines besagt, dass die Verteilung der Hydrate und Gasfelder in diesem Gebiet schwer zu kartographieren ist. Es heißt in dem Bericht, das Risiko, im Verlauf einer

Ölbohrung auf freies Gas zu stoßen, sei zwar verschwindend gering, aber nicht hundertpro zentig auszuschließen.«

»Es war so gut wie auszuschließen«, sagte Stone heiser. »Und das Ergebnis übertrifft seit einem Jahr alle Erwartungen.«

»So gut wie ist nicht hundertprozentig.«

»Aber wir haben kein Gas angebohrt! Wir fördern Öl. Die Fabrik funktioniert, das Kongsberg-Projekt ist ein voller Erfolg. So erfolgreich, dass ihr beschlossen habt, den Nachfolger zu bauen, und diesmal offiziell.«

»Aus dem zweiten Gutachten«, sagte Lund, »geht hervor, dass ihr auf einen bis dahin unbekannten Wurm gestoßen seid, der sich im Hydrat eingenistet hatte.«

»Ja, zum Teufel. Es war der Eiswurm.«

»Hast du ihn untersucht?«

»Wieso denn ich?«

»Habt ihr ihn untersucht?«

»Es war … sicher haben wir ihn untersucht.«

»Das Gutachten sagt, der Wurm sei nicht eindeutig als Eiswurm identifiziert worden. Er sei in großer Anzahl angetroffen worden. Sein Einfluss auf die lokalen Gegebenheiten könne nicht eindeutig festgestellt werden, allerdings sei in seinem unmittelbaren Umfeld Methan ins Wasser entwichen.«

Stone war wachsweiß geworden. »Das ist so nicht …

nicht ganz richtig. Die Tiere kamen in einem sehr begrenzten Gebiet vor.«

»Dort aber massenweise.«

»Wir haben abseits davon gebaut. Ich habe diesem Gutachten … es hatte keine echte Relevanz.«

»Habt ihr den Wurm klassifizieren können?«, fragte Skaugen ruhig.

»Wir waren uns sicher, dass es …«

»Habt ihr ihn klassifizieren können?«

Stones Kiefer mahlten. Er kam Johanson vor, als ob er Skaugen im nächsten Moment an die Gurgel gehen würde.

»Nein«, presste er nach einer längeren Pause hervor.

»Gut«, sagte Skaugen. »Cliff, du bist vorläufig von allen Aufgaben entbunden. Tina wird deinen Job übernehmen.«

»Das kannst du nicht …«

»Wir reden später darüber.«

Stone sah Hilfe suchend zu Hvistendahl, doch der starrte geradeaus. »Thor, verdammt nochmal, die Fabrik funktioniert doch.«

»Du bist ein Idiot«, sagte Hvistendahl tonlos. Stone wirkte vollkommen entgeistert. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte nicht … Ich wollte wirklich nur, dass wir mit der Fabrik weiterkommen.« Johanson fühlte sich peinlich berührt. Darum also war Stone die ganze Zeit über so bemüht gewesen, die Rolle der Würmer herunterzuspielen. Er wusste, dass er damals einen Fehler begangen hatte. Er hatte der Erste sein wollen, der einen Prototyp erfolgreich in Funktion nahm. Die Unterwasserfabrik war Stones Baby. Sie stellte eine einmalige Chance für ihn dar, Karriere zu machen.

Eine Weile hatte es funktioniert. Ein erfolgreiches Jahr mit einem inoffiziellen Test, dann die offizielle Inbetriebnahme, am Ende eine Serie und der Vorstoß in immer neue Tiefen. Es hätte Stones persönlicher Triumphzug werden können. Aber dann tauchten die Würmer ein zweites Mal auf. Und diesmal beschränkten sie sich nicht auf wenige Quadratmeter.

Plötzlich tat er Johanson beinahe Leid.

Skaugen rieb sich die Augen. »Es ist mir unangenehm, Sie mit alldem zu behelligen, Dr. Johanson«, sagte er.

»Aber Sie sind im Team.«

»Ja. Offensichtlich.«

»Überall auf der Welt laufen die Dinge aus dem Ruder. Unglücksfälle, Anomalien … Die Leute sind dünnhäutig geworden, und Ölkonzerne geben gute Sündenböcke ab. Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen. Können wir weiterhin auf Sie zählen?«

Johanson seufzte. Dann nickte er.

»Das ist gut. Wir haben eigentlich auch nichts anderes von Ihnen erwartet. — Missverstehen Sie mich nicht, es ist ganz alleine Ihre Entscheidung! Aber Sie werden vielleicht noch mehr Zeit investieren müssen in Ihre Aufgabe als Wissenschaftlicher Koordinator, und so haben wir uns erlaubt, vorsorglich mit der NTNU darüber zu sprechen.«

Johanson richtete sich auf. »Sie haben was?«

»Um offen zu sein, wir haben um Ihre vorübergehende Freistellung gebeten. Ich habe Sie außerdem in Regierungskreisen empfohlen.«

Johanson starrte zuerst Skaugen an, dann Lund. »Augenblick mal«, sagte er.

»Es ist eine richtige Forschungsstelle«, warf Lund hastig ein. »Statoil stellt ein Budget, und du bekommst jede Unterstützung.«

»Ich hätte es vorgezogen …«

»Sie sind verärgert«, sagte Skaugen. »Das verstehe ich. Aber Sie haben gesehen, wie dramatisch die Situation am Hang ist, und augenblicklich weiß kaum jemand besser darüber Bescheid als Sie und die Leute von Geomar. Sie können natürlich ablehnen, aber dann … Bitte bedenken Sie, dass es eine Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit wäre.«

Johanson wurde beinahe schlecht vor Zorn. Er fühlte eine scharfe Erwiderung aufsteigen und schluckte sie hinunter. »Verstehe«, sagte er steif.

»Und wie lautet Ihre Entscheidung?«

»Dieser Aufgabe werde ich mich natürlich nicht verschließen.«

Er warf Lund einen Blick zu, von dem er hoffte, dass er sie zumindest durchbohrte, wenn nicht in Stücke schnitt. Sie hielt eine Weile stand, dann sah sie weg.

Skaugen nickte ernst. »Hören Sie, Dr. Johanson, Statoil ist Ihnen überaus dankbar. Alles, was Sie schon für uns getan haben, sichert Ihnen höchste Anerkennung. Aber vor allem eines sollten Sie wissen: Was mich persönlich angeht, haben Sie in mir einen Freund gewonnen. Wir haben Sie überfahren, was die NTNU angeht. Aber ich werde mich im Gegenzug für Sie überfahren lassen, wenn es vonnöten sein sollte. Ich lasse mich für Sie kreuzigen, okay?«

Johanson sah den bulligen Mann an. Er sah in Skaugens klare blaue Augen. »Okay«, sagte er. »Ich komme darauf zurück.«

»Sigur. Jetzt bleib doch endlich mal stehen!«

Lund kam hinter ihm hergelaufen, aber Johanson stapfte weiter den gepflasterten Weg entlang, der zum Parkplatz führte. Das Forschungszentrum lag mitten im Grünen, fast idyllisch platziert auf einem Hügel nahe der Klippen, aber Johanson hatte keinen Blick für landschaftliche Schönheiten. Er wollte nur zurück in sein Büro.

»Sigur!«

Sie holte auf. Er ging weiter.

»Was soll das, du sturer Hund?«, schrie sie. »Willst du im Ernst, dass ich dir hinterherrenne?« Johanson blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr um.

Fast wäre sie in ihn hineingelaufen.

»Warum nicht? Du bist doch sonst immer so schnell.«

»Idiot.«

»Ach ja? Du bist schnell im Reden, schnell im Denken, du bist sogar schnell genug, deine Freunde zu verplanen, bevor sie ja oder nein sagen können. Ein kleiner Sprint wird dich ja wohl kaum umbringen.«

Lund funkelte ihn zornig an. »Du selbstgerechtes Arschloch! Glaubst du wirklich, ich wollte über dein verdammtes Eigenbrötlerleben bestimmen?«

»Nicht? Das beruhigt mich.«

Er ließ sie stehen und nahm seinen Gang wieder auf. Lund zögerte eine Sekunde, dann heftete sie sich an seine Seite. »Okay, ich hätte es dir sagen sollen. Es tut mir Leid, wirklich.«

»Ihr hättet mich fragen können!«

»Das wollten wir doch, verdammt nochmal. Skaugen ist einfach mit der Tür ins Haus gefallen, du hast alles falsch verstanden.«

»Ich habe verstanden, dass ihr mich der Uni abgeschachert habt, als sei ich ein Gaul oder was.«

»Nein.« Sie packte seinen Jackenärmel und zwang ihn anzuhalten. »Wir haben in der Sache vorgefühlt, nichts weiter. Wir haben einfach nur wissen wollen, ob sie dich unbefristet freistellen, falls du ja sagst.«

Johanson schnaubte. »Das klang eben ganz anders.«

»Es ist unglücklich gelaufen. Herrgott, ich schwöre es dir. Was soll ich denn noch alles tun? Sag mir, was ich tun soll?«

Johanson schwieg. Sein Blick und ihrer wanderten gleichzeitig zu Lunds Fingern, die sich immer noch in den Stoff seiner Jacke krallten. Sie ließ los und sah ihn an.

»Keiner will dich überfahren. Wenn du es dir anders überlegst, auch gut. Dann eben nicht.«

Irgendwo sang ein Vogel. Vom Fjord her wehte der Wind die Geräusche weit entfernter Motorboote herüber.

»Falls ich es mir anders überlege«, sagte er schließlich, »stehst du nicht besonders gut da, oder?«

»Ach, das.« Sie strich seinen Jackenärmel glatt.

»Komm schon.«

»Mach dir keine Gedanken um mich. Damit muss ich dann halt leben. Ich hätte dich ja nicht zu empfehlen brauchen, es war meine eigene Entscheidung, und … na ja, du kennst mich. Ich bin halt vorgeprescht bei Skaugen.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Dass du es machen wirst.« Sie lächelte. »Ehrensache. Aber wie gesagt, das muss nicht dein Problem sein.«

Johanson fühlte, wie sein Zorn verrauchte. Er hätte gern noch eine Weile daran festgehalten, einfach aus Prinzip, um Lund nicht so davonkommen zu lassen. Aber die Wut war aufgebraucht.

Sie schaffte es immer wieder.

»Skaugen vertraut mir«, sagte Lund. »Ich konnte dich nicht in der Cafeteria treffen. Wir hatten ein Vier-Augen-Gespräch, in dem er mir mitteilte, was sie in Stavanger über Stones vertuschte Gutachten herausgefunden hatten. Stone, dieser verdammte Mistkerl. Er ist an allem schuld. Hätte er damals mit offenen Karten gespielt, stünden wir jetzt anders da.«

»Nein, Tina.« Johanson schüttelte den Kopf. »Er hat nicht wirklich geglaubt, dass die Würmer eine Gefahr darstellen könnten.« Er mochte Stone nicht, aber plötzlich hörte er sich Worte der Verteidigung für den Projektleiter sagen. »Er wollte einfach weiterkommen.«

»Wenn er sie für ungefährlich hielt, warum hat er das Gutachten nicht einfach auf den Tisch gelegt?«

»Es hätte sein Projekt zurückgeworfen. Ihr hättet die Würmer ohnehin nicht ernst genommen. Aber natürlich hättet ihr eurer Pflicht Genüge tun und das Projekt aufschieben müssen.«

»Du siehst doch, dass wir die Würmer ernst nehmen.«

»Ja, jetzt, weil es zu viele sind. Ihr habt es mit der Angst bekommen. Aber Stone fand seinerzeit nur ein kleines Gebiet vor, richtig?«

»Hm.«

»Eine zwar dicht besiedelte, aber begrenzte Fläche. So was passiert alle Tage. Kleine Tiere kommen oft in Massen vor, und was sollen ein paar Würmer schon ausrichten? Ihr hättet gar nichts unternommen, glaub mir. Als sie im Mexikanischen Golf den Eiswurm entdeckt haben, ist auch nicht gleich der Notstand ausgerufen worden, obwohl die Viecher dicht an dicht im Hydrat saßen.«

»Es ist eine Frage des Prinzips, alles offen zu legen. Er hatte die Verantwortung.«

»Sicher«, seufzte Johanson. Er sah hinaus auf den Fjord. »Und jetzt habe ich die Verantwortung.«

»Wir brauchen einen wissenschaftlichen Leiter«, sagte Lund. »Ich würde niemandem vertrauen außer dir.«

»Du liebe Güte«, sagte Johanson. »Hast du irgendwas genommen?«

»Im Ernst.«

»Ich mach’s ja.«

»Überleg mal«, strahlte Lund. »Wir können zusammenarbeiten.«

»Jetzt versuch nicht, es mir wieder auszureden. Was soll überhaupt als Nächstes geschehen?«

Sie zögerte. »Na ja, du hast ja gehört — Skaugen will mich an Stones Stelle setzen. Er kann das vorläufig so verfügen, aber nicht definitiv beschließen. Dafür braucht er die Zustimmung aus Stavanger.«

»Skaugen«, sinnierte Johanson. »Warum hat er Stone derart ans Kreuz genagelt? Was sollte ich dabei? Ihm die Munition liefern?«

Lund zuckte die Achseln. »Skaugen ist überaus integer. Manche finden, er übertreibt es ein bisschen mit der Integrität. Er sieht, wo überall die Augen zugekniffen werden, und es macht ihn wütend.«

»Wenn das stimmt, macht es ihn vor allem menschlich.«

»Im Grunde ist er weichherzig. Würde ich ihm vorschlagen, Stone eine letzte Chance zu geben, könnte er womöglich zustimmen.«

»Verstehe«, sagte Johanson gedehnt. »Und genau darüber denkst du nach.«

Sie antwortete nicht.

»Bravo. Du bist die Wohlfahrt in Person.«

»Skaugen hat mir die Wahl gelassen«, sagte Lund, ohne auf seinen Spott einzugehen. »Diese Unterwasserfabrik — Stone weiß immens viel darüber. Mehr als ich. Skaugen will jetzt, dass die Thorvaldson rausfährt, um nachzusehen, was da unten los ist und warum wir keine Aufzeichnungen mehr empfangen. Eigentlich müsste Stone die Operation leiten. Aber wenn Skaugen ihn suspendiert, wird es mein Job.«

»Was wäre die Alternative?«

»Wie gesagt, wir geben Stone seine Chance.«

»Um die Fabrik zu bergen.«

»Wenn da was zu bergen ist. Oder um sie wieder in Betrieb zu nehmen. Wie auch immer, Skaugen will mich auf alle Fälle befördern. Aber wenn er ein Auge zudrückt, bleibt Stone im Spiel und geht auf die Thorvaldson.«

»Und was machst du unterdessen?«

»Ich fahre nach Stavanger und reporte dem Vorstand. Was Skaugen Gelegenheit gibt, mich dort aufzubauen.«

»Gratuliere«, sagte Johanson. »Du machst Karriere.« Ein kurzes Schweigen entstand. »Will ich das?« »Weiß ich, was du willst?« »Weiß ich es denn, verdammt nochmal?« Johanson dachte an das Wochenende am See. »Keine Ahnung«, sagte er. »Du kannst einen Freund haben und trotzdem Karriere machen, falls du deswegen zögerst. Hast du übrigens noch einen?« »Das ist auch so eine Sache.« »Weiß der arme Kare, woran er mit dir ist?«

»Wir waren nicht mehr so oft zusammen seit … seit du und ich …« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Es hat eben nichts mit dem richtigen Leben zu tun, wenn wir im trauten Sveggesundet rumhängen oder raus zu den Inseln fahren. Mir kommt alles irgendwie vor, als sei ich Teil einer Inszenierung.«

»Ist es wenigstens eine gute Inszenierung?«

»Es ist, als ob du immer wieder einen Ort aufsuchst, in den du dich verliebt hast«, sagte Lund. »Jedes Mal bist du hingerissen. Eine Opernkulisse. Wenn du wieder wegfahren sollst, rollen die Tränen. Du möchtest dableiben. Und zugleich fragst du dich, ob du wirklich am schönsten Ort der Welt leben willst und ob es dann immer noch der schönste Ort der Welt ist. Wir sind es gewohnt, dass sich unser Leben … Himmel, wie soll ich sagen? Entzaubert! Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Also suchen wir nach etwas, das es eigentlich nicht gibt. Verstehst du?« Sie lächelte schüchtern. »Entschuldige, das klingt alles furchtbar kitschig und durcheinander. Ich bin nicht gut in so was.«

»Nein. Wirklich nicht.«

Johanson sah sie an. Er suchte nach Anzeichen von Ratlosigkeit. Stattdessen sah er jemanden, der sich schon entschieden hatte. Sie wusste es nur noch nicht.

»Wenn du nicht bereit bist, an einem Ort zu leben, liebst du ihn auch nicht«, sagte er. »Wir hatten dasselbe Gespräch am See, erinnerst du dich? Damals ging’s um Häuser. Im Grunde austauschbar. Vielleicht solltest du endlich zu Kare fahren und ihm sagen, dass du ihn liebst und steinalt mit ihm werden willst. Du tätest mir einen großen Gefallen damit, ich muss mich sonst alle paar Tage mit dir durch die Sumpfgebiete schwülstiger Allegorien schleppen.«

»Und wenn es schief geht?«

»Du bist doch sonst nicht so ein Angsthase.«

»Doch«, sagte sie leise. »Genau das bin ich.«

»Du misstraust dem Gefühl, glücklich zu sein. Das habe ich auch mal getan. Es ist für nichts gut.«

»Und? Bist du heute glücklich?«

»Ja.«

»Ohne Abstriche?«

Johanson hob in einer hilflosen Geste die Arme. »Wer ist schon ohne Abstriche glücklich, du Schaf? Ich mache mir und anderen nichts vor. Ich will meine Flirts, meinen Wein, meinen Spaß und bestimmen, wo’s langgeht. Ich neige zur Verschwiegenheit, aber nicht zur Kompensation. Jeder Psychiater würde sich mit mir zu Tode langweilen, weil ich tatsächlich einfach nur meine Ruhe will. Unterm Strich geht’s mir also prächtig. Aber ich bin ich. Mein Glück ist anders beschaffen als deines. Meinem Glück vertraue ich. Du musst das noch lernen. Und zwar bald. Kare ist kein Ort und kein Haus. Er wird nicht ewig warten.«

Lund nickte. Wind kam auf und spielte mit ihrem Haar. Johanson stellte fest, wie gern er sie hatte. Er war froh, dass es am See nicht zu einer dieser Liaisons mit Verfallsdatum gekommen war, die sein Liebesleben bestimmten.

»Wenn Stone hinaus zum Kontinentalhang führe«, sinnierte sie, »würde ich den Kopf in Stavanger hinhalten. Das ist okay. Die Thorvaldson liegt auf See bereit. Stone könnte gleich morgen oder übermorgen an Bord gehen. Stavanger, das dauert länger. Dafür werde ich einen ausführlichen Bericht schreiben müssen. Ich hätte also ein paar Tage Zeit, nach Sveggesundet zu fahren und … dort zu arbeiten.«

»Zu arbeiten«, grinste Johanson. »Warum nicht?«

Sie kniff die Lippen zusammen. »Ich muss darüber nachdenken und mit Skaugen reden.« »Tu das«, sagte Johanson. »Und denk schnell.«

Zurück am Schreibtisch checkte er die E-Mail-Eingänge. Kaum etwas davon brachte ihn weiter. Erst die letzte Nachricht erregte sein Interesse beim Blick auf den Absender: kweaver@deepbluesea.com Johanson öffnete sie. hallo, dr. Johanson, danke für ihre mail, ich bin eben nach london zurückgekehrt und kann ihnen augenblicklich nur sagen, dass ich nicht die geringste ahnung habe, was mit lukas bauer und seinem schiff passiert ist. wir haben jeden kontakt verloren, wenn sie wollen, können wir uns kurzfristig treffen, möglich, dass wir uns gegenseitig weiterhelfen, mitte kommender woche bin ich in meinem londoner büro zu erreichen, falls sie vorher lust auf ein treffen haben: ich bin derzeit zu besuch auf den shetlandinseln und könnte es einrichten, dass wir dort zusammentreffen, lassen sie mich wissen, wie es ihnen am besten passt. karen weaver.

»Schau, schau«, murmelte Johanson. »So kooperativ kann die Presse sein.«

Lukas Bauer war verschwunden?

Vielleicht sollte er Skaugen noch einmal treffen. Mehr als lächerlich machen konnte er sich nicht, wenn er dem Mann seine Theorie der höheren Zusammenhänge darlegte. Aber war es überhaupt eine Theorie? Eigentlich hatte er wenig mehr vorzuweisen als das ungute Gefühl, dass die Welt in Schieflage geriet und das Meer daran schuld war.

Wenn er den Gedanken ernsthaft fortentwickeln wollte, wurde es Zeit, ein Dossier anzulegen.

Er überlegte. Er sollte Karen Weaver so schnell wie möglich treffen. Warum nicht auf den Shetland-Inseln? Es würde ein bisschen kompliziert werden mit den Flügen, aber das sollte kein Problem darstellen, wo Statoil schon alles bezahlte.

Nein, dachte er plötzlich, es ist überhaupt nicht kompliziert.

Hatte Skaugen nicht vor wenigen Stunden gesagt, er würde sich kreuzigen lassen für Johanson?

So weit musste er ja gar nicht gehen.

Es würde reichen, einen Helikopter bereitzustellen.

Das war gut! Ein Diensthelikopter. Einer von denen, die dem Management Board zur Verfügung standen. Keiner dieser fliegenden Linienbusse, sondern etwas Schnelles und Komfortables. Wenn Skaugen ihn schon zwangsrekrutierte, sollte er auch was für ihn tun.

Johanson lehnte sich zurück. Er sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte er Vorlesung und später ein Treffen mit Kollegen im Labor, um eine DNA-Analyse zu diskutieren.

Er legte einen neuen Ordner an und schrieb als Filename: Der fünfte Tag.

Es war ein spontaner Gedanke, ein bisschen poetisch vielleicht, aber tatsächlich fiel ihm nichts Besseres ein. Am fünften Tag hatte Gott der Bibel zufolge das Meer und seine Bewohner erschaffen. Und das Meer und seine Bewohner machten gerade einigen Ärger.

Er begann zu schreiben.

Mit jeder Minute wurde ihm dabei kälter.


2. Mai

Vancouver und Vancouver Island, Kanada

Seit achtundvierzig Stunden studierten Ford und Anawak nun diese eine Sequenz.

Zuerst nur Schwärze. Dann die Ausschläge von einem starken Schallimpuls jenseits der menschlichen Hörgrenze. Dreimal.

Dann die Wolke.

Eine phosphoreszierende blaue Wolke, die plötzlich inmitten des Bildschirms entstand wie das expandierende Universum. Kein starkes Licht, eher ein schummriges Blau, eine leichte, diffuse Aufhellung, aber ausreichend, dass man die massigen Silhouetten der Tiere davor sehen konnte. Die Wolke breitete sich rasch aus. Sie musste von enormer Größe sein. Schließlich hatte sie den gesamten Bildschirm eingenommen, und die Wale hingen wie gebannt davor.

Einige Sekunden vergingen.

In die Tiefen der Wolke kam Bewegung. Plötzlich schoss etwas daraus hervor wie ein sich schlängelnder Blitz mit dünn zulaufender Spitze. Sie berührte einen der Wale seitlich des Kopfes. Es war Lucy. Keine Sekunde dauerte die Entladung. Weitere Blitze zuckten zu anderen Tieren, ein Schauspiel wie ein Gewitter unter Wasser, das ebenso schnell vorbeiging, wie es begonnen hatte.

Der Film schien rückwärts zu laufen. Die Wolke zog sich wieder zusammen. Sie kollabierte und verschwand, und der Bildschirm wurde schwarz. Fords Leute hatten die Sequenz verlangsamt und nochmal verlangsamt. Sie hatten alles Erdenkliche unternommen, um die Bildschärfe zu optimieren und mehr Licht herauszuholen, aber auch nach stundenlanger Analyse blieb das Video vom nächtlichen Ausflug der Wale, was es war — ein Rätsel.

Schließlich erarbeiteten Anawak und Ford einen Bericht für den Krisenstab. Sie hatten die Erlaubnis eingeholt, einen Biologen aus Nanaimo hinzuzuziehen, der auf Biolumineszenz spezialisiert war und nach anfänglicher Ratlosigkeit zu den gleichen Schlüssen gelangte wie sie. Wolke und Lichtblitze waren vermutlich organischen Ursprungs. Der Lumineszenzexperte vertrat die Meinung, bei den Blitzen müsse es sich um eine Art Kettenreaktion im Gefüge der Wolke handeln, doch was sie auslöste und warum sie überhaupt stattfanden, vermochte auch er nicht zu sagen. Ihre schlängelige Form und die Tatsache, dass sie zur Spitze dünner wurden, ließ ihn an einen Kalmar denken, aber dann hätte es ein Tier von gigantischen Ausmaßen sein müssen, und außerdem war zweifelhaft, dass Riesenkalmare leuchteten. Selbst wenn, hätte es nicht die Wolke erklärt und ebenso wenig, wovon diese schlangenartigen Blitze ausgingen.

Nur eines hatten alle instinktiv begriffen: Die Wolke musste der Grund für das absonderliche Verhalten der Wale sein.

All das brachten sie in dem Bericht zum Ausdruck, und der Bericht verschwand in einem Schwarzen Loch, so schwarz wie der Bildschirm nach Verlöschen des blauen Lichts. Als Schwarzes Loch titulierten sie mittlerweile den staatlichen Krisenstab, der ganz nach Art Schwarzer Löcher alles in sich hineinsog, ohne irgendetwas preiszugeben. Anfänglich hatte die kanadische Regierung den Schulterschluss mit den Forschern gesucht. Seit vor wenigen Tagen offiziell geworden war, dass die Krisenstäbe Kanadas und der Vereinigten Staaten unter US-amerikanischer Leitung operierten, sah es eher so aus, als bediene man sich ihrer, um in den Besitz gewisser Resultate zu gelangen. Das Aquarium, das Institut in Nanaimo, selbst die Universität in Vancouver waren zu Lieferanten degradiert worden, denen nichts mitgeteilt wurde, außer dass sie forschen und ihre Erkenntnisse, Vermutungen und Ratlosigkeit in Berichten abfassen sollten. Weder John Ford oder Leon Anawak noch Rod Palm, Sue Oliviera oder Ray Fenwick erfuhren etwas über die Auswertung des Inputs. Sie erfuhren nicht einmal, was der Krisenstab davon hielt. Das wichtigste Instrumentarium ihrer Forschung, der Abgleich mit den Erkenntnissen anderer staatlicher und militärischer Forschergruppen, blieb ihnen vorenthalten.

»Und das alles«, schimpfte Ford, »seit diese Judith Li das Ruder übernommen hat. Leiterin der Krisenstäbe. Keine Ahnung, was die leitet. Mir kommt es eher so vor, als ob sie uns alle in den Arsch tritt.«

Oliviera rief Anawak an. »Es wäre wirklich hilfreich, wenn wir noch einige dieser Muscheln bekommen könnten.«

»Ich erreiche aber niemanden bei Inglewood«, sagte Anawak. »Sie reden nicht mit mir, und Li spricht offiziell von einem Fehler beim Andockmanöver. Die Muscheln werden mit keinem Wort erwähnt.«

»Aber du warst doch unten. Wir brauchen mehr von dem Zeug. Und von dieser ominösen organischen Substanz. Wieso blockieren die uns? Ich dachte, wir sollen helfen!«

»Warum nimmst du nicht selber Kontakt zum Krisenstab auf?«

»Läuft alles über Ford. Ich verstehe das nicht, Leon.

Wozu sind diese Stäbe eigentlich gut?«

Wozu waren sie gut? Wozu war es gut, wenn die Vereinigten Staaten und Kanada einen gemeinsamen Stab bildeten, den General Commander Li dann vertrat? Der Grund lag auf der Hand: Beide hatten die gleichen Probleme zu lösen, beide waren auf einen übergeordneten Austausch von Erkenntnissen angewiesen, und beide hatten den Schleier der Geheimhaltung über alles geworfen. Vielleicht musste es so sein. Vielleicht war es der Natur von Untersuchungskommissionen und Krisenstäben immanent, im Verborgenen zu arbeiten. Wann hatte eine Untersuchungskommission je vergleichbare Aufgaben zu lösen gehabt? Die ständigen Mitglieder solcher Stäbe mussten sich mit Terrorismus herumzuschlagen, mit Flugzeugkatastrophen und Geiselnahmen, mit politischen und militärischen Krisen, mit Umstürzen. — Geheimsache, was sonst! Ein Krisenstab trat außerdem in Aktion, wenn es Probleme in einem Atomkraftwerk gab oder mit einem Staudamm, wenn die Wälder brannten oder die Gewässer über die Ufer traten, wenn die Erde bebte und Vulkane ausbrachen und Hungersnöte herrschten. Auch Geheimsache? Vielleicht, aber wozu?

»Die Ursachen von Vulkanausbrüchen und Erdbeben sind bekannt«, sagte Shoemaker, als Leon seinem Ärger an diesem Morgen Luft machte. »Du kannst die Erde fürchten, aber du brauchst ihr nicht zu misstrauen. Sie heckt keine Schweinereien aus und versucht dich nicht zu bescheißen. Das tut nur der Mensch.«

Sie frühstückten zu dritt auf Leons Schiff. Die Sonne lugte zwischen weißer Hochbewölkung hervor, und es war angenehm mild. Von den Bergen blies ein leichter Wind küstenwärts. Es hätte ein schöner Tag sein können, nur dass keiner mehr einen Sinn für schöne Tage hatte. Lediglich Delaware entwickelte ungeachtet aller Misslichkeiten einen gesunden Appetit und schaufelte Unmengen Rührei in sich hinein.

»Habt ihr von dem Gastanker gehört?«

»Der vor Japan in die Luft geflogen ist?« Shoemaker schlürfte seinen Kaffee. »Schnee von gestern. Kam in den Nachrichten.«

Delaware schüttelte den Kopf. »Den meine ich nicht. Gestern ist wieder einer abgesoffen. Abgefackelt im Hafen von Bangkok.«

»Kennt man den Grund?«

»Nein. Komisch, was?«

»Vielleicht war’s einfach technisches Versagen«, meinte Anawak. »Man muss nicht überall Gespenster sehen.«

»Du hörst dich schon an wie Judith Li.« Shoemaker stellte mit einem Knall den Becher ab. »Hattest übrigens Recht. Über die Barrier Queen ist tatsächlich kaum berichtet worden. Im Wesentlichen haben sie über den gesunkenen Schlepper geschrieben.«

Anawak hatte nichts anderes erwartet. Der Krisenstab ließ sie am ausgestreckten Arm verhungern. Vielleicht gehörte das zum Spiel. Such dir dein Fressen selber. Aber wenn es so war, würden sie eben suchen. Nach dem Flugzeugabsturz hatte Delaware begonnen, das Internet zu durchforsten. Wenn schon die Mitarbeiter des landeseigenen Krisenstabs kurz gehalten wurden, was würde dann aus anderen Ländern an die Öffentlichkeit dringen? Wo hatte es sonst noch in der Welt Angriffe durch Wale gegeben? Falls überhaupt. Oder, wie George Frank gesagt hatte, der taayii hawil der Tla-o-qui-aht:

Vielleicht sind gar nicht die Wale das Problem, Leon. Vielleicht sind sie nur der Teil des Problems, den wir sehen.

Offenbar hatte Frank damit den Nagel auf den Kopf getroffen, wenngleich Anawak noch ratloser geworden war, nachdem Delaware ihm die Resultate ihrer ersten ausgiebigen Recherche vorgelegt hatte. Sie hatte in südamerikanischen Netzen gestöbert, in deutschen und skandinavischen, französischen und japanischen, sie war in Australien rumgesurft. Wie es aussah, machte man anderenorts ähnlich verstörende Erfahrungen mit Quallen.

»Quallen?« Shoemaker hatte zu lachen begonnen. »Was tun sie? Springen sie gegen Schiffe?«

Im ersten Moment hatte auch Anawak keinen Zusammenhang gesehen. Was sollte das für ein Problem sein, das sich in Gestalt von Walen und Quallen manifestierte? Womöglich wiesen Invasionen hoch giftiger Nesseltiere Schnittmengen mit Walattacken auf, die vordergründig verborgen blieben. Zwei Symptome desselben Problems. Eine Kumulation der Anomalien. Delaware stieß auf eine Stellungnahme costaricanischer Wissenschaftler, die der Vermutung Ausdruck gaben, es sei gar nicht die Portugiesische Galeere, die vor Südamerika ihr Unwesen treibe, sondern eine ähnliche, bislang unbekannte Art, noch gefährlicher, noch tödlicher.

Und das war längst nicht alles.

»Ungefähr zu der Zeit, als es hier mit den Walen losging, verschwanden vor Südamerika und Südafrika Schiffe«, resümierte Delaware. »Motorboote und Kutter. Man hat ein paar Trümmer gefunden, sonst nichts. Wenn du jetzt eins und eins zusammenzählst …«

»Bekommst du einen Haufen Wale«, sagte Shoemaker. »Warum erfährt man so was hier nicht? Ist Kanada denn aus der Welt?«

»Wir interessieren uns nun mal nicht sonderlich für die Probleme anderer Länder«, konstatierte Anawak. »Wir nicht, und die Vereinigten Staaten noch viel weniger.«

»Es gab jedenfalls mehr Unglücke mit größeren Schiffen«, sagte Delaware, »als wir aus den Medien erfahren haben. Kollisionen, Explosionen, Untergänge. Und wisst ihr, was außerdem seltsam ist? Diese Epidemie in Frankreich. Irgendwelche Algen in Hummern haben sie ausgelöst, und jetzt breitet sich da in Windeseile ein Erreger aus, den sie nicht in den Griff bekommen. Ich glaube, auch andere Länder sind betroffen. Aber je mehr du nachforschst, desto verschwommener wird das Bild.«

Mitunter rieb sich Anawak die Augen und dachte, dass sie drauf und dran waren, sich lächerlich zu machen. Sie wären nicht die Ersten, die des Amerikaners liebstem Kind nachhingen, der Verschwörungstheorie. Jeder vierte US-Bürger trug solche Hirngespinste mit sich herum. Es gab Theorien, Bill Clinton sei ein russischer Agent gewesen, und eine Menge Leute handelte mit Ufo-Geschichten. Alles blanker Unsinn. Welches Interesse sollte ein Staat haben, Ereignisse zu camouflieren, die Tausende von Menschen betrafen? Abgesehen davon, dass es schlicht unmöglich schien, so etwas überhaupt geheim zu halten.

Auch Shoemaker gab seiner Skepsis Ausdruck: »Das ist nicht Roswell hier. Es sind keine grünen Männchen vom Himmel gefallen, und nirgendwo sind fliegende Untertassen versteckt. Wir haben zu viel Harrison Ford geguckt. Den ganzen Verschwörungskram gibt’s nur im Kino. Wenn heute irgendwo Wale auf Schiffe springen, weiß das morgen die ganze Welt, und was anderswo passiert, erfährst du auch.«

»Dann pass mal auf«, sagte Delaware. »Tofino hat 1200 Einwohner und besteht im Wesentlichen aus drei Straßen. Trotzdem ist es unmöglich, dass jeder über jeden ständig Bescheid weiß. Richtig?«

»Na und?«

»Ein einziger Ort ist schon zu groß, dass du alles mitkriegst. Erst recht ein ganzer Planet.«

»Binsenweisheit. Der Verstand des Menschen ist ein Eimer, der schnell überläuft.«

»Ich meine, eine Regierung kann Nachrichten nicht immer zurückhalten. Aber man kann ihre Bedeutung schmälern. Du sorgst eben dafür, dass die Berichterstattung nicht so üppig ausfällt. Das geht. Dann bleibt das meiste ohnehin im eigenen Land, und den Rest findest du in Randnotizen wieder. Wahrscheinlich hat alles, was ich aus dem Internet gefischt habe, sogar in den hiesigen Zeitungen gestanden und ist im Fernsehen gekommen, und wir haben es einfach nicht mitgekriegt.«

Shoemaker kniff die Augen zusammen.

»So?«, sagte er unsicher.

»Wie auch immer«, beschied Anawak. »Wir brauchen mehr Informationen.« Er stocherte mürrisch in seinen Rühreiern herum und schob sie über den Teller. »Das heißt, wir haben ja welche. Li hat welche. Ich bin sicher, sie weiß eine ganze Menge mehr als wir.«

»Dann frag sie«, sagte Shoemaker.

Anawak hob die Brauen. »Li?«

»Warum denn nicht? Wenn du was wissen willst, geh fragen. Alles, was du dir einfangen kannst, ist ein Nein und was auf die Zähne, aber mal ehrlich — schlechter als jetzt kannst du doch gar nicht dastehen.«

Anawak schwieg und grübelte vor sich hin.

Er würde keine Auskunft bekommen. Ford bekam auch keine, und er fragte sich die Seele aus dem Leib.

Andererseits war Shoemakers Idee gar nicht so dumm. Man konnte auch Fragen stellen, ohne dass es der Befragte merkte. Vielleicht wurde es einfach Zeit, sich die Antworten zu holen.

Später, als Shoemaker gegangen war, legte ihm Delaware eine Ausgabe der Vancouver Sun auf den Tisch.

»Ich wollte damit warten, bis Tom gegangen ist«, sagte sie.

Anawak warf einen Blick auf die Titelseite. Es war die Ausgabe vom Vortag.

»Hab ich gelesen.«

»Komplett?«

»Nein, nur das Wesentliche.«

Delaware lächelte. Obwohl Anawak sich in den letzten Tagen nicht eben durch Höflichkeit und Rücksichtnahme, geschweige denn durch gute Laune ausgewiesen hatte, war sie wirklich nett zu ihm. Die Frage nach seiner Herkunft hatte sie seit ihrer Unterhaltung in der Station nicht wieder angeschnitten. »Dann lies das Unwesentliche.«

Anawak drehte die Zeitung um. Sofort sah er, was sie meinte. Es war eine kleine Meldung, nur wenige Zeilen. Dazu ein Foto mit einer glücklichen Familie, Vater, Mutter und ein Junge, die dankbar zu einem sehr großen Mann aufsahen. Der Vater schüttelte dem Mann die Hand, und alle lachten in die Kamera.

»Nicht zu fassen«, murmelte Anawak.

»Du kannst es drehen und wenden, wie du willst«, sagte Delaware. Ihre Augen funkelten. Heute funkelten sie hinter gelben Gläsern, deren Ränder mit Kreuzen aus Strass verziert waren. »Aber ein solches Arschloch scheint er nicht zu sein.«

Der kleine Bill Sheckley (5), der am 11. April als Letzter von Bord des sinkenden Ausflugsschiffs Lady Wexham gerettet worden war, kann wieder lachen. Heute holten ihn seine erleichterten Eltern aus dem Krankenhaus in Victoria ab, wo er eine Weile zur Beobachtung geblieben war. Bill hatte sich bei der Rettungsaktion eine gefährliche Unterkühlung und als Folge davon eine Lungenentzündung zugezogen. Dies sowie den Schock hat er nun offenbar verarbeitet. Heute bedankten sich seine Eltern vor allem bei Jack »Greywolf« O’Bannon, einem engagierten Naturschützer Vancouver Islands, der die Rettungsaktion geleitet und sich danach rührend um die Genesung des kleinen Bill gekümmert hatte. Der Held von Tofino, wie O’Bannon seitdem genannt wird, hat wohl nicht nur im Herzen des kleinen Jungen seinen Platz gefunden.

Anawak klappte die Zeitung zusammen und warf sie auf den Frühstückstisch. »Shoemaker wäre ausgerastet«, sagte er.

Eine Weile sagte niemand etwas. Anawak sah den langsam ziehenden Wolken zu und versuchte, seine Wut auf Greywolf anzufachen, aber diesmal klappte es nicht. Wut empfand er nur gegen die Leute, die seine und Fords Arbeit behinderten, gegen diese arrogante Soldatin und aus unerklärlichen Gründen gegen sich selber.

Genau genommen gegen sich am meisten.

»Was habt ihr eigentlich alle für ein Problem mit Greywolf?«, fragte Delaware schließlich.

»Du hast doch gesehen, was er gemacht hat.«

»Die Aktion, als sie mit Fischen schmissen? Gut, das ist eine Sache. Er übertreibt. Man könnte auch sagen, er hat ein Anliegen.«

»Greywolfs Anliegen ist es, Stunk zu machen.« Anawak fuhr sich über die Augen. Obwohl es früher Vormittag war, fühlte er sich schon wieder müde und kraftlos.

»Versteh mich nicht falsch«, sagte Delaware vorsichtig. »Aber der Mann hat mich aus dem Wasser gezogen, als ich schon dachte, das war’s gewesen mit der kleinen Licia. Ich bin vor zwei Tagen losgegangen, um ihn zu suchen. Zu Hause war er nicht. Er hockte am Tresen einer Kneipe in Ucluelet, also bin ich hin und habe … na ja, wie ich schon sagte: Ich habe mich bedankt.«

»Und?«, fragte Anawak lustlos. »Was hat er gesagt?«

»Er hatte es nicht erwartet.«

Anawak sah sie an.

»Er war ziemlich verblüfft«, fuhr Delaware fort. »Und erfreut. Dann wollte er wissen, wie es dir geht.«

»Mir?«

»Weißt du, was ich glaube?« Sie verschränkte die Arme auf der Tischplatte. »Ich denke, dass er wenig Freunde hat.«

»Vielleicht sollte er sich mal fragen, warum.«

»Und dass er dich mag.«

»Licia, hör auf. Was soll das werden? Soll ich das Heulen kriegen und ihn heilig sprechen?«

»Erzähl mir einfach was von ihm.«

Großer Gott, warum?, dachte Anawak. Warum muss ich jetzt ausgerechnet über Greywolf erzählen? Können wir nicht über was Nettes sprechen? Irgendetwas wirklich Nettes und Erfreuliches, zum Beispiel …

Er überlegte. Ihm fiel nichts ein.

»Wir waren mal befreundet«, sagte er knapp.

Er erwartete, Delaware mit einem Triumphschrei

aufspringen zu sehen — Ha, ertappt, ich hatte Recht! —, aber sie nickte nur.

»Er heißt Jack O’Bannon und stammt aus Port Townsend. Das liegt im Bundesstaat Washington. Sein Vater ist Ire und hat eine Halbindianerin geheiratet, eine Suquamish, glaube ich. — Jedenfalls, Jack hat in den USA alles Mögliche gemacht, er war Rausschmeißer, Lastwagenfahrer, Werbegrafiker und Leibwächter und schließlich Kampftaucher bei den US Navy SEALS. Dort fand er seine Berufung. Delphintrainer. Er machte das gut, aber dann stellten sie einen Herzfehler bei ihm fest. Nichts Wildes, bloß, die SEALS sind ein harter Haufen. Jack kam klar dort, er hat ein Regal voller Auszeichnungen zu Hause, aber das war’s dann mit der Navy.«

»Was hat ihn nach Kanada verschlagen?«

»Jack hatte immer schon ein Faible für Kanada. Anfangs hat er versucht, in Vancouvers Filmindustrie Fuß zu fassen. Er dachte, mit der Statur und dem Gesicht könnte er vielleicht Schauspieler werden, aber Jack ist hundert Prozent talentfrei. Eigentlich klappte überhaupt nichts in seinem Leben, weil er immer sofort die Nerven verlor und

schon mal jemanden ins Krankenhaus prügelte.«

»Oh«, machte Delaware.

Anawak fletschte die Zähne. »Tut mir Leid, wenn ich

dein Denkmal ankratze. Ich hab mich nicht darum gerissen.«

»Schon gut. Und dann?«

»Dann?« Anawak goss sich ein Glas Orangensaft ein. »Dann kam er in den Knast. Kurz nur, er hat ja niemanden betrogen oder gelinkt. Es war sein schlagfertiges Temperament, das ihn reinbrachte. Als er wieder rauskam, war natürlich alles noch viel schwerer. Mittlerweile hatte er Bücher über Naturschutz und Wale gelesen und beschlossen, das müsse es jetzt sein. Warum auch nicht? Er ging also zu Davie, den er von einem Trip nach Ucluelet kannte, und fragte ihn, ob sie noch einen Skipper brauchten, und Davie sagte, wenn du keinen Ärger machst, klar, mit Kusshand, jederzeit! — Jack kann nämlich charmant sein, wenn er will.«

Delaware nickte. »Aber er war nicht charmant.«

»Eine Weile schon. Wir hatten plötzlich jede Menge weiblichen Zulauf. Alles lief bestens — bis zu dem Tag, wo

er dann doch jemandem eine reingehauen hat.«

»Doch nicht einem der Gäste?«

»Du hast es erfasst.«

»Au Backe.«

»Tja. Davie wollte ihn feuern. Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet, Jack eine zweite Chance zu geben. Wir haben ihn also nicht rausgeworfen. Aber was macht dieser Idiot?« Da war sie wieder, die Wut auf Greywolf. »Drei Wochen später dieselbe Nummer. Da musste Davie ihn feuern. Was hättest du denn gemacht?«

»Ich glaube, ich hätte ihn schon nach dem ersten Mal vor die Tür gesetzt«, sagte Delaware leise.

»Um deine Zukunft muss ich mir wenigstens keine Sorgen machen«, spottete Anawak. »Jedenfalls, wenn du dich für jemanden stark machst, und er dankt es dir so, hat jede Sympathie irgendwann ein Ende.«

Er stürzte den Orangensaft hinunter, verschluckte sich und hustete. Delaware langte hinüber und schlug ihm sacht auf den Rücken.

»Danach ist er völlig durchgedreht«, keuchte er. »Jack hat ein zweites Problem, eines mit der Realität. Irgendwann in seinem Frust ist wohl der große Manitou über ihn gekommen und hat gesagt, ab heute heißt du Greywolf, und du schützt die Wale und alles, was da kreucht und fleucht, so ein verdammter Schwachsinn! Gehe hin und kämpfe. Klar, dass er sauer auf uns war, also hat er sich eingeredet, gegen uns kämpfen zu müssen, und zu allem Überfluss glaubt er auch noch, ich sei auf der falschen Seite und hätte es nur noch nicht gemerkt.« Anawak wurde immer zorniger. Sein Zorn wuchs ins Uferlose. »Er wirft alles durcheinander. Er hat keine Ahnung von Naturschutz und keine von den Indianern, denen er sich so zugehörig fühlt. Die Indianer lachen sich tot über ihn. Warst du bei ihm zu Hause? Ach nein, du hast ihn ja in der Kneipe aufgegabelt! Voller Indianerkitsch, die Bude. Ja. Sie lachen sich tot, bis auf diejenigen unter ihnen, die selber nichts drauf haben, Jugendliche, die rumhängen, Arbeitsverweigerer, Schläger und Säufer. Die finden ihn toll, und auch der Haufen weißer Althippies und Surfer, die es nicht abkönnen, dass ihnen die Touristen beim Faulenzen zusehen, schauen zu ihm auf, ehemalige Wildcamper, die jetzt nicht mehr überall hinscheißen und ihren Müll zurücklassen können. Greywolf hat den Abschaum zweier Kulturen um sich versammelt, Anarchisten und Versager, Aussteiger, Neoaktivisten gegen die Staatsgewalt, militante Umweltfreaks, die sie bei Greenpeace rausgeworfen haben, weil sie schlecht für deren Ruf waren, Indianer, die nicht mal bei ihren Stämmen erwünscht sind, kriminelles Gesindel. Den meisten dieser Strauchdiebe sind die Wale scheißegal, sie wollen ein bisschen randalieren und sich wichtig tun, nur Jack kriegt nichts davon mit und glaubt allen Ernstes, seine Seaguards seien eine Umweltorganisation. Er finanziert das Pack, stell dir das vor, indem er als Holzfäller und Bärenführer arbeitet und selber in einer Bruchbude lebt, dass du sie keinem Hund zumuten würdest! Das ist doch Scheiße! Warum lässt er zu, dass sich alle über ihn lustig machen? Warum wird jemand wie Jack zur tragischen Figur, he? Dieser Riesenarsch! Kannst du mir das sagen?«

Anawak hielt inne und holte Atem. Hoch über ihm schrie ein Seevogel. Delaware bestrich ein Stück Brot mit Butter, kleckerte

Marmelade drauf und schob es sich in den Mund. »Fein«, sagte sie. »Ich sehe, du magst ihn immer noch.«

Der Name Ucluelet leitete sich ab aus der Nootka-Sprache und bedeutete so viel wie ›Sicherer Hafen‹. Ebenso wie Tofino lag Ucluelet geschützt in einer natürlichen Bucht, und ebenso war das kleine Fischerdorf mit den Jahren zu einem pittoresken Anziehungspunkt für Whale Watcher geworden, mit hübsch gestrichenen Holzhäusern, netten Kneipen und Restaurants.

Greywolfs Behausung gehörte zum weniger vorzeigbaren Teil Ucluelets. Folgte man einem wurzelüberwucherten Pfad abseits der Hauptstraße, der breit genug für ein Auto und das Verderben eines jeden Stoßdämpfers war, fand man sich nach einigen hundert Metern auf einer Lichtung wieder, umstanden von uralten Riesenbäumen. Das Haus, eine unansehnliche Bruchbude mit einer angebauten, leer stehenden Stallung, lag mitten darauf. Es war vom Ort aus nicht zu sehen. Man musste den Weg schon kennen.

Dass die Hütte alles andere als komfortabel war, wusste niemand besser als ihr einziger Bewohner. Sofern es das Wetter zuließ — und Greywolfs Ansicht nach begann schlechtes Wetter irgendwo zwischen einem Tornado und dem Ende der Welt —, hielt er sich draußen auf, zog durch die Wälder, führte Touristen zu Schwarzbären und nahm alle Arten von Gelegenheitsarbeiten an. Die Wahrscheinlichkeit, ihn hier anzutreffen, ging gegen null, selbst in der Nacht. Entweder schlief er in der freien Natur oder in den Zimmern erlebnishungriger Touristinnen, die überzeugt waren, den edlen Wilden abgeschleppt zu haben.

Es war früher Nachmittag, als Anawak in Ucluelet eintraf. Er hatte den Plan gefasst, nach Nanaimo zu fahren und von dort die Fähre nach Vancouver zu nehmen. Aus verschiedenen Gründen zog er es vor, diesmal auf den Helikopter zu verzichten. Shoemaker, der sich in Ucluelet mit Davie treffen wollte, erklärte sich bereit, ihn zu fahren, womit er Anawak einen passenden Vorwand lieferte, dort Zwischenstation zu machen. Davie dachte in diesen Tagen laut über ausgedehnte Abenteuertouren nach: Wenn du den Leuten keine zwei Stunden auf See mehr bieten kannst, biete ihnen eine ordentliche Woche auf dem Land. Anawak hatte es abgelehnt, bei dem Gespräch dabei zu sein, in dessen Verlauf Davie und Shoemaker die Neuausrichtung des Unternehmens erörtern wollten. Er spürte, dass seine Zeit auf Vancouver Island zu Ende ging, wie immer sich die Dinge entwickeln mochten. Was hielt ihn schon wirklich? Was blieb, nachdem das Whale Watching eingestellt war? Eine Lähmung, die sich als Liebe zur Insel tarnte und für die sein schmerzendes Knie zum unliebsamen Symbol geworden war.

Sinnlosigkeit.

Jahre seines Lebens hatte er damit verbracht, sich abzulenken. Gut, es hatte ihm einen Doktortitel eingebracht und Anerkennung. Dennoch hatte er diese Zeit verloren. Nur, nicht richtig zu leben war eine Sache, den Tod vor Augen zu haben eine ganz andere, und zweimal wäre er in den vergangenen Wochen beinahe gestorben. Seit dem Absturz des Wasserflugzeugs war alles anders geworden. Anawak fühlte sich im Innersten bedroht. Ein Verfolger aus längst vergessen geglaubten Zeiten hatte seine Angst gewittert und seine Spur wieder aufgenommen. Ein frostiges Gespenst, das ihm eine letzte Chance bot, sein Leben in den Griff zu bekommen, und Einsamkeit und Elend bereithielt, sollte er scheitern. Die Botschaft war allzu deutlich:

Durchbrich den Kreis. Der gute alte Psychologenspruch.

Anawaks Weg führte ihn den wurzelbewachsenen Pfad hinauf, wie zufällig und ohne besondere Eile. Er war die Hauptstraße entlanggegangen und in allerletzter Sekunde abgebogen, als sei ihm unvermittelt die Idee gekommen. Nun stand er auf der Lichtung vor dem hässlichen kleinen Haus und fragte sich, was zum Teufel er hier eigentlich machte. Er stieg die wenigen Stufen zu der schäbigen Veranda empor und klopfte.

Greywolf war nicht zu Hause.

Einige Male ging er um das Haus herum. Auf unbestimmte Weise war er enttäuscht. Natürlich hätte er sich denken können, dass er niemanden antreffen würde. Er überlegte, ob er einfach wieder gehen solle. Vielleicht war es gut so. Immerhin hatte er einen Versuch gestartet, wenngleich einen erfolglosen.

Aber er ging nicht. Das Bild eines Menschen mit Zahnschmerzen ging ihm plötzlich im Kopf herum, der beim Zahnarzt schellt und davonläuft, weil nicht unverzüglich geöffnet wird.

Seine Schritte führten ihn zurück zur Haustür. Er streckte die Hand aus und drückte die Klinke hinunter. Mit leisem Knarren schwang die Tür ins Innere. Es war nicht ungewöhnlich in dieser Gegend, dass die Menschen ihre Häuser offen ließen. Eine Erinnerung durchfuhr ihn kalt. Auch anderswo lebte man so. Hatte man so gelebt. Einen Moment verharrte er in Unschlüssigkeit, dann trat er zögerlich ein.

Er war ewig nicht mehr hier gewesen. Umso mehr erstaunte ihn, was er sah. In seiner Erinnerung hatte Greywolf in schmuddeligem Chaos gehaust. Stattdessen erblickte Anawak einen schlichten, aber behaglich eingerichteten Raum, an dessen Wänden indianische Masken und Wandteppiche hingen. Um einen niedrigen Holztisch standen geflochtene und bemalte Sessel. Indianische Decken zierten ein Sofa. Zwei Regale waren voll gestopft mit allen möglichen Gegenständen des täglichen Gebrauchs, aber auch mit hölzernen Rasseln, wie die Nootka sie bei Zeremonien und rituellen Gesängen benutzten. Einen Fernseher sah Anawak nicht. Zwei Kochplatten wiesen den Raum zugleich als Küche aus. Ein Durchgang führte in ein zweites Zimmer, in dem Greywolf schlief, wie Anawak sich erinnerte.

Kurz war er versucht, sich dort umzusehen. Immer noch fragte er sich, was er hier eigentlich machte. Dieses Haus lockte ihn in eine Zeitschleife. Es warf ihn weiter zurück in die Vergangenheit, als ihm lieb sein konnte.

Sein Blick blieb an einer großen Maske hängen. Sie schien den ganzen Raum zu überblicken.

Die Maske sah ihn an.

Er trat näher heran. Viele indianische Masken, die Gesichter zeigten, arbeiteten die Merkmale in symbolhafter Übertreibung heraus — riesige Augen, übermäßig geschwungene Brauen, schnabelartige Hakennasen.

Diese hier war das getreue Abbild eines menschlichen Antlitzes. Sie zeigte das ruhige Gesicht eines jungen Mannes mit gerader Nase, vollen, geschwungenen Lippen und hoher, glatter Stirn. Die Haare wirkten verfilzt, schienen aber echt zu sein. Sah man davon ab, dass die Pupillen ausgeschnitten waren, um dem Träger das Hindurchgucken zu ermöglichen, wirkten die Augen mit den weiß bemalten Augäpfeln überraschend lebendig. Sie blickten ruhig und ernst, fast wie in Trance.

Anawak stand reglos vor der Maske. Er kannte indianische Masken zuhauf. Die Stämme fertigten sie aus Zedernholz, Rinde und Leder. Man konnte sie kaufen, sie gehörten zum festen Repertoire des touristischen Angebots. Diese hier schlug aus der Art. Eine solche Maske fand man nicht in Touristenläden.

»Sie stammt von den Pacheedaht.«

Er fuhr herum. Greywolf stand direkt hinter ihm.

»Für einen Möchtegernindianer bist du gut im Anschleichen«, sagte Anawak.

»Danke.« Greywolf grinste. Er wirkte keineswegs verärgert über den ungebetenen Besucher. »Ich kann das Kompliment nicht zurückgeben. Für einen Totalindianer bist du die absolute Vollpfeife. Wahrscheinlich hätte ich dich abmurksen können, und es wäre dir nicht aufgefallen.«

»Wie lange stehst du schon hinter mir?«

»Ich bin gerade reingekommen. Ich spiele keine Spielchen, das müsstest du eigentlich wissen.« Greywolf trat einen Schritt zurück und musterte Leon, als falle ihm erst jetzt auf, dass er ihn nicht eingeladen hatte. »Bei der Gelegenheit, was willst du eigentlich?«

Gute Frage, dachte Anawak. Unwillkürlich wandte er den Kopf wieder der Maske zu, als könne sie das Gespräch für ihn übernehmen.

»Von den Pacheedaht, sagst du?«

»Du kennst dich mal wieder nicht aus, wie?« Greywolf seufzte und schüttelte nachsichtig den Kopf. Schimmernde Wellen durchliefen sein langes Haar. »Die Pacheedaht …«

»Ich weiß, wer die Pacheedaht sind«, sagte Anawak ärgerlich. Das Territorium des kleinen Nootka-Stammes lag im Süden Vancouver Islands, oberhalb von Victoria. »Mich interessiert die Maske. Sie sieht alt aus. Nicht wie der Krempel, den sie den Touristen verkaufen.«

»Es ist eine Replik.« Greywolf trat neben ihn. Statt des speckigen Lederanzugs trug er Jeans und ein verwaschenes Hemd, dessen Karomuster nur noch zu erahnen war. Seine Finger strichen über die Konturen des Zederngesichts. »Es ist die Maske eines Vorfahren. Das Original verwahrt die Queesto-Familie in ihrem HuupuKanum. Soll ich dir erklären, was ein HuupuKanum ist?«

»Nein.« Anawak kannte das Wort, aber tatsächlich wusste er nicht genau, was es bedeutete. Irgendetwas Rituelles. »Ein Geschenk?«

»Ich habe sie selber gemacht«, sagte Greywolf. Er wandte sich ab und ging hinüber zu der Sitzgruppe.

»Willst du was trinken?«

Anawak starrte auf die Maske. »Du hast …«

»Ich hab eine Menge Zeug geschnitzt in letzter Zeit. Neue Leidenschaft. Die Queestos hatten nichts dagegen, dass ich die Maske kopiere. — Willst du nun was trinken oder nicht?«

Anawak wandte sich um.

»Nein.«

»Mhm. Also was führt dich her?«

»Ich wollte mich bedanken.«

Greywolf hob die Brauen. Er ließ sich auf der Kante des Sofas nieder und verharrte dort wie ein sprungbereites Tier. »Wofür?«

»Ich verdanke dir mein Leben.«

»Oh! Das. Ich dachte schon, es war dir nicht aufgefallen.« Greywolf zuckte die Achseln. »Gern geschehen. Sonst noch was?«

Anawak stand hilflos im Raum. Davor hatte er sich nun wochenlang gedrückt, und jetzt war es vorbei. Danke, bitte. Im Grunde konnte er wieder gehen. Er hatte getan, was nötig war.

»Was hast du denn zu trinken?«, fragte er stattdessen.

»Kaltes Bier und Cola. Der Eisschrank hat letzte Woche den Geist aufgegeben. War ‘ne harte Zeit, aber jetzt funktioniert er wieder.«

»Gut. Cola.«

Plötzlich fiel Anawak auf, dass der Riese unsicher wirkte. Greywolf musterte ihn, als wisse er irgendwie nicht weiter. Er zeigte auf den kleinen Kühlschrank neben dem provisorischen Herd.

»Bedien dich selber. Für mich ein Bier.«

Anawak nickte. Er öffnete den Kühlschrank und förderte zwei Dosen zutage. Etwas steif setzte er sich Greywolf gegenüber in einen der Korbsessel, und sie tranken.

Eine Weile sagte niemand etwas.

»Und sonst, Leon?«

»Ich …« Anawak drehte die Dose hin und her. Dann stellte er sie ab. »Hör zu, Jack, ich meine es ernst. Ich hätte längst herkommen sollen. Du hast mich aus dem Wasser gefischt, und … na ja, ich meine, du weißt, was ich von deinen Aktionen und deinem Indianergehabe halte. Ich kann nicht leugnen, dass ich eine Sauwut auf dich hatte. Aber das sind zwei Paar Schuhe. Ohne dich würden einige Leute nicht mehr leben. Das ist viel wichtiger, und … ich bin gekommen, um dir das zu sagen. Sie nennen dich den Held von Tofino, und ich schätze, in gewisser Weise bist du das auch.«

»Du meinst es tatsächlich ernst?«

»Ja.«

Wieder verstrich längeres Schweigen.

»Was du Indianergehabe nennst, Leon, ist etwas, woran ich glaube. Soll ich’s dir erklären?«

Unter anderen Umständen wäre die Unterhaltung damit beendet gewesen. Anawak hätte sich entnervt verzogen, Greywolf hätte ihm irgendetwas Kränkendes hinterhergebrüllt. Nein, das war nicht ganz fair. Anawak hätte sich verzogen und dabei als Erstes etwas Kränkendes gesagt.

»Schön.« Er seufzte. »Erklär’s mir.«

Greywolf sah ihn lange an. »Ich habe ein Volk, zu dem ich gehöre. Ich habe mir eines erwählt.«

»Oh, toll. Du hast dir eines erwählt.«

»Ja.«

»Und? Haben sie dich auch erwählt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du läufst rum wie die Jahrmarkt-Version deines Volkes, wenn ich das sagen darf. Wie eine Figur aus einem schlechten Western. Was sagt denn dein Volk dazu? Finden sie, du tust ihnen einen Gefallen?«

»Es ist nicht meine Aufgabe, jemandem einen Gefallen zu tun.«

»Doch. Wenn du zu einem Volk gehören willst, übernimmst du für dieses Volk Verantwortung. So ist das nun mal.«

»Sie akzeptieren mich. Mehr will ich gar nicht.«

»Sie lachen über dich, Jack!« Anawak beugte sich vor. »Begreifst du das nicht? Du hast einen Haufen Versager um dich versammelt. Darunter mögen ein paar Indianer sein, aber es sind solche, mit denen nicht mal die eigenen Leute was zu tun haben wollen. Das versteht kein Mensch. Ich versteh’s auch nicht. Du bist kein Indianer, du bist es gerade mal zu 25 Prozent, und der Rest ist weiß und zu allem Überfluss irisch. Warum fühlst du dich nicht den Iren zugehörig? Wenigstens der Name würde stimmen.«

»Weil ich nun mal nicht will«, sagte Greywolf ruhig. »Kein Indianer läuft noch mit so einem Namen rum, wie du ihn dir zugelegt hast.«

»Ich schon.«

Müßig, dachte Anawak. Du bist gekommen, um dich zu bedanken, du hast dich bedankt, alles andere ist obsolet. Was sitzt du hier rum? Du solltest gehen.

Aber er ging nicht.

»Okay, erklär mir bitte eines: Wenn du so viel Wert darauf legst, von deinem erwählten Volk akzeptiert zu werden, warum versuchst du dann nicht zur Abwechslung mal, authentisch zu sein?«

»So wie du?«

Anawak zuckte zurück.

»Lassen wir mich aus dem Spiel.«

»Wozu?«, bellte Greywolf angriffslustig. »Ich sehe eigentlich nicht ein, warum ich mir die Prügel abholen soll, die für dich bestimmt sind.«

»Weil ich sie gerade austeile!«

Plötzlich kam die Wut wieder in ihm hoch, stärker denn je. Aber diesmal hatte er keine Lust, sie mit nach Hause zu nehmen wie sonst, sie in sich einzuschließen, damit sie Geschwüre bilden konnte. Es war zu spät. Kein Rückzug. Er würde sich selber in die Augen blicken müssen, und er wusste, was das bedeutete. Mit jedem Sieg, den er über Greywolf errang, würde er sich selber eine Niederlage beifügen.

Greywolf sah ihn unter gesenkten Lidern an. »Du bist nicht gekommen, um dich zu bedanken, Leon.«

»Doch.«

»Glaubst du? — Ja, du glaubst es tatsächlich. Aber du bist wegen was anderem hier.« Er verzog höhnisch die Mundwinkel und verschränkte die Arme. »Also, spuck’s aus. Was hast du Wichtiges zu sagen?«

»Nur eines, Jack. Du kannst dich tausendmal Greywolf nennen, du bleibst, was du bist. Es gibt Regeln, nach denen die Indianer früher zu ihren Namen gelangten, und keine davon trifft auf dich zu. Du hast eine schöne Maske da hängen, aber sie ist kein Original. Eine Fälschung, genauso falsch wie dein Name. — Und noch was, deine dämliche Naturschutzorganisation, ebenfalls eine Fälschung.« Plötzlich sprudelte aus ihm heraus, was er gar nicht hatte sagen wollen. Nicht heute. Er war nicht hergekommen, um Greywolf zu beschimpfen, aber er konnte nicht verhindern, dass es geschah. »Dein Niveau sind Tagediebe und Halunken, die es sich auf deinen Schultern bequem machen. Merkst du nichts? Du erreichst nicht das Geringste. Deine Vorstellung vom Schutz der Wale ist kindisch. Erwähltes Volk, Blödsinn. Dein erwähltes Volk wird niemals Verständnis für deine Spinnereien aufbringen.«

»Wenn du es sagst.«

»Du weißt verdammt genau, dass dein erwähltes Volk wieder Wale jagt. Du willst das verhindern. Ehrenvoll, aber offenbar hast du deinen eigenen Leuten nicht zugehört. Du wendest dich gegen das Volk, das du angeblich …«

»Quatsch, Leon. Es gibt unter den Makah reihenweise Leute, die meiner Meinung sind.«

»Schon, aber …«

»Stammesälteste, Leon! Nicht alle Indianer finden, dass eine ethnische Gruppe ihre Kultur durch rituelles Töten ausdrücken sollte. Sie sagen, die Makah sind ebenso Teil der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wie alle anderen Bewohner Washingtons auch.«

»Das Argument ist mir bekannt«, konterte Anawak geringschätzig. »Es stammt nicht von dir und irgendwelchen Stammesältesten, sondern aus einem Resümee der Sea Shepherd Conservation Society, einer Gesellschaft von Tierschützern, und zwar wörtlich. Du wartest nicht mal mit eigenen Argumenten auf, Jack. Mein Gott, kaum zu glauben. Du fälschst sogar deine Argumente!«

»Tu ich nicht, ich …«

»Außerdem«, fuhr ihm Anawak dazwischen, »ist es ja wohl mehr als lächerlich, ausgerechnet Davies aufs Korn zu nehmen.«

»Ah! Wir kommen der Sache schon näher. Darum bist du hier.«

»Du warst doch selber mal einer von uns, Jack. Hast du nichts gelernt? Erst Whale Watching hat den Menschen klar gemacht, dass Wale und Delphine lebend mehr wert sind als tot. Es hat den Blick der Welt auf ein Problem gelenkt, das sonst nie in diesem Ausmaß offenbar geworden wäre. Whale Watching ist Naturschutz! Fast zehn Millionen Menschen fahren mittlerweile jedes Jahr hinaus, um die Erfahrung zu machen, welch großartige Geschöpfe das sind. Selbst in Japan und Norwegen wächst der Widerstand gegen den Walfang, weil wir den Menschen diese Möglichkeit bieten. Kapierst du das, kriegst du das mit? Zehn Millionen Menschen, die Wale sonst nur aus dem Fernsehen kennen würden! Wenn überhaupt! Unsere wissenschaftliche Arbeit, die uns in die Lage versetzt, Wale in ihrem Lebensraum zu schützen, wäre nie möglich gewesen ohne Whale Watching.«

»Hugh!«

»Warum also wir? Warum bekämpfst du ausgerechnet uns? Weil du damals rausgeflogen bist?«

»Ich bin nicht rausgeflogen. Ich bin gegangen!«

»Du bist rausgeflogen!«, schrie Anawak. »Gefeuert, gehimmelt, abserviert. Du hast Mist gebaut, und Davie hat dich auf die Straße gesetzt. Dein beschissenes kleines Selbstbewusstsein hat das nicht verkraftet, genauso wenig, wie es Jack O’Bannon verkraftet, wenn man ihm die Haare schneidet und ihm die Lederklamotten und den läppischen Namen wegnimmt. Deine ganze Ideologie beruht auf Missverständnissen und Fälschungen, Jack. Alles an dir ist eine Fälschung. Du bist eine Null, ein Nichts. Du produzierst nur Scheiße! Du schadest dem Naturschutz, du schadest den Nootka, du bist nirgendwo zu Hause, nirgendwo heimisch, du bist kein Ire und kein Indianer, das ist dein verdammtes Problem, und es macht mich krank, dass wir uns damit herumschlagen müssen, als hätten wir keine anderen Sorgen!«

»Leon …«, sagte Greywolf mit schmalen Lippen.

»Es macht mich krank, dich so zu sehen.«

Greywolf stand auf. »Leon, halt den Mund. Es reicht.«

»Es reicht noch lange nicht. Zum Teufel, du könntest so viel Sinnvolles tun, du bist ein Berg voller Muskeln, blöde bist du auch nicht, also was …«

»Leon, halt endlich die Schnauze!«

Greywolf kam um den Tisch auf ihn zu, mit Riesenschritten, die Fäuste geballt. Anawak sah zu ihm hoch. Er fragte sich, ob ihn schon der erste Schlag ins Reich der Träume befördern würde. Greywolf hatte dem Touristen damals den Kiefer gebrochen. Ganz sicher würde ihn seine vorlaute Klappe ein paar Zähne kosten.

Aber Greywolf schlug nicht zu. Stattdessen stemmte er beide Hände auf die Lehnen von Anawaks Sessel und beugte sich über ihn. »Du willst wissen, warum ich mir dieses Leben ausgesucht habe? Willst du’s wirklich wissen?«

Anawak starrte ihn an. »Nur zu.«

»Nein, das willst du nämlich nicht, du selbstgerechtes kleines Arschloch.«

»Doch. Du hast nur nichts zu sagen.«

»Du …« Greywolfs Kiefer mahlten. »Verdammter Idiot. Ja, ich bin unter anderem auch Ire, aber in Irland war ich nie. Meine Mutter ist zur Hälfte Suquamish. Sie ist weder von den einheimischen Weißen noch von den Indianern richtig akzeptiert worden, also hat sie einen Einwanderer geheiratet, und der wurde auch von keinem akzeptiert.«

»Rührend. Das hast du mir schon mal erzählt. Erzähl mir was Neues.«

»Nein, ich werde dir einfach die Wahrheit erzählen, und du hörst gefälligst zu! Du hast Recht, ich werde kein Indianer, wenn ich wie einer rumlaufe. Ich würde aber auch kein Ire, wenn ich anfinge, literweise Guinness zu saufen, und ein stinknormaler weißer Amerikaner schon gar nicht, bloß weil wir in unserer Familie auch so was haben. Ich bin nicht authentisch. Ich gehöre nirgendwo richtig dazu, und weißt du was? Ich — kann — es — verdammt — nochmal — nicht — ändern!«

Seine Augen blitzten. »Du müsstest nur den Arsch hochkriegen und könntest was ändern. Du müsstest einfach nur deine Geschichte umdrehen. Ich hatte nie die Möglichkeit, meine Geschichte umzudrehen.«

»Schwachsinn!«

»Oh, sicher, ich hätte mich benehmen und was Anständiges lernen können. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Niemand fragt danach, woraus du zusammengesetzt bist, wenn du Erfolg hast, aber ich hatte keinen. Es gibt ethnisch Zusammengeflickte, die haben das Beste aus allen Welten mitbekommen. Die sind überall zu Hause. Meine Eltern sind einfache, verunsicherte Leute. Sie haben es nie verstanden, ihrem Sohn so etwas wie Selbstbewusstsein und Zugehörigkeit zu vermitteln. Sie fühlten sich entwurzelt und missverstanden, und ich habe das Schlechteste aus allen Welten mitbekommen! Alles ist misslungen, und das Einzige, was geklappt hat, ist auch misslungen!«

»Ach ja. Die Navy. Deine Delphine.«

Greywolf nickte grimmig.

»Die Navy war gut. Ich war der beste Trainer, den sie jemals hatten, und da hat keiner blöde Fragen gestellt. Aber kaum war ich draußen, ging es wieder los. Meine Mutter trieb meinen Vater mit indianischen Bräuchen zum Wahnsinn und er sie mit seinem ständigen Heimweh nach Mayo. Jeder versuchte sich irgendwie zu behaupten. Ich glaube, sie wollten nicht mal stolz darauf sein, irgendwoher zu kommen, sie wollten überhaupt nur irgendwoher kommen und sagen fuck!, ich bin kein Bastard! Das hier ist meine Heimat, hey, hier bin ich zu Hause!«

»Das waren ihre Probleme. Du hättest sie nicht zu deinen machen müssen.«

»Ach ja?«

»Mann, Jack! Du stehst vor mir wie ein Schrank und behauptest, von den Konflikten deiner Eltern dermaßen traumatisiert zu sein, dass du nichts auf die Reihe kriegst?« Anawak schnaubte zornig. »Was macht es für einen Unterschied, ob du Indianer, Halbindianer oder sonst was bist? Niemand ist für seine innere Heimat verantwortlich außer er selber, seine Eltern nicht, keiner.«

Greywolf schwieg überrascht. Dann stahl sich Genugtuung in seine Augen, und Anawak wusste, dass er soeben verloren hatte. Es hatte so kommen müssen.

»Von wem reden wir hier eigentlich?«, fragte Greywolf mit maliziösem Lächeln.

Anawak schwieg. Er sah zur Seite.

Greywolf richtete sich langsam auf. Das Lächeln verschwand von seinen Zügen. Plötzlich sah er verbraucht und müde aus. Er ging hinüber zu der Maske und blieb davor stehen.

»Okay, vielleicht bin ich ein Idiot«, sagte er leise.

»Mach dir nichts draus.« Anawak fuhr sich über die Augen. »Wir sind beide Idioten.«

»Du bist der größere von uns beiden. Diese Maske hier stammt aus dem HuupaKanum von Chief Jones. Du hast keine Ahnung, was das ist, stimmt’s? Ich sag’s dir. Ein HuupuKanum ist eine Box. Ein Aufbewahrungsort für Masken und Kopfschmuck, Zeremoniengegenstände und so weiter. Aber das ist nicht alles. Im HuupuKanum liegen die vererbten Rechte der hawiih und chaachaabat, der Chiefs. Das Huupu-Kanum dokumentiert ihr Territorium, ihre historische Identität, ihre vererbten Rechte. Es sagt den anderen, wer du bist und woher du kommst.« Er drehte sich um. »Jemand wie ich könnte nie in den Besitz eines HuupuKanum gelangen. Du schon. Du könntest stolz sein. Aber du verleugnest alles, was du bist und woher du stammst. Ich soll Verantwortung tragen für das Volk, dem ich mich zugehörig fühle. Du bist einem Volk zugehörig und hast es verlassen! Du wirfst mir vor, nicht authentisch zu sein. Ich konnte es nie sein, aber ich versuche mir ein Stück Authentizität zu erkämpfen. Du hingegen bist authentisch. Aber du willst nicht sein, was du bist, und bist nicht, was du sein willst. Du sagst mir, ich sehe aus wie aus einem schlechten Western, aber es ist wenigstens ein Bekenntnis zu irgendeiner Art von Leben. Du zuckst ja schon zusammen, wenn dich bloß jemand fragt, ob du ein Makah bist.«

»Woher weißt du …?« Delaware. Natürlich. Sie war hier gewesen.

»Mach ihr bloß keinen Vorwurf«, sagte Greywolf. »Dich zu fragen, hat sie sich kein zweites Mal getraut.«

»Was hast du ihr erzählt?«

»Nichts. Du verdammter Feigling. Du willst mir was von Verantwortung erzählen? Du kommst hierher und wagst es, mir diese Scheiße aufzutischen, dass nicht die Eltern für deine innere Heimat zuständig sind, sondern nur du selber? Ausgerechnet du? Leon, ich führe vielleicht ein lächerliches Leben, aber du … du bist doch schon tot.«

Anawak saß da und ließ die letzten Worte Revue passieren. »Ja«, sagte er langsam. »Du hast Recht.«

»Ich habe Recht?«

Anawak erhob sich. »Ja. Ich danke dir nochmals für die Lebensrettung. Du hast Recht.«

»Hey, warte mal.« Greywolf zwinkerte nervös. »Was … was hast du denn jetzt vor?«

»Ich gehe.«

»So? Hm. Na ja, Leon, ich … also, dass du schon tot bist, habe ich nicht so … verdammt, ich wollte dich nicht verletzen, ich … Zum Teufel, steh hier nicht rum, setz dich wieder hin!«

»Wozu?«

»Deine … deine Cola! Du hast sie nicht ausgetrunken.«

Anawak zuckte ergeben die Achseln. Er setzte sich wieder, nahm die Dose und trank. Greywolf sah ihm zu, kam zu ihm herüber und ließ sich wieder auf dem Sofa nieder.

»Was war eigentlich mit diesem kleinen Jungen?«, fragte Anawak. »Scheint dich ja schwer ins Herz geschlossen zu haben.«

»Den wir vom Schiff geholt haben?«

»Ja.«

»Was schon? Er hatte Angst. Ich hab mich um ihn gekümmert.«

»Einfach so?«

»Klar.«

Anawak lächelte. »Ich hatte eher den Eindruck, du willst um jeden Preis in die Zeitung.«

Einen Moment lang wirkte Greywolf verärgert. Dann grinste er zurück. »Klar wollte ich in die Zeitung. Ich fand’s geil, in der Zeitung zu stehen. Das eine schließt das andere ja nicht aus.«

»Der Held von Tofino.«

»Na und? Es war klasse, der Held von Tofino zu sein! Wildfremde Leute haben mir auf die Schulter gehauen. Nicht jeder macht durch bahnbrechende Tests mit Meeressäugern von sich reden. Man nimmt, was man kriegt.«

Anawak nuckelte den letzten Rest aus seiner Dose. »Und wie geht’s deiner … ähm, Organisation?«

»Den Seaguards?«

»Ja.«

»Aus die Maus. Nachdem die eine Hälfte bei dem Walangriff ums Leben gekommen ist, hat sich die andere in alle Winde zerstreut.« Greywolf zog die Stirn in Falten. Er sah aus, als horche er in sich hinein. Dann ruhte sein Blick wieder auf Anawak. »Weißt du, Leon, was das Problem unserer Zeit ist? Die Menschen verlieren ihre Bedeutung. Jeder ist ersetzbar. Es gibt keine Ideale mehr, und ohne Ideale gibt es nichts, was uns größer macht, als wir sind. Jeder sucht verzweifelt nach dem Beweis, dass die Welt mit ihm ein bisschen anders ist als ohne ihn. — Ich habe was für diesen Jungen getan. Vielleicht war es sinnvoll. Vielleicht gibt es mir ein bisschen Bedeutung.«

Anawak nickte langsam. »Ja. Das tut es bestimmt.«


Hafengelände, Vancouver

Wenige Stunden nach seinem Besuch bei Greywolf blickte Anawak im verschwindenden Tageslicht den Pier entlang.

Menschenleer.

Wie alle Welthäfen war auch Vancouver Harbour ein autarker Kosmos von gewaltigen Ausmaßen, in dem es an nichts zu fehlen schien — bis auf Übersichtlichkeit.

Hinter ihm lagen die aufgetürmten, eckigen Kistengebirge des Containerhafens, in unwirkliche Farben getaucht. Löschkräne zeichneten sich schwarz gegen das Silberblau des Abendhimmels ab. Die Silhouetten von Autofrachtern erhoben sich wie riesige Schuhkartons, dazwischen Containerschiffe, Massengutfrachter und elegante weiße Kühlschiffe. Zu Anawaks Rechten reihten sich Lagerhallen aneinander. Ein Stück weiter sah er Schläuche, Bleche und Hydraulikteile übereinander liegen. Hier begannen auf weiter Fläche die Trockendocks, und noch weiter draußen lagen die Schwimmdocks. Eine Brise trieb den Geruch von Farbe herüber.

Offenbar kam er der Sache näher.

Ohne Auto war man hier verloren. Anawak hatte ein paar Leute fragen müssen und eine ganze Weile falsch gefragt, weil er das Objekt seiner Suche schlecht nennen konnte. Sie hatten ihm beschrieben, wo die Schwimmdocks lagen, weil er davon ausging, es dort zu finden. Im Hafen von Vancouver standen Docks aller Größen zur Verfügung, bis hin zum zweitgrößten Schwimmdock der Welt, das über 50000 Tonnen hob. Aber zu seiner Überraschung, als er gezwungenermaßen konkreter wurde, schickte man ihn zu den Trockendocks, jenen künstlichen Hafenbecken, die durch Schleusen abgedichtet wurden, bevor man das Wasser nach draußen pumpte. Nach zweimaligem Verfahren sah er sich endlich am Ziel. Er parkte den Wagen im Schatten eines lang gestreckten Kontorgebäudes, wuchtete die prall gefüllte Sporttasche über die Schulter und wanderte entlang der Gitterabsperrung, bis er ein spaltbreit offenes Rolltor fand. Dort schlüpfte er ins Innere.

Vor ihm lag eine kopfsteingepflasterte Fläche, seitlich umstanden von Baracken. Dahinter schienen die Aufbauten eines riesigen Schiffes geradewegs aus dem Boden zu wachsen. Es war die Barrier Queen. Sie lag in einem Becken von gut und gerne 250 Metern Länge. Zu beiden Seiten erhoben sich Kräne auf Schienen. Starke Scheinwerfer bestrahlten das Gelände. Weit und breit war niemand zu sehen.

Während er mit wachsamen Blicken über den erleuchteten Platz ging, fragte er sich, ob die Aktion nicht allzu überhastet war. Das Schiff lag seit Wochen auf dem Trockenen. Den Bewuchs hatte man vermutlich entfernt, mit allem, was darin versteckt gewesen war. Etwaige Reste in Ritzen und Spalten würden längst vertrocknet sein. Von dem Ding in den Muscheln wäre erst recht nichts übrig. Im Grunde wusste Anawak nicht so recht, was eine zweite Untersuchung der Barrier Queen zutage fördern sollte. Es war ein Versuch auf gut Glück, eine vage Hoffnung. Falls er irgendetwas fand, das für Nanaimo von Nutzen sein konnte, würde er es mitnehmen. Falls nicht, hatte er dem Abenteuer einen Abend geopfert.

Das Ding vom Rumpf.

Es war klein gewesen, höchstens so groß wie ein Rochen oder ein Tintenfisch. Der Organismus hatte einen Lichtblitz ausgesandt. Viele Meeresbewohner taten das, Kopffüßer, Medusen, Tiefseefische. Dennoch war Anawak überzeugt, diesem Blitzen wiederbegegnet zu sein, als er mit Ford die Aufnahmen des URA betrachtet hatte. Die leuchtende Wolke war ungleich größer als das Ding, aber was sich in ihrem Innern abspielte, erinnerte ihn auf frappierende Weise an sein Erlebnis unter dem Rumpf der Barrier Queen. Falls es sich wirklich um ein und dieselbe Lebensform handelte, wurde es allerdings erst richtig spannend. Denn das Zeug in den Köpfen der Wale, die Substanz vom Rumpf des Schiffes und das geflohene Wesen schienen identisch zu sein.

Die Wale sind nur der Teil des Problems, den wir sehen.

Er schaute sich mit erhöhter Wachsamkeit um und sah ein Stück abseits mehrere Geländewagen vor einer Baracke parken. Die Fenster des Gebäudes waren erleuchtet. Er blieb stehen. Es waren Militärfahrzeuge. Was tat das Militär hier? Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er mitten auf dem hell erleuchteten Platz stand, und er lief geduckt weiter. Erst am Rand des Trockendocks verharrte er. So sehr beschäftigte ihn das Vorhandensein der Militärfahrzeuge, dass er einige Sekunden lang in das Becken starrte, ohne recht zu begreifen, was er sah. Dann weiteten sich seine Augen vor Erstaunen. Er vergaß die Fahrzeuge und trat näher heran.

Das Dock war geflutet.

Die Barrier Queen lag keineswegs auf dem Trockenen. Wo man den Kiel auf den Pallen hätte sehen müssen, rippten sich winzige Wellen. Der Wasserspiegel lag mindestens acht bis zehn Meter über der Docksohle.

Anawak ging in die Hocke und starrte auf das schwarze Wasser.

Warum hatten sie es eingelassen? War die Reparatur des Ruders vollendet? Aber dann hätten sie die Barrier Queen ebenso gut raussetzen können.

Er dachte nach.

Und plötzlich wusste er, warum.

Vor Erregung ließ er die Schultertasche so schnell heruntergleiten, dass sie geräuschvoll aufschlug. Erschrocken blickte er den verlassenen Pier entlang. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Flutlichter erstrahlten entlang des Docks in kaltem Weißgrün. Er lauschte auf Schritte, aber außer den Geräuschen der Stadt, die der Wind herüberwehte, war nichts zu hören.

Jetzt, da er das geflutete Becken sah, kamen ihm plötzlich Zweifel, ob er nicht einen Fehler beging. Seine Verärgerung über die Geheimnistuerei des Krisenstabs hatte ihn hergeführt, aber wer war er, dessen Entscheidungen in Frage zu stellen? Es war eine Rambo-Aktion, die er hier durchzog, möglicherweise eine Nummer zu groß für ihn. Darüber hatte er zuvor nicht nachgedacht.

Andererseits war er nun mal hier, und überhaupt — was sollte passieren? In zwanzig Minuten würde er ebenso unbemerkt verschwunden sein, wie er hergelangt war. Um einiges klüger.

Anawak öffnete die Sporttasche. Sie hielt alles bereit. Er hatte die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, tauchen zu müssen. Hätte die Barrier Queen im Schwimmdock gelegen, wäre es sinnvoll gewesen, sich vom offenen Wasser her zu nähern. Aber so war es natürlich einfacher.

So war es perfekt!

Er entledigte sich seiner Jeans und der Oberbekleidung, holte Maske, Flossen und Stablampe hervor und einen Sammelbehälter, den er um seine Hüften schnallte. Die Messertasche am Bein komplettierte die Ausrüstung. Sauerstoff würde er nicht brauchen. Die Tasche verstaute er unter einem Poller. Die Ausrüstung unter den Arm geklemmt, eilte er am Becken entlang, bis er zu einer schmalen, abwärts führenden Steigleiter gelangte. Er warf einen letzten Blick über den Pier. Aus der Baracke drang unverändert Licht. Niemand war zu sehen. Schnell und geräuschlos lief er die Gitterstufen abwärts, streifte Maske und Flossen über und ließ sich ins Wasser gleiten.

Schneidende Kälte fuhr ihm in die Knochen. Ohne Neoprenschutz musste er sich beeilen, aber er hatte ohnehin nicht vor, lange unten zu bleiben. Mit kräftigen Flossenschlägen, die Stablampe eingeschaltet, tauchte er ab und strebte dem Kiel zu. Das Wasser war um einiges klarer als bei seinem Tauchgang im Hafenbecken, und er sah den stählernen Rumpf deutlich vor sich. Das Licht der Lampe ließ den Anstrich kräftig rot aufleuchten. Er strich mit den Fingern über die Oberfläche, verharrte einen Moment, stieß sich ab und schwamm weiter.

Nach wenigen Metern verschwand die Bordwand unter dichtem Muschelbewuchs.

Fasziniert paddelte er weiter. Der Kiel war unverändert dick verkrustet. Nachdem er rund die Hälfte der Distanz zum Bug zurückgelegt hatte, schien es ihm fast, als habe der Bewuchs sogar noch zugenommen. Das war es also. Sie hatten ihn überhaupt nicht entfernt. Sie erforschten das Zeug und alles, was noch darin stecken mochte, direkt am Schiff. Darum lag die Barrier Queen im Trockendock, weil man es im Gegensatz zu einem Schwimmdock hermetisch abriegeln konnte, sodass nichts ins Meer entwich, was nicht entweichen sollte. Sie hatten die Barrier Queen zu einem Laboratorium umfunktioniert. Und damit, was daran haftete und darin lebte, weiterleben konnte, hatten sie das Dock geflutet.

Schlagartig wurde ihm nun auch klar, was die Militärfahrzeuge zu bedeuten hatten. Wenn Nanaimo als ziviles Institut aus der Sache raus war, konnte das nur eines bedeuten. Die Armee hatte die Forschungen an sich gerissen. Alles Weitere lief unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Anawak zögerte. Wieder meldeten sich Zweifel, ob er das Richtige tat. Noch war Zeit, sich davonzumachen. Dann verwarf er den Gedanken. Lange würde er nicht brauchen. Rasch zog er das Messer heraus und begann, Muscheln abzusäbeln. Er achtete darauf, die Schalen nicht zu beschädigen, löste die Tiere, indem er die Klinge behutsam unter den muskulösen Fuß schob und mit einem Ruck abhebelte, konzentriert und systematisch. Eine Muschel nach der anderen wanderte in die Sammelbox. Gut so. Oliviera würde ihm um den Hals fallen.

Der Drang einzuatmen wurde übermächtig. Anawak steckte das Messer weg und tauchte auf, um Luft zu holen. Kühl drang sie in seine Lungen. Über ihm ragte dunkel und steil die Bordwand empor. Er atmete mehrmals kräftig durch. Als Nächstes würde er eine Stelle suchen, die jener glich, aus der ihm das aufblitzende Ding entgegengekommen war. Vielleicht verbargen sich ja noch weitere dieser Wesen im Bewuchs. Diesmal würde er vorbereitet sein.

Als er eben wieder abtauchen wollte, vernahm er leise Schritte.

Er drehte sich im Wasser und spähte die Wand des Beckens hoch. Zwei Gestalten gingen dort entlang, auf halber Strecke zwischen zwei Flutlichtmasten.

Sie schauten nach unten.

Lautlos ließ er sich unter die Oberfläche sinken. Vermutlich der Wachdienst. Oder zwei späte Arbeiter. Sicher gab es eine Menge Leute, die Grund hatten, um diese Zeit hier entlangzugehen. Er würde darauf zu achten haben, wenn er das Becken wieder verließ.

Dann fiel ihm ein, dass sie den Schein seiner Lampe unter Wasser sehen konnten.

Er schaltete sie aus. Dunkelheit umfing ihn.

Wie dumm. Wo waren die beiden entlanggelaufen? Sie gingen in Richtung Heck. Vielleicht konnte er zum Bug schwimmen und seine Untersuchung dort fortsetzen. Mit gleichmäßigen Flossenschlägen machte er sich auf den Weg. Nach einer Weile kam er wieder hoch, drehte sich auf den Rücken und sog Luft in sich hinein, den Blick auf die Kaimauer gerichtet, aber niemand war zu sehen.

Auf Höhe des Ankers ließ er sich wieder nach unten sinken. Seine Finger ertasteten vorsichtig die Bordwand. Auch hier bildeten die Muscheln bizarre Wucherungen. Er suchte nach einem Spalt oder größeren Vertiefungen, fand aber nichts Derartiges. Das Beste würde sein, die Box mit weiteren Muscheln zu füllen und schleunigst wieder zu verschwinden. In seiner Hast schnitt er die Tiere jetzt weniger sorgfältig ab. Seine Hände zitterten. Diese ganze Aktion war der Plan eines Dilettanten, das wurde ihm deutlich bewusst. Ihm war schrecklich kalt, seine Fingerspitzen hatten jedes Gefühl verloren.

Seine Fingerspitzen …

Plötzlich fiel ihm auf, dass er sie sehen konnte. Er schaute an sich hinab. Auch seine Arme und seine Beine. Sie leuchteten. Nein, das Wasser hatte zu leuchten begonnen. Es fluoreszierte in tiefdunklem Blau.

Mein Gott, dachte Anawak.

Im nächsten Moment blendete ihn grelles Licht. Instinktiv riss er die Arme hoch und schirmte seine Augen ab. Lichtblitze. Die Wolke. Was geschah mit ihm? Worauf hatte er sich bloß eingelassen?

Aber es war kein Lichtblitz. Das grelle Licht blieb. Anawak erkannte, dass er von einem Unterwasserscheinwerfer angeleuchtet wurde. Weitere Scheinwerfer flammten entlang der Docksohle auf. Sie tauchten den Rumpf der Barrier Queen in harte Helligkeit. Deutlich sah er die furchigen, hügeligen Krusten aus Muscheln und erschauderte.

Das galt ihm. Sie hatten ihn entdeckt!

Einen Moment lang wusste er nicht, was er tun sollte. Aber es gab nur einen Weg. Er musste versuchen, zurück ans Heck zu gelangen, dorthin, wo die Stiege nach oben führte und wo seine Tasche auf ihn wartete. Mit klopfendem Herzen schnellte er vorbei an den grellen Lichtern. In seinen Ohren rauschte das Wasser. Die Luft wurde ihm knapp, aber er wollte nicht auftauchen, bevor er nicht die Stiege erreicht hatte.

Da war sie, im Zickzack der Docksohle zustrebend.

Seine Hände umklammerten das Geländer, und er zog sich hoch. Von oben hörte er lautes Rufen und das Getrampel laufender Füße. Hastig streifte er Flossen und Maske ab, klinkte die Stablampe an seinem Gürtel fest und schlich geduckt nach oben, bis er über den Rand schauen konnte.

Drei Gewehrmündungen waren auf ihn gerichtet.

In der Baracke gab man Anawak eine Decke. Er hatte versucht, den Soldaten zu erklären, dass er Mitglied des Wissenschaftlichen Krisen-Stabs sei, aber sie hörten ihm überhaupt nicht zu. Ihre Aufgabe bestand darin, ihn dingfest zu machen. Nachdem er offensichtlich keinen Widerstand leistete und auch nicht zu fliehen versuchte, hatten sie ihn in die Baracke getrieben, wo noch mehr Soldaten waren und ein diensthabender Offizier, der ihn mit Fragen löcherte. Anawak wusste, dass es zwecklos war, irgendwelche Geschichten zu erzählen. Sie würden ihn ohnehin nicht laufen lassen. Also erzählte er, wer er war und warum er hier war — kurz, die Wahrheit.

Der Offizier hörte nachdenklich zu. »Können Sie sich ausweisen?«, fragte er.

Anawak schüttelte den Kopf. »Meine Papiere sind in meiner Tasche, und die steht draußen. Ich könnte sie holen.«

»Sagen Sie uns einfach, wo die Tasche ist.«

Er beschrieb den Soldaten, wo er die Sporttasche abgestellt hatte. Fünf Minuten später hielt der Offizier seinen Ausweis in Händen und studierte ihn aufmerksam.

»Falls Ihre Papiere nicht gefälscht sind, heißen Sie Leon Anawak, wohnhaft in Vancouver …«

»Nichts anderes erzähle ich die ganze Zeit.«

»Erzählt wird vieles. Wollen Sie einen Kaffee? Sie sehen ziemlich durchgefroren aus.«

»Ich bin ziemlich durchgefroren.«

Der Offizier stand von seinem Schreibtisch auf, ging zu einem Automaten und drückte auf eine Taste. Ein Pappbecher fiel unten heraus und füllte sich mit dampfender Flüssigkeit. Anawak trank in kleinen Schlucken und fühlte ein bisschen Wärme in seinen klammen Körper zurückkehren.

»Ich weiß nicht, was ich von Ihrer Geschichte halten soll«, sagte der Offizier, während er langsam um ihn herumwanderte. »Wenn Sie zum Krisenstab gehören, warum haben Sie dann kein offizielles Ersuchen eingereicht?«

»Fragen Sie das Ihre Vorgesetzten. Ich versuche seit Wochen, Kontakt mit Inglewood aufzunehmen.«

Der Offizier legte die Stirn in Falten.

»Sie sind freier Mitarbeiter des Stabs?«

»Ja.«

»Verstehe.«

Anawak sah sich um. Er vermutete, dass der mit Resopalstühlen und schäbigen Tischen möblierte Raum als Pausenraum für die Dockarbeiter diente. Jetzt war er offenbar umfunktioniert worden zu einer provisorischen Kommandostelle.

Er hatte die ganze Sachlage vollkommen falsch eingeschätzt.

»Und jetzt?«, fragte er.

»Jetzt?« Der Offizier setzte sich ihm gegenüber und verschränkte die Finger. »Ich muss Sie bitten, vorerst hier zu bleiben. Der Fall ist nicht so einfach. Sie befinden sich auf militärischem Sperrgebiet.«

»Nirgendwo steht ein Schild, wenn ich das anmerken darf.«

»Ein Schild mit der Genehmigung einzudringen steht hier ebenso wenig, Dr. Anawak.«

Anawak nickte. Was sollte er sich beschweren? Es war eine Schnapsidee gewesen. Oder auch nicht, immerhin wusste er nun, dass die Armee an der Sache arbeitete, dass sie die Organismen am Rumpf studierte und am Leben erhielt. Die Muscheln, die er für Oliviera gesammelt hatte, würden Nanaimo wohl kaum erreichen, sofern die Verantwortlichen weiterhin mauerten.

Der Offizier zog ein Funkgerät vom Gürtel und führte ein kurzes Gespräch. »Sie haben wirklich Glück«, sagte er dann. »Es wird jemand kommen, um sich mit Ihnen zu befassen.«

»Warum nehmen Sie nicht einfach meine Personalien auf und lassen mich gehen?«

»So einfach ist das nicht.«

»Ich habe nichts Unrechtmäßiges getan«, sagte Anawak. Es klang nicht sonderlich überzeugend, nicht mal in seinen eigenen Ohren.

Der Offizier lächelte. »Auch für Mitglieder eines Krisenstabs gelten die Regeln des Hausfriedensbruchs. Im zivilrechtlichen Sinne.«

Er ging hinaus. Anawak blieb zusammen mit den übrigen Soldaten in der Baracke. Sie sprachen nicht mit ihm, behielten ihn aber im Auge. Allmählich wurde ihm wieder warm vom Kaffee und vom Ärger darüber, es verpatzt zu haben. Er hatte sich angestellt wie der letzte Idiot. Der einzige Trost war die Aussicht auf ein paar Informationen, wenn wer auch immer eintraf, um sich mit ihm ›zu befassen‹.

Eine halbe Stunde verstrich in untätigem Warten. Dann hörte er einen Helikopter näher kommen. Er wandte den Kopf und schaute aus dem Fenster, das zum Hafenbecken hinausging. Licht strömte ins Innere der Baracke. Ein starker Scheinwerfer schwebte dicht über dem Wasser. Kurz schwoll das Knattern der Rotoren ohrenbetäubend an, als der Helikopter das Gebäude überflog und tiefer ging. Das Knattern verwandelte sich in rhythmisches Flappen. Die Maschine war gelandet.

Anawak seufzte. Jetzt würde er alles ein zweites Mal erzählen müssen. Wer er war, was er hier zu suchen hatte.

Über den gepflasterten Platz näherten sich Schritte. Gesprächsfetzen klangen auf. Zwei Soldaten traten ein. Ihnen folgte der Offizier.

»Sie haben Besuch, Dr. Anawak.«

Er ging einen Schritt zur Seite. Eine weitere Person erschien als Schattenriss im erleuchteten Türrahmen. Anawak erkannte sie sofort. Kurz verharrte sie dort, als wolle sie sich einen Überblick verschaffen. Dann kam sie langsam näher, bis sie dicht vor ihm stand. Anawak sah in wasserblaue Augen. Zwei Aquamarine in einem asiatischen Gesicht.

»Guten Abend«, sagte eine leise, kultivierte Stimme.

Es war General Commander Judith Li.


3. Mai

Thorvaldson, norwegischer Kontinentalhang

Clifford Stone war im schottischen Aberdeen zur Welt gekommen, als zweites von drei Kindern. Vom ersten Lebensjahr an ging ihm alles Niedliche ab. Er war klein, schmächtig und auf unkindliche Weise hässlich. Seine Familie begegnete ihm mit Distanz, als sei er ein Unfall, eine peinliche Panne, die umso weniger offenbar wird, je weniger man sie thematisiert. Clifford wurde keine Verantwortung übertragen wie dem Erstgeborenen, und er wurde nicht verhätschelt wie seine jüngere Schwester. Man konnte auch nicht eben sagen, dass er schlecht behandelt wurde, im Grunde fehlte es ihm an nichts.

Bis auf Wärme und Aufmerksamkeit.

Nie erlebte er das Gefühl, anderen in irgendetwas voraus zu sein.

Er fand keine Freunde als Kind und kein Mädchen, als er älter wurde und mit achtzehn seine Haare ausfielen. Nicht einmal der Umstand, dass er mit einem glänzenden Abitur aufwartete, schien tatsächlich jemanden zu interessieren. Mit einiger Verblüffung überreichte ihm sein Kursleiter das Abschlusszeugnis, als nehme er den unscheinbaren Jungen mit den fordernden schwarzen Augen erstmalig wahr. Es war ein sehr gutes Zeugnis, also nickte er Stone freundlich zu, lächelte kurz und vergaß das schmale Gesicht im selben Moment.

Stone studierte Ingenieurwissenschaften und erwies sich als hoch begabt. Endlich — über Nacht — wurde ihm die Anerkennung zuteil, nach der er sich immer gesehnt hatte. Aber sie blieb beschränkt auf seine berufliche Existenz. Der private Stone verblasste zusehends — weniger, weil niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, sondern weil er sich selber keine private Existenz gestattete. Der Gedanke an Privatheit machte ihm Angst. Privatheit bedeutete zurückzufallen in die Nichtbeachtung. Während Clifford Stone, der Ingenieur, mit seinem messerscharfen Verstand Karriere bei Statoil machte, begann er den kahlen Mann, der abends allein nach Hause ging, für seine Ängste zu verachten, bis er ihm schließlich jegliches Existenzrecht absprach.

Der Konzern wurde sein Leben, seine Familie, seine Erfüllung, weil er Stone etwas vermittelte, das er zu Hause nie erfahren hatte. Das Gefühl, anderen voraus zu sein. Vorn zu liegen. Es war ein berauschendes und zugleich quälendes Empfinden, eine ständige Hetze. Mit der Zeit begann die Sucht nach dem ultimativen Vorsprung Stone auf eine Weise zu beherrschen, dass er sich an keinem seiner Erfolge wirklich freuen konnte, weil er gar nicht wusste, wie man Erfolge feierte oder mit wem. Hatte er ein Ziel erreicht, war er unfähig zu verweilen. Wie besessen hastete er sich selber voraus. Zu verweilen hätte möglicherweise bedeutet, einen Blick auf einen schmalen Jungen mit seltsam erwachsenen Zügen werfen zu müssen, der so lange ignoriert worden war, dass er sich am Ende selber ignorierte. Und nichts fürchtete Stone mehr als den Blick in die dunklen, fordernden Augen.

Vor einigen Jahren hatte Statoil ein Ressort eingerichtet, das sich ausschließlich mit der Erprobung neuer Technologien befasste. Sehr schnell erkannte Stone, welche Chancen in der baldigen Umrüstung auf autonome Förderfabriken lagen. Nachdem er der Konzernspitze eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet hatte, übertrug man ihm schließlich den Bau einer Fabrik auf dem Grund der Tiefsee, die von der renommierten norwegischen Technologiefirma FMC Kongsberg entwickelt worden war. Es gab zu dieser Zeit schon eine ganze Reihe unterseeischer Fabriken, aber der Kongsberg-Prototyp war ein völlig neuartiges System, enorm kostensparend und geeignet, die Offshore-Förderung zu revolutionieren. Der Bau geschah mit Wissen und Billigung der norwegischen Regierung, dennoch fand er offiziell nie statt. Stone wusste, dass die praktische Inbetriebnahme streng genommen zu früh erfolgte. Besonders Greenpeace hätte auf einer Reihe zusätzlicher Tests bestanden. Tests, die Monate und Jahre in Anspruch genommen hätten. Das Misstrauen war verständlich, immerhin lag die Ölförderung in der Statistik menschlichen und moralischen Versagens ganz weit vorn. Kaum ein Interessengeflecht, das den Planeten überzog, schnürte ihm zugleich so sehr den Atem ab wie die sogenannten vitalen Ansprüche der Mineralölkonzerne. Also blieb das Projekt geheim. Selbst als Kongsberg die Fabrik als Konzeptstudie im Internet vorstellte, wurde nicht publik, dass Statoil sie längst in Betrieb genommen hatte. Am Grund der Tiefsee arbeitete ein Phantom, das seinen Erbauern nur darum nicht den Schlaf raubte, weil es einwandfrei funktionierte.

Nichts anderes hatte Stone erwartet. Nach endlosen Testreihen war er tatsächlich überzeugt gewesen, jedes Risiko ausgeschlossen zu haben. Was hätten zusätzliche Tests gebracht? Allenfalls hätten sie einer Mentalität des Zögerns Genüge getan, die er in den Strukturen des staatlich geführten Konzerns zu erspüren glaubte und die er verachtete wie alles und jeden, der zögerte. Außerdem schlossen zwei Faktoren jedes weitere Warten kategorisch aus. Faktor eins war Stones erwitterte Chance, als technologischer Wegbereiter Einzug in die geräumigeren Büros des Management Boards zu halten. Faktor zwei war, dass der Ölkrieg trotz Instrumentalisierung internationaler Politik und bewaffneter Eingriffe in die Herrschaftsverhältnisse souveräner Staaten für alle Seiten verloren zu gehen drohte. Am Ende spielte es keine Rolle, wann der letzte Tropfen Öl floss, sondern wann die Förderung ins Stadium der Unwirtschaftlichkeit wechselte. Die typische Ertragsentwicklung einer Quelle folgte nun mal brav der Physik. Nach dem ersten Anbohren schoss das Öl unter Hochdruck heraus und sprudelte oft jahrzehntelang weiter. Mit der Zeit jedoch verringerte sich der Druck. Die Erde schien das Öl nicht länger herausrücken zu wollen, sie hielt es durch kapillarischen Druck in winzigen Poren fest, und was anfangs von selber ausgetreten war, musste nun mit einer Menge Aufwand herausgespült werden. Das kostete Unsummen. Die Fördermenge sank rapide, lange bevor das Lager erschöpft war. Wie viel auch immer noch da unten sein mochte — sobald der Aufwand zur Gewinnung dieses Öls mehr Energie verschlang, als es lieferte, ließ man es besser in der Erde.

Hierin lag einer der Gründe, warum sich die Energieexperten am Ende des zweiten Jahrtausends so fulminant verschätzt hatten, als sie die fossilen Reserven auf Jahrzehnte für gesichert erklärten. Genau genommen hatten sie zwar Recht. Die Erde war ölgetränkt. Aber entweder kam man nicht dran, oder der Ertrag stand in keinem Verhältnis zum Aufwand.

Dieses Dilemma hatte Anfang des dritten Jahrtausends zu einer gespenstischen Situation geführt. Die OPEC, in den achtziger Jahren totgesagt, feierte eine zombiehafte Renaissance. — Nicht weil sie das Dilemma löste, sondern einfach, weil sie über die größeren Reserven verfügte. Den Nordseestaaten, die sich von der OPEC nicht die Preise diktieren lassen wollten, blieb damit nur, die Kosten der Förderung drastisch zu senken und ansonsten der Tiefsee mit vollautomatisierten Systemen auf den Leib zu rücken. Die Tiefsee quittierte das neu erwachte Interesse ihrerseits mit einer ganzen Reihe von Problemen, angefangen bei den extremen Druck— und Temperaturverhältnissen, verhieß jedoch demjenigen, der sie löste, ein zweites Eldorado. Nicht in alle Ewigkeit zwar, aber lange genug für eine Branche, die davon lebte, dass die Welt in suchtartiger Abhängigkeit von Öl und Gas stehen geblieben war.

Stone, dessen ganzes Leben bestimmt war von der Sehnsucht, vorn zu liegen, hatte damals eine Expertise verfasst, die Entwicklung des Prototyps forciert und den Bau empfohlen, und Statoil war ihm gefolgt. Über Nacht fand er seinen Kompetenzspielraum und seinen Kreditrahmen großzügig erweitert. Er pflegte glänzende Kontakte zu den Entwicklungsfirmen und schaffte es, dass man den Wünschen und Befindlichkeiten von Statoil dort Vorrang einräumte. Die ganze Zeit hindurch war ihm bewusst, auf welch schmalem Grat er sich bewegte. Solange niemand dem Konzern am Zeug flicken konnte, war er den Vorständen ein willkommener Conquistador. Im Falle größerer Erklärungsnotstände würde man ihn fallen lassen. Der beste Mann war immer auch der beste Schuldige. Stone wusste, dass er schleunigst einen Vorstandssessel ansteuern musste, bevor jemand auf die Idee kam, ihn zu opfern. Stand sein Name erst einmal für Innovation und Profit, würden sich ihm alle Türen öffnen. Es war dann nur die Frage, durch welche er zu gehen geruhte.

So jedenfalls hatte er sich die Sache gedacht.

Und jetzt saß er auf diesem verdammten Schiff.

Er wusste nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte. Über Skaugen, der ihn verraten hatte, oder über sich selber. Hatte er die Spielregeln nicht in Kauf genommen? Worüber regte er sich auf? Es war geschehen. Der ungünstigste aller Fälle war eingetreten. Jeder brachte sich in Sicherheit. Skaugen wusste nur zu gut, dass die desaströsen Vorgänge am Hang früher oder später an die Öffentlichkeit gelangen würden. Niemand konnte sich sein Schweigen noch lange leisten, wenn er nicht riskieren wollte, bloßgestellt zu werden. Statoils Umfrage unter den Konzernen hatte eine Entwicklung in Gang gesetzt, die nicht mehr zu stoppen war. Jeder setzte nun jeden unter Druck. Keine konspirativen Absprachen waren noch möglich mit einer drohenden Umweltkatastrophe vor Augen. Es ging einzig darum, wer in dieser verfahrenen Situation am elegantesten die Kurve kriegte und wen man dafür schlachtete.

Stone kochte vor Zorn. Er hätte kotzen können, als Skaugen sich als Gutmensch aufgespielt hatte. Dabei war Finn Skaugen der Schlimmste von allen. Sein Spiel war weit perfider als alles, was sich ein Clifford Stone in seinen schwärzesten Momenten auszudenken vermochte. Was hatte er denn schon verbrochen? Natürlich hatte er sich im erweiterten Handlungsrahmen bewegt, aber warum denn? Weil man ihm diesen Rahmen zugebilligt hatte! Lächerlich, er hatte ihn ja nicht mal richtig ausgenutzt. Ein unbekannter Wurm, na und? Selbstverständlich hatte er das idiotische Gutachten ›vergessen‹. Kein Wurm hatte je die Seefahrt gefährdet oder eine Bedrohung für Bohrinseln dargestellt. Inmitten Milliarden planktonischer Lebewesen kreuzten täglich tausende von Schiffen. Blieben die etwa im Hafen angesichts einer neuen Art Ruderfußkrebs, wie man sie ständig entdeckte?

Dann die Sache mit den Hydraten. Zum Totlachen. Die Gasaustritte hatten absolut im grünen Bereich gelegen.

Aber was wäre passiert, wenn er dieses Gutachten vorgelegt hätte? Verfluchte Bürokraten, die in allem, was heiß serviert wurde, so lange herumstocherten, bis kalte Matsche übrig blieb. Sie hätten den Bau verzögert, für nichts und wieder nichts.

Das System trägt Schuld, dachte Stone grimmig. Allen voran Skaugen mit seiner widerlichen Bigotterie. Das Vorstandspack, das einem grinsend auf die Schulter schlug und sagte, klasse, Kumpel, mach weiter so, aber lass dich nicht erwischen, denn dann sind wir’s nicht gewesen, sie trugen Schuld an Stones unverdientem Elend. Und Tina Lund, auch sie war schuld, sie hatte sich bei Skaugen eingeschleimt, um den Job zu bekommen, wahrscheinlich ließ sie sich ficken von dem Arschloch! Ja, so musste es sein. Hätte sie je mit ihm gevögelt, mit Stone? Verfluchte Schlampe. Sogar Dank hatte er heucheln müssen dafür, dass die blöde Kuh sich für ihn eingesetzt und Skaugen ihm die Chance gegeben hatte, seine verloren gegangene Fabrik wiederzufinden. Und was man von dieser Chance zu halten hatte, war ebenfalls klar. Es war keine Chance, sondern eine Falle. Alle, alle hatten ihn verraten!

Aber er würde es ihnen zeigen. Clifford Stone war noch lange nicht erledigt. Was immer mit der Fabrik geschehen war, er würde es herausfinden und in Ordnung bringen. Dann erst würde man sehen, wer bei wem Leichen im Keller hatte.

Er selber würde der Sache auf den Grund gehen.

Höchstpersönlich!

Die Thorvaldson hatte den Standort der Fabrik inzwischen mit dem Fächersonar gescannt. Die Anlage blieb verschwunden. Wo sie gestanden hatte, schien die Morphologie des Meeresbodens eine andere geworden zu sein. Dort unten klaffte ein Graben, den es vor wenigen Tagen noch nicht gegeben hatte. Stone konnte nicht leugnen, dass ihm beim Gedanken an die Tiefe ebenso mulmig wurde wie der Besatzung und dem technischen Team. Aber er verdrängte die Angst. Er dachte nur an seine Tauchfahrt und wie er den Schleier am Ende lüften würde.

Clifford Stone. Unerschrocken. Ein Mann der Tat!

Auf dem Achterdeck der Thorvaldson wartete das Tauchboot darauf, ihn nach unten zu bringen, in neunhundert Meter Tiefe. Natürlich hätte er zuerst den Roboter auf Erkundung schicken sollen. Jean-Jacques Alban und jeder an Bord hatte ihm dringend dazu geraten.

Victor verfügte über ausgezeichnete Kameras, einen hoch sensiblen Greifarm und alle Instrumente, die für eine schnelle Datenauswertung vonnöten waren. Aber es machte mehr Eindruck, wenn er selber ging. Man würde im Konzern begreifen, dass ein Clifford Stone kein Freund halber Sachen war. Außerdem teilte er Albans Ansicht nicht. Auf der Sonne hatte er sich mit Gerhard Bohrmann über Reisen in bemannten Tauchbooten unterhalten. Bohrmann war mit der legendären Alvin vor Oregon runtergegangen. Seine Augen hatten etwas Verträumtes bekommen, als er davon erzählt hatte. Er hatte gesagt: »Ich habe tausende von Videoaufzeichnungen gesehen. Aufzeichnungen von Robotern, allesamt sehr beeindruckend. Aber selber da drin zu sitzen, selber unten zu sein, diese Dreidimensionalität — ich hätte nie gedacht, dass es so sein würde. Es ist unvergleichlich.«

Und dass keine Maschine Sinnesorgane und Intuition des Menschen je vollständig würde ersetzen können, hatte er auch gesagt. Stone lächelte grimmig. Diesmal war er am Zug. Er hatte klug gehandelt. Das Tauchboot war über seine ausgezeichneten Kontakte schnell zu beschaffen gewesen. Es war ein DR 1002, ein Deep Rover der amerikanischen Deep Ocean Engineering, und gehörte zu den kleinen und leichten Booten einer völlig neuen Generation. Auf wuchtigen Kufen, denen zwei mehrgelenkige Greifarme entwuchsen, ruhte eine vollkommen transparente Kugel. Im Innern waren zwei bequem aussehende Sitze mit seitlich angeordneten Bedienungselementen untergebracht. Stone war sehr zufrieden mit seiner Wahl, als er neben das Deep Rover trat. Es war an die Trossen des Auslegers gekoppelt und aufgebockt, sodass man durch die Bodenluke ins Innere kriechen konnte. Der Pilot, ein vierschrötiger pensionierter Marineflieger, den alle Eddie nannten, hockte bereits im Innenraum und checkte die Instrumente. Wie üblich, bevor ein Tauchboot zu Wasser gelassen wurde, wimmelte es auf dem Achterdeck von Matrosen, Technikern und Wissenschaftlern. Stone sah sich suchend um, erblickte Alban und pfiff ihn heran.

»Wo ist der Fotograf?«, rief er ungeduldig. »Und der Kerl mit der Kamera?«

»Keine Ahnung«, sagte Alban im Näherkommen. »Den Kameramann habe ich vorhin irgendwo rumschleichen sehen.«

»Dann soll er gefälligst herschleichen«, blaffte Stone. »Wir gehen nicht runter, ohne das hier dokumentiert zu haben.«

Alban runzelte die Stirn und sah hinaus aufs Meer. Der Tag war dunstig, mit schlechter Sicht.

»Es stinkt«, sagte er.

Stone zuckte die Achseln. »Das liegt am Methan.«

»Es wird schlimmer.«

Tatsächlich lag ein schwefeliger Geruch über dem Meer.

Es musste eine Menge Gas dort unten freigesetzt worden sein, dass es oben derart übel roch. Sie alle hatten gesehen, was am Hang los war, sie hatten die Würmer gesehen und die aufsteigenden Blasen. Niemand konnte oder wollte sich eine Vorstellung davon machen, was am Ende dieser Entwicklung stand, aber es war eindeutig kein gutes Zeichen, wenn das ganze Meer roch, als hätte jemand eine Wagenladung Stinkbomben platzen lassen.

»Das kriegt sich alles wieder ein«, sagte Stone.

Alban sah ihn an. »Hören Sie, Stone, ich würde das an Ihrer Stelle bleiben lassen.«

»Was?«

»Den Tauchgang.«

»Ach Blödsinn!« Stone sah sich zornig um. »Wo ist jetzt dieser verdammte Fotograf?«

»Es ist zu riskant.«

»Quatsch.«

»Außerdem fällt das Barometer. Es fällt ins Bodenlose.

Wir bekommen Sturm.« »Sturm ist unerheblich für Tauchboote, muss ich Ihnen das erst erklären? Wir gehen runter und basta.«

»Stone, Sie Idiot! Warum machen Sie das?«

»Weil wir so einen besseren und schnelleren Überblick gewinnen«, belehrte ihn Stone. »Herrgott, Jean, seien Sie nicht so eine verdammte Memme. Nichts kriegt die Kiste da klein, schon gar nicht ein paar Würmer. Das Boot kommt vier Kilometer tief …«

»In viertausend Metern kollabiert die Hülle«, berichtigte ihn Alban trocken. »Und zugelassen ist das Boot bis tausend.«

»Das weiß ich selber. Na und? Wir wollen auf neunhundert gehen, wer redet denn von viertausend? Was soll denn überhaupt passieren, um Himmels willen?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich der Meeresboden unter uns verändert hat und dass immer mehr Gas in die Wassersäule gelangt. Das Sonar kann die Fabrik nicht orten, wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, was da unten los ist.«

»Vielleicht ist was abgerutscht. Oder eingebrochen. Im schlimmsten Fall ist unsere Fabrik ein Stück weggesackt.

So was kommt vor.«

»Ja. Vielleicht.«

»Also, wo ist das Problem?«

»Das Problem ist, dass ein Roboter es ebenso täte«, sagte Alban genervt. »Aber Sie wollen ja unbedingt den Helden spielen.«

Stone zeigte mit zwei Fingern auf seine Augen. »Damit kann ich immer noch am besten einschätzen, was los ist. Verstehen Sie? Direkt vor Ort. So löst man Probleme, man geht hin und packt sie an.«

»Gut. Okay.«

»Also, wann gehen wir runter?« Stone sah auf die Uhr. »Ah, in einer halben Stunde. Nein, zwanzig Minuten. Wunderbar.«

Er winkte Eddie im Innern des Tauchboots zu. Der Pilot hob kurz die Hand und widmete sich wieder der Konsole. Stone grinste.

»Was wollen Sie überhaupt? Wir haben den besten Piloten, den wir bekommen konnten. Und notfalls steuere ich das Ding selber.«

Alban schwieg.

»Also wäre das geklärt. Schön. Ich will nochmal den Tauchplan durchgehen. Bin in meiner Kabine, wenn was ist. Und bitte, Jean — holen Sie endlich diese verdammten Filmleute her. Holen Sie sie her, sofern sie nicht über Bord gefallen sind.«


Trondheim, Norwegen

»Rasierwasser«, überlegte Johanson.

Konnte es sein, dass ihm das Rasierwasser ausgegangen war? Unmöglich. Er war Sigur Johanson, der Lagerist der schönen Dinge. Wein und Kosmetika gingen nicht einfach aus. Irgendwo musste er noch eine Flasche von dem Kiton Eau de Toilette haben.

Ungeduldig ging er zurück ins Bad und durchstöberte den Spiegelschrank. Er wusste, dass er allmählich das Haus verlassen sollte. Der Helikopter wartete auf dem Landeplatz des Forschungszentrums, um ihn zu dem Treffen mit Karen Weaver zu bringen. Aber für jemanden, der Wert auf inszenierte Schlampigkeit legte, gestaltete sich das Packen eines Koffers ungleich schwerer als für einen ordentlichen Menschen. Ordentliche Menschen verschraubten sich nicht in derlei Abstrusitäten, wie man möglichst gekonnt den Farbton des Jacketts verfehlte.

Hinter zwei Dosen Haarwachs wurde er fündig.

Er packte die Flasche in den Kulturbeutel, quetschte ihn zusammen mit einem Gedichtband von Walt Whitman und einem Buch über Portwein in die Reisetasche und ließ die Scharniere zuschnappen. Es war eine teure Tasche im Stil des Handgepäcks, wie sie der Londoner Adel für Landpartien zu benutzen pflegte — Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Die Lederschlaufen waren handgenäht, und dass der Griff ein wenig abgewetzt aussah, fand entschieden Johansons Beifall.

Der fünfte Tag!

Hatte er die CD eingepackt? Er hatte eine gebrannt mit den Daten, die seine wundersame Idee vom höheren Plan dokumentierten. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, sie mit der Journalistin zu besprechen. Er sah noch einmal nach.

Da war sie, begraben unter Hemden und Socken.

Mit federnden Schritten verließ er sein Haus in der Kirkegata und stieg in den Geländewagen auf der anderen Seite der Straße. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich seit dem frühen Morgen aufgekratzt, erfüllt von beinahe hysterischem Tatendrang. Kurz bevor er den Motor startete, wanderte sein Blick noch einmal über die Fassade seines Hauses. Die Rechte mit dem Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger verharrte unmittelbar vor dem Zündschloss.

Plötzlich wusste er, was ihn umtrieb.

Er versuchte sich abzulenken. Aktionismus gegen Nachdenken. Pfeifen im Walde. Trali, trala, ist irgendwas?

Feuchter Dunst lag über Trondheim, der alle Konturen verwischte. Selbst sein Haus auf der anderen Straßenseite erschien ihm flächiger als sonst. Es sah beinahe aus wie ein Gemälde.

Was geschah mit den Dingen, die man liebte?

Warum hatte er so oft stundenlang vor den Bildern van Goghs gestanden und einen Frieden in sich gefühlt, als wären sie nicht von einem verzweifelten Paranoiker gemalt worden, sondern von einem restlos glücklichen Menschen?

Weil nichts die Impression zerstören konnte.

Natürlich konnte ein Bild vernichtet werden. Aber solange es existierte, war der in Öl gebannte Augenblick endgültig. Die Sonnenblumen würden nie verwelken. Auf die Zugbrücke von Langlois bei Arles würden keine Bomben fallen. Nichts konnte das gemalte Motiv seiner Verbindlichkeit berauben, auch wenn man es überpinselte. Das Original darunter blieb erhalten. Was schrecklich war, blieb schrecklich, was schön war, würde seine Schönheit nie verlieren. Selbst dem Porträt des Mannes mit den scharfen Gesichtszügen und dem weißen Verband über dem Ohr, der den Betrachter aus tief liegenden Augen ansah, war etwas wohltuend Verlässliches zu Eigen, weil er zumindest im Bild nicht noch unglücklicher werden konnte, weil er nicht einmal altern konnte. Er verkörperte den ewigen Augenblick. Er hatte gesiegt. Am Ende hatte er über die Schinder und Ignoranten triumphiert, er hatte sie kraft seines Pinsels und seines Genies einfach ausgetrickst.

Johanson betrachtete sein Haus.

Warum kann es nicht einfach so bleiben, dachte er. Wenn es doch ein Bild wäre, und ich mit in dem Bild.

Aber er lebte nicht in einem Bild und nicht in einer Galerie, in der sich die Schauplätze seines Lebens abschreiten ließen. Das Haus am See, es hätte ein weiteres wunderbares Bild abgegeben, daneben ein Porträt von seiner geschiedenen Frau und weitere von den Frauen, die er gekannt hatte, und welche von seinen Freunden und natürlich eines von Tina Lund. Gerne auch Arm in Arm mit Kare Sverdrup. Ja, warum nicht? Ein Bild, in dem Tina zur Ruhe kam, für alle Zeiten. Er hätte ihr Ruhe und Seelenfrieden gegönnt.

Mit einem Mal befiel ihn dumpfe Verlustangst.

Da draußen verändert sich die Welt, dachte er. Sie schließt sich gegen uns zusammen. An einem geheimen Ort ist etwas vereinbart worden, und wir waren nicht dabei. Die Menschen waren nicht dabei.

Ein so schönes Haus. So friedlich.

Er ließ den Motor an und fuhr los.


Kiel, Deutschland

Erwin Suess betrat, Yvonne Mirbach im Gefolge, Bohrmanns Büro. »Ruf diesen Johanson an«, sagte er. »Sofort.«

Bohrmann hob den Kopf. Er kannte den Geomar-Direktor lange genug, um zu sehen, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. Etwas, das Suess zutiefst bestürzte.

»Was ist los?«, fragte er, obschon er es ahnte.

Mirbach zog einen Stuhl heran und setzte sich.

»Wir haben den Computer sämtliche Szenarien durchrechnen lassen. Der Kollaps wird eher erfolgen, als wir dachten.«

Bohrmann runzelte die Stirn. »Letztes Mal waren wir nicht sicher, ob es überhaupt zu einem Kollaps kommen wird.«

»Ich fürchte doch«, sagte Suess.

»Die Bakterien-Konsortien?«

»Ja.«

Bohrmann lehnte sich zurück und fühlte, wie sich seine Stirn mit kaltem Schweiß bedeckte. Es kann nicht sein, dachte er. Das sind doch nur Bakterien, mikroskopisch kleine Lebewesen. Plötzlich begann er zu denken wie ein Kind. Wie kann etwas so Winziges einen Eisdeckel von über hundert Metern Dicke zerstören? Es geht nicht. Was soll eine Mikrobe ausrichten auf tausenden von Quadratkilometern Meeresboden? Gar nichts. Es ist nicht vorstellbar. Es ist nicht real. Es findet nicht statt. Sie wussten wenig über Konsortien. Fest stand, dass sich in der Tiefsee Mikroorganismen verschiedener Arten zu Symbiosen zusammenschlossen. Schwefelbakterien verbündeten sich mit Archäen, urtümlichen Einzellern, die zu den ältesten Lebensformen überhaupt gehörten. Die Symbiose war extrem erfolgreich. Vor wenigen Jahren erst hatte man die ersten Konsortien auf den Oberflächen von Methanhydraten aufgespürt. Die Schwefelbakterien verwerteten mit Hilfe von Sauerstoff, was sie von den Archäen erhielten, nämlich Wasserstoff, Kohlendioxid und verschiedene Kohlenwasserstoffe. Denn diese Stoffe schieden die Archäen aus, wenn sie sich an ihrer Leibspeise gütlich taten.

An Methan.

Gewissermaßen lebten damit auch die Schwefelbakterien vom Methan, nur dass sie selber nicht drankamen. Denn das meiste Methan lagerte im sauerstofffreien Sediment, und Schwefelbakterien konnten ohne Sauerstoff nicht leben. Aber Archäen konnten es. Sie waren in der Lage, Methan ohne Sauerstoff zu knacken, noch kilometertief unter der Erdoberfläche. Man schätzte, dass sie jährlich 300 Millionen Tonnen des marinen Methans umsetzten, möglicherweise zum Wohle des Weltklimas, denn aufgespaltenes Methan konnte nicht als Treibhausgas in die Atmosphäre entweichen. So gesehen waren sie beinahe eine Art Umweltpolizei.

Zumindest, solange sie sich auf weiter Fläche verteilten.

Aber sie lebten auch in Symbiose mit Würmern. Und dieser seltsame Wurm mit seinen monströsen Kiefern war voll gepackt mit Konsortien von Schwefelbakterien und Archäen. Sie lebten in ihm und auf ihm. Mit jedem Meter, den er sich ins Hydrat bohrte, brachte er die Mikroorganismen tiefer hinein, und sie begannen, das Eis von innen zu zersetzen. Wie Krebs. Irgendwann verendeten die Würmer, dann die Schwefelbakterien, aber die Archäen fraßen sich unbeirrt nach allen Seiten weiter durch das Eis hindurch zum freien Gas. Sie verwandelten das vormals kompakte Hydrat in eine poröse, brüchige Masse, und das Gas trat aus.

Die Würmer können das Hydrat nicht destabilisieren, hörte Bohrmann sich sagen.

Richtig. Aber es war auch gar nicht ihre Aufgabe. Die Würmer erfüllten nur den Zweck, ihre Archäenfracht ins Eis zu schaffen. Wie Omnibusse: Methanhydrat, fünf Meter Tiefe, alles aussteigen, an die Arbeit.

Warum haben wir das nie erwogen, dachte Bohrmann. Temperaturschwankungen des Meerwassers, Verringerung des hydrostatischen Drucks, Erdbeben, all das gehörte zum Schreckensrepertoire der Hydratforschung. Nur über Bakterien hatte kaum jemand ernsthaft nachgedacht, obwohl bekannt war, was sie taten. Kein Mensch hätte im Traum das Szenario einer solchen Invasion entwickelt. Niemand hätte die Existenz eines Wurmes für denkbar gehalten, der sich als methanotropher Selbstmörder herausstellte. Seine Vielzahl, seine Ausdehnung auf einen kompletten Kontinentalhang, absurd, unerklärlich! Die Armee der Archäen, getrieben von ihrem fatalen Appetit, in ihrer Masse faktisch unmöglich!

Und dann dachte er wieder: Wie um alles in der Welt sind diese Tiere dahin gekommen? Warum sind sie da? Was hat sie hingebracht?

Oder wer?

»Das Problem«, sagte Mirbach, »ist, dass unsere erste Simulation weitgehend auf linearen Gleichungen fußte. Aber die Wirklichkeit verläuft nicht linear. Wir haben es mit teils exponenziellen und weitgehend chaotischen Entwicklungen zu tun. Das Eis bricht auseinander, das Gas darunter sprudelt unter Hochdruck hervor und reißt ganze Brocken mit sich. Meeresboden stürzt ein, sodass der Zeitpunkt des Zusammenbruchs rasend schnell …«

»Schon gut.« Bohrmann hob die Hand. »Wie lange noch?«

»Ein paar Wochen. Ein paar Tage. Ein paar …« Mirbach zögerte. Dann zuckte sie die Schultern. »Es gibt eine Unwägbarkeit bei alledem. Wir wissen immer noch nicht, ob es tatsächlich stattfinden wird. Fast alles spricht dafür, aber das Szenario ist so ungewöhnlich, dass wir über bloßes Theoretisieren kaum hinauskommen.«

»Lassen wir das ganze diplomatische Versteckspiel. Was ist deine persönliche Meinung?«

Mirbach sah ihn an.

»Ich habe keine.« Sie machte eine kurze Pause. »Wenn drei Wanderameisen auf ein großes Säugetier treffen, werden sie allenfalls tot getreten. Wenn dasselbe Säugetier auf ein paar tausend von ihnen trifft, wird es bei lebendigem Leib bis auf die Knochen abgenagt. So ähnlich stelle ich mir das mit Würmern und Mikroorganismen vor. Capito?«

»Ruf Johanson an«, sagte Suess wieder. »Sag ihm, wir rechnen mit einem Storegga-Effekt.«

Bohrmann ließ langsam die Luft entweichen.

Er nickte stumm.


Trondheim, Norwegen

Sie standen am Rande der Landeplattform, von wo man auf den Fjord sehen konnte. Vom gegenüberliegenden Ufer war kaum etwas zu erkennen. Die See lag vor ihnen wie matter Stahl unter einem immer grauer werdenden Himmel.

»Du bist ein Snob«, sagte Lund mit Blick auf den wartenden Helikopter.

»Natürlich bin ich ein Snob«, erwiderte Johanson. »Wenn man von euch zwangsrekrutiert wird, hat man sich einen gewissen Snobismus verdient, findest du nicht?«

»Fang nicht wieder davon an.«

»Du bist auch ein Snob. Du darfst die nächsten Tage mit einem feinen Geländewagen unterwegs sein.«

Lund lächelte. »Dann gib mir mal die Schlüssel.«

Johanson fingerte in seiner Manteltasche herum, zog den Schlüssel des Jeeps hervor und legte ihn in ihre Handfläche. »Pass gut drauf auf, solange ich weg bin.«

»Keine Angst.«

»Und komm bloß nicht auf die Idee, mit Kare darin zu knutschen.«

»Wir knutschen nicht in Autos.«

»Überall werdet ihr knutschen. Immerhin hast du gut daran getan, meinem Rat zu folgen und eine Lanze für den armen Stone zu brechen. Jetzt kann er seine Fabrik selber aus dem Wasser fischen.«

»Auf die Gefahr hin, dich zu desillusionieren, dein Rat spielte dabei keine Rolle. Stone zu begnadigen war ausschließlich Skaugens Entscheidung.«

»Ist er denn begnadigt?«

»Wenn er alles wieder unter Kontrolle bringt, könnte er im Konzern überleben.« Sie sah auf die Uhr. »Etwa um diese Zeit wird er wahrscheinlich mit dem Tauchboot runtergehen. Drücken wir ihm die Daumen.«

»Wieso schickt er keinen Roboter nach unten?«, wunderte sich Johanson.

»Weil er sie nicht alle hat.«

»Im Ernst.«

»Ich denke, er will beweisen, dass so eine Krise nur auf seine Art zu lösen ist. Dass ein Clifford Stone unersetzbar ist.«

»Und das lasst ihr zu?«

»Wieso?« Lund zuckte die Achseln. »Er ist immer noch Projektleiter. Außerdem hat er in einem Punkt Recht. Wenn er selber runtergeht, kann er die Lage differenzierter beurteilen.«

Johanson stellte sich vor, wie die Thorvaldson im konturlosen Grau lag, während Stone dem Meeresboden entgegensank, um sich herum Finsternis und unter sich ein Rätsel. »Mutig scheint er jedenfalls zu sein.«

»Ja.« Lund nickte. »Er ist ein Arschloch, aber Mut kann man ihm weiß Gott nicht absprechen.«

»Alsdann.« Johanson ergriff seine Reisetasche. »Fahr mein Auto nicht zuschanden.«

»Keine Bange.«

Sie gingen gemeinsam zum Helikopter. Skaugen hatte ihm tatsächlich das Flaggschiff des Konzerns zur Verfügung gestellt, einen großen Bell 430, das Nonplusultra an Komfort und Flugruhe.

»Was ist das eigentlich für ein Typ, diese Karen Weaver?«, fragte Lund an der Einstiegstüre.

Johanson zwinkerte ihr zu. »Sie ist jung und wunderschön.«

»Idiot.«

»Was weiß ich? Keine Ahnung.«

Lund zögerte. Dann schlang sie die Arme um ihn. »Pass auf dich auf, ja?«

Johanson tätschelte ihr den Rücken. »Wird schon schief gehen. Was soll mir denn passieren?«

»Nichts.« Sie schwieg einen Moment. »Übrigens hat dein Rat doch was bewirkt. Das, was du gesagt hast. Es hat den Ausschlag gegeben.«

»Zu Kare zu fahren?«

»Ein paar Dinge anders zu sehen. Ja, und zu Kare zu fahren.«

Johanson lächelte. Dann küsste er sie rechts und links auf die Wange. »Wir telefonieren, sobald ich dort bin.«

»Okay.«

Er stieg ins Innere und warf seine Tasche auf einen der Sitze hinter dem Piloten. Der Helikopter bot zehn Passagieren Platz, aber er hatte die Maschine für sich allein. Allerdings würden sie auch gut drei Stunden unterwegs sein.

»Sigur!«

Er drehte sich zu ihr um.

»Du bist … ich glaube, du bist wirklich mein bester Freund.« Sie hob etwas hilflos die Arme und ließ sie wieder fallen. Dann lachte sie. »Ich meine, was ich sagen will, ist …«

»Ich weiß schon«, grinste Johanson. »Du bist nicht gut in so was.«

»Nein.«

»Ich auch nicht.« Er beugte sich vor. »Je mehr ich jemanden mag, desto blöder stelle ich mich an, es ihm zu sagen. Was dich angeht, bin ich wahrscheinlich der größte Blödmann aller Zeiten.«

»War das ein Kompliment?«

»Mindestens.«

Er schloss die Tür. Der Pilot warf die Rotoren an. Langsam hob der Bell ab, und Lunds winkende Gestalt wurde kleiner. Dann senkte der Helikopter die Nase und flog hinaus auf den Fjord. Das Forschungszentrum blieb als Spielzeugbau zurück. Johanson machte es sich bequem und sah nach draußen, aber die Sicht gab nicht viel her. Trondheim verschwand im Dunst, Wasser und Berge zogen als farblose Flächen unter ihnen dahin, und der Himmel sah aus, als wolle er sie verschlucken.

Das dumpfe Gefühl überkam ihn wieder.

Angst.

Angst wovor?

Das ist nur ein Flug mit dem Hubschrauber, sagte er sich. Auf die Shetland-Inseln. Was soll schon passieren?

Manchmal hatte man eben so Anwandlungen. Zu viel Methan und Monsterkram. Dazu das Wetter. Vielleicht hätte er einfach ausgiebiger frühstücken sollen.

Er zog den Gedichtband aus der Reisetasche und begann zu lesen.

Über ihm wummerten dumpf die Rotoren. Sein Mantel, in dem sein Handy steckte, lag zusammengeknüllt auf der Sitzreihe hinter ihm. Dies und der Umstand seiner Versunkenheit in die Poesie Walt Whitmans führten dazu, dass er nicht hörte, als es klingelte.


Thorvaldson, norwegischer Kontinentalhang

Stone hatte beschlossen, vor dem Einsteigen ein paar Worte zu sagen, während ihn der Kameramann filmte und der andere Typ Fotos schoss. Es sollte eine genaue Dokumentation über den Verlauf des Unternehmens werden. Bei Statoil sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, wie professionell ein Clifford Stone zu arbeiten wusste und was er unter Verantwortung verstand.

»Einen Schritt nach rechts«, sagte der Kameramann.

Stone gehorchte und scheuchte dabei zwei Techniker aus dem Bild. Dann überlegte er es sich anders und winkte sie wieder herbei.

»Schräg hinter mich«, sagte er. Es sah möglicherweise besser aus, wenn Techniker im Bild waren. Nichts sollte den Eindruck erwecken, als seien hier Hasardeure und Abenteurer am Werk.

Der Kameramann schraubte sein Stativ höher.

»Können wir endlich?«, rief Stone.

»Moment noch. Es sieht komisch aus. Sie verdecken den Piloten.«

Stone trat einen weiteren Schritt zur Seite.

»Und?«

»Besser.«

»Nicht die Fotos vergessen«, wies Stone den zweiten Mann an. Der Fotograf kam näher und betätigte, wie um den Expeditionsleiter zu beruhigen, den Auslöser.

»Okay«, sagte der Kameramann. »Läuft.« Stone blickte entschlossen in die Linse.

»Wir werden jetzt runtergehen, um zu sehen, was aus unserem Prototyp geworden ist. Augenblicklich scheint es, als sei die Fabrik von ihrem ursprünglichen … äh … wo sie vorher stand … Mist.«

»Kein Problem. Nochmal.«

Diesmal klappte alles. Stone erklärte in sachlichen Worten, dass sie vorhatten, für die Dauer einiger Stunden nach der Fabrik zu suchen. Er gab einen Abriss über den bisherigen Erkenntnisstand, kam kurz auf die veränderte Morphologie des Hangabschnitts zu sprechen und gab seiner Meinung Ausdruck, die Fabrik müsse infolge einer lokalen Destabilisierung des Sediments abgerutscht sein. Es klang alles sehr profund. Vielleicht zu sachlich. Stone, nicht eben ein Showtyp, erinnerte sich, dass alle großen Entdecker und Erkunder irgendeinen klugen Satz gesagt hatten, bevor oder nachdem sie die Ärmel hochkrempelten. Etwas, das prima klang. Es ist nur ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit. So was. Das war Masse gewesen. Natürlich hatten sie Neil Armstrong vorher eingeschärft, das zu sagen, als wäre er je von selber drauf gekommen, aber egal. Ich kam, sah und siegte, auch nicht schlecht. Julius Cäsar. Hatte Kolumbus irgendwas gesagt? Jacques Picard?

Er überlegte. Ihm fiel nichts ein.

Aber man musste ja nicht alles selber erfinden. Bohrmanns besinnliche Worte über bemannte Tauchfahrten hatten auch nicht schlecht geklungen. Stone räusperte sich.

»Natürlich könnten wir einen Roboter nach unten schicken«, sagte er abschließend. »Aber es ist nicht dasselbe. Ich kenne jede Menge Videoaufzeichnungen von Robotern. Hervorragendes Material.« Wie war das noch gewesen? Ach ja: »Aber selber da drin zu sitzen, selber unten zu sein, diese Dreidimensionalität — man kann sich das nicht vorstellen. Es ist unvergleichlich. Und … es gibt uns schlicht den besseren Über … äh, besseren Einblick … um zu sehen, was da los ist … ähm, und was wir tun können.«

Der letzte Satz war lausig gewesen.

»Amen«, sagte Alban leise im Hintergrund.

Stone drehte sich um, kroch unter das Tauchboot und schob sich durch das Loch. Der Pilot streckte ihm die Hand entgegen, aber Stone ignorierte die Hilfe. Er stemmte sich hoch und nahm Platz. Es war ein bisschen wie in einem Hubschrauber zu sitzen. Oder in einer Hightech-Attraktion in Disneyland. Das Seltsamste war das Empfinden, nach wie vor draußen zu sein, nur dass die Geräusche vom Deck nicht mehr ans Ohr drangen. Die Kugel aus zentimeterdickem Acryl, hermetisch abgeschlossen, ließ nichts durch.

»Muss ich Ihnen noch irgendwas erklären?«, fragte Eddie freundlich.

»Nein.«

Eddie hatte ihn schon zuvor geschult. Er hatte es sehr gründlich getan auf seine ruhige Art. Stone warf einen Blick auf die kleine Computerkonsole vor ihnen. Seine Rechte glitt über die Steuerelemente seitlich des Sessels. Draußen schoss der Fotograf eifrig Bilder, und der Kameramann filmte.

»Fein«, sagte Eddie. »Dann mal rein ins Vergnügen.«

Ein Ruck ging durch das Boot. Plötzlich schwebten sie über dem Deck, glitten langsam darüber hinweg. Unter ihnen war die bewegte Wasseroberfläche zu sehen. Es herrschte ziemlicher Seegang. Einen Moment hingen sie reglos da und sahen auf das Heck der Thorvaldson. Alban hob die Hand mit aufgerichtetem Daumen. Stone nickte ihm kurz zu. In den nächsten Stunden würden sie nur über das Unterwassertelefon kommunizieren können. Kein Glasfaserkabel verband das Tauchboot mit dem Mutterschiff, nichts außer Schallwellen. Sobald der Ausleger sie ausgeklinkt hatte, waren sie auf sich allein gestellt.

Stones Magen begann zu kribbeln.

Es ruckte erneut. Über ihnen erscholl ein Klonk, als sich die Trossen lösten. Das Boot senkte sich hinab, wurde von einer Welle hochgehoben dann schoss gurgelnd Meerwasser in die Kufen, als Eddie die Tanks flutete. Die See schlug über der Kugel zusammen. Wie ein Stein begann das Deep Rover zu sinken, rund dreißig Meter in der Minute. Stone starrte hinaus. Bis auf zwei kleine Positionsleuchten an den Kufen waren alle Lichter ausgeschaltet. Es galt Strom zu sparen, den sie unten brauchen würden.

Kaum Fische ließen sich blicken. Nach hundert Metern verdunkelte sich das tiefe Blau der See und ging in samtene Finsternis über.

Draußen blitzte etwas auf wie ein Feuerwerkskörper.

Erst einmal, dann überall um sie herum. »Leuchtquallen«, sagte Eddie. »Nett, nicht?« Stone war fasziniert. Er hatte schon einige Tauchgänge hinter sich, aber noch keinen im Deep Rover. Es schien tatsächlich, als sei nichts zwischen ihnen und dem Meer. Selbst die rot glimmenden Kontrolllampen der Konsole und Bedieninstrumente schienen sich zu den Schwärmen fluoreszierender Tierchen gesellen zu wollen, die draußen vorbeiwimmelten. Der Gedanke, dass in diesem fremdartigen Universum seine Fabrik stehen sollte, erschien ihm plötzlich dermaßen absurd, dass er kurz davor stand loszulachen.

Ich bin der Initiator dieses Projekts, dachte er. Sollte ich zu lange am Schreibtisch gesessen haben, dass ich mir selber nicht mehr vorstellen kann, wie die Wirklichkeit beschaffen ist?

Er streckte die Beine aus, so weit es ging. Sie redeten wenig, während es weiter abwärts ging. Mit zunehmender Tiefe kühlte es im Innern der Kugel ab, ohne dass es wirklich ungemütlich wurde. Im Vergleich zu Tauchbooten wie Alvin, MIR oder Shinkai, die in 6000 Meter Tiefe vorstießen, verfügte das Deep Rover über ein geradezu luxuriöses System zur Regulierung der Innentemperatur. Vorsorglich hatte Stone dicke Socken angezogen — Schuhe waren in Tauchbooten nicht erlaubt, um nicht durch zufällige Tritte Instrumente zu zerstören — und einen warmen, wollenen Pullover. Trotz der Kühle war ihm behaglich. Eddie neben ihm wirkte entspannt und konzentriert. Hin und wieder drang eine lärmende Stimme aus dem Lautsprecher, Kontrollanrufe des Technikers auf der Thorvaldson. Die Worte waren verständlich, aber verzerrt, weil sich die Schallwellen mit tausend anderen Geräuschen unter Wasser mischten.

Sie fielen und fielen.

Nach fünfundzwanzig Minuten schaltete Eddie das Sonar ein. Leises Pfeifen und Klicken durchzog die Sphäre, überlagert vom sanften Brummen der Elektronik.

Sie näherten sich dem Grund.

»Popcorn und Cola bereithalten«, sagte Eddie. »Jetzt gibt’s Kino.« Er schaltete die Außenscheinwerfer ein.


Gullfaks C, norwegischer Schelf

Lars Jörensen stand auf der obersten Plattform des stählernen Treppenschachts, der vom Hubschrauberlandeplatz zum Wohntrakt führte, und sah auf den Bohrturm. Er hatte die Arme über dem Geländer verschränkt. Die Spitzen seines weißen Schnurrbarts zitterten im Wind. An klaren Tagen schien der Turm zum Greifen nahe, aber heute entrückte er zusehends. Mit jeder Stunde, die sich der Dunst vor dem nahenden Sturm verdichtete, wurde er unwirklicher, als wolle er vollständig verblassen und zur bloßen Erinnerung werden.

Seit Lunds letztem Besuch fühlte Jörensen sich immer schwermütiger werden. Er dachte darüber nach, was Statoil am Kontinentalhang bauen mochte. Ohne Zweifel planten sie eine vollautomatische Fabrik. Vielleicht würde sie mit einem Produktionsschiff verbunden sein. Lund war wohl der Meinung gewesen, sie hätte ihn mit ihren Antworten abgewimmelt, aber Jörensen war ja nicht blöde. Er hatte sogar Verständnis dafür, wie sie vorgingen, und dass sie Menschen einsparten, um sie durch Maschinen zu ersetzen. Es ergab durchaus Sinn. Eine Maschine legte keinen Wert auf gute Küche wie Lars Jörensen, sie schlief nicht, arbeitete unter lebensfeindlichen Bedingungen und wollte keinen Lohn dafür. Sie beklagte sich nicht, und wenn sie in die Jahre kam, konnte man sie notfalls auf den Müll werfen und musste sich nicht um ihr weiteres Wohlergehen sorgen. Andererseits fragte er sich, wie ein Roboter je Augen und Ohren ersetzen und intuitiv Entscheidungen treffen sollte. Ohne Menschen gab es kein menschliches Versagen, sicher. Aber wenn Maschinen versagten, ohne dass Menschen in der Nähe waren, würde es kommen wie in den utopischen Filmen, die er oft spätnachts noch sah, wenn draußen die See gegen die Pfeiler schlug. Der Mensch würde die Kontrolle verlieren. Und die Maschine hatte keinen Sinn für Leben und Umwelt, sie hatte kein Verständnis für die Interessen ihrer Erbauer, die sich selber wegrationalisierten, sie zeichnete sich durch keinerlei Menschlichkeit und Verständnis aus.

Langsam schwand das Licht. Der Himmel wurde noch grauer, und nieseliger Regen setzte ein.

Was für ein Scheißtag, dachte Jörensen.

Nicht genug, dass es seit einiger Zeit über dem Meer stank, als sei das Wasser voller Chemikalien. Jetzt wetteiferte auch noch das Klima mit seiner Laune um den Tiefpunkt der Trübsinnigkeit.

Im Grunde arbeiten wir auf einer Ruine, dachte Jörensen. Eine Geisterstadt im Meer, voller Zombies, von denen einer nach dem anderen exorziert wird. Sind die Vorkommen erschöpft, bleibt ein Gerippe ohne Funktion. Die Ölarbeiter werden entsorgt, die Plattformen werden entsorgt, und die Zukunft schauen wir uns im Fernsehen an. Videoaufzeichnungen aus einer Welt, in die wir nicht vordringen können, wenn es erforderlich wird.

Jörensen seufzte.

Waren das Überlegungen, die irgendjemandem weiterhalfen? Zu einfach gestrickt? Zu einseitig, engstirnig, selbstgerecht? Das Auto hatte das Ende der Droschkenkutscher bedeutet. Damals hatte es viel billiges Pferdefleisch gegeben, und Existenzen waren vernichtet worden. Aber wer wollte noch Droschken? Wahrscheinlich hatten aufs Ganze gesehen die anderen Recht, und er war ein alter Mann, der es einfach nur hasste, in Pension zu gehen.

Ganz früher, erinnerte er sich, hatte es diesen magischen Moment gegeben. Als schwarz glänzende Männer, triefend vor Öl, einander in die Arme gefallen waren, während aus dem sandigen Boden hinter ihnen eine Fontäne steil in den Himmel schoss, die unermesslichen Reichtum verhieß. War das wirklich so gewesen? In Giganten gab es diese Szene mit James Dean. Jörensen liebte den Film. Er mochte die Szene mit Dean weit mehr als die mit Bruce Willis in Armageddon, obwohl die auf einer richtigen Plattform spielte und Giganten in der texanischen Wüste. Den lachenden, wild umherspringenden, schwarz gesprenkelten James Dean zu sehen war ein bisschen, als säße man auf Großvaters Schoß und ließe sich von damals erzählen, als Opa selber noch jung und überhaupt alles besser war. Und man lauschte und glaubte jedes Wort und glaubte es doch wieder nicht.

Opa. Genau! Er war ein Opa. Wenige Monate noch, dachte Jörensen. Dann hab ich’s hinter mir. Aus, passée. Mir wird es jedenfalls besser gehen als denen, die heute jung sind. Mich können sie nicht mehr wegrationalisieren, ich höre von selber auf, und Rente gibt es auch noch. Fast könnte man sich schuldig fühlen abzuhauen, bevor das Ende über die Inseln kommt. Aber es ist dann nicht mehr mein Problem. Ich werde andere haben. Ein Geräusch näherte sich von der weit entfernten Küste her. Ein rhythmisches Dröhnen, das zum Knattern eines Helikopters wurde. Jörensen legte den Kopf in den Nacken. Er kannte alle Modelle, die hier verkehrten. Selbst auf die Entfernung und trotz der schlechten Wetterverhältnisse sah er, dass ein Bell 430 über Gullfaks hinwegzog und im Dunst verschwand. Das Schlagen der Rotorblätter wurde wieder zu einem Wummern, entfernte sich und erstarb schließlich ganz. Staubfeine Regenpartikel überzogen das Geländer mit feuchtem Glanz. Jörensen überlegte, ob er ins Innere gehen sollte. Er hatte eine Stunde Leerlauf, was selten genug vorkam, und er konnte fernsehen oder lesen oder sich mit jemandem zum Schach treffen. Aber er hatte keine Lust hineinzugehen. Nicht heute, da ihm zumute war, als bewohne er einen stählernen Sarg. Nicht auch noch ins Innere und sich begraben lassen. Wenigstens das Meer sah aus wie immer, grau, zerklüftet, ein stetiges Auf und Ab.

Weit hinter dem Turm, an der Spitze des Auslegers, brannte blass die Gasflamme. Das Leuchtfeuer der Verlorenen. Hey, das war gut! Das klang wie ein Filmtitel! Nicht schlecht für einen alten Sack, der seit Jahr und Tag den Hubschrauber— und Schiffsverkehr überwachte.

Vielleicht sollte er ein Buch schreiben nach seiner Pensionierung. Über die Zeit, an die man sich in wenigen Jahrzehnten kaum noch würde erinnern können. Die Zeit der großen Plattformen.

Und der Titel würde lauten: Das Leuchtfeuer der Verlorenen.

Opa, erzähl uns eine Geschichte. Jörensens Laune besserte sich etwas. Gar keine schlechte Idee, das. Vielleicht war es ja doch kein solcher Scheißtag.


Kiel, Deutschland

Gerhard Bohrmann hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken.

Er lief abwechselnd zu Suess und zu Mirbach, die den Computer unentwegt neue Szenarien durchrechnen ließen, mit immer fataleren Ergebnissen. Zwischendurch versuchte er Sigur Johanson zu erreichen, aber der ging nicht ran. Er versuchte es in Johansons Sekretariat an der NTNU, und man sagte ihm, der Doktor sei verreist und käme wohl auch nicht zur Vorlesung. Genau genommen käme er auf unabsehbare Zeit gar nicht mehr. Er sei für andere Aufgaben freigestellt worden, offenbar im Auftrag der Regierung. Bohrmann konnte sich ungefähr denken, welche Aufgaben das waren. Er versuchte es bei Johanson zu Hause. Dann wieder auf dem Handy. Nichts.

Schließlich besprach er sich ein weiteres Mal mit Suess.

»Es muss doch sonst noch jemanden geben aus Johansons Dunstkreis, der fähig ist, eine Entscheidung zu treffen«, sagte Suess.

Bohrmann schüttelte den Kopf.

»Alles Statoil-Leute. Da können wir’s genauso gut für uns behalten. Und was Vertraulichkeit angeht — wenn wir das Thema weiter vertraulich behandeln, und es kommt zum Storegga-Effekt, wird man uns das dermaßen dick aufs Brot schmieren, dass es keiner schlucken kann.«

»Also, was machen wir?«

»An Statoil gehe ich jedenfalls nicht ran.«

»Schon gut.« Suess rieb sich die Augen. »Du hast ja Recht. Also wenden wir uns ans Ministerium für Forschung und Entwicklung und an die Umweltbehörde.«

»In Oslo?«

»Und in Berlin. Und Kopenhagen. Und Amsterdam. Ach ja, London. Hab ich was vergessen?«

»Reykjavik.« Bohrmann seufzte. »Du lieber Himmel. Okay, so machen wir’s.«

Suess starrte aus dem Fenster seines Büros. Von hier aus konnte man über die Kieler Förde sehen. Auf die gewaltigen Krananlagen, wo die Schiffe beladen wurden, auf die Kontore und Silos. Ein Zerstörer der Marine verschwamm im Grau von Wolken und Wasser.

»Was sagen deine Simulationen eigentlich über Kiel?«, fragte Bohrmann. Seltsam, dass er darüber noch gar nicht richtig nachgedacht hatte. Hier, so nah am Wasser.

»Es könnte gut gehen.«

»Immerhin ein Trost.«

»Versuch trotzdem, Johanson zu erreichen. Versuch es immer wieder.« Bohrmann nickte und ging nach draußen.


Deep Rover, norwegischer Kontinentalhang

Von unermesslicher Weite konnte keine Rede sein, als Eddie die sechs Außenscheinwerfer einschaltete. Je 150 Watt aus vier Quartz-Halogen-Strahlern und zwei 400-Watt-HMI-Leuchten tauchten ein Gebiet im Radius von etwa fünfundzwanzig Metern in gleißendes Licht. Feste Strukturen waren nicht auszumachen. Stone blinzelte irritiert nach der langen Fahrt durch die Dunkelheit. Das Deep Rover fiel durch einen Vorhang aus schimmernden Perlen.

Er beugte sich vor.

»Was ist das?«, fragte er. »Wo ist der Meeresboden?«

Dann erkannte er, was um sie herum aufstieg. Es waren Blasen. Sie trudelten zur Oberfläche, einige klein und wie auf Schnüre gereiht, andere plump und eiernd.

Das Sonar ließ weiter sein charakteristisches Pfeifen und Klicken hören. Eddie studierte mit zusammengezogenen Brauen die LED-Anzeigen der Konsole, die Aufschluss über den Zustand der Batterien, über Innen— und Außentemperatur, Sauerstoffvorrat, Kabinendruck und so weiter gaben, und rief die Messdaten der Außenfühler ab.

»Herzlichen Glückwunsch«, knurrte er. »Es ist Methan.«

Der Perlenvorhang wurde dichter. Eddie klinkte zwei Stahlgewichte aus, die seitlich der Kufen befestigt waren, und presste zusätzliche Luft in die Tanks, um das Tauchboot in eine stabile Position zu bringen. Sie hätten nun schweben müssen, aber stattdessen sanken sie weiter.

»Wir kriegen den Arsch nicht hoch. Ich glaub’s nicht!«

Im Licht der Scheinwerfer tauchte der Boden unter ihnen auf. Er kam ihnen entgegen, viel zu schnell. Stone erhaschte einen Blick auf Spalten und Löcher, dann war alles wieder voller Blasen. Eddie fluchte und blies weiteres Wasser aus den Tanks.

»Was ist denn los?«, wollte Stone wissen. »Haben wir Probleme mit dem Auftrieb?«

»Schätze, es ist das Gas. Wir sind mitten in einem Blowout.«

»So ein Mist.«

»Nur die Ruhe.«

Der Pilot warf die Propeller an. Das Boot begann sich durch die Schnüre aus Blasen vorwärts zu bewegen. Stone verspürte kurz ein Gefühl wie in einem sanft abstoppenden Fahrstuhl. Sein Blick suchte den Tiefenmesser. Das Deep Rover fiel immer noch, nun aber langsamer. Dennoch näherten sie sich dem Boden mit hoher Geschwindigkeit. Nicht lange, und sie würden aufschlagen.

Er biss sich auf die Lippen und ließ Eddie seinen Job machen. In dieser Situation war nichts weniger angebracht, als den Piloten durch Gequatsche aus der Ruhe zu bringen. Also sah Stone zu, wie die Blasen dicker und der Vorhang dichter wurden und das, was man in dem Blowout noch vom Boden erkennen konnte, langsam zur Seite wegkippte. Die rechte Kufe verschwand in heftigem Sprudeln, und das Tauchboot geriet in Schieflage.

Er hielt den Atem an.

Dann waren sie durch.

So wild es eben noch um sie herum geschäumt hatte, so ruhig lag jetzt der Meeresboden vor ihnen. Für die Dauer eines Augenblicks begann das Boot wieder zu steigen. Eddie bediente ohne sonderliche Hast die Fluter und ließ etwas Meerwasser in die Tanks laufen, bis das Deep Rover austariert war und dicht über dem Hang dahinschwebte.

»Alles wieder im grünen Bereich«, sagte er.

Mit zwei Knoten fuhren sie nun Höchstgeschwindigkeit, umgerechnet etwa 3,7 Kilometer pro Stunde. Jeder Jogger war schneller, aber hier ging es nicht darum, Entfernungen zurückzulegen. Genau genommen waren sie ziemlich exakt dort, wo Stone die Fabrik auf Grund gesetzt hatte. Weit konnte es nicht mehr sein.

Der Pilot grinste.

»Damit hätten wir eigentlich rechnen können, was?«

»Nicht in der Heftigkeit«, sagte Stone.

»Nicht? Wenn schon das Meer stinkt wie die letzte Kloake? Irgendwo muss das Gas ja austreten. Na, Sie wollten es ja nicht anders. Sie wollten ja unbedingt runter.«

Stone würdigte ihn keiner Antwort. Er straffte sich und suchte nach Anzeichen von Hydraten, aber im Moment waren keine zu sehen und nur vereinzelt Würmer. Ein großer Plattfisch, ähnlich einer Scholle, lag auf dem Boden. Bei ihrem Näherkommen stieg er träge auf, wirbelte ein wenig wolkigen Schlamm auf und schwamm aus dem Licht.

Wie unwirklich es war, hier zu sitzen, während draußen fast einhundert Kilogramm Wasserdruck auf jeden Quadratzentimeter der Acrylkugel einwirkten. Alles an dieser Situation war künstlich. Die erleuchtete Zone des Hangplateaus mit seinen wandernden Schatten, als das Deep Rover langsam darüber hinwegzog. Die Schwärze jenseits des diffundierenden Lichts. Der maschinell aufrechterhaltene Innendruck. Die Atemluft, die kontinuierlich aus Gasflaschen strömte, während das ausgeatmete Kohlendioxid von Chemikalien eliminiert wurde.

Nichts hier unten lud den Menschen zum Verweilen ein.

Stone schmatzte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er dachte daran, dass sie stundenlang vor dem Tauchgang nichts getrunken hatten. Für alle Fälle lagerten Human Range Extender an Bord, spezielle Flaschen, wenn es gar nicht mehr anders ging, aber jedem, der ein Tauchboot bestieg, wurde vorher dringend geraten, seine Blase zu entleeren, und zwar so, dass sie eine Weile leer blieb. Seit dem frühen Morgen hatten er und Eddie zudem nur Erdnussbuttersandwiches und knochenharte Schoko— und Ballaststoffriegel zu sich genommen. Tauchmahlzeiten. Nahrhaft, sättigend und trocken wie Saharasand.

Er versuchte sich zu entspannen. Eddie gab einen kurzen Bericht an die Thorvaldson. Hin und wieder sahen sie Muscheln oder Seesterne. Der Pilot wies mit einer Handbewegung nach draußen.

»Erstaunlich, was? Wir sind tiefer als neunhundert Meter, und es ist stockfinster. Trotzdem nennt man diesen Bereich Restlichtzone.«

»Soll es nicht Gegenden geben, wo das Wasser so klar ist, dass bis eintausend Meter tatsächlich noch Licht einfällt?«, fragte Stone.

»Sicher. Aber kein menschliches Auge ist in der Lage, das zu erkennen. Spätestens ab einhundert, einhundertfünfzig Meter ist für unsereinen zappenduster. Waren Sie schon mal tiefer als tausend?«

»Nein. Sie?«

»Einige Male.« Eddie zuckte die Achseln. »Es ist genauso beschissen dunkel wie hier. Ich bin lieber da, wo das Licht ist.«

»Was denn? Kein Ehrgeiz auf Tiefgang?«

»Wozu? Jacques Picard hat’s bis in 10740 Meter Tiefe geschafft. Darauf hätte ich gar keine Lust. Es war eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges, aber was zu sehen gibt’s da kaum.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass da viel ist. Ich meine, selbst wenn, es ist lustiger in der Benthosphäre als in den Abyssalen, es ist einfach mehr los.«

»Pardon«, sagte Stone. »Aber kam Picard nicht 11340 Meter tief?«

»Oh, das.« Eddie lachte. »Ich weiß, es steht in allen möglichen Schulbüchern. Falschmeldung. Lag am Messgerät. Es war in der Schweiz kalibriert worden, in Süßwasser. Verstehen Sie? Süßwasser hat eine andere Dichte. Darum haben sie sich vermessen bei ihrer einzigen bemannten Tauchfahrt zum tiefsten Punkt der Erdoberfläche. Sie hatten …«

»Augenblick. Da!«

Vor ihnen verschwand der Lichtkegel in einem Schatten. Im Näherkommen erkannten sie, dass der Boden hier steil abstürzte. Das Licht verlor sich im Abgrund.

»Halten Sie an.«

Eddies Finger flogen über Tasten und Knöpfe. Er erzeugte Gegenschub, und das Deep Rover verharrte. Dann begann es sich allmählich zu drehen.

»Ziemlich starke Strömung«, sagte Eddie. Das Tauchboot drehte sich langsam weiter, bis die Scheinwerfer den Rand des Abgrundes beleuchteten. Sie starrten auf eine Bruchkante.

»Sieht ganz so aus, als wäre hier vor kurzem was abgestürzt«, sagte Eddie. »Ziemlich frisch.«

Stones Augen wanderten nervös umher.

»Was sagt das Sonar?«

»Es geht mindestens vierzig Meter tief runter. Und rechts und links kann ich gar nichts ausmachen.«

»Das heißt, das Plateau …«

»Hier ist kein Plateau mehr. Es ist eingebrochen.«

Stone nagte an seiner Unterlippe. Sie mussten in unmittelbarer Nähe der Fabrik sein. Aber hier war kein Abgrund gewesen vor einem Jahr. Wahrscheinlich nicht einmal vor wenigen Tagen.

»Wir gehen tiefer«, entschied er. »Schauen wir mal, wo das hinführt.«

Das Deep Rover nahm Fahrt auf und sank entlang der Bruchkante abwärts. Nach knapp zwei Minuten beleuchteten die Scheinwerfer wieder Grund. Es sah aus wie auf einem Trümmerfeld.

»Wir sollten ein paar Meter steigen«, sagte Eddie. »Hier unten ist es ziemlich zerklüftet. Wir könnten irgendwo reinrasseln.«

»Ja, gleich. — Verdammt, vor uns! Schauen Sie.« Eine meterdicke, aufgerissene Röhre kam ins Blickfeld. Sie wand sich quer über große Gesteinsbrocken und verschwand jenseits des Lichtkegels. Mehrere dünne, schwarze Ölfäden zogen sich daraus hervor und stiegen senkrecht zur Oberfläche. »Das ist eine Pipeline«, rief Stone aufgeregt. »Mein Gott.«

»Das war eine Pipeline«, sagte Eddie.

»Wir folgen ihrem Verlauf.«

Stone fröstelte. Er wusste, wohin diese Pipeline führte, beziehungsweise, woher sie kam. Sie waren auf dem Gelände der Fabrik.

Aber es gab kein Gelände mehr.

Vor ihnen tauchte jäh eine zerklüftete Wand auf. Eddie zog das Tauchboot in letzter Sekunde hoch. Die Wand schien kein Ende zu nehmen, dann flogen sie mit knapper Not über die Kante hinweg. Erst jetzt sah Stone, dass es gar keine Wand war, sondern ein gewaltiges Stück Meeresboden, das sich senkrecht aufgestellt hatte. Dahinter ging es wieder steil abwärts. Im Licht trieben Sedimentpartikel und erschwerten die Sicht. Dann erfassten die Leuchten wieder einen Strom schnell aufsteigender Blasen. Sie schossen wild aus einem Graben mit kantigen Rändern hervor.

»Du lieber Himmel«, flüsterte Stone. »Was ist denn hier passiert?«

Eddie gab keine Antwort. Er flog eine Kurve, sodass sie an dem Blasenstrom vorbeizogen. Die Sicht wurde immer schlechter. Sie verloren die Pipeline kurz aus den Augen, dann schob sie sich wieder in den Scheinwerferkegel. Sie führte abwärts.

»Scheißströmung«, sagte Eddie. »Wir werden in den Blowout gezogen.«

Das Deep Rover begann zu trudeln.

»Weiter der Pipeline nach«, befahl Stone.

»Das ist Wahnsinn. Wir sollten auftauchen.«

»Die Fabrik ist hier«, beharrte Stone. »Sie müsste gleich vor uns auftauchen.«

»Hier wird überhaupt nichts auftauchen. Hier ist alles kaputt.«

Stone sagte nichts. Vor ihnen bog sich die Pipeline wie von einer Riesenfaust verdreht nach oben und endete in einem ausgerissenen Stumpf. Zerfetzter Stahl wand sich zu bizarren Skulpturen.

»Wollen Sie immer noch weiter?«

Stone nickte. Eddie manövrierte bis dicht an das Rohr. Einen Moment lang schwebten sie über der gezackten Öffnung wie über einem riesigen Maul. Dann zog das Tauchboot an der Pipeline vorbei.

»Hier geht es ins Bodenlose«, sagte Eddie.

Um sie herum begann es wieder zu perlen.

Stone ballte die Fäuste. Ihm dämmerte, dass Alban am Ende Recht behalten würde. Sie hätten einen Roboter hinunterschicken sollen. Aber jetzt aufzugeben erschien ihm umso absurder. Er müsste es wissen! Er würde Skaugen nicht unter die Augen treten ohne einen detaillierten Bericht. Diesmal würde er sich nicht kalt erwischen lassen.

»Weiter, Eddie.«

»Sie sind irre.«

Hinter dem abgerissenen Rohr fiel das Trümmerfeld steil ab, und der Sedimentregen nahm zu. Erstmals machte sich jetzt auch bei Eddie eine gewisse Anspannung bemerkbar. Jeden Moment konnten neue Hindernisse vor ihnen auftauchen.

Dann sahen sie die Fabrik.

Genau genommen sahen sie nur einige Querverstrebungen, aber Stone wusste im selben Moment, dass es den Kongsberg-Prototyp nicht mehr gab. Die Fabrik lag unter dem Schutt des zusammengebrochenen Plateaus, über fünfzig Meter tiefer, als sie gestanden hatte.

Er schaute genauer hin. Etwas löste sich aus den Metallstreben und kam zu ihnen herauf.

Blasen.

Nein, mehr als nur Blasen. Es erinnerte Stone an den kolossalen Gaswirbel, den sie an Bord der Sonne beobachtet hatten. An den Blowout, nachdem der Videogreifer eingebrochen war.

Plötzlich erfasste ihn Panik.

»Weg!«, schrie er.

Eddie klinkte die restlichen Gewichte aus. Das Boot tat einen Satz und schoss in die Höhe, gefolgt von der riesigen Blase. Dann waren sie mitten in dem Wirbel und sackten weg. Um sie herum kochte das Meer.

»Scheiße!«, brüllte Eddie.

»Was ist los bei euch da unten?« Die blecherne Stimme des Technikers an Bord der Thorvaldson. »Eddie? Melde dich! Wir messen hier komische Sachen, es steigt jede Menge Gas und Hydrat nach oben.«

Eddie drückte die Antworttaste.

»Ich werfe die Hülle ab! Wir kommen hoch.«

»Was ist los? Habt ihr …«

Die Stimme des Technikers ging unter in dröhnendem Lärm. Es zischte und knallte. Eddie hatte die Batteriepakete und Teile der Hülle abgesprengt. Es war die ultimative Notfallmaßnahme, um schnell Gewicht zu verlieren. Der Restrumpf des Deep Rover mit der Acrylkugel begann sich zu drehen und wieder aufzusteigen. Dann erschütterte ein heftiger Stoß das Gefährt. Stone sah einen gewaltigen Felsbrocken neben sich auftauchen, der vom Gas mit hochgerissen wurde. In der Kugel kehrte sich das Unterste zuoberst. Er hörte den Piloten schreien, als sie ein weiteres Mal getroffen wurden. Diesmal bekamen sie einen Schlag von rechts, der sie seitlich aus dem Blowout heraustrug. Augenblicklich erhielt das Deep Rover Auftrieb und schoss nach oben. Stone klammerte sich an den Lehnen fest, mehr liegend als sitzend. Eddie sackte mit geschlossenen Augen gegen ihn. Blut lief über sein Gesicht. Entsetzt registrierte Stone, dass er nun völlig auf sich gestellt war. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, wie man das Boot wieder ins Gleichgewicht brachte. Die Steuerung ließ sich von Eddie zu ihm herüberschalten, aber wie?

Eddie hatte es ihm gezeigt. Da war der Knopf.

Stone drückte ihn, während er zugleich versuchte, Eddie von sich wegzuschieben. Er war nicht sicher, ob die Propeller überhaupt noch funktionierten, nachdem die Hülle abgesprengt war. Auf dem Tiefenmesser jagten die Zahlen einander und zeigten ihm an, dass das Boot jetzt sehr schnell stieg. Im Grunde war es belanglos, wohin er steuerte. Hauptsache, es ging nach oben. Dekompressionsprobleme musste man im Deep Rover nicht befürchten. Der Kabinendruck entsprach dem Druck an der Wasseroberfläche.

Ein Warnlicht leuchtete auf.

Die Scheinwerfer über der rechten Kufe erloschen. Dann gingen sämtliche Lichter aus. Tintenschwärze herrschte um Stone herum.

Er begann zu zittern.

Beruhige dich, dachte er. Eddie hat dir die Funktionen erklärt. Es gibt ein Notstromaggregat. Es ist einer der Knöpfe in der obersten Reihe des Bedienpults. Entweder es schaltete sich von selber ein, oder er musste es tun. Seine Finger ertasteten die Schalter, während er weiter in die Schwärze starrte.

Was war da?

Es hätte stockfinster sein müssen ohne die Leuchten des Tauchboots. Aber da war Licht.

Waren sie schon so dicht unter der Oberfläche? Die letzte Anzeige des Tiefenmessers hatte etwas mehr als siebenhundert Meter angezeigt, bevor die Scheinwerfer ausgingen. Das Boot schwebte immer noch am Kontinentalhang entlang. Sie waren weit unterhalb der Schelfkante und jenseits jeglichen Tageslichts.

Eine Sinnestäuschung?

Er kniff die Augen zusammen.

Schwach bläulich leuchtete das Licht, so schwach, dass es mehr zu ahnen als zu sehen war. Es reckte sich aus der Tiefe empor, und es hatte eine Form, eine Art trichterförmige Röhre, deren hinteres Ende sich im Dunkel des Abgrunds verlor. Stone hielt den Atem an. Es war verrückt, aber plötzlich hätte er schwören können, dass dieses Ding umso heller erstrahlen würde, je näher man ihm käme. Der größte Teil der Lichtwellen wurde vom Wasser geschluckt. Wenn das stimmte, musste es ein beträchtliches Stück entfernt sein.

Und damit riesig.

Die Röhre bewegte sich.

Der Trichter schien sich zu dehnen, während sich das ganze Gebilde langsam bog. Stone verharrte regungslos, die Finger erstarrt auf ihrer Suche nach dem Notstromschalter, und sah gebannt hinaus. Was er dort sah, war Biolumineszenz, ganz ohne Zweifel, gefiltert durch Millionen Kubikmeter Wasser, Partikel und Gas. Aber welches Meereslebewesen, das leuchtete, war so unvorstellbar groß? Ein Riesenkalmar? Das da war größer als jeder Kalmar. Es war größer als jede noch so kühne Phantasie von einem Kalmar.

Oder bildete er sich alles ein? Eine Täuschung auf der Netzhaut, hervorgerufen durch die abrupten Hell-Dunkel-Wechsel? Geisterbilder von den erloschenen Scheinwerfern?

Je länger er auf das leuchtende Ding starrte, desto schwächer erschien es. Die Röhre sackte langsam nach unten weg.

Dann war sie verschwunden.

Sofort nahm Stone die Suche nach dem Knopf für das Notstromaggregat wieder auf. Das Tauchboot stieg ruhig und gleichmäßig nach oben, und er verspürte einen Anflug von Erleichterung, dass er nun bald zur Oberfläche gelangen und der Alptraum vorbei sein würde. Die Videokameras waren jedenfalls nicht verloren gegangen, als Eddie die Hülle abgesprengt hatte. Ob sie auch das leuchtende Ding gefilmt hatten? Konnten sie derart schwache Impulse verarbeiten?

Es war da gewesen. Er hatte sich nicht getäuscht. Und plötzlich fiel ihm die merkwürdige Videoaufnahme ein, die der Victor gemacht hatte. Dieses andere Ding, das sich so plötzlich aus dem Lichtkegel zurückgezogen hatte.

Mein Gott, dachte er. Worauf sind wir da gestoßen?

Ah! Da war der Schalter.

Summend sprang das Notstromaggregat an. Zuerst flammten die Kontrolllichter an der Konsole auf, dann die Außenscheinwerfer. Von einem Augenblick zum anderen schwebte das Deep Rover wieder in einem Kokon aus Licht.

Eddie lag mit offenen Augen neben ihm.

Stone beugte sich zu ihm hinüber, als etwas hinter Eddie im Licht auftauchte, eine Fläche, wolkig, rötlich. Sie kippte auf das Boot zu, und Stones Hand schnellte nach der Steuerkonsole, weil er dachte, sie würden gegen den Hang prallen.

Dann wurde ihm klar, dass der Hang gegen das Boot prallte.

Er kam auf sie zu.

Der Hang raste auf sie zu!

Es war das Letzte, was Stone begriff, bevor die Acrylkugel von der Wucht des Aufpralls in tausend Stücke zerschmettert wurde.


Bell 430, Norwegische See

In Trondheim hatte es noch nach einem ruhigen Flug ausgesehen. Inzwischen wackelte es dermaßen, dass Johanson Probleme hatte, sich in gebührender Weise der amerikanischen Poesie zu widmen. Während der vergangenen halben Stunde hatte sich der Himmel dramatisch verdunkelt und beständig herabgesenkt. Er lastete auf dem Helikopter, als wolle er ihn ins Meer drücken. Scharfe Böen schüttelten den Bell hin und her.

Der Pilot wandte den Blick nach hinten.

»Alles in Ordnung?«

»Bestens.« Johanson klappte das Buch zu und sah nach draußen. Die Meeresoberfläche war in eine Waschküche getaucht. Schemenhaft erkannte er Bohrinseln und Schiffe. Er schätzte, dass der Seegang in diesen Minuten ordentlich zulegte. Ein handfester Sturm zog auf.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte der Pilot. »Wir haben nicht das Geringste zu befürchten.«

»Ich mache mir keine. Was sagt eigentlich der Wetterdienst?«

»Dass es windig wird.« Der Pilot warf einen Blick auf das Barometer an der Steuerkonsole. »Wie es aussieht, bekommen wir einen kleinen Orkan geboten.«

»Nett, dass Sie’s mir vorher nicht gesagt haben.«

»Ich wusste es nicht.« Der Mann zuckte die Achseln. »So toll funktioniert das mit den Wettervorhersagen auch nicht immer. — Haben Sie Angst vorm Fliegen?«

»Überhaupt nicht. Ich finde Fliegen ganz prima«, sagte Johanson mit Nachdruck. »Einzig das Runterfallen macht mir Sorgen.«

»Wir fallen nicht. Im Offshoregeschäft ist so was Kinderkram. Heute wird nichts Schlimmeres passieren, als dass es uns einige Male ordentlich durchschüttelt.«

»Wie lange sind wir noch unterwegs?«

»Die Hälfte haben wir hinter uns.«

»Na dann.«

Er schlag das Buch wieder auf.

In das Motorengeräusch mischten sich tausend andere Laute. Es knackte, polterte, pfiff. Es schien sogar zu schellen. Ein Ton, der in regelmäßigen Intervallen erklang, irgendwo hinter ihm. Was der Wind alles anstellte mit der Akustik! Johanson drehte den Kopf zur Rückbank, aber das Geräusch war verstummt.

Er widmete sich wieder den Gedanken Walt Whitmans.


Storegga-Effekt

Vor 18000 Jahren, während der Hochphase der letzten Eiszeit, lag der Meeresspiegel überall auf der Welt rund einhundertzwanzig Meter tiefer als zu Beginn des dritten Jahrtausends. Große Menge der globalen Wassermassen waren in Gletschern gebunden. Ein entsprechend geringerer Wasserdruck lastete damals auf den Schelfregionen, und einige der heutigen Meere existierten noch nicht. Andere wurden im Zuge der Vereisung immer flacher, einige trockneten schließlich aus und verwandelten sich in ausgedehnte Sumpflandschaften.

Unter anderem führte der sinkende Wasserdruck in vielen Teilen der Welt dazu, dass sich die Stabilitätsverhältnisse für Methanhydrate dramatisch änderten. Besonders in den hoch gelegenen Regionen der Kontinentalhänge wurden innerhalb kürzester Zeit riesige Mengen Gas freigesetzt. Die Eiskäfige, in denen es gefangen und komprimiert war, schmolzen dahin. Was tausende von Jahren wie Mörtel in den Hängen fungiert hatte, wurde nun zu deren Sprengstoff. Schlagartig blähte sich das frei werdende Methan zum Einhundertvierundsechzigfachen seines Volumens auf, drückte Poren und Spalten der Sedimente auseinander auf seinem Weg nach draußen und hinterließ poröse Ruinen, die ihr eigenes Gewicht nicht länger zu tragen vermochten.

Als Folge begannen die Kontinentalhänge in sich zusammenzustürzen und große Teile des Schelfs mit sich zu reißen. Unvorstellbare Mengen Material rasten in Schlammlawinen hunderte von Kilometern weit in die Tiefsee. Das Gas gelangte in die Atmosphäre und leitete dort umwälzende Klimaveränderungen ein, aber die Rutschungen hatten noch andere, unmittelbare Auswirkungen — nicht allein auf das Leben im Meer, sondern ebenso auf die Küstenregionen des Festlands und der Inseln.

Es geschah in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, dass Wissenschaftler vor der Küste Mittelnorwegens eine unheimliche Entdeckung machten. Sie stießen auf die Spuren einer solchen Rutschung. Genauer gesagt waren es mehrere Rutschungen gewesen, die einen großen Teil des dortigen Kontinentalhangs abgetragen hatten, und sie hatten sich im Verlauf von über vierzigtausend Jahren ereignet. Viele Faktoren hatten dazu beigetragen, Warmzeiten, in denen die durchschnittliche Temperatur der hangnahen Meeresströmungen angestiegen war, oder eben jene Vereisungsperioden wie vor 18000 Jahren, innerhalb derer es zwar kalt blieb, der Wasserdruck jedoch abnahm. Genau genommen bildeten die Phasen der Hydratstabilität — erdhistorisch betrachtet — die Ausnahme.

Aber in einer solchen Ausnahme lebten die Menschen der sogenannten Neuzeit. Und sie waren allzu sehr geneigt, den trügerischen Zustand der Ruhe als Regel misszuverstehen.

Insgesamt waren damals mehr als fünfeinhalbtausend Kubikkilometer Meeresboden des norwegischen Schelfs in die Tiefe gerissen worden, in mehreren gewaltigen Lawinen. Zwischen Schottland, Island und Norwegen fanden die Forscher eine Schlammhalde von achthundert Kilometern Länge vor. Das eigentlich Beunruhigende daran war die Erkenntnis, dass der größte der Hangabbrüche gar nicht sonderlich lange zurücklag, nicht einmal zehntausend Jahre. Man gab dem Ereignis den Namen Storegga-Rutschung und hoffte, dass sich dergleichen nie wieder ereignen möge.

Natürlich war es eine unsinnige Hoffnung. Aber vielleicht wären weitere Jahrtausende der Ruhe vergangen. Und womöglich hätten neue Eiszeiten oder Warmzeiten lediglich Rutschungen in verträglichen Schuhen freigesetzt, wäre nicht über Nacht ein gewisser Wurm samt seiner Bakterienfracht erschienen und hätten nicht begleitende Umstände zu dem geführt, was nun passierte.

Jean-Jacques Alban an Bord der Thorvaldson ahnte, dass er das Tauchboot nie wieder sehen würde, als der Kontakt abbrach. Aber er machte sich keine Vorstellung vom Ausmaß dessen, was soeben wenige hundert Meter unter dem Rumpf des Forschungsschiffs geschah. Unzweifelhaft war die Zersetzung der Hydrate in ein verheerendes Stadium getreten — während der letzten Viertelstunde hatte der Gestank nach faulen Eiern auf unerträgliche Weise zugenommen, und auf den höher werdenden Sturmwellen trieben schäumende weiße Brocken, die immer größer wurden. Alban wusste auch, dass jedes weitere Verweilen am Kontinentalhang kollektivem Selbstmord gleichkam. Noch mehr Gas würde die Oberflächenspannung des Wassers herabsetzen, und sie würden sinken. Was immer in der Tiefe geschah, lag außerhalb jeder Berechenbarkeit. Alban hasste den Gedanken, das Deep Rover und seine Insassen aufzugeben, aber etwas sagte ihm unmissverständlich, dass Stone und der Pilot verloren waren.

Unter den Wissenschaftlern und der Besatzung herrschte mittlerweile helle Aufregung. Nicht jeder wusste das Schäumen und den Gestank richtig zu deuten. Der Sturm trug das Seine zur allgemeinen Verunsicherung bei. Er hatte sich wie ein erzürnter Gott aus den Himmeln gestürzt und blies mit zunehmender Heftigkeit immer steilere Wellen über die norwegische See. Sie krachten gegen den Rumpf der Thorvaldson und zerstoben in Myriaden funkelnder Tropfen. Bald würde es kaum noch möglich sein, sich auf den Beinen zu halten.

In dieser Situation hatte Alban vieles gegeneinander abzuwägen. Die Sicherheit der Thorvaldson ließ sich nicht durch die Brille der Reederei betrachten oder am Wert für die Wissenschaft messen. Sie bemaß sich einzig am Wert menschlichen Lebens. Dazu gehörten auch die Leben der beiden Menschen in dem Tauchboot, über deren Schicksal Albans Bauch beredtere Aussagen traf als sein Kopf. Bleiben und Fliehen war gleichermaßen falsch, und beides war gleichermaßen richtig.

Alban sah mit zusammengekniffenen Augen in den schwarzen Himmel und wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht. Im selben Moment beruhigte sich die aufgewühlte See für die Dauer weniger Augenblicke. Es war kein wirkliches Nachlassen des Sturms, eher eine Verschnaufpause, bevor es mit doppelter Wucht weiterging. Alban beschloss zu bleiben.

Unten vollzog sich ein Desaster.

Von einem Moment auf den anderen waren die zerstörten Hydrate — vormals stabile Eisfelder und Adern in den Poren der Sedimente, nun von Würmern und Bakterien zerfressene Ruinen — auseinander gefallen. Auf einer Strecke von einhundertfünfzig Kilometern verwandelte sich die eisartige Verbindung von Wasser und Methan explosionsartig in Gas. Während Alban sich dazu durchrang, die Stellung zu halten, bahnte sich das Gas seinen Weg ins Freie, sprengte Steilwände, riss Felsen auseinander, ließ den Schelf erbeben und nach vorne wegsacken. Kubikkilometer Gestein stürzten binnen Sekunden in sich zusammen. Der gesamte obere Kontinentalrand geriet in Bewegung, während tief unten immer neue Schichten kollabierten, und drängte nach. In einer gewaltigen Kettenreaktion rissen die abrutschenden Massen einander mit, krachten auf die letzten festen Strukturen und zermahlten sie zu Schlamm.

Der Schelf zwischen Schottland und Norwegen mit seinen Pumpen, Pipelines und Plattformen zeigte erste Risse.

Jemand schrie durch den Sturm zu Alban hinüber. Er wirbelte herum und sah den stellvertretenden wissenschaftlichen Leiter wild mit den Armen fuchteln. Seine Worte waren im Sturm kaum zu verstehen.

»Der Hang«, hörte Alban nur. »Der Hang.«

Nach der kurzen trügerischen Ruhe war das Meer jetzt richtig wild geworden. Schwere Seen setzten der Thorvaldson zu. Alban warf einen verzweifelten Blick in Richtung Ausleger, wo sie das Deep Rover zu Wasser gelassen hatten. Die Fluten schäumten. Der Methangestank war unerträglich geworden. Er riss seinen Blick los und rannte mittschiffs. Der Mann packte ihn am Jackenärmel.

»Kommen Sie, Alban! Mein Gott! Das müssen Sie sich ansehen.«

Das Schiff erzitterte. Ein dumpfes Grollen drang an Albans Ohr, ein Geräusch tief aus dem Innern der See. Sie taumelten durch das enge, schwankende Treppenhaus hinauf zur Brücke.

»Da!«

Alban starrte auf das Instrumentenpult mit dem Sonar, das fortgesetzt den Meeresboden abtastete. Er traute seinen Augen nicht.

Da war kein Boden mehr.

Es war, als blicke er in einen Mahlstrom.

»Der Hang rutscht ab«, flüsterte er.

Im selben Moment erkannte er, dass er nichts mehr für den verrückten Ingenieur und Eddie tun konnte. Was er geahnt hatte, wurde zur schrecklichen Gewissheit.

»Wir müssen hier weg«, sagte er. »Sofort.«

Der Steuermann wandte ihm den Kopf zu. »Und wohin?«

Alban dachte fieberhaft nach. Er hatte nun völlige Gewissheit. Er wusste, was dort unten geschah, und darum wusste er auch, was ihnen als Nächstes blühte. Einen Hafen anzulaufen schloss sich aus. Der Thorvaldson blieb nur die Chance, möglichst schnell tiefere Gewässer anzusteuern.

»Funksprüche durchgeben«, sagte er. »Norwegen, Schottland, Island, sämtliche Anrainer. Sie sollen die Küsten evakuieren. Unablässig senden! Erreichen, wen immer wir erreichen können.«

»Was ist mit Stone und …«, begann der stellvertretende Leiter.

Alban sah ihn an. »Sie sind tot.«

Er wagte sich nicht auszumalen, wie gewaltig die Rutschung war. Aber allein was das Sonar zeigte, reichte, ihm Schauer über den Rücken zu jagen. Noch waren sie im kritischen Bereich. Wenige Kilometer schelfeinwärts, und sie würden kentern. Weiter draußen stand zu erwarten, dass sie mit einem blauen Auge davonkamen. Sie würden sich dem Wüten des Sturms aussetzen müssen, aber damit ließ sich zurechtkommen.

Alban rief sich die Morphologie des Hangs in Erinnerung. Zum Nordwesten hin fiel der Meeresboden in mehreren großen Terrassen ab. Wenn sie Glück hatten, kam die Lawine im oberen Bereich zum Stillstand. Aber bei einem Storegga-Effekt gab es kein Halten mehr. Der komplette Hang würde in die Tiefsee rutschen, Hunderte von Kilometer weit und bis in dreieinhalbtausend Meter Tiefe. Bis in die Abyssale östlich von Island würden die Massen dringen und dabei die Nordsee und die norwegische See erschüttern wie ein Jahrtausendbeben.

Wohin sollten sie fahren?

Alban wandte den Blick von den Instrumenten.

»Kurs Island«, sagte er.

Millionen Tonnen Schlamm und Schutt rasten nach unten.

Als die ersten Ausläufer der Lawine in den Färöer-Shetland-Kanal stürzten, gab es zwischen Schottland und der Norwegischen Rinne schon keine Hangterrassen mehr, nur noch eine aufgelöste Masse, die mit Wucht tiefer und tiefer krachte und alles mit sich riss, was bis dahin Struktur und Form besessen hatte. Ein Teil der Rutschung verteilte sich westlich der Färöer-Inseln und wurde schließlich an den unterseeischen Bänken gestoppt, die das Isländische Becken umgaben. Ein anderer Teil der Lawine verteilte sich entlang des Höhenzugs zwischen Island und den Färöern.

Das meiste jedoch donnerte den Färöer-Shetland-Kanal hinab wie auf einer gigantischen Rutsche. Nichts stoppte den Niedergang. Dasselbe Tiefseebecken, das Tausende von Jahren zuvor die Storegga-Rutschung in sich aufgenommen hatte, füllte sich jetzt mit einer noch größeren Lawine, die unaufhaltsam vordrang und dabei einen gewaltigen Sog erzeugte.

Dann brach die Schelfkante ab.

Sie riss auf einer Breite von fünfzig Kilometern einfach weg. Und das war nur der Beginn von allem.


Sveggesundet, Norwegen

Direkt nach Johansons Abflug hatte Tina Lund ihr Gepäck in Johansons Jeep verladen und war losgefahren.

Sie fuhr schnell. Beginnender Regen verschmierte die Straße. Johanson hätte wahrscheinlich protestiert, aber Lund war der Meinung, was der Wagen hergab, sollte man ihm auch abverlangen. Im dem trüben Wetter gab es ohnehin nicht viel zu sehen.

Mit jedem Kilometer, den sie sich Sveggesundet näherte, fühlte sie sich leichter werden.

Der Knoten war geplatzt. Nachdem die Sache mit Stone geklärt war, hatte sie unverzüglich Kare Sverdrup angerufen und ihm vorgeschlagen, ein paar Tage zusammen am Meer zu verbringen. Sverdrup war erfreut gewesen und auch einigermaßen verblüfft, wie ihr schien. Etwas an seiner Reaktion ließ sie ahnen, dass Johanson Recht behalten hatte. Dass sie den Zickzackkurs der vergangenen Wochen in letzter Sekunde begradigt hatte, weil Kare Sverdrup sonst weg gewesen wäre. Einen Moment lang hatte sie die Angst gepackt, es verpatzt zu haben, und sie hatte sich Worte sagen hören, die für ihre Verhältnisse geradezu beunruhigend verbindlich klangen.

Johanson hatte ein Haus niedergerissen. Nun gut. Man könnte ja mal versuchen, eines zu bauen.

Als der Jeep nach rascher Fahrt die uferwärts führende Hauptstraße von Sveggesundet entlangrollte, fühlte sie, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie parkte den Wagen auf einem öffentlichen Platz oberhalb des Fiskehuset. Von dort führten eine Zufahrt und ein Fußweg zum Strand. Ein richtiger Sandstrand war es nicht. Moose und Farne überwucherten Geröll und flaches Gestein. Die Landschaft um Sveggesundet war zwar flach, aber romantisch wild, und das Fiskehuset mit seiner Terrasse, direkt am Meer gelegen, bot einen besonders schönen Ausblick, selbst heute im Regen und bei schlechter Sicht.

Lund schlenderte die paar Schritte bis zum Restaurant und trat ein. Sverdrup war nicht dort, und geöffnet war auch noch nicht. Eine Küchenhilfe trug Kisten mit Gemüse hinein und ließ sie wissen, Sverdrup habe im Ort zu tun. Vielleicht sei er auf der Bank oder beim Friseur oder sonst wo, jedenfalls habe er keine Aussage darüber getroffen, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen sei.

Selber schuld, dachte Lund.

Sie hatten sich hier verabredet. Vielleicht lag es an der Raserei in Johansons Jeep, aber sie war eine Stunde zu früh dran. Wie hatte sie sich so verschätzen können? Sie würde sich ins Restaurant setzen und warten müssen. Aber das war blöde. Es würde unpassend aussehen: Kuckuck, schau mal, wer schon da ist! Oder schlimmer noch: He, Kare, wo warst du, ich warte die ganze Zeit auf dich!

Sie trat hinaus auf die Terrasse des Fiskehuset. Regen schlug ihr ins Gesicht. Andere wären sofort wieder ins Innere gegangen, aber Lund besaß kein Empfinden für schlechtes Wetter. Sie hatte ihre Kindheit auf dem Land verbracht. Sie liebte sonnige Tage, aber Sturm und Regen taten’s auch. Genau genommen fiel ihr erst jetzt auf, dass die Böen, die den Jeep während der letzten halben Stunde durchgerüttelt hatten, in einen handfesten Sturm umgeschlagen waren. Es war nicht mehr so dunstig, dafür jagten die Wolken nun tiefer über den Himmel. So weit sie blicken konnte, war die See gefurcht und mit weißer Gischt überzogen.

Etwas kam ihr seltsam vor.

Sie war oft genug hier gewesen, um die Gegend hinreichend zu kennen. Dennoch schien es ihr, als sei das Ufer breiter als sonst. Kies und Felsen erstreckten sich weiter ins Meer als gewöhnlich, trotz der hereinrollenden Wellen. Es hatte beinahe den Anschein, als finde eine außerplanmäßige Ebbe statt.

Du musst dich irren, dachte sie.

Kurz entschlossen zog sie ihr Handy hervor und wählte Sverdrups Mobilnummer. Sie konnte ihm ebenso gut sagen, dass sie schon hier war. Besser, als wenn die Überraschung misslang. Wahrscheinlich sah sie Gespenster, aber es war ihr lieber, dass er es wusste. Ein langes Gesicht oder auch nur den geringsten Mangel an Freude konnte sie heute schlecht vertragen.

Es schellte viermal, dann meldete sich seine Mailbox.

Auch gut. Das Schicksal hatte es anders gewollt.

Dann eben warten.

Sie strich sich das nass gewordene Haar aus der Stirn und ging wieder nach drinnen in der Hoffnung, wenigstens die Kaffeemaschine in Bereitschaft vorzufinden.


Tsunami

Das Meer war voller Ungeheuer.

Seit Menschengedenken bot es Raum für Mythen, Metaphern und Urängste. Odysseus’ Gefährten fielen der sechsköpfigen Scylla zum Opfer. Poseidon schuf aus Ärger über Cassiopeias Hochmut das Ungeheuer Cetus und schickte Laokoon aus Rache für den Verrat an Troja eine riesige Seeschlange auf den Hals. Den Sirenen ließ sich nur mit Wachs in den Ohren beikommen. Nixen, Meeressaurier und Riesenkraken machten die Phantasie unsicher. Vampyrotheutis infernalis schließlich wurde zum Antipoden aller menschlichen Werte. Selbst das gehörnte Tier aus der Bibel war dem Meer entstiegen. Und ausgerechnet die Wissenschaft, ihrem Wesen nach der Skepsis verschrieben, predigte neuerdings den wahren Kern all der Legenden und atemlosen Berichte, seit man den Quastenflosser wieder gefunden und die Existenz des Riesenkalmars bewiesen hatte. Nachdem die Menschen jahrtausendelang Furcht empfunden hatten vor den Bewohnern der Abyssale, heftete man sich nun begeistert an ihre Fersen. Dem aufgeklärten Geist war nichts heilig, nicht einmal mehr die Angst. Die Ungeheuer waren zu besseren Spielkameraden geworden, die echten ebenso wie die eingebildeten, Plüschtiere der Forschung.

Bis auf eines.

Es war das schlimmste von allen. Es versetzte auch den abgeklärtesten Verstand in Panik. Wann immer es sich aus dem Meer erhob und über das Land kam, brachte es Tod und Zerstörung. Seinen Namen verdankte es japanischen Fischern, die auf hoher See nichts von seinem Schrecken mitbekamen, um bei ihrer Rückkehr ihr Dorf verwüstet und ihre Angehörigen tot vorzufinden. Sie hatten ein Wort für das Ungeheuer gefunden, das wörtlich übersetzt »Welle im Hafen« bedeutete. Tsu für Hafen, Nami für Welle.

Tsunami.

Albans Entscheidung, Kurs auf tiefe Gewässer zu nehmen, zeigte, dass er das Ungeheuer und seine Eigenarten kannte. Der größte Fehler wäre gewesen, den vermeintlich schützenden Hafen anzulaufen.

Also tat er das einzig Richtige.

Während sich die Thorvaldson durch schwere Seen kämpfte, stürzten Kontinentalhang und Schelfkante weiter in die Tiefe. Der entstehende Sog senkte den Meeresspiegel auf großer Fläche ab. Wellen breiteten sich um die Absturzstelle aus und rasten ringförmig nach allen Seiten los. Über dem Zentrum der Erschütterung, einem Gebiet von immerhin mehreren tausend Quadratkilometern, waren sie noch so flach, dass sie sich in dem tobenden Sturm nicht bemerkbar machten. Die Amplitude betrug knapp einen Meter über dem Meeresspiegel.

Dann jedoch erreichten sie flaches Schelfgebiet.

Alban hatte beizeiten gelernt, was Tsunamiwellen von herkömmlichen Wellen unterschied, nämlich so ziemlich alles. Üblicherweise entstand Seegang durch Luftbewegung. Wenn die Sonneneinstrahlung die Atmosphäre aufheizte, verteilte sich die Erwärmung nicht immer gleichmäßig über die ganze Erdoberfläche. Ausgleichende Winde entstanden, die an der Wasseroberfläche Reibung und dadurch Wellen erzeugten. Selbst Orkane schaukelten die See kaum fünfzehn Meter auf. Riesenwellen wie die berüchtigten Freak Waves bildeten die Ausnahme. Die Spitzengeschwindigkeit normaler Sturmwellen lag bei neunzig Stundenkilometern, und die Wirkung des Windes blieb auf die oberen Meeresschichten beschränkt. Ab einer Tiefe von zweihundert Metern war alles ruhig.

Aber Tsunamiwellen wurden nicht an der Oberfläche erzeugt, sondern in der Tiefe. Sie waren nicht das Resultat von Windgeschwindigkeiten, sondern entsprangen einem seismischen Schock, und Schockwellen bewegten sich mit ganz anderen Geschwindigkeiten fort. Vor allem aber wurde die Energie der Tsunamiwelle von der Wassersäule bis zum Meeresboden weitergeleitet. Die Welle hatte damit an jedem Punkt des Meeres, wie tief er auch liegen mochte, Bodenkontakt. Die gesamte Wassermasse geriet in Schwingung.

Das beste Beispiel, wie man sich einen Tsunami vorzustellen hatte, war Alban indes nicht am Computer demonstriert worden, sondern auf viel einfachere Weise. Jemand hatte einen Blecheimer mit Wasser gefüllt und von unten dagegengetreten. Als Folge breiteten sich an der Oberfläche mehrere konzentrische Wellen aus. Die Erschütterung des Bodens übertrug sich auf den kompletten Inhalt und wurde als Wellenform nach außen getragen.

Diesen Effekt, hatte man ihm gesagt, müsse er sich einfach in einem millionenfach größeren Maßstab vorstellen.

Einfach.

Der Tsunami, den die Rutschung auslöste, raste mit einer Anfangsgeschwindigkeit von siebenhundert Stundenkilometern nach allen Seiten los, mit extrem lang gestreckten, flachen Kämmen. Schon die erste Welle transportierte eine Million Tonnen Wasser und eine entsprechend gewaltige Menge an Energie. Nach wenigen Minuten traf sie auf die Abbruchkante des Schelfs. Der Meeresboden wurde flacher und bremste die Welle ab, verlangsamte ihre Front, ohne dass sich die mitgeführte Energie wesentlich verringerte. Die Wassermassen drängten weiter, und weil sie nicht mehr so schnell vorankamen, begannen sie sich aufzutürmen. Je flacher es wurde, desto höher wuchs der Tsunami, während seine Wellenlänge zugleich dramatisch schrumpfte. Sturmwellen ritten auf seinem Kamm mit. Als er die ersten Bohrplattformen auf dem Nordseeschelf erreichte, war er nur noch vierhundert Stundenkilometer schnell, dafür aber bereits fünfzehn Meter hoch.

Fünfzehn Meter waren nichts, weswegen man sich auf Plattformen ernsthaft Sorgen machte — solange es sich um eine gewöhnliche Sturmwelle handelte.

Eine Schockwelle hingegen, die vom Meeresboden bis zur Wasseroberfläche schwang, gekrönt von einem fünfzehn Meter hohen Wasserberg und mit vierhundert Sachen unterwegs, besaß die Wirkung eines aufprallenden Jumbo-Jets.


Gullfaks C, norwegischer Schelf

Einen Moment lang dachte Lars Jörensen, er sei sogar zu alt, um noch die letzten paar Monate auf Gullfaks zu überstehen. Er zitterte am ganzen Leibe. Was war los? Er zitterte so sehr, dass das Geländer mitzuzittern schien, und er hatte nicht die geringste Ahnung, warum. An sich fühlte er sich gar nicht übel. Deprimiert vielleicht, aber nicht krank. War es so, wenn man einen Herzanfall bekam?

Dann dämmerte ihm, dass es tatsächlich das Geländer war, das zitterte. Nicht er.

Gullfaks C bebte.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock.

Er starrte auf den Förderturm, dann wieder hinaus aufs Meer. Unten wütete der Sturm, aber er hatte schon Schlimmeres erlebt. Weitaus Schlimmeres, ohne dass man auf der Plattform viel davon gemerkt hatte. Dieses Zittern kannte Jörensen nur aus Erzählungen, wenn eine falsch durchgeführte Bohrung einen Blowout erzeugte und Öl oder Gas unter Hochdruck nach oben schoss. Dann konnte es passieren, dass die komplette Plattform in heftige Vibrationen verfiel. Aber auf Gullfaks war so etwas nicht möglich. Sie pumpten das Öl aus halb leeren Reservoirs in unterseeische Tanks, und es geschah nicht direkt unter der Plattform, sondern in weitem Umkreis drum herum.

Im Offshoregeschäft gab es so etwas wie eine Top Ten potenzieller Katastrophen. Querverstrebungen von Stahlskeletten, auf denen viele Plattformen ruhten, konnten brechen. Freak Waves, die höchsten Wellen, zu denen Wind und Strömung das Meer mitunter auftürmten, galten als GAU der Ölindustrie. Ebenso fürchtete man Kollisionen mit losgerissenen Pontons und manövrierunfähigen Tankern. All das verteilte sich auf der Hitliste des Schreckens, und ganz oben stand das Gasleck. Lecks waren kaum detektierbar. Man bemerkte sie oft erst, wenn es zu spät war und sie mit Feuer in Berührung kamen. In diesem Fall explodierte die komplette Plattform, so wie damals die Piper Alpha auf der britischen Seite, als die größte Katastrophe in der Geschichte der Ölindustrie über hundertsechzig Menschenleben forderte.

Doch Seebeben waren der Alptraum schlechthin.

Und dies, erkannte Jörensen, war ein Beben.

Alles konnte nun geschehen. Wenn die Erde bebte, verlor man jede Kontrolle. Material deformierte sich und riss. Lecks entstanden, Brände brachen aus. Wenn ein Beben eine Plattform zum Erzittern brachte, konnte man nur hoffen, dass es nicht noch schlimmer wurde, dass der Meeresboden nicht einbrach oder abrutschte, dass die verankerten Konstruktionen den Stößen standhielten. Aber selbst dann gab es ein weiteres Problem, das mit dem Beben einherging, und dagegen gab es gar nichts, was man tun konnte, nicht das Geringste.

Und dieses Problem kam gerade auf die Plattform zu.

Jörensen sah es herannahen und wusste, dass seine Chancen mehr als schlecht standen. Er drehte sich um und wollte die stählerne Treppe hinuntereilen, um wegzukommen von der luftigen Empore.

Alles ging sehr schnell.

Seine Füße verloren den Halt, und er stürzte. Instinktiv krallten sich seine Hände ins Bodengitter. Infernalischer Lärm brach los, ein Tosen und Krachen, als breche die ganze Plattform auseinander. Schreie waren zu hören, dann zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft, und Jörensen wurde gegen das Geländer geschleudert. Heftiger Schmerz durchfuhr seinen Körper. Im Gitter hängend gewahrte er, wie sich die See plötzlich aufzustellen schien. Über ihm zerbarst kreischend Metall. Voller Entsetzen begriff er, dass sich die riesige Plattform in Schräglage begab, und sein Verstand setzte aus. Übrig blieb ein Wesen in Panik, das unsinnigerweise den Versuch unternahm, nach oben davonzukriechen, weg vom näher kommenden Wasser. Er zog sich die Schräge hinauf, die eben noch ein Boden gewesen war, doch die Schräge wurde steiler, und Jörensen begann zu schreien.

Seine Kraft erlahmte. Die Finger der Rechten lösten sich aus den Metallstreben, und er rutschte tiefer. Ein fürchterlicher Ruck ging durch seinen linken Arm. Er hing nun an einer Hand. Immer noch schreiend legte er den Kopf in den Nacken und sah den kippenden Förderturm und den Ausleger mit der Gasflamme, der nicht länger übers Wasser hinausragte, sondern steil in den rabenschwarzen Himmel.

Einen Moment lang wirkte die einsame Flamme fast erhaben. Ein Gruß an die Götter. Hallo da oben. Wir kommen.

Dann flog alles in einer hellgelben Glutwolke auseinander, und Jörensen wurde in die See geschleudert. Er spürte den Schmerz nicht dort, wo es ihm den Unterarm abgerissen hatte, sodass seine Linke immer noch ins Gitter der Empore gekrallt war. Bevor ihn die Feuerwalze erfassen konnte, krachte schon der heranrasende Tsunami in die versinkende Plattform, und Gullfaks C wurde zerschmettert, während die Betonpfeiler zusammen mit dem abstürzenden Schelfrand in der Tiefe verschwanden.

Opa, erzähl uns eine Geschichte …


Oslo, Norwegen

Die Frau hörte mit gefurchter Stirn zu. »Was meinen Sie?«, fragte sie. »So etwas wie eine Kettenreaktion?« Sie gehörte dem ständigen Katastrophenstab des Umweltministeriums an und war es gewohnt, mit den abenteuerlichsten Theorien konfrontiert zu werden. Das Geomar-Institut war ihr bekannt und auch, dass man sich dort nicht zu Spinnereien verstieg, also versuchte sie möglichst rasch zu begreifen, was der deutsche Wissenschaftler am Telefon ihr erzählte.

»Nicht direkt«, antwortete Bohrmann. »Eher einen simultanen Ablauf. Die Zerstörungen schreiten entlang des gesamten Hangs voran. Es geschieht überall zur gleichen Zeit.«

Die Frau schluckte. »Und … welche Gebiete wären davon betroffen?«

»Kommt drauf an, wo genau der Abbruch stattfindet und auf welcher Länge. Große Teile der norwegischen Küste, schätze ich. Tsunamiwellen breiten sich über Tausende von Kilometern aus. Wir informieren sämtliche Anrainer, Island, Großbritannien, Deutschland, alle.«

Die Frau starrte aus dem Fenster des Regierungsgebäudes. Sie dachte an die Plattformen da draußen. Hunderte bis hinauf nach Trondheim.

»Was wäre die Folgen für die Küstenstädte?«, fragte sie tonlos.

»Sie sollten Evakuierungen ins Auge fassen.«

»Und für die Offshore-Industrie?«

»Glauben Sie mir, das ist alles schwer zu sagen. Im besten Fall gibt es eine Serie kleiner Rutschungen. Dann wird es einfach nur ein bisschen wackeln. Schlimmstenfalls bedeutet es …«

Im selben Moment ging die Türe auf, und ein Mann mit bleichem Gesicht kam hereingestürzt. Er legte ein Blatt Papier vor die Frau und machte ihr Zeichen, das Gespräch zu beenden. Sie nahm den Ausdruck und überflog den kurzen Text. Es war der Abschrift eines Funkspruchs. Ein Schiff hatte ihn abgegeben.

Thorvaldson, las sie.

Dann las sie weiter und fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen zu schwinden drohte.

»Es gibt warnende Anzeichen«, sagte Bohrmann gerade. »Falls es passieren sollte, müssen die Menschen an der Küste wissen, worauf sie zu achten haben. Tsunamis kündigen sich an. Eine Weile vor ihrem Eintreffen kann man ein schnelles Ansteigen und Fallen des Meeresspiegels beobachten. Mehrmals hintereinander. Dem geübten Auge fällt es auf. Nach zehn oder zwanzig Minuten weicht das Wasser dann plötzlich weit vom Ufer zurück. Riffe und Felsen werden sichtbar. Sie werden Meeresboden sehen, der normalerweise nie zu sehen ist. Spätestens jetzt müssen Sie höheres Gelände aufsuchen.«

Die Frau sagte nichts mehr, und sie hörte kaum noch zu. Sie hatte sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn der Mann am Telefon die Wahrheit sagte. Jetzt versuchte sie sich vorzustellen, was soeben geschah.


Sveggesundet, Norwegen

Lund verging vor Langeweile.

Es war dämlich, in dem leeren Restaurant herumzusitzen und Kaffee zu trinken. Jede Form von Untätigkeit erschien ihr wie Folter. Die Küchenhilfe war freundlich gewesen und hatte ihretwegen extra die Maschine angeworfen, mit der man Espresso und Cappuccino zubereitete. Der Kaffee schmeckte köstlich, und trotz des stürmischen Wetters und der schlechten Sicht war der Blick aus den großen Panoramafenstern aufs Meer beeindruckend. Dennoch fand Lund die Warterei ungemein öde.

Sie löffelte aufgeschäumte Milch aus ihrer Tasse, als jemand eintrat. Ein Windstoß fuhr ins Innere.

»Hallo, Tina.«

Sie sah auf. Der Mann war ein Freund von Sverdrup. Sie kannte ihn nur als Åke, seinen Nachnamen wusste sie nicht. Er hatte eine gut gehende Bootsvermietung in Kristiansund und verdiente in den Sommermonaten eine Menge Geld.

Sie wechselten einige Worte über das Wetter, dann fragte Åke: »Was machst du hier? Besuchst du Kare?«

»Das hatte ich vor«, sagte Lund mit schiefem Grinsen.

Åke sah sie aus erstaunten Augen an.

»Was sitzt du dann alleine hier herum? Warum ist der Schwachkopf nicht bei dir, wo er hingehört?«

»Meine Schuld. Ich war zu früh.«

»Ruf ihn an.«

»Hab ich. Mailbox.«

»Ach richtig!« Åke schlug sich gegen die Stirn. »Er hat keinen Empfang dort, wo er jetzt ist.«

Lund horchte auf. »Du weißt, wo er ist?«

»Ja, ich war eben noch mit ihm zusammen bei Hauffen.«

»Hauffen? Die Brennerei?«

»Ja. Er kauft Schnäpse ein. Wir haben das eine oder andere probiert, aber du kennst ja Kare. Er trinkt weniger Alkohol als ein Mönch in der Fastenzeit, ich musste die Verkostung alleine übernehmen.«

»Ist er noch da?«

»Als ich ging, standen sie unten im Keller beisammen und quatschten. Warum fährst du nicht rüber? Weißt du, wo Hauffen ist?«

Lund wusste es. Die kleine Brennerei, die einen ausgezeichneten, nicht zum Export bestimmten Aquavit destillierte, lag zehn Gehminuten südlich auf einem flachen Plateau. Mit dem Auto würde sie in zwei Minuten dort sein, wenn sie die landeinwärts gelegene Straße nahm. Aber irgendwie gefiel ihr der Gedanke an einen kurzen Spaziergang besser. Sie hatte genug im Auto gesessen.

»Ich gehe rüber«, sagte sie.

»Bei dem Sauwetter?« Åke verzog das Gesicht. »Na, du musst es wissen. Schwimmhäute werden dir wachsen.«

»Besser als Wurzeln.« Sie stand auf, dankbar für die Information. »Bis dann. Ich bringe ihn mit zurück.«

Draußen stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch, ging hinunter zum Strand und stapfte los. Von hier aus war die Brennerei an klaren Tagen gut zu erkennen. Jetzt erschien sie als grauer Schemen im schräg einfallenden Regen.

Würde er sich freuen, sie zu sehen?

Unglaublich! Sie dachte wie ein verliebter Teenager. Tina Lund, nicht zurechnungsfähig. Klar würde er sich freuen. Was denn sonst?

Während sie sich vom Fiskehuset entfernte, wanderte ihr Blick aufs Meer hinaus. Ihr fiel auf, dass sie sich geirrt haben musste vorhin. Sie hatte gedacht, der felsige Strand sei breiter als sonst, aber er war wie immer. Nein, eigentlich wirkte er sogar schmaler.

Einen Moment lang verharrte sie.

Wie konnte man sich derart täuschen?

Vielleicht war der Sturm schuld. Die Wellen schlugen mal mehr, mal weniger herein. Wahrscheinlich wurde es gerade wieder heftiger. Sie zuckte die Achseln und ging weiter.

Als sie völlig durchnässt die Brennerei betrat, fand sie niemanden in dem kleinen Empfangsraum vor. An der Rückwand stand eine Holztür offen. Lichtschein drang aus dem Keller nach oben. Sie zögerte nicht, sondern stieg hinab, wo sie zwei Männer antraf, die an Fässer gelehnt miteinander redeten, jeder ein Glas in der Hand. Es waren die beiden Brüder, denen die Brennerei gehörte, freundliche, alte Kerle mit wettergegerbten Gesichtern. Kare war nirgends zu sehen.

»Tut mir Leid«, sagte einer der beiden. »Er ist vor zwei Minuten abgezogen. Du hast ihn gerade verpasst.«

»War er zu Fuß hier?«, fragte sie. Womöglich konnte sie ihn einholen.

»Nein.« Der andere schüttelte den Kopf. »Mit dem Lieferwagen. Er hat ein bisschen was gekauft. Zu viel, um’s zu tragen.«

»Hat er gesagt, ob er zurück ins Restaurant fährt?«

»Ja, da wollte er hin.«

»Okay. Danke.«

»He, warte mal.« Der Alte löste sich vom Fass und kam zu ihr herüber. »Wenn du schon umsonst gekommen bist, trink wenigstens einen mit uns. Das ist doch ein Unding, du kommst in eine Brennerei und gehst nüchtern wieder raus!«

»Danke, das ist sehr nett, aber …«

»Er hat Recht«, stimmte sein Bruder eifrig zu. »Du musst was trinken.«

»Ich …«

»Draußen geht die Welt unter, Kind. Wie willst du denn zurückfinden ohne was Warmes im Bauch?«

Beide sahen sie mit Dackelaugen an. Lund wusste, dass sie den Alten eine Freude machte, wenn sie auf ein Glas blieb.

Und warum eigentlich nicht?

»Eines«, sagte sie.

Die Brüder grinsten und nickten einander zu, als hätten sie soeben Konstantinopel eingenommen.


Shetland Islands, Großbritannien

Der Helikopter setzte zur Landung an.

Johanson sah hinaus. Sie hatten die Steilküste überflogen, waren ihrem Verlauf gefolgt und hielten nun auf den kleinen Landeplatz zu, an dem Karen Weaver ihn abholen wollte. Die Klippen fielen nach Osten sanft ab und endeten in einer geschwungenen Bucht. Ab hier war das Land flach. Endlose Sand— und Kiesstrände reihten sich aneinander, hinter denen die typische karge Mooslandschaft der Shetlands begann. Niedrige, lang gestreckte Hügel, zwischen denen sich die Straßen ausnahmen wie hineingekratzt.

Der Heliport gehörte zu einer meereskundlichen Station, die ein halbes Dutzend Wissenschaftler beherbergte, und verdiente die Bezeichnung kaum: ein annähernd rundes Schotterfeld inmitten der graugrünen Weite, die Station selbst wenig mehr als eine Ansammlung windschiefer Baracken. Eine schmale Straße führte aus den Hügeln herab und endete an einem Pier. Johanson sah keine Boote. Neben den Baracken parkten zwei Geländewagen und ein rostiger VW-Bus. Weaver schrieb an einem Artikel über Seehunde, darum hatte sie den Platz ausgewählt. Sie fuhr regelmäßig mit den Wissenschaftlern hinaus, tauchte mit ihnen und wohnte in einer der Hütten.

Eine letzte Bö ließ den Bell erzittern, dann hatten die Räder Bodenberührung. Federnd setzte der Helikopter auf.

»Das hätten wir überstanden«, sagte der Pilot.

Johanson sah eine kleine Gestalt am Rand des Landefeldes stehen. Ihre Haare flatterten im Wind. Er schätzte, dass es Karen Weaver war. Es gefiel ihm, wie sie da in der Einöde wartete. Nicht weit von ihr war ein Motorrad aufgebockt. Alles nach seinem Geschmack. Eine archaische Insel mit einer einsamen Gestalt darin, beide einander beherrschend. Er reckte die Glieder, steckte das Buch mit den Gedichten Whitmans zurück in die Reisetasche und griff nach seinem Mantel.

»Meinetwegen könnten wir noch ein paar Runden drehen«, sagte er, »aber ich würde die Dame ungern warten lassen.«

Der Pilot drehte sich zu Johanson um und zog die Stirn in Falten. »Tun Sie eigentlich nur so cool, oder hat es Ihnen tatsächlich nichts ausgemacht?«

Johanson versuchte, in die Ärmel seines Mantels zu gelangen. »Das müssen Sie schon selber rausfinden. Sie haben doch Ihre Erfahrungen mit Vorständen.«

»Ja, sicher.«

»Und? Bin ich cool?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht bluffen Sie einfach nur. Die meisten, mit denen ich unterwegs bin, hätten mir die Ohren voll gejammert.«

»Auch Skaugen?«

»Skaugen?« Der Pilot dachte einen Moment nach, während über ihnen das Flappen der Rotoren langsamer wurde. »Nein. Ich glaube, Skaugen ist durch gar nichts zu beeindrucken.«

Das hätte mich auch gewundert, dachte Johanson.

»Können Sie mich morgen Mittag wieder hier aufgabeln? Sagen wir, um zwölf.«

»Kein Problem.«

Er wartete, bis die Tür aufschwang, und stieg die kleine Leiter hinunter. War er cool? Tief im Innern war er froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Pilot musste weiter, aber er war heftige Wetterverhältnisse offenbar gewöhnt. Er würde nur eine kurze Pause einlegen und dann nach Lerwick fliegen, um aufzutanken. Johanson schulterte seine Reisetasche und ging hinüber zu der wartenden Gestalt. Sein Mantel blähte sich und schlug um seine Beine, aber wenigstens regnete es nicht.

Karen Weaver kam ihm langsam entgegen.

Mit jedem Schritt schien sie kurioserweise kleiner zu werden. Als sie schließlich vor ihm stand, schätzte er sie auf höchstens einsfünfundsechzig. Sie war auf attraktive Weise kompakt. Die Jeans spannten sich über muskulösen Beinen. Unter der Lederjacke zeichneten sich breite Schultern ab. Soweit Johanson erkennen konnte, trug sie keinerlei Make-up. Ihre Bräune war von der Art, wie man sie in Wind und Wetter erwirbt. Brennende Sonne und Salz hatten daran mitgearbeitet und zudem für Sommersprossen gesorgt, die sich zahlreich auf den breiten Wangenknochen und der Stirn verteilten. Der Wind zerrte an einer Flut kastanienfarbener Locken. Sie musterte ihn interessiert.

»Sigur Johanson«, stellte sie fest. »Wie war der Flug?«

»Lausig. Ich musste mich der tröstenden Gesellschaft von Walt Whitman versichern.« Er sah hinüber zum Helikopter. »Aber der Pilot meinte, ich wäre cool.«

Sie lächelte. »Wollen Sie was essen?«

Seltsame Frage, dachte er, so unmittelbar nach der Begrüßung. Dann fiel ihm auf, dass er tatsächlich Hunger hatte.

»Gerne. Wo?«

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Motorrad.

»Wir können in den nächsten Ort fahren. Wenn Ihnen die Fliegerei nicht allzu sehr zugesetzt hat, werden Sie auch die Harley überstehen. Schneller geht es in der Station, falls Sie mit Corned Beef aus der Dose und Erbsensuppe vorlieb nehmen.«

Johanson sah sie an und stellte fest, dass ihre Augen von ungewöhnlich intensivem Blau waren. Das Blau der tiefen See.

»Warum nicht?«, sagte er. »Sind Ihre Wissenschaftler rausgefahren?«

»Nein. Zu stürmisch. Sie wollten in den Ort und Besorgungen machen. Ich kann hier tun und lassen, was ich will, und ich kann auch eine Büchse aufmachen. Ende meiner Kochkunst. Kommen Sie.«

Johanson folgte ihr über die Schotterfläche des Heliports zur Station. Hier unten präsentierten sich die Gebäude nicht ganz so windschief wie aus der Vogelperspektive.

»Wo sind eigentlich die Boote?«, fragte er.

»Wir lassen sie nicht so gerne draußen.« Sie zeigte auf das Gebäude, das dem Wasser am nächsten stand. »Die Bucht ist kaum geschützt, darum verfrachten wir sie jedes Mal nach Gebrauch in die Baracke gleich am Meer.«

Das Meer …

Wo war das Meer?

Johanson stutzte und blieb stehen. Wo eben noch Brandungswellen gegen den Strand geschlagen hatten, breitete sich eine schlammige Ebene aus, durchsetzt mit flachen Felsen. Das Meer hatte sich zurückgezogen, aber es musste innerhalb der letzten Minute passiert sein. Auf weiter Fläche war nur Boden zu sehen.

Keine Ebbe konnte das in derart kurzer Zeit bewirken. Das Wasser war Hunderte von Metern zurückgewichen.

Weaver ging noch ein paar Schritte, dann drehte sie sich zu ihm um. »Was ist? Keinen Hunger?«

Er schüttelte den Kopf. Ein Geräusch drang an seine Ohren, schwoll an, wurde lauter. Zuerst dachte er, es sei ein großes Flugzeug, das tief über dem Wasser dahinzog und auf die Insel zuhielt. Doch es klang nicht wie ein Flugzeug. Eher wie heranrollender Gewitterdonner, nur viel zu gleichmäßig für Donner, und es hörte nicht auf …

Plötzlich wurde ihm klar, was es war.

Weaver war seinem Blick gefolgt. »Was zum Teufel ist das?«

Johanson setzte zu einer Antwort an. Im selben Moment sah er, wie sich der Horizont verfinsterte, und Weaver sah es auch.

»Zum Helikopter!«, schrie er.

Die Journalistin schien wie erstarrt. Dann lief sie los. Gemeinsam rannten sie auf den Helikopter zu. Hinter den Cockpitscheiben sah Johanson den Piloten die Instrumente checken. Es dauerte eine Sekunde, bis der Blick des Mannes auf die heraneilenden Gestalten fiel. Er hielt inne. Johanson machte ihm Zeichen, die Leiter herunterzulassen. Er wusste, dass der Pilot nicht sehen konnte, was vom Meer kam. Der Helikopter stand mit dem Cockpit landeinwärts.

Der Mann runzelte die Stirn, dann nickte er. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür, und die Leiter senkte sich herab.

Das Donnern kam näher. Inzwischen klang es, als sei die komplette Welt jenseits der Insel in Bewegung geraten.

Und genauso ist es, dachte Johanson.

Falscher Ort, falsche Zeit.

Hin— und hergerissen zwischen Entsetzen und Faszination verharrte er am Fuß der Leiter und sah zu, wie das Meer zurückkam und die schlammige Ebene wieder überspülte. Mein Gott, dachte er, es ist so unwahrscheinlich! Es gehört einfach nicht in diese Epoche, ist nicht für zivilisierte Menschen gedacht. Schulbuchzeug. Jeder wusste, dass Meteoriten, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Flutwellen das Bild der Erde über Jahrmillionen verändert hatten, aber einem geheimen Abkommen zufolge schienen derartige Begebenheiten mit dem Beginn des technischen Zeitalters für immer ihr Ende gefunden zu haben.

»Johanson!«

Jemand versetzte ihm einen Stoß. Er riss sich los und hastete die Stufen hinauf, gefolgt von Weaver. Der Helikopter hatte zu zittern begonnen. Er sah die Bestürzung in den Augen des Piloten und rief:

»Starten Sie. Sofort!«

»Was ist das für ein Geräusch? Was passiert hier?«

»Los, hoch mit der Kiste!«

»Ich kann nicht zaubern. Was soll das überhaupt? Wohin soll ich fliegen?«

»Egal. Höhe gewinnen.«

Knatternd setzten sich die Rotoren in Bewegung. Der Bell löste sich schwankend vom Boden und stieg ein, zwei Meter. Dann siegte die Neugierde des Piloten über seine Angst. Er schwenkte den Helikopter um hundertachtzig Grad, sodass sie hinaus aufs Meer sehen konnten. Seine Gesichtszüge entgleisten.

»Ach du heilige Scheiße«, stieß er hervor.

»Da!« Weaver zeigte aus dem Fenster zu den Baracken. »Da draußen!«

Johanson wandte den Kopf. Aus dem Hauptgebäude kam jemand auf sie zugelaufen. Ein Mann in Jeans und T-Shirt. Sein Mund stand weit offen. Er rannte aus Leibeskräften auf sie zu und ruderte mit den Armen.

Johanson sah Weaver verblüfft an.

»Ich dachte …«

»Ich auch.« Sie starrte entsetzt auf die näher kommende Gestalt. »Wir müssen runter. Oh Gott, ich schwöre, ich wusste nicht, dass Steven hier geblieben ist, ich dachte wirklich, sie seien alle …«

Johanson schüttelte energisch den Kopf. »Er schafft es nicht.«

»Wir können ihn nicht zurücklassen.«

»Schauen Sie nach draußen, verflucht nochmal. Er schafft es nicht. Wir schaffen es nicht.«

Weaver stieß ihn zur Seite und drängte sich an ihm vorbei zur Tür. Im nächsten Moment verlor sie das Gleichgewicht, als der Pilot den Helikopter seitlich über den Sandstreifen auf den rennenden Mann zubewegte. Die Maschine begann sich zu drehen und erbebte, als sie nacheinander von einer Reihe schwerer Böen getroffen wurde. Der Pilot fluchte lautstark. Kurz verloren sie den Wissenschaftler aus den Augen, dann waren sie ihm plötzlich sehr nahe.

»Er schafft es«, schrie Weaver. »Wir müssen runtergehen!«

»Nein«, flüsterte Johanson.

Sie hörte ihn nicht. Sie konnte ihn nicht hören. Selbst der Rotorenlärm ging nun unter im Donner des heranrollenden Meeres. Johanson wusste, dass sie den Wissenschaftler nicht mehr retten konnten, aber sie hatten wertvolle Zeit verloren, und inzwischen bezweifelte er, dass sie es selber schaffen würden. Er zwang sich, den Blick von der rennenden Gestalt zu lösen und nach vorn zu richten.

Die Welle war riesig. Sie mochte an die dreißig Meter hoch sein, eine senkrechte Wand aus tosendem, schwarzgrünem Wasser. Wenige hundert Meter trennte sie noch vom Ufer, aber sie näherte sich mit der Geschwindigkeit eines Eilzuges, und das bedeutete, dass ihnen allenfalls Sekunden blieben bis zur Kollision. Die Zeit reichte eindeutig nicht aus, um den Mann an Bord zu nehmen und zugleich den heranstürmenden Wassermassen zu entkommen. Dennoch versuchte der Pilot ein letztes Mal, den Helikopter nah genug an den Flüchtenden heranzubringen. Vielleicht hoffte er, der Mann könne sich mit einem Sprung durch die offene Tür ins Innere retten, eine der Kufen zu fassen bekommen, irgendwas von dem, was man ständig im Kino sah und was dort regelmäßig klappte, wenn man Bruce Willis hieß oder Pierce Brosnan.

Der Wissenschaftler stolperte und schlug der Länge nach hin.

Das war’s dann, dachte Johanson.

Vor ihnen wurde es dunkel. Kein Himmel war mehr zu sehen durch die Cockpitscheiben, nichts außer der Front der Welle. Sie füllte ihr Blickfeld nach allen Seiten aus, schob sich mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. Sie hatten ihre Chance vertan. Alle Möglichkeiten waren zunichte. Ein senkrechter Aufstieg würde sie auf halber Höhe mit dem gigantischen Brecher kollidieren lassen. Flohen sie dicht über dem Boden landeinwärts, sparten sie zwar die Zeit für den Aufstieg, aber dennoch würde sie das Wasser einholen. Der Tsunami war auf alle Fälle schneller, und außerdem mussten sie den Bell zuvor wenden. Auch dafür reichten die verbleibenden Sekunden nicht.

In einem Anflug von Distanziertheit fragte sich Johanson, wie er den Anblick der senkrechten Wasserfront ertrug, ohne darüber den Verstand zu verlieren. Dann holte ihn die Wirklichkeit wieder ein, als der Pilot das einzig Richtige tat, indem er den Helikopter zugleich rückwärts und in die Höhe steuerte. Die Nase des Bell senkte sich ab. Für die Dauer eines Augenblicks war der Erdboden durch die Cockpitscheiben zu sehen, aber sie stürzten nicht darauf zu, sondern bewegten sich in aufstrebendem Rückwärtsflug vom Boden und von der heranrasenden Welle weg. Der Bell heulte auf, als wolle das Getriebe explodieren. Johanson hatte nie geglaubt, dass ein Helikopter zu einem solchen Manöver fähig war — vielleicht hatte es nicht mal der Pilot geglaubt —, aber es funktionierte.

Die kollabierende Welle geiferte ihnen nach wie ein hungriges Tier. Sie fegte über den Strand und begann, in sich zusammenzustürzen. Berge aus Gischt folgten dem Bell auf seiner irrwitzigen Flucht. Der Tsunami brüllte und kreischte. Im nächsten Moment erschütterte ein fürchterlicher Schlag den Helikopter, und Johanson wurde gegen die Seitenwand geschleudert, gleich neben die offene Tür. Wasser klatschte ihm ins Gesicht. Sein Kopf knallte gegen die Bordwand, und er sah dunkelrote Blitze. Seine Finger bekamen Metall zu fassen, eine Strebe, krallten sich daran fest. Stechender Schmerz durchraste ihn. Er vermochte nicht zu sagen, ob das schreckliche Brausen in seinen Ohren noch von der Welle herrührte oder schon aus seinem Kopf kam, ob sie stiegen oder fielen. Sein einziger Gedanke war, dass die Welle sie am Ende doch gekriegt hatte und dass sie nun zerschmettert würden, und er wartete auf das Ende.

Dann klärte sich sein Blick. Die Kabine hing voller Sprühwasser. Zerfetzte graue Wolken trieben über dem Helikopter dahin.

Sie hatten es geschafft.

Sie waren entkommen. Sie waren nicht in den Tsunami gestürzt, sondern mit knapper Not über den Kamm gelangt.

Der Helikopter stieg weiter, wobei er eine Kurve flog, sodass sie nun die Küste unter sich erkennen konnten. Aber es gab keine Küste mehr. Dort unten war nichts außer einer wilden Flut, die mit unverminderter Geschwindigkeit vorwärts drängte und das Land verschluckte. Die Station, die Fahrzeuge und der Wissenschaftler waren verschwunden. Weit entfernt zur Rechten, wo die Steilküste begann, explodierten glitzernde Gischtfontänen an den Klippen und schossen endlos empor in den Himmel, weit über die Flughöhe des Bell hinaus, als wollten sie sich mit den Wolken vereinen.

Weaver rappelte sich hoch. Sie war über die Sitzbänke gestürzt, als der Wasserschwall den Bell getroffen hatte. Sie starrte hinaus und sagte immer wieder: »Oh Gott!«

Der Pilot schwieg. Sein Gesicht war aschfahl, seine Kiefer mahlten.

Aber er hatte es geschafft.

Sie setzten der Welle nach. Die Wassermassen rasten schneller über den Untergrund dahin, als der Helikopter zu folgen vermochte. Eine Anhöhe kam in Sicht, und die Flut schoss darüber hinweg und ergoss sich schäumend in die dahinter liegende Ebene, kaum in ihrer Geschwindigkeit gebremst. Flach, wie das Gelände hier war, würde sie kilometerweit ins Landesinnere vordringen. Johanson sah die Ebene übersät mit weißen Flecken und erkannte, dass es Schafe waren, die in wilder Flucht davonstoben, und dann waren auch die Schafe verschwunden.

Eine Küstenstadt, dachte er, wäre ausradiert worden.

Nein, falsch. Sie wird ausradiert werden. Nicht nur eine. Annähernd jede Stadt, die an den Küsten der nördlichen Meere lag, würde im Mahlstrom versinken. Der Tsunami, wo immer er entstanden war, breitete sich in diesem Augenblick ringförmig aus, wie es der Natur von Impulswellen entsprach. Seine zerstörerische Wucht würde bis nach Norwegen reichen, bis nach Holland, Deutschland, Schottland und Island. Schockartig wurde ihm bewusst, welche Katastrophe sich da ereignete, und er krümmte sich, als habe ihm jemand ein glühendes Eisen in den Unterleib gestoßen.

Ihm fiel ein, wer gerade in Sveggesundet war.


Sveggesundet, Norwegen

Man konnte den Gebrüdern Hauffen einen gewissen Unterhaltungswert nicht absprechen, fand Lund. Sie taten weiß Gott alles, um sie zum Bleiben zu bewegen. Sie verstiegen sich sogar zu der Aussage, beide weit bessere Liebhaber zu sein als Kare Sverdrup, wobei sie einander in die Seiten stießen und zuzwinkerten, und Lund musste noch einen Schnaps mit ihnen trinken, bevor sie endlich einwilligten, sie ziehen zu lassen.

Sie sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt losginge, käme sie pünktlich ins Fiskehuset. So pünktlich, dass es fast schon peinlich war, fand sie plötzlich. Wer so pünktlich ist, hat’s nötig. Ein paar Minuten Verspätung würden sie womöglich souveräner dastehen lassen.

Blöde Kuh.

Aber sie musste ja nicht ins Fiskehuset hetzen.

Die beiden Alten bestanden auf einer Umarmung. Sie sei die Richtige für Kare, schworen sie, eine, die nicht reinspuckt, wenn guter Aquavit serviert wird. Lund musste diverse Komplimente, Witzeleien und gute Ratschläge über sich ergehen lassen, bis einer der beiden sie schließlich aus dem Keller nach oben brachte. Er öffnete ihr die Haustür, sah den schräg herniederprasselnden Regen und befand, ohne Schirm könne sie da nicht rausgehen. Vergebens bemühte sie sich, ihm klar zu machen, dass sie bei Regen grundsätzlich ohne Schirm nach draußen ging. Dass es zu ihrem Beruf gehörte, sich bei jedem Wetter im Freien herumzutreiben. Ebenso gut hätte sie sich mit dem Fußboden unterhalten können. Der Alte ging einen Schirm holen. Es folgte eine neuerliche Umarmung, dann endlich war sie der Fürsorge der Schnapsbrenner entkommen und stapfte durch den Regen zurück in Richtung Restaurant, den geschlossenen Schirm in der Rechten.

Das kann ja heiter werden, dachte sie.

Der Himmel war noch schwärzer geworden, und der Wind blies mit zunehmender Heftigkeit. Sie ging schneller. Hatte sie nicht eben noch vorgehabt, sich Zeit zu nehmen? Du kannst einfach nichts langsam machen, dachte sie. Johanson hat vollkommen Recht. Du lebst ständig auf Vollgas.

Na, wenn schon. So war sie eben, und außerdem wollte sie jetzt endlich zu dem Mann, den sie beschlossen hatte zu lieben.

Von irgendwoher erklang ein leises Signal. Sie blieb stehen. Das war ihr Handy! Er rief an! Verdammt, seit wann schellte es schon? Atemlos zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke herunter und fingerte im Innern nach dem Telefon. Wahrscheinlich hatte er schon mehrfach angerufen, aber in dem Keller dürfte sie kaum Empfang gehabt haben.

Da war es. Sie zerrte es hervor und meldete sich in Erwartung, Kares Stimme zu hören. »Tina?« Sie stutzte. »Sigur. Oh, das ist … das ist schön, dass du anrufst, ich …« »Wo warst du denn, verdammt? Ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen.« »Tut mir Leid, ich …« »Wo bist du jetzt?« »In Sveggesundet«, sagte sie zögernd. Seine Stimme klang atmosphärisch verzerrt, und offenbar sprach er gegen irgendein lautes Dröhnen an, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sie nie zuvor an ihm gehört hatte und das ihr Angst machte. »Ich gehe am Strand entlang, es ist ein widerliches Dreckswetter, aber du kennst mich ja …«

»Hau ab!«

»Was?«

»Du sollst machen, dass du da wegkommst.«

»Sigur! Bist du noch bei Trost?«

»Jetzt, sofort.« Er redete weiter, atemlos. Die Worte prasselten auf sie ein wie der Regen, immer wieder gestört durch atmosphärisches Krachen und Rauschen, sodass sie erst glaubte, sich verhört zu haben. Dann begriff sie allmählich, was er ihr erzählte, und ihre Beine schienen sich für einen Moment in Gummi zu verwandeln.

»Ich weiß nicht, wo das Epizentrum liegt«, plärrte sein Stimme. »Offenbar braucht die Welle länger bis zu euch, aber egal, dir bleibt keine Zeit. Hau ab, um Gottes willen, mach, dass du da wegkommst!«

Sie starrte hinaus aufs Meer.

Der Sturm trieb flockige Brandung vor sich her.

»Tina?«, schrie Johanson.

»Ich … okay.« Sie sog den Atem ein, pumpte ihre Lungen voll Luft. »Okay. Okay!«

Sie warf den Schirm von sich und begann zu laufen.

Durch den Regen konnte sie die Lichter der Restaurants erkennen, gelb und einladend. Kare, dachte sie. Wir müssen einen der Wagen nehmen, deinen oder meinen. Den Jeep hatte sie fünfhundert Meter oberhalb des Restaurants gelassen, aber Kare besaß einige Stellplätze neben dem Fiskehuset, wo für gewöhnlich auch sein Wagen stand. Während sie rannte, versuchte sie zu erkennen, ob er dort parkte. Regen lief ihr in die Augen, und sie wischte ihn zornig weg. Dann fiel ihr ein, dass sich die restauranteigenen Plätze auf der anderen Seite des Gebäudes befanden, die von hier nicht zu sehen waren, und sie lief noch schneller.

In das Heulen des Windes und das Tosen der Brandung mischte sich ein neues Geräusch. Eine Art lautes Schlürfen.

Ohne innezuhalten wandte sie den Kopf.

Etwas Unvorstellbares geschah. Lund geriet ins Stolpern und konnte nicht anders, als stehen zu bleiben und zuzusehen, wie das Meer verschwand, als habe jemand irgendwo den Stöpsel gezogen. Eine Fläche schwarzen, zerklüfteten Untergrunds kam zum Vorschein, so weit das Auge reichte.

Wie im Zeitraffer wich die See zurück.

Dann hörte sie das Donnern.

Sie blinzelte und wischte erneut Regenwasser aus ihren Augenwinkeln. Fern am Horizont manifestierte sich etwas Diffuses, Gewaltiges in dem Unwetter und nahm langsam Gestalt an. Zuerst glaubte sie, eine noch schwärzere Wolkenfront zöge dort auf. Doch die Front kam zu schnell näher, und ihre Oberkante war zu gerade.

Lund machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten.

Sie begann wieder zu rennen.

Ohne Auto war sie verloren, das stand außer Frage. Erst hinter dem Ort, zum Festland hin, führte die Straße auf höheres Gelände. Sie atmete gleichmäßig und tief, um die aufkommende Panik zurückzudrängen, und spürte das Adrenalin in ihre Muskeln schießen. Sie hatte Kraft genug, um endlos weiterlaufen zu können, nur dass es ihr nichts nützen würde. Die Welle war auf alle Fälle schneller.

Vor ihr gabelte sich der Weg, links ging es weiter zum Restaurant, rechts führte eine Abkürzung von der Küste hoch zu dem öffentlichen Platz, wo Johansons Jeep stand. Wenn sie jetzt dort hinauf lief, würde sie es bis zum Wagen schaffen. Dann die Straße hoch, über die Anhöhe, alles was der Motor hergab. Aber was würde aus Kare, wenn sie fuhr? Er wäre verloren. Nein, unmöglich, undenkbar, sie konnte nicht einfach verschwinden und ihn hier zurücklassen. Sie wollte nicht weg ohne ihn. Die beiden Alten in der Brennerei hatten gesagt, er sei auf direktem Weg ins Fiskehuset gefahren. Gut so, also war er dort, er war dort und wartete auf sie, und er verdiente nicht, allein gelassen zu werden. Sie verdiente nicht länger, allein zu sein. Kein Mensch verdiente es.

Mit Riesensätzen lief sie an der Gabelung vorbei und weiter auf das erleuchtete Gebäude zu. Es war nun nicht mehr weit bis zum Fiskehuset. Sie hoffte inständig, dass sein Wagen dort stünde. Das Donnern kam jetzt sehr schnell näher, aber sie versuchte es zu ignorieren und sich nicht lahmen zu lassen von der Angst. Auch sie war schnell. Sie würde schneller sein als die verfluchte Welle, ihre Schnelligkeit würde für zwei reichen.

Die Terrassentür des Restaurants flog auf. Jemand stürzte nach draußen und verharrte, den Blick aufs Meer gerichtet.

Es war Kare.

Sie begann seinen Namen zu rufen. Ihre Stimme verlor sich im Heulen des Windes und dem Donnern der herannahenden Welle. Sverdrup starrte hinaus aufs Meer, ohne zu reagieren. Er kam nicht einmal auf die Idee, in ihre Richtung zu schauen, so verzweifelt sie auch seinen Namen schrie.

Dann lief er fort.

Er verschwand auf der anderen Seite des Hauses. Lund stöhnte auf. Fassungslos hetzte sie weiter. Im nächsten Moment hörte sie schwach das Aufhusten eines Motors durch den Sturm herüberdringen. Sekunden später erschien Kares Wagen an der Rückseite des Restaurants und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit die Straße hinauf und auf die Anhöhe zu.

Ihr Herz drohte stillzustehen.

Das konnte er nicht tun. Er konnte nicht ohne sie fahren.

Er musste, musste sie doch gesehen haben!

Er hatte sie nicht gesehen.

Kare würde es schaffen. Vielleicht.

Mutlosigkeit überkam sie. Sie lief weiter, nun nicht mehr zum Restaurant, sondern durch Gestrüpp und Steine hinauf zum Parkplatz. Nachdem sie die Weggabelung verpasst hatte, musste sie durch einen Streifen felsigen Geländes, und hier kam sie weniger schnell voran. Aber es war der einzige Weg, der ihr noch blieb. Ihre letzte Chance war der Jeep. Nach wenigen Metern gelangte sie an eine Absperrung, ein zwei Meter hohes Drahtgitter. Sie griff in die Maschen, zog sich hoch. Mit einem Satz war sie auf der anderen Seite. Wieder hatte sie wertvolle Sekunden verloren, während derer die Welle näher kam. Aber dafür sah sie plötzlich die schwarze Silhouette des Jeeps hinter Vorhängen aus Regen, und er war näher, als sie gedacht hatte, zum Greifen nahe.

Sie lief noch schneller. Die Felsen endeten, gingen in Wiese über. Da war der Beton des Parkplatzes unter ihren Füßen. Gut so! Und dort der Wagen. Vielleicht hundert Meter noch. Weniger. Vielleicht fünfzig.

Vierzig.

Lauf, Tina. Lauf!

Der Beton erbebte. In Lunds Ohren dröhnte und hämmert das Blut.

Lauf!

Ihre Hand glitt in die Jackentasche, umfasste den Autoschlüssel. Ihre Stiefelsohlen hämmerten einen gleichmäßigen Takt. Auf den letzten Metern rutschte sie aus, aber egal, sie war da, ihr Körper schlug gegen den Wagen, aufschließen, schnell!

Sie spürte, wie ihr der Schlüssel entglitt.

Nein, dachte sie, bitte nicht. Nicht das.

Panisch fingerte sie danach, wirbelte herum. Oh Gott, wo war der verdammte Schlüssel, er musste hier liegen, irgendwo, bitte!

Dunkelheit senkte sich herab.

Langsam hob sie den Kopf und sah die Welle.

Plötzlich hatte sie keine Eile mehr. Sie wusste, dass es zu spät war. Sie hatte schnell gelebt, sie würde schnell sterben. Sie hoffte wenigstens, dass es schnell ging. Manchmal hatte sie sich gefragt, wie es wäre zu sterben, was einem im Kopf herumgehen mochte, wenn man definitiv erkannte, dass es so weit war und kein Weg daran vorbeiführte. Der Tod würde sagen, ich bin da. Du hast fünf Sekunden, mach dir ein paar Gedanken, was immer du willst, wir sind heute großzügig, und wenn du möchtest, kannst du dein ganzes Leben nochmal Revue passieren lassen, die Zeit bekommst du. War es nicht so? Hieß es nicht, dass man erstaunlicherweise — in einem sich überschlagenden Auto etwa, im Angesicht eines abgefeuerten Projektils, im Verlauf eines tödlichen Sturzes — sein komplettes Leben an sich vorüberziehen sah, Bilder aus der Kindheit, die erste Liebe, eine Art Best of? Jeder sagte, dass es so war, also musste es stimmen.

Aber das Einzige, was Lund empfand, war Angst, der Tod könne ihr wehtun und sie würde Schmerzen leiden müssen. Und dann fühlte sie eine gewisse Scham, dass sie so erbärmlich enden musste. Dass sie es verpatzt hatte. Das war alles. Kein inneres Hollywood. Keine großen Gedanken. Kein würdiger Abschluss.

Vor ihren Augen krachte der Tsunami in Kares Sverdrups Restaurant, schlug es in Trümmer und fegte darüber hinweg.

Die Wasserwand erreichte den Parkplatz.

Sekunden später schoss sie die Anhöhe hinauf.


Der Schelf

Als die Welle im Verlauf ihrer Ausbreitung das umliegende Festland erreichte, hatte sie auf dem Schelf bereits unvorstellbare Zerstörungen hinterlassen.

Ein Teil der Bohrplattformen und Pumpstationen, die man direkt an den Kontinentalrand gebaut hatte, war mit dem abrutschenden Hang in der Tiefe verschwunden. Das allein kostete innerhalb weniger Minuten Tausende von Menschen ihr Leben, aber es war nur ein Vorgeschmack dessen, was der Tsunami auf dem Schelf anrichtete. Wie bei einem Auffahrunfall türmten sich die nachdrängenden Wassermassen zu einer senkrechten Front übereinander, die umso höher wuchs, je flacher es wurde. Unter ihrem Aufprall knickten die Gestänge der Bohrplattformen, die nach Gerüstbauweise konstruiert waren, wie Streichhölzer ein. Im Verlauf von nicht einmal fünfzehn Minuten kenterten über achtzig Plattformen, weil sie der Belastung nicht standhielten. Dabei wurde ihnen weniger die Höhe der Wasserwand zum Verhängnis — Nordseebohrinseln waren darauf ausgerichtet, von einer knapp vierzig Meter hohen Welle unterlaufen zu werden, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen, was statistisch einmal in hundert Jahren erwartet wurde —, sondern das Zusammentreffen etlicher Faktoren.

In gewöhnlichen Brechern waren schon zwölf Tonnen Druck pro Quadratmeter gemessen worden. Das reichte aus, um Hafendämme loszureißen und im Stadtzentrum wieder abzusetzen, kleinere Schiffe durch die Luft zu wirbeln und große Frachter und Tanker in zwei Teile zu zerschlagen. Es waren winderzeugte Wellen, die das zustande brachten. Ihre Aufprallenergie berechnete sich anders als die von Tsunamiwellen. Man konnte auch sagen, gegen eine Tsunamiwelle von gleicher Größe nahm sich selbst ein solcher Brecher lammfromm aus.

Der Tsunami, den die Rutschung auslöste, erreichte auf dem mittleren Schelf Kammhöhen bis zu zwanzig Meter, aber damit ging er immer noch unter den Decks der Plattformen hindurch.

Umso fataler war die Wucht, mit der er gegen die tragenden Konstruktionen schmetterte.

Ölplattformen, ebenso wie Schiffe und überhaupt alles, was der langfristigen Einwirkung des Meeres unterworfen war, mussten einer definierten Beanspruchung standhalten, die in Jahren ausgedrückt wurde. Legte man die Vierzig-Meter-Welle zugrunde, die von Plattformkonstrukteuren einmal in hundert Jahren erwartet wurde, baute man die Plattform demnach so, dass sie mit der Welle fertig wurde. Einer nicht sehr vertrauenerweckenden Logik folgend erhielt die Plattform damit den Status einer 100-Jahre-Beanspruchung. Statistisch gesehen hatte sie den Belastungen von Wind und See nunmehr einhundert Jahre standzuhalten. Das hieß natürlich nicht, dass sie einhundert Jahre lang pausenlos Extremwellen verkraften konnte. Möglicherweise verkraftete sie aber trotz ihrer Klassifizierung nicht mal die eine große, weil Verschleiß selten das Resultat von Monsterwellen war und weit öfter Folge des alltäglichen Gezerres an der Konstruktion durch kleinere Wellen und Strömungen. Jeder technischen Konstruktion entstand auf diese Weise ziemlich schnell eine Achillesferse, ohne dass man in den meisten Fällen zu sagen vermochte, wo genau sie sich befand. Hatte eine solche Stelle im Verlauf der ersten zehn Jahre schon die Belastungen von fünfzig Jahren wegstecken müssen, konnte eine durchschnittliche Welle plötzlich zum Problem werden.

Rechnerisch ließ sich die Nuss kaum knacken. Statistische Mittelwerte, wie sie für den Bau meerestechnischer Konstruktionen herangezogen wurden, trafen lediglich Aussagen über Idealbedingungen, nicht über die Realität. Durchschnittsbeanspruchungen mochten in den Büros und Köpfen der Konstrukteure Gültigkeit haben. Die Natur kannte keinen Durchschnitt, und sie hielt sich nicht an Statistiken. Sie war eine Aufeinanderfolge unkalkulierbarer Momentzustände und Extreme. Auf einem Gewässer wurden vielleicht durchschnittlich zehn Meter hohe Wellen nachgewiesen, aber wenn man dem einen Dreißig-Meter-Exemplar begegnete, das statistisch gar nicht existierte, half einem der Mittelwert wenig, und man starb.

Als der Tsunami durch die Landschaft der Stahltürme fegte, überschritt er deren Beanspruchungsgrenze innerhalb eines Augenblicks.

Träger brachen, Schweißnähte rissen auf, Deckaufbauten kippten ab. Vor allem auf der britischen Seite, wo man Stahlrohrgerüsten den Vorrang gab, zertrümmerte die Aufprallenergie der Welle nahezu jede Konstruktion oder fügte ihr erheblichen Schaden zu.

Norwegen hatte sich schon Jahre zuvor auf Stahlbetonpfeiler spezialisiert. Hier fand der Tsunami weniger Angriffsfläche. Dennoch war das Desaster nicht minder gewaltig, denn die Welle schleuderte riesige Geschosse in die Fördertürme: Schiffe.

Die meisten Schiffe waren Sturmwellen von 20 Metern Höhe theoretisch nicht gewachsen. Die Festigkeit von Schiffsrümpfen orientierte sich an einer statistischen Wellenhöhe von 16,5 Metern. In der Praxis sah es dann doch anders aus. Mitte der Neunziger hatten Monsterwellen oberhalb Schottlands ein hausgroßes Loch in den 3000-Tonnen-Tanker Mimosa geschmettert, aber das Schiff entkam. 2001 versenkte ein 35-Meter-Brecher vor Südafrika fast das Kreuzfahrtschiff MS Bremen, aber eben nur fast. Im selben Jahr war die Endeavour, ein Schiff von 90 Metern Länge, in Höhe der Falklands einem Phänomen zum Opfer gefallen, das die Wissenschaft als ›Drei Schwestern‹ kannte — drei dicht aufeinander folgende Wellen von je 30 Meter Höhe. Die Endeavour wurde schwer beschädigt, doch es gelang ihr, sich in den Hafen zu retten.

Meist jedoch hörte man von Schiffen, die derartige Begegnungen hatten, nie wieder etwas. Denn das eigentlich Tückische an den Riesenwellen war das sogenannte ›Loch im Ozean‹ — die Wellenfront schob einen tiefen Trog, einen Abgrund vor sich her, in den das Schiff hineinsackte, Bug oder Heck voran. Lagen die Wellen weit genug auseinander, blieb im Allgemeinen ausreichend Zeit, um wieder hochzukommen und den nachfolgenden Wellenberg zu erklimmen. Bei kurzen Wellenlängen verhielt es sich anders. Das Schiff stürzte in den Trog, aber die Welle folgte zu dicht auf, und so fuhr es in die Wasserwand hinein, die es verschluckte und unter sich begrub. Aber selbst wenn ein Schiff es mit knapper Not aus dem Trog schaffte und sich wieder an den Aufstieg machte, konnte man nur bangen, dass die Welle nicht zu hoch oder zu steil war. Im Zweifel war sie jedoch beides, extrem steil und extrem hoch. Man versuchte das Unmögliche, nämlich eine senkrechte Fläche zu ersteigen. Dem fielen vor allem kleinere Schiffe zum Opfer, wenn die Welle höher als das Schiff lang war, aber auch Ozeanriesen schafften es oft nicht aus dem Tal und über den Kamm hinweg. Sie wurden von der Welle umgekippt und kenterten kopfüber.

Solche Riesenwellen, die ihren Ursprung dem Zusammenspiel von Wind und Strömung verdankten, brachten es auf Geschwindigkeiten von fünfzig Stundenkilometern, selten mehr. Es reichte zur Totalkatastrophe, aber gegen die 20-Meter-Front des Tsunamis, der in diesen Minuten über den Schelf fegte, waren sie lahme Enten.

Die meisten der Schlepper, Tanker und Fähren, die gerade das Pech hatten, auf der Nordsee unterwegs zu sein, wurden wie Spielzeug herumgeworfen. Einige krachten zusammen, andere wurden gegen die Betonpfosten der Plattformen geschmettert oder gegen die Verladebojen, an denen sie ankerten. Der Wucht des Aufpralls waren selbst Stahlbetonstützen nicht gewachsen. Viele der Kolosse begannen einzubrechen. Was standhielt, entging dennoch nicht der Zerstörung, als die kollidierenden, teils voll beladenen Schiffe explodierten und riesige Feuerwolken auf die Plattformen übergriffen. In Kettenreaktionen flogen ganze Landschaften aus Fördertürmen in die Luft. Brennende Trümmer wurden Hunderte von Metern weit geschleudert. Der Tsunami riss am Meeresgrund verankerte Plattformen los und kippte sie um. All das geschah nur Minuten, nachdem die kreisförmige Welle vom Zentrum der unterseeischen Rutschung losgerast war auf ihrem Weg zu den Küsten der umliegenden Landmassen.

Jedes einzelne der Ereignisse verkörperte den Alptraum der Schifffahrt und der Offshore-Industrie schlechthin. Was an jenem Nachmittag auf der Nordsee geschah, war jedoch mehr als ein vereinzelter, wahr gewordener Alptraum.

Es war die Apokalypse.


Die Küste

Acht Minuten nach dem Absturz des Schelfs war der Tsunami gegen die Klippen der Färöer-Inseln geschlagen, vier Minuten später hatte er die Shetlands erreicht, weitere zwei Minuten später prallte er gegen das schottische Festland und den südwestlichen Buckel Norwegens.

Um Norwegen als Ganzes zu überfluten, bedurfte es vermutlich jenes Kometen, von dem man annahm, dass er die Menschheit auslöschen würde, sollte er jemals ins Meer stürzen. Das Land war ein einziges Gebirge, gesäumt von einer Steilküste, an deren oberen Rand so schnell keine Welle schlug.

Aber Norwegen lebte vom und auf dem Wasser, und die meisten der wichtigsten Städte lagen auf Meeresspiegelhöhe am Fuß der gewaltigen Gebirge. Von der See trennten sie lediglich kleine, flache Inseln, oder sie lagen auf den Inseln selber. Hafenstädte wie Egersund, Haugesund und Sandnes im Süden waren der heranrollenden Welle ebenso ausgeliefert wie Alesund und Kristiansund weiter nördlich und hunderte kleinerer Orte ringsum.

Am schlimmsten erwischte es Stavanger.

Wie sich ein Tsunami entwickelte, wenn er die Küste erreichte, hing von unterschiedlichsten Faktoren ab. Dazu gehörten Riffs, Flussmündungen, unterseeische Gebirge und Sandbänke, vorgelagerte Inseln oder schlicht die Neigung des Strandes. Alles konnte die Wirkung entweder abschwächen oder verstärken. Stavanger, das Zentrum der norwegischen Offshore-Industrie, Schlüsselstadt des Handels und der Schifffahrt, eine der ältesten, schönsten und reichsten Städte Norwegens, lag so gut wie ungeschützt direkt am Meer. Lediglich eine Reihe flacher Inselchen erstreckte sich oberhalb des Hafens, verbunden durch Brücken. Unmittelbar vor dem Eintreffen der Welle war eine Warnung der norwegischen Regierung an die Behörden der Stadt ergangen, die sofort über alle Radio-und Fernsehstationen und via Internet verbreitet wurde, aber es blieb lächerlich wenig Zeit. An eine Evakuierung war nicht mehr zu denken. Der Warnung folgte ein beispielloses Durcheinander in den Straßen. Niemand konnte sich recht vorstellen, was da auf Stavanger zukam. Anders als in den Anrainerstaaten des Pazifiks, die seit Menschengedenken mit Tsunamis lebten, gab es im Atlantikraum, in Europa und im Mittelmeer keine Warncenter. Während das PTWS, das Pacific Tsunami Warning System, mit Hauptsitz auf Hawaii in über zwanzig Pazifikstaaten vertreten war, zu denen von Alaska über Japan und Australien bis Chile und Peru so ziemlich jede Küstennation gehörte, wusste man in einem Land wie Norwegen nicht das Geringste über Tsunamis. Nicht zuletzt darum verstrichen die letzten Minuten Stavangers in ratlosem Entsetzen.

Die Welle brach über die Stadt herein, ohne dass jemand rechtzeitig hinausgefunden hatte. Noch während sie die Pfeiler der Inselbrücken knickte, wuchs sie weiter an. Unmittelbar vor der Stadt türmte sich der Tsunami zu seinen ganzen dreißig Metern Höhe auf, aber aufgrund seiner extremen Wellenlänge brach er nicht sofort, sondern knallte senkrecht gegen die Hafenbefestigungen, schlug Kais und Gebäude in Stücke und raste weiter stadteinwärts. Die Altstadt mit ihren historischen Holzhäusern aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wurde dem Erdboden gleichgemacht. Im Vagen, dem alten Hafenbecken, staute sich die Welle und fiel über die Innenstadt her. In Stavangers ältestem Gebäude, der anglo-normannischen Domkirche, schlugen die Fluten zuerst sämtliche Fenster aus, bevor sie die Mauern zum Einsturz brachten, und auch diese Trümmer trugen sie mit sich fort. Was immer im Weg stand, wurde mit der Wucht eines Raketenangriffs hinweggefegt. Nicht nur das Wasser zerstörte die Stadt, sondern auch mitgeführter Schlamm, tonnenschwere Steine, Schiffe und Autos, die wie Geschosse einschlugen.

Inzwischen hatte sich die vertikale Wand in einen Berg aus tosender Gischt verwandelt. Der Tsunami wälzte sich nun weniger schnell durch die Straßen, dafür chaotisch turbulent. In der Gischt wurde Luft eingeschlossen und beim Aufprall komprimiert, was einen Druck von über fünfzehn Bar erzeugte, genug, um Panzerplatten zu zerbeulen. Das Wasser knickte Bäume wie Streichhölzer. Sie wurden Teil des Bombardements. Keine Minute, nachdem die Welle auf die ersten Befestigungen geprallt war, waren die kompletten Hafenanlagen vernichtet und die dahinter liegenden Viertel zerstört. Noch während die Wassermassen durch die Straßen schossen, erschütterten die ersten Explosionen die Stadt.

Für die Menschen in Stavanger gab es nicht die geringste Überlebenschance. Wer versuchte, vor der Wasserwand davonzulaufen, die plötzlich in den Himmel ragte, rannte vergeblich. Die überwiegende Anzahl der Opfer wurde erschlagen. Das Wasser war wie Beton. Man spürte nichts. Kaum anders erging es denen, die wie durch ein Wunder den Aufprall überlebten, um dann gegen Häuser geschmettert oder zwischen Trümmerteilen zermalmt zu werden. Paradoxerweise ertrank so gut wie niemand, sah man von jenen ab, die in den zulaufenden Kellern gefangen waren. Selbst dort wurden die meisten schon durch die Wucht der hereinströmenden Wassermassen getötet oder erstickten im zusätzlich eindringenden Schlamm. Wer schließlich ertrank, starb einen schrecklichen, aber wenigstens schnellen Tod. Kaum einer von ihnen registrierte, was mit ihm geschah. Von jeder Sauerstoffzufuhr abgeschnitten, trieben die Körper der Eingeschlossenen im lichtlosen, wenige Grad kalten Wasser. Das Herz begann unregelmäßig zu schlagen, transportierte weniger Blut und kam schließlich zum Stillstand, während sich der Metabolismus extrem verlangsamte. Dadurch lebte das Gehirn noch eine Weile weiter. Erst zehn bis zwanzig Minuten später erlosch die letzte elektrische Aktivität, und der endgültige Tod trat ein.

Nach weiteren zwei Minuten hatte die Gischt die Vororte Stavangers erreicht. Je großräumiger sie sich verteilte, desto flacher wurde die brodelnde Flut. Immer noch nahm ihre Geschwindigkeit ab. Das Wasser tobte und spritzte durch die Straßen, und wer hineingeriet, war hoffnungslos verloren, aber dafür hielten die meisten Häuser dem Druck fürs Erste stand. Wer sich deswegen in Sicherheit wähnte, freute sich dennoch zu früh. Denn der Tsunami verbreitete seinen Schrecken nicht nur bei der Ankunft.

Fast noch schlimmer war es, wenn er ging.

Knut Olsen und seine Familie erlebten den Rückzug der Welle in Trondheim, wo der Tsunami wenige Minuten später eingetroffen war.

Im Gegensatz zu Stavanger, das sich wie auf dem Präsentierteller darbot, lag Trondheim geschützt im Trondheimfjord. Flankiert von größeren Inseln und zudem abgeschirmt von einer Landzunge, führte der Fjord fast vierzig Kilometer ins Landesinnere, bevor er sich zu einem breiten Becken öffnete, an dessen östlichem Rand die Stadt erbaut war. Viele norwegische Städte und Ortschaften lagen am Innenrand oder am Ende von Fjorden auf Wasserhöhe. Wer einen Blick auf die Landkarte warf, musste zu dem Schluss gelangen, dass selbst die Wucht einer Dreißig-Meter-Welle nicht ausreichen würde, um Trondheim ernsthaft zu gefährden.

Doch gerade die Fjorde erwiesen sich als Todesfallen.

Geriet ein Tsunami in Meerengen und trichterförmige Buchten, wurden die Wassermassen nicht mehr nur von unten gestaut, sondern plötzlich auch von beiden Seiten. Zigtausend Tonnen Wasser quetschten sich durch einen engen Kanal. Die Wirkung war verheerend. Im Sognefjord nördlich von Bergen, der zwar lang, aber schmal war, eingebettet in steile Felswände, stieg die Wellenhöhe ein weiteres Mal dramatisch an. Die meisten Ortschaften längs dieses Fjords lagen oberhalb der Klippen auf den Plateaus. Bis zu ihnen spritzte das Wasser, aber größere Schäden blieben aus. Anders am Ende des fast hundert Kilometer langen Fjords, wo auf einer flachen Halbinsel mehrere Kleinstädte und Dörfer beieinander lagen. Die Welle radierte sie aus und wurde erst vom dahinter liegenden Steilgebirge gestoppt. Dabei schlug die Gischt bis in eine Höhe von zweihundert Metern und rasierte jeglichen Pflanzenbewuchs ab, bevor die Wassermassen in sich zusammenstürzten und sich in den angrenzenden Flüssen weiter fortpflanzten.

Der Trondheimfjord war breiter als der Sognefjord, und seine Wände waren weniger hoch. Weil er zudem nach hinten breiter wurde, konnten sich die Fluten besser verteilen. Dennoch war der Wasserberg, der Trondheim erreichte, noch hoch genug, um über den Hafen hinwegzufegen und einen Teil der Altstadt zu zerstören. Die Nidelva schoss über die Ufer und drängte in die Viertel Bakklandet und Mollenberg. Gischtlawinen mähten die alten Häuser nieder. In der Kirkegata fiel fast jedes Haus dem einströmenden Wasser zum Opfer, auch das von Sigur Johanson. Seine hübsche Fassade wurde eingedrückt, die Holzverkleidung zersplitterte, das Dach stürzte in die zusammenbrechende Front. Die Trümmer wurden fortgespült, nunmehr Teil der schäumenden Welle, die erst an den Grundmauern der NTNU ihre Kraft und Energie verlor, in wilden Wirbeln zum Stillstand kam und zurückzufließen begann.

Die Olsens wohnten in einer Straße hinter der Kirkegata. Ihr Haus, aus Holz gebaut wie das von Johanson, hielt dem Ansturm des Tsunamis stand. Es zitterte und wankte. In der Wohnung kippten Möbel um, Geschirr ging zu Bruch, und der Boden der vorderen Zimmer neigte sich. Die Kinder gerieten in Panik. Olsen schrie seiner Frau zu, sie in den hinteren Bereich des Hauses zu bringen. Er wusste im Grunde nicht, was das Beste war, aber er dachte, wenn das Wasser von vorn gegen das Haus geschlagen war, müsse es im rückwärtigen Teil vielleicht sicherer sein. Während seine Familie dorthin flüchtete, wagte er sich atemlos an eines der vorderen Fenster, um hinauszusehen. Der Holzboden unter seinen Füßen bog sich weiter und knackte vernehmlich, ohne jedoch einzubrechen. Olsen klammerte sich an den Fensterrahmen, entschlossen, sofort nach hinten zu laufen, wenn eine weitere Welle auf das Haus zurollen sollte. Fassungslos blickte er auf die zerstörte Stadt, sah Bäume, Autos und Menschen in den Wasserwirbeln treiben, hörte Schreie und das Bersten in sich zusammenbrechender Mauern. Dann erschütterten mehrere Explosionen die Luft, und am Hafen stiegen schwarzrote Wolken empor.

Es war das Grauenhafteste, was er je gesehen hatte. Dennoch verdrängte er den Schock zugunsten des einen Gedankens, seine Familie zu schützen. Was immer noch auf sie zukommen mochte, entscheidend war, dass seine Kinder und seine Frau überlebten.

Und er selber, wenn möglich.

Aber wie es schien, kam die Flut zum Stillstand.

Olsen schaute noch eine Weile nach draußen, dann ging er vorsichtig ins Hinterhaus. Sofort wurde er mit Fragen bestürmt. Er sah in die angstgeweiteten Augen seiner Kinder und hob beruhigend die Hand, obwohl ihm schrecklich zumute war. Er sagte, dass wohl alles vorbei sei, und sie sollten sich keine Sorgen machen. Natürlich war nichts in Ordnung, gar nichts. Sie mussten irgendwie aus dem Haus gelangen. Ihm kam die Idee, über die Dächer zu flüchten, dorthin, wo das Wasser nicht hingelangt war. Seine Frau fand, er habe zu viele Filme von Hitchcock gesehen. Sie fragte ihn, wie er sich das mit vier Kindern vorstelle. Olsen wusste keine Antwort. Sie schlug vor, einfach abzuwarten. Etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein, also stimmte er zu und ging wieder nach vorn zum Fenster.

Als er diesmal hinaussah, bemerkte er, dass sich die Flut zurückzog. Immer schneller strebten die Wassermassen dem Fjord zu.

Wir haben es überstanden, dachte er.

Er beugte sich weiter vor. Im selben Moment ging ein Ruck durch das Haus. Olsen grub seine Finger in den Rahmen. Der Boden splitterte. Er wollte zurückspringen, aber da war nichts mehr. Ein riesiges Loch klaffte im Wohnzimmerboden. Regen schlug herein. Olsen kippte nach vorn. Zuerst dachte er, es habe ihn aus dem Fenster gerissen. Dann wurde ihm klar, dass sich die komplette vordere Hauswand ablöste, als sei sie eine schlecht aufgeklebte Pappe, und sich der Flut zuneigte.

Er schrie aus Leibeskräften.

Die Menschen auf Hawaii, die seit Generationen mit dem Ungeheuer lebten, wussten sehr genau, was sein Rückzug bedeutete. Die abfließenden Wassermassen erzeugten einen gewaltigen Sog, der alles, was noch stand oder sich zu halten versuchte, ins Meer spülte. Alles riss das Wasser mit sich fort. Menschen, die den ersten Akt der Katastrophe überlebt hatten, starben jetzt, und ihr Sterben verlief weit grausamer als das in der heranrasenden Welle. Es ging einher mit dem aussichtslosen Überlebenskampf in der brausenden Strömung, mit dem Anschwimmen gegen den unerbittlichen Sog, mit dem Nachlassen der Kräfte. Die Muskeln erlahmten. Man wurde von herumwirbelnden Gegenständen getroffen, Knochen brachen. In verzweifelter Gegenwehr klammerte man sich irgendwo fest, wurde losgerissen und trieb weiter davon zwischen Schlamm und Trümmern.

Das Ungeheuer aus dem Meer kam an Land, um zu fressen, und wenn es sich zurückzog, nahm es seine Beute mit.

All dies hatte Olsen nicht gewusst, als die Hauswand in den Mahlstrom kippte, aber es wurde ihm schlagartig klar, und darum schrie er. Er schrie um sein Leben. Er wusste, dass er nun sterben würde. Während er fiel, dröhnten weitere Explosionen vom Hafen, als demolierte Schiffe und Ölanlagen in die Luft flogen. Nahezu jedes elektrische System der Stadt war ausgefallen, Kurzschlüsse folgten dicht auf dicht. Vielleicht würde er schon darum sterben, weil das Wasser unter Starkstrom stand.

Er dachte an seine Familie. An seine Kinder. Seine Frau.

Dann dachte er kurz an Sigur Johanson und seine merkwürdigen Theorien, und er spürte eine rasende Wut in sich aufsteigen. Johanson war schuld. Er hatte ihm etwas verschwiegen. Etwas, das sie hätte retten können. Irgendetwas hatte der verdammte Hurensohn gewusst!

Dann dachte er nichts mehr. Nur noch: Du bist tot.

Mit ohrenbetäubendem Prasseln landete die Hauswand in einem großen Baum, der erstaunlicherweise noch stand. Olsen wurde kopfüber aus dem Fensterrahmen geschleudert. Seine Hände griffen ins Leere, bekamen etwas zu fassen. Blätter und Rinde. Unter sich sah er die schlammige Flut dahinbrausen. Er klammerte sich an den Ast, schwang zappelnd in der Luft und begann, sich hochzuziehen. Von oben regneten Teile des Giebels herab, Planken und Verputz. Sie verfehlten ihn knapp. Das dahinschießende Wasser riss große Teile der Fassade weg. Was einmal die Vorderfront seines Hauses gewesen war, verformte sich, splitterte und brach kreischend auseinander. In panischer Angst versuchte Olsen, näher an den Stamm zu gelangen. Seitlich unter ihm entsprang ein dickerer Ast, den er erreichen konnte. Vielleicht würde er seine Füße darauf stellen können. Er spürte, wie der riesige Baum ächzte und wankte, und hangelte sich keuchend vorwärts.

Krachend stürzten die letzten Reste der Hauswand, Laub und Äste mit sich reißend, in die Flut. Ein Ruck fuhr durch Olsens Ast. Seine Finger glitten ab. Plötzlich hing er nur noch an einer Hand. Er schaute zwischen seinen Füßen hindurch und fühlte seine Kraft erlahmen. Wenn er jetzt stürzte, wäre sein Schicksal besiegelt. Mühsam drehte er den Kopf und versuchte, einen Blick auf sein Haus zu erhaschen, beziehungsweise auf das, was davon noch übrig war.

Bitte, dachte er. Lass sie nicht tot sein.

Das Haus stand noch.

Und dann sah er seine Frau.

Sie hatte sich auf Hände und Knie niedergelassen, war bis zur Kante gekrochen und sah zu ihm herüber. In ihren Zügen lag eine grimmige Entschlossenheit, als wolle sie sich im nächsten Moment ins Wasser stürzen, um ihm zur Hilfe zu kommen. Natürlich konnte sie ihm kein bisschen helfen, aber sie war da, und sie rief seinen Namen. Ihre Stimme klang fest und beinahe zornig, als solle er endlich seinen verdammten Arsch in Sicherheit bringen und nach Hause kommen, wo man auf ihn wartete.

Olsen sah sie einen Moment lang einfach nur an.

Dann spannte er die Muskeln. Seine freie Hand langte nach oben, packte zu. Er krallte die Finger ins Holz und begann, weiter vorzurücken, bis seine Füße direkt über dem dicken Ast schwebten. Langsam ließ er sich darauf nieder. Jetzt hatte er festen Halt. Er stand. Ein Zucken durchlief seine Schultern. Er löste die Finger, umschlang den Stamm, fühlte die Not des Baumes, sich zu halten in der Flut, drückte sein Gesicht gegen die Rinde und sah weiter hinüber zu seiner Frau.

Es dauerte endlos. Der Baum hielt stand, und auch das Haus.

Als das Wasser seinen Tribut ins Meer gezogen hatte, stieg er endlich zitternd hinab in die Wüste aus Trümmern und Schlamm. Er half seiner Frau und seinen Kindern, das Haus zu verlassen. Sie nahmen das Nötigste mit, Kreditkarten, Geld, Papiere und einige hastig zusammengesuchte persönliche Erinnerungen, die sie in zwei Rucksäcke packten. Olsens Auto war irgendwo in der Flut verschwunden. Sie würden laufen müssen, aber alles war besser, als hier zu bleiben.

Schweigend verließen sie ihre zerstörte Straße, liefen auf die andere Seite des Flusses und fort von Trondheim.


Fiasko

Die Welle breitete sich weiter aus.

Sie überflutete die Ostküste Großbritanniens und den dänischen Westen. Auf der Höhe von Edinburgh und Kopenhagen wurde der Schelf extrem flach. Unvermittelt erhob sich dort die Doggerbank, ein Relikt aus der Zeit, als Teile der Nordsee noch trockenes Land waren. Die Doggerbank war lange Zeit eine Insel gewesen, auf der sich zahlreiche Tiere vor den immer höher auflaufenden Fluten zusammengedrängt hatten, bis sie schließlich ertranken. Jetzt lag die Bank dreizehn Meter unter dem Meeresspiegel, und sie staute die heranrollende Welle zu neuer Höhe.

Südlich der Doggerbank standen Plattformen dicht an dicht, insbesondere entlang der britischen Südostküste und oberhalb Belgiens und der Niederlande. Die Welle wütete hier noch schlimmer als im nördlichen Teil, jedoch bremste die zerklüftete Struktur des Schelfs mit ihren Sandbänken, Spalten und Graten den Tsunami ab. Die friesischen Inseln wurden vollständig überflutet, verringerten die Energie der Welle aber um ein Weiteres, sodass sie Holland, Belgien und Norddeutschland mit verminderter Wucht traf. Nur noch knapp einhundert Stundenkilometer schnell erreichte die Wasserwand schließlich Den Haag und Amsterdam und zerstörte große Teile der seenahen Gebiete. Hamburg und Bremen erlebten ein rabiates Hochwasser. Sie lagen weiter im Landesinnern, dafür waren die Mündungen von Elbe und Weser kaum geschützt. Der Tsunami wälzte sich die Flussläufe entlang und überschwemmte das Umland, bevor er die Hansestädte erreichte. Selbst in London schwoll kurzzeitig die Themse an, trat über die Ufer und ließ Schiffe in Brücken krachen.

Die Ausläufer der Flut schossen durch die Straße von Dover und waren noch in der Normandie und an der bretonischen Küste zu spüren. Nur die Ostsee mit Kopenhagen und Kiel entging dem Fiasko. Zwar rollte auch hier schwere See heran, aber wo Skagerrak und Kattegat ineinander flossen, verwirbelte der Tsunami und brach in sich zusammen. Dafür schlug die Welle im hohen Norden gegen die Küste Islands und erreichte noch Grönland und Spitzbergen.

Die Olsens hatten unmittelbar nach der Katastrophe höheres Gelände aufgesucht. Knut Olsen vermochte später nicht zu sagen, warum sie so gehandelt hatten. Es war seine Idee gewesen. Möglicherweise besaß er dunkle Erinnerungen an einen Film über Tsunamis oder einen Bericht, den er irgendwann gelesen hatte. Vielleicht war es einfach nur Intuition. Aber ihre Flucht rettete der Familie das Leben.

Die meisten Menschen, die das Kommen und Gehen eines Tsunamis überlebten, starben dennoch. Sie kehrten nach der ersten Welle zurück in ihre Dörfer und Häuser, um nachzusehen, was übrig war. Aber Tsunamis breiteten sich in mehreren aufeinander folgenden Wellen aus. Den extrem großen Wellenlängen war es zuzuschreiben, dass der nächste Wasserberg erst eintraf, wenn man die Katastrophe schon überstanden glaubte.

So auch diesmal.

Nach über einer Viertelstunde jagte die zweite Welle heran, nicht minder gewaltig als die vorangegangene, und erledigte, was der Vorgänger nicht geschafft hatte. Eine dritte Welle zwanzig Minuten später war nur noch halb so hoch, danach kam eine vierte und dann nichts mehr.

In Deutschland, Belgien und den Niederlanden waren die Evakuierungsmaßnahmen im Ansatz stecken geblieben, obwohl dort mehr Zeit zur Verfügung gestanden hatte. Aber so ziemlich jeder besaß ein Auto, und jeder hielt es für eine gute Idee, es zu benutzen und damit die Flucht anzutreten, was unterm Strich eine schlechte Idee war. Keine zehn Minuten nach Eingang der Warnungen waren sämtliche Straßen hoffnungslos verstopft, bis die Welle den Stau auf ihre Weise auflöste.

Eine Stunde, nachdem der Kontinentalhang abgerutscht war, hatte die nordeuropäische Offshore-Industrie aufgehört zu existieren. Fast alle Küstenstädte des umliegenden Festlands waren teilweise bis vollständig zerstört. Hunderttausende hatten ihr Leben verloren. Lediglich Island und Spitzbergen, ohnehin dünn besiedelt, waren ohne Todesopfer davongekommen.

Die gemeinsame Expedition von Thorvaldson und Sonne hatte erkennen lassen, dass die Würmer auch im Norden Hydrate zersetzten, bis hinauf nach Tromsø. Der Hang war im Süden abgerutscht. Die Auswirkungen des Tsunamis ließen vorerst keine Beschäftigung mit der Frage zu, ob auch mit einem Kollaps der nördlichen Kante zu rechnen sei. Möglicherweise hätte Gerhard Bohrmann eine Antwort darauf gefunden. Aber nicht einmal Bohrmann wusste, wo genau die Lawinen heruntergekommen waren. Und auch Jean-Jacques Alban, dem es gelungen war, die Thorvaldson weit genug aufs offene Meer und damit in Sicherheit zu bringen, hatte keine Vorstellung von dem, was tief unten wirklich geschehen war.

Fortgesetzt hallten Explosionen übers Meer und durch die Ruinen der Küstenstädte. In das Schreien und Weinen der Überlebenden mischten sich Hubschrauberdröhnen, Sirenengeheul und Lautsprecherdurchsagen. Es war eine Kakophonie des Grauens, doch über all dem Lärm lag eine bleierne Stille. Die Stille des Todes.

Drei Stunden vergingen, bis die letzte Welle zurück ins Meer geflossen war.

Dann rutschte der nördliche Kontinentalhang ab.


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