DAS ENDE DIESER GESCHICHTE UND DER BEGINN ALLER ANDEREN

»Ihr braucht keine Ringe, wenn ich bei euch bin«, sagte die Stimme Aslans. Die Kinder blinzelten und sahen sich um. Sie befanden sich wieder im Wald zwischen den Welten; Onkel Andrew lag im Gras und schlief noch immer; an ihrer Seite stand Aslan.

»Kommt«, sagte er. »Es wird Zeit, daß ihr zurückkehrt. Doch zwei Dinge zuerst: eine Warnung und ein Befehl. Seht her, Kinder.«

Sie schauten hin und sahen eine kleine Kuhle im Gras, deren Boden grasbewachsen, warm und trocken war.

»Als ihr das letzte Mal hier wart«, sagte Aslan, »da war diese Vertiefung noch ein Teich, und als ihr hineinhüpftet, kamt ihr zu einer Welt, wo eine sterbende Sonne die Ruinen von Charn beschien. Der Teich ist jetzt verschwunden. Die Welt ist erloschen, als hätte es sie nie gegeben. Dies soll der Rasse von Adam und Eva eine Warnung sein.«

»Ja, Aslan«, sagten die beiden Kinder. Doch Polly fügte hinzu: »Aber wir sind nicht ganz so schlecht, wie diese Welt es war, oder, Aslan?«

»Noch nicht, Tochter Evas«, sagte er. »Noch nicht. Doch ihr werdet ihr immer ähnlicher. Es ist nicht gewiß, ob nicht ein paar Bösewichte eurer Rasse ein Geheimnis heraus­finden werden, das so böse ist wie das Unaussprechliche Wort, und daß sie es benutzen werden, um alles Leben zu vernichten. Und bald, sehr bald, bevor ihr beide alt geworden seid, werden große Nationen eurer Welt von Tyrannen regiert werden, denen an Glück und Gerechtigkeit und Gnade auch nicht mehr liegt als Jadis, der Königin von Charn. Davor soll sich eure Welt hüten. Das war die Warnung. Und nun zum Befehl. Sobald ihr könnt, müßt ihr eurem Onkel seine Zauberringe wegnehmen und sie vergraben, damit keiner sie mehr benutzen kann.«

Beide Kinder sahen hinauf ins Gesicht des Löwen, während er sprach. Und ganz plötzlich – wie es dazu kam, wußten sie weder jetzt noch später – schien dieses Gesicht zu einem bewegten Meer aus Gold zu werden, in dem sie trieben, und um sie herum, über sie hinweg und in sie hinein floß eine derartige Süße und Kraft, daß sie das Gefühl hatten, nie zuvor seien sie jemals wirklich glücklich, weise oder gut gewesen und auch nicht lebendig und nicht wach. Und die Erinnerung an diesen Augenblick blieb ihnen für immer erhalten, und wenn sie jemals traurig oder ängstlich oder böse wurden, dann fiel ihnen dieses goldene Glück wieder ein, und sie spürten, daß es immer noch vorhanden war – ganz in der Nähe, gleich um die Ecke oder gleich hinter einer Tür. Und dieser Gedanke verlieh ihnen ganz tief drinnen die Sicherheit, daß alles gut war. Einen Augenblick später stolperten alle drei gemeinsam in das laute, heiße und stickige London zurück.

Sie standen draußen auf dem Gehsteig vor dem Haus der Ketterleys, und abgesehen davon, daß die Hexe, das Pferd und der Kutscher fehlten, war alles noch genauso, wie sie es zurückgelassen hatten. Da stand der Laternenpfahl, an dem ein Arm fehlte; da lag die zerschmetterte Droschke, und auch die vielen Leute standen immer noch herum. Sie redeten wild durcheinander, ein paar knieten neben dem verletzten Polizisten und sagten so Dinge wie »Er kommt zu sich« oder »Na, wie geht’s, guter Mann?« oder »Der Krankenwagen muß jeden Augenblick kommen.«

Herr im Himmel! dachte Digory. Mir kommt es so vor, als habe das ganze Abenteuer überhaupt keine Zeit in Anspruch genommen.

Fast alle suchten verwirrt nach der Hexe und dem Pferd. Keiner achtete auf die Kinder, denn keiner hatte sie verschwinden oder wieder auftauchen sehen. Onkel Andrew hingegen konnte man sowieso nicht erkennen, so wie seine Kleider aussahen und mit all dem Honig auf seinem Gesicht. Glücklicherweise war die Haustür offen, denn dort stand noch immer das Dienstmädchen und schaute sich den Spektakel an. Also konnten die Kinder Onkel Andrew ins Haus schaffen, ohne daß irgendeiner irgendwelche Fragen stellte.

Onkel Andrew rannte wie der Blitz die Treppe hinauf. Zuerst befürchteten sie, er sei auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer und wolle die restlichen Ringe verstecken. Aber da hätten sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Er hatte nur die Flasche im Sinn, die in seinem Schrank stand, und er verschwand sofort in seinem Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Als er wieder herauskam – was eine Ewigkeit dauerte –, hatte er seinen Bademantel angezogen und ging schnurstracks auf das Badezimmer zu.

»Kannst du die anderen Ringe holen, Polly?« fragte Digory. »Ich will zu meiner Mutter.«

»Klar. Bis später«, sagte Polly und polterte die Treppe zum Dachboden hinauf.

Digory nahm sich eine Minute Zeit, bis er verschnauft hatte, dann ging er leise ins Zimmer seiner Mutter. Und da lag sie, so wie er sie schon oft gesehen hatte, mit Kissen im Rücken und mit einem so dünnen, blassen Gesicht, daß man fast weinen mußte, wenn man sie anschaute. Digory nahm den Lebensapfel aus der Tasche.

Und so wie Jadis, die Hexe, hier in unserer Welt ganz anders ausgesehen hatte als in ihrer eigenen, so sah auch dieser Apfel vom Hügelgarten hier bei uns völlig anders aus. Natürlich gab es alle möglichen bunten Dinge im Zimmer: den bunten Überwurf auf dem Bett, die Tapete und Mutters hübsches hellblaues Bettjäckchen. Doch all das schien zu verblassen, als Digory den Apfel aus der Tasche nahm, und an der Decke tanzten plötzlich wundersame Lichter, die von dem Apfel herrührten. Es lohnte nicht mehr, irgend etwas anderes zu betrachten, ja man hatte auch gar keine Lust dazu. Und der Geruch des Lebensapfels war so, als stünde eines der Fenster des Zimmers offen und führe geradewegs in den Himmel.

»Oh! Ist der herrlich, mein Liebling!« sagte Digorys Mutter.

»Wirst du ihn essen? Bitte!« sagte Digory.

»Ich weiß nicht, was der Arzt dazu sagen würde«, antwortete sie. »Aber – ich meine fast, er könnte mir guttun.«

Digory schälte und zerteilte den Apfel, und dann gab er ihr eine Apfelspalte nach der anderen. Und sobald sie alles aufgegessen hatte, lächelte sie, ihr Kopf sank aufs Kissen zurück, und sie schlief ein. Sie versank in einen natürlichen, sanften Schlaf, ganz ohne diese abscheulichen Medikamente. Und das war genau das, was ihr am meisten fehlte. Digory sah auch, daß sich ihr Gesicht ein kleines bißchen verändert hatte. Er beugte sich zu ihr hinunter, küßte sie sanft und schlich mit klopfendem Herzen aus dem Zimmer. Das Kerngehäuse des Apfels nahm er mit.

Jedesmal, wenn er an diesem Tag die Dinge anschaute, die ihn umgaben, und feststellen mußte, wie alltäglich alles aussah – ganz und gar ohne jegliche Zauberkraft –, wagte er kaum, Hoffnung zu schöpfen. Doch sobald ihm Aslans Gesicht einfiel, kam auch seine Hoffnung zurück.

Am Abend begrub er das Kerngehäuse im Garten.

Am nächsten Morgen, als der Arzt zu seiner täglichen Visite kam, beugte sich Digory über das Treppengeländer und lauschte. Er hörte, wie der Arzt mit Tante Letty zusammen aus dem Zimmer seiner Mutter trat und sagte: »Miß Ketterley, das ist der außergewöhnlichste Fall in meiner ganzen medizinischen Laufbahn. Es ist – es ist wie ein Wunder. Zu dem kleinen Jungen würde ich allerdings noch nichts sagen; wir wollen ihm keine falsche Hoffnung machen. Aber meiner Meinung nach…«

Dann wurde seine Stimme so leise, daß Digory ihn nicht mehr verstehen konnte.

Später ging Digory hinunter in den Garten und stieß den mit Polly vereinbarten geheimen Pfiff aus.

»Wie war’s?« fragte Polly, die über die Mauer lugte.

»Ich meine mit deiner Mutter?«

»Ich glaube fast, daß alles gut werden wird«, sagte Digory. »Aber ich möchte lieber noch nicht darüber reden, wenn es dir recht ist. Was ist mit den Ringen?«

»Hier sind sie«, sagte Polly. »Keine Angst, ich hab’ Handschuhe an. Wir wollen sie vergraben.«

»Ja. Ich habe die Stelle markiert, wo ich gestern das Kerngehäuse eingepflanzt habe.«

Polly kam über die Mauer geklettert, und gemeinsam gingen sie zu der Stelle hin. Aber wie sich herausstellte, hätte sich Digory seine Markierung sparen können, denn da wuchs schon etwas. Zwar wuchs es nicht so schnell wie die neuen Bäume in Narnia, die man richtiggehend hatte wachsen sehen; aber immerhin war schon etwas zu sehen.

Also holten sie eine kleine Schaufel und vergruben in einem Kreis drumherum alle Zauberringe – auch ihre eigenen.

Ungefähr nach einer Woche stand schon ziemlich fest, daß es Digorys Mutter besser ging. Zwei Wochen später war das ganze Haus völlig anders geworden. Tante Letty unternahm alles mögliche, um Digorys Mutter eine Freude zu machen: Fenster wurden geöffnet, Spitzenvorhänge wurden zurückgezogen, damit die Sonne hereinscheinen konnte, überall standen frische Blumen, es gab bessere Dinge zu essen, das alte Klavier wurde gestimmt, und Digorys Mutter begann wieder zu singen. Und sie spielte so ausgelassen mit Digory und Polly, daß Tante Letty sagte: »Ich muß schon sagen, Mabel, du bist das größte Kind von den dreien.«

Wenn irgend etwas schiefgeht im Leben, dann wird es eine Zeitlang meistens schlimmer und schlimmer. Aber wenn die Dinge erst einmal anfangen, gut zu laufen, dann werden sie oft immer besser und besser. Nach ungefähr sechs herrlichen Wochen kam ein langer Brief von Digorys Vater aus Indien, und dieser Brief enthielt sehr gute Nachrichten. Der alte Großonkel Kirke war gestorben, was offensichtlich bedeutete, daß Vater jetzt sehr reich war. Er wollte in den Ruhestand treten und für immer nach Hause kommen. Das riesengroße Haus auf dem Land, von dem Digory schon viel gehört, das er aber nie gesehen hatte, sollte jetzt ihr Zuhause sein. Alte Rüstungen gab es dort, Stallungen, Hundezwinger, einen Fluß, einen Park, Gewächshäuser, Treibhäuser mit Weinreben, Wälder und Berge dahinter. Digory war ganz sicher, von nun an würden sie alle bis zum Ende ihrer Tage glücklich und zufrieden leben. Aber vielleicht interessiert euch ja auch, was sonst noch alles geschah.

Polly und Digory blieben immer gute Freunde, und fast jedesmal verbrachte Polly ihre Ferien mit Digory zusammen in diesem wunderschönen Haus auf dem Land.

Dort lernte sie auch reiten und schwimmen, melken, backen und klettern.

Die Tiere in Narnia lebten glücklich und in Frieden, und viele Jahrhunderte lang kam weder die Hexe noch ein anderer Feind und störte sie in ihrem schönen Land. König Frank, Königin Helen und ihre Kinder lebten ebenfalls glücklich und zufrieden, und ihr zweiter Sohn wurde der König von Archenland. Die Jungen heirateten Nymphen, die Mädchen Wald- und Flußgötter. Die Laterne, die Jadis aus Versehen gepflanzt hatte, leuchtete bei Tag und bei Nacht, und so wurde dieser Wald, in dem sie stand, Laternendickicht genannt. Und als viele Jahre später ein anderes Mädchen aus unserer Welt nach Narnia kam – es war eine Winternacht und es schneite –, da brannte das Licht noch immer. Und auf gewisse Art und Weise hatte das Abenteuer, das dieses Mädchen erlebte, mit den Abenteuern in dieser Geschichte zu tun.

Das kam so zustande: Das Bäumchen, das aus dem Kerngehäuse wuchs, das Digory im Garten eingepflanzt hatte, gedieh prächtig und wuchs zu einem schönen Baum heran. Da er in der Erde unserer Welt wuchs, weit weg vom Klang der Stimme Aslans, weit weg von der jungen Luft Narnias, trug er keine Äpfel, die eine sterbende Frau beleben konnten, so wie das bei Digorys Mutter geschehen war. Aber seine Äpfel waren schöner als alle Äpfel Englands, und sehr gesund waren sie, auch wenn es keine ausgesprochenen Zauberäpfel waren. Aber tief drinnen im Saft des Baumes lebte noch immer die Erinnerung an diesen anderen Baum in Narnia, von dem er abstammte.

Manchmal rührte er sich geheimnisvoll, selbst wenn überhaupt kein Lüftchen wehte, und ich glaube, das geschah immer dann, wenn in Narnia ein Sturm blies. Dann bebte der Baum, weil im gleichen Augenblick der narnianische Baum vom Sturm gepeitscht wankte und schwankte. Aber wie dem auch sei – später zeigte sich, daß in seinem Holz noch immer ein Zauber ruhte. Denn als Digory schon ein berühmter, gebildeter Mann war, ein Professor, der viel auf Reisen ging, und ihm das alte Haus der Ketterleys gehörte, da tobte eines Tages ein schlimmer Sturm über den ganzen Süden Englands hinweg, und dieser Sturm entwurzelte den Baum. Digory brachte es nicht übers Herz, ihn einfach zu Feuerholz zu zersägen, also ließ er einen Schrank daraus bauen, den er in sein großes Haus auf dem Land stellte. Und obwohl er die Zauberkräfte des Schranks nicht selbst entdeckte, so tat es doch jemand anders. Das war der Anfang von dem ganzen Hin und Her zwischen Narnia und unserer Welt, worüber ihr in den anderen Narnia-Büchern nachlesen könnt.

Als Digory mit seiner Familie in das große Landhaus gezogen war, da hatten sie Onkel Andrew zu sich genommen. Digorys Vater sagte damals: »Wir müssen versuchen, den alten Knaben vor weiteren Schwierigkeiten zu bewahren. Außerdem ist es nicht gerecht, daß ihn die arme Letty ständig auf dem Hals haben soll.«

Bis zu seinem Tod versuchte Onkel Andrew nie mehr zu zaubern. Man hatte ihm seine Lektion erteilt, und im Alter wurde er angenehmer und weniger selbstsüchtig als jemals zuvor. Doch er freute sich immer, wenn er seine Besucher allein im Billardzimmer empfangen konnte.

Dann erzählte er ihnen Geschichten von einer geheim­nisvollen Dame, einer ausländischen Königin, mit der er durch London gefahren war. »Ein gräßliches Temperament hatte sie«, sagte er dann. »Aber ein verdammt schönes Weib war sie, ein verdammt schönes Weib.«


ENDE

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