EIN BAUM WIRD GEPFLANZT

»Gut gemacht!« sagte Aslan mit so mächtiger Stimme, daß die Erde bebte. Digory begriff, daß alle Narnianen diese Worte gehört hatten und daß dieses Ereignis jahrhundertelang, ja, vielleicht bis in alle Ewigkeit von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden würde. Doch es bestand keine Gefahr, daß er sich darauf etwas einbildete. Auf diese Idee kam er überhaupt nicht, jetzt, wo er Aslan gegenüberstand. Diesmal konnte er dem Löwen geradewegs in die Augen sehen. Seine Sorgen hatte er völlig vergessen, und er war ganz und gar zufrieden.

»Das hast du gut gemacht, Sohn Adams«, sagte der Löwe noch einmal. »Für diese Frucht hast du gehungert, gedürstet und geweint. Keine Hand außer der deinen soll den Samen des Baumes säen, der Narnia zum Schütze dienen soll. Wirf den Apfel zum Ufer des Flusses, wo die Erde weich ist!«

Digory tat, wie man ihm befahl. Alle waren so still, daß man hören konnte, wie der Apfel leise in den Schlamm plumpste.

»Gut geworfen«, sagte Aslan. »Und nun wollen wir zur Krönung von König Frank und Königin Helen schreiten.«

Erst jetzt entdeckten die Kinder die beiden. Sie trugen fremdartige, herrliche Gewänder. Vier Zwerge trugen die Schleppe des Königs, vier Flußnymphen die der Königin.

Ihre Häupter waren bloß, doch Helen hatte ihr Haar gelöst und sah jetzt viel schöner aus. Überhaupt wirkten die beiden inzwischen völlig anders, aber das lag weder am Haar noch an den Gewändern. Nein, ihre Gesichter hatten sich verändert. Vor allem das des Königs. Die ganze Schärfe, die Bauernschläue und die Streitbarkeit, die er sich als Londoner Droschkenkutscher angeeignet hatte, waren wie weggeblasen, und nun traten sein Mut und seine Güte klar zutage, Eigenschaften, die er schon immer besessen hatte. Vielleicht lag das an der Luft dieser jungen Welt, vielleicht auch an den Gesprächen mit Aslan, vielleicht auch an beidem.

»Auf mein Wort!« flüsterte das Pferd Polly zu. »Mein ehemaliger Herr hat sich auch sehr verändert! Ein richtiger Herr ist er geworden.«

»Ja, aber puste mir nicht so ins Ohr!« erwiderte Polly.

»Das kitzelt.«

»Nun«, sagte Aslan. »Seid so gut und löst dieses Baumgewirr, das ihr hier zuwege gebracht habt, damit wir sehen, was es da zu finden gibt.«

Jetzt sah Digory, daß die Äste von vier dicht beeinanderstehenden Bäumen fest miteinander verwoben oder mit Ruten zusammengebunden waren. Das Gebilde sah fast aus wie ein Käfig. Zwei Elefanten machten sich mit ihren Rüsseln an die Arbeit, ein paar Zwerge mit ihren kleinen Äxten, und schon bald war es geschafft. Das Gewirr löste sich und gab den Blick auf drei Gegenstände frei. Zwei kleine Bäumchen standen da, das eine schien aus Gold, das andere aus Silber zu bestehen. Der dritte Gegenstand war kein Baum, sondern eine jämmerliche Gestalt, die mit schlammverschmierten Kleidern dazwi­schen saß.

»Ach, du liebe Güte!« flüsterte Digory. »Onkel Andrew!«

Um all das zu erklären, müssen wir ein wenig zurückgehen. Wie ihr euch sicher erinnert, hatten ja die Tiere versucht, Onkel Andrew einzupflanzen und zu begießen.

Als der Wasserguß ihn wieder zur Besinnung brachte, da fand er sich klatschnaß, bis zu den Schenkeln in Erde eingebettet, die sich rasch zu Schlamm verwandelte, und von mehr Tieren umgeben, als er sich jemals hatte träumen lassen. Es ist also vielleicht nicht weiter verwunderlich, daß er zu schreien und zu heulen begann. Einerseits war das ja ganz gut so, denn dadurch konnte er wenigstens jeden – sogar das Stachelschwein – davon überzeugen, daß er ein lebendiges Wesen war. Also buddelten sie ihn wieder aus. Seine Hosen waren inzwischen in einem fürchterlichen Zustand. Sobald er die Beine frei hatte, wollte er fliehen, doch dem machte der Elefant blitzschnell ein Ende. Er schlang ihm nämlich einfach den Rüssel um die Taille. Inzwischen hatten sich alle geeinigt, man müsse dieses seltsame Wesen gut aufbewahren, bis Aslan kam, es anschaute und ihnen sagte, was man damit anfangen solle. Also bauten sie so eine Art Käfig um Onkel Andrew herum. Und dann boten sie ihm alles mögliche zu essen an.

Der Esel sammelte riesige Büschel mit Disteln und warf sie zu Onkel Andrew hinein, aber daraus schien er sich nichts zu machen. Die Eichhörnchen bombardierten ihn mit Nüssen, doch er hielt nur die Hände vors Gesicht und versuchte den Geschossen auszuweichen. Einige Vögel flogen hin und her und ließen emsig Würmer auf ihn fallen. Der Bär gab sich besonders große Mühe. Im Lauf des Nachmittags fand er ein Nest mit wilden Bienen, und anstatt es selbst zu verspeisen (was er liebend gern getan hätte), brachte es diese edle Kreatur zu Onkel Andrew.

Doch das war der größte Mißerfolg. Der Bär warf das klebrige Ding oben in den Käfig hinein, und unglücklicherweise traf es Onkel Andrew direkt ins Gesicht, wobei noch zu erwähnen ist, daß einige der Bienen durchaus noch am Leben waren. Der Bär, dem es ganz und gar nichts ausgemacht hätte, von Honigwaben ins Gesicht getroffen zu werden, konnte nicht verstehen, warum Onkel Andrew zurücktaumelte, ausrutschte und sich hinsetzte zu seinem großen Pech genau in einen Haufen Disteln.

»Immerhin ist ein Teil des Honigs in den Mund dieser Kreatur geraten, was ihr bestimmt gutgetan hat«, meinte das Stachelschwein. Inzwischen mochten sie dieses komische Haustier alle recht gern, und sie hofften, Aslan möge ihnen erlauben, es zu behalten. Die Klügeren unter ihnen waren jetzt auch fest davon überzeugt, daß zumindest einige der Laute, die aus Onkel Andrews Mund kamen, einen Sinn ergaben. Sie tauften ihn Brandy, denn diesen Laut stieß er am häufigsten aus.

Schließlich und endlich mußten sie ihn jedoch in seinem Käfig zurücklassen, weil es dunkel wurde. Aslan war den ganzen Tag damit beschäftigt, den neuen König und die Königin einzuweisen und andere wichtige Dinge zu erledigen, und so konnte er sich um den »armen alten Brandy« nicht kümmern. Bei all den Nüssen, Birnen, Äpfeln und Bananen, die man ihm vorgeworfen hatte, speiste er an diesem Abend gar nicht mal so schlecht, aber man kann nicht gerade behaupten, er hätte eine gemütliche Nacht verbracht.

»Holt diese Kreatur heraus!« befahl Aslan jetzt. Einer der Elefanten hob Onkel Andrew mit dem Rüssel heraus und legte ihn Aslan zu Füßen. Onkel Andrew hatte solche Angst, daß er sich nicht zu rühren wagte.

»Bitte, Aslan«, sagte Polly. »Könntest du etwas zu ihm sagen, damit er keine so schrecklich Angst mehr hat? Und etwas, das ihn davon abhält, jemals wieder hierher zu kommen?«

»Meinst du, das würde er wollen?« fragte Aslan.

»Tja«, meinte Polly. »Vielleicht schickt er irgendeinen anderen. Er war dermaßen begeistert, weil aus der Later­nen­stange ein Laternenbaum gewachsen ist, und er meint…«

»Er denkt närrisches Zeug, Kind«, entgegnete Aslan.

»Ein paar Tage lang wird diese neue Welt vor Leben strotzen, weil das Lied, mit dem ich sie ins Leben gerufen habe, noch immer in der Luft hängt und in der Erde rumort. Doch das wird nicht lange anhalten. Nur kann ich das dem alten Sünder nicht sagen, genausowenig wie ich ihn trösten kann. Er selbst hat dafür gesorgt, daß es ihm unmöglich ist, meine Stimme zu hören. Redete ich mit ihm, so hörte er nur Geknurre und Gebrüll. Oh, Söhne Adams, wie klug wehrt ihr euch gegen alles, was euch vielleicht guttäte! Doch ich will ihm das einzige Geschenk machen, das er noch entgegennehmen kann.«

Traurig beugte er sein riesiges Haupt hinunter und blies dem entsetzten Zauberer ins Gesicht. »Schlaf«, sagte er. »Schlaf, und vergiß ein paar Stunden lang das Ungemach, das du dir selbst eingebrockt hast.« Augenblicklich drehte Onkel Andrew sich um, schloß die Augen und begann friedlich zu atmen.

»Tragt ihn beiseite und legt ihn nieder!« befahl Aslan.

»So, Zwerge! Nun zeigt uns eure Schmiedekunst! Laßt mich sehen, wie ihr zwei Kronen schmiedet – eine für euren König, eine für eure Königin.«

Unzählige Zwerge eilten zum goldenen Baum. Und bevor man sich versah, hatten sie alle Blätter abgestreift und einige Äste abgebrochen. Jetzt konnten die Kinder sehen, daß er nicht nur golden aussah – nein, er bestand aus richtigem weichem Gold. Natürlich war er aus den Goldmünzen gewachsen, die aus Onkel Andrews Tasche gefallen waren, als man ihn auf den Kopf gestellt hatte, geradeso wie der Silberbaum aus den Silbermünzen gewachsen war. Plötzlich schienen aus dem Nichts Berge von trockenem Brennholz, ein kleiner Amboß, Hämmer, Zangen und Blasebälge aufzutauchen. Und schon einen Augenblick später loderte das Feuer, schnauften die Blasebälge, schmolz das Gold, hallten die Hämmer. Man konnte sehen, wie sehr die Zwerge ihre Arbeit liebten. Zwei Maulwürfe, die auf Aslans Geheiß schon zuvor gegraben hatten, was sowieso ihre Lieblingsbeschäftigung war, kippten ein Häufchen Edelsteine vor den Zwergen aus. Unter den geschickten Fingern dieser kleinen Schmie­de entstanden zwei Kronen – keine solchen häßlichen, klobigen Dinger wie die europäischen Kronen heutzutage, sondern leichte, zierliche und wunderschön geformte Reife, die man wirklich tragen konnte und die denjenigen, der sie trug, auch wirklich hübscher machten. Die Krone des Königs war mit Rubinen besetzt; die der Königin mit Smaragden.

Als man die Kronen im Fluß abgekühlt hatte, bat Aslan den Kutscher und seine Frau, sich auf die Erde zu knien.

Dann setzte er ihnen die Kronen auf und sagte: »Erhebt euch, König und Königin von Narnia, Vater und Mutter vieler Könige, die über Narnia, die Inseln und Archenland regieren werden. Seid gerecht, gnädig und mutig. Mein Segen sei mit euch.«

Alle jubelten oder bellten oder wieherten oder trompeteten oder schlugen mit den Flügeln. Feierlich stand das Königspaar da, ein klein wenig verlegen auch, doch das machte nichts; dadurch wirkten sie nur noch edler. Und während Digory noch jubelte, hörte er neben sich die tiefe Stimme des Löwen: »Schaut!«

Alle wandten die Köpfe, und alle erschauerten vor Staunen und vor Entzücken. Ein kleines Stück entfernt überragte ein Baum ihre Köpfe, der zuvor ganz gewiß noch nicht dagestanden hatte. Ganz lautlos mußte er gewachsen sein, während sie alle mit der Krönung beschäftigt waren, und so rasch, wie man eine Flagge am Mast emporzieht. Das ausgebreitete Astwerk schien eher ein Licht zu werfen als einen Schatten, und unter jedem Blatt lugten silberne Äpfel hervor, als wären es Sterne. Doch nicht der Anblick, sondern der Duft war es, der sie alle hatte erschauern lassen. Einen Augenblick lang konnte man kaum mehr an etwas anderes denken.

»Sohn Adams«, sagte Aslan. »Du hast gut gesät. Und ihr, Narnianen, eure wichtigste Aufgabe sei es, diesen Baum zu bewachen, denn er ist euer Schild. Die Hexe, von der ich zu euch sprach, ist weit in den Norden dieser Welt geflüchtet; dort wird sie leben und sich mit schwarzer Magie stärken. Doch solange der Baum wächst und gedeiht, wird sie nie nach Narnia herunterkommen. Sie wird es nicht wagen, sich dem Baum mehr als auf hundert Meilen zu nähern, denn sein Geruch, der für euch Freude und Leben und Gesundheit bedeutet, birgt für sie Entsetzen und Verzweiflung.«

Alle starrten feierlich auf den Baum, als Aslan plötzlich den Kopf herumwirbelte, wobei seine Mähne goldene Lichtstrahlen nach allen Seiten versprühte. Er richtete seine Augen auf die beiden Kinder. »Was ist, Kinder?« fragte er, denn er hatte sie dabei erwischt, wie sie miteinander flüsterten und sich gegenseitig stupsten.

»Oh – Aslan, Herr«, sagte Digory und wurde rot. »Ich vergaß dir zu sagen, daß die Hexe schon einen Apfel gegessen hat. So einen wie den, aus dem der Baum gewachsen ist.« Er hatte nicht alles gesagt, was ihm durch den Kopf schoß, doch Polly kam ihm sofort zu Hilfe. Digory hatte immer mehr Angst als sie, sich zu blamieren.

»Wir dachten deshalb, daß da vielleicht ein Fehler vorliegt«, sagte sie, »und daß ihr der Geruch dieser Äpfel nichts ausmachen kann.«

»Warum denkst du das, Tochter Evas?« fragte der Löwe.

»Na ja, sie hat doch einen gegessen.«

»Kind«, entgegnete er, »gerade aus diesem Grund graut ihr vor all den übrigen Äpfeln. So geschieht es mit jenen, die zur falschen Zeit und auf die falsche Art Früchte pflücken und essen. Die Frucht ist gut, doch anschließend ist sie ihnen für immer und ewig widerlich.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte Polly. »Und vermutlich wirkt er auch nicht bei ihr, weil sie unrecht tat, ihn zu nehmen. Sie bleibt also nicht für immer jung, oder?«

»Doch«, sagte Aslan und schüttelte den Kopf. »Doch. Die Dinge wirken immer so, wie es in ihrer Natur liegt. Sie hat sich einen Herzenswunsch erfüllt; sie verfügt über nicht nachlassende Kräfte, und ihre Tage werden endlos währen, wie die einer Göttin. Doch ein immerwährendes Leben mit bösem Herzen bedeutet immerwährendes Elend, und sie fängt schon an, dies zu begreifen. Alle erreichen, was sie wollen: doch nicht immer gefällt es ihnen auch.«

»Ich hab’ fast auch einen gegessen«, sagte Digory.

»Wäre ich…«

»Ja, mein Kind«, sagte Aslan. »Denn die Frucht wirkt immer – sie muß wirken –, aber für jene, die sie aus eigenem Willen pflücken, bewirkt sie nichts Gutes. Hätte irgendein Narniane einen Apfel gestohlen und ihn hier zum Schutze Narnias eingepflanzt, ohne dazu beauftragt worden zu sein, so hätte der Apfel Narnia tatsächlich beschützt. Aber der Schutz hätte darin bestanden, daß Narnia – genau wie Charn – ein starkes und grausames Imperium geworden wäre und nicht das freundliche Land, das ich geplant hatte. Die Hexe wollte dich auch noch zu etwas anderem überreden, mein Sohn, nicht wahr?«

»Ja, Aslan. Sie wollte, daß ich meiner Mutter einen Apfel bringe.«

»Wisse denn, der Apfel hätte sie geheilt; doch weder zu deiner noch zu ihrer Freude. Der Tag wäre gekommen, wo ihr alle beide gesagt hättet, es wäre besser gewesen, an dieser Krankheit zu sterben.«

Digory konnte nichts sagen, denn die Tränen preßten ihm die Kehle zu, und er gab alle Hoffnung auf, das Leben seiner Mutter zu retten. Doch gleichzeitig war ihm klar, daß der Löwe wußte, was geschehen wäre, hätte Digory ihr einen Apfel gebracht. Und klar war ihm auch, daß es Dinge gab, die noch schrecklicher waren, als einen geliebten Menschen zu verlieren, weil er stirbt. Doch nun begann Aslan wieder zu reden, und fast flüsternd sagte er: »Genau das wäre passiert, mein Junge, mit einem gestohlenen Apfel. Doch nun wird das nicht geschehen. Was ich dir jetzt gebe, wird Freude bringen. In eurer Welt wird er kein endloses Leben bringen, aber Heilung. Geh! Pflück ihr einen Apfel vom Baum.«

Einen Augenblick lang konnte es Digory kaum glauben. Ihm war, als hätte sich die ganze Welt von innen nach außen und von oben nach unten gekehrt. Und dann ging er wie im Traum hinüber zum Baum, während ihm der König und die Königin und alle anderen zujubelten.

Er pflückte einen Apfel und steckte ihn in die Tasche.

Dann kehrte er zu Aslan zurück.

»Bitte, Aslan«, sagte er. »Dürfen wir jetzt nach Hause?«

Er hatte vergessen, sich zu bedanken, aber dankbar war er, und das wußte Aslan auch so.


Загрузка...