7.

»Kannst du aufstehen?«

Skar mußte die Frage zweimal stellen, ehe Titch überhaupt darauf reagierte. Der Quorrl versuchte es, aber sein rechtes Bein knickte unter dem Gewicht seines Körpers weg. Er fiel so schwer auf das Knie zurück, daß er vor Schmerz aufstöhnte.

Skar unterdrückte den Impuls, die Hände auszustrecken, um ihm zu helfen. Der Quorrl war viel zu schwer, als daß er ihn hochheben könnte; und er befand sich in einem Zustand, in dem er vollkommen unberechenbar und wahrscheinlich gefährlich war, auch für ihn. Reglos sah er zu, wie Titch erneut versuchte, auf die Beine zu kommen und sich schließlich an den Überresten des zerbrochenen Tisches in die Höhe zog. Er wankte, aber er stand aus eigener Kraft. Sein Blick irrte wild durch den Raum, huschte hierhin und dorthin, huschte über Skars Gesicht und blieb schließlich an Ennarts Leichnam hängen.

»Du hast ihn ... getötet«, murmelte er.

Skar war nicht einmal sicher, daß es so gewesen war. Der Ssirhaa lag mit dem Gesicht nach unten da, aber er hatte den Ausdruck tödlichen Entsetzens nicht vergessen, der sich in die Züge des Quorrl-Gottes eingegraben hatte, als er starb. Vielleicht war es nicht einmal seine Klinge gewesen, die ihn getötet hatte, sondern der bloße Anblick des Daij-Djan.

Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, Titch zu erzählen, was wirklich passiert war, verscheuchte diesen Gedanken dann aber wieder. Irgendwann einmal würde er es tun. Vielleicht. »Wirst du gehen können?« fragte er.

»Gehen?« Titchs Blick flackerte. Etwas wie Wahnsinn starrte Skar an, als er in seine Augen sah. »Aber wohin denn?« Seine Hände öffneten und schlossen sich in unablässigen, kraftvollen Bewegungen. Er zitterte am ganzen Leib. Der Quorrl stand kurz vor dem Zusammenbruch, nicht nur körperlich.

Skar deutete auf den toten Ssirhaa, dann zum Fenster. »Zuerst einmal raus hier, egal wohin. Ehe sie merken, was passiert ist.« Titch hörte seine Worte gar nicht. Seine Hände bewegten sich noch immer, und das Zittern seiner Glieder war stärker geworden. »Er ... war kein Gott«, flüsterte er. Er starrte Skar an. Sein Blick war wie ein stummer Schrei. »Sie ... sie haben uns belogen, Skar. Sie haben uns all die Zeit über belogen. Sie ... sie wollen uns vernichten, so wie euch.«

Skar sah fast ängstlich zur Tür. Titch war nur wenige Augenblicke bewußtlos gewesen, aber jede Sekunde war unendlich kostbar. Bisher schien niemand gemerkt zu haben, was geschehen war, aber irgendwann würde Ian oder einer seiner Brüder zurückkehren. Wenn sie überhaupt eine Chance hatten, diesen Turm lebendig zu verlassen, dann nur, solange niemand von Ennarts Tod und ihrer Flucht wußte.

»Sie sind nicht unsere Götter«, stammelte Titch.

»Ich fürchte, wir werden niemals Gelegenheit haben, das herauszufinden, wenn wir noch lange hier herumstehen«, antwortete Skar nervös. Er sah den Quorrl abschätzend an, kam zu dem Ergebnis, daß Titch im Moment wohl eher eine Gefahr als eine Hilfe darstellte, und wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung zur Tür.

»Du wartest hier auf mich«, sagte er. »Ich hole Kiina.«

»Warte, Satai.« Titch streckte die Hand nach ihm aus. Trotz seiner ungeheuren Größe und Kraft wirkte die Bewegung hilflos, flehend. Skar blieb stehen. In Titchs Blick rangen noch immer Wahnsinn und Schmerz miteinander, aber er war trotzdem klarer als noch vor Augenblicken. »Du ... du hast keine Chance, allein«, sagte er. »Sie werden dich töten.« Er ließ den Arm sinken, richtete sich vollends auf und fuhr sich mit dem Handrücken durch das Gesicht. An seinen Fingern klebte Blut, als er die Hand wieder senkte, und er humpelte sichtbar. Aber Titch war schon in erbärmlicher Verfassung gewesen, als sie ihn hergebracht hatten. Vielleicht würde sein Zustand zumindest einem flüchtigen Beobachter nicht sofort auffallen.

»Weißt du, wo das Mädchen ist?«

Skar nickte, und Titch machte eine auffordernde Handbewegung zur Tür. Dicht hintereinander traten sie auf den still daliegenden Gang hinaus, wobei Titch eine seiner riesigen Pranken schwer auf Skars Schultern legte und ihn mehr vor sich herschob, als er ihn führte. Wer immer ihnen zufällig begegnen mochte, mußte ihn für einen Gefangenen Titchs halten. Skar bewunderte insgeheim die Umsicht und Kaltblütigkeit des Quorrl, doch ihm wurde auch fast im gleichen Augenblick klar, daß es in Wahrheit das genaue Gegenteil war: Titch mußte Höllenqualen erleiden. Seine Ruhe war in Wirklichkeit nichts als ein verzweifelter Versuch, sich an Äußerlichkeiten zu klammern, zu tun, statt zu denken.

Sie erreichten Kiinas Zimmer, ohne einem anderen Menschen zu begegnen. Der Turm schien ausgestorben zu sein. Die unheimliche Stille, die hier oben herrschte, erschien Skar doppelt bedrohlich und furchteinflößend. Und ein kleines bißchen alarmierte sie ihn auch. Er konnte sich nicht vorstellen, daß niemand Ennarts Tod bemerkt haben sollte. Der Ssirhaa war viel mehr als nur der Beherrscher dieses Turms gewesen. Sie hatten nicht sehr viel Zeit.

Auch die Tür von Kiinas Zimmer teilte sich vor ihnen und glitt wie von Geisterhand bewegt auf, als sie sich ihr näherten. Der dahinterliegende Raum war von hellem Sonnenlicht durchflutet, das Skar im ersten Augenblick blendete. Er erkannte nur Schatten, von denen zwei übergroß und fast mißgestaltet wirkten: Ian und der zweite Zauberpriester. Er blinzelte, hob instinktiv die Hand über die Augen und stolperte mit einem ungeschickten Schritt durch die Tür, als Titch ihm einen Stoß versetzte. Obwohl sich seine Augen noch immer nicht völlig auf das ungewohnte Licht eingestellt hatten, erkannte er, daß sich außer den beiden Zauberpriestern nur Anschi und Kiina im Zimmer aufhielten.

Es ging alles unglaublich schnell; und beinahe zu leicht. Skar erkannte Ian in einem der unförmigen Schatten, taumelte in einem perfekt geschauspielertem Stolpern auf ihn zu und griff scheinbar blindlings um sich, wie um sein Gleichgewicht wiederzufinden, Ian schien im letzten Augenblick etwas zu spüren, denn aus dem Haß auf seinem Gesicht wurde Schrecken, und er versuchte sogar noch, die Waffe zu heben. Aber seine Bewegung war viel zu langsam. Skar packte sein Gelenk, verdrehte es mit einem einzigen kraftvollen Ruck und schlug dem Zauberpriester die Handkante gegen den Adamsapfel, als er die Waffe fallen ließ. Hinter ihm erscholl ein gurgelnder, abgehackter Schrei, als Titch sich auf den zweiten Zauberpriester warf und ihn blitzschnell ausschaltete. Die beiden Männer lagen reglos am Boden, noch ehe sich die Tür mit einem leisen Zischen hinter Titch wieder schloß.

Skar fuhr herum und blieb mitten in der Bewegung stehen, als er sah, daß Anschi zum Fenster zurückgewichen war und ihr Schwert gezogen hatte. Ein leises Gefühl von Verärgerung machte sich in ihm breit. Es war seine eigene Waffe, die die Errish trug. Sein Tschekal. Er trat einen weiteren Schritt auf Anschi zu und streckte fordernd die Hand aus. Die Errish packte den Schwertgriff mit beiden Händen, spreizte die Beine und hob die Waffe ein wenig höher. Ihr Gesicht verriet keine Angst, nur Konzentration.

»Versuch es nicht«, sagte Skar.

Anschi fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und versuchte zur Seite auszuweichen und gleichzeitig Skar und Titch im Auge zu behalten. Ihre Finger spielten nervös am Griff des Tschekal. Sie hielt die Waffe mit aller Kraft, erkannte Skar. Ihre Armmuskeln waren bis zum Zerreißen angespannt, was sie im Ernstfall den Sieg kosten würde. Das Satai-Schwert war viel zu leicht, um es wie einen zentnerschweren Bihänder zu führen. Aber er hatte nicht vor, mit Anschi zu kämpfen.

»Tu es nicht«, sagte er noch einmal. »Selbst wenn du einen von uns besiegen würdest, würde der andere dich töten.« Er machte einen weiteren Schritt auf die Errish zu und blieb wieder stehen. Abermals streckte er fordernd die Hand aus.

Anschis Bewegungen wurden fahriger. Sie machte einen Schritt nach links, blieb wieder stehen, als Titch sich hinter Skar in die gleiche Richtung bewegte und ihr den Weg abschnitt, und sah sich mit kleinen, nervösen Gesten um. Dann senkte sie mit einem Ruck die Arme, warf Skar das Schwert vor die Füße und richtete sich auf.

»Warum sollte ich dir die Genugtuung bereiten, mich zu besiegen? Ihr kommt sowieso nicht weit, ihr Narren.«

Skar bückte sich nach seinem Tschekal, schob es in den Gürtel und wandte sich zu Kiina um. Das Mädchen hatte sich nicht gerührt, seit sie hereingekommen waren. Sie saß in dem Stuhl unter dem Fenster, in dem Skar sie auch das letzte Mal gesehen hatte, und in ihren Augen war die gleiche Leere wie am Morgen. Sie war wach, und ihr Blick folgte Skar, als er auf sie zutrat, aber es war nicht der Blick eines Menschen, der wirklich begriff, was um ihn herum vorging.

Skar beugte sich über sie, nahm ihr Gesicht in beide Hände und zwang sie, ihm direkt in die Augen zu sehen. Auf Kiinas Gesicht erschien ein mattes, teilnahmsloses Lächeln. »Skar?« fragte sie. »Du bist zurück?«

Wütend richtete sich Skar wieder auf und fuhr zu Anschi herum. »Was habt ihr mit ihr gemacht?« fragte er.

Anschi schürzte herausfordernd die Lippen. »Nichts«, sagte sie. »Sie ... schläft, das ist alles.«

»Dann weck sie auf. Sofort.«

»Tu es doch selbst, du großer Held!« sagte Anschi trotzig. »Du...«

Skar war mit einem einzigen Schritt bei ihr, riß sie herum und verdrehte ihren Arm. »Weck sie auf«, sagte er noch einmal, »oder ich breche dir den Arm!«

Anschi keuchte und schlug wild mit der freien Hand um sich, aber Skar ließ ihren Arm nicht los, sondern verstärkte im Gegenteil den Druck auf ihr Ellbogengelenk noch mehr, bis die Errish vor Schmerz stöhnte und ihren Widerstand aufgab. Skar versetzte ihr einen Stoß, der sie vor Kiinas Stuhl auf die Knie fallen ließ, und hob drohend die Hand. »Weck sie auf!«

Zwei, drei Sekunden lang blieb die Errish einfach reglos auf den Knien hocken und starrte haßerfüllt zu ihm hoch, dann erlosch ihr Widerstand. Sie stand umständlich auf, trat an ein kleines Tischchen neben dem Fenster und nahm eine silberne Ampulle von der Größe ihres Zeigefingers zur Hand. Sie öffnete sie, schwenkte das Röhrchen ein paarmal unter Kiinas Gesicht hin und her und verschraubte den Deckel sorgfältig wieder, als Kiina unruhig den Kopf zu bewegen begann.

»Ein Riechfläschchen?« fragte Skar überrascht.

»Was hast du erwartet?« Anschi machte ein abfälliges Geräusch. »Einen Zauberspruch?«

Skar schluckte die ärgerliche Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag, und beugte sich statt dessen abermals über Kiina. Die Augen des Mädchens waren noch immer verschleiert, aber ihr Blick begann sich zu klären. Und mit dem Erkennen kehrte die Angst in ihre Augen zurück.

»Skar«, murmelte sie verstört. »Was ist...«

»Nicht jetzt«, unterbrach sie Skar. »Wir müssen verschwinden, Kiina. Wir fliehen.«

»Fliehen?«

»Fliehen?« wiederholte auch Anschi überrascht. »Du mußt verrückt geworden sein, Satai. Du kommst nicht einmal aus diesem Zimmer heraus, geschweige denn aus dem Turm.« Skar beachtete sie nicht. Vorsichtig ergriff er Kiinas Hand, half ihr, sich aus dem Sessel zu erheben und überzeugte sich davon, daß sie aus eigener Kraft stehen konnte, ehe er sie losließ. Auf dem Boden regte sich Ian stöhnend. Titch knurrte drohend und machte einen Schritt in seine Richtung, aber Skar winkte rasch ab, kniete selbst neben dem Zauberpriester nieder und drehte ihn grob auf den Rücken. Ian versuchte instinktiv, seine Hände beiseite zu schlagen, aber seine Bewegungen waren schwach und ziellos. Er atmete keuchend und ungleichmäßig, und Skar begriff erschrocken, daß er ihn um ein Haar getötet hätte. Er hatte das nicht gewollt. Sie wollten fliehen, kein Blutbad anrichten. Und außerdem brauchten sie Ian.

»Sucht alles zusammen, was wir gebrauchen können«, sagte er, an Titch und Kiina gewandt. »Warme Kleider, Decken ... und vor allem Wasser. Beeilt euch.«

»Ihr seid ja wahnsinnig, ihr beiden«, sagte Anschi. »Ihr glaubt doch nicht wirklich, daß ihr hier herauskommt?!«

Skar ignorierte auch diesen Einwurf. Er beugte sich tiefer über Ian, zog ihn an der Schulter in die Höhe und schlug ihm leicht mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Zauberpriester stöhnte, versuchte abermals die Hände zu heben und öffnete die Augen. »Verstehst du mich?« fragte Skar.

Ian antwortete nicht, aber in den Schmerz auf seinem Gesicht mischte sich Haß. Er war wach, und er hatte ihn erkannt. »Hör mir gut zu«, sagte Skar. »Ich habe nicht viel Zeit, mit dir zu diskutieren, Ian. Du wirst uns jetzt sagen, wie wir hier herauskommen. Dafür lasse ich dich am Leben. Wenn nicht, stirbst du.«

Ian versuchte zu antworten, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst; über die Lippen des Zauberpriesters kam nur ein ersticktes Röcheln. Skar stand auf, zerrte Ian mit einer ungeduldigen Bewegung in die Höhe und warf ihn in den Stuhl, in dem Kiina gesessen hatte.

»Wenn du nicht reden kannst, dann wirst du uns führen«, sagte Skar. »Und falls du vorhast, uns in eine Falle zu locken, dann vergiß das lieber. Wahrscheinlich würde es dir sogar gelingen, aber ich verspreche dir, daß wir noch Zeit finden, dich umzubringen.«

»Dann... tu es... doch«, röchelte Ian. Er hustete qualvoll, krümmte sich wie unter Schmerzen und schlug beide Hände gegen den Leib. Skar riß seinen Arm zurück, ehe seine Finger einen der zahllosen Knöpfe und Schalter auf seinem Gürtel berühren konnten.

»Versuch das nicht noch einmal«, sagte er drohend.

Tatsächlich ließ sich Ian gegen die Lehne des Sessels fallen und legte gehorsam die Hände auf die Armstützen. Aber seine Augen funkelten trotzig, als er zu Skar hochsah. »Bring... mich doch ... um, du ... Narr!« keuchte er. »Du erfährst nichts von mir.«

»Überlaß ihn mir«, verlangte Titch. »Ich bringe ihn zum Reden.«

Ians Gesicht verzerrte sich vor Angst. Trotzdem, dachte Skar, würde er nicht reden. Er hatte Angst vor dem, was Titch ihm antun könnte, aber sein Haß auf den Quorrl und ihn, Skar, war größer als seine Furcht. Resignierend schüttete er den Kopf. »Nein. Er wird nicht reden. Und wir haben auch gar keine Zeit, ihn zu verhören. Fessele ihn. Aber gründlich.«

»Ich weiß nicht, wie ihr es geschafft habt, die Wachen zu übertölpeln«, sagte Ian haßerfüllt. »Aber Ennart wird euch vernichten!«

»Das dürfte ihm ziemlich schwerfallen«, antwortete Skar. »Er ist tot.«

»Tot?« Ian versuchte zu lachen, aber seine Gesichtszüge entgleisten. Seine Hände schlossen sich so fest um die Armlehnen, daß das Holz knirschte. »Das ist nicht wahr!«

»Glaube es oder laß es sein«, sagte Skar achselzuckend. Er trat zurück, um Titch Platz zu machen, der mit den Streifen eines in Fetzen gerissenen Bettlakens kam, um Ian an den Stuhl zu binden. Während er es tat, drehte sich Skar wieder zu Kiina und Anschi um, um die Errish im Auge zu behalten. Kiinas Gesicht spiegelte auch jetzt nichts weiter als Verwirrung, aber auf Anschis Zügen hatte sich der gleiche Ausdruck ungläubigen Entsetzens breitgemacht wie auf denen des Zauberpriesters.

»Tot?« flüsterte sie. »Ihr habt ihn... getötet? Aber das ist unmöglich!«

»Nichts ist unmöglich«, antwortete Skar. Er beobachtete Anschi scharf, während er sprach. Die Errish war so erschrocken wie Ian, aber in die Fassungslosigkeit in ihrem Blick mischte sich noch etwas ... Erleichterung? dachte Skar verwirrt.

Vielleicht. Etwas von ihr, ein kleiner, aber ungebrochener Teil der Errish, war noch immer sie selbst. Ian und seine Brüder hatten vielleicht ihren Willen gebrochen, aber es war ihnen nicht gelungen, sie ganz zu einer Puppe zu machen.

»Du wirst uns hier herausbringen«, sagte er.

»Das kann sie gar nicht«, sagte Ian hämisch. »So wenig wie ihr oder ich. Nur Ennart selbst kann das Tor öffnen.«

»Er... er sagt die Wahrheit, Skar«, sagte Anschi unsicher. »Es gibt nur ein einziges Tor, unten auf der Nordseite der Festung. Nachdem die Quorrl uns angegriffen hatten, ließ Ennart es schließen. Und nur er selbst wußte, wie es wieder zu öffnen war.« Skar spürte, daß sie die Wahrheit sprach. Sie war gar nicht in der Verfassung, überzeugend zu lügen.

»Eure Flucht ist zu Ende, ihr Narren«, sagte Ian triumphierend. »Und wenn ihr Ennart wirklich getötet habt, dann werdet ihr euch wünschen, niemals geboren zu sein, das schwöre ich euch.« Er lachte böse. »Einen famosen Fluchtplan habt ihr euch ausgedacht, wirklich.«

Titch versetzte ihm einen Schlag mit der flachen Hand, der ihn halb bewußtlos im Stuhl zusammensacken ließ. Skar runzelte mißbilligend die Stirn, sagte aber nichts. Er war schon froh, daß Titch den Zauberpriester nicht kurzerhand erschlagen hatte. Und er war der Verzweiflung nahe, auch wenn er sich alle Mühe gab, das Kiina und Titch gegenüber nicht erkennen zu lassen. Ian hatte recht gehabt. Sie hatten nicht nur einen schlechten Fluchtplan, sie hatten überhaupt keinen Plan. Alles war viel zu schnell gegangen, als daß er bisher Zeit gehabt hätte, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Was nutzte es ihnen, den Ssirhaa besiegt zu haben, wenn sie keine Möglichkeit fanden, aus diesem verdammten Turm zu entkommen? Seine Wände waren hundertfünfzig Fuß hoch und glatt wie poliertes Glas. Sie müßten schon fliegen können, um ...

»Die Daktylen«, sagte er aufgeregt. »Wo sind Sie, Anschi?« Die Errish schwieg verbissen. Skar trat drohend auf sie zu und hob die Hand. Anschi fuhr zusammen, als hätte er sie bereits geschlagen, und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Ihr Blick glitt unstet zwischen Skar und Ian hin und her, und Skar konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Der suggestive Bann des Zauberpriesters war noch immer stark, aber sie hatte auch Angst. »Sie nutzen euch nichts«, sagte sie schließlich. »Die Startplattform wird bewacht. Niemand kann sie ohne Ennarts Erlaubnis betreten.«

»Die haben wir«, sagte Skar ruhig. Er zog sein Tschekal eine Handspanne weit aus der Scheide, so daß Anschi den blitzenden Stahl sehen konnte. »Siehst du? Und wenn es deine Schwestern sind, die die Tiere bewachen, dann solltest du sie davon überzeugen, uns gehen zu lassen. Es sei denn, dir liegt nicht viel an ihrem Leben.«

»Selbst wenn ich es täte!« widersprach Anschi erregt. »Ihr könnt sie nicht fliegen.«

»Ich kann es«, sagte Kiina.

Skar sah sie zweifelnd an. Er wußte, daß Kiina zumindest einen Teil der geheimen Kräfte der Errish beherrschte. Sie hatte einen Drachen geritten, als sie zu ihrem Heer gestoßen war, und auch wenn ihre Fähigkeiten lange nicht an die Anschis heranreichen mochten, würden sie sicher ausreichen, einen so primitiven Intellekt wie den einer Daktyle zu lenken. Unter normalen Umständen.

Aber die Umstände waren nicht normal. Kiina war krank und am Ende ihrer Kräfte, und sie würden die Daktylen nicht einfach nur reiten müssen. Skar war nicht so naiv, sich einzubilden, daß man sie nicht verfolgen würde. Was ihnen bevorstand, war eine verzweifelte Jagd, bei der sie das Wild waren.

»Bist du sicher?« fragte er.

Kiina lächelte schwach. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und du?« Skar wandte sich mit einem fragenden Blick an Titch. »Kannst du eine Daktyle reiten?«

»Wenn sie mein Gewicht tragen kann.«

»Ein Tier für drei Reiter?« Anschi machte ein abfälliges Geräusch. »Selbst wenn dieses dumme Kind das Unmögliche schafft und eine Daktyle lenkt, wird sie unter eurem Gewicht einfach vom Himmel fallen.«

»Wieso ein Tier, Anschi?« fragte Skar. »Wir werden zu zweit sein. Du wirst die zweite Daktyle reiten. Zusammen mit Titch.« Anschi erbleichte noch ein bißchen mehr und starrte den Quorrl an.

Titch grinste. Und diesmal gab er sich sogar Mühe, wie ein Ungeheuer auszusehen.

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