Es war kein körperlicher Schmerz, der das Erwachen begleitete und zu einer Qual machte, sein erster klarer Eindruck war vielmehr der einer tiefen Verbitterung und Leere, die aber fast schlimmer als körperliche Pein war.
Herr...
Er hatte es gewußt. Großer Gott, er hatte es gewußt, fast vom ersten Tag an, aber er hatte es einfach vergessen! Vergessen oder nicht wahrhaben wollen, weil das Eingeständnis dessen, was Trashs letzte Worte wirklich bedeutet hatten, zu entsetzlich gewesen wäre.
Sie sind wieder da, Satai! Sie sind wieder da!
Erst nach diesen Gedanken kamen die körperlichen Empfindungen, als wäre sein Geist ein wenig zu früh aus der Bewußtlosigkeit erwacht: die harte, kalte Unterlage, auf die man ihn gebettet hatte, ein Luftzug, der über seine nackte Brust strich und eine Spur zu kühl war, um angenehm zu sein, ein leichter, aber penetranter Schmerz in seiner linken Armbeuge. Stimmen, die gedämpft und in einer Sprache miteinander redeten, die er nicht verstand. Gerüche, allesamt fremdartig und beunruhigend.
Sie sind wieder da, Satai!
Ein goldenes Gesicht, das Quorrl und doch nicht Quorrl, Mensch und doch nicht Mensch, eine Mischung aus beidem und doch etwas völlig Fremdes, Unheimliches war, und...
Skar drängte die Bilder mit aller Macht beiseite und versuchte sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Seine Erinnerungen waren außer Rand und Band geraten und tobten wie eine Schar bissiger Ratten in seinem Kopf herum. Es fiel ihm schwer, zwischen Realität und Traum zu unterscheiden, die Bilder, die aus der Vergangenheit in seinem Kopf aufstiegen, von denen zu trennen, die er wirklich gesehen hatte. Sie sind wieder da.
Herr!
Beides waren Worte gewesen, die ein Quorrl gesprochen hatte, und er hatte ihre Bedeutung beide Male zu spät erkannt. Schritte näherten sich, und dann spürte er ganz deutlich, daß jemand neben ihm stand. Er versuchte erneut, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und Trashs Stimme und den Anblick des goldenen Gesichts dorthin zu verbannen, wo sie hergekommen waren, und diesmal gelang es ihm; vielleicht, weil er spürte, daß die Gestalt neben ihm sein Erwachen bemerkt hatte. Vorsichtig hob er die Lider und schloß sie sofort wieder, denn das Licht stach in seine Augen. Er konnte nicht sagen, wer neben ihn getreten war; nur, daß es kein Mensch war. Der Schatten war zu groß und zu breitschultrig dafür. Aber etwas anderes hatte er erkannt: sie waren nicht mehr in der Wüste. Er befand sich in einem großen, sehr hohen Raum mit schwarzen Wänden aus Metall oder Stein, und das grelle Licht war von einer Art, die er noch nie gesehen hatte: heller als das der Sonne, aber weiß und kalt und irgendwie falsch. Wie lange war er bewußtlos gewesen? Nicht sehr lange, flüsterten seine Gedanken. Die Erinnerungen kamen allmählich wieder. Er war nach einer Stunde erwacht, aber nur kurz, und nicht völlig, so daß er seine Umgebung nur wie in einem Fiebertraum wahrgenommen hatte. Sie hatten nicht zugelassen, daß er wirklich wach wurde, sondern ihn in einen tiefen, zum ersten Mal seit Wochen traumlosen Schlaf versetzt. Aber er spürte, daß nicht sehr viel Zeit vergangen war. Wenige Stunden, eine Nacht im Höchstfall. Zu dem Stechen und Brennen in seiner Armbeuge gesellte sich ein dumpfes Pochen in seinem Nacken, das bald schmerzhaft und dann quälend werden würde, um dann in unerträgliche Kopfschmerzen überzugehen. Skar war oft genug niedergeschlagen worden, um Erfahrung in dieser Art des Erwachens zu haben. Er begriff, daß er sein Leben nur purem Glück und seiner überdurchschnittlichen Konstitution zu verdanken hatte. Er war zäh. Einen normalen Mann hätte Titchs Schlag getötet.
»Ich weiß, daß du wach bist.«
Skar öffnete ein zweites Mal die Augen und blickte in Titchs Gesicht. Der Quorrl trug wieder die wuchtige goldene Rüstung, die ihn größer und vor allem schwerfälliger erscheinen ließ, als er war. Er lächelte, aber seine Augen waren hart und kalt wie polierter Stahl. Angst stand darin und noch etwas, das Skar nicht richtig einordnen konnte, das aber tiefer ging als bloße Furcht. Unendlich viel tiefer.
»Was willst du?« fragte Skar. Das Sprechen fiel ihm schwer. Auf seiner Zunge lag ein bitterer, fremdartiger Geschmack. Sie fühlte sich taub an. Er versuchte sich auf seinem Lager in die Höhe zu stemmen und bemerkte erst nach zwei vergeblichen Anläufen, daß er es nicht konnte: er war an Händen und Füßen gebunden; mit weichen, aber sehr widerstandsfähigen Fesseln aus Leder, die ihm nur wenige Zoll Bewegungsfreiheit gewährten. Titch beugte sich vor und riß die Bänder kurzerhand entzwei; ohne sichtliche Anstrengung und mit beiden Händen. Skar bemerkte, daß die Wunde in seiner Rechten aufgehört hatte zu bluten. Fragend sah er den Quorrl an.
»Sie verstehen viel davon, Wunden zu heilen«, sagte Titch, der seinen Blick bemerkt und richtig gedeutet hatte.
»Und noch mehr davon, sie zuzufügen.«
Titch erstarrte für einen Moment mitten in der Bewegung. Sein Blick wirkte gequält. Dann drehte er sich abrupt um, beugte sich über Skars Beine und zerriß auch die Bänder, die seine Fußgelenke hielten. Unsicher stemmte Skar sich auf dem Rand der Liege hoch, stützte die Ellbogen auf den Knien auf und verbarg das Gesicht zwischen den Händen. Er wartete darauf, daß ihm übel oder schwindelig wurde, wie so oft in letzter Zeit, aber keines von beidem geschah. Das verzehrende Feuer in seinem Inneren war erloschen.
Nur das Flüstern war noch da; und das furchtbare Wissen, die Wahrheit die ganze Zeit über gewußt zu haben. Sie sind wieder da, Satai!
»Ich hielt es nicht für eine gute Idee«, sagte Titch unvermittelt. »Aber Ennart bestand darauf.«
»Worauf?« Skar nahm die Hände herunter. Die Wand hinter dem Quorrl war schwarz, und sie bestand tatsächlich aus Metall, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Titchs Bewegungen spiegelten sich darin wider wie in einem riesigen, matten Spiegel, als der Quorrl die Hand hob und eine zugleich erklärende wie unwillige Geste machte.
»Bei dir zu sein, wenn du erwachst. Du mußt... mich hassen.« Was für Unsinn, dachte Skar. Er verstand Titchs Beweggründe vielleicht besser als der Quorrl selbst. Wäre Titch ein Mensch gewesen, dann wäre er jetzt vielleicht aufgestanden und hätte ihm einfach die Hand auf die Schulter gelegt, in einer einfachen, aber erklärenden Geste. Aber Titch war kein Mensch, und so blieb er einfach sitzen und sah schweigend zu dem Quorrl hoch. »Er... er glaubt, es wäre besser, wenn ich dir alles erkläre«, fuhr der Quorrl fort, stockend, ohne Skars Blick standhalten zu können, und mit einer Stimme, die seine Qual deutlich machte. Seine Hände spielten nervös an den Schuppen seiner goldenen Rüstung.
»Das brauchst du nicht«, sagte Skar leise. Er lächelte bitter. »Du hättest mich nicht einmal niederzuschlagen brauchen, weißt du das eigentlich?«
»Ich mußte es«, murmelte Titch. »Ich... konnte nicht anders. Ennart ist... sie sind ...«
»Die Alten«, unterbrach ihn Skar. Titchs Augen weiteten sich erschrocken, und Skar fuhr mit leiser, kraftlos klingender Stimme fort: »Ich weiß es, Titch. Du bist deinem Gott begegnet, als er den Helm abnahm. Ich hätte nicht anders gehandelt, an deiner Stelle. Niemand hätte das.« Und trotzdem tat es weh, in dem Moment, in dem er es aussprach, zehnmal mehr als zuvor. Titch hatte nicht anders gekonnt. Sein Verrat war kein Verrat gewesen. Aber Skar hatte trotzdem das Gefühl, den letzten Freund verloren zu haben, der ihm noch geblieben war.
»Du ... weißt?« murmelte Titch überrascht.
»Schon seit langer Zeit«, antwortete Skar. »Dein Vater... Trash... er hat es mir gesagt, ehe er starb. Ich habe nur nicht verstanden, was er gemeint hat. Vielleicht wollte ich es auch nicht verstehen.«
»Er hat es... gewußt?« murmelte Titch fassungslos.
»Ja. Ich... glaube es wenigstens. Ich habe nicht verstanden, was er gemeint hat, aber jetzt...« Er stand auf, blickte einen Moment lang an Titch vorbei auf die spiegelnde Wand aus Metall und schüttelte müde den Kopf. »Sie sind wieder da«, murmelte er. »Das waren seine letzten Worte.«
Titch starrte ihn an. Vielleicht spürte er, daß Skar nicht die Wahrheit sprach, daß es da noch etwas gab, was er ihm verschwieg. Trash hatte noch etwas gesagt. Aber er sprach ihn nicht darauf an, und Skar seinerseits fühlte, daß jetzt nicht der Moment war, dem Quorrl auch den Rest zu erzählen. Vielleicht hatte er den einzig möglichen Augenblick dafür längst verpaßt.
Er sah sich suchend um und entdeckte seine Kleider auf einem Schemel neben dem Bett, sauber gewaschen und zusammengefaltet. Ohne ein weiteres Wort zog er sich an. Dabei fiel ihm ein breites, silbernes Band aus einem anschmiegsamen Material auf, das sich um sein linkes Handgelenk spannte und bisher unter der Fessel verborgen gewesen war, so daß er es gar nicht bemerkt hatte. Er fühlte es nicht, und als er die Muskeln anspannte, machte es die Bewegung mit wie eine zweite, silberne Haut. Er streckte die Hand danach aus und zog sie wieder zurück, ohne es zu berühren. Irgend etwas sagte ihm, daß es sinnlos war, es abreißen zu wollen. Achselzuckend griff er nach seinem Umhang und streifte ihn ganz gewohnheitsmäßig über, obwohl es hier drinnen behaglich warm war.
»Was geschieht jetzt?« fragte er.
Titch starrte ihn an. Skar wartete darauf, daß der Quorrl ihn nun fragte, was er damit gemeint hatte, ihn auf Trashs letzte Worte ansprach, aber er tat es nicht, sondern senkte nach ein paar Augenblicken den Blick und fuhr fort, an seiner Rüstung herumzuzerren. »Er will dich sehen. Mit dir reden.«
»Worüber?«
»Es ist vorbei, Skar«, sagte Titch gequält. Er hob die Hände, breitete sie in einer hilflosen Geste vor dem Körper aus und trat einen halben Schritt auf Skar zu. Seine Augen waren weit und dunkel vor Furcht. »Du kannst nicht gegen Götter kämpfen.«
»Es sind nicht meine Götter«, antwortete Skar. Etwas leiser und in fast beschwörendem Ton fügte er hinzu: »Und auch nicht deine, Titch. Sie sind sterbliche Wesen wie du und ich. Er hat geblutet, als ich ihn verletzt habe«, erinnerte er. Aber er spürte auch schon, während er diese Worte aussprach, wie sinnlos sie waren. Titch mochte vielleicht sogar wissen, daß er recht hatte, aber das nutzte nichts. Der Quorrl war ein hochintelligentes und sehr empfindsames Wesen trotz seines raubtierhaften Äußeren, aber er blieb ein Quorrl. Ein Quorrl, der seinem Gott ins Gesicht geblickt hatte, als Ennart den Helm abnahm. Skar wußte, daß er ihn verloren hatte.
»Bring mich zu ihm.«
»Warte.« Titch hob die Hand, als Skar an ihm vorbeigehen wollte. »Da sind... ein paar Dinge, die du wissen solltest, ehe du ihm gegenübertrittst.«
»So?« Skar schluckte die scharfe Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Für ihn war Ennart kein Gott und würde es nie sein, sondern eher das Gegenteil. Aber er gewann nichts, wenn er Titch quälte.
»Der Zauberpriester«, fuhr der Quorrl fort, noch immer, ohne ihn direkt anzusehen, »der mit dir gesprochen hat...«
»Ian.«
»Ian, ja. Er hat dich nicht belogen. Sie wollen dir helfen. Sie haben dich gesucht, nicht um dich zu töten, sondern weil du... krank bist. Weil du sterben wirst, wenn nichts geschieht.« Skar glaubte ihm sogar, wie er auch Ian am vergangenen Abend geglaubt hatte. Sie brauchten ihn, aus welchem Grund auch immer. Skar war nicht so unrealistisch, sich im Ernst einzubilden, er hätte all die Zeit gegen eine Macht bestehen können, die sich nichts weniger vorgenommen hatte, als eine ganze Welt zu erobern. Nicht, wenn sie nicht aus irgendeinem Grunde Rücksicht auf sein Leben nehmen mußte.
»Sicher«, antwortete er. »Und weiter?« Sein Ton wurde verletzend, ohne daß er es wollte. »Willst du mir vielleicht als nächstes erzählen, daß alles nur ein Mißverständnis war? Daß sie in Wirklichkeit gar nicht unsere Feinde sind?« Er schnitt Titch mit einer ärgerlichen Handbewegung das Wort ab, als der antworten wollte, und deutete abermals zur Tür. Diesmal versuchte der Quorrl nicht, ihn zurückzuhalten.