5.

Es war alles vorbei, als er erwachte. Der Turm war wieder vom wispernden Pulsschlag seines metallenen Herzens erfüllt, und in seinem Kopf war wieder das graue Gespinst, das einen kleinen, aber ungemein wichtigen Teil seines Gedächtnisses verhüllte. Aber es gab einen Unterschied, und der war immens: er wußte jetzt, daß es da war. Er wußte, daß es Fragen gab und die dazu passenden Antworten, und daß er beides kannte. Das Wissen war da, verborgen, aber da. Irgendwie würde es ihm gelingen, es zutage zu fördern.

Skar öffnete behutsam die Augen und blinzelte in das grelle, schattenlose Licht des Turmes. Gestalten bewegten sich um ihn herum, redeten miteinander und taten etwas mit ihm. Sein Kopf tat ein wenig weh - nicht sehr, gerade genug, ihn daran zu erinnern, warum er das Bewußtsein verloren hatte - und in seinem Mund war der Geschmack von Blut. Vorsichtig versuchte er sich aufzusetzen und stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, daß es leichter ging, als er erwartet hatte.

In seiner linken Armbeuge war ein dünner, stechender Schmerz. Skar sah an sich herab und gewahrte einen durchsichtigen, biegsamen Schlauch, der sich über seinen Arm ringelte und in einer dünnen Nadel endete, die in seiner Vene stak. Angewidert riß er beides ab und warf es zu Boden. Die Belohnung waren ein weitaus heftigerer, brennender Schmerz in seinem Arm und ein unwilliger Ausruf einer der Gestalten, die mit ihm im Zimmer waren. Skar sah auf und blickte in ein Gesicht, das er im ersten Moment für das Ians hielt, bis ihm auffiel, daß es älter war und die Augen darin nicht so voller Haß und Zorn wie die Ians.

»Was tust du da?« herrschte ihn der Zauberpriester an. »Wie zum Teufel sollen wir...«

»Laß ihn, Cal«, unterbrach ihn eine Stimme. »Es ist gut. Ich mache das schon.«

Obwohl er die Stimme erkannt hatte, war er ein wenig überrascht, Anschi zu sehen. Mit einem Lächeln trat sie neben den Zauberpriester und machte eine rasche, besänftigende Bewegung. »Bitte laß uns allein.«

Cal zögerte. Aus irgendeinem Grund schien er Respekt vor Anschi zu empfinden, aber zugleich maß er Skar mit einem Blick, der ihm klarmachte, daß er ihn für gefährlich hielt und daß ihm der Gedanke nicht gefiel, die Errish mit ihm allein zu lassen. Aber schließlich zuckte er nur mit den Schultern und verließ den Raum.

»Bleib sitzen«, sagte Anschi, als Skar sich erheben wollte. Sie drehte sich zu einem kleinen Tischchen um, nahm eine blitzende Schale aus Metall und einige saubere Tücher an sich und kam auf ihn zu. Mit einem schnellen, harten Griff nahm sie seine linke Hand, drehte sie so herum, daß sie seine Armbeuge sehen konnte, und runzelte mißbilligend die Stirn. Wo die dünne Nadel gesessen hatte, quoll ein einziger Blutstropfen aus Skars Haut. Es tat sehr weh.

Was Anschi anschließend mit ihm tat, auch. Sie tupfte das Blut von seinem Arm, träufelte einige Tropfen einer farblosen, durchdringend riechenden Flüssigkeit auf seine Haut, die im ersten Moment wohltuend kühlten, dann aber wie Säure brannten, und legte ihm abschließend einen dünnen Verband an, der es ihm fast unmöglich machte, den Arm zu krümmen. Dann stand sie auf, betastete mit geübten Bewegungen seinen Rücken und murmelte ein paar Worte, die er nicht verstand und die vermutlich auch nicht ihm galten. Ihre Berührung fachte den Schmerz in seinem Rücken zu neuer Wut an, statt ihn zu mildern, aber Skar ließ alles mit zusammengebissenen Zähnen und ohne einen Laut über sich ergehen. Sie hatte ihm schon einmal bewiesen, daß sie vielleicht nicht besonders zartfühlend, aber nichtsdestotrotz eine gute Heilerin war.

Als sie fertig war, trat sie einen Schritt zurück und begutachtete ihn mit schräggehaltenem Kopf. »Deine Quorrl-Freunde haben dich ganz schön zugerichtet«, sagte sie. »Hast du Schmerzen?«

»Würde es dich zufriedenstellen, wenn ich ja sage?« gab Skar zurück.

Anschi ignorierte seine Antwort. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens nahm sie ein weißes Tuch vom Tisch und band es zu einer Schlinge, die sie ihm über die Schulter hing. Skar wollte protestieren, als sie seinen Arm ergriff und kurzerhand hineinlegte, aber Anschi berührte nur kurz eine Stelle unterhalb seines Schulterblattes, und er stöhnte vor Schmerz auf. Anschi blickte ihn fragend an, und Skar zwängte sich ein gepreßtes »Danke« ab.

»Wofür?« Die Errish trat abermals einen Schritt zurück und maß ihn mit einem langen, kopfschüttelnden Blick. »Du hast Glück, daß du noch lebst, weißt du das?«

Etwas war an dieser Frage nicht so harmlos, wie es klingen sollte, das spürte Skar. Er fragte sich, wieviel Anschi von dem wußte, was wirklich geschehen war. Und auf welcher Seite sie stand. Er zuckte nur mit den Achseln.

Anschi wirkte enttäuscht, hatte sich aber gut genug in der Gewalt, keine weitere Frage zu stellen, sondern sich für die nächsten Sekunden damit zu beschäftigen, so zu tun, als sortiere sie ihre Utensilien auf dem kleinen Tisch neben Skars Lager. Sie war eine gute Schauspielerin; aber nicht gut genug, Skar täuschen zu können. Er war plötzlich sicher, daß sie nicht hier war, um sich um sein Wohlergehen zu kümmern; abgesehen von allem anderen hätten Ian und seine Maschinen das wahrscheinlich ungleich besser gekonnt als sie. Sie war eine Heilerin, Ian ein Arzt. Und Skar begann allmählich zu begreifen, daß das ein größerer Unterschied war, als er bisher auch nur geahnt hatte. »Was ist passiert?« fragte er.

Anschi zuckte mit den Schultern und fuhr fort, Tücher und Instrumente von einer silbernen Schale in eine andere silberne Schale und zurück zu sortieren. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie. »Ein paar der Quorrl haben einfach durchgedreht, denke ich. Wundert dich das?« Sie hielt für einen Moment in ihrer unsinnigen Tätigkeit inne und sah ihn abschätzend an, ehe sie ihre eigene Frage beantwortete. »Ja, sicherlich wundert dich das. Du schätzt diese Tiere ja höher ein als menschliches Leben, nicht wahr?«

Skar überhörte die Beleidigung, nicht nur willentlich, sondern wirklich. Anschi log; und nicht einmal besonders gut. Es waren nicht nur ein paar Quorrl gewesen. Irgend etwas Gewaltiges, Grundsätzliches, das diesen ganzen Turm betroffen hatte, nicht nur die Quorrl. Er fragte sich, warum sie ihn belog, und noch dazu so offensichtlich.

»Ist Kiina unverletzt?«

»Natürlich«, antwortete Anschi. »Es geht ihr sogar besser als je zuvor.« Sie lächelte spöttisch. »Du liegst in ihrem Bett.« Skar fuhr hoch, was Anschis Lächeln noch ein wenig breiter und abfälliger werden ließ. »Wo ist sie?«

»In einem anderen Zimmer. Du kannst sie sprechen - später. Im Augenblick schläft sie.« Anschi machte eine unwillige Handbewegung auf die Liege, von der Skar so abrupt aufgesprungen war. »Du kannst gleich hierbleiben«, fuhr sie fort. »Ian brennt darauf, dich in die Finger zu bekommen ...«

»Das kann ich mir denken«, knurrte Skar.

»... um dir die gleiche Behandlung zuteil werden zu lassen wie ihr«, fuhr Anschi unbeeindruckt fort. »Sie ist wieder vollkommen gesund.«

Skar antwortete nicht, aber sein Blick schien eine sehr beredte Sprache zu sprechen, denn Anschi seufzte tief und irgendwie resignierend, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar und machte eine müde Geste auf seinen linken Arm und das silberne Band um sein Gelenk. »Wie lange willst du das Ding noch tragen?«

»Glaubst du, daß es auf ein paar Stunden mehr oder weniger ankommt?«

»Es spielt keine große Rolle, was ich glaube. Du scheinst immer noch nicht zu glauben, daß du hier unter Freunden bist.« Sie seufzte wieder. Während sie sprach, hatte ihre Stimme jenen leicht singenden, halb resignierten Tonfall angeschlagen, in dem man mit einem störrischen Kind spricht. Sie wartete Skars Antwort auch gar nicht ab, sondern drehte sich zur Tür und machte eine einladende Geste.

»Du kannst mit Kiina reden, wenn du Angst hast, daß wir dich vergiften wollen«, sagte sie spöttisch. »Oder vielleicht verzaubern. «

»Sagtest du nicht gerade, daß sie schläft?«

»Wir wecken sie auf.«

Skars Mißtrauen war keineswegs beseitigt; und wie auch? Er hatte erlebt, wie mühelos Ennart und seine Zauberpriester den Willen eines Menschen zu brechen vermochten. Schließlich war auch Anschi nicht sie selbst; nichts an ihrer Stimme, ihren Bewegungen und Gesten und ihrem Blick erinnerte an einen Menschen, der nicht Herr seines Willens war, und doch war die junge Errish nicht mehr als eine Marionette, die Ennart zu ihm geschickt hatte, um...

Ja, was eigentlich? Er wußte es nicht, und noch bevor er sein vages Mißtrauen in einen Gedanken oder gar eine Frage kleiden konnte, wandte Anschi sich endgültig um und verließ den Raum. Skar folgte ihr über den Eisenkorridor bis zu einer weiteren, gleichförmigen Tür, hinter der sich ein überraschend heller Raum befand. Kiinas Zimmer, das drei Fenster hatte wie sein eigenes. Draußen über dem Hof schien die Sonne; noch oder schon wieder. Entweder, er war nur wenige Augenblicke bewußtlos gewesen, oder die ganze Nacht, dachte er erschrocken. Vielleicht mehr als nur eine Nacht.

Kiina schlief, wie Anschi behauptet hatte, aber sie lag nicht im Bett, sondern saß in einem hochlehnigen, geschnitzten Stuhl direkt vor dem größten der drei Fenster, so daß der Sonnenschein direkt auf ihr Gesicht fiel und Skar für einige Sekunden Gelegenheit bekam, sie in aller Ruhe zu betrachten. Ihre Züge waren entspannt und wirkten sehr friedlich. Sie sah noch immer ein wenig krank aus, aber wirklich nur noch ein wenig - ihre Haut war blaß, und unter den Augen und auf den Wangen lagen angedeutete Schatten, die ihr etwas sonderbar Verwundbares und gleichzeitig Reizvolles gaben. Wie fast immer in letzter Zeit, wenn Skar sie ansah, überkam ihn ein rasches, heftiges Gefühl von Zuneigung, eine Wärme und Verbundenheit, die ein bißchen wie Liebe war, aber von einer Art, wie er sie nie zuvor kennengelernt hatte. Eine Zärtlichkeit völlig neuer, ihn selbst verwirrender Weise. Das schlafende Mädchen hatte etwas an sich, das es schutzbedürftig machte. Skar verspürte plötzlich den Wunsch, die Hand auszustrecken und Kiinas Wange zu streicheln. Er war zornig auf sie gewesen, weil sie ihm die Verantwortung für ihr Leben aufgebürdet hatte, ohne ihn zu fragen, ob er das überhaupt wollte, aber jetzt begriff er, wie lächerlich er sich verhalten hatte. Sie verlangte nicht nur, sie gab auch. So schwer es sein mochte, für das Leben eines anderen zu bürgen, so wichtig war es auch, denn es gab dem eigenen Leben einen Sinn.

Anschi zerstörte den Zauber des Augenblicks, indem sie neben Kiina trat und sie unsanft an der Schulter rüttelte, bis sie die Augen aufschlug. Das Mädchen blinzelte, hob verwirrt die Hand ans Gesicht und sah erst die Errish, dann Skar an. Für eine halbe Sekunde blieb ihr Blick leer, dann erkannte sie Skar und lächelte. »Wie fühlst du dich?« fragte er leise.

»Gut«, antwortete Kiina automatisch. »Müde. Was ist... wo -« Sie stockte, als ihre Erinnerungen schlagartig zurückkehrten, blickte Anschi mit neuem Schrecken an und stand mit einem Ruck auf.

Um aus der gleichen Bewegung heraus in Anschis Arme zu stürzen, die gedankenschnell vortrat und sie auffing. Skar war ihr sogar näher, aber Anschi schien die Bewegung vorausgeahnt zu haben.

Eine halbe Sekunde lang blieb Kiina reglos und zitternd stehen, wie ein Kind an die Brust des kaum älteren Mädchens gepreßt. Dann riß sie sich los, wich mit einem Schritt an Skars Seite zurück und funkelte Anschi zornig an.

»Faß mich nicht an!« sagte sie. »Rühr mich nie wieder an, du verdammte Hexe!«

»Wie du willst.« Die Errish zuckte scheinbar gleichmütig mit den Schultern. »Das nächste Mal lasse ich dich fallen - einverstanden?«

»Du -«

»Kiina!« Skar ergriff das Mädchen bei den Schultern und drehte es mit sanfter Gewalt herum, allein um den Blickkontakt zwischen ihr und der Errish zu unterbrechen. Ihre Zeit war zu kostbar, um sie mit etwas so Sinnlosem wie einem Streit zwischen Anschi und ihr zu vergeuden. »Sie kann nichts dafür«, sagte er sanft, aber so eindringlich, wie er konnte, ohne theatralisch zu werden.

»Bist du da so sicher?« fragte Anschi.

Skar sah sie über Kiinas Schulter hinweg scharf an. Aber er schluckte die ärgerliche Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag. »Würdest du uns einen Moment allein lassen?« bat er. »Nein«, sagte Anschi freundlich.

Kiina sog hörbar die Luft ein, und auch Skar verspürte erneut Zorn, den er diesmal kaum noch zu beherrschen vermochte. »Wir werden sie jetzt wieder allein lassen«, fuhr Anschi mit einer Kopfbewegung auf Kiina fort. »Sie braucht Ruhe, Skar.« Mit einem gezwungenen Lächeln wandte sie sich an Kiina. »Du wirst sehen, Kleines: wenn du erst einmal vierundzwanzig Stunden geschlafen hast, sieht alles ganz anders aus.«

»Ich glaube, ich habe eine Woche geschlafen«, murmelte Kiina. »Nicht ganz«, antwortete Anschi. »Und es war auch kein Schlaf. Du warst...« Sie zögerte, suchte nach Worten und zuckte mit den Schultern. »Du warst beinahe tot«, sagte sie schließlich. »Eine interessante Erfahrung, wie ich vermute. Irgendwann mußt du mir davon erzählen.«

Zu Skars Überraschung blieb Kiina ganz ruhig. Nur die Wahl ihrer Worte paßte nicht zu dem Ton, in dem sie sprach. »Sicher. Ganz kurz, bevor ich dich umbringe, du Miststück.«

Anschi lachte, ging aber nicht weiter auf das Geplänkel ein, sondern wiederholte ihre auffordernde Geste, sich wieder zu setzen. Und Skar gab ihr sogar recht. Kiina war verwirrt. Auch zornig, aber vor allem verwirrt. Anders als Skar hatte sie von den Ereignissen der letzten Tage ja nichts mitbekommen. Es mußte ihr schwerfallen, sich in dieser völlig fremden Umgebung zurechtzufinden. Und sie war noch sehr schwach. Selbst durch den Stoff ihres Kleides hindurch konnte Skar spüren, wie sie zitterte. Ihr Pulsschlag ging sehr schnell.

Aber er hielt sie noch einmal zurück, als sie sich setzen wollte. Sein Blick suchte den ihren, forschte nach etwas Fremdem darin, jenem Ausdruck leichter Benommenheit, den er in Anschis Augen gesehen hatte. Er fand nichts. Wenn sie etwas mit Kiinas Geist gemacht hatten, dann etwas, was er nicht zu erkennen vermochte.

»Anschi hat recht«, sagte er bedauernd. »Ruh dich aus. Wir haben später Zeit genug, miteinander zu reden.« Er bugsierte Kiina mit sanfter Gewalt auf ihren Sitz zurück und richtete sich wieder auf. Das Mädchen erschlaffte, als ginge von dem Stuhl eine betäubende Wirkung aus, aber die Furcht wich nicht aus ihrem Blick.

»Was ist mit uns passiert, Skar?« fragte sie. »Wo sind wir hier?«

»Später«, sagte Anschi, ehe er selbst Gelegenheit fand, zu antworten. »Wir hätten gar nicht herkommen sollen«, fügte sie, an Skar gewandt, hinzu. »Du siehst doch, wie schwach sie noch ist.« Sie ergriff ihn einfach beim Arm, schubste ihn zum Ausgang und wartete ungeduldig, bis er den Raum verlassen hatte. Skar warf noch einen Blick über die Schulter zurück, kurz bevor die Tür sich schloß. Kiina schien bereits wieder eingeschlafen zu sein. »Bist du jetzt zufrieden?« fragte Anschi ärgerlich, als sie wieder in dem Zimmer waren, in dem er erwacht war. »Du hast gesehen, daß wir nichts mit ihr getan haben. Außer der Kleinigkeit, ihr Leben zu retten, heißt das.«

Nein, Skar war ganz und gar nicht zufrieden. Im Gegenteil. Kiinas Anblick hätte ihn erleichtern sollen, aber er tat es nicht, sondern schürte seine Beunruhigung eher. Daß Ennart scheinbar ehrlich zu ihm war, machte alles nur noch schlimmer. Ein Gegner, der es nicht einmal mehr nötig hatte, zu lügen, war eine erschreckende Vorstellung.

»Was ist gestern passiert?« fragte er.

»Nichts«, antwortete Anschi, eine Spur zu schnell und ohne ihn anzusehen. »Ein unbedeutender Zwischenfall. Er wird sich nicht wiederholen. Die Quorrl sind nicht mehr da.«

»Ist das ein anderes Wort für tot, oder heißt es -«

»Es heißt, nicht mehr hier«, unterbrach ihn Anschi gereizt. »Wir haben deinen schuppigen Freunden nichts getan, wenn es das ist, was dich beunruhigt.«

»Wir?«

Anschis Augen blitzten auf. »Verdammt, ich habe keine Lust, mich mit dir um Worte zu streiten«, fauchte sie. »Ich bin für deine Gesundheit verantwortlich, nicht für dein Seelenheil, du Retter der unschuldig Verfolgten! Deine Quorrl-Freunde leben und erfreuen sich besserer Gesundheit als einige der Männer, über die sie hergefallen sind. Reicht dir das?«

»Nein«, antwortete Skar. »Was ist passiert? Wo ist Titch? Was habt ihr mit ihm gemacht?«

»Titch?« Anschi wiederholte den Namen des Quorrl auf eine Weise, als müsse sie erst darüber nachdenken, was er überhaupt bedeutete. Sie wollte Zeit gewinnen. Skar spürte, daß etwas geschehen war, was er nicht wissen durfte. Das ungute Gefühl, mit dem er erwacht war, steigerte sich zu Sorge um den Quorrl. Warnungslos trat er einen Schritt auf Anschi zu, packte sie an der Schulter und riß sie so grob herum, daß sie vor Schmerz und Schrecken einen leisen Schrei ausstieß. Ganz instinktiv versuchte sie nach ihm zu schlagen und keuchte ein zweites Mal vor Schmerz, als Skar den Hieb mit dem Unterarm abblockte, ohne ihre Schulter loszulassen.

»Was habt ihr mit ihm gemacht?« herrschte er sie an. »Antworte!« Er holte aus, nicht um sie wirklich zu schlagen, wohl aber, um damit zu drohen, aber Anschi kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment wurde die Tür hinter ihr aufgestoßen, und Ian und zwei weitere Zauberpriester betraten den Raum. Aus Ians rechter Faust ragte der wuchtige Lauf eines Schläfers, der sich drohend auf Skar richtete.

»Laß sie los.«

Skar gehorchte. Er war nicht einmal besonders überrascht, den Zauberpriester wie auf ein Stichwort auftauchen zu sehen. Sie waren belauscht worden. In diesem Turm hatten die Wände nicht nur im übertragenen Sinne Ohren.

Anschi wich rasch ein paar Schritte vor ihm zurück und massierte ihre schmerzende Schulter, während Ian und seine beiden Begleiter sehr vorsichtig näher kamen. Auch die beiden anderen Zauberpriester trugen Waffen, deren Läufe sich jetzt drohend auf ihn richteten.

Skar lachte leise. »Sehr beeindruckend«, sagte er höhnisch. »Wirklich, Ian, du beginnst mir richtig angst zu machen.« In Ians Augen blitzte es wütend auf, und Skar fügte in gespielt erschrockenem Tonfall hinzu: »Ich meine es ernst, Ian. Dummköpfe haben mir schon immer angst gemacht. Sie neigen dazu, zu früh zuzuschlagen, weil sie Angst haben, ich könnte sie mit dem bösen Blick belegen oder so etwas.«

Ian holte aus, um ihm den Lauf der Waffe ins Gesicht zu schlagen, erstarrte aber dann mitten in der Bewegung und ließ den Schläfer schließlich sinken. In seinem Gesicht arbeitete es. Hätte er gekonnt, wie er wollte, hätte er ihn in diesem Moment getötet, das spürte Skar.

Aber der gefährliche Moment ging vorüber, ohne daß etwas geschah. Nach einer Sekunde ließ der Zauberpriester den Schläfer vollends sinken und gab auch seinen beiden Begleitern ein Zeichen, die Waffen fortzustecken.

»Komm mit«, befahl er. »Ennart will dich sehen.«

»Wo ist Titch?« beharrte Skar. Eine innere Stimme riet ihm dringend, den Bogen nicht zu überspannen, aber er ignorierte sie. Er war sich der Gefahr völlig bewußt, Ian doch noch zu einer Unbedachtsamkeit zu provozieren, aber er durfte nicht nachgeben. Ian war sein Feind, der jedes Zeichen von Schwäche gnadenlos ausnutzen würde.

»Du scheinst verdammte Sehnsucht nach einem Quorrl zu haben, der dich um ein Haar totgeschlagen hätte.«

»Titch hat mir das Leben gerettet, du Idiot«, sagte Skar kalt. Ian schlug ihm mit der flachen Hand über den Mund. Es tat weh, denn der Zauberpriester schlug mit aller Gewalt zu, und er war alles andere als ein Schwächling, aber Skar zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er spürte, wie seine Unterlippe aufplatzte und Blut über sein Kinn lief, aber er lächelte nur. Ians Gesicht flammte jähzornig auf, aber er schlug nicht noch einmal zu. Seine Hände zitterten.

»Wo ist Titch?« beharrte Skar.

»Das wissen wir nicht«, sagte einer der beiden anderen Zauberpriester. Er sprach hastig, und er sah Ian dabei an, nicht Skar. Trotzdem spürte Skar, daß es die Wahrheit war. Mit einem fragenden Blick wandte er sich an den grauhaarigen Mann.

»Die Quorrl wurden fortgebracht. Alle. Ich weiß nicht, wohin.«

Ian starrte den Zauberpriester fast haßerfüllt an, schwieg aber. »Er sagt die Wahrheit, Skar«, mischte sich Anschi ein. »Es hat... ein paar Tote gegeben, nicht nur unter den Quorrl. Ennart hielt es für besser, sie wegzuschicken. Sie sind unberechenbar.« Oder ein bißchen zu gut, fügte Skar in Gedanken hinzu. Aber das sprach er lieber nicht aus. Er glaubte plötzlich zu wissen, was hier geschehen war. Und es machte ihm angst.

Die Spuren der Kämpfe waren unübersehbar, obwohl Ennarts Männer sich alle Mühe gegeben hatten, sie zu beseitigen. Auf dem Weg nach unten sah Skar weder Tote noch Verwundete, aber er war zu lange Krieger gewesen, um die Zeichen nicht zu lesen, die sie übersehen hatten: ein kleiner Stoffetzen hier, die Reste eines nicht völlig entfernten Blutfleckes da, das Stück einer zerbrochenen Waffe in einem Winkel, eine graugrüne, gesplitterte Schuppe im Spalt einer Tür... Ein paar Quorrl, die durchgedreht hatten? Lächerlich. In diesem Turm hatte eine Schlacht getobt. Und wenn er Ians Nervosität und die Tatsache in Betracht zog, daß er und seine Brüder bis an die Zähne bewaffnet waren, dann schien ihr Ausgang keineswegs hundertprozentig festgestanden zu haben.

Er hatte damit gerechnet, Ennart in einer Art Thronsaal vorzufinden, aber der Ssirhaa überraschte ihn abermals. Sein Quartier war kaum größer als Skars und um keinen Deut bequemer oder gar luxuriöser eingerichtet. Alles war ein wenig größer und stabiler als in seiner Unterkunft, wie es bei einem Wesen von mindestens fünfhundert Pfund Gewicht und acht Fuß Körpergröße zu erwarten war, aber er sah keine Pracht und keinerlei magische Gerätschaften oder Maschinen. Wie in seinem eigenen Quartier war der größte Teil der Einrichtung eher primitiv; Stühle und Truhen, die in einem x-beliebigen Haus in Ikne oder Denwar vielleicht prunkvoll gewirkt hätten, im Inneren dieses Turmes aber schäbig, allenfalls deplaciert aussahen. Jemand hatte versucht, zwei Welten zu einer zu machen, aber die Teile paßten nicht zusammen.

»Wir verschwenden das bißchen Wissen, das wir errungen haben, nicht dazu, Luxus zu schaffen«, sagte Ennart in seine Gedanken hinein.

Skar sah überrascht auf. Er war sicher, nichts gesagt zu haben. Der Ssirhaa lächelte. »Keine Sorge. Ich lese nicht in deinen Gedanken. Aber deine Überraschung war unübersehbar.« Er seufzte. »Es wäre noch karger, hätten die Ehrwürdigen Frauen von Elay diesen Ort nicht ein wenig wohnlich hergerichtet.« Skar sah überrascht zu Anschi auf, aber die Errish wich auch seinem Blick aus.

»Oh, sie kannten ihn«, fuhr Ennart in leicht belustigtem Ton fort. »Natürlich wußten sie nichts von seiner wahren Bedeutung und der Macht, die in ihm schlummert. Für sie war es nur eine Ruine. Ein heiliger Ort. Das hier ist das Tal der Drachen, vergiß das nicht. Die Heimat der Errish. Die Margoi selbst kam oft hierher, um zu meditieren. Das Zimmer, das ich dir zugewiesen habe, gehörte einst ihr.«

»Ich weiß die Ehre zu schätzen«, sagte Skar spöttisch. »Warum erweist du mir nicht noch einen Dienst und gibst mir auch ihren Schlüssel zum Tor?«

Ennart schüttelte tadelnd den Kopf und überging den Einwurf. Statt zu antworten, machte er eine Geste auf einen Stuhl. Diesmal war Skar nicht zu stolz, die Einladung anzunehmen. Allerdings kam er sich lächerlich vor, als er Platz nahm. Der Stuhl war für Ennart gemacht und so hoch, daß er mehr darauf kletterte, als er sich setzte.

Ennart schickte Ian und seine beiden Begleiter hinaus, schüttelte aber rasch den Kopf, als auch Anschi sich entfernen wollte. Die Errish blieb neben der Tür stehen und senkte den Blick. Skar sah ihr deutlich an, wie unbehaglich sie sich in der Nähe des Ssirhaa fühlte.

»Es freut mich, dich unverletzt zu sehen«, sagte Ennart, als Ian und die beiden Zauberpriester gegangen waren. »Du mußt durstig sein. Trink.« Er reichte Skar einen Zinnbecher, der süßlich riechenden Wein enthielt und auf einer Seite eine daumentiefe Beule aufwies. Skar trank einen winzigen Schluck, spürte plötzlich, wie durstig er war und leerte den Rest in einem Zug. Ennart lächelte amüsiert, machte aber keine Anstalten, seinen Becher neu zu füllen, sondern ließ sich auf einen der anderen Stühle sinken.

Für Sekunden wurde es auf eine unangenehme Weise still. Skar hatte dem Ssirhaa hundert Fragen stellen wollen, aber sein Kopf war mit einem Male wie leergefegt, wie jedes Mal, wenn er ihm gegenüberstand. Die uralte Technik dieses Turmes mochte versagen, aber die Macht des Ssirhaa war von anderer, dauerhafterer Art. Und trotz aller Fremdartigkeit war etwas an ihr, das er... kannte? Plötzlich war er sicher, daß es nicht das erste Mal war, daß er einem Wesen wie Ennart begegnete, einem Wesen, das nach Belieben...

Der Gedanke entglitt ihm und gesellte sich zu dem Wust von verlorenem Wissen hinter dem Spinnennetz in seinem Bewußtsein. Sein Zorn auf Ennart stieg, aber schon in der nächsten Sekunde hatte er beinahe vergessen, warum er überhaupt zornig war.

»Hast du über das nachgedacht, was ich dir vor zwei Tagen sagte?« begann Ennart schließlich.

Kein Wort über das, was geschehen war, dachte Skar verblüfft. Kein Wort über die Quorrl und Titch. Für was für einen Narren hielt ihn Ennart?

»Das habe ich«, antwortete er mühsam beherrscht. »Ich glaube, du kennst die Antwort.«

»Vielleicht möchte ich sie trotzdem hören. Aus deinem Mund.«

»Nein«, antwortete Skar. »Die Antwort lautet: Nein. Jetzt erst recht.«

»Jetzt?«

»Nach dem, was du mit den Quorrl getan hast«, sagte Skar. »Was war das? Ein Versehen? Oder ein Test, der besser gelungen ist, als du gedacht hast?«

»Etwas von beidem«, gestand Ennart ungerührt. »Ein unglückseliger Zwischenfall, der sich nicht wiederholen wird.«

»Nicht, bis es soweit ist, nicht wahr?« sagte Skar. »Bis ihr sie nicht mehr braucht.«

Seltsamerweise schienen seine Worte Ennart eher traurig als wütend zu stimmen. Für die Dauer von zwei, drei endlosen Atemzügen sah er Skar nur an, dann stand er auf und hob die Hand. »Komm.«

Skar kletterte von seinem Stuhl herunter, und auch Anschi schloß sich ihnen wieder an, als sie das Zimmer durch eine andere Tür verließen. Ein kurzer, unbeleuchteter Korridor nahm sie auf, der nach einem knappen Dutzend Schritten vor einer halbrunden Tür endete, an der Ennart sich sekundenlang zu schaffen machte, ehe sie sich teilte und die beiden Hälften mit einem hörbaren Zischen in die Wände zurückwichen.

Dahinter lag...

Es war wie ein Schlag, Hinter der Tür stand der Daij-Djan, die Sternenbestie, riesig, schwarz, spinnengliedrig und ohne Gesicht, die fürchterlichen Klauen drohend ausgestreckt, um jeden zu packen und zu zerreißen, der diese Tür durchschreiten sollte. Skar prallte mit einem Schrei zurück, suchte instinktiv nach einer Waffe und bemerkte erst dann, daß die Bestie nicht lebendig war.

Sie hatte auch nie gelebt.

Das Ungeheuer, das schwarz und drohend über Ennart aufragte, war eine Statue aus Stein oder Metall, doppelt so groß wie ihr Vorbild, so daß sie selbst Ennart noch überragte, und so perfekt gearbeitet, daß sie selbst jetzt noch etwas Lebendiges zu haben schien, als Skar ihre wahre Natur erkannt hatte.

Der Ssirhaa sah Skar amüsiert an und lächelte, aber er wirkte nicht ganz überzeugend. Skars Erschrecken irritierte ihn sichtlich. Aber er ersparte sich jeden Kommentar, sondern machte nur eine einladende Geste und berührte gleichzeitig wie zufällig mit der anderen Hand die gigantische Metallskulptur; wohl, um Skar damit noch einmal zu beweisen, daß sie harmlos war. Mit klopfendem Herzen trat Skar an Anschi und Ennart vorüber und sah sich um. Ein körperloser, eisiger Hauch schien seine Seele zu streifen, als er begriff, daß diese Kammer nicht irgendein Raum war, sondern das Herz des flüsternden Turmes, das Zentrum seiner zerstörerischen finsteren Macht, und der Ennarts.

Der Raum war nicht sehr groß und hatte die Form einer Halbkugel. Anders als der Rest dieses alptraumhaften Klotzes aus Stahl bestanden seine Wände und die gewölbte Decke aus zyklopischen schwarzen Steinquadern, die nur roh bearbeitet und ohne Mörtel aufeinandergesetzt waren. Die Luft roch nach Staub und unglaublichem Alter, und als Skar einen weiteren Schritt machte und abermals stehenblieb, glaubte er zu fühlen, wie die ungezählten Jahrzehntausende sich gleich einer erdrückenden Last auf ihn herabsenkten. Dieser Ort war alt. Unvorstellbar alt. Älter als dieser Turm, der über ihm errichtet worden war. Älter als Ennart und sein Volk. Vielleicht so alt wie diese Welt.

Und es war ein Tempel. Das Sanktuarium einer untergegangenen Welt, die alt gewesen war, ehe Menschen auf diesem Planeten erschienen, oder Ssirhaa. Vielleicht der einzige wirkliche Tempel, den es auf dieser Welt gab, denn die Götter, die hier verehrt worden waren, waren wirklich. Es hatte sie gegeben, und es gab sie noch. Etwas war hier. Nicht greif- oder sichtbar, aber so deutlich zu spüren, daß Skar sich innerlich krümmte. Die Macht dieser vergangenen Wesen war noch immer fühlbar, durchwob jedes Molekül in diesem Raum mit unsichtbaren Linien pulsierender Energie, einer Präsenz, die so intensiv war, daß sie fast weh tat. Spürte Ennart es denn nicht?

Skar sah den Ssirhaa an, aber in den riesigen Augen des Quorrl-Gottes stand nur Triumph geschrieben; und jener lauernde, verborgene Ausdruck, den Skar schon einmal darin bemerkt hatte. Plötzlich begriff er, daß der Ssirhaa die Anwesenheit des fremden Bewußtseins nicht fühlte; nie etwas von ihr gewußt hatte, weil sie sich vor ihm verschloß. Und er begriff noch etwas: der Ssirhaa hatte seinen ersten, wirklichen Fehler begangen, als er ihn hierher brachte.

»Was ... ist... das?« flüsterte er. Seine Stimme bebte vor Ehrfurcht. Etwas ... tastete nach seinem Bewußtsein, griff wie mit eisigen Spinnenfingern in seine Gedanken und zog sich wieder zurück, zu rasch, als daß Skar mehr als den flüchtigen Eindruck einer unendlichen Fremdartigkeit gewinnen konnte. Er fror plötzlich.

Anstelle einer Antwort hob Ennart die Hand und deutete auf einen nur kniehohen, schwarzen Block aus Basalt, der sich in der Mitte des kuppelförmigen Raumes erhob. Auf der Oberseite dieses sonderbaren Altarsteines stand ein Zylinder aus Metall, aus dem ein schwaches, düsterrotes Glühen drang. Skar hatte den flüchtigen Eindruck von Bewegung, die sich seinem Blick auf unheimliche Weise immer wieder zu entziehen schien. Er zögerte. Sein Blick glitt über die Wände aus schwarzem Stein, die titanische Statue des Daij-Djan und wieder über den Altar, aber es kostete ihn alle Kraft, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Das Pulsieren unsichtbarer Energie schien stärker zu werden. Er glaubte ein Flüstern zu hören, ein Locken, das gleichzeitig Warnung war, Furcht und Haß, Sehnsucht und Zorn, alles zugleich und doch nichts von alledem ...

»Geh«, sagte Ennart leise. Seine Stimme schien vom Schwarz der Wände aufgesogen zu werden, hatte kein Echo, keinen Nachhall. Skar machte einen halben Schritt zur Seite. Ennarts Lippen bewegten sich wieder, aber diesmal hörte er keinen Laut. Erst, als der Ssirhaa den Kopf ein wenig drehte und wieder genau in seine Richtung sprach, verstand er die dritte Aufforderung, sich dem Altar zu nähern. Er erinnerte sich, etwas Ähnliches schon einmal erlebt zu haben, vor zahllosen Jahren, auf der Eisinsel des Dronte. Damals war er mit Del in einer Eishöhle gewesen, die ihre Stimmen auf die gleiche, angstmachende Weise gefressen hatte wie der schwarze Basalt dieses Tempels. Hatte er auch damals die Nähe dieses uralten Bewußtseins verspürt? Er wußte es nicht mehr.

Zögernd bewegte er sich weiter, wobei er es fast krampfhaft vermied, den Altar anzusehen. Statt dessen tastete sein Blick abermals über die Wände, und er sah jetzt, daß das, was er für unbearbeiteten Stein gehalten hatte, das genaue Gegenteil war: In den Basalt waren Bilder und Schriftzeichen eingemeißelt, Hieroglyphen einer vergessenen Sprache und Szenen aus einer vergangenen Welt, die einen so unverständlich und sinnlos wie die anderen erschreckend und fremd. Er sah... Dinge, die Lebewesen sein konnten oder auch nicht, Landschaften, die Gebirge darstellen mochten oder unvorstellbare Kreaturen, Linien, die auf unmögliche Weise gekrümmt und gewunden waren, Schriftzeichen, die sich zu bewegen schienen, wenn er nur lange genug hinsah, Bilder, die ihn mit lähmendem Schrecken erfüllten, obgleich er nicht einmal zu sagen vermochte, was sie darstellten. Zeichen, deren bloßes Betrachten ihn mit Unbehagen erfüllte, Bilder, die seinen Augen weh taten ...

Skar begann zu zittern. Sein Herz jagte. Kalter Schweiß bedeckte seine Handflächen und begann sein Gesicht hinunterzulaufen. Jeder Schritt fiel ihm schwerer als der vorhergehende, und gleichzeitig war es ihm unmöglich, stehenzubleiben, jeder Blick, den er auf die fürchterlichen Steinreliefs warf, war peinigender als der vorherige, und gleichzeitig war er gebannt von der morbiden Faszination der Bilder.

Die Alten ... Ennart wußte es nicht, weil irgend etwas verhinderte, daß er die Wahrheit erkannte, so wie er dafür sorgte, daß es Skar unmöglich war, seine Pläne wirklich zu durchschauen, aber das hier waren sie. Dies hier waren ihre wirklichen Bilder. Sie waren die wirklichen Herren dieser Welt gewesen, lange, bevor die Ssirhaa kamen, und nach ihnen die Sternengeborenen. Sie waren immer dagewesen, und sie würden immer da sein, denn sie waren so unsterblich wie die Zeit. Sie existierten noch, irgendwo, vielleicht in den Abgründen einer anderen Dimension gefangen, vielleicht außerhalb der Wirklichkeit, in einer Welt, von der diese entsetzlichen Bilder und Schriftzeichen nur Schatten einzufangen vermochten. Und es war nicht das erste Mal, daß Skar auf Zeugen ihrer vergangenen Macht traf. Er hatte diese entsetzliche, gedankenverdrehende Architektur schon einmal gesehen, in den Katakomben unter Urcôun, der Ruinenstadt im Herzen der Nonakesh, und dann später noch einmal, in den Höhlen tief unter Elay. Aber das waren Ruinen gewesen. Dies hier... lebte. Existierte auf eine furchtbare Weise, die mit Leben vielleicht nicht einmal etwas zu tun hatte, aber sie waren auch nicht tot, sondern etwas dazwischen, eine dritte Form von Sein oder Nichtsein, die seinem menschlichen Begreifen verschlossen bleiben mußte.

Verstört und bis auf den Grund seiner Seele erschüttert blickte er zu Ennart zurück. Ennart sagte irgend etwas, aber dieser unheimliche Ort verschluckte seine Worte; Skar deutete nur die begleitende Geste. Die Haut des Ssirhaa war silbern geworden, und sein Gewand wirkte mit einem Male grau. Erschrocken sah Skar zu Anschi hinüber und stellte fest, daß auch sie sich verändert hatte, ehe er an sich selbst hinabblickte und die gleiche, beunruhigende Feststellung machte: Es gab keine Farben in diesem Raum, nur Schwarz und Weiß und alle nur denkbaren Abstufungen dazwischen.

Und das pulsierende Purpurrot des Altars.

Gegen seinen Willen suchte sein Blick den metallenen Zylinder. Er war ihm jetzt nahe genug, um zu erkennen, daß er hohl war. Hohl, aber nicht leer. Das düstere Purpur erfüllte ihn wie pulsierendes flüssiges Licht, und auf seinem Grund lag etwas, was auf den ersten Blick wie ein gewaltiger blutroter Edelstein aussah, seine Form aber unablässig zu verändern schien, so daß es Skar unmöglich war, es wirklich zu erkennen.

Es war keine Maschine, aber es war auch nichts Lebendes, sondern irgend etwas dazwischen, ein dreifach faustgroßer Ball aus Kristall oder Licht oder beidem, in dem Bewegung war, ein Huschen wie von einem kleinen mißgestalteten Körper, der seine Form ebenso unablässig veränderte wie der Kristall. An der Bewegung war etwas Drängendes, Forderndes. Skar mußte plötzlich an ein Ei denken, das Ei eines Drachen, in dem eine unbeschreibliche Brut darauf wartete hervorzubrechen. Es war ihm unmöglich, den Blutkristall länger zu betrachten. Sein Anblick begann ihm körperlichen Schmerz zu bereiten.

»Spürst du es?« fragte Ennart. Seine Worte streiften Skar nur; er erriet sie mehr, als er sie verstand. »Seine Macht. Die ungeheure Kraft, die er birgt?« Er kam näher, blieb aber nach ein paar Schritten abrupt wieder stehen, als hindere ihn eine unsichtbare Macht daran, weiter zu gehen.

»Die Macht unserer Vorfahren«, fuhr er fort. »Es ist die Kraft der Schöpfung selbst, Skar. Nichts wird uns mehr aufhalten, wenn wir erst gelernt haben, sie wirklich zu nutzen. Wir werden eine neue Welt errichten, mit der Macht von Göttern!«

»Du bist... wahnsinnig«, flüsterte Skar. »Du wirst die Welt zerstören, wenn du das hier auch nur anrührst!«

»Vielleicht«, antwortete Ennart. »Aber wir werden sie neu und hundertmal besser aufbauen! Hilf uns! Hilf uns, Skar, diese Kraft zu verstehen, und wir werden eine Welt erschaffen, in der unsere beiden Völker überleben können! Hilf uns!«

Und plötzlich war die gleiche Stimme auch in ihm, dasselbe, suggestive Flüstern. Hilf uns. Hilf uns, Satai! Du hast die Macht dazu! Du bist der einzige, der es kann! Du kannst alles beenden. Den Krieg. Den Haß. Sogar den Tod!

Er wußte nicht, ob es Ennart war, der seine Gedanken zu beeinflussen versuchte, oder die Stimme dieses Dings, aber er spürte, wie sein Widerstand schmolz. Die Versuchung war groß. Unbeschreiblich groß. Er konnte es tun. Er hatte die Macht dazu. Er konnte ein Gott sein, wenn er wollte. Nein, nicht ein Gott. Er konnte Gott sein, Herrscher über Leben und Tod, Herr einer ganzen Welt, vielleicht des Universums. Und er konnte diese Macht nutzen, nicht um Böses zu tun, nicht um zu herrschen und zu erobern, sondern um alles Leid zu besiegen, den Krieg, den Hunger und die Krankheiten, die Kälte und den Zorn, den Tod und das Alter, den...

Hinter Anschi bewegte sich ein Schatten, und Skar erstarrte. Der Umriß des riesigen steinernen Daij-Djan schien zu flackern, wie das Bild einer Laterna magica, vor deren Lichtquelle eine Motte flatterte, teilte sich, verschmolz wieder zu einer Einheit, teilte sich erneut - und dann gab es zwei, die riesige, steinerne Statue, und das Geschöpf, nach derem Vorbild sie erschaffen worden war, der Daij-Djan selbst, sein Dunkler Bruder, der zurückgekehrt war und mit einem lautlosen Schritt von seinem Sockel heruntertrat, wie ein Körper, der sich aus seinem eigenen Schatten löste. Lautlos, unsichtbar für Anschi und den Ssirhaa, trat er hinter Ennart, starrte Skar aus seinem schrecklichen Nicht-Gesicht heraus an und hob den Arm, die Klaue zu dem einzigen Zweck gekrümmt, zu dem sie geschaffen war.

Soll ich ihn für dich töten, Bruder? wisperte seine Stimme in Skars Gedanken; leise, fast verloren unter dem Flüstern des Versuchers, und doch auf sanfte Weise ebenso mächtig wie sie, vielleicht mächtiger, denn sie war ein Teil von Skar selbst. Es ist nicht schade um ihn. Er ist ein Narr, der nicht einmal ahnt, mit welchen Mächten er sich eingelassen hat. Und er ist nicht der, der zu sein er vorgibt.

Ich weiß, antwortete Skar, auf die gleiche, lautlose Art, die selbst Ennart verborgen blieb.

Soll ich es tun? Du kannst seinen Platz einnehmen. Du kannst alles beenden. Hier und jetzt.

Ja, das konnte er. Aber zugleich wußte er, was geschehen würde, wenn er es zuließ. Enwor würde untergehen, wenn er den Tod an diesen Ort brachte.

»Nein«, sagte er mit fester Stimme. »Niemals.«

Du bist ein Narr, antwortete sein Dunkler Bruder. Seine Stimme klang bedauernd und fast gar nicht mehr höhnisch. Du glaubst noch immer, es verhindern zu können. Aber du wirst mich rufen. Bald.

»Niemals«, wiederholte Skar. »Hörst du?! NIEMALS!« Bald, Bruder, flüsterte der Daij-Djan.

Bald.

Es war wie das Erwachen aus einem bösen Traum. Skar erinnerte sich kaum, wie er den Weg zurück bewältigte; das letzte Stück führte ihn der Ssirhaa wie ein kleines Kind an der Hand. Er war unfähig, sich zu bewegen oder irgend etwas aus eigener Kraft heraus zu tun. Die Ausstrahlung des Blutkristalls hatte etwas in ihm gelähmt. Nur als sie die Statue des Daij-Djan passierten, mußte Skar all seine Willenskraft aufbieten, um nicht aufzuschreien und sich loszureißen. Obwohl er wußte, daß es nichts als toter Stein war, der schwarz und mörderisch über ihnen aufragte, die dürren Arme wie zu einem blasphemischen Gebet erhoben und ausgestreckt, hatte er das unheimliche Gefühl, von etwas hinter dem glatten Gesicht der Bestie belauert zu werden. Augen, die nicht da waren, starrten ihm nach.

Ennart blieb unter der Tür stehen und machte eine ungeduldige Geste zu Anschi, weiter zu gehen, hielt Skar aber zurück. »Du kennst dieses Wesen.«

Es war keine Frage. Skars Reaktion auf die Statue war zu deutlich, um sie zu übersehen, selbst für einen weniger aufmerksamen Beobachter, als der Ssirhaa es war.

»Ich ... nein. Es war ... ein Irrtum. Eine Verwechslung«, sagte Skar. Er sprach stockend, unsicher, mit einer Stimme, die vor Furcht bebte. Er verfluchte sich innerlich selbst, sich nicht besser in der Gewalt zu haben. Aber er war... erschüttert. Ein Teil seiner Seele hatte weißglühendes Eisen berührt. Verwirrt und erschüttert zugleich sah er Ennart an. Ob der Ssirhaa ahnte, wie nahe er dem Tod gewesen war?

»Belüg mich nicht«, sagte Ennart ärgerlich. »Du kennst dieses Ding. Was ist es?«

»Ich dachte, du wolltest mir etwas zeigen«, antwortete Skar. Er riß sich los, trat mit einem Schritt, der so schnell war, daß er mehr an eine Flucht erinnerte als an alles andere, unter der Tür hindurch und wartete, daß der Ssirhaa ihm folgte. Ennart zögerte. Sein Blick wanderte zwischen der riesigen schwarzen Statue, dem Altar und ihm hin und her, und Skar hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, zu wissen, was hinter der Stirn des Goldenen vorging. Ennart mußte schon blind sein, um nicht zu sehen, wie sehr ihn dieser Raum und das, was er enthielt, erschütterte. Aber er schien auch zu begreifen, daß es die Statue des Daij-Djan war, die Skar lähmte. Nach einem Augenblick drehte er sich mit einer abrupten Bewegung herum, trat neben Skar und berührte die Wand.

»Also?« Ennarts Stimme war befehlend, in seinem Blick keine Spur von Geduld oder Freundlichkeit mehr. Trotzdem sagte Skar kein Wort, sondern ging mit erzwungen ruhigen Schritten weiter, bis sie zurück in Ennarts Gemach waren.

»Ich... bin einem ähnlichen Wesen begegnet«, sagte er ausweichend. »Es ist lange her.«

»Wo? Wann?« Ennarts Stimme war scharf wie ein Peitschenhieb. Skar spürte die Erregung des Ssirhaa. Auch für ihn mußte der Steinkoloß mehr sein als eine tote Statue. Ob er ahnte, dachte Skar, wie nahe er dem Tod gewesen war, dort drinnen? Kaum. Er zuckte mit den Schultern und bediente sich selbst aus Ennarts Weinkrug, um Zeit zu gewinnen. Seine Hände zitterten leicht, als er den Becher ansetzte. »Vor zwanzig Jahren«, antwortete er, nachdem er getrunken hatte. »Im Norden. Auf der Eisinsel des Dronte.«

»Dem Daij-Djan?« Ennarts Stimme machte deutlich, wie schwer es ihm fiel, Skars Worten Glauben zu schenken. »Und er lebte?«

»Ja«, sagte Skar. »Nein. Ich ... weiß es nicht.« Er hob hilflos die Schultern, setzte den Becher an und senkte ihn rasch wieder, ohne getrunken zu haben. Ennarts Atem ging schneller. Der Ssirhaa war aufs Höchste erregt.

»Ich habe es nur einen kurzen Moment lang gesehen«, log Skar. »Vielleicht war es auch nur eine Statue, wie die da drinnen. Ich weiß es wirklich nicht. Es ging alles so schnell, damals. Und es ist sehr lange her.«

Er sah Ennart so ruhig in die Augen, wie er konnte, aber das Mißtrauen des Ssirhaa war keineswegs beseitigt. Im Gegenteil. Und plötzlich fiel es Skar wie Schuppen von den Augen. Titch. Titch hatte es ihm gesagt, so, wie sein Vater ihm die Wahrheit über die Ssirhaa gesagt hatte. Unsere Götter sind wirklich, Skar. Wie hatte er nur so blind sein können? Wie hatte er sich jemals auch nur für eine Sekunde einbilden können, daß der Daij-Djan auf der Seite Ennarts und der Zauberpriester stand?

»Was hast du gesehen?« fragte Ennart. »Was war es?« Er schrie fast, aber seine Erregung überraschte Skar plötzlich nicht mehr. Es gibt ein Wort in eurer Sprache dafür, hatte Titch gesagt. Er ist für uns das, was für euch der Teufel ist.

Und wenn Ennart ein Gott war, dann war das Ding dort drinnen das Abbild seines Erzfeindes...

»Nicht viel«, antwortete er, langsam, vorsichtig, so, als müsse er sich zwingen, die Bilder aus der Vergangenheit heraufzubeschwören, in Wahrheit, um Zeit zu gewinnen. Ennart hatte einen Fehler begangen, ihn in den Tempel zu führen, aber er mußte sich jedes Wort genauestens überlegen, wollte er nicht einen ebensoschweren Fehler machen.

»Es ging alles so schnell«, fuhr er fort. »Es war plötzlich da, und dann...«

»Dann?«

»Der Dronte hat es verbrannt«, sagte Skar achselzuckend. »Es hat einige von unseren Leuten getötet, ehe der Dronte es angriff. Wie gesagt, es ging sehr schnell.«

»Verbrannt?« Ennarts Augen wurden schmal. »Du lügst! Niemand kann den Daij-Djan töten.«

»Er konnte es. Vielleicht hat er es auch nur vertrieben. Auf jeden Fall war es fort, als die Flammen erloschen.« Er nippte an seinem Wein und tat so, als blicke er nachdenklich auf den Rest der hellroten Flüssigkeit in seinem Becher. In Wahrheit beobachtete er Ennart aufmerksam aus den Augenwinkeln. Er hatte nie gerne gelogen, nicht einmal so sehr aus angeborener Ehrlichkeit, sondern aus der Erfahrung heraus, daß Lügen selten lange Bestand hatten und sich meistens gegen den kehrten, der sie aufbrachte. Aber seine Version der Geschehnisse hielt sich dicht genug an der Wahrheit, um Ennart vielleicht zu überzeugen, selbst wenn er wußte, was damals wirklich geschehen war. »Und danach nicht wieder?« fragte der Ssirhaa lauernd. Hatte Titch ihm erzählt, was in der Burg geschehen war?

Skar zuckte abermals mit den Schultern, füllte umständlich seinen Becher neu und stellte ihn zurück auf den Tisch, ohne zu trinken. »Wovor hast du Angst, Ennart?« fragte er.

»Angst?«

»Das Ding dort drinnen.« Skar deutete auf die geschlossene Tür hinter dem Ssirhaa. »Du hast mehr Angst davor als ich.«

»Unsinn.«

»Sie sind eure Feinde«, fuhr Skar fort. »Tausendmal mehr als wir es je waren. Sie sind es, die ihr wirklich fürchtet.«

Ennart schwieg, aber Skar wußte, daß er die Wahrheit getroffen hatte. Der Ssirhaa starrte ihn an, und zum zweiten Mal erkannte Skar, daß er seine Selbstsicherheit erschüttert hatte. Das Wesen mit der goldenen Haut war kein Gott, so wenig wie er. Es spielte ihn nur. Und das nicht einmal besonders gut.

»Wir haben sie besiegt«, sagte Ennart schließlich. »Lange, bevor es euch gab.«

»Besiegt?« Skar lachte so abfällig und höhnisch, wie er nur konnte. »O nein, Ennart. Ihr habt sie vertrieben. Eingesperrt. Aber nicht besiegt.«

»Wir haben sie geschlagen«, beharrte Ennart. »Es ist gleich, wie. Sie sind besiegt, für alle Zeiten.«

»Und trotzdem hast du vor Angst gezittert, als du gemerkt hast, daß ich den Daij-Djan kenne«, sagte Skar. »Du bist wahnsinnig, Ennart! Du willst, daß ich diese Macht dort drinnen entfessele? Vielleicht kann ich es sogar. Aber weißt du, was geschehen wird, wenn ich es tue?« Ennart wollte antworten, aber Skar sprach schnell und lauter und in einem Ton weiter, der selbst den Ssirhaa verstummen ließ. »Du hast Angst vor einer Statue, du Narr, und du willst, daß ich das Wesen zum Leben erwecke, nach dessen Vorbild sie erschaffen wurde?«

Ennart machte eine wütende Handbewegung. »Was für ein Unsinn. Die Macht dort drinnen ist uralt. Millionen von Jahren. Aber die Wesen, denen sie diente, existieren nicht mehr. Es sind nur... Reste. Wie dieser Turm hier, den unsere Vorfahren erbaut haben. Er existiert. Sie nicht mehr.«

Skar lachte. »Der Daij-Djan existiert sehr wohl, Ennart.« Du sprichst mit ihm.

»Du hast ihn also doch gesehen?« Ennarts Stimme wurde lauernd.

»Vor nicht einmal allzu langer Zeit«, bestätigte Skar. Um präzise zu sein, vor ein paar Augenblicken, fügte er in Gedanken hinzu. Dort drinnen, direkt hinter dir. Er sprach es nicht aus, aber er sah den Ennart scharf an. Wenn der Ssirhaa seine Gedanken las, dann mußte er sich spätestens jetzt verraten. Aber auf dem goldenen Gesicht regte sich nichts.

»Du lügst«, behauptete er.

»Wenn du meinst.« Skar zuckte in gespieltem Gleichmut mit den Achseln. »Warum fragst du nicht Titch, wenn du mir nicht glaubst?«

»Titch?«

»Er war dabei«, bestätigte Skar. »Er hat ihn so deutlich gesehen wie ich.« Er machte eine auffordernde Handbewegung zur Tür. »Ruf ihn. Falls er noch lebt, heißt das.«

Ennart wandte sich mit einer herrischen Geste an Anschi. »Laß den Quorrl zu mir bringen. Sofort.«

»Aber Herr«, wandte Anschi ein. »Sie sind -«

»Sofort habe ich gesagt!« unterbrach sie Ennart zornig. »Es ist mir gleich, wo sie sind. Bring ihn hierher, auf der Stelle! Und du -« Er wandte sich mit einer kaum weniger zornigen, befehlenden Bewegung an Skar, »- solltest dir überlegen, ob du mir nicht vielleicht doch etwas verschwiegen hast, Satai.«

»Sicher«, antwortete Skar ungerührt. »Es gibt da ein paar Frauengeschichten, die -«

Ennart trat auf ihn zu. Er tat nichts, ballte weder die Faust, noch hob er den Arm, aber allein dieser eine Schritt war so drohend, daß Skar mitten im Wort verstummte. Er hatte keine Angst, aber er hatte auch wenig Lust, erschlagen zu werden, nur wegen einer dummen Bemerkung. Es war plötzlich sehr wichtig geworden, daß er lebte. Viel wichtiger, als Ennart ahnte. »Du hast zwei Stunden Zeit«, sagte der Ssirhaa kalt. »So lange wird die Errish brauchen, um deinen Freund hierher zu bringen. Und danach wirst du mir alles sagen, was du über den Daij-Djan und die Alten weißt. Alles, verstehst du?«

»Und wenn nicht?« fragte Skar spöttisch. »Was willst du tun, alter Mann? Mich foltern?«

»Nein«, antwortete Ennart kalt. »Nicht dich. Das Mädchen.«

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