TEIL VIER Black House und darüber hinaus

26

Wir haben unser kleines Gespräch über Verwerfungen geführt, und das Spiel ist zu weit fortgeschritten, als dass wir uns länger darüber verbreiten könnten, aber würde nicht jeder sagen, dass die meisten Häuser den Versuch darstellen, Verwerfungen hintanzuhalten? Der Welt zumindest die Illusion von Normalität und Vernunft aufzudrücken? Denken wir an Libertyville mit seinen kitschigen, aber liebenswerten Straßennamen: Camelot und Avalon und Maid Marian Way. Oder denken wir an das entzückende, scheinbar geradewegs aus Neuengland importierte Häuschen, in dem Fred, Judy und Tyler Marshall einst miteinander lebten. Wie anders könnte man das Haus Robin Hood Lane Nr. 16 bezeichnen als eine Ode ans Alltägliche, einen Päan ans Prosaische? Das Gleiche könnte man von Dale Gilbertsons Haus oder Jacks oder Henrys Haus sagen, oder nicht? Eigentlich von den meisten Wohnhäusern in der Umgebung von French Landing. Der zerstörerische Wirbelsturm, der durch die Stadt gefegt ist, ändert nichts an der Tatsache, dass die Häuser als tapfere Bollwerke gegen Verwerfungen stehen, ebenso ehrenwert wie bescheiden. Sie sind Orte der Vernunft.

Black House ist - wie Shirley Jacksons Hill House, wie die als Rose Red bekannte, zur Jahrhundertwende in Seattle erbaute Monstrosität - kein Ort der Vernunft. Es ist nicht ganz von dieser Welt. Es ist von außen schwierig zu betrachten - die Augen spielen einem ständig Streiche -, aber wenn es einem gelingt, es für kurze Zeit zu fixieren, sieht man ein dreigeschossiges Wohnhaus von völlig normalen Ausmaßen. Die Farbe ist ungewöhnlich, ja - dieses glanzlos schwarze Äußere, selbst die Fensterscheiben sind schwarz überstrichen -, und es hat ein geducktes, windschiefes Aussehen, das unbehagliche Zweifel in Bezug auf seine Standfestigkeit aufkommen ließe, aber wenn man es einmal ohne die Ausstrahlung dieser anderen Welten betrachten könnte, würde es fast so gewöhnlich wirken wie Freds und Judys Haus ... wenn auch nicht so gepflegt.

Innen ist es jedoch anders.

Innen ist Black House groß.

Tatsächlich ist Black House fast unendlich.

Gewiss kein Ort, an den man sich verirren sollte, obwohl Menschen das von Zeit zu Zeit getan haben - Landstreicher, manchmal ein glückloses von zu Hause ausgerissenes Kind sowie Charles Burnsides (Carl Bierstones) Opfer, und hier und da zeugen Relikte von ihrem Hinscheiden: Reste von Kleidungsstücken, jammervolle Kritzeleien an den Wänden riesiger Räume mit verwirrenden Abmessungen, gelegentlich ein Häufchen Knochen. Ab und zu kann der Besucher vielleicht einen Totenschädel wie die sehen, die Anfang der Zwanzigerjahre während Fritz Haarmanns Schreckensherrschaft in Hannover an den Ufern der Leine angeschwemmt wurden.

Dies ist wahrlich kein Ort, an dem man sich verirren möchte.

Wir wollen durch Räume und Ecken und Korridore und Winkel streifen - in dem sicheren Bewusstsein, dass wir auf Wunsch jederzeit in die äußere Welt, in die vernünftige Welt ohne Verwerfungen zurückkehren können (und trotzdem ist uns weiter unbehaglich zumute, während wir Treppen hinuntersteigen, die nahezu endlos zu sein scheinen, und Korridoren folgen, die in der Ferne zu einem Punkt zusammenschrumpfen). Wir hören ein ständiges tiefes Summen und das leise Scheppern unheimlicher Maschinen. Wir hören das idiotische Pfeifen des stetigen Windes, der entweder draußen oder auf den Ebenen über oder unter uns weht. Manchmal hören wir ein schwaches, hündisches Bellen, das zweifellos die Stimme des Höllenhundes des Abbalah ist, der den armen alten Mouse erledigt hat. Und manchmal hören wir das spöttische Krächzen einer Rabenkrähe und begreifen, dass auch Gorg hier ist - irgendwo.

Wir kommen durch Räume, die in Trümmern liegen, und Räume, die nach wie vor mit verblichenem, vermoderten Prunk möbliert sind. Viele von diesen Sälen sind gewiss größer als das gesamte Haus, in dem sie sich verbergen. Und schließlich erreichen wir ein bescheidenes Wohnzimmer, das mit einem ältlichen Rosshaarsofa und verblassten roten Samtstühlen ist. In der Luft liegen widerwärtige Kochdüfte. (Irgendwo in der Nähe befindet sich eine Küche, die wir nie betreten dürfen - jedenfalls nicht, wenn wir jemals wieder ohne Albträume schlafen wollen.) Die Elektroinstallation und die Lampen in diesem Raum sind mindestens siebzig Jahre alt. Wie kann das sein, fragen wir, wo Black House doch erst in den Siebzigerjahren erbaut wurde? Die Antwort ist ganz einfach: Vieles vom Black House - der größte Teil von Black House - steht schon viel länger hier. Die schweren Samtvorhänge in diesem Raum sind verblichen. Abgesehen von den vergilbten Zeitungsausschnitten, die jemand an die hässliche grüne Tapete geklebt hat, handelt es sich hier um einen Raum, der gut ins Erdgeschoss des Hotels Nelson passen würde. Es ist ein Ort, der Unheil verkündend und zugleich eigentümlich banal wirkt, ein angemessener Spiegel für die Fantasie des alten Ungeheuers, das sich hier verkrochen hat, das Ungeheuer, das mit unheilvoll blutrot verfärbter Hemdbrust auf dem Rosshaarsofa schläft. Black House als Ganzes gehört ihm nicht, obwohl er sich das in seinem krankhaften Größenwahn einbildet (und Mr. Munshun nichts unternommen hat, um ihn von diesem Glauben abzubringen). Dieser eine Raum hier jedoch gehört ihm.

Die Zeitungsausschnitte an den Wänden erzählen alles, was wir über Charles »Chummy« Burnsides tödliche Leidenschaften wissen müssen.

Ja, ich habe sie gegessen, erklärt Fish - New York Herald Tribune

Billy Gaffneys Spielkamerad beteuert: »Es war der graue Mann, wo Billy mitgenommen hat, es war der Butzemann« - New York World Telegram

Horror um Grace Budd geht weiter: Fish gesteht! -Long Island Star

Fish gibt zu, Bill Gaffney »gebraten, verzehrt« zu haben - New York American

Fritz Haarmann, so genannter »Schlächter von Hannover«, wegen 24-fachen Mordes hingerichtet -New York World

Werwolf erklärt: »Mich hat Liebe, nicht Lust angetrieben.« Haarmann stirbt ohne ein Zeichen von Reue - The Guardian

Abschiedsbrief des Kannibalen von Hannover: »Ihr könnt mich nicht töten, ich werde auf ewig unter euch sein.« - New York World

Wendell Green wäre von diesem Zeug hin und weg, was?

Aber da sind weitere Ausschnitte. Gott steh uns bei, es gibt so viele weitere. Sogar Jeffrey Dahmer ist hier mit der Aussage Ich wollte Zombies vertreten.

Die Gestalt auf dem Sofa stöhnt auf und beginnt sich zu bewegen.

»Auffwachn, Burny!« Die Stimme scheint von irgendwoher zu kommen, jedenfalls nicht aus seinem Mund ... obwohl die Lippen sich wie die eines zweitklassigen Bauchredners bewegen.

Burny stöhnt. Er dreht den Kopf nach links. »Nein . muss schlafen. Alles ... tut weh.«

Er dreht den Kopf nach rechts, wie um ein Kopfschütteln anzudeuten, aber Mr. Munshun lässt nicht locker. »Auffwachn, se wern balgommn. Du musdde Jungn wegschaffn.«

Der Kopf dreht sich nach links zurück. Im Halbschlaf bildet Burny sich ein, Mr. Munshun stecke nach wie vor sicher bei ihm im Kopf. Er hat nur vergessen, dass die Sache hier im Black House anders aussieht. Törichter Burny, der sich jetzt dem Ende seiner Nützlichkeit nähert! Aber noch hat er dieses Ende nicht ganz erreicht.

»Kannst mich nicht . Ruhe lassen . mir tut der Bauch weh . der Blinde . der Scheißkerl hat mir ein Messer in den Bauch gestoßen .«

Aber der Kopf dreht sich wieder auf die andere Seite, und die Stimme spricht wieder aus der Luft neben Burnys rechtem Ohr. Burny kämpft gegen sie an: Er will nicht aufwachen und die ganze wilde Wucht seiner Schmerzen empfinden müssen. Der Blinde hat ihn weitaus schwerer verletzt, als er in der Hitze des Gefechts ursprünglich geglaubt hat. Burny besteht der nörgelnden Stimme gegenüber darauf, dass der Junge in seinem jetzigen Versteck sicher ist, dass sie ihn niemals finden werden, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, ins Black House einzudringen, dass sie sich in seinen unendlichen Weiten aus Räumen und Korridoren verlaufen und umherirren werden, um erst wahnsinnig zu werden und dann zu sterben. Mr. Munshun weiß jedoch, dass einer davon sich von allen anderen unterscheidet, die sich bislang hierher verirrt haben. Jack Sawyer ist mit dem Unendlichen vertraut, und das macht ihn zu einem Problem. Der Junge muss heimlich fortgeschafft und in die Endwelt, in den Schatten des großen Ofen Din-tah, gebracht werden. Mr. Munshun erklärt Burny, dass dieser vielleicht noch Gelegenheit haben wird, sich mit dem Jungen zu vergnügen, bevor er ihn dem Abbalah übergeben muss, aber nicht hier. Zu gefährlich. Sorry.

Burny protestiert weiter, aber es ist ein Kampf, den er nicht gewinnen wird, das wissen wir. Die abgestandene, nach gekochtem Fleisch riechende Luft des Raums hat schon begonnen, sich wirbelnd zu bewegen, als der Besitzer der Stimme schließlich eintrifft. Wir sehen erst einen schwarzen Wirbel, dann einen roten Klecks - ein Plastron - und dann die Umrisse eines irrwitzig langen weißen Gesichts, in dem ein einzelnes schwarzes Haifischauge dominiert. Es ist der wahre Mr. Munshun, das Wesen, das außerhalb von Black House und seiner verwunschenen Umgebung nur in Burnys Kopf leben kann. Bald wird er ganz hier sein, er wird Burny wachrütteln (ihn notfalls foltern, bis er hellwach ist), und er wird Burny nützlich verwenden, solange es noch eine nützliche Verwendung für ihn gibt. Mr. Munshun kann Ty nämlich nicht selbst aus dessen Zelle in Black House fortschaffen.

Ist er erst wieder in der Endwelt - Burnys Sheol -, sieht die Sache anders aus.

Schließlich öffnet Burny die Augen. Mit den knotigen Händen, die so viel Blut vergossen haben, greift er jetzt nach unten, um die Feuchtigkeit des eigenen Bluts zu ertasten, das durch das Hemd sickert. Er sieht an sich hinab, nimmt wahr, was sich dort ausgebreitet hat, und stößt einen Schrei aus, aus dem feiges Entsetzen spricht. Dass ein Blinder ihn tödlich verwundet hat, nachdem er selbst so viele Kinder ermordet hat, erscheint ihm nicht gerecht; es erscheint ihm grauenvoll und ungerecht.

Erstmals sucht ihn eine äußerst unangenehme Vorstellung heim: Was ist, wenn er für die Dinge, die er in seiner langen Verbrecherlaufbahn getan hat, noch mehr wird büßen müssen? Er hat die Endwelt gesehen; er hat die Schlangenstraße gesehen, die sich durch sie hindurch zum Din-tah schlängelt. Die verheerte, brennende Landschaft beiderseits der Schlangenstraße gleicht der Hölle, und An-tak, die Große Kombination, ist gewiss die Hölle selbst. Was ist, wenn ihn solch ein Ort erwartet? Was ist, wenn .

Ein grässlicher, lähmender Schmerz durchzuckt seinen Unterleib. Mr. Munshun, jetzt fast vollständig materialisiert, hat einen Arm ausgestreckt und mit einer rauchgrauen, nicht ganz transparenten Hand in der Wunde herumgewühlt, die Henry dem Ungeheuer mit seinem Springmesser beigebracht hat.

Burny schreit auf. Dem alten Kindermörder laufen Tränen übers Gesicht. »Nicht weh tun

»Dahn duh, wass eech sahg.«

»Ich kann nicht«, schnieft Burny. »Ich sterbe. Sieh dir das viele Blut an! Glaubst du, dass ich so was wegstecken kann? Ich bin fünfundachtzig gottverdammte Jahre alt!«

»Bech gehappt, Burn-Burn ... awwer auffer anneren Seide gibt’s welche, de dein Wunne heiln könndn.« Wie das Black House selbst ist Mr. Munshun schwierig zu erkennen. Er ist mal scharf, mal unscharf wahrnehmbar. Das abstoßend lange Gesicht (wie der aufgedunsene Schädel einer Zeitungskarikatur verdeckt es den größten Teil des Körpers) hat manchmal zwei Augen, manchmal nur eines. Manchmal scheinen aus dem aufgeblähten Kopf verfilzte orangerote Haarwirbel zu sprießen, und manchmal scheint Mr. Munshun kahl wie Yul Brynner zu sein. Nur die roten Lippen und die hinter ihnen lauernden spitzen Reißzähne bleiben einigermaßen konstant.

Burny beäugt seinen Komplizen leicht hoffnungsvoll. Mit den Händen erkundet er inzwischen weiter den Unterleib, der jetzt hart und klumpig angeschwollen ist. Er vermutet, dass diese Klumpen Blutgerinnsel sind. Oh, dass jemand ihn so schlimm verletzen konnte! Das hätte nicht passieren dürfen! Das hätte niemals passieren dürfen! Er sollte doch stets beschützt werden! Er sollte ...

»’s wär sogga dengba«, sagt Mr. Munshun, »dass de Jahre vo dia weggerollt wem könnden, gnau wie de Stein von ’nem Grab Jehsuh Kristi weggerollt wurd.«

»Wieder jung zu sein«, sagt Burny und stößt einen tiefen, harschen Seufzer aus. Sein Atem stinkt nach Blut und Fäulnis. »Ja, das würde mir gefallen.«

»Naddürlich! Un soche Ding sin mööchlich«, sagt Mr. Munshun und nickt dabei mit seinem grotesk instabilen Gesicht. »Solch Geschenge kann de Abbalah machn. Abba se wern nich vasprochn, Charles, mein kleins mampfends Männken. Aber eins kann ich dia vasprechn.«

Das Wesen in schwarzer Abendkleidung mit rotem Plastron stürzt sich erschreckend behände auf ihn. Es fährt mit der langfingrigen Hand wieder vorn in Chum-my Burnsides Hemd, wo es sie diesmal zur Faust ballt und damit einen Schmerz erzeugt, der alles übersteigt, was das alte Ungeheuer sich jemals hätte vorstellen können ... obwohl Burny selbst Unschuldigen solche und noch schlimmere Schmerzen zugefügt hat.

Mr. Munshun bringt sein stinkendes Gesicht dicht an Burnys heran. Das einzelne Auge funkelt. »Fühlsd du dat, Burny? Duhst du’s, du elender, drauriger Dreggsagg? Hoho, ha-ha, naddürlich duhst du’s! Es sin deine Eineweide, wo ich in da Hand hab! Un wenn de dech nich ran-häldsd, Schweinehund, reiß ich se dia aus deim bluden-den Leib, hoho, ha-ha, und wickel se dia um den Hals! Dann stirbst du und weisd, das de eignen Eingeweide dich erwürgn! Ein Trick, den ich von Fritz selbs gelernd hab, Fritz Haarmann, de so jung un wunnervoll war! Also, was saggst du? Bringsd du ihn rüwwer, oder willsd du erwürgd wern?«

»Ich bring ihn rüber!«, kreischt Burny. »Ich tu’s, aber hör auf, hör auf, du zerreißt mich!«

»Du brings ihn ssu de Station. Ssu de Station, Burn-Burn. Diese is nich für de Raddenlöcher, de Fuxbauden -nich für de Kom-bii-na-zioon. Keine bludigen Füßchen für Dyler; er arbeid für sein Abbalah mid dem hier.« Er hebt den langen Zeigefinger, der mit einem barbarischen schwarzen Fingernagel endet, an die riesige Stirn und tippt sich zwischen die Augen (in diesem Moment sieht Burny alle beide, dann verschwindet das zweite Auge wieder). »Kapiert?«

»Ja! Ja!« Seine Eingeweide stehen in Flammen. Und die unbarmherzige Hand hält sie weiter umklammert, dreht sie weiter hin und her.

Die Furcht erregende Landschaft von Mr. Munshuns Gesicht hängt vor ihm. »Ssu de Station - wo du de anne-ren Sbeziellen hinbrachd hasd.«

»JA!«

Mr. Munshun lässt los. Er tritt zurück. Burny beobachtet erleichtert, dass das Wesen sich wieder entmateriali-siert, wieder körperlos wird. Vergilbte Zeitungsausschnitte werden sichtbar - nicht hinter ihm, sondern durch ihn. Trotzdem hängt das einzelne Auge noch über dem verblassenden Plastron in der Luft.

»Sorg dafür, dass er de Müdse drägt. Grad er muss de Müdse dragen.«

Burnside nickt eifrig. Er riecht noch immer schwach nach My Sin. »Die Mütze, ja, ich hab die Mütze.«

»Nimm dech in Achd, Burny. Du bisd ald und valezd. De Junge is gelengig un verzweifeld. Fling zu Fuhs. Läsd du ihn entwischn .«

Trotz der Schmerzen muss Burny grinsen. Eines der Kinder soll ihm entwischen? Ausgerechnet eines der Speziellen? Lachhaft! »Keine Sorge«, sagt er. »Aber ... wenn du mit ihm sprichst ... mit Abbalahdoon ... sagst du ihm, dass ich noch nicht zum alten Eisen gehöre. Er wird’s nicht bereuen, wenn er mich heilt. Und wenn er mich wieder jung macht, bringe ich ihm tausend Kinder. Tausend Brecher.«

Blasser und immer blasser. Jetzt ist Mr. Munshun wieder nur ein Leuchten, eine wolkige Störung in der Luft von Burnys Wohnzimmer im Inneren des Hauses, aus dem er einst ins Maxton übergesiedelt ist. Zu einer Zeit, als ihm klar wurde, dass er wirklich jemanden brauchte, der ihn in seinen letzten Jahren versorgte.

»Bring ihm nur diesn ein, Burn-Burn. Bring ihm nur diesn ein, un du wirsd belohnd wern.«

Mr. Munshun ist fort. Burny steht auf und beugt sich über das Sofa, wodurch sein Bauch zusammengedrückt wird, sodass er vor Schmerzen aufschreit, aber er beugt sich noch tiefer hinunter. Er greift ins Dunkel und bringt einen abgewetzten schwarzen Lederbeutel zum Vorschein. Er hält ihn oben gepackt, hinkt aus dem Raum und hält dabei eine Hand an den blutenden, aufgetriebenen Bauch gepresst.

Und was ist mit Tyler Marshall, der bislang in der Geschichte praktisch nur als Gerücht existiert hat? Wie schlimm ist er verletzt? Wie verängstigt ist er? Hat er’s geschafft, bei Verstand zu bleiben?

Was seine körperliche Verfassung betrifft, so hat er eine Gehirnerschütterung davongetragen, die aber schon wieder abklingt. Sonst hat der Fisherman nicht mehr getan, als ihn am Arm und am Gesäß zu streicheln (eine unheimliche Berührung, die Tyler an die Hexe in »Hän-sel und Gretel« denken ließ). Und was die geistige Verfassung betrifft . wäre es nicht entsetzlich, zu erfahren, dass Fred und Judy Marshalls Sohn - zum Zeitpunkt, wo Mr. Munshun unseren Burny anstachelt - glücklich ist?

Das ist er nämlich. Er ist glücklich. Aber warum auch nicht? Befindet er sich doch im Miller Park.

Die Milwaukee Brewers haben dieses Jahr all die Experten, all die Schwarzseher verblüfft, die das Team bis zum Unabhängigkeitstag im Keller sahen. Nun, die Saison dauert noch ziemlich lange, aber der 4. Juli ist vorbei, und die Brew Crew steht während des momentanen Heimspieles punktgleich mit Cincinnati auf dem ersten Platz. Dass die Brewers an der Tabellenspitze mitmi-schen, verdanken sie vor allem den Homeruns von Ri-chie Sexson, der von den Cleveland Indians nach Milwaukee gewechselt hat und »es richtig krachen lässt«, um George Rathbuns treffenden Ausdruck zu benutzen.

Sie mischen vorn mit, und Ty ist im Stadion! Echt Spitze! Er ist nicht nur dort, sondern hat sogar einen Sitzplatz in der ersten Reihe. Neben ihm - groß, verschwitzt, rotgesichtig, mit einer Dose Kingsland in der Hand und einer weiteren für Notfälle unter dem Sitz - befindet der Großartige George höchstpersönlich und brüllt, was die Lederlunge hergibt. Bei dem Spitz-auf-Knopf-Spiel gerade eben soll Jeromy Burnitz von der Crew am ersten Base out gewesen sein, und obwohl außer Zweifel steht, dass der Shortstop aus Cincinnati den Ball gut gefangen und sofort zurückgeworfen hat, besteht auch kein Zweifel daran (zumindest für George Rathbun nicht), dass Burnitz safe war! George springt in der Abenddämmerung auf, die mit Schweiß bedeckte Glatze leuchtet unter einem mild lavendelblauen Himmel, eine schaumige Bierspur läuft ihm über den angewinkelten Unterarm, die blauen Augen blitzen (man merkt, dass er mit diesen Augen viel sieht, ja praktisch alles sieht), und Ty wartet darauf, sie alle warten darauf, und dann kommt sie, diese Verkörperung des Sommers im Coulee Country, dieser wundervolle Schrei, der bedeutet, dass alles okay ist, der Schrecken nicht die Oberhand gewinnen wird und die Verwerfungen gestoppt sind.

»Komm schon, Schiri, Gib uns ’ne Chance! Gib uns ’ne verdaaammte Chaaance! Sogar ein Blinder konnte sehen, dass er safe war!«

Als dieser Schrei ertönt, johlt und pfeift die Menge am ersten Base wie verrückt - und niemand wilder als die etwa fünfzehn Leute hinter dem Spruchband mit der Aufschrift Miller Park heisst George Rathbun und die Gewinner des diesjährigen Brewer-Preisausschreibens von KDCU willkommen. Ty springt lachend auf und ab und schwenkt dabei seine Brewers-Mütze. Das Beste an der ganzen Sache ist die Tatsache, dass er eigentlich dachte, er hätte dieses Jahr vergessen, an dem Preisausschreiben teilzunehmen. Wahrscheinlich hat sein Vater (vielleicht auch seine Mutter) die Karte für ihn weggeschickt ... und er hat gewonnen! Zwar nicht den ersten Preis, als dessen Gewinner er als Schlägerjunge der Brew Crew an der gesamten Spielserie gegen Cincinnati teilgenommen hätte, aber was er gewonnen hat (das heißt, außer diesem erstklassigen Platz im Kreis der übrigen Gewinner), ist seiner Meinung nach sogar noch besser. Natürlich ist Richie Sexson nicht ein Mark McGwire - niemand kann einen Ball so gewaltig schlagen wie Big Mac -, aber Sexson hat dieses Jahr fantastisch für die Brewers gespielt, echtfantastisch, und Tyler Marshall darf ...

Jemand rüttelt ihn am Fuß.

Ty versucht den Fuß wegzuziehen, weil er seinen Traum (diese beste Zuflucht vor den Schrecken, die ihn befallen haben) nicht verlieren will, aber die Hand ist unerbittlich. Sie rüttelt. Sie rüttelt und rüttelt.

»Wach auf!«, blafft eine Stimme, und Tylers Traum beginnt sich zu verdunkeln.

George Rathbun wendet sich Ty zu, worauf der Junge etwas Erstaunliches sieht: die Augen, die noch vor wenigen Sekunden so klare, scharfe blaue Augen waren, sind trüb und milchig geworden. Jesses, er ist blind, denkt Ty. George Rathbun ist wirklich ein ...

»Wach auf«, knurrt die Stimme. Sie ist näher herangekommen. Im nächsten Augenblick wird der Traum verlöschen.

Aber bevor er das tut, spricht George ihn an. Seine Stimme ist ruhig, völlig anders als das gewohnte heisere Bellen des Sportreporters. »Hilfe ist unterwegs«, sagt er. »Bleib also cool, kleine Hip-Cat. Sei .«

»Wach auf, du Scheißer!«

Der Griff am Knöchel ist zermalmend, lähmend. Ty öffnet mit einem Protestschrei die Augen. Auf diese Weise tritt er wieder in die Welt und unsere Geschichte ein.

Er weiß sofort wieder, wo er ist. In einer Zelle mit rötlich grauen Eisenstäben ungefähr in der Mitte eines Steinkorridors, der durch nackte Glühbirnen, die mit Spinnweben verhangen sind, nur trübe erhellt wird. In einer Ecke steht ein unberührter Blechnapf mit irgendeiner Art Eintopf. In der anderen steht der Kübel, in den er pinkeln soll (oder groß machen soll, wenn er muss - was Gott sei Dank bislang noch nicht der Fall war). Sonst enthält der Raum nur einen verschlissenen alten Futon, von dem Burny ihn soeben gezerrt hat.

»Okay«, sagt Burnside. »Endlich wach. Das ist gut. Steh jetzt auf. Los, mach schon, Arschgeige. Ich hab keine Zeit, lang mit dir rumzumachen.«

Tyler steht auf. Ein Schwindelgefühl durchwogt ihn, und er fasst sich mit beiden Händen an den Kopf. Am Scheitel ertastet er eine schwammige, verschorfte Stelle. Als er sie berührt, zuckt ein stechender Schmerz bis in die Kiefer, sodass er die Zähne zusammenbeißt. Aber der Schmerz vertreibt auch das Schwindelgefühl. Ty betrachtet seine Hand. An der Handfläche haften Flocken von Wundschorf und geronnenem Blut. Da hat er mich mit dem verdammten Stein getroffen. Nur etwas fester, dann würde ich jetzt mit den Engeln singen.

Aber auch der Alte ist irgendwie verletzt. Sein Hemd ist vorn völlig durchgeblutet; das runzlige Menschenfressergesicht ist wächsern blass. Hinter ihm steht die Zellentür offen. Ty schätzt die Entfernung bis zum Korridor ab und hofft, dass er das nicht allzu auffällig tut. Aber Burny ist kein Neuling in diesem Spiel. Mehr als einer der Kleinen had vasuchd, auf sein bludigen Füßchen zu flüchdn, oho.

Er greift in einen Lederbeutel und holt ein schwarzes Gerät mit Pistolengriff, aber einer Edelstahlspitze statt einer Mündung heraus.

»Weißt du, was das ist, Tyler?«, fragt Burny.

»Ein Elektroschocker«, sagt Ty. »Stimmt’s?«

Burny grinst und lässt dabei Zahnstummel sehen. »Kluger Junge! Ein Junge, der viel fernsieht, möchte ich wetten. Ja, das ist ein Elektroschocker. Aber ein besonders starker - der wirft eine Kuh noch auf zwanzig Meter Entfernung um. Kapiert? Wenn du abzuhauen versuchst, Junge, hol ich dich damit von den Beinen. Komm jetzt raus.«

Ty tritt aus der Zelle. Er hat keine Ahnung, wohin der grässliche alte Mann ihn bringen will, aber es ist schon eine gewisse Erleichterung, nicht mehr in dieser Zelle eingesperrt zu sein. Am schlimmsten war der Futon. Irgendwie weiß Ty, dass er nicht der erste Junge ist, der sich darauf mit krankem Herzen und wehem, pochendem Schädel in den Schlaf geweint hat, und auch nicht der zehnte.

Vermutlich nicht mal der fünfzigste.

»Nach links!«

Tyler gehorcht. Jetzt ist der Alte hinter ihm. Im nächsten Augenblick spürt Ty, wie knochige Finger ihn an der rechten Gesäßbacke umfassen. Das tut der Alte nicht zum ersten Mal (Ty muss dabei wieder an die Hexe in »Hänsel und Gretel« denken, als sie verlangt, dass die Kinder, die sich im Wald verlaufen haben, einen Finger aus dem Käfig stecken sollen), aber dieses Mal fühlt der Griff sich anders an. Schwächer.

Stirb, so schnell du kannst, denkt Ty, und dieser Gedanke

- seine kalte Beherrschtheit - hat sehr, sehr viel von Judy. Stirb so schnell du kannst, Alter, damit ich weiterleben kann.

»Die hier gehört mir«, sagt der Alte ... aber er scheint außer Atem zu sein, klingt nicht mehr ganz so selbstsicher. »Ich backe die Hälfte, brate den Rest. Mit Frühstücksspeck.«

»Ich glaube nicht, dass du noch viel runterkriegst«, sagt Ty, der selbst darüber staunt, wie ruhig seine Stimme klingt. »Sieht so aus, als hätte jemand dir ein paar Lüftungsschlitze in den Ma.«

Einem lauten knisternden Prasseln folgt ein schrecklicher brennender Schmerz, den er in der linken Schulter spürt. Ty torkelt mit einem Aufschrei gegen die Korridorwand gegenüber der Zelle. Er versucht, die verletzte Stelle mit einer Hand zu erreichen, bemüht sich, nicht zu weinen, versucht, sich wenigstens ein bisschen von seinem schönen Traum zu bewahren, in dem er mit George Rathbun und den übrigen Gewinnern des KDCU-Preisausschreibens im Miller Park sitzt. Er weiß, dass er in Wirklichkeit tatsächlich vergessen hat, dieses Jahr daran teilzunehmen, aber in Träumen spielen solche Dinge keine Rolle. Das macht sie ja so schön.

Oh, aber der Schmerz ist so schlimm. Und trotz allen seinen Anstrengungen - trotz allem, was er von Judy Marshall in sich hat -, beginnen die Tränen zu fließen.

»Willst du noch einen?«, keucht der Alte. Seine Stimme klingt krank und hysterisch, und sogar ein Junge in Tys Alter weiß, dass das eine gefährliche Kombination ist. »Willst du noch einen, damit’s Glück bringt?«

»Nein«, stößt Ty hervor. »Nicht noch mal einen Schlag verpassen, bitte nicht.«

»Dann geh los! Und keine gottverdammten frechen Bemerkungen mehr!«

Ty setzt sich in Bewegung. Irgendwo kann er Wasser tropfen hören. Von irgendwoher kann er ganz leise das lachende Krächzen einer Krähe hören - wahrscheinlich die gleiche, die ihn reingelegt hat, und Ty wünscht sich, er hätte jetzt Ebbies Kleinkalibergewehr dabei und könnte ihre bösen, glänzenden schwarzen Federn zerstieben lassen. Die Außenwelt scheint Lichtjahre weit entfernt zu sein. Aber George hat ihm versichert, dass Hilfe unterwegs ist, und manchmal bewahrheiten sich ja Dinge, die man im Traum hört. Das hat seine Mutter ihm einmal erzählt - und das war lange vor der Zeit, als sie angefangen hat, nicht mehr ganz richtig im Kopf zu sein.

Sie erreichen eine Treppe, die in weiten Spiralen in endlose Tiefen führt. Aus diesen Tiefen steigen Schwefelgestank und wabernde Hitze auf. Ty glaubt, den leisen Widerhall von Stöhnen und Geschrei zu hören. Das Scheppern von Maschinen wird lauter. Darunter mischt sich ein bedrohliches Knarren, das von Treibriemen oder Ketten stammen könnte.

Ty bleibt stehen. Er geht davon aus, dass der Alte ihm nicht wieder einen Stromstoß verpassen wird, wenn er nicht unbedingt muss. Denn Ty könnte diese lange Wendeltreppe ja hinunterfallen. Er könnte sich den Kopf dort anschlagen, wo der Alte ihn schon mit dem Stein getroffen hat, sich das Genick brechen oder übers Geländer in die Tiefe stürzen. Und dem Alten ist es wichtig, dass Ty am Leben bleibt, zumindest vorerst. Ty weiß zwar nicht, warum, aber er weiß, dass seine Intuition zutreffend ist.

»Wohin gehen wir, Mister?«

»Das erfährst du früh genug«, sagt Burny mit seiner verkrampften, leicht atemlosen Stimme. »Und wenn du glaubst, mein kleiner Freund, dass ich mich nicht traue, dir hier auf der Treppe einen zu verpassen, täuschst du dich gewaltig. Los, weiter!«

Tyler Marshall steigt die Wendeltreppe hinunter, vorbei an weitläufigen Galerien und Balkonen, im Kreis herum und immer tiefer, im Kreis herum und immer tiefer. Manchmal stinkt die Luft nach verfaultem Kohl.

Manchmal riecht sie nach brennenden Kerzen. Manchmal nach feuchtem Schimmel. Er zählt hundertfünfzig Stufen, dann hört er zu zählen auf. Die Oberschenkel brennen ihm. Hinter ihm keucht der Alte vor Anstrengung; zweimal ist er schon gestolpert, jetzt hält er sich fluchend an dem uralten Geländer fest.

Fall hin, Alter, skandiert Ty im Kopf. Knall hin und stirb. Fall hin und stirb.

Schließlich sind sie unten angelangt. Sie erreichen einen runden Raum, den eine schmutzige Glasdecke überwölbt. Über ihnen hängt wie ein dreckiger Sack ein bleigrauer Himmel herab. Aus zersprungenen Terrakottakübeln quellen Pflanzen, die gierige grüne Fühler über einen Fußboden entsenden, der aus rissigen orangeroten Ziegeln besteht. Die Schiebeglastür vor ihnen führt auf eine verfallene Terrasse hinaus, die von uralten Bäumen umgeben ist. Einige darunter sind Palmen. Ein paar - die mit den herabhängenden knotigen Luftwurzeln - könnten vielleicht Banyanbäume sein. Die anderen kennt Ty nicht. Eines weiß er jedoch sicher: Sie sind nicht mehr in Wisconsin.

Auf dem Innenhof wiederum steht etwas, was er sehr gut kennt. Ein Gegenstand aus seiner eigenen Welt. Tyler Marshall steigen bei diesem Anblick wieder Tränen in die Augen, weil dieser Anblick fast dem eines vertrauten Gesichts in hoffnungslos fremder Umgebung gleicht.

»Halt, Affenjunge.« Der Alte scheint außer Atem zu sein. »Dreh dich um.«

Tyler gehorcht und stellt dann befriedigt fest, dass der Blutfleck auf dem Hemd des Alten sich noch weiter ausgebreitet hat. Die blutigen Verästelungen reichen inzwischen bis zu den Schultern hinauf, und selbst der Hosenbund der ausgebeulten alten Jeans ist jetzt schwärzlich verfärbt. Aber die Hand mit dem Elektroschocker zittert nicht im Geringsten.

Geh zum Teufel, denkt Tyler. Geh, so schnell du kannst zum Teufel.

Der Alte hat den Lederbeutel auf einen kleinen Tisch gestellt. Er bleibt für einen Augenblick einfach so stehen, bis er wieder zu Atem gekommen ist. Dann wühlt er in dem Beutel herum (in dem irgendetwas Metallisches leise klirrt) und bringt schließlich eine weiche braune Mütze zum Vorschein. Sie hat Ähnlichkeit mit den Schiebermützen, die Kerle wie Sean Connery manchmal im Film tragen. Der Alte hält sie ihm hin.

»Setz sie auf. Und wenn du versuchst, meine Hand zu packen, verpass ich dir einen Stromstoß.«

Tyler greift zögernd nach der Mütze. Da er etwas Wildlederartiges erwartet, ist er ziemlich überrascht, dann doch etwas Metallisches zu spuren, das sich wie Stanniol anfühlt. Ein unangenehm summendes Kribbeln fließt ihm durch die Hand, fast eine abgemilderte Version des Stromstoßes des Elektroschockers. Er sieht den Alten flehentlich an. »Muss ich?«

Burny hebt den Elektroschocker und bleckt dabei mit stummem Grinsen die Zähne.

Ty setzt widerstrebend die Mütze auf.

Jetzt erfüllt das summende Kribbeln den ganzen Kopf. Einen Augenblick lang kann er keinen Gedanken fassen ... dann vergeht diese Empfindung wieder und lässt ihn mit einem seltsamen Gefühl von körperlicher Schwäche und einem Pochen in den Schläfen zurück.

»Spezielle Jungen brauchen spezielle Spielsachen«, sagt Burny, was bei ihm wie schbezelle Junx, schbezelle Spielsachn klingt. Mr. Munshuns lächerlicher Akzent hat leicht abgefärbt und verstärkt jene Andeutung von South Chicago, die Henry auf der Notrufaufnahme entdeckt hat. »Jetzt können wir rausgehen.«

Weil ich mit aufgesetzter Mütze sicher bin, sagt Ty sich, aber dieser Gedanke zerfasert sich und treibt fast so schnell davon, wie er gekommen ist. Er versucht, sich an seinen zweiten Vornamen zu erinnern, und merkt, dass er das nicht kann. Er versucht, sich an den Namen der bösen Krähe zu erinnern, und schafft auch das nicht -irgendetwas wie Corgi? Nein, das ist ja eine Hunderasse. Diese Mütze verhindert, dass er klar denken kann, merkt er, und genau das soll sie wohl und nichts anderes.

Sie gehen jetzt durch die offene Glastür auf die Terrasse hinaus. In der Luft hängt der Geruch der Büsche und Bäume, die an der Rückseite von Black House wuchern: ein Duft, der schwer und süßlich ist. Irgendwie fleischig. Der graue Himmel hängt so niedrig, dass man ihn fast berühren kann. Ty riecht Schwefel und etwas anderes, etwas, das bitter und elektrisch und saftig zu sein scheint. Hier draußen ist auch das Geräusch der Maschinen viel lauter.

Der auf den rissigen Ziegeln stehende Gegenstand, den Ty erkannt hat, ist ein Golfwagen der Marke E-Z-Go. Das Modell Tiger Woods.

»Die verkauft mein Vater«, sagt Ty. »Bei Goltz’s, da arbeitet er.«

»Wo glaubst du wohl, dass der herkommt, Arschgeige? Steig ein. Setz dich ans Steuer.«

Ty starrt sein Gegenüber verblüfft an. Die blauen Augen wirken auf ihn jetzt - vielleicht wegen der Wirkung der Mütze - blutunterlaufen und konfus. »Ich bin noch zu klein, um zu fahren.«

»Oh, du kommst damit schon zurecht. Ein Baby könnte dieses Baby fahren. Setz dich ans Steuer.«

Ty tut wie ihm geheißen. In Wirklichkeit ist er schon oft mit einem Golfwagen über den Parkplatz bei Goltz’s gekurvt - immer allerdings unter der wachsamen Aufsicht seines Vaters auf dem Beifahrersitz. Jetzt zwängt der scheußliche Alte sich behutsam auf diesen Sitz, wobei er sich stöhnend den aufgeschlitzten Unterleib hält. Die Stahlspitze des Elektroschockers in der anderen Hand bleibt jedoch unbeirrbar auf Ty gerichtet.

Der Schlüssel steckt. Ty dreht ihn nach rechts. Von der Batterie unter dem Sitz ist ein Klicken zu hören. Die Batterieanzeige leuchtet hellgrün auf. Jetzt braucht Ty nur noch aufs Pedal zu treten. Und natürlich zu lenken.

»So weit, so gut«, sagt der Alte. Er nimmt die Hand vom Unterleib und zeigt mit einem blutbefleckten Finger nach vorn. Ty sieht eine Spur aus verfärbtem Kies -bevor Bäume und Unterholz sie überwuchert haben, war das hier vielleicht eine Zufahrt -, die vom Haus wegführt. »Fahr los. Und fahr langsam. Wenn du zu rasen anfängst, kriegst du wieder eine gewischt. Und wenn du vorhast, gegen einen Baum zu fahren, breche ich dir das Handgelenk. Dann kannst du einhändig weiterfahren.«

Ty tritt aufs Pedal. Der Golfwagen setzt sich mit einem Ruck in Bewegung. Der Alte schwankt, flucht kurz und schwenkt dann drohend den Elektroschocker.

»Es würde leichter gehen, wenn ich die Mütze abnehme«, sagt Ty. »Bitte, ich weiß bestimmt, dass ich dann .«

»Nein! Mütze bleibt! Fahr!«

Diesmal tritt Ty sanfter aufs Pedal. Der Wagen rollt über die Terrasse; die fabrikneuen Reifen knirschen über herumliegende Ziegelsplitter. Sie verlassen holpernd die gepflasterte Fläche und folgen schließlich der Zufahrt. Schwere Palmwedel - die sich feucht und schweißig anfühlen - streifen Tyler an den nackten Armen. Er schreckt vor ihnen zurück, wodurch der Golfwagen einen Schlenker macht. Burny droht dem Jungen knurrend mit dem Elektroschocker.

»Nächstes Mal gibt’s ’ne Ladung! Versprochen!«

Vor ihnen windet sich eine Schlange über den fast ganz zugewachsenen Kies, die Ty mit zusammengebissenen Zähnen einen kleinen Schrei ausstoßen lässt. Er verabscheut Schlangen. Er wollte noch nicht einmal die harmlose kleine Kornnatter anfassen, die Mrs. Locher einmal in die Schule mitgebracht hat, und dieses Untier hier hat die Größe einer Python und dazu rubinrote Augen und Reißzähne, die ihr Maul zu einem ständigen Zähnefletschen aufsperren.

»Los! Fahr!« Der Elektroschocker wird vor ihm geschwenkt. Er hört die Mütze schwach in den Ohren summen. Hinter den Ohren.

Die Zufahrt beschreibt eine Kurve nach links. Irgendeine Art Baum, der mit Tentakeln besetzt zu sein scheint, spreizt sich über sie. Die Spitzen der Fangarme streifen Ty kitzelnd an den Schultern und lassen ihm die Nackenhaare zu Berge stehen.

Unserrr Junnnge ...

Das kann er im Kopf hören, obwohl er die Mütze trägt. Es klingt leise, wie aus weiter Ferne, aber es ist deutlich zu vernehmen.

Unserrr Junnnge ...jaaa ... unserrr ...

Burny grinst. »Du hörst sie, was? Sie mögen dich. Wir sind hier alle Freunde, wirklich?« Das Grinsen wird zu einer Grimasse. Burny hält sich wieder den blutigen Leib. »Gottverdammter blinder alter Trottel!«, keucht er.

Dann sind die Bäume plötzlich verschwunden. Der Golfwagen rollt auf eine düstere, mit Geröll bedeckte Ebene hinaus. Auch die Büsche werden weniger, und Ty sieht, dass vor ihnen Geröllhalden weichen, die sich unter bleigrauem Himmel über die Hügel ziehen. Einige wenige Riesenvögel kreisen träge über ihnen. Ein zottiges Wesen mit hängenden Schultern stolpert eine enge Schlucht hinunter und ist verschwunden, kaum dass Ty es richtig wahrnehmen kann . nicht, dass er das überhaupt gewollt hätte. Das Dröhnen und Stampfen der Maschinen wird hier noch stärker und lässt sogar die Erde erzittern. Das Hämmern von Dampframmen; das Knirschen uralter Getriebe; das Kreischen von Zahnrädern. Tyler spürt, wie das Lenkrad des Golfwagens zu zittern beginnt. Die Zufahrt mündet in eine breite Straße aus festgestampfter Erde. Den jenseitigen Straßenrand bildet eine Mauer aus runden weißen Steinen.

»Was du da hörst, das ist das Kraftwerk des Scharlachroten Königs«, sagt Burny. Aus seiner Stimme spricht Stolz, in den sich aber auch mehr als nur eine Spur von Angst mischt. »Die Große Kombination. Eine Million Kinder sind da auf den Treibriemen gestorben, und weitere zig Millionen werden ihnen noch folgen, soviel ich weiß. Aber das ist nicht deine Sache, Tyler. Du kriegst vielleicht doch noch eine Zukunft. Nur, dass ich vorher noch mein Stück von dir bekomme. Darauf kannst du dich verlassen.«

Er streckt die blutbefleckte Hand aus und tätschelt damit die obere Partie von Tys Gesäß.

»Einem guten Vermittler stehen zehn Prozent zu. Das weiß sogar ein alter Knacker wie ich.«

Die Hand wird zurückgezogen. Gut so. Ty war schon kurz davor loszukreischen und hat den Schrei nur unterdrücken können, indem er sich vorgestellt hat, mit dem guten alten George Rathbun im Miller Park zu sitzen. Hätte ich wirklich am KDCU-Preisausschreiben teilgenommen, sagt er sich, wäre das alles nicht passiert.

Er denkt aber auch, dass das vielleicht nicht wirklich stimmt. Manche Dinge sollen einfach passieren, da kann man nichts tun. Sie sollen passieren.

Er kann nur hoffen, dass die Dinge, die dieser scheußliche Alte vorhat, nicht dazu gehören.

»Nach links«, grunzt Burny und lehnt sich zurück. »Drei Meilen. Ungefähr.«

Nachdem Tyler abgebogen ist, erkennt er, dass die vom Erdboden aufsteigenden Nebelschwaden gar kein Nebel sind. Es sind Rauchschwaden.

»Sheol«, sagt Burny, als könne er Tylers Gedanken lesen. »Und das hier ist der einzige Weg, der da durchführt

- die Schlangenstraße. Wenn man von ihr abkommt, gibt’s da draußen Wesen, die einen in Stücke reißen würden, nur um einen schreien zu hören. Mein Freund hat mir zwar gesagt, wo ich dich hinbringen soll, aber vielleicht gibt’s ja eine klitzekleine Änderung.« Sein schmerzverzerrtes Gesicht nimmt einen verdrießlichen Ausdruck an. Ty findet, dass der Mann auf diese Weise außergewöhnlich dumm wirkt. »Er hat mir weh getan. Hat an meinem Gedärm gezerrt. Ich trau ihm nicht.« Dann stimmt er einen grausigen, kindlichen Singsang an: »Carl Bierstone traut Mr. Munshun nicht! Jetzt nicht mehr! Jetzt nicht mehr!«

Ty sagt nichts. Er konzentriert sich darauf, den Golfwagen in der Mitte der Straße zu halten. Er wagt noch einen kurzen Blick nach hinten, aber das Haus inmitten seines kurzlebigen Überflusses aus tropischem Grün ist nun nicht mehr zu sehen, sondern bereits hinter dem ersten der erodierten Hügel verschwunden.

»Er kriegt das Seine, aber zuerst bekomme ich das Meine. Hast du mich gehört, Junge?« Als Ty nichts sagt, schwenkt Burny den Elektroschocker. »Hast du mich gehört, du Arschgeigenaffe?«

»Ja«, sagt Ty. »Ja, klar.« Warum stirbt der Typ nicht einfach? Lieber Gott, wenn’s dich gibt, warum streckst du dann nicht deine Hand aus, legst einen Finger auf sein schwarzes Herz und lässt es still stehen?

Als Burny weiterspricht, klingt seine Stimme verschlagen. »Du hast dir die Mauer auf der anderen Seite angesehen, aber ich glaube nicht, dass du genau genug hingesehen hast. Sieh lieber noch mal hin.«

Tyler sieht an dem zusammengesackten Alten vorbei. Einen Augenblick lang versteht er nichts ... aber dann erkennt er, was gemeint ist. Die großen weißen Steine, die jenseits der Schlangenstraße eine scheinbar endlos lange Mauer bilden, sind gar keine Steine. Es sind Totenschädel.

Wohin ist er bloß geraten? O Gott, wie er sich nach seiner Mutter sehnt! Wie sehr er nach Hause will!

Ty, der wieder zu weinen beginnt und dessen Gehirn unter der Mütze, die wie aus Tuch aussieht, aber nicht aus Stoff ist, wie betäubt summt, lenkt den Golfwagen weiter und immer weiter ins Feuerland. Tiefer nach She-ol hinein.

Rettung - Hilfe irgendwelcher Art - ist ihm noch nie so fern erschienen.

27

Als Jack und Dale in die klimatisierte Kühle der Sand Bar treten, ist das Lokal bis auf drei Personen menschenleer. Beezer und Doc sitzen an der Bar und haben tatsächlich Cola vor sich stehen - eine Endzeiterscheinung, wenn’s je eine gegeben hat, denkt Jack. Weit hinten im Schatten (noch einen Schritt weiter, dann würde er in der primitiven Küche der Kneipe stehen) lungert Stinky Cheese herum. Von den Bikern gehen Vibrations aus, üble Schwingungen, mit denen Stinky nichts zu schaffen haben will. Zum einen hat er Beezer und Doc bisher noch nie ohne Mouse, Sonny und Kaiser Bill gesehen. Zum anderen . o Gott, das sind ja der Kriminalbeamte aus Kalifornien und der gottverdammte Polizeichef.

Die Jukebox ist unbeleuchtet und stumm, aber der Fernseher läuft, und Jack ist nicht gerade überrascht, als er sieht, dass das heutige Vormittagsprogramm seine Mutter und Woody Strode zeigt. Er kramt in seinem Gedächtnis nach dem Filmtitel, der ihm nach kurzem Nachdenken dann auch einfällt: Execution Express.

»Glaub mir, bei dieser Sache willst du nicht mitmachen, Bea«, sagt Woody gerade - in diesem Film spielt Lily eine Bostoner Millionenerbin namens Beatrice Lod-ge, die in den Westen kommt und dort Banditin wird, hauptsächlich um ihren überkorrekten Vater zu ärgern. »Sieht so aus, als wäre dies die letzte Unternehmung der Gang.«

»Gut«, sagt Lily. Ihre Miene ist frostig, ihr Blick noch frostiger. Der Film ist Scheiße, aber sie spielt ihre Rolle wie immer sehr überzeugend. Jack muss unwillkürlich schwach lächeln.

»Was hast du?«, fragt Dale ihn. »Die ganze Welt ist am Durchdrehen, und du grinst?«

Im Fernseher sagt Woody Strode gerade: »Was meinst du mit gut? Die ganze verdammte Welt ist am Durchdrehen.«

Und Jack Sawyer sagt kaum hörbar: »Wir knallen so viele ab, wie wir können. Damit sie wissen, dass wir da waren.«

Auf dem Fernsehschirm sagt Lily das Gleiche zu Woody. Die beiden sind dabei, in den Execution Express zu steigen, und bald werden Köpfe rollen - die der Guten, der Schlechten und der Hässlichen.

Dale starrt seinen Freund verblüfft an.

»Ich kenne die meisten ihrer Dialoge auswendig«, sagt Jack fast entschuldigend. »Die Frau da ist meine Mutter.«

Bevor Dale etwas antworten kann (immer vorausgesetzt, ihm fiele eine Antwort ein), tritt Jack zu Beezer und Doc an die Theke. Er wirft einen Blick auf die Reklameuhr für Kingsland Ale neben dem Fernseher: 11.40 Uhr. Es sollte zwölf Uhr mittags sein - in solchen Situationen sollte es immer zwölf Uhr mittags sein, ist doch so, oder?

»Jack«, sagt Beezer und nickt ihm zu. »Wie geht’s, Kumpel?«

»Nicht allzu schlecht. Seid ihr bewaffnet, Jungs?«

Doc öffnet seine Weste und lässt den Griff einer Pistole sehen. »Das ist eine Neun-Millimeter-Colt. Beez hat die Gleiche. Gute Schießeisen, beide ordnungsgemäß registriert.« Er mustert Dale. »Sie kommen auch mit, ja?«

»Das hier ist meine Stadt«, sagt Dale, »und der Fis-herman hat gerade meinen Onkel ermordet. Ich verstehe nicht allzu viel von dem, was Jack mir erzählt hat, aber einiges weiß ich jetzt. Und wenn er sagt, dass es eine Chance gibt, Judy Marshalls Sohn zurückzuholen, sollten wir’s versuchen, finde ich.« Er sieht zu Jack hinüber. »Ich habe dir eine von unseren Dienstwaffen mitgebracht. Eine Ruger. Sie liegt draußen im Wagen.«

Jack nickt geistesabwesend. Er macht sich nichts aus Schusswaffen, weil sie sich drüben auf der anderen Seite mit großer Sicherheit in etwas anderes verwandeln werden. In Spieße, wahrscheinlich in Wurfspeere. Vielleicht sogar in Steinschleudern. Gewiss, sie sind im Begriff, in den Execution Express zu steigen - zur letzten Unternehmung der Sawyer-Gang -, aber Jack bezweifelt, dass er viel Ähnlichkeit mit dem Zug in diesem alten Film aus den Sechzigerjahren haben wird. Trotzdem wird er sich die Ruger geben lassen. Vielleicht gibt’s ja auf dieser Seite Arbeit für sie. Man kann ja nie wissen.

»Kann’s losgehen?«, sagt Beezer zu Jack. In seinen tief in den Höhlen liegenden Augen steht ein gehetzter Ausdruck. Jack vermutet, dass der Beez letzte Nacht nicht viel Schlaf abbekommen hat. Er sieht noch mal zur Wanduhr hinüber und beschließt - rein aus Aberglauben -, dass er eigentlich doch noch nicht zu Black House aufbrechen will. Sie werden die Sand Bar verlassen, wenn die Zeiger der Kingsland-Uhr sich um Punkt zwölf Uhr überdecken. Zu Gary Coopers Geisterstunde, keine Sekunde früher.

»Bald«, sagt er. »Hast du die Karte dabei, Beez?«

»Ich hab sie, aber ich hab auch den Verdacht, dass du sie eigentlich nicht brauchst, stimmt’s?«

»Mag sein«, sagt Jack, »aber ich nehme alles, was ich an Rückversicherung kriegen kann.«

Beezer nickt. »Das kann ich verstehen. Ich hab meine Alte zu ihrer Mama nach Idaho geschickt. Nach dem, was dem armen alten Mousie zugestoßen ist, hat’s nicht viel Mühe gekostet, sie dazu zu überreden. Ich hab sie noch nie zurückgeschickt, Mann. Nicht mal, als wir echt Zoff mit den Pagans hatten. Aber bei der Sache hier hab ich ein schlimmes Gefühl.« Er zögert, dann rückt er damit heraus, was er denkt: »Ich glaube, dass keiner von uns heil zurückkommen wird.«

Jack legt Beezer eine Hand auf den muskulösen Unterarm. »Noch kannst du aussteigen. Ich würde trotzdem nicht weniger von dir halten.«

Beezer scheint kurz darüber nachzudenken, dann schüttelt er den Kopf. »Amy besucht mich manchmal im Traum. Wir reden miteinander. Wir soll ich ihr da in die Augen schauen können, wenn ich mich nicht für sie in den Kampf stürze? Nein, Mann, ich komme mit.«

Jack sieht zu Doc hinüber.

»Beez hat Recht«, sagt Doc. »Manchmal muss man Farbe bekennen. Und nach dem, was Mouse zugestoßen ist . « Er zuckt mit den Schultern. »Gott weiß, was wir uns vielleicht von ihm eingefangen haben. Oder bei dem Rumgemache da draußen bei dem Haus. Vielleicht haben wir sowieso nicht mehr lange zu leben.«

»Wie ist’s eigentlich mit Mouse ausgegangen?«, fragt Jack.

Doc lacht trocken. »Genau, wie er gesagt hat. Heute Morgen gegen drei Uhr haben wir den alten Mousie in der Badewanne weggespült. Nichts übrig außer Schaum und Haare.« Er verzieht das Gesicht, als würde sein Magen rebellieren, und trinkt dann schnell seine Cola aus.

»Wenn wir was tun wollen«, stößt Dale hervor, »sollten wir’s einfach tun.«

Jack sieht wieder zur Reklameuhr auf. Inzwischen ist es 11.50 Uhr. »Bald.«

»Ich hab keine Angst vor dem Sterben«, sagt Beezer plötzlich. »Ich hab nicht mal Angst vor diesem Höllenhund. Er ist verwundbar, wenn man ihn mit Blei voll pumpt, das haben wir ja gesehen. Das Schlimme ist nur, wie man sich in der Nähe von diesem gottverdammten Hauses fühlt. Die Luft wird dick. Man kriegt Kopfschmerzen und ist auf einmal ganz schwach.« Dann fügt er mit überraschend gepflegtem britischem Akzent hinzu: »Verkatert ist ein Dreck dagegen, alter Junge.«

»Bei mir waren die Magenschmerzen das Schlimmste«, sagt Doc. »Die und .« Aber er spricht nicht weiter. Er will um nichts in der Welt über Daisy Temperly reden, das kleine Mädchen, das er durch einen irrtümlichen Federstrich auf einer Verschreibung umgebracht hat, aber er sieht sie jetzt so deutlich vor sich wie die angeblichen Cowboys auf dem Fernsehschirm der Sand Bar. Sie ist blond gewesen. Braune Augen. Manchmal hat er sie zum Lächeln gebracht (trotz ihrer Schmerzen), indem er ihr diesen Van-Morrison-Song, »Brown-Eyed-Girl«, vorgesungen hat.

»Ich komme für Mouse mit«, sagt Doc. »Ich muss einfach. Aber da draußen ... da ist’s echt schlimm. Davon hast du keine Ahnung, Mann. Du glaubst vielleicht, dass du’s verstehst, aber vergiss es.«

»Ich verstehe es besser, als ihr denkt«, sagt Jack. Nun muss er eine Pause machen, um sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Erinnern Beezer und Doc sich an das Wort, das Mouse gesagt hat, bevor er gestorben ist? Erinnern sie sich an d’yamba? Das müssten sie eigentlich, schließlich waren sie ja dabei und haben gesehen, wie die Bücher vom Regal rutschten und in der Luft hingen, als Jack dieses Zauberwort ausgesprochen hat ... aber Jack weiß ziemlich sicher, dass sie ihn verwirrt oder auch nur verständnislos anstarren würden, wenn er sie jetzt danach fragen würde. Das liegt auch daran, dass d’yamba so schwierig im Gedächtnis zu behalten ist wie die genaue Lage der Zufahrt, die von der vernünftigen, von Verwerfungen unbehelligte Route 35 zu Black House führt. Vor allem jedoch daran, dass dieses Wort für ihn bestimmt war: für Jack Sawyer, Phils und Lilys Sohn. Er ist der Boss der Sawyer-Gang, weil er anders ist. Er ist schon gereist, und Reisen bildet.

Wie viel von all dem soll er den anderen erzählen? Vermutlich am besten gar nichts. Aber sie brauchen etwas, woran sie glauben, und damit sie das tun, muss er das Wort von Mouse gebrauchen. Gefühlsmäßig weiß er, dass er sparsam damit umgehen muss - d’yamba gleicht einer Waffe, aus der man nur eine bestimmte Anzahl von Schüssen abgeben kann, bis sie ins Leere klickt -, und es widerstrebt Jack heftig, dieses Zauberwort hier, so weit von dem schwarzen Haus entfernt, zu gebrauchen, aber er wird es tun. Weil sie etwas brauchen, woran sie glauben. Tun sie’s nicht, kann ihr tapferer Versuch, Ty zu retten, leicht damit enden, dass sie alle im Vorgarten von Black House knien, aus Nase und Augen bluten und Zähne in die vergiftete Luft spucken. Jack könnte ihnen erklären, dass das meiste Gift aus ihren eigenen Köpfen kommt, aber Reden ist wohlfeil. Sie müssen glauben.

Außerdem ist es erst 11:53 Uhr.

»Lester«, sagt er.

Der Barmann lungert weiter unbeachtet an der Schwingtür zur Küche herum. Er horcht nicht - dazu ist er zu weit entfernt -, sondern versucht vielmehr, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber jetzt scheint er doch jemanden auf sich aufmerksam gemacht zu haben.

»Haben Sie Honig da?«, fragt Jack.

»H-Honig?«

»Richtigen Honig, wie ihn Bienen machen, Lester.«

In Lesters Blick steigt eine Art Verständnis auf. »Yeah, klar. Ich brauch ihn für Kentucky Getaways. Und für ...«

»Stellen Sie ihn auf die Theke«, weist Jack ihn an.

Dale bewegt sich unruhig. »Wenn wir’s so eilig haben, wie du glaubst, Jack .«

»Das hier ist wichtig.« Er beobachtet, wie Lester Moon eine kleine elastische Plastikflasche mit Honig vor sich auf die Theke stellt, und muss unwillkürlich an Henry denken. Wie Henry das Miniwunder gefallen würde, das Jack vorzuführen im Begriff ist! Aber Henry hätte er natürlich keinen Trick dieser Art vorführen müssen. Für Henry hätte er nichts von der kostbaren Kraft des Zauberworts vergeuden müssen. Denn Henry hätte ihm sofort geglaubt, genau wie er geglaubt hatte, von Trempea-leau nach French Landing fahren zu können - Teufel, bis zum gottverdammten Mond -, wenn jemand nur den Mut gehabt hätte, ihm eine Chance und seine Autoschlüssel zu geben.

»Ich bring sie Ihnen«, sagt Lester tapfer. »Ich hab keine Angst.«

»Lassen Sie sie einfach am Ende der Theke stehen«, sagt Jack. »Das ist bestens.«

Lester tut wie geheißen. Die Plastikflasche ist wie ein Bär geformt. Sie steht dort in einem Lichtstrahl der Sechs-vor-zwölf-Uhr-Sonne. Im Fernsehen hat die Schießerei angefangen, aber Jack achtet nicht darauf. Er ignoriert alles andere und konzentriert seinen Geist wie das Licht im Brennpunkt eines Vergrößerungsglases. Den entstandenen scharf umgrenzten Lichtpunkt lässt er zunächst leer, dann füllt er ihn mit einem einzigen Wort aus:

D'YAMBA

Sofort hört Jack ein leises Summen. Es schwillt zu einem Brummen an. Beezer, Doc und Dale sehen sich um. Einen Augenblick lang passiert nichts, dann verdunkelt sich der sonnenhelle Eingang. Man könnte fast glauben, eine sehr kleine Regenwolke sei in die Sand Bar hereingeschwebt ...

Stinky Cheese stößt ein ersticktes Quieken aus und weicht mit den Armen rudernd zurück. »Wespen!«, ruft er. »Das sind Wespen! Raus hier!«

Aber es sind keine Wespen. Lester Moon und Doc erkennen das vielleicht nicht, aber Dale Gilbertson und Beezer sind Jungen vom Land. Sie erkennen Bienen, wenn sie welche sehen. Jack hat inzwischen nur Augen für den Schwarm. Auf seiner Stirn stehen Schweißperlen. Er konzentriert sich mit aller Kraft darauf, was die Bienen jetzt tun sollen.

Sie drängen sich in solcher Zahl um die Plastikflasche, dass sie beinahe verschwindet. Dann wird ihr Summen tiefer, und die Flasche beginnt sich zu erheben, wobei sie wie eine winzige Rakete mit einem wirklich beschissenen Steuerungssystem von einer Seite zur anderen schwankt. Dann taumelt sie langsam fliegend auf die Sawyer-Gang zu. Die Plastikflasche schwebt von einem Polster aus Bienen getragen eine Handbreit über der Theke dahin.

Jack streckt eine offene Hand aus. Die Plastikflasche gleitet hinein. Jack schließt die Finger um sie. Das Andockmanöver ist beendet.

Einen Augenblick lang umschwirren die Bienen seinen Kopf, und ihr Brummen übertönt fast Lilys Stimme, die jetzt ruft: »Überlasst den großen Hundesohn mir! Das ist der Kerl, der Stella vergewaltigt hat!«

Dann strömen die Bienen zur Tür hinaus und sind wieder fort.

Die Reklameuhr zeigt 11.57 Uhr an.

»Heilige Maria, Mutter Gottes«, flüstert Beezer. Er hat die Augen weit aufgerissen, dass sie fast aus ihren Höhlen zu quellen scheinen.

»Du hast dein Licht bisher aber ziemlich unter den Scheffel gestellt, denk ich mal«, sagt Dale. Seine Stimme klingt unsicher.

Vom anderen Ende der Bar her ist ein halb lauter dumpfer Schlag zu hören. Lester »Stinky Cheese« ist zum ersten Mal in seinem Leben in Ohnmacht gefallen.

»Okay, wir fahren jetzt«, sagt Jack. »Beez, du übernimmst mit Doc die Führung. Wir bleiben mit Dales Wagen dicht hinter euch. Erreicht ihr die Einfahrt und das Zutrittverboten-Schild, fahrt ihr nicht rein. Ihr stellt nur eure Maschinen ab. Wir fahren den Rest der Strecke mit dem Auto. Aber erst reiben wir uns noch etwas hiervon unter die Nase.« Jack hält die elastische Flasche hoch: eine Plastikversion von Pu der Bär, der um den Bauch herum, wo Lester ihn üblicherweise anfasst und zusammendrückt, schmuddelig ist. »Vielleicht sollten wir uns davon sogar etwas in die Nasenlöcher schmieren. Ist ein bisschen klebrig, aber immer noch besser als Zielkotzen.«

In Dales Blick dämmern Verständnis und Zustimmung. »Als ob man sich vor einer Tatortbesichtigung etwas Pinimentol unter die Nase reibt«, sagt er.

So ist’s zwar keineswegs, aber Jack nickt ihm trotzdem zu. Hier geht’s nämlich lediglich darum, zu glauben.

»Hilft das wirklich?«, fragt Doc zweifelnd.

»Ja«, antwortet Jack. »Wir werden leichtes Unbehagen empfinden, daran zweifle ich nicht im Geringsten, aber es wird halb so schlimm sein. Dann werden wir in . nun, an einen anderen Ort überwechseln. Danach kann ich für nichts mehr garantieren.«

»Ich dachte, der Junge ist in dem Haus«, sagt Beezer.

»Ich vermute, dass er fortgeschafft worden ist. Und was das Haus betrifft . es ist eine Art Wurmloch. Es ist der Eingang zu einer anderen .« Welt ist das erste Wort, das Jack einfällt, aber irgendwie hält er dieses Reich nicht für eine Welt, nicht im Sinn etwa der Territorien. »Zu einem anderen Ort.«

Im Fernsehen hat Lily gerade die erste von ungefähr sechs Kugeln abbekommen. Sie stirbt in diesem Film, den Jack als kleiner Junge deshalb nie ausstehen konnte, aber sie geht wenigstens kämpfend unter. Sie nimmt ziemlich viele der Bösen mit sich, auch den großen Kerl, der ihre Freundin vergewaltigt hat, und das ist immerhin etwas. Jack hofft, dass er das Gleiche tun kann. Noch mehr hofft er jedoch, dass es ihm gelingen wird, Tyler Marshall zu seinen Eltern zurückzubringen.

Die Reklameuhr neben dem Fernseher springt von 11.59 auf 12.00 Uhr.

»Kommt, Jungs«, sagt Jack Sawyer. »Wird Zeit, aufzusatteln und loszureiten.«

Beezer und Doc besteigen ihre Harleys. Jack und Dale, die zum Wagen des Polizeichefs unterwegs sind, bleiben stehen, weil ein Ford-Pickup, der gerade auf den Parkplatz der Sand Bar abbiegt, auf dem Kies ins Schleudern gerät. Er wird gerade noch abgefangen und rast dann weiter auf sie zu, wobei er in der stillen Sommerluft eine riesige Staubwolke hinter sich herzieht.

»Jesses«, murmelt Dale. Jack erkennt an der viel zu kleinen Baseballmütze, die lächerlich schief auf dem Kopf des Fahrers sitzt, dass dort Fred Marshall im Anmarsch ist. Wenn Tys Vater allerdings glaubt, dass er sich dem Rettungsunternehmen anschließen kann, irrt er sich gewaltig.

»Gott sei Dank, dass ich Sie noch erwischt habe!«, ruft Fred, der praktisch aus dem Pickup fällt. »Gott sei Dank!«

»Wer als Nächster?«, sagt Dale halb laut. »Wendell Green? Tom Cruise? George W Bush Arm in Arm mit Miss Fucking Universum?«

Jack hört kaum zu. Fred zerrt plötzlich ein längliches Paket von der Ladefläche seines Wagens, was Jack interessiert beobachtet. Das Paket sieht aus, als könnte es ein Gewehr enthalten, aber irgendwie ahnt er, dass es etwas anderes ist. Jack kommt sich auf einmal wie eine Plastikflasche vor, die von Bienen hochgehoben wird - weniger aktives Subjekt als passives Objekt. Er setzt sich in Bewegung.

»He, Bruder, wir müssen los!«, ruft Beezer. Unter ihm explodiert seine Harley zum Leben. »Wir .«

Dann stößt Beezer einen Schrei aus. Das tut auch Doc, der dabei so heftig zusammenfährt, dass er das zwischen seinen Beinen im Leerlauf brabbelnde Bike fast umwirft. Jack hat das Gefühl, ihm würde ein Blitzstrahl durch den Kopf zucken, und taumelt gleich darauf in Richtung Fred, der ebenfalls unverständliches Zeug brüllt. Einen Augenblick lang scheinen die beiden mit dem langen eingepackten Gegenstand, den Fred mitgebracht hat, zu tanzen oder um ihn zu ringen.

Einzig Dale Gilbertson - der weder in den Territorien war noch in die Nähe von Black House gekommen ist, noch Ty Marshalls Vater ist - bleibt unberührt. Aber selbst er fühlt, wie ihm etwas im Kopf aufsteigt, etwas, was einem innerlichen Schrei gleicht. Die Welt bebt. Dann scheint sie plötzlich mehr Farbe, mehr Kontrast aufzuweisen.

»Was war das?«, brüllt er. »Gut oder schlecht? Gut oder schlecht? Was zum Teufel geht hier vor?«

Zunächst antwortet ihm keiner der anderen. Sie sind zu benommen, um zu antworten.

Während in einer anderen Welt ein Bienenschwarm eine Plastikflasche mit Honig über eine Bartheke schweben lässt, befiehlt Burny dem kleinen Ty Marshall, sich an die Wand zu stellen, verdammt noch mal, sich einfach an die Wand zu stellen.

Sie sind in einer elenden kleinen Hütte. Der scheppernde Maschinenlärm ist hier viel näher. Ty kann auch Schreie und Schluchzen und lautes Gebrüll und etwas hören, was nur das zischende Knallen von Peitschen sein kann. Sie sind ganz in der Nähe der Großen Kombination. Ty hat sie gesehen: ein gigantisches Metallgewirr, das ungefähr eine halbe Meile weiter östlich aus einer rauchenden Grube bis in die Wolken aufragt. Sie sieht aus, wie ein Verrückter sich einen Wolkenkratzer vorstellen könnte, eine von Rube Goldberg entworfene Ansammlung von Rutschen und Stahlseilen und Förderbändern und Plattformen, alles von den marschierenden, taumelnden Kindern angetrieben, die mühsam die Förderbänder in Gang halten und die großen Hebel ziehen. Rötlich gefärbter Rauch steigt in stinkenden Schwaden daraus auf.

Als der Golfwagen - mit Ty am Steuer, während Burny, der ihn weiter mit dem Elektroschocker bedrohte, schräg auf dem Beifahrersitz lehnte - langsam dahinrollte, waren ihnen zweimal Gruppen von bizarren grünen Männern begegnet. Ihre Gesichtszüge waren verzerrt, ihre Schuppenhaut erinnerte an Reptilien. Sie trugen Kittel aus halb gegerbtem Leder, an denen noch Fellbüschel hafteten. Die meisten waren mit Speeren bewaffnet; einige hatten Peitschen dabei.

Aufseher, sagte Burny. Sie halten die Räder des Fortschritts in Gang. Er fing an zu lachen, aber aus dem Lachen wurde ein Stöhnen, und dieses Stöhnen wurde zu einem rauen, atemlosen Schmerzensschrei.

Gut, dachte Ty eisig. Und dann benützte er in Gedanken zum ersten Mal einen von Ebbie Wexlers Lieblingsausdrücken: Stirb so schnell du kannst, du Motherfucker.

Etwa zwei Meilen von der Rückseite von Black House entfernt kamen sie an einer riesigen hölzernen Plattform vorbei, die am linken Straßenrand stand. Auf ihr erhob sich ein portalartiges Gerüst, aus dem ein langer Balken bis fast über die Straße reichte. Von diesem Balken hingen mehrere ausgefranste Seilenden herab, die im heißen, schwefligen Wind hin und her schwangen. Unter der Plattform, auf toter Erde, die nie ein Sonnenstrahl berührt hat, lagen kleine Haufen von Knochen, die teilweise schon zu weißem Staub zerfallen waren. Etwas abseits war ein ganzer Berg von Schuhen aufgetürmt. Weshalb die Kleidung mitgenommen und das Schuhwerk dagelassen wurde, war eine Frage, die Ty vermutlich auch dann nicht hätte beantworten können, wenn er die Mütze (sschbezelle Spielsachn für schbezelle Junx) nicht getragen hätte. Ihm fiel nur ein einzelner Ausdruck ein: Landessitte. Er hatte das Gefühl, diesen Ausdruck habe sein Vater manchmal gebraucht, war sich seiner Sache aber nicht ganz sicher. Er konnte sich nicht einmal mehr an das Gesicht seines Vaters erinnern, jedenfalls nicht deutlich.

Auf dem Galgen saßen Krähen. Sie stritten krächzend miteinander und beobachteten den summend vorbeifahrenden Golfwagen mit scharfen Blicken. Keiner dieser schwarzen Vögel war die spezielle Rabenkrähe, an deren Namen Ty sich nicht mehr erinnern konnte, aber er wusste, was sie hier machten. Sie warteten auf frisches Fleisch, nichts anderes taten sie. Warteten darauf, die Augen frisch Gehenkter verzehren zu können. Von den nackten Zehchen der barfuß Gestorbenen ganz zu schweigen.

Hinter dem Berg aus abgestreiften, verrottenden Schuhen führte eine mit Schlaglöchern übersäte schmale Straße nach Norden einen rauchenden Hügel hinauf.

»Station House Road«, sagte Burny. Er schien jetzt mehr mit sich selbst als mit Ty zu reden, als ob er vielleicht schon in eine Art Delirium verfiel. Trotzdem blieb der Elektroschocker unbeirrbar auf Tys Hals gerichtet.

»Dorthin soll ich den speziellen Jungen bringen.« Den schbezellen Jungn bringn. »Dort müssen die Speziellen hin. Mr. Munshun ist unterwegs, um die EndweltEinschienenbahn zu holen. Früher hat’s noch zwei andere gegeben. Patricia und . Blaine. Aber die sind tot. Sind verrückt geworden. Haben sich umgebracht.«

Ty lenkte den Golfwagen schweigend weiter. Er vermutete, dass der alte Burn-Burn derjenige sei, der verrückt geworden ist (verrückter, verbessert er sich). Er wusste zwar, was eine Einschienenbahn war - er war in Disney World in Orlando sogar schon mal mit einer gefahren -, aber Einschienenbahnen, die Blaine und Patricia hießen? Das war idiotisch.

Die Station House Road blieb hinter ihnen zurück. Vor ihnen ragte die rostbraune und eisengraue Große Kombination immer höher in den Himmel auf. Ty konnte die menschlichen Ameisen sehen, die sich auf ihren grausam steilen Laufbändern bewegten. Manche davon vielleicht aus anderen Welten - aus benachbarten Welten -, aber viele aus seiner eigenen. Kinder, deren Gesichter für einige Zeit in Vermisstenanzeigen erschienen waren, um dann auf ewig zu verschwinden. In den Herzen ihrer Eltern lebten sie natürlich etwas länger weiter, bis sie auch dort Staub ansetzten und sich aus lebendigen Erinnerungen in alte Fotos verwandelten. Kinder, die als tot galten - von Perversen, die sie benutzt und dann beseitigt hatten, irgendwo in flachen Gräbern verscharrt. Stattdessen waren sie hier. Zumindest einige davon. Viele davon. Mühten sich ab, die Hebel zu ziehen und die Räder zu drehen und die Bänder anzutreiben, während die gelbäugigen, grünhäutigen Aufseher die Peitschen knallen ließen.

Vor Tys Augen stürzte eine der menschlichen Ameisen über die Seite des verwinkelten, in Dampf und Rauch gehüllten Komplexes. Er glaubte, einen leisen Aufschrei zu hören. Oder war das vielleicht ein Schrei der Erleichterung gewesen?

»Schöner Tag heute«, sagte Burny mit schwacher Stimme. »Noch mehr Spaß wird er machen, wenn ich was zu essen kriege. Etwas zwischen die Zähne zu kriegen . möbelt mich immer am besten auf.« Seine alten Augen musterten Ty, verengten sich mit plötzlicher Wärme ein wenig in den Augenwinkeln. »Babyarsch schmeckt am besten, aber deiner ist bestimmt auch nicht übel. Nee, bestimmt gar nicht übel. Er hat gesagt, dass ich dich zur Station bringen soll, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir meinen Anteil auch geben wird. Meine ... Provision. Vielleicht ist er ja ehrlich . vielleicht ist er weiterhin mein Freund ... aber ich glaube, ich nehme mir meinen Teil lieber im Voraus, um ganz sicherzugehen. Die meisten Vermittler ziehen ihre zehn Prozent üblicherweise vorneweg ab.« Er streckte eine Hand aus und stieß Ty knapp unterhalb der Gürtellinie an. Selbst durch die Jeans hindurch konnte der Junge den stumpfen, harten Rand des Fingernagels des Alten spüren. »Ich glaube, ich werde meine hinten abziehen.« Ein keuchendes, schmerzliches Lachen, und Ty war nicht unzufrieden, als er zwischen den rissigen Lippen des Alten eine hellrote Blutblase erscheinen sah. »Hinten, verstehst du?« Mit dem Fingernagel stieß er Ty von der Seite noch einmal am Gesäß an.

»Schon verstanden«, sagte Ty.

»Du kannst trotzdem noch genauso gut brechen«, sagte Burny. »Nur wenn du furzen willst, musst du’s jedes Mal auf nur einer Arschbacke tun!« Wieder ein keuchendes Lachen. Ja, es klang wirklich, als würde er sich im Delirium befinden - oder jedenfalls kurz davor -, aber die Stahlspitze des Elektroschockers zitterte nicht im Geringsten. »Fahr weiter, Junge. Noch eine halbe Meile die Schlangenstraße entlang. Dann siehst du in einer Mulde eine kleine Hütte mit Blechdach. Rechts neben der Straße. Ist ein besonderer Ort. Jedenfalls für mich. Genau da biegst du rechts ab.«

Ty, dem nichts anderes übrig blieb, hatte gehorcht. Und jetzt .

»Tu, was ich dir sage! Stell dich an die verdammte Wand! Heb die Hände und steck sie durch die Schlaufen da!«

Ty könnte das Wort Euphemismus nicht aus dem Stegreif definieren, aber er weiß, dass es Bockmist ist, diese Metallringe als »Schlaufen« zu bezeichnen. Was da an der Rückwand der Hütte hängt, sind Fesseln.

Panik flattert ihm durchs Gehirn wie ein kleiner Vogelschwarm und droht, seine Gedanken zu verdunkeln. Ty kämpft darum, nicht unterzugehen - kämpft mit grimmiger Entschlossenheit. Erliegt er dieser Panik, fängt er zu jammern und zu kreischen an, ist er erledigt. Dann bringt der Alte ihn um, während er ein Stück von ihm absäbelt, oder der Freund des Alten verschleppt ihn an irgendeinen schrecklichen Ort, den der alte Mann immer Din-tah nennt. In beiden Fällen wird Ty seine El-tern niemals wiedersehen. Auch French Landing nicht. Wenn er aber einen kühlen Kopf bewahrt ... auf seine Chance lauert .

Ach, aber wie schwer ist das. In dieser Beziehung ist die Mütze, die er auf dem Kopf trägt, sogar irgendwie nützlich, weil ihre abstumpfende Wirkung die in Ty aufsteigende Panik dämpft, aber es ist trotzdem schwer. Weil er nicht das erste Kind ist, das der Alte hierher verschleppt hat, so wenig er das erste war, das quälend lange Stunden in jener Zelle im Haus des Alten verbracht hat. In der linken hinteren Ecke der Hütte befindet sich unter einem mit Blech ausgekleideten Rauchfang ein rußiger Gasgrill, an dem alte Fettschichten haften. Der Grill ist an zwei Propanflaschen angeschlossen, auf deren Seiten in Schablonenschrift La Riviere Propane steht. An der Wand darüber hängen Topflappen, Bratenwender, eine Zange, Fettpinsel und Fleischgabeln. Neben Scheren gibt es dort auch Hämmer, mit denen man Fleisch weich klopfen kann, und mindestens vier scharfe Tranchiermesser. Eines dieser Messer sieht fast so lang wie ein Zeremonienschwert aus.

Neben all dem anderen baumelt eine schmuddelige Schürze mit dem Aufdruck Es ist erlaubt, den Koch zu küssen.

Der in der Luft hängende Geruch erinnert Ty an das Picknick der Veteranenvereinigung, zu dem seine Eltern ihn letztes Jahr am Labor Day mitgenommen haben. »Maui Wowie«, so hat es geheißen, weil die Gäste sich vorkommen sollten, als verbrächten sie den Tag auf Hawaii. Mitten im La Follette Park unten am Fluss war un-ter Aufsicht von Frauen in Baströcken und Männern in grellbunten Hawaiihemden gegrillt worden. Über einer mit Glut gefüllten Feuergrube waren ganze Schweine gebraten worden, und der Geruch war ähnlich wie der in dieser Hütte gewesen. Bloß war der Geruch hier abgestanden . und alt . und .

Das ist nicht ganz der Geruch von Schweinefleisch, denkt Ty. Hier riecht es nach ...

»Soll ich den ganzen Tag dastehen und mir den Mund fusselig reden, du Ratte?«

Der Elektroschocker knattert zischend. Kribbelnder, lähmender Schmerz breitet sich von Tys linker Halsseite durch den ganzen Körper aus. Unwillkürlich entleert sich seine Blase, und macht sich in die Hose. Er kann es einfach nicht verhindern. In Wirklichkeit nimmt er es sogar kaum wahr. Irgendwo (in einer unendlich fernen Galaxie) stößt eine Hand, die zwar zittert, aber noch immer erschreckend kräftig ist, Ty zu der Hüttenwand mit den Fesseln, die knapp unterhalb Mannshöhe an Stahlplatten festgeschweißt sind.

»So!«, ruft Burny mit müdem, hysterischem Lachen. »Hab doch gewusst, dass du noch einen kriegen würdest, damit’s Glück bringt! Bist ein ganz Schlauer, was? Kleiner Klugscheißer! Steck jetzt die Hände durch die Ringe, und lass den Blödsinn!«

Ty hat beide Hände ausgestreckt, um zu verhindern, dass er mit dem Gesicht voraus an die Rückwand der Hütte knallt. Mit den Augen dicht vor dem Holz, kann er die darauf angetrockneten alten Blutschichten sehr gut erkennen. Mit denen es in dicken Schichten überzogen ist. Das Blut verströmt einen alten, metallischen Geruch. Der Boden unter ihm fühlt sich schwammig an. Gallertartig. Widerlich. Das mag nur Einbildung sein, aber Ty weiß, dass sein Gefühl eine sehr reale Grundlage hat. Das hier ist Leichengrund. Der Alte bereitet vielleicht nicht jede seiner schrecklichen Mahlzeiten hier zu - hat vielleicht nicht immer Gelegenheit dazu -, aber es ist ein Ort, der ihm gefällt. Ein besonderer Ort, wie er selbst gesagt hat.

Wenn du zulässt, dass er dich mit beiden Händen an die Ringe fesselt, denkt Ty, bist du erledigt. Dann schneidet er dich auf Und hat er erst mal zu säbeln angefangen, kann er vielleicht nicht wieder damit auf hören - nicht um Mr. Mun-chings willen, um niemands willen. Sei also bereit!

Dieser letzte Gedanke hat keinerlei Ähnlichkeit mit seinen eigenen. Ihm kommt es so vor, als würde er im Kopf die Stimme seiner Mutter hören. Die seiner Mutter oder einer Frau, die ihr sehr ähnlich ist. Ty richtet sich auf. Der Schwarm Panikvögel ist plötzlich fort, und er ist so klar im Kopf, wie die Mütze es nur zulässt. Er weiß jetzt, was er tun muss. Oder wenigstens zu tun versuchen muss.

Er spürt, wie ihm die Stahlspitze des Elektroschockers zwischen die Beine geschoben wird, und muss an die Schlange denken, die sich mit einem Maul voller Reißzähne über die überwucherte Zufahrt geschlängelt hat. »Steck die Hände sofort durch die Ringe, sonst brate ich dir die Eier.« Oier, so klingt’s aus dem Mund des Alten.

»Okay«, sagt Ty. Er spricht mit hoher, weinerlicher Stimme, die hoffentlich so klingt, als könnte er vor Angst keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es sollte weiß Gott nicht allzu schwierig sein, diesen Eindruck zu erwecken. »Okay, okay, nur nicht mehr weh tun, ich mach’s ja schon, sehen Sie nicht? Sehen Sie nicht?«

Er steckt die Hände durch die Stahlringe, die groß und weit sind.

»Höher!« Die knurrende Stimme ist weiterhin dicht neben seinem Ohr zu hören, aber wenigstens hat er den Elektroschocker nicht mehr zwischen den Beinen. »Steck sie durch, so weit du kannst!«

Ty tut wie geheißen. Die Fesseln liegen jetzt an den Unterarmen an. Die Handgelenke ragen weit aus den Stahlringen heraus. Im Halbdunkel sehen seine Hände wie Seesterne aus. Hinter sich hört er wieder ein leises Klirren, weil Burny offenbar in seinem Lederbeutel wühlt. Ty versteht, was das bedeutet. Die Mütze setzt sein Denkvermögen zwar etwas herab, aber dieses Geräusch ist unmöglich zu verkennen. Der alte Dreckskerl hat dort drinnen Handschellen, die er schon unzählige Male benutzt hat. Damit wird er die Handgelenke oberhalb der Stahlringe aneinander fesseln, und Ty wird hier stehen -oder baumeln, sollte er bewusstlos werden -, während das alte Ungeheuer sich einen Braten von ihm abschneidet.

»Pass auf«, sagt Burny. Seine Stimme klingt atemlos, aber auch wieder lebhaft. Die Aussicht auf eine Mahlzeit hat ihn belebt, ihm ein gewisses Maß an Vitalität zurückgegeben. »Der Elektroschocker bleibt auf dich gerichtet. Mit der anderen Hand lege ich dir links eine Handschelle an. Wenn du dich bewegst ... wenn du auch nur zuckst, Junge ... kriegst du die volle Ladung. Kapiert?«

Ty nickt der blutfleckigen Wand vor sich zu. »Ich beweg mich nicht«, wimmert er. »Ehrlich nicht!«

»Erst eine Hand, dann die andere. So mach ich’s immer.« Aus seinem Tonfall spricht Selbstzufriedenheit, die nur widerwärtig ist. Der Elektroschocker wird Ty schmerzhaft stark zwischen die Schulterblätter gepresst. Der Alte beugt sich vor Anstrengung grunzend über die linke Schulter des Jungen. Ty kann Schweiß und Blut und Alter riechen. Wie in »Hänsel und Gretel«, sagt er sich, nur dass er keinen Backofen hat, in den er seinen Peiniger stoßen kann.

Du weißt, was du tun musst, erklärt Judy ihm kühl. Vielleicht gibt er dir ja keine Chance, und wenn er’s nicht tut, tut er’s eben nicht. Aber falls er’s tut ...

Eine Handschelle gleitet um das linke Handgelenk. Burny grunzt Ty auf ekelhafte Weise leise ins Ohr. Der Alte reckt sich . verändert dadurch die Position des Elektroschockers ... aber nicht weit genug. Ty hält still, während Burny die Handschelle zuschnappen lässt und dann noch etwas fester zusammendrückt. Damit ist Tys linke Hand an die Hüttenwand gefesselt. Vom Handgelenk baumelt an ihrer Stahlkette die Zwillingsschelle herab, die Burny ihm gleich rechts anlegen wird.

Der Alte, der weiter vor Anstrengung keucht, tritt nach rechts. Er greift an Tys Brust vorbei, um die baumelnde Handschelle zu erreichen. Der Elektroschocker bohrt sich Ty wieder in den Rücken. Bekommt Burny die Handschelle zu fassen, ist Ty vermutlich endgültig erledigt (in mehr als nur einer Beziehung). Und der Alte schafft es auch beinahe. Die Handschelle gleitet ihm aus den Fingern, aber statt zu warten, bis sie zurückschwingt, beugt er sich noch weiter nach vorn. Dabei ist seine knochige linke Gesichtshälfte an Tys rechte Schulter gepresst.

Als der Alte sich vorbeugt, um die baumelnde Handschelle zu ergreifen, spürt Ty, wie der Druck des Elektro-schockers erst nachlässt und dann ganz verschwindet.

Jetzt!, kreischt Judy in Tys Kopf. Vielleicht ist’s auch Sophie. Vielleicht sind es beide zusammen. Jetzt, Ty! Das ist deine Chance, du bekommst keine zweite!

Ty stößt den rechten Arm nach unten und zieht ihn so aus der Fessel. Es hätte keinen Zweck, den Alten wegschubsen zu wollen - das alte Ungeheuer könnte leicht das Doppelte wie er wiegen -, und Ty versucht es gar nicht erst. Stattdessen weicht er nach links zurück, was wiederum bewirkt, dass er fast unerträglichen Druck auf seine Schulter und das linke Handgelenk ausübt, das durch die Handschelle festgehalten wird.

»Was .«, ruft der Alte, aber dann hat Ty tastend gefunden, was er gesucht hat: den lose herabbaumelnden Hodensack des Alten. Er drückt ihn mit aller Kraft zusammen. Er spürt, wie die Hoden des Ungeheuers zusammengequetscht werden; er spürt, wie einer platzt und anschließend erschlafft. Ty stößt einen lauten Schrei aus, in dem sich Angst und Entsetzen und wilder Triumph mischen.

Burny, den dieser Angriff völlig überrumpelt hat, heult auf. Er will zurückzuweichen, aber Ty hält ihn wie eine Harpyie gepackt. Seine Hand - so klein, so unfähig (sollte man glauben) zu ernstlicher Verteidigung - hat sich in eine Klaue verwandelt. Wenn es je einen Augenblick gegeben hat, in dem der Elektroschocker angewendet werden müsste, ist er jetzt gekommen ... aber in seiner Überraschung hat Burny ihn fallen lassen. Das Ding liegt jetzt auf dem festgetretenen, blutgetränkten Erdreich des Hüttenbodens.

»Lass mich los!Das tut weh!Das tuuut...«

Bevor der Alte seinen Aufschrei beenden kann, reißt Ty an dem schwammigen, erschlaffenden Sack in der alten Baumwolljeans; er zerrt ihn mit der Kraft, die einem nur Panik verleihen kann, nach vorn, bis dort drinnen irgendetwas reißt. Burnys Worte gehen in neuerlichem Schmerzgeheul unter. Die Schmerzen sind heftiger, als er sich je hätte vorstellen können ... jedenfalls nie in Verbindung mit sich selbst.

Aber das genügt noch nicht. Judys Stimme sagt, dass es nicht reicht, aber Ty würde es vielleicht ohnehin wissen. Er hat den Alten zwar verletzt - ihm etwas beigebracht, was Ebbie Wexler zweifellos als »gottverdammten Bruch« bezeichnen würde -, aber es genügt nicht.

Er lässt los und dreht sich um die gefesselte Hand herum weiter nach links. Im Halbdunkel sieht er den Alten vor sich schwanken. Hinter ihm steht vor der offenen Hüttentür der Golfwagen, der sich von einem Himmel voller Wolken und brennendem Rauch abhebt. Die Augen des alten Ungeheuers sind weit aufgerissen und starren ihn voller Tränen an. Ungläubig glotzt er den kleinen Jungen an, der ihm das angetan hat.

Bald wird er begreifen, was geschehen ist. Dann ist vorauszusehen, dass Burny eines der Messer - oder vielleicht eine der Fleischgabeln - von der Wand reißen wird, um seinen angeketteten Gefangenen damit zu erstechen, wobei er ihn mit Flüchen und Verwünschungen überhäufen und als Affen, Hundesohn und verfluchte Arschgeige beschimpfen wird. Jeglicher Gedanke an Tys spezielle Begabung wird verflogen sein. Auch jegliche Angst, was Burny selbst zustoßen könnte, wenn er Mr. Munshun -und dem Abbalah - diesen kostbaren Jungen raubt, wird verflogen sein. Burny ist in Wirklichkeit nichts als eine psychotische Bestie, und im nächsten Augenblick wird seine wahre Natur hervorbrechen und sich an diesem wehrlosen Kind austoben.

Tyler Marshall, der Sohn Freds und der furchtlosen Ju-dy, gibt Burny diese Gelegenheit nicht. Auf der letzten Etappe ihrer Fahrt hat er mehrmals darüber nachgedacht, was der Alte über Mr. Munshun gesagt hat - er hat mir weh getan, hat an meinem Gedärm gezerrt -, und auf eine Chance gelauert, ebenfalls daran zerren zu können. Jetzt ist sie da. An der Handschelle hängend, die ihm den linken Arm schmerzhaft hochzieht, stößt er die rechte Hand nach vorn. Durch den Schlitz im Hemd des Alten. Durch das Loch in der Bauchdecke, das Henry mit seinem Springmesser gemacht hat. Plötzlich berührt Tys Hand etwas Glitschiges von der Stärke eines dicken Taus. Er packt es und zieht eine Schlaufe von Charles Burnsides Gedärm durch den Hemdschlitz heraus.

Burny hebt das Gesicht ruckartig in Richtung Hüttendecke. Seine Backenknochen verkrampfen sich, die Sehnen an seinem faltigen alten Hals treten hervor, und schließlich stößt er einen gellenden Schmerzensschrei aus. Er versucht zurückzuweichen, was aber vielleicht das Dümmste ist, was man tun kann, wenn einen jemand an den Einge-weiden gepackt hält. Eine blaugrüne Darmschlinge, prall wie eine Wurst und möglicherweise immer noch damit beschäftigt, Burnys letzte Mahlzeit aus der MaxtonSpeisesaal zu verdauen, glitscht mit einem hörbaren Plop-pen wie ein Korken aus einer Champagnerflasche heraus.

Charles »Chummy« Burnsides letzte Worte sind: »Lass los, du kleines Schweiiin!«

Aber Tyler lässt nicht los. Stattdessen schüttelt er die Darmschlinge erbittert von einer Seite zur anderen wie ein Terrier, der eine Ratte in der Schnauze hat. Blut und eine gelbliche Flüssigkeit spritzen aus dem Loch in Burnys Bauchdecke. »Stirb!«, hört Ty sich kreischen. »Stirb, du alter Scheißer, los, stirb doch endlich!«

Burny torkelt einen weiteren Schritt rückwärts. Die Kinnlade sackt ihm herab, und er verliert ein Stück seiner oberen Gebisshälfte, die gleich darauf auf die festgetretene Erde fällt. Er starrt auf zwei Schlingen seines eigenen Gedärms hinunter, die sich aus dem klaffenden rot-schwarzen Schlitz im Hemd bis zur Rechten dieses grässlichen Kindes erstrecken. Und er sieht etwas noch Erschreckenderes: Der Junge ist jetzt von einem weißlichen Leuchten umgeben, das ihm mehr Kraft zu verleihen scheint, als er normalerweise besitzen würde. Es verleiht ihm die Kraft, Burny bei lebendigem Leib die Eingeweide herauszureißen, und wie das weh tut, wie das weh tut, es dud dud dud so weeeeh .

»Stirb!«, kreischt der Junge mit schriller, sich überschlagender Stimme. »O bitte, willst du nicht endlich sterben?«

Und dann sackt Burny nach quälend langer Zeit endlich zusammen. Sein verlöschender Blick fällt auf den Elektroschocker, und er streckt eine zitternde Hand danach aus. Aber bevor er ihn erreichen kann, verlässt das Licht des Bewusstseins Burnys Augen. Die Schmerzen, die er erlitten hat, entsprechen zwar nicht einmal einem Hundertstel der Leiden, die er selbst seinen Opfern zugefügt hat, aber sie sind alles, was sein Greisenkörper ertragen kann. Tief aus seinem Rachen kommt ein heiseres Krächzen, dann kippt er nach hinten, wobei weitere Darmschlaufen aus dem Unterleib gezogen werden. Er nimmt weder dies noch sonst etwas mehr wahr.

Carl Bierstone, auch als Charles Burnside bekannt, auch als »Chummy« Burnside bekannt, ist tot.

Über eine halbe Minute lang bewegt sich nichts. Tyler Marshall lebt, aber er baumelt zunächst nur an seinem gefesselten linken Arm und hält mit der rechten Hand weiter eine Schlinge von Burnys Gedärm umklammert. Hält sie wie im Todeskrampf umklammert. Zuletzt verändert eine neue Wahrnehmung seine Gesichtszüge. Er zieht die Beine an, rappelt sich auf und vermindert so den fast unerträglichen Zug am linken Schultergelenk. Plötzlich wird ihm klar, dass sein rechter Arm bis zum Bizeps mit Blut bespritzt ist und er die Eingeweide eines Toten umklammert hält. Er lässt sie los und will zur offenen Tür flüchten, ohne daran zu denken, dass er ja weiter an die Hüttenwand gefesselt ist, bis er gewaltsam zu-rückgehalten wird, wobei sein Schultergelenk wieder vor Schmerz aufzuschreien scheint.

Das hast du gut gemacht, flüstert Judy-Sophies Stimme ihm zu. Aber du musst hier raus - und zwar möglichst schnell.

Über Tys bleiches, schmutziges Gesicht laufen wieder Tränen, und er fängt an, so laut zu kreischen, wie er nur kann.

»Helft mir! Helft mir doch! Ich bin in der Hütte! Ich bin in der Hütte!«

Auf dem Parkplatz hinter der Sand Bar bleibt Doc mit seiner rumpelnden Harley zwischen den Beinen, wo er ist. Beezer dagegen stellt seine Maschine ab, klappt den Seitenständer mit der Stiefelspitze heraus und geht zu Jack, Dale und Fred hinüber. Den eingepackten länglichen Gegenstand, den Tys Vater mitgebracht hat, hat Jack an sich genommen. Fred hat Jack unterdessen vorn am Hemd zu fassen bekommen. Dale versucht den Mann zurückzuhalten, aber für Fred Marshall gibt es im Augenblick nur zwei Menschen auf dieser Welt: Hollywood Sawyer und ihn.

»Das war er, stimmt’s? Das war Ty. Das war mein Junge, ich hab ihn gehört!«

»Ja«, sagt Jack. »Richtig, das war er.« Er ist ziemlich blass geworden, stellt Beezer fest, wirkt aber sonst ruhig. Dass der Vater des entführten Jungen ihm das Hemd aus den Jeans gezogen hat, stört Jack überhaupt nicht. Nein, seine gesamte Aufmerksamkeit konzentriert sich auf das längliche Paket.

»Um Himmels willen, was geht hier vor?«, fragt Dale aufgelöst. Er sieht zu Beezer hinüber. »Können Sie’s mir sagen?«

»Der Junge wird irgendwo in einer Hütte gefangen gehalten«, sagt Beezer. »Habe ich Recht?«

»Ja«, sagt Jack. Fred lässt Jacks Hemd plötzlich los und torkelt schluchzend rückwärts. Jack achtet nicht auf ihn und macht auch keine Anstalten, das verknitterte Hemd wieder in die Jeans zu stecken. Er betrachtet weiter das längliche Paket. Er hat fast erwartet, statt Briefmarken ausgeschnittene Bildchen von Zuckerpackungen zu sehen, aber dieses Paket ist auf übliche Weise freigestempelt. Eine Eilsendung an Mr. Tyler Marshall, Robin Hood Lane Nr. 16, French Landing. Der rote Absenderstempel lautet: Mr. George Rathbun, KDCU, Peninsula Drive Nr. 4, French Landing. Darunter verkündet ein großer schwarzer Stempel:

SOGAR EIN BLINDER KANN SEHEN,

DASS COULEE COUNTRY DAS KDCU-PREISAUSSCHREIBEN LIEBT!

»Henry, du gibst nie auf, was?«, murmelt Jack. Tränen brennen ihm in den Augen. Der Gedanke, in Zukunft ohne seinen alten Freund leben zu müssen, bewirkt, dass er sich hilflos und verloren und dumm und verletzlich fühlt.

»Was soll mit Onkel Henry sein?«, sagt Dale. »Jack, Onkel Henry ist tot.«

Jack ist sich dessen irgendwie nicht mehr ganz sicher.

»Los jetzt!«, sagt Beezer. »Wir müssen den Jungen zurückholen. Er lebt, aber er ist in Gefahr. Das hab ich glasklar gespürt. Wir müssen zu ihm! Alles andere können wir später rauskriegen.«

Aber Jack - der nicht nur Tylers Schrei gehört, sondern sekundenlang auch mit Tylers Augen gesehen hat -, braucht nicht mehr viel rauszukriegen. Es ist sogar so, dass alle seine Überlegungen zu einem einzigen Ergebnis führen. Er beachtet Beezer und Dale nicht weiter und geht zu Tys weinendem Vater hinüber.

»Fred.«

Fred schluchzt weiter.

»Fred, wenn Sie Ihren Jungen je wiedersehen wollen, müssen Sie sich jetzt zusammenreißen und mir zuhören.«

Fred sieht mit geröteten, tränennassen Augen zu ihm auf. Die lächerlich kleine Baseballmütze hat er noch immer schief auf dem Kopf sitzen.

»Was ist da drin, Fred?«

»Es muss einer der Gewinne aus dem KDCU-Preisausschreiben sein, das George Rathbun jeden Sommer veranstaltet. Allerdings verstehe ich nicht, wie Ty überhaupt etwas gewonnen haben kann. Vor zwei Wochen oder so hat er noch darüber gejammert, dass er den Einsendeschluss verpasst hatte. Er hat sogar gefragt, ob ich die Karte für ihn abgeschickt habe, und ich hab ihn ... also, ich hab ihn deswegen angefahren.« Bei der Erinnerung daran laufen Fred wieder die Tränen übers stoppelige Gesicht. »Das war ungefähr zu der Zeit, als Judy angefangen hat, sich ... seltsam zu benehmen ... Ich hab mir Sorgen um sie gemacht und ihn einfach bloß . angefahren. Sie verstehen, was ich meine?« Fred holt tief Luft. Er schnauft dabei durch die verstopfte Nase, und der Adamsapfel tanzt auf und ab. Dann fährt er sich mit einem Arm über die Augen. »Und Ty . er hat nur gesagt: >Schon gut, Dad.< Er war nicht böse auf mich, hat nicht geschmollt oder sonst was. Weil er eben ein kluger, tapferer Junge war. Weil er einer ist.«

»Wie kommen Sie darauf, mir das Paket zu bringen?«

»Ihr Freund hat angerufen«, sagt Fred. »Hat mir erklärt, dass der Postbote etwas zugestellt hat, was ich sofort hierher zu Ihnen bringen soll. Bevor Sie aufbrechen. Und genannt hat er Sie .«

»Er hat mich Travellin’ Jack genannt.«

Fred Marshall starrt ihn verwundert an. »Ja, genau.«

»Also gut.« Jack Stimme klingt sanft, fast wie von fern. »Wir holen jetzt Ihren Jungen.«

»Ich komme mit! Ich hab mein Jagdgewehr im Wagen .«

»Und dort bleibt es auch. Fahren Sie nach Hause, Fred. Bereiten Sie alles für seine Rückkehr vor. Bereiten Sie alles für Judys Rückkehr vor. Und überlassen Sie uns das, was zu tun ist.« Jack sieht erst zu Dale, dann zu Beezer hinüber. »Kommt«, sagt er. »Wir müssen los.«

Fünf Minuten später rast Chief Dales FLPD-Dienst-wagen über den Highway 35 nach Westen. Beezer und Doc, deren reich verchromte Bikes in der Sonne glitzern, fahren wie eine Ehreneskorte zu zweit vor dem Wagen her. Auf beiden Straßenseiten drängen Bäume mit vollem Sommerlaub bis dicht an die Fahrbahn heran.

Jack fühlt, wie das für Black House charakteristische Summen in seinem Kopf immer stärker wird. Er hat entdeckt, dass er dieses Geräusch notfalls abschotten kann, damit es sich nicht ausbreitet und alle seine Denkprozesse durch Störgeräusche blockiert, aber es ist trotzdem verdammt unangenehm. Er hat sich eine der .357er Ru-ger genommen, die das FLPD als Dienstwaffe benutzt; die Pistole steckt jetzt im Hosenbund seiner Jeans. Er war überrascht, wie angenehm das Gewicht der Waffe sich in der Hand angefühlt hat ... es war fast eine Art Heimkehr. In der Welt hinter Black House mögen Schusswaffen vielleicht keinen großen Wert haben, aber sie müssen ja erst mal da hinkommen. Und wie Beezer und Doc berichtet haben, ist der Zugang nicht gerade unverteidigt.

»Dale, hast du ein Taschenmesser?«

»Im Handschuhfach«, sagt Dale. Er sieht zu dem länglichen Paket auf Jacks Knien hinüber. »Willst du’s jetzt auspacken?«

»Du vermutest richtig.«

»Könntest du mir ein paar Dinge erklären, während du damit beschäftigt bist? Zum Beispiel, ob wir damit rechnen müssen, dass in diesem schwarzen Haus plötzlich Charles Burnside mit einer Axt bewaffnet aus einer Geheimtür springt und anfängt .«

»Chummy Burnside überfällt keine Leute mehr«, sagt Jack. »Er ist tot. Ty Marshall hat ihn erledigt. Daher das Beben, das wir hinter der Sand Bar wahrgenommen haben.«

Der Wagen des Chiefs gerät so ungewöhnlich weit aus der Spur - bis zum linken Fahrbahnrand hinüber -, dass Beezer sich vor Schreck über das, was er im Rückspiegel sieht, kurz umsieht. Jack macht eine rasche, energische Handbewegung - fahr weiter, mach dir keine Sorgen um uns -, worauf Beez wieder nach vorn sieht.

»Was?«, keucht Dale.

»Der alte Hundesohn war zwar schon verletzt, aber ich habe das Gefühl, dass Ty trotzdem verdammt tapfer gewesen ist. Tapfer und listig zugleich.« Für Jack sieht es so aus, dass Henry diesen Burnside erst weich geklopft und Ty ihm dann den Rest gegeben hat. Was George Rathbun zweifellos als »zweifaches Aus der Extraklasse« bezeichnet hätte.

»Wie ...«

»Hat ihm die Eingeweide rausgerissen. Mit bloßen Händen. Mit einer Hand. Ich weiß ziemlich sicher, dass die andere noch irgendwo angekettet ist.«

Dale schweigt einen Augenblick und beobachtet, wie die Biker sich vor ihnen in eine Kurve legen, während ihr Haar unter den Minihelmen hervorflattert, die sie pro forma tragen, um der in Wisconsin geltenden Helmpflicht zu genügen. Jack schlitzt unterdessen das braune Packpapier auf und legt eine lange weiße Schachtel frei, in der etwas hin und her rollt.

»Du willst mir erzählen, dass ein Zehnjähriger einem Serienmörder die Eingeweide aus dem Leib gerissen hat? Einem Serienkannibalen? Etwas, was du von irgendwoher weißt.«

»Genau.«

»Es fällt mir äußerst schwer, das zu glauben, wirklich.«

»Tja, wenn man da an den Vater denkt. Fred ist ein .« Schlappschwanz ist das Wort, das sich Jack aufdrängt, aber diese Bezeichnung wäre unfair und auch nicht ganz richtig. »Fred ist weichherzig«, sagt er. »Judy dagegen .«

»Rückgrat«, sagt Dale. »Das hat sie, wie man hört.«

Jack bedenkt seinen Freund mit einem humorlosen Grinsen. Er hat es zwar geschafft, das Summen auf einen kleinen Teil seines Gehirns zu beschränken, aber dieser Bereich schrillt jetzt wie ein Feuermelder. Sie sind fast am Ziel. »Das hat sie allerdings«, sagt er zu Dale. »Und der Junge auch. Er ist ... tapfer.« Beinahe hätte Jack gesagt: Er ist ein Prinz.

»Und er lebt.«

»Ja.«

»Irgendwo in einer Hütte angekettet.«

»Richtig.«

»Hinter Burnsides Haus.«

»Mhm.«

»Wenn ich die Gegend richtig kenne, muss er irgendwo zwischen der Schubert und der Gale Street im Wald sein.«

Jack lächelt, ohne sich dazu zu äußern.

»Also gut«, sagt Dale nachdrücklich. »In welchem Punkt liege ich falsch?«

»Das spielt keine Rolle. Was auch gut ist, weil es sich unmöglich erklären lässt.« Jack kann nur hoffen, dass es um Dales innere Verfassung gut bestellt ist, denn in der kommenden Stunde wird er einiges aushalten müssen.

Mit dem Fingernagel schlitzt er den Klebstreifen auf, mit dem die Schachtel verschlossen ist. Er klappt den Deckel auf. Darunter kommt eine Blasenfolie zum Vorschein. Jack zieht sie heraus, stopft sie in den Fußraum und begutachtet dann, was Ty Marshall beim KDCU-Preisausschreiben gewonnen hat - obwohl er anscheinend gar nicht daran teilgenommen hat.

Jack lässt einen ehrfürchtigen kleinen Seufzer hören. Er ist noch jungenhaft genug, um auf den vor ihm liegenden Gegenstand zu reagieren, auch wenn er selbst zuletzt als kleiner Knirps auf dem Spielfeld gestanden hat. So ein Baseballschläger hat schon etwas an sich, oder nicht? Etwas, was an unseren primitiven Glauben an die Reinheit des Kampfes und die Kraft der eigenen Mannschaft appelliert. Der Heimmannschaft. Das alles muss auch Bernard Malamud bewusst gewesen sein. Jack hat dessen Der Unbeugsame bestimmt zwanzigmal gelesen, stets auf ein anderes Ende gehofft (und war bitter enttäuscht, als die Verfilmung des Romans ihm dann tatsächlich ein anderes anbot) und sich immer dafür begeistert, dass Roy Hobbs seinen Schläger Wonderboy nannte. Und wen kümmern schon die Kritiker mit all ihrem zopfigen Gerede von der Artussage und Phallussymbolen; manchmal ist eine Zigarre nur etwas, das man rauchen kann, und manchmal ist ein Schläger nur ein Schläger. Ein großer Prügel. Etwas, mit dem man Home-runs schlagen kann.

»Heiliger Bimbam«, sagt Dale mit einem Blick nach rechts. Auch er sieht jetzt jünger aus. Jungenhaft. Mit großen Augen. Jack ist anscheinend nicht der Einzige, dem es so ergeht. »Von wem ist der?«

Jack hebt den Schläger sorgfältig heraus. Auf dem dicken Vorderteil steht mit schwarzem Filzstift geschrieben:

Für Tyler Marshall - weiter so!

Dein Kumpel, Richie Sexson

»Richie Sexson«, sagt Jack. »Wer ist Richie Sexson?«

»Großer Hitter bei den Brewers«, sagt Dale.

»Ist er so gut wie Roy Hobbs?«

»Roy . « Dann grinst Dale. »Oh, du meinst den im Film! Robert Redford, stimmt’s? Nein, ich glaube nicht, dass . He, was machst du?«

Ohne den Schläger loszulassen (tatsächlich verfehlt er mit dem Ende nur knapp Dales rechten Backenknochen), beugt Jack sich zu ihm hinüber und hupt mehrmals. »Rechts ranfahren«, sagt er. »Wir sind da. Diese Trottel waren erst gestern hier, und jetzt fahren sie glatt daran vorbei.«

Dale fährt an den Straßenrand, wo der Streifenwagen holpernd zum Stehen kommt, bringt den Schalthebel in Parkstellung und sieht zu Jack hinüber. Sein Gesicht ist auffällig blass geworden. »O Mann, Jack - mir geht’s nicht besonders. Kommt vielleicht vom Frühstück. Jesses, ich will bloß hoffen, dass ich nicht kotzen muss.«

»Das Summen in deinem Kopf soll vom Frühstück kommen?«, sagt Jack.

Dale guckt erstaunt. »Woher weißt du, dass .«

»Weil ich’s auch höre. Und im Magen spüre. Das hat rein gar nichts mit deinem Frühstück zu tun. Es kommt von Black House.« Jack hält ihm die Plastikflasche mit Honig hin. »Hier. Tupf dir noch etwas unter die Nase. Am besten, wie gesagt, auch in die Nase. Dann fühlst du dich besser.« Er will damit nur absolute Zuversicht vermitteln. Hier geht’s nämlich nicht um Geheimwaffen oder Geheimformeln; ganz bestimmt geht es nicht um Honig. Hier geht’s um Glauben. Sie verlassen das Reich des Rationalen und treten ins Reich der Verwerfungen ein. Sobald er die Autotür geöffnet hat, weiß Jack das sogar noch sicherer.

Die Biker vor ihnen wenden und kommen zurück. Beezer, auf dessen Gesicht ein ungeduldiger Ausdruck steht, schüttelt den Kopf. Nein, nein, nicht hier.

Dale geht nach vorn zu Jack. Er ist weiterhin blass, aber die Haut um und unter seiner Nase glänzt von Honig, und sein Schritt wirkt energisch. »Danke, Jack. So ist’s tatsächlich viel besser. Ich weiß nicht, wie der Honig unter meiner Nase es schafft, sich auf meine Ohren auszuwirken, aber auch das Summen ist jetzt erträglicher. Es ist nur noch ein leises Brummen.«

»Falsche Stelle!«, schreit Beezer, als er seine Harley vor dem Streifenwagen abbremst.

»Von wegen«, sagt Jack gelassen, während er den grünen Wall des Waldes betrachtet. Sonnenlicht auf grünem Laub kontrastiert mit verrückt geformten schwarzen Zickzackschatten. Alles zittert und schwankt und macht klares Erkennen unmöglich. »Wir sind da. Hier ist der Unterschlupf von Mr. Munshun und der Black-House-Gang, wie der Duke nicht sagen würde.«

Inzwischen verstärkt das Bike von Doc den Höllenlärm neben Beezer. »Beez hat Recht! Wir waren doch erst gestern hier draußen, Blödmann! Glaubst du, dass wir nicht mehr richtig ticken?«

»Hier steht auf beiden Seiten nur Niedrigwald«, stimmt Dale zu. Er zeigt auf die andere Straßenseite, wo zwischen zwei Bäumen etwa fünfzig Meter südöstlich gelbes Polizeiabsperrband flattert. »Dort vorn ist die Zufahrt zu Ed’s Eats. Die Stelle, die wir suchen, liegt vermutlich ein gutes Stück dahinter .«

Obwohl du weißt, dass sie hier ist, denkt Jack. Staunt sogar richtig darüber. Warum hast du dich sonst mit Honig eingeschmiert, dass du aussiehst wie Pu der Bär an einem Glückstag?

Er sieht zu Beezer und Doc hinüber, denen ebenfalls auffällig unwohl zu sein scheint. Jack öffnet den Mund, um sie anzusprechen . aber in diesem Augenblick flattert etwas am oberen Rand seines Gesichtsfelds vorbei. Er unterdrückt den natürlichen Drang, den Kopf zu heben, um die Ursache dieser Bewegung festzustellen. Ein Teil seines Ichs - vermutlich der alte Travellin’ Jack in ihm - scheint das für eine sehr schlechte Idee zu halten. Irgendetwas beobachtet sie bereits. Und das soll lieber nicht wissen, dass es entdeckt worden ist.

Er stellt Richie Sexsons Schläger ab und lehnt ihn an die Seite des mit laufendem Motor geparkten Streifenwagens. Er nimmt Dale den Honig aus der Hand und hält ihn Beezer hin. »Für dich«, sagt er. »Schmier dich damit ein.«

»Das ist doch zwecklos, du gottverdammter Idiot!«, ruft Beezer aufgebracht. »Das hier ist ... die falsche ... Stelle!«

»Du hast Nasenbluten«, sagt Jack gelassen. »Nur ein bisschen. Doc, du auch.«

Doc fährt sich mit einem Finger über die Oberlippe und starrt die rote Schmiere verblüfft an. Er lässt aber nicht nach. »Trotzdem, ich weiß, dass das hier .«

Wieder dieses Flattern am oberen Rand von Jacks Gesichtsfeld. Er ignoriert es bewusst und deutet geradeaus über die Straße. Beezer, Doc und Dale wenden alle den Kopf zur gezeigten Stelle. Dale sieht es als Erster. »Verdammt!«, sagt er leise. »Zutritt verböten. Hat das Schild gerade eben schon da gestanden?«

»Klar«, sagt Jack. »Steht seit über dreißig Jahren dort, schätze ich.«

»Scheiße«, sagt Beezer und fängt schließlich an, sich um die Nase herum mit Honig einzureiben. Er stopft sich auch großzügig bemessene Klumpen von dem Zeug in die Löcher; in seinem rotbraunen Wikingerbart glänzen klebrige Honigtropfen. »Wir wären glatt dran vorbeigefahren, Doc. Bis in die Stadt hinein. Teufel, vielleicht sogar bis nach Rapid City, South Dakota.« Er übergibt Doc den Honig und bedenkt Jack mit einem schiefen Lächeln. »Tut mir Leid, Mann. Das hätte uns nicht passieren dürfen. Dafür gibt’s eigentlich keine Entschuldigung.«

»Und wo soll die Zufahrt sein?«, sagt Dale, und dann: »Oh, da ist sie ja. Ich hätte schwören können .«

»Dass dort drüben nichts ist, ich weiß«, sagt Jack. Er lächelt. Betrachtet seine Freunde. Die Sawyer-Gang. Auf keinen Fall sieht er zu dem schwarzen Etwas auf, das unruhig am Rand seines Gesichtsfelds flattert, oder auf seine Hand hinunter, die jetzt die .357er Ruger aus dem Hosenbund zieht. Beim Ziehen und Schießen aus der Bewegung hat er immer zu den Besten gehört. Auf dem Schießstand hat er zwar immer nur wenige Preise geholt, aber beim Schießen aus der Bewegung hat ihm keiner so schnell etwas vormachen können. Da war er eigentlich immer unter den fünf Besten. Jack hat keine Ahnung, ob er sich diese Fähigkeit bewahrt hat, aber er ist überzeugt, dass sich das gleich zeigen wird.

Während Jack die Gefährten anlächelt und dabei zusieht, wie Doc sich die Nase mit Honig einreibt, sagt er im Plauderton: »Irgendetwas beobachtet uns. Nicht nach oben schauen. Ich will versuchen, es abzuknallen.«

»Was ist’s denn?«, fragt Dale und erwidert gekünstelt sein Lächeln. Er sieht nicht nach oben, nur geradeaus. Die im Schatten liegende Zufahrt zu Burnsides Haus ist jetzt deutlich zu erkennen. Vorhin war sie nicht da, das hätte Dale beschwören können, aber jetzt ist sie unübersehbar.

»Etwas, das mir verdammt auf die Nerven geht«, sagt Jack, reißt dann plötzlich die Ruger hoch und hält ihren Griff mit beiden Händen umklammert. Er drückt schon beinahe ab, bevor er das Ziel richtig erfasst hat. Die große schwarze Krähe, die auf dem überhängenden Ast einer Eiche sitzt, wird völlig überrascht. Sie stößt einen lauten, entsetzten Schrei aus - »Kraaah!« -, dann wird sie auf ihrem Beobachtungsposten zerfetzt. Vor dem blassblauen Sommerhimmel spritzt das Blut nach allen Seiten. Kleine Klumpen mitternachtsschwarzer Federn segeln zu Boden. Und ein Vogelkadaver. Er schlägt dumpf auf dem Seitenstreifen vor der Zufahrt auf. Ein dunkles, glasig werdendes Auge starrt Jack Sawyer mit erstauntem Ausdruck an.

»Hast du fünf- oder sechsmal geschossen?«, fragt Bee-zer beinahe ehrfürchtig. »Das war so rasant, dass ich nicht mitgekommen bin.«

»Das ganze Magazin«, sagt Jack. Anscheinend beherrscht er das Ziehen und Schießen aus der Bewegung noch immer ziemlich gut.

»Das ist ’ne verdammt große Krähe«, sagt Doc.

»Aber nicht nur irgendeine Krähe«, sagt Jack. »Das ist Gorg.« Er tritt an den im Staub liegenden zerfetzten Vogelkadaver heran. »Na, wie geht’s, alter Junge? Wie fühlst du dich jetzt?« Er spuckt Gorg kräftig an. »Das ist dafür, dass du den Jungen geködert hast«, sagt er. Dann befördert er den Vogelkadaver mit einem abrupten Tritt ins Unterholz. Der verendete Vogel segelt schlapp in die Büsche; seine schwarzen Schwingen hüllen ihn wie ein Leichentuch ein. »Und das ist dafür, dass du Irmas Mutter zugesetzt hast.«

Die anderen beobachten ihn alle drei mit identischem Gesichtsausdruck, aus dem fassungslose Ehrfurcht spricht. Sogar fast etwas wie Angst. Das ist eine für Jack altbekannte Reaktion, der er eigentlich überdrüssig ist, obwohl er einsieht, dass er sich wohl auf alle Zeiten damit wird abfinden müssen. Er weiß noch, wie sein Freund Richard Sloat ihn auf gleiche Weise angestarrt hat, als jenem klar wurde, dass der »Seabrook-Island-Kram«, wie er es nannte, keineswegs auf Seabrook Island beschränkt war.

»Kommt jetzt«, sagt Jack. »Alle ins Auto. Wir haben’s eilig.« Ja, sie müssen sich beeilen, denn ein bestimmter einäugiger Gentleman wird sich bald ebenfalls auf die Suche nach Ty machen. Mr. Munshun. Auge des Königs, denkt Jack. Auge des Abbalah. Den hat Judy gemeint - Mr. Munshun. Wer oder was der auch wirklich sein mag.

»Mag die Bikes nicht hier am Straßenrand stehen lassen, Mann«, sagt Beezer. »Jeder, der hier vorbeikommt, kann .«

»Niemand wird sie sehen«, versichert Jack ihm. »Seit wir hier stehen, sind drei oder vier Autos vorbeigekommen, aber keiner der Fahrer hat auch nur zu uns rübergesehen. Und ihr wisst auch, warum.«

»Wir sind schon mit einem Bein drüben, ja?«, sagt Doc. »Das hier ist der Rand der anderen Welt. Die Grenze.«

»Opopanax«, sagt Jack. Dieses Wort bricht einfach aus ihm hervor.

»Hä?«

Jack greift nach Tys Baseballschläger mit dem Autogramm von Richie Sexson und klettert auf den Beifahrersitz des Streifenwagens. »Soll heißen: Los jetzt!«, sagt er. »Beeilung!«

Und so macht sich die Sawyer-Gang auf ihre letzte Unternehmung - die bewaldete, gefahrvolle Zufahrt zum schwarzen Haus entlang. Das helle Nachmittagslicht verblasst zusehends zum trüben Schein eines bewölkten Novemberabends. Unter den auf beiden Seiten dicht herandrängenden Bäumen kriechen und schlängeln sich dunkle Schemen, Schemen, die manchmal auch fliegen. Sie sind nicht weiter wichtig, das weiß Jack. Es sind nur Phantome.

»Willst du die Pistole nicht nachladen?«, fragt Beezer vom Rücksitz aus.

»Ach was«, sagt Jack, indem er die Ruger ohne großes Interesse betrachtet. »Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, glaube ich.«

»Worauf müssen wir jetzt gefasst sein?«, fragt Dale mit dünner Stimme.

»Auf alles«, antwortet Jack. Er bedenkt Dale Gilbert-son mit einem gezwungenen Grinsen. Vor ihnen steht ein Haus, das seine Form nicht beibehalten will, sondern auf höchst beunruhigende Weise tanzt und schwankt. Manchmal wirkt es nicht größer als ein bescheidenes Ranchhaus; im nächsten Augenblick scheint es ein zerklüfteter Monolith zu sein, der den gesamten Himmel verfinstert; im übernächsten Augenblick erscheint es als niedriger, unregelmäßig gegliederter Bau, der sich unter dem Walddach über Meilen hinweg erstrecken könnte. Aus dem Haus kommt ein leises Summen, das wie Stimmengewirr klingt.

»Seid auf wirklich alles gefasst.«

28

Zunächst passiert jedoch nichts.

Die vier Männer steigen aus und bleiben vor Dales Streifenwagen stehen, wobei sie geradezu aussehen, als posierten sie für ein Gruppenfoto, das einer von ihnen sich irgendwann in seinem Hobbyraum an die Wand hängen wird. Nur müsste der Fotograf auf der Veranda von Black House stehen - dorthin blicken sie nämlich -, aber die Veranda ist leer bis auf das zweite Schild mit der Aufschrift Zutritt verböten, das an einem der verwitterten Treppenpfosten lehnt. Auf dieses Schild hat jemand mit wasserfestem Filz- oder Fettstift einen Totenkopf gezeichnet. Burny? Irgendein unerschrockener Teenager, der als Mutprobe bis hierher vorgedrungen ist? Dale mag als Heranwachsender ein paar verrückte Sachen gemacht, mehr als einmal sein Leben mit einer Sprühdose in der Hand riskiert haben, aber so etwas hier an dieser Stelle zu tun, kann er sich kaum vorstellen.

Die Luft ist so drückend still wie vor einem Gewitter. Sie stinkt auch, aber der Honig scheint immerhin den schlimmsten Gestank herauszufiltern. Aus dem Wald dringt ein heiseres Brüllen, eines, das Dale so noch nie gehört hat. Gruu-uuuuh.

»Was ist das?«, fragt er Jack.

»Keine Ahnung«, antwortet Jack.

»Ich hab mal Alligatoren gehört«, sagt Doc. »So brüllen die Männchen, wenn sie brunftig sind.«

»Wir sind hier aber nicht in den Everglades«, sagt Dale.

Doc bedenkt ihn mit einem schwachen Lächeln. »Aber auch nicht mehr in Wisconsin, mein Bester. Vielleicht ist dir das ja noch nicht aufgefallen.«

Dale ist alles Mögliche aufgefallen. Zum Beispiel die Art und Weise, wie das Haus seine Form nicht behalten will - wie es manchmal gigantisch wirkt, als bestände es aus vielen Häusern, die einander irgendwie überlagern. Eine Großstadt etwa von der Größe Londons unter einem einzigen Dach zusammengedrängt. Und dazu kommen die Bäume. Es gibt alte Eichen und Kiefern, es gibt Birken, die wie hagere Gespenster wirken, es gibt Rotahorne - alles einheimische Baumarten -, aber er sieht auch verdrehte, Luftwurzeln aussendende Gewächse, die wie entartete Banyanbäume aussehen. Und bewegen die sich nicht etwa? Jesus, das will Dale nicht hoffen. Unabhängig davon flüstern sie jedenfalls. Dessen ist er sich fast sicher. Er kann hören, wie ihre Worte das Summen in seinem Kopf übertönen, und es sind beileibe keine aufmunternden Worte, durchaus nicht.

Töteneuch ... esseneuch ... hasseneuch ...

»Wo bleibt der Hund?«, fragt Beezer. Er hält seine 9-mm-Pistole in der Hand. »Hierher, Hundchen! Hab was Feines für dich! Komm und hol’s dir!«

Stattdessen dringt wieder das gutturale Brüllen aus dem Wald, diesmal unüberhörbar näher: Gruuu-uuuh! Und die Bäume flüstern. Dale blickt zum Haus auf, sieht es jäh Stockwerke in einen Himmel auftürmen, der weiß und kalt geworden ist, und fühlt, dass ihn ein Schwindelgefühl wie eine Woge aus warmem Schmierfett durchflutet. Er nimmt undeutlich wahr, dass Jack ihn am Ellbogen packt, um ihn zu stützen. Das hilft ein wenig, aber nicht genug; der Polizeichef von French Landing dreht sich rasch nach links weg und erbricht sich.

»Gut«, sagt Jack. »Weg damit. Nur raus damit. Und wie steht’s mit dir, Doc? Beez?«

Die Thunder Two antworten, dass ihnen nichts fehlt. Das mag im Augenblick zwar noch stimmen, aber Beezer weiß nicht, wie lange sein labiles Gleichgewicht noch anhalten wird. In seinem Magen rumort es leise und langsam. Was ist schon dabei, wenn ich dort drinnen kotzen muss?, denkt er.Jack sagt, dass Burnside tot ist; den stört’s nicht mehr.

Jack führt sie die Stufen zur Veranda hinauf und bleibt unterwegs kurz stehen, um das rostige Zutrittver-boten-Schild mitsamt dem Totenkopf-Graffiti mit einem Tritt über die Seite in einen Buschen Unkraut zu befördern, das sich wie eine gierige Hand sofort über ihm schließt. Dale fühlt sich daran erinnert, wie Jack auf die Krähe gespuckt hat. Sein Freund erscheint ihm jetzt anders, jünger und stärker. »Aber wir verschaffen uns hier Zutritt«, sagt Jack. »Und zwar gewaltsam.«

Anfangs sieht es jedoch so aus, als würden sie das nicht schaffen. Die Eingangstür von Black House ist nicht bloß abgesperrt, sondern weist zwischen Türblatt und Rahmen sogar keinerlei Spalt auf. Als sie vor der Tür stehen, scheint diese in Wirklichkeit nur in Trompe-l’Œil-Manier aufgemalt zu sein.

Hinter ihnen im Wald kreischt etwas. Dale fährt zusammen. Das Kreischen steigert sich zu einem schrillen Crescendo, kippt in gellend lautes manisches Gelächter um und verstummt dann plötzlich.

»Die Eingeborenen scheinen verdammt unruhig zu sein«, meint Doc.

»Willst du’s nicht mit einem Fenster versuchen?«, fragt Beezer an Jack gewandt.

»Nee. Wir gehen vorn rein.«

Während Jack das sagt, hebt er den von Richie Sexson signierten Baseballschläger. Gleich darauf lässt er ihn mit verwunderter Miene wieder sinken. Hinter ihnen ertönt ein Summen, das rasch anschwillt. Das auf dieser merkwürdigen Waldlichtung ohnehin schwache Tageslicht scheint sich noch weiter abzuschwächen.

»Was ist das?«, fragt Beezer, indem er sich nach der Zufahrt und dem dort geparkten Streifenwagen umdreht. Er hält die Pistole neben dem Kopf erhoben. »Was zum ...« Und dann verstummt er. Die Hand mit der Waffe sackt nach außen und unten. Die Kinnlade ist ihm heruntergefallen.

»Heiliger Strohsack«, sagt Doc leise.

Und Dale fügt noch leiser hinzu: »Hast du die gerufen, Jack? Dann hast du dein Licht wirklich die ganze Zeit unter den Scheffel gestellt.«

Das Tageslicht hat sich abgeschwächt, weil über der Lichtung vor Black House jetzt eine geschlossene Decke aus Bienen hängt. Immer mehr dieser Insekten schwirren als bräunlich goldener Kometenschweif von der Zufahrt heran. Sie senden ein schläfriges, mildes Summen aus, in dem das gellend laute, an einen Feuermelder erinnernde Schrillen des Hauses vollkommen untergeht. Das heisere Alligatorgebrüll im Wald verstummt, und die schemenhaften Wesen im Unterholz verschwinden.

Vor Jacks innerem Auge erscheinen plötzlich Bilder seiner Mutter: Lily, wie sie tanzt. Lily, die vor einer großen Szene mit einer Zigarette im Mundwinkel hinter einer der Kameras auf und ab geht. Lily, die aus dem Wohnzimmerfenster sieht, während Patsy Cline »Crazy Arms« singt. Die einschlägigen Zeitschriften hatten sie zur Königin der B-Movies ernannt.

In einer anderen Welt wiederum war sie natürlich eine andere Art Königin gewesen, und was wäre eine Königin ohne ein loyales königliches Gefolge?

Jack Sawyer betrachtet die immense Bienenwolke -Millionen von Bienen, vielleicht sogar Milliarden; jeder Bienenstock im Mittleren Westen muss heute Nachmittag verlassen daliegen -, und er lächelt. Weil sich dadurch die Form seiner Augen verändert, laufen ihm nun die Tränen, die sich darin angesammelt haben, übers Gesicht. Hallo, denkt er. Hallo, Jungs.

Das leise, angenehme Summen der Bienen scheint sich kurzfristig zu verändern, so als antworteten sie ihm. Aber vielleicht bildet er sich das nur ein.

»Was haben die denn vor, Jack?«, fragt Beezer. In seiner Stimme schwingt tiefe Ehrfurcht mit.

»Weiß ich selbst nicht genau«, sagt Jack. Er dreht sich nach der Haustür um, hebt den Baseballschläger und versetzt dem Türblatt damit einen kräftigen Schlag. »Öffne dich!«, ruft er. »Ich fordere es im Namen von Königin Laura DeLoessian! Und im Namen meiner Mutter!«

Im nächsten Augenblick ertönt ein hoher Knall, der so laut und durchdringend ist, dass Dale und Beez zusammenfahren und unwillkürlich einen Schritt zurückweichen. Beezer hält sich sogar die Ohren zu. Am oberen Türrand tut sich ein Sprung auf, der sich blitzschnell von links nach rechts ausbreitet. An der oberen rechten Ecke biegt er ab, eilt dann nach unten und erzeugt auf diese Weise einen Spalt, aus dem schließlich ein moderiger Lufthauch strömt. Jack steigt ein Geruch in die Nase, der säuerlich und vertraut zugleich ist: jener Todesgeruch, der ihnen auch aus Ed’s Eats entgegengeschlagen ist.

Jack greift nach dem Türknauf. Der Knauf lässt sich mühelos nach links drehen. Und so öffnet er ihnen den Weg ins Black House.

Bevor er die anderen zum Eintreten auffordern kann, beginnt Doc Amberson jedoch zu kreischen.

Irgendjemand - vielleicht Ebbie, vielleicht T. J. vielleicht auch der dämliche alte Ronnie Metzger - reißt Ty am Arm. Es tut verdammt weh, was aber längst nicht das Schlimmste daran ist. Der Armreißer gibt dabei nämlich ein unheimliches Summen von sich, das Ty tief im Kopf zu vibrieren scheint. Gleichzeitig ist auch ein Scheppern zu hören (die Große Kombination, das ist die Große Kombination) aber dieses Summen ...! Mann, dieses Summen tut echt weh.

»Lass das«, murmelt Ty. »Lass das, Ebbie, sonst .«

Leise Schreie scheinen durch dieses elektrische Summen zu sickern. Ty Marshall öffnet die Augen. Es gibt keine barmherzige Gnadenfrist, in der er nicht recht weiß, wo er ist oder was ihm zugestoßen ist. Alles stürmt sofort mit der Gewalt eines Schreckensbilds auf ihn ein -ähnlich wie bei einem Verkehrsunfall, bei dem Tote herumliegen -, mit dem man konfrontiert wird, bevor man wegsehen kann.

Er hatte nicht losgelassen, bis der Alte tot war; er hatte der Stimme seiner Mutter gehorcht und einen klaren Kopf behalten. Aber als er angefangen hatte, um Hilfe zu rufen, war die Panik zurückgekehrt und hatte ihn verschlungen. Vielleicht war es auch der Schock gewesen. Oder beides. Jedenfalls war er nach Hilfe schreiend ohnmächtig geworden. Wie lange hatte er bewusstlos an seinem gefesselten linken Arm gehangen? Das durch die Hüttentür einfallende Licht liefert keinen Hinweis darauf; alles erscheint unverändert. Das gilt auch für das Scheppern und Ächzen der riesigen Maschine, und Ty begreift, dass diese Maschine unaufhörlich läuft, dass die Schreie der Kinder und das Knallen der Peitschen niemals verstummen, während die unbeschreiblichen Aufseher alle ständig zur Arbeit anheizen. Die Große Kombination steht nie still. Sie läuft von Blut und Terror getrieben und kennt keinen Ruhetag.

Aber dieses Summen - dieses satte elektrische Summen wie vom größten Elektrorasierer der Welt -, was zum Teufel ist das?

Mr. Munshun ist unterwegs, um die Einschienenbahn zu holen. Burnys Stimme in seinem Kopf. Ein widerwärtiges Flüstern. Die Endwelt-Mono.

Schreckliche Verzweiflung erfasst Ty am Herzen. Er hat nicht den geringsten Zweifel daran, dass er jetzt genau diese Einschienenbahn hört, die in eben diesem Augenblick unter dem Bahnhofsvordach am Ende der Station House Road einfährt. Mr. Munshun wird nach seinem Jungen, nach seinem schbezellen Jungn Ausschau halten, und wenn er ihn nirgends sieht (und Burn-Burn auch nicht), wird er sich dann nicht auf die Suche nach ihm machen?

»’türlich wird er das«, krächzt Ty heiser. »O Mann. Knutsch ’ne Elfe.«

Er sieht zu seiner linken Hand auf. Es wäre so einfach, sie aus der übergroßen Stahlfessel zu ziehen, wenn die Handschelle nicht wäre. Ty ruckt trotzdem mehrmals daran, aber die Handschelle schlägt nur klirrend an die Fessel. Die andere Handschelle, nach der Burny greifen wollte, als Ty ihn an den Hoden gepackt hat, baumelt schwankend herab und lässt den Jungen an den Galgen diesseits der Station House Road denken.

Das Summen, von dem einem die Augen tränen und die Zähne klappern, verstummt schlagartig.

Er hat den Zug abgestellt. Jetzt sucht er mich auf dem Bahnhof, um sicherzugehen, dass ich wirklich nicht dort bin. Und wenn er das sicher weiß, was dann? Kennt er die Hütte hier? Natürlich kennt er sie.

Tys Verzweiflung verwandelt sich in eisigen Horror. Burny würde diese Tatsache leugnen. Burny würde behaupten, die Hütte hier unten in dieser kleinen Mulde sei sein Geheimnis, ein besonderer Ort, den nur er kenne. In seiner schwachsinnigen Arroganz wäre ihm nie der Gedanke gekommen, wie gut diese irrtümliche Auffassung den Zwecken seines vermeintlichen Freundes dienen könnte.

Ty glaubt wieder die Stimme seiner Mutter zu hören, und diesmal ist er sich ziemlich sicher, dass es wirklich die Stimme seiner Mutter ist. Du darfst dich auf niemanden verlassen. Vielleicht kommen sie rechtzeitig, vielleicht aber auch nicht. Du musst damit rechnen, dass sie’s nicht schaffen. Du musst dich selbst befreien.

Aber wie?

Ty starrt den verdrehten Körper des Alten an, der so weit von ihm entfernt auf dem blutigen Erdreich liegt, dass dessen Kopf fast ins Freie ragt. Der Gedanke an Mr. Munshun versucht sich vorzudrängen - wie dieser Freund des Alten in diesem Augenblick die Station House Road entlanghastet (oder vielleicht in einem eigenen Golfwagen der Marke E-Z-Go fährt), um sich ihn zu schnappen und dann dem Abbalah zu bringen. Ty schiebt dieses Bild von sich fort. Es kann nur dazu führen, dass er wieder in Panik gerät, und die kann er sich jetzt nicht leisten. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.

»Ich schaff’s unmöglich zu ihm hin«, sagt Ty laut. »Wenn er den Schlüssel also in der Tasche hat, bin ich erledigt. Klappe zu, Affe tot, macht eure ...«

Sein Blick fällt jetzt auf etwas anderes, das auf dem Fußboden liegt. Auf den Lederbeutel, den der Alte mitgebracht hat. Aus dem er die Mütze geholt hat. Und die Handschellen.

Waren die Handschellen darin, ist vielleicht auch der Schlüssel darin.

Ty angelt mit dem linken Fuß danach, wobei er ihn, so weit er nur kann, ausstreckt. Aussichtslos. Ihm fehlen mindestens zehn Zentimeter. Zehn Zentimeter, und Mr. Munshun kommt, er kommt unaufhaltsam.

Ty kann ihn schon fast riechen.

Doc kreischt und kreischt und nimmt dabei undeutlich wahr, dass die anderen ihn anschreien, er solle aufhören, alles sei in Ordnung, er brauche sich nicht zu fürchten, und spürt undeutlich, dass er sich die Kehle wund kreischt, die wahrscheinlich bald zu bluten beginnen wird. Das alles spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Tatsache, dass Hollywood die offizielle Begrüßerin von Black House sichtbar gemacht hat, als er die Eingangstür aufgestoßen hat.

Die offizielle Begrüßerin ist Daisy Temperly, Docs Mädchen mit den braunen Augen. Sie trägt ein hübsches rosa Kleid. Ihr Teint ist papierblass bis auf die rechte Stirnhälfte, wo ein Hautlappen herabhängt und den roten Schädel darunter sichtbar werden lässt.

»Komm rein, Doc«, sagt Daisy. »Wir können darüber reden, wie du mich umgebracht hast. Und du kannst singen. Du kannst mir etwas vorsingen.« Sie lächelt. Das Lächeln wird zu einem Grinsen. Das Grinsen lässt einen Mund voller spitzer Vampirzähne sehen. »Du kannst mir bis in alle Ewigkeit vorsingen.«

Doc stolpert einen Schritt rückwärts, will sich abwenden und flüchten, aber in diesem Augenblick bekommt Jack ihn zu fassen und schüttelt ihn kräftig. Doc Amberson ist ein stämmiger Kerl - zwei Zentner, wenn er aus der Dusche kommt, einiges mehr, wenn er wie jetzt die komplette Kluft eines Road Warriors trägt -, aber Jack schüttelt ihn mühelos durch, sodass der Kopf des großen Mannes von einer Seite zur anderen fliegt. Docs langes Haar flattert und weht.

»Das sind alles nur Illusionen«, sagt Jack. »Bewegte Bilder, die unerwünschte Gäste wie uns fernhalten sollen. Ich weiß nicht, was du gesehen hast, Doc, aber es ist nicht wirklich da.«

Doc blickt Jack vorsichtig über die Schulter. Sekundenlang sieht er einen verblassenden rosa Wirbel - wie das Auftauchen des Höllenhunds, nur umgekehrt -, dann ist die Erscheinung verschwunden. Er sieht zu Jack auf. Tränen rollen ihm über das sonnenverbranntes Gesicht.

»Ich wollte sie nicht umbringen«, sagt er. »Ich habe sie geliebt. Aber ich war an diesem Tag müde. Schrecklich müde. Weißt du, wie’s ist, wenn man übermüdet ist, Hollywood?«

»Ja«, sagt Jack. »Falls wir hier lebend rauskommen, habe ich vor, erst mal eine Woche zu schlafen. Aber im Augenblick . « Er sieht von Doc zu Beezer, von Beezer zu Dale hinüber. »Wir werden weiteres Zeug sehen. Das Haus wird eure schlimmsten Erinnerungen gegen euch verwenden: Dinge, die schief gegangen sind, Menschen, die ihr verletzt habt. Aber im Großen und Ganzen bin ich zuversichtlich. Ich glaube, dass dieses Haus mit Burnys Tod viel von seinem Gift verloren hat. Wir müssen jetzt nur noch einen Weg hindurch auf die andere Seite finden.«

»Jack«, sagt Dale. Er steht auf der Schwelle, genau dort, wo Daisy ihren alten Arzt begrüßt hat. Seine Augen scheinen unnatürlich geweitet zu sein.

»Was?«

»Einen Weg hindurch finden ... das ist vermutlich leichter gesagt als getan.«

Sie versammeln sich um Jack. Hinter der Haustür liegt eine gigantische runde Eingangshalle, deren riesige Abmessungen ihn flüchtig an den Petersdom denken lassen. Der Boden ist mit einem halben Hektar eines giftgrünen Teppichs bedeckt, in den Bilder von Folter und Gotteslästerung eingewebt sind. In die Wände dieses Foyers sind unzählige Türen eingelassen. Außerdem zählt Jack vier einander überkreuzende Treppenaufgänge. Er blinzelt, und plötzlich sind es sechs. Blinzelt nochmals und sieht ein Dutzend, die ihm verwirrend wie eine Escher-Zeichnung erscheinen.

Er kann das tiefe idiotische Dröhnen hören, das die Stimme von Black House ist. Und er kann noch etwas anderes hören: Gelächter.

Tretet ein, fordert das schwarze Haus sie auf. Tretet ein, und irrt auf ewig durch diese Räume.

Jack blinzelt und sieht nun tausend Treppenaufgänge, von denen manche sich zu bewegen, zu pulsieren scheinen. Offen stehende Türen führen in Gemäldegalerien, in Skulpturengalerien, zu wirbelnden Strudeln, ins Leere.

»Was machen wir jetzt?«, fragt Dale entmutigt. »Was zum Teufel machen wir jetzt?«

Ty hat den Freund des Alten nie gesehen, aber während er gefesselt an der Wand hängt, stellt er fest, dass er ihn sich sehr leicht vorstellen kann. In dieser Welt ist Mr. Munshun real ... wenn auch kein menschliches Wesen. Ty sieht eine schlurfende Gestalt in einem schwarzen Anzug und mit rotem Plastron geschäftig die Station House Road entlanghasten. Dieses Wesen hat ein großflächiges weißes Gesicht, das von einem roten Mund und einem einzelnen verschwommenen Auge beherrscht wird. In Tys Vorstellung erscheint der Abgesandte und Bevollmächtigte des Abbalah wie Humpty-Dumpty, allerdings ins Bösartige verzerrt. Er trägt eine Weste mit Knöchelchen statt Knöpfen.

Muss hier raus. Muss an den Beutel rankommen ... aber wie?

Er sieht wieder zu Burny hinüber. Betrachtet das scheußliche Geschlängel von dessen herausgerissenen Eingeweiden. Und plötzlich weiß er, was er zu tun hat. Er streckt wieder den Fuß aus, diesmal jedoch nicht nach dem Lederbeutel. Stattdessen schiebt er die Kappe seines Turnschuhs unter eine der mit Erde beschmutzten Darmschlingen Burnys. Er hebt sie hoch, dreht sich zur Seite und macht eine rasche Fußbewegung, als wollte er einen Ball treten. Die Darmschlinge gleitet von der Zehenkappe.

Und fällt über den Lederbeutel.

So weit, so gut. Jetzt muss er den Beutel nur noch heranziehen, bis er ihn mit dem Fuß erreichen kann.

Ty versucht, nicht an die stämmige, hastende Gestalt mit dem grotesk langen Gesicht zu denken, während er den Fuß nochmals ausstreckt. Er schiebt ihn unter die beschmutzte Darmschlinge und fängt an, sie langsam, unendlich behutsam zu sich herzuziehen.

»Unmöglich«, sagt Beezer rundweg. »Nichts kann so groß sein. Das ist doch klar, oder?«

Jack holt tief Luft, atmet langsam aus und spricht mit leiser, fester Stimme ein einziges Wort.

»Di-jamber?«, fragt Beezer misstrauisch »Was zum Teufel soll Dijamber heißen?«

Jack macht sich nicht die Mühe, die Frage zu beantworten. Aus der über der Lichtung hängenden riesigen dunklen Wolke aus summenden Bienen (Dales Streifenwagen ist jetzt nur noch ein flauschiger braun-goldener Klumpen vor der Veranda) löst sich ein einzelnes Insekt. Es - sie, denn es handelt sich unzweifelhaft um eine Bienenkönigin - fliegt zwischen Dale und Doc hindurch, macht kurz vor Beezer Halt, als wollte sie ihn begutachten (oder den Honig, mit dem er sich großzügig eingerieben hat), und schwebt dann vor Jack. Sie ist rundlich und aerodynamisch ungünstig geformt, wirkt dabei leicht lächerlich, aber irgendwie auch vollkommen wundervoll. Jack hebt einen Zeigefinger wie ein Professor, der etwas Wichtiges unterstreichen, oder ein Kapellmeister, der einen Einsatz geben will. Die Biene setzt sich auf die Kuppe des Zeigefingers.

»Kommst du von ihr?« Er stellt diese Frage so leise, dass keiner der anderen sie hören kann - auch Beezer nicht, der unmittelbar neben ihm steht. Jack weiß selbst nicht genau, wen er damit meint. Seine Mutter? Laura DeLoessian? Judy? Sophie? Oder gibt es noch eine weitere Sie, eine Gegenspielerin des Scharlachroten Königs? Das kommt Jack irgendwie am wahrscheinlichsten vor, aber er vermutet, dass er das nie ganz sicher herausbekommen wird.

Die Biene jedenfalls betrachtet ihn nur mit ihren riesigen schwarzen Augen, während sie die Flügel schwirren lässt. Und Jack erkennt, dass dies Fragen sind, auf die er keine Antwort braucht. Er ist eine Schlafmütze gewesen, aber jetzt ist er aus den Federn. Dieses Haus ist riesig und weitläufig, ein mit Abscheulichkeiten getränkter und von Geheimnissen durchtränkter Bau, aber was macht das schon? Er hat Tys kostbaren Baseballschläger, er hat Freunde, er hat d’yamba, und hier ist die Bienenkönigin. Diese Dinge genügen. Er ist zum Aufbruch bereit. Noch besser - vielleicht am allerbesten - ist, dass er geradezu danach fiebert, endlich aufzubrechen.

Jack hebt die Fingerspitze an die Lippen und bläst die Biene sanft ins Foyer von Black House. Sie kreist einen Augenblick lang scheinbar ziellos umher, dann zischt sie nach links durch eine merkwürdig aufgeblähte, auf gewisse Weise deformierte Tür.

»Kommt«, sagt Jack. »Wir sind im Geschäft.«

Die anderen drei wechseln unbehagliche Blicke, dann folgen sie ihm in etwas, das unverkennbar von Anfang an ihre Bestimmung gewesen ist.

Wie viel Zeit die Sawyer-Gang in Black House - diesem Ursprung aller Verwerfungen in French Landing und den umliegenden Kleinstädten - verbringt, lässt sich unmöglich sagen. Ebenso unmöglich lässt sich auch nur annähernd beschreiben, was die Männer dort sehen. Auf sehr reale Weise gleicht ein Rundgang durch Black House einer Tour durchs Gehirn eines Verrückten, und wir können nicht erwarten, in einem aus dem Lot geratenen geistigen Koordinatensystem dieser Art einen Plan für die Zukunft oder Erinnerungen an die Vergangenheit zu finden. Im Gehirn eines Verrückten existiert nur die wirre Gegenwart mit ihren endlos lärmenden Zwängen, paranoiden Spekulationen und größenwahnsinnigen Ideen. Deshalb ist es nicht überraschend, dass die Dinge, die sie im Black House sehen, fast so schnell aus ihrem Gedächtnis schwinden, wie sie ihnen aus den Augen geraten, und nur verschwommene Spuren eines Unbehagens hinterlassen, das der ferne Schrei des Opopanax sein könnte. Dieser Gedächtnisschwund stellt geradezu eine Gnade dar.

Die Bienenkönigin führt die Gruppe an, und die anderen Bienen folgen den Männern in einem einzigen Schwarm, der mit seiner ungeheuren Größe die Luft verfärbt und durch Räume schwirrt, in denen seit Jahrhunderten Stille geherrscht hat (wir haben natürlich den Eindruck - nicht logisch begründet, aber doch gefühlsmäßig -, dass Black House schon lange existiert hat, bevor Burny seinen jüngsten Anbau in French Landing errichtet hat). Einmal steigen die vier eine Treppe aus grünem Glas hinunter. Im Abgrund unterhalb der Stufen sehen sie Vögel, die Geiern gleich mit den weißen, schreienden Gesichtern verirrter Säuglinge kreisen. In einem langen, schmalen Raum, der an einen Luxuswaggon erinnert, sitzen lebende Cartoonfiguren - zwei Kaninchen, ein Fuchs und ein bekifft wirkender Frosch mit weißen Handschuhen - an einem Tisch und scheinen Flöhe zu fangen und zu fressen. Sie sind Cartoonfiguren, schwarz-weiße Cartoonfiguren aus den Vierzigerjahren, und ihr Anblick schmerzt Jack in den Augen, weil auch diese Figuren real sind. Eines der Kaninchen blinzelt ihm wissend zu, während die Sawyer-Gang vorbeigeht, und in dem Auge, das offen bleibt, sieht Jack blanke Mordlust. Sie kommen an einem leeren Salon vorbei, der mit lauten Stimmen erfüllt ist, die in einer fremden Sprache schreien, die entfernt wie Französisch klingt. In einem anderen Raum wuchert ein Ekel erregender grüner Dschungel, über dem eine heiße Tropensonne brennt. An einem der Bäume hängt ein riesiger Kokon, der ein noch in seine Schwingen gehülltes Drachenjunges zu enthalten scheint. »Das kann kein Drache sein«, sagt Doc Amberson in aufgesetzt vernünftigem Tonfall. »Solche Viecher kommen aus Eiern oder den Zähnen anderer Drachen. Irgend so was.« Sie folgen einem langen Korridor, der sich allmählich verengt, zu einem Tunnel wird und sie dann eine lange, glitschige Rutsche hinabgleiten lässt, während aus unsichtbaren Lautsprechern ein verrückter Beat ertönt. Jack tippt unwillkürlich auf Cozy Cole, vielleicht auch Gene Krupa. Die Tunnelwände weichen zurück, und für einen Augenblick gleiten sie über einen Abgrund, der buchstäblich bodenlos zu sein scheint. »Steuert mit euren Händen und Füßen!«, brüllt Beezer. »Wenn ihr nicht über den Rand fallen wollt, lenkt dagegen!« Zuletzt landen sie in etwas, was Da-le für sich den Schmutzraum nennt. Unter einem rostigen Blechdach kämpfen sie sich im trüben Licht nackter Glühbirnen über riesige Haufen übelriechender Erde hinweg weiter. Schwärme winziger grünlich-weißer Spinnen huschen vor und zurück wie Fischschulen. Als sie mit schlammigen Schuhen und schmutziger Kleidung die andere Seite erreichen, müssen sie alle keuchen und sind vor Anstrengung richtig außer Atem. Dort stehen sie vor drei Türen. Ihre Führerin dreht summend Loopings vor der Tür in der Mitte. »Keine Chance«, sagt Dale. »Ich nehme lieber das Geld als die Risikofrage.«

Jack erklärt ihm, dass er eine Zukunft als Komiker vor sich hat, ganz ohne Zweifel, und öffnet dann die von der Biene für sie ausgewählte Tür. Dahinter liegt ein riesiger Waschsalon, den Beezer für sich sofort als Halle der Sauberkeit bezeichnet. Sie folgen der Biene dicht zusammengedrängt einen feuchten Korridor zwischen schäumenden Waschmaschinen und summenden, wummernden Trocknern entlang. Die Luft riecht nach frisch gebackenem Brot. Die Waschmaschinen - jede mit einem einzelnen starr blickenden Bullauge - sind haushoch, ja wolkenkratzerartig aufeinander gestapelt. Über ihnen schwirren in einem staubigen Luftmeer rastlose Taubenschwärme durcheinander. Ab und zu kommen sie an kleinen Knochenhaufen oder weiteren Anzeichen dafür vorbei, dass schon Menschen vor ihnen bis hierher vorgedrungen (oder verschleppt worden) sind. Auf einem weiteren Gang finden sie einen mit Spinnweben überwucherten Tretroller. Ein kleines Stück weiter liegen die mit dickem Staub bedeckten Rollerblades eines Mädchens. In einer weitläufigen Bibliothek ist auf einem Mahagonitisch mit Menschenknochen das Wort Lachti ausgelegt. In einem luxuriös eingerichteten (wenn auch sichtlich vernachlässigten) Salon, durch den die Biene sie in unbeirrt gerader Linie führt, stellen Dale und Doc fest, dass die Porträts an der einen Wand anscheinend aus Menschengesichtern bestehen, die abgezogen, gegerbt und auf Holzquadrate gespannt worden sind. In die leeren Höhlen sind riesige verwirrte Augen gemalt. Dale glaubt, zumindest eines der Gesichter zu erkennen: das des Lehrers Milton Wanderly, jenes, der vor drei, vier Jahren verschwunden ist. Damals glaubten alle, Don Wan-derlys jüngerer Bruder habe einfach die Stadt verlassen. Tja, denkt Dale, er hat sie wirklich verlassen. Ungefähr in der Mitte eines aus Naturstein gemauerten Korridors mit Zellen auf beiden Seiten schwirrt die Biene in eine schmutzige kleine Kammer und kreist dann dort über einem zerschlissenen Futon. Im ersten Augenblick bringt keiner einen Ton heraus. Was auch nicht nötig ist. Ty war hier - vor nicht allzu langer Zeit. Sie können ihn sozusagen riechen - ihn und seine Angst. Schließlich wendet Beezer sich an Jack. Die blauen Augen über dem üppigen rotbraunen Bart sind vor Wut verengt.

»Der alte Hundesohn hat ihn mit irgendwas verkokelt. Oder mit einem Elektroschocker gezappt.«

Jack nickt. Auch er kann das deutlich riechen, obwohl er weder weiß noch sich darum kümmert, ob er es mit der Nase oder dem Verstand tut. »Burnside wird niemandem mehr einen Schlag verpassen«, sagt er.

Die Bienenkönigin zischt an ihnen vorbei, um dann zurück auf dem Korridor ungeduldige Warteschleifen zu fliegen. Links, dort wo sie hergekommen sind, ist der Korridor schwarz vor Bienen. Die Männer wenden sich nach rechts und folgen der Biene wenig später eine weitere scheinbar endlose Treppe hinunter. An einer Stelle tropft für kurze Zeit etwas Klebriges auf sie herab, als wäre irgendwo über diesem Teil der Treppe ein Rohr in den unvorstellbaren Eingeweiden von Black House leck geworden. Ein halbes Dutzend Stufen sind nass, und sie alle können dort Fußabdrücke erkennen. Die Abdrücke sind zwar zu verschwommen, als dass Spurensicherer viel damit anfangen könnten (das überlegen Jack und Dale sich unabhängig voneinander), aber die Sawyer-Gang wird durch sie trotzdem ermutigt: Hier sind je ein Satz großer und kleiner Fußabdrücke zu sehen, und beide wirken relativ frisch. Jetzt sind sie auf der richtigen Fährte, bei Gott! Sie fangen unwillkürlich an, sich schneller zu bewegen, und hinter ihnen sinken die Bienen in einer riesigen summenden Wolke wie eine alttestamentarische Plage herab.

Für die Sawyer-Gang mag die Zeit still stehen, aber für Ty Marshall ist sie zu einer quälenden Realität geworden. Er weiß nicht recht, ob sein Gefühl, dass Mr. Munshun hierher unterwegs ist, auf Einbildung oder Vorahnung beruht, aber ihn plagt schreckliche Angst, dass Letzteres der Fall ist. Er muss aus dieser Hütte heraus, nur will der verdammte Lederbeutel sich nicht ergreifen lassen. Er hat es zwar immerhin geschafft, ihn mit der Darmschlinge zu sich heranzuziehen, verrückterweise war das aber der leichtere Teil. Als viel schwieriger stellt sich nun heraus, das verdammte Ding auch tatsächlich zu fassen zu bekommen.

Er kann den Beutel nicht erreichen, selbst wenn er sich noch so sehr streckt; auch wenn er die linke Schulter und das gefesselte linke Handgelenk noch so sehr belastet, fehlt mindestens ein halber Meter. Tränen des Schmerzes rollen ihm über die Wangen. Was auf diese Weise an Augenfeuchtigkeit verloren geht, wird zügig durch den Schweiß ersetzt, der ihm von der schmutzigen Stirn in die Augen läuft und dort brennt.

»Mit dem Fuß jonglieren«, sagt er sich. »Wie einen Fußball.« Er sieht zu dem entstellten Leichnam auf der Schwelle hinüber - zu seinem ehemaligen Peiniger. »Genau wie einen Fußball, stimmt’s?«

Er stellt den rechten Fuß seitlich neben den Beutel, drückt diesen an die Wand und beginnt dann, ihn an dem mit Blut befleckten Holz hochzuschieben. Gleichzeitig streckt er die rechte Hand danach aus . noch vierzig Zentimeter ... nur noch dreißig ... gleich hat er ihn .

... bis der Lederbeutel von der Zehenkappe des Turnschuhs rutscht und wieder zu Boden fällt. Plumps.

»Du passt auf, ob er kommt, okay, Burny?«, keucht Ty. »Das kannst nur du, weil ich nämlich mit dem Rücken zur Tür stehe. Du bist der Ausguck, okay? Du bist ... Scheiße!« Diesmal ist der Beutel ihm schon vom Fuß gerutscht, bevor es auch nur zum Versuch kommen kann, ihn hochzuziehen. Ty hämmert mit der rechten Faust an die Hüttenwand.

Warum tust du das?, fragt ihn eine Stimme kühl. Sie gehört der Frau, die wie seine Mutter spricht, aber nicht seine Mutter ist, jedenfalls nicht ganz. Hilft dir das weiter?

»Nein«, sagt Ty missmutig, »aber so fühle ich mich wenigstens besser.«

Noch besser fühlst du dich, wenn du freikommst. Versuch’s jetzt noch einmal.

Ty schiebt den Lederbeutel wieder an die Wand. Er drückt den Fuß dagegen und versucht zu ertasten, was der Beutel alles enthalten könnte - zum Beispiel den Schlüssel für die Handschellen -, kann aber nichts spüren. Nicht durch den Turnschuh hindurch. Er macht sich wieder daran, den Beutel an der Wand nach oben zu drücken. Vorsichtig . nicht zu hastig . als ob man einen Ball aus der Luft annähme ...

»Lass ihn bloß nicht rein, Burny«, keucht er dem Toten hinter sich zu. »Das bist du mir schuldig. Ich will nicht mit der Einschienenbahn fahren. Ich will nicht in die Endwelt. Und ich will kein Brecher sein. Was immer das ist, ich will’s nicht sein. Ich will Forscher werden ... vielleicht unter Wasser wie Jacques Cousteau ... oder Pilot bei der Air Force ... oder vielleicht ... Scheiße!« Diesmal gilt der Ausruf nicht der Verärgerung, den Beutel wieder vom Fuß rutschen gelassen zu haben, sondern entspringt Wut und einsetzender Panik.

Mr. Munshun, der geschäftig heraneilt. Unaufhaltsam näher kommt. Ihn verschleppen will. Din-tah. Abbalah-doon. Für immer und ewig.

»Der verdammte alte Schlüssel ist wahrscheinlich sowieso nicht drin.« Seine Stimme schwankt, klingt schon fast wie ein Schluchzen. »Stimmt’s, Burny?«

»Chummy« Burnside äußert sich nicht dazu.

»Ich möchte wetten, dass der Beutel leer ist. Vielleicht bis auf . ich weiß nicht . irgendein Abführmittel oder so was. Menschenfresser müssen doch Verdauungsstörungen kriegen.«

Trotzdem drückt Ty den Lederbeutel wieder an die Wand und macht sich erneut an die mühsame Arbeit, ihn so weit in die Höhe zu schieben, dass er ihn mit den krampfhaft ausgestreckten Fingern vielleicht erreichen kann.

Dale Gilbertson hat sein ganzes bisheriges Leben im Coulee Country verbracht und ist deshalb Grün gewohnt. Für ihn sind Bäume und Rasenflächen und Felder, die sich bis weit zum Horizont erstrecken, die Norm. Vielleicht betrachtet er das rauchende, verwüstete Land auf beiden Seiten der Schlangenstraße deshalb so angewidert und mit wachsender Bestürzung.

»Was ist das für ein Land?«, fragt er Jack. Seine Worte kommen stoßweise heraus. Die Sawyer-Gang hat keinen Golfwagen zur Verfügung, sondern muss marschieren. Und Jack gibt ein Tempo vor, das die Geschwindigkeit, mit der Ty den Wagen gefahren hat, ziemlich übertrifft.

»Weiß ich nicht genau«, sagt Jack. »Vor langer Zeit habe ich mal eine ähnliche Gegend gesehen. Sie hieß das Verheerte Land. Sie .«

Aus einem Gewirr von Felsblöcken springt sie plötzlich ein grünlich geschuppter Mann an. In einer Hand hält er eine kurze Peitsche, die Jack für eine geflochtene Reitgerte hält. »Bahbrrr!«, ruft diese Erscheinung, was groteskerweise wie das Lachen von Richard Sloat klingt.

Jack hebt Tys Baseballschläger und sieht die Erscheinung fragend an - willst du den mal kosten? Das will die Erscheinung offenbar nicht. Sie bleibt noch einen Augenblick lang stehen, dann macht sie kehrt und flüchtet. Als sie in dem Felsenlabyrinth verschwindet, sieht Jack, dass ihre Achillessehnen unregelmäßig mit schief stehenden dornigen Zacken besetzt sind.

»Sie mögen Wonderboy nicht«, sagt Beezer mit einem anerkennenden Blick auf den Baseballschläger. Der ist weiterhin ein Schläger, genau wie die 9-mm-Pistolen und die Ruger weiterhin Schusswaffen und sie weiterhin sie sind: Jack, Dale, Beezer, Doc. Jack muss allerdings zugeben, dass ihn das nicht sonderlich überrascht. Par-kus hat ihm ja gesagt, dass es hier nicht um Twinner geht, hat es ihm bei ihrem Palaver in der Nähe des Zelthospitals erklärt. Dieses Land mag in der Nachbarschaft der Territorien liegen, aber es gehört den Territorien nicht an. Das hatte Jack vergessen.

Na ja - obwohl ich mir’s auch wieder anders vorgestellt habe.

»Ich weiß nicht, ob ihr euch die Mauer jenseits dieser malerischen Landstraße schon genauer angesehen habt, Jungs«, sagt Doc. »Die großen weißen Steine scheinen in Wirklichkeit Totenschädel zu sein.«

Beezer streift die Mauer aus Schädeln mit einem flüchtigen Blick, dann sieht er wieder nach vorn. »Was mir Sorgen macht, ist das Ding hier«, sagt er. Über dem zerklüfteten Horizont ragt ein riesiges Gebilde aus Stahl, Glas und Maschinenelementen bis in die tief hängenden Wolken auf. Sie können die winzigen Gestalten erkennen, die sich darin hin und her flutend abmühen, können das Knallen von Peitschen hören. Aus dieser Entfernung klingt es wie Kleinkaliberfeuer. »Was ist das, Jack?«

Jack glaubt zunächst, die Brecher des Scharlachroten Königs vor sich zu haben, aber nein - es sind zu viele. Dieser Bau ist irgendeine Art Fabrik oder Kraftwerk, das von Sklaven in Gang gehalten wird. Von Kindern, die nicht begabt genug waren, um sich als Brecher zu qualifizieren. Ungeheurer Zorn erfüllt ihm das Herz. Als spürten die Bienen das, wird ihr Summen hinter ihm lauter.

Speedys Stimme, die in seinem Kopf flüstert: Heb dir deinen Zorn für später auf, Jack - erst musst du den kleinen Jungen retten. Und die Zeit wird knapp, sehr knapp.

»Jesses«, sagt Dale und zeigt nach vorn. »Ist das, was ich denke, dass es ist?«

Das Blutgerüst hängt wie ein Skelett über der abfallenden Straße.

»Ist Ihre Antwort: Galgen«, sagt Doc, »gewinnen Sie das Edelstahlbesteck und kommen eine Runde weiter, würde ich sagen.«

»Seht euch die ganzen Schuhe an«, sagt Dale. »Wozu sollte jemand Schuhe so aufhäufen?«

»Weiß der Himmel«, sagt Beezer. »Das ist einfach Landessitte, schätze ich mal. Wie weit haben wir noch, Jack? Hast du irgendeine Idee?«

Jack betrachtet die Straße vor ihnen, dann die in der Nähe des alten Galgens nach links wegführende kleinere Straße. »Nicht mehr weit«, sagt er. »Ich glaube, wir .«

Auf einmal hören sie vor sich die Schreie. Es sind die Schreie eines Kindes, das offenbar bis an den Rand des Wahnsinns getrieben worden ist. Vielleicht sogar darüber hinaus.

Ty Marshall kann das näher kommende Summen der Bienen hören, glaubt aber, dass es sich lediglich um ein Geräusch in seinem Kopf handelt, nichts weiter als eine akustische Ausprägung seiner wachsenden Angst. Er kann nicht sagen, wie oft er schon versucht hat, den alten Lederbeutel an der Hüttenwand nach oben zu schieben; er ist beim Zählen durcheinander geraten. Er ist nicht auf den Gedanken gekommen, seine Koordinationsfähigkeit könnte sich dadurch verbessern, dass er die merkwürdige Mütze - die wie aus Tuch gefertigt aussieht und sich wie Metall anfühlt - abnimmt, weil er ganz vergessen hat, dass er die Mütze überhaupt trägt. Er weiß nur, dass er müde ist und schwitzt und zittert, vermutlich unter Schock steht und wahrscheinlich einfach aufgeben wird, wenn er es diesmal wieder nicht schafft, den Beutel zu erwischen.

Ich würde wahrscheinlich mit Mr. Munshun mitgehen, wenn er mir nur ein Glas Wasser verspricht, denkt Ty. Aber er hat nun einmal Judys Zähigkeit geerbt und auch etwas von Sophies königlicher Unbeugsamkeit in sich. Und so ignoriert er die Schmerzen im Oberschenkel einfach, macht sich wieder daran, den Beutel die Wand entlang nach oben zu schieben und beugt sich dabei mit weit ausgestreckter rechter Hand hinunter.

Zwanzig Zentimeter ... fünfzehn .so nah war er noch nie dran .

Der Beutel gleitet etwas nach links. Er wird ihm vom Fuß rutschen. Wieder einmal.

»Nein«, sagt Ty leise. »Diesmal nicht.«

Er drückt den Fuß fester ans Holz, dann schiebt er ihn wieder höher.

Zehn Zentimeter . neun . noch sechs oder sieben, und der Beutel rutscht immer weiter nach links, er muss jeden Augenblick herunterfallen ...

»Nein!«, ruft Ty und streckt sich bis zum Äußersten. Im Rücken knackt es. In der gequälten linken Schulter ebenfalls. Aber er streift den Beutel mit den Fingern . und bekommt ihn dann zu fassen. Er holt ihn zu sich her - und lässt ihn dabei um ein Haar wieder fallen!

»Kommt nicht in Frage, Burny«, keucht er, indem er sich den Lederbeutel jonglierend an die Brust drückt. »Kommt gar nicht in Frage, dass du mich mit so einem alten Trick reinlegst.« Er schlägt die Zähne in den oberen Rand des Beutels. Das Leder verströmt einen grässlich fauligen Gestank - Eau de Burnside. Ty schüttelt den Geruch ab und zieht den Beutel auf. Im ersten Augenblick hält er ihn für leer und stößt einen leisen, schluchzenden Klagelaut aus. Dann sieht er aber etwas Silbernes aufblitzen. Er schluchzt mit zusammengebissenen Zähnen weiter, während er mit der rechten Hand in den baumelnden Lederbeutel greift und den Schlüssel herausholt.

Darf ihn nicht fallen lassen, denkt er. Wenn er mir aus der Hand fällt, drehe ich durch. Todsicher.

Er lässt ihn nicht fallen. Er hebt ihn hoch, steckt ihn in das kleine seitliche Schlüsselloch der Handschelle und dreht ihn. Die Handschelle springt klickend auf.

Ty zieht die Hand langsam, ganz langsam aus der Stahlfessel. Die Handschellen fallen auf den festgetretenen Boden der Hütte. Als Ty so dasteht, überkommt ihn eine eigenartig überzeugende Vorstellung: Er ist in Wirklichkeit noch immer in Black House und schläft auf dem zerschlissenen Futon in der Zelle mit dem Kübel in der einen Ecke und dem Blechnapf mit aufgewärmtem Konserveneintopf in der anderen. Es ist nur der Versuch seines erschöpften Verstands, ihm etwas Hoffnung zu gewähren. Ein letztes Aufbäumen, bevor er selbst in den Schmortopf wandert.

Von draußen dringen das Scheppern der Großen Kombination und die Schreie der Kinder herein, die auf ihren blutenden Füßchen marschieren, marschieren und marschieren, um sie in Gang zu halten. Irgendwo dort draußen kommt Mr. Munshun, der ihn an einen noch grausigeren Ort verschleppen will.

Das alles ist kein Traum. Er weiß nicht, wohin er sich wenden oder wie er jemals in seine richtige Welt zurückfinden soll, aber der erste Schritt muss sein, diese Hütte und ihre nähere Umgebung zu verlassen. Ty Marshall, der sich auf zitternden Beinen wie ein Unfallopfer bewegt, das nach langem Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal wieder aufsteht, steigt über Burnys ausgestreckt daliegenden Leichnam hinweg und tritt ins Freie. Der Tag ist düster, die Landschaft ist steril, und selbst hier beherrscht der scheppernde Turmbau aus Schmerzen und Plackerei die Aussicht, aber trotzdem empfindet Ty ungeheure Freude darüber, nur wieder im Hellen zu sein. Frei zu sein. Erst als er mit der Hütte hinter sich dasteht, wird ihm wirklich bewusst, wie sicher er davon ausgegangen ist, hier zu sterben. Ty schließt für einen Moment die Augen und wendet das Gesicht dem grauen Himmel entgegen. Auf diese Weise sieht er die Gestalt nicht, die hinter einer Ecke der Hütte gestanden und klugerweise gewartet hat, um zu sehen, ob Ty noch die Mütze trägt, wenn er herauskommt. Sobald Lord Mals-hun - besser können wir seinen wahren Namen phonetisch nicht wiedergeben - sich davon überzeugt hat, tritt er vor. Sein groteskes Gesicht gleicht einem mit Haut bezogenen riesigen Vorlegelöffel. Das eine Auge quillt ungestalt hervor. Die roten Lippen sind zu einem Grinsen verzogen. Er schlingt die Arme um den Jungen, worauf Ty zu kreischen anfängt - nicht nur aus Angst und Überraschung, sondern auch aus Empörung. Er hat doch so schwer geschuftet, um freizukommen, so entsetzlich schwer.

»Pst!«, flüstert Lord Malshun, und als Ty weiter wie wild kreischt (auf den oberen Ebenen der Großen Kombination wenden einige Kinder sich diesen Schreien zu, bis die brutalen Ungeheuer, die als Aufseher fungieren, sie mit Peitschenhieben an ihre Pflicht erinnern), spricht der Bevollmächtigte des Abbalah ein einziges Wort in Dunkler Sprache: »Pnung.«

Ty erschlafft. Hielte Lord Malshun ihn nicht von hinten umklammert, würde Ty ganz zusammensacken. Aus dem sabbernden, schlaffen Mund des Kindes dringen weiter gutturale Protestlaute, aber seine Schreie sind verstummt. Lord Malshun neigt sein langes, löffelförmiges Gesicht der Großen Kombination zu und grinst. Das Leben meint es gut mit ihm! Dann wirft er einen Blick in die Hütte - kurz nur, aber sehr interessiert.

»Hat ihn glatt erledigt«, sagt Lord Malshun. »Und das mit aufgesetzter Mütze. Erstaunlicher Junge! Der König will dich übrigens persönlich kennen lernen, bevor du nach Din-tah geschickt wirst. Vielleicht lädt er dich ja zu Kaffee und Kuchen ein. Stell dir das mal vor, junger Tyler! Kaffee und Kuchen mit dem Abbalah! Kaffee und Kuchen mit dem König!«

». will nicht hin . will heim . meiner Mamaaa .« Diese Worte quellen ihm leise und stockend aus dem Mund wie Blut aus einer tödlichen Wunde.

Lord Malshun fährt Ty mit einem Finger über die Lippen, die sich unter dieser Berührung fest verschließen. »Pst!«, macht der Talentsucher des Königs wieder. »Nur wenige Dinge im Leben sind lästiger als ein lärmender Reisegefährte. Und wir haben wahrlich eine lange Reise vor uns. Weit fort von deiner Heimat und deinen Freunden und Angehörigen ... ach, nur nicht weinen.« Lord Malshun hat die Tränen bemerkt, die dem hilflosen Jungen aus den Augenwinkeln quellen und über die glatten Wangen laufen. »Nicht weinen, kleiner Ty. Du wirst neue Freunde gewinnen. Zum Beispiel den Oberbrecher. All die Jungs mögen den Oberbrecher. Er heißt Mr. Brautigan. Vielleicht erzählt er dir ja Geschichten von seinen vielen Fluchten. Wie komisch die sind! Wirklich zum Totlachen! Aber jetzt müssen wir los! Kaffee und Kuchen mit dem König! Denk immer daran!«

Lord Malshun ist untersetzt und ziemlich O-beinig (eigentlich sind seine Beine sogar ein gutes Stück kürzer als sein grotesk langes Gesicht), aber er ist stark. Er klemmt sich Ty unter den Arm, als würde der Junge nicht mehr als zwei, drei zusammengelegte Bettlaken wiegen. Er sieht sich ohne großes Bedauern ein letztes Mal nach Burny um - im Staat New York lebt ein viel versprechender junger Bursche, und Burny war ja ohnehin ziemlich ausgebrannt.

Lord Malshun legt den Kopf schief und stößt sein fast lautloses puffendes Lachen aus. Dann bricht er auf, aber nicht ohne Ty zuvor noch einmal die Mütze mit einem kräftigen Ruck fester über den Kopf zu ziehen. Der Junge ist mehr als nur ein Brecher; er ist der vielleicht mächtigste Brecher, der je gelebt hat. Zum Glück kennt er die in ihm wohnende Macht noch nicht. Wahrscheinlich würde gar nichts passieren, wenn die Mütze herabfiele, aber es ist besser, nichts zu riskieren.

Geschäftig weitereilend - und sogar halb laut vor sich hin summend -, erreicht Lord Malshun den oberen Rand der Mulde und biegt dort nach links auf die Schlangenstraße ab, um die halbe Meile zur Station House Road zurückzuschlendern, macht dann aber abrupt Halt. Vor ihm auf der Straße stehen vier Männer, die aus einer Welt kommen, die Lord Malshun als Ter-tah kennt. Es ist ein Slangausdruck - und kein schmeichelhafter. Im Buch vom guten Wirtschaften wird mit Ter die Voll-Erde-Periode bezeichnet, in der das Zuchtvieh gedeckt wird. Lord Malshun betrachtet die Welt jenseits der Haustür von Black House als eine Art riesiges Gazpacho, eine lebende Suppe, in die er den Schöpflöffel tun-ken kann - natürlich stets im Namen des Abbalah! -, wann immer er will.

Vier Männer aus der Ter? Lord Malshun kräuselt verächtlich die Lippen, was kleine Beben über die gesamte Länge seines Gesichts laufen lässt. Was tun sie hier? Was meinen die überhaupt, hier erreichen zu können?

Beim Anblick des Schlägers verblasst das Lächeln. Der Schläger schimmert in changierendem Licht, das viele unterschiedliche Farben annimmt, aber in seinem Innersten trotzdem stets weiß bleibt. Ein blendend helles Licht. Lord Malshun kennt nur ein Objekt, das jemals so geleuchtet hat: die Kugel des Ewigen, die zumindest ein kleiner Junge, der einst auf Wanderschaft war, als den Talisman kannte. Dieser Junge hat ihn damals berührt, und wie Laura DeLoessian ihm hätte erzählen können - wie Jack jetzt selbst weiß -, verflüchtigt die Wirkung des Talismans sich nie vollständig.

Das Lächeln verfliegt gänzlich, als Lord Malshun erkennt, dass der Mann mit dem Schläger dieser Junge war. Er ist zurückgekehrt, um sie zu stören, aber wenn er glaubt, sich die Trophäe aller Trophäen zurückholen zu können, täuscht er sich gewaltig. Schließlich ist dies hier nur ein Schläger, nicht die Kugel selbst; vielleicht hat der Mann sich ja etwas von der restlichen Kraft der Kugel bewahrt, aber sicher nicht allzu viel. Nach all den Jahren, die seither vergangen sind, ist sie bestimmt fast zu Staub zerfallen.

Und auch mein Leben wäre nur mehr Staub wert, wenn ich zuließe, dass sie mir diesen Jungen wegnehmen, denkt Lord Malshun. Ich muss ...

Sein einzelnes Auge wird von der dunklen Gewitterwolke angezogen, die hinter den Männern aus Ter hängt. Sie gibt ein voll tönendes, schläfriges Summen von sich. Bienen? Bienen mit Stacheln? Bienen mit Stacheln, zwischen ihm und der Station House Road?

Na ja, mit den Bienen wird er sich befassen, wenn es so weit ist. Alles zu seiner Zeit. Als Erstes sind diese Störenfriede dran.

»Guten Tag, die Herren«, sagt Lord Malshun mit seiner freundlichsten Stimme. Der nachgeahmte deutsche Akzent ist verflogen; er spricht jetzt wie ein pseudobritischer Aristokrat in der Aufführung einer West-EndKomödie aus den Fünfzigerjahren. Oder vielleicht wie der amerikanische Rundfunkkommentator Lord Haw-Haw, der im Zweiten Weltkrieg Nazipropaganda verlas. »Reizend von Ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, aus so weiter Ferne zu einem Besuch herzukommen, wirklich reizend, und noch dazu an einem dermaßen bis ins Mark verdorbenen Tag. Aber ich fürchte, hier sind alle Tage derart verdorben, das Tosen der Endwelt dient ja schließlich keinem anderen Zweck als dieser Vermenschlichung der Natur, nicht wahr, und ich - verflixt und zugenäht! - muss leider weiter. Was ich hier habe, ist leicht verderbliche Ware, fürchte ich.«

Lord Malshun hebt Ty hoch und schüttelt ihn. Obwohl Ty die Augen offen hat und bei Bewusstsein zu sein scheint, schlenkern seine Gliedmaßen so kraftlos hin und her wie die einer Stoffpuppe.

»Setz ihn ab, Munshun«, sagt der mit dem Schläger, und Lord Malshun erkennt mit wachsender Bestürzung, dass jener ihm doch tatsächlich Schwierigkeiten bereiten könnte. Wahrhaftige Schwierigkeiten. Trotzdem lächelt er nun noch breiter und lässt dabei das gesamte Arsenal seiner grausigen Zähne sehen. Sie sind nadelspitz und leicht nach hinten geneigt. Verbeißen sie sich in etwas, würde es bei dem Versuch, sich aus dieser Zahnfalle zu befreien, in Fetzen gerissen.

»Munshun? Munshun? Hier gibt’s niemanden, der so heißt. Übrigens auch keinen Mr. Monday. Alle fort, tschüs, adieu und hopsassa! Und den Jungen kann ich nicht absetzen, mein Lieber, kann’s einfach nicht. Ich habe da so meine Verpflichtungen, sollten Sie wissen. Und ihr Burschen solltet euch wirklich glücklich schätzen. Mit der Schreckensherrschaft bei euch ist’s nämlich vorbei! Hussa! Der Fisherman ist tot - von diesem Jungen hier erledigt, von diesem in der Tat wirklich bewundernswerten Jungen.« Er schüttelt Ty ein weiteres Mal, wobei er sorgfältig darauf achtet, dass dessen Kopf gerade bleibt. Die Mütze darf unter keinen Umständen herabfallen, o nein.

Nur die Bienen beunruhigen ihn.

Wer hat die Bienen geschickt?

»Die Mutter des Jungen ist in einem Irrenhaus«, sagt der Mann mit dem Schläger. Dieser Schläger leuchtet jetzt intensiver als zuvor, wie Lord Malshun mit wachsender Angst feststellen muss. Er hat jetzt große Angst, und mit der Angst wächst auch seine Wut. Ist es denkbar, dass sie ihn überwältigen können? Dass sie ihm den Jungen wirklich entreißen werden? »Sie ist in einem Irrenhaus, und sie will ihren Sohn zurückhaben.«

In diesem Fall werden sie für all ihre Mühe nur eine Leiche bekommen.

Angstvoll oder nicht, Lord Malshuns widerliches Grinsen wird noch breiter. (Dale Gilbertson hat jäh eine Schreckensvision: der ultrakonservative William F. Buck-ley, als Einäugiger mit eineinhalb Meter langem Gesicht.) Er hebt Tys schlaffen Körper dicht an den Mund und lässt die nadelspitzen Zähne kaum einen Fingerbreit von dem nackten Hals entfernt kleine Bisse aus der Luft schnappen.

»Ihr Mann soll ihr den Schwanz reinstecken und ihr einen neuen machen, alter Knabe - ich bin mir sicher, dass er das hinkriegt. Schließlich leben sie in Ter-tah. Dort werden Frauen doch schon schwanger, wenn sie nur die Straße entlanggehen.«

Einer der Bärtigen sagt: »Sie hat aber eine besondere Vorliebe für diesen hier.«

»Ich aber auch, mein Lieber, ich auch.« Diesmal ritzt Lord Malshun mit den Zähnen tatsächlich Tys Haut, sodass wie aus einem Schnitt beim Rasieren etwas Blut fließt. Hinter ihnen arbeitet die Große Kombination knirschend weiter, aber die Schreie sind inzwischen verstummt, als spürten die Kinder, die diese Maschinerie antreiben, dass sich etwas verändert hat oder verändern könnte, dass ihre Welt an einem Scheideweg steht.

Der Mann mit dem leuchtenden Schläger tritt einen Schritt vor. Lord Malshun muss unwillkürlich etwas zurückweichen. Es ist ein Fehler, Angst und Schwäche erkennen zu lassen, das weiß er, aber er kann nicht anders. Der Mann vor ihm nämlich ist kein gewöhnlicher Tah.

Es ist jemand wie einer der alten Revolvermänner, jener Krieger des Hohen.

»Beim nächsten Schritt beiße ich ihm die Kehle auf, mein Lieber. Das wäre mir zwar zuwider, wäre mir schrecklich zuwider, aber zweifeln Sie nicht daran, dass ich’s täte.«

»Zwei Sekunden später wärst du selbst tot«, sagt der Mann mit dem Schläger. Er scheint gar keine Angst zu haben - weder um sich noch um Ty. »Willst du das wirklich?«

Vor die Wahl gestellt, zu sterben oder mit leeren Händen vor den Scharlachroten König treten zu müssen, würde Lord Malshun sich tatsächlich für den Tod entscheiden, ja. Aber dazu muss es nicht unbedingt kommen. Das Beruhigungswort hat bei dem Jungen gewirkt und wird deshalb auch bei mindestens dreien dieser vier Männer wirken - bei den drei gewöhnlichen Menschen. Und liegen sie erst einmal kraftlos und mit starr geöffneten Augen auf der Straße, kann Lord Malshun sich in aller Ruhe den vierten vornehmen. Das ist natürlich dieser Sawyer. Richtig, so heißt er. Und was wiederum die Bienen angeht, da verfügt er bestimmt über genügend Schutzwörter, um die Station House Road hinauf zur Einschienenbahn zu gelangen. Sollte er dabei ein paar Stiche abbekommt, was macht das schon?

»Willst du das?«, fragt Sawyer.

Lord Malshun lächelt. »Pnung!«, ruft er, und hinter Jack Sawyer erstarren Dale, Beezer und Doc.

Lord Malshuns Lächeln verbreitert sich zu einem Grinsen. »Was wollen Sie jetzt tun, mein lästiger Freund? Was wollen Sie ohne Freunde tun, die Ihnen den Rücken ...«

Armand »Beezer« St. Pierre tritt vor. Der erste Schritt ist mühsam, aber die folgenden sind ganz leicht. Sein eigenes kaltes kleines Lächeln entblößt die Zähne inmitten des Vollbarts. »Du bist schuld am Tod meiner Tochter«, sagt er. »Du hast sie vielleicht nicht selbst ermordet, aber du hast Burnside dazu angestiftet, stimmt’s? Ich bin ihr Vater, du Arschloch. Glaubst du, du könntest mich mit einem einzigen Wort aufhalten?«

Doc rückt schwerfällig zu seinem Freund auf.

»Du hast meine Stadt versaut«, knurrt Dale Gilbertson. Auch er tritt vor.

Lord Malshun starrt sie ungläubig an. Die Dunkle Sprache hat sie nicht aufhalten können. Nicht einen einzigen. Sie versperren ihm die Straße! Sie wagen es, ihm seine vorgesehene Route zu versperren!

»Ich bringe ihn um!«, faucht er Jack an. »Ich beiße ihn tot. Also, was sagen Sie, Freundchen? Wie hätten Sie’s gern?«

Und da hätten wir ihn zu guter Letzt: den Showdown. Wir können ihn leider nicht aus der Luft beobachten, weil die Rabenkrähe, von der wir uns so oft haben mitnehmen lassen (ohne dass Gorg es jemals gemerkt hätte, wie wir versichern können), tot ist, aber selbst von der Seitenlinie aus erkennen wir diese archetypische Szene aus zehntausend Westernfilmen - darunter mindestens ein Dutzend mit Lily Cavanaugh in der Hauptrolle.

Jack senkt den Schläger, den inzwischen sogar Beezer als Wonderboy erkannt hat. Er hält ihn so, dass der Knauf unten gegen seinen Unterarm drückt und der Schlägerkopf genau auf Lord Malshuns Kopf zeigt.

»Setz ihn ab«, sagt er. »Letzte Gelegenheit, mein Freund.«

Lord Malshun hebt den Jungen höher. »Nur zu!«, ruft er. »Schießen Sie einen Energiestrahl aus diesem Ding! Ich weiß, das Sie das können! Aber damit treffen Sie auch den Jungen! Sie treffen den Jungen, d.«

Aus dem Kopf von Richie Sexsons Schläger zuckt ein reinweißer Feuerstrahl, der dünn wie eine Bleistiftmine ist. Er trifft Lord Malshuns einzelnes Auge und lässt es in dessen Höhle verkochen. Das Ungeheuer stößt einen gellenden Schrei aus - es hätte nie gedacht, dass Jack sich nicht bluffen lassen würde, nicht als ein Wesen aus Ter, und sei es vorübergehend noch so erhaben -, reckt den Kopf nach vorn und reißt den Rachen auf, um noch im Tod zuzuschnappen.

Bevor es dazu kommt, schießt allerdings ein weiterer reinweißer Lichtstrahl, diesmal von dem abgewetzten silbernen Ring an Beezer St. Pierres linker Hand ausgesendet, und trifft genau den Mund des Bevollmächtigten des Abbalah. Der Plüsch von Lord Malshuns roten Lippen geht in Flammen auf ... und dennoch torkelt er weiter aufrecht über die Straße, während die Große Kombination wie ein skelettierter Wolkenkratzer hinter ihm aufragt, versucht zuzubeißen, versucht, das Leben von Judy Marshalls talentiertem Sohn zu beenden.

Dale springt vor, packt Ty an Taille und Schultern, entreißt ihn dem Ungeheuer und taumelt dann mit dem Jungen an den Straßenrand. Sein ehrliches Gesicht ist jetzt blass und grimmig und verbissen. »Gib ihm den Rest, Jack!«, brüllt Dale. »Gib dem Hundesohn den Rest!«

Jack tritt auf das geblendete, heulende, angesengte Ungeheuer zu, das mit rauchender Knöchelweste und um sich grapschenden langen weißen Händen über die Schlangenstraße wankt. Er legt sich den Baseballschläger auf der rechten Schulter zurecht und packt den Griff ganz unten am Knauf mit beiden Händen. Heute Nachmittag fasst Jack den Schläger nicht kurz - heute Nachmittag schwingt er einen Schläger, der von reinweißem Feuer leuchtet, und er wäre ein Dummkopf, wenn er nicht versuchen würde, den Ball weit über den Zaun zu schlagen.

»Ich bin dran, Freundchen«, sagt er und lässt einen Schlag folgen, der sogar Richie Sexson Ehre gemacht hätte. Oder Big Mac. Sie hören einen dumpfen, fleischigen Aufprall, mit dem der Schläger mit voller Wucht die Seite von Lord Malshuns riesigem Schädel trifft. Sie wird wie die Schale einer verfaulten Wassermelone eingebeult und versprüht einen Nebel hell scharlachroter Tropfen. Im nächsten Augenblick zerplatzt der Schädel einfach und bespritzt alle Umstehenden mit Blut und Gehirnmasse.

»Sieht so aus, als müsste der König sich einen neuen Boy suchen«, sagt Beezer halb laut. Er fährt sich übers Gesicht, betrachtet die Hand, an der jetzt Blut und ver-schrumpelndes Gewebe haften und wischt sie dann lässig an seinen verblichenen Jeans ab. »Homerun, Jack. Das konnte sogar ein Blinder sehen.«

Dale, der Ty in den Armen hält, sagt: »Klappe zu, Affe tot, macht die Hosentür dicht.«

Der Polizeichef von French Landing stellt Ty behutsam auf die Beine. Der Junge sieht erst zu ihm, dann zu Jack auf. In seinem Blick beginnt so etwas wie trübes Licht aufzuleuchten. Es könnte Erleichterung bedeuten; es könnte auch vollkommenes Verständnis bedeuten.

»Schläger«, sagt er. Seine Stimme kommt rauchig und heiser und ist kaum zu verstehen. Er räuspert sich und nimmt einen neuen Anlauf. »Schläger. Hab davon geträumt.«

»Wirklich?« Jack kniet sich vor den Jungen und hält ihm den Baseballschläger hin. Ty macht keine Anstalten, Richie Sexsons Wunderschläger an sich zu nehmen, aber er berührt ihn mit einer Hand. Fährt über den blutbespritzten Schlägerkopf. Er hat nur Augen für Jack, als wollte er ihn auf irgendeine Weise ergründen. Ihn ganz wahrnehmen. Begreifen, dass er schließlich doch noch gerettet worden ist.

»George«, sagt der Junge. »George. Rathbun. Ist wirklich blind.«

»Ja«, sagt Jack. »Aber manchmal ist blind eben nicht blind. Weißt du das, Tyler?«

Der Junge nickt. Jack hat noch nie jemanden gesehen, der so dermaßen erschöpft, so erschüttert und verwirrt, so restlos erledigt war.

»Möchte«, sagt der Junge. Er fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen und räuspert sich wieder. »Möchte ... trinken. Wasser. Zu Mutter. Zu meiner Mutter.«

»Klingt wie ein guter Plan«, sagt Doc. Er betrachtet unbehaglich die blutbespritzten Überreste des Ungeheuers, das weiterhin Mr. Munshun für sie ist. »Ich schlage vor, den jungen Mann nach Wisconsin zurückzuschaffen, bevor hier ein paar Freunde von dem alten Zyklopen da aufkreuzen.«

»Genau«, sagt Beezer. »Black House niederzubrennen steht auch auf meiner Prioritätenliste. Ich lege das erste Zündholz an. Vielleicht kann ich ja auch wieder Feuer aus meinem Ring schießen. Fänd ich nicht schlecht. Aber als Erstes sollten wir von hier verschwinden.«

»Bin völlig eurer Meinung«, sagt Dale. »Ty kann bestimmt nicht sehr weit oder sehr schnell gehen, aber wir können ihn ja abwechselnd Huckepack nehmen und ...«

»Nein«, sagt Jack.

Sie starren ihn mit unterschiedlichen Graden von Erstaunen und Bestürzung an.

»Jack«, sagt Beezer. Er spricht eigentümlich sanft. »Man kann Gastfreundschaft auch überfordern, Mann.«

»Wir haben noch etwas zu erledigen«, sagt Jack kurz angebunden. Dann schüttelt er den Kopf und verbessert sich: »Ty hat noch was zu erledigen.«

Jack Sawyer kniet auf der Schlangenstraße und sagt sich: Ich war nicht viel älter als dieser Junge, als ich quer durch Amerika - und die Territorien - gezogen bin, um meiner Mutter das Leben zu retten. Er weiß, wie wahr das ist, und kann es gleichzeitig überhaupt nicht glauben. Kann sich nicht daran erinnern, wie es war, zwölf Jahre alt und sonst nichts zu sein, wie es war, klein und verängstigt zu sein, von der übrigen Welt kaum wahrgenommen zu werden und nur mit knapper Not seinen Vorsprung vor allen Schatten der Welt behaupten zu können. Alles sollte irgendwann einmal vorbei sein: Ty hat neunerlei Höllen durchlitten und verdient es, heimkehren zu dürfen.

Leider ist es aber nicht vorbei. Es gibt noch etwas zu tun.

»Ty.«

»Möchte. Heim.«

Falls im Blick des Jungen ein Licht geglommen hat, ist es jetzt wieder erloschen. Er hat das leere Schockgesicht von Flüchtlingen an Grenzübergängen und Häftlingen an den Toren von Todeslagern. Es ist das ausdruckslose Gesicht eines Menschen, der zu lange in der verworfenen Opopanax-Landschaft voller Verwerfungen zugebracht hat. Und er ist ein Kind, verdammt noch mal, nur ein Kind. Er hat Besseres verdient, als Jack ihm zuzuteilen im Begriff ist. Andererseits hatte auch Jack Sawyer einst Besseres verdient, als er bekam, und hat’s glücklich überlebt. Das rechtfertigt natürlich nichts, aber es gibt Jack den Mut, ein Schweinehund zu sein.

»Ty.« Er packt den Jungen an der Schulter.

»Wasser. Mutter. Heim.«

»Nein«, sagt Jack. »Noch nicht.« Er dreht den Jungen um. Die Spritzer von Lord Malshuns Blut auf Tys Gesicht leuchten geradezu. Jack spürt, dass die Männer, die mit ihm hergekommen sind - Männer, die um seinetwillen ihr Leben und ihre geistige Verfassung riskiert haben -, ihn missbilligend anblicken. Macht nichts. Er hat einen Auftrag zu erfüllen. Er ist ein Schutzmann, und hier ist noch ein Verbrechen in Gang.

»Ty.«

Nichts. Der Junge steht zusammengesunken da. Er versucht, ein Fleischklumpen zu sein, der nur noch atmet.

Jack deutet auf das hässliche Wirrwarr aus Streben und Treibriemen und Stahlträgern und rauchenden Schloten. Er deutet auf die sich mühenden Ameisen. Die Große Kombination ragt hoch in die Wolken und tief in den toten Grund. Wie weit in jede Richtung? Eine Meile? Zwei? Sind dort über den Wolken auch Kinder, zitternde Kinder mit Atemmasken, die Tretmühlen bedienen und Hebel umlegen und Kurbeln bewegen? Kinder dort unten, die in der Hitze unterirdischer Feuer braten? Dort unten in den Fuchsbauten und Rattenlöchern, wo nie die Sonne scheint?

»Was ist das?«, fragt Jack den Jungen. »Wie nennst du das? Wie hat Burny es genannt?«

Ty rührt sich nicht.

Jack schüttelt den Jungen. Auch nicht gerade unsanft.

»He, Mann«, sagt Doc. Seine Stimme ist voller Missbilligung. »Das ist doch wirklich nicht nötig.«

»Halt den Mund«, sagt Jack, ohne Doc anzusehen. Sein Blick ist weiter auf Ty gerichtet. Auf der Suche nach irgendetwas anderem als entsetzte Leere in dessen blauen Augen. Er muss Ty dazu bewegen, zu dieser gigantischen, ächzenden Maschine hinzusehen, die dort in der Ferne steht. Sie richtig in sich aufzunehmen. Solange er das nicht tut, wie soll er sie da richtig verabscheuen? »Was ist das?«

Nach einer langen Pause sagt Ty: »Große. Die Große.

Die Große Kombination.« Die Worte kommen langsam und traumwandlerisch, als würde er im Schlaf sprechen.

»Die Große Kombination, ja«, sagt Jack. »Und nun halte sie auf.«

Beezer schnappt nach Luft. Und Dale sagt: »Jack, bist du von allen .«, und verstummt dann.

»Ich. Kann nicht.« Ty schaut Jack mit gebrochenem Blick an, wie um ihm zu bedeuten, dass er das doch wisse.

»Du kannst«, sagt Jack. »Du kannst, und du wirst auch. Was glaubst du denn, Ty? Dass wir ihnen einfach den Rücken kehren und dich zu deiner Mutter zurückbringen, die dir dann vor dem Zubettgehen noch einen heißen Kakao macht - und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute?« Er hat die Stimme gehoben und macht keine Anstalten aufzuhören, selbst als er Ty weinen sieht. Er schüttelt den Jungen noch einmal. Ty duckt sich, unternimmt aber keinen Versuch, sich loszureißen. »Glaubst du wirklich, du wirst glücklich weiterleben können, solange die Kinder hier immer weiterschuften müssen, bis sie umfallen und durch neue ersetzt werden? Ihre Gesichter werden dich in deinen Träumen verfolgen, Ty. Du wirst ihre Gesichter sehen und ihre schmutzigen kleinen Hände und ihre blutenden Füße, und das alles in deinen verdammten Träumen. «

»Hör auf!«, sagt Beezer schroff. »Hör sofort damit auf, oder ich tret dir in den Arsch!«

Jack dreht sich um, und sein grimmiger Blick lässt Beezer zurückweichen. Jack Sawyer in diesem Zustand in die Augen zu blicken gleicht einem Blick in den Din-tah selbst.

»Tyler.«

Tylers Mund zittert. Tränen laufen ihm über die schmutzigen, blutigen Wangen. »Lass mich. Ich will heim

»Sobald du die Große Kombination angehalten hast. Dann darfst du nach Hause. Nicht vorher.«

»Ich kann nicht

»Doch, Tyler, du kannst.«

Tyler starrt die Große Kombination an, und Jack spürt, dass der Junge irgendeine kümmerliche, stockende Anstrengung macht. Nichts geschieht. Die Treibriemen laufen weiter; die Peitschen knallen weiter; gelegentlich fällt (oder springt) ein kreischender Punkt von der mit Rost bedeckten Südflanke des Turmbaus.

Tyler sieht wieder ihn an, und Jack hasst die leere Blödheit in den Augen des Jungen, verabscheut sie geradezu. »Ich kann nicht«, winselt Tyler, und Jack fragt sich, wie solch ein Schlappschwanz es überhaupt geschafft hat, hier herüben zu überleben. Hat er seine ganze Kraft bei einem einzigen verrückten, starrsinnigen Fluchtversuch verausgabt? Liegt’s daran? Jack will das nicht akzeptieren. Zorn lodert in ihm auf, und er schlägt Tyler ins Gesicht. Kräftig. Hinter ihm schnappt Dale nach Luft. Tys Kopf wankt zur Seite, seine Augen weiten sich vor Überraschung.

Und die Mütze fliegt ihm vom Kopf.

Jack hat vor dem Jungen gekniet. Jetzt wird er mit einem Mal weggestoßen und landet rücklings mitten auf der Straße. Der Junge hat . was?

Mich gestoßen. Mich mit der Kraft seiner Gedanken fortgestoßen.

Ja. Und Jack spürt plötzlich eine leuchtende neue Kraft an diesem trübseligen Ort, ein flammendes Lichtbündel, das den Lichtschein, der Richie Sexsons Baseballschläger umgeben hat, noch überstrahlt.

»Scheiße, was ist passiert?«, ruft Doc aus.

Auch die Bienen spüren es, vielleicht sogar deutlicher als die Männer. Ihr schläfriges Summen steigert sich zu einem mächtigen Brausen, und die lebende Wolke verfinstert sich, während sie enger zusammenrücken. Jetzt gleicht sie einer Riesenfaust unter den tief und schwer herabhängenden wirklichen Wolken.

»Warum hast du mich geschlagen?«, kreischt Ty, und Jack erkennt sofort, dass der Junge ihn augenblicklich tot umfallen lassen könnte, wenn er nur wollte. In Wisconsin mag seine Macht verborgen gewesen sein (außer für Augen, die darin geübt waren, sie zu entdecken). Hier jedoch ... hier ...

»Um dich aufzuwecken!«, brüllt Jack zurück. Er rappelt sich wieder auf. »Hat’s an der gelegen?« Er zeigt auf die Mütze.

Ty sieht sie an, dann nickt er. Ja, die Mütze. Aber man weiß nicht, kann nicht wissen, wie viel sie einem raubt, bevor man sie abnimmt. Oder bevor man sie von seinem vergesslichen Kopf geschlagen bekommt. Er wendet sich wieder Jack zu. Sein Blick ist klar und vernünftig. Aller Schock, alle Blödheit sind daraus verschwunden. Der Junge leuchtet nicht gerade, aber er strahlt ein inneres Licht aus, das alle spüren - mit einer Macht, die Lord Malshuns weit in den Schatten stellt.

»Was soll ich tun?«, fragt er. Tyler Marshall: das Junge einer Löwin.

Jack zeigt noch einmal auf die Große Kombination. »Nur du kannst das alles ändern, Ty. Du bist ein Brecher.« Er holt tief Luft, dann flüstert er in die rosa Ohrmuschel des Jungen.

»Zerbrich sie.«

Tyler Marshall dreht den Kopf zur Seite und starrt Jack durchdringend an. »Sie zerbrechen?«, sagt er dann.

Als Jack nickt, wendet Ty sich wieder der Großen Kombination zu.

»Okay«, sagt er - aber nicht zu Jack, sondern zu sich selbst. Er blinzelt, stellt sich fest hin und faltet die Hände vor sich. Zwischen seinen Augenbrauen erscheint eine winzige senkrechte Falte, und seine Mundwinkel heben sich mit der Andeutung eines Lächelns. »Okay«, flüstert Ty.

Eine Sekunde lang ereignet sich nichts.

Dann steigt aus den Eingeweiden der Großen Kombination ein Rumpeln auf. Ihr oberes Drittel wabert wie eine in der Wüstenhitze flimmernde Fata Morgana. Die Aufseher verharren verdutzt, und das Kreischen gequälten Metalls zerreißt die Luft. Die schuftenden Kinder heben sichtbar verwirrt den Kopf, und sehen sich nach allen Richtungen um. Das mechanische Kreischen verstärkt sich, dann zersplittert es in hunderterlei verschiedene Foltergeräusche. Vorlegegetriebe laufen rückwärts. Zahnräder kommen rauchend zum Stehen; Zahnräder drehen sich rasend schnell und streifen dabei ihre Zähne ab. Die gesamte Große Kombination zittert und bebt.

Tief unter der Erde platzen Kessel, und Säulen aus Feuer und Dampf schießen hoch und halten Laufbänder an und zerfetzen andere, die seit Tausenden von Jahren von Milliarden blutender Füßchen in Gang gehalten wurden.

Man könnte glauben, ein riesiger Metallkrug sei an hundert Stellen zugleich leck geworden. Jack beobachtet, wie Kinder von den unteren Ebenen springen und in langen Ketten über die Außenwände des gewaltigen Bauwerks herabklettern. Aus dem wie von einem Erdbeben erschütterten Gebäude fluten Dutzende von endlosen Kinderströmen.

Bevor die grünhäutigen Peitschenschwinger einen organisierten Versuch machen können, ihre Sklaven an der Flucht zu hindern, sammeln die Bienen sich um den gewaltigen Bau. Als die Aufseher beginnen, sich gegen die Kinder zu wenden, stoßen sie in einer wütenden Flut aus schwirrenden Flügeln und scharfen Stacheln auf sie herab. Etwas von Tys Macht ist auf sie übergegangen, weshalb ihre Stiche nun tödlich sind. Aufseher brechen zusammen und stürzen von den still stehenden Bändern und zitternden Trägern. Andere fallen zum Wahnsinn getrieben ihresgleichen an, peitschen sie und werden von ihnen ausgepeitscht, bis sie unter dem dunklen Himmel abstürzen.

Die Sawyer-Gang wartet das Ende des Gemetzels nicht ab. Die Bienenkönigin löst sich aus dem summenden Chaos, kreist über den emporgehobenen Gesichtern der Männer und führt sie zum Black House zurück.

In Welten über Welten - in Parallelwelten, die in multiplen Dimensionen bis ins Unendliche aufgereiht sind -welkt das Böse und zerfällt: Despoten ersticken an Hühnerknochen; Tyrannen erliegen den Kugeln von Attentätern, sterben durch vergiftete Süßspeisen, die treulose Mätressen ihnen serviert haben; Kapuzen tragende Folterknechte brechen sterbend auf blutigen Steinböden zusammen. Tys Großtat hallt durch endlose Reihen unzähliger Universen und rächt Untaten, während sie sich ausbreitet. Drei Welten über der unseren, in der dortigen Metropole Londinorium, geht Turner Topham, seit zwei Jahrzehnten ein angesehener Unterhausabgeordneter und seit drei Jahrzehnten ein sadistischer Pädophiler, jäh in Flammen auf, als er den belebten Boulevard Pick-a-Derry hinabschreitet. Zwei Welten weiter unten richtet auf der Insel Irse ein nett aussehender junger Schweißer namens Freddy Garver, ein weiterer - wenn auch weniger erfahrener - Angehöriger von Tophams Sippe, seinen Schweißbrenner auf die eigene linke Hand und brennt sich das gesamte Fleisch von den Knochen.

Hoch oben in seinem fernen Turmverlies spürt der Scharlachrote König einen stechenden Schmerz in den Eingeweiden und lässt sich mit zur Grimasse verzerrtem Gesicht in einen Sessel fallen. In seinem trübseligen Reich, das weiß er, hat sich irgendetwas, etwas Fundamentales verändert.

Im Kielwasser der Bienenkönigin thront Tyler Marshall mit leuchtenden Augen und furchtlosem Gesicht wie ein Knabenkönig auf Jacks Schultern. Hinter Jack und seinen Freunden strömen Hunderte und Aberhunderte von Kindern, die aus dem einstürzenden Bau der Großen Kombination flüchten, auf die Schlangenstraße und das trostlose Land beiderseits der Straße. Manche dieser Kinder stammen aus unserer Welt, viele jedoch aus anderen. Zerlumpte Kinderheere fluten auf dem Weg zu den Eingängen ihrer Universen über die dunkle, verlassene Ebene. Humpelnde Bataillone von Kindern torkeln wie Marschkolonnen betrunkener Ameisen davon.

Die Kinder, die der Sawyer-Gang folgen, sind nicht weniger zerlumpt als der Rest. Die Hälfte von ihnen ist nackt oder so gut wie nackt. Diese Kinder haben Gesichter, die wir auf Fahndungsplakaten und Flugblättern mit der Überschrift Vermisst und Kindersuch-Websites gesehen haben: Gesichter aus den Träumen untröstlicher Mütter und verzweifelter Väter. Manche von ihnen lachen, manche weinen, manche tun beides zugleich. Die Stärkeren helfen den Schwächeren weiter. Sie wissen nicht, wohin sie unterwegs sind, und das ist ihnen auch egal. Dass sie unterwegs sind, genügt ihnen schon. Sie wissen nur, dass sie frei sind. Die große Maschine, die ihnen Kraft und Freude und Hoffnung geraubt hat, liegt hinter ihnen, sie haben ein seidiges Schutzdach aus Bienen über sich, und sie sind frei.

Punkt 16.16 Uhr tritt die Sawyer-Gang aus dem schwarzen Haus ins Freie. Tyler sitzt jetzt auf Beezers muskulösen Schultern. Sie gehen die Verandastufen hinunter und bleiben vor Dales Streifenwagen stehen (die Motorhaube und die Vertiefung vor der Windschutzscheibe, in der die Scheibenwischer ruhen, sind mit toten Bienen übersät).

»Sieh dir das Haus an, Hollywood«, murmelt Doc.

Was Jack auch tut. Es ist jetzt nur noch ein Haus - ein zweistöckiger Bau, der früher vielleicht einmal ein ansehnliches Ranchhaus gewesen sein mag, aber im Lauf der Jahre baufällig geworden ist. Um alles noch schlimmer zu machen, hat jemand es von oben bis unten, von vorn bis hinten mit schwarzer Farbe gestrichen - sogar die Fenster sind damit übermalt worden. Die Gesamtwirkung ist trübselig und exzentrisch, aber keineswegs bedrohlich. Die undeutlichen, verschwimmenden Konturen des Hauses haben sich gefestigt. Seit der Abglanz des Abbalah sich verflüchtigt hat, steht hier nur noch das verlassene Heim eines alten Kerls, der ziemlich verrückt und extrem gefährlich war. Eines alten Mannes, der in einem Atemzug mit Ungeheuern in Menschengestalt wie Dahmer, Haarmann und Albert Fish genannt werden muss. Das triebhafte, zügellose Böse, das hier einst hauste, ist zerstreut, fortgeblasen worden, und der verbliebene Rest ist so banal wie ein alter Mann, der in einer Todeszelle vor sich hin murmelt. Trotzdem muss Jack mit diesem elenden Bau noch etwas anstellen - etwas, das er dem sterbenden Mouse hat versprechen müssen.

»Doc«, sagt Beezer. »Sieh mal da vorn.«

Ein großer Hund - groß, aber nicht monströs -kommt langsam auf der Zufahrt zur Route 35 herangetorkelt. Er sieht wie eine Mischung aus einem Boxer und einer Dogge aus. Eine Schädelseite und die rechte Hinterpfote sind ihm weggeschossen worden.

»Das ist dein Höllenhund«, sagt der Beez.

Doc schnappt nach Luft. »Was, der?«

»Der«, bestätigt Beezer. Er zieht seine 9-mm-Pistole, um das Tier von seinen Qualen zu erlösen, aber noch bevor er abdrücken kann, fällt der Hund zur Seite, schnauft noch einmal zitternd und liegt dann still da. Beezer dreht sich zu Jack und Dale um. »Seit die Maschine steht, ist alles viel kleiner, was?«

»Ich will zu meiner Mutter«, sagt Ty leise. »Bitte, darf ich zu ihr?«

»Ja«, sagt Jack. »Was hältst du davon, wenn wir erst noch bei euch vorbeifahren, um deinen Vater abzuholen? Ich glaube, er würde auch gern mitkommen.«

Tyler lässt ein müdes Grinsen sehen. »Ja«, sagt er. »Das machen wir.«

»Ist gebongt«, sagt Jack.

Nachdem Dale vorsichtig auf dem Hof gewendet hat und sie gerade die Zufahrt erreichen, ruft Ty auf einmal: »Seht nur! Seht euch das an, Leute! Da kommen sie!«

Dale hält, sieht in den Rückspiegel und flüstert: »O Jack. Heilige Muttergottes.« Er stellt den Motor ab und steigt aus. Sie steigen alle aus und sehen sich nach Black House um. Die Form des Hauses bleibt gewöhnlich, aber es scheint seine Magie noch nicht ganz verloren zu haben. Irgendwo in seinem Inneren muss eine Tür - vielleicht im Keller, in einem Schlafzimmer oder in einer vernachlässigten, aber sonst völlig gewöhnlichen Küche

- offen geblieben sein. Auf der hiesigen Seite liegt das Coulee Country; auf der anderen liegen die Schlangenstraße, die rauchende Ruine der seit kurzem still stehenden Großen Kombination und das Din-tah.

Bienen kommen auf die Veranda von Black House hinausgeströmt. Bienen und die von ihnen geführten Kinder. Die Kleinen kommen in Trauben: lachend und weinend und sich an den Händen haltend. Vor Jack Sawyers innerem Auge leuchtet kurz ein Bild auf, wie die Tiere nach der Sintflut die Arche Noah verlassen.

»Heilige Maria, Mutter Gottes«, flüstert Dale wieder. Der Hof füllt sich mit lachenden, weinenden, murmelnden Kindern.

Jack geht zu Beezer hinüber, der sich ihm mit strahlendem Lächeln zuwendet.

»Sobald alle Kinder durch sind, müssen wir die Tür verschließen«, sagt Jack. »Endgültig.«

»Ist mir klar«, sagt Beezer.

»Du hast nicht zufällig irgendeine zündende Idee, was?«

»Tja«, sagt Beezer, »ich will’s mal so ausdrücken. Versprichst du mir, versprichst du mir wirklich, keine peinlichen Fragen zu stellen und später kein Wort darüber zu verlieren, könnte ich noch vor Mitternacht möglicherweise eine größere Menge von etwas beschaffen, was verdammt wirkungsvoll wäre.«

»Was? Dynamit?«

»Bitte«, sagt Beezer. »Habe ich nicht >wirkungsvoll< gesagt?«

»Du meinst ...?«

Beezer lächelt und verengt die Augen zu Schlitzen.

»Ich kann nur froh sein, dass wir auf der gleichen Seite stehen«, sagt Jack. »Also, wir sehen uns gegen Mitternacht draußen an der Einfahrt, um uns hier reinzuschleichen. Obwohl, eigentlich rechne ich nicht mit Schwierigkeiten.«

»Auf dem Rausweg gibt’s bestimmt keine«, sagt Beezer.

Doc gibt Dale einen Klapps auf die Schulter. »Hoffentlich habt ihr hierzulande eine Kinderschutzorganisation, die auf Zack ist, Chiefy. Die wirst du brauchen können.«

»Heilige .« Dale wendet sich Hilfe suchend an Jack. »Was soll ich bloß anfangen?«

Jack grinst. »Tja, du solltest bisher schon mal die . wie nennt Sarah sie gleich wieder? Die Farbentruppe? Die solltest du anrufen.«

In Dale Gilbertsons Augen blitzt ein Hoffnungsstrahl auf. Vielleicht sogar auch aufkommendes Triumphgefühl. John P. Redding vom FBI und die Kriminalbeamten Perry Brown und Jeffrey Black von der Wisconsin State Police. Er stellt sich vor, wie dieses Trio von Arschlöchern etwas gegenübersteht, was die Neuauflage eines mittelalterlichen Kinderkreuzzugs im Westen Wisconsins zu sein scheint. Stellt sich die Dickens’schen Aktenstapel vor, die ein so unerhörtes Ereignis unweigerlich hervorbringen muss. Damit werden sie über Monate oder gar Jahre hinweg ausgelastet sein. Das Ganze könnte sogar zu Nervenzusammenbrüchen führen. Jedenfalls werden die drei für die nächste Zeit an etwas anderes zu denken haben, als an Chief Dale Gilbertson in French Landing.

»Jack«, sagt er. »Was genau würdest du vorschlagen?«

»Ganz allgemein gesprochen«, sagt Jack, »schlage ich vor, dass sie alle Arbeit aufgehalst bekommen und du alles Lob einheimst. Wie findest du das?«

Dale tut, als müsse er überlegen. »Sehr fair«, sagt er dann. »Und was hältst du davon, wenn wir den Jungen jetzt zu seinem Vater bringen und die beiden dann nach Arden fahren, damit Tyler endlich seine Mama sehen kann?«

»Das tun wir«, sagt Jack. »Ich wollte nur, Henry könnte das noch miterleben.«

»Dann wären wir schon zu zweit«, sagt Dale und setzt sich wieder hinters Steuer. Kurz darauf rollen sie die Zufahrt entlang.

»Was ist mit den ganzen Kindern?«, fragt Ty, der durchs Heckfenster sieht. »Wollt ihr die einfach hier lassen?«

»Ich rufe die State Police an, sobald wir wieder auf dem Highway sind«, sagt Dale. »Ich finde, die sollte sich umgehend darum kümmern, findet ihr nicht auch, Jungs? Und die vom FBI natürlich auch.«

»Stimmt«, sagt Beezer.

»Scheiße, genau«, sagt Doc.

»Eine ausgezeichnete Verwaltungsentscheidung«, sagt Jack und zieht Tyler zu sich auf den Schoß. »Bis dahin wird ihnen nichts passieren«, sagt er dem Jungen ins Ohr. »Die haben schon weit Schlimmeres als Wisconsin durchgemacht.«

Wir wollen jetzt wie die Brise, die wir ja sind, aus dem Fahrerfenster schlüpfen und den Wegfahrenden zusehen, wie sie verschwinden - vier tapfere Männer und ein tapferes Kind, das nie mehr so jung (oder so unschuldig) sein wird wie zuvor. Hinter ihnen wimmelt es auf dem jetzt harmlosen und entzauberten Hof von Black House von Kindern mit schmutzigen Gesichtern und vor Staunen geweiteten Augen. Englisch ist hier eine Minderheitensprache; und einige der hier gesprochenen Sprachen werden den besten Linguisten der Welt noch jahrelang Rätsel aufgeben. Wir stehen am Anfang einer weltweiten Sensation (die Zeitschrift Time wird in der kommenden Woche mit der Titelgeschichte »Die Wunderkinder aus dem Nichts« erscheinen) und, wie Dale ganz richtig vorausgesehen hat, eines bürokratischen Albtraums.

Dennoch, sie sind in Sicherheit. Und auch unsere Jungs sind in Sicherheit. Alle sind heil von drüben zurückgekehrt, was gewiss mehr ist, als wir erwartet haben; die meisten Abenteuer dieser Art fordern gewöhnlich mindestens ein Opfer (zum Beispiel eine relative Nebenfigur wie Doc). Ende gut, alles gut. Und dies kann auch das Ende sein, wenn Sie’s so wollen; keiner der beiden Schreiberlinge, denen Sie bis hierher gefolgt sind, würde Ihnen das verweigern. Sollten Sie sich jedoch fürs Weiterlesen entscheiden, sagen Sie bitte nie, Sie seien nicht gewarnt worden: Was als Nächstes geschieht, wird Ihnen nicht gefallen.

XXXXX Drudge Report XXXXX

Polizeichef von French Landing weigert sich, Pressekonferenz zu verschieben, verweist auf Rückendeckung durch Stadtspitze; Informierte Kreise bestätigen, dass berühmter L. A.-Cop teilnehmen wird; FBI sowie Wisconsin State Police äussern starke Missbilligung

* * Exklusiv * *

Eines der Kinder, Tyler Marshall, stammt aus French Landing selbst. Ein anderes, Josella Rakine, kommt aus Ba-ting, einem kleinen Dorf in Südengland. Ein weiteres Kind stammt aus Bagdad. Alles in allem sind 17 der so genannten Wunderkinder in der Woche, seit sie entdeckt wurden, als sie auf einem ländlichen Highway (Route 35) im Westen Wisconsins unterwegs waren, identifiziert worden.

Trotzdem sind diese 17 nur die Spitze des Eisbergs.

Aus sicherer Quelle im Umfeld der von FBI und WSP gemeinsam (nun auch mit CIA-Unterstützung?) geführten Ermittlungen erfährt der Drudge Report, dass es sich um mindestens 750 Kinder handelt - weit mehr, als die großen Zeitungen bisher gemeldet haben. Wer sind sie? Wer hat sie verschleppt ... und wohin? Wie sind sie ausgerechnet in die Kleinstadt French Landing gelangt, die in den vergangenen Wochen von einem Serienmörder (der inzwischen tot sein soll) heimgesucht wurde? Welche Rolle hat Jack Sawyer gespielt, der Kriminalbeamte aus Los Angeles, der zu Starruhm gelangte, nur um dann mit erst 31 Jahren seinen Dienst zu quittieren? Und wer war für die gewaltige Explosion verantwortlich, die ein geheimnisvolles Waldhaus zerstörte, das im Fall Fisherman angeblich eine entscheidend wichtige Rolle gespielt haben soll?

Vielleicht werden manche dieser Fragen morgen im La Follette Park von French Landing beantwortet, wenn Polizeichef Dale Gilbertson eine Pressekonferenz gibt. Sein enger Freund Jack Sawyer - der den Fall Fisherman im Alleingang aufgeklärt haben soll - wird ihm bei dieser Gelegenheit zur Seite stehen. Anwesend sein werden auch die Deputies Armand St. Pierre und Reginald Amberson, die an der Rettungsaktion von letzter Woche beteiligt waren.

Die Pressekonferenz findet trotz nachdrücklichen - äußerst scharfen - Protesten der FBl/WSP-Sonderkommis-sion statt, die von FBI-Agent John P. Redding und Detec-tive Jeffrey Black von der Wisconsin State Police geleitet wird. »Sie [die Chefs der Sonderkommission] sehen darin nur einen letzten verzweifelten Versuch Gilbertsons, seinen Job zu retten«, sagt ein Insider. »Er hat alles vermasselt, aber zum Glück hat er einen Freund, der viel von PR versteht.«

Die offiziellen Vertreter von French Landing sind da ganz anderer Meinung. »Für die Bürger von French Landing war dieser Sommer ein Albtraum«, sagt Stadtkämmerin Beth Warren. »Chief Gilbertson will den Leuten versichern, dass dieser Albtraum endgültig vorbei ist. Kann er uns gleichzeitig ein paar Fragen über die Kinder beantworten, umso besser.«

Das Interesse konzentriert sich auf Jack »Hollywood« Sawyer, der Chief Gilbertson und die Stadt French Landing bei Ermittlungen im Fall des so genannten ProstituiertenKillers Thornberg Kinderling kennen lernte. Sawyer wurde von Gilbertson gedrängt, im Fall Fisherman eine aktive Rolle zu übernehmen, und scheint bei den darauf folgenden Ereignissen eine Schlüsselrolle gespielt zu haben.

Um welche Ereignisse hat es sich genau gehandelt? Das möchte die Öffentlichkeit nur allzu gern erfahren. Vielleicht werden die ersten Antworten morgen im La Follette Park am Ufer des mächtigen Mississippi gegeben.

(Wird fortgesetzt.)

29

»Kann’s losgehen, Jungs?«, fragt Dale.

»Ah, Mann, ich weiß nicht«, sagt Doc. Dies ist nicht etwa das fünfte Mal, dass er das sagt, vielleicht nicht einmal das fünfzehnte Mal. Er ist blass und hyperventi-liert fast. Sie sind zu viert in einem Wohnmobil - einer Art Einsatzraum auf Rädern -, der am Rand des La Follette Parks abgestellt worden ist. In der Nähe befindet sich das Podium, auf dem sie stehen (immer vorausgesetzt, dass Doc sich auf den Beinen halten kann) und ihre sorgfältig formulierten Antworten geben werden. Auf der zu dem breiten Fluss abfallenden Rasenfläche sind annähernd vierhundert Journalisten versammelt, dazu Kamerateams von sechs amerikanischen Fernsehgesellschaften und von Gott weiß wie vielen ausländischen Sendern. Die Ladys und Gentlemen von der Presse sind nicht sonderlich gut gelaunt, die besten Plätze vor dem Podium sind nämlich für einen (durchs Los ermittelten) repräsentativen Querschnitt von Bürgern aus French Landing reserviert. Auf der Durchsetzung dieser Forderung hat Dale im Vorfeld der Pressekonferenz eisern bestanden.

Die Idee für die Pressekonferenz selbst stammt von Jack Sawyer.

»Reg dich ab, Doc«, sagt Beezer. In seiner grauen Leinenhose und dem weißen Hemd mit offenem Kragen wirkt er noch größer als sonst - fast wie ein Bär in einem Smoking. Er hat sogar versucht, seine Haarpracht mit einem Kamm zu bändigen. »Wenn du allerdings wirklich glaubst, dass du pissen, kotzen oder umkippen wirst, bleibst du lieber hier.«

»Ach was«, sagt Doc kläglich. »Scheiße, wer A sagt, muss auch B sagen. Wenn’s sein muss, muss es eben sein.«

Dale, in der vollen Pracht seiner Paradeuniform, sieht zu Jack hinüber. Letzterer sieht in seinem grauen Sommeranzug mit dunkelblauer Seidenkrawatte womöglich noch prächtiger aus. Aus der Brusttasche seines Jacketts ragt ein zur Krawatte passendes Ziertuch. »Weißt du bestimmt, dass wir das Richtige tun?«

Jack ist sich seiner Sache ganz sicher. Hier geht es nicht darum, Sarah Gilbertsons Farbentruppe daran zu hindern, im Rampenlicht zu posieren; hier geht es darum, sicherzustellen, dass sein alter Freund sich in einer unangreifbaren Position befindet. Das kann er erreichen, indem er eine sehr einfache Story erzählt, die dann von den drei anderen Männern lediglich bestätigt wird. Ty wird dasselbe tun, davon ist Jack überzeugt. Die Story lautet folgendermaßen: Jacks anderer alter Freund, der verstorbene Henry Leyden, hat die Identität des Fisher-man anhand des Tonbands mit der Notrufaufzeichnung ermittelt. Diesen Mitschnitt hatte er von seinem Neffen Dale. Der Fisherman hat Henry ermordet - aber nicht bevor der heldenhafte Mr. Leyden ihn tödlich verletzt und der Polizei dessen Namen mitgeteilt hatte. (Jacks zweites Motiv für diese Pressekonferenz, das Dale sehr gut versteht und vorbehaltlos unterstützt, ist sein Bestreben, dafür zu sorgen, dass Henry die verdiente Anerkennung zuteil wird.) Eine Nachfrage beim Grundbuchamt hatte ergeben, dass Charles Burnside knapp außerhalb der Stadt ein Haus an der Route 35 besaß. Dale hat Jack und zwei kräftige Bürger, die rein zufällig in der Nähe waren (das wären die Herren Amberson und St. Pierre), zu Deputies ernannt und ist dann mit ihnen dort hinausgefahren.

»Ab diesem Punkt«, hat Jack seinen Freunden in den Tagen vor der Pressekonferenz mehrfach erklärt, »ist es entscheidend, dass ihr euch an die vier kleinen Wörter erinnert, die zu den meisten Freisprüchen bei Strafprozessen führen. Und wie lauten diese Wörter?«

»Weiß ich nicht mehr<«, sagte Dale.

Jack nickte. »Genau. Hat man keine Story, können die Hundesöhne einem auch nie ein Bein stellen. Also, in diesem Haus hat irgendwas in der Luft gelegen ...«

»Ohne Scheiß«, knurrte Beezer und verzog dabei das Gesicht.

». und das hat uns alle durcheinander gebracht. Erinnern können wir uns jedoch an Folgendes: Ty Marshall war hinter dem Haus mit Handschellen an eine Wäschespinne gefesselt.« Bevor Beezer St. Pierre und Jack Sawyer nachts durch die Polizeiabsperrung geschlüpft waren, um Black House mit Plastiksprengstoff in die Luft zu jagen, war ein Reporter dorthin gelangt und hatte zahlreiche Fotos gemacht. Wir wissen natürlich, wer dieser Reporter war: Für Wendell Green hat sich endlich sein Traum von Ruhm und Reichtum erfüllt.

»Und Burnside war schon nicht mehr ansprechbar«, sagte Beezer.

»Ganz richtig. Und hatte den Handschellenschlüssel bei sich in der Tasche. Dale, du hast ihn gefunden und den Jungen dann damit befreit. Hinter dem Haus sind zwar noch ein paar Kinder herumgelaufen, aber was ihre genaue Zahl betrifft .«

»Die wissen wir nicht mehr«, sagte Doc.

»Und was die Verteilung nach Geschlechtszugehörigkeit angeht .«

»Ein paar Jungs, ein paar Mädchen«, sagte Dale. »Wie viele es von jeder Sorte waren, wissen wir nicht mehr.«

»Und was Ty betrifft, wie er verschleppt wurde, was ihm zugestoßen ist .«

»Er hat ausgesagt, dass er sich an nichts erinnern kann«, sagte Dale lächelnd.

»Wir sind wieder gefahren. Wir glauben, dass wir den anderen Kindern etwas zugerufen haben .«

»Aber wir wissen’s nicht mehr genau«, warf der Beez ein.

»Richtig. Na ja, jedenfalls hatten wir das Gefühl, sie wären dort vorerst in Sicherheit. Als wir Ty schließlich in den Streifenwagen gesetzt haben, sind noch viele weitere Kinder aus dem Haus geströmt.«

»Und wir haben die Wisconsin State Police angerufen, um Verstärkung anzufordern«, sagte Dale. »Daran erinnere ich mich gut.«

»Klar tust du das«, sagte Jack generös.

»Aber wir haben keinerlei Ahnung, wer den verdammten Schuppen in die Luft gejagt hat.«

»Manche Leute«, sagte Jack, »wollen eben unbedingt das Gesetz in die eigenen Hände nehmen.«

»Ein Glück, dass sie dabei nicht selbst mit hochgegangen sind«, sagte Dale.

»Also gut«, sagt Jack jetzt. Sie stehen an der Tür. Doc hat sich einen halben Joint angezündet, und vier schnelle, tiefe Züge haben ihn sichtlich beruhigt. »Denkt immer daran, weshalb wir das tun. Die Message ist, dass wir zunächst zu dem Haus gefahren sind, dort dann Ty aufgefunden und nur einige wenige andere Kinder gesehen haben, die wir für ungefährdet gehalten haben, weil Charles Burnside, auch als Carl Bierstone, das South-Side-Monster und der Fisherman bekannt, eindeutig tot war. Die Message ist, dass Dale sich - genau wie wir alle

- richtig verhalten und die Ermittlungen vernünftigerweise an FBI und die State Police abgegeben hat, die jetzt die Sache ausbaden müssen. Die Message ist, dass French Landing wieder aufatmen kann. Und die Message ist vor allem auch, dass Henry Leyden der eigentliche Star war. Der heldenhafte Blinde, der Charles Burnside identifiziert und so den Fall Fisherman aufgeklärt hat, der das Ungeheuer tödlich verletzt und dabei sein eigenes Leben verloren hat.«

»Amen«, sagt Dale. »Der gute alte Onkel Henry.«

Von draußen kann er das an eine Brandung erinnernde Stimmengewirr von Hunderten von Menschen hören. Vielleicht sogar von tausend. Genau das hören Rocksänger, bevor sie auf die Bühne kommen, denkt er. Plötzlich hat er einen Kloß im Hals und tut sein Bestes, ihn wieder hinunterzuschlucken. Bestimmt wird ihm nicht viel passieren können, wenn er nur weiter an Onkel Henry denkt.

»Alles andere«, sagt Jack, »wenn Fragen zu sehr ins Detail gehen .«

»Wissen wir nicht mehr«, sagt Beezer.

»Weil die Luft so schlecht war«, sagt Doc zustimmend. »Hat nach Äther oder Chloroform oder so was gerochen.«

Jack mustert sie, dann nickt er lächelnd. Im Großen und Ganzen wird die ganze Angelegenheit ein fröhliches Ereignis werden. Ein Wonnefest. Auf die Idee, er könnte in wenigen Minuten sterben, kommt er jedenfalls nicht.

»Okay«, sagt er, »wir gehen jetzt raus und ziehen es durch. Heute Nachmittag sind wir Politiker, Politiker auf einer Pressekonferenz, und nur Politiker, die bei ihrer Message bleiben, werden wiedergewählt.«

Er öffnet die Tür des Wohnmobils. Das Gemurmel der Menge wird erwartungsvoll lauter.

Sie legen die wenigen Meter zu dem improvisierten Podium in folgender Ordnung zurück: Beezer, Dale, Jack und zuletzt der gute Doktor. Sie bewegen sich im warmen grellweißen Novalicht von Elektronenblitzen und 10-kW-Fernsehscheinwerfern. Jack hat keine Ahnung, wozu sie dieses ganze Zeug brauchen - der Tag ist hell und warm, das Coulee Country zeigt sich von seiner besten Seite -, aber anscheinend wird es gebraucht. Das wird es offenbar immer. Wiederholt ruft jemand: »Hier drüben!«

Sie werden auch mit Fragen bombardiert, die sie aber ignorieren. Kommt die Zeit, Fragen zu beantworten, werden sie es tun - so gut sie können -, aber vorerst sind sie von der Menge wie betäubt.

Der Lärm beginnt bei den rund zweihundert Bürgern von French Landing, die auf Klappstühlen in einem mit Seilen abgesperrten Bereich unmittelbar vor dem Podium sitzen. Sie erheben sich, wobei sie teils klatschen, teils die Fäuste wie siegreiche Boxer in die Luft recken. Die Journalisten folgen ihrem Beispiel, und als unsere vier Freunde die Stufen zum Podium hinaufsteigen, wird das Gebrüll zu einem wilden Tosen. Wir sind bei ihnen, oben auf dem Podium bei ihnen, und Gott, wir sehen so viele bekannte Gesichter, die zu uns aufblicken. Da ist Morris Rosen, der Henry an unserem ersten Tag in French Landing die CD von Dirtysperm zugesteckt hat. Hinter ihm eine Abordnung aus der ehemaligen Seniorenresidenz Maxton: die wundervolle Alice Weathers ist von Eimer Jesperson, Ada Meyerhoff (in einem Rollstuhl), Flora Flostad und den Brüdern Boettcher, Hermie und Tom Tom, umgeben. Tansy Freneau, die etwas von der Rolle zu sein scheint, aber nicht mehr regelrecht verrückt wirkt, steht neben Lester Moon, der einen Arm um sie gelegt hat. Arnold »Stablampe« Hrabowski, Tom Lund, Bobby Dulac und die übrigen Angehörigen von Dales Department sind aufgesprungen, tanzen herum und johlen wie die Wahnsinnigen. Und dort drüben -das ist Enid Purvis, die freundliche Nachbarin, die Fred an dem Tag in der Arbeit angerufen hat, als Judy endgültig durchgedreht hat. Wir sehen auch Rebecca Vilas, die in einem hoch geschlossenen Kleid fast nonnenhaft wirkt (aber ... don’t cry for her, Argentina: Becky hat ein hübsches Sümmchen beiseite geschafft, vielen Dank auch). Begleitet wird sie von Butch Yerxa. Weit hinten in der Menge stehen William Strassner und Hubert Canti-naro, die wir besser als Kaiser Bill und Sonny kennen: beschämt herumlungernd, aber außerstande, dem Triumph ihrer Freunde fernzubleiben. Seht nur! Herb Roe-per, der Jack immer die Haare schneidet, steht neben Buck Evitz, der ihm die Post bringt. So viele andere, die wir kennen und denen wir jetzt unter weniger als glücklichen Umständen Lebewohl sagen müssen. In der ersten Reihe hüpft Wendell Green herum wie eine Henne auf einem heißen Grill (weiß der Himmel, wie er in den abgesperrten Bereich gelangt ist, obwohl er nicht aus French Landing, sondern aus La Riviere kommt, aber er ist da) und fotografiert wie wild. Dabei rempelt er zweimal Henrys frühere Haushälterin Elvena Morton an. Beim dritten Rempler gibt sie ihm eine tüchtige Kopfnuss. Wendell scheint das kaum zu spüren. Sein Kopf hat während der Ermittlungen im Fall Fisherman kräftigere Püffe aushalten müssen. Und etwas abseits sehen wir noch jemanden stehen, den wir vielleicht erkennen oder auch nicht. Ein älterer, dunkelhäutiger Gentleman mit Sonnenbrille. Er sieht ein bisschen wie ein alter Bluessänger aus. Und er hat gewisse Ähnlichkeit mit einem Filmschauspieler namens Woody Strode.

Der Beifall tost, ohne nachzulassen. Die Leute jubeln. Mützen werden in die Luft geworfen und segeln in der Sommerbrise herab. Die ganze Begrüßung selbst wird zu einer Art Wunder, zu einer Bestätigung, vielleicht sogar zu einer Akzeptierung der Kinder, von denen weithin angenommen wird, sie seien in irgendeiner mit dem Internet zusammenhängenden bizarren sexuellen Sklaverei gehalten worden. (Hängt nicht all dieses abartige Zeug irgendwie mit dem Internet zusammen?) Und sie jubeln natürlich, weil der Albtraum vorüber ist. Der Butzemann ist tot, er ist im Garten hinter dem eigenen Haus, am Fuß einer prosaischen, jetzt atomisierten AluminiumWäschespinne gestorben, und ihnen kann nichts mehr passieren.

O wie die Jubelrufe in diesen wenigen letzten Augenblicken von Jack Sawyers Leben auf dem Planeten Erde hallen! Am Flussufer werden Vögel aufgeschreckt, die auf der Suche nach einer ruhigeren Umgebung schnatternd in den Himmel aufflattern. Auf dem Fluss selbst antwortet ein Frachter auf den Jubel - oder stimmt vielleicht in ihn ein -, indem er die Sirene immer wieder ertönen lässt. Die Sirenen anderer Schiffe fallen ein und vermehren dadurch die herrschende Kakophonie.

Ohne sich zu überlegen, was er tut, nimmt Jack die rechte Hand von Doc in seine Linke und Dales linke Hand in seine Rechte. Dale ergreift Beezers Hand, und dann hebt die Sawyer-Gang gemeinsam die Arme, während sie sich der Menge zuwendet.

Die natürlich rast. Käme nicht noch, was gleich als Nächstes geschehen wird, wäre dies das Bild des Jahrzehnts, vielleicht des Jahrhunderts. Sie stehen triumphierend da, lebende Siegessymbole, die sich an der Hand halten und die Arme hochrecken, während die Menge jubelt, die Fernsehkameras laufen, die Nikons blitzen. Und dies ist der Augenblick, in dem die Frau in der dritten Reihe sich langsam in Bewegung setzt. Auch sie ist jemand, den wir kennen, aber wir brauchen einen kurzen Moment, um sie zu erkennen, weil sie so gar nichts mit dem Fall zu tun hatte, den wir verfolgt haben. Sie hat nur ... im Hintergrund herumgelungert. Die zweihundert Sitze vor dem Podium wurden durch Verlosung aus dem Wählerverzeichnis von French Landing zugeteilt; die glücklichen Lotteriegewinner wurden von Debbi Anderson, Pat Stevens und Dit Jesper-son benachrichtigt. Diese Frau war Nr. 199. Mehrere Leute weichen vor ihr zurück, als sie sich an ihnen vorbeidrängt, obwohl sie in ihrer Jubelstimmung kaum bemerken, dass sie’s tun; diese blasse Frau, der strohblonde Haarsträhnen an den Wangen kleben, riecht nach Schweiß und Schlaflosigkeit und Wodka. Sie trägt eine kleine Handtasche. Die kleine Handtasche ist offen. Sie greift hinein. Und wir, die wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt und durch das Wundermedium Fernsehen Augenzeugen eines Dutzends Attentate und versuchter Attentate geworden sind, wissen genau, wonach sie greift. Am liebsten würden wir den vier Männern, die sich an der Hand halten und die Arme hochrecken, eine Warnung zuschreien, aber wir sind nur stumme Beobachter.

Einzig der Schwarze mit der Sonnenbrille sieht, was geschehen wird. Er setzt sich in Bewegung, weiß aber, dass sie ihm wahrscheinlich zuvorkommen wird, dass er wahrscheinlich zu spät da sein wird.

Nein, denkt Speedy Parker. So darf’s nicht enden, das darf nicht sein.

»Jack, runter mit dir!«, ruft er, aber niemand hört ihn bei all dem Klatschen, dem Jubel, den ausgelassenen Hurrarufen. Die Menge scheint ihm absichtlich den Weg zu versperren: Sie wogt vor ihm hin und her, wohin er sich auch wendet. Einen Augenblick lang hindert Wendell Green, der weiter wie ein Mann herumtanzt, der gerade einen epileptischen Anfall erleidet, die Attentäterin am Weitergehen. Schließlich stößt sie ihn mit der Kraft einer Wahnsinnigen zur Seite. Warum auch nicht? Sie ist eine Wahnsinnige.

»Leute . « Dale berührt mit den Lippen praktisch das Mikrofon, weshalb es in den Lautsprechern, die in den umstehenden Bäumen hängen, zu pfeifenden Rückkoppelungen kommt. Er hält weiter Jacks Hand mit seiner Linken und Beezers mit seiner Rechten hoch. Auf seinem Gesicht steht ein kleines, benommenes Lächeln. »Vielen Dank, Leute, wir wissen eure Unterstützung echt zu schätzen, aber wenn ihr ein bisschen leiser sein könntet .«

In diesem Augenblick sieht Jack sie.

Ihre letzte Begegnung liegt Jahre zurück, aber er erkennt sie sofort. Wie auch nicht: Sie hat ihm eines Tages ins Gesicht gespuckt, als er in Los Angeles das Gerichtsgebäude verließ. Hat ihn angespuckt und als Schwein beschimpft, das ihren Mann unrechtmäßig ins Gefängnis gebracht habe. Sie hat seit damals bestimmt vierzig Pfund verloren, denkt Jack als Erstes. Vielleicht sogar mehr. Dann sieht er die Hand in der Handtasche und weiß, was kommen wird, noch ehe sie die Hand wieder herauszieht.

Das Schlimmste ist, dass er nichts dagegen tun kann. Doc und Dale halten seine Hände eisern umklammert. Er holt tief Luft und brüllt, was er in einer Situation wie dieser zu rufen gelernt hat - »Waffe!« -, und Dale Gil-bertson nickt, als wollte er sagen: Ja, genau, echt Klasse. Hinter ihr sieht er Speedy Parker, der sich durch die klatschende, jubelnde Menge hindurcharbeitet, aber wenn Speedy jetzt keinen besonders guten Zaubertrick im Ärmel hat ...

Er hat keinen. Speedy Parker, in den Territorien als Parkus bekannt, kämpft sich eben in den Mittelgang vor, als die unterhalb des Podiums stehende Frau die Waffe herausholt. Ein hässliches kleines Ding, ein kurzläufiger, großkalibriger Revolver, dessen Griff mit schwarzem Gewebeband umwickelt ist, und Jack hat nur eine halbe Sekunde Zeit, um zu hoffen, dass er vielleicht in ihrer Hand explodieren wird.

»Waffe!«, brüllt Jack erneut, und diesmal hört Doc Amberson ihn und sieht die mit gefletschten Zähnen direkt unter ihnen kauernde Frau.

»Oh scheiße«, sagt Doc.

»Wanda, nein!«, ruft Jack. Doc hat seine linke Hand losgelassen (Dale hält seine rechte weiter hoch in den Sommerhimmel gereckt), und Jack streckt sie ihr entgegen wie ein Verkehrspolizist. Wanda Kinderlings erste Kugel durchschlägt glatt die Handfläche, wird leicht abgeplattet, beginnt sich zu überschlagen und trifft Jack unter der linken Achsel.

Wanda spricht ihn an. Wegen des Lärms kann Jack sie nicht verstehen, aber er weiß trotzdem, was sie sagt: Jetzt bist du dran, du Schwein - Thorny lässt schön grüßen.

Sie jagt Jack Sawyer die restlichen fünf Kugeln in Hals und Brustkorb.

Niemand hört die unbedeutenden Knalle von Wandas .32er, nicht bei all dem Klatschen und Johlen, aber Wen-dell Greens Kamera ist aufs Podium gerichtet, und als der Kriminalbeamte rückwärts taumelt, drückt unser liebster Reporter mit einer reinen Reflexbewegung auf den Auslöser seiner Nikon. Auf diese Weise schießt er eine Serie von acht Fotos. Die dritte Aufnahme ist das Bild, das später so berühmt werden wird wie das Foto der Marineinfanteristen, die auf Iwo Jima die Stars and Stripes aufpflanzen, oder das von Lee Harvey Oswald, der sich in der Tiefgarage eines Polizeireviers in Dallas den Bauch hält. Auf Wendells Foto sieht Jack Sawyer ruhig auf die Attentäterin hinunter (die nur ein verschwommener Schatten am untersten Bildrand ist). Aus seinem Gesichtsausdruck könnte Vergebung sprechen. Durch das Loch in der Handfläche seiner ausgestreckten Linken scheint deutlich Tageslicht. Blutstropfen, rot wie Rubine, hängen wie erstarrt in der Luft neben seiner Kehle, die aufgerissen ist.

Das Johlen und der Beifall verstummen wie abgeschnitten. Dann folgt ein Augenblick schrecklichen, verständnislosen Schweigens. Jack Sawyer, der zwei Schüsse in die Lunge und einen ins Herz bekommen hat und an Hand und Hals getroffen ist, steht aufrecht da und blickt das Loch zwischen seinen gespreizten Fingern und dem Handgelenk an. Wanda Kinderling, die ihre gelblichen Zähne fletscht, starrt zu ihm hinauf. Speedy Parker betrachtet Jack mit einem Ausdruck nackten Entsetzens, den auch seine Panoramasonnenbrille nicht verbergen kann. Links von ihm fällt auf einem der vier Medientürme, die das Podium umgeben, ein junger Kameramann in Ohnmacht und sackt zusammen.

Dann bricht das Standfoto, das Wendell eingefangen hat, ohne es überhaupt zu wissen, plötzlich auf, und alles gerät in hektische Bewegung.

Wanda Kinderling kreischt: »Wir sehen uns in der Hölle, Hollywood!« - das bezeugen später mehrere Umstehende -, dann setzt sie sich die Revolvermündung an die Schläfe. Ihr Gesichtsausdruck voll bösartiger Befriedigung weicht einem typischeren, aus dem benommene Verständnislosigkeit spricht, als das Zucken ihres Fingers nur ein trockenes Klicken hervorruft. Der kurzläufige Revolver ist leergeschossen.

Im nächsten Augenblick wird sie praktisch zerschmettert - Genick gebrochen, linke Schulter gebrochen, vier Rippen gebrachen -, weil Doc sich mit einem bühnenreifen Satz auf sie stürzt und sie in den Boden rammt. Sein linker Schuh trifft Wendell Green seitlich am Kopf, aber diesmal trägt Wendell nur ein blutendes Ohr davon. Tja, jetzt ist er an der Reihe, auch mal Glück zu haben, oder?

Auf dem Podium sieht Jack Sawyer ungläubig zu Dale hinüber, will sprechen, bringt aber kein Wort heraus. Er schwankt, hält sich noch einen Augenblick auf den Beinen und bricht dann zusammen.

Dales Gesichtsausdruck hat sich innerhalb eines Herzschlags von erstaunter Freude zu tiefstem Schock und Entsetzen verwandelt. Er schnappt sich das Mikrofon und kreischt: »Er ist angeschossen! Wir brauchen einen Arzt!« Die Lautsprecher pfeifen wieder wegen der Rückkoppelung. Kein Arzt eilt nach vorn. Viele in der Menge geraten in Panik und beginnen wegzulaufen. Die Panik breitet sich aus.

Beezer hat sich auf ein Knie niedergelassen und dreht Jack auf den Rücken. Jack sieht zu ihm auf, will immer noch etwas sagen. Blut strömt ihm aus den Mundwinkeln.

»Scheiße, sieht schlimm aus, Dale, echt schlimm«, ruft Beezer - und wird dann umgestoßen. Niemand würde dem hageren alten Schwarzen, der mit einer Flanke aufs Podium gesprungen ist, zutrauen, dass er einen Hünen wie Beezer herumschubsen könnte, aber es ist nun einmal kein gewöhnlicher alter Mann. Wie wir alle recht gut wissen. Er ist von einem schwachen, aber dennoch sehr gut sichtbaren weißen Lichtschein umgeben. Beezer sieht ihn. Seine Augen weiten sich.

Die Menge stiebt unterdessen in alle vier Himmelsrichtungen auseinander. Die Panik steckt auch einige der Ladys und Gentlemen von der Presse an. Nicht jedoch Wendell Green; er behauptet heldenhaft seine Stellung und knipst weiter Bilder, bis die Nikon so leer ist wie Wanda Kinderlings Revolver. Er knipst den Schwarzen, wie er mit Jack Sawyer in den Armen dasteht; knipst Da-le Gilbertson, als dieser dem Schwarzen eine Hand auf die Schulter legt; knipst den Schwarzen, als dieser sich umdreht und mit Dale spricht. Als Wendell den Polizei-chef von French Landing später fragt, was der Alte gesagt habe, erklärt Dale ihm, das wisse er nicht mehr - außerdem habe er bei all dem Lärm ohnehin kaum ein Wort verstanden. Das ist natürlich gelogen, aber wir können sicher sein, dass Jack Sawyer stolz gewesen wäre, wenn er Dales Antwort gehört hätte. Im Zweifelsfall stets behaupten, man könne sich an nichts erinnern.

Auf Wendells letztem Foto beobachten Dale und Beezer mit identisch verblüfftem Gesichtsausdruck, wie der Alte, der weiter Jack Sawyer in den Armen hält, die Stufen zum Wohnmobil hinaufsteigt. Wendell hat keine Ahnung, wie der alte Knabe es schafft, diesen großen Kerl zu schleppen - Sawyer dürfte eins fünfundachtzig groß und mindestens achtzig Kilo schwer sein -, aber er vermutet, dass es sich hier in etwa um das gleiche Über-sich-Hinauswachsen handelt, das auch einer verzweifelten Mutter die Kraft verleiht, das Auto oder den Lastwagen hochzustemmen, unter dem ihr Kind eingeklemmt liegt. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Es ist eine Bagatelle im Vergleich zu dem, was als Nächstes passiert. Als eine Gruppe von Männern mit Dale, Beez und Doc an der Spitze in das Wohnmobil stürmt (Wendell bildet das Schlusslicht dieser Gruppe), findet sie in der Einbauküche, vor der Jack seiner kleinen Gang vor kurzem noch letzte Anweisungen gegeben hat, nämlich nur einen umgestürzten Stuhl und mehrere Blutflecken, die von Jack Sawyer stammen. Die Blutspur führt in den rückwärtigen Teil, wo sich ein Klappbett und die WC-Kabine befinden. Und dort hören die roten Spritzer und Flecken einfach auf.

Jack und der alte Mann, der ihn hereingetragen hat, sind verschwunden.

Doc und Beezer brabbeln nahezu hysterisch durcheinander. Sie pendeln zwischen Fragen, wohin Jack verschwunden sein könnte, und verstörten Erinnerungen an die letzten Augenblicke auf dem Podium vor Beginn der Schießerei hin und her. Sie können anscheinend nicht davon loskommen, und Dale hat den Verdacht, dass es ziemlich lange dauern wird, bis er selbst davon loskommen wird. Unterdessen ist ihm klar, dass Jack die Frau kommen gesehen hat und dass er versucht hat, seine Hand aus Dales Griff zu befreien, um reagieren zu können.

Dale überlegt sich, dass es vielleicht doch an der Zeit wäre, den Job als Polizeichef zu quittieren, um sich eine andere Arbeit zu suchen. Aber nicht gleich jetzt. Im Augenblick will er Beezer und Doc möglichst von der Farbentruppe fern halten und sie wieder beruhigen. Er hat ihnen etwas zu erzählen, das vielleicht dazu beitragen kann.

Tom Lund und Bobby Dulac stoßen zu ihm, und die drei Polizeibeamten führen Beez und Doc vom Wohnmobil weg, um den Special Agent Redding und WSP Detective Black schon einen Ermittlungsbereich abzustecken beginnen. Sobald sie hinter dem Podium sind, sieht Dale in die fassungslosen Gesichter der beiden hünenhaften Biker.

»Hört mir zu«, sagt Dale.

»Ich hätte vor ihn treten sollen«, sagt Doc. »Ich hab sie kommen gesehen, warum bin ich nicht vor ihn .«

»Halt die Klappe und hör zu!«

Doc hält die Klappe. Auch Tom und Bobby hören zu und machen dabei große Augen.

»Dieser Schwarze hat etwas zu mir gesagt.«

»Was denn?«, fragt Beezer.

»Er hat gesagt: >Lassen Sie mich ihn mitnehmen -dann hat er vielleicht noch eine Chance.<«

Doc, der schon etliche Schussverletzungen behandelt hat, lässt ein desolates kleines Lachen hören. »Und du hast ihm geglaubt?«

»Nicht gleich, nicht wirklich«, sagt Dale. »Aber nachdem wir dort reingegangen sind und das Fahrzeug leer war .«

»Hinterausgang hat’s auch keinen«, fügt Beezer hinzu.

Doc wirkt jetzt etwas weniger skeptisch. »Glaubst du wirklich, dass er .«

»Und ob«, sagt Dale Gilbertson und fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich muss hoffen. Und ihr müsst mir dabei helfen, Jungs.«

»Also gut«, sagt Beezer. »Tun wir’s.«

Und wir glauben, dass wir sie hier endgültig verlassen müssen: wie sie so unter einem blauen Sommerhimmel in der Nähe des Vaters aller Wasser stehen, hinter einem Podium mit Blutflecken auf den Brettern. Bald wird das Leben sie wieder einholen, sie in seine wild schäumende Strömung zurückreißen, aber für einige Augenblicke sind sie hier beisammen, in der Hoffnung für unseren gemeinsamen Freund vereint.

So wollen wir sie verlassen, einverstanden?

Wir wollen sie verlassen, solange sie hoffen.

Es war einmal in den Territorien

Es war einmal (wie die besten alten Geschichten alle zu beginnen pflegten, als jedermann im Wald und niemand woanders lebte) ein narbengesichtiger Hauptmann der Außenwache namens Farren, der einen verängstigten kleinen Jungen namens Jack Sawyer durch den Pavillon der Königin führte. Der kleine Junge bekam jedoch nicht den Hof der Königin zu sehen; nein, er wurde hinter den Kulissen durch ein Labyrinth aus Korridoren geführt, durch geheime, selten besuchte Räume, in deren hohen Winkeln Spinnen webten, Räume, durch die warme Luft zog, in die sich schwere Kochdünste aus der Küche mischten.

Schließlich steckte Farren die Hände unter die Achseln des Jungen und hob ihn hoch. Vor dir ist ein Brett, flüsterte er - erinnern Sie sich? Ich bin mir sicher, Sie waren dort. Ja, wir beide waren dort, obwohl wir damals jünger waren, nicht wahr? Schieb es nach links.

Jack tat wie geheißen und entdeckte, dass er einen heimlichen Blick ins Gemach der Königin werfen konnte, in den Raum, in dem sie nach Überzeugung fast aller sterben würde . genau wie Jack erwartete, dass seine Mutter in ihrem Zimmer im Alhambra Inn and Gardens in New Hampshire sterben würde. Es war ein heller, luftiger Raum voller hin und her eilender Pflegerinnen, die ein geschäftiges, zielstrebiges Auftreten zur Schau stellten, weil sie eigentlich keine Ahnung hatten, wie sie ihrer Patientin helfen sollten. Der Junge sah durch das Guckloch in diesen Raum auf eine Frau hinunter, die er zunächst für die eigene Mutter hielt, die auf magische Weise an diesen Ort versetzt worden war, und wir beobachteten sie mit ihm, ohne dass einer von uns vermutet hätte, Jack Sawyer würde viele Jahre später zum Mann herangewachsen in demselben Bett liegen, in dem er den Twinner seiner Mutter erstmals gesehen hat.

Jetzt steht Parkus, der ihn aus French Landing in die Inneren Baronien gebracht hat, an jenem Schiebefenster, durch das Jack, von Hauptmann Farren hochgehoben, einst in diesen Raum gesehen hat. Neben ihm steht Sophie von Canna, in den Territorien nunmehr als Junge Königin oder Sophie die Gütige bekannt. Heute eilen in dem Schlafgemach keine Pflegerinnen hin und her; Jack liegt still unter einem langsam laufenden Ventilator. Wo sie nicht unter Verbänden verschwindet, ist seine Haut blass. Die geschlossenen Lider sind wie blutunterlaufen mit einem Hauch von Purpurrot überzogen. Das Heben und Senken des bis unters Kinn hochgezogenen feinen Leinentuchs ist kaum sichtbar . aber es ist da. Er atmet.

Er lebt, zumindest vorerst noch.

Sophie sagt mit leiser Stimme: »Hätte er den Talisman nie berührt .«

»Hätte er den Talisman nie berührt, ihn nicht sogar in den Armen gehalten, wäre er auf diesem Podium tot zusammengebrochen, bevor ich auch nur in seine Nähe ge-langt wäre«, sagt Parkus. »Wäre der Talisman nicht gewesen, hätte er natürlich auch niemals dort gestanden.«

»Wie stehen seine Überlebenschancen?« Sie sieht ihn prüfend an. Irgendwo, in einer anderen Welt, hat Judy Marshall bereits angefangen, in ihr gewöhnliches subur-banes Leben zurückzusinken. Für ihren Twinner wird es jedoch kein solches Leben geben - in diesem Teil des Universums herrschen wieder schwere Zeiten -, und in ihrem Blick liegt ein gebieterischer, königlicher Glanz. »Sagt mir die Wahrheit, Sir, ich will keine Lüge hören.«

»Noch würde ich Euch eine vorsetzen, Mylady«, antwortet er ihr. »Ich glaube, dass er sich dank der verbliebenen Schutzwirkung des Talismans erholen wird. Ihr werdet eines Morgens oder Abends neben ihm sitzen, und er wird die Augen aufschlagen. Nicht heute, und wahrscheinlich auch nicht diese Woche, aber bald.«

»Und was die Rückkehr in seine Welt betrifft? Die Welt seiner Freunde?«

Parkus hat ihn hierher gebracht, weil der Geist des Jungen, der Jack einst war, hier noch in der Luft zu hängen scheint: geisterhaft und kindersüß. Er war hier, bevor sich die Straße der Prüfungen vor ihm auftat und ihn in mancher Beziehung hart machte. Als er hier war, war seine Unschuld noch unbeschädigt. Was Parkus an Jack als erwachsenem Mann überrascht hat - und auf eine Weise berührt, die er nie wieder zu spüren erwartet hätte -, ist das Ausmaß, in dem dieser Mann, zu dem der Junge herangewachsen ist, sich seine kindliche Unschuld bewahrt hat.

Auch das rührt vom Talisman her, versteht sich.

»Parkus? Eure Gedanken schweifen ab.«

»Nicht weit, Mylady, nicht weit. Ihr fragt, ob er in seine Welt zurückkehren kann, nachdem er dort drei, vielleicht gar vier tödliche Wunden empfangen hat - darunter auch einen Herzschuss. Ich habe ihn hierher gebracht, weil all die Magie, die sein Leben berührt und verändert hat, hier stärker ist; im Guten wie im Bösen sind die Territorien seit Jack Sawyers Kindheit sein Lebensborn gewesen. Und das hat gewirkt. Er lebt. Aber er wird verändert aufwachen. Er wird nie mehr .«

Parkus macht eine Pause und denkt angestrengt nach. Sophie neben ihm wartet schweigend. Aus der weit entfernten Küche ist das Keifen einer Köchin zu hören, die einen der Küchenjungen ausschimpft.

»Es gibt Tiere, die im Meer leben und durch Kiemen atmen«, sagt Parkus schließlich. »Und nach langer, langer Zeit entwickeln sich bei manchen von ihnen Lungen. Solche Tiere können im Wasser und an Land leben. Ja?«

»Das habe ich als Kind gelernt«, sagt Sophie geduldig.

»Aber manche dieser letzteren Wesen verlieren ihre Kiemen und können nur noch an Land leben. Ich glaube, Jack Sawyer gleicht jetzt einem dieser Geschöpfe. Ihr oder ich könnten ins Wasser springen und für kurze Zeit untergetaucht schwimmen, und er wird vielleicht zu kurzen Besuchen in seine eigene Welt zurückkehren können ... wenn er erst ganz genesen ist, versteht sich. Aber wenn Ihr oder ich versuchen wollten, unter Wasser zu leben...«

»Wir würden ertrinken.«

»Das würden wir in der Tat. Und wollte Jack versuchen, wieder in der eigenen Welt zu leben, zum Beispiel wieder sein Häuschen im Norway Valley zu beziehen, würden seine Wunden binnen Tagen oder Wochen zurückkehren. Vielleicht in anderer Form - beispielsweise könnte auf seinem Totenschein >Herzversagen< stehen -, aber trotzdem wäre er durch Wanda Kinderlings Kugel gestorben. Durch Wanda Kinderlings Herzschuss.« Parkus fletscht die Zähne. »Abscheuliches Weib! Ich glaube, der Abbalah hat sie nicht mehr wahrnehmen können als ich, aber seht Euch an, wie viel Schaden sie angerichtet hat!«

Sophie hört nicht auf das zuletzt Gesagte. Sie betrachtet den stillen, schlafenden Mann im Raum nebenan.

»Dazu verdammt, in einem solch angenehmen Land wie diesem zu leben .« Sie wendet sich ihm zu. »Es ist doch ein angenehmes Land, nicht wahr, Sirrah? Trotz allem weiterhin ein angenehmes Land?«

Parkus verbeugt sich lächelnd. An seinem Hals baumelt an einer langen dünnen Goldkette ein Haifischzahn. »In der Tat, Mylady.«

Sie nickt lebhaft. »Nun, dann ist’s vielleicht auch nicht so schrecklich, hier leben zu müssen.«

Er antwortet nicht darauf. Nach einigen Augenblicken verfliegt ihre gespielte Lebhaftigkeit, und sie lässt wieder die Schultern hängen.

»Ich würde das hassen«, sagt sie mit dünner Stimme. »Aus der eigenen Welt verbannt zu sein ... abgesehen von gelegentlichen Kurzbesuchen . auf Bewährung . sie beim ersten Husten, beim ersten Stich in meiner Brust verlassen zu müssen . das würde ich hassen.«

Parkus zuckt mit den Schultern. »Er wird die Tatsachen akzeptieren müssen. Ob’s ihm gefällt oder nicht, seine Kiemen sind für immer dahin. Er ist jetzt ein Geschöpf der Territorien. Und Gott der Zimmermann weiß, dass es hier drüben Arbeit für ihn gibt. Die Geschichte mit dem Turm treibt ihrem Höhepunkt zu. Ich glaube, dass Jack Sawyer darin eine Rolle zu spielen haben wird, bin mir meiner Sache aber nicht ganz sicher. Jedenfalls wird es ihm nicht an Arbeit mangeln, wenn er wieder genesen ist. Er ist ein Schutzmann, und für seinesgleichen gibt’s immer Arbeit.«

Ihr schönes Gesicht ist von Sorge erfüllt, während sie durch den Schlitz in der Wand sieht.

»Ihr müsst ihm helfen, meine Liebe«, sagt Parkus.

»Ich liebe ihn«, sagt sie fast unhörbar leise.

»Und er liebt Euch. Aber was ihm bevorsteht, wird nicht leicht sein.«

»Warum nicht, Parkus? Warum muss das Leben immer so viel fordern und so wenig gewähren?«

Er schließt sie in die Arme, und sie lässt bereitwillig den Kopf an seine Brust sinken.

Im Dunkel hinter dem Gemach, in dem Jack Sawyer schläft, beantwortet Parkus ihre Frage mit einem einzigen Wort:

Ka.

Загрузка...