TEIL EINS Willkommen im Coulee Country

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Genau hier und jetzt, wie ein alter Freund zu sagen pflegte, sind wir in der ungewissen Gegenwart, in der Hellsichtigkeit keineswegs vollkommene Sehschärfe garantiert. Hier: etwa sechzig Meter, der Flughöhe eines kreisenden Adlers, über dem äußersten Westen von Wisconsin, wo die Launen des Mississippis eine natürliche Grenze haben entstehen lassen. Jetzt: ein früher Freitagmorgen Mitte Juli, einige Jahre nach Beginn eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends, deren verschlungene Pfade so verborgen sind, dass ein Blinder bessere Chancen hat, das Zukünftige zu sehen als jeder gewöhnliche Mensch. Genau hier und jetzt, es ist kurz nach sechs Uhr morgens, und die Sonne steht im Osten tief am wolkenlosen Himmel: eine pralle, selbstbewusst gelblich weiße Kugel, die wie jeden Morgen scheinbar jungfräulich der Zukunft entgegensteigt und in ihrem Gefolge eine stetig wachsende Vergangenheit hinterlässt, die sich zurückweichend verfinstert und uns alle zu Blinden macht. Unter uns übergießt die Morgensonne die weiten, sanften Wellen des Flusses mit rotgoldenen Glanzlichtern. Sonnenlicht glitzert auf den Gleisen der Burlington Northern Santa Fe Railroad, die zwischen dem Flussufer und den Rückseiten der schäbigen einstöckigen Häuser entlang der als Nail-

house Row bekannten Country Road Oo verlaufen; dies ist der tiefste Punkt der behaglich aussehenden Kleinstadt, die sich unter uns hügelaufwärts und nach Osten erstreckt. In diesem Augenblick scheint das Leben im Coulee Country den Atem anzuhalten. Die unbewegte Luft um uns herum ist so bemerkenswert klar und rein, dass man einen in einer Meile Entfernung aus dem Erdboden gezogenen Rettich riechen könnte.

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Wir schweben in Richtung Sonne vom Fluss weg, über die glitzernden Schienen, die Gärten und Dächer der Nailhouse Row, dann über eine Reihe Harley-David-sons, die schräg auf ihren Seitenständern stehen. Diese schlichten kleinen Häuser wurden zu Beginn des jüngst vergangenen Jahrhunderts für die in der Fabrik der Pe-derson Nail beschäftigten Eisengießer, Formenbauer und Packer errichtet. Da nicht zu erwarten war, dass einfache Arbeiter sich über die Mängel ihrer subventionierten Behausungen beschweren würden, wurden diese so billig wie nur möglich gebaut. (Die Firma Pederson Nail, die schon in den Fünfzigerjahren mehrfach unter Blutungen gelitten hatte, verblutete schließlich im Jahr 1963 endgültig.) Die wartenden Harleys legen den Schluss nahe, dass die Fabrikarbeiter durch eine Bikergang abgelöst worden sind. Das einheitlich wilde Aussehen der Harley-Besitzer - struppige, vollbärtige, schmer-bäuchige Männer, die Ohrringe, schwarze Lederjacken und Zahnlücken zur Schau tragen - scheint diese Annahme zu bestätigen. Wie die meisten Annahmen enthält auch diese eine unbehagliche Halbwahrheit.

Die jetzigen Bewohner der Nailhouse Row, denen misstrauische Einheimische bald nach dem Einzug in die Häuser am Fluss den Spitznamen Thunder Five gegeben haben, lassen sich nicht so leicht einordnen. Sie sind qualifizierte Angestellte der Brauerei Kingsland Brewing Company, die am Südrand der Stadt einen Straßenzug östlich des Mississippis steht. Rechterhand kann man »den größten Sechserpack der Welt« sehen: Lagertanks, die mit gigantischen Etiketten der Biersorte Kingsland Old-Time Lager bemalt sind. Die Männer, die jetzt in der Nailhouse Row leben, haben sich auf dem Campus der University of Illinois in Urbana-Champaign kennen gelernt, wo sie alle bis auf einen im Hauptfach Englisch oder Philosophie studierten. (Die Ausnahme war Assistenzarzt an der chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik gewesen.) Ihr Spitzname Thunder Five bereitet ihnen nicht wenig Vergnügen: Irgendwie könnte er einem Comicheft entsprungen sein. Sie selbst bezeichnen sich als »den hegelianischen Abschaum«. Diese Gentlemen bilden eine illustre Mannschaft, später werden wir genauer mit ihnen Bekanntschaft machen. Im Augenblick haben wir nur Zeit, die handgemalten Poster zu bemerken, die an mehreren Hausfassaden, zwei Laternenmasten und einigen leer stehenden Gebäuden kleben. Auf den Postern steht: Fisherman, bete LIEBER zu deinem STINKENDEN GoTT, DASS WIR DICH nicht als erste erwischen! Nicht als erste erwischen! Denk an AMy!

Von der Nailhouse Row aus führt die Chase Street steil bergauf zwischen schief stehenden Gebäuden mit verwitterten, ungestrichenen, nebelgrauen Fassaden hindurch: das alte Hotel Nelson, in dem einige verarmte Dauergäste im Schlaf liegen; eine gesichtslose Kneipe; ein Schuhgeschäft, das schon bessere Zeiten gesehen hat und hinter seiner schlierigen Schaufensterscheibe Arbeitsstiefel der Marke Red Wing ausstellt; und ein paar weitere düstere Gebäude, deren Zweck nicht erkennbar ist, die aber eigenartig traumhaft und melancholisch wirken. Diese Bauten haben etwas von fehlgeschlagener Wiederauferstehung an sich, als wären sie vor dem dunklen Gebiet im Westen errettet worden, obwohl sie eigentlich schon tot waren. In gewisser Weise ist ihnen auch genau das widerfahren. Ein ockergelber waagrechter Streifen - drei Meter über dem Gehsteig an der Fassade des Hotels Nelson und einen halben Meter über dem ansteigenden Gelände an den aschgrauen Fassaden der beiden letzten Gebäude gegenüber - bezeichnet die Hochwassermarke der Überschwemmung des Jahres 1965. Damals war der Mississippi über die Ufer getreten und hatte die Bahngleise und die Nailhouse Row überflutet, wobei er bis fast zum oberen Ende der Chase Street gestiegen war.

An der Stelle, wo die Chase Street sich über die Hochwassermarke erhebt, um dann flach weiterzuführen, wird sie breiter und erlebt eine Umwandlung zur Hauptstraße von French Landing, so der Name der Kleinstadt unter uns. Das Agincourt Theater, das Lokal Taproom Bar & Grille, die First Farmer State Bank, das Samuel Stutz Pho-tography Studio (das mit Porträts zur Schulentlassung, Hochzeitsfotos und Kinderporträts ein stetiges Geschäft macht) und Läden, die nicht wie die geisterhaften Relikte in der Chase Street wirken, säumen hier die unebenen Gehsteige: Benton’s Rexall Drugstore, das Eisenwarengeschäft Reliable Hardware, Saturday Night Video, Regal Clothing, Schmitt’s Allsorts Emporium, aber auch Geschäfte, die Unterhaltungselektronik, Zeitschriften und Grußkarten, Spielwaren und Sportkleidung mit den Logos der Brewers, der Twins, der Packers, der Vikings und der University of Wisconsin verkaufen. Einige Häuserzeilen weiter wird die Straße zur Lyall Road. Hier rücken die Gebäude auseinander und schrumpfen zu eingeschossigen Holzbauten, vor denen Firmenschilder Reisebüros und Versicherungsagenturen anpreisen; danach geht die Straße in einen Highway über, der an einem 7-Eleven, der Reinhold T. Grauerhammer Hall der Veteranenvereinigung und einem hier als Goltz’s bekannten großen Landmaschinenhändler vorbei nach Osten in eine Landschaft aus ebenen, durch nichts unterbrochenen Feldern gleitet. Steigen wir in der kristallklaren Luft weitere dreißig Meter hoch und suchen ab, was unter und vor uns liegt, sehen wir Karsttrichter, Felsenschluchten, kegelförmige Hügel mit einem Pelz aus Kiefern, lößreiche Täler, die zu ebener Erde erst richtig sichtbar sind, wenn man unvermutet auf sie stößt, mäandernde Flüsse, meilenweite Flickenteppichfelder und kleine Ansiedlungen -darunter auch Centralia, das aus ein paar verstreuten Häusern an der Kreuzung zweier schmaler Highways mit den Nummern 35 und 93 besteht.

Direkt unter uns macht French Landing den Eindruck, als wäre es mitten in der Nacht geräumt worden. Niemand ist auf den Gehsteigen unterwegs oder in gebückter Haltung dabei, den Schlüssel in eine der Ladentüren entlang der Chase Street zu stecken. Auf den schräg angeordneten Parkflächen steht noch keiner der Personenwagen und Pickups, die in ein, zwei Stunden allmählich auftauchen werden: erst allein oder paarweise, dann in einem wohl geordneten kleinen Strom. Hinter den Fenstern der Bürogebäude oder der unprätentiösen Häuser in den umliegenden Straßen brennt kein Licht. In der Sumner Street, eine Häuserzeile nördlich der Chase Street, stehen vier baugleiche zweistöckige Klinkergebäude, in denen von West nach Ost untergebracht sind: die Stadtbibliothek von French Landing; die Praxis von Dr. med. Patrick J. Skarda, des hiesigen Arztes für Allgemeinmedizin; Bell & Holland, eine Anwaltssozietät, die heute von Garland Bell und Julius Holland, den Söhnen ihrer Gründer, geführt wird; das Bestattungsunternehmen Heartfield & Son, das jetzt einem weit verzweigten Bestattungskonzern mit Zentrale in St. Louis gehört; sowie das Postamt von French Landing.

Das Gebäude am Ende der Straße, wo Sumner Street und Third Street sich kreuzen - ebenfalls ein zweigeschossiger Klinkerbau, der sich jedoch länger hinstreckt als seine unmittelbaren Nachbarn -, wird von diesen durch eine breit angelegte Einfahrt getrennt, die zu einem geräumigen Parkplatz hinter dem Haus führt. Ungestrichene Eisenstäbe versperren die nach hinten hinausführenden Fenster im ersten Stock, und zwei der vier Fahrzeuge auf dem Parkplatz sind Streifenwagen mit paarweise angeordneten Blinkleuchten auf dem Dach und den Buchstaben FLPD auf den Türen. Das Vorhandensein von Streifenwagen und vergitterten Fenstern wirkt in diesem Hort ländlichen Friedens fehl am Platz - welche Art Verbrechen könnte es hier wohl geben? Bestimmt nichts Ernstliches; sicher nichts Schlimmeres als ein paar Ladendiebstähle, Trunkenheit am Steuer und gelegentlich eine Schlägerei in einer Bar.

Wie um die Friedlichkeit und Rechtschaffenheit des Kleinstadtlebens zu bezeugen, rollt ein roter Lieferwagen mit der Aufschrift La Riviere Herald an den Seiten langsam die Third Street entlang und hält an fast allen Briefkastensäulen, damit der Zusteller die in einer blauen Plastikhülle steckenden Tageszeitung in die grauen Metallzylinder mit derselben Aufschrift stecken kann. Als der Lieferwagen in die Sumner Street abbiegt, wo die Häuser Einwurfschlitze statt Briefkasten aufweisen, wirft der Zusteller die verpackten Zeitungen einfach gegen die Haustüren. Blaue Pakete klatschen an die Türen der Polizeistation, des Bestattungsunternehmens und des Bürogebäudes. Das Postamt bekommt keine Zeitung.

*

Sieh da, hinter den zur Straße hinausführenden Fenstern im Erdgeschoss der Polizeistation brennt doch Licht. Die Tür öffnet sich. Ein großer, dunkelhaariger junger Mann, der ein blassblaues Uniformhemd, ein Lederkoppel mit Schulterriemen und eine marineblaue Hose trägt, tritt ins Freie. Das breite Koppel und die goldfarbene Plakette an Bobby Dulacs Brust glänzen in der Morgensonne, und alles, was er trägt, auch die 9-mm-Pistole an seiner Hüfte, scheint ebenso fabrikneu zu sein wie Bobby Dulac selbst. Er beobachtet, wie der rote Lieferwagen nach links auf die Second Street abbiegt, und betrachtet stirnrunzelnd die zusammengerollte Zeitung. Er stößt sie mit der Kappe des schwarzen, auf Hochglanz polierten Schuhs an und beugt sich eben weit genug nach vorn, um vermuten zu lassen, dass er die Schlagzeilen durch die Plastikhülle hindurch lesen will. Aber diese Methode scheint nicht allzu gut zu funktionieren. Bobby bückt sich, noch immer düster dreinblickend, ganz hinunter und hebt die Zeitung unvermutet sanft auf, so wie eine Katzenmutter ihr Junges aufnimmt, das sich vorwitzig von ihr entfernt hat. Er hält sie ein kleines Stück von sich weg, sieht mit raschem Blick die Sumner Street hinauf und hinunter, macht zackig kehrt und geht in die Polizeistation zurück. Wir, die wir in unserer Neugier stetig tiefer geschwebt sind, um das von Officer Du-lac gebotene Schauspiel genauer zu beobachten, folgen ihm hinein.

Der graue Korridor führt an einer unbeschrifteten Tür und einem schwarzen Brett, an dem nur wenig befestigt ist, vorbei zu zwei Stahltreppen, von denen eine zu einem kleinen Umkleideraum, Duschkabinen und einem Schießstand hinunterführt, während die andere zu einem Vernehmungsraum und zwei Reihen gegenüberliegender Zellen hinaufführt, von denen im Augenblick allerdings keine belegt ist. Irgendwo in der Nähe läuft im Radio eine Talkshow mit einer Lautstärke, die für einen friedlichen Morgen zu hoch erscheint.

Bobby Dulac öffnet die unbeschriftete Tür und betritt

- mit uns auf seinen glänzend polierten Fersen - den Bereitschaftsraum, den er kurz zuvor verlassen hatte. Rechts an der Wand stehen eine Reihe von Aktenschränken und daneben ein zerschrammter Holztisch mit ordentlich aufgeschichteten Aktenstapeln und einem Transistorradio, der Quelle des misstönenden Lärms. In dem nahe gelegenen Studio von KDCU-AM, »Die Stimme von Coulee Country«, ist der unterhaltsame Querulant George Rathbun mit seiner beliebten Morgensendung Fragen über Fragen in Fahrt gekommen. Der gute alte George klingt ein bisschen zu laut; unabhängig davon, wie weit man die Lautstärke zurückdreht, ist der Kerl einfach ein unverbesserlicher Krakeeler - was aber sein Markenzeichen ist.

In die Mitte der uns gegenüberliegenden Wand ist eine geschlossene Tür mit einer dunklen Milchglasscheibe eingelassen, auf der Dale Gilbertson, CHiEf of Police steht. Dale wird erst in ungefähr einer halben Stunde zum Dienst kommen.

Links in der Ecke stehen zwei Metallschreibtische in rechtem Winkel zueinander, und hinter dem uns zugewandten betrachtet Tom Lund - ein blonder Polizeibeamter, der etwa so alt wie sein Partner ist, aber nicht wie dieser den Eindruck erweckt, erst fünf Minuten zuvor prägefrisch aus der Münze gekommen zu sein - die Plastikhülle, die Bobby Dulac in der rechten Hand zwischen Daumen und Zeigefinger hält.

»Also gut«, sagt Lund. »Okay. Fortsetzung folgt.«

»Hast du vielleicht schon befürchtet, die Thunder Five würden uns wieder einen Anstandsbesuch abstatten wollen? Hier. Ich will das verdammte Ding nicht lesen.«

Ohne die Zeitung eines Blickes zu würdigen, lässt Bobby die aktuelle Ausgabe des La Riviere Herald mit sportlichem Schwung seines Handgelenks in einem flachen, schnellen Bogen über die drei Meter Fußboden segeln, dreht sich nach rechts, macht einen langen Schritt und baut sich vor dem Holztisch auf, kurz bevor Tom Lund den Wurf auffängt. Bobby starrt die beiden Namen und die verschiedenen Einzelheiten finster an, die auf die lange Tafel gekritzelt sind, die an der Wand hinter dem Tisch hängt. Er scheint nicht gerade gut gelaunt zu sein, unser Bobby Dulac. Er macht vielmehr den Eindruck, als könnte er jeden Augenblick vor schierem Zorn aus seiner Uniform platzen.

Fett und zufrieden im KDCU-Studio hockend, brüllt George Rathbun ins Mikrofon: »Mister, halten Sie mal die Luft an, okay, und lassen Sie sich ’ne neue Brille verschreiben! Reden wir hier übers gleiche Spiel? Mister ...«

»Vielleicht ist Wendell zur Vernunft gekommen und hat beschlossen, damit aufzuhören«, sagt Tom Lund.

»Wendell«, sagt Bobby. Da Lund nur seinen glatten, dunklen Hinterkopf sehen kann, ist das kleine höhnische Grinsen, zu dem er die Lippen verzieht, eigentlich vergeudet, aber er setzt es trotzdem auf.

»Mister, ich will Ihnen eine einzige Frage stellen und bitte Sie in aller Aufrichtigkeit, dass Sie mir die Frage ehrlich beantworten. Haben Sie das Spiel gestern Abend wirklich gesehen?«

»Ich hab gar nicht gewusst, dass Wendell dein großer Kumpel ist«, sagt Bobby. »Hatte keine Ahnung, dass du jemals so weit nach Süden wie La Riviere kommst. Ich hab immer gedacht, deine Vorstellung von einem tollen Abend wäre ein Krug Bier und beim Bowlen im Arden möglichst über hundert Punkte zu erzielen, und jetzt kriege ich raus, dass du mit Zeitungsreportern in College-Städten rumhängst. Wahrscheinlich bist du auch mit der Wisconsin Rat, dem Kerl von KWLA, dick befreundet. Gibt’s da noch andere Schmierfinken, mit denen du rumhängst?«

Der Anrufer behauptet, er habe das erste Inning verpasst, weil er seinen Jungen nach einer Therapiestunde im Mount Hebron abholen musste, aber danach habe er alles gesehen, ehrlich.

»Habe ich gesagt, dass Wendell Green mein Freund ist?«, sagt Tom Lund. Über Bobbys linke Schulter hinweg kann er gerade eben den ersten der Namen auf der Tafel sehen. Sein Blick fixiert ihn hilflos. »Ich hab ihn bloß nach dem Fall Kinderling kennen gelernt, und der Kerl ist mir gar nicht so übel vorgekommen. Ich hab ihn irgendwie gemocht. Ehrlich, er hat mir sogar irgendwie Leid getan. Er wollte ein Interview mit Hollywood machen, aber Hollywood hat ihn rundweg abgewiesen.«

Nun, natürlich habe er die zusätzlichen Innings gesehen, sagt der bedauernswerte Anrufer, deshalb wisse er ja auch, dass Pokey Reese nicht out gewesen sei.

»Und was die Wisconsin Rat betrifft, ich würde den Kerl nicht erkennen, wenn er hier reinkäme. Überhaupt finde ich, dass die so genannte Musik, die der spielt, wie der größte Scheiß klingt, den ich je in meinem Leben gehört habe. Wie hat dieser dürre Fiesling mit dem teigigen Gesicht es überhaupt zu ’ner eigenen Sendung gebracht? Auch noch bei ’nem College-Sender? Was sagt dir das über unsere wundervolle UW/La Riviere, Bobby? Was sagt es über unsere ganze Gesellschaft aus? Oh, ich hab ganz vergessen, dass du auf diesen Scheiß stehst.«

»Ach was, ich mag viel eher 311 und Korn. Du aber bist ja so wenig auf dem Laufenden, dass du Jonathan Davis und Dee Dee Ramone nicht voneinander unterscheiden könntest, aber vergiss das jetzt, okay?« Bobby Dulac dreht sich langsam um und lächelt seinen Partner an. »Hör auf, drum herumzureden.« Sein Lächeln ist nicht allzu freundlich.

»Ich rede um etwas herum?« Tom Lund reißt die Augen in einer Parodie gekränkter Unschuld auf. »He, hab etwa ich die Zeitung durch den Raum gepfeffert? Nicht, dass ich wüsste.«

»Wenn du die Wisconsin Rat noch nie zu Gesicht bekommen hast, woher weißt du dann, wie der Kerl aussieht?«

»Genau wie ich weiß, dass er wild gefärbtes Haar und eine gepiercte Nase hat. Genau wie ich weiß, dass er tagaus, tagein und bei jedem Wetter eine beschissene abgewetzte schwarze Lederjacke trägt.«

Bobby scheint auf mehr zu warten.

»Rein vom Zuhören. Aus den Stimmen der Leute kann man einiges heraushören. Sagt einer beispielsweise: >Sieht so aus, als bekämen wir heute schönes Wetter<, will er einem nur gleich seine ganze Lebensgeschichte erzählen. Du willst mehr über Rat Boy wissen? Also gut.

Er ist seit sechs, sieben Jahren nicht mehr beim Zahnarzt gewesen. Seine Zähne sehen aus wie Scheiße.«

Aus dem hässlichen KDCU-Hohlblocksteinbau, der am Peninsula Drive neben der Brauerei steht - beziehungsweise aus dem Radio, das Dale Gilbertson der Polizeistation gespendet hat, lange bevor Tom Lund oder Bobby Dulac erstmals ihre Uniform trugen - kommt der patentierte Aufschrei jovialer Empörung des guten, alten, zuverlässigen George Rathbun: ein leidenschaftliches, alles einschließendes Plärren, das noch in hundert Meilen Umkreis bewirkt, dass frühstückende Farmer ihren Frauen über den Tisch hinweg zulächeln und zufällig vorbeikommende Fernfahrer laut lachen.

»Ich schwör’s Ihnen, Mister, und das gilt auch für den vorigen Anrufer und jeden Einzelnen von euch da draußen, ich liebe euch innig, das ist die reine Wahrheit, ich liebe euch, wie meine Mama ihr Steckrübenbeet geliebt hat, aber manchmal macht ihr Leute mich verrückt! Also echt. Zweite Hälfte des elften Innings, zwei Mann out! Sechs zu sieben, Brewers! Spieler an der zweiten und dritten Base. Der Batter schlägt kurz ins Mittelfeld, Reese läuft von der dritten Base los, guter Wurf zur Plate, eindeutig out. Eindeutig out. Das hätte ein Blinder entscheiden können!«

»He, und ich dachte, er wäre safe gewesen, allerdings hab ich das Spiel nur im Radio gehört«, sagt Tom Lund.

Beide Männer reden um den heißen Brei herum, und das wissen sie genau.

»Also wirklich«, plärrt der bei weitem populärste Moderator im Coulee Country, »jetzt mal Tacheles, Boys und Girls, ich schlag euch was vor, okay? Wir ersetzen alle Schiedsrichter im Miller Park, ach was, alle Schiedsrichter in der ganzen National League einfach durch Blinde! Wisst ihr was, meine Freunde? Ich garantiere eine Verbesserung von sechzig bis siebzig Prozent, was die Korrektheit ihrer Entscheidungen anlangt. Gebt den Job denen, die dafür geeignet sind - den Blinden!«

Heiterkeit überzieht Tom Lunds freundliches Gesicht. Dieser George Rathbun, Mann, echt zum Kaputtlachen!

»Mach schon, okay?«, sagt Bobby.

Lund zieht grinsend die zusammengefaltete Zeitung aus der Hülle und streicht sie auf seinem Schreibtisch glatt. Seine Miene verhärtet sich; ohne die Form zu ändern, wird sein Grinsen zu Stein. »O nein. Oh, verdammt.«

»Was?«

Lund stößt ein unbestimmbares Ächzen aus und schüttelt dann den Kopf.

»Verdammt, ich will’s nicht mal wissen.« Bobby rammt die Hände in die Hosentaschen, richtet sich dann stocksteif auf, reißt die rechte Hand wieder heraus und presst sie sich auf die Augen. »Ich bin jetzt blind, okay? Mach einen Schiedsrichter aus mir - ich will kein Cop mehr sein.«

Lund sagt nichts dazu.

»Ist’s eine Schlagzeile? Gleich eine Riesenbalkenüberschrift? Wie schlimm ist’s?« Bobby nimmt die Hand von den Augen, hält sie aber weiter vor dem Gesicht.

»Also«, sagt Lund, »Wendell scheint doch nicht zur Vernunft gekommen zu sein. Er hat jedenfalls todsicher nicht beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich kann’s gar nicht glauben, dass ich vorhin gesagt habe, dass ich den kleinen Scheißer mag.«

»Wach auf!«, sagt Bobby. »Hat dir nie jemand gesagt, dass Ordnungshüter und Journalisten auf verschiedenen Seiten des Zauns stehen?«

Tom Lund beugt seinen massigen Rumpf über den Schreibtisch. Eine tiefe waagrechte Furche teilt narbengleich seine Stirn, die Pausbacken leuchten puterrot. Er deutet mit einem Finger auf Bobby Dulac. »Das ist eine Sache, die mich an dir echt aufregt, Bobby. Wie lange bist du jetzt hier? Fünf, sechs Monate? Dale hat mich vor vier Jahren eingestellt. Als er und Hollywood besagten Mr. Thornberg Kinderling die Handschellen angelegt haben, was der seit ungefähr dreißig Jahren größte Fall in unserer County war, konnte ich zwar keinen großen Verdienst daran beanspruchen, aber ich hatte wenigstens meinen Teil getan. Ich habe mitgeholfen, einige der Puzzlesteinchen zusammenzusetzen.«

»Nur ein einziges«, sagt Bobby.

»Ich habe Dale an die Barfrau im Taproom erinnert, und Dale hat Hollywood von ihr erzählt, und Hollywood hat mit dem Mädchen geredet, und das war ein großes, großes Stück. Es hat mitgeholfen, ihn zu schnappen. Also komm mir nicht auf die Tour.«

Bobby Dulac setzt einen Ausdruck völlig heuchlerischer Zerknirschung auf. »Sorry, Tom. Ich glaube, ich bin irgendwie angespannt und gleichzeitig restlos erledigt.« Dabei denkt er: Du hast also ein paar Dienstjahre mehr als ich, und du hast Dale einmal diesen beschissenen kleinen Tipp gegeben, na und? Ich bin ein besserer Cop, als du jemals einer sein wirst. Wie heldenhaft bist du eigentlich gestern Nacht gewesen?

Gegen Viertel vor zwölf in der Nacht zuvor waren Armand »Beezer« St. Pierre und seine Kumpane von der Thunder Five aus der Nailhouse Row heraufgeröhrt gekommen, um in die Polizeistation zu stürmen und von den drei anwesenden Beamten, die bereits jeweils eine Achtzehnstundenschicht hinter sich hatten, genaue Auskunft über ihre Fortschritte in dem Fall zu fordern, der ihnen allen am meisten am Herzen lag. Was zum Teufel ging hier vor? Was war mit der Dritten, ha, was war mit Irma Freneau? Hatte man sie schon gefunden? Hatten diese Clowns irgendwas in der Hand, oder warfen sie weiter nur Nebelkerzen? Ihr braucht Hilfe?, donnerte Beezer. Macht uns zu Deputies, dann bekommt ihr alle gottverdammte Hilfe, die ihr braucht, und noch mehr dazu. Ein Riese namens Mouse war grinsend an Bobby Dulac herangetreten und hatte ihn vor sich her geschubst, Jumbowanst gegen Sechserpackbauch, bis Bobby mit dem Rücken an einem Aktenschrank stand. Dann hatte der Riese Mouse sich in einer Wolke aus Bier- und Marihuanadunst rätselhafterweise danach erkundigt, ob Bobby schon jemals einen Blick in die Werke eines Gentlemans namens Jacques Derrida geworfen habe. Als Bobby erwiderte, er habe noch nicht einmal den Namen dieses Gentlemans gehört, sagte Mouse: »Ohne Scheiß, Sherlock«, und trat zur Seite, um finster die Namen an der Tafel anzustarren. Eine halbe Stunde später wurden Beezer, Mouse und ihre Kumpane unzu-frieden, nicht zu Deputies ernannt, aber beschwichtigt fortgeschickt, und Dale Gilbertson sagte, er müsse nach Hause fahren, um etwas zu schlafen, aber Tom solle noch bleiben - für alle Fälle. Die zum Nachtdienst eingeteilten Kollegen hatten beide eine Ausrede gefunden, um nicht hereinkommen zu müssen. Und dann sagte Bobby, er werde eben auch bleiben, kein Problem, Chief. Das ist also der Grund dafür, dass wir diese beiden Männer so früh am Morgen in der Polizeistation antreffen.

»Gib mal her«, sagt Bobby Dulac.

Lund nimmt die Zeitung vom Schreibtisch, dreht sie um und hält sie hoch, damit Bobby sie lesen kann: Fis-herman im Raum French Landing weiter auf freiem Fuss lautet die Schlagzeile über einem Dreispalter in der linken oberen Ecke der Titelseite. Die Kolumnen sind blassblau unterlegt und durch einen schwarzen Rand vom Rest der Titelseite abgesetzt. Unter der Schlagzeile steht in kleinerer Schrift: Identität des Psychokillers gibt Polizei Rätsel auf. Unter diesem Untertitel wird in noch kleinerer Schrift Wendell Green, mit Unterstützung der Redaktion als Verfasser genannt.

»Der Fisherman«, sagt Bobby. »Dein Freund hatte gleich vom Start weg den Arsch offen. Der Fisherman, der Fisherman, der Fisherman. Würdest du mich King Kong nennen, wenn ich mich plötzlich in einen fünfzehn Meter großen Affen verwandeln würde, der auf Gebäuden rumtrampelt?« Lund lässt die Zeitung sinken und grinst. »Okay«, sagt Bobby verbindlich, »schlechtes Beispiel. Sagen wir, ich würde ein paar Banken überfal-len. Würdest du mich dann John Dillinger nennen?«

»Na ja«, sagt Lund und grinst noch breiter, »Dillingers Pimmel soll so riesig gewesen sein, dass er im Smithso-nian in Spiritus aufbewahrt wird. Also ...«

»Lies mir den ersten Satz vor«, sagt Bobby.

Tom Lund senkt den Kopf und liest vor: »>Während es der Polizei in French Landing nicht gelingt, Hinweise auf die Identität des teuflischen Doppelmörders und Sexualverbrechers zu entdecken, dem wir den Namen >Fis-herman< beigelegt haben, grassieren die Schreckgespenster von Angst, Verzweiflung und Misstrauen immer ungehemmter auf den Straßen unserer kleinen Stadt, verbreiten sich von dort aus zu den Farmen und Dörfern überall in der French County und verfinstern durch ihr Umherstreichen das gesamte Coulee Country.<«

»Genau das, was wir brauchen«, sagt Bobby. »O Mann!« Und schon im nächsten Augenblick hat er den Raum durchquert, beugt sich über Tom Lunds Schulter und liest die Titelseite des Herald, wobei die rechte Hand auf dem Griff seiner Glock ruht, als wäre er kurz davor, den Artikel gleich hier und jetzt zu durchlöchern.

»>Unsere Tradition von Vertrauen und gutnachbarlicher Art, unsere Gewohnheit, jedermann Herzlichkeit und Großzügigkeit entgegenzubringen [schreibt Wen-dell Green, der wie verrückt leitartikelt], verfallen unter der zerstörerischen Kraft dieser fürchterlichen Emotionen täglich immer mehr. Angst, Verzweiflung und Misstrauen sind Gift für die Seelen von Gemeinwesen, groß oder klein, weil sie Nachbar gegen Nachbar aufhetzen und Höflichkeit zu einer Farce machen.

Zwei Kinder sind skrupellos ermordet, ihre sterblichen Überreste teilweise verzehrt worden. Jetzt ist ein drittes Kind verschwunden. Zuerst sind die achtjährige Amy St. Pierre und der siebenjährige Johnny Irkenham den Leidenschaften dieses Ungeheuers in Menschengestalt zum Opfer gefallen. Keiner der beiden wird die Freuden der Jugend oder die Segnungen des Erwachsenseins erleben. Ihre trauernden Eltern werden nie die Enkel bekommen, für die sie liebevoll hätten sorgen wollen. Nicht nur die Eltern von Amys und Johnnys Spielgefährten bergen ihre Kinder in der Sicherheit ihrer Häuser vor den lauernden Gefahren, wie es auch andere Eltern tun, Eltern, deren Kinder die Ermordeten nie gekannt haben. Mittlerweile sind in praktisch allen Ortschaften und Gemeinden der French County die Sommerspielgruppen und andere Erholungsunternehmen für Kinder abgesagt worden.

Jetzt stellt das Verschwinden der zehnjährigen Irma Freneau - sieben Tage nach dem Tod von Amy St. Pierre und nur drei Tage nach dem von Johnny Irkenham - die Geduld der Öffentlichkeit auf die Zerreißprobe. Wie bereits berichtet, wurde Merlin Graasheimer, 52, ein arbeitsloser Landarbeiter ohne festen Wohnsitz, am späten Dienstagabend in einer Seitenstraße Fountains von einer Gruppe Unbekannter überfallen und zusammengeschlagen. Ein weiterer Fall dieser Art ereignete sich am frühen Donnerstagmorgen. Elvar Praetorius, 36, ein allein reisender schwedischer Tourist, wurde von drei Männern, auch sie unidentifiziert, tätlich angegriffen, als er in La Riviere im Leif-Eriksson-Park schlief. Graasheimer und Praetorius mussten zwar nur ambulant behandelt werden, aber es steht zu erwarten, dass künftige Fälle von Selbstjustiz nicht so glimpflich ausgehen werden.««

Tom Lund wirft einen Blick auf den nächsten Absatz, der das plötzliche Verschwinden der kleinen Freneau von einem Gehsteig in der Chase Street beschreibt, und stößt sich dann von seinem Schreibtisch ab.

Bobby Dulac liest einige Zeit schweigend weiter, dann sagt er: »Diesen Scheiß musst du dir anhören, Tom. Zum Schluss schreibt er Folgendes: >Wann wird der Fisherman wieder zuschlagen? Denn er wird zuschlagen, da möge sich niemand täuschen. Wann wird der Polizeichef von French Landing, Dale Gilbertson, endlich seine Pflicht tun und die Bürger dieser County vor der abscheulichen Brutalität des Fishermans und der verständlichen Gewalt retten, die nur eine Folge seiner Untätigkeit ist?<«

Bobby Dulac stapft in die Mitte des Raums. Sein Gesicht ist lebhaft gerötet. Er holt tief Luft, dann stößt er eine beachtliche Menge Sauerstoff aus. »Wie wär’s, wenn der Fisherman wieder zuschlägt«, sagt Bobby, »wie wär’s, wenn er nächstes Mal genau Wendell Greens schlaffen Hintern treffen würde?«

»Ganz deiner Meinung«, sagt Tom Lund. »Ist dieser Scheiß nicht unglaublich? >Verständliche Gewalt

Bobby tippt mit dem Zeigefinger in Lunds Richtung. »Diesen Kerl fasse ich persönlich. Mein Ehrenwort. Ich schnappe ihn mir, tot oder lebendig.« Für den Fall, dass Lund den springenden Punkt nicht mitbekommen hat, wiederholt er: »Persönlich.«

Tom Lund, der klugerweise darauf verzichtet, die Worte auszusprechen, die ihm als Erstes einfallen, nickt mit dem Kopf. Der Finger ist weiterhin auf ihn gerichtet. »Solltest du dabei Hilfe brauchen«, sagt er dann, »redest du am besten mit Hollywood. Dale hat da zwar kein Glück gehabt, aber vielleicht gelingt’s dir ja besser.«

Bobby winkt ab. »Nicht nötig. Dale und ich . und natürlich du, wir haben die Sache auch allein im Griff. Ich fasse diesen Kerl jedenfalls persönlich. Das garantiere ich.« Er macht eine kurze Pause. »Außerdem lebt Hollywood ja im Ruhestand, seit er hergezogen ist, oder?«

»Hollywood ist noch zu jung, um in den Ruhestand zu treten«, sagt Lund. »Selbst nach Polizeidienstjahren gerechnet ist der Kerl praktisch ein Baby. Da bist du allerdings kaum mehr als ein Embryo.«

Und unter ihrem gemeinsamen gackernden Lachen schweben wir davon, aus dem Bereitschaftsraum hinaus wieder in den Himmel hinauf, durch den wir einen Straßen weiter nach Norden zur Queen Street segeln.

Ein paar Straßen weiter östlich sehen wir unter uns einen niedrigen, weitläufigen Gebäudekomplex, der von einer Mittelachse ausgeht und mit seinem weiten, an den Rändern breiter werdenden Rasen, der hier und da mit großen Eichen und Ahornbäumen gesprenkelt ist, einen ganzen Straßenzug einnimmt, zu dem hin er von buschigen Hecken begrenzt wird, die einmal gründlich geschnitten werden müssten. Dieser Gebäudekomplex, offenbar irgendeine öffentliche Einrichtung, erinnert auf den ersten Blick an eine progressive Grundschule, deren Seitenflügel Klassenzimmer ohne Wände sind, während die quadratische Mittelachse den Speisesaal und die Büros der Schulverwaltung beherbergt. Als wir tiefer gehen, hören wir George Rathbuns joviales Gebrüll, das aus den Fenstern zu uns heraufdringt. Die große gläserne Eingangstür wird aufgestoßen, und eine schlanke Frau, die eine Brille mit ovalen Gläsern trägt, tritt mit einem Plakat in der einen und einer Rolle Klebeband in der anderen Hand in den sonnigen Morgen hinaus. Sie dreht sich sofort um und befestigt das Plakat mit raschen, geschickten Bewegungen an der Tür. Ein nicht lupenreiner haselnussgroßer Edelstein am Ringfinger ihrer rechten Hand reflektiert das Sonnenlicht.

Während sie eine kleine Pause macht, um ihr Werk zu bewundern, werfen wir einen Blick über ihre Schulter und sehen, dass das Plakat mit einem fröhlichen Wirbel aus handgemalten Ballons verkündet: Heute ist Erd-beerfest!!! Als die Frau wieder hineingeht, nehmen wir in dem unter dem knallbunten Plakat sichtbaren Teil des Eingangsbereichs zwei, drei zusammengeklappte Rollstühle wahr. Jenseits der Rollstühle schreitet die Frau, deren kastanienbraunes Haar am Hinterkopf zu einer kunstvollen Rolle festgesteckt ist, auf ihren hochhackigen Pumps durch eine hübsche Eingangshalle mit hellen Holzsesseln und dazu passenden Tischen, auf denen kunstvoll Zeitschriften arrangiert sind, marschiert dann an einer Art unbesetztem Wachposten oder Empfangstheke vor einer geschmackvollen Natursteinmauer vorbei und verschwindet schließlich mit der Andeutung eines Hopsers durch eine polierte Tür mit der Aufschrift WiLLiam MAxton, Director.

Was für eine Art Schule das hier wohl sein mag? Weshalb ist man hier während der Ferienzeit geschäftig, wieso werden mitten im Juli Feste veranstaltet?

Wir könnten sie als Graduiertenkolleg bezeichnen, die hier Wohnenden haben nämlich schon alle Stadien ihrer Existenz mit Ausnahme des letzten absolviert, das sie nun tagtäglich unter der achtlosen Obhut von Mr. William »Chipper« Maxton, Direktor, verbringen. Es handelt sich hier um die Seniorenresidenz Maxton, ein Institut, das einst - in unschuldigeren Zeiten noch vor Mitte der Achtzigerjahren, als hier Schönheitsreparaturen vorgenommen wurden - unter der Bezeichnung Altenpflegeheim Maxton bekannt war, dessen Besitzer und Geschäftsführer sein Gründer Herbert Maxton, Chippers Vater also, war. Herbert war ein anständiger, wenn auch lascher Mensch, der, das lässt sich mit Sicherheit behaupten, von einigen Dingen, die mittlerweile die einzige Frucht seiner Lenden anstellt, ziemlich entsetzt wäre. Chipper wollte auf keinen Fall »den Familienlaufstall«, wie er ihn nennt, mit seiner Fracht aus »Zahnlosen«, »Zombies«, »Bettnässern« und »Sabberern« übernehmen. Nachdem unser Junge also an der UW/La Riviere ein Betriebswirtschaftsstudium absolviert hatte (mit schwer verdienten Abschlüssen in den Nebenfächern Promiskuität, Glücksspiel und Biertrinken), nahm er zunächst einen Posten bei der Steuerbehörde in Madi-son, Wisconsin, an, hauptsächlich zu dem Zweck, um zu lernen, wie man den Staat unentdeckt bestehlen kann. Fünf Jahre bei der Steuerbehörde lehrten ihn zwar viel Nützliches, aber als seine anschließende Karriere als Freiberufler seine hoch gesteckten Erwartungen schließlich nicht erfüllte, gab er den stetig schwächer werdenden flehentlichen Bitten seines Vaters nach und ließ sich mit den Untoten und den Sabberern ein. Mit gewisser grimmiger Befriedigung musste Chipper anerkennen, dass das Geschäft seines Vaters ihm trotz einem beklagenswerten Mangel an Glamour wenigstens Gelegenheit bieten würde, gleichermaßen Heiminsassen und Staat zu bestehlen.

Wir wollen nun durch die große Glastür hineinfliegen, die elegante Eingangshalle durchqueren (wobei uns die Geruchsmischung aus Luftverbesserer und Salmiakgeist auffällt, die selbst in den öffentlichen Bereichen solcher Einrichtungen vorherrscht) und durch die Tür mit Chip-pers Namen schweben, um herauszubekommen, was diese gut ausgestattete junge Frau hier so früh am Morgen eigentlich tut.

Hinter Chippers Tür liegt zunächst ein fensterloses Kabuff, dessen Einrichtung aus einem Schreibtisch, einem Garderobenständer und einem kleinen Bücherregal besteht, das von Computerausdrucken, Broschüren und Faltblättern überquillt. Die Tür neben dem Schreibtisch steht offen. Durch die Öffnung sehen wir in einen um einiges größeren Büroraum. Die Wände sind hier mit dem gleichen polierten Holz wie die Tür des Direktors getäfelt; das Büro enthält zudem einen Ledersessel, einen Couchtisch mit Glasplatte und ein graubeiges Sofa. Im rückwärtigen Teil ragt ein riesiger Schreibtisch auf, der unordentlich mit Akten voll getürmt und so blitzblank poliert ist, dass er fast zu leuchten scheint.

Unsere junge Frau, die Rebecca Vilas heißt, sitzt auf der Kante dieses Schreibtischs und hat die Beine auf besonders sehenswerte Weise übereinander geschlagen. Ein Knie liegt über dem anderen, und die Waden bilden zwei wohlgeformte, gleichsam parallele Linien, die zu den beiden dreieckigen Spitzen der schwarzen hochhackigen Pumps hinunterführen, von denen die eine in die Zeigerposition vier Uhr und die andere nach sechs zeigt. Rebecca Vilas, das merken wir, hat sich in Szene gesetzt, um begutachtet zu werden, hat eine Pose eingenommen, die gewürdigt werden soll, wenn auch gewiss nicht von uns. Hinter den ovalen Brillengläsern lugen die Augen skeptisch und gleichzeitig amüsiert hervor, aber wir können nicht erkennen, was diese Empfindungen verursacht hat. Alles deutet darauf hin, dass sie Chippers Sekretärin ist, aber auch diese Annahme drückt wieder einmal nur die halbe Wahrheit aus, wie die spöttische Ungezwungenheit ihrer Haltung impliziert. Ms. Vilas’ Pflichten sind längst über reine Sekretariatstätigkeit hinaus erweitert worden. (Wir könnten darüber spekulieren, wer den hübschen Ring an ihrem Finger bezahlt hat; solange wir uns in schmutzigen Verdächtigungen ergehen, liegen wir jedenfalls genau richtig.)

Wir schweben durch die offene Tür, folgen der Richtung von Rebeccas zunehmend ungeduldigem Blick und starren nun das stämmige, in Khaki gekleidete Hinterteil ihres knienden Arbeitgebers an, der Kopf und Schultern in einen geräumigen Safe gesteckt hat, in dem wir Stapel von Kontenbüchern und eine Anzahl brauner Umschläge sehen, die offenbar prall mit Geld gefüllt sind. Chipper nimmt die Umschläge jetzt aus dem Safe, wobei einige Geldscheine herausflattern.

»Du hast das Schild, das Plakat gemalt?«, fragt er, ohne sich umzudrehen.

»Aye, aye, mon capitaine«, sagt Rebecca Vilas. »Und ein herrlicher Tag ist’s, den wir für diesen großen Anlass haben werden, wie’s nur recht und billig ist.« Ihr irischer Akzent ist überraschend gut, wenn auch etwas aufgesetzt. Sie ist noch nie an einem exotischeren Ort als Atlantic City gewesen, wohin Chipper, der dafür seine Vielflieger-Meilen verwendet hat, sie vor zwei Jahren für fünf zauberhafte Tage begleitete. Den Akzent hat sie alten Filmen abgelauscht.

»Wie ich dieses Erdbeerfest verabscheue!«, sagt Chip-per, während er die letzten Umschläge aus dem Safe angelt. »Die Frauen und Kinder bringen die Zombies jedes Mal durch die Hektik den ganzen Nachmittag über dermaßen auf Trab, dass wir sie abends bis ins Koma sedie-ren müssen, damit wieder etwas Ruhe einkehrt. Und wenn du die Wahrheit hören willst: Ballone hasse ich geradezu.« Er kippt das Geld auf den Teppich und fängt an, die Scheine nach dem jeweiligen Nennwert in Stapel zu sortieren.

»Als Mädchen vom Lande frag ich mich bloß«, sagt Rebecca, »warum ich an diesem großen Tag schon bei Tagesanbruch kommen sollte.«

»Weißt du, was ich außerdem noch hasse? Die ganze Musikchose. Singende Zombies und dieser dämliche DJ. Symphonic Stan mit seinen Big-Band-Schallplatten, o Mann, wenn das kein Nervenkitzel ist.«

»Ich vermute mal«, sagt Rebecca, jetzt ohne ihren irischen Bühnenakzent, »dass ich etwas mit dem Geld hier tun soll, bevor die Action beginnt.«

»Zeit für einen weiteren Trip nach Miller.« Auf ein unter einem fiktiven Namen eingerichteten Konto bei der State Provident Bank in Miller, vierzig Meilen von hier, werden regelmäßig Barbeträge eingezahlt, die von Patientenguthaben abgeschöpft werden, die ursprünglich für zusätzliche Anschaffungen und Dienstleistungen bestimmt waren. Chipper dreht sich mit Händen voller Geld auf den Knien um und sieht zu Rebecca auf. Er sinkt auf die Fersen zurück und lässt die Hände in den Schoß fallen. »Mann, hast du tolle Beine. Mit solchen Beinen müsstest du eigentlich berühmt sein.«

»Ich dachte schon, du würdest sie nie bemerken«, sagt Rebecca.

Chipper Maxton ist zweiundvierzig Jahre alt. Er hat ein tadelloses Gebiss, noch volles Haar, ein breites, aufrichtiges Gesicht und eng stehende braune Augen, die immer etwas feucht wirken. Außerdem hat er zwei Kinder: Trey, neun, und Ashley, sieben. Bei Ashley ist vor kurzem Hyperaktivität diagnostiziert worden, was Chipper nach seiner Schätzung ungefähr 2000 Dollar im Jahr allein für Medikamente kosten wird. Und er hat natürlich auch eine Frau - seine Lebenspartnerin Marion, neununddreißig Jahre alt, die mit ihren eins fünfundsechzig dennoch gut 85 Kilo auf die Waage bringt. Zu diesen Segnungen kommt noch, dass Chipper als Folge einer unklugen Investition in das Spiel der Brewers - über das George Rathbun noch immer poltert - seinem Buchmacher seit gestern Abend 13000 Dollar schuldet. Er hat sie bemerkt, o ja, das hat er, Chipper hat Ms. Vilas’ prächtig arrangierte Beine bemerkt.

»Bevor du dort rüberfährst«, sagt er, »könnten wir’s uns ja noch auf dem Sofa gemütlich machen und ein bisschen herumalbern.«

»Aha«, sagt Rebecca. »Was meinst du mit herumalbern genau?«

»Schmatz, schmatz, schmatz«, sagt Chipper und grinst wie ein Satyr.

»Du romantischer Schelm, du«, sagt Rebecca, eine Bemerkung, deren Sinn ihrem Arbeitgeber völlig entgeht. Chipper bildet sich tatsächlich ein, er sei romantisch.

Sie gleitet elegant von ihrem Hochsitz herab, während Chipper sich unelegant hochstemmt und die Safetür mit dem Fuß zudrückt. Seine Augen glänzen feucht, als er ein paar angriffslustig stolzierende Schritte über den Teppich macht, einen Arm um Rebecca Vilas’ schlanke Taille schlingt und mit der anderen Hand einen dicken braunen Umschlag auf den Schreibtisch wirft. Er zurrt bereits an seinem Gürtel, noch bevor er Rebecca in Richtung Sofa zu ziehen beginnt.

»Ich kriege ihn also zu sehen?«, sagt die clevere Rebecca, die genau weiß, wie sich das Gehirn ihres Liebhabers in Pudding verwandeln lässt ...

... aber bevor Chipper ihr gefällig ist, schweben wir vernünftigerweise wieder in die Eingangshalle hinaus, die noch immer leer ist. Der Korridor links neben der Empfangstheke führt uns zu zwei großen Türen aus hellem Holz mit Glaseinsätzen, auf denen Daisy und BLuebeLL steht - die Namen der Gebäudeflügel, zu denen sie führen. Weit hinten im grauen Korridor von Bluebell lässt ein Mann, der einen ausgebeulten Overall trägt, Asche von seiner Zigarette auf die Fliesen rieseln, über die er mit exquisiter Langsamkeit einen schmutzigen Mopp hin und her bewegt. Wir schweben zum Daisy-Trakt hinüber.

Die funktionalen Teile des Maxton sind weit weniger attraktiv als die öffentlichen Bereiche. Der Korridor wird auf beiden Seiten von nummerierten Türen gesäumt. Unter den Ziffern stecken in Plastikrahmen handgeschriebene Kärtchen mit den Namen der Zimmerbewohner. Vier Türen weiter steht ein Schreibtisch, an dem ein stämmiger Altenpfleger in leicht schmuddeliger weißer Uniform aufrecht sitzend döst, gegenüber den Türen zu den Männer- und Frauentoiletten; im Maxton bieten nur die teuersten Zimmer - die im Trakt Asphodel auf der anderen Seite der Eingangshalle - mehr Komfort als ein Waschbecken. Überall auf dem gefliesten Korridor, der sich vor uns zu unwahrscheinlicher Länge erstreckt, trocknen schmutzige Moppwischspuren an und werden hart. Auch hier scheinen die Wände und die Luft denselben Grauton zu besitzen. Sehen wir uns die Korridorecken und den Winkel, in dem Wände und Decke zusammenstoßen, genauer an, entdecken wir Spinnweben, alte Flecken, Schmutzansammlungen. Desinfektionsreiniger, Salmiakgeist, Urin und Schlimmeres parfümieren die Luft. Wie eine ältere Dame im Bluebell-Trakt zu sagen pflegt, ist man unter Leuten, die alt und inkontinent sind, nie weit vom »Kackageruch« entfernt.

Die Zimmer selbst unterscheiden sich je nach Zustand und Fähigkeit ihrer Bewohner. Da noch fast alle schlafen, können wir ungestört einen Blick in einige dieser Unterkünfte werfen. Hier in D10, einem zwei Türen von dem dösenden Altenpfleger entfernten Einzelzimmer, liegt die alte Alice Weathers (sanft schnarchend, während sie davon träumt, als perfekte Tanzpartnerin Fred Astaires über einen weißen Marmorboden zu schweben). Sie ist von so vielen Dingen aus ihrem früheren Leben umgeben, dass sie sich zwischen Sesseln und Beistelltischen hindurchschlängeln muss, um von der Tür zu ihrem Bett zu gelangen. Was ihre Geisteskräfte anbelangt, so besitzt Alice davon sogar noch mehr als an alten Möbeln: Sie hält ihr Zimmer ohne Mithilfe makellos sauber. Nebenan in D12 schlafen zwei alte Farmer namens Thorvaldson und Jesperson - die seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben - nur durch einen dünnen Vorhang getrennt in einem bunten Gewirr aus Familienfotos und Kinderzeichnungen ihrer Enkel.

D18, weiter den Korridor entlang, bietet einen Anblick, der dem sauberen, übervollen Durcheinander in D10 vollkommen entgegengesetzt ist, genau wie sein Bewohner, ein als Charles Burnside bekannter Mann, als exaktes Gegenteil von Alice Weathers gelten könnte. D18 weist keinerlei Beistelltische, Vitrinen, Polstersessel, goldgerahmte Spiegel, Lampen, Webteppiche oder Samtvorhänge auf; der kahle Raum enthält nur ein Metallbett, einen Plastikstuhl und eine Kommode. Auf der Kommode sind weder Fotos von Kindern oder Enkeln zu sehen, noch sind die Wände mit Buntstiftzeichnungen von klobigen Häusern und Strichmännchen geschmückt. Mr. Burnside zeigt auch keinerlei Interesse an häuslicher Arbeit, weshalb eine dünne Staubschicht den Fußboden bedeckt, das Fensterbrett und die kahle Deckplatte der Kommode. D18 ist aller Geschichte beraubt, bar jeglicher Persönlichkeit. Es wirkt so brutal und seelenlos wie eine Gefängniszelle. Starker Gestank nach Exkrementen verpestet die Luft.

Trotz aller Unterhaltung, die uns Chipper Maxton bietet, und trotz Alice Weathers’ ganzem Charme sind wir aber vor allem hergekommen, um Charles Burnside - »Burny« - zu sehen.

2

Chippers Herkunft kennen wir ja bereits, nun zu Alice. Sie ist aus einem großen, in der Gale Street gelegenen Haus ins Maxton gekommen. Dort, im alten Teil der Gale Street hat sie zwei Ehemänner überlebt, fünf Söhne großgezogen und als Klavierlehrerin vier Generationen von Kindern aus French Landing unterrichtet, von denen keines jemals den Pianistenberuf ergriffen hat, die sich aber alle liebevoll an sie erinnern und mit Zuneigung an sie zurückdenken. Alice ist wie die meisten anderen hierher gekommen: in einem Auto, das von einem der eigenen Kinder gefahren wurde, und mit einer Mischung aus Widerstreben und Schicksalsergebenheit. Sie war zu alt geworden, um allein in dem großen Haus im alten Teil der Gale Street leben zu können; da waren zwar zwei erwachsene, verheiratete Söhne, die sich liebevoll um sie kümmerten, aber sie wollte ihnen um keinen Preis zur Last fallen. Alice Weathers hatte ihr gesamtes Leben in French Landing verbracht und keine Lust, irgendwo anders zu leben; in gewisser Weise hatte sie schon immer gewusst, dass sie ihre Tage im Maxton beschließen würde, das zwar keineswegs luxuriös, aber durchaus annehmbar war. An dem Tag, an dem ihr Sohn Martin sie zu einer Besichtigung der Seniorenresidenz hinübergefahren hatte, wurde ihr bald klar, dass sie bereits mindestens die Hälfte der Bewohner hier kannte.

Anders als Alice ist Charles Burnside, der große, hagere Alte, der vor uns unter einem Laken auf seinem Metallbett liegt, mitnichten in vollem Besitz seiner Geisteskräfte, noch träumt er gar von Fred Astaire. Die von Adern durchzogene Fläche seines kahlen, schmalen Schädels zieht sich zu Augenbrauen hinunter, die grauen Drahtbürsten gleichen, Augenbrauen, unter denen, geteilt durch eine fleischige Hakennase, zwei eng zusammenstehende Augen aus dem nach Norden führenden Fenster des Zimmers in den großen Wald hinter dem Maxton hinausstarren. Von allen Bewohnern des Daisy-Trakts schläft nur Burny nicht. Seine Augen glitzern, und die Lippen sind zu einem bizarren Lächeln verzogen - aber diese Details haben nichts zu bedeuten, Charles Burnsides Verstand ist nämlich ähnlich leer wie sein Zimmer. Burny leidet seit vielen Jahren an der Alzheimerkrankheit, und was wie eine aggressive Form von Vergnügen wirkt, ist vielleicht nicht mehr als körperliche Befriedigung einfachster Art. Hätten wir nicht schon vermutet, dass der Gestank in diesem Zimmer von ihm stammt, beseitigen die Flecken, die sich auf dem Laken ausbreiten, die letzten Zweifel. Er hat gerade massiv in sein Bett defäkiert, und das Allermindeste, was sich über seine Reaktion auf diese Tatsache sagen lässt, ist, dass ihn das nicht im Geringsten stört. O nein, Schamgefühl gehört nicht eben zu seiner Persönlichkeitsstruktur.

Aber auch wenn Burny - anders als die reizende Alice - nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, ist er dennoch kein typischer Alzheimer-Patient. Manchmal verbringt er ein, zwei Tage damit, wie Chippers übrige »Zombies« in seinen Haferbrei zu murmeln, um sich dann neu erwacht wieder unter die Lebenden zu mischen. Ist er nicht untot, schafft er es im Allgemeinen, rechtzeitig den Korridor entlang auf die Toilette zu gehen, und verbringt Stunden damit, sich allein fortzuschleichen oder auf dem Gelände zu patrouillieren und zu jedermann unfreundlich - eigentlich sogar ziemlich aggressiv - zu sein. Ist er gerade kein Zombie, ist er verschlagen, hinterhältig, rüde, bissig, starrköpfig, unflätig, bösartig und nachtragend, mit anderen Worten - in der Welt nach Chippers Begriffen - ein Blutsbruder der anderen alten Männer, die im Maxton leben. Einige der Krankenschwestern, Altenpfleger und Pflegekräfte bezweifeln sowieso, dass Burny wirklich Alzheimer hat. Sie glauben vielmehr, dass er die Krankheit nur vortäuscht, sich verstellt und sich verweigert, nur um ihnen absichtlich mehr Arbeiten aufzubürden, während er sich ausruht und Kräfte für die nächste unerfreuliche Episode sammelt. Wir können ihnen diesen Verdacht kaum verübeln. Falls bei Burny keine falsche Diagnose vorliegt, ist er vermutlich der weltweit einzige Alzheimer-Patient im fortgeschrittenen Stadium, bei dem die Symptome zwischendurch für längere Zeit nachlassen.

Im Jahr 1996, seinem 78. Lebensjahr, kam der als Charles Burnside bekannte Mann aus dem La Riviere General Hospital ins Maxton - in einem Krankwagen, nicht etwa im Wagen eines hilfreichen Verwandten. Er war eines Tages mit zwei schweren Koffern, die schmut-zige Kleidungsstücke enthielten, in der Notaufnahme aufgekreuzt und hatte lautstark medizinische Betreuung verlangt. Seine Forderungen waren unzusammenhängend, aber sie waren eindeutig. Er behauptete, beträchtlich weit marschiert zu sein, um das Krankenhaus zu erreichen, und wollte nun, dass man sich im Krankenhaus um ihn kümmerte. Die Entfernung schwankte von Mal zu Mal - zehn Meilen, fünfzehn Meilen, fünfundzwanzig Meilen. Er hatte - oder hatte nicht - einige Nächte lang auf Feldern oder am Straßenrand geschlafen. Sein Allgemeinzustand und der Geruch, den er an sich hatte, ließen jedenfalls darauf schließen, dass er etwa eine Woche lang zu Fuß unterwegs gewesen war und im Freien übernachtet hatte. Sollte er jemals eine Brieftasche gehabt haben, so musste er sie unterwegs verloren haben. Im La Riviere General wusch man ihn, fütterte ihn, gab ihm ein Bett und versuchte, seine Vorgeschichte aus ihm herauszubekommen. Die meisten seiner Äußerungen endeten in zusammenhangslosem Gebrabbel, aber obwohl er offenbar keinerlei Papiere besaß, schienen wenigstens folgende Tatsachen festzustehen: Burnside hatte in der hiesigen Gegend viele Jahre lang sowohl selbstständig als auch bei Bauunternehmen als Zimmerer, Schreiner und Gipser gearbeitet. Eine Tante, die in der Kleinstadt Blair lebte, hatte ihn bei sich aufgenommen.

War er also die achtzehn Meilen von Blair nach La Riviere zu Fuß gegangen? Nein, er hatte seinen Marsch irgendwo anders begonnen, er konnte sich nicht an den Ort erinnern, aber er lag zehn Meilen entfernt, nein, fünfundzwanzig Meilen, irgendein Nest, und die Leute in die-sem Nest waren allesamt nichtsnutzige, dämliche Arschgeigen. Wie hieß seine Tante? Althea Burnside. Ihre Anschrift und Telefonnummer? Keine Ahnung, konnte sich nicht daran erinnern. Ging seine Tante irgendeiner Arbeit nach? Ja, sie hatte einen Ganztagsjob als dämliche Arschgeige. Aber sie hatte ihm erlaubt, bei sich zu wohnen? Wer? Was erlaubt? Charles Burnside brauchte niemands Erlaubnis, er machte verdammt noch mal, was er wollte. Hatte seine Tante ihn schließlich aus dem Haus gewiesen? Vom wem redest du überhaupt, du dämliche Arschgeige?

Der einweisende Arzt notierte als vorläufige Diagnose Alzheimerkrankheit, eine Diagnose, die aber mittels verschiedener Untersuchungen erst noch erhärtet werden müsse, und die Sozialarbeiterin setzte sich ans Telefon, um sich Anschrift und Telefonnummer einer Althea Burnside, gegenwärtig wohnhaft in Blair, geben zu lassen. Die Telefonauskunft fand keine Teilnehmerin dieses Namens in Blair - und auch niemanden in Ettrick, Cochrane, Fountain City, Sparta, Onalaska, Arden, La Riviere oder irgendeiner anderen Stadt oder Großstadt im Umkreis von fünfzig Meilen. Die Sozialarbeiterin warf ihr Netz daraufhin weiter aus und forderte vom Grundbuchamt, der Sozialversicherung, der Führerscheinstelle und der Steuerbehörde Informationen über Althea und Charles Burnside an. Von den beiden Altheas, die das System ausspuckte, betrieb die eine einen Schnellimbiss in Butternut, weit im Norden von Wisconsin, und die andere war eine Schwarze, die in Milwaukee in einer Kindertagesstätte arbeitete. Keine der beiden hatte etwas mit dem Mann im La Riviere General zu tun. Die Charles Burnsides, die das System aufspürte, waren nicht der Charles Burnside der Sozialarbeiterin. Althea schien nicht zu existieren. Charles, so schien es, gehörte zu den schwer erfassbaren Menschen, die durchs Leben gehen, ohne jemals Steuern zu zahlen, sich als Wähler registrieren zu lassen, eine Sozialversicherungsnummer zu beantragen, ein Bankkonto zu eröffnen, sich freiwillig zum Militär zu melden, den Führerschein zu machen oder ihre Zeiten etwa im offenen Vollzug zu verbringen.

Eine weitere Runde Telefongespräche führte dazu, dass der schwer erfassbare Charles Burnside als Mündel der County eingestuft und in die Seniorenresidenz Maxton eingewiesen wurde, bis im State Hospital in White-hall ein Bett für ihn frei sein würde. Ein Krankenwagen transportierte Burnside auf Kosten des großzügigen Steuerzahlers ins Maxton, wo Chipper ihn missmutig in den Daisy-Trakt verfrachtete. Sechs Wochen später wurde auf der Pflegestation im State Hospital ein Bett frei. Chipper erhielt den entsprechenden Anruf, nachdem der Postbote ihm kurz zuvor einen von einer Althea Burnside auf eine Bank in De Pere ausgestellten Scheck für Charles Burnsides Unterbringung im Heim gebracht hatte. Als Althea Burnsides Anschrift war ein Postfach in De Pere angegeben. Auf den Anruf vom State Hospital hin, kündigte Chipper an, um seine Bürgerpflicht zu erfüllen, sei er gern bereit, Mr. Burnside weiter in der Seniorenresidenz Maxton zu beherbergen. Der alte Knabe war soeben zu seinem Lieblingspatienten mutiert. Ohne dass Chipper die gewohnten Buchhaltungstricks hätte anwenden müssen, hatte Burny Chippers Monatseinnahmen verdoppelt.

In den darauf folgenden sechs Jahren glitt der Alte unaufhaltsam ins Dunkel der Alzheimerkrankheit hinab. Falls er markierte, lieferte er jedenfalls eine glänzende Vorstellung. Sein Weg nach unten führte über die absteigenden Zwischenstationen Inkontinenz, Sprach-verlust, häufige Wutausbrüche, Gedächtnisschwund, Unfähigkeit zu selbstständiger Nahrungsaufnahme und schließlich Persönlichkeitsverlust. Er sank zunächst ins frühkindliche Stadium und dann in geistige Leere zurück, bis er seine Tage im Rollstuhl festgeschnallt verbrachte. Chipper betrauerte das unvermeidliche Dahinsiechen dieses einzigartig kooperativen Patienten. Im Sommer vor den bereits geschilderten Geschehnissen ereignete sich dann die erstaunliche Wiederbelebung. Lebhaftigkeit kehrte in Burnys schlaffes Gesicht zurück, und er begann, lautstark Unsinn zu reden: Abbalah! Gorg! Munshun! Gorg! Er wollte ohne Hilfe essen, er wollte sich Bewegung verschaffen, umherstolpern und sich wieder mit seiner Umgebung vertraut machen. Innerhalb einer Woche benützte er wieder englische Wörter, um darauf zu bestehen, seine eigenen Anziehsachen zu tragen und allein auf die Toilette zu gehen. Er nahm zu, wurde kräftiger, war wieder eine Plage. Jetzt wechselt er, oft am selben Tag, zwischen alzheimerscher Leblosigkeit und einer verhalten durchscheinenden Verdrießlichkeit, die bei einem Mann von fünfundachtzig Jahren so gesund ist, dass man sie rüstig nennen könnte. Burny gleicht einem Mann, der nach Lourdes gepilgert ist und eine Wunderheilung erfahren hat, dort aber abgereist ist, bevor sie vollständig war. Für Chipper ist ein Wunder ein Wunder. Wen kümmert’s, ob der alte Fiesling übers Gelände wandert oder in den Haltegurten seines Rollstuhls hängt, solange er nur am Leben bleibt?

Wir gehen näher an ihn heran. Wir ignorieren den Gestank, so gut es geht. Wir wollen sehen, was sich aus dem Gesicht dieses merkwürdigen Kerls ablesen lässt. Es war wohl nie ein hübsches Gesicht, und jetzt ist die Haut grau, und die Wangen sind tief eingefallen. Hervortretende blaue Adern winden sich über den grauen Schädel, der wie das Ei eines Regenpfeifers getüpfelt ist. Die gummiartig wirkende Hakennase ist leicht nach rechts verschoben, was den Eindruck von Verschlagenheit und Heimlichtuerei noch verstärkt. Die schmalen Lippen sind zu einem beunruhigenden Lächeln verzogen: das Lächeln eines Brandstifters, der ein in Flammen stehendes Gebäude betrachtet - das aber vielleicht doch nur eine Grimasse ist.

Wir haben hier einen wahren amerikanischen Einzelgänger, einen inneren Vagabunden, ein Geschöpf schäbiger Zimmer und billiger Schnellimbisse und widerstrebend unternommener zielloser Reisen, einen Sammler von Wunden und Verletzungen, die unablässig liebevoll betastet werden. Einen Spitzel, der keine andere Sache als die eigene kennt. Burnys wahrer Name ist Carl Bierstone, und unter diesem Namen hat er in Chicago von Mitte zwanzig bis zu seinem 46. Lebensjahr einen geheimen Raubzug, einen unerklärten Krieg geführt, in dem er Missetaten allein wegen der Freuden, die sie ihm brachten, verübt hat. Carl Bierstone ist Burnys großes Geheimnis, er will nämlich niemanden wissen lassen, dass seine frühere Inkarnation, sein früheres Ich, noch immer in ihm lebt. Carl Bierstones schlimme Freuden, sein schauriger Zeitvertreib, sind auch Burnys, und er muss sie im Dunkel versteckt halten, wo nur er sie finden kann.

Ist das also die Erklärung für Chippers Wunder? Dass Carl Bierstone irgendeine Möglichkeit gefunden hat, durch eine Naht aus Burnys Zombietum zu kriechen und den Befehl über das sinkende Schiff zu übernehmen? Schließlich enthält die menschliche Seele unendlich viele Räume, von denen einige riesig, einige nicht größer als eine Besenkammer, einige abgesperrt und nur ganz wenige von glänzendem Licht erfüllt sind. Wir lehnen uns tiefer über den geäderten Schädel, die leicht schiefe Nase, die drahtbürstengleichen Augenbrauen; wir beugen uns tiefer in den Gestank, um diese interessanten Augen zu begutachten. Sie sind wie schwarzes Neon: Sie glitzern wie Mondschein auf einem regennassen Flussufer. Alles in allem sehen sie beunruhigend vergnügt, aber nicht besonders menschlich aus. Das hilft uns nicht viel weiter.

Burnys Lippen bewegen sich: Er lächelt noch immer -wenn man diese Grimasse überhaupt als Lächeln bezeichnen kann - und hat zu flüstern begonnen. Was sagt er?

... sie kauern in ihren blutigen Löchern und halten sich die Augen zu, sie wimmern vor Entsetzen, meine armen verirrten Kleinen ... Nein, nein, das nützt alles nichts, oder? Ah, seht die Maschinen, jawohl, o diese schönen, schönen Maschinen, welch ein Anblick, die schönen Maschinen am Draht, wie sie stampfen, wie sie stampfen und brennen ... Ich sehe ein Loch, ja ja da ist’s oho so hell um die Ränder herum so aufgewölbt ...

Vielleicht meldet sich Carl Bierstone ja irgendwo zur Stelle, aber sein Gebrabbel hilft uns da auch nicht wesentlich weiter. Wir wollen Burnys schlammglitzerndem Blick in der Hoffnung folgen, dass er uns einen Hinweis darauf gibt, was den alten Knaben so aufregt. Auch erregt, wie wir aus dem Umriss unter dem Laken ersehen. Chipper und er scheinen hier synchron zu sein, da beide schussbereit sind, nur dass Burny, der nicht Rebecca Vi-las’ erfahrene Fürsorge genießt, als einziges Stimulans den Blick aus seinem Fenster hat.

Die Aussicht ist kaum mit Ms. Vilas zu vergleichen. Mit durch das Kissen leicht erhobenem Kopf blickt Charles Burnside verzückt über eine schmale Rasenfläche zu einer Reihe von Ahornbäumen am Rand eines großen Waldes hinüber. Weiter im Hintergrund ragen die belaubten Kronen mächtiger Eichen auf. Auch einige Birkenstämme schimmern kerzenartig aus dem Walddunkel. Die Größe der Eichen und die allgemeine Baumvielfalt verraten uns, dass wir einen letzten Rest der großen Urwälder vor uns haben, die hier einst das gesamte Gebiet bedeckten. Wie alle Überreste von Urwäldern sprechen die Wälder, die sich nördlich und östlich des Maxton erstrecken, von verborgenen Mysterien - mit einer Stimme, die fast zu tief ist, um gehört zu werden. Unter ihrem grünen Laubdach schließen Zeit und heitere Ruhe zugleich Blutvergießen und Tod ein; Gewalt wütet ungesehen, fortwährend, von allen Aspekten einer schweigenden Landschaft absorbiert, die niemals still steht, sondern mit glazialem Mangel an Eile in Bewegung ist. Der mit Blüten übersäte, nachgiebige Waldboden bedeckt Schicht über Schicht Millionen von verstreuten Knochen: Alles, was hier wächst und gedeiht, wuchert auf Fäulnis. Welten wirbeln innerhalb von Welten, und große, wohl geordnete Universen summen Seite an Seite, wobei jedes seinen ungeahnten Nachbarn unabsichtlich Überfluss und Katastrophen beschert.

Betrachtet Burny diese Wälder, wird er von etwas in Schwung gebracht, was er in ihnen erblickt? Oder könnte es sein, dass er in Wirklichkeit noch schläft und Carl Bierstone hinter Charles Burnsides seltsamen Augen seine Kapriolen schlägt?

Füchse in Fuchsbauten, flüstert Burny, Ratten in Rattenlöchern, Hyänen heulen mit leeren Mägen, oho aha dies ist höchst-höchst erfreulich meine Freunde, wie die Kleinen sich mehr und mehr dahinschleppen dahinschleppen dahinschleppen oho auf blutenden Füßchen ...

Wir hauen von hier ab, okay?

Wir wollen vom hässlichen Mund des alten Burny wegfliegen - uns reicht’s jetzt. Wir wollen frische Luft aufsuchen und nach Norden über die Wälder fliegen. Füchse in Fuchsbauten und Ratten in Rattenlöchern mögen heulen, gewiss, so läuft’s nun mal, aber wir werden im Westen Wisconsins keine verhungernden Hyänen antreffen. Hyänen sind ohnehin immer hungrig. Mitleid hat mit ihnen auch keiner. Man müsste eine wahrhaft mitfühlende Seele sein, um eine Kreatur zu bemitleiden, die nichts anderes tut, als an der Peripherie anderer Spezies bis zu dem Augenblick herumzulungern, in dem sie grinsend und leise lachend ihre Beutereste plündern kann. Wir hauen ab, gleich durchs Dach.

*

Östlich des Maxton erstreckt sich der Wald ungefähr ein, zwei Meilen weit, bis eine schmale unbefestigte Straße ihn vom Highway 35 wegkurvend teilt wie ein nachlässiger Scheitel eine dichte Haarmähne. Der Wald zieht sich noch etwa hundert Meter weiter hin und weicht dann einer dreißig Jahre alten Wohnsiedlung, die aus nur zwei Straßen besteht. Die Basketballkörbe, Gartenschaukeln, Dreiräder, Fahrräder und Bobbycars in den Einfahrten der bescheidenen Häuser an der Schubert und der Gale Streets machen einen verwaisten Eindruck. Die Kinder, die sie später benützen werden, liegen noch im Bett und träumen von Zuckerwatte, Hundewelpen, Homeruns, Expeditionen in ferne Länder und anderen köstlichen Unermesslichkeiten; ebenfalls im Schlaf liegen ihre besorgten Eltern, die dazu verurteilt sind, noch besorgter zu werden, wenn sie Wendell Greens Beitrag auf der Titelseite des Herald von heute gelesen haben.

Etwas erregt unsere Aufmerksamkeit: eine schmale unbefestigte Straße, die von der langen Geraden des Highways 35 in den Wald abbiegt. Sie ist eher ein Fahrweg als eine richtige Straße, und der Eindruck, sie könn-te so etwas wie ein Privatweg sein, scheint im Gegensatz zu ihrer offensichtlichen Nutzlosigkeit zu stehen. Der Weg führt in einer Kurve in den Wald hinein und endet nach einer Dreiviertelmeile. Welchen Zweck hat er, wozu dient er? Aus unserer Höhe über der Erde gleicht der Weg einer mit einem harten Bleistift gezogenen schwachen Linie - man braucht praktisch Adleraugen, um ihn überhaupt zu erkennen -, aber irgendwer muss sich beachtliche Mühe gemacht haben, um diese Linie durch den Wald zu ziehen. Bäume mussten gefällt und zersägt, Baumstümpfe gerodet werden. Hätte hieran nur ein einziger Mann gearbeitet, hätte dies Monate angestrengter, schweißtreibender Arbeit erfordert. Das Ergebnis all dieser übermenschlichen Anstrengung besitzt die bemerkenswerte Eigenschaft, sich zu verbergen, sich dem Blick zu entziehen, sodass es verschwindet, wenn die Aufmerksamkeit abschweift, um dann erneut ausfindig gemacht zu werden. Wir könnten an Zwerge und geheime Zwergenbergwerke, an den Pfad zum versteckten Goldschatz eines Drachen denken - ein so sicher gehüteter Schatz, dass der Zugang durch einen Zauberbann getarnt ist. Nein, Zwergenbergwerke, Drachenschätze und Zauberbanne sind wohl zu kindisch, aber als wir tiefer gehen, um genauer hinzusehen, entdecken wir, dass am Anfang des Weges ein verwittertes Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten steht, was zeigt, dass hier etwas geschützt werden soll, und sei es nur eine Privatsphäre.

Nachdem uns das Schild aufgefallen ist, betrachten wir erneut das Ende des Weges. Im Halbdunkel unter den Bäumen dort hinten gibt es eine Stelle, die noch dunkler wirkt. Selbst während sie ins Dämmerlicht zurückweicht, besitzt sie eine unnatürliche Beharrlichkeit, die sie von den sie umgebenden Bäumen unterscheidet. Aha oho, sagen wir uns, indem wir Burnys Geschwafel echoen, was haben wir denn hier, doch nicht etwa irgendeine Art Mauer? Ziemlich formlos erscheint sie uns jedenfalls. Als wir den Scheitelpunkt der Kurve erreichen, die der Weg beschreibt, erweist sich ein dreieckiger Schatten, den die Bäume fast verdeckt haben, plötzlich als ein Spitzdach. Erst als wir es schon fast erreicht haben, zeigt sich das ganze Gebäude als ein zweistöckiges Holzhaus - eine eigenartig schwerfällige Konstruktion - mit einer niedrigen, teils schon eingesunkenen Veranda. Dieses Haus steht offensichtlich schon lange leer, und nachdem wir seine Außergewöhnlichkeit richtig in uns aufgenommen haben, fällt uns als Erstes seine abweisende Art gegenüber neuen Bewohnern auf. Ein weiteres Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten, das unmöglich schief seitlich an einem Treppenpfosten lehnt, unterstreicht lediglich den Eindruck, den das Gebäude selbst vermittelt.

Das Spitzdach bedeckt nur den mittleren Teil des Hauses. Links erstreckt sich ein eingeschossiger Anbau rückwärts in den Wald hinein. Rechts entsprießen dem Gebäude niedrige Anbauten wie übergroße Schuppen, die viel eher Auswüchse als nachträglich hinzugefügte Zweckbauten zu sein scheinen. In beiden Bedeutungen des Worts wirkt das Gebäude unausgeglichen: Ein aus dem Lot geratener Verstand hat es entworfen und dann unerbittlich in schiefe Wirklichkeit umgesetzt. Das störrische Ergebnis wehrt Fragen ab und entzieht sich einer Deutung. Trotz den Schäden durch Zeit und Witterung geht von den Ziegeln und Brettern eine seltsame, monolithische Unverwundbarkeit aus. Dieses offenbar auf der Suche nach Abgeschiedenheit, wenn nicht sogar nach völliger Isolation erbaute Haus scheint sie nach wie vor einzufordern.

Am merkwürdigsten ist, dass das Haus aus unserem Blickwinkel einheitlich schwarz gestrichen zu sein scheint - nicht nur die Holzverschalung, sondern jeder Quadratzentimeter seines Äußeren, der Veranda, der Verzierungen, der Regenrinnen, sogar die Fenster. Schwarz von oben bis unten. Aber das kann eigentlich kaum möglich sein: In diesem arglosen, gutherzigen Winkel der Erde würde nicht einmal der verrückteste misanthropische Bauherr sein Haus in seinen eigenen Schatten verwandeln. Wir schweben tiefer, bis wir dicht über dem Erdboden sind, und nähern uns auf dem schmalen Weg weiter dem Haus.

Als wir nahe genug heran sind, um ein zuverlässiges Urteil abgeben zu können - was unbehaglich nahe ist -, stellen wir fest, dass Misanthropie weiter gehen kann, als wir vermutet hätten. Das Haus wirkt jetzt nicht mehr gänzlich schwarz, auch wenn es das früher wohl einmal gewesen war. Die Farbe, zu der es jetzt verblasst ist, erweckt in uns das Gefühl, wir könnten die Originalfarbe zu kritisch beurteilt haben. Das Haus hat das bleierne Grauschwarz von Gewitterwolken, düsteren Meeren und den Rümpfen gestrandeter Schiffe angenommen. Rich-tiges Schwarz wäre dieser vollkommenen Leblosigkeit sogar allemal vorzuziehen.

Wir können sicher gehen, dass nur sehr wenige der Erwachsenen, die in der nahe gelegenen Wohnsiedlung leben, oder irgendwelche Erwachsenen aus French Landing beziehungsweise den umliegenden Gemeinden die Ermahnung am Highway 35 missachtet haben, um es zu wagen, dem schmalen Weg zu folgen. Fast niemand mehr nimmt das Schild überhaupt noch wahr; keiner weiß überhaupt noch von der Existenz des schwarzen Hauses. Wir können uns jedoch ebenso gut vorstellen, dass einige der Kinder dieser Leute den Weg erforscht haben und manche davon sogar weit genug auf ihm vorgedrungen sind, um auf das Haus zu stoßen. Sie hätten es auf eine Weise gesehen, zu der ihre Eltern nicht imstande gewesen wären, und was sie sahen, hätte sie zum Highway zurückgaloppieren lassen.

Das schwarze Haus wirkt im Westen Wisconsins ebenso fehl am Platz wie ein Wolkenkratzer oder ein Schloss mit Wassergraben. Eigentlich wäre das schwarze Haus sogar überall auf unserer Welt eine Anomalie, außer vielleicht als »Spukhaus«, als »Schloss des Grauens« in einem Vergnügungspark, wo es aber wegen seiner Ausstrahlung, die noch den letzten Kartenkäufer vergrault hätte, innerhalb einer Woche Pleite machen würde. Trotz allem könnte es uns aber auf bestimmte Weise an die düsteren Gebäude entlang der Chase Street erinnern, dort wo sie vom Mississippi und der Nailhouse Row in die Ehrbarkeit aufsteigt. Das schäbige Hotel Nelson, die obskure Kneipe, das Schuhgeschäft und die anderen Gebäude, die mit einem waagrechten Streifen vom Fettstift des Flusses gekennzeichnet sind, besitzen dieselbe unheimliche, traumhafte, halbwegs unwirkliche Atmosphäre, die das schwarze Haus ausstrahlt.

*

An diesem Punkt unserer Reise - und bei allem, was noch kommen wird - wäre es ratsam, sich daran zu erinnern, dass diese seltsame Atmosphäre des Traumhaften und leicht Unnatürlichen charakteristisch für Grenzgebiete ist. Sie lässt sich an jeder Nahtstelle zwischen einem begrenzten Gebiet und dem nächsten entdecken, so bedeutsam oder unbedeutend die jeweilige Grenze auch sein mag. Orte in Grenzgebieten unterscheiden sich von anderen Orten: Sie sind einfach grenzhaft.

Nehmen wir einmal an, man führe in seinem Heimatstaat zum ersten Mal durch ein halb ländliches Gebiet in der Oostler County, um eine vor kurzem geschiedene Freundin zu besuchen, die sich abrupt - und, wie man findet, unklugerweise - in eine Kleinstadt in der benachbarten Orelost County abgesetzt hat. Auf dem Beifahrersitz neben einem liegt auf einem Picknickkorb -in dem zwei Flaschen eines ausgezeichneten weißen Bordeaux zwischen geschmackvollen kleinen Behältern mit allen möglichen Delikatessen festgeklemmt sind - eine Straßenkarte, die sorgfältig so zusammengefaltet ist, dass sie nur das betreffende Gebiet zeigt. Man weiß vielleicht nicht, wo genau man im Augenblick gerade ist, aber man befindet sich auf der richtigen Straße und kommt gut voran.

Allmählich verändert sich die Landschaft. Die Straße verläuft in einem Bogen um eine nicht existierende Geländeformation und beginnt dann, sich durch unerklärliche Kurven zu schlängeln; auf beiden Straßenseiten stehen die Bäume krumm und schief; unter ihrem verkrüppelten Geäst scheinen die Häuser kleiner und schäbiger zu werden. Voraus lauert ein dreibeiniger Hund hinter einer Hecke und will sich kläffend auf das rechte Vorderrad stürzen. Ein altes Weib, das einen jugendlichen Strohhut und etwas trägt, was wie ein Leichentuch aussieht, blickt mit roten Augen auf von einer Hollywoodschaukel, die deutlich Schlagseite hat, auf. Zwei Vorgärten weiter schwenkt ein kleines Mädchen, das mit einem schmutzigen rosa Schleier und einer Stanniolkrone kostümiert ist, einen glitzernden, von einem Stern gekrönten Zauberstab über einem brennenden Reifenstapel. Dann kommt ein rechteckiges Schild mit der Aufschrift WiLLkommen in OreLost County in Sicht. Wenig später nehmen die Bäume wieder Haltung an, und die Straße verläuft wieder gerade. Von Ängsten befreit, die man bis zu ihrem Abflauen kaum wahrgenommen hat, gibt man etwas mehr Gas und beeilt sich, zu der bedürftigen Freundin zu kommen.

Grenzgebiete haben einen Anflug von Ungebärdigkeit und Verzerrung an sich. Das Groteske, das Unberechenbare und die Gesetzlosen schlagen Wurzeln und gedeihen dort. Charakteristisch für Grenzgebiete sind vor allem die Verwerfungen. Und während wir uns inmitten landschaftlicher Schönheiten befinden, haben wir auch ein natürliches Grenzgebiet passiert, das durch einen großen Fluss begrenzt und durch andere, kleinere Flüs-se, weite Endmoränen, Kalksteinklippen und Täler definiert wird, die wie das schwarze Haus unsichtbar bleiben, bis man um die richtige Ecke biegt und ihnen gegenübersteht. Haben Sie jemals einen zerlumpten Stadtstreicher gesehen, der einen leeren Einkaufswagen durch verlassene Straßen schiebt und zornig über einen »ver-fuchten Fieb« wettert? Manchmal trägt er eine Baseballmütze, manchmal eine Sonnenbrille mit einem zersprungenen Glas.

Sind Sie jemals angsterfüllt in einen Hauseingang getreten und haben beobachtet, wie ein soldatisch wirkender Mann, dessen eine Gesichtshälfte durch eine blitzförmige Narbe entstellt ist, in einen betrunkenen Pöbelhaufen stürmt und einen mit ausgebreiteten Armen und Beinen tot auf der Erde liegenden Jungen entdeckt, dem man dem Schädel eingeschlagen und die Taschen ausgeleert hat? Haben Sie den Zorn und das Mitleid auf dem entstellten Gesicht dieses Mannes glühen gesehen?

Das sind Zeichen für Verwerfungen.

Ein weiteres liegt unter uns am Ortsrand von French Landing versteckt, und trotz dem Entsetzen und Herzeleid, das dieses Zeichen umgibt, bleibt uns keine andere Wahl: Wir müssen es als Augenzeugen wahrnehmen. Durch unser Zeugnis werden wir es nach Maßgabe unserer individuellen Fähigkeiten ehren; indem es wahrgenommen wird, indem es vor unserem stummen Blick seine Aussage macht, wird es uns diese kleine Mühe in weit größerem Maß vergelten.

Wir befinden uns wieder hoch in den Lüften, und unter uns liegt die French County wie eine topographische Karte ausgebreitet. Die Morgensonne, jetzt heller, lässt grüne rechteckige Felder erstrahlen und glitzert auf den Blitzableitern, die auf den Scheunenfirsten angebracht sind. Die Straßen sehen sauber aus. Sonnenlicht spiegelt sich auf den Dächern der wenigen Autos, die entlang der Feldraine in Richtung Stadt fahren. Schwarz gescheckte Milchkühe drängen sich an Weidetoren zusammen und sind bereit, in ihre Pferche geführt zu werden, wo die Melkmaschine wie jeden Morgen auf sie wartet.

In sicherer Entfernung von dem schwarzen Haus, das uns nun schon ein ausgezeichnetes Beispiel für Verwerfungen gegeben hat, segeln wir nach Osten, überqueren das lange schwarze Band der Eleventh Street und erreichen ein Übergangsgebiet mit verstreuten Häusern und kleinen Gewerbebetrieben, bevor der Highway 35 dann ausschließlich Farmland durchschneidet. Das 7-Eleven gleitet vorbei, dann die Halle der Veteranenvereinigung, vor der die Old Glory erst in einer Dreiviertelstunde am Fahnenmast aufgezogen werden wird. In einem der Häuser, die in einiger Entfernung der Straße stehen, erwacht eine Frau namens Wanda Kinderling aus dem Schlaf - die Ehefrau von Thornberg Kinderling, eines schlechten und törichten Mannes, der im Staatsgefängnis in Waupun eine lebenslängliche Haftstrafe verbüßt -, begutachtet den Wodkaspiegel in der Flasche auf dem Nachttisch und beschließt, das Frühstück für eine weitere Stunde zu verschieben. Fünfzig Meter weiter stehen glänzend polierte Traktoren wie Soldaten aufgereiht gegenüber dem riesigen Kuppelbau aus Stahl und Glas von Ted Goltz’ Landmaschinenhandel, French County Farm Equipment, in dem ein anständiger, von Sorgen geplagter Ehemann und Vater namens Fred Marshall, den wir nächstens kennen lernen werden, sich bald zur Arbeit einfinden wird.

Hinter der protzigen Glaskuppel und dem Asphaltsee von Goltz’s degeneriert ein steiniges, lange vernachlässigtes Feld von einer halben Meile Länge allmählich zu kahlem Erdboden und kargem Unkraut. Am Ende einer langen, überwucherten Zufahrt steht zwischen einem alten Schuppen und einer uralten Zapfsäule etwas, was ein Haufen verrottendes Bauholz zu sein scheint. Das ist unser Ziel. Wir gleiten tiefer. Der vermeintliche Haufen Bauholz erweist sich als windschiefes, baufälliges Gebäude am Rande des Zusammenbruchs. Ein von Schüssen durchsiebtes altes Coca-Cola-Blechschild lehnt schräg an seiner Fassade. Der mit niedrigem Gestrüpp bewachsene Boden ist mit Bierdosen und dem weißlichen Gespinst alter Zigarettenfilter übersät. Aus dem Gebäude dringt das stetige, einschläfernde Summen von Myriaden von Fliegen. Wir würden am liebsten in die frische Luft zurückweichen und davonfliegen. Das schwarze Haus war schon schlimm genug, es war sogar ziemlich schrecklich, aber das hier ... das hier ist bestimmt noch schlimmer.

Eine Nebendefinition von Verwerfungen lautet: das Gefühl, dass die Dinge im Allgemeinen gerade schlechter geworden sind - oder sich sehr bald verschlechtern werden.

In dem verfallenen containerartigen Schuppen vor uns war früher ein lachhaft schlecht geführtes und unhygienisches Etablissement namens Ed’s Eats & Dawgs untergebracht. An einer nie anders als schmuddeligen Theke hatte ein glucksender, drei Zentner schwerer Fettkloß namens Ed Gilbertson einst einer kleinen, nicht sonderlich wählerischen Kundschaft - die hauptsächlich aus einheimischen Kindern bestand, die mit dem Fahrrad hierher gelangten - fettige, verschmorte Hamburger, mit schwarzen Daumenabdrücken garnierte Mortadella-Mayonaise-Sandwiches und triefende Eiswaffeln serviert. Ed, nun schon lange tot, war einer der zahlreichen Onkel Dale Gilbertsons, des jetzigen Polizeichefs von French Landing also, und weithin als gutmütiger Fettsack und Schwachkopf bekannt. Seine Kochschürze war unbeschreiblich schmutzig; der Zustand seiner Hände und Fingernägel hätte bei jedem vorbeikommenden Gesundheitsinspektor Brechreiz ausgelöst; seine Gerätschaften hätte er genauso gut von einer Katze abschlecken lassen können. Unmittelbar hinter der Theke waren Wannen mit schmelzender Eiscreme der Hitze des verkrusteten Grills ausgesetzt. Von der Decke hingen schlaffe Fliegenfänger herab, deren Leimpapier unter einem Pelz aus Tausenden Fliegenleichen verschwand. Die traurige Wahrheit ist, dass Ed’s Eats über Jahrzehnte hinweg unzähligen Generationen von Bakterien und Mikroben gestattete, sich völlig ungehemmt zu vermehren und von Fußboden, Theke und Crêpe-Platte in Massen auf Spachtel, Gabel und die nie abgespülte Eiszange zu schwärmen - wobei sie natürlich auch Ed selbst besiedelten! -, um so in das grässliche Essen und letztlich in die Münder und Mägen der Kids, und manchmal ei-ner sie begleitenden Mutter, zu gelangen, die dieses Zeug aßen.

Bemerkenswerterweise starb niemals jemand daran, dass er bei Ed’s gegessen hatte, und als dann ein längst überfälliger Herzschlag den Besitzer eines Tages dahinraffte, als er auf einen Stuhl stieg, um endlich ein Dutzend neue Fliegenfänger anzutackern, hatte niemand das Herz, seinen kleinen Schuppen abzureißen und die Trümmer zu beseitigen. Ein Vierteljahrhundert lang haben seine verrottenden Hinterlassenschaften im Schutz der Dunkelheit romantische Teenagerpärchen und Zusammenkünfte von Jungen und Mädchen beherbergt, die einen versteckten Ort brauchten, um erstmals in der Geschichte der Menschheit - so erschien es ihnen jedenfalls - die Befreiung durch Trunkenheit zu erkunden.

Das verzückte Summen der Fliegen kündigt an, dass der Anblick, der uns in dieser Ruine erwartet, weder aus einem ermatteten jungen Liebespaar noch einigen törichten, sturzbetrunkenen Kids bestehen wird. Dieser sanfte, gierige Tumult, der nicht bis zur Straße dringt, verkündet die Gegenwart endgültiger Dinge. Wir könnten sagen, er stelle eine Art Pforte dar.

Wir treten ein. Mildes Sonnenlicht, das durch Löcher in der Ostwand und im verfallenen Dach sickert, malt leuchtende Streifen über den sandigen Fußboden. Federn und Staub wirbeln von Tierfährten und den schwachen Abdrücken vieler selbst längst vergangener Schuhe auf. Mit Schimmel gesprenkelte abgenutzte Wolldecken aus Militärbeständen liegen zusammengeknüllt an der Wand links von uns; nicht weit davon entfernt umgeben leere Bierdosen und ausgedrückte Zigarettenkippen kreisförmig eine Petroleum-Sturmlaterne, deren Glaszylinder einen Sprung hat. Das Sonnenlicht legt warme Streifen über klare Fußabdrücke, die in einem weiten Bogen um die Überreste von Eds Schmuddeltheke herum zu dem leeren Ort führen, den einst der Herd, ein Ausguss und mehrere Vorratsregale einnahmen. Dort, wo sich vordem Eds geheiligtes Reich befand, verschwinden die Fußabdrücke. Irgendeine wilde Aktivität hat den Schmutz und Staub aufgewühlt, und etwas, was mitnichten eine alte Militärdecke ist, auch wenn wir uns wünschten, es wäre eine, liegt formlos an der rückwärtigen Wand, halb in einer dunklen, unregelmäßig geformten Lache klebriger Flüssigkeit. Ekstatische Fliegen schweben über der dunklen Lache, lassen sich auf ihr nieder. In der hintersten Ecke schlägt ein zottiger rostbrauner Mischlingshund die Zähne in das Fleisch und die Knochen, die aus dem weißen Gegenstand ragen, den er zwischen den Vorderpfoten festhält. Bei dem weißen Gegenstand handelt es sich um einen Sportschuh, einen Laufschuh. Genau gesagt, einen Laufschuh der Marke New Balance. Genauer gesagt, einen Kinderlaufschuh der Marke New Balance, Größe 34.

Am liebsten würden wir unsere Flugfähigkeit nutzen, um möglichst schnell von hier abzuhauen. Wir möchten durchs Dach, das keinen Widerstand bieten würde, entschweben, um wieder in harmlose frische Luft zu gelangen, aber das geht nicht: Wir sind hier, um als Zeugen zu fungieren. Ein hässlicher Köter kaut also auf einem abgetrennten Kinderfuß herum und gibt sich alle Mühe, ihn aus dem weißen Laufschuh der Marke New Balance herauszubekommen. Der hagere Rücken des Mischlings ist gewölbt, die zottigen Schultern und der schmale Kopf sind tief gesenkt, die knochigen Vorderpfoten umklammern eisern die Beute, während er unablässig daran zerrt. Aber das Schuhband des Laufschuhs ist fest verknotet - Pech für den Köter.

Was das Etwas betrifft, das keine alte Militärdecke ist und außerhalb des Gewirrs aus staubigen Spuren und Furchen an der hinteren Wand liegt, so ruht dessen blasse Gestalt flach auf dem Rücken, sodass nur der Oberkörper aus der dunklen Lache ragt. Der eine Arm liegt schlaff im Schmutz ausgestreckt; der andere lehnt senkrecht an der Wand. Die Finger beider Hände sind in die Handflächen verkrallt. Stumpfes rotblondes Haar gibt eine sommersprossige Stirn frei. Falls Augen und Mund irgendeinen erkennbaren Ausdruck zeigen, lassen sie gelinde Überraschung erkennen. Das ist aber nur ein anatomischer Zufall; er hat nichts zu bedeuten, die Gesichtszüge des kleinen Mädchens waren nämlich so angeordnet, dass es selbst im Schlaf immer leicht überrascht wirkte. Auf den Backenknochen, den Schläfen, dem Hals zeichnen sich deutlich Prellungen, die wie Tintenflecken und Radiergummispuren aussehen, ab. Ein mit Schmutz und angetrocknetem Blut beschmiertes weißes T-Shirt mit dem Logo der Milwaukee Brewers bedeckt den Körper vom Hals bis zum Bauchnabel. Die untere Körperhälfte, die außer an den mit Blut gesprenkelten Stellen rauchfahl ist, ragt in die dunkle Lache, über der die ekstatischen Fliegen summen, hinein. Das nackte, dünne linke Bein weist am Knie Wundschorf auf und endet mit einem blutbefleckten Laufschuh der Marke New Balance - Größe 34, der Schnürsenkel doppelt verknotet, die Schuhkappe zur Decke weisend. Wo der Zwilling dieses Beins sein sollte, herrscht Leere: Der rechte Oberschenkel endet knapp unterhalb der Hüfte abrupt mit einem ausgefransten Stumpf.

Vor uns sehen wir das dritte Opfer des Fishermans, die zehnjährige Irma Freneau. Die Erschütterungswellen, die schon ihr gestriges Verschwinden unmittelbar vom Gehsteig vor dem Videoshop ausgelöst hat, werden an Stärke und Zahl noch zunehmen, bis Dale Gilbertson in etwas über vierundzwanzig Stunden ihre Leiche auffinden wird.

Der Fisherman hat sie auf der Chase Street aufgelesen und es irgendwie geschafft, sie die Chase Street und Ly-all Road entlang, am 7-Eleven und der Halle der Veteranenvereinigung vorbei, an dem Haus vorbei, in dem Wanda Kinderling vor Wut schäumt und trinkt, und an dem glitzernden gläsernen Raumschiff von Goltz’s vorbei über die Grenze zwischen Stadt und Umland zu bringen.

Sie lebte noch, als der Fisherman sie durch die Eingangstür neben dem von Schüssen durchlöcherten CocaCola-Schild schleppte. Sie muss sich gewehrt haben, sie muss gekreischt haben. Der Fisherman drängte sie an die rückwärtige Wand und brachte sie mit Schlägen ins Gesicht zum Schweigen. Höchstwahrscheinlich erwürgte er sie. Er ließ die Leiche zu Boden sinken und arrangierte ihre Gliedmaßen. Bis auf die weißen Laufschuhe der Marke New Balance zog er ihr alle Kleidungsstücke hüf-tabwärts aus: Jeans, Shorts, Unterhose, was immer Irma auch getragen haben mochte, als er sie entführte. Danach amputierte der Fisherman ihr das rechte Bein. Mit einem langen Messer mit schwerer Klinge, also ohne ein Hackbeil oder eine Säge zu benützen, zerteilte er Fleisch und Knochen, bis es ihm gelang, das Bein vom Körper zu trennen. Dann hackte er - vermutlich mit nicht mehr als zwei, drei Hieben - den Fuß am Knöchel ab und warf ihn mitsamt dem weißen Laufschuh achtlos beiseite. Irmas Fuß war für den Fisherman unwichtig - er wollte nur ihr Bein.

*

Dies, meine Freunde, sind wahre Verwerfungen.

Irma Freneaus kleiner, regloser Körper scheint sich abzuflachen, als wollte er durch die verfaulenden Bodenbretter sickern. Die trunkenen Fliegen summen weiter. Der Hund versucht noch immer, seine saftige Beute ganz aus dem Laufschuh zu zerren. Könnten wir den einfältigen Ed Gilbertson wieder zum Leben erwecken, würde er neben uns auf die Knie sinken und weinen. Wir dagegen ...

Wir sind nicht hier, um zu weinen. Jedenfalls nicht auf eine Art wie Ed: schamvoll entsetzt und ungläubig. In seiner Bruchbude hat sich ein gewaltiges Geheimnis manifestiert, dessen Wirkungen und Spuren uns von allen Seiten umgeben. Wir sind vielmehr hier, um zu beobachten, um alles zu registrieren und die im Kometenschweif des Geheimnisses auftretenden Eindrücke, die verbliebenen Bilder festzuhalten. Es spricht aus ihren Details, deshalb bleibt es in seinem eigenen Kielwasser zurück, deshalb umgibt es uns. Die Szene strahlt tiefen, schweren Ernst aus, und dieser Ernst macht uns demütig. Demut ist unsere beste, zutreffendste erste Reaktion. Ohne sie würden wir den Sinn des Ganzen nicht erkennen: Das große Geheimnis bliebe uns verborgen, und wir würden dumm wie Esel blind und taub weiterirren. Aber wir wollen keine Esel sein. Wir müssen der uns darbietenden Szene - den Fliegen, dem Hund, der an dem abgetrennten Fuß herumnagt, der armen, blassen Leiche Irma Freneaus - dadurch unsere Ehrerbietung zollen, dass wir uns zu unserer Kleinheit bekennen. Im Vergleich zu dem Schauspiel hier sind wir nicht mehr als Dämpfe.

Eine dicke Biene kommt durch den leeren Fensterrahmen, der drei Schritte von Irmas Leiche entfernt ist, hereingeflogen und macht sich auf einen ausgedehnten Erkundungsflug durch den hinteren Teil des Schuppens. Unter ihren verschwommenen Flügeln hängend, scheint die Biene eigentlich zu schwer zu sein, um überhaupt fliegen zu können, aber sie setzt ihre Erkundung leger und ohne Eile fort, wobei sie in weiter Kurve hoch über dem blutbefleckten Fußboden bleibt. Die Fliegen, der Köter und Irma achten nicht auf sie.

Für uns hat die Biene, die weiterhin zufrieden durch den rückwärtigen Teil der Schreckenskammer brummt, jedoch aufgehört, eine willkommene Ablenkung zu sein, sie ist vielmehr Bestandteil des uns umgebenden Geheimnisses geworden. Sie ist ein Detail der Szenerie, ein Detail, das uns ebenfalls Demut abfordert und zu uns spricht. Das gewichtige, sonore Brummen der Flügel scheint die genaue Mitte der von den gierigen Fliegen erzeugten wogenden Schallwellen, die höher sind, festzulegen. Wie ein Sänger am Mikrofon vor einem Chor kontrolliert die Biene den akustischen Hintergrund. Das Geräusch schwillt an und gewinnt an Bedeutsamkeit. Als die Biene durch einen gelben Lichtstrahl fliegt, der durch die Ostwand hereinfällt, leuchten ihre Streifen in Schwarz und Gold auf, die Flügel verschwimmen zu einem wirbelnden Fächer, und das Insekt erscheint auf einmal als kompliziertes fliegendes Wunderwerk. Das ermordete Mädchen schmiegt sich an die blutbefleckten Bodenbretter. Unsere Demut, unser Gefühl der Bedeutungslosigkeit, unsere Erkenntnis des in dieser Szene liegenden tiefen Ernsts gewährt uns eine Ahnung von Kräften und Mächten jenseits unseres Begriffsvermögens, von einer gewissen Erhabenheit, die stets gegenwärtig und wirksam, aber nur in solchen Augenblicken wahrnehmbar ist.

Wir sind geehrt worden, aber diese Ehre ist unerträglich. Die geschäftige Biene brummt in weitem Bogen zum Fenster zurück und fliegt in eine andere Welt hinaus; wir folgen ihrem Beispiel und gelangen durchs Fenster wieder in die Sonne und in höhere Luftschichten.

Fäkaliengestank in der Seniorenresidenz Maxton; die fragile, fließende Atmosphäre von Verwerfungen in dem aus dem Lot geratenen Haus nördlich des Highways 35; das Summen der Fliegen und der Anblick von Blut im ehemaligen Ed’s Eats. Ächz! Würg! Gibt’s hier in French Landing denn überhaupt keinen Ort, könnten wir fragen, an dem sich unter der Oberfläche etwas Nettes verbirgt? Wo wir gewissermaßen genau das geboten bekommen, was wir auch sehen?

Die Antwort lautet kurz und knapp: Nein. An allen Zufahrtsstraßen von French Landing sollten große Warntafeln stehen: Vorsicht! Verwerfungen im Gange! Weiterfahrt auf eigene Gefahr!

Der hier wirksame Zauber geht vom Fisherman aus. Er hat das Wort »nett« zumindest zeitweise außer Kraft gesetzt. Aber wir könnten zwischenzeitlich einen netteren Ort aufsuchen, und das sollten wir vermutlich auch tun, haben wir doch eine Verschnaufpause nötig. Vielleicht gelingt es uns ja nicht, den Verwerfungen zu entkommen, aber wir können wenigstens einen Ort besuchen, an dem niemand ins Bett scheißt oder auf den Fußboden verblutet (zumindest vorerst nicht).

*

Die Biene fliegt also ihres Weges, und wir fliegen unseren; unserer führt uns nach Südwesten, über weitere Wälder, die ihren Duft von Leben und Sauerstoff verströmen - diese Luft hat nicht ihresgleichen, wenigstens nicht in dieser Welt - und dann wieder zurück zu den Werken der Menschen.

Der Name des Stadtteils hier lautet Libertyville, ein Name, den der Stadtrat von French Landing ihm im Jahr 1976 verliehen hat. Man wird es kaum glauben, aber der schmerbäuchige Ed Gilbertson, der Hot Dog King persönlich, gehörte zum Zeitpunkt der Zweihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten mit zu dieser kleinen Gruppe von Stadtvätern; das waren seltsame Zeiten, oh yeah, in der Tat merkwürdige Zeiten. Allerdings nicht ganz so seltsam wie die gegenwärtigen: In French Landing herrschen gegenwärtig Fishermanzeiten, verwirrende Verwerfungszeiten.

Die Straßen von Libertyville tragen Namen, die Erwachsene vielleicht malerisch, Kinder aber peinlich finden. Letztere nennen den Stadtteil hier manchmal Schwulyville. Wir wollen jetzt tiefer gehen, durch die warme Morgenluft herabsinken (es wird bereits wärmer; das wird bestimmt ein herrlicher Tag fürs Erdbeerfest). Wir schweben lautlos über die Camelot Street hinweg, wo sie die Avalon Street kreuzt, und folgen der Avalon Street zum Maid Marian Way. Von dort aus erreichen wir - überrascht das jemanden? - die Robin Hood Lane.

Hier im Haus Nr. 16, einem entzückenden, scheinbar unmittelbar aus New England importierten Häuschen, das ideal für »die anständige, strebsame Familie auf dem Weg nach oben« geeignet zu sein scheint, finden wir ein Küchenfenster, das offen ist. Es riecht nach Kaffee und Toast, eine wundervolle Geruchskombination, die allen statthabenden Verwerfungen Lügen zu strafen scheint (wüssten wir’s nur nicht besser; hätten wir nur nicht diesen Hund gesehen, der einen Fuß aus einem Laufschuh frisst, wie ein Kind einen Hotdog aus dem Brötchen isst), und folgen dem Wohlgeruch hinein. Gar nicht so schlecht, unsichtbar zu sein, was? Nämlich in unserem gottähnlichen Schweigen alles ungestört beobachten zu können. Wenn unsere gottähnlichen Augen nur Dinge sähen, die nicht so gottverdammt verstörend wären!

Aber dies nur nebenbei. Wir sind nun einmal dabei, in Freud und Leid, und sollten uns lieber um unseren Kram kümmern. Wir wollen keine Daumendreher sein, wie man in diesem Teil der Welt sagt.

Hier in der Küche von Nr. 16 treffen wir Fred Marshall an, dessen Bild gegenwärtig die Staffelei mit der Aufschrift »Verkäufer des Monats« im Ausstellungsraum der Firma French County Farm Equipment ziert. Fred ist in den letzten vier Jahren allein dreimal »Mitarbeiter des Jahres« gewesen (vor zwei Jahren hat Ted Goltz zur Abwechslung einmal Otto Eisman ausgezeichnet, nur um keine Monotonie aufkommen zu lassen), und wenn er in der Arbeit ist, gibt es niemanden, der mehr Charme, Persönlichkeit oder allgemeine Nettigkeit ausstrahlt. Sie wollten etwas Nettes? Meine Damen und Herren, voilà: Fred Marshall!

Nur ist sein zuversichtliches Lächeln jetzt nicht zu bemerken, und sein Haar, das in der Arbeit stets sorgfältig gekämmt ist, hat noch keinen Kamm gesehen. Statt wie sonst gebügelte Khakihosen und ein Sporthemd trägt er Nike-Shorts und ein kurzärmeliges T-Shirt. Auf der Arbeitsplatte liegt aufgeschlagen ein Exemplar des La Riviere Herald.

Fred hat in letzter Zeit mit Problemen zu kämpfen -beziehungsweise seine Frau Judy hat Probleme, und was ihres ist, ist auch seins, das hat der Geistliche gesagt, der sie damals getraut hat -, und was er hier liest, hebt seine Stimmung nicht gerade. Durchaus nicht. Es ist ein Ergänzungsartikel zu der Hauptstory auf der Titelseite, und sein Autor ist natürlich jedermanns liebster Spinner: Wendell »Fisherman weiter auf freiem Fuss« Green.

Der Artikel enthält eine Zusammenfassung der beiden ersten Morde (grausig ohne Ende, so denkt Fred über sie), und während Fred ihn liest, biegt er erst das linke, dann das rechte Bein hinter sich hoch, um die ganz, ganz wichtige Oberschenkelmuskulatur zu dehnen, bevor er wie jeden Morgen joggt. Was könnte Verwerfungen entgegengesetzter sein als morgendliches Joggen? Was könnte netter sein? Was könnte einen so wundervollen Beginn eines herrlichen Tages in Wisconsin verderben?

Nun, zum Beispiel das hier:

Johnny Irkenham hatte sehr einfache Träume, wie sein untröstlicher Vater berichtet. [Untröstlicher Vater, denkt Fred, während er sich streckt und an seinen über ihm schlafenden Sohn denkt. Lieber Gott, bewahre mich davor, jemals ein untröstlicher Vater zu werden. Natürlich ohne zu ahnen, wie bald er diese Rolle wird übernehmen müssen.] »Johnny wollte Astronaut werden«, so George Irkenham, während ein kurzes Lächeln sein erschöpftes Gesicht aufleuchten lässt. »Das heißt, wenn er nicht mit der hiesigen Feuerwehr Großbrände löschte oder mit der Justice League of America gegen Verbrechen kämpfte.«

Diese unschuldigen Träume endeten mit einem Albtraum, den wir uns nicht vorstellen können. [Aber du wirst’s bestimmt versuchen, denkt Fred, der jetzt anfängt, auf den Zehen zu wippen.] Letzten Montag wurde seine zerstückelte Leiche von Spencer Hovdahl aus Centralia entdeckt. Hov-dahl, ein Kreditsachbearbeiter der First Farmer State Bank, begutachtete in French Landing eine verlassene Farm, deren Besitzer, John Ellison, in einer benachbarten County lebt, im Hinblick auf eine mögliche Zwangsversteigerung. »Ich wollte eigentlich gar nicht hin«, erklärte uns Hovdahl. »Wenn es etwas gibt, was ich verabscheue, dann ist’s dieser Versteigerungskram. [Fred, der Spence Hovdahl gut kennt, bezweifelt sehr, dass er wirklich »Kram« gesagt hat.] Und am liebsten wäre ich ganz weit weg gewesen statt ausgerechnet dort im Hühnerstall. Er ist ziemlich baufällig und marode, und ich hätte ihn nie betreten, wenn ich das Bienengesumme nicht gehört hätte. Ich dachte zuerst, dass dort drinnen vielleicht ein ganzer Stock ist. Bienen haben mich schon immer interessiert, deshalb war ich neugierig. Gott steh mir bei, und wie neugierig ich war. Ich hoffe, dass ich mein Leben lang nie wieder so neugierig sein werde.«

Im Hühnerstall entdeckte er schließlich die Leiche des siebenjährigen John Wesley Irkenham. Der Tote war zerstückelt, die Leichenteile hingen an Ketten von den verrottenden Dachbalken des Hühnerstalls herab. Obwohl Polizeichef Dale Gilbertson dazu keinen Kommentar abgeben wollte, bestätigen verlässliche Quellen bei der Polizei in La Riviere, dass Oberschenkel, Rumpf und Gesäßbacken Bissspuren aufwiesen ...

Okay, das genügt Fred, ihm reicht’s jetzt. Er faltet die Zeitung rasch zusammen und lässt sie über die Arbeitsplatte bis vor die Kaffeemaschine segeln. Solches Zeug hat in seiner Kindheit weiß Gott nie so ausführlich in der Zeitung gestanden. Und wozu »der Fisherman«, um Himmels willen? Wozu mussten sie heute jedem Monster sofort einen griffigen Spitznamen anhängen, einen Kerl wie dieses Ungeheuer zum »Psychopathen des Monats« machen?

Natürlich waren solche Dinge nie passiert, als er in Tylers Alter gewesen war, aber das Prinzip ... das gottverdammte Prinzip der Sache ...

Fred, der jetzt mit den Zehenübungen fertig ist, nimmt sich vor, demnächst mit Tyler zu reden. Das wird schwieriger werden als das Gespräch darüber, warum Tylers kleines Ding jetzt manchmal steif wird, aber es ist absolut notwendig. Bei der Clique bleiben, wird Fred sagen. Du musst jetzt unbedingt mit deinen Kumpels zusammenbleiben, Ty. In nächster Zeit keine Herumstreunerei auf eigene Faust mehr, okay?

Andererseits erscheint Fred die Vorstellung, Ty könnte tatsächlich ermordet werden, ganz weit weg: Das ist der Stoff von Doku-Dramas im Fernsehen oder eines Wes-Craven-Films. Nennen wir ihn einfach Scream 4: Der Fisherman. Hat es nicht sogar mal einen Film dieser Art gegeben? Mit einem Kerl, der in Ölzeug herumlief und Teenager mit einem Bootshaken ermordete? Schon möglich, aber nicht kleine Kinder, nicht Babys wie Amy St. Pierre und Johnny Irkenham. O Gott, die Welt ging geradezu vor seinen Augen in Trümmer!

Leichenteile, die in einem maroden Hühnerstall an Ketten hängen, das ist der Teil, der Fred wirklich zusetzt. Kann das wirklich sein? Ist das hier möglich, genau hier und jetzt im Tom-Sawyer-und-Becky-Thatcher-Land?

Okay, Schluss damit. Es wird Zeit, laufen zu gehen.

Vielleicht wäre es gut, wenn die Zeitung heute Morgen irgendwie verloren gegangen ist, denkt Fred, indem er sie von der Arbeitsplatte nimmt und zusammenfaltet, bis sie wie ein dickes Taschenbuch aussieht (aber ein Teil der Schlagzeile schreit ihn trotzdem anklagend an: Fis-herman im Raum F.). Vielleicht ist die Zeitung einfach -wie, weiß ich nicht - geradewegs in die alte Mülltonne neben dem Haus gewandert.

Ja, gute Idee. Judy ist in letzter Zeit sowieso so seltsam, Wendell Greens Schauergeschichten über den Fis-herman würden da nicht gerade nützlich sein. (Bissspuren an Rumpf und Oberschenkeln, denkt Fred, während er durchs morgenstille Haus zur Haustür gleitet, und wenn Sie schon dabei sind, Kellner, lassen Sie mir ein schönes rohes Stück Hintern abschneiden.) Sie liest die Presseberichte geradezu zwanghaft, ohne sie zu kommentieren, und Fred gefällt es ganz und gar nicht, wie ihr Blick dabei immer umherirrt; ihm gefallen auch die anderen Tics nicht, die sie sich in letzter Zeit angewöhnt hat - zum Beispiel die zwanghafte Berührung ihrer Oberlippe mit der Zunge ... Und manchmal, vor allem in den letzten zwei, drei Tagen, hat er gesehen, wie ihre hoch gestreckte Zungenspitze die Rinne in der Mitte der Oberlippe dicht unter der Nase berührt, was Fred nie für möglich gehalten hätte, wenn er’s nicht gestern Abend wieder gesehen hätte, während sie die Lokalnachrichten las. Sie geht früher zu Bett als er und redet manchmal im Schlaf - merkwürdige, undeutliche Wörter, die nicht englisch klingen. Spricht er mit ihr, gibt sie manchmal keine Antwort, sondern starrt einfach nur ins Leere: Sie hat dann große Augen, bewegt leicht die Lippen und knetet die Hände (auf den Handrücken sind jetzt Schnitt- und Kratzwunden zu sehen, obwohl Judy ihre Fingernägel vernünftig kurz schneidet).

Ty sind die sich verstärkenden Eigentümlichkeiten seiner Mutter ebenfalls aufgefallen. Am Sonntag, als Vater und Sohn beim Mittagessen saßen - Judy war oben und machte eines ihrer langen Nickerchen, auch das eine neue Angewohnheit -, fragte der Junge plötzlich aus heiterem Himmel: »Was ist eigentlich mit Mama los?«

»Ty, ihr fehlt nichts, das ...«

»Doch! Tommy Erbter sagt, dass sie kurz davor ist überzuschnappen.«

Und hatte er über Tomatensuppe und Käsetoast hinweggelangt und seinem Sohn eine geknallt? Seinem einzigen Kind? Dem guten alten Ty, der sich nur Sorgen machte? Gott sei’s geklagt, das hatte er getan.

Draußen vor der Haustür, wo ein Weg aus Betonplatten zur Straße hinunterführt, beginnt Fred, langsam auf der Stelle zu traben und dabei tief durchzuatmen, um den Sauerstoff zu deponieren, den sein Organismus bald verbrennen wird. Für ihn ist dies meistens der beste Teil des Tages (jedenfalls dann, wenn Judy und er nicht miteinander schlafen, wozu es in letzter Zeit aber herzlich selten kommt). Er mag das Gefühl - das Wissen -, dass dieser Fußweg der Beginn einer Straße nach Irgendwo sein könnte, dass er hier im Stadtteil Libertyville von French Landing loslaufen und in New York ankommen könnte ... oder in San Francisco ... in Bombay ... auf den Bergpässen Nepals. Jeder Schritt vor die eigene Haustür lädt die Welt (vielleicht sogar das Universum) ein. Das ist etwas, was Fred Marshall intuitiv versteht. Er verkauft nichts anderes als Traktoren von John Deere und Kultivatoren von Case, gut, okay, das gibt er gern zu, aber das heißt noch lange nicht, dass er gänzlich fantasielos ist. Als Judy und er an der UW/Madison studierten, trafen sie sich zu ihren ersten Verabredungen immer in einem Coffee Shop in Campusnähe, einem Esp-resso-Jazz-und-Lyrik-Paradies, das Chocolate Watchband hieß. Man läge nicht ganz daneben, wollte man behaupten, sie hätten sich ineinander verliebt, während zornige Betrunkene über die billige, aber außerordentlich volltönende Lautsprecheranlage im Chocolate Watchband aus Werken von Allen Ginsberg und Gary Snyder vortrugen.

Fred atmet nochmals tief durch und läuft dann los. Die Robin Hood Lane hinunter zum Maid Marian Way, wo er Deke Purvis zuwinkt. Purvis, der Bademantel und Pantoffeln trägt, hebt gerade Wendell Greens tägliche Dosis Unheil von seiner Türschwelle auf. Dann biegt Fred auf die Avalon Street ab, verschärft sein Tempo etwas und zeigt dem Morgen die Fersen.

Vor seinen Sorgen kann er jedoch nicht weglaufen.

Judy, Judy, Judy, denkt er im Tonfall Cary Grants (ein kleiner Scherz, über den seine große Liebe schon lange nicht mehr lachen kann).

Da ist also das Kauderwelsch, wenn sie schläft. Da ist die Sache, wie sie mit unstetem Blick um sich sieht. Und nicht zu vergessen das eine Mal (vor drei Tagen erst), als er ihr in die Küche folgte, sie aber auf einmal nicht mehr da war - stattdessen kam sie plötzlich hinter ihm die Treppe herunter. Aber wie sie das geschafft hat, erscheint ihm weniger wichtig als die Frage, warum sie’s getan hat, warum sie die Hintertreppe hinaufgeschlichen ist, um dann die vordere Treppe wieder heruntertrampeln zu können (so muss sie’s nämlich gemacht haben; das ist die einzige Lösung, die Fred einfällt). Da ist auch noch das ständige Belecken und Abtasten der Oberlippe mit der Zungenspitze. Fred weiß, wozu sich das alles summiert: Judy benimmt sich wie eine Frau in panischer Angst. Angefangen hat sie damit allerdings schon vor dem Mord an Amy St. Pierre, weshalb es nicht am Fisherman liegen kann, jedenfalls nicht ausschließlich am Fisherman.

Und dann kommt da eine noch wichtigere Sache hinzu. Bis vor ein paar Wochen hätte Fred jedem erzählt, seine Frau wisse gar nicht, was Angst sei. Judy mag vielleicht nur knapp eins sechzig groß sein (»Na, du bist ja gerade mal ein laufender Meter«, hatte der Kommentar seiner Großmutter gelautet, als er ihr seine Verlobte vorstellte), aber sie hat das Herz eines Löwen, eines wahren Wikingerhelden. Das ist kein Scheiß, keine maßlose Übertreibung, keine dichterische Freiheit: Aus Freds Sicht ist das die schlichte Wahrheit. Der Gegensatz zwischen dem, was er zu kennen glaubte, und dem, was er nun wahrnimmt, erschreckt ihn jetzt aber umso mehr.

Von der Avalon Street biegt er auf die Camelot Street ab, überquert die Kreuzung, ohne auf Verkehr zu achten, läuft viel schneller als sonst, spurtet viel eher als zu joggen. Ihm kommt der Gedanke an etwas, das passiert ist, als sie erst ungefähr einen Monat lang ein Paar waren.

Sie waren wie gewohnt ins Chocolate Watchband gegangen, diesmal allerdings schon nachmittags, um nämlich ein Jazzquartett zu hören, das sich dann sogar als ziemlich gut herausstellte. Nicht, dass sie allzu aufmerksam zugehört hatten, wie Fred sich jetzt erinnert; die meiste Zeit hatte er Judy davon erzählt, wie wenig ihm das Landwirtschaftsstudium und die unausgesprochene Annahme seiner Familie gefielen, nach Abschluss seines Studiums werde er heimkehren, um Phil zu helfen, die Familienfarm in French Landing zu bewirtschaften. Bei der Vorstellung, für den Rest seines Lebens mit Phil zusammengespannt zu sein, bekam Fred geradezu schwere Depressionen.

Was würdest du stattdessen denn am liebsten machen?, hatte Judy ihn gefragt. Sie hielt seine auf dem Tisch liegende Hand, in einem Marmeladeglas brannte eine Kerze, die Combo auf dem Podium spielte ein hübsches kleines Stück mit dem Titel »I’ll Be There for You«.

Weiß ich nicht, hatte er geantwortet, aber eines kann ich dir sagen, Jude: Ich sollte nicht Landwirtschaft, sondern Betriebswirtschaft studieren. Ich kann verdammt viel besser verkaufen als pflanzen.

Warum wechselst du dann nicht einfach das Studienfach?

Weil meine Familie glaubt ...

Deine Familie wird dein Leben nicht leben müssen, Fred -aber du.

Du hast leicht reden, erinnert er sich, gedacht zu haben, aber dann ist auf dem Rückweg zum Campus etwas passiert, was so erstaunlich, so außerhalb seiner Lebenserfahrung und seines Verständnisses vom Funktionieren des Lebens war, dass es ihn noch heute - rund dreizehn Jahre später - mit Staunen erfüllt.

Sie sprachen weiter über seine und ihre gemeinsame Zukunft. (Ich hätte nichts dagegen, Farmerin zu sein, hatte Judy zu ihm gesagt, aber nur, wenn mein Mann auch wirklich selbst Farmer sein will.) Sie waren in dieses Thema vertieft und ließen sich von ihren Beinen irgendwohin tragen, ohne richtig darauf zu achten, wo sie überhaupt waren. Und dann hatten an der Kreuzung State Street und Gorham Street kreischende Reifen und ein sattes metallisches Krachen ihr Gespräch unterbrochen. Fred und Judy hatten sich umgesehen und festgestellt, dass auf der Kreuzung ein älterer Ford-Kombi mit einem Dodge-Pickup zusammengestoßen war.

Aus dem Kombi, dessen Fahrer offenbar das Stoppschild am Ende der Gorham Street nicht beachtet hatte, stieg ein Mann in mittleren Jahren, der einen mittelalten braunen Anzug trug. Er wirkte nicht nur erschrocken, sondern auch ängstlich, und Fred fand, dazu habe er auch allen Grund: Der Fahrer des Pickups, der auf den Mann zuging, war jung und stämmig (Fred erinnerte sich besonders an den über den Hosenbund der Jeans quellenden Wanst) und hielt ein Montiereisen in der Hand. Du gottverdammtes dämliches Arschloch!, rief Jung-und-stämmig. Sieh dir bloß an, wie du meinen Truck zugerichtet hast! Der Truck gehört meinem Dad, du gottverdammtes Arschloch!

Mittelalter Anzug wich mit weit aufgerissenen Augen und erhobenen Händen zurück. Fred, der die Szene vor Rickman’s Hardware stehend fasziniert beobachtete, dachte: O nein, Mister, schlechte Taktik. Vor einem Kerl dieser Art weicht man nicht zurück, man geht unerschrocken auf ihn zu, selbst wenn er wütend ist. Sie provozieren ihn - merken Sie nicht, dass Sie ihn provozieren? Er war so fasziniert, dass er nicht spürte, dass Judys Hand gar nicht mehr in seiner lag. Er beobachtete mit einer Art beängstigendem Vorauswissen, wie Mr. Mittelalter Anzug weiter zurückwich und blödes Zeug quatschte, von wegen dass ihm das alles schrecklich Leid tue . allein seine Schuld, hatte nicht aufgepasst, er war in Gedanken woanders gewesen ... Versicherungsunterlagen ... State Farm ... Unfallskizze machen . Polizei rufen, damit sie den Unfall aufnehmen kann ...

Und die ganze Zeit über ging Jung-und-stämmig weiter auf den Mann zu, klatschte mit dem Ende des Montiereisens in die freie Hand und hörte überhaupt nicht zu. Hier ging es nicht um Versicherung oder Schadenersatz: Hier ging es darum, dass Mr. Mittelalter Anzug ihm einen gottverdammten Schreck eingejagt hatte, als er harmlos unterwegs gewesen war und Gott einen guten Mann hatte sein lassen, während er Johnny Paycheck zuhörte, wie dieser »Take This Job and Shove It« sang. Jung-und-stämmig war entschlossen, sich dafür zu revanchieren, dass er einen verdammten Schreck gekriegt und fast mit dem Kopf an die Scheibe geknallt wäre ... musste sich geradezu dafür revanchieren, weil der Geruch des anderen, dieser Feiglingsgeruch nach Angst und unbeholfener Wehrlosigkeit, ihn ganz wild machte. Die beiden glichen einem Kaninchen und einem losgelassenen Kettenhund, und das Kaninchen konnte plötz-lich nicht mehr weiter zurückweichen: Mr. Mittelalter Anzug stand an die Flanke seines Kombis gepresst da, und im nächsten Augenblick würde das Montiereisen herabsausen, und Blut würde zu fließen beginnen.

Aber es gab kein Blut, noch nicht einmal den Ansatz zu einem Schlag, weil nämlich Judy DeLois plötzlich da war - nicht größer als ein laufender Meter, aber zwischen den beiden stehend und furchtlos ins zorngerötete Gesicht von Jung-und-stämmig aufblickend.

Fred fragte sich verstört, wie um Himmels willen sie’s geschafft hatte, so verdammt schnell dorthin zu kommen. (Viele Jahre später würde er sich auf die gleiche Weise wundern, als er Judy in die Küche folgte, nur um im nächsten Augenblick ihre gleichmäßigen Schritte die Vordertreppe herunterkommen zu hören.) Und dann? Dann schlug sie Jung-und-stämmig kräftig auf den Arm! Klatsch, ihr Schlag traf genau auf den prallen Bizeps und hinterließ weiße Fingerspuren auf dem von der Sonne verbrannten, sommersprossigen Fleisch unterhalb des Ärmels des zerschlissenen blauen T-Shirts. Fred wollte seinen Augen nicht trauen.

Aufhören!, schrie Judy in das überraschte, nicht wenig verwirrt wirkende Gesicht von Jung-und-stämmig hinauf. Weg mit dem Ding, Schluss damit! Seien Sie kein Idiot! Wollen Sie wegen siebenhundert Dollar Blechschaden im Gefängnis landen? Weg damit! Seien Sie vernünftig, Big Boy! Tun ... Sie ... das ... Ding ... weg!

Eine Sekunde lang war Fred sich ziemlich sicher gewesen, Jung-und-stämmig würde trotz ihren Ermahnungen doch mit dem Montiereisen zuschlagen und es auf den Kopf seiner hübschen kleinen Freundin herabsausen lassen. Aber Judy wich nicht zurück; vielmehr erwiderte sie unerschrocken den Blick des jungen Mannes mit dem Montiereisen, der mindestens zwei Kopf größer und gut weit über einen Zentner schwerer war als sie. An jenem Tag hatte sie bestimmt keinen erbärmlichen Feiglingsgeruch an sich; ihre Zungenspitze glitt nicht tastend über die Lippen oder die Rinne in der Mitte der Oberlippe; ihr funkelnder Blick war standhaft.

Und im nächsten Augenblick ließ Jung-und-stämmig das Montiereisen sinken.

Fred merkte erst, dass Schaulustige zusammengelaufen waren, als er den spontanen Beifall einer großen Menge Gaffer hörte. Er klatschte mit. Niemals war er stolzer auf sie als in diesem Augenblick. Judy wirkte dagegen selbst leicht verwirrt. Aber verwirrt oder nicht, sie ließ nicht locker. Sie führte die beiden zusammen, zog Mr. Mittelalter Anzug an einem Arm nach vorn und brachte die beiden tatsächlich dazu, sich die Hand zu schütteln. Als die Cops kamen, saßen Jung-und-stämmig und Mr. Mittelalter Anzug nebeneinander auf dem Randstein, studierten die Versicherungsunterlagen von Letzterem und tauschten ihre Anschriften aus. Fall abgeschlossen.

Fred und Judy gingen, jetzt wieder Hand in Hand, in Richtung Campus weiter. Fred sagte zwei Straßen lang kein Wort. Hatte er Ehrfurcht vor ihr? Heute neigt er zu dieser Ansicht. Schließlich sagte er: Das war unfassbar.

Judy schenkte ihm einen unbehaglichen kleinen Blick, ein unbehagliches kleines Lächeln. Nein, das war’s nicht, sagte sie. Wenn du’s irgendwie benennen willst, kannst du’s guten Bürgersinn nennen. Ich konnte sehen, dass dieser Kerl bereit war, sich selbst ins Gefängnis zu bringen. Ich wollte nicht, dass das passiert. Oder dass der andere Mann verletzt wird.

Den letzten Satz fügte sie allerdings fast als nachträglichen Einfall hinzu, und Fred spürte erstmals nicht nur ihren Mut, sondern auch ihr unerschrockenes Wikingerherz. Sie hielt zu Jung-und-stämmig, weil ... Nun, weil der andere Angst gehabt hatte.

Hast du denn keine Angst gehabt?, fragte er Judy. Er war von dem Geschehenen noch immer so verblüfft, dass er nicht - noch nicht - auf die Idee kam, sich ein bisschen schämen zu müssen: Schließlich hatte an seiner Stelle seine Freundin eingegriffen, was keineswegs den gängigen Hollywoodklischees entsprach. Hast du nicht gefürchtet, der Kerl mit dem Montiereisen könnte in der Hitze des Gefechts dich niederschlagen? Judy setzte einen erstaunten Blick auf. Auf die Idee wäre ich nie gekommen, sagte sie.

*

Die Camelot Street mündet schließlich in die Chase Street, wo an klaren Tagen wie heute ein hübscher kleiner Blick auf den Mississippi zu erhaschen ist, aber so weit läuft Fred nicht. Er kehrt schon auf dem höchsten Punkt von Liberty Heights um und trabt mit jetzt schweißnassem Hemd auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen ist. Im Allgemeinen fühlt er sich beim Joggen besser, nicht so heute, zumindest noch nicht. Die furchtlose Judy jenes Nachmittags an der Kreuzung von State Street und Gorham Street hat so wenig Ähnlichkeit mit der unstet blickenden, manchmal zusammenhanglos redenden Judy, die jetzt in seinem Haus lebt - diese Nickerchen machende, Hände ringende Judy -, dass Fred darüber tatsächlich mit Pat Skarda gesprochen hat. Das war gestern, als der Doc bei Goltz’s war, um sich Rasentraktoren anzusehen.

Fred hatte ihm zwei gezeigt, einen Deere und einen Honda, sich nach seiner Familie erkundigt und dann (beiläufig, wie er hoffte) gefragt: He, Doc, mich würde was interessieren - glauben Sie, dass jemand einfach so verrückt werden kann? Ohne Vorwarnung oder so?

Skarda musterte ihn durchdringender, als es Fred recht war. Reden wir von einem Erwachsenen oder einem jugendlichen, Fred?

Nun, wir reden eigentlich von niemandem. Lautes, herzliches Lachen - in Freds Ohren klang es allerdings nicht sehr überzeugend, und nach Pat Skardas Blick zu urteilen auch für diesen nicht. Jedenfalls nicht von wirklichen Menschen. Aber als hypothetischen Fall könnten wir sagen, dass es sich um einen Erwachsenen handelt.

Skarda dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf. In der Medizin gibt es nur wenige unumstößliche Tatsachen und in der psychiatrischen Medizin noch weniger. Also, ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass ein Mensch »einfach verrückt wird«. Es kann sich zwar um einen ziemlich rasch ablaufenden Vorgang handeln, aber ein Vorgang ist es nichtsdestotrotz. Wir bekommen zwar oft zu hören, »Soundso ist plötzlich übergeschnappt«, aber das ist eher selten wirklich der Fall. Mentale Dysfunktion - neurotisches oder psychotisches Verhalten - entwickelt sich über längere Zeit hinwegg, und es gibt vorher meistens irgendwelche Anzeichen. Wie geht’s eigentlich derzeit Ihrer Mutter, Fred?

Mutter? Oh, der geht’s gut. Alles im grünen Bereich.

Und Judy?

Er brauchte einen Augenblick, um ein Lächeln zuwege zu bringen, das dann aber zu einem umso strahlenderen wurde. Breit und arglos. Judy? Der geht’s auch gut, Doc. Natürlich geht’s ihr gut. So gut wie immer.

Klar. So gut wie immer. Sie lässt nur ein paar Anzeichen erkennen, sonst nichts.

Vielleicht geben sie sich wieder, denkt er. Die guten alten Endorphine beginnen endlich zu wirken, und plötzlich erscheint ihm sein Gedanke plausibel. Optimismus ist sowieso ein normalerer Gemütszustand für Fred, der nicht an Verwerfungen glaubt. Auf seinem Gesicht erscheint ein kleines Lächeln - das erste des heutigen Tages. Vielleicht geben die Anzeichen sich ja wieder. Vielleicht verschwindet diese Phase ebenso schnell, wie sie aufgetreten ist. Vielleicht ist sie sogar, nun ja, menstrual bedingt. Wie PMS.

Gott, wenn’s nicht mehr wäre, welche Erleichterung! Er sollte sich jetzt viel lieber Gedanken über Ty machen. Er muss mit Tyler unbedingt über die Vorzüge der Cliquenanbindung reden. Obwohl Fred zwar nicht glaubt, was Wendell Green offenbar zu unterstellen versucht -dass der Geist eines um die vorige Jahrhundertwende berüchtigten Kannibalen und Allround-Schreckgespensts namens Albert Fish aus irgendeinem Grund hier im Coulee Country aufgetaucht ist -, ist dort draußen eindeutig irgendjemand unterwegs, und dieser Irgendjemand hat bereits zwei kleine Kinder ermordet und mit den Leichen unaussprechliche (zumindest für Leute, die nicht Wendell Green heißen) Dinge angestellt.

Oberschenkel, Rumpf und Gesäßbacken mit Bissspuren, denkt Fred und rennt wieder schneller, obwohl bei ihm ein Seitenstechen eingesetzt hat. Um es noch einmal klar zu machen: Er glaubt nicht, dass diese Schrecken seinem Sohn wirklich etwas anhaben können, und auch nicht, dass sie Judys Zustand ausgelöst haben könnten, da ihr seltsames Verhalten ja schon begonnen hat, als Amy St. Pierre noch lebte, Johnny Irkenham natürlich auch, zu einer Zeit also, als beide vermutlich noch glücklich und zufrieden in ihren Gärten zu Hause gespielt haben.

Mag es sein, wie es will ... genug jetzt von Fred und seinen Sorgen, in Ordnung? Wir wollen seine aufgewühlten Gedanken verlassen und ihm voraus zur Robin Hood Lane Nr. 16 zurückfliegen - direkt zum Ursprung seiner Probleme.

*

Das Fenster des Elternschlafzimmers im ersten Stock steht offen, und das Fliegengitter ist natürlich kein Hindernis: Wir seihen uns mühelos hindurch und gelangen mit der Brise und den ersten Geräuschen des erwachenden Tages hinein.

Judy Marshall wird keineswegs von den Geräuschen geweckt, mit denen French Landing erwacht. Im Gegenteil, sie liegt bereits schon seit drei Uhr mit starrem Blick wach, sucht die Schatten nach etwas ihr Unbekanntem ab, flüchtet vor Träumen, die zu grässlich sind, um sich an sie zu erinnern. Trotzdem erinnert sie sich an so man-che Dinge, auch wenn sie das nicht will.

»Hab das Auge wieder gesehen«, sagt sie in den leeren Raum hinein. Ihr Zunge schnellt heraus, und da Fred nicht in der Nähe ist, um sie zu beobachten (sie weiß, dass er sie beobachtet; sie mag von Ängsten geplagt sein, aber sie ist nicht dumm), tupft sie nicht etwa nur an die Rinne in der Mitte ihrer Oberlippe, sondern schleckt geradezu darüber wie ein Hund, der sich nach einer großen Schüssel Reste die Schnauze wischt. »Es ist ein rotes Auge. Sein Auge. Auge des Königs.«

Judy sieht zu den Schatten der draußen stehenden Bäume auf. Sie tanzen über die Decke, bilden Formen und Gesichter, Formen und Gesichter.

»Auge des Königs«, wiederholt sie, und dann beginnt die Sache mit den Händen: kneten und verdrehen und wringen und drücken. »Abbalah! Füchse in Fuchsbauten! Abbalahdoon, der Scharlachrote König! Ratten in ihren Rattenlöchern. Abbalah Munshun! Der König ist in seinem Turm, isst Brot und Mold! Die Brecher sind im Keller, machen all das Gold!«

Sie schüttelt heftig den Kopf. O diese Stimmen, sie kommen aus dem Dunkel, und manchmal erwacht sie mit einer Vision, die ihr hinter den Augen brennt: mit der Vision eines riesigen schiefergrauen Turms, der in einem Feld mit Rosen steht. In einem Feld aus Blut. Dann beginnt das Reden, das Sprechen in Zungen, das Zeugnisablegen in Worten, die sie nicht verstehen und erst recht nicht lenken kann - ein gemischter Strom aus Englisch und Kauderwelsch.

»Dahinschleppen, dahinschleppen, dahinschleppen«, sagt sie. »Die Kleinen schleppen sich auf ihren blutenden Füßchen dahin . Oh, um Himmels willen, hört das nie mehr auf?«

Sie reckt die Zunge weit hinaus und schleckt sich die Nasenspitze ab; für einen Augenblick sind die Nasenlöcher mit ihrem Speichel verklebt, und in ihrem Kopf röhren - Abbalah, Abbalahdoon, Can-tab Abbalah - diese schrecklichen fremden Wörter, diese schrecklichen bruchstückhaften Bilder von dem Turm und darunter den brennenden Höhlen, durch die die Kleinen mit blutenden Füßen stapfen. Ihr Verstand setzt sich dagegen zur Wehr, und es gibt nur eine Möglichkeit, die Bilder zum Aufhören zu zwingen, nur ein Mittel, sich Erleichterung zu verschaffen.

Judy Marshall setzt sich auf. Auf dem Nachttisch neben ihr liegen vor der Lampe der neueste Roman von John Grisham, ein kleiner Notizblock (ein Geburtstagsgeschenk von Ty, jedes Blatt mit der Überschrift Hier ist eine weitere grossartige Idee, die ich hatte!) und ein Kugelschreiber mit dem seitlichen Aufdruck La Riviere Sheraton.

Judy greift nach dem Kugelschreiber und kritzelt auf den Block.

Kein Abbalah kein Abbalahdoon kein Turm keine Brecher kein Scharlachroter König nur Träume alles nur meine Träume

Das genügt eigentlich, aber auch Schreibgeräte sind nur Straßen nach überall, und bevor sie die Spitze dieses Geräts vom Geburtstagsblock heben kann, schreibt es zwei weitere Zeilen:

Das Schwarze Haus ist der Eingang zu Abbalah das Tor zur Hölle Sheol Munshun alle diese Welten und Geister

Schluss damit! Barmherziger Gott, Schluss damit! Und das Schlimmste: Was ist, wenn das alles anfängt, einen Sinn zu ergeben?

Sie wirft den Kugelschreiber wieder auf den Nachttisch, wo er zum Lampenfuß rollt, um dann dort liegen zu bleiben. Sie reißt das Blatt vom Notizblock, knüllt es zusammen und schiebt es sich in den Mund. Sie kaut wie wild, kann es nicht zerbeißen, weicht es aber ein und schluckt es dann. Nun folgt ein schrecklicher Augenblick, als es ihr nämlich im Hals stecken bleibt, aber dann bekommt sie es doch hinunter. Wörter und Welten weichen zurück, und Judy sinkt erschöpft in die Kissen zurück. Ihr Gesicht wirkt blass und verschwitzt, die Augen wie von nicht vergossenen Tränen geweitet, aber die sich bewegenden Schatten an der Decke erscheinen ihr jetzt nicht mehr wie Gesichter - die Gesichter dahinstapfender Kinder, von Ratten in ihren Rattenlöchern, Füchsen in Fuchsbauten, Auge des Königs, Abbalah-doon! Jetzt sind sie wieder nur die Schatten der Bäume. Sie ist Judy DeLois Marshall, die Frau Freds, die Mutter Tylers. Dies ist Libertyville, dies ist French Landing, dies ist French County, dies ist Wisconsin, dies ist Amerika, dies ist die Nordhalbkugel, dies ist die Welt, und es gibt keine andere Welt als diese. So sei es.

Ach, so sei es.

Sie schließt die Augen, und während sie endlich wieder einschläft, huschen wir durchs Zimmer zur Tür, aber kurz bevor wir sie erreichen, sagt Judy Marshall noch etwas - sagt es, während sie die Grenze zum Schlaf überschreitet.

»Burnside ist nicht dein wahrer Name. Wo ist dein Loch?«

Die Schlafzimmertür ist geschlossen, weshalb wir das Schlüsselloch benützen, durch das wir einem Seufzer gleich entschlüpfen. Wir folgen dem Flur, in dem Fotos von Judys und Freds Angehörigen hängen, darunter auch ein Foto, das die Farm der Familie Marshall zeigt, die Farm, auf der Fred und Judy bald nach ihrer Hochzeit eine grässliche, aber Gott sei Dank nur kurze Zeit verbrachten. Möchten Sie einen guten Rat? Reden Sie mit Judy Marshall nicht über Freds Bruder Phil. Lassen Sie sie bloß nicht darüber in Fahrt kommen, wie George Rathbun zweifellos sagen würde.

Die Tür am Ende des Flurs besitzt kein Schlüsselloch, und deshalb schlüpfen wir wie ein Telegramm darunter hindurch in einen Raum, den wir sofort als das Zimmer eines Jungen erkennen, wie uns die Geruchsmischung aus schmutzigen Sportsocken und Lederpflegemittel verrät. Er ist klein, dieser Raum, wirkt aber größer als das Elternschlafzimmer vorn im Flur, was höchstwahrscheinlich daran liegt, dass hier der Angstgeruch fehlt. An den Wänden hängen Bilder von Shaquille O’Neal, Jeromy Burnitz, dem letztjährigen Team der Milwaukee Bucks . und von Mark McGwire, Tyler Marshalls Idol. McGwire spielt für die Cardinals, und die Cardinals sind eigentlich der Feind, aber hol’s der Teufel, schließlich sind die Milwaukee Brewers ohnehin keine Konkurrenz für irgendjemanden. Die Brew Crew war vordem ein Fußabstreifer in der American League, und jetzt ist sie einer in der National League. Und McGwire . nun, er ist eben ein Held, oder nicht? Er ist stark, er ist bescheiden, und er kann den Baseball glatt eine Meile weit schlagen. Sogar Tylers Dad, der für gewöhnlich nur Teams aus Wisconsin anfeuert, hält McGwire für etwas Besonderes. »Der größte Hitter der Baseballgeschichte«, hat er ihn nach der Spielzeit genannt, in der siebzig Homeruns gelangen, und obwohl Tyler in jenem Fabeljahr noch kaum den Windeln entwachsen war, hat er diesen Ausspruch nie vergessen.

Ebenfalls im Zimmer dieses kleinen Jungen, der bald das vierte Opfer des Fishermans werden wird (es gibt ja bereits ein drittes, wie wir gesehen haben), hängt auf dem Ehrenplatz direkt über dem Bett ein Reiseplakat, das ein großes düsteres Schloss am Ende einer langen, nebelverhangenen Wiese zeigt. Unten auf dem Plakat, das er mit Klebeband an der Wand befestigt hat (seine Mutter duldet absolut keine Reißzwecken), steht in großen grünen Lettern eine Einladung: Kehrt heim ins alte Land. Ty hat schon überlegt, ob er das Plakat wieder abnehmen soll, um diesen unteren Teil abzuschneiden. Das Plakat gefällt ihm nämlich nicht deshalb, weil Irland ihn interessiert - ihm scheint dieses Bild vielmehr flüsternd von irgendwo anders, von irgendwo ganz anders zu erzählen. Es gleicht einem Foto aus irgendeinem herrlichen mythischen Königreich, in dessen Wäldern es Einhörner, in dessen Höhlen es Drachen geben könnte. Vergesst Irland, vergesst auch Harry Potter! Hogwarts mag für Sommernachmittage in Ordnung sein, aber das hier ist ein Schloss im Königreich des Ganz Anderen. Ty-ler Marshall sieht es jeden Morgen als Erstes und jeden Abend als Letztes, und genau das gefällt ihm.

Er liegt jetzt nur mit einer Unterhose bekleidet auf der Seite zusammengerollt, ein menschliches Komma mit zerzaustem dunkelblonden Haar und einem Daumen so dicht am Mund, dass er wirklich nur einen Hauch davon entfernt ist, zwischen die Lippen geschoben zu werden. Er träumt - wir können sehen, wie die Augäpfel sich hinter den geschlossenen Lidern hin und her bewegen. Die Lippen bewegen sich . Er flüstert etwas ... Abbalah? Flüstert er das Wort seiner Mutter? Bestimmt nicht, aber .

Wir beugen uns tiefer, um zu horchen, aber bevor wir etwas hören können, spricht ein Schaltkreis in Tylers poppig rotem Uhrenradio an, und plötzlich erfüllt George Rathbuns Stimme den Raum und reißt Tyler aus seinen Traumen, welche auch immer sich unter diesem zerzausten Haarschopf abgespielt haben mögen.

»Fans, ihr solltet mir jetzt wirklich lieber zuhören, ich kann’s nicht oft genug wiederholen. Wenn ihr Henreid Brothers Furniture in French Landing und Centralia nicht kennt, habt ihr keine Ahnung von Möbeln. Richtig, ich rede von Henreid Brothers, dem Spezialhaus für Möbel im Kolonialstil. Wohnzimmer Esszimmer Schlafzimmer, berühmte Marken, die man kennt, denen man vertraut, wie La-Z-Boy Breton Woods und Moosehead. Sogar ein Blinder kann sehen, dass Henreid Brothers Qualität bedeutet!«

Ty Marshall lacht schon, bevor er beide Augen ganz geöffnet hat. Er verehrt George Rathbun, George ist echt Spitze.

Und jetzt, ohne nach dem Werbespot auch nur den Gang zu wechseln: »Na, Jungs, freut ihr euch alle schon auf das Brewers-Gewinnspiel? Habt ihr mir eure Postkarten mit Namen, Adresse und el telefono darauf geschickt? Hoffentlich, Einsendeschluss war nämlich um Mitternacht. Habt ihr den verpasst ... so solly, Cholly!«

Ty macht die Augen wieder zu und flüstert dreimal nacheinander dasselbe Wort: Scheiße, Scheiße, Scheiße. Er hat vergessen, eine Karte einzuschicken. Jetzt kann er nur hoffen, dass sein Dad (der weiß, wie vergesslich sein Sohn sein kann) daran gedacht und eine für ihn abgeschickt hat.

»Hauptgewinn?«, sagt George. »Nur die Chance für euch oder eure Lieb-lings-per-son im richtigen Alter, an der gesamten Cincinnati-Serie als Batboy oder Batgirl der Brew Crew teilnehmen zu dürfen. Nur die Chance, einen Richie-Sexson-Schläger mit Au-to-gramm zu gewinnen - das Holz mit dem Butz drin! Ganz zu schweigen von fünfzig Freikarten am ersten Base mit mir, George Rathbun, dem wandelnden Baseball-Lexikon von Coulee Country. Aber wozu erzähle ich euch das alles? Habt ihr den Einsendeschluss verpasst, ist’s jetzt zu spät. Klappe zu, Affe tot, macht den Hosenstall dicht! Oh, ich weiß, warum ich das erwähnt habe - damit ihr kommenden Freitag bestimmt KDCU einschaltet, um zu hören, ob ich euren Namen über den Äther schicke!«

Ty ächzt. Es gibt nur zwei Chancen, dass George seinen Namen im Radio ausspricht: gering und keine.

Nicht, dass er sich sehr viel daraus gemacht hätte, ein Batboy zu sein, der in einer unförmig weiten Spieleruniform der Brewers vor all diesen Leuten im Miller Park herumlief, aber Richie Sexsons persönlichen Schläger, das Holz mit dem Blitz drin, zu besitzen ... Wie geil wäre das?

Tyler wälzt sich aus dem Bett, schnüffelt an den Achseln seines gestrigen T-Shirts, wirft es beiseite und nimmt dann ein frisches aus der Schublade. Sein Dad fragt ihn manchmal, warum er seinen Wecker immer dermaßen früh stellt - schließlich hat er Sommerferien -, und Tyler kann ihm einfach nicht begreiflich machen, dass jeder Tag für ihn wichtig ist, vor allem jene, die mit Wärme und Sonnenschein und keinen besonderen Verpflichtungen erfüllt sind. Es ist, als würde er tief in seinem Inneren eine leise Stimme hören, die ihn davor warnt, bloß keine Minute zu vergeuden, nicht eine einzige, so überaus kurz ist die Zeit nämlich.

Was George Rathbun als Nächstes sagt, bläst die letzten Schlafnebel aus Tylers Gehirn - es gleicht einem eiskalten Wasserguss. »Sag mal, Coulee Country, möchtest du über den Fisherman reden?«

Tyler erstarrt und fühlt, wie ihm ein eigenartiger kleiner Schauder den Rücken hinaufkriecht, um dann über die Arme wieder hinunterzulaufen. Der Fisherman. Irgendein verrückter Kerl, der Kinder ermordet . und sie dann tatsächlich isst? Tja, er hat dieses Gerücht gehört, hauptsächlich von den größeren Jungs drunten auf dem Baseballfeld oder im hiesigen Freizeitzentrum, aber wer würde so was Krasses tun? Kannibalismus, igitt!

George senkt die Stimme. »Ich erzähle euch jetzt ein kleines Geheimnis, also hört eurem Onkel George aufmerksam zu.« Tyler sitzt auf der Bettkante, hält seine Laufschuhe an den Schuhbändern und hört seinem Onkel George wie geheißen gut zu. Es kommt ihm seltsam vor, George Rathbun über ein so ... so unsportliches Thema reden zu hören, aber Tyler vertraut ihm. Hat George Rathbun nicht vor zwei Jahren richtig vorausgesagt, dass die Badgers in die Spitzengruppe vordringen würden, als alle anderen noch behauptet haben, sie würden schon in der ersten Finalrunde rausfliegen? Yeah, und wie er das hat. Klappe zu, Affe tot, macht den Hosenstall dicht.

George senkt die Stimme jetzt noch tiefer, sodass sie fast zu einem vertraulichen Flüstern wird. »Der originale Fisherman, Boys und Girls, Albert Fish, ist seit siebenundsechzig Jahren tot und vermodert, und so viel ich weiß, ist er nie viel weiter westlicher als New Jersey gekommen. Außerdem war er vermutlich ein ScheißyankeeFan! Also ganz cool bleiben, Coulee Country! Einfach Ru-uuhe bewahren!«

Tyler entspannt sich lächelnd und schlüpft in die Laufschuhe. Ruhe bewahren, da hat er Recht. Der Tag ist jung, und yeah, okay, seine Mutter ist zwar in letzter Zeit ein bisschen komisch, aber darüber wird sie schon hinwegkommen.

In dieser optimistischen Stimmung wollen wir ihn verlassen - die Amöbe machen und abhauen, wie der Respekt einflößende George Rathbun vielleicht sagen würde. Und weil wir gerade von George, jener morgens im Coulee Country allgegenwärtigen Stimme, sprechen, sollten wir ihn da nicht persönlich aufsuchen? Keine schlechte Idee. Packen wir’s an.

3

Wir fliegen durch Tylers Fenster hinaus und von Liber-tyville weg, steuern diagonal nach Südwesten, trödeln diesmal nicht, sondern schlagen heftig mit unseren alten Flügeln, fliegen zielbewusst. Wir halten auf die Heliographenblitze der Frühmorgensonne auf dem Vater der Gewässer und auch auf den größten Sechserpack der Welt zu. Zwischen ihm und der Country Road Oo (wir können sie ruhig Nailhouse Row nennen, wo wir jetzt doch praktisch Ehrenbürger von French Landing sind) steht ein Sendemast, dessen Warnblinkleuchte an der Spitze jetzt im hellen Sonnenschein dieses neu geborenen Julitages unsichtbar ist. Wir riechen Gras und Bäume und sich erwärmende Erde, und wie wir uns dem Sendemast nähern, riechen wir auch das heftige, üppige Aroma von Bier.

Neben dem Sendemast, im Gewerbegebiet östlich des Peninsula Drive, steht ein kleines Gebäude aus Hohlblocksteinen. Davor ist ein Parkplatz, der gerade einmal einem halben Dutzend Autos und dem Van der Coulee-Patrouille, einem ältlichen Ford Econoline im leuchtenden Pink eines kandierten Apfels, Platz bietet. Wenn der Tag dahinfließt und der Nachmittag in den Abend übergeht, werden die zylindrischen Schatten des Sechserpacks erst das Schild auf dem kahl werdenden Rasen gegenüber der Einfahrt, dann das Gebäude, dann den Parkplatz bedecken. KDCU-AM steht auf dem Schild, Die Stimme von CouLee Country. In einem Pink, das fast dem des Vans entspricht, ist eine leidenschaftliche Erklärung draufgesprüht: Troy Libt Maryann! Ja! Später wird Howie Soule, das technische Mädchen für alles des Senders, diese Aufschrift beseitigen (vermutlich während der Rush-Limbaugh-Show, die vollständig automatisiert über Satellit eingespielt wird), aber vorerst bleibt sie stehen und erzählt uns alles, was wir über Kleinstadtliebe in der Mitte Amerikas wissen müssen. Anscheinend haben wir doch mal etwas Nettes entdeckt.

Als wir ankommen, tritt aus dem Seitenausgang des Sendegebäudes ein schlanker Mann, der Khaki-Dockers mit Bundfalten, ein krawattenloses, bis zum Hals zugeknöpftes Oberhemd aus ägyptischer Baumwolle und kastanienbraune Hosenträger trägt (sie sind so schlank wie er, diese Hosenträger, und eigentlich viel zu cool, um Hosenträger genannt zu werden; richtige Hosenträger sind eher vulgäre Dinger, wie sie von Subjekten wie Chipper Maxton oder Sonny Heartfield drüben im Bestattungsunternehmen getragen werden). Dieser silberhaarige Bursche trägt auch einen sehr scharfen Panamahut, der geradezu antik, wenn auch wunderbar erhalten ist. Das kastanienbraune Hutband passt zu den Hosenträgern. Eine Sonnenbrille im Pilotenlook verdeckt die Augen des Burschen. Er bleibt auf dem Rasen links neben der Tür unter einem zerschrammten Lautsprecher stehen, aus dem die aktuelle KDCU-Sendung dröhnt: die Lokalnachrichten. Danach folgt der Landwirtschaftsbericht aus Chicago, sodass er zehn Minuten Pause hat, bevor er sich wieder ans Mikrofon setzen muss.

Wir beobachten ihn zunehmend verwirrt, während er eine Packung American Spirit aus der Hemdtasche zieht und sich dann mit einem goldenen Feuerzeug eine dieser Zigaretten anzündet. Dieser elegante Bursche in Hosenträgern, Dockers und Bass-Weejuns-Schuhen kann doch bestimmt nicht George Rathbun sein! In Gedanken haben wir uns bereits ein Bild von George gemacht, das völlig anders aussieht als dieser Bursche. Vor unserem inneren Auge steht ein Kerl mit einem riesigen Wanst, der über den weißen Gürtel einer karierten Hose hängt (all die in Baseballstadien verzehrten Bratwürste), ziegelroter Gesichtsfarbe (all die sich in Stadien genehmigten Biere, von all dem Gebrüll über unfähige Schiedsrichter ganz zu schweigen) und einem stämmigen, gedrungenen Hals (die perfekte Hülle für diese Asbeststimmbänder). Der George Rathbun unserer Fantasie - und wie ganz Coulee Country ihn sich vorstellt, was sich fast von selbst versteht - ist ein Herzschlagkandidat mit Basedowaugen, breitem Hintern, zerzaustem Haar und einer Lederlunge, der Rennies kaut, Chevy fährt und die Republikaner wählt; ein Butterfass voller Sporttrivialitäten, verrückter Enthusiasmen, abwegiger Vorurteile und hohem Cholesterinspiegel.

Der Bursche hier entspricht ganz und gar nicht jenem Kerl. Dieser Bursche bewegt sich wie ein Tänzer. Dieser Bursche ist Eistee an einem heißen Tag, cool wie der PikKönig.

Aber hört mal, das ist doch der Witz daran, oder? Genau. Der Witz von dem fetten DJ mit der mickrigen Stimme - nur eben umgekehrt. In sehr realem Sinn existiert George Rathbun überhaupt nicht. Er ist ein Hobby in Aktion, eine lebendig gewordene Fiktion, lediglich eine der vielen Persönlichkeiten des schlanken Mannes. Die Leute bei KDCU kennen natürlich seinen wahren Namen und glauben, in seinen Witz eingeweiht zu sein (dessen Pointe, dass sogar ein Blinder dieses oder jenes sehen kann, natürlich Georges Markenzeichen ist), dabei wissen sie nicht einmal die Hälfte. Was übrigens keineswegs eine bildhafte Aussage ist. Sie kennen maximal ein Drittel davon, in Wirklichkeit besteht der Mann in den Dockers und mit dem Panamahut nämlich aus vier Persönlichkeiten.

Jedenfalls war George Rathbun die Rettung für KDCU, den letzten überlebenden Mittelwellensender auf einem räuberischen UKW-Markt. An fünf Morgen pro Woche hat er sich Woche für Woche zur Hauptsendezeit als wahre Goldgrube erwiesen. Dafür liebt die U-Crew (wie sich die Technikermannschaft hier selbst nennt) ihn heiß und innig.

Über ihm plappert der Lautsprecher weiter: ». noch immer keine heiße Spur, wie Polizeichef Dale Gilbert-son mitteilt, der den Herald-Reporter Wendell Green als >einen auswärtigen Panikmacher, der mehr Interesse an Auflagensteigerung als an unserer Arbeitsweise in French Landing hat<, genannt hat.

Unterdessen sind in Arden beim Brand eines Wohnhauses ein betagter Farmer und seine Frau umgekom-men. Horst P. Lepplemier und seine Frau Gertrude, beide zweiundachtzig .«

»Horst P. Lepplemier«, sagt der schlanke Mann, der mit offensichtlichem Genuss an seiner Zigarette zieht. »Versuch mal, das zehnmal nacheinander schnell zu sagen, du Esel.«

Rechts hinter ihm geht die Tür auf, und obwohl der Raucher weiter direkt unter dem Lautsprecher steht, hört er sehr gut, wie sie sich öffnet. Die Augen hinter der Pilotenbrille sind zwar zeit seines Lebens blind, dafür funktioniert sein Gehör ausgezeichnet.

Der Neuankömmling hat ein teigiges Gesicht und blinzelt in die Morgensonne wie ein Maulwurfjunges, das eben mittels einer Pflugschar aus seinem Bau ans Tageslicht befördert worden ist. Sein Schädel ist bis auf die Iro-kesen-Bürste in der Kopfmitte und den Zopf, der kurz über dem Nacken beginnt und auf die Schulterblätter herabhängt, glatt rasiert. Der Irokese ist hellrot gefärbt, der Zopf dagegen leuchtet knallblau. An einem Ohrläppchen baumelt ein Ohrring mit Blitzstrahlen, die verdächtig wie SS-Runen aussehen. Er trägt ein zerschlissenes schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck SnrveLLing Shits '97: »Wir kriegen ’nen steifen für Jesus«-Tour. In einer Hand hält diese malerische Erscheinung eine CD-Hülle.

»Hallo, Morris«, sagt der schlanke Mann mit dem Panamahut, ohne sich umzudrehen.

Morris schnappt etwas nach Luft und sieht in seiner Überraschung wie der nette jüdische Junge aus, der er tatsächlich ist. Morris Rosen ist der Sommervolontär, der von der UW/Oshkosh kommend die U-Crew verstärkt. »Mann, mir machen diese dämlichen unbezahlten Helfer richtig Freude!«, sagt der Leiter des Senders, Tom Wiggins, manchmal, wobei er sich meistens teuflisch die Hände reibt. Noch nie ist ein Scheckbuch so streng bewacht worden, wie Wiggins das KDCU-Scheckbuch bewacht. Er gleicht einem Fabeldrachen, der es sich auf seinen Bergen von Gold bequem macht (nicht dass es auf den KDCU-Konten Berge von irgendwas gäbe; in diesem Zusammenhang soll wiederholt werden, dass die Station als Mittelwellensender von Glück sagen kann, dass sie überhaupt noch existiert).

Morris’ überraschter Gesichtsausdruck - man könnte ihn mit gutem Recht unbehaglich überrascht nennen -löst sich in ein Lächeln auf. »Wow, Mr. Leyden! Gut gemacht! Das nenne ich feine Ohren!«

Dann runzelt er die Stirn. Selbst wenn Mr. Leyden -der wie gesagt direkt unter dem Außenlautsprecher steht - gehört hat, dass jemand rausgekommen ist, wie um Himmels willen weiß er dann, wer dieser Jemand ist?

»Woher haben Sie gewusst, dass ich das bin?«, fragt er.

»Hier gibt’s nur zwei Leute, die morgens nach Marihuana riechen«, sagt Henry Leyden. »Der eine spült nach seinem Morgenjoint mit Mundwasser nach; dem anderen - das sind Sie, Morris - ist das scheißegal.«

»Wow«, sagt Morris respektvoll. »Das ist echt total abgedreht.«

»Ich bin total abgedreht«, sagt Henry zustimmend. Er spricht leise und nachdenklich: »Das ist ein schwieriges Los, aber irgendwen trifft es eben. Was Ihr morgendliches Rendezvous mit dem zweifellos schmackhaften Thai-Stick betrifft - darf ich Ihnen einen Aphorismus aus den Appalachen anbieten?«

»Nur zu, Mann.« Für Morris ist dies die erste richtige Unterhaltung mit Henry Leyden, der sich als genau der Intellektuelle herausstellt, als der er Morris angepriesen wurde. Sogar über Erwarten. Morris erscheint es nicht mehr unglaublich, dass er eine weitere Identität haben könnte ... eine geheime Identität, so wie Bruce Wayne. Aber trotzdem ... irgendwie abartig.

»Was wir in unserer Kindheit tun, wird zur Gewohnheit«, sagt Henry in dem gleichen sanften, ganz und gar nicht zu George Rathbun passenden Tonfall. »Das ist mein Ratschlag für Sie, Morris.«

»Yeah, klar doch«, sagt Morris. Er hat keine Ahnung, wovon Mr. Leyden redet. Er streckt langsam, schüchtern seine Hand mit der CD-Hülle aus. Da Henry keine Bewegung macht, um sie entgegenzunehmen, fühlt Morris sich für einen Augenblick wie zermalmt: Er ist plötzlich wieder sieben und versucht, seinen stets viel beschäftigten Vater mit einem Bild zu beeindrucken, das er den ganzen Nachmittag lang in seinem Zimmer gemalt hat. Dann denkt er: Er ist blind, Blödmann. Er kann vielleicht riechen, dass du gekifft hast, und mag Ohren wie eine Fledermaus haben, aber woher soll er wissen, dass du ihm ’ne beschissene CD hinhältst?

Zögernd, über seine Kühnheit selbst etwas erschrocken, greift Morris nach Henrys Handgelenk. Er spürt, wie der Mann leicht zusammenfährt, aber dann lässt Leyden zu, dass seine Hand zu der schmalen Hülle geführt wird.

»Ah, eine CD«, sagt Henry. »Und was ist da drauf, bitte schön?«

»Den siebten Track müssen Sie heute Abend unbedingt in Ihrer Sendung auflegen«, sagt Morris. »Bitte.«

Henry wirkt erstmals beunruhigt. Er zieht an seiner Zigarette, lässt sie dann (natürlich ohne auch nur hinzusehen, haha) in den mit Sand gefüllten Plastikeimer neben der Tür fallen.

»Welche Sendung meinen Sie denn?«

Statt ohne Umschweife zu antworten, macht Morris mit den Lippen zunächst rasche kleine Schmatzlaute -die Geräusche eines kleinen, aber gefräßigen Raubtiers, das einen Leckerbissen verzehrt. Und um alles noch schlimmer zu machen, lässt er dann den zum Markenzeichen der Wisconsin Rat gewordenen Ausspruch folgen, den Leute in Morris’ Alter ebenso gut kennen, wie George Rathbuns heiserer Ausruf »Sogar ein Blinder .« bei der älteren Generation bekannt ist: »Kaut’s runter, esst’s auf, spült’s runter, aaalles kommt an der gleichen Stelle raus!«

Auch wenn diese Imitation nicht sonderlich gelungen ist, steht außer Frage, wen er imitiert: die einzigartige Wisconsin Rat, deren zur Hauptsendezeit von KWLA-FM gesendetes Abendprogramm im Coulee Country geradezu berühmt ist (nur dass »berüchtigt« vermutlich zutreffender wäre). KWLA ist ein winziger CollegeSender in La Riviere, kaum mehr als ein Fliegendreck auf der Rundfunkkarte von Wisconsin, aber die Zuhörerschaft der Wisconsin Rat ist riesig.

Und wenn irgendjemand rauskriegen würde, dass der gemütliche George Rathbun, der für die Brew Crew Stimmung machte, die Republikaner wählte und auf Mittelwelle sendete, auch die Wisconsin Rat war - die einmal live einen vergnügten Schiss auf eine CD der Backstreet Boys geschildert hatte -, könnte es Probleme geben. Sogar ernste Probleme, die vermutlich weit über die festgefügte kleine Rundfunkgemeinschaft hinausschwappen würden.

»Wie um Himmels willen kommen Sie bloß darauf, dass ich die Wisconsin Rat sein könnte, Morris?«, sagt Henry. »Kaum dass ich weiß, von wem Sie da überhaupt reden. Wer hat Ihnen bloß diesen Unsinn in den Kopf gesetzt?«

»Eine gut unterrichtete Quelle«, sagt Morris listig.

Er würde Howie Soule nie verraten, selbst wenn man ihm die Fingernägel mit glühenden Zangen ausreißen würde. Howie hat das übrigens auch nur zufällig rausgekriegt: Eines Tages war er nach Henry auf dem Scheißhaus des Senders und hat dessen Geldbörse gefunden, die diesem aus der hinteren Hosentasche gerutscht sein musste, während er auf dem Thron saß. Man sollte glauben, dass ein Mann, dessen übrige Sinne so offenbar geschärft waren, das gespürt hätte, aber Henry war vermutlich in Gedanken woanders gewesen. Jedenfalls steckte in Henrys Geldbörse (die Howie »im Geiste freundschaftlicher Neugier«, wie er es ausdrückte, durchgefingert hatte) eine KWLA-Ausweiskarte, in deren Namenszeile lediglich die kleine Abbildung einer Ratte gestempelt war. Klappe zu, Affe tot, macht den Hosenstall dicht.

»Ich habe in meinem ganzen Leben nie auch nur einen Fuß durch die Tür von KWLA gesetzt«, sagt Henry, was die absolute Wahrheit ist. Er produziert die WisconsinRat-Bänder (unter anderen) nämlich in seinem Studio zu Hause und schickt sie dem Sender dann über Mail Boxes Etc. in French Landing, wo er unter dem Namen Joe Strummer ein Postfach gemietet hat. Die Ausweiskarte mit der Ratte war mehr eine Einladung durch die KWLA-Leute als irgendwas anderes, eine Einladung, die er nie angenommen hat . Aber er hat die Karte behalten.

»Sind Sie Ihrerseits irgendjemands gut unterrichtete Quelle geworden, Morris?«

»Hä?«

»Haben Sie irgendjemandem erzählt, dass Sie mich für die Wisconsin Rat halten?«

»Nein! Natürlich nicht!« Was, wie wir wissen, die Leute zumindest immer sagen. Zu Henrys Glück trifft das in diesem Fall sogar zu. Wenigstens bisher, aber der Tag ist noch jung.

»Und Sie werden’s nicht tun, stimmt’s? Weil Gerüchte so ihre Art haben, Wurzeln zu schlagen. Genau wie bestimmte schlechte Gewohnheiten.« Henry tut so, als würde er einen Joint paffen.

»Ich kann sehr gut den Mund halten«, sagt Morris mit möglicherweise eher ungerechtfertigtem Stolz.

»Das hoffe ich doch. Wenn Sie das nämlich schon popularisiert haben, müsste ich Sie umbringen.«

Popularisiert, denkt Morris. O Mann, dieser Kerl hat echt Klasse.

»Umbringen, yeah«, sagt Morris lachend.

»Und aufessen«, sagt Henry. Er lacht nicht, lächelt nicht einmal.

»Yeah, richtig.« Morris lacht wieder, aber diesmal klingt sein Lachen selbst in seinen Ohren seltsam gekünstelt. »Als wären Sie Hannibal Lecter.«

»Nein, als wäre ich der Fisherman«, sagt Henry. Er wendet die Pilotenbrille langsam Morris zu. Die Sonne spiegelt sich auf den Gläsern und verwandelt sie sekundenlang in rötlich glühende Feueraugen. Morris weicht einen Schritt zurück, ohne dass es ihm überhaupt bewusst wird. »Albert Fish hat immer gern mit dem Arsch angefangen, wussten Sie das?«

»Äh .«

»Ja, in der Tat. Er hat behauptet, ein schönes Stück junger Arsch sei lecker wie ein Kalbsschnitzel. Ein wörtliches Zitat. Aus einem Brief an die Mutter eines seiner Opfer.«

»Krass«, sagt Morris. Seine Stimme kommt ihm piepsig vor, die Stimme eines dicken kleinen Schweinchens, das dem großen bösen Wolf den Zutritt verwehrt. »Aber ich mach mir eigentlich keine Sorgen, dass Sie der Fis-herman sein könnten.«

»Nein? Warum nicht?«

»He, Mann, Sie sind doch blind!«

Henry sagt nichts, starrt den jetzt äußerst beunruhigten Morris nur mit seinen feurigen Glasaugen an. Und Morris denkt: Aber ist er auch wirklich blind? Für einen Blinden kommt er ganz gut rum ... Und wie er mich gleich erkannt hat, als ich rausgekommen bin, war das nicht unheimlich?

»Ich halte dicht«, sagt er. »Ehrlich!«

»Mehr verlange ich nicht«, sagt Henry milde. »Nachdem wir uns jetzt darüber einig sind - was haben Sie mir hier eigentlich Schönes gebracht?« Er hält die CD hoch, aber nicht, als betrachtete er sie, wie Morris erleichtert feststellt.

»Das ist, äh, diese Gruppe aus Racine. Dirtysperm, heißt die. Mit einer Aufnahme von >Where Did Our Love Goplatt!«

»Dirtysperm«, sagt Henry. »Waren die nicht früher Jane Wyatt’s Clit?«

Morris starrt Henry mit einer Ehrfurcht an, aus der leicht beseelte Hingabe werden könnte. »Der Gitarrist von Dirtysperm hat JWC sogar gegründet, Mann. Dann haben er und der Bassist sich wegen einer politischen Sache zerstritten, irgendwas mit Dean Kissinger und Henry Acheson, und Ucky Ducky - so heißt der Gitarrist

- ist abgehauen, um Dirtysperm zu gründen.«

»>Where Did Our Love Go

Morris’ Trübsal verfliegt, und er bricht in ein strahlendes Lächeln aus. »Yeah, okay! Wird gemacht, Mr. Leyden!«

»Und lassen Sie niemanden sehen, wie Sie’s tun. Vor allem Howie Soule nicht. Howie ist ein mieser kleiner Schnüffler. Sie täten gut daran, ihm nicht nachzueifern.«

»Ausgeschlossen, Baby!« Morris, der noch immer entzückt ist, weil alles so gut geklappt hat, streckt grinsend eine Hand nach der Türklinke aus.

»Und, Morris?«

»Yeah?«

»Da Sie nun mein Geheimnis kennen, sollten Sie vielleicht lieber Henry zu mir sagen.«

»Henry! Yeah!« Ist dies für Morris Rosen nicht der beste Morgen dieses Sommers? Darauf können wir Gift nehmen.

»Und noch etwas.«

»Yeah? Äh, Henry?« Morris wagt bereits, sich einen Tag vorzustellen, an dem sie zu Hank und Morrie fortschreiten werden.

»Halten Sie die Klappe, was die Rat betrifft.«

»Ich hab Ihnen schon gesagt .«

»Ja, und ich glaube Ihnen. Aber die Versuchung kommt schleichend, Morris, die Versuchung kommt schleichend wie ein Dieb bei Nacht oder ein Killer auf der Suche nach Beute. Erliegen Sie der Versuchung, merke ich’s sofort. Das rieche ich auf Ihrer Haut wie schlechtes Kölnisch Wasser. Glauben Sie mir das?«

»Äh ... yeah.« Und das tut er wirklich. Später, wenn Morris Zeit hat, sich alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen, wird er diese Vorstellung für lächerlich halten, aber im Augenblick glaubt er das. Er glaubt ihm. Man könnte denken, er wäre hypnotisiert.

»Sehr gut. Und jetzt fort mit Ihnen! Fürs erste Seg-ment will ich Ace Hardware, Zaglat Chevy und Mr. Tastee Ribs bereitliegen haben.«

»Wird gemacht.«

»Und was das gestrige Spiel betrifft .«

»Vielleicht Wickman, der im achten ins Seitenaus schlägt? Das war Mist. Irgendwie total un-Brewersmäßig.«

»Nein, ich glaube, wir sollten Mark Lorettas Home-run im fünften nehmen. Loretta schlägt üblicherweise nicht viele Homeruns, aber die Fans mögen ihn. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum. Selbst ein Blinder kann sehen, dass er keine Power hat, vor allem bei tiefen Bällen nicht. Los, mein Junge. Legen Sie die CD in meinen Spind, und falls ich die Rat sehe, gebe ich sie ihr. Ich bin mir sicher, dass sie das Ding irgendwann mal auflegt.«

»Es geht um Track .«

»Sieben, sieben, reimt sich auf lieben. Ich vergesse’s nicht, und er tut’s auch nicht. Los jetzt!«

Morris wirft ihm einen letzten dankbaren Blick zu und geht dann wieder hinein. Henry Leyden, alias George Rathbun, alias die Wisconsin Rat und auch alias Henry Shake (zu dem kommen wir noch, aber nicht jetzt, die Zeit drängt) zündet sich eine weitere Zigarette an und inhaliert tief. Er wird sie nicht zu Ende rauchen können, der Landwirtschaftsbericht ist bereits in vollem Gange (Schweinebäuche gestiegen, Weizen-Futures gefallen und der Mais hoch wie das Auge eines Elefanten), aber er braucht dringend ein paar Züge, um wieder ruhiger zu werden. Vor ihm liegt ein langer, langer Tag, der mit dem Erdbeerfest-Tanz in der Seniorenresidenz Maxton, diesem von Alten bevölkerten Schreckenskabinett, enden wird. Gott bewahre mich davor, William »Chipper« Maxton in die Klauen zu fallen, hat er sich oft gedacht. Stände er vor der Wahl, seine Tage im Maxton zu beschließen oder sich das Gesicht mit einem Schweißbrenner wegzubrennen, würde er sofort nach dem Schweißbrenner greifen. Später, falls er nicht vollkommen erschöpft sein wird, kommt vielleicht sein Freund, der an der selben Straße etwas unterhalb von ihm wohnt, herüber, und sie können mit der längst versprochenen Lektüre von Charles Dickens’ Bleak House beginnen. Das wäre eine Wohltat.

Wie lange wird Morris Rosen sein ungeheuerliches Geheimnis für sich behalten können? Nun, sagt sich Henry, das wird sich zeigen. Er mag die Rat zu sehr, um sie aufzugeben, wenn es nicht unbedingt sein muss. Zumindest das ist eine unbestreitbare Tatsache.

»Dean Kissinger«, murmelt er. »Henry Acheson. Ucky Ducky. Gott sei uns gnädig.«

Er nimmt noch einen Zug von der Zigarette, dann lässt er sie in den Eimer mit Sand fallen. Es ist Zeit, wieder hineinzugehen, Zeit, über Mark Lorettas Homerun von gestern Abend zu sprechen, Zeit, weitere Anrufe von den begeisterten Sportfans im Coulee Country entgegenzunehmen.

Und für uns wird es Zeit, von hier zu verschwinden. Vom Turm der lutherischen Kirche hat es sieben geschlagen.

In French Landing herrscht allmählich mehr Betrieb. In diesem Teil der Welt liegt niemand lange im Bett, und wir müssen uns beeilen, um unsere Rundtour zu beenden. Hier wird sich bald alles Mögliche ereignen, und es kann sich schnell ereignen. Trotzdem sind wir gut vorangekommen und haben nur noch einen Halt zu machen, bevor wir unser endgültiges Ziel erreichen.

Wir lassen uns von den warmen Sommeraufwinden in die Höhe tragen, schweben einen Augenblick neben dem KDCU-Sendemast (wir sind ihm nahe genug, um das Tick-tick-tick der Warnblinkleuchte und das tiefe, ziemlich bedrohliche Summen der abgestrahlten Sendeenergie zu hören) und blicken nach Norden, um uns zu orientieren. Acht Meilen flussaufwärts liegt die Kleinstadt Great Bluff, die ihren Namen einem dort aufragenden Kreidefelsen verdankt. Auf diesem Felsen soll es spuken, weil ein Häuptling der Fox-Indianer (Far Eyes hieß er übrigens) im Jahr 1888 dort alle seine Krieger, Schamanen, Squaws und Kinder versammelte und ihnen befahl, in den Tod zu springen, um so irgendeinem grässlichen Schicksal zu entgehen, das er in seinen Träumen gesehen hatte. Far Eyes’ Gefolgsleute taten das, was später Jim Jones’ Anhänger ihrerseits geheißen wurde.

So weit flussaufwärts begeben wir uns jedoch nicht. Wir haben es gleich hier in French Landing mit genügend Gespenstern zu tun. Stattdessen wollen wir also lieber noch einmal über die Nailhouse Row fliegen (die Harleys sind verschwunden, Beezer St. Pierre hat die Thunder Five zu ihrem Tagewerk in der Brauerei geführt), über die Queen Street mit der Seniorenresidenz Maxton (dort unten ist Burny, der weiter aus dem Fenster starrt - bäh) und zur Bluff Street. Hier sind wir fast wieder auf dem Lande. Selbst heute noch, im 21. Jahrhundert, gehen die Kleinstädte im Coulee Country fast übergangslos in Wälder und Felder über.

Die Herman Street ist eine links von der Bluff Street abzweigende Seitenstraße in einem Wohngebiet, das weder recht kleinstädtisch noch recht ländlich ist. Hier, in einem massiven Ziegelhaus am Ende einer Wiese, die sich über eine halbe Meile erstreckt, einer Wiese, die die Bauträger noch nicht entdeckt haben (sogar hier gibt es einige Bauträger, unwissentliche Agenten von Verwerfungen), wohnt Dale Gilbe rtson mit seiner Frau Sarah und seinem sechsjährigen Sohn David.

Wir können es uns nicht erlauben, lange zu bleiben, aber wir wollen zumindest für einen kurzen Augenblick durchs Küchenfenster hineinschweben, es steht schließlich offen. Auf der Arbeitsplatte finden wir zwischen dem Mixer und dem Toaster einen Platz, an dem wir uns niederlassen können. Am Küchentisch sitzt Chief Gilbertson persönlich, der die Zeitung liest und Frühstücksflocken in sich hineinschaufelt, ohne etwas zu schmecken (in seinem Kummer darüber, dass der Herald schon wieder einen Artikel von Wendell Green auf der Titelseite bringt, hat er sogar den Zucker und die aufgeschnittene Banane vergessen). An diesem Morgen ist er ohne Zweifel der unglücklichste Mann von French Landing. Wir werden seinen einzigen Konkurrenten um diese fragwürdige Ehre bald kennen lernen, aber vorläufig wollen wir bei Dale bleiben.

Der Fisherman, denkt er trübselig, wobei seine Überlegungen zu diesem Thema viel Ähnlichkeit mit denen Bobby Dulacs und Tom Lunds haben. Warum hast du ihm keinen Namen gegeben, der etwas besser in die Gegenwart passt, du lästiger Zeitungsschmierer? Irgendwas mit Lokalbezug. Vielleicht Dahmer-Boy, das wäre gut.

Ach, Dale kennt den Grund dafür nur allzu gut. Die Parallelen zwischen Albert Fish, der seine Verbrechen in New York verübte, und ihrem Mann hier in French Landing sind einfach zu nahe liegend - da würde sich jeder die Finger danach lecken -, um ignoriert zu werden. Fish erwürgte seine Opfer, wie Amy St. Pierre und Johnny Irkenham offenbar erwürgt wurden; Fish verzehrte Teile seiner Opfer, wie das Mädchen und der Junge offenbar teilweise verzehrt wurden; Fish und der heutige Täter bewiesen eine besondere Vorliebe für die ... nun, für die Hinterteile ihrer Opfer.

Dale starrt die matschigen Flocken an, dann lässt er den Löffel in den Brei fallen und schiebt die Schale mit dem Handrücken weg.

Und die Briefe. Die Briefe nicht zu vergessen.

Dale wirft einen Blick auf seinen Aktenkoffer, der wie ein treuer Hund neben seinem Stuhl kauert. Die Akte befindet sich darin, und sie zieht ihn an, wie ein fauliger, schmerzender Zahn die Zunge anzieht. Vielleicht kann er ja seine Hände von ihr lassen, zumindest solange er hier zu Hause ist, wo er mit seinem Sohn Hufeisenwerfen spielt und mit seiner Frau ins Bett geht, aber seine Gedanken davon lassen ... Das ist eine ganz andere Sache.

Albert Fish schrieb einen langen, grausig detailreichen Brief an die Mutter von Grace Budd, deren Ermordung den alten Kannibalen schließlich auf den elektrischen Stuhl brachte. (»Was für ein Nervenkitzel die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl sein wird!«, soll Fish seinen Gefängniswärtern erklärt haben. »Der einzige, den ich noch nicht ausprobiert habe!«) Der heutige Täter hat ähnliche Briefe geschrieben, einen an Helen Ir-kenham, einen weiteren an Amys Vater, den schrecklichen (aber nach Dales Einschätzung aufrichtig untröstlichen) Armand »Beezer« St. Pierre. Es wäre gut, wenn Dale glauben könnte, diese Briefe stammten von irgendeinem Trittbrettfahrer, der überhaupt nichts mit den Morden zu tun hat, aber beide enthalten Details, die den Medien vorenthalten wurden - Details, die eigentlich nur der Täter wissen kann.

Dale gibt schließlich der Versuchung nach (wie gut Henry Leyden das verstehen würde) und hebt seinen Aktenkoffer hoch. Er öffnet ihn und legt eine dicke Akte dorthin, wo vorher die Schale mit den Flocken gestanden hat. Er stellt den Aktenkoffer an seinen Platz neben dem Stuhl zurück, dann schlägt er die Akte auf (die mit St. Pierre/Irkenham, nicht etwa mit Fisherman betitelt ist). Er blättert sie durch ... herzzerreißende Schulfotos von zwei mit Zahnlücken lächelnden Kindern, Untersuchungsberichte des Gerichtsarztes, die zu grausig sind, als dass man sie lesen könnte, und Aufnahmen von den Tatorten, die zu grausig sind, als dass man sie sich ansehen könnte (ach, aber er muss sie sich ansehen, muss sie sich ein ums andere Mal wieder ansehen - die von Blut glitschigen Ketten, die Fliegen, die offenen Augen). Dann folgen mehrere Protokolle, das längste das von der Vernehmung Spencer Hovdahls, der den kleinen Irken-ham aufgefunden hat und für sehr kurze Zeit sogar als möglicher Täter galt.

Als Nächstes kommen die Fotokopien von drei Briefen. Einen haben George und Helen Irkenham erhalten (lediglich an Helen adressiert, als ob das einen Unterschied gemacht hätte). Einen hat Armand »Beezer« St. Pierre bekommen (auch genauso adressiert, mit Spitznamen und allem). Der dritte ist derjenige, den Grace Budds Mutter in New York City nach der Ermordung ihrer Tochter im späten Frühjahr 1928 erhalten hat.

Dale legt die drei Briefe nebeneinander aus.

Grace hat auf meinem Schoß gesessen und mich geküsst. Ich habe beschlossen, sie zu essen. Das hatte Fish an Mrs. Budd geschrieben.

Amy hat auf meinem Schoß gesessen und mich umarmt. Ich habe beschlossen, sie zu essen. Das hatte der Unbekannte an Beezer St. Pierre geschrieben - war es da ein Wunder, dass der Mann gedroht hatte, die Polizeistation French Landing niederzubrennen? Dale kann den Hundesohn nicht leiden, aber er muss zugeben, dass ihm an Beezers Stelle sicher ähnlich zu Mute wäre.

Ich ging hinauf und zog alle meine Sachen aus. Ich wusste, dass ich sie sonst mit ihrem Blut besudeln würde. Fish an Mrs. Budd.

Ich ging hinter den Hühnerstall und zog alle meine Sachen aus. Wusste, dass ich sie sonst mit seinem Blut besudeln würde. Der Unbekannte an Helen Irkenham. Und dabei stellt sich eine Frage: Wie könnte eine Mutter einen solchen Brief erhalten und dabei nicht den Verstand verlieren? War das möglich? Dale glaubt es nicht. Helen beantwortete Fragen zusammenhängend, hat ihm bei seinem letzten Besuch sogar Tee angeboten, aber ihr glasiger, wie betäubter Blick zeigte, dass sie nur rein mechanisch funktionierte.

Drei Briefe, zwei davon neu, einer fast fünfundsiebzig Jahre alt. Und trotzdem sind die drei sich so ähnlich. Nach Auskunft der staatlichen Graphologen sind der St.-Pierre-Brief und der Irkenham-Brief von einem Linkshänder in Druckbuchstaben geschrieben worden. Das Papier ist einfaches weißes Kopierpapier der Marke Hammermill, das in ganz Amerika in jedem Schreibwarengeschäft erhältlich ist. Der Kugelschreiber ist vermutlich ein Bic gewesen -wenn das kein großartiger Hinweis ist!

Fish an Mrs. Budd, damals im Jahr 1928: Ich hab sie nicht gefickt, obwohl ich’s hätte tun können, wenn ich gewollt hätte. Sie ist als Jungfrau gestorben.

Der Unbekannte an Beezer St. Pierre: Ich hab sie NICHT gefickt, obwohl ich’s hätte tun können, wenn ich gewollt hätte. Sie ist als JUNGFRAU gestorben.

Der Unbekannte an Helen Irkenham: Es mag Sie beruhigen, ich habe ihn NICHT gefickt, obwohl ich’s hätte tun können, wenn ich gewollt hätte. Er ist als JUNGFRAU gestorben.

Dale ist hier überfordert, das weiß er selbst, aber er hofft doch, kein völliger Trottel zu sein. Obwohl dieser Täter seine Briefe nicht mit dem Namen des alten Kannibalen unterzeichnet hat, wollte er offensichtlich die Verbindung zu ihm herstellen. Er hat alles wie nach Schema getan, außer an den Fundorten der Leichen jeweils ein paar tote Forellen zurückzulassen.

Bitterlich seufzend legt Dale die Briefe wieder in den Ordner, den Ordner wieder in den Aktenkoffer.

»Dale? Schatz?« Sarahs verschlafene Stimme kommt oben von der Treppe.

Dale fährt schuldbewusst zusammen wie ein Mann, der beinahe bei etwas Ungehörigem ertappt worden ist, und schließt die Schlösser seines Aktenkoffers. »Bin in der Küche!«, ruft er zurück. Dass er Davey wecken könnte, braucht ihm keine Sorgen zu machen. Der Junge schläft jeden Morgen bis mindestens halb acht wie tot.

»Du fährst erst später rein?«

»Mhm.« Er fährt oft erst spät zum Dienst, macht die verlorene Zeit aber wieder wett, indem er bis sieben oder acht oder neun Uhr abends arbeitet. Das hat Wen-dell Green nicht an die große Glocke gehängt . zumindest bisher nicht, könnte aber noch kommen. Kannibalen gibt’s überall!

»Gib den Blumen einen Schluck Wasser, bevor du gehst, ja? Die Luft ist so trocken.«

»Mach ich.« Dale gießt gern Sarahs Blumen. Mit dem Gartenschlauch in der Hand hat er oft die besten Ideen.

Oben entsteht eine Pause ... aber er hat ihre Pantoffeln nicht ins Schlafzimmer zurückschlurfen gehört. Er wartet. Und schließlich kommt die Frage: »Alles in Ordnung, Schatz?«

»Alles bestens«, antwortet er laut und bemüht sich, den hoffentlich richtigen Grad an Herzhaftigkeit in seine Stimme zu legen.

»Weil du dich noch rumgeworfen hast, als ich eingeschlafen bin.«

»Nein, mir fehlt nichts.«

»Weißt du, was Davey mich gestern Abend beim Haa-rewaschen gefragt hat?«

Dale verdreht die Augen. Er mag diese Fernunterhaltungen nicht. Sarah scheint da anderer Meinung zu sein. Er steht auf und gießt sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Nein, was denn?«

»Er hat gefragt: >Verliert Daddy jetzt seinen Job?<«

Dale hält mit halb erhobener Tasse inne. »Und was hast du ihm geantwortet?«

»Ich habe nein gesagt. Natürlich.«

»Dann hast du das Richtige gesagt.«

Er wartet, aber von oben kommt nichts mehr. Nachdem Sarah ihm eine weitere kleine Dosis giftiger Sorgen injiziert hat - Davids fragile Psyche, aber auch, was ein bestimmter Unhold dem Jungen antun könnte, sollte David das Pech haben, ihm über den Weg zu laufen -, schlurft sie ins Elternschlafzimmer zurück, um sich dort vermutlich unter die Dusche zu stellen.

Dale kehrt an den Küchentisch zurück, nimmt einen kleinen Schluck Kaffee, legt eine Hand an die Stirn und schließt die Augen. In diesem Moment können wir genau sehen, wie verängstigt und unglücklich er ist. Dale ist erst zweiundvierzig und lebt enthaltsam, aber im grausamen Morgenlicht, das durchs Fenster fällt, durch das wir hereingekommen sind, sieht er - zumindest im Augenblick - wie ein kränklicher Sechziger aus.

Er macht sich tatsächlich Sorgen um seinen Job, weiß er doch, dass er nächstes Jahr fast mit Sicherheit seinen Posten verlieren wird, sollte der Kerl, der Amy und Johnny ermordet hat, weitermachen. Er macht sich auch Sorgen um Davey ... obwohl seine Hauptsorge eigentlich nicht Davey gilt, wie Fred Marshall kann er sich nämlich nicht recht vorstellen, dass der Fisherman Sarahs und sein einziges Kind ermorden könnte. Nein, er macht sich weit mehr Sorgen um die anderen Kinder von French Landing, vielleicht auch um die Kinder von Centralia und Arden.

Dales größte Sorge ist, er könnte einfach nicht gut genug sein, um diesen Hundesohn zu fassen. Dass dieser ein drittes, viertes, vielleicht ein elftes und zwölftes Kind ermorden wird.

Gott weiß, dass er Unterstützung angefordert hat. Und sie bekommen hat . gewissermaßen. Die State Police hat zwei Kriminalbeamten auf den Fall angesetzt, und der FBI-Mann aus Madison fragt immer wieder mal nach (allerdings nur inoffiziell, weil das FBI nicht offiziell an den Ermittlungen beteiligt ist). Für Dale hat selbst diese Unterstützung von außen etwas Surreales an sich, was teilweise auf das Zusammenspiel ihrer Namen zurückzuführen ist. Bei dem FBI-Mann handelt es sich um Agent John P. Redding. Die Kriminalbeamten heißen Perry Brown und Jeffrey Black. Also hat er Braun, Schwarz und Rot in seinem Team. Die Farbentruppe, nennt Sarah sie. Alle drei betonen, dass sie ihn bei seinen Ermittlungen nur unterstützen wollen - zumindest vorläufig. Sie machen damit aber unmissverständlich klar, dass Dale Gilbertson der Mann ist, der auf dem Nullpunkt steht.

Gott, ich wollte, Jack würde sich bereit erklären, mir bei dieser Sache zu helfen, sagt Dale sich. Ich würde ihn im Handumdrehen zum Deputy machen, genau wie in einem dieser kitschigen alten Westernfilme.

Ja, wirklich. Im Handumdrehen.

Als Jack vor fast vier Jahren erstmals nach French Landing kam, hatte Dale keine Ahnung, was er von diesem Mann halten sollte, dem seine Leute sofort den Spitznamen Hollywood verpasst hatten. Als die beiden dann Thornberg Kinderling geschnappt hatten - genau, diesen harmlosen kleinen Thornberg Kinderling, kaum zu glauben, aber absolut wahr -, hatte er genau gewusst, was von ihm zu halten war. Der Kerl war der beste geborene Detektiv, der Dale jemals untergekommen war.

Der einzige geborene Detektiv, um’s genau zu sagen.

Na gut, okay, der einzige. Und obwohl sie sich den Fahndungserfolg geteilt hatten (darauf hatte der Neuankömmling aus L. A. bestanden), war er vor allem Jacks Detektivarbeit zu verdanken gewesen. Er war fast wie einer dieser Romandetektive ... Hercule Poirot, Ellery Queen, einer von denen. Aber Jack deduzierte eigentlich nicht, er lief auch nicht herum, tippte sich an die Schläfe und redete von seinen »kleinen grauen Zellen«. Er .

»Er hört einfach gut zu«, murmelt Dale. Er steht auf und geht zur Hintertür, kommt dann aber noch einmal zurück, um den Aktenkoffer zu holen. Er will ihn schon mal auf den Rücksitz seines Streifenwagens legen, bevor er die Blumen gießt. Er will diese schrecklichen Bilder nicht länger im Haus haben als unbedingt nötig.

Er hört zu.

Wie er Janna Massengale, der Barfrau im Taproom, zugehört hatte. Dale hatte sich damals gewundert, warum Jack so viel Zeit mit dem kleinen Flittchen verbrachte, er hatte den Beau aus L. A. sogar verdächtigt, mit ihr ins Bett gehen zu wollen, nur um zu Hause am Rodeo Drive vor seinen Freunden mit einem kleinen Abenteuer in Wisconsin, wo die Luft dünn und rein und die Frauenbeine lang und kräftig waren, prahlen zu können. Aber so war’s überhaupt nicht gewesen. Er hatte zugehört, und sie hatte ihm schließlich erzählt, was er wissen musste.

Yeah, klar, viele heute machen komische Sachen, wenn sie trinken, hatte Janna gesagt. Zum Beispiel dieser Kerl, der nach ein paar Drinks das hier macht ... Sie hatte ihre Nasenlöcher zwischen Zeige- und Mittelfinger zusammengedrückt - aber mit nach außen gedrehter Handfläche.

Jack, der weiter ungezwungen lächelte, weiter vor seinem Mineralwasser saß: Immer mit der Handfläche nach außen? So? Er imitierte die Bewegung.

Janna, lächelnd, halb verliebt: Richtig, Schätzchen - Sie kapieren schnell.

Jack: Kommt darauf an. Wie heißt der komische Kauz denn, Darlin’?

Janna: Kinderling. Thornberg Kinderling. Sie kicherte. Aber nach ein paar Drinks - immer wenn er mit dieser Zwickerei anfängt - will er von allen nur noch Thorny genannt werden.

Jack, ebenfalls noch immer lächelnd: Und trinkt er Bombay-Gin, Darlin ’? Ein Eiswürfel, kleiner Spritzer Angostura?

Jannas Lächeln beginnt zu verblassen, sie starrt ihn an, als wäre er eine Art Hexenmeister. Woher wissen Sie das?

Woher er das wusste, spielte aber keine Rolle, damit war die Sache nämlich im Kasten, sogar mit einer hübschen Schleife darum herum. Klappe zu, Affe tot, macht den Hosenstall dicht.

Schließlich war Jack mit Thornberg Kinderling in seiner Obhut nach Los Angeles zurückgeflogen - Thorn-berg Kinderling, ein harmloser, bebrillter Saatgutvertreter aus Centralia, war sehr schüchtern, hätte niemals Scheiße gesagt, wenn er die Schnauze voll hatte, und hätte sich nicht getraut, eure Mama an einem heißen Tag um ein Glas Wasser zu bitten, aber er hatte in der Stadt der Engel zwei Prostituierte ermordet. Thorny hatte sich nicht mit Erwürgen zufrieden gegeben. Er hatte seine Arbeit mit einem Buck-Messer erledigt, das Dale schließlich zu Lapham Sporting Goods, einem schäbigen kleinen Sportgeschäft gleich neben der Sand Bar, der verrufensten Kneipe von Centralia, zurückverfolgt hatte.

Unterdessen war Kinderlings Täterschaft schon längst durch eine DNS-Analyse zweifelsfrei bewiesen worden, aber Jack war trotzdem froh gewesen, dass nun auch die Herkunft der Tatwaffe geklärt war. Er hatte Dale persönlich angerufen, um ihm zu danken, und Dale, der sich in seinem Leben noch nie westlich von Denver aufgehalten hatte, war von dieser Höflichkeit über die Maßen gerührt gewesen. Während der Ermittlungen hatte Jack mehrmals gesagt, wenn der Täter ein gemeiner Verbrecher sei, könne man nie genug Beweise haben, und Thorny Kinderling hatte sich als wirklich hundsgemeiner Verbrecher erwiesen. Er hatte natürlich auf Geistesgestörtheit plädiert. Dale - der insgeheim gehofft hatte, als Zeuge vorgeladen zu werden -, war dann hocherfreut gewesen, dass die Geschworenen diese Einrede verworfen und Kinderling zu zweimal lebenslänglich verurteilt hatten.

Und wodurch war das alles möglich geworden? Was hatte den Anstoß dazu gegeben? Nun, dadurch dass ein Mann zugehört hatte. Das war alles. Dass er einer Barfrau zugehört hatte, die es gewohnt war, dass ihre Brüste angestarrt wurden, während ihre Worte meistens bei einem Ohr des Mannes, der sie anstarrte, hinein- und beim anderen wieder hinausgingen. Und wem hatte Hollywood Jack zugehört, bevor er Janna Massengale zugehört hatte? Anscheinend irgendeiner Nutte vom Sunset Strip ... oder eher einem ganzen Haufen von ihnen. (Wie würde man den übrigens nennen?, fragt Dale sich geistesabwesend, während er in die Garage geht, um seinen treuen Gartenschlauch zu holen. Eine Herde Pferdchen? Eine Schar Strichmiezen?) Keine von denen hätte Thornberg Kinderling bei einer Gegenüberstellung identifizieren können, weil der Thornberg, der gelegentlich in L. A. gewesen war, kaum Ähnlichkeit mit dem Thornberg hatte, der den Saatguthandel im Coulee Country und drüben in Minnesota besuchte. Der L. A.-Thorny hatte ein Toupet, statt der Brille Kontaktlinsen und ein angeklebtes Schnurrbärtchen getragen.

»Das Beste war die dunkle Schminke«, hatte Jack gesagt. »Nur ein bisschen, gerade genug, um als Einheimischer durchgehen zu können.«

»Vier Jahre Theatergruppe in der High School French Landing«, sagt Dale darauf grimmig. »Ich hab’s nachgesehen. Der Kerl hat im vorletzten Schuljahr den Don Juan gespielt, ist das nicht unglaublich?«

Viele gerissene kleine Veränderungen (anscheinend zu viele, als dass die Geschworenen ihm seine angebliche Geistesgestörtheit abgenommen hätten), aber eine verräterische kleine Geste hatte Thorny übersehen: seine Angewohnheit, sich beide Nasenlöcher mit nach außen gedrehter Handfläche zuzudrücken. Irgendeine Prostituierte hatte sich jedoch daran erinnert, und als sie das erwähnt hatte - bestimmt nur beiläufig, dessen war Dale sich sicher, genau wie Janna Massengale -, hatte Jack es mitbekommen.

Weil er zuhörte.

Hat mich angerufen, um mir fürs Aufspüren des Messers zu danken, und dann noch mal nach der Urteilsverkündung, denkt Dale, beim zweiten Mal war er aber auch noch auf etwas anderes aus. Und ich hob gleich gewusst, was er wollte. Ich hab’s gewusst, schon bevor er den Mund aufgemacht hat.

Obwohl Dale kein genialer Detektiv wie sein Freund aus dem Golden State ist, war ihm dennoch die überraschende, impulsive Reaktion des Jüngeren auf die Landschaft im Westen Wisconsins nicht entgangen. Jack hatte sich ins Coulee Country verliebt, und Dale wäre jede Wette eingegangen, dass das Liebe auf den ersten Blick gewesen war. Es war unmöglich gewesen, seinen Gesichtsausdruck zu verkennen, als sie von French Landing nach Centralia, von Centralia nach Arden, von Arden nach Monroe fuhren: Staunen, Freude, fast eine Art Verzücktheit. Dale fand damals, dass Jack wie ein Mann ausgesehen hatte, der an einen ihm unbekannten Ort kommt, nur um zu entdecken, dass er in Wahrheit wieder heimgekehrt ist.

»Mann, ich kann’s einfach nicht fassen«, hatte Jack einmal zu ihm gesagt. Die beiden waren in Dales Caprice-Streifenwagen unterwegs, der alten Kiste, die immer Probleme mit der Spureinstellung hatte (und bei der manchmal die Hupe klemmte, was peinlich sein konnte). »Ist Ihnen klar, dass Sie sich glücklich schätzen können, hier zu leben, Dale? Das hier ist bestimmt eine der schönsten Landschaften der ganzen Welt.«

Dale, der sein ganzes Leben im Coulee Country verbracht hatte, setzte dem nichts entgegen.

Gegen Ende ihres letzten Gesprächs über Thornberg Kinderling hatte Jack ihn also daran erinnert, dass er ihn doch einmal gebeten habe (nicht ganz im Scherz, aber andererseits auch nicht ganz ernsthaft), ihn zu benachrichtigen, falls in der Gegend irgendein hübsches Anwesen außerhalb der Stadt zu verkaufen sei. Und Dale hatte an Jacks Tonfall - an dem fast besorgten Tieferwerden seiner Stimme - sofort erkannt, dass die Zeit der Scherze vorbei war.

»Und deshalb bist du mir was schuldig«, murmelt Da-le, während er den Schlauch schultert. »Du bist mir was schuldig, du Hundesohn.«

Natürlich hat er Jack bereits gebeten, inoffiziell an den Ermittlungen im Fall Fisherman mitzuwirken, aber Jack hat abgewinkt . mit einem ängstlichen Unterton. Ich bin pensioniert, hat er brüsk gesagt. Falls du nicht weißt, was das Wort bedeutet, Dale, können wir’s gemeinsam im Lexikon nachschlagen.

Aber das ist doch lächerlich, oder? Natürlich ist’s das. Wie kann ein Mann mit noch nicht einmal fünfunddreißig pensioniert sein? Vor allem einer, der in seinem Beruf so teuflisch gut ist?

»Du bist mir was schuldig, Baby«, murmelte er noch einmal, während er die Außenwand des Hauses entlang zum Wasserhahn geht. Der Himmel über ihm zeigt sich wolkenlos; der gut gewässerte Rasen ist grün; es gibt kaum Anzeichen für Verwerfungen, nicht hier draußen in der Herman Street. Trotzdem mag es vielleicht welche geben, und vielleicht spüren wir sie. Eine Art misstönendes Summen wie das Geräusch der tödlichen Stromstärke, die durch das stählerne Fachwerk des KDCU-Sendemasts pulsiert.

Aber wir haben uns hier viel zu lange aufgehalten. Wir müssen weiterfliegen, um unser letztes Ziel an diesem frühen Morgen zu erreichen. Wir wissen noch nicht alles, aber wir wissen bereits drei wichtige Dinge: erstens, dass French Landing eine kleine Stadt in schrecklicher Sorge ist; zweitens, dass einige wenige Leute (Judy Marshall zum einen, Charles Burnside zum anderen) auf irgendeiner unterschwelligen Ebene begreifen, dass die Leiden der Stadt weit über die Schandtaten eines einzelnen gestörten, pädophilen Mörders hinausgehen; drittens, dass wir noch niemandem begegnet sind, der imstande wäre, bewusst die Kräfte - die Verwerfungen - zu erkennen, die jetzt auf diese ruhige Kleinstadt an Toms und Huckleberrys Fluss einwirken. Alle Menschen, die wir kennen gelernt haben, sind auf ihre jeweilige Art so blind wie Henry Leyden. Das gilt für die Leute, denen wir noch nicht begegnet sind - Beezer St. Pierre, Wen-dell Green, die Farbentruppe -, ebenso wie für unsere Bekannten.

Unsere Herzen lechzen nach einem Helden. Und obwohl wir vielleicht keinen finden werden (schließlich leben wir im 21. Jahrhundert, in dem nicht d’Artagnan und Jack Aubrey, sondern George W. Bush und Dir-tysperm den Ton angeben), können wir vielleicht einen Mann finden, der einst ein Held war. Deshalb wollen wir einen alten Freund aufsuchen, den wir zuletzt tausend und mehr Meilen weiter östlich am Strand des stetig rauschenden Atlantiks gesehen haben. Jahre sind vergangen und haben den Jungen, der er war, in mancher Beziehung geschwächt. Er hat viel vergessen und einen großen Teil seines Erwachsenenlebens damit verbracht, sich diesen Zustand der Amnesie zu erhalten. Dennoch ist er French Landings einzige Hoffnung, weshalb wir uns aufmachen wollen und fast genau nach Osten über die Wälder und Felder und sanften Hügel zurückfliegen.

Unter uns sehen wir meilenweit nur Farmland: strammstehende Maisfelder, ertragreiche Heuwiesen, gelbliche Streifen mit üppiger Luzerne. Staubige schmale Zufahrten führen zu weiß gestrichenen Farmhäusern und ihren Nebengebäuden: große Scheunen, Getreidespeicher, zylinderförmige Silos aus Hohlblocksteinen und lange Geräteschuppen mit Wellblechwänden. Auf den ausgetretenen Fußwegen zwischen Häusern und Scheunen sind Männer in Arbeiterjacken unterwegs. Wir können das Sonnenlicht bereits riechen. Sein Geruch, eine reichhaltige Mischung aus Butter, Hefe, Erde, Wachstum und Verfall, wird sich verstärken, sobald die Sonne höher steigt und das Licht intensiver wird.

Unter uns kreuzt der Highway 93 in der Mitte der winzigen Ansiedlung Centralia den Highway 35. Der leere Parkplatz hinter der Sand Bar wartet auf die lärmende Ankunft der Thunder Five, die gewohnheitsmäßig ihre Samstagnachmittage, -abende und -nächte in der Sand Bar verbringen, wo sie Billardtische, Hamburger und Krüge des Nektars genießen, dessen Herstellung sie ihr exzentrisches Leben gewidmet haben: das Spitzenprodukt der Kingsland Brewing Company, ein Bier, das mit jedem Spezialbier einer Gaststättenbrauerei oder einer belgischen Klosterbrauerei mithalten kann -Kingsland Ale. Wenn Beezer St. Pierre, Mouse und Genossen behaupten, es sei das beste Bier der Welt, weshalb sollten wir ihre Aussage anzweifeln? Sie verstehen nicht nur viel mehr von Bier als wir, sondern haben alles, was sie an Wissen, Können, Erfahrung und Intuition besitzen, dafür eingesetzt, um Kingsland Ale zu einem Maßstab für Braukunst zu machen. Eigentlich sind sie sogar nur nach French Landing umgezogen, weil die Brauerei, für die sie sich nach reiflicher Überlegung entschieden hatten, bereit war, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Spricht man von Kingsland Ale, wünscht man sich natürlich einen kräftigen Schluck von dem Zeug, aber wir widerstehen dieser Versuchung. Halb acht Uhr morgens ist noch viel zu früh, um etwas anderes als Obstsaft, Kaffee oder Milch zu trinken (außer für Leute wie Wan-da Kinderling, allerdings ist Bier, selbst Kingsland Ale, für Wanda nur eine Art Zusatznahrung neben Wodka der Marke Aristocrat). Außerdem sind wir auf der Suche nach unserem alten Freund, dem Mann, der einem Helden noch am nächsten kommt und den wir zuletzt als Jungen am Strand des Atlantischen Ozeans gesehen haben. Wir wollen keine Zeit mehr verlieren; wir sind unterwegs, genau hier und jetzt. Die Meilen bleiben hinter uns zurück, und entlang des Highways 93 werden die Felder schmaler, je mehr die Hügel auf beiden Seiten ansteigen.

Obwohl wir es eilig haben, müssen wir dies in uns aufnehmen, müssen wir sehen, wo wir sind.

4

Vor drei Jahren fuhr unser alter Freund dieses Teilstück des Highways 93 auf dem Beifahrersitz des alten Streifenwagens von Dale Gilbertson entlang - mit wild rasendem Herzen, wie zugeschnürter Kehle und trockenem Mund, während der freundliche Dale, damals kaum mehr als ein Kleinstadt-Cop, den er über jedes vernünftige Maß hinaus beeindruckt hatte, indem er einfach seine Arbeit mehr oder weniger so gut getan hatte, wie er konnte -, ihn zu einem Farmhaus mit zwei Hektar Grund hinausfuhr, das Dale von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte. »Das hübsche Häuschen« war für ein Spottgeld zu haben, weil Dales Cousins keinen besonderen Wert darauf legten und es auch sonst niemand haben wollte. Dale hatte das Anwesen aus sentimentalen Gründen behalten, aber auch er war nicht sonderlich daran interessiert. Dale wusste kaum, was er mit einem zweiten Haus anfangen sollte, außer viel Zeit damit zu verbringen, es instand zu halten - eine Aufgabe, die er eigenartig befriedigend fand, aber ebenso gern einem anderen abtreten würde. Und zu diesem Zeitpunkt ihrer Beziehung empfand Dale solche Ehrfurcht vor unserem Freund, dass er bei der Aussicht, dieser Mann könnte in sein altes Elternhaus einziehen, nicht etwa Ressentiments empfand, sondern das als Ehre betrachtete.

Was den Mann auf dem Beifahrersitz anging, so war dieser zu sehr in seiner Reaktion auf die Landschaft gefangen - zu sehr von der Landschaft gefangen -, als dass er Dales Ehrfurcht als peinlich empfunden hätte. Unter normalen Umständen hätte unser Freund seinen Bewunderer eilig in eine ruhige Bar gezerrt, ihn zu einem Bier eingeladen und gesagt: »Hören Sie, Dale, ich weiß, dass meine Arbeit Sie beeindruckt hat, aber letzten Endes bin auch ich nur ein Cop wie Sie. Das ist alles. Und ich habe, ganz ehrlich gesagt, viel mehr Glück, als ich verdiene.« (Das hätte sogar der Wahrheit entsprochen: Seit wir unseren Freund zuletzt gesehen haben, ist er mit solch außerordentlichem Glück gesegnet - falls das ein Segen ist -, dass er längst nicht mehr wagt, Karten zu spielen oder gar Sportwetten abzuschließen. Gewinnt man fast immer, schmecken Siege sehr bald schal.) Aber hier lagen keine gewöhnlichen Umstände vor, und in der Flut der Gefühle, die ihn zu überwältigen drohten, seit sie Centralia auf dem anfangs noch ebenen Highway 93 verlassen hatten, nahm er Dales Bewunderung kaum wahr. Diese kurze Fahrt zu einem Ort, den er noch nie gesehen hatte, erschien ihm wie eine lange hinausgeschobene Heimkehr, und alles, was er sah, schien durch Erinnerungen bedeutungsvoll, ein Teil seines Ichs, wesentlich zu sein. Alles erschien ihm heilig. Er wusste, dass er das hübsche Häuschen kaufen würde, wie es auch aussehen und was es auch kosten mochte, wobei der Preis ohnehin keine Rolle gespielt hätte. Er würde es kaufen, das stand fest. Dales Heldenverehrung betraf ihn nur insoweit, als dass er wahrscheinlich würde verhindern müssen, dass sein Bewunderer den Verkaufspreis letztlich viel zu niedrig ansetzte. Inzwischen kämpfte er gegen die Tränen an, die ihm in die Augen steigen wollten.

Von oben sehen wir jetzt die eiszeitlichen Täler, die das Land rechts des Highways wie der Abdruck von Riesenfingern unterteilen. Er dagegen sah nur die schmalen Straßen, die plötzlich vom Highway abzweigten und ins Hell-Dunkel dieser Täler führten. Jede Straße sagte: Fast am Ziel. Der Highway sagte: Die Richtung stimmt. Ein Blick nach unten zeigt uns einen Rastplatz am Highway, zwei Zapfsäulen und ein langes graues Dach mit der verblichenen Aufschrift Roy’s Store; als er nach rechts blickte und hinter den Zapfsäulen die Holztreppe sah, die zu einer breiten einladenden Veranda und dem Ladeneingang hinaufführte, hatte er das Gefühl, diese Stufen schon hundertmal hinaufgestiegen und in den Laden gegangen zu sein, um Brot, Milch, Bier, Aufschnitt, Arbeitshandschuhe, einen Schraubenzieher, eine Kleinpackung Nägel und alles andere zu kaufen, was er sonst noch aus der Fülle praktischer Dinge in den Regalen brauchte, ein Vorgang, den er nach diesem Tag tatsächlich hundert und mehr Male tun würde.

Fünfzig Meter weiter den Highway entlang windet sich der Tamarack Creek als blaugrauer Faden durchs Norway Valley herab. Als Dales Wagen über die rostige kleine Eisenbrücke rollte, sagte die Brücke: Hier ist’s!, und der leger, aber teuer gekleidete Mann auf dem Bei-fahrersitz, der aussah, als stammte sein gesamtes Wissen über Farmland von Blicken durch die Fenster neben Ers-te-Klasse-Sitzen auf transkontinentalen Flügen, sodass er eigentlich außerstande war, Weizen von Mais zu unterscheiden, fühlte sein Herz beben. Jenseits der Brücke stand auf einem Wegweiser: Norway Valley Road.

»Gleich sind wir da«, sagte Dale und bog nach rechts ins Tal ab. Unser Freund bedeckte mit einer Hand den Mund, um etwaige Laute, die sein bebendes Herz ihn ausstoßen lassen könnte, zu unterdrücken.

Am Straßenrand blühten und nickten hier und da Wildblumen, manche von ihnen aufrecht und leuchtend, andere halb in der üppig grünen Vegetation verborgen. »Ich fühle mich immer gut, wenn ich diese Straße entlangfahre«, sagte Dale.

»Kein Wunder«, stammelte unser Freund.

Nur sehr wenig von dem, was Dale sagte, drang durch den Wirbelsturm aus Emotionen, der durch Geist und Körper seines Beifahrers tobte. Das ist die alte LundFarm - Cousins meiner Mutter. Die einräumige Zwergschule, in der meine Urgroßmutter Lehrerin war, hat gleich dort drüben gestanden, aber sie ist jetzt schon lange abgerissen. Das ist Duane Updahls Farm, Gott sei Dank kein Verwandter. Brabbel, brummel, murmel. Brummel, murmel, brabbel. Sie kreuzten nochmals den Tamarack Creek, dessen blaugrau glitzerndes Wasser lachend ausrief: Wir sind da! Als der Wagen durch eine Kurve rollte, beugte eine Fülle üppiger Wildblumen sich wie trunken dem Wagen entgegen. In ihrer Mitte schienen sich unserem Freund die blinden, aufmerksamen Gesichter von Tigerlilien zuzuneigen. Eine Gefühlswoge, die stiller, aber kaum schwächer als der vorige Wirbelsturm war, ließ ihm Tränen der Verwirrung in die Augen treten.

Tigerlilien, wie das denn? Tigerlilien besaßen für ihn doch keinerlei Bedeutung. Er nahm ein Gähnen zum Vorwand, um sich über die Augen zu fahren, und hoffte inständig, dass Dale nichts gemerkt hatte.

»Da wären wir«, sagte Dale, der vielleicht etwas gemerkt hatte oder auch nicht, und bog auf eine lange, grasüberwachsene Zufahrt ab, die von Wildblumen und hohen Gräsern gesäumt war und lediglich auf eine weite Wiesenfläche mit hüfthohen Blumenpolstern zu führen schien. Jenseits der Wiese zog sich ein gestreiftes Feld bis zu einem bewaldeten Hügel hinauf. »Das alte Haus, in dem mein Dad gewohnt hat, kommt gleich in Sicht. Die Wiese gehört noch zum Haus, das Feld allerdings meinen Cousins Randy und Kent.«

Unser Freund konnte das weiße einstöckige Farmhaus am Ende der letzten Biegung der Zufahrt erst sehen, nachdem Dale Gilbertson die Kurve halb durchfahren hatte. Er schwieg, bis Dale vor dem Haus angehalten, den Motor abgestellt und wie er ausgestiegen war. Das hier war also »das hübsche Häuschen«: solide, frisch gestrichen, liebevoll gepflegt, bescheiden, aber trotzdem wohlproportioniert, abseits der Straße, abseits der Welt, am Rand einer gelbgrünen Wiese mit unzähligen Blumen.

»Mein Gott, Dale«, sagte er, »es ist perfekt.«

Hier werden wir also nun unseren einstigen Weggefährten antreffen, der in seiner Kindheit einen Jungen namens Richard Sloat und einmal auch, viel zu kurz, einen weiteren Jungen kannte, der einfach nur Wolf hieß. In diesem soliden, hübschen, einsamen weißen Farmhaus werden wir unseren alten Freund antreffen, der einst in seiner Kindheit von Meer zu Meer quer durchs Land zog, um ein bestimmtes wichtiges Ding, einen notwendigen Gegenstand, einen starken Talisman zu erlangen, und dem es trotz scheinbar unüberwindbaren Hindernissen und schrecklichen Gefahren glückte, den gesuchten Gegenstand zu finden und ihn klug und gut anzuwenden. Der, so könnten wir sagen, heldenhaft eine ganze Anzahl von Wundern bewirkte. Und der sich an nichts davon erinnert. Hier in seiner Küche, wo er sich sein Frühstück macht, während er George Rathbun auf KDCU lauscht, finden wir endlich den ehemaligen Lieutenant der Mordkommission im Los Angeles Police Department - Jack Sawyer.

Unser Jack. Jacky-Boy, wie seine Mutter, die verstorbene Lily Cavanaugh Sawyer, zu sagen pflegte.

Er war Dale durchs leere Haus gefolgt, von oben bis unten, auch in den Keller, und hatte pflichtbewusst alles bewundert: den neuen Heizkessel, den Gilbertson noch im Jahr vor dem Tod seines Vaters eingebaut hatte, die Qualität der seither vorgenommenen Reparaturen, die glänzende Maserung der Holzböden, die Dicke der Isolierung auf dem Speicher, die Solidität der Fenster, die vielen handwerklich geschickten Lösungen, die ihm überall auffielen.

»Yeah, ich hab hier viel Arbeit reingesteckt«, erklärte Dale ihm. »An sich war alles gut in Schuss, aber ich arbeite gern mit den Händen. Mit der Zeit ist so was wie ein Hobby daraus geworden. Immer wenn ich ein paar Stunden Zeit hatte, an Wochenenden und so, bin ich hergefahren und hab hier rumgewerkelt. Na ja, vielleicht hat mir das geholfen, weiter das Gefühl zu haben, mit meinem Dad in Verbindung zu stehen. War wirklich ein guter Kerl, mein Dad. Ich sollte seinem Willen nach zwar auch Farmer werden, aber als ich dann doch lieber zur Polizei gehen wollte, hat er mich auch darin vorbehaltlos unterstützt. Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat? >Wirst du nur halbherzig Farmer, trete ich dir von morgens bis abends in den Hintern. Dann kommst du dir irgendwann wie ein Muli vor. Deine Mutter und ich haben dich aber nicht in die Welt gesetzt, um ein Muli aus dir zu machen.««

»Was hat Ihre Mutter davon gehalten?«, fragte Jack.

»Sie stammte aus einer alten Farmerfamilie«, sagte Dale. »Sie dachte, ich würde ein Mulileben vielleicht doch nicht so schlimm finden. Als sie dann schließlich vier Jahre vor meinem Vater gestorben ist, hatte sie sich aber längst daran gewöhnt, dass ihr Sohn ein Cop ist. Und jetzt treten wir mal aus der Küchentür und werfen einen Blick auf die Wiese, okay?«

Während sie draußen standen und ihren Blick auf die Wiese warfen, fragte Jack ihn, wie viel er für das Haus verlange. Dale, der auf diese Frage gewartet hatte, zog 5000 Dollar von dem Höchstpreis ab, den Sarah und er jemals zu erzielen gehofft hatten. Wem wollte er etwas vormachen? Er wünschte sich, dass Jack Sawyer das Haus kaufte, das Haus, in dem Dale selbst aufgewachsen war -und verband damit die Hoffnung, dass Jack wenigstens ein paar Wochen im Jahr in seiner Nähe wohnen würde. Wenn nicht Jack das Haus kaufte, würde es niemand kaufen.

»Ist das Ihr Ernst?«, sagte Jack.

Bestürzter, als er sich eingestehen wollte, sagte Dale: »Kommt mir wie ein fairer Preis vor.«

»Er ist Ihnen gegenüber aber unfair«, sagte Jack. »Ich lasse nicht zu, dass Sie das Haus verschenken, nur weil Sie mich mögen. Verlangen Sie mehr, sonst kommen wir nicht ins Geschäft.«

»Ihr Jungs aus der Großstadt versteht euch wirklich aufs Verhandeln. Also gut, sagen wir dreitausend mehr.«

»Fünf«, sagte Jack. »Sonst haue ich ab.«

»Verkauft. Aber Sie brechen mir das Herz.«

»Das ist hoffentlich das letzte Mal, dass ich von einem von euch fiesen Norwegern ein Anwesen kaufe«, sagte Jack.

Er regelte den eigentlichen Verkauf des Hauses aus der Ferne, schickte aus L. A. eine Anzahlung, wechselte Unterschriften per Fax, keine Hypothek, Barzahlung im Voraus. Aus welchen Verhältnissen Jack Sawyer auch stammen mochte, sagte Dale sich, sie waren materiell wesentlich besser als sonst bei Polizeibeamten. Einige Wochen später tauchte Jack in einem selbst erzeugten Tornado wieder auf, ließ das Telefon anschließen und die Stromrechnung auf seinen Namen umschreiben, kaufte Roy’s Store sozusagen halb leer und flitzte nach Arden und nach La Riviere, um ein neues Bett, Bettwäsche, Geschirr, Besteck und Gläser, gusseiserne Töpfe und Pfannen, einen Satz französische Küchenmesser, eine kompakte Mikrowelle, einen riesigen Fernseher und einen Hi-Fi-Geräteturm zu kaufen, der so imposant, schwarz und prächtig war, dass Dale, der einmal bei ihm zu einem freundschaftlichen Drink eingeladen war, sich ausrechnete, das Ding müsste mehr als sein eigenes Jahresgehalt gekostet haben. Jack hatte Unmengen weiterer Sachen an Land gezogen, darunter auch Dinge, von denen Dale nicht gewusst hatte, dass sie hier in French County, Wisconsin, überhaupt erhältlich waren. Wozu brauchte irgendjemand einen WineMaster genannten Korkenzieher für glatte fünfundsechzig Dollar? Wer war dieser Kerl, was für eine Familie hatte ihn hervorgebracht?

Dale fiel eine Tragetasche mit einem ihm unbekannten Logo auf, die mit CDs voll gestopft war - bei fünfzehn bis sechzehn Dollar pro Scheibe hatte er hier CDs für ein paar hundert Dollar vor sich. Jedenfalls schien Jack Sawyer ein großer Musikliebhaber zu sein. Dale bückte sich, zog eine Hand voll CD-Hüllen heraus und begutachtete neugierig die Fotos von Leuten, überwiegend Schwarzen, überwiegend mit an den Mund gesetzten Instrumenten. Clifford Brown, Lester Young, Tommy Flanagan, Paul Desmond. »Nie gehört«, sagte er. »Was ist das, Jazz oder so?«

»Du vermutest richtig«, sagte Jack. »Übrigens, würde es dir was ausmachen, wenn ich dich in ein paar Wochen bitte, mit mir Möbel zu rücken und Bilder aufzuhängen, all so Zeug? Ich will noch eine Menge Sachen herbringen lassen.«

»Jederzeit.« Dann hatte Dale eine großartige Idee. »He, ich muss dich mit meinem Onkel Henry zusammenbringen! Der ist sogar einer deiner Nachbarn, wohnt ungefähr eine Viertelmeile von hier die Straße runter. Er war mit meiner Tante Rhoda, der Schwester meines Vaters, verheiratet, die ist aber vor drei Jahren gestorben. Henry ist ein wandelndes Lexikon für verrückte Musik.«

Jack ging nicht auf die Behauptung ein, Jazz sei verrückte Musik. Vielleicht war er das. In Dales Ohren mochte er verrückt klingen. »Ich hätte nicht gedacht, dass Farmer viel Zeit für Musik haben.«

Dale riss den Mund auf und lachte schallend. »Henry ist kein Farmer. Henry ...« Er hob grinsend die Hände -Handflächen nach oben, Finger gespreizt -, während er den richtigen Ausdruck suchte. »Er ist eher das Gegenteil von einem Farmer. Wenn du zurückkommst, mach ich dich mit ihm bekannt. Onkel Henry wird dir gefallen!«

Sechs Wochen später war Jack wieder da, um den Möbelwagen in Empfang zu nehmen und die Packer anzuweisen, wohin sie die Möbel und das andere Zeug stellen sollten. Nach einigen Tagen, als die meisten Kisten ausgepackt waren, rief er Dale an und fragte ihn, ob er noch immer auf seine Hilfe zählen könne. Es war gegen fünf Uhr abends an einem Tag, an dem so wenig los war, dass Tom Lund sogar auf seinem Schreibtischstuhl eingenickt war, und so fuhr Dale hinaus, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, zu Hause erst noch die Kleidung zu wechseln.

Seine erste Reaktion, nachdem Jack ihm die Hand geschüttelt und ihn hereingebeten hatte, war ein unver-wässerter Schock. Kaum hatte Dale den ersten Schritt über die Schwelle getan, stand er wie angenagelt da und konnte nicht weiter. Erst nach einer kleinen Weile kam ihm, dass das ein guter Schock, ein freudiges Erschrecken war. Das alte Haus wirkte völlig verwandelt, so als hätte Jack Sawyer ihn ausgetrickst und die vertraute Haustür zum Inneren eines ganz anderen Hauses geöffnet. Das große Wohnzimmer zwischen Haustür und Küche hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Raum, an den er sich aus seiner Kindheit erinnerte, oder der sauberen, kahlen Leere aus jüngster Vergangenheit. Jack hatte das Haus mit einem Zauberstab berührt, so erschien es Dale, und in etwas völlig anderes verwandelt - eine Villa an der Riviera, ein Apartment in der Park Avenue. (Dale war allerdings noch nie in New York, geschweige denn in Südfrankreich gewesen.) Dann fiel ihm auf, dass Jack das alte Haus ja nicht in etwas verwandelt hatte, was es gar nicht war, sondern einfach nur mehr in ihm gesehen hatte, als Dale jemals wahrzunehmen imstande gewesen war. Die Ledersitzgruppe, die Webteppiche in den leuchtenden Farben, die niedrigen Tische und dezenten Lampen stammten aus einer anderen Welt, aber sie passten so perfekt hierher, als wären sie eigens für dieses Haus angefertigt worden. Was Dale auch sah, es lockte ihn hinein, und er merkte, dass er sich wieder bewegen konnte.

»Wow!«, sagte er. »Ich hab das Haus echt dem Richtigen verkauft.«

»Freut mich, dass es dir gefällt«, sagte Jack. »Mir ge-fällt’s auch, wie ich zugeben muss. Es sieht noch besser aus, als ich erwartet hätte.«

»Wozu brauchst du mich eigentlich noch? Hier ist’s schon wohnlich genug.«

»Wir müssen ein paar Bilder aufhängen«, sagte Jack. »Dann ist’s erst richtig wohnlich.«

Dale ging davon aus, dass Jack von Familienfotos sprach. Er verstand nicht, weshalb jemand Hilfe brauchte, um ein paar gerahmte Fotos aufzuhängen, aber wenn Jack seine Hilfe verlangte, nur zu. Außerdem würden die Bilder ihm viel über Jacks Familie erzählen, die ihn weiterhin sehr interessierte. Als Jack ihn dann zu einem Stapel flacher Kisten führte, die an der Küchentheke lehnten, überkam Dale jedoch wieder das Gefühl, hier überfordert zu sein, eine unbekannte Welt betreten zu haben. Es waren handgefertigte Kisten: solide Konstruktionen, die profimäßigen Schutz gewähren sollten. Einige davon waren eineinhalb bis knapp zwei Meter hoch und fast ebenso breit. Diese Monstren enthielten bestimmt keine Fotos von Mama und Papa. Jack und er mussten die Ecken hochstemmen und die Nägel entlang den Seiten lockern, bevor sie die Deckel abnehmen konnten, was einen erstaunlichen Kraftaufwand erforderte. Dale bedauerte jetzt, dass er zuvor nicht zu Hause vorbeigefahren war, um sich umzuziehen. Bis Jack und er fünf dick mit Seidenpapier umhüllte, schwere rechteckige Gegenstände aus ihren Kokons gezogen hatten, war seine Uniform völlig durchgeschwitzt. Dabei waren noch längst nicht alle Kisten geöffnet.

Eine Stunde später trugen sie die leeren Kisten in den Keller hinunter. Nachdem das erledigt war, genehmigten sie sich erst mal ein Bier. Dann schlitzten sie die Seidenpapierlagen auf und legten Gemälde und Grafiken frei, die mit den unterschiedlichsten Rahmen versehen waren - darunter einige, die aussahen, als hätte der Künstler sie eigenhändig aus den Brettern einer alten Scheune zusammengezimmert. Jacks Bilder fielen in eine Kategorie, die Dale vage als »moderne Kunst« bezeichnet hätte. Er verstand nicht, was manche von ihnen aussagen sollten, obwohl ihm fast alle gefielen, vor allem einige der Landschaften. Er wusste, dass er bestimmt noch nie von diesen Künstlern gehört hatte, aber er vermutete, dass Leute, die in Großstädten lebten und in Museen und Galerien herumhingen, ihre Namen kennen würden. All diese Kunst - alle diese großen und kleinen Bilder, die jetzt auf dem Küchenfußboden auslagen - verwirrte ihn auf nicht ganz angenehme Weise. Er war wirklich in eine andere Welt eingetreten, eine Welt, in der er keine Orientierungspunkte hatte. Dann vergegenwärtigte er sich wieder, dass Jack Sawyer und er diese Bilder ja nirgends anders als an die Wände seines alten Elternhauses hängen wollten. Augenblicklich strömte unerwartete Wärme in diese Vorstellung und füllte sie randvoll. Weshalb sollten benachbarte Welten sich nicht gelegentlich durchdringen? Und war diese andere nicht Jacks Welt?

»Okay«, sagte er. »Ich wollte, Henry . also der Onkel, von dem ich dir erzählt habe. Du weißt schon, der, der weiter unten an der Straße wohnt. Also, wenn der nur diese Sachen alle sehen könnte. Henry, der könnte sie bestimmt würdigen.«

»Weshalb soll er sie nicht sehen können? Ich lade ihn einfach demnächst mal ein.«

»Ach, hab ich dir das nicht erzählt?«, sagte Dale. »Henry ist blind.«

Gemälde kamen an die Wände im Wohnzimmer, zogen sich das Treppenhaus hinauf, gelangten in die Schlafzimmer. Einige kleinere Bilder hängte Jack ins Bad im ersten Stock und in die Dusche im Erdgeschoss. Dales Arme begannen unter dem Gewicht der Rahmen, die er hochhielt, zu schmerzen, während Jack die Stellen markierte, wo die Nägel eingeschlagen werden sollten. Bereits nach dem dritten Gemälde hatte er die Krawatte abgenommen und die Ärmel hochgekrempelt. Er spürte, wie ihm der Schweiß aus dem Haar sickerte und übers Gesicht lief. Auch der aufgeknöpfte Hemdkragen war bald durchgeschwitzt. Jack Saywer dagegen, der ebenso schwer oder sogar noch schwerer geschuftet hatte, sah aus, als hätte er nichts Anstrengenderes getan, als übers Abendessen nachzudenken.

»Du bist sozusagen ein Kunstsammler, was?«, sagte Dale. »Hat’s lange gedauert, die ganzen Bilder zusammenzubekommen?«

»Ich weiß viel zu wenig, um ein echter Sammler zu sein«, sagte Jack. »Die meisten der Arbeiten hier hat mein Vater schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zusammengekauft. Wenn es sie angetörnt hat, hat auch meine Mutter manchmal etwas gekauft. Wie den kleinen Fairfield Potter dort drüben mit der Veranda, dem Rasen und den Blumen.«

Der kleine Fairfield Potter - Dale nahm an, dass das der Name des Künstlers war - hatte ihm gleich gefallen, schon als Jack und er ihn aus der Kiste gezogen hatten. Solch ein Gemälde konnte man sich problemlos ins Wohnzimmer hängen. In so ein Bild konnte man fast hineingehen. Das Komische war nur, fand Dale, dass die meisten Leute es niemals wirklich wahrnehmen würden, wenn man es in seinem Wohnzimmer hängen hätte.

Jack hatte irgendetwas darüber gesagt, wie froh er sei, dass er die Bilder jetzt nicht mehr einlagern müsse. »Also«, sagte Dale, »deine Eltern haben dir das wohl alles geschenkt, oder?«

»Ich habe sie nach dem Tod meiner Mutter geerbt«, sagte Jack. »Mein Vater ist schon gestorben, als ich noch klein war.«

»Oh, verflixt, das tut mir Leid«, sagte Dale, der abrupt wieder aus der Welt gerissen wurde, in der Mr. Fairfield Potter ihn willkommen geheißen hatte. »War bestimmt taff für dich, so jung deinen Dad zu verlieren.« Ihm war, als hätte Jack ihm damit endlich die Erklärung für die Aura aus Einzelgängertum und Isolation geliefert, die jenen stets zu umgeben schien. Kurz bevor Jack antworten konnte, sagte sich Dale aber, dass das natürlich Blödsinn war. Er hatte in Wirklichkeit keine Ahnung, wie jemand letzten Endes wie Jack Sawyer wurde.

»Yeah«, sagte Jack. »Zum Glück war meine Mutter noch taffer.«

Dale ergriff die Gelegenheit mit beiden Händen. »Was haben deine Leute eigentlich gemacht? Bist du in Kalifornien aufgewachsen?«

»In Los Angeles geboren und aufgewachsen«, sagte Jack. »Meine Eltern waren in der Unterhaltungsindustrie, aber das darf man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Sie waren großartige Leute.«

Jack lud ihn später dann nicht ein, etwa zum Abendessen zu bleiben - was Dale etwas zu schaffen machte. In den eineinhalb Stunden, die sie noch brauchten, um die restlichen Bilder aufzuhängen, blieb Jack Sawyer weiter freundlich und gut gelaunt, aber Dale, der nicht umsonst ein Cop war, spürte in der Liebenswürdigkeit seines Freundes jetzt etwas Ausweichendes und Unnachgiebiges: Eine Tür war einen winzigen Spalt weit geöffnet und dann zugeschlagen worden. Der Ausdruck »großartige Leute« hatte Jacks Eltern unantastbar gemacht. Als die beiden Männer noch einmal eine Pause einlegten, um sich ein weiteres Bier zu gönnen, sah Dale neben der Mikrowelle zwei Einkaufstüten aus dem Lebensmittelgeschäft in Centralia stehen. Inzwischen war es fast acht Uhr, mindestens zwei Stunden nach der üblichen abendlichen Essenszeit in French County. Jack hätte selbstverständlich annehmen können, Dale habe bereits gegessen, hätte seine Uniform nicht das Gegenteil bewiesen.

Dale lenkte Jack mit einer Frage nach dem schwierigsten Fall ab, den dieser je aufgeklärt habe, und näherte sich unauffällig der Küchentheke. Aus der ersten Tüte ragten die marmorierten Enden zweier Rumpsteaks. Bei diesem Anblick knurrte sein Magen vernehmlich laut. Jack ignorierte das Donnergrollen und sagte: »Thorn-berg Kinderling konnte mit allem mithalten, was ich bislang in L. A. zu bearbeiten gehabt habe. Ich bin dir für deine Hilfe wirklich dankbar gewesen.« Dale war im Bilde. Er stand vor einer weiteren abgesperrten Tür, aber diese hatte sich nicht mal einen Spalt breit öffnen wollen. Hier wurde nicht über Geschichte gesprochen; die Vergangenheit war mit Brettern vernagelt.

Sie tranken ihr Bier aus und hängten die restlichen Bilder auf. Währenddessen sprachen sie über hundert Dinge, jedoch stets innerhalb der von Jack Sawyer festgelegten Grenzen. Dale war sich sicher, dass seine Frage nach Jacks Eltern den Abend verkürzt hatte, aber warum sollte das der Fall sein? Was verbarg dieser Kerl? Und vor wem verbarg er es? Als sie fertig waren, bedankte Jack sich herzlich, begleitete Dale zu dessen Wagen und nahm ihm damit jede Hoffnung auf ein Einlenken in letzter Minute. Klappe zu, Affe tot, macht den Hosenstall dicht, um den unsterblichen George Rathbun zu zitieren. Als sie in der duftenden Nacht unter einer Million Sternen standen, seufzte Jack zufrieden und sagte: »Du weißt hoffentlich, wie dankbar ich dir bin. Ehrlich, mir tut’s Leid, dass ich wieder nach L. A. muss. Man muss bloß dran denken, wie schön es hier ist!«

Auf der Rückfahrt nach French Landing, als seine Scheinwerfer die einzigen waren, die auf der langen Geraden des Highways 93 aufleuchteten, fragte sich Dale, ob Jacks Eltern nicht vielleicht mit einem Sektor der Unterhaltungsindustrie zu tun gehabt hatten, der ihrem erwachsenen Sohn jetzt peinlich war - zum Beispiel mit Pornografie. Vielleicht hatte Papa Pornofilme gedreht, und Mama war seine Hauptdarstellerin gewesen. Leute, die Schmuddelfilme drehten, verdienten wahrscheinlich eine Menge Geld, vor allem wenn es in der Familie blieb. Bevor sein Tachometer eine weitere zurückgelegte Zehntelmeile anzeigte, zerfiel Dales Befriedigung über die Erkenntnis jedoch wieder zu Staub, weil er sich an den kleinen Fairfield Potter erinnerte. Keine Frau, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdiente, dass sie vor laufender Kamera mit Unbekannten bumste, hätte für ein solches Gemälde richtiges Geld ausgegeben.

*

Wir wollen uns in Jack Sawyers Küche begeben. Auf dem Tisch liegt aufgeschlagen die heutige Ausgabe des Herald; auf dem vorderen linken Brenner des Gasherds wird eine vor kurzem mit Speiseöl ausgesprühte schwarze Bratpfanne heiß. Ein großer, durchtrainierter, sehr sorgenvoll wirkender Mann, der ein altes USC-Sweatshirt, Jeans und sirupfarbene italienische Slipper trägt, rührt mit einem Schneebesen in einer Edelstahlschüssel, in die er jede Menge Eier geschlagen hat.

Während wir beobachten, wie er hoch über der glänzenden Schüssel mit gerunzelter Stirn ins Leere starrt, stellen wir fest, dass der hübsche Junge, den wir zuletzt in einem Zimmer im dritten Stock eines verlassenen Hotels in New Hampshire gesehen haben, zu einem Mann herangewachsen ist, dessen gutes Aussehen allerdings nur einen winzigen Bruchteil dessen ausmacht, was ihn interessant macht. Denn dass Jack Sawyer interessant ist, springt sofort ins Auge. Selbst wenn irgendeine Privatangelegenheit, irgendein Rätsel, ihm wahnsinnige Sorgen macht, können wir angesichts dieses nachdenklichen Stirnrunzelns trotzdem feststellen, dass Jack Sawyer unwillkürlich überzeugende Autorität ausstrahlt. Man braucht ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er zu den Menschen gehört, an die andere sich Hilfe suchend wenden, wenn sie nicht weiterwissen, sich bedroht fühlen oder das Gefühl haben, ihre Pläne würden durch widrige Umstände durchkreuzt. Intelligenz, Entschlusskraft und Verlässlichkeit haben seine Gesichtszüge so tief geprägt, dass ihre Attraktivität für ihren Ausdruck nebensächlich ist. Dieser Mann bleibt nie vor Spiegeln stehen, um sich zu bewundern - Eitelkeit gehört nicht zu seinen Charakterzügen. So ist es nur verständlich, dass er im Los Angeles Police Department zu den aufsteigenden Stars gehörte, seine Akte von Belobigungen überquoll und er für mehrere vom FBI gesponserte Weiterbildungsmaßnahmen und Fortbildungskurse ausgewählt wurde, deren Zweck die Förderung ebenjener aufsteigenden Stars war. (Insgeheim waren einige von Jacks Kollegen und Vorgesetzten der Überzeugung, er werde schon mit etwa vierzig Polizeipräsident einer Großstadt wie San Diego oder Seattle werden und - wenn alles nach Plan lief - zehn bis fünfzehn Jahre später zu San Francisco oder New York aufsteigen.)

Weitaus erstaunlicher ist, dass Jacks Alter nicht wichtiger als seine Attraktivität zu sein scheint: Er erweckt den Eindruck, vor diesem Leben schon mehrere andere gelebt zu haben, an Orten gewesen und Dinge gesehen zu haben, die über den Horizont gewöhnlicher Menschen hinausgehen. Kein Wunder, dass Dale Gilbertson ihn vergöttert; kein Wunder, dass Dale sich nach Jacks Unterstützung sehnt. An seiner Stelle würden wir sie uns auch wünschen, dabei hätten wir nicht mehr Glück als er. Dieser Mann lebt im Ruhestand, er spielt nicht mehr mit, sorry, verdammt schade und so weiter, aber man muss Eier schlagen, wenn man Omeletts will, wie schon John Wayne in Rio Bravo zu Dean Martin sagte.

»Und wie meine Mama mir erzählt hat«, sagt Jack laut zu sich selbst, »also: >Sonnyboy<, hat sie gesagt, >wenn der Duke gesprochen hat, hat wirklich jeder zugehört, außer er hat wieder mal eine seiner politischen Tiraden von Stapel gelassen<, ja, das hat sie gesagt, das waren exakt ihre Worte, so und nicht anders.« Einen Wimpernschlag später fügt er noch hinzu: »An jenem schönen Morgen in Beverly Hills«, und nimmt endlich wahr, was er gerade tut.

Was wir vor uns haben, ist ein außergewöhnlich einsamer Mensch. Einsamkeit ist bereits so lange Jack Sa-wyers engste Vertraute, dass er sie schon für selbstverständlich hält. Und was sich nicht ändern lässt, wird irgendwann zu einem nicht mehr wahrgenommenen Hintergrundbild, ist doch so. Es gibt viele Dinge - zerebrale Kinderlähmung und amyotrophische Lateralsklerose beispielsweise, um nur zwei zu erwähnen -, die sind schlimmer als Einsamkeit. Sogar Dale ist diese Charaktereigenschaft seines Freundes aufgefallen, obwohl unser Polizeichef trotz seiner vielen Vorzüge kaum als besonders psychologisch geschulter Mensch zu bezeichnen wäre.

Jack sieht auf die Uhr über dem Herd und stellt fest, dass ihm noch eine Dreiviertelstunde bleibt, bevor er nach French Landing fahren muss, um Henry Leyden nach Sendeschluss abzuholen. Gut so; er hat reichlich Zeit, er kommt mit seinem Kram zurecht, wobei der Untertitel lautet: Alles ist in Ordnung, und mir fehlt nichts, vielen Dank der Nachfrage.

Als Jack an diesem Morgen aufwachte, verkündete eine dünne Stimme in seinem Kopf: Ich bin ein Schutzmann. Der Teufel bin ich, dachte er, dann forderte er die dünne Stimme auf, ihn in Ruhe zu lassen. Die dünne Stimme sollte sich zum Teufel scheren. Jack hatte den Beruf des Schutzmanns aufgegeben, er war nicht mehr bei der Mordkommission ...

... die Lichter eines Karussells spiegelten sich auf dem kahlen Schädel eines Schwarzen, der tot auf der Pier in Santa Monica lag ...

Nein. Nicht dorthin! Einfach ... einfach nicht hin, das ist alles.

*

Jack hätte ohnehin nicht in Santa Monica sein sollen. Santa Monica hatte seine eigenen Schutzleute. Soviel er wusste, waren sie ein großartiger Haufen, wenn auch vielleicht nicht ganz auf dem Niveau, das dieses junge Ass, dieser Senkrechtstarter und der jüngste Lieutenant, den die Mordkommission im Los Angeles Police Department je hatte, selbst vorgab. Unser Ass und Senkrechtstarter war aus dem einzigen Grund überhaupt in ihrem Revier gewesen, weil er sich gerade von einer äußerst netten oder zumindest einigermaßen netten Einwohnerin von Malibu getrennt hatte, Ms. Brooke Greer, einer innerhalb ihres Genres, der abenteuerlich-romantischen Actionkomödie, weithin anerkannten Drehbuchautorin, die außerdem eine Frau mit bemerkenswerter Intelligenz, Menschenkenntnis und körperlichen Reizen war. Als er jetzt auf dem landschaftlich schönen Teilstück des Pacific Coast Highways südlich der Ausfahrt Malibu Canyon nach Hause raste, erlag er einem untypischen Anfall von düster gereizter Stimmung.

Kurz nachdem er die California Incline hinauf nach Santa Monica hineingefahren war, sah er den leuchtenden Kreis des Riesenrads, das sich über den Lichterketten und dem lebhaften Gedränge auf der Pier drehte. Aus dieser Szene sprach ihn ein gewöhnlicher Charme beziehungsweise eine charmante Gewöhnlichkeit an. Aus einer Laune heraus parkte Jack seinen Wagen am Straßenrand und ging zu dem im Dunkel unter ihm glitzernden Lichtermeer hinunter. Bei seinem letzten Besuch der Santa-Monica-Pier war er ein aufgeregter Sechsjähriger gewesen, der an Lily Cavanaugh Sawyers Hand gezogen hatte wie ein Hund an der Leine.

*

Was sich ereignet hatte, war von ungefähr geschehen. Es war zu sinnlos, um als Zufall bezeichnet zu werden. Der Zufall führt zwei zuvor nicht miteinander verknüpfte Elemente einer größeren Geschichte zusammen. Hier war nichts verknüpft, und es gab keine größere Story.

*

Als er den grell beleuchteten Eingang der Pier erreichte, stellte er fest, dass das Riesenrad sich doch nicht drehte. Ein Kreis aus stillstehenden Lichtern hing über leeren Gondeln. Sekundenlang erschien ihm die riesige Maschine wie ein außerirdischer Eindringling, der clever getarnt den rechten Augenblick abwartete, bis er den größtmöglichen Schaden anrichten konnte. Jack konnte ihn beinahe vor sich hin schnurren hören. Klar, dachte er, ein bösartiges Riesenrad - reiß dich zusammen. Du bist mehr durcheinander, als du dir eingestehen willst. Dann betrachtete er wieder die Szene vor sich und begriff endlich, dass seine Fantasievorstellung von der Pier eine böse Realität verborgen hatte, die ihm aus seinem Berufsleben nur allzu vertraut war. Er war ins Anfangsstadium von Mordermittlungen hineingestolpert.

Einige der hellen Lichter, die er gesehen hatte, blinkten nicht vom Riesenrad, sondern auf den Dächern von Streifenwagen aus Santa Monica. Draußen auf der Pier hinderten vier uniformierte Beamten eine neugierige Menge daran, in den mit Tatort-Absperrband gezogenen Kreis um ein hell beleuchtetes Karussell einzudringen. Jack ermahnte sich, die Finger von dieser Sache zu lassen. Er hatte hier keine Funktion. Außerdem erweckte das Karussell in ihm irgendein nebulöses, unklares Gefühl, ein ganzes Bündel unwillkommener Empfindungen. Das Karussell war unheimlicher als das still stehende Riesenrad. Vor Karussells hatte er sich schon immer gegruselt, war doch so, oder? Zur Bewegungslosigkeit erstarrte Zwergpferde mit gebleckten Zähnen und durch ihren Leib gerammten Stahlpflöcken - sadistischer Kitsch.

Geh weiter, sagte Jack sich. Deine Freundin hat dir den Laufpass gegeben, und du bist in miserabler Stimmung.

Und was Karussells betrifft ...

Der abrupte Fall eines eisernen Vorhangs beendete die Debatte über Karussells. Jack trat wie von einem inneren Zwang getrieben auf die Pier und schlängelte sich durch die Menge. Er war sich halb bewusst, dass er sich unprofessioneller verhielt als je zuvor in seiner Laufbahn.

Als er schließlich in der ersten Reihe der Menge angelangt war, bückte er sich unter dem Absperrband hindurch und zeigte einem Cop mit Milchgesicht, der ihn zurückbeordern wollte, kurz seine Plakette. Irgendwo in der Nähe begann ein Gitarrist einen Blues zu spielen, den Jack halbwegs erkannte; der Titel schwamm kurz an die Oberfläche seines Bewusstseins, um dann wieder wegzutauchen. Der Bubi-Cop musterte ihn erstaunt und entfernte sich dann, um einen der Kriminalbeamten zu befragen, die über etwas Längliches gebeugt standen, das Jack sich vorerst noch nicht näher ansehen wollte. Die Musik irritierte ihn. Sie irritierte ihn sehr. Tatsächlich nervte sie ihn sogar verdammt. Seine Gereiztheit stand in keinem Verhältnis zu ihrer Ursache, aber was für ein Idiot glaubte, Morde bräuchten einen Soundtrack?

Ein bemaltes Pferd, im grellen Licht erstarrt, bäumte sich auf.

Jacks Magen verkrampfte sich, und tief in seiner Brust regte sich etwas Wildes und Beharrliches, das unter keinen Umständen benannt werden durfte, und breitete seine Arme aus. Beziehungsweise breitete seine Schwingen aus. Dieses schreckliche Etwas wollte ausbrechen und wahrgenommen werden. Jack fürchtete kurz, sich übergeben zu müssen. Das Nachlassen dieses Gefühls bescherte ihm einen Augenblick unbehaglicher Klarheit.

Er hatte sich freiwillig, gedankenlos, in eine Verrücktheit begeben, und nun war er verrückt. Anders konnte man’s nicht ausdrücken. Mit einem Gesichtsausdruck, der eine gelungene Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn war, kam ein Kriminalbeamter namens Ange-lo Leone heran - bis zu seinem zweckdienlichen Verschwinden nach Santa Monica ein Kollege Jacks, der sich durch seine ordinäre Triebhaftigkeit, seine Vorliebe für Gewalt und Korruption, seine Verachtung für Zivilisten unabhängig von Farbe, Rasse, Glaubensbekenntnis oder sozialer Stellung und, das muss fairerweise gesagt werden, seine Furchtlosigkeit und äußerste Loyalität gegenüber allen Polizeibeamten auszeichnete, die sich ans bewährte Programm hielten und wie er handelten, indem sie alles taten, womit sie ungestraft davonkommen konnten. Angelo Leones Verachtung für Jack Sawyer, der sich eben nicht ans Programm hielt, war so stark wie sein Neid auf den Erfolg des Jüngeren gewesen. In wenigen Sekunden würde dieser brutale Höhlenmensch sich mit ihm anlegen. Statt zu versuchen, eine Erklärung zu finden, die den Höhlenmenschen zufrieden stellen würde, war er von Karussells und Gitarren besessen, kümmerte sich um die Details seiner beginnenden Verrücktheit. Aber er konnte seine Anwesenheit nicht erklären. Dafür gab es keine Erklärung. Der innere Zwang, der ihn in diese Lage gebracht hatte, existierte weiter, aber Jack konnte Angelo Leone kaum etwas von inneren Zwängen erzählen. Und er konnte bei seinem Captain keine vernünftige Erklärung vorbringen, falls Leone eine Beschwerde einreichte.

Also, das war so, als würde ich ferngelenkt, als säße ein anderer am Steuer.

Der erste Satz, den Angelo Leones fleischige Lippen bildeten, rettete ihn vor einem Desaster.

»Erzähl mir ja nicht, dass du aus einem bestimmten Grund hier bist, du streberhafter kleiner Wichser.«

Eine Piratenlaufbahn wie Leones setzte den Piraten unweigerlich der Gefahr amtlicher Untersuchungen aus. Eine strategische Absetzbewegung zu einer benachbarten Polizei bot wenig Schutz vor den verdeckten Ermittlungen, bei denen Personalakte und Reputation eines Verdächtigen durchleuchtet wurden, wenn die Medien der Polizei keine andere Wahl mehr ließen. Alle ein, zwei Jahrzehnte taten Gutmenschen, professionelle Enthüller, Meckerer, Denunzianten, aufgebrachte Bürger und Cops, die zu dämlich waren, um sich an das altbewährte Programm zu halten, sich zusammen und wiegelten die Medien auf, nur um dann damit ein Blutbad anzurichten. Leones grundlegende, auf schlechtem Gewissen beruhende Paranoia hatte ihm sofort suggeriert, das Wunderkind der Mordkommission im LAPD sei nur darauf aus, den eigenen Ruf weiter zu vergolden.

Wie Jack erwartet hatte, verstärkte seine Behauptung, der Tatort habe ihn geradezu magisch angezogen, Leo-nes Misstrauen nur noch mehr.

»Okay, du bist also zufällig in meine Ermittlungen reingeplatzt. In Ordnung. Jetzt pass gut auf. Höre ich irgendwann innerhalb der nächsten sechs Monate, sagen wir gleich jemals, zufällig deinen Namen in einer Verbindung, die mir nicht gefällt, pisst du für den Rest deines Lebens durch eine Röhre. Jetzt scher dich gefälligst zum Teufel und lass mich meine Arbeit tun.«

»Bin schon weg, Angelo.«

Leones Partner wollte über die hell beleuchtete Pier auf sie zukommen. Angelo verzog das Gesicht und machte eine abwehrende Handbewegung. Ohne es zu beabsichtigen, ohne darüber nachzudenken, blickte Jack an dem Kriminalbeamten vorbei zu der vor dem Karussell liegenden Leiche hinunter. Weit stärker als beim ersten Mal regte die wilde Bestie in seiner Brust sich, entfaltete sich, streckte die Schwingen, die Arme, die Klauen, was immer es war, und versuchte, sich durch eine aufwärts gerichtete gewaltige Kraftanstrengung von ihren Fesseln zu befreien.

Die Schwingen, die Arme, die Klauen zermalmten Jacks Lunge. Grässliche Krallen zerfetzten ihm den Magen.

Eines darf ein Beamter der Mordkommission, vor allem ein Lieutenant der Mordkommission nie tun: Er darf nicht kotzen, wenn er mit einer Leiche konfrontiert wird. Jack kämpfte darum, nicht gegen dieses ungeschriebene Gesetz zu verstoßen. Galle brannte ihm in der Kehle, und er schloß die Augen. Eine Konstellation aus glühenden Punkten waberte innen über seine Lider. Die Bestie, agil und scheußlich, zerrte an ihren Fesseln.

Lichter spiegelten sich auf dem kahlen Schädel eines Schwarzen, der tot neben einem Karussell lag ...

Nicht du. Nein, nicht du. Klopf an, so viel du willst, du darfst nicht rein.

Die Schwingen, Arme, Klauen wurden eingezogen;

die Bestie schrumpfte zu einem dösenden Punkt zusammen. Nachdem es Jack gelungen war, das Verbotene zu vermeiden, war er nun wieder imstande, die Augen zu öffnen. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war. Angelo Leones zerfurchte Stirn, seine glanzlosen Augen und sein gefräßiger Mund kamen in Sicht und füllten eine Handspanne entfernt Jacks gesamtes Blickfeld aus.

»Was ist denn noch? Denken wir über unsere Lage nach?«

»Ich wollte, dieser Idiot würde seine Gitarre wieder einpacken.«

»Gitarre? Ich hör keine Gitarre nich.«

Auch Jack, das merkte er jetzt, hörte keine.

Würde nicht jeder vernünftige Mensch versuchen, eine Episode dieser Art aus seiner Erinnerung zu tilgen? Diesen Müll über Bord zu werfen? Damit konnte man nichts anfangen, man konnte es zu nichts brauchen, wozu es also behalten? Der Vorfall auf der Pier war bedeutungslos. Er war mit nichts verknüpft, und er führte zu nichts. Er war buchstäblich folgenlos, er hatte nämlich keine Folgen. Nachdem seine Geliebte ihn geschasst hatte, hatte Jack die Orientierung verloren, kurzzeitig an geistiger Verwirrung gelitten und unerlaubt einen Tatort betreten, für den eine andere Polizei zuständig war. Das war lediglich ein peinlicher Fehler gewesen.

Sechsundfünfzig Tage und elf Stunden später kam der Wunderknabe ins Dienstzimmer seines Captains, legte diesem Plakette und Waffe hin und kündigte zu dessen großem Erstaunen mit sofortiger Wirkung. Da der Cap-tain nichts von der Konfrontation mit Detective Leone auf der Santa-Monica-Pier wusste, fragte er nicht, ob die Entscheidung seines Lieutenants etwa von einem still stehenden Karussell und einem toten Schwarzen beeinflusst worden sei; hätte er danach gefragt, hätte Jack ihm erklärt, das sei doch lächerlich.

*

Geh nicht dorthin, ermahnt er sich selbst ständig und versteht es ausgezeichnet, nicht dorthin zu gehen. Er empfängt unfreiwillig ein paar Momentaufnahmen, nicht mehr, mit Blitzlicht gemachte Schnappschüsse vom hochgeworfenen Kopf eines hölzernen Ponys, von Ange-lo Leones mürrischer Visage, aber auch von dem anderen Ding, von dem leblosen Objekt, das in jeder Beziehung den Mittelpunkt der Szene bildet, das er sich auf keinen Fall vorstellen darf ... Sobald diese imagistischen Lichtblitze erscheinen, schickt er sie fort. Das ist wie bei einer Zaubervorstellung. Er praktiziert Magie, gute Magie. Er weiß genau, dass diese Verbannung unerwünschter Bilder eine Form von Selbstschutz darstellt, und auch wenn die Motive hinter seinem Bedürfnis nach schützender Magie unklar bleiben, ist das Bedürfnis Motiv genug. Will man ein Omelett haben, muss man Eier schlagen, um die unanfechtbare Autorität Duke Wayne zu zitieren.

Jack Sawyer hat andere Sorgen als die Belanglosigkeiten, die durch eine Traumstimme suggeriert werden, die in Kindersprache das Wort »Polizist« gesagt hat. Er wünscht sich, er könnte auch diese Dinge durch einen Zaubertrick fortschicken, aber die elenden Dinge weigern sich, sich verbannen zu lassen; sie umschwirren ihn wie ein Wespenschwarm.

Insgesamt geht’s ihm nicht besonders gut, unserem Jack. Er tritt auf der Stelle und starrt die Eier an, die irgendwie nicht mehr ganz richtig aussehen, obwohl er keinen Grund dafür abgeben könnte. Die Eier verweigern sich einer Interpretation. Die Eier sind der geringste Teil seiner Probleme. Am Rand seines Blickfelds scheint die Schlagzeile auf der Titelseite des La Riviere Herald sich vom Zeitungspapier zu lösen und auf ihn zuzuschweben. Fisherman im Raum French Landing weiter ... Genug! Er wendet sich mit dem schrecklichen Bewusstsein ab, an dieser Sache mit dem Fisherman selbst schuld zu sein. Warum nicht Auf Staten Island oder In Brooklyn, wo der wirkliche Albert Fish, ein wahnsinniger Verbrecher, wenn es jemals einen gegeben hatte, zwei seiner Opfer gefunden hatte?

Dieses Zeug ekelt ihn an. Zwei tote Kinder, die kleine Freneau vermisst und wahrscheinlich ebenfalls tot, Leichenteile verzehrt, ein Verrückter, der Albert Fish plagiiert . Dale bestand darauf, ihm mit solchen Informationen zuzusetzen. Die Details breiten sich in ihm wie eine verunreinigende Substanz aus. Je mehr er erfährt -und für einen Mann, der sich wahrhaft wünschte, nicht mehr in polizeiliche Ermittlungen eingebunden zu sein, hat Jack erstaunlich viel erfahren -, desto mehr Gifte schwimmen in seinem Blutstrom und verzerren seine Wahrnehmung. Ins Norway Valley war er auf der Flucht aus einer Welt gekommen, die abrupt unberechenbar und schwammig geworden war, als verflüssigte sie sich unter thermischem Druck. In seinem letzten Monat in Los Angeles war dieser Druck unerträglich geworden. Groteske Möglichkeiten grinsten höhnisch aus abgedunkelten Fenstern und in den Lücken zwischen Gebäuden und drohten Form anzunehmen. An dienstfreien Tagen ließ das Gefühl, seine Lunge sei mit fettigem Spülwasser angefüllt, ihn nach Atem ringen und gegen Übelkeit ankämpfen, sodass er unaufhörlich arbeitete und dabei mehr Fälle löste als je zuvor. (Seine Diagnose lautete, die Arbeit mache ihn fertig, aber wir können dem Captain kaum verübeln, dass er über die Kündigung des Wunderknaben doch recht erstaunt war.)

Er hatte sich in diesen obskuren Winkel auf dem Lande, an diesen Zufluchtsort, auf diese Insel des Friedens am Rand einer gelbgrünen Wiese geflüchtet, die beinah zwanzig Meilen von French Landing und sogar ein gutes Stück von der Norway Valley Road entfernt war. Aber diese bewusst gewählten Entfernungen hatten nicht wie erhofft gewirkt. Er versuchte, dem Aufruhr um ihn herum zu entgehen, hier in seiner Bergfestung. Ließ er zu, dass er einer egozentrischen Fantasie erlag, würde er sich eingestehen müssen, dass das Etwas, vor dem er geflüchtet war, die vergangenen drei Jahre damit zugebracht hatte, seiner Fährte zu folgen, um ihn schließlich aufzuspüren.

In Kalifornien hatten die Anstrengungen des Diensts ihn aufgerieben; jetzt musste er die Unruhen im westlichen Wisconsin von sich fern halten. Manchmal wacht er mitten in der Nacht vom Echo der dünnen, vergifteten Stimme auf. Kein Schutzmann mehr, ich tu’s nicht, zu nahe, zu nahe. Was zu nahe war - darüber denkt Jack Sawyer lieber nicht nach; das Echo beweist ihm, dass er weitere Kontamination meiden muss.

Schlechte Nachrichten für Dale, das weiß er, und er bedauert sowohl seine Unfähigkeit, sich an den Ermittlungen zu beteiligen, als auch seinem Freund seine Weigerung zu erklären. Kein Zweifel, Dales berufliche Zukunft steht auf dem Spiel. Er ist ein guter Polizeichef, mehr als gut genug für French Landing, aber er hat die Politik falsch eingeschätzt und sich von den Kerlen von der State Police reinlegen lassen. Die Staatskriminaler Brown und Black haben sich mit allen äußerlichen Anzeichen von Respekt vor lokaler Autorität tief verbeugt, sich eingeschlichen und Dale Gilbertson, der glaubte, sie täten ihm einen Gefallen, die Möglichkeit gegeben, sich selbst eine Schlinge um den Hals zu legen. Pech für Dale, der gerade erkannt hat, dass er mit einer schwarzen Haube über dem Kopf auf einer Falltür steht. Ermordet der Fisherman weitere Kinder ... Nun, Jack Sawyers tief empfundenes Beileid ist ihm sicher. Er kann im Augenblick kein Wunder vollbringen, sorry. Jack hat wichtigere Dinge im Kopf.

Zum Beispiel rote Federn. Kleine Federn. Kleine rote Federn beschäftigen Jack sehr und haben ihn trotz seinen Bemühungen, sie wegzuzaubern, bereits seit einem Monat vor Beginn der Mordserie beschäftigt. Als er eines Morgens aus dem Schlafzimmer kam und die Treppe hinuntergehen wollte, um sich ein Frühstück zu machen, schien eine einzelne rote Feder, eine Flaumfeder kleiner als ein Babyfinger, aus der Dachschräge über der Treppe herabzuschweben. Danach schwebten zwei, drei weitere von oben herab. Dann schien sich im Deckenputz eine ovale Sektion mit fünf Zentimetern Durchmesser wie ein Auge zu öffnen, und das Auge spuckte einen dicken, straff gebündelten Strom von Federn aus, die wie durch einen Strohhalm ausgeblasen von der Decke auf ihn herabschossen. Eine Federexplosion, ein Wirbelsturm aus Federn prasselte ihm gegen die Brust, die erhobenen Arme, den Kopf .

Aber das .

Das war nie passiert.

Etwas anderes hatte sich ereignet, und Jack brauchte ein paar Minuten, um es herauszubekommen. In seinem Gehirn hatte ein eigenwilliges Neuron falsch funktioniert. Ein Rezeptor hatte die falsche Chemikalie oder zu viel von der richtigen Chemikalie aufgenommen. Die Synapsen, die allnächtlich bildhafte Vorstellungen auslösten, hatten auf ein falsches Signal reagiert und einen Wachtraum hervorgebracht. Sein Wachtraum hatte an eine Halluzination erinnert, Halluzinationen aber, das hatten sonst nur debile Alkoholiker, Drogensüchtige und Verrückte, speziell paranoide Schizophrene, mit denen Jack in seinem Leben als Schutzmann oft genug zu tun gehabt hatte. Jack fiel in keine dieser Kategorien, auch nicht in die letzte. Er wusste, dass er nicht paranoid schizophren oder sonst wie verrückt war. Wer Jack Sawyer für verrückt hielt, war es selbst. Er hatte völliges, wenigstens 99-prozentiges Vertrauen zu seiner Zurechnungsfähigkeit.

Da er nicht unter Illusionen leidet, müssen die Federn in einem Wachtraum auf ihn zugeflogen sein. Die einzige andere Erklärung hätte Realität erfordert, aber die Federn hatten keine Verbindung mit der Realität. Was für eine Art Welt wäre dies, wenn uns solche Dinge passieren könnten?

Plötzlich brüllt George Rathbun im Radio: »Es schmerzt mich, das sagen zu müssen, es schmerzt mich wirklich, ich liebe unsere gute alte Brew Crew nämlich, das wisst ihr, Leute, aber es gibt Zeiten, in denen die Liebe die Zähne zusammenbeißen und sich einer schmerzlichen Realität stellen muss - zum Beispiel dem traurigen Zustand unserer Pitcher-Garde. Bud Selig, hallo Bu-hud, hier ist Houston! Könntest du bitte sofort auf die Erde zurückkommen? Ein Blinder könnte mehr Stri-kes werfen als diese Ansammlung von Flaschen, Losern und Versagern!«

Der gute alte Henry. Henry hat George Rathbun so perfekt drauf, dass man vor dem geistigen Auge sozusagen die Schweißflecken unter seinen Achseln sehen kann. Aber die beste von Henrys Erfindungen ist Jacks Ansicht nach immer noch seine Verkörperung des hipster-coolen, relaxten, gebieterischen Henry Shake (»the Sheik, the Shake, the Shook of Araby«), der einem - wenn er in Stimmung ist - erzählen kann, was für Socken in welcher Farbe Lester Young an dem Tag getragen hat, an dem er »Shoe Shine Boy« und »Lady Be Good« aufgenommen hat, und der das Innere von zwei Dutzend berühmten, aber meist längst nicht mehr existierenden Jazzclubs beschreiben kann.

... und bevor wir uns die sehr coole, sehr schöne, sehr sym-patico Musik anhören, die das Bill Evans Trio an einem Sonntag im Village Vanguard geflüstert hat, sollten wir dem dritten, dem inneren Auge unseren Respekt zollen. Wir wollen das innere Auge, das Auge der Imagination ehren. Es ist spät an einem heißen Julinachmittag in Greenwich Village, New York City. Auf der im Sonnenglanz liegenden Seventh Avenue South schlendern wir in den Schatten des Vordachs des Vanguards, öffnen eine weiße Tür und steigen eine lange, schmale Treppe zu einem geräumigen Kellerlokal hinab. Die Musiker kommen aufs Podium. Bill Evans gleitet auf den Klavierhocker und nickt dem Publikum zu. Scott LaFaro umarmt seinen Bass. Paul Motian greift nach seinen Besen. Evans senkt den Kopf tief, ganz tief, und lässt dann die Hände auf die Tasten fallen. Für die Glücklichen unter uns, die das miterleben dürfen, wird nichts jemals wieder wie früher sein.

Das Bill-Evans-Trio mit »My Foolish Heart«, live im Village Vanguard am 25. Juni 1961. Ihr Gastgeber heute Abend ist Henry Shake - the Sheik, the Shake, the Shook of Araby.

Jack kippt die geschlagenen Eier lächelnd in die Pfanne, rührt sie zweimal mit einer Gabel durch und dreht die Gasflamme dann ganz wenig kleiner. Ihm fällt auf, dass er vergessen hat, Kaffee zu kochen. Zum Teufel mit dem Kaffee. Er braucht keinen, er kann auch Orangensaft trinken. Ein Blick zum Toaster hinüber zeigt ihm, dass er auch vergessen hat, den Morgentoast zu machen. Braucht er Toast, ist Toast lebensnotwendig? Denk an die Butter, denk an dicke Scheiben Cholesterin, die darauf warten, dir die Arterien zu verklumpen. Das Omelett ist riskant genug; er hat ohnehin das Gefühl, viel zu viele Eier aufgeschlagen zu haben. Dabei kann Jack sich nicht daran erinnern, warum er überhaupt ein Omelett machen wollte. Er isst selten Omeletts. Eigentlich neigt er nur dazu, Eier aus einer Art Pflichtbewusstsein zu kaufen, das durch die zwei Reihen eiförmiger Mulden im Oberteil seiner Kühlschranktür ausgelöst wird. Wenn die Leute keine Eier kaufen sollten, wozu hätten Kühlschränke dann Eierfächer?

Er schiebt einen Wender unter die Ränder der stockenden, aber noch flüssigen Eier, kippt die Pfanne, um die Masse zu lockern, schabt die Champignons und Schalotten vom Hackbrett darüber und legt schließlich eine Hälfte des Omeletts über die andere. Okay. In Ordnung. Sieht gut aus. Vor ihm erstrecken sich noch luxuriöse vierzig Minuten Freiheit. Trotz allem scheint er ziemlich gut zu funktionieren. Kontrolle über sich selbst ist hier kein Thema.

Der bereits aufgeschlagen auf dem Küchentisch liegende La Riviere Herald fällt Jack wieder ins Auge. Er hat die Zeitung ganz vergessen. Die Zeitung hat ihn jedoch nicht vergessen und fordert jetzt die ihr zustehende Aufmerksamkeit ein. Fisherman im Raum French Landing und so weiter. Polarkreis wäre angenehmer, aber nein. Er tritt näher an den Tisch heran und sieht, dass der Fisherman ein hartnäckig lokales Problem bleibt. Von seinem Platz unter der Schlagzeile springt ihn der Name Wendell Green an und setzt sich wie ein Steinchen in seinem Auge fest. Wendell Green ist eine universale Allround-Nervensäge, ein ständiger Reizfaktor.

Nachdem Jack die beiden ersten Absätze von Greens Artikel gelesen hat, ächzt er vernehmlich und bedeckt die Augen mit einer Hand.

Ich bin blind, mach einen Schiedsrichter aus mir!

Wendell Green besitzt die Dreistigkeit eines kleinstädtischen Sporthelden, der nie aus seiner Heimat herausgekommen ist. Groß, kontaktfreudig, mit rotblonden Kräusellocken und dem Leibesumfang eines Senators -so stolziert Green durch die Bars, die Gerichtsgebäude, die öffentlichen Einrichtungen von La Riviere und den umliegenden Gemeinden und verströmt gut informierten Charme. Wendell Green ist ein Reporter, der es versteht, sich wie einer zu benehmen, ein altmodischer Zeitungsschreiber, die große Zierde des Herald.

Jack ist die große Zierde bei ihrer ersten Begegnung als drittklassiger Blender erschienen, und er hat seither keinen Anlass gesehen, sein Urteil zu korrigieren. Er traut Wendell Green nicht. Seiner Meinung nach tarnt die leutselige Fassade des Reporters eine grenzenlose Fähigkeit zu Lüge und Betrug. Green ist ein Angeber, der vor einem Spiegel posiert, aber ein gerissener Angeber, und solche Subjekte schrecken vor nichts zurück, um ihre Ziele zu erreichen.

Nach Thornberg Kinderlings Verhaftung wollte Green ihn interviewen. Jack lehnte ab, wie er drei weitere Bitten um ein Interview ausgeschlagen hat, die nach seinem Umzug in die Norway Valley Road vorgebracht wurden. Seine Absagen haben den Reporter nicht daran gehindert, mehrfach »zufällige« Begegnungen zu inszenieren.

Am Tag nach der Auffindung von Amy St. Pierres Leiche kam Jack in der Chase Street mit einem Karton frisch gebügelter Hemden unter dem Arm aus einer Reinigung, ging auf seinen Wagen zu und fühlte plötzlich, wie ihn eine Hand am Ellbogen umfasste. Er sah sich um und erblickte die gerötete öffentliche Maske Wendell Greens, der ihn mit geheucheltem Entzücken angrinste.

»He, he, Holly . « Ein Feixen wie ein böser kleiner Junge. »Ich meine natürlich: Lieutenant Sawyer. He, ich bin froh, dass ich Ihnen zufällig begegnet bin. Lassen Sie hier Ihre Hemden waschen? Machen die ihre Arbeit gut?«

»Wenn man die Sache mit den Knöpfen unerwähnt lässt, ja.«

»Klasse. Sie haben Humor, Lieutenant. Ich will Ihnen einen Tipp geben. Kennen Sie das Reliable in der Third Street in La Riviere? Zuverlässig, wie der Name besagt. Keine Flecken, keine Falten. Wer ordentliche Hemden will, muss zu ’nem Schlitzauge gehen. Sam Lee. Versuchen Sie’s mit ihm, Lieutenant.«

»Das mit dem Lieutenant war einmal, Wendell. Nennen Sie mich Jack oder Mr. Sawyer. Nennen Sie mich meinetwegen Hollywood. Und jetzt .«

Er ging zu seinem Auto weiter, und Wendell Green begleitete ihn.

»Irgendeine Chance auf ein paar Worte von Ihnen, Lieutenant? Sorry, Jack? Chief Gilbertson ist ein guter Freund von Ihnen, das weiß ich, und dieser tragische Fall, kleines Mädchen, offenbar verstümmelt, schreckli-che Dinge, können Sie uns mit Ihrer Erfahrung weiterhelfen, sich einbringen, uns von Ihren Überlegungen profitieren lassen?«

»Sie wollen wissen, was ich denke?«

»Alles, was Sie mir erzählen können, Kumpel.«

Reine, unverantwortliche Bosheit bewog Jack dazu, Green einen Arm um die Schultern zu legen und zu sagen:

»Wendell, alter Kumpel, Sie sollten sich für einen Kerl namens Albert Fish interessieren. Das war in den Zwanzigerjahren.«

»Fisch?«

»F-is-h. Aus einer alteingesessenen New Yorker Bürgerfamilie. Ein erstaunlicher Fall. Informieren Sie sich mal darüber.«

Bis zu diesem Augenblick war Jack kaum bewusst gewesen, dass er sich an die Gräueltaten erinnerte, die der bizarre Mr. Albert Fish verübt hatte. Gegenwärtige Schlächter - Ted Bundy, John Wayne Gacy und Jeffrey Dahmer - hatten Albert Fishs Andenken verdunkelt, ganz zu schweigen von Exoten wie Edmund Emil Kemper III, der nach acht verübten Morden seine Mutter enthauptete, sich ihren Kopf auf den Kaminsims stellte und als Dart-board benützte. (Als Erklärung dafür sagte Edmund III: »Das erschien mir angemessen.«) Trotzdem war der Name Albert Fishs, eines längst vergessenen Mörders, in Jacks Gedächtnis aufgetaucht, und er hatte ihn in Wen-dell Greens aufmerksames Ohr gesprochen.

Was war nur in ihn gefahren? Nun, das war die Frage, nicht wahr?

Ups, das Omelett. Jack greift sich einen Teller aus dem Schrank, springt an den Herd, stellt den Brenner ab und kippt den Mischmasch aus der Pfanne auf den Teller. Dann setzt er sich hin und schlägt den Herald auf Seite fünf auf, wo er liest, wie Milly Kuby bei einem großen landesweiten Rechtschreibwettbewerb beinahe den dritten Platz belegt hätte, wenn sie in dem Wort Opopanax nicht ein a durch ein o ersetzt hätte - eine Meldung, wie man sie eben in einem Lokalblatt zu lesen bekommt. Wie kann man überhaupt erwarten, dass ein kleines Mädchen Opopanax richtig buchstabiert?

Jack nimmt zwei, drei Bissen von seinem Omelett, bevor der seltsame Geschmack in seinem Mund ihn von der empörenden Unfairness ablenkt, die Milly Kuby widerfahren ist. Er spuckt den nächsten Bissen aus und sieht einen Klumpen grauen Brei und rohes, halb gekautes Gemüse. Sein restliches Frühstück sieht kaum appetitanregender aus. Das ist kein Omelett, was er da gemacht hat, sondern eine Katastrophe.

Er lässt den Kopf sinken und stöhnt. Ein Schauder wie von einem Wackelkontakt durchzuckt ihn hier und dort und sprüht Funken, die ihm die Kehle, die Lunge, all seine plötzlich bebenden Organe versengen. Opopanax, denkt er. Mit mir ist’s aus. Gleich hier und jetzt. Vergesst, was ich gesagt habe. Der wilde Opopanax hält mich mit seinen Klauen gepackt, schüttelt mich mit der beängstigenden Opopanax seiner Opopanax-Arme und will mich in den schäumenden Opopanax River werfen, in dem ich meinen Opopanax finden werde.

»Was ist los mit mir?«, sagt er laut. Der schrille Ton seiner Stimme ängstigt ihn.

Opopanax-Tränen brennen in seinen Opopanax-Augen, und er erhebt sich ächzend von seinem Opopa-nax, kippt den Saufraß in den Abfallzerkleinerer, spült den Teller ab und beschließt, dass es verdammt noch mal höchste Zeit ist, dass hier wieder Vernunft einkehrt. Opopanax mir keine Opopanaxe! Jeder kann mal einen Fehler machen. Jack starrt die Kühlschranktür an und versucht sich zu erinnern, ob er darin noch ein paar Eier übrig hat. Klar hat er noch welche: jede Menge Eier, mindestens neun oder zehn Stück, hatten die eiförmigen Mulden oben in der Tür ausgefüllt. Er konnte sie unmöglich alle vergeudet haben; so geistesabwesend war er nicht gewesen.

Jack legt die Finger an die Griffkante der Kühlschranktür. Völlig ungebeten sieht er plötzlich Lichter, die sich auf dem kahlen Schädel eines Schwarzen spiegeln.

Nicht du.

Der Mensch, mit dem er spricht, ist nicht anwesend; der angesprochene Mensch ist überhaupt fast kein Mensch.

Nein, nein, nicht du.

Die Tür öffnet sich unter dem Zug der Finger; die Innenbeleuchtung lässt die übervollen Schrankfächer erstrahlen. Jack Sawyer inspiziert die Eierfächer. Sie scheinen leer zu sein. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass in der Mulde am Ende der oberen Reihe ein kleiner eiförmiger Gegenstand in einem blassen und delikaten Blau liegt: in einem nostalgischen, zarten Blauton, der möglicherweise an das vage im Gedächtnis haf-tende Blau eines Sommerhimmels erinnert, der an einem frühen Nachmittag von einem kleinen Jungen beobachtet wird, der auf dem über tausend Quadratmeter großen Rasen hinter einer hübschen Villa am Roxbury Drive in Beverly Hills, Kalifornien, auf dem Rücken im Gras liegt. Wem dieses Villenanwesen auch gehören mag, Mann, auf eines kann man jede Wette eingehen: Die Leutchen hier arbeiten in der Unterhaltungsindustrie.

Jack kennt den Namen eben dieses Blautons von einer eingehenden Betrachtung von Farbmustern in Gesellschaft von Dr. med. Claire Evinrude, einer Onkologin von liebenswürdig zupackender Wesensart, zu einer Zeit, als die beiden vorhatten, den Bungalow in den Hollywood Hills, den sie sich damals teilten, neu streichen zu lassen. Claire, also Dr. Evinrude, hatte diesen Farbton fürs gemeinsame Schlafzimmer vorgesehen; Jack, der vor kurzem von einem hochgejubelten, absurd elitären FBI-Lehrgang in Quantico, Virginia, zurückgekommen - es ging um das Computerprogramm VICAP zum landesweiten Datenabgleich - und frisch zum Lieutenant befördert war, hatte ihn als, äh, nun, vielleicht ein bisschen kalt verworfen.

Jack, hast du jemals ein echtes Rotkehlchenei gesehen?, fragte Dr. Evinrude. Weißt du überhaupt, wie schön sie sind? Dr. Evinrudes graue Augen vergrößerten sich, als sie nach ihrem mentalen Skalpell griff.

Jack steckt zwei Finger ins Eierfach und hebt das kleine, eiförmige Objekt in der Farbe eines Rotkehlcheneis heraus. Wer hätte das gedacht, das Ding ist tatsächlich ein Rotkehlchenei. Ein »echtes« Rotkehlchenei, um mit Dr. Claire Evinrude zu sprechen, von einem richtigen Rotkehlchen gelegt. Er lässt das Ei in seiner linken Handfläche ruhen. Da liegt es, ein blassblaues Gebilde von der Größe einer Pekannuss. Bei diesem Anblick fühlt er sich wie vor den Kopf geschlagen. Was zum Teufel hat er getan, etwa ein Rotkehlchenei gekauft? Sorry, nein, diese Beziehung funktioniert nicht, das Opopanax ist aus dem Leim, Roy’s Store verkauft keine Rotkehlcheneier, ich muss verrückt sein.

Langsam, steif, unbeholfen wie ein Zombie durchquert Jack die Küche und erreicht den Ausguss. Er streckt die linke Hand bis über den Schlund in der Beckenmitte aus und lässt dann das Rotkehlchenei fallen. Es verschwindet unwiederbringlich im Abfallzerkleinerer. Mit der rechten Hand schaltet er das Gerät ein, das wie üblich geräuschvoll zu arbeiten beginnt. Knurr, mahl, brumm, ein Ungeheuer genießt einen netten kleinen Imbiss. Grrr. In ihm bebt das unter Strom stehende Kabel und sprüht Funken, während es zuckt, aber er ist zu einem Zombie geworden und nimmt die innerlichen Stromstöße kaum wahr. Alles in allem würde Jack Sawy-er in diesem Augenblick am liebsten ...

When the red, red ...

Aus irgendeinem Grund hat er seine Mutter lange, allzu lange nicht mehr angerufen. Er weiß nicht, warum er’s nicht getan hat, aber es wird Zeit, dass er’s bald mal wieder tut. Rotkehle mir keine Rotkehlchen. Die Stimme von Lily Cavanaugh Sawyer, der Königin der B-Movies, einst seine einzige Gefährtin in einem von Entzücken erfüllten, transzendenten, rigoros vergessenen Hotelzimmer in New Hampshire, ist genau die Stimme, die Jack jetzt unbedingt hören muss. Lily Cavanaugh ist der einzige Mensch der Welt, bei dem er sich über den lächerlichen Kuddelmuddel aussprechen kann, in den er hier geraten ist. Trotz dem nebulösen, unwillkommenen Bewusstsein, dass er die Grenzen strikter Vernunft überschreitet und damit die eigene ungewisse Rationalität noch mehr in Frage stellt, tritt er an die Küchentheke, greift nach dem Handy und tippt die Nummer des hübschen Villenanwesens am Roxbury Drive, Beverly Hills, Kalifornien, ein.

Das Telefon in seinem einstmaligen Zuhause klingelt fünf, sechs, sieben Mal. Ein Mann nimmt ab und sagt mit aufgebrachter, nicht ganz nüchterner, schlaftrunkener Stimme: »Kimberley ... Worum zum Teufel es auch geht ... ich hoffe um Ihretwillen ... dass es wirklich, wirklich wichtig ist.«

Jack drückt die END-Taste und klappt das Handy zu. O Gott verdammter Mist hol’s der Teufel. In Beverly Hills, Westwood, Hancock Park oder wohin auch diese Nummer jetzt eine Verbindung herstellt, ist es kurz nach fünf Uhr morgens. Er hat vergessen, dass seine Mutter tot ist. Verdammter Mist hol’s der Teufel o Gott, ist denn das zu fassen?

Jacks Kummer, der sich unterschwellig zugespitzt hat, erhebt sich erneut, um ihn, als wär’s zum ersten Mal, zack!, mitten ins Herz zu stoßen. Gleichzeitig kommt ihm die Idee, er könnte auch nur für eine Sekunde vergessen haben, dass seine Mutter tot ist, aus Gott weiß wel-chen Gründen ungeheuer und unwiderstehlich komisch vor. Kann man sich noch lächerlicher benehmen? Die Narrenpritsche ist ihm auf den Hinterkopf geknallt, und ohne zu wissen, ob er in Schluchzen oder einen Lachanfall ausbrechen wird, verspürt Jack einen kurzen Schwindel und lehnt sich deshalb an die Küchentheke.

Überkandidelter Knallkopf, glaubt er seine Mutter sagen zu hören. So hatte Lily den damals vor kurzem gestorbenen Partner ihres verstorbenen Mannes charakterisiert, nachdem ihre misstrauischen Buchprüfer entdeckt hatten, dass der Partner - Morgan Sloat - drei Viertel der Erträge des erstaunlich umfangreichen Immobilienbesitzes von Sawyer & Sloat in die eigene Tasche gesteckt hatte. Seit Phil Sawyer bei einem so genannten Jagdunfall umgekommen war, hatte Sloat der Familie seines ehemaligen Partners jedes Jahr Millionen Dollar, viele Millionen, gestohlen. Lily leitete den Geldstrom in die richtigen Kanäle zurück, verkaufte die halbe Firma an neue Partner und sicherte ihrem Sohn damit ein ungeheures Vermögen, dessen Erträge mittlerweile zum größten Teil an Jacks private Stiftung gehen, die es wiederum für wohltätige Zwecke ausgibt. Lily hatte Sloat mit weit kräftigeren Ausdrücken als überkandidelter Knallkopf belegt, aber diese Wörter scheint ihre Stimme jetzt in seinem Innenohr zu sagen.

Irgendwann im Mai wohl, redet Jack sich ein, hat er das Rotkehlchenei - vermutlich bei einem geistesabwesenden Spaziergang über die Wiese - gefunden und zur Aufbewahrung in den Kühlschrank gelegt. Um es sicher aufzubewahren. Schließlich wies es einen delikaten Blauton, einen schönen Blauton auf, um Dr. Evinrude zu zitieren. Er hatte es so lange sicher aufbewahrt, dass er es ganz vergessen hatte. Weshalb, das erkennt er dankbar, sein Wachtraum ihn mit einem Wirbelsturm aus roten Federn eingedeckt hat!

Nichts geschieht ohne Grund, so verborgen der Grund auch sein mag; bleib locker und entspann dich lange genug, um kein überkandidelter Knallkopf zu sein, dann zeigt der Grund sich vielleicht von selbst.

Jack beugt sich über den Ausguss und taucht sein Gesicht zwecks innerlicher und äußerlicher Erfrischung in eine doppelte Hand voll kaltes Wasser. Der reinigende Schock wäscht vorerst das ruinierte Frühstück, den lächerlichen Anruf und die zerstörerischen, blitzartig auftretenden Bilder weg. Es wird Zeit, in die Gänge zu kommen und loszufahren. In fünfundzwanzig Minuten wird Jack Sawyers bester Freund und einziger Vertrauter mit seiner gewohnten Aura von Rundumwahrnehmung aus dem Hauptausgang des aus Hohlblocksteinen erbauten Sendegebäudes von KDCU-AM treten, die Flamme seines goldenen Feuerzeugs an eine Zigarette halten und den Gehweg zum Peninsula Drive hinuntergleiten. Sollte seine Rundumwahrnehmung ihn darüber informieren, dass Jack Sawyers Pickup wartet, wird Henry Leyden unfehlbar den Türgriff erfassen und einsteigen. Diese Demonstration von Coolness bei einem Blinden ist zu erstaunlich, als dass man sie verpassen dürfte.

Und Jack verpasst sie tatsächlich nicht, denn trotz allen Schwierigkeiten an diesem Morgen, die aus der ausgeglichenen, reiferen Perspektive, die ihm seine Fahrt durch die herrliche Landschaft gewährt, irgendwann trivial erscheinen, hält sein Pickup um 7.55 Uhr, gut fünf Minuten, bevor sein Freund in die Sonne hinaustreten wird, an dem zum Peninsular Drive hinunterführenden Gehweg vor dem Sendegebäude von KDCU-AM. Henry wird ihm gut tun; allein Henrys Anblick wird wie eine Dosis Seelentrost wirken. Jack kann bestimmt nicht der erste Mensch, Mann oder Frau, in der Geschichte der Menschheit sein, der (die) unter Stress vorübergehend den Bezug zur Realität verloren und irgendwie halbwegs vergessen hat, dass seine (ihre) Mutter dieses irdische Jammertal längst verlassen hat und in höhere Sphären aufgestiegen ist. Gestresste Sterbliche neigen von Natur aus dazu, sich an ihre Mütter zu wenden, um Trost und Bestätigung zu finden. Der Impuls dazu ist in unsere DNS kodiert. Wenn er diese Geschichte hört, wird Henry leise glucksend lachen und ihm raten, sich am Riemen zu reißen.

Aber wozu bei näherer Überlegung Henrys Himmel mit einer so absurden Geschichte verdunkeln? Das Gleiche gilt für das Rotkehlchenei, vor allem weil Jack seinem Freund Henry bisher nichts von seinem Wachtraum mit dem Wirbelsturm aus Federn erzählt und keine Lust hat, sich auf eine zwecklose umständliche Rekapitulation einzulassen. Lebe in der Gegenwart; lass die Vergangenheit sich in ihrem Grab ausstrecken; halt den Kopf hoch und mach einen Bogen um die Schlammpfützen; erwarte von deinen Freunden keine Therapie.

Er stellt das Radio an und drückt auf die Speichertaste für KWLA-FM, dem College-Sender aus La Riviere, bei dem die Wisconsin Rat und Henry the Sheik, the Shake, the Shook of Araby zu Hause sind. Von dem, was funkelnd aus den verdeckten Einbaulautsprechern im Fahrerhaus dringt, sträuben sich ihm die Haare an den Armen: Glenn Gould, sein inneres Auge leuchtend geöffnet, donnert durch etwas von Bach, Jack weiß nicht genau, was. Aber bestimmt Glenn Gould, bestimmt Bach. Vielleicht eine der Partiten.

Henry Leyden kommt mit einer CD-Hülle in der Hand aus dem bescheidenen Ausgang des Sendegebäudes geschlendert, tritt in die Sonne und gleitet dann, ohne zu zögern, den Plattenweg entlang, wobei die Gummisohlen seiner schokoladebraunen Slipper jeweils die Mitte der nächsten Platte treffen.

Henry . Henry ist eine Vision.

Heute, stellt Jack fest, trägt Henry eines seiner Ensembles aus der Garderobe des Besitzers einer malaysischen Teakplantage: ein elegantes kragenloses Hemd, schimmernde Hosenträger und seinen bis zum Geht-nichtmehr geknifften Panamahut, ein altes Erbstück. Hätte Henry ihn nicht so in seinem Leben willkommen geheißen, hätte Jack nicht gewusst, dass die Fähigkeit seines Freundes, sich tadellos zu kleiden, von der höchst durchdachten Organisation seines riesigen Einbaukleiderschranks abhing, für die Rhoda Gilbertson Leyden, Henrys verstorbene Frau, schon vor vielen Jahren gesorgt hatte. Rhoda hatte sämtliche Einzelteile seiner Garderobe nach Jahreszeit, Stil und Farbe eingeordnet, und Henry hatte sich das gesamte System Stück für Stück eingeprägt. Obwohl Henry blind geboren und deshalb nicht imstande ist, zwischen zueinander passenden und nicht passenden Farbtönen zu unterscheiden, irrt er sich nie.

Henry zieht ein goldenes Feuerzeug und eine gelbe Packung American Spirits aus der Hemdtasche, zündet sich eine Zigarette an, stößt eine leuchtende Wolke aus, die im Sonnenschein milchig wirkt, und setzt dann seinen gleichmäßigen Weg über den Plattenbelag fort.

Die in Pink gesprühten, nach links geneigten Großbuchstaben von Troy libt Maryanni Jai auf dem Schild, das auf dem kahlen Rasen steht, suggerieren erstens, dass Troy viel Zeit damit verbringt, KDCU-AM zu hören, und zweitens, dass Maryann ihn ihrerseits liebt. Gut für Troy, gut für Maryann. Jack applaudiert diesem Liebes-bekenntnis, selbst in grellrosa Sprühfarbe, und wünscht den Liebenden Glück und Wohlergehen. Falls man im gegenwärtigen Stadium seiner Existenz behaupten könnte, er liebe irgendjemanden, fällt ihm dabei ein, würde dieser Mensch Henry Leyden sein müssen. Nicht in dem Sinn, in dem Troy seine Maryann libt oder sie ihn, aber er libt ihn trotzdem, das war ihm bisher noch nie so klar wie in diesem Augenblick.

Henry überquert die letzten Gehwegplatten und nähert sich dem Randstein. Ein letzter Schritt bringt ihn zur Tür des Pickups; seine Hand schließt sich um den versenkten Türgriff; er öffnet die Tür, steigt hinauf und rutscht auf den Beifahrersitz. Er legt den Kopf leicht schief, wendet das rechte Ohr der Musik zu. Die dunklen Gläser seiner Pilotenbrille glänzen.

»Wie schaffst du das bloß?«, sagt Jack. »Diesmal hat dir wahrscheinlich die Musik geholfen, aber sonst brauchst du sie nie.«

»Weil ich echt total abgedreht bin«, sagt Henry. »Dieses hübsche Wort habe ich von unserem kiffenden Volontär Morris Rosen, der so freundlich war, es auf mich anzuwenden. Morris hält mich für den lieben Gott, aber er muss auch Grips haben, er hat nämlich rausgekriegt, dass George Rathbun und die Wisconsin Rat identisch sind. Ich kann nur hoffen, dass der Junge die Klappe hält.«

»Das hoffe ich auch«, sagt Jack, »aber du lenkst vom Thema ab. Also, wie schaffst du es, die Tür immer gleich beim ersten Mal zu öffnen? Wie findest du den Türgriff, ohne danach zu tasten?«

Henry seufzt. »Der Griff sagt mir, wo er ist. Offenkundig. Ich brauche nur auf ihn zu hören.«

»Der Türgriff macht ein Geräusch?«

»Nicht wie dein Hightech-Radio und die GoldbergVariationen, nein. Mehr eine Art Vibration. Der Ton eines Geräuschs. Der Ton in einem Geräusch. Ist Daniel Barenboim nicht ein großartiger Pianist? Mann, hör dir das an - jede Note mit einer anderen Klangfarbe. Da möchte man am liebsten den Deckel seines Steinways küssen, Baby. Stell dir die Muskeln seiner Hände vor.«

»Das ist Barenboim?«

»Ha, wer könnte’s sonst sein?« Henry wendet den Kopf langsam Jack zu. Um seine Mundwinkel spielt ein irritierendes Lächeln. »Ah. Ich verstehe, ja. Da ich dich kenne, du armer Banause, sehe ich dir an, dass du geglaubt hast, Glenn Gould zu hören.«

»Hab ich nicht«, sagt Jack.

»Bitte.«

»Ich hab mich zwar ungefähr eine Minute lang gefragt, ob das Gould sein könnte, aber ...«

»Nein, nein, nein. Versuch’s nicht mal. Deine Stimme verrät dich. Du sprichst jedes Wort mit einem winselnden kleinen Topspin aus, wirklich erbärmlich. Fahren wir jetzt ins Norway Valley zurück, oder möchtest du hier sitzen bleiben und mir weiter was vorlügen? Ich muss dir auf der Heimfahrt was erzählen.« Er hält die CD hoch. »Komm, wir wollen dich von deinen Qualen erlösen. Die hat der Kiffer mir gegeben - Dirtysperm mit einem alten Song der Supremes. Ich persönlich hasse solches Zeug, aber für die Wisconsin Rat könnte es genau richtig sein. Spiel mal Track sieben.«

Der Pianist klingt überhaupt nicht mehr wie Glenn Gould, und die Musik scheint die Hälfte ihres früheren Tempos eingebüßt zu haben. Jack erlöst sich also von seinen Qualen und schiebt die CD in den Schlitz unter dem Autoradio. Er drückt auf eine Taste, dann auf eine zweite. In wahnsinnig schnellem Tempo gellt das Kreischen von Verrückten, die unter unbeschreiblichen Foltern leiden, aus den Lautsprechern. Jack wirft sich aufgeschreckt in den Sitz zurück. »Mein Gott, Henry«, sagt er und greift nach dem Lautstärkeregler.

»Trau dich ja nicht, den Knopf anzufassen«, sagt Henry. »Wenn dir von diesem Scheiß nicht die Ohren bluten, ist er sein Geld nicht wert.«

»Ohren«, das weiß Jack, ist ein Jazzer-Ausdruck für die Fähigkeit, das innere Gefüge von Musik zu erfassen, während man sie hört. Ein Musiker mit guten Ohren kann die Songs und Arrangements, die er spielen soll, rasch auswendig, erfasst die harmonische Bewegung, mit der das Thema unterlegt ist, oder kennt sie bereits und folgt den Transformationen und Substitutionen dieses Themas, die seine Musikerkollegen einführen. Unabhängig davon, ob er geschriebene Noten genau lesen kann, lernt ein Musiker mit großartigen Ohren Melodien und Arrangements beim ersten Zuhören, erfasst harmonische Feinheiten mit unfehlbarer Intuition und identifiziert augenblicklich Tonart und Vorzeichen von Taxihupen, Aufzugklingeln und miauenden Katzen. Solche Menschen leben in einer Welt, die durch die Besonderheiten einzelner Geräusche definiert wird, und Henry Leyden ist einer von ihnen. Nach Jacks Auffassung sind Henrys Ohren olympisch, eine Klasse für sich.

Diese Ohren waren es, die Henry Zugang zu Jacks großem Geheimnis verschafften, der Rolle, die dessen Mutter Lily Cavanaugh Sawyer, »Lily Cavanaugh«, in seinem Leben gespielt hat, und er ist der einzige Mensch, der es jemals entdeckt hat. Bald nachdem Dale sie bekannt gemacht hatte, begann für Henry Leyden und Jack eine zwanglose, gesellige Freundschaft, die beide überraschte. Da sie als Mittel gegen die Einsamkeit des jeweils anderen wirkten, verbrachten sie jede Woche zwei, drei Abende miteinander, aßen zusammen, hörten Musik und redeten über alles, was ihnen in ihre wohlsortierten Köpfe kam. Jack fuhr entweder die Straße hinunter zu Henrys exzentrischem Haus, oder er holte Henry ab und brachte ihn später wieder nach Hause zurück. Nach ungefähr sechs, sieben Monaten fragte Jack sich, ob es seinem Freund wohl gefallen würde, wenn er ihm immer wieder mal für eine Stunde oder so aus Büchern vorlas, auf die sie sich würden einigen müssen. Henry antwortete: Aber gern, mein Bester, was für eine wundervolle Idee! Wie wär’s, wenn wir gleich mit ein paar verrückten Kriminalromanen anfangen? Sie begannen mit Chester Hirnes und Charles Willeford, wechselten die Gangart mit einem Schwung moderner Romane, segelten durch S. J. Perelman und James Thurber und wagten sich, kühn geworden, in von Ford Madox Ford und Vladimir Nabokov errichtete fiktive Herrenhäuser. (Irgendwo vor ihnen liegt Marcel Proust, das ist ihnen klar, aber Proust kann warten; im Augenblick haben sie sich Bleak House vorgenommen.)

Nachdem Jack eines Abends den für diese Sitzung vorgesehenen Teil von Fords Die allertraurigste Geschichte vorgelesen hatte, räusperte sich Henry und sagte: »Dale hat gesagt, du hast ihm erzählt, dass deine Eltern in der Unterhaltungsindustrie waren. Im Showbusiness.«

»Ja, das stimmt.«

»Ich will nicht schnüffeln, aber hättest du was dagegen, wenn ich dir ein paar Fragen stelle? Du brauchst einfach nur mit Ja oder Nein antworten, wenn du Lust hast.«

Jack, der schon besorgt war, fragte: »Worum geht’s dabei, Henry?«

»Ich will sehen, ob ich etwas richtig vermutet habe.«

»Okay. Frag.«

»Danke. Haben deine Eltern in verschiedenen Zweigen der Industrie gearbeitet?«

»Mhm.«

»War ein Elternteil geschäftlich, der andere darstellerisch tätig?«

»Mhm.«

»War deine Mutter Schauspielerin?«

»Mhm-mhm.«

»In gewisser Beziehung eine berühmte Schauspielerin. Sie hat niemals wirklich die ihr zustehende Anerkennung gefunden, aber sie hat in den Fünfzigerjahren und bis Mitte der Sechzigerjahre unzählige Filme gedreht und ist gegen Ende ihrer Karriere mit einem Oscar für die beste Nebenrolle ausgezeichnet worden.«

»Henry!«, sagte Jack. »Wie hast du ...«

»Halt den Mund. Ich will diesen Augenblick ganz auskosten. Deine Mutter war Lily Cavanaugh. Das ist wundervoll. Lily Cavanaugh war immer weit begabter, als die meisten Leute ihr zugestanden haben. Sie hat diese Rollen, die sie gespielt hat, diese Mädchen, diese taffen kleinen Kellnerinnen und Weibsbilder mit Pistolen in den Handtaschen, jedes Mal auf ein neues, höheres Niveau gehoben. Schön, clever, couragiert, einfach darauf konzentrieren und die Rolle verkörpern. Sie war ungefähr hundertmal besser als alle anderen um sie herum.«

»Henry .«

»Einige ihrer Filme hatten auch nette Soundtracks. Lost Summer, mit der Musik von Johnny Mandel. Fantastisch.«

»Henry, wie hast du .«

»Du hast’s mir erzählt, woher sollte ich’s sonst wissen?

Durch deine Sprachmelodie, durch sonst nichts. Du gleitest über deine R hinweg und lässt die restlichen Konsonanten in einer Art Kadenz folgen, und diese Kadenz zieht sich durch deine Sätze.«

»Eine Kadenz?«

»Da kannst du Gift drauf nehmen, Kleiner. Ein unterlegter Rhythmus wie von einem persönlichen Drummer. Seit du Die allertraurigste Geschichte vorliest, habe ich versucht, mich daran zu erinnern, wo ich diese Sprachmelodie schon mal gehört habe. Die Erinnerung war mal da, mal wieder weg. Vor ein paar Tagen bin ich endlich draufgekommen. Lily Cavanaugh. Du wirst mir doch nicht verübeln, dass ich herausfinden wollte, ob ich Recht habe, oder?«

»Verübeln?«, sagte Jack. »Ich bin zu platt, um jemandem etwas zu verübeln, aber lass mir ein paar Minuten Zeit.«

»Bei mir ist dein Geheimnis sicher. Wenn dich jemand kennen lernt, willst du wahrscheinlich nicht, dass er als Erstes denkt: He, da ist ja Lily Cavanaughs Sohn! Das kann ich gut verstehen.«

Henry Leyden hat wirklich großartige Ohren.

Während der Pickup durch French Landing rollt, macht der ohrenbetäubende Krach im Fahrerhaus eine Unterhaltung unmöglich. Dirtysperm brennt ein Loch durchs Marzipanherz von »Where Did Our Love Go« und verübt gleichzeitig schaurige Gräueltaten an all diesen niedlichen kleinen Supremes. Henry, der dieses Zeug zu hassen behauptet, flegelt auf seinem Sitz, stemmt die Knie ans Handschuhfach, legt die senkrecht gehaltenen Hände unter dem Kinn aneinander und grinst vor Vergnügen. Die Geschäfte in der Chase Street haben inzwischen geöffnet, und ein halbes Dutzend Autohecks ragen schräg aus den Parklücken auf die Fahrbahn.

Vor Schmitt’s Allsorts machen vier Jungen auf Fahrrädern keine zehn Meter vor dem herankommenden Pi-ckup einen Schlenker vom Gehsteig auf die Straße. Jack tritt auf die Bremse; die Jungen machen abrupt Halt, reihen sich nebeneinander auf und warten darauf, dass er vorbeifährt. Jack rollt langsam weiter. Henry setzt sich auf, lässt seine geheimnisvollen Sensoren arbeiten und sinkt wieder zurück. Für Henry ist alles in Ordnung. Die Jungen hingegen scheinen jedoch nicht zu wissen, was sie aus dem Krach machen sollen, der immer lauter wird, je näher der Pickup heranrollt. Sie starren Jacks Windschutzscheibe mit einer Verwirrung - in die sich auch Abscheu mischt - an, wie ihre Urgroßväter einst die siamesischen Zwillinge und den Alligatormann in der Kuriositätenschau im hintersten Winkel des Jahrmarkts angestarrt haben. Jeder weiß, dass Pickupfahrer nur zwei Arten von Musik hören - Heavy Metal oder Country -, was ist also mit diesem komischen Kerl los?

Als Jack an den Jungen vorbeifährt, zeigt der erste, ein mürrischer Schwergewichtler mit dem pickeligen Gesicht eines Schulhofschlägers, ihm einen hochgereckten Mittelfinger. Die beiden nächsten imitieren weiter ihre Urgroßväter, die sich im Jahr 1921 einen tollen Abend machen, und starren den Pickup an, wobei ihre schlaffen Münder idiotisch offen stehen. Der vierte Junge, des-sen dunkelblondes Haar unter der Brewers-Mütze, dessen glänzende Augen und allgemein unschuldige Ausstrahlung ihn als Nettesten der Gruppe erscheinen lassen, sieht Jack unverhohlen ins Gesicht und schenkt ihm ein freundliches, zaghaftes Lächeln. Es handelt sich um Tyler Marshall, der - obgleich er davon nicht das Geringste ahnt - zu einem Ausflug ins Niemandsland unterwegs ist.

Die Jungen bleiben hinter dem Wagen zurück, und als Jack einen Blick in den Rückspiegel wirft, sieht er sie wie wild die Straße hinaufstrampeln - Sluggo voraus, der kleinste, ansprechendste Junge an letzter Stelle, mit Schwierigkeiten hinterherzukommen.

»Eine Gehsteigkommission aus Experten hat eben ihr Urteil über Dirtysperm abgegeben«, sagt Jack. »Vier Kids auf Fahrrädern.« Da er selbst kaum hören kann, was er sagt, glaubt er nicht, dass Henry seine Worte verstehen wird.

Henry scheint ihn jedoch tadellos verstanden zu haben und reagiert mit einer Frage, die aber im Tumult untergeht. Da Jack sich recht gut vorstellen kann, wie sie gelautet haben muss, antwortet er trotzdem. »Einer entschieden ablehnend, zwei unschlüssig, aber zur Ablehnung tendierend, und einer vorsichtig zustimmend.« Henry nickt.

In der Eleventh Street kracht und scheppert die gewalttätige Marzipanvernichtung ihrem Ende zu. Als ob Dunst aus dem Fahrerhaus abgezogen wäre, als ob jemand die Windschutzscheibe frisch geputzt hätte, erscheint die Luft nun klarer, wirken die Farben lebhafter.

»Interessant«, sagt Henry. Er greift unfehlbar nach der Auswurftaste, zieht die CD aus dem Gerät und legt sie in ihre Hülle zurück. »Das war sehr aufschlussreich, findest du nicht auch? Nackten, egozentrischen Hass sollte man niemals automatisch verwerfen. Morris Rosen hat Recht. Ein idealer Titel für die Wisconsin Rat.«

»He, ich glaube, die Band könnte größer als Glen Miller werden.«

»Da fällt mir etwas ein«, sagt Henry. »Du errätst nie, was ich nachher noch vorhabe. Ich hab einen Gig! Chip-per Maxton, beziehungsweise eigentlich seine Stellvertreterin, diese Rebecca Vilas, die bestimmt so hinreißend ist, wie ihre Stimme klingt, hat mich engagiert, damit ich als Knalleffekt und Höhepunkt des großen Erdbeerfests im Maxton einen Schallplattenschwof veranstalte. Na ja, nicht ich, sondern eine alte, lange vernachlässigte Rolle meiner selbst: Symphonic Stan, der Big-Band-Man.«

»Soll ich dich hinfahren?«

»Danke, nicht nötig. Die wundersame Miss Vilas hat sich um meine Bedürfnisse in Form eines Wagens gekümmert, den sie mir schicken wird - mit einem bequemen Rücksitz für meinen Plattenspieler und einem Kofferraum, der Platz genug für die Lautsprecher und Plattenkartons bietet. Aber trotzdem vielen Dank.«

»Symphonic Stan?«, sagt Jack.

»Ein umwerfende, temperamentvolle, affektierte Verkörperung der Big-Band-Ära, außerdem ein charmanter Gentleman mit einschmeichelnder Stimme. Für die Bewohner und Bewohnerinnen von Maxton eine Heraufbeschwörung ihrer Jugend und in seinem altväterlichen >Zoot Suit< eine Augenweide.«

»So einen Anzug hast du wirklich?«

Henry wendet ihm langsam sein fabelhaft ausdrucksloses Gesicht zu.

»Sorry. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Um das Thema zu wechseln, was du . ich meine, was George Rathbun heute Morgen über den Fisherman gesagt hat, hat bestimmt viel Gutes bewirkt. Mich hat’s gefreut, das zu hören.«

Henry öffnet den Mund und zitiert George Rathbun in all dessen onkelhafter Herrlichkeit. »Der originale Fisherman, Boys und Girls, ist seit siebenundsechzig Jahren tot und vermodert...« Es ist fast unheimlich, die Stimme dieses cholerischen Fettsacks aus Henry Leydens schlanker Kehle kommen zu hören. Wieder mit der eigenen Stimme sagt Henry: »Ich hoffe, es hat etwas genützt. Nachdem ich den Unsinn deines Kumpels Wendell Green in der heutigen Zeitung gelesen habe, fand ich, George müsste irgendwas sagen.«

Henry Leyden benützt gern Ausdrücke wie ich lese, ich habe gelesen, ich sehe, als ich das gesehen habe. Er weiß, dass solche Redewendungen seine Zuhörer verwirren. Und er hat vom »Kumpel« Wendell Green gesprochen, weil Henry der einzige Mensch ist, dem Jack jemals gestanden hat, dass er den Reporter auf die von Albert Fish verübten Verbrechen aufmerksam gemacht hat. Inzwischen wünscht Jack sich, er hätte das nie jemandem gebeichtet. Der händeschüttelnde Wendell Green ist wirklich nicht sein Kumpel.

»Nachdem du schon der Presse behilflich gewesen bist«, sagt Henry, »könnte man vernünftigerweise annehmen, du seist auch in der Lage, etwas für unsere Jungs in Blau zu tun. Entschuldige, dass ich das anspreche, Jack, du hast die ganze Sache immerhin ins Rollen gebracht, aber ich werde mich nicht wiederholen. Es ist nur so, schließlich ist Dale mein Neffe.«

»Ich kann nicht glauben, dass du mir das antust«, sagt Jack.

»Das ich was tue, meine Meinung sage? Dale ist mein Neffe, schon vergessen? Er könnte deine Erfahrung brauchen, außerdem ist er der festen Überzeugung, dass du ihm einen Gefallen schuldig bist. Ist dir noch gar nicht die Idee gekommen, dass du ihm helfen könntest, seinen Job zu behalten? Oder dass du diesen Leuten etwas von deiner Zeit und deinem Talent schuldest, wenn du French Landing und das Norway Valley so liebst, wie du’s zu tun behauptest?«

»Bist du noch nicht auf die Idee gekommen, Henry, dass ich im Ruhestand lebe?«, sagt Jack mit zusammengebissenen Zähnen. »Dass Mordermittlungen das Letzte, das wirklich Allerletzte auf der Welt sind, womit ich mich beschäftigen möchte?«

»Natürlich bin ich darauf gekommen«, sagt Henry. »Aber - und ich hoffe wieder, dass du das entschuldigst, Jack -, du bist nun einmal du, der Mann, als den ich dich kenne, mit deinen Fähigkeiten, die bestimmt meilenweit über Dales und vermutlich weit über die all dieser anderen Kerle hinausgehen, und da frage ich mich doch unwillkürlich, was zum Teufel dein Problem ist.«

»Ich habe kein Problem«, sagt Jack. »Ich bin Zivilist.«

»Wie du meinst. Dann können wir uns eigentlich ebenso gut den Barenboim zu Ende anhören.« Henry lässt seine Finger über die Konsole gleiten und drückt den Einschaltknopf des Autoradios.

In der nun folgenden Viertelstunde ist im Fahrerhaus des Pickups nur die Stimme des Steinway-Konzertflügels zu hören, der im Teatro Colon in Buenos Aires über die Goldberg-Variationen meditiert. Wirklich eine prachtvolle Intonation, denkt Jack, und man muss schon ein Ignorant sein, um sie irrtümlich für Glenn Gould zu halten. Wer imstande war, diesen Fehler zu machen, konnte vermutlich auch den vibrationsähnlichen inneren Ton nicht hören, den ein Türgriff von General Motors von sich gab.

Als sie vom Highway 93 auf die Norway Valley Road abbiegen, sagt Henry: »Hör auf zu schmollen. Ich hätte dich nicht Banause nennen sollen. Und ich hätte dir nicht vorwerfen sollen, ein Problem zu haben, weil ich nämlich derjenige bin, der ein Problem hat.«

»Du?« Jack starrt ihn verblüfft an. Aus langer Erfahrung vermutet er sofort, dass Henry ihn um Hilfe in Form irgendwelcher inoffizieller Ermittlungen bitten will. Henrys Gesicht bleibt der Windschutzscheibe zugewandt, gibt nichts preis. »Was für ein Problem kannst du haben? Sind deine Socken durcheinander geraten? Oh ... gibt’s Probleme mit einem der Sender?«

»Damit käme ich schon klar.« Henry macht eine Pause, und die Pause dehnt sich zu längerem Schweigen aus. »Was ich sagen wollte, ist Folgendes: Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Ich glaube, ich drehe irgendwie durch.«

»Ach komm!« Jack verringert den Druck aufs Gaspedal und fährt nur noch halb so schnell. Ist Henry Augenzeuge einer Federexplosion geworden? Natürlich ist er das nicht; Henry kann nicht sehen. Und seine eigene Federexplosion war ja auch nur ein Wachtraum.

Henry bebt wie eine Stimmgabel. Sein Gesicht ist weiter der Windschutzscheibe zugewandt.

»Erzähl mir, was los ist«, sagt Jack. »Ich fange langsam an, mir Sorgen um dich zu machen.«

Henry öffnet den Mund zu einem schmalen Spalt, durch den man lediglich eine Hostie schieben könnte, dann schließt er ihn wieder. Ein weiteres Beben durchläuft ihn.

»Hmm«, sagt er. »Das ist ja schwieriger, als ich dachte.« Erstaunlicherweise schwankt seine nüchterne, gleichmäßige Stimme, Henry Leydens wahre Stimme, mit einem bangen, hilflosen Vibrato.

Jack verlangsamt den Pickup auf Kriechtempo, will etwas sagen, wartet dann aber doch lieber ab.

»Ich höre meine Frau«, sagt Henry. »Nachts, wenn ich im Bett liege. Gegen drei, vier Uhr morgens. Rhodas Schritte sind in der Küche zu hören, sie kommen die Treppe herauf. Ich verliere anscheinend wirklich den Verstand.«

»Wie oft passiert das?«

»Wie oft? Das weiß ich nicht genau. Drei, viermal die Nacht.«

»Stehst du dann auf, um sie zu suchen? Rufst du ihren Namen?«

Henrys Stimme ist wieder auf dem Vibrato-Trampolin unterwegs. »Ich habe schon beides getan. Weil ich mir sicher war, sie gehört zu haben. Ihre Schritte, ihre Art, sich zu bewegen, ihren Gang. Rhoda ist jetzt schon seit sechs Jahren tot. Ziemlich komisch, was? Ich würd’s jedenfalls komisch finden, wenn ich nicht das Gefühl hätte überzuschnappen.«

»Du rufst also ihren Namen«, sagt Jack. »Und du stehst auf und gehst nach unten.«

»Wie ein Geistesgestörter, wie ein Verrückter. >Rhoda? Bist du’s, Rhoda?< Letzte Nacht bin ich durchs ganze Haus geirrt. >Rhoda? Rhoda?< Als ob ich erwartet hätte, dass sie antworten würde.« Henry achtet nicht auf die Tränen, die unter seiner Pilotenbrille hervorquellen und ihm übers Gesicht laufen. »Und ich hab’s erwartet, das ist das Problem.«

»Außer dir war niemand im Haus«, sagt Jack. »Keine Anzeichen irgendwelcher Störungen. Nichts am falschen Platz oder verschwunden, nichts dergleichen.«

»Nicht, so viel ich sehen konnte. Alles war noch dort, wo es sein sollte. Wo ich es zurückgelassen habe.« Er hebt eine Hand und wischt sich das Gesicht ab.

Die Einfahrt, hinter der sich Jacks Zufahrt davonschlängelt, gleitet an der rechten Seite des Fahrerhauses vorbei.

»Ich sag dir, was ich denke«, sagt Jack, während er sich vorstellt, wie Henry durch sein finsteres Haus irrt. »Vor sechs Jahren hast du die ganze Trauerarbeit leisten müssen, die notwendig ist, wenn ein geliebter Mensch stirbt und einen verlässt: das Nicht-wahrhaben-Wollen, die Versuche, dem Schicksal etwas abzutrotzen, den Zorn, den Schmerz, was auch immer, die resignierte Hinnahme - aber selbst danach hat dir Rhoda weiter gefehlt. Kein Mensch behauptet zwar jemals, dass die Menschen, die man einmal geliebt hat, einem auf Dauer fehlen, aber das tun sie trotzdem.«

»Na, das ist ja tiefsinnig«, sagt Henry. »Und auch tröstlich.«

»Unterbrich mich nicht. Manchmal passieren die verrücktesten Dinge. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Dein Verstand rebelliert. Er verfälscht die Tatsachen, macht unwahre Aussagen. Wer weiß, warum, er tut’s halt einfach.«

»Mit anderen Worten, man schnappt über«, sagt Henry. »Das war auch unser Ausgangspunkt, glaube ich.«

»Damit meine ich«, sagt Jack, »dass Leute Wachträume haben können. Das, was dir gerade passiert. Kein Grund zur Sorge. Okay, da wären wir, du bist zu Hause.«

Er biegt auf die mit Gras bewachsene Zufahrt ab und rollt bis vor das weiße Farmhaus, in dem Henry und Rhoda Leyden nach ihrer Hochzeit fünfzehn lebhafte Jahre verbracht haben, bis bei Rhoda Leberkrebs diagnostiziert wurde. Nach ihrem Tod war Henry noch fast zwei Jahre lang jeden Abend durchs Haus gewandert und hatte überall Licht gemacht.

»Wachträume? Wo hast du das her?«

»Wachträume sind nichts Ungewöhnliches«, sagt Jack. »Vor allem nicht bei Leuten, die wie du nie genug Schlaf bekommen.« Oder bei Leuten wie mir, fügt er im Stillen hinzu. »Das habe ich mir nicht nur ausgedacht, Henry. Ich habe selbst schon ein paar gehabt. Zumindest einen.«

»Wachträume«, sagt Henry in verändertem, nachdenklichem Tonfall. »Klasse Idee.«

»Denk darüber nach. Wir leben in einer rationalen Welt. Verstorbene stehen nicht von den Toten auf. Nichts geschieht ohne Grund, und die Gründe sind immer rational. Alles eine Frage der Chemie oder des Zufalls. Wären sie nicht rational, würden wir nie etwas herausbekommen und wüssten nie, was um uns herum geschieht.«

»Das kann sogar ein Blinder sehen«, sagt Henry. »Danke. Beherzigenswerte Worte.« Er steigt aus und schließt die Beifahrertür. Er geht ein paar Schritte, kommt wieder zurück und lehnt sich durchs offene Fenster. »Wollen wir nicht heute Abend schon mit Bleak House anfangen? Ich müsste gegen halb neun oder so ähnlich heimkommen.«

»Ich bin gegen neun Uhr da.«

Zum Abschied sagt Henry: »Ding-dong.« Er wendet sich ab, geht zur Haustür und verschwindet in seinem Haus, dessen Tür natürlich unversperrt ist. Hierzulande schließen nur Leute, die Kinder haben, ihre Tür ab, und selbst das ist eine Neuerung.

Jack stößt mit dem Pickup zurück, rollt die Zufahrt hinunter und fährt dann wieder auf die Norway Valley Road hinaus. Er hat das Gefühl, eine zweifach gute Tat getan zu haben, indem er Henry geholfen hat, hat er nämlich auch sich selbst geholfen. Eigentlich nett, wie die Dinge sich manchmal entwickeln.

Als er auf die lange Zufahrt bei sich Zuhause abbiegt, kommt aus dem Aschenbecher unter dem Armaturenbrett ein merkwürdiges Scheppern. In der letzten Kurve, unmittelbar bevor das Haus in Sicht kommt, hört er es ein weiteres Mal. Das Geräusch ist weniger ein Scheppern als ein nicht sehr lautes, dumpfes Klappern. Ein Knopf, eine Münze - irgendwas in dieser Art. Er parkt neben dem Haus, stellt den Motor ab und stößt schließlich die Fahrertür auf. Dann fällt ihm noch etwas ein; er beugt sich nach rechts und zieht den Aschenbecher heraus.

Was Jack in die Bodenrillen dieses Schubfachs geschmiegt findet - ein winziges Rotkehlchenei von der Größe eines mandelförmigen Schokoladedrops -, verschlägt ihm förmlich den Atem.

Das kleine Ei ist so blau, dass sogar ein Blinder es sehen könnte.

Jack klaubt das Ei mit zitternden Händen aus dem Aschenbecher. Er starrt es an, steigt aus und schließt die Tür hinter sich. Während er es weiter anstarrt, denkt er endlich daran, wieder einmal zu atmen. Er dreht die Hand und gibt das Ei frei, das daraufhin senkrecht ins Gras fällt. Er hebt ganz bewusst einen Fuß und zerstampft diesen obszönen blauen Punkt. Ohne sich umzusehen, steckt er die Autoschlüssel ein und bewegt sich auf die zweifelhafte Sicherheit seines Hauses zu.

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