TEIL DREI Plutos nächtige Sphäre

15

Bis zum Abend ist die Temperatur um zehn Grad gefallen, und eine schwach ausgeprägte Kaltfront zieht über unsere kleine Ecke des Coulee Countrys hinweg. Es gibt kein Gewitter, aber als der Himmel sich ins Violette verfärbt, zieht dichter Nebel auf. Er kommt aus dem Fluss und kriecht die schräge Rampe der Chase Street hinauf, wo er erst die Rinnsteine, danach die Gehsteige, dann die Gebäude selbst verschwimmen lässt. Er kann sie nicht ganz verschlucken, wie es die Winter- und Frühjahrsnebel manchmal tun, aber dieses Verschwimmenlassen ist irgendwie noch schlimmer: Es raubt Farben und lässt Formen zerfließen. Der Nebel lässt das Gewöhnliche fremdartig erscheinen. Und dazu kommt der Geruch, jener uralte, an Möwen erinnernde Geruch, der einem tief in die Nase dringt und unser Unterbewusstsein weckt, jenen Teil unseres Bewusstseins, der durchaus imstande ist, an Ungeheuer zu glauben, wenn die Sichtweite abnimmt und das Herz sich unbehaglich fühlt.

In der Sumner Street arbeitet Debbi Anderson weiter in der Einsatzzentrale. Arnold »der Verrückte Ungar« Hrabowski ist ohne seine Plakette - einstweilen des Dienstes enthoben - nach Hause geschickt worden und hat das Gefühl, seiner Frau einige pointierte Fragen stellen zu müssen (seine Überzeugung, die Antworten darauf bereits zu kennen, macht ihn noch verzweifelter). Jetzt steht Debbi mit einer Kaffeetasse in der Hand und einem besorgten kleinen Stirnrunzeln am Fenster.

»Der Nebel gefällt mir nicht«, sagt sie zu Bobby Du-lac, der mürrisch schweigend Berichte tippt. »Er erinnert mich an die Hammer-Filme, die ich im Fernsehen gesehen habe, als ich noch auf der Junior High war.«

»Hammer-Filme?«, fragt Bobby und sieht auf.

»Horrorfilme«, sagt sie in den dichter werdenden Nebel hinausblickend. »Viele davon über Dracula. Auch über Jack the Ripper.«

»Von Jack the Ripper will ich überhaupt nix hören«, sagt Bobby. »Merk dir das, Debster.« Er tippt weiter.

Auf dem Parkplatz vor dem 7-Eleven steht Mr. Rajan Patel neben dem Telefon (das noch immer kreuz und quer mit gelbem Polizei-Absperrband gesichert ist, und wann es wieder benutzbar sein wird, das könnte Mr. Patel uns nicht sagen). Er blickt in Richtung Innenstadt, die jetzt aus einer riesigen Sahneschüssel aufzuragen scheint. Die Häuser an der Chase Street tauchen in diese Schüssel ein. Die Gebäude am tiefsten Punkt der Straße sind nur vom ersten Stock aufwärts zu sehen.

»Wenn er dort unten ist«, sagt Mr. Patel halb laut zu niemandem als sich selbst, »wird er heute Nacht tun, was ihm gefällt.«

Er verschränkt die Arme vor der Brust und bekommt eine Gänsehaut.

Dale Gilbertson ist ausnahmsweise einmal zu Hause. Er hat vor, mit Frau und Kind zu Abend zu essen, selbst wenn die Welt derweil untergehen sollte. Als er aus seinem Arbeitszimmer kommt (in dem er zwanzig Minuten lang mit Lieutenant Jeff Black von der Wisconsin State Police telefoniert hat - ein Gespräch, bei dem er seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten musste, um nicht loszubrüllen), sieht er seine Frau am Fenster stehen und hinausblicken. Ihre Haltung gleicht fast genau der von Debbi Anderson, nur hat sie statt einer Kaffeetasse ein Weinglas in der Hand. Das sorgenvolle kleine Stirnrunzeln ist wiederum identisch.

»Flussnebel«, sagt Sarah trübselig. »Ist das nicht toll? Wenn er dort draußen ist .«

Dale droht ihr mit dem Zeigefinger. »Nicht aussprechen. Nicht mal daran denken!«

Aber er weiß, dass keiner von beiden es vermeiden kann, daran zu denken. Die Straßen von French Landing - die nebligen Straßen von French Landing - werden jetzt menschenleer sein: niemand beim Einkaufen in den Geschäften, niemand auf den Gehsteigen herumlungernd, niemand in den Parks. Vor allem keine Kinder. Die Eltern werden sie zu Hause behalten. Sogar in der Nailhouse Row, wo fürsorgliche Elternschaft eher die Ausnahme als die Regel ist, werden die Kinder das Haus hüten müssen.

»Ich werde es nicht aussprechen«, sagt Sarah. »Wenigstens das.«

»Was gibt’s zum Abendessen?«

»Was hältst du von Hühnerpastete?«

Normalerweise würde er ein so heißes Gericht an einem Juliabend für eine furchtbar schlechte Wahl halten, aber heute Abend, da der Nebel aufzieht, klingt es geradezu ideal. Er tritt hinter sie, drückt sie kurz an sich und sagt: »Wunderbar. Je früher, desto besser.«

Sie dreht sich enttäuscht um. »Du fährst wieder rein?«

»Eigentlich müsste ich ja nicht, jetzt, wo Brown und Black am Ball sind .«

»Diese Scheißkerle«, sagt sie. »Ich hab sie nie leiden können.«

Dale lächelt. Er weiß, dass seine Sarah, geborene Asbu-ry, von seinem Beruf nie sonderlich begeistert gewesen ist, und das macht ihre ungestüme Loyalität umso rührender. Und heute Abend erscheint sie ihm auch lebensnotwendig. Es war der schmerzlichste Tag seiner Laufbahn im Polizeidienst, ein Tag, der mit der Dienstenthebung Arnold Hrabowskis geendet hat. Arnie, das weiß Dale, rechnet damit, bald wieder im Dienst zu sein. Und die beschissene Wahrheit ist, dass Arnie womöglich Recht behalten wird. Wie die Dinge jetzt laufen, wird Dale vielleicht selbst ein so leuchtendes Beispiel für Unfähigkeit wie den Verrückten Ungarn gut brauchen können.

»Ich müsste also nicht, aber .«

»Dich treibt ein Gefühl um.«

»Stimmt.«

»Gut oder schlecht?« Sie hat gelernt, die Intuitionen ihres Mannes zu respektieren, nicht zuletzt wegen Dales Betreiben, Jack Sawyer dazu zu bewegen, sich so nahe bei ihnen niederzulassen, dass man nur sieben statt elf Ziffern wählen muss, um ihn telefonisch zu erreichen. Heute Abend kommt ihr das - man entschuldige die Witzelei - wie eine ziemlich gute Wahl vor.

»Beides«, sagt Dale, und dann fragt er, ohne seine Antwort zu erläutern oder Sarah Gelegenheit zu weiteren Fragen zu geben: »Wo ist Dave?«

»Am Küchentisch, mit seinen Wachsmalstiften.«

Mit seinen sechs Jahren genießt der junge David Gil-bertson eine heftige Liebesaffäre mit Crayolas, von denen er in den Schulferien schon zwei Schachteln vermalt hat. Dale und Sarah hoffen stark - was sie einander aber nur im Schutz der Dunkelheit eingestehen, wenn sie vor dem Einschlafen Seite an Seite liegen -, dass sie vielleicht einen richtigen Künstler großziehen. Den nächsten Norman Rockwell, hat Sarah einmal gesagt. Dale -der Jack Sawyer geholfen hat, dessen eigenartig wundervollen Gemälde aufzuhängen - hegt größere Hoffnungen für seinen Jungen. Eigentlich zu groß, als dass er sie aussprechen könnte, nicht einmal im Ehebett, wenn das Licht ausgeknipst ist.

Mit dem Weinglas in der Hand schlendert Dale in die Küche hinaus. »Was malst du, Dave? Was ...«

Er bleibt stehen. Die Wachsmalstifte liegen verlassen da. Auch das Bild - eine halb fertige Zeichnung, die eine fliegende Untertasse, vielleicht auch nur einen runden Couchtisch, darstellen könnte - liegt verlassen da.

Die Küchentür ins Freie steht offen.

Als Dale in das milchige Weiß hinausblickt, das Davids Schaukel und sein Klettergerüst verbirgt, fühlt er in der Kehle eine schreckliche Angst aufsteigen, die ihm den Hals zuschnürt. Er kann plötzlich wieder Irma Fre-neau riechen, hat wieder den grausigen Verwesungsgeruch in der Nase. Jegliches Gefühl, seine Familie lebe in einem geschützten Zauberkreis - es kann andere treffen, aber uns kann es nie, nie zustoßen -, ist schlagartig verflogen. An seine Stelle ist eine entsetzliche Gewissheit getreten: David ist fort. Der Fisherman hat ihn aus dem Haus gelockt und in den Nebel verschleppt. Dale sieht das Grinsen auf dem Gesicht des Fishermans vor sich. Er sieht dessen behandschuhte Hand - sie ist gelb -, die den Mund seines Sohnes, aber nicht die ängstlich hervorquellenden Kinderaugen bedeckt.

In den Nebel und aus unserer Welt hinaus.

David.

Er stolpert auf Beinen, in denen Knochen und Nerven sich aufgelöst zu haben scheinen, durch die Küche. Er stellt sein Glas auf den Tisch, wobei der Fuß schräg auf einem Wachsmalstift zu stehen kommt, und merkt nicht, wie es umkippt und Davids halb fertige Zeichnung mit etwas tränkt, das grässlich an venöses Blut erinnert. Dann ist er zur Tür hinaus, und obwohl er laut rufen will, kommt seine Stimme nur als ein mattes, fast kraftloses Seufzen heraus: »David? . Dave?«

Einen Augenblick lang, der ihm wie ein Jahrtausend vorkommt, horcht er vergebens. Dann hört er die dumpfen Laute rennender Füße auf feuchtem Gras. Jeans und ein gestreiftes Sweatshirt tauchen aus der dicker werdenden Nebelsuppe auf. Im nächsten Augenblick sieht er das liebe, grinsende Gesicht und den blonden Haarschopf seines Sohnes.

»Dad! Daddy! Ich hab im Nebel geschaukelt! Das war wie in einer Wolke!«

Dale reißt ihn an sich. Er spürt einen schlimmen, blendenden Impuls, den Jungen zu ohrfeigen, ihm dafür weh zu tun, dass er seinen Vater so geängstigt hat. Aber der Impuls verschwindet so rasch, wie er gekommen ist. Stattdessen küsst er David.

»Ich weiß«, sagt er. »Das hat bestimmt Spaß gemacht, aber jetzt ist’s Zeit, ins Haus zu kommen.«

»Warum, Daddy?«

»Weil kleine Jungen sich manchmal im Nebel verlaufen«, sagt er und blickt in den weißen Garten hinaus. Er kann den Verandatisch sehen, aber nur schemenhaft; hätte er ihn nicht schon unzählige Male gesehen, wüsste er gar nicht, was dort steht. Er küsst seinen Sohn nochmals. »Kleine Jungen verlaufen sich manchmal«, wiederholt er.

Oh, wir könnten nach jeder Menge Freunde sehen, alten wie neuen. Fred Marshall und Jack sind aus Arden zurückgekehrt (keiner der beiden hat vorgeschlagen, in Gertie’s Kitchen in Centralia einzukehren, als sie daran vorbeigefahren sind), und beide sind jetzt in ihren ansonsten verlassenen Häusern. Auf der restlichen Rückfahrt nach French Landing hat Fred die Baseballmütze seines Sohnes nicht mehr losgelassen; er hat sogar jetzt eine Hand auf ihr liegen, während er in seinem schmerzlich leeren Wohnzimmer ein TV-Dinner aus der Mikrowelle isst und die Abendnachrichten sieht.

Heute Abend wird natürlich vor allem über Irma Fre-neau berichtet. Fred will schon nach der Fernbedienung greifen, als nach verwackelten Bildern des Ed’s Eats ein aufgezeichneter Bericht aus der Wohnwagensiedlung Holiday Trailer Park kommt. Der Kameramann hat einen ganz bestimmten schäbigen Wohnwagen ins Visier genommen. Ein paar Blumen, tapfer, aber dem Untergang geweiht, siechen im Staub neben der Eingangsstufe dahin, die aus drei Brettern über zwei Hohlblocksteinen besteht. »Hier am Stadtrand von French Landing hat Irma Freneaus trauernde Mutter sich verbarrikadiert«, sagt die Reporterin vor Ort. »Man kann sich nur vorstellen, was diese allein erziehende Mutter heute Abend empfindet.« Die Reporterin ist hübscher als Wendell Green, ist aber von einer ganz ähnlichen Aura aus glitzernder, krank machender Aufregung umgeben.

Fred drückt auf den Aus-Knopf der Fernbedienung und knurrt: »Warum könnt ihr die arme Frau nicht in Ruhe lassen?« Er sieht auf sein Geschnetzeltes auf Toast hinunter, aber der Appetit ist ihm vergangen.

Er hebt langsam Tylers Mütze hoch und setzt sie sich auf. Sie passt nicht, und Fred spielt einen Augenblick mit dem Gedanken, das Kunststoffband am Hinterkopf weiter zu stellen. Der Gedanke entsetzt ihn. Was wäre, wenn schon damit das Schicksal seines Sohnes besiegelt wäre? Durch eine einfache, tödliche Modifikation? Diese Idee erscheint ihm lächerlich und völlig unwiderlegbar zugleich. Macht er so weiter, ist er wahrscheinlich bald so verrückt wie seine Frau . oder wie Sawyer. Diesem Sawyer zu vertrauen ist so verrückt wie die Vorstellung, er könnte seinen Sohn umbringen, indem er die Größe seiner Baseballmütze verändert . und trotzdem glaubt er beides. Er greift nach der Gabel und isst weiter, während Tys Brewers-Mütze wie Spankys Melone aus der Stummfilmserie Die kleinen Strolche schief auf seinem Kopf sitzt.

Beezer St. Pierre sitzt nur in Unterwäsche auf dem Sofa; auf den Knien hat er ein aufgeschlagenes Buch (tatsächlich ist dies ein Band mit William Blakes Gedichten), in dem er jedoch nicht liest. Bear Girl schläft im anderen Zimmer, und er kämpft gegen den Drang an, einen Abstecher in die Sand Bar zu machen und sich etwas Speed zu besorgen - sein altes Laster, von dem er vor nunmehr fast fünf Jahren losgekommen ist. Seit Amys Tod kämpft er tagtäglich gegen diesen Drang an und bleibt in letzter Zeit nur dadurch Sieger, dass er sich daran erinnert, dass er nicht imstande sein wird, den Fisherman aufzuspüren - und ihn zu bestrafen, wie er’s verdient -, wenn er mit Methamphetamin zugeknallt ist.

Henry Leyden sitzt mit einem riesigen Akai-Kopfhörer über den Ohren in seinem Studio und hört sich »I Remember April« in der Idealbesetzung mit Warren Vaché, John Bunch und Phil Flanigan an. Er kann den Nebel selbst durch die Mauern seines Hauses riechen, und für ihn riecht er wie die Luft in Ed’s Eats. Mit anderen Worten: nach gewaltsamem Tod. Er fragt sich, wie Jack auf der guten alten Station D im French County Lutheran abgeschnitten haben mag. Und er denkt an seine Frau, die ihm in letzter Zeit (vor allem seit der Tanzveranstaltung im Maxton, obwohl ihm das nicht bewusst ist) näher denn je zu sein scheint. Und unruhig.

Ja, in der Tat stehen uns alle möglichen Freunde für eine Inspektion zur Verfügung, aber zumindest einer scheint den Blicken entschwunden zu sein. Charles Burnside ist weder im Gemeinschaftsraum im Maxton (wo in dem an der Wand festgeschraubten alten Farbfernseher gegenwärtig eine alte Folge von Familienbande läuft), noch im Speisesaal, wo am frühen Abend Imbisse erhältlich sind, noch auf seinem Zimmer, in dem die Bettwäsche gegenwärtig sauber ist (aber in dem die Luft trotzdem noch vage nach alter Scheiße riecht). Vielleicht auf der Toilette? Nö. Thorvald Thorvaldson ist reingekommen, um zu pissen und sich die Hände zu waschen, aber sonst ist der Raum leer. Nur eines ist seltsam: In einer der WC-Kabinen liegt ein Filzpantoffel auf der Seite. Mit seinen lebhaften schwarz-gelben Streifen sieht er wie der Leib einer toten Riesenhummel aus. Und ja, das ist die zweite Kabine von links, die Burny immer bevorzugt.

Sollen wir ihn suchen? Vielleicht sollten wir das. Vielleicht beunruhigt es uns, nicht genau zu wissen, wo dieser Schlingel sich herumtreibt. Wir wollen uns durch den Nebel schleichen und dann lautlos wie ein Traum zur unteren Chase Street hinuntergleiten. Hier steht das Hotel Nelson, dessen Erdgeschoss inzwischen vom Flussnebel überflutet ist und an dem die ockergelbe Hochwassermarke jener lange zurückliegenden Überschwemmung im schwindenden Licht dieses Tages kaum mehr als ein Hauch von Farbe ist. Auf einer Seite des Hotels liegt das Schuhgeschäft Wisconsin Shoe, das für heute geschlossen hat. Auf der anderen steht Lucky’s Tavern, vor der gegenwärtig eine o-beinige alte Frau (sie heißt Bertha Van Dusen, falls das jemanden interessiert) mit auf ihre großen Knie gestützten Händen vornüber gebeugt steht und einen Bauch voll Kingsland Old-Time Lager in den Rinnstein speit. Sie macht Geräusche wie ein schlechter Lastwagenkutscher, der ein handgeschaltetes Getriebe misshandelt. Im Eingang des Hotels hockt ein geduldiger alter Mischlingshund, der warten wird, bis Bertha in die Kneipe zurückgegangen ist, um dann hinüberzuschleichen und die im Bier schwimmenden, halb verdauten Cocktailwürstchen zu fressen. Aus Lucky’s Tavern dringt die müde, näselnde Stimme des verstorbenen Dick Curless; Ole Country One-Eye singt von jenen Hainesville Woods, in denen alle Meile ein Grabstein steht.

Der Hund stößt einen einzigen desinteressierten Knurrlaut aus, als wir an ihm vorbei in die Empfangshalle des Nelsons schlüpfen, in der mottenzerfressene Tierschädel - ein Wolf, ein Bär, ein Elch und ein uralter, halb kahler Bison mit einem einzelnen Glasauge -, leere Sofas und leere Sessel den Aufzug, der seit etwa 1994 außer Betrieb ist, und die unbesetzte Rezeption anstarren. (Morty Fine, der Nachtportier, sitzt im Büro, hat die Füße auf einen leeren Karteischrank hochgelegt, liest People und bohrt in der Nase.) Die Halle des Hotels Nelson riecht zwar immer nach dem Fluss - das steckt in den Poren des Mauerwerks -, aber heute Abend ist der Geruch stärker als sonst. Es ist ein Geruch, der uns an schlechte Ideen, verlorene Investitionen, ungedeckte Schecks, sich verschlechternde Gesundheit, gestohlenen Bürobedarf, nicht gezahlten Unterhalt, leere Versprechungen, Hautkrebs, erloschenen Ehrgeiz, stehen gelassene Musterkoffer voller billiger Novitäten, unerfüllte Hoffnungen, altersschlaffe Haut und Plattfüße denken lässt. Es handelt sich hier um die Art Hotel, in die man nicht kommt, wenn man nicht schon früher hier gewesen ist und praktisch keine andere Wahl mehr hat. Es ist ein Hotel, in dem Männer, die vor zwei Jahrzehnten ihre Familien verlassen haben, jetzt auf schmalen Betten mit Pisseflecken liegen, husten und Zigaretten rauchen. Die schäbige alte Bar (in der einst der schäbige alte Hoover Dalrymple Hof hielt und fast jeden Freitag- und Samstagabend eine Schlägerei anzettelte) ist Anfang Juni durch einstimmigen Beschluss des Stadtrats geschlossen worden, nachdem Dale Gilbertson die hiesige politische Elite schockierte hatte, indem er ihr ein Video von drei Stripperinnen auf Tournee vorführte, die sich Anal Uni-versity Trio nannten und auf der winzigen Bühne eine Synchronvorstellung mit Gurken gaben (PolizeiKameramann: Officer Tom Lund, eine Runde Beifall für ihn). Um ein Bier zu bekommen, brauchen die Dauergäste des Nelsons aber weiterhin nur nach nebenan zu gehen, wie praktisch. Im Nelson zahlt man wöchentlich. Man kann eine Kochplatte in seinem Zimmer haben, aber nur mit Genehmigung und nachdem das Elektro-kabel begutachtet worden ist. Mit festem Einkommen kann man so lange im Nelsons ausharren, bis man stirbt, und das letzte Geräusch, das man dann hört, könnte leicht das Knarren von Bettfedern im Zimmer über einem sein, während sich irgendein anderer hilfloser alter Loser einen runterholt.

Steigen wir die Treppe hinauf, an dem uralten Feuerwehrschlauch in seinem Glaskasten vorbei. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock halten wir uns rechts (vorbei an dem Münztelefon mit seinem vergilbenden Schild Ausser Betrieb) und steigen weiter hoch. Als wir den zweiten Stock erreichen, mischt sich in den Geruch des Flussnebels der Geruch von Hühnersuppe, die auf jemands Kochplatte gewärmt wird (deren Elektrokabel von Morty Fine oder George Smith, dem Tagportier, ordnungsgemäß abgenommen wurde).

Der Geruch kommt aus Zimmer 207. Zwängen wir uns durchs Schlüsselloch (im Nelson hat es nie Magnetkartenschlösser gegeben, und es wird auch nie welche geben), befinden wir uns in Gegenwart von Andrew Rails-back, siebzig Jahre alt, beginnende Glatze, hager, humorvoll. Er hat einst Staubsauger von Elektrolux und Haushaltsgeräte von Silvania verkauft, aber diese Zeit liegt jetzt hinter ihm. Seine goldenen Jahre sind angebrochen.

Ein Kandidat fürs Maxton, könnte man glauben, aber Andy Railsback kennt diesen Laden und ähnliche Heime. Nichts für ihn, nein danke. Er ist durchaus gesellig, aber er will sich nicht von anderen Leuten sagen lassen, wann er ins Bett gehen soll, wann er aufstehen muss und wann er einen kleinen Schluck Tee nehmen darf. Er hat Freunde im Maxton, die er oft besucht, und ist dabei gelegentlich dem glitzernden, oberflächlichen, räuberischen Blick unseres Kumpels Chipper begegnet. Bei mehr als einer dieser Gelegenheiten hat er sich gesagt, dass Mr. Maxton wie jemand aussieht, der die Leichen seiner Heiminsassen mit Vergnügen zu Seife verarbeiten würde, wenn er glaubte, damit ein paar Dollar verdienen zu können.

Nein, für Andy Railsback ist der zweite Stock des Hotels Nelson gut genug. Er hat seine Kochplatte; er hat seine Flasche Fusel; er hat vier Spiele Binokel und legt in Nächten, in denen der Sandmann ihn vergisst, Patiencen mit Großbildkarten.

Heute Abend hat er drei Päckchen Fertigsuppe in den Topf gekippt, weil er Irving Throneberry zu einem Schwätzchen einladen will. Vielleicht gehen sie anschließend zu Lucky’s hinüber und genehmigen sich dort ein Bier. Er sieht nach der Suppe, stellt fest, dass sie genau richtig köchelt, schnuppert den duftenden Dampf und nickt. Er hat auch eine Packung Kräcker, die gut zur Suppe passen. Er verlässt sein Zimmer, um nach oben zu gehen und an Irvs Tür zu klopfen, aber was er auf dem Flur sieht, lässt ihn wie angenagelt stehen bleiben.

Dort geht ein alter Mann, der einen formlosen blauen Bademantel trägt, verdächtig schnell vor ihm her. Unter dem Saum des Bademantels sind die Beine des Unbekannten weiß wie ein Karpfenbauch und mit einem bläulichen Geflecht aus Krampfadern überzogen. Am linken Fuß trägt er einen schwarzgelb gestreiften Filzpantoffel. Der rechte Fuß ist nackt. Obwohl unser neuer Freund sich seiner Sache nicht ganz sicher ist - schließlich kehrt der Kerl ihm den Rücken zu -, sieht er nicht wie jemand aus, den Andy kennt.

Und er probiert alle Türknäufe aus, während er durch den Flur im zweiten Stock wieselt. Im Vorbeigehen fasst er jeden kurz an und probiert rasch, ob er sich drehen lässt. Wie ein Schließer. Oder ein Dieb. Ein gottverdammter Dieb.

Yeah. Obwohl der Mann offensichtlich alt - anscheinend älter als Andy - und fürs Zu-Bett-Gehen angezogen ist, hallt Andy der Gedanke an Diebstahl mit eigenartiger Gewissheit durch den Kopf. Sogar der eine nackte Fuß, der darauf hinzuweisen scheint, dass dieser Kerl vermutlich nicht von der Straße hereingekommen ist, hat keinen Einfluss auf seine starke Intuition.

Andy öffnet den Mund, um etwas zu rufen - irgendwas wie Kann ich Ihnen helfen? oder Suchen Sie jemanden? -, überlegt sich die Sache dann aber anders. Er hat einfach kein gutes Gefühl, was diesen Kerl betrifft. Es hat damit zu tun, wie flink der Unbekannte sich bewegt, während er die Türknäufe probiert, aber das ist nicht alles. Längst nicht alles. Er verbreitet ein Gefühl von Dunkelheit und Gefahr. Der Bademantel des alten Knackers hat Taschen, Andy kann sie sehen, und in einer von ihnen könnte eine Waffe stecken. Diebe sind zwar nicht immer bewaffnet, aber ...

Der Alte biegt um die Ecke und verschwindet. Andy bleibt erst einmal stehen und denkt nach. Hätte er ein Telefon im Zimmer, könnte er unten anrufen und Morty Fine alarmieren, aber er hat keines. Also, was tun?

Nach kurzer innerer Debatte schleicht er auf Zehenspitzen den Flur entlang und linst um die Ecke. Dort befindet sich eine Sackgasse mit drei Türen: 212, 213 und ganz hinten 214, das einzige Zimmer in diesem kleinen Anbau, das gegenwärtig belegt ist. Der Mann in 214 wohnt seit dem Frühjahr hier, aber Andy kennt praktisch nur seinen Namen: George Potter. Andy hat sich bei Hoover Dalrymple und Irv nach Potter erkundigt, aber Hoover weiß wieder mal überhaupt nichts, und Irv hat nur wenig mehr rausgekriegt.

»Du musst aber«, hatte Andy eingewandt - das Gespräch fand Ende Mai oder Anfang Juni statt, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als die Buckhead Lounge im Nelson geschlossen wurde. »Ich hab gesehen, wie du im Lucky’s mit ihm ein Bier getrunken hast.«

Irv hatte in seiner zynischen Art eine seiner buschigen Augenbrauen hochgezogen. »Mich mit ihm beim Bier gesehen«, hatte er geschnarrt. »Wer bist du überhaupt? Meine gottverdammte Frau?«

»Ich meine ja bloß. Trinkt man mit einem Mann ein Bier, unterhält man sich auch ein bisschen .«

»Sonst vielleicht schon. Aber nicht mit dem. Ich hab mich hingesetzt, einen Krug bestellt und die meiste Zeit das zweifelhafte Vergnügen gehabt, mich selbst denken zu hören. Ich sage: >Was halten Sie dieses Jahr von den Brewers?<, und er sagt: >Die sind wieder Scheiße, genau wie letztes Jahr. Ich kriege abends mit meinem Rah-dio die Cubs rein .. .<«

»Hat er’s so gesagt? Rah-dio?«

»Na, jedenfalls ist das nicht die Art, wie ich’s ausspreche, oder? Hast du mich schon mal Rah-dio sagen hören? Ich sage Radio wie jeder normale Mensch. Willst du die Geschichte jetzt hören oder nicht?«

»Klingt nicht so, als gäb’s da viel zu hören.«

»Das kannst du laut sagen, Kumpel. Er sagt also: >Ich krieg abends mit meinem Rah-dio die Cubs rein, und das reicht mir. Als Junge bin ich immer mit meinem Dad ins Wrigley gegangene Daher weiß ich, dass er aus Chicago stammt, aber ansonsten ... nada.«

Beim Anblick des verdammten Diebes im Flur im zweiten Stock hat Andy als Erstes an Potter gedacht, aber Mr. George Ich-erzähle-nichts-von-mir Potter ist eine Bohnenstange, ungefähr eins neunzig groß, und hat noch ziemlich dichtes, grau meliertes Haar. Mr. EinPantoffel war kleiner und hat zudem einen Buckel wie eine Kröte gemacht. (Wie eine Giftkröte, das ist der Gedanke, der Andy sofort durch den Kopf schießt.)

Er ist dort drin, sagt Andy sich. Der gottverdammte Dieb ist in Potters Zimmer, wühlt vielleicht Potters Schubladen durch, sucht ein kleines Geldversteck. Fünfzig oder sechzig im Zehenteil einer Socke zusammengerollt, wie ich’s früher gemacht habe. Oder er stiehlt Potters Radio. Sein gottverdammtes Rah-dio.

Okay, aber was geht ihn das an? Begegnet man Potter auf dem Flur und wünscht ihm einen guten Morgen oder guten Abend, kriegt man als Antwort nur ein unhöfliches Grunzen. Mit anderen Worten: nada. Sieht man ihm im Lucky’s, hockt er hinter der Musikbox und trinkt allein. Andy vermutet, dass man sich zu ihm setzen könnte und er sich wahrscheinlich einen Krug Bier mit einem teilen würde - so viel hat Irvs kleines Tête-à-Tête mit dem Mann bewiesen -, aber was taugt das ohne ein bisschen Unterhaltung dabei? Warum sollte er, Andy Railsback, es riskieren, sich wegen eines alten Muffels, der einem nicht mal ein Ja, Nein oder Vielleicht gönnt, den Zorn irgendeiner Giftkröte im Bademantel zuzuziehen?

Nun .

Weil dies sein Heim ist, so miserabel es auch sein mag, darum. Weil man sich nicht einfach abwandte und wegschlurfte, wenn man irgendeinen verrückten alten Scheißer mit nur einem Pantoffel auf der Suche nach verstecktem Bargeld oder einem mühelos mitzunehmenden Rah-dio beobachtete. Weil das schlechte Gefühl, das er beim Anblick des über den Flur huschenden alten Knaben hatte (bad vibrations, hätten seine Enkel gesagt), wahrscheinlich nur daher kam, dass er Schiss hatte. Weil .

Auf einmal hat Andy Railsback eine Eingebung, die zwar nicht ganz ins Schwarze trifft, aber der Wahrheit immerhin ziemlich nahe kommt. Könnte dieser Alte nicht doch von der Straße raufgekommen sein? Könnte er einer der alten Kerle aus der Seniorenresidenz Maxton sein? Das Heim ist nicht allzu weit entfernt, und Andy weiß recht gut, dass es gelegentlich vorkommt, dass ein alter Knabe (oder ein altes Mädchen) die Orientierung verliert und aus der Reservation abhaut. Unter normalen Umständen würde ein Ausreißer längst entdeckt und zurückgebracht worden sein, bevor er so weit in Richtung Innenstadt gelangte - in einem Anstaltsbademantel und mit nur einem Pantoffel wäre er auf der Straße irgendwie schwer zu übersehen -, aber heute Abend ist der Nebel hereingekommen, und die Straßen sind fast menschenleer.

Sieh dich bloß an!, weist Andy sich zurecht. Halb zu Tode erschrocken vor einem Kerl, der vermutlich zehn Jahre älter ist als du und Erdnussbutter als Gehirn hat. Ist an der unbesetzten Rezeption vorbei reingekommen - keine Chance auf der gottverdammten Welt, dass Fine draußen sitzt; der hockt mit eitler Zeitschrift oder einem Pornoheft hinten im Büro -, und jetzt sucht er sein Zimmer im Maxton, probiert alle Türknäufe auf dem gottverdammten Flur aus und weiß nicht besser, wo er ist, als ein Eichhörnchen auf einer Autobahneinfahrt. Potter trinkt wahrscheinlich nebenan ein Bier (zumindest das trifft zu) und hat seine Tür unversperrt gelassen (das, dessen können wir sicher sein, trifft nicht zu).

Und obwohl Andy noch immer Schiss hat, biegt er um die Ecke und geht langsam auf die offene Tür zu. Sein Herz jagt, weil er weiterhin halb davon überzeugt ist, der Alte könnte vielleicht doch gefährlich sein. Schließlich hat er dieses schlechte Gefühl schon gehabt, als er nur den Rücken des Unbekannten gesehen hat .

Aber er geht hin. Gott helfe ihm, er tut’s.

»Mister?«, ruft er, als er die offene Tür erreicht. »He, Mister, ich glaube, Sie sind im falschen Zimmer. Das hier ist Mr. Potters Zimmer. Wollen Sie nicht .«

Er verstummt. Reden ist zwecklos, weil das Zimmer leer ist. Wie kann das sein?

Andy tritt zurück und probiert die Türknäufe von 212 und 213. Beide Türen sind wie erwartet abgesperrt. Nachdem er das festgestellt hat, betritt er George Potters Zimmer und sieht sich gründlich um - Neugier war der Katze Tod, Befriedigung hat sie wieder lebendig gemacht. Potters Bude ist etwas größer als seine, aber sonst nicht sehr viel anders: ein Kasten mit hoher Decke (in der guten alten Zeit haben sie Häuser gebaut, in denen man aufrecht stehen konnte, das muss man ihnen lassen). Das Einzelbett hängt in der Mitte durch, ist aber ordentlich gemacht. Auf dem Nachttisch stehen ein Medizinfläschchen mit Pillen (die sich als ein Antidepressivum namens Zoloft erweisen) und das gerahmte Foto einer Frau. Andy findet sie bemerkenswert hässlich, aber Potter muss da wohl anders empfinden. Schließlich hat er ihr Bild so aufgestellt, dass es das Erste ist, worauf morgens sein Blick fällt, und das Letzte, was er abends sieht.

»Potter?«, sagt Andy. »Ist da jemand? Hallo?«

Als ihn jäh das Gefühl überwältigt, hinter ihm stehe jemand, fährt er herum und bleckt sein Gebiss zu einem grinsenden Knurren, das ein halbes Kuschen ist. Er zuckt mit einer Hand hoch, um das Gesicht vor dem Schlag zu schützen, der ihm plötzlich unausweichlich erscheint . nur ist dort niemand. Lauert er hinter der Ecke am Ende des kurzen Anbaus an den Hauptkorridor? Nein. Aber Andy hat den Unbekannten doch um diese Ecke wieseln gesehen. Er kann unmöglich wieder hinter ihn gelangt sein . außer er ist wie irgendeine Art Fliege über die Zimmerdecke gekrochen ...

Andy sieht zur Decke hoch. Er weiß, dass er sich absurd verhält, dass seine Reaktion plemplem ist, aber schließlich kann ihn hier niemand beobachten, also was soll’s? Aber dort oben gibt’s auch nichts zu sehen. Nur eine gewöhnliche Zimmerdecke aus Blechelementen, die jetzt durch Alter und Jahrzehnte von Zigarren- und Zigarettenrauch vergilbt sind.

Das Radio - o verdammt, Entschuldigung, Rah-dio -steht unberührt auf der Fensterbank. Noch dazu ein verdammt gutes, ein Bose - die Marke, von der Paul Harvey dauernd in seiner Mittagssendung redet.

Dahinter, jenseits der schmutzigen Scheibe, befindet sich die Feuertreppe.

Aha!, denkt Andy und hastet zum Fenster hinüber. Ein Blick auf das von innen verriegelte Schiebefenster genügt, um seinen triumphierenden Gesichtsausdruck verblassen zu lassen. Er späht trotzdem hinaus und sieht einige feuchte schwarze Eisenstufen, die in den Nebel hinunterführen. Keinen blauen Bademantel, keine schuppige Glatze. Natürlich nicht. Der Türknaufrüttler hat das Zimmer nicht auf diesem Weg verlassen, außer er beherrscht irgendeinen Zaubertrick, mit dem er das Fenster wieder von innen verriegeln kann, sobald er draußen auf der Feuertreppe steht.

Andy dreht sich um, bleibt kurz stehen, während er nachdenkt, lässt sich dann auf die Knie nieder und sieht unters Bett. Dort entdeckt er einen alten Blechaschenbecher, in dem ein ungeöffnetes Päckchen Pall Mall und ein Wegwerffeuerzeug mit dem Aufdruck Kingsland OldTime Lager liegen. Sonst nur Wollmäuse. Als er vor dem Aufstehen eine Hand auf den Bettüberwurf legt, fällt sein Blick auf die Kleiderschranktür. Sie steht einen Spaltbreit offen.

»Da also«, flüstert Andy so leise, dass er’s selbst kaum hört.

Er steht auf und bewegt sich zum Kleiderschrank hinüber. Der Nebel mag auf Kätzchentatzen hereinkommen, wie es in einem Gedicht von Carl Sandburg heißt, oder auch nicht, aber auf genau diese Weise schleicht Andy Railsback durch George Potters Zimmer. Sein Herz hämmert wieder, heftig genug, um die in seiner Stirnmitte hervortretende Ader pulsieren zu lassen. Der Mann, den er gesehen hat, ist im Kleiderschrank. Logik erfordert es. Intuition schreit es. Aber wenn der Türknaufrüttler nur ein verwirrter alter Knabe ist, der sich im Nebel ins Hotel Nelson verlaufen hat, warum hat er dann nicht mit Andy gesprochen? Warum hat er sich versteckt? Weil er vielleicht alt, aber keineswegs verwirrt ist, darum. Nicht verwirrter als Andy selbst. Der Türknaufrüttler ist ein gottverdammter Dieb, und er ist im Kleiderschrank. Vielleicht hält er ein Messer in der Hand, das er aus einer Tasche seines zerschlissenen alten Bademantels gezogen hat. Oder vielleicht einen Drahtkleiderbügel, den er auseinander gedreht und zu einer Waffe gemacht hat. Vielleicht steht er nur mit weit aufgerissenen Augen und zu Krallen verkrümmten Fingern im Dunkeln. Andy ist das egal. Man kann ihn ängstigen, klar - er ist ein in Rente lebender Verkäufer, nicht Superman -, aber reichert man die Angst mit genügend nervöser Spannung an, verwandelt man sie in Zorn, genau wie ausreichend hoher Druck Kohle in Diamant verwandelt. Und in diesem Augenblick ist Andy mehr zornig als ängstlich. Er schließt die Finger um den kühlen Glasknauf der Kleiderschranktür. Er umklammert ihn. Er atmet tief durch ... noch einmal ... nimmt seinen ganzen Mut zusammen, macht sich bereit . groovt sich ein, würden seine Enkel sagen ... holt nochmals tief Luft, weil aller guten Dinge drei sind, und ...

Mit einem leisen, stressreichen Laut - halb Knurren, halb Heulen - reißt Andy die Kleiderschranktür so heftig auf, dass die Drahtbügel klirren. Er duckt sich, reißt die zu Fäusten geballten Hände hoch und sieht auf diese Weise wie ein uralter Sparringspartner aus einem Fitness-Studio aus, über das auch schon die Zeit hinweggegangen ist.

»Komm dort raus, du Scheiß .«

Im Schrank ist niemand. Vier Hemden, ein Sakko, zwei Krawatten und drei Hosen, die wie abgestreifte Häute an Bügeln hängen. Ein verkratzter alter Koffer, der aussieht, als wäre er auf jedem einzelnen Greyhound-Busbahnhof in Nordamerika rumgekickt worden. Sonst nichts. Kein einziges verdammtes .

Aber da liegt doch etwas! Unter der Schmutzwäsche auf dem Boden liegt etwas. Mehrere Dinge. Eine ganze Hand voll Dinge. Im ersten Augenblick begreift Andy Railsback nicht, was er da sieht beziehungsweise will es nicht begreifen. Dann dringt es in sein Bewusstsein vor, prägt sich seinem Verstand und seinem Gedächtnis wie ein Hufabdruck ein, und er will schreien. Er kann aber nicht. Er versucht es nochmals, aber seine Lungenflügel, die nur noch die Größe verschrumpelter Pflaumen zu haben scheinen, bringen nur ein heiseres Keuchen hervor. Er will sich umdrehen, aber auch das kann er nicht. Er glaubt zu spüren, dass George Potter naht, und wenn Potter ihn hier antrifft, ist’s mit Andys Leben vorbei. Er hat etwas gesehen, über das George Pot-ter ihn niemals wird reden lassen. Aber er kann sich nicht umdrehen. Kann nicht schreien. Kann seinen Blick nicht von dem Geheimnis in George Potters Kleiderschrank wenden.

Kann sich nicht bewegen.

Wegen des Nebels ist die Dunkelheit in French Landing unnatürlich früh angebrochen; es ist kaum 18.30 Uhr. Die verschwommenen gelblichen Lichter der Seniorenresidenz Maxton sehen wie die Lichter eines bei Flaute auf See treibenden Kreuzfahrtschiffs aus. Die Zuständigen für den Flügel Daisy - Heim der wundervollen Alice Weathers und des weit weniger wundervollen Charles Burnside -, also Pete Wexler und Butch Yerxa, sind für heute bereits nach Hause gefahren. Am Schreibtisch sitzt jetzt eine breitschultrige, wasserstoffblonde Altenpflegerin namens Vera Hutchinson. Vor ihr liegt ein Kreuzworträtselheft. Gegenwärtig rätselt sie über sechs waagrecht nach: zum Beispiel Garfield. Neun Buchstaben, der erste ist H, der vierte S, der fünfte K, der achte Z und der neunte E. Sie hasst solche verzwickten Lösungswörter.

Jetzt ein Rauschen, weil eine Toilettentür geöffnet wird. Vera blickt auf und sieht Charles Burnside in seinem blauen Bademantel und mit einem Paar schwarzgelb gestreifter Filzpantoffeln, die wie große pelzige Hummeln aussehen, aus der Herrentoilette geschlurft kommen. Die Pantoffeln machen sie sofort stutzig.

»Charlie?«, sagt sie, legt den Bleistift in ihr Kreuzworträtselheft und klappt es zu.

Charlie schlurft einfach weiter - mit herabhängendem Kinn, an dem auch ein langer Sabberfaden baumelt. Auf seinem Gesicht steht ein unangenehmes halbes Grinsen, das Vera nicht gefällt. Der Alte hat vielleicht nicht mehr alle Tassen im Schrank, aber sein bisschen Restverstand wirkt ausgesprochen bösartig. Manchmal merkt sie, dass Charlie Burnside sie wirklich nicht hört (oder sie nicht versteht), wenn sie ihn anspricht, aber sie weiß sicher, dass er manchmal nur vorgibt, nichts zu verstehen. Sie hat den Verdacht, dass er sich auch diesmal wieder verstellt.

»Charlie, wie kommen Sie dazu, Eimers Bienenpantoffeln zu tragen? Sie wissen doch, dass die ein Geschenk von seiner Urenkelin sind.«

Der Alte - Burny für uns, Charlie für Vera - schlurft einfach in die Richtung weiter, die ihn letztlich zu D18 zurückführen wird. Immer unter der Voraussetzung, dass er auf Kurs bleibt.

»Charlie, halt!«

Charlie macht Halt. Er steht auf einmal wie eine Maschine, die abgeschaltet worden ist, am Ende des Korridors. Sein Unterkiefer hängt herab. Der Sabberfaden reißt, und plötzlich ist auf dem Linoleum neben diesen absurden, aber lustigen Pantoffeln ein kleiner nasser Fleck zu sehen.

Vera steht auf, geht auf ihn zu, kniet sich vor ihn auf den Boden. Wüsste sie, was wir wissen, wäre sie vermutlich weit weniger bereit, ihren schutzlosen weißen Hals in Reichweite dieser herabhängenden Hände zu bringen, die zwar von Arthritis verkrümmt, aber noch immer kräftig sind. Aber sie weiß es natürlich nicht.

Sie packt den linken Bienenpantoffel. »Hoch«, sagt sie.

Charles Burnside hebt den rechten Fuß.

»Mensch, seien Sie doch nicht so ein Strohkopf!«, sagt sie. »Den anderen.«

Burny hebt den besagten Fuß eben so weit, dass sie ihm den Pantoffel abziehen kann.

»Jetzt den rechten.«

Ohne dass Vera, die ja den Blick auf seine Füße gerichtet hat, es merkt, holt Burny sein Glied aus dem Schlitz seiner weiten Schlafanzughose und tut so, als würde er auf Veras gebeugten Kopf pissen. Sein Grinsen wird breiter. Gleichzeitig hebt er den rechten Fuß, damit sie den anderen Pantoffel abziehen kann. Als sie wieder aufsieht, ist Burnys schrumpliges altes Organ wieder dort, wo es hingehört. Er hat überlegt, ob er sie taufen soll, das hat er wirklich, aber er hat für einen Abend fast genug angestellt. Nur noch eine kleine Verrichtung, dann kann er ins träumerische Traumland entschwinden. Er ist ein schon altes Ungeheuer. Er braucht seinen Schlaf.

»Also gut«, sagt Vera. »Wollen Sie mir nicht verraten, warum der eine schmutziger als der andere ist?« Keine Antwort. Sie hat eigentlich auch keine erwartet. »Okay, Bester. Sie gehen jetzt auf Ihr Zimmer oder in den Gemeinschaftsraum, wenn Sie wollen. Heute Abend gibt’s Popcorn aus der Mikrowelle und Götterspeise, glaub ich. Im Fernsehen läuft Meine Lieder, meine Träume. Ich sorge dafür, dass die Pantoffeln an ihren Platz zurückkommen, und dass Sie die genommen haben, bleibt unser kleines Geheimnis. Nehmen Sie die allerdings noch mal weg, muss ich Sie melden. Capisce?«

Burny steht einfach da, ziemlich ausdruckslos . aber mit diesem hässlichen kleinen Grinsen, das seine faltigen alten Backen anhebt. Und mit diesem Glanz in den Augen. Er versteht sehr gut, das ist klar.

»Los jetzt«, sagt Vera. »Und ich will bloß hoffen, dass Sie dort drinnen nicht auf den Boden gekackt haben, Sie altes Stinktier.«

Sie erwartet wieder keine Antwort, aber diesmal bekommt sie eine. Burny spricht mit leiser, aber tadellos verständlicher Stimme. »Pass auf, was du sagst, du fette Schlampe, sonst reiß ich dir die Zunge raus.«

Sie fährt zurück, als hätte er sie geohrfeigt. Burny steht weiter mit herabhängenden Händen und diesem kleinen Grinsen auf dem Gesicht da.

»Verschwinden Sie!«, sagt sie. »Oder ich melde Sie wirklich.« Als ob das viel nützen würde. Charlie gehört zu Maxton besten Einnahmequellen, das weiß Vera genau.

Charlie nimmt seine langsame Fortbewegung wieder auf (Pete Wexler hat diese spezielle Gangart »Old Fucks’ Shuffle« getauft), jetzt jedoch barfuss. Dann dreht er sich um. Die trüben Lampen seiner Augen starren Vera an. »Das Wort, das Sie suchen, ist Hauskatze. Garfield ist eine Hauskatze. Kapiert? Blöde Kuh.«

Mit diesen Worten entfernt er sich langsam den Korridor entlang. Vera steht wie gelähmt da und sieht ihm nach, ohne zu merken, dass jetzt ihre Kinnlade herabhängt. Das Kreuzworträtsel hatte sie völlig vergessen.

In seinem Zimmer streckt Burny sich auf dem Bett aus und schiebt beide Hände unters Kreuz. Von dort abwärts tut ihm alles beschissen weh. Später wird er nach der fetten alten Schlampe klingeln und sich von ihr ein Rheumamittel bringen lassen. Aber vorerst muss er hellwach bleiben. Er hat noch einen kleinen Trick auszuführen.

»Hab dich gefunden, Potter«, murmelt er. »Guter . alter . Potsie.«

Burny hat keineswegs an Türknäufen gerüttelt (nicht dass Andy Railsback das jemals erfahren wird). Er hat sozusagen mit dem Tastsinn nach dem Kerl gefahndet, der ihn Ende der Siebzigerjahre bei einem hübschen kleinen Wohnbauprojekt in Chicago ausgestochen hat. South Side, Heimat der White Sox. Mit anderen Worten Blacktown. Üppige Zuschüsse aus Washington, aber auch scheffelweise Geld aus Illinois. Genügend Ab-sahnmöglichkeiten, um für Jahre ausgesorgt zu haben, mehr Facetten als ein Baseballfeld, aber George »Fick deine Mutter« Potter war ihm zuvorgekommen, unter dem sprichwörtlichen Tisch hatte Geld die Hände gewechselt, und Charles Burnside (oder vielleicht war er damals noch Carl Bierstone gewesen; schwierig, sich daran zu erinnern) hatte im Regen gestanden.

Aber Burny hat den Dieb über all diese Jahre hinweg immer im Auge behalten. (Nun, eigentlich nicht Burny selbst, aber wie wir inzwischen gemerkt haben sollten, ist dies ein Mann mit mächtigen Freunden.) Der alte Potsie - so nannten ihn seine Freunde, als er noch ein paar hatte - hat in den Neunzigerjahren in La Riviere Pleite gemacht und anschließend fast sein gesamtes beiseite geschafftes Vermögen beim Großen Dot-Com-Crash um die Jahrtausendwende verloren. Aber das genügt Burny nicht. Potsie muss strenger bestraft werden, und der Zufall, dass dieser spezielle Scheißkerl in dieser speziellen Scheißstadt landet, ist einfach zu genial, als dass man ihn ungenützt lassen dürfte. Burnys wichtigstes Motiv - ein hirnloses Bestreben, Unruhe zu stiften, dafür zu sorgen, dass Schlimmes noch schlimmer wird -ist unverändert geblieben, und auch diese Sache wird dazu dienen.

Also hat er sich auf eine Weise ins Hotel Nelson begeben, die Jack versteht und Judy Marshall intuitiv begriffen hat, um dort Potsies Zimmer wie eine urweltliche Fledermaus anzusteuern. Und als er Andy Railsback hinter sich wahrnahm, war er natürlich entzückt. Railsback wird es ihm ersparen, nochmals als anonymer Anrufer auftreten zu müssen; irgendwie ist Burny es allmählich leid, der Polizei alle Arbeit abnehmen zu müssen.

Als er jetzt wieder warm und behaglich (bis auf die Arthritis, versteht sich) in seinem Zimmer liegt, wendet er sich in Gedanken von George Potter ab und beginnt mit einer Beschwörung.

Während Charles Burnside in die Dunkelheit aufsieht, fangen seine Augen auf entschieden unheimliche Weise zu glühen an. »Gorg«, sagt er. »Gorg t’eelee. Dinnit a abbalah. Samman Tansy. Samman a montah a Irma. Dinnit a abbalah, Gorg. Dinnit a Ram Abbalah.«

Gorg. Gorg, komm. Diene dem Abbalah. Finde Tan-sy. Finde die Mutter Irmas. Diene dem Abbalah, Gorg.

Diene dem Scharlachroten König.

Burny fallen die Augen zu. Er schläft mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein, aber unter ihren runzeligen Lidern glühen seine Augen weiter wie Blendlaternen.

Morty Fine, der Nachtportier im Hotel Nelson, ist über seiner Zeitschrift halb eingenickt, als Andy Railsback hereingestürmt kommt und ihn so erschreckt, dass er beinahe vom Stuhl kippt. Die Zeitschrift fällt mit gedämpftem Klatschen auf den Fußboden.

»Jesses, Andy, Ihretwegen hätte ich fast einen Herzanfall gekriegt!«, ruft Morty aus. »Schon mal gehört, dass man anklopft oder sich wenigstens räuspert, verdammt noch mal?«

Andy reagiert nicht darauf, und Morty stellt fest, dass der alte Knabe kreidebleich ist. Vielleicht ist ja er derjenige, der einen Herzanfall hat. Das wäre nicht der erste Fall dieser Art im Nelson.

»Schnell, rufen Sie die Polizei an«, sagt Andy. »Sie sind grauenhaft. Mein Gott, Morty, das sind die grauenhaftesten Bilder, die ich je gesehen habe ... Polaroidfotos ... O Mann, ich dachte, er würde zurückkommen ... jeden Augenblick zurückkommen . aber anfangs war ich wie gelähmt, ich . ich .«

»Jetzt mal langsam«, sagt Morty besorgt. »Wovon reden Sie überhaupt?«

Andy holt tief Luft und gibt sich sichtlich Mühe, die Beherrschung zurückzugewinnen. »Haben Sie Potter gesehen?«, fragt er. »Den Kerl aus 214?«

»Nö«, sagt Morty, »aber um diese Zeit ist er meistens im Lucky’s, trinkt ein paar Bierchen und isst vielleicht einen Hamburger. Warum irgendwer in dieser Bude überhaupt etwas isst, weiß ich allerdings nicht.« Vielleicht weil er einen Salmonellenpalast mit einem anderen assoziiert, fügt er noch hinzu: »He, haben Sie schon gehört, was die Cops draußen im Ed’s Eats gefunden haben? Trevor Gordon war hier, und er hat erzählt .«

»Ja, schon gut.« Andy lässt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen und starrt Morty mit feuchten, erschrockenen Augen an. »Rufen Sie die Polizei an. Sofort! Sagen Sie denen, dass der Fisherman ein Mann namens George Potter ist und dass er im zweiten Stock hier im Hotel Nelson wohnt.« Andys Gesicht erstarrt zu einer Grimasse, dann entspannt er sich wieder. »Auf demselben Flur wie meine Wenigkeit.«

»Potter? Unsinn, Andy. Der Kerl ist nur ein Bauunternehmer im Ruhestand. Könnte keiner Fliege was zuleide tun.«

»Wie’s mit Fliegen steht, weiß ich nicht, aber ein paar kleinen Kindern hat er verdammt viel angetan. Ich habe die Polaroidfotos gesehen, die er von ihnen gemacht hat. Sie liegen in seinem Kleiderschrank. Sie sind das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann.«

Dann tut Andy etwas, was Morty verblüfft und ihn davon überzeugt, dass dies kein Scherz und vermutlich auch nicht bloß ein Irrtum ist: Andy Railsback fängt bitterlich zu weinen an.

Tansy Freneau, alias Irma Freneaus trauernde Mutter, trauert eigentlich nicht richtig. Sie weiß, dass sie’s tun sollte, aber ihre Trauer ist aufgeschoben worden. Im Augenblick kommt sie sich vor, als würde sie auf einer warmen, freundlichen Wattewolke schweben. Die Ärztin (Pat Skardas Praxiskollegin Norma Whitestone) hat ihr vor vier, fünf Stunden eine Dosis Tavor gegeben, aber das war erst der Anfang. Die Wohnwagensiedlung Holiday Trailer Park, in der Tansy und Irma leben, seit Cubby Freneau 1998 nach Green Bay abgehauen ist, liegt günstig zur Sand Bar, wo sie ein Teilzeitverhältnis mit Lester Moon hat, einem der Barmänner. Die Thunder Five hat Lester Moon aus irgendeinem Grund den Spitznamen »Stinky Cheese« verpasst, aber Tansy nennt ihn stets nur Lester, was er fast ebenso genießt wie den gelegentlichen alkoholisierten Fick in Tansys Schlafzimmer oder draußen hinter der Bar, wo es im Lagerraum eine Matratze (und eine abgeblendete Lampe) gibt. Gegen fünf Uhr abends hat Lester ihr eine Literflasche Kaffeebrandy und 400 Milligramm Oxigesic herübergebracht, das er rücksichtsvoll schon zerstoßen hatte, damit sie es gleich schnupfen konnte. Tansy hat bereits ein halbes Dutzend Lines geschnupft und jetzt, wie gesagt, das Gefühl, über allem zu schweben. Sie sieht sich alte Fotos von Irma an und . na ja . scheint über allem zu schweben.

Was für ein hübsches Baby sie war, denkt Tansy, ohne zu ahnen, dass nicht weit von ihr entfernt ein entsetzter Hotelangestellter ein sehr anderes Foto ihres hübschen Babys anstarrt, ein albtraumhaftes Polaroidbild, das er sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. Dieses Foto wird Tansy sich zum Glück nie ansehen müssen, was immerhin suggeriert, dass es vielleicht doch einen Gott im Himmel gibt.

Sie blättert um (auf dem Umschlag ihres Fotoalbums ist Die schönsten Augenblicke eingeprägt) und hat jetzt ein Bild vor sich, das Tansy und die kleine Irma beim Picknick der Firma Mississippi Electrix zeigt, damals als Irma vier und Mississippi Electrix noch ein Jahr von der Pleite entfernt und alles mehr oder weniger in Ordnung war. Auf diesem Foto planscht Irma, deren lachendes Gesicht mit Schokoladeneis verschmiert ist, inmitten einer Gruppe Kleinkinder.

Während Tansy weiter unverwandt diesen Schnappschuss anstarrt, greift sie nach ihrem Glas Kaffeebrandy und nimmt einen kleinen Schluck. Und plötzlich kommt ihr wie aus heiterem Himmel (oder aus dem Unterbewusstsein, aus dem alle unsere beunruhigenderen und unzusammenhängenden Gedanken ins Licht unserer Wahrnehmung heraufschweben) die Erinnerung an das blöde Gedicht von Edgar Allan Poe, das sie in der neunten Klasse auswendig lernen musste. Sie hat jahrelang nicht mehr daran gedacht und keinen Grund, das jetzt zu tun, aber die Worte des Eingangsverses steigen mühelos und vollständig in ihrem Bewusstsein auf. Während sie Irma betrachtet, leiert sie den Vers laut mit monotoner Stimme herunter, die ihre Lehrerin zweifellos dazu gebracht hätte, sich ächzend ihr strähniges weißes Haar zu raufen. Auf uns wirkt Tansys Rezitation sich nicht so aus; stattdessen bewirkt sie ein intensives, anhaltendes Frösteln. Wir haben das Gefühl, dem Gedichtvortrag einer Leiche zuzuhören.

»Einst um eine Mittnacht graulich da ich trübe sann und traulich müde über manchem alten Folio längst ver-gessner Lehr da der Schlaf schon kam gekrochen scholl auf einmal leis ein Pochen gleichwie wenn ein Fingerknochen pochte von der Türe her .«

In genau diesem Augenblick klopft etwas leise an die billige Glasfasertür von Tansy Freneaus Wohnwagen. Sie sieht mit unstetem Blick auf und schürzt ihre vom Kaffeebrandy glänzenden Lippen.

»Les’ser? Bist du’s?«

Er könnte es sein, vermutet sie. Nicht wieder die Fernsehleute, hoffentlich nicht. Sie hat sich geweigert, mit den Fernsehleuten zu reden, hat ihnen die Tür gewiesen. In irgendeinem tief verwurzelten und betrüblich gerissenen Teil ihres Verstands weiß sie, dass die Fernsehleute sie nur einlullen und trösten würden, um sie danach im grellen Licht ihrer Scheinwerfer als dumm hinstellen zu können, genau wie die Leute in diesen Entblößungstalkshows zuletzt immer als Idioten dastehen.

Keine Antwort . und dann kommt es wieder. Klopf. Klopfklopf.

»’s ist Besuch wohl«, sagt sie und steht auf. Ihr kommt es vor, als stünde sie im Traum auf. »>’s ist Besuch wohl<, murrt ich, >was da pocht so knöchern zu mir her - das allein - nichts weiter mehr.<«

Klopf. Klopfklopf.

Nicht wie ein abgewinkelter Fingerknöchel. Das Geräusch ist schwächer. Ein Ton wie von einem einzelnen Fingernagel.

Oder von einem Schnabel.

Sie durchquert den Raum in einem Nebel aus Drogen und Brandy, ihre bloßen Füße sirren über den Teppichboden, der einst hochflorig war und jetzt kahle Stellen aufweist: die Exmutter. Sie öffnet die Tür zu dieser nebligen Sommernacht, sieht aber nichts, weil ihr Blick zu weit in die Höhe gerichtet ist. Dann raschelt etwas auf der Fußmatte.

Irgendetwas, irgendein schwarzes Ding sieht mit blanken, fragenden Augen zu ihr auf. Es ist ein Rabe, Omein-gott, das ist Poes Rabe, der gekommen ist, um ihr einen Besuch abzustatten.

»Jesus, ich hab Hallus«, sagt Tansy und fährt sich mit beiden Händen durch ihr dünnes Haar.

»Jesus!«, wiederholt die Rabenkrähe auf der Fußmatte. Und dann munter wie eine Meise: »Gorg!«

Würde man sie fragen, würde Tansy sagen, sie sei zu bekifft, um Angst zu haben, aber das stimmt offenbar nicht, sie stößt nämlich einen verwirrten kleinen Schrei aus und weicht einen Schritt zurück.

Die Krähe hüpft flott über die Schwelle, stolziert über den verblassten purpurroten Teppichboden und sieht dabei mit blanken Augen weiter zu ihr auf. Die Federn glitzern von kondensierten Nebeltropfen. Sie hüpft an Tansy vorbei und macht dann Halt, um ihr Gefieder aufzuplustern und sich zu putzen. Dabei sieht sie sich um, als wollte sie fragen: Na, wie gefalle ich dir, Sweetheart?

»Hau ab«, sagt Tansy. »Ich weiß nicht, was zum Teufel du bist oder ob du überhaupt existierst, aber .«

»Gorg!«, insistiert die Rabenkrähe, dann breitet sie die Flügel aus und fliegt durch den Wohnraum des Wohnwagens: ein vom Rücken der Nacht weggebrannter verkohlter Fleck. Tansy weicht kreischend zurück und schützt unwillkürlich ihr Gesicht mit den Händen, aber Gorg kommt nicht in ihre Nähe. Er landet neben der Flasche auf dem Tisch, weil gerade keine Pallas-Büste zur Hand ist.

Er hat sich im Nebel verflogen, denkt Tansy, das ist alles. Vielleicht hat er sogar Tollwut oder diese Leim-Borrelose oder wie die sonst heißt. Ich sollte in die Küche gehen und den Besen holen. Ihn rausscheuchen, bevor er hier alles voll scheißt ...

Aber die Küche ist zu weit weg. In Tansys gegenwärtigem Zustand scheint die Küche Hunderte von Meilen weit entfernt zu sein, irgendwo in der Nähe von Colorado Springs zu liegen. Und wahrscheinlich ist überhaupt kein Rabe da. Die Erinnerung an dieses gottverdammte Gedicht hat sie dazu gebracht, Halluzinationen zu haben, das ist alles ... das und der Verlust ihrer Tochter.

Der Schmerz dringt zum ersten Mal durch den Nebel, und Tansy zuckt unter seiner grausamen, widerborstigen Hitze zusammen. Sie erinnert sich an die kleinen Hände, die ihren Nacken manchmal so fest umschlangen. An die Schreie in der Nacht, die sie aus dem Schlaf ans Kinderbett holten. An ihren Geruch, wenn sie frisch gebadet war.

»Ihr Name war Irma!«, schreit sie die Fantasiegestalt an, die so keck neben der Brandyflasche steht. »Irma, nicht Lenore, verdammt noch mal, was für ein blöder Name ist das überhaupt . Lenore? Lass hören, wie du Irma sagst!«

»Irma!«, krächzt der Besucher gehorsam, sodass sie entsetzt verstummt. Und seine Augen. Ah! Die glitzernden Augen ziehen sie an wie die Augen des alten Seefahrers in diesem anderen Gedicht, das sie auch hätte lernen sollen, aber nie gelernt hat. »Irma-Irma-Irma-Irma .«

»Aufhören!« Sie will den Namen nun doch nicht mehr hören. Sie hat sich getäuscht. Aus dieser fremden Kehle klingt der Name ihrer Tochter abscheulich, unerträglich. Sie will sich die Ohren mit den Händen zuhalten, aber das schafft sie nicht. Die Hände sind ihr zu schwer. Sie haben sich zu dem Herd und dem Kühlschrank (diesem elenden, halb kaputten Ding) in Colorado Springs gesellt. Sie kann nur noch in diese glitzernden schwarzen Augen starren.

Die Rabenkrähe plustert sich für sie auf, spreizt ihr satinschwarzes Gefieder. Dabei läuft ihr ein abscheuliches kleines Rascheln über den Rücken hinauf und hinunter, und Tansy denkt: Ah, du prophezeist ohn Zweifel, Höllenbrut! Ob Tier, ob Teufel ...

Gewissheit füllt ihr Herz wie Eiswasser. »Was weißt du?«, fragt sie. »Warum bist du gekommen?«

»Weiß!«, krächzt Gorg und nickt lebhaft. »Komm!«

Und blinzelt dabei? Großer Gott, blinzelt er mir zu?

»Wer hat sie umgebracht?«, flüstert Tansy Freneau. »Wer hat meine hübsche Kleine umgebracht?«

Die Augen der Rabenkrähe fixieren sie, verwandeln sie in einen auf einer Nadel aufgespießten Käfer. Langsam, mehr denn je scheinbar in einem Traum gefangen (aber das alles hier passiert wirklich, das ist ihr auf irgendeiner Bewusstseinebene völlig klar), nähert sie sich dem Tisch. Die Rabenkrähe beobachtet sie weiter, die Krähe fixiert sie unverwandt. Plutos nächtige Sphäre, denkt Tansy. Plutos nächtige Scheißsphäre.

»Wer? Sag mir, was du weißt!«

Die Rabenkrähe sieht mit blanken schwarzen Augen zu ihr auf. Ihr Schnabel öffnet und schließt sich, gibt winzige Blicke auf sein feuchtes rotes Inneres frei.

»Tansy!«, krächzt sie. »Komm!«

Ihre Beine werden kraftlos; Tansy fällt auf die Knie und beißt sich dabei auf die Zunge, dass sie blutet. Scharlachrote Tropfen bespritzen ihr Sweatshirt mit dem Wappen der University of Wisconsin. Jetzt befindet ihr Gesicht sich auf gleicher Höhe mit dem Gesicht des Vogels. Sie kann deutlich sehen, wie einer seiner Flügel mit einer sinnlichen Auf- und Abbewegung über die gläserne Seite der Flasche mit Kaffeebrandy streift. Der Geruch Gorgs ist der von Staub und aufgehäuften toten Fliegen und vergrabenen Urnen mit steinalten Gewürzen. Seine Augen gleichen leuchtenden schwarzen Höhlen, hinter denen irgendeine andere Welt zu liegen scheint. Vielleicht die Hölle. Oder Sheol.

»Wer?«, flüstert sie.

Gorg reckt seinen schwarzen raschelnden Nacken, bis die Spitze des schwarzen Schnabels tatsächlich in ihrer Ohrmuschel steckt. Er beginnt zu wispern, und nach einiger Zeit beginnt Tansy Freneau zu nicken. Das Licht der Vernunft ist aus ihren Augen gewichen. Und wann wird es zurückkehren? Oh, ich glaube, wir alle kennen die Antwort auf diese Frage.

Vielleicht »Nimmermehr«?

16

18.45 Uhr. French Landing ist nebelverhangen, abgerackert und zutiefst beunruhigt, aber still. Diese Stille wird nicht lange anhalten. Haben die Verwerfungen erst einmal begonnen, kommen sie nie lange zum Stillstand.

Im Maxton ist Chipper länger als sonst im Büro geblieben, und wenn man den nicht überhasteten (und wirklich ziemlich sensationellen) Blow Job bedenkt, den Rebecca Vilas ihm verpasst, während er zurückgelehnt in seinem Chefsessel liegt, ist sein Entschluss, eine kleine Überstunde zu machen, gar nicht so erstaunlich.

Im Gemeinschaftsraum sitzen die alten Leute von Julie Andrews und Meine Lieder, meine Träume verzaubert da. Alice Weathers weint tatsächlich vor Glück - das ist ihr absoluter Lieblingsfilm. Singinin the Rain kommt ihm nahe, aber für nahe gibt’s keinen Siegespreis. Von den Insassen, die noch gehfähig sind, fehlt nur Burny ... den hier allerdings keiner vermisst. Burny liegt in tiefem Schlaf. Der Geist, der ihn jetzt beherrscht - der Dämon, könnten wir genauso gut sagen -, verfolgt in French Landing eigene Absichten, und er hat Burny in den letzten Wochen hart rangenommen (nicht dass Burny sich darüber beschwert hätte; er ist ein höchst bereitwilliger Komplize).

In der Norway Valley Road lenkt Jack Sawyer eben seinen Dodge in Henry Leydens Einfahrt. Hier draußen ist der Nebel dünner, aber er reicht trotzdem aus, um die Scheinwerfer des Pickups mit sanften Strahlenkränzen zu umgeben. Heute Abend wird Jack in Bleak House mit Kapitel sieben (»Der Geisterweg«) fortfahren und hoffentlich das Ende von Kapitel acht (»Deckt eine Menge Sünden zu«) erreichen. Aber bevor er mit Dickens beginnt, hat er versprochen, sich eine großartige Neuentdeckung der Wisconsin Rat anzuhören, den Song »Gimme Back My Dog« von Slobberbone.

»Ungefähr alle fünf Jahre kommt ein großartiger Rock-and-Roll-Song aus dem Nichts getanzt«, hat Henry ihm am Telefon erzählt, und Jack glaubte, an den Rändern der Stimme seines Freundes die Ratte kreischen zu hören, die dort draußen am Rand der Dunkelheit Amphetamine einwirft. »Und das ist ein wirklich großartiger Rock-and-Roll-Song.«

»Wenn du meinst«, hat Jack zweifelnd geantwortet. Was er sich unter einem großartigen Rock-and-Roll-Song vorstellte, war »Runaround Sue« von Dion.

Im Haus Robin Hood Lane Nr. 16 (diesem entzückenden, scheinbar unmittelbar aus Neuengland importierten Häuschen) liegt Fred Marshall auf allen vieren, trägt grüne Gummihandschuhe und scheuert den Fußboden. Tylers Baseballmütze sitzt noch immer lose auf seinem Kopf, und er weint.

Draußen im Holiday Trailer Park träufelt die Rabenkrähe Gorg weiter Gift in die Vorhöfe von Tansy Fre-neaus Ohren.

In dem soliden Ziegelhaus in der Herman Street, in dem er mit der schönen Sarah und dem ebenso schönen David lebt, macht Dale Gilbertson, dessen Beweglichkeit durch zwei Portionen Hühnerpastete und Brotauflauf leicht eingeschränkt ist, sich gerade bereit, wieder in den Dienst zu fahren. Als das Telefon klingelt, ist er nicht schrecklich überrascht. Schließlich hat er ja dieses Gefühl gehabt. Die Anruferin ist Debbi Anderson, und er weiß gleich beim ersten Wort, dass etwas passiert sein muss.

Er hört zu, nickt zwischendurch und stellt gelegentlich eine Frage. Seine Frau steht an der Tür zur Küche und beobachtet ihn mit sorgenvollem Blick. Dale beugt sich nach vorn und kritzelt etwas auf den Notizblock neben dem Telefon. Sarah kommt herüber und liest zwei Namen: Andy Railsback und M. Fine.

»Haben Sie Railsback noch am Apparat?«, fragt Dale.

»Ja, er wartet noch .«

»Verbinden Sie mich mit ihm.«

»Dale, ich weiß nicht, ob ich das mit den Knöpfen hier kann.« Debbis Stimme klingt uncharakteristisch verstört. Dale schließt kurz die Augen und erinnert sich daran, das dies ja nicht ihr eigentlicher Job ist.

»Ernie ist noch nicht da?«

»Nein.«

»Wer ist sonst noch da?«

»Bobby Dulac . Dit ist unter der Dusche, glaub ich .«

»Geben Sie mir Bobby«, sagt Dale und ist dann erleichtert, dass Bobby es schafft, ihn rasch und schmerzlos mit Andy Railsback in Morty Fines Büro zu verbinden. Die beiden Männer sind oben in Zimmer 214 gewesen, und ein Blick auf die auf dem Boden von George Potters Kleiderschrank verstreuten Polaroidbilder hat Morty gereicht. Er ist jetzt ebenso blass wie Andy. Vielleicht sogar blasser.

Draußen begegnen Ernie Therriault und Reginald »Doc« Amberson sich auf dem Parkplatz hinter der Polizeistation. Doc ist gerade auf seiner alten (aber makellos gepflegten) Harley Fat Boy angekommen. Die beiden begrüßen sich freundschaftlich, während sie im Nebel stehen. Ernie Therriault ist ein weiterer Cop - gewissermaßen -, aber keine Panik: Er ist der Letzte, den wir kennen lernen müssen (na ja, irgendwo läuft natürlich noch ein FBI-Agent herum, aber der braucht uns jetzt nicht zu kümmern; er ist in Madison und ein Trottel dazu).

Ernie ist ein schlanker Fünfundsechziger, seit fast zwölf Jahren pensioniert und noch immer ein viermal besserer Cop, als Arnold Hrabowski jemals einer sein wird. Er bessert seine Pension dadurch auf, dass er den Nachtdienst in der Einsatzzentrale tut (er schläft heutzutage nicht mehr besonders gut, weil er Probleme mit der Prostata hat) und freitags in der First Bank of Wisconsin privat den Sicherheitsdienst übernimmt, wenn um 14 Uhr der Geldtransporter von Wells Fargo und um 16 Uhr der von Brinks kommt.

Doc sieht mit seinem grau melierten schwarzen Vollbart (in den er manchmal nach Art des Piraten Edward Teach bunte Bänder flicht) Zoll für Zoll wie ein Hell’s Angel aus und ist von Beruf Bierbrauer, aber die beiden Männer kommen sehr gut miteinander aus. Vor allem deshalb, weil sie die Intelligenz des jeweils anderen anerkennen. Ernie weiß nicht, ob Doc wirklich ein Arzt ist, aber er könnte einer sein. Vielleicht ist er mal einer gewesen.

»Gibt’s was Neues?«, fragt Doc.

»Nicht dass ich wüsste, mein Freund«, sagt Ernie. Jeden Abend kommt abwechselnd einer der Thunder Five vorbei, um nach dem Stand der Ermittlungen zu fragen. Heute Abend ist Doc an der Reihe.

»Was dagegen, wenn ich mit Ihnen reingehe?«

»Nö«, sagt Ernie, »solange Sie sich an die Spielregeln halten.«

Doc nickt. Manche der Five meckern über die Spielregeln (vor allem Sonny, der über vieles meckert), aber Doc hält sich strikt daran: eine Tasse Kaffee lang, beziehungsweise fünf Minuten, je nachdem, was zuerst kommt, dann heißt’s wieder verschwinden. Ernie, der als Cop in Phoenix in den Siebzigerjahren genügend echte Hell’s Angels erlebt hat, weiß zu schätzen, wie ungeheuer geduldig Beezer St. Pierre und seine Crew gewesen sind. Aber sie sind natürlich keine Hell’s Angels, Pa-gans, Beasts, Bikes oder sonstige Rowdys. Ernie weiß zwar nicht genau, was sie sind, aber er weiß, dass sie auf Beezer hören, und vermutet, dass Beezers Geduldsfaden bald reißen könnte. Ernie weiß, dass seiner jedenfalls längst gerissen wäre.

»Also, kommen Sie mit rein«, sagt Ernie und schlägt dem großen Mann auf die Schulter. »Mal sehen, was gerade läuft.«

Ziemlich viel, wie sich herausstellt.

Dale merkt, dass er imstande ist, schnell und klar zu denken. Seine frühere Angst hat sich verflüchtigt, was teilweise daran liegt, dass die große Scheiße schon passiert und ihm der Fall - zumindest der offizielle Fall -weggenommen worden ist. Vor allem liegt es aber daran, dass er jetzt notfalls Jack zur Unterstützung hinzuziehen kann. Jack ist sein Sicherheitsnetz.

Er hört sich Railsbacks Beschreibung der Polaroidfo-tos an - lässt den alten Knaben ein bisschen reden, damit er sich wieder beruhigt - und stellt dann eine einzige Frage zu den beiden Aufnahmen von dem Jungen.

»Gelb«, antwortet Railsback, ohne zu zögern. »Das Trikot war gelb. Ich konnte das Wort Kiwanis darauf lesen. Sonst nichts. Das . das Blut .«

Dale sagt, es sei schon gut, und erklärt Railsback, dass in wenigen Minuten ein Polizeibeamter bei ihnen eintreffen werde.

Ein Geräusch zeigt, dass der Telefonhörer übergeben wird, und dann ist Fine zu hören - ein Kerl, den Dale kennt und aus dem er sich nicht viel macht. »Was ist, wenn er zurückkommt, Chief? Was ist, wenn Potter hierher ins Hotel zurückkommt?«

»Können Sie von Ihrem Platz aus den Eingang einsehen?«

»Nein.« Bockig. »Wir sind hinten im Büro. Das habe ich Ihnen doch gesagt.«

»Dann gehen Sie nach vorn. Tun Sie, als wären Sie beschäftigt. Falls er reinkommt .«

»Das will ich nicht machen. Hätten Sie diese Bilder gesehen, würden Sie’s auch nicht machen wollen.«

»Sie brauchen ihn nicht anzuquatschen«, sagt Dale. »Sie sollen uns nur anrufen, falls er an Ihnen vorbeigeht.«

»Aber .«

»Legen Sie jetzt bitte auf, Sir. Es gibt noch viel zu tun.«

Sarah hat ihrem Mann eine Hand auf die Schulter gelegt. Dale bedeckt sie mit seiner freien Hand. Aus dem Hörer kommt ein Klicken, das laut genug ist, um gereizt zu klingen.

»Bobby, sind Sie noch da?«

»Zur Stelle, Chief. Debbi und Dit sind auch da. Und Ernie ist gerade reingekommen.« Er senkt die Stimme. »Er hat einen der Biker mitgebracht. Den Kerl, der sich >Doc< nennt.«

Dale überlegt angestrengt. Ernie, Debbi, Dit und Bobby: alle in Uniform. Nicht gut für das, was er vorhat. Er fasst einen plötzlichen Entschluss und sagt: »Geben Sie mir den Biker.«

»Was?«

»Los, machen Sie schon!«

Im nächsten Augenblick spricht er mit Doc Amber-son. »Wollen Sie mithelfen, den Scheißkerl zu schnappen, der Armand St. Pierres kleines Mädchen umgebracht hat?«

»Teufel auch, natürlich.« Kein Zögern.

»Also gut. Stellen Sie keine Fragen, und passen Sie auf, damit ich nichts wiederholen muss.«

»Ich höre«, sagt Doc knapp.

»Sagen Sie Officer Dulac, dass er Ihnen das blaue Handy aus der Asservatenkammer geben soll, das, das wir mal einem Dealer abgenommen haben. Er weiß dann schon, welches ich meine.« Ein mit diesem Telefon geführtes Gespräch lässt sich nicht zu seinem Laden zurückverfolgen, das weiß Dale - und das ist gut so. Schließlich ist er offiziell nicht mehr für diesen Fall zuständig.

»Blaues Handy.«

»Damit gehen Sie zu Lucky’s Tavern neben dem Hotel Nelson.«

»Ich hab mein Bike draußen ...«

»Nein. Zu Fuß. Sie gehen hinein. Kaufen Sie sich ein Lotterielos. Halten Sie Ausschau nach einem großen Mann, hager, grau meliertes Haar, ungefähr siebzig, Khakihose, vielleicht auch ein Khakihemd. Vermutlich allein. Sein Lieblingsplatz ist zwischen der Jukebox und dem kleinen Gang zum Lokus. Sitzt er dort, rufen Sie die Station an. Wählen Sie einfach die Notrufnummer. Haben Sie das alles verstanden?«

»Yeah.«

»Also los. Und beeilen Sie sich, Doktor.«

Doc nimmt sich nicht mal die Zeit, sich zu verabschieden. Im nächsten Augenblick ist Bobby wieder am Apparat. »Was machen wir, Dale?«

»Ist der Scheißkerl da, schnappen wir ihn uns«, sagt Dale. Er hat sich weiter voll unter Kontrolle, aber er fühlt, wie sein Herzschlag sich beschleunigt, sein Puls wirklich zu jagen beginnt. Die Welt erscheint ihm in einem klaren, hellen Licht, wie es das seit dem ersten Mord dieser Serie nicht mehr gegeben hat. Er kann jeden einzelnen Finger der Hand seiner Frau auf seiner Schulter spüren. Er kann ihr Make-up und ihr Haarspray riechen. »Verständigen Sie Tom Lund. Und legen Sie drei kugelsichere Westen bereit.« Er denkt kurz darüber nach, dann sagt er: »Oder lieber vier.«

»Sie wollen Hollywood anrufen?«

»Yeah«, sagt er, »aber wir warten nicht auf ihn.« Damit legt er auf. Weil er am liebsten losstürmen würde, zwingt er sich dazu, einen Augenblick still dazustehen. Holt tief Luft. Atmet aus, holt nochmals tief Luft.

Sarah ergreift seine Hände. »Sei vorsichtig.«

»Yeah«, sagt Dale. »Darauf kannst du dich verlassen.« Er setzt sich in Richtung Tür in Bewegung.

»Was ist mit Jack?«, ruft sie ihm nach.

»Den rufe ich vom Auto aus an«, sagt er, ohne sein Tempo zu vermindern. »Steht Gott auf unserer Seite, haben wir den Kerl in einer Zelle, bevor Jack auf halber Strecke zum Revier ist.«

Fünf Minuten später steht Doc im Lucky’s an der Bar, hört Trace Adkins »I Left Something Turned On at Ho-me« singen und rubbelt ein staatliches Lotterielos, das einen Sofortgewinn verspricht. Es stellt sich tatsächlich als Gewinnlos heraus - zehn Eier -, aber Doc konzentriert seine Aufmerksamkeit hauptsächlich in Richtung Jukebox. Er nickt ein bisschen mit seinem zottigen Schädel, als törne ihn dieser spezielle Fall von Country-scheiße echt an.

An einem Ecktisch, auf dem er einen Teller Spaghetti (mit einer Sauce rot wie Nasenbluten) vor sich und ei-nen Krug Bier in Reichweite hat, sitzt der alte Mann, den er sucht: sogar im Sitzen groß, hager, tiefe Falten in seinem gebräunten Jagdhundgesicht, grau meliertes Haar ordentlich zurückgekämmt. Doc kann das Hemd nicht richtig sehen, weil der Kerl sich eine Serviette in den Kragen gestopft hat, aber das unter dem Tisch herausragende lange Bein steckt eindeutig in einer Khakihose.

Wüsste Doc ganz sicher, dass dies der beschissene Kindermörder ist, der Amy umgebracht hat, würde er ihn, was jedem Bürger gestattet ist, auf der Stelle festnehmen . beziehungsweise extrem gewalttätig dingfest machen. Scheiß auf die Cops und ihre Belehrung Verhafteter über ihre Rechte. Aber vielleicht ist der Kerl ja nur ein Zeuge, ein Komplize oder sonstwas.

Er nimmt seinen Zehner von dem Barmann entgegen, lehnt den Vorschlag ab, auf ein Bier zu bleiben, und schlendert wieder in den Nebel hinaus. Nach zehn Schritten hügelaufwärts holt er das blaue Handy aus der Tasche und wählt die Notrufnummer. Debbi meldet sich.

»Er ist hier«, sagt Doc. »Wie geht’s weiter?«

»Bringen Sie das Telefon zurück«, sagt sie und legt auf.

»Na, vielen Fuck auch«, sagt Doc milde. Aber er wird ein braver Junge sein. Er wird sich an ihre Spielregeln halten. Nur zuvor .

Er tippt eine andere Nummer in das blaue Handy ein (das noch eine weitere Aufgabe zu erfüllen hat, bevor es für immer aus unserer Story verschwindet), und Bear

Girl meldet sich, »Gib ihn mir, Süße«, sagt er und hofft, dass sie ihm nicht erklären wird, Beezer sei in der Sand Bar. Fährt der Beez jemals allein dorthin, will er sich was besorgen. Etwas Schlechtes besorgen.

Aber im nächsten Augenblick hört er Beezers Stimme - so heiser, als hätte er geweint. »Yeah? Was?«

»Trommel die Jungs zusammen und sieh zu, dass du deinen dicken Hintern auf den Parkplatz der Polizeistation wuchtest«, fordert Doc ihn auf. »Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube, sie wollen den Motherfucker verhaften, der’s gewesen ist. Ich hab ihn vielleicht sogar .«

Beezer ist unterwegs, bevor Doc das Handy vom Ohr nehmen und ausschalten kann. Er steht im Nebel, sieht zu den verschwommenen Lichtern der Polizeistation French Landing auf und fragt sich, warum er Beezer und die Jungs nicht gleich aufgefordert hat, sich vor Lucky’s Tavern mit ihm zu treffen. Er glaubt die Antwort zu kennen: Hätte Beezer diesen alten Kerl vor den Cops erwischt, wären Spaghetti vielleicht die letzte Mahlzeit seines Lebens gewesen.

Vielleicht ist’s besser, noch abzuwarten.

Abwarten, was passiert.

Über der Herman Street liegt nur leichter Dunst, aber die Nebelsuppe wird fast sofort dichter, als Dale in Richtung Stadtmitte fährt. Er schaltet sein Standlicht ein, aber das genügt nicht. Dale geht auf Abblendlicht über, dann ruft er Jack an. Er hört die Tonbandnachricht des Anrufbeantworters, legt auf und ruft bei seinem Onkel Henry an. Und Onkel Henry meldet sich. Im Hintergrund hört Dale eine wummernde, verschwommen klingende Gitarre, zu der eine Stimme unablässig »Gimme back my dog!« knurrt.

»Ja, er ist hier«, sagt Henry. »Wir befinden uns gerade in der Musikkritikphase unseres Abends. Danach folgt Literatur. Wir haben in Bleak House einen entscheidenden Punkt erreicht - Chesney Wold, der Geisterweg, Mrs. Rouncewell und so weiter -, und wenn dein Anliegen nicht wirklich dringend ist .«

»Das ist es aber. Gib ihn mir sofort, Onkel.«

Henry seufzt. »Oui, mon capitaine.«

Im nächsten Augenblick spricht er mit Jack, der sich natürlich bereit erklärt, sofort zu kommen. Gut so, aber der Polizeichef von French Landing findet trotzdem einige Reaktionen seines Freundes ein wenig verwirrend. Nein, Jack will nicht, dass Dale die Festnahme verschiebe, bis er eingetroffen sei. Sehr rücksichtvoll von ihm, dass er daran gedacht habe, auch sehr rücksichtvoll von Dale, dass er für ihn eine Kevlar-Weste habe (ein Teil der materiellen Aufrüstung, mit der das French Landing Police Department und Tausende von weiteren kleinen Polizeien in den Reaganjahren beglückt wurden), aber Jack glaube, dass Dale und seine Leute George Potter ohne Schwierigkeiten werden verhaften können.

Tatsächlich scheint Jack Sawyer sich nur wenig für George Potter zu interessieren. Desgleichen für die schrecklichen Fotos, obwohl sie bestimmt echt sein müssen; Railsback hat Johnny Irkenhams gelbes Little-League-Trikot mit dem Aufdruck Kiwanis - ein Detail, das in keiner Pressemitteilung gestanden hat - korrekt identifiziert. Selbst der verhasste Wendell Green hat diese spezielle Tatsache nie rausgekriegt.

Wonach Jack fragt - nicht nur einmal, sondern mehrmals -, ist der Kerl, den Andy Railsback auf dem Flur gesehen haben will.

»Blauer Bademantel, nur ein Filzpantoffel, mehr weiß ich nicht!«, muss Dale schließlich zugeben. »Verdammt, Jack, ist das jetzt wichtig? Hör zu, ich kann nicht länger telefonieren.«

»Ding-dong«, sagt Jack durchaus sachlich und legt auf.

Dale biegt auf den nebelverhangenen Parkplatz ab. Er sieht Ernie Therriault und den Biker-Brauer namens Doc, die am Hintereingang stehend miteinander reden. In den treibenden Nebelschwaden sind sie nur schemenhaft zu erkennen.

Seit seinem Gespräch mit Jack fühlt Dale sich sehr unbehaglich, als gäbe es riesige Hinweise und Wegweiser, die er (als der Dummkopf, der er ist) völlig übersehen hat. Aber welche Hinweise? Um Himmels willen, welche Wegweiser? Und jetzt mischen sich auch leichte Ressentiments in sein Unbehagen. Vielleicht kann ein hochkarätiger Lucas-Davenport-Typ wie Jack Sawyer das Offenkundige einfach nicht glauben. Vielleicht sind Leute wie er grundsätzlich mehr an dem Hund interessiert, der nicht bellt.

Im Nebel trägt der Schall weit, und als Dale auf halbem Weg zum Hintereingang der Polizeistation ist, hört er unten am Fluss Motorräder anspringen. Drunten in der Nailhouse Row.

»Dale«, sagt Ernie. Er nickt grüßend, als wäre dies ein Abend wie jeder andere.

»He, Chief«, wirft Doc ein. Er raucht eine Zigarette ohne Filter, die Dale für eine Pall Mall oder Chesterfield hält. Und das als Arzt, sagt Dale sich. »Wenn ich das mal so salopp sagen darf«, fährt Doc fort, »ist dies ein schöner Abend in unserem Viertel. Finden Sie nicht auch?«

»Sie haben sie angerufen«, sagt Dale mit einer Kopfbewegung zu den aufheulenden Motorrädern hinüber. Zwei Scheinwerferpaare biegen auf den Parkplatz ein. Am Steuer des ersten Wagens sitzt Tom Lund. Das zweite Fahrzeug ist bestimmt Danny Tchedas Privatwagen. Seine Truppe sammelt sich wieder. Hoffentlich gelingt es ihr diesmal, verheerende Katastrophen zu vermeiden. Das kann er nur hoffen. Diesmal könnte alles auf dem Spiel stehen.

»Nun, dazu möchte ich keinen direkten Kommentar abgeben«, sagt Doc, »aber ich könnte fragen: Was würden Sie tun, wenn das Ihre Freunde wären?«

»Nichts verdammt anderes«, sagt Dale und geht hinein.

Henry Leyden sitzt wieder einmal steif auf dem Beifahrersitz von Jacks Pickup. Heute Abend trägt er ein weißes Hemd mit offenem Kragen und eine frisch gebügelte blaue Leinenhose.

Schlank wie ein Dressman, das silbern werdende Haar streng zurückgekämmt. Hat Sydney Carton auf dem Weg zur Guillotine etwa cooler ausgesehen? Auch nur in Charles Dickens’ Vorstellung? Das bezweifelt Jack.

»Henry .«

»Ich weiß«, sagt Henry. »Wie ein braver kleiner Junge im Wagen sitzen bleiben, bis ich gerufen werde.«

»Bei verriegelten Türen. Und sag nicht wieder Oui, mon capitaine. Das ist abgenudelt.«

»Ist zu Befehl in Ordnung?«

»Durchaus.«

Der Nebel wird dichter, als sie sich der Stadt nähern, und Jack blendet seine Scheinwerfer ab - Fernlicht taugt in dieser Suppe nichts. Er sieht auf die Borduhr. 19.03 Uhr. Das Tempo steigert sich. Das ist ihm gerade recht. Mehr tun, weniger denken - Jack Sawyers Rezept für geistige Hygiene.

»Ich hole dich schnell rein, sobald sie Potter geschnappt haben.«

»Du erwartest aber nicht, dass es dabei Schwierigkeiten geben könnte, oder?«

»Nein«, sagt Jack, dann wechselt er das Thema. »Mit dieser Aufnahme von Slobberbone hast du mich ziemlich überrascht, ehrlich.« Er kann nicht eigentlich von einem Song sprechen, nicht da doch der Leadssänger den größten Teil des Texts mit voller Lungenkraft gekreischt hat. »Die war gut.«

»Die Lead-Gitarre verhilft der CD zum Erfolg«, sagt Henry, wobei er Jacks sorgfältige Wortwahl imitiert. »Überraschend differenziert. Normalerweise kann man bestenfalls darauf hoffen, dass sie nicht verstimmt ist.« Er lässt das Fenster auf seiner Seite herunter, steckt den Kopf wie ein Hund hinaus und zieht ihn wieder zurück. Dann sagt er ebenso ungezwungen wie bisher: »Die ganze Stadt stinkt.«

»Das kommt vom Nebel. Der bringt die übelsten Gerüche des Flusses mit.«

»Nein«, sagt Henry nüchtern, »das kommt vom Tod. Ich rieche ihn, und ich glaube, du tust das auch. Nur vielleicht nicht mit deiner Nase.«

»Ich rieche ihn«, gibt Jack zu.

»Potter ist der falsche Mann.«

»Das glaube ich auch.«

»Der Mann, den Railsback gesehen hat, war ein Henkersgehilfe.«

»Der Mann, den Railsback gesehen hat, war fast sicher der Fisherman.«

Sie fahren eine Zeit lang schweigend weiter.

»Henry?«

»Zu Befehl.«

»Was ist die beste Aufnahme? Die beste Aufnahme und der beste Song?«

Henry denkt darüber nach. »Ist dir klar, was für eine schrecklich persönliche Frage das ist?«

»Ja.«

Henry denkt noch etwas länger nach, dann sagt er: »Vielleicht >Stardust<. Hoagy Carmichael. Und für dich?«

Der Mann am Steuer denkt weit zurück, erinnert sich an die Zeit, als Jacky sechs war. Sein Vater und Onkel Morgan waren Jazzfans; seine Mutter hatte einen schlichteren Geschmack. Er erinnert sich, wie sie in einem endlosen Sommer in L. A. immer wieder denselben Song spielte - am Fenster sitzend, hinausstarrend und rauchend. Wer singt da, Mama?, fragt Jacky, und seine Mutter sagt: Patsy Cline. Sie ist mit dem Flugzeug verunglückt.

»>Crazy Arms<«, sagt Jack. »Mit Patsy Cline als Sängerin. Von Ralph Mooney und Chuck Seals geschrieben. Das ist die beste Aufnahme. Das ist der beste Song.«

Henry schweigt für den Rest der Fahrt. Jack weint.

Henry kann seine Tränen riechen.

Wir wollen die Dinge jetzt im größeren Zusammenhang betrachten, wie Politiker zweifellos des Öfteren sagen. Das müssen wir fast, weil die Dinge begonnen haben, sich zu überlagern. Während Beezer und der Rest der Thunder Five auf dem FLPD-Parkplatz an der Sumner Street eintreffen, parken Dale, Tom Lund und Bobby Dulac - in ihren Kevlar-Westen unbeholfen massig - vor Lucky’s Ta-vern in der zweiten Reihe. Sie parken auf der Straße, weil Dale reichlich Platz will, um die hintere Tür des Streifenwagens weit öffnen zu können, damit Potter möglichst schnell reingestoßen werden kann. Nebenan sind Dit Jesperson und Danny Tcheda im Hotel Nelson, in dem sie Zimmer 214 mit Absperrband sichern werden. Sobald sie damit fertig sind, sollen sie Andy Railsback und Morty Fine auf die Polizeistation bringen. In der Polizeistation ruft Ernie Therriault gerade die Kriminalbeamten Brown und Black an, die allerdings erst nach der Festnahme werden eintreffen können ... und falls sie deswegen sauer sind, ist’s auch recht. In der Sand Bar hat Tansy Freneau, deren Blick seltsam ausdruckslos ist, eben den Stecker der Jukebox herausgezogen und die Wallflo-wers verstummen lassen. »Alle mal herhören!«, ruft sie mit einer Stimme, die nicht ihre eigene ist. »Sie haben ihn! Sie haben den Scheißkerl von einem Babymörder! Er heißt Potter!

Spätestens bis Mitternacht bringen sie ihn nach Madison, und wenn wir nicht was tun, sorgt irgendein cleverer Anwalt dafür, dass er ab nächsten Montag wieder frei rumlaufen kann! Wer will mir helfen, was dagegen zu tun?« Kurzes Schweigen ... und dann ein Brüllen. Die halb bekifften, halb betrunkenen Stammgäste der Sand Bar wissen genau, was sie dagegen tun wollen. Unterdessen fahren Jack und Henry, die erst in der Stadt durch Nebel aufgehalten wurden, gleich nach den Thunder Five, die um Docs Harley herum parken, auf den Parkplatz der Polizeistation. Der Platz füllt sich rasch, vor allem mit Privatwagen von Cops. Die Nachricht von der bevorstehenden Verhaftung hat wie ein Lauffeuer die Runde gemacht. Drinnen sieht einer von Dales Leuten - wer genau, braucht uns nicht zu kümmern - das blaue Handy, mit dem Doc vor dem Lu-cky’s telefoniert hat. Dieser Cop greift es sich und verschwindet damit in dem winzigen Raum, an dessen Tür ASSERVATENKAMMER steht.

Im Oak Tree Inn, in dem er sich für die Dauer der Sache Fisherman einquartiert hat, ist Wendell Green dabei, sich missmutig zu betrinken. Auch nach dem dritten doppelten Whiskey tut ihm der Hals noch dort weh, wo das Biker-Arschloch ihm die Kamera abgerissen hat, und er hat noch Magenschmerzen, weil das HollywoodArschloch ihm einen Magenschwinger verpasst hat. Am schlimmsten haben jedoch sein Stolz und seine Geldbörse gelitten. Sawyer hat Beweismaterial unterschlagen, das steht für ihn fest. Wendell glaubt schon fast, dass Sawyer selbst der Fisherman ist . aber wie kann er das eine oder das andere beweisen, wenn sein Film weg ist?

Als der Barmann sagt, dass er einen Anruf hat, fordert Wendell ihn beinahe auf, sich den Anruf hinten reinzustecken. Aber er ist ein Profi, gottverdammt noch mal, ein professioneller Zeitungsmann, deshalb geht er zur Bar hinüber und lässt sich den Hörer geben.

»Green«, knurrt er.

»Hallo, Arschloch«, sagt der Cop mit dem blauen Handy. Wendell weiß noch nicht, dass der Anrufer ein Cop ist, sondern nur, dass dies irgendein fröhlicher Zombie ist, der ihm seine kostbare Trinkzeit stiehlt. »Wollen Sie zur Abwechslung mal ’ne gute Nachricht drucken?«

»Gute Nachrichten bringen keine Auflage, mein Freund.«

»Diese schon. Wir haben den Kerl geschnappt.«

»Was?« Trotz den drei Doppelten ist Wendell Green schlagartig der unbetrunkenste Mensch auf diesem Planeten.

»Hab ich gestottert?« Der Anrufer kostet die Situation genüsslich aus, aber das ist Wendell Green jetzt egal. »Wir haben den Fisherman geschnappt. Nicht die Sta-ties, nicht die Feds, wir. Er heißt George Potter. Anfang siebzig. Ehemaliger Bauunternehmer. Hatte Polaroidfo-tos von allen drei ermordeten Kindern. Wenn Sie sich beeilen, können Sie vielleicht gerade noch rechtzeitig hier sein, um zu fotografieren, wie Dale ihn reinbringt.«

Dieser Gedanke - diese großartige Chance - explodiert in Wendell Greens Kopf wie eine Feuerwerksrakete. Solch ein Foto wäre fünfmal mehr wert als eines von der Leiche der kleinen Irma, weil alle angesehenen Nach-richtenmagazine es anfordern würden. Und das Fernsehen! Eine weitere Überlegung: Was ist, wenn jemand den Hundesohn erschießt, während Marshall Dillon ihn einbuchten will? Angesichts der in der Stadt herrschenden Stimmung ist das keineswegs undenkbar. Vor Wen-dells innerem Auge erscheint eine kurze, grelle Erinnerung daran, wie Lee Harvey Oswald sich den Bauch hält, während sein Mund zu einem Todesröcheln verzerrt ist.

»Wer sind Sie?«, stößt er hervor.

»Officer Fucking Friendly«, sagt die Stimme am anderen Ende, dann wird die Verbindung unterbrochen.

In Lucky’s Tavern informiert Patty Loveless jetzt die dort Versammelten (älter als die Gäste der Sand Bar und weit weniger an nichtalkoholischen Substanzen interessiert), dass sie keine Befriedigung nich’ kriegen und ihr Traktor keine Traktion nich’ finden kann. George Potter hat seine Spaghetti aufgegessen, hat seine Serviette (die letztlich doch nur einen einzigen Tropfen rote Soße auffangen musste) ordentlich zusammengelegt und widmet sich jetzt ernstlich seinem Bier. Weil er so nahe an der Jukebox sitzt, fällt ihm nicht auf, dass es im Raum still wird, als drei Männer eintreten - nur einer von ihnen in Uniform, aber alle drei bewaffnet und mit Kleidungsstücken ausgerüstet, die zu sehr nach kugelsicheren Westen aussehen, um etwas anderes sein zu können.

»George Potter?«, sagt jemand, und George sieht auf. Mit seinem Glas in einer Hand und dem Krug Bier in der anderen ist er ein leichtes Ziel.

»Yeah, was wollen Sie?«, sagt er, und dann wird er an den Armen und Schultern gepackt und von seinem Platz hochgerissen. Mit den Knien rammt er die Unterseite des Tischs und wirft ihn um. Spaghettiteller und Bierkrug knallen auf den Fußboden. Der Teller zersplittert. Der Krug, der solider ist, bleibt heil. Eine Frau kreischt. Ein Mann sagt halb laut und respektvoll: »Jau!«

Potter hält sein halb volles Glas noch einen Augenblick in der Hand, dann entreißt Tom Lund ihm diese potenzielle Waffe. Eine Sekunde später lässt Dale Gilbertson die Handschellen zuschnappen und hat dabei noch Zeit, sich zu sagen, dass dies das befriedigendste Geräusch ist, das er in seinem ganzen Leben gehört hat. Sein Traktor hat endlich etwas Traktion gefunden, bei Gott.

Dieser Zugriff ist Lichtjahre von dem Chaos bei Ed’s Eats entfernt; er läuft glatt und problemlos ab. Keine zehn Sekunden nachdem Dale die einzige Frage gestellt hat - »George Potter?« -, ist der Verdächtige durch die Tür nach draußen in den Nebel geschafft worden. Tom hält den einen Ellbogen gepackt, Bobby den anderen. Dale rasselt noch immer die Rechtsbelehrung herunter, wobei er wie ein Versteigerer klingt, der Amphetamine eingeworfen hat. George Potters Füße berühren den Gehsteig nicht.

Jack Sawyer fühlt sich erstmals seit seinem zwölften Lebensjahr, wo er in einer Lincoln-Limousine mit einem Werwolf am Steuer aus Kalifornien zurückkam, wieder ganz lebendig. Er hat den Verdacht, dass er für diese Revitalisierung später einen hohen Preis wird zahlen müssen, aber er hofft, dass er die Klappe halten und einfach blechen wird, wenn’s so weit ist. Weil sein bisheriges Erwachsenenleben ihm jetzt so grau erscheint.

Er steht neben seinem Pickup und sieht durchs offene Fenster Henry an. Die Luft ist feucht und bereits mit Erregung aufgeladen. Er hört die bläulich weißen Strahler der Parkplatzbeleuchtung brutzeln, als würde etwas in heißen Säften gebraten.

»Henry.«

»Zu Befehl.«

»Kennst du das Kirchenlied >Amazing Grace

»Natürlich. >Amazing Grace< kennt jeder.«

Jack sagt: »>War blind, aber nun bin ich sehend<. Das verstehe ich jetzt.«

Henry wendet Jack sein blindes, erschreckend intelligentes Gesicht zu. Er lächelt. Es ist das zweitsüßeste Lächeln, das Jack je gesehen hat. Das blaue Band behält Wolf, sein lieber Freund aus Jacks Wanderzeit im zwölften Herbst seines Lebens. Der gute alte Wolf, dem genau hier und jetzt alles gefiel.

»Du bist wieder da, stimmt’s?«

Auf dem Parkplatz stehend grinst unser alter Freund. »Allerdings, Jack ist wieder da.«

»Dann geh los und tu, wozu du zurückgekommen bist«, sagt Henry.

»Ich möchte, dass du die Fenster schließt.«

»Damit ich nichts hören kann? Das glaube ich weniger«, erklärt Henry ihm durchaus freundlich.

Weitere Cops treffen ein, und diesmal blitzen die blauen Blinkleuchten des ersten Wagens, und die Sirene heult an- und abschwellend. Jack entdeckt in diesem Heulen einen jubelnden Unterton und überlegt sich, dass er keine Zeit hat, hier zu stehen und mit Henry über die Fenster des Pickups zu diskutieren.

Er macht sich auf den Weg zum Hintereingang der Polizeistation, und zwei der bläulich weißen Strahler werfen seinen Schatten doppelt auf den Nebel: ein dunkles Haupt nach Norden und eines nach Süden.

Die Teilzeit-Cops Holtz und Nestler folgen hinter dem Wagen, in dem Gilbertson, Lund, Dulac und Potter sitzen. Aus Holtz und Nestler machen wir uns nicht sonderlich viel. Dahinter kommen Jesperson und Tcheda mit Railsback und Morton Fine auf dem Rücksitz (wobei Morty sich über den Mangel an Beinfreiheit beschwert). Aus Railsback machen wir uns was, aber er kann warten. Der nächste Wagen, der auf den Parkplatz fährt . Oh, das ist wirklich interessant, wenn auch nicht ganz unerwartet: Wendell Greens klappriger roter Toyota mit dem Mann selbst am Steuer. Um seinen Hals hängt seine Reservekamera, eine Minolta, die Fotos macht, solange Wendell den Auslöser gedrückt hält. Niemand aus der Sand Bar ist da - jedenfalls noch nicht -, aber draußen wartet noch ein Wagen darauf, auf den schon fast überfüllten Parkplatz abbiegen zu können. Ein diskreter grüner Saab mit einem Aufkleber Police Power auf der linken und No Drugs auf der rechten Stoßstangenhälfte. Am Steuer des Saabs sitzt - leicht benommen wirkend, aber entschlossen, das Rechte zu tun (was immer das Rechte sein mag) - Arnold »der Verrückte Ungar« Hrabowski.

An der Klinkermauer der Polizeistation aufgereiht stehen die Thunder Five. Sie tragen identische Jeanswesten mit einer goldgestickten »5« auf der linken Brustseite. Fünf muskulöse Armpaare sind über fünf breiten Brustkörben verschränkt. Doc, Kaiser Bill und Sonny haben ihr Haar zu dicken Pferdeschwänzen zusammengefasst. Das von Mouse ist heute Abend zu aufgereihten Zöpf-chen geflochten. Und Beezers fällt wallend bis über seine Schultern, sodass er Jack ein wenig an Bob Seger zu dessen besten Zeiten erinnert. Ohrringe glitzern. Tätowierungen bewegen sich auf riesigen Oberarmmuskeln.

»Armand St. Pierre«, sagt Jack zu dem Mann, der dem Hintereingang am nächsten steht. »Jack Sawyer. Wir kennen uns vom Ed’s Eats.« Er streckt die Rechte aus und ist eigentlich nicht überrascht, als Beezer sie nur betrachtet. Jack lächelt freundlich. »Sie haben dort draußen enorm geholfen. Danke.«

Von Beez kommt nichts.

»Glauben Sie, dass es beim Reinbringen des Verhafteten Probleme geben wird?«, fragt Jack. Ebenso gut könnte er fragen, ob Beezer glaubt, dass es nach Mitternacht Regenschauer geben wird.

Beezer beobachtet über Jacks Schulter hinweg, wie Dale, Bobby und Tom dem Verhafteten helfen, vom Rücksitz des Streifenwagens auszusteigen, und ihn dann in raschem Tempo zum Hintereingang führen. Wendell Green hebt seine Kamera, dann wird er beinahe von Danny Tcheda umgestoßen, der nicht einmal das Vergnügen hat zu sehen, welches Arschloch er da angerempelt hat. »Pass doch auf, Blödmann«, quiekst Wendell.

Beezer bedenkt - falls das der richtige Ausdruck ist -Jack mit einem kurzen, frostigen Blick. »Na ja«, sagt er. »Wir müssen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, nicht wahr?«

»Das müssen wir in der Tat«, sagt Jack. Seine Stimme klingt fast fröhlich. Er zwängt sich zwischen Mouse und Kaiser Bill, schafft sich selbst Platz: die Thunder Five Plus One. Und vielleicht weil sie spüren, dass er keine Angst vor ihnen hat, machen die beiden Hünen ihm Platz. Auch Jack verschränkt nun die Arme vor der Brust. Hätte er eine Lederweste, einen Ohrring und eine Tätowierung, würde er wirklich gut zu den anderen passen.

Der Verhaftete und seine Bewacher legen die Strecke zwischen Streifenwagen und Gebäude rasch zurück. Kurz bevor sie es erreichen, tritt Beezer St. Pierre, geistiger Führer der Thunder Five und Vater von Amy, deren Leber und Zunge gegessen wurden, vor die Tür. Die Arme lässt er verschränkt. Im unbarmherzigen Licht der Parkplatzbeleuchtung schimmern seine massiven Bizepse bläulich.

Bobby und Tom sehen plötzlich wie Männer aus, die an einer mittelschwereren Grippe leiden. Dale verzieht keine Miene. Und Jack, dessen Arme gelassen verschränkt bleiben, lächelt weiter sanft, während sein Blick gleichzeitig überall und nirgends zu sein scheint.

»Aus dem Weg, Beezer«, sagt Dale. »Ich will diesen Mann in Untersuchungshaft nehmen.«

Und was ist mit George Potter? Ist er wie betäubt? Resigniert? Beides? Das ist schwer zu sagen. Aber als Bee-zers blutunterlaufene blaue Augen Potters braunen Augen begegnen, senkt Potter nicht etwa den Blick. Hinter ihnen verstummen die auf dem Parkplatz versammelten Gaffer. Andy Railsback und Morty Fine, die zwischen Danny Tcheda und Dit Jesperson stehen, machen große Augen. Wendell Green hebt seine Kamera, dann hält er den Atem an wie ein Scharfschütze, dem ein glücklicher Zufall die Chance zu einem Schuss - nur einem, versteht sich - auf den kommandierenden General gegeben hat.

»Haben Sie meine Tochter ermordet?«, fragt Beezer. Diese schlichte Frage ist irgendwie schrecklicher, als jeder wütende Aufschrei hätte sein können, und die Welt scheint den Atem anzuhalten. Dale macht keine Bewegung. In diesem Augenblick scheint er so erstarrt zu sein wie alle anderen. Die Welt wartet, und der einzige Laut ist ein tiefes, klagendes Heulen des Nebelhorns eines Schiffs, das auf dem Fluss im Nebel festliegt.

»Sir, ich habe niemals jemanden umgebracht«, sagt Potter. Er spricht leise, ohne Nachdruck. Obwohl Jack nichts anderes erwartet hat, greifen diese Worte ihm ans Herz. Aus ihnen spricht eine unerwartete schmerzliche Würde, als spräche George Potter für all die verlorenen guten Menschen der Welt.

»Machen Sie Platz, Beezer«, sagt Jack halb laut. »Sie wollen diesem Mann doch nicht etwa was antun.«

Und Beezer, dessen Selbstsicherheit sich verflüchtigt zu haben scheint, tritt zur Seite.

Bevor Dale den Verhafteten weiterführen kann, ruft eine raue, fröhliche Stimme, die nur Wendell gehören kann: »He! He, Fisherman! Schön in die Kamera lächeln!«

Alle sehen sich nach ihm um, nicht nur Potter. Sie können nicht anders; dieser Schrei ist so aufdringlich wie Fingernägel, die langsam über eine Schiefertafel kratzen. Weißes Blitzlicht erhellt den nebelverhangenen Parkplatz - einmal! zweimal! dreimal! viermal! -, und Dale knurrt. »Ach, leck mich doch am Arsch! Los, kommt schon, Jungs! Jack! Jack, ich brauche dich!«

Hinter ihnen ruft einer der anderen Cops: »Dale! Soll ich mir diesen Widerling schnappen?«

»Lassen Sie ihn in Ruhe!«, brüllt Dale und stiefelt weiter. Erst als die Tür sich hinter ihm geschlossen hat und er mit Jack, Tom und Bobby im unteren Vorraum ist, wird ihm klar, wie sehr er doch damit gerechnet hat, dass Beezer ihm den Alten einfach entreißen würde. Um ihm dann das Genick zu brechen, wie man einen Hühnerknochen zerknackt.

»Dale?«, ruft Debbi Anderson unsicher, die auf halber Treppe steht. »Alles okay?« Dale sieht zu Jack hinüber, der noch immer die Arme vor der Brust verschränkt hat und weiter sein kleines Lächeln lächelt. »Ich glaube schon«, sagt Dale. »Vorläufig jedenfalls.«

Zwanzig Minuten später sitzen Jack und Henry (letzterer Gentleman ist aus dem Pickup geholt worden und strahlt weiterhin coole Eleganz aus) in Dales Dienstzimmer. Aus dem Bereitschaftsraum jenseits der geschlossenen Tür kommen Stimmengewirr und Gelächter herüber: Fast alle FLPD-Cops sind dort versammelt, und das Ganze klingt wie eine gottverdammte Silvesterparty. Gelegentlich sind Freudenschreie und klatschende Geräusche zu hören, die nur von erleichterten Boys (und Girls) in Blau stammen können, die ihre erhobenen Hände aneinander klatschen. Dale wird diesem Scheiß bald ein Ende machen, aber vorerst begnügt er sich damit, seine Leute gewähren zu lassen. Er kann verstehen, was sie empfinden, auch wenn ihm selbst nicht mehr so zumute ist.

George Potter sind die Fingerabdrücke abgenommen worden; er sitzt jetzt in einer Zelle im ersten Stock und hat Gelegenheit, über alles nachzudenken. Brown und Black von der State Police sind unterwegs. Das genügt fürs Erste. Was Dales Triumph betrifft ... nun, etwas am Lächeln seines Freundes und sein geistesabwesender Blick hindern Dale vorerst daran, seinen Triumph auszukosten.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du Beezer seinen Auftritt gönnen würdest«, sagt Jack. »Aber es ist gut, dass du’s getan hast. Hättest du versucht, ihn daran zu hindern, hätte hier in River City ein Aufruhr losbrechen können.«

»Ich glaube, ich weiß seit heute besser, was er empfindet«, antwortet Dale. »Ich habe heute Abend für kurze Zeit unseren Jungen aus den Augen verloren, und das hat mir gehörig Angst eingejagt.«

»David?«, ruft Henry aus. Er beugt sich nach vorn. »Alles in Ordnung mit ihm?«

»Yeah, Onkel Henry, David geht’s gut.«

Dale sieht wieder zu dem Mann hinüber, der jetzt im Haus seines Vaters lebt. Er erinnert sich daran, wie es war, als Jack erstmals Thornberg Kinderling zu Gesicht bekam. Damals kannte er Jack erst seit neun Tagen -lange genug, um sich eine gute Meinung von ihm zu bilden, aber nicht lange genug, um zu erkennen, wie außergewöhnlich Jack Sawyer tatsächlich war. Es war der Tag, an dem Janna Massengale im Taproom Jack erzählte, welche Angewohnheit Kinderling gehabt habe, wenn er einen Kleinen sitzen hatte - dass er die Nasenlöcher mit Daumen und Zeigefinger zusammendrückt, aber mit nach außen gewandter Handfläche.

Sie waren gerade zur Polizeistation zurückgekommen, nachdem sie Janna befragt hatten, und Dale, der an diesem Tag seinen Privatwagen fuhr, hatte Jack eine Hand auf die Schulter gelegt, als dieser eben aussteigen wollte. »Wenn man vom Teufel spricht ...« Er deutete die Second Street entlang, auf der ein breitschultriger Mann mit beginnender Glatze mit einer Zeitung unter dem Arm und einem ungeöffneten Päckchen Zigaretten in der Hand aus dem Zeitschriftenladen trat. »Das ist Thornberg Kinderling höchstpersönlich.«

Jack hatte sich schweigend nach vorn gebeugt und den Mann mit dem durchdringendsten (und vielleicht unbarmherzigsten) Blick angestarrt, den Dale in seinem Leben gesehen hatte.

»Wollen Sie ihn ansprechen?«, hatte Dale gefragt.

»Nein. Pst!«

Und Jack hatte einfach mit einem Bein in Dales Wagen und dem anderen draußen, ohne sich zu bewegen, mit zusammengekniffenen Augen dagesessen. Dale hatte den Eindruck, er atme nicht einmal. Jack beobachtete, wie Kinderling das Päckchen aufriss, eine Zigarette herausklopfte, sie sich zwischen die Lippen steckte und sie anzündete. Er beobachtete, wie Kinderling nach einem Blick auf die Schlagzeile des Herald zu seinem Wagen, einem Subaru mit Allradantrieb, schlenderte. Beobachtete, wie er einstieg. Beobachtete, wie er wegfuhr. Und inzwischen merkte Dale, dass er selbst den Atem anhielt.

»Und?«, hatte er gefragt, als das Kinderling-Mobil davongefahren war. »Was halten Sie von ihm?«

Und Jack hatte gesagt: »Ich glaube, dass er unser Mann ist.«

Dale hatte es jedoch besser gewusst. Schon damals hatte er’s besser gewusst. Jack sagte das nur, weil Chief Dale Gilbertson aus French Landing, Wisconsin, und er erst dabei waren, sich kennen zu lernen, weil sie sich noch in der Erkundungsphase ihrer Zusammenarbeit befanden. In Wirklichkeit meinte er: Ich weiß es. Und obwohl das eigentlich unmöglich war, hatte Dale ihm das ohne weiteres geglaubt.

Als Dale jetzt in seinem Dienstzimmer sitzt und Jack -seinen widerstrebend, aber beängstigend talentierten Ermittlungshelfer - am Schreibtisch direkt vor sich hat, fragt er ihn: »Was denkst du? Ist er’s gewesen?«

»Komm schon, Dale, wie kann ich .«

»Stiehl mir nicht meine Zeit, Jack. Diese Arschlöcher von der State Police werden jeden Augenblick kommen und Potter ruck, zuck über die Hügel entführen. Du hast damals auf den ersten Blick gewusst, dass Kinderling der Täter war - und da warst du eine halbe Straße von ihm entfernt. Als ich Potter reingebracht habe, bist du ihm nahe genug gewesen, um die Haare in seiner Nase zählen zu können. Also, was denkst du?«

Jack macht es wenigstens kurz; er spannt Dale nicht auf die Folter, sondern versetzt dessen Ansicht gleich den Todesstoß. »Nein«, sagt er. »Nicht Potter. Potter ist nicht der Fisherman.«

Dale hat gewusst, dass Jack das glaubt - das hat er draußen auf dem Parkplatz auf seinem Gesicht gelesen -, aber trotzdem kommt diese Mitteilung als betrüblicher Schlag. Er lehnt sich enttäuscht zurück.

»Schlussfolgerung oder Eingebung?«, fragt Henry.

»Beides«, sagt Jack. »Und hör auf, ein Gesicht zu machen, als hätte ich deine Mutter umgelegt, Dale. Vielleicht hältst du den Schlüssel zu dieser Sache ja doch in der Hand.«

»Railsback?«

Jack macht mit einer Hand eine wippende Bewegung - vielleicht, vielleicht auch nicht, besagt sie. »Railsback hat vermutlich nur gesehen, was der Fisherman ihn sehen lassen wollte ... obwohl der einzelne Pantoffel interessant ist und ich Railsback danach fragen möchte. Aber wenn Mr. Ein-Pantoffel der Fisherman war, weshalb hat er Railsback - und uns - zu Potter geführt?«

»Um uns von seiner Fährte abzulenken«, sagt Dale.

»Oh, sind wir ihm auf der Spur gewesen?«, fragt Jack höflich, und als keiner der beiden auf die in den Raum gestellte Frage antwortet: »Aber nehmen wir mal an, er denkt, wir seien ihm auf der Fährte. Das klingt fast plausibel, vor allem wenn ihm gerade irgendein Patzer eingefallen wäre, den er gemacht hat.«

»Das Ergebnis der Untersuchung des Telefons im 7-Eleven liegt noch nicht vor, falls du daran denkst«, sagt Dale.

Jack scheint das zu ignorieren. Sein Blick ist in mittlere Ferne gerichtet. Auf seinem Gesicht steht wieder dieses kleine Lächeln. Dale sieht zu Henry hinüber und stellt fest, dass dieser Jack zu beobachten scheint. Onkel Henrys Lächeln ist leichter zu deuten: Erleichterung und Entzücken. Sieh ihn dir bloß an, denkt Dale. Er tut, wofür er bestimmt ist. Bei Gott, das kann sogar ein Blinder sehen.

»Aber weshalb Potter?«, wiederholt Jack schließlich seine Frage von vorhin. »Weshalb nicht einer der Thunder Five, der Hindu im 7-Eleven oder Ardis Walker drunten in seinem Geschäft für Anglerbedarf? Weshalb nicht Reverend Hovdahl? Welches Motiv kommt meistens zum Vorschein, wenn wir aufdecken, dass jemand fälschlich beschuldigt worden ist?«

Dale denkt darüber nach. »Rache«, sagt er endlich. »Vergeltung.«

Im Bereitschaftsraum klingelt ein Telefon. »Maul halten, Maul halten!«, brüllt Ernie die anderen an. »Versucht mal, euch wenigstens eine halbe Minute lang professionell zu benehmen!«

Jack nickt unterdessen Dale zu. »Ich glaube, ich sollte jetzt Potter befragen, sogar ziemlich eingehend.«

Dale macht ein besorgtes Gesicht. »Dann halt dich ran, bevor Brown und Black . « Er verstummt, runzelt die Stirn und legt dabei den Kopf schief. Ein dumpfes Grollen hat seine Aufmerksamkeit erregt. Es ist leise, aber es schwillt stetig an. »Onkel Henry, was ist das?«

»Motoren«, sagt Henry prompt. »Viele Motoren. Östlich von uns, aber hierher unterwegs. Vom Stadtrand aus. Und ich weiß nicht, ob du’s gemerkt hast, aber die Party nebenan scheint vorüber zu sein, Dale.«

Wie auf ein Stichwort hin dringt Ernie Therriaults entsetzter Aufschrei durch die Tür. »Oh, Scheiße!«

Dit Jesperson: »Was ist .«

Ernie: »Hol den Chief. Nein, lass nur, ich gehe selbst .« Ein flüchtiges einmaliges Klopfen, dann streckt Ernie den Kopf in die Denkfabrik. Er wirkt gefasst und soldatisch wie immer, aber unter der Sommerbräune ist sein Gesicht merklich blass, und in der Stirnmitte pulsiert eine Ader.

»Chief, ich habe gerade einen Anruf auf der Notrufleitung aus der Sand Bar gekriegt.«

»Dieses Loch«, murmelt Dale.

»Es war der Barmann. Er sagt, dass sechzig bis siebzig Leute hierher unterwegs sind.« Unterdessen ist der Lärm näher kommender Motoren sehr laut geworden. In Henrys Ohren klingt es wie der Start beim Indy-500-Auto-rennen, wenn der Führungswagen sich schleunigst in Sicherheit bringt und die karierte Flagge fällt.

»Erzählen Sie’s mir nicht«, sagt Dale. »Was fehlt mir heute noch zu meinem Glück? Lassen Sie mich nachdenken. Sie kommen, um sich den Verhafteten zu holen.«

»Äh, ja, Sir, das hat der Anrufer jedenfalls gesagt«, bestätigt Ernie. Die anderen Cops hinter ihm sind verstummt. Überhaupt, in diesem Augenblick erscheinen sie Dale gar nicht wie Cops. Er sieht sie nur als bestürzte Gesichter, die plump auf ungefähr ein Dutzend weiße Ballons gezeichnet sind (auch auf zwei schwarze, um Pam Stevens und Bob Holtz nicht zu vergessen). Der Motorenlärm wird lauter. »Und wissen Sie, was der Anrufer noch gesagt hat?«

»Jesus, was?«

»Er hat gesagt, dass der . äh .« Ernie sucht ein anderes Wort für Mob. »Dass die Demonstranten von der Mutter der kleinen Freneau angeführt werden.«

»O ... mein ... Gott«, sagt Dale. Er wirft Jack einen Blick zu, aus dem lähmende Panik und extreme Frustration sprechen - der Blick eines Mannes, der weiß, dass er träumt, aber trotz allen Bemühungen nicht aufwachen zu können scheint. »Holen sie sich Potter, Jack, ist French Landing morgen Früh der Aufmacher in den CNN-Nachrichten.«

Jack öffnet den Mund, um zu antworten, aber das Handy in seiner Tasche sucht sich just diesen Augenblick aus, um sein lästiges Piepsen zu beginnen.

Henry Leyden verschränkt sofort die Arme und schiebt die Hände unter die Achseln. »Gib es bloß nicht mir«, sagt er. »Von Handys kriegt man Krebs. Darüber waren wir uns doch schon einig.«

Dale hat inzwischen den Raum verlassen. Während Jack nach dem Handy angelt (und dabei denkt, dass irgendjemand einen ungeheuer beschissenen Zeitpunkt gewählt hat, um ihn zu fragen, welches sein Lieblingsfernsehsender ist), folgt Henry seinem Neffen hinaus. Er geht rasch und mit leicht ausgestreckten Händen und flatternden Fingern, als tastete er die Luftströmungen nach Hindernissen ab. Jack hört Dale sagen, wenn er eine einzige gezogene Waffe sehe, geselle der oder die Betreffende sich zu Arnie Hrabowski auf die Liste der vom Dienst Suspendierten. Jack denkt im Augenblick nur eines: Niemand bringt Potter von hier fort, bevor Jack Sawyer Gelegenheit gehabt hat, ihm einige pointierte Fragen zu stellen. Auf keinen Fall.

Er klappt das Handy auf und sagt: »Nicht jetzt, wer immer Sie sind. Ich habe .«

»Halli-hallo, Travellin’ Jack«, sagt eine Stimme aus dem Telefon, und für Jack Sawyer schwinden die Jahre erneut.

»Speedy?«

»In Person«, sagt Speedy. Dann spricht er plötzlich nicht mehr gedehnt. Sein Tonfall wird energisch und geschäftsmäßig. »Und unter uns Schutzleuten, Sohn, möchte ich dir raten, Chief Gilbertsons Privattoilette aufzusuchen. Gleich jetzt.«

Draußen fahren genügend Autos vor, um das Gebäude erzittern zu lassen. Jack hat schlimme Vorahnungen, seit er Ernie sagen gehört hat, wer diesen Narrenzug anführt.

»Speedy, ich habe wirklich keine Zeit, ausgerechnet jetzt aufs Klo .«

»Du hast keine Zeit, irgendwo anders hinzugehen«, unterbricht Speedy ihn kalt. Nur ist er jetzt der andere. Der harte Typ namens Parkus. »Was du dort findest, kannst du zweimal verwenden. Aber benützt du’s beim ersten Mal nicht verdammt schnell, kannst du das zweite Mal vergessen. Weil dieser Mann nämlich an einer Laterne baumelt.«

Und im nächsten Augenblick ist Speedy wieder verschwunden.

Als Tansy die ihr willig folgenden Kneipengäste auf den Parkplatz der Sand Bar führt, herrscht nicht jene ausgelassene Jahrmarktsstimmung, die der Grundtenor des Chaos bei Ed’s Eats and Dawgs gewesen war. Obwohl die meisten Leute, die wir beim Ed’s kennen gelernt haben, den Abend in der Bar verbracht und halb bis voll getankt haben, sind sie schweigsam, sogar grabesstill, als sie Tansy ins Freie folgen und ihre Autos und Pickups anwerfen. Aber es herrscht eine wilde Trauerstimmung. Tansy hat etwas von Gorg aufgenommen - ein gewaltig wirksames Gift - und an alle anderen weitergegeben.

Im Gürtel ihrer Jeans steckt eine einzelne Krähenfeder.

Doodles Sanger hakt sie unter und führt sie freundschaftlich zu Teddy Runklemans Pickup der Marke International Harvester, Als Tansy auf die Ladefläche zusteuert (auf der bereits zwei Männer und eine stämmige Frau, die den weißen Viskosekittel einer Serviererin trägt, sitzen), schiebt Doodles sie in Richtung Fahrerhaus. »Nein, Schätzchen«, sagt Doodles, »du sitzt dort vorn. Mach’s dir bequem.«

Doodles will unbedingt selbst auf diesen letzten Platz auf der Ladefläche. Sie hat etwas entdeckt und weiß genau, was damit zu tun ist. Doodles ist flink mit den Händen, das war sie schon immer.

So weit vom Fluss entfernt, ist der Nebel nicht sehr dicht, aber nachdem fast zwei Dutzend Autos und Trucks mit aufheulenden Motoren den unbefestigten Parkplatz der Bar verlassen haben, um Teddy Runkle-mans verbeultem Pickup, bei dem nur ein Schlusslicht brennt, zu folgen, ist die Sand Bar kaum noch zu sehen. Drinnen sind nur eine Hand voll Leute zurückgeblieben, die irgendwie gegen Tansys unheimlich eindringliche Stimme immun waren. Einer davon ist Stinky Chee-se, der Barmann. Stinky hat hier reichlich flüssige Mittel zu beaufsichtigen und kann unmöglich weg. Als er die Notrufnummer wählt und mit Ernie Therriault spricht, tut er das hauptsächlich aus Gereiztheit. Kann er nicht mitkommen und sich mit den anderen amüsieren, wird er diesen Idioten bei Gott wenigstens den Spaß verderben.

Zwanzig Fahrzeuge verlassen den Parkplatz der Sand Bar. Als die Kolonne an Ed’s Eats vorbeikommt (dessen Zufahrt mittlerweile durch gelbes Absperrband abgeriegelt ist) und das Schild Zutritt verböten neben der überwachsenen Fahrspur (nicht abgesperrt) zu jenem eigenartigen, vergessenen Haus passiert, hat sie sich auf dreißig Fahrzeuge vermehrt. Als der Mob Goltz’s erreicht, rollen fünfzig Autos und Pickups über die beiden Fahrspuren der Route 35, und als die Kolonne am 7-Eleven vorbeikommt, besteht sie aus mindestens achtzig Fahrzeugen mit etwa zweihundertfünfzig Personen. Dieses unnatürlich rasche Anschwellen dürfen wir auf die allgegenwärtigen Handys zurückführen.

Teddy Runkleman, eigenartig schweigsam (tatsächlich hat er Angst vor der bleichen Frau, die neben ihm sitzt -ihrem verzerrten Mund und ihren weit aufgerissenen, kaum blinzelnden Augen), bringt seinen alten Pickup vor der Einfahrt zum FLPD-Parkplatz zum Stehen. Die Sumner Street ist hier abschüssig, weshalb er die Hand-bremse anzieht. Die übrigen Fahrzeuge halten hinter ihm, füllen die gesamte Straßenbreite aus, rumpeln auf verrosteten Stoßdämpfern und dröhnen durch gerissene Auspuffrohre. Schlecht eingestellte Scheinwerfer durchbohren den Nebel wie die Lichtfinger von Flutern bei einer Filmpremiere. Den feuchte Fischgestank der Nacht überlagern jetzt Gerüche von verbranntem Benzin, kochendem Öl und überhitzten Kupplungsbelägen. Nach kurzer Pause werden Türen geöffnet, dann werden sie wieder zugeworfen. Aber es gibt keine Gespräche. Kein Geschrei. Kein unziemliches Johlen. Nicht heute Abend. Die Neuankömmlinge stehen in Grüppchen bei den Fahrzeugen, mit denen sie hergekommen sind, beobachten, wie die Leute auf der Ladefläche von Teddys Pickup seitlich über die Bordwand springen oder über die offene Heckklappe herabrutschen, beobachten, wie Teddy um die Motorhaube herum zur Beifahrertür hinübergeht, in diesem Augenblick aufmerksam wie ein junger Mann, der mit seinem Mädchen zum Schulabschlussball kommt, beobachten, wie er der schlanken jungen Frau, die ihre Tochter verloren hat, beim Aussteigen hilft. Der Nebel scheint ihr irgendwie deutlichere Umrisse und eine bizarre elektrische Aura im Blau des Widerscheins der Natriumdampflampen auf Beezers Oberarmen zu verleihen. Bei ihrem Anblick stößt die Menge einen kollektiven (und absurd liebevollen) Seufzer aus. Sie ist diejenige, die diese Menschen miteinander verbindet. Tansy Freneau war ihr ganzes Leben lang die Vergessene - sogar Cubby Freneau hat sie irgendwann vergessen, ist nach Green Bay abgehauen und hat sie hier zurückgelassen, damit sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durchbringt und Arbeitslosenunterstützung kassiert. Nur Irma hat sich an sie erinnert, nur Irma hat sich etwas aus ihr gemacht, und jetzt ist Irma tot. Irma ist nicht hier, um zu sehen (außer sie blickt vom Himmel herab, denkt Tansy mit einem entfernten und stetig weiter zurückweichenden Teil ihres Verstandes), wie ihre Mutter plötzlich angehimmelt wird. Tansy Freneau ist heute Abend der Liebling von French Landings Auge und Herz geworden. Nicht seines Verstandes, weil ihm sein Verstand vorübergehend abhanden gekommen ist (vielleicht ist er auf der Suche nach seinem Gewissen), aber gewiss seines Auges und Herzens, ja. Und jetzt tritt Doodles Sanger zierlich wie das Mädchen, das sie einst war, auf diese Frau der Stunde zu. Was Doodles auf der Ladefläche von Freddys Truck hat liegen sehen, war ein Stück altes Seil, schmutzig und ölig, aber stark genug, um für den gedachten Zweck geeignet zu sein. Unter ihren kleinen Fäusten hängt die Schlinge, die diese geschickten Hände auf der Fahrt in die Stadt geknüpft haben. Sie übergibt sie Tansy, die sie im verschwommenen Licht hochhält.

Die Menge seufzt wieder.

Mit der Schlinge in der erhobenen Hand, an einen weiblichen Diogenes erinnernd, der mehr auf der Suche nach einem ehrlichen Mann, als nach einem Kannibalen ist, der gelyncht werden muss, schreitet Tansy - selbst in Jeans und blutbeflecktem Sweatshirt eine zierliche Erscheinung - auf den Parkplatz voraus. Teddy, Doodles und Freddy Saknessum folgen ihr und schließlich alle anderen. Sie wälzen sich wie die hereinkommende Flut auf die Polizeistation zu.

Die Thunder Five stehen noch immer mit verschränkten Armen mit dem Rücken zur Mauer des Klinkergebäudes. »Scheiße, was machen wir jetzt?«, sagt Mouse.

»Ich weiß nicht, was ihr vorhabt«, sagt Beezer, »aber ich bleibe hier stehen, bis sie mich wegschleppen, was sie vermutlich auch tun werden.« Er sieht zu der Frau mit der hoch erhobenen Schlinge hinüber. Er ist ein großer Kerl, und er hat schon viele gefährliche Situationen überstanden, aber diese Person ängstigt ihn mit ihren ausdruckslosen, weit aufgerissenen Augen, die an die Augen einer Statue erinnern. Und sie hat etwas im Gürtel stecken. Etwas Schwarzes. Ist das ein Messer? Irgendeine Art Dolch? »Und ich werde nicht kämpfen, weil das zwecklos wäre.«

»Sie sperren hoffentlich die Türen ab?«, sagt Doc nervös. »Ich meine, die Cops werden doch die Eingänge verrammeln.«

»Ich glaube schon«, sagt Beezer, ohne Tansy Freneau aus den Augen zu lassen. »Aber wenn diese Leute Potter wirklich haben wollen, ist das für sie kein Hindernis. Verdammt, seht sie euch doch an! Das sind ein paar hundert.«

Tansy bleibt stehen, hält weiter die Seilschlinge hoch. »Bringt ihn raus«, sagt sie. Ihre Stimme klingt unnatürlich laut, so als hätte ein geschickter Arzt ihr einen Verstärker in die Kehle eingepflanzt. »Bringt ihn raus. Gebt uns den Killer!«

Doodles stimmt ein. »Bringt ihn raus!«

Und Teddy. »Gebt uns den Killer!«

Und Freddy. »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!«, Und dann die anderen. Ihr Chor könnte fast der Soundtrack von George Rathbuns Fragen über Fragen sein, aber statt »Block that kick!« oder »Wisconsin vor!« kreischen sie: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!«

»Sie werden ihn sich holen«, murmelt Beezer. Sein Blick ist wild und ängstlich zugleich, als er sich an seine Truppe wendet. Auf seiner breiten Stirn steht der Schweiß in großen, vollkommen runden Tropfen. »Wenn sie die Leute genug aufgeputscht hat, kommt sie näher, und der Rest folgt ihr dicht auf den Fersen. Lauft nicht weg, nehmt nicht mal die Arme runter. Und lasst es zu, wenn sie nach euch grapschen. Wenn ihr den morgigen Tag erleben wollt, lasst sie gewähren.«

Die Menge steht knietief in Nebelschwaden wie in verschütteter Magermilch und skandiert: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!«

Wendell Green krakeelt eifrig mit, aber das hindert ihn nicht daran, weiter Fotos zu machen.

Scheiße auch, das ist die Story seines Lebens.

Von der Tür hinter sich hört Beezer ein Klicken. Yeah, sie haben sie abgesperrt, denkt er. Danke, ihr Nutten.

Aber das war nur der Riegel, nicht das Schloss. Die Tür wird geöffnet. Jack Sawyer tritt ins Freie. Er geht an Beezer vorbei, ohne zu ihm hinüberzusehen oder zu reagieren, als Beez murmelt: »He, Mann, der würd ich lieber nicht zu nahe kommen.«

Jack bewegt sich langsam, aber nicht zögerlich in das Niemandsland zwischen dem Gebäude und dem Mob, an dessen Spitze die Frau steht: Lady Liberty mit einer Henkersschlinge statt einer Fackel in der erhobenen Hand. In seinem schlichten grauen Hemd ohne Kragen und seiner dunklen Hose sieht Jack wie ein Kavalier aus einem alten Märchen aus, der unterwegs ist, um einen Heiratsantrag zu machen. Der Blumenstrauß, den er in einer Hand trägt, verstärkt den Eindruck noch. Diese winzigen weißen Blüten sind das gewesen, was Speedy im Waschbecken von Dales Privattoilette für ihn zurückgelassen hat, ein Strauß aus unglaublich duftenden weißen Blüten.

Es sind Maiglöckchen, und sie stammen aus den Territorien. Speedy hat ihm keine Gebrauchsanweisung für sie dagelassen, aber Jack braucht keine.

Die Menge verstummt. Nur Tansy, die in der von Gorg für sie erschaffenen Welt gefangen ist, skandiert weiter: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer!« Sie hört erst auf, als Jack unmittelbar vor ihr steht, und er bildet sich nicht ein, dass sein gut geschnittenes Gesicht oder seine elegante Erscheinung ihre kreischende Wiederholung beendet haben. Das war der Duft der Blumen, deren süßer, vibrierender Duft das genaue Gegenteil des schrecklichen Verwesungsgeruchs ist, der über dem Ed’s Eats gehangen hat.

Ihr Blick wird klar ... zumindest ansatzweise.

»Bring ihn raus«, sagt sie zu Jack. Es klingt fast wie eine Frage.

»Nein«, sagt er, und das Wort ist voll herzzerreißender Zärtlichkeit. »Nein, meine Liebe.«

Doodles Sanger, die hinter Tansy steht, denkt plötzlich das erste Mal seit etwa zwei Jahrzehnten an ihren Vater und beginnt zu weinen.

»Bring ihn raus«, bittet Tansy flehentlich. Auch ihre Augen füllen sich jetzt mit Tränen. »Bring das Monster raus, das mein hübsches Baby umgebracht hat.«

»Hätte ich ihn, täte ich’s vielleicht«, sagt Jack. »Vielleicht täte ich’s wirklich.« Obwohl er weiß, dass er’s nie täte. »Aber der Mann, den wir haben, ist nicht der Kerl, den ihr wollt. Er ist nicht der Richtige.«

»Aber Gorg hat gesagt .«

Das ist ein Wort, das er kennt. Eines der Wörter, die Judy Marshall aufzuessen versucht hat. Jack, der jetzt nicht in den Territorien, sondern ganz in dieser Welt ist, streckt eine Hand aus und zieht ihr die Feder aus dem Gürtel. »Hast du die von Gorg?«

»Ja ...«

Jack lässt sie fallen, dann tritt er darauf. Einen Augenblick lang glaubt er - weiß er -, dass sie unter der Schuhsohle wütend summt wie eine halb zertretene Wespe. Dann wird sie still. »Gorg lügt, Tansy. Was immer Gorg sein mag, er lügt. Der Mann dort drinnen ist nicht der Richtige.«

Tansy stößt einen klagenden Schrei aus und lässt das Seil fallen. Hinter ihr geht wieder ein Seufzen durch die Menge.

Jack legt einen Arm um sie und denkt wieder an George Potters peinlich berührende Würde; er denkt an all die Verirrten, die sich weiterkämpfen, ohne dass eine einzige klare Morgendämmerung aus den Territorien ihren Weg erhellt. Er drückt sie an sich und riecht Schweiß und Kummer und Wahnsinn und Kaffeebrandy.

Er flüstert ihr ins Ohr: »Ich fange ihn für dich, Tansy.«

Sie erstarrt. »Du .«

»Ja.«

»Du . versprichst es mir?«

»Ja.«

»Er ist wirklich nicht der Richtige?«

»Nein, meine Liebe.«

»Schwörst du’s?«

Jack gibt ihr die Maiglöckchen und sagt: »Beim Andenken meiner Mutter.«

Sie steckt die Nase in den Strauß und atmet den Blütenduft tief ein. Als sie wieder den Kopf hebt, sieht Jack, dass die Gefährlichkeit sie verlassen hat, nicht jedoch der Wahnsinn. Sie gehört jetzt zu den armen Verirrten. Irgendetwas hat sich ihrer bemächtigt. Vielleicht verlässt es sie ja wieder, sobald der Fisherman gefasst ist. Das würde Jack gern glauben.

»Irgendjemand sollte diese Frau nach Hause bringen«, sagt Jack. Obwohl er in mildem Gesprächston spricht, versteht die Menge ihn gut. »Sie ist sehr müde und voller Kummer.«

»Das übernehme ich«, sagt Doodles. Ihre Wangen glänzen tränennass. »Ich fahre sie mit Teddys Pickup heim, und wenn er mir die Schlüssel nicht gibt, schlage ich ihn k.o. Ich .«

Und in diesem Augenblick beginnt der Sprechgesang erneut, diesmal aus den hinteren Reihen der Menge: »Bringt ihn raus! Gebt uns den Killer! Gebt uns den Fisherman! Bringt den Fisherman raus!« Anfangs ist es nur ein Solopart, aber dann fallen nacheinander weitere Stimmen ein, bis ein ganzer Sprechchor entsteht.

Noch immer an die Mauer der Polizeistation gelehnt, sagt Beezer St. Pierre: »Ach, Scheiße. Jetzt geht’s wieder los.«

Mit der Begründung, dass der Anblick einer Uniform die Menge provozieren könnte, hat Jack Dale verboten, ihn auf den Parkplatz zu begleiten. Er hat den kleinen Blumenstrauß in seiner Hand nicht erwähnt, und Dale hat kaum darauf geachtet; der Chief hat zu viel Angst, er könnte Potter durch den ersten Lynchmord verlieren, der in Wisconsin seit zweihundert Jahren stattfindet. Er ist jedoch mit Jack nach unten gegangen und hat sich jetzt als Dienstältester den Platz an dem in die Tür eingelassenen Spion gesichert.

Die restlichen FLPD-Cops sind weiterhin oben und starren aus den Fenstern des Bereitschaftsraums. Henry hat Bobby Dulac angewiesen, ihm die Ereignisse Spielzug für Spielzug zu schildern. Trotz seiner gegenwärtigen Sorge um Jack (Henry befürchtet, dass der Mob ihn mit mindestens 40-prozentiger Wahrscheinlichkeit niedertrampeln oder auseinander reißen wird), findet Henry die Beobachtung amüsant und schmeichelhaft, dass Bobby eigenartigerweise George Rathbun imitiert, ohne es überhaupt zu merken.

»Okay, Hollywood ist jetzt draußen . Er nähert sich der Frau . Keine Anzeichen von Angst . Die Menge ist verstummt . Jack und die Frau scheinen miteinander zu reden . und heiliger Jesus, er überreicht ihr einen Blumenstrauß! Was für eine Masche!«

»Masche« ist einer von George Rathbuns bevorzugten Sportausdrücken, wenn er beispielsweise sagt: Die Blitzangriffsmasche der Brew Crew hat gestern Abend im Miller Park wieder mal versagt.

»Sie wendet sich ab!«, ruft Bobby jubelnd. Er packt Henry an der Schulter und rüttelt ihn durch. »Verdammt, er hat’s geschafft, glaub ich. Jack hat sie abgewimmelt.«

»Sogar ein Blinder konnte sehen, dass er das getan hat«, sagt Henry.

»Und gerade noch rechtzeitig«, sagt Bobby. »Channel Five ist schon da, und ich sehe auch einen weiteren Übertragungswagen mit einem von diesen großen orangeroten Aufbauten ... Fox-Milwaukee, glaube ich ... und .«

»Bringt ihn raus!«, beginnt draußen eine Stimme zu plärren. Sie klingt betrogen und empört. »Gebt uns den Killer! Gebt uns den Fisherman!«

»O nein!«, sagt Bobby, der sogar jetzt noch an George Rathbun erinnert, wenn dieser seinen Hörern am Morgen danach schildert, wie eine weitere Aufhol jagd der Badgers angefangen hat, sich totzulaufen. »Nicht jetzt, wo das Fernsehen da ist! Das ist .«

»Bringt den Fisherman raus!«

Henry weiß bereits, wer das ist. Selbst durch zwei Scheiben Drahtglas ist dieser hohe, japsende Schrei unmöglich zu verkennen.

Wendell Green beherrscht sein Metier - man täte ihm unrecht, wollte man ihm das nicht zugestehen. Sein Job ist es, über Nachrichten zu berichten, Nachrichten zu analysieren, manchmal Nachrichten im Bild festzuhalten. Sein Job ist es nicht, Nachrichten zu machen. Aber heute Abend kann er einfach nicht anders. Es ist das zweite Mal innerhalb von zwölf Stunden, dass eine Story, mit der er Karriere machen könnte, in Reichweite seiner gierig grapschenden Hände gelangt, nur um ihm im letzten Augenblick wieder entrissen zu werden.

»Bringt ihn raus!«, plärrt Wendell. Er ist von der rohen Kraft seiner Stimme erst überrascht, dann begeistert. »Gebt uns den Killer! Gebt uns den Fisherman!«

Der Klang weiterer Stimmen, die in seinen Ruf einstimmen, bewirkt ein unglaubliches Hochgefühl. Da kriegt man echt einen Ständer, wie sein früherer Zimmergenosse im College zu sagen pflegte. Wendell tritt einen Schritt vor, seine Brust schwillt, seine Backen röten sich, sein Selbstbewusstsein wächst. Er nimmt vage wahr, dass der Ü-Wagen von Channel Five langsam durch die Menge auf ihn zurollt. Bald werden die Scheinwerfer mit fünf oder zehn Kilowatt durch den Nebel leuchten; bald werden Fernsehkameras ihn in grellem Scheinwerferlicht filmen. Und warum auch nicht? Wenn die Frau in dem blutbespritzten Sweatshirt letztlich zu feige war, um für ihr eigenes Kind einzutreten, wird Wendell es für sie tun! Wendell Green, ein leuchtendes Beispiel für Bürgersinn! Wendell Green, Führer des Volkes!

Er fängt an, seine Kamera mit rhythmischen Bewegungen in die Luft zu stoßen. Wie erregend! Als wäre er wieder auf dem College! In einem Skymyrd-Konzert! Bekifft! Als wäre er wieder ...

Wendell Green sieht einen riesigen Lichtblitz vor sich. Dann gehen die Lichter aus. Alle.

»Arnie hat ihm seine Stablampe auf den Schädel geknallt!«, kreischt Bobby Dulac.

Er packt Dales blinden Onkel an der Schulter und wirbelt ihn begeistert im Kreis herum. Ein betäubender Schwall Rasierwasser hüllt Henry ein. Schon eine Sekunde bevor er’s tut, weiß Henry, dass Bobby ihn auf französische Art auf beide Wangen küssen wird. Und als Bobby mit seiner Berichterstattung fortfährt, klingt er so entzückt wie George Rathbun bei den seltenen Gelegenheiten, wenn die eigentlich chancenlose Heimmannschaft über sich hinauswächst und sich das Gold holt.

»Ist denn das die Möglichkeit, der Verrückte Ungar zieht ihm seine treue Stablampe über den Schädel und ... Green geht zu Boden! Der gottverdammte Ungar hat jedermanns liebstes Reporter-Arschloch auf die Matte geschickt! Klasse gemacht, Hrabowski!«

Überall um sie herum jubeln Cops aus voller Kehle. Debbi Anderson stimmt »We Are the Champions« an, und andere Stimmen fallen rasch ein.

Welch seltsame Tage in French Landing, denkt Henry. Er steht mit den Händen in den Hosentaschen da, lächelt und hört sich das Durcheinander an. Sein Lächeln ist echt; er ist glücklich. Aber in seinem Innersten ist er auch unruhig. Er hat Angst um Jack.

Eigentlich Angst um sie alle.

»Gut gemacht, Mann«, sagt Beezer zu Jack. »Also, das war echt mutig.«

Jack nickt. »Danke.«

»Ich will Sie nicht noch mal fragen, ob das der Kerl war. Wenn Sie sagen, dass er’s nicht ist, dann ist er’s nicht. Aber wenn wir Ihnen irgendwie helfen können, den Richtigen zu finden, brauchen Sie uns bloß zu rufen.«

Die anderen Mitglieder der Thunder Five knurren Zustimmung. Kaiser Bill versetzt Jack einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, von dem vermutlich ein blauer Fleck zurückbleiben wird.

»Danke«, sagt Jack noch einmal.

Bevor er an die Tür klopfen kann, wird sie aufgerissen. Dale greift ihn sich und umarmt ihn, als wollte er ihn zerdrücken. Als ihre Oberkörper sich berühren, kann Jack spüren, wie Dales Herz hämmert.

»Du hast mich gerettet«, sagt Dale ihm ins Ohr. »Wenn ich irgendwas für dich tun kann .«

»Das kannst du allerdings«, sagt Jack und zieht ihn mit sich hinein. »Hinter den Ü-Wagen habe ich einen Streifenwagen gesehen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, er war blau.«

»O-oh«, sagt Dale.

»O-oh ist richtig. Ich brauche mindestens zwanzig Minuten, um mit Potter zu reden. Vielleicht kommt dabei nichts raus, andererseits könnte es uns aber auch um einiges weiterbringen. Kannst du mir Brown und Black also zwanzig Minuten lang vom Hals halten?«

Dale bedenkt seinen Freund mit einem grimmigen kleinen Lächeln. »Ich sorge dafür, dass du eine halbe Stunde hast. Mindestens.«

»Wunderbar. Und das Tonband mit dem Anruf des Fishermans, hast du das noch?«

»Wir haben es mit dem übrigen Beweismaterial abgegeben, nachdem Brown und Black den Fall übernommen haben. Ein State Trooper hat es heute Nachmittag abgeholt.«

»Dale, nein!«

»Nur keine Panik. Ich habe natürlich eine Kopie. Die Kassette liegt in meinem Schreibtisch.«

Jack greift sich ans Herz. »Mach mir nie wieder mit so etwas Angst.«

»Sorry«, sagt Dale und denkt dabei: Dort draußen hast du nicht den Eindruck gemacht, als könnte dir irgendwas Angst einjagen.

Auf halber Treppe fällt Jack ein, dass Speedy gesagt hat, er könne das für ihn auf der Toilette Zurückgelassene zweimal verwenden ... aber er hat die Maiglöckchen Tansy Freneau gegeben. Scheiße. Dann hält er seine Hände vor die Nase, atmet tief ein und lächelt.

Vielleicht hat er sie doch noch.

17

George Potter sitzt auf der Koje in der dritten Arrestzelle am Ende des kurzen Flurs, auf dem es nach Pisse und Desinfektionsmittel riecht. Er blickt durch das vergitterte Fenster auf den Parkplatz hinaus, auf dem sich vor kurzem aufregende Szenen abgespielt haben und auf dem noch immer ziemliches Gedränge herrscht. Er sieht sich nicht um, als Jacks Schritte näher kommen.

Auf dem Flur kommt Jack an zwei Schildern vorbei. Ein Anruf heisst ein Anruf, steht auf dem ersten. AA-Treffen montags 19 UHR; NA-Treffen donnerstags 20 Uhr, steht auf dem zweiten. Hier gibt es auch einen verstaubten Trinkwasserspender und einen uralten Feuerlöscher, den irgendein Witzbold mit Lachgas beschriftet hat.

Jack erreicht die vergitterte Zelle und klopft mit seinem Hausschlüssel an einen Gitterstab. Potter wendet sich schließlich vom Fenster ab. Jack, der sich noch in jenem Zustand übersteigerter Wahrnehmungsfähigkeit befindet, den er jetzt als eine Art Nachwirkung der Territorien erkennt, sagt ein einziger knapper Blick die ganze Wahrheit über diesen Mann. Sie spricht aus den tief in ihren Höhlen liegenden Augen und den dunklen Schatten unter ihnen; aus den blassen, gelblichen Wangen und den leicht eingesunkenen Schläfen mit ihrem zarten Geflecht aus blauen Äderchen; aus der allzu scharf vorspringenden Nase.

»Hallo, Mr. Potter«, sagt er. »Ich möchte mit Ihnen reden, aber wir müssen uns beeilen.«

»Die wollten mich haben«, bemerkt Potter.

»Ja.«

»Vielleicht hätten Sie mich ihnen überlassen sollen. In drei, vier Monaten bin ich sowieso aus dem Rennen.«

Jack zieht die Magnetkarte, die Dale ihm gegeben hat, aus der Hemdtasche und benützt sie, um die Zellentür zu entriegeln. Sie scheppert quietschend, während sie das kurze Stück zurückrollt. Als Jack die Karte herauszieht, verstummt das Summen des Elektroantriebs. Unten im Bereitschaftsraum signalisiert jetzt eine gelbe Leuchte mit der Aufschrift AZ 3, dass die Zellentür offen ist.

Jack kommt herein und setzt sich auf das Fußende der Koje. Er hat den Schlüsselring eingesteckt, weil er nicht will, dass sein Metallgeruch den Maiglöckchenduft verdirbt. »Wo haben Sie’s denn?«

Ohne zu fragen, woher Jack das weiß, hebt Potter eine große knotige Hand - eine Zimmermannshand - und berührt seinen Bauch. Dann lässt er sie wieder sinken. »Im Unterleib hat’s angefangen. Das war vor fünf Jahren. Ich hab brav die Pillen geschluckt und mir die Spritzen geben lassen. Das war in La Riviere. Dieses Zeug . Mann, ich hab überall hingekotzt. An Straßenecken und überall sonst. Einmal hab ich im Bett gekotzt und es nicht mal gemerkt. Bin am nächsten Morgen mit eingetrockneter Kotze auf der Brust aufgewacht. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, Sohn?«

»Meine Mutter hatte Krebs«, sagt Jack ruhig. »Als ich zwölf war. Dann ist er verschwunden.«

»Hat sie danach noch fünfJahre gelebt?«

»Länger.«

»Glück gehabt«, sagt Potter. »Aber zuletzt hat er sie doch erwischt, stimmt’s?«

Jack nickt.

Potter nickt ebenfalls. Sie sind noch keine Freunde, aber auf dem Weg dorthin. Das ist Jacks Methode, so hat er immer gearbeitet.

»Dieser Scheiß nistet sich ein und wartet«, erklärt Potter ihm. »Meine Theorie ist, dass er nie ganz verschwindet, nicht richtig. Jedenfalls bin ich mit den Spritzen durch. Mit den Pillen auch. Außer mit denen, die gegen Schmerzen helfen. Ich bin zum Finale hergekommen.«

»Weshalb?« Das ist zwar nichts, was Jack unbedingt wissen muss, und die Zeit drängt, aber das ist nun einmal seine Methode, und er denkt nicht daran, ein bewährtes Verfahren abzukürzen, nur weil unten diese zwei Schwachköpfe von der State Police darauf warten, diesen Mann mitnehmen zu können. Dale wird sie hinhalten müssen, das ist alles.

»Scheint eine ganz nette kleine Stadt zu sein. Und ich mag den Fluss. Ich gehe jeden Tag zu ihm runter. Es gefällt mir, wenn die Sonne auf dem Wasser glitzert. Manchmal denke ich an all die Aufträge, die ich ausgeführt habe - Wisconsin, Minnesota, Illinois -, und manchmal denke ich an fast nichts. Manchmal sitze ich einfach nur auf der Bank und bin innerlich ganz ruhig.«

»Was waren Sie von Beruf, Mr. Potter?«

»Hab als Zimmerer angefangen, genau wie Jesus. Hab’s zum Baumeister gebracht, aber das ist mir zu Kopf gestiegen. Passiert das einem Baumeister, fängt er gewöhnlich an, sich Bauunternehmer zu nennen. Ich hab drei, vier Millionen Dollar verdient, hatte einen Cadillac, hatte eine junge Frau, die mich an Freitagabenden bedient hat. Nette junge Frau. Keine Probleme. Dann hab ich alles verloren. Das Einzige, was mir echt Leid getan hat, war der Cadillac. Der war bequemer als die Frau. Dann hab ich meine schlechte Nachricht gekriegt und bin hierher gekommen.«

Er sieht Jack an.

»Wissen Sie, was ich manchmal denke? Dass French Landing einer besseren Welt nahe ist, in der alle Dinge besser aussehen und riechen. Vielleicht sind dort auch die Menschen besser. Ich komme nicht viel unter Leute -ich bin kein geselliger Typ -, aber das heißt nicht, dass ich nichts fühle. Ich habe diese Idee im Kopf, dass es nicht zu spät ist, anständig zu sein. Glauben Sie, dass ich verrückt bin?«

»Nein«, sagt Jack. »Ziemlich genau aus demselben Grund bin ich auch hergekommen. Ich will Ihnen mal erzählen, wie’s für mich ist. Man weiß, dass die Sonne trotzdem durchscheint, wenn man ein Fenster mit einer dünnen Decke zuhängt.«

George Potters Augen leuchten plötzlich auf. Jack muss diesen Gedankengang nicht mal zu Ende bringen.

Er hat die richtige Wellenlänge gefunden - das tut er fast immer, darin liegt eben sein Talent -, und nun wird es Zeit, zur Sache zu kommen.

»Sie kennen sich aus«, sagt Potter einfach.

Jack nickt. »Sie wissen, warum Sie hier sind?«

»Die Leute denken, ich hätte das Kind dieser Frau umgebracht.« Potter nickt zum Fenster hinüber. »Von der, die dort draußen gestanden und die Schlinge hochgehalten hat. Ich hab’s aber nicht getan. Das weiß ich.«

»Okay, das ist ein Anfang. Hören Sie mir jetzt gut zu.«

Jack schildert sehr rasch die Kette der Ereignisse, die Potter in diese Zelle gebracht haben. Während Jack spricht, runzelt Potter die Stirn und hält die großen Hände krampfhaft gefaltet.

»Railsback!«, sagt er schließlich. »Hätte ich mir denken können! Ein verdammt neugieriger Alter, stellt einem dauernd Fragen, erkundigt sich immer, ob man mit ihm Karten spielen will oder Lust auf Billard hat oder vielleicht, ich weiß nicht, Mensch ärgere dich nicht mit ihm spielen will, verdammt noch mal! Bloß damit er einen ausfragen kann. Dieser gottverdammt neugierige alte Knacker .«

In dieser Art geht’s weiter, und Jack lässt ihn eine Zeit lang reden. Abgesehen davon, dass er Krebs hat, ist dieser alte Knabe ziemlich erbarmungslos aus seinem Alltagstrott gerissen worden und muss nun etwas Dampf ablassen. Unterbricht Jack ihn, um Zeit zu sparen, verliert er stattdessen welche. Es ist schwer, geduldig zu sein (womit Dale die beiden Arschlöcher hinhält, will sich Jack nicht einmal eine Vorstellung machen), aber Ge-duld ist unerlässlich. Als Potter dann aber beginnt, weitere Leute ins Visier zu nehmen (Morty Fine bekommt ebenso sein Fett ab wie Andy Railsbacks Kumpel Irving Throneberry), unterbricht Jack ihn.

»Der springende Punkt ist, Mr. Potter, dass Railsback jemandem zu Ihrem Zimmer gefolgt ist. Nein, das ist falsch ausgedrückt. Railsback ist zu Ihrem Zimmer geführt worden.«

Potter gibt keine Antwort; er sitzt bloß da und betrachtet seine Hände. Aber er nickt. Er ist alt, er ist krank und wird immer kränker, aber er ist keineswegs dumm.

»Der Mann, der Railsback dorthin geführt hat, war fast sicher auch der Mann, der die Polaroidfotos der ermordeten Kinder in Ihrem Kleiderschrank zurückgelassen hat.«

»Yeah, klingt logisch. Und wenn er Fotos der armen Kinder hatte, war er vermutlich auch der Kerl, der sie umgebracht hat.«

»Richtig. Deshalb muss ich mich fragen .«

Potter winkt ungeduldig ab. »Kann mir schon denken, was Sie sich fragen müssen. Wen gibt’s hierzulande, der Chicago Potsie an einer Laterne baumeln sehen möchte?«

»Genau.«

»Will Ihnen keinen Stock in die Speichen stecken, Sonny, aber mir fällt niemand ein.«

»Wirklich nicht?« Jack zieht die Augenbrauen hoch. »Sie sind hier in der Gegend nie geschäftlich tätig gewesen, haben nie ein Haus gebaut oder einen Golfplatz angelegt?«

Potter hebt den Kopf und wirft Jack einen ungeduldigen Blick zu. »Klar hab ich das getan. Woher wüsste ich sonst, wie hübsch es hier ist? Vor allem im Sommer? Sie kennen doch bestimmt die hiesige Wohnanlage Liberty-ville. Die mit all den mittelalterlichen Straßennamen wie Camelot und Avalon.«

Jack nickt.

»Die Hälfte davon hab ich gebaut. Das war in den Siebzigerjahren. Damals hat’s einen Kerl gegeben ... einen Falott, den ich aus Chicago gekannt habe ... beziehungsweise zu kennen geglaubt habe . War der nicht auch aus der Branche?« Diese Frage scheint Potter sich selbst zu stellen. Jedenfalls schüttelt er kurz danach den Kopf. »Kann mich nicht erinnern. Ist sowieso nicht wichtig. Wie denn auch? Der Kerl war damals schon alt, muss längst tot sein. Es ist lange her.«

Aber Jack, der Leute ausfragt, wie Jerry Lee Lewis einst Klavier spielte, hält das sehr wohl für wichtig. In dem gewöhnlich nur schwach erhellten Teil seines Verstands, in dem seine Intuition ihren Sitz hat, beginnen Lichter aufzuflammen. Noch nicht viele, aber doch mehr als nur ein paar.

»Ein Falott«, sagt er, als hätte er dieses Wort nicht richtig verstanden. »Was ist das?«

Potter wirft ihm einen kurzen, irritierten Blick zu. »Ein Bürger, der ... nun, nicht genau ein Bürger. Jemand, der Leute mit guten Beziehungen kennt. Oder den Leute mit guten Beziehungen vielleicht manchmal anrufen. Vielleicht tun sie sich ab und zu gegenseitig einen Gefallen. Ein Falott eben ... nicht gerade ein Ehrenmann.«

Nein, denkt Jack, aber als Falott kann man’s zu einem Cadillac bringen, der wundervoll dahingleitet.

»Waren Sie jemals so einer, George?« Es wird Zeit, etwas freundschaftlicher zu werden. Das wäre keine Frage gewesen, die Jack an Mr. Potter hätte stellen können.

»Schon möglich«, sagt Potter nach einer widerstrebenden, nachdenklichen Pause. »Vielleicht war ich einer. Damals in Chicago. Wer die großen Verträge an Land ziehen wollte, musste immer ein paar Leute schmieren. Ich weiß nicht, wie’s heute dort zugeht, aber damals war man als anständiger Bauunternehmer ein armer Unternehmer. Sie wissen, was ich meine?«

Jack nickt.

»Der größte Deal, der mir je geglückt ist, war eine Wohnsiedlung auf der South Side in Chicago. Genau wie in dem Song über den bösen, bösen Leroy Brown.« Potter kichert heiser. Einen Augenblick lang denkt er nicht an Krebs, falsche Anschuldigungen oder einen nur knapp verhinderten Lynchmord an ihm. Er lebt in der Vergangenheit, die zwar vielleicht etwas anrüchig, aber besser als die Gegenwart ist - die an der Wand festgekettete Koje, das WC aus rostfreiem Stahl, der Krebs in seinen Eingeweiden.

»Mann, das war riesig, ohne Scheiß! Reichlich Bundeszuschüsse, aber die Entscheidung über die Vergabe lag bei den Lokalpolitikern. Und ich und dieser andere Kerl, dieser Falott, wir haben uns ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert, um .«

Er spricht nicht weiter, sondern starrt Jack mit großen Augen an.

»Scheiße, was sind Sie, ein Hexenmeister?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich sitze nur hier.«

»Das war der Kerl, der hier aufgekreuzt ist! Das war der Falott!«

»Da komme ich nicht ganz mit, George.« Aber Jack versteht durchaus. Und obwohl er aufgeregt zu werden beginnt, lässt er sich das so wenig anmerken wie damals, als die Barfrau ihm von Kinderlings verräterischer Angewohnheit erzählt hat.

»Hat vermutlich aber doch nichts zu bedeuten«, sagt Potter. »Dieser Kerl hatte allen Grund, meine Wenigkeit nicht zu mögen, aber er muss längst tot sein. Mein Gott, er wäre jetzt weit über achtzig.«

»Erzählen Sie mir von ihm«, sagt Jack.

»Er war ein Falott«, sagt Potter, als wäre damit alles erklärt. »Er muss in Chicago oder irgendwo in der näheren Umgebung Schwierigkeiten bekommen haben. Als er nämlich hier aufgekreuzt ist, hat er sich anders genannt, daran erinnere ich mich jetzt ziemlich sicher.«

»Wann war das, als Sie ihn bei dem Deal wegen der Wohnsiedlung reingelegt haben, George?«

Potter lächelt, und irgendetwas an der Größe seiner Zähne und ihrer Art, unnatürlich weit aus dem Zahnfleisch zu ragen, lässt Jack erkennen, wie rasch der Tod auf diesen Mann zueilt. Er empfindet einen leichten Schauder, aber er erwidert das Lächeln ganz ungezwungen. Auch das gehört zu seiner Methode.

»Wenn wir von Falotten und Reinlegen reden wollen, sollten Sie mich lieber gleich Potsie nennen.«

»Also gut, Potsie. Wann haben Sie diesen Kerl in Chicago aufs Kreuz gelegt?«

»Das ist der einfachste Teil«, sagt Potsie. »Es war Sommer, als die Ausschreibung rausgegangen ist, aber die großen Tiere haben noch darüber gejammert, wie im Vorjahr die Hippies in die Stadt gekommen sind und den Cops und dem Oberbürgermeister ein blaues Auge verpasst haben. Also tippe ich mal auf 1969. Die Sache war so, dass ich nicht nur dem Stadtbaurat einen riesigen Gefallen getan hatte, sondern auch seiner Alten, die großen Einfluss in dem Gleichstellungsausschuss hatte, den Oberbürgermeister Daley eingesetzt hatte. Als die Angebote reinkamen, ist meines deshalb besonders berücksichtigt worden. Dieser andere Kerl - der Falott -hat bestimmt ein niedrigeres abgegeben. Er hat sich ausgekannt, er hatte selbst Beziehungen, aber zu diesem Zeitpunkt war ich schon auf der Innenbahn.«

Potsie lächelt. Die grausigen Zähne erscheinen, dann verschwinden sie wieder.

»Das Angebot des Falotts? Geht irgendwie verloren. Geht verspätet ein. Pech für ihn. Chicago Potsie erhält den Zuschlag. Drei Jahre später kreuzt der Falott dann in French Landing auf, bietet beim Bau von Libertyville mit. Aber damit, dass ich auch hier Sieger geblieben bin, ist alles ehrlich zugegangen. Ich habe keine Beziehungen genutzt. Nachdem der Zuschlag erteilt war, sind wir uns abends zufällig an der Bar im Hotel Nelson begegnet. Und er sagt: >Du warst dieser Kerl in Chicago.< Und ich sage: >In Chicago gibt’s viele Kerle.< Dieser Bursche war ein Falott, das schon, aber er war auch ein Falott, der einem richtig Angst machen konnte. Er hatte eine Art Geruch an sich. Ich kann’s nicht besser beschreiben. Jedenfalls war ich damals groß und stark, ich konnte brachial werden, aber an jenem Abend war ich ziemlich nachgiebig. Selbst nach ein paar Drinks war ich noch lammfromm.

>Yeah<, sagt er, >in Chicago gibt’s viele Kerle, aber nur einen, der mich aufs Kreuz gelegt hat. Davon tut mir immer noch der Arsch weh, Potsie, und ich habe ein langes Gedächtnis.<

Bei jeder anderen Gelegenheit, jeden anderen Kerl hätte ich wahrscheinlich gefragt, wie gut sein Gedächtnis wohl noch funktionieren wird, wenn er mit dem Kopf auf den Fußboden geknallt wird, aber von ihm habe ich mir das einfach gefallen lassen. Mehr haben wir nicht miteinander geredet. Er ist dann gegangen. Ich glaube nicht, dass ich ihn noch einmal gesehen habe, aber als ich dann in Libertyville gebaut habe, habe ich zumindest gelegentlich von ihm gehört. Meistens von meinen Subunternehmern. Anscheinend hat der Falott damals in French Landing ein Haus für sich selbst gebaut. Für seinen Ruhestand. Nicht, dass er damals schon alt genug gewesen wäre, um in den Ruhestand zu gehen, aber er war auch nicht mehr ganz jung. Über fünfzig, würde ich sagen ... und das war 1972.«

»Er hat sich also hier ein Haus gebaut«, wiederholt Jack nachdenklich.

»Yeah. Es hatte auch einen Namen wie einer dieser englischen Landsitze. The Birches, Lake House, Beards-ley Manor, Sie wissen schon.«

»Welchen Namen genau?«

»Scheiße, ich weiß nicht mal mehr den Namen von dem Typ, wie soll ich mich da an den Namen seines Hauses erinnern können? Nur eines weiß ich noch: Keiner der Bauarbeiter hat es gemocht. Es hatte bald einen Ruf weg.«

»Einen schlechten?«

»Den allerschlimmsten. Beim Bau ist es immer wieder zu Unfällen gekommen. Ein Mann hat sich mit einer Bandsäge die Hand abgetrennt und wäre fast verblutet, bevor sie ihn ins Krankenhaus gebracht haben. Ein anderer ist vom Gerüst gefallen und war danach querschnittsgelähmt. Und kleinere Unfälle hat’s dauernd gegeben.«

Jack nickt.

»Sein Haus war das einzige, das ich kenne, das die Leute schon vor der Fertigstellung als Spukhaus bezeichnet haben. So viel ich mitgekriegt habe, hat er’s dann weitgehend allein zu Ende bauen müssen.«

»Haben die Leute noch andere Dinge über dieses Haus erzählt?« Jack stellt die Frage lässig, als läge ihm nicht viel an der Antwort, aber in Wirklichkeit liegt ihm sehr viel daran. Er hat noch nie von einem so genannten Spukhaus in French Landing gehört. Er weiß, dass er noch längst nicht lange genug in dieser Gegend wohnt, um alle Geschichten und Legenden zu kennen, aber ein Spukhaus ...? Man sollte doch glauben, von so etwas sofort zu hören.

»Ach, wissen Sie, ich kann mich an nichts erinnern. Nur dass .«. Er macht eine Pause und starrt in die Ferne. Draußen auf dem Parkplatz beginnt die Menge allmählich, sich zu verlaufen. Jack fragt sich, wie Dale wohl mit Brown und Black zurechtkommt. Die Zeit vergeht wie im Flug, aber er hat noch immer nicht alles, was er braucht, aus Potter herausbekommen. Was er bisher gehört hat, reicht lediglich aus, um Hoffnungen zu erwecken.

»Ein Kerl hat mir mal erzählt, dass die Sonne dort draußen nie geschienen hat, auch wenn sie geschienen hat«, sagt Potter abrupt. »Er hat gesagt, dass das Haus etwas abseits der Straße auf einer Lichtung steht, auf der im Sommer mindestens fünf Stunden lang die Sonne scheinen müsste, aber irgendwie ... hat sie’s nicht getan. Er hat gesagt, dass die Männer ihren Schatten verloren haben, genau wie im Märchen, und dass ihnen das nicht gefallen hat. Und manchmal haben sie im Wald einen Hund knurren gehört. Hat wie ein großes Tier geklungen. Wie ein bösartiger Hund. Aber kein Mensch hat ihn je gesehen. Sie wissen ja, wie das ist. Machen solche Geschichten erst mal die Runde, werden sie immer mehr ausgeschmückt .« Potter lässt plötzlich die Schultern hängen und senkt den Kopf. »Mann, das ist alles, woran ich mich erinnere.«

»Wie hat der Falott geheißen, als er noch in Chicago war?«

»Kann ich mich auch nicht dran erinnern.«

Jack schiebt Potter plötzlich seine flach ausgestreckten Hände unter die Nase. Da Potter den Kopf hängen lässt, sieht er sie erst, als sie dort anlangen. Sofort fährt er Luft schnappend zurück. Dabei bekommt er aber etwas von dem Blütenduft mit, der - wenn auch schwächer werdend - noch an Jacks Händen haftet.

»Was . ? Jesus, was ist das?« Potter ergreift eine von Jacks Händen und schnüffelt gierig daran. »Mann, das riecht gut! Was ist das?«

»Maiglöckchen«, sagt Jack, aber das ist nicht das, was er denkt. In Wirklichkeit denkt er: Das Andenken meiner Mutter. »Wie hat der Falott geheißen, als er noch in Chicago war?«

»Das . irgendwas wie Beer Stein. Das stimmt zwar nicht ganz, aber es ist nahe dran. Besser krieg ich’s nicht hin.«

»Beer Stein«, sagt Jack. »Und wie hat er sich genannt, als er drei Jahre später nach French Landing gekommen ist?«

Von der Treppe her sind plötzlich laute, streitende Stimmen zu hören. »Das ist mir scheißegal!«, ruft jemand. Jack glaubt, dass das der amtlich auftretende Black ist. »Das ist unser Fall, er ist unser Verdächtiger, und wir nehmen ihn jetzt mit! Sofort!«

Dale: »Das bestreite ich ja gar nicht. Ich sage nur, dass der Schreibkram .«

Brown: »Ach, scheiß auf den Schreibkram. Wir nehmen ihn jetzt mit.«

»Wie hat er in French Landing geheißen, Potsie?«

»Ich kann mich nicht ...« Potsie ergreift wieder Jacks Hände. Seine eigenen Hände sind trocken und kalt. Er riecht mit geschlossenen Augen an Jacks Handflächen. Während er langsam ausatmet, sagt er: »Burnside. Chummy Burnside. Nicht, dass er ein guter Kumpel gewesen wäre. Der Spitzname war ein Witz. Sein richtiger Vorname war Charlie, glaube ich.«

Jack entzieht ihm die Hände. Charles »Chummy« Burn-side. Ehemals Beer Stein. Oder so ähnlich wie Beer Stein.

»Und das Haus? Wie hat sein Haus geheißen?«

Brown und Black kommen jetzt den Flur entlang, und Dale hastet hinter ihnen her. Die Zeit reicht nicht, denkt Jack. Verdammt, wenn ich nur fünf Minuten länger Zeit hätte ...

Und dann sagt Potsie: »Black House. Ich weiß nicht, ob er sein Haus so genannt hat oder ob die Bauarbeiter es so getauft haben, aber so hat’s geheißen, das steht fest.«

Jack macht große Augen. Er stellt sich Henry Leydens behagliches Wohnzimmer vor, in dem er mit einem Drink neben sich sitzt und von Jarndyce und Jarndyce vorliest. »Haben Sie Bleak House gesagt?«

»Black«, wiederholt Potsie ungeduldig. »Weil es wirklich schwarz war. Es war .«

»Ach, du lieber Gott!«, sagt einer der State Trooper in einem rotzigen Was-hat-die-Katze-denn-da-reingeschleppt-Tonfall, der in Jack den Wunsch weckt, ihm das Gesicht neu zu arrangieren. Es ist Brown, aber als Jack aufsieht, hat er Browns Partner vor sich. Über diesen Zufall, dass der Mann wie das Haus heißt, muss Jack lächeln.

»Hallo, Jungs«, sagt Jack und steht von der Koje auf.

»Was machen Sie hier, Hollywood?«, fragt Black.

»Bloß ein bisschen quatschen und auf Sie warten«, sagt Jack und lächelt strahlend. »Ich nehme an, dass Sie ihn mitnehmen wollen.«

»Da haben Sie verdammt recht«, knurrt Brown. »Und wenn Sie uns in unseren Fall reingepfuscht haben ...«

»Ach, das glaube ich nicht«, sagt Jack. Er muss sich gewaltig anstrengen, aber es gelingt ihm, seinen freundlichen Tonfall durchzuhalten. Dann zu Potsie: »Bei denen sind Sie sicherer als in French Landing, Sir.«

George Potters Blick ist wieder leer. Resigniert. »Spielt so oder so keine Rolle mehr«, sagt er, dann lächelt er, weil ihm etwas einfällt. »Lebt der alte Chummy noch und läuft Ihnen über den Weg, könnten Sie ihn ja fragen, ob sein Arsch ihm noch weh tut, weil ich ihn 1969 aufs Kreuz gelegt habe. Und bestellen Sie ihm einen Gruß vom alten Chicago Potsie.«

»Wovon zum Teufel reden Sie da?«, fragt Brown finster. Er hat die Handschellen vom Gürtel abgehakt und brennt sichtlich darauf, sie um George Potters Handgelenke zuschnappen zu lassen.

»Von alten Zeiten«, sagt Jack. Er vergräbt seine duftenden Hände in den Hosentaschen und verlässt die Zelle. Im Vorbeigehen lächelt er Brown und Black zu. »Nichts, was euch betrifft, Jungs.«

Lieutenant Black wendet sich an Dale. »Der Fall geht Sie nichts mehr an«, sagt er. »Das waren lauter einsilbige Wörter. Einfacher kann ich’s nicht ausdrücken. Bestätigen Sie mir das also, damit ich weiß, dass die Message angekommen ist, Chief: Haben Sie mich verstanden?«

»Natürlich habe ich das«, sagt Dale. »Den Fall können Sie gern haben. Aber steigen Sie von Ihrem hohen Ross runter, okay? Wenn Sie geglaubt haben, ich würde untätig zusehen, wie eine Horde Betrunkener aus der Sand Bar diesen Mann aus Lucky’s Tavern holt und ihn lyncht .«

»Stellen Sie sich nicht dümmer hin, als Sie sind«, knurrt Brown. »Seinen Namen haben die aus dem hiesigen Polizeifunk erfahren.«

»Das bezweifle ich stark«, sagt Dale ruhig, während er an das aus ihrer Asservatenkammer entliehene Handy eines Dealers denkt.

Black packt Potters hagere Schulter, reißt ihn grob herum und stößt ihn dann so brutal aus der Zelle, dass der Alte beinahe stürzt. Potter rappelt sich mühsam auf. Sein ausgezehrtes Gesicht ist voller Schmerz und Würde.

»Troopers«, sagt Jack.

Er spricht nicht laut oder zornig, aber beide State Troopers drehen sich nach ihm um.

»Misshandeln Sie diesen Verhafteten in meiner Gegenwart noch ein einziges Mal, rufe ich sofort nach Ihrer Abfahrt Ihre Vorgesetzten in Madison an, und glauben Sie mir, Troopers, die werden mir zuhören. Ihre Einstellung ist arrogant, gewaltbereit und kontraproduktiv, was die Lösung dieses Falls betrifft. Ihre Fähigkeit zur Kooperation mit anderen Dienststellen ist nichtexistent. Ihr Verhalten ist unprofessionell und wirft ein schlechtes Licht auf den Staat Wisconsin. Reißen Sie sich zusammen, sonst garantiere ich Ihnen, dass Sie ab Freitag nächster Woche auf der Suche nach Jobs bei einem Sicherheitsdienst sind.«

Obwohl seine Stimme ruhig und gleichmäßig bleibt, scheinen Brown und Black zu schrumpfen, während er spricht. Als er fertig ist, stehen sie wie zwei bestrafte Schuljungen da. Dale starrt Jack respektvoll an. Nur Pot-ter wirkt unbeeindruckt; er betrachtet mit eigentümlich leerem Blick seine gefesselten Hände.

»Los, haut ab«, sagt Jack. »Nehmt euren Verdächtigen mit, nehmt die Fallakten mit und verschwindet.«

Black öffnet den Mund, um etwas zu sagen, dann macht er ihn jedoch gleich wieder zu. Sie gehen. Nachdem die Tür hinter ihnen zugefallen ist, sieht Dale zu Jack hinüber und sagt ganz leise: »Wow.«

»Was?«

»Wenn du’s nicht selbst weißt«, sagt Dale, »erzähl ich’s dir nicht.«

Jack zuckt mit den Schultern. »Mit Potter sind sie erst mal so beschäftigt, dass wir ein bisschen richtig arbeiten können. Falls dieser Abend auch eine erfreuliche Seite hat, ist sie das.«

»Was hast du aus ihm rausgekriegt? Irgendwas von Belang?«

»Einen Namen. Bedeutet vielleicht nichts. Charles Burn-side. Spitzname Chummy. Schon mal von ihm gehört?«

Dale schiebt die Unterlippe vor und zieht nachdenklich daran. Dann lässt er sie los und schüttelt den Kopf. »Der Name kommt mir entfernt bekannt vor, aber das liegt vielleicht daran, dass er so häufig ist. Mit dem Spitznamen kann ich nichts anfangen, nein.«

»Er war vor über dreißig Jahren mal Bauunternehmer, ein Geschäftemacher in Chicago. Zumindest behauptet Potsie das.«

»Potsie«, sagt Dale. Das Klebeband in der linken unteren Ecke des Schildes Ein Anruf heisst ein Anruf hat sich abgelöst, und Dale drückt es mit der Miene eines Mannes, der nicht recht wahrnimmt, was er tut, wieder fest. »Ihr seid schnell Kumpel geworden, was?«

»Nein«, sagt Jack ernst. »Burnside ist Chummy. Und Black House gehört nicht Lieutenant Black.«

»Du tickst nicht mehr richtig. Welches Haus meinst du?«

»Das ist ein Eigenname. Black, großes B, und House, großes H. Schon mal von einem Haus dieses Namens hier in der Umgebung gehört?«

Dale lacht. »Gott, nein.«

Jack erwidert das Lächeln, aber urplötzlich wird daraus sein Vernehmungslächeln, nicht sein Ich-diskutiere-den-Fall-mit-einem-Freund-Lächeln. Weil er jetzt ein Schutzmann ist. Und er hat das merkwürdige kleine Flackern in Dale Gilbertsons Blick bemerkt.

»Weißt du das sicher? Lass dir Zeit. Denk darüber nach.«

»Wirklich nicht, nein. Bei uns geben die Leute ihren Häusern keine Namen. Oh, die alte Miss Graham und Miss Pentle nennen ihres hinter der Stadtbücherei Haus Geißblatt, weil der Zaun zur Straße hin ganz mit Geißblatt überwuchert ist, aber soviel ich weiß, ist das bei uns das einzige Haus, das einen Namen trägt.«

Jack sieht wieder das Flackern. Potter ist ein Mann, den die Wisconsin State Police als Mörder in Untersuchungshaft behalten wird, aber in seinen Augen hat Jack bei der Befragung kein einziges Mal dieses heimliche Flackern beobachtet. Weil Potter aufrichtig geantwortet hat.

Dale antwortet nicht aufrichtig.

Ich muss behutsam mit ihm umgehen, sagt Jack sich. Weil er gar nicht weiß, dass er nicht aufrichtig ist. Aber wie kommt das?

Wie als Antwort hört er Chicago Potsies Stimme: Ein Kerl bat mir mal erzählt, dass die Sonne dort draußen nie geschienen hat, auch wenn sie geschienen hat ... Er hat gesagt, dass die Männer ihren Schatten verloren haben, genau wie im Märchen.

Erinnerungen sind Schatten; das weiß jeder Cop, der versucht, einen Unfall oder ein Verbrechen nach einander widersprechenden Augenzeugenberichten zu rekonstruieren, nur allzu gut. Ist Potsies Black House vielleicht etwas Ähnliches? Etwas, das keinen Schatten wirft? Dales Verhalten (er hat sich jetzt ganz dem abfallenden Schild zugewendet, um das er sich so ernstlich bemüht wie um ein Herzschlagopfer auf offener Straße, das er mit Herzmassage wie aus dem Lehrbuch am Leben erhält, bis der Krankenwagen kommt) suggeriert Jack, dass genau etwas Derartiges vorliegen könnte. Vor drei Tagen hätte er sich noch nicht gestattet, solch eine Sache für möglich zu halten, aber vor drei Tagen war er auch noch nicht in die Territorien zurückgekehrt gewesen.

»Potsie sagt, dass dieses Haus schon vor der Fertigstellung in dem Ruf stand, ein Spukhaus zu sein«, sagt Jack, um etwas nachzuhelfen.

»Nö.« Dale tritt an das Schild mit den Terminen der AA- und NA-Treffen. Er begutachtet das Klebeband, ohne zu Jack hinüberzusehen. »Nie davon gehört.«

»Bestimmt nicht? Ein Mann wäre fast verblutet. Ein weiterer war nach einem Sturz querschnittsgelähmt. Die Leute haben sich beschwert - pass gut auf, Dale, das ist amüsant -, Potsie behauptet, die Leute hätten sich darüber beschwert,’ dass sie ihren Schatten verlieren.

Konnten ihn nicht einmal mittags bei hellem Sonnenschein sehen. Ist das nicht toll?«

»Klar, aber ich kann mich an keine Geschichten dieser Art erinnern.« Als Jack auf Dale zu geht, bewegt Dale sich von ihm weg. Huscht beinahe weg, obwohl Chief Gilbertson normalerweise kein Mann ist, der vor jemandem weghuscht. Das ist ein bisschen lustig, ein bisschen traurig, ein bisschen gruselig. Er weiß nicht, dass er das tut, davon ist Jack überzeugt. Es gibt einen Schatten. Jack sieht ihn, und auf irgendeiner Bewusstseinsebene weiß Dale, dass er ihn sieht. Würde Jack zu sehr in ihn dringen, würde Dale ihn auch sehen müssen ... und das will Dale nicht. Weil es ein böser Schatten ist. Ist er schlimmer als ein Ungeheuer, das Kinder ermordet und ausgewählte Körperteile aufisst? Offenbar glaubt das ein Teil von Dales Verstand.

Ich könnte ihn zwingen, diesen Schatten zu sehen, denkt Jack kalt. Meine Hände unter seine Nase halten - meine nach Maiglöckchen duftenden Hände - und ihn dazu zwingen. Ein Teil seines Ichs will ihn sogar sehen. Der Schutzmann-Teil.

Dann meldet sich ein anderer Teil von Jacks Verstand zu Wort - in Speedy Parkers gedehnter Sprechweise, an die er sich jetzt aus seiner Kindheit erinnert. Du könntest ihn aber auch in einen Nervenzusammenbruch treiben, Jack. Gott weiß, dass er nach all den Aufregungen seit der Ermordung des kleinen Irkenhams kurz vor einem steht. Willst du das riskieren? Und wozu? Den Namen hat er nicht gekannt, da ist er aufrichtig gewesen.

»Dale?«

Dale wirft Jack einen raschen, glänzenden Blick zu, dann sieht er wieder beiseite. Die verstohlene Art dieses flüchtigen Blicks bricht Jack fast das Herz. »Was ist?«

»Komm, wir gehen eine Tasse Kaffee trinken.«

Dieser Themenwechsel bewirkt, dass frohe Erleichterung auf Dales Gesicht tritt. Er schlägt Jack auf die Schulter. »Gute Idee!«

Gottverdammt gute Idee, genau hier und jetzt, denkt Jack, dann lächelt er. Es gibt mehr als eine Methode, einer Katze das Fell über die Ohren zu ziehen, und mehr als eine Methode, das Black House zu finden. Hinter ihnen liegt ein langer Tag. Vielleicht ist’s am besten, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Zumindest für heute.

»Was ist mit Railsback?«, fragt Dale, als sie die Treppe hinabpoltern. »Willst du noch immer mit ihm reden?«

»Unbedingt«, antwortet Jack durchaus glaubhaft, aber er verspricht sich nicht viel von Andy Railsback, diesem handverlesenen Zeugen, der genau gesehen hat, was der Fisherman ihn sehen lassen wollte. Abgesehen von einer kleinen Ausnahme ... vielleicht. Der einzelne Pantoffel. Jack weiß nicht, ob daraus jemals etwas werden wird, aber es könnte irgendwann nützlich sein. Zum Beispiel vor Gericht . als Mittel zur Identifizierung .

Dieser Fall kommt nie vor Gericht, das weißt du. Vielleicht endet er nicht mal auf dieser W ...

Als sie die Kombination aus Bereitschaftsraum und Einsatzzentrale betreten, werden seine Gedanken durch eine Woge aus heiterem Lärm unterbrochen. Die Männer und Frauen des French Landing Police Departments applaudieren Jack stehend. Auch Henry Leyden steht da und klatscht ihm Beifall. Dale schließt sich an.

»Jesus, Leute, lasst das«, sagt Jack, indem er zugleich lacht und rot wird. Aber er will sich nicht belügen, sich nicht einzureden versuchen, diese Runde Beifall mache ihm keine Freude. Er spürt ihre Wärme; er sieht das Licht ihres Respekts. Solche Dinge sind eigentlich belanglos. Aber dies erscheint ihm wie eine Heimkehr, und das ist wichtig.

Als Jack und Henry ungefähr eine Stunde später die Polizeistation verlassen, sind Beezer, Mouse und Kaiser Bill noch da. Die beiden anderen sind zur Row zurückgefahren, um die jeweiligen Alten über die Ereignisse dieses Abends zu informieren.

»Sawyer«, sagt Beezer.

»Ja«, sagt Jack.

»Wenn wir irgendwas tun können ... Sie verstehen, Mann? Irgendwas.«

Jack betrachtet den Biker nachdenklich und fragt sich, was hinter dessen Art stecken mag ... außer Trauer, natürlich. Die Trauer eines Vaters. Beezers Blick bleibt unverwandt auf ihn gerichtet. Etwas abseits steht Henry Leyden mit leicht erhobenem Kopf, als wollte er im Flussnebel etwas wittern, und summt tief in seiner Kehle vor sich hin.

»Morgen gegen elf schaue ich bei Irmas Mutter vorbei«, sagt Jack. »Glauben Sie, dass Sie und Ihre Freunde sich gegen Mittag in der Sand Bar mit mir treffen könnten? Soviel ich weiß, lebt sie ganz in der Nähe. Ich spen-diere euch eine Runde Limonade.«

Beezer lächelt nicht, aber sein Blick wird etwas freundlicher. »Wir sind da.«

»Sehr gut«, sagt Jack.

»Kann man erfahren, worum es geht?«

»Es gibt einen Ort, der gefunden werden muss.«

»Hat er etwas mit wem auch immer zu tun, der Amy und die anderen Kinder ermordet hat?«

»Vielleicht.«

Beezer nickt. »Vielleicht genügt mir.«

Jack fährt langsam in Richtung Norway Valley zurück, was aber nicht nur am Nebel liegt. Obwohl es noch früh am Abend ist, ist er todmüde und glaubt zu wissen, dass es Henry nicht anders ergeht. Nicht weil er schweigsam ist; Jack hat sich daran gewöhnt, dass Henry zwischendurch manchmal Ruhepausen einlegt. Nein, wegen der Stille, die unterwegs in dem Pickup herrscht. Normalerweise dreht Henry ruhelos, fast schon zwanghaft am Radio herum, stellt nacheinander alle Sender aus La Ri-viere ein, hört sich an, was KDCU hier in der Stadt bringt, zieht dann weitere Kreise und sucht Milwaukee, Chicago, vielleicht sogar Omaha, Denver und St. Louis, wenn die atmosphärischen Bedingungen gut sind. Eine Vorspeise aus Pop hier, ein Salat aus Spirituals dort, vielleicht ein Spritzer Perry Como ganz unten am Skalenende: hot-diggity, dog-diggity, boom what-ya-do-to-me. Aber nicht heute Abend. Heute sitzt Henry einfach nur ruhig auf seiner Seite des Pickups und hält die Hände im Schoß gefaltet. Als sie keine zwei Meilen mehr von sei-ner Einfahrt entfernt sind, sagt Henry schließlich: »Heute Abend kein Dickens mehr, Jack. Ich gehe sofort ins Bett.«

Die Erschöpfung in Henrys Stimme erschreckt Jack, macht ihn besorgt. Henry klingt nicht wie er selbst oder eine seiner Radiorollen; in diesem Augenblick klingt er nur alt und müde, kurz vor dem Ausbrennen.

»Ich auch«, stimmt Jack zu, wobei er versucht, sich seine Besorgnis nicht anhören zu lassen. Henry nimmt jede stimmliche Nuance wahr. Das ist fast unheimlich.

»Was hast du mit den Thunder Five vor, wenn ich fragen darf?«

»Das weiß ich selbst noch nicht so recht«, sagt Jack, aber Henry spürt diese Unwahrheit nicht auf, vielleicht weil er müde ist. Jack will Beezer und seine Jungs nach dem Haus suchen lassen, von dem Potsie ihm erzählt hat, nach diesem Haus, in dessen Umgebung Schatten verschwinden. Zumindest haben sie das in den Siebzigerjahren getan. Er wollte auch Henry fragen, ob er je von einem Black House in French Landing gehört hat, nur nicht gerade jetzt. Nicht nachdem er gehört hat, wie erledigt Henry offenbar ist. Vielleicht morgen. Wahrscheinlich sogar bestimmt, Henry ist nämlich eine zu gute Informationsquelle, um sie ungenutzt zu lassen. Aber er soll sich erst wieder ein bisschen erholen.

»Du hast das Tonband, ja?«

Henry zieht die Kassette mit dem Anruf des Fisher-mans halb aus der Hemdtasche, dann schiebt er sie wieder hinein. »Ja, Mutter. Aber ich glaube nicht, dass ich mir heute Abend die Stimme eines Kindermörders anhören kann, Jack. Nicht einmal, wenn du mit reinkommst und sie dir mit mir anhörst.«

»Morgen ist rechtzeitig genug«, sagt Jack, der nur hoffen kann, dass er dadurch kein weiteres Kind aus French Landing zum Tode verurteilt.

»Wovon du aber nicht ganz überzeugt bist.«

»Stimmt«, sagt Jack, »aber würdest du dir die Aufnahme jetzt mit tauben Ohren anhören, entstünde mehr Schaden als Nutzen. Das weiß ich bestimmt.«

»Gleich morgen Früh als Erstes. Das verspreche ich dir.«

Vor ihnen taucht jetzt Henrys Haus auf. Mit der einzelnen über dem Garagentor brennenden Lampe sieht es einsam aus, aber Henry braucht natürlich kein Licht, um sich in seinem Haus zurechtzufinden.

»Henry, kommst du allein klar?«

»Ja«, sagt Henry, aber Jack hat das Gefühl, dass sich sein Freund seiner Sache nicht ganz sicher ist.

»Heute Abend keine Wisconsin Rat mehr«, fordert Jack ihn nachdrücklich auf.

»Nein.«

»Auch nicht the Shake, the Shook, the Sheik.«

Henry verzieht die Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Nicht einmal George Rathbun mit einem Werbespot für French Landing Chevrolet, wo der Kunde König ist und man bei Bankfinanzierung in den ersten sechs Monaten keinen Cent Zinsen zahlt. Geradewegs ins Bett.«

»Ich auch«, sagt Jack.

Aber eine Stunde nachdem Jack zu Bett gegangen ist und die Nachttischlampe ausgeknipst hat, kann er noch immer nicht schlafen. Gesichter und Stimmen kreisen in seinem Kopf wie verrückte Uhrzeiger. Oder wie ein Karussell auf einem menschenleeren Rummelplatz.

Tansy Freneau: Bring das Monster raus, das mein hübsches Baby umgebracht hat.

Beezer St. Pierre: Wir müssen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, nicht wahr?

George Potter: Dieser Scheiß nistet sich ein und wartet. Meine Theorie ist, dass er nie ganz verschwindet, nicht richtig.

Speedy, eine Stimme aus ferner Vergangenheit aus einem Handy, das noch so etwas wie eine Science-FictionErfindung war, als Jack ihn kennen lernte: Halli-hallo, Travellin’ Jack ... Und unter uns Schutzleuten, Sohn, möchte ich dir raten, Chief Gilbertsons Privattoilette aufzusuchen. Gleich jetzt.

Unter uns Schutzleuten, richtig.

Und vor allem, immer und immer wieder Judy Marshall: Man sagt nicht einfach, ich habe mich verirrt und weiß nicht, wie ich zurückfinden soll - man geht in dieselbe Richtung weiter ...

Ja, aber wohin geht man weiter? Wohin?

Zuletzt steht er auf und geht mit seinem Kopfkissen unter dem Arm auf die Veranda hinaus. Die Nacht ist warm; im Norway Valley, wo der Nebel von Anfang an nicht sehr dicht war, hat er sich jetzt bei leichtem Ostwind ganz aufgelöst. Jack zögert, dann geht er nur mit Unterwäsche bekleidet die Stufen hinunter. Auf der Veranda kann er unmöglich bleiben. Hier hat er den teuflischen Karton mit den aus Zuckerpackungen ausgeschnittenen »Briefmarken« gefunden.

Er geht an seinem Pickup vorbei, an dem Vogelhotel vorbei und weiter aufs Nordfeld. Über ihm leuchten eine Milliarde Sterne. Grillen zirpen leise im Gras. Seine flüchtige Fährte durch Rispen- und Timotheusgras ist verschwunden, oder vielleicht betritt er die Wiesenfläche jetzt an einer anderen Stelle.

Nach ein paar Schritten streckt er sich auf dem Rücken liegend aus, schiebt sich das Kissen unter den Kopf und sieht zu den Sternen auf. Nur für kurze Zeit, denkt er. Nur bis all diese Geisterstimmen aus meinem Kopf verschwunden sind. Nur für kurze Zeit.

Während er das denkt, beginnt er zu dösen.

Während er das denkt, geht er hinüber.

Über ihm verändert sich der Sternenhimmel. Er sieht, wie die neuen Konstellationen sich bilden. Wie heißt dieses Sternbild, wo eben noch der Große Wagen war? Ist es das Heilige Opopanax? Schon möglich. Er hört ein leises, angenehmes Knarren und weiß, dass das die Windmühle ist, die er gesehen hat, als er erst heute Morgen - vor einem Jahrtausend - geflippt ist. Er muss so wenig zu ihr hinübersehen, um sich zu vergewissern, wie er sich nach seinem Haus umzusehen braucht, um festzustellen, dass es sich wieder in eine Scheune verwandelt hat.

Knarr ... knarr ... knarr: riesige Holzflügel, die sich im selben Ostwind drehen. Nur ist dieser Wind unendlich frischer, unendlich reiner. Jack berührt den Bund seiner Unterhose und ertastet ein raues Gewebe. In dieser Welt gibt es keine Boxershorts. Auch sein Kopfkissen hat sich verändert. Aus Schaumstoff sind Gänsedaunen geworden, aber es ist trotzdem noch bequem. Viel bequemer als zuvor, um die Wahrheit zu sagen. Wohlbehagen unter seinem Kopf.

»Ich fange ihn, Speedy«, flüstert Jack Sawyer zu den neuen Sternbildern aus neuen Sternen hinauf. »Ich werd’s jedenfalls versuchen.«

Er schläft.

Als er aufwacht, ist es früher Morgen. Der leichte Ostwind hat sich gelegt. In der Richtung, aus der er gekommen ist, zeichnet sich am Horizont ein hell orangeroter Streifen ab - die Sonne wird bald aufgehen. Jack ist steif, sein Hintern tut ihm weh, und er ist feucht von Tau, aber er fühlt sich ausgeruht. Das gleichmäßige, rhythmische Knarren ist verstummt, aber das überrascht ihn nicht. Als er die Augen geöffnet hat, hat er sofort gewusst, dass er wieder in Wisconsin war. Und er weiß noch etwas anderes: Er kann zurückkehren. Wann immer er will. Das wahre Coulee Country, das eigentliche Coulee Country, ist nur einen Wunsch und eine Bewegung entfernt. Das erfüllt ihn mit Freude und Schrecken zu gleichen Teilen.

Jack steht auf und patscht mit dem Kopfkissen unter dem Arm barfuß zum Haus zurück. Er schätzt, dass es ungefähr fünf Uhr morgens ist. Weitere drei Stunden Schlaf werden reichen, damit er allem gewachsen ist. Auf der Verandatreppe berührt er die Baumwolle seiner Boxershorts. Obwohl seine Haut feucht ist, ist die Unterhose fast trocken. Natürlich ist sie das. Die meiste Zeit, die er heute im Freien geschlafen hat (wie in so vielen Nächten im Herbst seines zwölften Lebensjahrs), hat er sie ja gar nicht getragen. Sie war irgendwo anders.

»Im Land des Opopanax«, sagt Jack und geht hinein. Drei Minuten später schläft er wieder, diesmal in seinem Bett. Als er um acht Uhr aufwacht, weil spürbares Sonnenlicht durch sein Fenster strömt, könnte er fast glauben, seine letzte Reise sei nur ein Traum gewesen.

Aber in seinem Herzen weiß er es besser.

18

Erinnern wir uns an diese Übertragungswagen, die auf den Parkplatz hinter der Polizeistation fuhren? Und an Wendell Greens Beitrag zur allgemeinen Aufregung, bevor Officer Hrabowskis riesige Stablampe ihn mit einem Schlag ins Schlummerland beförderte? Wir können sicher sein, dass die Fernsehteams in den Ü-Wagen sich der Situation gewachsen zeigten, sobald sie erkannten, dass ein Aufruhr unvermeidlich sein würde, am nächsten Morgen beherrscht nämlich ihre Berichterstattung über den wilden Abend die Fernsehschirme in ganz Wisconsin. Um neun Uhr sehen Leute in Racine und Milwaukee, Leute in Madison und Delafield und Leute, die so weit im Norden des Staats leben, dass sie Satellitenschüsseln brauchen, um überhaupt Fernsehempfang zu haben, von ihren Pfannkuchen, ihren Schalen mit Cornflakes, ihren Spiegeleiern und ihren englischen Muffins mit Butter auf, um zu beobachten, wie ein kleiner, nervös wirkender Polizeibeamter die Demagogenkarriere eines großen, rotgesichtigen Reporters im Keim erstickt, indem er ihn mit einem stumpfen Werkzeug niederschlägt. Und auch auf etwas anderes können wir uns verlassen: dass diese Berichterstattung nirgends so allgemein und zwanghaft verfolgt wird wie in French Landing und seinen Nachbargemeinden Centralia und Arden.

Jack Sawyer, der über mehrere Dinge gleichzeitig nachdenkt, verfolgt die Berichterstattung in dem kleinen tragbaren Fernseher, den er in der Küche auf die Arbeitsplatte gestellt hat. Er hofft, dass Dale Gilbertson die Dienstenthebung seines Untergebenen Arnold Hra-bowski nicht doch rückgängig machen wird, hegt aber den starken Verdacht, dass der Verrückte Ungar bald wieder Uniform tragen wird. Dale denkt nur, dass er ihn endgültig aus dem FLPD loswerden will; er ist zu weichherzig, um sich Arnies flehentliche Bitten anzuhören -und nach gestern Abend kann sogar ein Blinder sehen, dass Arnie betteln wird -, ohne irgendwann nachzugeben. Jack hofft auch, dass der grässliche Wendell Green entlassen wird oder in Schimpf und Schande wegzieht. Reporter dürfen sich nicht in ihre Storys hineindrängeln, und genau das tut das gute alte Großmaul Wendell, das wie ein Werwolf nach Blut schreit. Jack hat jedoch das deprimierende Gefühl, dass Wendell Green sich aus seinen gegenwärtigen Schwierigkeiten herausreden (das heißt, sich aus ihnen herauslügen) und eine lästige Plage bleiben wird. Und Jack denkt über Andy Railsbacks Beschreibung des unheimlichen Alten nach, der im Hotel Nelson an den Türknäufen im zweiten Stock gerüttelt hat.

Das war er, der Fisherman, endlich in sichtbarer Gestalt. Ein alter Mann in einem blauen Bademantel und nur einem Pantoffel, schwarz-gelb gestreift wie eine Hummel. Andy Railsback hatte sich gefragt, ob dieser unangenehm aussehende alte Knabe sich vielleicht aus der Seniorenresidenz Maxton verlaufen hatte. Ein interessanter Gedanke, findet Jack. Falls »Chummy« Burnside der Mann ist, der George Potter die Fotos untergeschoben hat, wäre das Maxton ein idealer Unterschlupf für ihn.

Wendell Green verfolgt die Berichterstattung mit dem Sony in seinem Hotelzimmer. Er kann den Blick nicht vom Fernsehschirm wenden, obwohl die Bilder ihn mit einer ganzen Mischung aus Empfindungen erfüllen -Zorn, Beschämung und Demütigung -, von denen sich ihm fast der Magen umdreht. Die Beule am Hinterkopf pocht, und jedes Mal wenn er Zeuge wird, wie diese Lachnummer von einem Cop sich mit erhobener Stablampe hinterrücks an ihn anschleicht, schiebt er die Finger in sein dichtes, lockiges Haar und tastet die Beule vorsichtig ab. Das verdammte Ding hat etwa die Größe einer reifen Tomate und scheint jeden Augenblick platzen zu können. Er kann von Glück sagen, dass er keine Gehirnerschütterung hat. Dieser kleine Scheißer hätte ihn erschlagen können!

Okay, vielleicht ist er eine Idee zu weit gegangen, vielleicht hat er gewisse professionelle Grenzen ein bisschen überschritten; er hat nie behauptet, vollkommen zu sein. Die lokalen Berichterstatter, die machen ihn sauer, all diese Lobhudeleien über Jack Sawyer. Wer ist der Starreporter, der über die Fisherman-Story berichtet? Wer hat sie vom ersten Tag an ausführlich geschildert, den Bürgern alles Wissenswerte darüber mitgeteilt? Wer hat sich einen gottverdammten miesen Tag nach dem anderen abgerackert? Wer hat dem Kerl einen Namen gegeben? Nicht diese föhnfrisierten Hohlköpfe Bucky und Stacey, diese Möchtegern-Reporter und Lokalmoderatoren, die in die Kamera lächeln, um ihre Jacketkronen herzuzeigen, das steht fest. Wendell Green ist hierzulande eine Legende, ein Star, die größte Annäherung an einen Giganten des Journalismus, die das westliche Wisconsin je hervorgebracht hat. Sogar drüben in Madison symbolisiert der Name Wendell Green ... nun, unbestritten höchste Qualität. Und wenn der Name Wendell Green jetzt dem Goldstandard gleicht, sollen die Leute nur abwarten, bis er auf den blutbespritzten Schultern des Fis-hermans bis ganz hinauf zum Pulitzer-Preis gelangt.

Am Montagmorgen wird er also in die Redaktion fahren und seinen Chefredakteur beschwichtigen. Kleinigkeit. Es ist nicht das erste Mal, und es wird nicht das letzte Mal sein. Gute Reporter erregen Aufsehen; das gibt niemand gern zu, aber es gehört zum Geschäft, es ist das Kleingedruckte, das keiner liest, bis es zu spät ist. Er weiß schon jetzt, was er sagen wird, wenn er ins Chefbüro kommt: Größte Story des Tages, und haben Sie außer mir noch andere Reporter gesehen? Und sobald der Chefredakteur ihm wieder aus der Hand frisst, was ungefähr nach zehn Minuten der Fall sein wird, hat er vor, einen Verkäufer bei Goltz’s namens Fred Marshall aufzusuchen. Eine von Wendells besten Quellen hat die Vermutung geäußert, Mr. Marshall besitze interessante Informationen über sein ganz spezielles Baby, den Fisherman.

Arnold Hrabowski, in den Augen seiner reizenden Frau Paula jetzt ein Held, verfolgt die Berichterstattung mit postkoitalem Glücksgefühl und findet, dass Paula Recht hat: Er sollte wirklich Chief Gilbertson anrufen und ihn bitten, seine Suspendierung aufzuheben.

Während Dale Gilbertson mit halbem Verstand überlegt, wo er nach George Potters altem Feind Ausschau halten könnte, verfolgt er, wie Bucky und Stacey noch einmal die Szene zeigen, wie der Verrückte Ungar diesen Wendell Green ausschaltet, und findet, er sollte den kleinen Kerl wirklich wieder ins FLPD aufnehmen. War das nicht ein herrlicher Schlag, den Arnie da geführt hat? Dale kann nichts dagegen machen - dieser Schlag stimmt ihn wirklich fröhlich. Dabei kommt man sich vor, als sähe man einen Baseball- oder Golfspielstar.

Allein in ihrem dunklen kleinen Haus unweit des Highways liegt Wanda Kinderling, die wir gelegentlich en passant erwähnt haben, im Bett und hört Radio. Warum hört sie Radio? Vor ein paar Monaten musste sie sich entscheiden, ob sie ihre Kabelrechnung bezahlen oder eine weitere Zweiliterflasche Wodka Aristocrat kaufen wollte, und - sorry, Bucky und Stacey - Wanda entschied sich für ihr Glück, sie folgte ihrem Herzen. Ohne Kabelanschluss empfängt ihr Fernseher kaum mehr als Schnee und eine breite schwarze Querlinie, die in einer Endlosschleife über ihren Fernsehschirm läuft. Aber Wanda hat Bucky und Stacey ohnehin schon immer gehasst, genau wie fast alle übrigen Leute im Fernsehen, vor allem wenn diese zufrieden wirken und gepflegt aussehen. (Besonders hasst sie die Gastgeber morgendlicher Nachrichtensendungen und die Moderatoren der großen Fernsehgesell-schaften.) Wanda ist nicht mehr zufrieden oder gepflegt gewesen, seit dieser hochnäsige Angeber Jack Sawyer ihren Mann schrecklicher Verbrechen bezichtigt hat, die Thorny niemals hätte verüben können. Jack Sawyer hat ihr Leben ruiniert, und Wanda denkt weder daran zu vergeben noch zu vergessen.

Dieser Kerl hat ihren Mann in eine Falle gelockt. Er hat ihm die Schuld in die Schuhe geschoben. Er hat Thornys guten Namen befleckt und ihn ins Gefängnis verfrachtet, nur um selbst gut dazustehen. Wanda hofft, dass sie den Fisherman nie erwischen, der Fisherman ist nämlich genau das, was sie verdienen, diese Schweine. Spielt man schmutzig, dann ist man schmutzig, und solche Leute gehören in den tiefsten Höllenpfuhl - das denkt Wanda Kinderling. Der Fisherman ist die Vergeltung dafür - das denkt Wanda. Soll er doch hundert Bälger umbringen, soll er tausend umbringen, und danach kann er sich gleich auch noch über ihre Eltern hermachen. Thorny hätte diese Schlampen unten in Los Angeles nicht umbringen können. Das waren Sexmorde, und Thorny hatte kein Interesse an Sex, Gott sei Dank. Sein Körper war zwar herangewachsen, aber sein Geschlecht hatte nicht damit Schritt gehalten; sein Dingelchen war nur ungefähr so groß wie sein kleiner Finger. Es war ihm also unmöglich, sich für schlimme Frauen und Sexsachen zu interessieren. Aber dieser Jack Sawyer hatte doch damals in Los Angeles gelebt, oder etwa nicht? Wieso konnte nicht er diese Schlampen, diese Nutten ermordet haben, um dann alles Thorny in die Schuhe zu schieben?

Die Moderatorin berichtet, was der ehemalige Lieutenant Sawyer gestern Abend alles geleistet hat, und Wanda Kinderling würgt Gallenflüssigkeit hoch, greift nach dem Glas auf ihrem Nachttisch und löscht den Brand in ihren Eingeweiden mit einem Riesenschluck Wodka.

Gorg, der Leute wie Wanda logischerweise besuchen müsste, verfolgt die Fernsehnachrichten nicht, er ist nämlich weit weg in Anderland.

In seinem Bett im Maxton genießt Charles Burnside Träume, die eigentlich nicht die seinen sind. Sie stammen von einem anderen Wesen, das anderswo lebt, und stellen eine Welt dar, die er nie selbst gesehen hat. Zerlumpte, versklavte Kinder trotten auf blutenden Füßchen an lodernden Flammen vorbei, drehen gigantische Räder, die noch größere Räder drehen, oho, aha, diese Macht der in den schwarz-roten Himmel aufsteigenden, aufsteigenden herrlichen Werkzeuge der Vernichtung. Die Große Kombination! Beißender Gestank nach geschmolzenem Metall und etwas wahrhaft Scheußlichem, etwas wie Drachenharn, erfüllt die Luft ebenso wie der bleierne Gestank von Verzweiflung. Echsenartige Dä-mone mit kräftigen, zuckenden Schwänzen treiben die Kinder mit Peitschenhieben an. Getöse aus Scheppern und Dröhnen, aus Krachen und gewaltigen dumpfen Schlägen gellt schmerzhaft in den Ohren. Es sind die Träume von Mr. Munshun, Burnys engstem Freund und liebendem Herrn, einem Geschöpf endloser und perverser Freuden.

Am Ende des Korridors im Gebäudeflügel Daisy, quer durch die elegante Eingangshalle und hinter Rebecca Vi-las’ kleinem Kabuff, ist Chipper Maxton mit weit banaleren Dingen beschäftigt. Der kleine Fernseher auf dem Regal über dem Safe zeigt das wundersame Bild, wie der Verrückte Ungar Hrabowski unseren Freund Wendell Green mit einem netten, sauberen Schlag einer schweren Stablampe fällt, aber Chipper nimmt diesen großen Augenblick kaum wahr. Er muss die 13 000 Dollar heranschaffen, die er seinem Buchmacher schuldet, und hat nur ungefähr die Hälfte dieses Betrags flüssig. Gestern ist die liebreizende Rebecca nach Monroe gefahren, um das meiste Geld abzuheben, das er dort gebunkert hatte, und er kann etwa 2000 Dollar von seinem eigenen Konto verwenden, solange er sie bis Monatsende ersetzt. Trotzdem fehlen noch rund sechs Mille, ein Betrag, der einiges an kreativer Buchführung verlangt. Zum Glück ist kreative Buchführung eine Spezialität Chippers, und als er über die Möglichkeiten nachdenkt, die sich ihm bieten, beginnt er seine gegenwärtigen Schwierigkeiten als Chance zu begreifen.

Schließlich ist er ursprünglich doch Geschäftsmann geworden, um möglichst viel Geld beiseite zu schaffen, oder? Außer sich von Ms. Vilas bedienen zu lassen, ist Unterschlagung ungefähr die einzige Tätigkeit, die ihn wahrhaft glücklich macht. Der Betrag spielt dabei fast keine Rolle: Wie wir gesehen haben, macht es Chipper ebenso viel Spaß, den Verwandten der Heiminsassen nach dem Erdbeerfest ein paar Dollar Wechselgeld abzuluchsen, wie den Staat um 10 000 oder 15 000 Dollar zu betrügen. Der Nervenkitzel liegt darin, nicht erwischt zu werden. Er braucht also 6000; warum nicht gleich 10000 unterschlagen? Dann braucht er das eigene Bankkonto nicht anzurühren und behält sogar noch 2000 Dollar Spielgeld übrig. In seinem Computer hat er doppelt geführte Bücher, und er kann das Geld leicht vom Firmenkonto abheben, ohne bei der nächsten staatlichen Rechnungsprüfung, die in etwa einem Monat bevorsteht, sofort aufzufallen. Es sei denn, die Rechnungsprüfer verlangen die Kontoauszüge, aber selbst dann gibt’s noch ein paar Tricks, mit denen er arbeiten kann. Echt bedauerlich, dass die Rechnungsprüfung schon so bald bevorsteht - Chipper hätte gern etwas mehr Zeit, um seine Fährte zu verwischen. Die 13 000 zu verlieren, war nicht das Problem, denkt er. Das Problem war, sie zur falschen Zeit zu verlieren.

Um alles klar durchdenken zu können, zieht Chipper die Tastatur zu sich heran und weist den Computer an, die kompletten Kontenbewegungen in beiden Büchern für den letzten Monat auszudrucken. Bis die Rechnungsprüfer hier aufkreuzen, Baby, werden diese Blätter in den Aktenvernichter gewandert und als Makkaroni herausgekommen sein.

Wir wollen uns jetzt von einer Form von Geistesgestörtheit einer anderen zuwenden. Nachdem der Besitzer des Holiday Trailer Parks einen zitternden Zeigefinger ausgestreckt hat, um auf Mrs. Freneaus Wohnwagen zu deuten, fährt Jack von wachsenden Zweifeln geplagt auf dem staubigen Weg weiter. Tansys Wohnwagen ist der letzte und ungepflegteste in einer Viererreihe. Zwei der anderen sind mit farbenprächtigen Blumenrabatten ab-gegrenzt, und der dritte Wohnwagen ist mit gestreiften Markisen herausgeputzt, die ihn wie ein Haus aussehen lassen. Der vierte Wagen lässt keine Anzeichen von Ausschmückung oder vorgenommener Verbesserung erkennen. Verwelkende Blumen und spärliches Unkraut kümmern weit verstreut auf dem festgetrampelten Boden in seiner Umgebung. Die Jalousien sind heruntergelassen. Eine Aura von Elend und Auszehrung umgibt ihn ebenso wie eine Eigenart, die Jack als Verwerfung definieren könnte, wenn er sich die Zeit nähme, darüber nachzudenken. Auf nicht gleich augenfällige Weise sieht der Wohnwagen irgendwie nicht in Ordnung aus. Kummer hat ihn verformt, wie Kummer einen Menschen verformen kann, und als Jack aus seinem Pickup steigt und auf die Hohlblocksteine zugeht, die vor dem Eingang eine Trittstufe bilden, wachsen seine Zweifel noch mehr. Er weiß nicht mehr recht, wozu er hergekommen ist. Jack kommt in den Sinn, dass er Tansy Freneau nichts zu bieten hat außer seinem Mitleid, und bei diesem Gedanken ist ihm unbehaglich zumute.

Dann wird ihm bewusst, dass die Zweifel seine wahren Empfindungen tarnen, jene, die mit dem Unbehagen zusammenhängen, das der Wohnwagen in ihm weckt. Er will dieses Ding nicht betreten. Alles andere sind Scheinbegründungen; ihm bleibt aber nichts anderes übrig, als stetig weiterzugehen. Sein Blick fällt auf die Fußmatte mit dem eingewebten Wort Welcome, ein beruhigender Anflug der gewöhnlichen Welt, die er bereits hinter sich verschwinden fühlt. Er tritt aufs oberste Brett und klopft an die Tür. Keine Reaktion. Vielleicht schläft sie ja noch und würde lieber weiterschlafen. Wäre er Tansy, würde er möglichst lange im Bett bleiben. Wäre er Tansy, würde er wochenlang im Bett bleiben. Jack überwindet nochmals sein Widerstreben, klopft erneut an und sagt: »Tansy? Sind Sie auf?«

Eine dünne Stimme von drinnen sagt: »Wie auf?«

O-oh, denkt Jack und sagt: »Aufgestanden, meine ich. Ich bin Jack Sawyer, Tansy. Wir kennen uns von gestern Abend. Ich helfe der Polizei, und ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich heute vorbeikommen würde.«

Er hört Schritte, die sich der Tür nähern. »Sind Sie der nette Mann, der mir die Blumen geschenkt hat?«

»Das bin ich.«

Ein Schloss klickt, und der Türgriff dreht sich. Die Tür geht einen Spaltbreit auf. Der Streifen eines leicht olivbraunen Gesichts und ein einzelnes Auge leuchten aus dem Dunkel. »Sie sind’s ja wirklich. Kommen Sie schnell rein. Schnell!« Sie tritt zurück und öffnet die Tür eben weit genug, dass er sich hindurchzwängen kann. Sobald er drinnen ist, knallt sie die Tür zu und sperrt wieder ab.

Das wie glutflüssig wirkende Licht, das die Ränder der Vorhänge und Jalousien umgibt, verstärkt die Dunkelheit im Inneren des langen Wohnwagens. Über dem Ausguss brennt eine schwache Lampe, und eine weitere, ebenso schwache beleuchtet einen kleinen Tisch, der ansonsten nur von einer Flasche Kaffeebrandy, einem fettfingerverschmierten Glas, das mit dem Bild einer Comicfigur verziert ist, und einem Sammelalbum eingenommen wird. Der Lichtkreis der Lampe ist groß genug, um den niedrigen, mit Stoff bezogenen Sessel neben dem Tisch noch zur Hälfte zu beleuchten. Tansy Fre-neau stößt sich von der Tür ab und macht leichtfüßig zwei zierliche Schritte auf Jack zu. Sie legt den Kopf ein wenig schief und faltet die Hände unter dem Kinn. Jack ist bestürzt über den erwartungsvollen, leicht glasigen Ausdruck ihrer Augen. Selbst bei großzügigster, umfassendster Definition von Zurechnungsfähigkeit ist diese Frau nicht bei Verstand. Er hat keine Ahnung, was er ihr sagen soll.

»Möchten Sie nicht ... Platz nehmen?« Mit einer einladenden Handbewegung deutet sie auf einen Holzstuhl mit hoher Lehne.

»Wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Warum sollte ich etwas dagegen haben? Ich werde mich in meinen Sessel setzen, warum sollten Sie also nicht den Stuhl bekommen?«

»Danke«, sagt Jack. Er nimmt Platz und beobachtet, wie Tansy zur Tür zurückgleitet, um das Schloss zu kontrollieren. Nachdem sie sich davon überzeugt hat, dass die Tür abgesperrt ist, bedenkt sie ihn mit einem strahlenden Lächeln, patscht barfuß zu ihrem Sessel zurück und bewegt sich dabei fast mit der Grazie einer Ballerina. Als sie sich in den Sessel sinken lässt, sagt er: »Haben Sie Angst, dass jemand hierher kommen könnte, Tansy? Gibt es jemanden, der ausgesperrt bleiben soll?«

»O ja«, sagt sie, beugt sich nach vorn und runzelt in einer übertriebenen Zurschaustellung kleinmädchenhafter Ernsthaftigkeit die Stirn. »Aber das ist kein Jemand, es ist ein Ding. Und ich lasse es nie, nie wieder in mein Haus, niemals mehr. Aber Sie lasse ich rein, weil Sie ein sehr netter Mann sind und mir diese schönen Blumen geschenkt haben. Und Sie sehen auch sehr gut aus.«

»Ist Gorg das Ding, das Sie nicht reinlassen wollen, Tansy? Haben Sie Angst vor Gorg?«

»Ja«, sagt sie steif. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Nein danke.«

»Nun, ich werde etwas Tee trinken. Das ist sehr, sehr guter Tee. Er schmeckt irgendwie fast wie Kaffee.« Sie zieht die Augenbrauen hoch und wirft ihm einen lebhaften, fragenden Blick zu. Er schüttelt den Kopf. Ohne aufzustehen, kippt sich Tansy zwei Finger hoch Brandy in ihr Glas und stellt die Flasche dann auf den Tisch zurück. Die Comicfigur auf dem Glas, das sieht Jack jetzt, ist Scooby-Doo. Tansy nimmt einen kleinen Schluck. »Lecker. Haben Sie eine Freundin? Sonst könnte ich doch Ihre Freundin sein, besonders wenn Sie mir noch mehr von diesen schönen Blumen schenken. Ich habe sie in eine Vase getan.« Sie spricht das Wort aus, als würde sie den französischen Akzent einer Bostoner Matrone parodieren: Vahhhs. »Sehen Sie?«

Auf der Küchentheke lassen die Maiglöckchen in einem halb mit Wasser gefüllten Glaskrug die Köpfe hängen. Außerhalb der Territorien ist ihre Lebensdauer sehr begrenzt. Die hiesige Welt, vermutet Jack, vergiftet sie schneller, als sie den Gifthauch abwehren können. Jedes Quentchen Gutheit, das sie an ihre Umgebung abgeben, schwächt ihre Lebenskraft. Tansy, das erkennt er jetzt, verdankt ihr Überleben der in den Blumen noch wirksamen Kraft der Territorien - wenn sie verwelkt sind, wird ihre schützende Kleinmädchenrolle zu Staub zerfallen und ihr Wahn sie möglicherweise verschlingen. Dieser Wahn stammt von Gorg; darauf würde er sein Leben verwetten.

»Ich habe zwar schon einen Freund, aber der zählt nicht. Er heißt Lester. Beezer und seine Freunde nennen ihn immer Stinky Cheese, obwohl ich nicht weiß, warum. Lester stinkt fast gar nicht, wenigstens nicht, wenn er nüchtern ist.«

»Erzählen Sie mir von Gorg«, sagt Jack.

Tansy, die graziös den kleinen Finger vom Scooby-Doo-Glas wegstreckt, nimmt einen weiteren Schluck Kaffeebrandy. Sie runzelt wieder die Stirn. »Oh, das ist aber ein richtig ekliges Thema.«

»Ich möchte mehr über ihn wissen, Tansy. Helfen Sie mir, dann kann ich dafür sorgen, dass er Sie nie wieder belästigt.«

»Wirklich?«

»Und Sie würden mir damit auch helfen, den Mann zu finden, der Ihre Tochter umgebracht hat.«

»Darüber will ich jetzt nicht reden. Das regt mich zu sehr auf.« Mit ihrer freien Hand macht Tansy eine flatternde Bewegung über ihrem Schoß, als wollte sie Krümel wegwischen. Sie verzieht das Gesicht, und in ihre Augen tritt ein neuer Ausdruck. Dabei taucht eine Sekunde lang die verzweifelte, schutzlose Tansy auf, die in einem Delirium aus Trauer und Wut zu explodieren droht.

»Sieht Gorg wie ein Mensch aus oder wie etwas anderes?«

Tansy schüttelt sehr langsam und bedächtig den Kopf. Sie ist dabei, sich wieder zusammenzureißen, wieder in eine Persönlichkeit zu schlüpfen, die ihre wahren Gefühle ignorieren kann. »Nein, Gorg sieht nicht wie ein Mensch aus. Überhaupt nicht.«

»Sie haben gesagt, er habe Ihnen die Feder gegeben, die Sie getragen haben. Sieht er wie ein Vogel aus?«

»Gorg sieht nicht wie ein Vogel aus, er ist ein Vogel. Und wissen Sie, was für einer?« Sie beugt sich wieder nach vorn, und ihr Gesicht nimmt den Ausdruck einer Sechsjährigen an, die dabei ist, das Schlimmste zu erzählen, was sie weiß. »Ein Rabe. Das ist er, ein großer alter Rabe. Ganz schwarz. Wenn auch nicht glänzend schwarz.« Ihre Augen weiten sich wegen der Wichtigkeit dessen, was sie mitzuteilen hat. »Er ist aus Plutos nächtiger Sphäre gekommen. Das stammt aus einem Gedicht, das wir in der sechsten Klasse bei Mrs. Normandie gelernt haben. Der Rabe von Edgar Allan Poe.«

Tansy setzt sich auf, nachdem sie dieses wertvolle Detail aus der Literaturgeschichte weitergegeben hat. Jack vermutet; dass Mrs. Normandie denselben befriedigten, pädagogischen Ausdruck zur Schau getragen hat, der jetzt auf Tansys Gesicht steht - aber ohne den lebhaften, ungesunden Glanz in Tansys Augen.

»Plutos nächtige Sphäre gehört nicht zu unserer Welt«, fährt Tansy fort. »Haben Sie das gewusst? Sie existiert neben unserer Welt und außerhalb von ihr. Wer sie besuchen will, muss eine Tür finden, die zu ihr führt.«

Als ob man mit Judy Marshall spräche, kommt es Jack plötzlich vor, aber mit einer Judy Marshall ohne die Seelengröße und den unglaublichen Mut, die sie vor dem Wahnsinn gerettet haben. Sobald ihm Judy Marshall einfällt, will er sie wiedersehen, und dieser Wunsch ist so stark, dass Judy ihm wie der eine entscheidende Schlüssel zu den Rätseln erscheint, die ihn auf allen Seiten umgeben. Und ist sie der Schlüssel, ist sie auch die Tür, die er öffnet. Jack will aus der dunklen, verbogenen Atmosphäre von Tansys Wohnwagen heraus; er will sein Treffen mit den Thunder Five auf später verschieben und den Highway entlang und über den Hügel nach Arden und zu dem düsteren Krankenhaus rasen, in dem die strahlende Judy Marshall in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung ihre Freiheit gefunden hat.

»Aber ich will diese Tür niemals finden, weil ich nicht dort hingehen will«, sagt Tansy in leierndem Tonfall. »Plutos nächtige Sphäre ist eine schlechte Welt. Dort steht alles in Flammen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Gorg hat’s mir gesagt«, flüstert Tansy. Ihr Blick huscht von ihm weg und wendet sich dem Scooby-Doo-Glas zu. »Gorg mag Feuer. Aber nicht, weil es ihn wärmt. Sondern weil es Dinge verbrennt, und das macht ihn glücklich. Gorg hat gesagt .« Sie schüttelt den Kopf und hebt das Glas an die Lippen. Statt daraus zu trinken, kippt sie das Glas aber nur, bis die Flüssigkeit den Rand erreicht, um sie dann mit der Zunge aufzuschlecken. Ihr Blick gleitet wieder höher und begegnet seinem. »Mein Tee ist ein Zaubertrank, glaub ich.«

Aber sicher, denkt Jack, dem fast das Herz bricht, wenn er die zarte, verirrte Tansy betrachtet.

»Sie dürfen hier drinnen nicht weinen«, erklärt sie ihm. »Sie machen ein Gesicht, als wenn Sie weinen wollten, aber das dürfen Sie nicht. Mrs. Normandie erlaubt es nicht. Allerdings dürfen Sie mich küssen. Wollen Sie mich küssen?«

»Natürlich will ich das«, sagt er. »Aber Küssen erlaubt Mrs. Normandie auch nicht.«

»Na gut.« Tansy schleckt wieder an ihrem Drink. »Das können wir nachholen, wenn sie mal rausgeht. Und Sie können mich wie Lester Moon umarmen. Und was Lester alles tut, können Sie auch tun. Mit mir.«

»Danke«, sagt Jack. »Tansy, können Sie mir vielleicht erzählen, was Gorg sonst noch gesagt hat?«

Sie legt den Kopf schief, schiebt die Lippen vor und zieht sie wieder zurück. »Er hat gesagt, dass er durch ein flammendes Loch hergekommen ist. Mit zurückgefalteten Rändern. Und er hat gesagt, dass ich eine Mutter bin und meiner Tochter helfen muss. Im Gedicht heißt sie Lenore, aber ihr richtiger Name ist Irma. Und er hat auch gesagt . er hat gesagt, dass ein böser alter Mann ihr Bein gegessen hat, aber dass es schlimmere Dinge gibt, die meiner Irma hätten zustoßen können.«

Einige Sekunden lang scheint Tansy kurz davor zu sein, in sich selbst zurückzuweichen, unter ihrer stationären Oberfläche zu verschwinden. Ihr Mund bleibt halb geöffnet; sie blinzelt nicht einmal. Als sie aus unbekannter Ferne zurückkehrt, könnte man glauben, sie sei eine Statue, die langsam lebendig wird. Ihre Stimme ist fast zu leise, um hörbar zu sein. »Ich sollte es diesem Alten heimzahlen, es ihm gründlich heimzah-len. Aber Sie haben mir die schönen Maiglöckchen geschenkt, und er war ja nicht der richtige Mann, nicht wahr?«

Jack würde am liebsten laut kreischen.

»Er hat gesagt, dass es schlimmere Dinge gibt«, flüstert Tansy wie ungläubig. »Aber er hat nicht gesagt, welche er meint. Stattdessen hat er sie mir gezeigt. Und als ich sie gesehen habe, dachte ich, meine Augen würden verbrennen. Obwohl ich noch sehen konnte.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Eine große, große Weite, ganz aus Feuer gemacht«, sagt Tansy. »Ungeheuer hoch und weit.« Sie verstummt, dann durchläuft sie ein innerliches Zittern, das im Gesicht beginnt, nach unten durch ihren Körper läuft und ihn durch die Finger verlässt. »Irma ist nicht dort. Nein, das ist sie nicht. Sie ist umgekommen, und ein böser alter Mann hat ihr Bein gegessen. Er hat mir einen Brief geschickt, aber den hab ich nie gekriegt. Deshalb hat Gorg ihn mir vorgelesen. An diesen Brief möchte ich nicht mehr denken.« Das klingt, als schilderte ein kleines Mädchen etwas, was es nur vom Hörensagen kennt oder sich ausgedacht hat. Zwischen Tansy und allem, was sie gesehen und gehört hat, befindet sich ein eiserner Vorhang, und nur dank dieses Vorhangs funktioniert sie noch. Jack fragt sich nochmals, was aus ihr werden wird, wenn die Maiglöckchen verwelken.

»Und jetzt«, sagt sie, »wird’s Zeit, dass Sie gehen, wenn Sie mich nicht küssen wollen. Ich möchte eine Zeit lang allein sein.«

Jack, den ihre Entschlossenheit überrascht, steht auf und beginnt etwas höflich Belangloses zu sagen. Tansy winkt ihn in Richtung Tür von sich weg.

Im Freien scheint die Luft mit schlechten Gerüchen und unsichtbaren Chemikalien geschwängert zu sein. Die Maiglöckchen aus den Territorien haben sich mehr Kraft bewahrt, als Jack ihnen zugetraut hat - jedenfalls genug, um die Luft in Tansys Wohnwagen frisch und rein zu machen. Der Boden unter Jacks Füßen ist von der Sonne ausgedörrt, und in der Luft hängt ein brennend säuerlicher Geruch. Unterwegs zu seinem Pickup muss Jack sich fast zum Atmen zwingen, aber je mehr er atmet, desto schneller wird er sich wieder an die normale Welt gewöhnen. Seine Welt, obwohl sie ihm jetzt vergiftet erscheint. Er hat nur noch einen Wunsch: auf dem Highway 93 zu Judy Marshalls Aussichtspunkt hinaufzurasen, nach Arden hinunter und auf den Besucherparkplatz zu fahren, ins French County Lutheran zu stürmen und die von Dr. Spiegleman und Oberschwester Jane Bond errichteten Barrieren zu überwinden, bis er sich wieder in der lebensspendenden Gegenwart Judy Marshalls befindet.

Er glaubt, Judy Marshall irgendwie zu lieben. Vielleicht liebt er sie ja wirklich. Er weiß, dass er sie braucht: Judy ist seine Tür und sein Schlüssel. Seine Tür, sein Schlüssel. Was immer das bedeutet, es ist die Wahrheit. Okay, diese Frau, die er so sehr braucht, ist mit dem äußerst netten Fred Marshall verheiratet, aber er will sie ja nicht heiraten; eigentlich will er noch nicht einmal mit ihr schlafen, jedenfalls nicht unbedingt - er will nur vor ihr stehen und dann abwarten, was geschieht. Irgendetwas wird geschehen, das steht fest, aber als er sich das vorzustellen versucht, sieht er nur eine Explosion aus winzigen roten Federn, nicht gerade das erhoffte Bild.

Jack, der unsicher auf den Beinen ist, stützt sich mit einer Hand vom Fahrerhaus seines Pickups ab, während er die andere nach dem Türgriff ausstreckt. Beides versengt ihm die Hände, die er jetzt sekundenlang schlenkert, um sie zu kühlen. Er steigt ein und auch der Sitz ist heiß. Er kurbelt die Fenster herunter und stellt mit kurzem Bedauern fest, dass die Welt wieder normal zu riechen scheint. Sie riecht gut. Sie riecht nach Sommer. Wie soll es jetzt weitergehen? Das ist eine interessante Frage, aber als er wieder die Straße erreicht und kaum dreißig Meter weit gefahren ist, tauchen links von ihm die niedrigen grauen Umrisse der Holzgebäude der Sand Bar auf, und er biegt ohne zu zögern auf den absurd weitläufigen Parkplatz ab, als hätte er das schon immer vorgehabt. Auf der Suche nach einem schattigen Platz fährt Jack hinter das Gebäude und sieht dort den einzigen Versuch, hier Außenanlagen zu gestalten: einen breit ausladenden Ahorn, der am Rand des Parkplatzes aus dem Asphalt wächst. Er stellt seinen Wagen im Schatten des Ahorns ab und steigt aus, lässt aber die Fenster offen. Von den beiden einzigen anderen Fahrzeugen auf dem Parkplatz steigen wabernd Hitzewellen auf.

Es ist 11.20 Uhr. Er wird allmählich auch hungrig, sein Frühstück hat nämlich nur aus einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Toast mit Orangenmarmelade bestanden, und das war vor drei Stunden. Jack hat das Gefühl, dass es ein langer Nachmittag werden wird. Am besten isst er hier eine Kleinigkeit, während er auf die Biker wartet.

Der Hintereingang der Sand Bar führt in einen schmalen Gang zwischen den Toiletten, der dann in einen langen rechteckigen Raum übergeht, dessen eine Längsseite von einer glänzend polierten Bartheke eingenommen wird, während auf der gegenüberliegenden Seite geräumige Sitznischen angeordnet sind. Zwei große Billardtische nehmen die Mitte des Raums ein, und eine Jukebox steht im Hintergrund an der Wand zwischen ihnen. An der Querseite des langen Raums hängt ein Großbildfernseher gut zweieinhalb Meter über dem blank gescheuerten Holzboden, dort, wo alle Gäste ihn gut sehen können. Auf dem Fernsehschirm flimmert stumm ein Werbespot, aus dem nicht recht deutlich wird, welchen Zweck das beworbene Produkt erfüllt. Nach dem Sonnenglast auf dem Parkplatz wirkt die Bar angenehm dunkel, und während Jacks Augen sich ans Halbdunkel gewöhnen, scheinen die wenigen schwach brennenden Lampen verschwommene Lichtstrahlen auszusenden.

Der Barmann, den Jack für den berühmten Lester »Stinky Cheese« Moon hält, sieht auf, als Jack hereinkommt, und wendet sich dann wieder seinem auf der Theke aufgeschlagenen Herald zu. Er sieht erneut auf, als Jack etwas rechts von ihm auf einem Barhocker Platz nimmt. Stinky Cheese ist nicht so schlimm, wie Jack erwartet hatte. Er trägt ein sauberes Hemd, das nur wenig weißer als sein rundes Babygesicht und sein glatt rasierter Schädel ist. Moons Gesichtsausdruck, halb professionell und halb übelnehmerisch, ist unverkennbar der ei-nes Mannes, der den Familienbetrieb übernommen, gleichzeitig aber den Verdacht hat, er hätte anderswo erfolgreicher sein können. Jacks Empfindung sagt ihm, dass wohl dieser Eindruck von müder Frustration diesem Mann seinen Spitznamen bei den Bikern eingebracht hat, weil sie ihm den Ausdruck eines Menschen verleiht, der damit rechnet, jeden Augenblick könnte ihm ein übler Geruch in die Nase steigen.

»Kann ich hier etwas zu essen bekommen?«, fragt Jack ihn.

»Steht alles auf der Tafel.« Der Barmann dreht sich zur Seite und zeigt auf eine weiße Tafel mit Steckbuchstaben, die als Speisekarte dient. Hamburger, Cheeseburger, Hot Dog, Bratwurst, Brühpolnische, Sandwiches, Pommes, Zwiebelringe. Die Geste des Mannes ist darauf berechnet, Jack zu suggerieren, er sei unaufmerksam, und das tut sie auch.

»Sorry, ich hab die Tafel nicht gesehen.«

Der Barmann zuckt mit den Schultern.

»Cheeseburger, medium, mit Pommes, bitte.«

»Lunch gibt’s erst ab halb zwölf, was auch auf der Tafel steht. Sehen Sie?« Eine weitere halb spöttische Handbewegung in Richtung Tafel. »Aber Mutter bereitet hinten schon alles vor. Ich bringe ihr Ihre Bestellung gleich rein, damit sie damit anfangen kann, wenn sie so weit ist.«

Jack bedankt sich, und der Barmann sieht zum Fernseher auf, geht dann ans Ende der Theke und verschwindet dort um die Ecke. Einige Sekunden später kommt er zurück, sieht zum Fernseher auf und fragt Jack, was er trinken möchte.

»Gingerale«, sagt Jack.

Ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen, füllt Lester Moon aus einem Zapfhahn ein Bierglas mit Ginger-ale und schiebt es zu Jack hinüber. Dann lässt er die Hand über die Theke gleiten, um nach der Fernbedienung zu greifen, und sagt: »Das stört Sie hoffentlich nicht, aber ich sehe mir gerade diesen alten Film an. Echt komisch.« Er drückt auf einen Knopf der Fernbedienung, und Jack hört hinter seiner linken Schulter seine Mutter sagen: Smoky kommt heute anscheinend erst später. Ich wollte, der kleine Schlingel würde lernen, nicht mehr zu trinken, als er verträgt.

Bevor er sich zur Seite drehen kann, um den Fernsehschirm vor sich zu haben, fragt Lester Moon ihn, ob er sich an Lily Cavanaugh erinnert.

»O ja.«

»Ich hab sie als Junge immer gern gehabt.«

»Gleichfalls«, sagt Jack.

Wie Jack sofort erkannt hat, handelt es sich um den Film Der Schrecken von Deadwood Gulch, einen komischen Western aus dem Jahr 1950, in dem der damals berühmte und vielen in liebevoller Erinnerung gebliebene Bill Towns, gewissermaßen der Bob Hope des kleinen Mannes, einen feigen Glücksritter und Falschspieler darstellt, der in dem kleinen potemkinschen Dorf Dead-wood Gulch, Arizona, ankommt und bald versehentlich für einen berüchtigten Revolverhelden gehalten wird. Als die schöne und schlagfertige Besitzerin des Saloons Lazy 8, des lebhaften Zentrums des Dorflebens, wird Lily Cavanaugh von der Horde aus Cowboys, Nichtstuern, Ranchern, Händlern, Gesetzeshütern und Gesindel, die ihr Lokal jeden Abend füllt, sehr bewundert. Sie besteht darauf, dass alle Gäste ihre Revolver am Eingang abgeben und auf gute Manieren achten, die in Richtung Opopanax tendieren. In der jetzt gezeigten Szene, ungefähr eine halbe Stunde nach Filmbeginn, ist Lily allein im Saloon und versucht, eine lästige Biene loszuwerden.

Die Königin der B-Movies auf Bienenjagd, denkt Jack und lächelt.

Lily versucht abwechselnd die summende Plage mit einem Putztuch, einer Fliegenklatsche, einem Mopp, einem Besen und einem Revolvergürtel zu erlegen. Aber die Biene entgeht allen Anschlägen, surrt hierhin und dorthin, von der Bar zu einem Spieltisch, auf eine Whiskeyflasche, nacheinander auf drei weitere Flaschen, auf den Deckel des Klaviers, wartet oft, wenn ihre Widersacherin sich scheinbar harmlos anschleicht, um dann im letzten Augenblick aufzufliegen, bevor die neueste Waffe herabklatscht. Das ist eine hübsche kleine Filmsequenz, die Slapstick-Elemente enthält, und mit sechs oder sieben Jahren war der kleine Jacky halb hysterisch vor Lachen, wenn er sah, wie es seiner sonst so kompetenten Mutter wiederholt nicht gelang, dieses fliegende Ärgernis zu erlegen. Und als er sich plötzlich gefragt hatte, wie die Filmleute es geschafft hatten, das Insekt alle diese Dinge tun zu lassen, hatte Lily ihm erklärt, dies sei keine richtige Biene, sondern eine Zauberbiene, ein gelungener Trick der Abteilung Spezialeffekte.

»Ich hab mich immer gefragt, wie sie die Biene dazu gebracht haben, das alles zu tun«, sagt Lester Moon auf einmal. »Ich meine, was haben sie gemacht, sie etwa abgerichtet?«

»Lily ist zuerst allein gefilmt worden«, sagt Jack, der inzwischen findet, dass Stinky Cheese doch ein ziemlich anständiger Kerl ist, der sehr viel Geschmack beweist, was Filmschauspielerinnen betrifft. »Die Biene ist ein später eingefügter Spezialeffekt. Sie ist keine echte Biene, sondern nur hineinkopiert - ein Zeichentrick. Aber das merkt man wirklich nicht, was?«

»Überhaupt nicht. Wissen Sie das bestimmt? Woher wissen Sie das überhaupt?«

»Ich hab’s in irgendeinem Buch gelesen«, sagt Jack, was seine Standardantwort auf solche Fragen ist.

Bill Towns, prächtig in modischer Spielerkleidung, kommt durch die Schwingtüren ins Lazy 8 geschlendert und wirft der Besitzerin begehrliche Blicke zu, ohne zu merken, dass sie sich an die Biene anschleicht, die sich wieder auf die glänzend polierte Theke gesetzt hat. Er hat eine Romanze im Sinn und stolziert großspurig durch den Saloon.

Wie ich sehe, sind Sie wieder da, Meister, sagt Lily. Das Lazy 8 gefällt Ihnen anscheinend.

Baby, dies ist die beste Kneipe westlich des breiten Missouri. Erinnert mich an die Bar, in der ich schneller gezogen habe als Black Jack McGurk. Der arme Black Jack. Er hat nie gewusst, wann er aussteigen musste.

Mit dem Heulen einer herabstoßenden B-52 stürzt die Zauberbiene, ein fiktives Wesen innerhalb einer Fiktion, sich auf Bill Towns’ Kopf mit dem eleganten Hut. Das Gesicht des Komikers verzieht sich zu komischem Entsetzen. Er wedelt mit den Armen, er hüpft herum, er kreischt. Die Zauberbiene führt um den in panische Angst geratenen Pseudo-Revolverhelden Kunstflugfiguren vor. Towns’ eleganter Hut fällt zu Boden; sein Haar ist zerzaust. Er schiebt sich auf einen Tisch zu, wedelt noch einmal abwehrend mit den Händen, verschwindet dann unter dem Tisch und bittet um Hilfe.

Ohne die Biene auf der Tischplatte aus den Augen zu lassen, tritt Lily an die Bar und greift nach einem Glas und einer zusammengefalteten Zeitung. Sie nähert sich dem Tisch, auf dem die Biene jetzt in Kreisen herumläuft. Sie springt vor, knallt das umgekehrte Glas auf die Tischplatte und hat damit die Biene gefangen. Das Insekt fliegt auf und prallt an den Boden des Glases. Lily kippt das Glas, schiebt die zusammengefaltete Zeitung darunter und hebt das Glas, in dem die Biene gefangen ist, hoch.

Die Kamera fährt zurück, und wir sehen den feigen Spieler unter dem Tisch hervorspähen, während Lily die Schwingtüren aufstößt und die Biene ins Freie entlässt.

Hinter Jack sagt Lester Moon: »Der Cheeseburger ist fertig, Mister.«

In der folgenden halben Stunde isst Jack seinen Burger und versucht, sich von dem Film ablenken zu lassen. Der Burger ist erstklassig, Weltklasse, mit dem saftigen Geschmack, den man nur auf einem eingefetteten Grill erzielen kann, und die Pommes sind perfekt, außen goldgelb und knusperig, aber er kann sich nicht recht auf Der Schrecken von Deadwood Gulch konzentrieren. Das Problem ist nicht, dass er den Film schon ungefähr ein Dut-zend Mal gesehen hat; das Problem ist Tansy Freneau. Bestimmte Dinge, die sie gesagt hat, machen ihm Sorgen. Je länger er über sie nachdenkt, desto weniger versteht er, was hier vorgeht.

Nach Tansys Darstellung kam die Krähe - der Rabe -namens Gorg aus einer Welt neben und außerhalb der bekannten Welt. Damit musste sie die Territorien gemeint haben. Mit einem Ausdruck aus E. A. Poes Der Rabe hatte sie diese andere Welt als »Plutos nächtige Sphäre« bezeichnet, was für jemanden wie Tansy eine ziemlich gute Beschreibung sein mag, aber keineswegs auf die magischen Territorien anwendbar zu sein schien. Gorg hatte Tansy erklärt, in seiner Welt stehe alles in Flammen, was nicht einmal auf das Verheerte Land zutraf. Jack konnte sich an das Verheerte Land und den eigenartigen Zug erinnern, der ihn und den Rationalen Richard, damals ein kranker, schwacher Rationaler Richard, durch diese endlose rote Wüste befördert hatte. Dort hatten seltsame Geschöpfe gelebt - Alligatormenschen und Vögel mit den Gesichtern von bärtigen Affen -, aber es hatte bestimmt nicht in Flammen gestanden. Das Verheerte Land war das Ergebnis irgendeiner früheren Katastrophe, nicht Schauplatz eines gegenwärtigen Großfeuers. Was hatte Tansy gesagt? Eine große, große Weite, ganz aus Feuer gemacht ... ungeheuer hoch und weit. Was hatte sie gesehen, für welche Landschaft hatte Gorg ihr die Augen geöffnet? Vielleicht war es auch ein großer brennender Turm oder ein von Feuer verzehrtes riesiges Gebäude gewesen. Ein brennender Turm, ein brennendes Gebäude in einer brennenden Welt - wie sollten das die Territorien sein?

Jack war in den letzten achtundvierzig Stunden zweimal in den Territorien gewesen, und was er dort gesehen hat, war schön. Mehr als nur schön - reinigend. Als tiefste Wahrheit weiß Jack über die Territorien, dass ihnen eine Art heiliger Magie innewohnt: die Magie, die er in Judy Marshall gesehen hat. Durch diese Magie können die Territorien das Leben von Menschen auf wundersame Weise zum Guten wenden. Das Leben dieser außergewöhnlich zähen geliebten Frau, die sich vor ihm auf dem großen Fernsehschirm über Bill Towns lustig macht, wurde durch einen Gegenstand aus den Territorien gerettet. Weil Jack in den Territorien gewesen ist -und vielleicht weil er den Talisman in der Hand gehalten hat -, siegt fast jedes Pferd, auf das er setzt, verdreifacht jede Aktie, die er kauft, ihren Wert, gewinnt jedes Pokerblatt, das er in der Hand hält.

Wovon redet Tansy also? Und was hat all dieses Zeug von Gorgs Ankunft durch ein flammendes Loch zu bedeuten?

Als Jack gestern hinübergeflippt war, hatte er weit im Südwesten etwas Unglückliches, etwas Ungesundes wahrgenommen, und vermutet, dass er dort den Twinner des Fishermans finden würde. Den Fisherman umbringen, den Twinner umbringen; was er zuerst tat, spielte keine Rolle, weil der Tod des einen auch den anderen schwächen würde. Aber ...

Diese Sache mit Gorg blieb weiter unverständlich. Um von einer Welt zur anderen zu reisen,flippte man einfach

- man setzte nicht den Rand der Welt in Brand, um durch die Flammen in eine andere zu gelangen.

Kurz vor zwölf Uhr übertönt das Dröhnen von Motorradmotoren die Stimmen aus dem Fernseher. »Äh, Mister, vielleicht gehen Sie jetzt lieber«, sagt Moon. »Das sind die .«

»Die Thunder Five«, sagt Jack. »Ich weiß.«

»Okay. Die Sache ist nur, dass viele meiner Gäste Schiss vor denen haben. Aber wenn man sie richtig behandelt, sind sie eigentlich ganz in Ordnung.«

»Ich weiß. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

»Das heißt, wenn Sie ihnen vielleicht ein Bier oder so was spendieren, werden die denken, dass Sie in Ordnung sind.«

Jack steht von seinem Hocker auf und wendet sich dem Barmann zu. »Lester, Sie brauchen nicht nervös zu werden. Die Thunder Five kommen, um sich hier mit mir zu treffen.«

Lester stutzt blinzelnd. Jack fällt zum ersten Mal auf, dass die Augenbrauen seines Gegenübers wie bei einem Vamp aus den Zwanzigerjahren dünne geschwungene Bogen sind. »Okay, okay. Ich lasse lieber schon mal einen Krug Kingsland einlaufen.« Er holt einen Glaskrug unter der Theke hervor, stellt ihn unter den Zapfhahn und dreht auf. Ein dicker Strahl einer bernsteingelben Flüssigkeit schießt in den Krug und bildet eine dicke Schaumschicht.

Der Motorenlärm wird ohrenbetäubend laut, dann verstummt er plötzlich. Beezer St. Pierre kommt mit Doc, Sonny, Mouse und Kaiser Bill auf den Fersen hereingepoltert. Sie könnten brandschatzende Wikinger sein, aber Jack ist überglücklich, sie zu sehen.

»Stinky, mach deinen Scheißfernseher aus«, röhrt Beezer. »Und wir sind nicht hergekommen, um zu trinken, also kannst du den Krug wieder in den Ausguss leeren. Wie du zapfst, ist ohnehin nur Schaum drin. Und wenn du damit fertig bist, verdrückst du dich in die Küche zu deiner Mama. Was wir mit diesem Mann zu besprechen haben, geht dich nichts an.«

»Okay, Beezer«, sagt Moon mit bebender Stimme. »Ich brauche nur eine Sekunde.«

»Genau so lange hast du Zeit«, sagt Beezer.

Beezer und die anderen reihen sich an der Theke auf, wobei einige Stinky Cheese anstarren und die anderen -etwas freundlicher - Jack ansehen. Mouse trägt sein Haar noch immer zu hintereinander aufgereihten Zöpfen geflochten und hat sich wie ein Footballspieler einen Streifen schwarzer Farbe, die Blendung verhüten soll, unter die Augen geschmiert. Kaiser Bill und Sonny haben ihre Mähnen wieder zu Pferdeschwänzen zusammengefasst. Ale und Schaum fließen aus dem Glaskrug und verschwinden im Ausguss. »Okay, Jungs!«, sagt Moon. Er zieht sich entlang der Theke zurück. Eine Tür wird geschlossen.

Die Mitglieder der Thunder Five verteilen sich vor Jack. Die meisten haben die Arme verschränkt, sodass ihre Muskeln deutlich hervortreten.

Jack schiebt seinen Teller von sich weg, steht auf und sagt: »Hat eigentlich einer von euch Jungs vor gestern Abend jemals was von George Potter gehört?«

Von seinem Platz auf dem Rand des Billardtischs in der Nähe des Haupteingangs wendet Jack sich an Beezer und Doc, die sich auf ihren Barhockern nach vorn beugen. Kaiser Bill, der einen Finger an die Unterlippe gelegt hat, steht mit gesenktem Kopf neben Beezer. Mouse liegt auf dem anderen Billardtisch seitlich ausgestreckt und stützt den Kopf auf den Ellenbogen. Sonny, der mit finsterem Gesicht die Fäuste gegeneinander schlägt, marschiert zwischen Bar und Jukebox auf und ab.

»Und Sie wissen bestimmt, dass er nicht Bleak House wie der Roman von Dickens gesagt hat?«, sagt Mouse.

»Ganz bestimmt«, sagt Jack und nimmt sich nochmals vor, nicht jedes Mal überrascht zu sein, wenn einer dieser Kerle demonstriert, dass er auf dem College war. »Es war >Black House<.«

»Jesses, ich glaube fast, ich ...« Mouse schüttelt den Kopf.

»Wie hat dieser Bauunternehmer gleich wieder geheißen?«, fragt Beezer.

»Burnside. Vorname vermutlich Charles, manchmal auch als >Chummy< bekannt. Vor vielen Jahren hat er noch >Beer Stein< oder so ähnlich geheißen.«

»Beerstein? Bernstein?«

»Richtig«, sagt Jack.

»Und Sie glauben, dass dieser Mann der Fisherman ist.«

Jack nickt. Beezer starrt ihn an, als wollte er sein Gehirn durchleuchten.

»Wie sicher sind Sie sich da?«

»Zu neunundneunzig Prozent. Er hat die Polaroidfo-tos in Potters Zimmer versteckt.«

»Verdammt.« Beezer stemmt sich von seinem Hocker hoch und geht hinter die Theke. »Ich will mich nur vergewissern, dass niemand das Offensichtliche übersieht.« Er bückt sich und kommt mit einem Telefonbuch in der Hand wieder hoch. »Nichts für ungut?« Beezer schlägt das auf der Theke liegende Telefonbuch auf, blättert ein paar Seiten zurück und lässt den dicken Zeigefinger über die Einträge gleiten. »Kein Burnside. Schade.«

»Trotzdem eine gute Idee«, sagt Jack. »Genau das habe ich heute Morgen auch gemacht.«

Sonny bleibt auf seinem Rückweg von der Jukebox stehen und deutet auf Jack. »Wie lange ist’s schon her, dass dieses gottverdammte Haus gebaut wurde?«

»Fast dreißig Jahre. Irgendwann in den Siebzigern.«

»Scheiße, damals waren wir alle noch Kinder daheim in Illinois. Wie sollen wir da was über dieses Haus wissen?«

»Ihr Jungs kommt doch ziemlich herum. Da dachte ich, ihr hättet es vielleicht mal zufällig gesehen. Und in dem Haus soll es ja spuken. Über solche Häuser reden die Leute für gewöhnlich.« Zumindest tun sie das unter normalen Umständen, denkt Jack. Unter normalen Umständen wurden Häuser zu Spukhäusern, weil sie einige Jahre leer standen oder weil sich dort irgendwas Schreckliches ereignet hatte. In diesem Fall war das Haus jedoch aus sich heraus schrecklich, und die Leute, die sonst darüber geredet hätten, wollten sich offenbar nicht daran erinnern, es jemals gesehen zu haben. Nach Dales Reaktion zu urteilen, war dieses Black House in seinem eigenen nicht vorhandenen Schatten verschwunden.

»Denkt darüber nach«, sagt Jack. »Versucht euch zu erinnern. Habt ihr in den Jahren, in denen ihr in French Landing lebt, jemals von einem Haus gehört, auf dem ein Fluch zu liegen scheint? Black House hat bei einigen der Männer, die es bauten, schwere Verletzungen hervorgerufen. Die Bauarbeiter haben es gehasst; sie hatten Angst vor ihm. Sie haben schon während des Baus behauptet, es sei ein Spukhaus. Zuletzt wollte niemand mehr dort arbeiten, und Burnside musste das Haus allein fertig stellen.«

»Es muss irgendwo allein stehen«, sagt Doc. »Und diese Bude steht bestimmt nicht frei sichtbar herum. Auch nicht in einer Wohnsiedlung wie Libertyville. In der Robin Hood Lane ist es garantiert nicht zu finden.«

»Richtig«, sagt Jack. »Das hätte ich vorher erwähnen sollen. Potter hat mir erzählt, dass es etwas abseits >der Straße< steht, wie er sich ausgedrückt hat, auf einer Art Lichtung. Also irgendwo im Wald, Doc, da haben Sie Recht. An einem abgelegenen Ort.«

»He, he, he«, sagt Mouse, schwingt die Beine über den Rand des Billardtischs und setzt sich grunzend auf.

Er hat die Augen zusammengekniffen und schlägt sich mit einer Pranke an die Stirn. »Wenn ich mich bloß erinnern könnte .« Er stößt einen frustrierten Schrei aus.

»Woran?« Beezers Stimme ist auf einmal doppelt so laut, und das Wort klingt wie ein Pflasterstein, der auf einen betonierten Gehweg knallt.

»Ich weiß, dass ich das beschissene Haus schon mal gesehen habe«, sagt Mouse. »Sobald Jack angefangen hat, darüber zu reden, ist’s mir irgendwie bekannt vorge-kommen. Es hat sich in meinem Unterbewusstsein rumgetrieben, aber es wollte nicht rauskommen. Als ich versucht habe, darüber nachzudenken - mich mit Gewalt daran zu erinnern -, habe ich so glitzernde Lichter gesehen. Und als Jack gesagt hat, dass es im Wald steht, habe ich gewusst, wovon er redet. Ich hab’s ganz deutlich vor mir gesehen. Von all diesen glitzernden Lichtern umgeben.«

»Das klingt nicht gerade sehr nach Black House«, sagt Jack.

»Doch, doch. Die Lichter waren nicht wirklich da, ich hab sie nur gesehen.« Mouse schildert seine Beobachtung, als wäre das völlig rational.

Sonny lacht bellend, und Beezer schüttelt den Kopf und sagt: »Scheiße.«

»Das verstehe ich nicht«, sagt Jack.

Beezer sieht zu Jack hinüber, hebt einen Finger und fragt Mouse: »Reden wir von Juli, August vor zwei Jahren?«

»Klar«, sagt Mouse. »Der Sommer des Ultimativen Acids.« Er sieht zu Jack hinüber und lächelt. »Vor zwei Jahren haben wir ein echt verblüffendes Acid gekriegt. Man hat nur eine Tablette einzuwerfen brauchen, dann waren fünf bis sechs Stunden der unglaublichsten Halluzinationen garantiert. Keiner hat mit diesem Stoff jemals schlechte Erfahrungen gemacht. Er war total groovy, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Ich kann’s mir irgendwie vorstellen«, sagt Jack.

»Man konnte damit sogar noch vernünftig arbeiten. Und vor allem fahren, Mann. Hat man damit auf seinem Bike gesessen, konnte man überallhin fahren. Jede normale Tätigkeit war ein Kinderspiel. Man war nie wirr im Kopf, sondern hat weit über die eigene Leistungsfähigkeit hinaus funktioniert.«

»Timothy Leary hatte nicht ganz Unrecht«, sagt Doc.

»Gott, das war großartiger Stoff«, sagt Mouse. »Wir haben ihn eingeworfen, bis er aufgebraucht war, und dann war alles vorbei. Die ganze Acid-Sache. Konnte man nicht mehr von diesem Stoff kriegen, war es sinnlos, was anderes zu schlucken. Ich hab nie rausgekriegt, wo dieser Stoff her war.«

»Für euch ist’s besser, wenn ihr das nicht wisst«, sagt Beezer. »Verlass dich darauf.«

»Sie hatten also Acid eingeworfen, als Sie Black House gesehen haben«, sagt Jack.

»Klar. Darum hab ich ja die ganzen Lichter gesehen.«

»Lind wo steht es, Mouse?«, sagt Beezer bedächtig.

»Weiß ich eben nicht genau. Moment, Beezer, lass mich weiterreden. Das war der Sommer, in dem ich mit Little Nancy Haie zusammen war, weißt du noch?«

»Klar«, sagt Beezer. »Das war verdammt schade.« Er sieht zu Jack hinüber. »Little Nancy ist gleich nach diesem Sommer gestorben.«

»Hat mich schwer mitgenommen«, sagt Mouse. »Sie war von einem Tag auf den anderen allergisch gegen Luft und Sonne. Hat sich ständig übergeben müssen. Ausschlag am ganzen Körper. Sie konnte’s im Freien nicht mehr aushalten, weil das Licht ihr in den Augen weh getan hat. Doc konnte nicht rauskriegen, was ihr fehlt, also haben wir sie ins große Krankenhaus in La Ri-viere gebracht, aber dort waren sie ebenso ratlos. Wir haben mit ein paar Ärzten von der Mayo Clinic gesprochen, aber die konnten ihr auch nicht helfen. Sie hat einen schlimmen Tod gehabt, Mann. Hat einem das Herz gebrochen, das mit ansehen zu müssen. Mir hat’s jedenfalls das Herz gebrochen, das steht fest.«

Er schweigt für einen langen Augenblick, in dem er seine auf den Knien liegenden Hände anstarrt und keiner der anderen ein Wort sagt. »Also gut«, sagt Mouse schließlich und hebt den Kopf, »Folgendes weiß ich noch: An jenem bewussten Samstag hatten Little Nancy und ich also das Ultimative eingeworfen und sind ein bisschen zu Orten rumgefahren, die uns beiden gefallen haben. Wir waren im Park von La Riviere am Fluss, dann auf Dog Island und am Lookout Point. Auf der Rückfahrt haben wir auf der Klippe Halt gemacht - herrlich, Mann. Wir hatten keine Lust, gleich heimzufahren, also sind wir noch ein bisschen spazieren gefahren. Dabei ist Little Nancy dieses Zutrittverboten-Schild aufgefallen, an dem ich ungefähr schon tausendmal vorbeigefahren sein muss, ohne es zu bemerken.«

Er sieht zu Jack Sawyer hinüber. »Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, es war am Highway 35.«

Jack nickt.

»Hätten wir nicht das Ultimative eingeworfen gehabt, hätte sie das Schild bestimmt auch nie gesehen. O Mann, jetzt fällt mir alles wieder ein. >Was ist das?<, sagt sie, und ich schwöre, ich musste zwei oder drei Mal hinsehen, bevor ich das Schild richtig wahrgenommen habe - es war ganz verbeult und verbogen, mit ein paar rostigen Einschusslöchern darin. Halb unter den Bäumen versteckt. Jemand will uns von diesem Weg fern halten<, sagt Little Nancy. >Was ist eigentlich dort hinten ver-steckt?< Irgendwas in dieser Art. >Von welchem Weg?<, frage ich, und dann sehe ich ihn auch. Eben breit genug für ein Auto, wenn man einen Kompaktwagen hat. Fast zugewachsen, dichter Wald auf beiden Seiten. Teufel, ich hab mir nicht vorstellen können, dass dort hinten außer irgendeinem alten Schuppen was Interessantes versteckt sein sollte. Und mir hat das Aussehen dieser Zufahrt nicht gefallen.« Er sieht zu Beezer hinüber.

»Was soll das heißen, dir hat ihr Aussehen nicht gefallen?«, fragt Beezer. »Ich hab dich schon oft irgendwo reingehen gesehen, obwohl du verdammt gut wusstest, dass es dort gefährlich ist. Oder kommst du mir jetzt mystisch, Mouse?«

»Scheiße, du kannst es nennen, wie du willst, ich erzähle nur, wie’s war. Auf dem Schild hätte ebenso gut stehen können: Bleib draüssen, wenn du weisst, was gut für dich ist. War mir echt unheimlich.«

»Weil’s ein schlechter Ort war«, wirft Sonny ein. »Solche Orte kenne ich. Sie wollen nicht, dass man sie betritt, und lassen es einen auch wissen.«

Beezer betrachtet ihn gemessen und sagt: »Mir ist’s egal, wie übel dieser schlechte Ort sein mag, wenn der Fis-herman dort lebt, gehe ich dorthin.«

»Und ich gehe mit«, sagt Mouse, »aber lass mich ausreden. Ich wollte weiterfahren und uns ein Brathähnchen oder so was besorgen, was in Verbindung mit dem Ultimativen ein paradiesisches Mahl gewesen wäre, wie Coleridge so oder so ähnlich mal gesagt hat, aber Little Nancy wollte dort reinfahren, weil sie dasselbe Gefühl wie ich hatte. Sie war ein tapferes Mädchen, Mann. Und verdammt stur. Also biege ich auf den Weg ab, und Little Nancy hält sich an mir fest und sagt: >Sei kein Schisser, Mouse, gib schon Gas<, also drehe ich etwas mehr auf, und alles ist irgendwie unheimlich und beschissen, aber ich sehe nur den Weg, der sich vor mir durch den Wald schlängelt, und diesen Scheiß, von dem ich weiß, dass er nicht da ist.«

»Welcher Scheiß?«, fragt Sonny im Tonfall eines interessierten Wissenschaftlers.

»Dunkle Gestalten, die an den Rand der Zufahrt gekommen sind und zwischen den Bäumen hervorgelugt haben. Ein paar sind auf mich zugerannt, aber ich bin durch sie hindurchgefahren, als wären sie aus Rauch. Ich weiß nicht, vielleicht waren sie ja tatsächlich Rauchgestalten.«

»Scheiße, das war das Acid«, sagt Beezer.

»Vielleicht, aber mir ist’s nicht so vorgekommen. Außerdem hat das Ultimative nie Horrortrips produziert, stimmt’s? Es hat auch nichts mit Dunkelheit zu tun gehabt. Jedenfalls hab ich plötzlich an Kiz Martin denken müssen, bevor die Scheiße angefangen hat. Das weiß ich noch genau. Das heißt, ich hatte sie praktisch vor mir -wie sie ausgesehen hat, als sie in den Krankenwagen geladen wurde.«

»Kiz Martin«, sagt Beezer.

Mouse wendet sich an Jack. »Kiz war ein Mädchen, mit dem ich ausgegangen bin, als wir alle noch auf der Universität waren. Sie hat immer gebettelt, sie wollte mal selbst fahren, und eines Tages hat der Kaiser gesagt, okay, er leiht ihr sein Bike. Kiz hat echt Spaß gehabt, Mann, sie war wirklich begeistert. Und dann fährt sie über diesen verdammten Zweig und ...«

»Größer als ein Zweig«, sagt Doc. »Ein kleiner Ast. Fast knüppeldick.«

»Eben dick genug, um einen aus dem Gleichgewicht zu bringen, vor allem wenn man keine Übung hat«, sagt Mouse. »Sie fährt also über diesen Zweig, und das Bike überschlägt sich, und Kiz fliegt aus dem Sattel und wird auf die Straße geschleudert. Mir wäre fast das Herz stehen geblieben, Mann.«

»Ich wusste gleich, dass sie tot ist, als ich nahe genug heran war, um zu sehen, wie schief ihr Kopf auf dem Hals gesessen hat«, sagt Doc. »Es hatte gar keinen Zweck, Wiederbelebungsversuche zu machen. Wir haben sie mit unseren Jacken zugedeckt, und ich bin losgefahren, um einen Krankenwagen zu rufen. Zehn Minuten später ist sie eingeladen worden. Einer der Jungs hat mich vom Dienst in der Notaufnahme erkannt, sonst hätten wir vielleicht noch Schwierigkeiten bekommen.«

»Ich habe mich schon gefragt, ob Sie wirklich Arzt sind«, sagt Jack.

»Hab meine Ausbildung als Assistenzarzt an der Universitätsklinik von Illinois abgeschlossen, bin dann aber ausgestiegen.« Doc lächelt ihn an. »Mit diesen Jungs rumzuhängen und Bierbrauer zu werden, hat mich mehr angemacht, als tagtäglich Leute aufzuschneiden.«

»Mouse«, sagt Beezer.

»Yeah. Also, ich wollte gerade durch eine Kurve fahren, und es war, als würde Kiz direkt vor mir stehen, so lebensecht war die Erscheinung. Ihre Augen geschlossen, ihr Kopf herunterhängend wie ein Blatt, das gleich abfallen wird. O Mann, hab ich mir gesagt, das ist nichts, was ich ausgerechnet jetzt sehen möchte. Mir war wieder zumute wie in dem Augenblick, in dem Kiz auf die Straße geknallt ist - ich hatte wieder lähmende Angst. Das ist das richtige Wort dafür: lähmende Angst.

Dann sind wir um die Kurve rum, und ich höre irgendwo im Wald so einen Hund knurren. Nicht nur knurren, knurren. Als ob dort draußen zwanzig Hunde wären, die alle verdammt wütend sind. Mein Kopf beginnt sich anzufühlen, als wollte er explodieren. Und als ich nach vorn sehe, um festzustellen, ob vielleicht ein Rudel Wölfe oder sonst was auf uns zugehetzt kommt, brauche ich ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass die unheimlichen, schattenhaften Umrisse vor mir ein Haus sind. Ein schwarzes Haus.

Little Nancy knufft mich, schlägt mir auf den Kopf und kreischt, dass ich halten soll. Glaubt mir, das war mir gerade recht, ich hätte unter keinen Umständen näher an dieses Haus heranfahren wollen. Ich halte also, und Little Nancy springt ab und kotzt an den Wegrand. Sie hält sich den Kopf mit beiden Händen und kotzt noch mal. Mir kommt’s vor, als wären meine Beine zu Gummi geworden, als würde etwas Bleischweres auf meiner Brust lasten. Im Wald tobt weiter dieses Ding, was immer es ist, und es kommt näher. Ich sehe noch mal nach vorn, wo der Weg endet, und dieses hässliche verdammte Haus erstreckt sich rückwärts in den Wald, als würde es unter die Bäume kriechen, obwohl es still steht. Je länger man es ansieht, umso größer scheint es zu werden! Dann sehe ich die glitzernden Lichter, von denen es umgeben ist, und sie wirken gefährlich - bleib weg, fordern sie mich auf, verschwinde von hier, Mouse. An der Veranda lehnt ein weiteres Verbotsschild, und dieses Schild, Mann ... dieses Schild scheint zu blinken, als wollte es sagen: Diesmal meine ich’s ernst. Kumpel.

Mir droht der Kopf zu platzen, aber ich hieve Little Nancy hinter mich aufs Bike, und sie sackt gegen mich, reiner Ballast, nur dass sie sich an mich klammert, und ich trete die Maschine an, wende auf der Stelle und haue ab. Als wir bei mir zu Hause sind, geht sie sofort ins Bett und bleibt drei Tage drin. Mir persönlich ist’s so vorgekommen, als könnte ich mich kaum daran erinnern, was wir erlebt haben. Die ganze Sache ist irgendwie dunkel geworden. In meinem Verstand. Andererseits hatte ich kaum Zeit darüber nachzudenken, weil Little Nancy krank wurde und ich mich um sie kümmern musste, wenn ich nicht in der Arbeit war. Doc hat ihr ein Mittel gegen das Fieber gegeben, und sie hat sich so weit erholt, dass wir wieder wie früher Bier trinken und Shit rauchen und herumfahren konnten, aber sie war nie mehr ganz die Gleiche wie früher. Ende August hat ihr Zustand sich wieder so verschlechtert, dass ich sie ins Krankenhaus bringen musste. In der zweiten Septemberwoche ist Little Nancy dann gestorben, so sehr sie auch dagegen gekämpft hat.«

»Wie groß war Little Nancy?«, fragt Jack, der sich eine Frau etwa im Format von Mouse vorstellt.

»Little Nancy Haie war ungefähr so klein und zierlich wie Tansy Freneau«, sagt Mouse, den diese Frage zu überraschen scheint. »Hat sie sich auf meine Hand gestellt, konnte ich sie mit einem Arm hochheben.«

»Und Sie haben nie mit jemandem darüber gesprochen«, sagtJack.

»Wie hätte ich darüber reden können?«, sagt Mouse. »Erst war ich krank vor Sorge um Little Nancy, und dann hab ich’s einfach vergessen. Unheimlicher Scheiß bewirkt so was, Mann. Statt im Gedächtnis haften zu bleiben, tilgt er sich von selbst.«

»Da weiß ich genau, was Sie meinen«, sagt Jack.

»Ich irgendwie auch«, sagt Beezer, »aber ich würde trotzdem sagen, dass es das Ultimative war, was deinen Realitätssinn beeinträchtigt hat. Selbst wenn du diesen Schuppen wirklich gesehen hast - Black House.«

»Verdammt richtig«, sagt Mouse.

Beezer sieht zu Jack hinüber. »Und Sie sagen, dass der Fisherman, dieser Scheißkerl Burnside, es sich gebaut hat.«

Jack nickt.

»Vielleicht hat er ja alle möglichen Geräte installiert, um Leute abzuschrecken, und lebt immer noch dort draußen.«

»Schon möglich.«

»Dann sollten wir, denke ich, mit Mouse den Highway 35 abfahren, und sehen, ob er den Weg, von dem er gesprochen hat, wiederfinden kann. Kommen Sie mit?«

»Ich kann nicht«, sagt Jack. »Ich muss erst noch jemanden in Arden besuchen - eine Frau, von der ich glaube, dass sie uns auch helfen kann. Sie hat Zugang zu einem weiteren Stück des Puzzles. Worum es dabei geht, kann ich euch allerdings erst erklären, wenn ich bei ihr gewesen bin.«

»Diese Frau weiß etwas?«

»O ja«, sagt Jack. »Sie weiß etwas.«

»Also gut«, sagt Beezer und steht auf. »Sie haben die Wahl. Aber wir müssen anschließend miteinander reden.«

»Beezer, ich möchte dabei sein, wenn Sie ins Black House eindringen. Was wir dort drinnen auch zu tun haben, was wir auch sehen . « Jack macht eine Pause, während er versucht, die richtigen Worte zu finden. Beezer wippt auf den Fußballen vor und zurück; in seiner Ungeduld, das Versteck des Fishermans aufzuspüren, fährt er beinahe aus der Haut. »Sie werden sehen, dass Sie mich dort brauchen. Hinter dieser Sache steckt mehr, als Sie sich vorstellen können, Beezer. Sie werden bald wissen, wovon ich rede, und werden es ertragen können

- ich glaube, dass ihr das alle könnt -, aber wenn ich versuchen würde, es Ihnen jetzt zu beschreiben, würden Sie mir nicht glauben. Ist’s dann so weit, werden Sie mich brauchen, damit ich Ihnen helfe, das durchzustehen, was uns dort erwartet. Sie werden froh sein, mich dabeizuhaben. Wir befinden uns in einer gefährlichen Phase, und keiner von uns will die Sache verpfuschen.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich sie verpfuschen könnte?«, sagt Beezer leicht gereizt.

»Jeder würde sie verpfuschen, wenn er besagtes letzte Stück des Puzzles nicht besitzt. Fahren Sie dort raus. Sehen Sie zu, ob Mouse das Haus wiederfinden kann, das er damals gesehen hat. Machen Sie einen Rundgang. Aber gehen Sie nicht hinein - dazu brauchen Sie mich. Unbedingt! Nachdem Sie sich Black House angesehen haben, kommen Sie wieder hierher, und ich stoße so bald wie möglich dazu. Ich müsste gegen halb drei, spätestens um drei Uhr zurück sein.«

»Wohin fahren Sie in Arden genau? Vielleicht muss ich Sie ja mal anrufen.«

»French County Lutheran Hospital. Station D. Erreichen Sie mich nicht, können Sie bei Dr. Spiegleman eine Nachricht für mich hinterlassen.«

»Station D, ehrlich?«, sagt Beezer. »Okay, vermutlich sind heutzutage ja alle verrückt. Ich glaube, ich kann mich damit begnügen, mir dieses Haus nur von außen anzusehen, solange ich mich darauf verlassen kann, dass Sie mir irgendwann heute Nachmittag alle Dinge erklären, die ich nicht verstehe, weil ich zu dumm bin.«

»Bald ist’s so weit, Beezer. Wir kommen ihm schon näher. Und das Letzte, was ich Sie nennen würde, wäre dumm.«

»Sie waren bestimmt ein verdammt guter Cop«, sagt Beezer. »Obwohl ich die Hälfte von dem, was Sie sagen, für echten Scheiß halte, kann ich nicht anders, als Ihnen zu glauben.« Er dreht sich um und schlägt mit einer Faust auf die Theke. »Stinky Cheese! Die Luft ist rein. Hiev deinen blassen Arsch aus der Küche!«

19

Jack folgt den Thunder Five vom Parkplatz, und im Augenblick wollen wir ihn allein auf dem Highway 93 nach Norden zu Judy Marshalls Aussichtspunkt und dann weiter zu Judy Marshalls geschlossener Abteilung fahren lassen. Wie Jack sind auch die Biker ins Unbekannte unterwegs, aber ihr Unbekanntes liegt in westlicher Richtung am Highway 35, im Land der stetig anwachsenden Vergangenheit, und wir wollen wissen, was sie dort finden werden. Diese Männer scheinen nicht nervös zu sein; sie projizieren weiter das unerschütterliche Selbstbewusstsein, mit dem sie in die Sand Bar gestürmt sind. Tatsächlich lassen sie niemals wirkliche Nervosität erkennen, auf Situationen, die andere Leute ängstlich oder besorgt machen, reagieren sie nämlich normalerweise gewalttätig. Auch Angst wirkt sich auf sie anders aus als auf gewöhnliche Menschen; die seltenen Augenblicke, in denen sie Angst empfunden haben, sind ihnen im Allgemeinen eher erfreulich erschienen. Aus ihrer Sicht stellt Angst eine gottgegebene Gelegenheit dar, ihre kollektive Konzentration auf ein Problem zu fokussieren. Dank ihrer bemerkenswerten Solidarität ist diese Konzentration beeindruckend. Für jene von uns, die keiner Bikergang oder etwa dem Marine Corps angehören, bedeutet Solidarität kaum mehr als der mitfühlende Impuls, der uns dazu veranlasst, einen trauernden Freund zu trösten; für Bee-zer und seine lustigen Gesellen bedeutet Solidarität, dass einem immer jemand den Rücken freihält. Sie sind aufeinander angewiesen, und das wissen sie. In der Gruppe sind die Thunder Five tatsächlich sicherer.

Trotzdem existieren für die Begegnung, zu der sie jetzt rasen, in ihrer Erfahrung keine Analogien, keine Präzedenzfälle. Black House ist etwas Neues, und seine Neuartigkeit - die schiere Fremdartigkeit von Mouse’ Story -schlägt sich jedem Einzelnen von ihnen, wenn auch kaum spürbar, auf den Magen.

Acht Meilen westlich von Centralia, wo die ebenen Felder um Potsies dreißig Jahre alte Wohnsiedlung in den großen Wald übergehen, der sich bis zum Maxton erstreckt, fahren Mouse und Beezer nebeneinander vor den anderen her. Beezer sieht gelegentlich zu seinem Freund hinüber, um eine wortlose Frage zu stellen. Als Mouse zum dritten Mal den Kopf schüttelt, lässt er eine wegwerfende Handbewegung folgen, die besagt: Nerv mich nicht weiter, ich sag dir schon, wenn wir da sind. Beezer lässt sich zurückfallen; Sonny, Kaiser Bill und Doc nehmen automatisch an, Beezer wolle ihnen damit ein Zeichen geben, und bilden hinter ihm eine Kette.

An der Spitze der Kolonne hebt Mouse den Blick immer wieder von der Fahrbahn, um den rechten Straßenrand abzusuchen. Der kleine Weg ist schwer zu finden, das weiß Mouse, und er wird noch mehr zugewachsen sein als vor zwei Jahren. Er versucht, das Weiß des verbeulten Warnschilds zu finden, das ebenfalls zum Teil überwuchert sein kann. Er geht mit der Geschwindigkeit runter. Die vier Männer hinter ihm passen sich diesem Tempowechsel mit auf langer Praxis basierender Geschmeidigkeit an.

Als Einziger der Thunder Five hat Mouse ihren Zielort bereits gesehen, und in tiefster Seele kann er kaum glauben, dass er wieder dorthin unterwegs ist. Anfangs hat ihm die Leichtigkeit und Schnelligkeit gefallen, mit der seine Erinnerungen aus ihrem dunklen Verlies aufgetaucht sind; statt aber das Gefühl zu haben, mühelos einen verlorenen Teil seines Lebens zurückgewonnen zu haben, hat er jetzt den Eindruck, jenem verlorenen Nachmittag auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Eine schon damals große Gefahr - und er zweifelt nicht daran, dass irgendeine gewaltige und gefährliche Kraft ihn mit warnender Hand gestreift hat - ist jetzt noch größer geworden. Mit seiner Erinnerung ist eine trostlose Schlussfolgerung zurückgekehrt, die er längst verdrängt hatte: dass dieser scheußliche Bau, den Jack Sawyer Black House nennt, Little Nancy Haie so sicher umgebracht hat, als hätte er sie unter seinen Dachbalken begraben. Die mehr moralische als physische Hässlichkeit von Black House hat giftige Dämpfe abgesondert. Little Nancy ist unsichtbaren Giften erlegen, die an der warnenden Hand hafteten; das muss Mouse sich jetzt nüchtern eingestehen. Er spürt ihre kleinen Hände auf seinen Schultern, und ihre zarten Knochen sind mit verwesendem Fleisch bedeckt.

Wäre ich einen Meter sechzig groß und achtundvierzig Kilo schwer gewesen, statt eins achtundachtzig bei hundertdreißig Kilo, läge ich jetzt auch unter der Erde, sagt er sich.

Auch wenn Mouse den schmalen Weg und das Schild daneben mit dem scharfen Blick eines Jagdfliegers sucht, wird ein anderer beides sehen müssen, er wird es nämlich nie wahrnehmen. Sein Unterbewusstsein hat darüber abgestimmt, und die Entscheidung ist einstimmig gefallen.

Auch die anderen Männer - Sonny, Doc, der Kaiser und sogar Beezer - haben Little Nancys Tod mit Black House in Verbindung gebracht und dabei ähnliche Größen- und Gewichtsvergleiche angestellt. Aber Sonny Cantinaro, Doc Amberson, Kaiser Bill Strassner und vor allem Beezer St. Pierre vermuten, dass die von Black House abgesonderten Gifte in einem Labor von Menschen zusammengemixt worden sind, die genau wussten, was sie taten. Diese vier Männer beziehen aus der Gesellschaft der anderen eine altbewährte, ursprüngliche Gewissheit, die ihnen seit ihrer Studienzeit vertraut ist; wenn ihnen etwas leichtes Unbehagen bereitet, dann ist es die Tatsache, dass jetzt nicht Beezer, sondern Mouse Baumann ihre Kolonne anführt. Obwohl Beezer sich von Mouse hat bereitwillig zurückwinken lassen, steckt in Mouse’ Führungsposition eine Spur von Aufsässigkeit, von Meuterei: Das Universum ist leicht aus den Fugen geraten.

Hundert Meter vor der rückwärtigen Grundstücksgrenze des Maxton beschließt Sonny, dieser Farce ein Ende zu machen. Er gibt Gas, röhrt mit seiner Softail an den anderen vorbei und setzt sich vorn neben Mouse. Mouse sieht leicht besorgt zu ihm hinüber, und Sonny deutet auf den Straßenrand.

Als alle stehen geblieben sind, sagt Mouse: »Hast du ein Problem, Sonny?«

»Das Problem bist du«, sagt Sonny. »Du hast die Abzweigung längst verpasst, oder deine ganze Story war Scheiß.«

»Ich hab doch gesagt, dass ich nicht sicher weiß, wo der Weg anfängt.« Er stellt mit ungeheurer Erleichterung fest, dass Little Nancys Hände nicht mehr seine Schultern umklammern.

»Wie denn auch. Du warst mit Acid zu!«

»Mit gutem Acid.«

»Egal, vor uns gibt’s keinen Weg mehr, das weiß ich. Bloß noch Bäume bis zu dem Heim für alte Furzer.«

Mouse begutachtet das Straßenstück vor ihnen, als könnte der Weg dort doch noch kommen, obwohl er genau weiß, dass das unmöglich ist.

»Scheiße, Mouse, wir sind praktisch in der Stadt. Ich kann von hier aus ja schon die Queen Street sehen.«

»Yeah«, sagt Mouse. »Okay.« Wenn er die Queen Street erreichen kann, denkt er, werden diese Hände sich nie mehr an ihm festklammern.

Beezer schiebt seine Electra Glide zu ihnen nach vorn und sagt: »Okay was, Mouse? Denkst du auch, dass wir daran vorbeigefahren sind, oder liegt der Weg woanders?«

Mouse runzelt die Stirn und sieht die Strecke entlang, auf der sie gekommen sind. »Verdammt, ich glaube, dass der Weg irgendwo dort liegen muss, außer ich hab damals völlig die Orientierung verloren.«

»He, wie kann das alles sein?«, fragt Sonny. »Ich hab im Vorbeifahren jeden Zentimeter Straßenrand abgesucht und nicht die leiseste Spur eines Weges gefunden. Hast du was gesehen, Beezer? Und was ist mit einem Schild -ist dir eines von denen untergekommen?«

»Das verstehst du nicht«, sagt Mouse. »Dieser Scheiß will nicht gesehen werden.«

»Du hättest Sawyer auf Station D begleiten sollen«, sagt Sonny. »Da haben sie was für Leute mit Visionen übrig.«

»Schnauze, Sonny«, sagt Beezer.

»Ich war schon mal dort, du nicht«, sagt Mouse. »Wer von uns beiden weiß also, wovon er redet?«

»Mir reicht’s jetzt von euch beiden«, sagt Beezer. »Mouse, glaubst du noch immer, dass der Weg irgendwo an dieser Straße liegt?«

»Soviel ich mich erinnere, yeah.«

»Dann haben wir ihn verpasst. Wir fahren zurück und suchen noch mal alles ab, und wenn wir ihn nicht finden, dann suchen wir eben woanders. Ist er nicht hier, liegt er zwischen den beiden Tälern am Highway 93 oder im Wald auf dem Hügel mit dem Aussichtspunkt. Wir haben reichlich Zeit.«

»Bist du dir da sicher?«, fragt Sonny. Die leichte Besorgnis darüber, was sie finden könnten, macht ihn aggressiv. Er würde lieber in die Sand Bar zurückfahren und einen Krug Kingsland trinken, während er Stinky den Kopf zurechtsetzt, als seine Zeit damit zu vergeuden, auf den Highways herumzugurken.

Beezer starrt Sonny mit blitzenden Augen an. »Kennst du noch eine Stelle, wo genügend Bäume stehen, die man als Wald bezeichnen könnte?«

Sonny macht sofort einen Rückzieher. Beezer denkt nicht daran, aufzugeben und in die Sand Bar zurückzufahren. Beezer zieht diese Sache durch. Das hat hauptsächlich mit Amy, aber zum Teil auch mit Jack Sawyer zu tun. Sawyer hat Beezer neulich Abend verdammt imponiert, das konnte jeder sehen, und jetzt glaubt Beezer, dass alles, was der Kerl sagt, aus purem Gold ist. Sonny kommt das idiotisch vor, aber bei ihnen gibt Beezer den Ton an, deshalb vermutet Sonny, dass sie zumindest für einige Zeit alle wie G-Men zweiter Klasse herumlaufen werden. Geht dieses Adoptieren-Sie-einen-Cop-Programm aber länger als ein paar Tage weiter, hat Sonny vor, ein kleines Gespräch mit Mouse und dem Kaiser zu führen. Doc steht immer und unter allen Umständen auf Beezers Seite, aber die beiden anderen sind vernünftigen Argumenten zugänglich.

»Also gut«, sagt Beezer. »Das letzte Stück bis zur Queen Street lassen wir aus. Wir wissen, dass es hier keinen gottverdammten Weg gibt. Wir fahren die gleiche Strecke zurück und suchen sie noch mal ab. Diesmal von Anfang an hintereinander. Mouse, du übernimmst wieder die Führung.«

Mouse nickt und macht sich darauf gefasst, wieder diese Hände auf seinen Schultern zu spüren. Er gibt etwas Gas, rollt mit seiner Fat Boy an und übernimmt den Platz an der Spitze der kleinen Kolonne. Beezer setzt sich hinter ihn, und Sonny folgt Beezer, während Doc und der Kaiser die beiden letzten Plätze einnehmen.

Fünf Augenpaare, denkt Sonny. Finden wir den Weg diesmal nicht, finden wir ihn nie. Und wir werden ihn nicht finden, weil diese verdammte Straße durch den halben Staat führt. Als Mouse und seine Alte mit dem Ultimativen zugedröhnt waren, können sie Hunderte von Meilen weit gefahren sein und trotzdem geglaubt haben, sie hätten bloß eine Runde um den Block gedreht.

Alle suchen die linke Straßenseite und den Waldrand dahinter ab. Fünf Augenpaare, wie Sonny es ausdrückt, nehmen einen lückenlosen Wall aus Eichen und Kiefern wahr. Mouse’ Tempo liegt zwischen schnellem Gehen und langsamem Joggen, sodass die Bäume vorbeizukriechen scheinen. Bei dieser Geschwindigkeit können sie das Moos, das die Stämme der Eichen überwuchert, ebenso wahrnehmen wie die hellen Sonnenflecken auf dem Waldboden, der braungrau ist und an eine Schicht aus verknittertem Filz erinnert. Hinter der vordersten Baumreihe, die Wache zu halten scheint, erstreckt sich eine verborgene Welt aus senkrechten Baumsäulen, schrägen Lichtstrahlen und abgestorbenen Ästen und Bäumen. In dieser Welt mäandern Pfade, die keine Pfade sind, zwischen dicken Baumstämmen hindurch und führen zu geheimnisvollen Lichtungen. Sonny wird plötzlich auf ein paar Eichhörnchen aufmerksam, die durchs knorrige Astwerk toben, das hier und da ein geschlossenes Blätterdach bildet. Und mit den Eichhörnchen kommt ein Vogelschwarm in Sicht.

Alles das erinnert ihn an die geheimnisvollen Wälder in Pennsylvania, die er als Junge erforscht hat, bevor seine Eltern ihr Haus verkauften und nach Illinois zogen. Von jenen Wäldern ging ein Zauber aus, den er seither nie wieder erlebt hat. Sonnys Vermutung, dass Mouse sich geirrt hat, dass sie entlang der falschen Straße suchen, verfestigt sich zu einer inneren Überzeugung. Zuvor hat Sonny von schlechten Orten gesprochen, von denen er mindestens einen gesehen hat, bei dem er sich dessen absolut sicher war. Nach seiner Erfahrung liegen schlechte Orte, die einen spüren lassen, dass man dort nicht willkommen ist, meistens an oder in der Nähe von Grenzen.

Im Sommer nach seinem High-School-Abschluss waren er und seine beiden besten Freunde, alle drei Motorradfans, mit ihren Bikes nach Rice Lake, Wisconsin, gefahren, wo er zwei Cousinen hatte, die hübsch genug waren, dass er vor seinen Freunden mit ihnen angeben konnte. Sal und Harry waren von den Mädchen begeistert, und die Mädchen fanden, Biker seien sexy und exotisch. Nach ein paar buchstäblich als fünftes Rad (oder als fünftes und sechstes Rad, je nach Zählweise) verbrachten Tagen schlug Sonny vor, ihren Trip um eine Woche zu verlängern, im Interesse einer Erweiterung ihres Horizonts nach Chicago zu brettern und dort ihr restliches Geld für Bier und Nutten auszugeben, bis sie blank waren und heimfahren mussten. Sal und Harry waren von diesem Vorschlag hellauf begeistert, und am dritten Abend in Rice Lake schnallten sie ihre Schlafsäcke auf ihre Bikes und röhrten mit so viel Krach wie irgend möglich nach Süden davon. Gegen zehn Uhr hatten sie’s geschafft, sich völlig zu verfahren.

Vielleicht lag es am Bier, vielleicht lag es an fehlender Aufmerksamkeit, jedenfalls waren sie aus irgendeinem Grund vom Highway abgekommen und fanden sich in einer tiefschwarzen Nacht auf dem Lande am Rand einer fast nicht existierenden Kleinstadt namens Harko wieder. Das Nest war auf ihrer an einer Tankstelle gekauften Straßenkarte nicht zu finden, aber es musste an der Grenze zu Illinois, vielleicht schon jenseits der Grenze liegen. Harko schien aus einem verlassenen Motel, einer verfallenden Gemischtwarenhandlung und einer ehemaligen Mühle zu bestehen. Als die Jungen die Mühle erreichten, meckerten Sal und Harry, sie seien ausgepowert und hungrig; sie wollten umkehren und die Nacht in dem ehemaligen Motel verbringen.

Sonny, der nicht weniger erschöpft war, fuhr mit ihnen zurück, aber sobald sie auf den dunklen Vorplatz des Motels rollten, hatte er ein schlechtes Gefühl in Bezug auf diesen Laden. Die Luft erschien drückender, die Dunkelheit finsterer, als sie hätten sein sollen. Sonny hatte den Eindruck, hier gingen bösartige, unsichtbare Wesen um. Er konnte fast erkennen, wie sie zwischen den Blockhäusern umherflitzten. Sal und Harry taten seine Bedenken hohnlachend ab: Er sei ein Feigling, eine Tunte, ein Mädchen. Sie brachen eine Tür auf und rollten ihre Schlafsäcke in einem kahlen, staubigen rechteckigen Raum aus. Sonny nahm seinen über die Straße mit und schlief auf einer Wiese.

Als er bei Tagesanbruch erwachte, war sein Gesicht vom Tau nass. Er sprang auf, pisste ins hohe Gras und sah prüfend zu ihren Motorrädern auf der anderen Straßenseite hinüber. Da standen sie, alle drei Maschinen, schräg auf ihren Seitenständern vor der aufgebrochenen Tür. Die defekte Leuchtreklame neben der Einfahrt zum Vorplatz pries Flitterwöchner-Gemächer an. Er ging über die schmale Straße und wischte mit einer Hand über die schwarz glänzende Feuchtigkeit auf den Motorradsitzen. Aus dem Raum, in dem seine Freunde schliefen, drangen merkwürdige Laute. Sonny, der bereits schlimme Vorahnungen hatte, stieß die aufgebrochene Tür auf. Hätte er sich anfangs nicht geweigert, das sich ihm bietende Bild zu begreifen, wäre er von dem Anblick, der ihn in dem Raum erwartete, in Ohnmacht gefallen.

Sal Turso hockte mit von Blut und Tränen überström-tem Gesicht auf dem Fußboden. Harry Reillys abgetrennter Kopf ruhte in seinem Schoß, und ein Meer von Blut überschwemmte den Boden und färbte die Wände rot. Harrys Körper lag schlaff und völlig verdreht auf seinem mit Blut getränkten Schlafsack. Die kopflose Leiche war nackt; Sal trug lediglich ein blutrotes T-Shirt. Sal streckte beide Hände von sich - in einer hielt er das Messer mit der langen Klinge, auf das er so stolz war, und in der anderen nur eine Hand voll Blut - und erhob sein verzerrtes Gesicht, um Sonnys schreckensstarren Blick zu erwidern. Ich weiß nicht, was passiert ist. Die Stimme war hoch und kreischend, überhaupt nicht seine. Ich kann mich nicht erinnern, das getan zu haben, wie kann ich das getan haben? Hilf mir, Sonny. Ich weiß nicht, was passiert ist.

Sonny, der kein Wort herausbrachte, war rückwärts gehend ins Freie gestolpert und mit seinem Bike davongerast. Er hatte kein bestimmtes Ziel gehabt; er hatte nur aus Harko flüchten wollen. Nach zwei Meilen Fahrt erreichte er eine Kleinstadt, eine richtige kleine Stadt mit Leuten darin, wo ihn jemand schließlich zum Sheriff’s Office brachte.

Harko: das war ein schlechter Ort gewesen. Eigentlich waren sogar beide seiner Schulfreunde dort gestorben. Sal Turso, der wegen Totschlags zu lebenslänglich verurteilt worden war, hatte sich ein halbes Jahr nach seiner Einlieferung ins Staatsgefängnis dort erhängt. In Harko waren keine Walddrosseln oder Spechte zu sehen gewesen. Selbst Spatzen machten einen weiten Bogen um Harko.

Aber dieses kleine Stück entlang des Highways 35? Nur ein netter, harmloser Mischwald. Lassen Sie sich das sagen, Senator, Sonny Cantinaro hat Harko gesehen, und das hier ist kein Harko. Es kommt ihm nicht einmal nahe. Es könnte genauso gut in einer anderen Welt liegen. Was Sonnys forschendem Blick und zunehmend ungeduldigem Geist begegnet, ist eine schön bewaldete Landschaft, die sich etwa eineinviertel Meilen weit die Straße entlangzieht. Man könnte sie als Miniwald bezeichnen. Er stellt sich vor, dass es cool wäre, hier allein rauszufahren, die Harley im Gebüsch zu verstecken und einfach unter den großen Eichen und Kiefern herumzulaufen, den weichen Filz des Waldboden unter den Füßen zu spüren und sich über die Vögel und die verrückten Eichhörnchen zu freuen.

Während Sonny schon in Vorfreude auf dieses unschuldige Vergnügen schwelgt, wandert sein Blick über die Bäume, die am jenseitigen Straßenrand Wache halten, und zwischen ihnen hindurch. Plötzlich sieht er im Dunkel neben einer riesigen Eiche etwas Weißes aufblitzen. Ganz im Bann seiner Vorstellung, allein unter dem grünen Blätterdach unterwegs zu sein, verwirft er das fast als Lichterscheinung, als kurze Illusion. Dann fällt ihm ein, wonach er ja Ausschau zu halten hat; er fährt langsamer, beugt sich zur Seite und sieht aus dem Unterholz am Fuß der Eiche ein verrostetes Einschussloch und den großen schwarzen Buchstaben Z zum Vorschein kommen. Sonny lenkt sein Bike über die Straße. Aus dem Z wird ein Zu. Er will seinen Augen nicht trauen, aber da ist es, Mouse’ gottverdammtes Schild. Noch einen halben Meter weiter, dann kann er Zutritt verboten lesen.

Sonny legt den Leerlauf ein und stellt einen Fuß auf den Asphalt. Das Dunkel unter der Eiche erstreckt sich wie ein Netz zu dem Baum am Straßenrand, der ebenfalls eine Eiche, aber nicht ganz so riesig ist. Hinter ihm überqueren Doc und der Kaiser die Straße und halten ebenfalls an. Er beachtet sie nicht weiter und sieht nach vorn zu Beezer und Mouse, die schon ungefähr zehn Meter weiter sind und intensiv in den Wald auf der linken Straßenseite starren.

»He!«, schreit er. Beezer und Mouse hören ihn nicht. »He! Stopp!«

»Hast du’s?«, ruft Doc.

»Fahr diesen Arschlöchern nach und hol sie zurück«, sagt Sonny.

»Ist es da?«, fragt Doc.

»Was denkst du, was ich gefunden habe, eine Leiche? Natürlich ist’s hier.«

Doc gibt kurz Gas, hält dicht hinter Sonny und starrt in den Wald.

»Siehst du’s, Doc?«, ruft Kaiser Bill und kommt ebenfalls heran.

»Nö«, sagt Doc.

»Von dort aus ist’s auch nicht zu sehen«, erklärt Sonny ihm. »Bist du jetzt so freundlich, deinen Arsch in Bewegung zu setzen und Beezer auszurichten, dass er zurückkommen soll?«

»Warum sagst du’s ihm nicht selbst?«

»Weil ich das Scheißschild vielleicht nie wiederfinde, wenn ich diese Stelle verlasse.«

Mouse und Beezer, die inzwischen etwa dreißig Meter entfernt sind, rollen ahnungslos weiter.

»Aber ich seh’s noch immer nicht«, sagt Doc.

Sonny seufzt. »Stell dich hier neben mich.« Doc schiebt seine Fat Boy dicht neben Sonnys Bike und bewegt sie dann noch ein kleines Stück nach vorn. »Da«, sagt Sonny und deutet auf das Schild.

Doc kneift die Augen zusammen, beugt sich zur Seite und bringt so den Kopf über Sonnys Lenker. »Wo? Ah, jetzt hab ich’s auch. Sieht verdammt mitgenommen aus.«

Die obere Hälfte des Schildes ist nach vorn geknickt und wirft ihren Schatten über die untere. Irgendein asozialer Junge, der hier zufällig vorbeigekommen ist, hat das Schild wohl mit seinem Baseballschläger abgeknickt. Seine älteren Brüder, in verbrecherischen Dingen schon weiter, hatten offenbar versucht, es mit ihren Kleinkalibergewehren zu erschießen, und er wollte ihm nur den Gnadenstoß versetzen.

»Und wo soll der Weg sein?«, sagt Doc.

Sonny, dem dieser Punkt etwas Sorgen bereitet, zeigt auf die dunkle ebene Fläche rechts neben dem Schild, die sich bis zu der nächsten, kleineren Eiche erstreckt. Während er sie betrachtet, verliert die Dunkelheit ihre Zweidimensionalität und erweitert sich wie eine Höhle oder ein lautlos in die Luft gestanztes schwarzes Loch nach hinten. Diese Höhle, das schwarze Loch, zerfließt und wird zu dem ungefähr eindreiviertel Meter breiten befestigten Weg, der dort schon immer gelegen haben muss.

»Verdammt, das ist er«, sagt Kaiser Bill. »Ich weiß nicht, wie wir den vorhin alle übersehen konnten.«

Sonny und Doc wechseln einen Blick; beiden ist klar, dass der Kaiser zu spät herangekommen ist, um zu sehen, wie der Weg sich anscheinend aus einem schwarzen Wall von der Dicke eines Blatt Papiers gebildet hat.

»Wie ’ne optische Täuschung«, sagt Sonny.

»Das Auge muss sich erst daran gewöhnen«, sagt Doc.

»Okay«, sagt Kaiser Bill, »wenn ihr beiden weiter darüber diskutieren wollt, wer Mouse und Beezer holt, will ich euch mal von euren Qualen erlösen.« Er rast mit seinem Bike los wie ein Kradmelder im Ersten Weltkrieg mit einer wichtigen Depesche von der Front. Mouse und Beezer, die schon ein gutes Stück voraus sind, halten an und sehen sich um, weil sie offenbar den Krach seines Bikes gehört haben.

»So wird’s wohl sein«, sagt Sonny mit einem unbehaglichen Blick zu Doc hinüber. »Unsere Augen mussten sich erst daran gewöhnen.«

»Kann nichts anderes sein.«

Weniger überzeugt, als sie am liebsten wären, lassen die beiden die Sache auf sich beruhen und beobachten stattdessen, wie Kaiser Bill mit Beezer und Mouse redet. Der Kaiser zeigt auf Sonny und Doc, dann deutet Beezer in ihre Richtung. Schließlich zeigt Mouse auf sie, und dann wieder der Kaiser. Das Ganze sieht wie eine Diskussion in einer äußerst primitiven Zeichensprache aus. Als alle kapiert zu haben scheinen, worum es geht, wendet Kaiser Bill mit seinem Bike und kommt mit Beezer und Mouse hinter sich die Straße entlang zurückgeröhrt.

Irgendwie entsteht immer dieser Eindruck von Unordnung, von Missherrschaft, wenn Beezer nicht die Führung hat.

Der Kaiser hält neben der Einmündung des Weges. Beezer und Mouse halten so neben ihm, dass Mouse direkt vor der in den Wald hineinführenden Öffnung steht.

»Hätte eigentlich nicht so schwierig zu finden sein sollen«, sagt Beezer. »Aber tatsächlich, da ist er. Ich hab schon angefangen, meine Zweifel zu haben, Mousie.«

»Mhm«, macht Mouse. Seine gewöhnliche Art, die eines intellektuellen Raubeins mit verspielter Weltsicht, hat all ihren Elan verloren. Unter seiner Biker-Sonnenbräune sieht seine Haut blass und käsig aus.

»Ich will euch reinen Wein einschenken, Jungs«, sagt Beezer. »Hat Sawyer in Bezug auf dieses Haus Recht, könnte der Scheißkerl, der es sich gebaut hat, Sprengfal-len und alle möglichen Überraschungen installiert haben. Das liegt alles schon lange zurück, aber wenn er wirklich der Fisherman ist, hat er inzwischen mehr Grund als je zuvor, Leute von seinem Unterschlupf fern-zuhalten. Also sollten wir uns vorsehen. Das tun wir am besten, indem wir geschlossen auftreten und auf alles vorbereitet sind. Steckt eure Waffen so ein, dass ihr sie schnell zur Hand habt, okay?«

Beezer öffnet eine seiner Satteltaschen und zieht einen 9-mm-Colt mit Griffschalen aus Elfenbein und brüniertem Stahllauf heraus. Er lädt die Waffe durch und entsichert sie. Unter seinem Blick holt Sonny eine schwere .357er Magnum aus der Satteltasche, Doc seine Colt-Pistole, die mit Beezers identisch ist, und Kaiser Bill einen alten Smith & Wesson Kaliber .38 Special, den er seit Ende der Siebzigerjahre besitzt. Sie stecken die Waffen, die bis zu diesem Tag nur auf Schießständen benützt worden sind, in die Taschen ihrer Lederjacken. Mouse, der keine Schusswaffe besitzt, tastet nach den verschiedenen Messern, die er im Kreuz, in allen vier Taschen seiner Jeans und in beiden Stiefelschäften versteckt hat.

»Okay«, sagt Beezer. »Wer dort drinnen ist, hört uns auf jeden Fall kommen, selbst wenn wir versuchen leise zu sein, hat uns vielleicht schon gehört. Deshalb dürfte Heimlichtuerei zwecklos sein. Ich will einen schnellen, aggressiven Auftritt - genau das, was ihr so gut beherrscht. Wir können unser Tempo zu unserem Vorteil nutzen. Je nachdem, was passiert, dringen wir möglichst nahe ans Haus heran vor.«

»Was ist, wenn nichts passiert?«, fragt der Kaiser. »Wenn wir durchbrausen, bis wir das Haus erreicht haben? Also, ich sehe keinen besonderen Grund, sich hier ins Bockshorn jagen zu lassen. Okay, Mouse ist was Schlimmes zugestoßen, aber ... ihr wisst schon. Das heißt noch lange nicht, dass sich das wiederholen muss.«

»Dann genießen wir den kleinen Ausflug«, sagt Beezer.

»Willst du dich nicht drinnen umsehen?«, fragt der Kaiser. »Vielleicht hat er ja irgendwelche Kinder im Haus.«

»Vielleicht ist er im Haus«, sagt Beezer. »Ist er da, holen wir ihn dort raus, auch wenn ich Sawyer versprochen habe, auf ihn zu warten. Tot wäre zwar besser als lebendig, aber ich hätte auch nichts dagegen, ihn der Polizei in ernstlich schlechtem Gesundheitszustand zu übergeben.«

Er erntet ein zustimmendes Knurren. Nur Mouse beteiligt sich nicht an dieser wortlosen, aber sonst allgemeinen Zustimmung; er senkt den Kopf und umklammert seine Lenkergriffe fester.

»Weil Mouse schon mal hier war, übernimmt er die Spitze. Doc und ich sind gleich hinter ihm, Sonny und der Kaiser halten uns den Rücken frei.« Beezer sieht zu den beiden hinüber und sagt: »Haltet ungefähr zwei, drei Meter Abstand, okay?«

Schick nicht Mouse vor, als unser Anführer musst du selbst vorausfahren, wirft Sonnys innere Stimme ein, aber er sagt: »Okay, Beeze.«

»Aufstellung!«, sagt Beezer.

Sie bringen ihre Bikes in die von Beezer angegebenen Positionen. Wäre jemand schnell auf dem Highway 35 unterwegs gewesen, hätte er bremsen müssen, um die beiden letzten stämmigen Kerle auf Motorrädern nicht zu überfahren, aber die Straße bleibt leer. Alle, auch Mouse, lassen ihre Motoren aufheulen und machen sich abfahrtbereit. Sonny klatscht seine Linke flach gegen Kaiser Bills Rechte und sieht dann wieder in den schwarzen Tunnel im Wald vor ihnen.

Eine große Krähe flattert auf einen tief herabhängenden Ast, legt den Kopf etwas schief und scheint Sonny mit scharfem Blick zu fixieren. Die Krähe muss sie alle miteinander betrachten, das weiß Sonny, aber er kann die Illusion nicht abschütteln, dass die Krähe direkt ihn anstarrt, wobei ihre unergründlich schwarzen Augen boshaft glitzern. Das unbehagliche Gefühl, dass die Krähe sich über den Anblick amüsiert, wie er über den Lenker gebückt auf seinem Bike hockt, lässt Sonny an seine Magnum denken.

Könnte ein blutiges Bündel Federn aus dir machen, Baby.

Ohne die Flügel auszubreiten, hüpft die Krähe rückwärts und verschwindet im Eichenlaub.

»Los!«, ruft Beezer.

Sobald Mouse losbraust, umklammern Little Nancys verwesende Hände wieder seine Schultern. Ihre dünnen Knochen drücken das Leder ausreichend kräftig zusammen, um auf seiner Haut blaue Flecken zu hinterlassen. Obwohl er weiß, dass das unmöglich ist - man kann sich von nichts befreien, das nicht existiert -, veranlasst der jäh aufflammende Schmerz ihn zu dem Versuch, sie abzuschütteln. Er zuckt mit den Schultern und wackelt mit dem Lenker, erreicht aber nur, dass seine Maschine schwankt. Als Reaktion darauf wird Little Nancys Klammergriff nur noch fester. Als Mouse wieder geradeaus fährt, zieht sie sich hoch, umschlingt seine Brust mit ihren Knochenarmen und presst ihren Körper an seinen Rücken. Sie Quetscht ihm ihren Schädel ins Genick; ihre Zähne verbeißen sich in seiner Haut. Das ist zu viel. Mou-se hat gewusst, dass sie wiederkommen würde, aber nicht geahnt, dass sie ihn in einen Würgegriff nehmen würde. Und trotz seines Tempos hat er das Gefühl, durch eine Materie zu fahren, die schwerer und zäher als Luft ist -eine Art Sirup, die ihn verlangsamt, ihn zurückhält. Er und sein Bike scheinen unnatürlich träge zu reagieren, als würde die Schwerkraft auf diesem kleinen Weg stärker als anderswo wirken. In seinem Kopf pocht es, und im Wald rechts neben sich kann er bereits besagten Hund knurren hören. Das alles könnte er ertragen, denkt er sich, wenn da nicht etwas wäre, was ihn schon bei der ersten Fahrt auf diesem Weg zum Anhalten gezwungen hat: eine Tote. Damals war es Kiz Martin; diesmal ist die tote Little Nancy, die Mouse wie ein Dämon im Genick sitzt, ihm auf den Kopf haut, ihn in die Rippen knufft, ihm an die Ohren schlägt. Er spürt, wie ihre Zähne sich von seinem Nacken lösen, sich in die linke Schulter seiner Jacke graben. Einer ihrer Arme schnellt vor seinem Gesicht hoch, und er verfällt in eine neue Dimension von Schock und Horror, als er feststellt, dass dieser Arm sichtbar ist. Hautfetzen baumeln über langen Knochen; er sieht flüchtig weiße Maden, die sich in die wenigen verbliebenen Fleischklumpen hineinwinden.

Eine Leichenhand, die sich schwammig und knochig zugleich anfühlt, klatscht ihm auf die Backe und kriecht ihm über das Gesicht hinauf. Mouse kann sich nicht länger zusammenreißen: Sein Kopf füllt sich mit heller Panik, und er verliert die Kontrolle über sein Bike. Als er in die zum Black House führende Kurve einfährt, liegt die Maschine bereits gefährlich schräg, und Mouse’ angewidertes Zurückschrecken macht einen Sturz unvermeidlich.

Als das Bike schleudert, hört er den Hund nur wenige Meter von sich entfernt knurren. Die Harley knallt auf sein linkes Bein, dann schlittert sie voraus, und Mouse und seine grausige Beifahrerin rutschen hinterher. Als er das Black House in seiner dunklen Nische zwischen den Bäumen aufragen sieht, bedeckt eine verwesende Hand seine Augen. Sein Aufschrei ist ein helles, dünnes Winseln, das in der rasenden Wut des Hundes fast untergeht.

Schon nach wenigen Sekunden Fahrt spürt Beezer, wie die Luft um ihn herum dichter wird, zu gerinnen scheint. Das ist irgendein Trick, sagt er sich, eine durch die psychedelischen Toxine des Fishermans ausgelöste Illusion. Im Vertrauen darauf, dass die anderen dieser Illusion nicht erliegen werden, hebt er den Kopf und blickt über Mouse’ breite Schultern und seinen Kopf mit den in Reihen angeordneten Zöpfen hinweg, um die ungefähr fünfzehn Meter vor ihnen liegende Stelle zu sehen, wo der Weg eine Kurve macht. Die dichte Luft scheint auf seinen Armen und Schultern zu lasten, und er fühlt das Einsetzen des Vaters und der Mutter aller Kopfschmerzen - ein dumpfer, beharrlicher Schmerz, der als scharfes Stechen hinter den Augen beginnt und sich pochend tiefer ins Gehirn bohrt. Beezer achtet eine halbe Sekunde lang auf Doc und stellt fest, dass dieser voll zur Sache geht. Ein Blick auf den Tacho zeigt ihm, dass Doc schon fünfzig Sachen fährt, aber weiter beschleunigt, sodass sie ungefähr neunzig draufhaben dürften, wenn sie die Kurve erreichen.

Irgendwo links von ihm knurrt ein Hund. Beezer zieht seine Pistole aus der Jackentasche und hört, wie das Knurren mit ihnen Schritt hält, während sie auf die Kurve zurasen. Die pochenden Schmerzen in seinem Gehirn breiten sich aus und werden zugleich intensiver; sie scheinen die Augen von innen herauszudrücken, sodass sie aus den Höhlen zu quellen drohen. Der große Hund - das muss ein Hund sein, was könnte es sonst sein? -kommt näher, und sein wütendes Toben lässt vor Beezers innerem Auge das Bild eines riesigen hin und her geworfenen Hundeschädels mit glühenden roten Augen und langen Geiferfäden aus einem aufgerissenen Rachen voller Haifischzähne entstehen.

Zwei voneinander getrennte Ereignisse stören seine Konzentration: Zunächst sieht er, wie Mouse sich auf seinem Bike abzappelt, während er in die Kurve geht, als wollte er sich in der dichter werdenden Luft den Rücken kratzen; das andere ist, dass der Druck hinter seinen Augen sich verdreifacht, und kurz bevor er erschrocken sieht, wie Mouse unweigerlich stürzen wird, platzen die Blutgefäße seiner Augen. Die dunkelroten Schleier vor seinem Blick verwandeln sich schlagartig in absolute Schwärze. In seinem Kopf beginnt eine hässliche Stimme zu sprechen: Amy hat auf meinem Schoß gesessen und mich umarmt. Ich hab beschlossen, sie zu essen. Wie sie gestrampelt und getreten und gekratzt hat. Ich hab sie gewürgt, bis sie tot war ...

»Nein!«, brüllt Beezer, und die Stimme, die ihm gegen die Augen drückt, wird zu einem heiseren glucksenden Lachen. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er eine große schemenhafte Gestalt, ein einzelnes Auge, unter einer Mütze oder Kapuze aufblitzende Zähne ...

... und die Welt kreiselt plötzlich um ihn. Er landet auf dem Rücken, und das gesamte Gewicht des Bikes lastet auf seiner Brust. Mouse schreit, und als Beezer den Kopf in die Richtung dreht, aus der die Schreie kommen, sieht er den roten Mouse auf einer roten Straße liegend, während ein riesengroßer roter Hund auf ihn zugestürmt kommt. Beezer kann seine Pistole nicht finden; sie ist in den Wald davongesegelt. Schreie, Kreischen und Motorenlärm füllen seine Ohren. Er kriecht unter seiner Maschine hervor, rappelt sich auf und brüllt etwas, was er selbst nicht versteht. Der rote Doc rast auf seinem roten Bike an ihm vorbei und bringt ihn beinahe erneut zu Fall. Er hört einen Schuss, dann noch einen.

Doc sieht Beezers prüfenden Blick und gibt sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie schlecht ihm ist. Spülwasser brodelt in seinem Magen, und in den Einge-weiden herrscht wilder Aufruhr. Er hat das Gefühl, nur ungefähr fünf Meilen schnell zu fahren, so dick und ranzig ist die Luft. Aus irgendeinem Grund wiegt sein Kopf plötzlich an die zwanzig Kilo, ein verdammt seltsames Gefühl; diese Sache wäre fast komisch, wenn er die in seinem Inneren ablaufende Katastrophe abstellen könn-te. Die Luft scheint sich zu verdichten, zu verfestigen, dann zu explodieren, und sein Kopf verwandelt sich in eine superschwergewichtige Bowlingkugel, die ihm auf die Brust sinken will. Aus dem Wald neben ihm ertönt das Knurren eines riesigen Hundes, und Doc muss beinahe seinem Brechreiz nachgeben. Er nimmt undeutlich wahr, dass Beezer seine Pistole zieht, und nimmt an, er sollte seine Waffe ebenfalls ziehen, aber ein Teil seines Problems besteht daraus, dass die Erinnerung an ein Kind namens Daisy Temperly sich in sein Bewusstsein gedrängt hat, und die Erinnerung an Daisy Temperly lähmt seinen Willen.

Als Assistenzarzt für Chirurgie in der Universitätsklinik Urbana hatte Doc unter Aufsicht fast hundert Operationen durchgeführt und bei ebenso vielen assistiert. Bis Daisy Temperly in den OP gerollt wurde, waren alle gut verlaufen. Ihr Fall, der kompliziert, aber nicht besonders schwierig oder lebensbedrohend war, erforderte Knochentransplantationen und weitere kosmetische Korrekturen. Daisy wurde nach einem schweren Verkehrsunfall wiederhergestellt und hatte schon zwei Operationen erdulden müssen. Mitten während der Operation wurde der Chefarzt, der Doc beaufsichtigte, zu einer Notoperation weggerufen, und Doc blieb als verantwortlicher Operateur zurück. Teils weil er seit achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte, teils weil er sich in seinem erschöpften Zustand vorstellte, er sei mit Beezer, Mouse und seinen anderen neuen Bikerfreunden auf dem Highway unterwegs, machte er einen Fehler - nicht während der Operation, sondern danach. Als er seine Verordnung für das Medikament schrieb, das die frisch Operierte erhalten sollte, gab er die Dosis falsch an, und zwei Stunden später war Daisy Temperly tot. Er hätte verschiedene Möglichkeiten gehabt, seine Karriere zu retten, aber er nutzte keine davon. Er durfte seine Ausbildung als Assistenzarzt noch abschließen, gab den Arztberuf dann aber auf. Im Gespräch mit Jack Sawyer hatte er seine Motive stark vereinfacht dargestellt.

Der Aufruhr in seiner Körpermitte lässt sich nicht länger unterdrücken. Doc dreht den Kopf zur Seite und übergibt sich, während er weiterrast. Es ist nicht das erste Mal, dass er unterwegs gekotzt hat, aber es ist schmuddeliger und schmerzhafter als all die Male zuvor. Wegen der Last seines einer Bowlingkugel gleichenden Kopfs kann er den Hals nicht vorstrecken, sodass Erbrochenes die rechte Schulter und den rechten Arm bekleckert; und was aus ihm hervorbricht, scheint zu leben und mit Zähnen und Krallen ausgestattet zu sein. Er ist nicht überrascht, als er sieht, dass das Erbrochene mit Blut vermischt ist. Sein Magen verkrampft sich vor Schmerzen.

Ohne es zu wollen, ist Doc langsamer geworden, und als er wieder Gas gibt und nach vorn blickt, sieht er Mou-se zur Seite kippen und hinter seinem Bike in die Kurve vor ihnen schlittern. Seine Ohren registrieren ein Brausen wie von einem fernen Wasserfall. Mouse kreischt gedämpft; ebenso gedämpft brüllt Beezer: »Nein!« Unmittelbar danach prallt Beezer in voller Fahrt gegen einen Felsbrocken oder irgendein anderes Hindernis. Seine Electra Glide hebt ab, überschlägt sich in der verdichteten Luft und landet mit dumpfem Aufprall auf dem Gestürzten. Doc wird klar, dass dieses Unternehmen gründlich schief gegangen ist. Die gesamte Welt hat sie mit einer linken Geraden getroffen, und nun stecken sie tief in der Scheiße. Er tut das einzig Vernünftige: Er reißt seine bewährte 9-mm-Pistole aus der Jackentasche und versucht rauszukriegen, worauf er als Erstes schießen soll.

In seinen Ohren knackt es laut, dann kann er wieder richtig hören. Mouse kreischt weiter. Doc versteht nicht, wie er das Knurren des Hundes bisher hat überhören können, trotz dem Motorenlärm und dem Kreischen von Mouse ist dieses sich bewegende Knurren nämlich das lauteste Geräusch hier im Wald. Der gottverdammte Hund der Baskervilles kommt auf sie zugerannt, und Mouse und Beezer sind beide außer Gefecht. Dem Knurren nach muss die Bestie die Größe eines Bären haben. Doc zielt mit seiner Pistole nach vorn und lenkt mit nur einer Hand, als er an Beezer vorbeiröhrt, der unter seiner Maschine hervorkriecht und sich aufrappelt. Dieses gewaltige Knurren ... Doc stellt sich einen bärengroßen Hund vor, der den Kopf von Mouse zwischen die aufgerissenen Kiefer nimmt, verdrängt das Bild aber sofort wieder. Die Ereignisse überschlagen sich jetzt, und wenn er nicht aufpasst, könnte es sein, dass er zwischen diese Kiefer gerät.

Er hat gerade noch Zeit, sich zu sagen: Das ist kein gewöhnlicher Hund, nicht mal ein Riesenköter ...

... als rechts von ihm etwas gewaltig Großes und Schwarzes aus dem dichten Wald hervorbricht und in einer Diagonalen auf Mouse zuhält. Doc drückt ab, und auf den Schussknall hin wirft das Tier sich halb herum und knurrt jetzt ihn an. Deutlich sehen kann Doc nur zwei rote Augen und eine aufgerissene rote Schnauze mit langer Zunge und vielen scharfen Hundezähnen. Alles andere ist so undeutlich und verschwommen, nicht klarer definiert, als wäre es in einen wehenden Umhang gehüllt. Ein Blitzstrahl aus schierem Entsetzen, das beißend scharf wie billiger Wodka schmeckt, durchzuckt Doc von der Kehle bis zu den Hoden, und sein Bike bricht hinten aus und kommt schleudernd zum Stehen -er hat mit einer reinen Reflexbewegung angehalten. Plötzlich kommt er sich wie in tiefster Nacht vor. Natürlich kann er die Bestie nicht sehen - wie sollte man mitten in der Nacht auch einen schwarzen Hund sehen?

Das Untier wirft sich herum, geht wieder auf Mouse los.

Mich will es wohl wegen der Waffe und den beiden anderen hinter mir nicht angreifen, denkt Doc. Sein Kopf und die Arme scheinen jeweils weitere zehn Kilo schwerer geworden zu sein, aber er kämpft gegen das Gewicht seiner Muskeln an, streckt die Arme aus und drückt ein weiteres Mal ab. Diesmal weiß er, dass er das Ungeheuer getroffen hat, dessen einzige Reaktion jedoch nur aus einer ruckartig jähen Kursänderung besteht. Die verschwommenen Umrisse des Hundeschädels wenden sich Doc zu. Das Knurren wird noch lauter, und lange silbrige Sabberfäden tropfen aus der aufgerissenen Schnauze. Etwas, das ein Schwanz sein könnte, peitscht durch die Luft.

Als Doc in den weit offenen roten Rachen blickt, verlässt ihn seine Entschlossenheit, seine Arme werden noch schwerer, und er ist kaum imstande, den Kopf hochzuhalten. Er hat das Gefühl, in diesen roten Schlund zu stürzen; die Pistole baumelt in seiner schlaffen Rechten. In einem bis in alle Ewigkeit fortwährenden Augenblick kritzelt ebendiese Hand die Verordnung für das Medikament, das Daisy Temperly nach der Operation erhalten soll. Das Ungeheuer trabt weiter auf Mouse zu. Doc hört Sonnys Stimme, hört ihn laut fluchen. Ein Schussknall rechts neben ihm lässt ihn auf beiden Ohren ertauben, und die Welt wird schlagartig stumm. Da haben wir’s, sagt Doc sich. Mittägliche Nacht.

Über Sonny bricht die Nacht gleichzeitig mit dem brennenden Schmerz in Kopf und Magen herein. Ein einziger Schmerzstrahl durchzuckt ihn: ein für ihn so neuartiges und extremes Phänomen, dass er annimmt, es habe außerdem das Tageslicht ausgelöscht. Er und Kaiser Bill sind drei Schritte hinter Beezer und Doc und haben gerade erst fünfzehn Meter auf dem schmalen Weg zurückgelegt. Der Kaiser lässt seinen Lenker los und greift sich mit beiden Händen an den Kopf. Sonny weiß genau, wie ihm zumute sein muss: Ein gut armlanger Pflock aus rot glühendem Eisen ist auch in seinen Kopf und durch den gesamten Körper bis in seine Eingeweide getrieben worden und verbrennt alles, was mit ihm in Berührung kommt. »He, Mann«, sagt er und bemerkt trotz seinem elenden Zustand, dass die Luft so matschig geworden ist, als wären einzelne Sauerstoff- und Kohlendioxidatome klebrig genug, um an seiner Haut zu haften. Dann bemerkt Sonny, dass die Augen des Kaisers sich nach oben verdrehen, und erkennt, dass der Mann neben ihm im Begriff ist, ohnmächtig zu werden. Auch wenn er sich selbst sterbenselend fühlt, muss er etwas tun, um dem Kaiser zu helfen. Sonny streckt eine Hand nach der Maschine des anderen aus und beobachtet, so gut er kann, wie dessen Pupillen hinter den geöffneten Lidern verschwinden. Blut schießt dem Kaiser aus den Nasenlöchern, während sein Körper nach hinten sackt und zur Seite wegkippt. Einige Sekunden lang wird er noch von einem Stiefel mitgeschleppt, der sich am Lenker verfangen hat; dann rutscht ihm der Stiefel vom Fuß, und die Harley rollt aus.

Der rot glühende Eisenpflock scheint Sonny den Magen aufzureißen. Er kann einfach nicht mehr anders: Er lässt das andere Bike fallen, stöhnt vor Schmerz und erbricht Unmengen, die ihm wie jede Mahlzeit erscheinen, die er jemals zu sich genommen hat. Kaum hat er nichts mehr in sich, lassen die Magenschmerzen nach, aber nun hat ein Schwellenarbeiter beschlossen, ihm gigantische Schienennägel durch den Kopf zu treiben. Arme und Beine bestehen aus Gummi. Sonny konzentriert sich auf sein Bike. Es scheint zu stehen. Er begreift nicht, wie er sich unter diesen Umständen noch vorwärts bewegen kann, aber er beobachtet, dass eine blutbespritzte Hand den Gasgriff dreht, und schafft es, auf der Maschine zu bleiben, als diese wieder anfährt. Ist das mein Blut?, fragt er sich und denkt an die doppelten Blutstrahlen, die er aus Kaiser Bills Nase hat strömen sehen.

Ein Geräusch, das im Hintergrund an Lautstärke zugenommen hat, verwandelt sich in das Röhren eines zur Landung einschwebenden Jumbojets. Sonny sagt sich, dass er heute auf keinen Fall mehr dieses Ungeheuer sehen will, das imstande ist, solche Töne von sich zu geben. Mouse hat völlig Recht gehabt: Das hier ist ein schlimmer, schlimmer Ort, der es ohne weiteres mit der bezaubernden Kleinstadt Harko, Illinois, aufnehmen kann. Sonny will keine weiteren Harkos mehr erleben, okay? Eines reicht ihm fürs ganze Leben. Warum fährt er also weiter, statt zu wenden und sich in den sonnigen Frieden des Highways 35 zu flüchten? Warum zieht er diese großkalibrige Waffe aus der Tasche? Die Erklärung dafür ist ganz einfach. Er denkt nicht daran, sich von diesem Düsenflugzeug-Hund die Kronjuwelen abbeißen zu lassen, selbst wenn ihm der Kopf noch so sehr schmerzt.

Der ewige Schwellenarbeiter treibt Sonny diese Riesennägel weiter in den Kopf, während er schneller wird, mit zusammengekniffenen Augen nach vorn starrt und herauszubekommen versucht, was dort passiert ist. Irgendjemand schreit, aber er kann die Stimme nicht identifizieren. Trotz dem grausigen Knurren hört er das unverkennbare Geräusch eines Bikes, das nach einem Überschlag auf den Erdboden knallt, und fühlt sofort, wie sein Herz bebt. Beezer sollte immer die Führung haben, sagt er sich, sonst fordern wir das Schicksal heraus. Dann kracht ein Schuss. Sonny zwingt sich dazu, durch die klebrigen Atome in der Luft weiterzufahren, und entdeckt nach weiteren fünf, sechs Sekunden Beezer, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht neben seinem umgestürzten Bike aufrappelt. Dicht hinter Beezer kommt Docs bulli-ge Gestalt in Sicht; er steht breitbeinig über seinem Bike und zielt mit seiner 9-mm-Pistole auf irgendetwas vor sich auf dem Weg. Doc drückt ab, und rotes Mündungsfeuer blitzt aus dem Pistolenlauf.

Sonny, der sich erledigter und nutzloser als je zuvor in seinem Leben fühlt, springt von seinem noch rollenden Bike, rennt auf Doc zu und bemüht sich, an diesem vorbeizusehen. Als Erstes sieht er einen Lichtreflex von Mouse’ Harley, die acht Meter weiter am Eingang der Kurve flach auf der Seite liegt. Dann entdeckt er Mouse, der auf dem Hintern sitzend vor irgendeinem Tier zurückweicht, von dem Sonny außer Augen und Zähnen kaum etwas ausmachen kann. Ohne zu merken, dass er dabei ununterbrochen ordinär flucht, zielt Sonny mit seiner Pistole auf das schemenhafte Wesen und drückt ab, als er gerade an Doc vorbeirennt.

Doc steht bloß da; Doc ist vorläufig außer Gefecht. Das Ungeheuer vor ihnen auf dem Weg bekommt das Bein von Mouse zwischen die Reißzähne. Es will einen Muskelklumpen von der Größe eines Hamburgers herausbeißen, aber Sonny trifft es mit einer gottverdammten Dumdum-Rakete aus seiner Magnum - für den Schießstand etwas angeberhaft, aber unter diesen Umständen nur angemessen, aber hoppla. Entgegen allen Erwartungen und Naturgesetzen reißt Sonnys erstaunliches Wundergeschoss beileibe kein footballgroßes Loch in den Körper des Ungeheuers. Das Dumdumgeschoss wirft es lediglich zur Seite und lenkt es von Mouse’ Bein ab; es streckt das Tier nicht einmal zu Boden. Mouse stößt einen lauten Schmerzensschrei aus.

Der Hund wirft sich herum und starrt Sonny mit baseballgroßen feurigen Augen an. Er reißt die Schnauze mit den scharfen Reißzähnen auf und schnappt nach Luft. Schleimfäden tropfen von seinem Unterkiefer. Das Untier senkt den Schädel und kommt langsam heran. Erstaunlicherweise wird sein Knurren noch lauter und wilder. Die darin liegende Warnung ist unüberhörbar: Ergreift Sonny nicht schleunigst die Flucht, ist er als Nächster dran.

»Fick dich«, sagt Sonny, zielt auf die Hundeschnauze und drückt ab. Eigentlich müsste der ganze Schädel in blutigen Fetzen auseinander fliegen, aber in der ersten Sekunde nach dem Schuss aus der Magnum verändert sich nichts.

O Scheiße, denkt Sonny.

Die Augen des Hundewesens glühen, und sein keilförmiger Raubtierschädel scheint sich aus dem in der Luft liegenden Dunkel zusammenzufügen. Als wäre eine Tarnkappe teilweise zur Seite gezogen worden, kann Sonny einen massigen Nacken erkennen, der zu muskelbepackten Schultern und starken Vorderläufen hinunterführt. Vielleicht ist das Blatt dabei, sich zu wenden; vielleicht erweist dieses Ungeheuer sich doch als verwundbar. Sonny umfasst sein rechtes Handgelenk mit der linken Hand, zielt auf die Brust des Hundewesens und drückt wieder ab. Nach dem Schussknall hat er das Gefühl, seine Ohren seien mit Watte verstopft. Alle Schienennägel in seinem Kopf glühen wie elektrische Heizspiralen, und zwischen seinen Schläfen flirrt ein greller Schmerz.

Aus der Brust des Untiers quillt ein breiter Strom dunklen Bluts. Sonny Cantinaro fühlt in seinem Innersten ein unverfälschtes, primitives Triumphgefühl zum Leben erwachen. Von dem Ungeheuer wird allmählich mehr sichtbar: der breite Rücken und eine Andeutung der Hinterläufe. Mit einer Schulterhöhe von über eins zwanzig ist das keiner bekannten Rasse zugehörige Hundewesen ungefähr so groß wie ein riesiger Wolf. Als es auf ihn zukommt, schießt Sonny erneut. Irgendwo dicht hinter ihm wiederholt der Knall seiner Waffe sich wie ein Echo; ein Geschoss zischt wie eine Wespe mit Turbolader an seiner Brust vorbei.

Das Untier weicht mit einem verletzten Bein hinkend zurück. Sein vor Wut funkelnder Blick bohrt sich in Sonnys Augen. Sonny riskiert einen Blick nach hinten und sieht Beezer in Schussposition mitten auf dem Weg stehen.

»Glotz mich nicht an, schieß!«, ruft Beezer.

Seine Stimme scheint Doc zu wecken, der nun den Arm hebt und auf das Untier zielt. Dann geben alle drei einen Schuss nach dem anderen ab, und auf der kleinen Straße klingt es wie am Schießstand bei Hochbetrieb. Das Hundewesen (der Höllenhund, denkt Sonny) hinkt einen weiteren Schritt zurück und reißt den schrecklichen Rachen auf, um vor Wut und Frustration zu heulen. Noch bevor das Heulen abbricht, sammelt das Wesen seine Hinterläufe unter dem Leib, springt mit einem Riesensatz über den Weg und verschwindet im Wald.

Sonny widersteht dem Drang, unter einer Woge von Erleichterung und Erschöpfung zusammenzuklappen.

Doc dreht den Oberkörper zur Seite und schießt weiter ins Dunkel unter den Bäumen, bis Beezer ihm eine Hand auf den Arm legt und »Feuer einstellen!« befiehlt. Die Luft stinkt nach Kordit und einem Tiergeruch, der moschusartig und Ekel erregend süßlich ist. Der langsam aufsteigende hellgraue Pulverdampf schimmert in der dunkleren Luft fast weiß.

Als Beezer ihm sein erschöpftes Gesicht zuwendet, sieht Sonny, dass das Weiße seiner Augen blutunterlaufen ist. »Du hast das Scheißding doch getroffen, oder nicht?« Wegen der Wattepfropfen, die in Sonnys Ohren zu stecken scheinen, klingt Beezers Stimme dünn und blechern.

»Scheiße, ja. Mindestens zweimal, wahrscheinlich sogar dreimal.«

»Und Doc und ich haben es beide einmal getroffen. Was zum Teufel ist dieses Ding?«

»>Was zum Teufel< ist richtig«, sagt Sonny.

Mouse, der vor Schmerzen weint, ruft bereits zum dritten Mal: »Helft mir!«, und endlich hören die anderen ihn. Sie bewegen sich langsam, halten die Hände auf die jeweils am meisten schmerzenden Körperteile gedrückt, humpeln den Weg entlang und knien sich schließlich vor Mouse hin. Das rechte Bein seiner Jeans ist zerrissen und mit Blut getränkt, das Gesicht vor Schmerz verzerrt.

»Seid ihr Arschlöcher taub?«

»Beinahe«, sagt Doc. »Erzähl mir bloß nicht, dass du eine Kugel ins Bein gekriegt hast.«

»Nein, aber das könnte man fast als ein Wunder bezeichnen.« Er zuckt zusammen und atmet heftig ein. Die Luft zischt durch seine Zähne. »So, wie ihr Kerle rumgeballert habt. Nur schade, dass ihr’s nicht getroffen habt, bevor es mich ins Bein gebissen hat.«

»Ich hab’s getroffen«, sagt Sonny. »Und deshalb sei froh, dass das Bein überhaupt noch dran ist.«

Mouse starrt ihn mit zusammengekniffenen Augen an, dann schüttelt er den Kopf. »Was ist mit dem Kaiser passiert?«

»Er hat ungefähr einen Liter Blut durch die Nase verloren und ist umgekippt«, antwortet Sonny.

Mouse seufzt, als würde er die Verletzlichkeit des Menschengeschlechts beklagen. »Ich finde, wir sollten irgendwie von diesem beschissenen Ort abhauen.«

»Ist dein Bein soweit in Ordnung?«, fragt Beezer.

»Es ist nicht gebrochen, falls du das meinst. Aber es ist irgendwie trotzdem nicht in Ordnung.«

»Warum?«, fragt Doc.

»Kann ich nicht sagen«, erklärt Mouse ihm. »Ich beantworte keine medizinischen Fragen von Kerlen, die sich voll gekotzt haben.«

»Kannst du fahren?«

»Scheiße, ja, Beezer - hast du mal erlebt, dass ich nicht fahren konnte?«

Beezer und Sonny packen je einen Arm und schaffen es mit qualvoller Anstrengung, Mouse hochzuzerren und auf die Füße zu stellen. Nachdem sie ihn losgelassen haben, tapst Mouse ein paar Schritte zur Seite. »Hier stimmt was nicht«, sagt er.

»Großartige Analyse«, sagt Beezer.

»Beezer, alter Kumpel, weißt du eigentlich, dass deine Augen hellrot sind? Du siehst wie ein gottverdammter Dracula aus.«

So weit das möglich ist, beeilen sie sich nun. Doc will sich noch kurz das Bein von Mouse ansehen; Beezer will sich davon überzeugen, dass Kaiser Bill noch lebt; und alle wollen von diesem Ort weg und wieder in normale Luft und Sonnenschein zurück. Sie haben pochende Kopfschmerzen, und die Muskeln tun ihnen von den extremen Belastungen weh. Keiner von ihnen könnte dafür garantieren, dass das Hundewesen sich nicht auf einen neuerlichen Überfall vorbereitet.

Während sie reden, hat Sonny die Fat Boy von Mouse aufgerichtet und schiebt sie zu ihrem Besitzer hinüber. Mouse ergreift den Lenker, schiebt seine Harley weiter und verzieht dabei schmerzhaft das Gesicht. Beezer und Doc bergen ihre Bikes, und drei Schritte weiter stellt Sonny seine Maschine in einem Klumpen Unkraut auf die Räder.

Beezer fällt ein, dass er an der Kurve vor ihnen versäumt hat, Ausschau nach dem Black House zu halten. Er erinnert sich daran, wie Mouse gesagt hat, dieser Scheiß will nicht gesehen werden, und denkt, dass Mouse das ziemlich richtig erkannt hat: Der Fisherman wollte sie nicht hier haben, und der Fisherman wollte nicht, dass sein Haus gesehen wurde. Alles andere wirbelt ihm im Kopf durcheinander, wie seine Electra Glide sich überschlagen hat, nachdem er diese hässliche innere Stimme gehört hat. Eines weiß Beezer jedoch sicher: Jack Sawyer wird nicht länger verschweigen können, was er weiß.

Dann befällt ihn ein schrecklicher Gedanke, und er fragt: »Ist euch was Merkwürdiges - irgendwas wirklich Seltsames - passiert, Jungs, bevor der Höllenhund uns angefallen hat? Außer dem körperlichen Zeug, meine ich.«

Er sieht zu Doc hinüber, und Doc wird rot. Aber hallo, da ist doch was, denkt Beezer.

»Fick dich ins Knie«, antwortet Mouse. »Darüber red ich mit keinem.«

»Schließe mich Mouse an«, sagt Sonny.

»Das soll vermutlich >ja< heißen«, sagt Beezer.

Kaiser Bill liegt mit geschlossenen Augen am Straßenrand; seine Vorderseite ist vom Mund bis zur Hüfte nass vor Blut. Die Luft ist weiterhin grau und klebrig; ihre Körper scheinen hundert Zentner zu wiegen, die Bikes auf bleiernen Rädern zu rollen. Sonny schiebt seine Har-ley neben den wie tot daliegenden Kaiser und tritt ihn nicht allzu gefühlvoll in die Rippen.

Der Kaiser öffnet die Augen und stöhnt. »Scheiße, Sonny«, sagt er. »Du hast mich getreten.« Er blinzelt angestrengt, dann hebt er den Kopf und bemerkt seine blutgetränkte Kleidung. »Was ist passiert? Bin ich angeschossen worden?«

»Du hast dich wie ein Held benommen«, sagt Sonny. »Wie fühlst du dich?«

»Beschissen. Wo hat’s mich erwischt?«

»Woher soll ich das wissen?«, sagt Sonny. »Komm jetzt, wir hauen von hier ab.«

Die anderen ziehen an ihm vorbei. Kaiser Bill schafft es, sich aufzurappeln, und richtet nach einem weiteren heldenhaften Kampf sein Bike neben sich auf. Er schiebt es den Weg entlang hinter den anderen her und staunt unterwegs über seine Kopfschmerzen und die Blutmenge in seinen Klamotten. Als er unter den letzten Bäumen hervorkommt und sich auf dem Highway 35 zu seinen Freunden gesellt, sticht die jähe Helligkeit ihm in die Augen, sein Körper fühlt sich leicht genug an, um davonschweben zu können, und er wird beinahe abermals ohnmächtig. »Ich glaub nicht, dass ich angeschossen worden bin«, sagt er.

Niemand achtet auf den Kaiser. Doc fragt Mouse, ob er ins Krankenhaus will.

»Kein Krankenhaus, Mann. Krankenhäuser bringen einen um.«

»Dann lass wenigstens mich dein Bein ansehen.«

»Okay, sieh’s dir an.«

Doc kniet am Straßenrand nieder und zieht Mouse den Aufschlag der Jeans bis zur Kniekehle hoch. Er tastet die Wunde überraschend behutsam ab, aber Mouse zuckt trotzdem schmerzlich zusammen.

»Mouse«, sagt er, »so einen Hundebiss hab ich noch nie gesehen.«

»Und ich noch nie so einen Hund.«

»Welchen Hund?«, fragt der Kaiser.

»Irgendwas an dieser Wunde ist komisch«, sagt Doc. »Du brauchst Antibiotika, und zwar sofort.«

»Hast du Antibiotika bei dir zu Hause?«

»Klar hab ich welche.«

»Dann fahren wir am besten zu Beezer. Dort kannst du mich dann mit Nadeln vollstechen, so viel du willst.«

»Wie du meinst«, sagt Doc.

20

Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Mouse und Beezer beim ersten Vorbeifahren die kleine Straße und das Schild mit der Aufschrift Zutritt verböten übersehen, reagiert Jack Sawyer auf das lästige Klingeln seines Handys und hofft, dass der Anrufer Henry Leyden mit Informationen über die Stimme auf der Notrufaufzeichnung ist. Obwohl eine Identifizierung wunderbar wäre, erwartet er nicht, dass Henry die Stimme erkennen wird; der Fis-herman-Burnside ist in Potsies Alter, und Jack nimmt nicht an, dass der alte Schurke ein sehr geselliges Leben führt - weder hier noch in den Territorien. Henry kann dennoch etwas tun; er kann sein ungeheuer empfindliches Gehör auf die Nuancen von Burnsides Stimme einstellen und Jack beschreiben, was er in ihr hört. Wüssten wir nicht, dass Jacks Vertrauen auf die Fähigkeit seines Freundes, Besonderheiten und Sprachmuster wahrzunehmen, die für andere unhörbar bleiben, gerechtfertigt ist, müsste dieses Vertrauen so irrational wie der Glaube an Zauberei erscheinen: Jack vertraut fest darauf, dass ein ausgeruhter, erholter Henry Leyden mindestens ein, zwei wichtige Details über Biografie oder Charakter heraushören wird, die den Kreis der Verdächtigen einengen werden. Jack wird alles interessieren, was Henry auffällt.

Falls jemand anders anruft, hat er vor, ihn schnellstens abzuwimmeln.

Aber die Stimme, die sich meldet, macht diese Absicht zunichte. Fred Marshall will ihn sprechen, und Fred ist so erregt und durcheinander, dass Jack ihn auffordern muss, langsamer zu reden und noch mal von vorn anzufangen.

»Judy ist wieder ausgeflippt«, sagt Fred. »Sie ... brabbelt nur und redet wirres Zeug, ist wieder so verrückt, die Wände aufkratzen zu wollen - o Gott, sie haben sie in eine Zwangsjacke gesteckt, und die hasst sie, sie will Ty helfen, das kommt alles von dieser Kassette. Jesus, das ist fast nicht mehr auszuhalten, Jack, Mr. Sawyer, das meine ich ernst, und ich weiß, dass ich zu viel schwatze, aber ich mache mir wirklich Sorgen.«

»Erzählen Sie mir nicht, dass jemand ihr das NotrufTonband geschickt hat«, sagt Jack.

»Nein, nicht ... welches Notruf-Tonband? Ich rede von der Kassette, die heute im Krankenhaus abgeliefert worden ist. An Judy adressiert. Können Sie sich vorstellen, dass die ihr die Aufnahme tatsächlich vorgespielt haben? Am liebsten würde ich Dr. Spiegleman und diese Oberschwester Jane Bond erwürgen! Was ist mit diesen Leuten los? Die Sendung kommt an, sie sagen, oh, klasse, hier ist eine nette kleine Aufnahme, die Sie sich anhören sollten, Mrs. Marshall, Augenblick, ich hole nur schnell einen Recorder. In einer psychiatrischen Abteilung? Und machen sich nicht mal die Mühe, sich die Kassette vorher anzuhören? Also, was immer Sie gerade tun, ich wäre Ihnen ewig dankbar, wenn ich Sie abholen dürfte, um mit Ihnen rüberzufahren. Sie könnten mit ihr reden. Sie sind der einzige Mensch, der sie beruhigen kann.«

»Sie brauchen mich nicht abzuholen, weil ich schon unterwegs bin. Was war denn genau auf dem Tonband zu hören?«

»Das verstehe ich nicht.« Fred Marshalls Stimme klingt schlagartig nüchterner. »Wieso fahren Sie ohne mich hin?«

Jack überlegt eine Sekunde, dann antwortet er mit einer glatten Lüge. »Ich dachte, Sie wären vielleicht schon dort. Schade, dass Sie’s nicht waren.«

»Genau, ich wäre so vernünftig gewesen, die Kassette zu kontrollieren, bevor ich sie ihr vorgespielt hätte. Wissen Sie, wer auf dem Ding zu hören war?«

»Der Fisherman«, sagt Jack.

»Woher wissen Sie das?«

»Weil er so was offenbar gern tut«, sagt Jack. »Wie schlimm war’s?«

»Sagen Sie’s mir, dann weiß ich mehr. Ich kann nur kombinieren, was ich aus Judy rausgekriegt habe und was Dr. Spiegleman mir später erzählt hat.« Fred Marshalls Stimme beginnt zu zittern. »Der Fisherman hat sie verspottet. Können Sie sich das vorstellen? Er hat gesagt: Ihr kleiner Junge ist sehr einsam. Dann hat er sinngemäß gesagt: Er hat gebettelt und gebettelt, daheim anrufen und Hallo zu seiner Mami sagen zu dürfen. Judy sagt allerdings, dass er einen komischen ausländischen Akzent, eine Art Sprachbehinderung oder dergleichen hatte, wodurch er nicht ohne weiteres zu verstehen war. Dann sagt er: Sag Hallo zu deiner Mami, Tyler, und Tyler ...« Fred überschlägt die Stimme, und Jack kann hören, wie er seine qualvollen Gefühle unterdrücken muss, bevor er einen neuen Anlauf nimmt. »Tyler, ach, Tyler war offenbar zu verzweifelt, um viel mehr zu tun, als um Hilfe zu schreien.« Aus dem Telefon kommt das Geräusch eines langen, unsicheren Atemholens. »Und er hat geweint, Jack, er hat geweint.« Fred, der sich nicht länger beherrschen kann, bricht in hemmungsloses Schluchzen aus. Sein Atem kommt röchelnd; Jack hört sich all die feuchten, unwürdigen, hilflosen Laute an, die Menschen von sich geben, wenn Kummer und Leid alle anderen Empfindungen überlagern, und sein Herz fühlt mit Fred Marshall.

Das Schluchzen lässt nach. »Entschuldigung. Manchmal denke ich, sie müssten mich in eine Zwangsjacke stecken.«

»War die Aufnahme damit zu Ende?«

»Nein, er hat sich noch mal gemeldet.« Fred atmet geräuschvoll durch, offenbar um wieder klar denken zu können. »Er hat damit angegeben, was er noch alles tun wird. Es wird mehr Morde geben und danach noch mehr, Choo-dee, wir werden alle so viel Spaß haben - Spiegleman hat diesen Dreck wörtlich wiedergegeben! Die Kinder von French Landing werden wie Weizen geerntet werden. Wie Weiz’n gee-ern-det. Wer redet so? Was für ein Mensch ist das?«

»Ich wollte, ich wüßte’s«, sagt Jack. »Vielleicht hat er nur einen Akzent angenommen, um noch unheimlicher zu klingen. Oder um seine Stimme zu verstellen.« Nein, er würde die Stimme nie verstellen, denkt Jack, er ist viel zu sehr von sich angetan, um sich hinter einem Akzent zu verstecken. »Ich werde mir die Kassette geben lassen und mir die Aufnahme selbst anhören. Und ich rufe Sie an, sobald ich Einzelheiten habe.«

»Oh, noch etwas«, sagt Marshall. »Ich habe wahrscheinlich einen Fehler gemacht. Vor ungefähr einer Stunde war Wendell Green bei mir.«

»Alles, was mit Wendell Green zusammenhängt, ist automatisch ein Fehler. Was war los?«

»Ich hatte den Eindruck, er wüsste schon alles über Ty-ler und bräuchte mich nur, um eine Bestätigung dafür zu bekommen. Ich dachte, er hätte es von Dale oder den State Troopers. Aber Dale hat doch noch keine Pressemitteilung herausgegeben, oder?«

»Wendell hat ein Netzwerk von kleinen Spitzeln, die ihm Informationen zutragen. Falls er etwas weiß, hat er’s auf diese Weise erfahren. Was haben Sie ihm erzählt?«

»Praktisch alles«, sagt Marshall. »Auch von der Kassette. O Gott, ich bin solch ein Trottel! Aber ich dachte, das wär in Ordnung - ich dachte, es würde sowieso rauskommen.«

»Fred, haben Sie ihm irgendwas über mich erzählt?«

»Nur dass Judy Ihnen vertraut und dass wir Ihnen beide für Ihre Hilfe dankbar sind. Und ich habe, glaube ich, noch gesagt, dass Sie sie wahrscheinlich heute Nachmittag besuchen würden.«

»Haben Sie Tys Baseballmütze erwähnt?«

»Halten Sie mich für verrückt? Aus meiner Sicht ist die etwas, das außer mir nur Judy und Sie angeht. Wenn ich’s schon nicht kapiere, rede ich auch nicht mit Wendell Green darüber. Immerhin habe ich ihn dazu gebracht, mir zu versprechen, Judy in Ruhe zu lassen. Er hat einen klasse Ruf, aber ich hatte den Eindruck, dass er nicht so toll ist, wie immer behauptet wird.«

»Das können Sie laut sagen«, sagt Jack. »Okay, ich melde mich wieder.«

Nachdem Fred Marshall aufgelegt hat, tippt Jack die Nummer von Henry ein.

»Ich verspäte mich wahrscheinlich etwas, Henry. Ich bin gerade zum French County Lutheran unterwegs. Judy Marshall hat eine Tonbandkassette vom Fisherman bekommen wenn ich sie mitnehmen darf, bringe ich sie mit. Hier geht etwas Merkwürdiges vor - auf der Kassette scheint er mit einem ausländischen Akzent zu sprechen.«

Henry erklärt Jack, dass das keine Eile habe. Er habe sich die andere Aufnahme sowieso noch nicht angehört und werde jetzt warten, bis Jack die neue vorbeibringe. Vielleicht könne er ja etwas Nützliches hören, wenn er sie nacheinander abspiele. Zumindest werde er Jack wahrscheinlich sagen können, ob sie vom selben Mann stammen. »Und mach dir meinetwegen keine Sorgen, Jack. Mrs. Morton kommt bald vorbei, um mich zu KDCU zu fahren. Heute ist George Rathbun mein Ernährer, Baby - mit sechs, sieben Werbespots. >Sogar ein Blinder weiß, dass es für jeden, der heute Abend seinen Schatz, sein Sweetheart, sein Täubchen, sein Ehegespons, seine beste Gefährtin durch Dick und Dünn zu ’nem lecker, lecker Dinner ausführen will, kein besseres Lokal gibt, um dem alten Klotz am Bein seine Dankbarkeit zu beweisen, als Cousin Buddy’s Rib Crib in der South Wa-bash Street im schönen Stadtzentrum von La Riviere!<«

»>Dem alten Klotz am Bein

»Wer für George Rathbun zahlt, kriegt George Rathbun - mit Warzen und allem.«

Jack verspricht Henry also lachend, wie vereinbart später bei ihm vorbeizustechen, gibt dann Gas und bringt den Pickup auf hundertzwanzig Sachen. Was soll Dale schon machen, ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit gebührenpflichtig verwarnen?

Diesmal parkt er vor dem Krankenhaus, statt auf den rückwärtigen Parkplatz zu fahren. Während er über die Betonplatten trottet, ist er in Gedanken bei den Territorien und Judy Marshall. Die Dinge entwickeln sich zusehends rasanter, und Jack hat das Gefühl, dass sich alles auf Judy konzentriert - nein, auf Judy und ihn. Der Fis-herman hat sie bewusster ausgewählt als seine ersten drei Opfer: Amy St. Pierre, Johnny Irkenham und Irma Fre-neau waren nur im richtigen Alter - es hätte auch drei andere Kinder treffen können -, aber Tyler ist Judy Marshalls Sohn, und das unterscheidet ihn von den anderen. Judy hat einen Blick in die Territorien geworfen, Jack hat sie durchwandert, und der Fisherman lebt dort, wie eine Krebszelle in einem gesunden Organismus lebt. Der Fisherman hat Judy eine Kassette, Jack ein grausiges Präsent geschickt. Bei Tansy Freneau hat er Judy als seinen Schlüssel und die von dem Schlüssel aufgesperrte Tür erkannt, und wohin sonst hat diese Tür geführt, als in Judys Anderland?

Anderland. Gott, das ist hübsch. Eigentlich sogar schön.

Aaah ... das Wort beschwört Judy Marshalls Gesicht herauf, und als er dieses Gesicht sieht, fliegt in seinem Geist eine Tür auf, die einzig und allein ihm gehört, und Jack Sawyer bleibt für einen Augenblick unbeweglich stehen, erstarrt vor Schrecken, Angst und freudiger Erwartung auf den Betonplatten, keine zwei Schritte vom Krankenhauseingang entfernt.

Durch die Tür in seinem Geist flutet ein Strom unzusammenhängender Bilder: ein still stehendes Riesenrad, hinter gelbem Tatort-Absperrband durcheinander laufende Cops aus Santa Monica, Lichtreflexe auf dem kahlen Schädel eines Schwarzen. Ja, auf dem kahlen Schädel eines Schwarzen, den er ehrlich und aufrichtig, tatsächlich sogar höchst verzweifelt, nicht hatte sehen wollen, sieh ihn dir also gut an, Bürschchen, hier ist er wieder. Er hatte eine Gitarre gehört, aber die Gitarre war anderswo; die Gitarre gehörte dem grandiosen fordernden tröstenden unerbittlichen Speedy Parker, dem Gott segne ihn Gott verdamme ihn Gott liebe ihn Speedy, der in die Saiten griff und dazu sang:

Travellin'Jack, ole Travellin’ Jack,

Got a far long way to go,

Longer way to come back.

Welten umkreisen ihn, Welten innerhalb von Welten und andere Welten neben ihnen, alle durch eine dünne Membran aus tausendmal tausend Türen getrennt, wenn man nur weiß, wie sie zu finden sind. Tausendmal tausend rote Federn, winzige Federn eines Rotkehlchens, von Hunderten von Rotkehlchen, sind durch eine dieser Türen - Speedys Tür - geflogen. Rotkehlchen wie in Rotkehlcheneiblau, danke, Speedy, und ein Lied, das ihn aufforderte: Wach auf, wach auf, du Schlafmütze.

Oder: Wach auf, wach auf, du Dummkopf!

Verrückterweise hört Jack diesmal George Rathbuns nicht so joviales Brüllen: Sogaar ein Bliiinder hätt das kommen sehen können, du Holzkopf!

»Ach ja?«, sagt Jack laut. Nur gut, dass Oberschwester Bond, Jane Bond, Agentin 000, ihn nicht hören kann. Sie ist streng, aber ungerecht, und wenn sie jetzt neben ihm erschiene, würde sie ihn vermutlich in Eisen legen, ruhig stellen und mit in ihr Reich hinaufschleppen. »Tja, ich weiß etwas, was du nicht weißt, alter Kumpel: Judy Marshall hat einen Twinner, und der Twinner hat ihr schon ziemlich lange alles Mögliche durch die Mauer zugeflüstert. Kein Wunder, dass sie schließlich zu schreien angefangen hat.«

Ein rothaariger Teenager in einem T-Shirt mit dem Aufdruck Arden H. S. Baseball stößt die reale Tür unmittelbar vor Jack auf und wirft ihm einen misstrauischen, irritierten Blick zu. Mann, Erwachsene sind vielleicht gaga, besagt dieser Blick, kann ich nicht froh sein, dass ich ein Jugendlicher bin? Da er kein Psychiatrieprofi, sondern ein Oberschüler ist, legt er unseren Helden weder in Eisen, noch schleppt er ihn, nachdem er ihn zuvor ruhig gestellt hat, in die Gummizelle. Er achtet nur darauf, einen weiten Bogen um den Verrückten zu machen, und setzt seinen Weg fort, allerdings mit einer Spur unsicherer Steifheit in seinem Gang.

Natürlich geht es bei der ganzen Sache um Twinner.

Jack, der sich für seine Dummheit tadelt, klopft sich mit den Fingerknöcheln einer Hand seitlich an den Kopf. Das hätte er eigentlich schon früher sehen müssen; das hätte er sofort begreifen müssen. Falls es irgendeine Entschuldigung dafür gibt, besteht sie darin, dass er sich anfangs trotz Speedys Bemühungen, ihn aufzuwecken, geweigert hat, an diesen Fall zu denken, und sich dann so ausschließlich auf den Fisherman konzentriert hat, dass er bis heute Morgen, als er seine Mutter im Großbildfernseher der Sand Bar sah, versäumt hat, an den Twin-ner des Ungeheuers zu denken. In Judy Marshalls Kindheit hat ihr Twinner durch die dünne Membran zwischen den beiden Welten zu ihr gesprochen; im vergangenen Monat ist der Twinner immer besorgter geworden und hat zuletzt fast seine Arme durch die Membran gestreckt und Judy bis zur Bewusstlosigkeit geschüttelt. Da Jack nur einmal existiert und keinen Twinner hat, fiel die entsprechende Aufgabe Speedy zu. Da nun alles einen Sinn zu ergeben scheint, kann Jack nicht glauben, dass er so lange gebraucht hat, um das Schema zu erkennen.

Und aus diesem Grund hat ihm alles widerstrebt, was ihn daran gehindert hat, vor Judy Marshall zu stehen: Judy ist die Tür zu ihrem Twinner, zu Tyler und zur Vernichtung des Fishermans und seines Gegenstücks in den Territorien - des Erbauers jenes teuflischen, feurigen Gebildes, das eine Rabenkrähe namens Gorg der untröstlichen Tansy Freneau gezeigt hat. Was auch heute auf Station D geschehen mag, es wird Welten verändern.

Mit vor Aufregung pochendem Herzen tritt Jack aus dem grellen Sonnenschein in die ockergelbe Höhle der Eingangshalle. Dieselben Patienten in Bademäntel scheinen die vielen Stühle besetzt zu halten; in einer entfernten Ecke diskutieren dieselben Ärzte über einen schwierigen Fall oder, wer weiß, über jenes vertrackte zehnte Loch auf dem Golfplatz des Arden Country Clubs; dieselben goldenen Lilien erheben ihre prächtigen, stolzen Häupter beiderseits des Eingangs der Geschenkboutique. Dieser Empfang beruhigt Jack, und er beschleunigt seinen Schritt, umgibt jener doch die unvorhersehbaren Ereignisse, die ihn im vierten Stock erwarten, und federt sie ab.

Derselbe gelangweilte Mann an der Empfangstheke reagiert auf dasselbe Kennwort mit einem identischen, wenn nicht demselben grünen Kärtchen mit dem Stempelaufdruck Besucher. Der dem Aufzug im Hôtel Ritz an der Place Vendôme überraschend ähnliche Fahrstuhl rumpelt gehorsam an den Stockwerken eins, zwei und drei vorbei, hält in seinem matronenhaften Gang einmal inne, um einen hageren jungen Arzt zusteigen zu lassen, der an Roderick Usher erinnert, und setzt Jack dann im vierten Stock ab, wo das angenehm ockergelbe Licht ein, zwei Schattierungen dunkler zu sein scheint als unten in der riesigen Eingangshalle. Vom Aufzug aus folgt Jack dem Weg, den er unter Fred Marshalls Führung schon einmal zurückgelegt hat - durch die beiden zweiflügli-gen Türen, vorbei an den Haltepunkten Gerontologie, Augenambulanz und Archiv, näher und immer näher an das unvorhergesehene Unvorhersehbare heran, während die Korridore enger und dunkler werden -, und erreicht wie zuvor den jahrhundertealten Raum mit den hohen, schmalbrüstigen Fenstern und dem vielen walnussfarbe-nen Holz.

Aber dort wird der Bann gebrochen. Der hinter der polierten Holztheke sitzende Mann, der jetzige Torwächter dieses Reichs, ist nämlich größer, jünger und weit unfreundlicher als sein Kollege vom Vortag. Als Jack seinen Wunsch äußert, Mrs. Marshall zu besuchen, wirft der Jüngling einen verächtlichen Blick auf den Besucherausweis und fragt Jack, ob er zufällig ein Verwandter oder -ein weiterer Blick auf den Ausweis - Mediziner sei. Keines von beidem, gibt Jack zu, aber wenn der Jüngling sich die Mühe machen wolle, Oberschwester Bond mitzuteilen, Mr. Sawyer wünsche Mrs. Marshall zu sprechen, werde Oberschwester Bond praktisch garantiert die dräuende Metalltür aufstoßen und ihn hereinwinken, wie sie das schon gestern mehr oder weniger getan habe.

Alles schön und gut, falls es überhaupt stimme, räumt der Jüngling ein, aber Oberschwester Bond werde heute keine Türen aufstoßen und jemanden hereinwinken, Oberschwester Bond habe heute nämlich ihren freien Tag. Ob Mr. Sawyer bei seinem gestrigen Besuch bei Mrs. Marshall vielleicht zufällig von einem Angehörigen, sagen wir Mr. Marshall, begleitet worden sei?

Ja. Und falls Mr. Marshall konsultiert werde, sagen wir mal telefonisch, würde er den jungen Mann, der dieses Thema im Augenblick lobenswert verantwortungsbewusst mit Mr. Sawyer diskutierte, dazu drängen, diesen Gentleman ohne weitere Verzögerung einzulassen.

Schon möglich, gibt der Jüngling zu, aber laut Dienstvorschrift dürften nicht im Pflegedienst Beschäftigte in Positionen wie der junge Mann nur mit Genehmigung nach draußen telefonieren.

Und von wem, wünscht Jack zu erfahren, könne diese Genehmigung eingeholt werden?

Von Schwester Rack, der Oberschwester vom Dienst.

Jack, dem allmählich, wie man sagt, der Kragen zu platzen droht, schlägt vor, dann solle der Jüngling eben die ehrenwerte Oberschwester Rack aufsuchen und die erforderliche Genehmigung einholen, damit die Sache ihren von Mr. Marshall, dem Ehemann der Patientin, gewünschten Lauf nehmen könne.

Nein, der Jüngling sehe keinen Grund, diesen Weg einzuschlagen, was er damit begründet, dass dies eine bedauerliche Vergeudung von Zeit und Mühe sei. Mr. Sawyer sei kein Angehöriger von Mrs. Marshalls Familie; daher werde die ehrenwerte Oberschwester Rack die Genehmigung auf keinen Fall erteilen.

»Gut«, sagt Jack, der diesen ärgerlichen Blindgänger am liebsten erwürgen würde, »dann wollen wir auf der Verwaltungsleiter eine Stufe höher steigen, okay? Ist Dr. Spiegleman irgendwo im Haus?«

»Schon möglich«, sagt der Jüngling. »Woher soll ich das wissen? Dr. Spiegleman erzählt mir nicht alles, was er tut.«

Jack deutet auf das Telefon am Ende der Holztheke. »Ich erwarte nicht, dass Sie das wissen, ich erwarte, dass Sie’s rauskriegen. Sie telefonieren jetzt, und zwar sofort.«

Der junge Mann schlurft die Theke entlang ans Telefon, verdreht dabei die Augen, tippt zwei Ziffern ein und lehnt sich mit dem Rücken zum Raum an die Holztheke. Jack hört, wie er etwas von Spiegleman murmelt, seufzt und dann sagt: »Okay, verbind mich, was auch immer.« Nachdem er verbunden worden ist, murmelt er etwas, in dem auch Jacks Name vorkommt. Was er als Antwort zu hören bekommt, veranlasst ihn, sich ruckartig aufzurichten und mit großen Augen über die Schulter zu Jack hinüberzusehen. »Ja, Sir. Er ist gerade hier, ja. Ich richte’s ihm aus.«

Er legt den Hörer auf. »Dr. Spiegleman kommt sofort.« Der Junge - er ist nicht älter als zwanzig - tritt von der Theke zurück und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. »Sie sind also dieser Cop, was?«

»Welcher Cop?«, sagt Jack noch immer verärgert.

»Der aus Kalifornien, der hergekommen ist und Mr. Kinderling verhaftet hat.«

»Ja, der bin ich.«

»Ich bin aus French Landing, und Mann, das war vielleicht ein Schock. Für die ganze Stadt. Das hätte niemand gedacht. Mr. Kinderling? Als ob’s ein Witz gewesen wär? Kein Mensch hätte geglaubt, dass jemand wie er ... na ja, Sie wissen schon, Leute umbringen würde.«

»Haben Sie ihn gekannt?«

»Na ja, in French Landing kennt praktisch jeder jeden, aber ich hab Mr. Kinderling nicht sonderlich gekannt, außer dass ich ihn auf der Straße gegrüßt hab. Gekannt hab ich dafür seine Frau. Sie war an der Mount Hebron Lutheran meine Sonntagsschullehrerin.«

Jack kann nicht anders. Er muss laut über die Absurdität lachen, dass die Frau eines Mörders in der Sonntagsschule unterrichtet. Die Erinnerung daran, wie Wanda Kinderling ihn bei der Urteilsverkündung im Prozess gegen ihren Mann hasserfüllt angestarrt hat, lässt sein Lachen wieder verstummen, aber zu spät. Er sieht, dass er den jungen Mann gekränkt hat. »Wie war sie?«, fragt er. »Als Lehrerin.«

»Wie eben Lehrerinnen sind«, sagt der Junge. Seine Stimme klingt ausdruckslos, nachtragend. »Sie hat uns die Namen aller Bücher der Bibel auswendig lernen lassen.« Er wendet sich ab und murmelt: »Manche Leute glauben immer noch, dass er’s nicht gewesen ist.«

»Was haben Sie gesagt?«

Der Junge wendet sich Jack etwas zu, betrachtet aber die braune Wand vor sich. »Ich habe gesagt: Manche Leute glauben immer noch, dass er’s nicht gewesen ist. Mr. Kinderling. Sie glauben, dass er eingesperrt worden ist, weil er jemand vom Land war, der dort unten niemanden gekannt hat.«

»So ein Pech«, sagt Jack. »Wollen Sie den wahren Grund dafür wissen, dass Mr. Kinderling im Gefängnis sitzt?«

Der Junge dreht sich ganz um und sieht Jack an.

»Weil er gemordet und ein Geständnis abgelegt hat. Das war’s, das ist alles. Zwei Zeugen haben ihn am Tatort gesehen, und weitere zwei Leute haben ihn in einem Flugzeug nach L. A. gesehen, als er angeblich nach Denver wollte. Danach hat er gesagt: Okay, ich hab’s getan. Ich wollte schon immer wissen, wie’s ist, eine Frau umzubringen, und eines Tages konnte ich’s nicht mehr aushalten, deshalb bin ich losgezogen und habe eine ermordet. Sein Verteidiger hat versucht, ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit freizubekommen, aber die Geschworenen haben ihn für zurechnungsfähig gehalten und deshalb zu lebenslänglich verurteilt.«

Der Junge senkt den Kopf und murmelt irgendwas.

»Sorry, das habe ich nicht verstanden«, sagt Jack.

»Es gibt viele Methoden, um Geständnisse zu erpressen.« Der Junge wiederholt den Satz eben laut genug, dass Jack ihn verstehen kann.

Dann hallen auf dem Korridor Schritte, und ein rundlicher Mann, der einen weißen Arztmantel, eine Nickelbrille und eine Spitzbart trägt, kommt mit ausgestreckter Hand energisch auf Jack zu. Der Junge hat sich abgewandt. Die Chance für Jack, den Wärter davon zu überzeugen, dass er Thornberg Kinderling nicht misshandelt hat, um ihm ein Geständnis abzupressen, ist vertan. Der lächelnde Spitzbart in dem weißen Kittel reicht Jack die Hand, stellt sich als Dr. Spiegleman vor und gibt seiner Freude Ausdruck, eine so berühmte Persönlichkeit kennen lernen zu dürfen. (Persönlichkeit, wie hochgestochen, denkt Jack.) Hinter dem Arzt taucht ein Mann auf, den Jack bisher nicht wahrgenommen hat, und sagt: »He, Doktor, wissen Sie, was perfekt wäre? Wenn Sherlock Holmes und ich die Lady gemeinsam interviewen würden. Doppelt so viele Informationen in der halben Zeit . perfekt.«

Das stößt Jack sauer auf. Wendell Green hat sich hier eingeschlichen.

Nachdem Jack den Arzt begrüßt hat, wendet er sich dem anderen Mann zu: »Was machen Sie hier, Wendell? Sie haben Fred Marshall versprochen, seine Frau in Ruhe zu lassen.«

Wendell Green hebt abwehrend die Hände und tänzelt auf den Fußballen rückwärts. »Sind wir heute ruhiger, Lieutenant Sawyer? Nicht wieder geneigt, die schwer arbeitende Presse mit einem Überraschungsschlag außer Gefecht zu setzen? Ich muss sagen, dass ich’s allmählich satt habe, von der Polizei misshandelt zu werden.«

Dr. Spiegleman betrachtet ihn stirnrunzelnd. »Was soll das heißen, Mr. Green?«

»Bevor dieser Cop mich gestern mit einer Stablampe niedergeschlagen hat, hat Lieutenant Sawyer hier mir ohne triftigen Grund einen Magenschwinger verpasst. Nur gut, dass ich ein vernünftiger Mensch bin, sonst hätte ich bereits auf Schmerzensgeld geklagt. Aber wissen Sie was, Doktor? Das ist nicht meine Art. Ich bin der Überzeugung, dass alles besser funktioniert, wenn alle zusammenarbeiten.«

Verdammt!, denkt Jack, während Green sich selbst lobt, und sieht zu dem Wärter hinüber. Der Blick des Jungen brennt vor Hass. Ein aussichtsloser Fall: Jack wird es jetzt nie mehr gelingen, den Jungen davon zu überzeugen, dass Kinderling nicht misshandelt worden ist. Als Wendell Green mit seinem Eigenlob fertig ist, hat Jack längst die Nase von dessen unaufrichtiger, kriecherischer Freundlichkeit voll.

»Mr. Green hat mir angeboten, mich an seinem Gewinn zu beteiligen, wenn ich ihn Fotos von Irma Fre-neaus Leiche verkaufen lasse«, erklärt er dem Arzt. »Was er jetzt verlangt, ist ebenso undenkbar. Mr. Marshall hat mich dringend gebeten, herzufahren und mit seiner Frau zu reden, Mr. Green hingegen das Versprechen abgenommen, nicht herzukommen.«

»Das mag im Prinzip stimmen«, sagt Green. »Aber als erfahrener Journalist weiß ich, dass die Leute oft Dinge sagen, die sie nicht so meinen, die sie später sogar bedauern. Fred Marshall ist sich darüber im Klaren, dass die Story seiner Frau früher oder später rauskommen muss.«

»Tatsächlich?«

»Vor allem angesichts der letzten Mitteilung des Fis-hermans«, sagt Green. »Die bewusste Kassette beweist, dass Tyler Marshall sein viertes Opfer ist - und dass er wie durch ein Wunder noch lebt. Wie lange, glauben Sie, lässt sich das vor der Öffentlichkeit geheim halten? Und würden Sie mir nicht zustimmen, dass die Mutter des Jungen Gelegenheit erhalten sollte, die Situation mit eigenen Worten zu schildern?«

»Ich bin nicht bereit, mich so unter Druck setzen zu lassen.« Der Arzt mustert Green verdrießlich und wirft Jack einen warnenden Blick zu. »Mr. Green, ich bin kurz davor, Sie aus diesem Krankenhaus zu weisen. Mit Lieutenant Sawyer möchte ich ein paar Dinge unter vier Augen besprechen. Können der Lieutenant und Sie zu irgendeiner Vereinbarung gelangen, ist das Ihre Sache. Aber eine gemeinsame Befragung meiner Patientin gestatte ich bestimmt nicht. Ich weiß nicht einmal sicher, ob sie überhaupt mit Lieutenant Sawyer sprechen sollte. Sie ist zwar schon ruhiger als heute Morgen, aber weiterhin sehr wenig belastbar.«

»Das Problem dieser Frau lässt sich am besten bewältigen, indem sie es selbst ausdrückt«, sagt Green.

»Sie halten bitte sofort den Mund, Mr. Green«, sagt Dr. Spiegleman. Die Falten der Doppelkinne unter seinem Spitzbart haben sich zu einem warmen Rosa verfärbt. Er funkelt Jack an. »Was wünschen Sie speziell, Lieutenant?«

»Haben Sie hier im Krankenhaus ein Büro, Doktor?«

»Ja.«

»Im Idealfall möchte ich mit Mrs. Marshall ungefähr eine halbe Stunde lang, vielleicht sogar weniger, in einer sicheren, ruhigen Umgebung sprechen, in der unser Gespräch völlig vertraulich ist. Dafür wäre Ihr Büro vermutlich am besten geeignet. Auf der Station sind zu viele Leute, man kann dort kein Gespräch führen, ohne von anderen Patienten unterbrochen oder belauscht zu werden.«

»Mein Büro also«, sagt Spiegleman.

»Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.«

»Kommen Sie mit«, sagt der Arzt. »Mr. Green, Sie bleiben bitte hier an der Theke, während ich mit Lieutenant Sawyer eine kurze Unterredung führe.«

»Wie Sie meinen.« Green macht eine spöttische Verbeugung und tritt leichtfüßig, mit einer Andeutung von Tanzschritten, an die Theke. »In Ihrer Abwesenheit finden dieser gut aussehende junge Mann und ich bestimmt etwas, worüber wir uns unterhalten können.«

Wendell Green stemmt lächelnd die Ellbogen auf die Theke und beobachtet, wie Jack und Dr. Spiegleman den Raum verlassen. Ihre Schritte klappern auf den Bodenfliesen, bis sie über die Hälfte des Korridors zurückgelegt zu haben scheinen. Dann ist nichts mehr zu hören. Wendell dreht sich, noch immer lächelnd, um und stellt fest, dass der Wärter ihn ungeniert anstarrt.

»Ich lese Sie dauernd«, sagt der Junge. »Sie schreiben echt gut.«

Jetzt lächelt Wendell geradezu selig. »Gut aussehend und intelligent. Was für eine umwerfende Kombination. Wollen Sie mir nicht Ihren Namen verraten?«

»Evans, Ethan Evans.«

»Ethan, wir wollen keine Zeit vergeuden, also halten wir uns ran. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass verantwortungsbewusste Journalisten Zugang zu Informationen haben sollten, die der Öffentlichkeit zustehen?«

»Unbedingt.«

»Und würden Sie mir nicht zustimmen, dass eine informierte Presse zu unseren besten Waffen gegen Ungeheuer wie den Fisherman gehört?«

Zwischen Ethan Evans’ Augenbrauen entsteht eine einzelne senkrechte Falte. »Waffen?«

»Ich will’s mal so ausdrücken: Trifft es nicht zu, dass unsere Chancen, den Fisherman zu stoppen, umso größer werden, je mehr wir über ihn wissen?«

Der Junge nickt, und die Falte verschwindet.

»Sagen Sie mir, glauben Sie, dass der Arzt diesem Say-wer sein Büro benützen lässt?«

»Vermutlich, yeah«, sagt Evans. »Aber mir gefällt nicht, wie dieser Sawyer arbeitet. Er ist eine Polizeibrutalität. Wie wenn sie Leute misshandeln, damit sie gestehen. Wirklich brutal.«

»Ich habe eine weitere Frage an Sie. Eigentlich sogar zwei Fragen. Gibt es in Dr. Spieglemans Büro einen Kleiderschrank? Und könnten Sie mich irgendwie hinbringen, ohne den Korridor dort draußen zu benützen?«

»Oh.« Evans’ trüber Blick glänzt sekundenlang verständnisvoll. »Sie wollen mithören.«

»Mithören und aufzeichnen.« Wendell Green klopft auf die Tasche, in der sein Diktiergerät steckt. »Zum Besten der Öffentlichkeit insgesamt, Gott zum Segen.«

»Nun, vielleicht, yeah«, sagt der Junge. »Aber Dr. Spiegleman, er ...«

Auf magische Weise ist ein um Wendell Greens rechten Mittelfinger gewickelter Zwanzigdollarschein aufgetaucht. »Beeilen Sie sich, dann merkt Dr. Spiegleman überhaupt nichts. Ist doch so, oder, Ethan?«

Ethan Evans reißt Wendell den Geldschein aus den Fingern und fordert ihn mit einer Handbewegung auf, hinter die Theke zu treten, wo er eine Tür öffnet und drängend sagt: »Los, los, beeilen Sie sich!«

An beiden Enden des düsteren Korridors brennen trübe Lampen.

»Ich vermute«, sagt Dr. Spiegleman, »dass der Mann unserer Patientin Ihnen von der Kassette erzählt hat, die sie heute Morgen erhalten hat.«

»Das hat er. Wie ist sie hergekommen, wissen Sie das?«

»Glauben Sie mir, Lieutenant, nachdem ich die Wirkung dieser Aufnahme auf Mrs. Marshall gesehen und mir die Kassette selbst angehört hatte, habe ich festzustellen versucht, wie sie in die Hände meiner Patientin gelangt ist. Alle unsere Post geht vor der Verteilung durch den Postraum des Krankenhauses, alle Sendungen, ob sie nun für Patienten, Ärzte, Pflegepersonal oder die Verwaltung bestimmt sind. Von dort aus werden sie dann den Adressaten zugestellt. Meines Wissens hat der Umschlag mit der Kassette im Postraum gelegen, als einer unserer Praktikanten heute Morgen hineingesehen hat. Da der Umschlag nur den Namen der Patientin trug, ist er damit in die Registratur gegangen, um die Station zu erfragen. Eine Mitarbeiterin hat den Umschlag schließlich hinaufgebracht.«

»Hätten Sie nicht konsultiert werden müssen, bevor man Judy die Kassette und einen Recorder gab?«

»Natürlich. Oberschwester Bond hätte das sofort getan, aber sie hat heute ihren freien Tag. Oberschwester Rack, die heute Dienst hat, war der Meinung, die Anschrift beziehe sich auf einen Kosenamen aus Mrs. Marshalls Kindheit, und hat angenommen, einer von Mrs. Marshalls alten Freunden hat ihr etwas Musik geschickt, um sie aufzuheitern. Und da im Schwesternzimmer leider ein Recorder steht, hat sie die Kassette einfach eingelegt und Mrs. Marshall das Gerät hingestellt.«

Im Halbdunkel des Korridors beginnen die Augen des Arztes sarkastisch zu glitzern. »Wie Sie sich vorstellen können, war dann die Hölle los. Mrs. Marshall ist wieder in den Zustand verfallen, in dem sie hier eingeliefert worden ist, wozu alle möglichen beunruhigenden Verhaltensweisen gehören. Ich war zum Glück im Krankenhaus, und als ich gehört habe, was passiert ist, habe ich sofort angeordnet, sie zu sedieren und in einen sicheren Raum zu bringen. Ein sicherer Raum, Lieutenant, hat gepolsterte Wände - die Wunden an Mrs. Marshalls Fingern waren wieder aufgeplatzt, und ich wollte verhindern, dass sie sich noch mehr antut. Sobald das Sedativ zu wirken begonnen hatte, bin ich hineingegangen und habe mit ihr geredet. Ich habe mir dann auch die Kasset-te angehört. Vielleicht hätte ich sofort die Polizei anrufen sollen, aber ich bin in erster Linie für meine Patientin zuständig, deshalb habe ich stattdessen Mr. Marshall angerufen.«

»Von wo aus?«

»Aus dem sicheren Raum, mit meinem Handy. Mr. Marshall hat natürlich darauf bestanden, mit seiner Frau zu sprechen, und sie wollte auch mit ihm reden. Aber das Gespräch hat sie so aufgeregt, dass ich ihr ein weiteres mildes Sedativ geben musste. Nachdem sie sich beruhigt hatte, habe ich das Zimmer verlassen und Mr. Marshall erneut angerufen, um ihn genauer über den Inhalt der Kassette zu informieren. Wollen Sie sie hören?«

»Nicht jetzt, Doktor, danke. Aber ich möchte Sie zu einem Aspekt der Aufnahme befragen.«

»Dann fragen Sie.«

»Fred Marshall hat versucht, die Art und Weise zu imitieren, wie Sie den Akzent des Mannes, dessen Stimme auf der Kassette zu hören ist, wiedergegeben haben. War das ein für Sie erkennbarer Akzent? Vielleicht ein deutscher?«

»Darüber habe ich schon nachgedacht. Die Aussprache hatte etwas Deutsches an sich, war aber doch irgendwie anders. Am ehesten käme folgende Beschreibung hin: Englisch, das ein Franzose spricht, der einen deutschen Akzent anzunehmen versucht, falls Sie sich darunter etwas vorstellen können. Aber so etwas habe ich wirklich noch nie gehört.«

Seit sie miteinander sprechen, betrachtet Dr. Spiegle-man Jack forschend, als beurteilte er ihn nach Kriterien, die dieser nicht einmal erahnen kann. Jacks Gesichtsausdruck bleibt neutral und unpersönlich wie der eines Verkehrspolizisten. »Mr. Marshall hat mir mitgeteilt, er werde Sie anrufen. Zwischen Mrs. Marshall und Ihnen scheint sich ja ein recht ungewöhnliches Vertrauensverhältnis herausgebildet zu haben. Sie achtet wohl Ihre beruflichen Fähigkeiten, was nicht anders zu erwarten war, aber sie vertraut Ihnen offenbar auch. Mr. Marshall hat mich also darum gebeten, Ihnen ein Gespräch mit seiner Frau zu gestatten, und selbst seine Frau sagt mir, dass sie Sie unbedingt sprechen muss.«

»Dann dürfte es für Sie ja kein Problem sein, mich eine halbe Stunde lang unter vier Augen mit ihr reden zu lassen.«

Dr. Spieglemans knappes Lächeln verschwindet sofort wieder. »Meine Patientin und ihr Mann haben lediglich ihr Vertrauen zu Ihnen demonstriert, Lieutenant Sawyer, aber darum geht’s nicht. Hier geht’s darum, ob ich mich auf Sie verlassen kann oder nicht.«

»In welcher Beziehung meinen Sie das?«

»In jeder möglichen Hinsicht. Vor allem, dass Sie im besten Interesse meiner Patientin handeln. Dass Sie sie nicht unnötig aufregen, ihr aber auch keine falschen Hoffnungen machen. Meine Patientin hegt eine ganze Anzahl von Illusionen, die um die Existenz einer anderen Welt kreisen, die irgendwie an unsere grenzen soll. Sie glaubt, dass ihr Sohn in dieser anderen Welt gefangen gehalten wird. Ich muss Ihnen sagen, Lieutenant, dass meine Patientin und ihr Mann glauben, dass Sie mit dieser Fantasiewelt vertraut sind - das heißt, meine Patien-tin glaubt fest daran, ihr Mann schließt sich ihrer Auffassung aber nur deshalb an, weil dieser Glaube seine Frau tröstet.«

»Ich verstehe.« Es gibt nur eines, was Jack dem Arzt jetzt erzählen kann, und er sagt es. »Und Sie sollten wissen, dass ich alle meine Gespräche mit den Marshalls in meiner inoffiziellen Eigenschaft als Berater des French Landing Police Departments und seines Chiefs Dale Gil-berton geführt habe.«

»In Ihrer inoffiziellen Eigenschaft?«

»Chief Gilbertson hat mich gebeten, ihn bei der Durchführung seiner Ermittlungen im Fall Fisherman zu beraten, und als vor zwei Tagen auch Tyler Marshall verschwunden ist, habe ich mich bereit erklärt, ihm nach besten Kräften zu helfen. Ich besitze keinerlei offiziellen Status. Ich lasse den Chief und seine Leute nur von meiner Erfahrung profitieren.«

»Eines möchte ich noch genau wissen, Lieutenant. Haben Sie die Marshalls in Bezug auf Ihre Vertrautheit mit Mrs. Marshalls Fantasiewelt irregeführt?«

»Ich will Ihre Frage folgendermaßen beantworten. Durch die Kassette wissen wir, dass Tyler Marshall von diesem Fisherman offenbar tatsächlich gefangen gehalten wird. Wir könnten also sagen, er befindet sich nicht länger in dieser Welt, sondern in der des Fishermans.«

Dr. Spiegleman zieht die Augenbrauen hoch.

»Glauben Sie etwa, dass dieses Ungeheuer dasselbe Universum bewohnt wie wir?«, fragt Jack. »Ich glaub’s nicht, und Sie tun’s in Wirklichkeit auch nicht. Der Fis-herman lebt in einer eigenen Welt, die nach fantastisch detaillierten Regeln funktioniert, die er sich im Lauf der Jahre zurechtgelegt oder ausgedacht hat. Bei allem Respekt, meine Arbeit hat mich sehr viel mehr Erfahrung mit Strukturen dieser Art sammeln lassen, als die Marshalls, die Polizei oder - außer Sie haben sehr viel mit psychopathischen Kriminellen gearbeitet - sogar Sie besitzen. Tut mir Leid, wenn das arrogant klingt, aber so ist’s nicht gemeint.«

»Sie sprechen von Profiling? Irgendwas in dieser Art?«

»Ich habe vor vielen Jahren an einem vom FBI durchgeführten speziellen Lehrgang teilgenommen und dort viel über Profiling gelernt, aber das, wovon ich jetzt rede, geht weit über Profiling hinaus.« Und das ist die Untertreibung des Jahres, sagt Jack sich. Jetzt sind Sie am Ball, Doktor.

Spiegleman nickt bedächtig. Der entfernte Lichtschein lässt seine Brillengläser aufblitzen. »Ich verstehe Sie, glaube ich, ja.« Er überlegt sorgfältig. Er seufzt, verschränkt die Arme vor der Brust und denkt noch etwas länger nach. Dann hebt er den Kopf und sieht wieder zu Jack auf. »Also gut. Ich lasse Sie mit ihr reden. Allein. In meinem Büro. Eine halbe Stunde. Ich möchte keine fortschrittlichen polizeilichen Ermittlungen behindern.«

»Danke«, sagt Jack. »Es wird äußerst nützlich sein, das verspreche ich Ihnen.«

»Ich bin schon zu lange Psychiater, um solchen Versprechungen zu trauen, Lieutenant Sawyer, aber ich hoffe, dass es Ihnen gelingen wird, Tyler Marshall zu retten. Kommen Sie, ich bringe Sie in mein Büro. Sie können dort warten, während ich die Patientin hole und durch einen anderen Flur dorthin bringe. Das geht etwas schneller.«

Dr. Spiegleman marschiert bis ans Ende des düsteren Korridors, wendet sich nach links, biegt nochmals links ab und zieht dann einen dicken Schlüsselbund aus der Tasche, um eine unbeschriftete Tür aufzusperren. Jack folgt ihm in einen Raum, der so aussieht, als wäre er durch die Zusammenlegung zweier kleinerer Büros entstanden. Die eine Hälfte des Raums nehmen ein langer Holzschreibtisch, ein Drehstuhl, ein Couchtisch mit Glasplatte, auf der sich Zeitschriften stapeln, und verschiedene Karteischränke ein; in der anderen Hälfte dominieren eine Couch und ein lederner Lehnsessel, der neben deren Kopfende steht. An den Wänden hängen Poster nach Gemälden von Georgia O’Keeffe. Hinter dem Schreibtisch befindet sich eine Tür, die vermutlich in einen kleinen Einbaukleiderschrank führt; die Tür genau gegenüber, in der Mitte zwischen den beiden Bürohälften hinter dem Lehnsessel, scheint nach nebenan zu führen.

»Wie Sie sehen«, sagt Dr. Spiegleman, »benutze ich diesen Raum als Büro, aber auch als zusätzliches Sprechzimmer. Die meisten meiner Patienten kommen durchs Wartezimmer herein, und auf genau diesem Weg werde ich auch Mrs. Marshall herbringen. Das dauert nur zwei, drei Minuten.«

Jack bedankt sich, und der Arzt hastet durch die ins Wartezimmer führende Tür hinaus.

In dem kleinen Einbaukleiderschrank zieht Wendell Green sein Diktiergerät aus der Jackentasche und drückt es wie sein Ohr an die Schranktür. Sein Daumen liegt auf der Starttaste, und sein Herz rast. Wieder einmal tut der im Westen Wisconsins angesehenste Journalist seine Pflicht für den kleinen Mann auf der Straße. Nur schade, dass es in diesem Schrank so verdammt finster ist, aber in einem schwarzen Loch gefangen zu sein, wäre nicht das erste Opfer, das Wendell für seine geheiligte Berufung gebracht hat; außerdem braucht er eigentlich nur die kleine rote Leuchtdiode seines Diktiergeräts zu sehen.

Dann eine Überraschung: Obwohl Dr. Spiegleman den Raum verlassen hat, ist seine Stimme zu hören. Er spricht Lieutenant Sawyer an. Wie hat der freudianische Quacksalber es geschafft, wieder hereinzukommen, ohne eine Tür zu öffnen oder zu schließen, und was ist aus Judy Marshall geworden?

Lieutenant Sawyer, ich muss Sie sprechen. Bitte nehmen Sie den Hörer ab. Ein Anruf für Sie, der dringend zu sein scheint.

Natürlich - die Stimme kommt aus der Gegensprechanlage. Aber wer will Jack Sawyer sprechen, was kann so dringend sein? Wendell hofft, dass der Goldjunge den Lautsprecher des Telefons einschalten wird, aber das tut der Goldjunge dann leider doch nicht, sodass Wendell sich damit zufrieden geben muss, nur die eine Hälfte des Gesprächs mitzubekommen.

»Ein Anruf?«, sagt Jack. »Von wem?«

»Er wollte seinen Namen nicht nennen«, antwortet der Arzt.»Jemand, dem Sie offenbar gesagt haben, dass Sie hier sein würden.«

Bestimmt Beezer mit Nachrichten übers Black House. »Wie nehme ich den Anruf entgegen?«

»Sie brauchen nur den blinkenden Knopf zu drücken«, sagt der Arzt. »Leitung eins. Ich bringe Mrs. Marshall zu Ihnen, sobald ich sehe, dass Sie nicht mehr telefonieren.«

Jack drückt den Knopf und sagt: »Jack Sawyer.«

»Gott sei Dank«, sagt Beezer St. Pierre mit seiner Ho-nig-und-Tabak-Stimme. »He, Mann, Sie müssen so schnell wie möglich zu mir kommen. Alles ist gründlich schief gegangen.«

»Haben Sie’s gefunden?«

»Und ob, wir haben das Black House gefunden, klar. Es hat uns aber nicht gerade willkommen geheißen. Dieser Schuppen will verborgen bleiben, und das lässt er einen deutlich spüren. Den meisten von uns fehlt nicht viel, aber Mouse ... Ich weiß nicht recht. Er hat was Schreckliches von einem Hundebiss abbekommen - falls das überhaupt ein Hund war, was ich allerdings bezweifle. Doc hat getan, was er konnte, aber ... Scheiße, der arme Kerl ist praktisch nicht mehr bei Verstand, will aber nicht, dass wir ihn ins Krankenhaus bringen.«

»Beezer, warum schaffen Sie ihn nicht mit Gewalt hin, wenn es nötig ist?«

»So funktioniert das bei uns nicht. Mouse hat kein Krankenhaus mehr betreten, seit sein Alter in einem abgekratzt ist. Er hat doppelt so viel Angst vor Krankenhäusern wie vor dem, was mit seinem Bein passiert. Würden wir ihn ins La Riviere General schaffen, würde er wahrscheinlich schon in der Notaufnahme tot umfallen.«

»Und wenn er’s nicht täte, würde er Ihnen nie verzeihen, dass Sie ihn hingebracht haben.«

»Genau. Wie schnell können Sie hier sein?«

»Ich muss noch mit der Frau reden, von der ich Ihnen erzählt habe. Vielleicht in einer Stunde - jedenfalls nicht viel später.«

»Haben Sie mich nicht verstanden? Mouse stirbt uns unter den Händen weg. Wir haben eine Menge zu bereden.«

»Ich weiß«, sagt Jack. »Arbeiten Sie in dieser Sache mit mir zusammen, Beez.« Er legt auf, wendet sich der Tür neben dem Sprechzimmersessel zu und wartet darauf, dass seine Welt sich verändert.

Was zum Teufel haben die beiden besprochen?, fragt Wendell Green sich. Er hat zwei Tonbandminuten für ein Gespräch zwischen Jack Sawyer und dem dämlichen Hundesohn vergeudet, der den Film vernichtet hat, der ihm ein schickes Auto und eine Luxusvilla auf den Klippen über dem Fluss hätte einbringen sollen, und nur wertlosen Scheiß aufgenommen. Wendell hat das schicke Auto und die Luxusvilla verdient, hat sie dreifach verdient, und das Gefühl, um seinen gerechten Lohn gebracht worden zu sein, lässt ihn innerlich vor Groll schäumen. Goldjungen bekommen alles auf mit Diamanten besetzten Tabletts serviert, die Leute überschlagen sich fast, um ihnen Zeug anzubieten, das sie nicht einmal brauchen -aber ein legendärer, selbstloser, hart arbeitender Gentleman von der Presse wie Wendell Green? Ihn kostet es allein einen Zwanziger, sich in einem engen, dunklen Garderobenschrank verstecken zu dürfen, nur damit er seine Arbeit tun kann!

Ihm klingen die Ohren, als er hört, wie die Tür geöffnet wird. Die rote Leuchtdiode brennt, in dem bewährten Diktiergerät läuft das aufnahmebereite Band von einer Spule zur anderen, und was jetzt bevorsteht, wird alles ändern: Wendells Bauch, dieses unfehlbare Organ, sein bester Freund, wird von der Gewissheit erwärmt, dass ihm nun bald Gerechtigkeit widerfahren wird.

Dr. Spieglemans Stimme dringt durch die Schranktür und wird auf Band aufgezeichnet: »Ich lasse Sie beide jetzt allein.«

Goldjunge: »Danke, Doktor. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.«

Dr. Spiegleman: »Eine halbe Stunde, abgemacht? Ich komme also um ... hm ... zehn nach zwei wieder.«

Goldjunge: »Gut.«

Das leise Schließen der Tür, das Einschnappen des Schlosses. Dann für lange Sekunden nur Schweigen. Warum reden sie nicht miteinander? Aber natürlich ... diese Frage beantwortet sich von selbst. Sie warten darauf, dass dieser Fettarsch Spiegleman außer Hörweite ist.

Oh, ist das köstlich, einfach köstlich! Goldjunges verstohlene Schritte, die sich in Richtung Tür bewegen, bestätigen praktisch die Intuition des wackeren Reporters. O Wendell Greens Bauch, o wundersames und vertrauenswürdiges Organ, du hast wieder einmal das richtige journalistische Gespür gehabt! Wendell hört, und das Gerät registriert das unvermeidliche nächste Geräusch: das Klicken, mit dem die Tür abgesperrt wird.

Judy Marshall: »Vergiss die Tür hinter dir nicht.«

Goldjunge: »Wie geht’s dir?«

Judy Marshall: »Viel, viel besser, nachdem du jetzt hier bist. Die Tür, Jack.«

Weitere Schritte, wieder das unverkennbare Klicken, mit dem ein Metallbolzen ins Schloss gleitet.

Bald vor dem Ruin stehender Goldjunge: »Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Ich habe an unser Zusammensein gedacht.«

Das Flittchen, die Nutte, die Schlampe: »Genügt uns eine halbe Stunde?«

Der, der mit einem Fuß im Fangeisen steht: »Wenn nicht, muss er eben an die Türen hämmern.«

Wendell muss sich beherrschen, um nicht vor Entzücken zu krähen. Diese beiden Leute werden tatsächlich Sex miteinander haben, sie werden sich die Klamotten vom Leib reißen und wie Tiere übereinander herfallen. Mann, wenn das keine tolle Revanche ist! Ist Wendell Green erst mal mit ihm fertig, wird Jack Sawyer einen schlechteren Ruf haben als der Fisherman.

Judys Blick wirkt müde, ihr Haar ist strähnig, und ihre Fingerspitzen sind frisch mit bestürzend weißen Mullbinden verbunden, aber auf ihrem Gesicht, das nicht nur die Tiefe ihrer Empfindungen erkennen lässt, leuchtet die reine, hart erkämpfte Schönheit der imaginativen Kraft, die sie aufgewendet hat, um sich zu verdienen, was sie gesehen hat. Jack erscheint Judy Marshall wie eine zu Unrecht inhaftierte Königin. Statt ihre angeborene hohe Gesinnung zu verbergen, unterstreichen das Krankenhausgewand und das ausgebleichte Nachthemd diese geradezu. Jack wendet den Blick von ihr ab, um die zweite Tür abzuschließen, dann tritt er einen Schritt auf sie zu.

Er sieht, dass er ihr nichts erzählen kann, was sie nicht schon weiß. Judy vervollständigt die von ihm eingeleitete Bewegung, sie tritt vor ihn hin und streckt die Hände aus, damit er sie behutsam ergreifen kann.

»Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht«, sagt er, indem er ihre Hände ergreift. »Ich habe an unser Zusammensein gedacht.«

Ihre Antwort schließt alles ein, was sie zu sehen gekommen ist, was sie gemeinsam tun müssen. »Genügt uns eine halbe Stunde?«

»Wenn nicht, muss er eben an die Türen hämmern.«

Sie lächeln; Judy drückt seine Hände fester. »Dann lass ihn hämmern.« Sie zieht ihn sanft, kaum merklich näher zu sich heran, und Jacks Herz jagt in Erwartung einer Umarmung.

Was sie tut, ist aber weit außergewöhnlicher als eine bloße Umarmung: Sie senkt den Kopf und küsst mit zwei leichten, flüchtigen Berührungen ihrer trockenen Lippen seine Hände. Dann drückt sie seinen rechten Handrücken an ihre Wange und tritt einen Schritt zurück. Ihre Augen leuchten. »Du weißt von der Kassette.«

Er nickt.

»Ich bin ausgeflippt, als ich die Aufnahme gehört habe, aber es war ein Fehler, sie mir zu schicken. Er hat mich überfordert. Ich habe mich sofort in das Kind zurückverwandelt, das einem anderen Kind zuhört, welches ihm von jenseits einer Mauer etwas zuflüstert. Ich habe wie rasend versucht, den Wall einzureißen. Ich habe gehört, wie mein Sohn mich schreiend um Hilfe anfleht. Und er war dort - jenseits der Mauer. Wo du hingehen musst.«

»Wo wir hingehen müssen.«

»Wo wir hingehen müssen. Ja. Nun, ich kann nicht durch die Mauer gelangen, aber du kannst es. Also hast du die Arbeit zu verrichten, die wichtigste Arbeit, die es geben kann. Du musst Ty finden, und du musst den Ab-balah stoppen. Ich weiß nicht genau, wer das ist, aber es ist deine Aufgabe, ihn zu stoppen. Sage ich das richtig: Du bist ein Schutzmann?«

»Das sagst du richtig«, bestätigt Jack. »Ich bin ein Schutzmann. Deshalb ist’s meine Aufgabe.«

»Dann ist Folgendes auch richtig: Du musst Gorg und seinen Herrn, Mr. Munshun, beseitigen. Das ist zwar nicht sein richtiger Name, aber so klingt er: Mr. Munshun. Als ich durchgedreht und versucht habe, die Mauer einzureißen, hat sie’s mir gesagt, und sie konnte mir unmittelbar ins Ohr flüstern. Ich war ihr so nahe!«

Wie deutet Wendell Green, der Ohr und eingeschaltetes Diktiergerät an die Schranktür gepresst hält, dieses Gespräch? Es ist durchaus nicht das, was er zu hören erwartet hat: das animalische Grunzen und Stöhnen von hastig gestilltem Verlangen. Wendell beißt die Zähne zusammen und verzieht das Gesicht zu einer frustrierten Grimasse.

»Ich liebe, was du von dir offenbart hast«, sagt Jack. »Du bist eine erstaunliche Frau. Nicht einer unter tausend Menschen könnte auch nur verstehen, was das bedeutet, und es erst recht nicht tun.«

»Du redest zu viel«, sagt Judy.

»Das heißt, ich liebe dich.«

»Du liebst mich auf deine Art. Aber weißt du was? Allein durch dein Herkommen hast du mehr aus mir gemacht, als ich ursprünglich war. Du sendest eine Art Strahl aus, und ich habe diesen Strahl nur aufgefangen. Jack, du hast dort drüben gelebt, während ich immer nur kurze Blicke hinüberwerfen konnte. Aber die genügen mir. Ich bin zufrieden. Du und Station D ... ihr habt mich reisen lassen.«

»Was du in dir hast, lässt dich reisen.«

»Okay, ein dreifaches Hurra für einen ärztlich überwachten Anfall von Verrücktheit. Jetzt wird’s Zeit. Du musst ein Schutzmann sein. Ich kann nur den halben Weg mitkommen, aber du wirst all deine Stärke brauchen.«

»Ich glaube, deine Stärke wird dich erstaunen.«

»Nimm meine Hände und tu’s, Jack. Geh hinüber. Sie erwartet dich, und ich muss dich ihr überlassen. Du kennst ihren Namen, nicht wahr?«

Er öffnet den Mund, aber er bringt kein Wort heraus. Eine Kraft, die aus dem Erdinnersten zu kommen scheint, durchflutet ihn, elektrisiert seinen Kreislauf, lässt seine Kopfhaut kribbeln und verschmilzt seine bebenden Finger mit Judy Marshalls Fingern, die ebenfalls zittern. Ein Gefühl ungeheurer Leichtigkeit und Beweglichkeit füllt alle Hohlräume seines Körpers aus; gleichzeitig ist ihm die unerbittliche Trägheit seines Körpers, sein Widerstand gegen das Fliegen noch nie so bewusst gewesen. Wenn sie diesen Raum verlassen, denkt er, wird es wie ein Raketenstart sein. Der Boden unter ihm scheint zu vibrieren.

Es gelingt Jack, seinen Armen folgend auf Judy Marshall hinunterzublicken, die sich mit geschlossenen Augen so weit zurücklehnt, dass ihr Kopf parallel zum vibrierenden Fußboden ist, und im Bewusstsein des Erfolgs wie in Trance lächelt. Ein silbrig weißer Lichtschein umgibt sie. Ihre wohl geformten Knie, ihre unter dem Saum des alten blauen Nachthemds leuchtenden schlanken Beine, ihre fest auf dem Boden stehenden Füße. Dieser Lichtschein umwabert auch ihn. Alles das kommt von ihr, denkt Jack, und von ...

Ein Brausen erfüllt die Luft, und die Georgia-O’Keeffe-Poster fliegen von den Wänden. Die niedrige Couch rumpelt von der Wand weg; vom bebenden Schreibtisch wirbelt Papier in die Höhe. Eine minimalistische Halogenlampe kracht zu Boden. Im gesamten Krankenhaus, auf allen Stockwerken, auf allen Stationen, in allen Zimmern vibrieren Betten, werden Fernsehschirme schwarz, klappern Instrumente auf ihren ratternden Tabletts, flackern die Lichter. In der Geschenkboutique fallen Spielsachen aus den Regalen, und die großen Lilien schlittern in ihren Vasen über den Marmorboden der Eingangshalle. Oben im vierten Stock explodieren Glühbirnen in einem goldenen Funkenregen.

Das Brausen wie von einem Wirbelsturm wird lauter, noch lauter und verwandelt sich mit ohrenbetäubendem Zischen in eine weite weiße Fläche aus Licht, die im nächsten Augenblick auf Stecknadelkopfgröße schrumpft und verschwindet. Verschwunden ist auch Jack Sawyer, und aus dem Schrank verschwunden ist Wendell Green.

In die Territorien gesaugt, aus einer Welt geschleudert und von einer anderen aufgesogen, hinauskatapultiert und eingefangen, Mann, das steht hundertfach über dem einfachen, wohl bekannten Flippen. Jack liegt auf dem Rücken, sieht zu einem zerrissenen weißen Laken auf, das wie ein zerfetztes Segel im Wind flattert. Vor einer Viertelsekunde hat er ein anderes weißes Laken gesehen, das aus reinem Licht bestand, statt wie dieses hier wirklich aus Stoff zu sein. Die linde, wohl riechende Luft liebkost ihn. Zunächst ist ihm nur bewusst, dass jemand seine rechte Hand hält; dann merkt er, dass eine erstaunliche Frau neben ihm liegt. Judy Marshall. Nein, nicht Judy Marshall, die er auf seine Art liebt, sondern eine andere erstaunliche Frau, die einst nachts durch eine Mauer hindurch flüsternd mit Judy gesprochen hat und in letzter Zeit immer beharrlicher versucht hat, sie zu erreichen. Jack will eben ihren Namen aussprechen, als ...

In sein Blickfeld schiebt sich ein klassisch schönes Gesicht, das Judys ähnlich und doch unähnlich ist. Es ist auf derselben Drechslerbank gedrechselt, im selben Brennofen gebrannt, von demselben begnadeten Bildhauer gemeißelt worden - aber feiner modelliert, mit leichterer, zärtlicherer Hand. Jack ist vor Staunen wie gelähmt. Er kann kaum atmen. Diese Frau über ihm, deren Gesicht jetzt mit liebevoller Ungeduld auf ihn herablächelt, ist nie verheiratet oder Mutter gewesen, hat die Territorien, die ihre Heimat sind, nie verlassen, ist nie mit einem Flugzeug geflogen oder mit einem Auto gefahren, hat nie einen Fernseher eingeschaltet, Eiswürfel aus einem Tiefkühlschrank geholt oder eine Mikrowelle benutzt - und sie strahlt Geist und innere Anmut aus.

Humor, Zärtlichkeit, Mitgefühl, Intelligenz und Stärke leuchten aus ihren Augen und sprechen aus dem Schwung ihrer Lippen, aus dem ganzen Schnitt ihres Gesichts. Er kennt ihren Namen, und ihr Name passt perfekt zu ihr. Jack hat das Gefühl, sich auf den ersten Blick in diese Frau verliebt, sich auf der Stelle für ihre Sache engagiert zu haben, und stellt nun fest, dass er endlich ihren perfekten Namen aussprechen kann:

Sophie.

21

»Sophie.«

Jack steht auf, ohne ihre Hand loszulassen, und zieht sie mit sich hoch. Seine Beine zittern. Seine Augen fühlen sich heiß an und zu groß für die Höhlen. Er ist gleichermaßen, zu exakt gleichen Teilen, verängstigt und überglücklich. Sein Herz hämmert, aber die Schläge sind so überaus sanft. Beim zweiten Versuch schafft er es, ihren Namen etwas lauter auszusprechen, aber seine Stimme ist noch immer nicht sehr kräftig, und seine Lippen sind gefühllos, wie mit Eis eingerieben. Er spricht wie ein Mann, der sich eben von einem kräftigen Magenschwinger erholt.

»Ja.«

»Sophie.«

»Ja.«

»Sophie.«

»Ja.«

Irgendwie kommt ihm dieser Dialog auf verrückte Art bekannt vor - dass er immer wieder ihren Namen sagt, den sie mit einem einfachen Ja bestätigt. Vertraut und komisch. Und dann fällt ihm ein, woher er ihn kennt: In dem Film Der Schrecken von Deadwood Gulch gibt es eine fast identische Szene, nachdem einer der Gäste des Lazy 8 Saloons Bill Towns mit einer Whiskeyflasche niedergeschlagen hat. In ihrer Rolle als die resolute Nancy O’Neal kippt Lily ihm einen Eimer Wasser über den Kopf, und als Bill sich aufsetzt, entsteht dieser bizarre Dialog .

»Das ist komisch«, sagt Jack. »Sogar ziemlich. Wir sollten lachen.«

Mit der Andeutung eines Lächelns sagt Sophie: »Ja.«

»Uns schieflachen.«

»Ja.«

»Wie tarnal lachen.«

»Ja.«

»Ich spreche nicht mehr Englisch, stimmt’s?«

»Ja.«

In ihren blauen Augen sieht er zweierlei: Erstens kennt sie das Wort Englisch nicht. Und zweitens versteht sie genau, was er meint.

»Sophie.«

»Ja.«

»Sophie-Sophie-Sophie.«

Er versucht, sich auf diese Realität einzustellen. Sie wie einen Pflock festzuklopfen.

Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht und verschönt ihren Mund. Jack stellt sich vor, wie es wäre, diesen Mund zu küssen, und bekommt ganz weiche Knie. Er ist plötzlich wieder vierzehn und fragt sich, ob er es wagen soll, seiner Tanzpartnerin ein Küsschen zu geben, wenn er sie nach Hause begleitet hat.

»Ja-ja-ja«, sagt sie, während ihr Lächeln sich verstärkt. Und dann: »Bist du dir schon über alles im Klaren? Verstehst du, dass du hier bist und wie du hergekommen bist?«

Um ihn herum und über ihm flattern und seufzen Wogen aus durchsichtigem weißen Stoff, wie durch Atemzüge bewegt. Ein halbes Dutzend gegensätzlicher Brisen fächeln sein Gesicht und machen ihm bewusst, dass er mit Schweiß bedeckt aus der anderen Welt herübergekommen ist. Um Sophie nicht länger als eine Sekunde aus den Augen lassen zu müssen, wischt er sich die Schweißtropfen mit hastigen Armbewegungen von Stirn und Wangen.

Sie befinden sich in irgendeiner Art Zelt. Es ist riesig -vielfach unterteilt - und lässt Jack kurz an den Pavillon denken, in dem die Königin der Territorien, der Twinner seiner Mutter, im Sterben lag. Jener Pavillon war farbenprächtig gewesen, hatte zahlreiche Räume enthalten und war von Weihrauchduft und Trauer erfüllt gewesen (der Tod der Königin war nämlich unvermeidlich, sicher erschienen - nur noch eine Frage der Zeit). Das gegenwärtige Zelt ist heruntergekommen und zerfetzt. Die Wände und Decken sind voller Löcher, und wo das weiße Gewebe erhalten ist, ist es so durchsichtig, dass Jack durch den Stoff hindurch eine hügelige Wüstenlandschaft mit verkrüppelten Bäumen erkennen kann. Einzelne Windstöße lassen die Fetzen an den Rändern der Löcher flattern. Unmittelbar über sich sieht er ein schemenhaftes kastanienbraunes Gebilde. Irgendeine Art Kreuz.

»Jack, verstehst du, wie du .«

»Ja. Ich bin geflippt.« Das ist allerdings nicht das Wort, das aus seinem Mund kommt. Die buchstäbliche Bedeutung des Wortes, das er ausspricht, scheint Horizontstraße zu sein. »Und ich habe anscheinend einiges von Spiegle-mans Büroeinrichtung mitgebracht.« Er bückt sich und hebt einen flachen Stein mit einer eingravierten Blume auf. »In meiner Welt war das hier ein Georgia-O’Keeffe-Poster, glaube ich. Und das dort drüben . « Jack zeigt auf eine rauchgeschwärzte, erloschene Fackel, die an einer der fragilen Wände des Pavillons lehnt. »Ich glaube, das war eine .« Aber in dieser Welt gibt es kein Wort dafür, und was aus seinem Mund kommt, klingt hässlich wie ein deutscher Fluch: ». Halogenlampe.«

Sie runzelt die Stirn. »Hal-do-jen . Lambe? Lamp?«

Er spürt, wie seine tauben Lippen sich zu einem kleinen Grinsen verziehen. »Schon gut.«

»Aber dir fehlt nichts.«

Da er versteht, dass sie darauf angewiesen zu sein scheint, dass ihm nichts fehlt, wird er behaupten, ihm fehle nichts, aber das stimmt nicht. Er ist krank - und glücklich darüber, krank zu sein. Er ist krank vor Liebe, aber das ist ihm gerade recht. Lässt man unberücksichtigt, was er für seine Mutter empfunden hat - eine ganz andere Art Liebe, unabhängig davon, was die Freudianer davon halten mögen -, ist dies das erste Mal für ihn. Oh, er hat natürlich schon mehrmals geglaubt, verliebt gewesen zu sein, aber das war vor heute. Vor dem kühlen Blau ihrer Augen, ihrem Lächeln und sogar der Art und Weise, wie die Schatten, die das zerfallende Zelt wirft, Fischschwärmen gleich über ihr Gesicht huschen. In diesem Augenblick würde er alles daran setzen, für sie von einem Berg zu fliegen, wenn sie ihn darum bäte, durch einen Waldbrand zu gehen oder ihr Polareis für ihren Eistee zu holen, und solches Ansinnen bedeutet nicht, dass einem nichts fehlt.

Aber er muss um ihretwillen funktionieren.

Er muss um Tylers willen funktionieren.

Ich bin ein Schutzmann, denkt er. Anfangs erscheint ihm diese Idee im Vergleich zu ihrer Schönheit dürftig -zu ihrer schlichten Realität -, aber dann beginnt sie sich festzusetzen. Wie sie’s immer getan hat. Was hätte ihn schließlich sonst hergebracht? Gegen seinen Willen und seine besten Absichten hergebracht?

»Jack?«

»Nein, mir fehlt nichts. Ich bin schon früher geflippt.« Aber niemals in die Gegenwart solcher Schönheit, denkt er. Das ist das Problem. Ihr seid das Problem, Mylady.

»Ja. Kommen und Gehen ist deine Begabung. Eine deiner Begabungen. Das habe ich gehört.«

»Von wem?«

»Gleich«, sagt sie. »Gleich. Es gibt sehr viel zu tun. Dennoch sollte ich einen Augenblick verschnaufen. Du ... hast mir ziemlich den Atem verschlagen.«

Jack ist ungestüm froh, das zu wissen. Er merkt, dass er noch immer ihre Hand hält, küsst sie, wie Judy in der anderen Welt jenseits der Mauer seine Hände geküsst hat, und bemerkt dabei die dünnen Mullverbände an drei ihrer Fingerspitzen. Hätte er doch nur den Mut, sie in die Arme zu schließen, aber sie schüchtert ihn ein: mit ihrer Schönheit und ihrer Ausstrahlung. Sie ist etwas größer als Judy - ungefähr zwei Fingerbreit, bestimmt nicht mehr -, und ihr Haar ist heller: das Goldgelb un-geschleuderten Honigs, das von einem angeknacksten Steckkamm zusammengehalten wird. Sie trägt ein schlichtes weißes Baumwollkleid mit blauen Besätzen in der Farbe ihrer Augen. Der schmale V-Ausschnitt rahmt den Hals ein. Der Saum befindet sich knapp unterhalb der Knie. Die Beine sind nackt, aber an einem Knöchel trägt sie ein fast unsichtbar dünnes silbernes Fußkettchen. Sie ist vollbusiger als Judy, die Hüften sind etwas breiter. Schwestern, könnte man glauben, wenn sie nicht beide dieselbe kleine Wolke aus Sommersprossen quer über die Nase und dieselbe weiße Narbe quer über dem linken Handrücken hätten. Gänzlich unterschiedliche Missgeschicke haben diese Narbe zurückgelassen, dessen ist Jack sich sicher, andererseits bezweifelt er auch nicht, dass diese Missgeschicke sich am selben Tag zur selben Stunde ereignet haben.

»Du bist ihr Twinner. Judy Marshalls Twinner.« Nur lautet das Wort, das aus seinem Mund kommt, nicht Twinner; auf unerklärlich dämliche Weise klingt es wie Harfe. Später wird er daran denken, wie eng die Saiten einer Harfe beieinander liegen, nur durch eine Fingerbreite getrennt, und sich überlegen, dass dieses Wort wohl doch nicht so töricht ist.

Sie senkt den Blick, lässt die Mundwinkel hängen, dann hebt sie den Kopf wieder und setzt zu einem Lächeln an. »Judy. Auf der anderen Seite der Mauer. Als Kinder haben wir oft miteinander geredet, Jack. Sogar noch als Erwachsene, aber dann nur noch in unseren Träumen.« Mit Bestürzung sieht er, dass sich in ihren Augen Tränen bilden, die ihr dann übers Gesicht laufen. »Ist sie durch meine Schuld verrückt geworden? Habe ich sie in den Wahnsinn getrieben? Bitte sag, dass ich’s nicht getan habe.«

»Nein, nein«, sagt Jack. »Sie vollführt zwar einen Drahtseilakt, aber sie ist noch nicht runtergefallen. Sie ist zäh, die kleine Judy.«

»Du musst ihr Tyler zurückbringen«, sagt Sophie ernst. »Für uns beide. Ich habe nie ein Kind gehabt. Ich kann kein Kind bekommen. Ich bin nämlich ... misshandelt worden. Als kleines Mädchen. Von jemandem, den du sehr gut gekannt hast.«

In Jacks Kopf bildet sich eine schreckliche Gewissheit heraus. Um ihn und Sophie herum flattert und seufzt der zerfetzte Pavillon in der wundervoll duftenden Brise.

»War es Morgan? Morgan von Orris?«

Sie senkt den Kopf, und das ist wahrscheinlich auch gut so. Jacks Gesicht ist in diesem Augenblick zu einer hässlichen, zähnefletschenden Grimasse verzerrt. In diesem Augenblick würde er nichts lieber tun, als Morgan Sloats Twinner nochmals zu ermorden. Er überlegt, ob er sie fragen soll, wie sie misshandelt worden ist, merkt aber dann, dass er das nicht zu tun braucht.

»Wie alt warst du?«

»Zwölf«, sagt sie ... so alt, wie Jack schon erwartet hat. Das alles muss im selben Jahr passiert sein, in dem Jahr, in dem Jack zwölf war und hierher gekommen ist, um seine Mutter zu retten. Aber ist er hierher gekommen? Sind das hier wirklich die Territorien? Irgendwie kommt ihm die Umgebung anders vor. Fast wie die Territorien . aber nicht ganz.

Ihn überrascht es keineswegs, dass Morgan fähig war, eine Zwölfjährige zu so vergewaltigen, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Keineswegs. Morgan Sloat, bisweilen als Morgan von Orris bekannt, wollte nicht nur eine oder zwei Welten, sondern gleich das gesamte Universum beherrschen. Was bedeuten einem Mann mit solchen Ambitionen ein paar vergewaltigte Kinder?

Sie fährt mit den Daumen sanft über die Haut unter seinen Augen. Es fühlt sich an, als würde ihn jemand mit Federn streicheln. Sie blickt leicht verwundert zu ihm auf. »Warum weinst du, Jack?«

»Wegen der Vergangenheit«, sagt er. »Bringt sie uns nicht immer dazu?« Und wieder muss er an seine Mutter denken, wie sie am Fenster sitzt, eine Zigarette raucht und zuhört, wie aus dem Radio »Crazy Arms« erklingt. »Ja, es ist immer die Vergangenheit. Dort liegt alles Leid, über das man nie hinwegkommt.«

»Schon möglich«, sagt sie. »Aber heute reicht die Zeit nicht aus, um über die Vergangenheit nachzudenken. Heute müssen wir an die Zukunft denken.«

»Gut, aber darf ich zuvor ein paar Fragen stellen .?«

»Meinetwegen, aber wirklich nur ein paar.«

Jack öffnet den Mund, um zu sprechen, schnappt dann aber komisch übertrieben nach Luft, weil nichts herauskommt. Schließlich muss er lachen. »Du verschlägst mir ebenso den Atem«, sagt er zu ihr. »Man kann es nicht anders ausdrücken.«

Ein Hauch von Rosa legt sich auf Sophies Wangen, und sie sieht zu Boden. Sie öffnet die Lippen, um etwas zu sagen ... und presst sie dann wieder zusammen. Jack wünscht sich, sie hätte gesprochen, ist zugleich aber auch froh, dass sie’s nicht getan hat. Als er Sophie sanft die Hände drückt, blickt sie mit großen blauen Augen zu ihm auf.

»Habe ich dich gekannt? Als du zwölf warst?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Aber ich habe dich gesehen.«

»Vielleicht. Im großen Pavillon. Meine Mutter war eine der Kammerzofen der Guten Königin. Auch ich war eine . die jüngste Zofe. Damals kannst du mich gesehen haben. Doch, du hast mich höchstwahrscheinlich gesehen.«

Jack lässt diese wunderbare Eröffnung einen Augenblick auf sich einwirken, dann spricht er weiter. Die Zeit drängt. Das wissen sie beide. Er seinerseits spürt geradezu, wie sie verfliegt.

»Judy und du, ihr seid also Twinner, aber keine von euch beiden reist - sie ist noch nie in deinem Kopf hier gewesen, und du bist noch nie in ihrem Kopf dort drüben gewesen. Ihr ... redet durch eine Mauer miteinander.«

»Ja.«

»Die Dinge, die sie aufgeschrieben hat, hast du ihr von jenseits der Mauer zugeflüstert.«

»Ja. Mir war bewusst, dass ich ihr damit schlimm zusetze, aber ich musste es tun. Ich musste! Es geht nicht nur darum, Judy ihren Sohn zurückzugeben, so wichtig das auch sein mag. Es gibt wichtigere Erwägungen.«

»Zum Beispiel?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht diejenige, die dir das sagen darf. Derjenige, der das tun wird, steht weit über mir.«

Er betrachtet die kleinen Verbände an ihren Fingerspitzen und sinniert darüber, auf welch verzweifelte Weise Sophie und Judy versucht haben, durch die Mauer hindurch zueinander zu gelangen. Morgan Sloat hingegen konnte sich offenbar mühelos in Morgan von Orris verwandeln. Als Zwölfjähriger war Jack auch anderen begegnet, die dasselbe Talent besaßen. Er besaß es allerdings nicht: Er existierte nur einmal und war in beiden Welten stets Jack gewesen. Judy und Sophie waren offensichtlich nicht imstande, auf irgendeine Weise zu flip-pen. Ihnen fehlte etwas, und so mussten sie sich damit begnügen, durch die Mauer zwischen den Welten zu flüstern. Es mochte traurigere Dinge geben, aber in diesem Augenblick fällt ihm kein einziges ein.

Jack sieht sich in dem verfallenen Zelt um, das mit Sonnenschein und Schatten zu atmen scheint. Fetzen flattern. Durch ein Loch in der Gazewand sieht er im Raum nebenan einige umgestürzte Feldbetten. »Für was ist dieses Zelt gut?«

Sie lächelt. »Für manche ist es ein Krankenhaus.«

»Ja?« Er hebt den Kopf und wird dadurch wieder auf das Kreuz aufmerksam. Es ist jetzt kastanienbraun, war früher aber zweifellos einmal rot gewesen. Ein rotes Kreuz, du Dummkopf, denkt er. »Aha! Aber ist es nicht ein bisschen . na ja . alt?«

Sophies Lächeln wird stärker, und Jack erkennt, dass es ironisch gemeint ist. Unabhängig davon, was für ein Krankenhaus dies auch sein oder gewesen sein mag, es hat bestimmt wenig oder überhaupt keine Ähnlichkeit mit denen aus den einschlägigen Fernsehserien. »Ja, Jack.

Sehr alt. Früher hat’s in den Territorien, in Aufwelt und Mittwelt ein Dutzend oder mehr dieser Zelte gegeben; jetzt sind nur noch ein paar wenige übrig. Vielleicht sogar nur dieses eine hier. Heute ist’s hier. Morgen .« Sophie hebt die Hände und lässt sie dann wieder langsam sinken. »Irgendwo! Vielleicht sogar auf Judys Seite der Mauer.«

»Eine Art Wanderquacksalberei.«

Das sollte ein Scherz sein, weshalb er verblüfft ist, als sie erst nickt, dann lacht und in die Hände klatscht. »Ja! Ja, genau! Obwohl du dir nicht wünschen würdest, hier behandelt zu werden.«

Was will sie damit sagen? »Vermutlich nicht«, stimmt er ihr zu, während er die verrottenden Wände, die zerschlissenen Deckenbahnen und die angefaulten Zeltstützen begutachtet. »Sieht nicht gerade besonders steril aus.«

Ernsthaft (aber ihre Augen blitzen dabei) sagt Sophie: »Wärst du jedoch hier Patient, würdest du es über alle Maßen schön finden. Und du würdest deine Pflegerinnen, die Kleinen Schwestern, für die schönsten halten, die ein bemitleidenswerter Patient jemals gehabt hat.«

Jack sieht sich um. »Wo sind sie?«

»Die Kleinen Schwestern zeigen sich nicht, solange die Sonne scheint. Und wenn wir mit dem Segen weiterleben wollen, Jack, sind wir lange vor Einbruch der Dunkelheit von hier fort und unserer getrennten Wege gegangen.«

Es schmerzt ihn, sie von getrennten Wegen sprechen zu hören, obwohl er weiß, dass es unvermeidlich so kommen wird. Der Schmerz dämpft seine Neugier jedoch nicht; einmal ein Schutzmann, so scheint es, immer ein Schutzmann.

»Warum?«

»Weil die Kleinen Schwestern Vampire sind, deren Patienten niemals gesund werden.«

Erschrocken, unbehaglich sieht Jack sich nach Spuren ihrer Anwesenheit um. Ungläubigkeit kommt ihm jedenfalls nicht in den Sinn - eine Welt, die Werwölfe hervorbringen kann, kann alles hervorbringen, denkt er sich.

Sie berührt ihn am Handgelenk. Ein kleines Zittern der Begierde durchläuft ihn.

»Keine Angst, Jack - auch sie dienen dem Balken. Alle Dinge dienen dem Balken.«

»Welchem Balken?«

»Nicht jetzt.« Sie umfasst sein Handgelenk fester. »Derjenige, der deine Fragen beantworten kann, muss bald kommen, wenn er nicht sogar schon hier ist.« Sie betrachtetet ihn mit einem Blick aus den Augenwinkeln heraus, in dem die Spur eines Lächelns liegt. »Und nachdem du ihn gehört hast, wirst du verständigere Fragen stellen.«

Jack erkennt, dass Sophie ihn geschickt zurechtgewiesen hat, aber eine Rüge von ihr schmerzt nicht. Er lässt sich Raum für Raum durch das große, uralte Krankenhaus führen. Erst dabei wird ihm klar, wie wahrhaft riesengroß der ganze Zeltbau ist. Und er merkt auch, dass er trotz den frischen Brisen einen schwachen, unangenehmen Hintergrundgeruch wahrnehmen kann, der an eine Mischung aus vergorenem Wein und verdorbenem Fleisch erinnert. Um was für Fleisch es sich handelt, kann Jack leider nur allzu gut erraten. Nachdem er an über hundert Tatorten gewesen ist, an denen Menschen ermordet wurden, sollte er dazu auch imstande sein.

Es wäre unhöflich (und ein stilistischer Kunstfehler) gewesen, sich zu absentieren, während Jack der großen Liebe seines Lebens begegnet, weshalb wir das auch nicht getan haben. Jetzt wollen wir jedoch durch die dünnen Wände des Zelthospitals schlüpfen. Draußen liegt eine trockene, aber nicht unfreundliche Landschaft mit rötlichem Gestein, Besensalbei, Wüstenblumen, die etwas an Sego-Lilien erinnern, Krüppelkiefern und einige Säulenkakteen. Irgendwo nicht allzu weit entfernt ist das gleichmäßige kühle Murmeln eines Flusses zu hören. Das Zelthospital raschelt und flattert verträumt wie die Segel eines Schiffs, das mühelos vor dem Passatwind segelt. Als wir auf unsere mühelose, eigenartig angenehme Weise die Ostseite des großen verfallenen Zelts entlang weiterschweben, werden wir auf verstreuten Abfall aufmerksam. Hier liegen weitere Steine mit eingeschnittenen Zeichnungen, eine wunderschön handgefertigte Kupferrose, die wie durch große Hitze verformt ist, und eine kleine Perserbrücke, die aussieht, als wäre sie mit einem Fleischerbeil zerteilt worden. Und noch weiteres Zeug, das bei seinem stürmischen Übergang von einer Welt zur anderen jeglicher Umwandlung widerstanden hat. Wir sehen die geschwärzte Hülse einer Fernsehbildröhre inmitten von verstreuten Glasscherben, mehrere Duracell Mignon-Batterien, einen Kamm und - vielleicht am unerklärlichsten - einen weißen Nylonslip mit dem Wort Sonntag in zierlicher rosa Schreibschrift auf der Vorderseite. Welten sind miteinander kollidiert; hier entlang der Ostseite des Zelthospitals liegen vermischte Überbleibsel, die davon zeugen, wie gewaltig dieser Zusammenstoß war.

Am Ende dieses mülligen Feuerschweifs - am Kopf des Kometen, könnten wir sagen - sitzt ein Mann, den wir erkennen. Wir sind es nicht gewohnt, ihn in einem solch hässlichen braunen Gewand zu sehen (und er versteht dieses Kleidungsstück offenbar nicht zu tragen, denn wenn wir ihn aus dem falschen Blickwinkel betrachten, können wir viel mehr sehen, als wir wollen), mit Sandalen statt Oxford-Schuhen oder mit diesem Haar, das zu einem groben Pferdeschwanz zusammengefasst und mit einem Stück Rohlederschnur zusammengebunden ist, aber es handelt sich unzweifelhaft um Wendell Green. Er murmelt vor sich hin. Speichel tropft ihm aus den Mundwinkeln. Er starrt unverwandt einen unordentlichen Klumpen Büropapier an, den er in der rechten Hand hält. Er ignoriert all die dramatischeren Veränderungen um ihn herum und konzentriert sich ausschließlich auf diese eine. Sobald er herausbekommen hat, wie sein Panasonic-Diktiergerät sich in diesen kleinen Klumpen alten Papiers verwandelt hat, wird er sich vielleicht auch mit dem übrigen Krempel befassen. Aber kaum vorher.

Wendell (wenn’s recht ist, wollen wir ihn weiter Wendell nennen und uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, welchen Namen er in diesem abgeschiedenen Winkel einer anderen Welt haben könnte, da selbst er ihn weder kennt noch kennen wollen würde) erspäht die Duracell Mignon-Batterien. Er kriecht zu ihnen hinüber, hebt sie auf und versucht, sie in den kleinen Papierklumpen zu stecken. Das geht natürlich nicht, was Wendell aber nicht daran hindert, es stur weiter zu versuchen. Wie George Rathbun vielleicht sagen würde: »Gebt diesem Jungen eine Fliegenklatsche, dann versucht er, damit ein Abendessen zu erlegen.«

»Gah«, sagt der im Coulee Country beliebteste investi-gative Reporter, während er immer wieder versucht, die Batterien in den Papierklumpen zu stecken. »Gah ... rin. Gah ... rin! Verdammich, gah in die .«

Ein Geräusch - das näher kommende Klirren von etwas, was nur, Gott sei uns gnädig, Sporen sein können -unterbricht Wendells Konzentration, und er sieht mit großen, fast aus ihren Höhlen quellenden Augen auf. Sein Verstand ist vielleicht nicht für immer futsch, aber momentan zumindest mit Kind und Kegel nach Disney World aufgebrochen. Jedenfalls ist der Anblick, der sich Wendell jetzt bietet, kaum dafür geeignet, seinen Verstand irgendwann in nächster Zeit zurückzulocken.

In unserer Welt gab es einst einen guten schwarzen Filmschauspieler namens Woody Strode. (Lily kannte ihn; Ende der Sechzigerjahre hatte sie in dem American-International-Film Execution Express, der eine Pleite wurde, mit ihm zusammen gespielt.) Der Mann, der sich jetzt der Stelle nähert, wo Wendell Green mit seinen Batterien und seinem Papierklumpen hockt, sieht diesem Schauspieler bemerkenswert ähnlich. Er trägt ausgebleichte Jeans, ein blaues Baumwollhemd mit weißen Streifen, ein Halstuch und einen schweren Revolver an einem breiten Revolvergürtel, in dem etwa vier Dutzend Patronen glitzern. Der Schädel ist kahl, die Augen liegen tief in den Höhlen. Über einer Schulter hat er an einem kompliziert geflochtenen Gurt eine Gitarre hängen. Auf der anderen Schulter sitzt ein etwas, das ein Papagei zu sein scheint. Der Papagei hat zwei Köpfe.

»Nein, nein«, sagt Wendell mit mildem Tadel in der Stimme. »Nicht. Seh nicht. Seh nicht. Das.« Er senkt den Kopf und fummelt wieder die Batterien in den Papierklumpen.

Der Schatten des Neuankömmlings fällt über Wendell, der sich aber resolut weigert aufzublicken.

»Howdy, Fremder«, sagt der Neuankömmling.

Wendell sieht weiterhin nicht auf.

»Mein Name ist Parkus. Ich vertrete hierzulande das Gesetz. Wie heißt du?«

Wendell verweigert eine Antwort, außer wir wollten die halb lauten Grunzlaute, die ihm über seine speichelnassen Lippen kommen, als Antwort werten.

»Ich hab dich nach deinem Namen gefragt.«

»Wen«, sagt unser alter Bekannter (den wir nicht recht als Freund bezeichnen können), ohne aufzusehen. »Wen. Dell. Gree ... Green. Ich ... ich ... ich .«

»Lass dir Zeit«, sagt Parkus nicht ohne Mitgefühl. »Ich kann warten, bis dein Brandeisen heiß ist.«

»Ich ... Pressefalk!«

»Oh? Das bist du also?« Parkus ragt über ihm auf; Wendell duckt sich zurückweichend an die fragile Wand des Zelthospitals. »Na, wenn das nicht dem Fass den Boden ausschlägt! Ich will dir was sagen, ich hab Baumfalken gesehen, ich hab Rötelfalken gesehen, und ich hab Wanderfalken gesehen, aber du bist mein erster Pressefalk.«

Wendell sieht schließlich hektisch blinzelnd zu ihm auf.

Auf Parkus’ linker Schulter sagt der eine Kopf des Papageis: »Gott ist Liebe.«

»Fick doch deine Mutter«, antwortet der andere Kopf.

»Alle müssen den Fluss des Lebens suchen«, sagt der erste Kopf.

»Lutsch mir den Schwanz«, sagt der zweite.

»Wir wachsen Gott entgegen«, erwidert der erste.

»Verpiss dich«, sagt der zweite auffordernd.

Obwohl beide Köpfe sachlich sprechen - sogar im Tonfall eines vernünftigen Dialogs -, weicht Wendell noch weiter zurück, senkt dann den Blick und nimmt hektisch seine vergeblichen Bemühungen mit den Batterien und dem Papierklumpen wieder auf, der allmählich in der schweißnassen, schmutzigen Röhre seiner Hand verschwindet.

»Hör nicht auf sie«, sagt Parkus. »Ich tu’s jedenfalls nicht. Höre sie kaum noch, das kannst du mir glauben. Haltet den Schnabel, Jungs.«

Die Papageien verstummen.

»Ein Kopf heißt Heilig, der andere Profan«, sagt Parkus. »Ich behalte sie nur bei mir, damit sie mich daran erinnern, dass .«

Er wird durch das Geräusch näher kommender Schritte unterbrochen und richtet sich mit einer raschen Bewegung geschmeidig und mühelos auf. Jack und Sophie, die sich mit der perfekten Unschuld von Kindern, die sich auf dem Schulweg befinden, an den Händen halten, kommen heran.

»Speedy!«, ruft Jack breit grinsend aus.

»Na, das ist doch Travellin’ Jack!«, sagt Parkus ebenfalls grinsend. »Willkommen! Lasst euch ansehen, Sir - Ihr seid richtig erwachsen geworden.«

Jack stürmt vor und schlingt die Arme um Parkus, der die Umarmung ebenso kräftig erwidert. Wenig später hält Jack ihn auf Armeslänge und studiert ihn. »Du warst älter - jedenfalls bist du mir älter erschienen. In beiden Welten.«

Parkus nickt und lächelt weiterhin. Als er schließlich wieder das Wort ergreift, hat er Speedy Parkers gedehnte Sprechweise angenommen. »Ich hab wahrscheinlich älter gewirkt, Jack. Du warst damals noch ein richtiges Kind.«

»Aber .«

Parkus winkt ab. »Manchmal sehe ich älter aus, manchmal nicht. Das hängt alles .«

»Alter ist Weisheit«, sagt einer der Papageienköpfe ehrfurchtsvoll, worauf der andere erwidert: »Seniler alter Furzer.«

». vom Ort und den Umständen ab«, schließt Parkus den Satz, dann sagt er: »Ich habe euch Jungs doch gesagt, ihr sollt den Schnabel halten. Wenn ihr so weitermacht, drehe ich euch den mageren Hals um.« Er wendet seine Aufmerksamkeit Sophie zu, die ihn scheu wie ein Reh mit großen, staunenden Augen betrachtet. »Sophie«, sagt er. »Es ist wundervoll, dich zu sehen, meine Liebe. Hab ich nicht gesagt, dass er kommen würde? Und da hätten wir ihn. Hat nur ein bisschen länger gedauert, als ich erwartet habe.«

Sophie macht ihm einen tiefen Knicks - mit einem Knie bis zum Boden, während sie den Kopf gesenkt hält. »Than-keesai«, sagt sie. »Komm in Frieden, Revolvermann, und geh deinen Weg mit meiner Liebe entlang des Balkens.«

Bei diesen Worten durchläuft Jack ein seltsamer Schauder, als hätten viele Welten in vollendeter Harmonie gesprochen, leise, aber voll tönend.

Speedy - der bleibt er für Jack - ergreift sie an der Hand und zieht sie sanft hoch. »Steh auf, Mädchen, und sieh mir in die Augen. Ich bin hier kein Revolvermann, nicht hier im Grenzland, auch wenn ich gelegentlich das alte Schießeisen bei mir trage. Also, wir haben viel zu besprechen. Für Förmlichkeiten bleibt da keine Zeit. Kommt mit mir über den Hügel, ihr beiden. Wir müssen ein Palaver abhalten, wie die Revolvermänner sagen. Beziehungsweise gesagt haben, bevor die Welt über sie hinweggegangen ist. Hab ein paar fette Moorhühner geschossen, die bestimmt einen guten Braten abgeben.«

»Was ist mit ...« Jack zeigt auf die murmelnde, zusammengekrümmte Gestalt, die Wendell Green abgibt.

»Tja, der scheint recht beschäftigt zu sein«, sagt Parkus. »Hat mir erzählt, dass er ein Pressefalk ist.«

»Da hat er sich leider mit falschen Federn geschmückt«, sagt Jack. »Der alte Wendell hier ist ein Pressegeier.«

Wendell dreht den Kopf leicht zur Seite. Er weigert sich, den Blick zu heben, aber seine Lippen verziehen sich zu einem höhnischen Grinsen, was jedoch mehr ein unbewusster Reflex sein könnte. »Hab’s. Gehört.« Er müht sich ab. Wieder verzieht er die Lippen, aber diesmal scheint das höhnische Grinsen gewollt zu sein. Eigentlich ist es eher ein Zähnefletschen. »Gol. Gol. Gold Junge. Holly. Wood.«

»Immerhin hat er sich einen Teil seines Charmes und seiner Lebensfreude bewahrt«, sagt Jack. »Passiert ihm hier auch nichts?«

»Wer auch nur etwas Hirn hat, meidet das Zelt der Kleinen Schwestern«, sagt Parkus. »Keine Angst, ihm passiert schon nichts. Und wenn der Wind ihm später den Bratenduft rüberweht, wird er schon kommen, damit wir ihn durchfüttern können.« Er wendet sich an Wendell: »Wir gehen dort rüber. Wenn du vorbeikommen und uns besuchen willst, stehst du einfach auf und kommst rüber. Verstanden, Mr. Pressefalk?«

»Wen. Dell. Green.«

»Wendell Green, zu Befehl.« Parkus nickt den anderen zu. »Kommt, wir hauen ab.«

»Wir sollten ihn auf keinen Fall vergessen«, murmelt Sophie mit einem Blick zurück. »In ein paar Stunden ist’s dunkel.«

»Genau«, sagt Parkus, während die Gruppe gerade den Kamm des kleinen Hügels erreicht. »Wär nicht recht, ihn nach Einbruch der Dunkelheit neben dem Zelt zu lassen. Ganz und gar nicht.«

Der Abhang hinter dem Hügelkamm ist dichter bewachsen - hier gibt es sogar einen kleinen Bach, der sich vermutlich zu dem Fluss hinunterschlängelt, den Jack in der Ferne hört -, aber die Vegetation erinnert trotzdem mehr an den Norden Nevadas als an den Westen Wisconsins. In gewisser Beziehung erscheint Jack das auch verständlich. Dieses Mal ist er nicht auf normale Weise rübergeflippt. Er kommt sich wie ein Stein vor, den ein geschickter Werfer bis ganz ans andere Seeufer hat hüpfen lassen. Und was den armen Wendell betrifft ...

Rechts unten in der Senke, an deren jenseitigem Rand sie absteigen, steht ein Pferd, das im Schatten eines Baums angebunden ist, den Jack für eine Yuccapalme hält. Ungefähr zwanzig Meter weiter die Senke hinunter ist links ein Kreis aus erodierten Felsbrocken zu sehen. In diesem Kreis ist Feuerholz aufgestapelt, das aber noch nicht angezündet worden ist. Jack gefällt diese Feuerstelle nicht besonders - die Felsbrocken erinnern ihn an uralte Zähne. Auch er ist nicht der Einzige, dem sie missfällt. Sophie bleibt stehen, und er spürt, wie sie seine Hand fester umklammert.

»Parkus, müssen wir dort hinein? Bitte sag, dass das nicht so ist.«

Parkus wendet sich ihr mit einem freundlichen Lächeln zu, einem Lächeln, das Jack gut kennt: eindeutig ein Speedy-Parker-Lächeln.

»Der Sprechende Dämon ist seit einer Ewigkeit aus diesem Kreis verschwunden, meine Liebe«, sagt er. »Und du weißt, dass dies die besten Orte für Geschichten sind.«

»Trotzdem .«

»Jetzt ist nicht die rechte Zeit, ängstlich zu sein«, sagt Parkus. Er spricht leicht ungeduldig, wobei »ängstlich« nicht der Ausdruck ist, den er benützt, sondern nur die Übersetzung, die Jack im Kopf anstellt. »Du hast im Zelthospital der Kleinen Schwestern auf seine Ankunft gewartet .«

»Nur weil sie auf der anderen Seite war .«

». und jetzt will ich, dass du mitkommst.« Er erscheint Jack plötzlich größer. Seine Augen blitzen. Ein Revolvermann, denkt Jack sich. Ja, er könnte ein Revolvermann sein. Wie in einem von Mamas alten Filmen, nur eben in Wirklichkeit.

»Also gut«, sagt sie leise. »Wenn wir denn müssen.« Sie sieht zu Jack auf. »Würdest du wohl den Arm um mich legen?«

Jack, dessen können wir gewiss sein, tut ihr diesen Gefallen gern.

Als sie zwischen zwei Steinen hindurchgehen, glaubt Jack ein hässliches Gemurmel von Flüsterstimmen zu hören. Eine davon, die für einen Augenblick klar verständlich ist, scheint eine Schleimspur abzusondern, während sie ihm ins Ohr kriecht: Dahinschleppen dahinschleppen dahinschleppen, oho die blutenden Füßchen, bald kommt er, mein guter Freund Munshun, und solch köstliche Beute hab ich für ihn, oho, oho ...

Jack sieht zu seinem alten Freund hinüber, während dieser neben einem Mantelsack kauert und dessen obere Verschnürung löst. »Er ist nahe, oder? Der Fisherman. Und das schwarze Haus ist auch nicht fern.«

»Stimmt«, sagt Parkus und kippt die ausgenommenen Kadaver eines Dutzends fleischiger Vögel aus dem Mantelsack neben die Feuerstelle.

Beim Anblick der Moorhühner muss Jack an Irma Freneau denken, und er hat das Gefühl, keinen Bissen herunterbekommen zu können. Während er zusieht, wie Parkus und Sophie die Vögel auf Stöcke aus grünem Holz spießen, verstärkt sich dieses Gefühl. Als dann aber das Feuer brennt und die Vögel allmählich knusprig werden, meldet sich sein Magen und besteht darauf, dass die Moorhühner herrlich riechen und vermutlich noch besser schmecken. Hier drüben, fällt ihm ein, schmeckt sowieso immer alles besser.

»Da wären wir also endlich, im Sprechkreis«, sagt Par-kus. Sein Lächeln hat er einstweilen weggesteckt. Er betrachtet Jack und Sophie, die nebeneinander sitzen und noch immer Händchen halten, mit düsterem Ernst. Seine Gitarre hat er an einen Felsblock in der Nähe gelehnt. Daneben hat Heilig und Profan seine beiden Köpfe ins Federkleid gesteckt und schläft - zweifellos mit zweigeteilten Träumen. »Der Dämon ist längst fort, aber der Sage nach hinterlassen solche Wesen Spuren, die anderen die Zunge lockern können.«

»Als ob man Quasselwasser getrunken hat«, schlägt Jack vor.

Parkus schüttelt den Kopf. »Für Geschwätz ist heute keine Zeit.«

»Wenn ich’s nur mit dem ganz gewöhnlichem Abschaum zu tun hätte«, sagt Jack. »Mit dem würde ich schon irgendwie fertig werden.«

Sophie sieht ihn verständnislos an.

»Er meint einen einfachen Schläger«, sagt Parkus zur Erklärung. »Einen Gewohnheitsverbrecher.« Er wendet sich an Jack. »In gewisser Weise hast du’s mit einem zu tun. Carl Bierstone stellt nicht viel dar - nur ein gewöhnliches Ungeheuer, wenn man so sagen will. Was aber nicht bedeutet, dass er nicht auch mal einen kleinen Mord verüben könnte. Was die Ereignisse in French Landing angeht, ist er übrigens benutzt worden. Er ist ein Besessener, wie ihr in deiner Welt sagen würdet, Jack. Von den Geistern vereinnahmt, sagen wir hier in den Territorien ...«

»Oder von Schweinen herabgezogen«, fügt Sophie hinzu.

»Ja.« Parkus nickt zustimmend. »In der Welt unmittelbar jenseits dieses Grenzlands - Mittwelt also - würden sie sagen, ein Dämon sei in ihn gefahren. Aber ein weit mächtigerer Dämon als der arme, zerlumpte Geist, der einst diesen Steinkreis hier bewohnt hat.«

Jack hört kaum zu. Seine Augen leuchten. Irgendwas wie Beer Stein, hat George Potter ihm letzte Nacht, vor tausend Jahren, erzählt. Das stimmt nicht ganz, aber es ist nahe dran.

»Carl Bierstone«, sagt Jack. Er hebt eine geballte Faust und schüttelt sie dann triumphierend. »Das war sein Name in Chicago. Burnside hier in French Landing. Klappe zu, Affe tot, macht eure Hosentür dicht! Wo ist er, Speedy? Du sparst mir viel Zeit, wenn .«

»Halt ... den Mund«, sagt Parkus.

Er spricht leise, fast gefährlich drohend. Jack spürt, wie Sophie sich zurückweichend an ihn drängt. Auch er weicht etwas vor Parkus zurück. Das klingt nicht nach seinem alten Freund, ganz und gar nicht. Du musst aufhören, ihn dir als Speedy vorzustellen, sagt Jack sich. Der ist er nicht, ist er nie gewesen. Das war nur eine Rolle, die er gespielt hat: jemand, der einen verängstigten Jungen, der mit seiner Mutter auf der Flucht war, beruhigen und verzaubern konnte.

Parkus dreht die Moorhühner, die jetzt auf einer Seite hübsch braun gebraten sind und zischend Fett ins Feuer tropfen lassen.

»Tut mir Leid, dass ich dich angefahren habe, Jack, aber du solltest eigentlich erkennen können, dass dein Fisherman im Vergleich zu dem, was wirklich vorgeht, ziemlich unbedeutend ist.«

Warum erzählst du Tansy Freneau nicht, dass er unbedeutend ist? Warum erzählst du’s Beezer St. Pierre nicht?

Das geht Jack durch den Kopf, aber er spricht es nicht laut aus. Er hat nicht gerade wenig Angst vor dem Licht, das er in Parkus’ Augen hat aufblitzen sehen.

»Auch geht’s hier nicht um Twinner«, sagt Parkus. »Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf. Das ist nur etwas, was mit deiner Welt und der Welt der Territorien zu tun hat - ein Verbindungsglied. Du kannst jedenfalls nicht einfach hier einen Mordbuben umbringen und damit die Laufbahn deines Kannibalen dort drüben beenden. Und wenn du ihn dort drüben in Wisconsin umbringst, springt das Ding in seinem Inneren einfach auf einen anderen Wirt über.«

»Das Ding .?«

»Als es in Albert Fish war, hat Fish es Mr. Monday genannt. Der Kerl, hinter dem du her bist, nennt es Mr. Munshun. Beides stellt nur einen Versuch dar, etwas auszudrücken, was keine irdische Zunge auf irgendeiner irdischen Welt aussprechen kann.«

»Wie viele Welten gibt’s überhaupt, Speedy?«

»Viele«, sagt Parkus, während er ins Feuer starrt. »Und die ganze Sache betrifft jede einzelne davon. Warum, glaubst du, wäre ich sonst so scharf hinter dir her gewesen? Ich hab dir Federn geschickt, ich hab dir Rotkehlcheneier geschickt, ich hab verdammt noch mal alles getan, was ich konnte, um dich aufzuwecken.«

Jack denkt an Judy, wie sie an den Wänden kratzt, bis ihre Finger blutig sind, und schämt sich. Speedy hat sich offenbar ähnlich abgemüht. »Wach auf, wach auf, du Schlafmütze«, sagt er.

Parkus scheint nicht recht zu wissen, ob er streng dreinblicken oder lächeln soll. »Jedenfalls musst du mich in der Sache gesehen haben, die dich dazu gebracht hat, aus L. A. zu flüchten.«

»Aha - und warum bin ich deiner Meinung nach abgehauen?«

»Du bist geflüchtet wie Jonas, nachdem Gott ihm aufgetragen hat, gegen die Sündhaftigkeit in Ninive zu predigen. Ich dachte schon, ich muss einen Wal schicken, damit er dich verschlingt.«

»Ichfühle mich auch wie verschlungen«, sagt Jack.

Sophie meldet sich leise zu Wort. »Ich auch.«

»Wir sind alle wie verschlungen«, sagt der Mann mit dem Revolver im Hüftgurt. »Wir befinden uns im Bauch des Ungeheuers, ob’s uns gefällt oder nicht. Das ist Ka, Los und Schicksal zugleich. Dein Fisherman, Jack, ist jetzt dein Ka. Unser Ka. Hier geht’s um mehr als Morde. Um weit mehr.«

Jack bemerkt etwas, was ihm offen gesagt eine Heidenangst einjagt. Lester Parker, alias Speedy, alias Parkus, ist selbst fast zu Tode geängstigt.

»Hier geht’s um den Dunklen Turm«, sagt er.

Neben Jack stößt Sophie einen halb lauten, verzweifelten Schreckensschrei aus und senkt den Kopf. Zugleich hebt sie eine Hand und macht mit zwei Fingern mehrmals das gabelförmige Zeichen wider den bösen Blick gegen Parkus.

Aber dieser Gentleman scheint ihr das nicht zu verübeln. Er macht sich einfach wieder daran, die Moorhühner an ihren Spießen zu drehen. »Hör mir jetzt zu«, sagt er. »Hör mir gut zu, und stell möglichst wenig Fragen. Wir haben noch eine Chance, Judy Marshalls Sohn zu retten, aber die Zeit arbeitet gegen uns.«

»Sprich«, sagt Jack.

Parkus spricht. Irgendwann im Lauf seiner Erzählung befindet er die Vögel als durchgebraten und serviert sie auf flachen Steinen. Das Fleisch ist zart und fällt beinahe von den kleinen Knochen. Jack isst hungrig und nimmt jedes Mal, wenn die Reihe wieder an ihm ist, einen tiefen Zug von dem süßen Wasser aus Parkus’ Wasserschlauch. Er vergeudet keine Zeit damit, tote Kinder mit toten Moorhühnern zu vergleichen. Der Kessel muss geheizt werden, und er legt eifrig Brennstoff nach. Das tut auch

Sophie, die wie er mit den Fingern isst und sie gelegentlich ohne Hemmungen oder die geringste Verlegenheit sauber leckt. Und das tut schließlich auch Wendell Green, obwohl er sich weigert, den Kreis aus alten Steinen zu betreten. Als Parkus ihm ein knusprig braunes Moorhuhn zuwirft, fängt Wendell es bemerkenswert geschickt und vergräbt anschließend sein Gesicht in dem saftigen Fleisch.

»Du hast gefragt, wie viele Welten es gibt«, sagt Parkus. »In der Hochsprache lautet die Antwort: da fan - unsagbar viele.« Mit einem der angekohlten Holzspieße zeichnet er eine liegende Acht, die Jack als das griechische Symbol für unendlich erkennt, vor sich in den Staub.

»Es gibt einen Turm, der sie an ihrem Platz hält. Stell ihn dir meinetwegen als Achse vor, auf der sich viele Räder drehen. Und es gibt ein Wesen, das diesen Turm zum Einsturz bringen will. Ram Abbalah.«

Bei diesen Worten scheinen die Flammen des Feuers für einen Augenblick dunkler, rötlicher zu werden. Jack würde gern glauben, dies sei nur eine Illusion, die ihm sein überforderter Verstand vorgaukelt, aber das kann er nicht. »Der Scharlachrote König«, sagt er.

»Ja. Sein körperliches Wesen ist in einer Zelle oben im Turm eingesperrt, aber er existiert in einer weiteren Manifestation, die ebenso real ist und im Can-tah Abbalah -dem Hof des Scharlachroten Königs - lebt.«

»An zwei Orten zugleich.« Angesichts seiner Reisen zwischen der Welt Amerikas und der Welt der Territorien hat Jack wenig Mühe, diese Vorstellung zu akzeptieren.

»Ja.«

»Aber durchkreuzt er - oder es - nicht die eigenen Pläne, wenn er den Turm zerstört? Vernichtet er dadurch nicht sein körperliches Wesen?«

»Ganz im Gegenteil: Er befreit es, damit es durch das zukünftige Chaos streifen kann ... durch Din-tah, das Höllenfeuer. Teile der Mittwelt sind schon in dieses Feuer gefallen.«

»Wie viel von all diesen Dingen muss ich tatsächlich wissen?«, fragt Jack. Er ist sich bewusst, dass auch auf seiner Seite der Mauer die Zeit flieht.

»Schwer abzuschätzen, was du wissen musst und was nicht«, sagt Parkus. »Lasse ich eine entsprechende Einzelheit aus, erlöschen vielleicht alle Sterne. Nicht nur hier, sondern in tausendmal tausend Universen. Das ist das Schreckliche daran. Hör zu, Jack ... der König versucht seit undenklichen Zeiten, den Turm zu zerstören und sich zu befreien. Vielleicht seit ewigen Zeiten. Damit kommt er aber nur langsam voran, denn der Turm wird nämlich von sich kreuzenden Balken abgestützt. Diese Balken halten seit Jahrtausenden und werden noch Jahrtausende halten, aber in den vergangenen zweihundert Jahren - nach deiner Zeitrechnung, Jack -für dich, Sophie, wären das nahezu fünfhundert VollErden .«

»So lange«, sagt sie. Es ist fast ein Seufzen. »So überaus lange.«

»Aus historischer Sicht ist dieser Zeitraum nur so kurz wie das Aufflammen eines Zündholzes in einem dunklen Raum. Aber während gute Dinge sich im Allgemei-nen nur langsam entwickeln, hat das Böse die Angewohnheit, fix und fertig aufzutauchen, ganz so, wie Jacks Ka ein Freund des Bösen wie des Guten ist. Es umfasst beides. Und weil wir gerade bei Jack sind ...« Parkus wendet sich an ihn. »Du hast doch schon einmal von der Bronzezeit und der Eisenzeit gehört, oder?«

Jack nickt.

»In den oberen Turmgeschossen leben welche, die die letzten rund zweihundert Jahre in deiner Welt als das Zeitalter vergifteten Denkens bezeichnen. Das bedeutet .«

»Das brauchst du mir nicht zu erklären«, sagt Jack. »Ich habe immerhin Morgan Sloat gekannt, oder etwa nicht? Ich weiß, was er für Sophies Welt geplant hatte.« Und wie. Im Prinzip war vorgesehen gewesen, einen der paradiesischsten Winkel des Universums erst in ein Urlaubsziel für Reiche, dann in ein Reservoir für ungelernte Arbeitskräfte und zuletzt in eine vermutlich radioaktive Mülldeponie zu verwandeln. Wenn das kein Beispiel für vergiftetes Denken ist, weiß Jack nicht, wie eines aussehen sollte.

»Unter rationalen Wesen hat es immer einige Telepathen gegeben«, erzählt Parkus weiter. »Das trifft auf alle Welten zu. Normalerweise sind sie jedoch seltene Erscheinungen. Wunderkinder, könnte man sagen. Seit in deiner Welt jedoch das Zeitalter vergifteten Denkens angebrochen ist - wie ein Dämon von ihr Besitz ergriffen hat -, sind solche Wesen weit häufiger geworden. Nicht so häufig wie Langsame Mutanten im Verheerten Land, aber häufig, doch.«

»Du sprichst von Gedankenlesern«, sagt Sophie, als wollte sie sich dessen vergewissern.

»Ja«, antwortet Parkus, »aber nicht nur von Gedankenlesern. Menschen mit Vorahnungen. Teleporter - anders gesagt Weltenspringer wie unser alter Travellin’ Jack hier - und Telekinetiker. Gedankenleser sind die häufigsten, Telekinetiker die seltensten . und die wertvollsten dieser Wesen.«

»Für ihn, meinst du«, sagt Jack. »Für den Scharlachroten König.«

»Ja. In den letzten rund zweihundert Jahren hat der Abbalah einen großen Teil seiner Zeit darauf verwendet, eine Truppe aus telepathischen Sklaven aufzubauen. Die meisten von ihnen stammen von der Erde und aus den Territorien. Die Telekinetiker aber stammen alle von der Erde. Dieses Heer von Sklaven - dieser Gulag - ist seine krönende Errungenschaft. Wir nennen sie Brecher. Sie .« Er macht eine nachdenkliche Pause. Dann: »Weißt du, wie eine Galeere fährt?«

Jack versteht nicht gleich, auf was Parkus hinauswill, aber Sophie nickt eifrig.

»Viele Ruderer«, sagt Sophie, dann macht sie eine Ruderbewegung, die gleichzeitig ihre Brüste reizvoll hervortreten lässt.

Parkus nickt zustimmend. »Meistens aneinander gekettete Sklaven. Sie .«

Von außerhalb des Steinkreises meldet Wendell sich plötzlich zu Wort. »Spart. Cus.« Er macht eine Pause, runzelt die Stirn und nimmt einen neuen Anlauf. »Spart-a-cus.«

»Wovon redet er?«, fragt Parkus verständnislos. »Irgendeine Idee, Jack?«

»Von einem Spielfilm namens Spartacus«, sagt Jack. »Na na, Wendell, ich glaube, Sie irren sich. Sie wollten wohl Ben Hur sagen.«

Wendell macht ein beleidigtes Gesicht und streckt seine fettigen Hände aus. »Mehr. Fleisch.«

Parkus zieht das letzte Moorhuhn von dessen angekohltem Holzspieß und wirft es Wendell zu, der weiterhin außerhalb des Steinkreises hockt und mit seinem bleichen, fettig glänzenden Gesicht über die Knie lugt. »Frische Beute für den Pressefalken«, sagt er. »Tu uns jetzt einen Gefallen, und halt den Schnabel.«

»Oder. Was.« In Wendells Augen steigt das alte trotzige Funkeln auf.

Parkus zieht sein Schießeisen ein Stück aus dem Halfter. Die Griffschalen aus Sandelholz sind abgenutzt, aber der Lauf glänzt tödlich blank. Er braucht nichts mehr zu sagen; mit dem zweiten Vogel in einer Hand rafft Wendell Green sein Gewand um sich und trollt sich über den Hügel. Jack ist heilfroh, ihn verschwinden zu sehen. Ausgerechnet Spartacus, denkt er und schnaubt verächtlich.

»Der Scharlachrote König will also diese Brecher einsetzen, um sie die Balken zerstören zu lassen«, sagt er. »Das steckt doch wohl dahinter, oder? Das ist der ganze Plan.«

»Du sprichst wie von einem zukünftigen Ereignis«, sagt Parkus milde. »Das geschieht aber gegenwärtig, Jack. Willst du den fortschreitenden Zerfall sehen, brauchst du nur einen Blick auf deine eigene Welt zu werfen. Von den sechs Balken ist nur noch einer vollständig intakt. Zwei andere liefern noch etwas Stützkraft. Die übrigen drei sind bereits zerbrochen. Einer davon ist vor Tausenden von Jahren durch normalen Verschleiß kaputtgegangen. Die anderen ... sind von den Brechern zerstört worden. Alles innerhalb nicht einmal zwei Jahrhunderten.«

»O Gott«, sagt Jack. Er versteht allmählich, wie Speedy dazu kam, den Fisherman als unbedeutend zu bezeichnen.

»Den Auftrag, den Turm und die Balken zu beschützen, hatte schon immer die uralte Kriegerkaste von Gi-lead, in dieser und in vielen anderen Welten Revolvermänner geheißen. Sie besaßen auch eine starke psychische Ausstrahlung, Jack, die durchaus imstande war, die Brecher des Scharlachroten Königs in Schach zu halten, aber .«

»Aber die Revolvermänner sind bis auf einen ausgestorben«, sagt Sophie mit einem Blick auf die großkalibrige Waffe an Parkus’ Seite und setzt mit leiser Hoffnung hinzu: »Außer du bist wirklich auch einer, Parkus.«

»Das nicht, meine Liebe«, sagt er, »aber es gibt trotzdem mehr als nur einen.«

»Ich dachte, Roland wäre der letzte Revolvermann. So erzählt man sich jedenfalls.«

»Er hat mindestens drei weitere erschaffen«, sagt Parkus. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie das gehen soll, aber ich halte es für wahr. Wäre Roland weiterhin allein, hätten die Brecher den Turm längst zum Einsturz gebracht. Aber mit Unterstützung dieser anderen .«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du redest«, sagt Jack. »Ich hatte so etwas wie eine Ahnung, aber inzwischen hast du mich längst abgehängt.«

»Du brauchst nicht alles zu verstehen, um deinen Auftrag auszuführen«, sagt Parkus.

»Na prima.«

»Was den Teil betrifft, den du verstehen musst, denkst du am besten nicht an Galeeren und Rudersklaven, sondern an die Westernfilme, in denen deine Mutter mitgespielt hat. Stell dir als Erstes ein Fort in der Wüste vor.«

»Und dieser Dunkle Turm, von dem du immer redest, der ist das Fort.«

»Ja. Aber das Fort ist nicht von wilden Indianern umzingelt, sondern .«

»Sondern von den Brechern. Unter ihrem Großen Häuptling Abbalah.«

»Der König ist in seinem Turm, isst Brot und Mold. Die Brecher sind im Keller, machen all das Gold.«

Jack empfindet einen eigenartig unangenehmen Schauder, der ihm über den Rücken kriecht; er muss dabei an Rattenpfoten denken, die über zerbrochenes Glas huschen. »Wie bitte? Warum sagst du das?«

Sophie sieht zu ihm auf, errötet, schüttelt den Kopf und senkt den Blick wieder. »Das sagt manchmal sie. Judy. Ich höre sie das manchmal sagen.«

Parkus nimmt einen der angekohlten Holzspieße und zeichnet damit neben der liegenden Acht in den steinigen Staub. »Fort hier. Marodierende Indianer hier, unter Führung ihres grausamen, bösen - und vermutlich wahnsinnigen - Häuptlings. Aber hier drüben ...« Auf der linken Seite zeichnet er einen kräftigen Pfeil in den Staub. Die Spitze zeigt auf die Umrisse des Forts und der Indianer, die es belagern. »Was trifft in den besten Lily-Cavanaugh-Westernfilmen immer im letzten Augenblick ein?«

»Die Kavallerie«, sagt Jack. »Die sind vermutlich wir.«

»Nein«, sagt Parkus. Sein Tonfall bleibt geduldig, aber Jack hat den Verdacht, dass ihn das große Anstrengung kostet. »Die Kavallerie sind Roland von Gilead und seine neuen Revolvermannen. Zumindest wagen das diejenigen unter uns zu hoffen, die wünschen, der Turm möge stehen bleiben - oder eines Tages von selbst einstürzen. Der Scharlachrote König dagegen hofft, Roland aufhalten und den Turm zerstören zu können, während Roland und seine Gefährten noch in der Ferne sind. Dazu muss er möglichst viele Brecher zusammenziehen, vor allem die Telekinetiker.«

»Ist Tyler Marshall .«

»Unterbrich mich nicht! Das Ganze ist ohnehin schon schwierig genug.«

»Früher warst du verdammt viel fröhlicher, Speedy«, sagt Jack vorwurfsvoll. Einen Augenblick lang glaubt er, sein alter Freund werde ihn nochmals zusammenstauchen - oder vielleicht völlig die Beherrschung verlieren und ihn in einen Frosch verwandeln -, aber Parkus entspannt sich nur etwas und lacht sogar.

Sophie blickt erleichtert auf und drückt flüchtig Jacks Hand.

»Na ja, vielleicht hast du Recht, wenn du mich ein bisschen zurückpfeifst«, sagt Parkus. »Hat keinen großen Zweck, sich in irgendwas reinzusteigern, was?« Er berührt das große Schießeisen an seiner Hüfte. »Würd mich nicht wundern, wenn ich dadurch, dass ich dieses Ding mit mir rumschleppe, eine Prise Größenwahn abgekriegt hätte.«

»Damit stehst du gerade einmal ein, zwei Stufen über dem Pförtner eines Vergnügungsparks«, sagt Jack verschmitzt.

»In der Bibel - in deiner Welt, Jack -, aber auch im Buch vom guten Wirtschaften - in deiner, Sophie, meine Liebe - heißt es sinngemäß: >Denn in meinem Königreich gibt es viele Wohnungen.< Nun, am Hof des Scharlachroten Königs gibt es viele Unholde.«

Jack hört sich kurz und bellend lachen. Sein alter Freund hat einen typisch geschmacklosen Polizistenscherz gemacht, wie es scheint.

»Es gibt die Höflinge des Königs ... seine fahrenden Ritter. Sie haben alle möglichen Pflichten, vermute ich mal, aber in letzter Zeit besteht ihre Hauptaufgabe darin, talentierte Brecher zu finden. Je talentierter der Brecher, desto höher die Belohnung.«

»Kopfjäger also«, murmelt Jack und erkennt die wahre Bedeutung dieses Wortes erst, als er es ausgesprochen hat. Er hat es im übertragenen Sinn von »Talentsucher« gebraucht, aber es hat natürlich auch eine andere, eine ursprüngliche Bedeutung. Kopfjäger sind Kannibalen.

»Genau«, sagt Parkus. »Und sie haben sterbliche Unteragenten, die aus ... man mag nur ungern sagen, dass sie aus Spaß an der Sache arbeiten, aber wie soll man’s sonst nennen?«

Das löst bei Jack eine albtraumhafte Vision aus: Albert Fish als Cartoonfigur, die mit dem Schild Arbeite für Essen auf einem New Yorker Gehsteig steht. Er drückt Sophie enger an sich. Ihre blauen Augen wenden sich ihm zu, und er blickt freudig in sie hinein. Sie beruhigen ihn.

»Wie viele Brecher hat Albert Fish seinem Kumpel Mr. Monday geschickt?«, fragt Jack nun. »Zwei? Vier? Ein Dutzend? Und sterben sie wenigstens weg, damit der Abbalah sie ersetzen muss?«

»Mitnichten«, antwortet Parkus ernst. »Sie werden an einem Ort gefangen gehalten - in einem unterirdischen Gewölbe, einer Höhle -, in der im Prinzip keine Zeit existiert.«

»Im Fegefeuer. Mein Gott!«

»Ihre genaue Zahl spielt überhaupt keine Rolle. Albert Fish ist längst tot. Mr. Monday ist jetzt Mr. Munshun. Das Abkommen, das Mr. Munshun mit deinem gesuchten Killer getroffen hat, ist ganz einfach: Burnside darf so viele Kinder ermorden und essen, wie er will, solange es untalentierte Kinder sind. Sollte er jedoch welche finden, die das Talent zum Brecher haben, muss er sie sofort Mr. Munshun übergeben.«

»Der sie zum Abbalah bringt«, murmelt Sophie.

»So ist es«, sagt Parkus.

Jack hat das Gefühl, wieder auf relativ festem Boden zu stehen, und ist sehr froh, dort angelangt zu sein. »Und weil Tyler nicht ermordet wurde, muss er also talentiert sein.«

»>Talentiert< ist in diesem Fall kaum der richtige Aus-druck. Tyler Marshall ist potenziell einer der beiden mächtigsten Brecher in der Geschichte aller Welten. Kehren wir kurz zu der Analogie mit dem von Indianern eingeschlossenen Fort zurück, könnten wir sagen, dass die Brecher Feuerpfeilen gleichen, die über die Palisaden geschossen werden . eine neue Art der Kriegsführung also. Und Tyler Marshall wäre nicht etwa ein einfacher Feuerpfeil. Er wäre vielmehr eine Lenkwaffe.«

»Oder eine Atomrakete.«

»Was ist das?«, fragt Sophie.

»Glaub mir, das willst du nicht wissen«, antwortet Jack.

Er blickt auf die in den Staub gezeichneten Symbole hinab. Überrascht es ihn, dass Tyler so mächtig sein soll? Nein, eigentlich nicht. Nicht, seit er erlebt hat, welche Aura von Kraft die Mutter des Jungen umgibt. Nicht, seit er Judys Twinner Sophie kennt, deren einfache Kleidung und schlichtes Auftreten nicht ausreichen, um eine Wesensart zu tarnen, die ihm fast königlich erscheint. Sie ist schön, aber er spürt, dass Schönheit eine ihrer am wenigsten wichtigen Eigenschaften ist.

»Jack?«, sagt Parkus. »Alles in Ordnung mit dir?« Für etwas anderes reicht die Zeit nicht aus, suggeriert sein Tonfall.

»Lass mir einen Augenblick Zeit.«

»Wir haben nicht viel Z .«

»Das habe ich inzwischen kapiert«, sagt Jack so schroff, dass Sophie sich vor Überraschung über seinen Ausbruch etwas aufsetzt. »Lass mich jetzt einen Augenblick in Ruhe. Lass mich meine Arbeit tun.«

Unter dem grünen Federkleid murmelt einer der Papageienköpfe: »Gott liebt den armen Tagelöhner.« Der andere fragt: »Hat er darum so beschissen viele erschaffen?«

»Also gut, Jack«, sagt Parkus und sieht zum Himmel auf.

Okay, was wäre da alles?, überlegt Jack. Da wäre ein wertvoller kleiner Junge, und der Fisherman weiß, dass er wertvoll ist. Aber dieser Mr. Munshun hat ihn noch nicht, sonst wäre Speedy nicht hier. Schlussfolgerung?

Sophie beobachtet ihn sorgenvoll. Parkus sieht weiter in den wolkenlos blauen Himmel über diesem Grenzland zwischen den Territorien - die Judy Marshall Anderland nennt - und der unbekannten nächsten Welt auf. Jacks Verstand arbeitet jetzt schneller, steigert sein Tempo wie ein Schnellzug, der einen Bahnhof verlässt. Er nimmt wahr, dass der kahlköpfige Schwarze neben ihm den Himmel nach einer bestimmten bösartigen Krähe absucht. Er nimmt wahr, dass die hellhäutige Frau an seiner Seite ihn mit der Art Faszination betrachtet, aus der - wenn Welt und Zeit genug bleibt - Liebe werden könnte. Überwiegend ist er jedoch mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Er denkt als Schutzmann.

Bierstone ist heutzutage Burnside, und er ist alt. Alt und im Kopf nicht mehr ganz richtig. Wahrscheinlich fällt es ihm schwer, sich zwischen dem zu entscheiden, was er will, nämlich Tyler für sich zu behalten, und was er diesem Kerl Munshun versprochen hat. Irgendwo steckt ein verwirrter, stockend arbeitender, gefährlicher Kopf der zu einem Entschluss zu gelangen versucht. Beschließt er, Tyler umzubringen und wie die Hexe in »Hänsel und Gretel« in den Kochtopf zu stecken, ist das schlecht für Judy und Fred. Ganz zu schweigen von Tyler, der vermutlich jetzt schon Dinge gesehen hat, die einen kampferprobten Marineinfanteristen in den Wahnsinn treiben würden. Übergibt der Fisherman ihn jedoch Mr. Muns-hun, ist das schlecht für die Bewohner aller Welten. Kein Wunder, dass Speedy gesagt hat, die Zeit arbeite gegen uns.

»Ihr habt gewusst, dass das passieren würde, stimmt’s?«, sagt er. »Ihr müsst es beide gewusst haben. Weil Judy es gewusst hat. Sie hat sich seit Monaten seltsam benommen, lange vor Beginn der Mordserie.«

Parkus zieht die Schultern hoch und sieht unbehaglich zu Boden. »Ich wusste, dass etwas geschehen würde, ja - auf dieser Seite hat’s große Verwerfungen gegeben -, aber ich hatte anderswo zu tun. Und Sophie kann nicht rüberflippen. Sie ist mit den Fliegenden Menschen hergekommen und kehrt mit ihnen zurück, sobald unser Palaver beendet ist.«

Jack wendet sich an Sophie. »Du bist, was meine Mutter einst war. Das weiß ich bestimmt.« Vermutlich drückt er sich nicht ganz klar aus, aber das lässt sich nicht ändern; seine Überlegungen gehen gleichzeitig in zu viele unterschiedliche Richtungen. »Du bist Laura DeLoessi-ans Nachfolgerin. Die Königin dieser Welt.«

Jetzt ist die Reihe an Sophie, ein unbehagliches Gesicht zu machen. »Ich war nur ein kleines Rädchen im großen Ganzen, wirklich nicht mehr, und das war mir gerade recht. Ich habe hauptsächlich Empfehlungsschreiben verfasst und mich bei Leuten bedankt, die mich aufgesucht hatten . allein in dieser Diensteigenschaft habe ich von mir als >wir< gesprochen. Ich bin gern gewandert und habe Blumen gesammelt und sie bestimmt. Ich bin gern auf die Jagd gegangen. Aber dann haben Unglück, schlechte Zeiten und Verbrechen bewirkt, dass ich plötzlich die Letzte des Königsgeschlechts war. Die Königin dieser Welt, wie du sagst. Ich bin einmal verheiratet gewesen, mit einem guten, schlichten Mann, aber mein Fred Marshall ist gestorben und hat mich allein zurückgelassen. Sophie die Unfruchtbare.«

»Nicht«, sagt Jack. Er ist überrascht, wie sehr es ihn schmerzt, sie mit solch bitterem Spott von sich selbst reden zu hören.

»Würdest du nicht nur einmal existieren, Jack, wäre dein Twinner mein Vetter.«

Sophie verändert die Haltung ihrer schlanken Finger, sodass nicht mehr er ihre Hand umklammert, sondern sie seine. Als sie wieder spricht, klingt ihre halb laute Stimme leidenschaftlich. »Lassen wir jetzt die weltbewegenden großen Dinge. Ich weiß nur, dass Tyler Marshall das Kind von Judy ist, dass ich sie liebe und dass ich sie nicht um aller Welten willen leiden sehen möchte. Tyler kommt einem eigenen Kind, einem, das ich nie haben werde, am nächsten. Das alles weiß ich - und noch etwas: dass du der Einzige bist, der ihn retten kann.«

»Weshalb?« Das hat er natürlich von vornherein gespürt

- wieso in Gottes Namen wäre er sonst hier? -, aber seine Verwirrung wird dadurch nicht geringer. »Warum ich?«

»Weil du den Talisman berührt hast. Und obwohl dich im Lauf der Jahre einiges von seiner Kraft verlassen hat, ist noch viel zurückgeblieben.«

Jack denkt an die Maiglöckchen, die Speedy auf der Polizeistation für ihn zurückgelassen hat. Wie ihr Duft an seinen Händen haften geblieben ist, auch nachdem er den Strauß Tansy geschenkt hatte. Und er erinnert sich daran, wie der Talisman in dem von Stimmengemurmel erfüllten dunklen Pavillon der Königin ausgesehen hat, als er vor seinem endgültigen Verschwinden leuchtend aufgestiegen ist und alles verändert hat.

Er denkt: Der Talisman verändert weiterhin alles.

»Parkus.« Ist dies das erste Mal, dass er den anderen -den anderen Schutzmann - mit diesem Namen angesprochen hat? Er weiß es nicht sicher, aber er vermutet es.

»Ja, Jack.«

»Was von dem Talisman übrig ist - reicht es aus? Genügt es, damit ich’s mit diesem Scharlachroten König aufnehmen kann?«

Parkus kann nicht verbergen, wie sehr ihn dieser Gedanke entsetzt. »Nie im Leben, Jack. Niemals! Der Abbalah würde dich ausblasen wie eine Kerze. Aber es könnte dafür reichen, dass du’s mit Mr. Munshun aufnehmen, dass du ins Feuerland gehen und Tyler rausholen kannst.«

»Dort gibt’s Maschinen«, sagt Sophie. Sie macht den Eindruck, in einem düsteren, unglücklichen Traum gefangen zu sein. »Rote Maschinen und schwarze Maschinen, ganz von Rauch verhüllt. Es gibt große Treibriemen, auf denen Kinder sonder Zahl unterwegs sind. Sie schleppen sich unentwegt dahin und halten die Treibriemen in Gang, von denen die Maschinen angetrieben werden. Unten in den Fuchsbauten. Unten in den Rattenlöchern, in die nie ein Sonnenstrahl fällt. Unten in den riesigen Höhlen, in denen das Feuerland liegt.«

Jack ist geistig und seelisch zutiefst durcheinander geschüttelt. Er muss unwillkürlich an Dickens denken -aber nicht an Bleak House, sondern an Oliver Twist. Und er erinnert sich natürlich an sein Gespräch mit Tansy Freneau. Wenigstens ist Irma nicht dort, sagt er sich. Nicht im Feuerland, nicht sie. Sie ist umgekommen, und ein böser alter Mann hat ihr Bein verzehrt. Aber Tyler ... Tyler ...

»Sie schleppen sich voran, bis ihre Füße bluten«, murmelt er. »Und der Weg dorthin .?«

»Ich glaube, du kennst ihn«, sagt Parkus. »Findest du das Schwarze Haus, findest du auch den Weg ins Feuerland . zu den Maschinen ... Mr. Munshun ... und Tyler.«

»Aber es steht fest, dass der Junge lebt?«

»Ja.« Parkus und Sophie antworten mit einer Stimme.

»Und wo ist Burnside jetzt? Das zu wissen könnte alles etwas beschleunigen.«

»Ich habe keine Ahnung«, sagt Parkus.

»Verdammt, wenn du weißt, wer er war...«

»Das ist durch die Fingerabdrücke rausgekommen«, sagt Parkus. »Durch die Fingerabdrücke am Telefon. Dein erster brauchbarer Vorschlag in dieser Sache. Auf Anfrage der Wisconsin State Police hat die VICAP-Datenbank des FBI den Namen Bierstone ausgespuckt. Und du hast den Namen Burnside. Das müsste reichen.«

Wisconsin State Police, FBI, VICAP, Datenbank: Diese Ausdrücke kommen in gutem altem amerikanischem Englisch heraus, aber in dieser Umgebung klingen sie in Jacks Ohren fremdartig und unangenehm.

»Woher weißt du das alles?«

»Ich habe in deiner Welt so meine Quellen, bin also immer auf dem Laufenden. Du kennst so was ja aus eigener Erfahrung. Und du bist sicher Cop genug, um den Rest allein erledigen zu können.«

»Judy glaubt, dass du einen Freund hast, der dir helfen kann«, sagt Sophie unerwartet.

»Dale? Dale Gilbertson?« Jack will das nicht recht glauben, aber er vermutet, Dale könnte irgendwas entdeckt haben.

»Seinen Namen kenne ich nicht, aber Judy glaubt, dass er vielen hier in Anderland gleicht. Ein Mann, der viel sieht, weil er nichts sieht.«

Also doch nicht Dale. Sie spricht von Henry.

Parkus erhebt sich. Die Papageienköpfe tauchen auf und lassen vier glitzernde Augen sehen. Heilig und Profan flattert auf Parkus’ Schulter und macht es sich dort bequem. »Ich glaube, unser Palaver dürfte damit beendet sein«, sagt Parkus. »Es muss zu Ende sein. Bist du zur Rückkehr bereit, mein Freund?«

»Ja. Und ich sollte wohl Green mitnehmen, so sehr mir das auch widerstrebt. Er würde es hier wahrscheinlich nicht sehr lange machen.«

»Wie du meinst.«

Jack ist mit Sophie - sie gehen weiter Hand in Hand -schon halb den Hügel hinauf, da fällt ihm auf, dass Parkus weiterhin mit seinem Papagei auf der Schulter im Sprechkreis steht. »Kommst du nicht mit?«

Parkus schüttelt den Kopf. »Hier trennen sich unsere Wege, Jack. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.«

Falls ich überlebe, denkt Jack. Falls irgendwer von uns überlebt.

»Geh bis dahin deinen Weg. Und bleib dir selbst treu.«

Sophie macht ihm einen weiteren tiefen Knicks. »Sai.«

Parkus nickt ihr zu und verabschiedet sich von Jack Sawyer, indem er sich mit zwei Fingern an die Schläfe tippt. Jack wendet sich ab, geht mit Sophie zu dem verfallenen Zelthospital zurück und fragt sich dabei, ob er Speedy Parker tatsächlich jemals wiedersehen wird.

Wendell Green - Starreporter, furchtloser Ermittler, Erklärer des Guten und Bösen zum Nutzen seiner tumben Leserschaft - hockt an seinem früheren Platz und hält das zusammengeknüllte Papier in der einen und die Batterien in der anderen Hand. Er murmelt wieder vor sich hin und sieht kaum auf, als Sophie und Jack sich nähern.

»Du wirst dein Bestes tun, ja?«, sagt Sophie. »Für sie.«

»Und für dich«, sagt Jack. »Eines möchte ich noch sagen: Sollten wir alle mit dem Leben davonkommen ... und sollte ich hierher zurückkehren .« Mehr bringt er offenbar nicht mehr zustande. Seine Kühnheit verschlägt ihm den Atem. Sophie ist schließlich eine Königin. Eine Königin. Und er ... tut was? Möchte sich mit ihr verabreden?

»Vielleicht«, sagt sie und sieht ihn mit ihren blauen Augen unverwandt an. »Vielleicht.«

»Heißt vielleicht, dass du dir das auch wünschst?«, fragt er leise.

»Ja.«

Er beugt sich zu ihr hinunter und streift ihre Lippen mit seinen. Diese flüchtige Berührung ist kaum ein Kuss zu nennen. Andererseits ist es der schönste Kuss seines Lebens.

»Mir ist, als müsste ich gleich in Ohnmacht fallen«, sagt sie zu ihm.

»Treib keine Scherze mit mir, Sophie.«

Sie ergreift seine Hand und drückt sie unter der linken Brust an sich. Er fühlt ihr Herz jagen. »Ist das ein Scherz? Würde sie noch schneller rennen, würde sie stolpern und hinschlagen.« Sie gibt seine Hand frei, aber Jack lässt die Handfläche noch einen Augenblick dort, wo sie ist, geschmiegt an diese elastische Wärme.

»Wenn ich könnte, würde ich dich begleiten«, sagt sie.

»Das weiß ich.«

Er sieht sie an und weiß, dass er niemals wegkommen wird, wenn er nicht sofort geht. Er will sie nicht verlassen, aber das ist nicht der einzige Grund. In Wahrheit ist er verängstigter als jemals zuvor in seinem Leben. Er sucht etwas Prosaisches, etwas, was ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen kann - was sein eigenes Herzrasen beruhigen kann -, und findet das perfekte Objekt in dem murmelnden Wesen, das Wendell Green ist. Er geht neben ihm in die Hocke. »Kann’s losgehen, Dicker? Wie wär’s mit einem Trip auf dem mächtigen Mississippi?«

»Fass. Mich. Nicht. An.« Und dann mit einer fast poetischen Anwandlung: »Verdammtes Hollywood-Arschloch!«

»Glauben Sie mir, ich tät’s nicht, wenn ich nicht müsste. Und ich habe vor, mir bei erster Gelegenheit die Hände zu waschen.«

Er blickt zu Sophie auf, sieht die ganze Judy in ihr. All die Schönheit in ihr. »Ich liebe dich«, sagt er.

Bevor sie antworten kann, fasst er Wendell an der Hand, schließt die Augen und flippt.

22

Diesmal nimmt er etwas wahr, was nicht völliger Stille entspricht: ein herrliches weißes Rauschen, das er schon einmal irgendwo gehört hat. Im Sommer 1997 war Jack mit einem Fallschirmspringerclub des LAPD, der sich P. F. Flyers nannte, weit nach Norden, nach Vacaville, gefahren. Es war um eine Mutprobe gegangen, eine dieser dämlichen Sachen, in die man gerät, wenn man spät nachts zu viele Biere getrunken hat, und aus denen man nicht mehr herauskann. Jedenfalls nicht mit Anstand. Oder anders gesagt: nicht, ohne als Feigling dazustehen. Er hatte erwartet, Angst zu haben, stattdessen bot sich ihm ein überglückliches Gefühl an. Trotzdem war er nie wieder gesprungen, und inzwischen weiß er auch, warum: Er war zu nahe daran gewesen, sich zu erinnern, und irgendein verängstigter Teil seines Ichs musste das gespürt haben. Es war das Geräusch gewesen, bevor man die Reißleine zog - dieses herrliche weiße Luftrauschen im freien Fall. Sonst war nichts zu hören, nichts außer dem leisen, raschen Schlagen des eigenen Herzens und vielleicht einem Knacken in den Ohren, während man Speichel hinunterschluckte, der sich wie man selbst in freiem Fall befand.

Zieh die Reißleine, Jack, sagt er sich. Höchste Zeit, die Reißleine zu ziehen, sonst wird die Landung verdammt hart.

Jetzt ist ein neues Geräusch zu hören, anfangs nur leise, aber rasch zu ohrenbetäubendem Lärm anschwellend. Feuermelder, denkt er, und dann: Nein, das ist eine Symphonie von Feuermeldern. Im selben Augenblick wird Wendell Greens Hand aus seiner gerissen. Er hört einen matten, krächzenden Schrei, mit dem sein Mitspringer weggeschleudert wird, und nimmt dann einen vertrauten Duft wahr ...

Jelängerjelieber ...

Nein, das ist ihr Haar ...

... und Jack keucht unter einer Last auf Brust und Zwerchfell, unter dem Gefühl, völlig außer Atem zu sein. Er spürt Hände an seinem Körper, die eine auf der Schulter, die andere unter dem Kreuz. Haare kitzeln ihn im Gesicht. Das Schrillen der Feuermelder. Die Stimmen von Leuten, die verwirrt durcheinander schreien. Rennende, klackende Schritte, die von Wänden widerhallen.

»Jack Jack Jack fehlt dir auch nichts«

»Kaum verabredet man sich mal mit einer Königin, und schon wird man ausgezählt«, murmelt er. Warum ist es so dunkel? Ist er geblendet worden? Kann er jetzt den intellektuell anspruchsvollen und finanziell lohnenden Job eines Schiedsrichters im Miller Park übernehmen?

»Jack!« Eine Hand schlägt ihm ins Gesicht. Fest.

Nein, nicht blind. Er hat die Augen geschlossen. Als er sie aufreißt, ist Judy über ihn gebeugt, ihr Gesicht nur eine Handbreit von seinem entfernt. Ohne nachzudenken, vergräbt er seine die Hand in ihrem Nackenhaar, zieht ihr Gesicht zu sich herab und küsst sie. Judy atmet in seinen Mund aus - ein überraschtes umgekehrtes Luftholen, das seine Lunge mit ihrer Elektrizität füllt -, dann erwidert sie seinen Kuss. Mit solcher Intensität ist er noch niemals geküsst worden. Er greift nach der Brust unter ihrem Nachthemd und fühlt dort das hektische Jagen ihres Herzens - würde sie noch schneller rennen, würde sie stolpern und hinschlagen, denkt Jack - unter der straffen Wölbung. Im selben Augenblick lässt sie ihrerseits die Hand in sein Hemd gleiten, das irgendwie nicht mehr zugeknöpft ist, und kneift ihn in die Brustwarze. Das fühlt sich heftig und heiß an, wie der Schlag ins Gesicht. Während sie das tut, stößt sie die Zunge in ihn, rasch hinein und wieder heraus wie ein Kolibri in eine Blume. Er packt sie fester im Nacken, und Gott weiß, was als Nächstes passiert wäre, aber in diesem Augenblick fällt auf dem Korridor etwas Gläsernes mit gewaltigern Klirren und Scheppern um, und irgendjemand kreischt. Vor Panik ist die Stimme fistelig und fast geschlechtslos, aber Jack glaubt zu erkennen, dass sie Ethan Evans, dem mürrischen jungen Wärter auf Station D, gehört. »Komm zurück! Bleib stehen, verflixt noch mal!« Natürlich ist das Ethan; nur ein Absolvent der Sonntagsschule der Mount Hebron Lutheran würde selbst in extremis das Wort verflixt gebrauchen.

Jack weicht von Judy zurück. Judy weicht von ihm zurück. Sie liegen auf dem Fußboden. Judys Nachthemd ist bis zur Taille hochgerutscht und lässt einen einfachen weißen Nylonslip sehen. Jacks Hemd ist offen, die Hose ebenfalls. Er hat die Schuhe an, aber dem Gefühl nach scheinen sie an vertauschten Füßen zu sitzen. Neben ihnen ist der Couchtisch samt Glasplatte umgekippt, die Zeitschriften, die auf ihm gestapelt waren, liegen auf dem Boden verstreut. Manche scheinen buchstäblich aus ihren Sammelbänden gefetzt worden zu sein.

Weitere Schreie auf dem Korridor, dazu meckerndes Lachen und irres Geheul. Ethan Evans brüllt die vorbeiziehenden Geisteskranken weiter an, und jetzt kreischt auch eine Frau dazwischen - vielleicht Oberschwester Rack. Die Feuermelder schrillen unermüdlich weiter.

Plötzlich springt eine Tür auf, und Wendell Green kommt in den Raum galoppiert. Hinter ihm befindet sich ein Einbaukleiderschrank mit einem wüsten Gewirr aus Kleidungsstücken: Dr. Spieglemans Reservegarderobe in wildem Durcheinander. In einer Hand hält Wendell ein Panasonic-Diktiergerät, in der anderen mehrere glänzende zylinderförmige Gegenstände. Jack würde jede Wette eingehen, dass das Batterien sind.

Jacks Kleidungsstücke sind aufgeknöpft (oder vielleicht durch einen Windstoß aufgeblasen worden), aber Wendell ist es viel schlimmer ergangen. Sein Hemd ist zerfetzt. Sein Wanst quillt über weiße Boxershorts, die vorn große Pisseflecken aufweisen. Seine braune Gabardinehose schleppt er an einem Fuß hinter sich her. Sie gleitet wie eine abgestreifte Schlangenhaut über den Teppich. Und obwohl er die Socken anhat, scheint der linke nach außen gekehrt zu sein.

»Was haben Sie gemacht?«, plärrt Wendell. »Oh, Sie Hollywood-Hundesohn, was haben Sie in ...«

Er verstummt. Der Mund bleibt ihm offen stehen. Die Augen werden groß wie Untertassen. Jack bemerkt, dass die Haare des Reporters wie die Stacheln eines Stachelschweins abzustehen scheinen.

Wendell bemerkt seinerseits, dass Jack Sawyer und Ju-dy Marshall sich auf dem mit Papier und Glasscherben übersäten Fußboden mit in Unordnung geratener Kleidung umarmt halten. Er hat sie nicht ganz in flagranti ertappt, aber wenn er jemals zwei Menschen kurz davor gesehen hat, dann sind’s diese beiden. Ihm wirbelt der Kopf, sein Verstand ist mit unmöglichen Erinnerungen angefüllt, sein seelisches Gleichgewicht ist dahin, sein Magen tuckert wie eine mit Wäsche und Waschmittel überladene Waschmaschine; er braucht dringend etwas, an das er sich klammern kann. Er braucht Nachrichten. Oder, noch besser, einen Skandal. Und hier auf dem Fußboden vor ihm liegt beides.

»Vergewaltigung!«, brüllt Wendell, so laut er kann. Ein verrücktes, erleichtertes Grinsen zieht ihm die Mundwinkel nach oben. »Sawyer hat mich zusammengeschlagen, und jetzt vergewaltigt er eine psychisch Kranke!« Eigentlich sieht das Ganze für Wendell nicht sehr nach einer Vergewaltigung aus, aber wer hätte jemals mit Stentorstimme Einvernehmlicher Sex! gerufen und damit die geringste Aufmerksamkeit erregt?

»Sorg dafür, dass dieser Idiot die Klappe hält«, sagt Judy. Sie zieht den Saum ihres Nachthemds mit einem Ruck herunter und richtet sich auf.

»Vorsicht«, sagt Jack. »Überall liegen Glassplitter.«

»Das sehe ich auch«, faucht sie. Dann wendet sie sich mit der vollkommenen Furchtlosigkeit, die Fred so gut kennt, an den Reporter. »Mund halten! Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber hören Sie mit diesem Gebrüll auf. Hier wird niemand .«

Wendell weicht vor Hollywood-Sawyer zurück und schleppt dabei die Hose weiter mit sich herum. Warum kommt niemand?, denkt er. Warum kommt niemand, bevor er mich erschießt oder sonst was vorhat? In seiner an Hysterie grenzenden panischen Angst hat Wendell das Schrillen der Feuermelder und das Geschrei auf den Gängen nicht wahrgenommen oder hält den Lärm für bloße Einbildung - für eine weitere kleine Fehlinformation, die zu seinen absurden »Erinnerungen« passt, in denen ein schwarzer Revolvermann, eine schöne Frau in einem schlichten weißen Baumwollkleid und ein Wendell Green vorkommen, der im Staub hockt und wie ein Höhlenmensch einen halb garen Vogel verschlingt.

»Rühren Sie mich nicht an, Sawyer«, sagt er, indem er mit abwehrend ausgestreckten Händen vor ihm zurückweicht. »Ich habe einen extrem hungrigen Anwalt. Hebe dich hinfort, du Arschloch, wenn Sie mich auch nur anfassen, nehmen er und ich Ihnen alles ab, was Sie ... Au! Au!«

Wendell ist in eine Glasscherbe getreten, das sieht Jack

- vermutlich in Scherben von einem der gerahmten Drucke, die zuvor die Wände geschmückt haben, aber jetzt den Fußboden zieren. Wendell macht einen weiteren schwankenden Schritt rückwärts, stolpert diesmal über die nachgeschleppte Hose und landet plumpsend in dem Lehnsessel, den Dr. Spiegleman vermutlich benutzt, wenn er seine Patienten über deren unglückliche Kindheit ausfragt.

La Rivieres bekanntester Sensationsreporter starrt den herankommenden Neandertaler mit vor Schreck geweiteten Augen an und wirft dann mit dem Diktiergerät nach ihm. Jack sieht, dass es völlig verkratzt ist. Er schlägt es beiseite.

»Vergewaltigung!«, krächzt Wendell. »Er vergewaltigt eine der Irren! Er ver...«

Jack verpasst ihm einen Kinnhaken, mildert seinen Schlag aber im letzten Augenblick noch etwas ab und bringt ihn mit fast wissenschaftlicher Akribie an. Wendell sackt in Dr. Spieglemans Lehnsessel zurück, verdreht die Augen nach oben und zuckt mit den Füßen wie zu irgendeinem krassen Beat, den nur die halb Bewusstlosen wirklich würdigen können.

»Das hätte der Verrückte Ungar nicht besser gekonnt«, murmelt Jack. Er findet, dass Wendell sich in nicht allzu ferner Zukunft eine neurologische Grundüberholung gönnen sollte. Sein Kopf hat in den letzten paar Tagen einiges mitgemacht.

Die Tür zum Korridor wird aufgestoßen. Jack tritt vor den Lehnsessel, um Wendell zu verbergen, und stopft sich das Hemd in die Hose (irgendwann hat er schon den Reißverschluss hochgezogen, Gott sei Dank). Eine Lernschwester steckt ihren flauschigen Kopf in Dr. Spieglemans Büro. Obwohl sie vermutlich über achtzehn ist, sieht sie in ihrer Panik wie eine Zwölfjährige aus.

»Wer schreit hier?«, fragt sie. »Wer ist verletzt?«

Jack weiß nicht, was er antworten soll, aber Judy meistert die Krise wie ein Profi. »Das war ein Patient«, sagt sie. »Mr. Lackley, glaube ich. Er ist reingekommen, hat gebrüllt, dass wir alle vergewaltigt werden, und ist wieder rausgerannt.«

»Sie müssen das Gebäude sofort verlassen«, sagt die Lernschwester. »Hören Sie nicht auf diesen Idioten Ethan. Und fahren Sie nicht mit dem Aufzug. Wir tippen auf ein Erdbeben.«

»Wird gemacht«, sagt Jack knapp, und obwohl er sich nicht bewegt, genügt das der Lernschwester offenbar -sie verschwindet wieder. Judy tritt rasch an die Tür. Sie lässt sich schließen, aber nicht mehr absperren. Der Türrahmen ist kaum merklich verzogen.

An der Wand hatte zuvor eine Uhr gehangen. Jack sieht hinüber, aber sie liegt nun mit dem Zifferblatt nach unten auf dem Fußboden. Er tritt auf Judy zu und legt ihr die Hände auf die Arme. »Wie lange war ich drüben?«

»Nicht lange«, sagt sie, »aber dein Abgang war sensationell! Krach! Peng! Hast du etwas herausbekommen?« Ihr Blick ist flehend.

»Genug, um zu wissen, dass ich sofort nach French Landing zurückmuss«, sagt er. Genug, um zu wissen, dass ich dich liebe, dass ich dich immer lieben werde, in dieser oder jeder anderen Welt.

»Tyler ... lebt er noch?« Sie wechselt ihre Haltung, sodass sie jetzt seine Arme umfasst. Genau das hat Sophie drüben in Anderland auch getan, erinnert Jack sich. »Ist mein Sohn am Leben?«

»Ja. Und ich werde ihn dir zurückbringen.«

Sein Blick fällt auf Spieglemans Schreibtisch, der durch den Raum geruckelt ist, wobei alle Schubladen aufgegangen sind. In einer der Schubladen entdeckt er etwas Interessantes und hastet über den Teppich. Unter sich hört er es knirschen und befördert einen Bilderrahmen mit einem Tritt zur Seite.

In der obersten linken Schublade liegen ein Kassettenrecorder, der beträchtlich größer als Wendell Greens bewährter Panasonic ist, und ein Stück braunes Packpapier. Jack greift als Erstes nach dem Papier. In der unbeholfenen Schrift, die er schon im Ed’s Eats und vor seiner eigenen Haustür gesehen hat, ist etwas darauf gekritzelt:

Empfängerin: JUDY MARSHALL auch SOPHIE genannt

In der rechten oberen Ecke des ausgerissenen Packpapiers scheinen Briefmarken zu kleben. Jack braucht sie nicht eingehend zu betrachten, um zu wissen, dass sie in Wirklichkeit aus Zuckerpackungen ausgeschnitten und von einem gefährlichen Tattergreis namens Charles Burnside aufgeklebt worden sind. Aber die Identität des Fisherman spielt jetzt keine große Rolle mehr, das hat auch schon Speedy bekundet. Auch sein Aufenthaltsort ist zweitrangig, weil Chummy Burnside, wie Jack vermutet, ihn praktisch nach Belieben wechseln kann, indem er von einem zum nächsten hinüberflippt.

Aber er kann den richtigen Eingang nicht mitnehmen. Den Zugang zum Feuerland, zu Mr. Munshun, zu Ty. Sollten Beezer und seine Kumpel ihn entdeckt haben .

Jack lässt das Stück Packpapier in die Schublade zurückfallen, drückt die Auswerftaste des Recorders und nimmt die Kassette aus dem Gerät. Er steckt sie ein und geht zur Tür.

»Jack.«

Er sieht sich nach Judy um. Hinter ihnen schrillen Feuermelder, Verrückte kreischen und lachen, Pflegepersonal rennt hektisch hin und her. Ihre Blicke begegnen sich. In dem klaren, strahlenden Blau von Judys Blick kann Jack fast jene andere Welt mit ihren süßen Düften und fremdartigen Konstellationen berühren.

»Ist es dort drüben wundervoll? So wundervoll wie in meinen Träumen?«

»Es ist wundervoll«, sagt Jack. »Und du bist’s auch. Halt die Ohren steif, okay?«

Etwa in der Mitte des Korridors stößt Jack auf eine hässliche Szene: Ethan Evans, der junge Mann, der einst Wanda Kinderling als Sonntagsschullehrerin hatte, hält eine verwirrte alte Frau an ihren molligen Oberarmen gepackt und schüttelt sie heftig. Das krause Haar der alten Frau fliegt in alle Richtungen.

»Maul halten!«, brüllt der junge Mr. Evans sie an. »Maul halten, du blöde alte Kuh! Du gehst nirgends hin als auf deine vermaledeite Station zurück!«

Irgendetwas an seinem hämischen Grinsen macht deutlich, dass der junge Mr. Evans sogar jetzt, wo die Welt aus den Fugen geraten ist, seine Befehlsgewalt und seine Christenpflicht zu brutaler Behandlung genießt. Allein das würde genügen, um Jack aufzubringen. Was ihn aber wirklich wütend macht, ist der verständnislos entsetzte Gesichtsausdruck der alten Frau. Er lässt Jack an Jungen denken, mit denen er vor langer Zeit an einem Ort namens Sunlight-Heim zusammengelebt hat.

Er lässt ihn an Wolf denken.

Ohne stehen zu bleiben oder auch nur langsamer zu gehen (der hiesige Trubel ist in seine Endphase eingetreten, das ahnt er irgendwie), trifft Jack mit einer rechten Geraden die Schläfe des jungen Mr. Evans. Der ehrenwerte Jüngling lässt daraufhin sein molliges, quietschendes Opfer los, knallt an die Wand und rutscht daran mit großen, glasig gewordenen Augen hinunter.

»Sie haben in der Sonntagsschule nicht zugehört, oder Kinderlings Frau hat Ihnen das Falsche beigebracht«, sagt Jack.

»Sie . haben . mich . geschlagen . «, japst der junge Mr. Evans. Er beendet sein langsames Abtauchen mit gespreizten Beinen und sitzt nun zwischen Archiv und Augenambulanz auf dem Boden.

»Misshandeln Sie noch einmal einen Patienten - diese Patientin hier, die andere, mit der ich gerade gesprochen habe, irgendeinen Patienten -, bin ich noch zu sehr viel mehr bereit«, verspricht Jack dem jungen Mr. Evans. Dann läuft er die Treppe hinunter, nimmt jeweils zwei Stufen auf einmal und achtet dabei nicht auf die Hand voll Patienten in kurzen, hinten offenen Krankenhausgewändern, die ihn mit ratloser, halb ängstlicher Verwirrung anstarren. Sie betrachten ihn wie eine Vision, die von einer flammenden Aura umgeben an ihnen vorbeischwebt, irgendeine Wundergestalt, ebenso leuchtend wie geheimnisvoll.

Zehn Minuten später (lange nachdem Judy Marshall ruhig und gefasst in ihr Zimmer zurückgekehrt ist, ohne dabei die Hilfe des Pflegepersonals in Anspruch zu nehmen) verstummen die Feuermelder. Eine Lautsprecherstimme - die vielleicht nicht mal Dr. Spieglemans Mutter als die ihres Jungen erkannt hätte - plärrt aus den Deckenlautsprechern. Bei diesem unerwarteten Gebrüll fangen die Patienten, die sich schon ziemlich beruhigt hatten, wieder zu kreischen und zu heulen an. Die alte Frau, deren Misshandlung Jack Sawyer so in Wut versetzt hat, kauert mit schützend über den Kopf gehaltenen Händen unter der Empfangstheke der Augenambulanz und murmelt etwas von Russen und Zivilschutz.

»Der Notfall ist beendet!«, versichert Spiegleman seinem Personal und seinen Patienten. »Es gibt keinen Brand! Bitte sammeln Sie sich sofort in den Gemeinschaftsräumen auf jedem Stockwerk! Hier spricht Doktor Spiegleman, und ich wiederhole, dass der Notfall beendet ist!«

An diesem Punkt taucht Wendell Green auf, der sich leicht torkelnd langsam in Richtung Treppe bewegt und dabei mit einer Hand vorsichtig das Kinn reibt. Er sieht den jungen Mr. Evans und streckt ihm eine helfende Hand hin. Einen Augenblick lang sieht es so aus, als könnte Wendell nach vorn umgerissen werden, aber dann stemmt der junge Mr. Evans seinen Hintern gegen die Wand und schafft es schließlich, wieder auf die Beine zu kommen.

»Der Notfall ist beendet! Ich wiederhole, der Notfall ist beendet! Schwestern, Pfleger und Ärzte, bitte begleiten Sie alle Patienten in die Gemeinschaftsräume auf den jeweiligen Stockwerken!«

Der junge Mr. Evans betrachtet die dunkelrote Schwellung, die sich an Wendells Kinn bildet.

Wendell betrachtet die dunkelrote Schwellung, die sich an der Schläfe des jungen Mr. Evans bildet.

»Sawyer?«, fragt der junge Mr. Evans.

»Sawyer«, bestätigt Wendell.

»Der Dreckskerl hat wie aus dem Nichts zugeschlagen«, sagt der junge Mr. Evans.

»Mich hat der Hundesohn von hinten angefallen«, sagt Wendell. »Ich hab ihn mit der Marshall überrascht. Er hatte sie schon auf dem Teppich.« Der Reporter senkt die Stimme. »Er wollte sie vergewaltigen.«

Die Körpersprache des jungen Mr. Evans zeigt, dass er betroffen, aber nicht sonderlich überrascht ist.

»Man müsste irgendwas tun«, sagt Wendell.

»Genau!«

»Das sollten die Leute alles erfahren.« Langsam kehrt das alte Feuer in Wendells Blick zurück. Die Leute werden es erfahren! Von ihm! Schließlich ist das weiß Gott sein Beruf! Es ist meine Aufgabe, die Öffentlichkeit zu unterrichten!

»Yeah«, sagt der junge Mr. Evans. Ihm liegt nicht so viel daran wie Wendell - ihm fehlt das leidenschaftliche Engagement des Reporters -, aber es gibt einen Menschen, dem er es auf alle Fälle erzählen wird. Eine arme Frau, die es verdient hat, in ihrer Einsamkeit getröstet zu werden, eine Frau, die man wie Jesus allein auf ihrem Ölberg zurückgelassen hat. Eine Frau, die das Wissen um Jack Sawyers Untaten wie ein wahres Lebenselixier in sich aufnehmen wird.

»Ein solches Benehmen lässt sich nicht einfach unter den Teppich kehren«, sagt Wendell.

»Kommt nicht in Frage«, antwortet der junge Mr. Evans. »Nee, nee, José.«

Jack hat das Krankenhausgelände kaum hinter sich gelassen, da piepst sein Handy. Er überlegt, ob er rechts ranfahren soll, um den Anruf entgegenzunehmen, hört dann aber die Sirenen heranrasender Feuerwehrwagen und beschließt deshalb, es ausnahmsweise einmal zu riskieren, während der Fahrt zu telefonieren. Er will von hier verschwinden, bevor die hiesige Feuerwehr aufkreuzt und ihn am Weiterfahren hindert.

Er klappt das kleine Nokia auf. »Sawyer.«

»Wo zum Teufel stecken Sie?«, blafft Beezer St. Pierre ihn an. »Mann, ich hab die Wahlwiederholung so oft gedrückt, dass sie schon ganz abgewetzt ist!«

»Ich war . « Aber Jack kann diesen Satz unmöglich zu Ende bringen - zumindest nicht, solange er halbwegs bei der Wahrheit bleiben will. Oder vielleicht doch? »Ich muss in eine dieser toten Zonen geraten sein, in denen Handys immer Empfangsschwierigkeiten haben .«

»Sparen Sie sich die Physikstunde, Kumpel. Sehen Sie zu, dass Sie schnellstens herkommen. Die genaue Adresse lautet: One Nailhouse Row. Das babyscheißebraune einstöckige Haus an der Ecke zur Chase Street.«

»Kein Problem«, sagt Jack und tritt das Gaspedal etwas weiter durch. »Bin schon unterwegs.«

»Wann sind Sie hier, Mann?«

»Ich bin noch in Arden, aber in ungefähr einer halben Stunde kann ich bei Ihnen sein.«

»Scheiße!« Jack dringt ein alarmierendes Scheppern ins Ohr. Irgendwo in der Nailhouse Row muss Beezers Faust gegen irgendetwas gekracht sein. Vermutlich an die nächste Wand. »Geht’s nicht ein bisschen schneller, Mann? Mouse ist seinem Ende nahe, er macht’s nicht mehr lange. Wir tun zwar unser Bestes - jedenfalls die von uns, die noch da sind -, aber mit ihm geht’s zu Ende.« Beezer atmet keuchend, und Jack ist klar, dass er sich bemüht, nicht loszuheulen. Sich Armand St. Pierre in diesem Ausnahmezustand vorzustellen hat etwas Beunruhigendes. Jack blickt auf den Tacho, stellt fest, dass er an die hundertzwanzig fährt, und geht deshalb wieder etwas vom Gas. Niemandem wäre damit geholfen, sollte er wegen Raserei auf der Straße zwischen Arden und Centralia tödlich verunglücken.

»Was meinen Sie mit >die von uns, die noch da sind

»Das tut jetzt nichts zur Sache. Sehen Sie zu, dass Sie Ihren Arsch herkriegen, wenn Sie noch mit Mouse reden wollen. Er will jedenfalls unbedingt mit Ihnen reden, er sagt nämlich dauernd Ihren Namen.« Beezer senkt die Stimme. »Das heißt, wenn er gerade mal nicht bloß irres Zeug schwatzt. Doc tut sein Bestes - ich und Bear Girl übrigens auch -, aber wir schaufeln hier Scheiße gegen die Flut.«

»Sagen Sie ihm, er soll durchhalten«, sagt Jack.

»Scheiß drauf, Mann - sagen Sie’s ihm selbst.«

Jack hört ein Klappern und leises Stimmengemurmel. Dann dringt eine Stimme, die kaum noch menschlich klingt, aus dem Handy. »Müssen sich beeilen ... müssen schleunigst herkommen, Mann. Ding ... hat mich gebissen. Ich spür’s in mir. Wie Säure.«

»Durchhalten, Mouse«, sagt Jack. Seine Finger, die das Handy umklammern, sind so weiß wie abgestorben. Ihn wundert, dass das Gehäuse unter seinem Griff nicht zerbricht. »Ich komme, so schnell ich kann.«

»Will’s hoffen. Anderen ... haben’s schon vergessen. Ich nicht.« Mouse lacht leise vor sich hin. Unvorstellbar gruselige Laute, die geradewegs aus einem offenen Grab zu kommen scheinen. »Ich hab ... das Gedächtnisserum, okay? Es frisst mich auf ... frisst mich lebend auf ... aber ich hab’s.«

Wieder ein Rascheln, während das Handy weitergegeben wird, dann meldet sich eine neue Stimme. Eine Frauenstimme. Jack vermutet, dass sie Bear Girl gehört.

»Sie haben sie darauf angesetzt«, sagt sie. »Durch Ihre Schuld ist’s soweit gekommen. Sorgen Sie dafür, dass es nicht umsonst war.«

Dann hört Jack nur noch ein Klicken. Er wirft das Handy auf den Beifahrersitz und denkt, dass hundertzwanzig vielleicht doch nicht zu schnell ist.

Einige Minuten später (Minuten, die ihm sehr lang vorkommen) kneift Jack die Augen in dem grellen Sonnenlicht, das sich auf dem Tamarack Creek spiegelt, zusammen. Von hier aus kann er beinahe sein Haus sehen -auch Henrys Haus.

Henry.

Jack klopft mit dem Daumen leicht an seine Hemdtasche und hört das Klappern der Kassette, die er aus dem Recorder in Spieglemans Schreibtisch mitgenommen hat. Eigentlich ist es kaum noch nötig, sie jetzt Henry zu übergeben; berücksichtigt man, was Potter ihm gestern Abend erzählt hat und was Mouse ihm heute erzählen wird, falls dieser lange genug durchhält, sind diese Kassette und die von der Notrufaufzeichnung mehr oder weniger überflüssig geworden. Außerdem hat er es eilig, in die Nailhouse Row zu kommen. Ein Zug steht zur Abfahrt bereit, und Mouse Baumann wird höchstwahrscheinlich an Bord sein, wenn dieser Zug abfährt.

Und trotzdem .

»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagt Jack leise zu sich selbst. »Sogar ein Blinder könnte sehen, dass ich mir Sorgen um Henry mache.«

Die helle Sommersonne, die jetzt auf der Nachmittagsseite des Himmels dem Horizont entgegensinkt, spiegelt sich im Wasser und lässt schimmernde Reflexionen über sein Gesicht tanzen. Die Augen scheinen ihm jedes Mal zu brennen, wenn das grelle Licht sie trifft.

Im Übrigen ist Henry nicht der Einzige, um den Jack sich Sorgen macht. Er hat schlimme Vorahnungen in Bezug auf alle seine neuen Freunde und Bekannten in French Landing - von Dale Gilbertson und Fred Marshall angefangen bis hin zu solchen Randfiguren wie Steamy McKay, einen ältlichen Kerl, der sich sein Geld als Schuhputzer vor der Stadtbibliothek verdient, und Ardis Walker, der das baufällige Geschäft für Anglerbedarf unten am Fluss führt. In seiner Vorstellung scheinen jetzt alle diese Menschen aus Glas gemacht zu sein. Würde der Fisherman beschließen, ein dreigestrichenes C zu singen, würden sie in Schwingungen geraten, um dann zu Staub zu zerfallen. Nur macht Jack sich jetzt eigentlich nicht mehr Sorgen wegen des Fisherman.

Dies ist ein Fall, ermahnt er sich. Trotz allen aus den Territorien hineinspielenden unheimlichen Effekten bleibt es ein Fall, und es ist beileibe nicht der erste Fall, den du je bearbeitet hast, in dem dir plötzlich alles zu groß vorgekommen ist. In dem dir alle Schatten zu lang erschienen sind.

Alles richtig, aber sonst verblasst dieser Eindruck von einer wie in einem Spiegelkabinett verzerrten Perspektive immer, sobald er beginnt, den Fall in den Griff zu bekommen. Diesmal ist jedoch alles schlimmer, weit schlimmer. Jack weiß auch, warum. Der lange Schatten des Fisherman ist ein Mr. Munshun genanntes Wesen, ein unsterblicher Talentsucher aus irgendeiner anderen Existenzebene. Und selbst damit ist die Sache noch nicht zu Ende, denn auch Mr. Munshun wirft einen Schatten. Einen roten Schatten.

»Abbalah«, murmelt Jack. »Abbalahdoon, Mr. Muns-hun und die Rabenkrähe Gorg - nur drei alte Kumpel, die gemeinsam durch Plutos nächtige Sphäre gehen.« Aus irgendeinem Grund muss er dabei an das Walross und den Zimmermann aus Lewis Carrolls Alice im Spiegelland denken. Was haben diese beiden zu ihrem Mondscheinspaziergang mitgenommen? Venusmuscheln? Miesmuscheln? Jack kann sich verdammt noch mal nicht daran erinnern, obwohl eine Zeile daraus auftaucht und ihm, von der Stimme seiner Mutter gesprochen, durch den Kopf hallt: »Die Zeit ist gekommen«, sagte das Walross, »über viele Dinge zu sprechen.«

Der Abbalah hält sich vermutlich an seinem Hof auf (das heißt, der Teil seines Wesens, der nicht laut Speedy im Dunklen Turm gefangen ist), aber der Fisherman und Mr. Munshun könnten überall sein. Wissen sie, dass Jack Sawyer sich in ihre Belange eingemischt hat? Natürlich wissen sie das. Spätestens seit heute. Könnten sie versuchen, ihn zu behindern, indem sie einem seiner Freunde etwas antun? Zum Beispiel einem bestimmten blinden Sportreporter-Bürgerschreck-Bebopper?

Ja, natürlich. Und jetzt, vielleicht weil er dafür sensibilisiert ist, spürt er wieder jenes hässliche Pulsieren aus dem Südwesten der Landschaft, das er wahrgenommen hat, als er zum ersten Mal im Erwachsenenalter hi-nübergeflippt ist. Als die Straße nach Südosten wegkurvt, verschwindet es fast. Als der Kühler des Pickups dann wieder nach Südwesten zeigt, gewinnt das unheilvolle Pochen jedoch erneut an Stärke und hämmert in seinem Kopf wie eine beginnende Migräne.

Was du spürst, ist Black House, nur ist es kein Haus, jedenfalls kein richtiges. Es ist ein Wurmloch im Apfel der Existenz, das ganz bis ins Feuerland hinunterführt. Es ist eine Tür. Vielleicht war sie bis heute, bevor Beezer und seine Kumpel dort aufgekreuzt sind, nur einen Spaltbreit geöffnet, aber jetzt steht sie weit offen und lässt einen verdammt scharfen Luftzug herein. Ty muss zurückgeholt werden, ja ... aber auch diese Tür muss geschlossen werden. Bevor Gott weiß was für Ungeheuer geifernd aus ihr hervorquellen.

Jack lenkt den Pickup abrupt auf die Tamarack Road. Die Reifen quietschen. Sein Sicherheitsgurt rastet ein, und Jack fürchtet einen Augenblick lang, der Wagen könnte umkippen. Aber das Fahrzeug bleibt auf den Rädern, und Jack rast in Richtung Norway Valley Road weiter. Mouse wird einfach noch etwas länger durchhalten müssen; er denkt nicht daran, Henry hier draußen ganz allein zu lassen. Sein Freund weiß noch nichts davon, aber er wird jetzt einen kleinen Ausflug in die Nailhouse Row machen. Bis die ganze Situation sich stabilisiert, erscheint es Jack angebracht, Zweiergruppen zu bilden.

Was alles gut und recht gewesen wäre, wenn Henry zu Hause wäre, was er aber nicht ist. Auf Jacks wiederholtes hektisches Klingeln erscheint Elvena Morton mit einem Mopp in der Hand an der Haustür.

»Er ist drüben bei KDCU und nimmt Werbespots auf«, sagt Elvena. »Hab ihn selbst dort abgesetzt. Ich weiß nicht, warum er sie nicht einfach hier in seinem Studio macht, aber er hat irgendwas von Geräuscheffekten gesagt, glaub ich. Mich wundert nur, dass er Ihnen das nicht erzählt hat.«

Das Beschissene daran ist, dass Henry das sehr wohl getan hat. Cousin Buddy’s Rib Crib. Der alte Klotz am Bein. Das schöne Stadtzentrum von La Riviere. Alles das. Er hat Jack sogar erzählt, dass Elvena Morton ihn hinfahren wird. Seit dem Telefongespräch mit Henry hat Jack einiges erlebt - er ist einen alten Freund aus seiner Kindheit wieder begegnet, er hat sich in Judy Marshalls Twinner verliebt und nebenbei noch Aufschluss über das grundlegende Geheimnis aller Existenz erhalten -, aber nichts davon hindert ihn daran, die linke Hand zur Faust zu ballen und sich damit mitten zwischen die Augen an die Stirn zu schlagen. Angesichts der Tatsache, wie rasend schnell die Dinge jetzt ablaufen, erscheint ihm sein unnützer Umweg als fast unverzeihlicher Fehler.

Mrs. Morton mustert ihn mit vor Besorgnis weit aufgerissenen Augen.

»Holen Sie ihn später wieder ab, Mrs. Morton?«

»Nein, er geht mit jemandem vom Sportsender ESPN auf einen Drink aus. Henry hat gesagt, dass der Mann ihn anschließend nach Hause fährt.« Sie senkt die Stimme zu dem vertraulichen Flüstern, in dem sich Geheimnisse irgendwie am besten weitererzählen lassen. »Henry hat nicht ausdrücklich davon gesprochen, aber ich glaube, dass George Rathbun große Dinge ins Haus stehen. Sehr große Dinge.«

Soll seine Sendung Badger Barrage in ganz Amerika ausgestrahlt werden? Das würde Jack nicht sonderlich überraschen, aber er hat keine Zeit, sich jetzt für Henry zu freuen. Er übergibt Mrs. Morton die Kassette - hauptsächlich um nicht das Gefühl haben zu müssen, dieser Abstecher sei ganz vergebens gewesen. »Legen Sie sie ihm so hin, dass er .«

Er spricht nicht weiter. Mrs. Morton betrachtet ihn mit wissendem, belustigtem Lächeln. Dass er sie sehen muss, hätte Jack beinahe gesagt. Ein weiterer geistiger Aussetzer des großen Detektivs.

»Ich lege sie aufs Mischpult in seinem Studio«, sagt sie. »Dort findet er sie todsicher. Jack, das geht mich zwar nichts an, aber Sie sehen in letzter Zeit nicht sonderlich gesund aus. Sie sind leichenblass und haben seit letzter Woche garantiert zehn Pfund abgenommen. Außerdem .« Sie wirkt etwas verlegen. »Außerdem haben Sie Ihre Schuhe verkehrt herum an.«

Tatsächlich. Er nimmt den notwendigen Wechsel vor und steht dabei erst auf dem einen, dann auf dem anderen Fuß. »Die letzten achtundvierzig Stunden waren ziemlich anstrengend für mich, aber ich werde durchhalten, Mrs. M.«

»Wegen der Sache mit dem Fisherman, nicht wahr?«

Er nickt. »Ich muss jetzt weiter. Der Teufel ist los, wie man so sagt.« Er wendet sich ab, überlegt sich die Sache aber noch einmal anders und dreht sich wieder um. »Sprechen Sie ihm bitte eine Nachricht auf den Recorder in der Küche, ja? Er möchte mich wegen meines Anrufs zurückrufen. Sobald er zurück ist.« Und da ein Gedanke zum nächsten führt, zeigt er auf die unbeschriftete Kassette, die sie in der Hand hält. »Spielen Sie die nicht ab, okay?«

Mrs. Morton zeigt sich sichtlich entsetzt. »Das würde ich nie tun! Das wäre ja so, als ob man anderer Leute Post öffnen würde!«

Jack nickt und bedenkt sie mit einem schwachen Lächeln. »Gut.«

»Ist ... ist er auf dem Tonband? Der Fisherman?«

»Ja«, sagt Jack. »Seine Stimme ist darauf.« Und Schlimmeres erwartet uns, denkt er, ohne es auszusprechen. Noch weit schlimmere Dinge.

Er rennt annähernd, als er zu seinem Pickup zurückhastet.

Zwanzig Minuten später stellt Jack seinen Wagen vor dem babyscheißebraunen einstöckigen Haus in der Nail-house Row Nr. 1 ab. Die Nailhouse Row und das Gewirr schmutziger kleiner Straßen um sie herum erscheinen ihm unter der Sonne dieses heißen Sommernachmittags unnatürlich still. Ein Mischlingshund (tatsächlich sogar der alte Köter, den wir erst gestern Abend im Eingang des Hotels Nelson gesehen haben) hinkt über die Kreuzung Ames Street/Country Road, aber das ist ungefähr schon der gesamte Verkehr. Jack hat eine unbehagliche Vision, wie das Walross und der Zimmermann von den hypnotisierten Anwohnern der Nailhouse Row gefolgt das Ostufer des Mississippis entlangwackeln. Aufs Feuer zuwackeln. Und zum Kochtopf.

Er atmet mehrmals tief durch und versucht wieder zur Ruhe zu kommen. Nicht weit außerhalb der Stadt - genauer gesagt, in der Nähe der Zufahrt zum Ed’s Eats -war das hässliche Summen in seinem Kopf noch mehr angeschwollen und hatte sich in etwas verwandelt, was ihm als dunkler Schrei erschienen war. Einige Augenblicke lang war es so stark gewesen, dass Jack schon gefürchtet hatte, er könnte von der Straße abkommen, weshalb er mit der Fahrtgeschwindigkeit heruntergegangen war. Dann war das Summen Gott sei Dank allmählich zu seinem Hinterkopf gewandert und abgeklungen. Er nahm das ZuTRiTT-VERBOTEN-Schild, das die überwachsene Zufahrt zu Black House bezeichnet, nicht wahr, hielt nicht einmal danach Ausschau, wusste jedoch, dass es da war. Die Frage ist, ob er sich ihm wird nähern können, wenn der Augenblick dafür gekommen ist, ohne einfach zu explodieren.

»Schluss jetzt«, ermahnt er sich. »Keine Zeit für diesen Scheiß.«

Er steigt aus und folgt dann dem rissigen betonierten Fußweg zum Haus. Auf dem Weg sind die mit Kreide gezeichneten verblassten Kästchen des Spiels »Himmel und Hölle« zu erkennen, und Jack macht unwillkürlich einen Bogen um sie, weil er weiß, dass sie zu den wenigen verbliebenen Artefakten gehören, die davon zeugen, dass ein kleines Mädchen namens Amy St. Pierre einst kurz auf dieser Erde gewandelt ist. Die zur Haustür hinaufführenden Holzstufen sind trocken und splitterig. Er ist schrecklich durstig und denkt: Mann, ich würde einen Mord für ein Glas Wasser oder ein schönes kühles ...

Die Haustür fliegt auf und knallt mit einem Schlag, der die sonnige Stille wie ein Pistolenschuss durchfetzt, an die Hauswand. Beezer kommt ins Freie gestürmt.

»Jesses, Mann, ich dachte schon, Sie würden nie mehr aufkreuzen!«

Als Jack den besorgten, gequälten Blick seines Gegenübers sieht, wird ihm klar, dass er diesem Mann niemals wird erzählen dürfen, dass er das Schwarze Haus vermutlich auch ohne Mouse’ Hilfe finden könnte, weil er dank seiner Aufenthalte in den Territorien eine Art Peilempfänger in seinem Kopf hat. Nein, nicht einmal wenn sie für den Rest ihres Lebens zu der Art enge Freunde würden, die im Allgemeinen keine Geheimnisse voreinander hat. Der Beez hat wie Hiob gelitten; er braucht nicht zu erfahren, dass die Todesqualen seines Freundes vielleicht vergebens waren.

»Lebt er noch, Beezer?«

»Mit knapper Not. Mit verdammt knapper Not. Wir sind bloß noch zu dritt: Doc, Bear Girl und ich. Sonny und Kaiser Bill haben Schiss gekriegt und sich wie verprügelte Hunde verdünnisiert. Los, herein mit Ihnen, Sonnenschein!« Nicht, dass Beezer Jack eine andere Wahl ließe; er packt ihn an der Schulter und schleppt ihn wie ein Gepäckstück in das kleine einstöckige Haus in der Nailhouse Row.

23

»Noch einen!«, sagt der Mann vom landesweiten Sportsender ESPN.

Das klingt mehr befehlend als bittend, und obwohl Henry den Kerl nicht sehen kann, weiß er, dass dieser spezielle Landsmann in seinem Leben niemals Sport getrieben hat, weder als Profi noch sonst wie. Er hat den leicht öligen Fettgeruch eines Menschen an sich, der praktisch von Geburt an immer übergewichtig war. Vielleicht ist die Beschäftigung mit Sport seine Kompensation, weil sie die Macht besitzt, Erinnerungen an Kleidung, die von einem Versandhandel für Übergrößen stammt, auszulöschen - und an all die Kinderspottverse wie »Dickerchen, frisst wie vier, schafft den Wanst nicht durch die Tür«.

Er heißt Penniman. »Genau wie Little Richard!«, hat er Henry erklärt, als sie sich in der Radiostation die Hand geschüttelt haben. »Berühmter Rock ’n’ Roller in den Fünfzigerjahren. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn.«

»Halbwegs«, sagte Henry, als hätte er nicht früher einmal jede Single besessen, die Little Richard jemals herausgebracht hat. »Ich glaube, er war einer der Gründerväter.« Penniman lachte schallend, und dieses Lachen deutete Henry flüchtig als eine mögliche Zukunft für sich selbst. Aber war das eine Zukunft, die er wollte? Die Leute haben auch über Howard Stern gelacht, aber Howard Stern war ein Trottel.

»Noch einen Drink!«, ruft Penniman jetzt. Sie sitzen in der Bar des Oak Tree Inn, in der Penniman dem Barkeeper fünf Dollar Trinkgeld gegeben hat, damit er den Fernseher von Bowling bei ABC auf ESPN umschaltet, obwohl sein Sender um diese Tageszeit nichts außer Tipps für Golfer und Barsch-Angler bringt. »Noch einen Drink, nur um den Deal zu besiegeln!«

Dabei haben sie noch gar keinen Deal abgeschlossen, und Henry ist sich noch nicht einmal sicher, ob er einen abschließen will. Als George Rathbun im Rahmen des ESPN-Rundfunkpakets in ganz Amerika ausgestrahlt zu werden wäre bestimmt attraktiv, und er hat kein ernstliches Problem damit, seine Sendung von »Fragen über Fragen« in etwas anderes umzutaufen - ihr Schwerpunkt würde weiterhin in der Mitte und im Norden der USA liegen -, aber .

Was tun?

Bevor Henry auch nur anfangen kann, sich diese Frage vorzunehmen, riecht er es wieder: My Sin, das Parfüm, das seine Frau an gewissen Abenden zu tragen pflegte, wenn sie ein gewisses Signal aussenden wollte. Lerche, so nannte er sie an diesen gewissen Abenden, wenn das Zimmer dunkel war und sie beide blind für alles außer Gerüchen und Strukturen und einander waren.

Lerche.

»Also, ich glaube, auf diesen Drink verzichte ich lieber«, sagt Henry. »Ich habe zu Hause noch zu arbeiten. Aber ich werde mir Ihr Angebot durch den Kopf gehen lassen. Ernsthaft.«

»Ah-ah-ah«, sagt Penniman, und Henry schließt aus winzigen Luftwirbeln, dass der Mann mit dem Zeigefinger unter seiner Nase herumfuchtelt. Henry fragt sich, wie Penniman reagieren würde, wenn er plötzlich den Kopf vorstrecken und den Anstoß erregenden Finger am zweiten Gelenk abbeißen würde. Wenn er ihm etwas Coulee-Country-Gastfreundschaft à la Fisherman erweisen würde. Wie laut würde Penniman brüllen? Vielleicht so laut wie Little Richard vor dem Instrumentalbreak in »Tutti Frutti«? Oder nicht ganz so laut?

»Sie können nicht gehen, bevor ich so weit bin, Sie heimzufahren«, erklärt Mr. Ich-bin-fett-aber-das-macht-nichts-mehr ihm. »Ich bin immerhin Ihr Fahrer.« Er ist beim vierten Gimlet angelangt und spricht leicht undeutlich. Mein Freund, denkt Henry, ich würde mir lieber ein Frettchen in den Hintern stecken, als mich in einen Wagen mit dir am Steuer zu setzen.

»Doch, das kann ich sehr wohl«, sagt Henry freundlich. Nick Avery, der Barmann, erlebt einen lukrativen Nachmittag: Der fette Kerl hat ihm einen Fünfer zugesteckt, damit er das Fernsehprogramm wechselt, und der Blinde hat ihm, während der Fettsack auf der Toilette war, um wieder etwas Platz zu schaffen, einen Fünfer zugesteckt, damit er ein Taxi ruft.

»Hä?«

»Ich habe gesagt: >Doch, das kann ich sehr wohl.< Barkeeper?«

»Es steht bereits draußen, Sir«, teilt Avery ihm mit. »Vor zwei Minuten vorgefahren.«

Ein schwerfälliges Knarren zeigt, dass Penniman sich auf seinem Barhocker umdreht. Henry kann das Stirnrunzeln des Mannes nicht sehen, mit dem er das jetzt mit laufendem Motor auf der Hotelzufahrt parkende Taxi betrachtet, aber kann es spüren.

»Hören Sie, Henry«, sagt Penniman. »Ich glaube, dass Ihnen vielleicht ein gewisses Verständnis für Ihre gegenwärtige Situation fehlt. Am Firmament des Sportradios gibt es Sterne, verdammt, die gibt’s wirklich - Leute wie das Fabulous Sports Babe und Tony Kornheiser streichen allein als Sprecher sechsstellige Jahresgagen ein, locker sechsstellige Gagen -, aber dort sind Sie noch nicht. Diese Tür ist Ihnen bisher verschlossen. Aber ich, mein Freund, bin ein verdammt guter Türöffner. Das Ende vom Lied ist, dass ich sage, wir sollten uns noch einen Drink genehmigen und dann .«

»Barkeeper«, sagt Henry halb laut, dann schüttelt er den Kopf. »Ich kann Sie nicht einfach nur Barkeeper nennen; das funktioniert vielleicht bei Humphrey Bo-gart, aber es funktioniert nicht bei mir. Wie heißen Sie?«

»Nick Avery, Sir.« Das letzte Wort setzt er automatisch hinzu, aber dem Dicken gegenüber hätte Avery es niemals gebraucht, nicht in einer Million Jahren. Beide Kerle haben ihm einen Fünfer Trinkgeld gegeben, aber der mit der Sonnenbrille ist ein Gentleman. Das hat nichts damit zu tun, dass er nicht sehen kann, sondern er ist einfach einer.

»Nick, wer ist sonst noch an der Bar?«

Avery sieht sich um. In einer der rückwärtigen Nischen sitzen zwei Männer beim Bier. In der Empfangshalle telefoniert ein Hotelpage. An der Bar selbst sitzen nur diese beiden Männer - der eine schlank, cool und blind, der andere fett, verschwitzt und allmählich sauer.

»Niemand, Sir.«

»Hier ist keine ... Lady?« Lerche, hätte er beinahe gesagt. Hier ist keine Lerche?

»Nein.«

»Passen Sie auf«, sagt Penniman, und Henry denkt, dass er in seinem ganzen Leben noch nie jemanden gehört hat, dessen Stimme so wenig Ähnlichkeit mit »Little Richard« Penniman hat. Dieser Kerl ist weißer als Moby Dick ... und wahrscheinlich ungefähr ebenso fett. »Wir haben hier noch viel zu diskutieren.« Viel sssu dischk’tiern, so kommt es heraus. »Es sei denn« - Essei’n -, »Sie versuchen mir beizubringen, dass mein Vorschlag Sie nicht interessiert.« Nicht mal in einer Million Jahren, sagt Pen-nimans Stimme für Henrys geschultes Ohr. Wir reden hier davon, dass wir Ihnen eine Geldmaschine ins Wohnzimmer stellen wollen, Baby, Ihren eigenen privaten Geldautomaten, und es ist ganz ausgeschlossen, dass Sie dazu Nein sagen.

»Nick, riechen Sie kein Parfüm? Etwas sehr Leichtes und Altmodisches? Vielleicht My Sin?«

Eine schwammige Hand fällt auf Henrys Schulter wie eine Wärmflasche. »Eine Sünde wär’s, alter Kumpel, wenn Sie sich weigern würden, mir bei einem weiteren Drink Gesellschaft zu leisten. Sogar ein Blinder könnte sehen, dass .«

»Schlage vor, dass Sie Ihre Hand dort wegnehmen«, sagt Avery, und Pennimans Ohren scheinen nicht gänzlich taub für Nuancen zu sein, weil er nämlich sofort die Hand von Henrys Schulter nimmt.

Dann wird sie etwas weiter oben durch eine andere Hand ersetzt. Sie berührt Henrys Nacken mit einer kalten Liebkosung, die kurz spürbar, aber sofort wieder verschwunden ist. Henry atmet tief durch. Dabei nimmt er wieder Parfümduft wahr. Im Allgemeinen werden Gerüche nach einiger Zeit schwächer, weil die Rezeptoren, die sie aufgenommen haben, vorübergehend unempfindlich werden. Nicht jedoch diesmal. Nicht dieser Duft.

»Kein Parfüm?«, fragt Henry fast flehentlich. Dass ihre Hand seinen Nacken berührt haben soll, kann er als taktile Halluzination abtun. Aber seine Nase täuscht ihn nie.

Jedenfalls bisher nie.

»Tut mir Leid«, sagt Avery. »Ich rieche Bier . Erdnüsse ... den Gin dieses Mannes, sein Rasierwasser .«

Henry nickt. Die Reflexe der Lichter hinter der Bar gleiten über die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille, während er geschmeidig vom Barhocker rutscht.

»Ich glaube, Sie können einen Drink nicht ablehnen, mein Freund«, sagt Penniman in einem Tonfall, den er zweifellos für höflich drohend hält. »Nur noch einen Drink zur Feier unseres Deals, dann bringe ich Sie mit meinem Wagen nach Hause.«

Henry riecht das Parfüm seiner Frau. Das weiß er sicher. Und er glaubt, die Hand seiner Frau an seinem Nacken gespürt zu haben. Aber trotzdem fällt ihm plötzlich der hagere kleine Morris Rosen ein - Morris, der wollte, dass er sich »Where Did Our Love Go?« in der Version von Dirtysperm anhört. Und natürlich, dass Henry den Song in seiner Rolle als Wisconsin Rat sendet. Morris Rosen, der in einem seiner kleinen Finger mit dem abgekauten Nagel mehr Integrität besitzt als dieser Säufer in seinem ganzen Körper.

Er legt Penniman eine Hand auf den Unterarm. Er lächelt in Pennimans ungesehenes Gesicht und spürt, wie die Muskeln unter seiner Handfläche sich entspannen. Penniman glaubt zu wissen, dass er seinen Willen bekommen wird. Wieder einmal.

»Nehmen Sie doch meinen Drink«, sagt Henry freundlich, »schütten ihn mit Ihrem Drink zusammen und stecken dann beide in Ihren fetten, pickeligen Arsch. Sollten Sie etwas brauchen, damit das alles drin bleibt, können Sie Ihren Job gleich hinterherstecken.«

Henry wendet sich ab und geht rasch zum Ausgang, wobei er sich mit gewohnter Präzision orientiert und zur Sicherheit eine Hand vor sich ausgestreckt hält. Nick Avery klatscht spontan Beifall, aber das nimmt Henry kaum wahr, und Penniman hat er bereits aus seinem Gedächtnis gestrichen. Was ihn beschäftigt, ist der Duft des Parfüms My Sin. Er wird etwas schwächer, als Henry in die Nachmittagshitze hinaustritt . aber ist das nicht ein verliebter Seufzer, den er da neben seinem linken Ohr hört? Die Art Seufzer, die seine Frau manchmal von sich gab, unmittelbar bevor sie einschlief, nachdem sie sich geliebt hatten? Seine Rhoda? Seine Lerche?

»Hallo, Taxi!«, ruft er vom Randstein unter der Markise.

»Hier drüben, Kumpel - sind Sie etwa blind?«

»Wie ein Maulwurf«, sagt Henry, während er auf die Stimme zugeht. Er wird nach Hause fahren, die Füße hochlegen, ein Glas Tee trinken und sich dann das verdammte Band mit der Notrufaufnahme anhören. Vielleicht ist ja diese noch unerledigte Aufgabe schuld daran, dass er so kribbelig und zitterig ist, weiß er doch, dass er im Dunkeln dasitzen und sich die Stimme eines Kindermörders und Kannibalen anhören muss. Daran muss es liegen, es gibt nämlich keinen Grund, sich vor seiner Lerche zu fürchten, oder? Würde sie zurückkehren - zurückkehren und ihn verfolgen -, würde sie ihn bestimmt mit Liebe verfolgen.

Oder etwa nicht?

Ja, denkt er, während er sich auf den erstickend heißen Rücksitz des Taxis sinken lässt.

»Wohin, Kumpel?«

»Norway Valley Road«, sagt Henry. »Ein blau abgesetztes weißes Haus, das etwas von der Straße entfernt steht. Sie sehen es, bald nachdem Sie den Creek überqueren.«

Henry lehnt sich zurück und wendet sein sorgenvolles Gesicht dem offenen Fenster zu. French Landing fühlt sich heute befremdlich an ... spannungsgeladen. Wie etwas, was immer weiter über den Tisch gerutscht ist, bis es jetzt kurz davor ist, über die Kante zu kippen, um auf dem Fußboden zu zerschellen.

Nehmen wir mal an, sie sei zurückgekehrt. Nehmen wir das mal an. Ist sie mit Liebe gekommen, warum macht der Duft ihres Parfüms mich dann so besorgt? Warum erfüllt er mich fast mit Abscheu? Und warum war ihre Berührung (ihre eingebildete Berührung, versichert er sich) so unangenehm?

Warum war ihre Berührung so kalt?

Nach dem grellen Sonnenschein ist es im Wohnzimmer von Beezers kleinem Holzhaus so dunkel, dass Jack anfangs überhaupt nichts sieht. Nachdem er sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt hat, sieht er auch den Grund dafür: Die beiden Wohnzimmerfenster sind mit Decken verhängt - anscheinend mit zwei Decken pro Fenster -, und die Tür des zweiten Raums im Erdgeschoss, bestimmt die Küche, ist geschlossen.

»Er kann kein Licht vertragen«, sagt Beezer. Er spricht leise, damit seine Stimme nicht im Hintergrund des Zimmers zu hören ist, wo auf einer Couch die Gestalt eines Mannes zu erahnen ist. Ein weiterer Mann kniet neben ihm.

»Vielleicht war der Hund, der ihn gebissen hat, tollwütig«, sagt Jack. Das glaubt er aber selbst nicht.

Beezer schüttelt nachdrücklich den Kopf. »Das ist keine phobische Reaktion. Doc sagt, dass sie physiologisch bedingt ist. Wo Licht auf seinen Körper fällt, beginnt sofort die Haut zu schmelzen. Ist Ihnen so was schon mal untergekommen?«

»Nein.« Und Jack hat auch noch nie etwas wie den Gestank gerochen, der hier in diesem Raum herrscht. Er hört nicht nur einen, sondern gleich zwei Tischventilatoren summen und spürt die sich kreuzenden Luftströme, aber dieser pestilenzialische Gestank ist zu klebrig, um sich vertreiben zu lassen. Einerseits stinkt es hier nach verdorbenem Fleisch - nach Wundbrand in Gewebe und Knochen -, aber so etwas hat Jack schon früher gerochen. Die andere Gestanknote setzt ihm mehr zu: ein grausiges Gemisch aus Blut und Grabblumen und Exkrementen. Er gibt ein würgendes Geräusch von sich, das er einfach nicht unterdrücken kann, und Beezer sieht ihn mit gewissem ungeduldigen Mitgefühl an.

»Schlimm, yeah, ich weiß. Aber stellen Sie sich ein Affenhaus im Zoo vor, Mann - nach einiger Zeit gewöhnt man sich daran.«

Die Schwingtür nach nebenan wird aufgestoßen, und eine schlanke, kleine Frau mit schulterlangem blondem Haar kommt herein. Sie trägt eine Schüssel. Als das Licht auf den auf der Couch liegenden Mouse fällt, schreit er auf. Es ist ein entsetzlich gurgelnder Laut, als hätte die Lunge des Mannes angefangen, sich zu verflüssigen. Etwas - vielleicht Rauch, vielleicht Dampf - beginnt von der Haut seiner Stirn aufzusteigen.

»Halt durch, Mouse«, sagt der Kniende. Es ist Doc. Bevor die Küchentür sich wieder ganz schließt, kann Jack lesen, was auf seiner abgewetzten schwarzen Ledertasche steht. Irgendwo in Amerika mag es einen weiteren Mediziner geben, der seine Arzttasche mit dem Aufkleber Steppenwolf Rules verziert hat, aber vermutlich nicht hier in Wisconsin.

Die Blondine kniet sich neben Doc nieder, der daraufhin ein Tuch aus der Schüssel nimmt, es flüchtig auswringt und dann Mouse auf die Stirn legt. Mouse stöhnt zitterig, dann beginnt er am ganzen Leib zu schlottern. Wasser läuft ihm übers Gesicht in den Bart. Der Bart scheint in räudigen Flecken auszufallen.

Jack tritt vor und sagt sich, dass er sich an den Gestank gewöhnen wird, natürlich wird er das. Vielleicht stimmt das sogar. Vorerst wünscht er sich aber, er hätte etwas von dem Pinimentol dabei, das die meisten Kriminalbeamten der LAPD-Mordkommission gewohnheitsmäßig im Handschuhfach liegen haben. Zwei Tupfer unter beide Nasenlöcher wären jetzt höchst willkommen.

Hier im Wohnzimmer gibt es eine Hi-Fi-Anlage (vergammelt) und zwei Lautsprecher (riesig) in den Ecken des Raums, aber keinen Fernseher. An allen Wänden sind zwischen Türen und Fenstern mit Büchern gefüllte Holzkisten aufgestapelt, die das Zimmer noch kleiner, fast gruftartig machen. Jack, der etwas zu Klaustrophobie neigt, fühlt deren erste Anzeichen, die sein Unbehagen noch verstärken. Die meisten Bücher scheinen von Religion und Philosophie zu handeln - er sieht Descartes, C. S. Lewis, die Bhagawadgita, Steven Averys Grundsätze der Existenz -, aber es gibt auch viele Romane, Fachliteratur übers Bierbrauen und (auf einem der riesigen Lautsprecher) Albert Goldmans schundigen Wälzer über Elvis Presley. Auf dem anderen Lautsprecher steht das Foto eines kleinen Mädchens mit strahlendem Lächeln, Sommersprossen und einem Meer von rotblondem Haar. Der Anblick des Kindes, das die Quadrate für »Himmel und Hölle« mit Kreide draußen auf den Fußweg gemalt hat, erfüllt Jack Sawyer mit Trauer und Zorn. Bei dieser Geschichte mögen Wesen und Ursachen aus anderen Welten eine Rolle spielen, aber hier strolcht auch ein perverser alter Furzer herum, dem das Handwerk gelegt werden muss. Das darf er über allem anderen nicht vergessen.

Bear Girl macht Jack vor der Couch Platz; sie bewegt sich graziös, obwohl sie kniet und weiter die Schüssel in den Händen hält. Jack sieht darin zwei weitere nasse Tücher und einen kleinen Haufen schmelzender Eiswürfel. Bei diesem Anblick fühlt er sich durstiger als je zuvor. Er nimmt einen Eiswürfel heraus und steckt sich ihn in den Mund. Dann wendet er seine Aufmerksamkeit ganz Mouse zu.

Eine karierte Reisedecke ist bis unter sein Kinn hochgezogen. Die Stirn und der Bereich um die Backenknochen - die einzigen nicht von seinem ausfallenden Bart bedeckten Hautflächen - sind teigig. Die Augen hat er geschlossen. Die hochgezogenen Lippen lassen überraschend weiße Zähne sehen.

»Ist er . «, beginnt Jack, aber da öffnet Mouse auch schon die Augen. Jack vergisst sofort, was er eigentlich hatte sagen wollen. Um die haselnussbraunen Iris herum haben die Augen von Mouse sich zu einem unheimlichen, changierenden Scharlachrot verfärbt. Man könnte glauben, der Mann blicke in einen grausigen radioaktiven Sonnenuntergang. Aus den inneren Augenwinkeln sickert eine schlammartige schwarze Absonderung.

»Das Buch der philosophischen Transformation handelt die meisten gegenwärtigen Dialektiken ab«, sagt Mouse mit klarer, weicher Stimme, »und auch Machiavelli spricht zu diesen Fragen.« Jack kann ihn sich fast in einem Hörsaal vorstellen. Das heißt, bis seine Zähne zu klappern beginnen.

»Mouse, ich bin’s - Jack Sawyer.« Kein Zeichen des Erkennens in diesen unheimlich braun-roten Augen. Die schwarze Schmiere in den Augenwinkeln scheint jedoch zu zucken, als wäre Mouse irgendwie empfindungsfähig. Als würde er ihm zuhören.

»Hollywood ist da«, murmelt Beezer. »Der Cop. Du erinnerst dich doch?«

Eine von Mouse’ Händen liegt auf der Decke. Jack ergreift sie und muss gleich darauf einen überraschten Aufschrei unterdrücken, weil sie seine Hand erstaunlich kraftvoll umklammert. Sie ist auch heiß. Heiß wie ein eben aus dem Backofen geholtes Brötchen. Mouse stößt ein langes, keuchendes Stöhnen aus, bei dem er eine Wolke aus widerlich fauligem Gestank verströmt. Er verrottet, denkt Jack. Er verfault von innen heraus. O Jesus, hilf mir, das durchzustehen.

Das tut vielleicht nicht gerade Jesus, aber die Erinnerung an Sophie könnte helfen. Jack bemüht sich, seine Erinnerung auf ihre Augen zu konzentrieren, auf den wundervollen, ausgeglichenen, klaren Blick dieser blauen Augen.

»Pass auf«, sagt Mouse.

»Ich höre.«

Mouse scheint sich zu sammeln. Unter der Wolldecke zittert sein Körper in einer lockeren, unkoordinierten Art, in der Jack die Vorstufe eines Anfalls ahnt. Irgendwo tickt eine Uhr. Irgendwo bellt ein Hund. Auf dem Mississippi tutet ein Schiff. Außer diesen Lauten herrscht Stille. Jack kann sich nur an eine einzige weitere Suspendierung des Laufs der Welt in seinem ganzen Leben erinnern: als er in einem Krankenhaus in Beverly Hills darauf wartete, dass seine Mutter ihren langwierigen Todeskampf zu Ende brachte. Irgendwo wartet Tyler Marshall darauf, gerettet zu werden. Hofft zumindest darauf, gerettet zu werden. Irgendwo sind die Brecher eifrig am Werk und versuchen die Achse zu zerstören, um die jegliche Existenz kreist. Hier ist aber nur dieser zeitlose Raum mit seinen schwachen Ventilatoren und giftigen Dämpfen.

Mouse schließt die Augen, dann öffnet er sie wieder. Er fixiert den Neuankömmling, und Jack glaubt plötzlich zu wissen, dass ihm eine große Wahrheit anvertraut werden soll. Der Eiswürfel ist verschwunden; Jack nimmt an, dass er ihn zerkaut und verschluckt hat, ohne es zu merken, aber er traut sich nicht, noch einen zu nehmen.

»Nur weiter, Kumpel«, sagt Doc. »Sieh zu, dass du’s rauskriegst, dann pump ich dich mit ’ner weiteren Spritze voll. Mit dem guten Zeug. Vielleicht kannst du dann schlafen.«

Mouse achtet nicht auf ihn. Seine mutierenden Augen bleiben starr auf Jacks gerichtet. Er umklammert Jack jetzt noch fester. Jack kann fast spüren, wie seine Handknochen sich aneinander reiben.

»Nicht ... hingehen und lauter teures Gerät kaufen«, sagt Mouse und stößt seufzend einen weiteren Pesthauch aus.

»Nicht .?«

»Die meisten Leute geben das Brauen nach ... ein paar Jahren wieder auf. Bierbrauen ist ... nichts für Schlappschwänze.«

Jack sieht sich nach Beezer um, der seinen Blick aus-druckslos erwidert. »Zwischendurch hat er lichte Momente. Sie müssen Geduld haben. Lassen Sie ihm Zeit.«

Mouse packt noch fester zu, dann lockert er den Griff, als Jack schon glaubt, ihn nicht länger ertragen zu können.

»Besorg dir einen großen Topf«, sagt Mouse. Die roten Augen drohen aus ihren Höhlen zu quellen. Die rötlichen Schatten kommen und gehen, kommen und gehen, huschen über die gewölbte Landschaft seiner Hornhäute, und Jack denkt: Das ist sein Schatten. Der Schatten des Scharlachroten Königs. Mouse steht schon mit einem Fuß an seinem Hof »Zwanzig Liter ... mindestens. Die besten gibt’s in ... Läden für Fischereibedarf. Und als Gärbottich . die Plastikbehälter von Wasserspendern sind gut . sie sind leichter als Glas, und . Ich verbrenne. Jesus, Beez, ich verbrenne!«

»Scheiß drauf, ich geb ihm eine Spritze«, sagt Doc und lässt die Verschlüsse seiner Arzttasche aufschnappen.

Beezer hält ihn am Arm fest. »Noch nicht.«

Aus den Augen von Mouse beginnen blutige Tränen zu quellen. Die schwarze Schmiere scheint winzige Greifarme zu bilden. Sie schlängeln sich gierig nach unten, als versuchten sie, die Flüssigkeit aufzufangen, um sie zu trinken.

»Gärrohr und Pfropfen«, flüstert Mouse. »Thomas Merton ist Scheiße, lass dir nie was anderes einreden. Kein einziger originaler Gedanke. Du musst die Gase entweichen lassen, ohne dass Staub in den Bottich gelangen kann. Jerry Garcia war nicht Gott. Kurt Cobain war nicht Gott. Das Parfüm, das er riecht, ist nicht das seiner toten Frau. Das Auge des Königs ist auf ihn gefallen. Gorg-ten-abbalah, eeleelee. Das Opopanax ist tot, lang lebe das Opopanax.«

Jack beugt sich tiefer in den von Mouse ausgehenden Gestank hinunter. »Wer riecht Parfüm? Auf wen ist das Auge des Königs gefallen?«

»Der verrückte König, der böse König, der traurige König. Alle rufen: Heil dem König!«

»Mouse, auf wen ist das Auge des Königs gefallen?«

»Ich dachte, Sie wollten ihn nach .«, sagt Doc.

»Auf wen?« Jack hat keine Ahnung, warum ihm das wichtig erscheint, aber das ist es. Hängt es mit etwas zusammen, was jemand in letzter Zeit zu ihm gesagt hat? War das Dale? Tansy? War das, Gott sei uns gnädig, Wen-dell Green?

»Kupferrohr und Schlauch«, sagt Mouse vertraulich. »Die braucht man, wenn die Gärung abgeschlossen ist! Und man kann Bier nicht auf Flaschen mit Schraubverschluss abziehen! Man muss ...«

Mouse wendet sich von Jack ab, lässt den Kopf bequem auf der Schulter ruhen, öffnet den Mund und übergibt sich. Bear Girl kreischt entsetzt. Das Erbrochene ist eitergelb und mit sich bewegenden schwarzen Teilchen wie der Schleim in Mouse’ Augenwinkeln durchsetzt. Es lebt.

Beezer hastet überstürzt hinaus, und Jack schützt Mouse vor dem kurz aus der Küche einfallenden Sonnenlicht, so gut er kann. Der Druck der Hand, die seine umklammert, wird noch etwas schwächer.

Jack wendet sich an Doc. »Glauben Sie, dass er stirbt?«

Doc schüttelt den Kopf. »Nur wieder bewusstlos. So leicht kommt der arme alte Mousie nicht davon.« Er starrt Jack mit grimmigem, gehetzten Blick an. »Hoffentlich lohnt sich das alles, Mr. Policeman. Sonst kriegen Sie’s mit mir zu tun, darauf können Sie Gift nehmen.«

Beezer, der ein paar grüne Haushaltshandschuhe angezogen hat, kommt mit einem ganzen Berg Putzlappen zurück. Ohne ein Wort zu sprechen, wischt er die Pfütze aus Erbrochenem zwischen Mouse’ Schulter und der Rückenlehne der Couch auf. Die schwarzen Teilchen haben Gott sei Dank aufgehört, sich zu bewegen. Ihre Bewegungen überhaupt nicht gesehen zu haben, wäre allerdings noch besser gewesen. Das Erbrochene, stellt Jack bestürzt fest, frisst sich wie Säure in den abgewetzten Couchbezug.

»Ich ziehe jetzt für einen Augenblick die Decke herunter«, sagt Doc, und Bear Girl, die noch immer die Schüssel mit den schmelzenden Eiswürfeln hält, steht sofort auf. Sie tritt an eines der Bücherregale und bleibt dort abgewandt und zitternd stehen.

»Doc, ist das etwas, was ich wirklich sehen muss?«

»Ich denke schon. Ich glaube nicht, dass Sie bereits wissen, womit Sie’s zu tun haben - sogar jetzt noch nicht.« Doc fasst die Decke am Rand an und zieht sie vorsichtig unter Mouse’ schlaffer Hand heraus. Dabei sieht Jack, dass das schwarze Zeug nun auch unter den Fingernägeln des Sterbenden hervorzuquellen beginnt. »Vergessen Sie nicht, dass das erst vor gut zwei Stunden passiert ist, Mr. Policeman.«

Doc zieht die Decke ganz herunter. Susan »Bear Girl« Osgood, die ihnen den Rücken zukehrt, steht vor den großen Werken der abendländischen Philosophie und beginnt lautlos zu weinen. Jack versucht einen Aufschrei zu unterdrücken, was ihm aber nicht gelingt.

Henry bezahlt das Taxi, betritt sein Haus und nimmt dann in der klimatisierten Kühle einen tiefen, beruhigenden Atemzug. Er registriert einen schwachen Duft -süß - und redet sich ein, dass er nur von frischen Schnittblumen herrührt, eine von Mrs. Mortons Spezialitäten. Er weiß es besser, aber er will im Augenblick nichts mehr mit Gespenstern zu tun haben. Er fühlt sich inzwischen einigermaßen besser und glaubt auch, den Grund dafür zu kennen: weil er den Kerl von ESPN aufgefordert hat, sich seinen Job hinten reinzustecken. Nichts ist besser geeignet, um einem Mann einen glücklichen Tag zu bereiten, vor allem wenn der Betreffende einer Erwerbstätigkeit nachgeht, zwei Kreditkarten besitzt, deren Limit nicht einmal andeutungsweise erschöpft ist, und drei Tüten Eistee im Kühlschrank hat.

Henry ist jetzt in Richtung Küche unterwegs, geht mit vor sich ausgestreckter Hand durch den Flur und testet die Luft auf Hindernisse und Gegenstände, die vielleicht nicht an ihrem angestammten Platz stehen. Die einzigen Geräusche sind das Flüstern der Klimaanlage, das Summen des Kühlschranks, das Klicken seiner Absätze auf dem Hartholzfußboden .

. und ein Seufzer.

Ein verliebter Seufzer.

Henry bleibt einen Augenblick unbeweglich stehen, dann dreht er sich vorsichtig um. Ist der süße Duft jetzt etwas stärker, vor allem aus dieser anderen Richtung, aus Richtung Haustür und Wohnzimmer? So scheint es zu sein. Und es sind keine Blumen; es hat keinen Zweck, sich in dieser Beziehung etwas vorzumachen. Seine Nase weiß es wie immer besser. Das ist der Duft von My Sin.

»Rhoda?«, sagt er, und dann leiser: »Lerche?«

Keine Antwort. Natürlich nicht. Er ist nur kribbelig und nervös, das ist alles; er hat das große Zittern - und wer würde es ihm verdenken?

»Weil ich der Scheich bin, Baby«, sagt Henry. »The Sheik, the Shake, the Shook of Araby.«

Keine Düfte. Keine sexy Seufzer. Und trotzdem verfolgt ihn die Vorstellung, seine Frau stehe im Wohnzimmer, stehe in ihrem parfümierten Totenhemd dort und habe ihn schweigend beobachtet, als er hereingekommen und blind an ihr vorbeigegangen ist. Seine Lerche, die auf einen kleinen Besuch vom Friedhof Nogging Mound zurückgekommen ist. Vielleicht um sich die neueste CD von Slobberbone anzuhören.

»Schluss damit«, sagt er leise. »Hör auf, Blödmann.«

Er geht in seine große, durchorganisierte Küche. Als er über die Schwelle tritt, klatscht er mit der Handfläche auf einen Knopf im Schalterfeld neben der Tür, ohne sich dessen bewusst zu sein. Mrs. Mortons Stimme kommt aus einem Hightech-Deckenlautsprecher, dessen Wiedergabe fast so perfekt ist, als stände die Frau jetzt vor ihm im Raum.

»Jack Sawyer war hier und hat noch eine Kassette dagelassen, die Sie sich anhören sollen. Er hat gesagt, dass darauf . Sie wissen schon, dieser Mann zu hören ist. Dieser böse Mann.«

»Böser Mann, ganz recht«, murmelt Henry, öffnet den Kühlschrank und genießt den herausströmenden Schwall kalter Luft. Er greift unfehlbar nach einer der drei in der Tür stehenden Dosen Kingsland Lager. Auf Eistee hat er keinen Durst mehr.

»Beide Kassetten liegen in Ihrem Studio neben dem Mischpult. Außerdem möchte Jack, dass Sie ihn auf seinem Handy anrufen.« Mrs. Mortons Stimme nimmt einen leicht belehrenden Tonfall an. »Wenn Sie mit ihm reden, sollten Sie ihn bitten, vorsichtig zu sein. Und seien Sie selbst vorsichtig.« Eine Pause. »Und vergessen Sie nicht, zu Abend zu essen. Ihr Essen steht fertig im Kühlschrank. Zweites Fach von oben, links von Ihnen.«

»Meeker, meeker«, sagt Henry, aber er lächelt, während er die Bierdose aufreißt. Er geht ans Telefon und wählt Jacks Nummer.

Auf dem Beifahrersitz des vor dem Haus Nailhouse Row Nr. i geparkten Dodge Ram erwacht Jacks Handy zum Leben. Diesmal ist niemand im Fahrerhaus, den das leise, aber durchdringende Piepsen belästigen könnte.

»Der gewählte Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«

Henry legt auf, geht zur Küchentür und drückt dort einen anderen Knopf im Schalterfeld. Die Stimmen, die Uhrzeit und Temperatur ansagen, sind alle Versionen seiner eigenen, aber er hat die Ansage auf Zufallswiedergabe programmiert, sodass er nie weiß, wen er bekommen wird. Diesmal ist es die Wisconsin Rat, die in der sonnigen, klimatisierten Stille seines Hauses, das ihm noch nie so stadtfern vorgekommen ist wie heute, wie verrückt loskreischt:

»Sechzehn Uhr zwanzig! Außentemperatur achtundzwanzig! Innentemperatur einundzwanzig! Was zum Teufel kümmert dich das? Was zum Teufel kümmert das irgendwen? Kaut’s runter, esst’s auf, spült’s runter, aaalles kommt .«

... an der gleichen Stelle raus. Genau. Henry drückt den Knopf noch einmal und unterbricht so das charakteristische Brüllen der Ratte. Wie ist es so schnell so spät geworden? Gott, war’s nicht eben noch Mittag? Und war er nicht eigentlich gerade noch jung, zwanzig Jahre alt und so voller Mumm, dass er ihm praktisch aus den Ohren kam? Was ist ...

Dann ist wieder dieser Seufzer zu hören und bringt seinen größtenteils selbstironischen Gedankengang durcheinander. Ein Seufzer? Wirklich? Vermutlich ist das nur der Kompressor der Klimaanlage, der sich gerade ausgeschaltet hat. Das kann er sich zumindest einreden.

Das kann er sich einreden, wenn er will.

»Ist hier jemand?«, fragt Henry. In seiner Stimme liegt ein Beben, das er verabscheut: das taperige Zittern eines alten Mannes. »Ist jemand hier im Haus?«

Eine schreckliche Sekunde lang fürchtet er fast, jemand könnte antworten. Aber niemand antwortet - natürlich antwortet niemand -, und so trinkt er die halbe Dose Bier mit drei langen Schlucken aus. Er beschließt, ins Wohnzimmer zurückzugehen, um etwas zu lesen. Vielleicht ruft Jack ja noch mal an. Vielleicht bekommt er sich etwas besser unter Kontrolle, sobald er ein bisschen mehr frischen Alkohol im Blut hat.

Und vielleicht geht die Welt innerhalb der nächsten fünf Minuten unter, denkt er. Dann brauche ich mich nie mit der Stimme auf den verdammten Kassetten abzugeben, die im Studio auf mich warten. Diese verdammten Kassetten, die dort drin auf dem Mischpult liegen wie noch nicht detonierte Bomben.

Henry geht mit vor sich ausgestreckter Hand langsam den Flur entlang ins Wohnzimmer zurück und redet sich ein, dass er keine Angst hat, sich nicht im Geringsten davor fürchtet, das Gesicht seiner toten Frau zu berühren.

Jack Sawyer hat schon viel erlebt, er ist an Orten gewesen, an denen es keinen Mietwagenverleih gibt und das Wasser wie Wein schmeckt, aber er hat noch nie etwas wie Mouse Baumanns Bein gesehen. Oder vielmehr so eine pestilenzialische, apokalyptische Horrorshow, die einmal Mouse Baumanns Bein war. Sobald Jack sich wieder einigermaßen gefangen hat, ist sein erster Impuls, Doc Vorwürfe zu machen, weil er Mouse die Hose ausgezogen hat. Jack muss ständig an Bratwürste denken, wie der Pfannenrand sie dazu zwingt, ihre Form zu bewahren, auch wenn sie auf großer Flamme brutzeln. Das ist zweifellos ein dummer Vergleich, primo stupido, aber unter Stress vollführt der menschliche Verstand manchmal die absonderlichsten Bocksprünge.

Die Form eines Beins ist noch zu erkennen - zu erah-nen -, aber das Fleisch hat sich von den Knochen getrennt. Die Haut ist fast völlig verschwunden und zu einer zähflüssigen Substanz geschmolzen, die wie eine Mischung aus Milch und Bratensaft aussieht. Die miteinander verwobenen Muskelschichten unter den letzten Hautresten sind eingesunken und machen gerade dieselbe verheerende Umwandlung durch. Das infizierte Bein befindet sich in einer Art unkontrollierter Bewegung, während festes Gewebe sich verflüssigt und die ätzende Flüssigkeit unaufhaltsam die Couch zersetzt, auf der Mouse liegt. Außer dem fast unerträglichen Verwesungsgestank riecht Jack verbrannten Stoff und gerinnendes Gewebe.

Aus diesem sich ausbreitenden, noch vage beinförmigen Unrat ragt ein Fuß, der bemerkenswert unbeschädigt aussieht. Wenn ich wollte, könnte ich ihn abreißen ... wie einen Kürbis von einer Ranke. Dieser Gedanke setzt Jack auf eine Weise zu, wie es der Anblick des verrottenden Beins nicht ganz geschafft hat, und er kann einen Augenblick lang nur den Kopf senken, krampfhaft würgen und sich bemühen, sein Hemd nicht voll zu kotzen.

Was ihn wahrscheinlich rettet, ist die Hand auf seinem Rücken. Es ist Beezer, der ihn tröstet, so gut er kann. Beez hat seine sonst so frische Gesichtsfarbe mittlerweile völlig verloren. Er erinnert an einen aus dem Grab auferstandenen Biker aus einer urbanen Mythologie.

»Sehen Sie?«, sagt Doc, dessen Stimme aus weiter Ferne zu kommen scheint. »Das sind keine Windpocken, mein Freund, obwohl die Infektion im Anfangsstadium ein bisschen danach ausgesehen hat. Er hat bereits rote Flecken am linken Bein . an den Hoden . am Bauch. Ganz ähnlich hat die Haut in der Umgebung der Wunde ausgesehen, als ich ihn hier untersucht habe - nur etwas gerötet und angeschwollen. Ich hab mir gesagt: >Scheiße, das ist weiter nichts, du hast genug Azithomycin, um diese Infektion bis Sonnenuntergang einzudämmen.< Nun, Sie sehen selbst, wie gut das Antibiotikum gewirkt hat. Sie sehen, wie gut irgendwas gewirkt hat. Dieses Zeug frisst sich durch die Couch, und ich wette, dass es sich anschließend den Fußboden vornimmt. Dieser Scheiß ist hungrig. Also, war’s das wert, Hollywood? Aber diese Frage können vermutlich nur Mouse und Sie beantworten.«

»Er weiß noch immer, wo das Haus ist«, sagt Beezer. »Ich hab keine Ahnung mehr, obwohl wir eben erst von dort kommen. Du auch nicht, stimmt’s?«

Doc nickt wortlos.

»Aber Mouse, er weiß es.«

»Susie, Schätzchen«, sagt Doc zu Bear Girl. »Bring eine neue Decke, ja? Die hier ist praktisch durchgeweicht.«

Bear Girl verschwindet bereitwillig. Jack steht wieder auf. Er hat weiche Knie, aber sie tragen ihn. »Stellen Sie sich vors Licht«, fordert er Doc auf. »Ich gehe in die Küche raus. Ich sterbe, wenn ich nichts zu trinken bekomme.«

Jack trinkt direkt aus dem Hahn am Ausguss, schluckt, bis er das Gefühl hat, ihm werde ein Nagel in die Stirn getrieben, und rülpst darauf wie ein Pferd. Dann steht er einfach nur da und blickt in den Garten hinter Beezers und Bear Girls Haus hinaus. In dieser verunkrauteten Wildnis ist eine hübsche kleine Kinderschaukel aufgebaut. Es schmerzt Jack, sie anzusehen, aber er sieht sie trotzdem an. Nach dem Irrsinn von Mouse’ Bein erscheint es ihm wichtig, sich daran zu erinnern, dass er aus einem bestimmten Grund hier ist. Je mehr diese Ermahnung schmerzt, desto besser.

Die Sonne, die jetzt golden wird, während sie zum Mississippi hinabsinkt, scheint ihm grell in die Augen. Die Zeit scheint also doch nicht still gestanden zu haben. Jedenfalls nicht außerhalb dieses kleinen Hauses. Außerhalb der Nailhouse Row Nr. 1 scheint sie im Gegenteil beschleunigt abgelaufen zu sein. Jack leidet unter der Vorstellung, sein Besuch hier sei ebenso sinnlos wie sein Umweg über Henrys Haus; er wird von dem Gedanken gequält, Mr. Munshun und dessen Boss, der Abbalah, ließen ihn herumlaufen wie ein Aufziehspielzeug mit einem Schlüssel im Rücken, während sie weiter ihre Schandtaten verüben. Er könnte dem Summen in seinem Kopf bis Black House folgen, warum zum Teufel steigt er also nicht einfach wieder in seinen Pickup und tut es?

Das Parfüm, das er riecht, ist nicht das seiner toten Frau.

Was soll das heißen? Wieso macht ihn die Vorstellung, dass jemand irgendein Parfüm riecht, so verrückt und ängstlich?

Beezer klopft an die Küchentür, was ihn zusammenfahren lässt. Jacks Blick fällt auf eine Stickarbeit, die an der Wand über dem Küchentisch hängt. Dort steht aber nicht etwa Gott segne unser Heim, sondern Heavy Métal Thunder. Mit einer sorgfältig gestickten Harley-Davidson darunter.

»Kommen Sie rein, Mann«, sagt der Beez. »Er ist wieder wach.«

Henry befindet sich auf einem Waldweg - oder vielleicht ist es eine Art Zufahrtsstraße -, und etwas ist hinter ihm. Bei jedem Umsehen - in seinem Traum kann er sehen, aber diese Gabe ist nicht gerade ein Segen - ist das Etwas dort hinten ein wenig deutlicher zu erkennen. Es scheint ein Mann in Abendkleidung zu sein, aber seine Gestalt ist erschreckend in die Länge gezogen. Außerdem hat er spitze Reißzähne, die über seine lächelnde Unterlippe hinausragen. Und er scheint - ist das möglich? - nur ein Auge zu haben.

Als Henry sich erstmals umsieht, ist die Gestalt nur ein verschwommener Fleck zwischen den Bäumen. Beim nächsten Mal kann er die beunruhigende dunkle Form des Jacketts und einen schwebenden roten Fleck erkennen, der eine Krawatte oder ein Brusttuch sein könnte. Vor Henry liegt die Höhle dieses Wesens: ein stinkendes Loch, das nur zufällig wie ein Haus aussieht. Seine Nähe lässt Henrys Kopf summen. Statt nach Kiefern riecht der Wald, der auf beiden Seiten an den Weg herandrängt, nach einem schweren, süßlichen Parfüm: My Sin.

Es treibt mich vor sich her, denkt er bestürzt. Was dieses Ding dort hinten auch sein mag, es treibt mich vor sich her wie ein Stück Vieh zum Schlachthaus.

Henry überlegt, ob er die Zufahrt nach links oder nach rechts verlassen und sein auf wundersame Weise erlangtes Augenlicht dazu nutzen soll, durch den Wald zu flüchten. Aber auch dort lauern Wesen. Dunkle, schwebende Gestalten in allen möglichen Formen. Das nächste Etwas kann er fast erkennen. Es ist eine Art Riesenhund mit langer Zunge - rot wie das Brusttuch seines Verfolgers - und hervorquellenden Augen.

Ich darf mich nicht von ihm zu seinem Haus treiben lassen, denkt Henry. Ich muss flüchten, bevor er mich dorthin treiben kann ... aber wie? Wie nur?

Dann kommt ihm eine verblüffend einfache Erkenntnis. Er braucht nur aufzuwachen. Weil das alles nur ein Traum ist. Es ist nur ein ...

»Es ist ein Traum!«, ruft Henry aus und ruckt nach vorn. Er läuft nicht, sondern er sitzt, er sitzt in seinem Lehnsessel und wird bald einen sehr nassen Schritt haben, weil er beim Einschlafen eine Dose Kingsland Lager zwischen den Beinen balanciert hat, die .

Aber es gibt kein Verschütten, weil es keine Bierdose gibt. Henry tastet vorsichtig nach rechts, und tatsächlich, sie steht auf dem Tisch neben dem Buch, einer Blindenschriftausgabe von Der Soldat und die Lady. Er muss das Buch abgelegt und die Dose dort abgestellt haben, bevor er erst eingenickt und dann in diesen grässlichen Albtraum geraten ist.

Nur ist Henry sich ziemlich sicher, dass er nichts dergleichen getan hat. Er hatte die Bierdose zwischen den Beinen und das Buch auf den Knien, um mit den Fingern die kleinen erhabenen Punkte ertasten zu können, die den Text darstellen. Etwas hat ihm sehr rücksichtsvoll Buch und Bierdose abgenommen, nachdem er eingenickt war, und auf dem Tisch deponiert. Etwas, das nach dem Parfüm My Sin riecht.

Die Luft dunstet förmlich danach.

Henry holt mit geblähten Nüstern und fest geschlossenem Mund langsam tief Luft.

»Nein«, sagt er mit sehr deutlicher Stimme. »Ich kann Blumen riechen . und Teppichshampoo . und gebratene Zwiebeln von gestern Abend. Sehr schwach, aber weiterhin da. Die Nase weiß es.«

All das stimmt. Aber der Geruch war vorhin dennoch da. Er ist jetzt fort, weil sie fort ist, aber sie wird zurückkommen. Und plötzlich wünscht er sich sogar, sie käme wieder. Falls er Angst hat, ist es sicher nur die Angst vor dem Unbekannten, oder nicht? Nur das, sonst nichts. Er will nicht allein sein und keine andere Gesellschaft als die Erinnerung an diesen wirren Albtraum haben.

Die Kassetten.

Er muss sich die Kassetten anhören. Das hat er Jack versprochen.

Henry kommt unsicher auf die Beine und wankt zum Schalterfeld im Wohnzimmer hinüber. Diesmal begrüßt ihn die Stimme von Henry Shake, dieses lockeren, abgeklärten Typs, wenn’s je einen gegeben hat.

»He, all ihr hippen Cats und Kitties, beim Ton des Zeitzeichens ist’s neunzehn Uhr vierzehn. Die Außentemperatur beträgt angenehme vierundzwanzig Grad, und hier im Fantasie-Ballsaal sind’s coole einundzwanzig Grad. Wie wär’s, wenn ihr mal nicht aufs Geld schauen, euch euren Schatz grapschen und ein bisschen Magie treiben würdet?«

19.14 Uhr! Wann hat er zum letzten Mal tagsüber fast drei Stunden lang geschlafen? Und wann hat er eigent-lich zuletzt einen Traum gehabt, in dem er sehen konnte? So viel er sich erinnern kann, lautet die Antwort auf diese zweite Frage: noch nie.

Wo war dieser Waldweg?

Was war das Ding hinter ihm?

Was war das da eigentlich für ein Ort vor ihm?

»Spielt keine Rolle«, sagt Henry laut in das leere Zimmer - falls es leer ist. »Das war ein Traum, sonst nichts. Wogegen die Kassetten .«

Er will sie sich nicht anhören, hat sich sein ganzes Leben lang nichts weniger anhören wollen (vielleicht mit Ausnahme der Gruppe Chicago mit dem Song »Does Anybody Really Know What Time It Is?«), aber er muss sie sich anhören. Wenn das Tyler Marshall oder irgendeinem anderen Kind das Leben retten kann, muss er’s tun.

Langsam, jeden Schritt fürchtend, sucht Henry Leyden sich blind seinen Weg ins Tonstudio, wo die beiden Kassetten auf ihn warten.

»Im Himmel, da gibt’s kein Bier«, singt Mouse mit tonlos leiernder Stimme.

Seine Wangen sind jetzt mit hässlichen roten Flecken bedeckt, und die Nase scheint seitlich abkippend in seinem Gesicht zu versinken - wie ein Atoll nach einem Seebeben.

»Deshalb trinken wir es hier. Und sind ... wir einst fort ... von hier ... trinken unsere Freunde all das Bier.«

So geht es nun schon seit Stunden: philosophische Weisheiten, Anweisungen für den hoffnungsvollen Hobbybierbrauer, Liedfetzen. Das durch die Wolldecken vor den Fenstern dringende Tageslicht ist merklich schwächer geworden.

Mouse, dessen Augen geschlossen sind, macht eine Pause. Dann stimmt er ein weiteres Trinklied an.

»Hundert Flaschen Bier in Regalen, einhundert Flaschen Bier ... sollte eine dieser Flaschen fallen ...«

»Ich muss fort«, sagt Jack. Er hat durchgehalten, so gut er konnte, weil er der Überzeugung war, Mouse könnte ihm irgendwelche wichtigen Einzelheiten mitteilen, aber er kann nicht länger warten. Irgendwo wartet Ty Marshall auf ihn.

»Augenblick«, sagt Doc. Er wühlt in seiner Arzttasche und bringt eine Injektionsspritze zum Vorschein. Er hält sie im Halbdunkel hoch und schnippt mit einem Fingernagel gegen den Glaszylinder.

»Was ist das?«

Doc bedenkt Jack und Beezer mit einem kurzen, grimmigen Lächeln. »Speed«, sagt er und injiziert es gleich darauf in den Arm von Mouse.

Einige Sekunden lang passiert gar nichts. Als Jack eben den Mund öffnet, um zu wiederholen, dass er gehen muss, reißt Mouse jedoch plötzlich die Augen auf. Sie sind jetzt völlig rot - in einem hellen, blutenden Rot. Als die Augen sich ihm zuwenden, weiß Jack aber, dass Mouse ihn erkennt. Ihn vielleicht erstmals seit seiner Ankunft wirklich erkennt.

Bear Girl flüchtet aus dem Raum und zieht eine verhallende Wortkette hinter sich her: »Ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr .«

»Scheiße«, sagt Mouse mit rostiger Stimme. »Scheiße, mit mir ist’s aus. Hab ich Recht?«

Beezer streicht seinem Freund kurz, aber zärtlich über den Kopf. »Yeah, Mann, das stimmt wohl. Aber vielleicht kannst du uns noch irgendwie auf die Sprünge helfen?«

»Hat mich einmal gebissen. Ein einziges Mal, und jetzt ... jetzt .« Er wendet seinen grausig roten Blick Doc zu. »Kann dich kaum sehen. Scheißaugen machen nicht mehr mit.«

»Mit dir geht’s zu Ende«, sagt Doc. »Ich will dir da nichts vormachen, Mann.«

»Nein, so weit ist’s noch nicht«, sagt Mouse. »Gib mir was zu schreiben. Damit ich eine Karte zeichnen kann. Beeil dich. Weiß nicht, was du mir gespritzt hast, Doc, aber das Zeug von dem Hund ist stärker. Ich bin bestimmt nicht mehr lange zurechnungsfähig. Schnell!«

Beezer tastet am Fußende der Couch herum und findet ein großformatiges Taschenbuch. Angesichts der anspruchsvollen Werke in den Regalen muss Jack beinahe lachen, als er den Titel sieht: Die sieben Wege zur Effektivität. Beezer reißt den hinteren Umschlag ab und gibt ihn Mouse mit der unbedruckten Innenseite nach oben.

»Bleistift«, krächzt Mouse. »Schnell. Ich hab’s alles, Mann. Ich hab’s hier.« Er tippt sich an die Stirn. Durch die Berührung löst sich ein Hautfetzen von der Größe einer kleinen Münze ab. Mouse wischt ihn an die Wolldecke, als wäre es ein Popel.

Beezer kramt einen abgekauten Bleistiftstummel aus einer Innentasche seiner Weste. Mouse nimmt ihn und macht dabei einen Mitleid erregenden Versuch, dankend zu lächeln. Das schwarze Zeug, das ihm aus den Augenwinkeln quillt, hat sich ausgebreitet und liegt jetzt wie eine verrottende Gallertschicht auf seinen Wangen. Es quillt weiterhin in winzigen schwarzen Punkten, die Jack an Henrys Bücher in Blindenschrift erinnern, aus den Hautporen der Stirn. Als Mouse sich auf die Unterlippe beißt, um sich zu konzentrieren, platzt das empfindliche Fleisch sofort auf. Blut sickert in den Bart. Jack vermutet, dass der Verwesungsgeruch weiter vorhanden ist, aber Beezer hat Recht behalten: Man gewöhnt sich daran.

Mouse legt sich den Buchumschlag quer hin und zeichnet rasch etwas darauf. »Sieh her«, sagt er zu Jack. »Das hier ist der Mississippi, okay?«

»Okay«, sagt Jack. Während er sich über Mouse beugt, nimmt er den Gestank wieder wahr. Aus der Nähe ist es weit mehr als ein bloßer Gestank: Es ist ein Miasma, das ihm in die Kehle dringen will. Trotzdem weicht Jack nicht davor zurück. Er weiß, wie verzweifelt Mouse sich anstrengt. Das Mindeste, was er tun kann, ist jetzt, seine Rolle zu spielen.

»Hier ist die Stadtmitte - das Nelson, Lucky’s, das Agincourt Theater, der Taproom ... hier mündet die Chase Street in die Lyall Road, dann in den Highway 35 ... hier ist Libertyville ... die Halle der Veteranenvereinigung . Goltz’s . ah, verdammt

Mouse fängt an, sich auf der Couch hin und her zu werfen. Auf Gesicht und Oberkörper platzen Geschwüre auf und beginnen zu bluten. Er schreit vor Schmerzen. Mit der Hand, die nicht den Bleistift hält, greift er sich ins Gesicht und betastet es hilflos.

In Jacks Innerem erklingt nun eine Stimme - die strahlende, gebieterische Stimme, an die er sich aus der Zeit seiner Wanderungen vor vielen Jahren erinnert. Er vermutet, dass es die Stimme des Talismans ist - oder was davon in seinem Geist und seiner Seele zurückgeblieben ist.

Es will nicht, dass er redet, es versucht ihn umzubringen, bevor er reden kann, es steckt in dem schwarzen Zeug, vielleicht ist es das schwarze Zeug, du musst ihn davon befreien ...

Manche Dinge sind nur zu schaffen, wenn die zimperliche Einmischung des Verstands ausgeschaltet wird; wo Schmutzarbeit zu tun ist, funktioniert der Instinkt oft am besten. Deshalb streckt Jack ohne nachzudenken eine Hand aus, packt den aus Mouses Augen quellenden schwarzen Schleim mit den Fingern und zieht daran. Anfangs dehnt das Zeug sich nur, als wäre es aus Gummi. Gleichzeitig kann Jack spüren, wie es sich in seinem Griff dreht und windet, ihn vielleicht zu kneifen oder zu beißen versucht. Dann schnellt es hörbar vibrierend heraus. Jack wirft die zuckende schwarze Masse mit einem Aufschrei auf den Fußboden.

Das Zeug versucht unter die Couch zu kriechen - das sieht Jack sogar, während er sich die Hände, vor Abscheu außer sich, am Hemd abwischt. Doc schmettert seine Arzttasche auf einen Teil davon. Beezer zerquetscht ein weiteres Stück mit dem Motorradstiefelabsatz. Das Zeug gibt ein matschiges Quatschen von sich.

»Verdammt, was ist dieser Scheiß?«, sagt Doc. Seine normalerweise rauchige Stimme klingt jetzt irgendwie falsettartig hoch. »Was zum Teufel

»Es ist nichts aus dieser Welt«, sagt Jack, »aber das ist jetzt unwichtig. Seht nur! Seht euch Mouse an!«

Das rote Leuchten ist aus Mouse’ Augen verschwunden; in diesem Moment wirkt er fast normal. Jedenfalls sieht er sie an, und die Schmerzen scheinen weg zu sein. »Danke«, flüstert er. »Ich wollte, du könntest alles so rausholen, Mann, aber es kommt schon zurück. Also, pass auf .«

»Ich bin ganz Ohr«, sagt Jack.

»Das rate ich dir auch«, antwortet Mouse. »Du glaubst, Bescheid zu wissen. Du denkst, du kannst das Haus wieder finden, auch wenn diese beiden es nicht können, und vielleicht kannst du’s wirklich, aber vielleicht weißt du nicht ganz so viel, wie du ... ah, Scheiße!« Irgendwo unter der Decke ertönt ein grässliches platzendes Geräusch, als ob irgendetwas nachgeben würde. Schweiß läuft Mouse übers Gesicht, vermengt sich mit dem aus seinen Poren quellenden Gift und verwandelt seinen Bart in ein feuchtes, schmutziges Grau. Als er seinen Blick wieder aufJack richtet, ist zu erkennen, dass das rote Leuchten sich erneut auszubreiten beginnt.

»Scheiße«, keucht Mouse. »Hätte nie gedacht, dass ich so abtreten würde. Pass auf, Hollywood ...« Auf seinen improvisierten Stadtplan zeichnet der Sterbende ein kleines Rechteck. »Das ist .«

»Ed’s Eats, wo wir Irma gefunden haben«, sagt Jack. »Ich weiß.«

»Okay«, flüstert Mouse. »Gut. Sieh her . hier auf der anderen Seite . wo die Schubert und die Gale Street liegen . nach Westen hin .«

Mouse zeichnet eine Linie, die vom Highway 35 nach Norden wegführt. Er ergänzt sie auf beiden Seiten durch Kreise, die Jack für Baumsymbole hält. Und quer über die Linie steht einem Schlagbaum gleich: Zutritt verbOTEN.

»Yeah«, sagt Doc leise. »Dort steht’s, das stimmt. Black House.«

Mouse achtet nicht auf ihn. Sein erlöschender Blick ist einzig und allein auf Jack gerichtet. »Hör zu, Cop. Hörst du mir zu?«

»Ja.«

»Jesus, das will ich hoffen«, sagt Mouse.

Wie schon immer nimmt die Arbeit Henry gefangen, füllt ihn aus, entrückt ihn. Langeweile und Kummer haben sich nie als stärker erwiesen als die alte Faszination, die Geräusche aus der Welt der Sehenden auf ihn ausüben. Offenbar kann sich auch Angst nicht gegen sie durchsetzen. Das Schwierigste ist also nicht, sich die Kassetten anzuhören, sondern zunächst mal den Mut aufzubringen, die Erste in den großen TEAC-Recorder zu stecken. In diesem Augenblick des Zögerns ist er sich sicher, das Parfüm seiner Frau selbst hier in der schalldichten, mit gefilterter Luft versorgten Umgebung seines Studios zu riechen. In diesem Augenblick des Zögerns ist er sich sicher, dass er nicht allein ist, dass irgendjemand (oder irgendetwas) unmittelbar draußen vor der Studiotür steht und ihn durch die verglaste obere Hälfte beobachtet. Und das ist tatsächlich vollkommen wahr. Wir, die wir mit Sehvermögen gesegnet sind, können sehen, was Henry verborgen bleibt. Es drängt uns, ihm zu sagen, was dort draußen ist, ihn aufzufordern, die Studiotür abzuschließen, sie um Himmels willen sofort abzusperren, aber wir können nichts als zusehen.

Henry will die Wiedergabetaste des Recorders drücken. Dann ändert sein Finger aber den Kurs und betätigt stattdessen den Kippschalter der Gegensprechanlage.

»Hallo? Ist dort draußen jemand?«

Die in Henrys Wohnzimmer stehende Gestalt, die ihn in seinem Studio wie jemand betrachtet, der etwa in ein Aquarium mit einem einzelnen exotischen Fisch starrt, gibt keinen Laut von sich. Die untergehende Sonne steht auf der anderen Seite des Hauses, und im Wohnzimmer ist es schon recht dunkel, weil Henry verständlicherweise vergesslich ist, was das Anknipsen von Lampen anlangt. Eimer Jespersons lustige Bienenpantoffeln (nicht dass sie uns unter diesen Umständen sehr belustigen) sind so ziemlich die hellsten Gegenstände dort draußen.

»Hallo? Wer da?«

Die durch die verglaste Hälfte der Studiotür blickende Gestalt grinst. In einer Hand hält sie die Heckenschere aus Henrys Garage.

»Letzte Gelegenheit«, sagt Henry, und als weiter keine Antwort kommt, verwandelt er sich in die Wisconsin Rat und kreischt in die Gegensprechanlage, um zu versuchen, das Etwas, dessen Gegenwart er spürt, so zu erschrecken, dass es seine Anwesenheit verrät: »Komm schon, Schätzchen, komm jetzt, du Motherfucker, sprich mit Ratty!«

Die Gestalt, die Henry beobachtet, fährt abrupt zurück - nicht anders als eine Schlange, deren Beute einen Scheinangriff wagt -, aber sie gibt keinen Laut von sich. Zwischen den grinsend gefletschten Zähnen kommt eine lederige alte Zunge zum Vorschein, die höhnisch hervorgestreckt wackelt. Dieses Subjekt hat sich von dem Parfüm bedient, das Mrs. Morton nie vom Toilettentisch in dem kleinen Ankleideraum neben dem Schlafzimmer wegzunehmen das Herz gehabt hat, und jetzt umgibt Henrys Besucher der Dunst von My Sin.

Henry gelangt zu dem Schluss, seine Einbildung habe ihm wieder einmal einen Streich gespielt - oy, was’n Fehler, hätte Morris Rosen ihm gesagt, wäre Morris hier vor Ort -, und drückt endlich die Wiedergabetaste.

Erst ist nur ein Räuspern zu hören, dann meldet sich Arnold Hrabowski. Der Fisherman unterbricht ihn, bevor er ausgeredet hat: Hallo, Arschgeige.

Henry spult zurück und hört dann abermals zu: Hallo, Arschgeige. Spult zurück, hört erneut zu: Hallo, Arschgeige. Ja, diese Stimme hat er schon mal gehört. Das weiß er bestimmt. Aber wo? Die Antwort wird kommen, Antworten dieser Art kommen immer - irgendwann -, und dorthin zu gelangen, ist ja das eigentlich Spannende. Henry hört wie gebannt zu. Seine Finger tanzen über die Tasten des Recorders vor und zurück wie die Finger eines Konzertpianisten über die Klaviatur eines Steinways. Das Gefühl, beobachtet zu werden, fällt von ihm ab, obwohl die Gestalt außerhalb des Studios - das Wesen, das Bienenpantoffeln trägt und die Heckenschere in der Hand hält - sich nicht von der Stelle rührt. Dessen Grinsen ist etwas verblasst. Auf das faltige Gesicht tritt allmählich ein mürrischer Ausdruck. In diesem Gesichtsausdruck liegen Verwirrung und so etwas wie ein erster Anflug von Angst. Dem alten Ungeheuer gefällt es nicht, dass dieser blinde Fisch im Aquarium offenbar seine Stimme aufgezeichnet hat. Natürlich spielt das keine Rolle, vielleicht gehört es sogar zu dem ganzen Spaß, aber wenn dem so ist, ist es Mr. Munshuns Spaß, nicht sein Spaß. Und sie sollten doch gemeinsam Spaß haben . oder etwa nicht?

Sie haben einen Notfall. Nicht ich. Sie.

»Nicht ich, Sie«, sagt Henry. Er imitiert den Tonfall des Unbekannten fast unheimlich genau. »Etwas Sauerkraut zu Ihrem Braten, mein Freund, ja?«

Ihr schlimmster Albtraum ... schlimmster Albtraum.

Abbalah.

Ich bin der Fisherman.

Henry hört mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er lässt die Kassette eine Zeit lang laufen, dann hört er sich ein und denselben Satz gleich viermal an: Maul halten und zuhören, Arschgeige ... Maul halten und zuhören ... Arschgeige ... Arschgeige ... Arschgeige ...

Nein, nicht Arschgeige. In Wirklichkeit sagt die Stimme Aschgeige. AASCH-geige.

»Ich weiß nicht, wo du jetzt bist, aber du bist in Chicago aufgewachsen«, murmelt Henry. »South Side. Und .«

Wärme auf seinem Gesicht. Plötzlich erinnert er sich an Wärme auf seinem Gesicht. Wie kommt das, Freunde und Nachbarn? Wie kommt das, o weise Götter?

Affenarsch.

»Affe«, sagt Henry. Jetzt reibt er sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. »Affenarsch. Affen-aasch. Wo hab ich das gehört?«

Er spielt wieder den Mitschnitt ab: Maul halten und zuhören, Arschgeige.

Er befragt sein Gedächtnis: Affenarsch.

Wärme auf seinem Gesicht.

Hitze? Licht?

Beides?

Henry wirft die Kassette aus und schiebt die andere ein, die Jack heute für ihn dagelassen hat.

Hallo, Judy. Bist du heute Judy - oder bist du Sophie? Der Abbalah lässt grüßen, und Gorg sagt: »Krah-krah-krah!« [Heiseres, schleimiges Lachen.] »Ty sagt auch hallo. Dein kleiner Junge ist sehr einsam ...«

Als Tyler Marshalls weinende, verängstigte Stimme aus den Lautsprechern hallt, fährt Henry zusammen und schaltet sofort den schnellen Vorlauf ein.

Es wirrrd mehr Morrr-de gehm.

Der Akzent ist jetzt viel ausgeprägter, eine Burleske, ein Witz, eine Mischung aus Katzenjammer Kids und Wolfman Jack, aber gerade deswegen noch aufschlussreicher.

Die kleinen Kinner ... wie Weiz’n geerrrnded. Wie Weiz’n. Geerrrnded wie ...

»Wie eine Arschgeige geerntet«, sagt Henry. »Affen-aasch. Ge-errrn-tet. Wer zum Teufel bist du, du Hundesohn?«

Zurück zu dem Notruf-Mitschnitt.

In der Hölle gibt’s Peitschen und im Sheol Ketten. Aber das klingt fast wie Beidschen, Shayol und Kedden.

»In der Hölle gibt’s .«, beginnt Henry, aber dann fällt ihm plötzlich eine andere Zeile ein.

»Lady Magowan’s Nightmare«. Das ist gut.

Ein Albtraum, in dem was vorkommt? Beidschen in der Hölle? Kedden im Shayol? Vielleicht auch Aaschgeigen?

»Großer Gott«, sagt Henry leise. »O . mein . Gott. Die Tanzveranstaltung. Er war bei dem Tanz.«

Jetzt fügt sich alles wie von selbst zusammen. Wie dumm sie alle gewesen sind! Wie verbrecherisch dumm! Das Fahrrad des Jungen ... es war dort aufgefunden worden. Gleich daneben, verdammt noch mal! Sie waren alle blind, sie verdienten es, zu Schiedsrichtern gemacht zu werden.

»Aber der war doch so verdammt alt«, flüstert Henry. »Und senil! Wie hätten wir vermuten sollen, dass solch ein Mann der Fisherman sein könnte?«

Aus dieser Frage ergeben sich weitere. Ist der Fisher-man beispielsweise in der Seniorenresidenz Maxton untergebracht, wo um Himmels willen kann er dann Ty Marshall versteckt halten? Und wie bewegt der Hundesohn sich in French Landing? Hat er irgendwo ein Auto stehen?

»Spielt keine Rolle«, murmelt Henry. »Jedenfalls nicht jetzt. Wer ist er, und wo ist er? Das sind die Dinge, auf die’s ankommt.«

Die Wärme auf seinem Gesicht - der erste Versuch seines Intellekts, die Stimme des Fisherman räumlich und zeitlich zu lokalisieren - war natürlich von dem Punktscheinwerfer gekommen, von Symphonic Stans Spot, rosa wie reifende Beeren. Und irgendeine Frau, irgendeine nette alte Frau .

Mr. Stan, juhu, Mr. Stan?

... hatte gefragt, ob er Musikwünsche erfülle. Aber bevor Stan hatte antworten können, hatte eine Stimme so ausdruckslos und hart wie zwei gegeneinander mahlende Steine Ich war zuerst da, alte Hexe.

... sie unterbrochen. Ausdruckslos und hart ... und mit der anklingenden teutonischen Rauheit, die South Side Chicago besagt, wahrscheinlich zweite oder dritte Generation. Kein erkennbarer Akzent mehr, aber doch noch verräterische Anklänge. O ja.

»Beidschen«, sagt Henry ins Leere. Er starrt genau Charles Burnside an - wenn er’s nur wüsste! »Kedden. Geerrrnded. Hasta la vista ... Baby.«

Lief es letztlich darauf hinaus? Auf einen vertrottelten alten Psychopathen, der ein bisschen wie Arnold Schwarzenegger klang?

Wer war die Frau gewesen? Wenn er sich an ihren Namen erinnert, kann er Jack anrufen - oder Dale, falls Jack sich weiter nicht meldet - und den Albtraum beenden, unter dem French Landing gelitten hat.

»Lady Magowan’s Nightmare«. Das ist gut.

»Nightmare«, sagt Henry, dann korrigiert er seine Aussprache: »Nahht-mare.« Auch diesmal klingt seine Imitation ausgezeichnet. Jedenfalls in den Ohren des alten Knackers, der draußen vor der Studiotür steht, viel zu gut. Er knurrt jetzt erbittert und lässt die Heckenschere vor der Glasscheibe auf- und zuschnappen. Wie kann der Blindmann dort drinnen genau wie er reden? Das ist nicht recht; das geht doch nicht. Das alte Ungeheuer brennt darauf, Henry Leyden die Stimmbänder aus der Kehle zu schneiden. Bald, verspricht er sich, wird er genau das tun.

Und sie essen.

Henry sitzt in seinem Drehsessel, trommelt nervös mit den Fingern aufs polierte Eichenholz vor ihm und ruft sich die kurze Begegnung am Musikpodium ins Gedächtnis zurück. Das war ziemlich zu Beginn des Tanzes zum Erdbeerfest gewesen.

Sagen Sie mir Ihren Namen und was Sie hören möchten.

Ich bin Alice Weathers und ... »Moonglow«, bitte. Von Benny Goodman.

»Alice Weathers«, sagt Henry laut. »Das war ihr Name, und wenn sie deinen Namen nicht weiß, mein mörderischer Freund, dann will ich eine Arschgeige sein.«

Er will aufstehen, und in diesem Augenblick beginnt irgendjemand - irgendetwas -, ganz leicht an die verglaste obere Hälfte der Studiotür zu klopfen.

Bear Girl ist wieder hereingekommen, sozusagen gegen ihren Willen, und nun sind sie, Jack, Doc und der Beez um die Couch versammelt. Mouse ist halb in ihr versunken. Er sieht wie jemand aus, der elendiglich im Treibsand verreckt.

Na ja, denkt Jack, hier gibt’s zwar keinen Treibsand, aber er verreckt elendiglich, das stimmt. Ganz außer Zweifel.

»Hört zu«, sagt Mouse auf einmal. In seinen Augenwinkeln bildet sich wieder die schwarze Schmiere. Noch schlimmer - sie rinnt ihm schon aus dem Mundwinkeln.

Der Verwesungsgeruch ist jetzt weit stärker als zuvor, während Mouse’ innere Organe den Kampf aufgeben. Jack ist, offen gesagt, erstaunt, dass sie überhaupt so lange durchgehalten haben.

»Red nur«, sagt Beezer. »Wir hören zu.«

Mouse sieht Doc an. »Sobald ich fertig bin, gibst du mir das Feuerwerk. Den Cadillac-Stoff. Verstanden?«

»Du willst also aussteigen, bevor dich das erwischt, was immer du hast.«

Mouse nickt.

»Wird gemacht«, sagt Doc. »Du wirst mit ’nem Lächeln auf dem Gesicht von dannen gehen.«

»Ich glaub’s zwar nicht, Bruder, aber ich werd’s versuchen.«

Mouse richtet seinen sich rot verfärbenden Blick auf Beezer. »Wenn’s vorbei ist, wickelst du mich in eines von den Nylonzelten in der Garage. Leg mich in die Badewanne. Ich wette, dass du mich um Mitternacht in den Abfluss runterspülen kannst wie ... wie einen Schwall Bierschaum. Aber sei lieber vorsichtig. Fass nicht an, was auch immer von mir übrig bleibt.«

Bear Girl bricht in Tränen aus.

»Nicht weinen, Darling«, sagt Mouse. »Ich steig ja vorher aus. Doc hat’s mir versprochen. Beez?«

»Hier, Kumpel.«

»Du hältst eine kleine Trauerfeier für mich. Okay? Lies ein Gedicht . das eine von Auden . das eine, bei dem’s dir immer kalt über den Rücken gelaufen ist.«

»>Du sollst die Bibel nicht um ihrer Prosa willen lesen««, sagt Beezer. Er weint. »Wird gemacht, Mousie.«

»Spiel was von den Dead ... vielleicht >Ripple< ... und sorg dafür, dass ihr alle genug Kingsland getankt habt, um mich gut und ordentlich ins nächste Leben zu taufen. Ich glaub nicht, dass ... es ein Grab geben wird, auf das ihr pissen könnt, aber . tut euer Bestes.«

Jack muss lachen. Er kann nichts dagegen tun. Aber jetzt ist die Reihe an ihm, die gesamte Energie von Mouse’ scharlachrotem Blick auf sich zu spüren.

»Versprich mir, dass du bis morgen wartest, bevor du dort rausgehst, Cop.«

»Mouse, ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Du musst aber. Gehst du heute Nacht dort raus, brauchst du dir zwar wegen dem Höllenhund keine Sorgen zu machen ... aber die anderen Ungeheuer im Wald um das Haus ... die anderen Ungeheuer ...« Er rollt grässlich mit den roten Augen. Schwarzes Zeug rinnt ihm wie Teer in den Bart. Dann zwingt er sich irgendwie dazu weiterzusprechen. »Die anderen Ungeheuer draußen im Wald fressen dich wie ein Bonbon.«

»Ich glaube, das Risiko muss ich eingehen«, sagt Jack stirnrunzelnd. »Irgendwo wartet ein kleiner Junge .«

»Der ist sicher«, flüstert Mouse.

Jack zieht die Augenbrauen hoch, weil er nicht weiß, ob er Mouse richtig verstanden hat. Dürfte er sich überhaupt darauf verlassen, selbst wenn er richtig gehört hat? Im Körper von Mouse ist irgendein hoch wirksames, böses Gift am Werk. Bisher hat er ihm widerstanden, hat sich trotzdem verständlich machen können, aber ...

»Für einige Zeit sicher«, sagt Mouse. »Nicht vor allem ... es gibt Ungeheuer, die ihn wahrscheinlich trotzdem erwischen könnten . aber vorerst ist er vor Mr. Mun-ching sicher. So heißt er doch? Munching?«

»Munshun, glaube ich. Woher kennst du seinen Namen?«

Mouse bedenkt Jack mit einem unvergleichlich schaurigen Lächeln. Es ist das Lächeln einer sterbenden Sibylle. Es gelingt ihm nochmals, sich an der Stirn zu berühren, und Jack sieht mit Entsetzen, dass die Finger des Mannes jetzt miteinander verschmelzen und sich unterhalb der Nägel schwarz verfärben. »Hab’s hier oben drin, Mann. Hab alles hier oben drin. Das hab ich doch schon gesagt. Und pass auf: Es ist besser, wenn der Junge dort drüben ... wo er ist ... von irgendeinem Riesenkäfer oder einer Felsenkrabbe gefressen wird, als wenn du bei dem Versuch umkommst, ihn zu retten. Kommt’s dazu, kriegt der Abbalah den Jungen letztlich todsicher. Das ist jedenfalls das, was dein ... dein Freund sagt.«

»Welcher Freund?«, fragt Doc misstrauisch.

»Unwichtig«, sagt Mouse. »Hollywood weiß, von wem ich rede. Stimmt’s, Hollywood?«

Jack nickt widerstrebend. Damit kann nur Speedy gemeint sein. Oder Parkus, wenn einem das lieber ist.

»Wart also bis morgen«, sagt Mouse, »bis mittags, wenn die Sonne in beiden Welten am stärksten scheint. Verspricht mir.«

Zunächst kann Jack nicht antworten. Er fühlt sich hin und her gerissen und erleidet dabei fast Todesqualen.

»Es wäre sowieso fast dunkel, bis Sie wieder draußen am Highway sind«, sagt Bear Girl ruhig.

»Und in diesen Wäldern gibt’s schlimmen Scheiß, das ist wahr«, sagt Doc. »Der lässt das ganze Zeug in diesem Blair Witch Project beschissen zahm erscheinen. Ich glaube nicht, dass Sie’s nachts damit aufnehmen wollen. Außer natürlich, Sie sind von einem Todeswunsch getrieben.«

»Wenn ihr fertig seid ...«, flüstert Mouse. »Wenn ihr fertig seid . wenn noch jemand von euch übrig ist . brennt ihr dieses Haus nieder. Dieses Loch. Dieses Grab. Brennt es nieder, hört ihr? Schließt die Tür.«

»Yeah«, sagt Beezer. »Gehört und verstanden, Kumpel.«

»Eine letzte Sache«, sagt Mouse. Er spricht jetzt direkt Jack an. »Du kannst es vielleicht finden ... aber ich denke, ich hab noch etwas, das du brauchst. Es ist ein Wort. Es ist für dich machtvoll, weil du ... weil du mal etwas berührt hast. Irgendwann vor langer Zeit. Diesen Teil verstehe ich nicht, aber .«

»Schon in Ordnung«, sagt Jack. »Ich verstehe ihn. Wie heißt das Wort, Mouse?«

Einen Augenblick lang fürchtet Jack, dass Mouse es ihm letztlich nicht wird sagen können. Irgendetwas kämpft offensichtlich darum, es ihn nicht aussprechen zu lassen, aber in diesem Kampf bleibt Mouse Sieger. Jack ahnt, dass das sehr wahrscheinlich der letzte Sieg seines Lebens ist.

»D’yamba«, sagt Mouse. »Jetzt du, Hollywood. Sprich mir nach.«

»D’yamba«, sagt Jack, und in diesem Augenblick rutscht eine Reihe schwerer Paperbacks von einem der provisorischen Regale am Fuß der Couch. Die Bücher hängen im Halbdunkel . hängen . hängen . und krachen dann zu Boden.

Bear Girl stößt einen kleinen Schrei aus.

»Vergiss es nicht«, sagt Mouse. »Du wirst’s brauchen.«

»Wie? Wie werde ich’s brauchen?«

Mouse schüttelt müde den Kopf. »Weiß ... nicht.«

Beezer greift über Jacks Schulter hinweg und nimmt die jämmerlich hingeschmierte Kartenskizze an sich. »Wir treffen uns morgen am späten Vormittag in der Sand Bar«, sagt er zu Jack. »Seien Sie um halb zwölf da, dann müssten wir diesen gottverdammten Waldweg ziemlich genau mittags erreichen. Bis dahin sollte ich das hier vielleicht einfach behalten. Eine kleine Versicherungspolice, damit sichergestellt ist, dass Sie halten, was Sie Mouse versprochen haben.«

»Okay«, sagt Jack. Er braucht die Karte nicht, um Chummy Burnsides Black House zu finden, aber Mouse hat natürlich Recht: Es ist vermutlich kein Ort, an den man sich nach Einbruch der Dunkelheit wagen möchte. Jack widerstrebt es, Ty Marshall im Feuerland zu lassen -es erscheint ihm fast sündhaft unrecht -, aber er muss berücksichtigen, dass hier mehr auf dem Spiel steht als das Leben eines kleinen Jungen.

»Und Sie, Beezer, wissen Sie auch ganz bestimmt, dass Sie dorthin zurückgehen wollen?«

»Teufel, nein, ich will nicht dorthin zurück«, sagt Beezer beinahe entrüstet. »Aber irgendetwas hat meine Tochter ermordet - meine Tochter! -, und es ist von dort nach hier gekommen. Wollen Sie vielleicht behaupten, Sie wüssten nicht, dass das stimmt?«

Jack gibt keine Antwort. Natürlich ist das so. Und natürlich will er Doc und Beez bei sich haben, wenn er auf die Zufahrt zu Black House abbiegt. Das heißt, wenn sie es ertragen können, ihn zu begleiten.

D’yamba, denkt er. D’yamba. Nicht vergessen!

Er wendet sich wieder der Couch zu. »Mouse, hast du .«

»Nein«, sagt Doc. »Er wird den Cadillac-Stoff doch nicht brauchen, glaube ich.«

»Hä?« Jack starrt den großen Biker-Brauer verständnislos an. Er kommt sich dumm vor. Dumm und erschöpft.

»Jetzt tickt nur noch seine Uhr«, sagt Doc und beginnt zu singen. Im nächsten Augenblick fällt Beezer ein, dann Bear Girl. Jack tritt mit einem Gedanken, der dem Henrys sonderbar ähnlich ist, von der Couch zurück: Wie ist’s so früh so spät geworden? Wie zum Teufel ist das passiert?

»Im Himmel, da gibt’s kein Bier . deshalb trinken wir es hier . und sind . wir einst fort . von hier .«

Jack geht auf Zehenspitzen durchs Wohnzimmer. In der Nähe der Tür hängt eine schwach beleuchtete Reklameuhr für Kingsland Premium Golden Pale Ale. Unser alter Freund - dem man endlich jedes Jahr seines Alters ansieht und der keineswegs glücklich wirkt - starrt die Uhrzeit ungläubig an und glaubt sie erst, als er die Anzeige mit seiner Armbanduhr verglichen hat. Kurz vor zwanzig Uhr. Er war stundenlang hier.

Es ist fast dunkel, und der Fisherman ist weiter irgendwo dort draußen unterwegs. Von seinen Spielgefährten aus einer anderen Welt ganz zu schweigen.

D’yamba, denkt er nochmals, während er die Haustür öffnet. Und als er auf die splitterigen Stufen hinaustritt und die Tür hinter sich schließt, spricht er mit großer Aufrichtigkeit ins herabsinkende Dunkel: »Speedy, am liebsten würde ich dir den Hals umdrehen.«

24

D’yamba ist ein leuchtendes und mächtiges Zauberwort; starke Querverbindungen bilden ein Netz, das sich verzweigend ins Unendliche reicht. Als Jack Sawyer das lebende Gift aus Mouse’ Augen reißt, leuchtet das d’yamba erstmals im Geist des Sterbenden auf, und dieser Geist wird einige Augenblicke lang von Wissen erfüllt; durch die Verästelungen des Netzes fließt etwas von seiner leuchtenden Stärke, und ein Hauch von d’yamba erreicht wenig später Henry Leyden. Unterwegs berührt das d’yamba Tansy Freneau, die in einer Fensternische der Sand Bar sitzend eine schlanke, schöne junge Frau sieht, die im rückwärtigen Teil des Parkplatzes in Licht gebadet lächelnd Gestalt annimmt, und kurz vor dem Verschwinden der Erscheinung erkennt, dass ihr ein Blick auf die Frau gegönnt wurde, die ihre Irma geworden wäre; es berührt Dale Gilbertson, der auf der Heimfahrt von der Polizeistation jäh tiefe Sehnsucht nach Jack Sa-wyers Gegenwart verspürt, eine Sehnsucht wie Herzschmerzen, und sich schwört, den Fall Fisherman allen Hindernissen zum Trotz bis zum Ende mit ihm durchzustehen; das d’yamba sprüht eine Netzfaser entlang zu Ju-dy Marshall hinab und öffnet ein Fenster zum Anderland, in dem Ty in einer stahlgrauen Zelle schläft - auf Rettung wartend und noch am Leben; und in Charles Burnside berührt es den wahren Fisherman, Mr. Muns-hun, einst als Mr. Monday bekannt, als Burnys Fingerknöchel eben ans Glas klopfen. Mr. Munshun spürt wie eine Warnung einen leichten eiskalten Luftzug in der Brust und erstarrt vor Wut und Hass über diese Einmischung; Charles Burnside, der nichts von dem d’yamba weiß und es daher nicht hassen kann, spürt den Gefühlsausbruch seines Herrn und erinnert sich an einen Tag in Chicago, an dem ein vermeintlich toter Junge aus einem Sack kroch und auf dem Rücksitz seines Wagens belastende Blutflecken hinterließ. Verdammt belastendes Blut, eine Substanz, die ihn weiter zu verspotten schien, als er ihre sichtbaren Spuren längst getilgt hatte. Aber Henry Leyden, mit dem wir diese Kette begonnen haben, wird nicht von Gnade oder Wut heimgesucht; wovon Henry angerührt wird, das ist eine Art wissender Hellsichtigkeit.

Rhodas Besuche, das erkennt er jetzt, waren sämtlich ein Produkt seiner Einsamkeit. Das Einzige, was er die Treppe heraufkommen hörte, war seine fortdauernde Sehnsucht nach seiner Frau. Und das Wesen auf der anderen Seite der Studiotür ist der schreckliche alte Mann aus dem Maxton, der Henry das antun will, was er schon drei Kindern angetan hat. Wer würde sonst um diese Zeit erscheinen und ans Fenster der Studiotür klopfen? Weder Dale noch Jack und ganz bestimmt nicht Elvena Morton. Jeder andere Besucher würde draußen bleiben und erst an der Tür klingeln.

Henry braucht nur einen Augenblick, um zu überle-gen, welche Möglichkeiten er hat, und einen rudimentären Plan auszuarbeiten. Er hält sich für flinker und stärker als der Fisherman, der seiner Stimme nach Mitte bis Ende achtzig zu sein scheint, und der Fisherman hat keine Ahnung, dass sein vorgesehenes Opfer seine Identität kennt. Um diese Tatsache zu seinem Vorteil zu nutzen, muss Henry erstaunt, aber freundlich wirken, als wäre er lediglich neugierig, was seinen Besucher angeht. Und sobald er die Studiotür öffnet, die er leider nicht abgesperrt hat, wird er rasch und entschlossen handeln müssen.

Sind wir dem gewachsen?, fragt Henry sich, dann denkt er: Wollen wir’s hoffen.

Brennt im Haus Licht? Nein. Da er keinen Besuch erwartete, hat er sich die Farce gespart, die Lampen einzuschalten. Daraus ergibt sich die Frage: Wie dunkel ist es draußen? Vielleicht noch nicht dunkel genug, stellt Henry sich vor - in einer Stunde würde er sich wahrscheinlich gänzlich ungesehen durchs Haus bewegen können, um durch die Hintertür zu entkommen. Zum jetzigen Zeitpunkt stehen seine Chancen aber vermutlich nicht besser als fifty-fifty. Immerhin geht hinter seinem Haus gerade die Sonne unter, und jede Sekunde Verzögerung, die Henry herausschinden kann, bedeutet ein bisschen mehr Dunkelheit in Wohnzimmer und Küche.

Seit die draußen lauernde Gestalt ans Glas der Studiotür geklopft hat, sind vielleicht zwei Sekunden vergangen, und Henry, der die völlige Ruhe eines Mannes bewahrt hat, der offenbar das Klopfen seines Besuchers überhört hat, kann nicht länger auf Zeit spielen. Wie in Gedanken verloren, umfasst er mit einer Hand den Sockel eines schweren Rundfunkpreises, den George Rathbun vor einigen Jahren in absentia überreicht bekommen hat, während die andere Hand aus der flachen Bleistiftschale vor ihm ein Springmesser klaubt, das ein Bewunderer einst als Geschenk für die Wisconsin Rat beim CollegeSender KWLA abgegeben hat. Henry benützt dieses Messer, um CD-Hüllen aus ihrer Verpackung zu schälen. Erst vor kurzem hat er sich auf der Suche nach einer nützlichen Beschäftigung für seine Hände beigebracht, es zu schärfen. Mit eingeschobener Klinge sieht das Messer wie ein ungewöhnlich flacher Füller aus. Zwei Waffen sind doppelt so gut wie eine, denkt sich Henry, vor allem, wenn der Gegner die zweite Waffe für harmlos hält.

Inzwischen sind vier Sekunden verstrichen, seit ans Fenster neben ihm geklopft wurde, und sowohl Burny als auch Mr. Munshun sind auf ihre jeweilige Weise beträchtlich unruhiger geworden. Mr. Munshun schreckt hasserfüllt vor dem Hauch von d’yamba zurück, der diese ansonsten entzückende Szene irgendwie kontaminiert hat. Sein Auftauchen kann nur eines bedeuten: Irgendein Mensch, der mit dem Blinden in Verbindung steht, ist dem Schwarzen Haus nahe genug gekommen, um das Gift seines grimmen Hüters spüren zu können. Und das bedeutet wiederum, dass der verhasste Jack Sawyer jetzt zweifellos von der Existenz von Black House weiß und beabsichtigt, eine Bresche in dessen Schutzwälle zu schlagen. Es wird Zeit, den Blinden zu vernichten, um dann heimzukehren.

Burny nimmt nur eine unausgegorene Mischung aus Hass und einem überraschend an Angst erinnernden Gefühl seines Herrn wahr. Burny empfindet Wut darüber, dass Henry Leyden sich seine Stimme angeeignet hat, eine Tatsache, die er als bedrohlich erkennt; noch stärker als dieser Selbsterhaltungstrieb ist jedoch seine Sehnsucht nach dem einfachen, aber nachhaltigen Vergnügen, Blut zu vergießen. Sobald Henry abgeschlachtet ist, will Charles Burnside nur noch ein weiteres Opfer erledigen, bevor er in das Schwarze Haus flüchtet und damit ein Reich betritt, das er unter dem Namen Sheol kennt.

Mit großen, missgebildeten Fingerknöchel klopft er abermals ans Glas.

Henry wendet sich mit einer makellosen Imitation milder Überraschung dem Fenster zu. »Dachte ich’s mir doch, dass dort draußen jemand ist. Wer ist da? ... Na los, reden Sie!« Er betätigt einen Kippschalter und spricht ins Mikrofon. »Falls Sie etwas sagen, kann ich Sie nicht verstehen. Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit, hier Schluss zu machen, dann komme ich sofort zu Ihnen hinaus.« Er sieht wieder nach vorn und bleibt über den Arbeitstisch gebeugt sitzen. Mit der linken Hand berührt er wie zufällig den edlen Rundfunkpreis; die rechte Hand hält er verborgen. Henry ist scheinbar tief in Gedanken versunken. In Wirklichkeit horcht er jedoch angestrengter als je zuvor in seinem Leben.

Er hört, wie der Türknauf der Studiotür sich mit wundersamer Langsamkeit im Uhrzeigersinn dreht. Die Tür geht fast lautlos auf: einen Fingerbreit, zwei, drei. Der schwere Blütenduft von My Sin dringt ins Studio und scheint sich als dünner chemischer Film über das Mikrofon, die Tonbandbehälter, alle Anzeigegeräte und Henrys absichtlich dargebotenen Nacken zu legen. Die Sohle von etwas, was ein Filzpantoffel sein könnte, huscht über den Fußboden. Henry umklammert seine Waffen fester und wartet auf das spezielle Geräusch, das sein Signal sein wird. Er hört einen weiteren fast lautlosen Schritt, dann noch einen, und weiß, dass der Fisherman hinter ihm angelangt ist. Auch er trägt eine Waffe - irgendeinen Gegenstand, der den Parfümnebel mit dem Grasgeruch von Vorgärten und der Schmierigkeit von Maschinenöl überlagert. Henry kann sich nicht vorstellen, was das ist, aber die Bewegung der Luft verrät ihm, dass es schwerer als ein Messer ist. Das kann sogar ein Blinder sehen. Eine gewisse Schwerfälligkeit im o so leisen nächsten Schritt des Fisherman lässt Henry vermuten, dass der alte Bursche seine Waffe mit beiden Händen hält.

In Henrys Vorstellung ist ein Bild entstanden, auf dem sein Gegner zum Angriff bereit hinter ihm steht, und dieses Bild ergänzt er jetzt durch ausgestreckte, erhobene Arme. Die Hände halten ein Gerät, das eine Heckenschere sein könnte. Henry hat seine eigenen Waffen, von denen die beste das Überraschungsmoment ist, aber die Überraschung muss zur rechten Zeit kommen, um wirkungsvoll zu sein. Henrys Timing muss sogar makellos sein, wenn er einem raschen, blutigen Tod entgehen will. Er lässt den Kopf noch etwas tiefer sinken und wartet auf sein Signal. Seine Ruhe erstaunt ihn selbst.

Bevor ein Mann, der mit einem Gegenstand wie einer Garten- oder Heckenschere unbeobachtet hinter seinem sitzenden Opfer steht, den Stoß führt, nimmt er sich eine lange Sekunde Zeit, um ein Hohlkreuz zu machen und die Arme zu heben, damit er alle Kraft in den nach unten gerichteten Stoß legen kann. Während er die Arme streckt und ein Hohlkreuz macht, verändern seine Kleidungsstücke ihre Lage am Körper. Stoff gleitet über Fleisch; Gewebe können sich aneinander reiben; ein Gürtel kann knarren. Gleichzeitig wird tief eingeatmet. Ein gewöhnlicher Mensch würde von diesen verräterischen Störungen wenig oder gar nichts hören, aber bei Henry Leyden können wir uns darauf verlassen, dass er sie alle hört.

Dann sind sie endlich zu hören. Stoff gleitet über Haut und raschelt aneinander; Luft zischt in Burnys Bronchien. Henry stößt sofort den Drehsessel zurück, wirft sich mit derselben Bewegung herum und schlägt mit dem Rundfunkpreis nach seinem Angreifer, während er hochschnellt. Es klappt! Er spürt die Wucht des Aufpralls, die sich durch seinen Arm fortpflanzt, und hört ein überraschtes, schmerzerfülltes Grunzen. Eine Wolke von My Sin steigt ihm in die Nase. Der Drehsessel knallt ihm an die Knie. Henry drückt auf den Knopf des Springmessers, spürt, wie die lange Klinge hinausschnellt und sticht zu. Das Messer bohrt sich in Fleisch. Nur zwei Handbreit von seinem Gesicht entfernt ertönt ein schriller Wutschrei. Henry trifft seinen Angreifer wieder mit dem Rundfunkpreis, dann reißt er das Messer heraus und sticht nochmals zu. Hagere Arme, vor denen ihm graust, schlingen sich ihm um Hals und Schultern, und der Angreifer keucht ihm seinen übel riechenden Atem ins Gesicht.

Henry merkt, dass er verletzt ist, denn an seiner linken Rückenseite macht sich ein Schmerz bemerkbar, der an der Oberfläche brennt und darunter dumpf pocht. Die gottverdammte Heckenschere, denkt er und sticht abermals mit dem Springmesser zu. Diesmal geht der Stoß ins Leere. Eine knorrige Hand packt ihn am Ellbogen, eine andere umklammert seine Schulter. Die Hände ziehen ihn nach vorn, und um aufrecht zu bleiben, stützt er ein Knie auf die Sitzfläche des Drehsessels. Eine lange Nase knallt gegen seinen Nasenrücken und verschiebt dabei die Sonnenbrille. Was dann folgt, erfüllt ihn geradezu mit Abscheu: Zwei Zahnreihen verbeißen sich wie schartige Muschelränder in seiner linken Backe und sägen sich durch die Haut. Blut strömt ihm übers Gesicht. Die Zahnreihen kommen zusammen und reißen ein ovales Stück von Henrys Haut ab, und während ihn ein weiß glühender Schmerz durchzuckt, der auf unglaubliche Weise weit schlimmer als der Schmerz im Rücken ist, kann er hören, wie sein Blut an die Visage des alten Ungeheuers spritzt. Angst und Abscheu, aber auch eine erstaunlich hohe Dosis Adrenalin, geben ihm die Kraft, mit seinem Messer zuzustoßen, während er sich aus der Umklammerung des Mannes losreißt. Die Klinge trifft einen sich bewegenden Körperteil des Fisherman - einen Arm, wie Henry glaubt.

Bevor er irgendetwas wie Befriedigung empfinden kann, hört er das Schnippen, mit dem die Heckenschere die Luft zerschneidet, bevor sie sich ihm in die Messer-hand gräbt. Das Ganze passiert so schnell, dass er es kaum mitkommt: die Schneiden der Heckenschere zerteilen die Haut, schnippen die Knochen durch und trennen die beiden letzten Finger seiner rechten Hand ab.

Und dann, als ob die Heckenschere der letzte Kontakt des Fisherman mit ihm gewesen sei, ist er frei. Henry findet mit dem Fuß die Türkante und kickt sie beiseite, bevor er sich dann durch die Öffnung stürzt. Er landet auf dem Fußboden, der so glitschig ist, dass er darauf ausrutscht, als er sich wieder aufzurappeln versucht. Kann all das Blut von ihm stammen?

Die Stimme, die er in einem anderen Zeitalter, in einer anderen Ära analysiert hat, dringt durch die Studiotür. »Du hast zugestochen, du Arschgeige!«

Henry bleibt nicht stehen, um ihr zu lauschen; Henry ist unterwegs, wobei er sich wünscht, nicht das Gefühl haben zu müssen, eine breite, deutliche Blutspur hinter sich herzuziehen. Irgendwie scheint er mit dem Zeug getränkt zu sein, sein Hemd ist von Blut durchnässt, und die Hosenbeine sind hinten nass. Blut strömt ihm weiter übers Gesicht, und trotz des Adrenalinschubs spürt Henry, wie seine Kräfte allmählich nachlassen. Wie viel Zeit bleibt ihm noch, bis er verblutet - zwanzig Minuten?

Er schlittert den Flur entlang und rennt ins Wohnzimmer.

Aus dieser Sache komme ich nicht mehr raus, denkt Henry. Ich habe schon zu viel Blut verloren. Aber ich kann’s wenigstens durch die Tür schaffen, um im Freien zu sterben, wo die Luft frischer ist.

Vom Flur her erreicht ihn die heisere Stimme des Fis-herman: »Ich hab das Stück von deiner Backe aufgegessen, und jetzt sind die Finger dran. Hörst du mir zu, du verdammtes Arschloch?«

Henry schafft es bis zur Tür. Seine Hand rutscht immer wieder von dem Türknauf ab; der Knauf will sich nicht drehen lassen. Er tastet nach dem Verriegelungsknopf, der hineingedrückt ist.

»Ich will wissen, ob du mir zuhörst!« Der Fisherman kommt näher, und seine Stimme ist voller Wut.

Henry braucht nur den Knopf zu drücken, der das Schloss entriegelt und den Türknauf zu drehen. Er könnte in einer Sekunde aus dem Haus sein, aber seine restlichen Finger wollen ihm einfach nicht gehorchen. Also gut, ich werde sterben, sagt er sich. Ich werde Rhoda folgen, ich werde meiner Lerche folgen, meiner schönen Lerche.

Dann Kaugeräusche, komplett mit Geschmatze und Knirschlauten. »Du schmeckst wie Scheiße. Ich esse deine Finger, und sie schmecken wie Scheiße. Weißt du, was ich mag? Weißt du, was ich am allerliebsten esse? Die zarten Hinterbacken kleiner Kinder. Die mochte Albert Fish auch, o ja, die hat er gemocht. Mmm-mmm! Babyarsch! Das ist was ganz Leckeres!«

Henry stellt fest, dass er irgendwie die widerspenstige Tür entlang hinuntergerutscht ist und sich jetzt - viel zu heftig atmend - auf allen vieren befindet. Er schiebt sich vorwärts und kriecht hinter das Sofa im Missionsstil, auf dem er behaglich sitzend zugehört hat, wie Jack Sawyer einiges von Charles Dickens geschriebenen eloquenten Sätzen vorgelesen hat. Zu den Dingen, die er nun nie mehr wird tun können, das wird ihm jetzt klar, gehört, dass er erfährt, wie Bleak House ausgeht. Und dass er nie wieder mit seinem Freund Jack Zusammensein können wird.

Die Schritte des Fisherman poltern ins Wohnzimmer und machen dort Halt. »Scheiße, wo zum Teufel steckst du, du Arschloch? Vor mir kannst du dich nicht verstecken.« Die Schneiden der Heckenschere machen schnippschnapp.

Entweder ist der Fisherman so blind geworden wie Henry - oder im Wohnzimmer ist es inzwischen stockfinster. Ein klein wenig Hoffnung, einem Zündholz-flämmchen gleich, flackert in Henry auf. Vielleicht wird sein Widersacher die Lichtschalter nicht finden können.

»Arschloch!« Aaschloch. »Verdammt, wo hast du dich verkrochen?« ’dammt, wo hassu dich vakrochn?

Faszinierend, denkt Henry. Je zorniger und frustrierter der Fisherman wird, desto mehr nähert sein Akzent sich diesem bizarren Nicht-Deutsch an. Es ist nicht mehr die South Side von Chicago, aber auch nichts anderes. Garantiert ist es kein wirkliches Deutsch. Hätte Henry Dr. Spieglemans Beschreibung des Akzents gehört - Englisch, das ein Franzose spricht, der einen deutschen Akzent anzunehmen versucht -, hätte er dazu lächelnd genickt. Es klingt wie ein außerirdischer deutscher Akzent, wie etwas, was in Richtung Deutsch mutiert ist, ohne es je gehört zu haben.

»Du hast mich verletzt, du Schweinehund!« Du hasd mich valesst, du Schwainhunt!

Der Fisherman stößt gegen den Sessel und schleudert ihn wütend beiseite. Mit seiner Chicagoer Stimme sagt er: »Wart nur, ich find dich, Freundchen, und dann schneid ich dir deinen Scheißkopf ab.«

Eine Stehlampe fällt um. Die Füße in Pantoffeln stampfen behäbig auf die rechte Seite des Zimmers hinüber. »Ein Blinder, der sich in der Dunkelheit versteckt, was? He, das ist gelungen, das ist echt gelungen. Ich will dir was sagen: Ich hab schon längere Zeit keine Zunge mehr gegessen, aber ich glaube, dass ich deine versuchen werde.« Ein Beistelltisch mit darauf stehender Lampe kracht scheppernd zu Boden. »Dazu noch was. Zungen sind komisch. Die Zunge von einem alten Mann schmeckt nicht viel anders als die von einem jungen Burschen - obwohl Kinderzungen natürlich doppelt so gut wie die beiden anderen sind. Als ich Fridz Hahhmann wah, hab ich ville Zungn gegessn, haha.«

Merkwürdig - diese extraterrestrische Version eines deutschen Akzents ist wie eine zweite Stimme aus dem Fisherman hervorgebrochen. Eine Faust hämmert an die Wand, und die schleppenden Schritte kommen näher. Henry kriecht auf Ellbogen gestützt ums andere Ende des Sofas und schlängelt sich schutzsuchend auf einen langen, niedrigen Tisch zu. Der Fußboden schwimmt in Blut, und als Henry den Kopf in die Hände stützt, pulsiert ihm warmes Blut gegen das Gesicht. Der weiß glühende Schmerz in den Fingern lässt die Schmerzen an Wange und Rücken fast verblassen.

»Du kannst dich nicht ewig verstecken«, sagt der Fis-herman. Er wechselt unmittelbar zu dem bizarren Akzent über und antwortet sich: »Genuch daffon, Burn-Burn. Wia habn wichdigere Abeit ssu duhn.«

»He, du hast ihn vorhin selbst Aaschloch genannt. Er hat mich verletzt!«

»Füxe in Fuxbauden, oho, Radden in Raddenlöchern, auch sie sind verledzd. Meine amen verirrden Babys sind allsamd verledzd, aha, viehl, viehl, viehl schlimmer als wir. «

»Aber was ist mit ihm?«

»Er verbluded, er verbluded, aha. Lass ihn schderben.«

In der Dunkelheit können wir gerade noch ausmachen, was hier vor sich geht. Charles Burnside scheint eine unheimliche Parodie der beiden Köpfe - Heilig und Profan

- von Parkus’ Papagei darzubieten. Spricht er mit seiner eigenen Stimme, dreht er den Kopf nach links, spricht er mit dem Akzent des Außerirdischen, sieht er nach rechts. Beobachtet man, wie er den Kopf hin und her dreht, könnte man fast glauben, ein Komiker wie Jim Carrey oder Steve Martin würde die zwei Hälften einer schizophrenen Persönlichkeit spielen - nur ist der Mann hier nicht lustig. Beide seiner Persönlichkeiten sind grässlich, und ihre Stimmen schmerzen in den Ohren. Der größte Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass Rechtskopf, der gutturale Außerirdische, der Boss ist, dessen Hände das Steuer des Vehikels des anderen halten, und Linkskopf - unser Burny - ist im Prinzip nichts als sein Sklave. Da dieser Unterschied so ausgeprägt ist, haben wir allmählich den Eindruck, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis Mr. Munshun sich Charlie Burnsides entledigt und ihn wie einen durchlöcherten Socken wegwirft.

»Aber ich will ihn abmurksen!«, kreischt Burny.

»Er iss schonn dod, dod, dod. Tschek Soahja wird das Herz brechn. Tscheck Soahja wird nich wissn, was er duhn soll. Wia gehn jetz ins Muxtn, und oho, wia killen Tschibba, jah? Du wiehlsd Tschibba killn, deng ich, jah?«

Burny kichert boshaft. »Yeah. Ich wiehl Chipper killen. Ich will dieses Arschloch zerstückeln und seine Knochen abknabbern. Und wenn seine freche Schlampe da ist, will ich ihr den Kopf abschneiden und mir ihre saftige kleine Zunge schmecken lassen.«

In Henry Leydens Ohren klingt dieses Zwiegespräch nach Geistesgestörtheit, Besessenheit oder beidem. Das Blut strömt ihm weiter aus der Rückenwunde und den verstümmelten Fingern, aber er kann nichts tun, um die Blutung zum Stehen zu bringen. Von dem Geruch des vielen Bluts an ihm und unter ihm wird ihm übel, nur ist Übelkeit jetzt das geringste seiner Probleme. Ein Gefühl schwerelosen Dahintreibens, eine angenehme Benommenheit -das ist sein eigentliches Problem. Und die beste Waffe dagegen sind die Schmerzen. Er muss bei Bewusstsein bleiben. Irgendwie muss er Jack eine Nachricht hinterlassen.

»So, denn gehn wia, Burn-Burn, und wia vergnühgn uns mit Tschibba, jah? Un denn ... oho, un denn gahn wia zun schöhn, schöhn Bläk Haus, main Burn-Burn, un indem Bläk Haus machn wia uns fürn Scharlakrodn Gönig breid!«

»Ich will den Scharlachroten König kennen lernen«, sagt Burny. Ihm tropft Sabber von der Unterlippe, und für einen Moment leuchten seine Augen im Dunkeln. »Ich werd dem Scharlachroten König den MarshallBengel schenken, und der Scharlachrote König wird mich lieben, weil ich nicht mehr als eine kleine Arschbacke von dem Jungen essen werde, eine kleine Hand oder so was.«

»Er wird dich meinedwegn liehbn, Burn-Burn, dem de Gö-nig liehbt mich am meisdn, mich, mich, mich, Mis-derr Munn-shunn! Un venn de Gönig denn ahlein herrschd, flenn und flenn de Füxe in’n Fuxbauten, die wein, wein, wein sich de klein Herzn aussm Leib, weil du un ich, wir wem essn und essn und essn, essn, essn, bis alle Welldn auf alle Seidn blohs meah leere Ertnussschaln sind!«

»Leere Erdnussschalen«, gluckst Burny und zieht wieder geräuschvoll einen Sabberfaden hoch. »Da heißt’s verdammt viel essen!«

Jetzt wird’s nicht mehr lange dauern, denkt Henry, bis der grässliche alte Burn-Burn eine größere Anzahlung für den Kauf der Brooklyn Bridge rausrückt.

»Gomm.«

»Ich komme«, sagt Burnside. »Aber erst will ich noch eine Nachricht hinterlassen.«

Danach herrscht Schweigen.

Als Nächstes hört Henry ein merkwürdiges Zischen und das wiederholte Schmatzen, mit dem durchnässte Pantoffeln sich von dem klebrigen Fußboden lösen. Die Tür des Einbauschranks unter der Treppe fliegt krachend auf; die Studiotür wird zugeknallt. Ozongeruch wird wahrnehmbar und verflüchtigt sich gleich darauf wieder. Sie sind weg. Henry weiß nicht, wie das passiert ist, aber er glaubt, bestimmt zu wissen, dass er nun allein ist. Wen kümmert’s, wie das passiert ist? Henry muss über wichtigere Dinge nachdenken. »Wichdigere Ahbeit ssu duhn«, sagt er laut. »Wenn der Kerl ein Deutscher ist, bin ich eine gesprenkelte Henne.«

Er kriecht unter dem langen Tisch hervor und stützt sich auf die Tischplatte, um auf die Beine zu kommen. Beim Aufrichten wird ihm schwummrig, sodass er sich Halt suchend an eine Stehlampe klammert. »Nicht umkippen«, sagt er. »Umkippen ist nicht erlaubt, ist das klar?«

Henry kann gehen, dessen ist er sich sicher. Schließlich ist er sein Leben lang immer gegangen. Er kann übrigens auch Auto fahren. Autofahren ist sogar leichter als Gehen, bloß hat bislang nie jemand den Mumm gehabt, ihn sein Talent am Steuer demonstrieren zu lassen. Teufel, wenn Ray Charles fahren konnte - und er konnte, er kann, Ray Charles biegt wahrscheinlich just in diesem Augenblick scharf links von einem Highway ab -, warum dann nicht auch Henry Leyden? Nun, Henry hat jetzt gerade kein Automobil zur Verfügung, deshalb wird Henry sich damit begnügen müssen, einen flotten Spaziergang zu machen. Na ja, jedenfalls so flott wie möglich.

Und wohin ist Henry bei diesem reizvollen Spaziergang durch sein in Blut schwimmendes Wohnzimmer unterwegs? »Nun«, antwortet er sich selbst, »die Antwort liegt auf der Hand. Ich gehe in mein Studio. Ich habe Lust, einen Spaziergang in mein hübsches kleines Studio zu machen.«

Sein Bewusstsein rutscht wieder ins Graue ab, und Grau gilt es zu vermeiden. Aber wir haben Mittel gegen dieses graue Gefühl, nicht wahr? Ja, das haben wir: Das Gegenmittel besteht aus einer kräftigen Dosis Schmerz. Henry schlägt mit der unverletzten Hand an die Stümpfe der abgetrennten Finger ... puh, Mann, also echt, der ganze Arm ist sozusagen in Flammen aufgegangen.

Flammender Arm, das müsste klappen. Funken, die weiß glühend aus brennenden Fingern sprühen, werden uns ins Studio bringen.

Lass die Tränen ruhig fließen. Tote weinen nicht.

»Der Geruch von Blut gleicht einem Lachen«, sagt Henry. »Wer hat das gesagt? Irgendwer. Es steht in einem Buch. >Der Geruch von Blut glich einem Lachen.< Wunderbar gesagt. Setz jetzt einen Fuß vor den anderen.«

Er erreicht den kurzen Gang zum Tonstudio und lehnt sich dort für einen Augenblick an die Wand. Eine Welle wohliger Erschöpfung schwappt von der Brustmitte ausgehend durch ihn hindurch. Dann reißt er den Kopf so heftig hoch, dass Blut von seiner aufgerissenen Backe an die Wand spritzt. »Red weiter, du Idiot. Mit sich selbst zu reden ist nicht verrückt. Im Gegenteil, es ist wundervoll. Und weißt du was? Damit verdienst du dir deinen Lebensunterhalt - du redest den ganzen Tag mit dir selbst!«

Als Henry sich von der Wand abstößt, als er den nächsten Schritt macht, spricht George Rathbun mit seinen Stimmbändern. »Freunde, und ihr seid meine Freunde, eins will ich ganz deutlich sagen: Wir hier bei KDCU-AM scheinen gewisse technische Schwierigkeiten zu haben. Die Betriebsspannung ist abgefallen, und es hat Kurzschlüsse gegeben, ja, die hat’s gegeben. Aber keine Angst, meine Lieben. Keine Angst! Während ich dies sage, sind wir bloß noch kümmerliche zwei Schritte von der Studiotür entfernt und werden in kürzester Zeit wieder in Betrieb gehen, jawohl, das werden wir! Kein uralter Kannibale und sein außerirdischer Kumpan können diese Station lahm legen, ä-äh, nicht bevor wir unsere letzte, abschließende Sendung gemacht haben.«

Man könnte glauben, George Rathbun hauche Henry Leyden Leben ein, nicht umgekehrt. Er hat den Rücken jetzt gereckt, und hält den Kopf hoch. Zwei Schritte bringen ihn zur geschlossenen Studiotür. »Dieser Ball ist schwierig zu fangen, meine Freunde, und wenn Pokey Reese ihn kriegen will, muss sein Fanghandschuh blitzsauber sein. Was macht er dort draußen, Leute? Können wir unseren Augen trauen? Kann es sein, dass er eine Hand in die Hosentasche steckt? Zieht er etwas heraus? Mann, o Mann, da wird einem echt schwindelig ... Pokey benützt die alte Taschentuchmasche! Genau! Er wischt seinen Fanghandschuh sauber, wischt seine Wurfhand sauber, lässt sein Schnäuztuch fallen, packt den Türknauf ... Und die Tür ist offen! Pokey Reese hat’s wieder mal geschafft, er ist im Studio!«

Henry wickelt sich das Taschentuch um die Fingerstümpfe und tastet nach dem Drehsessel. »Und Rafael Furcal scheint sich dort draußen verlaufen zu haben, der Mann grapscht nach dem Ball . Augenblick, Augenblick, hat er ihn? Hat er eine Kante erwischt? Ja! Er hält die Armlehne des Balls gepackt, er hat die Rückenlehne des Balls, und er zieht ihn hoch, Ladies und Gents, der Ball steht wieder auf seinen Rollen! Furcal setzt sich, er rollt sich an die Konsole. Wir sehen hier eine Menge Blut, aber Baseball ist ein blutiges Spiel, wenn sie einen mit den Stollen voraus anspringen.«

Mit den Fingern der Linken, von denen er das meiste Blut abgewischt hat, schaltet Henry den großen Recorder ein und zieht das Mikrofon zu sich heran. Während er im Dunkeln sitzt und zuhört, wie das Tonband leise zischend von einer Spule zur anderen läuft, empfindet er eine seltsame Befriedigung dabei, hier zu sein und das zu tun, was er Tausende von Nächten lang Nacht für Nacht getan hat. Wohlige Erschöpfung breitet sich durch seinen Körper, seinen Verstand aus und verdunkelt alles, was sie berührt. Aber er darf ihr noch nicht erliegen. Er wird ihr bald nachgeben, aber zuvor muss er seine Pflicht tun. Er muss mit Jack Sawyer reden, indem er erst noch mit sich selbst spricht, und um das zu können, ruft er die vertrauten Geister, die ihm Stimme verleihen.

George Rathbun: »Zweite Hälfte des neunten Innings, und die Heimmannschaft ist praktisch auf dem Weg unter die Dusche, Kumpel. Aber das Spiel ist erst aus, wenn der letzte blinde Mann tot ist!«

Henry Shake: »Ich rede mit dir, Jack Sawyer, und ich will nicht, dass du jetzt ausflippst oder sonst was. Bleib cool und hör deinem alten Freund Henry zu, okay? Der Fisherman hat mir einen Besuch abgestattet, und als er fortgegangen ist, war er ins Maxton unterwegs. Er will Chipper - das ist der Heimbesitzer - ermorden. Ruf die Polizei an, vielleicht kannst du ihn noch retten. Der Fis-herman wohnt im Maxton, hast du das gewusst? Er ist ein alter Mann mit einem Dämon im Leib. Er wollte verhindern, dass ich dir sage, dass ich seine Stimme erkannt habe. Und er wollte dich emotional fertig machen

- er denkt, er kann dich durcheinander bringen, indem er mich ermordet. Aber diese Befriedigung verschaffst du ihm nicht, okay?«

Die Wisconsin Rat: »Weil das echt beschissen wäre! Der alte Furzer will dir an einem Ort namens Black House auflauern, und du musst auf den Scheißkerl gefasst sein! Reiß ihm die Eier ab!«

Die Kreissägenstimme der Ratte bricht mit einem Hustenanfall ab.

Henry Shake, schwer atmend: »Unser Freund Rat ist plötzlich fortgerufen worden. Der Junge neigt dazu, sich allzu sehr aufzuregen .«

George Rathbun: »Freundchen, willst du mir etwa erzählen, dass .«

Henry Shake: »Beruhig dich. Ja, er hat allen Grund, sich aufzuregen. Aber Jack will nicht, dass wir ihn ankreischen. Jack will Informationen.«

George Rathbun: »Ich finde, dann solltest du dich lieber beeilen und sie ihm geben.«

Henry Shake: »Der Deal sieht folgendermaßen aus, Jack. Der Fisherman ist nicht sehr hell, und sein was auch immer, sein Dämon, der Mr. Munching oder so ähnlich heißt, ist auch keine Leuchte. Und er ist unglaublich eitel.«

Henry Leyden sinkt in den Sessel zurück und schweigt einige Sekunden lang. Er ist von der Taille abwärts gefühllos, und Blut aus der rechten Hand hat um das Mikrofon herum eine Lache gebildet. In seinen Fingerstummeln pocht ein stetig schwächer werdender Puls.

George Rathbun: »Nichtjetzt, Blödmann!«

Henry Leyden schüttelt den Kopf und sagt: »Mit Dummheit und Eitelkeit wirst du fertig, mein Freund. Ich muss mich jetzt verabschieden. Jack, du brauchst meinetwegen nicht allzu traurig zu sein. Ich habe ein gottverdammt wundervolles Leben gehabt und komme nun wieder mit meiner geliebten Rhoda zusammen.« Er lächelt ins Dunkel hinein; sein Lächeln wird breiter. »Ah, Lerche. Hallo.«

Manchmal kann der Geruch von Blut wirklich einem Lachen gleichen.

Was ist das hier am Ende der Nailhouse Row? Eine Horde, ein Schwarm von dicken, summenden Wesen, die Jack Sawyer umkreisen, auf ihn herabstoßen und bei letztem Tageslicht irgendwie illuminiert wirken - wie die farbig geschmückten Seiten einer alten Bibelhandschrift. Sie sind zu klein, um Kolibris zu sein, und scheinen von innen heraus zu leuchten, während sie durcheinander schwirren. Wären sie Wespen, befände Jack Sawyer sich jetzt in ernster Gefahr. Aber sie stechen nicht; ihre runden Leiber streifen ihn an Gesicht und Händen und stoßen sanft gegen seinen Körper, wie eine Katze ans Bein ihres Herrchens stupst und so gleichermaßen Trost spendet und empfängt.

Im Augenblick spenden sie weit mehr Trost, als sie empfangen, und selbst Jack kann sich nicht erklären, warum das so ist. Die ihn umgebenden Wesen sind keine Wespen, Kolibris oder Katzen, es sind Bienen, Honigbienen, und normalerweise hätte er Angst, wenn er in einen Bienenschwarm geriete. Vor allem, wenn sie einer Art Herrenrasse unter den Bienen anzugehören schienen: außergewöhnlich große Superbienen, ihre Goldtöne goldener, ihr Schwarz leuchtender schwarz. Trotzdem empfindet Jack keine Angst. Wollten sie ihn stechen, hät-ten sie es längst getan. Und er hat von Anfang an begriffen, dass sie ihm nichts Böses wollen. Die Berührung ihrer vielen Leiber ist überraschend sanft und weich; ihr massenhaftes Summen ist leise und harmonisch, friedvoll wie ein protestantisches Kirchenlied. Nach den ersten paar Sekunden lässt Jack sie einfach gewähren.

Die Bienen drängen noch näher heran, und ihr leises Summen pulsiert in seinen Ohren. Es klingt, als sprächen oder sängen sie halb laut. Sekundenlang sieht er nur ein dicht gewobenes Netz aus Bienen, das sich mal hierhin, mal dorthin bewegt; dann lassen die Bienen sich überall auf ihm nieder und sparen nur das Oval seines Gesichts aus. Sie bedecken seinen Kopf wie ein Helm. Arme, Brust, Rücken, Beine verschwinden unter einer Schicht Insekten. Bienen setzen sich auf seine Schuhe und machen sie unsichtbar. Trotz ihrer großen Zahl sind sie fast gewichtslos. Die ungeschützten Teile von Jacks Körper, seine Hände und sein Nacken, fühlen sich an wie mit Kaschmirwolle bedeckt. Jack Sawyer ist von Kopf bis Fuß mit einem dichten, federleichten, schwarz-golden leuchtenden Bienengewand bedeckt. Er hebt die Arme, und die Bienen bewegen sich mit ihm.

Jack kennt Fotos, auf denen Imker mit Hunderten von Bienen besetzt sind, aber das hier ist kein Foto, und er ist kein Imker. Vor Verwunderung - in Wirklichkeit vor reiner Freude über diese unerwartete Heimsuchung - ist er wie betäubt. Solange die Bienen auf ihm sitzen, vergisst er den grausigen Tod von Mouse und die Furcht erregende Aufgabe, die ihn morgen erwartet. Nicht dagegen vergisst er Sophie; er wünscht sich, Beezer und Doc würden ins Freie kommen, um diese Erscheinung sehen zu können, aber noch mehr wünscht er sich, Sophie könnte sie sehen. Vielleicht tut sie das ja durch die Gnade des d’yambas. Irgendjemand tröstet Jack Sawyer; irgendjemand wünscht ihm Gutes. Eine liebevolle, unsichtbare Erscheinung bietet ihm Unterstützung. Sie fühlt sich wie ein Segen an, diese Unterstützung. In seinem leuchtenden schwarz-goldenen Bienengewand hat Jack das Gefühl, fliegen zu können, wenn er nur einen Schritt in Richtung Himmel machte. Die Bienen würden ihn über die Täler tragen. Sie würden ihn über die zerklüfteten Hügel tragen. Wie die fliegenden Männer in den Territorien, die Sophie zu dem Treffen mit ihm gebracht haben, würde er fliegen können. Statt wie sie zwei Flügel zu besitzen, würde er von tausend Flügelpaaren durch die Luft getragen werden.

In unserer Welt, das fällt Jack jetzt ein, kehren Bienen in ihren Stock zurück, bevor es Nacht wird. Als hätte etwas sie an ihre Alltagspflichten erinnert, verlassen die Bienen Jacks Kopf, seinen Körper, seine Arme und Beine

- nicht wie ein lebender Teppich alle auf einmal, sondern einzeln und in kleinen Gruppen -, steigen über ihm in die Höhe, wenden sich dann ab, schießen pfeilschnell nach Osten über die Hausdächer auf der dem Fluss abgewandten Seite der Nailhouse Row davon und verschwinden sämtlich in derselben nachtdunklen Unendlichkeit. Auf ihr friedliches Summen wird Jack erst richtig aufmerksam, als es mit ihnen verschwindet.

In den Sekunden, bevor er weiter zu seinem Pickup gehen kann, hat er das Gefühl, jemand wache über ihn.

Er fühlt sich ... wie? Der richtige Ausdruck fällt ihm erst ein, als er den Zündschlüssel des Wagens umdreht und mit dem Gaspedal pumpt: Er ist umarmt worden.

Jack ahnt nicht, wie sehr er die Wärme dieser Umarmung brauchen wird; er ahnt auch nicht, auf welche Weise sie ihm in der kommenden Nacht erneut zuteil werden wird.

Vor allem ist Jack erschöpft. Hinter ihm liegt ein Tag von der Art, der mit einem surrealen Erlebnis wie einer Umarmung durch einen Bienenschwarm enden sollte: Sophie, Wendell Green, Judy Marshall, Parkus - dieser Ka-taklysmus, diese Überflutung! - und Mouse Baumanns grausiger Tod ... alle diese Dinge haben ihn angespannt, nach Atem ringend zurückgelassen. Sein ganzer Körper sehnt sich nach Ruhe. Als er French Landing hinter sich lässt und ins weite, dunkle Land hinausfährt, ist er versucht, am Straßenrand zu halten und ein halbstündiges Nickerchen einzulegen. Die herabsinkende Nacht verspricht erfrischenden Schlaf, aber das ist eben das Problem: Er könnte die Nacht unabsichtlich in seinem Pi-ckup verschlafen, und an einem Tag, an dem er in Hochform sein muss, triefäugig und arthritisch aufwachen.

Gegenwärtig ist er nicht in Hochform - bei weitem nicht, wie sein Vater Phil Sawyer zu sagen pflegte. Im Augenblick ist sein Tank so leer, dass er nur noch mit Benzindämpfen läuft - ein weiterer von Phil Sawyers Lieblingsausdrücken -, aber er denkt, dass er lange genug wach bleiben kann, um Henry Leyden zu besuchen. Vielleicht hat Henry mit dem Kerl von ESPN einen Deal abgeschlossen - vielleicht vervielfacht Henry damit die Zahl seiner Hörer und verdient viel mehr Geld. Henry braucht keineswegs mehr Geld, als er bereits hat, sein Leben scheint auch so makellos zu funktionieren, aber Jack gefällt die Vorstellung, sein lieber Freund Henry könnte plötzlich in Geld schwimmen. Ein Henry, der zusätzliches Geld mit vollen Händen ausgeben kann, ist ein Henry, den Jack liebend gern sehen würde. Wenn man sich vorstellt, wie wundervoll er sich kleiden könnte! Jack malt sich aus, wie er mit Henry nach New York reist, sich mit ihm in einem hübschen Hotel einquartiert, etwa dem Carlyle oder dem St. Regis, ihn zu einem halben Dutzend der besten Herrenausstatter begleitet und ihm auswählen hilft, wonach ihm der Sinn steht.

Fast alles sieht gut aus, wenn Henry es trägt. Er scheint alle Kleidungsstücke unabhängig von ihrer Machart zu ihrem Vorteil zu verändern, aber er hat dennoch bestimmte, eigenwillige Vorlieben. Henry bevorzugt eine bestimmte klassische, sogar altmodische Eleganz. Er kleidet sich oft in Nadelstreifen, Schottenkaros, Tweed mit Fischgrätenmuster. Er mag Baumwolle, Leinen und Wolle. Er trägt manchmal Fliegen, Schals und Zierta-schentücher, die aus seiner Brusttasche hervorquellen. Seine Füße stecken in Slippern, Budapestern OxfordSchuhen oder niedrigen Stiefeln aus weichem Leder. Er trägt niemals Turnschuhe oder Jeans, und Jack hat ihn auch noch nie in einem bedruckten T-Shirt gesehen. Deshalb stellt sich die Frage: Wie konnte ein von Geburt an Blinder einen so spezifischen Geschmack in Bezug auf seine Kleidung entwickeln?

Ach, sagt sich Jack, das war seine Mutter. Natürlich! Seinen Geschmack hat er von seiner Mutter.

Aus irgendeinem Grund droht diese Erkenntnis, Jack Tränen in die Augen zu treiben. Du wirst immer rührselig, wenn du so erschöpft bist, sagt er sich. Pass auf, sonst flippst du noch aus. Aber ein Problem zu diagnostizieren heißt noch lange nicht, es zu lösen. Er schafft es nicht, den eigenen Rat zu befolgen. Dass Henry sein Leben lang den Vorstellungen seiner Mutter von eleganter Herrenkleidung gefolgt sein soll, erscheint Jack schön und anrührend. Es impliziert eine Art Loyalität, die er bewundert -unausgesprochene Loyalität. Henry hat vermutlich viel von seiner Mutter geerbt: die rasche Auffassungsgabe, die Liebe zur Musik, den Intellekt, den völligen Mangel an Selbstmitleid. Intellekt und Mangel an Selbstmitleid sind eine großartige Kombination, findet Jack; sie stellen einen Großteil seiner Definition von Mut dar.

Denn Henry hat Mut, daran erinnert Jack sich wieder. Verdammt, Henry ist nahezu furchtlos. Es klingt komisch, wenn er davon redet, Auto fahren zu können, aber nach Jacks Überzeugung würde sein Freund, gäbe man ihm die Möglichkeit dazu, sich sofort ans Steuer des nächsten Chryslers setzen, den Motor anlassen und in Richtung Highway davonfahren. Er würde nicht jubeln oder angeben, ein solches Verhalten ist nämlich seiner Wesensart fremd; Henry würde in Richtung Windschutzscheibe nicken und beispielsweise sagen: »Der Mais scheint für diese Jahreszeit ganz schön hoch zu stehen« oder »Ich bin froh, dass Duane endlich dazu gekommen ist, sein Haus zu streichen«. Und der Mais würde hoch stehen, und Duane Updahl würde sein Haus gerade neu gestrichen haben - beides Dinge, die Henry durch irgendwelche mysteriösen Sensoren aufgenommen hätte.

Jack beschließt, Henry Gelegenheit zu einer Spritztour mit dem Pickup zu geben, falls er lebend aus dem Schwarzen Haus herauskommt. Vielleicht wird ihre Ausfahrt mit einem halben Kopfstand im Straßengraben enden, aber auch das würde sich allein wegen Henrys Gesichtsausdruck lohnen. An irgendeinem Samstagnachmittag wird er Henry auf den Highway 93 mitnehmen und ihn zur Sand Bar fahren lassen. Falls Beezer und Doc nicht von Werwölfen zerfleischt werden, sondern ihren gemeinsamen Ausflug ins Black House überleben, sollten sie Gelegenheit erhalten, sich an einem Gespräch mit Henry zu erfreuen, der ideal zu ihnen passen würde, so merkwürdig das auch klingt. Beezer und Doc sollten Henry Leyden wirklich kennen lernen, sie würden diesen Mann ins Herz schließen. Binnen weniger Wochen würden sie dafür sorgen, dass er auf einer Harley von Centralia aus ins Norway Valley röhren würde.

Wenn Henry sie nur ins Black House begleiten könnte! Dieser Gedanke schmerzt Jack mit der Melancholie, die eine geniale Idee auslöst, die nie in die Tat umgesetzt werden kann. Henry wäre mutig und standhaft, das weiß Jack, aber was ihm an dieser Vorstellung am besten gefällt, ist, wie Henry und er später immer wieder darüber reden könnten, was sie getan hatten. Solche Gespräche -zu zweit in Henrys oder seinem Wohnzimmer, während auf dem Dach dick Schnee liegt - wären wundervoll, aber Jack darf es nicht wagen, Henry solchen Gefahren auszusetzen.

»Wie kann man nur so dummes Zeug denken?«, sagt Jack laut zu sich und erkennt jetzt, wie sehr er bedauert, Henry gegenüber nicht ganz offen und freimütig gewesen zu sein - daher diese dämliche Sorge, sein hartnäckiges Schweigen. Das Problem ist nicht, was er in Zukunft nicht wird sagen können, sondern was er in der Vergangenheit zu sagen versäumt hat. Er hätte Henry von Anfang an reinen Wein einschenken sollen. Er hätte ihm von den Federn und den Rotkehlcheneiern und dem wachsenden Unbehagen erzählen sollen. Henry hätte ihm geholfen, ihm die Augen geöffnet; er hätte Jack geholfen, die eigene Blindheit zu überwinden, die sich als schädlicher erwies als Henrys angeborene Blindheit.

Damit ist jetzt Schluss, entscheidet Jack. Keine Geheimnisse mehr. Da er das große Glück hat, Henrys Freundschaft zu genießen, wird er beweisen, dass er sie schätzt. Von nun an wird er Henry alles erzählen, ihm auch Hintergrundinformationen liefern: über die Territorien, Speedy Parker, den Toten auf der Pier in Santa Monica, Tyler Marshalls Baseballmütze. Judy Marshall. Sophie. Ja, er muss Henry von Sophie erzählen - wie kommt es, dass er das nicht schon längst getan hat? Henry wird sich mit ihm freuen, und Jack kann es kaum erwarten, seine Freude zu sehen. Henry wird seine Freude anders ausdrücken als gewöhnliche Menschen; Henry wird es verstehen, dem Ausdruck seines Entzückens irgendeinen coolen, subtilen, gutherzigen Drall zu geben und so Jacks eigenes Entzücken noch zu steigern. Welch unglaublicher, buchstäblich unglaublicher Freund! Wollte er Henry jemandem schildern, der ihn nicht kennt, würde die Beschreibung unglaublich klingen. Jemand mit solchen Vorzügen, der irgendwo allein in der finstersten Provinz haust? Aber es gibt ihn: Er lebt ganz allein in dem völlig unbekannten Norway Valley, French County, Wisconsin, und wartet auf die nächste Folge von Bleak House. Da er mit Jacks Kommen rechnet, wird er jetzt schon die Lampen in Küche und Wohnzimmer eingeschaltet haben, wie er es zu Ehren seiner allzu früh verstorbenen geliebten Frau viele Jahre lang getan hat.

Jack denkt: Ich kann so übel nicht sein, wenn ich einen Freund wie ihn habe.

Und er denkt: Ich bewundere Henry wirklich.

Sogar bei Nacht erscheint ihm jetzt alles schön. Die Sand Bar, die mit strahlend heller Neonbeleuchtung am Rand ihres riesigen Parkplatzes steht; die in unregelmäßigen Abständen auftauchenden spindeldürren Bäume, die ihm seine Scheinwerfer zeigen, nachdem er auf den Highway 93 abgebogen ist; die lang gestreckten, kaum sichtbaren Felder; die Lampenkette, die sich wie eine Weihnachtsdekoration über die gesamte Länge der Veranda vor Roy’s Store spannt. Das Rattern über die erste Brücke, dann die scharfe Kurve in die Tiefen des Tals. Weiter links von der Straße blinken die ersten Farmhäuser aus der Dunkelheit; die Lampen in ihren Fenstern brennen wie Altarkerzen. Alles scheint von höherer Bedeutung durchdrungen zu sein, alles scheint zu sprechen. Er fährt in einem Kokon aus geheiligtem Schweigen durch einen heiligen Hain. Jack erinnert sich daran, wie Dale ihn das erste Mal in dieses Tal gefahren hat, und auch diese Erinnerung ist ihm heilig.

Jack nimmt es nicht wahr, aber ihm laufen Tränen über die Wangen. Sein Herzschlag pocht in den Adern. Die bleichen Farmhäuser leuchten halb verborgen in der Dunkelheit, und aus diesem Dunkel ragen die Tigerlilienstauden, die ihn schon bei seiner ersten Fahrt ins Norway Valley hinein begrüßt haben. Die Tigerlilien leuchten im Licht der Scheinwerfer, dann versinken sie murmelnd hinter ihm. Ihr verstummendes Gemurmel geht im Murmeln der Reifen unter, die ungeduldig, sanft auf Henry Leydens warmes Haus zurollen. Morgen kann er sterben, das weiß Jack, und dies kann die letzte Nacht sein, die er sehenden Auges erlebt. Dass er siegen muss, heißt noch lange nicht, dass er auch siegen wird; auch stolze Weltreiche und ehrwürdige Epochen sind schon in den Staub gesunken, und der Scharlachrote König kann aus dem Turm ausbrechen, in einer Welt nach der anderen wüten und überall Chaos verursachen.

Sie könnten alle drei in Black House sterben: er, Beezer und Doc. Sollte es dazu kommen, wird Tyler Marshall nicht nur ein Brecher, ein in einem zeitlosen Fegefeuer angeketteter Sklave, sondern ein Super-Brecher, ein Brecher mit Atomantrieb sein, den der Abbalah dazu benützen wird, alle Welten in Öfen voller brennender Leichen zu verwandeln. Nur über meine Leiche, denkt Jack und muss leicht irre lachen - das ist so buchstäblich wahr!

Welch eigenartiger Augenblick: Er lacht, während er sich Tränen vom Gesicht wischt. Dieses Paradox bewirkt, dass er plötzlich das Gefühl hat, gevierteilt zu werden.

Schönheit und Schrecken, Schönheit und Schmerz - aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg. Erschöpft und mit zum Zerreißen angespannten Nerven kann Jack seine Wahrnehmung der immanenten Zerbrechlichkeit der Welt, ihrer stetigen, unaufhaltsamen Bewegung auf den Tod zu, oder das tiefere Bewusstsein, dass diese Bewegung der Ursprung all ihrer Bedeutung ist, nicht unterdrücken. Siehst du all diese Schönheit, von der einem das Herz still stehen könnte? Sieh gut hin, denn gleich wird dein Herz still stehen.

In der nächsten Sekunde erinnert er sich an den Schwarm goldener Bienen, der sich auf ihm niedergelassen hat: Dagegen haben sie ihm Trost gespendet, genau dagegen, sagt er sich. Der Segen von Segen, die flüchtig sind. Was man liebt, muss man umso inniger lieben, weil es eines Tages nicht mehr da sein wird. Das war ihm wahr erschienen, aber es war ihm nicht wie die ganze Wahrheit vorgekommen.

Vor dem Dunkel der Nacht sieht er die Riesengestalt des Scharlachroten Königs aufragen, der einen kleinen Jungen hoch hält, um ihn als Brennglas zu benutzen, das die Welten in Brand setzen und in flammende Wüsten verwandeln wird. Parkus hat Recht gehabt: Er wird den Giganten nicht vernichten können, aber vielleicht eine Möglichkeit finden, den Jungen zu retten.

Die Bienen haben gesagt: Rette Ty Marshall.

Die Bienen haben gesagt: Liebe Henry Leyden.

Die Bienen haben gesagt: Liebe Sophie.

Für Jack kommt das der Wahrheit nahe genug, ist richtig genug. Für die Bienen war das alles ein und derselbe Satz. Vielleicht haben sie auch gesagt: Tu deine Pflicht, Schutzmann. Dieser Satz wäre nur unwesentlich anders gewesen. Nun, er wird seine Pflicht tun, das steht fest. Nachdem ihm solch ein Wunder geschenkt wurde, fühlt er sich geradezu dazu verpflichtet.

Jack wird warm ums Herz, als er auf Henrys Einfahrt abbiegt. Was ist Henry schließlich, wenn nicht eine andere Art Wunder?

Heute Abend, das beschließt Jack vergnügt, wird er dem erstaunlichen Henry Leyden einen unvergesslichen Nervenkitzel bereiten. Heute Abend wird er Henry die gesamte Story erzählen, die ganze lange Geschichte der Reise, die er in seinem zwölften Lebensjahr gemacht hat: das Verheerte Land, der Rationale Richard, das Agin-court und der Talisman. Er wird weder das Oatley Tap noch das Sunlight-Heim auslassen, diese Prüfungen, die Jack hatte durchstehen müssen, werden Henry nämlich in wundervolle Aufregung versetzen. Und Wolf? Nach Wolf wird Henry verrückt sein; Wolf wird ihn geradezu faszinieren. Während Jack erzählt, wird jedes Wort, das er sagt, eine Entschuldigung für sein langes Schweigen sein.

Und nachdem er die ganze Geschichte erzählt hat, seine Abenteuer zumindest so gut geschildert hat, wie er es vermag, wird die Welt, die hiesige Welt sich verändert haben, weil nun ein weiterer Mensch außer ihm alles weiß, was damals geschehen ist. Jack kann sich kaum vorstellen, wie es sein wird, den Damm seiner Einsamkeit so niedergerissen, so geschleift zu sehen, aber allein bei dem Gedanken daran durchflutet ihn die Vorfreude auf kommende Erleichterung.

Hm, wie merkwürdig ... Henry hat kein Licht gemacht; das Haus sieht dunkel und leer aus. Vielleicht ist er ja nur eingeschlafen.

Jack stellt den Motor ab und steigt lächelnd aus dem Wagen. Er weiß aus Erfahrung, dass er keine drei Schritte ins Wohnzimmer wird machen können, ohne dass Henry sich erhebt und so tut, als wäre er die ganze Zeit wach gewesen. Als Jack ihn einmal im Dunkeln sitzend vorfand, sagte er: »Ich wollte nur meine Augen ausruhen.« Welche Ausrede wird er heute Abend haben? Dass er über seine Sendung zu Ehren der Geburtstage von Lester Young und Charlie Parker nachgedacht und gemerkt hat, dass er sich im Dunkel besser konzentrieren konnte? Dass er vorhatte, sich etwas Fisch zu braten, und feststellen wollte, ob bei Dunkelheit gebratener Fisch anders schmeckt? Jedenfalls wird seine Ausrede unterhaltsam sein. Und vielleicht können sie tatsächlich Henrys neuen Deal mit ESPN feiern!

»Henry?« Jack klopft an die Haustür, öffnet sie dann und steckt den Kopf hinein. »Henry, du Schwindler, schläfst du etwa?«

Henry gibt keine Antwort, und Jacks Frage fällt in ein geräuschloses Nichts. Er kann nichts sehen. Der Raum ist eine zweidimensionale Ebene aus Schwärze. »He, Henry, ich bin da. Und ich hab eine tolle Story für dich, Mann!«

Weiter Totenstille. »Ha«, sagt Jack und tritt ein. Seine Instinkte kreischen sofort, er solle hier raus, verschwinden, abhauen. Aber wieso sollte er das empfinden? Das hier ist nur Henrys Haus, sonst nichts; er ist schon Hunderte von Malen hier drinnen gewesen und weiß, dass Henry entweder auf dem Sofa eingeschlafen oder zu Jacks Haus hinübergegangen ist, was bei näherer Überlegung heute sehr wahrscheinlich ist. Der Mann von ESPN hat Henry ein sagenhaftes Angebot gemacht, und in seiner Aufregung - sogar Henry Leyden kann ziemlich aufgeregt sein, bei ihm muss man nur etwas genauer hinsehen als bei den meisten anderen - hat Henry beschlossen, Jack in dessen Haus zu überraschen. Und da Jack nicht bis fünf, sechs Uhr abends daheim war, wollte er dort auf ihn warten. Und in diesem Augenblick schläft Henry vermutlich fest auf Jacks Sofa statt auf seinem eigenen.

Alles das klingt plausibel, aber es ändert nichts an der Warnung, die Jacks Nervenenden mit voller Lautstärke senden: Hau ab! Verschwinde! Hier willst du nicht sein!

Er ruft noch mal Henrys Namen, aber die Antwort besteht, wie erwartet, wieder aus Schweigen.

Die transzendente Stimmung, die ihn das Tal entlang begleitet hat, ist bereits verschwunden, aber er hat ihr Verschwinden nicht etwa wahrgenommen, sondern lediglich auf einmal registriert, dass sie der Vergangenheit angehört. Wäre er noch Kriminalbeamter, wäre dies der Augenblick, in dem er die Waffe ziehen würde. Jack tritt lautlos über die Schwelle. Zwei starke Gerüche steigen ihm in die Nase. Einer ist der Geruch von Parfüm, der andere .

Er kennt auch diesen anderen. Dass er hier wahrzunehmen ist, bedeutet, dass Henry tot ist. Der Teil von Jacks Persönlichkeit, der kein Cop ist, vertritt allerdings die Ansicht, das besage der Blutgeruch keineswegs. Henry kann bei einem Kampf verletzt worden sein, und der Fisherman kann ihn wie Tyler Marshall in eine andere Welt entführt haben. Henry kann in irgendeinem Winkel der Territorien in Fesseln liegen - sichergestellt zur späteren Verwendung als Faustpfand oder Lockmittel. Vielleicht warten Ty und er sogar in einer gemeinsamen Zelle auf Rettung.

Jack weiß, dass nichts davon stimmt. Henry ist tot; der Fisherman hat ihn ermordet. Seine Aufgabe ist es jetzt, die Leiche zu finden. Er ist ein Schutzmann; er muss sich wie einer verhalten. Dass er sich nichts Schlimmeres vorstellen kann, als Henrys Leiche aufzufinden, ändert nichts an seiner Aufgabe. Trauer kann viele Formen annehmen, aber die Trauer, von der Jack Sawyer jetzt erfasst wird, fühlt sich wie Granit an. Sie verlangsamt seinen Schritt, lässt ihn die Zähne zusammenbeißen. Als er nach links tritt und nach dem Lichtschalter tastet, lenkt diese steinerne Trauer seine Hand so zielsicher zur richtigen Stelle der Wand, als griffe Henry nach dem Schalter.

Da er in dem Augenblick, in dem das Licht aufflammt, der Wand zugekehrt ist, nimmt er das Wohnzimmer nur am Rand seines Blickfelds wahr, und die Schäden scheinen weniger schwer zu sein, als er befürchtet hat. Eine Stehlampe ist ungeworfen worden, ein Sessel liegt auf der Seite. Sobald Jack den Kopf aber zur Seite dreht, brennen sich ihm zwei Aspekte von Henrys Wohnzimmer in die Netzhäute ein. Der erste ist eine rot geschriebene Mitteilung an der cremeweißen Wand gegenüber; der zweite ist die unglaubliche Menge Blut auf dem Fußboden. Die Blutflecken bilden Henrys Weg ins Wohnzimmer und wieder hinaus nach. Mit Blutklumpen, wie sie ein angeschossenes Stück Wild hinterlassen würde, beginnt es auf dem Flur, und sie ziehen sich von vielen Schleifen und Spritzern begleitet bis hinter das Sofa, wo das Blut eine Lache bildet. Eine weitere große Lache hat sich auf dem Hartholzboden unter dem langen niedrigen Tisch angesammelt, auf dem Henry manchmal seinen tragbaren CD-Player abgestellt und die für den Abend vorgesehenen CDs gestapelt hat. Von diesem Tisch aus führt eine weitere Spur aus Klumpen und Spritzern auf den Flur zurück. Jack hat den Eindruck, dass Henry gefährlich viel Blut verloren haben muss, bevor er es zu wagen können glaubte, wieder unter dem Tisch hervorzukriechen. Falls die Sache so abgelaufen ist.

Während Henry tot oder sterbend dalag, hat der Fisherman etwas aus Stoff genommen - sein Hemd? ein Taschentuch? - und als breiten, unhandlichen Pinsel benützt. Er hat es in die Blutlache hinter dem Sofa getaucht, tropfnass an die Wand gehoben und ein paar Buchstaben hingemalt. Dann hat er diesen Vorgang mehrmals wiederholt, bis er den letzten Buchstaben seiner Mitteilung an die Wand geschmiert hatte.

HALLO HOLLYWOOD HOHL MICH DOCH SK SK SK SK

Aber diese höhnischen Monogramme hat weder der Scharlachrote König noch Charles Burnside geschrieben. An die Wand geschmiert hat sie der Herr und Meister des Fisherman, dessen Name für unsere Ohren wie Mr. Munshun klingt.

Keine Sorge, ich erledige dich bald genug, denkt Jack.

Zu diesem Zeitpunkt könnte man es ihm nicht verübeln, wenn er ins Freie zurückliefe, wo die Luft nicht nach Blut und Parfüm stinkt, und sein Handy benützte, um in der Sumner Street anzurufen. Vielleicht hat Bobby Dulac gerade Dienst. Unter Umständen ist sogar Dale noch in der Polizeistation. Um allen seinen Bürgerpflichten zu genügen, brauchte er nur acht, neun Wörter zu sagen. Danach könnte er das Handy wieder einstecken und auf den Stufen vor Henrys Haustür warten, bis die Hüter von Recht und Ordnung die lange Einfahrt heraufgerast kommen. Sie würden in Massen auftreten, mindestens vier Fahrzeuge, vielleicht sogar fünf. Dale würde die State Troopers verständigen müssen, und Brown und Black konnten sich wiederum verpflichtet fühlen, das FBI anzurufen. In ungefähr einer Dreiviertelstunde würde es in Henrys Wohnzimmer von Männern wimmeln, die Maße nahmen, in ihre Notizbücher schrieben, Tatortmarkierungen aufstellten und Blutflecken fotografierten. Auch der Leichenbeschauer und die Spurensicherer würden kommen. Und sobald die erste Stufe von jedermanns unterschiedlichen Aufgaben abgeschlossen war, würden zwei Männer in weißen Jacken eine Bahre durch die Haustür hinaustragen und in den gottverdammten Wagen laden, mit dem sie gekommen sind.

Aber Jack zieht diese Möglichkeit nicht länger als ein paar kurze Augenblicke in Betracht. Er will sehen, was der Fisherman und Mr. Munshun Henry angetan haben

- er muss es sehen, ihm bleibt keine andere Wahl. Seine grimmige Trauer fordert es, und wenn er die Befehle seiner Trauer nicht ausführt, wird er sich nie wieder völlig eins fühlen.

Seine Trauer, die seine Liebe zu Henry Leyden wie ein Stahlsafe umschließt, treibt ihn weiter in den Raum hinein. Jack bewegt sich langsam und sucht sich seinen Weg, wie ein Mann, der einen Bach überschreitet, sich von Stein zu Stein bewegt. Er sucht freie Stellen, auf die er treten kann. Von der Rückwand des Wohnzimmers aus verspotten handspanngroße Buchstaben seine langsame Fortbewegung.

HALLO HOLLYWOOD

Die Wörter scheinen wie eine Neonreklame zu blinken. Hallo Hollywood Hallo Hollywood.

HOHL MICH DOCH HOHL MICH DOCH

Er möchte fluchen, aber die Last seiner Trauer gestattet ihm nicht, die Wörter auszusprechen, die ihm durch den Kopf gehen. Wo der Flur zum Studio und zur Küche beginnt, steigt Jack über eine lange Blutspur hinweg und kehrt dabei dem Wohnzimmer und dem irritierenden Blinken der Neonreklame den Rücken zu. Das Licht dringt nur etwa zwei Schritte in den Flur hinein vor. Die Küche bleibt in formloses Dunkel gehüllt. Die Studiotür steht halb offen, und auf ihrem Glaseinsatz spiegeln sich sanfte Lichtreflexe.

Der Boden des Flurs schwimmt in Blut. Jack kann es nicht mehr vermeiden, in Blut zu treten, und fixiert auf seinem Weg die halb offene Studiotür. Henry Leyden hat diese Tür zu dem kleinen Korridor hin nie offen gelassen; bei ihm war sie immer geschlossen. Henry war ordentlich. Das musste er auch: Hätte er die Studiotür halb offen gelassen, wäre er beim nächsten Gang in die Küche dagegengeprallt. Der Schmutz, die Unordnung, die Henrys Mörder hinterlassen hat, verstören Jack mehr, als er sich eingestehen möchte, vielleicht sogar mehr, als er wahrnimmt. Diese Unordnung stellt eine Entheiligung dar, und Jack nimmt sie an seines Freundes Statt gewaltig übel.

Er erreicht die Tür, berührt sie, öffnet sie etwas mehr. In der Luft hängt ein konzentrierter Gestank nach Blut und Parfüm. Im Studio ist es fast so dunkel wie in der Küche, und Jack kann nur die verschwommenen Umrisse des Mischpults und die undeutlichen Rechtecke der Wandlautsprecher erkennen. Dazwischen hängt das Fenster zur Küche fast unsichtbar als dunkler Spiegel. Jack tritt näher, ohne den Türgriff loszulassen, und sieht - oder glaubt sie zu sehen - die hohe Rückenlehne eines Drehsessels und eine über der Arbeitsfläche vor dem Mischpult zusammengesunkene Gestalt. Erst dann hört er das wupp-wupp-wupp eines aufgespulten Tonbands, dessen Ende gegen die Spule schlägt.

»Omeingott«, sagt Jack in einem einzigen Wort, als hätte er nicht schon die ganze Zeit etwas in genau dieser Art erwartet. Mit schrecklicher, beharrlicher Gewissheit hämmert das Tonbandgeräusch ihm die Tatsache ein, dass Henry tot ist. Jacks Trauer setzt sich über seinen feigen Drang hinweg, ins Freie zu laufen und jeden Cop in ganz Wisconsin anzurufen, indem sie ihn dazu zwingt, nach dem Lichtschalter zu tasten. Er darf nicht fort; er muss Zeuge sein, wie er es bei Irma Freneau war.

Mit den Fingern streift er den nach unten gekippten Plastikschalter und bleibt mit der Hand auf ihm liegen. Im Rachen steigt ihm ein saurer, messingner Geschmack auf. Er kippt den Schalter nach oben. Licht überflutet das Studio.

Der tote Henry hängt über die Arbeitsfläche nach vorn gesunken aus dem hochlehnigen Ledersessel, die Hände ruhen auf beiden Seiten seines kostbaren Mikrofons, das Gesicht liegt flach auf der rechten Seite. Er trägt noch immer seine Sonnenbrille, aber einer der dünnen Metallbügel ist verbogen. Auf den ersten Blick scheint alles rot angestrichen zu sein, der fast gleichmäßige Blutfilm, der die Arbeitsfläche bedeckt, ist nämlich seit einiger Zeit in Henrys Schoß und auf die beiden Oberschenkel getropft, und alle Studiogeräte sehen wie rot angesprüht aus. Aus Henrys linker Backe ist ein Stück herausgebissen worden. An der rechten Hand fehlen die beiden letzten Finger. Jack, der automatisch Inventur macht, während sein Blick sämtliche Details in dem kleinen Raum registriert, hat den Eindruck, dass Henry das meiste Blut aus einer Wunde am Rücken verloren hat. Blutgetränkte Kleidung verdeckt die Wunde, aber auf der Sitzfläche des Drehsessels hat sich ebenso viel Blut wie auf der Arbeitsfläche angesammelt, Blut, das jetzt herabtropft. Das meiste Blut auf dem Fußboden muss aus dieser Wunde stammen. Der Fisherman muss ein inneres Organ zerschlitzt oder eine Arterie durchtrennt haben.

Außer einem dünnen roten Nebel auf den Bedienungsknöpfen hat das Tonbandgerät sehr wenig abbekommen. Jack kann sich kaum erinnern, wie diese Geräte funktionieren, aber er hat oft genug zugesehen, wie Henry Tonbandspulen gewechselt hat, um ungefähr zu wissen, was er tun muss. Er stellt das Gerät ab und fädelt das Ende des Tonbands in die leere Spule ein. Dann schaltet er das Gerät wieder ein und drückt auf Rewind. Das Magnetband läuft geschmeidig über die Tonköpfe und füllt die leere Spule.

»Hast du ein Band für mich besprochen, Henry?«, fragt Jack. »Ich wette, dass du’s getan hast, aber ich hoffe, du bist nicht gestorben, während du mir erzählst, was ich schon weiß.«

Das Band wird mit einem Klicken abgebremst. Jack drückt auf PLay und hält den Atem an.

In all seiner stiernackigen, rotgesichtigen Pracht und Herrlichkeit dröhnt George Rathbun aus den Lautsprechern. »Zweite Hälfte des neunten Innings, und die Heimmannschaft ist praktisch auf dem Weg unter die Dusche, Kumpel. Aber das Spiel ist erst aus, wenn der letzte blinde Mann tot ist!«

Jack sackt gegen die Wand.

Henry Shake betritt den Raum und fordert ihn auf, sofort im Maxton anzurufen. Die Wisconsin Rat steckt ihren Kopf herein und kreischt eine Warnung vor Black House. The Sheik, the Shake, the Shook of Araby und George Rathbun debattieren kurz, wobei der Shake Sieger bleibt. Das ist zu viel für Jack; er kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und versucht es auch gar nicht erst. Er lässt sie fließen. Henrys letzter Auftritt rührt ihn gewaltig an. Er ist so großzügig, so selbstlos - alles so typisch für Henry. Henry Leyden hat sich am Leben erhalten, indem er seine zusätzlichen Persönlichkeiten zur Hilfe gerufen hat, und sie haben ihren Auftrag ausgeführt. Sie waren eine treue Mannschaft, George und der Shake und die Rat, und sie sind mit dem Schiff untergegangen, nicht dass sie eine andere Wahl gehabt hätten. Henry Leyden meldet sich wieder und erklärt Jack mit einer Stimme, die mit jedem Satz leiser wird, dass er Dummheit und Eitelkeit besiegen kann. Henrys ersterbende Stimme sagt, dass er ein wundervolles Leben gehabt hat. Seine Stimme sinkt zu einem Flüstern herab und spricht drei Worte, die randvoll mit dankbarer Überraschung sind: Ah, Lerche. Hallo. Jack kann das Lächeln in diesen Worten hören.

Jack torkelt weinend aus dem Studio. Er möchte sich in einen Sessel fallen lassen und weinen, bis keine Tränen mehr kommen, aber er darf Henry oder sich selbst nicht so schwer enttäuschen. Er wankt den Flur entlang, wischt sich die Tränen aus den Augen und wartet darauf, dass die steinerne Trauer ihm hilft, seinen Schmerz zu überwinden. Sie wird ihm auch helfen, im Black House zu bestehen. Diese Trauer lässt sich nicht mindern oder beugen; sie stützt sein Rückgrat wie ein Stahlkorsett.

Henry Shakes Geist flüstert: Jack, diese Trauer wird dich nie mehr verlassen. Kannst du das ertragen?

Ich würd’s nicht anders haben wollen.

Du sollst dir nur darüber im Klaren sein: Wohin du auch gehst, was du auch tust. Durch jede Tür. Bei jeder Frau. Falls du Kinder hast, bei deinen Kindern. Du wirst sie in jeder Musik hören, die du dir anhörst, du wirst sie in jedem Buch sehen, das du liest. Sie wird Teil der Nahrung sein, die du zu dir nimmst. Deine ständige Begleiterin. In allen Welten. Im Black House.

Ich bin sie, und sie ist ich.

George Rathbuns Stimme flüstert doppelt so laut wie The Sheik, the Shake, the Shook: Nun, verdammt noch mal, Sohn, kann ich dich d’yamba sagen hören?

D’yamba.

Ich glaube, du weißt jetzt, warum die Bienen dich umarmt haben? Musst du nicht dringend telefonieren?

Ja, das muss er. Aber er kann es nicht länger in diesem mit Blut durchtränkten Haus aushalten; er muss in die warme Sommernacht hinaus. Jack achtet nicht mehr darauf, wohin er die Füße setzt, durchquert das verwüstete Wohnzimmer und tritt aus der Haustür. Seine Trauer begleitet ihn, denn er ist sie, und sie ist er. Hoch über ihm wölbt sich ein mit Sternen besetzter weiter Himmel. Er holt sein bewährtes Handy hervor.

Und wer nimmt den Anruf in der Polizeistation French Landing entgegen? Natürlich Arnold »Stablampe« Hrabowski, der einen neuen Spitznamen hat und soeben wieder ins FLPD aufgenommen worden ist. Jacks Mitteilung versetzt Stablampe Hrabowski in höchste Aufregung. Was? Du liebe Güte! O nein. Oh, wer hätte das gedacht? Mann! Yeah, ja, Sir. Ich kümmere mich sofort darum, klar doch.

Während der ehemalige Verrückte Ungar sich also bemüht, das Zittern von Händen und Stimme zu unterdrücken, um die Privatnummer des Chiefs zu wählen und Jacks zweiteilige Meldung weiterzugeben, schlendert Jack selbst vom Haus fort, weg von der Einfahrt und seinem Pickup, fort von allem, was ihn an Menschen erinnert, und auf eine mit hohem gelbgrünen Gras bestandene Wiese hinaus. Seine Trauer leitet ihn, denn seine Trauer weiß besser als er, was er braucht.

Vor allem braucht er Ruhe. Schlaf, falls Schlaf möglich ist. Ein weiches Lager auf ebenem Grund, weit von dem bevorstehenden Aufruhr aus roten Blinklichtern und Sirenen und aufgeregten, hyperaktiven Polizeibeamten entfernt. Weit weg von all dieser Verzweiflung. Einen Ort, an dem man auf dem Rücken liegen und sich mit dem hiesigen Sternenhimmel vertraut machen kann. Nach einer halben Meile querfeldein erreicht Jack einen Ort dieser Art, einen Ort, der zwischen einem Maisfeld und den felsigen Ausläufern der bewaldeten Hügel liegt. Sein trauernder Verstand weist seinen trauernden, erschöpften Körper an, sich auszustrecken, es sich bequem zu machen, und sein Körper gehorcht. Die Sterne über ihm scheinen zu vibrieren und zu verschwimmen, aber das tun wirkliche Sterne am vertrauten, realen Himmel natürlich nicht, deshalb muss das eine optische Täuschung sein. Als Jack sich ausstreckt, scheinen das Graspolster und der Humus darunter sich seinem Körper an-zupassen, aber auch das muss eine Täuschung sein, schließlich weiß jeder, dass Erdboden im richtigen Leben meistens hart, unnachgiebig und steinig ist. Jack Sawyers trauernder Verstand weist seinen trauernden, schmerzenden Körper an, einzuschlafen, und er schläft wirklich ein, so unglaublich das klingt.

Binnen weniger Minuten geht mit Jack Sawyers schlafendem Körper eine subtile Verwandlung vor. Die Kanten scheinen weicher zu werden, die Farben - sein weizenblondes Haar, seine hellbeige Jacke, seine braunen Wildlederschuhe - verblassen. Eine eigentümliche Durchsichtigkeit, eine Dunstigkeit oder Wolkigkeit ergänzt diesen Vorgang. Es ist, als könnten wir durch die undeutliche, verschwommene Masse seines langsam atmenden Körpers hindurchsehen und die weichen, niedergedrückten Grashalme erkennen, die seine Matratze bilden. Je länger wir hinsehen, desto deutlicher können wir das Gras unter ihm wahrnehmen, da sein Körper immer schemenhafter wird. Zuletzt ist er nur mehr ein Schimmer über den Grashalmen, und als das in Jacks Körperform niedergedrückte Gras sich wieder aufgerichtet hat, ist sein Körper längst verschwunden.

25

Oh, schon gut! Wir wissen, wohin Jack Sawyer unterwegs ist, als er vom Rand des Maisfelds verschwindet, und wir wissen, wem er vermutlich begegnen wird, wenn er dort ankommt. Genug von diesem Zeug. Wir wollen Spaß, wir wollen Spannung! Zu unserem Glück taucht Charles Burnside, dieser charmante alte Knabe, bei dem man sich immer darauf verlassen kann, dass er bei einem Bankett einen Lachsack unters Sitzpolster des Direktors praktiziert, einen Schuss scharfe Soße in den Eintopf kippt oder bei einer Gebetsversammlung furzt, in diesem Augenblick auf der Herrentoilette im Gebäudeflügel Daisy aus der Kloschüssel einer der WC-Kabinen auf. Wir bemerken, dass Ol’ Burny, unser Burn-Burn, Henry Leydens Heckenschere an die eingesunkene Brust gepresst hält, sie tatsächlich in den Armen hält, als trüge er ein Baby. An seinem knochigen rechten Arm sickert Blut aus einer hässlichen Schnittwunde und läuft zum Ellbogen hinunter. Als er einen Fuß, an dem er den Bienenpantoffel eines anderen Heimbewohners trägt, auf den Rand der Kloschüssel setzt, sich hochstemmt und heraussteigt, schwankt er leicht. Die Lippen hat er missmutig verzogen, und die Augen gleichen Einschusslöchern, aber wir nehmen mitnichten an, dass auch ihn die Last tiefer Trauer niederdrückt. Die Aufschläge seiner Hose sind ebenso mit Blut getränkt wie die Vorderseite seines Oberhemds, das von dem Blut, das aus einer Stichwunde im Unterleib quillt, dunkel verfärbt ist. Vor Schmerz zusammenzuckend, öffnet Burny die Tür der Kabine und tritt in die leere Herrentoilette hinaus. Der lange Spiegel über der Reihe von Waschbecken reflektiert das Licht der Leuchtstoffröhren; dank Butch Yerxa, der heute eine zweite Schicht einlegt, weil der Pfleger, der normalerweise Nachtdienst macht, angerufen hat, er sei zu betrunken, um zu kommen, sind die weißen Fliesen blitzblank. In all dieser glänzenden Weiße erscheint das Blut an Charles Burnsides Kleidung und Körper leuchtend rot. Er streift das Hemd ab und wirft es in ein Waschbecken, bevor er ans andere Ende der Toilette zu einem Wandschrank stapft, der mit einem Stück Pflaster gekennzeichnet ist, auf das jemand in Druckbuchstaben Verbandsmaterial geschrieben hat. Alte Männer neigen dazu, auf der Toilette zu stürzen, und Chippers Vater hat den Schrank umsichtig dort aufhängen lassen, wo er vermutlich gebraucht werden würde. Über die weißen Fliesen zieht sich jetzt eine Spur aus zerspritzten Blutstropfen.

Burny reißt eine Hand voll Papierhandtücher aus dem Spender, feuchtet sie mit kaltem Wasser an und legt sie auf den Rand des Waschbeckens daneben. Dann öffnet er den Schrank mit Verbandsmaterial, nimmt eine breite Rolle Heftpflaster und mehrere Mullpolster heraus und reißt einen spannenlangen Pflasterstreifen ab. Er wischt das Blut von der Haut in der Umgebung der Unterleibswunde und presst die feuchten Papierhandtücher dann auf die Stichwunde. Schließlich nimmt er die Handtücher wieder weg, drückt Mullpolster auf die Wunde, klebt das Heftpflaster darüber und streicht es unbeholfen glatt. Die Schnittwunde am Arm versorgt er auf gleiche Weise.

Die weißen Fliesen sind jetzt mit Blutfäden und -flecken überzogen.

Er geht die Waschbecken entlang zurück und lässt kaltes Wasser über sein Hemd laufen. Das Wasser im Becken färbt sich rot. Burny schrubbt sein altes Hemd unter fließendem kaltem Wasser, bis die Farbe sich in ein blasses Rosa verwandelt hat, das nur wenige Schattierungen lebhafter als seine Hautfarbe ist. Er wringt es befriedigt aus, schlägt es ein paar Mal aus und zieht es dann wieder an. Dass es am Körper klebt, stört Burny nicht im Geringsten. Er bezweckt keine Eleganz, sondern eine sehr grundlegende Form von Annehmbarkeit: Insofern das möglich ist, möchte er unbemerkt bleiben. Die Hosenaufschläge sind mit Blut getränkt, und Eimer Jespersons Pantoffeln sind dunkelrot und matschig, aber er glaubt kaum, dass die Leute sich die Mühe machen werden, seine Füße zu begutachten.

In seinem Kopf sagt eine raue Stimme immer wieder drängend: Schnella, Burn-Burn, schnella!

Burny macht nur einen einzigen Fehler: Während er das nasse Hemd zuknöpft, betrachtet er sich im Spiegel. Was er darin sieht, lässt ihn vor Entsetzen erstarren. Trotz seiner Hässlichkeit ist Charles Burnside bisher mit dem Bild, das ihm Spiegel zeigen, immer zufrieden gewesen.

Seiner Meinung nach sieht er wie jemand aus, der sich auf alle möglichen Tricks versteht - gerissen, unberechenbar, verschlagen. Der Mann, der ihn jetzt aus dem Spiegel anstarrt, hat jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit dem gewieften alten Burschen, an den Burny sich erinnert. Der Mann vor ihm sieht blöde, ausgebrannt und schwer krank aus. Tief in den Höhlen liegende, rot geränderte Augen, eingefallene Wangen wie Krater, ein Gewirr von Adern, die über einen kahlen, an einen Totenkopf erinnernden Schädel kriechen ... sogar die Nase sieht knochiger und schiefer aus als früher. Ein alter Mann des Schlages, vor der Kinder sich erschrecken.

Du solldesd Kinner schreggn, Burn-Burn. Höchsde Zeid, du mussd weidah!

Er sieht doch nicht wirklich so schlimm aus, oder? Täte er das, wäre es ihm ja längst aufgefallen. Nee, so tritt Charles Burnside nicht der Welt gegenüber. Die Toilette ist nur überall verdammt weiß, das ist alles. Ein Weiß, das einen verblichen aussehen lässt. Das einen gehäutet aussehen lässt - wie einen Hasen, dem man das Fell abgezogen hat. Als das sterbende alte Ungeheuer einen Schritt näher an den Spiegel herantritt, scheinen die Altersflecken auf der Haut dunkler zu werden. Das schaurige Bild, das die Zähne ihm bieten, veranlasst ihn dazu, den Mund zu schließen.

Dann sitzt ihm sein Meister wieder wie ein Angelhaken im Kopf, zieht ihn zur Tür und murmelt: Zeid, Zeid.

Burny weiß, warum es Zeid ist: Mr. Munshun will in das Schwarze Haus zurück. Mr. Munshun stammt von einem Ort, der unglaublich weit von French Landing ent-fernt liegt, und bestimmte Teile von Black House, die sie gemeinsam erbaut haben, erinnern an seine Heimatwelt -die tiefste Ebene, die Charles Burnside nur selten besucht und die jedes Mal bewirkt, dass er sich wie hypnotisiert, schwach vor Sehnsucht und kotzübel fühlt. Versucht er, sich die Welt vorzustellen, aus der Mr. Munshun stammt, erscheint vor seinem inneren Auge eine düstere, zerklüftete Landschaft, die mit Totenschädeln übersät ist. Auf den kahlen Hügeln und Gipfeln stehen schlossartige Herrensitze, die ihre Größe verändern oder sogar ganz verschwinden, wenn man blinzelt. Aus den Funken sprühenden Schluchten dröhnt eine industrielle Kakophonie, in die sich die Schreie gefolterter Kinder mischen.

Auch Burnside hat es eilig, ins schwarze Haus zurückzukehren, aber ihm geht es um die einfacheren Freuden der oberirdischen Räume, in denen er sich ausruhen, Konserven essen und in seinen Sammelalben blättern kann. Er genießt den diesen Räumen eigentümlichen Geruch: eine Mischung aus Fäulnis, Schweiß, angetrocknetem Blut, Moder, Fäkalien. Könnte er diesen Duft destillieren, würde er ihn wie Kölnisch Wasser benutzen. Und auf einer weiteren Ebene im Black House - in einer anderen Welt - sitzt ein süßer kleiner Leckerbissen namens Tyler Marshall sicher verwahrt in einer Kammer, und Burny kann es kaum mehr erwarten, den kleinen Tyler zu foltern, die runzligen Hände über die schöne Haut des Jungen gleiten zu lassen. Burny ist von Tyler Marshall begeistert.

Aber auch auf dieser Welt kann er sich noch Freuden verschaffen, und es wird Zeid, sie wahrzunehmen. Burny späht durch die einen Spaltbreit geöffnete Toilettentür und stellt fest, dass Butch Yerxa seiner Müdigkeit und dem Hackbraten der Kantine erlegen ist. Er hockt auf seinem Drehstuhl wie eine übergroße Puppe: beide Arme auf dem Schreibtisch, das feiste Kinn dort ruhend, wo bei einem normalen Menschen der Hals wäre. Der nützliche bemalte Stein liegt nur eine Handbreit von Butchs Rechter entfernt, aber Burny braucht diesen Stein nicht mehr, weil er jetzt nämlich ein weit vielseitigeres Werkzeug besitzt. Er wünscht sich, er hätte das Potenzial von Heckenscheren schon viel früher erkannt. Statt einer Schneide haben sie gleich zwei. Eine rauf, eine runter, schnipp-schnapp. Und scharf! Er hat nicht vorgehabt, dem Blinden die Finger zu amputieren. Zu jenem Zeitpunkt hielt er die Heckenschere noch für eine übergroße, primitive Variante eines Messers, aber als der Stich ihn am Arm traf, hat er mit der Heckenschere nach dem Blinden ausgeholt, und sie hat dem Blinden die Finger mehr oder weniger von selbst abgetrennt - so glatt und schnell, wie die Fleischer im alten Chicago Frühstücksspeck aufzuschneiden pflegten.

Chipper Maxton wird ihm Spaß bereiten. Auch er hat verdient, was er nun bekommen wird. Burny ist davon überzeugt, dass Chipper dafür verantwortlich ist, wie sehr er auf den Hund gekommen ist. Der Spiegel hat ihm gezeigt, dass er etwa zehn Kilo Untergewicht hat, vielleicht sogar mehr, was aber auch kein Wunder ist -man braucht sich bloß den Fraß anzusehen, den es hier gibt. Chipper hat beim Essen betrogen, denkt Burny, wie er bei allem anderen betrügt. Staat, Sozialversicherung, Sozialhilfe, Krankenhilfe ... Chipper beklaut sie alle. Zu Zeiten, in denen er davon ausging, Charles Burnside sei zu wirr im Kopf, um mitzubekommen, was gespielt wurde, hat Maxton ihn mehrmals Vordrucke unterschreiben lassen, mit denen bestätigt wurde, er sei an Lunge oder Prostata operiert worden. Burny findet, die Hälfte der von der Krankenhilfe für diese angeblichen Operationen gezahlten Beträge hätte ihm zugestanden. Schließlich hat sein Name auf den Vordrucken gestanden, oder etwa nicht?

Burnside schiebt sich auf den Gang hinaus und tappt in Richtung Eingangshalle, wobei die quatschenden Pantoffeln blutige Abdrücke hinterlassen. Weil er an der Schwesternstation vorbeimuss, schiebt er die Heckenschere in den Hosenbund und bedeckt sie mit dem Hemd. Über der Theke der Schwesternstation kann Burnside die schlaffen Wangen, die goldgeränderte Brille und das lavendelblau getönte Haar einer wertlosen alten Schlampe namens Georgette Porter erkennen. Könnte schlimmer sein, denkt er. Seit sie bei ihm reingeplatzt ist und ihn dabei überrascht hat, wie er mitten im Zimmer splitternackt beim Masturbieren war, hat Georgette Porter eine Heidenangst vor ihm.

Sie blickt kurz zu ihm hinüber, scheint einen Schauder zu unterdrücken und sieht dann wieder auf das hinunter, was sie mit den Händen tut. Wahrscheinlich strickt sie oder liest so einen Kriminalroman, wo die Katze den Mord aufklärt. Burny schlurft näher an die Station heran und überlegt kurz, ob er Georgettes Gesicht mit der Heckenschere behandeln soll, sagt sich dann aber, dass das Energievergeudung wäre. Als er die Theke erreicht, wirft er einen Blick darüber und sieht, dass sie tatsächlich ein Taschenbuch in den Händen hält, genau wie er es sich vorgestellt hat.

Sie sieht mit tiefem Misstrauen im Blick zu ihm auf.

»Heute Abend sehen wir echt lecker aus, Georgie.«

Sie blickt den Korridor entlang, sucht die Eingangshalle ab und erkennt, dass sie allein mit ihm fertig werden muss. »Sie sollten auf Ihrem Zimmer sein, Mr. Burn-side. Es ist schon spät.«

»Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Scheiß, Georgie. Ich darf spazieren gehen, wann ich will.«

»Mr. Maxton mag es aber nicht, wenn Heimbewohner in andere Abteilungen gehen. Bleiben Sie also bitte im Daisy.«

»Ist der große Boss heute Abend hier?«

»Ich glaube schon, ja.«

»Gut.«

Er wendet sich ab und schlurft in Richtung Eingangshalle weiter, und sie ruft ihm nach: »Warten Sie!«

Er sieht sich um. Sie ist aufgestanden, ein sicheres Anzeichen für echte Besorgnis.

»Sie wollen doch nicht etwa Mr. Maxton belästigen?«

»Halten Sie die Klappe, sonst belästige ich Sie.«

Sie fasst sich mit einer Hand an den Hals und wird dabei schließlich auf den Fußboden aufmerksam. Die Kinnlade fällt ihr herunter, die Augenbrauen schießen nach oben. »Mr. Burnside, was haben Sie da an Ihren Pantoffeln? Und an Ihren Hosenaufschlägen? Sie treten das ja überall breit!«

»Sie können einfach nicht die Klappe halten, was?«

Er stapft grimmig zur Schwesternstation zurück. Georgette Porter weicht an die Wand zurück, aber als sie endlich erkennt, dass sie lieber hätte versuchen sollen, vor Burny zu flüchten, steht er schon vor ihr. Sie nimmt die Hand vom Hals und streckt sie abwehrend gegen ihn aus.

»Blöde Kuh.«

Burnside reißt die Heckenschere aus dem Hosenbund, umfasst die Griffe und schnippt ihr die Finger so mühelos ab wie dünne Zweige. »Idiotin.«

Georgette ist in ein Stadium schockierter Ungläubigkeit verfallen, das sie am gesamten Körper lähmt - auch die Stimmbänder. Sie starrt das Blut an, das ihr aus den vier Fingerstümpfen quillt.

»Verdammte Blödfrau.«

Er öffnet die Heckenschere und rammt ihr eine der Schneiden in die Kehle. Georgette stößt ein ersticktes Gurgeln aus. Sie will mit beiden Händen nach der Heckenschere greifen, aber er reißt die Schneide aus ihrem Hals heraus und hebt sie auf Kopfhöhe. Ihre wedelnden Hände verspritzen Blut. Burnys Gesichtsausdruck ist der eines Mannes, der endlich einsieht, dass er das Klo seiner Katze sauber machen muss. Er richtet die tropfende Schneide auf ihr rechtes Auge und stößt sie hinein. Georgette ist längst tot, bevor sie die Wand hinunterrutscht und auf dem Boden zusammensinkt.

Zehn Meter weiter hinten auf dem Gang nuschelt Butch Yerxa im Schlaf.

»Nie gehorchen sie«, murmelt Burny vor sich hin.

»Man versucht’s und versucht’s, aber zuletzt fordern sie’s immer heraus. Was nur beweist, dass sie’s nicht anders wollen - wie diese blöden kleinen Scheißer in Chicago.« Er zieht die Schneide der Heckenschere aus Georgettes Kopf und wischt sie an der Schulter ihrer Bluse ab. Die Erinnerung an einige dieser kleinen Scheißer in Chicago schickt ein Kribbeln durch die gesamte Länge seines Glieds, das in der ausgebeulten alten Hose steif zu werden beginnt. Aber hallo! Ah ... der Zauber zärtlicher Erinnerungen. Obwohl Charles Burnside, wie wir gesehen haben, im Schlaf zwar Erektionen genießt, sind sie in wachem Zustand so selten geworden, dass sie praktisch nicht existent sind, und er ist jetzt versucht, seine Hose herunterzuziehen und zu sehen, was sich damit anfangen lässt. Aber was ist, wenn Yerxa aufwacht? Er würde annehmen, Georgette Porter - oder zumindest ihr Leichnam - habe Burnys lange schwelende Lust geweckt. So weit darf es nicht kommen - auf keinen Fall. Selbst ein Ungeheuer hat seinen Stolz. Am besten geht er jetzt zu Chipper Maxtons Büro weiter und hofft, dass sein Hammer nicht erschlafft, bevor es Zeit wird, den Nagel einzuschlagen.

Burny steckt die Heckenschere wieder hinten in den Hosenbund und zupft an seinem nassen Hemd, um es vom Körper wegzuziehen. Er schlurft den Korridor im Flügel Daisy entlang, weiter durch die leere Eingangshalle bis zu der polierten Tür, die sich zusätzlich durch ein Namensschild aus Messing mit der Aufschrift WiLLiam MAxton, Director auszeichnet. Diese Tür öffnet er ehrfürchtig, während er sich das Bild eines seit langem toten Zehnjährigen namens Herman Flagler, auch als »Poo-chie« bekannt, eine seiner ersten Eroberungen, ins Gedächtnis ruft. Poochie! Zärtlicher Poochie! Diese Tränen, diese Schluchzer, in denen sich Schmerz und Freude mischten, diese Unterwerfung unter völlige Hilflosigkeit. Die ganz leichte Schmutzkruste auf Poochies verschorf-ten Knien und den mageren Unterarmen. Heiße Tränen; ein Urinstrahl aus seiner verängstigten kleinen Rosenknospe.

Von Chipper sind solche Freuden nicht zu erhoffen, aber wir können sicher sein, dass es irgendwas geben wird. Jedenfalls erwartet Tyler Marshall ihn gefesselt im Black House, so hilflos wie man nur sein kann.

Charles Burnside schlurft durch Rebecca Vilas’ fensterloses Kabuff, wobei ihm Poochie Flaglers blasser Hintern mit seinen tiefen Grübchen lebhaft vor Augen steht. Er legt eine Hand auf den nächsten Türknauf, hält kurz in-ne, um sich zu sammeln, und dreht dann lautlos den Türknauf. Die Tür öffnet sich eben weit genug, um ihm Chipper Maxton, den einzigen Herrscher dieses Reiches, zu zeigen. Er sitzt über den Schreibtisch gebeugt, stützt den Kopf auf eine Faust und benützt einen gelben Bleistift, um Anmerkungen auf zwei Sätzen von Papieren zu machen. Die Spur eines Lächelns macht seinen schmal-lippigen Mund weicher; in den feuchten Augen steht die Andeutung eines Glitzerns; der Bleistift eilt geschäftig zwischen den beiden Papierstapeln hin und her und macht winzige Zeichen. Chipper ist zu glücklich in seine Arbeit vertieft, um zu merken, dass er nicht mehr allein ist, bis sein Besucher hereintritt und die Tür mit einem Fußtritt hinter sich schließt.

Beim Zuknallen der Tür blickt Chipper verärgert auf und mustert dann die vor ihm stehende Gestalt prüfend. Seine Haltung verwandelt sich fast augenblicklich in eine verschlagene, unangenehme Herzlichkeit, die er wahrscheinlich für entwaffnend hält. »Klopft man bei Ihnen zu Hause nicht an Türen, Mr. Burnside? Man platzt einfach rein, stimmt’s?«

»Platzt einfach rein«, sagt sein Besucher.

»Schon gut. Ich hatte sowieso vor, mal mit Ihnen zu reden.«

»Mit mir reden?«

»Ja. Treten Sie doch näher. Nehmen Sie Platz. Ich fürchte, wir haben ein kleines Problem, und ich möchte ein paar Möglichkeiten ausloten.«

»Oh«, sagt Burny. »Ein Problem.« Er zupft sich das Hemd von der Brust weg, um die Umrisse der Heckenschere zu verwischen, trottet weiter und hinterlässt dabei stetig schwächer werdende Fußabdrücke, die Maxton aber nicht auffallen.

»Platzen Sie sich«, sagt Chipper mit einer Handbewegung zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ziehen Sie sich ’nen Poller ran und ruhen Sie Ihre Knochen aus.« Diese Redewendung hat er von Franky Shellbarger, dem Kreditsachbearbeiter der First Farmer State Bank, der sie bei den hiesigen Rotariertreffen ständig im Munde führt, und obwohl Chipper Maxton keine Ahnung hat, was ein Poller sein könnte, findet er diesen Ausdruck echt niedlich. »Mein lieber Oldtimer, Sie und ich sollten offen und ehrlich miteinander sprechen.«

»Ah«, sagt Burny und setzt sich, wegen der Heckenschere allerdings steif wie ein Ladestock. »Offn un eelich.«

»Yeah, genau so stelle ich mir das vor. He, ist das Hemd da nass? Tatsächlich! Das geht doch nicht, alter Kumpel, Sie könnten sich eine Erkältung holen und sterben. Und das wäre wohl keinem von uns beiden recht, oder? Sie brauchen sofort ein trockenes Hemd. Mal sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Sparen Sie sich die Mühe, blöder Affe.«

Dieser verbale Ausfall des Alten bringt Chipper Maxton, der bereits aufgestanden ist und sich sein Hemd richtig in die Hose stopft, kurzfristig aus dem Gleichgewicht. Aber er erholt sich davon schnell wieder, grinst und sagt: »Warten Sie hier auf mich, Chicago.«

Obwohl Burnside bei der Erwähnung seines Geburtsorts ein Kribbeln das Rückgrat hinunterläuft, lässt er sich nichts davon anmerken, während Maxton hinter dem Schreibtisch hervorkommt und das Büro durchquert. Er beobachtet, wie der Direktor den Raum verlässt. Chicago. Wo Poochie Flagler und Sammy Hooten und Fred Bro-gan und all die anderen, Gott hab sie selig, gelebt haben und gestorben sind. Getreidehalme, Grasrispen, so abscheulich so schön so verlockend. Mit ihrem Lächeln und ihren Schreien. Wie alle weißen Slumkinder unter der Schmutzkruste von reinem Elfenbeinweiß - das fischige Weiß der großstädtischen Armen, die nicht mehr lange zu leben hatten. Die zarten Knochen ihrer Schulterblätter, die hervortraten, als wollten sie die dünne Schicht aus Fleisch durchstoßen. Burnys altes Glied regt sich und wird wieder steif, als würde es sich an die Freuden vergangener Jahre erinnern. Tyler Marshall, gurrt er in sich hinein, hübscher, kleiner Ty, wir werden uns ein bisschen amüsieren, bevor wir dich dem Boss übergeben, ja das werden wir ja wirklich ja ja.

Hinter ihm fällt die Tür ins Schloss und reißt ihn aus seinen erotischen Wachträumen. Aber sein altes Ding, sein alter Pimmel, der bleibt wach und auf dem Posten, kühn und dreist wie zu seinen besten Tagen.

»Niemand in der Eingangshalle«, sagt Maxton aufgebracht. »Die alte Hexe, wie heißt sie gleich wieder, Porter, Georgette Porter, die ist in der Küche und stopft sich voll, möchte ich wetten, und Butch Yerxa schläft fest auf seinem Platz. Was soll ich machen, jedes einzelne Zimmer durchsuchen, um ein trockenes Hemd zu finden?«

Er geht mit großen Schritten an Burnside vorbei, wirft die Hände hoch und lässt sich dann in seinen Sessel fallen. Das ist alles Schau, aber Burny hat schon viel bessere gesehen. Chipper kann Burny nicht einschüchtern, selbst wenn er ein paar Dinge über Chicago weiß.

»Ich brauche kein neues Hemd«, sagt er. »Arschgeige.«

Chipper lehnt sich zurück und faltet die Hände hinter dem Kopf. Er grinst - dieser Heimbewohner amüsiert ihn, er ist wirklich ein komischer Vogel. »Aber, aber. Wir wollen uns doch nicht gegenseitig beschimpfen. Sie können mich nicht mehr täuschen, Alter. Ihre Alzheimer-Masche nehme ich Ihnen längst nicht mehr ab. Tatsächlich glaube ich Ihnen überhaupt nichts mehr.«

Er ist freundlich und entspannt und verströmt die Zuversicht eines Glücksspielers, der vier Asse in der Hand hält. Burny rechnet sich aus, dass Chipper auf ir-gendeinen Schwindel oder eine Erpressung hinarbeitet, was die ganze Situation umso köstlicher macht.

»Eines muss ich Ihnen allerdings lassen«, fährt Chip-per fort. »Sie haben hier jedermann reingelegt, auch mich. Man muss bestimmt über unglaubliche Selbstdisziplin verfügen, um Alzheimer im letzten Stadium zu simulieren. All das Zusammensacken im Rollstuhl, sich mit Babybrei füttern lassen, in die Hose scheißen. Und immer so tun, als würde man nicht verstehen, was die Leute zu einem sagen.«

»Ich hab nicht simuliert, Sie Esel.«

»Deshalb ist’s auch kein Wunder, wie Sie Ihr Comeback inszeniert haben ... wann war das, vor ungefähr einem Jahr? Ich hätte das Gleiche gemacht. Ich meine, es ist eine Sache, in den Untergrund zu gehen, aber es ist eine andere, nur noch dahinzuvegetieren. Also sorgen wir dafür, dass ein kleines Wunder geschieht, nicht wahr? Unser Alzheimer bessert sich allmählich, er kommt und geht wie eine gewöhnliche Erkältung. Das ist für alle ein Vorteil. Sie können herumlaufen und allen lästig fallen, und das Pflegepersonal hat weniger Arbeit. Sie sind weiterhin einer meiner liebsten Heimbewohner, Charlie. Oder sollte ich Sie Carl nennen?«

»Mir ist scheißegal, wie Sie mich nennen.«

»Aber Carl ist doch Ihr richtiger Name, oder?«

Burny zuckt nicht mal mit den Schultern. Er hofft, dass Chipper endlich zur Sache kommt, bevor Butch Yerxa aufwacht, die blutigen Fußabdrücke sieht und Georgette Porters Leiche entdeckt. Obwohl ihn brennend interessiert, was Maxton zu erzählen hat, will er nämlich ins Black House zurück, ohne zu sehr aufgehalten zu werden. Und Butch Yerxa würde sich vermutlich anständig wehren.

Chipper, der sich einbildet, ein Katz-und-Maus-Spiel zu veranstalten, bei dem er selbst die Katze ist, lächelt den alten Mann in dem nassen rosa Hemd an und fährt fort: »Heute hat mich ein Kriminalbeamter der State Police angerufen. Er hat gesagt, dass das FBI einen hiesigen Fingerabdruck identifiziert hat. Der Abdruck soll einem ganz und gar schlimmen Mann namens Carl Bierstone gehören, nach dem seit fast vierzig Jahren gefahndet wird. Er sei 1964 wegen Mordes an mehreren Kindern, an denen er sich zuvor vergangen hatte, zum Tode verurteilt worden, aber aus dem Wagen entkommen, der ihn ins Gefängnis bringen sollte - er soll dabei zwei Polizeibeamten mit bloßen Händen umgebracht haben. Seither ist er spurlos verschwunden. Er müsste jetzt fünfundachtzig sein, und der Kriminalbeamte dachte, Carl Bierstone könnte vielleicht einer unserer Heimbewohner sein. Was haben Sie dazu zu sagen, Charlie?«

Nichts, versteht sich.

»Charles Burnside ist Carl Bierstone recht ähnlich, nicht wahr? Und wir besitzen keinerlei Informationen über Ihr früheres Leben. Das macht Sie hier zu einer einzigartigen Erscheinung. Von allen anderen liegt uns praktisch der gesamte Stammbaum vor, nur Sie sind gewissermaßen aus dem Nichts gekommen. Als Sie 1996 im Krankenhaus von La Riviere aufgekreuzt sind, haben Sie Ihr Alter mit achtundsiebzig Jahren angegeben. Damit wären Sie genauso alt wie dieser Flüchtling.«

Burny bedenkt sein Gegenüber mit einem wahrhaft beunruhigenden Lächeln. »Dann muss ich wohl auch der Fisherman sein, schätze ich mal.«

»Sie sind doch fünfundachtzig. Ich glaube kaum, dass Sie da imstande wären, jede Menge Kinder durch die halbe County zu schleppen. Trotzdem glaube ich, dass Sie dieser Carl Bierstone sind, den die Cops weiterhin liebend gern schnappen würden. Was mich schließlich zu einem gewissen Brief bringt, der vor ein paar Tagen hier eingegangen ist. Ich wollte zwar schon früher mit Ihnen darüber reden, aber Sie wissen ja, was für ein Trubel hier oft herrscht.« Er zieht eine Schreibtischschublade auf und entnimmt ihr ein einzelnes Notizblatt. Es trägt einen kurzen, säuberlich mit der Maschine geschriebenen Text. »>De Pere, Wisconsin<, steht hier. Kein Datum. >An alle, die es angeht<, so fängt’s an. >Ich bedau-re sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich die monatlichen Zahlungen zugunsten meines Neffen Charles Burnside einstellen muss.< Das ist alles. Statt handschriftlich zu unterzeichnen hat sie ihren Namen getippt. >Althea Burnside.<«

Chipper legt das Notizblatt vor sich hin, faltet die Hände und lässt sie darauf ruhen. »Was läuft hier, Charles? In De Pere lebt keine Althea Burnside, so viel weiß ich. Und sie kann auch kaum Ihre Tante sein. Wie alt müsste sie dann sein? Mindestens hundert, wohl eher hundertzehn. So etwas glaube ich nicht. Allerdings sind diese Schecks seit Ihrem ersten Monat im Maxton völlig regelmäßig eingegangen. Irgendein alter Kumpel, irgendein ehemaliger Partner von Ihnen hat sich um Sie gekümmert, mein Freund. Und wir wollen doch, dass er das auch weiterhin tut, oder etwa nicht?«

»Ist mir egal, Arschgeige.« Was allerdings nicht ganz stimmt. Von den monatlichen Zahlungen über die Bank in De Pere weiß Burny nur, dass Mr. Munshun sie vor langer Zeit veranlasst hat, aber wenn diese Zahlungen jetzt tatsächlich eingestellt werden, nun . was endet sonst noch mit ihnen? Mr. Munshun und er machen hier doch gemeinsame Sache - oder etwa nicht?

»Kommen Sie, Freundchen«, sagt Chipper. »Geben Sie sich ein bisschen Mühe. Ich erwarte hier etwas mehr Kooperation. Ich bin mir sicher, dass Sie sich nicht dem Stress und den Scherereien aussetzen wollen, verhaftet zu werden und die Fingerabdrücke abgenommen zu kriegen - ganz zu schweigen von dem, was danach kommen könnte. Ich persönlich würde Sie all dem nicht aussetzen wollen. Die wahre Ratte ist in diesem Fall nämlich Ihr Freund. Meiner Ansicht nach vergisst dieser Kerl, wer immer er auch sein mag, dass Sie wahrscheinlich aus alten Tagen etwas gegen ihn in der Hand haben, stimmt’s? Er fühlt sich aber offenbar nicht mehr verpflichtet, hier für all Ihre kleinen Bequemlichkeiten zu sorgen. Nur ist das, wie gesagt, ein Fehler. Ich wette, dass Sie den Kerl zur Vernunft bringen, ihm die Situation begreiflich machen könnten.«

Burnys Ding, sein alter Pimmel, ist erschlafft und wie ein durchlöcherter Ballon zusammengesunken, ein Umstand, der Burnys düstere Stimmung aber nur verstärkt. Seit er ins Büro dieses öligen Gauners getreten ist, hat er etwas Entscheidendes eingebüßt: die Zielstrebigkeit, das Gefühl der Immunität, die Schärfe. Er will nur noch ins Black House zurück. Das schwarze Haus wird ihn wieder herstellen, weil Black House voller Magie ist, schwarzer Magie. Die Bitterkeit seiner ganzen Seele ist in den Bau des Hauses eingeflossen; die Finsternis seines Herzens hat alle Träger und Balken durchtränkt.

Mr. Munshun hat Burny geholfen, die Möglichkeiten von Black House zu erkennen, und unzählige selbst entworfene Details zum Ganzen beigetragen. In Black Hou-se gibt es Bereiche, die Charles Burnside nie ganz verstanden hat und die ihn sehr ängstigen: Ein unterirdischer Flügel scheint seine geheime Karriere in Chicago zu enthalten, und wenn er sich diesem Teil des Hauses näherte, konnte er das bittende Wimmern und die spitzen Schreie von Dutzenden dem Tod geweihten Jungen, aber auch die eigenen rauen Befehle, sein ekstatisches Grunzen hören. Aus irgendeinem Grund bewirkte die Nähe seiner einstigen Triumphe jedes Mal, dass er sich klein und gejagt fühlte - nicht Herr und Gebieter, sondern Ausgestoßener. Mr. Munshun hat ihm zwar geholfen, sich an den Umfang seiner Erfolge zu erinnern, aber Mr. Munshun hat nichts zu einem weiteren Bereich in Black House beitragen können: ein kleiner Bereich, bestenfalls ein Zimmer, genauer gesagt ein Verlies, das seine gesamte Kindheit enthält, das er aber noch nie, nie besucht hat. Wird die Existenz dieses Raums auch nur angedeutet, fühlt Burny sich wie ein Säugling, der ausgesetzt worden ist, damit er erfriert.

Die Nachricht vom Abtrünnigwerden der fiktiven Althea Burnside löst eine ähnliche, wenn auch schwächere Wirkung aus. Das Ganze ist nicht zu billigen, und er sollte, ja darf es nicht zulassen.

»Yeah«, sagt er. »Wir müssen ein paar Dinge klären. Wir sollten eine Vereinbarung treffen.«

Er steht auf, weil ihn Geräusche, die aus dem Zentrum von French Landing zu kommen scheinen, zur Eile antreiben. Er hört Polizeisirenen heulen, mindestens zwei, vielleicht sogar drei. Burny weiß es nicht bestimmt, aber er vermutet zumindest, dass dieser Jack Sawyer inzwischen die Leiche seines Freundes Henry aufgefunden hat; nur dass dieser Henry zuvor leider nicht ganz tot war, sondern noch mitteilen konnte, dass er die Stimme seines Mörders erkannt habe. Also hat Jack den CopShop angerufen, und nun ist’s so weit.

Sein nächster Schritt bringt ihn vor den Schreibtisch. Er wirft einen Blick auf die dort liegenden Papiere und erfasst sofort ihre Bedeutung.

»Bücher frisieren, hä? Sie sind nicht nur ’ne Arschgeige, Sie sind auch ein mieser kleiner Zahlenjongleur.«

In einem erstaunlich kurzem Zeitraum zeichnet sich auf Chipper Maxton Gesicht ein gewaltiges Empfindungsspektrum ab. Zorn, Überraschung, Verwirrung, gekränkter Stolz, Wut und Ungläubigkeit ziehen in rascher Folge über die Landschaft des Gesichts, während Burnside hinter sich greift und die Heckenschere herauszieht. In dem kleinen Büro wirkt sie größer und aggressiver als in Henry Leydens Wohnzimmer.

Chipper erscheinen die Schneiden lang wie Sensenblätter. Und als er sich von ihnen losreißt und zu dem vor ihm stehenden Alten aufsieht, blickt er in ein Ge-sicht, das weitaus mehr dämonisch als menschlich zu bezeichnen ist. Burnsides Augen leuchten jetzt rot, und unter hochgezogenen Lefzen fletscht der Mann grausige Zähne, die wie Spiegelglassplitter glitzern.

»Rühren Sie mich nicht an, Kumpel!«, quiekt Chipper. »Die Polizei ist praktisch schon hier.«

»Ich bin nicht taub.« Burny stößt ihm eine Schneide in den Mund und lässt die Heckenschere dann über der schweißnassen Backe zuschnappen. Blut schießt über den Schreibtisch, und Chipper reißt entsetzt die Augen auf. Burny ruckt an der Heckenschere, worauf mehrere Zähne und ein Stück von Chippers Zunge aus der klaffenden Wunde fliegen. Er stemmt sich hoch und beugt sich nach vorn, um die Schneiden der Heckenschere zu packen. Burnside tritt einen Schritt zurück und schnippt ihm die halbe rechte Hand ab.

»Hoppla, ist die aber scharf«, sagt er.

Maxton kommt hinter dem Schreibtisch hervor auf ihn zugetorkelt, verspritzt nach allen Seiten Blut und brüllt wie ein Elch. Burny weicht aus, weicht zurück und stößt die Schneiden in die Wölbung des blauen Hemdes mit Buttondown-Kragen, das sich über Chippers Wanst spannt. Als er sie wieder herauszieht, sackt Chipper zusammen, stöhnt, sinkt auf die Knie. Blut strömt aus ihm heraus wie aus einem umgestoßenen Krug. Er fällt nach vorn auf die Ellbogen. Chipper Maxtons gute Laune ist verflogen; er schüttelt den Kopf und murmelt etwas, was wie das Flehen klingt, in Ruhe gelassen zu werden. Ein blutunterlaufenes, ochsenartiges Auge wendet sich Charles Burnside zu und drückt stumm eine seltsam unpersönliche Bitte um Erbarmen aus.

»Barmherzige Mutter«, sagt Burny, »ist das Ricos Ende?« Echt komisch - an den Spielfilm Der kleine Cäsar, wo der sterbende Edward G. Robinson diesen Satz sagt, hat er seit Jahren nicht mehr gedacht. Er lacht leise glucksend über seinen Witz, beugt sich nach vorn und setzt die Schneiden auf beiden Seiten von Chippers Hals an. Es gelingt ihm fast, ihm den Kopf ganz abzutrennen.

Die Sirenen biegen heulend in die Queen Street ein. Bald werden Polizeibeamten über den Gehsteig rennen; bald werden sie in die Eingangshalle stürmen. Burnside lässt die Heckenschere auf Chippers breiten Rücken fallen und bedauert es etwas, dass ihm nun keine Zeit mehr bleibt, auf dessen Körper zu pissen oder auf den Kopf zu scheißen, aber Mr. Munshun grummelt bereits wieder, dass es Zeid, Zeid, Zeid ist.

»Ich bin doch nicht blöd, das weiß ich selbst«, sagt Burny. Er tapst aus dem Büro und weiter durch Ms. Vilas’ Kabuff. Beim Hinaustreten in die Eingangshalle kann er die Blinklichter auf den Dächern von zwei Streifenwagen sehen, die hinter der Hecke die Straße entlangfahren. Sie halten nicht weit von der Stelle entfernt, an der er erstmals die Hände um Tyler Marshalls schlanken Knabenhals gelegt hat. Burny hastet nun etwas schneller weiter. Als er den Beginn des Gangs im Daisy erreicht, brechen zwei babygesichtige Polizeibeamten durch die Lücke in der Hecke.

Weiter hinten im Gang erhebt sich gerade Butch Yerxa und reibt sich das Gesicht. Er blickt Burnside an und fragt: »Was ist passiert?«

»Gehen Sie nach vorn«, sagt Burny. »Bringen Sie die Polizisten ins Büro. Maxton ist verletzt.«

»Verletzt?« Butch, der wie gelähmt dasteht, starrt Burn-sides blutige Kleidung und von Blut triefende Hände an.

»Los!«

Butch stolpert vorwärts, während gleichzeitig die beiden jungen Polizeibeamten durch die breite Glastür gestürmt kommen, von der inzwischen Rebecca Vilas’ Plakat zum Erdbeerfest abgenommen worden ist. »Ins Büro!«, ruft Butch und zeigt nach rechts. »Der Boss ist verletzt!«

Während Yerxa auf die Bürotür zeigt, indem er mit der Rechten an die Wand schlägt, huscht Charles Burnside an ihm vorbei. Im nächsten Augenblick hat er die Herrentoilette im Daisy erreicht und schlüpft dort in eine der WC-Kabinen.

Und was ist mit Jack Sawyer? Das wissen wir bereits. Beziehungsweise wissen wir, dass er auf einem weichen Lager zwischen dem Rand eines Maisfelds und einem Hügel auf der Westseite des Norway Valley eingeschlafen ist. Wir wissen, dass sein Körper leichter, weniger substanziell, wolkig wurde. Dass er verschwommen und durchsichtig wurde. Wir können annehmen, dass Jack einen bestimmten erholsamen Traum hatte, bevor sein Körper durchsichtig wurde. Und in diesem Traum, so können wir weiter vermuten, suggeriert ein rotkehlcheneiblauer Himmel den Bewohnern einer eleganten Villa am Rox-bury Drive, Beverly Hills, unendliche Weite, und Jacky ist sechs, sechs, sechs oder zwölf, zwölf, zwölf - oder beides zugleich - und Daddy improvisiert cool auf seinem Blech, Blech, Blech. (»Darn That Dream«, verflixter Traum, das hätte Henry Shake uns erzählen können, ist der letzte Song auf der Schallplatte Daddy Plays the Horn von Dexter Gordon - ein cooler Typ, wenn’s je einen gegeben hat.) In diesem Traum begab sich jeder auf eine Reise, und niemand reiste irgendwohin, und ein wandernder Junge errang eine höchst wundervolle Trophäe, und Lily Cavanaugh Sawyer fing eine Biene in einem Glas. Sie trug sie lächelnd zur Schwingtür und entließ sie ins Freie. Also flog die Biene weit, weit weg nach Anderland, und während sie unterwegs war, zitterten und bebten Welten über Welten auf ihren geheimnisvollen Bahnen, und auch Jack war auf seiner eigenen geheimnisvollen Bahn ins endlose Rotkehlcheneiblau unterwegs und kehrte im Kielwasser der Biene unfehlbar in die Territorien zurück, wo er auf einem stillen Feld schlafend lag. So wird in diesem verflixten Traum Jack Sawyer, ein Mensch, der jünger als zwölf und älter als dreißig ist, der von Trauer und Liebe gleichermaßen wie benommen ist, im Schlaf von einer bestimmten Frau voll zärtlicher Fürsorge besucht. Sie streckt sich neben ihm auf seinem Bett aus weichem Gras aus und nimmt ihn in die Arme, und sein dankbarer Körper empfindet die Glückseligkeit ihrer Berührung, ihres Kusses, ihres heilenden Segens. Was sie dort allein in den fernen Territorien tun, geht uns nichts an, aber wir fügen Sophies Segen unseren eigenen hinzu und überlassen die beiden etwas, was schließlich -mit der sanftestmöglichen Dringlichkeit - ihre Angelegenheit ist, eine Angelegenheit, die diesen Jungen und dieses Mädchen, diesen Mann und diese Frau, dieses liebe Paar segnet, wie es sonst nichts und niemand kann, ganz bestimmt nicht wir.

Wie es sich gehört, wird die Rückkehr von den sauberen, gehaltvollen Gerüchen von Humus und Mais und dem Weckruf eines Hahns auf der Farm von Gilbertsons Vettern begleitet. Ein Spinnennetz mit glitzernden Tautropfen fesselt den Schuh an Jacks linkem Fuß an einen bemoosten Felsbrocken. Eine Ameise, die Jack über das rechte Handgelenk krabbelt, trägt ein von einem Grashalm stammendes Blatt, in dessen V-förmiger Längskerbe ein glänzender, frisch entstandener Wassertropfen zittert. Jack, der sich wundersam erholt fühlt, so als wäre auch er neu erschaffen, schiebt die schwer arbeitende Ameise vom Handgelenk, befreit den Schuh aus dem Spinnennetz und steht auf. Tau glitzert in seinem Haar und seinen Augenbrauen. Eine halbe Meile hinter ihm beschreibt Henrys Wiese einen Bogen um Henrys Haus. Tigerlilien beben in der kühlen Morgenbrise. Tigerlilien beben ...

Als er die Motorhaube seines Pickups hinter dem Haus hervorragen sieht, fällt ihm plötzlich alles wieder ein. Mouse und das Zauberwort, das er Mouse verdankt. Henrys Haus, Henrys Studio, die Nachricht des Sterbenden. Unterdessen werden alle Polizeibeamten und Ermittler verschwunden sein, und das Haus wird leer sein und nur von Blutflecken widerhallen. Dale Gilbertson -wie vermutlich auch die Trooper Brown und Black -wird ihn suchen. Die Trooper interessieren Jack nicht, aber er will mit Dale reden. Es ist an der Zeit, Dale in einige erstaunliche Tatsachen einzuweihen. Was Jack ihm zu sagen hat, wird Dale maßlos verblüffen, aber wir sollten uns daran erinnern, was John Wayne einst Dean Martin über das Schlagen von Eiern und die Herstellung von Omeletts erzählt hat. »Wenn der Duke gesprochen hat, hat wirklich jeder zugehört«, hat Lily Cavanaugh gesagt, und das wird auch Dale Gilbertson tun müssen, weil Jack ihn als treuen und tatkräftigen Begleiter auf seinem Weg durch Black House dabeihaben will.

Als Jack an Henrys Haus vorbeigeht, legt er zuerst die Fingerspitzen an die Lippen und fährt dann damit übers Holz, um so den Kuss zu übertragen. Henry. Für alle Welten, für Tyler Marshall, für Judy, für Sophie und für dich, Henry Leyden.

Das Handy im Fahrerhaus des Pickups meldet drei gespeicherte Nachrichten, die alle von Dale stammen, die er aber löscht, ohne sie sich anzuhören. Zu Hause blinkt die rote Anzeige seines Anrufbeantworters und wiederholt sich mit der rücksichtslosen Beharrlichkeit eines hungrigen Säuglings. Jack drückt auf Wiedergabe. Dale Gilbertson, dessen Stimme zunehmend unglücklicher klingt, begehrt viermal zu wissen, wo sein Freund Jack Sawyer sich aufhalte, und übermittelt seinen dringenden Wunsch, mit besagtem Gentleman zu sprechen - hauptsächlich über den Mord an seinem Onkel und beider Freund Henry, aber es werde auch nicht schaden, über das gottverdammte Massaker im Maxton zu reden, okay? Ob ihm der Name Charles Burnside vielleicht irgendwie bekannt vorkäme?

Jack sieht auf die Armbanduhr, will der Anzeige nicht glauben und blickt deshalb zur Küchenuhr auf. Seine Armbanduhr geht jedoch richtig. Es ist 5.42 Uhr, und hinter Randy und Kent Gilbertsons Scheune kräht weiter der Hahn. Plötzlich durchflutet ihn eine Müdigkeit, die schwerer als selbst die Schwerkraft ist. Das Telefon in der Sumner Street ist zweifellos besetzt, aber ebenso sicher liegt Dale inzwischen schlafend im Bett, und Jack will nur mit Dale sprechen. Er gähnt mit weit aufgerissenem Rachen wie eine Katze. Noch nicht einmal die Zeitung ist da!

Er zieht das Sakko aus und wirft es auf einen Stuhl, dann gähnt er wieder, diesmal noch gewaltiger. Vielleicht war sein Nachtlager doch nicht so bequem: Jack hat einen steifen Hals, und der Rücken schmerzt ihn. Er hangelt sich die Treppe hinauf, wirft die ausgezogenen Sachen auf das zweisitzige Sofa im Schlafzimmer und lässt sich ins Bett fallen. An der Wand über dem Sofa hängt das sonnige kleine Gemälde von Fairfield Porter, und Jack erinnert sich, wie Dale an dem Abend, an dem sie gemeinsam die Bilder ausgepackt und aufgehängt haben, darauf reagiert hat. Dale war auf den ersten Blick in dieses Bild vernarrt - er hatte von sich vermutlich nicht geahnt, dass er in einem Gemälde solche Befriedigung finden könnte. Also gut, denkt Jack, wenn wir’s schaffen, lebend aus Black House rauszukommen, schenke ich’s ihm. Und ich werde ihn notfalls dazu zwingen, es anzunehmen: Will er nicht, drohe ich damit, es zu zerschneiden und im Ofen zu verbrennen. Oder ich erzähle ihm, dass ich es sonst Wendell Green schenke!

Die Augen fallen ihm bereits zu; er sinkt tiefer ins Bett und verschwindet - diesmal jedoch nicht wirklich - aus unserer Welt. Er träumt.

Er folgt einem schwierigen, abschüssigen Waldweg zu einem brennenden Gebäude hinunter. Auf beiden Seiten winden sich brüllende Bestien und Ungeheuer, die meist unsichtbar bleiben, aber manchmal eine knorrige Hand, einen Stachelschweif, eine schwarze Knochenschwinge hervorstrecken. Diese schlägt er mit einem schweren Schwert ab. Der Arm schmerzt ihn, sein ganzer Körper fühlt sich wund und müde an. Irgendwo blutet er, aber er kann die Wunde nicht sehen oder ertasten, sondern er spürt nur, wie ihm das Blut hinten über die Beine sickert. Seine ursprünglichen Weggefährten sind alle tot, auch er ist tödlich verwundet - oder könnte es sein. Er wünscht sich, er wäre nicht so allein, er hat nämlich schreckliche Angst.

Das brennende Gebäude wird immer größer, je näher er ihm kommt. Heulen und Geschrei steigen aus dem Gebäude auf, und es ist von einem grotesken Vorfeld mit toten, verkohlten Bäumen und rauchender Asche umgeben. Dieser Bereich vergrößert sich mit jeder Sekunde, als verschlänge das brennende Gebäude Stück für Stück die Natur in seiner Umgebung. Alles ist verloren, und das brennende Gebäude und das seelenlose Ungeheuer, das zugleich sein Herr und sein Gefangener ist, werden triumphieren, das Land bis in alle Ewigkeit verheeren, amen. Din-tah, das gewaltige Feuer, das alles auf seinem Pfad verschlingt.

Die Bäume rechts voraus biegen sich und verdrehen ächzend die Zweige, und die dunklen, scharf zugespitzten Blätter geraten in heftige Bewegung. Die riesigen Stämme verbeugen sich knarrend, und die Zweige winden sich wie Schlangen umeinander, sodass eine geschlossene Fläche aus dunkelgrauen, spitzen Blättern entsteht. Aus dieser Fläche tritt quälend langsam das Abbild eines hageren, knochigen Gesichts hervor. Vom Scheitel bis zum Kinn misst dieses Gesicht eineinhalb Meter; es quillt aus der Laubfläche hervor und wendet sich auf der Suche nach Jack von einer Seite zur anderen.

Es verkörpert alles, was ihn jemals auf dieser Welt oder in den Territorien erschreckt, ihn verletzt, ihm Böses gewünscht hat. Das Riesengesicht hat eine verschwommene Ähnlichkeit mit Elroy, einem Ungeheuer in Menschengestalt, das einst versucht hat, Jack in einer elenden Bar namens Oatley Tap zu vergewaltigen, dann sieht es Morgan von Orris ähnlich, dann Sunlight Gardener, dann Charles Burnside, aber während es seine blinde Suche von einer Seite zur anderen fortsetzt, scheinen alle diese bösen Gesichter einander zu überlagern, um zu einem einzigen zu verschmelzen. Unbeschreibliche Angst lässt Jack zu Stein erstarren.

Das aus einem Wust von Laub quellende Gesicht sucht das untere Wegstück ab, dann schwenkt es zurück und stellt auf einmal die ruckartigen Bewegungen von einer Seite zur anderen ein. Es ist jetzt unmittelbar auf ihn gerichtet. Die blinden Augen sehen ihn, die Nase ohne Nasenlöcher wittert ihn. Eine Woge freudiger Erregung läuft durch die Blätter, und das Gesicht wölbt sich weiter vor, wird größer und immer größer. Jack, der wie gelähmt ist, wirft einen Blick über seine Schulter und sieht dort einen Verwesenden, der sich auf seinem schmalen Lager hochstemmt. Der Mann reißt den Mund auf und brüllt: »D’yamba!«

Mit wild hämmerndem Herzen und einem in der Kehle ersterbenden Schrei springt Jack aus dem Bett und landet auf den Füßen, bevor er recht erfasst, dass er aus einem Traum aufgeschreckt ist. Er scheint am ganzen Körper zu zittern. Schweiß läuft ihm über die Stirn und tropft auf die Brust. Das Zittern hört allmählich auf, indem er wahrnimmt, was ihn in Wirklichkeit umgibt: kein abscheuliches Riesengesicht, das aus einem Laubwall quillt, sondern die vertraute Räumlichkeit seines Schlafzimmers. An der Wand gegenüber hängt das Gemälde, das er Dale Gilbertson schenken will. Er fährt sich übers Gesicht, er beruhigt sich. Er muss unter die Dusche. Seine Armbanduhr zeigt ihm, dass es jetzt 9.47 Uhr ist. Er hat vier Stunden geschlafen, und jetzt wird es allmählich Zeit, wieder in Gang zu kommen.

Etwa eine Dreiviertelstunde später ruft Jack - geduscht, angezogen und genährt - die Polizeistation an und verlangt Chief Gilbertson zu sprechen. Um 11.25 Uhr lassen er und der zweifelnde, frisch aufgeklärte Dale, der dringend Beweise für die verrückte Geschichte seines Freundes sehen möchte, den Wagen des Chiefs unter dem einzelnen Baum auf dem Parkplatz der Sand Bar stehen und gehen über den heißen Asphalt an zwei auf ihren Seitenständern lehnenden Harleys vorbei in Richtung Hintereingang.

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