Der Strom der Zeit

Weda Kong und Dar Weter standen auf der kleinen runden Plattform des Flugschraubers, der langsam über der endlosen Steppe seine Bahn zog. Eine leichte Brise wiegte in breiten Wellen das dichte blühende Gras. In der Ferne weidete eine schwarzweiß gescheckte Rinderherde, Nachkommen einer Kreuzung aus Yak, Hausrind und Büffel.

Niedrige Hügel und langgestreckte Täler, von stillen Flüssen durchzogen. Weite und Ruhe atmete dieser stabile Teil der Erdrinde, der einst Westsibirische Tiefebene genannt wurde.

Gedankenverloren betrachtete Dar Weter dieses Land, welches ehemals unendliche trostlose Sümpfe und spärliches, verkümmertes Gehölz bedeckt hatten. Im Geiste sah er wieder das Gemälde eines alten Meisters vor sich; schon als Kind hatte es ihn stark beeindruckt.

An der Windung eines mächtigen Stromes stand eine uralte, verwitterte Kirche einsam inmitten der ausgedehnten Felder und Wiesen. Das schmale Kreuz auf der Kuppel schimmerte schwarz unter den niedrigen zusammengeballten Wolken. Auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche standen einige Weiden und Birken und neigten ihre windzerzausten Wipfel. Ihre Zweige berührten fast die zusammengefallenen, halbvermoderten Grabkreuze inmitten des frischen, saftigen Grases. Hinter dem Strom türmten sich grauviolette Wolkenberge, greifbar nahe in ihrer Kompaktheit. Der breite Strom glänzte in dem Lichtschein wie kalter Stahl. Und dieser kalte Hauch lag über allem. Die Feuchtigkeit des Herbstregens, wie man ihn in den rauhen nördlichen Breiten kennt, hatte die Landschaft eingehüllt. Die bläulichen, grauen und grünen Farbtöne des Gemäldes sprachen von der unermeßlichen Weite dieses kargen Landstriches, wo der Mensch sein Leben fristete, wo er Kälte und Hunger zu spüren bekam und Einsamkeit, wie sie für längst vergangene Zeiten menschlicher Torheit so typisch war.

Wie ein Fenster mit dem Blick in eine ferne Vergangenheit war Dar Weter dieses Gemälde im Museum vorgekommen. Restauriert und von einer unsichtbaren Lichtquelle beleuchtet, hing es hinter einem durchsichtigen Schutzpanzer.

Dar Weter sah sich nach Weda um. Die junge Frau hatte sich auf das Geländer der Plattform gestützt. Den Kopf geneigt, verfolgte sie das Wiegen des hohen Grases im Wind und hing ihren Gedanken nach. Hin und wieder trafen heiße Luftwirbel die beiden auf der Plattform des Flugschraubers, zausten Wedas Haar und Kleid und bliesen Dar Weter übermütig ins Gesicht. Aber der automatische Kompensator arbeitete blitzschnell, und die fliegende Plattform erzitterte nur kurz oder schwankte kaum merklich.

Dar Weter beugte sich über den Kursschreiber. Der Kartenstreifen, auf dem der zurückgelegte Weg aufgezeichnet wurde, bewegte sich rasch. Anscheinend waren sie zu weit nach Norden geraten. Sie hatten längst den sechzigsten Breitengrad überquert, waren über die Mündung des Irtysch in den Ob hinweggeflogen und näherten sich nun dem Plateau, das in früheren Zeiten Mittelsibirisches Bergland genannt wurde.

An die Weiträumigkeit der Steppe hatten sich die beiden Forschungsreisenden bereits gewöhnt. Vier Monate lang hatten sie an den Ausgrabungen der alten Hügelgräber in den glutheißen Steppen der Vorberge des Altai teilgenommen. Die Altertumsforscher hatten sich gleichsam in die Zeiten zurückversetzt, da ausschließlich vereinzelte Abteilungen berittener Krieger die südlichen Steppen durchquerten.

Weda drehte sich um und wies stumm nach vorn. Dort schwebte in der hitzeflirrenden Luft, scheinbar losgelöst vom Boden, eine dunkle Insel. Als sie näher kamen, erwies sich diese Insel als ein niedriger Hügel — wahrscheinlich war es die Kippe einer früheren Erzgrube. Von den Schachtanlagen war nichts mehr übriggeblieben.

Plötzlich neigte sich die fliegende Plattform stark zur Seite.

Instinktiv faßte Dar Weter Weda um die Taille und verlagerte sein Gewicht auf den Teil der Plattform, der sich gehoben hatte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte der Flugschrauber seine alte Lage wieder eingenommen, prallte jedoch im nächsten Augenblick auf den Hügel auf. Durch den Rückstoß der Stoßdämpfer wurden Weda und Dar Weter auf den Abhang geschleudert, mitten hinein in das dichte Gestrüpp. Nach kurzem Schweigen zerriß Wedas dunkles Lachen die Stille der Steppe. Dar Weter stellte sich sein verblüfftes und zerkratztes Gesicht vor und versicherte Weda voll unbewußter Freude immer wieder, daß sie unverletzt und der Unfall glimpflich abgelaufen sei.

„Jetzt ist mir klar, warum man mit den Flugschraubern nicht höher als acht Meter fliegen darf“, meinte Weda Kong, ein wenig außer Atem vor Lachen.

„Bei einer Panne stürzt die Maschine sofort ab, und dann kann man nur noch auf die Stoßdämpfer hoffen. Doch bei dem leichten Gewicht und der geringen Größe müssen wir das nun mal in Kauf nehmen. Kann sein, daß wir noch nachträglich für alle glücklich verlaufenen Flüge zahlen müssen“, sagte Dar Weter mit schlecht gespieltem Gleichmut.

„Und wie?“ fragte Weda, ernst geworden.

„Die Stabilisatoren haben sehr lange einwandfrei gearbeitet; das läßt darauf schließen, daß sie äußerst kompliziert konstruiert sind. Ich fürchte, es wird sehr lange dauern, bis ich mit ihnen zurechtkomme. Wahrscheinlich werden wir von hier nur fortkommen wie einst unsere armen Urahnen.“

Verschmitzt lächelnd hielt Weda Dar Weter die Hand hin, und er zog sie mit Leichtigkeit hoch. Sie kletterten zu dem abgestürzten Flugschrauber hinab, rieben ihre Kratzwunden mit einer wirksamen Heiltinktur ein und klebten ihre zerrissene Kleidung wieder zusammen. Dar Weter forderte Weda auf, sich in den Schatten eines Strauches zu legen, und er ging daran, nach den Ursachen für die Havarie zu suchen. Wie bereits vermutet, war der automatische Kompensator defekt, und seine Blockierungsvorrichtung hatte den Motor ausgeschaltet. Kaum hatte Dar Weter das Gehäuse geöffnet, war ihm klar, daß eine Reparatur aussichtslos war — es würde zu lange dauern, bis er das Schema dieser höchst komplizierten Elektronik herausgefunden hatte. Er seufzte ärgerlich, richtete sich auf und schaute zu dem Strauch hinüber, unter dem Weda Kong lang. So weit das Auge reichte, war die heiße Steppe menschenleer. Langsam kreisten zwei große Raubvögel über wogendem bläulichem Dunst.

Die gehorsame Maschine lag als tote Scheibe am Boden. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit beschlich Dar Weter. Doch Angst verspürte er nicht. Mochte nur die Nacht kommen — dann würde die Sichtigkeit besser werden und sie würden bestimmt ein Feuer entdecken. Sie waren ohne jedes Gepäck losgeflogen, hatten weder ein Sprechfunkgerät noch Taschenlampen noch Lebensmittel mitgenommen.

Früher mußten die Menschen in der Steppe verhungern und verdursten, wenn sie nicht genügend Lebensmittel und Wasser mitgenommen hatten, dachte Dar Weter und kniff die Augen vor dem grellen Licht zusammen. Er ging zu Weda hinüber und streckte sich unbekümmert neben ihr aus, wobei ihn die trockenen Grashalme durch die leichte Kleidung hindurch stachen. Die Hitze und das leise Rauschen des Grases versetzten ihn in eine Art Dämmerzustand, in dem sich die Gedanken nur langsam formten. In geruhsamer Folge zogen Bilder aus längst vergangenen Zeiten an seinem geistigen Auge vorüber.

„Dar!“ hörte er im Halbschlaf die vertraute Stimme rufen, öffnete die Augen und richtete sich auf.

Der rote Sonnenball berührte schon die dunkle Linie des Horizonts. Kein Lüftchen regte sich mehr.

„Dar Weter, mein Gebieter!“ sagte Weda, verschmitzt lächelnd, und verneigte sich vor ihm wie einst die Frauen Asiens vor ihren Männern, „Geruhe aufzuwachen und dich meiner zu erinnern!“

Nach einigen gymnastischen Übungen war Dar Weter wieder hellwach. Weda stimmte seinem Vorschlag zu, die Nacht abzuwarten. Sie waren so vertieft in ihre Unterhaltung über die Ausgrabungen, daß sie den Eintritt der Dämmerung gar nicht wahrgenommen hatten. Plötzlich bemerkte Dar Weter, daß Weda fröstelte und ganz kalte Hände hatte. Ihre leichte Kleidung bot kaum Schutz gegen die nächtliche Kälte dieser nördlichen Breiten.

Auf dem sechzigsten Breitengrad wurde es im Sommer nachts nie recht dunkel, so daß sie ohne Schwierigkeiten einen großen Haufen Reisig zusammensuchen konnten.

Mit lautem Knall sprang der Funke über, als Dar Weter den starken Akkumulator des Flugschraubers kurzschloß, und ein wenig später spendete ein helles Feuer den beiden wohltuende Wärme und ließ die Dämmerung ringsum dunkler erscheinen.

Weda hörte bald auf zu frösteln. Beide hingen ihren Gedanken nach. Tief im Innern des Menschen hat sich über Jahrtausende hinweg das Gefühl bewahrt, am Feuer geborgen zu sein, wenn einen Kälte und Dunkelheit umgeben.

„Was bedrückt Sie, Weda?“ brach Dar Weter das Schweigen.

„Mir ist die Frau mit dem Tuch wieder eingefallen“, erwiderte Weda leise, ohne den Blick von dem rotgolden verglühenden Reisig zu wenden.

Dar Weter wußte sofort, wovon sie sprach. Kurz vor ihrem Abflug hatten sie in den Steppen am Fuße des Altai ein großes Hügelgrab der Skythen geöffnet. In einem noch gut erhaltenen Holzschrein lag das Skelett eines greisen Heerführers, ringsherum verstreut, halb verschüttet, Gebeine von Pferden und Sklaven. Zu Füßen des mit Panzer, Schwert und Schild bestatteten Heerführers fand sich das zusammengekrümmte Skelett einer noch jungen Frau. Ihren Schädel umschloß ein seidenes Tuch, das sich wohl einst straff um das Gesicht gespannt hatte. Trotz aller Kunstgriffe ließ sich das Tuch nicht konservieren, doch bevor es zu feinem Staub zerfiel, konnte man die Umrisse des schönen Gesichtes genau rekonstruieren, das Jahrtausende zuvor seinen Abdruck auf dem Gewebe hinterlassen hatte. Aber noch etwas anderes ließ das Tuch in schrecklicher Genauigkeit erkennen: den Abdruck der hervorgequollenen Augen der Frau, die zweifellos mit diesem Tuch erdrosselt und in das Grab ihres Gatten geworfen worden war, um ihn ins Jenseits zu begleiten. Sie mochte nicht älter als neunzehn Jahre gewesen sein, er dagegen mindestens siebzig, für jene Zeiten ein hohes Alter.

Dar Weter mußte an die Diskussion denken, die nach dem Fund unter den jungen Expeditionsmitgliedern entbrannt war. War die junge Frau ihrem Gatten freiwillig in den Tod gefolgt, oder war sie gezwungen worden? Warum? Was hatte sie dazu veranlaßt? Wenn es grenzenlose Liebe gewesen war, wie hatte man sie da töten können, statt sie als schönste Verkörperung dieses Gefühls den Lebenden zurückzulassen?

Da griff Weda Kong in die Diskussion ein. Lange hatte sie mit brennenden Augen auf den dunklen Hügel gestarrt, als wollte sie tief in die Vergangenheit eindringen.

„Versucht doch einmal jene Menschen zu verstehen. Für sie war die Steppe grenzenlos, denn die einzigen Verkehrsmittel, die sie kannten, waren Pferde, Kamele und Rinder. Und in diesen ungeheuer weiten Ausdehnungen lebten einzelne Gruppen viehzüchtender Nomaden, die nicht nur keine Verbindung miteinander hatten, sondern sogar in erbitterter Feindschaft lebten. Haß und Groll wuchsen von Generation zu Generation; jeder Fremde war ein Feind, jeder Stamm eine potentielle Beute, die Vieh und Sklaven versprach, das heißt Menschen, die wie Vieh unter der Knute arbeiteten. Diese Gesellschaftsordnung brachte für den einzelnen Menschen eine uns völlig unbekannte Freiheit seiner kleinen Leidenschaften und Wünsche mit sich, aber auch geistige Enge und eine unglaubliche Verschlossenheit menschlicher Beziehungen. Eine kleine Völkerschaft oder eine Stammesgemeinschaft, die sich von der Jagd und vom Früchtesammeln ernährte, führte ein freies Nomadenleben, hatte aber ständig Überfälle und Versklavung oder Ausrottung durch ihre kriegerischen Nachbarn zu fürchten. War jedoch das Land durch natürliche Grenzen geschützt und von vielen Menschen bevölkert, so daß eine starke Militärmacht entstehen konnte, dann mußten die Menschen für den Schutz vor Überfällen ebenfalls mit ihrer Freiheit bezahlen, denn in solchen starken Staaten entwickelten sich stets Despotie und Tyrannei. So zum Beispiel im alten Ägypten, in Assyrien und Babylonien.

Die Frauen, besonders die schönen, waren im Altertum Beute und Spielzeug des Starken. Ohne den machtvollen Schutz eines Mannes konnten sie nicht existieren.

Die Wünsche der Frau bedeuteten so wenig, so unsagbar wenig, daß angesichts dieses Lebens… Wer weiß… Vielleicht schien ihnen der Tod das leichtere Los…“

Laut knackte ein brennender Zweig und rief Dar Weter in die Wirklichkeit zurück. Gleichsam als Antwort auf seine Gedanken rückte Weda näher, stocherte im Feuer und beobachtete dabei die bläulichen Flämmchen, die am verkohlten Holz entlangzüngelten.

„Wieviel Geduld und Tapferkeit brauchten die Menschen damals, damit sie Menschen bleiben konnten, nicht mutlos wurden, sondern im Leben etwas erreichten!“ sagte Weda leise.

„Ich glaube“, wandte Dar Weter ein, „wir stellen uns das Leben im Altertum übertrieben schwer vor. Man war an das Leben gewöhnt, und es war in seiner Ungeordnetheit voll abwechslungsreicher Zufälligkeiten. Wille und Stärke des Menschen entlockten diesem Leben eine Fülle romantischer Freuden, so wie man Funken aus einem Feuerstein schlägt.“

„Mir ist unbegreiflich“, sagte Weda, „warum unsere Vorfahren so spät die einfache Gesetzmäßigkeit erkannten, daß nur sie das Schicksal der Gesellschaft bestimmen, daß die Gesellschaftsordnung dem moralisch-ideologischen Entwicklungsstand ihrer Mitglieder entspricht, der wieder von den ökonomischen Bedingungen abhängigist.“

„Dabei ist es doch so leicht zu verstehen, daß der wissenschaftliche Aufbau der Gesellschaft in seiner vollendeten Form nicht einfach eine quantitative Anhäufung von Produktivkräften ist, sondern eine qualitativ höhere Stufe“, ergänzte Dar Weter. „Und ebenso leicht zu verstehen ist die dialektische Wechselbeziehung, daß neue gesellschaftliche Verhältnisse ohne neue Menschen genauso undenkbar sind wie neue Menschen ohne diese neue Ökonomie. Als man dies begriff, wurde die Erziehung, die körperliche und geistige Entwicklung des Menschen zur Hauptaufgabe der Gesellschaft. Wissen Sie noch, wann das damals war?“

„In der Ära der Partikularistischen Welt, am Ende des Zeitalters der Spaltung, bald nach der ZGR, der Zweiten Großen Revolution.“

„Gut, daß es nicht später war! Die verheerenden Kriegswaffen…“

Dar Weter verstummte. Ganz in der Nähe waren schweres Stampfen und lautes Keuchen zu hören. Die beiden Forscher sprangen auf.

Ein mächtiger schwarzer Stier stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor dem Feuer. In seinen böse glotzenden Augen flackerte der blutigrote Widerschein der Flammen. Schnaufend setzte das riesige Tier zum Angriff an. In dem schwachen Lichtschein wirkte der Stier riesig; der gesenkte Kopf glich einem Granitblock, steil ragte der hohe muskelstrotzende Widerrist auf. Noch nie hatte Weda oder Dar Weter so nah einem Tier von grimmiger, todbringender Kraft gegenübergestanden, dem mit Vernunft nicht beizukommen war.

Die Hände an die Brust gepreßt, stand Weda regungslos da, wie hypnotisiert von der Erscheinung, die urplötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war, instinktiv sprang Dar Weter vor, um Weda mit seinem Körper zu schützen, so wie es bei seinen fernen Vorfahren Brauch war. Aber der Mensch der neuen Ära war unbewaffnet.

„Nach rechts, Weda!“ konnte er gerade noch hervorstoßen, als das Tier auf sie losstürzte.

Doch die gut trainierten Körper der beiden Forscher konnten sich an Schnelligkeit mit der Behendigkeit des Stiers durchaus messen. Der Riese stürmte an ihnen vorbei und raste krachend in das Gebüsch. Weda und Dar Weter rannten in die Dunkelheit zum Flugschrauber. Weiter entfernt vom Feuer war die Nacht gar nicht mehr so dunkel, und Wedas Kleid war zweifellos weithin zu sehen. Während sich der Stier aus dem Gebüsch herauskämpfte, faßte Dar Weter seine Gefährtin und hob sie auf die Plattform des Flugschraubers. Schon galoppierte das Tier heran, als sich Dar Weter neben Weda auf die Maschine schwang. Flüchtig kreuzten sich ihre Blicke, und Dar Weter las in den Augen des Mädchens unverhohlene Begeisterung. Die Motorhaube war offengeblieben, als Dar Weter am Tage versucht hatte, hinter das ausgeklügelte Konstruktionsschema zu kommen. Jetzt bot er alle Kraft auf und riß das Kabel des Ausgleichfeldes vom Geländer der Plattform los. Das blanke Ende klemmte er am Hauptanschluß des Transformators fest und schob Weda vorsichtshalber beiseite. Da brachte ein kräftiger Ruck den Flugschrauber zum Schwanken, der Stier hatte sich mit einem Horn im Geländer verfangen. Dar Weter stieß dem Tier das andere Kabelende in die Nüster. Ein kurzes Aufblitzen, und der rasende Stier schlug schwer und dumpf zu Boden.

„Sie haben ihn getötet!“ rief Weda vorwurfsvoll.

„Wohl kaum, die Erde ist ja trocken“, versetzte Dar Weter mit einem schlauen Lächeln.

Und schon knurrte der Stier schwach, erhob sich und rannte, ohne sich umzusehen, auf unsicheren Beinen davon. Die beiden Forscher kehrten zum Feuer zurück und brachten mit einem Armvoll Reisig die fast erloschenen Flammen wieder zum Auflodern.

„Mir ist nicht mehr kalt“, sagte Weda. „Gehen wir auf den Hügel!“

Das Feuer wurde von der Spitze des Hügels verdeckt, die blassen Sterne des nördlichen Sommerhimmels verschwammen am Horizont zu kleinen Kugeln.

Im Westen war überhaupt nichts zu sehen, im Norden, auf den Abhängen der Berge, schimmerte eine Kette von Feuern; im Süden, weit entfernt, leuchtete der Stern eines Beobachtungsturms der Viehzüchter.

„Das ist sinnlos, wir müßten die ganze Nacht hindurch laufen“, murmelte Dar Weter.

„Nein, nein, schauen Sie doch mal!“ Und Weda zeigte nach Osten, wo plötzlich vier Lichter aufleuchteten, wie Eckpunkte eines Quadrats. Bis dorthin waren es nur ein paar Kilometer. Sie prägten sich die Richtung nach den Sternen ein und gingen wieder zum Feuer hinunter. Weda blieb vor den schwach züngelnden Flammen stehen, als wolle sie sich an etwas erinnern. „Leb wohl, mein Haus!“ sagte sie nachdenklich. „Wahrscheinlich haben die Nomaden immer solche Unterkünfte gehabt — behelfsmäßig und vorübergehend. Ich kam mir heute wie eine Frau aus jener Zeit vor.“

Sie drehte sich zu Dar Weter um und legte ihm vertraulich den Arm um die Schulter.

„Ich brauche heute Schutz. Nicht daß ich Angst gehabt hätte, nein, aber so etwas wie eine verführerische Ergebenheit vor der Macht des Schicksals scheint mir…“

Weda verschränkte die Hände im Nacken und dehnte ihren geschmeidigen Körper. Dann sah sie Dar Weter übermütig an.

„Also los, übernehmen Sie die Führung… mein Held!“ Ihre tiefe Stimme klang geheimnisvoll und zärtlich.

Die vom Duft der Gräser geschwängerte, dämmrige Nacht war erfüllt vom Geraschel der wilden Tiere und vom Schreien der Nachtvögel. Weda und Dar Weter schritten vorsichtig aus, um nicht in ein Loch oder eine Erdspalte zu geraten. Die rispenförmigen Halme des Steppengrases streiften ihre Knöchel. Sobald dunkles Strauchwerk auftauchte, blieb Dar Weter stehen und hielt sorgfältig Umschau.

Weda lachte leise.

„Vielleicht hätten wir den Akku und das Kabel mitnehmen sollen?“

„Sie sind ja leichtsinnig, Weda“, sagte Dar Weter gutmütig. „Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.“

Die junge Frau wurde plötzlich ernst.

„Ich fühlte mich heute so ganz in Ihrem Schutz.“

Und dann sprach Weda über die nächsten Aufgaben ihrer Expedition. Die erste Etappe der Ausgrabungen in der Steppe war beendet, Wedas Mitarbeiter kehrten zu ihrer früheren Beschäftigung zurück oder suchten sich eine neue. Dar Weter aber hatte sich noch für keine neue Arbeit entschieden. Noch war er frei und konnte wählen. Nach allem, was sie gehört hatten, war Mwen Mass durchaus erfolgreich. Auch wenn das nicht der Fall gewesen wäre, würde der Rat Dar Weter nicht so schnell wieder jenen Posten übertragen. Im Zeitalter des Großen Rings hielt man es nicht für nutzbringend, wenn jemand lange Zeit ein und dieselbe Arbeit tat. Das Wertvollste, die schöpferische Eingebung, würde nachlassen. Erst nach einer längeren Unterbrechung konnte man wieder an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren.

„Kam Ihnen unsere Arbeit nicht nebensächlich und eintönig vor, nachdem Sie doch nun sechs Jahre an den Kosmos gewöhnt waren?“ Weda sah forschend in sein Gesicht.

„Ihre Arbeit ist durchaus nicht nebensächlich und eintönig“, entgegnete Dar Weter, „doch gibt sie mir nicht die Spannung, die ich gewohnt bin. Dafür fühle ich mich in bester Laune und bin so ausgeglichen, als würde ich mit hellblauen Träumen behandelt.“

„Mit hellblauen?“ fragte Weda zurück, und ihr stockender Atem sagte Dar Weter mehr, als es die im Dunkeln unsichtbare Röte ihrer Wangen getan hätte. „Als nächstes untersuche ich eine alte Höhle“, fuhr sie rasch fort, „aber nicht eher, als bis sich wieder ein Freiwilligentrupp mit Archäologen zusammengefunden hat. In der Zwischenzeit nehme ich an Ausgrabungen im Meer teil — Kollegen haben mich dazu eingeladen.“

Dar Weter hatte sie verstanden, und sein Herz klopfte vor freudiger Erregung. Doch er beherrschte sich und fragte ruhig: „Sie meinen die Ausgrabungen der versunkenen Stadt südlich von Sizilien? Im Atlantis-Palast habe ich phantastische Dinge von dort gesehen.“

„Nein. Zur Zeit graben wir an den Küsten des östlichen Mittelmeers, des Roten Meers und Indiens. Wir suchen nach erhalten gebliebenen Kulturschätzen, angefangen bei der kretisch-indischen Kultur bis zum Beginn des Dunklen Zeitalters.“

„Ach, nach dem, was man versteckte oder häufiger einfach ins Meer warf, als die Inseln der Zivilisation unter dem Ansturm der ungestümen frischen Kräfte der Barbaren untergingen. Ich verstehe“, sagte nachdenklich Dar Weter, während seine Augen weiterhin aufmerksam die dämmerige Ebene absuchten. „Ich verstehe auch die Zerstörung der alten Kultur, als die antiken Staaten, einst stark durch ihre Naturnähe, nicht imstande waren, die Welt zu verändern und mit der abscheulichen Sklaverei und ihrer parasitären Oberschicht fertig zu werden.“

„Und dann wurde die antike Sklaverei durch den Feudalismus und die religiöse Finsternis des Mittelalters abgelöst“, setzte Weda fort. „Aber was ist Ihnen noch unklar?“

„Ich kann mir unter dem Begriff kretisch-indische Kultur kaum etwas vorstellen.“

„Sie kennen also die neuesten Forschungsergebnisse noch nicht! Spuren dieser Kultur wurden in dem ausgedehnten Gebiet von Amerika über Kreta, das südliche Zentralasien und Nordindien bis nach Westchina gefunden.“

„Ich hätte nie gedacht, daß es in so alter Zeit bereits Verstecke für Kunstschätze gab, wie wir sie von Karthago, Griechenland oder Rom kennen.“

„Fahren Sie mit mir, und Sie werden es sehen“, sagte Weda leise.

Dar Weter ging eine Weile stumm neben ihr her. Sie kletterten auf einen sanft ansteigenden Hügel. Auf der Spitze blieb Dar Weter plötzlich stehen.

„Ich danke für die Einladung. Ich fahre mit.“

Weda sah ihn ein wenig ungläubig an, doch in der nächtlichen Dämmerung waren die Augen ihres Begleiters schwarz und undurchdringlich.

Auf dem Hügel stellten sie fest, daß sie den Lichtern schon sehr nahe waren. Die Lampen in den polarisierenden Glocken zerstreuten das Licht nicht und schienen deshalb weiter entfernt. Die konzentrische Beleuchtung ließ erkennen, daß hier nachts gearbeitet wurde. Immer stärker wurde das Heulen der Hochspannung. Die Konturen eines Zauns schimmerten silbrig im bläulichen Licht der hochhängenden Lampen. Sirenengeheul veranlaßte die beiden stehenzubleiben — der automatische Wächter war in Tätigkeit getreten.

„Vorsicht! Links halten! Kommen Sie den Pfählen nicht zu nahe!“ brüllte ein unsichtbarer Lautsprecher. Gehorsam schritten sie auf die fahrbaren weißen Häuschen zu.

„Blicken Sie nicht zu dem Feld hinüber!“ fuhr der fürsorgliche Automat fort.

In zwei der Häuschen gingen gleichzeitig die Türen auf, zwei Lichtkegel kreuzten sich auf dem dunklen Weg. Freudig begrüßten mehrere Männer und Frauen die Forscher und zeigten sich über ihre — zumal bei Nacht — unvollkommene Art der Fortbewegung höchst verwundert.

In engen Kabinen erfrischten sich die beiden Reisenden unter einer Dusche von aromatischem Wasser, das mit Kohlensäure und Elektrizität angereichert war, und ließen sich anschließend mit punktförmigen elektrischen Entladungen massieren.

Zum Essen trafen sie sich dann wieder.

„Stellen Sie sich vor, Dar, wir sind bei Kollegen zu Gast!“

Weda goß ein goldgelbes Getränk in schmale Gläser, die sofort beschlugen.

„Hier läßt sich’s leben!“ sagte Dar Weter fröhlich und langte nach seinem Glas.

„Bezwinger des Stiers, Sie sind in der Steppe verwildert“, protestierte Weda. „Ich erzähle Ihnen eine interessante Neuigkeit, Sie aber denken nur an Essen und Trinken.“

„Hier Ausgrabungen?“ meinte Dar Weter zweifelnd.

„Ja, aber keine archäologischen, sondern paläontologische. Sie untersuchen die fossile Fauna des Perms — zweihundert Millionen Jahre sind seitdem vergangen. Dagegen komme ich mir mit unseren wenigen Jahrtausenden erbärmlich vor.“

„Sie untersuchen, ohne erst zu graben? Wie ist denn das möglich?“

„Ja. Aber wie sie das machen, habe ich noch nicht erfahren können.“

Ein hagerer gelbhäutiger Mann, der mit ihnen am Tisch saß, mischte sich ins Gespräch: „Unsere Gruppe löst jetzt eine andere ab. Die Vorbereitungsarbeiten sind abgeschlossen, und wir beginnen jetzt mit der Durchleuchtung.“

„Mit elektromagnetischer Strahlung?“ fragte Dar Weter.

„Ja. Wenn Sie nicht zu müde sind, sehen Sie sich das an. Morgen werden wir schon wieder an einem anderen Ort arbeiten, aber dort ist es wenig interessant.“

Weda und Dar Weter stimmten erfreut zu. Ihre freundlichen Gastgeber standen vom Tisch auf und führten sie in das Haus nebenan. Dort hingen mehrere Schutzanzüge, jeweils in Nischen mit einem Geigerzähler darüber.

„Die Ionisation unserer großen Röhren ist sehr stark“, sagte, leicht entschuldigend, eine etwas gebeugte Frau, die Weda in den dichtgewebten Anzug und den durchsichtigen Helm half und die Taschen mit den Batterien auf ihrem Rücken befestigte.

In dem polarisierten Licht zeichnete sich jede kleine Erhebung in dem hügeligen Steppengelände unnatürlich deutlich ab. Hinter dem dünnen Zaun, der um ein quadratisches Feld gezogen war, ertönte dumpfer Lärm. Die Erde hob sich und riß auf zu einem Trichter, aus dem ein spitz zulaufender glänzender Zylinder auftauchte. Um seine polierte Wandung ringelte sich ein Spiralkamm, und an seinem Vorderende drehte sich eine komplizierte Elektrofräse aus bläulichem Metall. Der Zylinder schlängelte sich über den Trichterrand hinweg und grub sich wenige Meter entfernt mit der blanken Spitze fast senkrecht wieder in den Boden, wobei die Schaufeln an seinem hinteren Ende nur kurze Zeit sichtbar waren.

Der Zylinder zog zwei Kabel hinter sich her, ein isoliertes und ein blankes. Weda berührte Dar Weters Arm und zeigte auf einen Punkt jenseits des Magnesiumzauns. Dort wand sich ein zweiter, ebensolcher Zylinder aus dem Erdreich, schlängelte sich nach links und tauchte nach wenigen Metern wieder in den Boden wie in Wasser.

Ihr gelbhäutiger Begleiter forderte sie durch ein Zeichen zur Eile auf.

„Jetzt weiß ich, wer das ist“, flüsterte Weda, während sie der vorausgegangenen Gruppe nacheilten. „Das ist Ljau Lan, der Paläontologe. Er hat das Rätsel um die Besiedlung des asiatischen Festlandes im Paläozoikum gelöst.“

„Er ist chinesischer Abstammung?“ fragte Dar Weter und dachte an den dunklen Blick der schräggestellten Augen des Wissenschaftlers. „Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich seine Arbeiten nicht kenne.“

„Ich sehe schon, Sie haben wenig Ahnung von der Paläontologie unseres Planeten“, entgegnete Weda. „In der Paläontologie anderer Welten kennen Sie sich wahrscheinlich besser aus.“

In Gedanken zogen an Dar Weter unzählige Formen des Lebens vorüber: Millionen eigenartiger Skelette in den Gesteinsschichten der verschiedenen Planeten — Zeugnisse vergangener Zeiten, die in den Ablagerungen jedes bewohnten Planeten verborgen sind. Zeugnisse, von der Natur selbst geschaffen und so lange von ihr versteckt gehalten, bis ein denkendes Wesen sich ihrer erinnert und aus ihnen Vergessenes rekonstruierte.

Sie stiegen auf eine kleine Plattform, die sich an einen stark gewölbten Bogen anschloß. In der Mitte der Fläche befand sich eine große Mattscheibe. Alle acht setzten sich in stummer Erwartung auf die niedrigen Bänke vor dem Bildschirm.

„Gleich sind die ›Maulwürfe‹ mit ihrem Werk fertig“, erklärte Ljau Lan. „Wie Sie sicherlich schon erraten haben, ziehen sie das blanke Kabel durch die Gesteinsschichten und weben ein metallenes Netz. In vierzehn Meter Tiefe lagern die Skelette der ausgestorbenen Tiere in porösem Sandstein. Drei Meter darunter, also in siebzehn Meter Tiefe, ist die gesamte Fläche von dem Metallnetz durchzogen, das an starke Induktoren angeschlossen ist. So entsteht ein reflektierendes Feld, das Röntgenstrahlen auf die Mattscheibe wirft. Auf ihr werden dann die versteinerten Knochen sichtbar.“

Zwei große Metallkugeln drehten sich auf massiven Sockeln. Scheinwerfer flammten auf, und Sirenengeheul warnte vor der Gefahr. Gleichstrom mit einer Spannung von einer Million Volt ließ alle Anschlüsse, Isolatoren und Freileitungen bläulich aufleuchten.

Scheinbar achtlos bediente Ljau Lan die Schalter und Hebel an der Schalttafel. Die große Mattscheibe wurde immer heller. Verschwommene Konturen zogen langsam auf ihr vorüber. Plötzlich stockte die Bewegung, ein großer verschwimmender Fleck nahm fast die ganze Mattscheibe ein, doch dann wurden seine Umrisse zusehends schärfer.

Noch einige Handgriffe an der Schalttafel, und den Zuschauern zeigte sich matt beleuchtet das Skelett eines unbekannten Tieres. Breite Tatzen mit Krallen krümmten sich unter dem Rumpf, der in einem langen gebogenen Schwanz endete. Besonders augenfällig waren die dicken, massiven Knochen. Die kräftigen Vorderzähne in dem geschlossenen Rachen lagen frei. Der Schädel wirkte von oben wie ein einziger mächtiger Knochen mit ungleichmäßiger, zerfurchter Oberfläche. Ljau Lan schaltete auf Vergrößerung um, und nun füllte der Kopf des vorsintflutlichen Reptils die ganze Mattscheibe aus. Vor ungefähr zweihundert Millionen Jahren hatte es hier an einem Fluß gelebt. Die Schädeldecke war mindestens zwanzig Zentimeter dick. Über den Augenhöhlen, ragten Knochenwülste vor. Ebensolche Vorsprünge schützten von oben die Schläfengruben und die Wölbungen der Schädelbögen. Auf dem hinteren Teil des Schädels war ein großer Kegel zu sehen, offensichtlich ein riesiges Scheitelauge. Ljau Lan seufzte tief auf vor Begeisterung.

Dar Weter wandte kein Auge von dem plumpen, schweren Skelett. Die zunehmende Muskelkraft hatte eine Verstärkung der Knochen bewirkt, die einer großen Belastung ausgesetzt waren, und das wiederum erforderte eine erneute Verstärkung der Muskeln. So führte die direkte Abhängigkeit in den urzeitlichen Organismen die Entwicklung der meisten Tiere in eine Sackgasse, so lange, bis wichtige physiologische Vervollkommnungen einen Ausweg geschaffen hatten und eine neue Evolutionsstufe erreichbar wurde. Daß sich solche Wesen unter den Vorfahren des Menschen mit seinem schönen und erstaunlich beweglichen Körper befanden, mutete ganz unwahrscheinlich an.

Die Abbildung auf der Mattscheibe war bereits durch eine andere abgelöst worden. Der breite parabolische Schädel eines Lurchs war zu erkennen, eines urweltlichen Salamanders, der einst im Permsumpf auf der Lauer gelegen hatte, bis etwas Freßbares in erreichbare Nähe kam. Dieser weitere Beweis für eine endlos lange und unerbittliche Entwicklung des Lebens bedrückte Dar Weter und machte ihn gleichzeitig gereizt. Ungeduldig richtete er sich auf, und Ljau Lan, der ihm seine Gemütsverfassung ansah, schlug vor, zurückzukehren und sich ein wenig auszuruhen. Nur mit großem Bedauern trennte sich die wißbegierige Weda vom Bildschirm, als sie sah, daß die Wissenschaftler die Geräte für Elektronenfotografie und synchrone Tonaufzeichnung einschalteten, um die gewaltige elektrische Energie nicht ungenutzt verströmen zu lassen.

Kurze Zeit darauf lag Weda schon im Gästezimmer auf einer breiten Couch. Dar Weter ging noch eine Weile auf dem glattgewalzten Platz vor dem Haus auf und ab, um die Eindrücke auf sich wirken zu lassen.

Der morgendliche Tau hatte das staubige Gras reingewaschen. Als Ljau Lan von der Nachtarbeit zurückkehrte, schlug er vor, die Gäste mit einer „Elfe“, einem kleinen akkumulatorbetriebenen Auto, zum nächsten Flughafen für springende Düsenflugzeuge zu bringen, knapp hundert Kilometer entfernt am Unterlauf des Trom-Jugan-Flusses. Weda bat, eine Verbindung zu ihrer Expedition herzustellen, aber die Paläontologengruppe verfügte über keinen Sender mit genügend großer Leistung. Seitdem die Menschen wußten, wie schädlich die elektromagnetische Strahlung ist, und ein strenges Regime eingeführt hatten, waren für Sendungen mit gelenkter Strahlung über große Entfernungen komplizierte technische Anlagen notwendig geworden. Außerdem gab es weit weniger Sendestationen. Ljau Lan wollte dem nächstgelegenen Beobachtungsturm der Viehzüchter eine Sendung durchgeben. Diese Türme standen durch Richtfunk miteinander in Verbindung und konnten der Zentralstation ihres Bezirks alles Gewünschte mitteilen. Die junge Praktikantin, die die Gäste begleiten sollte, um die „Elfe“ wieder zurückzubringen, schlug vor, unterwegs einen dieser Türme aufzusuchen. Dann könnten die Gäste selbst über Televisiofon ein Gespräch führen. Dar Weter und Weda stimmten erfreut zu. Die drei fanden kaum Platz in dem schmalen Dreisitzer; neben dem breiten Dar Weter saßen die beiden Frauen ziemlich eingezwängt. In der Ferne zeichnete sich undeutlich die schmale Silhouette eines Beobachtungsturms gegen den klaren blauen Himmel ab. Nach kurzer Zeit hielt die „Elfe“ dicht neben dem Turm. Die weit auseinandergestellten Metallstreben trugen ein Schutzdach aus Plast, unter dem ebenfalls eine „Elfe“ stand. Durch das Schutzdach gingen die Gleitschienen eines Aufzugs nach oben. Die winzige Kabine trug die drei nacheinander an der Wohnetage vorbei zur Turmspitze hinauf, wo sie ein braungebrannter junger Mann mit freiem Oberkörper begrüßte. Aus der plötzlichen Verlegenheit ihrer sonst keineswegs schüchternen Begleiterin schloß Weda, daß die Findigkeit der Paläontologin besondere Ursachen hatte.

Der runde Raum mit seiner kristallenen Wand schwankte merklich, und der leichte Turm summte eintönig wie eine straffgespannte Saite. Fußboden und Decke des Raumes waren in dunklen Farben gehalten. Längs der Wand standen schmale Tische mit Ferngläsern, Rechenmaschinen und Notizheften. Aus neunzig Meter Höhe war ein riesiges Gebiet überschaubar, bis hin zur Sichtgrenze der Nachbartürme. Von hier wurden die Herden ständig überwacht, hier wurde Buch über die Futtervorräte geführt. Gleich konzentrischen grünen Ringen lagen in der Steppe die Melklabyrinthe, durch die zweimal täglich die Kühe getrieben wurden; Ihre Milch kondensierte und gefror man an Ort und Stelle in unterirdischen Kühlräumen, so daß sie sich sehr lange hielt. Weitergetrieben wurden die Herden mit Hilfe der „Elfen“, über die jeder Turm verfügte. Die Beobachter konnten sich während der Dienstzeit weiterbilden; die meisten von ihnen waren Studenten, deren Ausbildung noch nicht abgeschlossen war.

Der junge Mann führte Weda und Dar Weter über eine Wendeltreppe hinunter in die Wohnetage. Die Räume hatten schallisolierende Wände, so daß die Reisenden von völliger Stille umgeben waren. Nur das unaufhörliche Schwanken erinnerte daran, daß sie sich in luftiger Höhe befanden.

Ein anderer junger Mann arbeitete gerade im Senderaum. Die Frisur und das auffallende Kleid seiner Gesprächspartnerin auf dem Bildschirm ließen erkennen, daß er mit der Zentralstation Verbindung aufgenommen hatte. Das Mädchen auf dem Bildschirm schaltete zu einer anderen Station um, und bald darauf erschien im Televisiofon die kleine Gestalt Miiko Eygoros, der Oberassistentin Weda Kongs. Ihre schräggestellten dunklen Augen verrieten freudiges Erstaunen, und der kleine Mund war vor Überraschung halb geöffnet. Doch gleich darauf blickte Weda und Dar Weter wieder ein leidenschaftsloses Gesicht an, das nichts weiter ausdrückte als sachliche Aufmerksamkeit. Dar Weter ging nach oben. Die junge Paläontologin und der braungebrannte Student waren in eine lebhafte Unterhaltung vertieft. Dar Weter trat auf den Balkon hinaus, der sich rings um den gläsernen Raum zog. Die feuchte Frische des Morgens war längst der Hitze des Mittags gewichen. Grenzenlos weit dehnte sich die Steppe unter dem strahlenden, klaren Himmel. Wieder wurde Dar Weter von unbestimmter Sehnsucht nach der rauhen nördlichen Heimat seiner Vorfahren gepackt. Auf die Balkonbrüstung gestützt, wurde ihm mit aller Deutlichkeit bewußt, in welchem Maße sich die Träume seiner Ahnen verwirklicht hatten. Der Mensch hatte es zuwege gebracht, die rauhe Klimazone weit nach Norden zurückzudrängen, und die belebende Wärme des Südens strömte in die Ebenen, die einst von kalten Wolken bedeckt waren.

Weda Kong betrat das Kristallzimmer und erzählte, daß der Funker sie weiterbefördern werde. Die Paläontologin sah sie dankbar an. Hinter der durchsichtigen Wand war der breite Rücken Dar Weters zu sehen.

„Sie denken nach?“ erklang es hinter ihm. „Doch nicht etwa über mich?“

„Nein, Weda. Ich habe über eine Behauptung der altindischen Philosophie nachgedacht. Da heißt es, die Welt sei nicht für den Menschen geschaffen worden, und der Mensch sei nur dann groß, wenn er den Wert und die Schönheit des anderen Lebens, des Lebens der Natur, begreift.“

„Sie haben nicht zu Ende gesprochen, und ich verstehe das nicht.“

„Schon möglich, daß ich nicht alles gesagt habe. Ich würde von mir aus noch hinzufügen, daß es einzig und allein dem Menschen gegeben ist, die Schönheit wahrzunehmen, aber auch die schwierigen und dunklen Seiten des Lebens zu begreifen. Ebenso wie allein der Mensch die Gabe besitzt, von einem besseren Leben zu träumen und diesen Traum zu verwirklichen.“

„Das habe ich verstanden“, sagte Weda leise und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: „Sie haben sich verändert, Dar.“

„Natürlich habe ich mich verändert. Wo ich doch vier Monate lang mit einem einfachen Spaten aus euren Hügelgräbern schwere Steine und halbvermoderte Balken herausgeholt habe. Da sieht man das Leben unwillkürlich mit anderen Augen an, die kleinsten Freuden gewinnen an Wert.“

„Machen Sie sich nicht über mich lustig, Dar“, sagte Weda schmollend. „Ich meine es ernst. Als ich Sie damals kennenlernte in Ihrem Observatorium, als Sie über die gesamte Energie der Erde herrschten und mit fernen Welten sprachen, konnte man Sie für ein übernatürliches Wesen unserer Ahnen halten, für einen Gott, wie sie es nannten. Hier aber bei unserer einfachen Arbeit, als einer unter vielen, sind Sie…“ Weda verstummte.

„Was bin ich?“ fragte Dar Weter neugierig. „Habe ich meine Größe eingebüßt? Was hätten Sie wohl gesagt, wenn Sie mich vor meiner Tätigkeit im Institut für Astrophysik kennengelernt hätten, damals als Maschinist der Spiralstraße? Besitzt der etwa weniger Größe? Oder als Mechaniker für Obsterntemaschinen in den Tropen?“

Weda lachte hell auf.

„Ich muß Ihnen ein Geheimnis aus meiner Jungmädchenzeit verraten. In der Schule des dritten Zyklus war ich in einen Maschinisten der Spiralstraße verliebt — ich konnte mir nichts Imposanteres vorstellen. Da kommt übrigens der Funker. Fahren wir, Dar!“

Bevor der Pilot Weda und Dar Weter einsteigen ließ, vergewisserte er sich noch einmal, ob die beiden die große Beschleunigung des springenden Flugzeugs ertragen könnten. Er achtete streng auf Einhaltung der Vorschriften. Erst nachdem er eine zufriedenstellende Antwort erhalten hatte, bat er die beiden, in den tiefen Sesseln des Flugzeuges Platz zu nehmen, das einem riesigen Regentropfen glich. Ein Signalgong ertönte, das Flugzeug wurde fast senkrecht in die Luft katapultiert, und die Körper der beiden versanken langsam tief im Sessel wie in einer zähen Flüssigkeit. Unter großer Anstrengung drehte Dar Weter den Kopf zur Seite, um Weda aufmunternd zuzulächeln. Der Pilot schaltete den Motor ein. Ein Aufheulen, lastende Schwere im ganzen Körper, und das tropfenförmige Flugzeug schoß in einem riesigen Bogen davon, dessen Gipfelhöhe dreiundzwanzig Kilometer betrug. Nur wenige Augenblicke schienen vergangen zu sein, als die Reisenden mit zitternden Knien vor ihren Häuschen in der Steppe am Fuße des Altai wieder ausstiegen. Der Pilot machte ihnen Zeichen, sich etwas weiter vom Flugzeug zu entfernen. Dar Weter begriff, daß der Motor schon auf der Erde eingeschaltet werden mußte, da hier kein Katapult zur Verfügung stand wie auf dem Stützpunkt. Rasch zog er Weda mit sich fort und lief geradewegs auf die ihnen entgegeneilende Miiko Eygoro zu. Die Frauen umarmten sich wie nach einer langen Trennung.

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