Auf dem Tisch ertönte ein leises glashelles Klingeln, orangefarbene und blaue Funken sprühten auf. Über die durchsichtige Wand huschten bunte Lichtflecke. Der Leiter der Außenstationen des Großen Rings, Dar Weter, betrachtete die Lichter der Spiralstraße. In gigantischem Bogen wand sie sich in die Höhe und spiegelte sich als mattgelber Streifen am Meeressaum wider. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, stellte Dar Weter den Hebel auf R. Er war in tiefes Nachdenken versunken.
Heute sollte im Leben dieses Mannes eine tiefgreifende Veränderung eintreten. Am Morgen war aus dem Wohngürtel der südlichen Halbkugel Mwen Mass eingetroffen, der vom Rat für Astronautik bestimmt worden war, seine Stelle einzunehmen. Die letzte Sendung über den Großen Ring werden sie gemeinsam durchführen, und dann… Eben dieses „dann“ war noch ungeklärt.
Sechs Jahre hatte er eine Arbeit verrichtet, die höchste Anspannung erforderte. Nur die befähigtsten Menschen mit großartigem Gedächtnis und enzyklopädischem Wissen wurden dazu bestimmt. Immer häufiger jedoch wiederholten sich bei ihm Anfälle von Gleichgültigkeit gegenüber seiner Arbeit und dem Leben — eine der schwersten Krankheiten des Menschen. Die berühmte Nervenärztin Ewda Nal hatte ihn untersucht. Die erprobte alte Heilmethode, Musik harmonischer, weicher Akkorde in dem von beruhigenden Strahlen erfüllten „Zimmer der blauen Träume“, hatte nicht geholfen. Es blieb nichts weiter übrig, als durch körperliche Arbeit zu gesunden — dort, wo noch täglich und stündlich Muskelkraft eingesetzt werden mußte.
Seine Freundin, die Historikerin Weda Kong, hatte ihm gestern vorgeschlagen, bei ihr zu arbeiten. Bei den archäologischen Ausgrabungen konnte noch nicht alles von Maschinen bewältigt werden, im letzten Stadium mußte mit der Hand gearbeitet werden. Weda hatte ihm eine lange Reise in uraltes Steppengebiet, hatte ihm die Schönheit unberührter Natur versprochen.
Wenn Weda Kong… Übrigens kannte sie seine Gefühle. Aber sie liebte Erg Noor, das Mitglied des Rates für Astronautik, den Leiter der siebenunddreißigsten Sternenexpedition. Erg Noor hatte schon vom Planeten Sirda Nachricht geben sollen. Doch auch wenn keine Nachricht von ihm kommen würde, wäre jeder Versuch, Wedas Liebe zu erringen, zwecklos. Freundschaft war das Höchste, was ihn mit ihr verbinden konnte. Trotzdem würde er zu ihr fahren!
Dar Weter drückte auf einen Knopf, und helles Licht durchflutete das Zimmer. Die eine Wand des Raumes hoch über Erde und Meer bildete ein Kristallfenster. Durch eine Hebelbewegung Dar Weters neigte sich diese Wand, und über dem Raum funkelte der Sternenhimmel; die Lichter der Straßen, Gebäude und Leuchttürme an der Meeresküste wurden durch den metallenen Fensterrahmen abgeschnitten.
Das Zifferblatt der galaktischen Uhr mit den drei konzentrischen Skalenringen fesselte Dar Weters Aufmerksamkeit. Die Informationen wurden über den Großen Ring jede hunderttausendstel galaktische Sekunde gesendet, das heißt einmal in acht Tagen, fünfundvierzigmal im Jahr nach irdischer Zeitrechnung. Eine Umdrehung der Galaxis um ihre Achse entsprach einem galaktischen Tag.
Die nächste und für ihn letzte Sendung würde um neun Uhr nach der Zeit des tibetanischen Observatoriums, also hier, im Mittelmeerobservatorium des Rates, um zwei Uhr erfolgen. Bis dahin waren noch etwas über zwei Stunden Zeit.
Das Gerät auf dem Tisch klingelte und blinkte erneut. Hinter der Wand erschien ein Assistent in heller, seidig glänzender Kleidung.
„Alles ist zu Sendung und Empfang bereit“, meldete er kurz und ohne jedes Zeichen von Ehrerbietung, sein Blick aber verriet Bewunderung für den Vorgesetzten.
Dar Weter schwieg, auch der Assistent sagte nichts, seine Haltung war ungezwungen und selbstbewußt.
„Im kubischen Saal?“ fragte schließlich Dar Weter, und nach zustimmender Antwort erkundigte er sich, wo Mwen Mass sei.
„Er ist bei der Erfrischungsapparatur und läßt sich nach der Reise behandeln. Mir scheint, er ist ziemlich aufgeregt.“
„Ich an seiner Stelle wäre auch aufgeregt“, sagte Dar Weter nachdenklich. „Vor sechs Jahren ging es mir genauso.“
Der Assistent hatte alle Mühe, leidenschaftslos zu bleiben. Mit jugendlichem Feuer drückte er seine Sympathie für seinen Chef aus; vielleicht dachte er daran, daß er selbst einmal die Freuden und Leiden einer bedeutenden Aufgabe und einer großen Verantwortung erleben würde. Der Leiter der Außenstationen ließ sich seine Empfindungen nicht anmerken — in seinem Alter galt es nicht als schicklich, sie zu zeigen.
„Wenn Mwen Mass erscheint, führen Sie ihn bitte sofort zu mir.“
Der Assistent entfernte sich. Dar Weter ging zu der Ecke, wo die durchsichtige Wand vom Fußboden bis zur Decke geschwärzt war, und öffnete zwei Türflügel in der farbigen Wandtäfelung. Licht flammte auf, es kam aus der Tiefe eines spiegelähnlichen Bildschirms.
Der Leiter der Außenstationen schaltete den Freundschaftsvektor ein — eine direkte Verbindung zwischen eng befreundeten Menschen, auf der sie sich in jedem Augenblick erreichen konnten. Der Freundschaftsvektor verband einige ständige Aufenthaltsorte: die Wohnung, den Arbeitsplatz und den Lieblingsaufenthalt in der Freizeit.
Auf dem Bildschirm erschienen die vertrauten Umrisse der hohen Wandregale mit den zahllosen Reihen der Kodebezeichnungen für Elektronenfilme, die die veraltete Form der Fotokopie ersetzten. Nachdem die Menschheit zu einem einheitlichen Alphabet übergegangen war, dem linearen, wie es wegen des Fehlens komplizierter Zeichen genannt wurde, ließen sich selbst alte Bücher noch einfacher filmen, sogar von automatischen Maschinen. Blaue, grüne, rote Streifen — die Zeichen der zentralen Filmotheken, wo die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse aufbewahrt wurden, und zwar schon seit langem nur noch in einem Dutzend Exemplaren. Man wählte die entsprechenden Zeichen, und die Filmothek sendete automatisch den vollständigen Text des Buchfilmes. Dar Weter sah Wedas Privatbibliothek vor sich. Ein leichtes Knacken, und das Bild verschwand. Ein anderes Zimmer leuchtete auf, es war ebenfalls leer. Beim nächsten Knacken übermittelte das Gerät einen Saal mit schwach beleuchteten Tischen. Die Frau am vordersten Tisch hob den Kopf, und Dar Weter sah die weit auseinanderstehenden dichten Augenbrauen und das schmale Gesicht mit den großen blauen Augen. Das Lächeln des scharfgezeichneten Mundes und die weißen Zähne machten das Gesicht noch weicher und liebenswürdiger.
„Weda, es sind nur noch zwei Stunden. Sie müssen sich umziehen; ich möchte, daß Sie etwas früher ins Observatorium kommen.“
Die Frau auf dem Bildschirm hob die Hände zu dem dichten aschblonden Haar.
„Ich gehorche, mein Lieber“, sagte sie lächelnd, „ich gehe nach Hause.“
Die erzwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme blieb Dar Weter nicht verborgen.
„Keine Aufregung, Weda. Jeder, der über den Großen Ring spricht, hielt irgendwann einmal seine erste Rede.“
„Sie können sich Ihre ermunternden Worte sparen.“ Weda Kong warf eigensinnig den Kopf zurück. „Ich komme bald.“
Der Bildschirm erlosch. Dar Weter schloß die Türflügel und wandte sich dem Eingang zu, um seinen Nachfolger zu begrüßen. Mit weit ausholenden Schritten trat Mwen Mass ein. Seine Gesichtszüge und die dunkelbraune Farbe seiner glänzenden Haut deuteten darauf hin, daß seine Vorfahren Neger gewesen waren. Ein weißer Umhang hing in schwerem Faltenwurf von seinen Schultern herab. Mwen Mass schüttelte Dar Weter kräftig die Hände. Beide Leiter der Außenstationen, der bisherige und der künftige, waren sehr groß. Weter, der russischer Abstammung war, wirkte breiter und stämmiger als der schlanke Afrikaner.
„Mir ist, als müsse heute etwas Wichtiges geschehen“, begann Mwen Mass mit jener vertrauensvollen Aufrichtigkeit, wie sie den Menschen der Ära des Großen Rings eigen ist. Dar Weter zuckte die Schultern.
„Für uns alle drei wird sich etwas Wichtiges ereignen. Ich werde meine Arbeit abgeben, Sie werden sie übernehmen, und Weda Kong wird zum erstenmal mit dem All sprechen.“
„Sie ist sehr hübsch?“ sagte Mwen Mass halb fragend.
„Sie werden ja sehen. Übrigens handelt es sich bei der heutigen Sendung um nichts Besonderes. Weda hält für die Planeten KRS 664456 + BS 3252 einen Vortrag über unsere Geschichte.“
Verblüffend schnell stellte Mwen Mass eine Berechnung an.
„Sternbild des Einhorns, Stern Ross 614 — ein aus alten Zeiten bekanntes Planetensystem, aber es hat sich auf keine Weise bemerkbar gemacht. Ich liebe altertümliche Bezeichnungen und Ausdrücke“, ergänzte er mit kaum merklicher Entschuldigung in der Stimme.
Der Rat versteht es, Menschen auszuwählen, dachte Dar Weter bei sich. Laut fügte er hinzu: „Dann werden Sie sich mit Yuni Ant, dem Leiter der Elektronen-Gedächtnismaschinen, gut verstehen. Er selbst nennt sich Leiter der Gedächtnisröhren, in Anlehnung an die ersten plumpen Elektronenröhren aus Glas, die den damaligen Glühlampen glichen.“
Mwen Mass lachte so herzlich und ansteckend, daß Dar Weter noch mehr Sympathie für ihn empfand.
„Gedächtnisröhren! Unsere Gedächtnisnetze sind kilometerlange Korridore aus Milliarden Zellenelementen! Doch was rede ich da über selbstverständliche Dinge“, sagte er, plötzlich ernst geworden, „anstatt mich über das Notwendigste zu informieren. Wann hat sich Ross 614 zum erstenmal gemeldet?“
„Vor zweiundfünfzig Jahren. Seit jener Zeit beherrschen seine Bewohner die Sprache des Großen Rings. Bis zu ihnen sind es insgesamt vier Parsek. Wedas Vortrag werden sie in dreizehn Jahren empfangen.“
„Und dann?“
„Nach dem Vortrag schalten wir auf Empfang um. Durch unsere alten Freunde werden wir Neuigkeiten über den Ring erfahren.“
„Über Schwan 61?“
„Natürlich. Manchmal auch über Schlangenträger 107, um in Ihrer geliebten alten Terminologie zu sprechen.“
Ein Mann trat ein, in der gleichen silbrig glänzenden Kleidung des Rates für Weltraumfahrt, die auch Dar Weters Assistent trug. Er war klein und lebhaft, hatte eine gebogene Nase und erregte sofort durch den scharfen, forschenden Blick seiner tiefschwarzen Augen Aufmerksamkeit. Der Eingetretene fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf.
„Ich bin Yuni Ant“, sagte er, zu Mwen Mass gewandt, mit hoher, schriller Stimme.
Mwen Mass begrüßte ihn achtungsvoll. Die Leiter der Gedächtnismaschinen übertrafen alle Menschen an Gelehrsamkeit. Sie entschieden, welche Informationen in den Gedächtnismaschinen gespeichert und welche in das allgemeine Informationsnetz oder zu den Palästen der schöpferischen Arbeit weitergeleitet werden sollten.
„Noch so ein Brevist!“ brummte Yuni Ant, während er dem neuen Bekannten die Hand drückte.
„Was bedeutet das?“ erkundigte sich Mwen Mass.
„Meine Wortschöpfung. Vom lateinischen brevis — kurz — abgeleitet. Damit bezeichne ich alle, die nicht lange leben: die Mitarbeiter in den Außenstationen, die Piloten der interstellaren Flotte, die Techniker in den Fabriken für Raumschifftriebwerke und auch uns. Wir leben ja auch nicht länger als ein halbes Menschenalter. Was hilft’s! Dafür ist es interessant. Wo ist Weda?“
„Sie wollte etwas früher kommen“, begann Dar Weter, doch seine Worte gingen in den alarmierenden musikalischen Akkorden unter, die einem hellen Klicken am Zifferblatt der galaktischen Uhr folgten.
„Das Signal für die ganze Erde“, erläuterte Dar Weter, „Es gilt für alle Energiestationen, alle Betriebe, das Transportwesen und die Radiostationen. In einer halben Stunde muß die gesamte Energieentnahme eingestellt werden. Die Energie wird in großen Kondensatoren gespeichert, deren Kapazität ausreicht, die gelenkte Strahlung mittels eines Sendekanals durch die Atmosphäre zu schicken. Für die Sendung werden dreiundvierzig Prozent der Erdenergie verbraucht. Für den Empfang nur acht“, erklärte Dar Weter.
„Genauso habe ich es mir vorgestellt“, sagte Mwen Mass und nickte zur Bekräftigung. Plötzlich spiegelte sich auf seinem Gesicht Begeisterung wider. Dar Weter sah sich um. Unbemerkt war Weda Kong eingetreten und stand an der durchsichtigen Leuchtsäule. Für ihren Auftritt hatte sie ihr schönstes Kleid angelegt, das in seinem Stil den Gewändern glich, die Jahrtausende zuvor von den Frauen im Kreterreich getragen wurden. Der schwere, hoch aufgesteckte Knoten unterstrich noch die Schönheit des kräftigen schlanken Halses. Der weite, fließende Rock gab die gebräunten Beine in roten Sandalen frei. Eine Kette aus großen, in Titan gefaßten kirschroten Steinen — Phaanten von der Venus — leuchtete auf der zarten Haut im Ton der vor Erregung geröteten Wangen.
Mwen Mass betrachtete die Historikerin mit unverhohlenem Entzücken.
Weda sah Dar Weter unsicher an.
„Gut“, antwortete er auf die stumme Frage seiner schönen Freundin.
„Ich habe schon oft Vorträge gehalten, aber noch nie so“, sagte Weda.
„Der Rat folgt dem allgemeinen Brauch, Nachrichten für andere Planeten von schönen Frauen sprechen zu lassen. Das vermittelt eine Vorstellung vom Schönheitssinn der Bewohner unserer Welt“, sagte Dar Weter.
„Der Rat hat keine schlechte Wahl getroffen“, meinte Mwen Mass.
Weda musterte den Afrikaner eindringlich.
„Sie sind alleinstehend?“ fragte sie leise.
Mwen Mass nickte bestätigend.
„Darum sind Sie auch so überschwenglich. — Sie wollten mich sprechen?“ sagte sie zu Dar Weter.
Die beiden traten auf die breite Terrasse hinaus. Weda kehrte ihr Gesicht dem frischen Meereswind zu.
Dar Weter eröffnete ihr, er habe sich entschlossen, zu den Ausgrabungen zu fahren; er erzählte ihr, wie schwer ihm die Wahl geworden sei zwischen der achtunddreißigsten Sternenexpedition, den antarktischen Unterwasserbergwerken und der Archäologie.
„O nein, nur keine Sternenexpedition!“ rief Weda. Dar Weter begriff sofort seine Taktlosigkeit. Vollkommen mit sich beschäftigt, hatte er versehentlich an Wedas wunde Stelle gerührt.
Einige dynamische Akkorde, die bis auf den Balkon zu hören waren, halfen ihm aus der Verlegenheit.
„Es wird Zeit! In einer halben Stunde schalten wir uns in den Ring ein!“ Dar Weter faßte Weda Kong fürsorglich unter.
In Begleitung der andern fuhren sie mit der Rolltreppe bis tief unter die Erde und betraten einen kubischen Raum, der direkt in den Fels gehauen war.
Überall waren Instrumente angebracht. Die matte dunkle Täfelung der Wände wirkte wie Samt. Golden, grün, hellblau und orangefarben leuchteten schwach die Skalen, Zeichen und Zahlen. Die smaragdgrünen Zeigerspitzen vibrierten vor den schwarzen Halbkreisen, als befänden sich die breiten Wände des Raumes in angespannter, bebender Erwartung.
Mehrere Sessel, ein großer Tisch aus Ebenholz vor einem riesigen perlmuttglänzenden halbsphärischen Bildschirm in einem massiven Goldrahmen — das war alles, was im Zimmer stand.
Durch ein Zeichen rief Dar Weter seinen Nachfolger zu sich, während er den übrigen die hohen schwarzen Sessel zuwies. Mit verhaltenem Atem trat Mwen Mass näher. Gleich wird sich von hier aus das Fenster der Erde in die unendlichen Weiten des Kosmos auftun, Gedanken und Wissen werden die Menschen mit ihren Brüdern auf anderen Welten verbinden. Jetzt stehen hier fünf Vertreter der Menschheit. Ab morgen werden ihm, Mwen Mass, alle Einrichtungen dieser großartigen Station anvertraut sein. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Erst jetzt begriff er restlos, welche Verantwortung er übernommen hatte, als er der Entscheidung des Rats zustimmte. Beim Anblick Dar Weters, der ruhig die Schalthebel bediente, trat in seine Augen ein Ausdruck, ähnlich der Bewunderung des jungen Assistenten Dar Weters.
Lang anhaltend vibrierte ein Ton in der Luft, als hätte man ein Stück massives Kupfer zum Klingen gebracht. Dar Weter drehte sich rasch um und betätigte einen Schalter. Der Ton verstummte, und Weda Kong sah, wie die Täfelung der rechten Wand in voller Zimmerhöhe beleuchtet wurde. Sie schien zu zerfließen und in grenzenloser Ferne zu verschwinden. Die verschwommenen Konturen eines pyramidenförmigen Berggipfels wurden sichtbar, den ein riesiger steinerner Ring krönte. Unterhalb dieser kolossalen Kappe festgefügten Gesteins glitzerten Flecke unberührten Bergschnees.
Mwen Mass erkannte den zweithöchsten Berg Afrikas, den Kenia.
Wieder erfüllte der seltsame Ton den unterirdischen Raum und ließ die Anwesenden gespannt lauschen.
Dar Weter führte Mwens Hand zu einem runden Knopf mit granatrotem Auge. Gehorsam drehte ihn Mwen Mass bis zum Anschlag. Jetzt wurde die gesamte von eintausendsiebenhundertsechzig riesigen Kraftwerken der Erde erzeugte Energie zum Äquator umgeleitet, zu diesem Berg von fünftausend Meter Höhe. Über seinem Gipfel zog sich ein vielfarbiges Leuchten zusammen, verdichtete sich zu einer Kugel und jagte plötzlich wie ein Speer senkrecht nach oben in den Himmel. Einer Windhose gleich, wuchs über dem steinernen Ring eine schlanke Säule auf, an der sich grelleuchtende blaue Rauchspiralen in die Höhe schlängelten.
Die gelenkte Strahlung durchstieß die Atmosphäre und bildete einen ständigen Kanal zu den Außenstationen für Empfang und Sendung. Sechsunddreißigtausend Kilometer über der Erde befand sich ein Tagessatellit — eine große Station, die in Äquatorhöhe in vierundzwanzig Stunden einmal um den Planeten kreiste und dadurch stets über dem Kenia in Ostafrika stand. Ein anderer großer Satellit rotierte in siebenundfünfzigtausend Kilometer Höhe meridional um die Erde und stand mit dem tibetanischen Empfangs- und Sendeobservatorium in Verbindung. Dort waren die Voraussetzungen, einen Sendekanal zu bilden, am günstigsten, dafür aber fehlte eine ständige Verbindung. Die beiden großen Satelliten waren außerdem mit mehreren automatischen Außenstationen gekoppelt, die um die ganze Erde herum verteilt waren.
Das Licht auf der rechten Täfelung erlosch — der Kanal war an die Empfangsstation des Satelliten angeschlossen. Im gleichen Augenblick leuchtete der goldgerahmte Bildschirm auf. In seinem Zentrum erschien eine bizarr vergrößerte Figur, wurde deutlicher und lächelte mit übergroßem Mund. Das war Gur Gan, einer der Beobachter vom Tagessatelliten. Auf dem Bildschirm war er zu einem Märchenriesen geworden. Er nickte freundlich, reckte seinen drei Meter langen Arm und schaltete das Satellitennetz ein. In alle Richtungen des Weltalls streckten die Empfangsgeräte ihre hochempfindlichen Antennen. Der matte rote Stern im Sternbild des Einhorns, von dessen Planeten kurz zuvor ein Aufruf ergangen war, ließ sich am besten vom Satelliten 57 anpeilen. Gur Gan stellte die Verbindung zu ihm her. Der unsichtbare Kontakt der Erde mit dem Stern konnte nur eine dreiviertel Stunde aufrechterhalten werden. Keine Minute der kostbaren Zeit durfte deshalb ungenutzt vergehen.
Auf ein Zeichen von Dar Weter trat Weda Kong in den blauen Metallkreis vor dem Bildschirm. Von oben ergoß sich eine wahre Lichtflut und ließ die sonnengebräunte Haut des Mädchens noch dunkler erscheinen. Geräuschlos schalteten sich die Elektronenmaschinen ein, die Wedas Rede in die Sprache des Großen Rings übersetzten. Nach dreizehn Jahren werden die Empfänger des Planeten im Sternbild des Einhorns die ausgestrahlten Schwingungen in Form von allgemeinverständlichen Zeichen auffangen. Elektronische Übersetzungsmaschinen werden — falls dort eine Lautsprache existiert — die Zeichen in diese Sprache übersetzen.
Nur schade, dachte Dar Weter, daß die dort nicht die warme, wohlklingende Stimme einer Frau unserer Erde hören, nicht deren Ausdrucksfähigkeit vernehmen können.
Wer weiß, wie sich ihr Gehör von dem unseren unterscheidet. Nur der Gesichtssinn, der sich der elektromagnetischen Schwingungen der Atmosphäre bedient, ist im gesamten Kosmos fast gleich, und die Planetenbewohner können die bezaubernde, vor Aufregung glühende Weda sehen. Dar Weter lauschte ihrem Vortrag, ohne den Blick von ihrem kleinen Ohr zu wenden, das von einer Haarsträhne halb verdeckt war.
Knapp, aber verständlich erzählte Weda Kong von den Entwicklungsetappen in der Menschheitsgeschichte. Von den lange zurückliegenden Epochen, von der Rivalität der Völker untereinander und ihren wirtschaftlichen und ideologischen Auseinandersetzungen sprach sie nur sehr kurz. Diese Epochen erhielten die Sammelbezeichnung ÄPW: Ära der Partikularistischen Welt. Doch die Menschen der Ära des Großen Rings interessierte nicht eine Aufzählung der Vernichtungskriege, der schrecklichen Leiden oder der angeblich großen Herrscher, die die alten Geschichtsbücher der Antike, des Mittelalters oder des Zeitalters des Kapitalismus gefüllt hatten. Weit wichtiger war die widerspruchsvolle Entwicklung der Produktivkräfte, die Formierung der Ideen, der Kunst und der Wissenschaft, das geistige Ringen um den wahren Menschen, um die Menschheit. Das ständig wachsende Bedürfnis, neue Vorstellungen zu schaffen von der Welt und den gesellschaftlichen Beziehungen, von den Pflichten und Rechten und dem Glück des Menschen; ihnen entsprang schließlich auf dem gesamten Erdball die mächtige kommunistische Gesellschaft.
In der letzten Epoche der ÄPW, im sogenannten Zeitalter der Spaltung, begriffen die Menschen endlich, daß ihr ganzes Elend von einer Gesellschaftsordnung ausging, die sich bereits in Urväterzeiten spontan herausgebildet hatte. Sie erkannten, daß die Stärke und die Zukunft der Menschheit auf der Arbeit, den vereinten Anstrengungen der Millionen von Unterdrückung befreiter Menschen, auf der Wissenschaft und der Umgestaltung des Lebens auf wissenschaftlicher Grundlage beruhten. Die Grundgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung wurden ihnen verständlich, die dialektischen Widersprüche im Geschichtsablauf sowie die Notwendigkeit der Erziehung zu strenger gesellschaftlicher Disziplin, die um so wichtiger wurde, je mehr die Bevölkerung auf der Erde zunahm.
Im Zeitalter der Spaltung verschärfte sich der Kampf zwischen den alten und neuen Ideen und führte zur Bildung zweier Lager mit unterschiedlichen Wirtschaftssystemen: Das eine bestand aus den alten, kapitalistischen Staaten und das andere aus den jungen, sozialistischen. Die Entdeckung der Atomenergie und der Starrsinn der Verteidiger der alten Welt hätten damals beinahe zu einer schrecklichen Katastrophe für die gesamte Menschheit geführt.
Doch die neue Gesellschaftsordnung mußte siegen, obgleich dieser Sieg durch das Zurückbleiben in der Erziehung des gesellschaftlichen Bewußtseins hinausgezögert wurde. Die Umgestaltung der Welt auf kommunistischer Grundlage ist undenkbar ohne eine grundlegende Veränderung der Wirtschaft, ohne die Beseitigung der Armut, des Hungers und der schweren körperlichen Arbeit. Die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse machte jedoch eine komplizierte Lenkung der Produktion und der Verteilung notwendig und war nur dadurch möglich, daß jeder einzelne zu gesellschaftlichem Bewußtsein erzogen wurde.
Die kommunistische Gesellschaftsordnung setzte sich nicht sofort bei allen Völkern und in allen Ländern durch. Haß und Verleumdung zu beseitigen, die aus der chauvinistischen Propaganda während der ideologischen Auseinandersetzungen im Zeitalter der Spaltung resultierten, erforderte ungeheure Anstrengungen. Nicht wenig Fehler wurden auch bei der Entwicklung neuer menschlicher Beziehungen gemacht. Hier und da kam es zu Aufständen, angezettelt von unbelehrbaren Anhängern des Alten. In ihrer Begrenztheit sahen sie in der Wiederherstellung der alten Verhältnisse einen leichten Ausweg aus den Schwierigkeiten, vor denen die Menschheit stand.
Doch unvermeidlich und unaufhaltsam breitete sich die neue Lebensordnung über die ganze Erde aus, und schließlich wurde aus den verschiedenen Völkern und Rassen eine einträchtige Familie.
So begann die ÄVW — die Ära der Vereinigten Welt —, unterteilt in das Zeitalter der Union der Länder, der Verschiedenen Sprachen, des Kampfes um die Energie und der Gemeinsamen Sprache.
Die gesellschaftliche Entwicklung ging immer rascher voran, jede neue Epoche war kürzer als die vorhergehende. Immer schneller wuchs die Macht des Menschen über die Natur.
In ihren utopischen Vorstellungen von einer schönen Zukunft träumten die Menschen früher, sie werden allmählich von jeglicher Arbeit befreit werden. Die Schriftsteller prophezeiten eine kurze Arbeitszeit — zwei, drei Stunden täglich für das allgemeine Wohl. In dieser Zeit würden sich die Menschen mit allem Lebensnotwendigen versorgen, die übrige Zeit könnten sie sich dem süßen Nichtstun hingeben. Diese Vorstellungen entsprangen der Abneigung gegen erzwungene, schwere Arbeit.
Bald erkannte der Mensch, daß Arbeit Glück bedeutet, ebenso wie der unaufhörliche Kampf mit der Natur, die Überwindung von Schwierigkeiten und die Lösung immer neuer Aufgaben bei der Entwicklung von Wissenschaft und Wirtschaft. Arbeit nach besten Kräften, allerdings schöpferisch und den angeborenen Fähigkeiten und Neigungen entsprechend, mannigfaltig und von Zeit zu Zeit wechselnd — das ist es, was der Mensch braucht. Die Entwicklung der Kybernetik, die umfassende Bildung jedes einzelnen und die ausgezeichnete Körpererziehung ermöglichten es, den Beruf zu wechseln, ohne großen Zeitaufwand einen anderen zu erlernen, die Arbeit immer wieder zu variieren und in ihr immer größere Befriedigung zu finden. Die sich ständig entwickelnde Wissenschaft erfaßte das gesamte Leben, und viele Menschen wurden der schöpferischen Freude bei der Entdeckung von Naturgeheimnissen teilhaftig. Bald erhielt die Kunst großen Anteil an der gesellschaftlichen Erziehung und der Gestaltung des Lebens. Dann brach die großartigste Ära in der gesamten Menschheitsgeschichte an, die ÄGA — die Ära der Gemeinsamen Arbeit mit ihren Zeitaltern der Vereinfachung der Dinge, der Umgestaltung, des Ersten Überflusses und des Kosmos.
Die Erfindung der Elektrizitätsverdichtung, die zur Schaffung von Akkumulatoren gewaltiger Kapazität und von kompakten, aber leistungsfähigen Elektromotoren führte, war die bedeutendste technische Revolution der Neuzeit. Schon vorher hatte man gelernt, hochkomplizierte Schwachstromnetze mit Hilfe von Halbleitern aufzubauen und kybernetische Maschinen zu schaffen. Die Technik wurde zu einer hohen, subtilen Kunst und gewann Macht über Kapazitäten von kosmischem Ausmaß.
Um die Bedürfnisse eines jeden erfüllen zu können, mußte das Leben des Menschen weitgehend vereinfacht werden. Der Mensch war nicht länger ein Sklave der Technik. Detaillierte Standards wurden ausgearbeitet. Dadurch konnten alle beliebigen Gegenstände und Maschinen aus verhältnismäßig wenigen Grundelementen hergestellt werden, ähnlich dem lebenden Organismus in seiner großen Vielfalt, der auch nur aus einer geringen Vielfalt von Zellen besteht, die Zelle aus Eiweißen, die Eiweiße aus Proteinen und so weiter. Allein schon dadurch, daß die unglaubliche Verschwendung von Lebensmitteln aufhörte, schuf man Nahrung für Milliarden.
Alle gesellschaftlichen Kräfte, die in früheren Zeiten für die Schaffung von Kriegsmaterial, den Unterhalt riesiger Armeen, für politische Propaganda und äußerlichen Pomp vergeudet wurden, konzentrierte man jetzt auf die Verbesserung des Lebens und die Entwicklung der Wissenschaft.
Auf ein Zeichen von Weda Kong drückte Dar Weter auf einen Knopf, und neben der Historikerin wurde ein großer Globus sichtbar.
„Wir begannen“, fuhr Weda fort, „mit einer völligen Neuaufteilung der Wohn- und Industriezonen unseres Planeten. Hier diese braunen Streifen längs der dreißigsten Breitengrade auf der nördlichen und südlichen Halbkugel sind eine ununterbrochene Kette städtischer Siedlungen, die an den Küsten warmer Meere in einer milden Klimazone liegen. Die Menschheit spart dadurch die ungeheuren Energiemengen ein, die sonst im Winter für Heizung und Herstellung warmer Kleidung verbraucht wurden. Die Bevölkerung konzentrierte sich vor allem an der Wiege der Menschheitskultur — am Mittelmeer. Der subtropische Gürtel verbreiterte sich um das Doppelte, nachdem die polaren Eisfelder abgeschmolzen wurden.
Im Norden des nördlichen Wohngürtels erstreckt sich eine gigantische Zone von Wiesen und Steppen, wo unzählige Herden von Haustieren weiden.
Die einst trockenen, heißen Wüstengürtel im Süden (auf der nördlichen Halbkugel) und im Norden (auf der südlichen) sind heute blühende Gärten. Hier befanden sich vorher Felder von Thermokraftwerken, die die Sonnenenergie sammelten.
Pflanzliche Nahrung und Nutzholz werden vor allem in der tropischen Zone angebaut, die bei weitem günstiger dafür ist als die kalten Klimazonen. Stark zuckerhaltige Pflanzen werden überhaupt nicht mehr angebaut, schon lange nicht mehr, seitdem die synthetische Gewinnung von Kohlenhydraten — von Zuckern — aus Sonnenlicht und Kohlensäure eingeführt wurde. Da es uns noch nicht gelungen ist, vollwertige Eiweiße für die Ernährung billig herzustellen, bauen wir auf dem Festland eiweißreiche Kulturpflanzen und Pilze an und züchten in den Ozeanen riesige Algenfelder. Ein einfaches Verfahren zur Produktion von synthetischen Speisefetten ist uns durch eine Information des Großen Rings zugänglich gemacht worden. Alle Vitamine und Hormone gewinnen wir in beliebiger Menge aus Steinkohle. Die Landwirtschaft der neuen Welt braucht nicht mehr ausnahmslos alle Lebensmittel zu erzeugen, wie das in früheren Zeiten der Fall war. Zucker, Fett und Vitamine können wir praktisch unbegrenzt produzieren. Schon seit langem ist die Menschheit von der jahrtausendealten Furcht vor dem Hunger befreit.
Zu den größten Freuden der Menschen zählt das Reisen. Heute umspannt unseren ganzen Planeten die Spiralstraße, die alle Kontinente durch riesige Brücken über die Meerengen miteinander verbindet.“ Weda drehte den Globus und fuhr mit dem Finger den Silberfaden entlang. „Auf ihr fahren in ununterbrochener Folge Elektrozüge. Hunderttausende von Menschen können rasch aus der Wohnzone in die Steppen-, Feld-, Wald- oder Gebirgszone gelangen, wo es keine Städte im eigentlichen Sinn gibt, sondern lediglich provisorische Lager für die Meister der Viehzucht, des Ackerbaus, der Forstindustrie und des Bergbaus. Da alle Fabriken und Kraftwerke vollständig automatisiert wurden, sind Städte oder Siedlungen in ihrer Nähe überflüssig. Nur ein paar Häuser für die wenigen Diensthabenden — Beobachter, Mechaniker und Monteure — wurden gebaut.
Die planvolle Gestaltung des Lebens war es schließlich, die der mörderischen Jagd nach immer höherer Geschwindigkeit, dem Bau immer schnellerer Transportmaschinen ein Ende setzte. Auf der Spiralstraße fahren die Züge zweihundert Kilometer in der Stunde. Nur in Notfällen werden schnelle Flugschiffe eingesetzt, die Tausende Kilometer in der Stunde zurücklegen.
Vor einigen Jahrhunderten erfolgten auf unserem Planeten einschneidende Veränderungen. Bereits im Zeitalter der Spaltung wurde die Atomenergie entdeckt. Damals erlernten die Menschen, einen winzigen Bruchteil dieser Energie freizusetzen und in eine Explosion umzuwandeln, deren todbringende Eigenschaften sofort für militärische Zwecke Verwendung fanden. Man legte große Vorräte von diesen furchtbaren Bomben an, die später, nachdem sich der Kommunismus überall durchgesetzt hatte, zur Energieerzeugung genutzt wurden. Die gefährlichen Folgen der Strahlung jedoch zwangen die Menschen, auf diese veraltete Form der Energiegewinnung zu verzichten. Bei der Erforschung der Physik ferner Welten entdeckten die Astronomen zwei neue Methoden der Gewinnung von Kernenergie — Q und F —, die weitaus ergiebiger waren und keine gefährlichen Zerfallsprodukte hinterließen.
Die beiden Verfahren werden auch heute noch bei uns verwandt, wenngleich wir für die Sternschifftriebwerke eine andere Art von Kernenergie benutzen, das Anameson, das bei der Erforschung der großen Sterne der Galaxis durch den Großen Ring bekannt geworden ist.
Alle Vorräte von Kernbrennstoffen alter Art — der radioaktiven Isotope des Urans, Thoriums, Wasserstoffs, Kobalts und Lithiums — wurden vernichtet, nachdem man auf die Lösung gekommen war, ihre Zerfallsprodukte in den Raum außerhalb der Erdatmosphäre zu schicken. Damals — es war das Zeitalter der Umgestaltung — wurden künstliche Sonnen geschaffen und über den Polargebieten ›aufgehängt‹. Dadurch wurden die polaren Eisfelder beträchtlich verkleinert, das Klima des ganzen Planeten veränderte sich. Der Wasserspiegel der Ozeane wurde um sieben Meter gehoben, in der Atmosphärenzirkulation wurden die Polarfronten und die Passatzone, die an der Grenze der Tropen die Wüstengebiete ausgedörrt hatte, bedeutend eingeengt. Auch die Orkane, ja überhaupt alle Unwetterkatastrophen wurden fast vollständig liquidiert.
Die warmen Steppengebiete rückten bis zum sechzigsten Breitengrad vor, und die Wiesen und Wälder der gemäßigten Zonen gingen sogar über den siebzigsten Breitengrad hinaus.
Das antarktische Festland, zur Hälfte vom Eis befreit, erwies sich als eine Fundgrube an Bodenschätzen. Unberührt lagen dort die Reichtümer der Berge, die auf allen anderen Kontinenten schon ausgebeutet und in den großen zerstörenden Kriegen mißbraucht worden waren. Über die Antarktis gelang es auch, den Ring der Spiralstraße zu schließen.
Noch vor diesen tiefgreifenden Klimaveränderungen wurden riesige Kanäle gegraben und Gebirgsrücken durchschnitten, um die Wasser- und Luftzirkulation des Planeten harmonisch zu gestalten. Mit Hilfe von ununterbrochen arbeitenden dielektrischen Pumpen gelang es sogar, die Hochgebirgswüsten Asiens zu bewässern.
Die Nahrungsmittelerzeugung konnte um ein Vielfaches gesteigert werden, neue Gebiete wurden bewohnbar gemacht. Die warmen Binnenmeere dienten der Zucht eiweißreicher Wasserpflanzen.
Mit unseren alten Planetenschiffen, so empfindlich und wenig sicher sie auch waren, konnten wir die nächstgelegenen Planeten unseres Systems erreichen. Ein Gürtel künstlicher Satelliten, von denen aus sich die Menschen mit dem Kosmos vertraut machten, umgab die Erde. Da trat vor vierhundertacht Jahren ein wichtiges Ereignis ein, das eine neue Ära im Dasein der Menschheit einleitete: die ÄGR, die Ära des Großen Rings.
Seit langem arbeiteten die Menschen an dem Problem der Sendung von Bildern, Lauten und Energie über weite Entfernungen. Hunderttausende hochbegabte Wissenschaftler waren tätig, zusammengeschlossen in einer besonderen Körperschaft, der ›Akademie für gelenkte Strahlung‹, bis es ihnen gelang, Energie drahtlos, durch gelenkte Strahlung über größere Entfernungen zu übertragen. Auf einem Umweg entdeckten sie das Gesetz, daß der Energiestrom proportional dem Sinus des Winkels der Strahlendivergenz ist. Seitdem erhalten die parallelen Strahlungsbündel eine ständige Verbindung mit den künstlichen Satelliten aufrecht und über sie mit dem gesamten Kosmos. Bis dahin war die das Leben schützende Hülle der ionisierten Atmosphäre ein Hindernis für Sendungen von und nach dem Weltraum gewesen. Schon vor langer Zeit, am Ende der Ära der Partikularistischen Welt, haben unsere Wissenschaftler Ströme mächtiger Radiostrahlungen aus dem Kosmos auf der Erde ermittelt. Zugleich mit der Strahlung der Gestirne und Sternsysteme gelangten auch Signale aus dem Kosmos und Sendungen über den Großen Ring zu uns, allerdings durch die Atmosphäre verstümmelt und halb ausgelöscht. Damals verstanden wir sie nicht, obwohl wir schon seit langem in der Lage waren, diese geheimnisvollen Signale aufzufangen. Wir hielten sie für die Ausstrahlung toter Materie.
Der Wissenschaftler Kham Amat hatte den Einfall, auf künstlichen Satelliten Versuche mit Bildempfängern durchzuführen, wobei er immer neue Kombinationen von Wellenbereichen ausklügelte.
Es gelang ihm, eine Sendung vom Planetensystem eines Doppelsterns aufzufangen, der von alters her Schwan 61 genannt wird. Auf dem Bildschirm zeigte sich eine Gestalt — dem Menschen nicht ähnlich, doch zweifellos ein denkendes Wesen — und wies auf eine aus den Zeichen des Großen Rings gebildete Inschrift. Erst nach neunzig Jahren konnten wir die Inschrift entziffern. Heute schmückt sie das Denkmal Kham Amats: ›Gruß euch Brüdern, die ihr in unsere Familie eingetreten seid. Durch Raum und Zeit getrennt, vereinen wir uns durch den Verstand im Ring der großen Kraft.‹
Die Sprache der Zeichen, Bilder und Karten des Großen Rings wurde für uns erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe verständlich. Zwei Jahrhunderte später konnten wir uns schon mittels Übersetzungsmaschinen mit den Planetensystemen der nächsten Sterne unterhalten und zusammenhängende Bilder des vielfältigen Lebens der verschiedenen Welten empfangen und senden. Erst kürzlich erhielten wir Antwort von den vierzehn Planeten aus dem großen Lebenszentrum des Deneb im Sternbild des Schwans, eines Riesensterns mit viertausendachthundertfacher Sonnenleuchtkraft, der sich einhundertzweiundzwanzig Parsek von uns entfernt befindet. Die Entwicklung des Denkens ging dort einen anderen Weg, erreichte aber unseren Stand.
Und von den alten Welten — den kugelförmigen Anhäufungen in unserer Galaxis und dem riesigen bewohnten Gebiet um das galaktische Zentrum — kommen aus unermeßlicher Ferne seltsame Bilder und Aufzeichnungen, für uns noch unverständlich, da wir sie nicht entziffern können. Von Gedächtnismaschinen aufgezeichnet, werden sie an die ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ weitergeleitet, an die Institution, die an den neuesten Problemen unserer Wissenschaft arbeitet. Wir versuchen die Ergebnisse des Denkens zu entziffern, das uns Millionen Jahre voraus ist.“
Weda Kong wandte sich vom Bildschirm ab, in den sie wie hypnotisiert gestarrt hatte, und warf Dar Weter einen fragenden Blick zu. Er lächelte und nickte billigend. Weda hob stolz den Kopf, streckte die Hände aus und wandte sich jenen Unbekannten zu, die sie in dreizehn Jahren hören und sehen würden: „Das ist unsere Geschichte, ein komplizierter und lang andauernder Aufstieg zu den Höhen des Wissens. Wir rufen euch. Vereinigt euch mit uns im Großen Ring, um die mächtige Kraft des Verstandes in alle Winkel des Alls zu tragen und die träge, tote Materie zu besiegen!“
Wedas Stimme klang feierlich. Sie hatte im Namen der gesamten Menschheit gesprochen, die bereits ihre Gedanken über die Grenzen der eigenen Galaxis hinaus anderen Sterneninseln des Weltalls vermitteln konnte.
Ein langgezogener eherner Ton — Dar Weter hatte den Sendestrom abgeschaltet. Der Bildschirm erlosch. Auf der durchsichtigen Täfelung blieb die leuchtende Säule des Trägerkanals.
Müde ließ sich Weda in einen der großen, tiefen Sessel sinken, ohne den Blick von Dar Weter zu wenden. Der bat Mwen Mass, am Steuerpult Platz zu nehmen, und beugte sich über dessen Schulter. Es war totenstill, nur hin und wieder knackten leise die Kurbelsperren. Plötzlich verschwand der goldgerahmte Bildschirm, und an seiner Stelle tat sich eine ungeheure Tiefe auf. Weda Kong, die dieses Wunder zum erstenmal sah, holte tief Luft. Dieses Schauspiel wirkte verblüffend, auch auf jemand, der die Methode der komplizierten Interferenz der Lichtwellen genau kannte, durch die diese Weite und Tiefe des Blickfeldes erreicht wurde.
Die dunkle Oberfläche des fremden Planeten kam immer näher, wuchs mit jedem Augenblick. Es handelte sich um das recht seltene System eines Doppelsterns, dessen beide Sonnen sich derart im Gleichgewicht befanden, daß ihr Planet eine regelmäßige Bahn um sie beschrieb und daß sich auf ihm Leben hatte entwickeln können. Sie waren kleiner als unsere Sonne, orangefarben und scharlachrot, und ließen die Eismassen des zugefrorenen Meeres rot erscheinen. Am Rande flacher schwarzer Berge war ein langgestrecktes niedriges Gebäude zu sehen, geheimnisvoll violett schimmernd. Der Sichtstrahl stieß auf eine Plattform auf dem Dach, drang gleichsam hindurch, und sie erblickten einen grauhäutigen Menschen mit runden Eulenaugen, die von silbrigem Flaum umgeben waren. Er war groß von Wuchs, aber sehr schmal, seine Hände und Füße waren lang und dünn wie Fühler. Er stieß läppisch den Kopf nach vorn, offenbar eine flüchtige Begrüßung, richtete seine ausdruckslosen Augen, die wie Objektive aussahen, auf den Bildschirm und öffnete den lippenlosen Mund, der halb von einer nasenähnlichen Hautwulst bedeckt war. Sofort ertönte die melodische, sanfte Stimme der Übersetzungsmaschine:
„Saf Ftet, Leiter der Außeninformation, Schwan einundsechzig. Heute senden wir für den gelben Stern STL 3388 + 04 SF. Wir senden für…“
Dar Weter und Yuni Ant blickten sich an, und Mwen Mass drückte impulsiv Dar Weters Hand. Das waren die galaktischen Rufzeichen der Erde, genauer gesagt des Planetensystems. Einst hatten es die Beobachter anderer Welten für einen einzigen großen Satelliten gehalten, der in neunundfünfzig Erdenjahren um die Sonne rotiert. Einmal in diesem Zeitraum stehen Jupiter und Saturn gemeinsam in Opposition zur Sonne, die dadurch für die Astronomen der nächsten Sterne merklich verdeckt wird. Den gleichen Irrtum begingen auch die Astronomen der Erde bei vielen Planetensystemen, deren Vorhandensein bereits vor langer Zeit entdeckt wurde.
Schneller als zu Beginn der Sendung überprüfte Yuni Ant die Einstellung der Gedächtnismaschine und die Angaben der wachsamen Funktionskontrollgeräte.
„Wir haben“, fuhr der Elektronenübersetzer mit seiner leidenschaftslosen Stimme fort, „von dem Stern…“ — es folgte eine Reihe Zahlen und Zeichen — „zufällig, außerhalb der Sendezeit des Großen Rings, eine interessante Sendung aufgenommen. Die Bewohner des Sterns haben die Sprache des Rings noch nicht dechiffriert und vergeuden ihre Energie, indem sie senden, wenn Funkstille herrscht. Wir haben ihnen während ihrer Sendung geantwortet — das Ergebnis werden wir in etwa drei Zehntel Sekunden…“ Die Stimme brach ab. Nach wie vor brannten die Signallämpchen mit Ausnahme des magischen Auges.
„Diese Unterbrechungen im interstellaren Funkverkehr sind noch immer ungeklärt, vielleicht hängen sie mit dem sagenhaften neutralen Feld der Astronauten zusammen, das sich zwischen uns und den Planeten schiebt“, erklärte Yuni Ant Weda.
„Drei Zehntel einer galaktischen Sekunde — das sind etwa sechshundert Jahre“, brummte Dar Weter. „Was nützt uns das?“
„Soweit ich verstanden habe, ist die Sendung vom Stern Epsilon Tucanae aufgefangen worden, einem Gestirn am südlichen Himmel“, sagte Mwen Mass, „das neunhundert Parsek von uns entfernt ist, also nahe der Grenze unserer ständigen Funkverbindung. Weiter als bis zum Deneb sind wir noch nicht vorgedrungen.“
„Aber empfangen wir nicht auch Sendungen aus dem Zentrum der Galaxis und von den Kugelsternhaufen?“ erkundigte sich Weda Kong.
„Unregelmäßig, zufällig oder über die Gedächtnismaschinen anderer Mitglieder des Rings, die quer durch die Galaxis eine Kette bilden“, erwiderte Mwen Mass.
„Mitteilungen, die vor Tausenden und Zehntausenden von Jahren gesendet wurden, gehen im Raum nicht verloren, sondern erreichen uns irgendwann einmal“, fügte Yuni Ant hinzu.
„Aber das bedeutet doch, daß wir Leben und Wissen der Bewohner ferner Welten nur mit ungeheurer Verspätung deuten können. Für das Zentrum der Galaxis zum Beispiel erst nach zwanzigtausend Jahren.“
„Ja, ganz gleich, ob durch Vermittlung der Gedächtnismaschinen nahe gelegener Welten oder direkten Empfang unserer Stationen — wir sehen die fernen Welten so, wie sie vor langer, langer Zeit waren. Wir lernen Menschen kennen, die längst gestorben und vergessen sind.“
„Können wir mit unserer großen Macht über die Natur tatsächlich nichts daran ändern?“ Weda gab sich nicht zufrieden. „Könnte man denn die Verbindung nicht auf andere Weise als durch Wellen oder Photonenstrahlen herstellen?“
„Wie gut ich Sie verstehe, Weda!“ rief Mwen Mass.
„In der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ befaßt man sich mit Projekten zur Überwindung von Raum, Zeit und Schwerkraft, den Grundprinzipien des Kosmos“, schaltete sich Dar Weter ein, „aber man hat noch nicht einmal Versuche dazu durchgeführt und konnte…“ Plötzlich leuchtete das magische Auge wieder auf, und Weda schwindelte es erneut angesichts der grenzenlosen Tiefe des Raumes, der sich auf dem Bildschirm auftat.
Aus der klaren Bildwiedergabe konnte man schließen, daß es sich um die Aufzeichnung einer Gedächtnismaschine handelte und nicht um eine Direktsendung.
Zuerst war die Oberfläche des Planeten zu erkennen, offensichtlich aus der Perspektive einer Außenstation. Eine riesige blaßviolette Sonne, gespenstisch in ihrer unvorstellbaren Leuchtkraft, übergoß die bläuliche Wolkendecke der Planetenatmosphäre mit intensivem Licht.
„Also doch — Epsilon Tucanae, ein heißer Stern der Klasse B 9 mit achtundsiebzigfacher Sonnenleuchtkraft“, flüsterte Mwen Mass.
Dar Weter und Yuni Ant nickten.
Die Szenerie wechselte. Das Blickfeld war kleiner geworden, man fühlte sich gleichsam dicht über den Erdboden der unbekannten Welt versetzt.
Runde, wie aus Kupfer gegossene Bergkuppen ragten empor, unbekannte Gesteine oder Metalle von körniger Struktur leuchteten feuerrot unter dem hellen Licht der blaßvioletten Sonne. Der Widerschein der Strahlen umrahmte die Konturen der Kupferberge, die auf den Wellen eines violetten Meeres breite rote Schatten warfen. Das Wasser schien schwerflüssig und sprühte von innen heraus rote Funken. Weit entfernt vom Ufer erhob sich in stolzer Einsamkeit mitten im Meer eine riesige Statue, eine aus dunkelrotem Stein gehauene weibliche Gestalt; den Kopf zurückgebeugt, reckte sie wie in Ekstase die ausgebreiteten Arme dem flammenden Himmel entgegen. Sie hätte durchaus eine Tochter der Erde sein können — die Ähnlichkeit mit den Menschen und die erstaunliche Schönheit der Skulptur waren verblüffend. In ihr schien das verkörpert, wovon die irdischen Bildhauer träumten: Jede Linie ihres Gesichts und ihres Körpers atmete Kraft und Durchgeistigung. Der polierte rote Stein war von geheimnisvollem, lockendem Leben erfüllt.
Atemlos starrten die fünf Erdenmenschen auf diese neue Welt. Nur der breiten Brust Mwen Mass’ entrang sich ein tiefer Seufzer — beim Anblick der Statue empfand er eine unerklärliche freudige Erregung.
Am Ufer, der Statue gegenüber, markierten gravierte silberne Türme den Anfang einer breiten weißen Treppe, die sich frei schwebend über einem Hain schlanker Bäume mit türkisfarbenem Laub erhob.
Die Fernsehkamera des neuen Planeten drang allmählich immer weiter vor.
Für eine Sekunde leuchteten weiße Mauern mit breiten Vorsprüngen auf, ein Portal aus blauem Stein. Dann spiegelte der Bildschirm einen hohen hell erleuchteten Saal wider. Der Perlmuttglanz der Wände, die ein strenges Ornament schmückte, ließ alles im Raum außerordentlich klar hervortreten. Die Aufmerksamkeit der Erdenmenschen wurde von einer Gruppe von Gestalten gefesselt, die vor einem Smaragdpaneel stand.
Das flammende Rot ihrer Haut entsprach der Farbtönung der Statue im Meer. Es war für die Erde nicht ungewöhnlich. Einige Indianerstämme Zentralamerikas besaßen — wie historische Farbaufnahmen bewiesen — ebensolche Hautfarbe, wenn sie vielleicht auch ein wenig matter war.
Im Saal befanden sich zwei Frauen und zwei Männer. Beide Paare waren verschieden gekleidet. Die einen trugen goldglänzende kurze Kombinationen, mit Schnallen versehen, die anderen hatten lange perlmuttfarbene Gewänder an.
Das am Paneel stehende Paar führte geschmeidige Bewegungen aus, wobei es die über die eine Seite gespannten Saiten berührte. Das Paneel aus poliertem Smaragd wurde durchsichtig. Im Takt der gleitenden Bewegungen zogen auf dem durchsichtigen Kristall bildhafte Darstellungen vorüber. Sie wechselten in rascher Folge, daß es auch für so geübte Betrachter wie Yuni Ant und Dar Weter schwer war, ihren Sinn restlos zu erfassen.
In der Aufeinanderfolge der Bilder schien die Geschichte des Planeten eingefangen. Gleich Phantomen zogen seltsame schöne Tier- und Pflanzenformen vorüber. Viele Tiere und Pflanzen waren jenen sehr ähnlich, deren Fossilien in den Schichten der Erdrinde gefunden worden waren. Vor den Augen der Betrachter zog die Entwicklung des Lebens in den ständig sich vervollkommnenden Formen der organischen Materie vorbei. Der unendlich lange Entwicklungsweg schien noch länger, quälender und schwieriger gewesen zu sein als der der Erdenbewohner.
Immer neue Bilder tauchten auf: große Lagerfeuer, Anhäufungen von Felsbrocken auf einer Ebene, Kämpfe mit grimmigen Bestien, feierliche Bestattungszeremonien und religiöse Kulthandlungen. Dann wurde die ganze Wand von der Gestalt eines Mannes eingenommen, der in einen bunten Fellmantel gehüllt war. Mit der einen Hand hielt er einen Speer, die andere hatte er zu den Sternen emporgestreckt, einen seiner Füße hatte er auf den Nacken eines erlegten Ungeheuers mit langen Stoßzähnen und einer borstigen Rückenmähne gesetzt. Im Hintergrund stand eine Reihe Männer und Frauen, die sich paarweise bei den Händen hielten und zu singen schienen.
Die Bilder verblaßten, und die polierte Fläche des grünen Steins wurde wieder sichtbar.
Danach traten die beiden in der goldglänzenden Kleidung zur Seite, und das zweite Paar nahm ihren Platz ein. Mit einer schnellen Bewegung warfen sie die Umhänge ab, und auf dem perlmuttfarbenen Hintergrund der Wände spiegelten sich die dunkelroten halbentblößten Körper. Der Mann streckte der Frau beide Hände entgegen; sie antwortete ihm mit einem so strahlenden Lächeln, daß die Erdenbewohner unwillkürlich ebenfalls lächelten. Die beiden begannen einen langsamen Tanz. Eigentlich war es kein Tanz, sondern eher ein rhythmisches Posieren. Die Tanzenden wollten offenbar die Vollkommenheit und Schönheit, die plastische Geschmeidigkeit ihrer Körper zeigen. Bei der rhythmischen Folge der Bewegungen vermeinte man eine majestätische und gleichzeitig melancholische Musik zu spüren.
Mwen Mass schien es, als höre er eine Melodie: eine Kadenz glockenreiner hoher Töne über dem gemessenen Rhythmus eines dröhnenden Basses. Weda Kong preßte Dar Weters Hand, doch er bemerkte es gar nicht. Mit angehaltenem Atem starrte Yuni Ant auf die Szene, und Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn.
Die Wesen des Tukans waren den Erdenmenschen so ähnlich, daß sich der Eindruck einer fremden Welt allmählich verlor. Ihre Körper jedoch waren von so vollendeter Schönheit, wie sie auf der Erde nur selten existierte und oft nur in den Träumen und Schöpfungen der Künstler lebte.
Je schwieriger und länger die Evolution bis zum ersten denkenden Wesen ist, desto schöner, desto zweckentsprechender sind die höchsten Formen des Lebens, dachte Dar Weter. Die Menschen haben längst begriffen, was Schönheit ist — die intuitiv erfaßte Zweckmäßigkeit der Struktur im Einklang mit einem bestimmten Ziel. Je vielseitiger die Bestimmung, desto schöner die Formen. Diese rothäutigen Wesen sind wahrscheinlich noch vielseitiger und geschickter als wir. Vielleicht hat sich in ihrer Zivilisation mehr der Mensch selbst, seine geistige und körperliche Kraft entwickelt und weniger dagegen die Technik. Unsere Kultur war lange Zeit vorwiegend auf Technik begründet, erst die Herausbildung der kommunistischen Gesellschaft hat zur Vervollkommnung des Menschen geführt und nicht nur seiner Maschinen, seiner Häuser, seiner Nahrung und seines Zeitvertreibs.
Der Tanz wurde unterbrochen. Die junge rothäutige Frau trat in die Mitte des Saals, und die Fernsehkamera konzentrierte sich auf sie allein. Ihre ausgebreiteten Arme und das Gesicht waren der Saaldecke zugewandt.
Unwillkürlich folgten die Augen der Erdenbewohner ihrem Blick. Entweder hatte der Saal überhaupt keine Decke, oder aber der Sternenhimmel mit den klaren, großen Sternen war eine geschickte optische Täuschung; höchstwahrscheinlich war es jedoch nur eine Darstellung. Die Anordnung der Gestirne rief keine Assoziationen hervor. Das junge Mädchen bewegte die Hand, und an ihrem linken Zeigefinger blitzte eine kleine blaue Kugel auf. Daraus schoß ein silbriger Strahl hervor, ein riesiger Zeigestab. Der runde leuchtende Punkt an der Spitze des Strahls verweilte bald auf dem einen, bald auf dem anderen Stern an der Decke. Gleichzeitig breitete sich auf der smaragdenen Wand ein langgestrecktes Panorama aus. Langsam wanderte die Spitze des Strahls, und ebenso langsam zogen die Bilder unbewohnter oder besiedelter Planeten vorüber. In bedrückender Trostlosigkeit leuchteten steinerne oder sandige Weiten unter roten, blauen, violetten oder gelben Sonnen. Die Strahlen einer merkwürdig bleigrauen Sonne hatten auf ihren Planeten kuppel- und spiralförmige Lebewesen erzeugt, die Medusen gleich in einer orangefarbenen Atmosphäre oder in einem Ozean schwammen. In der Welt einer roten Sonne wuchsen unvorstellbar hohe Bäume mit schlüpfrig schwarzer Rinde. Sie reckten wie in auswegloser Verzweiflung Myriaden krummer Zweige in die Höhe. Andere Planeten waren dagegen völlig von dunklem, trübem Wasser überflutet. Auf der ruhigen Wasserfläche schwammen riesige Inseln aus Tieren oder Pflanzen, die unzählige wollige Fühler regten.
„In ihrer Nähe gibt es keine Planeten mit höheren Lebensformen“, sagte plötzlich Yuni Ant, der unverwandt die Bilder des unbekannten Sternenhimmels verfolgt hatte.
„Doch“, widersprach Dar Weter, „nicht weit von ihnen liegt ein flaches Sternsystem, einer der letzten Ausläufer der Galaxis. Wir wissen aber, daß flache und sphärische Systeme, neue und alte, einander nicht selten ablösen. Zum Sternbild des Eridanus zu existiert ein System mit denkenden Lebewesen, das zum Ring gehört.“
„WWR-4955 + MD 3529 und so weiter“, warf Mwen Mass ein. „Weshalb wissen sie aber nichts davon?“
„Das System hat sich vor zweihundertfünfundsiebzig Jahren dem Großen Ring angeschlossen, und dieser Bericht ist schon vor dieser Zeit gesendet worden“, antwortete Dar Weter. Das rothäutige Mädchen aus der fernen Welt streifte die kleine blaue Kugel vom Finger und wandte sich mit ausgebreiteten Armen den Zuschauern zu, als wollte sie jemand umarmen. Sie bog Kopf und Schultern leicht zurück. Die halbgeöffneten Lippen bewegten sich, formten unhörbare Worte. So erstarrte sie, während sie ihren flammenden Appell an die Mitmenschen, die denkenden Wesen anderer Welten, in die eisige Finsternis des Kosmos hinausschleuderte.
Und wieder nahm ihre strahlende Schönheit die Menschen gefangen. Auf ihrem Antlitz lag nicht die gemeißelte bronzene Strenge der rothäutigen Erdenbewohner; das runde Gesicht mit der kleinen Nase, den großen, weit auseinanderstehenden blauen Augen und dem kleinen Mund erinnerte eher an die nördlichen Völker der Erde. Auch das schwarze wellige Haar war nicht hart und strähnig. Jede Linie des ebenmäßigen Gesichts und Körpers drückte beschwingte Zuversicht aus.
„Sollten sie wirklich vom Großen Ring nichts wissen?“ flüsterte Weda Kong, völlig gebannt von der Anmut ihrer schönen Schwester aus dem Kosmos.
„Jetzt wissen sie sicherlich davon“, gab Dar Weter zurück. „Denn das, was wir heute sehen, geschah vor dreihundert Jahren.“
„Achtundachtzig Parsek“, brummte Mwen Mass mit tiefer Stimme. „Achtundachtzig. Alle, die wir gesehen haben, sind längst tot!“
Und wie zur Bestätigung seiner Worte verschwand das Bild aus der wunderbaren Welt, erlosch auch das magische Auge, das die Verbindung anzeigte. Die Sendung über den Großen Ring war beendet.
Eine Weile saßen alle wie versteinert. Als erster faßte sich Dar Weter. Verdrossen biß er sich auf die Lippen und schaltete hastig die Geräte aus. Bevor die Säule der gelenkten Energie abgeschaltet wurde, ertönte ein tiefes, ehernes Dröhnen, das die Ingenieure der Kraftwerke aufforderte, den mächtigen Strom wieder in seine altgewohnten Kanäle zurückzuleiten. Erst nachdem Dar Weter alle Operationen ausgeführt hatte, wandte er sich seinen Gefährten zu.
Mit hochgezogenen Brauen überflog Yuni Ant die engbeschriebenen Blätter.
„Die Aufzeichnungen von der Sternkarte an der Saaldecke müssen sofort ins ›Institut für den südlichen Sternenhimmel‹ geschickt werden!“ erklärte er Dar Weters jungem Assistenten.
Der blickte Yuni verwundert an, als erwache er soeben aus einem ungewöhnlichen Traum.
Der strenge Gelehrte unterdrückte ein Lächeln — glich das Ganze nicht tatsächlich einem Traum von einer wunderschönen Welt? Einem Traum, den jetzt, nach drei Jahrhunderten, Milliarden von Menschen auf der Erde und in den Stationen des Mondes, des Mars und der Venus deutlich sehen würden.
„Sie hatten recht, Mwen Mass“, sagte Dar Weter lächelnd, „als Sie vor Beginn der Sendung erklärten, heute werde etwas Besonderes geschehen. Zum erstenmal in vierhundert Jahren, seit Bestehen des Großen Rings, empfingen wir aus dem Weltall das Bild eines Planeten, dessen Bewohner nicht nur dem Verstand, sondern auch der Körperbildung nach unsere Brüder sind. Meine Freude über diese Entdeckung ist unbeschreiblich. Ihr Dienst hat gut angefangen. Früher hätten die Menschen das als gutes Vorzeichen angesehen. Wie nennen es doch gleich unsere Psychologen? Ein Zusammentreffen von Umständen, das Zuversicht und Enthusiasmus für die künftige Arbeit stärkt.“
Dar Weter merkte, daß ihn die ungewöhnlichen Eindrücke redselig gemacht hatten. Geschwätzigkeit galt in der Ära des Großen Rings als eine der beschämendsten Schwächen des Menschen. Er verstummte, ohne seinen Gedanken beendet zu haben.
„Ja, ja“, antwortete Mwen Mass zerstreut.
Yuni Ant spürte, daß Mwen Mass nicht ganz bei der Sache war, und stutzte. Weda berührte Dar Weters Hand und deutete mit dem Kopf auf Mwen Maas.
Vielleicht ist er zu empfindsam, ging es Dar Weter durch den Sinn, und er musterte seinen Nachfolger eingehend.
Mwen Mass fühlte, daß seine Gesprächspartner ein wenig befremdet waren, er gab sich einen Ruck und war so aufmerksam wie zuvor.
Die Rolltreppe brachte sie nach oben. Mwen Mass und Dar Weter hatten noch zu tun.
Weda Kong drückte Dar Weter noch einmal fest die Hand und flüsterte, sie werde diese ereignisreiche Nacht niemals vergessen.
„Ich kam mir so unbedeutend vor!“ sagte sie mit einem Lächeln, das ihre Worte Lügen strafte.
Dar Weter verstand, was sie meinte. Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin überzeugt, Weda, hätte die rothäutige Frau Sie gesehen, sie wäre stolz auf ihre Schwester. Unsere Erde ist gewiß nicht schlechter als ihre Welt!“ Seine Zuneigung zu Weda spiegelte sich auf seinem Gesicht wider.
„Nun ja, in Ihren Augen, lieber Freund“, gab Weda zurück. „Aber fragen Sie Mwen Mass!“ Scherzend legte sie die Hand vor die Augen und verschwand hinter einem Mauervorsprung.
Als Mwen Mass endlich allein war, graute der Morgen. Dämmerung erfüllte die kühle, windstille Luft; Meer und Himmel waren von der gleichen kristallenen Durchsichtigkeit — silbrig getönt das Meer, rosig der Himmel.
Lange stand Mwen Mass auf dem Balkon des Observatoriums und betrachtete versunken die Konturen der ihm unbekannten Gebäude.
Ein wenig entfernt erhob sich auf einem flachen Plateau ein gigantischer Aluminiumbogen, durchzogen von neun parallelen Aluminiumstreifen, die durch cremefarbene und silberweiße Plexiglasscheiben verbunden waren — das Gebäude des Rates für Astronautik. Davor stand ein Denkmal, errichtet zu Ehren der Menschen, die als erste in den Kosmos vorgedrungen waren. Es stellte einen steilen Berggrat dar, gekrönt von einem Sternschiff alten Typs — einer fischförmigen Rakete, deren spitzes Vorderteil in die Höhe gerichtet war. Eine Kette von Metallfiguren war spiralförmig um den glatten Denkmalsockel gruppiert: Astronauten, Physiker, Astronomen, Biologen und Verfasser phantastischer Romane. Schon färbte die Morgenröte den Rumpf des alten Sternschiffes und die schwungvollen Konturen der Gebäude, doch Mwen Mass ging noch immer mit langen Schritten auf dem Balkon hin und her. Noch nie war er so erregt gewesen. Nach den allgemeinen Regeln der Ära des Großen Rings erzogen, war sein Körper im harten Training gestählt worden; seine Herkulestaten hatte er erfolgreich absolviert. So nannte man in Erinnerung an die Sagen des antiken Hellas schwierige Aufgaben, die jeder junge Mensch am Ende seiner Schulzeit vollbringen mußte. Wenn er sie bewältigte, war er zur höchsten Bildungsstufe zugelassen.
Mwen Mass hatte die Wasserversorgung eines Bergwerks in Westtibet organisiert, einen Araukarienwald auf der Hochebene von Nachebt in Südamerika angepflanzt und die Haifische ausgerottet, die erneut vor den Küsten Australiens aufgetaucht waren. Die Stählung für das Leben und seine hervorragenden Anlagen ermöglichten es ihm, viele Jahre lang beharrlich zu lernen und sich auf eine schwere und verantwortungsvolle Arbeit vorzubereiten. Und nun hatte gleich zu Beginn seiner neuen Tätigkeit die Begegnung mit einer der Erde ähnlichen Welt etwas Unerklärliches in ihm ausgelöst. Bestürzt wurde sich Mwen Mass plötzlich der Leere seines bisherigen Lebens bewußt. Unerträglich stark war das Verlangen nach einem neuen Zusammentreffen mit dem Planeten des Epsilon Tucanae. Das Bild des rothäutigen Mädchens, ihre ausgebreiteten Arme, ihr zarter halbgeöffneter Mund und ihre bezwingende Schönheit hatten sich für immer in sein Gedächtnis eingeprägt.
Daß er von dieser Wunderwelt durch die ungeheuerliche Entfernung von zweihundertundneunzig Lichtjahren getrennt war, konnte sein brennendes Verlangen nicht verringern.
In Mwen Mass war etwas herangereift, was sich nun verselbständigt hatte und außerhalb der Kontrolle des Willens und der kühlen Vernunft war. Der Afrikaner hatte bisher fast ausschließlich seiner Arbeit gelebt, noch nie geliebt oder etwas empfunden, was der freudigen Erregung glich, die diese Begegnung über riesige Entfernungen von Raum und Zeit hinweg in ihm ausgelöst hatte.