6 Erwachen

Glasperlenregen rieselte herab, der Himmel war ein großes, feuchtes Zelt, der Traum griff aus der Dämmerung hervor. Ein Engel lief barfuß durch den Wald, über den Perlmuttdächern wölbte sich der gelbe Regenbogen. Der Garten war ein See von blauem Duft, ein Greis lehnte an der brüchigen Mauer, ein Greis mit einem zerknitterten Herbstgesicht. Die Dunkelheit schlief zwischen den Stämmen, braunschwarz und voll heimlichen Gesangs...

Farben, Klänge, Gerüche – sie strömten herein, eine silberne Flüssigkeit in ein weit offenes hungriges Becken, eine silbrig bewegte Flüssigkeit, deren Wellen die Gefäßwand streichelten...

Farben, Klänge, Gerüche, Empfindungen – ein bunter Reigen in leerem Raum.

Und dann die Zügel...

»Ich bin Eric!«

Wellenschlag von der Seite – Indizes, Matrizen, Tensoren, Determinanten, Gleichungen, Tabellen...

Wellenschlag von der Seite – Sanftheit, Zärtlichkeit, Erstaunen, Ablehnung, Widerstand...

»Ich bin Janet.«

»Ich bin Eric.«

Das Suchen, der Schrecken, das Entsetzen...

Er suchte seine Finger, er versuchte seine Finger zu spüren... nichts. Die Vision einer verstümmelten Hand, einer Hand ohne Finger. Er tastete weiter... Schrecken – ein Arm ohne Hand, ein Leib ohne Arm... ein Kopf ohne Leib...

Sehen.

Sehen!

Dunkelheit.

Hören.

Hören!

Stille.

Er horchte in sich hinein. Fremde Gedanken waren da... keine Gedanken! – fremdes Wissen. Ein unglaublich reichhaltiges Reservoir von fremdem Wissen. Er ließ davon ab, suchte weiter... etwas Vertrautes, Bekanntes, Ersehntes...

»Ruth...«

»Eric.«

Er erhielt Antwort aus dem Dunkel. Er brauchte nur zu denken.

»Ruth.«

»Eric...«

Erinnerungen stülpten sich wie schwingende Glocken über ihn. Sie übertönten ein vages Gemälde von Gärten, Pflanzen, Dämmerung, Wehmut, müden Menschen wie ein Schrei. Stählern fielen sie über ihn, packten ihn, schüttelten ihn.

Erinnerungen.

Ein Reigen schwarzer Schemen... sternenlose Nacht...

Weißgekleidete Männer – ein Tribunal.

Ein Begriff: Lovis. Eine Sehnsucht: Ruth.

»Janet!« rief eine Stimme dazwischen.

Weißschäumendes Wasser, schwarzes Geäst.

Nichts mehr.

Doch...

... eine Stadt. Häuser, Gänge, Fenster, Straßen. Und wieder Häuser. Und wieder Gänge. Irgendwer tut irgendwas in dieser Stadt. Irgendwer geht durch die Straßen, als ob er schliefe. Unwichtig.

Vorbei.

Die Gegenwart...

... eine dunkle, leere Gegenwart.

Eine Gegenwart ohne Umgebung.

Doch diese Gegenwart meldete sich...

Ein Feuerstrahl floß durch ihn, der Körper, der nicht mehr da war, krampfte sich zusammen... Licht brach über ihn herein, ätzend, sengend... Eine Explosion schwoll auf, eine andauernde ununterbrochene Explosion, die ihn zerriß... Sein Denken zersplitterte in einzelne, lose treibende Fetzen.

Irgend etwas jagte immer neue Schauer durch die imaginäre Kapsel seiner Vorstellungen.

Jähe Dunkelheit, jähe Stille...

Und dann kam das, ohne das er ein duldendes Nichts geblieben wäre, das letzte Stück, das noch fehlte...

... die Phantasie.

Eric wußte nicht, wo er war und was er war. Aber er war nicht allein; da war das Mädchen, das Janet hieß; da war eine Wand von Zahlen und Zeichen – mit ihnen beiden war er in einen gitterlosen Käfig eingeschlossen. Und außerhalb von ihnen beiden war noch etwas, das Einfluß zu nehmen suchte...

Der Weg zu dieser Außenwelt konnte nur durch jene Wand führen. Er drang ein, wühlte sich hindurch... Schnell gewann er eine gewisse Übersicht über das hier gespeicherte Material. Er kramte die für ihn wichtigen Informationen aus seinem neu geschenkten Gedächtnis, einem Gedächtnis voll Erinnerungen – ganz anderer Erinnerungen, als sie ihm kurz zuvor zuteil wurden, Erinnerungen ohne Gefühlswerte – reine Zahlen, Kurven, Bilder... Ja – er fand auch Bilder, und er forschte danach, was dahintersteckte, und er fand ein Auge.

Das Auge zeigte ihm ein Muster gleichmäßig verteilter schwebender Ringe, hinter denen ein schwarzes Tuch gespannt war... ein schwarzes Tuch mit weißen Punkten... die Wega... der Große Bär... ein wenig verzerrt, aber... die Sterne! Er war im Weltraum. Es schien unmöglich, aber es war so.

Und dann entdeckte er die Struktur seines neuen Gehirns und seines neuen Nervensystems – einen Schaltplan. Er verfolgte diesen Plan und stieß auf seine neuen Organe: Mikrofone, Elektronenkameras, Thermometer, Barometer, Ionisierungsklammern... auf neue Gliedmaßen: Reparaturwägelchen, kleine, durch Funk zentralgesteuerte fahrbare Roboterdrehbänke, mit Greifarmen, Preßlufthämmern, Schneidbrennern ausgerüstet... auf sein neues Herz: die chemische Batterie... auf seine Kommunikationsorgane: den Funk und den Lochstreifen...

Er tat mehreres ganz kurz hintereinander: Er verschloß elektronisch sämtliche Türen – eine Maßnahme, wie sie beim Durchschlag eines Meteors automatisch ausgelöst wurde –, er unterbrach die Funkverbindung zu den anderen Schiffen, und er schaltete sämtliche Mikrofone und Elektronenkameras ein.

Es war nicht ganz so leicht, wie er gedacht hatte – ein Klingelzeichen schrillte, überschlug sich, irgend etwas regulierte die Lautstärke tiefer, jetzt war sie erträglich, aber in Abständen von halben Sekunden klangen Echos an, jeder Ton zog eine ganze Reihe weiterer hinter sich her, jeder folgende schwächer als der vorhergehende... Er veränderte irgend etwas – die Töne wurden normal. Auch das Bild erschien verzerrt und mehrfach übereinander, aber auch hier fand er die Methode bald. Durch die Elektronenobjektive der Reparaturwagen blickte er in vierundzwanzig Räume, er sah auch in die Automatenzentrale... er sah die vier Gestalten vor den Apparaten stehen – waren es Menschen? Sie sahen so wie Menschen aus – und doch wieder nicht... Die Hautfarbe war anders, die Haltung, die Proportion... Sie hielten sich aufrecht, sie waren mit einer Art Schürzen bekleidet, sie hatten zwei Augen, zwei Arme, zwei Beine, sie waren so groß wie Menschen – doch dafür fielen gerade die kleinen Unterschiede stärker ins Gewicht, die Beweglichkeit der Gesichter, die platten Nasen, das Fehlen eines abgesetzten Halses – die Köpfe gingen direkt in den Rumpf über.

Eric überlegte nicht lang. Er ließ den Lochstreifen laufen: ›Was wollt ihr von mir?‹

Er sah, wie sie einander anschauten, und war wieder erstaunt über ihre Fremdartigkeit. Wenn man sie als Menschen betrachtete – wie verkleidete, verwachsene Albinos sahen sie aus. Jetzt sagte einer etwas. Er hörte es über das im Reparaturwagen eingebaute Mikrofon, aber er verstand den Sinn nicht – eine fremde Sprache, aber doch eine Lautsprache, sogar eine mit dem Mund hervorgebrachte... Während sie diskutierten, forschte er unter der Fülle an Informationen nach dem Umsetzschema: Lautsprache – Sinn.

Jetzt setzte sich einer an die Schreibmaschine und tippte. Er wartete gespannt...

Die einlaufenden Zeilen waren verständlich: ›WIR HABEN EINIGE WISSENSCHAFTLICHE FRAGEN UND BITTEN UM AUSKUNFT. IST DEIN ERINNERUNGSVERMÖGEN INTAKT?‹

Er überlegte kurz, dann antwortete er: ›Erinnerung – glaube ich – intakt. Was wollt ihr wissen?‹

Prompt langten wieder Zeichen an: ›STAMMT DEINE RASSE VON JENEM...‹

Der Satz war unvollständig. Er sah, daß im Raum ein Streit im Gang war. Er unterbrach: ›Frage unvollständig eingetroffen. Bitte wiederholen.‹

Er wußte sehr genau, daß seine Situation brenzlig wurde. Schnell probierte er die Macht aus, die er über die Werkzeugwägelchen besaß – er ließ die Zangen sich leicht bewegen und die Räder ein kleines Stück rollen... Es funktionierte tadellos – er war gewappnet und bereit, unverzögert zu reagieren. Er wußte auch, was ihm drohte: Inmitten der Schalttafel, die ihm das elektronische Auge der Kamera vorwies, saß ein Schalter, der sich durch nichts von den vielen anderen unterschied – durch nichts, als daß sich mit ihm die Stromleitung unterbrechen ließ, die von der chemischen Batterie in Erics Inneres führte.

Jetzt hob der, der geschrieben hatte, die Hand, doch bevor sie in gefährliche Nähe des Schalters kam, ließ er sie wieder sinken. Eines der Wesen hatte etwas Befehlendes gerufen. Den lauten Stimmen war zu entnehmen, daß wieder eine Meinungsverschiedenheit aufgetreten war.

Allmählich lernte er, die Kompetenzen seiner Widersacher zu unterscheiden. Der eine, der die Schreibmaschine bediente, schien eine untergeordnete Stellung zu bekleiden. Es fiel auf, wie er verstummte, wenn die anderen das Wort an ihn richteten. Er war von großem, kräftigem Körperbau und trug eine gelbe Schürze oder etwas, das ähnlich wie eine Schürze aussah. Ein anderer, der viel kleiner war, sich aber betont geschmeidig bewegte, schien ein Wissenschaftler zu sein, denn er deutete oft auf die Apparate und griff auch von Zeit zu Zeit selbst zu. Jetzt kam auch er in die Nähe des Schalters und streckte die Hand aus. Seine Bewegung war so ruhig und beherrscht, daß es nicht notwendig war, den Roboter in Funktion zu setzen. Aber Eric warnte ihn mit Hilfe des Lochstreifens: ›Bitte nicht abschalten!‹

Doch der Wissenschaftler reagierte nicht. Da ließ Eric einen Zangenarm in die Höhe steigen – bereit, zuzupacken. Die Hand stand still... fiel herab. Gut, dachte Eric. Aber was sollte er tun? Mit halber Aufmerksamkeit lauschte er den unverständlichen Lauten, die ihm die Mikrofone übermittelten, den anderen Teil widmete er den gespeicherten Informationen. Insbesondere mußte er mit der Anlage vertraut werden, die jetzt sein eigenes Adernnetz, sein Antrieb, sein Körper waren; das waren jene Stellen, an denen er verwundbar zu sein schien...

Einer der vier stürzte jählings vor, auf den Schalter zu... Eric war auf der Hut... Er fing den zulangenden Arm mit der Zange des Robotmechanismus auf und hebelte ihn herum. Der Mann – er nannte ihn Mann, als wenn es ein Mensch wäre – stürzte hart zu Boden. Jetzt lief einer von jenen beiden, die zu befehlen hatten, los – er rüttelte an der Tür, lief zu einem instrumentenumgebenen Sitz, riß einen Hörer von der Gabel, lauschte, schmiß ihn auf die Gabel zurück, schlug auf den Alarmknopf – natürlich erfolglos. Eric lachte – lautlos –, aber er lachte und wunderte sich darüber. Gleich darauf aber riß er sich zusammen – es gab noch viele ungeahnte Gefahren. Zumindest gegen die bekannten konnte er vorbeugen. Er ließ dem Roboter den Hauptschalter abschneiden – oder er schnitt ihn mit den Werkzeugen des Roboters ab; das war dasselbe. Da gab es noch eine Möglichkeit, auf ihn Einfluß zu nehmen, an die die vier Leute in der Zentrale noch nicht gedacht hatten: die Testapparatur. Sie hätte nichts Entscheidendes ändern, aber ihm doch recht peinvolle Augenblicke bereiten können: durch Impulse in sein Seh- und Hörzentrum; ein richtig dosierter elektrischer Strom in sein Schlafzentrum hätte sogar recht fatale Folgen gehabt – und Schmerz war auch gefährlich. Er richtete den Schneidbrenner darauf und zerstörte es.

Jetzt war er einigermaßen gesichert. Hoffentlich hatte er nichts übersehen! Er konzentrierte sich kurz auf ein anderes Problem und schrieb dann: ›Ich stelle meine Bedingungen – ihr habt das Schiff innerhalb von zwanzig Minuten zu verlassen‹.

Er schrieb nicht weiter, denn er sah, daß einer der Anführer den Streifen zerknüllte, ohne ihn zu lesen, und dann in sinnloser Wut auf die Metallwand der elektronischen Anlage trommelte. Dabei schrie er etwas.

Der Zustand eines der Sprache nicht mächtigen Zuhörers war auf die Dauer unangenehm. Eric nahm seine Suche nach dem Umsetzungsschema für die Lautsprache wieder auf – es war so, als ob er sich daran zu erinnern versuchte. Manchmal war ihm, als habe er es gefunden, doch dann entzog es sich ihm wieder.

Er hatte eine Sekunde lang nicht aufgepaßt. Der kleinere der beiden Befehlsgewaltigen riß etwas aus der Tasche seines Umhangs heraus und richtete es auf die elektronische Anlage. Eric hatte keine Zeit, den Schuß zu verhindern, der Robotwagen stand zu weit entfernt. Daß er nicht an eine Waffe gedacht hatte! Er wehrte sich anders: Er gab dem Gegenkreisel, der in der Achse des Ringhohlraumes rotierte, einen abrupten Beschleunigungsstoß. Das wirkte – ein Strahl glühender Luft blendete zwar auf, aber er stieß an den elektronischen Schaltungen vorbei und traf nun ein Stück der Steuerung.

Plötzlich schlingerte das Schiff wie ein Kinderreifen auf einer holprigen Straße – und dann fiel es aus den Reihen der übrigen Ringschiffe hinaus. Die Fliehkräfte wogten in Wellen darüber hinweg, als das Schiff von den Stabilisationsfeldern wie ein Ball hin und her geschleudert wurde, dann verlor es den Kader hinter sich und raste in den Raum hinaus, auf einen dunklen Nebel zu.

Die Erschütterungen riefen seltsame ungereimte Intensionen in Eric hervor – Licht, Schmerz, Übermut. Dann war das Ärgste vorbei, Funksprüche von den anderen Schiffen holten ihn ein, endlich war ihnen aufgefallen, daß auf seinem Schiff etwas nicht stimmte! Hoffentlich gebrauchten sie keine Waffen! Aber, beruhigte er sich, sie würden kaum auf ihr eigenes Schiff schießen!

Er antwortete: ›Steuerung beschädigt. Wir versuchen zu reparieren. Sonst alles in Ordnung.‹

Er bemerkte, daß ihm zwei Schiffe folgten, aber sie behielten gleichen Abstand bei. In der Bewegungsrichtung konstatierte er einen Dunkelnebel. Das war günstig – vielleicht war es später notwendig, sich zu verbergen. Er mußte die Möglichkeit erwägen.

In der Zentrale lagen die Männer betäubt am Boden und versuchten dann, sich aufzurichten. Schnell ließ er den Reparaturwagen an die aus der Hand des Schützen gefallene Waffe heranfahren und hob sie auf.

Ein Blick in die Umgebung: Die Dunkelwolke blähte sich merklich auf. Was mochte sich darin verbergen? Er durfte nicht einfach ohne Steuerung weiterrasen.

Die vier Betäubten waren zu sich gekommen und sprachen. Bald setzte sich der eine wieder an die Schreibmaschine und tippte: ›WIR BEDAUERN DIE UNÜBERLEGTE HANDLUNG ORCHS. WIR NEHMEN DEINE BEDINGUNGEN AN. BRING UNS ZU UNSERER FLOTTE ZURÜCK!‹

Eric setzte zur Antwort an, stockte, dachte nach – und schrieb: ›kxlkxl kxlkxl xxlxxkklxklx.‹

›NICHT VERSTANDEN‹, kam die Antwort.

Eric schrieb weiter: ›xklxkl xkxkll xxxkkk kxlkxl.‹

Wieder sprachen sie. Dann lief der eine Anführer auf die Tür zu – rasch öffnete Eric die Sperre. Die Tür sprang auf. Der Mann kam zurück und gestikulierte.

Der Wissenschaftler streckte die Hand nach der Metallverschalung aus. Einen solchen Eingriff konnte Eric nicht gestatten. Er rollte den Robotwagen heran und ließ den Entladungsbogen des Schneidbrenners zischen. Aus dem Nebenzimmer eilten einige zur Tür – und er schloß sie wieder. Der Wissenschaftler ging weiter, die Wand entlang, an die Stelle, die jener, den sie Orch nannten, aufgebrannt hatte. Sein Gehilfe brachte einige Werkzeuge herbei.

Nun hatte sie Eric dort, wo er es wünschte. Sie dachten, daß er etwas beschädigt, dadurch verwirrt und nicht voll einsatzfähig war. Sie nahmen ihm eine Arbeit ab, die ihm sehr schwergefallen wäre: die Reparatur der Steuerungsanlage. Sicher hofften sie, dann auf eigene Faust zurückkehren zu können.

Eric wartete. Die Minuten verrannen. Irgendwo in ihm pulsierte eine Uhr, die ihm die Zeit anzeigte. Schneller als vorgesehen tauchten sie in die Nebelwolke ein – vielleicht war das ein Zeichen dafür, daß sie kleiner war, als es zuerst geschienen hatte.

Nach einer halben Stunde richtete sich der Wissenschaftler auf und sagte etwas. Dann näherte er sich langsam dem Sitz mit den Instrumenten – sicher der Pilotensitz. Mit einer hastigen Bewegung drückte er den Schalthebel hinab: von ›Automatischer Steuerung‹ auf ›Handsteuerung‹. Schließlich schwenkte er einen waagrechten Griff – das Schiff drehte sich hundertachtzig Grad um eine seiner Speichen.

Das genügte Eric; die Steuerung funktionierte also wieder. Er ließ den Robotwagen heranrollen, auf den Wissenschaftler zu.

»Vries!« brüllte sein korpulenter Gehilfe.

Vries, der Wissenschaftler, stand wie versteinert. Eric drückte ihn mit einem Metallarm beiseite, erfaßte den Schalthebel mit der Zange und legt ihn wieder hinauf, auf ›Automatische Steuerung‹. Dann ließ er den Schneidbrenner aufzischen – der Hebel fiel zu Boden. Er brauchte keine Handsteuerung.

Eric war gut gelaunt. Sogar die vier menschenhaften Wesen waren ihm sympathisch. Auf den Lochstreifen schrieb er: ›Danke!‹

Plötzlich hatte Eric die Erinnerung an die Sprache gefunden. Die fremdartigen Laute kamen ihm noch immer ungewohnt vor, doch er verstand sie.

»Er hat uns betrogen«, flüsterte Vries tonlos.

»Die Situation ist außergewöhnlich«, sagte der Anführer, der den höheren Rang bekleidete. »Sie hat uns überrascht. Wir haben planlos...«

Eric hörte nicht mehr zu. Er unterbrach den Sprechenden, indem er den Papierstreifen durch die Lochstanze fließen ließ: ›Ich stelle meine Bedingungen: ›Ihr habt zwanzig Minuten Zeit, um das Schiff zu verlassen‹.

»Wir können doch nicht... hier... in der Wolke...!« stöhnte der zweite Anführer, der Mann, der früher geschossen hatte.

Eric schrieb: ›Ich verhandle nicht.‹

»Er versteht«, sagte Vries.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, setzte der erste Anführer seine Rede fort. »Es ist nötig, logisch zu denken. Was wir als nächstes unternehmen, muß gelingen. Es muß gut überlegt sein. Nein«, er hob warnend die Hand, als der Gehilfe etwas sagen wollte, »nicht sprechen – er hört mit. Gut überlegen, und dann sofort handeln.«

Der Gehilfe schwieg. Alle möglichen Mienen wechselten in seinem Gesicht, aber Eric verstand sie nicht. Seine fröhliche Stimmung verflog. Er spürte das Arbeiten hinter dieser braunen Stirn, irgend etwas braute sich dahinter zusammen, irgendein Gedanke gewann dort Gestalt, irgend etwas entstand, das er nicht kannte, etwas Gefährliches. Er war nahe daran, den Abzugshahn der Pistole durchzuziehen – aber er tat es nicht. Sie sind intelligente Wesen, dachte er, jedes genausoviel wert wie ich. – Und dann dachte er: Ich werde mit diesen Geschöpfen schon fertig.

Da kam es. Der Mann sprang auf, warf sich an die Wand der Anlage – nicht dorthin, wo die empfindliche Schaltung verborgen war, sondern seitlich davon, wo einige Drähte gespannt waren. Er riß daran...

Eric hatte versucht, den Robotwagen eingreifen zu lassen, aber er hatte zu spät gemerkt, wogegen sich der Angriff gerichtet hatte: die Steuerantennen für die Robotwägelchen. Plötzlich war er taub und blind. Zwar nahm er die beiden Halbkugelbilder der Umgebung noch auf, aber er sah nicht mehr ins Innere des Schiffes hinein, und er hörte nichts mehr...

Er erkannte die ungeheure Gefahr, in der er schwebte, und handelte unverzüglich. Seine Gegner durften zu keiner Handlung kommen. Er beschleunigte die Rotation des Schiffes, so rasch und so stark er konnte – weit über jene Grenze, an der ihm eine innere Stimme halt! zurief. Organe, von denen er nichts geahnt hatte, gaben ihm Daten durch: Fliehkraft, Durchbiegung, Energieverbrauch, und er steigerte sie bis zur Elastizitätsgrenze des Leitwerks. Trotzdem fühlte er besorgt in sich hinein – ob er nicht das Absterben eines Teils seines Denkens bemerkte, das ihm verraten hätte, daß er verloren war...

Erst allmählich erfaßte er das Unglück in seiner vollen Tragweite: Die Verbindung mit seinen Händen, den Robotwägelchen, war abgerissen – er war nicht mehr imstande, etwas Demoliertes zu reparieren!

Sollte er die Rotation so lange beibehalten, bis sich seine Gegner ergaben? Aber wie sollte er erfahren, daß sie sich ergaben?

Eine Weile dachte er nach. Seine Außenaugen meldeten ihm, daß das Schiff die Wolke verließ. Da kam ihm eine Idee. Vielleicht besaß er die Fähigkeit...?

Die von außen beobachteten visuellen Eindrücke gingen über den Automaten an die Bildschirme weiter, von denen je zwei statt der Fenster in den wichtigsten Räumen untergebracht waren. Er brauchte sie doch nicht einfach nur weiterzugeben! Er konnte sie genauso gut verändern!

Er besann sich eine Weile. Sein Theaterspiel mußte für die Leute im Schiff etwas Furchtbares sein. Vielleicht Feuer? Glühende Gaswolken? Oder Treibeis im Weltraum? Er entschied sich für Feuer. Hitze und Feuer sind das Zerstörerischste, das es für alles Lebendige gibt. Er ließ seine Phantasie spielen: feurige Wirbel, Funkenregen, Flammen. Und ganz langsam regelte er die Innentemperatur höher, ganz allmählich...

Dazwischen sandte er wieder eine Nachricht aus: ›Mein letztes Angebot: Repariert die Antenne. Dann entfernt euch aus dem Schiff.‹ Er wiederholte mehrmals: ›Mein letztes Angebot...‹

Und dann ließ er eine glühende Milchstraße spiralen, ließ ionisierte Gase rotieren, feurige Schlacken durch den Raum gleiten, immer größer werden, immer näher kommen... Und dabei regelte er die Innentemperatur hoch, ganz langsam, ganz sachte...

Rührte sich denn nichts?

Einen Augenblick lang schreckte er zusammen: Waren sie vielleicht tot?

Da kam ein Zeichen: ›ERSB LMQZ CXYA FUNU‹

Waren sie so benommen, daß sie zu keiner vernünftigen Antwort fähig waren? Oder sollte das ein Trick sein?

Es war gewagt. Aber er versuchte es. Er verzögerte die rasende Drehbewegung ein wenig...

Buchstaben trafen ein, sie fielen wie Tropfen: ›E IN V ER STAN DEN.‹

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen: Er milderte die Fliehkraft noch ein wenig.

Es ging überraschend schnell. Auf einmal sah er wieder... und hörte wieder.

Er befahl: ›Aussteigen.‹

Der Anführer rief irgend etwas.

Eric befahl: ›Unverzögert aussteigen. Wir nähern uns dem Zentrum des Wirbels mit jeder Minute um eine Million Kilometer.‹

Er sah, wie sie auf die Bildschirme starrten. Er ließ noch ein wenig mehr glühende Klumpen wirbeln.

Der Anführer gab Alarm.

Das Manöver funktionierte mit der unverständlichen Zielsicherheit eines Bienenstaates. Ein Rettungsboot nach dem andern schoß aus dem Mund des Torpedorohres. Acht Zylinder schwebten im Raum, im alten, unendlich vertrauten, sternenübersäten Raum. Sie wurden zu Punkten, die an den Ecken eines imaginären Würfels saßen. Zwei silberne Ringe trieben auf sie zu.

Eric drehte hinweg. Er schaltete auf eine Beschleunigung, die weit über dem normal zugelassenen Wert lag. Aber es gab keinen Organismus, dem sie schaden konnte: Niemand vermochte ihm zu folgen.

Erinnerungen und Hoffnungen gewannen wieder Oberhand in ihm; sie mischten sich zu einem wirbelnden Tanz. Seit seinem seltsamen Erwachen hatte er keine Zeit gefunden, sich zu wundern. Und nun war alles schon erprobt, war selbstverständlich. Fremdes war da – und auch Vertrautes, doch das Fremde trug einen Schimmer von Vertrautheit, und das Vertraute war ein wenig fremd. Alles war neuartig, aber keineswegs abstoßend. Er forschte in sich, ob er dem nachtrauerte, was für immer verloren war – der Körperlichkeit, der heimatlichen Erde, seiner Zeit. Der Körper ist nur ein Gehäuse, dachte er, die Erde nur eine Bühne. Aber sind sie die Wirklichkeit? fragte er. Was ist Wirklichkeit? Das Verlorene oder das neu Gewonnene? Wieder erschienen Bilder aus dem Kaleidoskop seines Gedächtnisses. Sie beherrschten ihn so sehr, daß er wieder erlebte, wieder litt... Er stand vor Entscheidungen, quälte sich in unlösbaren Konflikten... aber es war doch Traum! begehrte er auf, es ist seit Jahrmillionen vorbei! Wieder fragte er: Wo beginnt der Traum, wo die Wirklichkeit? Was heißt Zeit? Was heißt vorbei? Er horchte in das Weben hinein, das um ihn und in ihm war. Da waren nur Fragen, und keine Antworten.

Da war noch etwas neben ihm, etwas mit ihm Verbundenes und doch Eigenes, das ihn rief. Er öffnete sich diesem leisen Drängen und wurde endlich ruhig. Er hatte keine Wünsche mehr.

Der Raum ringsum war leer und kalt, aber ihn konnten weder die Abgründe des Raumes noch der Zeit schrecken. Schwerelos ließ er sich in der Unendlichkeit treiben. Einst werde ich wirklich erwachen, dachte er, einst werde ich wissen.

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