3 Ein Begriff: Lovis – Eine Sehnsucht: Ruth

Nun war es also geschehen.

Es war nichts Überraschendes, nichts Unvorhergesehenes und nichts Ungewöhnliches – im Gegenteil, sie hatten damit gerechnet und es seit Jahren erwartet. Aber wie alles, was Schicksale aus ihren Bahnen wirft und auf neue Geleise stellt, wirkte es wie ein Schock.

Lovis lehnte an der Fensterbank, und das bläuliche Licht, das durch die kugelsicheren Scheiben drang, beleuchtete nur die Konturen seines markanten Gesichtes – den flachen Bogen seiner Stirn, den Vorsprung seiner kräftigen Nase, den Einschnitt seiner dünnen, stets zusammengekniffenen Lippen, das Dreieck seines Kinnbartes. Millionen kannten dieses Gesicht, Millionen fürchteten es, Millionen haßten es.

Lovis hatte sich nicht umgedreht, als Eric Frost eingetreten war. Er hatte nur gesagt: »Es ist soweit.«

Eric brauchte keine nähere Erklärung. Er wußte, was geschehen war, wußte, was nun zu tun war. Tausendmal hatte er es sich ausgemalt, und nun war es so gekommen, wie er es sich ausgemalt hatte. Alles war vorbereitet. Tausendmal hatte er in Gedanken den Fluchtweg durcheilt, er kannte jeden Schritt, jeden Schlich, jede Hintertür, die sich ihnen bot, er kannte alle Schwierigkeiten und die Tricks, um sich ihnen zu entziehen; er hatte für Proviant gesorgt, für Waffen, für falsche Lochmarken, er hatte einen Zeitplan aufgestellt und jede Möglichkeit einer Komplikation einbezogen. Er hatte nichts anderes zu tun gehabt, als diese zwei Tage vorzubereiten, und er würde nachher nie wieder etwas zu tun haben. Sein ganzes Dasein war auf diese zwei Tage ausgerichtet.

Es war so, wie er es sich vorgestellt hatte, und doch war es anders. Es war anders, weil die Wirklichkeit immer anders ist als die Vorstellung. So hätte er nie erwartet, daß es für ihn auch nur einen Augenblick des Zauderns geben könnte, bevor er die Kette von Ereignissen auslösen würde, die jenen kurzen Abschnitt in der Geschichte von Holder beendeten, der Lovis hieß. Sein Zaudern war ihm selbst unerklärlich.

Aber auch Lovis ging es nicht anders. Er war sicher, daß ihn Eric hinausbringen würde, und in groben Umrissen war ihm auch bekannt, wie. Und nun fiel ihm gar nicht auf, daß Eric stumm und unbeweglich blieb, anstatt zu beginnen. Lovis blickte hinunter auf den riesigen, von drei Flügeln des Palastes eingeschlossenen Hof und sah Dinge, die endgültig Vergangenheit waren – die wogenden, winkenden Volksmassen, die blitzenden, gemusterten Ströme der Truppenparaden, das Zeremoniell bei der Ankunft befreundeter Staatsoberhäupter, die öffentlichen Prozesse gegen Aufwiegler und Verräter, Spione und Saboteure. Er hörte den Aufschrei der Begeisterung Hunderttausender, Marschtritt und Musik, das Heulen der Wut gegen die Verurteilten. Ein wenig zu schwer lehnte er an der Fensterbank. Der Platz unter ihm war leer. Nur gelegentlich tauchten einige Bewaffnete an den Häuserwänden auf, eilten daran entlang, verschwanden in einer der unzähligen Türen zu den eingebauten Bunkern.

Als Eric das Zittern der schmalen Lippen sah, erkannte er, was er bei seinem Plan vergessen hatte – daß man nicht nur handelt, sondern auch empfindet. Kurze Zeit hindurch war ihm, als fiele neben ihm eine schwere Masse hinab; sie blieb neben ihm, obwohl sie sich bewegte, immer schneller, immer tiefer, bis sie hart auf dem Boden aufschlug. Und dann bemerkte er, daß er selbst diese Masse war, aber der Raum, in den er gefallen war, war nicht der Raum, in dem er sich befand, und der Schlag, der ihn traf, war nicht der Aufschlag auf dem mit Teppichen belegten Boden von Lovis’ Empfangs- und Arbeitszimmer. Er hatte sich jenseits einer Wand befunden, die dünner als Papier war, aber für sein Denken und Begreifen undurchdringlicher als Mauern aus Stahl und Stein. Der Ruck, der ihn durchlief, beschloß seine seltsame Untätigkeit und Lahmheit, erst jetzt war das um ihn herum das, was es war – ein Zimmer, ein Palast, eine Stadt, ein Land in Aufruhr; ein gestürzter Diktator; Gänge, Stufen, Türen, hohle Mauern, Keller, Aufzüge, Schienen, Fahrzeuge; Revolution, Haß, Wünsche, Begierden. Ihm kam es vor, als begänne in diesem Moment sein Leben.

»Man kann die Sperren in dreißig Minuten durchbrechen«, sagte er.

Lovis richtete sich auf. Der Ausdruck seines Gesichtes war gefaßt. Es war ein einprägsames, kühnes Gesicht. Schade darum, dachte Eric.

»Einen Augenblick«, sagte Lovis.

»Was gibt es noch?«

Jetzt brannte Eric darauf, seinen Plan durchzuexerzieren. Äußerlich schien er kühl, aber sein Herz schlug hart. Es war keine Furcht – nur die fiebernde Freude über jenen Schritt, der vom Wollen zum Tun führt.

Lovis trat an den massigen Schreibtisch und drückte auf einen Knopf. Nach fünf Sekunden öffnete sich die Tür, und ein Mädchen trat herein.

»Sie kommt mit«, sagte Lovis.

Fünf Sekunden lang war Eric auf den Grund dafür gespannt gewesen, der dafür ausreichend war, daß sie ihre Flucht verschoben. Sein Interesse sank in sich zusammen.

»Unsinn«, sagte er enttäuscht.

Er zog die Strahlenpistole und ging auf eine der nicht erkennbaren, in die Täfelung eingelassenen Türen zu. Er öffnete sie.

»Bist du bereit, Professor?« fragte er, und dann, zu Lovis gewandt: »Geh ‘rein.«

»Ruth kommt mit«, sagte Lovis.

Das Zimmer hinter der Tür besaß keine Fenster, aber der Lichtkegel der Operationsleuchte, die einen Behandlungsstuhl in grelles Weiß tauchte, war stärker als das Licht der blauen Sonne Amarylls. Lovis setzte sich.

»Du darfst dich freuen, Professor«, sagte er. »Fang an! In einer Viertelstunde bist du entlassen.«

»Geht es zu Ende mit euch, ihr Schinder?« fragte der Mann, der neben dem Operationsstuhl stand.

Eric trat an die Wand, holte eine Lochmarke aus der Tasche und steckte sie in ein Tresorschloß. Ein breites Rechteck öffnete sich, ein Pult mit Instrumenten schob sich hervor.

»Zieh dich um«, sagte Lovis zu Ruth »und dann warte draußen!«

Eric half dem Arzt in einen weißen Kittel und knüpfte die Bänder hinten zusammen. Seit vierzehn Monaten hatte er ihn hier gefangengehalten – den besten Gesichtschirurgen des Landes. Er hatte alles für ihn getan, um ihn unter diesen Umständen fit zu erhalten. Außer der Freiheit hatte dem Professor nichts gefehlt. Selbstverständlich hatte er gutes Essen und ein gutes Bett gehabt, er hatte Mikrofilme und Tonbänder erhalten, welche und wie viele er sich wünschte, unter Bewachung hatte er sich täglich beliebig lang in einem abgetrennten Teil des Dachgartens aufhalten dürfen, um die Kunstfertigkeit des Arztes nicht einschlummern zu lassen.

»Es wird doch alles gut gehen?« fragte Eric. »Deine Hände werden doch ruhig bleiben, Professor?«

Der Arzt riß die Plastikhülle von einem der Instrumente. Die rasierklingenscharfe Schneide eines Skalpells blitzte auf. Seine Hände, die schon so vielen entstellten Gesichtern ihre alte Symmetrie oder auch neue Schönheit geschenkt hatten, zitterten nicht, als er das Messer wiegte, wie wenn er sein Gewicht prüfen wollte.

»Du weißt, daß es ein Entweder-Oder gibt«, sagte Eric. »Entweder du bist frei. Oder es ist aus mit dir. Verstanden?«

»Beruhige dich«, antwortete der Chirurg. »Ich bin kein Richter und schon gar kein Henker. Und steh mir mit deinem Spielzeug nicht im Weg herum!«

Er schob Eric und seine Pistole beiseite und trat zu seinem Patienten. Unter seinen Händen würde jetzt ein fesselndes, ebenmäßiges Gesicht zu nichtssagendem, blassen Durchschnitt werden. Er riß den eingeschmolzenen Kunststoffpfropfen vom Hals eines Fläschchens und schwenkte es über einem Wattebausch. Dann begann er, Mund, Nase und Wangen des Patienten einzureiben. Seine Finger wieselten über Requisiten und Haut. Er schaute nicht mehr auf. Er arbeitete.

Von Zeit zu Zeit blickte Eric nach der Uhr. Sein Zeitplan schien zu stimmen. Der Arzt schnitt, sägte, reinigte und nähte. Ein Stück Nasenbein knackte unter der Zange. Die eiligen Hände setzten eine Klammer ein. Die Haut der beiden Wangen klaffte. Die flinken Hände schoben zwei Scheiben Gewebekultur darunter. Metall blitzte an den Mundecken. Blut sickerte. Die eifrigen Hände trennten und verbanden, stülpten um, kneteten, formten.

Ein kaum wahrnehmbares Aufstöhnen ließ Eric zur Seite sehen. Ruth war unbemerkt hereingekommen und starrte auf das blutige zersäbelte Gesicht ihres Geliebten. Sie war kalkbleich.

Eric winkte mit der Pistole: »Raus hier!«

Ruth ging fort.

»Tupfer«, forderte der Arzt, und Eric reichte ihm das Stäbchen mit dem Wattebausch aus der Flasche. Wieder strichen die Finger über das Gesicht, wischten, drückten, kreisten, wie in einer magischen Beschwörung.

Der Chirurg trat zurück. »Fertig.«

Eric blickte nach der Uhr. Seine Zeiteinteilung war in Ordnung.

»Nach acht Stunden nehmt ihr die Verbandschicht ab.«

Lovis richtete sich auf. Vorsichtig tastete er nach dem dünnen weißen Plastikfilm, der die veränderten Partien seines Gesichts bedeckte. Er sah so gespenstisch aus wie ein Clown während des Abschminkens.

»Gut gearbeitet, Professor«, sagte Eric. »Ist noch etwas zu beachten?«

Der Chirurg schüttelte den Kopf.

»Überlege es dir gut – müssen wir noch irgend etwas tun, damit alles gut verheilt?« Eine steile Falte stand über Erics Nasenwurzel.

»Nichts«, antwortete der Professor.

Eric hob die Pistole und schoß. Die ruhigen und doch so lebendigen Finger des Arztes flatterten, tasteten fahrig umher, fingen sich an einem Tablett mit Skalpellen. In den dumpf dröhnenden Auffall seines Körpers mischte sich das Geklirr der über den Boden hüpfenden Instrumente.

Die Tür flog auf. Ruth stürmte herein.

»Was ist...? Bist du...?« Sie lief auf Lovis zu und riß an seinen Rockaufschlägen. »Warum habt ihr das gemacht?«

Lovis stieß sie unsanft zurück. »Halt uns nicht auf!«

Eric hielt die Pistole noch immer waagrecht. »Am besten, auch sie bleibt hier. Soll ich...?«

»Sie kommt mit«, sagte Lovis gelangweilt und verließ rasch den Raum.

Der Riesenplanet Amaryll badete im weißblauen Glanz seiner Sonne, wie an jedem seiner langen Tage. Die Kontinente lagen wie gelappte farblose Blätter einer schwimmenden Pflanze in den schwarzen Lavamassen, deren schwaches Glühen auf seiner Schattenseite zu erkennen war. Kuppenblöcke aus Basalt bildeten seine Gebirge, dazwischen lagen Täler, in denen es flimmerte und flirrte – Seen aus dem, schweren Gas Schwefeldioxyd.

Der Planet hatte es den Menschen nicht leicht gemacht. Zwar besaß er Luft, aber sie war von giftigen Gasen – von Schwefeldioxyd, Schwefelwasserstoff und Kohlendioxyd – durchsetzt. Ohne Gasmaske war es nur für kurze Zeitspannen möglich, sich im Freien aufzuhalten. Die Anziehungskraft war bedeutend stärker als die der Erde, doch war die Rotationsgeschwindigkeit so groß, daß sie am Äquator durch die Zentrifugalkraft mehr als ausgeglichen wurde und auch in mittleren Breiten noch erträglich war. Dasselbe galt für den Luftdruck.

Und doch hatte sich der Mensch hier festgesetzt. Er lebte auf den weiten, von kristallinen Krusten überzogenen Ebenen, auf denen man Minerale und Erze im Tagbau gewinnen konnte. Er stellte erst seine Häuser und dann seine Siedlungen und Dörfer in durchsichtige Halbkugeln aus Polysiliziden, die mit filtrierter Luft gefüllt waren. Je mehr Menschen auf den Planeten kamen, um so näher rückten die glasigen Blasen zusammen und bildeten an manchen Stellen Überzüge, die von weitem wie eine Schicht von Flockenschaum aussahen. Die größten Kuppeln besaßen Durchmesser von tausend Metern.

Etwa ein Dutzend solcher Riesenkuppeln bildeten den Raum der Stadt Holder, der Hauptstadt des gleichnamigen Landes. Im Zentrum lagen die Verwaltungsgebäude und Kulturstätten, in der Peripherie die Wohnblöcke, und ganz außen, unter einem Kranz von kleineren Kuppeln, die Energiezentren, Fabriken und Pflanzungen.

Das war sechs Jahre lang das Reich Lovis’ gewesen, nachdem er durch einen Staatsstreich die Herrschaft an sich gerissen hatte. Jetzt war es sein Gefängnis, dem es zu entrinnen galt.

Eric ging voran, durch ein und noch ein Zimmer, in einen Korridor, in einen Saal – die Bibliothek. Er schob ein Regal mit Mikrofilmen beiseite, eine Tür kam zum Vorschein. Lovis trat ein, Ruth folgte, Eric zog das Regal wieder vor. Finsternis umgab sie, Lovis ließ eine Taschenlampe aufleuchten. Sie befanden sich in einem Lift. Eric ließ einen Kontakt schnappen, und sie sanken in die Tiefe. Es ging ohne Motor, der Aufzug folgte der Schwerkraft, er wurde nur dieses eine Mal gebraucht. Eine Feder schnappte ein, die Bremsvorrichtung knirschte. Sie stiegen aus.

Ein Gang. Stufen. Türen. Ecken, Winkel. Hallen. Eric öffnete eine Tür, Lovis trat hindurch, Ruth folgte. Eric schloß die Tür. Eine leere Schlucht. Endlose Stiegen. Absätze. Stiegen. Eine Falltür. Lovis trat hinab, Ruth folgte. Eric ließ die Klappe über sich zufallen. Ein enger abschüssiger Gang. Eine Biegung. Schwarze Leere.

Eric stand an einem Schaltbrett. Er brauchte seine Taschenlampe nicht, er kannte sich aus. Eine Perlenkette von Lichtern peitschte in einen unabsehbaren Tunnel hinein. Darunter hing ein silbernes Band und zielte auf jenen fernen Punkt, in dem es sich mit der Lichterkette traf. Ein einzelner Wagen der unterirdischen Einschienenbahn stand auf der leicht abfallenden Strecke. Ein Bremsklotz hielt ihn wie ein eingestemmtes Knie.

Eric wartete noch am Schaltbrett. Er drehte einen Hebel um. Ein sachter Stoß schüttelte sie, der Boden schien drei Sekunden lang aus einer weichen Masse zu bestehen, dann grollte ein Donnern auf, ein dumpfer, langsam anschwellender Urlaut aus dem Innern der Erde, und dann wischte ein Hauch über sie hinweg, ein heftiger Atemzug aus dem offenen Hals des hinter ihnen liegenden Ganges.

»Erledigt«, sagte Eric. »Steigt ein.«

Ruth lauschte angestrengt. »Was war das?«

»Das war mein Palast«, antwortete Lovis. »Glaubst du, ich bewahre ihn für meinen Nachfolger auf?«

Eric bückte sich zur Schiene hinunter und drehte an einer Flügelschraube. »Einsteigen!«

Lovis trat vom schmalen Absatz des Bahnsteiges auf den Boden des Wagens, der in derselben Höhe lag, und zog Ruth nach sich.

Eric hob den Bremsblock ab und betrat als dritter den Wagen. Er ging zum gewölbten Vorderfenster und ließ den Schwenkarm der Öldruckbremse zurückrasten. Unmerklich und erschütterungsfrei setzte sich der Wagen in Bewegung, der Bahnsteig glitt zurück, die hohle Röhre des Bahntunnels stülpte sich über sie, die Lichter wanderten, liefen, schnellten auf sie zu, bis die Kette zu einem Lichtstreif wurde und so still zu stehen schien wie die Schiene, über die sie auf hitzefesten Elastikrädern dahinrollten.

»Eine U-Bahn nur für uns«, sagte Lovis. »Schätzchen, bald sind wir in Sicherheit! Freust du dich?«

Ruth beobachtete die Lichtschlangen in der Röhre vor sich, deren Wände durch die Bewegung glatt und schimmernd aussahen. Es zischte. Der Wagen lag auf einem Polster aus gestauter Luft. Ein Geschoß im Lauf eines Geschützes, dachte Ruth.

»Kann uns hier niemand aufhalten?« fragte sie.

Lovis lächelte. Unter seinem Verband war es eine scheußliche Grimasse. »Wir haben diese Strecke vor Jahren stillgelegt. Alle Ausgänge sind vermauert – bis auf jene, die wir noch brauchen können.«

Das gelbe Licht wurde schlagartig rot. Eric zog die Bremse wieder an. Der Lichtpfeil über ihnen flirrte, zuckte und zerfiel in einzelne rote Augen. Der Schlauch der Röhre blähte sich zu einer Halle. Eric schraubte die Bremse fest. Die Fahrt war zu Ende. Sie stiegen aus.

»Wo sind wir?« fragte Ruth. Sie wandte sich an Lovis. Eric existierte nicht für sie.

»Hier ist die alte Endstation der U-Bahn. Wir sind schon am Rand der Stadt, bei den Wasserspeichern. Komm jetzt, dort geht es hinauf!«

Eric war vorangegangen. Er stützte sich auf ein Eisengeländer und schaute wie von einer Tribüne auf die Halle hinab. Aus der Betonwand neben ihm ragte ein Hebel. Er zeigte nach unten.

Ein Gurgeln klang von unten herauf, etwas schluckte kurz, dann rauschte es. Ein schwankender Spiegel lag auf einmal auf dem Boden, stieg empor, tappte in den Tunnel hinein.

»Wasser!« rief Ruth. »Lovis, ist es Wasser?«

»Was denn sonst, mein Kind? Wir versperren hinter uns den Weg.«

»Aber ihr könnt doch nicht... die Wasservorräte...«

»Wir brauchen kein Wasser mehr«, erklärte Lovis.

Die Lichterreihe unter ihnen erlosch. Die gurgelnden Geräusche schienen durch das Dunkel verstärkt zu werden. Lovis und Eric ließen ihre Taschenlampen aufflammen.

Sie stiegen die eisernen Stufen hinauf, etwa zweihundert Meter hoch, in einen grob ins Gestein gehauenen Stollen. Ihre Schritte hallten auf den Eisenstufen.

Wieder hielten sie vor einer Tür. Eric drehte eine Ziffernscheibe und stieß sie auf. Drückende Dunkelheit lag wie eine Flüssigkeit vor ihnen. Etwas kratzte... etwas rollte, klirrte, splitterte.

»Verflucht!« stieß Lovis hervor. »Da ist jemand!«

Ein Lichtstrahl irrte umher.

Lovis schlug Eric die Taschenlampe aus der Hand. »Kein Licht, du Narr. Los, wir müssen zurück!«

»Nur nicht nervös werden«, sagte Eric. Seine Stimme kam von vorn. Im Dunkeln hatte er den Schalter gefunden. Er drehte ihn um. Schmerzhaft ergoß sich Licht in ihre Augen. Ein lispelnder Pfiff ertönte. Über Hocker, Tischchen, Wandregale huschte es.

»Unsere erste Station«, sagte Eric.

»Die verdammten Ratten«, sagte Lovis.

Sie befanden sich in einer einfachen Bar. Die Theke war gelb gekachelt und erinnerte an einen Waschraum. Eine Reihe bunter Flaschen stand auf den Regalen, eine lag zerbrochen am Boden, eine dunkle Pfütze verbreitete sich um sie herum und der Geruch nach Schnaps. Ruth ging einige kurze Schritte vor; Staub wirbelte auf. Überall lag Staub, auf den Stühlen und Tischen, auf dem Wandspiegel, auf der Espressomaschine, auf der Musikbox, auf den Tellern und Gläsern.

Lovis drehte sich jäh herum. »Verdammt, Eric. Mach, daß das zu Ende geht.«

»Unsere erste Station«, sagte Eric. »Ruhe bis nach Mitternacht. Kaviar und leichte Musik.«

Er schlenderte zur Musikbox und steckte ein Geldstück in den Schlitz. In dem Lautsprecher knackte es, und dann wirbelten der Schlagbaß und die Cimbel im Stereoton, und eine dunkle Frauenstimme schleppte dem Rhythmus eine aufreizend langsame, monotone Melodie nach.

»Ruhe!« schrie Lovis. »Ruhe... sag’... ich...«

Er riß einen Barhocker am Bein empor und ließ ihn auf die bunte Glaspracht der Box niedersausen, unter der sich das mehrspurige Tonband ringelte.

Lovis setzte sich auf eine Bank und fluchte leise vor sich hin. Eric trat hinter die Theke, schenkte ein Glas Gin ein, ging um den Tisch herum und hielt es Lovis vors Gesicht. Lovis griff danach und trank in kurzen hastigen Schlucken. Er streckte Ruth die Hand entgegen und zog sie neben sich.

Eric stand vor Lovis und lächelte. Unter ihm schwebte die weiße Maske Lovis’ wie ein haltloses Ding im Raum. Das Lächeln von Eric war nicht böse und nicht spöttisch, nicht überlegen und nicht schadenfroh – eher mitleidig oder selbstvergessen. Immer wenn er in dieses Gesicht geblickt hatte, dann hatte es ihn in die Gegenwart gerufen, und auch nur in einen Teil der Gegenwart – in jenen, in dem es um Greifbares ging, um Geld, um Mädchen, um Landbesitz, um Waffen. Aber nun war es hinter einem Vorhang verborgen, übertüncht, sterilisiert, und das, was es in Eric wachrief, waren nicht die Nöte und Forderungen der Stunde, sondern die Erinnerungen und Sehnsüchte eines Jungen, der einen großen, starken Freund besaß – ein Vorbild an Erfolg, Macht und Willenskraft, ein Vorbild, das man nie erreicht, in dessen Aura aber man sich wärmen kann, wenn es auch nur eine geborgte Wärme ist. Eric hatte stets bedingungslos und gläubig gehorcht, und nach der Schule, als Lovis seinen Siegeszug beim Militär antrat, verfolgte er sein Idol aus der Ferne, ohne selbst etwas aus sich zu machen. Und dann kam der Bote, der ihn zu Lovis rief und der seinem Leben einen neuen Sinn gab und zugleich den alten wiederschenkte: ein getreuer, stummer Schatten Lovis’ zu sein.

Eric bemerkte nicht, daß ihn Ruth zum erstenmal aufmerksam beobachtete und daß für diese paar Minuten der Ausdruck des Abscheus, den sie stets für ihn bereithielt, verschwunden war.

Nach einer Weile richtete sich Lovis auf. »Was jetzt?«

Eric schnippte ein Stäubchen vom Ärmel.

»Du kennst den Plan. Von hier aus gibt es für uns zwei, drei sichere Wege, um weiterzukommen. Verstehst du: für uns zwei! Das Mädchen bleibt hier.«

Lovis hielt Ruth fest wie einen Besitz.

»Nein!«

»Lovis, überlege doch! In unserem Plan gibt es kein Mädchen. Es ist doch alles bis ins kleinste Detail festgelegt. Draußen, an der Ausfahrt nach Belem, liegen für uns zwei Schutzanzüge. Hörst du: zwei! Ohne sie kommen wir nicht bis zum Flugzeug. Bei den Kaliwerken sind zwei Turbinenschleudern eingebaut, genau zwei Stück. Und dann steht an der Südspitze der Schlepper bereit – aber nur für den äußersten Notfall; Proviant und Wasser sind für zwei Menschen berechnet, und diese Fahrt ist nichts für ein Mädchen. Lovis, es ist unmöglich. Wozu willst du Ruth mitnehmen? In Elektra liegt dein Geld, da kannst du von der Sorte haben, soviel du willst.«

Ruth drückte sich an Lovis.

»Lovis, verbiete ihm, so zu reden! Wie kannst du das mit anhören?«

Eric schwenkte auf dem Absatz herum und wanderte im Raum hin und her. Er sah auf das Schachbrettmuster der Bodenplatten vor seinen Füßen.

»Du setzt dein Entkommen aufs Spiel, wenn du das Mädchen mitnimmst. Lovis! Sie kann ja am Leben bleiben. Ich finde schon einen Weg, damit sie uns nicht gefährlich wird. Wir sperren sie hier ein – und bis sie herausgefunden hat, sind wir in Sicherheit. Sie kann später nachkommen. Wir lassen Geld für sie da!«

Er nahm eine Rolle Plastikscheine aus der Brusttasche und legte sie auf das Tischchen vor Ruth. Sie faßte danach und warf nach ihm. Ohne sich zu öffnen, flog das Röllchen an ihm vorbei und kollerte unter einen Stuhl. Eric bückte sich, hob es auf und steckte es wieder ein. – »Warum sagst du nichts, Lovis?« schrie das Mädchen. »Vielleicht willst du ihm noch zustimmen!«

»Schau, Mädel«, sagte er, »vielleicht hat er sogar recht. Ohne ihn komme ich hier nicht raus. Aber dich kennt doch niemand. Vielleicht... Du könntest doch... Verflucht!« brüllte er auf. »Du siehst doch, es geht nicht! Liegt dir denn nichts an meinem Leben? Nimm doch auch Rücksicht auf mich! Es gibt nun einmal keinen Weg für uns drei. Wir haben überall an den Ausgängen nur zwei Schutzanzüge liegen.«

Ruths Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut aus ihrem Mund. Lovis blickte sie erschreckt an. Der Ausdruck seiner Augen wechselte, als wollten sie etwas sagen, was das gefesselte Gesicht nicht ausdrücken konnte. Er stand auf und bückte sich zu ihr herab. Seine Hände tappten nach ihren Wangen, ihren Haaren.

»Mein Kindchen«, stammelte er. »Sei nicht traurig! Wir werden schon einen Ausweg finden. Mein Liebling, mein Schätzchen. Ich kann ja gar nicht ohne dich... Aber sei doch vernünftig...!«

Ruth duckte sich unter seinen Armen hinweg. Sie ging einige Schritte seitwärts, so daß sie zwischen den beiden Männern stand. Eric lümmelte an einer gekachelten Säule und gab sich unbeteiligt. Er hatte soviel gesprochen wie noch nie in seinem Leben, und jetzt schwieg er. Er meinte, es ging ihm darum, Lovis zu retten. Jetzt überließ er den anderen die Entscheidung darüber, ob alles so geschah, wie er es festgelegt hatte, oder ob seine jahrelange Vorarbeit sinnlos gewesen war und damit der Zweck seines ganzen Daseins. Ganz tief in seinem Innern, so tief, daß es nicht an die Oberfläche seines Bewußtseins strahlte, spürte er aber das Nahen von etwas Ungeheuerlichem, von etwas, was nach den Fundamenten seiner Persönlichkeit griff.

»Sei still«, sagte Ruth zu Lovis. »Ich werde tun, was du willst. Wenn du es wünschst, bleibe ich hier. Aber ist es wirklich notwendig, oder willst du mich nur los sein?«

»Liebling...« Lovis stand gebückt. Seine Arme pendelten.

»Es gibt einen Ausweg«, fuhr Ruth fort. »Wir können auch zu dritt flüchten. Wir haben Zeit bis Mitternacht. Inzwischen holt Eric eine Schutzmaske von einem jener Ausgänge, den wir nicht benutzen. Die Turbinenschleudern kommen für uns nicht in Betracht und auch der Schlepper nicht. Die Südspitze ist nicht weit von den Wasserspeichern entfernt. Also wird es am besten sein, die Maske von dort zu holen. Und dann sehen wir, daß wir über die Ausfahrt nach Belem das Flugzeug erreichen.« – Lovis lief auf das Mädchen zu. »Das ist der Ausweg! Daß ich nicht daran gedacht habe! Natürlich – so geht es. Warum bist du nicht draufgekommen, Eric?«

Eric sah auf die Spuren, die sein Ärmel im Staub der Tischplatte gezogen hatte. Hatte er nicht daran gedacht? Die Lösung war ganz einfach. Er kannte das Labyrinth der Fluchtwege wie kein anderer, und jede damit zusammenhängende Frage, auf die es eine Antwort gab, mußte sich ihm von selbst erschließen. Freilich, das Flugzeug war ein Zweisitzer, aber der Gepäckraum stand zur Verfügung, und Treibstoff lag genug bereit. Er hatte nicht antworten können, weil er nicht selbst gegen sich entscheiden durfte. Nicht Lovis hatte er verloren, sondern das, was Lovis für ihn war.

»Geht in Ordnung«, sagte er, »ich hole die Maske.« Aber er wußte, daß er nicht mitfliegen würde. Nicht zu dritt. Er wandte sich ab.

»Laß ihn nicht allein!« rief Ruth. »Du mußt mitgehen. Und ich komme auch mit!«

Lovis gehorchte ihr. Er setzte sich hinter Eric in Bewegung, und Ruth folgte. Du hast mich schon allein gelassen, dachte Eric, es nützt nichts, wenn du jetzt mitkommst. Er stieg die Stufen zu den Werkhallen der unterirdischen Fabrik hinauf. Er selbst hatte den Befehl ausgeschrieben, daß der Betrieb stillgelegt und von der Außenwelt abgeschnitten werden sollte, und Lovis, der jetzt schwerfällig hinter ihm herkeuchte, die Hand am Pistolenknauf, hatte ihn unterzeichnet.

Die magnetische Sperre öffnete sich vor ihm. Das Notlicht der Glimmlampen sickerte in die Hallen, ohne die Schatten wirklich aus den Winkeln vertreiben zu können. Abgründe gähnten neben den Maschinen, unter den Luftbändern, zwischen den Speichen der Räder, hinter den Preßhämmern, in den Ölkesseln. Kranhaken, Zangen, Stanzhämmer griffen aus dem Nichts, Ketten, Drähte, Leitungen, Röhren überzogen die einzelnen unabhängig voneinander im Schwarz schwebenden Gruppen von Werkzeugen und verbanden ihr seltsames Neben-, Über- und Durcheinander zu einem Rieseninsekt aus Metall, das nur auf ein Signal zu warten schien, um zu automatenhaftem Leben zu erwachen. Eric hätte diese Signale geben können. Die Spinbatterien waren noch geladen, die Benzinbehälter gefüllt, die Schmierleitungen voll Öl, die Gasflaschen unter Druck. Er hätte ein Signal geben können, einen Hebel umlegen, einen Knopf drücken, einen Schalter drehen, und Kontakte hätten sich geschlossen, Elektrizität wäre durch Metall gekrochen, Kondensatoren hätten sich entladen, Räder hätten sich gedreht, Hämmer hätten gestampft.

Eric dachte nicht daran. Er ging weiter, durchquerte eine ganze Flucht von Maschinenhallen, Büros, Lagerräumen, kroch in einen Belüftungsschacht und kam bis unter die Oberfläche. Neben einer Schalttafel stand der Kasten mit den Schutzanzügen. Er holte eine Atemmaske heraus, kehrte um. Die Schaltknöpfe ließ er unberührt. Lovis und Ruth stolperten hinter ihm drein.

Es war zehn Uhr nachts. Eric fiel der Zeitplan ein. Für jetzt hatte er Ruhe vorgeschrieben. Ruhe nach den Anstrengungen und Aufregungen des bewegten Tages. Ruhe nach einem kleinen Imbiß in der Kantine der unterirdischen Fabrik. Ruhe vor dem zweiten, letzten mühsamen Tag, der ausgeruhte Glieder und beruhigte Nerven erfordern würde. Jetzt war es gleichgültig.

Er erreichte die Bar und öffnete die Tür zu einem Schrank. In den Fächern standen Konserven – Kekse, Nüsse, Schokolade, eingelegtes Obst, Dosen mit Grapefruitsaft, mit Orangeade. Er zog eine zweite Tür auf und nahm einen elektrischen Rasierapparat, Schere, Alkohol und Watte heraus. Aus einem dritten Schrank schob er schließlich zwei Luftmatratzen, zwei Gummipolster und ein Bündel Decken. Er packte zwei davon, breitete sie über die Wandbank, zog Jacke und Schuhe aus, legte sich hin und wickelte sich ein.

»Man kann den Verband abnehmen, Lovis«, sagte er müde und stellte den Wecker seiner Armbanduhr auf eins dreißig.

Lovis trat zum Wandspiegel und hakte ihn los.

»Richtig! Hilf mir, Ruth.«

Er reichte dem Mädchen den Spiegel und trat unter eine Lampe. Zuerst rasierte er sich, und der schwarze Kinnbart, der vom Verband freigeblieben war, fiel in Strähnen herab. Dann schob er die Fingernägel unter die Plastikschicht und löste so viel, daß er mit dem Finger unter den Rand greifen konnte. Er zog, und ein Streifen löste sich, er griff wieder zu und zerrte, ein Streifen nach dem anderen kam frei, schrumpfte ein und hüpfte als unansehnliches Knäuel zu Boden.

Eric hatte sich zur Wand drehen und schlafen wollen. Aber er konnte seinen Blick nicht von Lovis’ Gesicht lösen. Ruth saß wie eine Bildsäule. Der Spiegel in ihrer Hand zitterte. Es sah aus, als ob ein wahnsinniger Kranker seine verfaulte Haut vom Kopf riß, um die Zuschauer mit dem Schauderbild zu schrecken, das dahinter zum Vorschein käme.

Der letzte Fetzen trennte sich, und Lovis starrte in den Spiegel.

An diesem Gesicht war nichts Schreckliches, aber auch nichts Starkes, Machtvolles, nichts Überlegenes, Stolzes, nichts Verächtliches, Niederschmetterndes. Dieses Gesicht war nur nichtssagend und dabei nicht einmal ekelhaft. Die Nase war zu einer Stupsnase geworden, die Wangen wölbten sich rundlich und ein wenig fett, der Mund war wulstig und voll – es sah aus, als ob die Lippen keinen Halt aneinander finden konnten und stets leicht geöffnet bleiben müßten.

Der Arzt hatte gute Arbeit geleistet. Zwar war er nun tot, aber sein Werk war lebendig. Und gerade durch die Güte seiner Arbeit hatte er sich an seinen Peinigern gerächt. Niemand konnte Lovis erkennen. Niemand konnte eine Spur des Eingriffs entdecken. Es gab keine Narben und keine Hautverfärbungen. Es gab keinen Lovis mehr, weder für Eric noch für Ruth. Sie erkannten es beide. Ihre Blicke trafen sich. Beide dachten dasselbe, und sie verstanden einander. Beide sahen sich so, wie man sich sieht, wenn einer den anderen zum erstenmal sieht und ihn zu erkennen sucht.

»Was glotzt ihr da!« schrie Lovis und schlug nach dem Spiegel in Ruths Hand, aber sie zog ihn vor seiner Faust zurück und legte ihn auf die Theke.

Eric schloß die Augen und drehte sich zur Wand.

Der Wecker hatte noch nicht angeschlagen, als Eric erwachte.

Er setzte sich auf und sah nach der Uhr: zehn nach eins. Das Licht brannte noch. Jemand schnarchte – Lovis; Ruth war nicht zu sehen. Er schaute umher, die Tür zum Korridor stand einen Spalt offen. Ihm war, als hörte er Stimmen.

Lautlos glitt er von der Bank, auf bloßen Füßen schlich er zur Tür, drückte sie auf, lauschte... nichts mehr zu hören. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und er erblickte weiter vorn einen Lichtschein. Er schlich wieder vorwärts – dort war eine Tür, und unten, an der Ritze, quoll der weiße Schimmer heraus. Er zog die Waffe und riß die Tür auf.

Ruth saß in einem Bürostuhl vor einem Schreibtisch. Sie fuhr herum, ein Radiofonhörer fiel aus ihrer Hand, pendelte an der Schnur hin und her. Sie schob den Sessel zurück und stand auf. Ihre grünen Augen waren weit aufgerissen, das dunkelblonde Haar fiel ihr in die Stirn. Eric sah erst jetzt, daß die Augen grün waren und die Haare blond. Er ließ die Waffe sinken und kam näher.

Das Mädchen bemerkte seinen Blick. Daran, daß sie Angst hatte, änderte sich nichts, aber ihr Gesichtsausdruck wechselte. Ihre Lider kniffen sich ein klein wenig zusammen, ihr Kinn hob sich, sie richtete sich gerade auf und war um keinen Fingerbreit kleiner als Eric.

»Die Batterie ist tot«, sagte er. »Keine Verbindung. Tot.« Mit der Linken zog er den Hörer empor, hob ihn ans Ohr, horchte...

»Nichts. Tot. Es gibt keine Verbindung nach außen.«

Er war selbst erstaunt darüber; er hatte den Apparat zwar schon vor langer Zeit abgeschaltet, aber nicht zerstört – ein leises Summen hätte zu hören sein müssen. Er trat noch einen Schritt näher.

»Was hast du dir dabei gedacht? Mit wem wolltest du sprechen?«

»Eric«, sagte das Mädchen. Sie sprach nicht laut und nicht leise, nicht ängstlich und nicht ärgerlich, nicht werbend und nicht ablehnend. Sie nannte nur seinen Namen.

Plötzlich öffnete sich vor Eric ein Tor. Davor gab es keine Gänge, keine Straßen, keinen Zaun und keine Fußspur, denen er zu folgen hatte – eine unübersehbare Weite zog ihn an, eine Weite ohne Raum, ohne Zeit, ohne Ursache und Wirkung. In dieser Weite war alles möglich, ohne Bindung, ohne Fessel, ohne Gewalt, ohne Zwang. Einen Augenblick lang wollte er sich der Schwerelosigkeit dieser über ihn hereinbrechenden Freiheit überlassen, aber dann besann er sich schmerzhaft, und er wand sich unter der Qual der Besinnung und Verantwortung. Und dann entschied er sich.

Er warf den Hörer auf die Gabel. Von draußen kamen Schritte näher, Lovis erschien an der Tür.

»Was ist hier los?« fragte er.

»Mir war langweilig – ich habe mich umgesehen«, antwortete Ruth.

»Ich merkte, daß sie verschwunden war. Da habe ich sie gesucht«, erklärte Eric.

Lovis fielen die staubfreien Stellen auf dem Griff des Radiofonhörers nicht auf, und er bemerkte auch nicht, was Eric jetzt bemerkte: daß die Hörerschnur nur mehr an der Isolation am Gehäuse hing. Lovis sah nichts, aber sein neues pralles Gesicht blickte böse. Die Augen sind die alten, dachte Eric.

»Wir haben keine Zeit für solchen Unsinn«, sagte Lovis. »Vorwärts, wir hauen ab!«

Die zwei Männer und das Mädchen standen in einem niedrigen flachen Raum am Ende des Ganges. Eric griff in eine Kiste und holte einen schweren, dosenförmigen, mit einem Griff versehenen Körper und zwei Schutzmasken heraus. Eine gab er Lovis, die andere Ruth.

»Jetzt kommt ein kleines Risiko«, sagte er. »Hier sind wir nur einen Meter tief unter der Erde. Über uns liegt eine Gewächskuppel. Ich muß mich erst überzeugen, daß niemand in der Nähe ist.«

Er trat an das Okular eines Periskops, das aus der Betondecke hervorragte, und blickte hinein. Langsam drehte er sich.

»Die Luft ist rein.«

»Kannst du denn in der Nacht etwas sehen?« fragte Ruth.

»Ultrarot«, antwortete Eric.

Er ging zum anderen Ende der Kammer hinüber, hob die Hand zur Decke und löste einen Riegel. Eine Falltür schnellte auf, eine kleine Erdlawine fuhr herein und schleppte einzelne Pflanzenteile mit sich. Durch das Loch in der Decke fiel diffuser Sternenschein.

Eric holte eine kurze Leiter, lehnte sie an den Rand des Loches und stieg vorsichtig hinauf. Um ihn herum wogte die feuchte, stickige, nach Erde riechende Luft eines Treibhauses. Herzförmige Blätter tropften vor Nässe, dicke Schotenbüschel hingen an holzigen Stengeln.

»Nachkommen!« rief er in die Öffnung hinein. Lovis erschien neben ihm und dann Ruth. Eric stieg noch einmal in den Raum hinunter und kam mit dem Tragkästchen zurück.

»Mir nach!« Ohne Zögern schlug er eine bestimmte Richtung ein.

Hintereinander stapften sie zwischen den fleischigen Lippenblütlern einher, über den Teppich aus weicher Erde und keimenden Pflanzenwurzeln. Eine mattglänzende Wand wölbte sich vor ihnen auf, die Kuppeln aus Polysiliziden, die Grenze zwischen der Zone des Lebens und des Todes. Die Sterne waren durch die milchigen Kunststoffflächen verwischt, aber ihr Glanz breitete sich über die gesamte Wölbung, als leuchte sie selbst in eigenem magischem Licht.

Eric setzte das Kästchen zu Boden und klappte die Vorderwand heraus. Ein dünner, aus Metallringen zusammengesetzter Schlauch ringelte sich vor; er endete in einer dreizackigen Gabel. Die beiden äußeren Zacken liefen in blanken Metallspitzen aus, die sich an den Enden wieder etwas näherten, die mittlere schloß mit der Verdickung einer Düse. Der Schaft der Gabel war etwa einen halben Meter lang; dort, wo er am Schlauch ansetzte, standen zwei Henkelgriffe ab.

Eric wischte mit der Hand über einen Streifen der von kondensierten Wassertröpfchen überzogenen Kunstglaswand und machte sie dadurch durchsichtig. Auf den ersten Blick schien es, als ob sich die Gartenlandschaft draußen fortsetzte, aber dieser Blick täuschte. Das, was da draußen sproß, waren keine Pflanzen, sondern Kristalle. Wie eine rauhreifüberzogene Wiese mit dreißig Zentimeter hohem Gras sah es aus.

Eric drehte einen Knopf auf einer kleinen Schaltfläche in der geöffneten Vorderfront seines Apparates. Ein Bogen von prasselnden Funken verband nun die beiden Außenzacken der Gabel.

»Masken aufsetzen.« – Lovis und Ruth folgten seinem Beispiel und stülpten sich die Gasmasken übers Gesicht.

Er legte die Gabel an die Glaswand. Wieder drehte er einen Schalter – ein dünner Strahl schoß aus der Düse, gerade in die elektrische Entladung hinein. Das Prasseln wurde etwas weicher, dafür zischte es, und Schwaden von ätzendem Dampf kreiselten.

Eric bewegte die Gabel leicht über die glatte Fläche. Die Stellen, die er behandelt hatte, waren mit schmalen, schief in die Wand führenden Einschnitten versehen, die etwa dreißig Zentimeter in die hundertzwanzig Zentimeter dicke Wand hineinreichten.

Die Umgebung der Einschnitte wölbte sich blasig aufgedunsen.

Ein runder, etwa fünfzig Zentimeter im Durchmesser zählender Kreis war entstanden. Nun setzte Eric einen zweiten Kreis um den ersten, dabei zielte er mit seiner Gabel so, daß die Richtung des Schnittes im spitzen Winkel zu der des ersten verlief. Der Erfolg dieser Maßnahme zeigte sich bald – ein keilförmiges Stück Polysilizid nach dem andern splitterte heraus. Jemand rüttelte Eric an der Schulter.

»Da stimmt etwas nicht!« rief Lovis. Er hatte die Atemmaske beiseite geschoben.

Eric richtete sich auf. »Was soll nicht stimmen?«

Er stellte die Säurezufuhr und die Spannung ab und nahm auch seine Maske ab.

»Dort habe ich ein Licht gesehen!« flüsterte Lovis in der plötzlichen Stille.

Sie spähten und lauschten. Sie bemerkten nichts, aber ihre Unbefangenheit war gestört.

Eric fiel etwas ein: »Das Ultrarotperiskop!«

Sie sprangen auf und rannten zur Bodenöffnung.

Lovis sprang mit einem Satz hinunter und spreizte die Bügel.

»Verdammt! Da schleichen welche herum!«

Eric drängte ihn weg.

»Du hast recht!«

»Wie lang brauchst du noch?«

»Zu lang.«

»Was tun wir?«

»Sprengen!«

Eric kniete am Kasten nieder, dem er vorhin den Brenner und die Masken entnommen hatte. Er reichte Lovis eine Drahtrolle; eine Zündbatterie stellt er neben sich zu Boden.

»Los, wickle den Draht ab!«

Lovis hastete die Leiter hinauf, den abgerollten Draht hinter sich nachziehend.

Eric schleppte die Megalithpatrone hinterdrein und steckte sie am Fuß der Wand in die Erde.

»Ruth, was tust du da? In die Kammer zurück, schnell!« schrie er.

Er befestigte die Klemmen an den Kontakten und lief mit dem Mädchen zu Lovis.

»Alles in Ordnung?«

»Ja!«

»Dann los.«

Er drückte den Hebel hinein... Nichts rührte sich. Er drückte noch einmal – nichts.

»Deine Planung!« schrie Lovis. »Du Stümper! Du Dilettant!«

»Bleibt hier!« Eric riß einen Kranz Zündschnur aus der Kiste und stürzte los.

»Eric, nicht sprengen!« hörte er Ruth hinter sich herrufen.

Und gleich darauf Lovis: »Bleib da, was fällt dir ein!«

Er warf sich an der Wand nieder, wühlte die Patrone aus der Erde, riß den Sicherheitsstreifen ab und steckte die Zündschnur hinein. Auf die Mühe, die Patrone wieder einzugraben, verzichtete er. Er streckte nur die Schnur gerade und legte dann das freie Ende in die Flamme seines Feuerzeugs. Er sprintete los und sprang in den Keller hinab.

Sie warteten... zehn Sekunden, fünfzehn Sekunden... Dann kam der gewaltige Schlag der Detonation, gefolgt von unheilverkündendem Knirschen. Sie kletterten hinaus und sahen im Sternenschein silberne Sprünge an der Kuppel emporklettern. Das ganze Gebäude zitterte, vibrierte, die Energie der Erschütterung lief in dumpfen Glockentönen um den Rundbau herum, verebbte, flutete wieder auf. Dort, wo sie die Ladung gelegt hatten, war ein kleiner Trichter entstanden mit einer dahinter klaffenden ovalen Öffnung mit rundgeschmolzenen Rändern.

»Masken auf!« rief Eric.

»Hindurch!« rief Lovis.

Sie liefen los, in die Kristallwüste hinaus, durch knirschende Nadeln, die ihre Knöchel wund stachen, in die gifthaltige Luft, die durch die Filter zwar gereinigt war, aber durchdringend nach den absorbierenden Chemikalien roch und mühsam zu atmen war. Sie verließen die künstlichen Heimstätten der Menschen, die Geborgenheit der angeheizten, durchfeuchteten, gereinigten Atmosphäre und setzten ihre Hoffnung in die Unwirtlichkeit, Öde und Einsamkeit dieser Landschaft, in der es keine Menschen gab, die sie aufhalten konnten. Dort hinten, jenseits eines sanften Hügels, wartete die Rettung auf sie – das verborgene Flugzeug.

Ruth hielt sich dicht neben Eric. Sie rief ihm etwas zu, aber er verstand nicht.

Hinter ihnen flammte es auf. Die Kuppeln wurden beleuchtet, ihre Flucht war entdeckt.

Ruth packte Eric am Ärmel.

»Was ist?« rief er.

Er verlangsamte seinen Lauf und bemühte sich, die verzerrten Laute, die aus der Maske drangen, zu verstehen.

»Das Radiofon... war nicht tot... ich habe... euch verraten.«

Eric faßte ihre Hand und versuchte, sie mit sich zu ziehen. »Ist doch jetzt gleichgültig...«

»Eric... ich habe auch... die Kontakte... von der Patrone... gezogen.«

»Schon gut! Lauf doch jetzt! Oder... vielleicht... ist es besser... du bleibst zurück?«

Er blieb stehen. Er begann langsam zu begreifen. »Bleib hier, dir geschieht doch nichts!«

»Du hättest nicht... sprengen dürfen.«

Eric hörte, wie sie nach Luft rang.

»Warum? Ich mußte doch...!«

»Eine Kuppel... zu zerstören... ist ein Verbrechen!«

Eric schaute nach hinten. Einzelne Lichter kamen näher, aber sie waren noch weit.

»Bleib hier, Ruth«, sagte er.

»Zum Teufel, seid ihr verrückt!« schrie Lovis. Er war ein Stück vorgelaufen, kehrte aber jetzt zurück. Seine Maske hatte er heruntergezogen, er atmete schwer. »Dort vorn ist schon der Hügel. Vorwärts! Gleich haben wir’s!«

Zwanzig Meter neben ihnen schlug etwas auf. Eine Gesteinsfontäne spritzte auf. Und noch ein Einschlag.

Es blieb keine Wahl – sie liefen weiter, Eric, der den Weg kannte, voran. Er hielt sich an die zahlreichen Einschnitte, die die Ebene durchzogen und in denen sie sich meist in Deckung befanden. Und dann überschritten sie den höchsten Punkt der Kuppe und waren zunächst in Sicherheit.

Vor ihnen lagen einige alte Baracken. Hier hatte man einst die antimonhaltigen Minerale abgebaut. Der Mensch hatte der Landschaft seinen Stempel aufgeprägt, an manchen Stellen war sie aufgerissen, wie Wunden lagen die unregelmäßigen dunklen Vielecke in der schneeigen Kristalldecke. Oft bildeten die eingeebneten Flächen flache Treppen. An den erzarmen Stellen häufte sich wertloses Abraummaterial zu Kegeln.

Eric stapfte zu einer der Baracken, überzeugte sich, daß die versteckten Plomben unversehrt waren, und drückte seine Lochmarke in einen verborgenen Schlitz. Eine metallene Falltür klappte ziehharmonikaartig zusammen, ein blanker Zweisitzer neuester Bauart kam zum Vorschein, und in einer Nebenkabine ein pflugscharversehener Traktor.

»Ich säubere die Fahrbahn«, sagte Eric, »schiebt die Maschine hinaus und laßt den Motor anlaufen.«

Er klomm auf den hohen Sitz, löste die Bremse und drückte den Starter. Käferhaft schob sich das Gefährt in die Ebene hinaus, die als Startbahn dienen sollte. So schnell wie möglich ließ Eric die Ketten laufen, dabei schob er einen Wulst von Sand und Staub vor sich her, neben den Spurenmustern der Kettenglieder wuchs eine Böschung empor. Nach drei Fahrten war die geglättete Straße genügend breit für den Anlauf. Eric lenkte den Pflug aus der Bahn hinaus und lief zum Flugzeug. Über der sanften Zackenlinie des Hügels, über den sie gekommen waren, tauchten dunkle Flecken auf, gegen den asphaltgrauen Morgenhimmel nur in ihren Umrissen erkennbar – die Verfolger.

Lovis saß bereits auf dem Steuersitz, hinter ihm Ruth.

»Tut mir leid, Eric«, rief Lovis in das Donnern des Motors hinein, »du mußt zurückbleiben!«

Die Maschine rollte an, doch Ruth beugte sich vor und zerrte an Lovis’ Armen.

»Laß mich zurück, ich möchte hierbleiben. Nimm Eric mit, nicht mich. Halt, halt! Laß mich zurück!«

Die Maschine drehte sich und stellte sich schief zur Laufbahn. Mit einem Fluch brachte sie Lovis zum Stehen. Er drehte sich um und versuchte, das Mädchen nach hinten auf seinen Sitz zu drücken, aber Ruth wehrte sich. Da holte er aus und schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht, einmal, zweimal, dreimal. Sie stieß mit den Fäusten nach ihm, doch er kümmerte sich nicht darum. Er ohrfeigte sie weiter und legte immer mehr Kraft in seine Schläge. Da übermannte sie der Schmerz, die Beschämung und die Hilflosigkeit. Sie warf sich zurück in die Mulde der Lehne, aus dem Bereich der dreschenden Arme, in die Geborgenheit des Augenblicks, in die Gleichgültigkeit der Verzweiflung, sie krümmte sich zusammen, zog die Knie an die Brust, verbarg das Gesicht unter den Armen und kauerte stumm und reglos nach der Seite geneigt in ihrem Polstersitz.

Ein kurzer sausender Pfiff, ein Hagel von weißen Splittern – ein Einschlag. Ein Flugzeug peilte über sie hinweg.

Eric stand tatenlos daneben. Sein Körper war einer seltsamen Lähmung unterworfen, er hätte nicht eingreifen können, selbst wenn er es gewollt hätte, aber in ihm war kein Bedürfnis, kein Wunsch, keine Regung – auch sein Wille war gelähmt... Lovis wollte ihn zurücklassen; das Mädchen wurde geschlagen; die Verfolger hatten sie eingeholt. Aber eigentlich ging es ihn gar nichts an, eigentlich beschäftigten ihn ganz andere Probleme. Probleme, die lange nicht so dramatische Aspekte aufwarfen, Probleme, mit denen man sich in Durchschnittstagen abgibt und deren Lösung wenig ändert. Sie waren das wirklich Wichtige, aber er hatte sie vergessen. Er wehrte sich gegen jenes andere, das ihn so aufdringlich und selbstverständlich in Besitz nahm, aber es war stark, und es war das einzige, was existiert, und so ergab er sich ihm, und er entschied sich.

»Lovis«, schrie er, »wer soll die Elektronenschleuder am Heck bedienen? Willst du es tun? Aber wer soll dann steuern?« Er deutete auf eine Staffel von Kampfflugzeugen, die oben kreiste. »Wird Ruth das Flugzeug lenken? Oder willst du dich nicht wehren?« Er duckte sich unter einem Regen von Splittern, den ein neuer Einschlag aufschleuderte. »Wer soll dich beim Fliegen ablösen? Wer wird dir helfen, wenn du notlanden mußt?«

Lovis’ Augen starrten weit aufgerissen unter den Sichtgläsern der Maske hervor.

»Ruth«, schrie Eric, »steig aus!« Er griff hinein und zerrte sie halb über den Rand. »Heraus mit dir, vorwärts!«

Ruth kam zu sich, sie verstand und ließ sich über den Bordrand gleiten. Eric fing sie auf und stellte sie auf die Beine.

»Lauf in den Hangar und rühr dich nicht!«

Er gab ihr einen Stoß, und sie rannte gebückt los. Lovis sah ausdruckslos zu.

»Vorwärts!« schrie Eric. »Starte! Starte! Zum Teufel, gib Gas!« Er kletterte in den Hintersitz, klappte das Plastikdach über sich und Lovis zu und trat den Hebel selbst hinunter. Schwer und widerwillig drehte sich die Maschine in die Laufrichtung. Der Wind hatte sich etwas gedreht, aber sie hatten keine Zeit, es zu berücksichtigen. Die Räder hüpften über die nur oberflächlich geebnete Bahn, in der es unangenehm viel Löcher gab. Aber sie gewannen an Geschwindigkeit. Eric ließ die Maschine bis ans Ende des freigelegten Streifens anrennen, im letzten Moment zog er den Steuerknüppel durch, und sie sprang über die anstürmende Hecke aus Sinterkrusten und Kristallbäumen.

Wie ein Schwarm Hornissen stürzten sich die Kampfmaschinen der neuen Regierung auf ihr Opfer. Lebendig konnten sie Lovis nun nicht mehr erwischen, aber ein toter Lovis ist immer noch besser als ein entkommener.

»Übernimm das Steuer!« schrie Eric.

Lovis reagierte überraschend schnell. Er stieß direkt auf den anschießenden Punkt zu. Eric hatte die Ventilation eingeschaltet, die milde, gefilterte, gewärmte Luft strömte herein. Sie warfen ihre Masken ab. Sie konnten wieder frei atmen. Mit jedem Atemzug schienen sie noch einmal jenen Kampfgeist zu schöpfen, der sie jahrzehntelang stärker als die anderen gemacht hatte.

Die Angreifer rasten auf sie zu. Lovis saß geduckt hinter dem Schnellfeuergeschütz. Eric sah den breiten Rücken, den stämmigen Hals, die kurzgeschorenen Haare, und er vergaß das neue Gesicht dahinter. Der Motor jauchzte, die Luft sang, die Muskeln krampften sich zusammen, die Sinne waren überwach, und dann riß Lovis den Hahn durch, und eine Garbe von Raketen löste sich aus den Rohren seitlich vom Rumpf des Flugzeuges. Der Wirbelsturm der Gegner brauste vorbei, rechts, links, oben und unten, die Erde bäumte sich auf, schlug um, es gab kein Oben und kein Unten mehr, die Schwere ließ sie los, in den Ohren saß das befreiende Schwindelgefühl des Schwebens. Sieben Punkte fielen hinter ihnen in die Leere, und jetzt war Eric da, er verschmolz mit dem Abzug der Waffe, mit dem Schaft, mit dem Lauf – seine Augen, seine Nerven, sein Gehirn, sein Arm und sein Finger, seine prickelnde Haut wurden eins mit dem kalten Metall, und nun warf er sein ganzes Sein in den Zug seiner Hand, in das Zusammenkrümmen seines Fingers, und mit den irisierenden Strömen der Ionen aus der Schleuder warf er ein Stück von sich selbst nach dem Feind. Ein jubelnder Triumph schüttelte ihn, als er zwei dicke, gepolsterte Rauchschwaden wie Eingeweidestränge todwunder Tiere in der Luft hängen sah, und dann die roten Kugeln der Explosionen nach dem Aufschlag.

Es war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Eric kam zur Besinnung. Das Flugzeug raste auf eine mehlige Wand zu, er riß das Steuer herum, und die Fläche kippte hintenüber, wurde zur Ebene, die stetig unter ihnen dahinstrich. Eric hatte vorgesorgt. Ihre Maschine war schneller als alle anderen. Die Gegner blieben weit zurück. Niemand würde sie einholen.

Lovis saß zusammengesunken in seinem Sitz, sein Kopf pendelte. Erschrocken beugte sich Eric vor, drehte den Kopf des Freundes an den Haaren herum – das Gesicht, das sich ihm zuwandte, war naß, naß vor Tränen, die fetten Wangen schlapperten wie Taschen, der offene Mund schnappte hilflos. Eric ließ diesen Kopf nach vorne sinken. Er setzte sich zurecht, suchte unten nach der Bahnlinie und richtete dann den Kurs danach ein.

In einer Seitentasche in der Polsterung der Innenwand steckte eine Brieftasche. Er hob sie hervor und nestelte daraus mehrere Lochmarken, einige Rollen Geldscheine, einen Ring Safeschlüssel. Eine Lochmarke steckte er in die Tasche, dann öffnete er kurz das Seitenfenster und warf alles andere hinaus. Lovis bemerkte nichts davon.

Eric steuerte den ganzen Tag, die darauffolgende Nacht und noch einen halben Tag hindurch, ohne daß ihn Lovis ablöste. Von Zeit zu Zeit schluckte er eine Energontablette. Lovis schien die meiste Zeit zu schlafen.

Um die Mittagszeit des zweiten Tages schoben sich die Kuppeln der ersten Stadt von Elektra über den Horizont. Eric ging tiefer. Er steuerte eine äußere Rollbahn des Flugplatzes an, der zwischen zwei Kuppeln eingebettet lag, und landete glatt.

»Wir sind da«, sagte er zu Lovis und stemmte das Borddach hoch.

Lovis kletterte hinab. Eric blieb sitzen.

»Hast du auch alles zurückgelassen, woran man dich erkennen könnte?« fragte er.

Der andere nickte.

»Gut. Von nun an bist du also Antonio Diaz, Textilkaufmann, Bürger von Elektra. Weißt du die Daten auswendig?«

Lovis nickte wieder.

Eric reichte ihm eine Lochmarke.

»Ich komme nicht mit«, sagte er.

Lovis starrte ihn verständnislos an.

»Leb wohl«, sagte Eric und stieg über die Lehne vor ihm in den Vordersitz. Man hatte ihre Ankunft bemerkt, am Rand des Areals erschienen einige Männer.

»Eric!« schrie Lovis. »Bleib doch hier! Wir können immer zusammenbleiben. Du nimmst doch das nicht ernst, was ich gesagt habe? Ich war so nervös, so durcheinander. Jetzt werden wir das Leben genießen!«

Eric ließ den Propeller wieder kreisen. Die Männer kamen näher.

»Eric! Warte! Wo sind die Safeschlüssel? Wo sind die Aktien? Wo ist das Geld?« Er hielt die Hände flehend empor. »Was soll ich hier anfangen, ohne Mittel, ohne einen Freund?«

»Arbeiten, Antonio Diaz«, sagte Eric.

Er schlug den Kunststoffdeckel zu und ließ das Flugzeug rollen. Die Startbahn war gut. Er löste sich leicht vom Boden und zog einen Viertelkreis. Die Stadt lag wieder hinter ihm. Unten erstreckten sich die Betonflächen der Rollbahnen. Unten näherte sich eine Gruppe von Menschen einem einzelnen einsamen Mann.

Eric blickte auf die Karte. Hier war Holder, hier Elektra. Dort, über die ganze nördliche Halbkugel verstreut, lagen die Inselkontinente der Staaten des Neutralen Bundes. Aber drüben, jenseits des Lavameeres, das auf der Karte wie ein Sichelmond aussah, war die Karte weiß. Er schlug die Richtung darauf ein.

Eric befand sich in einem Zustand überreizter Wachheit. Die Tabletten wirkten in ihm nach. Das Weiß der Ebenen schien ihm weißer als sonst, die braunen Schatten härter, die Sonnenstrahlen wärmer. Noch nie hatte er das Glitzern der Kristallflächen mit einer ähnlichen ins Auge springenden Deutlichkeit aufgenommen – jedes Aufleuchten traf ihn wie ein sanfter, ermunternder Stich. Er sah Farben an den Hängen der Hügel, die er noch nie beachtet hatte – fahles Pastellblau, teigiges Gelb, durchsichtiges Purpur, nebelhaftes Violett, er beobachtete das Ansteigen und Überrinnen der sich in der Wärme ausdehnenden Schwefeldioxydseen, und er verfolgte das silbern durchsichtige Fließen der flimmernden Ströme, Bäche und Rinnsale mit den Regenbogenrändern, er nahm die Rauchschleier vor sich am Horizont wahr, wie sie sich aus langen gezackten Klüften erhoben, wie sie sich falteten und rafften, bevor sie in den Höhenwinden aufgingen und verwehten.

Und dann kamen sie auf ihn zu, die Rauch- und Nebelgestalten, die wirbelnden Schleierfetzen, die Dunstfahnen, die Staubarme, das Wogen und Wiegen tanzender Gase, die Schatten von Regenböen, manchmal umfingen sie ihn dicht, manchmal zogen sie sich vor ihm zurück und zeigten ihre Abgründe, die sich unter die schartig aufgeblätterte Gesteinsdecke des Planeten fortsetzten und im Gebräu kochender Lava endeten. Er lenkte die Maschine höher, bis in die Region, in der sich die widerstreitenden Elemente zu einem stillen Dunstmeer vereinigten.

Dann zerfloß der Nebel schlagartig zu kristallklarer Luft. Tief unten lagen die Gipfelfelder unbekannten Landes.

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